Michael Weston
Nebel Über Devon
scanned by dawn corrected by Yfffi
Die stolze, leidenschaftliche Grace Pensilva steht...
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Michael Weston
Nebel Über Devon
scanned by dawn corrected by Yfffi
Die stolze, leidenschaftliche Grace Pensilva steht im Mittelpunkt dieser atemberaubenden Saga aus dem England des 19. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der rauhen, sturmgepeitschten, düsteren Landschaft von Devon erfüllt sich das Schicksal der Frau, die sich der Rache an den vermeintlichen Mördern ihres Bruders verschrieben hat. Erbarmungslos verfolgt sie ihr Ziel, und erst eine Generation später wird die Wahrheit ans Licht kommen. Ein fesselnder, dramatischer Schicksalsroman. Titel der Originalausgabe: Grace Pensilva Aus dem Englischen von Friedemann Zorn 1990 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagbild: (James M. William Turner, 1775-1851: Fischer an einer Meeresküste)
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Devon, eine zerklüftete, sturmgepeitschte, düstere Landschaft an der englischen Küste, zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Andeutungen über schreckliche Ereignisse, die sich vor dreißig Jahren im Nachbardorf Harberscombe zugetragen haben sollen, kommen dem neuen Dorfschullehrer Optimus Shute zu Ohren. Er schenkt den Gerüchten zunächst keinen Glauben, beginnt aber schließlich, ihnen auf den Grund zu gehen. In langen, stürmischen Winternachten, über einen Stapel zerfledderter alter Manuskripte gebeugt, kommt Optimus Shute einer tragischen Geschichte von Haß und Verrat, von Leidenschaft und blinder Liebe auf die Spur, die einen Mann das Leben kostete und eine stolze, leidenschaftliche Frau ewige Rache schwören ließ: Grace Pensilva. Autor Michael Weston lebt selbst in Devon, in der Nähe des Dorfes Harberscombe. »Nebel über Devon« ist sein erster Roman.
Für Joan
Danksagung Mein Dank gilt Jack und Harry und Eric, Maud und Margaret und all den anderen alten Herrschaften, die mir erzählten, wie es war.
Erster Teil »La revanche est un plat qui se mange froid.« Französisches Sprichwort Ohne die Spuren von Anspannung um Augen und Mund wäre die junge Frau wohl schön zu nennen gewesen. Eine sonderbare Eindringlichkeit in ihrem Ausdruck, in der verhaltenen Art, mit der sie sich bewegte, hob sie unter den anderen hervor und nahm die Aufmerksamkeit des Mannes gefangen, als sich der Trauerzug im ebenen Gelände formierte und sich bergan auf ihn zuwand – vorbei am Gasthof »Trafalgar«, aus dem unvermindert fröhliches Gelärme drang, vorbei an der Viehhürde, wo im zertrampelten Gras ein Esel angebunden war, vorbei an dem Laden, in dem die Fischer ihre Geräte kauften und vor dessen Eingang Hummerkörbe lagen. Der Zug hielt am Fuß der Treppe an, die zum Friedhof hinaufführte. Die Träger, sechs stämmige Fischer in blauen Pullovern, verlagerten die Last auf ihren Schultern, ehe sie den steilen Aufstieg von der staubigen Gasse zu dem von Grabsteinen bedeckten Rasen begannen. Noch bevor die junge Frau dem Mann so nahe war, daß er ihr Gesicht sehen konnte und die grauen Augen, die fähig schienen, mit ihrem starren Blick die Eibenhecke zu durchdringen, hinter der er stand, war er wie besessen von ihr und fragte sich, wer sie war und warum sie so dicht hinter dem schwankenden Sarg einherging. Der Pfarrer von Bigmore, hager und krumm in seinem dunklen Gewand, kam mit eiligen Schritten um den Kirchturm und fing an, aus seinem Gebetbuch zu lesen. Die Worte verklangen ungehört, ein frischer Wind verwehte sie, doch das fiel kaum ins Gewicht. Es waren dieselben Worte wie immer, und es war das gleiche Ritual, der Mann hinter den Eiben hatte es nur zu oft verfolgt. Sie lebten in einer harten Welt, der Tod -5-
war Teil des Alltags, niemand war je vor seiner kalten Umarmung sicher. Der Mann wunderte sich über den seltsamen Drang, der ihn an diesem Tag nach Harberscombe getrieben hatte, obwohl er Gefahr lief, erkannt zu werden, um eine so einfallslose Zeremonie zu beobachten. Was ihn mit der leblosen Hülle in dem grobgezimmerten Sarg verband, war durchaus keine Zuneigung. War seine Anwesenheit bei dieser Beerdigung eine Geste der stillen Buße für eine heimliche Schuld? Er glaubte es nicht. Er hatte viele Menschen getötet, die meisten im hitzigen Gefecht, aber nicht alle; einige waren auch kaltblütig aus dem Hinterhalt niedergestreckt worden, das lag im Wesen des Krieges. Er hatte seine Pflicht getan. Und hätte er in diesem Fall nicht rasch gehandelt, so wäre er es vielleicht gewesen und nicht jener andere, der jetzt zu Grabe getragen wurde. Der Leichenzug näherte sich in ungeordneter Reihe der alten, grauen Kirche. In dem ärmlichen Dorf, in dem die Häuser aus Lehm gebaut und mit Reet gedeckt wurden, war die Kirche das einzige Gebäude von ehrwürdigem Alter, wenn auch die neuen Bauernhöfe, aus Haustein aufgeführt und mit kleinen, georgianischen Vorbauten prunkend, von einer neuen Ära ländlichen Wohlstands bei den Großgrundbesitzern und ihren Pächtern kündeten. Dieses Dorf war insofern ungewöhnlich, als es keinen alten Herrensitz hatte, kein schmuckes Gut, wo sich die Reichen mit Hausmusik oder Stickarbeiten beschäftigten, mit der Fuchsjagd, dem Kartenspiel oder der Vermittlung von standesgemäßen Verbindungen. Aus irgendeinem Grunde schien die Feudalgesellschaft Harberscombe vergessen, es als öde Brache verworfen zu haben. Nicht einmal die Kirche war willens gewesen, sich diesem Ort ganz zu verpflichten; sie hatte ihn als Tochtergemeinde des im Binnenland gelegenen Uglington betrachtet, nur einen ungebildeten Kuraten zur Verfügung gestellt und die Leute von Harberscombe genötigt, ihre Toten auf den über fünf Meilen entfernten Friedhof der Mutterkirche zu bringen. Erst nach jahrhundertelangem Bitten -6-
konnte das Einverständnis des Bischofs von Exeter zur Anlage eines eigenen Friedhofs erwirkt werden, wo nun schmucklose Grabsteine aus Schiefer vom kurzen Leben der Harberscomber Generationen zeugten, der Familien Trigg und Coyte, Wroth und Lugger, Crocker und Terry, Kingdom und King. Es gab keine kunstvollen Grüften auf dem Friedhof von Harberscombe, keine vergoldeten Grabmäler in der Kirche. Das feuchte Kirchenschiff mit dem abblätternden Verputz hatte nie den Staat feiner Damen und Herren gesehen, bloß Landvolk, Kleinbauern, Kaninchenfänger, Fischer. Ihre Stimmen erschallten tapfer unter den Kreuzgewölben und lösten Staub von den bröckligen Rippen unter der schlichten Arkade. Es war ein wöchentlicher Chor der Hoffnung und der Harmonie, lebenswichtig für eine Gemeinschaft, die sich stets am Rande der Not und des Elends dahinmühte. Hoch oben im Kirchturm, dessen wuchtige, von starken Strebepfeilern gestützte Masse mehr von einem Bollwerk gegen menschliche Schwäche als von der Sehnsucht nach göttlicher Gnade kündete, begann plötzlich eine Glocke zu läuten. Beharrlich, bedächtig, den Schritt der Trauernden zu rhythmischem Regelmaß formend, war ihr monotoner Schlag wie ein langsamer, ein wenig flatternder Puls. Als die Träger beim Grab anlangten und den Sarg auf die zwei Stangen stellten, die über der frisch ausgehobenen Grube lagen, verhallte das Geläut. Es hatte kaum länger als eine Minute gedauert, doch die Stimmung, die es wachgerufen hatte, klang nach: hoffnungslos, hilflos, hart. Die Trauernden waren jetzt näher herangekommen, so nah, daß der Beobachter, wäre über eine der vom Wind geröteten Wangen eine verstohlene Träne gerollt, sie gesehen hätte. Doch da war nichts als würdevoller, fast beiläufiger Respekt, nicht einmal Kummer, als wären alle nur aus Pflichtgefühl dort. Der Pfarrer von Bigmore fuhr, ein wenig überhastet vielleicht, mit der Trauerfeier fort. Es gab keinen Grund für diese Eile, -7-
man hatte viel Zeit in Harberscombe, aber die Gemeindemitglieder wußten wohl, daß er es rasch hinter sich bringen und sein Geld einstreichen wollte. »Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben«, sagte er laut durch gelbe Zähne, und der Beobachter sah in dem Spalt zwischen seinen Lippen einen dünnen Faden Speichel hängen, der vom einen Mundwinkel zum anderen reichte. Plötzlich kam Bewegung in die Trauergemeinde. Die junge Frau, die dem Beobachter schon aufgefallen war, als der Zug herannahte, stürzte vor, warf sich neben dem Sarg auf der ausgehobenen Erde nieder, riß an den Brettern, die den Deckel der billigen Kiste aus Kiefernholz bildeten, und rief: »Frank! Frank!« Rings um sie scharrten die Dörfler in verlegenem Schweigen mit den Füßen. »Da drinnen ist er, der arme Frank, ihr habt ihn eingenagelt und vergessen. Aber ich dulde es nicht, daß ihr ihn vergeßt! Ihr sollt einen letzten Blick auf ihn werfen, damit er euch im Gedächtnis bleibt!« schrie die Frau den Trauernden entgegen, warf den Kopf zurück, schüttelte ihr schwarzes Haar zur wilden Mähne und musterte sie alle, einen nach dem anderen, mit starrem, strengem Blick. Dabei zerrte sie ohne Unterlaß am Deckel des Sarges, der langsam nachgab. Der Pfarrer stand entgeistert, das frevlerische Tun der jungen Frau hatte seinen Redefluß abreißen lassen. Dem Beobachter schien ihr Blick ins Innerste der Herzen zu dringen, die heimlichsten Gedanken zu erraten. Wäre er der Sicherheit seines Verstecks nicht so gewiß gewesen, so hätte man es ihm nachsehen müssen, daß er glaubte, sie könne auch die seinen lesen. Ihr Blick verweilte unerklärlich auf den Eiben, hinter denen er sich verbarg. Er sah das kalte Funkeln in ihren grauen Augen, er sah die ungelenke Haltung, mit der sie nun den Sarg umschlang, und einen Moment lang fürchtete er sich, -8-
fürchtete sich auf eine Weise, die ans Widervernünftige grenzte, denn die junge Frau konnte ihn nicht sehen, soviel stand fest. Sie hatte das ebenmäßige, ovale Gesicht mit der klaren, blassen Stirn, den bleichen, von Röte gefleckten Wangen, den zusammengepreßten Lippen und dem zierlichen Kinn nicht ihm zugewandt, sondern dem düsteren Symbol der Trauer, den dunklen Eibenzweigen. Doch obwohl er sich sagte, daß es so sein müsse, spürte er instinktiv, daß er beobachtet wurde. Vor seinen Augen spielte sich eine gespenstische Szene ab. Entschlossen griff die junge Frau in den offenen Sarg, riß die steifen Arme des Leichnams zu trotziger Gebärde empor und schüttelte sie ungestüm, als könne ihr mühsam gebändigter Zorn ihnen neues Leben einflößen. Doch was sie hielt, vermochte nichts mehr zu halten. Beide Hände, die sie unterhalb der Gelenke gepackt hatte, waren gräßlich entstellt, Stümpfe ohne Finger. »Seht her!« befahl sie. »Frank Pensilvas Hände. Vergeßt sie nicht! Mit diesen halben Händen konnte er sich nicht mehr ans Leben klammern. Vergeßt sie nicht! Jemand aus Harberscombe, jemand aus euren Familien, irgend jemand hat ihn verraten. Diese Hände waren vollkommen, seht sie jetzt an! Und wer ist schuld daran? Einer von euch! Wenn Gott will, wenn es einen Gott gibt, werde ich Gerechtigkeit finden! Wenn Gott das sähe, er würde den Schuldigen auf der Stelle erschlagen. Komm, Gott, zeig uns deine Gerechtigkeit!« Wieder wurde verlegen mit den Füßen gescharrt. Ein alter Mann räusperte sich, eine Frau faßte nach ihrem Mieder und schien in Ohnmacht zu sinken. Der Pfarrer trat vor, um die Ordnung wiederherzustellen. Doch nun löste sich ein anderer Mann aus dem Kreis der Trauernden, packte die junge Frau bei den Schultern und zerrte sie mit aller Kraft auf die Beine. Sie wehrte sich, hielt sich an dem Leichnam fest, bis er halb aus dem Sarg auftauchte und sein aufgedunsenes Gesicht mit den geschwollenen Lippen sichtbar wurde, aber der Mann riß ihre -9-
Hände fort und zog sie gegen ihren Willen empor. Sie stand vor ihm, ein brodelnder Vulkan, und versuchte ihren Zorn zu zügeln. »Wir haben nichts tun können für ihn«, murmelte der Mann, aber die Frau hörte ihm nicht zu. Sie bog sich schlangengleich zurück, schnellte dann vor und spie ihm ins Gesicht. Der Mann wischte sich mit dem Handrücken den Speichel von der Wange. Es war eine Geste, die eher Bekümmerung als Ärger verriet. Er wandte sich von der Frau ab, kniete am Grab nieder, schob den Leichnam in den Sarg zurück und hämmerte den Deckel mit seiner geballten Faust fest. Ein Nicken zur Trauergemeinde, und die Träger traten vor, die nun rasch ihr Werk vollendeten, die Stangen entfernten, auf denen der Sarg stand, und ihn an Stricken in die Grube senkten. Der Mann hinter den Eiben betrachtete den Mann, der in der jungen Frau eine solche Feindseligkeit geweckt hatte. Er hatte ein scharfzügiges, waches, von kastanienbraunen Koteletten gerahmtes Gesicht, das man hätte verschlagen nennen können, und die dunkle, sonnengegerbte Haut der hiesigen Fischer. Es war irgend etwas Vertrautes an ihm, das er freilich nicht näher benennen konnte. Unterdessen hetzte der Pfarrer durch die letzten Worte der Trauerfeier. Keine Predigt, kein Nachruf. Dafür war kein Geld da, und der Pfarrer von Bigmore hielt sich für einen Mann, der zu arm war, um großzügig zu sein. Schaufeln gruben sich in die lockere Erde, und die ersten Krumen prasselten auf den Sarg. Die junge Frau stand mit leerem Gesicht, als nähme sie ihre Umgebung nicht wahr. Der Pfarrer bemühte sich um Mitgefühl, das er nicht empfand, und machte den flüchtigen Versuch, ihr mit den üblichen Worten Trost zuzusprechen, aber sie setzte sich achselzuckend darüber hinweg. Abgewiesen eilte er davon, und die Trauernden begannen ihm nachzufolgen. Nun, da der Tote unter der Erde -10-
war, wandten sie sich wieder ihrem Alltag zu, um so lieber, weil sie rasch das schreckliche Bild aus ihrem Gedächtnis tilgen wollten, wie die junge Frau jene leblosen Stümpfe ohne Finger emporhielt, die einmal Hände gewesen waren. Bald standen nur noch zwei Gestalten am Grab. Der Mann, den die Frau angespien hatte, war der letzte, der sie verließ. In seinem Gesicht arbeitete es vor innerer Erregung, als er versuchte, die Worte auszusprechen, die er ihr sagen wollte. »Das... das verzeih’ ich mir nie«, stotterte er mit einer qualvollen Pause nach jedem Wort. »Ich dir auch nicht, Jan King!« lautete ihre Antwort. »Hab’ ich mir schon gedacht«, murmelte der Mann und ging davon. Während sie miteinander sprachen, hatte sich ihnen ein anderer Mann genähert. Er war aus dem Portal der Kirche getreten, und der Mann hinter der Hecke nahm an, daß er der Glöckner sei. Er bewegte sich ruckweise wie ein Vogel, der Angst vor der Katze hat, den Kopf schiefgelegt, den Mund von einem nervösen Zucken verzerrt. Der Beobachter, der schon im Begriff gewesen war zu gehen, wurde durch das Verhalten der Frau noch einmal in seinem Versteck gebannt. Sie faßte die Schultern des Glöckners, drückte ihre Stirn gegen seine und flüsterte drängend auf ihn ein. Der Beobachter spitzte die Ohren, um zu verstehen, was sie sagte, erriet aber nur, daß sie dem Glöckner Fragen stellte. Der schüttelte verwirrt und verwundert den großen, lockigen Kopf, bis sie schließlich mit dem Fuß aufstampfte und sich abwandte. Zum ersten Mal glaubte der Beobachter, eine Träne in ihrem Augenwinkel zu sehen, doch an ihrem Gesicht konnte er ablesen, daß es eine Träne des Zorns und der Enttäuschung war. »Wenn das alles ist, woran du dich erinnern kannst, Ivor Triggs, nützt du mir nichts. Was ist mit dir? Frank ist verraten worden, und es hat ihn das Leben gekostet. Was ist mit dir? -11-
Kannst du dich nicht an etwas mehr erinnern? Fort mit dir und läute die Glocke! Habe ich dich nicht dafür bezahlt? Sie sollen wissen, die Leute von Harbersombe, daß mein armer Frank tot ist, aber nicht vergessen.« Ivor Triggs, der Glöckner, stolperte davon, doch die Frau achtete nicht darauf. Sie sprach immer noch, aber nicht zu ihm, sprach in eine andere Richtung, hatte sich dem Grab zugewandt und dem Mann hinter den Eiben den Rücken gekehrt. Sie stand fest und ruhig da, den Kopf gesenkt, die Arme vor der Brust gekreuzt, und redete leise und rasch, als vertraue sie sich dem Toten an. Ihre Worte entgingen ihrem Beobachter jedoch; sie flogen im böigen Wind davon, der nun regenschwere Wolken über die Zinnen des alten Kirchturms trieb. Die ersten Tropfen klatschten auf die Zweige nieder. Der Mann schauderte, schlug den Kragen seines Mantels hoch, setzte seinen flachen Dreispitz auf und zog ihn tief in die Stirn. Bevor er ging, warf er einen letzten Blick auf die Szene am Grab. Die Frau hatte zu sprechen aufgehört und drehte sich langsam in seine Richtung. Obwohl er wußte, daß sie ihn nicht sehen konnte, lastete ihr starrer Blick schwer auf ihm, so schwer wie das Wissen, daß es ein Band zwischen ihnen beiden gab. Gerade so, wie es ein Band, zerrissen und dennoch dauerhaft, zwischen ihr und dem Toten gab, ein Band, von dem er nichts geahnt hatte und das ihn mit Sorge erfüllte. Wer war sie? Die Frau des Toten? Seine Geliebte? Ihre großen, grauen Augen verrieten alles und nichts. Wenn sie Kummer empfand, so zeigte sie ihn nicht. Ihre wilde Schönheit gab ihm einen Stich. Wäre sie näher gewesen, hätte er gewagt, sich zu zeigen, hätte er nicht seine gegenwärtige, versteckte Rolle spielen müssen, so wäre er zu ihr geeilt, um sie zu trösten, so hätte er versucht, jene Maske der Gleichgültigkeit niederzureißen, damit sie weinen konnte, wie eine Frau weinen sollte. Doch ihr Gesicht war hart und die Kluft zwischen ihnen unermeßlich. Er wußte, er war der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit. Die Luft schien zu -12-
beben von ihrer Feindseligkeit. Es war eine verdammte Dummheit gewesen, überhaupt hierherzukommen; nun mußte er gehen, bevor ihn doch noch jemand entdeckte. Optimus Shute legte die Feder aus der Hand und seufzte. Er war müde, und es war spät. Die Kerze neben ihm war niedergebrannt, tropfte unregelmäßig und ließ flackernde Schatten über die Wände seines Studierzimmers tanzen. Draußen herrschte eine dunkle Novembernacht, und aus dem Haus gegenüber drang kein Lichtschein, der alte Herr mußte früh zu Bett gegangen sein. Optimus fühlte sich einsam, gestrandet auf einer kleinen Insel mitten im großen, abweisenden Ozean des flachen Landes. Branscombe war ein unbedeutendes Dorf in der Nähe von Harberscombe, mitten im Nichts. Das Unterrichtsministerium in seiner unendlichen Weisheit hatte ihn, Optimus, auserwählt, damit er diese Insel mit der Kunst des Lesens, Schreibens und Rechnens zivilisierte. Es war eine bittere Pille gewesen. Er warf einen Blick auf die Zeilen, die er eben geschrieben hatte. War es wirklich so gewesen? Wie konnte er sicher sein, daß er nicht Dinge erfand, sich falsche Gefühle vorgaukelte, wichtige Tatsachen übersah? Er war verwirrt, und seine Mattigkeit war nicht weniger Folge der körperlichen Anstrengung, am Stehpult zu stehen, als vielmehr der geistigen Mühe, Vergangenheit aus Bruchstücken zusammenzusetzen, aus Zeugnissen, die oftmals widersprüchlich und irreführend waren. Er fürchtete, beim Erzählen ms Melodramatische abzugleiten, und dennoch wollte er sich nicht auf das trockene Gerüst der Geschichte beschränken, auf eine bloße Wiedergabe von Gesagtem und Gehörtem, ohne den Versuch, seinen Figuren ins Herz zu blicken. Am Anfang hatte er nur Auskünfte gesammelt und nicht daran gedacht, all das zu Papier zu bringen, doch mit der Zeit war ihm das ganz selbstverständlich geworden. Nun steckte er in neuen Problemen. Sein Vorhaben beschäftigte ihn -13-
von früh bis spät und wirkte sich störend auf seine Arbeit für die Schule aus. Wenn der Schulrat kam, mußte er es merken. Wie war er nur in diese Lage geraten? Die Frage zumindest ließ sich leicht beantworten: Dr. Cornish war schuld daran. Als er sich anschickte, zu Bett zu gehen, rief sich Optimus Shute ihre erste Begegnung ins Gedächtnis zurück. Er erinnerte sich noch gut an jenen Vormittag im frühen September, an dem der alte Herr ihn zu sich gerufen, Mrs. Kemp unter irgendeinem Vorwand herübergeschickt hatte, damit sie ihn hole. Er hatte erst nicht gehen wollen; die Dachdecker waren noch bei der Arbeit und legten letzte Hand an das neue Haus, und seine Reisetasche mußte noch ausgepackt werden, sie stand an der Tür, wo der Fuhrmann aus Kingsbridge sie abgeladen hatte. Außerdem mußte er sich auf den Unterricht vorbereiten, denn am nächsten Morgen würden sich seine Schüler zum ersten Mal bei ihm einfinden. Doch er war hinübergegangen, wenn auch widerstrebend, teils, weil ihn der Doktor so dringend darum gebeten hatte, teils, weil er neugierig war und wissen wollte, was für einen Menschen er während seiner Zeit in Branscombe zum Nachbarn haben würde. Mrs. Kemp, eine stattliche Frau, die, wie er annahm, die Haushälterin des Doktors war, hatte ihn in die Küche geführt, wo der alte Mann wartend saß. Gleich beim Eintreten sah Optimus zu seiner Rechten einen großen, aus Ziegelsteinen gemauerten Kamin, in dem mehrere Holzscheite unter einem rußgeschwärzten Kessel schwelten. Der Kamin wurde von zwei Nischen mit Vorhängen flankiert, von denen aus man vermutlich zum Backofen und zur Räucherkammer gelangte. Dr. Cornish saß am vorderen Ende eines langen, klobigen Tisches, eingezwängt zwischen diesem und der Wand, an der eine Bank befestigt war. Am hinteren Ende des Tisches befand sich eine getäfelte Trennwand mit einer offenen Tür, durch die Optimus einen Blick ins Sprechzimmer werfen konnte, wenn er damals auch noch nicht wußte, welchem Zweck dieser Raum diente; er -14-
bemerkte nur eine Art Luke oder Innenfenster hoch oben an der Wand darüber. »Setzen Sie sich, junger Mann«, sagte der Doktor barsch, als sei Shute einer von seinen Patienten, »ich habe nicht viel Zeit.« Ich auch nicht, dachte Optimus, schwieg jedoch. Er nahm unbeholfen auf der harten Bank Platz und hatte fast das Gefühl eines Schülers, der sich zum ersten Mal seinem Lehrer gegenübersieht, ein Gefühl, das durch den unordentlichen Stapel von Büchern und Papieren auf dem Tisch zwischen ihm und dem Doktor noch verstärkt wurde. Um seinen Gesprächspartner sehen zu können, mußte er die Augen mit der Hand beschatten; die Sonne war gerade über dem Saum der Hügel aufgestiegen, die Branscombe umgaben, und ihre Strahlen fluteten durch das Flügelfenster und blendeten ihn. Was er von Dr. Cornish erkannte, war ein schwerer Kopf mit dunklem Haar und schütter werdendem Scheitel. Im Halbschatten war sein Gesicht verschwollen und tief gefurcht, von einer Röte glühend, die vermutlich weniger vom Kaminfeuer als von billigem Branntwein herrührte. Sein Körper, in einen altmodischen Rock und eine dunkle Weste gekleidet, war von der übertriebenen Korpulenz jener Menschen, die sich nie besonders viel bewegt haben. Er erweckte den Eindruck von Trägheit, Schwerfälligkeit und Weltmüdigkeit. Nur seine Augen waren wach und flink wie die eines Rotkehlchens und prüften den neuen Dorflehrer genau. Nun, wenn Dr. Cornish wirklich etwas Wichtiges zu sagen hatte, so ließ er sich ziemlich viel Zeit damit. »Ein äußerst verblüffender Fall«, fuhr der Doktor zusammenhanglos fort, »äußerst verblüffend. Und eine äußerst bemerkenswerte Frau, äußerst bemerkenswert. Ich bin sicher, daß Sie dem beipflichten werden.« »Hören Sie, Dr. Cornish«, brach es aus Optimus hervor, »hören Sie. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, ich muß mich um tausend Dinge kümmern. Junge Menschen sind in meine Obhut gegeben, Dr. Cornish, ich darf sie nicht vernachlässigen. -15-
Und nun kommen Sie zur Sache, ich habe keine Zeit für Besuche geselliger Natur.« Nach diesen gewiß nicht sehr höflichen Sätzen saß Optimus schweigend da und zupfte nervös an seinem dünnen, strohblonden Schnurrbart. Doch auch jetzt dauerte es eine Weile, bis Dr. Cornish ihm Antwort gab. »Es ist lange her, daß ich in Branscombe einen gebildeten Mann gesehen habe, Mr. Shute, einen kultivierten Mann, einen klugen Mann. Ich habe die Absicht, das auszunutzen.« Er hielt wieder inne, und Optimus wurde durch ein plötzliches Hämmern und den Anblick der Dachdecker abgelenkt, die zum First des Schulhauses jenseits der Straße emporstiegen. »Sie sind noch jung«, fuhr der Doktor fort. »Sie waren auf dem Lehrerseminar. Sie glauben, alles zu wissen, was es vom Wesen der Menschen zu wissen gibt. Nun, ich bin noch nicht daraus schlau geworden, und ich habe den größten Teil meines Lebens hinter mir. Es gibt nach wie vor Dinge, die mich vor Rätsel stellen, Herr Schulmeister, und ganz besonders das, weswegen ich Sie herübergebeten habe und worüber ich mit Ihnen sprechen will. Ich habe in all den langen Jahren hier viel Seltsames erlebt, wunderliche Begebenheiten, wirre, mancher mag auch sagen unsinnige Geschichten, aber auf ihre Weise bedeutsam, vielleicht sogar tragisch. Doch die, die ich am verblüffendsten finde, ist diese hier.« Der Doktor wies mit ausladender Gebärde auf die Papiere, die auf dem Tisch lagen, wobei er bemerkte, daß der Schulmeister tief in Gedanken versunken war. »Was habe ich zuletzt gesagt, Mr. Shute? Sie haben nicht zugehört, oder?« »Am verblüffendsten... am verblüffendsten ist diese hier!« wiederholte Optimus, als besinne er sich auf etwas, das er ohne den Versuch, es zu verstehen, mechanisch auswendig gelernt oder bei einer Vorlesung mitgeschrieben hatte. »Es genügt nicht, wenn Sie sich an Dinge erinnern, die Sie -16-
gehört haben, und sie nachplappern wie ein Papagei. Sie müssen sich bemühen, sie zu verstehen, junger Mann, Sie müssen zu ihrem Kern vordringen. Und jetzt wachen Sie auf, ich spreche mit Ihnen.« Es mochte an der Heftigkeit seiner Worte liegen oder an dem Gefühl, das ihnen zugrunde lag. Was immer es war, Dr. Cornish verstummte jäh, und Optimus sah voll Besorgnis, daß der Alte nach Atem rang und sich seine Wangen noch tiefer röteten. Was hatte er vorhin gesagt? Er habe nicht viel Zeit? »Soll ich Mrs. Kemp rufen?« Der Doktor schüttelte den Kopf. Es war offenkundig, daß er den Anfall mit Willenskraft meisterte. Das erstickte Keuchen ließ nach, und seine Hände wurden ruhiger. »Liegt am Alter«, verkündete er schließlich. »Ich war einmal genauso wie Sie, auch wenn Sie’s nicht glauben, frisch von der Universität, von heiligem Eifer erfüllt, nie eine freie Minute. Sie werden es schwierig finden, das in Branscombe dreißig Jahre durchzuhalten: Dies ist der Ort, den Gott erschuf und dann vergaß.« Optimus wand sich auf seiner Bank. »Müssen Sie blasphemisch sein?« Er wollte aufstehen, war entschlossen, sich jetzt endlich zu verabschieden. Eine Hand schoß vor und packte ihn zwischen Ellenbogen und Schulter, tat ihm weh. In dem alten Herrn steckte mehr Kraft, als er gedacht hatte. »Glauben Sie an Rache, Herr Schulmeister?« Optimus blickte verständnislos; es gab nichts im vorhergehenden Gespräch, das ihn auf diese Frage vorbereitet hatte. Nach einer kleinen Pause fuhr der Doktor fort: »Ich meine nicht, ob Sie an ihre Existenz glauben, die können wir als erwiesen betrachten, nicht wahr? Nein, ich möchte wissen – und Sie sind der rechte Mann, mir das zu sagen, Sie haben ein Seminar der Anglikanischen Kirche besucht, wo man solche Dinge erörtert, was die heute modische -17-
Lehre ist. Läßt man Rache gelten? Ist das Neue Testament im Aufsteigen oder das Alte?« »Das gehört nicht zu den Fragen, die wir...« »Gewiß, ich hätte es mir denken können. Es steht nicht dafür, an irgendeinem provinziellen Seminar den Geist in dieser Richtung zu üben. Aber hier, hier auf dem Land, wo es wirkliche Menschen gibt, gibt es auch wirkliche Nöte. Sie werden sehen... Doch um auf meine Frage zurückzukommen – gehen wir schulmäßig vor und grenzen wir bei der Rache zwei Aspekte voneinander ab. Es gibt die heißblütige Art, die uns alle in Versuchung führt und damit entschuldbar ist; und es gibt die kaltblütige Art, die im Hirn schläft wie ein Geschwür, und wenn sie hervorbricht, haben wir die Beleidigung vergessen, die ihre Ursache war. Was sollen wir davon halten, Herr Schulmeister? Und wenn erst eine Trau in dergleichen verstrickt ist, was würden Sie dann sagen? Sollte eine Frau nicht versöhnlich und freundlich sein, würden Sie nicht erwarten, daß sie auf die Sühnung eines weit zurückliegenden Unrechts verzichtet? Doch ich will Sie nicht mit Theorie langweilen, Sie finden alles hier in diesen Papieren und ein bißchen außerdem in der Erinnerung jener Leute, die sie kannten oder zu kennen glaubten und die noch am Leben sind. Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, tun Sie freilich gut daran, sich zu sputen. Sie können mehr daraus machen als ein alter, ans Haus gefesselter Mann. Und Sie werden es nicht langweilig finden, sie war, wie gesagt, eine äußerst bemerkenswerte Frau.« Optimus begann unwillkürlich, erste Regungen von Interesse zu spüren. »Sie sprechen von einem wirklichen Menschen, ja? Wie hieß diese Frau?« »Grace Pensilva.« »Nie von ihr gehört. Woher kam sie?« »Aus Harberscombe.« »Sie kannten sie also?« -18-
»Ich bin ihr selten begegnet. Aber ich habe viel von ihr gehört, und eines Nachts lag ein Mann, den die Leute für eines ihrer Opfer hielten, auf diesem Tisch und verblutete fast.« In der Küche schien es dunkler geworden zu sein, und das Hämmern draußen schien aus weiter Ferne zu kommen. Optimus starrte auf die Tischplatte. Sie bestand aus langen, dicken Kiefernbrettern, da und dort von Messern zerkratzt und mit den Flecken Hunderter von Mahlzeiten übersät. Von Blut keine Spur, aber Optimus konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie der Doktor es über sich brachte, an diesem Tisch zu essen. Er sah im Geist, wie der Bewußtlose hereingetragen wurde, hörte Nagelstiefel auf dem gefliesten Boden scharren. Und als es kräftig an der Tür klopfte, glaubte er fast, daß es die Verfolger des Verletzten seien. »Herein!« rief Dr. Cornish mit kräftiger Stimme. Optimus blickte über seine Schulter und sah einen schmächtigen Mann auf der Schwelle stehen. Es war einer von den Dachdeckern. »Der Pastor ist da. Ihretwegen, Mr. Shute. Er mag jetzt nicht mehr warten. Ich soll Ihnen ausrichten, daß er Ihnen guten Tag sagen will, und wenn Sie nicht bald kommen, geht er wieder.« »Dann beeilen Sie sich, junger Mann, es wird Ihnen nicht zum Guten gereichen, wenn Sie den Pfarrer beleidigen«, sagte Dr. Cornish. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Papiere, ich lasse sie Ihnen später von Mrs. Kemp bringen.« Nach dem Dämmerlicht in der Küche war das Herbstlicht blendend hell. Optimus rieb sich noch die Augen, als er vor den Pfarrer von Bigmore trat, der auf der Treppe des Schulhauses stand. In der einen Hand hielt er Zügel und Mähne seines kleinen Reitpferds, in der anderen eine Weidengerte, mit der er ungeduldig gegen seine Stiefel schlug. »Es gibt noch viel zu tun, Mr. Shute; Sie sind doch Optimus Shute, nicht wahr?« So begrüßte er den Schulmeister, ohne sich vorzustellen. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, wir haben -19-
beide unser gerüttelt Maß Arbeit und keine Zeit, die wir in müßigem Geschwätz mit versoffenen alten Männern vergeuden könnten. Ich hoffe, Sie am Sonntag beim Gottesdienst in Harberscombe zu sehen.« »Guten Morgen, Mr. Lackland. Ich bitte um Entschuldigung. Er hat mich zu sich rufen lassen. Er sagte, es sei wichtig.« Noch bevor er ausgeredet hatte, erkannte Optimus, daß es ein Fehler gewesen war, sich zu verteidigen. Die Augen des Pfarrers glitzerten wie die eines herabstoßenden Falken. »Aber es war nicht wichtig, stimmt’s, Mr. Shute? Es ist niemals wichtig. Der Mann ist eine Schande für seinen Stand, ein Säufer, ein Kurpfuscher, ein Gottesleugner. Und was, bitte sehr, war denn so wichtig, daß er es an Ihrem ersten Tage hier mit Ihnen besprechen mußte?« »Er wollte über Grace Pensilva reden.« Bevor er den Pfarrer von Bigmore gesehen hatte, hatte Optimus gedacht, er könne ihn vielleicht über diese Frau aufklären, doch der Geistliche, der geflissentlich auf ihn herabblickte, war viel zu jung, ein Bürschchen nur, kaum ein Jahr älter als er selbst. Es war unmöglich, daß er sie gekannt hatte. »Grace Pensilva?« sagte der Pfarrer, und seine Augen wurden plötzlich schmal. »Sie meinen die Mörderin. Nun, lassen Sie sich eins gesagt sein: Die bleibt am besten vergessen. Sie werden nicht dafür bezahlt, alte Geschichten wieder aufzurühren, Mr. Shute, sondern Sie sind hier, um die Jugend Respekt und einen einwandfreien Lebenswandel zu lehren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür sorgen wollten, daß keines von Ihren Schulkindern, verstehen Sie, keines, je ein Wort mit diesem bösen Alten wechselt, den Sie zu Ihrem Unglück als Nachbarn haben.« Und damit saß der Pfarrer auf und sprengte davon, die Straße entlang, die nach Harberscombe und Bigmore führte. Der Schmutz, den die Hufe seines Pferdes aufwirbelten, spritzte -20-
gegen Optimus’ Kleider. Der Schulmeister fühlte sich auf einmal isoliert und verlassen. Wenn dies die Art Empfang war, die ihm hier auch andere fromme Menschen bereiten würden, war es um seine Zukunft schlecht bestellt. Doch dann besann er sich erleichtert, daß es Arbeit für ihn gab: vierundzwanzig Schüler, die er zu unterrichten hatte. Als Mrs. Kemp später am Tag mit den zum Bündel geschnürten Papieren herüberkam, warf er sie in eine Ecke auf dem Dachboden; er fürchtete, sie könnten ihn von seiner Aufgabe ablenken. Morgen früh um acht würde er die Schulglocke läuten, und die Kinder würden hereinmarschiert kommen. Es war seine Pflicht, sie Zählen und Buchstabieren zu lehren und gute Christen aus ihnen zu machen. Allem Anschein nach würde es schwieriger werden, als er erwartet hatte. Der Mann drehte sich um, stolperte durch die Eiben, deren Zweige sein Gesicht peitschten, und strauchelte fast über die Wurzeln, in denen sich seine Sporen verfingen. Er machte einen Höllenlärm, doch was zählte das? Was zählte, war, daß er fortkam von diesem verfluchten Ort. Er humpelte über die Gasse, auf das Tor zu, an dem er sein Jagdpferd angebunden hatte, und stieß einen Seufzer der Erleichterung und des Schmerzes aus, als er sein steifes Bein über die Kruppe des Tieres schwang. Als er sich im Sattel aufrichtete, sprach ihn unerwartet ein Mann mit Namen an. »Das ist ’n böser Wind, der Sie nach Harberscombe geweht hat, Mr. Genteel.« Genteel blickte nieder und faßte unwillkürlich den Griff seiner Reitpeitsche fester. Er hatte nicht damit gerechnet, von jemandem erkannt zu werden. Er war so lang außer Landes und so selten zu Hause in Leet gewesen, daß er fast nichts von den Leuten in den Dörfern wußte und annahm, sie wüßten noch weniger von ihm. Offenbar hatte er sich geirrt. Wenn er bei -21-
Sinnen gewesen wäre, wenn er auf die Stimme der Vernunft gehört hätte, wäre er nicht nach Harberscombe geritten. Genteel wandte sich um und sah, daß der Mann, der das Wort an ihn gerichtet hatte, klein, untersetzt und kräftig war und den blauen Pullover der Fischer trug, dazu ein Öltuch über den Schultern. Sein Gesicht, scharfzügig und klug, hatte Genteel schon einmal gesehen, erst vor wenigen Minuten. Es war der Mann, in dessen Gesicht die Frau gespuckt hatte. Das wäre an sich schon Grund genug gewesen, um sich an ihn zu erinnern, doch da gab es noch einen früheren, verschwommenen Eindruck von dieser Erscheinung und dieser Stimme... »Ich wußte nicht, daß ich die Ehre habe, dich zu kennen, mein Freund«, erwiderte Genteel hochmütig und zog am linken Zügel, um sein Pferd in Bewegung zu setzen. »Wir kennen uns aber, Frederick Genteel, auch wenn Sie nicht mehr wissen, wer ich bin. Die Herren haben ja nicht viel Zeit für uns arme Fischer.« Genteel sah auf die gedrungene, stämmige Gestalt herab, die ihm den Weg versperrte. Er war so sicher gewesen, daß ihn hier niemand kannte! Schließlich war er erst seit drei Wochen wieder zurück. Zuvor hatten ihn die Zeit im Internat und seine Dienstjahre von Devon ferngehalten; und was Harberscombe betraf, so hatte er dieses Dorf nie betreten, obwohl es am Rande der Ländereien seiner Familie lag und nur fünf Meilen von Schloß Leet entfernt war. Selbst jetzt fiel es ihm schwer zu begreifen, was ihn nach Harberscombe geführt hatte. Nun war ihm, als sei dieses Dorf eine Falle, ein Hinterhalt, in den er gelockt worden war, denn die dramatischen Ereignisse auf dem Friedhof waren ihm durch Mark und Bein gegangen. Er mußte sich zusammenreißen; all das war lächerlich. Er reckte das Kinn und fragte den Fischer herrisch: »Was meinst du mit diesem bösen Wind?« Der Fischer blickte anzüglich grinsend zu ihm auf, als seien sie Komplizen. »Der Adel hat Harberscombe nie was Gutes gebracht; der Adel, das -22-
heißt Pacht und Steuern. Manche Leute bilden sich vielleicht was drauf ein, wenn der Adel sie besucht, aber wir in Harberscombe nicht, wir mögen das nicht, wenn Fremde kommen und gaffen. Da kann jemand der Gutsherr sein und ist trotzdem ’n Fremder. Wir sind arm wie die Bettler, aber wir sind unabhängig, und wir können auch ohne den Gutsherrn leben.« Genteel versuchte, über die Worte des Mannes zu lachen, doch sein Lachen kam ihm selbst gekünstelt vor. »Man liebt den Gutsherrn hier nicht allzu sehr, wie? Aber wer gibt das Geld für neue Scheunen, wer läßt die sumpfigen Wiesen trockenlegen, wer kauft das Zuchtvieh? Der Gutsherr hat eine Aufgabe auf dieser Welt, und wenn er etwas taugt, erfüllt er sie, auch wenn das bedeutet, daß er an einen gottverlassenen Ort wie Harberscombe reiten muß. Es gibt hier herzlich wenig Erfreuliches zu sehen.« »Klar, wir haben keine großen Häuser, wir haben keine Bücher und keine Musik, aber schöne Beerdigungen, die haben wir. Glaub’ ich wenigstens.« Genteel betrachtete den Mann genau. Wieviel wußte er? War er, der versteckte Beobachter, selbst beobachtet worden? Was mochte dieser Fischer wohl davon halten, daß er, ein Fremder und Mann von Stand, sich in einer Hecke verbarg, um eine Beerdigung mitzuverfolgen? Doch er war nicht völlig davon überzeugt, daß der Mann ihn dort bemerkt hatte, vielleicht hatte er ihn nur aus den Eiben hervorkommen sehen, vielleicht nicht einmal das. Würde er selbst den Vorfall erwähnen, so würde er sich nur bloßstellen, würde seine Verwicklung in die ganze Sache einem Fischer gegenüber zugeben, obwohl er sie nicht einmal sich selbst zugab. »Du hast ein loses Mundwerk, und du kannst von Glück sagen, daß ich keiner von den Gutsherren bin, die ihre Pächter auspeitschen, sonst könnte bald deine Beerdigung stattfinden.« »Ich bin kein Pächter von Ihnen«, erwiderte der Mann. »Ich -23-
bin Freisasse wie mein Vater.« »Wie heißt du, falls du dich nicht fürchtest, deinen Namen zu nennen?« »Ich heiße Jan King und stehe Ihnen zu Diensten.« »Nun, wenn du mir zu Diensten stehst, dann zeig mir die Straße, die aus Harberscombe herausführt. Bei euch sieht ein Weg wie der andere aus.« »Gern. Wo wollen Sie denn hin?« »Nach Leet natürlich, wohin sollte ich sonst wollen?« »Das müßten Sie schon selber wissen, oder?« Der Mann griff empor, nahm das Pferd beim Zügel und führte es mit fester Hand zur Kreuzung an der Ecke des Friedhofs. Genteel fühlte sich hilflos und unbehaglich. Er traute dem Mann nicht. Warum sollte er auch? Dieser King mußte wissen, daß er unbewaffnet war; sein - Genteels Mantel – lag so eng an, daß sich, hätte er eine Pistole im Gürtel getragen, ihr Griff deutlich abgezeichnet hätte. Und nun ließ er sich einen düsteren Weg entlangführen von einem Mann, dem er mißtraute, einem Mann, der ihn zu kennen behauptete, einem Mann, dem vor kurzem eine trauernde Frau am Grab ins Gesicht gespien hatte. Wenn es eine Frage gab, die er diesem King stellen sollte, dann diese: Womit hatte er sich einen so flammenden Haß verdient? Doch er schwieg. Der Fischer hielt an der Kreuzung an, deutete auf einen Weg, der sich für Genteel durch nichts von den anderen unterschied, und sagte: »Kommen Sie gut nach Hause, aber das muß ich Ihnen wohl nicht wünschen, oder?« Genteel saß einen Augenblick schweigend im Sattel. Eine seltsame Ahnung nahm in ihm Gestalt an. Sie schienen ein gemeinsames Los zu haben, ein gleiches Geschick, das in ihrer Vergangenheit angelegt worden war und dessen Kräfte, auf wie rätselhafte Weise auch immer, durch diese zufällige Begegnung neuen Antrieb erhalten hatten. -24-
»Hai King vom Armouth, Hai King, der Lotse, ist das nicht dein Vater?« wollte er plötzlich wissen. »Hai King ist vor vier Jahren ertrunken.« Und plötzlich sah Genteel einen wetterharten alten Mann vor sich, der auf dem Schanzkleid eines Loggers saß, neben ihm, an der Ruderpinne, sein Sohn; er selbst, viel jünger als heute, zog müßig die Hand durchs Wasser, und sein Vater, Lord Mayberry, damals noch nicht dem Alkohol verfallen, sagte vom Bug her mit seiner dröhnenden Stimme: »Na, Hai, wie wär’s, läßt du meinen Sohn auch ran, darf Freddie eine Weile das Boot übernehmen?« Und dann hatte er mit dem anderen Jungen den Platz getauscht und zum ersten Mal gespürt, wie die Pinne bebte unter dem Druck des Wassers, das am Steuerruder vorbeiströmte. Er suchte in Jan Kings Gesicht nach den knabenhaften Zügen, an die er sich erinnerte, doch er begegnete nur seinem dreisten Blick. »Mein Beileid, das wußte ich nicht. Ich war fort, Dienst im Mittelmeer. Wie ist das geschehen?« »Beim Lotsen. Er wollte ’n Schiff über’n Sand bringen, und das ist aufgelaufen, auf dem Back, und bloß ’n Haufen Kleinholz ist übriggeblieben.« »Mein Beileid, mein herzliches Beileid. Richte es bitte auch deiner Mutter aus. Ich erinnere mich jetzt wieder an sie. Ich erinnere mich an beide.« Jan Kings Lippen kräuselten sich. »Meine Mutter ist auch tot. Aber nun lassen Sie’s gut sein mit dem Beileid. Ich komm’ auch ohne das aus.« »Ja, das glaube ich auch.« »Dann leben Sie wohl.« Jan King versetzte dem Pferd einen Klaps, und Genteel gab ihm die Sporen. In diesem Moment begann die Glocke im Kirchturm wieder zu läuten. Genteel blickte sich nicht um. Es war eine Wohltat, fortzukommen. Harberscombe lag bald hinter ihm, und er würde nicht mehr -25-
dorthin zurückkehren. Er ritt in leichtem Galopp dahin und versuchte, sich auf den warmen Schein der Kerzen und das behagliche Kohlenfeuer einzustimmen, das ihn erwartete. Leet mochte seine Nachteile haben, doch gab es im Schloß nicht diese Atmosphäre von Haß und Feindseligkeit. Allmählich tat sich ein kahles, offenes Gelände vor ihm auf. Dies war zwar nicht die Strecke, die er gekommen war, aber er galoppierte weiter. Der Wind zerrte an seinem Mantel, der Regen schlug ihm ins Gesicht, rann über seine Stirn und von seinen Augen herab, als weine er, doch er empfand keinen Kummer. Was er empfand und sich nicht eingestehen wollte, war Furcht. Aus Furcht gab er seinem armen Pferd wieder und wieder die Sporen, obwohl ihn sein steifes Bein schmerzte. Seine Furcht hatte nichts mit wirklichen Gefahren zu tun, sondern war geweckt worden durch das eindrucksvolle Bild jenes Nachmittags, durch die ernste und strenge Schönheit, die aus dem Gesicht der jungen Frau am Grab leuchtete. Sie quälte ihn, und die Augen, die die dichte Eibenhecke durchbohrt hatten, ließen ihn nicht los. Starr, kalt und unversöhnlich, in furchtbarem Gegensatz zu den feingeschnittenen Zügen dieses Gesichts, funkelten sie dicht hinter ihm, während er dahinritt. Er wußte, daß er den Kopf nur ein wenig zu wenden brauchte, um sie zu sehen, und so schnell er auch ritt, sie verfolgten ihn weiter. Optimus Shute ließ angewidert die Feder fallen. Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, daß sich die beiden Männer auf diese Weise begegnet waren; was er gerade geschrieben hatte, war reine Spekulation. O ja, es war denkbar, es bestand in der Tat die Möglichkeit, daß Genteel nach Harberscombe geritten und zufällig Zeuge der Beerdigung geworden war oder daß ihn, wahrscheinlicher noch, eine dunkle Neugier dorthin getrieben hatte. Man würde es nie genau wissen, denn beide Männer lebten nicht mehr. Jan King war ein zurückhaltender Mann gewesen, der nicht lesen und nicht schreiben konnte und fast -26-
keine Freunde gehabt hatte, und Frederick Genteel hatte ein solches Zusammentreffen nie erwähnt und nicht einmal in seinem Tagebuch davon gesprochen. Andere Ereignisse dieses Tages dagegen waren gut bezeugt. Mehrere Leute aus dem Dorf konnten von der Szene am Grab berichten. Der Anblick der jungen Frau, die anklagend die verstümmelten Hände des Toten emporhob, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt; auch hatten sie nicht den Moment vergessen, in dem sie Jan King ins Gesicht spuckte. »Gehen Sie doch einmal nach Harberscombe und unterhalten Sie sich mit Emma – Emma Troup kann Ihnen alles von ihr erzählen. Emma war Lehrerin seinerzeit, wenn auch nur an einer Privatschule. Ja, sie wird Ihnen alles von Grace Pensilva erzählen.« Dr. Cornish hatte an einem Sonntagmorgen im Herbst seinen Einspänner angehalten, als er zufällig Optimus begegnet war, der, seiner Pflichten ledig, nachdenklich des Wegs schlenderte und den Rauhreif auf den Blättern bewunderte. »Sie haben Grace doch nicht vergessen, oder? Nanu, sind Sie stumm? Warum antworten Sie nicht? Man hat Sie davon überzeugt, daß ich ein Aussatz auf dem Angesicht der Erde bin, ja? Lassen Sie sich Zeit, junger Mann, aber nicht zuviel, wenn Sie zu langsam sind, kann es zu spät sein.« Und mit einem raschen Schnalzen seiner langen Peitsche hatte Dr. Cornish sein Pferd zu schwankendem Trab angetrieben, und das Eis, das die Pfützen bedeckte, war unter den Rädern des Einspänners in Stücke gebrochen. Es hatte zwei Monate gedauert, bis Optimus endgültig seinen Vorsatz aufgab, sich nicht mit Dr. Cornishs Papieren zu beschäftigen. Diese hatten ihn mehr als einmal verlockt, genauso wie ihn der helle Schein im Fenster des Doktors verlockt hatte. Branscombe war ein so stiller Ort, wenn die Kinder nach Hause gegangen waren, und Optimus entdeckte bald, daß sich mit seinem anderen Nachbarn, Bauer Stitson vom -27-
Butterwell-Hof, über nichts reden ließ als Mastviehpreise und Fußfäule. Oft sah er, wenn er in der Abenddämmerung nach Hause ging, das Licht von Dr. Cornishs Petroleumlampe durchs Fenster fallen, und blieb stehen, um in die Küche zu spähen, wo der Alte sacht wippend in seinem Schaukelstuhl vor einem prasselnden Feuer saß, Pfeife und Branntweinglas neben sich auf dem Tisch. Doch der Schulmeister erlaubte es sich nie, anzuklopfen und einzutreten. So neugierig er auch war – er war entschlossen, alle Willenskraft aufzubieten, der Versuchung zu widerstehen. Denn es war viel Wahres an dem, was der Pfarrer über seinen Nachbarn gesagt hatte: Dr. Cornish trank in der Tat unmaßig und führte eine lästerliche Sprache. Optimus hatte mehrere Male erlebt, wie die Schulkinder die unflätigen Ausdrücke nachahmten, die sie durchs Sprechzimmerfenster gehört hatten. Der Alte war gewiß eine schlechte Gesellschaft für einen jungen Schulmeister, und Optimus wußte wohl, daß es dem Pfarrer und dem Gemeinderat bald zu Ohren kommen würde, wenn er mit Dr. Cornish verkehrte; er hatte ein Jahr Probezeit und konnte es nicht wagen, Umgang mit Menschen von zweifelhaftem Charakter zu pflegen. Eines Abends, als klirrende Kälte in der Luft lag, die vom Kommen des Winters kündete, saß Optimus an seinem Kamin und beobachtete das Spiel der Flammen. Die Minuten schlichen dahin, und ihre Langsamkeit wurde noch betont durch das Ticken der kleinen Perpendikeluhr auf dem Kaminsims. Optimus hatte sich schon auf die Stunden von morgen vorbereitet; die Schiefertafeln der Kinder waren überprüft und lagen säuberlich aufgeschichtet an ihrem Platz auf einem der Fensterbretter des Klassenzimmers. Die drei Bücher, die er beim Abgang vom Seminar in seinen Koffer gepackt hatte, hatte er bereits gelesen. Hätte er gewußt, was ihn erwartete, so hätte er mehr gekauft, aber woher sollte er wissen, wie dürftig die Quellen in Harberscombe und Branscombe sprudelten? Es ging -28-
das Gerücht, daß eine Leihbibliothek eingerichtet werden sollte, doch bis jetzt war noch nichts geschehen. Wenn er nur etwas zu lesen gehabt hätte! Und dann erinnerte er sich: an den Stapel Papiere auf seinem Dachboden? Wie hatte Dr. Cornish die Person bezeichnet, von der sie handelten? »Eine äußerst bemerkenswerte Frau.« Und was hatte Pfarrer Lackland von ihr gesagt? »Sie meinen die Mörderin.« Die Geschichte mochte wenig erbaulich sein, doch das war immer noch besser als Langeweile. Optimus stand auf, nahm den Leuchter vom Tisch und machte sich auf den Weg zum Dachboden. Dort oben unter den Schindeln und Sparren brachte Zugluft seine Kerze zum Flackern. Ein Schwarm überwinternder Fledermäuse hatte im Giebel Quartier bezogen; wie getrocknete Feigen hingen sie zwischen den Dachankern. Optimus schützte seine Kerze mit der gewölbten Hand und kniete zwischen den Papieren nieder. Es waren zu viele, als daß er sie alle auf einmal hätte hinuntertragen können, er mußte willkürlich auswählen, denn die Unterlagen waren völlig ungeordnet. Er entschied sich für ein Tagebuch, auf dessen Einband das Jahr 18.. stand, und für ein Bündel vergilbter Manuskriptblätter, die von einem verschossenen blauen Band zusammengehalten wurden. Eine volle Stunde hatte er wieder an seinem Kamin gesessen, bevor er in dem Tagebuch auf etwas stieß, das ihm bedeutsam schien. Es war mit kleiner, fast unleserlicher Schrift geschrieben. Optimus hielt sie für die des Doktors, eine Vermutung, die durch eine Reihe von medizinischen Verweisen bestätigt wurde; oft waren die Seiten aber auch mit minutiösen naturkundlichen Einträgen gefüllt: Beobachtungen an einem Kleiber, Vermutungen über die Bedeutung der Rufe von Schleiereulen, ein Bericht von einem ungewöhnlichen Sturm, bei dem mit rotem Staub vermischte Hagelkörner niedergegangen waren. Selbst als er Dr. Cornishs knappe Schilderung des Abends gelesen hatte, an dem man ihm den -29-
verletzten, halbtoten Jack Lugger ins Haus trug, brachte Optimus den Vorfall nicht gleich mit Grace Pensilva in Verbindung. Das Tagebuch fesselte ihn ohnehin, denn es berichtete von einer wilden, gesetzlosen Zeit, die sich Optimus in der ruhigen Branscomber Gegend kaum vorstellen konnte. Anders verhielt es sich mit den Briefen. Optimus trug gewisse Bedenken, sie zu lesen, vor allem deshalb, weil sie von einer großen Leidenschaft erzählten. Dies war der erste der vielen Abende gewesen, die Optimus Shute mit der Suche nach Grace Pensilva zugebracht hatte. Darum stand er jetzt verwirrt und erschöpft an seinem Stehpult. Ihr geheimnisvoller Schatten schien ihn zu locken, während er die vergilbten Seiten umblätterte, die ihm Dr. Cornish anvertraut hatte, während er versuchte, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, Traum und Wirklichkeit voneinander zu scheiden. Und als er Tage später Dr. Cornish auf der Straße begegnete, wagte er nicht, seinem mürrischen alten Nachbarn zu gestehen, daß er Mrs. Troup bereits aufgesucht und befragt hatte. »Ich weiß nicht, ob ich das soll, mich von einem wildfremden Menschen über Grace Pensilva aushorchen lassen«, hatte Mrs. Troup erwidert, als die üblichen Artigkeiten ausgetauscht waren und Optimus seine erste Frage gestellt hatte. »Aber was kann das schaden?« wandte Optimus ein. »Ich würde Sie gewiß nicht stören, wenn ich es vermeiden könnte. Doch es gibt niemanden sonst, der sie so gut kannte wie Sie. Hat sie Ihnen nicht beim Unterricht hier an der Schule geholfen? Sie war eine gescheite junge Frau, nicht wahr? Eine ungewöhnliche Erscheinung in einem Dorf wie Harberscombe.« »Wenn Sie soviel wissen, warum kommen Sie dann überhaupt her und plagen eine arme alte Frau wie mich? Merken Sie nicht, daß mir das weh tut?« Mrs. Troup, eine beeindruckende alte Dame, streckte den Kopf vor, um Optimus über den Rand ihrer Brille hinweg zu mustern. Er nahm an, daß sie früher eine ungeduldige, herrische Schulmeisterin gewesen war. -30-
»Es war zunächst nicht meine Idee. Dr. Cornish hat mir...« Sie fiel ihm ins Wort. »Dr. Cornish ist ein aufdringlicher alter Kerl, der in alles seine Nase reinstecken muß«, sagte sie und schloß die Hände um die Armlehnen ihres Sessels, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Mit dem will kein anständiger Mensch was zu tun haben, mit dem alten Quacksalber. Dr. Cornish weiß nichts von Grace Pensilva, gar nichts. Wenn der Sie auf Grace gebracht hat, dann ist es am besten, Sie vergessen erst mal alles, was er Ihnen erzählt hat.« »Also war Grace doch eine Mörderin? Das hat mir jemand anders gesagt.« Emma Troup setzte sich brüsk auf und umklammerte die Sessellehnen so fest, daß ihr die Arme zitterten. »Wenn Sie das glauben, Mr. Shute, brauchen Sie wirklich nicht mit mir zu reden. Grace Pensilva war vieles, und nicht alles, was sie tat, war rechtschaffen, ich meine so, wie sich’s die Leute vorstellen, aber eine Mörderin... Nein, eine Mörderin war sie nicht. Wenn Sie sich bloß bestätigen lassen wollen, daß sie doch eine war, dann heben Sie sich Ihre Fragen für Nancy Genteel auf, falls die Sie ins Haus läßt, oder für Mrs. Coyte, falls Sie die finden.« »Ich habe nicht gesagt, daß ich das glaube. Ich habe nur gesagt, daß ich es gehört habe.« »Ihr heutigen Schulmeister lernt wohl nicht mehr, daß man nicht alles glauben darf, was einem die Leute erzählen, schon gar nicht in einem Dorf wie Harberscombe. Hier gibt’s Vorurteile, jede Menge Vorurteile.« »Genau. Eben das führt mich zu Ihnen, Mrs. Troup. Ich bin sicher, daß Sie über solche Kleinlichkeiten erhaben sind.« Erfreut stellte Optimus fest, daß er den richtigen Ton getroffen hatte, denn die alte Dame beruhigte sich, und so fuhr er fort: »Grace war nicht aus Harberscombe gebürtig, oder? Ich habe gehört, Emma Troup sei einer der wenigen Menschen gewesen, die wirklich freundlich zu ihr waren, die sie wirklich anerkannt -31-
haben.« »Wenn die Verhältnisse beschränkt sind, sind’s die Leute oft auch, Mr. Shute. Ich hab’ nicht mehr getan, als jeder Christenmensch tun soll. Die Pensilvas waren nicht mal von weit her, bloß vom anderen Ufer des Tamar, aber Cornwall ist eben Cornwall, da hilft alles nichts. Sie waren arm wie die Kirchenmäuse, aber sie haben tüchtig gearbeitet, und der alte Pensilva hat Charles Barker, dem Verwalter von Leet, gut zugeredet, daß er’s mit ihm als Pächter versuchen soll. Ist auch ordentlich gegangen, er hat sogar die Schule für Frank bezahlen können, in Ashburton, da kam die Cholera... Sie sind an der Cholera gestorben, müssen Sie wissen, alle beide, Vater und Mutter. Frank war noch zu jung, der hat den Hof nicht übernehmen können, war sowieso ein unruhiger Geist und eingebildet außerdem, der wäre nie hiergeblieben und hätte als Knecht gearbeitet. Also ist er weg und hat als Matrose angeheuert und ist lang nicht mehr nach Harberscombe gekommen, viele Jahre nicht, und wenn Sie mich fragen, für Grace und für alle wär’s am besten gewesen, er hätte sich hier nie wieder blicken lassen. In Harberscombe hat man seine neumodischen Ideen nicht brauchen können. Aber das hat Grace natürlich nicht so gesehen.« »Und was geschah mit Grace?« »Die alte Miss Delabole hat sie zu sich genommen, als Gesellschafterin, könnte man sagen. Ich hab’ sie empfohlen, aber Grace war mir nie dankbar dafür, oder sie hat’s nicht gezeigt, das war nicht ihre Art. Jedenfalls hat sie da gute Manieren gelernt, das Reden auch, ich meine, so wie die besseren Herrschaften, und Französisch und ich weiß nicht was noch alles. Oh, Miss Delabole hat aus Grace eine richtig feine Dame gemacht! Aber sie hat ihr leider nicht das Geld vererbt, das dazu gehört, obwohl viele geglaubt haben, daß sie’s tut. Grace wahrscheinlich auch. Grace hat hier nicht hergepaßt. Wenn sie auf die schiefe Bahn gekommen ist – das hat nicht an -32-
ihr gelegen. Grace war kein böser Mensch, und wie sie dann geworden ist, das war wegen der Gerechtigkeit.« »Wegen der Gerechtigkeit?« »Grace Pensilva hat sich unter Gerechtigkeit was anderes vorgestellt als Gesetze. Sie meinte, mit den Gesetzen würde man sein Recht doch nie bekommen. Sie hatte ihre eigenen Ideen davon, was Gerechtigkeit ist. Da war sie wie ihr Bruder, wie Frank, von dem hat sie ein paar von ihren Ideen gehabt. Aber sie hat nicht das gleiche gedacht wie er, sie hat nicht geglaubt, daß man alles in der Welt über den Haufen schmeißen muß mit Politik und Philosophie – oder mit dem, was er so genannt hat. Er hat viele Bücher gehabt, ich hab’ sie gesehen, von Cobbett und Paine und diesem Amerikaner, Franklin. Grace ist nicht auf das alles reingefallen, aber wie Frank dauernd darüber geredet hat, das hat ihr imponiert. Mit der Gerechtigkeit war’s was anderes, sie hat gesagt, sie weiß, daß sie die nicht vor Gericht kriegt, und die Leute von Harberscombe, die würden ihr keine Gerechtigkeit gönnen. Aber sie wollte ihre Gerechtigkeit, da war sie stur, und ihr das ausreden – da hätten Sie auch einer Wand was predigen können. Ich hab’s versucht, mehr als einmal, aber es hat keinen Zweck gehabt. Ich hab’ gedacht, ich kenne sie, aber da hab’ ich mich getäuscht. Sie hat ein Gelübde abgelegt, und danach war alles zu spät.« »Ein Gelübde? Was für ein Gelübde?« »Das hat sie mir nie genau gesagt, aber ich hab’s ungefähr rausgekriegt, weil mir Ivor Triggs ein paar Sachen erzählt hat. Den Rest hab’ ich raten können, und sie hat’s nie abgestritten. Was das bedeutet hat, als sie Jan King auf dem Friedhof ins Gesicht gespuckt hat... Da hat man ja wirklich kein Hellseher sein müssen, oder? Wenn Ihnen Dr. Cornish was erzählt hat, dann das ganz bestimmt.« »Ich zerbreche mir immer noch den Kopf darüber, was es bedeutet hat.« -33-
»Oh, das ist ganz einfach. Sie sind zu dritt gewesen, drei Männer in einer Gig. Der erste war der arme blöde Ivor, der zweite war Frank und der dritte Jan King. Und von denen sind nur zwei wieder nach Hause gekommen, Jan und Ivor. Ivor hat sie nicht an den Küstenschutz verraten, der war zu blöd dazu. Na, und wer bleibt dann noch? Für Grace war das sonnenklar.« »Aber es hätte doch auch Zufall gewesen sein können.« »Zufall? Wenn einen das Boot vom Küstenschutz bei Nacht und Nebel findet? Das soll Zufall sein?« Optimus schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt, aber es wäre immerhin möglich.« »Jeder hat gewußt, daß die Gig verraten worden ist. Aber Grace war die einzige, die Gerechtigkeit verlangt hat, ihre Gerechtigkeit, und das sollte gegen Jan gehen, weil er die Gig verraten hat, und gegen den Kapitän vom Zollkutter, weil er Frank die Finger abgehackt hat, denn das war für Frank das Todesurteil gewesen.« »Sie wollen mir also sagen, daß sie Rache suchte. Vermutlich haben Sie Grace danach gesehen, ja? Was sagte sie?« »Wie? Natürlich hab’ ich sie danach gesehen, oft, aber ich verstehe schon, was Sie meinen. Ob ich sie an dem Abend nach der Beerdigung gesehen habe? Ja, da hab’ ich sie gesehen, ich hab’ bei ihr vorbeigeschaut in dem Flauschen, wo sie mit Frank gewohnt hat, seit sie nicht mehr bei Miss Delabole war und er wieder nach Harberscombe gekommen war. Ich bin fast mit Bauer Wroth zusammengerannt, der ist eben aus der Tür gekommen – war ihr Hauswirt –, und ich hab’ nicht lange raten müssen, was der da gewollt hat.« »Worüber haben Sie mit Grace gesprochen?« »Nicht über ihr Gelübde, da noch nicht, das hat mir Ivor erst später erzählt. Nein, ich wollte mit ihr über Jan King reden, wollte ihr sagen, daß sie die Leute leben lassen soll. Aber sie hat mir nicht zugehört, hat nur gesagt, ich wäre genauso wie die -34-
anderen in Harberscombe, nichts auf die eigenen Leute kommen lassen und gegen sie.« »Sie hatte also ein Gelübde abgelegt. Hing das mit ihrer Rache zusammen? Den einen Mann kannte sie, aber wußte sie auch, wer der andere war?« »Sie hat geglaubt, daß sie’s weiß, hat geglaubt, den findet sie in Salcombe. Man hat sich die Geschichte damals überall erzählt, bloß eben so, wie’s die vom Küstenschutz gesehen haben.« Optimus hatte das Gefühl, daß er Fortschritte machte. Zwar sagte Mrs. Troup ihm nicht alles, was sie wußte, bei weitem nicht, doch sie öffnete sich ihm ein wenig. »Jan King war also schuldig, aber das Dorf stellte sich hinter ihn. Was war das für ein Mensch? Sie haben ihn doch gekannt.« »Jan King war Fischer, Mehr kann ich nicht von ihm sagen.« Jetzt verschloß sie sich wieder. Nun, er konnte warten, er konnte versuchen, am Sonntag nach dem Gottesdienst mit ihr zu sprechen. Sie war eine tiefgläubige Frau, die mit großer Inbrunst im Kirchenchor sang. »Was für ein Glück für Grace, daß sie eine Freundin wie Sie hatte, an die sie sich wenden konnte«, murmelte Optimus diplomatisch, als er sich erhob und seinen Mantel anzog. »Grace hat keine Freundin gewollt«, sagte Mrs. Troup in entschiedenem Ton, »die hat niemandem getraut.« »Nicht einmal Ihnen?« »Nicht einmal mir. Und Hilfe hat sie auch keine gewollt, auch nicht, als Eric Wroth sie vor die Tür setzte. Ich hab’ ihr gesagt, sie kann eine Weile bei mir wohnen und mir in der Schule helfen, bis sie weiß, was sie machen will und wo sie hin will, aber nein, das hat sie nicht gewollt. Sie hat gewußt, ich würde versuchen, sie abzubringen von dem, was sie vorhat. Und deswegen hat sie lieber für Mrs. Coyte gearbeitet, in der -35-
Langstone-Mühle. Sie hat gewußt, bei der Coyte, da vergißt sie ihren Frank nicht, dafür sorgt die Coyte schon. Deswegen ist sie hin und hat den Mund gehalten und sich nach der Decke gestreckt, und die Zeit ist vergangen, und es hat so ausgesehen, wie wenn sie sich mit allem abgefunden hätte.« Jetzt, wo Optimus gehen wollte, schien die alte Dame wieder zum Reden aufgelegt. »Sie hat Frank sehr nahe gestanden, nicht wahr?« Optimus war bereits an der Tür. »Ich habe mich gefragt, ob Sie etwas davon wissen. Ich habe einige Briefe gelesen...« »Was für Briefe? Die von Frank? Ich will gar nicht wissen, wie Sie an die gekommen sind, aber denken Sie bloß nicht, daß ich Ihnen was über Grace und Frank erzähle, das ist alles nur dummes Geschwätz«, sagte die alte Dame heftig. »Wenn Sie darüber reden wollen, dann müssen Sie zu Mrs. Coyte gehen, aber bei der ist jedes zweite Wort gelogen, das sag’ ich Ihnen gleich. Und jetzt lassen Sie mich in Frieden. Ich bin müde, sehen Sie das nicht? Mehr kann ich nicht über die alten Sachen sagen – da kommen einem bloß schlechte Erinnerungen.« »Eine letzte Frage«, sagte Optimus und schob den Türriegel zurück. »Wie würden Sie Grace Pensilva beschreiben? Würden Sie sagen, daß sie ein guter Mensch war?« »Für jemand, der gläubig ist, ist das gar keine so einfache Frage«, erwiderte Mrs. Troup. »Alles in allem war sie wohl ein guter Mensch, aber... Na ja, vielleicht auch nicht. Es gibt zuviel, was ich nicht gewußt hab’ von ihr. Aber ich hab’ ihr verziehen – ich meine, ich hab’s versucht.« Die Frau, die Frederick Genteel so beunruhigt hatte, stand immer noch auf dem Friedhof, wo Ivor Triggs gerade die letzte Erde auf das Grab schaufelte. Das Gesicht der Frau war von der Erde beschmutzt, in die sie die Finger gegraben hatte, und der Regen löste die Erde zu Rinnsalen auf, die über ihre Wangen -36-
liefen wie Tränen. Doch sie weinte nicht. »Jetzt nicht«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern, »nicht, solange sie wissen, daß sie Grund zur Furcht haben.« Sie streckte vorsichtig die Hand nach Ivor aus, zog sie jedoch wieder zurück, bevor sie seinen Ärmel berührte. Hörte er ihr zu? Sie glaubte es nicht. Gewiß war er im Geist immer noch auf See, gefangen unter dem gekenterten Boot, während er versuchte, sich darüber klarzuwerden, was geschehen war und was die Geräusche, die zu ihm drangen, zu bedeuten hatten: Rufe, das Splittern von Holz, das Klirren von Waffen, das Plätschern des Wassers, als jemand davonschwamm... »Wir wissen, was geschehen ist, nicht wahr, Ivor, wir wissen, was Frank zugestoßen ist, wir kennen den Namen seines Verräters.« »Ivor weiß, was er weiß«, sagte der Glöckner und stützte sich auf seine Schaufel. »Du wirst sehen. Ivor, das gibt für einige Leute noch ein böses Erwachen.« »Ja, ja, für uns arme Fischer geht es nie gut aus.« Er klopfte mit seiner Schaufel die Erde fest. Sie ließ ihn stehen und ging ins Dorf hinunter, vorbei am Gasthaus »Trafalgar«, aus dem immer noch Lärm und der Dunst von Tabakqualm und Branntwein drangen, vorbei an der Werkstatt des Wagners, wo sich die Straße zu einem ungepflegten Dorfanger verbreiterte. Durch eine Reihe von Holunderbüschen waren die massigen Ställe des Home-Hofes sichtbar. Ein Stück weiter säumten kleine Häuser mit Reetdächern die Straße. Als sie hinter ihnen um die Ecke bog, riß ihr der feuchte Westwind die Kapuze vom Kopf und schlug ihr ins Gesicht. Das kleine Haus, vor dem sie stehenblieb, hatte kein Schloß an der Tür, denn wie in den meisten Häusern in Harberscombe gab es darin nichts für einen Dieb. Sie schob den Riegel zur Seite und trat in den Raum, dessen Boden aus Kalkasche -37-
bestand. Unter den niedrigen Deckenbalken, gezimmert aus dem Holz eines alten Wracks, verlor sich das trübe Licht, das durch die Fenster fiel. Die Ränder ihres irdenen Geschirrs, säuberlich auf der Anrichte aufgereiht, schimmerten matt. Ein mit Sand blankgescheuerter Kiefernholztisch und vier Stühle standen düster und leer in der Mitte des Raumes. Das Feuer im Kamm war erloschen. Die junge Frau knöpfte ihren Umhang auf und hängte ihn an einen der beiden Haken neben der Tür. Als sie die Hand zurückzog, streifte sie die Seemannsjacke auf dem anderen Haken. Einer plötzlichen Regung folgend, nahm sie die Jacke herunter und vergrub ihr Gesicht in dem groben Wollstoff. Sie konnte das Salz darin riechen und den Schweiß. Nur das war übriggeblieben vom Warten auf die Flut, von dem schäumenden Gischt, der über den Bug sprühte, von der Plackerei mit hölzernen Fässern und von den Nachtmärschen mit den schwerbeladenen Eseln. In jenen Nächten hatte sie zu Hause gewartet und gewartet. Aus Angst vor dem Küstenschutz hatte er sie nie mitkommen lassen. Ihre Schultern zitterten, aber sie weinte noch immer nicht. Sie sah sein offenes Gesicht mit dem scheuen Lächeln unter dem blonden Schnurrbart, sah seine blauen, klaren Augen, hörte seinen Schritt; müde ließ er sich auf seinen Stuhl sinken. Auf dem Kamineinsatz summte der Kessel, und sie machte Tee für ihn. Er nahm den Becher in seine kräftigen Hände und führte ihn an die Lippen, trank wohlig seufzend einen tiefen Schluck und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Tropfen hingen an seinem Schnurrbart. Seine Lippen öffneten sich, als wolle er etwas zu ihr sagen, doch es kam kein Laut. Nur das Schlagen ihres Herzens, hämmernd, drängend, erfüllte den Raum. So laut klopfte ihr Herz, daß sie das Klopfen an der Tür erst nicht hörte. Als sie es schließlich doch wahrnahm, warf sie die Jacke auf einen Stuhl, holte tief Luft und öffnete die Tür. »Was gibt’s?« fragte sie herausfordernd den Mann, der auf -38-
der Schwelle stand. »Ich darf doch reinkommen, ja? Hier draußen regnet’s wie der Teufel, und ich will mich nicht erkälten«, sagte der Mann, als er sich an ihr vorbeidrückte. Er brachte den Gestank von Kuhstall und kaltem Rauch in den Raum. »Wenn Sie kondolieren wollen – das können Sie sich sparen. Ich will Ihr Mitleid nicht. Als alles noch gut lief, haben Sie sich hier nie blicken lassen.« »Du müßtest mich eigentlich ’n bißchen besser kennen. Deswegen komm’ ich nicht.« »Ja, ich weiß. Sie sind aus einem anderen Grund hier. Raus damit, Bauer Wroth; sagen Sie, was Sie zu sagen haben.« »In der Langstone-Mühle ist ’ne Stelle für dich frei. Die suchen ’ne Magd. Da kannst du umsonst wohnen, kriegst freie Verpflegung und 'n Taschengeld.« »Wer sagt, daß ich eine Stelle will? Wenn ich eine brauche, kann ich mir selbst eine suchen.« Bauer Wroth trat von einem Fuß auf den andern und drehte seinen nassen Hut in den Händen. »Du kannst hier nicht mehr lang bleiben. Ohne das Geld von Frank, nur mit den paar Pfennigen, die du dafür kriegst, daß du Mrs. Troup in der Schule hilfst, kannst du dir das Haus hier nicht leisten. Für ’ne Frau allein ist es sowieso zu groß.« Das war es also. Grace zögerte eine Weile mit ihrer Antwort. Was Frank zugestoßen war, war so plötzlich und unerwartet gekommen, daß sie keine Zeit gefunden hatte, über die Folgen nachzudenken. Und nun fiel Eric Wroth blitzschnell über sie her. Er war ein guter Hauswirt, das hieß, er verstand sich darauf, seinen Vorteil zu wahren. Wenn die Miete nicht ordnungsgemäß bezahlt wurde, wie sollte er dann seinen Besitz instand halten? Wer konnte es ihm verdenken? So brachte man es zu etwas in Harberscombe: Man kaufte ein kleines Stück Land und bestellte es in seiner freien Zeit. Mit dem, was es abwarf, kaufte man -39-
mehr. Wenn man Felder genug hatte, kaufte man Häuser und erwarb vom Mietzins weiteres Land. Das war der einzige Weg, der Tretmühle der Armut zu entrinnen, die das ewige Los der Tagelöhner und der Fischer war. Wroth war diesen Weg gegangen; er wurde schon grau, doch er hatte sich mit großer Mühe emporgearbeitet und sich in einem Haus aus Stein eingerichtet, dem Haus, das Miss Delabole gehört hatte. Wroth hatte es von ihren Erbschaftsverwaltern gekauft und dabei wieder ein vorteilhaftes Geschäft gemacht. Wer konnte es ihm verdenken? Seinen Vater hatte der Schlag getroffen, als er hinter dem Pflug eines anderen herging. »Wir haben bis Michaeli bezahlt.« Der Bauer nickte. »Da hast du noch drei Wochen Zeit. Aber dann mußt du ausziehen.« »Wenigstens sind Sie kein Heuchler, Eric Wroth, Sie vergießen keine falschen Tränen über meine Not. Das weiß ich zu schätzen. Ich werde Ihr Haus in drei Wochen verlassen, und möge es Ihnen guten Gewinn bringen. Doch einstweilen ist es noch mein Haus, und ich muß Sie bitten, es zu verlassen.« »Mr. Coyte, der Müller von Langstone, ist kein schlechter Mann. Er war ’n Freund von deinem Vater, er ist sicher nett zu dir«, meinte der Bauer, als er seinen Hut aufsetzte. Die junge Frau nickte. Wroth dachte zuerst an sich, aber er war kein schlechter Kerl. »Ich werde morgen zu ihm gehen.« »Sag ihm, ich hab’ dich geschickt, Grace, dem hab’ ich mehr als einmal ’nen Gefallen getan.« Mit diesen Worten trat er rasch in die Dämmerung hinaus. Tief in Gedanken nahm Grace Feuerstein und stahl vom Kaminsims, um eine Kerze anzuzünden. Als die Flamme aufflackerte, sah sie ein blasses Gesicht am Fenster, das in den Raum starrte. Sie erkannte Emma Troup und ging widerwillig zur Tür. Warum konnten die Leute sie nicht in Ruhe lassen mit -40-
ihrem Kummer? Ein Schatten unter Schatten, stellte der Mann, nachdem er das Grab mit Erde aufgefüllt hatte, seine Schaufel fast ehrfürchtig unter das Vordach der Kirche und gab darauf acht, nicht das leiseste Geräusch zu machen. Er war abergläubisch, und allein schon der Umstand, daß er sich nach Einbruch der Dunkelheit allein auf dem Friedhof befand, flößte ihm Furcht ein. Doch nun, nach all den Dingen, die er gesehen und den Worten, die er gehört hatte, sah Ivor Triggs überall Gespenster. Der Regen prasselte auf das Schieferdach, und der Wind seufzte in den Eiben. Die Grabsteine waren wie schwarze Spielkarten auf einem grauen Tisch, der Wind fauchte in den Dachtraufen und heulte um den Turm. Zerrissene Wolken jagten dicht über seinem Kopf dahin, ihre Ränder flatterten wie der Umhang einer Frau. Graces hartnäckige Fragen gingen ihm nicht aus dem Sinn. Wie dunkel war es gewesen? Hätten Fremde, wenn sie die Gewässer ein wenig kannten, die Stelle finden können? Habe jemand in der Gig leichtsinnig ein Geräusch gemacht, irgendein Zeichen gegeben, das sie verriet? Immer wieder hatte sie ihn dasselbe gefragt, bis ihm schwindelte und seine Rede sich noch mehr verwirrte, doch sie blieb unnachgiebig, und er ahnte, worauf sie hinauswollte. Wie konnte die Gig ohne ein Zeichen entdeckt worden sein, weit draußen auf See, in schwarzer Nacht und bei dichtem Nebel? Sie mußten verraten worden sein. Aber er konnte sich nicht erinnern. Viel, zu viel konnte er nicht vergessen, das Knirschen von Holz an Holz, das Blitzen der Blendlaterne, den verzweifelten Versuch, das letzte Faß über Bord zu werfen, die Wellen, die über ihm zusammenschlugen, während er die Fingernägel in eine Ruderbank grub und entdecken mußte, daß sein Kopf in dem beengten Raum -41-
zwischen Ducht und Kiel des gekenterten Bootes eingezwängt war. Wie sollte er die entsetzliche Angst vergessen, die er ausgestanden hatte, weil er nicht schwimmen konnte? Und dann der gedämpfte Schrei, der von dem Logger der Küstenwache kommen mußte, eine Stimme, die schrie: »Um Christi willen, Kapitän! Erbarmen! Ich bin’s, Frank Pensilva! Erbarmen!« Ein dumpfer Schlag und dann Stille, darauf das Geräusch von Ruderschlägen und wieder Stille, als er von dem Bootsrumpf freikam und sich erschöpft quer darüberlegte. Wie sollte er die Einsamkeit vergessen, die Einsamkeit der langen Nacht? All dies hatte er ihr erzählt, hatte es wiederholt, doch es genügte ihr nicht. Stück für Stück hatte sie ihm alles entlockt, aber da war noch etwas. Viel später erst war es ihm wieder eingefallen, als der Sarg schon aus dem Haus getragen wurde und sie auf die Straße trat. »Jan King hat seine Pfeife angezündet«, hatte er geflüstert, und da war sie erstarrt. Sie hatte geradeaus geblickt und nicht mehr auf ihn, Ivor, geachtet, denn nun hatte sie ja erfahren, was sie hatte wissen wollen. Als sie dann auf dem Friedhof Jan King ins Gesicht gespien hatte, war er trotzdem nicht darauf gefaßt gewesen, denn seinen langsamen Verstand kostete es Mühe, beide Ereignisse in einen Zusammenhang zu bringen. Er hatte nur das dunkle Gefühl, daß es ein Fehler gewesen war, ihr von dem Vorfall zu berichten... Der Regen ließ nach, und er stieg die Stufen zur Gasse hinunter, die zu dem nun hell erleuchteten Wirtshaus führte. Als er um die Ecke bog, zuckte er zusammen, denn eine Gestalt in einem weiten Umhang stürmte auf ihn zu. Er wich zurück und verbarg sich im Schatten. Sie eilte vorbei, keine zwei Meter von ihm entfernt, nah genug, daß er ihr starres Gesicht sehen konnte. Das war nicht die Grace, die er zu kennen glaubte, dies war ein anderer Mensch, und obwohl er sich fürchtete, folgte er ihr, als gehorche er einem inneren Zwang. »Nein, Frank, ich werde dich nie vergessen«, hörte er sie -42-
sagen, als sie am Grab stand. »Alle andern mögen dich hier unter der kalten Erde vergessen, aber ich nicht. Ich werde nie vergessen und nie vergeben, das schwöre ich!« Ivor drückte sich ängstlich gegen die Friedhofsmauer, damit sie ihn auf ihrem Rückweg nicht entdeckte, und wartete. Als sie fort war, rannte er, rannte dem Licht und der sicheren Küche seiner Mutter entgegen. Es gab mehrere Wege, die von Harberscombe zur See führten. Einer schlängelte sich durch die uralten Wälder, die in der Nähe der Langstone-Mühle die Mündung des seichten Arun einfaßten, der dort, von Dartmoor kommend, ins Meer floß. Ein anderer führte an Gut Okewell vorbei zu dem Priel, das der Armouth hinter dem Back bildete. Dort dümpelten die Logger und Stechkähne an ihren Liegeplätzen oder lagen zum Trocknen auf dem harten Sand. Das war der Weg, den die Fischer benutzten an jenen fast windstillen Tagen, wo sie die Sandbank gefahrlos überqueren und ihre Hummerkörbe versenken oder Schleppnetze auswerfen konnten. Als Grace den Friedhof verließ, folgte sie einem dritten Weg, einer langen, geraden Straße, die an einem Hügelkamm entlang zur nächsten Landspitze führte. Der Sturm, der mit der Abendflut gekommen war, hatte seinen Höhepunkt erreicht. Es regnete nicht mehr, doch der Wind brauste von Süden gegen die Küste. Die Wogen des Atlantik prallten gegen die Steilküste, und gewaltige Gischtfahnen stiegen auf. Die Sandbank vor der Armouthmündung war ein Hexenkessel von schäumendem Weiß; Sturzwellen brachen sich und schlugen übereinander. Aus einem einsamen Haus hoch oben über der Bucht drang der matte Schein eines Lichts. Jan King war der einzige, der so nah bei den Booten wohnte, und sein Haus war ein Seezeichen, an dieser Stelle gebaut, damit Jans Vater, der Lotse, die Lastkähne aus Plymouth an den Riffen vor der Küste vorbei sicher in die Mündung steuern konnte. Was mochte Jan King denken, allein in diesem Haus? Vielleicht dachte er an sie und hatte Furcht vor -43-
ihr, aber das würde vergehen. Der Weg verlor sich in einem Feld, und nasses Gras durchweichte Graces Stiefel. Hin Stück vor ihr stieg die runde Kuppe des Barrow auf, der höchsten Landspitze an dieser Küste. Es hieß, hier hätten die Strandräuber früherer Jahrhunderte ihre Leuchtfeuer angezündet, um die großen Schiffe anzulocken. Oben angekommen, blieb sie keuchend stehen. Ein paar Meter vor ihr fiel das Kliff steil ab, und an seinem Fuß schlugen die Wogen mit unaufhörlichem, zischendem Brausen gegen zerklüftete Felsblöcke. Einen Augenblick war ihr, als warte sie auf eine Bö, die sie erfassen und von den Klippen in die Tiefe stürzen würde. Doch dann richtete sie sich auf und blickte ruhig aufs Meer hinaus. Weit draußen, wo verborgene Klippen auf Schiffe warteten, die sich im Sturm verirrt hatten, begann ein Flecken bläulichen Mondlichts über die Wellen zu tanzen, wanderte rasch auf die Küste zu und breitete sich nach Osten und nach Westen aus. Dort, in der Mitte dieser silbrigen Mäche, hatte Frank um sein Leben gekämpft, hatte um sein Leben gefleht und es doch verloren. Niemals, das wußte Grace, niemals würde sie den Schwur vergessen, den sie sich an seinem Grab gegeben hatte. Wie hoch der Preis auch sein mochte, sie würde ihn bezahlen. Sie weinte, endlich weinte sie, und das Salz ihrer Tränen vermischte sich mit dem des Gischts, der ihr Gesicht besprühte; sie weinte, und der Wind peitschte ihr Haar gegen ihre Stirn; sie weinte, und ihr Mund, der Mund eines Kindes noch, zitterte hemmungslos. Wolken zogen auf, der Mond verschwand, und wieder umgab sie Dunkelheit. Noch immer weinte sie, denn eine Nacht war nicht lang genug, um ihren Kummer zu stillen, den Kummer, an den sie sich klammerte, als sei er ihre Rettung. Der Welt gegenüber würde sie von heute an eine Maske der Gleichgültigkeit aufsetzen, aber sie würde nicht aufhören, um Frank zu trauern. Sie hatte Zeit, viel Zeit, denn die beiden, die sie zur Rechenschaft ziehen wollte, würden hier an dieser Küste -44-
ihr Leben weiterleben. Sie mußte nichts überstürzen. Optimus machte den Versuch, Ivor Triggs aufzuspüren, denn ein solcher Zeuge, so unzuverlässig er auch sein mochte, durfte nicht außer acht gelassen werden. Wie er jedoch bald entdeckte, bestand die Schwierigkeit dann, daß Ivor schon vor langer Zeit aus Harberscombe fortgezogen war. Seine Mutter hatte ihr Haus aufgegeben und den armen Tropf mitgenommen. Ivor war »nicht ganz richtig im Kopf«, wie es die Leute ausdrückten. Die wenigen, die sich noch an ihn erinnern konnten, bestätigten, daß er nach dem Zwischenfall mit der Gig seinen ohnehin schon schwachen Verstand endgültig verloren hatte. Optimus begann voll Eifer, Erkundigungen einzuziehen. Er befragte den Fuhrmann, den Postboten, doch vergebens: Ivor Triggs und seine Mutter, die inzwischen eine alte Frau sein mußte, blieben verschwunden, als habe sie der Erdboden verschluckt. So war Optimus gezwungen, sich wieder auf unsichere Quellen zu stützen, auf bloßes Gerede. Überall stieß er auf Mißtrauen, und auch Mrs. Troup gab sich ihm gegenüber sehr reserviert. »Warum fragen Sie immer wieder dasselbe, Mr. Shute? Haben Sie nichts Besseres zu tun? Fällt Ihnen nichts anderes ein als dieser alte Kram?« »Die Wahrheit, Mrs. Troup, ich will herausbekommen, was in Wahrheit passiert ist.« »Wahrheit! Wahrheit! Ja, über die schwatzen viele junge Leute. Die meinen alle, sie wäre so einfach zu haben, wie man in der Schule das Rechnen lernt. Ich will Ihnen was sagen: Die Wahrheit ist schon so lange begraben wie Grace Pensilva, und die Leute haben sie beide nicht leiden können. Und wenn Sie die Wahrheit herausbekämen, was würde Ihnen das nützen?« »Dann könnte ich vielleicht Grace Pensilva rechtfertigen.« »Grace Pensilva rechtfertigen!« Die alte Dame lachte bitter, -45-
wie über etwas, das sich ohnehin nie ändert. »Wissen Sie denn nicht, daß es zwei Arten von Gerechtigkeit gibt? Die eine ist die sanfte, fromme Art, alles zu vergeben und zu vergessen, und die andere ist nichts als Vergeltung, Auge um Auge und Zahn um Zahn. Lesen Sie in Ihrer Bibel nach, Mr. Shute, dann merken Sie schon, was es auf sich hat mit der Rechtfertigung.« Optimus schien es, als habe er das, was sie sagte, schon einmal gehört. Dann fiel es ihm ein: Dr. Cornish hatte davon gesprochen. Der Alte schien wirklich genau zu wissen, was in den Köpfen der Leute vorging. Umständlich putzte Mrs. Troup ihre Brillengläser mit ihrem Halstuch. Als sie damit fertig war, sah sie Optimus durchdringend an. »Man hat ihr also nicht vergeben«, sagte er. »Gehen Sie zum alten, einäugigen Scully und fragen Sie ihn, ob man ihr vergeben hat. Der könnte Ihnen erzählen, was in Salcombe passiert ist, wenn er mag, aber er mag bestimmt nicht, weil er da nicht gerade viel Ehre eingelegt hat.« »Was ist in Salcombe geschehen? Sie wissen doch sicher darüber Bescheid.« »Nur ein bißchen. Grace ging nach Salcombe, das weiß ich. Sie wollte den Kapitän von dem Zollkutter finden. Aber der war nicht mehr da. Als sie hingekommen ist, war jemand anders Kapitän.« »Scully?« »Wenn Sie das alles schon wissen, warum soll ich’s Ihnen dann sagen? Wahrscheinlich hat Ihnen Dr. Cornish schon von dem Mann mit der Maske erzählt, der es Frank Pensilva besorgt hat.« Optimus schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht sicher, ich hab’s nur gehört. Aber warum sich der Kapitän vom Zoll eine Maske aufgesetzt hat, das hab ich nie verstanden. Sicher weiß ich nur, daß Grace Pensilva rauskriegen wollte, wer er war. Aber als sie zurück war von Salcombe, war sie kein -46-
bißchen schlauer. Solang sie in Harberscombe lebte, hat sie den Mann nicht gefunden.« »Sie wußten doch, was Grace vorhatte. Und andere müssen es zumindest geahnt haben. Wie steht es zum Beispiel mit Jan King? Der hegte doch sicher Mißtrauen gegen sie? Wenn nicht, wäre er reichlich töricht gewesen.« »Ach, Jan King«, murmelte Mrs. Troup, und ihr Blick verschleierte sich plötzlich, »der arme Jan. Der hat von Grace nur das geglaubt, was er glauben wollte. Jan war nicht dumm, nein, aber er war verliebt in Grace, ja, das war er. Grace hat’s natürlich gewußt. Sie hat Katz und Maus gespielt mit ihm, hat sich Zeit gelassen, viel Zeit, bis er fast vergessen hatte.« »Aber Sie wußten doch mehr als er. Sie wußten von dem Gelübde, das Grace abgelegt hatte. Sie haben sich bestimmt nicht täuschen lassen.« »Täuschen lassen? Doch, natürlich. Grace hat nie mehr von den alten Sachen geredet. Die Tage sind vergangen, die Wochen, die Monate, und es hat so ausgesehen, wie wenn sie alles vergessen hätte, und wir haben’s auch vergessen, wir haben nie gedacht, daß sie nur so tut.« Mrs. Troup hielt inne und seufzte. »Ich hab’ immer geglaubt, ich kenne Grace. Als sie noch bei Miss Delabole war, haben wir viel gelacht zusammen, manchmal ist sie auch zu mir gekommen, und wir haben uns nett unterhalten. Aber die richtige Grace, Mr. Shute, die war hart, hart wie Stein. Wenn der jemand was Böses getan hat oder wenn sie sich eingebildet hat, jemand tut ihr was Böses, dann hat sie sieh durch nichts mehr aufhalten lassen.« »Und Sie haben Jan nie von dem Gelübde erzählt, von dem, was Ivor Ihnen sagte?« »Nicht lang und breit. Was Ivor gesagt hat, das hat man nicht so genau nehmen dürfen. Ich hab’ Jan gewarnt, ja. Aber er wollte nicht hören. Jan war vernarrt in Grace, immer schon, der wollte nur das Beste von ihr denken.« -47-
»Wie konnte er nur so blind sein?« »Ach, Mr. Shute, man merkt gleich, daß Sie noch jung sind. Sie haben keine Ahnung, was sich ein Mann, der verliebt ist, von einer Frau alles einbilden kann. Ich seh’ Ihnen an, daß Sie mir nicht glauben, aber ich hab’ was hier, und wenn Sie das sehen, glauben Sie mir vielleicht.« Mrs. Troup öffnete ihr Nähkästchen, stöberte eine Weile dann herum, stach sich in den Finger und holte schließlich einen zusammengefalteten, vergilbten Zettel hervor. Nachdem sie ihn auseinandergefaltet und einen Blick darauf geworfen hatte, reichte sie ihn Optimus, der die neun Worte, die auf dem Zettel standen, nicht lesen konnte. »Was ist das für eine Sprache?« »Ich hab’ gedacht, ein studierter Mann weiß das gleich! Das ist Französisch. Und die Schrift, die kennen Sie doch, oder?« Optimus nickte. Ja, die Schrift war ihm vertraut, denn er hatte sie viele Male in den Papieren gesehen, die ihm Dr. Cornish gegeben hatte. »Ich kenne die Schrift, aber ich kann die Worte trotzdem nicht lesen. Sie wissen, was das heißt, nicht wahr?« »Ich hab’s mir mal sagen lassen, aber ich weiß nicht, ob das gestimmt hat. Sie müssen jemand finden, der Ihnen das richtig übersetzt. Versuchen Sie’s bei Mrs. Lackland, die war bei den französischen Nonnen auf der Schule, in London. Sie sucht jemand, der ihr bei den guten Werken für die Gemeinde hilft. Helfen Sie ihr ein bißchen, dann übersetzt sie es Ihnen sicher.« »Wir werden sehen«, sagte Optimus, steckte den Zettel in die Tasche und erhob sich. Ein leiser Groll regte sich in ihm; er würde es nicht dulden, daß Mrs. Troup ihn zu irgend etwas drängte. Doch die Neugier plagte ihn jetzt schon, und er fand es schwer, sie zu bändigen, denn er wollte unbedingt wissen, was die Worte bedeuteten. »Wenn Sie zu schüchtern sind, Mrs. Lackland zu bitten, dann -48-
können Sie’s immer noch bei Nancy Genteel versuchen, die weiß auch, was das heißt«, sagte Mrs. Troup stichelnd. »Sie ist jetzt auch älter und sicher nicht mehr so wild auf junge Männer und auf Pferde. Waren Sie schon in Leet? Haben Sie gefragt, ob Sie mit ihr reden dürfen?« »Man hat mir gesagt, sie sei nicht zu Hause.« »Ja, ja, die ist nie zu Hause, Sie sehen bloß am Tag manchmal ein Gesicht am Fenster, und nachts brennt immer Licht. Nancy schläft nicht viel, und das hat seine Gründe. Was sie wollte, hat sie sich genommen, und jetzt hat sie’s, und teilen tut sie nicht. In Leet, da müßte ein Geist umgehen, der von ihrem armen Bruder Frederick, aber wo dessen arme Seele ist, weiß nur Gott allein.« Mrs. Troup schloß die Augen, um zu zeigen, daß sie allein gelassen zu werden wünschte, und begann, mit ihrem Schaukelstuhl sacht hin und her zu wippen. Zwei Tage später kniete sie inmitten von Franks Sachen, die sie aus seiner Truhe genommen hatte. Ihre eigenen Habseligkeiten waren bereits zusammengepackt. Viel hatte er nicht besessen. Sie hob einen Walroßstoßzahn vom Boden auf, mit feiner Schnitzarbeit verziert, die das Gefecht zwischen der Chesapeake und der SMS Shannon darstellte. Sie würde ihn früher oder später wohl verkaufen müssen. Noch brauchte sie nicht Not zu leiden, in einem ledernen Geldbeutel lagen mehrere Goldmünzen: ein paar Napoleondore, ein Dollar und ein südamerikanisches Stück mit Bohvars Bildnis. Doch kostbarer als das Gold waren in Graces Augen die wenigen in Leder gebundenen Bücher, die auf einem Bord neben der Kiste standen: Ein Band von William Cobbett, einer von Benjamin Franklin, ein Kompendium radikaler Nachrichtenblätter und, das war ihr das liebste, Thomas Paines Menschenrechte. Grace nahm das Buch zur Hand, schlug es auf und hielt es hoch empor, damit sie in dem schlechten Licht den kleinen -49-
Druck entziffern konnte. Sie war so sehr in ihre Lektüre vertieft, daß sie nicht hörte, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde. »Du verdirbst dir noch die Augen, Grace. Wann läßt du die Leserei endlich sein?« Grace drehte sich erstaunt um, schlug das Buch zu und drückte es gegen ihre Brust. »Ach, du bist’s, Emma! Du hast mich erschreckt. Warum hast du nicht geklopft?« »Bei uns in Harberscombe klopft man nicht an, wenn man eine Freundin besucht«, sagte Mrs. Troup beleidigt. Obwohl sie Direktorin der privaten Grundschule war, hielt sie wenig von Höflichkeitsformen und großen Umständen. Sie war ein schlichtes Gemüt, hatte nie eine höhere Lehranstalt besucht und beherrschte nur die Anfangsgründe der Arithmetik, doch sie hatte ein gutes Herz, wenn dem auch ihr schroffes Auftreten widersprach. »Du hast recht«, seufzte Grace. »Ich bin wohl etwas nervös.« »Was liest du denn da?« fragte ihre Besucherin besorgt. »Hoffentlich was Frommes. Wenn man Kummer hat, gibt’s keinen besseren Trost als die Religion.« »Das sind auch nur Worte, Emma, nichts als Worte.« Grace ließ das Buch in Franks Kiste fallen und klappte den Deckel zu. »Oh, das ist eins von den Büchern, über die dein Frank immer geredet hat. Die Sachen vergißt du besser. Es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn du so aufsässiges Geschwätz liest. Frank hätte mehr Freunde in Harberscombe gehabt, wenn er den Leuten nicht dauernd dieses Zeug hatte eintrichtern wollen. Wir sind hier in England und nicht in Frankreich oder in Amerika, und wir wollen unsere Ruhe, wir wollen unser Fleisch und unser Bier, und wenn wir dafür ›Gott segne den Gutsherrn‹ sagen müssen, sagen wir's eben. Frederick Genteel ist kein schlechter Mann.« »Frank paßte hier nicht her, das wissen wir beide. Er hätte nicht ausgerechnet in Harberscombe versuchen sollen, die -50-
Meinung der Leute zu verändern. Seit der Reformation hat es hier keine neuen Ideen mehr gegeben.« »So weit würde ich nicht gehen, wir sind ein bißchen langsam, ja, und vorsichtig sind wir auch, nicht so wie ihr jungen Leute, die Bücher lesen und dabei gleich auf dumme Gedanken kommen. Harberscombe ist nichts für jemand wie dich. Du gehst sicher bald weg.« Grace schüttelte den Kopf. »Was soll denn ein helles junges Mädchen wie du in so einem Dorf? Draußen in der Welt, da kannst du’s zu was bringen. Merk dir, was ich sage, du wirst mal was Besseres, du wirst eine richtig feine Dame. Aber nicht hier in Harberscombe, außer du heiratest den Gutsherrn.« »Nun sei nicht dumm, Emma, laß den Unsinn. Was soll das Gerede vom Heiraten und vom Fortgehen? Ich habe hier einiges zu erledigen, und ich gehe, wann es mir paßt.« »Deswegen brauchst du mich nicht so anzufahren, ich hab’s bloß gut gemeint.« »Entschuldigung, Emma, ich bin ein wenig überreizt.« »Ist auch kein Wunder, mein Herz«, sagte Mrs. Troup und legte Grace tröstend den Arm um die Schulter. »Das ist immer hart, wenn einem jemand stirbt, und Frank und du, ihr habt euch ja so gern gemocht, nicht? Du mußt dich nicht so zusammennehmen, das beste ist, du weinst ein bißchen.« Grace löste sich von ihr und trat mit unbewegter Miene ans Fenster. »Was willst du denn machen, wenn du bleibst, Grace?« »Arbeiten.« »Wo? Für jemand wie dich gibt’s keine Arbeit in Harberscombe.« »In der Langstone-Mühle.« »Was? In der Mühle? Coyte ist ein alter Geizhals, das weißt du doch, dort wirst du nicht genug zu beißen kriegen. Nein, nein, das ist nichts für dich. Ich sag’s dir, Grace, hier wirst du -51-
nichts. Du mußt hier weg, und deinen Frank mußt du auch vergessen.« Grace wirbelte herum, ihre grauen Augen waren schmal vor Zorn. »Hör auf!« schrie sie. »Ich mag dir nicht mehr zuhören! Warum soll ich Frank vergessen? Warum wollen das alle? Er war zu gut für Harberscombe, das ist der wahre Grund, und ihr freut euch doch nur, ihn los zu sein.« »Das nicht«, beteuerte Mrs. Troup, sichtlich bemüht, die Beherrschung nicht zu verlieren, »aber wir haben gewußt, was er für einer war, nämlich ein Taugenichts, der dem lieben Gott die Zeit gestohlen hat und große Sprüche klopfte. Frank war nicht so ein feiner Mensch, wie du geglaubt hast.« »Ich verbiete dir, so zu reden. Ich höre mir das nicht an«, sagte Grace und hielt sich die Ohren zu. »Ich weiß, warum du in Harberscombe bleibst, Grace Pensilva.« Mrs. Troups Stimme war plötzlich kalt. »Weil du Frank rächen willst. Aber bild dir bloß nicht ein, daß ich das zulasse. Ivor Triggs hat mir was erzählt, ich kann mir denken, was du willst. Aber das Recht selber in die Hand zu nehmen, das bleibt nicht ungestraft. Man muß vergeben und vergessen, man muß die Leute leben lassen. Laß das sein mit der Rache, hörst du? Wenn du mir nicht versprichst, daß du’s dir anders überlegst, dann warne ich alle, dann geh’ ich notfalls auch zur Polizei.« »Nein, das verspreche ich dir nicht.« »Ich geb’ dir drei Tage. Bis dahin kannst du’s dir noch überlegen. Ist eigentlich zuviel Zeit. Weiß der Himmel, was du bis dahin anstellst.« »Geh jetzt, geh«, befahl Grace tonlos. »Niemand ist so blind wie der, der nicht sehen will«, murmelte Mrs. Troup auf dem Weg zur Tür. »Bleib in Harberscombe, wenn du unbedingt willst, aber denk bloß nicht, daß ich weiterhin deine Freundin bin, wenn du nicht anständig -52-
mit mir redest und niemandem verzeihen willst.« Und damit ging sie aus dem Haus, schlug die Tür zu und ließ Grace mit ihren düsteren Gedanken allein. Es war tatsächlich so, wie sie vermutet hatte: Sie konnte von den Leuten von Harberscombe kein Mitgefühl, kein Verständnis erwarten. Blut war dicker als Wasser. Sie waren alle Cousins und Cousinen – Jan King war auf väterlicher Seite mit Emma Troup verwandt –, und letzten Endes lief es darauf hinaus, daß sie nichts auf ihresgleichen kommen ließen. Einer der Männer in der Gig hatte das Boot an den Küstenschutz verraten, das wußten die Leute von Harberscombe genausogut wie Grace. Ivor Triggs konnte es nicht gewesen sein, dafür war er nicht schlau genug. Und selbst wenn ihn irgend jemand dazu gebracht hätte, so hätte sie es inzwischen herausbekommen; Ivor Triggs hatte noch nie ein Geheimnis für sich behalten können. Nur Jan King kam in Frage, es gab keinen Zweifel, daß er es gewesen war, und sie wußte auch, was ihn dazu getrieben hatte: Neid. Jan war neidisch, weil Frank bei ihren Unternehmungen der führende Kopf war; er war neidisch auf Franks Bildung und seine Intelligenz, und vor allem war er neidisch auf seine enge Beziehung zu ihr, zu Grace. Jan hatte nie begreifen wollen, daß es in ihrer Welt keinen Platz für ihn gab; Frank hatte ihr Leben ganz ausgefüllt. Daß Emma Troup von ihren Plänen wußte, war nicht gut, denn wenn Emma einen Verdacht gegen sie hegte, taten das gewiß auch andere. So mußte sie doppelt vorsichtig sein und in den kommenden Wochen und Monaten versuchen, jeden Argwohn zu zerstreuen. Sie kniete sich wieder auf den Boden und legte Franks Sachen sorgfältig in die Kiste zurück. Morgen früh würde sie zur Langstone-Mühle gehen. Wenige Tage nach seinem Gespräch mit Mrs. Troup war Optimus zur Langstone-Mühle spaziert. Er hoffte, sich Grace Pensilvas Geschichte besser vorstellen zu können, wenn er mit eigenen Augen den Ort sah, an dem sie nach Franks Tod gelebt -53-
hatte. Der Weg führte durch ein Waldgebiet mit uraltem Baumbestand und einigen von Farnkraut überwucherten Lichtungen, und Optimus war, als tauche er ein in eine verwunschene Märchenwelt. Spinnennetze überspannten den schmalen Pfad und zeigten, daß hier seit einiger Zeit niemand mehr gegangen war. Als er von weitem die Langstone-Mühle erblickte, blieb er am Waldrand stehen. Er war sich sicher, daß die Mühle immer noch so aussah wie zu der Zeit, als Grace dort gewohnt hatte, und er ertappte sich dabei, wie er heimlich erwartete, daß sie gleich aus der Tür treten und über den Hof gehen werde. Das Anwesen, eingebettet in ein tiefes, enges Tal, war immer noch halb Bauernhof, halb Mühle, aber über allem lag unübersehbar ein Hauch von Verfall, und der Ort hatte etwas Trostloses, Gottverlassenes. Das ganze Tal war erfüllt von dem schwermütigen Ächzen des alten Mühlrads, und Optimus spürte, wie ihm kalt ums Herz wurde. Er fröstelte. In diesem Augenblick wurde auf dem oberen Absatz einer kurzen Treppe, die in das Wohnhaus des Müllers führte, eine Tür geöffnet, und ein halbverhungerter Collie schlich hinaus. Aus dieser Tür mußte Grace jeden Tag getreten sein, um Feuerholz aus dem Schuppen gegenüber zu holen. Diesmal war es nicht Grace, die dem Hund folgte, natürlich nicht, sondern ein alternder, grimmiger Bauer oder vielmehr Müller, denn er trug eine schmutzige Schürze, die wohl früher weiß gewesen war. Da Optimus keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit dem unfreundlich wirkenden Mann verspürte, wollte er sich gerade in die Büsche zurückziehen, als der Hund ihn witterte, wild zu bellen begann und im Zickzack auf Ihn zugerannt kam. Der Müller wandte den Kopf und musterte den Eindringling mit kaltem Blick. Optimus, entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, schritt über die Wiese auf die Mühle zu, während der Collie ängstlich und angriffslustig zugleich, nach seinen -54-
Gamaschen schnappte. Der Müller erwartete ihn am Hoftor. »Wissen Sie nicht, daß Sie hier auf ’nem fremden Grundstück sind?« herrschte er Optimus an. »Das ist die Langstone-Mühle, nicht wahr? Ich habe gehört, hier gebe es einen öffentlichen Weg. Mrs. Troup hat es mir erzählt; sie sagte, der Weg führe über den Hof, dort wo Sie stehen, und weiter zur Straße nach Uglington.« »So, so, das hat sie Ihnen gesagt. Aber Sie sind nicht auf diesem Weg, der ist da drüben beim Teich. Und hier, wo ich stehe, haben Sie nichts verloren. Ich hab’ keine Zeit für fremde Leute.« Optimus musterte den Müller kühl und wunderte sich über seinen eigenen Mut. Hinter der abweisenden Haltung des Müllers glaubte er eine ausweichende Verschlagenheit zu erkennen. Herr und Hund sind sich ähnlich, dachte Optimus und legte eine Hand auf den Riegel des Tors. Dabei bemerkte er, daß das rechte Auge des Müllers einen weißen Fleck in der Mitte hatte, wie ein Klümpchen Mehl; die Iris war zerstört, und der Mann war halbblind. »Sie heißen Scully, nicht wahr? Und Sie haben einen Sohn, Andrew, der in Branscombe zur Schule geht. Ich bin Mr. Shute, sein Lehrer.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Kommen Sie rein, Herr Schulmeister, kommen Sie rein, und herzlich willkommen.« Optimus lächelte dünn, als der Müller so plötzlich einen anderen Ton anschlug. Meistens wurde man nicht für das geachtet, was man war, sondern für den Titel, den man hatte. »Was ist eigentlich aus den Coytes geworden, die früher hier wohnten?« fragte er harmlos, während er vorsichtig über den dreckigen Hof ging. »Die sind schon lange weg, und man kann nur sagen, Gott sei -55-
Dank«, brummte Scully. »Haben immer ihre Pacht zu spät bezahlt. Bis der alte Barker, der Verwalter von Leet, sie rausgeschmissen hat.« »Und auf diese Weise sind Sie hierher gekommen, ich verstehe. Standen Sie sich gut mit Barker?« »Dem hab' ich mal ’nen Gefallen getan, also hat er mir ruhig auch einen tun können.« »Zweifellos wußten Sie das eine oder andere über Menschen in der näheren Umgebung, das Geld wert war oder zumindest eine bevorzugte Behandlung. Das dürften Sie Ihrem früheren Beruf verdanken.« Scully blieb stehen und blickte Optimus mit seinem gesunden Auge forschend an. »Wie meinen Sie das, mein früherer Beruf?« »Sie waren doch beim Küstenschutz, nicht wahr?« »Wer hat Ihnen das erzählt? Die Troup, die alte Klatschbase, oder?« Als Optimus den Kopf schüttelte, runzelte der Müller die Stirn. »Wer sonst?« »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.« Optimus wollte nicht verraten, daß Dr. Cornish über die Vergangenheit des Müllers Bescheid wußte und ihm davon berichtet hatte. »Deswegen braucht man sich doch nicht zu schämen«, fuhr er fort. »In Harberscombe hat man die Leute vom Zoll nie leiden können.« »Das stimmt wohl, aber Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde es nicht ausplaudern, vorausgesetzt, Sie helfen mir ein wenig.« »Helfen? Was soll das heißen?« »Sie können mir sagen, was Sie von Grace Pensilva wissen.« Einen Augenblick dachte Optimus, der Müller werde sich auf -56-
ihn stürzen, doch er fing sich rasch wieder und fragte betont beiläufig: »Grace Pensilva? Wer ist das?« »Sie hat einmal hier gewohnt, früher, als die Coytes noch da waren. Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht von ihr gehört.« »Hier in dem Haus? Keine Ahnung. Ich hab’ auch noch nie was von ihr gehört.« Optimus wußte, daß Scully log, aber es war sinnlos, dem Mann das zu sagen. Er wechselte das Thema. »Wo ist Ihr Sohn, Mr. Scully? Ich habe ihn nirgends gesehen – und seine Mutter auch nicht.« Scully blickte finsterer denn je. »Wir vertragen uns nicht mehr, die Frau und ich.« »Sie hat Sie also verlassen?« »Könnte man sagen.« Scully zögerte, er wußte nicht recht, was er erwidern sollte. »Oder... ich hab’ sie rausgeschmissen, so war’s. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, wie sie immer ’n besserer Mensch sein wollte als ich. Das Schlimmste auf der Welt, Mr. Shute, das ist so ’ne ganz, ganz Fromme.« »Und der Junge ist wohl gerade bei ihr«, meinte Optimus. »Ja, aber der kommt jeden Moment nach Haus. Das ist mein Sohn, ich hab’ ihn großgezogen, ich hab’ ihm Respekt vor seinem Vater beigebracht.« Ja, das hast du, dachte Optimus, der sich an die Striemen erinnerte, die er an den Beinen und auf dem Rücken des Jungen gesehen hatte. Wer die Rute spart, verzieht das Kind, war ein Grundsatz, der in vielen Harberscomber Familien galt. Ein Mann wie Scully mochte seinen Sohn zwar verprügeln, aber er war gleichzeitig ein eifrig bemühter Vater. Scully war verschlagen, Scully war verschwiegen, doch sein Sohn war sein schwacher Punkt. Optimus glaubte zu wissen, wie er den Mann eines Tages zu fassen bekommen würde. »Sie müssen es hier allein sehr still finden, Mr. Scully.« »Ich hab’ ’n gutes Gewissen«, murmelte Scully. »Und ich -57-
hab’ jede Menge Arbeit. Sie entschuldigen, Mr. Shute, aber ich muß jetzt wieder in meine Mühle.« »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen«, sagte Optimus mit gespielter Höflichkeit. »Obwohl es ein Jammer ist mit Ihrem schwachen Gedächtnis. Sollten Sie sich doch noch auf etwas besinnen, das Grace Pensilva betrifft, wissen Sie ja, wo Sie mich finden können.« Am anderen Ende des Hofes, wo der steile, von Fahrspuren durchzogene Weg anzusteigen begann, befand sich ein zweites Tor. Als Optimus es öffnete und hindurchging, spürte er den stechenden Bück des einäugigen Müllers im Rücken. Nachdem er das Tor geschlossen hatte, blickte er auf. Obwohl doch angeblich so viel zu tun war, hatte sich Scully nicht vom Fleck gerührt. »Man soll keine schlafenden Hunde wecken, Herr Schulmeister«, sagte er, die Stimme kaum über ein heiseres Flüstern erhoben. »Das ist ’n guter Spruch, den muß man sich merken.« »Die Mühlen Gottes mahlen langsam, Herr Müller, aber sie mahlen sehr fein. Das ist ebenfalls ein guter Spruch, finden Sie nicht auch?« Optimus blickte nicht mehr zurück. Hinter ihm verklang das Plätschern des Wassers, das durch eine morsche Rinne zur Mühle hinunterlief. Bald war nur noch das Ächzen des Mühlrads zu hören. Obwohl Scully nichts preisgegeben hatte, wußte Optimus jetzt mehr von Grace Pensilva, spürte es vielleicht nur, aber er war sicher, daß diese alte Mühle noch immer von ihrem ruhelosen Geist heimgesucht wurde. Dr. Cornish hörte die Türglocke, erhob sich jedoch nicht, denn er hatte wieder abscheuliche Schmerzen im Fuß. Es war die Gicht, die ihn schon seit über zwanzig Jahren plagte; sie quälte ihn auch, während er fast reglos in seinem Schaukelstuhl saß, doch er wußte, daß sie ihn noch mehr quälen würde, wenn er aufstand. Irgendwann würde Mrs. Kemp an die Tür gehen. -58-
Sie hatte ihr Strickzeug mit ins Wohnzimmer genommen und war wohl am Kamin eingenickt. Nach dem zweiten, zaghafteren Läuten wurde es still, und dann vernahm Dr. Cornish Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Neugierig richtete er sich in seinem Schaukelstuhl auf. »Halt! Bleiben Sie, wo Sie sind! Seien Sie nicht so ungeduldig, haben Sie nicht eine Minute Zeit, bis wir die Tür geöffnet haben?« Zum Teufel mit Mrs. Kemp! Ächzend stand er auf und schickte sich an, den Raum zu durchqueren. Bis zur Haustür waren es nur ein paar Schritte, doch als er dort anlangte, keuchte er. Er mußte sich auf einem Bein im Gleichgewicht halten, während er die Eisenstange wegzog, die, zusätzlich zum Schloß in der Mitte und den Riegeln oben und unten, jeden Abend vor den Türrahmen geschoben wurde. Mit einem unbeholfenen Hopser riß er die Tür auf und blickte in die Nacht hinaus. Es dauerte eine Weile, bis er im Dunkel neben der Tür verschwommen ein blasses Gesicht erkannte. Mit ungeduldiger Gebärde winkte er den Fremden heran. »Ach, Sie sind’s«, murmelte er griesgrämig. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Also sind Sie schließlich doch gekommen, ja? Sie haben sich verdammt viel Zeit gelassen.« »Ich wollte Mrs. Kemp nur um ein wenig Zucker bitten. Als ich das letzte Mal beim Kaufmann war, habe ich vergessen, eine Tüte mitzunehmen, und nun ist er mir ausgegangen.« Dr. Cornish rümpfte die Nase. »Kein allzu triftiger Grund, um einen Nachbarn zu dieser Stunde herauszuklingeln, oder? Wie dem auch sei, hier ist die Gastfreundschaft gefordert, und ich will mich nicht lumpen lassen. Treten Sie ein, mein Junge, stehen Sie nicht draußen herum, da kühlt mir ja meine Küche aus.« Optimus trat zögernd und voller Mißtrauen ein. »Ich kann nicht allzulang bleiben«, sagte er abwehrend. -59-
»Nein, gewiß nicht«, brummte Dr. Cornish, »Sie dürfen Ihre wertvolle Zeit nicht mit Geschwätz vergeuden. Nun, Sie haben lange genug gebraucht, herüberzukommen, also müssen Sie auch wenigstens so lange bleiben, bis ich Sie mir richtig angesehen habe. Nehmen Sie die Kerze da, junger Mann, und gehen Sie ins Wohnzimmer, immer geradeaus. Sagen Sie Mrs. Kemp, sie soll herkommen und Zucker für Sie holen, oder, besser noch, sie kann einen Grog für uns brauen.« Gehorsam genug nahm Optimus das Licht und machte sich auf den Weg durch die dunklen Korridore. Es war ein weitläufiges Haus, das sich nach allen Richtungen dehnte, Treppen hinauf, Treppen hinunter. Er kam am Sprechzimmer vorbei und wagte es, einen Blick in die kleine, getäfelte Kammer zu werfen, in der nur ein paar Stühle standen. Hoch an der gegenüberliegenden Wand befand sich jenes Innenfenster, durch das, wie es hieß, Dr. Cornish aus einer anderen ein wenig hoher gelegenen Kammer herabsah, seine Patienten über ihre Beschwerden befragte und nach Augenschein untersuchte, ohne sie zu berühren, bevor er ihnen die altmodischen Arzneien verschrieb, die er selbst für sie bereitete. Was immer an diesen Gerüchten erfunden war, die beiden Räume waren jedenfalls vorhanden. Im nächsten Zimmer endlich fand er Mrs. Kemp, die über ihrem Strickzeug schnarchte, und mußte sie an der Schulter rütteln, um sie zu wecken. Sie zeigte sich nicht verwundert über seinen Besuch, sondern packte nur ihre Sachen zusammen und folgte ihm zurück in die Küche, wo es sich der Doktor wieder in seinem Schaukelstuhl bequem gemacht hatte. »Zwei große Gläser Grog«, sagte er zu ihr, »und seien Sie nicht wieder so geizig mit dem Rum und dem Limonensaft. Tun Sie ruhig ordentlich Kandis rein, denn diesem jungen Mann ist der Zucker ausgegangen, er braucht ein bißchen was Süßes.« Optimus überlegte, ob er den Rum ablehnen sollte, aber das würde wohl kaum nützen, der alte Doktor würde ihn nicht einmal anhören. Es war keine Einladung, sondern eine -60-
Verordnung. Er nahm sich vor, nur ein wenig an dem Grog zu nippen. Er war eigentlich kein Abstinenzler, obwohl viele Leute im Dorf das von ihm dachten. Gewiß trank sogar der Pfarrer gelegentlich ein Gläschen oder zwei, warum also sollte der Schulmeister es nicht auch tun? Er setzte sich dem Doktor gegenüber in einen Lehnstuhl und wartete. »Nun, was sagen Sie zu ihr?« wollte Dr. Cornish wissen, kaum daß Mrs. Kemp zur Speisekammer geschlurft war, um die Zutaten für den Grog zu suchen. »Ein Jammer, daß die alte Dame so schwerhörig ist«, erwiderte Optimus. »Ich habe nicht von Mrs. Kemp gesprochen, Sie Narr«, schnaubte der Doktor. »So begriffsstutzig können Sie doch nicht sein, oder? Ich meine, kommen Sie ihr näher, haben Sie Fortschritte gemacht?« Optimus war unbehaglich zumute, denn eigentlich wollte er nicht eingestehen, wie sehr er sich in Grace Pensilvas Lebensgeschichte vertieft hatte. »Ich habe einen flüchtigen Blick in einige der Papiere geworfen, die Sie mir anvertraut haben«, gab er zu, »aber ich komme nicht weiter. Ich habe nicht einmal ergründen können, wie alles anfing.« »Wahre Geschichten haben keinen ordentlichen Anfang und kein ordentliches Ende. Das werden Sie schon noch lernen, mein Junge, wenn Sie das Leben erst einmal so gründlich kennen wie ich. Ich nehme an, Sie grübeln darüber, was auf dem Friedhof geschah, und wenn Sie das bereits verstanden haben, zerbrechen Sie sich vielleicht den Kopf darüber, was wirklich in der Gig passierte. Und wenn ich Ihnen nun sage, daß das keine Rolle spielt? Das Ereignis an sich war alltäglich, und daß es nicht im Sande verlief wie die meisten Geschichten, lag daran, daß es Frank und Grace Pensilva zustieß. Das zumindest dürften Sie begriffen haben, nein, das müssen Sie begriffen haben. Was hatte denn Emma Troup über die beiden zu sagen?« -61-
»Es gab gewisse Dinge, über die Mrs. Troup nicht sprechen wollte; sie sagte, ich solle mich an Mrs. Coyte wenden...« »... wohl wissend, daß Mrs. Coyte schon vor vielen Jahren aus Harberscombe fortgezogen ist«, unterbrach ihn der Doktor, »Ha, was ist sie doch für eine zimperliche, scheinheilige Ziege! Jedermann im Dorf wußte, daß die beiden sehr vertraut miteinander waren, vertrauter als üblich. Niemand redete natürlich offen darüber, aber Gerüchte gab es immer; besonders Mrs. Coyte pflegte sich in Andeutungen zu ergehen. Sie war eine scharfzüngige alte Hexe, doch im Betsaal der Methodisten stets die erste und ihr Amen immer das lauteste.« »Was sagte sie denn genau?« »Blutschande.« Optjmus spürte, wie ihm die Schamröte in die Wangen stieg; das passierte ihm immer, wenn die Rede auf peinliche Gegenstände kam. Er war erleichtert, als das Gespräch von Mrs. Kemp unterbrochen wurde, die zwei dampfende Gläser Grog auf einem Tablett balancierte. »Greifen Sie nur zu, er ist nicht vergiftet«, sagte Dr. Cornish und nahm sich eines. Optimus nippte vorsichtig an seinem. »Sieht so aus, als äßen Sie auch nicht genug«, fuhr er fort. »Schauen Sie ihn an, Mrs. Kemp, nichts als Haut und Knochen! Sie werden ihn ein wenig aufpäppeln müssen.« »Ich kann mich selbst versorgen«, protestierte Optimus. »Nun regen Sie sich nicht auf; es ist wunderbar, unabhängig zu sein, ich weiß, aber Mrs. Kemp kann für drei genausogut kochen wie für zwei. Sie wird Ihnen künftig das Abendbrot bringen. Geben Sie ihr Geld dafür, wenn Sie wollen. Sie sind sicher müde nach so einem langen Schultag, und Sie werden doch nicht kochen mögen, wenn Sie die Beine hochlegen und nachdenken können, über Grace Pensilva nachdenken? Haben Sie heute abend überhaupt schon etwas gegessen?« Optimus nickte mit Nachdruck, aber nicht sehr überzeugend. »Holen Sie uns -62-
Schinken und einen Laib Brot aus der Speisekammer, Mrs. Kemp«, befahl der Doktor mit Donnerstimme. »Und Sie, Mr. Shute, legen Holz nach, Sie sehen ja, daß ich dafür zu alt und gebrechlich bin. Nur zu, schüren Sie das Feuer ordentlich, wie brauchen ein bißchen Warme, damit wir miteinander reden können. Es gibt einen ganzen Batzen Fragen, die ich Ihnen stellen will. Über Jack Lugger zum Beispiel und Onkel Bill Terry. Onkel Bill haben Sie inzwischen sicher auch besucht. Nein? Onkel Bill ist einer meiner Erfolge, ein paar davon muß ein Arzt ja haben. Er hätte eigentlich vor vielen, vielen Jahren an einer Herzattacke sterben müssen, fast hätte es ihn erwischt, als er seine Hummerkörbe aus dem Wasser zog, aber ich habe ihn durchgebracht, und er hat sich gut gehalten und inzwischen eine ganze Menge Leute hier überlebt. Onkel Bill kann Ihnen einiges von Jan King berichten, Jack Lugger ebenfalls, wenn Sie ihn in Cornwall finden, aber seien Sie vorsichtig, der Mann ist ein Lügner. Er wird Ihnen sagen, daß die Narbe in seinem Gesicht aus seiner Dienstzeit bei der Marine stammt, aber ich weiß es besser.« »Und woher hat er die Narbe wirklich? Vom Schmuggeln?« fragte Optimus mit leuchtenden Augen. »Ihr jungen Leute seid alle gleich! Wenn es ums Schmuggeln geht, seid ihr plötzlich ganz Ohr, es klingt so romantisch. Aber ich will Ihnen mal was sagen: So war es nicht im wirklichen Leben, es war harte, gefährliche Arbeit, und kein Mensch hat sie zum Vergnügen getan. Es war die schiere Not, die die Leute dazu trieb, auch Jack Lugger, was immer er heute behaupten mag. Man konnte mit der Schmuggelei sein Auskommen haben, ein recht gutes sogar, aber zu Reichtum hat es niemand damit gebracht. Eigentlich ist es nur gut, daß dieses blutige Geschäft endlich vorbei ist.« Er schwieg eine Weile und blickte tief in sein Glas. »Ich will damit keineswegs sagen, daß der geschmuggelte Schnaps nicht besser geschmeckt hätte. Aber die Gesetze haben sich geändert und die Menschen mit ihnen, und -63-
in Harberscombe geht es inzwischen gesitteter zu. Ich könnte Ihnen eine Menge Geschichten von damals erzählen, wenn ich Lust dazu hätte.« Trotz seines guten Vorsatzes, sich nur ein wenig Zucker zu borgen und dann gleich wieder zum Schulhaus zurückzueilen, wo er in seinem Zimmer ein Licht hatte brennen lassen, blieb Optimus bis in die späte Nacht. Die langen, alten Geschichten des Doktors nahmen ihn gefangen, und die Namen, die er in den Papieren gelesen hatte, tauchten darin in immer neuen Zusammenhängen auf. Erst als er gehen wollte und sich leise schwankend aus seinem Lehnstuhl aufrichtete, fiel Optimus das rätselhafte Papier wieder ein. Er kramte es aus seiner Tasche und hielt es seinem Gastgeber hin. »Daraus werde ich nicht schlau«, brummte Dr. Cornish. »Wenn es Latein wäre oder Griechisch, könnte ich die Nuß wohl knacken, aber es ist Französisch, und das habe ich nie gelernt. Kein englischer Patriot bemüht sich um das Kauderwelsch des Franzmanns, und außerdem waren all ihre Ideen falsch, der ganze Blödsinn mit der Gleichheit... Ist nicht unsere englische Art. Wissen Sie, wer Ihnen das übersetzen kann? Mrs. Lackland. Sie ist nach allem, was man hört, ein flottes Mädchen, freilich nicht mehr die Jüngste, und ich möchte wetten, daß sie Ihnen Verdruß macht. Sie war bei französischen Nonnen auf der Schule, kein Wunder, daß sie so anglikanisch sind, ihr Mann und sie, mit Weihrauch und allem...« Dr. Cornish hielt inne und betrachtete wieder den Zettel. »Nun, wenn ich auch nicht weiß, was es bedeutet, kann ich Ihnen doch wenigstens sagen, wer es geschrieben hat, falls Sie’s nicht schon selber wissen.« »Wer?« »Grace Pensilva. Das müßte Ihnen doch klar sein, Sie kennen ihre Handschrift doch schon. Sagen Sie mir, was es bedeutet, wenn Sie es sich haben übersetzen lassen. Von wem haben Sie das Papier?« -64-
»Von Emma Troup.« »Dieser alte Schlauberger! Zu mir hat sie gesagt, sie hätte nichts von Grace, aber Ihnen hat Sie’s gegeben. Ich sagte Ihnen ja, sie würde nur einem Kollegen trauen!« Die Luft draußen war eisig, doch Optimus spürte es kaum. Ihn wärmte ein inneres Feuer, das sich wohl nur zum Teil durch den Grog erklären ließ. Er blickte zum sternklaren Himmel auf und lächelte. Grace Pensilva hatte dieselben Sterne gesehen. Vielleicht beobachtete sie ihn gerade jetzt von einem fernen, sicheren Ort aus, und ihre Augen strahlten irgendwo unter den unzähligen Lichtern dieser Nacht. An diesem Abend schrieb er nicht mehr; er fühlte sich verwirrt und unsicher. Aber am nächsten Abend und an den Abenden danach arbeitete er unermüdlich an seinem Stehpult. Den Zettel, den Mrs. Troup ihm gegeben hatte, steckte er in einen Umschlag und wartete auf eine Gelegenheit, ihn von Mrs. Lackland übersetzen zu lassen. Am folgenden Sonntag in der Kirche beobachtete er sie, bückte in ihr schmales, ernstes Gesicht und hörte ihre schrille Stimme. Optimus zog es vor, die Begegnung noch etwas aufzuschieben. Mrs. Lackland würde sich nicht damit begnügen, den Zettel zu übersetzen, sie würde Erklärungen fordern, und Optimus war nicht geneigt, sie ihr zu geben. Grace Pensilva, zumindest eine schattenhafte, unwirkliche Grace Pensilva, gehörte ihm, ihm allein, und er mochte sie nicht mit jemand anderem teilen. Grace Pensilva blieb gleichsam in sein Stehpult eingeschlossen. Er war nicht bereit, sie den neugierigen Blicken gewöhnlicher Menschen auszusetzen. Ihr Dasein war ein Geheimnis, das er noch nicht preisgegeben hatte, nicht einmal Dr. Cornish, obwohl der alte Arzt es schon ahnte. Hufgetrappel ertönte auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Gasthof »Fortescue«, und der Wirt, Geschäfte witternd, eilte -65-
durch die Schankstube, um die Tür zu öffnen, und wischte sich dabei die Hände an seiner Schürze aus grobem, grauem Leinen ab. Der Mann, der draußen vom Pferd stieg, war beleibt und wirkte leutselig; er war über die mittleren Jahre hinaus. Der Wirt kannte ihn schon lange und sprang hurtig näher, um die Zügel zu fassen und an einem Ring festzubinden, der in die Mauer eingelassen war. »Willkommen in Salcombe, Mr. Hawkins, willkommen im Fortescue. Ist eine Ewigkeit her, daß wir uns gesehen haben. Was führt Sie zu uns den ganzen Weg von Plymouth an ’nem Morgen, wo es so stürmt?« »Tja, das wüßten Sie wohl gern, wie?« antwortete der Reiter und zog seine Handschuhe aus, während er am Wirt vorbeiging. »Wo ist Ihr Gast? Sagen Sie ihm, daß ich da bin. Ich will ihn sprechen.« Im Gesicht des Wirts malte sich Besorgnis. »Das mag ich nicht tun, Euer Ehren«, erklärte er mit einem raschen, unbehaglichen Blick zu der Tür am anderen Ende der Schankstube. »So was hab’ ich noch nie erlebt, so ’nen ungeselligen Kerl – oh, Verzeihung, Euer Ehren, kann ja sein, daß er ’n Freund von Ihnen ist, aber wir mögen ihn nun mal nicht. Der glaubt, er ist der liebe Gott, mit so kleinen Leuten wie uns spricht der gar nicht. Und trinken tut er auch nicht, ’n komischer Kauz, wenn Sie mich fragen, und man kann ihm nicht mal ansehen, ob er lacht oder weint.« Die alten Zechkumpane, die den ganzen Tag am Kamin des Gasthofs verbrachten, nickten zustimmend, prosteten dem Wirt zu. Enthaltsamkeit galt in Salcombe offenbar nicht als Tugend. »Das soll uns jetzt nicht kümmern. Wo ist er?« »Im Nebenzimmer, Euer Ehren. Aber er hat gesagt, daß er nicht gestört werden will.« »Wir werden sehen«, erwiderte Hawkins ruhig. Er ging zur Tür des Nebenzimmers und klopfte zweimal mit dem -66-
Hirschhorngriff seiner Reitpeitsche dagegen. Es kam keine Antwort. Er wartete geduldig eine Minute, vielleicht auch länger. Dann stieß er die Tür auf und trat ohne weitere Umschweife ein. »Können Sie nicht klopfen, verdammt noch mal?« schrie der Mann, der in einem Sessel vor dem kleinen Kamin auf der anderen Seite des Zimmers saß. »Lernen Sie denn nie gute Manieren?« »Ich habe geklopft«, murmelte Hawkins. Der Mann im Sessel war sichtlich bemüht, sich zu fangen; er richtete sich auf, klappte das Notizbuch zu, in das er, so schien es, gerade geschrieben hatte, und drehte sich langsam um, bis er seinem Besuch ins Gesicht blicken konnte. »Tut mir leid, Hawkins«, sagte er leise. »Sie wollte ich bestimmt nicht so anherrschen. Ich bin zur Zeit nicht recht bei mir. Schließen Sie bitte die Tür, ja?« Ohne sich umzuwenden, drückte Hawkins die Tür zu. Seine Aufmerksamkeit wurde von der absonderlichen Erscheinung des Mannes am Kamin gefesselt. Wenn er sprach, begleiteten keine Mundbewegungen seine Worte, unterstrich kein Mienenspiel ihre Bedeutung. Sein Gesicht war vom Haaransatz bis zum Kinn von einer Ledermaske mit drei schmalen Schlitzen bedeckt, durch die nur die Augen leuchteten und Lippen und Zahne undeutlich zu sehen waren. Obwohl Hawkins den Mann kannte, der sich so vermummt hatte, beunruhigte ihn die Verkleidung. »Ein schmutziges Geschäft«, fuhr der Mann fort, »ein gottverdammtes, schmutziges Geschäft. Ich habe es unsagbar satt.« »Nicht doch«, antwortete Hawkins, ging zum Kamin, hob seine Rockschöße und setzte sich in einen Sessel dem Mann mit der Maske gegenüber. »Sie haben keinen Grund, entmutigt zu sein, im Gegenteil, Sie hatten einen glänzenden Start. Ihre Lordschaften sind sehr zufrieden, überaus zufrieden, sie haben -67-
mich beauftragt, Ihnen das mitzuteilen.« »Die Meinung Ihrer Lordschaften sehen mich nicht. Ich weiß, was ich denke; ich weiß, was ich von mir halte. Ich habe genug, ich quittiere den Dienst.« »Das können Sie nicht tun, Mr. –« Der Mann mit der Maske unterbrach ihn schroff. »Brown!« schrie er. »Brown lautet der Name, vergessen Sie das nicht! Sie wollten gerade einen anderen ausplappern, nicht wahr? Wenn Sie die Tür öffnen, werden Sie den Wirt am Schlüsselloch finden.« »Nein, das können Sie nicht tun, Mr. Brown, nicht jetzt, wo Sie gerade erste Erfolge erzielen. Natürlich wäre es besser gewesen, Sie hätten einen oder zwei von ihnen gefaßt, dann hätte man ihnen den Prozeß machen und sie nach Vandiemensland deportieren können, es wäre auch gut gewesen, Sie hätten zumindest einen Teil der Konterbande sicherstellen können, dann hätten wir uns die Provision geteilt. Trotzdem will ich nicht schmälern, was Sie geleistet haben, Mr. Brown. Sie haben den Schmugglern einen schweren Schlag versetzt, ihr Selbstbewußtsein erschütten, sie sind jetzt mißtrauisch geworden und fragen sich, wer der nächste ist, der sie verrät. In Harberscombe jedenfalls wird sich viele Jahre lang nichts mehr rühren. Schmieden Sie das Eisen, solange es warm ist, und machen Sie der Schmuggelei an dieser Küste endlich ein Ende.« Der Mann mit der Maske beförderte einen rotglühenden Holzklotz mit einem Tritt über den Feuerrost; eine Kaskade von Funken stob den Rauchfang empor, und er schauderte zusammen. »Es kann einen frösteln machen, dieses Ausgeschlossensein, der Argwohn, der Haß. Manche Leute mögen das lachend abtun, anderen gefällt es vielleicht sogar, sie warten womöglich voller Vorfreude auf den nächsten Denunzianten. Ich habe es einmal erlebt, hier in diesem Zimmer, habe das Klopfen am Fenster gehört und den Mann eingelassen. -68-
Er saß da, wo Sie jetzt sitzen, und ich fragte ihn, wieviel er für seine Auskunft wollte. Es war verblüffend wenig. Ich hatte fast den Eindruck, daß er seine Freunde aus irgendeinem Grunde auch für nichts verraten hätte. Ich war furchtbar erregt über die Aussicht, einen Fang zu machen. Das geschieht ja nicht alle Tage, oder? Deshalb hatte ich mich schließlich so gut verborgen. Weil niemand mich kannte, fiel es dem Verräter leichter, zu mir zu kommen. Aber ich habe es satt, ich kann nicht über Leben und Tod anderer Menschen entscheiden. Ich habe das Gefühl, etwas Schimpfliches zu tun, Schindluder mit den Ehrbegriffen zu treiben, mit denen ich aufgewachsen bin. Schmugglern das Handwerk zu legen, Ist etwas ganz anderes, als unter Lord Nelson gegen die Franzosen zu kämpfen.« »Es ist trotzdem eine vaterländische Pflicht. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie uns diese Leute um die Zolleinkünfte prellen.« »Sie können es nicht, Hawkins, das ist Ihr Beruf, Sie sind Zolleinnehmer. Aber ich kann es. Ich kann sagen, es ist genug, und ich sage es. Hier...« Ergriff in seine Tasche und zog ein Papier heraus, das er Hawkins entgegenstreckte. »Sie brauchen es nicht zu lesen, es ist mein Abschiedsgesuch.« »Aber, Brown...« »Es gibt kein Aber, das mich umstimmen kann. Als ich mich bereit erklärte, diese Aufgabe zu übernehmen, geschah es aus einem einzigen Grunde, nicht Ihren Lordschaften zuliebe und auch nicht, weil es mir um die Sicherung der Zolleinkünfte ging. Sie wissen genau, daß ich das Geld brauchte, dringend brauchte.« »Zahlen wir Ihnen nicht genug? Ich glaube durchaus, daß Ihre Lordschaften...« Der Mann mit der Maske fiel Hawkins ins Wort, »Daran bin ich nicht interessiert«, sagte er, stand auf und nahm ein Entermesser vom Kaminsims. Er zog es aus der Scheide, hielt es -69-
ins Licht des Feuers und betrachtete es genau. »Was ist damit?« fragte Hawkins. »Diese Waffe ist besudelt, und ich kann es nicht ändern. In all der Zeit, die ich Seite an Seite mit Kapitän Troubridge und Kapitän Fell gedient habe, ist sie unbefleckt geblieben. Doch hier, in meiner eigenen Heimat, habe ich sie besudelt. Ich habe einen Fehler gemacht, Hawkins, einen furchtbaren Fehler, und ich bereue es bitter. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn ein Mensch stirbt, wie er einen danach anblickt. Die Augen, Hawkins, die Augen, gottverdammt, sie sehen geradewegs durch einen hindurch. Ich kann das nicht vergessen, ich bin nicht für diese Arbeit geschaffen. Sie stehen nicht in vorderster Linie, Hawkins, Sie halten sich ein wenig zurück. Oh, ich tadle Sie nicht dafür, ich würde an Ihrer Stelle genauso handeln. Sie werden mit Leichtigkeit einen neuen Kapitän finden. Es war eine glückliche Fügung, daß Sie herübergeritten sind, ich wollte Ihnen diesen Brief heute abend mit der Post schicken. Nun ist das nicht mehr nötig. Nichts für ungut, Hawkins. Wir gehen als Freunde auseinander, nicht wahr?« »Ich versuche immer noch, zu begreifen.« »Geben Sie sich keine Mühe.« »Wohin gehen Sie jetzt? Nach Hause?« »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich nicht rein genug. Sind Sie bibelfest, Hawkins?« Hawkins nickte. »Ich hatte eine christliche Erziehung.« »Nun, dann sagen Sie mir eines. Wir erfahren, was Judas geschah, was er empfand, wie er sich an einem Baum erhängte, aber was war mit dem Mann, der ihm die dreißig Silberlinge gab? Wer war das, was fühlte er, welches Ende hielt die Vorsehung für ihn bereit?« »Lassen Sie diese schwarzen Gedanken«, sagte Hawkins. »Das kommt von der Einsamkeit, von dem Versteckspiel. Ich -70-
habe Sie für diesen Posten ausgesucht, weil die anderen, die ihn zuvor hatten, gewissenlose Banditen waren, alle, ohne Ausnahme. Nun, und Sie, Mr. Brown, waren der lebende Beweis für meine Behauptung, daß nur ein Mann von edler Gesinnung, ein Mann, der gegen jede Korruption gefeit ist, den Schmugglern eine Schlappe beibringen kann. Und jetzt wollen Sie aufgeben, gerade in dem Moment, wo Sie Erfolg haben und Ihre Geldprobleme auf einen Schlag lösen konnten. Sie nehmen es zu genau, Mr. Brown, viel zu genau. Versprechen Sie mir, daß Sie es sich noch einmal überlegen werden.« Der Mann mit der Maske schüttelte den Kopf. Er steckte das Entermesser in die Scheide, gürtete es um seine Mitte, hob das Notizbuch vom Sessel auf und schob es in seine Rocktasche. »Wenn ich auf das zurückblicke, was ich in den letzten drei Wochen niedergeschrieben habe, schäme ich mich.« »Sie haben Ihre Pflicht getan, Sir, nichts weiter.« »Diese Augen, Hawkins, diese entsetzlichen Augen – wenn Sie diese Augen gesehen hätten, würden Sie nicht so sprechen.« Er hielt inne und legte die Hand an seine Maske. Einen Moment lang hatte Hawkins den Eindruck, er wolle sie sich vom Gesicht reißen, doch er klopfte nur leicht dagegen. »Diese Augen blicken geradewegs durch Sie hindurch, Hawkins, und Sie wissen, daß sie Ihnen folgen werden, wo Sie auch sind; vor diesen Augen können Sie sich nicht verstecken.« Jack Lugger nahm das Tauende, das Onkel Bill Terry ihm hinhielt, und schritt die üblichen elf Faden Länge bis zur Esche vor der Werkstatt des Wagners ab, wo er das Tau mit einem Seemannsknoten festmachte. Onkel Bill holte sein Klappmesser aus der Tasche, um das Seil vom Ballen zu trennen. Das Messer war scharf, aber das Seil war steif und hart, und Onkel Bill mußte die Klinge wie eine Säge hin und her bewegen. Jack Lugger schlenderte zurück, und die beiden packten das Seil, -71-
beugten sich weit nach hinten und zerrten mit voller Kraft. Nach ein paar heftigen Rucken ließen sie locker und zogen das Seil gerade. Wenn man die Windungen im Seil nicht entfernte, verwarf es sich zu langen, sperrigen Schlingen, sobald es ins Wasser eintauchte. Diese Knäuel waren im Boot kaum herauszubekommen, und es konnte leicht geschehen, daß man darin mit dem Fuß hängenblieb und, einem sinkenden Krabbenkorb nach, über Bord gerissen wurde. Onkel Bill Terry bückte sich, um eine weitere Leine zuzuschneiden, als Jack Lugger ihn anstieß. Er blickte rasch auf und sah Grace Pensilva vorbeigehen. Sie achtete nicht auf die beiden Fischer, lief bergan, am Wirtshaus und an der Kirche vorbei, bis sie hinter der Biegung verschwand, wo der Weg zum Armouth und zur Langstone-Mühle führte. »Die war immer schon stolz«, sagte Jack Lugger und spuckte in den Staub. »Aber jetzt muß sie ’n bißchen kürzertreten.« »Stolz oder nicht – sie ist ’n armes Mädchen«, sagte Onkel Bill, der die Unterbrechung nutzte, um seine alte Tonpfeife auszuklopfen und neu mit Preßtabak zu füllen. »Sie hat ihren Frank verloren, das ist schon hart genug, aber wenn sie jetzt irgendwo als Dienstmädchen arbeiten muß... das ist noch härter.« »Die hat geglaubt, sie wär’ ’ne feine Dame, als sie bei der Delabole in Shearanscombe war, Bücher hat sie gelesen und vornehm getan. Sie hat sich bestimmt eingebildet, daß sie was erbt von der Alten. Aber die war zu geizig, das ganze Geld hat ’ne Cousine von ihr gekriegt, in Cornwall. Als sie tot war, hat Grace nichts von ihr gehabt als ’n paar Bücher und so ’ne Idee, daß sie was Besseres ist. Aber man kann eben nicht das feine Fräulein spielen, wenn man keinen Namen hat und kein Geld.« »Grace ist ’n liebes Mädchen auf ihre Art«, sagte Onkel Bill. »Und vor Arbeit drückt sie sich auch nicht. Sie hat sich um Miss Delabole gekümmert, als die krank war und über ’n Jahr im Bett -72-
gelegen hat, und hat sich nie was rausgenommen deswegen. Sie hätte sicher was erben können, wenn sie gefragt hatte, aber sie hat nicht gefragt.« »Eben. Weil sie zu stolz ist, das ist es«, sagte Jack Lugger sauertöpfisch. »Grace ist wie das Seil hier«, sagte Onkel Bill und bog ein Tauende zwischen den Fingern. »Hart ist sie, und bis das weggeht – tja, das dauert. Stark ist sie auch, die muß sich vielleicht ’n bißchen krümmen, aber die zerbricht daran nicht.« »Die ist zu stolz«, wiederholte Jack Lugger, »zu stolz, zeigt ihren Kummer nicht wie andere Leute und begräbt ihren Frank nicht mal anständig. Die ist nicht wie wir, nicht wie die Leute von Harberscombe.« Grace wußte selbst genau, daß sie nicht war wie die Leute von Harberscombe, sie gehörte nicht zu den alteingesessenen Familien, den Triggs, die mit Terrys verheiratet waren, die mit Troups verheiratet waren, die mit Kings verheiratet waren, die mit Stitsons verheiratet waren, die mit Luggers verheiratet waren, die mit Coytes verheiratet waren... Die Pensilvas waren Eindringlinge, Neulinge ohne Wurzeln im Dorf und, schlimmer noch, nicht aus Devon, sondern aus Cornwall gebürtig. Grace zuckte die Achseln und ging weiter. Was kümmerte es sie, was Onkel Bill Terry oder Jack Lugger oder die Säufer, die ihr aus dem »Trafalgar« nachstarrten, von ihr dachten? Sie blieb auf der Kuppe des Hügels stehen und blickte auf Harberscombe hinunter. Sie sah Reihen von reetgedeckten Häusern, heruntergekommen, hingeduckt unter die Ulmen, einige wenige aus Stein gebaute Hofe mit Schieferdächern, das Wirtshaus, die Kirche und den Friedhof, wo Frank... Ein Schauder überlief sie, sie hatte das Gefühl, kalte Erde würde sich gegen ihre Haut drücken; dann eilte sie weiter. Die Böschungen am Weg wurden immer hoher, schlossen sie ein. Die Erdwälle, mehr als zehn Fuß hoch, waren mit Weißdorn, -73-
Haselsträuchern und Eschen bewachsen, die sich nach innen bogen und über dem schmalen Pfad eine Art grünen Tunnel bildeten. Es war kaum Himmel zu sehen. Von diesen Hohlwegen fühlte sich Grace ebenso beengt wie von der Lebensweise der Leute in Harberscombe. Nach einer scharfen Kurve verbreiterte sich der Weg plötzlich für eine kurze Strecke. Hier bot sich ein ungewöhnlicher Ausblick auf die hügelige Landschaft, und Grace sah die grauen Tudortürme von Schloß Leet zwischen den herbstlichen Bäumen des weitläufigen Parks. Zwischen ihr und dem großen Herrenhaus verlor sich der Weg in uralten Eichwäldern, die bis zu der verzweigten Mündung des Arun reichten. Der Weg fiel steil ab, und die Eichen schlössen sich über ihr zusammen. Grace zog ihr Tuch enger um die Schultern. Es war kalt hier, wo die Sonne nie schien und die Bäume schwer waren von Flechten und Moos. Tiefe Wagenspuren kerbten den Fels der Straße, die im Lauf der Jahrhunderte unzählige Karren hinuntergefahren waren, der bei Ebbe passierbaren Furt entgegen, durch die man die Strecke von Harberscombe nach Leet am anderen Ufer des Arun um fünf Meilen abkürzen konnte. Doch bevor sie zu der Stelle kam, an der die Karren zur Furt abbogen, gelangte Grace zu einer Kreuzung. Links zweigte ein Reitweg ab und verlief meerwärts am Mündungstrichter entlang, bis zum Armouth; rechts führte eine Straße die Wagen, die Getreide geladen hatten, zur Langstone-Mühle. Ein paar Körner, aus löchrigen Säcken gefallen, hatten im Matsch gekeimt, und Halme wuchsen zart und bleich empor. Grace schlug diesen Weg ein und fand sich bald in einem fast tropischen Dickicht aus immergrünem Rhododendron wieder, dessen knotige Stamme um sie aufragten wie die Beine riesenhafter Insekten. Es war ihr eine Erleichterung, als sie das Dickicht hinter sich hatte und auf eine mit Farn bewachsene Lichtung trat. Sie blieb stehen. Obwohl es schon herbstlich kühl war, gab es -74-
hier eine Erinnerung an Wärme, den Nachklang einer anderen Zeit. Der Farn, der nun zerfetzt herabhing, war damals von frischem, lichtem Grün gewesen, still in der Sommersonne badend. Die Hitze hatte Über der Lichtung geflimmert, und Bienen hatten leise gesummt, ein Specht hatte tief im Wald geklopft, und vom Wasser war der krächzende Ruf eines Reihers gekommen. Sie lag im Gras unter Farnwedeln, die über ihr zusammen strebten wie die Gewölbe einer Kathedrale. In diesem Raum mit seinem grünen Maßwerk ging eine Versammlung winziger Insekten ihren wichtigen Geschäften nach. Sie beobachtete einen schwarzroten Käfer, der mit zitternden Fühlern behutsam die Luft erkundete. Nahm er ihre Welt wahr, oder war ihm das menschliche Leben so fern wie den Menschen das Käferleben? Empfand er wohl Liebe und Haß? War er zu Leidenschaften fähig? Grace biß einen Grashalm ab, schob ihn zwischen die Lippen und wollte mit dem Käfer Fühlung aufnehmen. Doch als ihn die scharfe Spitze berührte, ließ er sich von dem Blatt fallen, auf dem er gesessen hatte, und verschwand irgendwo zwischen den Pflanzenstengeln. Grace legte sich zurück, ließ die Sonne über ihr Gesicht streichen und kaute mit geschlossenen Augen an dem Halm. Hatte jemand an dem Gras gezupft oder war es der Schatten über ihr, den sie zuerst bemerkte? Sie schlug die Lider auf und entdeckte ein Gesicht, das auf sie niederblickte. Der Mund hielt das andere Ende des Halms, die lächelnden Augen schienen freundlich über sie zu spotten, die rasierten Wangen glänzten rosig und frisch, und durch das blonde Haar schienen die Strahlen der Sonne. Langsam kaute er das Gras, und sie beobachtete gebannt, wie seine Lippen auf sie zukamen. Nun waren sie so nah, daß sie sie nicht mehr sehen konnte, und sie spürte, wie sie die ihren streiften. Die Augen lächelten nicht mehr, sie waren umschleiert, verhangen. Sie betrachtete ihre feucht schimmernde -75-
Oberfläche und wußte, daß sie ebensowenig hinter sie blicken konnte wie hinter den schwarzroten Panzer des Käfers. Doch sie glaubte zu wissen, was er fühlte, und sie wußte, was sie fühlte, wußte, daß eine seltsame Strömung sie beide durchfloß, wußte, daß sie sich, weil er hier war und weil er es war, in einem anderen Zustand befand, daß sie etwas erlebte, was sie nie zuvor gekannt hatte. Der süßliche Geschmack des Grashalms in ihrem Mund, sie erinnerte sich daran, und sie erinnerte sich an seine Zunge, die behutsam ihre Lippen erkundete wie die zitternden Fühler des Käfers die Luft, und sie erinnerte sich an seinen Atem auf ihrer Wange, an lange, sehnsüchtige Seufzer, und sie erinnerte sich an seine Hände auf ihrem Fleisch, Hände, die nach den Knospen ihrer Brüste tasteten, und sie erinnerte sich an das Gewicht seines Körpers über ihr, und er war wie eine glühende Sonne, und alles verschwamm vor ihren Augen. Als sie wieder zu sich kam, als sie wieder frei war und ihn anblicken konnte, wie er im Gras neben ihr ausgestreckt lag, kam der Käfer von irgendwo gekrabbelt und kletterte auf seinen Unterarm. Was hatte er mit alledem angefangen? Wußte er von ihrer Leidenschaft? Sie wandte ihr gerötetes Gesicht, um ihren Liebsten zu fragen, doch als sie den Mund öffnete, verschloß er ihn mit seiner Hand und bat sie mit Blicken, auf die Stille zu lauschen. Und sie verstand: Der Specht klopfte nicht mehr, die Bienen summten nicht mehr, die Stille hing über der Lichtung wie etwas Erstickendes, wie eine Drohung. Ganz in der Nähe knackte plötzlich ein trockener Zweig. Ein Häher, der in den Zweigen einer Eiche gesessen hatte, flog kreischend davon. Die Augen ihres Liebsten waren dunkel von Sorge, als er sich auf einen Ellenbogen stützte und durch den Farn lugte. Sie hörten Schritte, die sich entfernten, oder glaubten wenigstens, sie zu hören. Der Zauber war gebrochen. Dieser Ort, den sie für so verschwiegen und abgelegen gehalten hatten, war entweiht. Wie -76-
von einem Frosthauch berührt, streifte Grace ihre Bluse über und knöpfte sie zu. Sie wartete, während er im Wald nach Spuren des Eindringlings suchte. Ihr war bang, sie fühlte sich verurteilt und besudelt von dem heimlichen Beobachter. Grace sah sich selbst zu, wie sie sich aus dem Farn erhob und sich in den Wald davonstahl. Selbst jetzt hatte sie den Eindruck, von jemandem ausgespäht zu werden, der sich in den Rhododendronbüschen verbarg. Obwohl sie wußte, daß es widersinnig war, fühlte sie sich nackt und verwundbar, als seien tadelnde Blicke auf sie geheftet. Kurz hinter der Lichtung endete das Dickicht, und sie kam an eine Weggabelung. Dieses Gelände kannte sie nicht, er hatte sie nie so weit geführt. Durch die Bäume gedampft, drangen die Geräusche eines Bauernhofs an ihr Ohr. Sie schlug den abschüssigen Pfad linker Hand ein. Schon nach ein paar Schritten merkte sie, daß sie in die Irre ging. Der Pfad endete an einem steinernen Damm, der den Mündungstrichter des Arun von einem künstlichen Teich trennte, auf dessen anderer Seite einige Gebäude standen. Das war wohl die Langstone-Mühle. Sie würde umkehren und um den Teich herumgehen müssen. Aber plötzlich entdeckte sie vor sich auf dem Damm eine Gestalt. Keine zwanzig Meter von ihr entfernt, reglos und langbeinig wie ein Reiher stand ein Mann mit einer Flinte. Er hatte einen krummen Rücken, einen dürren Hals, schmale Schultern und einen Schmerbauch, trug Kniebundhosen und Gamaschen, eine Weste und ein langärmliges Hemd. Seine Haare standen empor wie ein Hahnenkamm. Um die Rundung seiner Wange herum konnte Grace die buschige Spitze eines kastanienbraunen Schnurrbarts erkennen. Der Mann beugte sich über eine Schleuse in dem Damm, durch die das Meerwasser aus der Flußmündung in den Teich fließen konnte. Die Flut stieg, und ihre erste, fächerartige Welle war durch die Schleuse gedrungen und breitete sich über die bleifarbenen Schlickflächen des -77-
Teiches aus. Der Mann schien etwas Jm Wasser zu beobachten, das Grace nicht sehen konnte. Langsam, mit unendlicher Vorsicht, hob er den Kolben der Schrotflinte an seine Wange. Der Doppellauf, nach unten geneigt, bewegte sich leicht hin und her, als er sein Ziel anvisierte. Grace sah kleine Wellen über die Oberfläche des glatten Wassers huschen. Der Knall, der auf das trockene Klicken des Steinschlosses folgte, löste ein vielfaches Echo aus, das rund um die Mündung des Arun wanderte. Zwei aufgestörte Reiher flatterten ängstlich vom anderen Ende des Dammes auf, wo sie gefressen hatten. Eine Wolke von krächzenden Saatkrähen stieg zum Himmel auf. Ein Schwärm Austernfischer ließ rote Beine blitzen, als er mit erschrecktem Gekreisch meerwärts flog. Der Mann hatte seine Flinte auf den Boden gelegt und hantierte mit einer langen Stange, an der ein Netz befestigt war. Von ihrer Neugier getrieben, trat Grace ein paar Schritte vorwärts und blickte auf die Stelle, wo der Schuß eine Schaumsäule in die Luft gejagt hatte. Der Mann sah Grace und machte Anstalten, die Stange fallen zu lassen, um seine Flinte aufzuheben. Der zweite Lauf war noch geladen. Grace stand unschlüssig da und starrte in das rote Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart und den unsteten Augen. Der Mann wirkte wild, heftig und zugleich unsicher. Sie fühlte sich unbehaglich, aber sie wollte nicht umkehren, denn sie hatte ihn erkannt. Es war der Mann, den sie suchte. Als sie den Damm entlang auf ihn zuging, machte der Mann sich wieder an seine Arbeit und beachtete sie nicht mehr, nachdem sie seinem ersten herausfordernden Blick standgehalten hatte. Die Schaumsäule war in sich zusammengesunken, und im Wasser perlten jetzt unzählige Bläschen, zwischen denen glitzernde Fische zuckten. Sie trieben auf dem Rücken, mit aufgeblähten Schwimmblasen, schlugen mit ihren Bauchflossen. -78-
»Sieben auf einen Streich!« triumphierte der Mann. Er hatte eine seltsam gequetschte Stimme. »Das hast du noch nie gesehen, was? Fische schießen, mein’ ich.« Grace schüttelte den Kopf. Der Mann erschien ihr nicht mehr so bedrohlich. »Tja, ’n bißchen Spaß braucht der Mensch. Der Adel jagt Füchse, die Bauern schießen Fasane, die Tagelöhner graben Dachse aus, die Fischer fangen Karnickel, und Jack Coyte schießt Äschen.« Er lachte. Die ersten Fische lagen schon auf dem Trocknen und rangen und keuchten mit runden Mäulern nach Luft. Grace fuhr vor dem fischigen Geruch zurück, der sich mit dem verbrannten Pulver mischte. »Warum erlösen Sie sie nicht von ihrer Qual?« fragte sie fast gebieterisch. »Wozu? Die krepieren sowieso bald an der Luft, wie unsereins unter Wasser. So ist das nun mal.« Grace biß sich auf die Lippen und unterdrückte ihre Regung, dem Mann ihren Abscheu zu zeigen. »Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, Bauer Coyte.« Der Mann leckte sich die Lippen und holte eine weitere Äsche aus dem Wasser. Dann blickte er Grace an und zog die Augenbrauen hoch. »Mr. Wroth hat mich geschickt. Er sagte, Sie hätten eine Stelle zu vergeben.« Bauer Coyte leckte sich wieder die Lippen und fuhr sich mit den Fingern durch den Schopf. »So, das hat er gesagt? Kann schon sein. Mit der Stelle, mein’ ich. Kann aber auch nicht sein. Wie heißt du denn, Mädchen?« »Grace. Grace Pensilva.« Bauer Coyte pfiff durch die gelben Zähne. »Dann war das dein Frank, der... Na, er hätte besser die Finger davon gelassen, von diesen Sachen. Ist nie was Gutes dabei rausgekommen. Ich hab’s nicht mit Schnaps, meine Frau auch nicht. Du schlägst -79-
ihm doch nicht nach, oder?« »Sehe ich aus wie ein Schmuggler?« Bauer Coyte schien verblüfft über ihre klare Frage. Er musterte sie. »Das hab’ ich nicht gemeint. Ich hab’ gemeint, ob du säufst.« »Nein, auch das nicht.« »Und ’n Jakobiner? Bist du so was? So ’n Mensch, der nichts als Ärger macht?« »Das geht Sie nichts an. Glauben Sie, daß ich es Ihnen sagen würde, wenn ich’s wäre?« »Wie ’ne Magd siehst du ja nicht gerade aus.« Grace zuckte die Achseln und zog ein schiefes Gesicht; der Mann hatte nicht ganz unrecht. »Lassen Sie es doch auf einen Versuch ankommen. Ich kann in drei Wochen anfangen.« »In drei Wochen? Miss Pensilva will in drei Wochen anfangen? Na, dann hör mir mal gut zu. Du fängst morgen an oder gar nicht.« »Aber ich muß noch nach Salcombe, ich habe dort etwas Dringendes zu erledigen.« »Wie du meinst. Wenn du morgen früh um sechs in der Mühle bist, versuchen wir’s mit dir. Wenn du auch nur ’ne Minute zu spät kommst, kriegt jemand anders die Arbeit.« Grace wußte, daß ihre Wangen glühten vor Zorn. Sie war sicher, daß er diese Bedingung nur stellte, um ihr eins auszuwischen und ihr klarzumachen, wer der Herr war. Wenn sie nicht von ihren eigenen Angelegenheiten gesprochen hätte, würde er es kaum so eilig gehabt haben, sie an die Arbeit zu schicken. Er beschäftigte sich wieder mit seinen Fischen, womit sie entlassen war. Es schien sinnlos, mit ihm zu streiten. Sein borstiger Schnurrbart verriet ihr, daß er aufbrausend war, unberechenbar und gerissen. Onkel Bill Terry und Jack Lugger waren mit ihren neuen -80-
Leinen fertig. Sie hingen an einem Rundholz vor ihrem Schuppen. Die beiden Männer hatten es sich im Schatten der Esche bequem gemacht, zwischen sich eine Steingutflasche mit Apfelwein, einen Kanten Brot und ein Stück Käse. »Hochmut kommt vor dem Fall«, murmelte Jack Lugger, als Grace an ihnen vorbei nach Hause eilte. »Grace Pensilva sieht nicht gerade glücklich aus.« »Dazu hat sie auch keinen Grund, die hat in Harberscombe nie was zu lachen gehabt«, erwiderte Onkel Bill. »Sie hat ihre Mutter nicht richtig gekannt, und ihr Vater ist der armen Frau nachgestorben, da war Grace noch nicht mal zehn. Wenn sich Miss Delabole nicht um das Kind gekümmert hätte und wenn Frank nicht wiedergekommen wäre und für sie gesorgt hätte – weiß Gott, was dann aus ihr geworden wäre.« »Also, Frank hat Harberscombe nichts Gutes gebracht, der hat sein Geld nie ehrlich verdient«, schimpfte Jack Lugger. »Und im Vornehmtun war er noch schlimmer als seine Schwester. Sein ewiges Gerede von der Gleichheit... was nützt uns denn so was in Harberscombe? Jeder Trottel weiß, es gibt keine Gleichheit auf der Welt und es kann keine geben. Es gibt die Armen, das sind wir, und es gibt die Reichen. Was Gemeinsames haben wir nicht, und ’n armer Mann kommt auch nicht hoch. Wenn du dem Gutsherrn die Faust unter die Nase hältst, macht er dich fertig. Und Frank wollte immer, daß die anderen für ihn den Reichen die Faust unter die Nase halten. Selber was riskieren, das war nicht seine Sache. Aber sich ’n schönen Tag machen, da war er immer dabei. Gott sei Dank, daß wir ihn los sind. Und Grace müßte auch weg aus Harberscombe. Die paßt hier nicht her. Soll sie nach Cornwall gehen, da kommen ihre Leute her, da freut man sich vielleicht über sie.« »Grace ist hier geboren«, tadelte Onkel Bill milde, »du kannst ihr nicht verbieten, hier zu leben, das ist ihr gutes Recht – -81-
genauso wie deins. Aber für ’n helles junges Mädchen gibt's nicht viel zu tun in unserm Dorf. Grace geht sicher bald weg, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Aber wir bleiben hier, was, Jack? Arme Fischer kann Harberscombe immer brauchen.« »Je eher sie weg ist, desto besser. Die mit ihrer Vornehmtuerei.« »Wie du über Grace herziehst, da könnte man glauben, sie hätte dich mal abblitzen lassen. Wenn du mich fragst, Jack Lugger, die ist dein Schwarm. Wenn sie dich mal anlächeln würde, dann würdest du ganz anders reden, dann würdest du deinen Stolz schlucken. Ich hab’ gesehen, wie du sie angaffst.« Grace trat in ihr kleines Haus und setzte sich an den Tisch, ohne ihr Umhängetuch abzulegen. Auch sie würde ihren Stolz schlucken müssen. Wenn sie in Harberscombe bleiben und Frank die Treue halten wollte, gab es keine andere Möglichkeit. Sie mußte Geld zum Leben verdienen, und sie hatte kaum eine Wahl. Bis sie eine andere Stelle fand, konnte es sechs Monate oder ein Jahr dauern, und es kam nicht in Frage, daß sie sich mit Mrs. Troup die jämmerlichen Einkünfte aus der Schule teilte. Wenn sie Ihren Schwur erfüllen wollte, würde sie sich bescheiden und verbergen müssen, welche Pläne sie hatte. Sie fragte sich, ob sie die Kraft dazu haben würde. »Nein, ich kann nicht sagen, daß ich sie gekannt hab’, richtig, mein’ Ich. Ich kenn’ sie, wie man eben ’n Mädchen kennt, das man hat groß werden sehen in ’nem kleinen Dorf wie Harberscombe.« Onkel Bill Terry sprach langsam, mit tiefem, klangvollem Baß, was merkwürdig unpassend wirkte, weil er einen so gebeugten und ausgemergelten Körper hatte. Optimus war ihm eines Nachmittags – der Winter wich zögernd dem Frühling – auf der Straße nach Okewell zum Armouth gefolgt, wo er den alten Fischer auf einem Hocker sitzend fand, einen halbfertigen Krabbenkorb zwischen den Knien. Während er sprach, arbeitete er an seiner Reuse weiter, nahm Weidenruten von einem Bündel, das neben ihm auf dem Boden lag, und paßte -82-
sie, fast ohne hinzusehen, ins Flechtwerk ein. »Da müssen Sie jemanden fragen, der sie besser gekannt hat. Janet Coyte hat immer über sie geklatscht, zu dumm, daß sie weg ist, die hätte Ihnen mehr sagen können als ich. Und Eileen Wroth hatte ’ne Schwäche für Grace, die hätte Ihnen auch was erzählen können, nur eben ’ne andere Geschichte. Als Ihr Mann gestorben ist, hat Eileen alles verkauft und ist nach Plymouth gegangen. Die finden Sie sicher nicht leicht, aber Sie sind ja richtig wild drauf, nicht? Niemand hat sich groß um Grace Pensilva gekümmert, als sie noch gelebt hat, und später hat kein Mensch nach ihr gefragt, bis Sie nach Branscombe an die Schule gekommen sind. Gibt ’ne Menge Leute, die überlegen sich, warum Sie das tun. Die glauben, Sie suchen ’nen Schatz.« »Einen Schatz?« »Ja, die Leute sagen, Grace und Jan haben ’nen Haufen Geld mit der Schmuggelei verdient, und sie müssen es irgendwo verbuddelt haben. Ein paar haben auch gegraben in der Nähe von Jan Kings Haus.« Onkel Bill zeigte mit schwieligem Daumen auf das heruntergekommene Gebäude, das auf einem Hügel an der Mündung des Armouth stand, »aber ich weiß Bescheid. Es war Geld da, stimmt, bloß – Grace hat alles mitgenommen.« Während der alte Fischer redete, betrachtete Optimus sein Gesicht. Es sah aus wie gegerbtes Leder, von Wind und Wetter zerknittert. Sein Kopf war in der Mitte kahl, wurde jedoch von einem Kranz grauer Locken umsäumt. Die Furchen, die sich so tief in seine Wangen eingegraben hatten, folgten den Linien, die durch häufiges Lächeln entstehen, und sein Ausdruck war der eines Mannes, der aus allem das Beste zu machen sucht und sich bemüht, von seinen Mitmenschen nur Gutes zu denken. Doch während die eine Hälfte des Gesichtes noch immer lächelte und sich bewegte, war die andere schon seit langer Zeit starr und gelähmt. Nachdem er die letzte Weidenrute in den Krabbenkorb -83-
geflochten hatte, stand Onkel Bill mühsam auf und humpelte in den Schuppen, um ein neues Bündel zu holen. An dessen Rückwand war ein Stapel aufgeschichtet, der fast bis zum Dach reichte. Der alte Fischer griff nach einem Rutenbündel und begann daran zu zerren. Sein Atem ging laut und pfeifend. »Einen Augenblick, ich helfe Ihnen!« rief Optimus. Er kletterte auf den Stapel und zog an einem der obersten Bündel. »So weit ist’s noch nicht mit mir, junger Mann«, sagte der alte Fischer, doch er duldete es, daß Optimus die Weidenruten für ihn holte. »Das Herz«, erklärte er, lehnte sich gegen die Wand und. stopfte seine Tonpfeife, »das Herz tut’s nicht mehr richtig. Hat angefangen, als ich ’ne große Reuse aus dem Wasser gezogen hab’. Man weiß ja nie, wann’s einen erwischt. Ich war noch jung damals und hab’ gedacht, so was kann mir nicht passieren. Dr. Cornish hat gesagt, ich hab’ Glück gehabt, daß ich durchgekommen bin. Das ist länger her als fünfundzwanzig Jahre, und ich leb’ immer noch.« Optimus hörte nur mit einem Ohr zu; etwas unter dem dunklen First hatte seine Aufmerksamkeit geweckt: ein langer, schlanker Rumpf, leichter und schnittiger als die anderen Boote am Armouth, war an den Dachbalken aufgehängt. War das – konnte es sein? Er lud das Bündel Weidenruten vor Onkel Bills Hocker ab. »Das Boot da oben ist eine Lotsengig, nicht wahr? Wem gehört sie? Sie ist nicht zu verkaufen, oder?« »Nein, die verkauft Ihnen niemand«, brummte der alte Fischer und drückte die heiße Asche in seiner Pfeife fest. »Das schlagen Sie sich aus dem Kopf.« »Ist das nicht das Boot, mit dem Jan...« Onkel Bill fiel ihm ins Wort. »Ich hab’ gesagt, Sie sollen sich das aus dem Kopf schlagen«, wiederholte er, einen Anflug von Ärger in der Stimme. »Wir hätten es schon lange verbrennen sollen. Als ich Jan King das letzte Mal lebend gesehen habe, hab’ ich ihn in dieser Gig gesehen. Er hätte das lassen sollen, er -84-
war ’n Esel, daß er wieder angefangen hat mit dem Schmuggeln, aber wenn ’ne Frau dahintersteckt, dreht 'n Mann eben durch.« »Was hat Jan King denn eigentlich für Grace Pensilva empfunden? Sie müßten das wissen, er war doch Ihr Partner, nicht wahr?« »Mein Partner? Ja, und ’n guter Partner. Was er für Grace empfunden hat?« Onkel Bill zog an seiner Pfeife. »Ganz verrückt war er nach dem Mädchen, hat keinen Sinn gehabt, ihm zu sagen, er soll nicht mit dem Feuer spielen. Er hat geglaubt, was er wollte, und als sie zu ihm gekommen ist, war er im siebten Himmel, hat er sich eingebildet. Er war ’n Esel, daß er ihr getraut hat.« »Sie mochten Grace Pensilva nicht besonders, oder? Was war eigentlich los mit ihr?« »Das hab’ ich damals nicht genau gewußt, ich hab’ ja nichts mit ihr zu tun gehabt, aber heute glaub’ ich, sie hat ihm ’ne Falle gestellt, so wie der Krabbenkorb hier, und in die sollte er gehen. Wenn man so was macht, muß man kalt sein, kalt und hart und falsch.« »Aber war Jan King denn ganz ohne Schuld? Irgend jemand hat die Gig verraten. Sind Sie sicher, daß sich Jan nichts vorzuwerfen hatte?« »Ich kann nur sagen, das war nicht seine Art.« »Vielleicht hat er seine wahre Art genausowenig gezeigt wie Grace Pensilva ihre.« »Hören Sie, Herr Schulmeister, das ist alles lange her, das ist alles vergessen, was soll das, die ganzen alten Geschichten?« »Ich mochte es wissen, weiter nichts. Jemand hat mich auf diese Sache gebracht, und sie geht mir nicht mehr aus dem Sinn.« »Auch wenn ich Ihnen gern helfen würde, und ich weiß nicht, ob ich das will – ich bin alt und hab’ ’n Gedächtnis wie ’n Sieb. -85-
Ich hab’ Ihnen alles gesagt, was ich sagen mag im Moment. Und jetzt geh’ ich nach Hause, und wenn Sie vernünftig sind, tun Sie das auch, es regnet gleich.« Optimus blickte aus der Tür des Bootsschuppens. Zwischen den beiden Landspitzen wanderten zinngraue Wolken, gesäumt von Regenschleiern, übers Meer heran. Der alte Fischer zog eine Kapuze aus Sackleinen über Kopf und Schultern. Wenig später saß er auf seinem Esel und trottete, so schnell es ging, die Straße nach Harberscombe entlang. Es war keinen Moment zu früh, der Regen hatte bereits eine der Landspitzen erreicht und näherte sich der anderen. Optimus schlug den Kragen seines Rockes hoch und machte sich auf den Weg zu Jan Kings Haus. Er wollte noch nicht nach Branscombe zurück und würde es darauf ankommen lassen, naß zu werden. Die Hintertür des Hauses stand angelehnt, der Riegel war abgebrochen, eine Angel hielt nicht mehr, und die Tür hing schief. Sie scharrte laut über den Boden, als Optimus sie aufstieß und eintrat. Viele Jahre lang hatte niemand in. diesem Haus gewohnt. Optimus fühlte sich unbehaglich in dem leeren Gebäude. Der Wind rüttelte an den Schiebefenstern und heulte in den Kaminen. Es war unmöglich, sich an diesem düsteren On Glanz und Heiterkeit vorzustellen, und dennoch hatte es beides hier einmal gegeben. In dieser Küche, deren Vorhänge in schmutzigen Fetzen herabhingen und auf deren Boden Stücke eines zerbrochenen Stuhls herumlagen, hatte Jan King ein paar Monate verbracht, die ihm als Zeit des Glücks erschienen waren. Optimus stieg die knarrenden Stufen hinauf und blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen. Offene Türen führten zu den beiden Schlafzimmern. Der Regen klopfte an ihre Fenster. Er schlug gegen eine zersplitterte Scheibe und näßte die Dielenbretter. Die Gutsverwaltung von Leet, das hatte Emma Troup Optimus erzählt, hatte das Anwesen übernommen, als Jan King nicht zurückgekehrt und die Zahlung der Miete unterblieben war. Sie hatte das Haus aber nur in dem Maß -86-
instand gehalten, das nötig war, um den gänzlichen Verfall abzuwenden. Mit seinen zwei Schornsteinen diente es immer noch als Seemarke für die Fahrzeuge, die durch die Untiefen der Flußmündung steuerten. Optimus sah durch das Fenster, wie die schäumende Brandung gegen den Back toste, jenen seltsamen, walrückenähnlichen Buckel aus Sand, der die Hälfte der Mündung vor dem Meer schützte und zu einem natürlichen Hafen machte. Dahinter, im Priel, schaukelten die wenigen Logger, die noch nicht eingeholt waren, an ihren Liegeplätzen hin und her. Erst trieben sie in die eine Richtung, dann schlingerten sie zurück. So ähnlich, dachte Optimus, ging es auch mit seinen Nachforschungen. Wie oft steuerte er einen neuen Kurs, machte einen neuen Fund, hatte das Gefühl, daß er weiterkam, und dann tauchte mit einem Mal etwas ganz anderes auf, diese alte Lotsengig zum Beispiel, und riß ihn in eine andere Richtung. Sein Kopf war voller Einzelheiten und Fragen, die nicht zueinander paßten und das Bild verwirrten, das er sich zu Anfang von Grace Pensilva gemacht hatte. Nur widerwillig gestand er sich ein, daß Teile seiner Geschichte umgeschrieben werden mußten, wenn er ein getreuer Chronist sein wollte. Vielleicht war es besser, erst dann etwas niederzuschreiben, wenn er alle Nachforschungen abgeschlossen hatte? Doch er wußte, dann würde es so viele Fragen geben, daß er gar nichts mehr schreiben könnte. Er mußte die Geschichte von Grace Pensilva fortsetzen, wie er sie begonnen hatte: tastend, stockend, widersprüchlich. Trotz all seiner Enttäuschungen, all seiner Zweifel erwuchs daraus ein Bild von Grace Pensilva. Über dem Kaminsims in einem der Schlafzimmer hing ein gesprungener Spiegel. Optimus näherte sich ihm beklommen. Ihm war, als müßten ihm Grace Pensilva oder Jan King aus dem Glas entgegenblicken. Vor langer Zeit, dessen war er sicher, hatte dieser Spiegel ihre Gesichter eingefangen. Nun war er mit Staub bedeckt und mit grauen Flecken übersät, wo die salzige Seeluft den Silberbelag fortgeätzt hatte. -87-
Matt spiegelte sich sein eigenes schmales Gesicht wider, glattrasiert, obwohl er sich kaum zu rasieren brauchte. Seinen dünnen Schnurrbart trug er wie zur Bestätigung seiner Männlichkeit. Er mußte gestutzt werden, aber Optimus hatte keinen rechten Antrieb dazu; Eleganz zählte wenig in Harberscombe. Er blickte in seine Augen und versuchte, Ihre braunen Tiefen zu ergründen; irgendwo war Leidenschaft darin, doch er mußte erst noch die Frau finden, die sie zum Leben erweckte. Er fuhr sich mit den Fingern durch das wellige, üppige Haar und spürte ein elektrisches Knistern. Oder war es etwas anderes, das ihm einen Schauer über den Nacken jagte? Grace Pensilva stand hinter ihm, aber er wagte nicht, sie anzusehen. In jähem, blindem Entsetzen rannte er die Treppe hinunter, aus dem Haus, in den Sturm hinein. Er wandte sich nicht um, weil er wußte, daß sie ihn durch das Fenster beobachtete. Regen floß über sein Gesicht, aber seine Gedanken ließen sich nicht fortwaschen. Eines Sonntags, nicht lange nachdem Mrs. Troup ihm den Zettel gegeben hatte, lauerte Mrs. Lackland, die Frau des Pfarrers, Optimus auf, als er aus dem Kirchenportal auf den Friedhof trat. Eigentlich hatte er sich wegen der Übersetzung der französischen Worte nicht an sie wenden wollen. Irgend etwas störte ihn an ihr, wie sie in ihrer Kirchenbank stand, den Kopf zurückgeworfen, den Busen auf entschieden ungehörige Weise vorgestreckt, und ihre hellen Blicke schamlos in die Runde schweifen ließ. Wenn er merkte, daß sie ihn ansah, schlug er die Augen nieder und tat so, als suche er in einem Gesangbuch das nächste Lied. Er fürchtete, sie habe ihn dabei ertappt, wie er errötet war. Diesmal gab es kein Entrinnen. »Ah, Mr. Shute!« rief sie laut. »Es freut mich sehr, Sie zu sehen. Mrs. Troup sagte, Sie würden mir gern bei den guten Werken für die Gemeinde helfen.« Optimus wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte. »Ja, sie hat es mir nahegelegt.« -88-
»Und Sie waren sicher Feuer und Flamme. Wie schön! Sie müssen gleich mit ins Pfarrhaus kommen, eine Tasse Kaffee trinken und alles mit mir besprechen. Sie werden ein Gewinn für uns sein! Und nun reichen Sie mir Ihren Arm und begleiten Sie mich. Mein Mann kommt ja nie beizeiten aus der Kirche, er verplaudert sich immer.« Wenige Augenblicke später saß Optimus in Mrs. Lacklands Kutsche, rollte die Straße nach Bigmore entlang und war sich unangenehm bewußt, daß seine Hüfte und sein Schenkel, weil die Kutschbank so schmal war, gegen das seidene Kleid der Pfarrersfrau gedrückt wurden. Er spürte, wie die Wärme ihres Körpers unwillkürliche Regungen in ihm hervorrief. Er saß kerzengerade, blickte starr geradeaus und hoffte, sie werde es nicht merken. Seine Verlegenheit wuchs mit jeder Drehung der Räder. Er hatte Konversation machen sollen, doch je länger sein Schweigen dauerte, desto schwieriger wurde es, dieses Schweigen zu brechen. Außerdem hatte er, obwohl das nicht angehen konnte, den bestimmten Eindruck, daß sich Mrs. Lacklands seidenverhülltes Knie mit einem Rhythmus gegen das seine preßte, der das Rütteln der Kutsche noch betonte. »Ihr Gatte«, sprudelte er hervor und hielt inne, als er sah, wie sie plötzlich den Kopf wandte und ihn anstarrte, »Ihr Gatte ist so gewissenhaft, so gütig, so sehr dem Werk ergeben, die Seelen der armen Sünder in der Gemeinde Harberscombe zu retten.« »Mein Mann, Mr. Shute, ist ganz und gar dem Jenseits ergeben. Er meidet alle Sinnenfreuden. Die Fastentage sind ihm die liebste Zeit. Hölle und Verdammnis beherrschen seine Gedanken. Mein Mann billigt kein Tanzvergnügen, duldet keinen Weihrauch in seinen Kirchen, lacht nicht am Sonntag, und am Werktag lächelt er spärlich. Irdische Dinge kümmern ihn nicht.« Optimus war verwundert. Ein Seitenblick zeigte ihm, daß der Pfarrersfrau unter ihrem Puder das Blut in die Wangen geschossen war; ihre Augen blitzten vor Zorn. »Er muß von -89-
Herzen dankbar sein, daß ihm Gott eine so ergebene Gefährtin geschenkt hat, die sich mit ihren guten Werken der leiblichen Bedürfnisse seiner Schäflein annimmt, während er sich der Seelsorge widmet. Mein Mann gibt sich nicht mit mir ab. Er ist wie Milton, er glaubt, die Frau sei ein Geschöpf des Teufels, ein minderwertiges Wesen, das man eben duldet, weil man nichts Besseres hat.« »Ist das nicht das Pfarrhaus von Bigmore, das man da durch die Bäume sieht?« fragte Optimus, bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Wie schön! Was für ein herrlicher Anblick!« »Ich hasse dieses Haus!« rief Mrs. Lackland und stampfte mit dem Fuß auf. »Er hat mir vorher nichts von dieser Gegend erzählt, von ihrer Abgeschiedenheit, von der Armseligkeit des Lebens hier, ohne Gesellschaft, ohne Unterhaltung. Er hat mich angefleht, ihn zu heiraten. Ich hätte dutzendweise andere Männer finden können, freundliche, aufmerksame Männer, die sich gern in Tunbridge Wells niedergelassen hatten, wo meine lieben Eltern wohnen. Dort hätte ich auf Soireen gehen, Whist spielen und Menschen begegnen können, die weder die Pariser Mode verdammen noch über geschminkte Gesichter wettern.« Das Knirschen von Kies unter den Rädern erlöste Optimus ein wenig aus seiner Verlegenheit, denn es bedeutete, daß sie von der Straße in die Auffahrt zum Pfarrhaus gebogen waren. Das Pfarrhaus war ein großer, stattlicher Bau im gotischen Stil und erinnerte an eine schottische Burg, lauter Winkel und Ecken, Türme und Türmchen. Optimus sprang aus der Kutsche, hielt den Kopf des Pferdes und wartete darauf, daß ein Dienstbote es in den Stall führte. »Wir können uns nur Treebie leisten, und Sie sehen ja selbst, wie vergreist und langsam er ist«, klagte Mrs. Lackland, als ein etwas zittriger alter Mann aus dem Haus auftauchte. »Sagen Sie Margaret, sie soll uns Kaffee bringen!« schrie sie, den Mund dicht an Treebies Ohr, ehe sie die Treppe zum Salon -90-
hinaufstolzierte. Entweder war der alte Diener so schwerhörig, daß er Mrs. Lacklands Klage nicht verstanden hatte, oder er verbarg seinen Ärger hinter einem unbewegten Äußeren. »Kaffee ist ein Luxus, aber man muß sich hin und wieder ein bißchen verwöhnen, finden Sie nicht?« sagte die Pfarrersfrau, als sie aus der Kanne eingoß, die die dralle Mrs. Treebie bald auf den Tisch gestellt hatte. Optimus, dem bei seinem jämmerlichen Gehalt selbst Tee als Ausschweifung erschien, hielt Tasse und Untertasse so ruhig wie möglich, doch er konnte es nicht verhindern, daß sie klapperten. Er saß auf der Kante eines Sessels, Mrs. Lackland gegenüber, und vermied es, auf ihr straff geschnürtes Mieder zu blicken. Die Pfarrersfrau war, wie er bald entdeckte, nicht übermäßig daran interessiert, über die guten Werke für die Gemeinde zu sprechen. Statt dessen fragte sie Optimus über seine Vergangenheit aus, seine Zeit im Seminar, seine Liebhabereien. »Ich bin ein rechter Langeweiler, es gibt keine Abenteuer in meinem Leben, keine großen Passionen«, gestand er bedauernd. »Aber das stimmt doch nicht. Sie sind besessen von Grace Pensilva.« »Wer hat Ihnen das erzählt?« Was meinte sie damit, besessen von Grace Pensilva? »Mrs. Troup.« »Mrs. Troup ist eine furchtbare Klatschbase. Und sie übertreibt entsetzlich.« »Sie sind ein dummer kleiner Junge. Jeder weiß, daß Sie Fragen gestellt haben. Sie sind behext von ihr. Geben Sie’s zu!« Optimus schwieg. Irgend etwas in ihm wehrte sich dagegen, dieser oberflächlichen Frau von seinen Vorstellungen von Grace Pensilva zu erzählen. »Mrs. Troup sagte, Sie würden mich bitten, einen Zettel für Sie zu übersetzen. Haben Sie ihn bei sich?« Optimus schüttelte den Kopf. »Er liegt bei mir zu Hause«, -91-
murmelte er. »Ach, Mr. Shute, Sie flunkern. Ich weiß es. Sie können mir nicht in die Augen sehen und das wiederholen, oder? Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß, woran es liegt. Sie sind schüchtern, nicht wahr? Streiten Sie es nur nicht ab; ich habe gemerkt, wie Sie mich in der Kirche angestarrt haben. Sie müssen wirklich diskreter sein. Und wo ist nun der Zettel? Geben Sie ihn mir.« Sie streckte herrisch die Hand aus, und zögernd griff er in seine Tasche und zog den Zettel heraus. »Was ist das?« fragte Mrs. Lackland, als sie das schmutzige Papier mit spitzen Fingern auseinanderfaltete. »Wer hat Ihnen das gegeben? Mrs. Troup? Ich dachte, sie hätte nichts mehr.« »Dr. Cornish hat es mir gegeben«, log Optimus grundlos und biß sich in heimlichem Ärger auf die Lippen. Diese Frau führte ihn wie einen Tanzbären an der Nase herum, und das gefiel ihm gar nicht. »Wie faszinierend!« Mrs. Lackland ging quer durchs Zimmer zu einem kleinen Mahagonischrank, den sie mit einem Schlüssel aus ihrer Börse aufsperrte. Sie langte weit nach hinten und holte ein altes, abgenutztes, in Leder gebundenes Bändchen heraus, kaum größer als ein Gebetbuch, schlug das Vorsatzblatt auf und hielt Optimus’ Zettel zum Vergleich daneben. »Und?« fragte Optimus nach einem langen Schweigen. »Was ist?« »Kommen Sie und sehen Sie selbst.« Er ging durch den Raum, blickte Mrs. Lackland über die Schulter und versuchte, sich nicht von ihrem Moschusduft verwirren zu lassen. »Nun? Sehen Sie, was ich sehe?« fragte sie. Optimus betrachtete die aufgeschlagene Seite. In kühner Handschrift stand darauf ein einziger Satz geschrieben: -92-
Rache ist eine Art wilder Gerechtigkeit Er zitterte leicht, als er die Worte las, hoffte jedoch, Mrs. Lackland werde seine Aufregung nicht bemerken. »Nun?« wiederholte sie. »Es ist Englisch, ich kann es verstehen.« »Das meine ich nicht. Fällt Ihnen die Ähnlichkeit nicht auf? Es ist ein und dieselbe Schrift.« »Wie sind Sie zu diesem Buch gekommen?« »Ich habe es von Mrs. Troup gekauft. Sie sagte, es habe Grace Pensilva gehört. Sie hat mir alle Bücher verkauft, die Grace besaß. Als ich hierherkam und die Geschichte hörte, war ich genauso fasziniert wie Sie. Ich mag diese Frau, sie ist eine so romantische Gestalt.« Während Mrs. Lackland sprach, drehte Optimus das Buch in seinen Händen, durchblätterte die Seiten mit ihrem altmodischen Druck und las die verblaßten goldenen Lettern auf dem Rücken des Einbands. Ja, kein Zweifel, es war dieselbe Schrift. Und er hätte Mrs. Lackland auch sagen können, daß sich unter den Papieren in seinem Besitz so manches Blatt befand, das mit dieser Schrift beschrieben war, doch er zog es vor zu schweigen. »Menschenrechte?« las Optimus in fragendem Ton. »Was ist das für ein Buch? Wer hat es geschrieben?« »Ein Mann namens Paine, Thomas Paine. Wissen Sie, was mein Mann immer sagt? ›Paine, das ist der Familienname des Teufels‹! Paine war ein Revolutionär. Wenn Lackland wüßte, daß ich dieses Buch habe, würde er mich schlagen. Zum Glück schnüffelt er nie in meinem Bücherschrank herum. Er denkt, ich lese nur Erbauungsliteratur – und die Bibel natürlich.« »Aber was heißt das auf dem Zettel?« »Was, zum Teufel, haben Sie sich hier herumzudrücken?« Optimus blickte erstaunt auf. Mrs. Lackland starrte böse auf Mrs. Treebie, die in der Tür stand. »Wie lange sind Sie schon -93-
hier? Sie wissen doch, ich dulde es nicht, daß Sie meine privaten Gespräche belauschen!« Mrs. Treebie ließ sich nicht einschüchtern. »Ich hab’ nur noch mal Kaffee gebracht.« »Nun, wenn Sie nächstes Mal ins Zimmer kommen, dann klopfen Sie gefälligst an. Stellen Sie die Kanne auf den Tisch und gehen Sie, aber sofort. – Lackland hat ihr gesagt, daß sie mir nachspionieren soll, da bin ich sicher«, fuhr die Pfarrersfrau fort, als sie wieder mit Optimus allein war. »Wo war ich stehengeblieben?« »Sie wollten den Zettel übersetzen.« »Ach ja.« Sie hielt das Papier ins Licht. »La revanche est un plat qui se mange froid«, las sie, die Worte deutlich artikulierend. »Das heißt: Rache... Rache ist ein Gericht, das kalt gegessen wird. Also, in freier Übersetzung: Rache soll man kalt genießen. Wie faszinierend! Es erklärt vieles an Grace Pensilva, denn sie hat das geschrieben – es kann nur sie gewesen sein. Sie sagten, Dr. Cornish habe Ihnen den Zettel gegeben; wie ist er dazu gekommen?« Das war genau die Art Befragung, die Optimus befürchtet hatte. Er wollte Grace Pensilva nicht mit dieser Frau teilen. Doch was die Herkunft des Zettels betraf, konnte er es sich leisten, ehrlich zu sein. »Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt.« »Sie sind so schwer zu fassen, Mr. Shute. Warum lassen Sie es nicht zu, daß man Ihnen näherkommt? Wie heißen Sie mit Vornamen? Wir brauchen nicht so förmlich zu sein. Ich heiße Diana.« »Nun, Mrs. Lackland... ich meine, Diana, Ich heiße Optimus. Ich bin so offen, wie ich kann, und ich kann nicht anders sein, als ich bin.« »Das wäre wohl auch zuviel verlangt. In Wirklichkeit sind Sie noch ein kleiner Junge. Aber besser das als ein alter Pharisäer -94-
wie Lackland. Da kommt er gerade. Kein Wort über unser Gespräch. Grace Pensilva ist ein rotes Tuch für ihn. Setzen Sie sich und trinken Sie Ihren Kaffee. Wir können das ein andermal weiterführen.« Man hörte Räder über den Kies der Auffahrt rollen. »Ja, und nun zu unseren guten Werken«, sagte Mrs. Lackland und zwinkerte ihm zu. »Wird es nicht Zeit, daß wir sie planen?« Als Grace am nächsten Morgen den Hof erreichte, war es noch halbdunkel. Die Luft war kalt und Ihr Umhang feucht vom Tau. Ein Hahn krähte. Dann war es wieder still. Ein Collie kroch schwanzwedelnd aus seiner Hütte und begann Grace die Hand zu lecken. Einen Augenblick dachte sie, es sei noch niemand auf, doch da öffnete sich die Haustür. Eine Frau mit scharfzügigem Gesicht erschien. Sie trug eine Laterne in der Hand, in der eine Kerze brannte, und winkte Grace. Grace stieg die Stufen zur Haustür hinauf und folgte ihr in die Milchkammer. Der kalte Raum mit der niedrigen Decke erschien ihr riesig nach der Enge in Ihrem kleinen Haus. An den weiß getünchten Wänden standen Arbeitsbänke mit Platten aus Schiefer. Die Mitte des Raums nahm ein langer Tisch aus Kiefernholz ein. Auf Hochglanz polierte Kannen voll Milch und Rahm standen auf den Arbeitsbänken; andere, leere Behältnisse hingen an Nägeln, die in die Wände und in die Deckenbalken geschlagen waren. Die Frau stellte ihre Laterne auf den Tisch und bückte Grace ins Gesicht. »Zeig mir deine Hände!« befahl sie und deutete auf den Lichtkreis, den die Kerze warf. »Leg sie hierher, laß mich sehen.« Grace stellte ihre Habseligkeiten auf den Boden und streckte die Hände aus. »Na, wenn das keine feine Dame ist«, sagte die Frau höhnisch. »Die hat nie mit den Händen gearbeitet. Wenn du hier durchhältst, und das glaub’ ich kaum, dann erkennst du sie bald nicht wieder.« -95-
»Sie sind Mrs. Coyte«, sagte Grace, bemüht, höflich zu bleiben. »Richtig«, antwortete die Frau. »Du wirst schon sehen, wir sind hier ganz anders. Ich bin nicht so wie deine Miss Delabole. Wir nähen hier keine affigen Sachen, wir sticken nicht, wir sprechen kein Französisch. Wir sind echte Leute aus Devon, wir wissen, was Arbeit ist. Und entweder lernst du das auch, oder...« Grace fiel ihr ins Wort. »Ich werde es lernen«, sagte sie. »Ich werde es lernen, keine Sorge. Sie müssen mir nur zeigen, wie man es macht.« »Na, nun mal langsam«, erwiderte Mrs. Coyte. »Ich hab’ noch nicht gesagt, daß ich dich nehme, oder? Da gibt’s nämlich was, das du sicher nicht bedacht hast: Wir sind fromm, wir gehen in die Kirche, und wie du’s so treibst, das gefällt uns nicht.« »Wie ich es so treibe? Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß ich hier ’nen Jungen habe, der wird bald ’n Mann, und...« »Und?« »Laß die Finger von ihm. Laß bloß die Finger von ihm. Das ist alles.« Grace blickte Mrs. Coyte verwundert an, sie konnte ihren Ohren kaum trauen, aber die Bauersfrau meinte es ernst, kein Zweifel. Ihr Gesicht hatte einen selbstgerechten Ausdruck. »Warum sagen Sie das?« »Oh«, gurrte Mrs. Coyte, »ich hab’ meine Gründe.« »Nun seien Sie doch wenigstens ehrlich, heraus mit der Sprache!« rief Grace, der jetzt doch die Geduld riß. Mrs. Coyte lächelte dünn, es war ihr ein Triumph, einen wunden Punkt getroffen zu haben. »Na, wenn ’ne Frau es einmal gemacht hat, macht sie’s auch zweimal, das kostet sie nicht mehr. Und mein Ronald, der hat was zu bieten, der wird mal Müller und Bauer. Ich will nicht, -96-
daß du auf dumme Gedanken kommst, ich will nicht, daß du dich an dem Jungen vergreifst.« »Da können Sie völlig unbesorgt sein. Ich werfe mich nicht weg für Ihren kostbaren Sohn, Mrs. Coyte, egal, was er zu ›bieten‹ hat.« »Komm nur runter von deinem hohen Roß«, sagte Mrs. Coyte bissig. »Ich bin nicht umsonst mißtrauisch. Ich bin kein Mensch, der sich was aus den Fingern saugt. Ich hab’ dich gesehen, Grace Pensilva, ich hab’ dich mit meinen eigenen Augen gesehen, mit ’nem ganz bestimmten Mann. Das war ’ne Todsünde, Grace Pensilva, ’ne Todsünde, und das weißt du ganz genau. Es steht in der Bibel!« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, antwortete Grace. Aber sie wußte es. Sie war sicher, daß die Frau wußte, wovon sie sprach. Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Spannung. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen.« »Das meinst man vielleicht. Ein frommer Mensch denkt da anders.« »Dann gehe ich wohl am besten.« »Nein, geh nicht. Bleib hier, wenn du magst. Wir geben dir ’ne Chance, wir tun das, was ’n guter Christ tun soll. Bei uns kannst du bereuen, du kannst dich bessern und dir deinen Eigensinn abgewöhnen.« »Und wenn ich das nicht will?« »Dann mach, daß du wegkommst. Aber du wirst schon bleiben, für ’n junges Mädchen gibt’s keine andere Arbeit in Harberscombe. Du wirst bleiben und zusehen, daß du dich gut aufführst. Wenn dir das zuviel Mühe ist, sorg’ ich eben dafür. Und denk dran, wenn du deine liederlichen Gedanken meinem Ronald in den Kopf setzt, dann sag’ ich, was du für eine bist. In Harberscombe gibt’s ’ne Menge Leute, die das interessieren würde.« Mrs. Coyte hielt inne und löschte die Kerze zwischen Zeigefinger und Daumen. Nun lag der Raum im kalten, -97-
bläulichen Frühlicht da. »Wir können uns keine Verschwendung leisten. Mein Mann ist ja nicht der Gutsherr, wir müssen Pacht zahlen am Quartalstag«, fuhr sie fort und beugte sich vor, die knochigen Hände auf den Tisch gestützt. »Also, gehst du oder bleibst du?« Der bittere Geruch der ausgelöschten Kerze stach Grace in die Nase. Er glich dem von Weihrauch bei einem Opfer. Und es war ein Opfer, ihr Opfer für Frank. Sie sah Mrs. Coyte in die Augen und wußte, daß sie Gegner waren. Die Bauersfrau würde sie schikanieren, wo sie nur konnte. »Ich bleibe«, sagte Grace, und Mrs. Coyte lächelte wieder dünn. Bevor eine Woche herum war, waren Graces Hände rot und wund. Sie wurden ständig in eisiges Wasser getaucht, scheuerten Pfannen und Tiegel. Oder Grace saß gebückt auf einem dreibeinigen Schemel beim Melken. Nur dort im dunklen Stall wurde ihr warm, wo die Kühe standen und die Luft mit ihrem heißen Atem und dem Geruch ihres Dungs erfüllten. Sie drückte die Stirn gegen die zuckende Flanke einer Kuh und ließ die Milch in warmem Strahl in einen Eimer schießen, was fast melodisch klang, wenn er leer war, bis der Ton immer dumpfer wurde und am Ende nur noch rhythmisches Zischen blieb. Es war kalt in der Mühle, sogar in der Küche. Mrs. Coyte ließ das Feuer im Herd niedrig brennen und schürte es nur, wenn Essen zubereitet oder Milch abgekocht werden mußte. Grace ging frierend zu Bett und zitterte unter einer dünnen Decke in ihrem klammen Zimmer. Es hatte schimmelige, feuchte Wände, denn außen befand sich das große Mühlrad. Die ganze Nacht über sprudelte Wasser aus undichten Stellen im Gerinne und plätscherte auf das Rad herab. Es war eine Erlösung, am Morgen aufzustehen, über den Hof zu gehen, wo brüchiges Eis die Pfützen bedeckte, und Holz zu hacken. Sie holte weit aus und ließ das Beil mit voller Wucht niedersausen. Es spaltete das Holz und traf mit dumpfem Geräusch den Hackklotz. Für sie war es das Geräusch, mit dem -98-
sich das Entermesser ins Schanzkleid des Loggers gegraben hatte, und sie hörte Frank »Erbarmen! Erbarmen!« rufen. Mit geschlossenen Augen sah sie die hohe, in einen Mantel gehüllte Gestalt des unerbittlichen Kapitäns. Sie haßte diesen Unbekannten. Am Anfang spürte sie ihre Hände nicht, sie waren starr und empfindungslos, aber die Arbeit erwärmte ihr Blut und ihre Gedanken schnell. Tag für Tag verfolgte sie ihn, den Namenlosen mit dem Entermesser, der Frank verstümmelt und dem Verderben überantwortet hatte. Wenn aber jemand ihr Gesicht betrachtete, wie es der junge Ronald Coyte oft tat, den Kopf schiefgelegt wie ein großer, unbeholfener Vogel, hätte er nie vermutet, daß sie so finstere Gedanken hegte. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie sich vorstellte, wie sie sich eines Tages an dem Fremden rächen würde. Dabei blieb ihr stets bewußt, daß der Erfolg ihres Unternehmens bedroht war, wenn sie nur im mindesten verriet, was sie plante. Das Gesicht, das sie der Welt zeigen mußte, war eine Maske, die den anderen Vergessen vorgaukelte und Ergebung in ihr Schicksal. Ihr Vorhaben durfte unter keinen Umständen bekannt werden. Leute wie Emma Troup würden versuchen, sie davon abzubringen; andere würden vielleicht sogar die beiden Männer decken, die ihr Frank genommen hatten, und ihr unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen. Sie wußte, sie durfte keinen Vertrauten haben, der an Ihrem Geheimnis teilhatte und sie in ihrem Willen bestärkte, sollte sie je schwankend werden. Die Tage vergingen, und sie erkannte immer deutlicher, daß sie eine harte Prüfung würde bestehen müssen. Nur die Erinnerungen an Frank, an den kostbaren Menschen, den sie verloren hatte, vermochten ihr Kraft zu geben. Der Kapitän des Zollkutters lebte und ging seinen Geschäften nach. Im Geist spürte Grace ihn auf, schlich sich an ihn heran, beobachtete, wie er lachte, gab vor, lustig zu finden, was er -99-
lustig fand, gab vor, den Schnitt seines Rockes zu bewundern, seinen weißen Kragen. Gleichzeitig würde sie hinter seinen unbarmherzigen Augen seine Seele suchen. Sie würde diese Seele finden, sie würde sie eines Tages besitzen. Und wenn sich die Vollstreckung des Urteils in die Länge zog – nun, um so besser. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das Vertrauen des Mannes zu genießen, wenn der Tag kam, an dem sie ihm seine Schuld vorhalten würde und... »An was denkst du gerade?« Grace blickte auf. Es war Ronald. Mit einwärts gekehrten Füßen und nervös aneinandergepreßten Händen beobachtete er sie. »Ich denke an meinen Schatz«, log Grace und wußte, daß Ihn allein dieses Wort verlegen machen würde. Ronald war ein kleiner, unreifer Junge. Mrs. Coyte brauchte sich seinetwegen wirklich nicht zu sorgen, noch hatte er nicht mehr im Sinn, als auf Bäume zu klettern, Vogelnester auszunehmen, über Bäche zu springen und Kaninchen zu fangen. »Ich hab’ eben ’nen Seetaucher gesehen«, sagte er. »Ich glaub’ wenigstens, daß es einer war, unten beim Teich. Kommst du mit und schaust ihn dir an?« Ronald war schüchtern und unsicher, das hatte Grace bereits herausgefunden. Unterdrückt von seinem sprunghaften Vater und abgelehnt von seiner lieblosen Mutter, hatte er begonnen, sich in Graces Nahe aufzuhalten. Er redete gern mit ihr. Er hatte ihr schon von der Stelle bei der Brücke erzählt, wo er sich versteckte, um die Stock- und Krickenten im Ried zu beobachten; er hatte ihr eine Bussardfeder geschenkt und ihr seine Muschelsammlung gezeigt. Grace empfand, seltsam genug, Vertrauen zu ihm, nicht vergleichbar mit ihren Gefühlen für Frank, aber sie spürte teilnahmsvolle und fürsorgliche, vielleicht auch mütterliche Regungen. Manchmal jedoch erinnerten ein Wort oder eine Gebärde von ihm sie an Frank, und wenn ihre Gedanken zu Frank zurückkehrten, drehten sie sich endlos im Kreis; Erinnerungen -100-
stiegen auf und hielten die Erbitterung in ihr wach, die sie vor Resignation und Vergessen bewahrte. »Ich kann jetzt nicht mitkommen, deine Mutter paßt auf«, sagte Grace zu Ronald. »Und dann behauptet sie, daß ich nachlässig bin und schickt mich fort. Das willst du doch sicher nicht, oder? Also laß mich in Frieden, ich muß arbeiten.« Ronald schlenderte davon, und Grace dachte den ganzen Vormittag an Frank, an Frank und seinen Henker, den Kapitän des Zollkutters. Plötzlich packte sie die Angst, er könne ihr entkommen. Wenn sie nicht bald nach Salcombe ging, wechselte er vielleicht auf einen anderen Posten. Am Nachmittag bat sie Mrs. Coyte um einen freien Tag, aber ihre Herrin machte kein Hehl aus dem Vergnügen, das es Ihr bereitete, Grace den Wunsch abzuschlagen. »Kaum ’ne Woche da, und Miss Pensilva will frei haben! Wenn das nicht faul ist! Wer soll die Hühner füttern? Wer die Kühe melken? Wer die Milchkammer putzen?« »Und am Sonntag?« »Bloß weil Sonntag ist, hört die Arbeit für den Menschen nicht auf. Wenn du mich bitten würdest, ob du mit in unsere Kirche kommen kannst, das wäre was anderes, das würde ich dir vielleicht erlauben. Nein, du bleibst hier und kümmerst dich um den Hof, und wir gehen in die Kirche. Da beten wir für dich, Grace Pensilva, da beten wir, daß du zur Einsicht kommst und bereust. Wir sind alle Sünder, aber der schlimmste Sünder, der nie in den Himmel kommt, das ist der, der nicht bereut. Sag mir ’nen anständigen Grund, warum du nach Salcombe willst, und ich überleg’s mir. Aber bis dahin arbeitest du, junge Dame!« Und so beobachtete Grace am Sonntag, wie ihr Dienstherr und ihre Dienstherrin, mit blankgeputzten Schuhen und ihren großen, schwarzen Gebetbüchern in der Hand, in ihren kleinen, schwarzen Einspänner stiegen. Er wurde von einem Dartmoorpony gezogen, und hinterher trottete ihr langbeiniger -101-
Sohn Ronald auf einem elenden Klepper, für den Bauer Coyte gutes Geld gezahlt hatte, damit der Junge auf die Jagd reiten konnte. Grace sah sie ohne Bedauern verschwinden; sie hatte kein Bedürfnis nach solcher Art Vergebung. Als sie den Hügel hinauf waren, ging Grace in ihr Zimmer, nahm eins von Franks Büchern aus der Kiste, die Mr. Wroth mit seinem Karren hierher gebracht hatte, und schrieb ein paar Worte auf das Vorsatzblatt. Danach las sie. Wenn Mrs. Coyte meinte, Grace werde arbeiten, während sie selbst, mit allen Tröstungen der Religion versehen, in einem warmen Betsaal saß, so irrte sie sich. »Dann haben Sie also auf meinen Rat gehört und helfen Mrs. Lackland jetzt bei ihren guten Werken. Sie macht Krankenbesuche und sorgt dafür, daß die Armen ihre Unterstützung kriegen, wie’s eigentlich die Frau vom Gutsherrn tun sollte, wenn wir einen hätten. Das ist schon ein Unglück für ein Dorf, wenn es seinen Gutsherrn verliert, ganz besonders, wenn er so jung und freundlich war wie Frederick Genteel. War ein trauriger Tag für Harberscombe, als er nach Malta gegangen und der ganze Besitz Nancy in die Hand gefallen ist.« Optimus saß wieder einmal in Mrs. Troups Wohnzimmer, diesmal unter dem Vorwand, daß er ihr eine Tüte Fondant aus Salcombe vorbeibringen wollte, in Wirklichkeit aber, um noch mehr von ihr zu erfahren. Er hatte geglaubt, er werde in Salcombe mehr über Grace und den Kapitän des Zollkutters erfahren. Doch er war enttäuscht worden. Das Zollamt hatte keine Unterlagen über das Ereignis, für das er sich interessierte; auch konnte er nicht herausfinden, wie der Mann hieß, der zur fraglichen Zeit den Kutter befehligt hatte. Der Schreiber war durchaus hilfsbereit, aber im Archiv klaffte eine Lücke, es fehlten die Akten für einen ganzen Monat, als hätte jemand mit Vorbedacht alle Hinweise gerade auf die Person entfernt, die Optimus suchte. Die Aufzeichnungen endeten mit der Versetzung eines gewissen Kapitäns Trahearne nach Bridport; -102-
wo sie wieder begannen, lautete der Name des neuen Kapitäns Scully. Dann fragte Optimus die Ladenbesitzer und Gastwirte in der Stadt, was sie ihm von Grace Pensilva berichten könnten. Alle hatten von ihr gehört und eine Vorstellung davon, was sie getan hatte, doch von dem verschwundenen Kapitän konnten sie ihm nichts erzählen. Optimus wurde fast wütend darüber, daß es ihm nicht gelingen wollte, nachzuvollziehen, was Grace während der ersten Wochen in der Mühle getan hatte und wer der geheimnisvolle Kapitän des Küstenschutzes gewesen war, den auch sie gesucht hatte. »Nancy?« »Na, Sie wissen doch, die Schwester vom Gutsherrn, obwohl Frederick gar nicht der richtige Gutsherr war, das war Lord Mayberry, sein Vater. Der ist nie hierher gekommen, der war immer in London und hat das ganze Geld durchgebracht, verspielt und vertrunken. Deswegen sind Frederick und Nancy auch immer kurz gehalten worden, weil eben keins da war.« Mrs. Troup schob ein Stück Fondant in den Mund und mummelte es mit zahnlosen Kiefern. »Sie wissen, wie man sich bei einer alten Frau einschmeichelt, was, Mr. Shute? Das ist glatte Bestechung, aber machen Sie nur so weiter, ich mag das. Also, Frederick Genteel war hin und weg von Grace Pensilva, hat alles vergessen, Rang und Stand, und bei ihr war’s auch nicht viel anders, obwohl sie’s immer abgestritten hat. Seit sie ihn bei dieser Jagd zum ersten Mal gesehen hat, hat sie ihn gemocht, aber das ist eine andere Geschichte, und die erzähl’ ich Ihnen ein anderes Mal bei einer neuen Tüte Fondant.« »Aber was war mit Salcombe? Das erzählen Sie doch jetzt gleich? Grace ist dort gewesen, nicht wahr? Was hat sie herausgefunden?« »Na schön, das erzähl’ ich Ihnen. Ist ja nicht mit anzusehen, wie unser neuer Schulmeister nachts nicht schlafen kann, weil er sich den Kopf über Grace Pensilva zerbricht. Ich erzähl’s Ihnen, aber das bringt Sie auch nicht viel weiter. Grace hat eine alte, -103-
todkranke Tante in Salcombe erfunden, damit Janet Coyte sie gehen läßt, aber als sie nach Salcombe gekommen ist, war der Vogel schon ausgeflogen. Und nicht nur das, ein Mann mit einer Maske hinterläßt auch nicht viele Spuren, stimmt’s?« »Ein Mann mit einer Maske? Wie meinen Sie das?« »Hab’ ich Ihnen doch schon mal gesagt. Der Kapitän vom Zoll, der Mann, der’s ihrem Frank besorgt hat. Niemand hat gewußt, wer. das war, er hat nie verraten, wie er heißt, und hat immer eine Ledermaske getragen. Die Leute haben gesagt, er wäre extra von London geschickt worden, weil die anderen vom Küstenschutz mit den Schmugglern Geschäfte gemacht haben; sie haben gesagt, er war von Adel gewesen und hat soviel Geld gehabt, daß er nicht beide Augen zugedrückt hat für einen Anteil. Jedenfalls war er der einzige, der die Schmuggler mal erwischt hat.« »Grace wußte also nicht, wer der Mann war.« »Damals nicht, nein, aber vielleicht hat sie’s später rausgekriegt. Die hat nicht locker gelassen, die war wie ein kleiner Terrier, wenn er sich in was verbissen hat. Die wäre dem Mann um die ganze Welt nach, wenn's hatte sein müssen. Natürlich hab' ich das damals nicht gewußt, woher auch. Aber wenn ich gewußt hätte, wie rachsüchtig sie ist, hätte ich dem armen Jan King noch viel öfter gesagt, daß er bloß einen Bogen um sie machen soll. Sicher, er hatte nicht auf mich gehört, der war auch hin und weg von ihr, wie Frederick Genteel, nur schlimmer. Ja, so war das, Grace hat irgendwas gehabt, da haben die Männer einmal hingesehen, zweimal hingesehen, und dann hat bei ihnen der Verstand ausgesetzt. Ich glaube, Mr. Shute, Ihnen geht’s auch nicht viel anders. Wenn Grace noch lebte, würden Sie ihr auch aus der Hand fressen.« Emma Troup nahm sich wieder ein Stück Fondant und leckte sich die Lippen. »Grace Pensilva war nicht so süß wie das hier, sie war... na ja, bittersüß, könnte man sagen. Und deswegen sind ihr die Männer nachgerannt, obwohl sie sich wenig daraus gemacht hat. Sie war -104-
nicht so wie die andern Mädchen im Dorf, sie war ganz anders.« »Wie anders?« »Sie sah schon anders aus als die anderen, aber vor allem war’s ihre Art. Sie war wählerisch wie eine Katze. Und sie war eine Einzelgängerin. Sie haben noch nie ein Bild von ihr gesehen, oder? Na, weil Sie ein netter junger Mann sind, viel netter, als ich gedacht hab’, als Sie das erste Mal hier reingekommen sind, will ich Ihnen was zeigen, das hab’ ich noch nie jemandem gezeigt, keiner Menschenseele, solange ich’s besitze.« Die alte Dame erhob sich mühsam und watschelte zu einer Kommode, auf der ein paar Hunde aus Porzellan und andere Nippsachen standen. Sie rückte ihre Brille zurecht, durchstöberte die Schubladen und zog schließlich einen mit Jett verzierten Beutel aus schwarzem Satin heraus, der viel zu elegant war, als daß er zu ihren eigenen Accessoires gehören konnte. Ein wenig außer Atem ließ sie sich wieder in ihren Sessel sinken und machte sich an den Zugbändern zu schaffen. Optimus beobachtete sie ohne wirkliche Aufmerksamkeit; der Beutel konnte kein richtiges Porträt enthalten, dafür war er zu klein. Doch als Emma Troup die dickliche Hand hineinsteckte, ein kleines, goldenes, mit Filigran eingefaßtes Medaillon herauszog, es zwischen ihren Fingern zu drehen begann und vergeblich nach der Schließe suchte, mit der es sich öffnen ließ, konnte Optimus seine Ungeduld nicht verbergen. Er kniete neben ihr nieder, nahm das Medaillon an sich und hielt es an seiner Kette empor. Das Filigran, das es ganz umspann, war feiner, als er es je gesehen hatte. Auf der einen Seite des Medaillons war ein Schiff eingraviert, genau bis in die Einzelheiten, eine Brigg vielleicht; Optimus verstand nicht genug von Schiffen, um das mit Sicherheit sagen zu können. Auf der anderen Seite befanden sich ein Herz und zwei miteinander verschlungene Initialen in so reich verzierter Schrift, daß er sie nicht gleich zu entziffern vermochte. Von einer Schließe war nichts zu sehen. -105-
»Ich hab’s nur einmal aufgekriegt«, sagte Mrs. Troup bedauernd, »und da hab’ ich auch nicht gewußt, wie das eigentlich passiert ist, ist eben aufgegangen, einfach so, und als ich’s wieder zugemacht hatte, hab’ ich’s nie wieder aufgekriegt, nicht um alles in der Welt. Aber Sie schaffen das sicher, Sie kommen doch immer auf so schlaue Sachen.« Optimus war nicht so zuversichtlich; das Medaillon pendelte verlockend vor seinen Augen. Er tastete es forschend ab, fand aber kein Häkchen; weder das Filigran noch der schlichte Ring, an dem die Kette befestigt war, gaben dem leichten Druck seiner Finger nach, auch die Fugen zwischen den beiden gravierten Seiten und dem Mittelstück waren kaum zu erkennen und wiesen keine Einkerbung auf. »Ich komme nicht weiter«, gab Optimus schließlich zu. »Hören Sie, ich muß Sie um einen großen Gefallen bitten. Würden Sie mir gestatten, es mit nach Hause zu nehmen? Ich werde sehr vorsichtig sein und es Ihnen nächste Woche ganz gewiß zurückbringen. Sie können mir vertrauen.« »Ich weiß nicht«, sagte Mrs. Troup. »Nicht daß ich Ihnen nicht traue, Sie sind ein ehrlicher Mensch, ich geb’s nur nicht gern aus der Hand. Ist auch nicht deswegen, weil es was wert ist, wenn ich da hinterher wäre, hätte ich’s schon lange verkaufen können. Aber ich hab’s nie jemandem gezeigt, sobald man das tut, kommen die Diebe gerannt.« »Woher haben Sie dieses Medaillon?« »Grace Pensilva ist mal zurückgekommen nach Harberscombe, das wissen nicht alle, und nur ein paar Leute haben sie gesehen, zwei oder drei vielleicht. Daher hab’ ich’s.« »Sie hat es Ihnen also bei dieser Gelegenheit gegeben.« »Das hab’ ich nicht gesagt, aber sie wollte, daß ich’s habe, glaub’ ich wenigstens. Ich hänge sehr daran, es ist das einzige Andenken, das ich habe, und Grace und ich, wir haben uns immer nahegestanden, obwohl sie nie was davon gesagt hat und -106-
ich auch nicht, aber sie hat gewußt, daß ich sie mag, und sie hat mich auch gemocht auf ihre Art, nur gesagt hat sie’s eben nicht. Ich war die einzige, die versucht hat, sie zu verstehen, ich hab’ ihr gut zugeredet, daß sie das sein lassen soll, was sie vorhat. Für sie hab’ ich das gemacht, nur für sie, ich hab’ mich sogar mit ihr gestritten. Ich hab' ihr gesagt, das ist keine Gerechtigkeit, ich hab’ ihr gesagt, wenn sie Unrecht tut, kommt sie nie zur Ruhe. Grace hat es in den Wind geschlagen, aber das heißt nicht, daß sie nicht gehört hat, was ich gesagt habe, und nicht gewußt hat, wie ich’s gemeint habe.« Optimus legte das Medaillon vorsichtig auf den Tisch, neben den Beutel aus schwarzem Satin. Irgendwann würde er sich bei Mrs. Troup danach erkundigen, woher sie den Beutel hatte. Er wußte inzwischen, daß bei ihr die Antwort auf jede Frage zu ihrer Zeit kam. Er ließ die Kette los. Sie fiel und klirrte leise gegen das Medaillon. »Stecken Sie’s ein, mein Junge.« Optimus war erstaunt über das Angebot und zögerte, das Medaillon wieder vom Tisch aufzuheben. »Ja, nehmen Sie’s nur. Niemand hat sich um meine Grace gekümmert, als sie noch gelebt hat, ich bin auch nicht mehr lang auf der Welt und kann bald nicht mehr an sie denken. Nehmen Sie’s, Sie brauchen’s nicht zurückzubringen. Aber Sie verkaufen es nicht, nein? Das müssen Sie mir versprechen. Und Sie müssen mir auch versprechen, daß Sie Grace nicht vergessen.« Zu Optimus’ Verwunderung sammelten sich Tränen in den Augen der alten Dame und rannen langsam in tiefen Furchen zu beiden Seiten ihrer Nase herab. Er hatte nicht geglaubt, daß Emma Troup zu großen Gemütsbewegungen imstande sei. »Ich dachte, Sie hätten nicht gebilligt, was Grace... Ich dachte...« »Ja, Sie haben eine ganze Menge gedacht, Mr. Shute, aber gewußt haben Sie gar nichts. Natürlich hab’ ich’s nicht richtig gefunden, was sie getan hat; ich hab’ doch gewußt, wie das für sie ausgeht! Meinen Sie, ich hab’s ihr nicht gesagt? Sie hat nicht -107-
auf mich gehört, natürlich nicht, so war sie nun mal, ich hab’s auch nicht anders erwartet. Aber als sie dann weg war, hat sie mir furchtbar gefehlt. Ohne sie war es furchtbar grau in Harberscombe.« Optimus nahm behutsam das Medaillon an sich und machte Anstalten, sich zu verabschieden. Er würde reichlich Zeit haben, das Geheimnis der Schließe zu ergründen. Im letzten Moment fiel ihm noch etwas ein. »Erinnern Sie sich an den Zettel, den Sie mir anvertraut haben, den Zettel mit den französischen Worten? Sie sagten, Sie hätten ihn von Grace. Wann hat sie Ihnen den Zettel gegeben?« »Der war im Medaillon drin. Ich hab’ ihn gefunden, als ich den Deckel aufgekriegt und ihr Bild gesehen habe. Sie haben mir noch nicht gesagt, was das heißt auf dem Zettel.« »Rache soll man kalt genießen.« »Das hat sie geglaubt, ja, das hat sie geglaubt, aber als sie probiert hat, wie das wirklich schmeckt, hat sie gemerkt, daß es so bitter ist wie Galle.« Frederick Genteel trat mit seinem Reitstiefel gegen die Holzscheite, die auf dem Feuerrost glommen. Funken stoben, gefolgt von Flammenzungen, die sein Gesicht im trüben Licht aufscheinen ließen. Der Abend senkte sich über den Salon und breitete einen barmherzigen Schleier über die verschlissenen Bezüge der Stühle und Sessel. Alles hier war Genteel vertraut, die würdevollen Porträts an der Wand, die Kabinettschränke mit den Chinoiserien, der Spieltisch. Als sein Blick darauf fiel, atmete Genteel tief ein und stieß die Luft verächtlich durch die schmalen Nüstern aus. Als ahnte sie, was er dachte, wandte sich seine Schwester Nancy um, die am Fenster gestanden und in die Dämmerung hinausgestarrt hatte. »Vater hat geschrieben. Er will bald kommen«, sagte sie. -108-
»Gott bewahre! Wenn er das tut, wird er versuchen, auch noch den letzten Shilling aus allem herauszupressen, damit er seine Gläubiger bezahlen kann. Er ist imstande und verkauft das Saatgut für das nächste Jahr.« »Trefflich gesprochen! Wie ein Erstgeborener. Deshalb bist du also zurückgekehrt: Um deinen zukünftigen Besitz zu verteidigen. Hoch lebe die Primogenitur!« Ihre Verbitterung, die er von früher nur zu gut kannte, hatte nicht nachgelassen. Nancy hatte es Gott nie verziehen, daß sie nicht als Knabe zur Welt gekommen war. Selbst ihre Gewänder verrieten es. Sie trug stets Reitkleidung, wenn es der Anlaß nicht verbot. »Deshalb hast du dich wieder hier eingeschlichen«, fuhr sie fort. »Gib es zu.« »Ich bin zurückgekehrt«, sagte ihr Bruder, bemüht, die Geduld nicht zu verlieren, »weil Napoleon besiegt und der Krieg zu Ende ist, weil die Flotte nicht mehr all ihre Kapitäne braucht und weil Vater keinen Finger gerührt hat, um Einfluß auf die Admiralität zu nehmen.« Nancy lächelte mit dünnen Lippen. »Aber Freddie, Verbitterung paßt nicht zu dir, über so kleinliche Regungen solltest du doch erhaben sein.« »Du meinst, ich sollte sie dir überlassen.« Und schon waren sie wieder wie Hund und Katze, dachte Genteel. Er konnte noch so lang fort sein, es wiederholte sich stets. Seine Schwester war wirklich verbittert, wie sie dastand, den Kopf vorgestreckt, die Schultern hochgezogen, raubvogelartig. Und dennoch war sie seine Schwester; hätte es das launische Schicksal nicht anders gewollt, so wäre er in ihrer mißlichen Lage gewesen. Gott wußte, daß er versuchte, ihr näherzukommen, aber das ließ die Mauern, die sie um sich zog, nur noch hoher wachsen. »Tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint.« »Oh, doch. Kannst du dir nicht wenigstens deine -109-
Entschuldigung sparen? Du bist ein Mann, oder nicht? Das Leben hier war jämmerlich genug, bevor du zurückgekommen bist, aber immerhin erträglich. Deine Gegenwart erinnert mich dauernd daran, was ich in Wirklichkeit bin.« »Was du in Wirklichkeit bist?« »Zuchtmaterial. Eine Stute, für irgendeinen dummen, jungen Hengst bestimmt, den Vater für mich auswählt, angeblich zu meinem Wohl.« »Aber Nancy, wenn du nur ein wenig herumkämst, nach London reisen, aus eigenem Antrieb einen netten Mann kennenlernen würdest, wäre es doch durchaus möglich, daß...« »Kennst du mich wirklich so wenig, deine eigene Schwester? Willst du mich zur Ehe bekehren? Soll ich einen Tyrannen gegen einen anderen tauschen? Zumindest werde ich, wenn ich ledig bleibe, den derzeitigen überleben. Mag er nach Herzenslust spielen, saufen und huren, um so eher ist es mit ihm vorbei.« »Nancy! Er ist dein Vater!« »Wohl wahr. Aber ich wollte, er wäre es nicht. Und wenn du nicht so ein verdammter Heuchler wärst, Freddie, so ein verdammtes Muster an Langmut, würdest du dir auch wünschen, daß er bald stirbt. Gib es zu!« Genteels Gesicht blieb unbewegt. Wenn es heller gewesen wäre im Raum, hätte Nancy den Schmerz in den Augen ihres Bruders sehen können. Doch im Feuerschein sah sie nur sein kräftiges Kinn, die gefurchten Wangen, die Schatten um seine Augen und die zwei winzigen Punkte widergespiegelten Lichtes darin. »Es ist so dunkel hier«, murmelte er. »Ich muß die Kerzen anzünden. Was ist bloß aus Leet geworden, wir haben kaum noch Personal.« »Du bist ein echter Diplomat«, klagte Nancy, »immer wechselst du das Thema.« -110-
»Was gibt es zum Abendbrot?« »Woher soll ich das wissen? Außerdem ist es mir egal.« »Nicht gerade eine glückliche Heimkehr, wie?« fragte er, als er ein glimmendes Zweiglein vom Kamin zum Kandelaber auf dem ovalen Tisch trug. »Wenn du wüßtest, wie gern ich wieder am Mittelmeer wäre! Das Licht ist klar dort, blaue See, blauer Himmel, roter Fels, weißer Fels, dunkelgrüne Bäume; nicht dieses verfluchte ewige Grau. Aber ich werde hierbleiben, zumindest eine Weile.« Die Kerzen flackerten auf, und seine Entschlossenheit war nicht zu übersehen. »Wenn ich kein Soldat von Stand sein kann, werde ich ein Bauer von Stand sein. Dagegen kann Vater nichts einwenden. Wenn ich Erfolg habe, steigen seine Einkünfte und er hat mehr Geld zum Spielen. Und auf lange Sicht werden wir alle besser gestellt sein.« »Wenn das so ist, möchte ich gern gleich etwas davon haben. Du wirst gewiß nichts dagegen haben, daß ich mir ein neues Jagdpferd kaufe. Das einzige Vergnügen, das man hier hat, ist die Jagd. Du bist es mir schuldig, es ist ein kleiner Ausgleich dafür, daß ich dich und deine Moralpredigten ertragen muß.« »Ich werde mit Charles darüber reden.« »Ach, du und dein Charles. Wer ist er denn? Der liebe Gott vielleicht? Er setzt einem doch bloß immer einen Dampfer auf.« »Charles Barker ist ein guter Verwalter. Wenn Vater nicht den ganzen Gewinn in die eigene Tasche schieben und den Besitz mit Hypotheken belasten würde, könnte Charles dir kaufen, was du willst: Kleider, Schmuck, alles.« »Ich pfeife auf Schmuck, ich mache mir nichts aus Kleidern, ich will nur mein Jagdpferd. Ich habe es unsagbar satt, immer kurzgehalten zu werden.« »Dann tu gefälligst dein Teil im Haus!« entgegnete Genteel mit plötzlicher Heftigkeit und humpelte zur Klingel, um nach dem Abendessen zu läuten. -111-
»Was ist mit deinem Bein?« fragte Nancy. »Hast du Schmerzen?« Er zweifelte daran, daß ihre Besorgnis echt war. »Eine alte Wunde«, brummte er. »Bei deiner Rückkehr vor drei Wochen ist mir das nicht aufgefallen.« »Es kommt und geht. Beim Reiten tut es weh.« »Wo warst du denn den ganzen Tag?« »Ich bin herumgeritten.« »Kannst du keine klare Antwort geben?« »Es hat wieder angefangen, als ich letzte Woche nach Harberscombe geritten bin«, sagte er und bereute es sofort. »Nach Harberscombe? Ich wußte nicht, daß wir dort Ländereien haben.« »Haben wir auch nicht. Ich habe mich verirrt, das ist alles.« Nancy wollte sich schier ausschütten vor boshaftem Gelächter. »Frederick, der große Seefahrer, verirrt sich, fünf Meilen von Leet entfernt, unter den Bauerntölpeln, ich kann’s nicht glauben. Du bist bestimmt hinter einer Frau her, darum lahmst du, du schlauer Fuchs!« Frederick Genteel schüttelte den Kopf; nein, es war keine glückliche Heimkehr. Jemand klopfte an die Haustür. Wie lang er schon klopfte, wußte sie nicht. Sie legte ihr Buch in die Kiste und machte rasch den Deckel zu. Wer konnte das sein? Wer immer es war, er begnügte sich nicht damit, gegen die eichene Türfüllung zu hämmern; sie hörte, wie die Tür aufging, hörte den schweren Tritt von Stiefeln auf den Fliesenboden der Küche. »Ist jemand da?« rief eine rauhe Männerstimme. »Ist jemand da?« Das Geräusch von sich öffnenden Türen, als er in die -112-
Milchkammer sah und einen Blick ins Wohnzimmer warf. Er konnte jeden Moment die Stufen heraufkommen. Grace schlich auf Zehenspitzen zum Treppenabsatz. Unten war alles still. Der Mann mußte sie gehört haben und plötzlich stehengeblieben sein. Sie hatte keine andere Wahl, als hinunterzugehen und nachzusehen. Sie stieg, so beherzt sie konnte, die Treppe hinunter; sie wollte sich ihre Furcht nicht anmerken lassen. Nach ein paar Stufen konnte sie seine langschäftigen Lederstiefel sehen. Wahrscheinlich war er ein Fischer. Ihre Vermutung wurde durch seine Sergehosen, seine gebräunten Hände und seinen Pullover bestätigt. Als sie die Treppe so weit hinuntergestiegen war, daß sie sein Gesicht erkennen konnte, mußte sie fast lachen. Das war der Mann, der ihr einen Schrecken eingejagt hatte? »Es ist niemand da«, sagte sie. »Die Coytes sind in der Kirche.« Sie musterte ihn, während sie sprach, wandte ihre Augen nicht von den seinen, die ihren Blick nur flüchtig erwiderten und dann auswichen, seitwärts wanderten zu einer Ecke des Raumes. Es dauerte lang, bis er Antwort gab. »Ich bin nicht wegen der Coytes gekommen«, sagte er leise. »Warum dann, Jan King?« fragte sie herausfordernd. Wieder trat Schweigen ein, und es erheiterte Grace, wie zerknirscht und verlegen dieser kräftige Mann in ihrer Gegenwart war. »Deinetwegen«, antwortete er schließlich mit einem kurzen Bück in ihr Gesicht, um zu sehen, wie sie es aufnahm. »Meinetwegen? Was willst du von mir?« Jan King scharrte mit den Füßen und drehte seinen Hut zwischen den Fingern. »Heraus mit der Sprache! Die Coytes kommen jeden Moment zurück. Ich möchte nicht, daß sie einen Mann im Haus finden. Ich weiß, was sie dann denken.« »Es ist... es ist wegen Frank...« Er verstummte. »Ja?« »Ich wollte dir sagen...« Sie fiel ihm ins Wort. »Du brauchst mir nichts zu sagen. Ivor -113-
Triggs hat mir alles gesagt, was ich wissen muß. Du hast die Gig an den Küstenschutz verraten. Ich verachte dich, Jan King.« »Ich wollte dir sagen...« »Was wolltest du mir sagen? Glaubst du, du könntest mich mit Entschuldigungen abspeisen? Bildest du dir ein, du könntest mich mit Erklärungen entschädigen? Du kannst Frank nicht wieder lebendig machen, oder kannst du das? Er war doch dein Freund, nicht? Ihr wart doch Partner, oder?« »Ich wollte dir sagen, daß es mir leid tut.« »Daß es dir leid tut? Was soll das, Mann? Du bist schuld an seinem Tod! Ohne dich wäre Frank Pensilva noch am Leben!« »Verzeih mir, Grace. Ich hab’s mir überlegt, ich hab’ nachgedacht. Was hätte ich tun können? Wenn ich zurückgeschwommen wäre, hätte ich ihn dann vielleicht retten können? Ich hab’ ihn schreien hören, ›Erbarmen!‹ hat er geschrien, und ich wollte umdrehen, aber ich hab’ mir gedacht, das ist sinnlos, was kann ein Mann gegen ’n ganzes Boot voll Zöllnern machen? Und bevor ich’s zu Ende gedacht habe, hat er wieder ›Erbarmen!‹ geschrien, und dann war nichts mehr, da ist er wohl untergegangen, und dann hab’ ich Ruder gehört, der Kutter war hinter mir her, und wenn kein Nebel gewesen wäre...« »Wenn kein Nebel gewesen wäre, hätte alle Welt sehen können, was du getan hast. Du hast gedacht, es gäbe keine Zeugen. Ivor Triggs kann nicht schwimmen, das wußtest du, und du hast dir nicht träumen lassen, daß er noch lebt unter der gekenterten Gig. Nein, Jan King, erwarte nicht von mir, daß ich dir glaube, es sei ein glücklicher Zufall gewesen, daß du entkommen und an Land schwimmen konntest. Das war kein Zufall. Es war auch kein Zufall, daß du in der Gig deine Pfeife angezündet hast. Du bist ein Judas, Jan King. Was hast du mit dem Geld gemacht, mit der Belohnung, die dir der Kapitän vom Küstenschutz gegeben hat? Hat es dir Freude gebracht?« -114-
»Mir hat niemand Geld gegeben, und ich hab’ von niemandem Geld genommen.« »Wie hat er euch dann gefunden, sag’ mir das, in einer schwarzen Nacht, in unbefahrenen Gewässern?« »Das weiß ich nicht... ich weiß es wirklich nicht...« »Und du willst wohl auch behaupten, daß du den Namen des Kapitäns nicht kennst?« »Nein, den kenn’ ich nicht, woher denn, ich hab’ ihn ja nie gesehen. Ich kann dir nur sagen, ich versteh’ das nicht, Grace.« »Ich schon. Und wenn du sagst, du warst es nicht – ich glaube dir nicht. Du bist ein Judas und du hast Frank verraten. Frank war zu gut für Harberscombe, viel zu schade für Leute wie dich. Frank Pensilva hat sich nicht gebeugt, er war bereit, aufzustehen und zu kämpfen, und er hatte den Mut, den König um seine schändlichen Zolleinkünfte zu bringen. Frank Pensilva hat an die Menschenrechte geglaubt. Aber ihr, unwissend und feige, wie ihr seid, zieht es vor, den Gutsherrn, den Gendarmen, den Steuereinnehmer voll Ehrfurcht zu grüßen und zu leiden; zu leiden, wie die armen Leute von Harberscombe immer gelitten haben, Generation für Generation. Ich verachte dich. Ohne Frank wärst du nichts, ohne Frank hättest du nie die Gig gekauft, du hattest nicht den Mut dazu. Frank hat mir gesagt, daß du feige bist, aber ich habe ihm nicht geglaubt, obwohl er recht hatte. Er hatte in so vielen Dingen recht. Frank war...« Jan King richtete sich plötzlich auf. »Frank war kein Engel, das hast du bloß geglaubt. Neumodischen, ausländischen Kram, ja, den hat er im Kopf gehabt, massenhaft. ›In Amerika haben wir das so gemacht‹, hat er gesagt, und ›In Frankreich macht man es so‹, er hat uns krank gemacht mit seinem Geschwätz von der Revolution. Wie sollen wir hier ’ne Revolution anfangen? Uns hat er die Ohren vollgeredet, aber dem Gutsherrn hat er das nicht gesagt, natürlich nicht, weil er gewußt hat, das bringt ihm nichts, höchstens die Deportation. Dein Bruder, das war ’n -115-
Blender, Grace, wir haben ihm nie getraut.« »Sei still!« zischte Grace und umklammerte die Tischkante so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ich will nichts davon hören, ich dulde es nicht.« »Aber es ist die Wahrheit, Grace.« »Die Wahrheit! Was weißt du schon von der Wahrheit?« »Ich weiß, daß dein Bruder nichts getaugt hat, Grace.« »Sei still! Kein Wort mehr!« Grace war starr vor Zorn. Und dann hatte sie sich plötzlich wieder in der Gewalt, die Starre wich von ihr, und in ihr Gesicht trat ein Ausdruck, den man fast für ein Lächeln hätte halten können. »Du hast gesagt, du bist gekommen, um mir zu sagen, daß es dir leid tut«, sagte sie ruhig. »Nun, ich habe es gehört. Du kannst jetzt gehen.« Jan King zögerte, verwirrt über den jäh veränderten Ton. »Und du verzeihst mir?« »Verzeihen? Wieso? Wenn du ohne Schuld bist, wie du sagst, was habe ich dir dann zu verzeihen?« »Ich hab’ nicht viel von deinem Bruder gehalten, aber ich denk’ immer noch, vielleicht hätte ich mehr tun können, vielleicht hätte ich ihn retten können. Vielleicht wär’s am besten gewesen, ich wäre mit ihm ertrunken.« »Das mußt du selbst wissen. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich dich von Schuld freispreche, dafür ist es zu früh. Ich bin noch nicht darüber hinweg, ich hatte nicht genug Zeit, verstehst du? Und jetzt geh, ich habe auch so schon Kummer genug, du machst es nur noch schlimmer.« Sie kehrte ihm den Rücken und stieg die Treppe hinauf. Er wollte ihr folgen, blieb jedoch auf der untersten Stufe stehen. Was hatte sie gesagt? Zu früh? Wahrscheinlich hatte sie recht. Er zögerte noch einen Moment. Dann ging er. Als Grace die Anhöhe oberhalb von Salcombe erreichte, war -116-
es schon spät am Vormittag, denn der Weg von Harberscombe war lang und beschwerlich. Kurz bevor es dämmerte, war sie aufgebrochen, einen kleinen Korb über dem Arm, in dem ihr Mittagessen lag, Brot und Käse, dazu ein Stück Butter, das ihr Mrs. Coyte aufgedrängt hatte; sie sollte es ihrer alten, kranken Tante bringen, die der Vorwand für diese Fußreise war. »Daß es bloß mein Mann nicht sieht«, hatte Mrs. Coyte geflüstert und die Butter mit einer Serviette zugedeckt, »der hält nichts davon, daß man was weggibt. Aber einen fröhlichen Geber hat Gott lieb, heißt es, und vielleicht schließt mich die alte Dame ja auch mal in ihr Gebet ein, nicht?« Grace lächelte still in sich hinein, als sie daran dachte: Sie hatte die Geschichte von ihrer kranken Tante so gut erzählt, daß sie sie fast selbst geglaubt hätte. Obwohl sie nur zehn Meilen von Salcombe entfernt wohnte, war sie nie dort gewesen und kannte keinen größeren Ort als Harberscombe. Salcombe war ihr immer so fern erschienen wie der Mond; deshalb war sie in keiner Weise auf den Anblick gefaßt, der sich allmählich vor ihr auftat, als sie von der Anhöhe hinabstieg. Schiffe mit hohen Masten, Schiffe aller Arten, Dutzende von ihnen, im Strom vertäut oder in kleinen Buchten. Grace blieb stehen, es verschlug ihr den Atem, so schön waren sie. Sie hatte große Schiffe gesehen, aber bloß als weiße Wolken am Horizont, die gelassen zwischen den Landspitzen dahinzogen und immer kleiner wurden, bis sie in der Ferne verschwanden. Nun betrachtete sie die Takelagen und fragte sich, wie jemand so komplizierte Gebilde zu ersinnen und zu begreifen vermochte. Irgendwo inmitten dieser bunten Flotte ankerte der Zollkutter; sein Kapitän konnte nicht weit sein. Das Zollamt hatte geschlossen. Da Sonntag war, überraschte Grace das nicht. Sie hatte ohnehin nicht die Absicht gehabt, dort vorzusprechen; sie wollte ihre Erkundigungen auf anderem Weg einziehen. Doch wo beginnen? Auf den Kais und am Ufer standen da und dort Matrosen der Schiffe, die im Hafen lagen. -117-
Viele von ihnen waren heillos betrunken, obwohl es noch früh am Tag war. Die Gläubigen, die aus der Kirche kamen, machten einen weiten Bogen um sie und drückten ihre Gebetbücher gegen die Brust. Grace sprach mehrere Menschen an, aber niemand schien über den Zollkutter und dessen Kapitän reden zu wollen. Sie dachte schon, sie habe sich auf ein aussichtsloses Unterfangen eingelassen, als ein Mann in Matrosenjacke und Schifferhosen aus dem Gasthof »Fortescue« trat und auf sie zusteuerte. »Na, meine Schöne, wo willst du denn hin?« begrüßte er sie, als er neben ihr war. Grace ging weiter und würdigte ihn keines Blickes. »Nun stell dich nicht so an, Schatz, ich hab’ dich lavieren sehen auf der Straße, immer hin und her, aber klargekommen bist du nicht. Dreh mal ’ne Sekunde bei und sprich mit ’nem Mitpassagier, der dir vielleicht helfen kann.« »Vielen Dank, ich brauche Ihre Hilfe nicht.« »Du brauchst meine Hilfe nicht«, lachte er, »das ist gut! Mensch, ich hab’ noch nie ’n Fahrzeug gesehen, das so in Not war; du bist voll im Wind, deine Segel sind back und gleich läufst du irgendwo auf.« »Hören Sie«, sagte Grace. Sie blieb plötzlich stehen und stemmte die Arme in die Hüften. »Ich habe hier etwas zu erledigen. Ich habe keine Zeit, mir Ihr Gerede anzuhören und erst recht keine, mich mit jemandem abzugeben, der keine verständliche Sprache spricht.« »Aber das ist eine verständliche Sprache, Mädchen. Die Sprache der See ist die Genauigkeit selbst. Was kann ich dafür, daß du sie nicht kennst? Ich wollte sagen, du hast die Orientierung verloren, und wenn du schlau bist, läßt du dich von deinem Freund Ben Barlow lotsen.« Grace dachte einen Augenblick nach. Sie hatte genug von Seeleuten gehört, wie leichtfertig und wankelmütig sie wären, doch dieser Ben Barlow hatte ein redliches, freundliches Gesicht -118-
mit blitzenden Augen, die von zahlreichen Fältchen umgeben waren. »Also gut, Ben Barlow, was können Sie mir vom Zollkutter sagen?« »Vom Zollkutter?« Ben Barlow schien verblüfft. »Was will ’n nettes, junges Mädchen wie du denn vom Zoll? Ich sag’s dir gleich: Die Leute sind nicht gern gesehen, und Freunde von mir sind sie auch nicht.« »Nun, wenn Sie mir doch nicht helfen wollen, warum sollen wir uns dann noch weiter unterhalten?« »Halt, halt, halt! Wer hat denn gesagt, daß ich dir nicht helfen will? Komm, wir setzen uns auf die Mauer hier, und du erzählst mir, warum du den Zollkutter suchst.« »Warum ich den Zollkutter suche, geht Sie nichts an«, sagte Grace, aber sie setzte sich trotzdem auf die Mauer. Ben Barlow wirkte vertrauenerweckend. Er ließ sich neben ihr nieder, streckte den Arm aus und deutete mit dem Finger. »Da, das ist der Zollkutter, der große Logger hinter dem Schoner.« »Und welches von den Schiffen ist der Schoner?« »Das Mädchen weiß nicht, was ’n Schoner ist, wo es direkt einen vor der Nase hat! Was für ein Grünschnabel!« Er sah, daß ein Schatten von Arger über ihr Gesicht fiel, und fuhr hastig fort: »War nicht böse gemeint, wirklich nicht. Hier in Salcombe weiß eben jeder, was ’n Schoner ist, bevor er ’ne Kuh von ’nem Esel unterscheiden kann. Man sieht’s an der Takelung. Der Schoner, das ist der, bei dem der Fockmast kleiner ist als der Großmast. Na, siehst du ihn jetzt?« Grace suchte in dem Mastenwald nach dem Schiff, das Ben Barlow meinte, und fand es schließlich. Der Logger, dicht dahinter, war unscheinbar, nicht besonders gut in Schuß und anscheinend verlassen. Enttäuschung malte sich in Graces Gesicht, »Ich hätte mir ja denken können, daß niemand an Bord ist.« -119-
»Richtig, sonntags sind die Jungens meistens an Land. Aber die findest du nicht in der Kirche beim Beten.« »Einer von ihnen täte gut daran zu beten.« Die jähe Härte ihres Tons ließ ihn aufhorchen, er starrte sie an und überlegte sich, wer sie sein mochte und was sie von den Zöllnern wollte. Vielleicht war sie nach Salcombe gekommen, um jemanden zu verpfeifen. Sie sah zwar nicht danach aus, aber man konnte nie wissen. Ihr Gesicht war ehrlich, ihre Augen grau und ruhig, doch sie verrieten nichts. Er nahm an, daß eine Liebesgeschichte dahintersteckte; vielleicht hatte sie einer vom Küstenschutz nach einer kurzen Romanze in einem Dorf am Ende der Welt sitzenlassen. Ihre Kleider schienen diese Vermutung zu bestätigen, sie war ein Mädchen vom Land, sauber und adrett angezogen, aber ärmlich. Es war ihre Redeweise, die nicht paßte; obwohl sie mit einer Andeutung von Devonakzent sprach, drückte sie sich aus wie eine Dame. »Tja, da liegt er also, der Zollkutter, und das ist alles, was dir ’n ehrlicher Wirt sagen kann.« »Sie sind Wirt?« »Warum nicht?« Ben Barlow tat beleidigt. »Ich habe Sie für einen Seemann gehalten.« »Das eine schließt das andere nicht aus.« »Dann müssen Sie die Mannschaft des Kutters kennen – und den Kapitän auch.« Ben Barlow schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts, rein gar nichts.« Zu seiner Überraschung kramte sie in ihrem Korb und förderte ein Stück Butter zutage. »Könnte es Ihrem Gedächtnis nachhelfen, wenn ich Ihnen das gebe?« Ben Barlow warf den Kopf zurück und lachte schallend, lachte so ohrenbetäubend, daß Grace das Gefühl hatte, ganz Salcombe müsse sich nach ihnen umdrehen. Sie schickte sich -120-
zum Gehen an, aber Ben Barlow streckte die Hand aus und faßte ihren Arm. »Du hast keine Ahnung, wie man ’nen Seemann bestechen kann, was? Wenn du mir ’n Bier spendieren würdest oder ’nen Grog... na ja, laß gut sein. Und jetzt erzähl mir mal genau, was du von den Leuten vom Küstenschutz willst.« »Ich möchte Auskünfte über den Kapitän des Zollkutters. Ich möchte wissen, wie er heißt und wo er wohnt. Es ist eine Privatangelegenheit.« »Und es passiert nichts Schlimmes, wenn ich’s dir sage?« Grace dachte einen Augenblick nach. Dann antwortete sie: »Nein, ich glaube nicht.« Ben Barlow sprang von der Mauer und klopfte sich den Staub von der Hose. »Bleib hier, ich geh’ jetzt ins ›Fortescue‹ und in ’n paar andere Kneipen und sehe, was ich rauskriegen kann, meine liebe... wie war dein werter Name?« Er tippte vergnügt gegen seine Mütze. »Grace. Grace Pensilva«, sagte sie mit einem langsamen, warmen Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte und ihm noch viele Jahre nach ihrer ersten Begegnung im Gedächtnis blieb. Es begleitete ihn, als er zum »Fortescue« hinübereilte. Grace zog ihre Röcke eng um die Knie und wandte sich zum Wasser. Sie konnte Fluß und Hafen überblicken, wo Stechkähne, Skiffs und Proviantboote zwischen den größeren Schiffen hin und her fuhren. Sie versenkte sich absichtlich in die Betrachtung des geschäftigen Treibens; sie wollte auf diese Weise Abstand zwischen sich und die recht beunruhigenden Passanten legen, die nun die Straße bevölkerten. Eine Reihe betrunkener Männer mit wiegendem Gang, begleitet von schlampigen Frauen, zog rempelnd und gröhlend von Wirtshaus zu Wirtshaus. Grace richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine Fregatte und blickte prüfend nach der Takelage. Sie verschloß die Ohren gegen den Lärm, der sie umgab, und verfolgte die -121-
Segelmanöver, die dort geübt wurden, beobachtete, wie das weiße Segeltuch in der windstillen Luft auseinander- und zusammengerollt wurde. »He, Süße!« Plötzlich wehte sie ein übler Geruch an von Schnaps und fauligem Atem. Sie zwang sich, nicht zusammenzuzucken, blickte aus den Augenwinkeln zur Seite und sah, was sie befürchtet hatte: Ein hochaufgeschossener betrunkener Kerl mit Knebelbart, zerzaustem Haar und dreckigen goldenen Litzen am Rock begaffte sie. Sie drehte sich nicht um, und er schwankte einen Moment auf den Hacken, als wolle er gehen, doch dann besann er sich eines anderen. Schwer legte er ihr eine große, tätowierte Hand aufs Knie. Grace erstarrte und schrak zurück. »Du suchst den Käptn vom Zollkutter, stimmt’s, meine Süße? Hat mir eben ’n lieber Mensch gesagt.« Angewidert betrachtete Grace den Speichel, der ihm in breiter Bahn übers Kinn rann. »Na komm’, Süße, nimm ’nen Schluck. Sauf aus, und dann geh’n wir zu dir.« Er deutete mit der Branntweinflasche, die er in der freien Hand hielt, auf das Gewirr der Giebel und Schieferdächer am Hang. Das also war der Kapitän; er würde leicht zu hassen sein. Optimus wußte sich vor Aufregung kaum zu fassen. Unbekümmert um die Vernunft und seine guten Vorsätze rannte er über die Straße, scheuchte die Hühner auseinander, sprang über Flecken von Mist. Optimus zog heftig die Glocke, stürmte in die Küche und blieb mitten im Raum stehen, erstaunt, ihn leer zu finden. Die Glocke hinter ihm bimmelte noch, aber sonst herrschte Grabesstille im Haus, nicht einmal das gewohnte Klicken von Mrs. Kemps Stricknadeln war zu hören. Optimus stand unschlüssig, das Medaillon pendelte an der Goldkette hin und her, die er um seine Hand geschlungen hatte. »Dr. Cornish!« Seine Stimme klang erstickt in dem niedrigen -122-
Raum. Er wagte nicht, durch die nächste Tür zu gehen und den Rest des weitläufigen alten Hauses zu durchsuchen; Dr. Cornish verkehrte zwar freundlich, aber nicht vertraut mit Ihm und bat ihn immer nur in die Küche oder ins Wohnzimmer. Enttäuscht wollte er wieder gehen, als er einen schwachen Laut hörte, ein Stöhnen, das aus einer mit Vorhängen abgeteilten Nische neben dem Kamin drang. Optimus hatte die Vorhänge nie aufgezogen gesehen und sich nie ernsthaft gefragt, was dahinter verborgen sein mochte. Er war auch nicht sicher, ob es tatsächlich ein Stöhnen gewesen war, es konnte auch der Kesselhaken gewesen sein, der sich schaukelnd im Kamin bewegte. Da war es wieder, unverkennbar diesmal. Optimus fürchtete sich, obwohl er wußte, daß das unsinnig war. Wahrscheinlich befand sich hinter diesem Vorhang der alte Dr. Cornish, plötzlich erkrankt, während Mrs. Kemp außer Hauses war. Doch Optimus war nicht sicher, was ihn in dem kleinen Raum erwartete. Und wenn es wirklich der Doktor war, was sollte er mit ihm anfangen? Würde er den Alten berühren müssen? Ihn schauderte bei dem Gedanken. Wieder war ein langgezogenes Stöhnen zu hören; Optimus steckte das Medaillon in die Tasche und machte den Vorhang auf. Was er sah, entsetzte und ekelte ihn. Dr. Cornish lag, schlaff wie eine Stoffpuppe, zwischen der Wand und einer Reihe von Branntweinfäßchen. Ein durchdringender Geruch von Schnaps schlug Optimus entgegen, der von einem tropfenden Zapfhahn und der Pfütze darunter ausging. Der Doktor war betrunken, widerwärtig betrunken. Er hatte die Augen verdreht, so daß unter den halbgeöffneten Lidern nur ein weißer Streifen zu erkennen war, er atmete flach, stockend und mühsam. Sein Gesicht war purpurrot. Optimus wußte, daß es diese Seite an Dr. Cornish war, die Pfarrer Lackland und Mrs. Troup so empörend fanden. Er war schon im Begriff, sich auf Zehenspitzen davonzuschleichen, als die Lider des Alten sich flatternd öffneten. Seine Lippen bewegten sich, und es war -123-
offenkundig, daß er etwas sagen wollte, doch es wurde nicht mehr als ein unhörbares Flüstern. Statt dessen trat ein bestimmter Ausdruck in die Augen des Doktors, so wach und intelligent, daß von Trunkenheit schwerlich die Rede sein konnte. Widerwillig kniete Optimus neben ihm nieder und brachte das Ohr dicht an seinen Mund. »Die Arzneiflasche...« »Wo? Und welche?« Optimus konnte sich nur zu lebhaft das Durcheinander von scheinbar gleichen Flaschen im Sprechzimmer vorstellen, unter denen er auf gut Glück seine Wahl würde treffen müssen. Nach quälend langem Warten kam die Antwort. »In der Tischschublade...« Optimus sprang auf und holte die Flasche. Doch damit nicht genug, er mußte in die Spülküche gehen, einen Löffel suchen und dem Doktor die Medizin verabreichen, der den Mund kaum öffnen konnte und Beschwerden beim Schlucken hatte. Eine Stunde später war Optimus immer noch da. Das Befinden des Doktors hatte sich verblüffend geändert. »Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen... Sie kennen das Zitat«, sagte der alte Herr und verzog das Gesicht. »Oh, die Symptome kann ich durchaus bekämpfen, doch was die Wurzel des Übels angeht – da muß ich kapitulieren. Als ich anfing, dachte ich, alles sei möglich, bildete ich mir ein, ich könnte fast alles... Und wer weiß? Es ist durchaus möglich, daß die Menschheit eines Tages mit Hilfe der Naturwissenschaft alle Geheimnisse des Universums ergründet.« »Und das Lebenselixier entdeckt?« »Es gibt keine einfachen Lösungen; es gibt keinen Stein der Weisen. Jeder wahrhaft Weise wird Ihnen sagen, daß diese Vorstellung ein Traum ist... Aber was mache ich da, ich schwatze über Philosophie, wo ich Ihnen doch dafür danken sollte, daß Sie mir das Leben gerettet haben. Noch eine halbe Stunde, und es wäre um mich geschehen gewesen. Mrs. Kemp -124-
hatte bei ihrer Rückkehr entdeckt, daß sie zuviel eingekauft hat, und sie hatte überdies ihren Brotherrn verloren.« Dr. Cornish sah nach der Uhr auf dem Kaminsims. »Sie muß jeden Moment kommen. Und Sie, Mr. Shute, bleiben doch zum Abendessen, nicht wahr? Es gibt Kaninchenragout, schon fertiggekocht, steht draußen in der Speisekammer, wird nicht lange dauern, bis es aufgewärmt Ist. Und Sie können mir erzählen, was Sie in letzter Zeit getrieben haben. Es ist mir zugetragen worden, daß Sie des öfteren im Pfarrhaus waren und freundschaftlichen Verkehr mit der werten Mrs. Lackland gepflogen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie an ihrem Pfaffen findet. Aber geben Sie acht, junger Mann, die hat sie um den Finger gewickelt, ehe Sie sich’s versehen.« »Mrs. Troup ist auf die Idee gekommen, daß ich Mrs. Lackland bei ihren guten Werken helfen konnte«, sagte Optimus steif. »Es ist nichts zwischen uns, absolut nichts, sie ist eine verheiratete Frau.« Dr. Cornish lachte, bereute es aber sofort. Ein krampfartiger Schmerz durchzuckte ihn, und er hob die Hand ans Herz. »Sie dürfen mich nicht zum Lachen bringen«, gluckste er, »das kann mein Tod sein.« »An der Schwelle des Todes hatten Sie wenigstens aufgehört, mich zu hänseln.« »Ich bitte um Verzeihung, Mr. Shute, ich sollte Sie wirklich mit mehr Respekt behandeln. Und nun verraten Sie mir, welchem Umstand ich die Ehre Ihres Besuches verdanke.« Optimus klopfte gegen seine Tasche. Mit übertriebener Langsamkeit zog er das Medaillon an seiner Kette hervor und ließ es, den Ellenbogen aufgestützt, über der fleckigen Tischplatte baumeln. Der Doktor blickte ihn forschend an, streckte dann die Hand nach dem Medaillon aus und nahm es an sich. »Haben Sie das schon einmal gesehen? Sagt es Ihnen etwas?« -125-
fragte Optimus. Dr. Cornish drehte des Medaillon zwischen den Fingern, betrachtete es prüfend durch seine Brille und suchte die Schließe. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich sehe es zum ersten Mal, aber die Initialen... die Initialen deuten auf etwas hin. Das kann allerdings auch nur Zufall sein.« »Was ist mit den Initialen? Sagen Sie es mir!« rief Optimus mit wachsender Erregung aus. »Erst wenn Sie mir gezeigt haben, wie man das Medaillon öffnet. Ich möchte sehen, was drinnen ist. Eine Hand wäscht die andere.« Als er das Medaillon wieder an sich genommen hatte, war Optimus einen Moment lang im Zweifel. Würde es ihm gelingen? Drüben im Schulhaus hatte er Stunden damit verbracht, das Medaillon zu untersuchen, hatte es hin und her gewendet, an allen möglichen Stellen mit den Fingerspitzen dagegengedrückt. Und als es aufsprang, wußte er kaum, wie er das bewirkt hatte, und war nicht sicher, ob er es wiederholen konnte. Unter einer Lupe hatte er den winzigen Mechanismus studiert, versucht, ihn zu begreifen, bevor er den Deckel wieder zuschnappen ließ. Das Medaillon in der einen Hand haltend, zog er mit Zeigefinger und Daumen der anderen behutsam an dem kleinen Ring, an dem die Kette befestigt war, gab ihm einen bestimmten Drall und zog und drehte dann noch einmal, bis der Deckel aufsprang. »Nun?« fragte er Dr. Cornish, nachdem der alte Arzt geraume Zeit das Bildnis angestarrt hatte. »Ach ja«, sagte der Doktor so geistesabwesend, als träume er, »damals war ich jung. Und jetzt bin ich alt. Das ist ihr erspart geblieben, nicht wahr? Sie wird immer so aussehen, in meiner Erinnerung und in Ihrer Vorstellung.« »Sie ist es also?« »Gewiß. Ich war schon fast davon überzeugt, als ich die -126-
Initialen sah.« »Sie haben versprochen, mir zu sagen, was es mit den Initialen auf sich hat.« »Sie dürften sich bereits mit ihnen beschäftigt haben – nun, wie lauten sie?« »FG, das gibt einen Sinn, ich ahne schon, was es bedeutet, aber die anderen, GDt was ist damit? Und was sagen Sie zu dem Porträt?« »Eine vorzügliche Arbeit. Niemand aus Harberscombe kann es gemalt haben. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Das sind die gleichen durchdringenden Augen, der gleiche ausdrucksvolle Mund. Haben Sie auf die Signatur des Künstlers geachtet?« Optimus schüttelte den Kopf. »Ich dachte es mir, die Buchstaben sind so klein, daß wohl nur ein Mensch, der so starke Gläser tragen muß wie ich, sie erkennen kann. Es ist ein seltsamer Name. Scicittna. R. Sciduna.« »Klingt fremdländisch, nicht englisch.« Dr. Cornish pfiff leise durch die Zähne. »Da haben Sie mich auf etwas gebracht. Sie wissen über die Geschichte auf Malta Bescheid? Irgend jemand muß Ihnen davon berichtet haben – oder wird sie vielleicht in meinen Papieren erwähnt?« »Ich habe noch nicht alles gelesen.« »Nein, natürlich nicht.« Dr. Cornishs Stimme klang enttäuscht. »Warum sollten Sie auch, Sie haben ja keine Eile.« »Erzählen Sie mir davon.« »Ein anderes Mal, jetzt bin ich zu müde, völlig erledigt.« »Entschuldigung, ich vergaß, was Sie gerade durchgemacht haben. Soll ich Sie in Ruhe lassen und gehen?« »Nein, gehen Sie nicht. Bleiben Sie zum Abendessen. Nur ein bißchen Gesellschaft, um mich daran zu erinnern, daß ich noch am Leben bin... Sie ist schön, nicht wahr?« Dr. Cornish hielt das offene Medaillon so in der Hand, daß auch Optimus es sehen -127-
konnte. »Die Männer haben sie geliebt – kein Wunder. Und ich vermute, Sie sind auch in sie verliebt, das würde erklären, warum Sie gegen die weiblichen Reize von Mrs. Lackland gefeit sind. Nun, Sie dürfen beruhigt sein, sie kann Ihnen nichts anhaben, jetzt nicht mehr. Und sie hatte Ihnen ja auch nichts vorzuwerfen, oder? Doch, sie war schön, aber sie konnte nicht vergeben. Und wenn sie einen Mann liebte, kannte sie keine Vernunft, sie forderte ihn ganz. Und die Männer spürten wohl, daß ihr Kuß der Kuß des Todes war, Jan King hat es sicher gefühlt und Frederick Genteel auch. Nein, Optimus – ich darf Sie doch so nennen? -, es war nicht leicht, Grace Pensilva zu lieben. Und bevor Sie ihr verfallen, sollten Sie über meine These nachdenken, daß das, was Männer fesselt an ihr, eigensinnig, zwanghaft, gefährlich ist, daß sie von etwas Pathologischem getrieben wurde, von einer fixen Idee... die Menschen einer früheren Zeit hätten es einen Dämon genannt.« Optimus schlief kaum in dieser Nacht. Eine neue Tür hatte sich ihm geöffnet, und er brannte darauf zu erfahren, wie es Grace in Salcombe ergangen war. »Sie verstehen mich«, sagte Grace und nahm die Hand des Mannes entschlossen von ihrem Knie, doch er hielt sich an ihren Röcken fest, so daß ihr Bein durch die Bewegung bis zum Oberschenkel entblößt wurde. »Schöne Beine hat sie auch«, sagte der Mann und beugte sich vor, um unter ihren Unterrock zu schielen. »Mein Vorgänger hat ’nen guten Geschmack gehabt, da wird man gern Nachfolger.« Grace wurde wütend. So würde sie sich von diesem Rüpel nicht behandeln lassen. Sie ballte die Hand zur Faust, schlug zu und traf ihn hinter dem Ohr. Die Arbeit auf dem Hof hatte sie stark gemacht, und es erstaunte sie, wie verdutzt der Mann war. Er ließ ihren Rock los, taumelte zurück und faßte sich ans Ohr. Als er die Hand wieder senkte, war sie blutverschmiert. -128-
»Das wirst du mir büßen«, murmelte er drohend. »Käpt’n Scully läßt sich von niemandem schlagen, schon gar nicht von ’ner Frau. Dir wird’ ich’s zeigen, dir tränk’ ich’s ein, daß du’s dein Leben lang nicht vergißt!« Er schob die Flasche in seinen Rock und stürzte sich auf Grace, zerrte sie von der Mauer, packte sie bei den Armen, riß sie an sich. Ihr wurde schwindelig von seiner Umklammerung, ihr wurde schlecht von seinem Fuselgestank und Schweißgeruch, doch sie nahm allen Mut zusammen und biß ihn wild ins andere Ohr. Er heulte auf vor Schmerz und versuchte, sie abzuschütteln. Grace löste sich hastig von ihm und trat ein paar Schritte zurück. Dann drehte sie sich um und sah ihn an. Sie waren bereits von Zuschauern umringt. »Los, Mädchen!« kreischte ein zahnloses altes Weib, »geh ran, gib’s ihm!« Doch Scully wurde jetzt tückisch. Er war ein großer und kräftiger Kerl und hatte Schultern wie ein Affe. Der Schmerz hatte ihn ein wenig nüchterner gemacht, und seine Augen hatten sich gehässig verengt. Mit einem entsetzlich flauen Gefühl im Magen beobachtete Grace, wie er die Flasche aus seinem Rock zog und ihren Boden an der Mauer abschlug. Er hielt sie beim Hals, die scharfkantigen Zacken der Bruchstelle gegen Grace gerichtet, und bewegte sich breitbeinig und geduckt auf sie zu. »Gleich kriegst du ’n Andenken von Käptn Scully, meine Süße!« verkündete er. Grace drehte sich um und begann zu rennen. Sie bahnte sich mit Ellenbogenstößen ihren Weg durch die Menge, hastete die mit Kopfsteinen gepflasterte Straße entlang, befürchtete, daß sie über ihren Rock stolpern und stürzen könnte. Sie brauchte nicht zurückzublicken, um zu wissen, daß er sie verfolgte; das Dröhnen seiner Schritte war dicht hinter ihr und schien näherzukommen. Sie verfluchte die langen, schweren Röcke, die sie beim Laufen behinderten. -129-
Wo war Ben Barlow? Wenn er wirklich ihr Freund war, wie er behauptet hatte, würde er ihr helfen, und jetzt brauchte sie ihn. Es bestand wenig Aussicht, daß er sich in Hörweite befand, aber sie war so verzweifelt, daß sie trotzdem nach ihm schrie. »Ben! Ben! Wo sind Sie? Helfen Sie mir! Hilfe!« Doch er ließ sich nicht blicken. Die Straße schien als Sackgasse zu enden; ein Wirtshaus, das ein altmodisches Wappen als Schild führte, versperrte den Weg, Grace wollte nicht in eine Falle geraten, also wandte sie sich bergan, der Kirche entgegen. Ein paar Schritte nur, und sie rang nach Luft. Die Straße war so steil und ihr Rock so schwer, daß sie sicher war, Scully werde sie jeden Moment einholen. Sie sah einen Stein am Weg liegen, hob ihn auf, wirbelte herum und warf ihn nach ihrem Verfolger. Zum Zielen war keine Zeit, aber sie hatte Glück. Der Stein traf den Mann mitten ins Gesicht. Er blieb stehen. Blut floß von seiner Stirn. Er war nur noch ein paar Schritte von Grace entfernt und schwankte wie ein Ochse. Und dann, halb blind, doch von einem dunklen, dumpfen Willen getrieben, nahm er die Verfolgung wieder auf, langsamer als zuvor, aber um so wütender. Grace rannte weiter. Es war ein Alptraum. Der Hügel schien immer steiler zu werden, und ihre Kräfte schwanden. Die Röcke hingen wie Bleigewichte an ihr. Hinter sich, eher, als sie erwartet hatte, hörte sie wieder Scullys pfeifenden Atem, das dumpfe Drohnen seiner Schritte. Sie rang nach Luft. Es schmerzte. Ein heftiges Seitenstechen fuhr ihr unter die Rippen. Noch ein paar Meter, und sie würde anhalten müssen. Sie blickte wild umher, suchte einen zweiten Stein, den sie nach dem Mann werfen konnte, doch sie fand keinen. Eine furchtbare Mattigkeit überfiel sie; hatte Frank so empfunden, als er ertrunken war? Sie fragte sich, was sie spüren würde, wenn das ausgezackte Glas in ihr Fleisch drang. Stolpernd kam sie zum Stehen, stützte sich mit der einen Hand gegen eine Mauer, nestelte mit der anderen an ihrem -130-
Kleid, um den Halsbund zu öffnen. Ihr Atem ging keuchend, ihr Herz klopfte wie rasend. Und dann merkte sie allmählich, daß ihr keine Schritte mehr folgten. Als sie sich umzudrehen wagte, sah sie den Mann, die Splitter seiner Flasche um sich verstreut, auf dem Boden liegen. Ein anderer Mann beugte sich über ihn. Es war Ben Barlow. Er blickte auf und sah Grace. »Lauf!« rief er beschwörend. »Lauf weiter!« »Ich kann nicht«, keuchte sie. »Du mußt aber«, sagte er. »Sie kommen!« Und nun hörte Grace die Schritte drunten am Hang, hinter der Straßenbiegung. »Wir können hier nicht bleiben. Ich hab’ eben ’nen Offizier vom Küstenschutz bewußtlos geschlagen. Für so was wird man aufgehängt!« Plötzlich erkannte Grace, warum Scully im Staub lag; Barlow hatte ihn, als er an einem schmalen Durchgang kurz vor der Kirche vorbeigestürmt war, von der Seite niedergeworfen. Wenn die Leute, die Scully nachrannten, Ben Barlow erwischten, würden sie ihn vor Gericht bringen. »Ich bin völlig außer Atem, ich kann nicht weiterlaufen.« »Schnell«, sagte Barlow, »halt dich an meiner Schulter fest.« Er zerrte sie in die leere Kirche, so schnell er konnte. Drinnen war es still und dämmrig. Vom letzten Gottesdienst hing noch der Geruch abgebrannter Kerzen in der Luft. Barlow zog Grace in eine Kapelle und drückte sie auf die Knie. Grace senkte den Kopf, als bete sie. Sie hörten beide, wie der brüllende Pöbel an der Stelle haltmachte, wo Scully lag, eine Weile verharrte und dann schreiend wieder bergan rannte. »Danke«, murmelte Grace. »Du hast den Kapitän vom Zollkutter gesucht, und gefunden hast du ihn auch, ich hoffe, du bist zufrieden«, flüsterte Barlow. »Hat er Sie gesehen?« »Pst! Da kommt jemand!« Hatte jemand beobachtet, wie sie -131-
in der Kirche verschwunden waren? Grace hörte Schritte auf dem Kies vor dem Eingang. Jemand blieb am Portal stehen, und ein langer Schatten fiel über den Boden. Wieder spürte Grace, wie ihr Herz klopfte. Wer es auch sein mochte, er mußte es hören. Sie neigte sich und betete darum, daß der Mann ging. Nach qualvoll langer Zeit verschwand der Schatten, und der Kies knirschte wieder unter schweren Füßen. »Gott sei Dank!« Ben Barlow stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wenigstens weiß ich jetzt, wer Frank Pensilva umgebracht hat«, sagte Grace tonlos. Darum also war ihm der Name bekannt vorgekommen, dachte Ben Barlow. Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Wer war sie? Seine Frau vermutlich. Wenn sie hierher gekommen war, um den Mörder ihres Mannes zu finden, stand ihr eine Enttäuschung bevor. »Scully war’s nicht«, sagte er ruhig. »Nein?« Wut und Enttäuschung umdüsterten sie plötzlich. Es war so leicht gewesen, sich vorzustellen, wie Scully das tödliche Entermesser schwang. »Aber er ist doch der Kapitän des Zollkutters, oder nicht?« »Schon, aber noch nicht mal vierzehn Tage.« »Wer war es dann?« Grace konnte den Zorn in ihrer Stimme nicht verbergen. »Weiß ich nicht.« »Was soll das heißen? Sie müssen es wissen. Wenn Sie hier eine Gastwirtschaft haben, müssen Sie den Namen des Zollkapitäns kennen.« Ben Barlow drehte sich zur Seite und blickte Grace an. »Niemand hat gewußt, wie er wirklich heißt. Er hat sich Brown genannt.« Grace starrte Barlow an; er log nicht, kein Zweifel. »Aber Sie müssen doch wissen, wie er aussah.« -132-
»Ich hab’ sein Gesicht nie gesehen. Er hat immer ’ne Maske getragen. Ich kann nur sagen, daß er mir wie ’n Herr vorgekommen ist, jedenfalls was Besseres als dieser Scully.« Grace dachte nach. Wenn das stimmte, war sie keinen Schritt weiter. Was sie gerade gehört hatte, war unglaublich, aber sie würde es glauben müssen. Sie suchte nach einer Lösung. »Suchen Sie ihn für mich. Finden Sie heraus, wohin er gegangen ist. Ich werde dafür sorgen, daß es sich für Sie auszahlt.« »Dein Geld kannst du behalten«, sagte Barlow. »Dafür würde ich’s nicht tun. Aber ich kann dir keine Hoffnung machen, ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll. Trotzdem, ich versuch’s, wenn du mir sagst, warum du ihn finden willst.« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber Sie versuchen es, nicht wahr?« »Ja, ich versuch’s.« »Danke, vielen Dank.« Ben Barlow stand auf. »Ich geh’ jetzt«, sagte er. »Du bleibst hier, bis das Geschrei vorbei ist, und wenn die Sonne untergegangen ist, kannst du auch gehen. Aber paß auf. Geh nur durch Seitenstraßen. Viel Glück.« Als er fort war, fühlte sich Grace allein und mutlos. Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, wie gewaltig die Aufgabe war, die sie sich gestellt hatte. Der Kapitän des Zollkutters war verschwunden, ihn aufzuspüren fast unmöglich. Und selbst wenn sie ihn fand – würde sie seine Spur auch verfolgen können? Sie konnte schon von Glück sagen, wenn sie wohlbehalten nach Harberscombe zurückgelangte, der Weg war weit, und an seinem Ende erwartete sie eine keifende Mrs. Coyte. Grace saß still da. Sie hatte ein Gelübde abgelegt. Mochte es auch ein Leben lang dauern, es zu erfüllen, sie durfte nicht nachgeben. -133-
Die ersten Primeln sprossen auf den Böschungen, tapfere gelbe Frühlingsboten. Ihnen folgten Weidenkätzchen und Glockenblumen, die die Kinder mit in die Schule brachten und in alten Krügen in die Fenster des Klassenzimmers stellten. Optimus’ Verwirrung nahm jedoch zu. Seine Gedanken wanderten ständig zu Grace Pensilva. Er folgte ihr durch die schwere Zeit in der Langstone-Mühle. Als er sie in Salcombe verlassen hatte, belästigt von dem groben Kapitän, konnte er es kaum erwarten, an sein Stehpult zurückzukehren, zur Feder zu greifen und herauszufinden, wie alles ausgegangen war. Als Mrs. Lackland eines Tages unangesagt von Bigmore herübergefahren kam, um der Schule einen Besuch abzustatten, war er so zerstreut, daß er der Lage nicht Herr wurde. Als sie ging und er sie zu ihrer Kutsche begleitete, flüsterte sie: »Was ist mit Ihnen, Optimus? Sie sind so zerstreut. Wachsen Ihnen die Dinge über den Kopf? – Und Sie waren in letzter Zeit kein einziges Mal im Pfarrhaus«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu. »Meine guten Werke liegen brach, weil ich keine Hilfe habe.« Optimus starrte ins Leere. Er hatte durchaus gemerkt, wie attraktiv Diana Lackland war, und hatte den bestimmten Verdacht, daß sie ihn sich zu angeln suchte. Doch gerade das beunruhigte ihn. Wäre sie jünger gewesen, natürlicher, so hätte er vielleicht nichts dagegen gehabt, aber ihr Parfüm, ihr Puder und ihr loses Mundwerk machten ihn widerspenstig. »Es tut mir leid, ich war anderweitig beschäftigt. So vieles will bedacht sein. Diese Kinder machen einem gehörig zu schaffen.« »Sie brauchen mich nicht anzuschwindeln, Optimus Shute. Lackland halt mich auf dem laufenden; Sie haben sich bei diesem gräßlichen Dr. Cornish herumgetrieben.« Optimus konnte nicht der Versuchung widerstehen, einen flüchtigen Bück auf das Fenster des Doktors zu werfen; -134-
vielleicht beobachtete er sie. Die Straße war sehr schmal, und wenn der alte Arzt in seiner Küche saß, war er nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Mrs. Lackland hatte die Stimme erhoben, und es schien sie nicht zu kümmern, daß der Doktor sie hören konnte. »Jeder weiß es«, fuhr sie fort, »wenn Lackland es weiß, und der ist nicht gerade der Scharfsinn in Person.« Die Pfarrersfrau lachte spröde. »Aber bitte, tun Sie, was Ihnen beliebt, ich komme auch ohne Sie zurecht. Offenbar sind Ihnen angeregte Gespräche bei Kaffee oder Tee nicht genug, Sie müssen Alkohol und Skandale haben. Nur zählen Sie nicht darauf, daß ich mich bei Lackland für Sie verwende, wenn über Ihr Betragen während der Probezeit befunden werden soll.« »Sie mißverstehen mich«, murmelte Optimus. »Ich habe befürchtet, Ihre Gastfreundschaft ungebührlich in Anspruch zu nehmen, wenn ich zu oft ins Pfarrhaus komme. Und außerdem schickt es sich wohl nicht, Sie in Abwesenheit Ihres Gatten zu besuchen.« »Dummer Junge«, sagte Mrs. Lackland und gab Optimus einen Stups mit dem Griff ihrer Peitsche. »Wie puritanisch Sie sind, wie altmodisch! Über so etwas regt sich heutzutage niemand mehr auf. Und Lackland vertraut mir bedingungslos. So soll es doch auch sein, nicht wahr? Oder trauen Sie sich vielleicht selbst nicht? – Herrje, der Junge wird tatsächlich rot! – Ich darf Sie also am Sonntag nach der Kirche erwarten?« Optimus nickte stumm. »Unterstehen Sie sich, es zu vergessen«, fügte Mrs. Lackland hinzu, als sie die Zügel aufnahm. »Ich spiele nicht gern die zweite Geige.« Mit einem Peitschenknall war sie davon; Dreck spritzte und Hühner liefen erschreckt auseinander. Sie war eifersüchtig, kein Zweifel, offenbar auf Dr. Cornish. Gott sei Dank schien sie nicht zu ahnen, daß in Wirklichkeit Grace Pensilva ihre Rivalin war. Müde kehrte Optimus ins Klassenzimmer zurück. Wenn es ihm gelang, nicht an die Uhrzeit zu denken, würde der Tag bald vorbei sein. -135-
An diesem Abend las Optimus beunruhigt noch einmal seine Darstellung von Graces Abenteuern in Salcombe. Was würde geschehen, wenn sie etwa Mr. Lackland in die Hände fiel? Würde er die Blätter nicht für den Ausdruck überhitzter Phantasie eines einsamen Schulmeisters halten? Und würden sie nicht einen Schatten auf seine Eignung werfen, den Geist junger Menschen zu bilden? Als ob diese Frage nicht auch Optimus selbst jedesmal quälte, wenn er die Feder aus der Hand legte: Übertreibe ich nicht, war es wirklich so? Er biß sich niedergeschlagen auf die Lippen, schloß das Manuskript in seinem Stehpult ein und eilte aus dem Haus. Die dunkle Straße, die er entlangschritt, war von den köstlichen Düften erfüllt, die die Frühlingsblumen verströmten. Aus einer Scheune des Nachbarhofes rief eine Eule, eine Fledermaus flatterte an seinem Kopf vorbei. Optimus’ Gedanken folgten ihrem scheinbar ziellosen Hin- und Herflattern. Gesprächsfetzen gingen ihm durch den Kopf, Einzelheiten, von denen Emma Troup gesprochen hatte; Dr. Cornishs Hinweis auf eine Episode in Malta; die Initialen auf dem Medaillon. FG bedeutete sicher Frederick Genteel, aber GD gab überhaupt keinen Sinn, obwohl das Porträt zweifellos Grace Pensilva darstellte. Dann war da noch Mrs. Treebie; Optimus hatte das Gefühl, daß auch sie einiges von Grace Pensilva wußte. Und vor allem war da sein letztes Gespräch mit Onkel Bill Terry. Optimus hatte ihn zu Hause aufgesucht und sein Angebot erneuert, die Gig zu kaufen, die im Bootsschuppen hing. Trotz ihres Alters war sie gut erhalten, und er brannte darauf, die Mündung mit ihr zu erkunden. Doch Onkel Bill war fest geblieben. »Nein, ich kann Ihnen das Boot nicht verkaufen. Es gehört Jan King, und der ist nicht da und kann nicht sagen, ob es ihm recht ist oder nicht.« »Aber er ist doch tot, oder?« »Weiß man’s? Ist nie ’ne Leiche gefunden worden. Und ’n -136-
Testament hat er auch nicht gemacht, und ohne das darf man nicht verkaufen, was jemand anderem gehört.« »Aber er wäre doch gewiß nicht auf und davon gegangen ohne ein Wort, ohne einen Brief, ohne je wieder nach Hause zu kommen. Das war nicht seine Art.« »Weiß man’s? Jan King hat nie viel von sich selbst gesprochen. Er ist mit Grace Pensilva weg in der Gig, und er ist nicht wiedergekommen, und sie auch nicht, damals nicht, und man hat die Gig dann draußen auf ’in Meer gefunden. Klar hab’ ich mir was dabei gedacht, wir in Harberscombe haben uns alle was dabei gedacht. Kein Mensch glaubt, daß Jan King noch mal wiederkommt. Wahrscheinlich ist er ertrunken! Schade um ihn, war ’n feiner Kerl und ’n guter Partner.« »Ja, ich weiß, daß Sie Partner waren.« »Als das mit Frank passiert war, hat Jan das Schmuggeln aufgegeben, und wir sind zusammen rausgefahren zum Fischen. Ich könnte Ihnen schon was erzählen von Jan, wenn ich wollte, junger Mann.« Die Flut überschwemmte den Back und kam langsam über die sandigen Ufer näher. Die beiden Männer standen gegen die Bordwand des Loggers gelehnt, während das seichte Flußwasser ihre Füße umspülte. »Noch ’ne Viertelstunde«, sagte Jan King, »dann können wir los.« »Eher ’ne halbe«, erwiderte Onkel Bill, »nur nicht so ungeduldig.« Er klopfte seine alte Pfeife aus und zog seinen Tabaksbeutel aus der Tasche. Er hielt ihn seinem Teilhaber entgegen, doch der schüttelte nur den Kopf. »Was, du rauchst immer noch nicht wieder, Jan?« fragte Onkel Bill und stopfte seine Pfeife. »Nein, schmeckt mir nicht mehr«, sagte Jan. -137-
»Wie du meinst«, antwortete Onkel Bill und machte sich mit seiner Zunderbüchse zu schaffen. Die beiden Männer standen eine Weile schweigend da, die angewinkelten Ellenbogen auf dem Schanzkleid des Bootes. Es war eine von jenen trägen Nippfluten, bei denen das Hochwasser erst gegen Mittag kam. »Wie lang sind wir jetzt schon Teilhaber, Jan?« »Fast ’n Jahr.« »Du bist’n ganzes Stück besser als Jack Lugger«, sagte Onkel Bill und zog nachdenklich an seiner Pfeife, »der hat viel geredet und wenig getan, für den hat man die Arbeit noch mit machen müssen.« Er dachte an den Tag zurück, an dem er sich von Jack Lugger getrennt hatte. Ohne den Kopf zu wenden, konnte er die alten, geteerten Bootsschuppen vor sich sehen und das Haus des Lotsen mit den zwei Schornsteinen, in dem Jan King wohnte. Er erinnerte sich noch genau daran, wie Jan King aus seinem Haus getreten und zum Armouth heruntergekommen war. Da hatte er gerade mit Jack Lugger Reusenleinen von einem Esel abgeladen. »Kann ich morgen mit rausfahren?« hatte Jan King gefragt, als er bei ihnen war. Er sprach mit bemühter Beiläufigkeit und richtete das Wort nur an Onkel Bill. »Willst du dir dein Geld jetzt etwa ehrlich verdienen?« warf Jack Lugger boshaft ein. »Mit der Lotserei ist zur Zeit nicht viel zu holen«, erwiderte Jan King so gelassen, als habe er den Spott nicht wahrgenommen. »Sicher nicht, aber wie man hört, hast du trotzdem immer ’n paar Guineen in der Tasche. Deine Gig hat dir doch ganz ordentlich Geld gebracht. Mehr als Ivor Triggs. Und mehr als Frank Pensilva.« »Was soll das heißen?« fragte Jan King. Er hatte unwillkürlich die Faust geballt. »Wie man hört, kriegen manche Leute neuerdings gutes Geld dafür, daß sie rauchen«, meinte Jack Lugger spitz. -138-
»Laß den armen Kerl in Frieden«, sagte Onkel Bill schroff, »der hat auch so ’n schlechtes Gewissen. Was hast du davon, wenn du ihn ärgerst? Kannst dir höchstens ’ne blutige Nase dabei holen.« »Also, richtig arm ist er ja nicht«, sagte Jack Lugger, »und ’n schlechtes Gewissen hat er auch nicht, der hat überhaupt kein Gewissen, ich hab’ jedenfalls nie was davon gemerkt.« »Ich hab’ mir nichts vorzuwerfen!« rief Jan King. »Das sieht Grace Pensilva aber anders«, entgegnete Jack Lugger, »und ich auch.« »Grace Pensilva kann denken, was sie will! Das ist mir ganz egal!« »So egal ist dir das nun auch wieder nicht. Ganz Harberscombe weiß doch, daß du hinter ihr her bist, daß du schon nicht mehr ganz richtig im Kopf bist ihretwegen. Und ich glaub’, da steckt noch was dahinter, Jan King, eifersüchtig bist du gewesen, eifersüchtig auf ihren Bruder. Und deswegen hast du...« Jan King hatte Jack Lugger plötzlich beim Kragen gepackt und schüttelte ihn, wie ein Fuchs ein Huhn schüttelt. Onkel Bill fragte sich einen Moment erschrocken, ob er ihn toten würde. Doch Jan King nahm sich zusammen und versetzte Jack Lugger nur einen heftigen Stoß. Er stolperte in den seichten Fluß, fiel ins Wasser und rieb sich den Nacken. Alle Streitlust war ihm vergangen. Jan King wollte in sein Haus zurückkehren, aber Onkel Bill hielt ihn zurück. »Reg dich doch nicht so auf, Jan!« rief er. »Kümmer dich nicht um ihn. Klar kannst du morgen mit rausfahren. Gern.« »Mit so ’nem Verräter fahr’ ich nicht raus«, zischte Jack Lugger. »Zwingt dich niemand dazu«, sagte Onkel Bill. »Wir kommen auch ohne dich aus.« »Aber ich bin doch dein Partner, Onkel Bill! Von was soll ich -139-
leben? Was hab’ ich denn getan?« »Du hast schlecht geredet über ’nen guten Mann«, sagte Onkel Bill. »Meine Teilhaber such’ ich mir selber aus. Und dich will ich nicht mehr haben. Fang Karnickel, und wenn dir das nicht paßt, geh und verding dich als Tagelöhner. Da lernst du arbeiten, da wirst du bald sagen, hätte ich bloß mehr gearbeitet, als ich Fischer war.« Onkel Bill hielt inne und blickte Jan King in die Augen. »Wir werden bald wissen, ob der Junge hier mehr taugt.« »Danke«, murmelte Jan King, »ich werde mein Bestes tun.« Und damit machte er sich auf den Weg zu seinem Haus. »Paß nur auf, das dauert keine Woche, dann gafft er wieder nach dem Franzosen!« rief Jack Lugger, der in die andere Richtung ging. »Du wirst ja sehen!« Das war viele Monate her, und Onkel Bill hatte keinen Grund gehabt, seine Entscheidung zu bedauern. Jan King arbeitete hart, arbeitete für zwei, wenn er die Körbe aus dem Wasser zog. Falls er den Wunsch verspürte, wieder mit dem Schmuggeln anzufangen, so zeigte er es nicht. Er sprach auch nie von den alten Zeiten und erst recht nicht von der Nacht, in der die Gig gekentert war. Er hatte seither nicht mehr geraucht und keinen Schnaps mehr getrunken. Wenn sie von ihren Ausfahrten zurückkamen, ging er nach Hause und verbrachte den Rest des Tages allein, während Onkel Bill ins Dorf heimkehrte. So hielt es Jan King, so hatte er es immer gehalten, er war einer von den Stillen. Der Logger bewegte sich. Das Wasser war so weit gestiegen, daß es ihn aus der Mulde hob, die er sich im sandigen Flußbett gegraben hatte. Onkel Bill und Jan King spürten das Beben, den leichten Ruck, als er wieder lebendig zu werden schien. Es war Zeit, an Bord zu gehen; noch fünf Minuten, und die Flut würde so hoch sein, daß sie meerwärts rudern konnten. Onkel Bill deutete auf die Mündung. »Schön, wie?« sagte er. -140-
Nicht einmal eine Viertelmeile entfernt bot sich ihnen ein seltsames Bild: Eine Hundemeute am anderen Ufer schickte sich an, den Fluß zu durchqueren. Die Tiere rannten und sprangen um einen einsamen Reiter herum. Alle schienen sich auf dem spiegelglatten Wasser zu bewegen, wie in einem Traum. »Das ist das erste Mal dieses Jahr, daß ich den Master draußen sehe«, sagte Jan. »Der bringt den jungen Hunden bei, wie man übers Wasser kommt.« »Sind nicht alle jung, die Hunde«, erwiderte Onkel Bill. »Ganz vorn, da seh’ ich Fatum, und Harmonie ist auch dabei, die hab’ ich bellen hören. Ich will dir was sagen, Jan King, morgen fahren wir nicht raus, morgen bleiben wir in Harberscombe, da trifft sich die Jagd. Man kann nicht das ganze Jahr immer nur arbeiten, ’n bißchen Spaß muß man auch haben. Kommst du mit?« Jan King gab keine Antwort. Er beobachtete, wie die Leithunde an der Stelle verharrten, wo das Flußbett in die Sandbänke einschnitt und das Wasser tiefer und reißender wurde. Der Master mit seinem roten Jagdrock kam platschend hinter ihnen drein, kerzengerade saß er auf seinem grobknochigen Rotschimmel. Das Pferd drängte sich durch die Meute, bis es fesseltief im wirbelnden Wasser stand. Der Master blies in das kleine, silberne Horn, das er an einem Band um den Hals trug, und ein seltsam gleitender Ton war zu hören. Die Hunde zögerten immer noch. Ohne sich umzusehen, blies er wieder, lauter jetzt, und plötzlich setzte sich der erste Hund in Bewegung und begann, durch die Strömung zu schwimmen. Bald folgten ihm die anderen. »Fatum würde Harry Baskerville überallhin folgen«, sagte Onkel Bill. »Er ist schon alt, aber der ist zäh. Das wird morgen ’ne schöne Jagd, kannst dich drauf verlassen.« »Ja«, antwortete Jan. »Aber jetzt müssen wir erst mal zum Fischen raus.« -141-
Der Logger trieb langsam dahin. Es wehte kein Wind; sie würden erst einmal rudern müssen. Jan legte die Riemen ein, während Onkel Bill den Anker einholte. Dann pullten sie gleichmäßig Seite an Seite. Da sie landwärts blickten, konnten sie den Franzosen nicht gleich sehen. Grace Pensilva sah ihn zuerst. Sie behackte eine lange Reihe von Steckrüben und hatte sich aufgerichtet, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sie hatte beobachtet, wie Onkel Bills Logger langsam seewärts kroch und wie der Master mit seiner Meute den Fluß durchquerte. Neben ihr bearbeitete Mrs. Coyte mit ihrer Hacke eine weitere Reihe von Rübenstecklingen. Sie würde sich gleich umdrehen und Grace dafür schelten, daß sie trödelte. Der Rübenacker befand sich auf einem der Hügel, die den Arun säumten. Von dem Punkt aus, wo sie stand, konnte Grace ein kleines Stück Wasserfläche zwischen den zwei Landspitzen der Mündung und dahinter einen schmalen Streifen hellen Horizonts überblicken. Zuerst tauchte ein rotes Dreiecksegel auf, das sich hinter der westlichen Landspitze vorschob. Dann kam ein schwarzer Mast, gefolgt von einem weißen Topsegel und einem graubraunen Großsegel. Grace war fast schon sicher, um welches Schiff es sich handelte. Es war der Küste erstaunlich nah. Unendlich langsam kam es hinter dem Kliff hervor. Wahrscheinlich hatte es in der Bucht festgelegen, seit tags zuvor die Flaute eingesetzt hatte. Nun, jedes nur mögliche Segel gesetzt, änderte es Zoll für Zoll die Richtung und nutzte den Gezeitenstrom, um ein wenig Fahrt nach Osten zu machen. Im Westen bemerkte Grace die Segel eines anderen Schiffes, einer kleinen Brigg, die von Plymouth kam; aller Wahrscheinlichkeit nach verfolgte sie den Franzosen, doch sie war zu weit entfernt, um ihm unmittelbar gefährlich zu werden. -142-
Dieser war inzwischen fast von der Küste freigekommen. Grace erkannte einen kleinen, offenen Verschlag, das einzige Oberwerk, das ein Gegengewicht zur fließenden Linie des Schanzkleids bildete. Dahinter stand eine winzige Gestalt am Steuerrad und hinter ihr ein weiterer Mann, vermutlich der Kapitän. »Muß ich die ganze Arbeit allein machen?« Mrs. Coyte hatte sich wütend umgedreht. »Wir müssen noch den halben Acker fertigkriegen, bevor die Sonne untergeht. Na los, Mädchen, sei nicht so faul! Träum nicht, wir zahlen dir Lohn, und den mußt du dir auch verdienen.« Grace nahm ihre Hacke in beide Hände und ging wieder ans Werk. Sie sagte kein Wort von dem Schiff, das langsam die Mündung querte; Mrs. Coyte war so kurzsichtig, daß sie es vielleicht gar nicht bemerkt hatte. Mechanisch setzte sie ihre Tätigkeit fort. Doch von Zeit zu Zeit warf sie einen verstohlenen Blick aufs Wasser und betrachtete den Franzosen. Das auffällig getakelte Schiff schien lange in der Mitte der Bucht zu verweilen, als wolle es sich zeigen, als warte es auf ein Signal. Der Kapitän hielt vermutlich nach Franks Nachfolger Ausschau, nach jemandem, mit dem er seine Geschäfte fortsetzen konnte. Es war kein Branntwein mehr im Armouth gelandet worden, seit... »Was ist, Mädchen? Ich hab’ dir gesagt, du sollst nicht träumen!« Mrs. Coyte hatte Grace beim Arm gepackt und schüttelte sie. »Gib dir ’n bißchen mehr Mühe, sonst sag’ ich meinem Mann, daß er jemanden anstellen soll, der besser arbeitet als du. Hätte ich mir ja denken können, daß du dir ’n Haufen Flausen angewöhnt hast bei Miss Delabole. Aber jetzt bist du auf ’nem Hof, Grace Pensilva, jetzt ist Schluß mit Patiencen und Sticken, jetzt wird gearbeitet, deine feinen Leute, die können tanzen und singen, aber unsereins muß was tun. Und bild dir bloß nicht ein, du könntest vielleicht schmuggeln wie dein Bruder...« Grace betrachtete ihre Dienstherrin prüfend und -143-
fragte sich, ob sie den Franzosen doch entdeckt hatte. »In Harberscombe gibt’s niemanden, der so was mit ’ner Frau anfängt. Nein, gnädiges Fräulein, so leicht ist hier kein Geld zu verdienen, also beeil dich, damit du bald soweit bist wie ich.« Der Tag war schwül, und es fiel Grace schwer, nicht heftig zu werden. Am liebsten hätte sie Mrs. Coytes Hand fortgestoßen und ihr in das verkniffene, bleiche Gesicht geschlagen, doch es war nicht die Zeit dafür, noch nicht. Sie zuckte wortlos die Achseln und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Du taugst genausowenig wie dein Bruder!« schrie Mrs. Coyte. »Aber ich bete für dich, jeden Sonntag bete ich für dich, daß dir deine Sünden vergeben werden, daß du zur Einsicht kommst und bereust.« Graces Wangen brannten. Grimmig hackte sie unter der heißen Sonne auf die Rüben ein, während sie noch Mrs. Coytes bösen Blick auf sich spürte. Bevor sie am Ende des Feldes angelangt war, streifte ein kühler Hauch ihre Wange. Es war Wind, Wind vom Meer, der sie erfrischte und ihren Zorn mit sich forttrug. Sie blickte aufs Wasser hinaus, zu der Stelle, wo der Franzose gelegen hatte wie auf einem Spiegel. Er war verschwunden. Jan King saß am Ruder des Loggers, das Gesicht entschlossen von dem Franzosen abgewandt. Onkel Bill und er hatten ihn gesehen, als sie zu rudern aufgehört und ihre Grundangel aufgenommen hatten. »Da draußen ist ’n Freund von dir«, sagte Onkel Bill, »ist aber ’n Fremder hier.« »Das kann er auch bleiben«, murmelte Jan King, während er das Tau der Grundangel einzuholen begann, das sie am vorigen Abend ausgelegt hatten. Alle zwei Faden ging von der Leine eine Hanfschnur mit einem Haken am Ende ab. Sie fingen damit die Köder für die Krabben- und Hummerkörbe. »Der muß was vorgehabt haben, daß er so nah rangekommen -144-
ist«, sagte Onkel Bill. »Sicher hat er jemanden gesucht, der ihm seinen Schnaps abnimmt. Das muß jetzt ’ne Menge Geld bringen, gibt ja nicht mehr viel, seit ihr aufgehört habt, Frank und du.« »Laß das, Onkel Bill, laß das. Sprich nicht davon. Kommt nichts dabei raus, wenn man jemanden an alte Fehler erinnert. Das ist aus und vorbei. Gib mir den Fischhaken und hilf mir, daß ich den Aal hier ins Boot kriege.« »Gleich kommt Wind«, sagte Onkel Bill. »Setzen wir das Segel.« Er hatte bereits gesehen, daß die Brise das Wasser vor der Landspitze kräuselte. Bald würde der Wind das Boot erreichen. Jan legte das Ködermesser beiseite und ging Onkel Bill mit den Falleinen zur Hand. Und dann kam der Wind, am Anfang so sanft, daß Jan den Kopf von einer Seite zur anderen drehen mußte, um an der Kühle auf seiner Wange zu spüren, aus welcher Richtung er wehte. »Wenn du mit dem Franzosen sprechen willst, dann kannst du das jetzt tun«, sagte Onkel Bill. »Vielleicht magst du ja nicht mehr vom Fischen leben. Aber der hat jetzt auch Wind in den Segeln. Mußt dich anstrengen, wenn du ihn einholen willst.« »Ich bin froh, daß er weg ist«, erwiderte Jan King. »Und wenn du willst, daß wir Freunde bleiben, sagst du kein Wort mehr von ihm. Jetzt setz das Segel, wir müssen raus zu den Karracken.« Als sie den Barrow umfahren hatten, kamen die Karracken in Sicht, eine Gruppe von kleinen, flachen Felseninseln. Eine schmale Durchfahrt verlief zwischen ihnen und den Riffen vor der Küste. Dort mußten Onkel Bill und Jan King ein paar Hummerkörbe aufnehmen und die versenken, die sie mitgebracht hatten. Die Gewässer um die Karracken waren rauh, bei stürmischem Wetter nicht zu erreichen. Aber wenn es fast windstill war, fuhren Onkel Bill und Jan King hierher und -145-
fischten, denn es waren gute Fanggründe; es wimmelte von großen, schwarzen Hummern. Doch Jan King dachte nicht an Hummer, während er die Korbe aus dem Wasser zog. Sein Blick schweifte zu einer Klippe, in der eine dunkle Höhle verborgen lag. Er erinnerte sich an einen Sommersonntag zurück, an dem er mit seiner Gig zu den Karracken hinausgerudert war. Es war heiß gewesen, windstill, glatte See. Unter der Gig hatte er klar den flachen Meeresgrund erkennen können. Lange Bahnen von Sand führten zwischen den Felsen auf kleine Strande zu. Wasserpflanzen wogten mit fächelnder Bewegung. Auf den Felsen bebte sacht der Blasentang. Spinnenkrabben spazierten über den Sand. Ein leuchtend grüner Lippfisch fraß kleine Rankenfußkrebse. Jan war wie gebannt von diesem Zaubergarten unter seinem Boot und brauchte einige Zeit, um zu merken, daß er nicht alleine war. Helles Gelächter erregte schließlich seine Aufmerksamkeit. Gedämpft durch die heiße, diesige Luft, drang es hinter den zerklüfteten Felsbrocken hervor, die wie eine Palisade im Wasser neben einer Hohle aufragten. Jan ruderte hinüber, bis er durch einen schmalen Spalt zwischen den Felsen spähen konnte. Er sah Köpfe, die auf dem Wasser tanzten, er hörte lautes Geplätscher und schallendes Lachen. Eine der Schwimmerinnen stellte sich aufrecht, und er sah ihren nackten Oberkörper. Die anderen spritzten sie naß, bis sie wieder ins Wasser eintauchte. Es waren die jungen Mädchen aus dem Dorf, die in die abgelegene Bucht von Haccombe gekommen waren, um ungestört zu baden. Bevor sie ihn entdecken konnten, brachte er die Gig mit raschen, leisen Ruderschlägen außer Sicht. Er verharrte einen Moment im Schutz der Felsen und fragte sich, was er tun sollte. Dann besann er sich auf die Höhle. Er kannte sie, wie er hier jeden Winkel kannte. Hinter dem hohen, breiten Eingang verengte sie sich bald zu einem schmalen Stollen, der zur Bucht -146-
auf der anderen Seite führte. Wenn Jan die Höhle durchquerte, würde er nur noch ein paar Meter von den badenden Mädchen entfernt sein. Der Kiel der Gig knirschte über die Kiesel, als er sie ans Ufer zog. Er eilte zum Eingang der Höhle, watete durch seichte Tümpel mit lauwarmem Wasser. Im Dämmerlicht vor Ihm glänzten feuchte Felsrücken wie schlafende Seehunde. Vorsichtig schritt er voran, zwängte sich durch einen engen Durchgang und gelangte in eine größere Höhlenkammer mit leicht abschüssigem, sandigem Boden. Wieder hörte er die Rufe und das Gelächter der Mädchen. Am Ende der Höhle erhellte ein Sonnenstrahl die Wand aus silbrigem Schiefer. Jan ging behutsam weiter, seine bloßen Füße bewegten sich lautlos über den feinen Sand. Er mied das Licht am Ende der Höhle und blieb kurz davor im schützenden Dämmer stehen. Vor ihm, so nah, daß er ihre Augenfarbe erkennen konnte und die perlenden Tropfen auf ihren Schultern, scherzten die Mädchen im Wasser. Noch nie hatte er soviel Nacktheit gesehen. Er verhielt den Atem, als die Mädchen aus dem seichten Wasser stiegen. Ihre Körper schimmerten golden und frisch in der Sonne. Zwei der Mädchen rannten direkt auf ihn zu, und er wich zurück, bang, daß sie ihn entdecken könnten, doch sie legten sich vor der Höhle in den Sand. Die Zeit schien stillzustehen. Jan lehnte gegen die kühle Höhlenwand und nahm das betörende Bild in sich auf. Sein Fleisch regte sich, und die Brust wurde Ihm eng. Eines der Mädchen vor ihm im Sand streckte die Hand aus, um die andere und ihren jungen Busen zu streicheln. Jan biß sich auf die Lippen. »Was hast du hier zu gaffen?« Die Stimme klang verächtlich. Er wirbelte erschrocken herum. Es war eine Mädchenstimme. Ertappt zu werden, war -147-
schlimm genug, doch von einem Mädchen ertappt zu werden, war noch schlimmer. Aber am schlimmsten war es, daß die Sprecherin, die sich als Silhouette im matten Lichtschein abzeichnete, ebenfalls nackt war. Die sanften Konturen ihres Leibes erregten und erschreckten ihn zugleich. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, wurde das Helldunkel ihrer Brüste und ihres Bauches sichtbar und schließlich jede Einzelheit ihrer von langen, schwarzen Flechten gerahmten Züge. Sie war schön, beängstigend schön, schöner als all die anderen Mädchen; sie war herrlich, ein Wunder. Und sie war zornig. »Fort mit dir!« befahl sie; ihre Augen sprühten Feuer, und sie zwang ihn mit Blicken, in die Hohle zurückzugehen, aus der er gekommen war. Als er betreten den Kopf senkte, entdeckte er, was er schon früher hätte sehen sollen: Fußspuren, kleiner als seine, führten ins Innere der Höhle. Wo die junge Frau stand, war so wenig Raum, daß er genötigt war, sie auf dem Weg nach draußen zu streifen. Er zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt, und stolperte blindlings durch die Tümpel, über den unebenen Fels. Spöttisches Gelächter hallte ihm nach. Er eilte ins Sonnenlicht, hastete über die Kiesel zu seiner Gig und stieß sie ungestüm ins Wasser. Er ruderte davon, und immer noch verfolgte ihn ihr Gelächter. Er konnte es noch jetzt hören, während er die letzte Leine beköderte. Das lachende Mädchen war Grace Pensilva gewesen. »Du bist mit deinen Gedanken nicht bei der Arbeit«, sagte Onkel Bill. »Sieh mal, wie du die Leine da beködert hast. Du denkst bestimmt an ’n Mädchen.« Jan blickte auf. Konnte Onkel Bill, der sich grinsend auf die Ruder stützte, Gedanken lesen? »Man sieht’s dir an der Nasenspitze an, mein Junge«, fuhr Onkel Bill fort. »Aber wenn du auf ’n Mann hören willst, der ’n paar Jahre älter ist als du, geb’ ich dir ’nen guten Rat.« Onkel Bill sprach plötzlich leise und ernst. »Wenn du an Grace -148-
Pensilva denkst... Vergiß sie. Die ist nichts für dich, die bringt dir bloß Unglück. Such dir ’ne andere. Es gibt ’ne Menge Mädchen, die sich mehr aus dir machen als sie.« »Wir müssen jetzt zurück«, antwortete Jan King mit gedämpfter Stimme und machte sich mit den Segeln zu schaffen. Bald hatten sie die Karracken hinter sich und liefen vor dem Wind, der aufgefrischt hatte. Sie begannen, den Barrow zu runden, den großen, runden Felsrücken. Zwei andere Logger hatten ebenfalls Kurs auf die Mündung des Armouth genommen. Onkel Bill ließ sie nicht aus den Augen. »Wenn du das Zeug zu ’nem guten Steuermann hast, sind wir schneller als die«, erklärte er. »Aber erst müssen wir unsere Körbe runterlassen. Können wir gleich hier machen.« Er nahm einen der Hummerkörbe vom Stapel und hob ihn über die Bordwand. Während der Logger vorwärtsschoß, sauste das Tau dem Korb hinterher. Jan stand im Heck, eine Hand am Ruder. Mit der anderen beförderte er Schwimmer und Bojen ins Wasser. Als die Körbe nach und nach verschwanden, wurde der Logger leichter, machte raschere Fahrt, schäumte Gischt auf, der über den Bug stobte, und Onkel Bill begann zu lachen. »Die hängen wir ab«, gluckste er. »Mach das Segel ’n bißchen lose und halt ’n bißchen ab. Dauert nur noch ’nen Moment, dann kommt die Mündung in Sicht. Du machst das gut, Jan King, ich könnte es auch nicht besser.« Jan King war stolz auf sich. Er spähte nach der Einfahrt zwischen den Klippen, hinter der die Flußmündung verborgen lag. Wieder klatschte ein Korb ins Wasser, und das Tau begann über die Bordwand zu schnurren. Jan wußte, daß er seine Entscheidung über Grace Pensilva allein würde treffen müssen. Vielleicht änderte sie sich im Lauf der Zeit, hatte sie das nicht selbst gesagt? Und warum sollte er sie nicht bewundern? Jetzt, wo Frank nicht mehr lebte, würde sie früher oder später jemanden brauchen. -149-
»Paß auf!« Jan nahm Onkel Bills Warnruf nicht gleich wahr. »Paß auf!« schrie Onkel Bill noch einmal. »Dein Fuß!« Und auch jetzt reagierte Jan viel zu langsam. Er blickte nieder. Unglaublich, eine der Leinen, die er so sorgsam im Boot verstaut hatte, hatte sich verworfen und bildete eine Schlinge, die sich rasch um sein Bein schloß. Das grobe Tauwerk schürfte an seinem Knöchel. Ein jäher Ruck brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er spürte, wie er zum Heck gezogen wurde. Es war in Sekundenschnelle geschehen. Eben noch hatte er, stolz auf sein Können, am Ruder gestanden, und jetzt wurde er über Bord gerissen und drohte zu ertrinken. Plötzlich lockerte sich das Seil. Onkel Bill war neben Jan, das scharfe Ködermesser in der Hand. Die Schlinge lag noch um Jans Bein, doch sie zog nicht mehr. Das Tauende mit dem Hummerkorb verschwand übers Heck. »Du bist mir was schuldig«, sagte Onkel Bill. »Das war ’n guter Korb, und den mußt du mir zahlen.« »Ich bin dir mehr schuldig als das«, sagte Jan voll Reue. »Viel mehr, als ich dir je zahlen kann.« Grace Pensilva hatte die zurückkehrenden Logger gesehen, aber sie wußte nicht, daß die Fahrt Jan King fast das Leben gekostet hätte. Es dauerte endlos lange, bis sie mit dem Acker fertig waren und sich auf den Heimweg machen konnten. Mrs. Coyte, mit steifem Rücken, die Hacke über der Schulter, marschierte vor ihr den steilen Weg zur Mühle hinunter. Der Abend wurde kühl, und Grace fürchtete sich schon vor der größeren Kälte, die sie im Haus ihrer Dienstherrschaft erwartete. Es gab keine Freude für sie in diesem klammen Loch. Wäre sie nicht überzeugt gewesen, daß ihre Gefangenschaft dort ein notwendiger Schritt zu ihrem Ziel sei, so wäre sie längst geflohen. Ein Pferd kam den Weg heraufgesprengt, ihr entgegen. Seine -150-
Hufe dröhnten auf dem felsigen Untergrund. Mrs. Coyte war bereits um die Kurve weiter vorn gebogen, und es mußte, ohne anzuhalten, an ihr vorbeigaloppiert sein. Im Sattel erkannte Grace eine schlaksige Gestalt. Das Pferd schnaubte wild bei seinem Galopp bergan. Sein Reiter mühte sich, es zu bändigen, als er Grace sah. In der Dämmerung schlugen die Hufeisen Funken aus dem Stein, und Grace warf sich gegen die Böschung, um von dem Pferd nicht niedergetrampelt zu werden. Sie sah, wie der Reiter mit der einen Hand seinen Hut festhielt, mit der andern die Zügel. Das Pferd war neben ihr stehengeblieben, seine Flanken bebten, Schaum troff von der Trense. »Da bist du ja, Grace!« rief der Reiter. Es war Ronald Coyte. »Ich hab’ dich überall gesucht.« »Ich war mit deiner Mutter auf dem Rübenacker. Hat dir das dein Vater nicht gesagt?« »Vater ist heute morgen zum Viehmarkt. Er ist jetzt erst nach Hause gekommen.« Ronald verstummte, immer noch atemlos, und wartete auf eine Äußerung von Grace. »Hast du überhaupt nichts gemerkt? – Wie findest du Blitz? Ist er nicht wunderbar? Vater hat ihn mir gekauft.« »Er ist feurig.« »Und schnell, sag’ ich dir! Reitest du mit mir nach Hause? Ich wird’ schon mit ihm fertig.« »Nein danke.« »Hast du Angst?« Grace lachte ein wenig, als sie sich wieder in Bewegung setzte. »Hättest du keine an meiner Stelle?« »Du traust mir nichts zu.« Es klang gekränkt. »Ich bin erwachsener, als du denkst.« Er ritt ein paar Meter schweigend hinter ihr her. »Oh, fast hätte ich’s vergessen. Es gibt noch was Neues.« Grace lief ruhig weiter. »Heut war ’n Mann da und hat -151-
nach dir gefragt.« »Und?« »War ’n Seemann, und ich glaube«, fuhr Ronald fort und versuchte, bedeutend zu klingen, »der hat was mit ’in Zoll zu tun gehabt.« »Wie sah er aus?« Grace spürte ihr Herz, es schlug plötzlich rascher und lauter. Wer war das gewesen? Ben Barlow vielleicht, mit der Nachricht, er wisse jetzt, wer der Mann mit der Maske sei? Doch es konnte auch Scully gewesen sein. »Hab’ ich nicht drauf achtgegeben. Kann mich an nichts Besonderes erinnern.« »Was hast du ihm gesagt?« »Daß du weg bist. Ich hab’ ihm gesagt, du bist wieder nach Cornwall.« »Warum das?« Grace blieb stehen, drehte sich um und blickte Ronald an. »Ich hab’ gedacht, der will dir was tun.« Es fiel immer noch so viel Licht durch die Blätter, daß sie Ronalds Gesicht erkennen konnte. Er schien es ernst zu meinen. »Ich danke dir«, murmelte sie. »Wo ist er jetzt, wartet er noch?« »Nein. Er ist vor drei Stunden gegangen. Da war ich froh. Ich hab’ ihn nicht leiden mögen.« »Hat er sonst noch etwas gesagt? Hat er etwas ausrichten lassen?« »Er hat gesagt, er kommt vielleicht wieder, mehr nicht.« »Und wie hieß er?« »Hat er nicht gesagt. Und ich hab’ ihn nicht gefragt, hab’s vergessen.« Sie kamen aus dem Wald, und unter ihnen tauchte im Wiesengrund die Langstone-Mühle auf. »Vater hat gute Laune. Hab’ ich dir das schon erzählt? Er hat zwanzig Ochsen -152-
verkauft und ’n Haufen Geld verdient. Deswegen hat er mir auch Blitz mitgebracht. Er hat so gute Laune gehabt, als er nach Hause gekommen ist, daß ich mir gesagt hab’, jetzt kannst du ihn fragen...« »Was fragen?« »Ob ich morgen mit Blitz bei der Jagd mitreiten darf. Er hat ja gesagt. Dann hab’ ich ihn gefragt, ob wir alle hingehen. Da hat er auch ja gesagt. Und du kannst auch frei haben, wenn du die Jagd sehen willst... und mich.« Er galoppierte davon, den Abhang hinunter, und Grace stand einen Augenblick still, auf ihre Hacke gelehnt, um ihre innere Ruhe wiederzufinden. Mrs. Coyte sollte nicht merken, daß Ronalds Nachricht sie erschreckt hatte. Mrs. Treebie drehte ihre Schürze zwischen den Fingern, während die beiden sie ausfragten. Der Tee in der Kanne auf dem Tablett war bereits kalt geworden. »Aber welcher Art war ihre Beziehung zu Frederick Genteel?« fragte Mrs. Lackland fast streng. »Sie können offen sprechen, wir sind keine Kinder.« »Weiß ich nicht genau«, sagte Mrs. Treebie, drehte weiter ihre Schürze zwischen den Fingern und warf einen raschen Bück auf die Uhr. »Ich weiß bloß, daß es Jan King nicht gefallen hat, wie sie zu Frederick Genteel war.« »Und welche Wendung haben die Dinge zwischen Grace und Jan genommen? Glauben Sie, daß sie ihn geliebt hat?« »Weiß ich auch nicht genau, Mr. Shute. Ich war ’n kleines Mädchen damals. Aber sie hat bei ihm gewohnt.« »In dem Haus am Armouth?« fragte Optimus. Mrs. Treebie nickte. »Wir haben nie gewußt, was da los ist. Die andern Mädchen sind nicht gern hingegangen, die haben Angst gehabt, die haben gedacht, da spukt’s, und ich hab’ auch -153-
immer so ’n komisches Gefühl gehabt bei dem Haus, ich hab’s heute noch. Später hat da ja niemand mehr gewohnt. Und wenn die Geschichte von dem Schatz nicht gewesen wäre, wär’ auch nie mehr jemand hingegangen.« »Was haben die Leute über diesen Schatz gesagt?« fragte Optimus. »Sie haben gesagt, es muß einen geben, Grace Pensilva hat so viel verdient mit der Schmuggelei, daß da irgendwo ’ne Menge Geld versteckt sein muß. Aber gefunden hat nie jemand was. Oh, sie war ’ne große Schmugglerin, ’ne Frau wie sie hat’s hier nie gegeben, davor nicht und danach nicht. Aber sie hat bestimmt kein Gold am Armouth vergraben. Wenn Sie mich fragen – das hat sie alles mitgenommen. Die hat nichts hiergelassen, weil sie doch gar nicht wiederkommen wollte.« »Mich interessiert Frederick Genteel«, sagte Mrs. Lackland. »Ich wüßte zu gern, wie es kam, daß Grace ihn kennenlernte.« »Das kann ich Ihnen genau sagen«, antwortete Mrs. Treebie, »ich war dabei, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat. Das war draußen vorm ›Trafalgar‹. Und am selben Tag hat seine Schwester den jungen Ronald Coyte kennengelernt, obwohl sich da erst mal niemand was dabei gedacht hat. Aber wie Grace mit dem Gutsherrn gesprochen hat, das hat keiner vergessen.« »Was für ein Mensch war Frederick Genteel?« fragte Optimus. »Das war ’n feiner Mann, ’n guter Mann, hat mein Vater immer gesagt und alle, die ihm Pacht gezahlt haben. Als er dann nicht mehr da war, haben’s die Leute bitter zu spüren gekriegt. Nancy hat ihnen den letzten Pfennig aus der Tasche gezogen, und Ronald Coyte hat ihr dabei geholfen. Aber ins Gut hat sie nie was reingesteckt. Die ist nach ihrem Vater geraten.« »Und sie wohnt noch auf Schloß Leet, nicht wahr?« fragte Mrs. Lackland. »Ja, sie wohnt noch da, aber man kriegt sie nie zu sehen. Die -154-
ist den ganzen Tag allein und hat mit niemandem was zu tun außer mit Ronald. Und der ist alt geworden, ganz plötzlich. Er hat die Pferde geritten wie immer, wie ’n Wilder, und ’ne Woche drauf war er auf einmal grau und krumm. Die Leute sagen, sie hat ihn benutzt...« Mrs. Treebie hielt sich die Hand vor den Mund, entsetzt über das, was ihr gerade entfahren war. Mrs. Lackland faßte sofort nach. »Er war also nicht bloß Stallbursche?« fragte sie. »Weiß ich nicht genau«, sagte Mrs. Treebie, wich dem Blick ihrer Dienstherrin aus, beugte sich vor und legte prüfend die Hand an die Kanne. »Der Tee ist ja ganz kalt. Ich muß Ihnen neuen machen. Das kommt davon, wenn man zuviel schwatzt...« Und damit eilte sie in die Küche. »Na, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß sie sicher etwas Interessantes weiß? Sind Sie nicht froh, daß Sie sich zu mir bemüht haben, Herr Einsiedler? Und wo Sie nun einmal hier sind, werde ich auch mein Teil fordern: Sie müssen sich mit mir unterhalten. Oh, Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich nach kultivierten Gesprächen sehne! Was halten Sie von Mr. Trollopes Roman, den ich Ihnen neulich im Klassenzimmer aufs Katheder gelegt habe?« »Ach, das waren Sie? Ich dachte es mir schon. Nun, ich habe ihn noch nicht gelesen. Ich habe so viel zu tun, daß ich keine Zeit für die Lektüre von Romanen finde.« »Was sind Sie doch für ein Brummbär!« lachte die Pfarrersfrau. »Sie können nur an dieses wilde Mädchen denken, an Grace Pensilva, und ansonsten haben Sie nur Zeit für diesen alten Trunkenbold, Dr. Cornish. Was entzückt Sie so an seiner Gesellschaft? Wäre es vielleicht auch einmal einer Frau vergönnt, daran teilzuhaben? Besitzen Sie genügend Einfluß, um mir eine Einladung zu einer seiner Soireen zu verschaffen?« »Ich glaube kaum, daß Sie es amüsant fänden«, murmelte Optimus. »Sie würden der weitschweifigen Monologe eines -155-
alten Herrn und der belehrenden Bemerkungen eines jungen Schulmeisters gewiß bald müde werden.« »Das mag ich an Ihnen, Optimus!« lachte die Pfarrersfrau. »Sie sind nicht anmaßend und aufgeblasen wie Lackland; Sie sind so bescheiden, so selbstkritisch, so jung! Und Sie merken nicht einmal, daß die Mädchen im Dorf schier in Ohnmacht sinken Ihretwegen!« »Hören Sie auf, mich zu hänseln! Bitte!« sagte Optimus und erhob sich halb von dem Sofa, auf dem er recht unbequem saß. »Dummer Junge«, sagte Mrs. Lackland, faßte seinen Arm und drückte ihn wieder auf seinen Platz. »Ich wollte Sie nicht ärgern. Es müßte Sie doch freuen, so angebetet zu werden! Und Sie wissen auch, woran es liegt, oder nicht? Sie sind höflich, zurückhaltend, gutaussehend, ich kann es den Mädchen wahrhaftig nicht verdenken. Wenn ich nicht verheiratet wäre...« »Richtig, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Und wenn ich nicht Schulmeister wäre, mit einer Stellung, die ich in dieser engstirnigen Dorfgemeinschaft behaupten müßte, stünde es mir frei, alle Affären der Welt mit den jungen Damen zu haben, die Sie eben erwähnten.« »Man kann sich über eine so kleinliche, spießige Haltung erheben: Ihre Grace Pensilva hat es getan.« »Und die Leute haben es ihr bis heute nicht verziehen. Erwarten Sie nicht, daß ich ihrem Beispiel folge, ich habe nicht den Mut dazu. Und... verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich glaube, daß ich die Sonntagnachmittage nicht hier allein mit Ihnen verbringen sollte. So harmlos es auch ist, die Leute werden darüber reden.« »Aber Mrs. Treebie ist doch die ganze Zeit da.« »Genau.« Optimus senkte die Stimme. »Und Sie wissen ja, welche Romane sie erzählen kann. Ich sollte wirklich nicht hierherkommen.« -156-
»Ich dachte, Sie mögen mich«, sagte Mrs. Lackland stockend. »Ich dachte, unsere Freundschaft sei Ihnen wichtiger als so kleinliche Erwägungen.« Sie hatte ein Batisttaschentuch aus dem Ärmel gezogen und drehte es nervös zwischen den Fingern. Optimus saß stocksteif da, die Hände auf den Knien, und spürte deutlich die Enge seines gestärkten Kragens. »Von kleinlichen Erwägungen kann nicht die Rede sein. Ich bewundere Sie aufrichtig. Sie sind der einzige wirklich kluge Mensch, den ich kennengelernt habe, seit ich nach Branscombe gekommen bin. Aber wir dürfen den Leuten keinen Grund geben, über Sie zu tratschen. Widmen wir uns den guten Werken, wie Sie es am Anfang vorschlugen, besuchen wir die Alten und die Kranken. Gelegentlich können wir dann immer noch eine Stunde miteinander verbringen.« »Gelegentlich eine Stunde miteinander! O ja, Sie scheinen mich wirklich aufrichtig zu bewundern. Ich durchschaue Sie, Optimus Shute, es geht Ihnen nur um Ihren Ruf. Ach, Optimus, Sie ahnen nicht, was es für eine Frau von Geist bedeutet, in diesem öden Pfarrhaus eingesperrt zu sein. Wenn ich das gewußt hätte, als ich Lackland kennenlernte! Aber geschehen ist geschehen, nicht wahr? Nun denn, nächste Woche werden wir mit der Kutsche ausfahren und in aller Öffentlichkeit unsere guten Werke tun. Nur ist es bis dahin noch so lang. Würde es Sie stören, wenn ich wieder in die Schule käme? Ich konnte Ihre Schüler katechisieren.« »Das wäre nicht klug, Mrs. Lackland.« »Wie nüchtern Sie sind, Mister Shute, wie vernünftig! Und müssen Sie wirklich mit solcher Hartnäckigkeit Mrs. Lackland zu mir sagen? Sie können mich Diana nennen. Wir brauchen nicht so förmlich zu sein, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt.« »Ich versuche nur, Sie zu beschützen, Mrs....« »Diana!« Die Pfarrersfrau war den Tränen nahe. »Also gut... -157-
Diana«, sagte Optimus lahm, »und es ist ein hübscher Name, er paßt zu Ihnen. ›Königin und Jägerin, züchtig und schön‹, so hätte Sie wohl Ben Jonson genannt.« »Ich wußte es doch, Sie können liebenswürdig sein, wenn Sie nur wollen.« Mrs. Lackland betupfte ihre Augen und sah ihn mit neuem Glanz an. »Mrs. Kemp hat mir gesagt, Sie seien ein so reizender junger Mann. Da sehen Sie’s, sogar die alte Mrs. Kemp ist hingerissen von Ihnen. Sie hat mir auch gesagt, Sie brächten viele Stunden schreibend zu. Stimmt das? Was schreiben Sie denn, einen Roman?« Optimus schüttelte den Kopf. »Sie sind zwar ein Geheimniskrämer«, fuhr Mrs. Lackland fort, »aber ich glaube, daß ich es erraten kann: Sie schreiben über Grace Pensilva, nicht wahr?« »Nein.« Es überraschte Optimus, wie leicht Ihm diese Lüge von der Zunge ging. Eigentlich tat er ja nichts Verbotenes. Doch die Pfarrersfrau bedrohte seine heimliche, wunderbare Verbindung mit Grace Pensilva, und dagegen mußte er sich wehren. »Was dann?« »Ich mache mir Notizen für ein ABC-Buch.« »Oh, wie fabelhaft, wie verdienstvoll!« Es war offenkundig, daß sie ihm nicht glaubte. In diesem Moment kam Mrs. Treebie mit dem Tee. Sie kündigte sich mit einem diskreten Hüsteln an. Optimus versuchte, sich vorzustellen, wie sie mit weißer Schürze und gestärktem Häubchen am Schlüsselloch lauschte. »Wir warten schon eine Weile auf Sie, Mrs. Treebie.« »Ich hab’ so schnell gemacht, wie’s ging. Mr. Lackland kauft nicht genug Kohlen, und deswegen krieg’ ich den Ofen am Nachmittag nie richtig warm.« »Ich dulde nicht, daß Sie so etwas sagen. Mein Mann muß seinen Verhältnissen entsprechend leben.« »Na ja, es hat nicht bloß am Feuer gelegen. Der Postbote hat -158-
’nen Brief gebracht, hier.« Mrs Treebie zog ein Kuvert aus der Schürzentasche und reichte es Mrs. Lackland. »Und Sie haben so lange gebraucht, um ihn zu lesen.« Mrs. Lackland untersuchte die Umschlagklappe nach Zeichen dafür, daß sie mit Hilfe von Wasserdampf geöffnet worden war. Mrs. Treebie richtete sich auf. »Ich verbitte mir diese Unterstellung! Wenn Sie so weitermachen, kündige ich, und mein Mann auch. Und dann wollen wir mal sehen, ob Sie so schnell wieder jemanden finden!« Mit schweren Schritten und finsterer Miene verließ sie das Zimmer. Mrs. Lackland nahm ein Messer zur Hand und öffnete den Brief. Optimus hatte bereits bemerkt, daß er an ihren Mann adressiert war. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte die Pfarrersfrau. »Aber Sie irren sich. Lackland hat keine Geheimnisse vor mir. Ich mache immer seine Briefe auf. Er billigt das, er sagt, es sei ein Beweis seines Vertrauens.« Sie schlug die Augen nieder und versenkte sich in die Lektüre des Briefes. »Fabelhaft«, murmelte sie schließlich. Ein Lächeln huschte über ihre blassen Lippen. »Der neue Vikar kommt bald. Er hat in Cambridge studiert, dies ist seine erste Stelle, er ist voll missionarischen Eifers. Und er wird hoffentlich kein Spielverderber sein.« Der Tee, den Mrs. Treebie gebracht hatte, war kalt, doch Mrs. Lackland achtete nicht darauf. Optimus setzte seine Tasse nach dem ersten Schluck ab und erhob sich. Er hatte das Geräusch von Rädern auf der Auffahrt gehört und wollte sich nicht wieder in ein gezwungenes Gespräch mit dem Pfarrer verwickeln lassen. »Ich muß jetzt wirklich gehen.« »Nun, dann gehen Sie, gehen Sie! Verschwenden Sie Ihre kostbare Zeit nicht mit einer Frau. Ich brauche Sie nicht, Optimus Shute, und Sie waren zu blind, um zu sehen, wo Ihnen das Glück winkt.« Jetzt, wo sie ihn so kalt verabschiedete, spürte Optimus einen Stich und hatte das Gefühl, etwas verloren -159-
zu haben. Wenn sie so heftig war wie jetzt, war Mrs. Lackland erregend, ja begehrenswert. »Wenn Sie wünschen, daß ich Sie am nächsten Sonntag begleite...« »Dann weiß ich, wo ich Sie finde. Ja, Mr. Shute, dann weiß ich, wo ich Sie finde.« Auf der kleinen Kreuzung zwischen dem Gasthof »Trafalgar« und der Kirche wimmelte es schon von Menschen, als die Familie Coyte dort ankam. Bauer Coyte, breitbeinig auf seinem ungepflegten Dartmoorpony sitzend, ritt voran, gefolgt von Ronald, dessen Pferd unruhig tänzelte. Mrs. Coyte ging zu Fuß, ernst und nachdenklich, als rechne sie die Stunden zusammen, die hier vergeudet wurden, indem man sich einen Tag frei nahm. Grace bildete die Nachhut, wobei sie stets zehn Schritte hinter ihrem Brotherrn blieb, teils weil es ihre Pflicht war, teils weil es ihr behagte, Abstand zu den Coytes zu wahren. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als sie den alten, roten Jagdrock betrachtete, den sie für Ronald hatte enger machen müssen. Trotzdem schlotterte er immer noch um die schlaksige Gestalt des Jungen herum. Doch Grace hatte zu ihm eine heimliche Zuneigung entwickelt; er war so anders als seine geizigen Eltern. Er war ein Träumer, und dafür konnte ihm Grace seinen linkischen Stolz und seine Großtuerei verzeihen. Ganz Harberscombe war auf den Beinen. Das »Trafalgar« machte glänzende Geschäfte, überall Stimmengewirr und Rauch, und es war so voll, daß sich die Gäste bis auf die Straße drängten. Grace sah Onkel Bill, einen Bierkrug in der Hand, in der niedrigen Tür stehen. Er sprach mit Jan King, der nicht in ihre Richtung blickte. Die Freibauern saßen fast alle zu Pferd. Sie schienen sich in ihren sauberen Reithosen und Jagdröcken nicht ganz wohl zu fühlen. Bauer Wroth und seine Frau saßen bequem in einem auf Hochglanz polierten schwarzen -160-
Einspänner am Rande der Menge. Tagelöhner, Mägde, Kaninchenfänger, der Schmied, der Zimmermann, der Wagner, alle waren da, rempelten die Fischer in ihren blauen Pullovern an und neckten sie, daß sie an einem so schönen Tag nicht zum Hummerfangen aufs Meer hinausgefahren seien. »Sie kommen!« rief ein schmächtiges Bürschchen und deutete die Straße hinunter. Alle Köpfe drehten sich dorthin, und für einen Moment senkte sich Schweigen über die Menge. In der Stille hörte man das ferne Kläffen von Hunden. Dann begannen alle wieder zu sprechen, erregter als zuvor. Es dauerte einige Minuten, bis der erste Hund erschien, gefolgt vom Rest der Meute. Hinter ihnen ritt der Master auf seinem Rotschimmel, flankiert von seinen beiden Pikören. Ein kleiner Trupp Landadliger schloß sich an. Harry Baskerville achtete nicht auf sie. Obwohl er ein Gemeiner war, erlaubte ihm seine Stellung als Master, sich als Autoritätsperson zu gebärden. Die Pferde und Hunde kreisten inmitten der Menge, während der Wirt mit einem Begrüßungstrunk aus dem »Trafalgar« trat. Die Adligen wechselten dann und wann mit näselnder Stimme Bemerkungen, hielten sich aber abseits vom Volk, das sie umgab. Plötzlich scheute Ronald Coytes Pferd und prallte gegen einen Grauschimmel, auf dem im Damensitz eine elegante junge Frau saß. Durch den Stoß verschüttete sie ihren Wein. »Verdammter Narr!« fuhr sie ihn an und wischte mit der weiß behandschuhten Linken den Wein von ihrem Jagdkleid. »Kannst du deinen Gaul nicht halten, Dummkopf? Wenn du nicht reiten kannst, hast du bei einer Parforcejagd nichts zu suchen. Wie heißt du?« Ronald war vor Verlegenheit sprachlos. Die Frau drehte sich im Sattel um und sprach einen Mann aus ihrer Begleitung an. »Wer ist das, Charles? Auspeitschen sollte man den Kerl für seine Unverschämtheit.« »Er heißt Ronald, Madam, Ronald Coyte und ist der Sohn des Müllers von Langstone.« -161-
»Warum kann er das nicht selbst sagen? Ich will, daß er bestraft wird. Ich glaube, er hat es mit Absicht getan.« Mit der Rechten umklammerte sie den Hirschhorngriff ihrer Reitpeitsche so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Laß das doch, Nancy«, murmelte der Reiter neben ihr. »Siehst du nicht, daß der Junge Angst hat? Es war keine Absicht, er reitet bestimmt zum ersten Mal bei einer Jagd mit. Ich wollte nur, sein Vater hätte das Geld, das er für dieses Pferd gezahlt hat, für die Pacht aufgewendet.« Nun drehte auch er sich im Sattel um und richtete das Wort an den Mann hinter Nancy. »Erinnere mich daran, daß ich nächste Woche zu Coyte hinüberreite, wir können ihm seine Zahlungsrückstände nicht immer durchgehen lassen.« »Du bist mir ein feiner Bruder«, grollte die Frau. »Warum hilfst du deiner Schwester nicht, Frederick Genteel?« »Sei still, Nancy. Du weißt dir selbst gut genug zu helfen.« Die Frau zuckte wütend die Achseln und wandte sich Grace Pensilva zu, die dicht neben ihr stand. »Hier, Mädchen, nimm dieses Glas und hol mir ein neues.« Grace tat so, als habe sie nicht gehört. »Seid ihr denn alle taub hier?« fauchte die Frau. »Hier, nimm das Glas und beeile dich.« Während sie sprach, hob sie drohend die Reitpeitsche. »Ich bin nicht Ihr Dienstbote«, sagte Grace gelassen. »Bitten Sie den Wirt, er wird Ihnen ein Mädchen schicken.« »Du dreistes Weibsstück!« Die Frau holte aus, als wolle sie Grace mit der Reitpeitsche schlagen. »Schluß jetzt, Nancy, wir haben keine Zeit, noch etwas zu trinken, der Vormittag ist fast vorbei.« Frederick Genteel hielt mit der Hand den Ellenbogen seiner Schwester fest und versuchte zu verbergen, daß er Grace wiedererkannt hatte. »Laß mich los!« zischte Nancy. »Laß mich los! Alle können uns sehen!« Auf ihren blassen Wangen brannten rote Flecke. Frederick Genteel beachtete sie nicht und wandte sich an den -162-
Master. »Sollen wir uns auf den Weg machen, Mr. Baskerville? Ich glaube, alle sind bereit. Wohin soll es gehen?« »Nach Hackworthy Barton«, sagte der Master. »In den Wäldern dort sind einige Füchse gesehen worden.« Er blickte auf seine Hunde nieder, setzte sein silbernes Hörn an die Lippen und blies das Signal zum Aufbruch. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und entfernte sich im leichten Trab, von der Meute umwimmelt, die von den Pikören den steilen Hang hinter der Kirche hinaufgetrieben wurde. Frederick Genteel gab den Arm seiner Schwester frei und versetzte ihrem Pferd einen Schlag auf das Hinterteil; es trabte den Hunden nach. Nancy Genteel warf ihr Glas in eine Hecke am Weg und packte die Zügel mit fester Hand. Die anderen Reiter schlossen sich ihr an, dann kamen die Wagen, Kutschen und Fußgänger. »Du brauchst nicht zu laufen, Grace, kannst auch fahren«, sagte Bauer Wroth, als er auf ihrer Höhe war. »Steig ein. Das wird ’ne schöne Jagd heute, ich weiß es, ich spür’s.« Als sie hinter ihm in den Einspänner kletterte, murmelte er: »Und ich gratulier’ dir auch schön, daß du Miss Nancy nicht ihren Willen getan hast. Gibt nicht viele hier, die sich das getraut hätten.« »Ja, aber unsere Grace hat auch einen edlen Fürsprecher gefunden«, sagte Mrs. Wroth geziert. »Hast du gesehen, wie der Gutsherr sie angestarrt hat? Da hast du ’nen guten Griff getan, Grace.« »Das glaube ich nicht und will es nicht«, sagte Grace, »und wenn Sie nicht gleich damit aufhören, steige ich aus.« »Na, nun reg dich nicht so auf, Grace«, sagte Bauer Wroth, »Eileen hat doch nur Spaß gemacht. Komm, lach mal ’n bißchen, heute ist ’n freier Tag. Und du kannst mir erzählen, wie gut es dir bei den Coytes gefällt.« Nun lachte Grace tatsächlich; sie mochte Eric Wroths trockene Art. Hinter ihnen, in der Tür das Gasthofs, trank Jan King den -163-
letzten Schluck aus seinem Bierkrug. Das Wirtshaus und der Platz davor waren jetzt fast leer, und das Horn des Masters erklang ferner. »Komm, Onkel Bill, sonst holen wir die nicht mehr ein.« »Nein, mein Junge, geh du, und ich wünsch’ dir viel Vergnügen. Ich habe nicht mehr genug Luft für ’ne Jagd. Ich bleib’ hier, damit der Wirt auch ’n bißchen Gesellschaft hat, und wenn du wiederkommst und hast ’nen Fuchs gefangen, zahl’ ich dir ’n Bier.« Jan King zögerte. Er sah den Einspänner von Bauer Wroth, in dem Grace Pensllva saß, um die Straßenbiegung oben auf dem Hügel verschwinden. Jan stellte seinen Krug ab und rannte der Jagd nach. Eine halbe Meile weiter oben hatten die Hunde zum ersten Mal Witterung aufgenommen. Vier von ihnen waren auf dem langen, geraden Heckenweg, der nach Hackworthy Barton führte, unter einem Tor hindurchgekrochen und schnupperten auf einem Acker zwischen den jungen Futterrüben. Harry Baskerville nahm an, daß sie auf der falschen Fährte waren, sie waren so unentschlossen. »Hierher, Reißer!« rief er. »Hierher, Fatum, Prügel, hierher, Harmonie!« Doch Harmonie wollte nicht hören; sie hatte gerade wieder Witterung aufgenommen und stob mit den anderen laut bellend den Hang hinunter. Bald war die ganze Meute durch das Tor und rannte in wilder Jagd dem Talgrund mit seinen Büschen und Bäumen entgegen. »Gut ist das nicht, aber wir müssen das Beste daraus machen«, sagte der Master zu seinen Pikören. »Ihr zwei geht da runter und seht, ob Ihr im Dickicht was aufstöbern könnt. Das wird nicht einfach, da ist alles zugewachsen wie im Urwald, aber marschiert trotzdem geradeaus durch, wenn ihr könnt. Ich reite inzwischen mit dem Rest der Jagd durch Hackworthy Barton, und dahinter warte ich auf euch. Dann sind wir noch -164-
ausgeruht, wenn Reineke auftaucht.« »Gut überlegt«, sagte Frederick Genteel, der neben dem Master angehalten hatte. »Jeder Narr kann Hals über Kopf hinter einer Meute herreiten, aber wer hier einen Fuchs fangen will, muß gewitzt sein.« Ein leises Lächeln umspielte die Lippen des Masters, als er davontrabte. Er war stolz über das Lob. In diesem Teil von Devon traf man überall auf Böschungen, zehn Fuß hohe Erdwälle, von Hasel- und Schwarzdornhecken bewachsen. Kein Pferd der Welt konnte sie überspringen; man mußte die Tore benutzen, und nur ein Master mit langer Erfahrung wußte, wo sich die Tore befanden. Harry Baskerville verfügte über diese Erfahrung. Er galoppierte fröhlich voran, gefolgt von der adligen Jagdgesellschaft und den Bauern. Bauer Wroth hielt mit seinem Einspänner neben dem Tor an, durch das die Hunde verschwunden waren. »Hier können wir alles gut sehen. In die Mulde da kommen wir nicht runter mit unserem Wagen. Aber wenn wir hierbleiben, kriegen wir was mit von der Jagd, und vielleicht können wir den Reitern nach, wenn wir sehen, wo’s hingeht.« Bald hatte sich eine stattliche Gruppe vor dem Tor versammelt. Einige lehnten an der Hecke, andere schwärmten über den Acker. Weil die Stelle erhöht war, hatten sie gleichsam einen Tribünenplatz, von dem sie genau beobachten konnten, welche Fortschritte die Jagd machte. »Die sitzen fest da unten!« rief Bauer Wroth, der aufrecht in seinem Einspänner stand. »Charlie und George verlieren die Meute in all den Dornen. Ich kann mir wirklich nicht denken, warum Harry sie da runtergelassen hat.« Mehrere Zuschauer nickten. Sie hörten gedämpft das Kläffen der Hunde und gelegentlich die Rufe der Piköre, die sich ihren Weg durchs dichte Unterholz bahnten. Doch zu sehen war nur ein Schwarm krächzender Saatkrähen, den sie aufgescheucht -165-
hatten. »Schade, daß wir keine Krähenjagd machen«, brummte jemand. »Die gibt’s hier reichlich. Aber mit Füchsen hat Harry Baskerville heute wohl kein Glück.« »Oh, das ist nicht gesagt!« rief Bauer Wroth. »Sieh mal, wo er ist. Harry ist mit der Jagd oben herum geritten, durch Hackworthy Barton, der will auf die andere Seite vom Wald.« Er hatte noch nicht ausgeredet, da kamen die ersten Reiter hinter den Gebäuden des Hofs am Ende der Talmulde hervor. Sie sprengten über die Wiesen dem oberen Ende des Gehölzes entgegen. Von Tor zu Tor galoppierten sie, der Master und die Jagdgesellschaft voran, dicht dahinter Ronald Coyte, dessen Pferd mehr Kraft zeigte, als mancher erwartet haben mochte, und ein Trupp Bauern. Ihnen folgte eine Schar von Dorfburschen, die nach Leibeskräften rannten. Jedesmal wenn die Reiter langsamer wurden, weil ein Tor geöffnet werden mußte, holten die Läufer auf, doch als der Master oberhalb des Wäldchens anhielt, bildete die Jagd eine weit auseinandergezogene Kette, die bis Hackworthy Barton zurückreichte. Der Master rief nun mit seinem Horn die Hunde. Ihr Gebell war leiser geworden, und es schien, daß sie ihrem Herrn langsam, aber zielstrebig entgegenliefen. Als einige der Reiter bei dem Master angelangt waren und an ihm vorbei auf das Wäldchen zuritten, rief er sie gebieterisch zurück. »Wenn da drin ’n Fuchs ist und wenn er rauskommt, kriegen wir endlich was zu sehen«, sagte Bauer Wroth. »Das wird ’n Spaß, was, Grace? Wenn man sich amüsieren will, gibt’s nichts Besseres als ’ne schöne Jagd.« »Glauben Sie, daß der Fuchs das auch findet?« fragte Grace. »So ’n Fuchs ist ’n wildes Tier, daß er rennen muß, gehört für den dazu«, knurrte Bauer Wroth. »Fressen oder Gefressenwerden, so ist das nun mal in der Natur.« Grace wollte -166-
etwas darauf erwidern, doch sie schwieg. Unter den Läufern am Hang gegenüber hatte sie eine vertraute Gestalt entdeckt: Jan King überholte beständig einen nach dem anderen. Er lief zielbewußt mit langen, federnden Schritten, die ihn leicht über den Boden dahintrugen. Jan war ein Jäger, aber war er nicht gleichzeitig auch ein Gejagter? Und war Grace, was immer ihre Beweggründe auch sein mochten, nicht selbst eine Jägerin? Sie biß sich auf die Lippen, doch Bauer Wroth, der es sah, dachte, sie habe es aus Ungeduld getan, weil sie endlich den Fuchs auftauchen sehen wollte. Und der Fuchs kam tatsächlich. Ein alter Rüde schnürte gelassen aus dem Wäldchen auf das Feld hinaus, an dessen Ende der Master wartete. Der Fuchs lief an die fünfzig Yard den Hang hinauf, ruhig und ohne Eile, als störe ihn das Bellen der Hunde nicht. »He! He!« schrie Bauer Wroth. Er schwenkte seinen Hut über dem Kopf und sprang so aufgeregt von einem Bein aufs andere, daß der Einspänner gefährlich wackelte. »Siehst du ihn nicht, Harry? Da! Vor deiner Nase!« Dabei war es unmöglich, daß seine Worte den Master erreichten, der eine halbe Meile von ihm entfernt war. Harry Baskerville hatte sich nicht bewegt. Er wartete immer noch, den rechten Arm abwehrend von sich gestreckt, damit die anderen Reiter nicht näherkamen. Der Fuchs hatte drei Möglichkeiten: Er konnte in den Wald zurücklaufen, den Hunden ausweichen, die ihm nachsetzten, und sich in seinem Bau verkriechen; er konnte sich seitwärts halten, den oberen Teil des Wäldchens umrunden und zu dem Bach hinunterrennen, der sich durchs Tal schlängelte, oder er konnte bergan laufen auf Harry Baskerville zu. Wenn er im Wald verschwand, hatte er gute Aussichten zu entwischen, wenn nicht die Dorfburschen beschlossen, ihn aus seinem Bau auszugraben. Für die Reiter wäre die Jagd dann vorbei. Wenn der Fuchs zum Bach lief und die Jagd ihm folgte, würde sie bald im Morast versinken und die -167-
Hunde würden vielleicht die Spur des Fuchses im Wasser verlieren. Doch wenn er so weit bergan schnürte, daß ihm die aus dem Wald auftauchende Meute den Rückzug abschneiden konnte, mußte er durchs offene Gelände rennen, ohne Schlupfwinkel, bis zum Kliff in der Nähe des Barrow. Das war der Weg, der den Reitern am meisten Kurzweil bot. Der Fuchs wartete. Grace hielt den Atem an. Sie beschwor den Fuchs in Gedanken umzukehren, irgendwohin, nur nicht bergan zu laufen, den Jägern entgegen. Eine Vorderpfote angewinkelt, den Kopf ein wenig gehoben, verharrte der alte Rüde vor einem großen Winterkohlbeet. Er schien etwas gehört zu haben. Langsam drehte er den Kopf hin und her, unschlüssig, ob er weiterlaufen sollte. Vor dem Tor am Ende des Feldes saß Harry Baskerville reglos wie eine Statue auf seinem Rotschimmel. »Los!« flüsterte Bauer Wroth. »Los, Reineke, zeig uns wie ’n alter Fuchs rennen kann.« Grace schlug das Herz bis zum Hals. Warum konnte sich der Fuchs nicht entschließen? Hatte er den Master am Tor nicht bemerkt? War er denn blind? Kehr um, kehr um, bestürmte sie ihn und hoffte, er werde es hören. Doch er zögerte immer noch. Da schoß ein verspäteter Reiter auf einem Pony in die Gruppe hinter dem Tor hinein und erregte die Aufmerksamkeit des Fuchses. Er wandte den Kopf nach der Stelle, an der Harry Baskerville wartete. Dann kehrte er gemächlich um und schnürte auf das Wäldchen zu. »Wer war das, welcher gottverdammte Narr?« schrie der Master. Über seine Schulter hinweg spähte er nach dem Neuankömmling, der den Fuchs vertrieben hatte. Er heftete die Augen auf Ronald Coyte, aber zu seiner Verwunderung saß der junge Mann völlig ruhig im Sattel; nichts deutete darauf hin, daß er sich gerade bewegt hatte. »Ich war’s nicht«, beteuerte Ronald. -168-
»Wer es auch war, der Dummkopf ist schuld daran, daß uns der Fuchs entwischt ist«, grollte Baskerville. Er drehte sich um und bückte den Hang hinunter, um den Fuchs im Dickicht verschwinden zu sehen. Doch statt dessen hatte das Tier wieder angehalten und blickte ebenfalls gebannt den Hang hinunter. Der Master reckte den Hals und starrte in die gleiche Richtung. Jemand versuchte, durch die Hecke am unteren Feldrain zu brechen. Einen Moment später tauchte eine schmutzverschmierte Gestalt auf und sprang von der Böschung herunter, ein geschmeidiger, junger Mann im blauen Fischerpullover. Er rannte flink am Waldrand entlang und schnitt dem Fuchs den Rückzug ab. Der Fuchs wäre immer noch schnell genug gewesen, um ihn hinter sich zu lassen und den Bach zu erreichen, doch er zögerte. »Gut gemacht, Jan King!« rief der Master. »Du hättest es verdient, bei uns mitzureiten – im Gegensatz zu ein paar anderen, mit denen ich mich hier herumplagen muß.« Von ihrem Aussichtspunkt auf der anderen Seite des Tales hatte Grace gesehen, wie der Fuchs umgekehrt war, und war zutiefst erleichtert gewesen. Hatte sie ihn mit ihren Gedanken erreicht? Ihre Enttäuschung, als er wieder anhielt, war groß. Sie verstand sein Schwanken nicht; das untere Ende des Felds, von den Ulmen am Waldrand verdeckt, konnte sie nicht sehen. Doch die Zeh, die dem Fuchs blieb, wurde knapp: Schon hörte man wieder das Bellen der Hunde, die das Wäldchen fast durchquert hatten. Jan King und der Fuchs standen einander im Gras des Rains gegenüber; zwanzig Yard lagen zwischen ihnen. Aus dieser Entfernung betrachtet wirkte der Fuchs recht jämmerlich; kaum zu glauben, daß so viele Menschen gegen ihn ins Feld gezogen waren. Er war erbärmlich dünn, und das Haar an seiner Rute wurde schon grau. Er schien nicht Jan anzusehen, sondern an ihm vorbei ins Dunkel zwischen den Bäumen zu blicken. Jan entdeckte bald den Grund dafür: Die Hunde brachen -169-
nacheinander durch die Haselsträucher und stellten sich dem Fuchs in den Weg. Harmonie jaulte laut, die anderen fielen ein, und aus dem Jaulen wurde ein wildes Gebell. »Ist das ’n Krach«, sagte Bauer Wroth zufrieden, »die Hunde haben was gesehen.« Mit bleischwerem Herzen beobachtete Grace, wie der Fuchs wieder umkehrte und im Kohlbeet verschwand. Sie war nicht die einzige, die das beobachtet hatte; Harry Baskerville ritt das Feld hinunter und rief die Hunde mit seinem Horn. Die Reiter folgten ihm. Als die Hunde in den Kohl gerannt waren, sah Grace eine Wellenbewegung darin, wie von Fischen in seichtem Wasser. Sie durchsuchten das ganze Beet. Irgendwo mußte der Fuchs versteckt sein, aber die Hunde fanden ihn nicht. »Riechst du ihn nicht, Fatum?« rief Bauer Wroth. »Wird langsam Zeit, daß du ihn findest!« Mehr und mehr Hunde tauchten aus dem Wald auf und sprangen in den Kohl. Hinter ihnen kam ein Mann gegangen; Grace erkannte ihn nicht gleich, erst als er stehenblieb, erkannte sie Jan King. Seinetwegen also war der Fuchs wieder umgekehrt. »Da!« schrie Bauer Wroth. »Da läuft er! Sieht ihn denn niemand?« Fast zitternd deutete er mit seiner Peitsche auf die Stelle, an der sich der Fuchs aus dem Kohl geschlichen hatte. Nur zwei Yard offenen Wiesengrunds trennten ihn von einer überwucherten Böschung, in deren Gestrüpp er nun verschwand. Auch Grace hatte die kleine Bewegung wahrgenommen, und nun sah sie, wie der erste Hund der Meute die Stelle erreichte, seine Nase in die Luft hob, schnupperte und in die Büsche raste, dem Fuchs nach. Die Hunde jaulten, und das Jaulen steigerte sich wieder zum Gebell. Mehrere Jäger galoppierten zur Böschung und ritten ziellos hin und her. »Eileen, Grace, setzt euch hin!« befahl Bauer Wroth. »Wenn -170-
wir uns beeilen, holen wir sie ein, bevor es richtig losgeht. Der Fuchs will zu den Klippen, beim Barrow gibt's dann sicher 'ne schöne Jagd.« Er knallte mit seiner Peitsche, das Pony zog an, und der Wagen rollte die Straße nach Hackworthy Barton entlang. Der Master hatte inzwischen seinem Rotschimmel die Sporen gegeben, bahnte sich einen Weg durch die zögernden Reiter und trabte flink durch das Tor. Auch er hatte bereits überlegt, wohin der Fuchs wohl fliehen würde. Direkt konnte man ihm nicht nachsetzen, die Böschungen waren ein Hindernis für die Pferde. Harry Baskerville achtete nicht mehr auf die Hunde; sie würden den Fuchs auch ohne sein Zutun verfolgen. Er bog nach rechts ab, wo ein Tor zu einem überwachsenen Pfad führte. Frederick Genteel und seine Schwester schlössen sich ihm an. Jan King durchpflügte den Kohl, der ihm fast bis zu den Schenkeln reichte, und sprang auf die Böschung, die die Meute bereits hinter sich gelassen hatte. Als Nancy Genteel durch das Tor ritt und ihrem Pferd die Sporen gab, scheute es plötzlich. Sie riß am Zügel, um es zu bändigen, doch das Pferd bäumte sich jählings auf. Da sie im Damensitz saß, verlor sie das Gleichgewicht. Im letzten Moment griff sie nach der Mahne ihres Pferdes, rutschte aber mit der behandschuhten Linken ab und wurde durch einen unerwarteten Satz aus dem Sattel gehoben. Sie fiel rücklings zur Seite. Ihr Pferd ging durch und floh querfeldein. Abgeworfen worden zu sein, war schlimm genug, doch Nancy war dabei mit dem Fuß im Steigbügel hängengeblieben, und das war vielleicht sogar tödlich. Die Hufe des Pferdes trommelten neben ihr auf der Wiese, während es wild davongaloppierte. Wenn es an ein Tor kam, würde sie sich an einem der Pfosten den Schädel zerschmettern. Frederick, der ein Stück vor ihr ritt, hatte den Vorfall nicht bemerkt. Die anderen Reiter saßen bestürzt und tatenlos da. Nur Ronald Coyte handelte schnell. Er sprengte hinter dem -171-
fliehenden Pferd her und versuchte, es aufzuhalten. Angetrieben durch ein paar knallende Peitschenhiebe flog Ronalds Hengst dahin wie der Wind, doch Nancys Vollblut hatte schon das halbe Feld durchquert, bevor Ronald es einholen konnte. Nancy wurde auf der rechten Seite gnadenlos über den Boden geschleift. Ronald hatte deshalb Blitz nach links gelenkt. Als er mit dem Vollblut auf einer Höhe war, streckte er die Hand aus und griff nach den flatternden Zügeln. Sein erster Versuch schlug fehl. Aus den Augenwinkeln sah er, wie das Tor näher kam. Jetzt hatte auch Frederick Genteel bemerkt, in welcher Not sich seine Schwester befand. Das Geschrei und die allgemeine Aufregung hatten seine Aufmerksamkeit geweckt. Er galoppierte Ihr ebenfalls nach, aber er wußte, daß seine Hilfe zu spät kommen würde. Ihre einzige Chance lag in den Händen von Ronald Coyte, dem linkischen Jungbauern. Es war Ronald inzwischen gelungen, einen Zügel zu fassen, doch das erschreckte Vollblut reagierte nicht darauf. Und das Tor war entsetzlich nahe; die Reiter hatten es offenstehen lassen, als sie von Hackworthy Barton herübergetrabt waren. Für zwei Pferde und eine Frau, die von dem einen Pferd mitgeschleift wurde, war es zu eng. Ronald erkannte das sofort. Es gab nur eines: Er mußte handeln, bevor sie das Tor erreichten. Ronald stellte sich in den Steigbügeln auf, löste sich mit einem Hechtsprung von seinem Pferd und wand die Arme um den kleinen Hals des Vollbluts. Er zog und zerrte mit seinem ganzen Gewicht, damit das Pferd aus dem Gleichgewicht geriet. Einen Moment dachte er an die kleinen, hämmernden Hufe des strauchelnden Tieres, mit denen es die gestürzte Frau oder ihn fürs ganze Leben zum Krüppel machen konnte. Doch da fiel das Vollblut schon in seine Richtung und begrub ihn halb unter sich. Ronald kroch unter dem Pferd hervor und war erstaunt, daß er sich nichts gebrochen hatte. Auf der anderen Seite lag Nancy Genteel reglos über den zuckenden Sprunggelenken des Vollbluts. Ihr Bruder, der inzwischen herangekommen war, hielt -172-
an, stieg in fliegender Hast ab und kniete neben ihr nieder. »Nancy, Nancy, bist du verletzt? Kannst du mich hören?« fragte er drängend. Einen Moment später schlug sie die Augen auf. Sie zitterte ein wenig. Dann setzte sie sich auf, stieß Frederick fort und befreite ihren Fuß aus dem Steigbügel. Mit steifen Beinen erhob sie sich, strich ihr verdrecktes Jagdkleid glatt und zerrte am Zügel ihres Pferdes, um es zum Aufstehen zu bewegen. Mit einer Hand hielt sie immer noch die Reitpeitsche umklammert; ihr Gesicht war schmal und entschlossen. Sie achtete nicht auf ihren Bruder, sie achtete nicht auf ihren Retter, sie achtete auf niemanden. Als ihr Pferd wieder stand, rieb sie seine Nüstern und tätschelte es, bis es zu schnauben aufhörte. »Hilf mir in den Sattel«, herrschte sie Frederick an. »Soll ich das wirklich? Dein Pferd ist immer noch furchtbar nervös.« »Muß ich jemand anderen bitten?« Es war offenkundig, daß sich Nancy nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen würde. Mit einem ergebenen Seufzer hob Frederick sie aufs Pferd. Sie setzte sich im Sattel zurecht, griff nach den Zügeln und machte Anstalten, der Jagd nachzusprengen. »Möchtest du dich nicht bei deinem Retter bedanken?« »Bei meinem Retter?« Keine Spur von Anerkennung lag in ihrer Stimme; sie hatte Ronald Coyte nicht einmal angesehen. »Wenn dieser junge Mann dein Pferd nicht zum Stehen gebracht hätte, säßest du jetzt nicht mit heilen Knochen im Sattel. Findest du nicht, daß du ihm ein Wort des Dankes schuldig bist?« »Das bin ich wohl.« Zum ersten Mal ließ Nancy Genteel den Blick zu Ronald Coyte schweifen. Er wollte sich gerade auf sein Pferd schwingen, das ihm Charles Barker zurückgebracht hatte. Als sie den Jungen erkannte, über den sie sich vor dem Gasthof »Trafalgar« so erregt hatte, verdunkelten sich ihre Augen eine Sekunde, doch dann wurde aus dem flüchtigen ein prüfender -173-
Blick. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, schien ihn abzuschätzen, seine bäurische, aber nicht ungefällige Erscheinung, den Flaum auf der Oberlippe, den zwischen Bangigkeit und Keckheit wechselnden Gesichtsausdruck. Trotzdem richtete sie das Wort nicht direkt an ihn. »Lassen Sie ihn nach Leet kommen, Herr Gutsverwalter«, wies sie Charles Barker an. »Ich möchte ihn mir in ein paar Tagen noch einmal ansehen. Wenn sich dann herausstellt, daß er sich auf Pferde versteht, kann er Stallbursche bei uns werden. Doch zuerst will ich mit ihm sprechen. Ich möchte wissen, ob er sich nur im Sattel halten oder auch reden kann. Und nun wollen wir aufbrechen. Wenn wir hier noch lange sitzen und schwatzen, bringt der Master den Fuchs ohne uns zur Strecke.« Und mit einem Peitschenknall war sie davon. »Zäh wie Sohlenleder«, sagte Charles Barker zu Ronald. »Ob du froh sein kannst oder ob es dir leid tun soll, daß sie sich für dich interessiert, weiß nur Gott allein. Komm jetzt. Über den Rest unterhalten wir uns später.« Die Gruppe, die bei Nancy Genteel geblieben war, mußte nun die Fußgänger, die Wagen voller Tagelöhner, die Einspänner und Kutschen überholen. Fluchend drückten sich die Reiter auf dem überwachsenen Pfad an den anderen vorbei. Sobald sie das offene Grasland erreichten, trieben sie ihre Pferde zum Galopp an. »Schön ist das«, sagte Bauer Wroth, als er die Reiter davonsprengen sah. »Ich hab’ noch nie was gesehen, was so schön aussieht, da krieg’ ich immer Herzklopfen.« Weit vorn, wo die Kuppe des Barrow über dem Grasland aufstieg, folgten der Master, seine Piköre und ein kleiner Trupp Reiter in wilder Jagd der Meute, deren Bellen noch schwach zu hören war. Und vor ihnen trabte, scheinbar ohne Eile und auf diese Entfernung nur noch ein winziger Farbfleck, der Fuchs den Hang hinauf. -174-
»Ja!« schrie Bauer Wroth. »Ja! Mach nur so weiter, Meister Fuchs, dann haben wir dich gleich.« Frederick Genteel, der sich an die Spitze des zweiten Reitertrupps gesetzt hatte, galoppierte an den vordersten Fußgängern vorbei. Sie wurden angeführt von Jan King, der ohne ein Zeichen von Erschöpfung mit federndem Schritt dahinlief. »Gut gemacht, junger Mann!« rief Genteel ihm aufmunternd zu. »Du hättest es verdient, zu Pferd zu sitzen.« »Brauch’ keins«, erwiderte Jan. »Ich komme so sehr gut zurecht.« Von ihrem Platz im Einspänner aus schien es Grace unmöglich, daß die Meute und die schwerfälligen Reiter den leichtfüßigen Fuchs je einholen konnten. Doch sie irrte. Ob es an seiner Ermüdung, seinem Alter oder seiner Unschlüssigkeit lag, der Fuchs blieb wieder stehen, drehte sich um und blickte auf seine Verfolger. Vielleicht spürte er, daß er in die Falle ging, wenn er weiter auf den Barrow zulief. »Wenn der sich zur Bucht von Haccombe davonmacht, kriegen wir ihn nie wieder!« rief Bauer Wroth, der bereits ahnte, was der Fuchs vorhatte. Der Fuchs brauchte bloß kehrtzumachen und eine Senke im Gelände vor dem Kliff zu nutzen, dann würde er so schnell werden, daß er Meute und Reiter leicht überlisten konnte. Harry Baskerville war offenbar zu demselben Schluß gelangt, denn er hatte angehalten und versuchte, die Hunde um sich zu sammeln. Der Fuchs sauste schräg in die Senke hinunter, und nichts und niemand schien ihn daran hindern zu können, daß er die Steigung auf der anderen Seite emporlief, dann wieder bergab huschte und im Morast an der Bucht von Haccombe verschwand. Doch es gab noch jemanden, der diesen Schachzug vorausgesehen hatte: Jan King hatte sich von der Gruppe der -175-
anderen Fußgänger gelöst und lief ebenfalls in die Senke hinunter, um dem Fuchs den Weg abzuschneiden. Er lief schneller denn je, er rannte mit erhobenen Armen, und seine Füße berührten den Boden kaum, er rannte so schnell und leicht, daß er sich fühlte wie eine Möwe im Flug, er rannte mühelos wie ein wildes Geschöpf. Der Fuchs sah ihn kommen und wich von seiner Bahn ab. Rechts von ihm trennte ein schmaler Streifen aus Stechginster, Farn und Dornsträuchern das Grasland vom Rand der Kliffs. Obwohl er es nicht sehen konnte, wußte Jan, was dahinter lag: Fünfzig Yard steiles, grasbewachsenes Niemandsland, und dann eine Wand aus glattem, brüchigem Schiefer, die ein paar hundert Fuß fast senkrecht zum Meer abfiel. Auch der Fuchs kannte diese Gegend, sie war eine Zuflucht für Wildtiere, mit Erdlöchern übersät. Jäger und Beute kamen dicht aneinander heran, bis sich der Fuchs wieder umwandte und sich durchs Gesträuch zwängte. Hinter ihm näherte sich die Jagd auf der ganzen Breite des Hangs. Harry Baskerville traf als erster ein und hielt sein Pferd am Rande des Kliffs an. Über seine Schulter hinweg sah er die kläffende Meute heranbrausen, so schnell sie konnte. Der Master erkannte sofort, was geschehen würde. Vom Fuchs war keine Spur zu sehen, er hatte sich über den Rand des Kliffs auf einen schmalen Sims ausgewaschener, roter Erde gestohlen und duckte sich unter die Grasnarbe, die darüberhing. Harry Baskerville konnte ihn nicht sehen, aber er mußte da sein. Was er sehen konnte, war, daß ihr eigener Schwung die Hunde über den Rand des Kliffs hinaustragen würde, wenn sie nicht langsamer liefen, bevor sie in das Gestrüpp sprangen. Er schrie, er fuchtelte mit den Armen, er stieß in sein Horn. Doch es war zu spät; sie achteten nicht auf ihn. Der Master beobachtete entsetzt, wie die drei Hunde an der Spitze der Meute durch den Farn brachen. Fatum segelte mit einem unheimlichen Winseln ins Leere, das eine Warnung an die beiden anderen sein mochte, die ihm folgten. Doch auch -176-
wenn sie es hörten, waren Reißer und Harmonie zu dicht hinter ihm. Sie flogen ebenfalls über den Rand des Kliffs und an die zwanzig Yard über das abschüssige Gelände, ehe sie den Boden berührten. Sie streckten im Vorbeisausen ihre Krallen nach dem Gras aus, sie schnappten nach Farnstämmen, sie jaulten ein letztes Mal, als sie über den glänzenden Schiefer abwärts stürzten. Und dann schlugen sie auf den großen, vom Meer bespülten Felsblöcken auf und verstummten augenblicklich. »Gottverdammt!« fluchte Harry Baskerville. Es galt nicht dem Fuchs, es galt ihm selbst, er hatte seine Hunde in Gefahr gebracht. Der Rest der Meute, weniger ungestüm, war zum Stehen gekommen, säumte den Rand des Kliffs und verbellte den Fuchs, der sich, immer noch außer Sicht, unter die Grasnarbe duckte. Da erregte ein kleiner Flecken Farn die Aufmerksamkeit des Masters, in etwa dreißig Fuß Tiefe. Er hatte Wurzeln schlagen können, weil dort Erde aus einem alten Bau aufgeworfen lag. Irgendwann hatte hier einmal ein Fuchs oder ein Dachs gehaust. Der alte Reineke wußte das vermutlich, deshalb war er gerade an dieser Stelle über den Rand des Kliffs gehuscht. Wenn er den Bau erreichte, war er in Sicherheit. Jan King war zu demselben Schluß gekommen. Er stand an einer etwas vorgeschobenen Stelle des Kliffs und konnte den Fuchs sehen, der sich gegen die rote Erde drückte, man mußte wissen, daß er dort war, um ihn zu erkennen. Die Hunde waren nur ein paar Fuß über ihm, gewiß würde bald einer von ihnen springen, und dann würde der Fuchs sich in dem alten Bau verkriechen. Jan King war schon oft an der Steilküste geklettert, er wußte, wo man gehen und sich festhalten konnte, und er wußte, wie tückisch die Felsen waren. Er zögerte. Ein Tropfen hatte seine Stirn berührt. Er bückte auf. Es war Regen, Regen aus einer dunklen Wolke, die vom Meer heranzog. Er wußte, wenn er jetzt schnell über das noch trockene Gras lief, konnte er den Bau ohne allzu große Gefahr erreichen. Wenn er zu lange wartete, würde das Gras naß sein, glitschig wie ein Fisch, und er würde -177-
unweigerlich in die Tiefe stürzen. Er kletterte über den Rand des Kliffs und erreichte den Bau mit ein paar langen Schritten. Selbst jetzt hatte er fast den Boden unter den Füßen verloren und wäre abgestürzt, doch der kleine farnbewachsene Erdhügel vor dem Bau rettete Ihn. Der Eingang zum Bau war noch deutlich zu erkennen, zu groß für ein Kaninchen, zu klein für einen Dachs. Jan versuchte, auf dem Erdhügel das Gleichgewicht zu halten. Er wandte den Rücken zum Meer, hörte aber deutlich das Rauschen. Wenn er sich umdrehte, würde ihm schwindlig werden, und er würde in die Tiefe gezogen werden. Über ihm, am Rand des Kliffs, standen Männer, Frauen, Kinder und die Hunde. Die Reiter waren abgesessen und dazugetreten. Die meisten hatten vor Anstrengung oder Aufregung gerötete Gesichter. Nancy Genteel schlug mit der Reitpeitsche gegen ihren Stiefel. »Faß, Prügel, faß!« befahl sie dem alten Hund, der geifernd auf der Grasnarbe stand. Als er nicht sprang, gab sie ihm einen Tritt. »Das ist mein Hund, den Sie da treten, Miss Genteel!« rief Harry Baskerville zornig. »Wissen Sie nicht, daß ich heute schon drei gute Hunde verloren habe?« Nancy Genteel antwortete nicht darauf. Sie gab dem Hund einen weiteren Tritt, der ihn über den Rand beförderte. Seine Pfoten glitten einen Moment unsicher über das Gras, fanden dann aber Halt auf dem schmalen Sims. Prügel schnupperte heftig, zog die Lefzen hoch, fletschte die Zähne und knurrte. Offenbar hatte er den Fuchs gesehen. Der Fuchs wartete nicht, bis der Hund ihn packte, sondern schoß den Abhang hinunter, auf den Erdhügel zu. Er bewegte sich leicht und sicher auf seinen winzigen Pfoten. Vielleicht hatte er nicht begriffen, was Jan King vorhatte, vielleicht hatte er ihn nicht gesehen, vielleicht hatte er sich durch seine Reglosigkeit täuschen lassen. Jedenfalls sah er sich, nur wenige -178-
Fuß vom sicheren Bau entfernt, plötzlich seinem alten Feind gegenüber, dem Widersacher, dem er all die Jahre hatte ausweichen, Schnippchen schlagen, Rätsel aufgeben können, bis sein Pelz grau geworden war. Der Mann stand wartend da, die Füße in den Eingang zum Bau gestellt. Es war unmöglich, an ihm vorbeizukommen. Der Fuchs duckte sich flach ins Gras und bückte ängstlich nach allen Seiten. Hinter ihm bellte die Meute wilder denn je, und seine menschlichen Verfolger feuerten sie immer lauter an. Sie standen in weitem Bogen am Rand des Kliffs. Der Regenguß prasselte neben ihm ins Gras. Wenn er jetzt noch über offenes Land hätte laufen können, hätte ihn der Regen gerettet und seine Spur verwischt. Durch Prügel ermutigt, schoben sich drei weitere Hunde über den Rand; es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis der eine oder andere springen und auf dem Rücken des Fuchses landen würde. Der Fuchs sah sich um und kroch näher an Jan King heran. Jan blickte auf ihn nieder und ahnte seine Verzweiflung. Als die Hunde zum Sprung ansetzten, hatte er das bestimmte Gefühl, daß der Fuchs einfach Hals über Kopf in die Tiefe springen würde. »Hoi, hoi, hoi!« rief Nancy Genteel mit hoher Stimme den uralten, aufpeitschenden Jagdruf. »Hoi, hoi, hoi! Beiß ihn tot, Prügel, beiß ihn tot!« Als Prügel losstürzte, zuckte der Fuchs zusammen und blickte sich um, alle Muskeln gespannt. Bevor er davonsausen konnte, faßte Jan King rasch nach unten, packte ihn beim Genick und hob ihn hoch. Er hielt ihn mit ausgestrecktem Arm, und der Fuchs kratzte und jappte voll blinder Wut. Er zappelte so wild, daß Jan befürchtete, er werde ihn fallen lassen. Er mußte ihn hoch emporheben, denn die Hunde waren nun bei dem Bau angelangt, umsprangen ihn und schnappten nach der Rute des Fuchses. »Gib den Hunden, was ihnen zusteht!« schrie Nancy Genteel. Jan zögerte, er war es nicht gewohnt, Befehle -179-
entgegenzunehmen, und der Fuchs gehörte ihm, denn er hatte ihn eben gefangen. »Laß ihn los! Gib den Hunden, was ihnen zusteht!« wiederholte die Schwester des Gutsherrn in scharfem Ton. »Jan King!« rief eine andere Frauenstimme aus der Menge. »Das tust du nicht, Jan King.« Es war eine ruhige, aber feste Stimme, und alle drehten den Kopf, um zu sehen, wem sie gehörte. Die Frau stand aufrecht da, die Arme zur Seite, die Fäuste geballt. Jan wandte ihr seinen Blick zu, und sie starrten sich an. »Mr. Shute! Mr. Shute!« Jemand war an der Tür und rief nach ihm. Es klang so, als sei es Mrs. Kemp. Widerwillig legte Optimus die Feder aus der Hand und ging in die Küche, deren Tür sich nach der Straße öffnete. Er verwünschte die Frau, er war gerade an einem entscheidenden Punkt angelangt. Auf der einen Seite der Fuchs. Optimus war derart in seinen Bericht über die Jagd versunken, daß ihn das Schicksal des Tiers aufrichtig bewegte. Auf der anderen Seite Jan King. Was würde er tun? Und was konnte ihm selbst nicht alles zustoßen, ohne festen Boden unter den Füßen, von den Hunden umdrängt, im heftiger werdenden Regen? Optimus kannte die Stelle, kannte sie genau, er war eines Nachmittags bei einem Spaziergang Über den Barrow hinuntergeklettert. Selbst damals, an einem trockenen Tag, hatte er das Gras glatt und tückisch gefunden. Einen Moment lang hatte ihn Panik ergriffen, und er hatte wie versteinert dagestanden, allein mit ein paar Möwen, die über den blauen Himmel segelten. Er öffnete die Tür, und es war nicht Mrs. Kemp, wie er gedacht hatte, sondern eine Frau mit blauem Kapotthut, die er nicht gleich erkannte. Erst als sie zu sprechen begann, wußte er, wer sie war. »Ich hab’ einfach kommen müssen. Ich muß mit Ihnen reden. -180-
Ich wollte Ihnen ’n paar Sachen erzählen, aber ich kann nicht, wenn sie zuhört. Kann ich reinkommen? Ich steh’ nicht gern draußen auf der Straße, der Doktor ist noch gut dabei für sein Alter, und ich will nicht, daß er mitkriegt, was ich sage.« Als sich Mrs. Treebie behaglich in dem einzigen Armstuhl niedergelassen hatte, der in seiner Küche stand, schürte Optimus das Feuer, um Tee zu machen. Er hatte seinen anfänglichen Arger über die Störung verwunden und wartete nun voll Neugier darauf, was Mrs. Treebie ihm berichten würde. »Jan King war ’n Cousin von mir«, begann sie. »Älter als ich natürlich, und viel miteinander zu tun hatten wir auch nicht, aber ich weiß trotzdem ’n paar Sachen von ihm, ist ja klar. Und ich weiß auch, Sie interessieren sich so schrecklich für Grace Pensilva. Ist ja alles schön und gut, aber ich kann’s nicht zulassen, daß Sie das vielleicht einseitig sehen. Jan King hätte von sich aus nie mehr angefangen mit der Schmuggelei, Grace hat ihn rumgekriegt, die hat solange auf ihn eingeredet, bis er’s doch wieder gemacht hat. Die hat ihn eingewickelt, bis er geglaubt hat, daß er ihr trauen kann. Die war ’n Kuckucksei, wie Efeu an ’nem großen Baum, erstickt hat sie ihn.« »Wissen Sie noch, was bei der Jagd geschah? Wissen Sie, wie es ausging?« fragte Optimus, der zum Kern der Sache kommen wollte. »Da war ich noch ’n ganz kleines Mädchen. War alles ’n bißchen komisch für mich, aber wenn ich jetzt so zurückdenke, versteh’ ich’s natürlich besser. Als Jan in Gefahr war, hat sie ihm geholfen, aber nicht, was er gedacht hat, nicht weil sie sich was aus ihm gemacht hat, nein, wegen was anderem, aber das hat sie ihm nicht gesagt. Katz und Maus hat sie gespielt mit Jan, genauso wie mit Scully vom Zoll, und mit dem Gutsherrn hat sie’s auch versucht, aber das war nicht so einfach, und sie hat ’n Denkzettel dafür gekriegt, hat mir wenigstens Janet Coyte gesagt, bevor sie weg ist von Harberscombe, und ich will’s hoffen, wegen Jan, Ich will’s hoffen, daß Gott sie gestraft hat. -181-
Sie war ganz frei und ungebunden und alles, bis sie was mit Frederick Genteel angefangen hat, und sie hat gedacht, den kann sie genauso an der Nase rumführen wie die anderen, aber wir sind eben nicht aus Stein, nicht mal Grace Pensilva war das. Als er plötzlich weg ist von Leet, ist sie ihm nach bis nach Malta. Sie konnte ja auch nicht mehr nach Harberscombe zurück, wir hätten sie zuviel gefragt wegen Jan, und was hätte sie darauf sagen können? Ich hab’ mir oft überlegt, wieviel sie gewußt hat von Frederick Genteel, bevor sie weg ist, aber sie war verliebt in ihn, das ist sicher. Ich hab’ sie mal abends mit ihm im Park von Leet Spazierengehen sehen, während sie bei Jan King gewohnt hat. Fragen Sie Charles Barker, der kann Ihnen auch sagen, daß Grace Pensilva falsch war.« »Aber vielleicht hatte sie doch einen Grund? Wie war das denn mit Frank Pensilva?« »Ach, der... Der war kein Engel, nein, wirklich nicht. Wenn sie’s bloß gewußt hätte, aber sie hat ihn ja direkt vergöttert, die anderen Mädchen in Harberscombe, die haben ihn besser gekannt als sie. Nein, nein, die Pensilvas waren beide gleich – falsch, falsch, falsch. Als Grace oben auf den Klippen auf einmal ihr Herz für den alten Fuchs entdeckt hat, da hat sie bloß so getan, genauso wie bei dem armen Jan. Sie hat ihn gerettet, ja, aber nur, damit sie ihn besser quälen konnte. Die war hart, sag’ ich Ihnen, oh, was war die hart!« Mrs. Treebie griff nach ihrer Tasche und rückte ihren Hut zurecht; es war offenkundig, daß sie sich verabschieden wollte. »Grace war auch schuld daran, daß Jack Lugger drüben beim Doktor auf ’in Tisch gelegen hat und fast verblutet ist. Das hat Ihnen Dr. Cornish sicher erzählt, oder? Nein, hat er wohl nicht, das wollte er nicht an ihr sehen, aber da war er nicht der einzige, das wollten viele Männer nicht sehen. Oh, ich könnte Ihnen noch ’ne Menge von Grace Pensilva erzählen, aber ich muß jetzt gehen. Pastor Lackland wartet sicher schon aufs Abendbrot. Ja, so ist das als Dienstbote, nie hat man ’n eigenes Leben, aber das hat der liebe -182-
Gott eben so gewollt, und deswegen muß man’s ertragen.« Sie hielt inne, einen Fuß schon auf der Schwelle. »Und Mrs. Lackland verraten Sie bitte kein Wort. Ich will nicht, daß sie sagt, ich klatsche. Ich bin bloß gekommen, damit Sie das nicht alles verkehrt sehen. Nicht, daß ich was gegen Mrs. Lackland habe, sie zahlt mir immer pünktlich mein Geld. Aber das wissen Sie sicher schon, und ich glaube, Sie wissen sie mehr zu schätzen als ihr Mann. Kommen Sie uns doch mal wieder besuchen.« Mit einem breiten Zwinkern eilte Mrs. Treebie davon, und Optimus war allein mit dem Teekessel, der bis dahin vergessen über dem Feuer gesummt hatte. Er nahm ihn vom Kamineinsatz und kehrte an sein Stehpult im oberen Stockwerk zurück, doch er hatte den Faden verloren, oder, genauer gesagt, Mrs. Treebie hatte ihn zerrissen. Ihr Geschwätz hatte das, was er für sicherlich wahr gehalten hatte, wieder ins Wanken gebracht. Er hatte seine Feder bereits in die Tinte getaucht, legte sie aber wieder aus der Hand und starrte auf das weiße Papier. Grace Pensilva blickte ihm mit ihren grauen Augen entgegen, so wie sie damals Jan King angesehen hatte. Neben ihr, mit rundem Kindergesicht und dennoch erkennbar, stand das kleine Mädchen, das jetzt Mrs. Treebie war. Sie sah scheu und ängstlich zu Grace auf. Alle anderen auf der Klippe schienen plötzlich zu Eis erstarrt. Optimus mochte es versuchen, wie er wollte, er konnte sie nicht wieder in Bewegung setzen. Seufzend ordnete er die Bögen, die er beschrieben hatte. Morgen abend würde er wieder daran arbeiten, und wenn er dieses Kapitel fertig hatte, würde er nach Schloß Leet gehen und Charles Barker aufsuchen. Nachdenklich stand er da, und der Tag verdämmerte allmählich. Er klappte den Deckel seines Stehpultes auf und legte die Blätter hinein. Das goldene Medaillon blinkte ihm entgegen. Er holte es heraus und trug es nach unten und spielte im Licht des Feuers damit. Die Seite mit Graces Bildnis ging sofort auf, und er warf ein paar Zweige auf -183-
die Glut, damit die Flamme höher wuchs und er es besser betrachten konnte. Doch dann, als er es ins Licht drehte, mußte er unbewußt einen neuen Mechanismus betätigt haben, denn die andere Seite, die er für unbeweglich gehalten hatte, sprang mit kaum hörbarem Klicken auf. Wieder blickte ihm ein Gesicht entgegen, ein Männergesicht diesmal, und eine Locke, so klein, daß er sie fast nicht sah im flackernden Feuerschein, fiel heraus. Mit Daumen und Zeigefinger hob er sie behutsam auf. Obwohl verblichen, hatte die Locke noch eine Spur des kräftigen, rötlichen Brauns, das die Haare des Mannes auf dem Bild aufwiesen. Optimus wußte, daß er Frederick Genteel vor sich hatte. Seine Züge waren so, wie er sie sich vorgestellt hatte: Entschlossen, klar und ebenmäßig. In den Augen lag ein belustigter, fast schrulliger Ausdruck. Diesen Mann, dachte Optimus, hätte er sicher gemocht. War es nicht verständlich, daß Grace Pensilva sich in ihn verliebt hatte? Verliebt? War das das richtige Wort? Vieles war zweifelhaft, fraglich an ihrer Beziehung, und Optimus wußte, daß er gerade erst die Oberfläche davon wahrgenommen hatte. »Laß ihn laufen«, fuhr Grace Pensilva ruhig fort. »Sieh ihn dir an. Ist es ihm nicht schon übel genug ergangen? Und hat er dir nicht etwas geboten? Gib ihm eine Chance, er hat es verdient. Du hast ihn bis zum Ende verfolgt, jetzt laß ihn frei.« Jan King hielt den Fuchs immer noch über den Hunden, die ihn kläffend umdrängten. Warum, so fragte er sich, sollte er ihr gehorchen? Was hatte sie getan, um ihn sich zu verpflichten? Nichts. Er selbst wollte den Fuchs nicht unbedingt töten. Grace hatte recht, der alte Reineke hatte ihm etwas geboten, er hatte allen etwas geboten. Welchen Sinn hatte es also, ihn zu töten? Aber Grace forderte ihn auf, der ganzen Jagdgesellschaft -184-
vorzuenthalten, was ihr zustand. Würden ihm die Leute das je verzeihen? Frederick Genteel, der zufällig neben Grace stand, empfand unwillkürlich Bewunderung für das Mädchen. Er hatte von Anfang an gewußt, wer sie war. Als seine Schwester ihr vor dem Gasthof »Trafalgar« mit der Reitpeitsche gedroht hatte, hatte er sie sofort erkannt: Es war die junge Frau, die er, hinter den Eiben verborgen, am Grab beobachtet hatte. Irgend etwas in seinem Inneren sagte ihm, daß er sich vor ihr in acht nehmen müsse, doch gleichzeitig nahm ihn ihr Widerspruchsgeist für sie ein. Nun stellte sie alle Konventionen der Jagd in Frage. Der Fuchs mußte sterben, das wußte jedermann. Aber sie schien den Groll, den sie mit ihrem Einschreiten weckte, gar nicht zu bemerken, ebensowenig wie den Regen, der jetzt in Strömen niederging und über ihr unbewegtes Gesicht zu rinnen begann. »Halt den Mund, Mädchen!« fauchte Nancy Genteel, die Hand um den Hirschhorngriff ihrer Reitpeitsche gekrampft. »Gib den Hunden, was ihnen zusteht.« Grace Pensilva ging nicht darauf ein. Sie schien die herrische, gehässige Stimme nicht einmal zu hören. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich in dem starren Blick, mit dem sie Jan King in die Augen sah, mit dem sie versuchte, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Der Kampf dauerte schon zu lange; sie fürchtete, ihre Kräfte könnten erlahmen. Wenn Jans eigener Wille wieder stärker würde, würde er ihr Trotz bieten wollen und sich dem Willen der Jagdgesellschaft beugen. »Genug«, sagte eine müde Stimme neben ihr. »Es ist genug. Das Mädchen hat recht, der Fuchs hat uns etwas geboten. Laß ihn laufen, junger Mann, wir müssen ihn nicht töten.« Jan Kings Augen wanderten zu dem Sprecher, Frederick Genteel, dessen regenüberströmtes Gesicht den gewohnten freundlichen Ausdruck verloren hatte und Besorgnis zeigte. Hätte die Stimme -185-
des Gutsherrn auch nur ein wenig gebieterischer geklungen, so hätte Jan King unwillkürlich Widerstand geleistet, den Widerstand des freigeborenen, unabhängigen Fischers, doch Frederick Genteel besaß trotz oder vielleicht auch wegen seines hohen Standes, des Reichtums seiner Familie und des übertriebenen Respekts, der ihm überall entgegengebracht wurde, außergewöhnliches Feingefühl. Als Jan den Eingang zum Bau freigab und den Fuchs hineinfallen ließ, murrten die Zuschauer enttäuscht, aber es war nicht mehr zu ändern. Der Fuchs hatte sich nicht damit aufgehalten, sich bei seinen Wohltätern zu bedanken, sondern war kurzerhand in den Bau geschlüpft; betrübt schnupperten die Hunde am Eingang. Harry Baskerville dagegen war insgeheim zufrieden; er hatte bereits drei seiner besten Hunde verloren und fürchtete, das regennasse Gras könne noch mehr Opfer fordern, wenn sie noch länger blieben. Er setzte sein Horn an die Lippen und blies zum Sammeln; die Hunde drehten um und begannen schwerfällig, den Abhang hinaufzuklettern. Es war keinen Moment zu früh, immer wieder glitten sie auf dem von Tropfen glitzernden Gras aus. Grace Pensilva wandte sich Frederick Genteel zu, der gerade den Kragen seines Jagdrockes hochschlug. »Vielen Dank«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern. Der Gutsherr nickte knapp und ging dann gemessenen Schrittes auf sein Pferd zu. Für die anderen war es das Zeichen zum Aufbruch; nach und nach verließen sie das Kliff. »Verdammter Spielverderber«, sagte Mrs. Coyte, aber nicht so laut, daß der Gutsherr es hören konnte. Die Hunde kämpften sich den Abhang hinauf; Harry Baskerville und seine Piköre halfen ihnen. Schon begannen die Reiter davonzutraben, den Rücken gebeugt und die Schultern hochgezogen gegen den Regen und den auffrischenden Wind. Der Rand des Kliffs war fast leer, nur Grace Pensilva blieb wie traumverloren stehen. Die Böen zerrten an ihrem Rock und der -186-
Regen prasselte auf sie nieder. Es war, als suchte sie draußen auf dem Meer etwas. War es der Franzose? Oder hielt sie Ausschau nach ihrem Bruder? Jetzt war niemand mehr da, der sie beobachten oder sich über sie wundern konnte, die ganze Jagdgesellschaft eilte über den Hang davon. Der einzige Mensch, der sie hätte sehen können, war mit anderen Dingen beschäftigt. Jan King versuchte verzweifelt, die kurze Strecke schlüpfrigen Grases zu überwinden, die ihn vom Rand des Kliffs trennte. Zwei Drittel des Wegs hatte er im Sturmlauf bewältigt, dann aber den Schwung verloren, und nun glitt er auf allen vieren abwärts und bemühte sich vergebens, mit seinen steifen Fingern und seinen Nagelstiefeln irgendwo Halt zu finden. Als Grace aus ihrem Traum erwachte und ihn bemerkte, wußte sie nicht, wie lange er sich schon plagte. Ihr Dämmerzustand mochte ein paar Minuten gedauert haben, vielleicht auch nur ein paar Sekunden. Sie sah, daß Jan, wäre er am Eingang des Baus geblieben, festen Stand gehabt hätte; doch er hatte gefroren im kalten Regen, der durch seinen abgetragenen Pullover drang, und es hatte nichts darauf hingedeutet, daß der Guß bald aufhören würde. Also hatte Jan versucht, hinaufzuklettern, und nun trennte ihn nur jener grasbewachsene Abhang, ein paar Ginsterstecken und Farnstämme von dem sicheren Ende. Grace betrachtete ihn mit der leidenschaftslosen Neugier eines kleinen Kinds, das beobachtet, wie eine Spinne versucht, aus einem gläsernen Gefäß zu klettern. Sie wußte, das Tier würde eine bestimmte Höhe erreichen und dann wieder abrutschen. Doch sie beobachtete keine Spinne, sie beobachtete einen Menschen. Und sie beobachtete nicht irgendeinen Menschen, sondern einen, dessen Leben von besonderer Bedeutung für sie war, dessen Schicksal in ihrer Hand liegen sollte. Trotzdem wurde sie sich der Gefahr, in der er schwebte, erst vollends bewußt, als er wieder Anlauf nahm, um nach oben zu gelangen. -187-
Er verfehlte sein Ziel nur knapp und kam bis auf Armeslänge an die Stelle heran, wo sich der Fuchs versteckt hatte. Da verlor er durch eine unbedachte Bewegung den Halt und glitt den Abhang hinunter, und es schien, als könne ihn nichts mehr vor dem Sturz in die Tiefe bewahren. Ein morscher Ginsterstecken fing ihn ab. Er griff mit fliegenden Fingern danach und lag, am ganzen Leib zitternd, auf dem Boden. Der Ginster konnte allein durch sein Zittern brechen, und dann würde er die letzten Meter zum Steilabfall hinunterrollen und... Langsam, langsam hob er den Kopf und blickte nach oben, wagte nicht zu hoffen, daß noch jemand dort war, der ihm würde helfen können. In Graces Augen zeigte sich kein besonderes Mitgefühl; für den Fuchs hatte sie mehr an den Tag gelegt. Sie betrachtete Jan, so schien es ihm, endlos lange, ohne ein Wort zu sagen, und wandte sich dann einen Moment von ihm ab. Was dachte sie? Mit grauenhafter Klarheit erkannte er plötzlich, daß der einzige Mensch, der von seiner Not wußte, die Frau war, die meinte, sie habe Grund, ihn auf immer zu hassen. Welch Genugtuung mußte es für sie sein, seine vergeblichen Bemühungen zu beobachten, sein ohnmächtiges Zittern. Sie würde dort reglos stehenbleiben, mit jenem seltsamen Ausdruck im Gesicht, der vielleicht ein Lächeln war, bis der Ginster krachte und er im Nichts verschwand. Er öffnete den Mund, um sie zu rufen, sie um Hilfe anzuflehen, doch es kam kein Ton heraus. Der Wind zerrte an ihm, und hinter sich, in der Tiefe zwischen den Felsen, auf denen die Hunde verendet waren, hörte er das Meer. Warum sagte er nichts? Was war mit ihm? Traute er sich nicht? Grace beobachtete, wie seine Lippen zuckten. Jan war fast am Ende seiner Kraft. Konnte man ihn trotzdem noch retten? Sie sah sich um: Die ganze Jagdgesellschaft bewegte sich bergan, Hackworthy Barton und ihren warmen Hütten in Harberscombe entgegen. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, und der Regen peitschte ihnen den Rücken. Selbst wenn Grace -188-
schrie, würden sie sie nicht hören. »Hilfe!« Dieses eine Wort drang heiser zu ihr herauf. Sie drehte sich um und rannte; sie rannte wie besessen, glitt aus auf dem nassen Boden, schrie, so laut sie konnte, schrie, bis sich erst einer, dann zwei und dann drei nach ihr umdrehten. Doch damit war es noch nicht getan, sie mußte die Leute erreichen, ihnen atemlos klarmachen, daß sie rasch umkehren, ein Seil holen oder eine Menschenkette bilden und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen sollten; sie mußte ihren verständnislosen Gesichtern erklären, daß sie dem Mann helfen sollten, der gerade ihr Mißfallen auf sich gezogen hatte. Und all die Zeit hatte sie vor Augen, was sie vorfinden würde, wenn sie mit der Rettungsmannschaft zurückkehrte: Der Abhang leer, der Ginster zerbrochen und zwischen den Felsen eine winzige, reglose, verdrehte Gestalt. »Kommen Sie zurück, Mr. Wroth!« flehte sie. »Komm zurück, Ronald! Kommt alle zurück und helft Jan King, er ist in schrecklicher Gefahr!« Als Optimus bei der Brücke angelangt war, die in der Nähe von Schloß Leet über den Arun führte, neigte sich der Tag seinem Ende zu, und das flache Tal war von einem eigentümlichen goldenen Licht erfüllt. Der kleine Fluß plätscherte über rötliche Kiesel dahin. Am anderen Ufer befand sich eine Wiese mit schönem Baumbestand, scheinbar wild gewachsen, aber in Wirklichkeit von einem Landschaftsgärtner des vorigen Jahrhunderts sorgfältig angelegt. Sacht stieg sie an, bis durch das Blattwerk Teile des alten Schlosses sichtbar wurden: hier ein Turm, da ein hohes Fenster, dort ein langes Zinnendach. Ein gewundener Weg führte vom Pförtnerhaus jenseits der Brücke durch den Park zu der monumentalen Terrasse, auf der sich der Bau erhob. Auf der Wiese grasten ein paar Schafe; das Schloß selbst wirkte abweisend, leblos, graue -189-
Fenster in grauen Mauern, von starken Schatten verdüstert. Dies war der Ort, den Dr. Cornish ihm beschrieben haue, kein Zweifel. Hundert Yard flußabwärts endete der tiefe Priel, den die steigende Flut stets anfüllte. Optimus beschloß, die Umgebung genau zu erkunden. So still war alles, daß er sich kaum vorstellen konnte, wie hier je eine Gewalttat hatte verübt werden können. Er wich vor der Brücke vom Weg ab und ging am grasigen Ufer entlang. »Wissen Sie nicht, daß Sie unbefugt Privatgrund betreten? Kehren Sie um! Aber sofort!« Verwirrt drehte sich Optimus in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihm war unbehaglich. Er hatte unbefugt Privatgrund betreten, soviel war sicher. Doch sein Unbehagen steigerte sich noch, als er den Sprecher sah: Auf der Wiese war eine untersetzte, ziemlich ungepflegte Gestalt hinter einem Baum hervorgetreten und richtete nun ein Gewehr auf ihn. Es war eine Vogelflinte, deren Lauf im Zwielicht schimmerte und das Gesicht des Mannes, der ihn anvisierte, halb verdeckte. Wer immer es war, er sah so aus, als verstünde er sich darauf, von der Waffe Gebrauch zu machen; Optimus hielt ihn für einen alten Wildhüter. Dennoch wollte er nicht so rasch klein beigeben. »Ich bin Optimus Shute, der Schulmeister von Branscombe, und ich möchte die Herrin des Hauses sprechen«, behauptete er und bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Das war nicht ganz wahr, aber es war eine gute Ausrede; der Wildhüter würde sich kaum trauen, ihn am Gespräch mit der Herrin des Hauses zu hindern. »So, so, Sie möchten Ihre Ladyschaft sprechen.« Irgend etwas an der Redeweise des Mannes ließ Optimus argwöhnen, daß er doch kein gewöhnlicher Wildhüter sei. »Nun, da muß ich Sie enttäuschen; sie wird Sie nicht empfangen. Nancy Genteel hat seit zwanzig Jahren keinen Menschen gesehen, oder vielmehr, kein Mensch hatte die Ehre, sie zu sehen, eine einzige Person ausgenommen.« -190-
Während er sprach, hatte der Mann die Flinte gesenkt. Aber bedrohlich wirkte er nach wie vor, und Optimus dachte, es sei das Klügste, so bald wie möglich das Feld zu räumen. »Wenn ich Ihre Ladyschaft nicht sehen kann, gehe ich wohl am besten wieder nach Hause«, verkündete er und machte Anstalten umzukehren. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« Der Mann zielte plötzlich wieder auf ihn. »Sagen Sie mir, was Sie von Ihrer Ladyschaft wollen.« »Das ist streng vertraulich.« »Nun, junger Mann, dann will ich Ihnen was sagen: Ich glaube Ihnen nicht. Und wissen Sie, warum nicht? Wenn Sie wirklich vorgehabt hätten, Nancy Genteel zu besuchen, wären Sie nicht auf dieser Seite des Flusses, oder? Nein, Sie fuhren etwas anderes im Schilde. Heraus damit!« Optimus konnte nicht bestreiten, daß der Mann recht hatte. Wenn er wirklich vorgehabt hätte, zum Schloß zu gehen, hätte er die Brücke überquert, wäre durch das Tor neben dem Pförtnerhaus geschritten und über den gewundenen Weg durch den Park gelaufen. Doch es war ja nicht seine Absicht gewesen, Nancy Genteel aufzusuchen; er hatte gehofft, vielleicht Charles Barker anzutreffen, aber das wollte er diesem seltsamen Kerl nicht verraten. Soviel er gehört hatte, hatte der alte Gutsverwalter nicht mehr viel Einfluß und war in Ungnade gefallen. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin Historiker aus Liebhaberei; ich wollte den Ort sehen, an dem sich vor einiger Zeit ein gewisser Vorfall zugetragen hat.« »Ein gewisser Vorfall?« »Ja. Mein Freund Dr. Cornish hat mir von etwas berichtet, das hier vor langen Jahren geschah, als Jack Lugger...« Der Mann fiel ihm ins Wort. »Sie sind ein Freund von Dr. Cornish?« fragte er und ließ die Flinte sinken. »Warum haben -191-
Sie das nicht gleich gesagt?« »Sie haben mich nicht gefragt«, erwiderte Optimus, erleichtert lächelnd. »Und wer sind Sie? Sie haben mir einen schönen Schreck eingejagt mit Ihrer Flinte; so etwas erlebe ich nicht alle Tage.« »Ich bin Charles Barker, zu Ihren Diensten«, antwortete der Mann und tippte ein wenig schelmisch gegen seine Mütze. »Aber sagen Sie mir eins, warum haben Sie Interesse an Jack Lugger? Meiner Meinung nach ist er das gar nicht wert. Jack Lugger war ein Windbeutel, nichts weiter. Das Einvernehmen darüber ist allgemein.« Während er sprach, näherte sich Charles Barker dem Ufer, so daß sich die beiden Männer über den schmalen Wasserlauf hinweg unterhalten konnten. Optimus fielen die abgetragenen, etwas altmodischen Kleider und die advokatenhafte Ausdrucksweise des Gutsverwalters auf. »Aber er wurde doch hier niedergeschossen, an der tiefen Stelle im Fluß, nicht wahr?« »Wer hat Ihnen das gesagt? Dr. Cornish? Merkwürdig, er neigt gewöhnlich nicht zu Ungenauigkeiten. Nein, junger Mann, Jack Lugger wurde nicht hier niedergeschossen, sondern ein Stück weiter, an der Straße nach Uglington. Die Leute vom Küstenschutz trafen erst spät aus Plymouth ein und konnten nur noch die Nachhut der Bagage stellen. Aber wenn Sie wollen, besichtigen wir das Ende des Priels. Es gibt dort wirklich nichts, was an Pulverdampf und Blut erinnert.« Die beiden Männer spazierten an den verschiedenen Ufern des Arun ein Stück flußabwärts. Optimus stand im Schatten der Bäume, die dort wuchsen, und betrachtete das stille Wasser, das dann und wann von einem Fisch bewegt wurde, der an die Oberfläche stieg, um nach einer Fliege zu schnappen. Der Fluß schlängelte sich durch die Wiesen der See entgegen, von Riedgras und Weiden gesäumt, und verschwand hinter einer -192-
waldigen Anhöhe nahe dem Mündungstrichter. Die Strömung war sacht, es schien Ebbe zu sein. Dr. Cornish hatte Optimus erklärt, die Flut erreiche diesen Punkt, bis zu dem der Arun für größere Fahrzeuge schiffbar sei, immer nur kurze Zeit, zweimal am Tag für ein paar Minuten. Optimus stellte sich vor, wie das Hochwasser fast unmerklich stieg, mit einer Krause von Meerschaum überzogen. Er stellte sich vor, wie die Männer mit ihren Ponys zwischen den Bäumen warteten. Er hörte den leisen Ruderschlag hinter den Weiden. Er sah, wie der dunkle Rumpf des Boots um die Flußbiegung kam, sah die einsame Gestalt, die hochaufgerichtet darin stand, sah, wie der Bug gegen die Kiesel am Ufer scharrte. »Aber hier wurde doch die Schmuggelware ausgeladen, nicht wahr?« fragte Optimus. »Ab und zu«, sagte Charles Barker. »Hier konnte man sich gut mit den Abnehmern treffen, die vom Dartmoor kamen.« »Und welche Rolle spielte Jack Lugger dabei?« »Oh, er war eine Art Mittelsmann, von sich aus hätte er nie etwas unternommen. Diese Frau steckte dahinter, ohne sie hätten die Männer nicht angefangen.« »Diese Frau?« »Sie dürften wissen, wen ich meine; wenn Sie von Jack Lugger gehört haben, müssen Sie auch von Grace Pensilva gehört haben.« »Grace Pensilva? Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen.« »Grace Pensilva, die so unschuldig aussah, als könne sie kein Wässerchen trüben, war die Ursache all unseres Unglücks. Sie müssen hier neu sein, wenn Sie von Grace Pensilva noch nichts gehört haben. Doch hier läßt sich nicht besonders gut reden, es wird schon kühl.« Charles Barker blickte über seine Schulter hinweg auf Schloß Leet, als fürchte er, beobachtet zu werden. »Kommen Sie mit ins Pförtnerhaus und trinken Sie am Kamin -193-
ein Glas Grog mit mir. Wer ein Freund von Dr. Cornish ist, ist auch mein Freund.« Optimus folgte ihm bereitwillig, wobei er den längeren Weg über die Brücke nahm. Als er beim Pförtnerhaus eintraf, hängte Charles Barker gerade seine Flinte an einen Haken im Flur. »Treten Sie ein, treten Sie ein und übersehen Sie gütigerweise die Unordnung, darauf müssen Sie bei einem alten Junggesellen gefaßt sein, Wir haben alle schon bessere Zeiten gesehen. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, daß sie mich noch nicht hinausgeworfen hat, aber sie braucht eben jemanden, der ihr die Buchhaltung macht, ihr teurer Ronald hat sich nie damit befaßt, der hatte immer andere Sachen im Kopf.« Optimus merkte, daß Charles Barker jetzt wieder von Nancy Genteel sprach, und der Ronald, den er erwähnte, mußte wohl der junge Coyte sein. Er ließ sich auf der Sitzbank vor dem bescheiden flackernden Feuer nieder und betrachtete die Umgebung. Der Raum machte einen verwahrlosten Eindruck, rußgeschwärzte Spinnweben hingen in den Zimmerecken. »Oh, ich weiß, was Sie denken!« rief Charles Barker. »Warum hat der alte Kauz kein Dienstmädchen, er kann sich doch sicher eins leisten? Nun, ich will Ihnen was sagen, seit der Gutsherr so plötzlich fortgegangen ist und den Besitz seiner Schwester Nancy und ihrem Ronald überlassen hat, hängt mein Herz nicht mehr daran. Am Anfang habe ich noch davon geträumt, er werde bald zurückkommen und alles wieder in Ordnung bringen, doch inzwischen bin ich eines Besseren belehrt.« »Sie meinen Frederick Genteel«, sagte Optimus. »Ich habe von ihm gehört. Er ist vor langer Zeit fortgegangen, nicht wahr? Aber warum?« »Das hat er nie gesagt, nicht einmal mir, doch es war kurz nachdem Grace Pensilva sowohl Mr. Hawkins als auch Kapitän Scully zum Narren gehalten hatte, und daraus muß man wohl -194-
bestimmte Schlüsse ziehen. Ich weiß, Hawkins hatte Frederick in Verdacht; jemand mußte ihr einen Wink gegeben haben. Aber es war schlimm, mit anzusehen, wie kreuzfidel seine Schwester war, als feststand, daß er gehen würde.« »Dann kannte Gutsherr Genteel also Grace Pensilva?« »Besser, als gut für ihn war; sie hatte ihn verzaubert. Die beiden gingen durch den Park spazieren; ich bin öfter als einmal auf sie gestoßen, da saßen sie auf einem Baumstamm und redeten miteinander. Frederick sagte mir, sie sprachen über Poesie, Wordsworth zum Beispiel; er sagte, es sei ein Wunder, daß ein Mädchen aus so bescheidenen Verhältnissen ein solches Empfindungsvermögen haben könne.« »Glauben Sie, daß die beiden...« »Ein Liebespaar waren?« ergänzte Charles Barker. »Nicht in dem Sinne, in dem Sie es meinen, nicht solange ich sie zusammen erlebt habe. Doch der arme Frederick war hingerissen von ihr. Er war ihr kaum bei dieser Jagd begegnet, da ritt er schon zur Langstone-Mühle, angeblich, weil er von Bauer Coyte die Pacht eintreiben wollte, aber in Wirklichkeit wollte er sie sehen. Es war ein seltsames Band, das die beiden verknüpfte. Er nannte es ›Seelenverwandtschaft‹. Abends ging er immer zum Angeln, das war der Vorwand, den er für seine heimlichen Begegnungen mit ihr wählte. Ich kann nicht behaupten, daß ich Grace damals nicht gemocht oder ihr mißtraut hätte. Sie war temperamentvoll, ja, und die meisten Männer fallen darauf herein. Doch die temperamentvollen Wesen haben kein sehr ausgeprägtes Gewissen, nicht wahr?« »Grace Pensilva hatte also kein Gewissen?« »Oh, so würde ich das nicht sehen, jedenfalls nicht, was Frederick Genteel betraf. Jan King dagegen... den hat sie verhöhnt mit ihrer Verbindung zu Frederick, sie hat damit geprahlt, sie hat ihn rasend gemacht. Sie hat Jan King benutzt, und als er seine Schuldigkeit getan hatte, hat sie ihn aus dem -195-
Weg geräumt – zumindest glaubt das hier jedermann.« »Sie auch?« »Es gibt keine eindeutigen Beweise. Keine Leiche, nur Indizien, sie verschwanden beide eines Tages, ihr Boot wurde vor der Küste gefunden, und danach war Jan King verschollen. Es gab auch mehr als einen Grund...« »Geld?« »Auch das, erhebliche Mengen sogar, wie die Leute sagen. Aber es lag an etwas anderem.« Optimus hob fragend die Augenbrauen. »An ihrem Bruder, ihrem Bruder Frank. Er wurde verraten, müssen Sie wissen, und Grace glaubte, Jan King habe dabei die Hand im Spiel gehabt.« »Aber kam sie nicht zu ihm, lebte sie nicht mit ihm zusammen, waren sie nicht Partner?« »Ach, das wissen Sie schon? Nun, damals schien es durchaus einleuchtend. Jan King hatte einen Narren an ihr gefressen, immer schon, und sie hatte Zeit zum Nachdenken gehabt und war vielleicht doch zu der Einsicht gelangt, daß sie sich in Jan geirrt hatte. Sie dürfen, was Grace Pensilva betrifft, von niemandem allzuviel Logik erwarten, sie war die Art Frau, die... die selbst einen sturen Advokaten betören konnte.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie...« »O nein«, lachte Charles Barker, »so weit ging es nicht bei mir. Und sie hatte auch nie etwas mit mir im Sinn. Ich nehme an, Frauen mögen Männer der Tat, keine trockenen Buchhalter. Das würde auch erklären, warum sie Frederick nach Malta gefolgt ist.« »War sie in ihn verliebt?« »Ich bin sicher, es sei denn, sie war noch mehr Schauspielerin, als ich dachte. Doch, sie verliebte sich in ihn, vielleicht nicht hier, aber später, als sie beide auf Malta waren. Er schrieb mir dann und wann und erwähnte es am Rande.« -196-
»So wie Sie es schildern, war es eine einseitige Affäre; er hatte kein wirkliches Interesse an ihr.« »Das kann man nicht sagen. Er war bezaubert von ihr, aber ich weiß nicht, ob von seiner Seite auch Leidenschaft da war. Später, auf Malta, brachte sie ihn in eine peinliche Lage – zumindest habe ich das aus den Briefen herausgelesen.« »Dürfte ich sie wohl einmal sehen? Haben Sie die Briefe noch?« »Sie sind wahrhaftig der neugierigste junge Mann, der mir je untergekommen ist. Selbst wenn ich die Briefe noch hätte, wäre es heute zu spät, sie zu suchen. Und außerdem sind Briefe etwas Privates, Vertrauliches, nicht wahr? Ich werde es mir gründlich überlegen. Für jemanden, der bloß die Stelle sehen wollte, an der Jack Lugger niedergeschossen wurde, sind Sie recht weit gegangen. Bevor ich mehr sage, muß ich wissen, worauf sich Ihr Interesse eigentlich richtet.« »Ich will ganz ehrlich sein: auf Grace Pensilva. Ihr Freund Dr. Cornish hat mich darauf gebracht, ich wollte ursprünglich gar nichts mit der Sache zu tun haben. Doch jetzt stecke ich bis über beide Ohren darin.« »Nun gut, aber für einen Abend reicht es. Trinken Sie Ihren Grog und lassen Sie uns das Thema wechseln.« »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas von Malta erzählen. Dr. Cornish sagte...« »Dr. Cornish ist ein alter Wichtigtuer. Er weiß genau, daß ich Malta weder kenne noch etwas davon wissen will. Malta weckt nur schwarze Gedanken in mir, es hat Frederick nichts als Unheil gebracht. Nein, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.« »Aber die Briefe... Sie sagten doch vorhin selbst, daß einiges darinstand. Und haben Sie nicht vielleicht eine Benachrichtigung erhalten, als Frederick...« -197-
»Hören Sie, ich mag mich nicht aushorchen lassen. Was immer Ihre Gründe für diese Erkundigungen sein mögen – und vielleicht sind sie nur vorgeschoben, vielleicht suchen Sie in Wirklichkeit den Schatz –, es handelt sich hier um Privatangelegenheiten. Und nun lassen Sie uns endlich das Thema wechseln.« »Nur noch eine letzte Frage«, bat Optimus. »Gut, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, daß ich sie beantworte.« »Wie kam es, daß Grace Pensilva die Langstone-Mühle verließ und zu Jan King zog?« »Hm, das können Ihnen viele Leute erzählen. Zum Krach kam es nach dem Erntefest bei Eric Wroth, und dieser verwünschte Ronald Coyte spielte eine Rolle dabei. Manchmal glaube ich, sie hatte ihn dazu angestiftet.« »Sie?« »Nancy Genteel. Aber da schwatze ich schon wieder. Trinken Sie aus, junger Mann, es ist spät, und Sie müßten schon zu Bett sein. Ich übrigens auch. Aber besuchen Sie mich wieder, wenn Sie mögen.« »Wer war denn das Mädchen, das sich so für den Fuchs eingesetzt hat?« fragte Frederick und bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen. »Ihr Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, wer sie ist. Du dagegen weißt doch hier über alles Bescheid, Charles.« Frederick Genteel saß im Büro der Gutsverwaltung auf dem Schreibtisch und ließ die Beine baumeln. »Ich dachte, du kennst sie. Du hast sie so seltsam angesehen«, sagte Charles Barker, und Genteel betrachtete ihn voll Mißtrauen. War es so offenkundig, sah man so deutlich, daß ihn etwas mit dieser Frau verband? Er hoffte, Charles wollte ihn nur -198-
necken. »Eine beherzte junge Dame«, fuhr der Verwalter fort. »Sie heißt Grace. Ihr Bruder Frank stand ein wenig am Rande der Gesellschaft und ist vor nicht allzu langer Zeit bei einem Zusammenstoß mit dem Zoll ertrunken. Die Geschichte hat in der ganzen Grafschaft die Runde gemacht.« »Ach, ja?« Genteel stellte sich zerstreut und blätterte in den Rechnungen, die auf dem Tisch lagen, als suche er etwas. »Es geschah kurz vor deiner Rückkehr nach Leet. Sonst hättest du davon gehört. Der Mann hieß Pensilva und war Schmuggler. Nicht nur das, er hatte auch eine Menge verrückter Ideen im Ausland aufgelesen. Machte kein Hehl daraus, daß er gegen die Obrigkeit war, Mr. Hawkins war nicht der einzige, der aufgeatmet hat, als es Frank Pensilva erwischte.« »Und seine Schwester? Wie hieß sie noch? Grace?« »Ach ja, seine Schwester.« Charles Barker lächelte. »Unsere Grace hat in irdische Niederungen herabsteigen müssen, früher war sie Gesellschafterin bei Miss Delabole.« »Du meinst den alten Drachen in Shearanscombe, der all das Land weiter nördlich geerbt hat?« »Sie war kein alter Drache, da irrst du dich. Nur ein wenig menschenscheu. Darum hast du sie nie kennengelernt und Grace dort nie getroffen.« »Aber du hast sie kennengelernt.« »Oh, man lernt alle möglichen Leute kennen, das muß man ja, wenn man ständig unterwegs ist und Pachtschulden anmahnt, Wassernutzungsrechte vergibt, und so weiter, und so fort...« »Du weißt also, wo sie jetzt wohnt?« »Du bist hartnäckig, Freddie«, lachte Charles Barker, »du bist wirklich hartnäckig, das muß man dir lassen.« Absichtlich langsam öffnete er einen Briefumschlag und überflog das Schreiben darin. »Das wird dich interessieren«, murmelte er und schob das Kuvert über den Tisch. -199-
»Antworte auf meine Frage, du Winkeladvokat!« Frederick packte Barker beim Kragen und schüttelte ihn in gespieltem Zorn. »Hatte ich das nicht schon gesagt? Sie wohnt in der Langstone-Mühle.« »Wie bitte? Ist sie etwa mit diesem alten Geizhals verwandt, mit Coyte? Er ist wieder einmal mit der Pacht im Rückstand, nicht wahr?« »Coyte ist immer mit der Pacht im Rückstand, Freddie. Aber sie ist nicht mit ihm verwandt. Soviel ich weiß, ist sie ein Waisenkind. Sie hat kein schönes Leben dort, sie hätte was Besseres verdient, als Dienstmagd bei den Coytes zu sein. Die Leute sind niederträchtig und selbstgerecht. Das ist eine schlimme Mischung.« »Auf unseren Ländereien scheinen in hellen Haufen solche Pächter zu sitzen, Charles, lauter säumige Zahler. Wie kann man von uns erwarten, daß wir ihre Scheunen instandsetzen, Dämme für sie bauen und ihre Wiesen entwässern, wenn sie uns ständig die Pacht schuldig bleiben?« Er hob eine Handvoll Rechnungen vom Tisch auf. »Ich zahle bloß, zahle, zahle, zahle. Und es nimmt kein Ende.« »Die Leute merken eben, wenn mit einem Gut Mißwirtschaft getrieben wird«, sagte Barker und lehnte sich zurück. »Sie merken, wenn es nur ausgepreßt wird wie dieses hier, aus dem dein Vater noch den letzten Shilling herausholt. Wer kann es ihnen verdenken? Aber ich will dir was sagen, Freddie: Sie haben auch zur Kenntnis genommen, daß du wieder da bist, sie wissen, daß dir was an ihnen liegt.« »Schön und gut, aber der Alte kommt bald und verdirbt uns alles.« »Darum geht es in diesem Brief. Magst du ihn nicht lesen?« Genteel nahm den Brief zur Hand und überflog ihn. Ein breites Lächeln hellte sein gewöhnlich so ernstes Gesicht auf. -200-
»›Mein lieber Charles‹«, las er, »›es wird Sie betrüben zu erfahren, daß sich meine Gicht verschlimmert hat, weshalb ich mich genötigt sehe, meinen angekündigten Besuch zu verschieben.‹« Genteel schlug sich auf den Oberschenkel. »›Ich bitte Sie, Frederick und Nancy davon zu unterrichten, die zweifellos ebenso betrübt sein werden wie Sie. Obwohl ich bedaure, daß ich nicht auf dem Gut nach dem Rechten sehen kann, das, wie ich fürchte, durch den Übereifer meines Sohnes Schaden nehmen könnte, vertraue ich zuversichtlich darauf, daß ich auch künftig die karge Frucht ernten werde, die es trägt, und sehe gern der gewohnten Geldsendung entgegen, die, wenn irgend möglich, recht bald an mich auf den Weg gebracht werden soll. – Ihr bedürftiger Mayberry.‹ – Nun, der alte Knabe hat Humor.« »Das bedeutet, daß wir mehr Pacht eintreiben müssen.« »Keine Sorge, ich werde mein Teil dazu beitragen. Um einen Anfang zu machen, fordern wir beim alten Coyte ein, was er uns schuldet. Was mich so an ihm ärgert, ist, daß er nicht nur auf seine Ernte angewiesen ist wie die anderen. Er hat auch noch die Mühle, die ihm zusätzlich Gewinn bringt. Jeder Sack Korn aus Harberscombe wird dort gemahlen. Er tut immer so, als wäre er arm, und das ist eine Frechheit.« »Was sollen wir tun?« fragte der Verwalter und kaute an seiner Feder. »Ihm kündigen? Bald ist Quartalstag.« »Nein«, erwiderte Genteel und zog seine Weste straff, »ich werde hinüberreiten und ihn höchstpersönlich mahnen... Was gibt es da so albern zu grinsen, du Affe?« »Es könnte nicht noch einen anderen Grund geben, Freddie... eine gewisse Magd vielleicht...« »Ihr Advokaten seid alle gleich, ihr könnt es nicht glauben, daß jemand einfache, lautere Gründe für etwas hat«, murrte Frederick, aber immer noch lächelnd. »Ich versuche nur, Geld zu beschaffen, damit wir Vaters Unterhalt sichern können.« -201-
»Wie edel von dir, Frederick, wie uneigennützig!« Die beiden Männer wandten sich um. Nancy Genteel stand in der Tür, wie üblich in Reitkleidung. »Wir ordnen unsere Finanzen«, sagte Frederick ruhig. »Nun, dann kommt ja endlich Geld ins Haus. Du wirst doch auch an deine Schwester denken, nicht wahr? Ich verlange nicht viel, im Vergleich zu Vater verlange ich wirklich nicht viel. Nur ein paar Guineen für ein anständiges Vollblut. Ich habe es satt, immer mit zweitklassigen Sachen abgespeist zu werden. Nun sieh mich nicht so tadelnd an, verdammt noch mal. Es steht mir zu, und ich will es haben.« »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Genteel beschwichtigend. »Nein, du wirst nicht sehen, was du tun kannst!« fauchte Nancy. »Du wirst es tun! Sonst schreibe ich Vater, daß du ihm einen Teil seiner Einkünfte vorenthältst.« »Das geschieht nur zum Besten des Gutes.« »Soll das Gut doch der Teufel holen! Wir leben heute! Überleg dir’s. Aber nicht zu lange. Und jetzt mach dich auf den Weg und laß dir von Coyte geben, was er uns schuldet, Sag ihm, es sei für deine Schwester.« Sie wandte sich zum Gehen und fügte über die Schulter hinzu: »Und wenn du diesen Ronald siehst, bring heraus, warum er sich noch nicht hier gemeldet hat. Sie haben ihm doch gesagt, daß er kommen soll, Barker, oder nicht?« Ohne die Antwort des Verwalters abzuwarten, war sie aus der Tür, und gleich darauf hallte der Hof vom Hufschlag ihres Jagdpferdes wider. »Die wären wir los«, sagte Genteel müde. »Weiß Gott, ich versuche, sie wie eine Schwester zu behandeln, aber es ist nicht einfach. Was Ronald betrifft... bist du an ihn herangetreten?« »Ich hatte gehofft, sie würde es vergessen. Wir können es uns nicht leisten, ihn einzustellen.« -202-
»Nun, wie du siehst, hat sie es nicht vergessen. Es ist wohl das beste, Nancy ihren Willen zu lassen. Auseinandersetzungen mit ihr führen zu nichts.« »Die ist nach ihrem Vater geraten«, sagte Charles Barker und stand auf. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« »Da magst du recht haben«, erwiderte Genteel und erhob sich ebenfalls. »Ich frage mich nur, wo ich mich dann einordnen soll. Vielleicht bin ich mehr nach unserer Mutter geraten.« »Wer weiß?« murmelte Barker, während er begann, die Papiere auf dem Tisch zu ordnen. »Wenn sie noch leben würde, hätten die Dinge vielleicht eine andere Wendung genommen.« Genteel ging seufzend aus dem Büro. Soviel konnte von dem Einfluß einer Frau abhängen. Wenn er ehrlich mit sich war, gab es für ihn nur einen Grund, jetzt zur Mühle zu reiten. Und doch spürte er, daß Grace Pensilva eine Gefahr für ihn war. In ihrer kalten Kammer streifte Grace das klamme Nachthemd über und fröstelte. Sie stieg ins Bett, löschte die Kerze, drehte das Gesicht zur Wand, von der die Tünche abblätterte, und versuchte, einzuschlafen. Draußen vor dem Fenster plätscherte und gurgelte das Wasser im Mühlgerinne, ergoß sich in dünnem Strahl über das stillstehende Mühlrad. Grace schloß die Augen, aber sie lauschte weiter dem monotonen Geräusch. Sie hörte ein dumpfes Stampfen: Es war Ronalds Pferd, im Stall eingesperrt, das in seinem Verschlag mit den Hufen trommelte. Grace träumte im Halbschlaf, daß sie es freiließ, sich auf seinen Rücken schwang und im gestreckten Galopp übers Kliff ritt. Sie sah sich dahinfliegen mit flatternden Gewändern und starrem Gesicht; jetzt endlich war sie die Rächerin. Dann schrie sie auf oder träumte, daß sie aufschrie: das Pferd sprang über den Rand des Kliffs ins Leere. Sie erwachte zitternd und setzte sich auf. Die Nacht war noch lang; sie schien kein Ende zu nehmen. Später sank Grace in flachen Schlummer und schlief unruhig, bis das erste Licht in -203-
ihre Kammer fiel. Sie stand auf, öffnete Franks Truhe, holte ein paar Briefe heraus und las sie langsam, Wort für Wort. Es schien nur Minuten zu dauern, bis sie Mrs. Coyte in der Milchkammer mit den Kannen klappern hörte. Es war Zeit, nach unten zu gehen. Sie zog ihre Arbeitskleider an, stieg die Treppe hinunter, molk die Kühe und brachte die vollen Eimer in die Milchkammer. »Heute gibt’s ordentlich was zu tun«, verkündete Mrs. Coyte mit großem Behagen. »Wir können nicht nur immer auf die Jagd gehen, wir müssen auch mal nachholen, was wir hier versäumt haben, oder? Ist ja wunderbar, wenn man die feine Dame spielt und mit den feinen Herrschaften plaudert, aber jetzt sind wir wieder in der Langstone-Mühle, nicht wahr, schönes Fräulein? Und hier ist Grace Pensilva ’ne Dienstmagd, nichts anderes.« Grace biß sich auf die Lippen und gab keine Antwort. Sie ging auf den Hof und hackte Holz, streute den Hühnern Futter aus, sammelte die Eier ein, band die Ziege an ihren Pflock und begann, den Stall auszumisten. Ronald, einen Strohhalm im Mund, beobachtete sie vom Heuboden aus. »Eric Wroth gibt ’n Erntefest in Shearanscombe«, sagte er. »Warum erzählst du mir das?« erwiderte Grace. »Du weißt doch, daß ich nicht auf Feste gehe.« »Warum nicht?« »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich bin noch in Trauer.« »Ich hab’ mir gedacht, daß du Shearanscombe wiedersehen willst, du warst doch sicher nicht mehr da, seit Miss Delabole gestorben ist, oder?« Grace fuhr schweigend fort, mit der Mistgabel Stroh und Dung aufzunehmen. »Außerdem kommen jede Menge Leute, der Gutsherr, glaub’ ich, auch.« »Was geht mich das an?« »Kannst dich bei ihm bedanken wegen des Fuchses, da war er auf deiner Seite.« -204-
»Hör zu, Ronald. Es gibt einen sehr triftigen Grund dafür, daß ich nicht zu diesem Fest gehe. Ich bin nicht eingeladen. Wenn mich Eric Wroth hatte dabeihaben wollen, hatte er es mir wohl gesagt.« »Stimmt. Aber er hat’s vergessen. Und als es ihm wieder eingefallen ist, hat er mir gesagt, ich soll dir ausrichten, daß du auch eingeladen bist.« »Bestell ihm, daß ich nicht komme.« Ronald blickte niedergeschlagen drein. »Ich hab’ so gehofft...« begann er und brach ab. Grace sah sein enttäuschtes Gesicht und wurde milder. »Was hast du gehofft?« »Daß du mit mir hingehst, ich brauch’ doch jemand, der mit mir hingeht.« Er wurde fast rot, und Grace lächelte; er war wirklich noch ein kleiner Junge. »Warum lädst du nicht eins von den Mädchen aus dem Dorf ein?« »Weil ich mit dir hingehen will, du lachst mich nicht aus wie die aus dem Dorf.« »Ich werde es mir überlegen«, sagte Grace ein wenig unschlüssig. »Oh, vielen Dank!« Im Nu war er vom Heuboden herunter, hatte ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange gegeben und war aus dem Stall gerannt. Es war ein Tag wie jeder andere. Am Abend aber, als sie zu viert um den hölzernen Tisch saßen und die klare Brühe und das altbackene Brot aßen, das Mrs. Coyte sparsam austeilte, räusperte sich Bauer Coyte gewichtig. »Ronald sagt, daß er mit Grace zum Erntefest gehen will.« »Dummes Zeug«, zischte seine Frau. »Wozu muß sich Grace amüsieren? Sie soll zu Hause bleiben und früh schlafen gehen wie jeder Mensch, der am nächsten Tag arbeiten muß.« -205-
»Ich weiß nicht«, sagte Bauer Coyte. »Was soll das heißen, du weißt nicht? Zahlen wir ihr vielleicht was dafür, daß sie auf der faulen Haut liegt?« »Der Gutsherr war heute morgen da.« »Was hat das damit zu tun?« »Er war wegen der Pacht da.« »Geld, Geld, Geld«, zeterte Mrs. Coyte, »warum sind die Leute immer hinter unserem Geld her?« »Er hat gesagt, wenn wir nicht zahlen, kündigt uns der Verwalter zum nächsten Quartalstag.« Bauer Coyte legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »Aber er war noch wegen was anderem da, er hat nach Grace gefragt, er hat mit ihr reden wollen, aber ich hab’ sie nicht gefunden. Und er hat wissen wollen, ob wir alle zu Eric Wroths Erntefest gehen, und ich hab’ gleich gemerkt, was los ist. Ich hab’ ihm gesagt, ja, wir gehen vielleicht hin.« »Warum denn das?« fragte Mrs. Coyte verständnislos. »Kannst du dir das nicht denken? Der ist hin und weg von Grace, ist doch klar. Wenn er sie öfter mal sieht, ist er vielleicht nicht mehr so hinter unserem Geld her.« »Ach so! Wenn’s bloß wahr wäre – na, ich will’s hoffen. Grace, du darfst zum Erntefest«, sagte Mrs. Coyte, mit einem Mal bekehrt. »Woher wissen Sie, daß ich zum Erntefest will?« fragte Grace. »Ich habe kein Wort davon gesagt.« »So was Undankbares!« schrie Mrs. Coyte. »Was haben wir nicht alles für dich getan! Wir haben dich bei uns aufgenommen, wir haben dir Arbeit gegeben und Brot und ’ne Kammer. Du gehst hin, es wird dir schon gefallen. Der Gutsherr fragt nicht nach jedem Mädchen.« Grace wollte den Kopf schütteln, doch dann sah sie Ronalds trauriges Gesicht. Er konnte nichts dafür, daß seine Eltern so -206-
widerwärtig waren. Sie gab nach. »Gut, ich gehe, aber nicht Ihretwegen, sondern weil mich Ronald darum gebeten hat.« Während sie sprach, dachte Grace daran, wie Mrs. Coyte ihr als allererstes eingeschärft hatte, die Finger von ihrem Ronald zu lassen. Jetzt drängte sie sie, ihn zum Erntefest zu begleiten. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie schweigend das Mahl beendete. Der große Tag kam, und Ronald ritt voraus; er hatte Eric Wroth angeboten, ihm bei den Vorbereitungen für das Fest zu helfen. Mrs. Coyte ließ Grace erst gehen, als sie die Kühe gemolken und die Milchkammer saubergemacht hatte. Es war schon spät, als sie in ihrem Zimmer das graue Kleid aus der Truhe zog, das ihr Miss Delabole vor Jahren gekauft hatte. »Ein Mädchen muß etwas Schönes zum Anziehen haben, das macht sie froh«, hatte die alte Dame zu der Schneiderin gesagt, die das Kleid genäht hatte. »Gewiß, Wolle tut es auch, aber Seide ist besser.« Nun war das Kleid ein wenig zerknittert und klamm von der Feuchtigkeit in der Mühle, doch es war immer noch leicht und zart, und Graces Augen leuchteten, als sie in ihre Sonntagsschuhe mit den silbernen Schnallen schlüpfte. Ihre einzige Sorge war, wie ihr die Leute aus dem Dorf nach dem Vorfall mit dem Fuchs begegnen würden. Er lag bereits Wochen zurück, aber sie hatten ein gutes Gedächtnis, besonders was Fremde betraf, und Grace war für sie nach wie vor eine Fremde. »Schon so früh fertig, Mädchen?« nörgelte Mrs. Coyte, als Grace an der Küche vorbeikam. »Ihr Mann hat gesagt, daß ich heute abend selbst über meine Zeit verfügen kann.« »Ich wundere mich nur, woher du die Kraft nimmst. Bist du nicht müde nach der Arbeit? – Na, dann viel Spaß. Vielleicht findest du auf dem Fest ’n neuen Mann. Wenn dir Frank gefallen hat, müßte dir der Gutsherr noch tausendmal besser -207-
gefallen.« Grace tat so, als sei Mrs. Coyte Luft. Sie würde sich nicht dazu herablassen, auf ihre Worte einzugehen. Entschlossen machte sie die Tür hinter sich zu und trat in die Abenddämmerung hinaus. Sie eilte über den Mühlkanal, den steilen Hügel empor, am Obstgarten vorbei. Der Weg krümmte sich und wurde noch steiler, so steil, daß hier manchmal die schwerbeladenen Karren hängenblieben, die von der Mühle kamen. So zierlich sie konnte, sprang sie über die matschigen Pfützen der tiefen Fahrspuren, die nun im tiefen Schatten der überhängenden Haselsträucher lagen. Die ersten Fledermäuse flatterten die Straße entlang, als sie zur ersten Weggabelung kam, auf der anderen Seite des Tales rief eine Eule. Grace blieb stehen und blickte sich um. Im Abendlicht wirkte die Mündung des Arun atemberaubend schön. Sanft wellten sich die Hügel unter dem bernsteinfarbenen Himmel, durch den hohe, schiefergraue Abendwolken schwammen. Die uralten Eichwälder rauschten sacht, und zwischen ihnen, seidig glänzend, vom Blattrippenmuster der Priele durchzogen und mit den blassen Tupfen der Schilfinseln übersät, dehnten sich die Schlickflächen, in denen sich die ersten Sterne spiegelten. Grace fühlte sich eins mit der Schönheit der Welt. Sie war ein Teil dieses Ganzen, und für einen Augenblick war die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, vergessen. Das Bild prägte sich ihr ein, und wenn sie sich später darauf besann, spürte sie vor Sehnsucht nach diesem Frieden, diesem Zauber, einen Stich im Herzen. Sie ging weiter. Nach einer halben Meile sah sie die hohen Dächer von Gut Shearanscombe und dahinter die neue Scheune. Durch die hellen Fenster drang der fröhliche Lärm ausgelassenen Feierns. Die Vorhänge im Parterre waren aufgezogen, und Grace lugte in den Salon. So vertraut war ihr der Raum, daß sie fast erwartete, die alte Miss Delabole würde ihr über den Rand ihrer Brille entgegenblicken. Doch ihr Sessel -208-
war leer, der Bezug zerfetzt von den Krallen einer Katze, die darauf schlief. Miss Delabole wäre über den Dreck und die Unordnung entsetzt gewesen. Ihre eleganten Vorfahren sahen aus den ovalen Rahmen an der Wand finster auf die zerschlissenen Möbel herab. Sie sahen aus, als tadelten sie Eric Wroth, der den Besitz von Miss Delaboles gleichgültigen Erbschaftsverwaltern gekauft hatte und jetzt seine Hühner über den Teppich laufen ließ. Doch trotz der Verwahrlosung war noch ein Hauch vom Geist der alten Dame im Raum. Grace erinnerte sich. »Ich bin zwar nicht Julius Cäsar«, hatte Miss Delabole milde tadelnd gesagt. »Es heißt, er habe gleichzeitig eine Botschaft lesen, Befehle schreiben und einem Kurier zuhören können; ich will nicht behaupten, daß ich geistig so rege bin. Aber ich kann gewiß gleichzeitig nähen und zuhören. Ich bitte dich also, lies weiter, mein Kind.« »Ich dachte, Sie seien eingenickt«, hatte Grace erwidert. »Ich nicke nie ein, mein Kind, weißt du das nicht? Ich wollte, ich könnte schlafen. Du sollst wissen, mein liebes Kind, daß ich wohl merke, wie besorgt du um mich bist. Es gibt böse Zungen im Dorf, die behaupten, deine Freundlichkeit sei nicht uneigennützig, du glaubtest, da ich keine nahen Verwandten mehr hätte, könntest du mich beerben. Aber da kenne ich meine Grace wohl besser. Du bist doch nicht nur freundlich, weil du dir Gewinn davon versprichst?« Grace schüttelte heftig den Kopf. »Du sollst deinen Lohn haben«, fuhr die alte Dame fort und streckte die Hand aus, um Grace übers Haar zu streichen. »Ich werde dich nicht vergessen. Ich hätte mir keine liebenswürdigere Tochter wünschen können.« Grace wischte eine Träne fort; es hatte so fürsorglich geklungen. Und dennoch hatte ihr Miss Delabole nichts hinterlassen, es gab kein Testament, ihr Tod war zu plötzlich gekommen. Alles, was Grace von ihrer Zeit in Shearanscombe geblieben war, war das Französisch, das sie sprach, und das Seidenkleid, das sie trug. -209-
Die Musik aus der Scheune brachte Grace wieder zu sich. Die Tür öffnete sich weit, ein Streifen gelben Lichts fiel über den Boden. Sie trat vom Fenster zurück, sie wollte nicht beim Spionieren ertappt werden. »Na, da ist ja unsere Grace!« rief Bauer Wroth, der aus der Scheune getreten war. »Komm rein, Mädchen, und trink ’n Glas Bier.« Grace raffte ihren bauschigen Rock, als sie über den schmutzigen Hof ging. Sie war nicht auf eine solche Verwandlung der riesigen, düsteren Scheune gefaßt gewesen, nicht auf das märchenhafte Bild, das sich ihr bot, als Bauer Wroth sie über die Schwelle geleitete. »Willkommen in Shearanscombe«, sagte er. »Schön siehst du aus.« Grace blieb einen Moment neben ihm stehen und nahm den Glanz des festlich erhellten Raums in sich auf. Lichter überall, Hunderte von Kerzen flackerten auf einem riesigen Kronleuchter, der von einem Balken in der Mitte der Scheune herabhing, Fackeln loderten an den Wellerwänden, Binsenlichter brannten auf den langen Tischen, die mit Speisen und Getränken beladen waren. Das Licht warf eine Vielzahl seltsamer Schatten: Hoch über Graces Kopf wiederholte sich das Geflecht der Balken, Pfosten und Sparren, und darunter bewegten sich die Tänzer wie Figuren in einem Schattenspiel. Es roch nach gutem Essen, nach Pasteten und Kuchen und Äpfeln. Und über allem lag, ständig wechselnd und sich dennoch wiederholend, die Musik. Es war ein Wunder, daß drei Instrumente – Violine, Klarinette und Baßgeige – eine solche Klangfülle schaffen konnten. Was den Musikanten an Kunstfertigkeit fehlte, machten sie durch Eifer wieder wett. Die Melodien, die sie spielten, waren alt, aber darum nur um so beliebter. Selbst die Kinder schlossen sich dem Reigen an. Kleine Mädchen in hübschen Kleidern und auf Hochglanz polierten Schuhen – die sich ihre Eltern vom Mund abgespart -210-
haben mußten – setzten bedächtig die Füße und machten erwachsene Gesichter. Wohlgekämmte kleine Jungen wurden von ihren Cousinen, Tanten und Müttern auf den Tanzboden gezogen und stolperten herum. Aber der Mittelpunkt auf dem Tanzboden waren die Bauernsöhne, die jungen Tagelöhner, die unverheirateten Mädchen und neuvermählten Paare. Viele Burschen zeichneten sich mehr durch Temperament als durch Anmut aus, aber ihre Damen sorgten dafür, daß sie zumindest im Takt blieben, und zerrten sie, wenn es nötig war, resolut am Ärmel. In der Mitte der Scheune, hochgewachsen und würdevoll in einem ungewohnten schwarzen Bratenrock, sagte Onkel Bill Terry mit klangvoller Stimme die Touren an. Hinter ihm, um ein Faß Bier versammelt, saßen die Männer und Burschen, die nicht tanzen konnten oder wollten. Auf der anderen Seite des Raumes stand eine kleinere Gruppe von Frauen und Mädchen zusammen, die schwatzten, lachten und ihren Putz zur Schau stellten. Grace wollte sich den Frauen anschließen, doch bevor sie bei ihnen angelangt war, sprang ihr Jack Lugger in den Weg und zog sie auf den Tanzboden. »Wie ist es dir ergangen, seit du nicht mehr Fischer bist?« fragte Grace, um Konversation zu machen. »Ich war ’ne Weile Tagelöhner, ist ’n Hundeleben«, sagte Jack. »Ich hab’ gedacht, Fischen wär’ schon schlimm, aber das ist noch viel schlimmer. Zur Zeit fang’ ich Karnickel, kann man aushalten, bloß satt wird man nicht davon.« »Wie wäre es mit Schmuggeln?« fragte Grace im Flüsterton. »Das ist ’n guter Witz«, lachte Jack Lugger. Der Tanz endete. »Warum fragst du mich das? Warum soll ich überhaupt schmuggeln wollen?« »Weil du es vielleicht zu etwas bringen willst?« erwiderte Grace. In diesem Moment kam Ronald Coyte auf sie zu. Beim Tanzen hatte sie beobachtet, wie ihn die Dorfjungen gehänselt -211-
hatten und er vor Verlegenheit errötet war. Es war eine alte Geschichte: Man setzte einem schüchternen Jungen solange zu, bis er ein Mädchen zum Tanzen aufforderte. »Entschuldigung«, begann er, zu Jack Lugger gewandt, »Grace ist mein Gast, sie ist mit mir hier.« »Geh spielen, du Grünschnabel!« knurrte Lugger. »Siehst du nicht, daß ich mit der Dame rede?« »Nein«, sagte Grace, »bleib da, Ronald, ich tanze mit dir.« »Und ich?« fragte Jack Lugger. Es klang gekränkt. »Geh spielen!« lachte Grace. »Du magst ja gar keine Männer, du magst nur Füchse! Rutsch mir doch den Buckel runter!« rief Lugger ihr nach, als sie mit Ronald die ersten Tanzschritte machte. Es überraschte sie, daß er sich leicht und sicher bewegte, und es erstaunte sie, daß er trotz ihrer hohen Absätze einen halben Kopf größer war als sie. »Ich wußte nicht, daß du tanzen kannst.« »Vater hat mich zum Tanzmeister nach Uglington geschickt. Er will, daß ich ein feiner Herr werde.« Grace unterdrückte den Wunsch zu lachen. Die Vorstellung, daß aus dem Sohn des verschrobenen, geizigen Bauern Coyte ein feiner Herr würde, war absurd. Doch es wäre ungerecht gegen den Jungen gewesen, ihn das spüren zu lassen. Grace lächelte ihn aufmunternd an, und er tanzte noch besser. Seine Füße waren zwar ein bißchen groß, aber er behielt sie da, wo sie hingehörten, im Gegensatz zu den anderen Männern, die ihr später auf die Zehen traten und den Saum ihres Kleides zerrissen. Grace tanzte an diesem Abend mit vielen jungen Männern, doch mit keinem so oft wie mit Ronald. Er hatte ihr nicht viel zu sagen, aber das war ihr lieber als die rüden Bemerkungen der anderen. Wenn er sie dann und wann ein wenig zu eng an sich zog, so schrieb sie es seiner Ungelenkigkeit zu. -212-
Die Musikanten machten eine Pause und taten sich an Pasteten und Bier gütlich. Alles begann zu sprechen, doch Schweigen senkte sich über die Scheune, als Frederick Genteel und sein Verwalter eintrafen. »Willkommen, Squire!« rief Bauer Wroth, der ihm zur Begrüßung entgegengeeilt war. Eileen Wroth machte einen unbeholfenen Knicks, und einige Frauen taten es ihr nach. »Es ist uns eine Ehre«, murmelte sie. »Wollen Sie ’ne Kleinigkeit essen?« Aber der Gutsherr hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, sein Blick schweifte in die Runde, er suchte jemanden. Als er Grace gefunden hatte, versuchte er sie anzulächeln. Sie spürte seine Augen auf sich, aber sie drehte sich um und sprach mit Ronald. »Wir sind hier alle Freunde«, verkündete Bauer Wroth, »hier kommt’s nicht drauf an, ob jemand arm oder reich ist, frei geboren oder leibeigen. Wir sind alle Menschen, gute Leute aus Devon. Kommen Sie, meine Herren aus Leet, trinken Sie ’n Schluck, wir haben schon ’nen Vorsprung vor Ihnen, und den müssen Sie einholen.« Er wandte sich den Musikanten zu. »Und ihr... Ich zahl’ euch nicht Geld dafür, daß ihr euch den Bauch vollschlagt, jetzt spielt mal was, was dem Gutsherrn gefällt!« »Ja, spielt Sir Roger de Coverley«, sagte Eileen Wroth. Als die Musik einsetzte, sah Grace, daß Frederick Genteel mit bemühter Ungezwungenheit auf sie zuschlenderte. Was sollte sie tun? Ronald war gerade nicht zu sehen, und sie wollte sich nicht mit dem Gutsherrn unterhalten, um damit dem alten Coyte einen Gefallen zu tun. Sie stahl sich durch das Menschengewühl nach draußen. Im Dunkeln hörte sie Geräusche, Keuchen, gedämpftes Gekreisch und Gekicher aus der Remise. Sie wußte, was sich dort abspielte; mehr als ein Paar war in der letzten halben Stunde aus der Scheune verschwunden. Die blinde, verantwortungslose Flüchtigkeit dieser Lust widerte sie an. Im -213-
Dorf gab es genügend Kinder, die auf solch beiläufige Weise gezeugt worden waren. Ihre Mütter hatten mehr als genug üble Nachrede und Not zu leiden, aber am schlimmsten hatten es die Kinder selbst, die rechtlos und verachtet heranwuchsen. Grace überlegte gerade, ob sie in die Scheune zurückkehren oder sich auf den Heimweg machen sollte, als eine dunkle Gestalt auf sie zutrat. Der Mann hatte sich im Schatten vor der Tür verborgen gehalten, und weil das Licht von hinten auf ihn fiel, konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Er streckte die Hand aus und faßte ihren Arm. »Laß mich los!« fauchte sie und bemühte sich, die Furcht in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich bin’s nur.« »Laß mich los!« wiederholte sie. »Ich bin bloß gekommen, weil ich mich bei dir bedanken wollte, Grace. Ich hab’ mir gedacht, daß du hier bist beim Tanzen.« »Warum hast du dann draußen gewartet, Jan King?« »Ich kann nicht tanzen, hab’s nie gelernt. Und ich wollte allein mit dir sprechen.« »Nun, dann bedank dich, wenn du unbedingt mußt, und laß mich los. Du hältst mich immer noch fest, falls du es nicht merkst, und du tust mir weh.« »Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll...« »Dann behalt es für dich. Deine Dankbarkeit ist das letzte, was ich brauche.« »Du bist so hart, Grace. Warum hast du mich gerettet, wenn du jetzt kein Wort mit mir reden willst? Warum hast du mich nicht die Klippe runterfallen lassen? Das wäre dir doch recht gewesen, oder? Als Strafe für deinen Bruder?« »Du bist ein Mensch«, sagte Grace, »und du hast den Fuchs freigelassen.« »Ich... Vielen Dank. Und wenn ich mal was für dich tun -214-
kann...« »Sei still«, sagte Grace, »du bist mir nichts schuldig. Aber ich verspreche dir, daß ich mich an dich wenden werde, wenn ich deine Hilfe brauche. Und jetzt geh nach Hause.« In ihrer Stimme lag ein Ernst, der ihn froh machte. Er rannte davon, in die Nacht hinein, und Grace kehrte in den improvisierten Ballsaal zurück. Frederick Genteel wartete in der Nähe der Tür. Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie konnte es nicht übersehen. »Ich hatte schon befürchtet, Sie seien gegangen«, sagte er. »Darf ich bitten?« »Darf ich ablehnen?« Frederick Genteel schüttelte den Kopf. »Der Gutsherr hat, glaube ich, immer noch einige alte Rechte«, erwiderte er lächelnd. »Keine Angst, ich tue Ihnen nichts.« Grace fügte sich widerstrebend. Er nahm sie bei der Hand und führte sie auf den Tanzboden. Seine dünnen, knochigen Finger waren kühl, die Spitze am Aufschlag seines Ärmels streifte ihr Handgelenk. Obwohl er so hartnäckig darauf bestanden hatte, mit ihr zu tanzen, kam er ihr nicht zu nahe. »Sie waren früher bei Miss Delabole«, bemerkte er. »Wie Sie sehen, habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen.« »Soll ich mich darüber freuen? In der Langstone-Mühle haben Sie auch nach mir gefragt, nicht wahr? Glauben Sie, daß solche Erkundigungen dem Ruf einer Frau besonders zuträglich sind?« »So habe ich es nicht gesehen. Es tut mir leid. Sie sind dort nicht glücklich, oder? Sie können es nicht sein.« »Was meinen Sie damit?« Frederick Genteel versuchte es mit einem anderen Thema. »Das war sehr mutig, was Sie bei der Jagd getan haben«, sagte er. »Ich habe Sie dafür bewundert. Es ist nicht leicht, einem ganzen Dorf entgegenzutreten. In Ihnen steckt mehr als in den -215-
meisten, gleichgültig, was Ihr Bruder...« Grace unterbrach ihn. »Mein Bruder war ein feiner Mann«, sagte sie. »Ihre Welt war nicht seine Welt, das ist alles. Er hatte Grundsätze, er hat an die Menschenrechte geglaubt, darum haben ihn die Männer des Königs getötet!« »Vielleicht trifft das zu, ich kann das nicht beurteilen. Aber was ich Ihnen sagen wollte, ist folgendes: Wenn Sie eine andere Stelle brauchen, eine bessere Stelle als die einer Dienstmagd bei Mrs. Coyte, ist in Leet ein Platz für Sie frei.« »Was für ein Platz?« wollte Grace wissen und verhielt plötzlich aufgebracht mitten im Schritt, so daß sich die anderen Tänzer nach ihr umdrehten. »Lassen Sie sich eines gesagt sein, Frederick Genteel: Grace Pensilva läßt sich nicht für den Lohn eines Stubenmädchens kaufen.« »Sie mißverstehen mich«, erwiderte Genteel. »Sie verdrehen alles. Seien Sie vernünftig.« »Wenn ich vernünftig gewesen wäre, wäre ich nicht zu diesem Fest gekommen. Ich bin nicht mit dem Herzen dabei.« Sie wandte sich Eric Wroth zu, der nervös zu ihnen herübersah. »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich eingeladen haben, aber ich muß jetzt gehen.« Sie stürzte davon und rannte in die Dunkelheit hinaus. Eine Weile dachte sie, jemand folge ihr, doch sie war nur verwirrt vom Echo ihrer eigenen Schritte und vom Klopfen ihres Herzens. Sie blieb stehen und lauschte. Alles blieb still. Sie preßte die Lippen zusammen und lief weiter, der Mühle entgegen. Sie war froh, daß sie das Fest verlassen hatte. Eine Weile hatte sie sich dort wohl gefühlt und sich der Freude hingegeben, hatte sich mitreißen lassen von der Musik und dem Gefühl, unter Menschen zu sein. Jetzt, wo sie wieder allein war, konnte sie wieder zu sich selbst finden. Hufschlag dröhnte hinter ihr, und sie blickte sich ängstlich um. Ein Reiter kam rasch näher. Sie wich in den Schatten der -216-
Hecken zurück und hoffte, er werde vorbeigaloppieren, ohne sie zu sehen. Aber er hielt neben ihr an, eine dunkle Silhouette vor dem Sternenhimmel. Sie spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen gruben; ihr Mund war so trocken, daß sie nicht sprechen konnte. »Steig auf, Grace, wir reiten zusammen nach Hause.« Es war nur Ronald Coyte. Sie atmete erleichtert auf. Unter anderen Umständen hätte sie abgelehnt, doch nun ließ sie sich gern aufs Pferd heben und sich vor ihn in den Sattel setzen. Das Pferd würde seinen Weg allein finden, und sie war geborgen. Es dauerte nicht lange, da erkannte sie ihren Irrtum. Ronald, der die Arme um ihre Taille geschlossen hatte, damit sie sicher saß, fing an, sie zu betasten, und hatte schon eine Hand auf ihre Brust gelegt. Obwohl sie es ihm streng verwies, zeigte sich in den folgenden Tagen, daß sich ihr Verhältnis gewandelt hatte. Ronald war nicht mehr der schüchterne, linkische Knabe, den sie kannte, sondern ein verträumter junger Mann, der sie, so schien es, begehrte, ihr folgte, wenn sie an die Arbeit ging, und auf eine Gelegenheit wartete, sie verstohlen zu berühren. Die Spannung wuchs, während sie sich bemühte, ihre tägliche Arbeit zu verrichten. Sie hütete sich davor, Ronald auch nur im mindesten zu ermutigen, aber Ruhe hatte sie bloß, wenn er fort war, was jetzt oft der Fall war. Er ritt nach Leet und arbeitete dort, wie ihr Bauer Coyte voll Stolz berichtete, als Stallbursche. Und dann, wie in Übereinstimmung mit ihrer zunehmenden Besorgnis, schlug das Wetter um.
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Zweiter Teil Der Schmuggler ist ein Mensch, der, wiewohl zweifelsohne höchlich dafür zu tadeln, daß er die Gesetze seines Landes verletzt, die des Naturrechts zu verletzen häufig nicht in der Lage ist und ein in jeder Hinsicht vortrefflicher Bürger gewesen wäre, hätten die Gesetze seines Landes nicht zum Verbrechen erklärt, was von der Natur niemals als solches gemeint war. Adam Smith
»Kalt heute, nicht?« sagte Dr. Cornish zur Begrüßung, als Optimus in die Küche trat. »Legen Sie noch ein paar Scheite Holz aufs Feuer, ja?« Optimus verwunderte sich; es war ein warmer Tag, und er selbst lief in Hemdsärmeln herum. Für sein Gefühl war der Raum schon überheizt, doch er tat wie geheißen und warf dabei einen Seitenblick auf den alten Arzt, der in seinem Schaukelstuhl sacht hin und her wippte, ein Wolltuch über die Schultern gebreitet. »Nun, waren Sie bei der tiefen Stelle im Arun, an der Jack Lugger niedergeschossen wurde?« fragte er. »Ich sah Sie in diese Richtung gehen, und Sie sind erst spät in der Nacht zurückgekommen, nicht wahr?« »In einem Punkt haben Sie sich geirrt«, sagte Optimus. »Oh, tatsächlich?« »Jack Lugger wurde nicht am Fluß niedergeschossen, sondern an der Straße nach Uglington.« »Wer hat Ihnen das gesagt? Oh, ich weiß schon, ich weiß, Sie haben mit Charles Barker geplaudert, dem alten Spitzbuben; wenn es um Einzelheiten geht, sind alle Advokaten abscheuliche Pedanten. Was, zum Teufel, zählt es, wo Jack Lugger -218-
niedergeschossen wurde? Wichtig ist, daß man ihn zu mir gebracht hat und daß er hier auf diesem Tisch lag, kalt wie der Tod, und ich mußte versuchen, ihn zu retten. Herzlich wenig Dank habe ich dafür geerntet, abgesehen von ein paar Fäßchen Branntwein. Seine Schwester tat so, als sei es meine Schuld, meine und die von Grace Pensilva.« »Und entsprach das der Wahrheit?« »In keiner Weise. Er hatte mehr Glück als Verstand, daß er es überlebte, das ist die Wahrheit. Rücken Sie Ihren Stuhl ans Feuer, mein Junge, Sie frieren doch sicher.« »Nein, mir ist nicht kalt«, sagte Optimus. »Ihnen ist nicht kalt? Ach, die Jugend mit ihrem heißen Blut!« »Ich versuche gerade, mir einen Reim auf alles zu machen, herauszufinden, wie es kam, daß Grace die Langstone-Mühle verließ und Schmugglerin wurde.« »Da kann ich auch nur raten, mein Junge. Letztlich sind doch alles nur Vermutungen. Ein paar Dinge können Sie nachprüfen, aber das andere? Jemand erzählt Ihnen etwas, ein anderer etwas anderes, und auch das hat ihm nur jemand Drittes erzählt. Aber es ist alles, was Sie haben, nicht wahr? O ja, das weiß man, daß Grace Pensilva die beste Schmugglerin weh und breit war zu der Zeit, als Jack Lugger niedergeschossen wurde. Doch wie kam sie dazu? Lag es daran, daß sie fließend Französisch sprach und mit Caradec, dem französischen Kapitän, verhandeln konnte? Lag es daran, daß sie einfach eine starke Persönlichkeit war? Daß sie die Mühle irgendwann verlassen würde, war klar. Aber sie hätte ja auch in Leet als Dienstbote arbeiten können, das hat mir Charles einmal gesagt. Aber sie fing an zu schmuggeln, so war sie eben.« »Sie sagten, Jack Luggers Schwester habe Grace zur Last gelegt, was ihrem Bruder geschah.« »Ja, sie behauptete, es könne kein Zufall gewesen sein, daß die Leute vom Küstenschutz nicht schon in dem Augenblick -219-
eintrafen, wo Grace und Jan die Schmuggelwaren im Arun ausluden, sondern erst später zuschlugen, als Jack und die Grubenarbeiter vom Dartmoor diese Stelle gerade verlassen hatten.« »Womit sie Grace fast dasselbe nachsagte, was sie Jan King zum Vorwurf machte.« »Nun, dazu muß man sagen, daß Grace ein sonderbar beschütztes Leben führte; es sah so aus, als wäre da jemand gewesen, der in die Pläne des Küstenschutzes eingeweiht war und ihr immer im rechten Moment einen Wink gab.« »Ich ahne schon, wer das gewesen sein könnte.« »Täuschen Sie sich nicht! Grace Pensilva, so pflegten die Leute zu sagen, war derart gewitzt, daß sie bereits wußte, was Hawkins und Scully tun würden, bevor sie es überhaupt gedacht hatten; sie war ihnen immer ein paar Schritte voraus. Näher als dieses eine Mal, als sie Jack Lugger niederschossen, sind sie nie an Grace herangekommen. Und Grace hatte nicht den mindesten Grund, Jack Lugger zu verraten; es ging ihr gut, das Geld rollte nur so herein, auch wenn sie es nicht ausgeben konnte.« »Vielleicht schmiedete Jack Lugger ein Komplott gegen sie, und sie wollte ihn aus dem Weg räumen.« »Wohl kaum. Jack Lugger konnte ihr nicht das Wasser reichen. Es mag seinen Neid erregt haben, daß eine Frau das Kommando führte, aber für ein Komplott fehlte es ihm an der nötigen Intelligenz. – Und nun verraten Sie mir, ob Sie von Charles etwas über Malta erfahren haben. Sie haben ihn doch sicher danach gefragt.« »Er sagte, er wisse so gut wie nichts, er sei nie dort gewesen.« »Charles Barker ist ein schlauer, alter Fuchs, er legt seine Karten nicht auf den Tisch, das hat er immer so gemacht. Er weiß mehr, als er sagt, soviel ist sicher.« »Er sprach von Briefen, die sich in seinem Besitz befänden.« -220-
»Briefe... Aber er hat sie Ihnen nicht gezeigt, oder? Nein, das wäre nicht seine Art.« »Wie soll ich jetzt herausfinden, was auf Malta geschah? Und irgend etwas ist dort geschehen, nicht wahr? Irgend etwas zwischen Grace und Frederick Genteel. Offen gestanden, ich glaube, daß Sie auch mehr wissen, als Sie sagen.« »Nicht viel, nicht viel. Und auch das ist bloße Vermutung.« »Aber Grace kehrte doch nach Harberscombe zurück, oder? Haben Sie sie bei dieser Gelegenheit gesehen? Sie sagten einmal, Sie seien ihr selten begegnet, aber Sie sind ihr begegnet, nicht wahr? Und als Jack Lugger niedergeschossen wurde, waren Sie ihr doch sicher auch schon begegnet.« »Ich lasse mich nicht ins Kreuzverhör nehmen«, knurrte Dr. Cornish. »Verzeihung.« »Seien Sie so freundlich und schüren Sie das Feuer ein bißchen. Oh, ich wollte, mir wäre wieder einmal richtig warm! Auf Malta soll es schön warm sein. Als Grace von dort zurückkehrte, war sie nicht mehr dieselbe, sie war... nun, sie wirkte wie eine Uhr ohne Feder.« »Und sie hat Ihnen nicht erzählt, was auf Malta geschehen ist?« »Nein, sie war nur an einem interessiert.« »Woran?« »An der Vergangenheit. Sie wollte das Grab ihres Bruders besuchen. Und da war noch etwas.« »Ja?« »Sie hatte etwas erfahren. Es trieb sie schier zum Wahnsinn.« »Was?« »Das weiß ich nicht. Mir ist kalt, ich bin müde, und Sie sind ein Plagegeist.« -221-
»Aber wie soll ich je herausfinden, was auf Malta geschah?« »Fahren Sie hin.« »Wie? Ich habe weder die Zeit noch das Geld.« »Dann müssen Sie lernen, sich in Geduld zu fassen.« Das Wetter schlug um. Jan King und Onkel Bill legten den Logger für den Winter auf. Das Priel im Armouth war verlassen; nur ein paar Zugvogelschwärme, die in den Süden flogen, trieben sich noch dort herum. Nach den Herbststürmen, die gegen die Küste peitschten, sammelte Jan King große Mengen Treibholz. Am Abend saß er allein vor seinem Kamin, die Hände im Schoß, und die Flammen des mit Salz überkrusteten Holzes flackerten und tanzten. Versonnen saß er da, während der Wind im Schornstein heulte und der Regen aufs Dach trommelte. Reglos saß er da, in schläfrige Träumereien versunken, bis zu dem Abend, an dem ihn ein seltsames Scharren am Fenster auffahren ließ. Er drehte sich um und sah ein blasses Gesicht, das ihn durch das regennasse Glas ansah... Optimus legte die Feder aus der Hand und biß sich auf die Lippen. Er hielt die Seite ins Kerzenlicht und überlas sie; so ungefähr, stellte er sich vor, war es in dem einsamen Haus am Armouth gewesen, als Jan King dort allein gewohnt hatte; er konnte sich ohne weiteres die Unordnung in der Küche ausmalen, das sparsam möblierte, karge Wohnzimmer. Schwierig fand es Optimus dagegen, sich in diesen schlichten Fischer hineinzuversetzen. Was ging einem solchen Menschen durch den Kopf? Dachte er über die Ereignisse der letzten Monate nach? Träumte er von der Zukunft? Auf welche Zukunft hoffte ein Mann wie Jan King? Spielte Grace Pensilva noch eine Rolle darin? Grübelte Jan über Frank nach, war er immer noch eifersüchtig auf ihn? Optimus stützte das Kinn in die Hand und starrte ins Leere. Das war noch nicht alles; er fürchtete, daß er etwas ausgelassen -222-
hatte, vernachlässigt hatte, was Grace in ihren letzten Tagen in der Langstone-Mühle geschehen war. Er hob das Papier empor, hielt die untere Ecke über die Kerze und beobachtete, wie sie Feuer fing, sich in der Flamme krümmte und schwarz wurde. So war wohl auch die Leidenschaft, ja, sie brannte einen Moment, und dann zerfiel sie zu Asche. Zumindest dachte Optimus, so müsse es sein, denn er wußte wenig von der Liebe. Was Ronald Coyte fühlte, verstand er, aber wie war das mit Grace, mit Jan, Frank oder Frederick Genteel? In Dr. Cornishs Fenster brannte noch Licht. Optimus mußte mit sich kämpfen, um nicht hinüberzueilen. Er nahm einen neuen Bogen Papier, tauchte seine Feder in die Tinte und fing noch einmal an. Das Wetter schlug um. Der kalte Wind trieb breite Regenfahnen über die weitverzweigte Mündung. Die Blätter, von den Bäumen gerissen, wirbelten und taumelten einen Augenblick, bevor sie zu den anderen fielen, die mit ihrem brandigen Rot und fahlen Gelb den Waldboden bedeckten. Die Fischer bargen in den Pausen zwischen den Stürmen die letzten Körbe. Einige gingen verloren, verfingen sich im Blasentang, blieben in den Rinnen zwischen den Felsen hängen und wurden schließlich irgendwo an Land gespült. Das war der Tribut, den sie jedes Jahr zollten; die See ist eine strenge Gebieterin. Sobald das Lastschiff zum letzten Mal vorbeikam, fischten sie ihre großen Vorratsreusen aus dem Wasser und steuerten ihre Logger in die Mündung des Arun, wo sie sicher waren vor der tosenden Brandung. Ihre plumpen Fahrzeuge lagen am Ufer wie gestrandete Wale. Die Fischer sperrten ihre Schuppen zu, schnallten ihren Eseln zum letzten Mal die schwarzen Körbe und Satteltaschen auf und zogen für einen langen Winter heimwärts nach Harberscombe. Nur Jan King blieb als einsamer -223-
Herr über den tiefen Priel des Armouth zurück. Grace Pensilva achtete nicht auf die herbe Schönheit der herbstlichen Natur. Sie mußte Futterrüben kleinschneiden, und ihr Hackmesser ging unablässig mit dumpfem Geräusch auf den alten Hackklotz nieder. Dabei dachte sie darüber nach, was sich am Morgen im Kuhstall zugetragen hatte. Warum war sie nur so töricht gewesen? Warum war sie auf Frederick Genteels Angebot, nach Leet zu kommen, nicht eingegangen? Das Leben in der Mühle wurde allmählich unerträglich. Als sie am Abend zuvor auf ihr Zimmer gegangen war, hatte sie den Eindruck gehabt, daß sich etwas verändert habe. Und heute früh beim Melken hatte sie gespürt, wie jemand nach ihr faßte. Sie wandte den Kopf und blickte in Ronalds lüsternes Gesicht. Er langte in ihr Mieder, tastete nach ihren Brüsten, schloß grob die Hände um sie. »Was fällt dir ein?« fragte sie empört. »Ich melk’ dich bloß ’n bißchen«, erwiderte er, brachte seinen Mund dicht an ihre Lippen und versuchte, sie zu küssen. Sie holte weit aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Ihre Finger zeichneten sich rot auf seiner Wange ab, die plötzlich zornesbleich wurde. »Das hättest du besser nicht tun sollen«, zischte er. »Du hättest mich nicht anfassen sollen; ich bin nicht dein Spielzeug.« »Ich zeig’ dir schon, wer hier der Herr ist.« »Ich habe hier nur einen Herrn, und das ist dein Vater. Ich habe mit ihm einen Kontrakt geschlossen, und von Frechheiten ist darin nicht die Rede. Wenn du dich weiter so aufführst, werde ich mit ihm sprechen müssen.« »Nein, Grace, das tust du besser nicht. Ein Wort nur, und ich erzähl’ ihm alles von dir und deinem Frank. Für den hast du dein Mieder ja wohl aufgeknöpft.« -224-
Grace gab ihm noch eine Ohrfeige. »Meine Mutter hat mich gewarnt vor dir, aber ich hab’ dir verzeihen wollen, ich hab’ dich liebhaben wollen. Ich hab’ gedacht...« »Was hast du gedacht? Nein, du brauchst es mir nicht zu sagen, ich weiß es. Du dachtest, weil ich freundlich zu dir war, nicht so wie deine Mutter, hättest du leichtes Spiel mit mir; du dachtest, ich sei ja nur eine Dienstmagd. Aber so einfach ist das nicht, ganz im Gegenteil. Und jetzt geh! Laß mich in Ruhe! Du hast die halbe Milch verschüttet, und ich muß die Kühe zu Ende melken.« Ronald rieb sich die Wange. Seine Augen waren dunkel vor Zorn. »Das zahl’ ich dir heim. Ich zeig’ Vater die Sachen, die dir Frank geschrieben hat. Überleg’s dir. Ich geb’ dir ’nen Tag Bedenkzeit. Sie hat gesagt, du bist stolz; sie hat gesagt, du bist viel zu stolz, als daß du dich mit mir einläßt. Aber ich lass’ es nicht gelten, daß du nein sagst.« »Sie hat das gesagt? Wer ist sie? Hast du mit jemand darüber gsprochen?« »Das geht dich ’n Dreck an.« Und damit war er aus dem Stall, und Grace fragte sich, was Mrs. Coyte wohl sagen würde, wenn sie merkte, daß die Milch heute knapp war; sie hatte sich über Graces Schuhe ergossen und war in der Streu versickert. Sobald sich eine Gelegenheit dazu bot, rannte Grace auf ihr Zimmer, kniete sich vor die Truhe hin und öffnete sie. Sie warf alles auf den Boden, was darin lag, sie suchte das Bündel Briefe. Es war verschwunden. Als sie aufblickte, stand Ronald in der Tür. Er hatte die Briefe in der Rechten und klopfte damit bedeutsam gegen die Handfläche der Linken. Grace sprang auf und versuchte, sie ihm zu entreißen, doch er war stärker als sie. Er schob das Bündel in sein Hemd, packte sie so fest bei den Handgelenken, daß sie sich nicht mehr rühren konnte, und grinste sie hämisch an. Grace gab -225-
auf. Er ließ sie los, und sie setzte sich auf die Bettkante, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. »Also?« fragte er. »Ich hätte nie gedacht, daß du so etwas tun würdest«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich dachte, du magst mich. Ich habe dich auch gemocht, weißt du das? Mußt du alles zerstören?« Einen Moment lang sah es so aus, als werde sich Ronald erweichen lassen. Ihre rotgeweinten Augen, ihr schmerzverzerrter Mund trafen ihn. Doch dann verhärtete er sich wieder. »Wenn du mich magst, wenn du mich liebhast, dann wird’s ja ganz einfach.« Er schloß die Tür und kam auf Grace zu. Sie erhob sich rasch und trat ans Fenster, vor dem sich das Mühlrad drehte. »Ich kann dich nicht lieben. Aber ich habe dich gemocht. Und was kann ich anderes tun als mich fügen? Nein, nicht jetzt, faß mich nicht an. Deine Eltern sind unten, sie werden uns hören.« »Wann?« »Morgen. Morgen fahren sie zum Markt. Gib mir die Briefe, und dann sollst du deinen Willen haben.« »Kann ich mich auf dich verlassen? Versprichst du’s mir?« Sie nickte und wandte sich ihm zu. Er war verblüfft über diese Verwandlung, sie schien mit einem Mal nachgiebig geworden zu sein, seine Härte hatte sich ausgezahlt. Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange. »Ich habe dir weh getan, das tut mir leid. Du wirst zart mit mir sein, nicht wahr? Und jetzt gib mir die Briefe.« Sanft knöpfte sie ihm das Hemd auf und schob ihre Hand hinein. Er spürte ihre kühlen Finger auf seiner Haut. Es erregte ihn. Er versuchte, sie in die Arme zu schließen. Sie küßte ihn flüchtig auf die Wange. »Geduld, mein armer Schatz, hab ein wenig Geduld.« Sie entwand sich ihm. »Morgen, wenn deine Eltern auf dem Markt sind«, flüsterte sie. »Geh jetzt, sonst werden sie -226-
mißtrauisch.« Als er aus dem Zimmer war, verriegelte sie die Tür, setzte sich aufs Bett und zählte die Briefe. Keiner fehlte. Warum hatte sie sie nicht schon längst verbrannt? Wie hatte sie je denken können, ihr Zimmer hier sei wirklich ihr Eigentum und unantastbar? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis wie das Mühlrad. Ihr war, als sei sie zwischen zwei Mühlsteine geraten. Bei Einbruch der Dunkelheit stahl sich Grace aus dem Haus. Auf der Schulter trug sie die Truhe, die sie mit der einen Hand festhielt, in der anderen hatte sie ihre Ledertasche. Ohne zu zögern, schlug sie den Pfad ein, der am Damm vorbei in die Wälder an der Flußmündung führte. Der Weg war mit Zweigen übersät, die der Wind von den Bäumen gerissen hatte, und sie stolperte oft. Sie hatte keine Laterne, und die tiefhängenden, schnell dahinziehenden Wolken ließen den fahlen Himmel kaum sehen. Mehr als einmal mußte sie ihre Last absetzen, doch dann nahm sie sie wieder auf und ging weiter. Sie würde nicht umkehren, um nichts in der Welt. Als sie schließlich aus dem Wald auftauchte, fand sie sich oberhalb einer abschüssigen Wiese wieder. Dahinter war auf der einen Seite verschwommen die östliche Landspitze zu erkennen, auf der anderen der Back. Man konnte die tosende Brandung hören, fast spüren, doch sie zeigte sich nur als schmaler blasser Streifen. Wo sich Land und Meer begegneten, stand ein kleines Haus mit zwei Schornsteinen. Von dem Grau der Landschaft hob sich warm der bernsteingelbe Schein ab, der aus einem Fenster im Erdgeschoß drang, das einzige Licht weit und breit, Grace eilte darauf zu. Das nasse Gras der Wiese zog an ihrem Rock. Es fiel Grace schwer, gegen ihre Müdigkeit und ihre Angst anzukämpfen. Sie war Ronald entronnen, und er hatte ihr den Vorwand geliefert, sich Jan King zu nähern, doch auf was ließ sie sich da ein? Als sie an den Armouth kam, brachen Erinnerungen an ihren Bruder wie eine Flutwelle über sie herein. Sie hörte ihn lachen. -227-
Es war, als ginge er neben ihr, als machte er sich über die Elemente lustig, wie er sich über das Leben lustig gemacht hatte. Sie blieb stehen. Vor ihr lagen die baufälligen Schuppen, in denen die Fischer ihr Angelgerät verwahrten. Ein großer Flicken aus altem Segeltuch hatte sich von einem der Dächer gelöst und flatterte heftig im Wind. Grace konnte nicht anders, sie mußte in den Schatten zwischen den Schuppen spähen, als erwarte sie jeden Moment, Frank zu sehen, der hier auf sie wartete. Vor dem Fenster des kleinen Hauses hing kein Vorhang. Durch die blinde Scheibe erkannte sie verschwommen einen spärlich möblierten Raum. Auf dem Tisch lagen ein Messer und ein großes Stück Käse, neben dem ein irdener Krug stand. Kleider waren unordentlich über einen Stuhl geworfen. Im Kamin flackerte ein kleiner Stoß Treibholz. Davor saß, auf einem weiteren unbequemen Stuhl, den Rücken zu ihr gekehrt, ein Mann. Schlief er? Doch nein, er saß ganz aufrecht. Im Feuerschein sah sie nur seine Silhouette; sein Schatten huschte unruhig über den Boden. Er schien tief in seine Einsamkeit versunken. Grace wartete darauf, daß er sich bewegte, doch er hätte aus Stein gemeißelt sein können. Sie staunte über seine Geduld; die Stunden mußten hier langsam vergehen. Ein Schauder überlief sie. Jetzt, wo sie still dastand, spürte sie den kalten Regen, und der Wind faßte unter ihren Umhang. Sie stellte Truhe und Tasche ab, hob die Hand und scharrte mit den Fingernägeln am Fensterglas. Erst rührte sich nichts; Jan King schien mit Mühe aus einem Traum zu erwachen. Dann drehte er den Kopf zum Fenster, doch sie war nicht sicher, ob er sie gesehen hatte. Sie scharrte wieder am Glas. Diesmal stand er auf, zündete eine Kerze am Feuer an und kam so nah ans Fenster, daß sich ihre Stirnen berührt hätten, wäre die Scheibe nicht dazwischen gewesen. Das Gesicht, das Grace durch das Glas betrachtete, war ihr wohlvertraut: Die tiefliegenden, durchdringenden, eng -228-
zusammenstehenden Augen, die scharfe Nase, die straffen Wangen mit den langen Koteletten, der ausdrucksvolle Mund. Doch nun waren seine Züge nicht starr vor Entsetzen wie damals auf dem Kliff, sondern von Staunen und Besorgnis erfüllt. »Komm schnell rein, Mädchen, du wirst ja tropfnaß!« rief er, als er die wacklige Haustür aufriß. »Komm rein, da draußen holst du dir den Tod! Gib mir die Kiste da. Wie hast du das geschafft, daß du die Sachen so weit getragen hast? Na, nun komm schon rein. Was stehst du da draußen rum? Komm rein und mach die Tür zu.« Grace blieb auf der Schwelle, schlotternd vor Kälte. Sie wollte gern eintreten, aber erst mußte eine Abmachung getroffen werden. »Ich will nicht vom Regen in die Traufe geraten.« »Wie meinst du das?« »Kann ich dir vertrauen? Wirst du mich achten?« »Natürlich, Grace, du kennst mich doch. Aber warum bist du weg von der Langstone-Mühle?« »Ich konnte dort nicht mehr bleiben.« »Warum nicht?« »Ronald... Und ich dachte, du würdest vielleicht... Du hast gesagt, wenn du einmal etwas für mich tun könntest...« »Ronald! Der Satan! Ich schlag’ ihn kurz und klein! Ich bring’ ihn um, wenn du willst. Hat er... hat er dir was angetan?« »Er hätte es getan, wenn ich geblieben wäre.« »Das kann dir hier nicht passieren, verlaß dich drauf. Komm rein, Grace, und fühl dich wie zu Hause.« »Es ist also abgemacht«, sagte sie und stellte ihre Truhe hinter die Tür. »Gibst du mir deine Hand darauf, schwörst du mir, daß es mir hier nicht so geht wie in der Mühle?« »Vom Regen in die Traufe...« wiederholte Jan. »Nein, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« -229-
»Ich mache mir aber welche«, sagte Grace, seinen festen Händedruck erwidernd. »Schließlich bist du ein Mann, nicht wahr? Ich muß ein Zimmer für mich haben. Wir wollen nicht so tun, als liebten wir uns. Ich würde kaum vor Ronald davonlaufen, um mich dir in die Arme zu werfen, oder?« Von dem Augenblick an, da sie über die Schwelle trat, schien Grace die Herrin im Haus zu sein. Nach ein paar Minuten war der Tisch aufgeräumt, hingen die Kleider am Haken neben der Tür, hatte Jan die Anweisung, das Feuer zu schüren. Als in der Küche alles zu ihrer Zufriedenheit geordnet war, setzte sich Grace an den Tisch, stützte das Kinn in beide Hände und betrachtete Jan mit einem leisen Lächeln. »Weißt du, was?« sagte sie. »Ich glaube, ich habe dich falsch eingeschätzt. Ich habe dir morgen einen Vorschlag zu machen – etwas Geschäftliches, Aber erst einmal ist es Zeit zu schlafen. Zeigst du mir meine Kammer?« »Kannst du’s mir nicht gleich sagen?« »Ich bin müde, siehst du das nicht? Morgen ist noch Zeit genug. Wir haben keine Eile... es sei denn, du möchtest mich loswerden.« Nachdem er sie auf ihr Zimmer geführt hatte, setzte sich Jan wieder vor den Kamin. Er konnte nicht schlafen. So oft hatte er von Grace geträumt, und nun war sie da. Er fragte sich, welchen Vorschlag sie ihm zu machen hatte. Was es auch war, er würde es tun, solange sie nur bei ihm am Armouth blieb. Als Grace am nächsten Morgen erwachte, war alles still im Haus. Sie trat im Nachthemd ans Fenster und sah eine neue Welt. Obwohl sie ihr Leben lang nahe der See gewohnt hatte, höchstens eine Meile von hier entfernt, kam dieser Morgen am Armouth, am Meeresstrand, einer Offenbarung gleich. Die ganze Nacht waren die Wellen gegen den Back gebrandet. Sie hatten ihn überspült und waren in der Bucht dahinter verebbt, an der die Schuppen der Fischer standen und -230-
Jan Kings Boote im Gras lagen. Sie waren am Ufer entlanggerauscht, hatten es reingefegt und fächerartige Spuren hinterlassen. Da und dort kreisten Austernfischer und Brachvögel in der Luft und riefen, oder sie rannten flink hinter den Sandhüpfern am Ufer her. Das Strandgras war niedergedrückt vom Sturm und glitzerte feucht. Zu beiden Seiten des Armouth dehnten sich Schlickflächen, Tümpel und Sand, und dazwischen strömte der dunkle, eilige Fluß, vom Hochwasser angeschwollen. Ja, es war eine neue Welt, über Nacht von der See und dem Sturm geschaffen, so schien es Grace. Der Himmel war voller weißer und rötlich schimmernder Wolken, die über den Armouth dahinzogen. Das Meer, geglättet von einer ablandigen Brise, zeigte alle Farben zwischen dunklem Violett und lichtestem Aquamarin. Grace öffnete das Schiebefenster und atmete die frische, prickelnde Luft. In einiger Entfernung schlenderte zwischen den Tümpeln ein einsamer Mann dahin. Plötzlich begann er zu rennen und ließ die Arme kreisen wie Windmühlenflügel. Eine Schar Möwen, die er aufgescheucht hatte, flatterte empor. Der Mann war Jan King, und die ganze Mündung war sein Reich. Als Jan von seinem Spaziergang zurückkehrte, traf er Grace bei den Booten, die oberhalb der Hochwassermarke für den Winter aufgelegt waren. Sie stand neben der leckgeschlagenen Gig und sah fröhlich, ja strahlend aus. Jan hätte einen vorwurfsvollen Blick erwartet, denn dies war schließlich das Boot, das samt Ivor Triggs gekentert und geborgen worden war... Doch ihre Augen leuchteten; der Wind wühlte in ihrem Haar; ihre Wangen schimmerten. Jan King betrachtete sie gebannt. »Fahren wir hinaus?« fragte sie. »Nicht mit dem«, antwortete er. »Dann mit einem von den anderen.« -231-
»Du weißt wohl nicht, was für ’ne Jahreszeit wir haben?« fragte er gutmütig. Sie überhörte es. »Wenn wir bald hinausfahren und ihn finden, können wir anfangen.« »Wen finden?« »Den Franzosen.« »Das meinst du doch nicht ernst, Grace, oder?« »Wir müssen ihn finden, sonst können wir nicht mit unserem Geschäft beginnen.« Jan King blickte zu Boden und trat gegen ein Grasbüschel. »Ohne mich. Ich hab’ aufgehört mit ’in Schmuggeln, und dabei bleibt’s. Du hast deinen Frank verloren – ist das nicht genug? Mir war’s genug, ich hab’s nicht vergessen, auch wenn du’s vergessen hast. Du hast gesagt, daß du mir nie verzeihst, und jetzt sagst du, wir sollen zusammen was anfangen, und ausgerechnet das.« »Wie sollen wir sonst je aus Harberscombe wegkommen? Wie sonst Geld verdienen? Willst du nicht etwas aus dir machen? Welchen Sinn hat ein Leben, das nichts als Mühe und Arbeit ist?« »Ich bin zufrieden, ich bin gerne Fischer. Ist nichts Verkehrtes, wenn man sich sein Geld ehrlich verdient.« »Wenn man sich sein Geld ehrlich verdient«, wiederholte Grace höhnisch. »Davon kannst du vor dich hinkümmern, aber nicht leben, und so wollen es ja die Herren, damit wir nicht reich werden und an fein gedeckten Tischen speisen wie sie. Mit ehrlicher Arbeit, Jan King, bringst du es zu nichts auf dieser Welt.« »Du bist gut. Erst sagst du, ich bin schuld an dem, was deinem Bruder passiert ist, und dann... Hör mal, Grace, das hat mich genauso krank gemacht wie dich. Und ich hab’ mir gesagt, mit ’in Schmuggeln ist Schluß, das mach’ ich nie wieder.« -232-
»Hast du etwa Angst? Die Leute sagen, dein Vater sei ein mutiger Mann gewesen und habe die Schiffe bei jedem Wetter über den Back gelotst.« »So, sagen sie das? Tja, dafür ist mein Vater auch tot, und ich leb’ noch.« »Nun reg dich nicht auf«, sagte Grace gelassen. »Es war ein Vorschlag, mehr nicht, und du freust dich sicher, wenn ich bald wieder fort bin.« »Das hab’ ich nicht gesagt.« »Gut, dann laß es dir durch den Kopf gehen. – Wollen wir jetzt hinausfahren? Der Tag ist schön, und du kannst mich auf die Probe stellen, kannst sehen, wie ich als Partner bin.« Jan blickte meerwärts; er war offenkundig in Versuchung. »Jetzt steigt das Wasser, da geht’s, aber wenn Ebbe ist, bricht sich die Brandung am Back und wir kommen nicht mehr rüber.« »Darüber werden wir später nachdenken. Und nun laß uns etwas essen. Komm mit ins Haus, ich mache Frühstück für dich.« Er fand es merkwürdig, in seiner Küche zu sitzen und bedient zu werden. Es erinnerte ihn an die Zeit, als seine Mutter noch gelebt hatte. Das Haus war warm; Grace hatte Feuer angezündet und die Spinnweben aus allen Ecken entfernt. Als sie ihm gegenübersaß und Haferbrei auf seinen Teller schöpfte, lächelte sie ihn an, und er hatte das Gefühl, daß eine lange, schwere Strafe endlich vorüber sei. Ein Wunder war geschehen, Grace hatte bei ihm Hilfe und Freundschaft gesucht. Und das hatte er, seltsam genug, Ronald Coyte zu verdanken. Gottes Wege waren wunderbar. Jan war noch nie so glücklich gewesen. Diana Lackland ließ sich in der folgenden Woche nicht in der Kirche blicken. Optimus suchte sie vergebens in ihrer Bank unter der Kanzel. Nach dem Gottesdienst trat er unauffällig an -233-
Mrs. Treebie heran und fragte sie nach dem Grund. »Die gnädige Frau Ist unpäßlich«, sagte Mrs. Treebie. »Ist es etwas Ernsthaftes? Ich werde sie sofort besuchen.« »Sie hat gesagt, sie will nicht gestört werden. Von niemandem.« Optimus war verdattert. Er konnte ja verstehen, daß sich Diana Lackland nicht wohl fühlte, aber daß sie ihn nicht sehen wollte, vermochte er nicht zu begreifen. »Das meint sie doch sicher nicht so.« »O doch. Wenn Sie hingehen und sie stören, werden Sie selber sehen, daß die Tür zu ist und ’n Riegel davor. Als ich weg bin, hat sie zu meinem Mann gesagt, er soll alles abschließen. Ich hab’s gehört.« »Aber... was hat sie denn? Ich bin in großer Sorge, ich muß sie sehen.« »Lassen Sie sich ’n guten Rat von mir geben, junger Mann«, sagte Mrs. Treebie wichtigtuerisch. »Wenn jemand Sie nicht sehen will, dann lassen Sie den bloß in Frieden. Hat keinen Sinn, daß Sie hingehen. Haben Sie Pastor Lackland nicht gesehen? Haben Sie nicht gemerkt, was der für ’ne Laune hat?« »Was hat das mit mir zu tun? Um so mehr Grund, seine Gattin zu bedauern.« »Aber nicht für Sie, Mr. Shute. Muß ich noch ’n bißchen deutlicher werden? Mrs. Lackland will Ihren Trost nicht.« Und auch jetzt hatte Optimus noch Mühe, es zu glauben. Er fühlte sich verletzt, abgewiesen. Hatte Jan King sich auch so gefühlt? Wahrscheinlich noch viel schlimmer. Als Mrs, Treebie gegangen war, trat Optimus unter das Portal, wo Pfarrer Lackland gerade den letzten Gemeindemitgliedern die Hand drückte. Optimus wartete, bis sich alle verabschiedet hatten. Dann wandte er sich an den Pfarrer. »Ich bedaure zu hören, daß Ihre Gattin unpäßlich ist. Würden Sie ihr bitte ausrichten, daß ich ihr baldige Genesung wünsche?« -234-
»Unpäßlich?« rief Lackland. »Sie ist kerngesund. Als ich ging, spielte sie vierhändig Klavier mit Carfax, dem neuen Vikar. Sie sagte, er sei noch zu müde von der langen Reise, um sich gleich in den Ornat zu werfen, er solle sich erst in aller Ruhe bei uns eingewöhnen. Ich streite grundsätzlich nicht mit ihr, ich habe meine Lektion schon vor geraumer Zeit gelernt.« Das war es also. Optimus murmelte irgend etwas Unverbindliches und stolperte davon. Er hatte nicht damit gerechnet, daß ihn dies so treffen würde. Doch er konnte nicht leugnen, daß er eifersüchtig war. Er bewunderte Diana Lackland nicht, er liebte sie nicht – jedenfalls nicht so, wie er die Frau seiner Träume liebte –, aber er war tatsächlich eifersüchtig. Was empfand er für Diana Lackland? War es Begierde oder war es mehr? Er versuchte, sich auf ihr Gesicht zu besinnen, doch er sah nur ein spöttisches Lächeln. Aber er erinnerte sich an ihren Körper, ihren Körper mit seinem Moschusduft, mit seiner Weichheit. Sie hatte sich ihm angeboten, doch er hatte nicht gewußt, wie er sich verhalten sollte. Waren alle Frauen so? Grace Pensilva auch? Nein, er konnte nicht glauben, daß Grace so billig zu haben war. Zum ersten Mal in seinem Leben mußte Optimus entdecken, daß er seine Gefühle nicht mehr in der Gewalt hatte. Er war zornig, eifersüchtig auf einen Fremden, betört von einer Frau, die ihn zurückwies. Er ballte die Fäuste und lief zur Mündung des Arun hinunter. Als er aus dem Wald auftauchte, flogen einige erschreckte Wildenten aus dem Ried auf. Dann knallten zwei scharfe Schüsse, und ein paar Enten stürzten ins Wasser. Ein Spaniel schwamm hinter ihnen her, und ein Mann trat aus dem Versteck, in dem er gelauert hatte. Er winkte Optimus zu und kam ihm entgegen, nachdem er dem Spaniel die Enten abgenommen hatte. Optimus war nicht allzu erfreut; er hätte es vorgezogen, mit seinem Kummer allein zu sein. -235-
»Dachte ich mir doch, daß Sie es sind!« rief der Mann. Es war Charles Barker. »Hier«, sagte er, als er vor Optimus stand, »nehmen Sie eine von den Enten mit nach Hause und teilen Sie sie sich mit Dr. Cornish. Wie geht es dem alten Knaben?« »Nicht besonders gut«, antwortete Optimus. »Irgend etwas ist mit ihm.« »Das tut mir leid. Aber Sie sehen auch nicht besonders wohl aus, eher so, als sei Ihnen gerade der Himmel auf den Kopf gefallen. Was fehlt Ihnen, junger Mann? Pech in der Liebe?« Optimus schüttelte den Kopf. »Ach, ich bin nur etwas schlecht gelaunt.« »Nun, ich will Sie nicht ausfragen, aber ich kenne die Symptome. Frederick Genteel war eine Zeit lang genauso, strich ziellos durchs Schloß und durch den Park. Kommen Sie, begleiten Sie mich, ich muß Ihnen etwas zeigen; ich habe die Briefe gefunden. Und ich bin nach reiflicher Überlegung zu dem Schluß gelangt, daß Sie ruhig einen Blick hineinwerfen können. Was kann es schaden? Sie sind beide nicht mehr.« Optimus ging lustlos mit. Vor zehn Tagen wäre er begeistert gewesen; nun war Grace Pensilva, so schien es, nur noch ein Schatten. Optimus sehnte sich nach Diana Lackland. Er fand es schwierig, Charles Barker zuzuhören. »Scully, der alte Scully von der Langstone-Mühle«, sagte der Gutsverwalter gerade, »ich wollte ihn nie dort haben – er ist ein übler Halunke. Aber Miss Nancy bestand darauf; sie sagte, sie sei ihm das schuldig. Dabei ist der Mann ein Faulpelz. Gewiß, es hätte schlimmer kommen können, sie hätte auch sagen können, ich soll den Coytes das Anwesen wieder zur Pacht geben, nachdem ihr Bruder sie hinausgeworfen hatte. Aber Ronald war ihr genug, und sie war froh, daß die Alten weg waren; Janet Coyte hatte ein böses Mundwerk und billigte es ganz und gar nicht, was sich Nancy mit ihrem kleinen Liebling erlaubte.« Sie hatten den Damm bei der Mühle überquert, aus -236-
deren Schornstein ein dünner Faden Rauch stieg. Barker verhielt den Schritt und blickte zurück. »Sie kennen Scully natürlich. Sein Sohn ist einer Ihrer Schüler. Aber ich nehme an, daß er Ihnen nicht erzählt hat, welche Rolle er beim Küstenschutz spielte. Und ich mochte wetten, daß er Ihnen auch nicht von seiner Reise nach Malta berichtet hat. Scully gibt freiwillig absolut nichts preis, es sei denn, es lohnt sich für ihn. Er weiß mehr von Grace Pensilva als die meisten, aber stolz kann er nicht darauf sein. Sie hat ihn zum Narren gehalten, und er wiederum hat Mr. Hawkins, den Zolleinnehmer, wie einen Narren aussehen lassen. Scully hatte Grund genug, Grace zu hassen.« »Sie kam unbehelligt davon, als Jack Lugger an der Straße nach Uglington niedergeschossen wurde, nicht wahr?« »Mehr als das, ihr gelang ein ganz großer Coup, der beim Zoll heillose Verwirrung stiftete. Hat Ihnen noch niemand davon erzählt?« Zu jeder anderen Zeit wäre Optimus erstaunt, ja entzückt darüber gewesen, was Charles Barker ihm alles anvertraute, doch heute hörte er nur mit halbem Ohr zu. »Grace Pensilva ist hier überall zu spüren«, sagte Barker, als sie auf einem schmalen Steg den Arun überquerten. »Dort drüben auf der Wiese pflegte Frederick Genteel auf einem Baumstamm zu sitzen und auf sie zu warten. Sie ruderte immer mit der Gig flußaufwärts, wenn die Flut kam. Vielleicht begegnete er ihr dort auch zum ersten Mal, als sie das Gelände auskundschaftete. Wie dem auch sei, es wurde zur festen Gewohnheit. Frederick nahm am Abend seine Angelrute – er fing nie etwas – und spazierte von Leet zum Fluß hinunter. Ich habe die beiden dort viele Male gesehen; er brachte oft ein Buch mit, und sie lasen und redeten... Es war immer äußerst wohlanständig. Ich war in das Geheimnis eingeweiht; Frederick vertraute mir. Ich glaube, ich war der einzige Freund, den er hier hatte. Ich glaube, er war ziemlich heftig in sie verliebt, aber er war auch etwas weltfremd und wußte nicht recht, was er daraus -237-
machen sollte.« Im Gehen warf Charles Barker immer wieder einen raschen, fast bangen Blick nach der breiten Fassade des alten Schlosses, die sie nun passierten. Auch Optimus sah hinüber, konnte aber niemanden hinter den Fenstern entdecken. »Da sind wir«, sagte Barker, als sie sich dem Pförtnerhaus näherten. »Sie kommen doch noch auf einen Sprung herein, nicht wahr? Obwohl Sie heute eher ein Ritter von der traurigen Gestalt sind und sogar das Sprechen verlernt zu haben scheinen. Ach, die Frauen! Wer sonst könnte einen Mann so bedrücken, so zur Verzweiflung treiben. Gott sei Dank bin ich davon verschont geblieben, bislang zumindest...« In diesem Moment beneidete Optimus den Gutsverwalter fast. Die See war still, lange, sanfte Wellen schlugen glucksend gegen die Felsen, an denen Jan King vorbeiruderte, auf die westliche Landspitze der Mündung zu. Grace saß auf der Ducht im Heck und genoß den Meerblick, der sich auf dem Weg zum Barrow vor ihnen auftat. Abgesehen von ihrem kleinen Boot war die Bucht völlig leer, und außer Jans Haus am Ufer des Armouth deutete nichts darauf hin, daß dieser Küstenstrich von Menschen bewohnt war. »Es ist doch gar nicht so schlimm, wie du gesagt hast, oder?« fragte Grace lächelnd. Jan nickte. Er hatte wenig gesagt; er hatte die meiste Zeit damit verbracht, Grace anzusehen, und nur dann und wann hinter sich geblickt, um zu prüfen, ob er den Kurs hielt, während er das Boot mit langen, leichten Ruderschlägen durchs Wasser bewegte. »Ist es nicht herrlich, daß wir all das für uns haben? Es ist, als gehörte uns die ganze Welt. Glaubst du, daß wir miteinander auskommen können?« »Ich hoff’s.« »Reparierst du die Gig, wenn ich dir das Geld dafür gebe?« »Ich überleg’s mir.« »Ich kann auch gehen, wenn du mich nicht haben willst; ich -238-
kann auf Leet eine Stelle bekommen.« »Dräng mich nicht. Alles ist so plötzlich gekommen... Ich hab’s noch gar nicht richtig begriffen.« Als Grace und Jan aus dem Windschatten der Mündung auftauchten, pfiff ihnen plötzlich eine steife Brise um die Ohren, ein kalter, böiger Nordwestwind, der aufs offene Meer hinauswehte und das Wasser kräuselte. »Wird Zeit, daß wir umkehren«, sagte Jan. »Was ist das da draußen?« fragte Grace und deutete auf den Teil der Bucht, der hinter dem Barrow in Sicht gekommen war. Ein Besankutter oder eine Ketsch, die nicht alle Segel gesetzt hatte, näherte sich von Westen. »Könnte das nicht der Franzose sein? Wie heißt der Kapitän? Frank hat es mir einmal gesagt, aber ich habe es wieder vergessen.« »Der heißt Caradec«, antwortete Jan, »aber ich glaub’ nicht, daß er’s ist, nicht so spät im Jahr.« »Kannst du nicht hinausrudern und nachsehen? Er wird nicht allzu weit von hier vorbeifahren.« »Ich weiß nicht. Wir rudern besser zurück, sonst ist Ebbe, und wir kommen nicht über’n Back.« »Bitte. Mir zuliebe.« »Na schön, aber nicht lange.« Jan bereute seine Entscheidung bald; der Wind frischte auf, als sie von der Küste freikamen. Und das Schiff machte so rasche Fahrt, daß sie es unmöglich einholen konnten. Jan stützte sich auf die Riemen, als er eine gute Strecke gerudert war, und beobachtete, wie es in der Ferne verschwand. »War es der Franzose?« »Ja, das war Caradec, das war sein Schiff, die Ar Mor.« »Warum hast du dich nicht mehr angestrengt?« »Das siehst du gleich, wenn wir zurückrudern.« Jan gelang es nur mit Mühe, das Boot in den Wind zu drehen. -239-
Gischt begann über den Bug zu sprühen, und obwohl er unverdrossen pullte, kamen sie nur quälend langsam voran. Er war kräftig, doch bei dem starken Wind und dem kurzen, unregelmäßigen Seegang vor der Küste blieben sie fast auf der Stelle. Er hatte keine Hoffnung, daß sie den Back und den Priel dahinter erreichten, bevor sie in die Gegenströmung der Ebbe gerieten. »Jetzt sitzen wir deinetwegen in der Tinte«, brummte er verärgert. »Rück ein Stückchen, ich helfe dir«, sagte Grace und setzte sich neben ihn auf die Ducht in der Mitte. Durch diesen Platzwechsel verloren sie etliche Meter, aber die Kraft von zwei Ruderern machte mehr aus, als Jan gedacht hatte. Grace pullte mit aller Kraft, und sie näherten sich langsam der Küste. Doch damit war es noch nicht getan. Als sie wieder in den Windschatten der Landspitze eintauchten, hörte Jan, wie die Brandung gegen die Sandbank toste. Es würde nicht einfach sein, am Back vorbei in den Priel zurückzukommen. Aber es war andererseits viel zu kalt, auf See zu bleiben. »Ich versuch’s jetzt gleich«, sagte Jan. »Noch ist es nicht so gefährlich. Aber nimm für alle Fälle den Eimer.« Zum ersten Mal hatte Grace ein unbehagliches Gefühl. Im Gegensatz zu Jan hatte sie bei der Ausfahrt nicht erkannt, welch ungeheure Gewalt in der sanften Dünung schlummerte. Nun, unterlaufen vom Ebbstrom, schäumten die Wogen steil empor, bevor sie sich in brodelndem Gischt überschlugen. Sie schienen die Sandbank unpassierbar zu machen. Und auch von hinten brandeten gewaltige Wellen heran. Sie entstanden an einem Riff, das vorher, solange Flut geherrscht hatte, nicht zu sehen gewesen war. Jan beobachtete die Wellen genau. Er hatte das Boot vor den Back gerudert, genau an die Stelle, wo sich der Fluß sein Bett durch die Sandbank gegraben hatte. Doch seine Aufmerksamkeit galt dem Riff, bei dem sich in rascher Folge Woge auf Woge türmte. Er wartete. Die Wellen war nicht alle -240-
gleich; zwischen den hohen Brechern gab es Pausen mit leichterem Seegang. Grace saß wieder auf der hinteren Ducht und umklammerte den Rand des Eimers. Sie waren allein auf sich gestellt. Weit und breit war an den Ufern der Mündung kein Mensch zu sehen, der Alarm schlagen oder versuchen konnte, sie zu retten. Außerdem brandeten die Wogen so hoch, daß es den Rettern nicht besser ergehen würde als Jan und Grace. Jans Gesicht war ruhig, fast gelöst. Grace merkte, daß er in seinem Element war; er kannte die Gefahr, er war mit ihr vertraut und schätzte sie ab. Wäre da nicht jene Sache zwischen ihnen gewesen, hätte Grace ihn bewundert. Die Sturzwelle, die gerade das Riff überspült hatte, lief hinter ihnen aus, und sie spürten beide, wie sie mit heftiger Bewegung unter dem Boot durchfloß. Kurz vor der Sandbank schwoll sie plötzlich wieder an. Mit ungeheurer Wucht schäumte sie über den Back hinweg. Jan wartete die nächste Woge ab, die übers Riff schlug. Sie war wesentlich kleiner. Jan lehnte sich weit zurück; die Riemen bogen sich unter der Kraft seiner Muskeln. Obwohl diese Welle nicht so hoch war wie die vorige, türmte sie sich drohend genug hinter ihnen auf. Auf ihrer steilen Front bildete sich eine Schaumkrone. Sie näherte sich dem Boot und erfaßte das Heck. Es wurde so weit emporgehoben, daß Grace sich festhalten mußte, um nicht von der Ruderbank geschleudert zu werden. Der Bug tauchte fast unter. Einen Moment lang waren sie in Gefahr zu kentern. Sie sausten dahin wie ein Schlitten am Hang, und Jan mühte sich mit den Rudern ab, um das Boot auf Kurs zu halten. Eine Weile gelang es ihm auch. Doch dann begann das Boot trotz seiner Anstrengungen nach Backbord zu gieren und sich dem halb unter Wasser liegenden Back zu nähern. Es drehte sich quer zu der Welle und legte sich bedrohlich auf die Steuerbordseite. Und hinter ihnen überschlug sich der Wellenkamm. -241-
»Schnell, nach Backbord, sonst ist alles aus!« schrie Jan, als der Bug vollzuschlagen begann. Das Boot richtete sich unter ihrer beider Gewicht wieder auf, doch nun brach der Wellenberg über sie herein. Halb voll Wasser, in seiner rasenden Fahrt gebremst, schlingerte das Boot nur einige Yard vom Back entfernt. »Schöpfen!« schrie Jan. »Schöpf, was du kannst!« Er packte die Riemen und drehte das Boot in die richtige Richtung zurück. Grace schöpfte mechanisch, hastig, den Blick auf die nächste Woge gerichtet, die rasch heranrollte. Es blieb keine Zeit, die Bilge auszuschöpfen; sie mußten diese Welle überstehen, so gut es ging. Die Welle kam, der Bug schlug voll, das Boot wurde langsamer. Grace wartete darauf, daß wieder eine Sturzsee über ihnen niederrauschte. Doch die blieb aus; die Woge war schon nicht mehr so kräftig, als sie sie erreichte. Hilflos nach Steuerbord krängend, wurden sie auf den Back zugeschwemmt, kamen ihm so nah, daß jeder Kiesel deutlich zu erkennen war. Das Boot war zu schwer, um sich noch mit den Rudern steuern zu lassen. War dies das Ende? Grace blickte Jan an. War es ihnen bestimmt, ausgerechnet ihnen, gemeinsam den Tod zu finden? Und so plötzlich, wie sie in die tosende Brandung hineingeraten waren, hatten sie sie überwunden. An der Sandbank vorbei trug die Strömung sie in den Armouth hinein, wo das Wasser fast unbewegt stand. Sie waren außer Gefahr. Grace und Jan standen einander gegenüber. Sie waren erschöpft und naß bis auf die Haut, jede Bewegung fiel ihnen schwer. Jan hob die Hand und drohte Grace mit dem Zeigefinger. Sie lächelte scheu. »Wir haben es geschafft«, sagte sie. »Ja, wir haben’s geschafft«, wiederholte er. »Aber wessen blöde Idee war das ganze?« -242-
»Meine«, erwiderte Grace entschlossen. »Und ich schäme mich nicht dafür. Du warst großartig, du warst wunderbar. Du siehst aus wie ein Mann, Jan King.« »Und du siehst aus wie ’n nasser Lappen, Grace Pensilva«, lachte er. Sie schüttete ihren Eimer über ihm aus. »Du auch, Jan King.« Er streckte die Arme aus, faßte ihre Schultern, schüttelte sie. Dann ließ er sie los und betrachtete sie lange. »Du hast Mut, Grace Pensilva.« »Soviel Mut wie ein Mann?« »Mehr.« »Dann sind wir Partner, ja? Schlägst du ein?« »Willst du am Armouth wohnen bleiben, bei ’nem armen Fischer?« Sie drückte ihm mit unverstellter Herzlichkeit die Hand, und er vergaß das vollgeschlagene Boot, seine nassen Kleider und die Anstrengung, die er hinter sich hatte. »Du bist nicht mehr lange arm, Jan King; dafür werde ich sorgen. Und jetzt rudere uns nach Hause, wir müssen ins Warme. Ich schöpfe das Boot aus, bis wir dort sind.« Jan King konnte es kaum fassen. Gestern noch war er allein gewesen, und heute war diese erregende, unberechenbare Frau seine Partnerin. Und während sie sich mit dem Eimer abmühte, zeichnete sich ihr herrlicher Körper unter ihrem nassen Kleid ab. Endlich hatte er auch einmal Glück. Ein Schatten tauchte hinter dem Schilf auf und glitt den gewundenen Fluß entlang. Die Nacht war fast schwarz; nur ein schwacher Schein zeigte, in welche Richtung der Tidenstrom floß – es war Flut. Allmählich gewann der Schatten an Deutlichkeit: Es war ein Boot, und darin stand eine Frau, die es mit wenigen geräuschlosen Ruderschlägen lenkte. Ansonsten war das Boot mit geteertem Segeltuch abgedeckt, das verbarg, -243-
was es geladen hatte. Wo das Ried endete, war ein neuer Damm zum Schutz der Wiesen gebaut worden, und die Fahrrinne verengte sich plötzlich. »Guten Abend!« Eine klare Stimme schallte unerwartet vom rechten Ufer herüber. »Guten Abend, Frederick«, erwiderte Grace, ohne zu zögern. »Dieses Wasser ist gefährlich bei Nacht; seien Sie auf der Hut, Grace, seien Sie auf der Hut!« »Ich rudere hier, wann immer ich will; kein Gesetz verbietet das.« »Mir wäre es Heber, Sie würden umkehren.« »Warum? Wissen Sie etwas?« »Nicht sicher.« »Dann behalten Sie Ihre Sorgen für sich.« Grace ruderte weiter. Nach ein paar hundert Yard rührte sich etwas unter dem Segeltuch am Bug. »Hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte auf ihn geschossen«, flüsterte Jan. »Er hat’s ja richtig gewollt – was mußte er plötzlich so losschreien.« »Du wärst ein schöner Narr gewesen, wenn du es getan hättest«, bemerkte Grace trocken. »Und jetzt duck dich und sei still. Wir sind gleich am Ziel und können keinen Ärger brauchen.« Grace ruderte im Stehen und blickte nach vorn, damit sie sehen konnte, wohin sie fuhr. Es gab nicht viel zu tun; der Tidenstrom trug sie sacht voran. Rechter Hand standen einige hohe Bäume. Dahinter steuerte das Boot in eine tiefe Stelle, an der der Fluß breiter wurde und das Vieh bei Ebbe trank. Grace versuchte, den Schatten mit prüfendem Blick zu durchdringen. Am Ufer gab es eine fast unmerkliche Bewegung. Sie kniete nieder und nahm ein Paar Pistolen zur Hand, die geladen auf der -244-
Ruderbank lagen. Hinter den Bäumen hörte sie ein Pferd wiehern und stampfen. Vom Ufer kam ein leiser Pfiff. Grace antwortete darauf, doch sie hatte trockene Lippen, und ihr Pfiff war kaum mehr als ein Zischen. So oft sich der Vorgang auch wiederholte, es gab immer einen Moment der Bangigkeit, bis sie sicher war, daß es nicht der Küstenschutz war, der sie erwartete. Und Frederick Genteel hatte ihr geraten umzukehren... »Von wo weht der Wind?« fragte jemand. »Geradewegs von Frankreich«, erwiderte Grace mit einem Seufzer der Erleichterung. Sie hatte Jack Luggers Stimme erkannt. Er stieg mit seinen langschäftigen Stiefeln ins Wasser und faßte nach dem Bug, der über den felsigen Grund scharrte. Hinter ihm traten ein paar Männer aus dem Schatten hervor. »Hast du was dabei?« »Ja. Deine Kunden auch?« »Gebt mal die Beutel her«, sagte Jack Lugger über seine Schulter. »Und du, Grace, tu die Pistolen weg, du machst mich ganz nervös.« »Keine Sorge, ich habe noch nie auf jemanden geschossen.« »Muß sie auch nicht; Grace ist so schlau, daß sie das nicht nötig hat«, murmelte Jan King, der sich nun im Boot aufsetzte und beim Ausladen half. »Gut gemacht, Jack!« sagte Grace, als die Arbeit getan war. »Deine Männer sind eifrig bei der Sache – was sind das für Leute?« »Grubenarbeiter aus den Zinnbergwerken im Danmoor, und die können immer was brauchen.« »Dann brauchen wir ihnen wohl nicht zu sagen, daß sie sich auf dem Heimweg beeilen sollen, oder? Gute Nacht, Jack. Ich sag’ dir Bescheid, wenn die nächste Lieferung kommt.« Sie trennten sich rasch und leise. Grace ruderte das Boot die Biegungen bei Schloß Leet entlang, während Jan auf einer -245-
Ducht saß und im matten Licht der Sterne, das nun durch die Wolken drang, das Geld zählte. Als sie die Stelle passierten, an der Frederick Genteel sie angesprochen hatte, blickte er auf. Der Platz war leer. »Du triffst dich zu oft mit dem Gutsherrn, Grace«, murmelte Jan. »Das gefällt mir nicht.« »Das braucht dir auch nicht zu gefallen, du bist nicht mein Aufpasser. Und auch nicht mein Mann.« »Grace, sag so was nicht, mach’s nicht noch schlimmer. Triff dich einfach ’ne Weile nicht mit ihm, ja? Tu mir den Gefallen. War ich nicht immer anständig zu dir? Ich hab’ jetzt genug, ich lass’ mich nicht zum Esel machen.« »Und was willst du tun? Möchtest du, daß ich vom Armouth fortgehe?« »Immer dieselbe Frage. Natürlich nicht, aber haben wir nicht allmählich so viel Geld verdient, daß wir aufhören und zusammen weggehen können?« »Fast, Jan, fast. Aber noch nicht ganz.« »Und dann gehen wir? Ehrenwort?« »Ja, dann verlassen wir Harberscombe für immer.« »Ich weiß nicht, ob ich das will. Magst du nicht bei mir am Armouth bleiben? Ich war’ immer gut zu dir und...« Flußaufwärts, wo sie das Boot entladen hatten, dröhnte plötzlich eine Feuersalve. Jan riß entsetzt den Kopf herum; er rechnete mit weiteren Schüssen in ihrer Nähe, doch es war schon wieder still. »Sollen wir zurück?« fragte er. »Wir kämen zu spät, wir könnten ihnen nicht mehr helfen. Und das Wasser sinkt bereits. Sie müssen sich allein wehren.« »Du weißt auf alles ’ne Antwort«, grollte er. »Deswegen hast du auch nie mit den Pistolen da geschossen.« »Und ich habe auch jetzt nicht die Absicht. Wir sind -246-
Schmuggler, ja, aber keine Mörder. Komm, lös mich mal ab und rudere uns zum Armouth zurück.« »Er hat doch was gewußt, dein Frederick, oder?« bemerkte Jan, als er zu pullen begann. »Warum hat er das nicht gleich gesagt? Warum hat er nicht gesagt, wir sollen auf keinen Fall weiter?« »Weil er wußte, daß ich nicht auf ihn gehört hätte. Er kennt Grace Pensilva besser als du.« Optimus lächelte still in sich hinein. Er war derart ins Schreiben versunken gewesen, daß er Mrs. Lackland völlig vergessen hatte. Grace Pensilva dagegen war ein Mensch, auf den er sich verlassen konnte. Sie spielte nicht Katz und Maus mit ihm wie die Pfarrersfrau, sie spielte Katz und Maus mit Jan King. Optimus konnte Jans Eifersucht auf dem Rückweg zum Armouth spüren. Es war ein beklemmendes Gefühl. Er stand vor seinem Stehpult, die Feder in der Hand, und versuchte sich in Jan hineinzuversetzen. Vertraute er Grace? Nicht ganz. Obwohl er ihr vertrauen wollte. Er dachte nicht mehr daran, wie sie sich nach Franks Tod verhalten hatte. Aber dennoch gab es eine Schranke zwischen ihnen, die Grace geschaffen hatte. Darum ergrimmte ihn auch die zwanglose Vertraulichkeit zwischen ihr und Frederick Genteel. Wie lange konnte er, Jan King, mit der Frau, die er so sehr liebte, unter einem Dach leben, ohne sie zu berühren? Grace war sich dessen wohl bewußt, doch sie gab nicht nach, blieb immer kühl und gefaßt. Sie hatte Leidenschaft gekannt – es schien jetzt lange her zu sein –, eine Leidenschaft, die die anderen verdammten, aber das war vorbei. Sie war vernünftig geworden und berechnend, verwegen und erfolgreich, fast so, als wolle sie ein Mann in einer Männerwelt werden; der Mann, der Frank hätte sein können. Optimus hörte, wie die Uhr die volle Stunde schlug. Zehn -247-
Uhr. Er hatte noch Zeit, den Figuren noch etwas weiter zu folgen. Seine Feder klirrte leise, als er sie in das gläserne Tintenfaß tauchte. Dann kratzte sie wieder übers Papier. Auf der anderen Straßenseite brannte noch Licht in Dr. Cornishs Fenster. Der alte Herr schien so gut wie gar nicht mehr zu schlafen, er döste höchstens in seiner Ecke am Kamin und redete ansonsten unzusammenhängendes Zeug. Was hatte er gesagt, als Optimus zum ersten Mal bei ihm gewesen war? Er habe nicht mehr viel Zeit? Nun, er lebte immer noch. Dumpf klangen die unbeschlagenen Hufe der Esel, leise klirrte ihr Geschirr, als sie den Hügel herunterkamen. Gedämpfte Stimmen fluchten und flüsterten heftig miteinander. Vor dem Haus des Doktors hielten die Schatten an; ein Hagel von kleinen Steinen dröhnte gegen sein Schlafzimmerfenster. Bald steckte der junge Landarzt den mit einer Nachtmütze bedeckten Kopf aus dem Fenster. Im Schein der Sterne sah er undeutlich einen schlaffen Körper, der über den Rücken eines Esels gelegt war; Hände und Füße schleiften fast auf dem Boden. Hinter dem Tier stand der Mann, der die Steine geworfen hatte, und dahinter verlor sich eine Reihe von gedrungenen Gefallen und mit Satteltaschen bepackten Eseln im Dunkel. »Da hat’s jemanden erwischt«, wisperte der, der vorne stand. »Ich sehe es. Wer ist das?« »Kann Ihnen doch egal sein. Er ist verletzt, er braucht ’nen Arzt.« »Bringt ihn ums Haus herum. Ich mache euch auf.« Als die Männer ihren Kameraden über die Schwelle trugen, bemerkte der Doktor beim Schein seiner Kerze, daß Blut von den Fingern des Verwundeten tropfte. »Der blutet ja wie ein abgestochenes Schwein! Habt ihr noch nie was von einer Aderpresse gehört, Leute? Schnell, legt ihn -248-
auf den Küchentisch. Einer von euch holt Wasser und stellt es auf den Herd. Schürt das Feuer ein bißchen an.« Dr. Cornish war jetzt Herr der Lage. Die Fremden standen gegen die Wand gelehnt oder taten stumm, was er ihnen befohlen hatte. Als seine Petroleumlampe aufflammte, sah er, wer die Leute waren: Grubenarbeiter aus Ashburton, wilde Kerle in zerrissenen, mit Erde beschmutzten Kleidern. Und in dem Licht waren auch die Züge des Schwerverletzten auf dem Tisch zu erkennen: Es war Jack Lugger, der Kaninchenfänger. Der Mann war übel zugerichtet. Eine Pistolenkugel steckte in einer klaffenden Fleischwunde; eine Schnittwunde an der Stirn rührte offenbar von einem Entermesser her. Er war blaß, sein Atem ging flach und setzte zeitweise aus. Eigentlich war er schon fast tot. Bald waren die Unterarme des Doktors von Blut gerötet. Er schnitt die Kleider des Mannes auf, entfernte Stoffetzen und untersuchte die Wunden. Der Patient war ohne Bewußtsein und schien fast nichts zu spüren. Nur ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. »Den müßt ihr hierlassen«, sagte Dr. Cornish schließlich. »Der gehört nicht auf einen Esel, sondern ins Bett, und zwar sofort.« Ein langes Schweigen trat ein. »Sie wollen ihn uns nicht mitgeben?« fragte der Sprecher der Männer voll Argwohn. »Am Ende wird er deportiert – oder aufgeknüpft.« Doch der Doktor blieb fest. Er schüttelte den Kopf. »Solange ihr den Mund haltet, ist er hier sicher.« Als die Männer davongetrottet waren, betrachtete der Arzt seinen Patienten. Mit viel Glück würde er überleben. Dr. Cornish wußte, daß er seine Pflicht getan hatte, aber wenn die Behörden Wind von der Sache bekamen, würde es unangenehm werden, weitaus unangenehmer als das Blut auf seinem Küchentisch.
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Optimus erwachte neben einem großen Klecks, die Nase zwischen seinen Papieren. Er war im Stehen eingeschlafen und hatte dabei das Tintenfaß umgestoßen. Ihn fror, und er hatte ein steifes Genick. Die Kerze war bis auf einen Stummel niedergebrannt und flackerte heftig. Die Straße draußen lag verlassen und still. Durch Dr. Cornishs erleuchtetes Fenster konnte er eine Ecke des langen Küchentischs erkennen. Was hatte Jack Lugger gerade gesagt, als Optimus über das Stehpult gesunken war? Er mußte eine Weile überlegen, bis es ihm wieder einfiel. »Die Frau«, keuchte der Verwundete. »Da steckt ’ne Frau dahinter: Grace Pensilva.« Unter seiner Schwäche wallten Zorn und Haß auf. Doch einstweilen war er hilflos. Optimus schien genauso erschöpft zu sein wie er. Onkel Bill Terry saß mit gespreizten Beinen auf dem Hocker im Keller, wo er seine Krabbenkörbe flocht. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß es einige Zeit dauerte, bis er die lauten, schrillen Stimmen draußen hörte. Er stand langsam auf, gab acht, nicht mit dem Kopf an die niedrigen Deckenbalken zu stoßen, und schlenderte aus dem Haus, um festzustellen, was auf der Gasse vor sich ging. Onkel Bill sah eine Gruppe von Frauen, die Jan King umringten, ihn bedrängten wie ein Krähenschwarm einen Bussard. »Wenn Jack Lugger Pech hat, muß er sterben!« sagte eine von ihnen. »Und wer ist schuld daran? Du. Du und deine verdammte Grace Pensilva.« Onkel Bill erkannte Janet Coyte. Es überraschte ihn nicht, daß sie von ihrer scharfen Zunge Gebrauch machte, aber es verwunderte ihn zu hören, daß Jack Lugger in Lebensgefahr schwebte. »Was ist?« fragte er, um Vermittlung bemüht. -250-
»Jack ist gestern abend nicht nach Hause gekommen«, erklärte Mrs. Coyte. »Er war weg, er war beim Schmuggeln mit Jan und seiner sauberen Freundin. Die Leute vom Küstenschutz haben ihn angeschossen, aber Jan und Grace, die haben nichts abgekriegt, gar nichts. Was für ’n Zufall!« »Aber er ist doch nicht tot, oder?« fragte Onkel Bill besorgt. »Nicht ganz, aber fast«, fuhr Mrs. Coyte erbittert fort. »Jack Lugger ist mein Bruder. Ich hab’ das nie gutgeheißen, was er gemacht hat, aber trotzdem – er ist mein Bruder. Und er hätte nie wieder mit ’in Schmuggeln angefangen, wenn Grace Pensilva ihn nicht beschwatzt hätte. Jan King tut alles, was sie will. Ein richtiger Waschlappen ist er.« »Nein!« rief Jan King. »Ich tu’', was ich will, und wenn ich schmuggeln will, dann ist das meine Sache. Und Jack Lugger hat sich nicht lange bitten lassen; wenn’s um Geld geht, ist der immer dabei.« »Aber warum hat’s nur Jack Lugger erwischt und euch nicht?« wollte eine andere Frau wissen. »Wir waren schon weg von der Stelle, wir waren auf ’in Fluß, ’ne halbe Meile weiter, und wir konnten nicht mehr zurück.« »Und euch hat niemand ’nen Wink gegeben, euch hat niemand gesagt, daß es Ärger gibt?« fragte die Frau. Jan King schüttelte den Kopf. »Hör mal, ich hätte Jack Lugger nie hängenlassen, so einer bin ich nicht.« Er war so aufgebracht, daß ihm fast die Tränen kamen. Onkel Bill trat in den Kreis und zog ihn mit sich. »Geht nach Hause«, sagte er zu den Frauen. »Ich rede mit ihm.« »Hast du nicht inzwischen genug Geld?« fragte Onkel Bill, als sie in seinem Keller zwischen den Krabbenkörben saßen. »Davon kann man nie genug haben«, sagte Jan. »Wie du meinst. Aber ich hab’ immer gedacht, du warst ganz -251-
zufrieden, als wir noch zusammen zum Fischen rausgefahren sind. Warum machen wir damit nicht weiter? Das ist ’ne ehrliche Sache, deswegen wirst du nicht totgeschossen.« »Sie hat’s anders gewollt. Sie wollte schmuggeln und ’nen Haufen Geld verdienen.« »Na, dann ist sie ja auch nicht anders als ihr Bruder. Und was hast du davon?« »Ich krieg’ was ab vom Geld.« »Das hab’ ich nicht gemeint, das weißt du genau. Ich hab’ gemeint: Lebt ihr zusammen wie Mann und Frau?« Onkel Bill betrachtete nachdenklich Jan Kings Gesicht. »Ich hab’s mir schon gedacht«, fuhr er fort. »Dann will ich dir mal was sagen: Das hat mich traurig gemacht, als du gesagt hast, wir sind keine Partner mehr, aber wenn ich dich jetzt so sehe das macht mich noch viel trauriger. Das Mädchen ist nichts für dich, glaub’s mir. Geh nach Hause und sag ihr das. Du mußt was tun. Noch kannst du’s. Bald kannst du’s nicht mehr.« Onkel Bill beobachtete, wie Jan in Richtung Armouth verschwand, und fragte sich, wie es ausgehen würde. Er konnte sich all die schönen Zornesworte vorstellen, die sich Jan zurechtlegte, aber würde er sie auch aussprechen, wenn er Grace sah? Was sich Onkel Bill nicht vorstellen konnte, war, daß Jan sein Haus leer finden würde. »›Und Zeiten gab’s, da waren mir die Wiese, Bach und Hain...‹« begann Frederick Genteel zu rezitieren, das zugeklappte Buch im Schoß, einen Finger zwischen den Seiten. »›Gefilde, Bach und Hain‹«, berichtigte Grace. Genteel warf einen verstohlenen Blick ins Buch. »›Gefilde, Bach und Hain‹ – Sie sind eine Pedantin, Grace – ›Die Erd’ und eine jede Sicht...‹« »›Sei sie noch so gemein‹«, ergänzte Grace. -252-
»›Beglänzt von einem Himmelslicht‹«, sagte er lächelnd. »›Von eines Traumes Herrlichkeit und frischem Morgenschein.‹ – Wie wunderbar ist Wordsworth! Wie gut versteht er es doch, sich in der Sprache des Volkes auszudrücken!« »Des Volkes? Was wissen Sie vom gemeinen Volk, Frederick Genteel?« »Mehr als Sie denken!« Er richtete sich auf. Sie saßen einander gegenüber im Gras, versteckt in einer kleinen, natürlichen Laube, von der aus man einen Teil des Parkes von Leet und ein Stück des Flusses überblicken konnte. Mehr denn je hatten Graces Augen heute jenen berückenden Glanz, der ihm den Atem stocken und ihn bei seinen Zitaten ins Stolpern geraten ließ. Er dachte an ihr erstes Zusammentreffen zurück, das erste wirkliche Zusammentreffen nach den flüchtigen Begegnungen bei der Jagd und beim Erntefest. Bald nachdem er erfahren hatte, daß sie von der Langstone-Mühle fortgegangen war, sah er eines Abends jemanden zwischen den Weiden am unteren Ende des Parkes den schmalen Arun hinaufrudern. Fremde des Grundstücks zu verweisen war eigentlich Aufgabe des Wildhüters, doch Genteel glaubte bereits zu wissen, wer der Eindringling war, als er betont gemächlich zum Fluß hinunterschlenderte. »Ich muß Sie warnen, Miss Pensilva«, sagte er mit vergnügt funkelnden Augen. »Sie betreten hier unbefugt Privatgrund.« Grace stützte sich auf die Ruder und blickte ihn ernst an. »Ihre Warnung ist überflüssig, Mr. Genteel. Ich bewege mich auf dem Tidenstrom, der vom Meer kommt. Und wenn ich das Meer befahren will, brauche ich niemanden um Erlaubnis zu bitten.« »Nun, wenn ich Sie nicht daran hindern kann, durch meinen Park zu rudern, muß ich es wohl hinnehmen. Einen Wegzoll werden Sie mir nicht zahlen, das weiß ich, aber vielleicht tun Sie mir statt dessen einen Gefallen. Würden Sie wohl einen Moment -253-
verweilen und sich mit mir unterhalten? Ich wollte Ihnen sagen, wie sehr ich es bedaure, daß ich Sie beim Erntefest beleidigt habe. Es war nicht meine Absicht. Ich wollte Ihnen nur helfen. Sie sind hier auf Leet jederzeit willkommen, und das nicht in irgendeiner zweifelhaften Eigenschaft. Möchten Sie nicht einen Augenblick aus dem Boot steigen und ein paar Schritte durch den Park spazieren? Die Bäume sind herrlich um diese Jahreszeit.« Grace zögerte, gab jedoch nach, und er empfand ein seltsames Verlangen, als sie, während er ihr ans Ufer half, ihre kühle Hand in die seine legte. Das war Monate her und die erste von vielen Begegnungen gewesen. Frederick pflegte sich gegen Abend am Fluß aufzuhalten; dann und wann mit seiner Angelrute, dann und wann mit einem Buch. Er ahnte bald, daß Grace ihre Ruderpartien nicht zum Vergnügen unternahm, sondern das Gelände ausspähte. Doch er unterließ es, sie danach zu fragen. Es bestand eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen; sie konnten über tausend Dinge reden, aber Graces persönliche Angelegenheiten durften nicht berührt werden. Allmählich gelangten sie wie von selbst zu einer ungezwungenen Vertraulichkeit. Es war eine Seelenverwandtschaft, wie er sie noch nie mit einer Frau erfahren hatte. Ihre scheinbar zufälligen Begegnungen und ihre langen, heiteren Gespräche am Rande des Parkes von Leet bedeuteten ihm mehr, als er sich eingestehen mochte. Ihr ein wenig melancholischer Ausdruck, ihr wunderschönes Gesicht bezauberten ihn. Seufzend hörte er ihren Erklärungen zu. »Niemand aus Harberscombe würde ›Gefilde‹ sagen.« »Da muß ich Ihnen wohl recht geben. Mit einer kleinen Einschränkung: Sie sagen es, und Sie sind auch aus Harberscombe. Das ist das Bemerkenswerte an Ihnen, Grace, Sie sind so völlig anders. Außer Ihnen gibt es hier niemanden, mit dem ich mich ernsthaft unterhalten kann.« »Doch. Mit Ihrer Schwester.« -254-
»Sie kennen meine Schwester nicht, Grace, sonst würden Sie das nicht sagen. Gewiß, sie ist nicht ungebildet, aber das heißt nicht, daß sie empfindsam wäre. Wie steht es mit Charles Barker, werden Sie fragen. Nun, Charles ist ein feiner Kerl, aber für Poesie hat er leider gar keinen Sinn. Nein, ich weiß nicht, wie ich es hier aushaken sollte, wenn ich nicht mit Ihnen reden könnte. Sie sind wie ein Sonnenstrahl in einer regenverhangenen Landschaft.« »Warum sind Sie nach Leet zurückgekehrt, wenn Sie es so wenig leiden können?« »Ich hatte kaum eine andere Wahl. Die Admiralität hatte für mich keine Verwendung mehr. Und mein Vater hatte so viel Geld verschwendet, daß nichts für meine Apanage blieb. Ich habe es mit einer anderen Arbeit probiert, doch die sagte mir nicht zu. Also gab es nur noch die Möglichkeit, hierherzukommen und zu versuchen, das Gut wieder auf die Beine zu bringen. Es gefällt mir sogar. Es tut wohl zu sehen, wie man dies und jenes verbessern kann; es ist herzerfrischend im Vergleich zu dem Schlachtenlärm, dem Blutvergießen, das ich von früher kenne. Und außerdem – wenn ich nicht zurückgekommen wäre, wäre ich Grace Pensilva nie begegnet.« Er verstummte; er hatte nicht vorgehabt, so deutlich zu werden. Sie musterte ihn mit ihrem kühlen Blick, der jedoch nicht unfreundlich war. Manchmal hatte er das Gefühl, sie erwidere seine Zuneigung. Seit er ihr begegnet war, hatte er ihr Gesicht so oft betrachtet, daß er es besser kannte als sein eigenes. Nun blickte er zur Seite, auf den Fluß, mußte ihren Augen ausweichen, weil er befürchtete, die seinen könnten seine Gedanken verraten. »Aber Sie würden wieder gehen, wenn Sie könnten, nicht wahr?« »Nun, wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe neulich einen Brief von einem alten Freund erhalten, Kapitän Fell. Er ist jetzt Gouverneur von Malta. Fell sagt, er könne mir ein gutes -255-
Angebot machen. Er möchte, daß ich für ihn arbeite und seine Tochter Felicity heirate. Es ist verlockend: das Leben dort, die Sonne, der Wem, alte Freunde... Aber ich werde es nicht annehmen. Nicht solange Sie hier sind und ich mit Ihnen reden kann.« Graces Stirn umwölkte sich einen Moment. »Lehnen Sie nicht meinetwegen ein gutes Angebot ab. Ich werde nicht immer hier sein.« »Wie meinen Sie das?« »Ich befolge Ihren Rat, Ich gebe das Schmuggeln auf, es wird mir zu gefährlich. Oh, ich weiß, Sie haben mich beschützt, Sie haben den Zoll von Ihrem Grund und Boden ferngehalten, doch das können Sie nicht in alle Ewigkeit tun. Jetzt haben die Leute einen kleinen Erfolg gehabt, und sie werden sich damit nicht zufriedengeben. Darum höre ich auf. Und ich werde Harberscombe verlassen.« »Wohin wollen Sie gehen?« »Ich weiß es noch nicht.« »Und Jan King? Wird er Sie begleiten? Das heißt... ich wollte Sie immer schon fragen, in welchem Verhältnis steht er zu Ihnen?« »Er ist mein Partner.« Frederick Genteel beugte sich vor, nahm Graces Hand und blickte ihr ernst in die grauen Augen. »Liebe Grace, wenn ich Sie bitten würde... wenn ich Ihnen antragen würde...« Sie legte einen Finger gegen seine Lippen. »Still!« mahnte sie. »Sie dürfen es nicht sagen. Ich wäre nicht gut für Sie. Sie dürfen es nicht einmal denken. Sie sind der Ehrenwerte Kapitän Frederick Genteel, der Sohn und Erbe von Lord Mayberry. Nehmen Sie Kapitän Fells Angebot an, wenn Sie Leet nicht mehr ertragen, und vergessen Sie mich.« -256-
»Niemals. Sie verlangen zuviel, Grace Pensilva. Und Sie dürfen nicht gehen, Leet wird ohne Sie entsetzlich sein. Verstehen Sie nicht? Ich möchte, daß Sie hier leben.« »Niemals werde ich in Ihre Dienste treten. Das ist undenkbar.« »Aber, Grace...« »Ich muß jetzt gehen.« Sie stand plötzlich auf. Eine Sekunde lang dachte er, er habe Verwirrung in ihren Augen gesehen. Wußte sie wirklich, was sie für ihn empfand? Er folgte Ihr, ungelenk, weil ihm sein Bein zu schaffen machte. Gleich würde sie aus der Laube treten und ihm verloren sein, vielleicht für immer. Sie drehte sich um. »Was haben Sie getan, bevor Sie wieder hierher kamen?« fragte sie unvermittelt. »Darüber möchte ich nicht sprechen. Ich werde es Ihnen später einmal erzählen.« Er legte sein Buch aus der Hand, faßte ihre Arme und hielt sie fest. »Versprechen Sie mir etwas«, sagte er beschwörend. »Versprechen Sie mir, daß Sie mich nicht vergessen.« »Ich vergesse Sie nicht.« Er zog sie enger an sich und neigte sich ihr entgegen, bis seine Stirn die ihre berührte. »›Ein Schlummer siegelt’ mein Gemüt‹«, begann er. »›Mir war nicht menschenbang‹«, antwortete sie. »›Ein Wesen, das die Zeit selbst flieht‹«, fuhr er fort. »›Schien sie zu sein. Schon lang‹«, hauchte sie. »›Regt sie sich nicht, begehrt nicht auf...‹« »›Sie hört und sieht nicht, nein...‹« »›Bewegt sich nur im Erdenlauf...‹« »›Mit Baum und Fels und Stein.‹« Sie standen eine Weile schweigend. »O Grace!« sagte er schließlich. »Wo werde ich Sie wiederfinden?« -257-
»Ich werde Sie wiederfinden – wann immer ich will«, antwortete sie mit erstickter Stimme. »Haben Sie Geduld.« Er küßte sie zum ersten Mal auf den Mund, vielleicht auch zum letzten Mal, und sie rannte davon durch den Park, zum Arun hinunter, so schnell, daß er ihr nicht folgen konnte. Optimus stand hinter der Gartenhecke verborgen und beobachtete das Pfarrhaus. Er schämte sich dafür, aber er konnte nicht anders, denn Diana Lackland übersah ihn völlig und hatte Mrs. Treebie sogar verboten, die Vermittlerin zu spielen. Der Brief, den er ihr geschickt hatte, war ungeöffnet zurückgekommen. Das Pfarrhaus, auf einer kleinen Erhebung an der Grenze zwischen den Gemeinden Harberscombe und Bigmore gelegen, war ein efeuüberwuchertes, verkleinertes Abbild von Schloß Leet mit all seinen Türmen und Erkern. Wie seltsam, dachte Optimus, daß er sich am Anfang seiner Geschichte vorgestellt hatte, Frederick Genteel stünde hinter einer Hecke verborgen, und nun tat er dasselbe. Ein kleines Stück von ihm entfernt grub der alte Treebie ein Gemüsebeet um. Sonst rührte sich nichts in dem sonnenbeschienenen Gatten. Optimus wurde allmählich ungeduldig und ging mit sich zu Rate, ob er versuchen sollte, Treebies Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um Neuigkeiten über die Dame des Hauses zu erfahren, doch dazu würde er so laut schreien müssen, daß die ganze Gemeinde es hörte. Die Kirchturmuhr von Bigmore schlug die volle Stunde, und Optimus wußte, daß er nach Branscombe zurückmußte, um sich auf den Unterricht vorzubereiten. Er würde bis hundert zählen, und wenn die Pfarrersfrau dann immer noch nicht aufgetaucht war, würde er gehen. Er war noch nicht bis zehn gekommen, da erschien Diana Lackland hinter dem Haus. Sie trug ein helles Sommerkleid und -258-
ging unter einem geblümten Sonnenschirm. Der Garten hallte plötzlich von ihrem Lachen wider. Optimus war, als werde ihm Salz in eine offene Wunde gestreut. Denn sie war nicht allein. Ein anderes, tieferes Lachen erklang neben ihrem. Als sie in unbändiger Heiterkeit den Kopf zurückwarf, hob sich der Sonnenschirm, der den beiden Schatten spendete, so weit empor, daß Optimus ihre Gesichter erkennen konnte. Der Mensch, der Diana zu solcher Belustigung hinriß, war jener abscheuliche, feiste, ölige Kerl, der vor kurzem in Harberscombe eingetroffen war, John Carfax, der Vikar, der gerade erst sein Examen bestanden hatte und sich damit furchtbar aufblies. Wie konnte Diana, nein, wie konnte überhaupt eine Frau etwas an ihm finden? Als das Paar auf dem Gartenweg stehenblieb, einander zugewandt, und unter dem Sonnenschirm bedeutungsvolle Bücke tauschte, entdeckte Optimus, daß er den Tränen nahe war. Er biß sich auf die Knöchel, drehte sich um und stolperte durch die Büsche davon. Es kümmerte ihn nicht, ob sie ihn hörten. Obwohl er es sich nicht eingestehen mochte, war er nicht besser als Jan King: einer treulosen Frau verfallen. »Woher soll ich wissen, daß ich dir trauen kann?« Grace sah sich rasch nach Jan um, als er diese Worte sprach. Er hatte lange Zeit dagesessen, schweigend und mißmutig, und so getan, als betrachte er das Feuer, während sie das Abendessen zubereitete. Seit jener nächtlichen Bootsfahrt hatte er unablässig über irgend etwas nachgegrübelt. »Wie meinst du das?« Sie wandte sich wieder ab und fuhr fort, Gemüse für den Eintopf zu zerkleinern. Ein langes Schweigen trat ein, unterbrochen nur vom leisen Geräusch des Küchenmessers, mit dem sie Mohren in Scheiben schnitt. »Laß das!« sagte er plötzlich. »Laß das und komm her. Ich will mit dir sprechen.« Verzweiflung lag in seiner Stimme, aber -259-
auch ein ungewohnt herrischer Ton. Grace wischte die Hände an ihrer Schürze ab, als sie die paar Schritte durch den kleinen Raum ging. Sie blieb neben dem Kamin stehen und sah Jan in die Augen. Diesmal wich er Ihrem Blick nicht aus. Er starrte sie unverwandt an. Sie fühlte sich unbehaglich und fragte sich, was er im Sinn hatte. »Sachte, Jan. Verdirb uns nicht das Abendessen.« Sie versuchte, die Oberhand zu behalten, doch er durchschaute es. »Das Abendessen ist mir egal. Ich will nur eins wissen, Grace Pensilva, und das ist, wo ich stehe.« »Da, wo du immer gestanden hast.« »Ich will wissen, wie du mich siehst.« Sie lächelte besänftigend, bevor sie ihm Antwort gab. »Wie einen Bruder.« Nun lächelte auch er, lachte sogar, aber bitter. »Dein Frank! Ich hab’ gedacht, du hast ihn vergessen, aber da hab’ ich mich getäuscht, wie? Oh, sieh mich nicht so an, als wär’ ich nicht ganz richtig im Kopf. Ich weiß, daß du noch Sachen von ihm hast, ich hab’ gesehen, wie du davorgesessen und sie angestarrt hast.« Wann? dachte sie. Sie war vorsichtig gewesen, äußerst vorsichtig, aber Jan war schlau, trotz seiner scheinbaren Langsamkeit. Er mußte ihr nachspioniert haben. »Was ist denn dabei, wenn ich ein, zwei Dinge als Andenken aufbewahrt habe? Er war schließlich mein Bruder.« »Wenn’s nur das wäre, wär’s mir egal. Aber was du aufgehoben hast – davon wird mir ganz schlecht.« Er hatte also ihre Sachen durchwühlt. Er mußte die Briefe gefunden haben. Er hatte sie gelesen, die Briefe, die ihr lieb und wert waren, die ihr Frank geschrieben hatte, als er fort gewesen war. Jan hatte etwas Unverzeihliches getan. »Wenn du mich achten würdest, kamst du nicht einmal auf die -260-
Idee, in meinen Sachen herumzuschnüffeln. Womöglich gaffst du auch am Schlüsselloch!« Noch während sie sprach, bereute sie ihre Worte. Sie wurde zu heftig; sie lief Gefahr, ihn zu verlieren. »Diese verdammten Bücher!« rief Jan. »So was will ich nicht in meinem Haus haben!« Die Bücher! Grace hatte sie nie für wichtig gehalten, jedenfalls nicht für Jan. Wenn er sich bloß über die Bücher beklagte... »Was ist mit den Büchern?« »Nichts als dummes Zeug, Geschwätz von der Revolution. Ich hab’ gesehen, daß ich sie losgeworden bin.« »Wo sind sie?« Grace wurde unruhig, sie empfand einen dumpfen Schmerz in der Magengrube, mochte sie sich auch noch so eindringlich sagen, es handle sich nur um bedrucktes Papier. »Ich hab’ sie weggegeben. Aber ich hätte sie verbrennen sollen. Brauchst mich gar nicht erst zu fragen, wem ich sie gegeben habe. Ich sag’s dir nicht.« Er verstummte und starrte niedergeschlagen Ins Feuer. »Aber das ist es nicht, das ist es nicht, was zwischen uns ist«, brach es plötzlich aus ihm heraus. Er erhob sich, ging zu ihr, blieb vor ihr stehen. »O Grace, Grace, gib mir deine Hand und hör mir zu.« Er nahm ihre Hand in seine schwielige Pranke und drückte sie. »Wie lange wohnst du jetzt schon hier, Mädchen? Wie lange? Und ich komm’ dir nicht näher!« Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, sich nicht von seiner Aufregung anstecken zu lassen. »Unsere Abmachung... Hast du unsere Abmachung vergessen? Wir haben doch, als ich hierher kam, eine Abmachung getroffen?« »Abmachung! Abmachung! Soll doch der Teufel deine Abmachung holen! Ich bin ’n Mann, verstehst du? Ich bin nicht aus Holz, oder?« Sie spürte seinen Zorn. »Du mußt mir Zeit lassen, Jan. Zeit zu vergessen. Zeit, mich -261-
an dich zu gewöhnen.« »Zeit! Zeit! Hab’ ich dir nicht schon genug Zeit gelassen? Oder willst du, daß ich mein ganzes Leben lang warte? Nein, nein, nein, das kommt nicht in Frage. Das tu’ ich nicht. Und jetzt sag mir, was du von mir hältst.« Sie überlegte eine Weile, sie versuchte, aufrichtig und zugleich behutsam zu sein. »Du bist ein guter Mensch, Jan. Du bist ehrlich, du bist gerecht, und du bist ein vorzüglicher Seemann. Ich glaube nicht, daß es einen besseren gibt. Und ich weiß, daß ich dir vertrauen kann.« »Ja«, sagte Jan erbittert, »mir kannst du trauen. Für mich gilt eben was anderes als für dich. Nein, das lass’ ich mir nicht mehr gefallen. Damit ist jetzt Schluß.« Sie war zu weit gegangen. Ohne es zu merken, hatte sie ihn so weit, gebracht, daß er nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wollte. »Ist es Frederick Genteels wegen?« fragte sie, so freundlich sie konnte. »Wenn es das ist, was dich erzürnt... Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Es ist nichts zwischen uns. Ich nutze ihn bloß aus. Er kann in Erfahrung bringen, was die Leute vom Küstenschutz vorhaben.« »Du nutzt mich aus, Grace Pensilva. Du nutzt jeden aus, wie’s dir gerade paßt. Wenn er rauskriegen kann, was die vom Küstenschutz vorhaben – warum hast du dann nicht auf ihn gehört?« »Es war zu spät, wir konnten unsere Pläne nicht mehr ändern. Jack Lugger und die Grubenarbeiter haben bereits auf uns gewartet. Sie wären auch dann in den Hinterhalt geraten, wenn sie keinen Schnaps dabeigehabt hätten. Außerdem sind sie, bis auf Jack Lugger, mit heiler Haut davongekommen.« »Da wär’ ich mir nicht so sicher.« Jans Gesicht war gerötet, und seine Augen brannten, aber Grace spürte, daß er nun, nachdem er gesagt hatte, was er sagen wollte, verwundbar war. -262-
»Du willst also, daß wir uns trennen, Jan King. Das können wir tun. Wir haben stattliche Gewinne gemacht. Die teilen wir uns, und dann gehe ich. Wenn ich erst den Barrow, Salcombe und Plymouth hinter mir habe, steht mir die ganze Welt offen. Und wenn du nicht Manns genug bist, mit mir zusammenzubleiben, muß ich allein gehen. Aber ich werde gehen.« Jetzt war er gezwungen, Farbe zu bekennen. Mit hängenden Schultern stand er da, überzeugt davon, daß es ihr ernst war. »Das will ich nicht, Grace, und das weißt du genau.« »Dann bleiben wir Partner. Wir erneuern unsere Abmachung?« »Nicht so, wie sie war, nein.« Er schüttelte langsam, hartnäckig den Kopf. Wie ein Ochse, dachte sie. »Ich muß Hoffnung haben.« Hoffnung! Die konnte sie ihm leicht bieten, Hoffnung war billig zu haben. Scheinbar einer Regung des Augenblicks folgend, nahm sie seine Hände und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Hoffnung hat man immer«, murmelte sie. »Nein, das ist nicht genug, nicht wahr. Was ich sagen will, ist dies, Jan: Ich lerne dich allmählich kennen. Ich fange an, dich zu schätzen, dich zu achten. Aber das dauert eben seine Zeit. Ich habe schon einen weiten Weg zurückgelegt, Jan. Es war ein solcher Abgrund zwischen uns.« Unbeholfen legte er die Arme um sie, zog sie an sich, suchte ihre Lippen, küßte sie. Sie erwiderte den Kuß, flüchtig nur, und entwand sich ihm, bevor er alles hatte, was er wollte. »Wenn du heute noch zu Abend essen willst, Jan King«, schalt sie spielerisch, »darfst du die Köchin nicht von ihrer Arbeit abhalten.« Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und eilte an den Herd zurück. Jan blieb verwirrt am Kamin stehen. Er hatte sie berührt. Er hatte sie beeindruckt. Und sie hatte ihn so seltsam angesehen. Ja, er hatte Fortschritte gemacht. Er -263-
würde ihr noch eine Woche geben, vielleicht auch zwei. Wahrscheinlich ahnte sie, was ihm durch den Kopf ging. Als sie den Kopf nach ihm umwandte, klang ihre Stimme wieder zuversichtlich und bezwingend. »Nur noch eine Fuhre«, sagte sie. »Und das wird eine gute Sache. Wir stecken Scully in die Tasche. Du wirst ja sehen. Ich habe einen Plan. Nach dem Abendessen erzähle ich dir mehr davon. Diesmal sage ich dir alles. Wir werden so viel Geld damit verdienen, daß wir uns zur Ruhe setzen können.« »Zur Ruhe setzen! Das kann ich mir nicht vorstellen, bei dir nicht.« »Aber ich werde mich zur Ruhe setzen«, erwiderte sie. »Alles muß einmal ein Ende haben. Du wirst ja sehen.« Sie redeten bis spät in die Nacht, bis Jan die Lider schwer wurden und er am Tisch einschlief. Grace war zufrieden mit sich; es schien, daß er sich für ihren Traum begeistern konnte. Und wenn er erst einmal dabei war, würde er ihr auch nicht mehr mißtrauen. Sie stieg die knarrenden Stufen zu ihrem Zimmer hinauf und schloß die Tür. Franks Truhe stand unter dem Fenster im schwachen Licht der Nacht. Grace kniete neben ihr nieder und tastete im Dunklen nach dem Versteck, in dem die Briefe lagen. Als sie das Bündel unter den Fingern spürte, atmete sie auf. Die Briefe waren noch da. Dann hörte sie Jans Schritte auf der Treppe. Sie klappte die Truhe zu, warf sich angezogen aufs Bett und schlüpfte unter die Decke. Als die Tür aufging, stellte sie sich schlafend. Ohne die Augen zu öffnen, wußte sie, daß er sie beobachtete. Sie hoffte, er würde nicht wagen, an ihr Bett zu kommen, sondern aus dem Zimmer gehen und sie in Ruhe lassen. »Du bist doch noch wach, Grace«, flüsterte er bekümmert. »Zieh dem Kleid aus, dann hast du’s bequemer.« Sie machte die Augen einen Spaltbreit auf. Er stand auf der Schwelle, ein unförmiger Schatten. Er hatte wohl doch nicht so -264-
tief geschlafen, wie sie gedacht hatte, als sie aus der Küche gegangen war. Vielleicht hatte er, argwöhnisch wie er war, sogar nur so getan. Sie mußte vorsichtig sein. »Ich bin so müde«, murmelte sie. »All die Anspannung... Keine Sorge, Jan. Warte noch ein wenig. Dräng mich nicht. Ich komme zu dir, wenn ich soweit bin.« Optimus schlug wütend mit der Faust auf das Stehpult. Warum war seine Grace Pensilva kein sanftes, braves Mädchen, verliebt und ihrem Jan King von ganzem Herzen ergeben; warum mußte sie eine berechnende, skrupellose Schmugglerin sein? Denn das war sie zweifellos gewesen, davon sprach man hier noch heute. Es stand fest, daß Grace Männer ausgenutzt hatte – wie Diana Lackland. Beim Gedanken an die Pfarrersfrau gab es Optimus einen Stich. Er stieg die Treppe hinunter und lief wie ein gefangenes Tier in der Küche hin und her. Warum war sie so roh, so flatterhaft? Quälte sie ihn mit Absicht? Er mußte es wissen. Er beschloß, sofort zu ihr zu gehen und mit ihr zu reden. Ihr Mann und sie hatten getrennte Schlafzimmer, das hatte sie ihm einmal gesagt. Er wußte, wo ihr Fenster war; er brauchte nur den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten, und dann konnte er hinaufklettern. Ja, dachte er, er würde sich mit ihr aussprechen; ihre Ablehnung durfte er nicht kampflos hinnehmen. Mit diesem Vikar wollte sie ihn bloß ärgern, davon war er überzeugt. Wenn er ihr erst gegenüberstand, würde sie ihm nicht widerstehen können. Er spürte schon ihren warmen Körper in seinen Armen. Optimus zog gerade den Mantel an, als Mrs. Kemp an die Tür klopfte. Er war ihr Kommen und Gehen gewohnt und nahm an, sie wolle das Geschirr vom Abendessen holen. Aber als er an ihr vorbeiwollte, hielt sie ihn auf. »Der Doktor will Sie sehen. Es ist dringend.« »Tut mir leid!« schrie er, den Mund dicht an ihrem Ohr. »Ich -265-
muß jetzt aus dem Hause – es ist ebenfalls dringend. Sagen Sie ihm, daß ich ihn morgen besuche.« »Es geht ihm aber gar nicht gut.« »Dann sorgen Sie dafür, daß er es schön warm hat, Mrs. Kemp, und machen Sie ihm einen steifen Grog.« »Können Sie nicht rüberkommen, wenn Sie wieder da sind? Dem Doktor ist egal, wie spät es wird, er ist auf jeden Fall noch auf. Ich lass’ die Tür offen.« »Gut, ich komme auf einen Sprung vorbei, wenn das Licht noch an ist.« »Vielen Dank, Mr. Shute, er freut sich bestimmt.« Optimus hatte kaum zugehört, so sehr brannte er darauf, fortzukommen. Er eilte den Weg von Branscombe nach Signiere entlang, und als er sich dem Pfarrhaus näherte, begann er zu rennen; sein Herz klopfte, er keuchte vor Anstrengung, aber er fühlte sich wohl. Er war nicht mehr der zaghafte, trockene gelehrte Schulmeister; er war Leander, der den Hellespont durchschwimmt, er war Romeo auf dem Weg zu Julias Balkon. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Das Pfarrhaus hob sich als dunkler Kasten vom gestirnten Himmel ab. Es brachte Optimus durcheinander, daß in Mr. Lacklands Bibliothek im Erdgeschoß noch Licht brannte. Ein zweites schimmerte in Dianas Zimmer im ersten Stock. Optimus wartete, hoffte, daß sich Pfarrer Lackland bald in sein Zimmer auf der anderen Seite des Hauses zurückziehen werde. Die Nacht war kalt, und er fröstelte. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr ließ seine Entschlossenheit nach. Zwar wollte er Mrs. Lackland immer noch seine Liebe gestehen, doch jetzt war ihm bang vor ihrer Antwort. Als er es vor Kälte kaum mehr aushielt, schlich er ans Haus heran, bis er durch einen Spalt zwischen den Vorhängen in die Bibliothek spähen konnte. Pfarrer Lackland saß zwischen Bergen von Büchern und bereitete eine Predigt vor. Wie -266-
kläglich er aussah mit seinem langen, miesepetrigen Gesicht! Kein Wunder, daß Diana ihn öde fand; was er an Leidenschaft haben mochte, galt offenbar seinen Büchern und seinem Mißmut. Optimus ging um das Haus herum, wobei er vorsichtig den Blumenbeeten auswich. Als er unter Dianas Fenster war, rief er leise nach ihr. Sie schien ihn nicht zu hören, also hob er vom Weg eine Handvoll Kies auf und warf ihn gegen die Scheibe. Das Prasseln schien ihm ohrenbetäubend. Das ganze Haus mußte es hören. Er wich ins Gebüsch zurück. Nun regte sich etwas in Dianas Zimmer. Die Kerze flackerte, und Schatten tanzten über die Wände, als sie sie in die Hand nahm. Ein paar Augenblicke später tauchte ihr Gesicht am Fenster auf, erhellt von dem Leuchter, den sie in der Hand hielt. Sie starrte in die Nacht hinaus, konnte aber nichts erkennen. Im Licht der Kerze sah sie grotesk aus und fast bedrohlich. Sie öffnete das Fenster und stieß es weit auf. »Wer ist das? Sind Sie’s, Mr. Carfax?« Optimus hörte ihr Flüstern. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er biß sich auf die Lippen. »Ich bin es!« rief er verbittert. »Wer?« »Optimus. Optimus Shute.« Er trat aus dem Gebüsch. »Seien Sie leise, Sie Narr! Fort mit Ihnen!« »Aber ich muß Ihnen etwas sagen.« »Ich will es nicht hören.« Sie hatten beide die Stimme erhoben, und im Haus entstand Bewegung. Hinter einem zweiten Fenster im ersten Stock ging Licht an. »Was ist?« fragte Pfarrer Lackland aus der Bibliothek. »Ich glaube, auf dem Grundstück treibt sich jemand herum!« rief Diana Lackland. Dann senkte sie die Stimme wieder und zischte: »Gehen Sie schnell nach Hause, junger Mann. Wenn Sie -267-
noch eine Sekunde langer bleiben, sage ich Lackland Bescheid, und dann sind ihre Tage als Schulmeister gezählt.« Optimus hörte, wie die Flügeltür im Erdgeschoß knarrend aufging. Mr. Lackland trat wohl gerade in den Garten. Jetzt gab es nur noch eines: Flucht. »Sie sind ein kokettes Luder, Diana, nichts weiter als ein kokettes Luder!« schrie Optimus in einer letzten Aufwallung von Zorn, als er über die Blumenbeete davonstolperte. »Hast du ihn gesehen?« fragte Mr. Lackland. »Ich nicht, ich habe ihn bloß gehört. War wohl ein Einbrecher.« Optimus hörte Dianas Antwort nicht mehr. Er rannte fort, in die Nacht hinein. Seine Stiefel waren schwer von der Erde der Blumenbeete, sein ganzer Körper klebte von kaltem Schweiß. Er fühlte sich häßlich, gedemütigt. Jetzt, nachdem Diana ihn endgültig abgewiesen hatte, haßte er sie. Wie konnte er sie je geliebt haben? Der Nachtwind strich über seine glühenden Wangen, vermochte sie aber nicht zu kühlen. Das Unrecht, das ihm geschehen war, erhitzte ihn. Er war so verzweifelt und in sich selbst versunken, daß er, als er an Dr. Cornishs Küche vorbeikam, kaum bemerkte, daß das Licht erloschen war, obwohl es sonst oft bis zum frühen Morgen brannte. Er hatte völlig vergessen, worum ihn Mrs. Kemp gebeten hatte. Er rannte ins Schulhaus, warf sich aufs Bett, vergrub sein Gesicht im Kopfkissen und weinte. Die Klinke wurde niedergedrückt. Dr. Cornish blickte von seiner Patience auf. Er hatte keine Schritte gehört. Es hatte auch nicht geklopft, dessen war er sicher. Ein schwaches Ächzen aus dem Nebenraum erinnerte ihn an Jack Lugger. Er rechnete schon seit Tagen damit, daß die Leute vom Küstenschutz kamen, um seinen Patienten zu verhaften. Waren sie jetzt da? Er streckte die Hand nach der Pistole in der Tischschublade aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück. Widerstand hatte keinen -268-
Sinn; gegen die Staatsgewalt konnte er nichts ausrichten. Die Tür ging auf, und er sah in der Abenddämmerung eine Frau von zierlichem Wuchs, in einen weiten Umhang gehüllt. Sie zögerte einen Moment, als sie den Arzt bemerkte. »Dr. Cornish?« Die fordernde Stimme ließ ihn ahnen, wer sie war. »Treten Sie ein und machen Sie die Tür zu.« Im Feuerschein der Küche bestätigte sich seine Vermutung. Die Frau blickte ihn über den Tisch hinweg an. Ihr Gesicht fesselte ihn. Überschattet von der Kapuze und einer widerspenstigen Locke, leuchteten ihre Augen. Sie versuchte, gelassen zu wirken, doch ihre verkrampften Hände verrieten, wie angespannt sie war. Dr. Cornish hob fragend die Augenbrauen. »Ich will Jack Lugger sehen«, sagte sie. »Ich weiß, daß er hier ist. Führen Sie mich zu ihm.« »Es mag sein, daß Sie Jack Lugger sehen wollen, aber ich bezweifle, daß er Sie sehen will.« »Das überlassen Sie ruhig mir. Sie sind sein Arzt, aber Sie sind nicht allwissend, oder?« Dr. Cornish lächelte. Diese Frau war so direkt, so herausfordernd; selbst wenn er ihr Gesicht nicht hätte sehen können, hätte er gewußt, wer sie war. »Er ist noch nicht gesund, Miss Pensilva, noch lange nicht, und er sollte eigentlich keinen Besuch empfangen. Würden Sie mich wohl über Ihre Absichten aufklären?« »Oh, deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, meine Absichten sind durchaus ehrenwert. Wir sind zusammen im Geschäft, er und ich.« Sie lächelte, scheu erst, aber dann so offen, daß Dr. Cornishs Zweifel verflogen. »Gewiß. Sie finden ihn nebenan, im Sprechzimmer. Ich öffne Ihnen die Tür. Aber bleiben Sie bitte nicht zu lange, er ist immer noch sehr schwach und soll sich nicht aufregen. Daran werden Sie doch denken, nicht wahr?« Sie nickte, und er geleitete sie ins -269-
Sprechzimmer, das er Jack Lugger als Krankenstube zugewiesen hatte. Seine anderen Patienten verarztete er derweilen in der Küche. Als Grace Pensilva die Tür hinter sich geschlossen hatte, schwankte Dr. Cornish einen Moment. Sollte er zu seinem Platz am Küchentisch zurückkehren oder sollte er seiner Eingebung folgen und die Stufen emporsteigen, die zu der Kammer über dem Sprechzimmer führten? Von dort aus pflegte er die Patienten, die zu ihm kamen, zu beobachten. Jack Lugger war sein Patient, Grace Pensilva aber nicht. Schließlich konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Drei vorsichtige Schritte, und er war in der Kammer, die durch eine dünne, getäfelte Wand vom Sprechzimmer abgeteilt war. Glücklicherweise war die Luke geschlossen; er blieb unsichtbar, doch die Stimmen der beiden drangen klar an sein Ohr. »Was gibt es Neues, Jack? Erholst du dich?« fragte Grace Pensilva ruhig. »Wer ist da?« Das Bett knarrte. Jack Lugger schien sich umzudrehen. »Ach, du bist’s. Laß mich in Ruhe, ich will schlafen.« »Wann bist du wieder gesund, Jack? Wir brauchen dich.« »Kann sein, aber ich mag nicht mehr. Ich will nicht noch mal mein Leben riskieren wegen deiner komischen Pläne. Wenn ich letztes Mal nicht mitgemacht hätte, würde ich nicht hier liegen.« Seine Stimme war dünn und heiser, vorwurfsvoll und zornig. »Ein Risiko gibt es immer, Jack. Und ich muß es genauso tragen wie du, ich bin genauso gefährdet.« »Aber du warst nicht da, als es mich erwischt hat, Grace. Nein, dafür warst du viel zu schlau. Du warst weg, weit weg, und...« »Ich ahne, worauf du hinauswillst. Aber das ist nicht wahr, und du weißt es genau! Nun gut, wenn ich dich recht verstanden habe, willst du also nicht mehr mitmachen und nicht mehr am -270-
Gewinn beteiligt sein.« »Das hab’ ich nicht gesagt.« »Aber das wolltest du sagen. Tragen wir uns gegenseitig nichts nach. Nimm den Beutel hier, du findest darin, was ich dir schulde, und noch ein bißchen mehr, damit du den Doktor bezahlen kannst und für deine Verletzungen entschädigt wirst.« Ein Schweigen trat ein, und Dr. Cornish glaubte, ein schwaches Klimpern zu hören. Jack Lugger hatte wohl nach dem Beutel gegriffen. »Mit dem Geld kann man ’n Leben nicht aufwiegen«, murmelte er. »Richtig, Jack. Doch du bist nicht tot, vergiß das nicht. Es tut mir leid, daß du nicht mehr mitmachst, aber du hast dich wohl entschieden. Wenn du es dir noch anders überlegst, laß es mich wissen.« »Wie schnell muß ich wieder gesund werden?« »Kann ich dir das wirklich sagen? Kann ich dir vertrauen?« »Klar. Ich hab’ noch nie jemanden verraten.« Wieder ein kurzes Schweigen. Dann sprach Grace Pensilva weiter. »Das mag sein, aber was nicht ist, kann noch werden. Nun, wie auch immer... Am Freitag in vierzehn Tagen, am selben Ort, zur selben Zeit.« »Das ist zu früh, so schnell wird’ ich nicht gesund. Und ausgerechnet da! Da haben die Leute vom Küstenschutz doch schon mal auf uns gewartet und uns erwischt. Die kommen sicher wieder!« »Nicht so bald. Sie werden nicht dort mit uns rechnen, sie werden denken, daß wir es woanders versuchen.« »Kann sein, aber ich würde mich nicht drauf verlassen.« »Schade, daß du nicht mitmachst; es brächte dir viel Geld. Denk noch einmal darüber nach. Ich muß jetzt gehen, Jan macht sich wahrscheinlich schon Sorgen um mich. Wenn du es dir -271-
noch anders überlegst, weißt du ja, wo du mich findest.« Dr. Cornish hatte den Eindruck, daß sich das Gespräch dem Ende näherte. Wenn er noch eine Weile in der Kammer blieb und Grace aus dem Sprechzimmer auftauchte, würde sie sofort vermuten, daß er gelauscht hatte. Er trat auf den Flur, schlich auf leisen Sohlen zu seinem Platz am Küchentisch und machte sich mit der Lampe zu schaffen. Sie sollte brennen, wenn Grace zurückkehrte. Während er den Zylinder entfernte, den Docht beschnitt und ihn mit einem Kienspan anzündete, dachte er über das nach, was er eben gehört hatte. Er wunderte sich, daß sie Jack Lugger so leichthin Zeit und Ort verraten hatte; das schien nicht ihre Art zu sein. Sie ließ ihm keine Gelegenheit, darüber nachzusinnen; sie erschien in der Küche, noch bevor die Lampe gleichmäßig brannte. Hätte er sie nicht angesprochen, so wäre sie wahrscheinlich an ihm vorbeigestürmt. »Setzen Sie sich!« sagte Dr. Cornish. »Setzen Sie sich und trinken Sie ein Glas Branntwein mit mir. Jack Luggers Freunde waren recht großzügig. Geld haben sie kaum, aber dafür Schnaps. Und vielleicht möchten Sie verkosten, was Sie schmuggeln, Miss Pensilva.« »Nein danke, ich trinke keinen Schnaps.« »Wie wäre es dann mit einer Tasse Tee? Das werden Sie mir doch nicht abschlagen? Man lebt recht einsam als Junggeselle und Landarzt, hat niemanden, mit dem man reden kann.« Während er sprach, faßte er ihren Arm und zog sie zu einem Stuhl am Tisch. Sie sträubte sich erst, nahm dann aber Platz. »Welchen Eindruck haben Sie von Jack?« fragte Dr. Cornish, als er das Teewasser aufgoß. »Er wird es überleben.« »Allerdings. Wahrscheinlich überlebt er uns alle, der Bursche ist ungeheuer zäh. Und Sie, Miss Pensilva, wie geht es Ihnen?« »Ich kann nicht klagen.« »Das steht zu vermuten. Sie haben Geld, Sie haben einen -272-
Gefährten, der Ihnen treu ergeben ist und den Sie gar nicht verdient haben. Ich hoffe wenigstens, Sie wissen, daß er ein goldenes Herz hat.« »Hören Sie, ich lasse mir nicht gerne Moralpredigten halten.« »Das glaube ich.« Der Doktor räumte die Papiere zusammen, die auf dem Tisch lagen, und deckte das Teegeschirr auf. »Ich bin Arzt, wie Sie wissen. Ich kann es nicht ändern, daß ich hauptsächlich in zwei Kategorien denke: Krankheit und Gesundheit. Ist Ihnen klar, daß Sie krank sind?« »Wie bitte? Ich bin kerngesund.« »Liebe Miss Pensilva, es gibt Krankheiten, von denen man selbst nichts ahnt.« »Das müssen Sie mir schon etwas genauer erklären, Dr. Cornish.« »Wissen Sie, daß Ivor Triggs neulich hier war? Armer Teufel – keine Besserung zu erkennen, und dabei wird es wohl bleiben.« »Was wollen Sie damit sagen? Daß ich geistesschwach bin?« »Nur keine voreiligen Schlüsse. – Meinen Sie, daß der Tee jetzt genug gezogen hat? Vielleicht gießen Sie uns schon ein; ich hole gleich Zucker. Nein, was ich sagen wollte, ist, daß der arme Ivor an verschiedenen Wahnideen zu leiden scheint. Zumindest nehme ich an, daß es sich um Wahnideen handelt. Sie, liebe Miss Pensilva, spielen darin eine maßgebliche Rolle. Und wenn es doch mehr als bloße Wahnideen sind, ist Ivor nicht der einzige, der ärztlicher Behandlung bedarf.« »Sie sprechen in Rätseln, Dr. Cornish.« »Aber Sie verstehen mich recht gut, nicht wahr? Leider ist die Behandlung von Krankheiten der Seele nicht mein Spezialgebiet.« »Der Seele! Ich wußte nicht, daß Sie an diesen Unsinn glauben. Sie gehen doch nie in die Kirche, oder?« -273-
»Nun, Miss Pensilva, Sie können mir glauben: Es gibt eine Seele, auch ohne Kirche. Sie haben eine Seele, ich habe eine Seele, auch wenn sie nicht unsterblich ist. Aber es geht mir nicht um meine Seele, sondern um Ihre. Es ist die Seele einer vortrefflichen, starken Frau, aber es steht durchaus in Ihrer Macht, sie zu zerstören. Rachsucht, Miss Pensilva, Rachsucht ist ein Gift, das die Seele auszehrt.« »Rachsucht?« Sie saß reglos, die Hände um die Teekanne gelegt. »Was habe ich getan, daß Sie mich für rachsüchtig halten?« »Nichts bislang. Noch nicht. Und vielleicht werden Sie es auch nie tun... Der Mediziner, müssen Sie wissen, richtet sich nicht immer nach augenfälligen Zeichen, sichtbaren Symptomen. Ich gebe gerne zu, daß es nicht an mir ist, Sie zu warnen; Sie haben mich schließlich nicht um Rat gebeten. Trotzdem glaube ich, Grace Pensilva, daß ich etwas an Ihnen diagnostiziert habe, wovon Sie nichts ahnen. Sie sind eine schöne Frau, empfindsam, kultiviert, mit einem Ideal von der Gerechtigkeit, das in Harberscombe nicht seinesgleichen hat, aber ich muß Ihnen eines ganz deutlich sagen: Wenn man eine Tugend übertreibt, verkehrt sie sich ins Gegenteil. Gehen Sie nicht zu weit.« Ein Schweigen senkte sich herab, während Dr. Cornish versuchte, die grauen Augen von Grace Pensilva zu ergründen. Sie goß ihm Tee ein. Ihre Tasse blieb leer. »Ich habe keinen Durst.« Ein rauher Ton lag in ihrer Stimme, der ihm neu war. »Außerdem wartet Jan sicher schon auf mich.« »Ja. Er ist ein guter Mann und aufrichtig um Sie besorgt. Ich hoffe, Sie haben ihm verziehen.« Dr. Cornish verstummte einen Moment und betrachtete Grace Pensilvas Gesicht. Es war ausdruckslos. »Er ist ein schlichter Mann ohne Arglist. Es wäre unrecht, wenn ihm etwas zustieße.« »Ich achte darauf, daß ihm nichts zustößt. Ich habe ihn damals bei der Jagd gerettet, erinnern Sie sich?« -274-
»Ja, das haben Sie getan, aber Sie haben nie gesagt, daß Sie ihm verziehen haben.« »Das brauche ich auch nicht. Ich kümmere mich um ihn. Sagt das nicht mehr als Worte?« Sie hatte die Hand auf der Klinke. Sie ging, sie entzog sich ihm, und er hatte nichts erreicht. »Ist was mit dem Jungen?« brummte Scully, als Optimus auf den Hof der Mühle marschierte. »Ich hab’ ihm schon gesagt, wenn er sich nicht anständig benimmt und was lernt, kriegt er ’ne ordentliche Tracht Prügel.« »Ihr Sohn Andrew ist nicht gerade der klügste und auch nicht der höflichste meiner Schüler«, sagte Optimus. »Ich vermute, in dieser Hinsicht schlägt er seinem Vater nach.« Optimus wunderte sich selbst darüber, daß er Scully so dreist entgegentrat, doch in letzter Zeit war ihm alles so ziemlich egal. »Aber ich bin nicht deswegen gekommen. Ich wollte etwas anderes von Ihnen wissen.« »Ich muß mich nicht ausfragen lassen«, murrte Scully. »Nein. Aber wenn Sie meine Fragen nicht beantworten möchten, könnte ich in Versuchung geraten, mich genauer nach der Mutter Ihres Sohnes zu erkundigen. Ich frage mich nämlich in letzter Zeit, warum er die Sonntage bei Miss Nancy auf Schloß Leet verbringt.« »Sie haben ihn ausgehorcht!« sagte Scully ergrimmt. »Das war nicht nötig; Andrew hat es mir von sich aus erzählt.« »Na und? Ist doch kein Verbrechen, wenn er nach Leet geht und ihr ’n bißchen Gesellschaft leistet.« »Das nicht. Aber wenn es die Runde machen würde, würden die Leute anfangen zu reden. Sie wissen ja, wie viele Lästerzungen es in Harberscombe gibt. Einige sagen sogar, man solle Ihnen Andrew wegnehmen, er sei bei Ihnen nicht gut -275-
aufgehoben.« Optimus beobachtete Scullys Gesicht. Trotz seiner großtuerischen, polternden Art zuckten die Lider des Müllers, sobald der Name des Jungen genannt wurde. »Sie lassen einem keine Wahl, Mr. Shute. Was Sie da sagen, hört sich verdammt nach Erpressung an.« »Sie müssen es wissen. – Nun, werden Sie reden? Es ist alles lange her und kann Ihnen nicht mehr schaden.« »Das ist nicht gesagt, aber mir bleibt ja nichts anderes übrig. Was wollen Sie denn wissen?« »Zum Beispiel, wie es kam, daß Sie Pächter der LangstoneMühle wurden.« »Miss Nancy hat sich gedacht, ich wär’ bestimmt nicht schlechter als der alte Coyte, den ihr Bruder rausgeschmissen hat.« »Das haben Sie letztes Mal aber nicht gesagt. Da sagten Sie, Charles Barker sei Ihnen einen Gefallen schuldig gewesen.« »Na ja, sie hat ihm eben gesagt, er soll was für mich tun.« »Dann war Ihnen also Miss Nancy den Gefallen schuldig. Und warum?« »Ich hab’ ihr ’ne Nachricht von ihrem Bruder gebracht.« »Was für eine Nachricht? Doch halt, vorher noch etwas anderes. Sie haben das Anwesen nicht gleich nach Coyte übernommen, stimmt’s? Es wurde ungefähr ein Jahr von der Gutsverwaltung geführt. Wo waren Sie während dieser Zeit? In Salcombe waren Sie nicht, ich habe mich erkundigt.« »Ich... ich bin zur See gefahren«, antwortete Scully und wich nervös dem Blick des Schulmeisters aus. »Sie sind zur See gefahren?« »Ja. Ich war Käpt’n von ’ner Brigg, von der Hecate.« »So, so. Und die Hecate war ein Kaperschiff, wenn ich mich nicht irre. Wohin sind Sie mit ihr gefahren?« -276-
»In die Levante.« »Und auf dem Weg dorthin haben Sie in Malta Station gemacht. Sie suchten jemanden, nicht wahr? Jemanden aus diesem Dorf. Nur zu, gestehen Sie es ein, Sie vergeben sich nichts dabei.« Scully nickte langsam. »War ’n Preis auf ihren Kopf ausgesetzt. Da können Sie mir keinen Vorwurf machen.« »Das tue ich auch nicht. Sie hat Ihnen ja einigen Schaden zugefügt, nicht wahr?« Scully hob unwillkürlich die Hand an sein blindes Auge. »Stimmt.« »Und haben Sie sie erwischt?« »Nein. Die Leute haben mich Scully, den Bluthund genannt, weil ich nicht aufgeben wollte, aber ich hab’ sie nicht gekriegt. Einmal hab’ ich sie fast gehabt, aber sie ist mir entwischt.« »Wissen Sie das genau?« »Klar, sonst wär’ sie ja nicht wieder nach Harberscombe gekommen. Und das ist sie doch, oder? Glauben Sie, ich hätte sie laufenlassen, wenn ich sie gekriegt hätte? Nicht ums Verrecken. Wir haben noch ’ne alte Rechnung offen gehabt, sie und ich. Und ich hätte sie gekriegt, wenn der verdammte Genteel nicht gewesen wäre. Aber bedankt hat sie sich nicht bei ihm, daß er ihr geholfen hat – ganz im Gegenteil.« »Was wissen Sie darüber?« »Nicht mehr als die anderen. Sie sind zusammen gesehen worden, die beiden, und dann waren sie auf einmal weg. Die Pensilva ist wieder hier aufgetaucht, und Genteel ist nie gefunden worden, obwohl seine Frau alles versucht hat, was nur geht.« »Seine Frau?« »Felicity, ja, ’ne geborene Fell. Aha, gibt also doch ’n paar Sachen, die Sie nicht wissen. Ich könnte Ihnen schon noch was -277-
erzählen, aber ich mag nicht. Außerdem ist das alles lange her, hab’ das meiste vergessen; nach der Geschichte hier«, er hob wieder die Hand an sein blindes Auge, »war ich nie mehr der alte.« Optimus suchte in seiner Tasche, fand eine Guinee und hielt sie empor. Scully betrachtete das blinkende Goldstück. »Vielleicht kann ich damit Ihrem Gedächtnis aufhelfen? Sie sehen, es ist gar nicht so schlimm, wenn man zur Abwechslung einmal die Wahrheit sagt. Angenommen, ich legte diese Münze hier auf den Tisch... würden Sie sich dann auf gewisse Ereignisse in Salcombe besinnen? Ich habe von einem Plan gehört, den Mr. Hawkins und Sie geschmiedet hatten, um Grace Pensilva zu kriegen. Wenn Ihnen das wieder einfällt, werde ich nicht kleinlich sein. Nun, was halten Sie davon?« »Ich hab’s ja immer gesagt, der Mr. Shute, das ist ’n Herr«, erwiderte Scully kriecherisch, »und mit ’nem Herrn kann man reden. Kommen Sie mit ins Wohnzimmer, wir trinken ’nen Schluck zusammen.« Das Zollamt in Plymouth war ein kastenförmiges, nüchternes Gebäude mit Granitfassade und einem kleinen, klassizistischen Portikus, dessen Giebelfeld das königliche Wappen zierte. Auf den Kais in der Umgebung drängten sich wie immer Fischer und Marktfrauen, Matrosen, Lagerarbeiter und Schiffbauer, Kapitäne, Kalfaterer, Säufer und Huren, Vagabunden und Spitzbuben. Mr. Hawkins warf kaum mehr als einen flüchtigen Blick auf die Menge, als er ins Zollamt trat, wo er von seinem Bürovorsteher begrüßt wurde. »Ich habe mich ein wenig verspätet«, bemerkte Hawkins. Er war der Ansicht, ein pünktlicher Mensch könne sich getrost für eine gelegentliche Verfehlung entschuldigen. »Bin beim Bürgermeister aufgehalten worden. Gibt es etwas Neues?« -278-
»Jemand will Sie sprechen. Er wartet in Ihrem Zimmer, wie Sie es angeordnet haben.« »Gut. Sorgen Sie dafür, daß wir nicht gestört werden.« Mr. Hawkins eilte die Treppe hinauf. Er hatte schon eine ganze Weile versucht, Kapitän Scully zu einem Gespräch nach Plymouth kommen zu lassen. Sie mußten einiges besprechen, und Hawkins fand, es sei auch an der Zeit, Scully in seine Schranken zu weisen und ihm etwas mehr Disziplin ans Herz zu legen. Er und seine Leute gebärdeten sich in Salcombe wie kleine Könige. Mr. Hawkins hatte Scully um Diskretion gebeten, wenn er bei ihm vorsprach, weil nicht alle Welt erfahren sollte, daß eine größere Sache geplant war. Als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, fand er seinen Besuch am Fenster. Er spähte zwischen den zugezogenen Vorhängen auf die Straße. Da die Gestalt in einen langen Rock gekleidet war und einen Kiepenhut trug, war sie nicht wiederzuerkennen. »Wenn Sie das für spaßig halten, Scully, wenn Sie glauben, das sei eine passende Verkleidung, so seien Sie versichert, daß ich Ihre Meinung nicht teile«, schnaubte Mr. Hawkins. Sein Besuch drehte sich beunruhigt um, und obwohl sein Gesicht halb verdeckt war, erkannte Hawkins, daß es tatsächlich eine Frau war. Unwillkürlich drehte er am Knauf seines Spazierstocks, bereit, wenn nötig, den Degen zu ziehen, der darin verborgen war. Es kam des öfteren vor, daß geistig Verwirrte oder Frauen, deren Gatten oder Söhne in die Kolonien deponiert worden waren, eine Waffe aus dem Gewand zogen und selbst die mildesten Menschen meuchelten, und zu diesen zählte sich Mr. Hawkins. »Verzeihung, Euer Ehren«, begann die Frau katzbuckelnd, »ich bin gekommen, weil ich mit Ihnen sprechen will. Es ist was Besonderes, was furchtbar Wichtiges.« -279-
»Würden Sie mir zunächst vielleicht verraten, wer Sie sind?« »Ich bin ’ne arme Bauersfrau aus Harberscombe, Euer Ehren. Und ich bin gekommen, weil ich gehört hab’, daß... also, ich hab’ gehört, daß es schon mal vorkommt...« »Nun sagen Sie doch endlich, was Sie wollen, Frau! Meine Zeit ist knapp!« »Ich hab’ gehört, wenn jemand Kronzeuge wird oder ’ne wichtige Auskunft gibt, kann das bei anderen Sachen berücksichtigt werden.« »Bei welchen anderen Sachen?« »Zum Beispiel, ob jemand vor Gericht kommt, der nicht weit weg von hier mit ’ner schweren Verletzung im Bett liegt.« »Zum Beispiel der Jemand, der von Dr. Cormsh behandelt wird, ja? Der alte Gauner sagt, der Mann sei weder transportnoch verhandlungsfähig, aber wir wissen, daß er ihn in seinem Sprechzimmer verbirgt. Er wird ihn irgendwann einmal entlassen müssen, und dann stehen meine Leute bereit, um ihn zu verhaften. Er wird vor Gericht gestellt werden wie jeder andere Schwerverbrecher.« »Aber wenn er wieder gesund wäre, und Sie würden ihn laufen lassen, würde er wissen, wo was ganz Bestimmtes ausgeladen wird. Und seine Schwester auch.« »Und was würde mir das nützen?« »Ich bin seine Schwester.« »Und Sie bieten sich an, dem Zoll Auskünfte zu geben. Dafür müssen Sie triftige Gründe haben.« »Einen hab’ ich Ihnen schon gesagt: Ich will nicht, daß meinem Bruder was passiert. Der andere... der andere ist mehr persönlich.« »Sie müssen schon etwas deutlicher werden, wenn ich Ihnen glauben soll.« »Diese Frau. Ich kann sie nicht ausstehen. Die hat meinen -280-
Sohn verführen wollen, meinen Ronald, und noch ’n paar Sachen.« »Sie spielen uns also Grace Pensilva in die Hände?« »Ja, Euer Ehren, wenn Sie meinem Bruder nichts tun.« »Ich werde es mir überlegen.« »Dafür ist keine Zeit, Euer Ehren. Daß ich gekommen bin und mit Ihnen gesprochen hab’, war schon leichtsinnig. Aber wenn ich jetzt noch mal kommen würde, das wär’ Wahnsinn, und die würden meinem Bruder nicht mehr trauen, wenn sie das rausbekämen. Also?« »Abgemacht«, sagte Mr. Hawkins und fragte sich, ob die Frau wohl erwartete, daß er die Übereinkunft mit Handschlag besiegelte. »Doch wie erfahre ich Tag, Zeit und Ort?« »Ich schick’ Ihnen meinen Ronald, das ist ’n heller Junge, Miss Nancy hat ihn gerade nach Leet geholt, für ihre Pferde, der reitet öfter nach Plymouth, der fällt hier nicht auf.« Die Frau war kaum gegangen, als Kapitän Scully ins Zimmer platzte. Er war mit Dreck bespritzt, stank nach Pferden, Schweiß und Branntwein. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich gekonnt hab’«, sagte er, bevor ihn Hawkins für seine Verspätung zu rügen vermochte. »Die vielen Schlagbäume unterwegs sind ’ne Schande.« Mr. Hawkins führte ein Spitzentaschentuch an die Nase und wich ein wenig zurück. Scully entsprach ganz und gar nicht seinen Vorstellungen von einem Kapitän, aber beim Zoll hatte man keine große Auswahl. »Wenn wir davon reden, daß wir geschmuggelten Branntwein aus dem Verkehr ziehen wollen, so heißt das nicht, daß Sie es allein besorgen sollen, indem Sie ihn schon vor neun Uhr morgens in sich hineinschütten. Ein Mann, der ein Kommando führt, hat nüchtern zu sein.« »Ich bin nüchtern, Euer Ehren, stocknüchtern sogar.« -281-
»Haben Sie jemanden auf der Treppe gesehen?« fragte Mr. Hawkins beiläufig. »Nein.« »Gut. Kommen wir zur Sache. In einigen Tagen soll eine Operation gegen Grace Pensilva und ihre Bande stattfinden. Sie darf nicht mißglücken wie die letzte, bei der Sie nur einen von der Bagage angeschossen haben, und dazu einen kleinen Fisch. Diesmal werden wir sie auf frischer Tat ertappen, denn ich habe gewisse Erkenntnisse...« »Aha, jemand hat sie verpfiffen. Ich hab’s ja gewußt, daß das so kommt; das ist immer so, wenn die Leute Geld riechen«, warf Scully ein. »Ich habe gewisse Erkenntnisse«, wiederholte Mr. Hawkins kühl, »die es uns ermöglichen werden – vorausgesetzt, wir haben uns nicht mit Unfähigkeit, Insubordination und Besserwisserei in unseren eigenen Reihen herumzuschlagen –, im richtigen Moment zu handeln und dieser Frau das Handwerk zu legen.« »Ich kann’s kaum erwarten, daß ich wieder nach Salcombe komm’ und mit den Vorbereitungen anfange«, erklärte Scully. »Bleiben Sie zunächst lieber hier, bis Sie wieder nüchtern sind«, brummte Hawkins. »Ich habe mehrere Pläne entworfen, die ich mit Ihnen besprechen will, sobald Sie dazu imstande sind. Gehen Sie eine Stunde an die frische Luft. Und halten Sie sich von den Spelunken fern, hören Sie?« Mr. Hawkins gab sich, was Scully betraf, keinen Illusionen hin; der Mann war ein Lump. Es war an ihm, dem Zolleinnehmer, seine Pläne so zu gestalten, daß menschliches Versagen fast ausgeschlossen war. Er setzte sich an den Arbeitstisch und holte seine Karten aus der obersten Schublade. Sie waren bedeckt mit Eintragungen. Es gab kaum einen Ort, an dem diese Frau nicht ihr Unwesen getrieben hatte. Grace Pensilva dachte an diesem Tag, als sie mit einem -282-
kleinen Pferdewagen den steilen Hügel nach Salcombe hinunterfuhr, nicht an Mr. Hawkins. Sie hatte von Seiner Majestät Zolleinnehmer gehört, ihn jedoch nie gesehen; sie betrachtete ihn als Feind, aber als weit entfernten. Der Mann, der sie beschäftigte, war Scully, und sie hielt nach ihm Ausschau, als sie die Stadt erreichte. Sie bezweifelte, daß er sie erkennen würde, wenn er sie sah, denn sie war als junger Mann verkleidet, doch sie war vorsichtig. Sie band ihr Pony samt Karren vor dem Gasthof »Fortescue« an und trat ein, in der Hand eine Languste. »Wo finde ich Ben Barlow?« fragte sie den Schankkellner. »Der will nicht gestört werden«, sagte der Mann. »Aber es ist wichtig; ich bin seinetwegen den ganzen Weg von Harberscombe gekommen.« »Kann schon sein. Aber er hat gerade selber was Wichtiges zu tun«, erwiderte der Schankkellner mit einem zweideutigen Grinsen. »Egal. Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, daß ich Ihm ein Geschenk aus Harberscombe mitgebracht habe.« »Hör zu, Junge, Ben Barlow liegt oben in seinem Zimmer mit ’ner Frau im Bett, die heißt Guste und ist ziemlich lang – was soll er da noch mit deiner Languste?« Die Zecher in der Wirtsstube brachen in schallendes Gelächter aus. Grace verzog keine Miene. »Soll ich selbst nach oben gehen und ihn holen?« »Nein, bloß nicht.« »Dann gehen Sie, ja?« Der Schankkellner sah eine kleine Goldmünze blinken. »Kann ich machen. Was soll ich sagen, wer da ist?« »Ein Freund. Ein Freund aus Harberscombe.« Als Ben Barlow ein paar Minuten später erschien, sahen die Zecher mit Staunen, daß die Übellaunigkeit sofort aus seinem -283-
Gesicht verschwand, als er seinen Besuch erblickte. Die beiden gingen ins Nebenzimmer und machten die Tür hinter sich zu. Der Schankkellner pfiff durch die Zähne. »Oha«, sagte er. »Daß Ben ’n Schürzenjäger ist, wissen wir alle, aber daß er vor Hosen auch nicht haltmacht, das ist neu. Habt Ihr gesehen, wie der Junge rot geworden ist?« »Der hat auch so komisch gesprochen«, bemerkte ein Gast, »so affig. Gibt nicht viele wie den in Harberscombe. Schade, daß Käpt’n Scully heute nach Plymouth ist, der mag solche Leute gern.« Die Zecher brachen erneut in Gelächter aus, doch als Ben Barlow wieder auftauchte und seinen Besuch zur Tür brachte, waren sie mucksmäuschenstill. »Mal hoch mit ’in Hintern, ihr faulen Säcke«, sagte Ben zu ihnen, »kommt mit raus und helft beim Langustenabladen.« Dann wandte er sich seinem Besuch zu, der das Pony losband: »Und du komm wieder, wenn du Lust dazu hast.« »Ich werde Sie beim Wort nehmen, früher als Sie denken.« »Sie sind eine Schande für Ihren Beruf, Mr. Shute, eine Schande für die Schule. Es ist meine Pflicht, Sorge dafür zu tragen, daß Sie keinen Tag länger den Geist junger Christenmenschen verbilden können.« Bevor Optimus ihn recht wahrgenommen hatte, stand der Pfarrer schon vor seinem Katheder und starrte finster auf ihn herab. Hinter dem Eindringling blickten die Schüler erstaunt von ihren Schiefertafeln und Fibeln auf. Es war totenstill. Mr. Lackland heftete seine Augen auf die Seiten, die Optimus unter der Hand zu verbergen suchte. Der Pfarrer wollte sie ihm entreißen, doch der Schulmeister leistete erbittert Widerstand, gewann den Kampf und ließ die Blätter in seiner Rocktasche verschwinden. »Ich weiß genau, was Sie tun«, zischte Lackland. »Sie vergeuden Ihre Zelt mit beklagenswertem Unsinn, während Ihre -284-
Schüler sich selbst überlassen bleiben. Meine Frau hat mir davon berichtet, sie erzählt mir alles. Doch ich bin nicht deshalb hier, es geht um etwas weitaus Ernsteres, das wir nicht vor den Kindern besprechen können. Kommen Sie sofort mit hinaus. Ich bestehe darauf. Ich muß mit Ihnen reden.« Optimus erkannte, daß ihm keine andere Wahl blieb als zu gehorchen. »Arbeitet bitte weiter«, wies er die Klasse an. »Andrew!« der junge Scully blickte auf. »Du führst die Aufsicht, bis ich wiederkomme. Wenn sich jemand schlecht beträgt, schreibst du ihn an die Tafel.« »Wenn sich jemand schlecht beträgt!« schnaubte Lackland, als sie aus der Tür gingen. »In dieser Hinsicht könnte noch der ungezogenste Schüler von Ihnen lernen!« Optimus wußte, was ihm bevorstand. Diana Lackland hatte ihn bei ihrem Mann angeschwärzt, und der war nun im Begriff, ihn seines Amtes als Schulmeister zu entheben. Er rechnete mit einem Donnerwetter; doch es sollte anders kommen. Als die beiden Männer auf die Straße traten, stürzte ihnen Mrs, Kemp entgegen. »Ich hab’ Ihre Kutsche gesehen, Herr Pastor!« rief sie. »Sie sind gerade richtig gekommen. Dr. Cornish braucht Sie.« »Was, zum Teufel, soll das heißen, Frau?« fauchte Mr. Lackland. »Sie werden doch wohl nicht erwarten, daß ich das Haus dieses alten Sünders betrete und mit ihm plaudere, oder? Sehen Sie nicht, daß ich zu tun habe?« Mrs. Kemp blickte verständnislos drein. Optimus erhob die Stimme. »Der Pfarrer hat zu tun!« schrie er. »Aber er ist tot!« jammerte Mrs. Kemp. »Er braucht ’nen Pastor für seine arme Seele.« »Der alte Halunke? Der hatte nie eine Seele«, sagte Mr. Lackland entschieden. »Und jetzt ist es zu spät für Reue; daran hätte er früher denken sollen. Rufen Sie den Tischler, damit er einen Sarg für ihn macht.« Optimus war blaß vor Entsetzen und Wut. Er faßte nach den Schultern des Pfarrers und schob ihn auf -285-
Dr. Cornishs Küche zu. Was machte es aus, wenn er jetzt ein bißchen grob wurde, wo er doch ohnehin entlassen würde? »Tun Sie Ihre Pflicht!« herrschte er den Pfarrer an, der zögernd auf der Schwelle der Küche stand. Über seine Schulter hinweg konnte Optimus den alten Arzt sehen. Er saß, fast so wie immer, in seinem Schaukelstuhl am Feuer. Nur eine absonderliche Neigung des Halses zeigte, daß etwas nicht stimmte. »Aber bevor Sie eintreten, sagen Sie mir genau, was Sie mir vorzuwerfen haben!« Optimus hielt den Pfarrer bei den Rockaufschlägen und beobachtete, wie sein Adamsapfel nervös auf und ab hüpfte. »Jemand hat Beschwerde bei mir geführt«, stotterte Lackland. »Mr. Scully hat sich über Sie beklagt. Sie haben ihn belästigt; er sagt, es sei Erpressung gewesen.« Optimus mußte beinahe lachen. Es war so albern, so unbedeutend. Er stieß Mr. Lackland in die Küche und wandte sich ab. Wie blind stolperte er die Straße entlang. Warum hatte er gestern nacht nicht gemerkt, daß mit Dr. Cornish etwas nicht in Ordnung war? Hatte das Licht bei seiner Rückkehr gebrannt oder nicht? Er war derart mit sich selbst und seinem gekränkten Stolz beschäftigt gewesen, daß er seinen Freund darüber vergessen hatte. Wie lange hatte der alte Herr sterbend dort gesessen, während neben ihm die Kerze allmählich verlosch? Niemand war dagewesen, um seine letzten Geheimnisse zu hören; der junge Mann, den er für seinen Freund gehalten hatte, hatte ihn in der Stunde der Not vergessen. Die taube Mrs. Kemp lag in ihrem harten Bett auf der anderen Seite des Hauses und schlief fest. Optimus meinte, sehen zu können, wie sich die Lippen des Doktors bewegten. Doch was sagte er? Oh, Gott! Tränen flossen über Optimus’ Wangen. Er hatte nicht gewußt, wie gern er den Mann gemocht hatte. Welcher Art war ihre Verbindung gewesen? Lehrer und Schüler. Dr. Cornish hatte ihm die Pforten zur Schule des Lebens geöffnet. Oh, Gott! Warum hatte er es nicht schon früher gewußt? Warum hatte er -286-
sich nicht ein wenig erkenntlich gezeigt? Statt dessen hatte er nur an sich gedacht. Es war unverzeihlich, nicht wiedergutzumachen, auch wenn er sich bis zu seinem eigenen Tod mit Vorwürfen überhäufte. Er kehrte um, lief zum Schulhaus zurück; das Leben ging weiter. Vor seinen Augen, die in Tränen schwammen, sah er das Gesicht der Frau, zu der ihm Dr. Cornish den Weg gewiesen hatte. Er war ihr jetzt nah, verlockend nah; warum hatte er dem Doktor nichts davon gesagt? Und hinter ihr, rätselhaft lächelnd, sah er Frederick Genteel. Wo war Jan King? Er hatte sich irgendwo im Nebel verloren, der Optimus’ Blick umschleierte. Doch er würde ihn wiederfinden. Ins Klassenzimmer zurückgekehrt, klopfte Optimus mit dem Zeigestock aufs Katheder. »Packt eure Sachen zusammen und geht nach Hause. Dr. Cornish ist gestorben. Benehmt euch anständig unterwegs. Ich will keinen Ton hören. Sagt euren Eltern, sie sollen seiner gedenken.« Als die Kinder gegangen waren, stand Optimus nachdenklich in seinem Arbeitszimmer. Seine Zeit an der Schule von Branscombe war vorbei; Mr. Lackland hatte eine Fülle von Vorwänden, um ihn beim Gemeinderat und beim Unterrichtsministerium mißliebig zu machen. Nun, sie konnten ihn zwar seines Amtes entheben, aber sie konnten ihm nicht alles nehmen: Grace Pensilva blieb sein. Er war froh, daß der Pfarrer, nachdem er die Küche des Doktors verlassen hatte, nicht noch einmal ins Schulhaus kam. Als er davongefahren war, schloß Optimus sein Stehpult auf und nahm das Medaillon heraus. Es drehte sich sacht an der dünnen Goldkette. Er hatte nicht das Bedürfnis, es zu öffnen. Die miteinander verschlungenen Initialen schimmerten. Er dachte daran, wie er sie Dr. Cornish gezeigt und ihn gefragt hatte, was sie bedeuteten. Oh, Gott! Optimus legte das Medaillon auf sein Stehpult und -287-
schlug die Hände vors Gesicht. Wie hatte er nur so töricht sein können! Dr. Cornish war sein Freund gewesen. Und er hatte ihn verraten. Optimus hörte den Hammer des Tischlers und ließ seine Feder sinken. Wenn er sich beeilte, konnte er noch einen letzten Blick auf das Gesicht des alten Arztes werfen. Er wollte es, und er fürchtete sich zugleich davor. Es war die Angst vor dem Tod und vor unausgesprochenen Vorwürfen. Mrs. Kemp mußte den Doktor gewaschen und mit Hilfe des Tischlers in ein Leichenhemd gehüllt und in den Sarg gelegt haben. In welchem Verhältnis hatte sie früher zu Dr. Cornish gestanden? Optimus kannte sie nur alt und taub, verrunzelt und häßlich, aber sie war einmal jung gewesen. Sie hatte dem Doktor dreißig Jahre als Haushälterin gedient. Wer konnte sagen, wie schön sie am Anfang gewesen war? Sie war alt genug, um Grace Pensilva gekannt zu haben, doch er hatte die beiden nie miteinander in Verbindung gebracht. Die Haushälterin des Doktors schien aus einer anderen Welt zu stammen, einer Welt, deren äußerste Grenze der Wochenmarkt war; sie hatte gearbeitet, gekocht und gewaschen, bis ihre Hände schwielig und ihre Augen trüb und glanzlos geworden waren. Obwohl sie täglich mit seinem Essen herübergekommen war, ging Optimus nun auf, daß er sie nie mit Bewußtsein angesehen hatte; sie ähnelte einer verdorrten Hülle, in der ein Mensch wohnte, von dessen Dasein er nichts ahnte. Mrs. Kemp war die einzige Frau beim Begräbnis des Doktors; außer ihr nahmen nur noch Optimus und Charles Barker von dem Toten Abschied; Pfarrer Lackland hielt die Trauerfeier, und der Tischler führte die Gruppe der vier gleichgültigen, schwerfälligen Sargträger an. Optimus hatte den Eindruck, daß Mrs. Kemp ihn nach dem Begräbnis absichtlich übersah; sie flüchtete sich in ihre Schwerhörigkeit und hastete gleich davon. Aus ihren verstohlenen Blicken schloß er, daß sie einen tiefen Groll gegen ihn hegte, weil er der letzten Bitte des Doktors nicht nachgekommen war; er konnte es ihr nicht verdenken. Auch der -288-
Verwalter ging eilends, nachdem er Optimus kurz die Hand gedrückt hatte. Er schien Optimus plötzlich älter zu sein, doch das war vermutlich eine Einbildung, hervorgerufen durch seine schäbige schwarze Trauerkleidung. Optimus wollte schon den anderen folgen, als ihm der Pfarrer die Hand auf den Arm legte und ihn beiseite zog, während der Tischler und die Träger das Grab rasch mit Erde auffüllten. »Ich... ich muß Ihnen etwas sagen, Mr. Shute. Es fällt mir schwer, aber – ich muß es Ihnen trotzdem sagen. Ich habe mit meinem Gewissen gerungen und bin zu dem Schluß gelangt... Vielleicht war ich zu voreilig, vielleicht habe ich den Bezichtigungen meiner Frau zu leichtfertig Glauben geschenkt... Ja, ja, sie hat eine blühende Phantasie, sie erfindet alles mögliche, um Menschen weh zu tun... insbesondere mir, wenn ich Ihnen erzählen würde, was sie... Aber das ist mein Kreuz, nicht Ihres, und ich muß es tragen. Nein, was ich sagen wollte, ist, daß Sie, nach allem, was man hört – und ein Pfarrer bekommt allerlei zu hören –, ein guter Schulmeister sind; die Kinder mögen Sie; Sie sind streng, aber gerecht; Sie besitzen die Gabe, Ihre Zöglinge etwas zu lehren; und Sie vernachlässigen auch nicht die sittlichen Werte. Kurzum, ich muß Sie bitten, Mr. Shute, meine Ausfälligkeiten gegen Sie als ungesagt zu betrachten. Ich ersuche Sie zu bleiben, Mr. Shute; die Kinder brauchen Sie, und es wird äußerst schwierig sein, zu dieser Zeit im Jahre geeigneten Ersatz zu finden, wenn...« »Wenn ich zu der Ansicht gelange, daß ich von Harberscombe und seiner Engstirnigkeit genug habe«, ergänzte Optimus. Er hatte sich über den plötzlichen Sinneswandel des Pfarrers gewundert, und er war fast bereit gewesen, auf seine Bitte einzugehen, aber die letzten Worte von Mr. Lackland hatten ihm alles verleidet. Was zählte es, daß er im Moment keine Zukunftsaussichten hatte; er war kein Spielzeug, das man nach Belieben in die Ecke werfen und wieder zur Hand nehmen konnte. »Ich lasse mich nicht ausnutzen, Mr. Lackland. Ihre -289-
Frau hat mich für ihre ›guten Werke‹ ausgenutzt, und Sie würden mich gern für Ihre benutzen. Nein, ich stehe nicht mehr zur Verfügung, Mr. Lackland. Sie haben mir meine Freiheit aufgezwungen, und nun habe ich vor, sie zu behalten.« Optimus konnte sich seinen Zorn nicht erklären. Es kümmerte ihn nicht, ob die Träger ihn hörten. Vielleicht war er so aufgebracht, weil Dr. Cornish so rasch in einem abgelegenen, verwahrlosten Winkel des Friedhofs verscharrt wurde. Er kehrte dem Pfarrer den Rücken und ging zwischen den Gräbern davon. In der Mauer entdeckte er ein Pförtchen, das ihm nie vorher aufgefallen war. Optimus öffnete es, ging hindurch und gelangte auf einen kleinen Flecken Brachland, auf dem Holunderbüsche und Brombeersträucher wucherten. Mit einem niedrigen Gitter war ein Rechteck abgeteilt, das an ein Grab erinnerte, aber seltsamerweise außerhalb des geweihten Grundes lag. Der Stein war geborsten und von Efeuranken übersponnen, die einige der Lettern verdeckten. Es war schwierig, die Inschrift zu entziffern. Als Optimus schließlich ihre Bedeutung zu begreifen begann, zitterte er, als habe er Fieber; es war ein unglaublicher, kaum faßbarer Zufall. GRACE PENSILVA So lautete die erste Zeile, und darunter folgten, in kleineren Buchstaben, die Optimus da und dort erraten mußte, die Worte: Nicht klug doch zu sehr Warum hatte er dieses Grab nie zuvor gesehen? Warum hatte Dr. Cornish es nicht erwähnt? Warum hatte kein Mensch davon gesprochen? Optimus eilte fort. Es war ihm gleichgültig, wohin er lief. Erst nach einer Weile merkte er, daß er die Höfe hinter sich gelassen hatte und sich dem Armouth näherte. Die Ufer waren verlassen, Jan Kings Haus war verfallener denn je, die Schuppen der Fischer waren verriegelt. Optimus blieb stehen und sah den kleinen Wellen zu, die gegen das -290-
vertrocknete Seegras plätscherten. Plötzlich faßte er einen Entschluß: Er rannte zu dem Bootsschuppen, vor dem Onkel Bill im Sommer saß und Körbe flocht, zog die Riegel auf und öffnete die Doppeltür. Er kletterte auf einen Stapel gebündelter Weidenruten und löste die Gig aus den Schlingen, in denen sie hing. Ihm war bang davor, was Onkel Bill sagen würde, wenn er es herausfand, aber er unterdrückte diese Regung. Die Gig war erstaunlich leicht; er hätte sie ohne Hilfe tragen können, wenn sie nicht so lang gewesen wäre. Er mußte sie übers Gras zum Wasser schleifen. Die Riemen lagen säuberlich nebeneinander darin, mit Schnüren an den Ruderbänken festgebunden. Die Schnüre waren so alt, daß sie unter seinen Fingern zerfielen, als er niederkniete, um die Knoten zu lösen. Er schob das Boot ins Wasser, und sofort zeigten sich überall kleine Lecks in den Planken. Er rannte in den Schuppen und holte einen Eimer zum Schöpfen. Optimus ruderte die Gig wie im Traum; er versuchte nicht, sie zu steuern, er glitt nur sacht über das glatte Wasser dahin und zog eine lange Kielspur hinter sich her. Er hatte ein seltsames Gefühl von Erfüllung, von Vollendung. Zinngraues Wasser, taubengrauer Himmel, schiefergraue Hügel, und dazwischen trieb er und wußte etwas, das er schon geahnt hatte und das sich nun bestätigt hatte. Er wußte, wie es gewesen war. Die See zog ihn magisch an. Er achtete nicht auf das Wasser im Boot, er ruderte südwärts, bis der Barrow, diese mächtige Landspitze, und dahinter die steilen Felsen mit ihren Höhlen und Buchten in Sicht kamen. Er empfand keine Furcht. Er war allein und doch nicht allein. Grace Pensilva war da. Jan King war da. Sie schienen ihn zu umschweben wie die Seeschwalben, die auf unruhigen Schwingen ihre Kreise zogen. Optimus’ Augen wurden von Tränen naß. Die Ruderblätter erinnerten ihn an die Schaufel eines Totengräbers. Wasser tropfte von ihnen ab wie -291-
Erdkrumen, die auf einen Sarg fielen. Doch bevor sich die Tropfen wieder mit dem Meer vereinten, schimmerten sie einen Moment in der Luft, makellose Perlen, in denen sich Meer und Land spiegelten. Die Gedanken hatten, um sich zu vollenden, Gestalt angenommen. Er mußte sie nur noch niederschreiben, wie die Spur, die der Kiel der Gig ins Wasser zeichnete. 24} Frederick Genteel peitschte sein Pferd, und das Tier, nicht an solche Behandlung von seinem müden Herrn gewöhnt, jagte den Reitweg entlang. Sobald er außer Sichtweite von Schloß Leet war, hatte er seinem Braunen die Sporen gegeben, und nun galoppierte er den gewundenen Weg entlang, der durch die Wälder zum Meer führte. Vor einigen Stunden war Mr. Hawkins unangemeldet mit seiner Kutsche von Plymouth herübergekommen und hatte angekündigt, bei Einbruch der Dunkelheit werde eine Einheit des Küstenschutzes eintreffen. »Sie sind sicher ebenso froh wie ich, wenn dem Treiben dieser Schmuggler, die Ihren Grund und Boden für Ihre Zwecke mißbrauchen, ein Ende bereitet wird«, sagte er zu Frederick, als sie miteinander allein waren. »Niemand darf heute nachmittag aus Leet fort und womöglich ausplaudern, daß ich hier bin; ich verlasse mich auf Sie. Ich mußte das hier selbst in die Hand nehmen, dieser Scully ist keinen Schuß Pulver wert. Wenn nur sein Vorgänger die Arbeit fortgeführt hätte! Dann wäre es nicht zu dieser neuen Welle von Verbrechen gekommen.« Er sah Frederick Genteel in die Augen. »Glauben Sie nicht auch, daß sich Scully dazu überreden ließe, mit den Schmugglern gemeinsame Sache zu machen? Selbst jetzt würde ich ihn sofort fallenlassen, wenn ich einen erfahrenen Mann, einen Ehrenmann an seine Stelle setzen konnte.« Frederick schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat ein solcher -292-
Mann Freude am Einsatz, aber Ehre würde er hier vergebens suchen.«« »Eine Antwort dieser Art hatte ich befürchtet. Doch ich bin sicher, daß ich zumindest auf die tätige Hilfe von Lord Mayberrys Sohn bauen kann.« »Selbstverständlich. Und nun werde ich, da Sie gewiß müde sind von der Fahrt, im Salon Tee auftragen lassen und meine Schwester bitten, uns Gesellschaft zu leisten.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich wollte, Ihre Hilfe wäre etwas umfassender.« »Mein lieber Hawkins, Sie können hier frei schalten und walten; doch erwarten Sie bitte nicht von mir, daß ich mit Ihnen ausrücke, um kalten Blutes meine Pächter niederzuschießen.« Als Nancy in den Salon kam, war sie voll Begeisterung für die geplante Unternehmung und voll Verachtung für ihren Bruder. »Was sind das für Zeiten, wo der Gutsherr nicht einmal wagt, gegen eine Frau zu kämpfen. Das gereicht unserem Namen nicht zur Ehre« klagte sie, als sie erfuhr, daß Frederick sich Hawkins nicht anschließen wollte. »Sie können mich mitnehmen, Mr. Hawkins, ich habe keine Angst davor, mit Pistolen zu schießen.« »Wenn die Falle zuschnappt wie geplant, Miss Nancy, habe ich bereits genügend Leute. Bei einer solchen Auseinandersetzung ist eine Dame fehl am Platz.« »Aber Grace Pensilva nicht, oder? Um sie geht es Ihnen doch, nehme ich an. Warum bin dann ich fehl am Platz? Sind Sie überhaupt sicher, daß sie sich einfinden wird?« »Absolut. Diesmal haben wir fundierte Erkenntnisse.« »Ich muß Ihnen gratulieren, Mr. Hawkins«, sagte Frederick Genteel, »es hat nicht jeder das Glück, verläßliche Informanten zu finden. Ich persönlich war der Meinung, diese Frau habe -293-
nicht viele Feinde; ich habe geglaubt, sie werde hier eher bewundert.« »Ein Feind ist genug«, bemerkte Hawkins trocken. »Und ein Freund, der sie warnt«, entgegnete Frederick. »Mir ist aufgefallen, daß der junge Ronald nicht im Stall ist. Ich werde jetzt die Runde machen und nachsehen, ob alles seine Ordnung hat. Nancy, du kümmerst dich um Mr. Hawkins, während ich die Grenzen des Anwesens abreite – es dauert nicht lange.« »Nehmen Sie sich vor meinen Leuten in acht«, sagte Hawkins. »Sie werden bald eintreffen, und die Pistole sitzt ihnen locker. Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit werden sie an allen Straßen um Leet und Harberscombe ihre Posten bezogen haben. Und dann können Sie sich nicht darauf verlassen, daß Ihr hoher Stand Sie schützt.« Frederick Genteel neigte höflich den Kopf und ging aus dem Raum. Er tat so, als inspiziere er Schloß und Nebengebäude, bevor er sein Pferd aufsattelte und zwischen den Bäumen des Parks davontrabte. Und nun galoppierte er meerwärts. Sein kraftvoller Brauner stob über den Reitweg dahin, doch er war langsamer als Fredericks Gedanken, die ihm zum Armouth vorausflogen, wo ein bestimmter Mensch nicht ahnte, daß er in Gefahr war. Der Weg wurde schmaler und wand sich durch die engstehenden Bäume. Frederick ritt weiter so schnell wie bisher. Plötzlich sah er einen umgestürzten Baum, der einen Teil des Wegs versperrte. Sein Pferd sah ihn auch, scheute und rutschte auf den nassen Blättern aus. Frederick drückte die Schenkel gegen die Flanken des Tiers und schwankte gefährlich im Sattel. Fast wäre er an dem Hindernis vorbeigekommen, hätte nicht ein vorspringender Ast seine Schläfe getroffen. Er versuchte verzweifelt, sich im Sattel zu halten, doch ihm schwanden die Sinne. Er sackte zusammen, glitt vom Pferd und fiel zu Boden. -294-
Der Braune wieherte bang, stampfte mit den Hufen, trottete ein paar Meter davon und blieb stehen. Frederick lag im Schlamm und versuchte aufzustehen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Es war wie ein Alptraum. Grace Pensilva war in Gefahr; er mußte sie warnen und konnte nicht zu ihr. Falls Grace Pensilva wußte, daß sie bedroht war, so zeigte sie es nicht. Sie saß mit Jan King in seinem kleinen Logger und wartete auf das Hochwasser. Der stille Nachmittag glich dem Gemälde eines niederländischen Meisters: fließende Grau- und Blautöne, dunstige Schleier, ziehende Wolken, brauner Sand, und darin als einziger Gegenstand von klarer Zeichnung das Boot. »Aber das ist wirklich das letzte Mal«, sagte Jan. »Du hast es versprochen, Grace, nicht?« Es lag immer noch Zweifel in seiner Stimme, auch ein wenig Groll. »Ja, ich habe es versprochen. Es ist das letzte Mal. Du kannst ganz beruhigt sein.« »Irgendwas geht bestimmt schief. Ich spür’s. Die Leute vom Zoll haben was gemerkt. Und ich weiß nicht, ob wir Jack Lugger trauen können. Der war so komisch in letzter Zeit.« Grace lächelte Jan freundlich an. Sie legte einen Finger gegen seine Lippen und schüttelte den Kopf. »Du machst dir zu viele Sorgen, Jan King. Das ist nicht nötig. Überlaß alles mir. Deine Grace macht das schon.« »Aber wozu? Wir brauchen das Geld nicht, wir können nicht mal das ausgeben, was wir haben, sonst fallen wir auf. Willst du, daß wir in ’ne Falle rennen? Du hängst vielleicht so an der Sache, daß du’s nicht mehr lassen kannst, aber warum soll ich weitermachen, wo’s doch gar nicht sein muß?« »Mir zuliebe, Jan King.« »Ich hab’ nichts von dir. Jetzt wohnen wir schon so lange zusammen, und du bist immer noch zu mir, wie wenn ich ’n Fremder wär’. Wann wird das anders?« -295-
»Morgen.« Jan King lachte ungläubig. Dann wurde er plötzlich ernst. Er hatte über Graces Schulter hinweg etwas gesehen. »Was kann das sein, Grace? Da kommt jemand.« Ein Reiter, erst nur ein Punkt in der Ferne, galoppierte auf sie zu. Als er durch die seichten Tümpel im Sand jagte, spritzte Wasser in Fontänen um ihn auf. Grace zog fragend die Augenbrauen empor. Dann erhob sie sich. »Keine Gefahr. Da bewegt nur jemand sein Pferd. Und jetzt nimm eins von den Rudern, Jan, und hilf mir abstoßen, die Flut kommt.« Sie wirkte so gelassen, als seien sie im Begriff, zu einer Lustfahrt aufzubrechen. Keine Unruhe war ihr anzumerken, als sie die bloßen Füße gegen die Bodenplanken stemmte und gegen das Ruder drückte, bis sich der Logger vom Ufer löste und allmählich Fahrt zu machen begann. Sie blickte sich nicht einmal um, aber Jan tat es und sah, daß der Reiter herangekommen war. Sein Pferd trabte platschend durchs fesseltiefe Wasser. »’n Freund von dir«, sagte Jan bitter. »Willst du nicht mit ihm sprechen?« Der Reiter war inzwischen bei dem Boot angelangt. Grace drehte sich um und bückte ihn an. »Mr. Hawkins ist da. Auf Leet«, sagte Frederick atemlos. Jan konnte die vertraute, gar nicht herrschaftliche Art, wie er mit Grace sprach, nicht leiden. Zwischen ihnen gab es ein Einverständnis, das an ihm nagte. Es tat ihm auch weh, daß Grace dem Gutsherrn weder trotzig noch mit Ehrerbietung begegnete. »Was hat das mit mir zu tun?« fragte sie, als sei der Zolleinnehmer ein ganz gewöhnlicher Besucher. »Er postiert überall seine Leute. Bleiben Sie noch eine Minute, Grace. Ich muß mit Ihnen reden. Diesmal sind Sie wirklich in Gefahr.« -296-
»Wir müssen das Hochwasser nutzen, Frederick. Jan und ich wollen aufs Meer hinaus, das ist nicht verboten, was kann Mr. Hawkins dagegen haben?« »Nichts. Er wartet ja mit Scully nur darauf, Sie auf frischer Tat zu ertappen, wenn Sie den Fuß wieder an Land setzen.« »Tatsächlich? Dann bestellen Sie den Herren meine besten Grüße und richten Sie ihnen aus, daß ich mich von nun an ausschließlich der Fischerei widme.« »Die beiden dürfen nicht einmal ahnen, daß ich hier gewesen bin.« Mittlerweile reichte das Wasser dem Pferd fast bis zum Bauch, und Frederick hatte die Beine angezogen, damit seine Stiefel nicht naß wurden. »Kehren Sie um, Grace!« flehte er. »Hören Sie auf mich!« »Was sollen wir tun, Grace?« fragte Jan beklommen. »Tu, was du willst«, erwiderte sie knapp. »Du kannst immer noch über Bord springen und zurückwaten. Ich hindere dich nicht daran. Wenn du dagegen Manns genug bist, mich zu begleiten, kannst du das Segel hissen. Ich übernehme solange die Ruderpinne.« Frederick Genteel blieb zurück, sein Pferd stand dampfend im Wasser, während sich der Logger entfernte. Er wünschte sich, an Jan Kings Stelle mit Grace aufs Meer hinauszufahren; doch er war Frederick Genteel, der Erbe von Leet, und im Salon des Schlosses saßen seine Schwester und sein ungeladener Gast und warteten auf ihn. Als er über den Sand zurückgeritten war und sich am Waldrand noch einmal umsah, war der Logger im Dunst verschwunden. Das Schiff tauchte aus dem Halbdunkel auf, schattenhaft, langsam, riesig. Der Logger wurde fast unter seinem Steven zermalmt, aber Jan riß an den Rudern, und sie glitten zur Pütting, wo ein Mann in fremdländischen Gewändern auf sie herabblickte. »Sie sind ein Meister der Navigation, Monsieur Caradec«, -297-
sagte Grace auf französisch. »Meinen Sie, daß Sie die Mündung von Kingsbridge ebenso leicht finden? Von dort kann Jan uns nach Salcombe lotsen.« »Laß das«, murrte Jan King. »Ich kann’s nicht hören, dieses ekelhafte Französisch. Frag ihn bloß, ob er den Schnaps dabei hat.« »Riechst du das nicht?« fragte Grace. »Er sagt, du sollst mit einer Fangleine an Bord kommen, damit er den Logger in Schlepptau nehmen kann.« »Warum hast du mir erst in letzter Minute was von diesem Plan gesagt?« wollte Jan wissen, als sie zusammen auf dem Achterdeck standen. »Hast du mir nicht getraut?« »Ich habe niemandem etwas davon gesagt. Nicht einmal Caradec wußte, wohin die Fahrt gehen soll. Ich habe es ihm eben erst verraten.« »Caradec, was geht mich der an? Ich bin dein Teilhaber, und, verdammt noch mal, ich hab’ das Recht, deine Geheimnisse zu wissen.« »Das einzig wahre Geheimnis ist das, von dem nur ein Mensch weiß.« »Wenn du das so siehst, dann geh zum Teufel. Denk bloß nicht, daß ich das Schiff hier nach Salcombe lotse.« »Warum bist du so empfindlich, Jan?« »Das kann ich dir genau sagen. Weil du mich dauernd an der Nase rumführst. Du tust so, als würden wir uns näherkommen, aber in Wirklichkeit ist nichts; alles ist noch genauso wie damals, als du zum Armouth gekommen bist. Ich hab’s nicht für Geld gemacht, die Schmuggelei. Ich hab’s deinetwegen gemacht, Grace, nur deinetwegen. Und ich lass’ mich nicht ausnutzen. Sag dem Käptn, daß ich wieder in meinen Logger will.« »Sei still, Jan.« Sie legte ihm den Arm um die Schultern. -298-
»So leicht kriegst du mich nicht rum«, sagte er erbost. »Sei still, Jan. Es wird anders.« »Wieso sollte ich dir das glauben? Das kenn’ ich schon, das ist das alte Lied.« »Ich schwöre dir, Jan, es wird alles anders«, flüsterte Grace beschwichtigend. »Komm, setz dich zu mir auf die Reling, wir halten Ausschau nach Little Mew Stone und den Gregory Rocks. Wir sind auf dich angewiesen, Jan, nur du kannst uns lotsen, niemand sonst, nicht bei diesem Nebel. Setz dich, und ich erzähle dir, wie wir leben werden, wenn wir das Schmuggeln aufgegeben haben.« Jan wunderte sich über das seltsame Gefühl, das ihn durchschauerte, als sie seine Hände in die ihren nahm. Es war dunkel auf dem Schiff, Meer und Himmel schienen eins. Der französische Kapitän erreichte ohne Mühe die Einfahrt zur Mündung und rief dann in seinem gebrochenen Englisch Jan ans Ruder. Eine Weile lag das Steuerrad schlaff in seinen Händen, bis die Strömung das Ruder plötzlich traf wie ein Schlag. Jeder Nerv in Jans Körper war angespannt. Er mußte das Schiff durchbringen, jeden Windstoß nutzen, jede kleine Änderung im Lauf des Flusses, mußte die unsichtbaren Ufer erahnen und mit gespitzten Ohren auf das Branden der überbrechenden See lauschen. Die Ar Mor lavierte hin und her in dem schmalen Fahrwasser, bis Jan fast an seiner Orientierung zu zweifeln begann und sich fragte, ob er das Schiff je nach Salcombe würde lotsen können. Auf der Anhöhe über der Stadt hatte Kapitän Scully bereits seine Truppen inspiziert und die Leute auf ihre Posten hinter den Hecken an den Wegen beordert, die aus Salcombe herausführten. Er hatte ihnen eine flammende Rede gehalten, die ihn entsetzlich durstig gemacht hatte. Er sah auf seine Taschenuhr und kam zu dem Schluß, daß er noch Zeit hatte, im -299-
»Fortescue« ein Bier zu trinken, bevor er sich seinen Leuten für die lange Nachtwache anschloß. Auf dem Hof vor den Stallungen von Schloß Leet formierte sich ein weiterer Trupp vom Küstenschutz unter Mr. Hawkins’ kritischem Blick. Die Männer schwangen sich auf ihre Klepper und warteten auf den Marschbefehl. »Was ihnen an Gesundheit und esprit de corps abgeht, machen sie hoffentlich durch ihre Zahl wieder wett«, sagte Hawkins leise zu Nancy Genteel. »Wir werden gleich aufbrechen müssen, aber ich frage mich, ob Ihrem Bruder etwas zugestoßen ist; ich sorge mich um ihn – er bleibt sehr viel länger aus, als er angekündigt hatte.« »Sorgen Sie sich lieber um wichtigere Dinge«, entgegnete Nancy. »Wenn er nicht gleich wieder da ist, komme ich mit; ich verstehe mich auf den Umgang mit Pistolen.« In diesem Moment gab es einen kleinen Tumult am anderen Ende des Hofes. Ein Reiter sprengte heran und bahnte sich seinen Weg durch den Trupp zu den Stufen, auf denen Mr. Hawkins und Nancy standen. Ein Pferdeknecht hielt eine Laterne empor, und sie erkannten Frederick; das Gesicht blutig, die Kleider beschmutzt. »Ich bin gestürzt«, erklärte er knapp. »Nichts passiert. Ach, übrigens, Hawkins, ich habe es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen; ich reite doch mit. Als Gutsherr ist das meine Pflicht.« »Und ich?« fragte Nancy. »Ich komme auch mit.« »Nein, du bleibst hier und bereitest Verbände vor; vielleicht sind Verwundete zu versorgen.« Als der Trupp leise über die Brücke und zu jener letzten schiffbaren Stelle im Fluß trabte, dachte Frederick, daß sich jetzt die Schlinge um Grace Pensilvas Hals zusammenzog. Nun, er hatte versucht, sie zu warnen, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Nachdem Mr. Hawkins seinen Leuten befohlen hatte, abzusitzen -300-
und sich über den Wald zu verteilen, stand er mit Frederick unter einer Weide am Rand der Wiese. Ein einziges Licht brannte im Schloß; es drang aus Nancys Zimmer. Es war kühl am Wasser, und Nebel wallte in dichten Schwaden über das Parkgelände hin. »Sie haben Ihre Pistole vergessen«, flüsterte Hawkins. »Ja? Aber an Pistolen herrscht hier doch kein Mangel.« Mr. Hawkins betrachtete Fredericks Gesicht so eingehend, wie es das matte Licht erlaubte. »Sie geben mir Rätsel auf, Genteel. Warum haben Sie mich begleitet, wenn Ihnen nichts daran liegt, die Schmuggler zu fassen?« »Um für ein ehrliches Spiel zu sorgen«, murmelte Frederick. »Ein ehrliches Spiel!« empörte sich Hawkins. »Was soll das heißen? Wir haben es hier mit Schwerverbrechern zu tun.« »Gewiß«, sagte Frederick, »aber es sind Leute. Und Menschen obendrein.« Sie schwiegen wieder, während das Vieh durch den Park trottete und die Lachsforellen im Wasser plätscherten. Sie warteten, so schien es, unendlich lange, und Mr. Hawkins wunderte sich immer mehr. Er fragte sich, ob der Trupp, den er in Richtung Uglington geschickt hatte, um die Grubenarbeiter auf ihrem Weg zum Treffen mit Jack Lugger zu greifen, Erfolg gehabt hatte. Er hatte keine Schüsse gehört; hatten sie sich womöglich kampflos ergeben? Er fragte sich, ob Kapitän Scully seine Männer, wie vorgesehen, an allen strategisch wichtigen Punkten um Salcombe postiert hatte. Der Plan war umfassend, aber einfach, selbst ein Kind hätte ihn durchführen können. Doch Scully war ein Säufer und ein Halunke, ein Feigling ohnehin; ein Plan konnte noch so gut sein... Hawkins fragte sich, wie zuverlässig Mrs. Coyte und ihr Sohn Ronald waren; ihre Abneigung gegen Grace Pensilva schien echt, aber schon oft hatten Leute, die mit einem Schmuggler verwandt waren, den -301-
Zoll mit falschen Auskünften bedient. Nun denn, wenn die Coytes ihn belogen hatten, hatte er immer noch einen Trumpf im Ärmel. Er würde Jack Lugger für seine Beteiligung an jener anderen Sache vor Gericht bringen. Womit ihm mindestens die Deportation sicher war. Devon würde einen nichtsnutzigen Gauner verlieren und Vandiemensland einen widerwilligen Siedler gewinnen. Einstweilen lag Lugger auf eigenen Wunsch gefesselt und geknebelt im Wald. Kapitän Scully bestellte noch einen Abschiedstrunk, doch er hatte es nicht eilig. Gleich beim Eintritt in die Gaststube des »Fortescue« hatte er etwas Seltsames bemerkt, eine sonderbar gespannte Atmosphäre. Ben Barlow, der Wirt, gab sich betont fröhlich, aber hinter dieser Fassade verbarg sich Nervosität. Der alte Fuchs führte irgend etwas im Schilde; wahrscheinlich hatte er beschlossen, Vorteil aus der Abwesenheit des Küstenschutzes zu ziehen, indem er sich die eine oder andere Unregelmäßigkeit zuschulden kommen ließ. Scully wünschte sich, er hätte ein paar von seinen Leuten dabehalten; was immer sich hier zusammenbraute, er hatte wenig Neigung, dem allein gegenüberzutreten. Er wußte, daß er in Salcombe keine Freunde hatte; die Zecher auf den Sitzbänken um den Kamin taten so, als sei er Luft, und sie tuschelten und flüsterten unablässig und brachen ab und zu in schallendes Gelächter aus, das, wie er annahm, ihm galt. Doch dem würde er ein Ende bereiten; er schlenderte hinüber, um sich zu ihnen zu setzen. Kurz darauf klopfte es leise und der Wirt ging an die Tür. Er trat nach draußen, kehrte einen Augenblick später zurück, ging zu Scully hinüber und sagte ehrerbietig: »Da ist jemand, der Sie sprechen will.« »Soll reinkommen«, erwiderte Scully, entschlossen, auf der Hut zu bleiben. »Ist ’ne Dame, Käptn, ’ne richtige Dame, nicht die Sorte, die -302-
sich in Kneipen rumtreibt. Aber sie will Sie sprechen. Unbedingt, hat sie gesagt.« Scully zögerte. Neugierig war er durchaus. Er hätte gern gewußt, wer die Dame war. »Fragen Sie sie, wer sie ist.« Ben Barlow ging wieder nach draußen, während Scully einen Schluck von seinem Bier nahm. Ben Barlow kehrte zurück. »Sie sagt, das wissen Sie schon, wenn Sie sie sehen.« Er senkte die Stimme. »Die ist wirklich hübsch, und ich glaube, die ist was Besseres, von Adel oder so.« Scully leerte seinen Humpen mit einem gewaltigen Zug. Die anderen Zecher beobachteten Ihn. Wenn er nicht hinauszugehen wagte, machte er sich zum Gespött, schließlich wartete draußen nur eine Frau auf ihn, er glaubte nicht, daß der Wirt gelogen hatte. Während er hinausging, lockerte er unauffällig die Pistole in seiner Schärpe. Er öffnete die Tür und trat rasch beiseite, um einem eventuellen Scharfschützen kein Ziel zu bieten. Die Mühe hätte er sich sparen können; die Gasse war leer bis auf sein Pferd, das an einem Ring in der Mauer neben dem Eingang festgebunden war. »Kapitän Scully?« Erst als er den Kopf drehte, sah er sie; sie stand in dem Halbkreis, den er mit seinem blinden Auge nicht überblicken konnte. Zu dem Eindruck, den ihre sanfte Stimme machte, paßte ihr erlesenes, graues Seidenkleid. Ihr Gesicht, von einem Kiepenhut gerahmt, lag im Schatten. »Madam?« »Schließen Sie bitte die Tür. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen; etwas, das nur für Ihre Ohren bestimmt ist.« Scully musterte sie; sie war unbewaffnet und schien tatsächlich, wie der Wirt schon gesagt hatte, ungewöhnlich hübsch zu sein. Er drückte die Tür mit dem Fuß zu. »Ja?« -303-
»Kommen Sie.« Sie winkte ihm und lief die Gasse hinunter. Er folgte ihr, wenn auch widerwillig. An der nächsten Kreuzung blieb sie stehen und drehte sich um. Als er fast bei ihr war, flüsterte sie ein paar Worte, doch er konnte sie nicht verstehen. Sie bedeutete ihm, er möge näher kommen. Er neigte den Kopf, um sie besser zu hören. Sie wiederholte, was sie ihm zu sagen hatte: »Die Frau, die Sie suchen, ist hier in Salcombe.« Scully stutzte. Er war nicht dumm, er konnte sich einen Reim auf diese Auskunft machen. Er streckte die Linke aus, um der Frau den Hut vom Kopf zu reißen und zog gleichzeitig mit der Rechten die Pistole aus der Schärpe. Bevor er beides zu Ende bringen konnte, legten sich von hinten zwei starke Arme um ihn. Jemand hatte in einem Eingang gelauert. »Hab’ ihn schon«, sagte eine Männerstimme neben seinem Ohr. »Was tun wir jetzt? Machen wir ihn kalt?« Oh, da sollte doch der Blitz dreinfahren! Scully spuckte wütend in die Gosse, drehte und wand sich in den Armen, die ihn schier erdrückten. »Ach was. Das lohnt nicht bei einem solchen Jämmerling. Wir fesseln ihn. Er hat Schmuggler gesucht, nicht wahr? Nun, dann soll er sie wenigstens hören.« Während sie sprach, stopfte ihm die Frau ihr Taschentuch als Knebel in den Mund. Dann entwand sie ihm die Pistole und bedrohte ihn damit. Der Mann fesselte ihm derweil mit einem Strick die Hände. »Hinlegen!« befahl die Frau. »Binde seine Hände an seinen Knöcheln fest«, sagte sie zu ihrem Gefährten. Scully konnte ihr Gesicht immer noch nicht erkennen; es war viel zu dunkel. Er fluchte innerlich; der Mann nahm ihm die Schärpe ab und wand sie um seinen Kopf. »Das können wir uns nicht leisten, daß du alles siehst, Freund«, murmelte der Mann, »aber das Rollen von den Fässern kannst du gerne hören, das ist ’ne schöne Musik.« Und Scully begriff; er begriff, wie leicht er sich hatte -304-
übertölpeln lassen; ihm dämmerte sogar, daß nicht nur Mr. Hawkins hinters Licht geführt worden war, sondern auch Mrs. Coyte. Er haßte diese Frau für ihre Schlauheit, er haßte sie noch mehr, als er das Rumpeln der Fässer auf dem Kai hörte, das leise Getrappel von Hufen, die gedämpften Stimmen der Treiber; und er haßte sie doppelt, als er den unverkennbaren Dunst von Branntwein roch. Er haßte sie, weil er sicher war, daß sie all das geplant hatte, geplant bis ins letzte; als hätte sie gewußt, daß er ins »Fortescue« zurückkehren und noch etwas trinken würde; als hätte sie damit gerechnet, daß sie ihn auf diese Weise verhöhnen konnte. Ben Barlow und seine Genossen saßen unterdessen gewiß in der Gaststube und tranken gemütlich ihr Bier. Sie würden natürlich nichts hören. Und sie würden sich sehr verwundern, wenn sie ihn auf dem Heimweg in der Gosse liegen fanden, gefesselt, wie ein für den Bratspieß bereiteter Hahn. Der Lärm schien kein Ende nehmen zu wollen. Das hier war keine kleine Panie, die Schmuggler luden das ganze Schiff unmittelbar vor dem Zollamt aus. Scully hörte französische Stimmen. Hatten sie es tatsächlich gewagt, den Franzosen nach Salcombe zu lotsen? Scully renkte sich fast Arme und Beine aus bei dem Versuch, seine Fesseln abzustreifen. Sie waren mit Seemannsknoten festgezurrt, und er kam nicht weiter. Doch er erzielte einen gewissen Erfolg, was seine Schärpe betraf, die aus glattem, weichem Stoff war. Er rieb den Kopf an einer Mauer, konnte sie allmählich höher streifen und schließlich mit seinem gesunden Auge darunter hervorlugen. Am Ende der Gasse sah er das Bugspriet des Franzosen. Rundherum brannten Laternen, wahrend die letzten Fässer mit behelfsmäßigen Ladebäumen aus dem Frachtraum gehoben wurden. Doch nicht das fesselte seine Aufmerksamkeit, sondern ein Gesicht, das Gesicht der Frau, die barhäuptig am Bug stand und alle Vorgänge leitete. Ihm blieben nur ein, zwei Minuten, um dieses Gesicht zu betrachten, denn die Lichter verloschen, -305-
und die letzten Packesel, beladen mit den Fässern, trotteten an ihm vorbei. Es war das Gesicht der Frau, die den Stein nach ihm geworfen und sein Auge getroffen hatte. Das Schiff legte ab und verschwand in der dunklen Mündung. Kurz darauf war Scully vom Wirt und dessen Kumpanen umringt, die sich vor geheuchelter Sorge nicht zu lassen wußten, ihm die Fesseln lösten und ihn scheinheilig bedauerten. Er stieß sie beiseite und rannte zu seinem Pferd. Er hatte zwei Möglichkeiten: Er konnte den Schmugglern nachreiten, und er konnte versuchen, das Schiff aufzuhalten. Wenn er die Schmuggler verfolgte, gelang es ihm sicher, ein paar zu stellen; aber das waren nur kleine Fische, die ihre Haut überdies teuer verkaufen würden. Wenn er dagegen versuchte, das Schiff aufzuhalten, konnte er möglicherweise noch rechzeitig die alte Batterie außerhalb der Stadt erreichen, die seit Nelsons Zeiten unbemannt war, und eventuell einen Schuß auf den Franzosen abgeben. Ja, das würde er tun. Die Aussicht auf Erfolg war zwar gering, doch er mußte es darauf ankommen lassen. Ein Schuß nur, ein Schuß aus geringer Entfernung, der vielleicht diese Frau tötete... mehr wollte er nicht. Er ritt am Ufer entlang, der Batterie entgegen, ritt wie der Teufel, scherte sich nicht darum, ob er stürzte und sich alle Knochen brach. Wenn er Glück hatte, würde er sie erwischen. Mr. Hawkins hatte alle Hoffnung aufgegeben; er hatte nichts von dem Trupp gehört, der den Grubenarbeitern entgegengezogen war, die Flut war gekommen und das Hochwasser lief bereits wieder ab. Doch da hörte er etwas, sie hörten es beide im selben Augenblick, Frederick Genteel und er: ein leises, rhythmisches Klatschen. Es kam von einem Boot, das flußaufwärts ruderte. Die Männer im Wald mußten es auch vernommen haben; Zweiglein knackten, Blätter raschelten, als striche ein Wind durchs Unterholz. Hawkins wandte sich dem Mann zu, der ihm -306-
am nächsten stand. »Ich will sie lebend!« zischte er. »Lebend! Geben Sie es weiter. Wehe, wenn jemand ohne Feuerbefehl schießt!« Sie brauchten nicht lange zu warten; bald sah man, wie sich das Boot näherte, den Windungen des Arun folgend. Es war jetzt heller; zwar schien kein Mond, aber die Wolken rissen auf, und zaghaftes Sternenlicht drang zwischen ihnen hervor. Die beiden Männer unter der Weide hatten sich vorgebeugt. Mr. Hawkins hielt seine Pistole in der Hand. Das Boot kam nun rasch heran; plötzlich war es da, unmittelbar vor ihnen. Jemand stand in der Mitte und steuerte es, indem er die Ruder lässig durchs Wasser zog. Frederick hustete. Hawkins funkelte ihn voll kalter Wut an. Darum war er also mitgekommen! Der Mensch im Boot blickte sich erschrocken um, er mußte irgendeine Bewegung wahrgenommen haben. Im Nu war das Boot leer und schaukelte auf dem Fluß, während sein Insasse am anderen Ufer aus dem Wasser kletterte. »Stehenbleiben!« brüllte Hawkins. Er löste sich aus dem Schatten der Weide und hob seine Pistole. Gleichzeitig traten seine Leute zwischen den Bäumen hervor. Der Mensch am anderen Ufer machte halt und ließ den Kopf hängen. »Schnell ein Licht!« rief Hawkins, sprang mit einer Behendigkeit, die für einen Mann seines Alters ungewöhnlich war, in das treibende Boot und setzte über. Der Mensch am anderen Ufer sank in stummer, demütiger Bitte vor dem Steuereinnehmer nieder und umklammerte seine Knie, als er die Pistole auf sich gerichtet sah. Einer von Hawkins' Leuten kam mit einer Blendlaterne. Nun sah der Steuereinnehmer, daß er keine Frau gefangen hatte, sondern einen jungen Mann, den er kannte. »Du bist’s, Ronald Coyte? Was, zum Teufel, hast du hier so spät zu suchen?« Ronald hatte so fürchterliche Angst, daß er -307-
keine zusammenhängende Antwort geben konnte. Er stotterte, biß sich auf die Lippen, er war wie ein Kaninchen, das von einem Wiesel bedroht wird. »Jetzt sprich, Junge, sonst erschieße ich dich«, sagte Hawkins. »Bist auch du mit dieser verwünschten Frau im Bunde?« Ronald Coyte schüttelte den Kopf. Zwei der Leute vom Küstenschutz hatten ihn von Hawkins gelöst und wieder auf die Beine gestellt. Sie hielten ihn fest. »Ich... ich komm’ oft hierher«, brachte Ronald schließlich heraus. »Mitten in der Nacht?« »Sie will das so.« »Sie?« Ronald Coytes Lippen bebten; er nannte den Namen nicht, aber seine Augen, die auf das eine erleuchtete Fenster im Schloß gerichtet waren, verrieten Hawkins alles. Frederick Genteel lachte. Er hatte den Fluß durchwatet und stand neben Hawkins und Ronald. Es war ein bitteres Lachen. »Hast du nicht soviel Verstand, um zu merken, daß dies nicht die rechte Nacht ist, einer Dame den Hof zu machen?« »Sie hat gesagt, wenn ich mal nicht komme, peitscht sie mich aus«, murmelte Ronald. »Verdammter Narr!« rief Hawkins. »Aber du bist nur einer von vielen. Warum muß ich von lauter Narren umgeben sein?« Er steckte die Pistole in die Tasche seines Rocks. »Genteel, Sie haben doch gewiß einen guten Tropfen im Hause? Ich brauche Trost. Und Sie, nehme ich an, werden feiern wollen.« »Feiern?« »Nun, wir haben niemanden getötet und niemanden gefangen, oder? War es nicht das, was Sie wollten?« »Backbord – ’n bißchen«, sagte Jan King. »Bábord, un peu«, übersetzte Grace für den Steuermann, der das Schiff mit der Strömung meerwärts führte. Jan und sie saßen auf der Reling, während Grace übers Achterdeck schritt. Sie -308-
waren alle vergnügt; hatten sie nicht gerade den Zoll lächerlich gemacht? Salcombe verschwand, und vor ihnen tat sich der Mündungstrichter auf. Es war immer noch dunkel, aber allmählich dämmerte der Tag. Ein sanfter Nachtwind blähte die Segel und sie kamen gut voran. »Wir haben es geschafft!« rief Grace überwältigt. »Ja, wir haben’s geschafft«, bestätigte Jan King. »Weißt du was, Grace? Du bist die größte Schmugglerin, die es je gegeben hat.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern und küßte sie auf den Mund. Zu seiner Verwunderung sträubte sie sich nicht dagegen. Das Blut kochte in seinen Adern, und er zog den süßen Moment in die Länge. Dann, aus Furcht, zurückgewiesen zu werden, löste er sich von ihr und rückte ein Stück zur Seite. Die Kanonenkugel sauste genau zwischen ihren Köpfen hindurch. Ihr Jaulen erschütterte die Luft und betäubte Jan und Grace, so daß sie fast nichts von ihrem lauten Einschlag horten. Nur Caradec hatte das Mündungsfeuer gesehen, alle anderen hatten zum Meer geblickt. Er wartete angstvoll auf den zweiten Schuß. Sie waren ein leichtes Ziel und bewegten sich, wie es nun schien, mit unerträglicher Langsamkeit aufs Meer zu. Er spähte in die Takelage, um zu prüfen, ob ein Stag oder ein Fall zerstört war. Außer Jan King merkte niemand, daß der Steuermann leblos über dem Ruderrad hing. Das Schiff begann zu gieren, verlor den Wind aus den Segeln und trieb auf die nahen Felsen zu. Jan schob den Steuermann beiseite, dem die Kanonenkugel den Kopf abgerissen hatte, und packte das Ruder, schärfte alle Sinne, um die leiseste Regung des Schiffes zu spüren und es wieder auf Kurs zu bringen. Grace stellte sich neben ihn. Caradec starrte ins Dunkel und wartete auf das Glimmen der Zündschnur, die rote Flamme des nächsten Schusses. Doch der blieb aus. Die Sekunden schlichen dahin, das Schiff machte fast keine Fahrt, bis Caradec einen Segelbaum drehen ließ und sich das Besansegel mit leichtem Wind füllte. Und auch jetzt dauerte es noch eine ganze Weile, bis Jan eine -309-
Bewegung im Ruder spürte. Alle Freude war verflogen. Ungeheure Anspannung herrschte. Sie dauerte fort, bis die ersten Wogen des Ärmelkanals den Steven der.Ar Mor emporhoben und die Küstenbrise sie krängen ließ. In gedrückter Stimmung versammelte sich die Besatzung auf dem Achterdeck, um sich um ihren toten Kameraden zu kümmern. Sie nähten den Leichnam in Segeltuch ein und bestatteten ihn mit einem Gewicht an den Füßen in der See. Die Spannung hing noch in der Luft, als das Schiff beidrehte, damit Grace und Jan an Bord ihres Loggers gehen konnten. Zuvor sprach Grace ein paar letzte Worte mit dem Kapitän. »Was hast du zu Caradec gesagt?« wollte Jan wissen, als sie sich von dem Franzosen entfernten und ihr Segel setzten, um zum Armouth zurückzukehren. »Hast du nicht demain gesagt? Das heißt doch morgen, oder?« »Ich habe ihm eine gute Fahrt gewünscht und gesagt, ich hoffe, daß er morgen glücklich in Frankreich ist.« »Das hoff ich auch. Und ich hoffe, daß wir ihn nie wieder sehen, jetzt ist Schluß mit ’in Schmuggeln, nicht, Grace? Du hast es versprochen.« »Ja, Jan. Es ist vorbei. Ab morgen wird alles anders.« »Na, Gott sei Dank.« Sie saßen schweigend, während kleine Wellen gegen den Logger plätscherten. Vor ihnen ragte die düstere Steilküste von Devon über dem Wasser auf. »Warum fahren wir nicht geradewegs zum Armouth?« fragte Grace besorgt. »Der Wind ist günstig.« »Die schlaue Grace, immer ’ne Nasenlänge voraus... Aber heute ist sie nicht so schlau wie Jan King.« Sie blickte ihn mit schmalen Augen an. Was meinte er? Auf dem Kurs, den Jan steuerte, würden sie zu weit nach Osten kommen, am Barrow vorbei. Er türmte sich an der Backbordseite auf. -310-
»Die schlaue Grace hat nicht an das Geld gedacht, wie? Wir wären schön dumm, wenn wir damit zum Armouth fahren würden. Du kannst dich drauf verlassen, daß die Leute vom Küstenschutz auf uns warten. Die wollen nämlich auch unser Geld.« »Was sollen wir tun?« »Wir fahren zu den Höhlen rüber und verstecken das Geld. Und bevor wir wieder am Armouth sind, fangen wir ’n paar Fische. Bis dahin ist es Morgen. Dann sind auch Leute aus Harberscombe da, und die vom Küstenschutz können nichts machen – die trauen sich nicht, uns ohne Beweise was zu tun.« Jan hatte recht. Sie hatte nicht an das Geld gedacht, sie war wieder einen Schritt weiter gewesen und hatte das Naheliegende übersehen. Das war ein neuer Jan King, besonnen und entschlossen. Bisher hatte Grace die Richtung angegeben und die Entscheidungen getroffen; nun lehnte sie sich zurück und überließ alles ihm. »Noch was!« sagte Jan King, als sie das Geld vergraben hatten und wieder im Logger saßen. »Ich will hoffen, daß Genteel nicht dauernd bei uns herumlungert, wenn wir zurück sind. Ich hab’ ’ne Menge ausgehalten, aber jetzt reicht’s. Du mußt Schluß mit ihm machen.« »Ich habe nicht vor, ihn wiederzusehen. Nie mehr, solange du lebst, solange wir zusammen sind.« Sie fuhren unter dem Barrow dahin; das Priel des Armouth lag in der Bucht vor ihnen verborgen. »Das hör’ ich gern. Hat auch keinen Sinn, Mädchen, wenn du dich mit ’nem feinen Herrn einlaßt. Die und wir... wir haben nichts miteinander zu tun, wir kommen nicht zusammen.« »Frederick Genteel ist kein schlechter Mann.« »Nein, das hab’ ich auch nicht gesagt. Komisch...« Er hielt inne und blickte sinnend aufs Meer. »Da gibt’s was von -311-
Frederick, das hab’ ich dir nie erzählt...« Er verstummte. »Ja?« »Frederick Genteel war auf ’in Friedhof an dem Tag, wo Frank begraben worden ist. Er hat uns beobachtet. Ich hab’ ihn gesehen.« »Warum hast du mir das nie erzählt?« fragte sie in scharfem Ton. »Hätte doch nichts geändert, oder? Hätte nichts dran geändert, daß du ihn magst. Wär’ auch nicht anständig gewesen, wenn ich’s dir gesagt hätte, jedenfalls nicht, solange du ihn gemocht hast.« Nun war es an ihr zu verstummen. Sie schwieg, bis sie über den Back waren und im Armouth anlangten. »Du bist ein feiner Mensch, Jan, ein besserer Mensch, als ich je dachte. Dr. Cornish hat recht. Ich habe dich nicht verdient.« Sie hatte immer gewußt, daß es schwer sein würde. Doch nun wurde es noch viel schwerer. Ein paar Worte nur, und ihr kamen Zweifel. »Wach auf! Wach auf, du Schlafmütze!« Sie nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Er drehte sich auf den Rücken, zog die Decke über seine Brust und schlug einen Moment die Lider auf. Dann schloß er sie wieder. »Laß mich in Frieden, ja?« brummte er, aber ohne Groll. »Ich brauche auch meinen Schlaf.« »Der Tag ist so schön, Jan, so wunderschön. Die Sonne scheint, es ist warm, der Fluß schimmert ganz blau. Laß uns schwimmen gehen, laß uns einen Tag Ferien machen! Du darfst ihn nicht verschlafen.« Jan öffnete ein Auge. Er faßte Graces Hand und zog sie ans Bett. Sie wehrte sich, jedoch nicht allzu heftig, und setzte sich auf die Bettkante. »Nein, ich verschlaf ihn schon nicht«, sagte Jan. »Aber gib mir erst mal ’nen Kuß, Grace, so wie gestern.« Die Arme um -312-
ihren Nacken gelegt, versuchte er, sie an sich zu drücken. Sie duldete es, entwand sich ihm aber, als seine Bartstoppeln ihre Wange streiften. »Du bist stachelig wie ein Igel, Jan – so macht das keinen Spaß. Laß mich los, ich hole warmes Wasser, du brauchst eine Rasur.« Er gab sie widerwillig frei, und sie ging in die Küche, um das Feuer unter dem Kessel aufzuschüren. Die Tür stand offen, und in der Hecke draußen zwitscherte ein Vogel. Er legte den kleinen Kopf zur Seite und betrachtete sie neugierig. Plötzlich gab es Grace einen Stich. Wie oft hatte sie mit ihrer Mutter dem Gesang der Vögel gelauscht! Dieses Tal mit seiner steilen Straße und seinen kleinen, von Böschungen eingefaßten Feldern war ein Teil von ihr. Sie hatte sich immer gesagt, es werde eine Erlösung sein, Harberscombe endlich den Rücken kehren zu können, und dennoch... Sie hob die Hand an den Mund und biß sich auf die Knöchel. Fast kamen ihr die Tränen. Sie kämpfte dagegen an und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Helligkeit. Die schwarzen Bootsschuppen wirkten licht in der Morgensonne. Keine Menschenseele war zu sehen, es war Sonntag, und die Fischer saßen in der Kirche und beteten um sichere Heimkehr und guten Fang. Die Gig lag im Gras; vor einer halben Stunde war Grace dort gewesen und hatte eine Tasche in den Kasten am Heck gestopft. Jan hatte das Boot repariert und weißblau angestrichen. Sie hatte zu seinem Fenster aufgeblickt, als sie den Kasten wieder zugeklappt hatte; er hatte sie nicht gesehen, sondern noch tief geschlafen. Die Glocken von Harberscombe läuteten. Grace nahm den summenden Kessel und stieg die Treppe hinauf. Sie hoffte, daß sie völlig gelassen wirkte, doch sie hätte sich deshalb nicht zu sorgen brauchen. Jan King war zu ungeduldig, um sie genau zu betrachten. Er hatte sich hinter der Tür versteckt und umarmte -313-
sie, als sie ins Zimmer trat. »Paß auf, sonst verbrühst du dich!« mahnte sie. »Komm, hol dein Rasiermesser und deine Seifenschale, aber beeil dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Wir machen ein Frühstück im Freien... es soll dein Hochzeitsessen sein, Jan King.« »Und das da draußen sind die Hochzeitsglocken, nicht wahr?« fragte Jan eifrig. »Du hast mich furchtbar lange warten lassen, Grace Pensilva. Das war hart, ich hab’ Sehnsucht nach dir gehabt.« Sie lächelte ihn über ihre Schulter hinweg an, während sie das Rasiermesser am Streichriemen schärfte. Er bemerkte, wie gut sie sich darauf verstand, und fragte sich, von wem sie es gelernt hatte. Von Frank? Jans Augen wurden dunkel. Doch Grace war von ansteckender Fröhlichkeit, und er vergaß diese Mißstimmung bald. Die Sonne schien, und er hatte Grace noch nie so heiter erlebt. Sie lehnte den Rasierspiegel gegen einen Fensterrahmen und seifte Jan ein. Sie gab ihm das Messer und stand hinter ihm, die Arme um seine Mitte gelegt. Er spürte ihre Brüste, sie streiften seinen Rücken, und dazwischen war nur ihr dünnes Kleid. Ihr Kinn lag auf seiner Schulter, so daß auch sie in den Spiegel blicken konnte. »Ich habe mir immer überlegt, wie das ist«, sagte sie, als das Messer über die ersten Bartstoppeln kratzte. »Wie was ist?« »Ein Mann zu sein, all die vielen Haare zu haben, sich rasieren zu müssen.« Sie lachte und stieß versehentlich gegen seinen Arm. »He, laß das, sonst schneid’ ich mich.« »Laß es mich machen.« Er hielt unschlüssig inne. »Das Messer ist furchtbar scharf.« »Laß es mich wenigstens versuchen; ich tu’ dir nicht weh.« Sie fuhr mit ihren kühlen Händen über das straffe Fleisch seines Bauches. Er seufzte wohlig und gab nach, als Ihre Finger an -314-
seinem Arm emporwanderten und ihm das Messer abnahmen. Sie drückte sich eng an ihn, so eng, daß ihm fast die Sinne schwanden. Das Messer strich langsam über seine Wange. Es war so still, daß sie beide das schabende Geräusch hören konnten. Grace starrte in den Spiegel und führte das Messer mit sicherer Hand. Jan entspannte sich, seine Bangigkeit schwand. Grace spürte es. »Wie ist das?« flüsterte sie. »Ich kann’s dir nicht sagen. So... so...«, ersuchte nach Worten, »wie wenn man ’n Herr war, ’n Prinz. Wie wenn man ’ne Dienerin hätte, ’ne Sklavin, ’ne...« »Eine Hure?« »So was darfst du nicht sagen!« Er war wirklich böse; sein Körper erstarrte wieder. »Vorsicht, sonst schneide ich dich.« »Dann sag so was nicht. Ich will das nicht.« Sie sah auf. Die Hand, mit der sie das Messer hielt, war einen Zollbreit von seinem Gesicht entfernt. »Warum regst du dich so auf, Jan?« fragte sie mit sanfter Stimme. »Weil niemand so was von dem Mädchen sagen darf, das... das...« »Das was, Jan?« »Das meine... Frau wird.« Das Wort auch nur auszusprechen, kostete ihn Mühe. »Dann sage ich es nicht mehr.« »Nie wieder?« »Nie wieder.« Sie fuhr fort, ihn zu rasieren, und das kühle Metall des Messers glitt über die Haut unter seinem Kinn. Wieder lockerte er sich, ergab er sich der ungewohnten, der gefährlichen Lust, -315-
vertraute er sich, verletzlich wie er war, einem anderen Menschen an, einer Hand, die einem anderen Willen gehorchte. Erst als er ein leises, kaum merkliches Zögern spürte – das Messer blieb einen Moment über seinem Adamsapfel in der Schwebe –, riß er sich aus der köstlichen Trägheit und blickte in den Spiegel. Was er sah, erschreckte ihn. Ihr Gesicht war angespannt, und es lag keine Zärtlichkeit darin. Sie kam ihm vor wie eine Schlafwandlerin. Behutsam, um nicht jäh den Bann zu brechen, unter dem sie stand, hob er die Rechte und nahm ihr das Messer ab. »Ich muß geträumt haben.« Sie rieb sich die Augen, und er glaubte ihr. Ihr Blick wurde wieder hell und freundlich. Sie hatte ihm gesagt, daß sie viel Zeit brauchen würde, um zu vergessen. »Ich mach’ selber weiter«, sagte er. »Geh du nach unten und kümmer dich ums Frühstück, ich hab’ ’nen Bärenhunger.« Als sie aus der Tür war, rasierte er sich mit Sorgfalt zu Ende. Was hatte ihn so ängstlich gemacht? Sie hatte nicht einmal seine Haut geritzt. Er hörte das vertraute Klappern von Pfannen und Tiegeln, während er sich das Gesicht mit kaltem Wasser wusch und sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. Siehst gar nicht so schlecht aus, sagte er sich, als er seine Koteletten zurechtzupfte. Welches Mädchen konnte ihm widerstehen? Sein Hemd in der Hand, rannte er barfuß die Treppe hinunter. Sie stand am Küchentisch und packte ein paar Sachen in einen Korb, der schon fast voll war. Ihr Blick war ruhig und mild; er hatte ihr zu Unrecht mißtraut, aber wann würde er sie besitzen, wann? »Was ist jetzt? Du wolltest mir doch ’en Kuß geben?« fragte er, ging flink auf sie zu und faßte sie bei den Schultern. »Ich könnt’ dich fressen.« Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich ab und lachte. Dann schnellte sie plötzlich vor und küßte ihn auf beide Wangen. »Das ist genug fürs erste«, sagte sie, die Hände gegen seine Brust gelegt. »Zwei für einen. Wenn das nicht reichlich ist... -316-
Trag du den Korb, ich nehme den Apfelwein.« »Und was ist mit meinem Frühstück?« »Habe ich das nicht gesagt? Wir machen ein Picknick.« »Hm«, brummte er zweifelnd. »Wir rudern mit der Gig zu den Höhlen hinüber, veranstalten ein Festessen und zählen unser Geld. Na, was hältst du davon?« »Weiß nicht. Ich würde lieber zu Hause bleiben.« »Ach, Jan, sei kein Spielverderber. Zieh dein Hemd an, die Sonne brennt. Und wie wäre es mit einem Lächeln? Das kannst du mir nicht abschlagen, nicht an meinem Hochzeitstag. Komm, Jan. Wir trinken Apfelwein und gehen schwimmen.« Er überlegte einen Moment, und sie sah, daß er allmählich nachgab; er dachte wohl daran, wie er ihr damals in jener Hohle begegnet war. Er schlüpfte in sein Hemd und nahm den Korb. »Gut siehst du aus, wie ein richtiger Herr«, sagte Grace, als sie aus dem Haus traten. »Wie ’n Herr?« entgegnete er finster. »Ich mag aber kein Herr sein. Wenn du ’n Herrn willst, mußt du zu deinem Frederick gehen.« »O nein!« lachte sie. »Komm, beeil dich, bald ist Flut.« Frederick Genteel stieg mühsam die letzten Stufen hinunter. Er mußte sich am Treppengeländer festhalten, bevor er durch die Eingangshalle zum Salon gehen konnte. Der ganze Brustkorb tat ihm abscheulich weh; offenbar hatte er sich die Rippen bei seinem Sturz ärger geprellt, als er gedacht hatte. Andererseits war der Schmerz eine gute Ausrede dafür gewesen, im Bett zu bleiben, bis Mr. Hawkins das Haus verlassen hatte – nun stand er auf dem Hof vor den Stallungen und ließ anspannen. Bei jedem Schritt, den Frederick machte, durchzuckte ihn ein Stechen und Brennen. Der Weg von der Treppe zum Salon war -317-
eine Qual, und die Chaiselongue, die darin stand, erschien ihm so verlockend wie eine Tropeninsel nach einem Jahr beschwerlicher Seefahrt. Doch es war schon jemand im Salon; seine Schwester stand an einem der hohen Fenster und hielt seinen Gehrock in der Hand. Er hatte ihn am Abend zuvor, als er mit Mr. Hawkins zurückgekehrt war, achtlos über einen Stuhl geworfen. Nancy betrachtete ihren Bruder mit einem wissenden Lächeln, anstatt ihn, wie üblich, gleich anzufahren. Das verhieß nichts Gutes. »Ich bekomme mein Vollbut, ja?« fragte sie in süßem Ton. »Jetzt kannst du es mir nicht mehr verwehren.« »Nein, wirklich nicht?« Auch das Sprechen schmerzte. Frederick hoffte, nicht wieder in einen Streit hineingezogen zu werden. Er stand auf unsicheren Beinen vor der Chaiselongue. »Auf Leet wird es Veränderungen geben, große Veränderungen.« In ihrer Stimme lag eine eisige Gewißheit, die Frederick beunruhigte. »Wie kommst du darauf?« Nancy gab keine direkte Antwort. Statt dessen hielt sie ihrem Bruder den Gehrock entgegen, den sie am Kragen gepackt hielt wie einen armen Sünder, der auf frischer Tat ertappt worden ist. »Mr. Hawkins war nicht sehr aufmerksam, oder?« »Wie meinst du das?« Frederick ahnte bereits, was sie entdeckt hatte. »Du bist im Wald gestürzt, nicht? Zumindest hast du uns das erzählt. Und es ist auch wahr: Dieser Rock ist mit Erde beschmutzt, aber nicht nur das... Da ist noch etwas anderes, stimmt’s? Nämlich Sand... Sand über den ganzen Rücken... Eine Schicht Sand und dann wieder eine Schicht Erde... Und was verrät uns das? Nein, du brauchst dir nicht die Mühe zu machen, darauf zu antworten... Frederick Genteel war gestern abend nicht nur im Park, er ist noch ein Stück weiter geritten, am Strand -318-
entlang, nicht wahr?« Nancy war sich ihres Vorteils nur zu gut bewußt; sie nutzte ihn erbarmungslos aus. Frederick ließ sich auf die Chaiselongue sinken; er fühlte sich zum Sterben matt. »Und warum galoppierte Frederick Genteel wohl Hals über Kopf am Strand entlang, wenn er nicht versuchte, jemanden zu finden, jemanden zu warnen? Oder war es nur Zufall, daß er gerade an dem Tag, als Mr. Hawkins mit den Leuten vom Küstenschutz eintraf, dorthin ritt?« Nancy warf den Gehrock wieder über den Stuhl, näherte sich ihrem Bruder und beugte sich mit spöttischer Miene über ihn. »Schmerzt es sehr, armer Frederick? Wie ist es, wenn man ein gebrochenes Herz hat? Wenn man abgewiesen wird um eines Fischers willen, oder sollte ich besser sagen, um eines Schmugglers willen? Sie hat nicht auf dich gehört, oder? Nun, wie dem auch sei, es ist unwesentlich. Hier zählt nur, daß du, der Gutsherr, zu ihr geritten bist, um sie zu warnen. Dieser Gehrock ist der Beweis. Oder willst du es bestreiten?« Frederick schwieg. »Nein, ich dachte mir schon, daß du es nicht leugnen würdest. Wenigstens bist du ehrlich. Aber wo ich den Beweis nun einmal habe, gedenke ich natürlich ihn zu nutzen.« Sie nahm ihre Reitgerte zur Hand und bog sie zwischen ihren schlanken Fingern, bis sie fast zerbrach. »So hast du mich nach deinem Männerwillen gebogen, Frederick, so hast du mich gekrümmt. Doch nun wirst du dich krümmen müssen. Du wirst Leet verlassen. Du wirst heiraten, um zu Geld zu kommen.« »Und wenn ich mich weigere?« »Ich habe den Beweis. Du hast ein Verbrechen begangen, indem du eine Verbrecherin gewarnt hast.« Frederick drehte sich um und blickte auf den Hof vor den Stallungen. Mr. Hawkins saß abfahrbereit in seiner Kutsche. Er hatte gestern abend den Sand auf dem Rock nicht bemerkt. Was hinderte Frederick daran, den Rock einfach auszubürsten? Wo -319-
blieb dann der Beweis? Räder mahlten auf dem Hof. Nancys Gesichtsausdruck verrieten, daß sie das gleiche dachte wie ihr Bruder. Doch sie brauchte nur ans Fenster zu laufen und zu rufen; Hawkins würde sofort umkehren. Frederick faßte ihr Handgelenk und hielt sie fest. »Du erwartest, daß ich klein beigebe und dich hier mit deinem Ronald die Herrin spielen lasse, ja? Nun, diese Genugtuung sollst du nicht haben. Hawkins wird den Rock nie sehen.« Zu Fredericks Verwunderung wehrte sich Nancy nicht, versuchte sie nicht, sich loszureißen. Sie schrie nicht einmal. »Wofür hältst du mich? Für ein kleines, dummes Mädchen? Und was macht meinen Ronald weniger ehrenwert als deine Grace Pensilva? Ich weiß, daß du mich verachtest, aber ich hätte nicht gedacht, daß du mich für so töricht hältst. Was, glaubst du, ist geschehen, während du dich auf deinem Zimmer versteckt hast?« Sie hielt inne, und Frederick gab ihre Hand frei. Die Kutsche hatte den Hof verlassen und war bereits außer Sicht. Nancy lächelte dünn. »Ich habe mit Mr. Hawkins geplaudert, einige Dinge beredet. Wir sind übereingekommen, daß es keinen Skandal geben wird, es sei denn, du wünschst es. Wir wollen nichts an die Öffentlichkeit dringen lassen. Es bleibt unter uns. Ich für mein Teil werde großzügig sein und auch Vater kein Wort verraten. Du wiederum wirst ihm schreiben und ihm erklären, daß du beschlossen hast, wieder auf Reisen zu gehen. Und da du ebenso großzügig bist wie ich, wirst du ihm mitteilen, daß du deinen Anteil am Besitz auf deine Schwester überträgst und daß deine Entscheidung endgültig ist. Mr. Hawkins meint ebenfalls, dies sei die eleganteste Losung. Niemand hat etwas davon, wenn das Ansehen des Adels darunter leidet, daß dein Fall vor Gericht verhandelt wird; und ich muß sagen, daß es mir unangenehm wäre, wenn mein Bruder in den Kerker geworfen und in Ketten gelegt würde – dergleichen hilft einem in guter Gesellschaft -320-
nicht weiter. Du hast drei Tage Zeit, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen und das Land zu verlassen.« »Ist das alles?« »Nein. Mr. Hawkins hat mir noch etwas verraten. Ich hatte es fast erwartet... Es betrifft deine Zeit in Salcombe, dich und Grace Pensilvas Bruder...« Nancy lächelte wieder. Sie wartete einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Du wirst es ihr natürlich schon gesagt haben. Bei derartig heiklen Dingen ist es immer das beste, sich freimütig zu erklären. Und sie hat dir verziehen, nicht wahr? Genauso wie sie Jan King verziehen hat. Ich werde sie also nicht davon unterrichten müssen, und wenn ich es doch tue, wird es für sie nicht mehr als eine unerhebliche Erinnerung an längst vergangene Zeiten sein.« Wäre Frederick nicht seiner Schmerzen wegen wie gelähmt gewesen, so wäre er vielleicht aufgesprungen und hätte Nancy erwürgt. Er wußte, daß er verloren hatte, und das nicht durch die Schlauheit seiner Schwester, sondern durch seine eigene Torheit. »Du hast gewonnen«, murmelte er. »Ich gehe. Das Gut gehört dir.« »Hier, nimm deinen Rock«, sagte Nancy und warf ihn auf einen Stuhl. »Mr. Hawkins hat ihn bereits untersucht. Außerdem habe ich ihn Charles Barker gezeigt, natürlich ohne zu sagen, weshalb. Aber er hat ihn gesehen und wird als gewitzter Jurist deinetwegen keinen Meineid schwören. Ronald Coyte hat dem Pferd gestriegelt. Er besinnt sich darauf, daß sein Fell voll Sand war. Es ist also alles geregelt... Ja, und nun bliebe vielleicht noch zu sagen, daß es mir weh tut, einen edlen, hochherzigen Mann wie dich so leiden zu sehen, wie du im Moment wohl leidest. Ich werde Dr. Cornish rufen. Er soll bei Schmugglern eine glückliche Hand haben.« Als Nancy den Raum verlassen hatte, dachte Frederick Genteel über seine mißliche Lage nach. Er würde gehen müssen. -321-
Ihm blieb keine andere Wahl. Immerhin konnte er auf das Angebot zurückgreifen, für Kapitän Fell auf Malta zu arbeiten. Was ihn am meisten beunruhigte, war, daß Nancy sein Geheimnis an Grace verraten würde. Hätte er es ihr doch nur selbst gesagt! Aber er hatte Angst davor gehabt, das magische Band zwischen ihnen zu zerstören. Vielleicht hatte sie es sogar schon geahnt. Und nun würde sie über kurz oder lang erfahren, daß er der Henker ihres Bruders war. Am liebsten wäre er sofort hinübergeritten, um es ihr zu erzählen, bevor Nancy Gelegenheit hatte, ihn so niederträchtig zu denunzieren. Doch die Schmerzen in seinem Brustkorb waren zu stark. Er konnte ihr nur eine Nachricht schicken. Das Klassenzimmer war aufgeräumt; Optimus hatte ein letztes Mal die Runde gemacht, die Fibeln säuberlich auf das Fensterbrett gestapelt und die Pulte zurechtgerückt. Er dachte an die Kinder, die darin gesessen hatten. Dies war Alice Terrys Platz; sie hatte goldenes Haar, eine fürwitzige Nase und einen schelmischen Blick. Onkel Bill Terry mußte ihr Großonkel sein. Hier, wo die Dielenbretter von scharrenden Stiefeln abgewetzt waren, saß Bob Kingdom. Er war ein zerstreuter Junge, doch das fiel kaum ins Gewicht; sein Vater war ein Freibauer mit mehr als hundert Morgen Land, und sein Großvater von mütterlicher Seite war ein Mann namens Wroth gewesen, Eric Wroth. Und der junge Scully... Optimus hatte es schwierig gefunden, Andrew zu mögen; er war verschlagen, argwöhnisch, habgierig. Und doch war es nicht recht, die Abneigung gegen den Vater auf den Sohn zu übertragen, auch wenn dieser ebenfalls nicht sehr vielversprechend war. Optimus wischte eine Schiefertafel sauber, es war die von Albert Triggs, und Albert war ein großwüchsiger, langsamer, bedächtiger Junge, eigentlich der Liebling seines Lehrers. Er besaß eine merkwürdig intuitive Intelligenz und hatte ein unfehlbares Gespür für logische Zusammenhänge. Und dennoch war da irgendwo ein Makel, -322-
eine Verwirrtheit; das zeigten die wirren Worte und Schmierereien, die Optimus gerade ausgelöscht hatte und die ihn an Alberts Verstand zweifeln ließen. Optimus hatte beabsichtigt, in den Kirchenbüchern nachzulesen, wie Albert mit Ivor Triggs verwandt war, aber dieses Vorhaben würde er jetzt, wie so manches andere, aufgeben müssen. Er hatte keine Pensilvas und keine Kings in der Klasse, und dafür war er dankbar; die Vorstellung, daß sich das gleiche Drama in einer späteren Generation wiederholte, machte ihn schaudern. »Ich habe gehört, daß Sie gehen, Mr. Shute. Das wird für Branscombe ein echter Verlust sein.« Optimus blickte verwundert auf; der Gutsverwalter war so leise eingetreten, daß er ihn nicht wahrgenommen hatte. »In diesem Dorf scheint sich alles herumzusprechen«, erwiderte Optimus trocken. »Ich bin sicher, daß Branscombe den Fortgang eines Dorfschulmeisters verschmerzen wird.« »Sie unterschätzen sich, Mr. Shute. Man wird Sie sehr vermissen.« »Ich hoffe, daß Sie nicht gekommen sind, um mich aufzuhalten. Mein Entschluß ist unwiderruflich.« Charles Barker schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin hier in meiner Eigenschaft als Erbschaftsverwalter und habe einige Dinge zu regeln, die den armen Dr. Cornish betreffen. Würden Sie wohl so freundlich sein, einen Augenblick mit mir hinüberzukommen?« »Ich glaube kaum, daß es Mrs. Kemp recht wäre, und...« Barker fiel ihm ins Wort. »Was geht das Mrs. Kemp an?« fragte er. »Ich bitte Sie hinüber, ich bin der Erbschaftsverwalter. Es handelt sich nur um eine Formalität, die man aber gleichwohl besser dort erledigt als anderswo oder auf schriftlichem Wege.« Es war genauso, wie Optimus erwartet hatte. Mrs. Kemp saß in einer Ecke, sah ihn finster an und weigerte sich, mit den -323-
beiden Männern am Küchentisch Platz zu nehmen. Optimus ließ sich auf einer der Bänke nieder und dachte an die Abende, die er hier verbracht hatte. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, eine seltsame Übelkeit befiel ihn. Ein Geruch von kalter Asche hing im Raum; früher hatte es immer nach einem prasselnden Feuer und ein wenig nach Branntwein gerochen. Optimus rutschte unbehaglich auf seiner Bank hin und her und wäre am liebsten hinausgelaufen, aber Charles Barker ließ ihn nicht aus den Augen. Der Advokat saß in dem Sessel des Doktors am Ende des Tischs und raschelte mit Papieren. Optimus wurde an seine erste Begegnung mit Dr. Cornish erinnert; damals hatte an genau derselben Stelle ein Stapel von Papieren gelegen. »Sind Sie soweit?« fragte Barker, klemmte seinen Kneifer auf die Nase und begann, ohne Optimus’ Antwort abzuwarten, aus einem sonderbar gefalteten Schriftstück vorzulesen. »Ich, Edward Anthony Wyatt Cornish, der ich bei vollem Verstande bin, verfüge kraft dieses letzten Willens über meine irdischen Güter wie folgt...« Das war es also; Charles Barker hatte ihn als Zeugen bei der Eröffnung des Testaments des Doktors gebraucht. Optimus verlor sich in Gedanken, während der Advokat eine lange Reihe von Legaten an Menschen aufzählte, deren Namen ihm nichts sagten. Ein stattlicher Betrag ging an die Königliche Medizinische Akademie, eine Schenkung an eine Universität, eine weitere an... Optimus verlor die Übersicht. Doch gerade als seine Gedanken endgültig abschweifen wollten, riß ihn ein Satz in der eintönigen Litanei des Advokaten aus seinen Träumen. »... und all meinen sonstigen Besitz, sei es in barem Gelde, bebautem und unbebautem Grund und Boden, Staatspapieren und Einlagen in Handelskompagnien, vermache ich Optimus Shute, Schulmeister zu Branscombe, welcher damit unter der einen Bedingung, daß er Mrs. Kemp auf Lebzeiten in diesem Hause wohnen läßt und für ihren Unterhalt sorgt, wie sie es gewohnt ist, nach Gutdünken verfahren mag. – Bezeugt von -324-
Charles Barker, Advokat aus Leet, und William Terry, Fischer aus Harberscombe.« Tiefes Schweigen senkte sich über die dämmerige Küche. Ohne den Kopf zu wenden, wußte Optimus, daß Mrs. Kemp eine bittere, verächtliche Miene aufgesetzt hatte. Welche Ironie des Schicksals, daß der alte Doktor im Tode die Lebenswege von Optimus und Mrs. Kemp miteinander verband! Nun, zumindest konnte nach den vielen Vermächtnissen der Rest des Nachlasses nicht allzu groß sein. Optimus stand auf und näherte sich Mrs. Kemp, die während der Verlesung des Testaments schweigend dagesessen hatte. »Es hat sich nichts geändert!« schrie er. »Sie sollen wissen, daß sich nichts geändert hat, Sie werden hier weiterleben wie bisher.« »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Mrs. Kemp und schlug die Augen nieder. »Machen Sie alles, wie Sie wollen, junger Herr.« Optimus fragte sich, wieviel Mrs. Kemp verstanden hatte. Er bedeutete dem Advokaten mit knapper Gebärde, ihm zu folgen, schritt aus der Tür und richtete das Wort an ihn, sobald sie draußen auf dem kopfsteingepflasterten Hof standen. »Es war sehr freundlich von Dr. Cornish, mich in seinem Testament zu bedenken«, sagte Optimus, »obwohl ich nichts getan habe, um mir diese Großzügigkeit zu verdienen. Zumindest – und das ist mir eine Erleichterung – wird sich die Erbschaft auf nicht allzu viel belaufen. Ich möchte Mrs. Kemp nicht um ihren verdienten Lohn für langjährige treue Dienste bringen.« »Oh, aber Sie irren sich«, entgegnete Charles Barker, wobei er seinen Kneifer zusammenklappte und in die Westentasche steckte. »Sie können versichert sein, daß Sie das haben werden, was man ein Einreichendes Auskommen nennt. Dr. Cornish hatte keine bedeutenden Einkünfte aus seiner Praxis, aber er stammte aus guter Familie und besaß einiges Vermögen. Wie -325-
Sie wissen, war er kein verschwenderischer Mensch. Sie werden nie Not zu leiden brauchen, es sei denn, Sie würden Ihrerseits das Geld mit vollen Händen ausgeben.« »Aber Mrs. Kemp...« »Ich bin sicher, daß der Doktor lange über diese Frage nachgedacht hat und zu dem Schluß gelangt ist, Sie würden nach bestem Wissen und Gewissen dafür sorgen, daß es Mrs. Kemp an nichts mangelt.« »Aber sie haßt mich, sie kann gar nicht anders; ich habe ihn im Stich gelassen, ich habe ihn verraten. Im letzten Moment habe ich ihn enttäuscht.« »Wer weiß, was ein anderer wirklich denkt, zumal eine taube, alte Frau, die in Rätseln spricht... Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich muß diese Papiere ordnen. Es kann ein halbes Jahr dauern, bis das Testament gerichtlich bestätigt wird, doch besondere Schwierigkeiten dürfte es nicht geben. Unterdessen werden Sie zur Bestreitung Ihres Lebensunterhaltes Geld von Dr. Cornishs Bank abheben können; ich werde dementsprechende Weisungen erteilen. Fünfhundert Pfund müßten Ihnen für diese Zeit genügen, oder? Was haben Sie vor?« Optimus dachte eine Weile nach. Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Ich fahre nach Malta«, sagte er. »Ja. Ich fahre nach Malta.« Wieder im Schulhaus angelangt, packte er seine Sachen. Grace Pensilva und Frederick Genteel lockten ihn. Der alte Doktor mußte es vorausgesehen haben; er war ein Mann, der gern die Fäden in der Hand hielt. Er hatte Optimus auf Grace aufmerksam gemacht; und Optimus war ihr jetzt nah, näher denn je, doch er konnte sie immer noch nicht fassen. Sie entzog sich ihm, entzog sich ihm jedesmal, wenn er versuchte, sie aufs Papier zu bannen, wie es Dr. Cornish gewünscht zu haben schien; aber immerhin hatte er nun -326-
ausreichende Mittel, ihr zu folgen. Sie glitten unterhalb des Barrow durch die Wellen, zwischen den Bojen und Krabbenkörben, die gemächlich im trägen Gezeitenstrom tanzten. Jan ruderte auf der Ducht am Bug der Gig, Grace pullte auf der Bank in der Mitte. Ihr kräftiger Rücken bewegte sich gleichmäßig, während sie die Riemen von sich stieß, die Ruderblätter eintauchte und mit langem geschmeidigem Schlag durchs Wasser zog. Der Anblick erregte Jan, was dazu führte, daß er gelegentlich aus dem Takt geriet. Sie lachte ihn über ihre Schulter hinweg an und pullte unermüdlich weiter. Da und dort, wo Felsen dicht unter der Wasseroberfläche lagen, griffen Schlingpflanzen nach ihren Rudern wie braune Hände. Die Steilhänge des Kliffs schimmerten weiß, als sie hinter dem Barrow auftauchten. Zerklüftete Felsen ragten aus dem Meer. In den tiefen Gräben dazwischen wimmelte es von Hummern und Meeraalen. Neugierige Kormorane streckten den Hals aus dem Wasser, als die Gig vorbeifuhr, tauchten und ließen Ihre gekrümmten Leiber aufscheinen. Ein Stück weiter saßen andere auf einem Riff, die Flügel in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet. Die kleinen Felseninseln, die unterhalb des Kliffs lagen, kamen in Sicht. Im Winter wurden sie, wenn es stürmte, vom Meer überspült, doch im Sommer wuchsen hier Strandnelken und Gras. Im Windschatten der Inseln befand sich eine schmale, geschützte Fahrrinne; bei schönem Wetter konnte dort ein Boot festmachen. Auf der seewärtigen Seite, vom Land nicht einzusehen, lag ein kleiner, heller Sandstrand. Hier sonnten sich manchmal Seehunde, aber heute fand Grace ihn leer, als sie mit ihrem Korb dort anlangte. Sie gab Jan die Flaschen mit Apfelwein, damit er sie zum Kühlen in einen Tümpel zwischen den Felsen stellte, und setzte den Korb mit den Speisen im Schatten ab. Nun waren sie so allein, wie Jan es sich häufig ausgemalt -327-
hatte. Auch von diesem Ort hatte er oft geträumt. Er trat ein paar Schritte zur Seite und warf Kiesel ins Wasser. Was sollte er sagen? Wie sollte er beginnen? Schließlich wandte er, bedrückt von der Stille, den Kopf, um zu sehen, was Grace tat. Und er sah mit Staunen, daß sie nackt war. Sie legte gerade ihre Kleider ordentlich auf einen Felsen. Gelassen erwiderte sie seinen starren Blick, bis er die Augen niederschlug. »Du kommst auch ins Wasser, ja? Es ist so herrlich klar. Ich konnte es nicht mehr erwarten.« Er beobachtete, wie sie über den Sand ging und ins Wasser stieg. Als sie zu schwimmen begann, schimmerte ihr weißer Körper grünlich, verzerrt vom Wasser. Sie hielt auf die felsigen Tiefen zu, auf die blauen Schatten und die purpurnen Seeanemonen. Er folgte ihr und spürte die jähe Kälte des Wassers. Dies war das offene Meer, nicht von den Sänden an der Flußmündung gewärmt. Die Kälte stieg ihm von den Knöcheln zu den Knien, von den Schenkeln bis zu seinem schwellenden Geschlecht. Sie ließ ihn erstarren, sie lag im Widerstreit mit der Hitze seiner Begierde, und dennoch war sie eine Liebkosung, die ihn in ein neues Reich der Sinnenfreuden führte. Er schwamm der Frau seiner Träume nach. Als er sich ihr näherte, wurde seine Welt eine Kugel aus leuchtendem Blau, oben die Kuppel des hitzeflirrenden Himmels, unten eine Halbkugel von Ultramarin, kaltem Türkis und sattem Violett. Grace tauchte, und Jan folgte ihr nach, in die Tiefe gelockt vom blassen Schein ihrer Glieder und den wasserpflanzengleichen Flechten ihres Haars. Sie rollten und drehten sich wie spielende Otter, kamen sich nah, ohne sich zu berühren, ließen Blasen aufquellen, die in langen Ketten zitternd emporstiegen und sich unter dem Meeresspiegel verloren. Lanzen aus Licht trafen sie, Strahlen der Sonne, die unsichtbar -328-
in einem anderen Raum hing. Sie stiegen auf, nach Atem ringend, und schwammen aufeinander zu, bis ihre Nasen sich berührten. Grace sah Jan ernst in die Augen; ihre Lippen hauchten einen flüchtigen Kuß auf seinen Mund. Dann lachte sie, wie eine Meerjungfrau lacht, und tauchte wieder in die kühle Einsamkeit hinab. Sie spielten, bis eine süße Ermattung über sie kam. Dann schwammen sie an den weißgelben Strand zurück. Erschöpft ließen sie sich auf den warmen, welligen Sand fallen. Und nun berührte er sie. Ihre Hand packte seine und hielt sie von sich ab. Seine Begierde wuchs, ebenso sein Zorn. Warum mußte sie ihm jede Nähe, die sie gewährt hatte, mit neuen Schranken, neuen Verboten vergelten? »Grace.« Seine Stimme klang heiser und seltsam erstickt. »Ich kann nicht mehr warten.« »Du willst mich?« »Ich brauch’ dich.« »Und du bist bereit, dafür zu bezahlen?« Ihre Frage verwunderte ihn, vermehrte seinen Zorn. Er setzte sich auf, beugte sich über sie und blickte sie drohend an. »Hab’ ich nicht schon genug bezahlt? Verdammt noch mal, Grace, wann bist du endlich zufrieden?« Das war wieder ein neuer Jan King, wild und stark, der sie schier erdrückte in seinen Armen, der mit gespreizten Beinen über ihr kniete. Sie kämpfte mit ihm, doch er hatte Riesenkräfte und überwältigte sie. Seine Lippen lagen auf ihrem Hals, ihren Wangen, ihrem Mund. Und überrascht entdeckte sie, daß sie seine Gefühle erwiderte. Die Knospen ihrer Brüste wurden hart, ihr Leib bog sich seinem entgegen. Und dennoch versuchte sie, sich zu wehren. »Wenn du das nicht sein läßt, schlag’ ich dich«, flüsterte er, und sie wußte, daß es ihm ernst war. Sie schloß die Augen und verlor sich in einer roten Dunkelheit. Furcht hatte sie ergriffen, nicht Furcht vor Jan, sondern die Furcht, sie könnte es genießen, -329-
die Furcht, sie könnte sich ihm unterwerfen. Eine Flutwelle von lang unterdrückten Gefühlen trug sie weiter, als sie es je für möglich gehalten hätte. Sie war untreu, und sie hatte Freude daran. Ihr Körper verriet sie. Der Schatten eines Felsens schob sich langsam über die hitzeglühende Bucht und breitete seine Kühle über ihre verschlungenen Leiber. Jan setzte sich auf und blickte um sich. Ein weißer Fleck am Horizont, der kurz im gleißenden Sonnenlicht auftauchte, nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Er rieb sich die Augen; die Besegelung sah aus wie die des Franzosen, doch das konnte nicht sein. Caradec mußte längst die Bretagne erreicht haben. Es war nur ein Trugbild; das Schiff, wenn es eines war, verschwand sofort wieder im Dunst. »Heiliger Gott, hab’ ich ’nen Hunger«, sagte Jan. »Kümmer dich ums Essen, Grace, ich hol’ den Wein.« Sie aßen von einem karierten Tuch, das sie im Sand ausgebreitet hatten. Grace schnitt Fleisch und Brot mit einem scharfen Messer und schob Jan kleine Happen in den Mund. Sie tranken den Apfelwein aus der Flasche; bernsteingelbe Tropfen liefen Grace übers Kinn und fielen auf ihre Brust. Jan beugte sich vor und leckte sie ab. Er war jetzt nicht mehr befangen, er war wie ein wildes Tier. »Du bist schuld daran, daß ich das Geld vergessen habe«, lachte Grace. »Warte einen Augenblick, ich hole es.« Doch als sie auf den kleinen, grasbewachsenen Hügel hinter der Bucht gestiegen war, fand sie es nicht, obwohl sie in mehreren Kaninchenlöchern suchte. In ihrem Gesicht malten sich Erstaunen und Entsetzen. »Es ist nicht da!« jammerte sie. »Jemand hat es gestohlen!« Sie suchte in einem weiteren Bau, dann in noch einem. Es mußte da sein, sie hatte gesehen, wie Jan es versteckt hatte. Als sie aufblickte, stand er lächelnd in ihrer Nähe. »Da gibt es nichts zu grinsen«, sagte sie. »Das ist nicht spaßig. Für dieses Geld haben -330-
wir unser Leben aufs Spiel gesetzt, und jetzt ist es fort. Verschwunden!« »Geld allein macht auch nicht glücklich«, bemerkte Jan vergnügt. »Steh nicht so albern herum. Tu etwas. Hilf mir, das Geld zu suchen. Ist dir nicht klar, daß wir alles verloren haben? Jemand hat uns beobachtet, als wir es versteckt haben.« Jan gab keine Antwort. Er ging langsam und bedächtig über den scharfkantigen Fels an Grace vorbei. Dann setzte er sich ins Gras, hob den rechten Fuß und massierte ihn. Nach einer Minute stellte er ihn wieder auf den Boden und zog den anderen über sein Knie. »Die Steine hier sind furchtbar hart; ich kann nicht weitergehen.« »Ist es dir denn völlig egal?« schrie Grace. Sie rannte zu ihm, packte seine Schultern und schüttelte ihn. Doch er wurde bereits geschüttelt – von unterdrücktem Gelächter. Sie schüttelte ihn noch heftiger. Und nun begann er schallend zu lachen. Sie biß ihn in die Schulter. Schließlich ließ sie von ihm ab. Sie hatte im Gras Gold blinken sehen, eine Münze, die aus der Ledertasche auf seinen Schoß gefallen war. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du es gefunden hast?« »Hast mir keine Zeit dafür gelassen.« »Du wolltest mich bloß quälen!« »So was wie Ortssinn hast du nicht, oder?« fragte Jan, aber ohne jede Bosheit. »Was meinst du wohl, wie das ausgegangen wäre, wenn ich dir nicht geholfen hätte?« »Dann hatte ich weitergesucht«, erwiderte Grace, doch sie wußte, daß sie das Gold nicht gefunden hätte. »Du bist ein schlauer Kerl, Jan King; und jetzt laß uns sehen, ob du auch schlau genug bist, das Geld zu zählen.« -331-
»Schrecklich viel«, sagte Jan ein wenig später, als die Münzen zwischen ihnen auf dem Tuch lagen und sie die zweite Flasche Apfelwein geöffnet hatten. »Was sollen wir damit machen? So ’nen Haufen Geld können wir in Harberscombe gar nicht ausgeben.« Grace legte sich in den Sand, die Augen geschlossen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Keine Sorge, ich habe einen Plan.« »Hab’ ich mir schon gedacht«, schmunzelte Jan. »Grace Pensilva hat für alles ’nen Plan.« Er fühlte sich ihr herrlich nahe, seitdem ihr Traum vom Reichtum in Erfüllung gegangen war. Sie hatte es so gewollt, und es war so gekommen; er war sicher, daß ihr auch in Zukunft alles gelingen würde. Wie großartig sie war! Und sie war sein! Er nahm die Flasche, goß ein wenig Wein auf ihren Bauch und fiel über sie her. »Jan, Jan, das Geld! Es rollt in den Sand, wir werden es verlieren!« »Ich brauch’ kein Geld, ich brauch’ nur dich«, sagte Jan. »Trinken wir auf unseren Hochzeitstag.« Grace fügte sich. Sie tranken Apfelwein, bis sie müde wurden und auf dem Tuch zusammensanken. Jan nahm die Münzen, immer eine Handvoll auf einmal, und überschüttete Grace damit. Dann legte er sich zurück und küßte ihr gerötetes, zufriedenes Gesicht. Die Sonne wanderte nach Westen. Eine leichte Brise kam auf und ließ das Meer aufglitzern. Kormorane, gestreckt im Flug, mit den Spitzen Ihrer Schwingen die Wellen berührend, kehrten zu ihren Schlafplätzen auf den Karracken zurück. Schatten sammelten sich in den kleinen Buchten an der Küste und wurden länger. Von Harberscombe klangen schwach die Glocken herüber, die zum Abendgottesdienst riefen. Grace und Jan begannen zu frösteln und griffen nach ihren Kleidern. Sie fanden die Bodenplanken der Gig mit Wasser bedeckt. Als sie an Bord kletterten, streckte Jan die Hand nach dem Kasten am Heck aus und wollte den Schöpfeimer -332-
herausnehmen. »Das Boot hier hat immer schon geleckt wie nur was«, brummte er. Grace drängte sich rasch an ihm vorbei. »Laß mich das machen«, sagte sie. »Du lädst unsere Sachen ein und setzt dich an die Ruder. Gib acht auf den Beutel; wir verstecken ihn später an Land.« »Wird Zeit, daß wir nach Hause kommen«, sagte Jan und dachte an die Tage zurück, als er hier mit Onkel Bill Terry gefischt hatte. Onkel Bill war ein kluger Mann, doch er hatte sich geirrt, was Grace Pensllva betraf. Sie war zu ihm gekommen, und sie war gekommen, um ihn zu lieben. »Ich bitte dich nur noch um einen Gefallen«, sagte Grace. »Was für ’n Gefallen?« »Du wirst es mir jetzt doch nicht abschlagen, oder?« »Nein, glaub’ ich nicht.« »Ich möchte, daß du mir die Stelle zeigst.« »Was für ’ne Stelle?« »Die Stelle, an der es geschehen ist, an der Frank...« »Da gibt’s nichts zu sehen, rein gar nichts, das ist ’ne Stelle wie jede andere.« Er klang verärgert. »Egal. Ich muß dorthin, ich muß meinen Frieden finden, diesen Geist austreiben.« »Das ist aber weit.« »Ich weiß, aber es muß sein.« Sie machten sich auf den Weg. Schon hing der Abenddunst über der glatten See. Hoch oben auf dem Barrow stand ein Mann von dem Platz auf, an dem er den ganzen Nachmittag gesessen hatte, und warf einen letzten Blick auf Küste und Meer. Makrelenschwärme stiegen im späten Licht aus den Tiefen empor und wimmelten unter der Wasseroberfläche. Über ihnen schwebten beutegierige Tölpel, kreisten, stießen herab, -333-
verschwanden in einem Schleier aus Gischt, tauchten wieder auf, flatterten behäbig davon und verschlangen Ihre Beute. Schiffe mit weißen Segeln glitten in der Ferne vorbei. Hinter den Felseninseln erschien plötzlich ein kleines Boot und bewegte sich langsam meerwärts. Zwei Ruderer saßen darin, und der Mann ahnte, wer sie waren. Als sie aufs Meer hinauspullten, nahm Jan King auf dem Barrow eine kleine Bewegung wahr. War dort ein Mensch? Er war nicht sicher, es konnte auch eine Täuschung gewesen sein. Bald vergaß er es und hielt nach den Seemarken Ausschau. Eine gewaltige Landspitze tauchte auf und schob sich langsam vor, indigoblau, fast schwarz im Sonnenuntergang über Cornwall. Sie mußten weiterrudern, bis sie die zweite sahen, und noch weiter, bis die dritte und höchste vor ihnen lag. Während sie pullten, starrte Grace auf den großen, nierenförmigen Stein zu ihren Füßen. Er war an einer Leine befestigt und diente als Anker für die Gig. Sie begann zu träumen. Das Tau zog sich um den bloßen Fuß eines Mannes zusammen. Sie stellte sich vor, wie sie den Stein ins Wasser warf, die Leine ihm nachsauste und den Mann über Bord riß. Was würde Jan King tun, wenn er wüßte, was sie dachte? Wie war es möglich, daß er so nah bei ihr saß und trotzdem nichts ahnte? Am liebsten hätte sie sich umgedreht, um in sein Gesicht zu sehen. War es vorwurfsvoll, mißbilligend? Statt dessen konzentrierte sie sich ganz auf das Rudern, legte sich in die Riemen, drehte sie, ließ die Ruderblätter flach übers Wasser gleiten, tauchte sie ein, setzte zum nächsten Schlag an, wieder und wieder, bis ihre Gedanken zurückwichen. Jan King bewegte sich im Einklang mit ihrem gebeugten Rücken. Was für eine Frau, dachte er. Wie soll ich sie je verstehen? Wann immer er glaubte, nun sei sie gezähmt, tat sie etwas, das ihn verblüffte und verwirrte. Doch er ließ ihr ihren Willen. Er hätte mit ihr irgendwohin fahren können, und sie hätte es nicht gemerkt, aber er legte Wert darauf, genau die -334-
Stelle zu finden. Wenn sie, wie sie sagte, einen Geist austreiben wollte, half er ihr gern dabei. »Hier«, verkündete er nach einem letzten prüfenden Blick auf die verblassende Küste. Grace hielt die Gig an. »Woher weißt du das?« »Dritte Steigung der Cornwall-Küste, Kirchturm von Malborough liegt genau zwischen Bolt und Crickstone.« Grace suchte die Küste nach den Landmarken ab, die er genannt hatte. Die Dämmerung brach so schnell herein, daß sie mit ihrem ungeschulten Auge nichts zu erkennen vermochte. Das Boot konnte überall und nirgends sein. Jan mochte ihr erzählen, was er wollte, für sie machte es keinen Unterschied. »Es ist zu dunkel, ich sehe nichts. Wie kommt es, daß du so sicher bist?« »Ich weiß es eben. Das ist die Stelle. Aber ich hab’ dir ja gesagt, da gibt’s nichts zu sehen.« »Und wie hast du sie damals gefunden? Ivor sagte, es sei eine pechschwarze Nacht gewesen – viel dunkler als heute.« »Ich hab’s einfach gewußt. Wir sind so gefahren wie immer. Und ich hab’ recht gehabt. Die Bojen waren da, die Fässer waren da... Wär’ besser gewesen, Ich hätte sie nicht gefunden. Wär’ besser gewesen, ich hätte mich verirrt.« Wenn Grace erwartet hatte, daß eine besondere Stimmung, etwas Spukhaftes, Gespenstisches über dem Ort lag, so wurde sie enttäuscht. Sie stützte sich auf die Ruder und bückte sich um. Es war windstill, und sie sah nichts als glattes Wasser und da und dort einen kleinen Strudel, der vielleicht ein Riff in der Tiefe anzeigte. Ein dünner Nebel stieg auf und legte einen Schleier um das Boot. Grace hatte ein Gefühl der Leere und des Zweifels. Wenn sie geglaubt hatte, ihr Bruder werde ihr erscheinen und sie händeringend um Hilfe anflehen, so irrte sie sich. Und obwohl sie sich vorgestellt hatte, der Ankerstein werde Jan King ins Verderben reißen, saß er noch immer im -335-
Boot, freundlich und hilfsbereit und wartete geduldig darauf, daß sie sagte, sie wollten nach Hause fahren. Zum ersten Mal war sie unschlüssig. Wenn Jan in diesem Moment geschwiegen oder etwas anderes gesagt hätte, hätte sie es vielleicht angenommen, hätte sie sich vielleicht in ihre Niederlage gefügt und sie Vergebung genannt. Doch er wollte ihr einen guten Rat geben und sie zugleich trösten und murmelte: »Jetzt kannst du ihn allmählich vergessen, Grace.« Sie erstarrte, Frank vergessen? Niemals. Und nun endlich nahm sein Gesicht vor ihrem inneren Auge Gestalt an, bleich, bang, anklagend, als starre er ihr aus dem Wasser entgegen. »Nur noch eins, bevor wir nach Hause rudern... deine Pfeife.« »Meine Pfeife?« »Was mir Ivor Triggs gesagt hat, stimmt, nicht wahr? Du hast deine Pfeife angezündet. Kurz bevor die Leute vom Küstenschutz kamen, hast du deine Pfeife angezündet.« »Ich hab’ mich zur Hölle gewünscht dafür, das kannst du mir glauben. Wenn sie das nicht gesehen hätten, hätten sie uns nie gefunden, es war stockdunkel.« »Warum bist du nicht geblieben? Warum hast du nicht gekämpft?« »Es ging nicht; die Gig ist gekentert.« »Ivor Triggs ist geblieben.« »Wohl oder übel. Ivor kann nicht schwimmen.« »Frank war dein Freund, du hättest bei ihm bleiben sollen.« Jan King war jetzt hellwach, ihre anklagenden Worte hatten seine Müdigkeit verscheucht und seine frohe Stimmung zerstört. Erinnerungen an jene furchtbare Nacht stiegen in ihm auf. Er dachte daran, wie er von der kenternden Gig fortgetaucht war, eine lange Strecke, wie er schließlich an die Wasseroberfläche gekommen war. Er dachte daran, wie er sich darüber verwundert -336-
hatte, daß Frank nicht neben ihm schwamm. Ivor war auch verschwunden; es gab keine Hoffnung für ihn, er mußte ertrunken sein. Er dachte an die Rufe, an Franks Stimme – er hatte den Kapitän des Kutters um Hilfe angefleht, um Gnade. »Erbarmen!« hatte er gerufen. »Erbarmen!« Und dann das Geräusch des Entermessers, das mit einem gräßlichen Knirschen Fleisch und Sehnen und Knochen durchtrennte... Jan wurde übel bei dem Gedanken daran. »Verzeih mir, Grace«, bat er mit leiser Stimme. »Verzeihen?« »Ja. Ich leb’ noch, ich bin weggeschwommen. Ich hätte bleiben sollen und mit ihm sterben.« Schmerz lag in seiner Stimme, in seiner Miene, in seiner gebeugten Haltung. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er schluchzte hemmungslos, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Nun, nun, tut es nicht gut, wenn man die Wahrheit spricht? Und du hast ihn ans Messer geliefert, oder?« »Muß ich wohl, aber ich hab’s nicht gewollt. Und du verzeihst mir, Grace, du verzeihst mir, ja?« »Ich habe es versucht«, erwiderte sie matt. Dann fuhr sie mit fester Stimme fort: »Was sollen wir hier noch? Rudern wir nach Hause. Aber laß uns die Plätze tauschen, ich bin vom Rudern müde.« »Na gut, Grace«, sagte Jan unsicher. »Aber paß auf, wenn du aufstehst, die Gig ist furchtbar wackelig.« Er hatte recht. Kaum daß sie sich erhoben hatten, geriet die Gig gefährlich ins Schwanken; doch sie waren beide an den Umgang mit Booten gewohnt und bewegten sich im Einklang, um die Bänke zu wechseln. »Jan.« Grace hielt ihn fest, als er beinahe an ihr vorbei war. »Ja?« »Küß mich.« -337-
Er staunte über diesen neuen Sinneswandel, zögerte. Die Gig schwankte immer noch, aber Grace stand reglos, die Lippen ein wenig geöffnet, verführerisch. Es sah ihr ähnlich, ihn zu verwirren. Doch daß sie ihn um einen Kuß bat, war ein gutes Zeichen, ein Kuß bedeutete Versöhnung. Er versuchte, seine Balance in der schwankenden Gig zu halten, und wußte, daß er am Rande eines Abgrunds schwebte, des Abgrunds der Liebe, und bereit war, sich fallen zu lassen. Festhalten konnte er sich nur noch mit seinen Händen an ihren Händen und seiner Zunge in ihrem Mund. Er taumelte, stürzte, wirbelte herum. Es kümmerte ihn nicht. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und hinter seinen geschlossenen Lidern tanzten farbige Lichter. Im nächsten Augenblick traf ihn die Kälte; das Wasser schlug über ihm zusammen; er rang nach Luft. Irgendwie war er über Bord gestolpert und untergegangen. Er tauchte flink wieder auf, kämpfte gegen den Widerstand seiner nassen Kleider an. Als er an die Oberfläche kam, lag die Gig ganz in der Nähe. Sie schaukelte heftig. Grace setzte sich gerade und griff nach den Rudern. »Mit mir ist alles in Ordnung!« rief Jan. Grace blickte ihn flüchtig an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Das andere Ruderpaar schwamm im Wasser, direkt neben dem Boot, doch sie versuchte nicht einmal, es zu bergen. Jan war nur ein paar Fuß von der Gig entfernt; mit zwei Kraulschlägen konnte er sie erreichen. Doch als er sich dazu anschickte, bemerkte er erstaunt, daß Grace von ihm fortruderte. Und auch jetzt dauerte es noch eine Weile, bis er begriff: Sie hatte ihn ins Wasser gestoßen und wollte ihn zurücklassen. »Grace!« rief er. »Grace, tu das nicht. Wart auf mich.« Es schien, als verlangsame sie das Tempo ein wenig, aber das Boot bewegte sich, leicht wie es war, immer noch rasch durchs Wasser, und Jan wurde durch seine nassen Kleider behindert. -338-
Sie hatte ihn zum Narren gehalten, das erkannte er jetzt. Sie hatte alles geplant. Sie hatte immer die Absicht gehabt, ihn hier draußen, wo ihr Bruder ertrunken war, im Stich zu lassen. Es hatte keinen Sinn, sie zu bitten. Doch noch war nicht alles verloren. Jan war ein guter Schwimmer, er hatte die Küste schon einmal von hier aus erreicht. Damals hatte er Glück gehabt. Vielleicht gelang es ihm jetzt wieder. Er hielt inne, um sich zu orientieren. Die Sterne standen am Himmel, und der Große Wagen zeigte ihm den Weg nach Norden, wo die Küste war. »Jan, Jan, wo bist du?« rief Grace. Es war schon so dunkel, daß sie ihn kaum erkennen konnte. »Ist er ins Wasser gefallen, der arme Junge?« Ihre Stimme klang sanft und schmeichlerisch. »Wo bist du? Ich habe nur Spaß gemacht.« »Schluß jetzt mit dem Quatsch!« schrie er. »Das ist kein Spaß mehr. Laß mich wieder ins Boot.« »Warte einen Augenblick und sprich weiter, damit ich dich finden kann.« »Bleib, wo du bist, ich schwimm’ rüber.« Bevor er bei der Gig war, sah er, daß Grace am Heck stand. Sie hielt ihm ein Ruder entgegen. Als er nahe genug war, streckte er die Hand danach aus. Aber anstatt es ihn greifen zu lassen, schnellte sie plötzlich vor und stieß es ihm ins Gesicht. Das mit Kupfer beschlagene Ruderblatt klatschte gegen sein Fleisch, brach ihm das Nasenbein und blendete ihn fast. Er schmeckte das Blut in seinem Mund. Sie schnellte wieder vor, und er tauchte weg. Die Frau war verrückt! Sie wollte ihn töten! Es war ihr nicht genug, ihn im Stich zu lassen; sie wollte auch sichergehen, daß er nicht an Land schwimmen konnte. Er schwamm ein paar Meter unter Wasser, um vom Boot freizukommen. Dann tauchte er auf und holte Atem. Sie stieß immer noch mit dem Ruder nach ihm, war aber so weit entfernt, daß sie ihn nicht treffen konnte. -339-
»Du bist verrückt, Mädchen«, zischte er, »völlig verrückt!« Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Das Ruderblatt klatschte unmittelbar vor ihm ins Wasser. Plötzlich haßte er sie. Von wildem, blindem Zorn getrieben, tauchte er ans Heck der Gig heran. Sie schlug weiter auf ihn ein und zerschrammte seinen Rücken. Jan tauchte tiefer und setzte zum Sprung an, damit er das Heck packen konnte. Als er aus dem Wasser hechtete, holte sie wieder mit dem Ruder gegen ihn aus. Der Schlag glitt von seiner Schläfe ab, riß eine klaffende Fleischwunde und traf seine Schulter, Der Schmerz war fast unerträglich, aber Jan ließ nicht los. Er versuchte, sich ins Boot zu schwingen, doch seine Kleider zogen ihn zurück. Er konnte nicht mehr klar sehen. Ihm wurde schwindelig, und seine Kräfte schwanden. Verschwommen nahm er wahr, wie Grace zurücktrat, als wolle sie ihm Platz machen. Und dann schlug sie richtig zu. Dreimal, brutal und mit kalter Überlegung. Der erste Schlag traf seine Kehle; er drohte zu ersticken. Der zweite Schlag traf seinen Schädel; er ging unter. Doch er gab nicht auf, sondern tat, was er von Anfang an hätte tun sollen: Er hängte sich ans Dollbord und zerrte mit aller Macht daran. Wenn er das Boot zum Kentern bringen konnte und Grace Ins Wasser fiel, war sie ihm nicht mehr überlegen. Er könnte sie greifen, er würde sie töten. Als sie merkte, was er vorhatte, holte sie zum dritten Schlag aus. Er traf seine Hände und zerschmetterte ihm die Finger. Jan glitt vom Dollbord ab. Es war das erste Mal, daß sie Gewalt angewandt hatte. Sie war mit Pistolen bewaffnet gewesen, aber sie hatte nie Gebrauch von Ihnen gemacht. Sie hatte niemals auch nur die Stimme erhoben. Doch dahinter hatte sich eine Frau verborgen, von der Jan nichts geahnt hatte und deren Grausamkeit eine schauerliche Entdeckung war. Betäubt von stechenden Schmerzen, paddelte er davon, so gut er konnte. Er war jetzt außer Reichweite und für -340-
den Augenblick sicher vor ihrer blinden Rache. Aber er würde die Gig nicht erreichen können; das wußte er nun. Jan bewegte kraftlos seine Glieder und versuchte, Wasser zu treten. Es war um ihn geschehen, soviel stand fest. In seinem Zustand würde er nirgendwohin schwimmen können. Seine Lungen brannten bereits von dem Wasser, das er geschluckt hatte. Er mußte kämpfen, um nicht das Bewußtsein zu verlieren, doch er zwang sich zu sprechen. »Das wird dir noch leid tun, Grace, das wirst du büßen müssen Aber warum, Mädchen, warum?« Sie stand immer noch aufrecht in der Gig, stützte sich auf das Ruder und sagte mit sonderbar singender Stimme: »Er wurde verraten, an den Zoll verraten in einer pechschwarzen Nacht, und nur ein Mann wußte, wie man zu der Stelle kam; der Name dieses Mannes war Jan King; Jan King hat meinen Bruder verraten.« »Nein!« flüsterte er erstickt. «Nein! Ich war’s nicht!« Sie gab keine Antwort, sondern setzte sich an die Ruder, hielt sich eine Bootslänge von ihm entfernt und wartete ab, ob er sich erholen würde. Sie blieb, bis die Nacht vollends hereingebrochen war, bis er unterging und verschwand. Sie blieb, bis die Sterne heller wurden und ihr zitterndes Licht zeigte, daß sie allein war auf dem leeren Meer. Und erst jetzt begann sie zu rudern. Das dumpfe Klatschen der Riemen verlor sich in der Weite. Sie ruderte nach Süden.
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Dritter Teil Rache ist eine Art wilder Gerechtigkeit, die das Gesetz, je mehr des Menschen Natur dazu neigt, um so entschlossener ausrotten sollte. Francis Bacon
»Land in Sicht!« Durch den Ruf des Ausgucks wurde Optimus aus seinen Träumen gerissen. Er hatte während der letzten Stunden der Fahrt mit dem Paketboot aus Falmouth in seiner Koje gelegen. Je näher er dem Ziel seiner Reise kam, desto mehr hatte er darüber nachgegrübelt, ob die wenigen Hinweise, die er besaß, ihn dennoch zu Grace Pensilva führen könnten. Wieder und wieder hatte er die Briefe gelesen, die ihm Charles Barker anvertraut hatte, und den roten Faden gesucht. Es handelte sich, dies entdeckte er bald, um zwei Korrespondenzen. Die eine enthielt die Briefe von Frederick Genteel an seinen Freund Barker, in denen er von den Ereignissen berichtete, die sich seit seiner Ankunft auf der Insel zugetragen hatten; die andere, bruchstückhaft und in vielen Fällen undatiert, bestand aus Briefen von Grace an Frederick, die dem Gutsverwalter nach Genteels Verschwinden samt einigen anderen persönlichen Besitzstücken zugeschickt worden waren. In Genteels Briefen an Charles Barker wurde Grace Pensilva nie erwähnt. Dagegen zeigten Graces Briefe, zum Teil vor ihrer Ankunft auf Malta geschrieben, daß Frederick und sie miteinander in Verbindung standen. Was Optimus nicht wußte, war, ob sich ihre Begegnung in Valetta einem Plan oder dem Zufall verdankte. Neben den Briefen hatte Optimus den Anhaltspunkt, den ihm das Medaillon gab: Der Name des Künstlers würde ihm vielleicht weiterhelfen. -342-
»Land in Sicht!« Beim zweiten Ruf des Ausgucks stieg Optimus aus seiner Koje und tastete sich den Niedergang hinauf. Wenn Land in Sicht war, mußte es Malta sein, und er konnte es kaum erwarten, einen ersten Blick auf die Insel zu werfen. Die Ortsnamen aus den Briefen klangen ihm noch im Ohr: Valetta, Senglea, Vhtoriosa, Medina, Attard, Rabat. Er hatte versucht, sich diese Orte vorzustellen, doch aus den vergilbten Seiten ging kaum etwas hervor, an das er sich halten konnte. Nur eine Idee von Hitze und unterdrückten Gefühlen hatte er bekommen. Das Deck war fast leer. Nur ein paar schemenhafte Gestalten standen unter den schlaffen Segeln. Es herrschte Flaute. Ein leichter Nebel hüllte das Schiff ein, und die Morgensonne zeigte sich bloß als matter Schimmer im Osten. Von dem Land, das der Ausguck angekündigt hatte, war keine Spur zu sehen. Optimus wandte sich fragend dem Kapitän zu, der, in eine Jacke mit hochgeschlagenem Kragen gehüllt, reglos wie eine Statue neben dem Steuermann stand. »Wo ist Land? Ich sehe nichts.« Zur Antwort deutete der Kapitän nach Backbord, hoch in die Luft. Optimus blickte in die Richtung, die er wies, und erkannte die Silhouette einer Stadt oder eines Dorfes, ein paar schachtelartige Gebäude. Das Schiff befand sich dicht an der Küste, aber der Nebel verschleierte wohl die steilen Klippen, die längsseits lagen. »Gozo«, sagte der Kapitän. »Maltas kleine Schwester. Was Sie vor sich sehen, ist die Südwestküste; wir sind ein bißchen vom Kurs abgekommen. Kein Wunder bei den Flauten, die wir in letzter Zeit hatten. Wir mußten ständig lavieren. Jetzt brauchen wir nur noch durch den Kanal von Comino zu fahren, und dann können wir Valetta ansteuern. Das heißt, wenn wir Wind in die Segel kriegen. Im Moment treiben wir nur.« Auf der Fahrt durch den Golf von Biscaya waren sie in -343-
schlechtes Wetter geraten und im Mittelmeer in Stürme, die für die Jahreszeit ungewöhnlich waren, doch sie hatten unbeirrt Fahrt gemacht, bis sie vor zwei Tagen Kap Bon gerundet hatten. Optimus hatte die anderen Passagiere kaum zu Gesicht bekommen. Die meisten waren in ihren Kabinen geblieben, und nur einige wenige Unverzagte waren zu den Mahlzeiten im Salon erschienen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte Optimus festgestellt, daß er Gefallen am stürmischen Wetter fand. Er hatte viele Stunden an Deck verbracht und beobachtet, wie das Paketboot die Sturzwellen durchpflügte. Dies hatte zu einer Art Freundschaft zwischen ihm und Kapitän Angove geführt, einem rauhbeinigen, aber gutmütigen alten Seebären, der sich vorzüglich auf sein Fach verstand. Wenn das Schiff vom Kurs abgekommen war, dann gewiß nur um eine Winzigkeit, da war Optimus sicher. Als die Sonne höher stieg, verscheuchte sie den Nebel und tauchte die Klippen in blutrotes Licht. Ein kühler Wind blies von den Höhen herab und ließ das Paketboot endlich wieder Fahrt machen. Bald sah Optimus eine tief ins Land eingeschnittene, hufeisenförmige Bucht mit einem schwindelerregend steilen Felsen davor. Ein Schauder überlief ihn. »Fungus Rock, der Pilzfelsen«, erklärte der Kapitän. »Hier wachst ein schwarzer Pilz, den auch die Ritter vom Orden des Heiligen Johannes kannten, die früher über Malta herrschten. Sie kamen jedes Jahr hierher und sammelten ihn. Sie behaupteten, er könne alle Leiden heilen.« »Auch ein gebrochenes Herz?« »Ein gebrochenes Herz?« gluckste der Kapitän. »Doch hoffentlich nicht Ihres? Für diese Krankheit sind Sie noch viel zu jung.« »Ich dachte nicht an mich«, entgegnete Optimus lächelnd. Vor einigen Wochen hatte er freilich geglaubt, an eben dieser -344-
Krankheit zu leiden, doch mit jeder Meile, die er sich von Mrs. Lackland entfernte, hatte sein Kummer nachgelassen. »Sie sind zum ersten Mal hier, ja? Was machen Sie, sind Sie bei der Flotte?« »Nein, ich bin nur ein Reisender. Wie ist Malta eigentlich?« »Es wird Sie bald langweilen. Man kann mit niemandem reden außer den Leuten von der Flotte und von der Verwaltung und ein paar Menschen aus der Heimat, die sich hier niedergelassen haben. Die Malteser selbst sind ausnahmslos Papisten, halten zusammen wie Pech und Schwefel und sprechen ein seltsames Kauderwelsch. Hört sich mehr nach Arabisch an als nach einer christlichen Sprache. Die Insel ist öde. Sehen Sie selbst, weit und breit kein Baum. Und trocken ist es hier, so trocken wie eine ausgedörrte irische Kehle, und im Sommer ist es so heiß wie in einem Feuerofen.« »Reden Sie nur weiter, dann werde ich mir bald wünschen, ich wäre nie nach Malta gekommen.« »Oh, es gibt immer einen Ausgleich. Den da zum Beispiel.« Der Kapitän deutete mit dem Kopf auf zwei Frauen, die schon an Deck gestanden hatten, als Optimus heraufgekommen war. Bis jetzt hatte er sie kaum gesehen. Während der Fahrt hatten sie sich fast ununterbrochen in ihrer Kabine aufgehalten, und Optimus nahm an, daß sie die meiste Zeit seekrank gewesen waren. Heute, beim aufhellenden Licht, sah er, daß sie beide hübsch waren; die jüngere, eine Zofe oder Gesellschafterin, war keck und lebhaft, die ältere aber, ihre Herrin, konnte man nur als schön bezeichnen. Sie war groß für eine Frau und hatte schlanke Arme, mit denen sie sich auf die Reling stützte. Ihren Umhang hatte sie ein wenig von den Schultern zurückgestreift, um sich von der Sonne wärmen zu lassen, und sichtbar wurde eine wohlgeformte Brust. Sie betrachtete die vorbeiziehende Küste und plauderte angeregt mit ihrer Begleiterin. Sie glich einem -345-
Schmetterling, der während der langen Reise geschlafen hatte und nun, entzückt über die Helligkeit und Wärme des Sommers, seine Flügel ausbreitete. »Seefest sind sie nicht gerade«, sagte Optimus wegwerfend. »Schadet nichts«, erwiderte der Kapitän. »Wenn ich in Falmouth nicht Frau und Kinder hätte, wäre ich in Versuchung, der Damen wegen hierzubleiben.« In den folgenden Stunden, als das Paketboot den Kanal von Comino passierte und auf Valetta zusteuerte, betrachtete Optimus immer wieder verstohlen die beiden Frauen, besonders die altere, und fragte sich, wer sie war und was sie nach Malta führte. Er verglich ihr vollkommenes, ovales Gesicht mit dem Bild von Grace Pensilva in dem Medaillon, das er in seiner Reisetasche hatte. Dieses Mädchen – ja, sie war noch ein Mädchen – hatte südländische, etwas dunkle Züge von höchster Vollendung, eine Haut so zart wie ein Pfirsich und eine Gestalt, die das Auge erfreute. Ihre Art zu sprechen deutete darauf hin, daß sie eine geistvolle und beherzte Frau war. So beherzt wie Grace Pensilva. Grace hatte ihn an diesen Ort gelockt, und während vor ihm die Nordküste der Insel auftauchte, stellte er Mutmaßungen über ihre Ankunft hier an. Was hatte sie gefühlt, was waren ihre Absichten gewesen? Eins war gewiß: Malta glich ihrer Heimat nicht im geringsten mit seinen Dörfern, deren flache Dächer von hohen Kirchenkuppeln überragt wurden, mit seinen kargen Gelb- und Brauntönen. Der wesentliche Unterschied jedoch war etwas anderes. Optimus konnte es sich nicht gleich erklären, aber der Eindruck überwältigte ihn: Es war das besondere Licht. Dieses Licht beglänzte nun den Hafen, dem sich das Paketboot näherte. Optimus war auf den gewaltigen Anblick nicht vorbereitet gewesen. Ganze Hügelketten waren zu Redouten und Kurtinen umgeformt worden, zu Bastionen und Vorschanzen; gewaltige, abweisende Festungswerke, die von -346-
der Seeseite aus uneinnehmbar waren. Innerhalb der Mauern erhoben sich terrassenartig angelegte Häuser aus honigfarbenem Stein. Als das Paketboot die Landspitze umfuhr und in den großen, natürlichen Hafen einlief, wurden auf dessen anderer Seite weitere starke Befestigungen sichtbar. »Was für eine Pracht!« sagte Optimus heiter zu der jungen Frau, der er sich, während er das Panorama betrachtete, unmerklich genähert hatte. »Wie froh müssen Sie sein, hier einzutreffen!« »Wie kommen Sie darauf?« erwiderte sie in scharfem Ton. »Ich kann mir fröhlichere Anlässe vorstellen. Dafür, daß Sie mich so ausgiebig angestarrt haben, sind Sie nicht besonders aufmerksam.« Optimus spürte, wie seine Wangen brannten, als er sich entfernte; er mußte tief errötet sein. Warum war ihm nicht aufgefallen, daß die junge Frau Schwarz trug? Was er für die neueste Mode gehalten hatte, hatte eine ganz andere Bedeutung. Nachdem das Paketboot an einer Reihe von Fregatten vorbeigeglitten war, ging es unterhalb des Haupttores von Valetta vor Anker. Noch bevor die Trosse aus dem Klüsenrohr rasselte, kamen von allen Seiten kleine, gondelähnliche Fahrzeuge auf das Schiff zugeschwärmt. Die Passagiere hatten inzwischen ihre Sachen gepackt, standen an der Reling und konnten es kaum erwarten, an Land zu kommen. »Niemand darf von Bord, ehe wir Verkehrserlaubnis haben!« rief der Kapitän. »Halten Sie uns diese verdammten Dghajsas vom Leib, Mr. Snell«, wies er den Bootsmann an, wobei er, als Kenner der Insel, das Wort wie Daisas aussprach. »Nehmen Sie die Bootshaken zu Hilfe, wenn es nötig ist.« Er wandte sich Optimus zu und deutete auf die Barkasse, die sich dem Schiff von einem Gebäude aus näherte, das Optimus für das Zollamt hielt. »Die haben hier eine Heidenangst vor Seuchen«, knurrte Angove. »Wenn wir nicht abwarten, bis uns der Arzt ein Gesundheitsattest ausstellt, können wir einen Monat im -347-
Lazaretto Creek liegen und Däumchen drehen. Sie haben noch reichlich Zeit zu packen. Werden Sie von jemandem erwartet? Nein? Nun, wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein ganz preiswertes Gasthaus nennen. Machen Sie den Sturm auf die Dghajsas nicht mit, ich besorge Ihnen eine.« Optimus war in gedrückter Stimmung, als er seine Sachen in der Reisetasche verstaute. Erst jetzt erkannte er, wie gewaltig die Aufgabe war, die er sich gestellt hatte. Grace Pensilvas Leben auf Malta war verschlossen wie die Festung draußen, und er war durchaus nicht sicher, ob er es entschlüsseln konnte. Als er seine Kabine verließ, stieß er fast mit der Zofe der Dame zusammen, die zwei schwere Reisetaschen trug. Ritterlich nahm er ihr eine ab und folgte ihr damit an Deck. »Wie heißt Ihre Herrin?« fragte er leise. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf.« »Nur zu, es kann doch nicht schaden.« »Kirkbride. Maria Kirkbride.« Mit aller Kühnheit, die er aufbieten konnte, trat Optimus vor die Dame und legte ihr die Tasche zu Füßen. »Verzeihen Sie, Miss Kirkbride, ich will Ihnen nicht lästig fallen. Ich will nur...« »Ein bißchen Süßholz raspeln«, ergänzte sie. »Nun, wenn Sie mir nicht lästig fallen wollen, dann lassen Sie mich in Frieden. Es sei denn – und das ist höchst unwahrscheinlich –, Sie hätten mir etwas Wichtiges mitzuteilen.« »Nur, daß Sie eine sehr schöne junge Dame sind«, hörte sich Optimus sagen und konnte es selbst kaum fassen. »Und ich mochte Ihnen mein Beileid aussprechen, ich war in der Tat unaufmerksam und habe nicht bemerkt, daß Sie in Trauer sind.« Sie gab keine Antwort. Ihre Miene war frostig, und sie blickte an Optimus vorbei, einer Jolle entgegen, in der ein zierlicher Mann stand, ebenfalls in Schwarz, die Augen auf sie gerichtet. -348-
Als die Jolle bei dem Paketboot angelangt war, sprang er an Bord, lief auf die junge Frau zu und schloß sie in die Arme. Er war alt, aber rüstig. Optimus spürte, daß er hier fehl am Platz war, und trat ein paar Schritte zurück. »Mein armes Kind«, hörte er den alten Herrn sagen, »es ist lieb von dir, daß du den weiten Weg gemacht hast, doch du hättest es wahrhaftig nicht tun sollen. Es ist sinnlos, dein Leben an einen alten Mann wie mich zu verschwenden. Ich weiß, was der Tod ist – ein vertrauter Gefährte. Und einen Verlust muß man nun einmal ertragen.« Er sprach ausgezeichnet englisch, aber mit einem seltsamen Akzent. »Zu zweit ist es leichter«, flüsterte Miss Kirkbride. »Sie fehlt mir auch, mehr als du denkst. Sie war wie eine Mutter zu mir, nein, sie war meine eigentliche Mutter.« Optimus zwang sich, das Gespräch nicht länger zu belauschen; es war zu ungebührlich. Er kehrte zu dem Kapitän zurück. »Wenn Sie es auf diese junge Dame abgesehen haben, werden Sie bald den Pilz vom Pilzfelsen für Ihr Herzweh brauchen«, sagte Angove grinsend. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, und falls Sie je Lust haben sollten, zur See zu fahren, können Sie gern eine Koje auf meinem Schiff haben.« Die Worte des Kapitäns waren offenbar nur halb im Scherz gemeint, und das munterte Optimus auf. »Man weiß nie, vielleicht komme ich auf Ihr Angebot zurück«, erwiderte er. »Sie fahren sicher schon lange zur See. Haben Sie es nie satt gehabt?« »Nein. Von der See kann man nie genug kriegen. Ich mache das jetzt schon seit dreißig Jahren. Bei Delaluna hab’ ich als Schiffsjunge angefangen und mich selbständig gemacht, sobald ich mir ein eigenes Schiff kaufen konnte. Und heute bin ich immer noch versessen darauf. Die See läßt einen nicht los.« »Verraten Sie mir noch eines«, bat Optimus. »Sie müssen viele Menschen kennen, wenn Sie so oft hierher kommen. Sagt -349-
Ihnen der Name Scicluna etwas?« »Scicluna? So heißen hier viele. Und vor zwei Minuten war sogar einer an Bord. Jetzt ist er weg, aber Sie haben ihn gesehen. War der alte Knabe, der die junge Dame abgeholt hat, von der Sie so begeistert waren.« Optimus drehte sich um. Die Jolle entfernte sich bereits; der alte Herr und die beiden jungen Frauen saßen auf den Achtersitzen. »Ich suche einen R. Scicluna, einen Maler.« »Nun, das war er nicht. Das war Graf Pietro Scicluna, der Reeder von Delaluna. Wir sprechen kaum mehr miteinander, seit ich aus der Firma ausgeschieden bin. Er wollte, daß ich bleibe und ihm helfe... Aber das ist alles lange her. – Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun. Ihre Dghajsa wartet schon.« »Sie wollten mir noch ein Gasthaus empfehlen.« »Stimmt, aber ich weiß nicht, ob es Ihren Ansprüchen genügt. Es ist ganz schlicht und einfach. Was sind Sie von Beruf? Das haben Sie mir noch nicht gesagt.« »Ich bin Schulmeister.« »So sind Sie aber nicht angezogen. So feines Tuch... Na ja, egal. Wenn Ihnen das Gasthaus nicht gefällt, ist es Ihre Sache. Versuchen Sie’s: ›Battery House‹ in der St. Ursula Street. Ich sage dem Bootsführer, daß er Sie dorthin rudern soll.« Auf dem Weg durch den Hafen ließ Optimus die Jolle, die weit vor der Dghajsa fuhr, nicht aus den Augen. Er sah, wie ihre Passagiere ausstiegen und mit einer Kutsche in der Stadt verschwanden. Etwas beschäftigte ihn: Er war sicher, daß er irgendwo schon auf den Namen Delaluna gestoßen war – vielleicht in den Briefen. Im Gasthaus würde er sie gleich noch einmal durchsehen.
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Wie sich herausstellte, war ›Battery House‹ besser, als Optimus nach der Beschreibung des Kapitäns erwartet hatte. Der Raum, in den ihn die Besitzerin führte, war angenehm kühl, mit weißgetünchten Wänden, einer reinen Decke auf einem Bett mit eisernem Gestell und einem kleinen Balkon, von feinem Gitterwerk umschlossen, durch das er auf die Gasse blicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Das Leben auf den Straßen verblüffte Optimus; aus England war er dieses geschäftige Treiben nicht gewohnt. Der Milchmann rief mit schriller Stimme »Halihl Halih1.« und molk seine Ziege auf dem Trottoir; Optimus hatte nicht gewußt, wie er sich der Gassenjungen erwehren sollte, die sich danach drängten, seine Tasche zu tragen, und dann Geld dafür forderten; alte Frauen, die auf Stühlen im Freien saßen und mit knochigen Fingern Spitze klöppelten, betrachteten ihn prüfend. Er fühlte sich als Außenstehender, als Eindringling. Es war ihm eine Erleichterung, in dem stillen Zimmer allein zu sein, sich Gesicht und Hände zu waschen und die Welt vom Fenster aus zu überblicken. Ehe die Mittagshitze einsetzte, würde er zum Gouverneurspalast gehen und sich dem Archivar bekanntmachen. Es mußte dort Akten über Frederick Genteel geben, auf die er sich stützen konnte. Optimus versuchte, sich Grace Pensilva in dieser Umgebung vorzustellen. Vor seinem inneren Auge sah er sie die steilen Straßen hinaufgehen. Ihre Kleider waren bei weitem eleganter als die, die sie in Harberscombe getragen hatte. In Samt und Taft war sie eine echte Dame, und in ihren Augen spiegelte sich eine heitere Selbstsicherheit. Doch wer war das Mädchen, das neben ihr ging und mit ihr lachte und scherzte? Die Fremde war kleiner, lebhaft, mit flachsblonden Locken, die in künstlicher Wirrnis über ihre Schultern fielen. Ihr Gesicht konnte man nur bezaubernd nennen, obwohl die Nase ein wenig zu spitz war und ihr ein vogelartiges Aussehen verlieh. Im Vorbeigehen legte sie ihre Hand auf Graces bloßen Arm und -351-
flüsterte ihr etwas ins Ohr. Optimus besann sich darauf, wer sie war: Felicity Fell. Ihr Name wurde häufig in den Briefen genannt, die Frederick Genteel an Charles Barker geschrieben hatte, doch es war gewiß eine wunderliche Laune von Optimus’ Phantasie, sie in so ungezwungener Vertraulichkeit an Grace Pensüvas Seite gehen zu lassen. Eine halbe Stunde später betrat Optimus den Gouverneurspalast. Der Archivar, ein Mr. Osborne, war ein hochaufgeschossener Mann, trocken und dürr, mit einem Gesicht, das an zerknittertes Pergament erinnerte. »Ja, ich habe Ihren Brief erhalten«, sagte er in fast feierlichem Ton, als sich Optimus ihm vorgestellt hatte. »Aber ich habe Ihnen leider nicht allzu viel mitzuteilen, und bevor ich das tue, muß ich wissen, welches Interesse Sie leitet.« »Meine Liebhaberei ist die Geschichte, und ich forsche über die Genteels und andere Familien aus Devon.« »Historiker sind Sie?« Der Archivar schien plötzlich Gefallen an Optimus zu finden. »Wissen Sie, daß dieses Gebäude früher der Palast des Großmeisters war? Damals hatte alles Stil und Größe: Die Ordensritter kamen nicht umsonst aus den vornehmsten Familien Europas. Heute dagegen haben wir nichts als Gezänk und kleinlichen Streit um Geld von seiten der maltesischen Adligen, die es wie Sand am Meer gibt... Doch ich schweife ab. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Genteel – nun, ich habe hier etwas für Sie.« Der Archivar reichte Optimus ein Blatt Papier, das in säuberlicher, pedantischer Schrift beschrieben war. »Sie werden sehen, daß er nicht lange auf Malta war, aber wir haben hier einige Dokumente, etwa die Urkunde seiner Ernennung zum Proviantmeister – ein sehr einträglicher Posten, wenn man sich nicht scheut, Bestechungsgelder anzunehmen –, seinen Trauschein...« »Er hat also tatsächlich geheiratet?« fragte Optimus -352-
ungläubig. »Ja. Sie finden den Eintrag auch im Kirchenbuch. Außerdem haben wir die Protokolle der gerichtlichen Untersuchung, die nach seinem Verschwinden durchgeführt wurde.« »Zu welchem Ergebnis gelangte man damals?« »Verschollen, mutmaßlich ertrunken, wenn ich mich recht erinnere. Sie können später selbst einen Blick in die Akten werfen, ich werde sie Ihnen vorlegen, wenn Sie sie brauchen.« »Und Grace Pensilva?« Der Archivar verzog das Gesicht und trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. »Da haben Sie mir eine Menge Arbeit für nichts und wieder nichts aufgehalst, Mr. Shute. Wenn Sie mich nach Stunden bezahlen müßten... Sie haben Glück, daß ich Regierungsbeamter bin. Wie sind Sie auf den Gedanken verfallen, daß diese Pensilva je in Valetta war?« »Durch ihre Korrespondenz und durch mündliche Auskünfte.« »Wer war sie, wenn ich fragen darf?« »Eine Freundin von Genteel, eine Freundin aus Devon.« »Eine Freundin, ja?« Osbornes dünne Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. »Nun, wenn sie diese Art Freundin war, ist es kein Wunder, daß sich in den Akten nichts über sie findet.« »Und wie steht es mit Felicity Fell? Mit – Mrs. Genteel?« »Felicity hatte wenigstens das Verdienst, Genteels gesetzlich angetraute Gattin zu sein, nicht wahr? Es gibt, was sie betrifft, nicht eben wenig, größtenteils Gerichtsakten. Einige Händler verklagten sie ihrer Schulden wegen. Ich weiß, daß wir uns gern der Unparteilichkeit unserer Gerichtshöfe rühmen, doch es bedarf eines hohen Maßes an Optimismus oder Vermessenheit, um die Tochter des Gouverneurs zu verklagen. Als sie schließlich mit ihrem Vater nach England heimkehrte, ließ sie -353-
hier eine Legion unglücklicher maltesischer Schneider, Schuhmacher, Weinhändler und so weiter zurück. Wenn man das vorliegende Beweismaterial betrachtet, hätte sie eigentlich verurteilt werden müssen. Vielleicht versuchte sie, sich einen Ausgleich für den Verlust zu schaffen, den sie erlitten hatte. Das Kind, ein Mädchen, lebte auch nicht lange; es starb am Maltafieber, ehe es ein Jahr alt war. Wußten Sie das schon?« Optimus schüttelte den Kopf. »Sie haben sich meinetwegen große Umstände gemacht. Wie kann ich mich erkenntlich zeigen? Darf ich Sie zum Essen einladen?« »Das kann ich als Beamter nicht annehmen. Aber trotzdem vielen Dank. Und nun muß ich schließen, es ist schon nach zwölf.« »Nur noch eine letzte Frage. Ist Ihnen eine Reederei Delaluna bekannt?« »Delaluna... Delaluna...« Der Archivar biß sich auf die Unterlippe und dachte angestrengt nach. »Doch, es kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Mir will scheinen, als hätte ich den Namen irgendwo gesehen – in Conspicua oder Vittoriosa vielleicht.« »Können Sie mir sagen, wie ich dorthin komme? Ich glaube, ich werde mich gleich auf den Weg machen.« »Da brauchen Sie eine Dghajsa, es ist auf der anderen Seite des Hafens, aber Sie verschwenden Ihre Zeit... Wissen Sie nicht, daß hier Siesta gehalten wird? Sie müssen sich mit den Lebensgewohnheiten hier arrangieren, ob es Ihnen gefällt oder nicht.« »Oh, es wird mir schon gefallen. Obwohl man mich gewarnt hat; man hat mir gesagt, es werde mir hier nicht gefallen.« »Wer hat das behauptet? Nein, Sie brauchen es mir nicht zu sagen, das behaupten alle. Aber für einen Historiker wie Sie, Mr. Shute, ist Malta ein fesselnder Ort, geschichtsträchtig durch und durch. Wenn die Steine reden könnten...« -354-
Als Optimus aus der Kühle des Palasts auf die Straße trat, traf ihn die Mittagshitze wie ein Schlag. Die Sonne schien so grell auf das Pflaster, daß sich seine Augen unwillkürlich zu Schlitzen verengten. Die Luft brannte in seinen Lungen. Er hatte vorgehabt, sich nicht an den Rat des Archivars zu halten, sondern gleich nach Conspicua überzusetzen, doch nun besann er sich eines anderen und kehrte zu seinem Gasthof zurück. Nach ein paar Schritten klebte ihm das Hemd am Leib. Die Straßen waren völlig verlassen. Vielleicht lag es an dem gleißenden Licht; vielleicht war er abgelenkt, weil er sich bemühte, die richtige Seitengasse zu finden; vielleicht lag es an der eigentümlichen weißen Kleidung seines Gegenübers; was es auch war, er prallte mit einer Art Geistererscheinung zusammen. Er wich einen Schritt zurück und sah eine seltsame, furchterregende Gestalt. Es konnte ein Mann sein, aber auch eine Frau. Außer den Händen, über die die Erscheinung Handschuhe gestreift hatte, war kein Teil ihres Körpers sichtbar. Sie war von den Schultern bis zu den Schuhen in eine weiße Kutte gehüllt. Darüber trug sie eine große Kapuze, die den Kopf und einen Teil der Brust und des Rückens bedeckte. Auch sie war weiß, ebenso die Handschuhe und der Schlapphut. Um den Leib hatte die Gestalt einen Strick geschlungen, an dem ein Rosenkranz hing; in der Hand hielt sie eine Büchse mit einer Öffnung, die eine religiöse Darstellung zierte. Die Kapuze hatte zwei schmale Schlitze, hinter denen sich die Augen verbargen. Ein paar Worte in einer unbekannten Sprache murmelnd, streckte die Gestalt Optimus die Büchse entgegen. Es klimperte darin. Sollte er Geld spenden? Froh, so billig davonzukommen, suchte Optimus in seiner Tasche nach einer kleinen Silbermünze und steckte sie in den Trichter. Der Mann hob seine freie Hand zu einer Gebärde, die ein Segen sein mochte, und trat beiseite. Optimus eilte weiter. Er fand erst wieder Ruhe, als er in seinem Zimmer war und die Tür zugeschlossen hatte; doch selbst jetzt -355-
zitterte er noch. Er legte sich aufs Bett und zwang sich, noch einmal in den Briefen zu lesen. Die Auskünfte des Archivars würden sie in einem neuen Licht erscheinen lassen. Fünf Minuten später war er eingeschlafen, die Papiere um sich verstreut. Er hatte nicht gemerkt, wie erschöpft er war. Er schlief unruhig und suchte in Träumen Zuflucht vor der unglaublichen Wirklichkeit. Frederick Genteel nahm im Sturmschritt die letzten Stufen der Barracca-Treppe und stürzte auf den Kai, wo Kapitän William Fell, der rundliche und zutiefst von seiner Wichtigkeit überzeugte Gouverneur von Malta, schon wartete. Er hatte sich hier eingefunden, um seine Tochter zu begrüßen. »Warum kommst du erst in letzter Minute?« brummte er bärbeißig. »Wirst du jemals aufhören, vor dich hinzuträumen?« »Mit der Arbeit, die du mir gegeben hat, ist mehr Papierkram verbunden, als ich dachte. Ich bin bereits im Rückstand. Sind sie das nicht?« Kapitän Fell hob die Hand zum Schutz vor der gleißenden Sonne über die Augen und blickte in die Richtung, die ihm Frederick wies. Eine Barkasse hatte soeben von einer Fregatte abgelegt und steuerte langsam auf sie zu. »Möglich.« »Ich glaube, ich sehe sie schon... in dem hellblauen Kleid... Das ist sie doch?« »Wenn du sie auf die Entfernung sehen kannst, hast du Adleraugen. – Hör mal, Frederick, ein ernstes Wort. Ich weiß, daß du meine Tochter bloß aus Pflichtgefühl heiratest. Du mußt es nicht, das habe ich dir bereits gesagt. Aber du hörst ja nicht. Du bist ein sturer Bock, weißt du das?« »Ich bringe deiner Tochter die größte Hochachtung entgegen. Ich halte sie für einen wertvollen Menschen.« -356-
»Hmm – wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?« »Vor fünf Jahren.« »Und wie alt war sie da?« »Fünfzehn.« »Na ja, wenigstens heiratest du sie nicht des Geldes wegen. Ihr Vater hat, weiß Gott, wenig genug davon.« Als die Barkasse näher kam, erkannte man, daß drei Frauen darin saßen. Ein Matrose stand an der Ruderpinne. »Das da neben ihr wird Tante Harriet sein, aber wer ist die andere?« fragte Genteel. »Eine Freundin – die hat sie in Palermo aufgelesen.« Die beiden Männer traten an den Rand des Kais, und Frederick streckte die Hand aus, um den Damen aus dem Boot zu helfen. Er starrte die junge Frau an, die ihm entgegenblickte. Neben ihr saß tatsächlich Tante Harriet, ihre Pflegemutter, seit Fells Frau im Kindbett gestorben war. Sie war unverwechselbar mit ihrem Bulldoggengesicht. Die dritte Frau, die einen leichten Umhang trug, saß mit dem Rücken zu Frederick. »Du erkennst mich nicht wieder, oder?« piepste das Mädchen lächelnd und mit schelmischem Blick. »Ich hab’s ja gewußt! Ich bin Felicity... deine Braut.« »Du hast dich so verändert«, murmelte Frederick lahm. »Zu deinem Vorteil natürlich.« »Oh, habe ich dir letztes Mal denn gar nicht gefallen?« fragte sie neckend. Genteel erstarrte. Für Wortgeplänkel dieser Art hatte er keinen Sinn. Doch sie war hübsch, ohne Zweifel, wunderhübsch, und der Fehler war nicht, daß sie zu lebhaft, sondern daß er zu steif war. Seine Stimme klang fast barsch, als er wieder das Wort an sie richtete. »Gib mir die Hand. Dein Vater wartet.« Sie sprang so leichtfüßig aus dem Boot, daß sie seine Finger nur streifte. Er wunderte sich darüber, wie nahe ihm diese flüchtige Berührung -357-
ging. »Papa! Papa!« rief sie und umarmte den Gouverneur mit unziemlicher Heftigkeit. »Wie schön, dich wiederzusehen! – Oh, verflixt!« unterbrach sie sich und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe meine blauen Handschuhe an Bord vergessen. Es sind die einzigen, die zu diesem Kleid passen. Du mußt das Boot zurückschicken, es soll sie holen, ich fühle mich so nackt ohne sie.« »Felicity!« sagte Frederick rügend. »Du kannst deinen Vater nicht um so etwas bitten. Das kann er nicht machen!« »Natürlich kann er das! Nennt man ihn hier nicht König Bill? Meine Handschuhe holen zu lassen, ist für einen König doch keine Sache. Du schickst das Boot doch, nicht wahr, Papa?« Genteel zuckte zusammen. Sie wickelt ihn um den Finger, dachte er. »Aber ja, mein Schatz«, brummte Fell, und Genteel hätte aus der Haut fahren mögen. »Oh, ich habe etwas furchtbar Wichtiges vergessen!« rief Felicity und wandte sich zum Boot, in dem die anderen nun wartend standen. »Das ist meine neue Freundin, Miss Delabole. Wir haben in Palermo eine wundervolle Zeit miteinander verbracht. Sieh sie nicht so komisch an, Frederick, sie ist kein Gespenst. Du wirst sie sicher mögen. Nimm ruhig ihre Hand, sie tut dir nichts. Sie hat mir geschworen, daß sie sich hier keinen Mann angeln, sondern ein Vermögen machen will.« Genteel streckte mechanisch die Hand aus und bückte in die grauen Augen unter der Kapuze des Umhangs. »Sehr erfreut«, murmelte er und bemühte sich, die heftigen Gefühle zu bändigen, die dieses Gesicht in ihm wachrief. »Und was ist mit mir?« klagte Tante Harriet. »Warum hilft man mir nicht an Land? Weil ich kein junges Mädchen mehr bin? Wo bleibt der Respekt vor dem Alter?« »Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen, Grace?« -358-
flüsterte Genteel. »Habe ich Sie nicht gebeten, nicht zu kommen? Wir müssen unbedingt miteinander reden – bald.« »Eigentlich bin ich nur gekommen«, sagte Miss Delabole, und zog ihre Hand aus Fredericks Armbeuge, »um König Billy zu sehen.« Sie schenkte Kapitän Fell ihr strahlendstes Lächeln. »Ich habe so viel von Ihnen gehört.« »Hast du nicht ›Grace‹ zu ihr gesagt?« fragte Felicity einen Augenblick später. »Ach, tatsächlich?« erwiderte Frederick, scheinbar zerstreut. »Als ich sie vorstellte, habe ich gar nicht gesagt, wie sie mit Vornamen heißt.« »Dann muß es mir dein Vater gesagt haben.« »Warum hast du sie denn so komisch angesehen?« »Sie hat mich an jemanden erinnert – aber ich habe mich geirrt, sie war es nicht. Sie gefällt mir nicht besonders.« »Beeilt euch!« rief Kapitän Fell. »Für euer Tete-átete habt ihr auch später noch Zeit, die Pflicht ruft. Ich muß Malta regieren. Los, los, die Kutsche!« »Grace Delabo. Meine beste, meine liebste Freundin, ich mag sie schrecklich gerne«, sagte Felicity zu Frederick, »und du mußt sie auch mögen. Aber heute will ich dich ganz für mich allein haben. Und morgen früh, wenn ich bei der Schneiderin bin, verträgst du dich wieder mit Grace und zeigst ihr den Palast meines Vaters.« »Nun kommt, ihr beiden Turteltauben!« rief Kapitän Fell. »Sonst fahren wir ohne euch.« Er reichte Grace den Arm und half ihr in die Kutsche. »Ich habe Frederick gesagt, daß ihn meine Tochter mit ihrer Leichtfertigkeit und Verschwendungssucht zugrunde richten wird«, erklärte er, »aber er glaubt es mir nicht. Er heiratet sie aus Dankbarkeit dafür, daß ich ihm eine Stelle gegeben habe, und weil er sich vor Jahren, als er mein Erster Leutnant war, ein bißchen in sie vergafft hat... -359-
Aber das wissen Sie wohl schon, Felicity hat Ihnen sicher erzählt, wie sie ihm in Neapel begegnet ist. Sie hat mir geschrieben, daß ihr zwei Mädchen unzertrennlich geworden seid. Ich kann nicht sagen, daß ich das bedaure. Sie sind, so scheint mir, eine vernünftige junge Frau, die auch mal den Mund halten kann. Wie, sagten Sie, war Ihr Name?« »Delabole. Grace Delabole.« Fell runzelte die Stirn. »Delabole... ich habe jemanden aus dieser Familie gekannt, eine unverheiratete Dame, die in Devon lebte, bei Frederick in der Nähe. Sie sind nicht zufällig mit ihr verwandt?« »Ich stamme aus dem Zweig der Familie, der in Cornwall lebt.« »Hmm. Ich dachte, der wäre schon lange erloschen. Sie müssen mir morgen beim Essen von Ihrer Familie erzählen. Und nebenbei, Sie wissen ja, daß man mich König Billy nennt, also betrachten Sie das nicht als Einladung, sondern als Befehl.« Er wandte sich von ihr ab, als Felicity und Frederick in die Kutsche stiegen. »Da hast du ausnahmsweise eine kluge Wahl getroffen mit deiner Freundin«, sagte er zu seiner Tochter. »Diese Grace ist kein Plappermaul, was bei Frauen verdammt selten vorkommt.« »Achten Sie nicht auf ihn, Grace«, sagte Tante Harriet wegwerfend. »Er genießt es, sich wie ein Rüpel aufzuführen. Sehen Sie lieber aus dem Fenster. Ist Valetta nicht bezaubernd?« Die Kutsche rumpelte bergan. »Da ist niemand, Freund.« Die Stimme kam von der anderen Straßenseite, wo ein Mann mit Schürze und Reisigbesen vor dem Eingang zu einer Schenke stand. Optimus hatte versucht, die Klinke der Tür niederzudrücken, nachdem er das Firmenschild entziffert hatte. Das Messing war abgenutzt, aber die Inschrift war noch lesbar: DELALUNA & CO. REEDEREI -360-
Als er zum ersten Mal die Straße entlanggegangen war, hatte er das Schild nicht bemerkt. Der Eigentümer der Dghajsa, der ihn übers Wasser gerudert hatte, hatte behauptet, er kenne die Firma, und Optimus den Weg zu dieser Straße in Conspicua gewiesen, doch das Messingschild war ihm nicht aufgefallen. Er war weitergewandert, nach Vittoriosa gelangt und dann niedergeschlagen umgekehrt. Es hatte ihn erstaunt, die Tür auf dem Rückweg verschlossen zu finden; er war so gut wie sicher, daß sie, als er zum ersten Mal vorbeigekommen war, halb offen gestanden hatte. Und obwohl er es nicht beschwören konnte, glaubte er, bei seiner Rückkehr jemanden heraustreten und in die andere Richtung fortgehen gesehen zu haben. »Und wann ist jemand da?« fragte er. »Hat keinen Sinn, daß Sie warten, heute kommt bestimmt niemand mehr. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Was wollen Sie denn? Sind Sie Geschäftsmann?« »Ja.« Optimus war verblüfft darüber, wie leicht ihm diese Lüge von der Zunge ging, doch eine solche Tarnung konnte seine Nachforschungen unauffälliger erscheinen lassen. Er bemerkte, daß seine gepflegte Kleidung den kleinen Betrug noch unterstrich. Lässig schlenderte er über die Straße und ließ sich auf einem der Stühle nieder, die vor der Schenke standen. »Wollen Sie was trinken?« »Sie haben es erraten.« »Also, um die Zeit hab’ ich eigentlich... Ich hab’ noch nicht mal gefegt...« »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Das stört mich nicht. Was haben Sie denn zu trinken?« »Bier – eins von hier und eins aus England, ’n gutes, kommt aus Faversham.« »Wunderbar. Das nehme ich.« Während der Wirt das Bier zapfte, betrachtete Optimus das Haus gegenüber. Inzwischen -361-
war er ganz sicher, daß sich jemand im Parterre aufgehalten hatte, als er zum ersten Mal vorbeigegangen war. Die Vorhänge waren aufgezogen gewesen. Nun waren sie geschlossen. »Bitte schön«, sagte der Wirt und unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Lassen Sie sich’s schmecken. Und jetzt verraten Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann. Ich kenn’ ’ne Menge Reeder.« »Nun, Mr....« »Bentley, Euer Ehren.« »Nun, Mr. Bentley, ich interessiere mich für diese Firma Delaluna. Ich will keine Güter verschiffen; ich denke eher an eine Beteiligung. Es soll Ihr Schaden nicht sein, wenn Sie mir sagen, wo ich Mr. Delaluna finde.« »Mr. Delaluna!« Der Wirt lachte schallend. »Den gibt’s nicht.« »Mr. Bentley«, Optimus tat empört, »ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich nicht auf meine Kosten amüsieren wollten. Wer ist der Besitzer?« Der Wirt wischte sich etwas beklommen die Hände an seiner Schürze ab. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll. Er... er hat sich vom Geschäft zurückgezogen...« »Sprechen Sie weiter, ich fresse Sie schon nicht. Oder sehe ich so aus?« »Nein, Euer Ehren, aber heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein...« Optimus wartete; das Schweigen hielt eine Weile an. »Er... er heißt Scicluna.« Optimus nahm einen Schluck von seinem Bier. »Aber das ist nicht Delaluna. Wie kommt die Firma zu diesem Namen?« »Delaluna, also das ist ganz einfach, Sir, man muß es nur wissen. Sind zwei Namen, zusammengesetzt.« »Und wenn Scicluna der zweite ist, wie lautet dann der erste?« -362-
»Das spielt doch keine Rolle, Sir, das sind alles alte Geschichten.« »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so geziert hat wie Sie. Nun reden Sie schon!« Der Wirt drehte seine Schürze zwischen den Fingern. Er war wesentlich älter, als er auf den ersten Blick wirkte. Seine tätowierten Unterarme legten die Vermutung nahe, daß er Seemann gewesen war. Und es widerstrebte ihm offenbar, sich zu äußern. Aber warum? Optimus beschloß, das Thema zu wechseln. Er ahnte bereits, wie der Name lautete: Delabole. Es hatte keinen Sinn, diesen Mann zu verärgern; er konnte ihm vielleicht nützlich sein. »Kennen Sie Kapitän Angove?« fuhr Optimus fort. »Er ist ein Freund von mir, er sagte, ich sollte mich an Delaluna halten. Er hat einmal für diese Reederei gearbeitet, nicht wahr?« »Ja, hat er. War ’n guter Mann. Schade, daß er gegangen ist. Der Graf – Graf Scicluna – war ziemlich böse, als er ihn hat sitzenlassen.« »Deshalb komme ich ja auch darauf, daß Graf Scicluna vielleicht einen neuen Teilhaber brauchen könnte.« »Nein, nein, jetzt nicht mehr. Er macht keine Geschäfte mehr. Er war über ’n Jahr nicht in seinem Büro.« »Sie scheinen ihn zu kennen? Was ist er für ein Mensch?« »Der ist in Ordnung. Bevor ich die Kneipe hier hatte, hab’ ich für ihn gearbeitet, als Bootsmann. War ’ne schöne Zeit. Geschichten könnte ich Ihnen erzählen...« »Dazu wird sicher Gelegenheit sein. Ich komme wieder; das Bier, das Sie ausschenken, ist vorzüglich. Und wo finde ich nun den Grafen? Ich habe ihm einen Vorschlag zu machen.« »Ich weiß nicht. Er hat sein altes Haus in Notabile verkaufen müssen.« Optimus war sicher, daß der Mann nicht die Wahrheit sagte, doch es lohnte sich nicht, deshalb Streit mit ihm -363-
anzufangen. Malta war eine kleine Insel; es würde wohl nicht allzu schwierig sein, den Grafen Scicluna zu finden. »Was soll ich ihm sagen, wer ihn sprechen wollte, falls ich ihn treffe?« »Cornish, Cornish ist mein Name, aber er wird mich nicht kennen.« Optimus hatte einen Augenblick gezögert, doch diese zweite Lüge fiel ihm ebenso leicht wie die erste. »Sie verplempern Ihre Zeit, wenn Sie versuchen, daß Sie ins Geschäft kommen mit dem Graf, aber das sehen Sie wahrscheinlich erst ein, wenn Sie’s versucht haben. Vielleicht hab’ ich Ihnen zuviel verraten, aber Sie sind, glaub’ ich, ’n anständiger junger Mann.« Optimus hatte das Bedürfnis, dem Wirt die Hand zu drücken, doch er hielt sich zurück; es konnte aufdringlich wirken und paßte wohl auch nicht zu dem Geschäftsmann, der er zu sein vorgab. »Ihr Vertrauen ehrt mich. Ich werde versuchen, ihm gerecht zu werden. Und nun muß ich gehen, ich habe eine Verabredung.« Das stimmte nicht ganz. Optimus hatte Mr. Osborne nicht angekündigt, daß er ihn so bald wieder aufsuchen würde, doch nun schien es ihm dringend nötig. Zu den Dingen, über die er ihn befragen wollte, gehörte auch seine merkwürdige Begegnung von gestern. »Es gibt für alles eine vernünftige Erklärung«, sagte der Archivar und nahm seinen Kneifer von der Nase, »aber junge und unerfahrene Menschen neigen leider dazu, in alltägliche Ereignisse etwas Außergewöhnliches und Unheimliches hineinzulesen.« »Mir kam es nicht alltäglich vor«, wandte Optimus ein. »Ich habe mich sehr erschrocken.« »Nun, hier in Valetta kennen wir die Leute von der Rosenkranzbruderschaft. Sie sammeln Geld für Seelenmessen für irgendwelche arme Teufel, die zum Tode verurteilt worden sind.« -364-
»Es war mir trotzdem unheimlich.« »Weil Sie nicht Bescheid wußten«, sagte Osborne. »Für das andere Rätsel von gestern gibt es ja ebenfalls eine einleuchtende Erklärung. Ich bin in den Akten nirgendwo auf Grace Pensilva gestoßen. Doch nun sagen Sie mir, daß sie einen anderen Namen trug, und hier«, der Archivar legte die Hand auf einen Stapel von Dokumenten, »hier haben wir den Beweis für ihre Existenz. Während Sie warteten, habe ich einiges über Grace Delabole herausgefunden: Wann sie auf Malta eintraf, welches Haus sie kaufte, welcher Art ihre Geschäftsverbindung mit Graf Scicluna war...« Ein Lächeln huschte über Optimus’ Gesicht bei der Vorstellung, daß ein paar Papiere ausreichten, um zu beweisen, daß jemand an einem bestimmten Ort gelebt hatte. »Warum lachen Sie, junger Mann? Habe ich etwas Spaßiges gesagt? Es ist mir nicht bewußt.« »Oh, ich war nur einen Moment mit meinen Gedanken woanders. – Sagen Sie... hatten Sie etwas dagegen, wenn ich diese Papiere mit nach Hause nähme? Wenn ich sie in aller Ruhe studieren könnte...« »Ich habe meine Vorschriften, und...« »Ich verspreche Ihnen, daß ich mit den Papieren nicht auf und davon gehe. Ich käme ja auch nicht weit, oder?« »Nun gut, wenn Sie mir den Empfang bestätigen... Haben Sie diese Firma Delaluna gefunden?« Optimus nickte. »Sie macht aber keine Geschäfte mehr.« »Ach, tatsächlich? Ich habe in den Dokumenten entdeckt, daß Graf Scicluna einer der Teilhaber von Delaluna war. Er hat eine Reihe von Prozessen gegen die Regierung geführt und dabei sein ganzes Vermögen verloren. Gegen die Regierung kann man nicht gewinnen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht doch ein Fehler, dies« – der Archivar klopfte mit seinem Kneifer -365-
gegen den Stapel Papiere – »aus der Hand zu geben. Das Verfahren Scicluna ist wahrscheinlich noch anhängig. Wenn Sie oder irgend jemand anderer diese Unterlagen an die Öffentlichkeit brächten, könnte es für die Regierung recht peinlich werden.« »Oder der Sache der Gerechtigkeit dienen.« »Gerechtigkeit! Was hat denn das damit zu tun? Scicluna hatte eine Auseinandersetzung mit Kapitän Fell; es handelte sich um Geld, das ihm Fell seiner Meinung nach schuldig war. Wenn er so vernünftig gewesen wäre, diskret vorzugehen, wenn er den Gouverneur gebeten hätte, sozusagen ex gratia zu zahlen, hätte er sein Geld vielleicht bekommen. Aber nein, Graf Scicluna hatte irgendwelche Ideale von Ehre im Kopf und mußte Fell verklagen. Er wartet heute noch auf sein Geld. Unter uns gesagt, diese maltesischen Adligen...« Optimus unterbrach ihn. »Wie wäre es, wenn Sie mir die Papiere trotzdem überließen? Ich habe nicht die Absicht, Sciclunas Belange zu vertreten. Er interessiert mich nur insofern, als er vielleicht etwas über Genteel und Grace Delabole weiß. Bitte, tun Sie mir den Gefallen, wir sind beide Engländer, wir sind beide Ehrenmänner. Glauben Sie nicht, daß Sie mir vertrauen können?« »Sie bringen mir die Papiere bis spätestens morgen mittag wieder?« »Ich verspreche es Ihnen in die Hand.« »Das ist nicht nötig. Sie sind Historiker, das ist mir Garantie genug. Nun gehen Sie schon – und halten Sie sich von diesen Rosenkranzbrüdern fern!« rief er Optimus nach. »Sie sind keine Gefahr für Ihre Seele, aber gewiß eine für Ihre Brieftasche!« Als Optimus das Gasthaus betrat, eilte ihm Mrs. Mifsud, die Besitzerin, entgegen. -366-
»War jemand da für Sie, hat Sie gesucht, Mr. Shute!« rief sie mit mißtönender Stimme. Optimus dachte nach. »Wer?« »Ich glaube, eine Dame.« »Was soll das heißen – Sie glauben, eine Dame? Erkennen Sie eine Dame nicht, wenn Sie eine sehen?« »Sie ist mit einer Kutsche gekommen, ihr Kutscher hat gefragt. Ich habe sie nicht gesehen.« »Falls sie wieder auftauchen sollte, klopfen Sie an meine Tür und sagen Sie mir Bescheid. Ansonsten will ich nicht gestört werden. Sollte sie hier vorfahren, wenn ich außer Hauses bin, fragen Sie sie bitte, wie sie heißt und woher sie kommt.« Optimus überlegte sich, wer die Dame sein konnte und was sie von ihm wollte. Doch er durfte sich nicht ablenken lassen. Er mußte die Papiere studieren, die Osborne ihm geliehen hatte. Er nahm Krug und Schüssel von der Waschkommode und breitete die Dokumente darauf aus. Es dauerte nur Sekunden, bis er seine unbekannte Besucherin vergessen hatte. Hier war Grace Pensilva, auf diesen brüchigen Seiten, und sie lockte ihn wie eh und je. Er sah ihr eigentümliches Lächeln, die leicht geöffneten Lippen, den ironischen Zug um den Mund, das Funkeln in ihren Augen. Optimus nahm nicht einmal mehr die Hitze wahr. Er las noch, als der Abend dämmerte. Frederick Genteel führte Grace Pensilva durch den Palast des Großmeisters. Die leeren Räume boten eine gute Gelegenheit, ihr seine Fragen zu stellen. »Was ist mit Jan King geschehen?« wollte er wissen. »Wir haben uns getrennt. Ich bin mit der Ar Mor nach Frankreich gefahren. England hatte mir nichts mehr zu bieten. Den Rest wissen Sie; ich habe Ihnen geschrieben.« -367-
»In Harberscombe erzählen sich die Leute etwas anderes. Sie sind nachtragend.« »Um so besser, daß ich nicht mehr dort bin.« »Gewiß. Aber warum sind Sie mir ausgerechnet jetzt nach Malta gefolgt, wo ich mich verlobt habe? Wenn Sie früher gekommen wären... Nun mißtraue ich Ihnen. Wissen Sie, was ich glaube? Daß Sie sich absichtlich mit Felicity angefreundet haben. Ich weiß nicht, warum Sie das getan haben, aber Sie haben es getan. Ein Werk der Vorsehung dürfte es kaum gewesen sein.« »Ich bin bei weitem nicht so intrigant, wie Sie denken«, sagte Grace. »Ich habe mich zufällig in Palermo aufgehalten, weil ich dabei war, die Vor- und Nachteile verschiedener Häfen für das Geschäft zu prüfen, das ich gründen will. Die englische Kolonie dort ist klein. Wundert es Sie da, daß Felicity und ich uns einander angeschlossen haben? Überdies kannte sie Sie, was für mich ein zusätzlicher Reiz war.« »Selbst wenn ich das glaubhaft fände... Da ist noch der neue Name. Würden Sie mir bitte erklären, warum Sie Ihn angenommen haben?« »Würden Sie mir bitte erklären, wie eine Bürgerliche namens Grace Pensilva, die keine Beziehungen hat, Eingang in die Gesellschaft finden soll?« »Ich hätte Ihnen geholfen«, erwiderte Genteel. »Wenn Sie nur... Warum sind Sie nicht gleich zu mir gekommen, warum haben Sie gezögert, bis...« »Ich sagte es Ihnen bereits, ich habe auch meinen Stolz. Sie kannten meine Bedingungen.« »Und ich hätte darauf eingehen sollen. Liebe Grace, ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht. Ich weiß es. Aber es ist noch nicht zu spät. Ich kann Kapitän Fell um ein Gespräch bitten. Er hat mir selbst gesagt, es wäre ein Fehler, wenn ich seine Tochter...« -368-
»Pst!« flüsterte Grace, einen Finger gegen seine Lippen gelegt. »Pst, Frederick! Ich wäre nicht gut für Sie. Felicity ist so hübsch, so lebendig, und sie glaubt, Sie zu lieben.« »Sie glaubt mich zu lieben! Das ist es. Während Sie, Grace, während ich... Sie wissen, daß ich alles für Sie tun würde.« »Das ist nicht nötig. Ich bitte Sie nur um einen Gefallen.« »Und der wäre?« »Daß Sie, solange ich auf Malta bin, nie den Namen Grace Pensilva nennen. Diese Frau hat es nie gegeben. Schwören Sie mir, daß Sie sie nicht kennen.« »Ich schwöre es.« Sie nahm seine Hand. Einen Moment lang meinte er, die alte, unbeschwerte Freude, die er mit ihr im Park von Leet erlebt hatte, werde wiederkehren. »Kommen Sie«, sagte Grace und führte ihn auf den nächsten Raum zu, »Sie müssen mir noch soviel zeigen.« Er versuchte, sie zurückzuhalten. »Grace, Grace... Sie werden mich nicht verlassen?« Sie blieb stehen und sah ihm mit ihrem festen, grauen Blick in die Augen. »Solange Sie leben, Frederick, werde ich immer in Ihrer Nähe sein. Und nun müssen wir uns beeilen, Felicity wartet auf Sie, sie wird sich schon Sorgen machen.« »Soll doch der Teufel Felicity holen!« »Sie ist das Beste für Sie. Ich möchte, daß Sie Felicity heiraten. Sie werden selbst sehen, wie recht ich habe.« Widerwillig folgte er ihr. Der Raum, in den sie nun traten, war eine lange Galerie mit einer Reihe Rüstungen auf der einen und hohen Fenstern auf der anderen Seite. Am anderen Ende standen zwei Männer, die in ein hitziges Streitgespräch verwickelt waren. Als Genteel sie erblickte, machte er Anstalten umzukehren, doch der eine Mann hinderte ihn daran. -369-
»Frederick!« rief er. »Gott sei Dank, daß du da bist. Du mußt mich von dieser Klette befreien, von diesem aufgeblasenen Kerl.« Genteel hatte seinen Dienstherrn erkannt, den Gouverneur. Der andere Mann, ungefähr so alt wie Fell, schlank, zierlich und mit dunklem Teint, war nach italienischer Mode gekleidet, für die der maltesische Adel eine Vorliebe hatte. Genteel kannte ihn: Es war Graf Pietro Scicluna. Er wußte außerdem, worüber die beiden disputierten. Eben deshalb hatte er sich zurückziehen wollen, bevor Fell ihn ansprechen konnte. Auch Graf Scicluna wandte sich nun an ihn. »Mr. Genteel«, begann er. Er stand sehr aufrecht da, wodurch er größer erschien, als er in Wirklichkeit war. »Ich rufe Sie als Zeugen an. Es dürfte Ihnen, besser als jedem anderen, bekannt sein, daß ich im Recht bin. Wie Sie wissen, habe ich während des Krieges mein gesamtes Vermögen dafür aufgewendet, Schiffe auszurüsten und Besatzungen anzuheuern, die Proviant aus Sizilien holten. Der Krieg endete siegreich für England, ich aber war ruiniert. Ich habe Schuldscheine, die von mehreren britischen Offizieren im Namen der Regierung unterzeichnet wurden, doch nun will niemand bezahlen. Als wir Malteser uns mit Leib und Seele dem Kampf gegen den französischen Tyrannen verschrieben, nahmen wir an, daß wir für Freiheit und Gerechtigkeit fochten. Und was haben wir nun? Eine neue Tyrannei. Mr. Genteel, ich bitte Sie inständig, sagen Sie, daß es wahr ist. Sie haben die Schuldscheine mit eigenen Augen gesehen.« »Sag ihm, daß er im Unrecht ist, Frederick«, drängte Kapitän Fell. »Tut mir leid, das kann ich nicht«, entgegnete Genteel ruhig. »Ich habe die Schuldscheine gesehen, sie sind in keiner Weise zu beanstanden.« »Ich dachte, ich könnte bei meinen Mitarbeitern auf Rückhalt bauen und bei einem alten Freund erst recht«, sagte Fell bitter. »Solche Schuldscheine gibt es wie Sand am Meer, jeder -370-
Malteser hat offenbar welche. Sie stammen aus Kapitän Balls Zeit, lange bevor Großbritannien das Protektorat über die Insel übernahm. Wenn ich Ihre Schuldscheine anerkenne, Graf Scicluna, werden sich sämtliche Schleusen öffnen. Dann muß ich alle anderen auch anerkennen, und die Regierung geht bankrott.« »Aber, Kapitän Fell«, warf Grace ein, »Sie bringen zwei Regierungen durcheinander. Der Schuldner ist die britische Regierung und nicht die maltesische. Und das britische Schatzamt kann es sich gewiß leisten, ein paar Pfund an die Malteser zurückzuzahlen.« »Sie sind ein naseweises Geschöpf«, sagte Fell, einigermaßen verdutzt über Graces Eingreifen, »und so spitzfindig Sie auch sein mögen, dies ist Männersache. Ich muß Sie also bitten, sich da nicht einzumischen. Was nun Sie betrifft, Graf Scicluna, so nehmen Sie zur Kenntnis, daß Sie von mir nicht einen Penny erhalten und von London ebensowenig. Mir liegt zuviel an meinem Posten, als daß ich es dort auch nur vorschlagen würde. Sie sprachen von Freiheit... Nun, es steht Ihnen frei, mit Ihren Forderungen vor Gericht zu ziehen, und ich hoffe, Sie werden viel Freude daran finden. Und jetzt verlassen Sie uns bitte, die Audienz ist beendet.« Als der Graf gegangen war, schlug Fell einen ruhigeren Ton an. »Auf dem Gebiet der Diplomatie mußt du noch einiges lernen, Frederick«, sagte er tadelnd. »Dem Feind hat man mit geschlossenen Reihen gegenüber zu treten. Und nun zu Ihnen, junge Dame. Es ist zwar eine Unverschämtheit, daß Sie sich eingemischt haben, aber Sie haben Courage, und das gefällt mir. Ich wollte, ich hatte mehr Männer um mich, die so beherzt sind wie Sie... Wenn du nicht Felicity heiraten würdest, Frederick, tätest du gut daran, diesen Plagegeist hier zur Frau zu nehmen.« Optimus hörte Räder heranrollen. Es war eine Weile völlig -371-
still gewesen, und das Geräusch lenkte ihn vom Schreiben ab. Er spähte durch das Gitter seines Balkons. Eine schwarze Kutsche kam die steile Straße zum Gasthof herauf. Im Glanz der Morgensonne sah er, daß der Lack allen Glanz verloren hatte und fleckig geworden war; auf dem Bock saß ein alter Kutscher, der die mageren Pferde gelegentlich mit einem trägen Peitschenknall antrieb. Als die Kutsche unter seinem Fenster zum Stehen kam, sah Optimus ein Zeichen an ihrer Tür, das ein Wappenschild sein mochte. Der Kutscher kletterte steifbeinig vom Bock, ging zur Haustür und klopfte an. Es dauerte eine ganze Weile, bis Optimus Mrs. Mifsud die Tür öffnen hörte. Es folgte ein kurzer Wortwechsel, den Optimus nicht verstand. Die Pferde scharrten mit den Hufen. Der Kutscher stieg wieder auf seinen Bock. Jemand trommelte mit den Fingern gegen die Zimmertür. Als Optimus öffnete, stieß er auf Mrs. Mifsud, die noch im Nachthemd war. »Man will Sie sprechen.« »Die Dame?« »Ich weiß nicht.« Optimus zog seine Schuhe an und folgte Mrs. Mifsud. Er war bereits angekleidet. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen und war wach geworden, als der Morgen graute. Die Kerze, bei deren Schein er geschrieben hatte, stand noch in einer Talgpfütze auf dem Tisch. Der Kutscher sprach kein einziges Wort, sondern deutete nur mit seiner Peitsche auf die Kutschentür. Drinnen war es dunkel. Erst konnte Optimus nichts erkennen, legte die Hand auf die Tür und beugte sich vor. Eine kleine, behandschuhte Hand öffnete die Tür und winkte ihm. Er stieg ein. Die Kutsche fuhr mit einem heftigen Ruck an, und er sank auf eine der Bänke. Optimus versuchte seine Fassung wiederzugewinnen. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er, daß die -372-
Bezüge der Sitze schäbig waren und die Polsterung durchhing, doch was seine Aufmerksamkeit recht eigentlich gefangennahm, war die Frau ihm gegenüber. Sie saß sehr aufrecht in der Mitte der Bank, die Hände gefaltet und in den Schoß gelegt. Alles, was sie trug, war schwarz; die spitzen Schuhe, das lange Kleid, der Hut mit dem Schleier, der ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte; der einzige Hauch von Farbe, die einzige Spur von Leben schienen ihr Mund und ihr Kinn zu sein. Eine Weile sagte sie nichts. Dann, als die Kutsche durch das Stadttor rumpelte, sprach sie Optimus an. »Was wollen Sie, Mr. Shute?« »Was ich will?« Während er ihre Frage mit einer Gegenfrage erwiderte, versuchte Optimus, diese Stimme einzuordnen. Ihre Antwort löste das Rätsel. »Seit Sie hier angekommen sind, spionieren Sie Graf Scicluna nach. Sie wollten in seinem Büro vorsprechen und haben sich für einen Geschäftsmann ausgegeben, leugnen Sie es nur nicht.« »Ja, ich wollte in seinem Büro vorsprechen, Miss Kirkbride.« »Aber Sie sind kein Geschäftsmann. Ein wirklicher Geschäftsmann würde von seinem Vorhaben niemals ausgerechnet einem Wirt erzählen. Und Sie heißen nicht Cornish. Vielleicht auch nicht Shute...« »Ich heiße Shute«, beteuerte Optimus, »und meine Absichten sind, trotz Ihrer Zweifel, durchaus ehrenwert.« Die Frau lachte hart und bitter. »Doch, sie sind ehrenwert, ich bin, wenn Sie es genau wissen wollen, hierhergekommen, um...« »Meinen Großvater zu betrügen«, ergänzte sie. Optimus ballte die Fäuste. Diese Frau war ungerecht und unvernünftig. »Ich bin hierhergekommen«, sagte er langsam und ergrimmt, »um Grace zu finden.« Schweigen senkte sich über die Kutsche. Vom Hufschlag der -373-
Pferde und dem Klirren ihres Geschirrs abgesehen, herrschte eine angespannte Stille, in der Optimus Miss Kirkbrides Atmen hören konnte. »Erwarten Sie nicht, daß ich das glaube. Was kann Ihnen Grace bedeuten? Sie ist nur ein Vorwand, um an meinen Großvater heranzukommen. Ich habe Ihnen von dem Moment an mißtraut, als ich Sie zum ersten Mal sah. Warum sind Sie mit demselben Schiff gefahren wie ich?« »Das war Zufall.« »Zufall, Zufall... Es gibt keinen Zufall. Sie hatten es geplant.« Optimus zog es vor, auf diese Bemerkung nichts zu erwidern. »Wohin bringen Sie mich, Miss Kirkbride?« fragte er statt dessen. »Zu meinem Großvater. Er hat mich gebeten, Sie zu holen. Er möchte erfahren, welchen Vorschlag Sie ihm zu machen haben. Während wir beide natürlich wissen, daß dieser Vorschlag nur eine Finte ist. Graf Scicluna ist ein Ehrenmann, Mr. Shute, und er ist vertrauensselig. Das war sein Verhängnis. Er mißtraut Ihnen nicht, aber ich mißtraue Ihnen. Wenn Sie gekommen sind, um ihn vollends zugrunde zu richten, werde ich ihn vor Ihnen schützen.« Die Ungerechtigkeit dieser Worte erzürnte Optimus. Nichts lag ihm ferner, als Scicluna zu betrügen oder gar zugrundezurichten. Es war lachhaft. Er brauste auf. »Seien Sie versichert, der einzige Grund dafür, daß ich mich für Delaluna interessiert habe und dabei zufällig auf Ihren Großvater gestoßen bin, ist seine Geschäftsverbindung mit Grace Pensilva oder Grace Delabole, wie sie sich hier nannte.« »Ich glaube Ihnen nicht. Grace Delabole ist vor vielen Jahren aus Malta verschwunden. Aus welchem Grund sollten Sie nach Spuren von ihr suchen? Nein, für mich ist die Sache abgemacht. Aber mein Großvater möchte Sie kennenlernen, und ich muß -374-
seinen Wunsch respektieren. Wenn Ihre Absichten tatsächlich so ehrenhaft sind, werden Sie seine Zeit gewiß nicht länger als irgend nötig in Anspruch nehmen.« Optimus gab den Versuch auf, sich mit Miss Kirkbride zu verständigen. Weit vor ihm erhob sich auf einer Anhöhe eine von Wällen umgebene Stadt mit Kuppeln und Zinnen. Sie fuhren an kleinen, verdorrten Feldern vorbei, die von Steinmäuerchen umfriedet waren. Hier und da sah man einfache Gebäude, vermutlich Bauernhäuser, mit flachen Dächern und Außentreppen, die zum Obergeschoß führten. Es war eine gewisse Überraschung für Optimus, als die Kutsche vor einem von ihnen anhielt. »Wenn Sie verstehen wollen, was sich zwischen Grace und Frederick abspielte, finden Sie die Antwort in Argostoli«, sagte Graf Scicluna in einem sonderbaren, gelehrten Englisch mit dem maltesischen Akzent. Er hatte Optimus an der Tür empfangen, Maria in die Küche geschickt, um eine Flasche Wein zu holen, und seinen Gast über einen dämmerigen Flur in ein großes, fast ebenso dämmeriges Zimmer geführt, das sein Licht durch zwei hoch oben in der Mauer eingelassene, halbrunde Fenster erhielt. Der Raum war schlicht möbliert; Stühle mit hohen Rückenlehnen standen um einen großen Tisch, auf den Maria eine Karaffe und zwei Gläser gestellt hatte. »Wo liegt Argostoli?« »In Griechenland. Genauer gesagt auf Kephalenia, einer der Ionischen Inseln. Möchten Sie noch einen Schluck Marsala?« Optimus nickte und dachte daran, wie erbost Maria gewesen war, als sie vor einer halben Stunde den Wein gebracht hatte. »Sehen Sie es ihr bitte nach«, hatte der Graf gemurmelt, als sie aus der Tür war. »Der Tod ihrer Großmutter hat sie aus der Fassung gebracht, es war ein furchtbarer Verlust für sie. Und für mich natürlich auch.« Er hielt inne und starrte in sein Glas. »Sie -375-
war eine gute Frau, sie sorgte für Maria wie eine Mutter. Ihre richtige Mutter heiratete Major Ian Kirkbride von der hiesigen Garnison und hatte kaum Zeit für das Kind, als ihr Mann nach London zurückbeordert wurde. Sie war zu sehr von Bällen und Landpartien und Gesellschaften in Anspruch genommen. Wir hörten nicht viel von ihr. Erst vor kurzem, nach dem Tod meiner Frau, hat sie mir zu schreiben begonnen. Aber ich schweife ab. Um auf Maria zurückzukommen: Sie will die Stütze meines Alters sein, und sie versucht, mich zu behüten. Das ist, weiß Gott, eine undankbare Aufgabe, die sie sich da gestellt hat – sie kämpft gegen vermeintliche Widersacher von mir. Dabei war mein Leben lang immer ich mein ärgster Feind. Früher wohnte ich in einem schönen Haus in Notabile – Sie haben die Stadt wohl auf dem Weg hierher gesehen –, und jetzt muß ich mich mit einem Bauernhaus bescheiden. Aber ich bin glücklich hier, seitdem Maria gekommen ist.« Er hatte geseufzt und Optimus das erste Glas Marsala eingegossen. »Und nun erzählen Sie mir bitte von dieser Grace Pensilva, die, wie Sie sagen, unsere Miss Delabole ist. Sie war ein außergewöhnlicher Mensch. Wir haben sie alle sehr geliebt.« Optimus berichtete seinem Gastgeber von Grace, verschwieg ihm aber Jan King und dessen mutmaßliches Ende. Er wollte den alten Grafen nicht gegen Grace einnehmen; auch ging es ihm vor allem um Graces Beziehung zu Frederick. Dann fragte er, wie die Firma Delaluna & Co. entstanden war. »Grace suchte mich auf, einen Tag nachdem wir uns zum ersten Mal gesehen hatten«, antwortete Scicluna. »Sie kam in mein Büro und entschuldigte sich für das flegelhafte Benehmen und die Ungerechtigkeit ihrer Landsleute. Dann erkundigte sie sich nach meinen Geschäften. Ich mußte ihr gestehen, daß davon kaum etwas übrig war, ich hatte nur noch ein Schiff und nicht einmal das Geld, es auszurüsten und eine Mannschaft anzuheuern. Sie fragte, welche Waren den meisten Gewinn einbrächten. Ich sagte, Korinthen aus Argostoli. Grace -376-
überlegte. Dann sagte sie, sie kenne jemanden, der Geld anlegen wolle und sich möglicherweise an dem Schiff beteiligen werde. Er müsse aber aufgrund seiner Stellung im Hintergrund bleiben. Ich dachte, sie meine Mr. Genteel, doch ich hielt es für besser, nicht zu fragen. Am nächsten Tag kam sie mit dem Geld, Goldmünzen in einer Ledertasche. So fing es an.« »Und Frederick Genteel hatte zu diesem Zeitpunkt nichts mit Delaluna zu tun?« »Nein, er war zu sehr mit Felicity Fell beschäftigt, die ihm das Leben reichlich sauer machte. Erst nach der vierten oder fünften Fahrt der Marathon – so nannten wir unser Schiff –, arbeitete Genteel für uns. Er war inzwischen in finanziellen Nöten; Felicity hatte ihre ganze Mitgift und das bißchen, was er gespart hatte, verschleudert. Grace bot ihm an, er könne stiller Teilhaber bei uns werden. Dafür müsse er das Schiff auf der Fahrt nach Argostoli befehligen. Angove, unser alter Kapitän, war gerade ganz plötzlich aus der Firma ausgeschieden, und es war weit und breit kein geeigneter Mann zu finden. Frederick und Grace standen damals nicht allzu gut miteinander. Er nahm den Posten an, weil ihm keine andere Möglichkeit blieb. Und sie konnte es sich leisten, ihn großzügig zu entlohnen. Wir verschifften nicht nur Korinthen. In Griechenland tobte ein Krieg, und es gab Güter, die ein Vermögen brachten, sofern man diskret vorging. Ich hatte so gut wie nichts mit diesem Zweig des Geschäftes zu tun, darum kümmerte sich Grace, wie sie sich um Genteels Anstellung gekümmert hatte. Sie hatte damals alles im Griff. Ich konnte ihr nur zusehen und staunen. Ich fragte mich, warum sie mich zum Partner hatte haben wollen; sie wäre auch ohne mich zurechtgekommen. Ich dachte, sie hätte Genteel zum Mitmachen bewogen, damit er ein Auge auf seine Investition haben könne. Kurzum, ich begriff nichts. Auf dieser Fahrt gingen mir dann Dinge auf, von denen ich nichts geahnt hatte. Wie gesagt, wenn Sie verstehen wollen, was zwischen Grace und Frederick passierte, finden Sie die Antwort in Argostoli.« -377-
Der Graf schenkte Optimus Wein nach. Dann bediente er sich selbst, ließ den Marsala im Glas kreisen und roch genießerisch daran. »Bis zu dieser Episode in Argostoli hatte Grace immer nur vom Wein des Lebens gekostet, ihn aber nie in vollen Zügen getrunken. Das war töricht genug, und es trieb sie schier zum Wahnsinn. Sie entdeckte etwas...« »Was?« Optimus saß aufgeregt auf der Kante seines Stuhls. »Vielleicht sollte ich besser sagen, daß es eine Offenbarung war, zu der ihr erst diese Reise mit Frederick verhalf. Bentley kann Ihnen mehr davon berichten, er war dabei. Ich auch, aber ich bin jetzt sehr müde. Kommen Sie wieder, Mr. Shute. Kommen Sie, sooft sie wollen. Geben Sie mir nur rechtzeitig Bescheid, dann lasse ich Sie mit der Kutsche abholen.« Er erhob sich, um Optimus aus dem Zimmer zu geleiten. Kurz vor der Tür blieb er stehen und nahm ihn behutsam beim Arm. »Habe ich Ihnen schon gesagt, daß Grace hier wohnte, bevor sie sich in Floriana ein Haus kaufte? Und daß sie und meine Tochter Rita, Marias Mutter, eng befreundet waren? Rita verehrte sie – sie war so frei, so unabhängig. Ach«, seufzte er, »Maria ist ihr so ähnlich, sie ist beiden so ähnlich, daß es mich manchmal erschreckt.« Er lächelte traurig. Dann fing er sich wieder und führte Optimus auf den Flur. Eine Sekunde später tauchte Maria auf. »Erlaube mir, daß ich Mr. Shute zur Kutsche bringe, Großvater«, sagte sie freundlich. »Du solltest lieber nicht aus dem Haus gehen, es ist schon zu heiß.« »Da sehen Sie, wie man als alter Mann bevormundet wird«, lachte Scicluna. »Übrigens, ist Ihnen dieses Bild aufgefallen?« Er deutete auf ein kleines, golden gerahmtes Porträt. »Das ist meine Frau. Rita hat es gemalt. Sie ist künstlerisch sehr begabt.« Optimus fiel erst jetzt wieder ein, daß er vergessen hatte zu fragen, wer die Miniaturen gemalt hatte. Nun hatte er unversehens die Antwort. Ein weiterer Teil des Rätsels war -378-
gelöst. Als er in die Kutsche stieg, hielt ihn Maria zurück. Ihr Gesicht war nicht mehr verschleiert, und ihre Schönheit bestürzte ihn fast. Um so weniger war er auf das vorbereitet, was sie ihm zu sagen hatte. »Bilden Sie sich nur nicht ein, daß ich Sie für ehrlich halte, weil mein Großvater Gefallen an Ihnen gefunden hat. Ich mißtraue Ihnen nach wie vor. Was immer Ihre Beweggründe sein mögen, ich werde es herausfinden und Ihr Vorhaben vereiteln. An Ihrer Stelle würde ich sofort abreisen und nie wieder nach Malta kommen. Ihr Engländer wollt meinen Großvater zugrunde richten, aber es wird euch nicht gelingen. Ich weiß, was Sie mit Ihren Geschichten von Grace Pensilva bezwecken, aber Sie werden es teuer bezahlen müssen. Und jetzt verschwinden Sie.« Sie war so heftig, daß sich Optimus tatsächlich wie ein Verbrecher fühlte, obwohl er sich keiner Schuld bewußt war. Die Kutsche fuhr an. Plötzlich, ohne recht zu bedenken, was er tat, steckte er den Kopf aus dem Fenster und rief etwas zurück. Maria war schon an der Tür und drehte sich um. »Ich reise ab!« schrie er. »Ich reise nach Argostoli. Sind Sie nun zufrieden?« Ohne eine Miene zu verziehen, trat sie ins Haus und schloß die Tür. »Ich habe dir viel zu viele Zugeständnisse gemacht«, beschwerte sich Frederick und bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Er saß auf einem Stuhl in Felicitys Schlafzimmer, während sie sich geistesabwesend die Haare bürstete. »Ich habe mich bereit erklärt, in der Kathedrale zu heiraten, damit deinen römischen Neigungen Genüge getan wird; ich habe mich sogar bereit erklärt, unsere Kinder in diesem Aberglauben erziehen zu lassen, wie es dein Priester -379-
fordert; und nun bestehst du darauf, daß du Grace Delabole zur Brautjungfer bekommst...« »Warum nicht? Ich hatte ja auch nichts dagegen, daß dieser ruppige Major Kirkbride dein Trauzeuge wird, oder?« »Das ist etwas anderes. Kirkbride ist ein alter Freund von mir. Grace dagegen ist eine Fremde, wir wissen so gut wie nichts von ihr.« »Aber sie ist meine beste Freundin. Ich dachte, du magst sie auch, und ich weiß wirklich nicht, was du gegen sie hast.« Felicity hatte aufgehört, sich die Haare zu bürsten. Sie hatte die Hand in den Schoß sinken lassen und starrte mit leerem Bück in den Spiegel, der vor ihr auf dem Tisch stand. Das Schlafzimmer befand sich in der üblichen weiblichen Unordnung. Hüte, Seidenstrümpfe, Kleider und Unterröcke lagen da, wo Felicity sie hatte fallen lassen. Sie trug ein weites, weißes Morgengewand, gerade so durchsichtig, daß man die Umrisse ihres Körpers erkennen konnte. »Du weißt etwas von ihr, nicht wahr, aber du verschweigst es mir. Ist sie eine alte Flamme von dir oder so etwas?« Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel, als sie diese herausfordernde Frage stellte. »Nein, natürlich nicht!« log Frederick und hoffte, es werde überzeugend klingen. Wenn er ehrlich mit sich war, mußte er zugeben, daß Felicity genau erfaßt hatte, warum er Grace nicht als Brautjungfer haben wollte. Wie war sie darauf gekommen? Weibliches Gespür? Oder hatte Grace etwas gesagt, das Felicitys Argwohn geweckt hatte? Er glaubte es nicht. Grace war zu sehr darauf bedacht, Schweigen über ihre Vergangenheit zu bewahren, um auszuplaudern, daß sie ihn kannte. »Warum willst du es dann nicht?« »Well... weil du nicht weißt, wer sie ist. Wie habt ihr euch in Palermo eigentlich kennengelernt?« Frederick war sicher, daß diese Begegnung kein Zufall gewesen war; er mußte in einem seiner Briefe an Grace angedeutet haben, wo sich Felicity -380-
aufhielt. Wenn Grace früher nach Malta gekommen wäre... Aber solche Gedanken waren überflüssig. Sie wollte ja, daß er Felicity heiratete. »Was nannte sie als Grund dafür, daß sie in Palermo war?« fragte er schließlich. Felicity hob mit dramatischer Gebärde die Hände und drückte sie gegen ihre Schläfen. »Oh, mein Kopf! Mein armer Kopf! Du bringst mich ganz durcheinander!« klagte sie und schwankte auf ihrem Stuhl, als wolle sie gleich in Ohnmacht fallen. »Hör auf, mich zu quälen! Grace Delabole ist die einzige Freundin, die ich hier habe, und es ist mir egal, wer sie ist und woher sie kommt. Sie ist eine Dame, das merkt man sofort. Ich wollte, Ich könnte mit ebensolcher Bestimmtheit sagen, daß du ein Herr bist.« »Ich versuche nur, dich davor zu bewahren, daß sie dich ausnutzt.« »Grace hat es nicht auf meine Mitgift abgesehen.« »Das ist ungerecht. Ich auch nicht.« »Weshalb heiratest du mich dann? Du sprichst nicht sehr liebevoll mit mir, du sagst mir nur ständig, daß ich dies und jenes nicht tun darf.« Frederick war einen Moment lang betroffen. »Ich heirate dich, weil ich es immer wollte; ich heirate dich, weil ich deinem Vater versprochen habe, für dich zu sorgen. Mit Geld hat das nichts zu tun.« »Meine Freundschaft mit Grace auch nicht. Du kannst ganz beruhigt sein, sie hat mit mir nie über Geld gesprochen. Und Papa hat sie ausgefragt, das hat er mir erzählt. Sie ist reich und hat gute Verbindungen; sie kommt aus einer alten kornischen Familie, aus Cornwall. Sie ist ganz einfach eine moderne Frau. Ich wäre gern so wie sie, wenn ich das Geld und ein bißchen Mut hätte. Statt dessen heirate ich dich, und ich wäre auch damit völlig zufrieden, wenn du nicht so ein Spielverderber wärst. Warum darf sie nicht meine Brautjungfer sein?« Felicity hatte -381-
sich umgewandt und sah Frederick mit großen Augen flehend an. »Sie ist bald zurück, und dann möchte ich ihr sagen können, daß du einverstanden bist.« »Wo ist sie jetzt?« »Auf dem Land. Sie besucht einen Malteser. Er heißt Scicluna.« »Da begeht sie einen schweren Fehler«, sagte Genteel. »Sie kann es sich nicht leisten, freundschaftlichen Umgang mit den Maltesern zu pflegen. Wenn sie das tut, wird die Gesellschaft sie bald schneiden.« Frederick war verdrossen. Er war zwar bei Sciclunas Streit mit dem Gouverneur für den Grafen eingetreten, doch das war etwas anderes, als sich mit den Maltesern gemein zu machen. Es schmerzte ihn auch, daß ihn Grace in Felicitys Arme trieb. Warum wies sie ihn ab? Er war ganz sicher gewesen, daß sie seine Gefühle erwiderte. Weshalb hatte sie ihm sonst all diese Briefe geschrieben? Sie bestand aus lauter Widersprüchen; er bewunderte ihre Selbstsicherheit, ihren Mut, und im nächsten Moment grollte er ihr, weil sie sich so eng an Felicity angeschlossen hatte, daß er ihr auf Schritt und Tritt begegnete. Sie wünschte sich, er könnte sie verstehen, doch offenbar mußte er sich einfach mit der Situation abfinden. »Darf sie meine Brautjungfer sein?« fragte Felicity. »Ich weiß es noch nicht.« »Dann überleg es dir. Aber nicht zu lange. Und sag mir sofort«, sie stand auf, um etwas vom Bett zu nehmen, »ob diese lavendelfarbene Schärpe wohl zu meinem Hochzeitskleid passen wird.« Sie zog die Schärpe über der Taille und dicht unter ihren festen, jungen Brüsten straff und kam auf ihn zu, wobei sie sich betont in den Hüften wiegte. »Das ist mein Hochzeitskleid, und Grace wird meine Brautjungfer sein«, flüsterte sie. »So einfach kriegst du mich nicht herum.« Fredericks Stimme klang rauh. Sie gebrauchte ihren Körper, um ihm ihren Willen aufzuzwingen. Es machte ihn zornig, doch er wußte, daß er ihr -382-
nicht widerstehen konnte. »Oh, aber ich kriege dich doch herum, lieber Freddie, und du sollst eine Belohnung dafür haben.« »Eine Belohnung?« »Ja, einen Kuß!« »Ein Kuß ist nicht genug.« Gegen das Licht sah er die Umrisse ihres Körpers, verlockend nah. Ihr Moschusduft berauschte ihn. Es würde so leicht sein, einfach nachzugeben. Und das wollte Felicity ja schließlich. Er atmete schwerer. »Ich will dich. Ich will dich jetzt«, murmelte er. Er stand auf und schlang die Arme um sie. »Nein, Frederick, du mußt lernen zu warten... Es sind nur noch ein paar Tage. Sag mir, daß du einverstanden bist; sag mir, daß Grace meine Brautjungfer sein darf.« »Du nutzt mich aus!« Das schrie er fast. »Wie kann ich eine Frau heiraten, die nichts tut, als um alles und jedes zu feilschen?« Felicitys Schultern sanken herab. Sie wandte sich ab. Sie weinte. Er holte sein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte ihr reumütig die Tränen ab. »Ich war häßlich zu dir. Es tut mir leid. Du sollst Grace als Brautjungfer haben.« »Und du verträgst dich endlich mit ihr?« fragte sie hoffnungsvoll. »Bitte, mir zuliebe... Wenn du mich ein bißchen magst.« »Ich werde es versuchen.« »Dann sollst du einen Kuß haben, Freddie. Und bald auch mehr.« Sie schmiegte sich in seine Arme. Sie war launisch, sie war kokett, und er hatte den Verdacht, daß es ihr Vergnügen bereitete, ihn zu quälen. Doch ihr Körper erregte ihn trotzdem. Er küßte sie auf den Nacken, auf den Mund. Sie ließ ihn gewähren. Er wurde kühner und drückte sie an sich, spürte die -383-
Spitzen ihrer Brüste durch sein Hemd. »Willst du mich?« fragte er und streifte ihr Ohr mit seinen Lippen. Durch die halbgeschlossenen Lider sah er den Diwan und stellte sich vor, wie er mit ihr darauf niedersank. Sie gab keine Antwort, und er küßte sie wieder, drängender diesmal. Er machte die Augen zu und stellte sich vor, wie er Felicity vor dem Priester in der Kathedrale küßte. Eine Frau beobachtete ihn: Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch ihre Augen brannten. Ihr starrer Blick zwang ihn in eine Verbindung hinein, die sie beide nicht wirklich wollten. »Ich muß dich haben«, keuchte er. »Nein, Frederick, nicht jetzt. Grace kommt jeden Moment zurück.« Er biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. War es das, was Grace wollte? Wütend stieß er Felicity von sich und stürmte aus dem Zimmer. In dieser Woche fuhr kein Schiff mehr nach Argostoli. Eigentlich hatte Optimus gar nicht vorgehabt, dorthin zu fahren, aber jetzt, wo sein Entschluß einmal feststand, war er ungeduldig. Die Tage, die er in Valetta warten mußte, kamen ihm vor wie eine Strafe. Er bemühte sich, seine Zeit zu nutzen, sprach mit Osborne, suchte Graces Haus in Floriana und jenes andere Haus in der Nähe, in dem Frederick und Felicity gewohnt hatten. Es gab zwar keinen Beweis dafür, doch Optimus hatte den Eindruck, daß Grace die Ereignisse so gesteuert hatte, daß diese Verbindung schließlich zustandekam. Als sie mit Frederick zu der Fahrt nach Argostoli aufbrach, hatten sich die Dinge eingespielt; war sie Felicitys Vertraute. Die Mahnungen und Vorladungen wegen nichtbezahlter Rechnungen, die Osborne in seinem Archiv fand, zeigten nur zu deutlich, wie verschwendungssüchtig Felicity gewesen war. Sie hatte ihre Mitgift binnen kurzem für Kleider und Möbel -384-
ausgegeben, von der Schar maltesischer Dienstboten gar nicht zu reden. Seit Optimus all dies wußte, konnte er mehrere von Graces undatierten Briefen an Frederick richtig einordnen. Er begriff auch, wie die Beziehung zwischen ihnen hatte fortbestehen können, heimlich und mit Unterbrechungen. Das schien vor allem Graces Verdienst zu sein, denn Genteel war offenbar in den ersten Monaten seiner Ehe Felicity völlig ergeben gewesen. Selbst als er durch ihre Leichtfertigkeit an den Rand des Ruins geriet, hielt er weiter treu zu ihr. Es waren keine alten Leidenschaften, die ihn bewogen, sich auf Graces Pläne einzulassen – diese Möglichkeit hatte er aus seinen Gedanken verbannt –, sondern er tat es, weil er wirklich Geld brauchte. Optimus fand Griechenland im Vergleich zu Malta zunächst enttäuschend. Argostoli, am Ufer einer tief ins Land eingeschnittenen Bucht gelegen, in deren Nähe sich ein Gebirgszug erhob, war kaum mehr als ein Dorf. Es gab ein paar öffentliche Gebäude aus der Zeit, in der Kephalenia unter dem Schutz der britischen Krone gestanden hatte. Eines davon war das Krankenhaus. Wie erwartet hatte Optimus hier kein Glück mit seinen Erkundigungen. Nach all den Jahren konnte sich niemand mehr an die Einlieferung eines britischen Offiziers namens Frederick Genteel erinnern. Und dennoch war er – Bentley, der Wirt, hatte es Optimus erzählt – in dieses Krankenhaus gebracht worden und hatte dort gelegen, bis Grace ihn in ein Privatquartier geholt und selbst gepflegt hatte. Das Großartige an Argostoli waren die Berge. Optimus entdeckte es am ersten Abend dort, als er sich müde vor einer Taverne am Hafen auf einen Stuhl sinken ließ. Tagsüber waren sie von Dunst verschleiert gewesen, doch nun traten sie im Licht der sinkenden Sonne allmählich hervor wie riesige Tiere. Ihre Spiegelbilder zitterten im bewegten Wasser der Bucht. Optimus trank seinen Kaffee und war seltsam ergriffen. Was er sah, hatte auch Grace gesehen in jenen bangen Tagen: barfüßige Fischer, -385-
die ihre Netze in die Boote luden; Schafhirten, die sich unsicher durch die Stadt bewegten, die sie nur kurz besuchten; Klephten in einer Art Kilt, jene Räuber, die im Krieg gegen die Türken als Freiheitskämpfer hervorgetreten waren. Die Luft war lau und weich, doch Optimus war bedrückt. Seine Suche schien im Sande zu verlaufen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge nach Malta zurückzukehren. Den Mann in europäischer Kleidung, der sich einen Weg durch die Menge bahnte und auf ihn zukam, bemerkte er nicht gleich. Er wurde erst auf ihn aufmerksam, als nicht mehr zu übersehen war, wie unverwandt der andere ihn betrachtete. Der Mann trug einen engen, hochgeschlossenen Rock und eine helle Hose. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und einen wilden Schöpf grauer Locken, der in seltsamem Gegensatz zu seiner ansonsten sehr korrekten Erscheinung stand. Unter seinen buschigen Brauen funkelte ein tiefliegendes, schwarzes Augenpaar. Mit breitem Lächeln nahm er neben Optimus Platz. »Willkommen in Argostoli, Mr. Shute. Sind Sie gut untergebracht?« »Leidlich, aber ich hatte auch keinen Luxus erwartet«, sagte Optimus argwöhnisch. Er hatte nicht erwartet, daß ihn irgend jemand auf Kephalenia kennen würde, doch hier war ein Fremder, der seinen Namen wußte und sogar vorgab, um sein Wohl besorgt zu sein. »Mit wem habe ich die Ehre?« »Ich bin Spiro Marcopoulos, zu Ihren Diensten. Ich arbeite als Reedereivertreter. Aber Sie fragen sich natürlich, wie ich dazu komme, Sie zu stören. Nun, ich habe gehört, daß Sie gewisse Nachforschungen anstellen...« Die Erklärung schien naheliegend. Der Mann hatte erfahren, daß sich Optimus im Krankenhaus nach Frederick Genteel erkundigt hatte. Und wenn er wirklich ein Reedereivertreter war, war es ihm ein leichtes gewesen, Optimus’ Namen den Papieren des Schiffes zu entnehmen, mit dem er heute eingelaufen war. -386-
»Ja, ich stelle in der Tat ein paar Nachforschungen an.« »Welches Interesse haben Sie? Sicher sind Sie mit Grace Delabole verwandt und Erbe eines Teiles der Firma Delaluna? Vielleicht kann ich Ihnen helfen...« »Bevor ich auf dieses Angebot eingehe, muß ich wissen, welches Interesse Sie haben.« Marcopoulos gab nicht gleich Antwort. Er rief dem Inhaber der Taverne auf Griechisch etwas zu, und im Nu stand ein Krug Wein auf dem Tisch. Dann sagte er: »Darf ich Sie einladen? Und würde es Ihnen genügen, wenn wir auf das Wohl des Grafen Scicluna tränken?« Optimus lächelte. »Auf Graf Scicluna!« sagte er und hob sein Glas. »Und vielen Dank für die Einladung.« »Ich habe zu danken«, erwiderte Marcopoulos. »Wenn Sie nicht gekommen wären, könnte ich nichts Neues über meinen alten Freund auf Malta erfahren. Wie geht es ihm? In seinen Briefen spricht er kaum von sich selbst – das ist typisch für ihn.« »Er ist in Trauer, seine Gattin...« Marcopoulos bekreuzigte sich. »Gott habe sie selig. Eine gute Frau. Dann ist er also allein?« »Nein, seine Enkelin Maria sorgt für ihn.« »Ich kenne sie. Ein liebenswürdiges Mädchen.« Optimus konnte sich nicht eines Lächelns erwehren; die Liebenswürdigkeit mußte im Auge des Betrachters liegen. Er beschloß, lieber das Thema zu wechseln. Während des Gesprächs hatte er darüber nachgedacht, wie alt Marcopoulos wohl sein mochte. Er war von fast jugendlicher Lebhaftigkeit, doch die zahllosen Runzeln um seine Augen ließen vermuten, daß er mindestens so alt war wie Scicluna. »Haben Sie Frederick Genteel gekannt?« Der Grieche nickte. »Och!«, sagte er, »nein, ich hatte nicht die Ehre. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, und bei -387-
dieser Gelegenheit konnte er nicht sprechen, so krank war er. Aber Grace Delabole habe ich gekannt. Wir haben zusammen Geschäfte gemacht.« »Was für Geschäfte? Waren sie legal?« Marcopoulos lehnte sich zurück und lachte. »Was für eine Frage! Nun, damals waren sie vielleicht nicht ganz legal – aber es war für eine gute Sache. Wie ich sehe, wissen Sie mehr, als ich dachte.« Seine Miene schien sich zu umwölken, und er sah auf die Reede hinaus, über der die Sonne unterging und das Meer in grelle Farben tauchte. »Es war eine schone Zeit«, fuhr er fort. »Wir hielten uns für unsterblich – so ist die Jugend. Und Grace... Grace hatte etwas Geniales. Was sie auch begann, es glückte ihr alles. Bis zu der Reise mit Frederick. Als sie abfuhr, war sie eine völlig andere Frau.« »Inwiefern?« fragte Optimus. »Sie war so selbstsicher gewesen, doch als sie mit Genteel hier war, glich sie einem Schiff ohne Ruder. Graf Scicluna meinte, es habe etwas mit diesem Lump aus England zu tun, Scully, der plötzlich hier auftauchte, aber ich weiß es besser. Ich habe sie beobachtet, während sie Frederick pflegte; das hat sie verändert.« »Was empfand sie für ihn?« Optimus wunderte sich selbst über seine Direktheit. »Liebte sie ihn?« »Sie glaubte es nicht.« Marcopoulos verlor sich wieder in der Betrachtung des Sonnenuntergangs. »Was bedeutet Ihnen diese Frau? Warum sind Sie so weit gereist, um Fragen über sie zu stellen?« Nun war es an Optimus, sich in den Horizont zu vertiefen. »Ich... ich hatte es nicht vor... Ich bin zufällig auf ihre Geschichte gestoßen – oder vielmehr, jemand hat mich darauf hingewiesen. Grace Pensilva – Ihre Grace Delabole – laßt mich nicht mehr los. Sie ist so unverwechselbar, so einmalig, fast unzugänglich. Ich glaube inzwischen, wenn ich sie gekannt -388-
hätte, wenn ich eine Rolle in ihrem Leben gespielt hätte, hätte ich sie gefürchtet – zumindest hätte ich das tun sollen. Doch das macht ihre Anziehungskraft nicht geringer. Für mich ist sie genauso wirklich, wie Sie es sind.« Marcopoulos faßte über den Tisch und legte seine Rechte auf Optimus' Hand. »Ich glaube Ihnen. Grace war ein Mensch, der sich scheinbar immer von der Vernunft leiten ließ, aber dann... Leidenschaft und Sehnsucht sind unvernünftig. Ich kannte sie. Ich kannte ihr Gesicht genau. Sie wissen natürlich, daß dies das Land ist, in dem die Tragödie erfunden wurde? Und es ist eine Tragödie, wenn eine große Liebe um eines vermeintlich edlen Zweckes willen zerstört wird... Wenn zwei Leidenschaften in einem Menschen so stark sind, daß sie ihn zerreißen...« Er unterbrach sich und lachte nervös. »Aber ich langweile Sie mit meinem Gerede. Wenn ich damals gewußt hätte, daß ich Grace nicht wiedersehen würde... Doch woher sollte ich ahnen, was kommen würde? Natürlich hätte ich es wissen müssen; ich hatte sie nie zuvor beunruhigt gesehen.« »Was ist denn eigentlich genau geschehen?« »Warten Sie bis morgen. Morgen früh werde ich Ihnen etwas zeigen – viel ist es nicht, aber vielleicht hilft es Ihnen, die Dinge besser zu verstehen. Und ich werde Sie zu den Katavrothes führen, sie sind das Besondere an Argostoli. Sie sollen nicht das Gefühl haben, daß Sie umsonst hierher gekommen sind.« In dieser Nacht fand Optimus nur mit Mühe Schlaf. Es lag nicht an der Hitze. Es lag auch nicht am Lärm der Klephten, die in den Tavernen grölten und sich stritten. Er wurde von Ungeduld verzehrt, er wollte wissen, was Marcopoulos ihm zeigen würde, und vor allem wollte er erfahren, was zwischen Grace und Frederick geschehen war. Er wußte bereits, daß ihr Schiff unterwegs in eine Art Seegefecht geraten und Genteel verwundet worden war. Graf Scicluna und Bentley hatten ihm davon erzählt. Die Ereignisse kannte er, aber was hatten sie für Grace Pensilva bedeutet? Als Optimus endlich einschlief, sah er -389-
ihr Gesicht vor sich, doch nun war es verhärmt und die grauen Augen voll Sorge. Grace ritt einen Pfad an einer Bergwand entlang. Ihr Pferd war mit Schweiß bedeckt und müde. Als sie Argostoli verlassen hatte, war der Tag heraufgedämmert. Sie war landeinwärts galoppiert, als ritte sie in den Kampf. Ihr Haar flog im Wind; die kühle Morgenluft rötete ihre Wangen. Zu ihrer Linken lag der Hafen, noch in Nebel gehüllt, aus dem nur die Topmasten und Rahen ragten. Erst als sie die sanften Hügel hinter sich hatte und ins Gebirge kam, verlangsamte sie den stürmischen Ritt und duldete es, daß sich ihr Pferd seinen Weg zwischen den Klüften allein suchte. Tief unter sich hörte sie das Rauschen der Brandung. Sie hatte Argostoli verlassen, hatte Frederick verlassen, weil sie es nicht länger ertrug. Am Anfang, als es nur galt, seine Wunde zu behandeln, war sie voll Zuversicht gewesen, doch jetzt, wo er von Stunde zu Stunde schwächer wurde, hielt sie es nicht mehr aus. Deshalb hatte sie an die Tür einer Taverne geklopft und um ein Pferd gebeten. Sie hatte kaum darauf geachtet, wohin sie ritt. Zuerst hatte der wilde Galopp die schlimmste Spannung in ihr etwas gelöst. Jetzt trabte das Pferd behutsam den schmalen Pfad entlang, und sie hatte Zeit zum Nachdenken. Sie fürchtete nicht um ihr Leben, obwohl ein einziger Fehltritt des Pferdes genügte, sie in die Tiefe zu stürzen. Sie fürchtete um sein Leben. Mit jedem Meter, den sie sich von ihm entfernte, nahm die Besorgnis zu. Sie glaubte zu sehen, wie sich seine trockenen Lippen bewegten. Er flüsterte etwas. Vor ihr gabelte sich der Weg. Das Pferd blieb stehen, um ihre Entscheidung abzuwarten. Der erste Weg führte ins Tal. An seinem Ende lag, in Weingärten eingebettet, ein freundliches Dorf. Sie stellte sich vor, wie sie mit Frederick dorthin reiten -390-
würde, wenn er genesen war, glücklich und stark. Der zweite Weg war beschwerlich. Er wand sich zwischen den Felsen einer Paßhöhe entgegen. Es war kalt dort oben und einsam. War das ihr Weg? Sie fürchtete es. Bevor sie ihrem Pferd die Sporen geben konnte, hörte sie über sich ein Schwirren. Sie blickte auf. Ein schwarzer Vogel schwebte in den Lüften. In Spiralen schraubte er sich abwärts und wurde immer größer. Als er kurz über ihr war, flog er in die andere Richtung und zog einen Kreis hinter ihrem Rücken, so daß sie ihn nicht beobachten konnte. Als er wieder auftauchte, war er noch näher. Sie sah verschwommen den weitaufgerissenen Schnabel, die riesigen Schwingen, die gekrümmten Klauen. In panischer Angst schlug sie nach ihm. Der Vogel wich nur wenig aus. Sie hörte ihn krächzen und roch seinen Aasgeruch. Sie hatte Angst um ihre Augen. Nirgendwo gab es einen Schutz, nur niedriges Heidegestrüpp. Und der Vogel blieb, stieg auf und stieß herab. Er flog so dicht an ihr vorbei, daß seine Flügelspitzen ihr Gesicht streiften. Das Pferd zitterte. Es würde jeden Moment scheuen. Sie barg ihren Kopf in ihren Armen und schrie. Sie schrie, und ihrem Schrei antwortete ein spöttisches Echo von den Felswänden. Sie wollte noch einmal schreien, aber der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Stille. Als sie es wagte, die Arme sinken zu lassen, war der Vogel verschwunden. Sie suchte ihn überall. Sie atmete keuchend, ihr Herz klopfte wild. War er das dort oben, der winzige Punkt vor der Sonne? Jetzt, wo er verschwunden war, überfiel sie Verwirrung. Sie getraute sich nicht weiterzureiten. Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was, wenn der Vogel ein böses Omen war? Sie schüttelte den Kopf; Aberglauben hatte in ihrem Leben keinen -391-
Platz. Und doch, war es möglich? Bedeutete dieser schwarze Vogel etwas, das sie sich nur noch nicht eingestehen wollte? War sie bereit, aufzugeben? Wollte sie ihr Gelübde überhaupt noch erfüllen? Hatte sie noch die Kraft dazu? Sie hatte auf die rechte Zeit gewartet. Sie hatte gewartet, bis er in häusliche Glückseligkeit eingewiegt war. Sie hatte darauf hingearbeitet, ihn in einem Netz finanzieller Abhängigkeit zu fangen. Alles das war ihr geglückt. Es war einfach gewesen, ein Kinderspiel fast, doch nun, auf diesem kahlen Berg, kam ihr eine furchtbare Erkenntnis: Sie wollte nicht, daß er starb. Nicht jetzt. Niemals. Dabei lag er vielleicht in diesem Augenblick tot in seinem Bett. Und sie hatte ihn verlassen. Sie schrie wieder, aber es war ein stummer Schrei. Mit harter Hand riß sie am Zügel, um das Pferd zu wenden. Wie eine Besessene ritt sie zurück. Die Frau führte die beiden Männer in die Kammer und schloß die Tür hinter ihnen. Die Kammer war geräumig, mit hoher Decke, hellblau gestrichenen Wänden und einem Fenster im oberen Drittel der Mauer. Das Licht, das durch dieses Fenster fiel, huschte unruhig über den Boden, weil draußen ein Feigenbaum stand, dessen Blätter sich im Wind bewegten. »Hier lag er«, erklärte Marcopoulos, und deutete in eine Ecke, in der unter einem Kreuz und einer silbern gerahmten Ikone eine eiserne Bettstatt stand. »Natürlich sind es nicht mehr dieselben Möbel. Aber es war dieses Zimmer.« »Sie haben ihn hier gesehen?« »Ja, einmal. Grace ließ niemanden herein. Es war an einem frühen Morgen. Sie hatte ihn unerklärlicherweise verlassen, sonst wäre ich nicht ins Zimmer gekommen. Er war seit einer Woche bewußtlos. Ich sehe ihn heute noch vor mir.« Genau in diesem Moment begriff Optimus, was er bisher nur geahnt hatte: das Wesen des mittelmeerischen Lichts. Es war ein -392-
Licht von entsetzlicher Klarheit. Alles oder nichts. Optimus brauchte sich nicht vorzustellen, wie Grace auf Fredericks flachen, unregelmäßigen Atem lauschte, er sah sie. Und sie hatte Frederick gesehen wie er war: ein Häufchen Erde, ein Spuk nur noch. Es zählte nicht, ob sie ihm vergab. Sie war ihm verbunden, für immer. Er richtete sie auf und warf sie gleichzeitig nieder. »Sie haben mir nicht zugehört«, tadelte Marcopoulos. »Entschuldigen Sie, ich... Ich muß geträumt haben.« »Ich habe von der Ankunft der Hekate erzählt. Zwei Wochen nachdem ich Frederick gesehen hatte, lief hier eine Brigg ein: die Hekate. Ich war einer der ersten, die es erfuhren; ich war damals Proviantmeister im Hafen. Ich ruderte mit dem Proviantboot hinaus und traf mit dem Kapitän zusammen, einem Mann namens Scully. Ich erinnere mich gut an ihn, er war einäugig, kam aus England und hatte in Malta Zwischenstation gemacht. Er übergab mir einen Brief für Frederick Genteel. Was ich seltsam fand, war, daß er behauptete, ihn zu kennen. Er schien mir nicht die Art Mensch zu sein, mit der Genteel Umgang pflegte. Nun, ich berichtete Graf Scicluna davon, als ich ihm den Brief gab, damit er ihn an Grace weiterreichte, und er nahm es gleichmütig auf. Ben Barlow dagegen, dem ich es ebenfalls erzählte, war außer sich.« »Ben Barlow?« »Kennen Sie ihn nicht? Er hat für Delaluna gearbeitet und lebt auf Malta.« Optimus bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Ein weiterer Teil des Rätsels war gelöst. »Es mag sein, daß ich ihm begegnet bin, aber der Name ist mir kein Begriff.« »Vielleicht benutzt er jetzt einen anderen. Nun, Barlow machte sich sofort auf den Weg zu Grace. Und binnen zwölf Stunden verließ sie Argostoli für immer. Die anderen kamen mit ihr. Dabei war die Marathon nicht einmal richtig seetüchtig. Die -393-
Reparaturen waren noch nicht abgeschlossen.« Er schwieg einen Augenblick. »Haben Sie alles gesehen, was Sie sehen wollten? Es ist nicht viel, ich hab’ es Ihnen ja gesagt.« Optimus nickte und öffnete die Tür. Marcopoulos hielt ihn auf. »Einen Moment noch. Ich hätte fast vergessen, Ihnen diesen Brief zu zeigen. Ich fand ihn hier auf dem Tisch, nachdem Grace und Frederick abgereist waren. Ich wollte ihn nachsenden, doch als ich endlich Gelegenheit dazu hatte, erfuhr ich, was geschehen war. Damit erübrigte es sich, und so behielt ich ihn.« Optimus nahm den Brief entgegen. Er kannte die Handschrift nicht, sie war rund und ziemlich unordentlich. Aber er brauchte die Unterschrift nicht zu lesen, um zu wissen, von wem der Brief war. Er überflog ihn und war erbost über die Selbstsucht und Gefühllosigkeit der Schreiberin. »Darf ich den Brief eine Weile behalten? Ich möchte ihn gern noch einmal in Ruhe durchlesen.« »Sie können ihn haben, ich brauche ihn nicht mehr. Als ich ihn fand, sah ich kleine Flecke darauf... Tränen waren es wohl. Inzwischen sind sie verblaßt. – Und nun kommen Sie, ich muß Ihnen die Katavrothes zeigen. Sie werden sich besser fühlen im Sonnenschein. In diesem Zimmer ist immer noch eine große Traurigkeit.« »Warum haben Sie mich hierher geführt?« fragte Optimus enttäuscht, als sie bei den Katavrothes standen. »Ich habe in meinem Leben schon viele Mühlen gesehen. Diese sehen genauso aus.« »Der Unterschied besteht darin, daß bei den Katavrothes das Wasser vom Meer kommt. Bei allen anderen Mühlen fließt es dem Meer entgegen. Grace und Frederick sind eines Morgens hierher gewandert. Er war noch sehr schwach und stützte sich auf sie. Ich habe die beiden gesehen, sie gingen langsam, unendlich langsam. An der Art, wie Grace den Kopf hielt, sah ich, daß sie traurig war. Sie wußte noch nicht, daß in der Bucht -394-
Scullys Brigg vor Anker lag. Sie blieben hier stehen, und ich dachte damals, Grace ist so geheimnisvoll wie das Wasser der Katavrothes, tief verborgen. Dieses Wasser verschwindet in den Klüften, fließt unter der Insel hindurch und tritt dann in einer Grotte bei Sami wieder an die Oberfläche. So geht es auch mit unserem Leben, eine Geschichte stirbt, und dann, lange danach, kommt jemand und macht sie wieder lebendig... Ja, Mr. Shute, nun habe ich Ihnen alles erzählt. Sie müssen damit vorliebnehmen, obwohl es wenig war.« »Eins noch«, sagte Optimus rasch. »Sie haben offenbar einen Brief aus Malta erhalten, vom Grafen Scicluna nehme ich an, in dem es wohl um mich ging – sind Sie dadurch auf den Gedanken gekommen, daß ich mit Grace verwandt sein und einen Anteil an Delaluna fordern könnte?« »Nein, das war bloß eine Vermutung von mir. Es gibt wenig Menschen, die eine so weite Reise nur machen, um die Wahrheit über eine Frau herauszufinden.« »Aber es ist die Wahrheit über Grace Pensilva.« »Ja, und ich wünsche Ihnen, daß Sie sie finden.« »Ich werde sie finden. Ich werde Grace nach Malta zurückfolgen.« Hufschlag dröhnte, und Graf Scicluna eilte zur Tür. Es war Grace. Sie betrachtete prüfend sein Gesicht und suchte darin eine Antwort auf ihre Frage. Auf dem rasenden Ritt war ihr das Herz schwer gewesen von schlimmen Vorahnungen... Ihr war übel vor Furcht, als sie vom Pferd stieg. »Wie geht es ihm? Ich habe ein böses Zeichen gesehen und bin sofort umgekehrt.« »Er war unruhig.« Also war er nicht tot. Grace holte tief Luft und eilte an Scicluna vorbei in die Kammer. Keuchend lehnte sie im -395-
Türrahmen. Sie betrachtete Frederick und sah, daß sein Bett so zerwühlt war, als habe er sich in einem Alptraum daran festgehalten. Es zuckte in seinem Gesicht; er versuchte, die Lider zu öffnen. Er atmete flach, und Grace hatte den Eindruck, eine dunkle Hand greife nach seiner Kehle. Die Hand zitterte ein wenig und legte sich um seinen Hals. Grace holte wieder tief Luft, stürzte ans Bett, kniete neben Frederick nieder und versuchte, die Hand fortzustoßen. Die Hand war körperlos, Graces Finger stießen durch sie hindurch und kamen auf Fredericks Hals zu ruhen. Seine Haut fühlte sich kühler an, als sie es in Erinnerung hatte. Nun legte sich die Hand auch über ihre Finger. Sie blickte zum Fenster hinauf und lachte. Draußen, im hellen Sonnenschein, zitterten die Blätter am Feigenbaum und warfen unruhige Schatten. Als sie sich umdrehte, hatte Frederick die Augen aufgeschlagen. Zum ersten Mal seit Wochen betrachtete er sie mit wachem Gesicht. Sie empfand Furcht. Hatte er ein letztes Mal das Bewußtsein wiedererlangt? Seine Stimme war so kraftlos, daß sie ihr Ohr an seine Lippen legen mußte, um ihn zu verstehen. Sie konnte es nicht fassen. Eine Trane rann über ihre Wange herab und fiel auf sein Kissen. »Ich habe Hunger«, wiederholte er flüsternd. Wann hatte er zum letzten Mal etwas gegessen? Sie hatte zugesehen, wie er verfiel, und seit vielen Tagen war der Teller mit Haferbrei auf dem Tisch unberührt geblieben. Er stand auch jetzt da, von gestern noch, kalt und ungenießbar. Sie mußte frische Grütze machen. Wenn er Hunger hatte, wenn er essen konnte, würde er am Leben bleiben. Sie hatte plötzlich Lust zu singen. Sie legte einen Finger gegen seine Lippen, damit er schwieg, küßte ihn auf die Stirn und ging in die Küche. Er lebt, so sang es in ihr, als sie die Holzkohle anzündete und ein Feuer entfachte. Er lebt, jubelte sie, als sie den Topf auf den Herd stellte. Laß ihn am Leben bleiben, betete sie, als sie die Grütze erwärmte. Der Brandgeruch der Holzkohle stach ihr in -396-
die Nase und erinnerte sie daran, wie sie zum ersten Mal den wahren Frederick gesehen hatte, nicht den linkischen, unbeholfenen Beamten, der sich Fells Willen beugte, sondern einen Mann der Tat, kühl, entschlossen, verwegen. Sie hatte ihn nicht wirklich gekannt, als sie zusammen an Bord gegangen waren. Während sie die Grütze rührte, ließ sie jene Stunden auf der Marathon noch einmal an sich vorbeiziehen. Das rote Dreiecksegel war seit dem frühen Morgen hinter ihnen am Horizont gewesen. Zu welchem Schiff es gehörte, war auf diese Entfernung nicht zu erkennen. Grace ertappte Graf Scicluna immer wieder dabei, daß er ängstlich nach dem Segel blickte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Um Mitternacht hatten sie Valetta verlassen und die Marathon vorsichtig mit Petschen, langen Rudern, aus dem Hafen bugsiert. Grace atmete auf, als wenig später Wind einsetzte. Es hätte peinlich werden können, wenn sie unter dem Fort von Sankt Elmo entdeckt worden waren, mit Genteel als Kapitän an Bord, aber ohne ordnungsgemäße Frachtpapiere. Grace hatte abseits gestanden, als Genteel mit Ben Barlow sprach, ihn anwies, wie er das Schiff steuern sollte. Es war, als sei er schon lange damit vertraut. Grace sah im Halbdunkel, wie Barlow anerkennend nickte. »Diese Marathon ist ein schönes Schiff«, sagte Frederick bei Tagesanbruch zu ihr, als sie in leichtbewegter See vor dem Wind liefen und Malta hinter ihnen verschwand. »Sie ist phantastisch schnell.« Auch Grace war stolz auf die Marathon. Graf Scicluna hatte sie günstig kaufen können; sie hatte als Piratenschiff das Mittelmeer durchkreuzt, bis ein britisches Geschwader sie vor Kap Farina als Prise genommen und nach Valetta gebracht hatte. Sie war ein trauriger Anblick gewesen, der Anstrich abgeblättert, die Fugen weit auseinanderklaffend, doch nun war sie mit ihrer neuen Ausrüstung und ihren glänzenden schwarzen Aufbauten ein Schiff, das seinesgleichen suchte. Sie hatte einen -397-
schlanken Rumpf und viel Segelfläche. Wenn sie vor dem Wind lief, war sie kaum einzuholen. Und so hätte sie auch bei einer steifen Brise den Lateinsegler, der sie verfolgte, weit hinter sich gelassen, doch der Wind flaute ab. »Das gefällt mir nicht«, murmelte Frederick. »Dieses Schiff ist hinter uns her, und es holt auf. Das kann nur heißen, daß es eine Galeere ist. Und wenn es gegen eine Galeere geht, brauchen wir etwas Besseres als diese Spielzeugkanonen.« Er deutete mit wegwerfender Gebärde auf die vier Messinggeschütze, die, zwei an Backbord und zwei an Steuerbord, auf dem Mitteldeck standen. Lange Zeit sprach niemand. Die See wurde glatter, die Segel hingen schlaff, das andere Schiff kam näher. Unter diesen Umständen war die Marathon dem Feind fast schutzlos preisgegeben. Wenn man alle Mann an die Petschen schickte, konnte der Zusammenstoß vielleicht aufgeschoben, aber nicht verhindert werden. Sie rochen die Galeere fast schon, bevor sie ihre Ruderreihen erkennen konnten. Ein pestilenzartiger Gestank ging von ihr aus, der Gestank versklavter und mißbrauchter Menschen. Nun bestand kein Zweifel mehr daran, mit wem sie es zu tun hatten. Es gab in diesen Gewässern nur noch wenig Galeeren, und diese waren ausnahmslos Piratenschiffe. Genteels längliches Gesicht schien noch etwas langer zu werden. Er rümpfte die Nase, verzog aber sonst keine Miene. »Waren Sie schon einmal in Tunis oder in Algier?« fragte er Scicluna trocken. »Wir werden bald feststellen dürfen, wie die Quartiere dort sind.« »Können wir nichts machen?« wollte Scicluna wissen. »Doch. Um Wind beten, um einen starken.« In der nächsten Viertelstunde wartete Genteel nur ab. Die -398-
Marathon schlingerte. Ihre Segel waren fast leer. Die Mannschaft, vier Leute nur, war aus dem Logis gekommen und haue sich mit bangem Gesicht zu Barlow unter den Großmast gestellt. Die Galeere war jetzt so nah, daß man unter ihrem Steven die weiße Gischt erkennen konnte. Ihre Ruder bewegten sich gleichmäßig. »Grace, haben Sie Lust, etwas zu versuchen?« fragte Frederick. Sie drehte sich um. »Was?« »Der Türke hat ein Faible für Damen. Wenn Sie an Deck bleiben, deutlich sichtbar, könnte ihn das davon abhalten, seine Buggeschütze auf uns abzufeuern.« »Ich hatte nicht vor, mich zu verkriechen.« »Gut, dann gehen Sie jetzt runter und ziehen Ihr schönstes Kleid an. Und wir werden uns inzwischen eine kleine Überraschung für ihn einfallen lassen.« Während Grace sich unten umkleidete, hörte sie, wie Genteel mit leiser Stimme Befehle gab. Dann rumpelte es: Irgend etwas wurde über die Planken geschleift. Als Grace wieder nach oben kam, sah sie, was geschehen war. Frederick hatte die Kanonen von der Steuerbordseite nach Backbord schaffen und zwischen die dortigen Kanonen stellen lassen. »Ein Mann an jedes Geschütz«, sagte Genteel. »Wir feuern sie nacheinander ab, wenn ich den Befehl dazu gebe, und wir feuern durchs Schanzenkleid.« Er wandte sich Grace zu. »Sie verstehen, was ich vorhabe, ja? Wenn wir den Feind dazu kriegen können, daß er an Backbord längsseits geht, bekommt er ein bleibendes Andenken von uns, ehe der Kampf eigentlich beginnt. Es müßte eigentlich klappen, wenn wir keinen Widerstand zeigen. Auf das, was danach kommt, bin ich allerdings nicht sehr erpicht. Wir haben nicht genügend Waffen, um sie am Entern zu hindern. Wenn wir nur mehr Leute hatten -399-
und Musketen...« »Die haben wir«, entfuhr es Grace. »Ganze Kisten voll!« »Musketen?« Genteel runzelte die Stirn. Seine Stimme klang verärgert. »Die Kisten aus Birmingham«, erklärte Grace. »Sie sind für die griechischen Soldaten.« »Dann wundert es mich nicht, daß Sie mich als Kapitän dieses Schiffes haben wollten!« rief Frederick erbittert. »Das war kein guter Weg, keinen Verdacht auf sich zu lenken. Sie wissen genauso gut wie ich, daß Sie den Griechen nicht unter britischer Flagge Waffen liefern dürfen. Sie haben mich überlistet. Es war eine Torheit von mir, Ihnen zu vertrauen... Nun, wir müssen das Beste daraus machen. Sind die Waffen gebrauchsfähig? Haben wir Pulver und Kugeln?« Grace nickte. Genteel wandte sich Scicluna zu. »Bitte gehen Sie in den Laderaum und packen Sie die Kisten aus. Barlow wird Ihnen dann helfen. Wenn Sie uns die Musketen rasch genug heraufreichen, haben wir eine Chance, den Feind zu schlagen. Keine allzu große, aber immerhin. Und besser als ein Leben im Kerker ist es auf jeden Fall.« Die letzten Vorbereitungen wurden getroffen, während die Galeere auf die Marathon zuhielt. Genteel ließ sich von Barlow seine Pistolen und sein Entermesser bringen. An Deck waren nur noch drei Menschen zu sehen: Genteel am Steuerrad, Grace hinter ihm und Barlow neben der Großluke, bereit, in den Laderaum zu springen und Scicluna zu helfen, sobald das Gefecht begann. Die Matrosen hatten sich hinter den Geschützen versteckt, die Lunte in der Hand. Der Gestank der Galeere wehte über die Marathon hin. Grace konnte die Kanoniere an den beiden Buggeschützen sehen. Hinter ihnen stand ein schlanker Offizier mit blauem Rock und rotem Fes. Sie blickte ihn unverwandt an. Sie mußte ihn mit der Kraft ihres Willens zwingen, die Marathon nicht beschießen zu -400-
lassen. Gleichzeitig bemühte sie sich, so ruhig zu wirken, als sei dies eine harmlose Begegnung zweier Kauffahrereischiffe. Der Offizier lächelte dünn. »Was ist?« fragte Genteel leise, ohne sich umzuwenden. »Kommen sie längsseits?« »Ich glaube ja.« Es schien in der Tat so, als ändere die Galeere den Kurs. Ihre Buggeschütze waren nicht mehr auf die Marathon gerichtet. »Die hinterste Kanone feuert zuerst«, sagte Genteel zu Barlow. »Es geht los, wenn ich mit dem Fuß aufstampfe. Die Geschützpforten bleiben zu.« Der lange, metallbeschlagene Rammsporn der Galeere war unter Wasser deutlich zu erkennen. Die beiden Schiffe näherten sich einander, bis zwischen ihnen gerade noch genügend Raum für die Ruder der Galeere blieb. Genteel drehte den Kopf, um die Lage zu überblicken. Grace meinte zu sehen, daß kleine Lichter in seinen Augen tanzten. Er hat Freude daran, dachte sie. Er genießt die Gefahr. Was ist er nur für ein Mensch? »Nummer vier«, sagte Frederick beiläufig. Dann stampfte er mit dem Fuß auf. Die Kanonenkugel durchschlug das Schanzkleid der Marathon. Splitter flogen und regneten auf die Galeere nieder, die Besatzung taumelte zurück. Einige waren verletzt. Dem Offizier aber schien nichts geschehen zu sein. Und dann kam aus dem Schiffsbauch ein verzweifeltes Gebrüll, das Grace ihrer Lebtage nicht vergessen würde. »Arme Teufel«, sagte Frederick. »Das war ein Volltreffer... Nummer drei«, und er stampfte wieder mit dem Fuß auf. Unfähig, die Fahrt zu verlangsamen, glitt die Galeere weiter. Ihre Buggeschütze konnten nicht zum Einsatz gebracht werden. Und Breitseitgeschütze hatte sie nicht. Doch der Offizier im blauen Rock bedeutete dem Steuermann jetzt, das Schiff nach Steuerbord zu drehen, und er rief offenbar Verstärkung herbei. -401-
Eine Rotte johlender Korsaren kam über eine Laufplanke gestürmt. Durch den zweiten Schuß der Marathon wurde ein weiteres Leck in die Bordwand der Galeere gerissen. Wieder gellte ein entsetzlicher Schrei aus dem Schiffsbauch. Dort drüben starben wehrlose Menschen. Die Galeere, nun ohne Ruder an Steuerbord, schwankte auf die Marathon zu. »Nehmen Sie meine Pistolen«, sagte Frederick zu Grace. »Ich darf wohl vermuten, daß Sie damit umgehen können.« Die Marathon gab ihre restlichen Kanonenschüsse ab, und auf jeden folgte Gebrüll. Die Galeere begann, vollzuschlagen, aber nicht so schnell, daß sie manövrierunfähig war. Ihr Rammsporn streifte die Seite der Marathon, ohne ihr etwas anzuhaben, doch der Abstand zwischen den beiden Schiffen war nun so gering, daß die Korsaren hinüberspringen konnten. »Her mit den Musketen!« rief Frederick über das Geschrei hinweg. Als die ersten Musketen über das Schanzkleid lugten, landeten auch die ersten Korsaren an Bord. Drei erreichten hinter den knieenden Schützen das Heck. Barlow tötete einen von ihnen mit einem Messerstich. Der zweite konnte noch einen Matrosen der Marathon außer Gefecht setzen, bevor Scicluna ihn erschoß. Doch der Graf war selbst in Gefahr. Der dritte Korsar zielte mit einer Pistole auf ihn. Was dann kam, blieb Grace nur verworren im Gedächtnis. Sie hatte einen Schuß abgefeuert, sah aber kein Ergebnis. Ein Korsar sprang in die Takelage und ließ sich auf sie fallen. Sie stürzte, lag verdreht auf den Planken, er hielt mit einer Hand ihre Arme fest, und sie konnte ihm mit ihren Pistolen nichts tun. Sie biß ihn in den Hals, schmeckte sein Blut, roch seinen Schweiß. Er griff mit der anderen Hand hinter sich, und sie nahm an, daß er seinen Dolch zücken wollte. Sie ließ die Pistolen los, wand sich, bekam die Hände frei und faßte nach dem Heft des Dolches, mit dem der -402-
Mann nun gegen sie ausholte. »Grace!« Genteels Ruf spornte sie an. Sie verdoppelte ihre Mühe. Sie drehte sich zur Seite, und der Dolch des Korsaren bohrte sich in die Planken. Im nächsten Moment sackte er über ihr zusammen. Sie stieß ihn fort und sah, daß Genteel das Steuerrad verlassen und den Korsaren mit einem Stich in den Rücken getötet hatte. Doch nun drohte auch ihm Gefahr. Der Offizier in dem blauen Rock stand an der Reling der Marathon und hob eine Pistole. Er schoß, und Genteel taumelte übers Deck, die Hand an der Schulter. Sein rechter Arm hing herab. Der Offizier verfolgte ihn mit seinem Krummsäbel. Genteel hob sein Entermesser auf und schwang es unbeholfen in der Linken. Mit seiner Verwundung war er dem Offizier nicht gewachsen. Grace blickte zum Mitteldeck. Von dort war keine Hilfe zu erwarten; die anderen hatten genug mit sich selbst zu tun. Grace besann sich auf die Pistole, die sie nicht abgefeuert hatte, und suchte nach ihr. Als sie sie gefunden hatte, waren Genteel und der Türke einander so nah, daß sie nicht zu schießen wagte. Vorsichtig näherte sie sich den beiden. Der Offizier ging so geschickt zu Werk, daß er Genteel stets als lebenden Schild vor sich hatte. Plötzlich stieß Frederick ihm seinen Kopf ins Gesicht und sprang beiseite. Der Türke stand schutzlos und halb blind vor Grace, doch er holte mit dem Krummsäbel aus, um Genteel den tödlichen Streich zu versetzen. »Stehen Sie nicht so da, schießen Sie endlich!« Grace drückte gehorsam ab. Ein erstaunter Ausdruck trat in das Gesicht des Türken, als die Kugel ihn in die Brust traf. Er stolperte rückwärts gegen die Reling, fiel über Bord, hatte aber noch Kraft genug, um sich in der Takelage festzuklammern. Nun hing er zwischen den beiden Schiffen. Der Pulverdampf aus Graces Pistole zog ab. Genteel sah ihm nach. Dann blickte -403-
er zum Großsegel empor. »Der Priwenter, Barlow! Kappen Sie den Priwenter!« Auf der Galeere formierte sich eine neue Welle von Angreifern. Ihre Übermacht war erdrückend. Das kleine Häuflein auf der Marathon schien verloren. Barlow mußte Genteel gehört haben. Er hieb mit seinem Entermesser auf den Priwenter ein. Das Sicherungstau riß, und weil das Segel sich vor wenigen Momenten durch eine plötzlich einsetzende Brise schräggestellt hatte, schwang der Großbaum mit lautem Rauschen aus. Genteel rannte ans Steuerrad und beobachtete, wie er, einer Sense gleich, über den Bug der Galeere fegte und alles mitnahm. Nur ein einziger Korsar konnte sich mit einem kühnen Sprung retten. Er hielt sich am Liek des Großsegels fest. Die Marathon setzte sich in Bewegung. Wenn sie rasch genug Raum gewann, konnten ihr die Geschütze der Galeere nicht mehr gefährlich werden. Sie waren, weil der Bug Wasser gezogen hatte, abwärts geneigt. »Schnell, Grace, holen Sie die Großschot an!« schrie Frederick. Zum ersten Mal bemerkte sie Erregung in seiner Stimme. Sie zog mit aller Kraft an dem Tau. Und die Marathon kam frei. Ihr Heck streifte die Galeere, und der türkische Offizier wurde zwischen den beiden Schiffen eingeklemmt. Grace hörte seine Rippen knacken; er stürzte ins Wasser. Irgend jemand, Barlow vielleicht, schoß auf den Korsaren, der drüben am Großsegel hing. Auch er stürzte. Sie hörten auf zu feuern. Die Galeere sank. Das gellende Geschrei aus ihrem Rumpf dauerte fort und wurde erst leiser, als sich der Abstand zwischen ihr und der Marathon vergrößerte. Grace blickte Frederick an. Er schien zu lächeln. »Sie haben sich gut gehalten trotz Ihrer Verwundung«, sagte sie. -404-
»Danke. Wahrscheinlich muß ich Ihnen den Waffenschmuggel verzeihen – aber ich dachte, Sie widmeten sich jetzt legalen Geschäften... Soviel zu meinen Illusionen.« »Und wie habe ich mich gehalten?« »Sie waren großartig, Grace, einfach großartig.« Grace erinnerte sich an diese Worte, als sie mit dem Haferbrei aus der Küche ging. Barlow hatte Frederick wie ein Kind in die Kajüte getragen, Graf Scicluna hatte ihn notdürftig verbunden, und sie hatte an seiner Koje gewacht, während die Marathon durch die mondbeschienene See Argostoli entgegenfuhr. Nun lächelte er Grace von seinem Bett aus an. Sie erwiderte das Lächeln. Er lebte. Vier Tage nachdem Frederick das Bewußtsein wiedererlangt hatte, erwachte er in den frühen Morgenstunden. Ein Gecko sonnte sich an der Wand. Auf der anderen Seite des Zimmers saß Grace mit hängendem Kopf in einem Sessel und schlief. Ihre Haare waren ungekämmt, ihre Kleider zerknittert, ihre Wangen aufgedunsen, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Er wußte, warum: Sie hatte sich um ihn gekümmert. Er verdankte ihr sein Leben, das wußte er. Sie hatte so viel von sich gegeben, daß sie jetzt völlig erschöpft war. Im vorderen Zimmer rührte sich etwas, und der Gecko verschwand in einer Mauerritze am Fenster. Die Tür ging auf; Graf Scicluna lugte ins Zimmer. Als er sah, daß Frederick wach war, trat er auf Zehenspitzen ein, bemüht, Grace nicht zu stören. »Ein Brief für Sie«, flüsterte er und legte den versiegelten Umschlag neben Frederick aufs Bett. »Gerade eben ist ein Schiff aus Malta eingetroffen, sein Kapitän hat ihn mitgebracht.« Ohne sich zu bewegen, konnte Frederick die Handschrift erkennen. Er brannte darauf, den Brief zu lesen, doch er wollte es erst tun, wenn er wieder allein war. -405-
»Ich danke Ihnen. Ich werde mir den Brief später ansehen.« »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Frederick schüttelte den Kopf und stellte sich schläfrig, bis Scicluna wieder aus dem Zimmer ging. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, riß Frederick den Brief auf. Es erstaunte ihn, welche Mühe ihn das kostete; er hatte unterschätzt, wie schwach er noch war. Er las den Brief einmal, las ihn zweimal. Ein nachsichtiges Lächeln kräuselte seine Lippen. Als er aufblickte, sah er, daß Grace ihn beobachtete. Vielleicht hatte sie ihn schon die ganze Zeit beobachtet; er hatte es nicht gemerkt. »Was ist das?« fragte sie. Sie setzte sich auf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ein Brief von Felicity. Ihr Vater gibt einen Ball für Kapitän Pelham, der demnächst nach Malta kommt. Sie fürchtet, daß ich nicht rechtzeitig zurück bin. Sie sagt, ich fehle ihr. Sie hat sich für den Ball ein neues Kleid schneidern lassen. Es ist eine Tragödie, wenn ich nicht da bin und sie es nicht tragen kann. Sie sagt, eine verheiratete Frau kann nicht ohne ihren Mann zu einem solchen Ball gehen.« »Ich würde es tun.« »Gewiß, aber Sie sind auch Grace Pensilva und nicht Felicity. Steht der Wind für die Reise nach Malta günstig?« »Dafür sind Sie noch nicht kräftig genug.« »Ich stehe auf.« Grace ging rasch durch den Raum und wollte ihn davon abhalten, doch er hatte die Füße schon auf den Boden gestellt und erhob sich langsam. Sie sah, daß ihm schwindelig war; er schwankte bedrohlich. Sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Welchen Tag haben wir?« »Dienstag.« -406-
»Ich meine, welches Datum? Wie lange habe ich hier gelegen?« »Zwei Wochen.« »Zwei Wochen! Ich muß sofort zurück.« »Wir haben Gegenwind. Der Schirokko weht. Und die Marathon ist nicht seetüchtig. Sie wird noch repariert.« »Versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten. Ich darf Felicity nicht enttäuschen. Wenn sie nicht mit mir zu diesem Ball gehen kann, ist sie untröstlich.« »O ja, der Ball«, sagte Grace trocken. »Den darf sie wahrhaftig nicht versäumen.« »Seien Sie kein Spielverderber, Grace. Das ist doch sonst nicht Ihre Art.« Sie schwieg, und er fragte: »Habe ich etwas gesagt, was Sie verletzt hat?« Grace schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich besser, dank Ihnen. Es ist die natürlichste Sache von der Welt, daß ich jetzt nicht mehr liegen mag.« »Ich mache Ihnen Frühstück. Sie sollten lieber im Bett bleiben, aber wenn es unbedingt sein muß, dann ziehen Sie sich in der Zwischenzeit an.« »Frauen!« hörte sie ihn murmeln, als sie in die Küche ging. Obwohl er sich fast gesund fühlte, war Frederick dankbar dafür, daß er sich auf Grace stützen konnte, als er später am Morgen die ersten Schritte im Freien tat. Er hatte seinen gesunden Arm um sie gelegt, und so spazierten sie bedächtig am Hafen entlang. Es war ein strahlender Tag. Der Schirokko wehte nicht mehr. Von den Decks der Marathon schallte das Hämmern der Schiffszimmerleute. Weiter entfernt war eine Brigg vor Anker gegangen. Auf der Straße wimmelte es von Menschen: Hochgewachsene Klephten stolzierten an ihnen vorbei; braungebrannte Matrosen saßen vor den Tavernen und gafften Grace nach; Milchmädchen verkauften Joghurt und Käse; Zuckerbäcker boten ihre süße Ware feil. -407-
Grace befürchtete, Frederick werde sich verausgaben, doch seine Kräfte schienen wunderbarerweise mit jedem Schritt, den er machte, zuzunehmen. Die Krankheit hatte furchtbar an ihm gezehrt: er war hohlwangig und bleich und derart abgemagert, daß ihm die Kleider am Leib schlotterten. »Sehen Sie mich nicht so an!« beschwerte er sich. »Ich bin nicht aus Porzellan!« »Aber ein Schwergewicht sind Sie auch nicht gerade«, erwiderte sie und drückte seinen Arm. »Nein, ich gäbe im Augenblick keinen allzu guten Faustkämpfer ab«, sagte er grinsend, und sie lachten beide ausgelassen. Das war die Grace, die er gern hatte; die herausfordernde Grace, die er so gut kannte. »Kommen Sie«, sagte er, »wir machen einen Wettlauf zu dem Haus da drüben!« Und damit setzte er sich in Bewegung, rannte mit weiten, unbeholfenen Schritten, während sein rechter Arm schlaff herunterhing. Warum habe ich solche Angst, daß er stürzt? dachte Grace. Doch er kam wohlbehalten über den felsigen Grund, lehnte sich gegen die Mauer des Hauses und wartete auf sie. Grace kannte diesen Ort, sie war ein- oder zweimal hierher gegangen, während Graf Scicluna an Fredericks Bett gewacht hatte. Sie folgte ihm langsam, ihr war nicht nach Rennen zumute. »Hören Sie das?« fragte sie Frederick. Er lauschte. Hinter dem Haus war ein leises Plätschern und Ächzen zu vernehmen. »Erinnert Sie das nicht an etwas?« Er tat ein paar Schritte, damit er um die Ecke sehen konnte. »Eine Mühle«, sagte er und runzelte nachdenklich die Stirn. »Ah, jetzt verstehe ich, was Sie meinen: Langstone. Dort lebten Sie, als ich Sie kennengelernt habe. Das scheint unendlich weit zurückzuliegen, nicht wahr? Sie waren unglücklich dort, die Mühle war voll von Traurigkeit.« »Diese Mühle hier ist etwas anderes«, sagte Grace, »etwas -408-
Besonderes. Kosten Sie einmal von dem Wasser.« Sie bereute ihre Aufforderung; sie sah voraus, welche Mühe es ihm bereiten würde, zum Mühlkanal hinunterzusteigen. Er glitt aus, und sie faßte seinen Arm. »Lassen Sie mich! Ich schaffe es auch allein!« Sein schroffer Ton ärgerte sie. Er war undankbar wie ein kleiner Junge. Er kniete nieder, schöpfte Wasser, trank. »Es schmeckt bitter.« »Salz. Es ist eine Ironie des Schicksals. Sie finden mich in der einen Mühle, und ich entdecke Sie bei der andern.« »Sie entdecken mich?« »Ja, ich fange gerade an, Sie richtig zu sehen.« »Ein besonders schöner Anblick werde ich kaum sein«, bemerkte er und strich sich über die unrasierte Wange, »aber Sie brauchen mich nicht mehr lange zu ertragen.« »Sagen Sie nicht so etwas«, erwiderte Grace, und er sah, daß ihre Augen naß waren und ihre Lippen bebten. »Sie waren sehr gut zu mir«, sagte er rasch. »Sie sind die Art Frau, die einen guten Mann braucht. Ich hoffe, daß Sie bald einen finden. Es gibt ganz passable Männer auf Malta... Kirkbride zum Beispiel.« Ihre Miene blieb düster. »Sagen Sie, Frederick, warum haben Sie Felicity geheiratet?« »Sie wollten es doch! Aber es war nicht nur das. Ich mag sie, sie ist bildhübsch, sie ist in mich vernarrt. Und ich hatte es ihrem Vater versprochen. Ich habe ihm mein Wort gegeben, mein Wort als Ehrenmann.« »Ach, Ehrenmann... Sagen Sie mir noch etwas. Wie hat Nancy Sie um Ihr Erbe gebracht?« »Durch Erpressung. Sie hat an dem Tag, an dem ich zum Armouth ritt, um Sie vor dem Küstenschutz zu warnen, den Sand an meinem Rock gesehen.« -409-
»Dann bin ich also daran schuld... Oh, Frederick, das tut mir leid, das tut mir unsagbar leid.« »Deswegen ist die Welt nicht untergegangen. Wir leben noch. Und wir sind zusammen in Argostoli.« Bevor Grace darauf antworten konnte, sahen sie, daß Ben Barlow auf sie zugerannt kam. Als er in Hörweite war, blieb er stehen und deutete auf die Bucht. »Die Brigg da draußen, die Hekate... Wißt ihr, wer der Käpt’n ist? – Scully!« »Mein Gott!« murmelte Genteel. »Ist er hinter Ihnen her?« »Ich weiß es nicht«, sagte Grace. »Möglich wäre es.« »Wir müssen absegeln, bevor er Sie findet.« Grace nickte stumm. Was immer sie sich erträumt und erhofft hatte, seit sie nach Argostoli gekommen war, war zunichte gemacht. Sie mußte ihren Weg weiter gehen, immer weiter. Die schäbige Kutsche hielt vor der Kathedrale von Valetta, und es entstieg ihr eine vertraute Gestalt. Sie schritt durchs Hauptportal, und Optimus stürmte ihr nach, doch als er in die Kirche trat, war sie verschwunden. Das breite Mittelschiff war fast leer, nur ein Priester im Meßgewand und ein Küster in Kniebundhosen standen vor dem Hochaltar. Die Kathedrale hatte aber viele prunkvolle Seitenkapellen, und wahrscheinlich war Maria in eine von ihnen hineingegangen. Beim vierten Versuch fand er sie. Sie kniete vor einem reichgeschmückten Altar, das Gesicht von ihm abgewandt, aber er erkannte an der Neigung der Schultern unter ihrem Schleier, daß sie es war. Er steckte eine Münze in den Opferstock, nahm eine Kerze, zündete sie an und steckte sie auf den Kerzenständer vor dem Altar. Wenn sie ihn gesehen hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken; ihre Lippen bewegten sich in stillem Gebet, doch als -410-
er neben ihr niederkniete, spürte er die Feindseligkeit, die von ihr ausging. »Fort mit Ihnen«, zischte sie. »Können Sie mich nicht einmal in Frieden für meine Großmutter beten lassen?« »Doch«, erwiderte Optimus. »Aber erst sagen Sie mir, warum Sie Spiros Marcopoulos geschrieben haben!« Er hörte selbst, wie zornig seine Stimme klang, und es war ihm eine Genugtuung, daß sie bei seinen Worten zusammenzuckte. »Er hat es Ihnen also verraten, ja? Ich dachte, auf ihn sei Verlaß.« »Nein, er hat es mir nicht verraten. Ich glaubte, Ihr Großvater hätte ihm geschrieben, weil er dachte, ich wolle ihn betrügen und herausfinden, auf welche Weise Grace Pensilva an seinem Geschäft beteiligt war, damit ich als Erbe auftreten und Ansprüche geltend machen kann. Aber ich hätte nicht vergessen dürfen, daß Sie mir von Anfang an mißtraut haben. Erst als mir Ihr Großvater sagte, er habe Marcopoulos in letzter Zeit nicht geschrieben, ging mir ein Licht auf. Und nun ist es genug! Ich dulde es nicht, daß Sie sich in meine Angelegenheiten einmischen. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätte ich von Marcopoulos kein Wort erfahren!« »Pst! Haben Sie vergessen, daß Sie in einer Kirche sind? Haben Sie keine Achtung vor den Gefühlen anderer?« »Und Sie? Wie steht es mit Ihrer Achtung vor den Gefühlen anderer? Wissen Sie, wie es ist, wenn man sich solche haarsträubenden Anschuldigungen gefallen lassen muß?« »Seien Sie still, sonst hole ich den Küster.« »Holen Sie, wen Sie wollen. Ich höre nicht auf, bevor ich diese Sache mit Ihnen ins reine gebracht habe.« »Haben Sie keine Achtung vor den Toten?« »Doch. Ich habe Ihre Großmutter nicht gekannt, aber es tut mir leid, daß sie gestorben ist. Es war mir ernst mit dieser Kerze, -411-
das können Sie mir glauben. Aber wenn Sie vermeiden wollen, daß ich Ihnen hier eine Szene mache, werden Sie mir versprechen müssen, mich nachher zu treffen und mit mir zu reden.« Optimus wußte, daß seine Wangen glühten. Sein Zorn war mit ihm durchgegangen. Nun, da er ihre Lippen zucken und ihre Augen in Tränen schwimmen sah, tat es ihm fast leid. Er kämpfte dagegen an. »In fünf Minuten vor dem Hauptportal. Versuchen Sie nicht, sich davonzuschleichen, ich behalte Sie im Auge. Und wenn Sie es doch tun, sehe ich mich genötigt, Ihrem Großvater zu berichten, was für einen üblen Streich Sie mir spielen wollten. Er ist ein guter Mann, ein redlicher Mann, er wird mir glauben, und es wird ihm gar nicht gefallen, die Wahrheit über seine hebe Enkelin zu erfahren.« Er sah ihr wütend ins Gesicht. Ihre Blicke begegneten sich, und er dachte, sie werde aufbrausen und sich weigern, doch dann schlug sie plötzlich die Augen nieder. »Ich komme.« »Versprechen Sie es.« »Schwören Sie bei Gott, daß Sie meinem Großvater nichts Böses tun wollen?« »Ja.« »Dann verspreche ich es.« Als er zum Portal ging, an den marmornen Grabmalen mit den Wappen längst verstorbener Ritter vorbei, wußte er, daß er nicht zu zweifeln brauchte. Sie würde kommen. Er würde sie befragen, und sie würde ihm von ihrer Mutter erzählen, von Rita Scicluna, der Frau, die die Miniaturen gemalt hatte, der Frau, die Ian Kirkbride geheiratet hatte, Genteels Trauzeugen bei der Hochzeit in dieser Kathedrale. Optimus sah die vier vor dem Priester stehen: Kirkbride, Genteel, Felicity, Grace. Die Ringe wurden getauscht, Braut und Bräutigam küßten sich, doch Optimus richtete seine Aufmerksamkeit einzig und allein auf -412-
Grace Pensilva. Prüfend betrachtete er ihre Augen, ihren Mund, suchte nach irgendeinem Ausdruck. Ihr Gesicht glich einer Maske. So war es gewesen, doch heute blickte er hinter diese Maske. Frederick und Grace fuhren von Argostoli zurück; bald würden sie auf dem Ball sein. Maria Kirkbrides Mutter war auch auf dem Ball gewesen, vielleicht wußte ihre Tochter, was sich dort zugetragen hatte. Optimus hoffte es. Und wenn sie es wußte, so glaubte er, daß sie es ihm jetzt sagen würde. »Wie sehe ich aus?« fragte Felicity. »Wunderschön«, sagte Frederick und zupfte an seiner Weste, die ihm viel zu weit war. »Du bist ein Scheusal! Ich weiß, daß du es nicht ernst meinst. Du hast mein Kleid noch gar nicht angesehen – und mich genausowenig. Ich weiß, daß du mich schon satt hast; ich weiß, daß du mich vergessen wolltest. Und nun versuchst du auch noch, mich anzulügen. Herrjeh, ich sehe bestimmt furchtbar aus.« »Liebe Felicity, ich meine es völlig ernst. Du warst nie schöner als heute. Und ich habe dich keineswegs satt. Sonst hätte ich kein Geschenk für dich... Du hast es verdient, weil du so geduldig auf mich gewartet hast.« »Ein Geschenk? Laß sehen! Ich bin schon ganz aufgeregt!« Er kramte mit der Linken in seiner Tasche und zog ein flaches Kästchen aus Leder hervor. Sie riß es ihm fast aus der Hand und öffnete es erwartungsvoll. »Nun? Gefällt es dir?« »Oh, ist das hübsch! So etwas Hübsches habe ich noch nie gesehen! Leg es mir um.« Genteel hob die dünne Goldkette aus dem Kästchen und machte die Schließe auf. Als er sich bückte, um Felicity den Schmuck anzulegen, roch er den betörenden Duft ihres Parfüms. Ihre braunen Locken streiften seine Wange. -413-
Sie beobachtete im Spiegel, wie er das Medaillon auf ihrer Brust zurechtrückte. »Es steht dir wunderbar. Grace hat es ja gleich gesagt.« »Grace! Grace! Seit du wieder da bist, redest du nur noch von ihr. Es reicht mir allmählich!« »Du bist ungerecht, Felicity. Grace hat mir das Leben gerettet, auch für dich. Wenn du das bloß einsehen wolltest!« »Sie hatte es leichter. Sie brauchte hier nicht mutterseelenallein herumzusitzen und zu warten, ohne jede Nachricht. Ich habe nichts getan, als gewartet und mir Sorgen gemacht. Ich bin fast krank darüber geworden. Du hast dich verändert, weißt du das? Wir waren so glücklich, bevor du zu dieser dummen Reise aufgebrochen bist. Warum hast du mir nicht gesagt, warum du wegfährst? Sie steckte dahinter, nicht? Das war der eigentliche Grund. Daß du Kapitän dieses Schiffs sein solltest, war nur ein Vorwand.« Felicity zerrte an der Kette des Medaillons, »Woher hattest du das Geld dafür?« fragte sie anklagend. »Es war sicher teuer. Du sagst immer, du hättest kein Geld. Wahrscheinlich hat sie es bezahlt. Ich will es nicht.« Tranen begannen aus ihren weit aufgerissenen Augen zu quellen. Sie unternahm nicht einmal den Versuch, sie zurückzuhalten. Spielte sie Theater? Der klägliche Ton ihrer Stimme irritierte ihn, doch statt Mitleid zu wecken, erregte er nur Genteels Zorn. »Ich dachte, du liebst mich«, jammerte sie. »Ich war so stolz darauf, Mrs. Frederick Genteel zu sein. Jetzt weiß ich, daß alle über mich lachen. Warum mußtest du mir alles verderben? Ich wollte dir etwas Wichtiges sagen. Jetzt kann ich es nicht mehr. Ich will nicht mehr.« Genteels Miene verhärtete sich. Er nahm das Medaillon aus ihrer Hand und legte es in das Kästchen. »Wir haben uns jede erdenkliche Mühe gegeben, dieses Medaillon für dich zu besorgen. Wir haben den besten -414-
Goldschmied von Valetta ausgesucht. Graces Freundin Rita hat Tag und Nacht gemalt, um die Porträts zu vollenden: Eins von mir, deinem Mann; eins von ihr, deiner besten Freundin – das hast du jedenfalls immer behauptet.« »Sie war meine beste Freundin, bis sie mir das angetan hat.« »Ich kann dir auch nicht helfen, wenn du nicht weißt, wer wirklich dein Freund ist.« »Diese Person... ja, ich habe sie für meine Freundin gehalten, aber sie ist eine Schlange. Es war eine Dummheit von dir, ihr zu vertrauen. Sie hat dich von mir fortgelockt, und du merkst es nicht einmal. Du bist der einzige, der es nicht merkt.« Genteel wandte sich ab und ging zur Tür. »Nun nimm dich zusammen. Hör auf zu weinen und beeile dich. Die Kutsche wartet. Du kennst deinen Vater. Er wird verärgert sein, wenn wir zu spät kommen.« Der Ball fand in der »Auberge d’Aragon« statt, einer ehemaligen Residenz des Ordens vom Heiligen Johannes von Jerusalem. Heute abend war hier die feine britische Gesellschaft versammelt, und als Frederick Felicity endlich in den Festsaal führte, war der Ball bereits in vollem Gange. Es roch nach Alkohol, Puder und Schweiß. Die schimmernden Lüster und Kandelaber warfen ihr Licht auf die Menge, die sich zum Kotillon drängte. Am hinteren Ende des Saales war ein Podium für die Kapelle aufgebaut. Daneben saß Kapitän Fell auf einer Art Thronsessel. Er war bereits angeheitert und umringt von mehreren leer ausgegangenen jungen Offizieren, die tranken und plauderten. Alle in Frage kommenden Damen – wenige genug – waren bereits für den ganzen Abend vergeben; auf ihren Tanzkarten standen die Namen jener unternehmungslustigen, schneidigen Burschen, die sich nun auf dem Parkett des Festsaals wie stolze Pfauen drehten. Die zum Zuschauen verurteilten Herren konnten nicht mehr tun, als dann und wann der Dame eines anderen zuzublinzeln. -415-
»Bring mich an Tante Harriets Tisch«, sagte Felicity kühl. »Mach Papa deine Aufwartung und grüße ihn von mir. Ich komme nicht mit. Sag ihm, daß ich es hier viel zu heiß finde. Ich falle bestimmt gleich in Ohnmacht.« Genteel lieferte sie erleichtert bei ihrer Tante ab und schloß sich der Gruppe um den Gouverneur an. Kapitän Fell sah ihn kommen und erhob sich schwankend von seinem Platz. »Bringen Sie Mr. Genteel ein Glas, Kirkbride«, wies er seinen Adjutanten an. »Wir wollen auf das Wohl eines tapferen Offiziers trinken, der es dem Türken ordentlich besorgt hat. Deine Hand, Frederick. Laß dir gratulieren.« Erst als er in Fredericks schmerzverzogenes Gesicht sah, hörte Fell auf, ihm die Rechte zu drücken. »Was, ist es immer noch nicht besser mit deinem Arm? Verzeihung.« Er wandte sich Kirkbride zu. »Gut so – ein randvolles Glas. Jetzt holen Sie unserem verwundeten Helden noch einen Stuhl. Er soll neben mir sitzen. – Lieber Schwiegersohn, es freut dich sicher zu hören, daß das Geschwader vergrößert wird; Kapitän Pelham mit der Parthian stößt dazu und ein neuer Mann – Scully oder so ähnlich – mit der Hekate. Bist du ihm in Argostoli begegnet? Nein? Na, auch egal. Was ich sagen wollte – ich muß dich um einen Gefallen bitten. Ich muß fort und das Kommando über das Geschwader übernehmen. Nun findet morgen auf Gozo eine Festa statt, sie feiern irgendeinen von ihren komischen Heiligen, und ich habe in einer schwachen Minute versprochen, daß ich komme. Du weißt ja, daß ich Zeremonien einfach hasse... so verdammt vornehm alles. Sei ein netter Mensch und sag, daß du für mich einspringst. Ist kein besonders großes Opfer; du kannst mit deinem Arm sowieso nicht in den Kampf ziehen, wenn sich das Geschwader morgen oder übermorgen versammelt; Pelhams Fregatte ist schon da, und ich habe die Hekate aus Argostoli zurückbeordert. Na, was ist, Freddie, tust du das für mich?« Genteel konnte es nicht leiden, Freddie genannt zu werden, -416-
und er konnte es noch weniger leiden, von Fell derart in die Enge getrieben zu werden, der sich, statt einfach Befehle zu geben, lieber vorgaukelte, ein Untergebener tue ihm aus freien Stücken einen Gefallen. Doch immerhin würde ihn diese Verpflichtung von Felicity fernhalten. Er hatte plötzlich begonnen, sie unmöglich zu finden. »Wo warst du so lange?« zischte sie, als er sich zu ihr setzte. »Ich habe dich beobachtet. Du hast getrunken und unablässig geredet, zweifellos über Frauen...« »Dein Vater hat mich gebeten, ihn morgen bei der Festa auf Gozo zu vertreten.« »Und du hast ja gesagt?« »Mir blieb nichts anderes übrig, ein Nein hätte er nicht gelten lassen – aber es wird dir bestimmt viel Freude machen.« »Du meinst, ich soll dich begleiten?« »Natürlich.« »Aber du weißt, daß ich Seereisen hasse!« »Es sind nur ein oder zwei Meilen Fahrt.« »Das ist mehr als genug. Ich werde bestimmt seekrank, und du wirst dich diebisch darüber freuen.« »Sei still, Felicity. Ich dulde es nicht, daß du so sprichst. Ich habe meine Pflicht zu tun, und du hast mir als meine Ehefrau dabei zu helfen. Und nun darf ich dich zum nächsten Tanz bitten. Du brennst sicher schon darauf, dein neues Kleid vorzuführen.« »Ich tanze heute abend nicht.« Genteel blickte sie verständnislos an. »Was soll das heißen? Du hast mich geradezu angefleht, rechtzeitig zu diesem Ball zurückzukommen. Ich habe es wider besseres Wissen getan, bevor ich genügend erholt war. Und nun sagst du mir, du tanzt heute abend nicht. Ich verlange eine Erklärung!« »Pst!« flüsterte Felicity. »Alle sehen her.« Dann biß sie sich -417-
auf die Unterlippe und hauchte: »Ich... ich glaube, ich bin in anderen Umständen.« Genteel starrte sie an. Das war es also. Sie war schwanger oder bildete es sich ein. Das konnte ihre Launen erklären – erklären, aber nicht entschuldigen. Wie anders sie aussah als damals am Kai, als er sie begrüßt und so bezaubernd gefunden hatte. Nun hätte er sich freuen sollen, hatte ihr ins Ohr flüstern sollen, daß er sie liebte. Statt dessen hatte er das Gefühl, in eine Falle gegangen zu sein. Für wie lange hatte er diese Frau geheiratet? Für ein ganzes Leben? »Wenn es so ist, bleibst du morgen natürlich besser zu Hause.« Danach sprachen sie eine Weile nicht miteinander. Die Kapelle machte Pause, die Tänzer kehrten an ihre Plätze zurück. Auf einmal senkte sich ein betretenes Schweigen über den Saal. Zwei Frauen waren eben hereingekommen. Alle drehten sich um und betrachteten sie. Es lag nicht bloß daran, daß sie schön waren, obwohl Frederick Grace noch nie in einem so herrlichen Kleid gesehen hatte. Die elfenbeinfarbene, moirierte Seide, abgesetzt mit einem Grau, das dem ihrer Augen entsprach, schimmerte köstlich, als sie einen Moment stehenblieb, um den Ballsaal zu überblicken. Doch der eigentliche Grund für die allgemeine Verlegenheit war Graces Begleiterin. Zu ihrer Rechten ging eine weitere strahlende Erscheinung, nur kleiner, draller, dunkler. Arm in Arm schritten sie über die leere Tanzfläche auf Kapitän Fell zu. »Ich habe eine Freundin mitgebracht«, sagte Grace so laut, daß alle es hören konnten. »Rita Scicluna hat zwar keine offizielle Einladung, aber ich weiß, daß sie Ihnen trotzdem willkommen sein wird.« Das Schweigen lastete noch drückender auf dem Saal, bis Felicitys Tante es mit einem entsetzten, weithin vernehmbaren Flüstern brach. »Scicluna! Das ist doch ein maltesischer Name, oder?« -418-
Grace tat so, als habe sie es nicht gehört. Kapitän Fell und sie blickten sich in die Augen. Er mochte sie, sie wußte das, und sie nutzte es aus. »Nun?« fragte sie herausfordernd. »So ein Prachtmädchen braucht keine Einladung«, brummte Fell und rappelte sich in einer Anwandlung von Galanterie von seinem Sessel auf. »Mit solchen Vorzügen ist man überall willkommen. Ich würde sie ja selber auf den Tanzboden führen, wenn mich die Gicht nicht so plagen würde... Kirkbride, holen Sie den Damen etwas zu trinken. Und nachher können Sie an meiner Stelle Miss Scicluna zum Walzer auffordern.« Fell ließ sich wieder in seinen Sessel sinken und blinzelte schalkhaft. »Kenne ich zufällig Ihren Vater, Miss Scicluna?« Rita Scicluna nickte. »Na, dann sagen Sie ihm, daß ich seine Tochter lieber sehe als ihn. Hat Ihnen Kirkbride eingegossen? Gut. Ich trinke auf das Wohl der beiden hübschesten Damen von Valetta. Und Sie» meine Herren?« Die Offiziere, die Fell umringten, taten es ihm nach. Als sie ausgetrunken hatten, hob Grace ihr Glas. »Auf den Frohsinn!« sagte sie unerwartet. »Auf den Frohsinn und die Ausgelassenheit.« »Sind diese verdammten Musiker gestorben oder was ist los?« knurrte Kapitän Fell. »Einen Walzer! Einen Walzer! Los, ihr Faulpelze, sonst lasse ich euch kielholen!« Als die Musik einsetzte und Major Kirkbride Rita seinen Arm bot, stahl Grace sich fort und ging an Felicitys Tisch. »Es tut mir leid, daß ich so spät komme«, sagte sie, »ich mußte Rita abholen. Ist sie nicht eine Augenweide? Diese maltesischen Mädchen haben soviel Charme, daß unsereins vor Neid erblassen könnte, nicht wahr, Tante Harriet?« Sie musterte die alte Dame mit einem Blick so herausfordernd, daß diese vor -419-
Zorn rot anlief. Dann bemerkte sie die finsteren Mienen am Tisch und fügte hinzu: »Was ist? Freu dich doch, Felicity! Frederick ist wieder da! Warum tanzt du nicht?« »Ich habe keine Lust«, schnaubte Felicity. »Aber ich«, sagte Grace, »und wenn das so ist, gestattest du wohl, daß ich dir eine kleine Weile deinen Mann entführe? Frederick, tanzen Sie mit mir?« »Würden Sie eine Weigerung akzeptieren?« Er spielte den Gequälten so gut, daß Grace hellauf lachen mußte. Die Feindseligkeit der beiden Frauen, die er am Tisch zurückließ, war nicht zu übersehen, doch das machte ihm nichts aus. Es fiel ihm nicht leicht, beim Walzer den Anfang zu finden, sein Arm war steif und tat weh, aber Grace führte ihn behutsam, und er vergaß seine Schmerzen bald. Als sie zu tanzen begannen, nahm er seine Umgebung noch wahr, doch dann verschwamm alles, und Frederick sah nur noch die Frau, mit der er übers Parkett wirbelte. Statt des Pochens in seinem Arm beunruhigte ihn nun sein klopfendes Herz. Trotzdem mußte er lächeln. »Es sieht so aus, als freuten Sie sich, wieder hier zu sein«, sagte Grace neckend. »Ich freue mich, auf diesem Ball zu sein, aber aus einem anderen Grund, als Sie denken.« Sie tanzten weiter, und Grace verlor sich an die Freude, sich zu drehen, drehen, drehen. Es hätte ewig dauern können. »Sind Sie glücklich?« fragte sie leise. »Glücklich? Wieso?« Plötzlich fiel ein Schatten über sein Gesicht. Er führte Grace zur Tür. Draußen auf dem dunklen Korridor drückte er die Stirn gegen die Wand und stöhnte. »Was ist? Fühlen Sie sich nicht wohl? Tut Ihnen der Arm weh?« »Ich hätte es fast vergessen. Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.« -420-
»Nur zu, ich kann es verkraften.« »Kapitän Fell hat die Hekate nach Malta zurückbeordert. Sie wird morgen hier eintreffen. Spätestens übermorgen. Sie müssen sich verstecken. Scully wird an Land kommen. Er darf Sie nicht finden, und ich kann Sie nicht schützen. Der Gouverneur hat mir befohlen, ihn bei der Festa auf Gozo zu vertreten.« »Und deshalb schmollt Felicity, ja? Sie ist so wasserscheu wie eine Katze.« »Felicity bleibt hier. Aber nicht, weil sie wasserscheu ist.« »Warum dann?« »Weil ich sie nicht dabeihaben möchte.« Einen Moment lang schwieg Grace ungläubig. Dann fragte sie: »Darf ich mit Ihnen kommen?« Genteels Gedanken überstürzten sich. Es war lachhaft, es war verrückt. Doch was zählte das? Es war sogar möglich, daß die britische Kolonie auf Malta nichts davon erfuhr. Gozo glich einem anderen Kontinent, den man selten oder nie besuchte. »Ich kann Sie nicht daran hindern.« »Aber wollen Sie es?« »Sie müssen um acht bei der Fähre von Marfa sein. Ich werde nicht auf Sie warten.« »Ich habe nicht vor zu schlafen«, antwortete Grace. »Ich will nur tanzen, tanzen. Sie müssen mich recht oft auffordern.« »Warten Sie!« Frederick suchte etwas in seiner Tasche. Als er es gefunden hatte, legte er es in Graces Hände. »Aber das gehört mir nicht«, flüsterte sie. »Es gehört Felicity.« »Das war ein Irrtum«, sagte er rauh. »Ich will, daß Sie es tragen. Ich habe nicht recht gewußt, was wir taten, als wir es in Auftrag gegeben haben... Wir sind beide in diesem Medaillon, nicht wahr? Behalten Sie es, und wir werden immer zusammen -421-
sein.« Sie küßten sich nicht, doch ihre Blicke begegneten sich. Kurz darauf waren sie wieder im Ballsaal. »Ist es Ihnen peinlich?« fragte Grace. Es ging fast unter im Mahlen der Räder und dem Jubel der Bevölkerung, die die Straße nach Rabat, der Hauptstadt von Gozo, säumte. »Daß ich dabei bin, meine ich.« »Nicht besonders«, erwiderte Frederick, während er den Gozitanern unsicher zuwinkte. »Sie sehen nicht sehr vergnügt aus. Liegt es daran, daß die Leute mich beim Empfang für Ihre Frau gehalten haben?« »Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie eines Besseren zu belehren.« »Ich auch nicht.« »Es ist ja nur für einen Tag.« »Ja, nur für einen Tag.« Grace lächelte in sich hinein, lächelte den Menschen zu, die den Landauer, der sie am Anlegeplatz in Ivgarr abgeholt hatte, immer dichter umdrängten. Die Pferde, ihre Kopfe mit Federbüschen geschmückt, schienen bestätigend zu nicken, als sie sich die letzte Steigung vor der Stadt hinaufmühten. Auch dieser Ort bestand aus den üblichen dreigeschossigen Häusern von honiggelbem Stein. Über der Stadt ragte düster eine Festung auf. Daneben, blendend weiß in der Morgensonne, sah sie die Doppeltürme einer Kathedrale. Grace hatte das Gefühl, Frederick und sie seien ein Königspaar. Alles war wirklich und unwirklich zugleich. Sie blickte ihn verstohlen von der Seite an. Er saß kerzengerade, beide Hände auf dem Knauf seines alten Entermessers, das er, in die Scheide gesteckt, zwischen seinen Knien hielt. Sein Gesicht aber ängstigte Grace beinahe; es war abgespannt und verhärmt. Ihr Herz schlug warm für ihn, und sie prüfte sich. Was war mit -422-
ihrem Vorsatz? Wenn sie sich so um ihn sorgte, was sollte dann aus ihrem Racheschwur werden? Jedesmal, wenn sie sein trauriges Gesicht betrachtete, fürchtete sie, sie werde Frederick kein Haar krümmen können. Wenn er dann und wann unwillkürlich zusammenzuckte, hatte sie das Gefühl, ihr werde ein Messer im Leib umgedreht. Sie holte tief Luft. »Was ist?« »Schmerzen, mein Arm.« »Ach, Frederick.« Sie legte ihm die Hand aufs Knie, zog sie aber gleich wieder zurück, weil sie merkte, daß er es unschicklich fand. »Wußten Sie, daß auf einem Felsen vor Gozo ein Pilz wächst, mit dem die Ritter solche Leiden kurierten? Wir werden diesen Pilz für Sie suchen.« »Hm.« Es war offenkundig, daß Frederick wenig Vertrauen zu solchen Geheimmitteln hatte. Der Landauer fuhr nun unter der ersten Ehrenpforte hindurch. Dahinter überspannten kunstvoll gewundene Arkaden die Straße und bildeten ein grünes Gewölbe über dem weißen Pflaster. »Ich werde das alles hier nicht sehr spaßig finden«, sagte Genteel, »und Sie auch nicht. Den ganzen Tag nichts als Glockengebimmel, Kirchengesang, Weihrauch, Musik, Festmähler und Feuerwerke. Den ganzen Tag nichts als maltesisches Geplapper. Begrüßungen ohne Ende, man steht stundenlang herum und muß so tun, als sei man interessiert, obwohl man Schweißausbrüche und eine Magenverstimmung hat. Sie werden sich noch wünschen, daß Sie nie auf die dumme Idee gekommen wären, mich zu begleiten.« »Es war keine dumme Idee. Wir werden unser Vergnügen haben. Es sei denn, Frederick Genteel will unbedingt den Miesepeter spielen.« Mit diesen Worten konnte sie ihm immerhin die Andeutung eines Lächelns entlocken. Sie erreichten das Ende des Bogenganges und kamen auf einen sonnigen Platz. Glockengeläut und Hochrufe schallten -423-
ihnen entgegen. Eine Schar von geistlichen und weltlichen Würdenträgern erwartete sie, und einer von ihnen hob zu einer blumigen Rede an. »Was gibt es da zu grinsen?« fragte Genteel mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich wollte, ich verstünde das Kauderwelsch.« »Sie nehmen immer noch an, daß ich Ihre Frau bin«, sagte Grace lächelnd. »Soll ich ihnen die Wahrheit sagen?« »Das ist kaum der rechte Moment dafür«, entgegnete Genteel. »Außerdem würden sie Ihnen nicht glauben. Eine Farce ist das, eine verdammte Farce, aber wir müssen sie zu Ende spielen. Nehmen Sie meinen Arm, wir schreiten zum nächsten Akt.« Es kam genauso, wie Frederick es vorhergesagt hatte: Grußworte, Verbeugungen und Knickse ohne Ende. Grace konnte ihn nicht davor bewahren, und sie staunte darüber, mit welcher Geduld er es ertrug. Er hatte auch recht gehabt mit der Magenverstimmung; das Gabelfrühstück, das im Bondi-Palast aufgetragen wurde, bestand aus kalten, schweren, von Olivenöl triefenden Speisen. Die Hitze war fast unerträglich trotz der offenen Fenster, durch die Gesang und Weihrauchduft vom Platz draußen hereindrangen. Grace wußte, daß sie die Hitze aushalten konnte. Aber würde es für Frederick nicht zuviel werden, geschwächt wie er war? Sie wandte sich zu dem Zeremonienmeister hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Der Zeremonienmeister errötete, die Veranstaltung wurde abgekürzt, und binnen fünf Minuten waren Grace und Frederick wieder auf der Straße. »Was haben Sie ihm gesagt?« fragte Genteel. »Es steht Ihnen nicht zu, in ihre Feierlichkeiten einzugreifen.« »Ich habe ihm gesagt, daß Sie Nachwuchs erwarten«, lachte Grace. »Natürlich dachte er, ich erwarte welchen.« Genteel blickte säuerlich drein. Er bereute, daß er Grace von Felicitys Schwangerschaft erzählt hatte. -424-
»Und was steht als nächstes auf dem Programm?« »Ein Pferderennen.« »Ein Pferderennen? Hier? Auf der Straße?« »Ja. Und dieser Mensch wartet darauf, uns hinzuführen.« Sie deutete auf einen kurzwüchsigen Mann mit blauer Matrosen Jacke. Er trug einen breitkrempigen Strohhut, den er tief in die Stirn gezogen hatte. »Nun, es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als es hinter uns zu bringen. Ihr Maltesisch ist doch so gut, Grace, sagen Sie ihm, daß wir bereit sind, und finden Sie heraus, wie weit wir laufen müssen.« »Der Sattelplatz ist bloß ’n paar Minuten entfernt, Euer Ehren«, sagte der Mann auf englisch. »Diese Stimme kenne ich doch!« rief Genteel, mit einem Mal vergnügter. »Barlow, ja? Was, zum Teufel, führt Sie nach Gozo?« »Wenn Sie’s genau wissen wollen, ’n Mädchen von hier, Euer Ehren. Und ich heiße Bentley, Sir, seien Sie so nett und vergessen Sie Barlow.« Er flüsterte Genteel ins Ohr: »Das kann ich nicht riskieren, daß ich Barlow bleibe, wo Scully bald wieder da ist.« Genteel lächelte innerlich über diese Ironie des Schicksals: Der ehemalige Wirt des »Fortescue« versteckte sich hinter einem neuen Namen, während er, der maskierte Kapitän des Zollkutters, der Welt nun sein Gesicht zeigte. »Dann gehen Sie voran. Und ich schwöre Ihnen, daß ich Barlow nie gekannt habe.« »Hier rum, Sir«, sagte Barlow. Auf dem Weg zum Rennen nahm er Grace beiseite und richtete das Wort an sie. »Weißt du schon von Scully? Er kommt nach Valetta. Einer von meinen Freunden dort hat’s von Fells Leuten gehört. Paß bloß auf, Grace, der verzeiht dir nicht, der ist hinter dir her.« -425-
»Ich passe schon auf. Wir können jetzt nicht darüber reden, aber ich danke dir für die Auskunft, und...« Bevor sie mehr sagen konnte, gab es einen kleinen Tumult auf den Balkonen zu beiden Seiten der Straße. Alles drehte den Kopf, um den Hügel hinunterzublicken. Aus den lauten Gesprächen wurde ein leises Raunen, und wenige Momente später hörte man das Getrappel von Hufen und erregte Schreie. »Sie kommen!« rief Grace. Die Pferde galoppierten die Steigung hinauf, von ihren Reitern unbarmherzig gepeitscht. Grace stand mit Frederick und Barlow in einer Menschenmenge eingekeilt, in der Nähe des Zieles. Plötzlich löste sich ein Brauner vom Feld und überholte den Spitzenreiter. Die Menge wich ängstlich zurück. Der Reiter stand in den Steigbügeln, brüllte und drosch auf sein Pferd ein. Die ganze Straße brach in lautes Geschrei aus. »Wer war denn das, Sir?« fragte Barlow. »Ich bin zu klein, ich kann nicht über die Leute wegsehen.« »Der Braune. Das ist ein verdammt gefährlicher Sport, wenn Sie mich fragen – und grausam obendrein.« »Da haben Sie völlig recht«, sagte Barlow. Dann erhob er die Stimme und rief: »Hurra, Windfall! Ein dreifaches Hoch auf Windfall!« Und dann murmelte er Grace zu, die ihn verwundert musterte: »Um so ’nen Außenseiter kann ich gottfroh sein. Der hat mir ’n Vermögen gespart. Ich bin Buchmacher hier, und wenn der Favorit gewonnen hätte, wär’ ich pleite.« »Du bist noch raffinierter, als ich dachte«, sagte sie lächelnd. »Du auch«, entgegnete er, ihr zuzwinkernd und mit dem Kopf auf Frederick deutend. Sie gingen den Hügel hinunter und kamen zu einer Art Koppel, in der ein Dutzend mürrische Esel aufgesattelt wurden. Barlow betrachtete sie prüfend. »Der da wär’ gut für Sie, Sir«, sagte er zu Genteel. »Als der Gouverneur letztes Mal hier war, hat er mächtig geglänzt als Reiter.« -426-
»Den Ehrgeiz habe ich nicht. Bei einem Eselsrennen mache ich auf keinen Fall mit.« »Das wird aber von Ihnen erwartet, Sir.« »Ach, Frederick«, sagte Grace, »nun seien Sie kein Spielverderber. Die Leute werden Sie dafür lieben. Und wenn Sie reiten, reite ich auch. Geben Sie Ben dieses dumme Entermesser.« Genteel ließ sich nicht gern drängen, doch die Gozitaner umringten ihn freundlich lächelnd und erwartungsvoll. »Also gut.« Grace bereute sofort, ihn beschwatzt zu haben. Sein steifer Arm, mit dem er Barlow vorsichtig die Waffe reichte, und die Müdigkeit in seinem Gesicht zeigten ihr, daß es ein Fehler gewesen war. »Halt, Frederick. Ich habe mich geirrt. Tun Sie es lieber nicht.« Genteel hörte nicht auf sie. »Wie heißt dieses Tier?« fragte er Barlow. »Kanonenkugel, Euer Ehren. Das ist der beste Esel hier, ganz sanftmütig. Den brauchen Sie nicht einmal zu schlagen.« Von dem Moment an, da er das Bein über Kanonenkugels Rücken schwang, wußte Genteel, daß das Tier abgefeimt und tückisch war. Er zerrte am Zügel, doch Kanonenkugel drehte sich einfach in die andere Richtung. Die Menge lachte. Es war Grace gelungen, ihn zum Gespött der Stadt zu machen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie ihre Röcke raffte und auf eines der anderen Tiere sprang. Ein Böllerschuß krachte. Alle anderen Esel trotteten bergauf. Die Zuschauer johlten und feuerten sie an. Kanonenkugel scharrte mit den Hufen und blieb stehen. Genteel drückte ihm die Hacken in die Weichen. Kanonenkugel senkte den Kopf und blickte finster. Genteel war wütend. -427-
»Zieh’n Sie ihn an den Ohren!« schrie Barlow. Genteel tat wie geheißen und der Esel blickte unwillig auf. »Und jetzt halten Sie sich bloß fest, Sir!« rief Barlow und versetzte dem Tier mit der flachen Seite von Genteels Entermesser einen derben Klaps aufs Hinterteil. Das Ergebnis war überwältigend, und es wurde offenbar, warum dieser Esel Kanonenkugel hieß: Er flog nur so dahin. Genteel wurde unversehens zwischen zwei Reihen verschwommener Gesichter den Hügel hinaufkatapultiert. So schnell war Kanonenkugel, daß die anderen Tiere, die früher gestartet waren, sich rückwärts zu bewegen schienen. Genteel sah Grace unter den ersten; ihre Haare und ihr Schultertuch flogen im Wind. Der Hügel wurde steiler, und Kanonenkugel überholte bereits die Nachzügler. Beifall rauschte auf. Genteel fühlte sich besser. Er mochte sich zwar nicht zugeben, daß er Spaß an der Sache hatte, aber er hatte jedenfalls schon Schlimmeres erlebt. Der Hut rutschte ihm fast vom Kopf, und er ließ die Zügel los, die er in der linken Hand hielt, um ihn zurechtzurücken. Keine zweihundert Schritte weiter lag das Ziel, vor dem sich die Zuschauer drängten. Kanonenkugel hatte das Feld eingeholt. Grace war ihm noch ein paar Längen voraus, doch ihr Esel wurde jetzt müde. Kanonenkugel schob sich Stück für Stück vor, Die Anfeuerungsrufe steigerten sich. Grace blickte sich um und sah ihn kommen. Sie schrie auf ihr Tier ein, aber gegen Kanonenkugel hatte es keine Chance. Die Menge machte den Weg frei, und Genteel lenkte Kanonenkugel auf die Gasse zu, die sich vor ihm auftat. Dann sah er das Kind, und Panik ergriff ihn. Ein Dreijähriger war zwischen den Beinen der zurückweichenden Zuschauer aufgetaucht. Das Kind stand reglos da, zu erschrocken, um fortzulaufen. Wenn er Kanonenkugel nicht anhielt, würde er es töten. -428-
Genteel riß mit Macht an den Zügeln. Der Esel schien es nicht zu spüren; er war nicht mehr zu bändigen. Nur ein paar Meter trennten ihn noch von dem Kind. Niemand schien es zu vermissen, niemand riß es aus der Bahn. Was für ein Narr, dachte Genteel, was für ein verdammter Narr war er gewesen, sich auf dieses Rennen einzulassen. Die Augen des Kindes waren auf ihn gerichtet. Er warf sich über den Hals des Esels und ließ sich seitlich herabgleiten, so daß das Tier aus dem Gleichgewicht geriet. Mit dumpfem Knall schlug er auf dem Pflaster auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Schulter. Kanonenkugel fiel über ihn. Sie schlitterten in einer Staubwolke die Straße entlang. Die Anfeuerungsrufe waren verstummt. Dann gellte ein durchdringender Schrei, der Genteel verriet, daß jetzt endlich jemand das Kind bemerkt hatte. Genteel stand mühsam auf. Sein Hut war fort, seine Uniform schmutzig. Eine abgerissene Epaulette lag vor seinen Füßen. Alles war verdorben. Plötzlich stürmte eine Frau, ein Kind in den Armen, auf ihn zu und küßte ihn. Erst begriff er nicht. Dann umwogten ihn Menschen, jubelten, klatschten Beifall, klopften ihm auf die Schulter, bürsteten seinen Rock ab, hoben die Epaulette auf, brachten ihm seinen Hut. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, doch das zählte nicht. Es zählte auch nicht, daß er eine komische Figur gemacht hatte. Um ihn war ein Meer von weinenden und lachenden Gesichtern. Und dazwischen bahnte sich jemand mit sorgenvoller und reuiger Miene einen Weg: Grace. »Du warst wunderbar«, sagte sie mit zitternder Stimme und küßte ihn. Dort, vor aller Augen, küßte sie ihn auf den Mund. Im nächsten Moment wurde Genteel emporgehoben. Unbeholfen schwankend, mit seinem gesunden Arm Halt suchend, wurde er die Straße entlanggetragen. Die Gozitaner -429-
blickten zu ihm auf, streckten die Hände aus, um ihn zu berühren, wie sie bei den Prozessionen ihre Heiligenbilder berührten. Genteels rechter Arm hing schlaff herab. Und plötzlich kehrten die Schmerzen wieder, stechend, brennend. »Seht ihr nicht, daß er verletzt ist?« rief Grace auf maltesisch. »Seid vorsichtig!« Er drehte sich um, suchte sie in der Menge. Bevor er sie gefunden hatte, schwanden ihm die Sinne. »Hier ist es, Mr. Shute.« »Sieht unbewohnt aus, Ben«, sagte Optimus, nachdem er das hohe, schmucklose Haus mit den geschlossenen Fensterläden betrachtet hatte. »Aber hier soll ich Sie herbringen«, erwiderte Barlow. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muß weiter, den Feuerwerkern helfen.« Bevor Optimus ihn zurückhalten konnte, lief er die stille Straße hinunter und verschwand auf dem belebten Platz mit dem Standbild der Jungfrau Maria. Optimus schlug mit dem Klopfer gegen die getäfelte Tür und horchte auf Schritte. Statt dessen rief ihn eine Stimme von einem der oberen Fenster. »Kommen Sie nur herauf, die Tür ist offen!« Optimus drückte die Klinke nieder und trat in einen Korridor mit hoher Decke. Eine Wendeltreppe aus Marmor führte in die oberen Geschosse. Es war kühl, und es roch muffig. »Mein lieber Shute, wie schön, Sie zu sehen! Kommen Sie, trinken Sie ein Glas Wein mit mir«, sagte Graf Scicluna, der ihn auf dem Treppenabsatz des ersten Stockes erwartete. »Sie dürfen sich bitte nicht daran stoßen, daß hier etwas Staub liegt. Maria schämt sich deswegen, doch es läßt sich schwerlich vermeiden. Dieses Haus steht die meiste Zeit leer, aber ich kann mich nicht überwinden, es zu verkaufen, zu viele Erinnerungen hängen daran. Hatten Sie eine angenehme Reise? Hat Ben gut für Sie gesorgt?« -430-
Der Graf führte seinen Gast in einen geräumigen Salon, der mit italienischen Stühlen, einer Chaiselongue und einem großen Mahagonitisch möbliert war. Eine Reihe von gerahmten Miniaturen, die neben dem Kamin hingen, erregte Optimus’ Aufmerksamkeit. »Kenne ich den Künstler?« »Ich nehme an, Sie können ihn erraten. Dies ist ein Bildnis meiner lieben Frau... Wie jung sie aussieht! Und das ist Rita selbst. Ich erinnere mich noch genau, wie sie vor dem Spiegel saß, als sie es malte. Sie war sehr gern in diesem Haus. Im Sommer kamen wir immer hierher. Meine Tochter fehlt mir, müssen Sie wissen. Seit sie ihren Gatten nach England begleitet hat, habe ich sie nicht mehr gesehen. Ja, Familien fallen auseinander, nicht wahr? Darum finde ich es auch besonders bemerkenswert von Maria, hierherzukommen und sich meiner anzunehmen. Ich versuche immer noch, sie davon abzubringen. Eine junge Frau sollte ihr Leben nicht für einen alten Mann wegwerfen. Aber sie will nicht auf mich hören. Frauen können manchmal so starrköpfig sein wie Männer. Zum Beispiel behauptet sie immer, Sie zu verabscheuen.« »Sie mißtraut mir. Ich kann machen, was ich will, es ändert sich nichts daran.« »Ach, Mr. Shute... Man darf Frauen nie nach äußerlichen Dingen beurteilen. Wenn Sie erst so alt sind wie ich, werden Sie wissen, daß man das, was sie sagen, nicht immer für bare Münze nehmen darf. Maria ist sich oft selbst nicht im klaren darüber, was sie empfindet... Aber still jetzt, da kommt sie. Sie hat eingekauft.« Maria trat in den Salon, einen Korb voll Gebäck am Arm. Erst stutzte sie, dann nahm sie die Rechte, die Optimus ihr entgegenstreckte, und er erwiderte behutsam ihren kühlen Händedruck. »Sie entwickeln sich zur festen Einrichtung hier auf den Inseln, Mr. Shute. Man trifft Sie überall. Haben Sie vor, sich -431-
hier niederzulassen?« »O nein, ich werde demnächst abreisen. Ich habe schon eine Passage gebucht und verbringe die Zeit, die mir noch bleibt, so angenehm wie möglich. Ihr Großvater war so liebenswürdig, mich nach Rabat zur Festa einzuladen. Sie werden mich bald los sein.« Während er sprach, suchte Optimus in Marias Gesicht nach Zeichen dafür, wie sie seine Worte aufnahm. Sie lächelte höflich, aber war da nicht eine winzige Veränderung in ihren Augen? »Wie ich sehe, haben Sie die Miniaturen meiner Mutter betrachtet«, sagte Maria, und er hatte den Verdacht, daß sie die Rede mit Absicht auf etwas anderes brachte. »Es gibt eine, die Sie ganz besonders interessieren müßte. Ist sie Ihnen schon aufgefallen?« Optimus ließ den Blick noch einmal über die Porträts schweifen. Es gab in der Tat eines, das sich von den anderen abhob, das keine Familienähnlichkeit aufwies, keine maltesischen Züge. Er deutete darauf. »Dieses hier.« Maria nahm das kleine Bild von der Wand und hielt es ans Licht. »Sie kennen diese Frau?« »Ja, manchmal glaube ich es.« Maria drehte die Miniatur um, so daß die Rückseite sichtbar wurde. Dort stand, in der Optimus so vertrauten Schrift, auf den vergilbten Karton ein Name geschrieben: Grace Delabole »Dies ist nicht die Zeit, über die Vergangenheit zu grübeln«, sagte Graf Scicluna und reichte ihnen beiden ein Glas Wein. »Wenn ihr das ausgetrunken habt, weiß ich etwas für euch. Bis zur großen Prozession sind es noch zwei Stunden. Du nimmst die Kutsche, Maria, ich habe schon anspannen lassen, und zeigst unserem Freund die Ruinen von Ggantija.« »Auf Ihr Wohl, Graf Scicluna«, sagte Optimus und hob sein -432-
Glas. »Ich danke Ihnen für all Ihre Freundlichkeit. Ich kann es kaum glauben, daß ich Sie erst seit kurzer Zeit kenne. Mir ist, als wären wir immer schon Freunde gewesen.« »Mir auch, Mr. Shute, und wir werden es bleiben«, erwiderte Scicluna und stieß mit ihm an. »Seien wir Grace recht dankbar dafür, daß sie uns zusammengebracht hat.« »Dann trinke ich auch auf Delaluna!« rief Optimus. »Seit meiner Rückkehr aus Argostoli möchte ich etwas mit Ihnen bereden. Spiro Marcopoulos hat mir erzählt, daß es interessante Möglichkeiten für neue Geschäfte gibt. Sie müßten sie nur nutzen, Man könnte Delaluna sanieren...« »Dafür bin ich viel zu alt«, lachte Scicluna, »und Sie wissen doch, daß mir das Kapital fehlt.« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagte Optimus. »Ich würde gern in die Firma investieren. Wenn ich mich auf Ihre Erfahrung und Ihre Verbindungen verlassen konnte...« »Es ist schon zu träumen«, erwiderte Scicluna wehmütig. »Wenn ich wieder jung wäre... Doch um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich war nie die treibende Kraft von Delaluna, das war Grace. Ohne sie war es nicht mehr dasselbe. Ich habe die Firma natürlich weitergeführt, aber von dem Tag an, wo sie uns verließ, war Ich nicht mehr mit dem Herzen dabei. Hier auf Gozo haben sich übrigens die letzten Ereignisse zugetragen, aber das wissen Sie ja schon. Nun, Maria hat sich umgehört und wird Ihnen noch manches erzählen können, das heißt, wenn sie mag. Sie ist ein eigensinniges Mädchen, aber ich liebe sie darum nicht weniger. Sie ist so eigensinnig wie ihre Mutter. Vielleicht liebe ich sie gerade deswegen... Und nun macht euch auf den Weg und laßt einen alten Mann in Frieden seinen Erinnerungen nachhängen.« Maria kutschierte selbst nach Ggantija. Allein mit ihr in der -433-
Kutsche, fand Optimus das Gespräch nicht mehr so einfach. Sie fuhr gut, hielt die Zügel mit leichter, geübter Hand, doch sie sagte wenig. Grollte sie ihm wieder? Er nahm es an. Die Stimmung schien noch gespannter, als sie die Pferde angebunden hatten und die Ruinen betraten. Maria war völlig in sich gekehrt. Mit der Trauerkleidung, die sie nach wie vor trug, glich sie in dieser Umgebung einer Gestalt der antiken Tragödie. Die gewaltigen Monolithe von Ggantija waren durcheinandergeworfen wie von einem Erdbeben, aber man konnte immer noch die Grundrisse des Bauwerks erkennen. War es ein Palast gewesen? Ein Tempel? Seine Erbauer waren langst tot, und gewiß schien nur eines: Sie hatten versucht, für die Ewigkeit zu bauen. Optimus entfernte sich von Maria und fand sich in einer Kammer wieder, deren Boden aus modriger Erde und deren Decke aus Stein bestand. Am hinteren Ende des Raumes drang ein Lichtstrahl herein; er fiel durch eine Öffnung in der Mauer. Optimus kniete davor nieder und blickte in eine Art Innenhof. Maria stand dort, verschlossen und nachdenklich, mit dem Rücken zu ihm. Plötzlich hatte Optimus einen seltsamen Einfall. Er legte die Hände um den Mund und flüsterte: »Wer bist du?« Maria drehte sich entsetzt um, versuchte zu ergründen, woher die Stimme kam. »Warum lebst du für die Toten?« fuhr Optimus fort. Maria geriet aus der Fassung. Sie hob die Hände an die Wangen. Ihre Furcht war so groß, daß Optimus fast Mitleid mir ihr hatte, doch er stellte noch eine Frage. »Bist du Grace Pensilva?« Er wußte nicht, wie er darauf verfallen war, es kam ihm einfach in den Sinn, und er sprach es aus, ohne nachzudenken. Die Wirkung auf Maria war verheerend; sie hielt sich die Ohren zu und rannte mit einem erstickten Schrei aus dem Hof. Optimus war voll Reue. Er eilte ihr nach, um sie zu trösten. Als er aus den Ruinen auftauchte, -434-
lief sie ihm entgegen und warf sich in seine Arme. Sie zitterte. »Was ist los?« fragte er, statt ein Geständnis abzulegen. »Oh, Optimus!« sagte sie atemlos. »Haben Sie es nicht gehört? Sie müssen es gehört haben. Schnell, bringen Sie mich weg von hier. Dies ist ein schrecklicher Ort. Spüren Sie es nicht?« Den Arm um ihre Schulter gelegt, führte er sie zur Kutsche. »Nur ruhig«, murmelte er. »Ist es falsch zu trauern?« fragte sie unter Tranen. »Sagen Sie mir, daß es nicht falsch ist.« »Es ist sehr menschlich«, antwortete Optimus. »Ich glaube, Grace trauen immer noch, wo sie auch sein mag. Ich glaube, sie hat diese Ruinen gekannt. Sie sind so ernst, so düster. Selbst bei Sonnenschein wirken sie so gräßlich, als hätten hier einmal furchtbare Opfer stattgefunden. Die Steine sind so kalt, so hart... so hart, wie Grace gegen Frederick gewesen ist. Ich habe Ihnen nicht erzählt, daß meine Mutter Grace danach noch einmal gesehen hat. Ich hätte es Ihnen sagen sollen, aber...« Optimus half ihr in die Kutsche. Sie zitterte immer noch. Diesmal nahm er die Zügel. Als sie ein gutes Stück von den Ruinen entfernt waren, fragte er: »Was meinte Ihre Mutter? Hat Grace Frederick geliebt?« »Natürlich hat sie ihn geliebt, aber sie war hart. Meine Mutter sagte, ich sei wie sie. Sie glaubte, daß Graces Seele in meinem Körper ist. Vielleicht ist es wahr. Ich weiß es nicht...« »Sie sind anders«, sagte Optimus und legte seine Hand auf die ihre. »Völlig anders.« Er ließ die Pferde gemächlich dahintraben. Sie hatten keine Eile. Weit vor ihnen, über der Stadt, stieg eine weiße Rauchwolke auf, und sie hörten einen Knall. »Das wird das Feuerwerk sein«, bemerkte Optimus. Sie fuhren schwelgend weiter, während in der Ferne Kanonenschläge krachten. Nach einer Weile fragte Maria dumpf: »Ist es wahr, daß Sie -435-
abreisen?« »Ja. Ich fahre übermorgen mit Kapitän Angove nach England zurück.« »Sie werden uns fehlen – Sie werden mir fehlen.« »Ich muß fort. Ich habe Grace Pensilva noch nicht gefunden. Sie hat Malta verlassen, und ich muß sie finden.« »Ich glaube, Sie sind in sie verliebt«, erwiderte Maria. Zum ersten Mal lächelte sie vorsichtig. »Das hat mir schon einmal jemand gesagt. Ich bin nicht richtig in sie verliebt, sie ist mehr wie ein Geist, den ich austreiben muß. Was hat Ihre Mutter von der letzten Begegnung mit Grace berichtet?« »Sie sagt, Grace habe sie mitten in der Nacht aufgesucht. Meine Mutter wußte noch nicht, was Frederick geschehen war. Grace mußte sich davor gefürchtet haben, nach Hause zu gehen. Sie bat meine Mutter, ihr etwas Geld und ein paar Kleider zu leihen. Für eine Reise, sagte sie. Meine Mutter dachte, sie wolle mit Frederick durchbrennen. Grace ließ sie in dem Glauben – sie war verkleidet.« »Was trug sie?« »Eine Kutte der Rosenkranzbrüder.« Es verschlug Optimus den Atem. Wo hörte der Zufall auf, und wo begann das Schicksal? Soviel von dem, was er über Grace Pensilva erfahren hatte, schien auf sonderbare Weise mit Ereignissen in seinem eigenen Leben verwoben. »Hat sie sonst noch jemand gesehen?« »Nein. Wohin ging sie? Das wissen Sie doch, nicht wahr? Und wie – endete sie?« Optimus hatte plötzlich das überwucherte Grab jenseits der Friedhofsmauer von Harberscombe vor Augen. »Sie fuhr nach England zurück. Mehr weiß ich nicht. Ich muß noch einige Fragen klären.« -436-
Die Kutsche ratterte in die Stadt. Man hörte schon den fröhlichen Lärm der Festa. Optimus wandte sich zur Seite und betrachtete Marias Gesicht. Es war sanft und schon. Als sie merkte, daß er sie anblickte, schlug sie die Augen nieder. »Und Sie?« fuhr er fort. »Wann gehen Sie nach England zurück?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht nie wieder. Ich habe versprochen, für meinen Großvater zu sorgen. Und ich halte mich daran.« Optimus schüttelte langsam den Kopf, und bald waren sie mitten im Getümmel. Sie fuhren am Bondi-Palast vorbei. Optimus blickte zu den Fenstern empor und erwartete fast, Grace Pensilva zu sehen. Frederick Genteel schlief unruhig. Man hatte Ihn in einen Raum des Bondi-Palasts gebracht; ein Arzt war gekommen und hatte ihm Laudanum gegeben. Der Patient, so hatte er betont, brauche nur Ruhe. Grace beugte sich über ihn und strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn. Er lag in Hemd und Hose da und sah sehr schwach und verletzlich aus. Grace hörte jemanden die Treppe heraufkommen. Vor der Tür blieb er stehen. Sie wartete. Dann rannte sie barfuß über die Fliesen und öffnete. Vor ihr stand, Genteels Waffe in der Hand und mit unschlüssiger Miene, Ben Barlow. »Wie geht’s ihm?« »Er schläft.« »Ich wollte ihm sein Entermesser bringen.« »Du kannst es mir geben.« »Aber vorher muß ich dir noch was sagen, dir ganz alleine.« Plötzlich entschlossen, zog er sie auf den Korridor und machte die Tür zu. »Was mußt du mir sagen?« »Frederick Genteel, das ist ’n guter Mann, und ich will -437-
wissen, wie du zu ihm stehst. Ich hab’ dir gesagt, daß er der Käptn vom Zollkutter war. Ich hab’s dir gesagt, als ich von England rüber bin. Und ich hab’ lange darüber nachgedacht. Du wolltest rauskriegen, wer der Käptn ist, damit du dich rächen kannst. Damals hast du Frederick Genteel nicht gekannt. Aber jetzt kennst du ihn. Und wir wissen beide, daß er nie was getan hätte, für das er sich schämen muß...« »Komm zur Sache, Ben. Was willst du?« »Daß ihm nichts passiert. Kannst du mir in die Augen seh’n und schwören, daß er nicht in Gefahr ist?« »Wenn er in Gefahr ist, dann nur, weil er sich zuviel zumutet, bevor er gesund ist. Hast du vergessen, daß ich ihn gepflegt habe?« »Nein«, antwortete Barlow. »Aber kann ich dir trauen?« »Das kannst du.« Sie blickte ihn mit nassen Augen an. »Oder glaubst du nicht, daß ich ihn liebe?« Sie nahm Barlow mit der einen Hand die Waffe ab und klopfte ihm mit der anderen auf die Schulter. »Du willst auch, daß es ihm gut geht, nicht wahr? Das wollen wir alle.« Barlow war fast überzeugt, aber der Rest eines Zweifels blieb. Entweder war Grace eine weitaus bessere Schauspielerin, als er sich hatte träumen lassen, oder sie meinte es ernst. Und dann war Genteel bei ihr so sicher, wie er es sich nur wünschen konnte. »Darf ich ihn sehen?« »Der Arzt sagt, er braucht Ruhe. Komm morgen vormittag wieder.« Als Barlow gegangen war, kehrte Grace ins Zimmer zurück. Frederick schlief immer noch. Sie trat ans Fenster, zog das Entermesser aus der Scheide, hielt es ins Abendlicht und betrachtete es. Es war eine Waffe wie viele. Drahtumwickeltes Heft, silberner Knauf, das Stichblatt etwas rostig, die Klinge -438-
blitzblank. Sie betrachtete es gründlich, suchte nach Spuren, es mußte befleckt sein... Doch sie fand keine Spuren. Mindestens ein Mensch war durch diese Waffe zu Tode gekommen, aber es war nichts davon zu sehen. »Grace!« Ein kraftloses, heiseres Flüstern. Sie drehte sich beklommen um; sie fürchtete, er könnte ihre Gedanken erraten haben. Seine Lippen bewegten sich. »Wo bist du?« fragte er. »Hier.« Sie legte das Entermesser auf den Tisch und kniete neben Frederick nieder. Ihre Sorge um ihn war so groß, daß sie zu ersticken meinte. Seine Augen waren geschlossen, doch seine Lippen bewegten sich wieder. Er wollte noch etwas sagen. Schließlich verstand sie es. »Verlaß mich nicht.« »Nein, ich verlasse dich nicht, Frederick. Nie.« Sie legte sich neben ihn und nahm seine Linke in ihre beiden Hände. Das Licht, das vom Fenster her kam, wanderte langsam durch den Raum, malte Streifen an die Wand und fiel auf das Entermesser. Frederick schlief wieder. Jetzt atmete er ruhig. Das Licht wurde blasser. Auch Grace schlief ein. Eine Stimme rief sie im Traum, erstickt, verzweifelt, die Stimme eines Ertrinkenden. Ein Gesicht erschien im strudelnden Wasser. War es Frank? Oder Frederick? Die Augenhöhlen waren leer. Aus einer kroch eine kleine Krabbe heraus. Ein Beben überlief sie. Genteel spürte das Beben. Der Zollkutter rammte die Gig. Holz splitterte. Er kämpfte darum, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, den rechten Arm mit dem Entermesser gereckt. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Wade, eine Stimme rief: »Um Christi willen! Erbarmen!« Er kannte diese Stimme. Das Entermesser sauste nieder. Dann stürzte er, stürzte, stürzte, stürzte. Über ihm dröhnten Hufschläge. -439-
Er wachte auf. Explosionen knatterten, grelle Blitze erhellten den Raum. In ihrem flackernden Schein sah er die schlafende Gestalt neben sich, ein liebes, ängstliches Gesicht, das er kannte. Wo waren sie? Er schwang sich aus dem Bett. Die alte Wunde an seinem Bein schmerzte. Er hinkte zum Fenster. Der Nachthimmel war voll berstender Sterne, goldene, rubinrote, saphirblaue. »Schnell, Grace, komm und sieh dir das an! Es ist herrlich!« Sie trat zu ihm, und er legte seinen gesunden Arm um sie. Im Licht der Feuerwerkskörper sah er, daß ihre Miene immer noch bang war. »Was ist?« »Hab keine Angst, ich bin bei dir. Ich behüte dich.« Er küßte sie. Er küßte ihre Stirn, ihre Lider, ihre Wangen, ihren Mund. Er spürte, wie Leben und Wärme in sie zurückströmten. Sie küßten sich, sie hielten sich aneinander fest, als sei dies ihre einzige Rettung. »Da!« sagte Grace nach einer Weile. »Die Türen gehen auf.« Auf der anderen Seite des Platzes öffnete sich das Hauptportal der Kathedrale. Schwankend, von Männern auf Stangen getragen, erschien das Heiligenbild. »Wie schön!« rief Grace, als die Figur mit ihrem blauen Gewand im Licht unzähliger Fackeln erstrahlte. Frederick stand hinter ihr. Die rechte Hand hatte er um ihre Taille gelegt, mit der Linken streichelte er ihre Brüste. Feuerblumen blühten am Himmel, Lichtgarben regneten nieder, Weihrauchduft stieg von der Straße auf. Frederick zog Grace ins Dunkel des Zimmers zurück. Sie wandte sich um und nahm sein Gesicht in ihre Hände. »All das ist für uns«, flüsterte er. Sie küßten sich wieder. Die Lichter der Prozession entfernten sich, Gesang und Gebete verhallten. »Willst du mich?« flüsterte sie. -440-
»Stell keine dummen Fragen.« »Aber dein Arm...« »Zum Teufel mit meinem Arm.« »Morgen früh fahren wir zum Pilzfelsen. Ich werde hinaufsteigen und das Mittel holen, das dich heilt.« »Ich kann nicht bis morgen warten. Ich will dich jetzt. Verstehst du nicht, Grace? Ich brauche dich. Ich habe dich immer gebraucht. Ich habe es nur nicht gewußt.« Ein unsicheres Lächeln kräuselte ihre Lippen. »Und Felicity?« »Zum Teufel mit Felicity.« »Sie wird dir nie verzeihen.« »Das kümmert mich nicht. Grace, sag, willst du mich nicht?« »Was meinst du, warum ich dir hierher gefolgt bin?« Sie löste sich von ihm. Ohne das Licht der Fackeln war sie kaum zu erkennen. Als er bei ihr war, war sie nackt. Er wollte sie umarmen. »Warte«, sagte sie, eine Hand gegen seine Brust gelegt. »Dem Arm... Du darfst dir nicht weh tun.« Er spürte, wie sie ihm das Hemd aufknöpfte, seine Gürtelschnalle löste, ihm die Hose von den Hüften streifte. Er spürte ihre Lippen auf seiner Brust. Er spürte ihre Finger um sein Geschlecht. Es verschlug ihm den Atem. Er sank mit ihr aufs Bett, küßte ihre Brüste, grub die Zähne hinein, bis sie aufschrie. Er drang in sie ein. Ihre Zunge schob sich zwischen seine Lippen. Ihre Fersen umklammerten seinen Rücken. Sie kämpften um ihr Leben, sie rangen am Rande des Todes, ein Fleisch, ein Schicksal, ein Puls, ein Herzschlag. Sein Schwert in ihrer Scheide, stoßend, stoßend, tötend. Ja, es würde sie töten. -441-
Als er wieder zu sich kam, schien der Vollmond durchs Fenster. Sie hatte sich an ihn geschmiegt und küßte ihn. »Habe ich geschlafen?« »Ja«, sagte sie. »Den Schlaf des Gerechten.« »Ich bin es nicht. Nicht gerecht.« »Du bist ein Ehrenmann.« Er seufzte. »Es gibt etwas, das du wissen solltest, wenn du es nicht schon weißt.« »Ich will es nicht hören.« »Du mußt. Wenn du mich liebst, Grace, wenn du mich wirklich Hebst, mußt du mich anhören. Ich darf es dir nicht verschweigen.« »Ich liebe dich, aber du brauchst es mir nicht zu sagen.« »Es läßt mir keine Ruhe. Du mußt mir verzeihen.« »Verzeihen?« »Ich war der Mann mit der Maske, der Kapitän des Zollkutters, der Mann...« »Der meinen Bruder getötet hat«, ergänzte sie. »Ich weiß.« »Aber du hast nie darüber gesprochen.« »Glaubst du nicht, daß ich dir schon längst verziehen hätte? Jan King sagte mir, er habe dich bei der Beerdigung gesehen. Es war nicht allzu schwer, sich einen Reim darauf zu machen.« »Jan King hast du nicht verziehen.« »Das war etwas anderes. Jan King hat meinen Bruder verraten.« »Du siehst das alles falsch, Grace, dein Bruder hat es nicht besser verdient...«, begann er, doch sie setzte sich plötzlich auf, erstarrt und verhärtet. »Ich dulde nicht, daß du das sagst!« »Beruhige dich.« Auch er setzte sich auf und legte den Arm -442-
um sie. »Es tut mir leid«, sagte sie später. »Was sollen wir machen?« »Du mußt zu Felicity zurückkehren, und ich werde gehen.« »Nein, das ertrage ich nicht. Wir müssen zusammenbleiben.« »Hast du Scully vergessen? Ich muß Malta verlassen, bevor er mich findet.« »Ich komme mit dir.« »Nein, du bleibst hier, Frederick. Du mußt hierbleiben. Schlaf jetzt. Wir haben morgen viel vor. Wir müssen früh aufstehen, wenn wir noch den Pilz der Ritter holen wollen.« »Schlafen? Wo wir so viel versäumte Liebe nachzuholen haben?« »Und du mußt etwas essen«, sagte sie streng. »Sie haben Wein und ein kaltes Abendbrot vor die Tür gestellt.« »Zum Abendbrot verspeise ich dich«, entgegnete er und verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. »Ich möchte Sie bitten, etwas für mich zu verwahren«, sagte Optimus und lächelte Maria an. Sie saßen beim milden Licht der Kerzen im Salon; Graf Scicluna hatte sich schon zurückgezogen. Der Raum schien freundlicher als am Morgen. Der Mahagonitisch schimmerte, Karaffen und Gläser standen darauf. Optimus wühlte in seiner Tasche und war ein wenig verlegen. Als er gefunden hatte, was er suchte, stand er auf und ging um den Tisch herum, zu der Chaiselongue, auf der Maria saß. Er hielt es ihr entgegen. »Das kann ich nicht annehmen. Es ist zu kostbar.« »Ich schenke es Ihnen ja nicht – noch nicht –, aber Sie sollten es haben. Es ist schließlich von Ihrer Mutter. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.« Behutsam drehte er den Ring, an dem die Kette befestigt war. Das Medaillon sprang auf, und Maria betrachtete -443-
die beiden Miniaturen. »So sah Frederick Genteel also aus«, sagte sie leise. »Wie hübsch er doch war! Ich glaube, ich hatte ihn auch geliebt, wenn ich ihn gekannt hätte.« »Ich dachte, Sie seien recht zurückhaltend mit Ihrer Liebe?« »Nicht bei außergewöhnlichen Menschen.« Sie lächelte ihn an. Es war ein Lächeln, das dem von Grace Pensilva in der Miniatur glich. Optimus klappte das Medaillon zu und legte es Maria um. »Es steht Ihnen gut – wissen Sie, daß Sie schön sind?« Sie legte einen Finger gegen seine Lippen. »Nicht so schön wie Grace. Sie müssen sie immer noch finden.« »Auf andere Weise schön«, sagte er und faßte ihre Hand, »auf andere Weise, nicht weniger schön. Es ist mir ernst. Und Sie verwahren das Medaillon für mich, bis ich wiederkomme?« »War es Ihnen ernst, als Sie vorhin mit meinem Großvater darüber sprachen, sich in die Firma einzukaufen? Er hat Ihnen geglaubt. Sie dürfen ihn nicht enttäuschen.« »Auch das war mir ernst. Wenn ich Grace Pensilva gefunden habe, kehre ich nach Malta zurück... Sie haben mir anfangs mißtraut, nicht wahr? Und jetzt?« »Jetzt halte ich Sie für einen liebenswerten und zuverlässigen Menschen.« »Sie werden mir schreiben?« »Ich werde Ihnen schreiben.« Draußen krachten immer noch Kanonenschläge. Im Feuerwerk leuchtete die düstere Zitadelle plötzlich auf, als stünde sie in Flammen. Maria und Optimus eilten ans Fenster. Er nahm ihre Hand. Ihre Wangen glühten. Errötete sie? Er hoffte es. -444-
Sie standen im blauen Licht des Morgens auf, bevor die Stadt erwachte. Hand in Hand gingen sie die staubige Straße entlang, zwischen den kleinen Steinmauern dahin, die die Felder einfriedeten. Es war noch kühl, und der bleiche Mond hing noch am Himmel, so groß, daß sie meinten, ihn greifen zu können. »Ich fürchte, du mußt allein auf diesen Felsen klettern, mein Arm ist völlig steif«, sagte Frederick. »Sorge dich nicht. Bald bist du geheilt. Komm, es ist nicht mehr weit.« Als die Sonne über dem Horizont aufstieg, gelangten sie an den Rand eines Steilhangs. Zu ihren Füßen befand sich ein See, und in der Bucht lagen ein paar Boote. Grace eilte vor Frederick den Pfad hinunter. »Glaubst du, daß das richtig ist?« fragte er, als sie eines der Boote losmachte. »Wir haben niemanden um Erlaubnis gefragt.« »Wir leihen es doch nur aus. Wie genau du bist! Steig ein. Wenn wir uns beeilen, sind wir zurück, bevor jemand das Boot vermißt.« Das Wasser war kristallklar. Frederick beobachtete, wie kleine Fische davonschossen, als Grace die Ruder eintauchte. Es war Meerwasser, das verrieten ihm der Tang und die Seeigel, aber wo war das Meer? Felswände schlössen sie auf allen Seiten ein. Er saß Grace gegenüber, auf der hinteren Ruderbank, und zog die Hand durchs Wasser. Es rief Erinnerungen an einen Tag mit seinem Vater wach. Mit seinem Vater, dem Lotsen Hai King, und seinem Sohn Jan... Als er Grace anblickte, wurde ihm das Herz so weit, daß es weh tat. Seine Liebe zu ihr war mehr Schmerz als Lust, und dennoch würde sie nie enden. Und Grace betrachtete, unablässig rudernd, dieses längliche, betrübte, zerfurchte Gesicht. Wie angestrengt er war, wie blaß. Wenn sie sich je mit einem Mann verbunden gefühlt hatte, dann mit ihm, ihrem Frederick. Er blickte an ihr vorbei auf die Felswände, die keinen -445-
Durchlaß zu gewähren schienen. Dann sprach er, sprach wie im Traum. »Ich hatte gestern morgen eine sonderbare Begegnung. Es war nach dem Ball. Ich ging allein nach Hause. Eine Gestalt näherte sich mir, ein Mann von der Rosenkranzbruderschaft. Er versperrte mir den Weg. Ich holte eine Münze aus meiner Börse und hielt sie ihm entgegen, weil ich hoffte, er werde mich dann vorbeilassen. Aber er nahm sie nicht an. Er schlug sie mir aus der Hand. Er flüsterte etwas. ›Deine Seele kannst du nicht zurückkaufen‹, sagte er. Dann trat er beiseite und bedeutete mir weiterzugehen. Es hat mich betroffen gemacht. Das sollte es nicht, ich weiß, ist alles Aberglaube, doch seitdem lastet eine tiefe Schwermut auf mir.« Grace schien ihn nicht zu hören. Auch sie handelte wie im Traum, ruderte schlafwandlerisch auf die Durchfahrt zu, die sich unversehens vor ihnen auftat. Ihre Augen wanderten zu dem Ködermesser, das neben ihr in der Ducht stak. »Grace!« Sie blickte fast schuldbewußt auf. »Was ist?« fragte sie, aus weiter Ferne zurückkehrend. Er seufzte. »So wenig Zeit.« Ihr Boot glitt durch eine Höhle, die zum offenen Meer führte. Es war wie eine Reise vom einen Leben ins andere. Am Ende der Höhle glitzerten kleine Wellen Im Sonnenschein. Noch aber fuhren sie durch die samtene Dunkelheit. »Ich liebe dich.« Sie merkte kaum, daß sie gesprochen hatte. »Ich weiß, Grace, ich weiß.« Sie hörte ihn antworten. Sie kamen wieder ans Licht, und Grace sah, daß das Dollbord mit Kerben übersät war, Spuren des Messers, das dort steckte. Sie dachte an ein anderes Dollbord, an die Kerben, die ein anderes Messer hinterlassen hatte. Plötzlich -446-
verspürte sie den Drang, sich das Messer ins eigene Herz zu stoßen. »Da! Da ist er!« Fredericks Stimme schreckte sie auf, ein Ruder entglitt ihr und fiel polternd ins Boot. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Doch er sah an ihr vorbei aufs Meer hinaus, wo der Pilzfelsen steil aus dem Wasser ragte. Sein Gesicht, plötzlich glatt und hoffnungsvoll, wurde vom Schein des jungen Tages erhellt. In diesem harten Morgenlicht sah sie ihn als das, was er war: ein guter Mann und, trotz seines Zauderns und seiner Unschlüssigkeit, ein starker Mann. Sie liebte ihn. Sie wußte es mit all der Klarheit, die ihr das Licht des Mittelmeeres bot. Und doch war er der Mann, der Frank getötet hatte, der durch ihren Racheschwur untergehen mußte. Hatte sie noch den Mut? War sie imstande, dieses Opfer zu bringen? »Bist du glücklich?« fragte sie, während sie aufs Meer hinausruderte. »Du weißt, daß es auf diese Frage keine Antwort gibt«, sagte er mit erstickter Stimme. »Es bringt mich noch um, Grace, es bringt mich noch um.« Als der Fuhrmann Optimus beim Pförtnerhaus von Leet absetzte, sah er im Park einen langen, dürren Mann, der ein Pferd bewegte. Er hatte aus zwei Gründen beschlossen, schon hier vom Wagen zu steigen: Zum einen wollte er mit Charles Barker über seine Erlebnisse auf Malta sprechen; zum andern hatte er vor, über Harberscombe nach Branscombe zu Fuß zu gehen. Der Fuhrmann würde sein Gepäck zu Hause abladen. Es war ein schöner Morgen, und der Fußmarsch würde angenehm sein. Das Pförtnerhaus wirkte verwahrloster denn je, aber Optimus war nicht darauf vorbereitet, die Fenster mit Brettern vernagelt zu finden. An der Tür hing ein Vorhängeschloß. Nach den -447-
vielen Blättern auf der Schwelle und den Spinnweben In den Ecken zu schließen, war sie seit geraumer Zeit nicht mehr geöffnet worden. Was war mit Barker geschehen? Die Frage ließ sich leicht beantworten: Er war hier stets nur geduldet gewesen, und nun hatte man ihm gekündigt. Optimus schüttelte traurig den Kopf und machte sich auf den Weg nach Harberscombe. Auf der alten Brücke, die über den Arun führte, blieb er stehen und blickte zum Schloß hinüber. Die Herbststürme hatten schon die Bäume leergefegt, und er sah das alte Gebäude deutlicher als je. Stand da am Turmfenster eine Gestalt? Er wußte es nicht genau, die Entfernung war zu groß. Und er mußte sich zugeben, daß er nie den Mut gefunden hatte, Nancy Genteel aufzusuchen, weniger aus Ehrerbietung oder Furcht, sondern aus Unwillen gegen diese Frau. Nun, Nancy sollte ihn nicht weiter kümmern. Er sah Fredericks hochgewachsene Gestalt, wie er versonnen am Arun entlangspazierte. Er wartete auf jemanden, der mit der Flut vom Armouth den Fluß hinaufrudern würde. Doch das war natürlich eine Einbildung. Frederick war nie von Malta zurückgekehrt. Es gab nur Mutmaßungen über sein Schicksal. Einige sagten, er sei mit Grace Pensilva durchgebrannt, aber das konnte nicht sein, weil sie anschließend allein wieder in Harberscombe aufgetaucht war. Die meisten glaubten, er sei vor Gozo umgekommen; doch niemand wußte genau wo und auf welche Weise. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Eine unbestimmte Traurigkeit im Herzen, wandte sich Optimus ab und ging weiter. Der Weg verlief durch hügeliges Gelände, dreimal fiel er steil ab, dreimal stieg er wieder an. Dies war die Straße, auf der die Leute von Harberscombe einst ihre Toten nach Uglington gebracht hatten; auf ihr waren sie wieder zurückgekehrt, um zu Hause ihre Toten zu betrauern. Auch Grace Pensilva war nach ihrer Rückkehr diesen Weg gegangen. Optimus schritt munter aus. Das Gehen erfrischte ihn nach der -448-
Nacht, die er in der engen Postkutsche von Falmouth nach Kingsbridge verbracht hatte. Obwohl er nur kurze Zeit hier gelebt hatte, war es ihm eine Freude, die Landschaft wiederzusehen. Die dichten, vereinzelten Baumgruppen, die rote Erde, bereits vom herbstlichen Pflügen gefurcht, das braune Vieh, das auf den feuchten Wiesen weidete, das ferne, wolkenverhangene Dartmoor, alles war ihm vertraut. So versunken war er in die Betrachtung der Natur, daß er den Reiter nicht hörte, bis er dicht hinter ihm war. Optimus sprang beiseite, doch der Mann verlangsamte die Gangart seines Pferds, trottete neben Optimus her und sprach ihn an. »Sie sind doch der Mann, der so neugierig war wegen Grace Pensilva, nicht? Ich hab’ Sie erkannt, als Sie auf der Brücke stehengeblieben sind. Charles Barker brauchen Sie gar nicht erst zu suchen, den haben wir rausgeschmissen. Ich hab’ sowieso nie begriffen, warum sie den alten Trottel so lange dabehalten hat. Was wollten Sie denn von ihm?« Es lag etwas Streitlustiges im Ton dieses Mannes, das Optimus aufs äußerste mißfiel. Er lief wortlos weiter. »Na, nun mal raus damit!« herrschte ihn der Reiter an. »Das geht Sie gar nichts an«, erwiderte Optimus barsch. »Sie sind Ronald Coyte, nicht wahr?« fügte er hinzu. »Sie haben es sich gut eingerichtet, sehr gut. Hat sie Sie eigentlich geheiratet?« »Passen Sie bloß auf, was Sie sagen.« Optimus sah, wie Coyte die Finger fester um seine Peitsche schloß. Dem Mann war durchaus zuzutrauen, daß er sie auch benutzen würde. »Es war nicht böse gemeint. Sie haben sich Ihr Leben nicht ausgesucht... Keiner von uns. Würden Sie mir verraten, warum Sie mir nachgeritten sind? Doch wohl nicht, um mir das Neueste von Charles Barker zu berichten?« »Wenn Sie sich ’n bißchen besser benommen hätten, würde ich Ihnen vielleicht was sagen. Aber jetzt...« Eine Ewigkeit, so schien es zumindest, ritt Ronald schweigend dahin. -449-
»Über Grace Pensilva?« half Optimus nach. »Sie würden wohl gerne wissen, warum sie sich umgebracht hat, wie?« Sie waren zu einer Weggabelung auf der Kuppe des Hügels gelangt. Wenn er ihn angehört hatte, würde Optimus auf keinen Fall in die Richtung gehen, die Coyte einschlug. Er wußte nicht, warum, aber er verabscheute diesen Mann. »Sie hat sich umgebracht?« Selbstmord, weshalb war er nicht darauf gekommen? Das erklärte, warum das Grab außerhalb des Friedhofs lag. Das erklärte auch, warum die Leute von Harberscombe so beharrlich geschwiegen hatten. »Miss Nancy hat mir gesagt, wenn ich Grace mal wiedersehe, soll ich’s ihr sagen. Sie hat was gehabt, was von Frederick, das sie ihr geben wollte... Na, und dann ist Grace gekommen, auf der Straße hier, genauso wie Sie jetzt. Ich hab’s Miss Nancy gesagt, und sie hat mir ’n Paket gegeben, und ich bin Grace nach mit ’in Pferd. Unterwegs hab’ ich Onkel Bill getroffen, und der hat mir gesagt, wo sie hin ist. Ich hab’ sie eingeholt und hab’ ihr das Paket gegeben – sie wollt’s nicht nehmen, bis ich ihr gesagt hab’, es ist von Frederick. Und dann hat sie’s auch nicht gleich aufgemacht. Als sie gedacht hat, ich bin weg, ist sie in die Kirche damit. Sie hat sich in ’ne Bank gesetzt und hat’s aufgemacht. Ich hab’ sie beobachtet – durch ’n Fenster.« Optimus sah die Szene deutlich vor sich: Ronald, der durch das bleigefaßte Glas spähte, und Grace, die damit beschäftigt war, die Verpackung zu entfernen. »Was war in dem Paket?« »Das würde Sie wohl interessieren, wie?« »Sie haben gesagt, Sie wollten es mir erzählen. Was soll das, wenn Sie jetzt mittendrin aufhören? Also, was war in dem Paket?« »So ’n Buch.« -450-
»Was für ein Buch?« »So ’ne Art Notizbuch.« »Und was tat sie?« »Sie hat reingesehen. Dann hat sie zu lesen angefangen. Hat keine zehn Minuten gedauert. Dann hat sie das Buch zugemacht. Ich hab’ noch nie gesehen, wie sich ’n Mensch so schnell verändert hat. Als sie angefangen hat, war sie so stolz wie immer, und als sie aufgehört hat, war sie völlig fertig.« »Was geschah mit dem Buch? Hat sie es behalten?« »Weiß ich nicht. Als ich gesehen hab’, was mit ihr los ist, bin ich gegangen und hab’ mich gefreut. Da bin ich ganz ehrlich: Ich hab’ mich gefreut, daß sie fertig war, so fertig, wie sie Jan King fertiggemacht hat und mich und Frederick Genteel.« »Sie sagten, Onkel Bill habe sie gesehen – wer sonst noch?« »Weiß ich nicht. Ich hab’ gehört, daß sie bei Emma Troup vorbei ist.« »Und das ist alles?« »Was wollen Sie denn noch?« »Was stand denn in dem Buch, hat Ihnen das Miss Nancy nicht gesagt?« Ronald Coyte schüttelte den Kopf. »Sie hat bloß gesagt, das wird ihr die Augen ’n bißchen öffnen.« »Glauben Sie, ich könnte mit Miss Nancy darüber reden?« Ronald schüttelte noch einmal den Kopf. »Die sagt Ihnen nichts. Außerdem will sie niemand sehen.« Optimus empfand ein unerwartetes Mitgefühl für diesen einsamen Mann. Er hatte es sich wohl doch nicht so gut eingerichtet, wie Optimus gedacht hatte. »Aber den jungen Scully empfängt sie, der kommt sie besuchen.« Wieder sah es so aus, als werde Coyte ihn gleich schlagen. -451-
»Sie wissen genug, Mr. Shute, mehr als genug. Wen Miss Nancy empfängt, das ist ihre Sache. Deswegen fragt sie ’nen Stallmeister nicht um Erlaubnis.« Optimus war seltsam berührt von dieser Bemerkung. »Und was sagen Sie zu Grace Pensilva?« »Die konnte man nicht so leicht vergessen. Als ich jung war, war ich mal ziemlich verrückt nach ihr.« Er lachte verlegen. »Aber das ist so lange her, das ist schon gar nicht mehr wahr.« Er gab seinem Pferd die Sporen. »Wiederseh’n, Schulmeister.« Wie merkwürdig, dachte Optimus, als Ronald Coyte den Weg zurückritt, den er gekommen war, ich habe diesen Mann verachtet, und nun, nach kaum fünf Minuten, sehe ich ihn als Opfer. Er ging weiter, den einen Hügel hinunter und den andern hinauf, dann wieder abwärts und die letzte lange Steigung vor Harberscombe hinauf. Neben ihm im Tal lag die LangstoneMühle. Dünner Rauch stieg aus ihrem Schornstein. Das Mühlrad ächzte leise. Optimus ließ die Höfe außerhalb des Dorfs hinter sich, erblickte die Kirche hinter den Ulmen und kam auf den Friedhof. Dort, im Schein der Herbstsonne, wisperte leise das vertrocknete Gras. Dr. Cornishs Grabstein sah noch so neu aus wie an dem Tag, an dem er aufgestellt worden war, doch das würde vergehen, auf Graces Grab war der Efeu weitergewuchert. Eine Ranke hatte die Grabplatte ein wenig angehoben. Optimus kniete nieder, um einen Blick darunter zu werfen. Er sah nichts als Dunkelheit, roch nichts als Staub. Lag hier wirklich Grace Pensilva? Und wenn ja, konnte er es ertragen, sie endlich zu finden? »Bleib weg von Harberscombe, Grace.« Grace blickte auf. Sie kannte die Stimme; sie gehörte Onkel Bill Terry. Er saß auf einem großen Felsblock oberhalb der Mühle, von dem aus man den Weg und die Landschaft -452-
überblicken konnte. Grace hatte an einem Gatter gelehnt und an den Abend gedacht, an dem sie zum Erntefest gegangen und ebenfalls hier stehengeblieben war. Nichts schien sich verändert zu haben. Die Wälder rauschten sacht; die Schlickflächen glänzten wie geschmolzenes Metall; die Rinder weideten friedlich auf der Wiese neben dem Damm, auf dem Coyte Äschen zu schießen pflegte; das Mühlrad drehte sich ächzend. Und dennoch war alles anders. Sie selbst hatte sich gewandelt. Sie hatte ihr Gelübde gehalten, aber sie war darüber ein anderer Mensch geworden. »Guten Tag, Onkel Bill«, sagte sie, so beherzt sie konnte. »Was willst du hier? Ist dir das noch nicht genug, daß einer weg ist?« fragte Onkel Bill von seinem Felsblock herunter. »Ich bin gekommen, um für die Toten zu beten.« »Aber bestimmt nicht für Jan King. Der hat kein Grab, an dem man beten kann.« »Warum soll ich für Jan King beten?« »Bet am besten für dich selber. Ich hab’ euch gesehen damals, Grace, ich hab’ gesehen, wie ihr los seid von den Karracken. Ich war oben auf ’in Barrow. Und ich weiß, daß bloß du weg bist mit dem Franzosen. Caradec hat's mir gesagt. Als er die Gig gefunden hat, warst bloß du drin. Wenn du denkst, du kannst in Harberscombe bleiben... Das schlag dir aus dem Kopf. So jemand wie dich wollen wir hier nicht haben.« »Ich gehe, wann ich will.« »Wenn du morgen noch da bist, sag’ ich’s dem Magistrat.« »Du kannst mich nicht einschüchtern. Aber beruhige dich, es besteht keine Gefahr, daß ich bleibe. Was soll ich in Harberscombe? Man hat mich hier nie haben wollen.« Grace ging weiter und kam ins Dorf. Sie blickte weder zur Rechten noch zur Linken. Es kümmerte sie nicht, wer sie sah. Doch die Gassen waren wie leergefegt. -453-
Als sie sich dem Friedhof näherte, schlug ihr Herz schneller. Frank, Frank, sagte sie zu sich, auch dich haben die Leute hier nie haben wollen, sie haben dir nie vertraut. Es war ihnen gleichgültig, daß du ermordet worden bist. Aber du warst ein besserer Mensch als sie alle, und ich habe dich gerächt. Ich habe es deinem Verräter vergolten; ich habe es deinem Mörder vergolten. Sie suchte das Grab. Wo war es? Unkraut hatte es überwuchert. Kein Grabstein schmückte es. Sie stand inmitten raschelnder Disteln. »Frank, Frank«, flüsterte sie, »ich habe dir die Treue gehalten. Ich habe es bitter bezahlt, doch ich habe dich gerächt. Die Männer, die dir das angetan haben, sind nicht mehr. Jetzt kannst du in Frieden ruhen. Ruhe, lieber Frank, und auch ich werde ruhen. Ich habe den Preis bezahlt, aber dir ist Gerechtigkeit geschehen.« Sie blieb noch eine Weile am Grab. Warum fühle ich nichts, fragte sie sich, warum diese Leere? »Grace! Grace!« Jemand rief sie. Es war Ronald Coyte. Er kam auf sie zu und hielt ihr ein kleines Paket entgegen. »Was ist das?« »Von Miss Nancy.« »Dann will ich es nicht.« »Sie hat gesagt, es ist was von Frederick.« Grace war sicher, daß dieses Geschenk nicht freundlich gemeint war, doch sie konnte es nicht zurückweisen. Als Ronald gegangen war, eilte sie in die Kirche und öffnete das Paket. Sie fand ein Taschenbuch darin. Die Einträge waren von Fredericks Hand. Erst verstand sie nicht viel mehr als die allgemeine Richtung, ahnte, wo und wann Frederick es geschrieben hatte. Dann drückte sie das Buch plötzlich krampfhaft an die Brust. Sie las -454-
die Zeile noch einmal. Da stand der Name, kein Zweifel. Fredericks Handschrift war klar und deutlich. Sie zwang sich weiterzulesen, und ihr Entsetzen nahm zu. Nun wußte sie, warum ihr Nancy Genteel dieses Buch hatte bringen lassen. Es war Gift; ein Gift, dem sie nicht widerstehen konnte; ein Gift, das sie trinken mußte. Sie las, und ihr wurde so schwach, daß sie sich auf die Kirchenbank vor ihr stützen mußte. Es war eine Fälschung, ein Komplott, das Nancy geschmiedet hatte, um sie zu vernichten. Es war ihr zuzutrauen. Doch in ihrem Innersten wußte Grace, daß es kein Komplott war. Wozu auch, wenn die Wahrheit vernichtend genug war? Hier sprach Frederick zu sich selbst, sie erkannte den Ton. Und nicht nur das – alles paßte. Die Logik war unentrinnbar. Nein! Nein! Nein! Sie weigerte sich, es zu verstehen. Als sie die letzte Seite umgeblättert hatte, ließ sie das Buch fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Nein! Es konnte nicht sein. Doch es war so. Armer Jan! schrie sie innerlich. Und Frederick! Frederick! Sie konnte nicht ruhig sitzenbleiben. Sie nahm ihre Tasche und rannte zu Emma Troups Haus. Die Tür war nicht verschlossen; sie stieß sie auf. Der Kamin war kalt. Sie saß am Tisch und wartete. Sie biß sich auf die Knöchel. Sie wollte Emma alles sagen, ihr Herz ausschütten, fragen, ob sie auf Vergebung hoffen durfte. Fast hätte sie Gott angerufen, aber sie konnte es nicht. Worum sollte sie beten? Um Hilfe? Um Vergebung? Und dann verfluchte sie Ihn. Wenn Er es nicht geduldet hätte, wäre ihre Rache nie gelungen. Frederick, Frederick... Würde er ihr je verzeihen? Wo immer er war, würde er sie verstehen? Die Tränen strömten über ihr Gesicht und fielen auf die Papiere, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Oh, Emma, Emma, flehte sie, komm bald nach Hause, sonst verliere ich den Verstand. -455-
»Na, sind Sie jetzt schlauer nach Ihrer Reise?« fragte Mrs. Troup. Sie saß mit ihrem Strickzeug am Kamin und wunderte sich in keiner Weise über Optimus’ Besuch, sondern deutete nur mit einladendem Nicken auf einen Stuhl. »Ein wenig.« »Ich hab’s ja gewußt, daß Sie in Malta nicht alles finden, was Sie wissen wollen.« »Grace ist nach Harberscombe zurückgekehrt. Sie ist zu Ihnen gekommen. Sie haben sie gesehen, nicht wahr?« Emma Troup schüttelte traurig den Kopf. »Nein, ich hab’ sie nicht gesehen. Ich war in Salcombe und bin erst am nächsten Morgen wiedergekommen. Da war Grace weg, nur ihre Sachen hat sie hier auf dem Tisch liegen lassen.« »Das Buch auch, Genteels Taschenbuch? Haben Sie es noch?« »Nein, das hab’ ich nie gehabt.« Mrs. Troups Antwort klang bestimmt, und Optimus glaubte nicht, daß ihn die alte Dame hinters Licht führen wollte. »Aber es gab ein solches Taschenbuch. Grace las es, sie erfuhr etwas, das sie zur Verzweiflung trieb.« »Ja, verzweifelt war sie sicher, das hab’ ich mir in dem Moment gedacht, wo ich hier reingekommen bin und ihre Sachen gesehen hab’. Aber sie war nicht mehr da, und ich hab’ nicht gewußt, wo ich sie suchen soll.« »Aber sie wurde später gefunden, nicht wahr?« »Viel später, ja, da hat man eine Leiche gefunden. Kann sein, daß es Grace war... Sie wissen doch, wie das ist, wenn jemand ’ne halbe Ewigkeit im Wasser gelegen hat. Jedenfalls, Dr. Cornish hat die Grabplatte bezahlt, und sie ist außerhalb vom Friedhof begraben worden – der Pfarrer hat gesagt, auf dem Friedhof will er keine Selbstmörderin haben.« -456-
»Ich hoffe, daß sie jetzt Frieden hat.« Eine Weile hörte man nur Emma Troups Stricknadeln klappern. »Im Leben hat sie keinen gehabt, sie hat nicht gewußt, was das ist. Und ich fürchte, im Tod hat sie auch keinen... Wissen Sie schon, daß in Branscombe ein neuer Schulmeister ist? Kein Philosoph wie Sie, Mr. Shute, aber das muß ja auch nicht sein auf einem Dorf. Sie waren viel zu gescheit für Branscombe. Und was machen Sie jetzt? Bleiben Sie hier?« »Nur kurze Zeit. Ich muß einiges erledigen. Bevor ich abreise, werde ich Sie noch einmal besuchen. Und jetzt muß ich gehen. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein.« Unterwegs dachte Optimus über Grace Pensilva nach und wunderte sich. Selbst jetzt, allen Beweisen zum Trotz, fiel es ihm schwer zu glauben, daß sie tot war. Sie war so lebendig gewesen. Sie mußte irgendwo weiterleben. Als er bei Dr. Cornishs Haus eintraf, seinem Haus, stellte er staunend fest, daß die Hintertür verschlossen war. Er hatte Mrs. Kemp rechtzeitig geschrieben und sie davon unterrichtet, wann er kommen würde. Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür, aber es war zweifelhaft, ob sie ihn hören würde. Außerdem sagte ihm etwas, daß das Haus verlassen war. Er ging zur Vordertür und lugte durch die Fenster. In den Kaminen brannte kein Feuer, aus den Schornsteinen stieg kein Rauch. Er stand und lauschte. Doch er hörte nichts als das leiernde Gemurmel aus dem Schulhaus jenseits der Straße, wo die Kinder noch beim Unterricht saßen. Er kehrte zur Hintertür zurück. Der Fuhrmann hatte seine Reisetasche auf der Schwelle abgeladen. Es war eine lächerliche Situation. Optimus hämmerte wieder gegen die Tür und rief. Schweigen. »Mrs. Kemp! Mrs. Kemp!« Schweigen. Er klopfte, so fest er konnte, legte das Ohr an die Tür und versuchte, irgendein Geräusch von drinnen zu hören. -457-
»Mr. Shute?« Optimus drehte sich um, peinlich berührt, in dieser Haltung angetroffen zu werden. Ihm gegenüber stand ein junger Mann mit schwarzem Rock und steifem, weißem Kragen. In der Hand hielt er ein Kuvert. »Ja.« »Ich habe Sie schon erwartet. Mein Name ist Clifford. Ich bin der neue Schulmeister. Mrs. Kemp hat mich gebeten, Ihnen dies zu übergeben.« Der Umschlag war schwer; darin lagen der große, alte Schlüssel zur Küchentür und ein Blatt Papier. »Lieber Mr. Shute«, las Optimus, »nehmen Sie es mir bitte nicht übel, daß ich Ihr Haus unbeaufsichtigt lasse. Sie werden alles aufgeräumt finden. Sollte doch etwas fehlen, so wird Ihnen Mr. Clifford gerne aushelfen. Verzeihen Sie, aber ich kann nicht länger bleiben. Dieses Haus ist zu leer.« Unterschrieben war der Brief mit F. Kemp. Optimus bedankte sich bei Mr. Clifford, der zu seinen Schülern zurückkehrte. Der Schlüssel drehte sich schwerfällig im Schloß, die Tür ging auf, und Optimus trat in die Küche. Er spürte ihre Leere, spürte die Lücke, die Dr. Cornishs Tod gerissen hatte. Dort, am Kamin, stand sein Stuhl. Optimus dachte daran, wie er zum ersten Mal in diesen Raum gekommen war und gezögert hatte wie jetzt. Dort, an der anderen Wand, stand der lange Tisch mit den Bänken, an dem er dem Doktor gegenübergesessen hatte, zwischen ihnen der Stapel Papiere. Er hatte noch das Hämmern der Dachdecker im Ohr, die letzte Hand an das neue Schulhaus legten. Der Tisch war nicht abgeräumt, sondern so, wie Dr. Cornish ihn hinterlassen hatte. Eine Tonpfeife, ein Glas und eine angefangene Patience. Optimus konnte verstehen, warum Mrs. Kemp es hier unerträglich gefunden hatte. Er drehte die letzte Karte um. Es war der Herzkönig. Er legte die Patience zu Ende. Dann bemerkte er das Buch. Mit seinem dunklen Einband hatte er es auf den ersten Blick nicht gesehen. Er nahm es zur -458-
Hand, hielt es in das Licht, das durch das kleine Fenster fiel, und betrachtete es prüfend. War das...? Ja. Er wußte es, bevor er zwei Seiten gelesen hatte. Säuberliche Einträge; lange Absätze, da und dort datiert; er kannte die Schrift. Es gab keinen Zweifel daran, daß er Fredericks Notizbuch vor sich hatte. Er saß an Dr. Cornishs Platz auf der Bank und las begierig. Obwohl der Name der Stadt nicht genannt wurde, konnte Optimus aus mehreren Einzelheiten schließen, daß es sich um Salcombe handelte. Der Schreiber führte Tagebuch über sein Leben als Kapitän des Küstenschutzes. Es begann damit, daß er aus London eintraf und unter der Hand die Nachricht verbreiten ließ, er sei bevollmächtigt, stattliche Belohnungen für Auskünfte zu zahlen. Darauf folgten umständliche Aufzeichnungen über die Ausbildung der Besatzung, die er befehligen sollte, und es trat deutlich hervor, daß er keine allzu hohe Meinung von seinen Untergebenen hatte, was besonders für den Maat des Zollkutters, einen Mann namens Scully, galt. Vereinzelt fanden sich Eintragungen über erfolglose Patrouillenfahrten. Und dann kam es. »Endlich kommen wir weiter«, las Optimus. »Neun Uhr abends. Ich sitze am Kamin. Der Wirt hat soeben das Geschirr vom Abendessen abgeräumt. Es klopft ans Fenster. Ich greife zu meiner Pistole und öffne. Der Mann draußen hat noch mehr Angst als ich. Er befürchtet, bei dem Gespräch mit mir ertappt zu werden. Ich lasse ihn durchs Fenster ein. Er ist redegewandt, nicht so, wie ich mir einen Schmuggler vorgestellt habe, und er ist bereit, mir Auskünfte zu verkaufen und seine Kameraden zu verraten – für bemerkenswert wenig Geld, weitaus weniger, als ich erwartet hatte. Er sagt, er werde mir noch die Position des Ortes angeben, an dem die Fässer vertäut lägen, bis sie eingesammelt würden. Dafür wird er hundert Guineen sowie eine Schiffspassage nach Amerika erhalten und Straffreiheit zugesichert bekommen. Natürlich habe ich den Verdacht, daß er -459-
ein falsches Spiel treibt, aber er scheint es ernst zu meinen. Er sagt, sein Name sei...« Hier hatte jemand so heftig radiert, daß es fast ein Loch ins Papier gerissen hatte. Der Name war unkenntlich gemacht worden. Von Grace? Von wem sonst? Optimus fuhr fort zu lesen. Zwei Seiten weiter fand er die Antwort. »Der Agent, durch den ich meinen Gewährsmann habe überprüfen lassen, berichtet mir, er sei ein Mensch von bekanntermaßen jakobinischer Gesinnung, der samt seiner Schwester in Harberscombe wohne. Er sei vor kurzem aus Frankreich zurückgekehrt und habe mehrere Jahre in Amerika gelebt. Was, außer Geldgier, kann sein Beweggrund sein? Will er seine Kameraden strafen, weil es ihnen an revolutionärem Eifer mangelt? Wie auch immer, er wird uns mit seinem Verrat an die Schmuggler heranführen und uns in den Stand setzen, ein Exempel zu statuieren. Dieser Mann hat mir Eindruck gemacht, einen äußerst zwiespältigen freilich. Ich würde ihn unter Tausenden wiedererkennen, doch ich glaube kaum, daß er mich wiedererkennen wurde. Es wäre fast ein Ding der Unmöglichkeit. Ich habe unter den gegebenen Umständen die zusätzliche Vorsichtsmaßnahme getroffen, stets meine Stimme zu verstellen.« Trotz des fehlenden Namens lag auf der Hand, wer der Denunziant war: Frank Pensilva. Optimus überflog die Notizen über die Vorbereitungen für das Unternehmen. Er las, wie Genteel zu wiederholten Malen sein Gewissen erforschte und die Ehrenhaftigkeit des Ganzen in Frage stellte. Es war offenkundig, daß ihn nur Geldmangel dazu getrieben hatte, diese ihm wesensfremde Arbeit zu tun. Seine Dienstzeit bei der Flotte war zu Ende gegangen, und sein verschwenderischer Vater verweigerte ihm eine standesgemäße Apanage. Es war im Gespräch, daß er vielleicht die Führung des Gutes übernehmen sollte, doch man war sich noch nicht einig. Hawkins hatte ihn dazu überredet, Kapitän beim Küstenschutz zu werden, mit der Begründung, nur ein Ehrenmann könne der -460-
Versuchung widerstehen, mit den Schmugglern gemeinsame Sache zu machen. Zehn Tage später kehrte der Denunziant mit einem Zettel zurück, auf dem genau verzeichnet war, wo die Konterbande aus dem Wasser gefischt werden sollte. Er steckte ihn durchs Fenster. »Morgen abend«, flüsterte er und rannte davon. Optimus las ungeduldig weiter. Da war der Bericht von der nächtlichen Fahrt des Zollkutters, auf Kompaßkurs. Er spürte die Spannung, hörte die gedämpften Stimmen, das Plätschern der Wellen. Er schien in Genteels Haut zu stecken, stand am Bug, die Blendlaterne in der Hand, als der Kutter die Gig rammte. Jan Kings Messer drang in sein Bein ein. Er stolperte um ein Haar über Bord. Doch was Optimus noch mehr packte, war die nächste Seite des Buches. Der Kutter hatte die Gig zweimal gerammt, und sie war gekentert. Einer der drei Männer, die in ihr gesessen hatten, versuchte, über das Schanzkleid des Kutters zu klettern. »›Wissen Sie nicht, wer ich bin?‹ schrie er. Ich kannte diese Stimme. Er hätte nicht hinzuzufügen brauchen: ›Ich bin’s,... aus Harberscombe.‹« Wieder war der Name ausgetilgt worden. »Welche Gedanken rasten durch mein Gehirn in dem kurzen Moment, als ich die Waffe gegen ihn erhob? Natürlich wußte ich, wer er war: der Verräter, der seine Kameraden ans Messer geliefert hatte. ›Um Christi willen! Erbarmen!‹ flehte mich der Schurke an. Mein rechter Arm sauste nieder. So machte ich seinem Gewinsel ein Ende und ließ ihn vor seinen Schöpfer treten. Wenn es für seine Tat Vergebung gibt, wird er sie im Himmel finden. Was mich betrifft, so werde ich mich vor demselben Richterstuhl verantworten müssen.« Optimus legte die Hand vor die Augen. Nein, es war kein Zweifel möglich, obwohl der Name fehlte. Optimus verspürte eine leichte Übelkeit. Er brauchte Luft. Wenn ihm dies alles -461-
schon so naheging, wie betroffen mußte es erst Grace gemacht haben? Sie, die zwei anklagende, kummervolle Gesichter vor sich sah: das von Jan King und das von Frederick Genteel. Optimus schlug die letzte Seite auf. »Ein schmutziges Geschäft«, las er. »Ich werde es bald hinter mir haben, doch ich befürchte, daß es mich auf immer gezeichnet hat. Heute sah ich am Grab die Schwester des Toten. Ihr Gesicht läßt mir keine Ruhe. Ich glaubte zwar, ich hätte gerecht gehandelt, aber nichts, was ich zu tun vermag, kann diesen Gram aus der Welt schaffen. Ja, ein schmutziges Geschäft. Ich habe Mr. Hawkins gebeten, von Plymouth zu einem Gespräch mit mir herüberzukommen, und ich habe mein Abschiedsgesuch geschrieben. Ob mein Vater es billigt oder nicht, ich bin fest entschlossen, nach Leet zurückzukehren und Landwirtschaft zu treiben. Es wird sich erweisen, ob ich nicht mein Schwert zur Pflugschar umschmieden kann.« Optimus saß am Tisch, das Kinn in die Hände gestützt, und starrte in den Schatten. Wer hatte Genteels Tagebuch hierher gebracht? Würde er es je erfahren? Hatte Mrs. Kemp es die ganze Zeit verwahrt? Armer Frederick – redlicher, ehrenwerter, selbstkritischer Frederick. Und diesen Mann hatte Grace als kaltblütigen Mörder verfolgt, weil sie geglaubt hatte, Frank sei schuldlos. Unter Frederick Genteels letztem Satz standen, von anderer Hand eingetragen und nervös über die ganze Seite ausgeschrieben, ein paar Worte. Optimus wußte, wer sie geschrieben hatte. Nicht klug, doch zu sehr Seufzend schob er das Buch von sich. Dann stand er auf. Er mußte Feuer machen, sich etwas zu essen machen. Ihm war schwindelig vor Hunger. Wenn er gegessen hatte, würde er eine Kerze anzünden, Papier und Feder suchen und an Maria Kirkbride schreiben. Er hatte ihr soviel zu berichten. Sie hatte -462-
ihm von dem Moment an gefehlt, als er an Bord von Angoves Paketboot gegangen war. Sie war so aufrichtig, so unmittelbar, so schön. Er wußte, daß er ihr vertrauen konnte. Sie war freundlich und weichherzig, so völlig anders als Grace Pensilva. Optimus würde nicht lange in Branscombe bleiben. Bevor er ging, würde er Mrs. Kemp ausfindig machen und Vorkehrungen dafür treffen, daß sie wohlversorgt war. Vielleicht würde sie ihm erzählen, warum das Buch auf dem Tisch gelegen hatte. Vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle. Was Grace Pensilva betraf, so führte jede Antwort auf eine Frage zu neuen Fragen. Doch wie es sich auch mit den Einzelheiten verhalten mochte, er glaubte, das Wesentliche zu wissen. Wenig Frauen, dachte er, waren wie Grace Pensilva. Es gab kaum einen Mann, der sich nicht zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Er selbst hatte lange in ihrem Bann gestanden. Und wie qualvoll seine Suche auch gewesen war, er war Dr. Cornish dankbar dafür, daß er ihn auf diesen Weg gebracht hatte. Ohne seinen Ansporn wäre er ein kleiner, unwissender Schulmeister geblieben. Und er wäre Maria nicht begegnet. Als er niederkniete und die ersten Flammen anblies, sah er den alten Doktor deutlich vor sich. Und draußen, im Dunkel, sah er eine Frau. Der Nachtwind beutelte ihren Umhang, ihre Haare flatterten. Vor ihr, am Fuße des Barrow, toste das Meer. Ein Schritt noch, und sie würde fallen. Ein Schauder überlief ihn. Er streckte die Hand nach ihr aus. Nun kannte er endlich Grace Pensilvas unendliche Traurigkeit. Grace Pensilva ging rasch durch die Dämmerung. Sie ging mit leeren Händen. Was sie besessen hatte, lag auf Emma Troups Tisch. Sie wollte ihr nicht mehr ihr Herz ausschütten, Mitgefühl suchen, Verzeihung erlangen. Es konnte keine geben. Auch wenn andere ihr vergeben könnten, war da ein Richter, der -463-
ihr nie vergeben würde: sie selbst. Als sie Harberscombe verlassen hatte, blickte sie mit steinerner Miene auf die Wälder, hinter denen die Mühle verborgen lag. Als sie die Türme von Leet erblickte, wandte sie sich ab. In der schnell hereinbrechenden Dunkelheit stand Jan Kings Haus verlassen und leblos. Er war fort, den Weg des Tidenstroms gegangen. Sie sah die Krabbe aus seiner leeren Augenhöhle kriechen. War sie schon wahnsinnig? Mit starrem Gesicht schritt sie über die Wiesen zum Barrow hinauf. Sie ließ Harberscombe hinter sich zurück, wie sie Malta hinter sich gelassen hatte. All das hatte sich in Grauen verwandelt. Vor ihr lag die reinigende See; die See, in der Jan ruhte; die See, in der Frederick, ihr Frederick, ruhte; die See, in der auch Grace Pensilva endlich Ruhe finden würde.
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