Julia von Blumenthal · Stephan Bröchler (Hrsg.) Müssen Parlamentsreformen scheitern?
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Julia von Blumenthal · Stephan Bröchler (Hrsg.) Müssen Parlamentsreformen scheitern?
Schriften der Sektion Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft
Julia von Blumenthal Stephan Bröchler (Hrsg.)
Müssen Parlamentsreformen scheitern?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel, Ober-Olm Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15468-8
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Inhalt
Inhalt Inhalt
Stephan Bröchler und Julia von Blumenthal Einleitung............................................................................................................... 7 Julia von Blumenthal Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen ............................................................................................ 11 I.
Reformen des Deutschen Bundestages
Heinrich Oberreuter und Jürgen Stern Parlamentsreform als beständige Herausforderung............................................. 47 Christian Demuth Parlamentarische Reformen als evolutionärer Prozess........................................ 67 Stefan Marschall Policy matters! Reformpotenziale und -grenzen hinsichtlich der Rolle von Parlamenten in der militärischen Sicherheitspolitik..................................... 89 Dieter Wiefelspütz Der Auslandseinsatz der Streitkräfte und der Deutsche Bundestag .................. 109 II
Europäische Erfahrungen
Stefan Köppl Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien ........................ 149 Ruth Lüthi Die Schweizerische Bundesversammlung: Mit kleinen Reformschritten zu einer starken Institution?............................................................................... 171
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Inhalt
Peter Schiffauer Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament ..................................... 201 Autorenverzeichnis ............................................................................................ 251
Einleitung
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Einleitung Stephan Bröchler und Julia von Blumenthal
In der öffentlichen wie in der politikwissenschaftlichen Bewertung wird die Rolle der Parlamente im politischen Prozess skeptisch eingeschätzt. Angesichts von Europäisierung, dem Wandel des Regierens und der Inkompatibilität mit den Bedingungen der Mediengesellschaft wird ihnen eine zentrale Rolle kaum mehr zugetraut. Dass Parlamente handlungsfähig sind, stellt jedoch eine zentrale Anforderung für die Funktionsfähigkeit von Demokratien dar. Denn unabhängig davon, ob das Parlament als „der Gesetzgeber“ oder als „Mit-Gesetzgeber“ eingeschätzt wird, kommt der Legislative eine entscheidende Bedeutung für die Bearbeitung öffentlicher Probleme und die Legitimation politischer Entscheidungen zu. Der vorliegende Band greift einen wichtigen Aspekt der Debatte über die Handlungsfähigkeit des Parlaments auf: die Frage der Fähigkeit zu erfolgreichen Parlamentsreformen. Denn die Bewertung der künftigen Rolle eines Parlaments hängt wesentlich davon ab, wie man seine Chancen einschätzt, effektiv den Herausforderungen zu begegnen. Der Blick auf die politikwissenschaftliche Debatte zeigt, dass die Fähigkeit eines Parlaments, die Bedingungen seiner Funktionserfüllung und Aufgabenwahrnehmung zu verbessern, grosso modo kritisch eingeschätzt wird. Jenseits einer populistischen Parlamentarismuskritik wird eine deutliche Diskrepanz einerseits zwischen den intendierten hochgesteckten Zielen von Parlamentsreformen, wie Erhöhung der Gestaltungsfähigkeit, bessere Transparenz und gesellschaftliche Kommunikation, sowie andererseits den mageren Erfolgen der eingeleiteten Reformen diagnostiziert. Der Titel des Bandes „Müssen Parlamentsreformen scheitern?“ nimmt unmittelbar Bezug auf die skeptische Einschätzung der Fähigkeit eines Parlaments zur eigenen Reform. Dabei ist der Titel jedoch bewusst mit einem Fragezeichen versehen. Denn für die Autorinnen und Autoren des Bandes ist die Frage der Reformfähigkeit bzw. -unfähigkeit keineswegs entschieden. In den einzelnen Artikeln geht es statt eines simplen „Ja“ oder „Nein“ vielmehr um ein differenziertes analytisch wie empirisch anspruchsvolles Verständnis von Parlamentsreformen. Die vorliegenden Aufsätze möchten besonders zur Klärung zweier Aspekte beitragen: Erstens wird den Gründen für das Scheitern von Parlamentsreformen politikwissenschaftlich nachgegangen. Was sind die empirischen Befunde und welche Bedeutung kommt ihnen im Lichte theoretischer Reflexion zu?
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Stephan Bröchler und Julia von Blumenthal
Zweitens werden Ursachen für erfolgreiche Reformen analysiert. Lassen sich Hinweise auf Handlungskorridore für künftige Reformen des Parlaments identifizieren? Einleitend entwirft Julia von Blumenthal in ihrem Beitrag „Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen“ eine Typologie von Parlamentsreformen, die an der verfolgten Zielsetzung ansetzt. Die Unterscheidung von Öffnung, Modernisierung, inkrementeller Reform und weitreichender Reform orientiert sich dabei daran, inwiefern das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Parlament tangiert wird. Unter Verwendung eines modifizierten Vetospieleransatzes formuliert von Blumenthal Hypothesen, unter welchen Bedingungen bestimmte Typen von Parlamentsreformen zu erwarten sind. Die exemplarische Analyse von Parlamentsreformen in Großbritannien, Australien und Deutschland bestätigt die verbreitete Skepsis gegenüber weit reichenden Reformen, zeigt aber auch, dass begrenzte Parlamentsreformen unter bestimmten Bedingungen erfolgreich sein können. Die folgenden Beiträge in der ersten Sektion beleuchten die Reformerfahrungen des Deutschen Bundestages aus theoretischer und empirischer Perspektive: Heinrich Oberreuter und Jürgen Stern leisten in ihrem Aufsatz „Parlamentsreformen als beständige Herausforderung. Veränderungen zwischen institutionellem Wandel und ‚großer Reform’ am Beispiel des Deutschen Bundestages“ zunächst einen Beitrag zur Klärung des Begriffs „Parlamentsreform“. Sie unterscheiden in Anlehnung an Gerhard Göhler zwei verschiedene Arten parlamentarischer Reformen: Strukturwandel und Funktionswandel. Ersterer zielt letztlich auf eine Veränderung der Position des Parlaments in seinem institutionellen Kontext und ist nach Ansicht der Autoren für den Deutschen Bundestag weder notwendig noch wünschenswert. Letzterer zielt auf eine Anpassung an sich verändernde Kontextbedingungen und auf eine Verbesserung der Funktionserfüllung. Hier sehen die Autoren sehr wohl Reformpotenzial für den Bundestag, das sie im Folgenden anhand konkreter Reformvorschläge diskutieren. Ziele sind dabei eine größere öffentliche Aufmerksamkeit für Plenardebatten, eine Attraktivitätssteigerung des Mandats sowie der Ausbau von Mitwirkungs- und Kontrollrechten gegenüber der EU. Christian Demuth leistet in seinem Aufsatz „Parlamentarische Reformen als evolutionärer Prozess“ einen Beitrag zu einem theoriegeleiteten Verständnis von Parlamentsreformen. Denn Demuth sieht eine zentrale Ursache für die mangelnde Fähigkeit, das Scheitern von Parlamentsreformen politikwissenschaftlich anspruchsvoll zu erklären, in einem Theoriedefizit. Heutige Analysen reflektieren noch zu unsystematisch die institutionellen Restriktionen, die Reformen verhindern oder konterkarieren. Einen geeigneten Ausgangspunkt, um die politikwissenschaftliche Analysefähigkeit zu erhöhen, sieht Demuth im Ansatz des institutionellen Lernens, der auf der Theorie des Evolutorischen Institutionalismus fußt. Die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes wird am Beispiel der Verab-
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schiedung des Untersuchungsausschussgesetzes im Jahr 2001 aufgezeigt, die sich einerseits als „Ergebnis kontingenter Situationsstrukturen“ erweist, andererseits aber einem bereits länger bestehenden Entwicklungspfad entspricht. Zu einem eher optimistischen Schluss im Hinblick auf das Gelingen von Parlamentsreformen kommt Stefan Marschall unter der Überschrift „Policy Matters! Reformpotenziale und -grenzen hinsichtlich der Rolle von Parlamenten in der militärischen Sicherheitspolitik“. Selbst in einem von der Prärogative der Regierung und dem Erfordernis einheitlichen Auftretens nach außen so geprägten Feld wie der militärischen Sicherheitspolitik ist es Parlamenten gelungen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern oder zumindest zu sichern. Marschall zeigt dies in einer nach den wesentlichen parlamentarischen Ressourcen, der Gesetzgebung, der Kontrolle, der Herstellung von Öffentlichkeit und der Abwahl der Regierung, systematisierten Analyse, die die Erfahrungen des Deutschen Bundestages international vergleichend auswertet. Einen praxisnahen Einblick in die Reformwerkstatt „Deutscher Bundestag“ gibt Dieter Wiefelspütz in seinem Beitrag „Der Auslandseinsatz der Streitkräfte und der Deutsche Bundestag“. Ebenfalls am Beispiel der Verfahrensregeln über den Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland zeigt er, auf welche Weise der Bundestag seine aus der Verfassung abgeleitete Position mit Hilfe des Parlamentsbeteiligungsgesetzes einerseits absichert und andererseits an die Notwendigkeiten entscheidungsfähiger Außenpolitik anpasst. Dabei werden durchaus unterschiedliche Positionen der Fraktionen sichtbar, die sich nicht allein auf durch Zugehörigkeit zu Regierungsmehrheit oder Opposition induzierte institutionelle Eigeninteressen zurückführen lassen. In seinem Ausblick macht Wiefelspütz deutlich, dass Parlamentsreformen wie die Verabschiedung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes immer nur Etappen und nie eine endgültige Festlegung darstellen. Parlamentsreformen sind folglich ein kontinuierlicher Prozess der Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen. Die zweite Sektion erweitert den Fokus der Analyse auf Erfahrungen mit Parlamentsreformen im europäischen Kontext. Zum Anfang richtet Stefan Köppl den Blick auf die Reform des italienischen Parlaments. In seinem Artikel „Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien“ wird argumentiert, dass Italien ein fruchtbares Feld für die Erforschung institutioneller Reformprozesse des Parlaments darstellt. Köppl arbeitet die hohe Bedeutung struktureller Konstellationen und ihrer Dynamik für das Verständnis der Reformprozesse heraus. Dabei werden sowohl die „großen Würfe“ der Verfassungs- und Parlamentsreformen als auch inkrementelle Reformversuche der italienischen Legislative in die Analyse einbezogen. Die Untersuchung von Köppl zeigt, wie voraussetzungsvoll sich angesichts der komplexen Parteienlandschaft Italiens die verschiedenen Reformanläufe erweisen.
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Stephan Bröchler und Julia von Blumenthal
Mit den Bestrebungen, die Handlungsfähigkeit des Parlaments der Schweiz zu verbessern, befasst sich Ruth Lüthi in ihrem Aufsatz „Die Schweizerische Bundesversammlung: Mit kleinen Reformschritten zu einer starken Institution?“. Lüthi zeigt auf, wie sich die Handlungsfähigkeit des Schweizer Parlaments verändert hat. Es wird dargelegt, wie die Bundesversammlung über Parlamentsreformen seit den 1960er Jahren bis zur Totalrevision des Verfassungstextes zu Beginn des 21. Jahrhunderts von einer schwachen zu einer gestaltungsstarken Institution wurde. Den Schlüssel für den Reformerfolg sieht Lüthi dabei im inkrementellen Vorgehen der Akteure. So wurde auf einen ambitionierten Masterplan wie den einer umfassenden Parlamentsreform verzichtet. Stattdessen wurde die Reform des Schweizer Milizparlaments in vielen kleinen unspektakulär erscheinenden Schritten betrieben. Peter Schiffauer wendet sich in seinem Beitrag „Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament“ den Bestrebungen zur Reform der Arbeitsweise des Europäischen Parlaments zu. Die Darstellung von Schiffauer vermittelt einen Überblick über die Veränderungs- und Reformprozesse der europäischen Legislative, die das Ziel verfolgen, die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des Parlaments strukturell zu verbessern. Die Analyse soll helfen, ein klareres Bild der gegenwärtigen Entwicklungstrends der parlamentarischen Repräsentation zu zeichnen. Um diesen Anspruch einzulösen, untersucht Schiffauer aktuelle Aktivitäten, die zum Ziel haben, sowohl die Arbeitsweise des Parlaments zu verbessern als auch die öffentliche wie die mediale Wahrnehmung zu erhöhen. Versucht man nun, trotz der unterschiedlichen Herangehensweisen und Untersuchungsobjekte eine gemeinsame Antwort der Beiträge auf die im Titel des Bandes aufgeworfene Frage zu formulieren, so könnte diese in etwa so lauten: Parlamente sind in ein komplexes institutionelles Gefüge eingebunden, das strukturelle Reformen im Regelfall nicht wahrscheinlich, in vielen Fällen nicht einmal wünschenswert erscheinen lässt. Bei inkrementellen Reformen der eigenen Arbeitsweise sind Parlamente jedoch weder handlungsunfähig noch machtlos den auf sie wirkenden externen Einflüssen ausgesetzt. Herzlich möchten wir uns bei allen bedanken, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben. In ganz besonderer Weise gilt unsere Danksagung den Autorinnen und Autoren des Bandes. Hervorzuheben ist ferner Torsten Heymann vom Lehrgebiet „Demokratie und Entwicklung“ der FernUniversität in Hagen für die technische Unterstützung bei der Fertigstellung. Unser Dank gilt schließlich Herrn Frank Schindler und Frau Katrin Emmerich vom VS-Verlag für die stets konstruktive Begleitung unseres Vorhabens.
Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen
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Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen1 Julia von Blumenthal
Die Frage nach der Reformierbarkeit des Parlaments wird in parlamentarischen Regierungssystemen generell eher skeptisch betrachtet. Gerade in WestminsterSystemen wird gefragt, wie die Position des Parlaments so gestärkt werden kann, dass es die auch im Rahmen dieses Modells vorgesehene Funktion der Kontrolle der Regierung wahrnehmen kann (Pond 2008: 52). Tendenzen zur Personalisierung von Politik haben dazu geführt, dass Beobachter eher eine zunehmende Dominanz der Exekutive und eine Präsidentialisierung des Systems für wahrscheinlich halten (Foley 1993; Sturm 2006: 804f.). Darüber hinaus erzeugen Erwartungen an die Präsenz der Abgeordneten vor Ort gerade in Parlamenten mit einem auf Wahlkreisen basierenden Wahlsystem Anreize, das Parlament selbst als „merely instrumental“ zum Zweck der Wiederwahl zu behandeln (Wright 2004: 869). Auch in andern parlamentarischen Regierungssystemen wie der Bundesrepublik Deutschland findet die These von der „Entparlamentarisierung“, der Reduzierung des Parlaments auf seine Funktion als Ratifikationsinstanz anderenorts getroffener Entscheidungen, Unterstützung (Papier 2003; Beyme 1999: 539). Die Anforderungen von Globalisierung und Europäisierung sowie ein Wandel des Regierens von förmlicher Gesetzgebung (Government) zu kooperativen Formen unter Einbeziehung der Betroffenen (Governance) scheinen einen Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente geradezu zwangsläufig zur Folge zu haben. Angesichts dieser Ausgangskonstellation läge es nahe, sich der generell skeptischen Sicht auf die Reformfähigkeit von Parlamenten anzuschließen. Dies gilt umso mehr, als Parlamente als in besonderer Weise von „institutional conservatism“ geprägt und dem Wirken institutioneller Beharrungskräfte ausgesetzt gelten (Longley/Hoffmann 2000: 131). Demnach wäre bereits der Beschluss über eine Parlamentsreform, verstanden als eine intentional herbeigeführte, nachhaltige Veränderung der Arbeitsstrukturen, ein erklärungsbedürftiges Ereignis. Auch der empirische Befund einer Fülle von Ansätzen zur Parlamentsreform, die sich für die 1
Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrags, den ich im Dezember 2007 an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg gehalten habe. Der Titel spielt auf das Buch von Friedbert W. Rüb „Schach dem Parlament“ (2001) an.
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Julia von Blumenthal
Bundesrepublik gerade auf der Ebene der Bundesländer beobachten lässt, wäre dann kein Gegenargument, wenn man dem Titel des Bandes folgend zu der Einschätzung kommt, dass auch beschlossene Parlamentsreformen scheitern können, wenn sie in der parlamentarischen Praxis nicht in der beabsichtigten Weise Wirkung entfalten.2 Schach dem Premier, d.h. eine Parlamentsreform, die die Kräfteverteilung zwischen Regierung und Parlament zugunsten des Parlaments verschiebt, erscheint aus dieser Perspektive als eine realitätsferne Anmutung. In einem ersten Schritt werde ich den Typus des „parlamentarischen Regierungssystems“ näher betrachten und erläutern, warum eine Eingrenzung des Themas auf parlamentarische Regierungssysteme sinnvoll ist. In einem zweiten Schritt werde ich den Begriff der Parlamentsreform genauer bestimmen, um daraus Kriterien für die systematische Erfassung und den Vergleich zu gewinnen. Anschließend werde ich unter Verwendung des in der vergleichenden Politikwissenschaft gängigen Vetospieler-Ansatzes Hypothesen darüber entwickeln, unter welchen Bedingungen Parlamentsreformen realisierbar erscheinen. Diese Hypothesen werden exemplarisch anhand von Ansätzen zu Parlamentsreformen in den parlamentarischen Regierungssystemen Großbritanniens, Australiens und Deutschlands einem empirischen Test unterworfen. Am Ende soll ein zweifaches Fazit stehen, das zum einen Auskunft darüber gibt, wann sich ein „window of opportunity“ für Parlamentsreformen öffnet, und zum anderen Perspektiven für weitere vergleichende Forschung zu Parlamentsreformen aufzeigt.
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Zur Einschränkung der Analyse auf parlamentarische Regierungssysteme
Neuere Ansätze der vergleichenden Politikwissenschaft wie der VetospielerAnsatz und die Analysen von Lijphart zielen bewusst darauf, für alle Arten von demokratischen Regierungssystemen anwendbar zu sein.3 Gerade für die Analyse von Parlamentsreformen erscheint es jedoch aus theoretischen Erwägungen sinnvoll, den Fokus zunächst allein auf parlamentarische Regierungssysteme zu richten. Dazu bedarf es eines kurzen Blicks auf die wesentlichen Charakteristika,
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Dies kann auch daraus folgen, dass bestimmte Instrumente nicht oder nur selten verwendet werden. So hat der Bundestag von der 1995 eingeführten Möglichkeit der erweiterten öffentlichen Ausschussberatung (s. unten, Abschnitt 4.3) bis zum März 2003 gerade viermal Gebrauch gemacht (Feldkamp 2005: 475). Tsebelis 1999: 591; Tsebelis 1995: 290; Lijphart 1999: IX, 301. Anders sieht dies auch Ganghof, der in einer kritischen Auseinandersetzung unter Verweis auf „unterschiedliche Grundlogiken“ parlamentarischer und präsidentieller Systeme die Vorzüge eines auf parlamentarische Regierungssysteme begrenzten Ansatzes herausstellt (Ganghof 2005: 427).
Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen
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nach denen parlamentarische und präsidentielle Regierungssysteme unterschieden werden. Winfried Steffani benannte in seiner bekannten Unterscheidung präsidentieller und parlamentarischer Regierungssysteme nach dem zentralen Kriterium der Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament darüber hinaus die „hochgradige personelle Trennung bzw. Unabhängigkeit von Parlament und Regierung“ im präsidentiellen und die „Kooperation“ und „personelle Verflechtung“ von Parlament und Regierung im parlamentarischen System als die wesentlichen Unterschiede (Steffani 1979: 39). Das parlamentarische Regierungssystem ist dementsprechend dadurch gekennzeichnet, dass die Regierung und die sie tragenden Fraktionen, d.h. die Parlamentsmehrheit, als Handlungseinheit auftreten. Sie bilden die Regierungsmehrheit. Für eine Reform des Parlaments ist damit von vollständig anderen institutionellen Rahmenbedingungen auszugehen als im präsidentiellen Regierungssystem, wo auch im Fall übereinstimmender Parteizugehörigkeit von Präsident und Mehrheitsfraktion im Parlament letzteres eine wesentlich größere Unabhängigkeit gegenüber dem Präsidenten behält (Lösche 1992: 226ff.; Braml 2007: 193f.). In parlamentarischen Regierungssystemen4 ist damit auch im Gegensatz zum präsidentiellen Regierungssystem die organschaftliche Trennung der Gewalten, Regierung und Parlament, nachrangig gegenüber der institutionellen Gewaltenteilung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition (Steffani 1997: 25).5 Für das parlamentarische Regierungssystem kommt es damit wesentlich auf die „dynamische Gewaltenteilung“ (Holtmann 2004) zwischen Regierung, Mehrheitsfraktionen und Opposition an. Eine vollständige Verkürzung auf das Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition scheint für die Frage von Parlamentsreformen nicht sinnvoll, da sich immer wieder Konstellationen ergeben, in denen auch Abgeordnete der Mehrheitsfraktionen institutionelles Eigeninteresse der Institution Parlament vertreten. Dass die Grundüberlegungen von Steffani auch heute noch aktuell sind, zeigt der Beitrag von Matthew Søberg Shugart im Oxford Handbook of Political Institutions (2006).6 Shugart nennt die Abberufbarkeit durch die Mehrheit des 4
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Auf die umfangreiche Diskussion, wie Systeme, die hiernach parlamentarisch wären, von anderen Ansätze aber als Mischtypen charakterisiert werden, einzuordnen wären, muss in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden, da sich die exemplarische Analyse auf eindeutig parlamentarische Regierungssysteme konzentriert. Zur – nicht von Steffani stammenden – begrifflichen Differenzierung zwischen Gewaltentrennung als Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative und Gewaltenteilung als Prinzip, „das die Aufteilung von Macht innerhalb des Staates insgesamt (betrifft)“, vgl. Arnauld 2001: 678. Auch die mit dem Principal-Agent-Ansatz arbeitende vergleichende Studie von Strøm et. al. basiert auf einer Minimaldefinition, die der von Steffani eng verwandt ist: „(P)arliamentary
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Parlaments als wesentliches Kriterium und darüber hinaus die Entstehung des Kabinetts aus dem Parlament. „A parliamentary system makes the executive an agent of the assembly majority, hierarchically inferior to it because the majority in parliament creates and may terminate the authority of the executive “ (Shugart 2006: 346).
Shugarts Ansatz geht über die vorwiegend institutionalistischen Überlegungen Steffanis hinaus: Von ihrer institutionellen Struktur her sind präsidentielle und parlamentarische Systeme klar unterschieden: Im präsidentiellen System ist die Beziehung zwischen Exekutive und Legislative wegen der von einander unabhängigen Wahl beider Institutionen von „transaction“ gekennzeichnet, während im parlamentarischen System die Beziehung zwischen Parlament und Regierung hierarchisch ist: „In a hierarchy, one institution derives its authority from another institution, whereas in a transaction, two (or more) institutions derive their authority independently of one another“ (Shugart 2006: 344).
Das konkrete Zusammenspiel der Institutionen und das Verhalten der Akteure in ihnen ist von einem Zusammenspiel von hierarchischen und „transactional“ Elementen geprägt, wobei der durch den institutionellen Rahmen begründete prinzipielle Unterschied zwischen präsidentiellen und parlamentarischen Systemen bestehen bleibt (Shugart 2006: 348). Aus der Mischung, die wesentlich durch die Mehrheitsverhältnisse im Parlament und informelle Regeln der Interaktion von Parlament und Regierung abhängt, lassen sich verschiedene Typen parlamentarischer Regierungssysteme identifizieren: Im „majoritarian parliamentarism“ mit seiner eindeutigen Mehrheit einer Partei dominiert Hierarchie. Hier entwickelt sich potenziell eine Machtkonzentration bei der Exekutive, die nur durch interne Meinungsverschiedenheiten in der Regierungsmehrheit in Frage gestellt werden kann (Shugart 2006: 353). Im „transactional parliamentarism“ hingegen behindert die stets aufs Neue zu vollziehende Mehrheitsbildung aus mehreren Parteien die Dominanz der Exekutive (ebd.). Der Ansatz von Shugart zeigt damit nicht nur, warum Veränderungen der parlamentarischen Binnenstrukturen in parlamentarischen Regierungssystemen nach wesentlich anderen Regeln ablaufen als in präsidentiellen Regierungssystemen, sondern erlaubt auch eine differenzierte vergleichende Analyse verschiedener parlamentarischer Systeme. government is a system of government in which the Prime Minister and his or her cabinet are accountable to any majority of the members of parliament and can be voted out of office by the latter, through an ordinary or constructive vote of no confidence“ (Müller/Bergman/Strøm 2003: 13).
Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen
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In der Zusammenschau der Ansätze zur systematischen Erfassung parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme wird deutlich, dass in den parlamentarischen und präsidentiellen Systemen gerade für den Fall von Parlamentsreformen von wesentlich unterschiedlicher Akteursstruktur, Interessenkonstellation und institutionellen Rahmenbedingungen auszugehen ist. Die im parlamentarischen Regierungssystem grundlegend andere Art der Verwirklichung von Gewaltenteilung ist auch bei der konzeptionellen Erfassung verschiedener Typen von Reformen zu berücksichtigen, um nicht der Gefahr zu erliegen, dass „[…] das Parlament [...] nach dem Vorbild eines unbestimmten goldenen Zeitalters betrachtet und vor Aufgaben gestellt (wird), die es gar nicht imstande ist, effektiv wahrzunehmen“ (Johnson 1981: 34).
Das Parlament existiert als kollektiver Akteur im parlamentarischen Regierungssystem nur in Ausnahmefällen. Durch seine enge Verbindung mit der Regierung ist es im Gegensatz zum amerikanischen Kongress nicht frei darin, seine institutionelle Struktur zu wählen, da jede Parlamentsreform automatisch auch die Interessen der Regierung berührt. Bei der vergleichenden Analyse von parlamentarischen Regierungssystemen bleibt zu berücksichtigen, bis zu welchem Grad die Regierung das Parlament dominiert und inwieweit das Parlament zumindest in Entscheidungen in eigener Sache über institutionell abgesicherte oder zumindest im Einzelfall zugestandene Autonomie verfügt.
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Institutioneller Wandel, Reform oder Wandel – Zum Begriff von Parlamentsreformen
Wie der Begriff der Reform insgesamt, ist auch derjenige der Parlamentsreform vieldeutig. Versuche zur Differenzierung setzen an der Frage der Intentionalität, dem Grad der Veränderung und/oder den vorrangigen Zielen an. Institutioneller Wandel dient dabei als Oberbegriff, der die Frage, inwiefern institutionelle Veränderungen Ergebnis zielgerichteten Handelns sind, offen lässt (Golsch 1998: 248). Der Begriff der Parlamentsreform bezeichnet in Abgrenzung dazu, die „planvolle und gezielte Umgestaltung des Parlaments als Organisation“ (Marschall 1999: 10). Thaysen schlägt zudem noch den differenzierten Gebrauch von Parlamentsreform (Singular!) und Parlamentsreformen (Plural!) vor (Thaysen 1972: 18f.): Parlamentsreformen im Plural bezeichnet alle Formen institutioneller Änderungen unabhängig von ihrer Reichweite und Zielsetzung. Ähnlich dem Begriff des institutionellen Wandels kann der Begriff der Parlamentsreformen daher als ein Oberbegriff verwendet werden, der sich vom institutionellen Wan-
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del dadurch abgrenzt, dass Reformen immer intentional herbeigeführt sind. Unter Parlamentsreform im Singular versteht Thaysen zum einen den Prozess des Reformierens. Zum anderen bezeichnet Parlamentsreform ein konsistentes Reformprogramm. Der Idealfall einer Parlamentsreform sei dann gegeben, wenn sie gleichermaßen Effizienz, Transparenz und Partizipation erhöhe, denn deren gleichzeitige Beförderung und Steigerung sei „der entscheidende Anspruch an ein demokratisches Regierungssystem“ (Thaysen 1972: 104). Ausgehend davon unterscheidet Marschall vier Ziele, die mit Parlamentsreformen verfolgt werden können: „(1) Stärkung des Parlaments im politischen System (2) Stärkung des einzelnen Abgeordneten (3)Verkopplung von Parlament und Bevölkerung (4) Steigerung der Effizienz parlamentarischer Arbeit“ (Marschall 1999: 75).
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Oberreuter in seiner Beschäftigung mit der Frage, wie eine Parlamentsreform aussehen sollte, die den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems gerecht wird: „1. Sicherung der Kommunikation von Parlament und Öffentlichkeit durch verstärkte Transparenz des parlamentarischen Verfahrens; 2. Sicherung und Verbesserung der Führungs- und Kontrollqualität der (parlamentarischen) Regierung gegenüber der Exekutive; 3. Akzentuierung der Funktionseinheit regierende Mehrheit durch durchlässige Willensbildung zwischen Parlamentsmehrheit und Kabinett; 4. Ausbau der Oppositionsposition als Residuum der überkommenen Parlamentsrechte zugunsten der Funktionssicherung des neuen ‚Dualismus’ im parlamentarischen Regierungssystem 5. Ständige Verbesserung der Arbeitsbedingungen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit mit Bürokratie und Verbänden“ (Oberreuter 1981b: 28).
Eine Ausrichtung der Begrifflichkeit an der Zielsetzung ist auch charakteristisch für die Literatur zum britischen House of Commons (Flinders 2007: 177): Veränderungen, die darauf zielen, die Effizienz des Parlaments zu erhöhen, indem zum Beispiel der Gesetzgebungsprozess beschleunigt wird, werden als Modernisierung bezeichnet.7 Modernisierung liegt vorrangig im Interesse der Regierung, die so ihre politischen Vorhaben schneller Gesetz werden lassen kann. Eine Parlamentsreform liegt aus dieser Perspektive nur dann vor, wenn das Ziel der institutionellen Änderungen die Stärkung des Parlaments gegenüber der Regierung ist. 7
Ähnlich auch Wright, der zwischen „modernisation-as-efficiency“ und „modernisation-asscrutiny“ (Wright 2004: 870) unterscheidet.
Schach dem Premier! Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen
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Flinders hat anhand der Reformen des britischen Unterhauses eine DreierTypologie vorgeschlagen, die daran anknüpft, inwieweit mit einer Reform die Übertragung von Ressourcen an das Parlament verbunden ist.8 Tabelle 1: Typen von Parlamentsreformen nach Flinders 2007
Modernising Parliament
Incremental-bounded Reform
Parliamentary Reform
Inhalt Fokus auf Verfahren und Gesetzgebung; keine oder kaum Stärkung der Kontrollinstrumente Erweiterung der Ressourcen des Parlaments und damit seiner Fähigkeit zur Kontrolle, ohne die Kontrolle der Exekutive über zentrale Prozesse und Machtzentren anzutasten Weitreichende Reform, die die vorherige Machtverteilung zwischen Exekutive und Legislative erheblich verändert
Wirkung cosmetic
moderate
far-reaching
Quelle: Flinders 2007: 179; eigene Zusammenfassung und Übersetzung Gemeinsam ist diesen drei Formen, dass es sich um intentionale Veränderungen handelt. Gerade beim mittleren Typus kann es sich um zunächst punktuelle Abweichungen von der üblichen parlamentarischen Praxis handeln, deren Wirkung im Sinne einer Reform der parlamentarischen Arbeitsweise sich erst in der Summe mehrerer Veränderungen und über einen längeren Zeitraum veränderter Übung heraus kristallisiert. Die Bezeichnung der Reformen, insbesondere des ersten Typs als „cosmetic“, verweist darauf, dass als Ideal einer Parlamentsreform die Stärkung des Parlaments gegenüber der Exekutive angesehen wird. Reformen, die die Effizienz des Parlaments erhöhen, können aber auch im Interesse der Abgeordneten sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn das knappe Zeitbudget der Abgeordneten durch eine Vielzahl von detaillierten gesetzgeberischen Aufgaben, deren politisch kontroverser Gehalt gering ist, in Anspruch genommen wird, oder wenn die Abgeordneten sich vorrangig auf ihre Arbeit im Wahlkreis konzentrieren. Eine Schwäche dieser Typologie liegt darin, dass institutionelle Veränderungen, die nicht die Kontrollfunktion des Parlaments gegen8
Flinders (2007: 178) greift hier auf Rhodes und Smith zurück und verwendet einen weiten Begriff von Ressourcen (legitimacy, agenda-setting, capacity, ideas, structures, political support, finances etc.). Wesentlich ist, dass Ressourcentransfer nicht als Null-Summen-Spiel konzipiert ist, so dass Parlamentsreformen nicht als „Machtübertragung“ zu Lasten der Regierung betrachtet werden müssen.
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über der Regierung oder seine Mitwirkung an der Gesetzgebung betreffen, mit dieser Typologie nicht erfasst werden können. Für eine vergleichende Analyse von Parlamentsreformen, die sich auf alle Funktionen eines Parlaments beziehen können, bietet sich eine leicht modifizierte Kategorisierung an, die die von Marschall und Oberreuter formulierten Ziele mit den Überlegungen von Flinders kombiniert. Für eine systematische Analyse der Chancen von Parlamentsreformen ist es ferner wichtig, innerhalb der Typen zu unterscheiden, welche Norm verändert wird: Je nachdem, ob es sich um einen Passus der Verfassung, eines Gesetzes, der Geschäftsordnung oder um eine informelle Regel handelt, gelten andere Entscheidungsregeln. Damit ändert sich auch die Akteurskonstellation insbesondere im Hinblick auf die im folgenden Abschnitt näher zu beschreibenden Vetopositionen. Tabelle 2: Typen von Parlamentsreformen Zielsetzung
Maßnahmen Verbesserung der Kommunikation durch Parlamentsmedien, Öffnung von Sitzungen u.ä. Straffung des Gesetzgebungsprozesses z.B. durch Einführung abschließender Entscheidungskompetenz in Ausschüssen und Verkürzung von Fristen
Öffnung
Intensivierung der Verbindung von Parlament und Bevölkerung
Modernisierung
Effizienzsteigerung
inkrementelle Reform
Erweiterung der Kontrollfähigkeit des Parlaments; bedingte Stärkung gegenüber der Exekutive
Anhörungsrechte; parlamentarische Hilfsdienste
weitreichende Reform
nachhaltige Veränderung der Machtverteilung zwischen Legislative und Exekutive
Selbstauflösungsrecht des Parlaments; Misstrauensvotum; grundlegende Reform des Wahlrechts
Quelle: eigene Darstellung Eine Öffnung des Parlaments zielt vorrangig auf die Verbesserung der Erfüllung der Artikulations- und Kommunikationsfunktion und bezweckt damit eine Erhöhung der Akzeptanz des Parlaments als Institution. Dies berührt nicht unmittelbar das Verhältnis von Legislative und Exekutive bzw. von Regierungsmehrheit und Opposition, auch wenn ein größeres Selbstbewusstsein der Institution Parlament mittelbar auch Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit bzw. Opposition haben kann.
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Unter Modernisierung fallen all diejenigen Maßnahmen, die geeignet sind, die Entscheidungsprozesse im Parlament, vornehmlich im Gesetzgebungsprozess, zu beschleunigen. Soweit Maßnahmen der Modernisierung dazu geeignet sind, Doppelarbeit zu vermeiden, sind sie nicht nur im Interesse der Regierung sondern auch der Abgeordneten. Wenn die Steigerung der Effizienz jedoch die Möglichkeiten zur Mitwirkung am politischen Prozess verringert, so berührt sie die Interessen zumindest derjenigen Abgeordneten, für die die intensive Arbeit an Gesetzen wesentlicher Teil ihres Amtes ist.9 Inwiefern Parlamentsreformen dieses Typs Wirkung entfalten, hängt auch davon ab, ob Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung tatsächlich genutzt werden. Ob dies der Fall ist, dürfte auch davon abhängen, in welchem Maße die Regierung das Verfahren im Parlament bestimmt oder dieses vom Parlament in Eigenregie und unter Einbeziehung der Opposition gesteuert wird. Inkrementelle Reformen verändern das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative zumindest graduell. Es handelt sich dabei um kleinere institutionelle Änderungen, die das Parlament in Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion stärken: Denkbar sind dabei sowohl Änderungen der formellen institutionellen Struktur durch die Einführung von erweiterten Anhörungsrechten des Parlaments gegenüber der Regierung als auch die Stärkung der Abgeordneten durch eine Verbesserung der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Auch Veränderungen informeller institutioneller Regeln im Binnenverhältnis der Regierungsmehrheit, die die Parlamentsmehrheit gegenüber der parlamentarischen Regierung stärken, wie sie auch Oberreuter in seinem Katalog vorsieht (Oberreuter 1981: 28), können als inkrementelle Reform erfasst werden. Inkrementelle Reformen bewegen sich innerhalb des jeweiligen Rahmens eines parlamentarischen Regierungssystems und verändern den Grad der Exekutivdominanz nicht sofort und unmittelbar. Graduelle Veränderungen können jedoch langfristig Weiterungen nach sich ziehen, da sie potenziell das Selbstbewusstsein und die eigenständige Handlungsfähigkeit der Parlamentarier stärken. Inkrementelle Reformen wecken zumindest partiell den Widerstand der Regierung, ihre Realisierung hängt daher wesentlich von der Konfliktfähigkeit und -bereitschaft der Abgeordneten ab. Weitreichende Reform, d.h. Parlamentsreform nach Thaysen im Singular, ist geeignet, den Grad der Exekutivdominanz über das Parlament zu verringern. Da dies unmittelbar in die politischen Handlungsmöglichkeiten der Regierung 9
Auf die unterschiedliche Bedeutung der parlamentarischen Tätigkeit im engeren Sinne für die Abgeordneten weist Wright hin. Gerade in Systemen mit Direktwahl im Wahlkreis kann die Arbeit im Parlament gegenüber der Präsenz im Wahlkreis im Hinblick auf Karriere und Wiederwahl nachrangig sein, soweit die Parlamentsarbeit nicht als „fuel for relentless local campaining activity“ geeignet ist (Wright 2004: 869).
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nachhaltig eingreift, stoßen institutionelle Änderungen dieser Art auf entsprechend deutlichen Widerstand. Beispiele solcher weitreichender Reform können die Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Parlaments sein sowie die Erleichterung der Bedingungen für ein Misstrauensvotum, das den Rücktritt der Regierung zur Folge hat. Unterhalb solcher Änderungen der formalen institutionellen Struktur kann – gerade in Westminster-Systemen – auch die Verringerung des personalpolitischen Einflusses der in die Regierung eingebundenen Whips auf die Besetzung von Funktionen im Parlament eine Verringerung der Exekutivdominanz bedeuten.10 Auch eine grundlegende Reform des Wahlrechts kann eine weitreichende Parlamentsreform darstellen, wenn sie – in der Terminologie von Strøm et al. formuliert – geeignet ist, die Delegationskette zwischen Parlament und Regierung zu verändern: Zu denken ist hier in erster Linie an die Ablösung des Mehrheitswahlrechts durch ein Verhältniswahlrecht, das, indem es die Wahrscheinlichkeit absoluter Mehrheiten verringert und eine höhere Zahl von Parlamentsparteien begünstigt, den hierarchischen Charakter der Beziehung zwischen Regierung und Parlament schwächt und die „transactional“ Elemente stärkt.11
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Vergleichende Analyse von Parlamentsreformen mit dem VetospielerAnsatz
Trotz der einleitend erwähnten wissenschaftlichen und öffentlichen Aufmerksamkeit für Erfolg und Misserfolg von Parlamentsreformen sind systematische Vergleiche, die parlamentarische Regierungssysteme zum Gegenstand haben, eher selten. Zwar existiert eine beachtliche Zahl von Studien, die sich Parlamentsreformen in Westminster-Systemen zuwenden.12 Ein vergleichender An10
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Denkbar wäre natürlich auch eine weit reichende institutionelle Änderung, die das Parlament nachhaltig schwächt, wie zum Beispiel die Einführung eines nicht an eine verlorene Vertrauensfrage gebundenen und über den Bundespräsidenten vermittelten Parlamentsauflösungsrechts für den deutschen Bundeskanzler. Eine solche Reform müsste, soweit es sinnvoll ist, diese unter der Überschrift Parlamentsreform zu thematisieren, in einer eigenen Kategorie erfasst werden. Ein Beispiel für eine solche Wahlrechtsreform, die allerdings die zweite und nicht die erste Kammer betrifft, ist die Einführung einer Variante des Verhältniswahlrechts für die Wahlen zum australischen Senat. Seitdem hat sich die Zahl der Parteien im Senat erhöht und die Wahrscheinlichkeit übereinstimmender Mehrheitsverhältnisse in der ersten Kammer, dem House of Representatives, und dem Senat verringert. Dadurch schwächte sich auch der Durchgriff der Regierung auf den Senat ab. Vgl. dazu auch unten, Abschnitt 4.2. Vgl. dazu die bereits erwähnten Studien von Wright 2004, Flinders 2007 und Pond 2008 sowie Power 2007. Zur Reaktion der nationalen Parlamente auf die Europäische Integration vgl. Auel 2003 sowie Maurer/Wessels 2001.
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satz, der für verschiedene Typen von Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen Verwendung finden könnte, scheint jedoch bislang nicht entwickelt, auch wenn Oberreuters Diktum aus dem Jahr 1981, das Thema sei noch nie Gegenstand einer vergleichenden Analyse gewesen (Oberreuter 1981a: 5), nicht mehr zutrifft. Im Interesse der Anschlussfähigkeit an andere Zweige der vergleichenden Politikwissenschaft liegt es nahe, sich für die Entwicklung von theoretisch fundierten Hypothesen über die Bedingungen für erfolgreiche Parlamentsreformen zunächst solcher Ansätze zu bedienen, die in der vergleichenden Politikwissenschaft generell Verwendung finden. Ein solcher Ansatz ist der Vetospieler-Ansatz von George Tsebelis, der in der vergleichenden Politikwissenschaft weite Verbreitung gefunden hat und auch in der Parlamentarismusforschung Verwendung findet (Helms 2005: 393; Ganghof 2003).
3.1 Der Vetospieler-Ansatz Der Vorteil des Vetospieler-Ansatzes, der eigentlich für die Analyse von Policies entwickelt wurde und erst jüngst auf Entscheidungen über die Spielregeln von Politik angewandt wurde (Abromeit 2007), ist seine theoretische Einfachheit und Stringenz, die gleichzeitig auch Auslöser für kritische Beiträge war (Abromeit/Stoiber 2006: 63, Ganghof 2003: 7ff.; Merkel 2003). Der Anspruch, für alle Arten von Systemen anwendbar zu sein, ist zwar – wie oben ausgeführt – für diese Untersuchung nicht entscheidend, bietet jedoch den Vorteil, dass die hier entwickelten Überlegungen auf einer solchen theoretischen Basis damit potenziell auch auf die vergleichende Analyse von Parlamentsreformen in parlamentarischen und präsidentiellen Systemen ausgeweitet werden könnten. Die kritische Diskussion des Vetospieler-Ansatzes, auf die an dieser Stelle nicht ausführlicher eingegangen werden soll, hat zu verschiedenen Vorschlägen für eine Modifikation geführt bzw. zu einer parallelen Entwicklung von Überlegungen zu Vetopunkten (Abromeit/Stoiber 2006: 68ff.; Stoiber 2007: 33ff.; Kaiser 1998: 537ff.; 2002: 93). In dieser Untersuchung soll der Vetospieler-Ansatz in der Fassung verwendet werden, die Heidrun Abromeit und Michael Stoiber vorgeschlagen haben. Abromeit und Stoiber geben einige der rigiden theoretischen Annahmen von Tsebelis auf und machen den Ansatz damit auch besser nutzbar für qualitative Analysen. Eine erste Modifikation betrifft die von Tsebelis getroffene Annahme, dass Vetospieler durch ihre stabilen policy-Präferenzen hinreichend gekennzeichnet seien. Abromeit und Stoiber diskutieren dies kritisch, entscheiden sich jedoch nicht, welche der vorgeschlagenen Erweiterungen, sei es um das Motiv der Stimmenmaximierung (Ganghof 2003: 16, 19) oder um konstruktive Handlungs-
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orientierungen (Benz 2003: 211ff.), in einen erweiterten Ansatz zu integrieren wäre, da dies im Rahmen der von ihnen vorgenommenen Analyse nicht notwendig sei (Abromeit/Stoiber 2006: 70). Die zweite, für die Analyse von Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen entscheidende Modifikation, ist die von Abromeit/Stoiber vorgenommene Ausdifferenzierung der Typen von Vetospielern. Nach der rigiden Konzeption von Tsebelis gibt es nur zwei Arten von Vetospielern, „institutional“ und „partisan“ (Tsebelis 2002: 79), wobei Tsebelis für den Fall anzunehmender gleicher Policy-Präferenzen davon ausgeht, dass Vetospieler absorbiert werden. Für ein parlamentarisches Regierungssystem mit Ein-Parteien-Regierung nach Westminister-Typus bleibt es daher bei einem Vetospieler; Regierung und Parlamentsmehrheit werden hier in der Regel nicht differenziert betrachtet, da „[...] every government as long as it is in power is able to impose its will on parliament” (Tsebelis 2002: 94). Tsebelis selbst weist darauf hin, dass es über die von ihm identifizierten Vetospieler hinaus weitere geben könne, wie zum Beispiel einzelne einflussreiche Minister oder Ausschussvorsitzende. Für seine generalisierende Analyse seien diese jedoch „random noise“ und nicht weiter zu berücksichtigen (Tsebelis 2002: 81; ähnlich auch Tsebelis 1995: 306ff.). Von besonderer Bedeutung ist neben der Zahl der Vetospieler die Frage, wer als Agenda-Setzer auftreten kann und so den Ausgangspunkt des Entscheidungsprozesses festlegt (Tsebelis 2002: 33). Abromeit und Stoiber erweitern den Katalog der Vetospieler, indem sie danach fragen, zu welchem Zeitpunkt einer Entscheidung ein Vetospieler eingreifen kann und über welche Machtressourcen er verfügt. Ausgehend von den beiden Grundtypen ergeben sich daraus die folgenden weiteren Arten von Vetospielern:
Mitgestaltende Vetospieler sind von Beginn eines Entscheidungsprozesses an beteiligt und haben als Agenda-Setzer einen erheblichen Einfluss auf den Inhalt der Entscheidung, während Vetospieler mit nur einem nachträglichen Vetorecht einen geringeren Einfluss haben (Abromeit/Stoiber 2006: 70f.). Bedingte Vetospieler sind solche, deren „Beteiligung am Prozess von der Entscheidung eines anderen Akteurs abhängt“ (Stoiber 2007: 34). Dies können auch gesellschaftliche Akteure sein, die in Anlehnung an die Überlegungen von Kaiser (1998: 538) zwar nicht über formelle Entscheidungskompetenz im ursprünglichen Sinn von Tsebelis’ Definition eines Vetospielers verfügen, die jedoch „an Vetopunkten der Expertise oder Delegation in das politische Spiel kommen“ (Stoiber 2007: 36). Bei den partisan-Vetospielern ist zu unterscheiden, ob sie dauerhaft auftreten oder nur situativ aktiviert werden. Abromeit und Stoiber zeigen, dass genau zu prüfen ist, wann partisan-Vetospieler tatsächlich absorbiert wer-
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den, wie Tsebelis dies annimmt. Unter Rückgriff auf Überlegungen von Kaiser weisen sie ferner daraufhin, dass nicht nur Parteien, sondern auch andere gesellschaftliche Akteure wie organisierte Interessen in bestimmten Konstellationen über Vetomacht verfügen (Abromeit/Stoiber 2006: 72). Die von Stoiber und Abromeit formulierten Erweiterungen des VetospielerAnsatzes haben zur Folge, dass bei Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen genau zu analysieren ist, ob der institutionelle Vetospieler Parlament tatsächlich vollständig absorbiert wird und die Regierung als einziger effektiver Vetospieler mit Agenda-Setzer-Macht verbleibt oder ob sich die Regierungsmehrheit als kollektiver Akteur ausdifferenziert. Situativ kann dann entweder das Parlament oder die Parlamentsmehrheit als Vetospieler aktiviert werden. In einer ersten Anwendung des für Policy-Analysen entwickelten Ansatzes auf Entscheidungen über die Spielregeln der Politik, zeigt Abromeit, dass für politische Entscheidungsprozesse dieser Art in besonderer Weise zu berücksichtigen ist, wie die politischen Akteure die Situation bewerten, da „über Erfolg und Misserfolg weniger die Zahl der Vetospieler als vielmehr das Verhalten der effektiven Vetospieler entscheidet“ (Abromeit 2007: 74).
Die Einschätzung des Status quo, die Dringlichkeit seiner Veränderung und strategische Überlegungen, die auch kooperatives Verhalten als vorteilhaft erscheinen lassen, führen dazu, dass nicht wie von Tsebelis angenommen die Policy-Präferenzen das Handeln determinieren (Abromeit 2007: 61, 74).
3.2 Anwendung der Vetospieler-Ansatzes auf Parlamentsreformen Im Folgenden soll nun der modifizierte Vetospieler-Ansatz auf die Konstellation von Parlamentsreformen in parlamentarischen Regierungssystemen angewandt werden, bevor in einem weiteren Schritt darauf aufbauend Hypothesen über die Erfolgswahrscheinlichkeit formuliert werden. Im parlamentarischen Regierungssystem gibt es einen institutionellen Vetospieler, nämlich das Parlament, dessen Zustimmung für eine Parlamentsreform erforderlich ist. Weitere Vetospieler wie eine zweite Kammer oder das Volk kommen nur ins Spiel, wenn es sich um eine Verfassungsänderung handelt, die nicht allein die betroffene Kammer des Parlaments beschließen kann. Dieser Fall soll hier einstweilen nicht weiter verfolgt werden. Als partisan-Vetospieler tritt die Regierungsmehrheit auf, d.h. die Regierung und die sie tragenden Fraktionen. Da diese eine Handlungseinheit bilden und als kollektiver Vetospieler in der Lage sind, eine einheitliche Position zu
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formulieren und durchzusetzen, wird der institutionelle Vetospieler Parlament insbesondere für den Fall einer Einparteienregierung vollständig absorbiert. Handelt es sich um eine Koalitionsregierung, so kann jeder der Koalitionspartner zum Vetospieler werden. Als Agenda-Setzer tritt in der Regel die Regierung auf. Für den Fall der Parlamentsreformen kann sich dann eine andere Konstellation ergeben, wenn eine solche Entscheidung nicht als gewöhnliche, dem Parteienwettbewerb unterworfene Frage behandelt wird. Potenziell differenzieren sich innerhalb der Regierungsmehrheit die Interessen aus: Auch die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion(en) haben ein Interesse daran, ihre Position innerhalb der Regierungsmehrheit zu stärken. Dies kann entweder über eine Veränderung der internen informellen Regeln geschehen oder über eine formale Stärkung des Parlaments als Institution, die sowohl den Mehrheits- als auch den Oppositionsabgeordneten zugute kommt. Im Extremfall differenzieren sich die Interessen innerhalb der Regierungsmehrheit so weit aus, dass der partisan-Vetospieler Regierungsmehrheit sich auflöst und nur der institutionelle Vetospieler Parlament übrig bleibt, der seine Position gegenüber der Regierung neu definiert. Soweit die Regierung das Recht zur Parlamentsauflösung hat, verfügt sie weiterhin über eine Vetoposition. Offen ist, wer in einer solchen Konstellation als Agenda-Setzer auftritt: Neben den Fraktionen können externe situative Vetospieler wie die Öffentlichkeit oder das Verfassungsgericht den Prozess einer Parlamentsreform anstoßen. Aus der Anwendung des modifizierten Vetospieler-Ansatzes auf die Konstellation bei Parlamentsreformen lassen sich die folgenden Hypothesen entwickeln: 1.
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Unter den Bedingungen parlamentarischer Regierungssysteme sind weitreichende Parlamentsreformen so gut wie ausgeschlossen, da in der Regel der institutionelle Vetospieler Parlament vollständig durch den partisan-Vetospieler Regierungsmehrheit absorbiert wird. Die Regierung als Agenda-Setzer wird jede Schwächung ihrer Position zu verhindern wissen. Nur in akuten Krisensituationen, in denen Parlamentsreformen zum Erhalt der Legitimation des Systems zwingend notwendig erscheinen, sind weitreichende Reformen, die die Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament schwächen, denkbar. Auch inkrementelle Reformen erscheinen eher unwahrscheinlich, werden jedoch möglich, wenn die Regierungsmehrheit nicht als einheitlicher kollektiver Vetospieler auftritt. Ob sie dies tut, hängt von der Situationsdefinition ab und davon, ob die Frage einer Parlamentsreform aus dem Alltag politischen Entscheidens herausgenommen wird (Abromeit 2007: 61, 74).
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Paketlösungen, die für alle Beteiligten eine Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellen, indem sie zum Beispiel Modernisierung und Öffnung verbinden, haben die größte Realisierungschance. Schon Thaysen hat in seiner empirischen Analyse der Reformen des Bundestages in den 60er Jahren gezeigt, dass „in der Regel nur pareto-optimale Lösungen zu erwarten“ sind (Thaysen 1972: 222).
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Vergleichende Analyse von Parlamentsreformen in Großbritannien, Australien und Deutschland
Für die empirische Überprüfung der Hypothesen bedarf es nun folgender Schritte: Zunächst sind die jeweiligen Parlamentsreformen hinsichtlich ihrer Zielsetzung und Reichweite in die oben entwickelte Typologie einzuordnen. In einem zweiten Schritt ist näher zu analysieren, wie der Vetospieler Regierungsmehrheit auftritt, inwiefern es Anzeichen einer partiellen Auflösung gibt. Dabei ist auch die Situationsdefinition zu berücksichtigen. Ferner sind der Agenda-Setzer zu identifizieren sowie die Rolle eventuell relevanter weiterer externer und situativer Vetospieler. Für die Diskussion der Hypothesen werden im Folgenden exemplarisch Fälle von Parlamentsreformen herangezogen. Ziel ist es, mit den Fallstudien wesentliche Typen unterschiedlicher institutioneller Konfigurationen in parlamentarischen Regierungssystemen abzudecken, wie sie in Abschnitt 2 erläutert wurden. Dazu ist es notwendig, zunächst das britische House of Commons, als das Muster aller Westminster-Systeme, als eindeutigen Fall eines „majoritarian parliamentarism“ einzubeziehen.13 Als Gegenmodell und Beispiel für ein parlamentarisches Regierungssystem, das als „transactional parliamentarism“ einzuordnen ist und indem zugleich der Einfluss des organschaftlichen Gewaltenteilungsverständnisses vergleichsweise ausgeprägt ist, dient der Deutsche Bundestag. Als Zwischentyp eines Parlaments, das einerseits in der Westminster-Tradition verankert und durch seine zumindest im House of Commons stets vorhandene Einparteien-Mehrheit als „majoritarian parliamentarism“ zu kennzeichnen ist, andererseits aber auch Elemente des „transactional parliamentarism“ beinhaltet, wird das australische Parlament analysiert. Da Reformen auch Reaktionen des Parlaments auf äußere Bedingungen darstellen und sich durch den gesellschaftlichen Kontext die Akteurskonstellation (Zahl der Vetospieler) und die institutionellen Rahmenbedingungen verändern, 13
Da dieser Beitrag explorativen Charakter hat, werden mit den Fallstudien verschiedene Arten von Zielen verfolgt. Sie sind so angelegt, dass sowohl „Hypothesis-Generating“ als auch „Theory-Confirming“ und „Theory-infirming“ damit erzielt werden können (Lijphart 1971: 691ff.).
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werden in die folgende Analyse ausschließlich Reformen von Parlamenten einbezogen, die seit Beginn der 90er Jahre verabschiedet wurden. Zwar wirken sich Prozesse der Internationalisierung auf Nationalstaaten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit aus, durch die Begrenzung auf einen Zeitraum von 15 Jahren kann jedoch die Wirkung internationaler Entwicklungen als intervenierende Variable begrenzt werden.
4.1 Großbritannien In den Untersuchungszeitraum fallen die Reformen des Unterhauses, die während der Labour-Regierung von Tony Blair diskutiert und teilweise beschlossen worden sind. Dabei ist nur ein Teil der Veränderungen der Arbeitsweise des Unterhauses auf Reformbeschlüsse des Unterhauses zurückzuführen, andere Veränderungen des Verhältnisses von Regierung und Parlament gehen auf einseitige Beschlüsse des Premiers bzw. der Regierung zurück.14 Zu den Veränderungen des Verhältnisses von Exekutive und Legislative gehören auch die seit dem Jahr 2000 gewachsene und für das britische Unterhaus ungewöhnlich große Zahl und Intensität an Revolten von Labour-Abgeordneten (Helms 2005: 400; Cowley/Stuart 2003: 188ff.; 2001: 247), Tony Blairs Zusage, zweimal jährlich vor dem Liaison Committee zu erscheinen, die er auch eingehalten hat (Flinders 2007: 182)15, und die Tatsache, dass Tony Blair über die britische Beteiligung am Irak-Krieg im Unterhaus abstimmen ließ.16 Ob dies punktuelle Ereignisse waren, die keine langanhaltenden Wirkungen entfalten, oder Anzeichen für einen nachhaltigen Wandel des Verhältnisses von Exekutive und Legislative sind (Flinders 2007: 175; Wright 2004: 872), ist derzeit noch nicht abzusehen. Im Folgenden sollen die Beschlüsse zur Änderung seiner Arbeitsweise, die das Unterhaus selbst gefasst hat, im Einzelnen näher betrachtet und in die hier vorge14
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Zu beachten ist, dass die Verschränkung von Regierung und Parlament auch im Fall der vom Parlament „selbst“ beschlossenen Reformen nicht wegfällt. Das Modernisation Committee, in dem die Reformvorschläge ausgearbeitet wurden, arbeitete unter Vorsitz des Leader of the House, der dem Kabinett angehört (Flinders 2007: 186). Das Liaison Committee besteht aus den Vorsitzenden der Select Committees und nimmt insofern eine wichtige koordinierende Funktion ein. Gleichzeitig steuert dieser Ausschuss auch, welche Angelegenheiten aus den Select Committees debattiert werden (Silk/Walters:1995 170, 203, 209). Wright sieht darin die Etablierung einer neuen Konvention parlamentarischer Verantwortlichkeit, deren Einhaltung auch von künftigen Premierministern erwartet werden wird (Wright 2004: 872). Zwar blieben alle Versuche, diesen einmaligen Vorgang formal zu institutionalisieren, zunächst erfolglos, dennoch argumentiert Flinders überzeugend, hier sei ein wichtiger Präzedenzfall geschaffen, mit dem das Unterhaus in der Außenpolitik als klassischer Domäne der Regierung ein Mitspracherecht erhalten habe (Flinders 2007: 195).
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schlagene Typologie eingeordnet werden. Der Schwerpunkt der erfolgreichen Reformen liegt dabei in der zweiten Amtszeit Tony Blairs. In der ersten Legislaturperiode der Labour-Regierung (1997-2001) kam es zu keinen substanziellen Änderungen, obwohl Labour mit einem anspruchsvollen Reformprogramm zur Stärkung des Unterhauses angetreten war (Power 2007: 494f.). Wie auf der Basis der aus dem Vetospieler-Ansatz entwickelten Hypothesen zu erwarten, verhinderte die Regierung jeden institutionellen Wandel, der ihre Position geschwächt hätte (Cowley/Stuart 2001: 239). Dies änderte sich nach der Unterhauswahl im Jahr 2001. Wesentlicher Auslöser für die Intensivierung der Reformbemühungen war eine “rare demonstration of all-party backbench power” (so der Kommentar im Guardian, zitiert nach Kelso 2003: 61): Bei der Neubesetzung der Ausschüsse nach der Wahl waren zwei prominente Ausschussvorsitzende von Labour zunächst von den Whips parteiintern nicht wieder aufgestellt worden. Während sich die Whips parteiintern zunächst durchsetzen konnten, erlitten sie im Unterhaus eine schwere Abstimmungsniederlage (Power 2007: 496f.). Bis zum Mai 2002 wurde ein Paket an Reformvorschlägen ausgearbeitet, das unter anderem darauf zielte, das System der Select Committees so zu verändern, dass die Ziele, die bei der Einführung der Departmental Select Committees 1979 verfolgt wurden, in besserer Weise erreicht werden könnten (Kelso 2003: 58, 62).17 Dieser Vorschlag, der aus einer Reihe von Gutachten und Diskussionen innerhalb und außerhalb des Parlaments und aus Kompromissverhandlungen im Modernisation Committee hervorging18, enthielt vier Elemente (Kelso 2003: 64; Flinders 2007: 181f.):
genauere Definition der Kernaufgaben der Select Committees bessere Ressourcenausstattung der Committees für Untersuchungen Einführung einer Bezahlung für den Vorsitzenden Schaffung eines Committee of Nomination, das die Auswahl der Abgeordneten für die Select Committees steuert.
Dieser Vorschlag wurde im Mai 2002 Punkt für Punkt im Unterhaus abgestimmt, wobei die Abstimmung offiziell frei gegeben war. Die ersten Punkte fanden die Zustimmung der Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Abgeordneten, 17
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Zu den Aufgaben der Select Committees, die sich nicht mit Gesetzgebung, sondern mit Regierungskontrolle befassen, vgl. Silk/Walters 1998: 208ff. Zu weiteren beschlossenen Änderungen und deren Bedeutung vgl. Power 2007: 502; Cowley/Stuart 2003: 198. Zur Reform 1979 vgl. Johnson 1981: 37f. Zu den ersten, relativ schnell nicht mehr verfolgten Reformplänen von Labour zu Beginn ihrer Regierungszeit sowie zur (Wieder-)Belebung der Diskussion durch die Konservativen vgl. Power 2007: 495. Zu den Verhandlungen im Modernisation Committee sowie im Kabinett, vgl. ebd.: 498f., 500f.
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nur für den letzten Punkt fehlten 14 Stimmen, um auch diesen zu beschließen (Kelso 2003: 64). Für die Einordnung in die Typologie von Parlamentsreformen und die Erklärung des partiellen Erfolgs bzw. des partiellen Scheiterns ist es sinnvoll, die Maßnahmen zunächst einzeln zu betrachten, wobei im Einzelfall bestehende Wechselwirkungen zwischen Elementen der Reformen zu berücksichtigen sind. Die ersten beiden Punkte verbinden Modernisierung und inkrementelle Reform: Die Ressourcenausstattung der Select Committees wird verbessert mit dem Ziel, dass sich eine „scrutiny culture“ herausbildet (Flinders 2007: 192) und das Parlament besser in die Lage versetzt wird, die Exekutive zu kontrollieren. Die Einführung eines Katalogs von Kernaufgaben schränkt die zuvor weite Autonomie der Ausschüsse ein, sorgt jedoch zugleich dafür, dass die Qualität der Arbeit weniger von den Fähigkeiten des jeweiligen Ausschussvorsitzenden abhängt (Power 2007: 497). Der dritte Punkt verfolgt zum einen das Ziel, die Ausschussarbeit zu professionalisieren, zum anderen sollen so Karrierechancen für Backbencher außerhalb der Regierung geschaffen werden (Power 2007: 497). Damit handelt es sich zunächst von der Zielsetzung her um eine inkrementelle Reform. Dieser Vorschlag steht jedoch in engem Zusammenhang mit dem letzten Punkt der Reformen, der nicht verabschiedet worden ist: Ob ein zusätzlicher Karriereweg eher das Parlament stärkt oder der Regierung zugute kommt, hängt davon ab, wer über den Zugang zu dieser Aufstiegsmöglichkeit wacht. In Verbindung mit dem geplanten Committee of Nomination hätte es sich um eine mindestens inkrementelle, wenn nicht gar weitreichende Reform gehandelt. Indem die Nominierung jedoch weiterhin in den Händen der Whips verbleibt, verwandelt sich die Maßnahme in eine Modernisierung oder sogar eine Maßnahme, die eher geeignet ist, die Selbstständigkeit des Parlaments weiter zu untergraben (Kelso 2003: 71). Die Schaffung eines Committee of Nomination, das zwar dem Bericht des Modernisation Committee zufolge den parteiinternen Nominierungsprozess nicht ersetzen, sondern lediglich als weiterer „fail-safe mechanism“ (Power 2007: 499) dienen sollte, kann als weitreichende Reform kategorisiert werden: “This measure was designed to remove the power of the whips' office from select committee membership selection, and make the process more transparent. Removal of the whips from this process would affect the powers of patronage and control exercised by the executive within and over the legislature, and be an important first step in realigning executive-legislative relations in Britain” (Kelso 2003: 69).
Das Scheitern dieses weitreichenden Vorschlags steht zunächst einmal in Übereinstimmung mit den auf der Basis des Vetospieler-Ansatzes entwickelten Hypothesen. Es kann jedoch auch mit einer zuvor vorgenommen erfolgreichen inkre-
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mentellen Reform erklärt werden, die innerhalb der Regierungsmehrheit vollzogen wurde: Unmittelbar nach der Niederlage der Whips im Unterhaus war das interne Nominierungsverfahren der Abgeordneten für Select Committees verändert worden, so dass die Labour MPs mehr Mitspracherechte und die Möglichkeit, die Vorschläge der Whips zu modifizieren, erhielten (Flinders 2007: 190; Power 2007: 498f.). Diese inkrementelle Reform stellte die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion zufrieden, während die weitreichende Reform im Widerspruch zur institutionellen Logik des Gegenübers von Regierungsmehrheit und Opposition gestanden hätte. Power (2007: 499) zitiert dazu einen Labour-Abgeordneten, der gegen das Nomination Committee argumentierte, „he did not want to give Tory MPs the chance to manipulate Labour nominations for select Committees.”
Der Erfolg der inkrementellen Reformen, den auch Flinders trotz seiner eher skeptischen Sicht bestätigt (Flinders 2007: 194), ist im Lichte der formulierten Hypothesen näher zu betrachten: Ausgangspunkt war eine Situation, in der sich aufgrund des Konflikts über die Nominierung der Vorsitzenden der Select Committees der kollektive Vetospieler Regierungsmehrheit ausdifferenzierte und für die Regierung als Agenda-Setter die Notwendigkeit zu aktivem Handeln bestand. Die zumindest partielle Auflösung des Vetospielers Regierungsmehrheit war über den gesamten Prozess zu beobachten insbesondere gestützt durch die aktive Rolle des Leader of the House, Robin Cook, der trotz seiner Zugehörigkeit zur Mehrheit und zum Kabinett eine das Parlament stärkende Reform zu seiner Sache gemacht hatte (Kelso 2003: 67; Power 2007: 496ff.; Cowley/Stuart 2003: 198). Cook übernahm damit die Rolle des Agenda-Setzers. In der Ablehnung der Einführung des Nomination Committee spiegelt sich eine komplexe Interessenkonstellation: Das Interesse der Mehrheitsabgeordneten an der geschlossenen Handlungsfähigkeit der Regierungsmehrheit, wie es in dem obigen Zitat deutlich wird, trifft auf das übereinstimmende Interesse der Whips der Oppositionsfraktionen, ihren Einfluss und ihre Patronagemacht zu sichern.19 Externe Vetospieler haben in dieser Situation keine entscheidende Rolle gespielt, auch wenn die breite Unzufriedenheit mit den fehlenden Reformen 19972001 und von den Tories sowie von der Hansard-Society lancierte Reformvorschläge und -aktivitäten ein günstiges Umfeld für die folgenden Reformen boten (Cowley/Stuart 2001: 281; Flinders 2007: 175f.). Dass die Reformen nicht nach den Regeln des politischen Alltags behandelt wurden, sondern im Modernisation Committee in Zusammenarbeit mit der Op19
Zu den Details, wie insbesondere die Whips der zweiten Reihe die „freie“ Abstimmung dennoch zu steuern wussten vgl. Cowley/Stuart 2003: 198.
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position und über den Leader of the House rückgekoppelt an die Regierung ausgehandelt und schließlich einer frei gegebenen Abstimmung unterworfen wurden, scheint auf den ersten Blick die Möglichkeit, zu einem Paket aus Modernisierung und inkrementellen bis weitreichenden Reformen zu kommen, begünstigt zu haben. Die Freigabe der Abstimmung hat jedoch in Verbindung mit dem Verzicht, über den Vorschlag als Paket abzustimmen, ein Herausbrechen der weitreichenden Teile der Reform begünstigt. Ob andernfalls die Reformen insgesamt nicht beschlossen worden wären, sich hinter der Ablehnung des Nomination Committee also eine konzertierte Aktion der Whips verbirgt, die einem Gesamtpaket nicht zugestimmt hätten, kann nicht abschließend beantwortet werden.20 Zumindest bestätigt dieser Fall, dass ausgehandelte Paketlösungen von Vorteil sein können, wenn sie denn en bloc abgestimmt werden. 4.2 Australien21 Das australische Parlament besteht aus dem House of Representatives, dessen Struktur und Arbeitsweise eng an das Vorbild des britischen House of Commons angelegt ist, und dem Senat, der nach Vorbild des amerikanischen Senats konstruiert ist. Die Regierung ist permanent auf das Vertrauen des House of Representatives, der ersten Kammer, angewiesen. Durch das für diese Kammer zur Anwendung kommende Mehrheitswahlrecht sind stabile Regierungsmehrheiten in dieser Kammer die Regel. Wegen der dort herrschenden straffen Parteidisziplin und der engen Verbindung zur Regierung kann von der gewöhnlichen Vetospielerkonstellation im majoritarian parliamentarism ausgegangen werden. Anders ist dies in der zweiten Kammer, dem Senat: Aufgrund der hier zur Anwendung kommenden Variante eines Verhältniswahlrechts ist die Zahl der Parlamentsparteien im Senat größer und sind divergierende Mehrheiten zwischen House of Representatives und Senat ein häufiges Phänomen, das dazu führt, dass sich die Regierung im Senat von Fall zu Fall die Unterstützung kleinerer Parteien oder 20
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Kelso legt eher diese Interpretation nahe (Kelso 2003: 71), während Power auf die große Zahl an Abgeordneten auch der Opposition verweist, die nicht teilgenommen haben, entweder weil sie das Thema nicht für wichtig erachteten oder sicher von einem Erfolg ausgingen (Power 2007: 499). Dieser Abschnitt geht wesentlich auf meine Zeit als Visiting Fellow an der University of New South Wales/Australian Defence Force Academy in Canberra, Australien zurück. Meinen Kollegen dort sowie den Kollegen von der Australian National University (ANU), insbesondere John Uhr, danke ich für die wichtigen Einblicke zum Parlamentarismus in Australien. An der ANU läuft derzeit ein umfangreiches Projekt in Zusammenarbeit mit dem australischen Parlament, dessen Ergebnisse fortlaufend unter http://www.parliamentarystudies.anu.edu.au/ research.php publiziert werden.
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sogar der größten Opposition verschaffen muss.22 Der Senat weist daher eher Züge eines transactional parliamentarism auf. Gesetze bedürfen der Zustimmung beider Kammern. Trotz ihrer unterschiedlichen Zusammensetzung und der unterschiedlich gewichteten Aufgaben – der Senat gilt als das „House of Review“, während das House of Representatives angesichts seiner engen Verbindung zur Regierung seine Kontrollfunktion nur eingeschränkt wahrnehmen kann (Singleton u.a. 2006: 164) –, wirken beide Kammern in einer Reihe von Felder eng zusammen, in dem sie diese in Joint Committees, denen Abgeordnete beider Kammern angehören, bearbeiten (Singleton u.a. 2006: 162). 4.2.1 Parlamentsreformen im House of Representatives 1994 Das House of Representatives verfügt sei 1950 über Standing Orders, die mehrfach geändert und im Jahr 2004 schließlich neu gefasst wurden. Dabei ging es jedoch nur um eine redaktionelle Bereinigung mit dem Ziel, die Standing Orders klarer und nachvollziehbarer zu gestalten. Inhaltliche Veränderungen der Arbeitsweise und Strukturen waren damit nicht verbunden (Harris 2005: vii). Nachhaltige Veränderungen der Standing Orders, denen eine längere Reformdebatte vorausging, hat es im Jahr 1994 gegeben. Nach der Wahl im Jahr 1993 wurde das Standing Committee on Procedure (HPC) damit beauftragt, die Strukturen und Prozesse des House of Representatives zu analysieren und Reformvorschläge zu unterbreiten. Damit gab die Regierung ihre Rolle als Agenda-Setzer zunächst an ein spezielles parlamentarisches Gremium ab. Dieses wertete bisherige Debatten und vorliegende Vorschläge aus und veröffentlichte im Oktober 1993 einen Reformbericht (HPC 1993), der sich drei Bereichen zuwandte: dem Gesetzgebungsprozess, der Question Time und dem Sitzungskalender (HPC 1993: 1). Bereits der Bericht des Ausschusses macht deutlich, dass die Zielsetzungen dieser Reform maximal der einer inkrementellen Reform entsprechen: „The committee does not share the nostalgic view of an idealised House of Representatives based on the days before political parties. The committee sees robust adversarial political parties as central to the system, and executive dominance and as a consequence executive responsibility as a fact of life” (HPC 1993: 2).
Der Ausschuss sah es als seine Aufgabe, Reformvorschläge auszuarbeiten, die sowohl die Interessen der Hinterbänkler, als auch die der Regierung und der 22
Seit der Einführung des Verhältniswahlrechts 1949 verfügte die Regierung nur 1951-1956, 1959-1962, 1976-1981 und 2005-2007 über eine absolute Mehrheit der Sitze im Senat, Evans 2003: 2; http://www.aph.gov.au/library/parl/hist/parties.htm, Stand 9.3.2008.
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Oppositionsführung berücksichtigen (HPC 1993: 2). In der Zielformulierung „making the House of Representatives more relevant, effective and efficient“ (ebd.) sind sowohl Modernisierung als auch inkrementelle Reform angesprochen. Der Reformbericht wurde ausdrücklich als Paket präsentiert, das zwar im Detail verändert werden könne, in seinen wesentlichen Bestandteilen jedoch erhalten bleiben müsse (HPC 1993: 3). Darin spiegelt sich zweierlei, zum einen der Versuch, den im Ausschuss gefundenen Kompromiss tragfähig zu erhalten, zum anderen die Einsicht, dass einzelne Bausteine ihre Bedeutung abhängig von anderen Elementen verändern, wie dies bei der Reform des britischen House of Commons deutlich wurde. Schon bei der Präsentation des Berichts wurden Dissense zwischen Mehrheit und Opposition, aber auch innerhalb der Opposition deutlich. Zwei Abgeordnete der Opposition, darunter der ehemalige stellvertretende Ausschussvorsitzende, präsentierten einen eigenen Bericht.23 Der Abgeordnete Nehl von der oppositionellen National Party brachte seine zwiespältige Position so auf den Punkt: “I do not agree with absolutely everything in the recommendations but I support the committee's report because I believe that change must happen” (House Hansard, 28.10.1993).
Der Bericht wurde ausführlich im Parlament diskutiert und fand auch erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit, die sich auf die vorgeschlagenen Änderungen der Question Time konzentrierten (HPC 2005: 60). Im Februar 1994 präsentierte die Regierung Keating ihre Antwort auf den Bericht und demonstrierte ihre Bereitschaft, „to accept, in whole or part, the great majority of the committee’s recommendations“ (HPC 2005: 61). Damit lag das Heft des Handelns wieder in den Händen der Regierung. Die folgenden wesentlichen Parlamentsreformen wurden beschlossen: Zum einen wurde die Regel eingeführt, dass eingebrachte Gesetzentwürfe automatisch von einer Sitzungsperiode in die nächste übertragen werden. Dies hat den Zeitdruck von den Beratungen genommen und zu einer intensiveren Beratung der Gesetze geführt (Uhr/Wanna 2000: 17; Uhr 1998: 140). Wenn die Regierung eine schnelle Beschlussfassung wünscht, steht ihr diese Möglichkeit nach wie vor zur Verfügung, insofern handelt es sich bei dieser Änderung zwar um eine
23
House of Representatives Hansard, 28.10.1993, Rede des Abgeordneten Filing, http://parlinfoweb.aph.gov.au/piweb/view_document.aspx?ID=490530&TABLE=HANSARDR, Stand 9.3.2008.
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inkrementelle Reform, deren Wirksamkeit aber letztlich vom Verhalten der Mehrheit abhängt.24 Die zweite wesentliche Änderung war die Schaffung des Main Committee, das an zwei Tagen der Sitzungswoche in mehreren Stunden nicht kontroverse Gesetzentwürfe diskutiert und so das Plenum entlastet (Singleton/Aitkin u.a. 2006: 146; Uhr/Wanna 2000: 20). Ziel dieser Reform war es auch, den Hinterbänklern ein zusätzliches Forum im Parlament zu schaffen. In der Bewertung zeigt sich, dass diese Maßnahme eher als Modernisierung denn als inkrementelle Reform einzuschätzen ist: Abgeordneten der zweiten Reihe mehr Betätigungsmöglichkeiten einzuräumen, berührt nicht zwingend die Interessen der Exekutive, da diese damit weniger Zeit haben, der Exekutive Schwierigkeiten zu machen (Uhr/Wanna 2000: 35). Zudem hat sich gezeigt, dass die Verlagerung von Debatten in das Main Committee weniger den Hinterbänklern ein relevantes Betätigungsfeld eingeräumt, als vielmehr dafür gesorgt hat, dass die Minister aus dem Schussfeld genommen wurden (Uhr/Wanna 2000: 26). Die Veränderungen bei der Question Time blieben umstritten, da hier gegensätzliche Interessen aufeinander stießen (HPC 2005: 61). Sie können angesichts der von der Regierung an dem Kommissionsvorschlag vorgenommenen Änderungen eher als Modernisierung eingestuft werden.25 Dieser Teil der Reform kann insgesamt nicht als erfolgreich bezeichnet werden, da bereits ein Jahr später ein erneuter Versuch erfolgte, Question Time zu reformieren, und ein Teil der Änderungen beim Amtsantritt von John Howard 1996 rückgängig gemacht wurde (Uhr 1998: 198f.). Wie verhält sich diese Reform nun zu den Hypothesen über die Wahrscheinlichkeit von Parlamentsreformen aus der Perspektive des VetospielerAnsatzes: Da es sich überwiegend um Modernisierung und nur teilweise um inkrementelle Reformen handelt, ist ihr Zustandekommen zunächst nicht überraschend. Die Regierungsmehrheit war im Prozess als einheitlicher kollektiver Akteur deutlich erkennbar, die Regierung machte von ihrer exekutiven Dominanz lediglich zu Beginn keinen Gebrauch, in dem sie die AgendasetzerFunktion dem Procedure Committee überließ, das mehrheitlich mit Abgeordneten der regierenden Labor Party besetzt war, die auch den Vorsitz stellte. Im weiteren Prozess akzeptierte die Regierung das ausgearbeitete Paket weitgehend, so dass auch hier der Schluss nahe liegt, dass ein Paket aus Modernisierung und inkrementeller Reform von Vorteil ist, weil dies sowohl für die Regierung als auch für die Abgeordneten einen Nutzen verspricht. Die zwiespältige Haltung 24 25
Die Standing Orders des House of Representatives können jederzeit durch Mehrheitsbeschluss ausgesetzt werden (Harris 2005: 329f.). Unter anderem reduzierte die Regierung die Mindestzahl der pro Sitzung vorgesehenen Fragen (Harris 2005: 530).
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der Opposition, die teils den Vorschlägen zustimmte, sie teils ablehnte, spiegelt den Kompromisscharakter des Pakets. Trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit für den Reformprozess kann kein maßgeblicher Einfluss externer Vetospieler festgestellt werden. In einer Bewertung dieser und späterer Parlamentsreformen kommt Uhr zu dem auch für diese Untersuchung interessanten Ergebnis, dass Reformen im House of Representatives wahrscheinlicher sind, wenn eine größere Zahl von Hinterbänklern der Regierungsmehrheit keine Chancen auf einen parlamentarischen Aufstieg oder eine Regierungskarriere hat. Als zweite günstige Bedingung nennt Uhr eine länger andauernde Amtszeit der Regierung „with the effect that the governing party faces increasing numbers of ministerial casualties of flawed decision making, resulting in increased pressure for reforms to bring greater openness and balance to the policy process“ (Uhr 1998: 135).
Damit benennt Uhr zwei Bedingungen, unter denen ein Auflösen des Vetospielers Regierungsmehrheit in unterschiedliche Interessengruppen wahrscheinlicher wird. 4.2.2 Modernisierung des Senats 2005/2006 Parlamentsreformen in der zweiten Kammer des australischen Parlaments zeigen sehr deutlich die unterschiedliche Dynamik des majoritarian und des transactional parliamentarism. Der Senat hat eine lange Tradition der Parlamentsreformen, die seine Stellung als Instanz, die Gesetzgebungsvorhaben intensiv prüft und die Kontrolle der Regierung gewährleistet, sichert und ausbaut (Uhr 2005a: 19; Uhr 2005b: 35; Uhr/Wanna 2000: 32). Parallel zu den Reformen im House of Representatives hat auch der Senat im Jahr 1994 Änderungen seiner Arbeitsstruktur verabschiedet, die im Unterschied zu den Beschlüssen im House of Representatives als mindestens inkrementelle Reformen wenn nicht gar als weit reichende charakterisiert werden können. Auch im Senat lag die Vorbereitung bei einem speziellen Ausschuss, dem Senate Procedure Committee. Ziel war es unter anderem, das System der Ausschüsse so zu reformieren, dass die wachsende Arbeitsbelastung für die vergleichsweise geringe Zahl von insgesamt 76 Senatoren zu bewältigen war (Halligan/Power/Miller 2001: 163). Das neu eingeführte System richtete parallele Ausschüsse zu acht Politikfeldern ein: In den „legislation committees“ stellte die Mehrheit den Vorsitzenden und die Mehrheit der Mitglieder, während der Minderheit der stellvertretende Vorsitz zukam. Ihre Aufgabe war die detaillierte Beratung von Gesetzen. In den „references committees“, die eher der Kontrollfunktion zugeordnet werden können, stellte die Minderheit den Vor-
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sitzenden und die Mehrzahl der Abgeordneten (Marinac 2007: 200; Young 2006: 4). Die Bewertung dieser Reformen fällt eindeutig aus. Es handelte sich um „a real shift in power away from the Executive whose capacity to influence the majority report of Senate reference inquiries, through party discipline, had been undermined” (Young 2006: 5).
Eine solche inkrementelle bis weit reichende Reform widerspricht insofern nicht den auf der Basis des Vetospieler-Ansatzes formulierten Hypothesen, als zu diesem Zeitpunkt die Regierung nicht über eine Mehrheit im Senat verfügte. Die Verabschiedung einer Modernisierung des Senats im Juli 200526, als die Regierung John Howards eine eigene Mehrheit im Senat gewonnen hatte, bestätigt ebenfalls die skeptische Sicht des Vetospieler-Ansatzes auf Parlamentsreformen: Kleinere Veränderungen zugunsten der Regierung im Rahmen der Question Time wurden sofort vorgenommen.27 Im August 2006 wurde mit den Stimmen der Senatoren der Mehrheit gegen alle anderen Fraktionen eine Reform des Ausschusssystems des Senats verabschiedet, die das Ziel verfolgte, die legislativen Entscheidungsprozesse im Senat zu beschleunigen. Die bisherige Parallelstruktur von Gesetzgebungs- und Reference Committees wird ersetzt durch acht Ausschüsse, in denen der Vorsitzende und die Mehrzahl der Abgeordneten der Regierungsseite und der stellvertretende Vorsitzende der Opposition angehören (Young 2006: 3, 5). Schon die Vorbereitung dieser Beschlüsse wich von den üblichen Verfahren insofern ab, als die Vorschläge nicht von einem darauf spezialisierten Senatsausschuss erarbeitet, sondern von dem Mehrheitsführer in den Senat eingebracht wurden (Marinac 2007: 200). Der Prozess und die Entscheidung selbst entsprechen damit der Struktur des majoritarian parliamentarism, in dem die Regierungsmehrheit als geschlossener Vetospieler auftritt und die Agenda des Parlaments bestimmt. Die Bewertung der Folgen der Reform fällt jedoch etwas weniger eindeutig aus: Ob der Senat damit seine Rolle als Widerpart zur Regierung, indem Gesetzesvorhaben der Mehrheit einer intensiveren Prüfung unterzogen werden, eingebüßt hat, hängt von der parlamentarischen Praxis ab. Marinac weist darauf hin, dass auch der Mehrheit angehörende Senatoren in den Ausschüssen die besten Chancen sehen, am politischen Prozess aktiv teilzuhaben. Insofern kann der 26
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Die Wahl der Senatoren, durch die die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Regierungsmehrheit verändert wurden, fand 2004 statt, die Amtszeit der Senatoren begann im Juli 2005 (Young 2006: 6). Zuletzt konnte sich während der Regierungszeit von Fraser 1976-1981 die Regierung auf eine Mehrheit im Senat stützen. Ergebnis war, dass im Rahmen der Question Time die Zahl der Fragen der Mehrheitsseite anstieg, die gewöhnlich lediglich dazu dienen, der Regierung eine Gelegenheit zur positiven Selbstdarstellung zu bieten (Marinac 2007: 197).
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Senat auch mit der neuen Ausschuss-Struktur seine Rolle als „House of Review“ wahrnehmen. Die von Marinac bis Ende des Jahres 2006 gezogene empirische Bilanz zeigt, wie einerseits die Regierung in der Lage war, Untersuchungen und Verzögerung von Gesetzgebung zu verhindern, wie andererseits einzelne Senatoren der Mehrheit abweichende Positionen artikulierten (Marinac 2007: 202ff.; Young 2006: 7). Insofern handelt es sich bei den von der Regierung Howard vollzogenen Änderungen der Arbeitsstrukturen des Senats um eine Modernisierung, deren Reichweite von dem Verhalten der Senatoren der Mehrheit abhängt.
4.3 Der Deutsche Bundestag Die letzte größere Reform der Arbeitsweise des Bundestages fand im Jahr 1995/96 statt. Ein weiterer Gesetzesbeschluss seitdem kann ebenfalls als institutioneller Wandel bezeichnet werden: die Verabschiedung des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (PUAG) im April 2001.28 Die Reform des Jahres 1995/96 hatte drei Bestandteile: Eine Neuregelung der Diäten, die Verkleinerung des Deutschen Bundestages sowie Veränderungen der Arbeitsweise des Bundestages (Marschall 1999: 45ff.). Unter der hier analysierten Fragestellung nach der Wahrscheinlichkeit von Reformen, die das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative verändern, sowie dem Einfluss von Vetospielern ist der dritte Teil des Reformpakets von besonderem Interesse.29 Ein wesentlicher Eckpunkt war die Einführung der erweiterten öffentlichen Ausschussberatungen (§ 69a GO). Diese verfolgt mehrere Ziele, die deutlich machen, dass es sich hierbei um eine als Öffnung zu charakterisierende Parlamentsreform handelt, die auch Elemente einer Modernisierung beinhaltet: Die erweiterte öffentliche Ausschussberatung soll dazu dienen, „eine fachlich spezialisierte sektorale Öffentlichkeit entstehen“ zu lassen (Zeh 1993: 363) und die Nachvollziehbarkeit des Gesetzgebungsprozesse zu erhöhen. Indem in dieser 28
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Vgl. dazu den Beitrag von Demuth in diesem Band. Auch das Parlamentsbeteiligungsgesetz stellt in gewisser Weise eine Parlamentsreform dar, soll in dieser exemplarischen Analyse ausgewählter Fälle jedoch nicht weiter berücksichtigt werden. Vgl. dazu die Beiträge von Wiefelspütz und Marschall in diesem Band. Zur strittigen Beratung der anderen beiden Teile des Pakets vgl. Marschall 1999: 51ff.; Golsch 1998: 275ff. Bezüglich der Verkleinerung des Bundestages und des Neuzuschnitts wurden große Teile überfraktionell vereinbart und beschlossen, partiell (hinsichtlich des Neuzuschnitts von Wahlkreisen für die Wahl 1998) setzte sich jedoch die Mehrheit durch. Dies wurde als parteipolitisch motiviertes Verhalten kritisiert (Marschall 1999: 57). Die Beschlüsse zu den Abgeordneten-Diäten wurden mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gefasst (Golsch 1998: 281). Dies war auch notwendig, da damit eine Grundgesetzänderung verbunden war, die jedoch nach massiver öffentlicher Kritik vom Bundesrat verworfen wurde (Golsch 1998: 282).
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Ausschuss-Sitzung auch abschließend entschieden werden kann, wird die Plenardebatte entlastet, an der in der Regel bei der zweiten und dritten Lesung eines Gesetzentwurfs ohnehin nur die im Ausschuss vertretenen Abgeordneten teilnehmen (Zeh 1993: 365). Die Arbeit des Bundestages soll für die Öffentlichkeit interessanter und zugänglicher gestaltet und die Beteiligungsmöglichkeiten für einzelne Abgeordnete verbessert werden (Marschall 1999: 50; Golsch 1998: 287). Des weiteren wurden Veränderungen bei der Fragestunde vorgenommen und der Wunsch artikuliert, Minister mögen häufiger zur Fragestunde im Plenum präsent sein (Marschall 1999: 47). Dies kann als ansatzweiser Versuch für eine inkrementelle Reform eingestuft werden kann. Der Ablauf des Reformprozesses zeigt das hohe Maß an Unabhängigkeit des Bundestages in Fragen der inneren Ordnung von der Exekutive und den Versuch, Entscheidungen dieser Art überfraktionell zu treffen, Änderungen der Spielregeln also nicht mit den Stimmen der Mehrheit einseitig vorzunehmen. Als Agenda-Setzer trat nicht die Regierung, sondern die Rechtsstellungskommission des Ältestenrates auf, d.h. ein Gremium, das der überfraktionellen Koordinierung der parlamentarischen Arbeit dient. Dort wurde eine erste Fassung des Reformpakets ausgehandelt (Marschall 1999: 52). Anschließend wurden im Geschäftsordnungsausschuss, an den die Vorschläge des Ältestenrates überwiesen wurden, Details der Vorschläge, insbesondere die Frage der Öffentlichkeit der Sitzungen von Bundestagsausschüssen noch einmal strittig diskutiert (Marschall 1999: 53; Golsch 1998: 274f.). Der Reformprozess folgte nicht der üblichen VetospielerKonstellation, sondern wurde unter dem Einfluss der Öffentlichkeit intern beraten, wobei unterschiedliche innerparlamentarische Interessen zum Tragen kamen: „[A]ls treibende Kräfte wirkten die führenden Gremien des Bundestages, allen voran das Bundestagspräsidium und der Ältestenrat sowie die Fraktionsvorstände. Sie reagierten mit ihren Vorschlägen auf die stetige öffentliche Kritik am Parlament und seinen Abgeordneten und waren bestrebt, der Glaubwürdigkeitskrise des Bundestages entgegenzuarbeiten“ (Golsch 1998: 283).
Diese Parlamentsreform widerlegt nicht die aus dem Vetospieler-Ansatz entwickelten Hypothesen, da es sich in erster Linie um eine Öffnung handelt, die Interessen der Regierung nicht unmittelbar betreffen, so dass sie als Vetospieler nicht aktiviert wird. Sie zeigt aber die Notwendigkeit der Erweiterung des Ansatzes, wie sie hier zugrunde gelegt wurde, um zu erklären, dass eine Parlamentsreform zustande kommt. Ferner zeigen sich hier die Grenzen des Vetospieler-Ansatzes, da die im Reformprozess zutage getretenen grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des notwendigen Maßes an Offenheit parlamentarischer Beratungen nicht systematisch erfasst werden können.
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Auch die Verabschiedung des Untersuchungsausschussgesetzes zeigt die Grenzen des Vetospieler-Ansatzes für die Erklärung von Parlamentsreformen insbesondere in Parlamenten wie dem Deutschen Bundestag, in denen die Dominanz der Exekutive geringer ist und bei denen es sich eher um einen transactional parliamentarism handelt. Das Untersuchungsausschussgesetz regelt unter anderem die Rechte der parlamentarischen Minderheit in einem Untersuchungsausschuss und den Zugang der Öffentlichkeit. Beides kann als inkrementelle Reform charakterisiert werden, da bei Untersuchungsausschüssen der Zugang der Öffentlichkeit geeignet ist, deren Kontrollfunktion zu stärken. Demuth nennt in seinem Beitrag in diesem Band weitere Gründe, warum es in der 14. Wahlperiode möglich war, einen Entwurf zu verabschieden, der noch in der 11. Wahlperiode keine Mehrheit gefunden hatte (S. 81ff.). Einige dieser sollen im Folgenden kurz angeführt und aus der Perspektive des Vetospieler-Ansatzes reformuliert werden, um dessen Grenzen und Leistungsfähigkeit zu zeigen:
Durch die (negativen) Erfahrungen, die die beiden großen Fraktionen in der 13. Wahlperiode mit Untersuchungsausschüssen gemacht hatten, bestand ein gewisser Leidensdruck und damit vermehrtes Interesse an der Verabschiedung verbindlicher Regeln für die Arbeit von Untersuchungsausschüssen. Aus der Perspektive des Vetospieler-Ansatzes ließe sich dies als spezifische Situationsdefinition fassen, die dazu geführt hat, dass der Status quo von den maßgeblichen Vetospielern sehr negativ bewertet wird und damit ihre Neigung, von ihrer Vetoposition keinen Gebrauch zu machen, steigt (Abromeit 2007: 61). Einzelne Abgeordnete übernahmen eine aktive Rolle und waren an einer Einigung im Sinne der Verbesserung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages mehr interessiert als an der Sicherung einer Position entsprechend ihren Interessen als Mitglied von Regierungsmehrheit oder Opposition. Diese Art des Erodierens von kollektiven Akteuren, die sich anhand der zentralen Rolle einzelner Persönlichkeiten auch in anderen Reformprozessen zeigen lässt, kann der Vetospieler-Ansatz wegen seiner eher abstrakten Betrachtung nicht erfassen. Die (Führung der) Regierungsmehrheit verzichtete darauf, von der ihr zur Verfügung stehenden Vetoposition Gebrauch zu machen und räumte den engagierten Abgeordneten Handlungsspielraum ein. Diese Art des Verzichts auf die Wahrnehmung einer Vetoposition kann zumindest der erweiterte Vetospieler-Ansatz erfassen. Sei es, dass es sich um eine Reaktion auf die Situationsdefinition handelt, sei es, dass es um Parlamentsreformen geht, die nicht so weitgehend sind, als dass sie den Widerstand der Regierung wecken.
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Darüber hinaus haben Prozesse institutionellen Lernens gerade in diesem Fall institutioneller Reform eine prominente Rolle gespielt, wie Demuth überzeugend empirisch fundiert argumentiert. Der Fall des PUAG deutet somit darauf hin, dass allein das Vorhandensein von Vetopositionen zwar das Scheitern, aber nicht das Gelingen institutioneller Reformen erklären kann. 5
Ergebnis und Ausblick
Die hier exemplarisch herangezogenen Fälle institutionellen Wandels von Parlamenten bestätigen weitgehend die auf der Basis des modifizierten VetospielerAnsatzes entwickelten Hypothesen. Der Vetospieler-Ansatz ist insbesondere in der Lage, das Scheitern von Parlamentsreformen zu erklären. Gleichzeitig ist die Notwendigkeit deutlich geworden, den Ansatz für die Erklärung erfolgreicher Parlamentsreformen zu erweitern oder durch andere theoretische Erklärungsansätze zu ergänzen. Es hat sich gezeigt, dass für den erfolgreichen Beschluss über eine Reform wesentlich ist, dass nicht die Regierung als Agenda-Setzer auftritt, sondern ein spezielles parlamentarisches Gremium oder eine Persönlichkeit aus der Parlamentsführung. Indem der Entscheidungsprozess damit von Beginn an aus den gewöhnlichen Verfahren parlamentarischen Regierens herausgenommen ist, wird eine Reform, die nicht nur den Interessen der Regierung dient, wahrscheinlicher. Parlamentsreformen, die eine Öffnung oder Modernisierung bedeuten, stoßen auf wenig bis keinen Widerstand. Inkrementelle oder weit reichende Reformen sind nur dann möglich, wenn sich der Vetospieler Regierungsmehrheit als kollektiver Akteur ganz oder zumindest partiell auflöst. Paketlösungen scheinen von Vorteil zu sein, allerdings bedarf es hier noch näherer Forschung, unter welchen Bedingungen diese so geschnürt werden können, dass sie nicht, wie im Fall des House of Commons gesehen, im weiteren Entscheidungsprozess wieder auseinander fallen. Weitergehende Forschung ist auch notwendig zu der Frage, unter welchen Bedingungen der Vetospieler Regierungsmehrheit zerfällt. Dabei bedarf es insbesondere eines genaueren Blicks darauf, inwieweit sich das Selbstverständnis der Parlamentarier in verschiedenen Ländern unterscheidet. Denn sowohl im Fall Großbritanniens als auch im Fall Deutschlands ist sichtbar geworden, dass das Selbst-/Rollenverständnis der Abgeordneten eine wesentliche Rolle spielt, zum einen wenn es darum geht, Reformen zu beschließen, aber zum anderen auch im Hinblick auf die reale Wirkung verabschiedeter Reformen. Inwieweit dieses jenseits der aktuellen Zugehörigkeit zur Regierungs- oder Oppositionsseite längerfristig institutionell geprägt ist, so dass spezielle Rollenvorstellungen die normale Vetospieler-Konstellation überlagern, müsste näher analysiert werden.
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Sind nun also entsprechend dem Titel dieses Bandes Parlamentsreformen zum Scheitern verurteilt? Sind Entparlamentarisierung und wachsende Dominanz der Exekutive Tendenzen, denen Parlamente in parlamentarischen Regierungssystemen unentrinnbar ausgesetzt sind? Oder können Parlamente dem Premier „Schach bieten“, sofern sich nur eine entsprechend aktive und widerständige Gruppe von Abgeordneten zusammenfindet? Die exemplarische Betrachtung des institutionellen Wandels im House of Commons, im australischen Parlament und im Deutschen Bundestag hat gezeigt, dass inkrementelle oder weit reichende Parlamentsreformen unter bestimmten Bedingungen gelingen können, während Öffnung und Modernisierung leichter realisierbar sind. Parlamente in parlamentarischen Regierungssystemen erweisen sich damit als unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen von Regierungsmehrheit und Opposition durchaus reformierbare Institutionen.
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Parlamentsreform als beständige Herausforderung Veränderungen zwischen institutionellem Wandel und „großer Reform“ am Beispiel des Deutschen Bundestages
Heinrich Oberreuter und Jürgen Stern
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Der Bundestag im Wandel
Seit der Deutsche Bundestag 1949 seine Tätigkeit aufgenommen hat, wird seine Reform diskutiert.1 Unter diesem Gesichtspunkt ist das folgende Statement – obschon aus dem Jahr 1969 – immer noch von erstaunlicher Aktualität: „Reformen müssen das Parlament [...] funktionsfähiger machen [...] durch die Stärkung seiner Unabhängigkeit von der Exekutive, durch Verbesserung der wechselseitigen Information und Auftragserteilung zwischen Bürger und Volksvertreter und durch die Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit und der Selbstdarstellung des Bundestages“ (Collet 1969: 274). Bei Willensbekundungen ist es nicht geblieben: Die Übersicht über einzelne – freilich manchmal nur kleine – Vorhaben, die bereits umgesetzt worden sind, füllt 36 Seiten im Datenhandbuch des Deutschen Bundestags (Schindler 1999: 2849-2885).2 Ein Kulminationspunkt dieser Entwicklung war die Parlamentsreform 1969, bei der etwa die Straffung der Redeordnung im Plenum, die Verbesserung der Informationsmöglichkeiten insbesondere der Opposition und die Erweiterung des Wissenschaftlichen Dienstes in die Wege geleitet worden sind (Scholz 1981: 157-171). Von Bedeutung waren auch die Maßnahmen, die 1980 (Stärkung der Rolle der Fraktionen), 1990 (Kurzinterventionen) und 1995 (Verkleinerung des Bundestages, Diätenreform, lebhaftere Debatten) verabschiedet wurden (Lemke-Müller 1996; Klatt 1998).3
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Hier wird auf einen Überblick verzichtet, zumal sich selbst der unermüdliche Peter Schindler dazu nicht in der Lage sah (Schindler 1999: 2886). Zu nennen sind nicht zuletzt Rausch (1967), Oberreuter (1981a) und Thaysen (1972). Eine rege Reformtätigkeit findet sich auf Ebene der Bundesländer (Mielke/Reutter 2004). Vgl. zum Prozedere der Reformen Marschall (2000: 16-18); eine tiefer gehende Analyse bei Marschall (1999); dazu auch die Analyse der institutionellen Lernfähigkeit des Deutschen Bundestages von Christian Demuth (in diesem Band); vgl. auch Ismayr (1985); Hoþevar (1988); Schäfer (1980).
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Vorschläge und Maßnahmen kreisen im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Schwerpunkten vor allem um drei Probleme: den Bundestag erstens als zentrales Legitimationsorgan auch im medialen Tagesgeschäft in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses zu rücken, zweitens seine Kompetenz gegenüber Ministerialbürokratie und Interessenträgern zu verteidigen und drittens seine Bedeutung und seinen Einfluss im sich weiter entwickelnden System der Mehrebenenpolitik speziell im Rahmen der Europäischen Union zu erhalten (Oberreuter 1981a, 2004). Den Stand dieser Bemühungen, die aktuellen Ansätze zur Reform des deutschen Parlaments und ihre Erfolgsaussichten analysiert dieser Beitrag.4 Dazu werden zunächst einige grundsätzliche Erwägungen angestellt und daran anschließend die einzelnen Themenkomplexe behandelt. Im Fazit soll die Frage nach dem Charakter der Reformen (zwischen institutionellem Wandel und „großer Reform“) aufgegriffen werden. Die wissenschaftliche Literatur zu Parlamentsreformen ist eher übersichtlich (für 1949-1997 Schindler 1999: 2886-2887). In der Öffentlichkeit findet „Parlamentsreform“ als Ringen um funktionale Verbesserungen kaum Aufmerksamkeit, anders als die „Reizthemen“ Vergütung, Altersversorgung und Nebentätigkeiten der Volksvertreter.5 Gelegentlich (1972, 1982, 2005) entstehen aus aktuellem Anlass Überlegungen zur Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages (Pieper 2007). 2
Zur Reform von Institutionen
Gerhard Göhler beschreibt politische Institutionen als „Regelsysteme der Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen und Instanzen der symbolischen Darstellung von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft“ (Göhler 1996b: 29). Dabei unterscheidet er zwischen Struktur- und Funktionswandel. Wandelt sich eine Institution fundamental oder hört sie gar auf zu existieren, liegt ein Strukturwandel vor, ändern sich die Leistungen, die sie für die Gesamtgesellschaft erbringt, ein Funktionswandel (Göhler 1996b: 38-40). 4 5
Es wäre interessant, die frühe Münchner Untersuchung (Maier et al. 1979) zu wiederholen. Dort erhobene Befunde z. B. über institutionelle Missverständnisse und Rollenkonflikte sind später bestätigt (und dramatisiert) worden (Patzelt 1998). Zumindest die einkommensbezogenen Themen lösen in weiten Teilen der Bevölkerung Neidgefühle aus und tragen so nicht zur Steigerung der Reputation des Bundestags bei. Später wird hier auf den Zusammenhang zwischen Einkommen und Leistungsfähigkeit der Institution einzugehen sein.
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Bei Parlamenten und ihrer Reform kann und muss es sich in stabilen Demokratien immer „nur“ um einen Funktionswandel zu dem Zweck handeln, die im parlamentarischen Regierungssystem zugeschriebenen Aufgaben angesichts einer sich verändernden Umwelt zu erfüllen, um nicht zum „dignified part of the constitution“ im Sinne Walter Bagehots herabzusinken (Bagehot 1867).6 Frühzeitig ist schon darauf hingewiesen worden, dass eine Institution, die Wandel (mit)steuern soll, selbst wandlungsoffen sein muss und nicht in angeblich klassischen Zuständen erstarren kann – vor allem nicht ein modernes demokratisches Parlament, das im Vergleich zur Inkubationszeit des Parlamentarismus keine Funktionsverluste, sondern geradezu eine Überordnung mit Funktionszumutungen erfahren hat (Oberreuter 1977: 100-112). Veränderungen wie auch die Reaktionen auf sie brauchen stets gewisse Zeit. Unter stabilen Verhältnissen ist eher von schleichendem Institutionenwandel zu sprechen. Die aktuelle demokratietheoretische Zielvorgabe fordert, das Spannungsverhältnis zwischen Effizienz, Transparenz und Partizipation sinnvoll auszutarieren (Steffani 1973a; Thaysen 1972: 82-97). Dem stehen Vorschläge gegenüber, die in der Tat auf strukturelle Reformen hinausliefen und in Wahrheit Funktionsverluste eines mitregierenden Parlaments nach sich zögen, folgte man verbreiteten Vorstellungen in der Bevölkerung vom „wahren“ Parlamentarismus (Köppl 2007b): das Plenum z. B. nicht nur als Ort der Entscheidung sowie ihrer Begründung und Kritik, sondern auch als Ort einer wahrheitssuchenden sachlichen Diskussion frei von politischen Interessen und von Fraktionsdisziplin.7 Das Parlament verlöre dann gewiss seine Handlungsfähigkeit. Auch die Einführung direktdemokratischer Elemente wäre ein Strukturbruch, eine elementare Veränderung des bisher rigiden repräsentativen Charakters. Es entstünde nicht nur Konkurrenz in der Gesetzgebung, auch deren Effizienz könnte in Mitleidenschaft gezogen werden (Reutter 2007; Oberreuter 2002a; Kranenpohl 2006). Die Direktwahl des Bundespräsidenten durchsetzte das parlamentarische Regierungssystem mit Elementen des präsidentiellen. Allein durch den unvermeidlichen Wahlkampf hätte sie eine deutliche Parteipolitisierung und durch die eigenständige elektorale Legitimierung Anspruch auf verstärkte Kompetenzen zur Folge – ein struktureller Wandel mit neuer Gewichtsverteilung im politischen System. Nichts spricht für einen so gearteten „großen“ strukturellen Wurf (Thaysen 1972: 222-246), der die starke Stellung des Parlaments in Deutschland nur be-
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So auch Schneider (1980). In diese Richtung zielte die Initiative von Hildegard Hamm-Brücher, die 1986 in eine marginale Änderung der Geschäftsordnung mündete (Schütt-Wetschky 1987; Werner 1990).
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schädigen könnte. Wo aber liegen – oft seit je – die wichtigsten Herausforderungen funktionalen Wandels? 3
Öffentlichkeit zwischen Transparenz und Inszenierung
Parlamentarische Kommunikationsangebote verfangen sich allzu oft im Netz journalistischer Selektions- und Interpretationsmuster und erreichen ihre Adressaten nicht ausreichend.8 Was aber nicht in den Medien ist, wird nicht Teil der Alltagswirklichkeit des Publikums. Die Auswahlkriterien der Medien gehorchen ihrer eigenen Logik, nicht der Logik politischer Bedeutsamkeit. Die Politik selbst hat es mittlerweile gelernt, sich den Inszenierungsregeln speziell der elektronischen Medien anzupassen und sich ihrer auch zu bedienen. Das mag für Parteitage, Wahlkämpfe und die politische Alltagskommunikation hingenommen werden. Diese Inszenierungskunst macht allerdings vor den Toren des Parlaments Halt, wiewohl auch dort zunehmend Verfahrenstechniken und Verfahrensinstrumente genutzt werden, die stärker konfliktorientiert sind und geeignet erscheinen, Aufmerksamkeit an sich zu binden (Kepplinger 1998). Aber wo es um Gesetzgebung und Legitimation geht, lässt sich Entscheidungspolitik nicht gänzlich durch Darstellungspolitik überwölben. Die Logik des Politischen kann nicht gänzlich annulliert werden. Schließlich besteht die Gefahr, dass die Politik gerade durch ihre Anpassung an die Medienlogik zum Schauspiel degeneriert und dadurch Ansehen bei den Bürgern verliert.9 Einstweilen verteidigen Parlamente überkommene Verhandlungs-, Informationserhebungs- und Diskussionsrituale, die der Rationalität des Fernsehdiskurses durchaus widerstreiten – vielleicht auch nur, weil sie aus Rechts- oder Sachgründen keine andere Wahl haben. Schließlich unterliegen sie formalen, rechtlichen und geschäftsordnungstechnischen Bindungen. Für die Verteidigung der Rituale und Prozeduren wird aber der hohe Preis bezahlt, dass sich in einem der Legitimation politischer Entscheidungen dienenden Kommunikationsprozess Fehlvorstellungen über Institutionen, ihre Leistungsfähigkeit und Problemlösungskapazität verfestigen. Das Parlament mag im Binnenbetrieb noch so sehr seine Rationalität als Institution verteidigen, in der politischen Kommunikation wird es in den Strudel der Medieninszenierung hineingerissen. Alltagspraktische Perzeptionen und Alltagspraxis der Institution bleiben daher miteinander unvermittelt (Roericht/Patzelt 2003). 8 9
Dass das Parlament dennoch keine Statistenrolle im öffentlichen Diskurs spielt, weist Gregor Mayntz (2002) nach. Als abschreckendes Beispiel mag der Spaßwahlkampf der FDP 2002 dienen. Zur allgemeinen Problematik ausführlich Oberreuter (2001).
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Sorgfältig muss abgewogen werden, bis zu welchem Grad parlamentarische Prozesse unter Rücksicht auf die Medienlogik optimiert werden können, wenn das Parlament als Forum der öffentlichen Debatte erhalten bleiben (eigentlich müsste es heißen: wiederhergestellt werden) soll (Marschall 2002). Zur dramatisierenden Belebung empfiehlt sich zuerst die Einführung einer reformierten Regierungsbefragung nach dem Vorbild der britischen “Question Time” (Schwarzmeier 1997). Sie ermöglichte Spontaneität und Überraschungseffekte, da zumindest die Antworten nicht vorbereitet werden können. Im besten Fall werden eindrucksvoll und signifikant die Fronten zwischen Regierung und Opposition sichtbar. Parlamentarier könnten sich öffentlich profilieren, vorausgesetzt, sie entwickelten „britisches“ Talent, was, wie Erfahrungen mit der Kabinettsbefragung im Bund und Erprobungen in Bayern zeigen, nicht so einfach zu sein scheint. In Deutschland fehlt es an Spontaneität, Witz und rhetorischem Talent. Zweitens wäre eine Konzentration der Plenardebatten auf wichtige Themen anzustreben. Diese Einschätzung teilen 74 Prozent der Abgeordneten (Patzelt 1997: 330). Weniger bedeutende Gesetze sollten in öffentlicher Ausschusssitzung behandelt und beschlossen werden,10 wobei eine qualifizierte Minderheit die Rücküberweisung ans Plenum erzwingen können muss. Sorgfalt raten die unterschiedlichen internationalen Erfahrungen an. In Italien führte die geringere öffentliche Beachtung der Ausschussmaterien zu einer Flut von Minigesetzen mit sehr engem Geltungsbereich unter Bevorzugung der Klientel einzelner Abgeordneter. Zudem schwand auch die Kohärenz der Gesetzgebung, da sich einzelne Akte partiell widersprachen. In jüngster Zeit haben diese Tendenzen jedoch deutlich abgenommen, weil sich die Opposition nicht mehr in einer klientelorientierten „Großen Koalition“ mit den Regierungsparteien befindet, sondern wesentlich stärker Kontrolle ausübt (Köppl 2007a). Anderseits haben die mittel- und osteuropäischen Länder dieses Instrument mit beträchtlichem Erfolg genutzt, um ihren großen legislatorischen Anpassungsbedarf vor dem Beitritt zur Europäischen Union zu bewältigen (Vodiþka 2004). Voraussetzung für Ausschussgesetzgebung sind Konsens über ihre Materien und eine kontrollorientierte Opposition, die notfalls breite Evidenz herstellt. Nach wie vor strittig ist, ob die Ausschüsse generell öffentlich tagen sollten, um dem Transparenzgebot näher zu kommen. Der Charakter des Bundestages als Arbeitsparlament würde deutlicher zu Tage treten (Marschall 2001: 403-406, 1996: 373f.). Hier gilt es allerdings auch zu bedenken, dass abseits der medialen Wahrnehmung vielleicht doch sachlichere Arbeit geleistet (Oberreuter 1997; Lemke-Müller 1996: 16-18), die Effizienz der Institution also verteidigt wird. 10
Diesen Vorschlag erörterten auch schon Rausch (1967: 281) und Oberreuter (1997).
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Diese Abwägung wird durch die Tendenzen der Mediendemokratie nicht leichter als früher – im Gegenteil. Zudem verdeutlichen die jahrzehntelangen Erfahrungen im Bayerischen Landtag, dass generelle Ausschussöffentlichkeit nicht automatisch höheres Publikumsinteresse erzeugt, wozu natürlich auch der Kompetenzschwund der Landtage beiträgt. Allzu tiefe Einblicke in die Werkstatt der Willensbildung sind mittlerweile kaum mehr zu erwarten. Nach Jürgen von Oertzen sind die Ausschüsse nur noch Testraum fürs Plenum. Dort würden zwar die in den Arbeitskreisen der Fraktionen getroffenen Entscheidungen zum ersten Mal kommuniziert. Aber inhaltliche Diskussion mit offenem Ausgang gäbe es kaum mehr (Oertzen 2005). Zum Vierten erscheint die Einführung eines Parlamentskanals dringlich, der nichts anderes als die technische Verwirklichung des Verfassungsgebots öffentlicher Parlamentsverhandlungen und ein Angebot für eine qualifizierte Minderheit besonders Interessierter wäre. „PHOENIX“ ist nur – aber immerhin – ein Ansatz dafür.11 Darüber hinaus wird das bundestagsinterne Programm in das Berliner Kabelnetz eingespeist. Die Breitenwirkung beider Angebote ist zwar beschränkt, aber genauso ist es der Aufwand. Die kleine, aber hochqualifizierte und -interessierte Klientel, die damit erreicht wird, rechtfertigt die Anstrengungen. Neben den konventionellen Techniken steht dafür auch das Internet zur Verfügung. Der Livestream ermöglicht es Interessierten, auch die Debatten in Landesparlamenten zu verfolgen. Durch das Internet ist es für den Bürger leichter möglich, seine Anliegen vorzubringen. Neben dem E-Mail wird derzeit mit dem Instrument der OnlinePetition experimentiert. Diese Eingabe kann per Computer eingereicht werden und gleichzeitig können andere Bürger sie auf diesem Wege unterstützen (Mambrey et al. 1999). Schließlich sollten die Abgeordneten selbst, wie z. B. in den USA längst üblich, über die Arbeit des Parlaments und ihre eigenen Aktivitäten dort, in den lokalen Print- und elektronischen Medien informieren. Auf Capitol Hill wird intensiv dafür gesorgt, die eigenen Auftritte in die lokalen Netze einzuspeisen. Abgeordneten eröffnet sich dabei auch die Chance, parlamentarische Verfahren und Begründungen ihrer Positionen zu vermitteln. Sie sollten dabei authentisch ihren persönlichen Anteil und ihre Betroffenheit zeigen (Metzger/Dehnert 2002; Fenno 1978: 54-170). 11
Zur Diskussion um die Einrichtung vgl. Marschall (1997). Das Thema ist hochsensibel: Parlamentarisches Unbehagen über mangelnde TV-Präsenz stößt auf Unbehagen der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten über einen „amtlichen“ Parlamentskanal und die Kritik am gegenwärtigen Zustand. Vgl. dazu das Protokoll zur DVParl-Veranstaltung “‚Der Bundestag verhandelt öffentlich’ (Art. 42 GG). Zur Notwendigkeit eines Parlamentskanals“ am 29.11.2007 in Berlin.
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Mitsteuerungskompetenz
Das Parlament sieht sich in seinem (Mit-)Steuerungsanspruch gewaltigen Herausforderungen gegenüber. Die gesellschaftliche Realität wird in all ihren Komponenten komplexer. Lebensstile und Lebensformen ändern sich ebenso wie die Arbeitswelt in einer Wissensgesellschaft. Durch Globalisierung löst sich im Grunde die Nationalökonomie auf. Wo es jüngst noch modern war, grenzüberschreitende Aspekte des Umweltschutzes zu berücksichtigen, droht heute globaler Klimawandel. Naturwissenschaftlicher Fortschritt wirft fundamentale Fragen an Moral und Ethik auf. Lassen sich diese Entwicklungen noch politisch steuern, im nationalen Rahmen und parlamentarisch mitbestimmt? Faktisch sind in dem Maße, in dem der Bundestag seine Arbeitsfähigkeit gestärkt hat, ihm die Probleme wieder davongelaufen und haben die alten strukturellen Herausforderungen zurückgelassen. So ist der Informationsvorsprung der selbst in globale und gesellschaftliche Herausforderungen verstrickten Regierung ein offenbar immerwährendes Faktum. Zudem wird das Parlament nicht selten umgangen und trotz seiner Letztentscheidungskompetenz vor vollendete Tatsachen gestellt.12 Im nationalstaatlichen Rahmen fördern Föderalismus, Parteiendemokratie und die spezifische Form der Koalitionsregierung das Wachstum und die Komplexität informaler Strukturen und Prozesse (Schwarzmeier 2001), erst recht in großen Koalitionen. Es ergibt sich ein dichtes Geflecht von Koordinations- und Kommunikationsgremien zwischen den Partnern auf parlamentarischen, gouvernementalen und föderalen Ebenen, von denen die Treffen der Spitzenpolitiker nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Alle Mehrheiten haben lernen müssen, dass ohne solche Strukturen Kommunikations- und Koordinationskanäle austrocknen und Regierungsfähigkeit gefährdet wird. „Wenn diese Absprachen ihrer Intention und Ausführung nach allerdings so weit gehen, dass den Parlamenten, genauer den Abgeordneten und Fraktionen, kein eigener Entscheidungsspielraum mehr verbleibt, wenn jede selbständige Regung, die im parlamentarischen Prozess aufkommt, nicht mehr dort ausgetragen, sondern in Koalitionsausschüssen – Elefantenrunden – verhandelt wird, wenn die dort ausgehandelten Kompromisse hernach den Abgeordneten im Parlament nur zur Absegnung zurückgegeben werden, unter der kaum verhohlenen Drohung, bei Nichtbefolgung würden Regierungskrise und Parlamentsauflösung die Folge sein, so erwächst daraus eine nicht mehr zu übersehende Beeinträchtigung der Repräsentativität des demokratischen Prozesses. Denn die politische Willensbildung wird auf diese Weise ein weiteres Stück weit 12
Siehe dazu z. B. jüngst das Urteil von Karlsruhe bezüglich des Einsatzes deutscher Soldaten bei Maßnahmen der Luftüberwachung zum Schutz der Türkei nach Maßgabe des NATOBeschlusses vom 19. Februar 2003 (BVerfG, 2 BvE 1/03, 07.05.2008).
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der Öffentlichkeit entzogen, die notwendige Fraktionsdisziplin entartet immer stärker zum Fraktionszwang, das Parlament wird seiner Funktion, die von ihm und der ihm verantwortlichen Regierung verfolgte Politik dem Volke zu vermitteln, immer weniger gerecht, sein Ansehen schwindet“ (Klein 1996: 41).13 Solche Prozesse fordern Transparenz und klare Verantwortlichkeiten parlamentarischer Entscheidungen heraus. Ähnlich kritisch wird von Seiten des Staatsrechts die Tendenz zum verhandelnden, zum paktierenden Staat gesehen: ein neuer Typus staatlicher Aufgabenwahrnehmung, der teils neben die verfassungsrechtlich vorgesehenen Typen, teils an deren Stelle tritt.14 Dieses Verhandlungssystem erstreckt sich mittlerweile auf fast alle Materien, auch auf die Gesetzgebung. Absprachen zwischen Staat und Privaten erzielen dadurch Verbindlichkeit wie Gesetze, im Unterschied zu diesen „gehen sie aber nicht aus allgemeiner Diskussion und Partizipation hervor. Verhandlungsteilnehmer sind keineswegs alle Betroffenen, denen sich der Staat als eine Art Moderator zur Verfügung stellte, sondern diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, die die staatlichen Pläne durchkreuzen können und auf deren Folgebereitschaft er daher zur Erreichung seiner Ziele angewiesen ist. Verhandlungssysteme prämieren also diejenigen Interessen, die ohnehin mächtig sind. Sie schaffen eine neue Privilegienstruktur“ (Grimm 1999: 57). Die an den Verhandlungen Beteiligten erwarten, dass die Ergebnisse gelten, ohne Rücksicht auf die jeweils noch zu durchlaufenden parlamentsinternen Entscheidungsprozesse, wobei sie diese Verfahren eher als Störquelle empfinden. Das entwertet Verfassungsprinzipien, Entscheidungsorgane und Entscheidungsverfahren – speziell die parlamentarischen. Auch hier kann das Parlament, in ähnlicher Weise wie bei Koalitionsabsprachen, kaum noch Veränderungen vornehmen. Es gerät erneut in eine Ratifikationssituation (Oberreuter 2002b). Da sich diese Muster über lange Zeit eingeschliffen haben, ist es wenig realistisch, sie mit Appellen ändern zu wollen. Vielmehr müssen die Parlamentarier über die Kompetenz verfügen, den Vorprägungen ihrer Arbeit zu begegnen – und zwar sowohl taktisch wie auch fachlich. Gerade weil das Informationsproblem strukturell zu sein scheint, müsste ein Mandat für hoch qualifizierte Führungskräfte attraktiv sein, so sehr die Politik ihrer eigenen Rationalität folgt, die nicht die der Fachwelten ist. Hierarchische Steuerung ist kaum möglich. Es gilt vielmehr stets, Mehrheiten zu organisieren. Dies schränkt Gestaltungsspielräume und die Durchsetzung fachlicher Expertise ein. Zudem ist der Abgeordnete stets in kommunikative Prozesse mit den Bürgern eingebunden, in denen über seine Wiederwahlchancen (mit)entschieden 13 14
Eine Gegenposition hierzu vertreten Rudzio (1970) sowie Schüttemeyer (1999). Hier setzt die Diskussion über die post-parlamentarische Demokratie und die Entparlamentarisierung an (Marschall 2005: 262-275).
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wird. Allerdings sind die Wähler in aller Regel über die Parlamentsarbeit nicht aufgeklärt und orientieren sich an ihren eigenen Bedürfnissen, nicht an Sachrationalität oder gesamtstaatlichen Erforderlichkeiten. Vermutlich kämen Ansätze, die Rekrutierungsmuster für das Abgeordnetenpersonal zu verändern, zu spät, weil die mittlerweile geltenden sich längst eingeschliffen haben. Sie sind von Karrierisierung und (parteipolitischer) Professionalisierung bestimmt. Bei zahlreichen Kandidaten hat das Interesse an einer „normalen“ Berufskarriere, aus welchen Gründen auch immer, nachgelassen. Aber anzusetzen hätte eine Reform bei den materiellen Rahmenbedingungen, die einer verantwortungsvollen Führungsaufgabe angemessen sein müssten und zugleich die Nabelschnur zur Außenwelt nicht kappen dürften. Neuregelungen hierzu sind in jüngerer Zeit in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Sachsen und bei den Nebentätigkeiten auch auf Bundesebene getroffen worden. Die Grundentschädigung eines Bundestagsabgeordneten beträgt 2008 7.339 Euro. In den Länderparlamenten, die nicht selten Rekrutierungsbecken für Bundestagsmandate sind, liegt sie in vielen Fällen unter der Besoldung von Bürgermeistern oder Landräten mittelgroßer Gebietskörperschaften. Vergleiche mit Positionen in der freien Wirtschaft von ähnlicher Verantwortung seien schamhaft verschwiegen. Die jahrzehntelange Verschleppung dieses Problems, die hochsensible und ignorante öffentliche Diskussion und das desaströse Sozialprestige des Abgeordneten – alle drei Faktoren rufen mittlerweile Zweifel an der Realisierung personeller Veränderungen hervor, die durch materielle Anreize gesteuert wären. Für den Einstieg in diesen Prozess hätte es, wenn überhaupt, in den 1970er Jahren bessere Bedingungen gegeben, als die Öffentlichkeit Gemeinwohlfähigkeit und Kompetenz der Abgeordneten erheblich höher einschätzte. Allerdings begründete das Bundesverfassungsgericht in seinem Diätenurteil von 1975 den Abgeordnetenberuf zwar als „full-time-job“, ist andererseits aber wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass (Neben-)Tätigkeiten üblich und zulässig sind (BVerfGE 40, 296 (318f.)). Dieses „Sowohl-als-auch“ spaltete im Urteil vom 4. Juli 2007 (BVerfGE 118, 277) den Senat in ein „Entweder-oder“, das sich um zwei stimmengleiche Lager kristallisiert. Geklagt gegen erweiterte Publizitätspflichten hatten Vertreter des klassischen Abgeordnetenverständnisses, das sich nicht unbedingt materiell von der Politik abhängig weiß. Da ihre Klage bei Stimmengleichheit abgelehnt worden ist, kann das Bundesverfassungsgericht nun für ein Berufsbild in Anspruch genommen werden, das die Mittelpunktvermutung zur Pflicht und den Abgeordneten quasi zum Angestellten seiner Wähler macht. Das Vertrauen in sein Pflichtbewusstsein und sein klassisches Recht, selbst über die Wahrnehmung seiner Aufgabe zu entscheiden, ist damit normativ erledigt.
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Der Bundestag stellte nach dem Richterspruch eine Überarbeitung der Bestimmungen in Aussicht, die Gegenstand der Klage gewesen waren. Dafür sprechen die Befunde zum Berufsleben: Die Mandatszeit ist ein Karriereabschnitt, der bei der Mehrzahl der Abgeordneten durch andere Tätigkeiten umschlossen wird (Kreiner 2006). In der Regel streben Parlamentarier die Rückkehr in ihren alten Beruf an. Ihr Durchschnittsalter bei Mandatsverlust liegt bei Mitte 50. Mandatsbegleitende Berufstätigkeit wäre daher in vertretbarem Umfang erforderlich, weil Ruhestandsbezüge in der Regel ab einem Lebensalter von 55 Jahren und nach einer Parlamentszugehörigkeit von zwei Legislaturperioden gewährt werden (Best/Jahr 2006: 73-79). Der einzelne Abgeordnete erhält im Rahmen der politischen Gesamtrepräsentation – die in der Institution, nicht im einzelnen Mitglied die Vielfalt der Interessen spiegelt – den Freiraum, nach Möglichkeit seinen Beruf (oder andere Tätigkeiten) auszuüben und gegebenenfalls auch dorthin zurückzukehren. Gerade die Rückkehroption kann der Freiheit der Mandatsausübung vor politischen Zwängen – auch solchen der eigenen Partei oder Fraktion – dienen. Die Vereinbarkeit von Mandat und Beruf schützt den Abgeordneten grundsätzlich vor Dequalifikation und Desintegration (Waldhoff 2006: 251-266). Genau deswegen hatte das frühere Diätenurteil dem Abgeordneten lediglich solche Einkünfte verwehrt, die ihm ohne Gegenleistung und nur in der Erwartung zugewendet werden, Kraft seines Mandates Sonderinteressen nützlich zu sein. Der Abgeordnete, so die bisherige Annahme, „schuldet“ rechtlich keine Dienste, sondern nimmt sein Mandat in Unabhängigkeit wahr (BVerfGE 40, 296 (316f.)). Ihm kann daher auch rechtlich nicht eine bestimmte Art der Wahrnehmung des Mandats auferlegt werden. Dem Diätenurteil war z. B. auch nicht zu entnehmen, dass die Tätigkeit als Abgeordneter zwingend Hauptbeschäftigung sein müsse (Waldhoff 2006: 254), wie mittlerweile die eine Hälfte des Karlsruher Senats annimmt. Im Grunde bewegen wir uns in einem gerichtlich dokumentierten Widerspruch. Eine realistischere Handlungsmöglichkeit ist, die informatorische Überlegenheit der Regierung abzubauen und die Kontrollqualität der Abgeordneten zu erhöhen. Bisher sehen die Abgeordneten vor allem die Regierung und Interessengruppen als wichtige Informationsquellen an. Erst danach rangieren die eigenen Dienste des Parlaments (Patzelt 1997: 327). Ein Ziel führender Weg, dies zu ändern, ist einerseits die verstärkte Nutzung des Instruments der EnqueteKommission. Andererseits sollten die wissenschaftlichen Dienste auf allen Ebenen ausgebaut und der Wille der Abgeordneten, sie zu nutzen, gestärkt werden. Das setzt ein Wiederwahlinteressen überschreitendes Mandatsverständnis voraus.
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Mitregieren in der Mehrebenenpolitik
Die Möglichkeit der Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an supranationale Zusammenschlüsse hatte schon der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee dem Grundgesetz vorgegeben. Deren prinzipielle Vorteile stehen außer Zweifel. Gebilde wie die EU gelten heute auch als Mittel gegen schrankenlose Globalisierung und die Aufweichung staatlicher Ordnungsfunktion. Aus Sicht des Bundestages liest sich diese Entwicklung aber nicht vollkommen positiv. Die supranationale Verflechtung tangiert den nationalen – und subnationalen – Parlamentarismus (und nebenbei auch die demokratische Legitimation verbindlicher Entscheidungen). Auf europäischer Ebene vertritt die Bundesregierung den Nationalstaat. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil angemahnt, dass auch dem Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht erhalten bleiben müssten (BVerfGE 89, 155 (186)). Die Frage ist allerdings, wie der Bundestag diesem Anspruch gerecht werden kann, wie er die Bundesregierung einzubinden sowie zu kontrollieren und wie er auf europäischer Ebene mitzugestalten vermag. Die Bundesregierung handelt im Rahmen ihrer generellen parlamentarischen Verantwortlichkeit, kann sich also über das Parlament hinwegsetzen und steht dabei bestenfalls unter den Rechenschaftspflichten und Sanktionsmöglichkeiten der Prinzipien parlamentarischer Parteiregierung. Dass aber wegen „Europa“ Koalitionen zerbrechen oder innerfraktionelle Solidarität erodiert, erscheint eher unwahrscheinlich. Damit ist letztendlich der europäische Integrationsprozess ebenso exekutivisch geprägt wie der innerstaatliche Föderalismus. Hier soll aber speziell nach den Kompetenz- und Funktionsverlusten des Bundestages durch den explizit gewünschten, im Grundgesetz von Beginn an angelegten, europäischen Integrationsprozess gefragt werden. Natürlich ist das Parlament zunächst „Herr des Verfahrens“, weil es durch seine Zustimmungskompetenz gegenüber den völkerrechtlichen Verträgen über den Umfang seiner Kompetenzeinschränkung selbst befindet. Allerdings wird durch die in den Verträgen angelegte Selbstläufigkeit von Kompetenzerweiterungen und -ergreifungen durch die EU sogar diese Übertragungskompetenz substantiell ausgehöhlt, ohne dass die Finalität dieser Union definiert wäre. Verordnungen mit unmittelbarer Wirkung, die nicht mehr in nationales Recht umgewandelt werden müssen, schränken die Gesetzgebungsfunktion des Bundestages direkt ein. Bei Richtlinien gäbe es einen gewissen Gestaltungsspielraum. Faktisch zeichnen sie sich aber „immer häufiger durch eine detaillierte Regelungsdichte aus, so daß der Spielraum für die Umsetzung erheblich reduziert wird“ (Töller 1995: 45): also eine mittelbare Funktionseinschränkung durch inhaltliche Vorgaben. 4000 solcher Dokumente gehen dem Bundestag jährlich zu.
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Berücksichtigt man nur die nachvollziehbaren Fälle, so ist zwischen der 10. und 15. Wahlperiode des Bundestages (1983-2005) die Zahl der durch europäische Impulse beeinflussten Gesetze um 133 Prozent gestiegen (Töller 2008: 9). Sie macht jetzt 39,1 Prozent der gesamten Gesetzgebung aus. Dabei sind informale Vorgänge noch gar nicht erfasst, wenn zum Beispiel nationale Gesetze in Kenntnis laufender europäischer Konsultationen von vornherein so gestaltet werden, dass sie der zu erwartenden europäischen Richtlinie entsprechen (Schindler 1999: 2386). Auch wenn die Einschätzungen des Bundesverfassungsgerichts, nach denen schon Ende der 80er Jahre nahezu 80 Prozent aller Regelungen im Bereich des Wirtschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt und nahezu 50 Prozent aller deutschen Gesetze durch das Gemeinschaftsrecht veranlasst gewesen seien (BVerfGE 89, 155 (173)), nicht zutreffen, stellen die realen Befunde eine gewaltige Herausforderung für den Deutschen Bundestag dar. Ob ihr durch das Erforderlichkeiten und Subsidiarität neu bedenkende und sichern sollende Frühwarnsystem des Lissabonner Vertrages begegnet werden kann, darf bezweifelt werden – ohne die Besserstellung der nationalen Parlamente grundsätzlich gering zu schätzen. Effizienter als das an unterschiedliche Quoren gebundene Einspruchsrecht nationaler Parlamente, deren supranationale Koordination binnen acht Wochen man sich schwer vorzustellen vermag, könnte sich das Klagerecht zum EuGH entwickeln, das von einem Mitgliedsstaat namens seines Parlaments in Anspruch genommen werden kann. Potentiell stünde der Gerichtshof mit einem nationalen Parlament gegen die qualifizierte Mehrheit der Regierungen und des Europäischen Parlaments – eine pikante Konstellation. Der wichtigste Schritt, den auch Lissabon nicht geht, wäre, zwischen Europa und den nationalen Parlamenten zu einer klareren Kompetenzabgrenzung zu kommen. Dazu müsste allerdings die Frage nach der Finalität der Europäischen Union geklärt werden, die offenbar absichtsvoll im Ungewissen bleibt, weil jede Antwort konsenssprengend wirkte. Außerdem könnte kein nationales Parlament sie geben. Anders wäre es bei Verdichtungen der Kontrollintensität des Regierungshandelns auf europäischer Ebene – so wie sie einige Landtage gegenüber den Landesregierungen durch Informationsrechte und Berücksichtigungswünsche umgesetzt haben. Von Bedeutung war immerhin die Einrichtung des Bundestagsauschusses für Europaangelegenheiten 1991. Dieser Querschnittsausschuss wird unter anderem dadurch hervorgehoben, dass er unter bestimmten Voraussetzungen als einziger gegenüber der Bundesregierung für das Parlament als Ganzes zu handeln vermag, indem er an Stelle des Plenums die Haltung des Bundestages zu einer EU-Vorlage bestimmt (Sannwald 1994: 19-21). Eine der jüngsten Verbesserungsmaßnahmen war die Abordnung einer Mitarbeiterin des Deutschen Bundestages nach Brüssel im November 2005 und die Eröffnung eines Verbindungsbüros im Dezember 2006, das organisatorisch dem
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Europareferat zugeordnet ist. Seine Aufgabe ist es, die Projekte der Kommission im Vorfeld zu beobachten und frühzeitig darüber zu informieren. Dass der Bundestag dabei unter allen nationalen Parlamenten zu den letzten zählte, die aktiv wurden, ist sicherlich kein Ruhmesblatt. 2006 wurde schließlich die „Vereinbarung zwischen dem Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union“ geschaffen, die das Parlament im Zuge der Ratifizierung der Europäischen Verfassung eingefordert hat. Demnach muss die Bundesregierung deutlich schneller als bisher über die Vorhaben der Europäischen Kommission informieren und Stellungnahmen des Bundestages nicht nur „berücksichtigen“, sondern sie zur Grundlage ihrer Handlungen machen. Allerdings dürfte auch dies ob der oben geschilderten Zusammenhänge des parlamentarischen Regierungssystems selten ein ernsthaftes Problem darstellen. Trotzdem gehen die Abgeordneten aller Fraktionen davon aus, Vorlagen jetzt so frühzeitig zu bekommen, um sie noch spürbar beeinflussen zu können. Damit ist der Bundestag dem Bundesrat gleichgestellt, der seine Rechte nach Art. 23 GG deutlich früher eingefordert hat. Wie immer seine Wirkungschancen einzuschätzen sind – der neue von „Europa“ aus implementierte Frühwarnmechanismus suggeriert den Parlamenten offensichtlich stärkere Funktionssicherungen als sie sie bisher aus eigener Kraft zustande zu bringen vermochten – bei allen Zweifeln an ihrer Wirksamkeit (Maurer/Becker 2004; Maurer 2008: 15-19; Hofmann/Wessels 2008: 18f.). 6
Inkrementalismus statt großer Wurf
Reform erschöpft sich offensichtlich in graduellem und pragmatischem Wandel. Mit dessen Hilfe könnte es dem Bundestag prinzipiell gelingen, seine Funktionen jeweils besser, möglicherweise aber mit anderer Gewichtsverteilung auszuüben. Der Schwerpunkt könnte künftig noch stärker auf der mitschreitenden Kontrolle liegen. Derart pragmatische Reformprozesse haben den Vorteil, einsichtig zu sein. Da sie das Parlament als Ganzes stärken, werden sie in der Regel von allen parlamentarischen Gruppen mitgetragen im Gegensatz zu strukturellen Eingriffen, deren positive oder negative Folgen für Mehrheit oder Minderheit nicht absehbar (oder gerade als einseitige Positionsverbesserung absehbar) sind: Machtpositionelles Kalkül herrscht erfahrungsgemäß auch vor, wenn es eigentlich um die Institution als Ganzes geht. Graduelle Reformen sind aber immer auch Reaktionen auf Defizite. Sie hinken nach und stehen im Geruch der Unzulänglichkeit, der nicht immer unbegründet ist. Dennoch ist über die Jahrzehnte kontinuierlich versucht worden, die Bedeutung des Deutschen Bundestags gegenüber einer zuweilen ignoranten Öffentlichkeit, einer wohlinformierten Regierung und in einem zunehmend supranational
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Heinrich Oberreuter und Jürgen Stern
geprägten Umfeld zu erhalten. Einige weiterführende Gedanken sind hier ausgeführt worden: vorsichtige Dramatisierung der Debatte im Plenum, die Erhöhung ihrer Relevanz und Attraktivität durch Verabschiedung weniger kontroverser Gesetze in den Ausschüssen, ständige Verbesserung der Informations- und Kontrollkompetenz, attraktive Gestaltung des Amts „Bundestagsabgeordneter“ durch Unterfütterung von Freiheit und Unabhängigkeit des Mandats sowie größeren Einfluss durch verstärkte Kontrolle und Mitentscheidung auf europäischer Ebene. Wo aber bleibt die „große Reform“? Einerseits erscheint sie nicht notwendig, weil strukturelle Reformen nicht erforderlich und noch weniger durchsetzbar sind. Der amtierende Bundestagspräsidenten Norbert Lammert gibt der allgemeinen Stimmung der Abgeordneten Ausdruck, wenn er der Forderung nach einer grundlegenden Parlamentsreform eine Absage erteilt. „Sie ist beinahe so alt wie der Bundestag selbst, der ganz gewiss immer wieder eine ‚Revitalisierung’ durch selbstkritische Überprüfung seiner Arbeitsweise braucht. Im Grundgesetz wird die Rolle des Bundestages allerdings entschieden bescheidener beschrieben, als es den geradezu übermenschlichen Erwartungen mancher Kritiker entspricht. […] Soweit man Leistungsvermögen und Durchsetzungskraft eines Parlaments an der Wahrnehmung seiner Gesetzgebungskompetenz messen kann, tut der Deutsche Bundestag eher des Guten zu viel – nicht zuletzt wegen der widersprüchlichen Erwartungen der Öffentlichkeit, die im Allgemeinen die Gesetzesflut beklagt und im Konkreten tatsächliche wie vermeintliche Probleme nur durch Gesetze verlässlich geregelt sieht“ (Lammert 2007).15 Auch Theorie und Forschung, die sich von ihren und den verfassungspolitischen Modellvorstellungen ausgehend mehr erwarten können, müssen eingestehen, dass es zum Inkrementalismus seit 1949 keine Alternative gibt.16 Der Bundestag sollte aber gleichzeitig auf unangemessen hohe, faktisch nicht erfüllbare Anforderungen aus der Bevölkerung mit Informationsangeboten reagieren, die Zustimmung für und Vertrauen in eine politisch funktionsfähige Institution wecken. Dies ist nicht zuletzt deswegen schwierig, da die Abgeordneten keineswegs ein unproblematisches Verhältnis zu ihrer Institution haben. Etwa die Hälfte steht wichtigen Funktionsprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems nicht positiv gegenüber. Darüber hinaus wollen 36 Prozent die Kompatibilität von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt aufheben. Demnach sind in Reformprozesse Akteure involviert, die das Parlament partiell verfassungspolitisch missverstehen (Patzelt 1997: 319f.; Maier et al. 1979: 26ff.). Taktische Gesichtspunkte, nicht unbedingt institutionelle Überlegungen bestimmen die Erfolgsaussichten von Reformen. Denn wer im parlamentarischen 15 16
Lammert hat sich schon früher ausführlicher zur Parlamentsreform geäußert (Lammert 1986). Die Alternativen, die den Inkrementalismus massiv angeprangert hatten und auf Systemüberwindung abzielten, sind wirkungslos verpufft. (Agnoli/Brückner 1968).
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Regierungssystem das Parlament stärkt, stärkt zugleich die Opposition. Dazu ist eine Mehrheit nur dann bereit, wenn sie die Befürchtung hegt, sich in absehbarer Zeit selbst in dieser Rolle wiederzufinden. Ob der unsicheren Situation und knappen Mehrheiten am Ende der ersten Großen Koalition (1966-1969) ist es daher nicht verwunderlich, dass die gut erforschte Parlamentsreform von 1969 noch als eine der umfangreichsten in der bisherigen Geschichte des Bundestags gelten darf. Gerade weil nicht alle Akteure das System, in dem sie wirken, zutreffend verstehen, sollte man sie nicht zu großen Würfen animieren. Systembrüche (z. B. die Volkswahl von Kanzler und Ministerpräsidenten) könnten die Folge sein. Auch ist kein ernst zu nehmendes Gegenkonzept in Sicht. Inkrementalismus wird auch weiterhin Reformprozesse prägen und die Themen werden im Wesentlichen die gleichen bleiben. „Den Parlamentariern ist stets bewusst gewesen, dass sie Reformen in kleinen Schritten betreiben. Ein großer Wurf ist ihnen nie gelungen. Sie haben ihn auch nicht angestrebt. Er wäre auch zum Scheitern verurteilt: Institutionen sind nur in Grenzen und nur im Rahmen des Überschaubaren und Kalkulierbaren zu reformieren. Ziel, Ende und Ratio müssen einsichtig, verlässlich und nachvollziehbar sein. [...] Der Bundestag hat in seinen Reformprozessen funktional gedacht und sich nicht vom Motto ‚mehr Demokratie wagen’ zu Experimenten verführen lassen“ (Oberreuter 2004: 193).17 Dass man gleichwohl substantieller Entmachtung des Parlaments nicht tatenlos zusehen darf, bleibt die andere Seite der Münze. Literatur Agnoli, Johannes/Brückner, Peter (1968): Die Transformation der Demokratie. Frankfurt am Main: EVA Bagehot, Walter (1997, 1867): The English Constitution. Brighton: Sussex Academic Press Best, Heinrich/Jahr, Stefan (2006): Politik als prekäres Beschäftigungsverhältnis: Mythos und Realität der Sozialfigur des Berufspolitikers im wiedervereinigten Deutschland. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37. Nr. 1. 63-79 Bundesministerium des Innern (Hrsg.) (1999): Bewährung und Herausforderung. Die Verfassung vor der Zukunft. Dokumentation zum Verfassungskongress „50 Jahre Grundgesetz – 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland“. Opladen: Leske+Budrich Bundesverfassungsgericht (1052ff.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, bish. 118 Bde., Tübingen: Mohr Coleman, Stephen/Taylor, John/van de Donk, Wim (Hrsg.) (1999): Parliament in the Age of the Internet. Oxford/New York: Oxford University Press
17
Aus anderer Perspektive kommt Christian Demuth zu einem ähnlichen Fazit (siehe seinen Beitrag in diesem Band) wie auch Stefan Köppl für den Fall Italien (siehe seinen Beitrag in diesem Band).
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Heinrich Oberreuter und Jürgen Stern
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Parlamentarische Reformen als evolutionärer Prozess
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Parlamentarische Reformen als evolutionärer Prozess Institutionelles Lernen am Beispiel der Reform des Untersuchungsausschussgesetzes des Deutschen Bundestages
Christian Demuth
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Warum scheitern und gelingen Parlamentsreformen?
Dass Parlamentsreformen anscheinend stets scheitern, ist fast schon zu einem Gemeinplatz der Parlamentsforschung geworden. Immer wieder werden die „linden Korrekturen“ (Oberreuter 1981a: 59) und Reformen „auf dem kleinsten gemeinsamsten Nenner“ (Rausch 1981: 144) sowie die ‚Untätigkeit’ des Bundestages kritisiert (Hereth 1971: 11f.). Warum allerdings Parlamentsreformen ein solches Schicksal zu ereilen scheint, ist mithin relativ unklar.1 Als Gründe für das Scheitern von Parlamentsreformen werden meist allein zwei Phänomene genannt: Zum einen seien die Machtinteressen schuld, dass institutionelle Akteure oder jene, die von der in einer gegebenen Form bestehenden Institution profitierten, keine Reformen einleiteten. Zum anderen fehle eine aufrichtige Reformbereitschaft: Hätten die handelnden Personen allein guten Willen, würden sie auch Anpassungsprozesse einleiten (Hamm-Brücher 1990). Doch sind dies die einzigen Ursachen für gescheiterte Reformen? Davidson, Kovenhock und O’Leary bemerkten in ihren Untersuchungen provokativ, dass Parlamentsreformer oft von einer „überraschende Naivität“ geprägt seien.2 Innerparlamentarische Reformen scheinen nämlich weitaus komplexer zu sein, als dies häufig wahrgenommen wird: Heinz Rausch und Heinrich Oberreuter machten beispielsweise auf die Bedeutung parlamentarischer Rollen und Bezugseinheiten aufmerksam, aus denen etwa verschiedene Zielvorstellungen von und Restriktionen für Reformen resultieren würden (Rausch/Oberreuter 1969; Maier et. al. 1979, Marschall 1999). Ferner zeigte Uwe Thaysens kybernetischer Ansatz einer „Theorie institutioneller Lernfähigkeit“ die Folgen der Komplexität politischer Institutionen für die Lernfähigkeit des Bundestages (Thaysen 1972). 1
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Der Reformprozess selbst sowie die Frage nach der Anpassungsfähigkeit des Bundestages blieben daher meist nur ein Randthema (vgl. Kritik bei Golsch 1998: 250f., Maier et al. 1979: 60). Ausnahmen von dieser Tendenz sind insbesondere Marschall 1999, Zeh 1993, Rausch 1981, Rausch/Oberreuter 1969 und Thaysen 1972. Davidson/Kovenhock/O’Leary 1966: 2.
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Ebenso wenig wurden bislang Erkenntnisse der neo-institutionalistischen Forschung (Hall/Taylor 1996) zur Analyse parlamentarischer Reformen angewendet.3 Institutionen wie Parlamente sind danach von einem hohen Maß an Komplexität und Rigidität geprägt (Longley/Hoffman 1999: 133; Thaysen 1972: 249): Sie weisen eine gewisse Dauerhaftigkeit auf (Göhler 1994a: 22), indem jede Schaffung einer Institution mit der Einrichtung eines institutionellen Rahmens aus formgebundenen Regeln, formlosen Beschränkungen und Erfüllungssicherungen einhergeht, „die gemeinsam ermöglichen, dass Transaktionen zu geringen Kosten stattfinden“ (North 1992: 69). Gleichzeitig sind Institutionen nur scheinbar unwandelbare soziale Arrangements: Diese sind nämlich gleichzeitig vielerlei Veränderungsprozessen ausgesetzt und prinzipiell wieder auflösbar.4 Anpassung und Anpassungsfähigkeit einer Institution sind daher Grundbedingungen für deren Stabilität (Lempp 2007 und Demuth 2007c). Auch dies wird von den meisten Kritikern des Bundestages vernachlässigt: Der Bundestag hat in seiner Geschichte eine Vielzahl operativer Eingriffe eingeleitet, die letztlich die Institution erheblich veränderten, wenngleich keine fundamentale Neubestimmung erfolgte (Marschall 2005). Gerade die geringe Beachtung von theoretischen Ansätzen bei der Analyse innerparlamentarischer Reformen ist eine Ursache dafür, dass bislang immer noch wenig Wissen darüber besteht, warum Parlamentsreformen eigentlich scheitern oder marginal bleiben. Uwe Thaysen betonte zu Recht: „An Vorschlägen zur Parlamentsreform hat es nie gemangelt, wohl aber an Überlegungen und ‚strategischen’ Konzeptionen zu deren Durchsetzung“ (Thaysen 1972: 247). Es müssen daher systematisch jene institutionellen Restriktionen untersucht werden, die letztlich Anpassungsbestrebungen verhindern oder konterkarieren. Als Lösung wird ein Ansatz „institutionellen Lernens“ vorgeschlagen, der auf der Theorie des Evolutorischen Institutionalismus basiert.5 Der Ansatz zielt auf eine Synthese der verschiedenen Konzeptionen des Neoinstitutionalismus6 und bindet gleichzeitig evolutionstheoretische Komponenten ein (Burns/Dietz 1994 und Hannan/Freeman 1989). Er speist sich damit aus Diskussionen um die Pfadabhängigkeit institutioneller Entwicklung (Krasner 1988; Thelen 2003; Pierson 2000), aus den Erkenntnissen eines akteurszentrierten Institutionalismus (Scharpf 2000) sowie aus sozialkonstruktiven Ansätzen der Institutionenanalyse (Patzelt 2003; Göhler 1994a).
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Vgl. etwa Schickler 2001 und Patzelt 2003. Patzelt 2003: 59f.; Patzelt 1987, Zucker 1991, Berger/Luckmann 2000. Vgl. Patzelt 2007a, Lempp 2007, Lempp/Patzelt 2007, Demuth 2007a, b. Siehe hier die drei Dimensionen des Rational choice-, des Historischen und Soziologischen Institutionalismus bei Hall/Taylor 1996.
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Analysiert werden soll die Umsetzung des Untersuchungsausschussgesetzes (PUAG), das am 6. April 2001 durch den Bundestag einstimmig beschlossen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich 50 Jahre lang ganze Generationen von Juristen und Parlamentariern darum bemüht, ein solches Gesetz zu verabschieden. Jene innerparlamentarische Reform wurde dergestalt fast schon zum Symbol für das vermeintlich zwanghafte Scheitern von Parlamentsreformen. Zwei Deutsche Juristentage, die Enquete-Kommission „Verfassungsreform“, viele Gesetzesentwürfe, vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und unzählige juristische Veröffentlichungen (vgl. Wiefelspütz 2002: 551; Mohr 2004) thematisierten und formulierten Lösungen für ein solches Gesetz. Warum scheiterte ein solches Projekt aber immer wieder? Und warum gelang es gerade in der 14. Wahlperiode, ein solches Gesetz zu verabschieden? Während eine Vielzahl vor allem juristischer Veröffentlichungen über die Frage nach der Ausgestaltung eines Untersuchungsausschussgesetzes vorliegt, wurde die Frage nach den Ursachen des Scheiterns meist nicht oder nur am Rande behandelt (Marschall 2005: 321; Wiefelspütz 2002: 553). Im Mittelpunkt der vorliegenden Analyse steht angesichts der Fragestellungen die Wirkung von Kontingenz und der Pfadabhängigkeit in institutionellen Lernprozessen: Gerade die Evolutionstheorie kann hier umfassende Antworten geben. Jene behauptet nämlich weder, dass Mutationsvorgänge rein zufällig, willkürlich oder blind vor sich gehen, noch dass diese eine ‚richtige’ oder geradlinige Richtung einschlagen, wie häufig viele Kritiker der Evolutionstheorie vorwerfen. Vielmehr ist Evolution „ein nicht-deterministischer und gleichzeitig nicht-chaotischer, [.] ein pfadabhängiger und teleonomer Prozess, in dem die jeweiligen Anteile von Pfadabhängigkeit und Zufall nicht vorab bekannt sind, sondern nur im Nachhinein herausgefunden werden können. Beim Versuch, das empirisch sich abzeichnende Verhältnis von Pfadabhängigkeit und Zufall theoretisch zu erfassen, betont die Synthetische Theorie der Evolution stärker den blinden Zufall, die Systemtheorie der Evolution stärker die Pfadabhängigkeit von Evolutionsprozessen, nämlich dass Organismen sich zunächst ihrer Umwelt anpassen, diese sodann mitprägen und insgesamt richtungsgebende Rückkopplungsprozesse auslösen.“ (Lempp/Patzelt 2007: 103).7
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Evolutionstheorie beinhaltet darüber hinaus keinen biologischen Reduktionismus: Natürlich funktioniert kulturelle Evolution auf andere Weise als die biologische Evolution. Beide funktionieren aber anhand derselben evolutionären Mechanismen und erweisen sich damit als zueinander isomorph, jedoch keineswegs als identisch oder bloß analog. Der Evolutorische Institutionalismus wurde – unter Einbeziehung bestehender sozialwissenschaftlicher Theorien wie neoinstitutionalistischer Ansätze oder der Systemtheorie – anhand der Anwendung einer Allgemeinen Evolutionstheorie ausgearbeitet. Siehe hierzu Dawkins 1982, Dennett 1994; Patzelt 2007b.
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Der Ansatz institutionellen Lernens
Was umfasst aber nun der Ansatz institutionellen Lernens? Dieser geht zunächst davon aus, dass Parlamente für die sie umgebenden politischen Systeme wertvolle Funktionen erfüllen. Obwohl immer wieder ein Niedergang des Parlamentarismus prophezeit wurde (Obrecht 2006: 1-9), haben sich Parlamente im Gegenteil in den letzten hundert Jahren über die ganze Welt verbreitet und können als ein echtes institutionelles Erfolgsmodell angesehen werden (Patzelt 2007d). Es ist daher anzunehmen, dass Parlamente auch in Zukunft zentrale Institutionen im politischen System sein werden, „wenngleich unter anderen Vorzeichen. Denn die Umwelt, in der Volksvertretungen agieren, verändert sich, und Parlamente wandeln sich mit dieser“; sie „müssen es sogar, wollen sie ihre Existenz und Bedeutung (…) sicherstellen“ (Marschall 1999: 9). Parlamente müssen sich also anpassen. Institutionelle Steuerungs- und Integrationsstrukturen werden von ihren Akteuren und Adressaten nämlich nur solange als evident und verbindlich betrachtet sowie im Alltag ‚gebraucht’ und gelebt, wie die institutionellen Geltungsansprüche als relativ sinnvoll und effizient erachtet werden. Ändert sich die Umwelt, so dass eine Institution entweder faktisch oder zumindest in den Augen ihrer Akteure und Adressaten nicht mehr effizient und sinnvoll ihre Funktionen erfüllt, so entstehen Passungslücken zwischen der Institution und ihrer Umwelt. Dann gelingt es der Institution nicht mehr, die von ihr eingeforderten Orientierungs- und Ordnungsansprüche auch geltend zu machen (Lempp 2007; Demuth 2007c). „Stabilität verlangt geradezu Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit entsprechend den sich stellenden Herausforderungen“, wenn der Bundestag weiter zentral mitsteuern soll, wie Heinrich Oberreuter betonte (Oberreuter 1981a: 11; vgl. Thaysen 1972: 25, Herzog 1993). Wie die Geschichte des Bundestages zeigt, können sich Parlamente anpassen: Sie sind in der Lage, auf Passungslücken zu reagieren, indem sie immer wieder ihr Gefüge aus Institutionen und Organisationen so umgestalten und reformieren, dass sie trotz Veränderungen der Umwelt funktionstüchtig bleiben (Patzelt 2007c: 348ff.). Die konkret Handelnden sind dabei jene institutionellen Akteure, die durch ihre Positionen oder mobilisierbaren Ressourcen einen solchen Zugriff auf eine Institution besitzen, der es ihnen erlaubt, intendierte Veränderungen durchzuführen. Beim Deutschen Bundestag sind dies in der Regel die Abgeordneten und die Bundestagsverwaltung, in speziellen Situationen auch extra-institutionelle Akteure wie das Bundesverfassungsgericht oder, bei Grundgesetzänderungen, der Bundesrat. Eben derartige intendierte Veränderungen werden als institutionelles Lernen bezeichnet. Es beinhaltet als Ziel die Anpassung an neue Umweltbedingungen, um die Geltungsansprüche der Institution aufrechtzuerhalten, zu verteidigen oder auszuweiten. Lernen ist damit auch nicht
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einfach als ‚Gewinn’, als ‚Zeichen von Vernünftigkeit’ oder als ‚normativ-gute Entwicklung’ (siehe Kritik bei Nullmeier 2003: 330, 334) und Evolution ohnehin nicht als unausweichliche und auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtete Entwicklung zu verstehen.8 Es bezieht sich hingegen ausschließlich auf die intendierte Reduktion von Passungslücken zwischen einer Institution und der für sie relevanten Umwelt. Ebenfalls bedeutet eine umgesetzte Reform nicht, dass Passungslücken immer erfolgreich reduziert werden. Lernen kann nämlich zur Anpassung führen, muss dies aber nicht. Passungslücken können trotz der Einleitung von Lernprozessen bestehen bleiben, weil Reformen nicht weit genug gehen oder Lernprozesse angestrengt werden, die sich als falsch oder kontraproduktiv erweisen. Sie muss nicht einmal eine fitnesssteigernde Wirkung auf Institutionen haben, denn aus jedem Lernprozess können sekundäre Passungslücken und dysfunktionale sowie nicht-intendierte Folgen geplanter Reformen folgen. Passungslücken können sich in der Folge sogar vergrößern (Scholz 1981: 286, Brunsson/Olsen 1993: 42f). Institutionelles Lernen ist darum als ein ständiger Prozess und eine ständige Aufgabe jeder Institution zu verstehen, und zwar mit stets ungewissem Ausgang. Ausgehend von der Theorie des Evolutorischen Institutionalismus muss zunächst bei der Beschreibung des Bundestages als institutionelles Arrangement – parallel zur Unterscheidung zwischen dem kollektiven Genotyp und Phänotyp einer biologischen Art – zwischen seiner institutionellen Form und seiner praktizierten institutionellen Form unterschieden werden. Die institutionelle Form umfasst jenes soziale Regelsystem, das aus unterschiedlichsten formalen und informalen Regeln, Strukturen, kulturellen Mustern, Symbolen sowie daraus gebildeten Funktionsketten und Funktionssystemen besteht und an dem sich das Handeln der Institutionenmitglieder orientiert. Nicht minder existieren in einer Institution grundlegende Orientierungs- und Ordnungsmuster, die für viele Akteure so attraktiv oder evident wirken, dass sie genau darum zur verlässlichen Richtschnur ihres Handelns und zum Ausgangspunkt ihrer strukturbildenden Anschlusspraxen werden (Patzelt 2003: 53f.). Sie können am besten als Leitidee der Institution verstanden werden (Rehberg 1994: 65-70). In einer stabilen Institution wie dem Bundestag weist jene institutionelle Form eine immense Festigkeit auf, erfolgt doch verlässlich in jeder Wahlperiode eine Tradierung der bestehenden institutionellen Ordnung und existieren obendrein erhebliche Sanktionsund Kontrollmechanismen, die darüber wachen, dass die Handlungsanweisungen der institutionellen Form eingehalten werden. Von der institutionellen Form sind die Wissensbestände und Deutungsmuster der Institutionenmitglieder über das Parlament zu unterscheiden. Das konkre8
Vgl. die Kritik bei Giddens 1992.
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te Handeln eines individuellen Institutionenmitglieds wird sich zwar zum einen wenigstens teilweise auf das Agieren und Wirken in der Institution beziehen und damit – bewusst oder unbewusst – auf die Aufrechterhaltung und Reproduktion der Institution selbst. Zum anderen sind die Wissensbestände und Deutungsmuster der Institutionenmitglieder aber nicht nur durch institutionenbezogene Inhalte geprägt, sondern ebenso bestehen hier andere Vorstellungen, Erfahrungen, Werte oder Einstellungen, wie sie sich aus gesellschaftlicher und individueller Sozialisation und aus anderen institutionellen Kontexten ergeben. Nicht minder weisen Mitglieder einer Institution zwar meist ähnliche, aber trotzdem unterschiedliche Vorstellungen und Erfahrungen über eine Institution auf. Sowohl Parlamentsneulinge als auch Parlamentskritiker, wie etwa die GRÜNEN nach ihrem 1983 erstmals erfolgten Einzug in den Bundestag, besaßen dergestalt meist andere Wissensbestände und Deutungsmuster über den Bundestag als solche (kompetente) Abgeordnete, die schon länger im Bundestag als Parlamentarier wirkten und arbeiteten. Allerdings existiert trotz der sich unterscheidenden Wissensbestände und Deutungsmuster eine institutionelle Form mit ganz konkreten Regeln, Routinen und kulturellen Mustern, die tatsächlich im Alltag handlungsleitend wirkt und an die sich mit zunehmender Dauer der Parlamentsangehörigkeit auch die Vorstellungen von Neulingen und von Parlamentskritikern, wie die Entwicklung der GRÜNEN zeigt, annähern. Der Unterschied zwischen der institutionellen Form des Bundestages sowie den Wissensbeständen und Deutungsmustern seiner Mitglieder ist demnach folgender: Wie verschiedene Umwelten bei Organismen einer biologischen Art auch bei sehr ähnlichem Genotyp zu Variationen im Phänotyp führen, ist es auch bei den Mitgliedern einer Institution: Sie bringen ganz unterschiedliche individuelle Voraussetzungen und Prägungen selbst für eine dann gleichwertige Rolle in ihrer Institution mit und weisen häufig recht große Variationen in ihren persönlichen Handlungen auf.9 Die konkrete Entfaltung der Handlungsanweisungen, aus der die institutionelle Form besteht, wird hingegen als praktizierte institutionelle Form des Bundestages bezeichnet: Diese erfasst die Institution in ihrer konkreten Situationsstruktur, die durch das geltende soziale Regelsystem, durch die Wissensbestände und Deutungsmuster der Institutionenmitglieder sowie durch die wahrgenommenen sowie wirkungsmächtigen Umweltfaktoren – in der Sprache des Evolutorischen Institutionalismus, seiner Nische – gebildet wird. Daraus ergibt sich in der Folge ein Repertoire von mehr oder weniger akzeptablen Handlungsabläufen. 9
Während Institutionen das Äquivalent zu biologischen Arten darstellen, sind die Institutionenmitglieder mit deren Wissensbeständen und Deutungsmustern die Vehikel memetischer Informationen ähnlich biologischen Organismen. Parallel zum individuellen Genotyp eines biologischen Organismus können dergestalt die Wissensbestände und Deutungsmuster der Institutionenmitglieder als individuelle Memotypen bezeichnet werden; Patzelt 2007c: 302.
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Zwar können solche Vorgaben auch aufgrund von anders ausgerichteten Interessen institutioneller Akteure bewusst verletzt oder ignoriert sowie unterschiedlich interpretiert werden (Scharpf 2000: 74). Entfernen sie sich jedoch zu weit aus dem durch die Nische der Institution und deren institutionelle Ordnung festgelegten Rahmen, so kann dies erhebliche Auswirkungen auf deren Stellung und Ansehen im Parlament haben: In der Folge können solche Abgeordnete innerhalb des Parlaments angefeindet werden, wie es etwa den Grünen erging, als diese nach ihrem Einzug in das Parlament bestehende kulturelle Muster und Regeln im Bundestag in Frage stellten (Ismayr 1985: 35). Oder sie können in der Folge isoliert, angeklagt oder gemaßregelt werden, so dass sie ihre zentralen parlamentarischen Interessen der Wiederwahl, des Aufstiegs in der Parlamentshierarchie oder die Durchsetzung ‚guter Politik’ nicht mehr verfolgen können (Fenno 1995; Longley/Hoffman 1999: 134). Ferner werden durch eine Analyse der praktizierten institutionellen Form die Bedingungen der konkreten „Situationsstruktur“ (Zürn 1992) sichtbar: In welcher Umweltkonstellation finden Lernprozesse statt? Welche Akteure nehmen mit welchen Präferenzen und Orientierungen an den institutionellen Lernprozessen teil? Welche Interaktionsformen bestehen? Welchem Druck von außen ist die Institution ausgesetzt? Die endogenen und exogenen Systembedingungen in institutionellen Lernprozessen können zu den verschiedenen Zeitpunkten sehr unterschiedlich sein. Gerade March und Olsen haben mit ihrem Modell des „garbage can“ auf die daraus resultierende Zufälligkeitsstruktur von Reformen hingewiesen: Institutionen verändern sich zwar „als Reaktion auf ihre Umwelt, aber sie verändern sich selten in einer Weise, die den Absichten einer bestimmten Gruppe von Akteuren entspricht (...). In manchen Fällen ignorieren Organisationen klare Anweisungen; manchmal befolgen sie diese weit nachdrücklicher, als es ursprünglich beabsichtigt war; manchmal bewahren sie auch Politikmacher vor Dummheiten, manchmal auch nicht“ (March 1990a: 189, March/Olsen 1989: 12).
Probleme, Lösungen, Entscheidungsträger und Wahloptionen ‚begegnen’ einander demnach nicht geordnet, sondern in der jeweiligen umwelt- und institutionsspezifischen Situation. Doch gleichzeitig erfolgt institutionelles Lernen eben keineswegs nur willkürlich und zufällig: Die praktizierte institutionelle Form des Bundestages ist nämlich ebenso von großer Stetigkeit und Stabilität geprägt, weil sich weder die Umwelt derart rasant ändert, dass Akteure ständig neuen Situationsstrukturen gegenüberstünden, noch die Ordnung des Institutionellen zu viele Spielräume für ihre Akteure aufweist. Im Gegenteil sind doch deren Präferenzen, Interessen, Strategien und Motivationen hochgradig mit den Vorgaben der institutionellen
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Ordnung verbunden, indem sich Bezugsgruppen, Rollen, Interaktionsstrukturen und Fähigkeit der Institutionenmitglieder als relativ stabil erweisen (von Oertzen 2006). Der evolutionstheoretische Ansatz institutionellen Lernens beschreibt parlamentarische Lernprozesse als Prozess der Variationenbildung, Selektion, Mutation und Rekombination der institutionellen Ordnung unter den Selektionsbedingungen der institutionellen Form, der Nische, der Wissensbestände und Deutungsmuster der Institutionenmitglieder sowie der jeweiligen Situationsstruktur der praktizierten institutionellen Form (Demuth 2007b; Patzelt 2007c). Selektiert werden Variationen dann, wenn diese einen relativen Fitnessgrad aufweisen:10 Variationen erweisen sich einesteils als fit, wenn diese eine relative innere Passung zu ihrer institutionellen Ordnung und eine äußere Passung gegenüber ihrer Nische besitzen; andernteils müssen sie von den Institutionenmitgliedern als effizient eingeschätzt und ihnen Akzeptanz entgegengebracht werden. Mitbestimmend für die Fitness ist darüber hinaus die Existenz alternativer Handlungsanweisungen und inwiefern jenen gegenüber eine Zuweisung von Effizienz und Akzeptanz stattfindet.
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Die institutionellen Lernprozesse im Rahmen der Entstehung des Untersuchungsausschussgesetzes11
3.1 Die Geschichte der Entstehung des Untersuchungsausschussgesetzes Die Geschichte des Untersuchungsrechts reicht in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert zurück und ist eng mit der Phylogenese des deutschen Parlamentarismus verbunden: Die ersten Regelungen wurden in der Nationalversammlung der Paulskirche formuliert, die aber angesichts der Rahmenbedingungen der Jahre 1848/49 ohne Wirkung und Durchschlagskraft blieben. Im deutschen Konstitutionalismus des Kaiserreiches war dem Reichstag dann das Recht der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ganz verweigert worden. Erst mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 fügte man unter maßgeblichem Einfluss Max Webers weitgehende Untersuchungsrechte zur Überprüfung exekutiven Handelns ein: Dazu gehörten insbesondere die Verankerung des Minderheitenprinzips, die Beweiserhebung in sinngemäßer Anwendung der strafprozessualen Vorschriften und der Verzicht auf die Begrenzung des Untersuchungsrechts auf die Überprü10 11
Zu Fitnesskriterien siehe Lempp 2007 und Demuth 2007c. Die Interviewausschnitte sind Teil der Ergebnisse eines Dissertationsprojekts, in dem insgesamt 36 Mitarbeiter und Abgeordnete des Deutschen Bundestages im Zeitraum 2004 bis 2006 befragt wurden.
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fung von Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen. Das Grundgesetz knüpfte an diese Geschichte an. Allerdings flossen die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik in die Erarbeitung der neuen Regelungen ein: Gegenüber der Weimarer Reichsverfassung wurde die für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses notwendige Zahl an Abgeordneten von einem Fünftel auf ein Viertel erhöht. Erklärtes Ziel sollte es damit sein, den Missbrauch des Untersuchungsrechts durch radikale Minderheiten zu erschweren, wie dies im Weimarer Reichstag der Fall gewesen war (siehe Schröder 1999 und Germis 1988: 38). In Artikel 44 GG wurde festgelegt, dass der Bundestag das Recht besitzt, „auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden.“ Weiterhin legt der Artikel fest: „Auf Beweiserhebungen finden die Vorschriften über den Strafprozess sinngemäß Anwendung“ sowie „Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet.“ Das Untersuchungsrecht eines Parlaments ist ein wichtiger Machthebel der Opposition. Untersuchungsausschüsse können sich mit sämtlichen Vorgängen befassen, die in die Verantwortung der Bundesregierung und des Bundestages fallen. Hierdurch können (vermeintliche) Missstände, Ungesetzlichkeiten oder Skandale der Exekutive veröffentlicht und politische Aufklärung betrieben werden. Allerdings ist die Wirkung auch sehr begrenzt: Zuerst deshalb, weil es sich bei Untersuchungsausschüssen einerseits zwar um Aufklärungsinstrumente, andererseits aber auch um ein Mittel der politischen Auseinandersetzung handelt (Bachmann/Schneider 1988). Entsprechend werden Untersuchungsausschüsse meist von der Opposition genutzt,12 um sich als bessere Alternative zu den regierenden Parteien gegenüber den Adressaten der Institution zu präsentieren, so dass die Aufdeckung der Missstände selbst häufig in den Hintergrund tritt. Gleichzeitig nutzt die Regierungsmehrheit das Instrument, insbesondere nach kurz vorher erfolgten Regierungswechseln, um Fehlleistungen der vormaligen Mehrheits- und jetzigen Oppositionsfraktionen zu überprüfen (Mohr 2004: 474; Ismayr 2000: 368f.). Angesichts eines solchen beiderseitigen Drohpotentials wird das Untersuchungsinstrument daher auch nicht inflationär, wenngleich kontinuierlich eingesetzt. Mit Ausnahme der 3. Wahlperiode wurde in jeder Legislaturperiode ein Untersuchungsausschuss eingerichtet. Gleichzeitig beschränkten erhebliche Verfahrensprobleme die Nutzung der Untersuchungsausschüsse: Weil eine Neugestaltung des Artikels 44 GG13 oder 12 13
Von den 34 bis 2006 eingerichteten Untersuchungsausschüssen wurden 26 von der Opposition, fünf von einer Regierungsfraktion und drei von den Oppositions- und Regierungsfraktionen gemeinsam eingesetzt; Marschall 2005. Siehe Literaturangaben bei Wiefelspütz 2002: 553.
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die Einführung eines Untersuchungsausschussgesetzes14 immer wieder scheiterte, blieb eine Vielzahl von Fragen über die genaue Handhabung des Untersuchungsrechtes offen, so dass die Praxis stets erhebliche Transaktionskosten, Frustrationen und Beeinträchtigungen der Rechte der Minderheit erzeugte. Die als Ersatz geltenden Handlungsdirektiven der „Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft“ aus der fünften Wahlperiode15 konnten jene Defizite ebenso nicht beheben (Wiefelspütz 2002: 551f.). Heinz Rausch prognostizierte angesichts der dauerhaften Pattsituation, dass eine Lösung wahrscheinlich nie vollendet werden würde (Rausch 1981: 147). Doch in der 14. Wahlperiode gelang auf einmal die Umsetzung eines Untersuchungsausschussgesetzes. Das Gesetz beruhte auf einem interfraktionell erarbeiteten Entwurf des Geschäftsordnungsausschusses („Porzner-Entwurf“16) aus der 11. Wahlperiode, der allerdings noch 1990 von der SPD aufgrund in ihren Augen mangelnder Minderheitsrechte abgelehnt worden war. In der 14. Wahlperiode brachten die rot-grünen Regierungsfraktionen und die FDP aber beinahe zeitgleich zwei fast identische Gesetzesentwürfe ein, die zu einem erheblichen Teil auf dem Porzner-Entwurf beruhten. Nach einer Zusammenführung beider Gesetzentwürfe in einer überarbeiteten Ausschussfassung wurde das Gesetz anschließend einstimmig im Bundestag beschlossen. Das neue Gesetz präzisiert die Zwangsrechte innerhalb des Verfahrens sowie die Rechte der qualifizierten Minderheit bei der Einsetzung der Untersuchungsausschüsse. Die Minderheit erhält darüber hinaus erhebliche Befugnisse bei der Erhebung der beantragten Beweise und der Festlegung der Reihenfolge der Zeugen und Sachverständigen. Zur Straffung und Beschleunigung des Verfahrens wird zusätzlich die Position eines Ermittlungsbeauftragten eingeführt (Wiefelspütz 2002).
3.2 Warum scheiterten die Reformen? Warum sind die Reformen bislang immer gescheitert? Dem Ansatz institutionellen Lernens folgend bestehen drei Ebenen von Selektionsbedingungen: jene der institutionellen Form, der Nische und der praktizierten institutionellen Form.
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Siehe die Chronik der Diskussion über ein Untersuchungsausschussgesetz bei Schindler 1998: 2243-2248; Wiefelspütz 2002: 553. Bundestagsdrucksache V/4209. Bundestagsdrucksache 11/8085. Benannt nach dem damaligen Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses, Konrad Porzner (CDU).
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3.2.1 Die institutionelle Form Eine Institution ist kein wildes Sammelsurium von formalen und informalen Regeln. Im Gegenteil besitzt eine Institution eine Institutionelle Ordnung, die durch eine Hierarchie und Interdependenz geprägt wird: Manche institutionellen Elemente weisen mehr Verantwortung innerhalb von Funktionsketten auf als andere. Man kann diese unterschiedliche Verantwortung institutioneller Elemente als funktionale Bürden bezeichnen. Jene institutionellen Elemente, denen eine höhere Bebürdung zu eigen ist, werden nämlich nur äußerst schwer, nur in wenige Richtungen oder nur unter dem Aufbringen erheblicher Transaktionskosten geändert werden können, weil derart viele andere Handlungsanweisungen von diesen abhängen, dass eine Veränderung zentrale Eigenarten der Institutionen beeinträchtigen würde. Zum anderen hängen durch die vielfältigen Verbindungen zwischen Funktionsketten institutionelle Elemente derart zusammen, dass die Veränderung der einen Regelung erhebliche, auch nicht-intendierte Folgen für andere bedeuten kann. Da sich zudem Interessen und Handlungen an der institutionellen Form orientieren, werden Reformen dann immer scheitern, wenn sie keine innere Passung zur Ordnung der Institution aufweisen. Damit wird aber auch eine Ursache für das Scheitern der Umsetzung eines Untersuchungsausschussgesetzes sichtbar: Im ‚Neuen Dualismus’ ist der Gegensatz zwischen Regierungsmehrheit und Opposition fest angelegt und als institutionelles Element in hohem Maße fixiert. Angesichts jener Prägung der institutionellen Form kann der Untersuchungsausschuss daher gar kein rein juristisches Aufklärungsmittel sein, wie es immer wieder zum Teil gefordert wurde. Forderungen nach einer Neutralität oder Unparteilichkeit der Mitglieder eines Untersuchungsausschusses oder die Kritik an der „Instrumentalisierung“ in der parlamentarischen Auseinandersetzung (Brocker 1999: 741), gehen deshalb an der Wirklichkeit eines ‚Neuen Dualismus’ vorbei, weil nun einmal der Wettbewerb zwischen den Fraktionen konstitutiver Teil der institutionellen Form des Bundestages ist. Ebenfalls widerspricht der institutionellen Form eine völlige Bevorzugung der Opposition. „Der Minderheit stärkere Rechte bis hin zur Möglichkeit, über den Abschlussbericht zu bestimmen, einzuräumen, widerspricht dem Strukturprinzip des Parlamentarismus (…). Es widerspricht der ‚politischen Logik’ parlamentarischer Regierungssysteme, das Mehrheits- durch das Minderheitsprinzip zu ersetzen. Ihre Logik liegt vielmehr in der Chance der Opposition, nach Wahlen die neue Regierung zu stellen, also selber die Mehrheit zu werden“ (Germis 1988: 63).
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Allerdings ist die Einforderung einer „Waffengleichheit“ in der Leitidee des Bundestages angelegt, indem es als akzeptiert gelten kann, dass der Opposition bestimmte Rechte gegeben werden, um ihre Aufgaben innerhalb der Gewaltenverschränkung des parlamentarischen Regierungssystems zu garantieren. Auch deshalb gelang der Beschluss des Untersuchungsausschussgesetzes: Indem dieses die Entwicklung des Bundestages von einem ‚Alten’ zu einem ‚Neuen Dualismus’ im Gesetz nachvollzog17 und den Schwerpunkt der Funktion eines Untersuchungsausschusses zum einen auf die politische Auseinandersetzung legte, zum anderen die Waffengleichheit von Regierungsmehrheit und Opposition garantierte, um eine sachliche Aufklärung von Missständen seitens der qualifizierten Minderheit zu ermöglichen, wiesen jene Variationen eine innere Passung auf, die deren Fitness erhöhte (Wiefelspütz 2002: 564f.).18 3.2.2 Die Nische Inwiefern hat darüber hinaus die Nische mit deren exogenen Selektionsbedingungen institutionelles Lernen beschränkt? Kanalisiert werden die Variationen zunächst durch zwei Nischenbedingungen: Erstens sind hier das Mediensystem und die Mediennutzung der Adressaten der Institution zu nennen. Der Wandel der Nische hat einesteils dazu geführt, dass die ehemals bestehende Funktion des Untersuchungsrechts als durch effektive Parlamentskontrolle erzwungene Publizität der Verwaltung heute durch die Medien, und nicht mehr nur durch das Parlament wahrgenommen werden muss;19 andernteils determinieren die Bedingungen der Nische die Wirkung eines solchen Kontrollinstruments: Angesichts der Medienöffentlichkeit wird ein Gegenstand eines Untersuchungsausschusses nur dann öffentliche Wirkung haben, wenn Medien und insbesondere das Fernsehen 17
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Unterschiedliche Interpretationen in den Wissensbeständen und Deutungsmuster der Institutionenmitglieder über die Leitidee des Bundestages haben dabei Auswirkungen auf die Variationenbildung: Während manche Abgeordneten einen ‚Alten Dualismus’ als Strategie und Leitlinie der Entwicklung des Bundestages präferierten, sahen andere einen ‚Neuen Dualismus’ als handlungsleitende Selbstverständlichkeit an (Maier et. al. 1979). Dies führte dergestalt immer wieder zu Inkompatibilitäten sowohl zur Nische als auch zur institutionellen Ordnung; vgl. Demuth 2007b. Deutlich wird diese Tendenz an den Ergebnissen des institutionellen Lernprozesses: Dergestalt wurde auf Befangenheitserklärungen oder Vorschriften über Interessenkollisionen ebenso verzichtet wie auf eine Bevorzugung der Opposition im Verfahren oder die Berufung parlamentsfremder Personen; vgl. Wiefelspütz 2002: 559. Siehe auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom BVerfG, 2 BvE 2/01 vom 8. April 2002. Jene Nischenveränderung verstärkte wiederum die Tendenz der Politisierung des Instruments des Untersuchungsausschusses, weil die Funktion der sachlichen Aufklärung von den Medien teilweise schneller und öffentlichkeitswirksamer gewährleistet werden kann.
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darüber berichten. Zweitens muss jede Regelung die durch die Nische festgelegte Gewaltenteilung, die Eigenständigkeit der Entscheidungen der Exekutive und Gerichte oder auch die Vorgaben des Grundgesetzes akzeptieren (Haberland 1995: 93). Die Nische kann allerdings auch institutionelles Lernen unterstützen, indem sie einen Anpassungsdruck auf die Lernakteure ausübt. Dies veranschaulicht das Beispiel der Einführung eines Untersuchungsausschussgesetzes in der Hansestadt Hamburg (Hoog 1993): Dort hatte die SPD aufgrund ihrer Interpretation der Festlegungen in der Geschäftsordnung der Bürgerschaft den Vorsitz des Untersuchungsausschusses eingefordert, obwohl das Ziel der Einsetzung die Aufklärung von Begünstigungen von SPD-Mitgliedern und SPD-Anhängern beim städtischen Wohnungsunternehmen gewesen war. Nachdem sich in der Nische – durch tägliche Medienberichte und Reaktionen der Bürger – ein erheblicher Druck aufgebaut hatte, dass sowohl die SPD als auch die Institution des Senats Schaden zu nehmen drohte. Der frühere Zweite Bürgermeister Hamburgs, Ingo von Münch, erklärte: „Die SPD soll auf aufhören, mit Nebel zu werfen. Mit dem falschen Festhalten an der Geschäftsordnung schüttet sie ganze Kanister Öl in das Feuer der zunehmenden Parteiverdrossenheit“ (Hoog 1993: 234f.). In der Folge veränderten sich die Bedingungskonstellationen: Zum einen enthielt sich die SPD in einer Abstimmung der Stimme, so dass der Weg frei gemacht wurde für die Einsetzung eines CDU-Abgeordneten zum Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses; zum anderen wurde durch eine Enquete-Kommission „Parlamentsreform“ eine Reform vorgeschlagen, die dann schließlich umgesetzt wurde. 3.2.3 Praktizierte institutionelle Form Die in der praktizierten institutionellen Form bestehenden Selektionsbedingungen wurden – im Gegensatz zu denen der Nische und der institutionellen Form – meist als allererstes genannt: Weil sich die Verfolgung eines solchen Projekts vor einem „hochpolitischen Hintergrund“ vollziehe,20 sei die Umsetzung eines Untersuchungsausschussgesetz regelmäßig deshalb gescheitert, weil zentrale Rolleninteressen des Bundestages, die sich aus der institutionellen Form ergeben, einer Reform entgegenstehen. Reformen hätten demnach nicht stattgefunden, weil zum einen die Regierungsmehrheit keinerlei Interesse an einer Gewährung von Minderheitenrechten habe, da es meist die Regierung ist, die von Untersuchungen in einem solchen Ausschuss betroffen sei. Hingegen hat die Opposition 20
Der FDP-Politiker Max Stadler in der Plenardebatte über das Untersuchungsausschussgesetz; Plenarprotokoll 14/82: 7617.
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natürlicherweise ein Interesse an dieser Art der Kontrolle der Regierung (Ismayr 2000: 368). Zwar bestanden immer auch Interessen bei vielen Abgeordneten – nicht zuletzt im Geschäftsordnungsausschuss – eine mit institutionellen Interessen korrelierende Lösung zu finden; diese konnten sich jedoch nicht durchsetzen, wie etwa die letztlich erfolgte Absage der SPD an den Porzner-Entwurf 1990 zeigte. Erschwerend hinzu kam, dass die institutionellen Lernprozesse meist in Interaktionsstrukturen stattfanden, die aufgrund der Nischenbedingungen eher von „Konfrontation“ und „Wettbewerb“ geprägt waren, weil die Formulierung von Variationen im Bundestag meist im Rahmen aktuell brisanter Untersuchungsausschüsse stattfanden, da hier Passungslücken besonders deutlich wahrgenommen wurden. Hingegen erfolgte der Lernprozess im Geschäftsordnungsausschuss im Rahmen der dort herrschenden und fest in der institutionellen Form verankerten Konsenskultur, in der generell versucht wird, Regelungen abgehoben vom konkreten Streitpunkt zu lösen. Daher glückte in diesem Ausschuss eine positive Selektion eines Untersuchungsausschussgesetzes, während durch die im Bundestag und vor allem in der Führungsspitze der Fraktionen vorhandenen Rolleninteressen und Präferenzen eine solche Reform negativ selektiert wurde.
3.3 Warum gelang eine Reform in der 14. Wahlperiode? Dass die Reform in der 14. Wahlperiode gelang, überraschte auch die Lernakteure selbst. Der Abgeordnete Bachmaier von der SPD brachte seine Verwunderung über das Zustandekommen der Reform im Plenum zum Ausdruck: „Damals [in der ersten Lesung des Gesetzes] hatte ich immer noch meine Zweifel, ob es uns nach 50 Jahren endlich gelingen würde, der Arbeit der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages eine vernünftige gesetzliche Grundlage zu geben. Es sieht aber so aus, als ob dieser – mittlerweile achte – Versuch endlich Erfolg haben wird. Besonders erfreulich ist, dass der heute zu beschließende Gesetzentwurf eine breite, möglicherweise einstimmige Zustimmung erfahren wird.“21
Welche Bedingungen lagen aber nun in diesem Zeitraum vor, dass eine positive Selektion gelang? Die ersten beiden Gründe wurden bereits teilweise genannt: Die Variationen, die durch den Porzner-Entwurf vorlagen, besaßen sowohl eine innere Passung zur institutionellen Ordnung als auch eine äußere Passung zur Nische der Institution. Die Regelungen orientierten sich an den zentralen Funktionsketten und hochbebürdeten Elementen der Institution wie beispielsweise dem 21
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‚Neuen Dualismus’ und damit den Interessen von Regierungsmehrheit und Opposition. Hinsichtlich der Nische wurde mit der Regelung, Fernsehübertragungen grundsätzlich zu zulassen, dies aber von Mehrheiten im Ausschuss abhängig zu machen, ebenfalls die Passung erhöht. Die Fernsehübertragung über die Aussage Joschka-Fischers im Visa-Untersuchungsausschuss, die immense Einschaltquoten erreichte, deutete an, wie die Kontrollfunktion hier durch die neuen Öffentlichkeitsregeln genutzt werden könnte. Doch können darüber hinaus noch sechs weitere Ursachen für die positive Selektion genannt werden: Erstens scheinen innerhalb des Lernprozesses die Wissensbestände und Deutungsmuster der Mitglieder im Geschäftsordnungsausschuss aufgrund der negativen Erfahrungen offen gewesen zu sein, eine Veränderung der geltenden Regelungen einzuleiten. Die SPD hatte in der 13. Wahlperiode negative Erfahrungen in zwei Untersuchungsschüssen gemacht, die CDU/CSU – als ehemalige Regierungsfraktion – wurde durch den Untersuchungsausschuss über den CDU-Spendenskandal durch die Regierung vorgeführt. Eine solche allgemeine Offenheit der Wissensbestände und Deutungsmuster der Mitglieder des Geschäftsordnungsausschusses reicht allerdings nicht aus, wie schon das Scheitern des Porzner-Entwurfs 1990 zeigte. In der Situationsstruktur der 14. Wahlperiode bestanden jedoch noch andere Bedingungskonstellationen, welche zu einer Durchsetzung des Untersuchungsausschussgesetzes führten. Es ist hier – zweitens – das Engagement einzelner Abgeordneter zu nennen: In den Interviews wurde festgestellt, dass es zu einer Durchsetzung des Untersuchungsausschussgesetzes nur aufgrund des besonderen Engagements und der Kompetenz einzelner Parlamentarier gekommen sei: Die Reform sei demnach nicht zuletzt aufgrund der „Kompetenz und Hartnäckigkeit“ erfolgt. „Letztlich hängt es auch immer von dem Format einzelner Abgeordneter ab, ob man den Ball ins Tor bringt oder nicht“,22 wie ein Interviewpartner bezüglich der Umsetzung des PUAG bemerkte. Ein anderer Abgeordneter beschrieb im Interview sein persönliches Engagement für die Reform: Er habe aus persönlichem Interesse eine Lösung angestrebt, weil die bisherigen Regelungen für ihn frustrierend gewesen seien. „Bei uns war der Leidensdruck aus der Opposition heraus so stark. Und dieser Leidensdruck, den konnte ich auch meinem Fraktionsvorsitzenden vermitteln. (...) Und [dann] hab [ich zu unserem Fraktionsvorsitzenden] gesagt: ‚Du (...), wenn wir jemals die Mehrheit kriegen, verspreche mir heute in die Hand, dass wir (...) mit der Mehrheit die Rechte der Minderheit ausbauen’.“23 22 23
Interview 25, SPD, Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses, 17. März 2005. Interview Nr. 21/I, MdB der SPD, Geschäftsordnungsausschuss, 28. Januar 2005; vgl. Demuth 2007b: 666. Siehe hier auch eine ähnliche Bewertung bei Thaysen/Schindler (1969: 21) bezüglich der Bundestagsreformen von 1969.
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Hinzu kam drittens, dass die machtrelevanten Akteure zum einen eingebunden waren, zum anderen diese den Lernprozess wenn nicht anschoben, so doch einen freien Raum gaben. Dies scheint ein nicht unerheblicher Faktor gewesen zu sein: Auf diese Weise konnten die Präferenzen jener Mitglieder des Bundestages, die durch gemeinsames Handeln im Geschäftsordnungsausschuss über sehr ähnliche Wissensbestände und Deutungsmuster verfügen, relativ frei wirken, ohne durch andere Rollenpräferenzen blockiert zu werden. Die Rolleninteressen der Regierungsmehrheit waren demnach weiter vorhanden, sie wurden im Lernprozess jedoch nicht wirksam. Ein Abgeordneter beschrieb die Situation wie folgt: „Das ist ein bisschen schwierig (…). Also manche bei uns haben schon mit dem Kopf geschüttelt, als wir das Vorhaben loslegten. Und dann brauchen Sie für so was ja eine gemeinsame Geschäftsgrundlage, damit Sie dann alle an Bord nehmen.“24
Jene vorhandene hohe Homogenität der Wissensbestände und Deutungsmuster bei den Lernakteuren ist der vierte Faktor des Lernprozesses, der die Selektion beschleunigte. Institutionenmitglieder orientieren sich nämlich nicht nur an einer Interessenkonstellation: Aus der institutionellen Form ergeben sich hingegen unterschiedliche Interessen, die je nach Nischensituation zu divergenten Präferenzen und kognitiven Orientierungen führen. Neben kollektiven Interessen wie jenen von Regierungsmehrheit und Opposition oder verschiedener Fachausschüsse bestehen ebenfalls individuelle Interessen der Wiederwahl, des Hierarchieaufstiegs sowie der Wunsch, ‚gute Politik zu machen’ (Fenno 1995). Ferner existieren institutionelle Interessen, weil Abgeordnete nämlich auch das Interesse haben, die Institution in einem guten Licht stehen zu lassen und diese nicht zu schädigen. Welche Interessen allerdings dominieren, entscheidet die jeweilige Situationsstruktur: Etwa ist der Gegensatz des ‚Neuen Dualismus’ aufgebrochen, wenn es für die Fraktionen unklar ist, ob ihnen bei bevorstehenden Wahlen die Oppositions- oder die Regierungsmehrheitsrolle droht (Thaysen 1972: 224); wenn eine mehrheitsfähige, aber untereinander konkurrierende große Koalition Änderungen anstrebt (Rausch 1981: 145); die Fachpolitiker aller oder der meisten Fraktionen zusammen Änderungen einfordern; oder auch wenn nach erfolgten Regierungswechseln die Rollen noch nicht verfestigt sind. Gerade der letzte Aspekt spielte für das Zustandekommen des Untersuchungsausschussgesetzes anscheinend eine wichtige Rolle. Während die Erinnerung der SPD-Fraktion an die Ablehnung all ihrer Anträge als Opposition im Untersuchungsausschuss noch „frisch“25 gewesen sei, hätte die CDU/CSU ihre ersten Erfahrungen als Minder24 25
Interview Nr. 21/I, MdB der SPD, Geschäftsordnungsausschuss, 28. Januar 2005; vgl. Demuth 2007b: 666. Interview 1, SPD, Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses, 16. Dezember 2004.
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heit im Ausschuss gemacht. Der Abgeordnete Bachmeier erklärte sich die Situation wie folgt: „Es ist schon interessant, der Frage nachzugehen, worin denn die Gunst der Stunde besteht, dass wir gerade jetzt, während der Parteispenden-Untersuchungsausschuss noch höchst kontrovers um Erkenntnisse und Ergebnisse ringt, die Kraft aufbringen, endlich die gesetzlichen Grundlagen für die weitere Arbeit von Untersuchungsausschüssen zu schaffen. Möglicherweise haben gerade die höchst unterschiedlichen Erfahrungen der Fraktionen in diesem Untersuchungsausschuss mit dazu beigetragen, die längst überfällige gesetzliche Regelung zu schaffen. Schließlich ist es ein entscheidendes Anliegen des Gesetzes, das Verfahren zukünftig so zu strukturieren, dass die Sacharbeit in Untersuchungsausschüssen nicht im ständigen Verfahrenshickhack zu ersticken droht. Entscheidend war sicherlich auch, dass einerseits die Koalitionsfraktionen die zum Teil bitteren Erfahrungen in ihrer Oppositionszeit noch nicht vergessen haben und andererseits die heutige Opposition mittlerweile gelernt hat, dass auch Untersuchungsausschüsse Regeln benötigen, die ein gerechtes und zügiges Verfahren und somit eine vernünftige Sacharbeit ermöglichen.“26
Ganz ähnlich formulierten dies zwei andere Abgeordnete der Regierungsmehrheit. Gefragt nach der Ursache für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes gerade in der 14. Legislaturperiode, antworteten sie: „Es gibt eine zeitliche Schnittstelle, und das ist die, wenn weder Regierung noch Opposition sicher sein können, das nächste Mal die Mehrheit zu stellen. Das ist so eine Schnittstelle, wo man auch solche Dinge machen kann. Dann gibt es [sie], wenn (...) der Leidensdruck aus der Opposition heraus so stark ist (...).“27 „Jetzt sag ich mal, die Augen ganz der Macht zu haben, das ist ja keineswegs ein Sachverhalt, der sozusagen nur bei einer Partei sich abladen lässt. Dieser Versuchung ist jeder ausgesetzt, der Macht ausübt! Und wer Macht ausübt, denkt sicherlich stärker an die eigenen Interessen als an die Interessen der jeweiligen Opposition. Es gibt aber Situationen, wo das anders ist. Wo man sozusagen sagt, ich möchte das, was ich in der Opposition gesagt habe, vom Grundsatz her, auch weiterhin vertreten, wenn ich in der Mehrheit bin. So ist das gewesen. Wir haben erstaunlicherweise ein Stück weit von der Macht abgegeben, die wir an sich als Mehrheit hatten. Durch das Untersuchungsausschussgesetz haben wir stark auch Minderheitenrechte festgehalten, festgeschrieben. Das hat ja auch zum Schluss dazu geführt, dass schlussendlich die Opposition dem Gesetz zugestimmt hat.“28
Doch noch weitere positive Selektionsbedingungen wurden genannt: So sei – fünftens – die Zusammensetzung des Geschäftsordnungsausschusses derart ge26 27 28
Plenarprotokoll 14/165: 16144f. Interview 21/I, SPD, Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses, 28. Januar 2005. Interview 25, SPD, Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses, 17. März 2005.
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wesen, dass dessen Mitglieder sehr ähnliche Präferenzen aufwiesen. Ein Abgeordneter der FDP stellte fest: „Und wir haben es zusammengebracht in einer historischen Phase, (...) und in einer eher zufälligen Zusammensetzung; weil viele von uns, die im Geschäftsordnungsausschuss sitzen, hatten alle Geschäftsordnungsausschusserfahrung, und zwar in wechselnden Rollen.“29
Insgesamt war also die Wahrscheinlichkeitsdichte für eine Veränderung sehr hoch gewesen und gleichzeitig die Gelegenheit auch genutzt worden. Ein anderes Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses meinte daher: „Und da ist die Jahrzehnte bestehende Vorhaben gelungen, sogar einstimmig. Wir haben das Untersuchungsausschussgesetz einstimmig beschlossen. Wäre vielleicht ein Jahr später schon nicht mehr gegangen.“30
Sechstens lagen bereits konsensfähige Variationen durch den in der 11. Legislaturperiode fraktionsübergreifend im Geschäftsordnungsausschuss erarbeiteten Porzner-Entwurfs vor, die zudem, wie beschrieben eine hohe innere Passung zur institutionellen Ordnung aufwiesen. Einmal gefundene Variationen werden häufig nämlich nicht einfach wieder vergessen, sondern oftmals durch Institutionenmitglieder, Abgeordneten oder Bundestagsmitarbeitern tradiert. Auf diese Weise wurde durch die FDP-Fraktion und von der Regierungsmehrheit in kürzester Zeit ein Konzept vorgelegt, das für den weiteren Lernprozess äußerst kanalisierend wirkte.31 Andere Variationen flossen einerseits durch die zahllosen wissenschaftlichen Beiträge ein, andererseits wurde das Lernen anscheinend auch durch eine Lernreise in die USA unterstützt. Insgesamt ergab sich hierdurch ein intensiver und weder aktionistischer noch langwieriger Lernprozess. Ein Mitglied der Bundestagsverwaltung beschrieb es folgendermaßen: „Der Ausschuss hat sich sehr intensiv damit befasst. Und es war auch keine Regierungsvorlage. Es war ein im Umfeld des Parlaments entstandener Entwurf! (…) Man hat sich auch Zeit genommen. Sachverstand eingeholt. Wir haben eine Anhörung gemacht. [Mitglieder des Ausschusses sind] (…) wegen bestimmter Sachen nach Amerika gefahren und haben sich (…) mit Mitgliedern des Kongresses unterhalten; [u.a. mit] dem Ermittler beim Fall Monica Lewinsky und Bill Clinton. Kenneth Star hieß der (…): Wie gehen Sie mit Ermittlungsbeauftragten um? Wie gehen Sie mit 29 30 31
Interview 2, FDP, Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses, 16. Dezember 2004; vgl. Demuth 2007b: 664. Interview 1, SPD, Mitglied des Geschäftsordnungsausschusses, 16. Dezember 2004; vgl. Demuth 2007b: 664. Siehe Bundestagsdrucksachen 11/8085, 14/2363 und 14/2518.
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Fernsehübertragungen bei derartigen Anhörungen um? Was macht man mit Zeugen? Kann man so eine Art Zeugenschutzprogramm machen?“32
4
Zusammenfassung
Dieter Wiefelspütz stellte fest: „Es entbehrt nicht der Ironie, dass ein Jahre zuvor gescheiterter Gesetzesentwurf Grundlage und Kern eines einstimmig verabschiedeten Gesetzes werden sollte“ (Wiefelspütz 2002: 553). Im Licht der Analyse eines Ansatzes institutionellen Lernens ist die Entstehung des Untersuchungsausschussgesetzes jedoch als Ergebnis pfadabhängiger Entwicklung und kontingenter Situationsbedingungen zu verstehen. Die Richtung des Lernprozesses ist nämlich deshalb nicht überraschend, weil die Phylogenese des Bundestages davon geprägt ist, dass in der institutionellen Form des Bundestages zunehmend Elemente von Minderheitenrechten eingebaut wurden, die einen ‚Neuen Dualismus’ stärker zum Ausdruck brachten und Elemente des ‚Alten Dualismus’ überlagerten.33 Ausgehend von der Regelung des Grundgesetzes, wonach die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein positives Minderheitenrecht darstellt, wurden die Rechte der Minderheit durch mehrere Bestimmungen immer wieder ergänzt. Demnach wurde in einzelnen Reformschritten die unverzügliche Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vorgegeben; die Minderheit darf den Untersuchungsgegenstand maßgeblich mitbestimmen sowie an möglichen Nachbesserungen partizipieren; ferner erhielt die Minderheit das Recht auf Durchsetzung der Untersuchungstätigkeit gegenüber anderen Verfassungsorganen – vor allem der Bundesregierung – sowie auf die Mitgestaltung der Beweisaufnahme (Mohr 2004: 471).34 All jene kleinen Veränderungen, die sowohl von außen durch das Bundesverfassungsgericht als auch von innen durch Anpassungen des Bundestages im Untersuchungsrecht zustande kamen, kanalisierten die weitere Entwicklung, welche die Durchsetzung des Untersuchungsausschussgesetzes dergestalt wahrscheinlicher machten. Ferner wurden die Passungslücken – in wechselnden Rollen – in jeder Legislaturperiode erneut sichtbar, weil immer wieder ein Streit über die Verfahrensweisen ausbrach und häufig das Bundesverfassungsgericht einbezogen werden musste. Der Wahrnehmungsapparat des Bundestages hatte demnach die Passungslücke immer wieder in den Blick bekommen.
32 33 34
Interview 3/I, Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, 17. Dezember 2004. Vgl. hier auch das Phänomen des „institutional layering“ bei Schickler (2001) und Thelen (2003). Überdies wurden auch viele Variationen, die letztlich im Untersuchungsausschussgesetz festgehalten wurden, über viele institutionelle Generationen tradiert und weitergegeben.
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Gleichwohl bleibt die Prognostizierbarkeit eingeschränkt: Der Zeitpunkt der Reform war insofern dem Zufall überlassen, weil erst das Zusammentreffen bestimmter Nischenbedingungen, Präferenzen in den Wissensbeständen und Deutungsmustern der Institutionenmitglieder sowie Regelungen der institutionellen Form solche Bedingungsstrukturen konstituierten, die dadurch ein Gelegenheitsfenster zur Reform öffneten. Auf die Frage, warum denn das Untersuchungsausschussgesetz auf einmal entschieden worden sei, meinte ein CDUAbgeordneter daher auch: „Shit happens. Es passiert einfach.“35 Damit ist es auch nicht selbstverständlich, dass sich die Reform zu eben diesem Zeitpunkt ereignete, sondern diese ist das Ergebnis kontingenter Situationsstrukturen. Die Kontingenz wirkt dabei dahingehend, dass eine die Veränderung ermöglichende Akteurskonstellation vorlag. Nicht kontingent war hingegen, dass sich überhaupt eine Reform ereignete. Die Entwicklung des Bundestages hatte nämlich schon lange Zeit eine Richtung eingeschlagen, die genau eine solche Zielrichtung wahrscheinlich machte.
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35
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Stefan Marschall
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„Müssen Parlamentsreformen scheitern?“
In der Leitfrage des Sammelbands klingt die These an, dass den bislang verabschiedeten Parlamentsreformen kein oder zu wenig Erfolg beschieden gewesen sei. Dieser tendenziell resignative Ton scheint einzustimmen in den Chor, der das Lied von der Entparlamentarisierung der Politik singt. Ob Parlamentsreformen stets zum Scheitern verdammt sind, darüber kann man trefflich streiten – ebenso, ob es wünschenswert ist, dass sie immer gelingen. So können Parlamentsreformen durchaus auch einen Beitrag zur Entparlamentarisierung der Politik leisten. Beispielsweise führen Reformen, die eine Effizienzsteigerung parlamentarischer Beratungen zum Ziel haben, nicht selten zu einem gleichzeitigen Verlust an Transparenz und Partizipation.1 Also gibt es „gute Reformen“ und „schlechte Reformen“? Mit der Diagnose vom Scheitern – wie auch mit der Bewertung „gut“ oder „schlecht“ – hat es noch eine weitere Schwierigkeit auf sich. Objektiv „scheitern“ kann man nur an intersubjektiv vereinbarten Maßstäben. Eine Bewertung von Erfolg und Misserfolg setzt eine Messbarkeit voraus, d.h. die Festlegung von Kriterien und eines Schwellenwertes, jenseits dessen etwas als ein Erfolg und diesseits dessen etwas als ein Misserfolg verbucht werden muss. Allein, das, was für die einen ein Fortschritt darstellt, ist für andere Stagnation oder Rückschritt, weil mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Schließlich gibt es nicht das Interesse des Parlaments; parlamentarische Körperschaften sind binnenplural angelegt. Die Handlungsorientierungen ihrer Teileinheiten widersprechen sich zum Teil. Potenzielle Konfliktlinien ziehen sich zwischen den Interessen der einzelnen Parlamentarier und den Fraktionen, aber vor allem zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit. 1
In seiner Analyse der „kleinen Parlamentsreform“ entwickelt Uwe Thaysen mit Bezug auf Winfried Steffani diese drei mitunter in Konflikt stehenden Zielkategorien für parlamentarische Reformen: Transparenz, Effizienz, Partizipation (Thaysen 1972).
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Auch in der Wissenschaft sind keine klaren Zielmarken für parlamentarische Reformprozesse entwickelt worden (Marschall 1999). So ist letztlich gar streitig, ob eine (Re-)Vitalisierung von Parlamenten wünschenswert ist; der „post-parlamentarische“ Ansatz stellt dies fundamental infrage (Andersen/Burns 1996), wenngleich bei genauem Blick selbst diese Denkschule nicht dem vollständigen Bedeutungsende parlamentarischer Körperschaften das Wort redet (Benz 1998). Wie kann man trotz all dieser Schwierigkeiten versuchen, den Erfolg und die Erfolgschancen parlamentarischer Reformen einzuschätzen? Wo liegen die Möglichkeiten und wo die Grenzen von institutionellen Änderungen, die eine Stärkung des Parlaments zum Ziel haben – vorbehaltlich, dass sich in der „Parlamentarisierung“ der Politik eine akzeptable, weil demokratietheoretisch fundierte Zielkategorie ausmachen lässt? Diese Fragen will ich anhand der parlamentarischen Macht und ihrer Fortentwicklung in einem konkreten Entscheidungsbereich, nämlich der militärischen Sicherheitspolitik, und speziell anhand der Beschlussfindung hinsichtlich der Entsendung von Soldaten in militärische Einsätze außerhalb des eigenen Territoriums diskutieren. Dabei wird der Blickwinkel eng gestellt und nur auf ein Politikfeld und die dortige Rolle des Parlaments fokussiert – mit der Hoffnung, auf diesem Weg einen generalisierbaren Beitrag oder zumindest erste Hypothesen zur Leitfrage nach dem Gelingen und Scheitern von Parlamentsreformen beisteuern zu können. Wie gehe ich vor? Zunächst werde ich zwei Ausgangsüberlegungen präsentieren, die meine Analyse leiten werden. Dann folgt ein Vorschlag, wie man den Grad der parlamentarischen Einbindung in militärische Entsendeentscheidungen messen kann, um im Anschluss die sicherheitspolitische Macht des Deutschen Bundestages darzustellen und im Vergleich mit anderen Parlamenten einzuordnen. Auf dieser Grundlage können dann die Potenziale für eine Beteiligung der Parlamente in diesem Entscheidungsfeld sowie für ihre Reform abgeschätzt werden. Am Ende möchte ich aus dem Dargestellten Schlussfolgerungen für die Leitfrage „Müssen Parlamentsreformen scheitern?“ extrahieren.
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Zwei Ausgangsüberlegungen für die Erfolgsanalyse von Parlamentsreformen
„Policy matters“ – das Politikfeld macht einen Unterschied. Dies ist die erste analytische Grundannahme: Die Grenzen und Möglichkeiten von Parlamentsreformen können und sollen entlang einzelner policies in den Blick genommen werden. Der Erfolg und die Erfolgswahrscheinlichkeit von Parlamentsreformen variieren – so die Vermutung – von Politikfeld zu Politikfeld.
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Die Plausibilität dieser These, die sich in Theodore Lowis Diktum „policies determine politics“ (Lowi 1972: 299) verdichtet, lässt sich zunächst mit Verweis auf die Policy-Forschung und ihre Ergebnisse ableiten. Je nach Entscheidungsfeld findet man jeweils unterschiedliche Akteurskonstellationen vor und entsprechend variiert die Einbindung von Organen und Organisationen in die Beschlussfindung – formell und informal. Das gilt auch für den Grad der Einbindung parlamentarischer Körperschaften. Um ein Beispiel heranzuziehen: In der Europäischen Union ist die Politikfeldabhängigkeit der institutionellen Ausgestaltung des Entscheidungsprozesses und der entsprechenden parlamentarischen Beteiligung besonders evident. Welches der verschiedenen Rechtsetzungsverfahren, die völlig unterschiedliche Einbindungen des Europäischen Parlaments (EP) vorsehen (von Nichtbeteiligung bis hin zur Mitentscheidung und obligater Zustimmung), jeweils zum Zuge kommt, entscheidet sich daran, welchem Politikfeld eine entsprechende Vorlage zugeordnet ist. Die politikfeldspezifische Rolle von Parlamenten hängt vom Charakter des jeweiligen Policy-Bereiches ab und ist historisch gewachsen. In einigen Feldern konnten Parlamente schon frühzeitig weitreichend mitentscheiden, z.B. in Budgetfragen. In anderen Bereichen, insbesondere in der Außenpolitik, sind die parlamentarischen Kompetenzen seit jeher marginal. Zwar lässt sich jenseits der Policy-Perspektive durchaus auch Generelles über ein Parlament sagen, also ob es insgesamt eher schwach oder stark im System aufgestellt ist. Klassische Einteilungen, wie beispielsweise die von Michael L. Mezey, versuchen, politikfeldunabhängige Einstufungen vorzunehmen und entsprechende Kategorien („marginal“, „active“ etc.) zu bilden (Mezey 1979: 36). Allerdings kann sich die parlamentarische Stärke respektive Schwäche policy-spezifisch nochmals merklich ausdifferenzieren. Das Politikfeld „militärische Sicherheitspolitik“, das im Weiteren im Mittelpunkt stehen wird, ist zweifelsohne ein ganz besonderes. Hier sind signifikante Unterschiede im Vergleich zu anderen Politikfeldern zu erwarten. In diesem politischen Handlungsbereich geht es um das Außenverhalten des Staates anderen Staaten gegenüber, um die Souveränität und Unversehrtheit des Systems, um Krieg und Frieden, um den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten, gegebenenfalls um Leben und Tod. Die Rolle der Parlamente in der Sicherheitspolitik und generell im Bereich der Außenpolitik steht unter einem historischen Vorbehalt: dem königlichen Vorrecht oder der exekutiven Prärogative. In diesem Politikfeld ist dem traditionellen Ansatz zufolge die monolithische „Staatsräson“ (Wolf 2000), das nationale Interesse, die leitende Handlungskategorie. Dort habe – so will es eine dominante Denkschule sehen – die parlamentarisch-pluralistische Auseinandersetzung
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keinen Raum. Dieses Denken lässt sich in der Staatstheorie zurückverfolgen mindestens bis hin zu John Lockes Vorstellungen von Gewaltenteilung und der Zuordnung der außenpolitischen oder (wie Locke sie nennt) „föderativen“ Kompetenzen zur Krone (Locke [1689] 1997: 283). Mittlerweile verdichten sich normative Argumentationsmuster, die einer Stärkung parlamentarischer Körperschaften in diesem Politikfeld das Wort reden und die bereits in einigen Systemen zu nachhaltigen Reformprozessen geführt haben (Burrall u.a. 2006; Ehrenzeller 1991; Hellmann u.a. 2006). So zeigt bereits ein erster Blick zum Beispiel auf Fälle wie Spanien, Deutschland oder – mit Einschränkungen – auch die USA (vgl. Damrosch 1995), dass Parlamente durchaus machtvoll in den sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen sein können. In anderen Fällen (z.B. Großbritannien und Frankreich) wird derzeit intensiv über eine Parlamentarisierung dieses Politikfeldes debattiert. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend – das ist die zweite Grundannahme –, eine starke Varianz in der jeweiligen Rolle von Parlamenten zwischen den Staaten zu vermuten, die womöglich deutlicher ausgeprägt ist als die Varianz in anderen Politikfeldern. Denn die Organisation der Sicherheitspolitik ist außerordentlich pfadabhängig und ist der vorläufige Endpunkt von ideografischen historischen Wegen, auf denen sich die nationalen Systeme befinden (Wagner 2006a). Dabei spielt neben anderem eine Rolle, ob und wie die jeweiligen Staaten an Kriegen teilgenommen haben, ob, wann, wie oft und mit welcher Konsequenz sie Siegermächte, Kriegsverlierer oder Neutrale waren. Die Sicherheitspolitik eines Landes wird des Weiteren von den geografischen Bedingungen oder von Bündniseinbindungen bestimmt. Angleichungsprozesse im Rahmen einer Globalisierung oder regionalen Transnationalisierung finden in diesem Politikfeld nur begrenzt statt. So verbleibt die Materie der Sicherheitspolitik selbst in der weitreichend integrierten Europäischen Union noch zu großen Teilen in der Domäne der Nationalstaaten (Bono 2005; Gourlay 2004). Dies alles lässt erwarten, dass es zwischen den Demokratien erhebliche Unterschiede geben müsste, was die jeweilige parlamentarische Macht im Feld der militärischen Sicherheitspolitik betrifft. Die beiden Ausgangsüberlegungen sind im Schaubild zusammengefasst (vgl. Abbildung 1). Es kann zum ersten davon ausgegangen werden, dass sich die parlamentarischen Macht- und Reformpotenziale innerhalb der staatlichen Systeme politikfeldspezifisch unterscheiden. Zum zweiten kann man eine Varianz im selben Politikfeld zwischen den Staaten erwarten, fürs weitere eine Varianz in der parlamentarischen Beteiligung im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik und ihrer Reformierbarkeit. Die folgende empirische Analyse wird die Varianz zwischen den Staaten in dem ausgewählten Politikfeld in den Vordergrund stellen.
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Abbildung 1:
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Politikfeld- und systembezogene Varianz parlamentarischer Gestaltungsmacht
Die sicherheitspolitische Macht von Parlamenten
Wie kann man die Unterschiede in der parlamentarischen Rolle und Macht im sicherheitspolitischen Feld, hier speziell bei der Frage der Beteiligung an militärischen Konflikten außerhalb des eigenen Territoriums, zwischen Staat 1 und Staat 2 messen? Der hier vorzustellende Analyseansatz setzt möglichst weit an: „Macht“ ist dabei mehr als nur „Kontrolle“ eng verstanden, also im Sinne der kritischen Supervision, vielmehr „control“ in seiner englischsprachigen Bedeutung. Dieses Verständnis geht über die bloße parlamentarische Beobachtung des Regierungshandelns hinaus und meint zudem noch „Mitsteuerung“, „Mitgestaltung“ oder „Mitentscheidung“ (Steffani 1989; Schwarzmeier 2001).2 Die Mitentscheidungsmacht parlamentarischer Körperschaften soll entlang der klassischen parlamentarischen Funktionen durchdekliniert werden (vgl. Marschall 2005a). Diese Deklination hat eine zunächst heuristische Funktion und hilft, die verschiedenen Einflusskanäle von Parlamenten möglichst umfassend zu berücksichtigen. Funktionen an sich stellen freilich noch keine Macht dar, aber Funktionen sind mit entsprechenden Kompetenzen verschränkt. Dabei handelt es sich größtenteils um formale Kompetenzen, die gleichwohl mit informalen Machtressourcen verkoppelt sein können (Hummel/Marschall 2007). 2
Siehe generell sowohl konzeptionell als auch empirisch zum Thema „Macht der Parlamente“ Patzelt 2005.
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3.1 Legislative Ressourcen Bei den legislativen Ressourcen ist zu untersuchen, inwieweit Parlamente als „Gesetzgeber“, besser als Normensetzer und verbindlich beschließende Organe, in sicherheitspolitische Entscheidungen eingebunden sind. Hier stellt sich insbesondere die Frage, ob parlamentarische Körperschaften ein Mitentscheidungsrecht bei der Entsendung von Truppen in militärische Konflikte haben. Verfügen sie über ein Mitspracherecht, lässt sich noch unterscheiden, ob das Parlament im Vorfeld der Entsendung zustimmen muss oder ob die parlamentarische Körperschaft einer Abordnung von Truppen im Nachhinein ihr Plazet geben muss. Eine Ex-ante-Beteiligung des Parlaments stellt eine größere Machtressource dar, da bei einer Ex-post-Einbindung die Abgeordneten bereits vor mitunter vollendete Tatsachen gestellt werden und die Kosten einer entsprechenden Rückholentscheidung hoch sind. Zu berücksichtigen ist bei der Frage der parlamentarischen Mitentscheidung ferner, inwieweit Bündnis- oder Neutralitätsverpflichtungen die Spielräume von Regierung und Parlament einengen. Ein zweiter wichtiger und traditioneller Hebel – es sei in diesem Kontext auf den preußischen Verfassungskonflikt rund um die Heeresreform verwiesen – bietet das parlamentarische Budgetrecht. Üblicherweise verfügen Parlamente über die „power of the purse“. Militärisches Engagement kostet Geld, welches vom Parlament bewilligt werden muss. Die parlamentarische Haushaltsmacht kann als Substitut für eine fehlende verbindliche Entscheidungsbeteiligung dienen, wenn dem Parlament hiermit ein effektives Mittel in die Hand gegeben worden ist, im Einzelfall die Teilnahme eines Landes an militärischen Konflikten jenseits der eigenen Grenzen zu blockieren oder durch Abdrehen des Geldhahns zu beenden. 3.2 Kontrollressourcen Durch die Kontrolle der militärischen Sicherheitspolitik in Form der Beobachtung der Tätigkeiten der Regierung kann das Parlament die Handlungsspielräume der Exekutive einengen. Parlamentarische Kontrolle im Sinne der kritischen Begleitung des Regierungshandelns findet mithilfe verschiedener Instrumente statt, zum Beispiel mittels der gängigen interpellativen Verfahren (Wiberg 1995). Generell spielen die Fachausschüsse mit ihrer Expertisekonzentration eine wichtige Rolle für die sicherheitspolitische Macht von Parlamenten. Die Existenz eines effektiven Ausschusswesens (hier das Vorhandensein eines leistungsfähigen Verteidigungs- und/oder Auswärtigen Ausschusses) stärkt die parlamentarische Kontrollkompetenz (Mattson/Strøm 1995).
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Untersuchungsausschüsse gelten als eines der schärfsten Schwerter parlamentarischer Kontrolle. Kontrollieren können Parlamente zudem auch über ein Klagerecht bei entsprechenden Gerichtsbarkeiten (Alivizatos 1995). Das Spektrum, die Ausdifferenziertheit und die Wirkungsstärke der Instrumente definieren die jeweilige Kontrollmacht von Parlamenten in sicherheitspolitischen Angelegenheiten. Die Reichweite der Kontrollmacht hängt schließlich noch davon ab, ob und welche Sanktionsmöglichkeiten dem Parlament zur Verfügung stehen, um das Ergebnis der Kontrolle machtpolitisch zu „verwerten“. Zum Teil überlappt bei der Frage der Sanktionen die Kontrolldimension mit den anderen Machtressourcen: So können die Früchte parlamentarischer Kontrolle in die legislativen Beschlüsse oder sonstigen Entschließungen des Parlaments einfließen oder im Extremfall sogar in die Abwahl eines Ministers respektive der gesamten Regierung münden. Kontrollergebnisse können aber auch indirekt wirken, zum Beispiel über die Medien oder von Gerichten kommuniziert und benutzt werden. 3.3 Öffentlichkeitsressourcen Als traditionell in der Öffentlichkeit tagende Körperschaften verfügen parlamentarische Körperschaften über die Macht öffentlicher Debatte, also über Mittel, die Entscheidungen oder Pläne der Regierung vor den Augen Dritter zu diskutieren und gegebenenfalls zu kritisieren. Die Öffentlichkeit, die wahrnehmbare Auseinandersetzung über die Argumente pro und contra, vermag die Spielräume der Regierung erheblich einzuengen und das Parlament zu stärken (Göhler 1995a). Ansonsten seitens der Regierenden gerne arkan gehaltene Angelegenheiten können so einer öffentlichen Debatte zugeführt werden, in der unterschiedliche Sichtweisen und Interessen rund um die zur Entscheidung anstehende Frage dargelegt werden können und müssen. In Parlamenten gibt es zahlreiche Fenster öffentlicher Debatte, zum Beispiel in Form von Aussprachen anlässlich der Beratung von Vorlagen im Plenum. Ferner ist zu berücksichtigen, inwieweit auch in den Fachausschüssen Räume öffentlicher parlamentarischer Diskussion entstehen können (von Beyme 1999: 232). Um kurzfristig Themen sicherheitspolitischer oder sonstiger Art auf die Plenaragenda zu setzen, dienen in Parlamenten „urgency debates“ oder „topical hours“. Entscheidend ist bei diesen Instrumenten, mit welchem Aufwand eine öffentliche Auseinandersetzung erzwungen werden kann, zum Beispiel welches Quorum an Parlamentariern erforderlich ist, um eine Debatte zu erzwingen.
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3.4 Abwahlressourcen Als gleichsam „finale“ Ressource verfügen die Parlamente unabhängig vom Politikfeld über die Möglichkeit, der Regierung das Vertrauen zu entziehen, d.h. die Regierung ihres Amtes zu entheben (de Winter 1995). Unter diesem schärfsten Schwert parlamentarischer Sanktion sitzen damokleshaft alle Regierungen in „parlamentarischen Demokratien“ (von Beyme 1999; Steffani 1979). Für Fälle der semi-präsidentiellen Variante (Duverger 1980) ist zu fragen, inwieweit der Präsident über sicherheitspolitische Kompetenzen verfügt und ob und mit welcher Leichtigkeit das Parlament das Staatsoberhaupt des Amtes entheben kann. Für die politikfeldspezifische Kompetenz ist darüber hinaus von Belang, ob das Parlament befähigt ist, einen zuständigen Fachminister seines Amtes zu entheben – in diesem Entscheidungsfeld den Verteidigungsminister oder den Außenminister. Dies würde dem Parlament differenzierte Abwahlressourcen verleihen. Die bis hierhin skizzierten parlamentarischen Machtquellen können sich noch darin unterscheiden, wer auf diese zurückgreifen kann: die Regierungsmehrheit oder die Opposition, Fraktionen oder einzelne Abgeordnete. Von der Funktionslogik parlamentarischer Demokratien ausgehend ist zu vermuten, dass die Abwahl- und die legislative Gestaltungsmacht üblicherweise in den Händen der Mehrheit liegt, während die Kontroll- und Öffentlichkeitsressourcen von der Opposition genutzt werden können, die üblicherweise beide Machtquellen vergleichsweise intensiv auszuschöpfen pflegt.
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Die sicherheitspolitische Macht des Deutschen Bundestages3
Was lässt sich für den Deutschen Bundestag auf den eben erwähnten Dimensionen zusammentragen – also hinsichtlich der legislativen, der Kontroll-, Öffentlichkeits- und Abwahlressourcen, über die das Parlament im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik verfügt?
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Mehr über die Ausprägung der „War Powers“ von Parlamenten zu erfahren, war die Zielsetzung eines DFG-Projekts, das am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Düsseldorf von 2006 bis 2007 durchgeführt worden ist. Dieses bietet die Grundlage für die referierten Daten. Zu den Ergebnissen im Detail siehe die Arbeitspapiere auf www.paks.uni-duesseldorf.de.
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4.1 Legislative Ressourcen Der Bundestag ist an der Entscheidung, die Bundeswehr ins Ausland zu entsenden, beteiligt. Seit 2005 gilt das Parlamentsbeteiligungsgesetz (PBG).4 Demzufolge muss der Bundestag zustimmen, wenn die Regierung beabsichtigt, Truppen zu entsenden – also ex ante. Der entscheidende Satz im PBG lautet: „Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes bedarf der Zustimmung des Bundestages.“ Ausgenommen davon sind vorbereitende Maßnahmen sowie humanitäre Hilfsdienste, solange nicht zu erwarten ist, dass die Soldaten dabei – wie es in § 2 Absatz 2 PBG heißt – in „bewaffnete Unternehmungen“ einbezogen werden. Bei Einsätzen von geringer Intensität und Tragweite findet ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren Anwendung: In diesen Fällen lässt die Regierung den Abgeordneten einen Antrag mit der entsprechenden Entsendeabsicht zukommen. Wenn nicht innerhalb von sieben Tagen eine Fraktion oder eine fraktionsstarke Gruppe von Abgeordneten eine formelle Abstimmung einfordert, gilt die Zustimmung als erteilt. Bei Gefahr im Verzug kann die Bundesregierung erst einmal ohne parlamentarisches Plazet Truppen entsenden, muss aber schnellstmöglich die parlamentarische Billigung ejnholen. Schließlich regelt der § 8 PBG mit der Überschrift „Rückholrecht“, dass der Bundestag seine Zustimmung zum Einsatz jederzeit widerrufen kann. Der Bundestag verfügt zudem über das grundlegende Haushaltsrecht und somit auch über das Geld, mit dem die Einsätze der Bundeswehr finanziert werden. Die Ausgaben für die Auslandseinsätze werden üblicherweise aus dem Etatposten des Bundesverteidigungsministeriums finanziert. Seit 1999 erstattet der Verteidigungsminister dem Haushaltsausschuss regelmäßig Bericht über die Zusatzausgaben. Etwaige Finanzierungslücken können durch Umschichtungen innerhalb des Budgets oder im Rahmen eines Nachtragshaushaltes gedeckt werden, der wiederum vom Parlament verabschiedet werden muss. 4.2 Kontrollressourcen Im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik kann der Bundestag sein generelles interpellatives Instrumentarium einsetzen, also die gesamte Anfrage- und Fragepalette, z.B. in Form der Einzelfragen von Abgeordneten, der „Kleinen Anfragen“ oder „Großen Anfragen“. Die Ausschüsse verfügen über ein Selbstbefassungs- und Zitierrecht; sie können auf eigenen Beschluss hin öffentliche Anhörungen durchführen, allerdings tagen sie üblicherweise hinter verschlossenen 4
S. hierzu den Beitrag von Wiefelspütz in diesem Band.
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Türen. Der Verteidigungsausschuss gehört zu den wenigen parlamentarischen Fachgremien, deren Existenz ausdrücklich in der Verfassung erwähnt wird (hier Art. 45a GG). Das Grundgesetz regelt ferner, dass der Verteidigungsausschuss auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder als Untersuchungsausschuss tätig werden kann. In diesem Fall kommen dem Gremium weitreichende Kompetenzen bei der Beweiserhebung und Zeugenbefragung zu. Ferner ist durch Art. 45b GG das Amt des Wehrbeauftragen eingeführt worden, das die Aufgabe hat, die Anliegen der Soldaten (auch derjenigen, die sich im Auslandseinsatz befinden) gegenüber dem Parlament zu artikulieren und dabei – wie es das Grundgesetz formuliert – „als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle“ zu fungieren. Überdies verpflichtet das Parlamentsbeteiligungsgesetz die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag regelmäßig über den Verlauf von Einsätzen und über die Entwicklung im Einsatzgebiet zu unterrichten (§ 6 PBG). Parlamentarische Kontrolle kann schließlich mithilfe einer gerichtlichen Überprüfung vonstatten gehen. Der Bundestag, auch eine parlamentarische Minderheit, hat die Möglichkeit, sicherheitspolitische Entscheidungen der Regierung oder der parlamentarischen Mehrheit vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen – allerdings mit der Unwägbarkeit, wie das höchste Gericht in der Sache entscheiden wird. Von dieser Klageoption ist im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik bereits mehrfach Gebrauch gemacht worden. 4.3 Öffentlichkeitsressourcen Die Mitglieder des Deutschen Bundestages verfügen über vielfältige Möglichkeiten, die Regierung zur öffentlichen Begründung ihrer Entscheidungen anzuhalten. Eine davon steht in Verbindung mit einem bereits erwähnten Kontrollrecht, der „Großen Anfrage“, welche mit einer Plenaraussprache verbunden sein kann. Auch haben die Abgeordneten die Chance, im Rahmen der Befragung der Bundesregierung Entsendeentscheidungen vor den Augen der Öffentlichkeit zu debattieren. Zudem muss auf Antrag von fünf Prozent der Parlamentarier oder einer Fraktion eine Aktuelle Stunde anberaumt werden, auf der auch sicherheitspolitische Beschlüsse oder Vorhaben zur Debatte gestellt werden können. Aktuelle Stunden schließen sich an Fragestunden an, wenn nach Ansicht einer Fraktion ein Diskussionsbedarf verbleibt. Sie können aber auch mittelfristig vor einer Sitzungswoche anberaumt werden. Schließlich besteht spätestens bei der Beratung eines Regierungsantrags auf der Grundlage des Parlamentsbeteiligungsgesetzes die Möglichkeit der Plenaraussprache über die anstehende Entscheidung.
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4.4 Abwahlressourcen Der Bundestag verfügt als „parlamentarisches Parlament“ (Winfried Steffani) über das Recht, den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen und damit die gesamte Regierung ihres Amtes zu entheben.5 Formale Abwahlrechte in bezug auf einzelne Ministerposten hat der Bundestag nicht. Die Minister „hängen“ unmittelbar am Bundeskanzler oder an der Bundeskanzlerin. Nichtsdestoweniger sind die einzelnen Kabinettsmitglieder gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig, was in dem parlamentarischen Zitierrecht gemäß Art. 43 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommt: „Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen“. 4.5 Der Bundestag im Vergleich zu anderen Parlamenten – ein „active legislature“ Auf der Grundlage des bislang Dargestellten gehört der Bundestag in die Gruppe der Parlamente mit einer ausgeprägten sicherheitspolitischen Macht. Das deutsche Parlament ist, was Entscheidungen über eine Beteiligung an militärischen Konflikten angeht, ein institutioneller „Veto-Player“ (Tsebelis 1995): Es kann beispielsweise eine von der Exekutive geplante Entsendung von Truppen in Gebiete außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzen blockieren – auch im Bündnisfall! Der Bundestag verfügt darüber hinaus über weit reichende Kontroll- und Öffentlichkeitsressourcen. Allerdings ist ein Großteil der Machtressourcen, vor allem im legislativen und im Abwahlbereich, an die parlamentarische Mehrheit gekoppelt. Die Opposition hat insbesondere im Bereich der Kontrolle und der Öffentlichkeit geregelte Machtchancen, die im europäischen Vergleich beachtlich sind. Mit Mezeys Typologie gesprochen, ist das deutsche Parlament in diesem Politikfeld ein „active legislature“ (Mezey 1979: 36). Der Bundestag befindet sich mit dieser Einstufung in Gesellschaft zahlreicher anderer europäischer Parlamente. So müssen auch im finnischen, italienischen und spanischen Fall die 5
Freilich ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von diesem vergleichsweise einschneidenden Instrument kaum Gebrauch gemacht worden. Die zwei Misstrauensvoten (1972, 1982) waren in keinem der Fälle das alleinige Ergebnis einer sicherheitspolitischen Konfliktlage zwischen Parlament und Regierung. Allerdings verfügt der Kanzler oder die Kanzlerin in Form der Vertrauensfrage über ein Disziplinierungsmittel, das beispielsweise in Verbindung mit einer Entsendeentscheidung 2001 im Sinne des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder erfolgreich eingesetzt worden ist. Die Vertrauensfrage stellt in ihrer „echten“ und „unechten“ Variante ein Machtmittel der Regierung, weniger eines des Parlaments dar.
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Volksvertretungen vor einer Entsendung von Soldaten befragt werden und zustimmen. Zugleich sind die Kontroll- und Öffentlichkeitskompetenzen dieser Parlamente ebenfalls ausgesprochen hoch. Aber es gibt sie auch: die sicherheitspolitisch schwachen Parlamenten. Zum Beispiel ist in Großbritannien das exekutive Vorrecht („royal prerogative“) noch immer ausgeprägt – und das, obwohl das Parlament in anderen Fragen weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten hat. Ebenso finden wir in Frankreich und in Griechenland „marginal legislatures“ (Michael L. Mezey) in diesem Politikfeld vor.6 Ein systematischer Blick auf die Machtressourcen von 25 EU-Staaten (Dieterich/Hummel/Marschall 2007) bestätigt jedenfalls die Vermutung einer großen Bandbreite der parlamentarischen Mitspracherechte. Es zeigt sich zugleich, dass die Beteiligung von Volksvertretungen an sicherheitspolitischen Entscheidungen durchaus möglich und auch verbreitet ist. In der relativen Mehrheit der Fälle (11 von den untersuchten 25) verfügen die Parlamente über ein verbindliches Exante-Mitspracherecht bei Truppenentsendungen und über erhebliche Kontrollund Öffentlichkeitsressourcen.
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Militärische Sicherheitspolitik als Gegenstand von Parlamentsreformen
Der deutsche Fall veranschaulicht exemplarisch, inwiefern das jeweilige Politikfeld die parlamentarischen Reformprozesse und Reformpotenziale mitbestimmt. Die konkrete Parlamentsmacht lässt sich mit policy-spezifischen Pfadabhängigkeiten, i.e. mit einem Blick auf historische Entwicklungen und Sonderbedingungen in dem Entscheidungsfeld, erklären. So erzeugte beispielsweise die Einführung der Wehrverfassung in den fünfziger Jahren zunächst keinen Bedarf an einer Klärung der parlamentarischen Entsendemacht. Bis 1990 bestand der Konsens, dass sich Deutschland aufgrund seiner Geschichte nicht in kriegerischen Auseinandersetzungen engagieren sollte – außer im Falle der unmittelbaren Landesverteidigung. Die Bundeswehr war als reine territoriale Verteidigungsarmee angedacht und stand von Anfang an unter strenger parlamentarischer Kontrolle. Die Institution des Wehrbeauftragten und die Option, dass der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss zusammentreten kann, sind als starke parlamentarische Kontrollkomponenten unmittelbare und originäre Bestandteile der Wehrverfassung.
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Allerdings gibt es deutliche Signale, dass eine Stärkung des House of Commons ebenso wie der französischen Nationalversammlung in Fragen der Truppenentsendung im Bereich des Wahrscheinlichen liegt.
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Die „out of area“-Problematik stellte sich erst nach 1990 (Baumann/Hellmann 2001): Im Kielwasser des Golfkriegs wuchsen die Anforderungen an eine deutsche Beteiligung an militärischen Auslandseinsätzen der NATO und darüber hinaus. Die damalige Bundesregierung testete den exekutiven Spielraum unter anderem dadurch aus, dass sie 1993 das deutsche Personal nicht aus den AWACS-Maschinen herausnahm, die eine Flugverbotszone über Bosnien zu kontrollieren hatten. Diese Maßnahme und andere Vorgänge wurden einer gerichtlichen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterzogen. Es kam zum Streitkräfte-Urteil vom Juli 1994 (BVerfGE 90, 286; Wiefelspütz 2005b). Die Bundesverfassungsrichter legten in dieser Entscheidung die dem Grundgesetz abgeleitete Macht des Parlaments bei der Entsendung von Bundeswehreinheiten in Gebiete außerhalb des Geltungsbereichs der deutschen Verfassung fest, den so genannten „konstitutiven Parlamentsvorbehalt“: Vor solchen extraterritorialen Einsätzen der Bundeswehr müsse der Bundestag seine Zustimmung erteilen. Das Verfassungsgericht gab dem Parlament den Auftrag, ein entsprechendes Gesetz zu erarbeiten – das eben erwähnte Parlamentsbeteiligungsgesetz –, welches freilich erst 2005 in Kraft trat. Diese Vorgänge verweisen in Bezug auf Parlamentsreformen auf Folgendes: Zum einen sind die Reformfrage und der Reformbedarf aufgrund einer Veränderung der außenpolitischen Lage der Bundesrepublik entstanden. Erst das Ende der Blockkonfrontation, die neue „Unübersichtlichkeit“ nach dem Kalten Krieg sowie das, was als „new interventionism“ (John Stedman) bezeichnet wird, haben den Bedarf an (Neu-)Regulation aufkommen lassen. Dass externe Entwicklungen Reformprozesse anstoßen, lässt sich im Bereich der Parlamentsreformen immer wieder antreffen (Marschall 1999). So haben auch die europäische Integration, die „Globalisierung“ der Wirtschaft oder die deutsche Einheit Veränderungen des Parlamentsrechts iniitiert. Zum anderen kam der verbindliche Impuls für eine weitreichende Einbindung des Parlaments in die politikfeldspezifische Entscheidungsfindung vom Bundesverfassungsgericht. Es ist nicht das erste und einzige Mal, dass das Verfassungsgericht ein wichtiger Akteur im Bereich der Parlamentsreformen ist – hier im Sinne einer Stärkung des Parlaments im politischen Prozess (Marschall 1999). Auch bezüglich der Stellung der einzelnen Abgeordneten oder der Rolle der Opposition hat das höchste Gericht dem Bundestag immer wieder Reformobligationen auferlegt. Aber der richterliche Impuls zur Stärkung des Parlaments stößt an Grenzen – zumindest in dem vorliegenden Fall. So blieb die Umsetzung der mitunter weit gefassten Vorgaben des Gerichts in Gesetzesform zum Teil unter dem zwischenzeitlich erreichten Niveau (vgl. als Kritik u.a. Meyer 2004).
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Überhaupt werden dem Parlamentsbeteiligungsgesetz ein Mangel an Klarheit und eine Tendenze zur Unterregulation vorgeworfen. Was zum Beispiel bedeutet konkret der „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“? Im PBG ist hierfür maßgeblich, inwieweit Soldaten in „bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist“. Hier wie an anderen Stellen geht das Parlamentsbeteiligungsgesetz nicht ins Detail und eröffnet der Regierung einen weit reichenden Interpretations- und Handlungsspielraum (Rau 2006: 98).7 In Form der nicht-zustimmungsbedürftigen „vorbereitenden Maßnahmen“ kann die Bundesregierung Fakten schaffen, die die Entscheidungssouveränität des Parlaments über die Maßen einengen können. Auch das vereinfachte Zustimmungsverfahren ist ob der kurzen Frist von sieben Tagen nicht unproblematisch. Außerdem werden in diesem Procedere, das mitunter für die Verlängerung eines Einsatzes Verwendung findet, eine eingehende parlamentarische Revision des Erfolgs der jeweiligen Mission sowie eine ausdrückliche parlamentarische Stellungnahme und Debatte mit dokumentierter namentlicher Abstimmung umgangen. Weiterhin kann das Parlament der Regierungsvorlage nur zustimmen oder diese ablehnen. Eine Abänderung des Antrags der Exekutive im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens, z.B. eine Modifikation der Einsatzdauer oder weite, ist nicht möglich.8 Der Bundestag hat auch kein Initiativrecht. Er ist also von einer Initiative der Bundesregierung abhängig. Allerdings würde sich eine Novellierung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes im Form der Einführung eines Initiativrechts des Parlaments zu weit von den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entfernen. Auch das Rückholrecht gilt als noch nicht hinreichend ausgestaltet (Wiefelspütz 2005a: 500). Wie dieses Verfahren konkret ablaufen sollte, wird weder im Gesetz noch in der Gesetzesbegründung ausgeführt. Ähnlich „unterreguliert“ ist die Auskunftspflicht der Regierung dem Bundestag gegenüber – wie die Bundesregierung selbst in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage zugesteht, die sich über die Informationspolitik der Exekutive im Rahmen des Einsatzes der Bundeswehr in der Operation ENDURING FREEDOM beschwert: „Der Gesetzgeber hat im ParlBetG selbst nicht konkretisiert, in welcher Form, in welchem Umfang und in welchen Abständen die Bundesregierung ihren Unterrichtungspflichten nachzukommen hat“ (Bundestagsdrucksache 16/3740: 2). 7 8
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion über die Einstufung der Bundeswehroperation vor der libanesischen Küste als „Kampfeinsatz“ (vgl. „Bundeswehr soll kein ‚zahnloser Tiger’ sein“, in: Süddeutsche Zeitung vom 28 August 2006). Zudem kann auch das Haushaltsrecht nicht kompensieren, da die Finanzierung der Einsätze in der Regel durch Umschichtungen innerhalb des bereits verabschiedeten Haushalts abläuft.
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Trotz dieser und weiterer Baustellen illustriert der deutsche Fall, dass die verbindliche Einbindung eines Parlaments in militärische Entsendeentscheidungen durchaus möglich ist. Der Parlamentsvorbehalt hat nicht dazu geführt, dass sich Deutschland der Beteiligung an militärischen Operationen außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes enthalten hätte. Der gängige Einwurf, das parlamentarische Verfahren und das militärische Entscheiden seien inkompatibel, lässt sich jedenfalls nicht nachvollziehen: Parlamente können sich in ihren Strukturen und Verfahren durchaus einer zügigen Entscheidungsnotwendigkeit oder einem Geheimhaltungsbedarf anpassen, z.B. indem sie bestimmte Aufgaben an Gremien delegieren oder Entscheidungen ex post treffen. Ohnehin haben die meisten Entsendefragen durchaus die Zeit zur parlamentarischen Debatte und Beschlussfindung gelassen. Auch die Einbindung in eine Architektur transnationaler Verteidigung muss der sicherheitspolitischen Parlamentsmacht nicht entgegenstehen, obgleich sie gelegentlich genutzt worden ist, um ein Zurückdrängen des Parlaments zu begründen. Dies lässt sich beispielsweise beim ungarischen Fall 2003 beobachten: Dort wurden anlässlich des NATO-Beitritts die Hürden für die parlamentarische Zustimmung zu bestimmten Auslandseinsätzen signifikant gesenkt respektive beseitigt. Ein potentieller Konflikt zwischen Bündnisverpflichtungen und parlamentarischer Einbindung könnte durch „opting out“-Klauseln aufgefangen werden. Weniger kostenträchtig wäre eine möglichst frühzeitige Einbindung der Parlamente in entsprechende bündnisinterne Entscheidungsvorgänge. So können in Form der transnationalen parlamentarischen Körperschaften, im Europäischen Parlament und in den Parlamentarischen Versammlungen (zum Beispiel der Versammlung der NATO), parlamentarische Mitgestaltungsgremien von Verteidigungsbündnissen entstehen (Marschall 2005b; Wagner 2006b). Allen wirkmächtigen Argumenten zum Trotz: Eine starke Rolle der Parlamente in der militärischen Sicherheitspolitik ist möglich. Ist sie aber auch wünschenswert? Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Begründung des Konzepts des „Parlamentsheers“ (oder genauer „Parlamensarmee“) diese Frage für die Bundesrepublik prima vista bejaht (BVerfGE 90, 286 (382)).9 Der Topos vom Parlamentsheer wird aus den besonderen Rechten abgeleitet, die das Grundgesetz im Rahmen der Wehrverfassung für den Bundestag eingeräumt hat (Verteidigungsausschuss, Wehrbeauftragter etc.), und ist noch überdies historisch deduziert. Aber jenseits der Forderung nach Stärkung des deutschen Parlaments in Fragen der Truppenentsendung stellt sich das Bundesverfassungsgericht in die Tradition der Denkschule, die der exekutiven Prärogative in diesem Politikfeld das Wort redet. So heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001: 9
Vgl. hierzu den Beitrag von Wiefelspütz in diesem Band.
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„Das Grundgesetz hat in Anknüpfung an die traditionelle Staatsauffassung der Regierung im Bereich auswärtiger Politik einen weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung überlassen“ (BVerfG, 2 BvE 6/99 vom 22. November 2001).
Aus politikwissenschaftlicher und demokratietheoretischer Perspektive ist freilich die „traditionelle Staatsauffassung“ keine hinreichende Kategorie. Bedeutsamer ist vielmehr, was ein zeitgemäßes theoretisch-normativ fundiertes Verständnis von Staat, Demokratie und von parlamentarischer Repräsentation sein kann. Gerade Entscheidungen über Leben und Tod von Mitbürgern und Anderen, Entscheidungen über den Einsatz von erheblichen Ressourcen und Entscheidungen über den Umgang mit dem Völkerrecht bedürfen einer demokratischen Legitimation sowie einer Kontrolle, die in modernen Demokratien über Parlamente gewährleistet werden. Denn auch bei diesen Fragen können unterschiedliche Interessen und Werte aufeinanderstoßen, die miteinander abgewogen werden müssen. Auch bei diesen Fragen kann eine parlamentarische Beteiligung die Gefahr übereilter und falscher Entscheidungen reduzieren. Auch in diesem Bereich muss eine demokratisch fundierte sanktionsbewährte Rechenschaftspflicht greifen. Letztlich handelt es sich bei Entsendebeschlüssen um „wesentliche“ Entscheidungen, die der „Gesetzgeber“ nicht anderen überlassen darf.10 Mag es früher gute Gründe gegeben haben, die Kompetenzen rund um den Auslandseinsatz von Soldaten der Krone und ihren Regierungen zu übertragen, spricht heute aus sicherheits-, demokratie- und repräsentationstheoretischer Perspektive vieles dafür, gerade im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik das Parlament zu stärken respektive stark zu halten. Das gilt dann mutatis mutandis auch für die zukünftige Rolle des Europäischen Parlaments angesichts der zunehmenden Europäisierung der militärischen Sicherheitspolitik.
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„Müssen Parlamentsreformen scheitern?“
Am Ende nochmals zurück zur Ausgangsfrage: „Müssen Parlamentsreformen scheitern?“ Was sind die Antworten und was die Lehren für die Parlamentarismusforschung, die sich aus der vorangegangenen Analyse ziehen lassen? Zunächst hat sich gezeigt, dass es ergiebig sein kann, die Frage nach der Reformfähigkeit parlamentarischer Körperschaften politikfeldspezifisch zu bearbeiten. Deswegen kann eine Verbindung von Parlamentarismusforschung mit der 10
Auch wenn – wie Wiefelspütz betont – sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf die Wesentlichkeitstheorie bezieht (vgl. Wiefelspütz i.d.B.). S. auch als Gegenposition Niedzwicki 2006.
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Policy-Forschung oder wie in dem hier vorliegenden Fall mit der IB-Forschung heuristisch gewinnbringend sein. In dem engen, aber relevanten Entscheidungsbereich, der die Entsendung von Soldaten in militärische Konflikte im Ausland betrifft, hat sich eine Reihe von Eigentümlichkeiten hinsichtlich der Rolle von Parlamenten ausmachen lassen. Dabei wurde ein normativer Rahmen abgesteckt, der die Frage nach dem Erfolg von Parlamentsreformen in diesem Politikfeld beantwortbar macht. Ein hohes Niveau der parlamentarischen Beteiligung an Entsendeentscheidungen wurde aus demokratie-, friedens- und repräsentationstheoretischer Perspektive als wünschenswert eingestuft. Es ist deutlich geworden, dass es in diesem Bereich machtvolle Parlamente gibt, die in anderen Politikfeldern als vergleichsweise kraftlos eingestuft werden – und vice versa (z.B. das britische Unterhaus). Dies ruft nach Analysen von weiteren policies und der jeweiligen Einbindung parlamentarischer Körperschaften. Im Bereich der „Europatauglichkeit“ von Parlamenten, der Reformierbarkeit von nationalen Volksvertretungen zur Stärkung ihrer Rolle im Rechtsetzungsprozess der Europäischen Union, liegen solche Analysen bereits in ausdifferenzierter Form vor (Maurer/Wessels 2001, O’Brennan/Raunio 2007). Eine weitere Lehre für die Parlamentarismusforschung – im Sinne eines „ceterum censeo“: Der Vergleich zwischen Parlamenten lohnt sich. Der Blick über den deutschen Tellerrand hinaus auf parlamentarische Körperschaften in anderen Systemen kann zeigen, wo Grenzen und wo im Sinne des „best practice“ Potenziale liegen, um die Macht von Parlamenten zu sichern oder zu steigern. Sie macht auch auf Fälle aufmerksam, bei denen eine Parlamentarisierung dieses Entscheidungsbereichs abgeschlossen oder gerade im Gange ist, wo also bei genauem Blick keine Rede von einer „Entparlamentarisierung“ sein kann. Die gelegentlich zu hörende Pauschaldiagnose von den schwachen Parlamenten und der Unmöglichkeit parlamentsstärkender Reformen muss einer differenzierten Sichtweise Platz machen. Parlamentsreformen glücken immer wieder – in dem einen oder anderen Politikfeld und in dem einen oder anderen System. Und das gibt Hoffnung für ein neoparlamentarisches Zeitalter der Demokratie.
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Der Auslandseinsatz der Streitkräfte und der Deutsche Bundestag
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Der Auslandseinsatz der Streitkräfte und der Deutsche Bundestag Dieter Wiefelspütz
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Einführung
Das wirkungsmächtige Streitkräfteurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 19941 klärte weitgehend die seinerzeit politisch und verfassungsrechtlich hoch umstrittene Frage der Zulässigkeit der Auslandseinsätze bewaffneter deutscher Streitkräfte.2 Nach der Entscheidung des Gerichts berechtigt die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 GG den Bund nicht nur zum Eintritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte. Sie bietet vielmehr auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden.3 Nahezu als Kompensation4 für die weitgehenden Befugnisse der Bundesregierung, deutsche Streitkräfte international einzusetzen, verpflichtet das Grundgesetz nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die - grundsätzlich vorherige - konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.5 Das Bundesverfassungsgericht legte dem Deutschen Bundestag außerdem nahe, die Einzelheiten der parlamentarischen Beteiligung gesetzlich zu regeln. In der Entscheidung heißt es dazu:
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BVerfGE 90, S. 286ff. Zum Streitkräfteurteil vgl. Wiefelspütz, Das Parlamentsheer, 2005, S. 186 m. w. N. BVerfGE 90, S. 286 Ls. 1; Paulus, Wirkung parlamentarischer Beschlüsse im Bereich der auswärtigen Politik, Vortrag auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht am 17. November 2005 in Bonn, Typoskript (nicht veröffentlicht), 2005, S. 17, meint, Streitkräfteeinsätze der Bundeswehr im Ausland fänden nicht zur klassischen Kriegführung statt. Ein Verbot der "klassischen Kriegführung" ist der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz deutscher Streitkräfte freilich nicht zu entnehmen. Ähnlich Paulus (Fn. 3), S. 16. BVerfGE 90, S. 286 Ls. 3 a.
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„Jenseits dieser Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts sind das Verfahren und die Intensität der Beteiligung des Bundestages in der Verfassung nicht im einzelnen vorgegeben. Es ist Sache des Gesetzgebers, die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten. Je nach dem Anlaß und den Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar.“6
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Der konstitutive Parlamentsvorbehalt und die auswärtige Gewalt
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weist die auswärtige Gewalt grundsätzlich der Exekutive zu. Die auswärtige Gewalt ist für das Gericht eine Domäne der Exekutive.7 Die Kompetenz der Bundesregierung in auswärtigen Angelegenheiten ist der Regelfall, die Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte des Bundestages sind eher die stets zu begründende Ausnahme.8 Die parlamentarische Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der Gestaltung und Führung der auswärtigen Angelegenheiten beschränkt sich auf wenige, allerdings zentrale Entscheidungsvollmachten - insbesondere, wenn die Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG vorliegen oder Entscheidungen über Krieg und Frieden zu treffen sind (Art. 115 a, 115 l GG).9 Eine bemerkenswerte neue terminologische Kategorisierung führte Hans H. Klein ein, indem er die "Wehrgewalt" teils als Vertrags- und teils als Einsatzgewalt definiert.10 Ein wichtiges weiteres Beteiligungsrecht des Parlaments besteht jedoch immer dann, wenn zu den von der Regierung für erforderlich gehaltenen Maßnahmen im Rahmen der Außenpolitik der Auslandseinsatz von Streitkräften gehört.11 Bei verfassungsunmittelbaren Rechten des Deutschen Bundestages an der Staatsleitung wie beim konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt ist es aber nicht gerechtfertigt, von einer Ausweitung der parlamentarischen Mitwirkung bei der Ausübung von Exekutivfunktionen zu reden.12 Andreas L. Paulus vertritt die Meinung, die Einführung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts habe das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative im Bereich der Kommandogewalt, darüber hinaus auch in Bezug auf die auswär6 7 8 9 10 11 12
BVerfGE 90, S. 286 (389). Vgl. BVerfGE 1, S. 372 (394); E 68, S. 1 (85 ff.); E 90, S. 286 (381 f.); Kadelbach, in: Geiger (Hg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der auswärtigen Gewalt, 2003, S. 41 (44). Kadelbach (Fn. 7), S. 41 (44). Vgl. Badura, Staatsrecht, 3. Aufl., 2004, D 116 (S. 380); Biermann, ZParl 2004, S. 607 (611 ff.). Klein, AöR 130 (2005), S. 632 (634). Benda, Internationale Politik 12/1995, S. 39 (43); Kadelbach (Fn. 7), S. 41 (44). So aber Paulus (Fn. 3), S. 4.
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tige Gewalt insgesamt verändert.13 Die auswärtige Gewalt verliere ihren unitarisch-exekutivischen Charakter.14 Diese Betrachtungsweise überzeugt nicht. Der konstitutive wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt ist nicht "eingeführt" worden. Er konnte auch nicht das Verhältnis zwischen Exekutive und Parlament verändern, weil praktisch erst nach der Streitkräfteentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 Auslandseinsätze bewaffneter deutscher Streitkräfte ein wichtiger Bestandteil der deutschen Außenpolitik wurden.15 Deshalb ist auch die Kritik realitätsfern, die meint, die immer stärker werdende Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in internationale Entscheidungsprozesse verenge trotz des Parlamentsvorbehalts die parlamentarischen Spielräume in der Verfassungswirklichkeit.16 Der Gesetzgeber des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (PBG) entschied sich in Kenntnis der internationalen Entscheidungsprozesse und in Auseinandersetzung mit anderen (exekutivfreundlicheren) Optionen für eine ungeschmälerte gesetzliche Regelung des Beteiligungsrechts des Deutschen Bundestages.17
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Die deutschen Streitkräfte als „Parlamentsheer“
Das Bundesverfassungsgericht qualifiziert die deutschen Streitkräfte als „Parlamentsheer“18. Den Begriff „Parlamentsheer“ prägte in Abgrenzung zum „Königsheer“ oder „autonomen Präsidialheer“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, der als Verfassungsrichter am Streitkräfteurteil beteiligt war.19 Nach Auffassung des Gerichts sind die auf die Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes – in den verschiedenen Stufen ihrer Ausformung – stets darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exeku13 14 15 16 17 18 19
Paulus (Fn. 3), S. 24. Paulus (Fn. 3), S. 41. Zur Staatspraxis vgl. Wiefelspütz (Fn. 2), S. 288 ff. Paulus (Fn. 3), S. 26. Vgl. die exekutivorientierte Position der CDU/CSU, die sich im Gesetzgebungsverfahren zum PBG nicht durchgesetzt hat: Wiefelspütz (Fn. 2), S. 374, 404. BVerfGE 90, S. 286 (382). Vgl. Böckenförde, Die Eingliederung der Streitkräfte in die demokratisch-parlamentarische Verfassungsordnung und die Vertretung des Bundesverteidigungsministers in der militärischen Befehlsgewalt (Befehls- und Kommandogewalt) in: Stellvertretung im Oberbefehl, Veröffentlichungen der Hochschule für politische Wissenschaften München, 1966, S. 43 (48, 58); ders., Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 153 ff. Kritisch zur Verwendung des Begriffs „Parlamentsheer“: Isensee, Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen vom 4. Juni 2003, Sten. Prot., Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 17, S. 10 f.
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tive zu überlassen, sondern als „Parlamentsheer“ in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen, d. h. dem Parlament einen rechtserheblichen Einfluss auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte zu sichern.20 Freilich wird das "Parlamentsheer" nicht vom Parlament geführt. Das Bundesverfassungsgericht betonte: „Der Zustimmungsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte verleiht dem Bundestag keine Initiativbefugnis (vgl. BVerfGE 68, 1 [86]); der Bundestag kann lediglich einem von der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seine Zustimmung versagen oder ihn, wenn er ausnahmsweise ohne seine Zustimmung schon begonnen hat ..., unterbinden, nicht aber die Regierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflichten.“21
Ob bewaffnete deutsche Streitkräfte eingesetzt werden sollen, ist zunächst eine Entscheidung der Bundesregierung. Der Bundesregierung allein steht die Befugnis zu, die tatsächlich und rechtlich erhebliche Initiative zu solch einer Entscheidung zu ergreifen. Rechtmäßig ist der Einsatz freilich erst, wenn – regelmäßig vor dem konkreten Einsatz – auch der Deutsche Bundestag zustimmt. Der Bundesregierung obliegt sodann die operative Führung des Einsatzes, wobei es ihrem Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit zuzurechnen ist, ob und wie sie die „Genehmigung“ des Deutschen Bundestages ausschöpft. Der Staatspraxis der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages kommt die Analyse von Rafael Biermann nahe: „Das Verfassungsgericht setzte 1994 ein deutliches Zeichen im Sinne des Parlaments. Die Prärogative der Bundesregierung ist beschnitten, die Gewichte wurden in Richtung Bundestag, vor allem Parlamentsmehrheit, verlagert. ... Deshalb von einem ‚Parlamentsheer’ zu sprechen, mag politisch angezeigt sein; am Übergewicht der Exekutive auch in diesem Politikfeld ändert es nichts.“22
Man kann sehr wohl in Frage stellen, ob der Begriff „Parlamentsheer“ in Zusammenhang mit der Bundeswehr besonders glücklich gewählt wurde. Dass die Streitkräfte als staatliche Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland uneingeschränkt Teil des Rechts- und Verfassungsstaates sind und den Bindungen des Grundgesetzes unterworfen sind, ist staatsrechtlich unter der Herrschaft des 20 21 22
BVerfGE 90, S. 286 (381 f.). BVerfGE 90, S. 286 (389); kritisch Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein (Hg.), Grundgesetz, 10. Aufl., 2005, Art. 45 a Rdnr. 16. Biermann, ZParl 2004, S. 607 (619 f.); ähnlich Dreist, ZRP 2005, S. 35 (36), der hervorhebt, das Recht des Parlaments sei von Vorneherein auf einen Zustimmungsvorbehalt zu einem bestimmten exekutivischen Handeln beschränkt, stelle also kein volles Beteiligungsrecht dar.
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Grundgesetzes eine pure Selbstverständlichkeit. Der Begriff „Parlamentsheer“ konnotiert eine zentrale Debatte des preußischen und reichsdeutschen Staatsrechts in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts23 mit Fernwirkungen bis in die Wehrverfassung der Weimarer Republik.24 Diese Auseinandersetzung hat freilich vor dem Hintergrund der vollständigen verfassungsrechtlichen Einhegung der Bundeswehr nur noch einen Platz im Museum der deutschen Verfassungsgeschichte.25 Aus dieser umfassenden Einfügung der Streitkräfte in das Gefüge des Grundgesetzes ist indes - anders, als das Bundesverfassungsgericht meint - nicht abzuleiten, in welchem Umfang der Deutsche Bundestag an der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte beteiligt ist. Anders gewendet: die Streitkräfte blieben auch dann ein „Parlamentsheer“, wenn es hierzulande - wie in nahezu allen anderen souveränen Staaten - keinen konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt gäbe. Im Ergebnis wird es wohl eher eine Übertreibung sein, die Bundeswehr als „Parlamentsheer“ zu qualifizieren. Die Bundeswehr kann allerdings seit dem Streitkräfteurteil auch nicht mehr als „Regierungsheer“ verstanden werden. Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland ist von den Verfassungsorganen Bundesregierung und Bundestag gemeinsam zu verantworten. Das deutliche Übergewicht der operativen Verantwortung liegt freilich bei der Bundesregierung.26
4
Der Geltungsgrund des konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts
Es ist nicht zu übersehen, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei der Herleitung des Parlamentsvorbehalts nicht auf das „Wesentlichkeits-Kriterium“ beruft,27 sondern durch seinen Rückgriff auf eine vermeintliche deutsche wehrver23 24 25 26 27
Vgl. den Überblick bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., 1988, S. 988 - 1006; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, 2. Aufl., 1982, S. 515 - 603. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 610 - 630; Klein, AöR 130 (2005), S. 632 (633). Klein, AöR 130 (2005), S. 632 (633): „demokratische Konstitutionalisierung von Streitkräften“. Wiefelspütz (Fn. 2), S. 197 f. Rupp, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz (Hb.), Verfassung im Diskurs der Welt. Liber Amicorum für Peter Häberle zum 70. Geburtstag, 2004, S. 731 (738); Paulus (Fn. 3), S. 18 Fn. 83, "vermißt" die Wesentlichkeitstheorie. Ein Teil des Schrifttums begründet den konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt mit der Wesentlichkeitstheorie: Calliess, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, Aufgaben des Staates, 3. Aufl., 2006, § 83 Rdnr. 40; Stern, Diskussionsbeitrag in: VVDStRL 56 (1997), S. 97 (99): "wehrverfassungsrechtliche Wesentlichkeitstheorie"; Streinz, in: Sachs
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fassungsrechtliche Tradition das klassische Kriegsvölkerrecht mit dem Kriegseintritt, mit der hergebrachten Form der Kriegserklärung und der Zustimmung des Parlaments zur Kriegserklärung anklingen läßt.28 Im AWACS II-Beschluss sollte das Gericht diese Argumentationslinie wiederholen.29 Letztlich wird dadurch auf die besondere Bedeutung der Entscheidung über Krieg und Frieden abgehoben, die wegen ihrer existentiellen Bedeutung für Staat und Volk nicht allein von der Regierung, sondern auch vom Parlament (mit)getragen werden soll.30 Andreas L. Paulus hält den konstitutiven Parlamentsvorbehalt für Verfassungsgewohnheitsrecht bzw. eine Selbstbindung der beteiligten Verfassungsorgane.31 Geltungsgrund für den konstitutiven Parlamentsvorbehalt ist indes nicht die ständige Praxis der Verfassungsorgane oder deren Rechtsüberzeugung, sondern der das Grundgesetz interpretierende Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts, an den sich die Verfassungsorgane Deutscher Bundestag und Bundesregierung halten. Es überzeugt nicht, wenn immer wieder als tragender Grund für den konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt die erhöhte Gefährdung soldatischer Rechtsgüter bei Auslandseinsätzen angeführt wird.32 Das Bundes-
28 29 30
31 32
(Hg.), Grundgesetz, 4. Aufl., 2007, Art. 59 Rdnr. 27; Kokott, DVBl. 1997, S. 937 (939); Heun, JZ 1994, S. 1073 (1074); Epping, AöR 124 (1999), S. 423 (448); Nolte, in: Ku/Jacobson (Hg.), Democratic Accountability and the Use of Force in International Law, 2003, S. 231 (243 f.); Krieger, Streitkräfte im demokratischen Verfassungsstaat, Habilitationsschrift, Universität Göttingen, Typoskript, Juni 2004, S. 316 ff; Paulus, Parlament und Streitkräfteeinsatz in rechtshistorischer und rechtsvergleichender Perspektive, Habilitationsschrift, Universität München, Typoskript (noch nicht veröffentlicht), März 2006, S. 239 ff.; ähnlich Wild, in: Menzel (Hg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 547 (549). Vgl. BVerfGE 90, S. 286 (383 f.). BVerfGE 108, S. 34 (42 f.). Vgl. Wiefelspütz, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 17, S. 38; Klein, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25 vom 17. Juni 2004, S. 3; Heun, JZ 1994, S. 1073 (1074); Epping, AöR 124 (1999), S. 423 (448); Kokott, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 4. Aufl., 2007, Art. 87 a Rdnr. 38; kritisch Baldus, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 32, S. 13. Paulus (Fn. 3), S. 19. So aber Baldus, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 32, S. 13; Schmidt-Radefeldt, Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration, 2005, S. 157 f.; Baldus, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl., 2006, Art. 87 a Rdnr. 66; ähnlich der damalige Bundesminister der Verteidigung Dr. Peter Struck (SPD), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 9 vom 5. Juni 2003, S. 8; a. A. Wiefelspütz, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25 vom 17. Juni 2004, S. 10; ders. (Fn. 2), S. 204 ff.; Vöneky/Wolfrum, ZaöRV 63 (2003), S. 569 (599); Günther, in:
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verfassungsgericht argumentiert in seinem Streitkräfteurteil ausschließlich teleologisch und mit Gründen der Verfassungstradition.33 Auslandseinsätze deutscher Soldaten mögen gefährlich sein. Aber auch Auslandseinsätze von deutschen Polizeibeamten, Diplomaten, Rettungskräften etc. können im Einzelfall besonders gefährlich sein. Gleiches gilt für Inlandeinsätze von Soldaten, Polizeibeamten und anderen Kräften. Gleichwohl gilt der konstitutive Parlamentsvorbehalt ausschließlich für den Auslandseinsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte. Besonders weit hergeholt ist die Argumentation von Andreas L. Paulus: Die Soldaten stünden im Zeitalter des Völkerstrafrechts unter der Belastung, ihr Handeln rechtfertigen zu müssen, insbesondere in Bezug auf den Vorwurf, an einem Angriffskrieg mitzuwirken. Es stünde den gewählten Vertretern (den Parlamentariern) gut an, diese Verantwortung im Grenzbereich von Recht und Politik nicht den Soldaten zu überlassen.34 Diese Argumentation mag Bestandteil eines Leitartikels sein, rechtswissenschaftlich ist sie nicht.
5
Das Zustandekommen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
Ein Entsendegesetz35 oder – präziser formuliert – ein Parlamentsbeteiligungsgesetz36 wurde vor allem immer wieder von der Rechtswissenschaft37 gefordert, kam aber zunächst nicht zustande.38
33 34 35 36
37
Wehrhafte Demokratie, Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, hgg. von Markus Thiel, 2003, S. 329 (344); Wild (Fn. 27), S. 547 (548); Paulus (Fn. 3), S. 17 ff.; kritisch auch Klein, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25 vom 17. Juni 2004, S. 3. Wild, DÖV 2000, S. 622 (624). Paulus (Fn. 3), S. 18. Vereinzelt wurde auch der Begriff Verwendungsgesetz benutzt. Vgl. Limpert, Auslandseinsatz der Bundeswehr, 2002, S. 90. Dreist, NZWehrr 2002, S. 133 (143); kritisch zum Begriff Parlamentsbeteiligungsgesetz: Koch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz: Riskante Gestaltungsaufträge im Gefüge der Staatsfunktionen, Antrittsvorlesung an der Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaft, 19. Juli 2004, unveröffentlichtes Typoskript, 2004, S. 1 (8). utta Limbach, Südwestrundfunk (SWR) am 17. März 2002, vgl. auch taz vom 18. März 2002; Lamers/Schäuble/Scholz, Zukunftskonzept Sicherheit, 2002, Ziff. 8. Blumenwitz, Rheinischer Merkur vom 16. Dezember 1994; ders., BayVBl. 1994, S. 678 (681); ders., Politik - Geschichte, Recht und Sicherheit: Festschrift für Gerhard Ritter, aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags, 1995, S. 311 ff.; ders., in: Piazolo (Hg.), Bundesverfassungsgericht: Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 87 (100 ff.); Schwarz, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik, 1995, S. 342 f.; Schultz, Die Auslandsentsendung von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz zum Zwecke der Friedenswahrung und Verteidigung, 1998, S. 444 f.; Brenner/Hahn, JuS 2001, S. 729 (735). Vgl. auch Dreist, NZWehrr 2002, S. 133 (134
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Unmittelbar nach der Bundestagswahl des Jahres 2002 war das Parlamentsbeteiligungsgesetz Gegenstand der Koalitionsverhandlungen zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die von der Verhandlungsgruppe der SPD eingebrachte Forderung nach einem Parlamentsbeteiligungsgesetz scheiterte indes am Widerstand der Grünen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen befürchtete durch ein Parlamentsbeteiligungsgesetz eine Minderung ihres Einflusses auf Entsendeentscheidungen. In der Koalitionsvereinbarung 2002 – 2006 verblieb als Schnittmenge der unterschiedlichen Positionen der knappe Satz: „Die parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsätzen wird gewährleistet.“39
Im Jahre 200240 sprachen sich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Jutta Limbach41 und der frühere Vorsitzende der CDU Dr. Wolfgang Schäuble42 für ein PBG aus, um den rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz der Bundeswehr im Ausland eine neue Grundlage zu geben.43 Nachdem sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Rahmen einer Regierungserklärung für ein Entsendegesetz ausgesprochen hatte,44 die Fraktionen von SPD45, CDU/CSU46, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. ihre ersten Vorstellungen für ein solches Gesetz zu
38 39
40 41 42 43 44 45 46
ff.); Burkiczak, ZRP 2003, S. 82 ff.; Nowrot, NZWehrr 2003, S. 65 (76 f.); Klein, in: Recht im Pluralismus, Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag, hgg. von Hans-Detlef Horn in Verbindung mit Peter Häberle, Herbert Schambeck, Klaus Stern. 2003, S. 245 (258 ff.); Schröder, Das parlamentarische Zustimmungsverfahren zum Auslandseinsatz der Bundeswehr in der Praxis, 2005, S. 152 f. m. w. Nachw., S. 156 f. Kritisch zum Entsendegesetz: Wild, DÖV 2000, S. 622 (631); Limpert, in: Häberle/Schwarze/Graf Vitzthum (Hg.), Der Staat als Teil und als Ganzes, 1998, S. 50 ff.; vgl. aber ders. (Fn. 35), S. 90 ff. Vgl. Wiefelspütz, Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte und der konstitutive Parlamentsvorbehalt, 2003, S. 13 f. Koalitionsvereinbarung 2002 - 2006, IX Gerechte Globalisierung - Deutschland in Europa und in der Welt, Bundeswehr und internationale Einsätze, Absatz 9 (S. 62). Die knappe Formulierung ist aufschlussreich. Sie deutet auf parlamentsinterne Erörterungen hin, wohl auch auf Meinungsverschiedenheiten über die dem Parlament zu geheimhaltungsbedürftigen Operationen zugänglich zu machenden Informationen. Zur Diskussion 2001 - 2002 vgl. Dreist, NZWehrr 2002, S. 133 (134 ff.); Spies, in: Fischer /Froissart/Heintschel von Heinegg/Raap (Hg.), Krisensicherung und Humanitärer Schutz - Crisis Management and Humanitarian Protection, Festschrift für Dieter Fleck, 2004, S. 531 (532 f.). dpa vom 17. März 2002. Neue Osnabrücker Zeitung vom 26. März 2003. Vgl. auch die Übersicht bei Dreist, NZWehrr 2002, S. 133 (134 ff.). Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 37. Sitzung, 3. April 2003, Sten. Prot. S. 2997 C. Der Abg. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) legte „Eckpunkte für ein Beteiligungsgesetz“ vor. Vgl. auch Der Spiegel, Heft 18/2003, S. 20. Vgl. spiegel-online vom 27. März 2003.
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erkennen gegeben hatten, war damit zu rechnen, dass im Jahre 2004 ein solches Gesetz verabschiedet werden würde. Die politische Bereitschaft, ein Parlamentsbeteiligungsgesetz anzustreben, wurde unverkennbar durch den in einem einstweiligen Anordnungsverfahren ergangenen AWACS II-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25. März 200347 befördert.48 Der Entscheidung ging eine nicht so sehr politische - der Einsatz wurde von einer breiten politischen Mehrheit getragen -, sondern verfassungsrechtliche Debatte voraus, ob beim Einsatz der AWACS-Flugzeuge im türkischen Luftraum im Jahre 2003 eine Zustimmung des Deutschen Bundestages erforderlich gewesen wäre. Diese Debatte wirkt bis heute nach, zumal die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache noch aussteht. Nicht von ungefähr sprach sich Bundeskanzler Gerhard Schröder wenige Tage nach dem AWACS II-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts für ein Parlamentsbeteiligungsgesetz aus.49 Von November 2003 bis März 2004 fanden mehrere Koalitionsgespräche zwischen Vertretern der SPD-Bundestagsfraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen statt. Auf der Grundlage eines Entwurfs, der am 20. Oktober 2003 von der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt wurde,50 erarbeiteten die Abgeordneten den Koalitionsentwurf, der am 23. März 2004 in den Deutschen Bundestag eingebracht wurde.51 Im Dezember 2003 und im Februar 2004 fanden mehrere informelle Gespräche zwischen den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. mit dem Ziel statt, die Chancen für einen gemeinsamen Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes auszuloten.52 Die Verhandlungen scheiterten alsbald, weil die Entscheidung der Koalition für ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren nicht mit dem von der F.D.P. präferierten „Ausschuss für besondere Auslandseinsätze“ kompatibel erschien und auch die CDU/CSU einen Entsendeausschuss für erforderlich hielt.
47 48 49 50 51
52
BVerfGE 108, S. 34 ff.; dazu Wiefelspütz (Fn. 2), S. 208 ff. Schröder, JA 2004, S. 853. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Deutscher Bundestag 15. Wahlperiode, 37. Sitzung, 3. April 2003, Sten. Prot. S. 2997 C. Siehe Wiefelspütz (Fn. 2), S. 523 ff. BT-Drs. 15/2742; dazu Wiefelspütz, NZWehrr 2004, S. 133 ff.; Meyer, Von der Entscheidungsmündigkeit zur Entscheidungsmüdigkeit?, Nach zehn Jahren Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze naht ein Beteiligungsgesetz, HSFK-Report 4/2004, 2004, S. 24 ff.; Pofalla, ZRP 2004, S. 221 (222 ff.); Koch (Fn. 36), S. 1 (8 ff.); Schröder, JA 2004, S. 853 ff.; ders. (Fn. 37), S. 324 ff.; Krieger (Fn. 27), S. 319 ff. Vgl. Abg. Gernot Erler (SPD), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8978 C, und Abg. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8987 C, D.
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Am 25. März 2004 fand die erste Beratung des Entwurfs des Parlamentsbeteiligungsgesetzes der Koalitionsfraktionen und des Entwurfs eines Auslandseinsätzemitwirkungsgesetzes der F.D.P.-Fraktion im Plenum des Deutschen Bundestages statt.53 Am 3. Dezember 2004 fand im Deutschen Bundestag die 2. und 3. Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurfs sowie des von der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurfs statt.54 Der Gesetzentwurf der Koalition auf Drucksache 15/2742 wurde in Gestalt der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vom 11. November 2004 (BT-Drs. 15/4264) in zweiter und dritter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie der Abgeordneten Pau (PDS) und Lötzsch (PDS) angenommen.55 Der Bundesrat beschloß in seiner 808. Sitzung am 18. Februar 2005, zu dem vom Deutschen Bundestag am 3. Dezember verabschiedeten Parlamentsbeteiligungsgesetz einen Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen.56 Das Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz - PBG -) wurde am 18. März 2005 vom Bundespräsidenten ausgefertigt und am 23. März 2005 im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl. I S. 775). Am 24. März 2005 trat das Gesetz in Kraft.
6
Der wesentliche Inhalt des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
6.1 Der Anwendungsbereich des Gesetzes § 1 PBG stellt klar, dass das Gesetz lediglich Form und Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung regelt.57 Das PBG ist ein Verfahrensgesetz. Freilich konkretisiert es den aus dem Grundgesetz abgeleiteten wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt. 53 54 55 56 57
Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8977 C ff. Vgl. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 146. Sitzung, 3. Dezember 2004, Sten. Prot. S. 13 635 D - 13 652 D. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 146. Sitzung, 3. Dezember 2004, Sten. Prot. S. 13 652 B, C. Bundesrat, 808. Sitzung, 18. Februar 2005, Plenarprotokoll 808, S. 25 C, 46 C; BR-Drs. 46/05 (Beschluss). BT-Drs. 15/2742, S. 5.
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Nach § 1 PBG gilt das Gesetz für bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Ausland. Es darf indes nicht übersehen werden, dass auch bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Inland der Zustimmung des Deutschen Bundestages unterliegen können. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Bundeswehr im Rahmen ihres Verteidigungsauftrags nach Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG im Geltungsbereich des Grundgesetzes einen militärischen Angriff abwehren würde, ohne dass der Verteidigungsfall festgestellt worden wäre.58
6.2 Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte Gegenstand der Parlamentsbeteiligung ist der Einsatz bewaffneter Streitkräfte.59 Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung zu klären, was ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist.60 Nach § 2 Abs. 1 PBG liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte vor, wenn Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist. § 2 Abs. 1 PBG ist eine Legaldefinition des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte.61 Dabei werden nicht nur Einsätze im Rahmen bewaffneter Unternehmungen umfasst, sondern auch Einsätze, bei denen mit der Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu rechnen ist. Den Parlamentsvorbehalt lösen unstreitig aus: bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Rahmen der Landesverteidigung und von Bündnisverpflichtungen, Einsätze der Bundeswehr im Zusammenhang mit der Feststellung des Verteidigungsfalls und Einsätze bewaffneter Streitkräfte im Rahmen von Resolutionen des Sicherheitsrates der VN. Diese Aufzählung ist freilich nicht abschließend, erfasst aber die meisten der in Betracht kommenden bewaffneten Einsätze. 58
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60 61
Wiefelspütz (Fn. 38), S. 23; ders., RuP 2004, S. 101 (102); ders., NVwZ 2005, S. 496; F. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, Aufgaben des Staates, 3. Aufl., 2006, § 84 Rdnr. 49; Kokott (Fn. 30), Art. 87 a Rdnr. 18; Lutze, DÖV 2003, S. 972 (976 f.), verkennt, dass seine zutreffende Auffassung so neu, wie er meint, nicht ist. BVerfGE 90, S. 286 (387); so auch der FDP-Antrag BT-Drs. 15/36, S. 2 Ziff. 2; Wiefelspütz (Fn. 38), S. 31; Schröder, JA 2004, S. 853; ders. (Fn. 37), S. 143, 166. Skeptisch gegenüber einer ab-strakt-generellen Regelung des "Einsatzes bewaffneter Streitkräfte": Gramm, UBWV 2003, S. 161 (163). Da erst der Einsatz bewaffneter Streitkräfte den Parlamentsvorbehalt auslöst, ist eine Begriffsbestimmung jedoch unerlässlich. Skeptisch Gramm, UBWV 2003, S. 161 S. (163). BT-Drs. 15/2742, S. 5.
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Es verdient besondere Beachtung, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem AWACS II-Beschluss vom 25. März 200362 betont, der konstitutive Parlamentsvorbehalt sei in der Begründung auf das historische Bild eines Kriegseintritts zugeschnitten. Unter den heutigen politischen Bedingungen, in denen Kriege nicht mehr förmlich erklärt würden, stehe eine sukzessive Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen dem offiziellen Kriegseintritt gleich. Deshalb unterliege grundsätzlich jeder Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte der konstitutiven parlamentarischen Mitwirkung.63 Damit wird vom Gericht die - auch schrittweise - Verwicklung oder Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen mit Kriegscharakter oder kriegsähnlicher Bedeutung als maßgebliches materielles Kriterium für die Auslösung des Parlamentsvorbehalts vorgegeben. Entscheidend ist danach, ob deutsche Soldaten in eine bewaffnete Unternehmung,64 die mit Kriegsgeschehen gleichzusetzen ist, einbezogen werden.65 Aus der konstitutiven Beteiligung des Bundestages bei vor allem kriegsähnlichen Operationen oder Kriegshandlungen deutscher Soldaten folgt andererseits, daß Einsätze im Frieden, auch Einsätze von bewaffneten Soldaten in Friedenszeiten ausschließlich Sache der Bundesregierung sind. Beispielsweise unterliegt die Bewachung von militärischen Anlagen durch bewaffnete Soldaten der Bundeswehr nicht der Zustimmung durch den Bundestag, weil die Bundeswehr Friedensdienst leistet. Gleiches gilt für Manöver, militärische Ausbildung, Wachdienst und vergleichbare Verwendungen in Friedenszeiten. Nicht der konstitutiven Beteiligung des Parlaments bedarf der tägliche Dienst deutscher Soldaten in integrierten Einheiten der NATO, weil es sich ausschließlich um die Wahrnehmung von Bündnisverpflichtungen in Friedenszeiten handelt. Dazu gehören auch die regelmäßigen Überwachungsflüge der AWACSFlugzeuge der NATO mit zum Teil deutscher Besatzung über NATO-Gebiet. Diese Flüge werden auch nicht dadurch zustimmungsbedürftig, dass mit den technischen Einrichtungen der Flugzeuge in den Luftraum von Staaten „hineingeschaut“ wird, die nicht der NATO angehören.66 Der Gesetzgeber hat sich in § 2 Abs. 1 PBG in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung67 dafür entschieden, dass jeder bewaffnete Einsatz – 62 63 64 65 66 67
BVerfGE 108, S. 34 ff. BVerfGE 108, S. 34 (42 f.). Vgl. BVerfGE 90, S. 286 (387 f.); Oeter, NZWehrr 2000, S. 89 (97). Vgl. Wiefelspütz, NZWehrr 2003, S. 133 (138); ders. (Fn. 2), S. 423; Schaefer, Verfassungsrechtliche Grenzen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, 2005, S. 196. Wiefelspütz, NVwZ 2005, S. 496 (497). Vgl. Klein, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25 vom 17. Juni 2004, S. 13; Röben, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G
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unabhängig von Art, Intensität, Umfang und Bedeutung – der Zustimmung des Parlaments bedarf. Zu den zustimmungspflichtigen Einsätzen der Bundeswehr gehören deshalb grundsätzlich auch kleinere Erkundungskommandos (Fact-Finding-Missionen),68 von denen die Modalitäten eines geplanten Einsatzes geprüft werden. Gleiches gilt für kleinere militärische Austauschprogramme, kurzfristige Einsätze, die Entsendung von Austausch- oder Verbindungsoffizieren und die Abstellung einzelner oder weniger Soldaten für Einsätze in VN-Friedenstruppen. Es wird indes auch die Meinung vertreten, dass bewaffnete Einsätze von geringer Intensität und Bedeutung (noch) nicht den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt auslösen.69 Die Einbeziehung aller bewaffneten Einsätze in den konstitutiven Parlamentsvorbehalt lässt sich nämlich nicht zwingend auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen.70 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unterliegt zwar „grundsätzlich jeder Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte der konstitutiven parlamentarischen Mitwirkung“71. „Grundsätzlich“ ist nach dem Wortsinn jedoch nicht gleichzusetzen mit „ausnahmslos“ oder „in jedem Fall“.72 Ebenso wenig bedarf ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte der Zustimmung des Parlaments, wenn es sich bei der Unternehmung materiell-funktional um ein polizeiliches Unternehmen der Streitkräfte wie bei der Rettungsaktion in Tira-
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70 71 72
25 vom 17. Juni 2004, S. 14; Baldus, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 32, S. 22; Schmidt-Jortzig, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25 vom 17. Juni 2004, S. 15; Dreist, NZWehrr 2001, S. 1 (7); ders., KritV 87 (2004), S. 79 (89); Schröder (Fn. 37), S. 206; Weiß, NZWehrr 2005, S. 100 (104); Gilch, Das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Die Auslandsentsendung der Bundeswehr und deren verfahrensrechtliche Ausgestaltung, Diss., Universität Würzburg, 2005, S. 117; Schaefer (Fn. 65), S. 202 f. Der Gesetzentwurf der F.D.P.-Bundestagsfraktion (BT-Drs. 15/1985) geht ebenfalls davon aus, dass sämtliche bewaffnete Einsätze der Streitkräfte der konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedürfen. Vgl. dazu Wiefelspütz, NZWehrr 2004, S. 133 (134). Vgl. dazu Dreist, NZWehrr 2002, S. 133 (144 f.). So vor allem Wiefelspütz (Fn. 38), S. 37 f.; ders., NZWehrr 2003, S. 133 (140); ders., BayVBl. 2003, S. 609 (612); Wieland, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25, S. 18; ähnlich Oeter, NZWehrr 2000, S. 89 (97); Nowrot, NZWehrr 2003, S. 65 (73), befürwortet bei bewaffneten Einsätzen von geringer Bedeutung lediglich eine Abstufung der Kontrollbefugnisse des Bundestages. Wiefelspütz, BayVBl. 2003, S. 609 (612); ders. (Fn. 2), S. 425; Krieger (Fn. 27), S. 321. Explizit a. A.: Klein, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 25 vom 17. Juni 2004, S. 13. BVerfGE 108, S. 34 (43). Wiefelspütz, BayVBl. 2003, S. 609 (612); Krieger (Fn. 27), S. 321; a. A. Weiß, NZWehrr 2005, S. 100 (106).
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na/Albanien (Operation LIBELLE)73 im Jahre 1997 handelt.74 Bei solchen Einsätzen ist ein Zusammenhang mit Krieg oder kriegsähnlichen Verstrickungen nicht ersichtlich. Aber auch hier waren freilich die Verfassungsorgane Bundesregierung und Deutscher Bundestag bislang anderer Auffassung. Bei der Operation LIBELLE hielten Bundesregierung und Deutscher Bundestag die konstitutive Beteiligung des Parlaments für verfassungsrechtlich geboten.75 Nach § 2 Abs. 1 2. Alt. PBG liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte auch dann vor, wenn eine Einbeziehung von Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist. Entgegen einer vielfach geäußerten Auffassung löst die bloße Gefahr, in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen zu werden, den konstitutiven Parlamentsvorbehalt noch nicht aus.76 Die Gefährlichkeit eines bewaffneten Einsatzes für den eingesetzten Soldaten zwingt noch nicht zur Beteiligung des Parlaments. Krieg oder ein kriegsähnliches Geschehen ist nicht mit der Gefahr gleichzusetzen, als Soldat in solch eine Begebenheit einbezogen zu werden. Die bloße Gefahr, dass deutsche Soldaten in Kampfhandlungen verstrickt werden, zwingt noch nicht zur konstitutiven Beteiligung des Parlaments.77 Ebenso wenig reicht die abstrakte Gefahr einer gewaltsamen Eskalation aus, um den konstitutiven Parlamentsvorbehalt auszulösen.78 Die abstrakte Gefahr der militärischen Verstrickung ist bei weitem noch nicht die Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung, sondern eine ungewisse, eher fern liegende Möglichkeit, in ein militärisches Kampfgeschehen verstrickt zu werden.79 73
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Vgl. Wiefelspütz (Fn. 2), S. 290. Seinerzeit sind freilich Bundesregierung und Bundestag von der (nachträglichen) Zustimmungsbedürftigkeit der Rettungsaktion ausgegangen. Vgl. BT-Drs. 13/7233; nachträgliche Zustimmung des Deutschen Bundestages am 20. März 1999, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, 166. Sitzung, 20. März 1997, Sten. Prot. S. 14989 C, D. So auch Röben, ZaöRV 63 (2003), S. 585 (586 Fn. 4); ähnlich Kreß, ZaöRV 57 (1997), S. 329 (356). LIBELLE; Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Albanien; Kabinettentscheidung am 14. März 1997; BT-Drs. 13/7233; Zustimmung des Deutschen Bundestages am 20. März 1997; Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Sten. Prot. S. 14989 D (Beschluß); es wurden 323 deutsche Soldaten am 14. März 1997 eingesetzt. So aber Dreist, KritV 87 (2004), S. 79 (84, 91); Schröder (Fn. 37), S. 193, 203; Nolte (Fn. 27), S. 231 (244); Weiß, NZWehrr 2005, S. 100 (105); Gilch (Fn. 67), S. 116, 211; Schaefer (Fn. 65), S. 207, 228; Sigloch, Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr, 2006, S. 305 ff.; Calliess (Fn. 27), § 83 Rdnr. 39; offen gelassen von Rau, AVR 44 (2006), S. 93 (98), der meint, es sei völlig offen, welchen Grad an Wahrscheinlichkeit der Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen § 2 Abs. 1 PBG verlange. Wiefelspütz, NZWehrr 2003, S. 133 (139); ders. (Fn. 2), S. 428; ders., NVwZ 2005, S. 496 (497); offen gelassen von Blumenwitz, Politik - Geschichte, Recht und Sicherheit: Festschrift für Gerhard Ritter, aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags, 1995, S. 311 (315). So aber Lutze, DÖV 2003, S. 972 (973, 975); Wild, DÖV 2000, S. 622 (624). Wiefelspütz, NZWehrr 2004, S. 133 (134); ähnlich Krieger (Fn. 27), S. 324.
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Selbst eine erhöhte Gefahr oder ein erhöhter Grad von Wahrscheinlichkeit, in Kampfhandlungen einbezogen zu werden, verlangt noch nicht die Entscheidung, die Soldaten aus der Gefahrenzone abzuziehen oder um die Zustimmung des Parlaments zum Verbleiben (Einsatz) der betreffenden Soldaten nachzusuchen.80 Insbesondere sind die erhöhte Wachsamkeit, die Anordnung der Alarmbereitschaft von Soldaten in Zeiten größerer politischer Spannungen oder die Heranführung militärischer Kräfte in ein mögliches Einsatzgebiet noch nicht als konkreter Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu werten.81 Gleiches gilt für das Auffüllen von militärischen Einheiten mit Reservisten. Die Umgruppierung von militärischen Einheiten in Deutschland oder im Bündnisgebiet ist für sich genommen noch kein zustimmungspflichtiger Vorgang. Das gilt auch dann, wenn in angrenzenden Gebieten militärische Kampfhandlungen stattfinden. Zustimmungspflichtig wird ein Einsatz allerdings dann, wenn bei verständiger Würdigung der Geschehensabläufe selbst bei einer strikt defensiven Ausrichtung der Streitkräfte die Verstrickung deutscher Soldaten in Kampfhandlungen unausweichlich erscheint oder doch überwiegend wahrscheinlich ist. In einer solchen Lage wird die Einbeziehung deutscher Soldaten in militärische Kampfhandlungen nicht mehr zu vermeiden sein. Der Bundesregierung wird in solchen Situationen für die Beurteilung der Lage und ihrer voraussichtlichen Entwicklung allerdings eine Einschätzungsprärogative einzuräumen sein.82 Die Grenze zum zustimmungspflichtigen Einsatz wird auch überschritten, wenn deutsche Soldaten auf einem „kriegsbefangenen Territorium“83 eingesetzt werden. Auf einem solchen Gebiet sind die Soldaten in einem Maße in ein Kriegsgeschehen einbezogen, dass sie untrennbar Teil eines bewaffneten Konflikts sind. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 PBG sind vorbereitende Maßnahmen und Planungen kein Einsatz im Sinne dieses Gesetzes. Hervorzuheben ist, dass erst der konkrete Einsatz der Zustimmung des Bundestages bedarf.84 Vorbereitende militärische Maßnahmen bedürfen noch nicht der Zustimmung des Parlaments. 80
81 82 83 84
So aber Rath, taz vom 4. April 2003. Auch der damalige Bundesverteidigungsminister Dr. Struck (SPD) vertrat in Gespräch mit Mitgliedern des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung am 5. Juni 2003 - wohl aber eher unter politischen als staatsrechtlichen Gesichtspunkten - die Auffassung, wegen der Gefährlichkeit der Auslandseinsätze sei die Zustimmungspflicht des Bundestages wichtig. Vgl. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Protokoll G 9, S. 8. Wiefelspütz, ZaöRV 64 (2004), S. 363 (379); ders., NVwZ 2005, S. 496 (497); a. A. Schaefer (Fn. 65), S. 214. Wiefelspütz, ZaöRV 64 (2004), S. 363 (379); ders. (Fn. 38), S. 40. BVerfGE 108, S. 34 (43). BVerfGE 90, S. 286 (387); Wiefelspütz, NZWehrr 2003, S. 133 (139).
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Militärische Unternehmungen haben im technisch-industriellen Zeitalter eine häufig hochkomplexe Struktur. Um ein militärisch bedeutsamer, integrierter Teil eines bewaffneten Unternehmens zu sein, ist es nicht entscheidend, dass der Soldat bewaffnet ist und unmittelbar an Kampfhandlungen teilnimmt. Hingewiesen sei auf Soldaten, die im Bereich der Logistik oder in der – inzwischen vielfach computergestützten – Informationsgewinnung und -verarbeitung Verwendung finden und dadurch ein unverzichtbarer Teil einer militärischen Einheit sind.85 Die gewollte und geplant Weitergabe von Aufklärungsinformationen, die von deutschen Aufklärungseinheiten oder in integrierten Einheiten mit Beteiligung von deutschen Soldaten gewonnen wurden (AWACS-Flugzeuge), an einen kriegführenden Verbündeten löst den Parlamentsvorbehalt aus, wenn diese Informationen für militärische Operationen Verwendung finden sollen. Denn in einem solchen Fall ist der deutsche Beitrag zwar ein mittelbarer, aber doch integrierter Beitrag zu einem bewaffneten Einsatz.
6.3 Konstitutiver Parlamentsvorbehalt und militärische Integration Unverkennbar besteht zwischen der gesetzlichen Zustimmung zum Beitritt zu einem System der kollektiven Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG) und der Beteiligung des Bundestages beim Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte ein enger Zusammenhang, aber auch ein Spannungsverhältnis. Die Zustimmung zum Beitritt macht die Zustimmung zum konkreten militärischen Einsatz nicht entbehrlich.86 Andererseits ist zu beachten, dass die verfassungsrechtlich gebotene Mitwirkung des Bundestages bei konkreten Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die militärische Wehrfähigkeit und die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen darf.87 Es ist deshalb zu klären, wie weit die konstitutive Wirkung des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG reicht und ab wann der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt einsetzt. Aus der Zusammenschau des Vorbehalts der Zustimmung des Deutschen Bundestages zur militärischen Integration und der Zustimmung zum konkreten militärischen Einsatz ergibt sich eine gestufte konstitutive Beteiligung des Par-
85 86 87
Vgl. dazu auch Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 163, der von unterstützenden Einsätzen spricht. Vgl. Pofalla, ZRP 2004, S. 221 (225); Wiefelspütz, NVwZ 2005, S. 496 (498). BVerfGE 90, S. 286 (388).
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laments.88 Auf alle anderen konkret eingesetzten Soldaten erstreckt sich allerdings der konstitutive Parlamentsvorbehalt. Die Zustimmung des Deutschen Bundestages zum Beitritt zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit schließt die Befugnis ein, deutsche Soldaten in den in solchen Systemen typischerweise vorgesehenen integrierten militärischen Führungsstrukturen wie ständigen Hauptquartieren und Stäben einzusetzen. Diese Zustimmung muss nicht im Falle der Einbeziehung dieser ständigen Führungseinheiten in eine konkrete bewaffnete Unternehmung "erneuert" werden.89
6.4 Humanitäre Einsätze der Bundeswehr Nach § 2 Abs. 2 Satz 3 i. V. mit § 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 PBG sind humanitäre Hilfsdienste und Hilfsleistungen der Streitkräfte, bei denen Waffen lediglich zum Zweck der Selbstverteidigung mitgeführt werden, keine zustimmungsbedürftige Einsätze, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Soldatinnen oder Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen werden.
6.5 Der Antrag der Bundesregierung auf Zustimmung des Bundestages Nach § 3 Abs. 2 PBG enthält der Antrag der Bundesregierung Angaben insbesondere über den Einsatzauftrag, das Einsatzgebiet, die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes, die Höchstzahl der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten, die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte, die geplante Dauer des Einsatzes und die voraussichtlichen Kosten und die Finanzierung. Die Entscheidung über den bewaffneten Einsatz der Streitkräfte ist für alle Beteiligten von besonderer Tragweite. Der Bundestag ist nur dann in der Lage, eine verantwortliche Entscheidung zu treffen, wenn er von Anfang an alle wesentlichen Elemente des konkreten Einsatzes überblicken kann.90 Der Antrag auf konstitutive Zustimmung des Parlaments muss deshalb den Gesamtcharakter,91 den Anlass und die Struktur des Einsatzes erkennen lassen.92 Dazu gehören das 88 89 90 91 92
Wiefelspütz, ZaöRV 64 (2004), S. 363 (376). Wiefelspütz, ZaöRV 64 (2004), S. 363 (376). Vgl. Nolte, ZaöRV 54 (1994), S. 652 (681); Günther (Fn. 32), S. 329 (341); Nowrot, NZWehrr 2003, S. 65 (67); Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 167. Isensee, Kölner Stadtanzeiger vom 22. September 2001; Koch (Fn. 36), S. 1 (15): „Gesamtkonzept“. Vgl. Isensee, Kölner Stadtanzeiger vom 22. September 2001; Wild, DÖV 2000, S. 622 (624).
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Einsatzgebiet, die Anzahl der eingesetzten Soldaten, die Bewaffnung, die voraussichtliche Dauer und die Kosten des Einsatzes. Nach § 3 Abs. 3 PBG kann der Bundestag dem Antrag zustimmen oder ihn ablehnen. Änderungen des Antrags sind nicht zulässig. Unstreitig kann die Bundesregierung bis zur Abstimmung durch den Bundestag jederzeit ihren Antrag verändern oder gar zurückziehen.93 Ebenso unbedenklich ist es, wenn die Bundesregierung ihrem Antrag vor der endgültigen Abstimmung im Plenum des Deutschen Bundestages durch Protokollerklärungen eine bestimmte Interpretation gibt.94 Denn die Bundesregierung ist bis zur Schlussabstimmung Herrin ihres Antrages („Herr der exekutivischen Verantwortung“95). Der von der Bundesregierung schriftlich einzureichende Antrag - insoweit in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtlage - kann vom Parlament nicht geändert oder ergänzt werden.96 Dieses Verfahren hat die Funktion, dass über den Antrag nur im Ganzen abgestimmt werden kann. Nur auf diese Weise kann der Verantwortung der Bundesregierung für den Auslandseinsatz Rechnung getragen werden. Diese Regelung des Gesetzes ist nicht überzeugend.97 Der Bundestag ist nämlich bei seiner Entscheidung aufgrund der Parlamentsautonomie frei in der näheren Ausgestaltung seiner Zustimmung. Zwischen der Zustimmung und der Ablehnung gibt es auch eine modifizierte oder konditionierte Zustimmung als eine Form der „begrenzten“ Zustimmung.98 Die Parlamentspraxis verlangt nach diesen flexiblen Gestaltungsformen der Zustimmung statt des Beharrens auf die starre Alternative zwischen Zustimmung und Ablehnung.99 Da auch die Willensbildung der Bundesregierung zum Einsatz der Bundeswehr im Ausland auf politischen Erwägungen beruhen darf, ist es naheliegend, einer Mehrheit im Bundestag das Recht zuzugestehen, sich auf Grund eines Antrages aus seiner Mitte entgegen der regierungsamtlichen Einschätzung für Modifikationen des bean-
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Klein, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 31, S. 4; Röben, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 34, S. 2. Schmidt-Jortzig, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 29, S. 3 f. Scholz, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 29, S. 9. Klein (Fn. 37), S. 245 (251). Vgl. Koch (Fn. 36), S. 1 (23). Ähnlich Koch (Fn. 36), S. 1 (23). Vgl. Kretschmer, in: Festschrift Helmrich, 1994, S. 537 (544 ff.); Wolfrum, VVDStRL Heft 56 (1997), S. 39 (48).
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tragten Einsatzes auszusprechen und darauf die parlamentarische Genehmigung zu beschränken.100
6.6 Das Vereinfachte Zustimmungsverfahren § 4 PBG überträgt die Befugnis zur verbindlichen Entscheidung über einen Einsatz von geringer Intensität und Tragweite nicht dem vieldiskutierten Entsendeaus-schuß,101 sondern sieht für diese Einsätze ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren vor.102 Das vereinfachte Zustimmungsverfahren ist dem Verfahren zum Erlass einer Vorentscheidung103 aus dem Immunitätsrecht des Bundestages entlehnt104 und fingiert die Zustimmung des Bundestages zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte. Das Verfahren dient zwei Zielen: Einerseits soll sich das Plenum des Deutschen Bundestages nur mit inhaltlich bedeutenden oder politisch umstrittenen Entscheidungen befassen. So wird der Bedeutung der Plenardebatte Rechnung getragen. Andererseits soll aber auch dem Bedürfnis der Praxis entsprochen werden, Plenarsitzungen und aufwendige Sondersitzungen des Bundestages insbesondere in sitzungsfreien Perioden bei unstrittigen Auslandseinsätzen von geringer Intensität und Tragweite zu vermeiden.105 Die Zustimmung des Deutschen Bundestages im vereinfachten Zustimmungsverfahren gilt als erteilt, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach der Verteilung des Antrags an die Mitglieder des Bundestages von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages Widerspruch erhoben wird (§ 4 Abs. 1 Satz 3 PBG). Wird Widerspruch erhoben, entscheidet der Bundestag (§ 4 Abs. 1 Satz 4 PBG). Ein Einsatz ist dann von geringer Intensität und Tragweite, wenn die Zahl der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten gering ist, der Einsatz auf Grund der
100 Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl., 2004, Art. 45 a Rdnr. 16. 101 Vgl. dazu ausführlich Wiefelspütz (Fn. 38), S. 70 ff.; ders., Jura 2004, S. 292 ff. 102 Dazu Koch (Fn. 36), S. 1 (15 f.). 103 Zur Vorentscheidung vgl. Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S. 351 ff., 384; Magiera, in: Bonner Kommentar, Art. 46 Rdnr. 91 m. w. N.; Wiefelspütz, NVwZ 2003, S. 38 (41). 104 Bei Immunitätssachen, die vom Immunitätsausschuss des Bundestages als Bagatellsachen gewertet werden, sehen die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten (Nr. 12 und 13 der Anlage 6 der GO-BT) ein vereinfachtes Verfahren (Vorentscheidung) vor. Die Vorentscheidung des Immunitätsausschusses gilt als Entscheidung des Bundestages, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach Mitteilung Widerspruch (vom Bundestag) erhoben wird. 105 Vgl. BT-Drs. 15/2742, Zu § 4 (S. 5).
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übrigen Begleitumstände erkennbar von geringer Bedeutung ist und es sich nicht um die Beteiligung an einem Krieg handelt (§ 4 Abs. 2 PBG).106 Nach § 7 PBG findet das vereinfachte Zustimmungsverfahren auch Anwendung auf die Verlängerung von Zustimmungsbeschlüssen ohne inhaltliche Änderung.
6.7 Die Zustimmung des Bundestages bei Gefahr im Verzug Um die militärische Wehrfähigkeit und die Bündnisfähigkeit Deutschlands zu sichern, sieht das Gesetz in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts107 bei Gefahr in Verzug ein besonderes Verfahren für die Zustimmung zu diesen Einsätzen vor.108 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist die Bundesregierung bei Gefahr im Verzug berechtigt, vorläufig den Einsatz von Streitkräften zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen in den Bündnissen oder internationalen Organisationen ohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlament mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen. Die Bundesregierung muß das Parlament jedoch umgehend mit dem bewaffneten Einsatz befassen und die Zustimmung nachträglich einholen.109 Dem entspricht die Regelung des § 5 Abs. 1 PBG. Bei den Voraussetzungen von Gefahr im Verzug ist die Orientierung am polizeirechtlichen Gefahrenbegriff geboten.110 Danach liegt eine Gefahr vor, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Rechtsgut geschädigt wird.111 Eine Gefahr ist dann "im Verzug", wenn aufgrund gewichtiger, auf einen konkreten Fall bezogenen Tatsachen davon auszugehen ist, dass die Schädigung eines Rechtsgutes bereits begonnen hat oder unmittelbar bevorsteht und ein Zuwarten auf eine parlamentarische Zustimmung die Abwehr der Gefahr oder die Beendigung der Schädigung vereiteln würde.112
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Kritisch zum Begriff Koch (Fn. 36), S. 1 (12 f.). Vgl. BVerfGE 90, S. 286 (388). Zur Staatspraxis in Fällen von Gefahr in Verzug: Hermsdörfer, UBWV 2003, S. 404 ff. BVerfGE 90, S. 286 (388). Klein (Fn. 37), S. 245 (262); ders., Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 31, S. 8. 111 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl., 2005, § 4 Rdnr. 2. 112 Baldus, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 32, S. 41; Hermsdörfer, UBWV 2003, S. 404 (406); Lutze, DÖV 2003, S. 972 (977); Klein (Fn. 37), S. 245 (263).
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Gefahr im Verzug ist zum einen dann gegeben, wenn angesichts einer konkreten Gefahr unmittelbar gehandelt werden muss und die Entscheidung des Bundestages nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann. Zum anderen kann dies auch bei Einsätzen zur Rettung aus besonderen Gefahrenlagen gegeben sein, solange durch die öffentliche Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet würde. Für diese geheimhaltungsbedürftigen militärischen Operationen ist eine Notkompetenz der Regierung vorgesehen.113 Es macht keinen Sinn, eine militärische Aktion, deren Gelingen von der Geheimhaltung abhängt, zuvor im Parlament zu erörtern.114
6.8 Die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung § 6 PBG stellt die regelmäßige Unterrichtung des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung sicher. Diese soll mit Blick auf bevorstehende Einsätze insbesondere über vorbereitende Maßnahmen und Planungen zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte unterrichten. Über den Verlauf der Einsätze und die Entwicklung im Einsatzgebiet unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag schriftlich. Sie soll darüber hinaus dem Bundestag jährlich einen bilanzierenden Gesamtbericht über den jeweiligen Einsatz bewaffneter Streitkräfte und die politische Gesamtentwicklung im Einsatzgebiet vorlegen.115 Das Parlament – und damit jeder einzelne Abgeordnete – kann den konstitutiven Parlamentsvorbehalt nur dann sachgerecht wahrnehmen, wenn es von der Regierung angemessen über den beabsichtigten Einsatz bewaffneter Streitkräfte informiert wird. Die Informationspflicht ist insbesondere im Bereich des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts eine „Bringschuld“ der Bundesregierung. Andererseits muss das Parlament alle zu Gebote stehen Informationen heranziehe, um sich ein umfassendes Bild über den Einsatz machen zu können.116 In den Berichten der Bundesregierung müssen geheimhaltungsbedürftige Tatsachen nicht enthalten sein. Über diese Tatsachen sollen die Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses in geeigneter Weise informiert werden. Findet innerhalb der Frist des § 4 Absatz 1 Satz 4 eine Ausschusssitzung des Auswärtigen Ausschusses oder des Verteidigungsaus-
113 Vgl. Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 162 f. 114 Isensee, Kölner Stadtanzeiger vom 22./23. September 2001, S. 2; Nolte, ZaöRV 54 (1994), S. 652 (679); Epping, AöR 124 (1999), S. 423 (455 f.); Hermsdörfer, DVP 2004, S. 183 (186). 115 Vgl. BT-Drs. 15/2742, S. 6. 116 Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 173.
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schusses nicht statt, so sollten ebenfalls die Obleute dieser Ausschüsse unterrichtet werden.117 Im Zusammenhang mit geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen ist das Informationsverhalten der Bundesregierung kritisiert worden. Über verdeckte Operationen, vor allem der KSK-Soldaten, werde schriftlich nie und mündlich nur selten und unregelmäßig berichtet.118 Die beiden zuständigen Minister (Äußeres und Verteidigung) reagierten auf diese Kritik und unterbreiteten dem Bundestag einen Vorschlag, „wie die zukünftige Praxis zur Unterrichtung des Deutschen Bundestags und seiner Gremien zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr ausgestaltet werden soll“. Wörtlich heißt es in einem Brief der beiden Minister: „Die Bundesregierung informiert die Vorsitzenden, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Obleute des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses auf vertraulicher Basis vor der Entsendung von Spezialkräften und nach Abschluß von wichtigen Einzeloperationen während des Einsatzes, sobald und soweit dies ohne Gefährdung des Einsatzes, der Soldaten oder ihrer Angehörigen möglich ist. Die Obleute sind ermächtigt, diese Informationen vertraulich an die Fraktionsvorsitzenden weiterzugeben. Unter den gleichen Voraussetzungen wird derselbe Teilnehmerkreis alle sechs Monate in vertraulicher Sitzung zusammenfassend über KSK-Einsätze informiert.“119
6.9 Das Rückholrecht des Parlaments Nach § 8 PBG kann der Bundestag die Zustimmung zu einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte widerrufen. Der Deutsche Bundestag nimmt damit in lapidarer Kürze das in der Literatur umstrittene Rückholrecht für sich in Anspruch.120 Beim konstitutiven Parlamentsvorbehalt handelt es sich um die Mitwirkung des Bundestages an der politischen Leitungsgewalt.121 So problematisch die Herleitung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts durch das Bundesverfassungsgericht auch sein mag, der Bundestag ist berechtigt, seine Zustimmung zu einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte aus wichtigem Grund zu widerrufen. Wenn der Bundestag nicht nur berechtigt ist, den Verteidigungsfall festzustellen 117 118 119 120
Vgl. BT-Drs. 15/2742, S. 6. Abg. Hans-Ulrich Klose (SPD), IP Mai 2007, S. 22 (26). Zitiert nach Abg. Hans-Ulrich Klose (SPD), IP Mai 2007, S. 22 (27). Vgl. den Überblick bei Wiefelspütz (Fn. 38), S. 64 ff.; ders., NZWehrr 2004, S. 133 (139 Fn. 33). 121 Ähnlich Wild, DÖV 2000, S. 622 (630); Wolfrum, in: Dreier/Badura (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Zweiter Band, 2001, S. 693 (698).
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(Art. 115 a Abs. 1 GG), sondern ihn auch jederzeit für beendet erklären kann (Art. 115 l Abs. 2 Satz 1 GG),122 wenn er befugt ist, sogar Gesetze wieder aufzuheben, muss er auch das Recht haben, die Zustimmung zu einem bewaffneten Einsatz zurückzunehmen. Das Rückholrecht nach § 8 PBG ist Teil des konstitutiven Parlamentsvorbehalts und prinzipiell denselben rechtlichen Bindungen ausgesetzt.123 Vor allem darf das Rückholrecht nicht willkürlich ausgeübt werden.124 Aus Gründen der Verfassungsorgantreue muss sich der Bundestag zur rechtmäßigen Ausübung des Rückholrechts auf sachlich erhebliche Gründe berufen können.125 Da aber letztlich eine politische Bewertung und Beurteilung der Wahrnehmung des Rückholrechts zugrunde liegt, kommt dem Bundestag ein weiter Bewertungsspielraum zu, ob ein wichtiger Grund vorliegt.126 Letztlich muss der Bundestag bei der Ausübung des Rückholrechts auch die Interessen der militärischen Bündnispartner würdigen, etwa bei dem Rückzug deutscher Soldaten aus einem laufenden multilateralen Einsatz.127
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Die Staatspraxis der Bundesregierung und die Parlamentspraxis des Deutschen Bundestages
Das Rechtsstaatsprinzip gebietet, dass die Bundesregierung dem Parlament einen hinreichend bestimmten Antrag auf Zustimmung zum bewaffneten Einsatz der Streitkräfte vorlegt128. Unbestimmte Vorratsbeschlüsse des Bundestages sind nämlich nicht zulässig.129 Der Antrag auf konstitutive Zustimmung des Parlaments muss den Anlass und die Struktur des Einsatzes erkennen lassen. Diesen Vorgaben entspricht die Staatspraxis in inzwischen 61 Fällen130 der konstitutiven Zustimmung des Bun122 Vgl. Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 38 (53); Vöneky/Wolfrum, ZaöRV 2002, S. 569 (600); Hummel, NZWehrr 2001, S. 221 (226). 123 Ähnlich Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 370; Pofalla, ZRP 2004, S. 221 (224). 124 So aber wohl Wild, DÖV 2000, S. 622 (630). 125 Klein (Fn. 37), S. 245 (257). 126 Vgl. Wiefelspütz (Fn. 38), S. 66 f. 127 Vgl. dazu Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 177. 128 Zum Bestimmtheitsgebot als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rdnr. 129 ff. m. w. N.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl., 2006, Art. 20 Rdnr. 60 ff.; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Hg., Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl., 2005, Art. 20 Rdnr. 289 ff.; BVerfGE 49, S. 168 (181); 59, S. 104 (114); 87, S. 234 (263); 89, S. 69 (84). 129 Vgl. Wiefelspütz (Fn. 38), S. 46; a. A. Lutze, DÖV 2003, S. 972 (975). 130 Stand: 1. Juli 2007.
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destages zu bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr.131 Die Bundesregierung führt in ihrem Antrag auf Zustimmung regelmäßig detailliert alle bedeutsamen Elemente des Einsatzes auf.132 In der Parlamentspraxis fällt auf, dass die Bundesregierung zur weiteren Präzisierung ihrer Absichten vor Erteilung der Zustimmung durch das Parlament Protokollerklärungen abgab.133 Die Anträge der Bundesregierung und die Zustimmungsentscheidungen des Deutschen Bundestages belegen, dass der Einsatz deutscher Stabssoldaten bislang ausnahmslos nur dann dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt wurde, wenn zusätzlich die Soldaten im Einsatzgebiet bewaffneter Unternehmungen Verwendung fanden.
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Die Kritik am nationalen Zustimmungsverfahren
8.1 Die Kritik Das nationale Zustimmungsverfahren wird inzwischen vor allem vor dem Hintergrund der rasch einsetzbaren Eingreiftruppe NATO RESPONSE FORCE (NRF134) kritisiert.135 Das nationale Zustimmungsverfahren könne erst eingeleitet werden, nachdem der NATO-Rat (NAC) seine Entscheidung getroffen habe. Eine Befassung des Bundestages mit noch Änderungen unterliegenden Vorlagen 131 Zur Staatspraxis vgl. Limpert (Fn. 35), S. 62 ff.; Wiefelspütz (Fn. 38), S. 49 ff.; ders. (Fn. 2), S. 288 ff.) 132 Zuletzt: Fortsetzung KFOR; Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo; Kabinettentscheidung vom 13. Juni 2007; BT-Drs. 16/5600; Zustimmung des Bundestages am 21. Juni 2007; Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Sten. Prot. S. 10772 D (Ergebnis der namentlichen Abstimmung). Personalobergrenze: 8500 Soldaten. Verlängerung des Einsatzes für weitere zwölf Monate; die Kräfte können eingesetzt werden, solange ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und ein entsprechender Beschluss des NATO-Rates sowie die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages vorliegen. 133 Vgl. dazu Wiefelspütz (Fn. 38), S. 52 f. 134 Zur NRF vgl. Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18; ders., Stiftung Wissenschaft und Politik, Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, Manuskript "NATO Response Force - Implikationen für die Parlamentsbeteiligung - Folgerungen für eine vertiefte militärische Integration in Europa" (nicht veröffentlicht), S. 1 ff.; Sinjen/Varwick, in: Krause/Irlenkaeuser (Hg.), Bundeswehr - Die nächsten 50 Jahre, 2006, S. 95 (101 ff.). Zur NRF und zum konstitutiven Parlamentsvorbehalt Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 189 ff. 135 Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 ff.; ders., Manuskript „NATO Response Force – Implikationen für die Parlamentsbeteiligung“, S. 5 ff.; vgl. auch die Übersicht bei Biermann, ZParl 2004, S. 607 (618 ff., 620 ff.); Schmidt-Radefeldt, UBWV 2005, S. 201 (205); Burkiczak, Verwaltungsrundschau 2005, S. 289 (291).
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an den NAC sei ausgeschlossen. Im günstigsten Fall könnte das Zustimmungsverfahren in wenigen Tagen abgeschlossen werden. Während der Parlamentsferien bzw. bei Dissens sei eine deutliche Überschreitung dieses Zeitansatzes sehr wahrscheinlich. Das Bedürfnis nach eilbedürftigen Entscheidungen werde zunehmen. Die angestrebte rasche Einsetzbarkeit der NRF und damit der Hauptzweck der NRF stehe wegen des (zu langsamen) deutschen Entscheidungsprozesses infrage. Außerdem stelle das parlamentarische Zustimmungsverfahren auch nach Mitwirkung der deutschen Exekutive am einstimmigen Einsatzbeschluss des NAC die Verfügbarkeit deutscher Kräfte nicht sicher.136 Selbst wenn Deutschland dem Einsatz der NRF im NAC seine Zustimmung erteile, könne es zu einer De-facto-Blockade der Einsatztruppe kommen.137 Diese Bewertung sei nicht allein symptomatisch für die NRF als schnelle Eingreiftruppe. Analoge Fragen und Folgerungen ergäben sich aus der Bereitstellung von Kräften für die Europäische Eingreiftruppe und aus der fortschreitenden Integration von Streitkräften im bi- bzw. multinationalen Rahmen innerhalb der EU. Die De-Nationalisierung und Vergemeinschaftung traditioneller Militäraufgaben stoße schon in ihrem heutigen frühen Stadium zunehmend an ihre Grenzen und drohe, am fehlenden Vertrauen in die Verlässlichkeit der Partner in einer Krise blockiert zu werden.138 Die Berechtigung der Bundesregierung, bei Gefahr im Verzug vorläufig den Einsatz von Streitkräften zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen in den Bündnissen oder internationalen Organisationen ohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlament mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen, sei kein hinreichender Ersatz. Es werde daher empfohlen, der Bundesregierung die Möglichkeit einzuräumen, verbindlich einstimmig im NAC getroffenen Einsatzentscheidungen zuzustimmen, die sich im Rahmen des durch die NATODokumente beschriebenen Auftrags der NRF bewegen.139 Zur Wahrung der Rechte des Parlaments sei eine Pflicht zu seiner unmittelbaren Unterrichtung durch die Bundesregierung in Verbindung mit einem Rückholrecht zu verankern.140 Eine (weitere) Option sei die Befassung eines Ausschusses mit der Entsendung.141 Der Abgeordnete Eckart von Klaeden (CDU/CSU) kritisierte im Deutschen Bundestag die Langsamkeit des nationalen Zustimmungsverfahrens: 136 137 138 139
Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 (19). Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 (19). Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 (19). Eitelhuber, Manuskript "NATO Response Force - Implikationen für die Parlamentsbeteiligung", S. 12; ders., Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 (20). 140 Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 (20). 141 Eitelhuber, Europäische Sicherheit 4/2004, S. 18 (19).
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„Ein Bündnis wie die NATO wird nur so stark und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wird nur so erfolgreich sein wie ihr schwächstes Mitglied. Wer durch seine eigenen innerstaatlichen Entscheidungsvoraussetzungen die Entscheidung im Bündnis erschwert, der schwächt das Bündnis und zwingt andere geradezu zu Alleingängen.“142
Der Abgeordnete schlug vor, „... am Anfang einer Legislaturperiode einen generellen Parlamentsbeschluß zu fassen und dann das Parlament über eine Verstärkung der Kontrollrechte, wozu ein allgemeines Rückholrecht gehören kann, mit einer effektiven Kontrollbefugnis auszustatten.“143
Der Abgeordnete Karl-Theodor zu Guttenberg (CDU/CSU) meinte, das Parlament solle sich darauf beschränken, den äußeren Rahmen eines Einsatzes zu setzen, innerhalb dessen die Regierung das Recht zu eigenständigem Handeln habe. „Eine Regierung, die auch bei Einzelheiten des Einsatzes wie die Bereitstellung von Aufklärungsfähigkeiten, Operationskonzepten oder sogar Einsatzregeln die Zustimmung des Parlaments einholen müßte, wäre bündnispolitisch nicht handlungsfähig. Sie würde schnell an internationalem Respekt und Mitsprache einbüßen.“144
Der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose (SPD) schreibt, das Parlament müsse der Neigung widerstehen, im Rahmen der Parlamentsbeteiligung Teil des Regierungshandelns zu werden, anstatt zu kontrollieren. Der Abgeordnete befürwortet für Einsätze der NATO Response Force und der EU Battle Groups aus Gründen der bündnispolitischen Verlässlichkeit besondere Regeln für die parlamentarische Beschlussfassung; nicht in Form von Vorratsbeschlüssen zu Beginn einer Wahlperiode, aber doch in einem abgestuften Verfahren, das der Regierung die Möglichkeit eigenverantwortlichen Handelns belasse. Jedenfalls müsse sichergestellt werden, dass bei einem negativen Votum des Parlaments die deutschen Soldaten in den integrierten Stäben verblieben. Ferner schlägt der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose (SPD) vor, die Regierung müsse nationale Vorbehalte (Caveats) bei der Mandatsausübung nur selbst festlegen und verantworten dürfen. Sie dürfe sich insoweit nicht durch das Parlament binden lassen.145 142 Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8980 C. 143 Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8981 D. 144 Abg. Karl-Theodor zu Guttenberg (CDU/CSU), FAZ vom 2. Februar 2007, S. 10. 145 Abg. Hans-Ulrich Klose (SPD ), IP Mai 2007, S. 22 (26).
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Berthold Meyer erwägt für die Beteiligung der Bundeswehr an Einsätzen der Schnellen Eingreiftruppe der EU vor, durch Gesetz eine „perspektivische Übergangsregelung“ vorzusehen, die dann in Kraft tritt, wenn das Europäische Parlament eine hinreichende sicherheitspolitische Entscheidungskompetenz erlange.146 Roman Schmidt-Radefeldt hebt hervor, die Mitentscheidungsbefugnis des Parlaments erschöpfe sich darin, den Streitkräfteeinsatz zu ermöglichen bzw. zu verhindern. Die Abgeordneten entschieden dabei zuweilen über Militäroperationen, auf deren Planung sie nur wenig Einfluss hätten und deren Risiken sie oft nicht einschätzen könnten. Insoweit sei die Gefahr nicht auszuschließen, dass sich der am konkreten Fall ausgerichtete konstitutive Parlamentsvorbehalt auf eine bloße Akklamationsfunktion reduziere oder gar für andere Sachzusammenhänge „instrumentalisiert“ werde.147 Kritik mit einem anderen Akzent kommt von Timo Noetzel und Benjamin Schreer.148 Beide Autoren kritisieren „die Intransparenz der Einsätze des Kommandos Spezialstreitkräfte und die unzureichenden politischen Kontrollmöglichkeiten“.149 Allerdings äußere sich das Parlamentsbeteiligungsgesetz nicht zur Verwendung von Spezialstreitkräften. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz sollte daher um eine explizite Regelung zum Einsatz von Spezialstreitkräften ergänzt werden. Nur so könne verhindert werden, dass die Praxis der Geheimhaltung, die die Einsätze der Spezialstreitkräfte kennzeichne, fast zwangsläufig mit dem Anspruch des Parlaments auf eine umfassende Unterrichtung kollidiere. Bislang obliege die Entsendung des Kommandos Spezialstreitkräfte allein dem Ermessen der Bundeswehrführung. Die Obleute der Bundestagsfraktionen im Verteidigungsausschuss würden darüber jeweils unterrichtet – allerdings auf freiwilliger Basis.150 Timo Noetzel und Benjamin Schreer schlagen zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle ein neues Gremium vor, das aus den Vorsitzenden und Obleuten der Ausschüsse für Auswärtiges, Verteidigung und Haushalt bestünde und den Einsatz der Spezialstreitkräfte begleiten könnten.151 In einem weiteren Beitrag wiederholen und vertiefen Timo Noetzel und Benjamin Schreer ihren Vorschlag. Das formelle Recht der deutschen Legislative, über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland zu entscheiden, werde in der Verfassungswirklichkeit mehr und mehr durch die Praxis des Aushandelns zwischen Exekutive und internationalen Organisationen zurückge146 147 148 149 150 151
Meyer (Fn. 51), S. 37 f. Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 155. Noetzel/Schreer, SWP-Aktuell 50, November 2006; dies., SWP-Aktuell 10, Februar 2007. Noetzel/Schreer, SWP-Aktuell 50, November 2006, S. 1. Noetzel/Schreer, SWP-Aktuell 50, November 2006, S. 3. Noetzel/Schreer, SWP-Aktuell 50, November 2006, S. 4.
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drängt. Es gehe um die Frage, wie das Parlament seine Kontrollfunktion angesichts einer zunehmend integrierten deutschen Sicherheitsarchitektur im geforderten Umfang nachkommen könne. Seit 2001 seien mit Zustimmung des Parlaments eine kontinuierlich steigende Zahl von Soldaten, Polizisten und Mitarbeitern deutscher Nachrichtendienste im Ausland im Rahmen verdeckter und/oder geheimschutzbedürftiger Operationen eingesetzt worden. Diese Einsatzmuster erforderten eine Reform der deutschen Sicherheitsarchitektur mit dem Ziel, die unterschiedlichen staatlichen Akteure enger miteinander zu verzahnen. Es müsse auch verstärkt über eine Anpassung der Mechanismen parlamentarischer Kontrolle nachgedacht werden. Die Nichtanpassung der Kontrollstrukturen des Parlaments habe in den vergangenen Jahren einen Verlust an legislativen Kompetenzen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr mit sich gebracht. In der politischen Praxis sei nur schwer vorstellbar, dass eine Mehrheit des Bundestages die Zustimmung zu einem Einsatz verweigere bzw. im Nachhinein widerrufe. Das Parlament müsste wesentlich früher in die Entscheidungsfindung der Regierung eingebunden sein. Eine Option zur Stärkung der parlamentarischen Kontrollrechte wäre die Einrichtung eines „Entsendeausschusses“ in Form eines aus Mitgliedern der Ausschüsse für Auswärtiges, Haushalt, Inneres und Verteidigung zusammengesetzten Unterausschusses. Ausgestattet mit ausreichenden Haushalts- und Sanktionsmittel wäre dieser Entsendeausschuss mit der Kontrolle geheimschutzbedürftiger und/oder verdeckter Operationen sowie bewaffneter Einsätze von Streit- und Sicherheitskräften im Ausland befasst.152 Die FDP-Bundestagsfraktion vertritt die Auffassung, es sei sachgerecht einen „Ausschuss für besondere Auslandseinsätze“ einzurichten. Der Ausschuss für besondere Auslandseinsätze ist ermächtigt, die Zustimmung zu einem Antrag der Bundesregierung zu erteilen, falls die Bundesregierung ihren Antrag
als Verschluss-Sache des Geheimhaltungsgrades GEHEIM und höher eingestuft hat, wegen Gefahr im Verzuge als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, insbesondere zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen, solange durch die öffentliche Beschlussfassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet würde oder wegen der Teilnahme einzelner deutscher Soldaten an bewaffneten Einsätzen der Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der North Atlantic Treaty Organization, anderer Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24 Abs. 2 des Grundgesetzes oder der Europäischen Union stellt.153
152 Noetzel/Schreer, SWP-Aktuell 10, Februar 2007. 153 Vgl. BT-Drs. 15/1985, § 6; BT-Drs. 16/3342, § 6.
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Karl Ulrich Voss meint, es sei eine notorische Klage der Abgeordneten, sie hätten angesichts der engen Befristung und weitgehenden Geheimhaltung relevanter Fakten keine eigentlich verantwortliche Entscheidung i. S. des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG treffen können. Damit sei die Kontrollfunktion dieses Verfahrens als eher gering einzuschätzen; sein Wert liege am ehesten in der teilweisen Öffentlichkeit der parlamentarischen Befassung.154
8.2 Bewertung Die am nationalen Zustimmungsverfahren geübte Kritik überzeugt – jedenfalls vor dem Hintergrund der bisherigen Entsendeentscheidungen – nicht.155 Eine Gefahr, dass die Wahrnehmung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts auf eine bloße Akklamation reduziert werde,156 ist nicht erkennbar.157 In einer mehr als zehnjährigen Parlamentspraxis wurden die wichtigeren Auslandseinsätze im Parlament intensiv beraten. Die Debatten in den Fachausschüssen und im Plenum, aber auch die interpretierenden Protokollerklärungen zeugen davon.158 Neben der formalisierten parlamentarischen Beratung darf die informelle Kommunikation zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung nicht unterschätzt werden. Ganz generell ist die Kritik159 am vermeintlich langwierigen parlamentarischen Beratungsvorgang unberechtigt. Die Kritik ist von dem stereotypen Einwand geprägt, das Parlament benötige zu viel Zeit für den Abschluss seiner Entscheidungsprozesse.160 Es ist freilich ein leicht widerlegbares Vorurteil, dass Beratungsprozesse des Deutschen Bundestages mehr Zeit in Anspruch nähmen als Entscheidungen der Bundesregierung. Eine Auswertung der tatsächlichen Abläufe des bundesdeutschen parlamentarischen Zustimmungsverfahrens belegt,
154 Voss, ZRP 2007, S. 78 (81). 155 Dreist, KritV 87 (2004), S. 79 (98); vgl. auch die differenzierte Bewertung von Biermann, ZParl 2004, S. 607 (622 ff.). 156 So aber Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 155. 157 Klein, AöR 130 (2005), 632 (634). 158 Vgl. Paulus (Fn. 27), Parlament und Streitkräfteeinsatz, S. 262; ders., in: Weingärtner (Hg.), Einsatz der Bundeswehr im Ausland, 2006, S. 81 (87 f.). 159 Vgl. die Kritik von Schmidt-Radefeldt, in: The 'Double Democratic Deficit'. Parliamentary Accountability and the Use of Force Under International Auspices, Edited by Hans Born und Heiner Hänggi, 2004, S. 147 (150); ders. (Fn. 32), S. 160. 160 Dies insinuiert auch Schmidt-Radefeldt (Fn. 155), S. 147 (154).
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dass die meisten Verfahren von der Zuleitung bis zur Entscheidung des Parlaments sehr zügig erfolgten.161 Bei der Zustimmung zu den bislang 61 Einsätzen bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland handelt es sich sowohl um erstmalige Zustimmungsbeschlüsse als auch um Fortsetzungsbeschlüsse des Deutschen Bundestages. Eine Auswertung dieser Staatspraxis lässt erkennen, dass die Zustimmung des Plenums in aus der Sicht der Bundesregierung eilbedürftigen Fällen zeitnah eingeholt werden konnte.162 Aus nahe liegenden Gründen nahm in allen Fällen der Zeitraum der Willensbildung der Bundesregierung erheblich mehr Zeit in Anspruch als die Beratungen im Parlament. In Aussicht genommene militärische Operationen verlangen sowohl aus militär-fachlichen wie vor allem aus außen- und verteidigungspolitischen Gründen einen angemessenen Zeitraum für die politische Beurteilung in der Bundesregierung selbst und für die Abstimmung im Bündnis. Bislang ist jedenfalls kein einziger Fall nachweisbar, in dem die außenpolitische Handlungs- und Bündnisfähigkeit Deutschlands wegen der zeitlichen Abläufe, die mit dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts verbunden sind, substantiell gemindert wurde. Es ist freilich einzuräumen, dass für zukünftige Einsatzentscheidungen der NRF anderes gelten könnte.163 Andererseits fehlen bislang Erfahrungen mit konkreten Kampfeinsätzen der NRF. Wenn die NRF innerhalb von 5 - 30 Tagen weltweit einsatzfähig sein soll, ist das jedenfalls ein Zeitraum, während dessen bislang regelmäßig auch der Deutsche Bundestag entscheidungsfähig war.164 Sollte die Einberufung des Bundestages ausnahmsweise nicht zeitgerecht erfolgen können, würden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für militärische Einsätze bei Gefahr im Verzug165 zunächst ausreichend, aber auch angemessen sein, um die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu gewährleisten.166
161 Vgl. Wiefelspütz (Fn. 2), S. 321 ff.; Auswertung des Sekretariats des Geschäftsordnungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 24. Februar 2004 - PD I A 1/1 -; die Auswertung berücksichtigte Zustimmungsentscheidungen bis Ende 2003. Siehe auch Wiefelspütz, ZaöRV 64 (2004), S. 363 (381); Dreist, KritV 87 (2004), S. 79 (98); Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 190 ff.; Gilch (Fn. 67), S. 112. 162 Biermann, ZParl 2004, S. 607 (623 ff.). 163 Burkiczak, Verwaltungsrundschau 2005, S. 289 (291), spricht sich für eine Vorabzustimmung des Bundestages bei Einsätzen der NRF aus. 164 Vgl. auch Schmidt-Radefeldt (Fn. 32), S. 190 f. 165 Vgl. BVerfGE 90, S. 286 (388). 166 Wiefelspütz, ZaöRV 64 (2004), S. 363 (381); kritisch Abg. Polenz (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 146. Sitzung, 3. Dezember 2004, Sten. Prot. S. 13651 B ff.; Paulus (Fn. 27), S. 307.
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Auch die Einwände von Timo Noetzel und Benjamin Schreer – ähnlich wie der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose (SPD)167 – überzeugen nicht. Timo Noetzel und Benjamin Schreer übersehen bereits, dass das Parlament bei Auslandseinsätzen bewaffneter deutscher Streitkräfte nicht lediglich die Bundesregierung kontrolliert, sondern konstitutiv an der Entsendeentscheidung mitwirkt. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt räumt dem Deutschen Bundestag (ausnahmsweise) beim Auslandseinsatz der Streitkräfte unmittelbar kraft Verfassungsrecht eine besondere Befugnis des Parlaments zur Mitgestaltung der auswärtigen Gewalt ein. Die Befugnis nimmt das Parlament mit großer Intensität war. Die sorgfältigen Beratungen und die engagierten Parlamentsdebatten zeugen davon. Völlig abwegig ist der Vorschlag, das Kommando Spezialkräfte in das PBG aufzunehmen. Das PBG regelt die Wahrnehmung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts beim Auslandseinsatz bewaffneter Streitkräfte. Der Parlamentsvorbehalt hat aber nichts mit Truppengattungen oder speziellen Kampfgruppen zu tun. Die Pflicht der Bundesregierung, das Parlament über den Verlauf der Auslandseinsätze zu unterrichten, erstreckt sich auch auf geheimhaltungsbedürftige Einsätze. Diese Pflicht steht keineswegs im Ermessen der Bundesregierung. Die vermeintlich notorische Klage der Abgeordneten, auf die Karl Ulrich Voss hinweist, ist nicht belegt.168 Eine generelle Vorabgenehmigung, wie sie der Abgeordnete Eckart von Klaeden (CDU/CSU) vorschlug169, würde den konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt zur parlamentarischen Bedeutungslosigkeit verurteilen.170 Martin Limpert meint, ohne Änderung des Grundgesetzes dürfte eine solche Regelung nicht zulässig sein.171 Der konstitutive Parlamentsvorbehalt hat Verfassungsrang. Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.172 Mit dieser normativen Vorgabe des Grundgesetzes ist eine Beschlussfassung des Parlaments zu Anfang der Wahlperiode zwecks pauschaler Genehmigung aller im Verlaufe der Wahlperiode „anfallenden“ bewaffneten Einsätze der Streitkräfte unvereinbar und deshalb verfassungswidrig. Wollte man eine solche Staatspraxis einführen, bedürfte es einer Änderung des Grundgesetzes.
167 MdB Hans-Ulrich Klose (SPD), IP Mai 2007, S. 22 (26). 168 Vgl. demgegenüber ausgewogen Abg. Hans-Ulrich Klose (SPD), IP Mai 2007, S. 22 ff. 169 Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8981 D. 170 Ähnlich Meyer (Fn. 51), S. 32; Paulus (Fn. 27), S. 306. 171 Limpert (Fn. 35), S. 92; so auch Menzenbach, Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 3 - 037/07, S. 10 f. m. w. N. 172 BVerfGE 90, S. 286 Ls. 3 a.
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Denkbar wäre freilich, zu Anfang der Wahlperiode durch Beschlussfassung des Bundestages bestimmte typisierte bewaffnete Einsätze der Streitkräfte vorab zu genehmigen. Im Streitkräfteurteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es: „Jenseits dieser Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts sind das Verfahren und die Intensität der Beteiligung des Bundestages in der Verfassung nicht im Einzelnen vorgegeben. Es ist Sache des Gesetzgebers, die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten. Je nach dem Anlass und den Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Arten der Einsätze, vor allem bei solchen, die keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer Bedeutung sind, empfiehlt es sich, den Zeitpunkt und die Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zu umgrenzen. Dabei kann es angezeigt sein, im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen die parlamentarische Beteiligung nach der Regelungsdichte abzustufen, in der die Art des möglichen Einsatzes der Streitkräfte bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet ist.“173
Die Beteiligung des Bundestages kann danach gemindert werden, wenn dies aufgrund der vertraglich vorgegebenen militärischen Integration sachdienlich erscheint. Dies verlangt freilich die ausdrückliche Zustimmung des Deutschen Bundestages, der insoweit auf sein Beteiligungsrecht (teilweise) verzichten muss. Denkbar – und verfassungsrechtlich – unproblematisch wäre die generelle Vorabzustimmung des Deutschen Bundestages zu Einsätzen der NATO Response Force für den Verlauf einer Wahlperiode. Eine ganz andere, nicht staatsrechtliche, sondern ausschließlich politische Frage ist es, ob eine solche "Selbstentmachtung" des Parlaments mehrheitlich gewollt ist. Es sei hier die Prognose gewagt, dass ein selbstbewusstes Parlament nicht gewillt sein wird, die Substanz des konstitutiven Parlamentsvorbehalts zu mindern. Das verfassungsrechtlich Zulässige dürfte kaum das politisch mehrheitlich Gewollte sein.174 Die kompensatorische Einräumung eines Rückholrechts bei Erteilung einer generellen Vorabgenehmigung ist bedeutungslos, weil es dem Parlament ein Recht gibt, das es bereits hat. Das Rückholrecht ist Teil des konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts. Der Vorschlag von Berthold Meyer, eine provisorische Übergangsregelung vorzusehen, ist bereits deshalb nicht überzeugend, weil nicht absehbar ist, ob, wann und wie das Europäische Parlament beim Einsatz von Streitkräften beteiligt sein wird.
173 BVerfGE 90, S. 286 (389). 174 Vgl. auch Menzenbach (Fn. 171), S. 9 ff. m. w. N.
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Vor dem Hintergrund der fortschreitenden und sich vertiefenden Integration militärischer Strukturen wird der Gesetzgeber in Zukunft immer wieder die Frage beantworten müssen, ob die militärische Einsatzrationalität stärker zu gewichten ist als das vorherige konstitutive Beteiligungsrecht des Parlaments.175
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Die Optionen des Gesetzgebers
9.1 Die Ausgangslage So umstritten die verfassungsrechtliche Herleitung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts sein mag, die Verfassungsorgane sind durch § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Das fällt der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag inzwischen nicht schwer, weil die „Erfindung“ des konstitutiven Parlamentsvorbehalts die jahrelange Selbstlähmung und Selbstblockade der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik auflöste.176 Der Gesetzgeber wird zu beachten haben, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem Streitkräfteurteil vom 12. Juli 1994 und dem AWACS-Beschluß vom 25. März 2003 – so umstritten die Entscheidungen sein mögen177 – durch die Herleitung des konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbe-
175 Vgl. auch Schmidt-Radefeldt, UBWV 2005, S. 201 (206); Paulus (Fn. 27), S. 307; Rau, AVR 44 (2006), S. 93 (112 f.). 176 Vgl. Wiefelspütz (Fn. 38), S. 7; Isensee, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 – G – 17, S. 1, spricht von „einem Parlamentarismus, der sich selbst blockierte“. 177 Die Herleitung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts durch das Bundesverfassungsgericht ist überwiegend auf Kritik gestoßen. Vgl. Arndt, NJW 1994, S. 2197 ff.; Bähr, MDR 1994, S. 882 ff.; Sachs, JuS 1995, S. 163 ff.; Blumenwitz, BayVBl. 1994, S. 641 ff., 678 ff.; Dau, NZWehrr 1994, S. 177 ff.; Heun, JZ 1994, S. 1073 ff.; Stein/Kröninger, Jura 1995, S. 254 ff.; Riedel, DÖV 1995, S. 135 ff.; Nolte, ZaöRV 1994, S. 652 ff.; Roellecke, Der Staat 1995, S. 415 ff.; Schroeder, JuS 1995, S. 398 ff.; Schulze, JR 1995, S. 98 ff.; Epping, AöR 1999, S. 423 (426 ff.); Starck, in: Badura/Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Erster Band, 2001, S. 1 (21); Scholz, in: Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1201 (1209 f.); ders., in: Dreier/Badura (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Zweiter Band, 2001, S. 663 (674); Schwarz, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Außenund Sicherheitspolitik, 1995, S. 341; Epping, AöR 1999, S. 423 (445 ff.); Limpert (Fn. 35), S. 45 ff. m. w. N.; Burkiczak, ZRP 2003, S. 82 (84); Lorz (Fn. 123), S. 370; Röben, ZaöRV 2003, S. 585 (593).
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halts materielles Verfassungsrecht178 geschaffen hat und der Bundestag als Gesetzgeber nicht zur authentischen Verfassungsinterpretation befugt ist.179 Gleichwohl ist der Inhalt des konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts nicht festgeschrieben.
9.2 Der Entsendeausschuss Es stellt sich zunächst die Frage, ob aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und Verfahrensvereinfachung die dem Parlament zustehenden Befugnisse auf einen Entsendeausschuss übertragen werden dürfen. Das Grundgesetz weist dem Bundestag ein konstitutives Mitwirkungsrecht bei konkreten Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu. In der Streitkräfteentscheidung heißt es dazu: „Der Bundestag hat über Einsätze bewaffneter Streitkräfte nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 2 GG zu beschließen. Der Bedeutung des zu fassenden Beschlusses wird es, so es die Lage irgend erlaubt, entsprechen, daß er in den zuständigen Ausschüssen vorbereitet und im Plenum des Bundestages erörtert wird (vgl. BVerfGE 89, 38 (47)).“180
Unstreitig ist mit dem Bundestag das Plenum des Parlaments gemeint. Es ist grundsätzlich Sache des Plenums – vorbereitet durch die Ausschüsse181 – das Recht auf konstitutive Beteiligung wahrzunehmen. Die Aufgabe der Ausschüsse des Bundestages besteht vor allem darin, als vorbereitende Beschlussorgane Beschlussempfehlungen für das Plenum des Bundestages zu erarbeiten (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GO-BT). Diese Hauptfunktion der Ausschüsse beschreibt ihren Aufgabenbereich indes nicht erschöpfend.
178 Vgl. BVerfGE 90, S. 286 (390); Scholz, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 17, S. 2 f.; Spies (Fn. 40), S. 531 (542). 179 Vgl. Burkiczak, ZRP 2003, S. 82 (85 m. w. N.); Wild, DÖV 2000, S. 622 (631); Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschußgesetz, 2003, S. 231; ders. (Fn. 38), S. 14; Schröder, 57. DJT, S. E 5 (121 f.); Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 44 (Erstbearbeiter) Rdnr. 28. 180 BVerfGE 90, S. 286 (388). 181 Dach, in: Schneider/Zeh, (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 40 Rdnr. 32 ff.; Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 40 Rdnr. 135; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 45 Rdnr. 7; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 102 f.; Zeh, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Demokratie - Bundesorgane, 3. Aufl., 2006, § 43 Rdnr. 59.
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In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist umstritten, ob und in welchem Umfang Befugnisse des Plenums auf Ausschüsse delegiert werden dürfen.182 In der älteren Staatsrechtslehre wurde überwiegend die Auffassung vertreten, eine Delegation der Befugnisse des Plenums auf Ausschüsse sei unzulässig.183 Es wird auch die Meinung vertreten, der Bundestag dürfe seine Kompetenzen nur aufgrund einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung (z. B. Art. 45 Satz 2 GG) auf Ausschüsse übertragen.184 Für alle staatsleitenden Befugnisse des Parlaments bestehe ein Delegationsverbot, von dem das Parlament nur aufgrund ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Ermächtigung abweichen dürfe.185 Das betreffe den Bereich der Gesetzgebung einschließlich der Befugnisse des Parlaments im Rahmen der Haushaltsverabschiedung, den Bereich der auswärtigen Gewalt sowie der Notstands- und Planungsgewalt.186 Vor dem Hintergrund einer inzwischen jahrzehntelangen, auch vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandeten Staatspraxis187 wird inzwischen überwiegend die Auffassung vertreten, das Grundgesetz erlaube oder verbiete nicht grundsätzlich die Delegation von Plenarzuständigkeiten auf Ausschüsse des Bundestages.188 Es sei durch Auslegung der kompetenzrechtlichen Norm zu ermitteln, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Delegation zulässig sei.189 182 Rechtsvergleichend von Lucius, AöR 1972, S. 568 ff. 183 Bluntschli, Allg. Staatsrecht, Bd. I, 4. Aufl., 1868, S. 484 ff.; Triepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, 1942, S. 23, 115 ff.; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 316 f.; Dechamps, Macht und Arbeit der Ausschüsse, 1954, S. 104; Goltz, DÖV 1965, S. 605 (615); Bernhardt, in: 1. öff. Informationssitzung des Rechtsausschusses und des Innenausschusses am 9. November 1967, Rechtsausschuß-Prot. Nr. 55, S. 20; Schäfer, in: Schäfer (Hg.), Finanzwissenschaft und Finanzpolitik, 1964, S. 251 (261); Kunz, Die Delegation von Ausgabeermächtigungen durch das Bundestagsplenum auf den Haushaltsausschuß, Diss., Universität Frankfurt, 1976, S. 175 ff. 184 Majer, in: Umbach/Clemens, (Hg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 6 Rdnr. 39 ff. m. w. N. (S. 263 f.); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl., 2006, Art. 40 Rdnr. 4; Brenner, ThürVBl. 1993, S. 196 (199). 185 Vgl. Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, 1979, S. 170. 186 Pietzner, Petitionsausschuß und Plenum, 1974, S. 88. 187 Vgl. BVerfGE 40, S. 356 (362 ff.); 70, S. 324 (364). 188 F. Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 6 Rdnr. 3 f.; Pietzcker/Pallasch, JuS 1995, S. 511 (513). 189 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 681; Berg, Der Staat 1970, S. 21 (33 f., 37 ff.); Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, 1970, S. 45; Pietzner (Fn. 180), S. 76 ff.; Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 136; Kasten, Ausschussorganisation und Ausschußrückruf, 1983, S. 21; ders., DÖV 1985, S. 222 (224 ff.); Kretschmer, in: Schneider/Zeh, (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 9 Rdnr. 102 ff. (S. 321 f.); ders., ZParl 1986, S. 334 (343 f.); Butzer (Fn. 103), S. 384; Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, 1998, S. 169 ff.; Wiefelspütz, NVwZ 2003, S. 38 (41).
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Wenn sich aus der Verfassung kein unmittelbares Delegationsverbot ergebe, sei das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung von zulässiger und unzulässiger parlamentsinterner Aufgabenübertragung die sachliche Notwendigkeit bzw. die Funktionsgerechtigkeit.190 Das Parlament kann seinerseits Entscheidungen in mehreren Formen treffen: als förmliche Gesetze, als schlichten Parlamentsbeschluss191 und – seit der Streitkräfteentscheidung – als konstitutiven Parlamentsbeschluss192. Die funktionsgerechte Wahrnehmung des Parlamentsvorbehalts eröffnet aber nicht nur verschiedene Entscheidungsformen, sondern verlangt auch eine differenzierte Ausgestaltung der konstitutiven parlamentarischen Beteiligung im Rahmen der kompetenzrechtlichen Zuordnung. Die Organisationsgewalt des Bundestages für den parlamentarischen Bereich umfasst auch die Befugnis, Entscheidungsbefugnisse auf Teile des Bundestages zu übertragen, sei es bei der Rechtsetzung, sei es bei Wahlen193 oder bei der Wahrnehmung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts. Dies entspricht – abgesehen vom noch relativ jungen konstitutiven Parlamentsvorbehalt – jahrzehntelanger, vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandeter Staatspraxis und den Bedürfnissen innerparlamentarischer Arbeitsteilung durch Delegation von Befugnissen des Plenums. Wird dabei beachtet, dass die wesentlichen Entscheidungen, die sich durch ihr Gewicht, ihre Bedeutung und Reichweite auszeichnen, dem Plenum vorbehalten bleiben, so steht der Delegation von Entscheidungen nachrangiger Bedeutung auf einen Entsendeausschuss nichts entgegen. Insbesondere die Verlängerung eines Mandats oder andere wesentliche Änderungen eines bereits vom Bundestag erteilten Mandats dürfen zur konstitutiven Beschlussfassung auf den Ausschuss übertragen werden. In solchen Angelegenheiten ist die verbindliche Entscheidung durch den „Entsendeausschuss“ angemessen, aber auch ausreichend, weil das Plenum mit dieser Angelegenheit im Kern bereits konstitutiv befasst wurde. Auch die Beschlussfassung über geheimhaltungsbedürftige Einsätze könnte aus Gründen der Funktionsgerechtigkeit dem „Entsendeausschuss“ übertragen werden.194
190 Kewenig (Fn. 189), S. 55. 191 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Das Handeln des Staates, 2. Aufl., 1996, § 62 Rdnr. 39. 192 Vgl. Detterbeck, Jura 2002, S. 235 (237); Ossenbühl (Fn. 191), § 62 Rdnr. 39, weist zu Recht auf modernen Bedürfnissen entsprechende Regelungsmechanismen wie der Zustimmungsverordnung hin. 193 Kretschmer, ZParl 1986, S. 334 (343). 194 Wiefelspütz (Fn. 38), S. 85.
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9.3 Vorabentscheidungen und „Vorratsbeschlüsse“ des Parlaments Mit dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt ist vereinbar, „im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen die parlamentarische Beteiligung nach der Regelungsdichte abzustufen, in der die Art des möglichen Einsatzes der Streitkräfte bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet ist.“195
Es wäre deshalb – unbeschadet der politischen Bewertung – verfassungsrechtlich unbedenklich, besonderen Formen der militärischen Integration wie der NRF dadurch Rechnung zu tragen, dass durch eine gesetzliche Regelung in einem Parlamentsbeteiligungsgesetz die Mitwirkung der Bundesregierung an einer einstimmigen Entscheidung des NAC über den Einsatz der NRF mit Beteiligung deutscher Soldaten ausreicht und eine weitere Beteiligung des Parlaments nicht erforderlich ist.196 Möglich und ausreichend wäre auch - statt einer gesetzlichen Regelung - zu Beginn einer Wahlperiode einen Beschluss des Bundestages herbeizuführen, in dem entsprechenden Entscheidungen des NAC unter Mitwirkung der Bundesregierung vorab und generell zugestimmt wird197 und das Parlament auf Informationsrechte und ein Rückholrecht verwiesen wird198. 195 BVerfGE 90, S. 286 (389). 196 Einen ähnlichen Vorschlag macht Spies (Fn. 40), S. 531 (543 f.), für den Fall der Beteiligung Deutschlands an Einsätzen im Standby Arrangements Systems der Vereinten Nationen (UNSAS). 197 Dies entspricht offenbar der Konzeption der CDU/CSU. Vgl. den entsprechenden Vorschlag des Abg. Volker Rühe (CDU/CSU) in: Süddeutsche Zeitung vom 19. Dezember 2003; Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8981 B f.; Abg. Ronald Pofalla (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 100. Sitzung, 25. März 2004, Sten. Prot. S. 8989 B. Vgl. auch Spies (Fn. 40), S. 531 (556). 198 Das Rückholrecht im Rahmen des konstitutiven Parlamentsvorbehalts wird bejaht von: Wiefelspütz (Fn. 38), S. 66 ff; Nolte, ZaöRV 1994, S. 653 (681 ff.); Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 38 (53); Schultz (Fn. 37), S. 442 f.; Hummel, NZWehrr 2001, S. 221 (226 ff.); Wild, DÖV 2000, S. 622 (630); Burkiczak, ZRP 2003, S. 82 (86); Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 113 (124 ff.); Hans H. Klein, lt. Der Spiegel vom 12. November 2001; Lorz (Fn. 123), S. 370; ders., FAZ vom 24. November 2001. Schmidt-Radefeld, Jura 2003, S. 201 (204), wertet das parlamentarische Verlangen nach Rückruf der Streitkräfte als nachträgliche Verweigerung der Zustimmung für die Fortsetzung des Einsatzes. Das Rückholrecht wird verneint von: Dreist, NZWehrr 2002, S. 133 (148 f.); ders., NZWehrr 2001, S. 1 (11); ähnlich Dolzer, FAZ vom 23. November 2001; Eising/Kramer, Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WF II - 074/02, S. 6; Abg. Friedrich Merz (CDU/CSU), Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 202. Sitzung, 16. November 2001, Sten. Prot. S. 19859 D; Oeter, NZWehrr 2000, S. 89 (98); Scholz, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
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9.4 Generelle Vorabentscheidung Gelegentlich wird vorgeschlagen, durch Gesetz vorab jedem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zuzustimmen und das Parlament auf das Rückholrecht zu verweisen199. Dieser Vorschlag ist nicht verfassungsgemäß, weil durch einfaches Gesetz ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht des Parlaments nicht aufhoben werden kann.
10 Resümee und Ausblick Das PBG realisiert nicht nur parlamentarische Kontrolle – vor allem in Gestalt eines umfassenden Informationsrechts – sondern gewährleistet die maßgebliche Beteiligung des Deutschen Bundestages an zentralen Akten der Außen- und Sicherheitspolitik. Zur Kontrolle kommt staatsleitende (Mit)Gestaltung durch das Parlament hinzu. Durch das PBG materialisiert der Gesetzgeber den konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt. Es schafft dadurch Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für alle an der konstitutiven Entscheidung des Deutschen Bundestages Beteiligten. Rechtliche Grauzonen werden, wenn schon nicht völlig beseitigt, so doch aufgehellt. Streitfragen werden – wie das umstrittene Rückholrecht – geklärt. Das ist nicht das Geringste, was das schmale Gesetz leisten kann. Das PBG wird – so darf vermutet werden – nicht das letzte Wort des Deutschen Bundestages zur gesetzlichen Ausgestaltung seiner Beteiligungsrechte sein. Die fortschreitende Integration deutscher Streitkräfte und die in diesem Zusammenhang zu erwartende Praxis in der NATO, der WEU und der EU werden in nicht sehr ferner Zukunft erneut die Frage aufwerfen, ob die gesetzliche Ordnung des konstitutiven wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts der Wehr- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, aber auch den Rechten des Parlaments angemessen Rechnung trägt.
Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 17, S. 4, 40; Isensee, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Ausschussdrucksache 15 - G - 17, S. 29; Spies (Fn. 40), S. 531 (550 ff.). Für ein Rückholrecht bei einer wesentlichen Veränderung der Umstände Limpert (Fn. 35), S. 58 f.; Kokott (Fn. 30), Art. 87 a Rdnr. 40; Röben, ZaöRV 2003, S. 585 (592); Lutze, DÖV 2003, S. 972 (979). Günther (Fn. 32), S. 329 (341) hält eine neue Zustimmung des Bundestages für erforderlich, wenn der Einsatz nachträglich wesentlich von dem zunächst gebilligten Einsatzplan abweicht. 199 Vgl. Röben, ZaöRV 2003, S. 585 (592).
II Europäische Erfahrungen
Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
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Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien Stefan Köppl
Die Diskussion um eine Reform des italienischen Parlaments1 ist so alt wie die italienische Verfassung von 1948 selbst und kann nicht losgelöst von der allgemeinen Verfassungsreformdiskussion gesehen werden, die spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr von der politischen Agenda verschwunden ist. Dass die Verfassungsdiskussion immer auch automatisch eine Parlamentsreformdiskussion ist, ergibt sich schon aus der zentralen Stellung (centralità) des Parlaments in der italienischen Verfassungsordnung – nicht zuletzt aufgrund der historischen Erfahrungen mit einer allzu starken Exekutive. Seit 1983 gab es nicht weniger als vier groß angelegte Versuche, zusammen mit der Verfassung auch das italienische Parlament grundlegend zu reformieren, die aber alle letztlich scheiterten (Köppl 2003). Parallel zu diesen breit angelegten Reformprojekten sind jedoch auch zahlreiche Reformen und Reformdiskussionen in und um das Parlament zu finden, die unterhalb einer Verfassungsänderung angesiedelt waren, wie z.B. Änderungen der Geschäftsordnungen. Es ergibt sich damit eine weitläufige und komplexe Reformszenerie, die an diesem Ort und in dem vorgegebenen Raum unmöglich erschöpfend dargestellt werden kann. Folglich sind hier nur ausgewählte Schlaglichter präsentierbar, wenn die höhere Abstraktionsstufe mit der Frage nach den Lehren aus dem italienischen Fall nicht zu kurz kommen soll. Dieser Beitrag wird in vier Schritten vorgehen: Zunächst wird kurz eine Auswahl der zahlreichen Dysfunktionalitäten vorgestellt, die das italienische Parlament zu einer dringend reformbedürftigen Institution machen und Stoff für die Reformdiskussion liefern. In einem zweiten Schritt werden die versuchten vier „großen Würfe“ beleuchtet, d.h. Parlamentsreform durch Verfassungsreform. Im dritten Teil wird es um inkrementalistische Reformen in kleinen Schritten gehen, mit Fokus auf einen Reformschritt, der je nach Perspektive als Erfolg oder auch nur als Teilerfolg betrachtet werden kann. Zum Schluss wird – mit aller Vorsicht – der Schritt zur Generalisierung gewagt, um die Frage zu 1
Dieser Beitrag beschränkt sich auf Versuche, das italienische Parlament auf formalem Wege zu reformieren. Zum beträchtlichen informalen Wandel vgl. Capano (2003) und Köppl (2007c).
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beantworten, was uns die italienische Reformszenerie über die Grenzen und Möglichkeiten von Institutionenreformen generell sagen kann.
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Probleme des italienischen Parlaments
Die umstrittenen und reformbedürftigen Eigenheiten des italienischen Parlaments sind vielfältig (vgl. Köppl 2007a: 120-138); drei wesentliche Punkte seien hier exemplarisch herausgegriffen: Erstens bedeutet das sog. „perfekte Zweikammersystem“ (bicameralismo perfetto), dass beide Kammern in ihren Kompetenzen gleichgestellt sind; so müssen z.B. Gesetze in identischer Fassung von beiden Kammern verabschiedet werden und die Regierung bedarf des Vertrauens beider Kammern. Diese Struktur sucht weltweit ihresgleichen und stellt im Wesentlichen eine bloße Verdoppelung des Entscheidungsprozesses und der institutionellen Strukturen dar. Formal wird der Senat zwar gemäß Verfassung auf regionaler Basis gewählt; doch hat dies keine nennenswerten Auswirkungen auf seine Zusammensetzung und Funktionsweise. An dieser eigentümlichen Konstruktion kommt der Kompromisscharakter der Verfassung von 1948 deutlich zum Vorschein: Befürworter und Gegner einer ständischen zweiten Kammer neutralisierten sich hier gegenseitig, so dass es zwar die zweite Kammer gibt, das ständische Element aber weder bei ihrer Beschickung noch in ihren Kompetenzen auftaucht (Della Sala 1989: 51-56). Auch gibt es keine Schlichtungsinstanz zwischen den Kammern, wie etwa den deutschen Vermittlungsausschuss. Daher rührt die in erster Linie verzögernde Wirkung auf das Gesetzgebungsverfahren: Vor dem Hintergrund der schwierigen Mehrheitsbildung aufgrund der Parteienzersplitterung und schwacher Fraktionsdisziplin verdoppelt diese Konstellation die Probleme, auch ohne dass Bedingungen wie divided government vorliegen. Dass sich daran selbst nach den Umbrüchen der 1990er Jahre wenig bis nichts geändert hat, ist auch aktuell zu beobachten: Trotz der komfortablen Mehrheit in der Abgeordnetenkammer war die 2006-2008 amtierende Mitte-Links-Regierung Romano Prodis bei wichtigen Gesetzen darauf angewiesen, alle zur Verfügung stehenden Kompromiss- und Disziplinierungsinstrumente (z.B. die Vertrauensfrage mit dadurch bewirkter Unterdrückung sämtlicher Änderungsanträge) in Anschlag zu bringen, da sie im Senat nur über eine sehr dünne Mehrheit verfügte und schon wenige Abweichler der Regierung empfindliche Abstimmungsniederlagen beibringen konnten. Zweitens hatten die niedrigen Hürden zur Gesetzesinitiative (diese steht z.B. jedem einzelnen Parlamentarier zu) eine Verstopfung und Überlastung der
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parlamentarischen Verfahren zur Folge. Nur ein paar exemplarische Zahlen zur Illustration: In der VI. Legislaturperiode (1972-1976) mussten 5.852 Initiativen bearbeitet werden (im Schnitt 122 pro Monat), davon 4.597 aus dem Parlament, von denen wiederum 5,9% zu Gesetzen wurden. Dieses Bild hat sich nach den Umbrüchen sogar noch verschlimmert: In der XIII. Legislaturperiode (19962001) waren es 11.932 Initiativen (199 pro Monat), davon 10.479 aus den Reihen des Parlaments mit nur 2,3% Erfolgsrate (De Micheli/Verzichelli 2004: 221). Diese strukturelle Überlastung brach sich in einem Ventil Bahn, das bereits im ursprünglichen Verfassungstext von 1948 angelegt ist: die Möglichkeit, Gesetze auch in Ausschüssen statt im Plenum zu verabschieden. Beides zusammengenommen führte zu einer Flut von Gesetzen, die zu einem großen Teil in Ausschüssen verabschiedet werden, 1.122 (23 pro Monat) in der VI. Legislaturperiode und 905 (15 pro Monat) in der XIII. (De Micheli/Verzichelli 2004: 218). In diesen Kontext der Entscheidungsverfahren gehört auch die Praxis der geheimen Abstimmung, die lange als Standardverfahren festgelegt war und auch heute noch die parlamentarische Mehrheitsbildung erschwert sowie immer wieder zu empfindlichen Abstimmungsniederlagen der Regierung führt (dazu später mehr). Drittens steht das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung beständig im Fokus der Reformdiskussion. Der bicameralismo perfetto zwingt jedes Kabinett nicht nur durch zwei Vertrauensabstimmungen zu Beginn der Amtszeit, die meist unproblematisch sind; er bietet vor allem zwei Arenen, in denen kleine Gruppen oder gar einzelne Abgeordnete mit der Drohung des Loyalitätsentzugs operieren können, da bereits der Vertrauensverlust in einer Kammer den Regierungssturz nach sich zieht. Zwar ist die sprichwörtliche Instabilität der Regierungen im Nachkriegsitalien weniger auf dieses institutionelle Moment denn auf die Zerklüftung der parteipolitischen Landschaft zurückzuführen, doch hatten es die Verfassungsmütter und -väter versäumt, stabilisierende Vorkehrungen wie besondere Hürden oder ein konstruktives Misstrauensvotum einzubauen. So konnte die Volatilität von Parteien und Parlamentariern quasi ungefiltert auf die Regierung durchschlagen. Es verwundert nicht, dass sich deshalb viele von einer institutionellen Reform des Verhältnisses von Parlament und Regierung Stabilisierung und Effizienzgewinne erwarten.
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Parlamentsreform im Rahmen einer großen Verfassungsreform
Nach diesem kurzen Problemaufriss werden nun die vier Versuche betrachtet, im Zuge einer groß angelegten Reform der Verfassungsordnung auch das Parlament zu reformieren und die angesprochenen Dysfunktionalitäten zu beheben.
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2.1 Die drei lagerübergreifenden Anläufe 1983-1998 Nachdem die Reformdebatte – nicht zuletzt vor dem Hintergrund erheblicher Unzufriedenheit der Bevölkerung – schon Ende der 1970er Jahre an Dynamik gewonnen hatte, begann die Reihe der Verfassungsreformversuche 1983 mit einer aus beiden Parlamentskammern beschickten (deshalb als Bicamerale bezeichneten) Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen. Dieser Kommission sollten 1992 und 1997 noch zwei weitere folgen, mit dem selben Ergebnis: einem Scheitern auf ganzer Linie. Obwohl die Reformdiskussion auch zwischen diesen groß angelegten Versuchen nicht zum Erliegen kam, werden die folgenden Ausführungen lediglich diese drei lagerübergreifenden „großen Würfe“ kurz rekapitulieren.2 2.1.1 Die erste Bicamerale Die erste Bicamerale (nach ihrem Vorsitzenden auch Bozzi-Kommission) arbeitete 1983 bis 1985 in der Endphase der sogenannten „Ersten Republik“, in der das Parteienkartell der Mitte (aus DC, PSI, PRI, PLI, PSDI)3 die Regierungen bildete und rechts (MSI) wie links (PCI) durch Oppositionsparteien parlamentarisch eingerahmt war. Tabelle 1 zeigt die Positionen der wichtigsten Parteien zu ausgewählten Reformpunkten zu Beginn der Kommissionsarbeiten. In einem Punkt tritt klar die Trennungslinie zwischen Regierung und Opposition hervor: Während sich PCI und MSI für die Abschaffung des Zweikammersystems aussprachen, war die Fünferkoalition (DC, PSI, PRI, PSDI, PLI) geschlossen für dessen Beibehaltung. Ebenso einig zeigte sich das Regierungslager bei der Richtung, in die eine Reform des bicameralismo perfetto gehen sollte; an seine Stelle sollte ein bicameralismo differenziato treten, mit der Gesetzgebung als Hauptaufgabe der Abgeordnetenkammer und der Kontrolle als Hauptaufgabe des Senats. Auch die Einrichtung eines Schlichtungsmechanismus zwischen den beiden Kammern wurde fast unisono gefordert. Betrachtet man diesen Punkt isoliert, hätte hier somit durchaus eine Mehrheit für eine echte strukturelle Reform bestanden – zumindest in der Kommission.
2 3
Die folgenden Ausführungen haben aus Platzgründen notwendigerweise stark holzschnittartigen Charakter, zumal es für die Absicht dieses Beitrages auch nicht sehr auf Details ankommt. Vgl. zu einer detaillierten Analyse dieser drei Reformversuche ausführlich Köppl (2003). Abkürzungsverzeichnis am Ende des Beitrags.
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Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
Tabelle 1:
Anzahl Parlamentarier
Kammerstruktur
Positionen zur Parlamentsreform in der ersten Bicamerale DC Reduzierung auf 450/300
PCI Reduzierung auf 420/-
PSI Reduzierung auf 400/400
PRI keine Veränderung
Funktionsdifferenzierung, Schlichtungsinstanz
Einkammersystem
Funktions- Funktionsdifferenzie- differenzierung rung, Schlichtungsinstanz
PSDI keine Veränderung
PLI MSI keine ReduVerände- zierung rung
Funktionsdifferenzierung
Funktionsdifferenzierung; Schlichtungsinstanz
Einkammer system
Quelle: eigene Auswertung der Dokumentation bei Ciaurro/Negri/Simoni (1988) Gänzlich anders war die Lage aber bei der zukünftigen Anzahl der Parlamentarier: Hier verlief die Konfliktlinie wieder völlig quer zu jeder Lagereinteilung. Sowohl die beiden größten Regierungsparteien als auch die beiden größten Oppositionskräfte (MSI und PCI) verfochten eine merkliche, zum Teil drastische Reduzierung der Zahl der Abgeordneten bzw. Senatoren. Massiven Widerstand leisteten hingegen die kleinen Regierungsparteien PLI, PRI und PSDI – wenig verwunderlich, denn die Verkleinerung hätte sie am schmerzhaftesten getroffen. Hier manifestierte sich also die Frontstellung zwischen den größeren und den kleineren Parteien. Die Bozzi-Kommission sprach sich schließlich in ihrem Abschlussbericht für die Beibehaltung des Zweikammersystems und eine Differenzierung der Aufgabenverteilung aus. Die Gesetzgebung sollte mit noch zu definierenden Ausnahmen der Abgeordnetenkammer überlassen werden, während die parlamentarische Kontrolle Hauptaufgabe des Senats werden sollte. Die Anzahl der Parlamentarier sollte reduziert werden, doch auch hier findet sich keine konkrete Festlegung, sondern nur ein Inventar verschiedener gangbarer Alternativen. Der Regierung sollte künftig nach Vorstellung des Programms das Vertrauen beider Kammern in gemeinsamer Sitzung ausgesprochen bzw. entzogen werden; ein konstruktives Misstrauensvotum wurde nicht vorgeschlagen. Die mit Abstand am weitesten reichenden Reformschritte sollten also beim Verhältnis der beiden Parlamentskammern unternommen werden, vom bicameralismo perfetto hin zu einem bicameralismo differenziato. Es fällt auf, dass es sich hierbei um den einzigen Punkt handelt, bei dem eine Übereinstimmung der Positionen innerhalb des Regierungslagers festgestellt werden konnte (siehe oben). Dort, wo die Regierungsparteien untereinander zerstritten waren, finden
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Stefan Köppl
sich nur vage Wünsche und Andeutungen: z.B. bei der Anzahl der Parlamentarier und beim Wahlsystem. Dem Abschlussbericht stimmten nur 16 der 41 Kommissionsmitglieder zu (die PCI-Vertreter nahmen nicht teil und ermöglichten so erst die Verabschiedung des Berichts). Bemerkenswert ist, dass nicht einmal das Regierungslager geschlossen dafür stimmte. Die Begründungen der „Dissidenten“ fielen noch dazu völlig konträr aus: Während manchem Christdemokraten die Reformen nicht weit genug gingen, waren z.B. die Sozialdemokraten des PSDI strikt gegen die Reduzierung der Parlamentarier, weil dies die kleinen Parteien benachteilige. Der Bericht wurde an die Parlamentskammern übermittelt, blieb dort aber unbehandelt liegen; der Reformversuch versandete somit im Nichts. Als wichtigste Gründe sind anzuführen:
Der Kommissionsbericht stellte maximal den kleinsten gemeinsamen Nenner der Regierungsparteien dar; es handelte sich kaum um das erhoffte ehrgeizige Reformprojekt. Selbst dieser kleinste gemeinsame Nenner fand kaum Unterstützer, da er manchen zu weit, anderen nicht weit genug ging. Für die kleinen Parteien war schon die vorgesehene Verkleinerung der Kammern Grund genug, die Vorschläge abzulehnen. Mögliche punktuelle Übereinkünfte zwischen DC und PSI wurden durch das Erpressungspotential der kleinen Parteien, von denen die Regierung abhing, schon im Vorfeld torpediert.
2.1.2 Die zweite Bicamerale Der zweite Reformversuch mittels einer Zweikammerkommission zwischen 1992 und 1994 kann hier knapp abgehandelt werden, da er aus folgenden Gründen aus dem Rahmen fällt: 1.
2.
Er fand in einem turbulenten politischen Umfeld statt, in dem ernsthafte Politik faktisch nicht möglich war (wegen der Korruptionsskandale und den sich daraus ergebenden Umbrüchen in der Parteienlandschaft; vgl. dazu Köppl 2007a: 67-79). Die Reformkommission wurde durch eine vorzeitige Parlamentsauflösung mitten in ihrer Arbeit aufgelöst, so dass sie faktisch ergebnislos blieb. Auch konzentrierte sie sich in erster Linie auf die Erarbeitung von Vorschlägen für ein neues Wahlrecht.
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Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
3.
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es sich bei der zweiten Bicamerale lediglich um ein Ablenkungsmanöver handelte, mit dem die politischen Eliten ihrer völligen Delegitimierung entgegenzuwirken suchten – nämlich durch die Demonstration von Veränderungswillen (Köppl 2003: 103-106).
Interessant für diesen Beitrag ist der zweite große Reformanlauf aber durch zwei Punkte: Erstens wurde hier (anders als bei dem vorangegangenen Reformversuch) durch ein Verfassungsgesetz der Reformprozess geregelt; z.B. wurde an das Ende ein obligatorisches Referendum gesetzt – unabhängig von den im Parlament erreichten Mehrheiten. Zweitens lassen die in den Verhandlungen vertretenen Positionen der Parteien sowie die (rudimentären) Ergebnisse der Kommission die Entwicklung der inhaltlichen Frontstellungen erkennen. In Tabelle 2 finden sich die Positionen der wichtigsten Parteien zu ausgewählten Reformpunkten. Herangezogen wurde vor allem die Ausgangslage, wie sie sich in der Generaldebatte zu Beginn der Kommissionsverhandlungen darstellte. Tabelle 2:
Anzahl Parlamentarier
Kammerstruktur
Verhältnis Parlament und Regierung
Positionen zur Parlamentsreform in der zweiten Bicamerale DC Reduzierung
PDS -
PSI -
LN -
MSI Reduzierung
Beibehaltung; keine Kammer der Regionen
Beibehaltung; Senat als Kammer der Regionen
Beibehaltung; Kammer der Regionen denkbar
Funktionsdifferenzierung, Kammer der Regionen
strikt parlamentarisch; konstruktives Misstrauensvotum
Beibehaltung
präsidentiell
präsidentiell bzw. Direktwahl des Regierungschefs
Funktionsdifferenzierung; Senat als ständische bzw. regionale Kammer präsidentiell
PRC Reduzierung auf 400 Einkammersystem; keine Kammer der Regionen Beibehaltung
Quelle: eigene Auswertung der Dokumentation der 3.-5. Sitzung (Camera dei Deputati 1995: 26-137) Der vorzeitige Abbruch der Arbeiten ließ keinen Abschlußbericht mehr zu, wohl aber Zwischenberichte der Arbeitsgruppen. Die im vorliegenden Zusammenhang interessantesten Ergebnisse enthielt der Bericht über die Regierungsform (Camera dei Deputati 1995: 2200-2224). Darin war die Beibehaltung des parla-
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Stefan Köppl
mentarischen Systems vorgesehen, allerdings mit einigen Änderungen zur Stärkung und Stabilisierung der Regierung. Der Regierungschef sollte künftig von beiden Kammern in gemeinsamer Sitzung gewählt werden. Als wichtigste Maßnahme zur Verbesserung der Regierungsstabilität war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums nach deutschem Vorbild vorgesehen. Das einzige Ergebnis, das die Kommission zum Zeitpunkt ihrer Auflösung im Hinblick auf das Parlament vorlegen konnte, war der Vorschlag, die Legislaturperiode von fünf auf vier Jahre zu verkürzen. Ein sich in greifbarer Nähe befindlicher Kompromiss über die Reduzierung der Parlamentarier auf 400 Abgeordnete und 200 Senatoren konnte nicht mehr besiegelt werden (vgl. den Bericht der Vorsitzenden Nilde Iotti, Camera dei Deputati1995: 2175f.). 2.1.3 Die dritte Bicamerale Zum dem Zeitpunkt, als 1997 mit der dritten Bicamerale wieder ein Reformanlauf versucht wurde, hatten sich die größten Turbulenzen im Parteiensystem gelegt. Im Vergleich zu den 1980er Jahren herrschte nun eine völlig andere Situation: Nicht nur waren die meisten „alten“ Parteien verschwunden, auch hatte sich die Mechanik des Parteiensystems durch das neue Wahlrecht (ein Mehrheitswahlrecht mit Verhältniskomponente) grundlegend verändert: Statt einer Mitte-Koalition, flankiert von Oppositionsparteien auf beiden Seiten, standen sich nun zwei große, intern aber recht bunt zusammengewürfelte Parteienbündnisse gegenüber. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen zweier bereits gescheiterter Anläufe wurde in dem Verfassungsgesetz zur Einsetzung der Kommission auch ein genauer Zeitplan für den Reformprozess festgelegt (der allerdings später nicht eingehalten werden sollte), ebenso wie ein obligatorisches Referendum (zu dem es dann aber nicht kam, da der Prozess schon vorher scheiterte). Tabelle 3 enthält die Positionen der sieben wichtigsten Parteien zu ausgewählten Reformpunkten. Herangezogen wurde vor allem die Ausgangslage, wie sie sich in der Generaldebatte zu Beginn der Kommissionsaktivitäten und in den ersten Sitzungen der entsprechenden Arbeitsgruppen darstellte.
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Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
Tabelle 3: Positionen zur Parlamentsreform in der dritten Bicamerale DS (MitteLinks)
FI (MitteRechts)
AN (MitteRechts)
PPI (MitteLinks)
LN (ohne Bündnis, eher MitteRechts)
Anzahl Parlamentarier
Reduzierung auf 450/150
Reduzierung auf 475/315
Reduzierung auf 400/200
-
- (Boykott Reduzieder Kom- rung auf mission) 400/-
Kammerstruktur
Funktionsdifferenzierung
Funktionsdifferenzierung
Beibehaltung; keine Funktionsdifferenzierung
Verhältnis Parlament und Regierung
konstruktives Misstrauensvotum
Direktwahl von Präsident und Regierung schef; kein Vertrauen mehr nötig
Direktwahl von Präsident und Regierungschef; Parlamentsauflösung bei Misstrauensvotum
Senat als Kammer der Regionen; keine Funktionsdifferenzierung parlamen- tarisch nach deutschem Vorbild
PRC (MitteLinks)
CCDCDU (MitteRechts)
Reduzierung auf 400 bzw. 500/315
Einkammersystem
Senat als Kammer der Regionen; Funktionsdifferenzierung;
parlamentarisch nach deutschem Vorbild; konstruktives Misstrauensvotum
Semipräsidentiell; keine Änderung bei Vertrauen
Quelle: eigene Auswertung der stenographischen Berichte der jeweiligen Sitzungen (bei den Arbeitsgruppen auch Zusammenfassungen), http://www.camera.it/_bicamerali/nochiosco.asp?pagina=/_dati/leg13/lavori/rifcost/home.htm (Stand: 21.06.2007). Beim Comitato „Parlamento e fonti normative“ wurden die ersten fünf, beim Comitato „Forma di governo“ die ersten vier Sitzungen ausgewertet.
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Der Vergleich der Positionen zeigt in der Frage der Parlamentsreform eine breite Phalanx der Befürworter des Zweikammersystems; der PRC stand mit seinen gegenteiligen Vorstellungen allein. Ebenso einmütig zeigte man sich bei der Reduzierung der Zahl der Parlamentarier. Dafür tritt die Konfliktlinie bei der Frage der Funktionsdifferenzierung der beiden Kammern deutlich zutage: DS, FI und CCD-CDU sprachen sich dafür aus,4 PPI und AN dagegen. Es ergibt sich das Bild, dass die größten Parteien der rivalisierenden Lager sich in dieser Frage einig waren, jedoch beide damit ihrem wichtigsten Bündnispartner widersprachen. Zwar sprach sich eine breite Front für die Stärkung der regionalen Repräsentation im Senat aus, doch war umstritten, ob die Senatoren direkt gewählt oder von den Regionen (z.B. von den Regierungen) entsandt werden sollen. Für die erste Variante traten explizit FI und CCD-CDU ein, für die zweite der PPI; die DS vertraten in dieser Frage ein Mischmodell. Die Konfliktlinie scheint folglich hier eher entlang der Lagergrenzen zu verlaufen, doch die unklaren Positionen von AN und RC sowie die enge Verknüpfung mit der Regionalisierung verwischen diese Konturen wieder und lassen die Unübersichtlichkeit der Lage hervortreten. Was das Verhältnis von Parlament und Regierung angeht, schienen die Verfechter einer bloßen Modifikation des parlamentarischen Systems klar in der Mehrheit zu sein. Doch zeigte sich hier die Pfadabhängigkeit von Reformprozessen: Die Kommissionsmitglieder der Lega Nord, die die Kommission bis dahin boykottiert hatten, tauchten in der Schlussabstimmung über diesen Punkt überraschend auf und kippten die Mehrheit zugunsten einer Art Semipräsidentialismus. Das desavouierte nicht nur die Verfechter des parlamentarischen Systems, sondern brachte auch einen mühsam ausgehandelten Kompromiss des Regierungslagers mit der FI zu Fall, in dem diese ihre präsidentielle Präferenz schon gegen andere Zugeständnisse eingetauscht hatte. So hatte dieses eine überraschende Ereignis zur Folge, dass der größte Teil des Regierungslagers auf Distanz zu den Kommissionsvorschlägen ging. Die Lega Nord hatte mit ihrer taktischen Intervention den Reformprozess auf den Pfad Richtung Semipräsidentialismus gezwungen und es war nicht mehr möglich, hinter diese Weichenstellung zurückzugehen. Damit hatte ein punktuelles Ereignis die Erfolgschancen des gesamten Projekts auf einen Schlag massiv vermindert. Der Abschlussbericht der Kommission sah einige einschneidende Veränderungen vor. Im Hinblick auf die Reform des Parlaments sollte die Abgeordnetenkammer auf 400-500 Mitglieder verkleinert werden und alleine das Recht haben, die Regierung durch ein Misstrauensvotum zu stürzen. Der Senat sollte 4
Allein diese drei Parteien verfügten über die Hälfte der Stimmen in der Kommission; für sich betrachtet eine gute Ausgangsposition für eine Verständigung.
Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
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auf 200 Senatoren verkleinert werden und gewisse Wahlfunktionen ausüben, die bisher beiden Kammern oblagen. Zur Vereinfachung und Erleichterung der Gesetzgebung war die Einführung der Unterscheidung von monokameralen und bikameralen Gesetzen (ähnlich wie in Deutschland) vorgesehen. Um die dezentralisierten Gebietskörperschaften zu berücksichtigen, sollte der Senat um 200 weitere Mitglieder aus den Kommunal-, Provinz- und Regionalräten vergrößert werden, wenn er sich mit Fragen beschäftigt, die diese nachgeordneten Ebenen betreffen. Zur Abschaffung der Möglichkeit, Gesetze in den Ausschüssen zu verabschieden, konnte man sich nicht durchringen. Nachdem die Arbeiten der Bicamerale bereits intensiv von der Öffentlichkeit beobachtet worden waren, erreichten die Auseinandersetzungen mit Beginn der parlamentarischen Beratungen neue Höhepunkte. Das Reformprojekt wurde von allen Seiten kritisiert, selbst Vertreter derjenigen Parteien, die für den Abschlussbericht gestimmt hatten, wollten das Paket wieder aufschnüren. Manchen gingen die Vorschläge nicht weit genug, andere sprachen von einem Angriff auf die Fundamente der Verfassung. Auch wurde das Projekt zunehmend zum Spielball der Auseinandersetzungen zwischen Oppositionsführer Silvio Berlusconi und den Spitzen der Regierungskoalition. Als alle Vermittlungsbemühungen aussichtslos erschienen, wurden die parlamentarischen Beratungen abgebrochen; der Reformversuch war gescheitert. Allerdings hatte dieser Reformversuch einen Teilerfolg als Nachspiel: Kurz vor Ende der Legislaturperiode verabschiedete die Mitte-Links-Koalition 2001 eine Reform des Titels V der Verfassung, die eine gewisse Regionalisierung mit sich brachte. Diese Reform basierte im Wesentlichen auf den Vorschlägen der Bicamerale, beschränkte sich auf ein Thema (Regionalisierung) und wurde von der Regierungskoalition ohne Übereinkommen mit der Opposition, also gewissermaßen einseitig, verabschiedet. In dem darauf folgenden Verfassungsreferendum wurde sie auch an den Urnen bestätigt, obwohl zwischenzeitlich die Mitte-Rechts-Koalition die Parlamentswahlen gewonnen hatte (Grasse 2005: 365-370).
2.2 Der einseitige Anlauf Berlusconis Die Revision der als ungenügend kritisierten Regionalisierungsreform wurde denn auch zu einem der wichtigsten Projekte der neuen Mitte-Rechts-Regierung ab 2001 – maßgeblich vorangetrieben von der Lega Nord, die auf eine viel weiter gehende Föderalisierung drängte. Außerdem sollte das Dauerthema einer Stärkung der Regierung angegangen werden, das FI und AN schon in der dritten Bicamerale mit einschneidenderen Maßnahmen lösen wollten als die restlichen
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Parteien. Im Endeffekt sollte es sich um eine Totalrevision des gesamten zweiten Teils der Verfassung handeln, der die politische Institutionenordnung festlegt (Vassallo 2005). Die Reform des Mitte-Rechts-Bündnisses unterschied sich von den vorangegangenen Reformversuchen vor allem dadurch, dass sie eben nicht den lagerübergreifenden Konsens suchte. So problematisch dies bei breit angelegten Verfassungsreformen auch ist – in Italien ist dieser Weg theoretisch durchaus gangbar, da es hier möglich ist die Verfassung mit fünf einfachen Mehrheiten zu verändern: Der identische Gesetzestext (des verfassungsändernden Gesetzes) muss nämlich je zweimal von der Abgeordnetenkammer und vom Senat in identischer Form verabschiedet werden (also vier Mal, jeweils mit einfacher Mehrheit). Danach folgt ein Referendum, in dem wieder die einfache Mehrheit der Abstimmenden genügt, ohne Quorum.5 Vor dem Hintergrund der politischen Mehrheitsverhältnisse genügte es also, wenn sich die Vier-Parteien-Koalition untereinander auf ein Maßnahmenpaket einigte. Es verwundert somit nicht, dass dieses Reformprojekt das mit Abstand ambitionierteste in der italienischen Nachkriegsgeschichte war. Allerdings brauchte man dafür fast die ganze Legislaturperiode (die erste von insgesamt sechs Lesungen im Parlament fand im Herbst 2002 statt; die letzte Abstimmung im November 2005). Dass diese Reform es tatsächlich durch das parlamentarische Verfahren schaffte, war ein weiteres Novum in der italienischen Reformszenerie. Innerhalb der Koalition war allerdings wieder Bekanntes zu sehen: Denn im Mitte-Rechts-Bündnis standen sich institutionell konservative Akteure (vor allem die UDC, zum Teil aber auch die AN) und Radikalreformer (LN und FI) gegenüber, wobei sich der Reformeifer der LN vor allem auf die Föderalisierung konzentrierte und der Reformeifer der FI auf den Umbau des Regierungssystems. Die Verfassungsreform stand somit auch mehrmals auf der Kippe: Wiederholt drohte die LN mit dem Bruch der Koalition, wenn ihre Maximalziele bei der Föderalisierung in Frage gestellt wurden. Mehrmals, wenn auch leiser als die LN, rüttelten die Christdemokraten am Bestand des Bündnisses, wenn ihnen die Reform allzu weit zu gehen drohte. So überrascht es nicht, dass auch diese Reformvorlage an vielen Stellen Kompromisscharakter trug.6
5
6
Das Verfassungsreferendum ist relativ leicht (ein Fünftel der Mitglieder einer Kammer bzw. 500.000 Wahlberechtigte bzw. fünf Regionalparlamente) zu beantragen, so dass es als quasi sicher gelten kann. Es ist allerdings ausgeschlossen, wenn die Verfassungsänderung bei den letzten beiden Abstimmungen im Parlament eine Zweidrittelmehrheit erreicht hat. Vgl. den Gesetzentwurf Nr. 2544-D des Senats bzw. Nr. 4862-C der Abgeordnetenkammer (XIV. Legislaturperiode).
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In puncto Parlament sah das Reformgesetz die Abschaffung des bicameralismo perfetto vor: Die Abgeordnetenkammer sollte künftig für alle Materien zuständig sein, die (nach Übertragung weitgehender Kompetenzen auf die Regionen) der nationalstaatlichen Ebene vorbehalten blieben (z.B. Außenpolitik, Verteidigung, Immigration, Justiz etc.). Hier sollte der Senat lediglich Änderungsvorschläge machen können, über die aber letztlich die Abgeordnetenkammer entscheidet. Der Senat sollte mit Materien befasst werden, die in die konkurrierende Gesetzgebung fallen; hier sollte die Abgeordnetenkammer Änderungsvorschläge einbringen können, über die der Senat letztlich entscheidet. Also handelte es sich um eine Funktionsdifferenzierung bezüglich der Gesetzgebungsmaterien. Entsprechend sollte der Senat (Reduzierung von 315 auf 252 Mitglieder) auf regionaler Basis gleichzeitig mit den Regionalparlamenten gewählt werden, die Abgeordnetenkammer (Reduzierung von 630 auf 518 Mitglieder) alle fünf Jahre auf nationaler Basis. Der gestärkte Regierungschef sollte quasi-direkt gewählt werden, indem die Wähler mit dem Ankreuzen einer Parteiliste auch den damit verbundenen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs wählen; es würde also keiner anfänglichen Vertrauensabstimmungen mehr bedürfen. Er müsste aber nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung (nach Vertrauensfrage oder Misstrauensantrag) in der Abgeordnetenkammer zurücktreten, was die Auflösung der Kammer nach sich zöge. Die Mehrheit des Regierungschefs (d.h. diejenigen Parlamentarier, mit deren Parteiliste er bei den Parlamentswahlen direkt gewählt wurde) könnte allerdings mit ihren Stimmen einen neuen Regierungschef wählen (eine Art konstruktives Misstrauensvotum), in diesem Fall ohne Parlamentsauflösung. Obwohl dieser Reformversuch weiter kam als alle seine Vorgänger, scheiterte er dennoch klar beim Referendum am 25. und 26. Juni 2006 mit 61,32 Prozent Nein-Stimmen zu 38,68 Prozent Ja-Stimmen; nur in der Lombardei und in Venetien erhielt die Reform eine Mehrheit. Im Wesentlichen können dafür drei Gründe genannt werden: 1.
2.
Allein der Umstand, dass es sich um ein Projekt des Berlusconi-Regierung handelte, dürfte für die meisten Anhänger des Mitte-Links-Bündnisses zur Ablehnung genügt haben – schon im Hinblick auf die massive Stärkung des Regierungschefs, die heftig als Einführung eines quasi-autoritären Systems angegriffen worden war. Die Regionalisierung kündigte aus Sicht vieler, vor allem aus Sicht des ärmeren Südens und der Mitte des Landes die nationale Solidarität auf; so traf sie im Süden auf harsche Ablehnung und erhielt nur in zwei reichen Regionen des Nordens eine Mehrheit.
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Selbst das Mitte-Rechts-Bündnis bröckelte in sich. So gab es einige „Dissidenten“, z.B. von der UDC, die das einmal verabschiedete Paket wieder in Frage stellten und im Vorfeld verkündet hatten, dass sie mit Nein stimmen würden oder dass die Reform selbst bei Erfolg im Referendum noch einmal lagerübergreifend nachgebessert werden müsste.
Der jüngste Reformversuch scheiterte also nur vordergründig an einem Nein eines monolithischen Blocks („das Wahlvolk“ bzw. „die Wähler“). Zum einen scheiterte er wiederum an der Größe und Heterogenität des Reformpakets, denn der Umbau des Regierungssystems rief die Vertreter einer starken Machtaufteilung auf den Plan und die Föderalisierung die ärmeren Regionen. Zum zweiten scheiterte er an der Erosion der Unterstützungskoalition, die ihn noch über die ersten Hürden gebracht hatte (wie bei der dritten Bicamerale). Die Heterogenität der Parteienkoalition, die für das Reformpaket verantwortlich war und es mühsam durch das Parlament gebracht hatte, setzte sich an der Wahlurne in der Heterogenität ihrer Wählerschaft fort. Viele UDC- und AN-Wähler, insbesondere im Süden, befanden sich zwar bündnispolitisch in einem Bündnis mit der LN, standen ihr inhaltlich aber in vielen Punkten diametral entgegen. Einen Grund, sich trotzdem bündnistreu zu verhalten, wie z.B. bei nationalen Wahlen, gab es bei dem Referendum nicht, so dass sie getrost gemäß ihren inhaltlichen Präferenzen (also gegen die Föderalisierung) abstimmen konnten. Kurz: Die Größe des Reformpakets, zusammengenommen mit der Erosion der Unterstützungskoalition, brachte mehrere unterschiedliche Gruppen dazu aus verschiedenen Gründen gegen die Reform zu stimmen. Es summierten sich die Gegner der Reform, nicht die Befürworter (eine Konstellation überkreuzter Vetos) – wie in den vorangegangenen Fällen.
2.3 Große Würfe – eine Zwischenbilanz Innerhalb von 23 Jahren scheitern also nicht weniger als vier Anläufe zu einer umfassenden Verfassungsreform – und das obwohl fast alle Parteien über die Lager hinweg eine große Reform für dringend nötig erachten. Eine seltsame „Koexistenz von Frustration und Stabilität“ (Scharpf 1985: 324), die auch die Konstellationen kennzeichnet, die Fritz W. Scharpf mittels der Politikverflechtungsfalle analysiert. Doch handelt es sich nicht nur um eine beständige Wiederkehr des Gleichen: Große Kontinuität ist bei den Themen und Vorschlägen, die behandelt wurden, festzustellen. Die Reform des Zweikammersystems und des Gesetzgebungsprozesses befanden sich ebenso permanent auf der Agenda wie die Steige-
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rung von Regierungseffizienz und -stabilität. Doch innerhalb dieser Kontinuität sind gleichsam „Karrieren“ gewisser Themen und inhaltliche Entwicklungen erkennbar. Bei der Reform des Parlaments kam das Thema eines Senats als Kammer der Regionen erst auf die Agenda, nachdem die LN als neuer Anwalt einer stärkeren Regionalisierung auf den Plan getreten war. Da stets der bicameralismo perfetto als Hauptproblem identifiziert wurde, sah man unabhängig von einem möglichen Umbau des Senats stets eine Funktionsdifferenzierung als Abhilfe, die die Verdoppelung des Gesetzgebungsprozesses beenden sollte. Kontinuität ist auch in der Frage des Zweikammersystems festzustellen: Seine Gegner befanden sich stets in der Minderheit. Im Hinblick auf das Verhältnis von Parlament und Regierung erodierte der strikt parlamentarische Konsens zunehmend, bis Ende der 1990er auch semipräsidentielle oder gar präsidentielle Varianten als ernsthafte Alternativen hoffähig geworden waren. Eine Entwicklung ist bei der Vorgehensweise festzustellen: Zunächst sollte die Zweikammerkommission Vorschläge erarbeiten, die dann in ein „normales“ Verfassungsänderungsverfahren eingebracht werden sollten. Bei dem zweiten und dritten Anlauf wurden immer restriktivere Rahmenbedingungen und Zeitpläne festgelegt, mitsamt einem obligatorischen Referendum (allerdings ohne Erfolg). Die Regionalisierung der Mitte-Links-Koalition 2001 und die große Verfassungsreform der Mitte-Rechts-Koalition 2006 kehrten dann wieder zum „normalen“ Verfahren zurück; einmal mit Erfolg, einmal ohne. Wichtig ist die Abkehr vom lagerübergreifenden Konsens: 2001 und 2006 wurden die Reformvorlagen ohne Einbindung der Opposition, also quasi einseitig beschlossen – mit unterschiedlichem Erfolg beim nachfolgenden Referendum.7 In allen vier Fällen ist jedoch festzustellen, dass die Größe des Reformanlaufs (d.h. die Vielzahl der behandelten Themen) die Erfolgschancen massiv verringerte: Zu den meisten der verhandelten Punkte bildeten sich jeweils eigene Frontstellungen mit jeweils unterschiedlichem Verlauf. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft und ergo die Vielzahl der beteiligten (und im Hinblick auf die erforderlichen Mehrheiten benötigten) Akteure verkomplizierten die Lage ebenso wie die zahlreichen Themen auf dem Verhandlungstisch. Die klaren Mehrheiten, die zum Teil bei einzelnen Themen vorgelegen hätten, waren jeweils andere und wurden durch wechselseitige Einsprüche zunichte gemacht, weil es sich nicht um punktuelle Einigungen, sondern um große Reformpakete handelte. Zudem verliefen die inhaltlichen Trennlinien meist quer zu allen politischen Lagergrenzen. Ein weiterer Punkt verhinderte, dass sich z.B. die großen Parteien jeweils auf Reformschritte einigten, die sie beide für sinnvoll hielten: 7
Vgl. zu den zahlreichen Punkten, die bei der vergleichenden Analyse von Verfassungsreformprozessen zu betrachten sind, hier aber nur punktuell Beachtung finden können, obwohl sie den vorgestellten Ergebnissen zugrunde liegen, Köppl (2007b).
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die Kopplung der Reformarena mit dem politischen Alltagsgeschäft (vgl. zur Kopplung von Arenen Benz 2000). So konnten kleinere Bündnispartner immer wieder Verständigungen über die Lagergrenzen hinweg verhindern. Diese Erpressungen konnten wiederum nur verfangen, weil die Erpressten die kurzfristige Stabilität ihres Bündnisses offensichtlich höher bewerteten als die langfristige Reform. Die wenigsten Beteiligten und damit die übersichtlichste Gefechtslage gab es bei dem jüngsten Reformversuch des Mitte-Rechts-Bündnisses. Aber selbst hier sehen wir dasselbe Phänomen, wenn auch im kleineren Maßstab: Mit Müh und Not konnte die Mehrheit im Parlament trotz großen Murrens auf das Reformpaket eingeschworen werden – doch was für die Parlamentarier galt, galt nicht für die Wählerschaft: An der Wahlurne erwies sich die Heterogenität der Koalition und der Reformvorlage als fatal. Anders 2001 bei der Regionalisierungsreform der Mitte-Links-Koalition: Hier waren zwar mehr als nur vier Parteien beteiligt, aber es handelte sich nur um einen Reformgegenstand (Regionalisierung) und um einen eher moderaten Reformschritt, also eher um ein Beispiel inkrementeller Reform als eines großen Wurfes.
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Inkrementelle Reformen als Abhilfe? Parlamentsreform durch Geschäftsordnungsreform
Sind also inkrementelle Reformen aussichtsreicher? Auch wenn es den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, darauf eine hinreichende Antwort zu geben, lohnt ein Seitenblick auf den Umstand, dass es in dem Zeitraum der obigen Betrachtungen (also seit den 1980er Jahren) doch signifikanten institutionellen Wandel im italienischen Parlament gegeben hat – nur nicht auf Verfassungsebene, wie es die bis dato behandelten Reformversuche erreichen wollten.8 Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die weitgehende Abschaffung der geheimen Abstimmung im Jahre 1988 (Moschella 1992, Müller-Wirth 1992). Die geheime Abstimmung hat ihre Wurzeln im Statuto Albertino von 1848, das bei Gesetzen und Personalentscheidungen grundsätzlich nur diese Abstimmungsform vorschrieb; seitdem hat sie in Italien als Sicherung zugunsten des einzelnen Abgeordneten eine außergewöhnlich starke parlamentarische Tradition und wurde auch in der republikanischen Zeit gepflegt. Auch in diesem Punkt stellte Italien eine Ausnahme unter den westlichen Demokratien dar: Die Geschäftsordnungen der beiden Parlamentskammern schrieben die geheime Abstimmung 8
Auch vor den 1980er Jahren ist der italienische Parlamentarismus durch beträchtliche Wandlungsprozesse gekennzeichnet, sowohl institutionell wie auch von den Vorstellungen der Akteure her; vgl. Köppl (2007c).
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für eine Vielzahl von Fällen vor und legten die Hürden für ihre Beantragung äußerst niedrig, so dass sie in den 1970er und 1980er Jahren zum Standardverfahren und die offene Abstimmung zur Ausnahme geworden war. Resultat war das immer größere Gewicht der so genannten „Heckenschützen“ (franchi tiratori). Es handelt sich dabei um Parlamentarier der Regierungsmehrheit, die unter dem Deckmantel der geheimen Abstimmung ihre abweichende Meinung kundtun. Hintergrund ist die inhaltliche Heterogenität der Koalitionen. Die Beantragung einer geheimen Abstimmung wurde so besonders zu einem Instrument der Opposition, die darauf abzielte, dass die internen Widersprüche der Mehrheit ohne die disziplinierende Wirkung der öffentlichen Abstimmung zur Geltung kommen sollten. Vor diesem Hintergrund waren Abstimmungsniederlagen der Regierungsmehrheit, auch in wichtigen Fragen, nicht ungewöhnlich (Curreri 2001). Die „Heckenschützen“ und die Regelungen zur geheimen Abstimmung wurden so zu einem dauerhaften Thema für all diejenigen, die die Unregierbarkeit Italiens beklagten und institutionelle Reformen einforderten. Nachdem sich schon die erste Bicamerale mit diesem Thema beschäftigt hatte, ihre Ergebnisse aber versandet waren, setzte schließlich im Jahre 1988 die Regierung selbst die Einschränkung der geheimen Abschaffung auf die politische Agenda. In den entsprechenden Parlamentsdebatten unterschieden sich die Positionen der Parteien zwar zum Teil erheblich, doch forderte niemand mehr eine Beibehaltung des Status quo, so dass nur noch in Frage stand, wie weitgehend die geheime Abstimmung eingeschränkt werden solle. Naturgemäß stellten hier die Regierungsparteien, allen voran DC und PSI, die Speerspitze dar, während die Opposition sich zurückhaltend zeigte. Obwohl also hier die Trennlinie zwischen Regierungskoalition und Opposition verlief (und somit eine mögliche Erpressungssituation nicht entstand), schaffte es die Mehrheit in einigen (natürlich geheimen) Abstimmungen über Verfahrensfragen, Änderungsanträge etc. nicht, sich durchzusetzen. Doch bei anderen Gelegenheiten hielt sich die Anzahl der „Heckenschützen“ wieder in Grenzen. Letztendlich kam es zu einem Kompromiss der beiden größten Regierungsparteien, der auch von Staatspräsident Giovanni Spadolini unterstützt und von Regierungschef Ciriaco De Mita mit der Drohung einer Regierungskrise untermauert wurde. In der Plenarabstimmung der Abgeordnetenkammer erreichte diese Vorlage schließlich mit 323 Stimmen (von insgesamt 377 möglichen der Regierungskoalition) eine knappe Mehrheit. Der Senat zog kurz darauf mit ebenso knapper Mehrheit nach. Die aktuellen Regelungen (mit nur geringen Unterschieden zwischen den Kammern) sehen nun als Standardverfahren die öffentliche Abstimmung vor. Ausgenommen sind Abstimmungen, die Personen betreffen und die im Plenum
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wie in den Ausschüssen prinzipiell geheim sein müssen (z.B. Wahlen oder Autorisierungen von Untersuchungen). Die öffentliche Abstimmung ist zwingend bei Haushaltsgesetzen und mit diesen zusammenhängenden Gesetzen sowie bei allen Beschlüssen, die finanzielle Konsequenzen haben. In bestimmten Fällen kann die geheime Abstimmung beantragt werden. Der Hauptunterschied zwischen den Kammern liegt jedoch bei der Interpretation der Regelungen: Im Senat wird die geheime Abstimmung auch bei indirektem Bezug auf eine der als Ausnahmen angeführten Materien zugelassen. In der Abgeordnetenkammer hingegen herrscht eine restriktivere Auslegung; hier muss der Bezug auf eine der genannten Materien direkt sein. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der geheimen Abstimmung trifft der Präsident der jeweiligen Kammer. Die weitgehende Einschränkung der geheimen Abstimmung wurde von weiten Teilen der politischen Akteure und Beobachter als wichtiger Reformerfolg hin zu einer Stärkung der Regierungsfähigkeit betrachtet. In der Tat gingen sowohl die Fälle der geheimen Abstimmung als auch die Zahl der Regierungsniederlagen massiv zurück. Dennoch muss hier einiges Wasser in den Wein gegossen werden, denn es zeigte sich, dass der Interpretation der neuen Regelungen eine zentrale Rolle zukam. Nur eine Zahl sei exemplarisch herausgegriffen: Vom Beginn der XIV. Legislaturperiode am 30.05.2001 bis zum 30.12.2003 wurden in der Abgeordnetenkammer von 16.525 elektronisch erfassten Abstimmungen 402 geheim durchgeführt. So verwundert es nicht, dass Abstimmungsniederlagen der Regierungskoalition, auch bei wichtigen Projekten, immer noch vorkommen – unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung. So wurde von Seiten der jeweiligen Mehrheit schon des öfteren gefordert, die Richtlinien der Interpretation zu revidieren und die Fälle, in denen dem Antrag auf geheime Abstimmung stattgegeben wird, deutlich zu begrenzen (Curreri 2001: 536-542). Zieht man eine Bilanz, so muss festgestellt werden, dass in diesem Fall zwar in formaler Hinsicht ein beträchtlicher Schritt weg vom institutionellen Status quo gelungen ist, sich die erhofften Wirkungen aber nur zum Teil einstellten, so dass es einigen Grund gibt, diese Reform nur als Teilerfolg zu betrachten. Die neuen Regeln ließen genug Spielraum, dass sich alte Verhaltensweisen partiell retten konnten. Doch stellt dieses Fallbeispiel nur einen kleinen Aspekt der institutionellen Dynamik im italienischen Parlament dar: Die Liste der Änderungen in den Geschäftsordnungen in den letzten 30 Jahren ist lang (De Micheli/Verzichelli 2004: 124, 181-183) und schlug sich in zahlreichen Aspekten der parlamentarischen Arbeit nieder, z.B. bei den Ausschüssen, der Position der Kammerpräsidenten und der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden.
Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
4
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Lehren aus dem Fall Italien
Was sagt uns nun der Blick nach Italien in Bezug auf die übergeordnete Fragestellung dieses Bandes „Müssen Parlamentsreformen scheitern?“ Die Antwort scheint auf den ersten Blick ein prinzipielles Ja zu sein. Insbesondere scheinen Parlamentsreformen schon im Vorneherein zum Scheitern verurteilt zu sein, wenn sie Teil eines größeren Reformpakets sind und als „großer Wurf“ eine Art institutionelles Neudesign versuchen. Dabei zieht sich dieses grundsätzliche Scheitern sogar über Jahrzehnte hinweg und überdauert sogar eine radikale Neuausrichtung der (partei)politischen Landschaft. Es handelt sich also gerade nicht um das Fortbestehen einer bekannten Blockadesituation, in der sich die immergleichen Akteure unverrückbar in immergleichen Positionen gegenüberstehen, sondern es handelt sich um strukturelle Konstellationen, die sich unabhängig von bestimmten inhaltlichen Positionen und unabhängig von bestimmten Akteuren fortschreiben. Die Hauptelemente dieser Konstellationen sind:
die Vielzahl der gleichzeitig verhandelten Themen; die unterschiedlichen verfassungspolitischen Positionen der Akteure in den einzelnen Fragen; die jeweils unterschiedlichen Frontstellungen in den einzelnen Fragen; die Verknüpfung der Themen untereinander und die sich daraus ergebenden überkreuzten Vetos; die Kopplung mit der Tagespolitik und daraus resultierend das Erpressungspotential der Bündnispartner; die mangelnde Unterstützung der ausgehandelten Kompromisse.
Diese strukturellen Konstellationen überdauerten sogar das Verschwinden eines Großteils der alten Akteure und die Positionsänderungen eines Großteils der verbliebenen Akteure im Laufe der Umbrüche der 1990er Jahre. Sie zeigten sich sogar resistent gegenüber unterschiedlichen Herangehensweisen (also lagerübergreifender Konsens vs. Einseitigkeit, Normalverfahren vs. Spezialverfahren). Bei näherem Hinsehen ist auch festzustellen, dass Scheitern nicht unbedingt gleich Scheitern ist: Eine Reform kann schon relativ früh versanden, in der parlamentarischen Debatte stecken bleiben oder erst am Referendum scheitern. Trotz der gleichen zugrunde liegenden Strukturen können im einzelnen Fall begünstigende oder behindernde Faktoren vorliegen. Warum kommen manche Anläufe weiter als andere? Erstens zeigt der Fall Italien, dass der unilaterale Reformversuch am weitesten kam bzw. dass ein unilateraler und thematisch punktueller Versuch sogar
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erfolgreich war. Vor dem Hintergrund der komplexen Parteienlandschaft sind allerdings auch einseitige Reformversuche sehr voraussetzungsvoll. Und ob dieses Vorgehen im Hinblick auf die hohen Legitimitätsanforderungen bei Verfassungsreformen ratsam ist, steht auf einem anderen Blatt. Zweitens sind externe Schocks (wie der Zusammenbruch des Parteiensystems) durchaus in der Lage, sich in inhaltlichen Positionen der Reformdiskussion niederzuschlagen (die Positionen der Akteure in der Reformdiskussion in Bewegung zu bringen) – auch wenn sie in diesem Fall neue Blockadekonstellationen produzierten. Drittens ist zu beobachten, wie wichtig es ist, dass eine Reform „Anwälte“ hat – bei der „Konsensmethode“ in beiden Lagern –, die willens sind, ihr ganzes Erpressungspotential ebenso in die Waagschale zu werfen, wie dies die Reformgegner tun. Wenn es diese Reformanwälte nicht gibt, versandet das Projekt – wie bei der ersten Bicamerale. Schließlich zeigt uns der italienische Fall noch, wie sehr es auf die letzten Einzelheiten der institutionellen Rahmenbedingungen ankommen kann. Würde die italienische Verfassung das Verfassungsreferendum nicht vorsehen, wäre die Berlusconi-Reform jetzt in Kraft. Oder hätte die Mitte-Rechts-Koalition aus irgendeinem Grund eine 2/3-Mehrheit im Parlament gehabt (z.B. durch Einbindung einer der größeren Oppositionsparteien), hätte es kein Referendum gegeben und die Reform wäre ebenfalls in Kraft. Hinzu kommt der Befund, dass die Stagnation auf der großen Verfassungsebene begleitet sein kann von durchaus signifikanter Bewegung auf der kleinen Ebene, z.B. bei den Geschäftsordnungen. Im geschilderten Beispiel ist es gelungen, diese in einem substantiellen Punkt, hier die geheime Abstimmung, wesentlich zu verändern – und dies ist nur ein Beispiel aus einer ganzen Reihe. Im Umkehrschluss zu den Erkenntnissen aus den „großen Würfen“ könnte man formulieren, dass punktuelle Reformen
die Kompliziertheit großer Reformpakete vermeiden, sich besser von der aktuellen Tagespolitik trennen lassen (da sie weniger Anreiz zur öffentlichen Profilierung bieten), niedrigere Hürden überwinden müssen, weniger essentielle Fragen darstellen (in denen Kompromisse und Zugeständnisse eher möglich sind).
Gelten diese Ergebnisse nur für den komplexen Sonderfall Italien? Ja und nein. Die Fragmentierung der parteipolitischen Landschaft und auch der verfassungspolitischen Vorstellungen ist in Italien sicherlich größer als in anderen westlichen Demokratien. Somit sind die Hürden in Italien besonders hoch. Das heißt
Parlamentsreformversuche und Parlamentsreformen in Italien
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aber nicht, dass die italienischen Probleme nicht in geringerer Intensität auch in anderen Ländern auftauchen können. Doch schon allein aufgrund der zahlreichen Reformversuche stellt Italien ein reiches Feld für die Erforschung institutioneller Reformprozesse dar, das bei weitem noch nicht ausreichend bearbeitet ist.
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Abkürzungen AN CCD CDU DC DS FI LN MSI PCI PDS PLI PPI PRI PSDI PSI UDC
Alleanza Nazionale Centro Cristiano Democratico Cristiani Democratici Uniti Democrazia Cristiana Democratici di Sinistra Forza Italia Lega Nord Movimento Sociale Italiano Partito Comunista Italiano Partito Democratico della Sinistra Partito Liberale Italiano Partito Popolare Italiano Partito Repubblicano Italiano Partito Socialista Democratico Italiano Partito Socialista Italiano Unione dei Democratici Cristiani e Democratici di Centro
Die Schweizerische Bundesversammlung
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Die Schweizerische Bundesversammlung: Mit kleinen Reformschritten zu einer starken Institution? Die Schweizerische Bundesversammlung
Ruth Lüthi1
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Ein ausgeprägtes Arbeitsparlament baut seine Rechte kontinuierlich aus
Es mag etwas anmassend klingen, wenn im Titel dieses Beitrags ausgerechnet ein Parlament, dessen Mitglieder ihr Amt nicht einmal auf vollprofessioneller Basis ausüben und dessen Ressourcen sich immer noch äußerst bescheiden ausnehmen, als starke Institution bezeichnet wird. Allerdings ist der Titel mit einem Fragezeichen versehen. Das Fragezeichen bezieht sich denn auch tatsächlich in erster Linie auf die im internationalen Vergleich beschränkten Ressourcen der Schweizerischen Bundesversammlung und ihrer Mitglieder. Hingegen kann gesagt werden, dass das schweizerische Parlament und seine Mitglieder über ein rechtliches Instrumentarium verfügen, mit dem sie den politischen Entscheidungsprozess wirksam mitgestalten können. Ausgehend von der traditionellen, idealtypischen Unterscheidung zwischen Rede- und Arbeitsparlamenten (Steffani 1979) kann die Bundesversammlung als ausgeprägtes Arbeitsparlament bezeichnet werden: Gesetzesentwürfe der Regierung werden in parlamentarischen Ausschüssen (in der Schweiz als „Kommissionen“ bezeichnet) bisweilen umgestaltet, bis sie nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Entwurf zu tun haben. Die Schweizerische Bundesversammlung ist somit ein „Gesetze machendes“ Parlament; eine „legislature“ im eigentlichen Sinn des angelsächsischen Wortgebrauchs2. Im Vordergrund steht die gesetzgeberische Detailarbeit, welche primär in den Kommissionen geleistet wird. Das Parlament, seine Organe und die einzelnen Mitglieder verfügen über ausgeprägte Informations-, Antrags- und Initiativrechte, die intensiv genutzt werden. Mit dem Initiativrecht kann zum Beispiel jedes einzelne Parlamentsmitglied jederzeit einen Rechtsetzungsprozess auslösen. Wird sein Anliegen von den zuständigen Kommissionen beider Kammern der Bundesversammlung unterstützt, dann wird ein 1 2
Dieser Beitrag folgt entsprechend der Herkunft seiner Autorin durchgehend der schweizerischen Rechtschreibung. Zur Unterscheidung der Begriffe „Parlamente“ und „Legislaturen“ oder eben englisch „legislatures“ vgl. Marschall 2005: 187-188.
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Gesetz oder eine Verfassungsänderung ausgearbeitet. Mit dem Antragsrecht können die Mitglieder der Bundesversammlung auf die Gesetzesentwürfe der Regierung Einfluss nehmen. Anträge auf Änderung des Regierungsentwurfs können sowohl in den Kommissionen wie auch später in den Plenardebatten gestellt werden. Die Schweizerische Bundesversammlung hat ihre Rechte seit den 1960er Jahren kontinuierlich in kleinen Schritten ausgebaut. Dazu wurden – ebenfalls in kleinen Schritten – Verfahrensoptimierungen und Strukturanpassungen vorgenommen, welche zum Teil bedeutende Auswirkungen hatten. Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung im Jahre 1999 und der Schaffung eines neuen Parlamentsgesetzes, welches im Jahre 2003 in Kraft trat, sind die Rechte der Bundesversammlung konsolidiert und teilweise noch ausgebaut worden. In diesem Beitrag sollen einige der relativ unspektakulären, aber doch wirksamen Reformschritte, welche in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren vorgenommen worden sind, vorgestellt werden. Bevor jedoch auf die Reformen eingegangen werden kann, müssen einige Hintergrundinformationen über das schweizerische System der Gewaltenteilung gegeben werden, welche die Position des Parlamentes verständlich machen.
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Die Bundesversammlung im politischen System der Schweiz
2.1 Die unabhängige Stellung des Parlamentes gegenüber der Regierung Die Schweiz in das Schema „parlamentarisch-präsidentiell“ einzuordnen, ist gar nicht so einfach. So gibt es durchaus Kriterien, welche die Einordnung der meisten Demokratien zum einen oder anderen Systemtypus ermöglichen. Bezüglich der Schweiz musste Stefan Marschall jedoch feststellen: „Als einziger Ausreisser stört die Schweiz das Bild: Die Exekutive ist zwar kollegial („parlamentarisch“), aber nicht abhängig vom Parlament („präsidentiell“).“ (Marschall 2005: 63). Linder bezeichnet deshalb die schweizerische Verfassung als „Mischtypus“, welche Elemente beider Systeme aufweist (Linder 1999: 194). Für die eindeutige Zuordnung zum in Europa verbreiteten Systemtypus der parlamentarischen Demokratie fehlen wichtige Voraussetzungen: Die Amtsdauer von Parlament und Regierung beträgt vier Jahre und die Regierung hat keine Möglichkeit, das Parlament vorzeitig aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Auf der anderen Seite haben Beschlüsse des Parlamentes – wiederum im Unterschied zu parlamentarischen Demokratien – auch nicht den Sturz der Regierung zur Folge. Die Regierung bleibt im Amt, auch wenn das Parlament anders ent-
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scheidet, als dies die Regierung vorgeschlagen hat. Instrumente wie „Misstrauensantrag“ und „Vertrauensfrage“ gibt es im politischen System der Schweiz nicht. Ähnlichkeiten mit dem präsidentiellen Systemtypus, wie ihn zum Beispiel die USA kennen, sind somit offensichtlich. Dem Bundesrat – der Regierung – hingegen wollte der Verfassungsgeber 1848 nicht die gleiche Unabhängigkeit zusprechen, wie sie der amerikanische Präsident kennt. Die Mitglieder des Bundesrates werden vom Parlament und nicht etwa vom Volk gewählt. Der Bundesrat kann auch nicht das Veto gegen Beschlüsse der Bundesversammlung aussprechen. Ebenso steht ihm kein mit besonderen Befugnissen ausgestatteter Regierungschef vor, welcher die Interessen der Regierung wirksam gegen aussen vertreten könnte. Dem nur für ein Jahr von der Bundesversammlung gewählten Bundespräsident kommt primär die Funktion der Leitung der Regierungssitzungen zu. Er ist somit nur „primus inter pares“. Relevant für die Stellung des Parlamentes ist somit die Tatsache der relativ grossen institutionellen Unabhängigkeit zwischen Parlament und Regierung, die dem System der „checks and balances“ des US-amerikanischen Systems näher kommt, als der engen Bindung der Parlamentsmehrheit an die Regierung in parlamentarischen Systemen. Abromeit und Stoiber stellen fest, dass das Fehlen der Instrumente „Misstrauensvotum“ und „Vertrauensfrage“ nur auf den ersten Blick auf eine starke Stellung der Regierung schliessen lasse: „Dagegen spricht hingegen die je individuelle Legitimation der Bundesräte, die zusammen mit ihrer Nicht-Abwählbarkeit durch das Parlament und nicht Abberufbarkeit durch einen Regierungschef (den es in diesem System nicht gibt) den Anreiz vermindert, so etwas wie eine Kabinetts-Disziplin auszubilden, und eher verhindert, dass der Bundesrat der Bundesversammlung als kompakter Machtfaktor gegenübertritt.“ (Abromeit/Stoiber 2006: 89f.).
Gebhard Kirchgässner betont ebenfalls die ausgeprägte Gewaltenteilung und die relativ schwache Stellung der Regierung in der Schweiz: „Thus the extent of division of powers is rather large in Switzerland; there is hardly any government in Western developed countries which have lesser power than the Swiss one.” (Kirchgässner 1994: 200).
2.2 Die unabhängige Stellung des Parlamentes gegenüber dem Gericht Im schweizerischen Bundesstaat fehlt auch die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Erlassen des Parlamentes, wie sie in vielen modernen Demokratien nicht mehr wegzudenken und etwa in den Vereinigten Staaten und auch in Deutschland ausgeprägt vorhanden ist.
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Das Schweizerische Bundesgericht darf die Erlasse der Bundesversammlung nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen. Auf der anderen Seite wählt die Bundesversammlung die Mitglieder des Bundesgerichtes. Das Bundesgericht darf lediglich auf konkrete Klage hin kantonales Recht auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung überprüfen. So hat zum Beispiel das Bundesgericht im Juni 2007 Bestimmungen des Steuergesetzes des Kantons Obwalden für nichtig erklärt, weil diese ein degressives Steuermodell vorsahen. Die Schweizerische Bundesverfassung sieht jedoch vor, dass die Steuergesetze den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beachten haben. Demnach, argumentiert das Bundesgericht, dürften nicht höhere Einkommen weniger belastet werden als tiefe (BGER 133 I 206). Sofort nach diesem Entscheid des Bundesgerichts wurden im eidgenössischen Parlament Anträge eingereicht für eine Gesetzesänderung, welche degressive Steuermodelle erlauben sollte. Dieses Bundesgesetz dürfte das Bundesgericht im Gegensatz zum kantonalen Recht nicht beurteilen. Das Bundesparlament kann also theoretisch mit Bundesgesetzen die Verfassung unterlaufen. Es hat hier die Verantwortung zur Kontrolle der Einhaltung der Verfassung selber zu übernehmen, wie es dies auch im vorliegenden Fall getan und die Anträge abgelehnt hat.
2.3 Die Stellung des Parlamentes im System der halb-direkten Demokratie Weder Bundesrat noch Bundesgericht haben somit ein «Vetorecht» gegenüber Entscheiden des Parlamentes, hingegen aber das Volk. Eine vom Parlament beschlossene Verfassungsänderung muss in einer Volksabstimmung die Mehrheit der Stimmenden und der Kantone finden, bevor sie in Kraft treten kann. Werden gegen ein vom Parlament erlassenes Gesetz 50 000 Unterschriften gesammelt, so hat das Volk in einer Abstimmung zu befinden, ob das Gesetz in Kraft treten kann. 100 000 Stimmberechtigte können zudem eine Verfassungsänderung vorschlagen, zu welcher das Parlament Stellung nehmen kann, aber über die schliesslich ebenfalls Volk und Kantone entscheiden. Gerade auch das System der direkten Demokratie hatte Auswirkungen auf die Zusammensetzung der schweizerischen Regierung. Diese Regierungszusammensetzung stellt ein wichtiges Element dar für das Verständnis des parlamentarischen Entscheidungsprozesses. Während die parlamentarischen Demokratien Europas wesentlich vom Zusammenspiel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition geprägt sind, fehlt dieses Element im schweizerischen Parlament. Um politisch möglichst breit abgestützte, vor dem Volk tragfähige Entscheide zu erhalten, wurde es notwendig, dass sich die vier grössten Parteien im
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Parlament zusammenrauften und zusammen eine Regierung bildeten. Seit 1959 setzt sich die aus sieben Mitgliedern bestehende schweizerische Regierung aus Mitgliedern der vier gleichen Parteien zusammen, wobei die Verteilung der sieben Sitze aufgrund veränderter Parteienstärke seither nur einmal – nach den Wahlen von 2003 – geändert wurde. Damals musste die Christlich-demokratische Volkspartei (CVP), welche an Wähleranteil verloren hatte, einen ihrer beiden Sitze an den früheren Juniorpartner und mittlerweile zur wählerstärksten Partei der Schweiz avancierten Schweizerischen Volkspartei (SVP) abgeben. Somit war die SVP zwischen 2003 und 2008 mit zwei Sitzen in der Regierung vertreten, wie auch die Freisinnig-demokratische Partei (FDP) und die Sozialdemokratische Partei (SP). Nach der Abwahl ihres Zugpferdes aus der Regierung im Dezember 2007 hat die SVP jedoch ihre beiden von der Bundesversammlung gewählten Regierungsmitglieder aus der Partei ausgeschlossen, so dass die SVP nun – wohl nur vorübergehend – offiziell nicht in der Regierung vertreten ist. Die schweizerische Regierung ist also somit parteipolitisch breit abgestützt, von der bisweilen pointiert linke Positionen vertretenden SP bis zur nationalkonservativen SVP. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Koalitionsregierung, denn die vier Parteien sind nicht auf ein gemeinsames Regierungsprogramm verpflichtet. Vielmehr erlaubt sich die eine oder andere im Bundesrat vertretene Partei hin und wieder, die Oppositionsrolle zu übernehmen, indem sie sich gegen eine Vorlage der Regierung stellt. Analysen des Abstimmungsverhaltens in der Grossen Kammer, dem Nationalrat, haben gezeigt, dass nur in Ausnahmefällen die Mehrheit der Mitglieder aller vier Regierungsparteien gleich stimmt. Schwarz und Linder untersuchten in der Zeitspanne von 19962005 das Zusammengehen verschiedener Parteien im Nationalrat: Nur in gerade zwei Prozent der untersuchten Fälle stimmte die Mehrheit der Mitglieder der vier Regierungsparteien im gleichen Sinn (Schwarz/Linder: 39). Von einer „Regierungskoalition“ kann also keine Rede sein. Vielmehr bilden sich je nach Abstimmungsgegenstand ad-hoc Bündnisse, wobei am häufigsten die Mitglieder der drei „bürgerlichen“ Regierungsparteien (SVP, FDP, CVP) mehrheitlich gleich stimmen und eine parlamentarische Mehrheit bilden gegen SP und die Grünen, welche nicht in der Regierung vertreten sind. Nicht selten wechselte aber die CVP das Lager und bildete zusammen mit der SP und den Grünen gegen die SVP und die FDP eine Mehrheit. Auch andere Konstellationen kommen vor (Lanfranchi/Lüthi 1999: 99-120). Somit gibt es in der Schweizerischen Bundesversammlung keine institutionalisierte Opposition, sondern es kann höchstens von «fallweiser Opposition» gesprochen werden. Schwarz und Linder betonen denn auch die Bedeutung der Mehrheitsfindung im Parlament für das Funktionieren des politischen Systems der Schweiz:
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„Ins Zentrum der Diskussion gehört […] die Mehrheitsbildung in den beiden Parlamentskammern, die jederzeit in allen thematischen Bereichen wechselnde Koalitionen zulässt und dadurch politischen und gesellschaftlichen Minderheiten hin und wieder zu Erfolgserlebnissen verhilft. Diese Mechanismen sind für das Funktionieren des gesamten politischen Entscheidungskomplexes (inklusive des Gebrauchs der nachgelagerten direktdemokratischen Instrumente) von weit stärkerer Bedeutung als die Zusammensetzung des Bundesrates.“ (Schwarz/Linder: 84).
Die Mehrheitsverhältnisse sind also alles andere als stabil, die Regierung muss für jede Vorlage immer wieder neu Mehrheiten suchen, wie Abromeit und Stoiber festhalten: „Die besondere Natur des schweizerischen Vielparteiensystems führt dazu, dass die jeweilige Regierung im Parlament zwar eine zahlenmässig grosse, aber nur wenig verlässliche Mehrheit hat. Wenn der Bundesrat zu einer Einigung gefunden hat, heisst das noch lange nicht, dass die Regierungsfraktionen sich in gleicher Weise einig werden – umso weniger, als weder der (nicht vorhandene) Regierungschef noch auch einzelne Bundesräte mit zureichenden Sanktionsmitteln der jeweiligen Fraktion gegenüber ausgestattet sind.“ (Abromeit/Stoiber 2006: 92).
Schweizerische Politik bedeutet also ein fortwährendes Aushandeln zwischen verschiedensten Akteuren. Zu diesen Akteuren gehören nicht nur Regierung und Parlament sowie die darin vertretenen Parteien, sondern zum Beispiel auch die Interessenvertreter (meistens organisiert in Verbänden) sowie die im bundespolitischen Entscheidungsprozess ebenfalls mitagierenden Kantone. Parlamentsmitglieder fühlen sich denn auch nicht nur ihrer Partei gegenüber verpflichtet, sondern je nach Konstellation auch einem Verband oder ihrem Kanton (Lüthi/ Meyer/Hirter 1991: 53ff.). Allen in den Entscheidungsprozess intervenierenden Akteuren kommt insofern Gewicht zu, als sie über die „Referendumsfähigkeit“ verfügen, d.h., in der Lage sind, allenfalls die nötigen 50'000 Unterschriften zu sammeln, um eine Volksabstimmung gegen ein unliebsames Gesetz zu bewirken. Denn wie Abromeit und Stoiber festhalten: „Ein Machtzentrum ist in diesem System nicht auszumachen. Dafür ist es leicht, den Letztentscheider zu identifizieren: es ist das Volk.“ (Abromeit/Stoiber 2006: 95).
Was die direkte Wirkung der Volksrechte betrifft, so wäre es dennoch falsch, von einer Konkurrenzierung oder gar Schwächung des Parlamentes durch die Volksrechte zu sprechen. Es werden zwar zahlreiche Volksinitiativen auf Änderung der Bundesverfassung lanciert sowie relativ häufig das Referendum gegen Erlasse der Bundesversammlung ergriffen. Diese sind jedoch relativ selten erfolgreich. Das Parlament wird also kaum durch die Volksrechte desavouiert
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(Sciarini/Trechsel 1996: 201ff.). Die etwa drei Volksabstimmungen pro Jahr zu etwa einem halben Dutzend Vorlagen bieten den Mitgliedern des Parlamentes zudem ein Forum, um „ihre Politik“ in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nicht zu unterschätzen sind indessen die bereits aufgezeigten indirekten Wirkungen auf den parlamentarischen und insbesondere auch auf den vorparlamentarischen Entscheidungsprozess: Die Parlamentsmehrheit ist in der Volksabstimmung eben nur dann erfolgreich, wenn bereits in einem frühen Stadium des Entscheidungsprozesses die relevanten Kräfte mit an Bord genommen werden.
2.4 Das Parlament als „oberste Gewalt“ im Bunde? Die starke Stellung der Bundesversammlung im institutionellen Gefüge findet auch seinen Ausdruck in Artikel 148 der Bundesverfassung, dessen Absatz 1 bestimmt, dass die Bundesversammlung „unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen die oberste Gewalt im Bund“ ausübe. Interessant ist nun aber, dass insbesondere in der staatsrechtlichen Literatur über Jahrzehnte hinweg das Bild eines schwachen und wirkungslosen Parlamentes gezeichnet wird. Immer wieder zitiert wurde die Aussage von Kurt Eichenberger, wonach das schweizerische Parlament an der „administrativ-gouvernementalen Krücke“ gehe (Eichenberger 1965: 285). Er wollte damit sagen, dass das Parlament sich in starker Abhängigkeit von Regierung und Verwaltung befinde und kaum unabhängig agieren könne. Tatsächlich entsprach die reale Position der Bundesversammlung über weite Strecken des 20. Jahrhunderts nicht der verfassungsmässig gebotenen. Dafür gibt es verschiedene Gründe (vgl. auch Linder 1999: 191f.): 1.
2.
Auf die Bedeutung des vorparlamentarischen Verfahrens wurde oben schon hingewiesen. Dieses Verfahren wurde nach dem 2. Weltkrieg formalisiert und immer bedeutender. Das Parlament sah sich immer häufiger mit Vorlagen konfrontiert, welche die Regierung in langwierigen Verfahren mit Kantonen und Interessengruppen austariert hatte, bevor sie dem Parlament überhaupt erst vorgelegt wurden. Wollte das Parlament daran noch etwas ändern, dann stellte es den vorparlamentarischen Kompromiss in Frage und riskierte ein Scheitern der Vorlage in einer Referendumsabstimmung. Während es im 19. Jahrhundert in der Schweiz noch kaum eine Verwaltung im modernen Sinne gab, entstand im Verlauf des 20. Jahrhundert eine differenzierte und spezialisierte Verwaltung. Mit der – in der Schweiz zwar zögerlicheren als in anderen Ländern – Entwicklung des Leistungsstaates wurde die Verwaltung auch immer mehr Vollzugsverwaltung: Wichtige
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3.
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Entscheide wurden erst beim Vollzug der Gesetzgebung gefällt, ohne Interventionsmöglichkeiten des Parlamentes. Da die Verwaltung vor allem bei der Vorbereitung und beim Vollzug der Gesetzgebung – den klassischen Bereichen der Regierung – tätig ist, verstand sie sich immer mehr als Verwaltung der Exekutive und nicht als Verwaltung des Parlamentes. Es ist für die Verwaltung auch nicht einfach, eine Doppelrolle zu spielen, d.h. Gesetzesentwürfe zu machen und dann das Parlament dabei zu unterstützen, dieselben Gesetzesentwürfe möglichst kritisch zu hinterfragen. Als weiterer Punkt kommt die zunehmende Bedeutung der Aussenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinzu. Aussenpolitik ist die klassische Domäne der Regierung. Mit zunehmender Bedeutung der internationalen Rechtsetzung wurde somit die Regierung vermehrt in einer klassischen Parlamentsdomäne tätig, ohne dass die geeigneten Instrumente zur parlamentarischen Mitsprache zur Verfügung standen.
Der Gestaltungs- und Handlungsspielraum der Schweizerischen Bundesversammlung wurde somit trotz ihrer formal grossen Kompetenzen im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer mehr eingeschränkt (Linder 1999: 193). Es erstaunt deshalb nicht, dass gegen Ende des 20. Jahrhundert das Thema „Parlamentsreform“ ein Dauerbrenner war. Auf die Frage, ob die verschiedenen Bemühungen zur Stärkung des Parlamentes auch erste Wirkungen zeigen, soll im Anschluss an die Darstellung der wichtigsten Reformen eingegangen werden.
3
Wie sich die Bundesversammlung unspektakulär, aber wirksam reformierte
3.1 Beginn eines ersten Reformschubs in den 1960er Jahren Um ihrer verfassungsmässig vorgesehenen Stellung wieder gerecht zu werden, hat die Bundesversammlung verschiedene Reformen ihrer Rechte, ihrer Verfahren und ihrer Strukturen vorgenommen. Es war der Schock nach der so genannten „Mirage-Affäre“, welche Mitte der 1960er Jahre einen ersten Reformschub auslöste. Ausgangspunkt war damals ein Kauf von Kampfflugzeugen, deren Preis schliesslich die vom Parlament ursprünglich bewilligten Mittel weit überstieg. Die Bundesversammlung nahm dies zum Anlass, ihre Rechte zur Wahrnehmung der Oberaufsicht auszubauen. Eine Arbeitsgruppe bestehend aus Mitgliedern beider Räte zur Aufklärung der Mirage-Angelegenheit deckte grobe Fehler in der Verwaltungsführung des Bundesrates und zudem eine mangelhafte Kontrolle der Exekutive durch das Parlament auf. Sie unterbreitete deshalb
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verschiedene Vorschläge zur Stärkung dieser Kontrolle. So wurde insbesondere das Instrument der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Klärung von Vorkommnissen von grosser Tragweite geschaffen sowie die Rechte und Pflichten der ordentlichen Kontrollkommissionen (Geschäftsprüfungskommissionen genannt) erweitert. Insbesondere wurde auch die Auskunftspflicht der Beamten gegenüber parlamentarischen Kommissionen geregelt (Riklin/Gut 1977: 14f.). Beobachter wollen denn auch schon in den 1960er Jahren ein gesteigertes Selbstbewusstsein des Parlamentes beobachtet haben. So hielt Erwin Akeret 1981 fest: „Beachtenswert ist der Wandel seit Beginn der 60er Jahre: Das Parlament hat aufgeholt, ist sich seiner Stellung bewusster geworden, entfaltet mehr Eigeninitiative, hat die Mittel der Oberaufsicht und der Infrastruktur verstärkt.“ (Akeret 1981: 254).
Neben der Stärkung der Kontrollfunktion lagen die Schwerpunkte der zahlreichen punktuellen Parlamentsreformen in den Jahrzehnten nach 1960 vor allem in den Bereichen „Straffung der parlamentarischen Arbeit“ (dies betraf vor allem die Arbeitsweise des Nationalrates, wo beispielsweise Redezeitbeschränkungen eingeführt wurden) und „Ausbau des Sekretariates der Bundesversammlung“ (hier wurde insbesondere ein Dokumentationsdienst geschaffen) (Riklin / Gut 1977: 32).
3.2 Die parlamentarischen Initiativen „Parlamentsreform“ in den 1990er Jahren Ein weiterer Reformschub wurde zu Beginn der 1990er Jahren auf Initiative einzelner Ratsmitglieder eingeleitet. Im März 1990 reichten ein Ständerat und ein Nationalrat je eine gleich lautende parlamentarische Initiative ein. Die Initiativen verlangten die Umsetzung eines Katalogs von Massnahmen für eine grundsätzliche Parlamentsreform (vgl. Rhinow 2000: 266). Beiden Initiativen wurde ohne Gegenstimme Folge gegeben, so dass die mit der Umsetzung beauftragten Kommissionen die Arbeit an die Hand nehmen konnten. Bereits Ende 1991 konnte die Bundesversammlung eine erste Reformetappe abschliessen, welche auf Reglements- und Gesetzesebene vorgenommene Änderungen beinhaltete. Kernstücke der vorgenommenen Änderungen bildeten einerseits die Reform des Kommissionensystems, andererseits der vermehrte Einbezug des Parlamentes in die Aussenpolitik. Vorgeschlagen wurden auch eine höhere Entschädigung und eine verbesserte Infrastruktur für die Parlamentsmitglieder. Die Vorschläge für bessere Arbeitsbedingungen der Parlamentsmitglieder stiessen jedoch auf Kritik, so dass das Referendum gegen die auf Gesetzesstufe
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vorgeschlagenen Änderungen ergriffen wurde. Interessanterweise stimmte das Schweizervolk in der Volksabstimmung vom 27. September 1992 differenziert ab: Es stimmte den gesetzlichen Änderungen für einen Ausbau der Rechte des Parlamentes zu, lehnte hingegen die Vorlage für bessere Entschädigungen und Infrastrukturen deutlich ab. Das Verdikt des Schweizer Volkes war klar: Das Parlament soll durchaus über weitgehende Rechte verfügen und zum Beispiel in der Aussenpolitik mitreden. Kosten sollte dieses Parlament aber möglichst wenig.
3.3 Reform des Kommissionensystems Für die im Rahmen des Reformpakets von 1990/91 vorgenommene Umgestaltung des Kommissionensystems reichte eine Änderung der Ratsreglemente. Dennoch handelte es sich um eine nachhaltige Reform. Die Bundesversammlung ist damals nämlich von einem System von vorwiegend ad hoc für ein bestimmtes Geschäft eingesetzten Kommissionen zu einem System von ständigen Kommissionen übergegangen. In der Schweizerischen Bundesversammlung werden fast alle Geschäfte von Kommissionen vorberaten. Der Tätigkeit der Kommissionen kommt somit im parlamentarischen Entscheidungsprozess grosse Bedeutung zu. Bis zur Reform von 1991 wurden die meisten wichtigen Geschäfte in der Schweizerischen Bundesversammlung von ad hoc bestellten Kommissionen vorberaten, d.h. die Kommissionen wurden für die Beratung eines konkreten Geschäftes eingesetzt und nach dessen Erledigung wieder aufgelöst. Es existierten zwar durchaus schon ständige Kommissionen für bestimmte Sachbereiche, welche jedoch in der Regel nur für die Beratung von wiederkehrenden Routinegeschäften zuständig waren. Vorlagen von erheblicher politischer Tragweite wurden hingegen meistens von nichtständigen Kommissionen vorberaten (vgl. Lüthi 1996: 82, 1997: 40). Diese Kommissionen waren denn auch häufig aus Parlamentsmitgliedern zusammengesetzt, welche an der zu behandelnden Vorlage ein spezielles Interesse hatten. So fanden sich zum Beispiel die in der Schweizerischen Bundesversammlung zahlreich vertretenen Landwirte und die der Landwirtschaft nahe stehenden Interessenvertreter alle zusammen in denjenigen Kommissionen ein, welche Vorlagen aus dem Bereich der Landwirtschaft zu beraten hatten. Diese brachten einen sehr spezifischen, von konkreten Interessen gespiesenen Sachverstand in die Kommissionen ein. Mit der Reform von 1991 wurde die Bundespolitik in Sachbereiche aufgeteilt. Jede Kommission ist für einen bestimmten Sachbereich zuständig3, ausser 3
Folgende ständige Sachbereichskommissionen sind heute in der Bundesversammlung tätig (wobei beide Räte die gleiche Aufteilung kennen): Die Aussenpolitischen Kommissionen
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die Finanz- und Geschäftsprüfungskommissionen, welche für die Wahrnehmung der Finanzkompetenzen und der Oberaufsichtskompetenzen der Bundesversammlung zuständig sind. Die Bereiche der Kommissionen decken sich nicht unbedingt mit denjenigen der Departemente (Ministerien), was sich schon darin zeigt, dass es sieben Departemente und zehn Sachbereichskommissionen gibt. Die Vermeidung einer allzu engen Anbindung einer Parlamentskommission an ein bestimmtes Departement empfiehlt sich; können doch dadurch eher Klientelbeziehungen zwischen einem bestimmten Mitglied der Regierung und einer parlamentarischen Kommission vermieden werden. Dennoch ist es unvermeidlich, dass gewisse Kommissionen zum Teil fast ausschliesslich mit dem gleichen Departement zu tun haben. Die Mitglieder der Kommissionen werden für vier Jahre gewählt und während zwei Jahren vom gleichen Präsidenten präsidiert. Dies erlaubt den Kommissionen, in ihren Sachbereichen am Ball zu bleiben und auch Themen aufzugreifen, wenn keine Vorlage der Regierung zur Diskussion steht. Den Kommissionen kommt somit ein Selbstbefassungsrecht zu, welches sie erst mit ihrer Konzeption als ständige Organe richtig wahrnehmen können. Das Parlament soll nicht warten, bis die Regierung ihm eine Vorlage zur Beratung unterbreitet, sondern die gesellschaftliche und politische Entwicklung verfolgen, in ständigem Dialog mit der Regierung stehen, und allenfalls auch selber Vorlagen zur Beratung unterbreiten. Nicht selten wurden in den letzten 15 Jahren Gesetzesentwürfe nicht von der Regierung, sondern von einer parlamentarischen Kommission erarbeitet. Durch die kontinuierliche Beschäftigung mit dem Themenbereich können die Mitglieder der Kommissionen einen entsprechenden Sachverstand aufbauen. Dabei handelt es sich nun um einen „institutionalisierten“ Sachverstand, welcher auf einer kontinuierlichen Beschäftigung mit einer Thematik beruht. Aufgrund der relativ grossen Sachbereiche sind die Kommissionen denn auch repräsentativer zusammengesetzt, so dass nicht mehr nur der von Interessengruppen geprägte Sachverstand zum Zug kommt. Die Landwirtschaftspolitik wird zum Beispiel von der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) behandelt. Diese Kommission beschäftigt sich generell mit wirtschaftspolitischen Fragen und interessiert dementsprechend Parlamentsmitglieder mit verschiedensten Interessen, welche nicht bereit sind, diese Kommission den Landwirten zu über(APK), Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK), Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK), Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK), Sicherheitspolitische Kommissionen (SIK), Kommissionen für Verkehr und Fernmeldewesen (KVF), Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben (WAK), Staatspolitische Kommissionen (SPK), Kommissionen für Rechtsfragen (RK), Kommissionen für öffentliche Bauten (KöB).
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lassen. Längst nicht alle Landwirte oder landwirtschaftsnahe Parlamentsmitglieder können deshalb mit einer Einsitznahme in der WAK rechnen und die Landwirtschaftspolitik auf Kommissionsebene, wo die Weichen gestellt werden, mitgestalten. Anliegen der Reformer war es auch, dass das Parlament auch im vor- und im nachparlamentarischen Entscheidungsprozess vermehrt Einfluss nehmen können soll, indem seine Kommissionen einerseits im Hinblick auf künftige Gesetzgebungen der Regierung Anregungen übermitteln und andererseits auch die Umsetzung von Parlamentsbeschlüssen durch Regierung und Verwaltung besser verfolgen können. Die Reform wurde denn auch als „Ausdruck eines deutlichen Willens zur Verschiebung des Gewichtes der Gewalten im Gesetzgebungsprozess zugunsten des Parlamentes“ gesehen (Graf 1991: 38).
3.4 Mitsprache in der Aussenpolitik durch Konsultationsrechte Ebenfalls im Jahre 1991 hat die Bundesversammlung ihre Mitspracherechte in der immer wichtiger werdenden Aussenpolitik verbessert. Es wurde eine neue Gesetzesbestimmung geschaffen, welcher die parlamentarische Mitwirkung in der Aussenpolitik regelt. Darin wurde die Regierung zum einen verpflichtet, die Ratspräsidien sowie die Aussenpolitischen Kommissionen regelmässig, frühzeitig und umfassend über wichtige aussenpolitische Entwicklungen zu informieren. Zum anderen wurde die Regierung auch dazu verpflichtet, die Aussenpolitischen Kommissionen zu konsultieren, bevor sie Verhandlungen in internationalen Organisationen aufnimmt, deren Ergebnis die Schweiz zur Rechtsetzung verpflichten. Inzwischen ist diese Bestimmung noch ergänzt worden: Es ist nun nicht mehr nur von Verhandlungen in internationalen Organisationen die Rede, sondern alle Mandate für bedeutende internationale Verhandlungen sowie wesentliche Vorhaben können Gegenstand einer Konsultation sein. Somit sind auch bedeutende bilaterale Verhandlungen in die Konsultationspflicht eingeschlossen (vgl. Lüthi 2003: 61). Mit dieser Reform wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass Gesetzgebung immer mehr auf internationaler Ebene geschieht. Auch wenn die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, muss das Parlament darauf achten, dass es im Prozess der Internationalisierung des Rechts nicht aussen vor ist. Heute, 15 Jahre später, sind die Aussenpolitischen Kommissionen der Bundesversammlung wichtige Akteure in der Aussenpolitik. Es findet ein intensiver aussenpolitischer Diskurs zwischen der Aussenministerin und den Kommissionen statt. Sinnvollerweise findet dieser Diskurs auf Kommissionsebene und nicht in den Ratsplena statt, denn im aussenpolitischen
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Bereich ist häufig flexibles und rasches Handeln angesagt. Zudem bleiben so heikle Verhandlungsmandate vertraulich. Mit der Mitwirkung an der Aussenpolitik wurde somit eine wichtige parlamentarische Aufgabe an parlamentarische Kommissionen delegiert.
3.5 Konsultation bei der Verordnungsgebung Die Mitwirkung in der Aussenpolitik ist ein Beispiel dafür, dass die Bundesversammlung auch versucht, ausserhalb des ihr originären Zuständigkeitsbereiches – der Gesetzgebung – mitzuwirken. Konsultationsrechte, mit denen das Parlament die Entscheide der Regierung mit beeinflussen kann, haben in jüngerer Zeit auch in anderen Bereichen an Bedeutung gewonnen, so zum Beispiel im Bereich der Verordnungsgebung durch die Regierung (vgl. Lüthi 2003: 62). Die Umsetzung der Gesetzgebung durch Verordnungen ist im Kompetenzbereich der Regierung. Dem Parlament kann es jedoch nicht gleichgültig sein, wie diese Verordnungsgebung aussieht, geht es doch um die Umsetzung seiner gesetzgeberischen Beschlüsse. Das Parlament muss darauf achten, dass seine Gesetzgebung durch die Verordnungen auch in seinem Sinn umgesetzt und nicht etwa unterlaufen wird. Das heutige Konsultationsrecht bei Verordnungen geht auf einen Reformvorschlag aus dem Jahre 1999 zurück. In Umsetzung einer parlamentarischen Initiative wurde damals eine neue gesetzliche Bestimmung beschlossen, wonach die zuständige parlamentarische Kommission verlangen kann, dass der Bundesrat ihr einen Entwurf für eine Verordnung, welche in erheblichem Mass ausserhalb der Bundesverwaltung vollzogen wird, zur Konsultation unterbreitet. Damals ging es darum, insbesondere die Interessen der Kantone zu schützen, welche häufig Vollzugsträger von Verordnungen der Regierung sind. Später wurde diese Bestimmung jedoch auf alle Verordnungen ausgedehnt. Inzwischen hat sich eine Praxis entwickelt, wonach die Kommissionen jeweils nach der Beratung der Gesetzesvorlage entscheiden, ob sie zur Ausführungsverordnung konsultiert werden wollen. Liegt dann der Verordnungsentwurf der Kommission vor, geht es um die Beurteilung, ob mit der Verordnung der Willen des Parlamentes umgesetzt worden ist.
3.6 Modernisierung des Parlamentsrechts auf Verfassungsebene Mit der Reform des Kommissionensystems und der Schaffung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte in der Aussenpolitik waren noch nicht alle Anliegen
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der im Jahre 1990 eingereichten parlamentarischen Initiativen zur Parlamentsreform erfüllt. In der Folge – Mitte der 90er Jahre – hat deshalb das Parlament, das heisst seine Staatspolitischen Kommissionen, eine umfassende Überprüfung des Parlamentsrechts auf Verfassungsebene vorgenommen. Insbesondere wurde unter Mithilfe einer Expertenkommission auch die Kompetenzverteilung zwischen Bundesversammlung und Bundesrat überprüft und entsprechende Reformvorschläge wurden erarbeitet. Als dann die Reform der Bundesverfassung anstand, war die Chance gekommen, diese Änderungsvorschläge einzubringen. Mit viel Hartnäckigkeit gelang es den Staatspolitischen Kommissionen und den Verfassungskommissionen, das Parlamentsrecht auf Verfassungsebene zu modernisieren. Dabei wurden zum Beispiel die Ratspräsidien durch die Einführung eines zweiten Vizepräsidenten gestärkt, die Kommissionen sowie die Möglichkeit der Kompetenzdelegation an dieselben verfassungsrechtlich festgeschrieben, die Informationsrechte der Kommissionen verankert und die Parlamentsdienste, welche vorher der Stabsstelle der Regierung zugehörig waren, der Bundesversammlung unterstellt. Im Bereich der Zuständigkeiten wurde neu die Mitwirkung des Parlamentes an der Aussenpolitik sowie an der staatlichen Planung verfassungsmässig verankert, die Überprüfung der Wirksamkeit staatlicher Massnahmen neu als Aufgabe des Parlamentes festgehalten und es wurde verfassungsrechtlich klargestellt, dass die Bundesversammlung dem Bundesrat auch in seinem Zuständigkeitsbereich Aufträge erteilen kann. Es wird also gemäss schweizerischem Konzept der Gewaltenteilung keine strikte Kompetenzausscheidung zwischen Parlament und Regierung vorgenommen. Das Parlament als „oberste Gewalt“ soll vielmehr die Möglichkeit haben, die Regierung zum Ergreifen einer Massnahme in ihrem Zuständigkeitsbereich zu verpflichten. Soviel nur zu den wichtigsten Änderungen. Diese brachten eine tendenzielle Stärkung der rechtlichen Position der Bundesversammlung. Insgesamt wurde hier jedoch rechtlich festgeschrieben, was sich in der Praxis bereits abzeichnete, nämlich das Bedürfnis der Bundesversammlung, sich in allen Belangen staatlicher Tätigkeit (Gesetzgebung, Planung, Aussenpolitik) als gleichwertiger Partner einbringen zu können. Somit ist es den Staatspolitischen Kommissionen und den Verfassungskommissionen gelungen, „in der neuen Bundesverfassung die wichtigsten Fragen der Gewaltenteilung zu beantworten und verfassungsrechtliche Garantien neu festzuschreiben, die nicht immer unbestritten waren.“ (Graf 2000: 14f.). Mit der Festschreibung dieser verfassungsrechtlichen Garantien hatte die Regierung jedoch grosse Mühe. Offenbar hätte sie auf die vom Parlament vorgenommenen Präzisierungen, welche ihrem Handlungsspielraum gegenüber
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dem Parlament begrenzten, lieber verzichtet. So wehrte sich der Bundesrat zum Beispiel gegen ein direkt auf der Verfassung basierendes Informationsrecht der parlamentarischen Kommissionen, wie es die grosse Kammer, der Nationalrat forderte. Unterstützung fand der Bundesrat in der zweiten Kammer, im Ständerat, in welchem etliche ehemalige Mitglieder von kantonalen Regierungen sitzen. Nach einem intensiven Differenzbereinigungsverfahren zwischen den beiden Kammern setzte sich schliesslich eine Kompromisslösung durch, welche aber im Grundsatz der nationalrätlichen Lösung näher war (Graf 2000: 7-9). Ein weiterer Streitpunkt bei der Regelung der parlamentarischen Kompetenzen in der neuen Bundesverfassung bestand in der Frage, wieweit das Parlament der Regierung Aufträge in deren Zuständigkeitsbereich erteilen können soll. Nach Ansicht der grossen Kammer sollte das Parlament die Regierung dazu auffordern können, eine Massnahme zu ergreifen, auch wenn diese im Zuständigkeitsbereich der Regierung liegt. Auch bei dieser Frage wehrte sich der Bundesrat heftig, vorerst mit Support der kleinen Kammer. Betreffend die Formulierung wurde auch hier ein Kompromiss zwischen den Kammern gefunden. Der Grundsatz, wonach die Bundesversammlung in den Zuständigkeitsbereich der Regierung einwirken können soll, wurde aber schliesslich gemäss dem Anliegen des Nationalrates in die Verfassung aufgenommen (Graf 2000: 11-13). Somit hat in den Jahren 1997 und 1998, als die neue Bundesverfassung im Parlament beraten wurde, „[...] eine recht heftige Auseinandersetzung zwischen den Gewalten um das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung in der neuen Bundesverfassung stattgefunden“ (Graf 2000: 14). Dies obwohl eigentlich auf der Verfassungswirklichkeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgebaut wurde und keine grundlegenden Veränderungen vorgenommen wurden. Wo jedoch in der alten Bundesverfassung noch Unklarheiten über die damals schon weitgehenden Rechte des Parlamentes bestanden, wurde jetzt der verfassungsmässige Rahmen klar abgesteckt.
3.7 Konkretisierung und Konsolidierung des Parlamentsrechts im neuen Parlamentsgesetz Konkretisiert wurde die neue Verfassung durch das neue Parlamentsgesetz, welches am 1. Dezember 2003 in Kraft trat. Darin sind zum Beispiel die parlamentarischen Informationsrechte konkretisiert. Geregelt wurde auch das Verfahren zur Durchsetzung der Informationsrechte des Parlamentes. So entscheiden neu parlamentarische Organe und nicht mehr der Bundesrat, welche Akten für das Parlament zugänglich sein sollen.
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Wichtige Planungen des Bundesrates, insbesondere die so genannte Legislaturplanung, welche die Ziele der Regierung für die vierjährige Legislatur festhält, soll das Parlament in Zukunft nicht mehr einfach nur zur Kenntnis nehmen, sondern es kann darüber beschliessen. Das Festlegen der gesetzgeberischen Schwerpunkte während einer Amtsdauer soll somit eindeutig Sache des Parlamentes und nicht der Regierung sein. Im Weiteren wurden die parlamentarischen Initiativrechte gestärkt, indem das Verfahren zu ihrer Behandlung geändert wurde. Die Verfahrensänderung brachte eine teilweise Verlagerung des Entscheidungsprozesses von den Ratsplena in die parlamentarischen Kommissionen. So braucht es neu die Zustimmung der Kommissionen beider Räte, damit eine parlamentarische Initiative umgesetzt wird. Früher musste der Rat zustimmen, aus dessen Reihen die Initiative eingereicht wurde. Das Motionsrecht, das Recht dem Bundesrat einen Auftrag zu erteilen, wurde neu so ausgestaltet, dass ein Parlamentsmitglied mehr Chancen hat, sein Anliegen zu einem Anliegen des Parlamentes zu machen, wenn es sein Begehren in der zuständigen Kommission deponiert, als wenn es dies im Rat tut. Allenfalls werden seine Profilierungsmöglichkeiten etwas geschmälert, weil sein Anliegen dann nicht mehr unter seinem Namen erscheint, dafür steigen die Erfolgschancen. Damit ist auf einen interessanten Aspekt der Neugestaltung des schweizerischen Parlamentsrechts zu Beginn dieses Jahrhunderts hingewiesen: Die parlamentarischen Instrumente und Verfahrensweisen wurden so ausgestaltet, dass die Bundesversammlung ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen wirksam ausüben kann. Die im schweizerischen Parlamentarismus sonst ausgeprägte individuelle Sichtweise (von Wyss 2003: 91-103), welche die Artikulationsmöglichkeiten des einzelnen Parlamentsmitglieds in den Vordergrund stellt, wurde etwas in den Hintergrund gerückt. Die Output-Seite der Parlamentsarbeit sollte gegenüber der Input-Seite gestärkt werden. Angesichts der Dominanz der InputPerspektive im schweizerischen politischen System im Allgemeinen und im schweizerischen Parlament im Besonderen – man denke nur an das ausgeprägte individuelle Antragsrecht – sicher eine begrüssenswerte Entwicklung (Lüthi 2003: 65). Mit der Verabschiedung des neuen Parlamentsgesetzes hat die Bundesversammlung einen Reformprozess vorerst abgeschlossen. In aller Stille hat sie ihr Instrumentarium modernisiert und ihre Kompetenzen gefestigt bzw. sogar gestärkt.
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Auswirkungen der Reformen
4.1 Wechselwirkung zwischen Reformen und selbstbewussterem Parlament Die direkten Auswirkungen von Parlamentsreformen sind wissenschaftlich nicht einfach zu erfassen. Veränderungen in der Parlamentstätigkeit können einerseits auf Parlamentsreformen zurückgeführt werden. Andererseits wirken immer auch zahlreiche andere Faktoren mit wie veränderte personelle Zusammensetzung von Parlament und Regierung, andere Mehrheitsverhältnisse, Art der zu behandelnden Themen usw. Wenn zum Beispiel die Schweizerische Bundesversammlung initiativer und regierungskritischer geworden ist, so kann dies eine Folge von Parlamentsreformen sein. Auf der anderen Seite war es natürlich auch das selbstbewusstere Selbstverständnis einer neuen Parlamentariergeneration, welches Reformen ermöglichte. Mit den Reformen werden dann die Instrumente und Strukturen bereitgestellt, mit denen das selbstbewusstere Parlamentarierverständnis zum Ausdruck gebracht werden kann. In den beiden folgenden Kapiteln sollen kurz die Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen vorgestellt werden, welche sich empirisch mit der Tätigkeit der Bundesversammlung in den 1990er Jahren auseinandergesetzt haben.
4.2 Auswirkungen der Reform des Kommissionensystems So war die im Jahre 1991 vorgenommene Reform des Kommissionensystems Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung, bot sich doch so die Möglichkeit, die Wirkungsweise der Kommissionen vor und nach der Reform systematisch zu vergleichen (Lüthi 1996 und 1997). In der Studie wurden alle Anträge, welche in den zwei Jahren vor der Reform und in den zwei Jahre nach der Reform von den Kommissionen an die Ratsplena gestellt wurden, erfasst. Dabei wurde der Anteil derjenigen Anträge gemessen, welche nicht dem Antrag des Bundesrates entsprachen. Im Weiteren wurde auch erfasst, wie erfolgreich die Kommissionen in den Ratsplena mit ihren Anträgen waren.
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Tabelle 1: Anteil Anträge der Kommissionen, die nicht den Anträgen des Bundesrates entsprechen und ihre Erfolgsrate NR und SR 19901994
Anteil der Anträge, die nicht dem Bundesrat entsprachen NR Anteil der Anträge, die nicht dem Bundesrat entsprachen SR Erfolgsrate dieser Anträge im Plenum NR Erfolgsrate dieser Anträge im Plenum SR
ad hoc und alte ständige Kommissionen N NR = 1260 Anträge N SR = 1600 Anträge
neue ständige Kommissionen N NR = 927 Anträge N SR = 1567 Anträge
Signifikanz (student’s t-test: t>2=signifikant)
15.0%
20.8%
t = 3.5
24.9%
27.1%
t = 1.4
95.2%
92.2%
t = 1.2
93.7%
93.4%
t = 0.2
Datenbasis: alle Anträge, welche die Kommissionen als Kommission des Erstrates gestellt haben Quelle: Lüthi 1996: 92 (NR= Nationalrat, SR=Ständerat) Die Ergebnisse in der Tabelle zeigen, dass nach dem Übergang zu einem System ständiger Kommissionen vor allem die nationalrätlichen Kommissionen regierungskritischer und veränderungswilliger geworden sind. In den zwei Jahren nach dem Systemwechsel entspricht ein Fünftel der Anträge der Kommissionen des Nationalrates nicht den Anträgen des Bundesrates und mehr als ein Viertel der Anträge der ständerätlichen Kommissionen entsprach nicht dem Vorschlag des Bundesrates. Vor und nach dem Systemwechsel hoch war die Erfolgsrate der parlamentarischen Kommissionen: In mehr als 90% der Fälle entscheiden die Ratsplena im Sinne ihrer Kommissionen. So konnte festgestellt werden, dass die bedeutendste Auswirkung dieser Reform das Verhältnis zwischen Bundesversammlung und Bundesrat betraf: Die Vertreter von Regierung und Verwaltung haben es seit der Reform mit einer konstant zusammengesetzten Gruppe von Abgeordneten zu tun, welche be-
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stimmte Sachbereiche kontinuierlich verfolgen und sich einen entsprechenden Sachverstand aufbauen können. Regierung und Verwaltung treffen somit zumindest teilweise auf kompetentere, aber auch kritischere Gesprächspartner. Es konnte gezeigt werden, dass die Kommissionen seit der Reform vermehrt Anträge stellen, welche nicht dem Entwurf des Bundesrates entsprachen. Eine etwas anders angelegte spätere Studie (Jegher 1999) kam zu ähnlichen Befunden. Hier wurde analysiert, wer die vom Parlament an einer Regierungsvorlage vorgenommenen Änderungen initiiert. Dabei konnte aufgezeigt werden, dass hinter den allermeisten vom Parlament vorgenommenen Änderungen eine Kommission stand. Im Nationalrat waren die Kommissionen (inkl. Kommissionsminderheiten) für 83 Prozent der Veränderungen der Regierungsvorlagen verantwortlich, im Ständerat gar für 90 Prozent. Eine Regierungsvorlage wurde also im Normalfall nicht aufgrund von Anträgen geändert, welche von einzelnen Parlamentsmitgliedern im Plenum gestellt wurden, sondern aufgrund von Anträgen aus der vorberatenden Kommission. Im Weiteren wurde in dieser Studie festgestellt, dass sich das Ratsplenum in der Regel seiner Kommission anschloss, wenn es sich zwischen einem Antrag seiner Kommission und einem Antrag des Bundesrates entscheiden musste. Der Nationalrat stimmte in 85 Prozent der untersuchten Fälle für den Kommissionsantrag und gegen den Bundesrat, der Ständerat sogar in 97,5 Prozent der Fälle (Jegher 1999: 92). Die Befunde beider Studien belegen die grosse Bedeutung der Kommissionstätigkeit. Die Entscheide werden dort vorgespurt. Wer als Parlamentsmitglied etwas bewirken will, muss seine Anträge nach Möglichkeit bereits auf Kommissionsebene einbringen. Die Ausnahme bestätigt allerdings auch hier die Regel: es gibt durchaus Fälle, in denen die Ratsplena zum Teil wichtige Kommissionsentscheide gekippt haben. Die in den Studien dargelegten Resultate können von den Reformern als Erfolgsbilanz gewertet werden: Insbesondere in Bezug auf ihr Verhältnis zur Regierung konnten die Kommissionen ihre Position stärken (Lüthi 1996: 109).
4.3 Vermehrter Einfluss der Bundesversammlung auf die Gesetzgebung Die Untersuchungen zum Kommissionensystem zeichnen das Bild einer regen parlamentarischen Tätigkeit auf Kommissionsebene. Kann somit insgesamt von einer punktuellen Verlagerung des Entscheidungsprozesses auf die parlamentarische Ebene ausgegangen werden? Wird die Schweizerische Bundesversammlung ihrer verfassungsmässig zugedachten Rolle als Gesetzgeber gerecht? Die Frage „Do parliaments matter?“ ist eine der zentralen Fragestellungen in der internationalen Parlamentsforschung. Das Institut für Politikwissenschaft
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der Universität Bern hat hierzu Ende der 90er Jahre umfangreiche Untersuchungen betreffend die Bundesversammlung durchgeführt. Dabei konnten die mit dieser Frage beschäftigten Forscherinnen feststellen, dass die Bundesversammlung tendenziell mehr in den Gesetzgebungsprozess eingreift als noch in den 70er Jahren, indem sie mehr und stärkere Änderungen an den Vorlagen des Bundesrates vornimmt. Rund jede zweite Vorlage des Bundesrates wurde in den 90er Jahren von der Bundesversammlung verändert. Annina Jegher kommt in ihrer Dissertation zum Schluss: „Gleichzeitig müssen auch die … Aussagen, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Diskussion dominierten und von einer ‚partiellen Abdankung der Bundesversammlung’ sowie einem ‚hilflosen’ und ‚ohnmächtigen’ Parlament ausgingen, revidiert werden: Die vorliegende empirische Untersuchung der parlamentarischen Gesetzgebungsarbeit hat gezeigt, dass das Parlament – wenn es Handlungsbedarf sieht und von der Wichtigkeit einer Vorlage überzeugt ist – durchaus in der Lage ist, inhaltlich gestaltend in die Gesetzgebung einzugreifen und konsensfähige Vorlagen zu verabschieden.“ (Jegher 1999: 206).
Jede zweite Vorlage der Regierung wird also vom Parlament verändert. Veränderung kann dabei durchaus sehr Unterschiedliches bedeuten: Das Spektrum reicht von der redaktionellen Verbesserung bis zur völligen Umgestaltung der Vorlage. Nachfolgend soll anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden, wie die Bundesversammlung den Entscheidungsprozess intensiv mitgestalten kann. Die Beispiele sind der Studie von Annina Jegher und Prisca Lanfranchi über den Einfluss von National- und Ständerat auf den Gesetzgebungsprozess entnommen (Jegher/Lanfranchi 1996: 32f.). 4.3.1 Fallbeispiel: Bundesgesetz über den Strassentransit im Alpengebiet vom 17. Juni 1994 Im Jahre 1994 stimmten Volk und Stände einer Volksinitiative zu, welche die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene zum Ziel hatte. Die Initiative hatte u.a. zur Folge, dass die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet nicht erhöht werden darf. Die Ausführungsbestimmungen zum neuen Verfassungsartikel waren Gegenstand des Bundesgesetzes über den Strassentransit im Alpengebiet. Im Mittelpunkt der politischen Debatte standen Definitions- und Interpretationsfragen, zum Beispiel die Frage, was eine Transitstrasse sei. Der Bundesrat beabsichtigte, die Transitstrecken über einen Kriterienkatalog zu definieren, also eine generell-abstrakte Normierung vorzunehmen.
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Insbesondere der Nationalrat wehrte sich dagegen und setzte durch, dass die Transitstrecken explizit und abschliessend im Gesetz aufgezählt werden. Die rechtlich unklare und politisch heikle Situation war für das Parlament der Auslöser, nachhaltig in die Gesetzgebung einzugreifen. Es stellte sich der politischen Verantwortung und nahm die umstrittenen Entscheide (Streckendefinition) selber vor, anstatt sie – gemäss Bundesratsvorlage – Bundesrat und Verwaltung zu überlassen. (Ausführliche Darstellung des Falles in: Jegher/Lanfranchi 1996: 33 ff.). Beim Bundesgesetz über den Strassentransit im Alpengebiet handelt es sich um ein Beispiel einer Uneinigkeit zwischen Regierung und Parlament betreffend Kompetenzdelegation. Der Bundesrat wollte sich im Gesetz die Kompetenz geben lassen, die Transitstrecken selber definieren zu können; die Bundesversammlung hingegen hat diese Kompetenz zurückgeholt, und die Definition selber im Gesetz vorgenommen. 4.3.2 Fallbeispiel: Zweite Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes vom 23. Juni 1995 Die stark ansteigende Zahl arbeitsloser Personen veranlasste den Bundesrat 1993, eine Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes in die Wege zu leiten. Damit sollte die längerfristige Finanzierung der Arbeitslosenversicherung sichergestellt und ihre Leistungen der veränderten ökonomischen Lage angepasst werden. Dass Arbeitgeber und –nehmerseite sich von Beginn weg gegen die Bundesratsvorlage aussprachen, führte die zuständige Kommission dazu, unter Einbezug der Sozialpartner und später auch der Kantone eine Vorlage auszuarbeiten, die auf einem völlig neuen Konzept beruhte. Das Parlament übernahm damit – nach einem gescheiterten, weil nicht mit konsensfähigen Lösungen aufwartenden vorparlamentarischen Verfahren – die Initiative im Gesetzgebungsprozess. Unter seiner Leitung wurde ein in den Grundsatzfragen vom Bundesrat abweichender, innovativer und konsensfähiger Gesetzesentwurf präsentiert, welcher in National- und Ständerat eine Mehrheit fand. (Ausführliche Darstellung des Falles in: Jegher/Lanfranchi 1996: 33 ff.). Hier haben wir ein Beispiel für die Verlagerung des vorparlamentarischen Entscheidungsprozesses in die parlamentarische Phase. Auch dies ist eine Tendenz, welche die empirischen Forscher und Forscherinnen in den 90er Jahren beobachten konnten, nämlich einen teilweisen Bedeutungsverlust des früher so wichtigen vorparlamentarischen Verfahrens.
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4.3.3 Zunehmende Bedeutung der parlamentarischen Initiative In diesem Zusammenhang ist auf ein Instrument des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens hinzuweisen, welches im Verlauf der 1990er Jahre immer mehr Bedeutung erlangt hat, nämlich die parlamentarische Initiative. Mit einer parlamentarischen Initiative kann jedes Parlamentsmitglied, jede Fraktion oder jede Kommission die Ausarbeitung eines Entwurfs für einen Erlass der Bundesversammlung verlangen (z.B. eine Verfassungs- oder Gesetzesänderung). Stimmen die zuständigen Kommissionen beider Räte dem Anliegen grundsätzlich zu, erarbeitet das Parlament, bzw. die zuständige Kommission selber einen Erlassentwurf im Sinne des Initianten. Die Verfahrensleitung liegt hier also beim Parlament und nicht mehr beim Bundesrat. Dieses Instrument hat sich insbesondere dann als wirkungsvoll erwiesen, wenn möglichst rasch legiferiert werden sollte, oder aber der Bundesrat eine grundsätzlich andere Position vertrat als die Parlamentsmehrheit. Als Beispiel kann hier die Vorlage für eine Regelung der Kaderlöhne in bundesnahen Betrieben genannt werden: Als im Frühjahr 2001 die Saläre des Managements der Schweizerischen Bundesbahnen und der Schweizerischen Post bekannt wurden, verursachte dies grossen medialen Wirbel. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates, welche für das Bundespersonalrecht zuständig ist, thematisierte die Frage und vertrat die Ansicht, dass die Rahmenbedingungen für die Entschädigungen in bundesnahen Betrieben gesetzlich zu verankern seien. Der Bundesrat hingegen vertrat die Ansicht, dass diese Löhne allein durch den Markt bestimmt werden sollten und keine Rahmenbedingungen festgelegt werden sollten. Die Staatspolitische Kommission ergriff deshalb eine parlamentarische Initiative und erarbeitete selber die gesetzlichen Grundlagen für den Erlass solcher Rahmenbedingungen aus. Die Regierung äusserte ihren Unmut über diesen Entwurf, aber bereits in der Sommersession 2003 (also gut zwei Jahre nach Problemerkennung) verabschiedete die Bundesversammlung ein entsprechendes Gesetz. 4.3.4 Bedeutung der Prioritätensetzung Nun sind hier etliche Beispiele aufgeführt worden, bei denen die Bundesversammlung massgeblich in den Entscheidungsprozess eingegriffen hat. Das läuft nicht bei allen Vorlagen so. Wie oben erwähnt, geht die Hälfte der Bundesratsvorlagen unverändert durch die eidgenössischen Räte, und bei anderen Vorlagen sind die vom Parlament beschlossenen Veränderungen nicht sehr bedeutsam. Dies muss auch so sein. Wenn die Bundesversammlung wirkungsvoll in den
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Gesetzgebungsprozess eingreifen will, dann muss sie ihre Kräfte bündeln. Ihr stehen nicht so viele Ressourcen zur Verfügung wie dem Bundesrat. Die Bundesversammlung muss deshalb Prioritäten setzen. Gerade wenn eine Kommission selber eine Gesetzesvorlage ausarbeiten will, stösst sie schnell an ihre Grenzen. Die Kommissionen verfügen nicht über genügend eigenes Personal und müssen in diesen Fällen auf die Ressourcen der Verwaltung zurückgreifen. Insgesamt kann aber gesagt werden, dass es der Bundesversammlung immer wieder gelingt, dort wo es der Mehrheit wichtig ist, den Entscheidungsprozess in ihrem Sinn zu beeinflussen, sei es indem sie eine Bundesratsvorlage massiv umgestaltet, sei es indem sie mit der parlamentarischen Initiative selber das Heft in die Hand nimmt.
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Ein rechtlich starkes Parlament in einem ressourcenmässig engen Korsett
Der rechtliche Rahmen sollte in Zukunft die Bundesversammlung kaum daran hindern, als wirkungsvoller Akteur im bundespolitischen Entscheidungsprozess mitwirken zu können. Allein die – trotz einiger mittlerweile ebenfalls vorgenommenen Verbesserungen – nach wie vor beschränkten Ressourcen und die im Vergleich zur Bundesverwaltung bescheidene Parlamentsverwaltung werden die Bundesversammlung dazu zwingen, ihr rechtlich starkes Instrumentarium sehr zielgerichtet und punktuell einzusetzen. Eine international vergleichenden Studie hat nämlich gezeigt, dass die Schweiz im Quervergleich von 20 OECD-Staaten über das kostengünstigste Parlament verfügt und das Einkommen der Schweizer Parlamentsmitglieder auf dem zweitletzten Rang liegt (Zgraggen/Linder 2004: 18). Für die Studie, welche die Professionalisierung des schweizerischen Parlamentes vergleichend darstellt, wurde ein Professionalisierungsindex erarbeitet, welcher auf den Indikatoren Einkommen, Kosten für das Parlament und Zeitaufwand für die Parlamentstätigkeit beruht. Als Referenzgrösse wurde das am meisten professionalisierte Parlament, das amerikanische Repräsentantenhaus, genommen. Der Vergleich der zwanzig untersuchten OECD Länder anhand des Professionalisierungsindexes zeigt, dass die grossen Kammern der Parlamente zwischen 0.184 (Spanien) und 1 (USA) Punkte auf dem Professionalisierungsindex erreichen. Spanien hat gegenüber dem amerikanischen Repräsentantenhaus also das am schwächsten professionalisierte Parlament. Das „House of Commons“ von Kanada erreicht mit 0.537 die höchste Professionalisierung gemessen am Repräsentantenhaus der USA mit 1.000.
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Tabelle 2: Professionalisierungsgrad der Parlamente der OECD Länder
Land Spanien Schweiz Luxemburg Neuseeland Schweden Portugal Norwegen Belgien Finnland Dänemark Irland Australien Österreich Deutschland Niederlande England Italien Frankreich Kanada USA
0.140 0.077
Zeitaufwand a: Sessionen 0.355 0.294
Zeitaufwand b: Kommissionen 0.123 0.303
Zeitaufwand: Prof.index MW a und b 0.239 0.184 0.299 0.200
0.367
0.125
0.207
0.345
0.276
0.256
0.251
0.102
0.602
0.268
0.435
0.263
0.318 0.287 0.406 0.411 0.348 0.397 0.427 0.367 0.605
0.171 0.250 0.235 0.296 0.172 0.198 0.208 0.415 0.263
0.600 0.360 0.445 0.264 0.543 0.596 0.737 0.563 0.368
0.046 0.221 0.072 0.239 0.341 0.187 0.174 0.095 0.125
0.323 0.290 0.258 0.251 0.442 0.392 0.455 0.329 0.246
0.271 0.276 0.300 0.320 0.321 0.329 0.363 0.370 0.371
0.490
0.565
0.495
0.227
0.361
0.472
0.496
0.308
0.891
0.418
0.655
0.486
0.535
0.215
1.332
0.117
0.725
0.492
0.364 0.475 0.836 1.000
0.405 0.523 0.326 1.000
0.787 0.985 0.765 1.000
0.683 0.156 0.130 1.000
0.735 0.571 0.447 1.000
0.501 0.523 0.537 1.000
Einkommen
Kosten Parlament
0.173 0.225
Quelle: Zgraggen/Linder 2004: 18 Zgraggen und Linder fassen ihre Ergebnisse bezüglich des schweizerischen Nationalrates folgendermassen zusammen: „Der schweizerische Nationalrat ist mit einem Indexwert von 0.200 das am zweitschwächsten professionalisierte Parlament der untersuchten OECD Länder (Rang 19). Werden die drei Indikatoren Einkommen, Zeitaufwand und Kosten einzeln angeschaut, so zeigt sich, dass das Schweizerische Parlament bezüglich Einkommen
Die Schweizerische Bundesversammlung
195
Rang 19, bezüglich Kosten Rang 20 und bezüglich Zeitaufwand Rang 14 einnimmt. Es ist also in Bezug auf alle drei Messgrössen schwach professionalisiert, d. h. die Mitglieder des Schweizerischen Parlamentes verdienen im Vergleich sehr wenig, bringen wenig Zeit für die Parlamentstätigkeit auf, aber das Schweizer Parlament ist das kostengünstigste aller OECD Länder. Die zeitliche Belastung ist für die Mitglieder des Eidgenössischen Parlamentes im Vergleich insgesamt eher gering. Dabei ist vor allem die zeitliche Belastung für die Plenumsarbeit mit Rang 17 klein. Der Zeitaufwand für die Kommissionstätigkeit ist mit Rang 6 aber hoch. Die zeitliche Belastung für die Parlamentstätigkeit in der Schweiz ist damit in stärkerem Masse auf die Kommissionstätigkeit ausgerichtet.“ (Zgraggen/Linder 2004: 18f.)
Damit ist die Schweiz weit entfernt von den paradiesischen Zuständen, wie sie zum Beispiel amerikanische Kongressabgeordnete antreffen. Aber vielleicht hat dies auch Vorteile: Der US-Kongress soll dem schweizerischen Parlament zwar in Bezug auf die Gewaltenteilung und die Rechte des Parlamentes ein Vorbild sein. Allerdings ist es kaum erstrebenswert, neben der Bundesverwaltung eine ebensogrosse Parlamentsverwaltung aufzubauen, die dann alles doppelt – aus der Sicht des Parlaments – macht. Die beiden Gewalten Bundesrat und Bundesversammlung sollen sich zwar kontrollieren und gegenseitig beeinflussen, sie sollen sich jedoch nicht gegenseitig blockieren und lahm legen, wie wir dies in Einzelfällen vom politischen System der USA kennen (Lösche 1992: 215-230). Der Input-Aspekt ist wichtig, d.h., das Parlament als Vertreter des Souveräns soll möglichst stark am politischen Entscheidungsprozess partizipieren; der Output-Aspekt darf aber nicht vergessen gehen. Das politische System als ganzes muss handlungsfähig bleiben, die Akteure sollten sich gegenseitig nicht blockieren. In den 90er Jahren hat sich gezeigt, dass sich eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung dann ergeben kann, wenn sie sich nicht konkurrenzieren sondern ergänzen. Dies bedeutet, dass das Parlament durchaus mal in die Lücke springen darf und soll, wenn es der Regierung nicht gelingt, im vorparlamentarischen Prozess ein befriedigendes Resultat zu erzielen. Eine gewisse Verlagerung des bundespolitischen Entscheidungsprozesses von den Dunkelkammern der vorparlamentarischen Entscheide ins grelle Licht der parlamentarischen Arenen schadet bestimmt nicht.
6
Voraussetzungen für erfolgreiche Parlamentsreformen
Es wurden hier zahlreiche Reformen der Schweizerischen Bundesversammlung beschrieben, welche sukzessive über mehrere Jahre hinweg vorgenommen worden sind. Immer ging es darum, wenn die Gelegenheit gerade günstig war – wenn
196
Ruth Lüthi
zum Beispiel eine Totalrevision der Bundesverfassung anstand – die Anliegen des Parlamentes einzubringen. Diese Reformen geschahen auf unspektakuläre Weise. Insbesondere wurde darauf verzichtet, ein gross angelegtes langfristiges Projekt „umfassende Parlamentsreform“ zu starten, welches gleichzeitig auf allen Ebenen (Verfassung, Gesetz, Reglement) das Parlamentsrecht umgestalten sollte. Es wurde also äusserst inkrementalistisch vorgegangen. In den letzten 15 Jahren ist es für die Bundesversammlung insofern leichter geworden, das Parlamentsrecht laufend den Bedürfnissen anzupassen, als nun die Räte über eine ständige Kommission mit eignem Sekretariat verfügen, zu deren Themenbereich die Organisation der Institutionen, also auch des Parlamentes gehört. Die vorgenommenen Reformen waren zudem relativ unspektakulär und hatten entweder den leichten Ausbau bzw. die Konsolidierung der Rechte des Parlamentes oder die Modernisierung der Verfahrensweisen und Strukturen im Visier. In vielen Fällen war der Nationalrat die treibende Kraft und der Ständerat eher zurückhaltend, insbesondere was den Ausbau der parlamentarischen Kompetenzen betraf. Meistens lag jedoch die gefundene Kompromisslösung näher bei der ursprünglichen Idee des Nationalrates. Welche Faktoren trugen dazu bei, dass die in Angriff genommenen Reformen meistens auch glückten? Nachfolgend sollen ein paar Faktoren, welche eine günstige Voraussetzung für erfolgreiche Reformen bildeten, aufgeführt werden: a.
b.
Die schweizerische Form der Gewaltenteilung legt geradezu nahe, dass sich das Parlament mit den notwendigen Rechten dotiert, um seiner Stellung gerecht zu werden. In einem System, in dem sich die Gewalten mit gleich langen Spiessen gegenüber stehen – die Bundesverfassung geht sogar von einer Suprematie des Parlamentes aus – muss dafür gesorgt werden, dass die Gewalten auch über die Instrumente verfügen, um ihre jeweilige Funktion wahrzunehmen. Die unabhängige Stellung des Parlamentes gegenüber der Regierung ermöglicht es dem Parlament auch, die dafür notwendigen Reformen relativ unabhängig von der Regierung vorzunehmen. Dies hat die Bundesversammlung auch getan. Rechtlich befindet sie sich denn auch gegenüber der Regierung am längeren Hebel. Dies trifft aber nach wie vor nicht auf die Ressourcen zu. Will das Parlament zum Beispiel selbständig Gesetzesentwürfe ausarbeiten, ist es immer noch in (allzu) grossem Masse auf die Unterstützung der Verwaltung angewiesen. Das schweizerische Konkordanzsystem begünstigt Parlamentsreformen ebenfalls in hohem Masse. In einem System, in dem jedes Parlamentsmitglied gelegentlich in der Oppositionsrolle ist, sind eigentlich alle Parlamentsmitglieder an einer starken Stellung des Parlamentes gegenüber der Regierung interessiert.
Die Schweizerische Bundesversammlung
c.
d.
197
Im Weiteren war es sicher richtig, in kleinen Schritten vorzugehen. Kleinere Reformen bleiben überblickbar und scheitern weniger an divergierenden Vetopositionen: In „Gesamtpaketen“ findet jeder irgendwo einen Punkt, mit dem er nicht einverstanden ist. Insbesondere war es auch richtig, die Parlamentsreform von der Reform anderer Bestandteile des politischen Systems (Regierung, Volksrechte) loszukoppeln. Zwar gab es immer wieder Voten im Sinne, man müsse eine „Gesamtschau“ machen und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Systemelementen beachten. Im Wissen um die wahrscheinliche Folgenlosigkeit solcher „Gesamtschauen“ verbirgt sich hinter solchen Anregungen im besseren Fall Ideenlosigkeit, im schlechteren Fall Reformunwillen. Bei Parlamentsreformen steht häufig der Ausbau der Rechte des Parlamentes und seiner Mitglieder im Vordergrund. Somit gehören alle Parlamentsmitglieder zu den Gewinnern. Allerdings wurden gerade bei der Schaffung des neuen Parlamentsgesetzes auch geringfügige Einschränkungen der Rechte des einzelnen Parlamentsmitgliedes zu Gunsten eines bessern Funktionierens der Institution als Ganzes vorgenommen. Die Tatsache, dass die individuellen Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung immer noch relativ weitgehend sind, mag dazu beigetragen haben, dass die Reformen trotzdem vorgenommen wurden.
Die hier aufgeführten Punkte mögen auch als Erklärung dienen, warum Bemühungen für eine Reform der Schweizer Regierung bisher erfolglos geblieben sind. Hier geht es zum einen um die Frage, ob die Fülle der politischen Probleme noch – wie im 19. Jahrhundert – mit sieben Bundesräten und sieben Departementen bewältigt werden kann. Zum anderen stand immer wieder auch die Frage zur Diskussion, ob das Regierungspräsidium gestärkt werden sollte. Der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin ist nach wie vor – wie im 19. Jahrhundert – nur für ein Jahr im Amt und hat keine weiter reichende Kompetenzen als die sechs Regierungskollegen. Die bisherigen Bemühungen für eine Regierungsreform sind alle gescheitert. Dies mag daran liegen, dass diese unter dem Titel „Staatsleitungsreform“ von einem allzu umfassenden Ansatz ausgegangen sind und zu viel gleichzeitig wollten. Neuerdings wird von bescheideneren Ansätzen ausgegangen. So wird im Moment eine Überprüfung der Zuteilung der Aufgaben auf die sieben Departemente vorgenommen. Allerdings ist auch hier eher weniger mit einem erfolgreichen Ausgang zu rechnen. Im Unterschied zum Parlament haben die Angehörigen der zu reformierenden Institution vor allem zu verlieren. Die Umsetzung jeder der diskutierten Reformvorschläge (Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder, Erweiterung der Kompetenzen des Bundespräsidiums, Aufgaben-
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Ruth Lüthi
neuverteilung) würde Verlierer zur Folge haben. Lieber überlastet sein, als Kompetenzen abgeben, mag hier das Motto sein.
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Die Schweizerische Bundesversammlung
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Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament
201
Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament Peter Schiffauer1
Seit der ersten Direktwahl seiner Mitglieder befindet sich das Europäische Parlament in einem Prozess kontinuierlicher Reform. Die Entwicklung seiner institutionellen Rolle von einer beratenden Versammlung der Europäischen Gemeinschaften zum (Mit-)gesetzgeber der Europäischen Union vollzieht sich auf der Innenseite in zahlreichen Reformschritten. Politische Gestaltungsentscheidungen der Führungsorgane sind für diese Entwicklung in gleicher Weise bedeutsam wie die Weiterentwicklung der Geschäftsordnung des Hauses. Die Vielzahl autonomer Akteure, die in einem Parlament zusammenwirken, hat zur Folge, dass dieses sich wie ein komplexer lebender Organismus in einem Prozess ständiger Veränderung befindet. Jeder neue Akteur setzt andere Akzente, indem er sich innerhalb eines gegebenen Regelwerks in unterschiedlicher Weise verhält, die Regeln anders versteht und anwendet oder auf ihre Veränderung hinwirkt. Die Veränderungsprozesse, die in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte des Europäischen Parlaments erkennbar sind, sollen im Folgenden nach Funktionszusammenhängen des parlamentarischen Geschehens gegliedert und dargestellt werden. Die für die Darstellung gewählten Funktionszusammenhänge spiegeln die Rolle des Europäischen Parlaments im institutionellen System der Europäischen Union wider – und damit auch seine Besonderheiten im Verhältnis zu den Parlamenten der meisten2 europäischen Nationalstaaten, in denen die Wahl, die Unterstützung der und die Opposition zur Exekutive im Brennpunkt des politischen Interesses stehen. Abweichend davon erscheinen im Europäischen Parlament die folgenden Funktionszusammenhänge als relevant für die Darstellung der von ihm vollzogenen Reformprozesse: 1. 2.
Seine Ausgestaltung als attraktiver Ort politischer Öffentlichkeit; seine Behauptung als effizientes Gesetzgebungsorgan;
1
Die nachstehenden Ausführungen geben persönliche Auffassungen des Verfassers wieder und können in keiner Weise dem Organ zugerechnet werden, dessen Beamter er ist. Das Manuskript wurde Mitte September 2007 abgeschlossen. Eine Ausnahme bildet z.B. das Präsidialsystem der Fünften Französischen Republik, in dem die Regierung vom Präsidenten der Republik eingesetzt und entlassen wird und vom Parlament nicht gestürzt werden kann.
2
202 3. 4.
Peter Schiffauer
die Wahrnehmung seiner Wahl-, Haushalts- und Kontrollrechte; seine Anerkennung als Organ eigenständiger demokratischer Repräsentation.
Aus der Übersicht über den in diesen vier Bereichen zurückgelegten Weg ergibt sich ein Bild des gegenwärtigen Entwicklungsstands der Formen parlamentarischer Repräsentation auf der Ebene der Europäischen Union und der Herausforderungen, vor der sie steht. Diese Herausforderungen veranlassen das Europäische Parlament, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine neue Phase der Reform seiner Arbeitsmethoden einzuleiten. Eine von der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden eingesetzte, aus erfahrenen Parlamentariern zusammengesetzte hochrangige Arbeitsgruppe prüft gegenwärtig, wie die Arbeitsweise des Parlaments weiter verbessert werden kann, mit dem Ziel, sowohl die Effizienz der gesetzgeberischen Arbeit im Plenum und in den Ausschüssen zu steigern als auch den Ablauf der Arbeiten in einer Weise zu organisieren, dass sie von der Öffentlichkeit besser verfolgt werden können und insbesondere die Berichterstattung durch die Medien erleichtert wird. Dieser Reflexionsprozess war bei Abschluss des Manuskripts noch in vollem Gange, so dass es unmöglich ist, seine Resultate auch nur tentativ zu antizipieren. Vorläufig kann nur festgehalten werden, dass das Europäische Parlament sich nicht auf der im Folgenden aufgezeichneten Bilanz erfolgreicher Reformen ausruht, sondern in dynamischer Weise bestrebt ist, durch die Gestaltung und ständige Weiterentwicklung seiner Arbeitsmethoden ein Beispiel für handlungsfähigen und gestaltungskräftigen Parlamentarismus zu geben. Durch seine in den Anfängen zugegebenermaßen bescheidene Rolle in den europäischen Entscheidungsprozessen wurde das Europäische Parlament zum Erfolg gezwungen. 1
Das Parlament als attraktiver Ort politischer Öffentlichkeit
Unter den Debatten des Europäischen Parlaments lassen sich drei Grundtypen unterscheiden: 1. 2. 3.
Der politische Dialog mit den anderen Organen der Europäischen Union (Europäischer Rat, Rat, Europäische Kommission, Europäischer Rechnungshof, Europäische Zentralbank); die Beratung von Gesetzgebungs- oder Haushaltsmaterien (auf der Grundlage von Vorschlägen der Kommission oder Beschlüssen des Rates); die Beratung über Anträge aus dem Hause selbst (Initiativen).
Seit den neunziger Jahren hat sich als neue Form parlamentarischer Begegnung die sogenannte „feierliche Sitzung“ herausgebildet, in der ein hochrangiger Gast
Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament
203
(z. B. ein Staats- oder Regierungschef, nicht selten aus einem Drittstaat) vor dem Plenum des Parlaments eine Ansprache hält. In diesen feierlichen Sitzungen findet keine Aussprache statt. Trotzdem erfreuen sie sich eines regen Interesses, sei es wegen der Ausstrahlung des eingeladenen Gastes, sei es wegen der mit seinem Besuch verbundenen politischen Anerkennung des Europäischen Parlaments. In den Aussprachen, die das Parlament bei seinen Beratungen nach den erwähnten drei Grundtypen hält, ist seit seiner ersten Direktwahl ein Faktor konstant geblieben. In Anbetracht der Vielfalt der von den Beratungsthemen berührten Interessen, sei es wirtschaftlicher, geographischer oder politisch-ideologischer Natur, überstiegen seit jeher die Wünsche der Abgeordneten, sich in der Plenardebatte zu äußern, die für die Aussprachen verfügbaren Zeiten. Diese wiederum sind nicht nur durch den parlamentarischen Kalender vorgegeben, sondern auch kaum flexibel, weil die Debatten in alle Amtssprachen verdolmetscht werden müssen3. Die Verteilung der Redezeiten und die Durchsetzung ihrer Einhaltung zählten zu den essentiellen Organisationsproblemen, die das Europäische Parlament lösen musste und gelöst hat. Dies gelang durch die ordnende Funktion der Fraktionen4 des Parlaments. Die während einer Plenartagung insgesamt für die Abgeordneten verfügbare Redezeit wird unter den Fraktionen im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Stärke aufgeteilt, und diese verteilen die Redezeit an ihre einzelnen Mitglieder. In der Praxis sind Redezeiten von fünf Minuten für die ersten Sprecher einer großen Fraktion und von drei Minuten oder weniger für weitere Sprecher üblich, und der Präsident achtet bei der Leitung der Aussprachen mit gebührender Strenge auf die Einhaltung der Redezeiten. 1.1 Der politische Dialog mit den Organen Seit den Anfängen der Europäischen Gemeinschaften ist in den Gründungsverträgen der politische Dialog mit der Europäischen Kommission und dem Rat als spezifische Aufgabe dem Europäischen Parlament anvertraut. Es war üblich, dass zu Beginn eines jeden Halbjahrs der Außenminister des Mitgliedstaats, der die Präsidentschaft im Rat neu übernommen hat, als amtierender Ratspräsident eine programmatische Erklärung abgibt. In dem Maße, wie die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs sich im Laufe der Jahre zu regelmäßigen Tagungen 3
4
Die enorme Konzentrationsleistung, die von einem Simultandolmetscher verlangt wird, lässt sich nur für einen begrenzten Zeitraum erbringen. Damit wird durch die Zahl der der Institution zur Verfügung stehenden Dolmetscherteams der zeitlichen Ausdehnung der Debatten eine Grenze gesetzt. Näheres zu den Fraktionen unter Abschnitt 4.1.3.
204
Peter Schiffauer
des Europäischen Rates entwickelten, wurde der Bericht des Präsidenten des Europäischen Rates über die Ergebnisse dieser Tagungen zum politischen Höhepunkt dieses Dialogs5. Auf die Erklärung des Präsidenten des Europäischen Rates folgt jeweils eine Erklärung des Präsidenten der Kommission. Die Debatte über die Erklärungen wird regelmäßig von den Vorsitzenden oder Sprechern der Fraktionen eingeleitet, die in einer den Fraktionsstärken entsprechenden Reihenfolge das Wort erhalten. Das Europäische Parlament konnte sich seinerseits in den Tagungen des Europäischen Rates Gehör verschaffen, seitdem sein Präsident, obgleich nicht Mitglied dieses Gremiums, eingeladen wurde6, den Staatsund Regierungschefs zu Beginn ihrer Tagung die Positionen des Parlaments vorzutragen. Mit dieser Möglichkeit zum direkten Dialog, die schrittweise zur Regel und in ihrem Umfang erweitert wurde7, gewannen die an den Europäischen Rat gerichteten Entschließungen des Parlaments an Bedeutung. Das Zustandekommen der Erfolgsbilanz des amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates vor dem Europäischen Parlament war anfänglich wegen der halbjährlichen Rotation der Ratspräsidentschaft und dem starren Sitzungskalender des Parlaments noch durch zufällige Terminzwänge gefährdet. Seit das Parlament zunehmend von der Möglichkeit Gebrauch macht, außerordentliche Plenartagungen in Brüssel einzuberufen, können alle amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates vor der parlamentarischen Öffentlichkeit die Bilanz ihrer Tätigkeiten ziehen. Im Ergebnis lässt sich eine deutliche Intensivierung des Dialogs auf der höchsten politischen Ebene feststellen. In den sechs Monaten ihrer Präsidentschaft des Europäischen Rates im ersten Halbjahr 2007 hat die deutsche Bundeskanzlerin Merkel insgesamt viermal an einer Plenartagung des Europäischen Parlaments teilgenommen. In der politischen Debatte mit der Europäischen Kommission hat in den letzten Jahren das Ringen um programmatischen Einfluss auf die europäischen Gesetzgebungsinitiativen eine zentrale Stelle eingenommen. Parallel zur schrittweisen Stärkung8 der Mitwirkungsrechte des Parlaments bei der Ernennung des Präsidenten und Einsetzung der Europäischen Kommission hat das 5
6 7 8
Im Jahre 1984 wurde das Programm der französischen Präsidentschaft am 18. Januar von Außenminister Cheysson als amtierender Ratspräsident erläutert (Abl. Nr. C 46 vom 20.2.1984 S. 71). Im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rates hielt Staatspräsident Mitterand in seiner Eigenschaft als amtierender Ratspräsident am 24. Mai 1984 eine beeindruckende Rede vor dem Europäischen Parlament (Abl. C Nr. 172 vom 2.7.1984 S. 130). Seit dem Jahr 1987. Seit der Regierungskonferenz zur Vorbereitung des Vertrags von Nizza nimmt der Präsident des Parlaments ohne Einschränkung an den als Regierungskonferenz stattfindenden Teilen der Sitzungen des Europäischen Rats teil. Konsultation zur Ernennung des Kommissionspräsidenten und Zustimmung zum Kollegium im Vertrag von Maastricht, Zustimmung zur Designation des Kommissionspräsidenten im Vertrag von Amsterdam, Wahl des Kommissionspräsidenten im künftigen Reformvertrag
Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament
205
Parlament in Form sogenannter „Rahmenabkommen“9 ein Instrument entwickelt, in dem in einer Art Legislaturvertrag mit der Kommission unter Wahrung der jeweiligen institutionellen Vorrechte10 Absprachen über die Gestaltung der institutionellen Zusammenarbeit getroffen werden. Ein zentraler Aspekt ist die Vereinbarung einer Zusammenarbeit bei der Aufstellung des Gesetzgebungs- und Arbeitsprogramms der Europäischen Kommission für das nachfolgende Jahr. In Anbetracht der Tatsache, dass im institutionellen System der Europäischen Union das legislative Vorschlagsrecht und die legislativen Entscheidungsbefugnisse auf verschiedene autonome Instanzen verteilt sind, ist der interinstitutionelle Dialog über die Programmierung der Gesetzgebungsarbeit eine wesentliche Vorbedingung ihres erfolgreichen Abschlusses. Im Verhältnis zu den anderen Organen hat auf der Ebene des Plenums der Dialog mit der Europäischen Zentralbank und mit dem Europäischen Rechnungshof den angemessenen Platz errungen. Der Dialog mit den Rechtsprechungsorganen wird unter Beachtung der Zurückhaltung, die im Hinblick auf die Wahrung der Unabhängigkeit der Judikative geboten ist, in einem informellen Rahmen gepflegt. Insgesamt hat das Europäische Parlament in den sechs Legislaturperioden seit seiner ersten Direktwahl den politischen Dialog auf der höchsten politischen Ebene zu einer Kette markanter Ergebnisse formen können, die den geschichtlichen Verlauf des Integrationsprozesses öffentlich machen und auf seine weitere Entwicklung Einfluss nehmen. 1.2 Die Beratungen im Gesetzgebungs- und Haushaltsverfahren Ungeachtet der dargestellten Höhepunkte parlamentarischer Debatten ist das Europäische Parlament, wie viele andere Parlamente, mit dem Umstand konfrontiert, dass die Diskussionen über die laufenden Beratungsthemen nicht für alle Abgeordneten die gleiche Attraktivität aufweisen. Die Debatten im Plenum finden nicht selten in einem kleinen Kreis von Mitgliedern statt, der kaum über denjenigen hinausgeht, der sich an den vorbereitenden Beratungen im Ausschuss beteiligt hat. Das gilt freilich nicht für Gesetzgebungsvorhaben mit bedeutenden Auswirkungen, wie z. B. in jüngster Zeit die Beratungen über die 9 10
Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, Anlage XIII, Abl. C 121 vom 24.4.2001 S. 122 Erklärung 3 zum Vertrag von Nizza (Abl. Nr. C 80 vom 10. März 2001) stellt klar, dass interinstitutionelle Vereinbarungen nicht die in den Verträgen niedergelegten Vorrechte der Institutionen berühren können und dürfen.
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Peter Schiffauer
Dienstleistungsrichtlinie11 oder die Gesetzgebung über Zulassung und Überwachung chemischer Substanzen „REACH“12, die erhebliche politische Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben und in denen das Parlament seine Fähigkeit unter Beweis stellen konnte, tragfähige Kompromisse zu erarbeiten 13. Seit das Europäische Parlament durch den Vertrag von Maastricht mit relevanten Mitentscheidungsbefugnissen in der Unionsgesetzgebung ausgestattet wurde, sind die Leitungsorgane des Parlaments14 bestrebt, die Plenardebatten nach inhaltlich zusammengehörigen Themenblöcken zu organisieren und diesen die zentralen Zeitabschnitte der Debatten vorzubehalten. Themen, die eher Spezialinteressen berühren, werden häufiger in den späteren Abendstunden erörtert. Seit der Reform der Geschäftsordnung des Jahres 200215 findet bei Beratungen über Gegenstände, deren Behandlung im Ausschuss nicht streitig war und für die seitens der Fraktionen kein besonderes politisches Interesse angemeldet wird, im Plenum des Parlaments überhaupt keine Debatte mehr statt, sondern nur noch eine einzige Abstimmung. Diese Reform hat sich als ein sinnvolles Mittel erwiesen, um die Plenardebatten auf wesentliche Gegenstände zu konzentrieren. Gegenwärtig wird darüber nachgedacht, die zur Zeit noch möglichen Ausnahmen von dieser Regelung weiter einzuschränken. In ihrem Ablauf sind die Debatten über Gesetzgebungs- und Haushaltsfragen stärker durch die Ausschussstruktur geprägt. Der Berichterstatter des federführenden Ausschusses und die Verfasser der Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse erhalten zur Darlegung ihres Berichts Redezeit, die nicht auf die Fraktionsquoten angerechnet wird. Abweichend von der früheren Praxis erhält die Kommission jetzt bereits zu Beginn der Plenardebatten über Gesetzgebungsvorschläge das Wort, um als deren Urheber diese vor dem Parlament zu erläutern. Schritt für Schritt mit der Behauptung des „Mitentscheidungsverfah-
11 12
13 14 15
Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376 vom 27.12.2006, S. 36–68. Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission, ABl. L 396 vom 30.12.2006 Hierzu Näheres unten im Abschnitt 2. Für die Aufstellung des Entwurfs der Tagesordnung ist gemäß Artikel 24 Absatz 5 und 130 der Geschäftsordnung die Konferenz der Präsidenten verantwortlich. Die Konferenz der Ausschussvorsitzenden gibt eine vorbereitende Stellungnahme ab. Beschluss über die Änderung der Geschäftsordnung vom 12. Juni 2002, Artikel 110a (neu), Abl. C Nr. 261E vom 30.10.2003, S. 380 ff, 367.
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rens16 als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“17 wird die Anwesenheit eines Vertreters des Rates während der Plenardebatte über wichtige Gesetzgebungsvorhaben von einer politischen Forderung des Parlaments zur Realität. Dieser Präsenz kommt besondere Bedeutung zu, wenn den Beratungen informelle Kontakte zur Herbeiführung einer Einigung zwischen Parlament und Rat in erster oder zweiter Lesung vorausgegangen sind und der amtierende Ratspräsident dem Plenum das Einverständnis des Rates mit bestimmten vorgeschlagenen Änderungen der Beratungsvorlage bestätigen kann. 1.3 Beratungen über Initiativen aus dem Parlament In den Jahren nach der ersten Direktwahl haben die Beratungen über Initiativen aus dem Europäischen Parlament einen breiten Raum eingenommen. Im Vordergrund standen dabei außenpolitische Themen, insbesondere die Achtung der Menschenrechte, Konflikte und humanitäre Aspekte, insbesondere Katastrophenhilfe und eine breit gefächerte Palette von Empfehlungen für die legislative Tätigkeit der Gemeinschaften. Der Umfang solcher Beratungen und die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit sind seit der Entfaltung der legislativen Entscheidungsbefugnisse zurückgegangen und durch politische Entscheidungen bewusst eingeengt worden. Dabei ist eine Unterscheidung angebracht zwischen den Beratungen über aktuelle politische Themen auf Grund von Vorlagen, die zumeist aus den Fraktionen stammen, und den Beratungen über eher längerfristig konzipierte Initiativberichte der Ausschüsse, überwiegend im Vorfeld von legislativen Vorschlägen seitens der Europäischen Kommission. Die Debatten über aktuelle politische Fragen werden durch Festlegung einer begrenzten Zahl von Themenbereichen für jede Plenarwoche strukturiert. Diese Festlegung erfolgt zwischen den Fraktionsvorsitzenden im Rahmen der „Konferenz der Präsidenten“ auf Grund interfraktioneller Vereinbarungen oder, falls notwendig, durch eine Abstimmung der Fraktionsvorsitzenden mit nach Fraktionsstärke gewichteten Stimmen. Solche Festlegungen können vom Parlament bei der Annahme der Tagesordnung für eine Plenarwoche durch Mehrheitsbeschluss korrigiert werden. Für die Ausarbeitung von Initiativberichten durch die Ausschüsse bestand seit jeher ein Filter durch ein Genehmigungserfordernis seitens der Konferenz
16 17
In der Sprache des EG-Vertrags das „Verfahren gemäß Artikel 251“. So die Terminologie in Art. I-34 und III-396 des am 4.10.2004 unterzeichneten Vertrags über eine Verfassung für Europa.
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Peter Schiffauer
der Präsidenten18. Dies Verfahrenserfordernis sicherte die Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten und ermöglichte eine Vorab-Bewertung der politischen Opportunität. Ein Bericht über einen Gegenstand, der von einer (gewichteten) Mehrheit der Fraktionsvorsitzenden nicht gewünscht wird, hat kaum Aussicht, im Parlament eine Mehrheit auf sich zu vereinigen. Bis in die neunziger Jahre konnte dieses Filter allerdings von den Ausschüssen umgangen werden, denn die Geschäftsordnung19 ermöglichte den Ausschüssen, über Entschließungsanträge individueller Abgeordneter Berichte auszuarbeiten. Eine Überlastung des Plenums mit nicht-legislativen Berichten, insbesondere im letzten Jahr der Wahlperiode, veranlasste das Parlament zur Abschaffung dieser Möglichkeit20. In der Folgezeit war die Ausarbeitung nicht-legislativer Berichte durch die Ausschüsse nur insoweit in das freie Ermessen der Ausschüsse gestellt, als sie die Beratungen über Konsultationsdokumente (Grünbücher o. Ä.) der Europäischen Kommission zum Gegenstand hatten, die der Vorbereitung formeller legislativer Vorschläge dienen. Schließlich wurde auch diese Art nicht-legislativer Beratungen in eine allgemeine Quotenregelung einbezogen. Sie ermöglicht den Ausschüssen, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und vorbehaltlich einer großzügig gehandhabten Opportunitätskontrolle durch die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden, die gleichzeitige Bearbeitung von maximal sechs nicht legislativen Beratungsgegenständen. Diese Regelung führte in der fünften Wahlperiode zu einem praktikablen Verhältnis zwischen legislativen und nicht-legislativen Beratungen des Parlaments. Seit die Zahl der von der Europäischen Kommission vorgelegten legislativen Vorschläge deutlich zurückgegangen ist, wird im Europäischen Parlament darüber nachgedacht, die zahlenmäßigen Beschränkungen für Berichte zu Konsultationsdokumenten im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren und für Berichte über die Umsetzung oder Durchführung des Gemeinschaftsrechts wieder zu lockern. Diese Entwicklung zeigt, dass auf diesem Gebiet kein dauerhaftes Gleichgewicht erzielt werden kann, sondern dass die jeweils praktizierten Filter und Verfahrensvorschriften ein Reflex zeitbedingter politischer Bewertungen und Erfordernisse sind. Um einen nachhaltigen Einfluss auf die – nach den Verträgen autonomen – Entscheidungen der Europäischen Kommission bei der Ausübung ihres legislativen Vorschlagsmonopols auszuüben, suchen die Berichterstatter bei nicht18
19 20
Bis zur 7. Auflage (Februar 1992) der Geschäftsordnung wurde dieses Gremium in Artikel 23 „Erweitertes Präsidium“ genannt; die Umbenennung erfolgte im Zusammenhang einer umfassenden Reform der Geschäftsordnung parallel zum Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht; siehe Artikel 23 der Geschäftsordnung in der Fassung der 8. Auflage vom Oktober 1993. Zuletzt der Artikel 63 der 7. Auflage der Geschäftsordnung vom Februar 1992. Durch Einfügung eines Genehmigungsvorbehalts seitens der Konferenz der Präsidenten in Artikel 45 Absatz 2 der Geschäftsordnung in der Fassung vom Oktober 1993.
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legislativen Berichten in der Regel, eine möglichst breite Mehrheitsbasis im Parlament zu finden. Das hat zur Folge, dass die entsprechenden Debatten im Plenum kaum Dramatik enthalten und ihr interessantester Aspekt die Frage ist, wie sich die Repräsentanten der Europäischen Kommission zu den erhobenen Forderungen stellen. Deren Aussagen sind aber nicht selten, mangels Beschlusslage und intensiver Beratung im Kollegium der Kommissare, ausweichend und vieldeutig. Die realen Auswirkungen nicht-legislativer Beratungen des Europäischen Parlaments lassen sich deshalb nicht bereits in der Plenardebatte, sondern erst bei Betrachtung eines längeren Zeitraums beobachten21. 1.4 Zusammenfassung und Bewertung Der beschriebene Zustand lässt erkennen, dass das Europäische Parlament es durchaus vermocht hat, sich zu einem attraktiven Ort der Debatte zu entwickeln, an dem dem politischen Geschehen auf der Ebene der Europäischen Union Öffentlichkeit verliehen wird. Dabei variiert die Attraktivität der Diskussionen naturgemäß mit dem Gegenstand und dem politischen Niveau der hauptsächlichen Akteure. Vorbehalte gibt es gegenwärtig beispielsweise gegen eine gewisse Ritualisierung der Debatten, bedingt durch starre Rednerlisten und Rangfragen bei der Bestimmung der Fraktionssprecher. Zahlreich sind die Versuche, durch Abweichungen von diesen Schemata mehr Leben in die Debatte zu bringen und damit die Präsenz der Abgeordneten im Plenarsaal auch zu den weniger attraktiven Zeiten zu erhöhen. Bewährt hat sich die Praxis, nach der Annahme der Tagesordnung eine halbe Stunde für 1-minütige Erklärungen einzelner Abgeordneter zur Verfügung zu stellen, die für diese – insbesondere im Hinblick auf die Interessen in ihrem Wahlkreis – als wichtig erscheinen. Diese Praxis hat die früher häufigen Unterbrechungen von Debatten durch angebliche Wortmeldungen zur Geschäftsordnung überwunden. Unter Präsident Pat Cox unternommene Versuche, in bestimmten Debatten einen Teil der Redezeit Abgeordneten zur Verfügung zu stellen, die im Plenarsaal anwesend sind und sich spontan zu Wort melden („catch the eye“), werden in Kombination mit anderen Mitteln zur Belebung der Debatten gegenwärtig erneut in Erwägung gezogen. Die Steigerung der Attraktivität der Plenardebatten bleibt ein wichtiges Ziel des Parlaments, das in den Reformbestrebungen weiter verfolgt wird, mit deren Vorberei-
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Eine solche Langzeitanalyse hat der Verfasser im Beitrag über „die Gestaltungskraft des Europäischen Parlaments im Prozess der Entstehung einer Verfassung der Europäischen Union“ versucht, abgedruckt in: Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (Hrsg.), Die Europäische Union als Verfassungsordnung, Berlin 2004, S. 93-109.
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tung das Parlament zur Mitte der sechsten Wahlperiode eine Arbeitsgruppe beauftragt hat22. 2
Der Wandel zu einem effizienten Gesetzgebungsorgan
Die klassische Form der Willensäußerung eines Konsultativorgans ist die Entschließung, in der mehr oder weniger allgemeine Kommentare, Anregungen und Zielvorgaben zum Beratungsgegenstand formuliert werden. In dieser Form äußerte sich auch das Europäische Parlament23 zu den Ersuchen um Stellungnahme zu Vorschlägen für Rechtsakte der Gemeinschaften. Als sich im Zusammenhang der ersten Direktwahl der Anspruch verstärkte, das Europäische Parlament von einem Konsultativorgan zu einem Legislativorgan zu entwickeln, wurden die Vorschläge für Rechtsakte der Gemeinschaften auch unmittelbar zum Beratungsgegenstand. Dies geschah zunächst in der Weise, dass die Geschäftsordnung es ermöglichte, zusätzlich zu dem herkömmlichen Entschließungsantrag mit allgemeinen Formulierungen auch spezifische Änderungsanträge zum Legislativvorschlag selbst einzubringen und den Vorschlag in der abgeänderten Fassung selbst zur Abstimmung zu stellen. Diese Vorgehensweise konnte auf die positiven praktischen Erfahrungen zurückgreifen, die das Parlament im Bereich des Haushaltsverfahrens gemacht hatte, seit ihm durch die Vertragsänderung des Jahres 197524 das Recht zur Festsetzung des Haushaltsplans und im Bereich der sogenannten „nicht obligatorischen“ Ausgaben im Rahmen gewisser Margen ein Letztentscheidungsrecht eingeräumt worden war. Dennoch gab es im Parlament auch Vorbehalte gegen eine Beratung über spezifische Änderungsanträge zu Gesetzgebungsvorschlägen, die sich auf die Überlegung stützten, das Parlament solle seine Kraft mehr in die großen politischen Fragen als in die Details der Gesetzgebung investieren. In dieser Lage ergab sich ein wichtiger Impuls durch die damals notorische Unfähigkeit des Rates, zu Entscheidungen zu gelangen, bedingt durch den sogenannten „Kompromiss von Luxemburg“, in dem die Mitgliedstaaten auch für die Fälle, in denen die Gemeinschaftsverträge Mehrheitsentscheidungen möglich machten, vereinbart hatten, im Rat bis zum Zustandekommen eines Konsenses weiterzuverhandeln. Da die Verhandlungen im Rat unter Ausschluss der 22
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Das Mandat der Arbeitsgruppe umfasst die Gestaltung der Plenartagungen und des Sitzungskalenders, die Arbeit der Ausschüsse und die interinstitutionellen Beziehungen, die auswärtigen Beziehungen und die Struktur des Parlaments in der nächsten, im Jahre 2009 beginnenden Legislaturperiode. Seinerzeit offiziell noch „die Versammlung“. Näheres hierzu unter Abschnitt 4.1.4. Vertrag zur Änderung bestimmter Finanzvorschriften (1975), Abl. Nr. L 359 vom 31. Dezember 1977
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Öffentlichkeit geführt wurden, konnte diese mit Alleinentscheidungsrechten ausgestattete Institution als eine hermetische „black box“ erscheinen, die unfähig war, die ihr in den Verträgen zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. In dieser Situation konnten Änderungsanträge, wenn sie eine breite Unterstützung im Parlament gewannen, selbst im Konsultationsverfahren die Gewichte in den im Rat geführten Diskussionen verändern, zumal dann, wenn die Verfasser der Änderungsanträge mittels privilegierter Informationen über detaillierte Kenntnis des Diskussionsstands im Rat verfügten und mit ihren Anträgen gezielte politische Strategien verfolgten. Mit dieser Vorgehensweise wurden in den Jahren nach der ersten Direktwahl in der praktischen Gesetzgebungsarbeit im Konsultationsverfahren Erfahrungen gewonnen, Kontakte geknüpft und Vertrauenstatbestände geschaffen. Dies erleichterte in einer späteren Phase die Verwirklichung der institutionellen Vision, die der institutionelle Ausschuss des Europäischen Parlaments im „Spinelli-Bericht“25 entwickelt hatte: dass nämlich im Bereich der Gesetzgebung der Gemeinschaft die gleichberechtigte Mitentscheidung von Rat und Parlament ihrer konstitutionellen Struktur angemessen ist. 2.1 Der Vorrang der legislativen Beratungen Das Europäische Parlament war also durchaus vorbereitet, als es mit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte26 im „Verfahren der Zusammenarbeit“ zum ersten Male die Inhalte der Gemeinschaftsgesetzgebung nachhaltig beeinflussen konnte, vorausgesetzt dass seine Positionen von der Mehrheit der ihm angehörenden Mitglieder getragen wurden. Dieses Mehrheitserfordernis wurde später zu einem der Dreh- und Angelpunkte des Mitentscheidungsverfahrens (Artikel 251 EG-V), in dem sich die legislativen Befugnisse des Europäischen Parlaments konkretisieren. Um von dieser Möglichkeit erfolgreich Gebrauch zu machen, waren eine Reihe weiterer Schritte und Reformen notwendig. Auf der politischen Ebene gab dieses Mehrheitserfordernis den Anstoß zu Dialog und Kooperation zwischen den politischen Familien über die Parteigrenzen hinweg. Rein rechnerisch ergaben sich zwar immer wieder Möglichkeiten, diese qualifizierte Mehrheit durch das Zusammengehen einer großen und einer oder zwei der kleineren Fraktionen zu erreichen. Doch müssen die Fraktionen des Europäischen Parlaments 25
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Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, Abl. Nr. C 77 vom 19.3.1984, S.33-55, Entschließung vom 14. Februar 1984 zum Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union aaO. S. 53, Bericht von Altiero Spinelli im Namen des Institutionellen Ausschusses Sitzungsdokument 1-1200/83. Abl. L 169 vom 29.6.1987, in Kraft getreten am 1. Juli 1987.
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in der Gesetzgebungsarbeit immer wieder damit rechnen, dass wegen der Unterschiedlichkeit der involvierten Interessen und politischen Standpunkte eine Reihe ihrer Mitglieder sich zu einem von der Fraktion abweichenden Votum entschließt27. Um stabile Mehrheiten zu erreichen, suchen die großen Fraktionen in der Gesetzgebungsarbeit den Kompromiss untereinander. Die Notwendigkeit eines Kompromisses zwischen Repräsentanten unterschiedlicher ideologischer Ausgangspunkte und verschiedener geographischer Interessenkonstellationen verleiht dieser Kompromissbildung de facto auch im Rat Relevanz, weil dort eine ähnliche Vielfalt ideologischer Positionen und spezifischer Interessen aufeinander trifft. Ebenso wichtig wie eine solide Vorarbeit auf der politischen Ebene war für die Erreichung der erforderlichen qualifizierten Mehrheit eine angemessene Organisation der Arbeiten des Plenums, um sicherzustellen, dass an den Abstimmungen auch diejenigen Abgeordneten teilnehmen, die an dem Beratungsgegenstand kein unmittelbares Interesse haben. Die Antwort hierauf erfolgte in Form einer generellen Orientierung, Abstimmungen über Beratungsgegenstände, für die eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, in zentralen Zeitabschnitten der Plenartagungswoche durchzuführen, vorzugsweise am Mittwoch in den Mittagsstunden, hilfsweise auch am Dienstag oder Donnerstag Mittag. Angesichts der Vielzahl von Ansprüchen und Begehren, denen die Gestaltung des Terminplans eines Abgeordneten ausgesetzt ist, hat es sich darüber hinaus als zweckmäßig erwiesen, die Präsenz bei Abstimmungen durch materielle Druckmittel zu sichern. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Freiheit eines Abgeordnetenmandats auch die Freiheit umfasst, sich an einer Abstimmung nicht zu beteiligen. Denn es sind Konstellationen denkbar, in denen ein Abgeordneter ein legitimes politisches Interesse daran haben kann, in einer öffentlichen Abstimmung weder ein positives noch ein negatives Votum noch eine Enthaltung zum Ausdruck zu bringen. Dies führte zu einer Regelung, die die Erstattung des vollen Pauschalbetrags der Aufenthaltskosten am Tagungsort an die Voraussetzung knüpft, dass der/die Abgeordnete sich an mindestens der Hälfte durchgeführten namentlichen Abstimmungen beteiligt oder in ihrem Verlauf zu Protokoll gegeben hat, dass er/sie im Plenarsaal anwesend ist, sich an der Abstimmung aber nicht beteiligt. Ein weiteres Problem ergab sich durch die Möglichkeit, dass nicht selten Widersprüche zwischen den vom Parlament angenommenen Änderungsanträgen zum legislativen Vorschlag und den allgemeinen, im Entschließungsantrag zum Ausdruck gebrachten Orientierungen und Zielsetzungen auftraten. In der An27
In der Tat erlauben die innerfraktionellen Regeln ein abweichendes Votum auf Grund einer „Gewissensklausel“, unter der Voraussetzung seiner vorherigen Bekanntgabe und der Gründe dafür.
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fangsphase, in der das Europäische Parlament noch keinen entscheidenden Einfluss auf die Gemeinschaftsgesetzgebung ausüben konnte, wurden solche Widersprüche noch toleriert, zumal sie als ein politisches Ventil genutzt werden konnten, um abweichende Positionen in einen Kompromiss einzubinden. Mit dem Übergang zur legislativen Mitentscheidung nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht hat das Parlament aber solche die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen beeinträchtigenden Zweideutigkeiten praktisch völlig ausgeschlossen. In einer im Hinblick auf das Inkrafttreten der Einheitlichen Akte beschlossenen Änderung der Geschäftsordnung28 wurde das Instrument des Entwurfs einer legislativen Entschließung eingeführt, mit der ein gegebenenfalls durch Änderungsanträge abgeänderter Gesetzgebungsvorschlag dem Parlament zur Billigung unterbreitet wird. Die Geschäftsordnung beschränkt den Inhalt dieser Entschließung auf Verfahrenselemente und eine Aussage über die Annahme bzw. Ablehnung des Vorschlags, was dazu führt, dass sie im Prinzip nicht Gegenstand von Änderungsanträgen sein kann, es sei denn, sie bezögen sich auf Verfahrensanträge. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, dass diese legislative Entschließung nur ein überflüssiger Formalismus, ein Rudiment des Entschließungsantrags früherer Zeiten ist. Denn die Zustimmung oder Ablehnung eines Kommissionsvorschlags wird vom Parlament ja bereits zum Ausdruck gebracht, wenn es nach der Abstimmung über die Änderungsanträge über einen Vorschlag insgesamt abstimmt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass es sich bei der legislativen Entschließung um einen wohlüberlegten Abschnitt beim Zustandekommen der Gemeinschaftsgesetzgebung im Verlauf des Mitentscheidungsverfahrens handelt. Denn eine der Besonderheiten dieses Verfahrens ist es, dass das Gesetzgebungsverfahren beendet ist, wenn der vom Rat angenommene gemeinsame Standpunkt in zweiter Lesung vom Parlament mit der Mehrheit der ihm angehörenden Mitglieder abgelehnt wird. Wird ein Gesetzgebungsvorschlag der Kommission vom Parlament hingegen in der ersten Lesung abgelehnt, so hindert nichts den Rat daran, das Verfahren durch die Annahme eines gemeinsamen Standpunktes weiterzuführen, es sei denn, die Europäische Kommission zieht ihren Vorschlag zurück. Die gesonderte Abstimmung des Parlaments über den Entwurf der legislativen Entschließung hat in der Ökonomie des Mitentscheidungsverfahrens den Sinn, das Ergebnis der Abstimmung insgesamt noch einer politischen Schlusskontrolle zu unterwerfen und insbesondere, im Falle eines ablehnenden Votums über den vorgeschlagenen Rechtsakt, der Europäischen Kommission Gelegenheit zu einer Erklärung darüber zu geben, ob sie 28
Artikel 36 Absatz 5 der Geschäftsordnung in der Fassung der 4. Auflage (Juni 1987), der bis heute im Wesentlichen im gegenwärtigen Artikel 51 Absatz 2 der Geschäftsordnung überlebt hat.
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ihren Vorschlag zurückzieht. Ist die Kommission zu diesem, das Verfahren beendenden Schritt nicht bereit, wird der Vorschlag gemäß Artikel 52 Absatz 3 der Geschäftsordnung von Amts wegen an den zuständigen Ausschuss zurückverwiesen. Damit erhält dieser erneut die Gelegenheit, ohne Beschränkung auf die für die zweite Lesung geltende Drei-Monats-Frist die Zweckmäßigkeit von Abänderungen des Vorschlags der Kommission zu prüfen. Beschlösse hingegen der Rat nach einer Ablehnung in erster Lesung durch das Parlament einen Gemeinsamen Standpunkt, so könnte das Parlament diesen zwar noch durch eine Ablehnung in zweiter Lesung zu Fall bringen. Wenn das Parlament aber in der ersten Lesung selbst keine inhaltlichen Positionen festgelegt hat, die von einer breiten Mehrheit getragen werden, ist es eher unwahrscheinlich, dass in der zweiten Lesung die erforderliche Mehrheit zustandekommen wird, um einen Gemeinsamen Standpunkt abzulehnen, der von mindestens einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten getragen wird. Da die knappen Fristen der zweiten Lesung eine umfassende Prüfung und Beratung von Änderungsanträgen nicht gestatten, sichern die gesonderte Abstimmung über den Entwurf der legislativen Entschließung und die obligatorische Zurücküberweisung an den Ausschuss, falls die Kommission im Falle einer Ablehnung in erster Lesung ihren Vorschlag nicht zurückzieht, die Effektivität der Beratungsrechte des Parlaments im Mitentscheidungsverfahren. 2.2 Änderungsanträge Die parlamentarische Debatte in den Ausschüssen, in den Fraktionen und im Plenum ist der Ort, an dem der politische Wille der gewählten Repräsentanten der Bürger zum Ausdruck kommt und Öffentlichkeit erhält. Die Beteiligung an der Debatte ist aber nur ein indirektes Mittel der Einflussnahme auf die Beschlussfassung des Parlaments, dessen Wirksamkeit abhängig ist von der Bereitschaft des Berichterstatters oder Vorsitzenden eines Ausschusses oder der Fraktionsführung, sich die vorgetragenen Standpunkte und Forderungen zu eigen zu machen. Das Recht, Änderungsanträge zu den Texten einzureichen, über die in den Ausschüssen und im Plenum des Parlaments beraten wird, ermöglicht dem/der individuellen Abgeordneten, die Beschlussfassung des Parlaments unmittelbar zu beeinflussen. Es gehört zu den Basisrechten eines gewählten Parlamentariers. Die Modalitäten dieses Rechts können im Rahmen des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts mit gewissen Einschränkungen ausgestaltet werden, denn unbeschränkte individuelle Antragsrechte können zur Läh-
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mung des Parlaments führen29. In der Anfangsphase nach den ersten direkten Wahlen war das Recht, Änderungsanträge einzureichen, nach der Systematik der Beratungen in den Ausschüssen und im Plenum gegliedert. Für die Beratung eines Gegenstands in den Ausschüssen konnten nur deren Mitglieder oder feste Stellvertreter Änderungsanträge einreichen, während für die Beratung im Plenum jeder Abgeordnete über dieses Recht verfügte. Bei der Beratung über Gegenstände von breitem politischem Interesse ergab sich jedoch eine Antragsflut, die das Parlament in Abstimmungsrunden bewältigen musste, die für einen einzigen Gegenstand manchmal mehrere Stunden in Anspruch nahmen. Die Analyse dieser Abstimmungsergebnisse zeigte, dass es in der Regel nicht die von einzelnen Abgeordneten individuell eingereichten Anträge waren, die die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten, sondern vielmehr die Anträge des Ausschusses bzw. seines Berichterstatters oder diejenigen, die von Koordinatoren mit Unterstützung ihrer Fraktion eingereicht wurden. Diese Analyse veranlasste zum Nachdenken über geeignete Mittel und Wege, um das individuelle Recht, Änderungsanträge im Plenum einzureichen, zugunsten einer größeren Effizienz der parlamentarischen Arbeit einzuschränken. Viele Abgeordnete hielten es für unverzichtbar, ihre Position auch dann in Form von Änderungsanträgen einbringen zu können, wenn der Beratungsgegenstand in einem Ausschuss geprüft wird, dem sie nicht angehören. Die Steigerung der Effizienz der Arbeit des Plenums durch Einschränkung des individuellen Rechts auf Einreichung von Änderungsanträgen zur Prüfung im Plenum war aus diesem Grunde nur möglich im gleichen Zuge mit einer Erweiterung des Rechts, Änderungsanträge zur Prüfung im Ausschuss einzureichen. Seit einer im Jahre 1993 beschlossenen Änderung der Geschäftsordnung30 können Änderungsanträge zur Prüfung durch das Plenum nur noch vom federführenden Ausschuss, von einer Fraktion oder gemeinsam von einer bestimmten Zahl individueller Abgeordneter eingereicht werden. Diese Mindestzahl hat sich wegen der zahlreichen Vergrößerungen der gesamten Mitgliederzahl des Europäischen Parlaments von ursprünglich 23 auf jetzt 40 erhöht. Gleichzeitig erhielten die Abgeordneten das generelle Recht, für die Beratungen in den Ausschüssen, denen sie nicht angehören, Änderungsanträge einzubringen. Einzige Ausnahme sind die Änderungsanträge, die zum gemeinsamen Standpunkt im Mitentscheidungsverfahren ein29
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Bei den Beratungen des ersten direkt gewählten Europäischen Parlaments über seine eigene Geschäftsordnung reichte ein fraktionsloser Abgeordneter mehrere tausend Änderungsanträge ein, um sich gegen eine geplante spürbare Schlechterstellung der fraktionslosen Abgeordneten gegenüber den in Fraktionen organisierten Abgeordneten zu wenden. Die Übersetzung dieser Anträge und die Beratung über sie hätten die anderen Arbeiten des Parlaments für erhebliche Zeit gelähmt. Der Konflikt wurde seinerzeit durch einen Kompromiss gelöst, der den fraktionslosen Abgeordneten angemessene Beteiligungs- und administrative Rechte sicherte. Artikel 124 Absatz 1 der Geschäftsordnung in der Fassung vom Oktober 1993 .
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gereicht werden. Da das Parlament sich in diesem Verfahrensabschnitt auf die Prüfung von Änderungsanträgen beschränkt, die in erster Lesung eine Mehrheit erhalten haben31, gibt es in ihm weder ein echtes Bedürfnis noch ausreichende Zeit für die Prüfung weiterer Anträge. Diese Reform hat sich insgesamt bewährt. Sie brachte den erhofften Effizienzgewinn, auch wenn sie nicht alle Probleme der Antragsflut löste. Der deutlichen Verringerung der im Plenum eingereichten Anträge stand eine nur unbedeutende Zunahme der Anträge von Nichtmitgliedern in den Ausschüssen gegenüber. Dazu kam der Wegfall der früheren (in der Regel aussichtslosen) Änderungsanträge von mitberatenden Ausschüssen in Weiterverfolgung von Stellungnahmen, die im federführenden Ausschuss nicht berücksichtigt wurden32. Vor allem aber schuf diese Reform einen erheblichen Motivationsdruck auf die Fraktionen, in Bezug auf die Beratungsgegenstände um eine einheitliche Position zu ringen. Denn im Namen ein und derselben Fraktion eingereichte, einander widersprechende Änderungsanträge sind, wenn nicht schon ihre Zulässigkeit in Zweifel gezogen wird, auf jeden Fall ein öffentliches Zeugnis davon, dass es dieser Fraktion nicht gelungen ist, eine kohärente Position zu der anstehenden Frage zu erarbeiten. 2.3 Straffung der Abstimmungsmechanismen Die Vielfalt der Fraktionsmeinungen und die ergänzende Möglichkeit der Einreichung kollektiver Individualanträge, sowie die Besonderheiten von Gesetzgebungsvorhaben oder politischen Resolutionen, die tief in spezifische Detailfragen eindringen, haben dazu geführt, dass das Plenum des Parlaments bei einzelnen Beratungsgegenständen immer noch dreistellige Zahlen von Änderungsanträgen bewältigen muss. Dieser Herausforderung stehen seit der Stärkung der legislativen Befugnisse des Europäischen Parlaments seine Bemühungen gegenüber, seine Abstimmungsverfahren zu verbessern, zu straffen und zu rationalisieren. Nach der klassischen Regel für die Organisation von Abstimmungen, die gemäß der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in den ersten Wahlperioden nach der Direktwahl zur Anwendung kam, wird zunächst derjenige 31 32
Siehe Artikel 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Ein Vorschlag, im Rahmen des Verfahrens der Assoziierung von Ausschüssen (Artikel 47 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments) die im federführenden Ausschuss abgelehnten Änderungsanträge von mitberatenden Ausschüssen erneut zur Prüfung im Plenum zuzulassen, ist unter Berufung auf diesen Effizienzgewinn auf der Ausschussebene abgelehnt worden (siehe Bericht Corbett Dok A6-0139/2007 und das dort im Anhang abgedruckte Dok. B6-0461/2006).
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Änderungsantrag zur Abstimmung gestellt, der sich am weitesten vom Originaltext entfernt. Seine Annahme macht alle weiteren zu der betreffenden Textstelle eingereichten Anträge hinfällig, im Falle seiner Ablehnung kommt der weitestgehende unter den verbleibenden Anträgen zur Abstimmung und so weiter. Wird kein Änderungsantrag angenommen, so kommt abschließend der Originaltext zur Abstimmung. Diese Organisationsregeln gewährleisten ein Maximum an demokratischem Respekt für Positionen von Minderheiten, weil sie dazu führen, dass über sie ausdrücklich abgestimmt werden muss. Sie begünstigen die Mehrheitsbildung dadurch, dass sie es den politischen Kräften erlauben, nach Ablehnung ihrer eigenen Position auch noch solchen Positionen zuzustimmen, die der eigenen nahe kommen. Über ihre Anwendung auf den Einzelfall kommt es kaum zu Zweifeln, mit Ausnahme des Falles, dass die eingereichten Anträge von einer vorgeschlagenen mittleren Position in zwei verschiedene Richtungen abweichen und es streitig wird, ob der Antrag in die eine oder die andere Richtung der weitergehende ist. In der parlamentarischen Praxis führen diese Regeln zu insgesamt befriedigenden Abstimmungsverfahren, die aber vor allem bei einer großen Zahl eingereichter Anträge sehr langwierig sind. Im Europäischen Parlament, das aus den dargelegten Gründen häufig eine beträchtliche Zahl von Änderungsanträgen zu prüfen hat, wurde deshalb seit dem Beginn der 90er Jahre über Verfahren nachgedacht, um die Abstimmungen zu beschleunigen. Die erste in die parlamentarische Praxis eingeführte Option war die einer Vorprüfung der für das Plenum eingereichten Änderungsanträge durch den zuständigen Ausschuss. Anträge, die bei der Abstimmung über den Bericht des zuständigen Ausschusses noch nicht vorgelegen hatten, sollten im Plenum nur dann zur Abstimmung kommen, wenn sie bei einer Prüfung im zuständigen Ausschuss vier oder mehr Stimmen erhalten haben.33 Die Durchführung dieser fakultativen Vorprüfung macht aber die Einberufung einer zusätzlichen Ausschusssitzung erforderlich. Deshalb wurde von dieser Möglichkeit nur sehr selten Gebrauch gemacht und sie wurde mit der Reform des Jahres 1993 gestrichen34. Auch nachdem sie mit der Geschäftsordnungsreform des Jahres 2003 als neuer Artikel 15635 in vereinfachter Gestalt wieder eingeführt wurde, blieben die Fälle, in denen diese Bestimmung tatsächlich angewendet wurde, sehr selten. Denn der mögliche Zeitgewinn bei der Schlussabstimmung im Plenum steht außer Verhältnis zum Aufwand an Zeit und Ressourcen für eine zusätzliche Sitzung des zuständigen Ausschusses. Außerdem können die 33 34 35
Vgl. Artikel 71 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in der Fassung der 4. Auflage (Juni 1987) bis zur 6. Auflage (Februar 1991). In der Fassung der Geschäftsordnung vom Oktober 1993 ist diese Bestimmung nicht mehr enthalten. Siehe die Fassung der Geschäftsordnung ab der 16. Auflage vom Juli 2004.
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Vertreter von Minderheitsmeinungen die Stimmenzahl, die für die Zulassung ihrer Anträge zur Abstimmung im Plenum erforderlich ist, auf der Ausschussebene durch Zweckbündnisse erreichen. In einem zweiten Reformschritt, der bis heute in Artikel 151 Absatz 2 und Artikel 155 der Geschäftsordnung Geltung besitzt, entschloss das Europäische Parlament sich zu einer pragmatischen Reform der Abstimmungsmodalitäten. Sie geht vom Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Beschlüsse des Parlaments aus, der dazu führt, dass die Annahme eines Textes alle mit ihm unvereinbaren Anträge hinfällig macht. Für die Gestaltung der Reihenfolge der Abstimmung räumt sie dem Präsidenten des Parlaments (bzw. für das Verfahren im Ausschuss dessen Vorsitzenden) ein weites Ermessen ein. Der Leiter der Sitzung kann die Abstimmung also mit demjenigen Antrag beginnen, von dem er erwartet, dass er eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt und durch seine Annahme die weiteren Anträge zu der gleichen Textstelle hinfällig macht. Diese Vorgehensweise hat sich insbesondere bei Abstimmungen über Anträge bewährt, die als Ergebnis von Verhandlungen über Kompromisse („Kompromissänderungsanträge“) eingereicht werden. In anderen Fällen wird der Vorsitzende je nach dem Gegenstand der Beratung und der Sensibilität der in den Anträgen zum Ausdruck gekommenen Minderheitspositionen entscheiden, ob sie vorweg zur Abstimmung gestellt oder nach Annahme eines von einer Mehrheit unterstützten Antrags für hinfällig erklärt werden. Manche Vorsitzende gehen hierbei ganz pragmatisch vor und stellen den Antrag einer Minderheit dann vorab zur Abstimmung, wenn diese dies ausdrücklich wünscht. Mit einer solchen Vorgehensweise kann in vielen Fällen beträchtliche Zeit gewonnen werden, ohne sie vor der Abstimmung über sensible Fragen durch Debatten über die Anwendung der Geschäftsordnung wieder zu verlieren. Eine weitere Innovation, die sich in der Abstimmungspraxis des Europäischen Parlaments bewährt hat, ist die im jetzigen Artikel 155 Absatz 2 der Geschäftsordnung enthaltene Regel, die eine Vermutung für die Zustimmung zu den vom zuständigen Ausschuss (bzw. im Ausschuss für den vom Berichterstatter) vorgeschlagenen Textstellen begründet, wenn zu diesen kein Änderungsantrag eingereicht wurde. Über diese Textstellen, die mitunter erheblichen Umfang haben, wird deshalb nicht mehr einzeln, sondern nur noch insgesamt im Rahmen der Schlussabstimmung abgestimmt. Wird eine Einzelabstimmung über eine bestimmte Stelle des Originaltextes, zu der kein Änderungsantrag vorliegt, gewünscht, so kann sie durch einen Antrag auf getrennte Abstimmung über diese Textstelle herbeigeführt werden. Ein weiteres Instrument zur Rationalisierung der Abstimmungen des Plenums ermöglicht es bei Beratungen über legislative Vorschläge, auf Vorschlag des zuständigen Ausschusses bzw. seines Vorsitzenden oder Berichterstatters,
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der in Form einer „Empfehlung für die Abstimmung“36 ausgesprochen wird, insbesondere in sich zusammenhängende Pakete von Änderungsanträgen blockweise zur Abstimmung zu stellen. Da durch die Annahme dieser Anträge alle weiteren, mit ihnen unvereinbaren Anträge hinfällig werden, kann dies zu einem erheblichen Zeitgewinn führen und auch für die inhaltliche Folgerichtigkeit des Abstimmungsergebnisses nützlich sein. Empfehlungen dieser Art können jedoch aufgrund von Anträgen auf getrennte Abstimmung aus den Fraktionen durchbrochen werden und entfalten ihre volle Wirksamkeit nur dann, wenn das Abstimmungsergebnis des Ausschusses von den Fraktionen im Wesentlichen akzeptiert wird. Die jüngste Innovation zur Rationalisierung der Abstimmungsverfahren des Europäischen Parlaments betrifft Gegenstände, deren Beratung im Ausschuss nicht streitig war. Für sie bestimmt der jetzige Artikel 131 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, dass der Bericht des Ausschusses vom Plenum im Verfahren ohne Änderungsanträge geprüft wird, wenn bei der Abstimmung im Ausschuss weniger als 1/10 seiner Mitglieder gegen den Bericht gestimmt haben. Da zahlreiche Berichte in den Parlamentsauschüssen auch nach streitigen Einzelabstimmungen mit einer breiten Mehrheit oder gar einstimmig verabschiedet werden, hat diese Bestimmung zu einer spürbaren Beschleunigung der Abstimmungen im Plenum geführt. Zwar versetzt diese Bestimmung die Fraktionen in die Lage, ausnahmsweise auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 131 die Eröffnung einer Frist für die Einreichung von Änderungsanträgen zu beantragen. Aber selbst bei der gegenwärtig großzügigen Handhabung der Ausnahmeregelung bleibt der praktische Nutzen dieser Reform bestehen. Überlegungen für weitere Reformen knüpfen deshalb an diesen Erfolg an und erwägen, auf dem eingeschlagenen Weg noch weiter zu gehen. Beispielsweise könnte generell für nicht-legislative Berichte die Eröffnung einer Frist für Änderungsanträge nur dann vorgesehen werden, wenn eine qualifizierte Minderheit einen entsprechenden Antrag stellt. 2.4 Einigung in erster Lesung Der Wille zur politischen Gestaltung erfordert, Prioritäten zu setzen. Wenn jeder Beratungsgegenstand mit Konflikten beladen wird, fehlt die Konzentration und die Kraft, um die politisch bedeutsamen Konflikte erfolgreich zu beenden. Im Verfahren der Mitentscheidung37, das mehr und mehr zum „ordentlichen Ge36 37
Vgl. Artikel 154 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in der Fassung von Januar 2007. Offiziell „Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag“.
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setzgebungsverfahren“38 der Europäischen Gemeinschaft wurde, hängen die Ergebnisse davon ab, ob und wie die politischen Konflikte zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der Union bewältigt werden. Um sich auf die echten politischen Streit- und Zweifelsfragen konzentrieren zu können, ist es für beide Seiten von Vorteil, diejenigen Beratungsgegenstände, bei denen es keinerlei politische Gegensätze gibt, in einem vereinfachten Verfahren und beschleunigt abzuschließen. Dies ist jedoch nicht ohne weiteres zu verwirklichen, weil die Beratungen in den beiden Institutionen zwar auf dem gleichen Vorschlag der Europäischen Kommission beruhen, aber leicht zu ungleichen Texten führen können, selbst wenn die politische Bewertung im Wesentlichen übereinstimmt. Um in derartig gelagerten Fällen den Aufwand einer zweiten Lesung oder gar eines Vermittlungsverfahrens zu vermeiden, wurde ein Geflecht informeller Kontakte entwickelt, mittels derer die von gemeinsamen Intentionen getragenen Texte einander angeglichen werden. Die hauptsächlichen Akteure beider Institutionen sondieren, ob eine ausreichende gemeinsame Basis besteht, die ermöglicht, den Beschlussinstanzen beider Institutionen die gleichen Texte mit der Zusicherung vorzulegen, dass sie im Falle der Billigung jeweils auch von der anderen Institution unverändert angenommen werden würden. An diesen informellen Kontakten sind zumeist auch Vertreter der Europäischen Kommission beteiligt, die die Beratungen in beiden Zweigen der legislativen Beschlussinstanz aufmerksam verfolgen und auf die Verabschiedung eines sachgerechten Textes hinwirken. In einer kürzlich gebilligten interinstitutionellen Vereinbarung39 wurde zum ersten Male eine Verständigung über gewisse Grundstrukturen solcher informellen Kontakte erreicht. Dabei geht es insbesondere darum, dass die Texte, über deren Gestalt eine informelle Verständigung erreicht wurde, durch einen Schriftwechsel zwischen den Beteiligten fixiert werden, um für die weiteren Beratungen im Parlament die erforderliche Öffentlichkeit und Vertrauensbasis herzustellen. Eine weitere Frage ist, wie die beiden Zweige der legislativen Beschlussinstanz bei solchen Kontakten vertreten werden. Für den Rat der Union ist diese Frage relativ einfach; er wird von der amtierenden Präsidentschaft vertreten, die nur im Rahmen eines vom Ausschuss der Ständigen Vertreter erteilten Mandats verhandeln kann. Auf der Seite des Parlaments werden solche Kontakte auf der Ebene des Ausschusses wahrgenommen, der die Beratungen des Parlaments über den betreffenden Gegenstand vorbereitet. Für die Zusammensetzung der Delegation des Ausschusses bei solchen Gesprächen 38 39
So die Artikel I-34 und III-396 des nicht in Kraft getretenen Vertrags vom 29.10.2004 über eine Verfassung für Europa . Gemeinsame Erklärung zu den praktischen Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens, vom Europäischen Parlament gebilligt durch Beschluss vom 22. Mai 2007, P6_TAPROV(2007)0194, Bericht Leinen (Dok A6-00142/2007).
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gibt es noch keine festen Regeln. Um innerhalb des Hauses Transparenz und für die Gegenseite eine Vertrauensbasis zu schaffen, wird von vielen gefordert, dass die Delegation neben dem Vorsitzenden und dem Berichterstatter des zuständigen Ausschusses auch die interessierten Koordinatoren oder Schattenberichterstatter anderer Fraktionen umfassen müsse.40 Allerdings sind Fälle denkbar, in denen eine Delegation mit diesem Umfang unverhältnismäßig41 erscheint oder einfach nicht zustande kommt, weil das an dem Gegenstand bestehende politische Interesse eher gering ist. Es besteht auch die Gefahr, dass die Delegationstreffen, wenn die Zahl der Beteiligten zu groß wird, nicht mehr als Arbeitsebene wirken können und ihrerseits durch Sondierungskontakte vorbereitet werden müssen. Eine weitere Frage ist die nach dem geeigneten Zeitfenster für eine Verständigung über einen Text in erster Lesung. Von mancher Seite wird gefordert, dass Kontakte dieser Art mindestens ein Votum auf Ausschussebene voraussetzen sollten, auf dessen Grundlage die Delegation des Parlaments vor der Beratung im Plenum eine Verständigung mit dem Rat suchen könne, wenn der in beiden Institutionen erreichte Beratungsstand dies rechtfertigt. Für solche Forderungen gibt es dann gute Gründe, wenn die politischen Eckpunkte der Beratung im Parlament nicht evident sind, sondern in dialektischer Beratung und in kontroverser Abstimmung im Ausschuss erst noch erarbeitet werden müssen. Besteht dagegen zwischen Berichterstatter, Schattenberichterstattern und Koordinatoren Einigkeit über die Eckpunkte, so erscheint es nicht als illegitim, dass der Berichterstatter auf dieser Grundlage und mit Einverständnis des Ausschusses Kontakte zur Präsidentschaft des Rates aufnimmt, um bereits in seinem Berichtsentwurf einen Text vorzulegen, bei dessen Billigung auch der Rat den Akt in dieser Form annehmen würde. Bei der Beurteilung solcher Optionen kommt es stark auf die konkreten Umstände des einzelnen Falles an, die von Fall zu Fall und von Ausschuss zu Ausschuss stark variieren können. Vielleicht wird das Europäische Parlament auf diesem Gebiet künftig die verfügbaren Verfahrensoptionen eher pragmatisch und unter Berücksichtigung gewisser Leitvorstellungen (‚best practices’) weiter entwickeln, um die Gesetzgebungsarbeit insgesamt so effizient wie möglich zu gestalten, ohne zugleich demokratische Rechte zu verkürzen.
40 41
Vgl. Absatz 3 des in der vorhergehenden Fußnote zitierten Beschlusses. Die Abschätzung der Verhältnismäßigkeit des Aufwands hängt stark von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere von der Frage, ob es durch eine Vergrößerung des Teilnehmerkreises erforderlich wird, kostspielige und nicht immer verfügbare Dolmetschungskapazitäten bereitzustellen, ein angesichts des engen Zeitfensters für solche Kontakte nicht zu unterschätzendes praktisches Problem.
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2.5 Die Bewältigung der zweiten Lesung in der Drei-Monatsfrist Die erstmals in der Einheitlichen Europäischen Akte im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit und jetzt in Artikel 251 EG-Vertrag für die Durchführung der zweiten Lesung vorgesehene Drei-Monatsfrist hätte zu einer erheblichen Verringerung des Einflusses des Parlaments auf die Gestaltung der Unionsgesetzgebung führen können, hätte es nicht verstanden, durch organisatorische und inhaltliche Prioritätensetzung diese Hürde zu meistern. Denn diese Frist, die mit der Übermittlung, d.h. der Bekanntgabe des Gemeinsamen Standpunkts des Rates an das Parlament beginnt, kann nur einmal um einen Monat verlängert werden. Hat das Parlament bei Ablauf dieser Frist den Gemeinsamen Standpunkt mit der Mehrheit der Stimmen der ihm angehörenden Mitglieder weder abgelehnt noch abgeändert, so gilt der Gemeinsame Standpunkt als angenommen. Da die Beratungen des Europäischen Parlaments vor Inkrafttreten der Einheitlichen Akte selten in weniger als sechs Monaten abgeschlossen werden konnten, bedurfte es wirksamer Reformen, um diese Herausforderung zu meistern. Auf organisatorischer Ebene musste sichergestellt werden, dass die Beratungen unmittelbar nach Übermittlung des Gemeinsamen Standpunktes beginnen und keine Zeit mit Präliminarien wie der Benennung eines Berichterstatters verloren wird. Die Geschäftsordnung bestimmt deshalb42, dass in der zweiten Lesung die Berichterstattung durch den in erster Lesung benannten Berichterstatter weitergeführt und der Gemeinsame Standpunkt in der ersten ordentlichen Sitzung des zuständigen Ausschusses nach seiner Bekanntgabe im Parlament als erster Punkt der Tagesordnung zu behandeln ist. Auf der Ebene der Konferenz der Präsidenten43 besteht Konsens darüber, dass die Empfehlungen der Ausschüsse für die zweite Lesung bei der Gestaltung der Tagesordnung der Plenartagungen Vorrang haben44. Der Zeitpunkt für ihre Prüfung im Plenum wird so gewählt, dass eine möglichst hohe Präsenz von Abgeordneten es erleichtert, die nach dem Vertrag erforderliche qualifizierte Mehrheit bei den Abstimmungen im Plenum zu erreichen. In inhaltlicher Sicht machte die Einhaltung der Drei-Monatsfrist eine Beschränkung auf das Wesentliche erforderlich. Bei einer unbeschränkten Zulassung von Änderungsanträgen zum Gemeinsamen Standpunkt hätte die zweite Lesung ohne großen Mehrwert zu einer Verdoppelung der ersten geführt und es wäre eine erhebliche Gefahr entstanden, dass das Parlament in langwierigen Debatten und Abstimmungen über diese Anträge seine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten verspielt. Aus der Praxis des Haushaltsverfahrens hatte das Par42 43 44
Vgl. jetzt Artikel 59 Absatz 3 der Geschäftsordnung in der Fassung von Januar 2007. Zur Geschichte dieser Bezeichnung siehe Fußnote 18. Siehe auch Artikel 60 Absatz 1 der Geschäftsordnung.
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lament bereits positive Erfahrung mit einer Regelung gemacht, nach der sich das Parlament in der zweiten Lesung auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob im Lichte der Beschlüsse des Rates die in erster Lesung angenommenen Änderungsanträge aufrecht erhalten werden. Deshalb sind nach dem jetzigen Artikel 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung in zweiter Lesung grundsätzlich nur Anträge zulässig, die das Parlament in erster Lesung bereits gebilligt hat. Aus dem gleichen Grund wurde auf der Ausschussebene das Recht zur Einreichung von Änderungsanträgen auf die Mitglieder und ordentlichen Stellvertreter des zuständigen45 Ausschusses begrenzt. Für bestimmte Situationen musste das Parlament allerdings Ausnahmen vom Grundsatz der Beschränkung auf die in erster Lesung gebilligten Anträge vorsehen, um seine Möglichkeiten der politischen Gestaltung nicht zu verkürzen. Diese Ausnahmen betreffen vor allem Fälle, in denen der Rat in den Gemeinsamen Standpunkt neue Elemente einfügt, zu denen sich das Parlament noch nicht geäußert hat. Neue Änderungsanträge sind auch dann zulässig, wenn seit der ersten Lesung erhebliche Zeit verstrichen ist und sich entweder die tatsächlichen Voraussetzungen verändert haben, neue Erkenntnisse bekannt geworden sind oder die politische Zusammensetzung des Parlaments sich aufgrund von Neuwahlen verändert hat.46 Eine wichtige weitere Ausnahme betrifft schließlich den Fall, dass ein in erster Lesung gestellter Antrag abgeändert werden oder durch einen anderen ersetzt werden soll, um in zweiter Lesung zu einer Einigung mit dem Rat zu gelangen; denn die Rationalisierung der Beratungen in zweiter Lesung darf der Kompromissfähigkeit des Parlaments nicht im Wege stehen. Insgesamt hat die Anwendung dieser Bestimmungen bisher nicht zu größeren Problemen geführt, so dass die Schlussfolgerung gerechtfertigt erscheint, dass die beschriebenen Reformen der Parlamentspraxis ihr Ziel erreicht haben. Ebenso wie in der ersten Lesung des Gesetzgebungsverfahrens stellt sich für das Parlament in der zweiten Lesung die folgende Frage: Sind die Unterschiede zwischen den Positionen des Parlaments, die in der ersten Lesung zum Ausdruck gekommen sind, und den im Gemeinsamen Standpunkt niedergelegten Positionen des Rates von einer so großen politischen Bedeutung und Tragweite, dass sie nur im Wege eines förmlichen Vermittlungsverfahrens überwunden werden können, oder handelt es sich nur noch um Unterschiede in Formulierungs- oder anderen zweitrangigen Fragen, bei denen das Parlament seine Positionen zwar nicht aufgeben will, eine Verständigung mit dem Rat aber nicht fern liegt? Für solche Fälle haben sich im Interesse der Rationalisierung 45 46
Eine Befassung von mitberatenden Ausschüssen erfolgt in zweiter Lesung nicht mehr. Sie hätte wegen der inhaltlichen Beschränkung der zweiten Lesung auf die in erster Lesung vom Plenum angenommenen Änderungsanträge inhaltlich keinen Sinn. Vgl. Artikel 62 Absätze 2 und 3 der Geschäftsordnung.
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und Beschleunigung des Verfahrens ähnliche informelle Kontakte herausgebildet, wie sie bei der Einigung in erster Lesung beschrieben wurden. Sie sichern das Vertrauen beider Seiten darauf, dass der Rat seine Zustimmung erteilen wird, wenn das Parlament sich in zweiter Lesung auf die Annahme bestimmter Änderungsanträge beschränkt, über deren Inhalt Einvernehmen erzielt wurde. 2.6 Das Vermittlungsverfahren: Ineinandergreifen von formellen und informellen Strukturen In der Praxis des Vermittlungsverfahrens musste das Europäische Parlament seine Kapazität unter Beweis stellen, auch bei politischen Divergenzen von Gewicht als gleichrangiger Partner des Rates bei legislativen Beschlüssen zu handeln und mit Verhandlungsgeschick seine politischen Prioritäten durchzusetzen, ohne durch eine zu starre Haltung das Zustandekommen von Gesetzgebungsakten insgesamt in Frage zu stellen. Die Geschichte des „Mitentscheidungsverfahrens“ stellt den Vertrauensgewinn unter Beweis, den das Parlament im Verlauf der Jahre durch seine in gleicher Weise kraft- wie maßvolle Praxis erringen konnte. War es im Vertrag von Maastricht anfangs nur für ein gutes Dutzend Rechtsgrundlagen vorgesehen, so konnte es in den Verträgen von Amsterdam und Nizza schrittweise auf deren überwiegende Zahl ausgeweitet werden, bis es im Vertrag über eine Verfassung für Europa und im Reformvertrag schließlich als das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ bestätigt wurde. Voraussetzung für diesen Erfolg war die gelungene Organisation seiner eigenen Vertretung im Vermittlungsverfahren, in dem sich gemäß der Bestimmung des Artikels 251 EG-Vertrag die Delegationen des Rates und des Parlaments gegenüberstehen, die aus je einem Vertreter eines jeden Mitgliedstaates und einer jeweils gleichen Zahl von Abgeordneten bestehen. Die Zusammensetzung der Delegation des Parlaments unterliegt seinem Selbstorganisationsrecht. Es hat sich von Anfang an für eine gemischte Zusammensetzung entschieden, bei der drei Vizepräsidenten, von denen eine/r den Vorsitz führt, der Delegation als ständige Mitglieder angehören. Die ständigen Mitglieder der Delegation sollen die Kontinuität der Vorgehensweise des Parlaments sichern und die gewonnenen Erfahrungen in neuen politischen Auseinandersetzungen konstruktiv nutzen. Regelmäßig gehören der Delegation der Vorsitzende und der Berichterstatter des zuständigen Ausschusses an, die das Gesetzgebungsverfahren von Anfang an verfolgt haben und die fachliche Kompetenz der Delegation untermauern. Die (gegenwärtig 22) verbleibenden Plätze in der Delegation werden auf Vorschlag der Fraktionen nach einem Verteilungsschlüssel proportional zu ihrer jeweiligen Stärke besetzt. Dabei berücksichtigen die Fraktionen in der
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Regel die für sie im Ausschuss wirkenden Schattenberichterstatter und, aber nicht ausschließlich, die sonstigen Mitglieder des federführenden oder auch mitberatenden Ausschusses. Die Größe des Vermittlungsausschusses (jetzt 54 Mitglieder) führt dazu, dass er als Arbeitsebene für Verhandlungen ungeeignet ist. Die Beschlüsse dieses Ausschusses werden deshalb regelmäßig durch informelle Triloge vorbereitet, in denen Vertreter der Parlamentsdelegation (meistens ihr Vorsitzender, der Berichterstatter und der Vorsitzende des federführenden Ausschusses) mit der Präsidentschaft des Rates und den Vertretern der Kommission Kompromissvorschläge erarbeiten. 3
Wahl-, Haushalts- und Kontrollrechte
Parallel zu den legislativen Befugnissen weisen die Europäischen Gründungsverträge dem Europäischen Parlament verschiedene Wahl, Haushalts- und Kontrollrechte zu, deren Ausübung teils in den parlamentarischen Ausschüssen vorbereitet wird, teils unmittelbar im Plenum des Hauses erfolgt. Viele dieser Rechte sind im Laufe der sukzessiven Vertragsänderungen gewachsen und ihre Ausübung war deshalb Gegenstand kontinuierlicher Reformen. 3.1 Wahl und Ernennung von Mitgliedern der Organe 3.1.1 Wahl und Kontrolle der Exekutive Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft verfügte das Parlament gegenüber der Exekutive, der Europäischen Kommission, über ein Interpellationsrecht und die Möglichkeit eines Misstrauensvotums. Das Interpellationsrecht wurde im Wege schriftlicher und mündlicher Anfragen intensiv genutzt. Gegenüber dem Rat, der im konstitutionellen System der Union auch exekutive Funktionen wahrnimmt, besteht ebenfalls ein Interpellationsrecht, dessen Tragweite aber, soweit es nicht um Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geht47, über das in der Geschäftsordnung des Rates zugestandene Maß nicht hinausgeht48. Mit dem Erstarken der anderen Befugnisse des Europäischen Parlaments ist die Bedeutung der Interpellationsrechte jedoch relativ zurückgegangen. Der politische Dialog zwischen der Kommission und dem Parlament erfolgt in der Praxis überwiegend aufgrund von Erklärungen der Kommission zu 47 48
Vgl. Artikel 21 EU-Vertrag. Vgl. Artikel 197 EG-Vertrag.
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aktuellen Fragen im Plenum und im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Begegnungen der Ausschüsse mit den für ihren Themenbereich verantwortlichen Kommissionsmitgliedern, sowie im Wege der fachlichen Unterstützung insbesondere der legislativen oder prä-legislativen Arbeiten der Ausschüsse durch die zuständigen Dienststellen der Kommission. Das stärkste Recht des Europäischen Parlaments gegenüber der Exekutive ist die im jetzigen Artikel 201 des EG-Vertrags verankerte Möglichkeit, die Europäische Kommission durch ein Misstrauensvotum, das mit der Mehrheit der dem Parlament angehörenden Mitglieder beschlossen werden muss, zum Rücktritt zu zwingen. Weil seine Ausübung wenigstens vorübergehend zu einer Lähmung der Tätigkeit der Gemeinschaften führen würde, wird dieses Recht als äußerstes Mittel der politischen Auseinandersetzung angesehen, von dem in der Geschichte der europäischen Integration noch nie effektiv Gebrauch gemacht wurde. In dem einzigen Fall, in dem das Zustandekommen der für ein Misstrauensvotum erforderlichen Mehrheit im Europäischen Parlament wahrscheinlich war, kam die Kommission unter Präsident Santer dem Votum des Parlaments durch einen freiwilligen Rücktritt zuvor. Die größte Bedeutung auf politischer Ebene hat wohl die Beteiligung des Parlaments an der Investitur der Europäischen Kommission. Seit der ersten Direktwahl hat das Europäische Parlament erreicht, dass die Einsetzung der Kommission von einem einseitigen Akt der Regierungen der Mitgliedstaaten zu einer Einvernehmen zwischen Rat und Parlament voraussetzenden institutionellen Handlung auf Unionsebene wurde. Dementsprechend mussten die angemessenen internen Verfahren entwickelt werden, um das Parlament in die Lage zu versetzen, diese bedeutende Mitverantwortung sachgerecht auszuüben. Das parlamentarische Verfahren zur Investitur der Kommission entwickelte sich aus den Entschließungen, mit denen das Europäische Parlament seit seiner Direktwahl die Einsetzung einer neuen Kommission regelmäßig begleitet hat.49 Aufgrund des durch den Vertrag von Maastricht geänderten seinerzeitigen Artikels 158 des EG-Vertrags war für die Einsetzung der Kommission, deren Amtszeit Anfang 1995 begann, erstmals eine förmliche Konsultation des Parlaments erforderlich, ehe die Regierungen der Mitgliedstaaten eine Persönlichkeit als künftigen Präsidenten der Kommission benennen konnten. Die im Einvernehmen mit dem designierten Präsidenten von den Regierungen benannten künftigen Mitglieder der Kommission mussten sich anschließend einem Zustimmungsvotum des Parlaments stellen. Zur Vorbereitung dieses Votums konnte das Parlament eine prozedurale Innovation durchsetzen, die in den Verträgen 49
Nachweise finden sich im Bericht Froment Meurice im Namen des Institutionellen Ausschusses über die Investitur der Kommission aus dem Jahre 1993, Dok. A3- 0240-94, 12. April 1994.
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nicht vorgesehen, als sachlich begründete Voraussetzung für das Votum des Parlaments aber einsichtig gemacht werden konnte; denn es wäre eines demokratischen Parlaments aus gewählten Abgeordneten mit einem freien Mandat unwürdig gewesen, über Persönlichkeiten abzustimmen, die ihm nicht bekannt sind. Dem Anspruch des Parlaments, die benannten Kommissionsmitglieder vor dem Zustimmungsvotum ähnlich wie in der parlamentarischen Praxis der Vereinigten Staaten von Amerika zu einer Anhörung in den parlamentarischen Ausschuss einzuladen, für dessen Zuständigkeitsbereich sie künftig verantwortlich sein sollten, ließ sich nichts Stichhaltiges entgegensetzen. Damit erhielten die Ausschüsse in der Phase der Investitur eine starke Rolle gegenüber ihrem künftigen Gegenüber in der Exekutive der Gemeinschaft. Sie begriffen ihre Aufgabe nicht nur als eine Formalität, sondern nutzten die Chance, auf politischem Feld Vorgaben für die Tätigkeit des künftigen Kommissars zu setzen. Die Anhörungen werden durch Fragebögen gründlich vorbereitet, auf deren Grundlage die Kandidaten den Katalog der Themen abschätzen können, zu denen Stellung zu nehmen sie gebeten werden. In der Anhörung hat der Kandidat Gelegenheit zu einer einführenden Stellungnahme und wird anschließend von den Mitgliedern des Ausschusses in eine Art „Kreuzverhör“ genommen. Der Stil dieser Debatten ist durchaus kritisch, achtet aber auch das in der Benennung für diese Aufgabe zum Ausdruck gebrachte politische Niveau der Kandidaten. Nach Abschluss der Anhörung unterrichten die Ausschüsse in einem vertraulichen Dokument den Präsidenten des Parlaments über ihre Bewertung. Auf der Grundlage der Bewertung aller Ausschüsse schreitet die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden dann zu einer Gesamtbewertung, mit der die Beratungen des Plenums vorbereitet werden; denn in korrekter Anwendung der Verträge stimmt das Parlament nicht über einzelne Kandidaten, sondern nur über das Kollegium der Kommission als ganzes ab. Wenn in der Person eines Kandidaten so schwerwiegende Bedenken bestehen, dass die Zustimmung zum Kollegium insgesamt gefährdet erscheint, können durch informelle Kontakte die Möglichkeiten zur Abhilfe ausgelotet werden. Im Verfahren zur Einsetzung der Kommission Barroso im Jahre 2004 wurde beispielsweise das Zustimmungsvotum vertagt, als gegen zwei der benannten Kandidaten schwerwiegende Einwände erhoben wurden. Nachdem die Zeit genutzt wurde, um die umstrittenen Kandidaten durch eine allgemein akzeptierte Persönlichkeit zu ersetzen, erhielt das Kollegium schließlich eine breite Zustimmung. Seine Stärke bei der Einsetzung der Kommission hat das Parlament auch genutzt, um durch Intensivierung seiner politischen Kontrolle einen gewissen Ausgleich für die volle Autonomie zu erreichen, die die Verträge der Kommission für die Dauer ihrer Amtszeit übertragen. Der Grundgedanke war, die Unabhängigkeit der Kommission durch einen für die Dauer ihrer Amtszeit geltenden
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Legislaturvertrag zu kompensieren, der rechtlich den Charakter einer interinstitutionellen Vereinbarung hat. Nach den anerkannten Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts dürfen und können solche Vereinbarungen die Zuständigkeiten und Vorrechte der Institutionen nicht verändern. Möglich sind Vereinbarungen über Verfahrensweisen im gegenseitigen politischen Umgang miteinander, die von der Abstimmung der legislativen Programmierung über die Art und Weise der Behandlung von legislativen Initiativen aus dem Parlament bis hin zur Präsenz der Mitglieder der Kommission in den Sitzungen des Parlaments reichen. Eine Verpflichtung der Kommission, allen Forderungen des Parlaments uneingeschränkt nachzukommen, wäre mit dem institutionellen System der Verträge unvereinbar. Mit ihm vereinbar ist dagegen eine Verpflichtung, dem Parlament jeweils im Einzelnen die Gründe mitzuteilen, wenn die Kommission beschließen sollte, von Forderungen des Parlaments abzuweichen. Derartige Vereinbarungen sind in sukzessiven „Rahmenabkommen“ zwischen Parlament und Kommission jeweils bei Gelegenheit der Einsetzung einer neuen Kommission geschlossen und ständig weiterentwickelt worden.50 Dabei handelt es sich nicht um einseitige Verpflichtungen der Kommission. In diesen Rahmenabkommen machte auch das Parlament im Gegenzug Zugeständnisse, die die Kommission zum Zwecke der Rationalisierung und Verbesserung der Zusammenarbeit erreichen konnte. Die im Vertrag von Amsterdam vorgenommene Veränderung des Verfahrens zur Einsetzung der Kommission veränderte erneut die politischen Gewichte und führte zu strukturellen internen Reformbestrebungen im Parlament. Indem der Vertrag für die Benennung des künftigen Kommissionspräsidenten nicht nur eine Stellungnahme, sondern das Einvernehmen des Parlaments voraussetzte, konnte dieses seine eigene Funktion als eine Wahl des Präsidenten der Exekutive darstellen51. Dies hat nicht nur symbolische Bedeutung, sondern verlagert die höchste Personalentscheidung auf Unionsebene von der intergouvernementalen Ebene auf eine supranationale politische Ebene, bei der es entscheidend auf die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen politischen Familie ankommt. Denn mit dem Wahlcharakter dieser Entscheidung wuchs die Legitimität des Anspruchs, dass der Kommissionspräsident von der politischen Familie gestellt wird, die die größte Zahl von Abgeordneten im Europäischen Parlament auf sich 50 51
Die jeweils anwendbare Fassung dieses Rahmenabkommens ist der amtlichen Ausgabe der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments als Anlage beigefügt. Vgl. Artikel 98 der Geschäftsordnung des Parlaments. Diese Formulierung entspricht juristisch nicht exakt den zur Zeit geltenden Bestimmungen der Verträge, erhält aber eine nachträgliche Bestätigung durch die im Verfassungsvertrag bzw. nunmehr im Reformvertrag vorgesehenen Formulierungen. Dies ist nicht der erste Fall, in dem begriffliche Antizipationen der Geschäftsordnung des Parlaments im Laufe der Zeit durch Reformen des Primärrechts eingeholt werden (vgl. unten 4.1.5).
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vereinigt. Das ermöglicht nicht nur, die Europawahlen im Hinblick auf eine Personalentscheidung politisch zu dramatisieren und damit für die Bürger fassbarer zu machen, worum es bei diesen Wahlen geht. Für die interne Struktur des Parlaments wirkte sich diese Reform dahin aus, dass die Fraktionen einen starken Anreiz erhielten, unter Überbrückung von Meinungsunterschieden im Einzelnen auf die Bildung einer möglichst großen Fraktion hinzuwirken, die dann auch entscheidenden Einfluss auf die Benennung des Präsidenten der Kommission ausüben kann. Bedenkt man, dass die Union durch die stark gewachsene Zahl ihrer Mitgliedstaaten erheblich heterogener geworden ist, so darf keinesfalls unterschätzt werden, wie wichtig der Beitrag großer transnationaler Fraktionen zu einer die vielfältigen einzelnen Interessenlager transzendierenden Kompromissbildung ist. Die Politisierung der Benennung des Kommissionspräsidenten enthält somit ein bedeutendes Integrationspotential, das sich über die praktische Arbeit in den Fraktionen des Parlaments entfaltet. 3.1.2 Wahl und Statut des Bürgerbeauftragten Im Vertrag von Maastricht wurde die Funktion des Europäischen Bürgerbeauftragten geschaffen und in eine enge Verbindung zum Europäischen Parlament gestellt. Er wird vom Parlament gewählt, hat seinen Sitz am Sitz des Parlaments, sein Statut und sein Haushalt werden vom Parlament festgelegt52. Das Verfahren für die Ernennung des Bürgerbeauftragten wurde in dem jetzigen Artikel 194 der Geschäftsordnung des Parlaments geregelt. Es lässt sich als eine Mischform zwischen einer Auswahl aufgrund von Qualifikationsnachweisen und einer politischen Wahl qualifizieren. Denn die Kandidaturen für dieses Amt müssen einerseits die Qualifikationserfordernisse erfüllen, die im Statut des Bürgerbeauftragten vorgeschrieben sind. Andererseits muss eine Kandidatur, um zulässig zu sein, von mindestens 40 Abgeordneten aus mindestens 2 Mitgliedstaaten unterstützt werden. Der für die Beziehungen zum Bürgerbeauftragten zuständige Petitionsausschuss kann einzelne Kandidaten vor der Wahl anhören. Die Wahl selbst ist geheim und erfolgt auf der Grundlage einer Liste der zulässigen Kandidaturen. Falls in den beiden ersten Wahlgängen keiner der Kandidaten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht, stehen im dritten Wahlgang nur noch die zwei Kandidaten zur Wahl, die im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben. Dieses Verfahren hat sich bei der Wahl von drei Bürgerbeauftragten bewährt.
52
Vgl. Artikel 195 EG-Vertrag.
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Bedeutend schwieriger gestaltete sich die Annahme des Statuts des Bürgerbeauftragten durch das Parlament, die eine Stellungnahme der Kommission und die Zustimmung des Rates voraussetzt. Auf der Grundlage eines vom Parlament gebilligten Entwurfs fanden im Laufe des Jahres 1993 interinstitutionelle Verhandlungen statt, die schließlich zu einer Einigung über einen Text führten, der im März 1994 von Parlament mit der Zustimmung des Rats angenommen wurde53. Das Ergebnis war ein das Parlament nicht in allen Punkten zufrieden stellender Kompromiss. Um die Aufdeckung und Beseitigung administrativer Missstände zu erleichtern, hatte das Parlament es insbesondere befürwortet, den Bürgerbeauftragten mit weitergehenden Untersuchungs- und Auskunftsrechten auszustatten, z.B. mit der Befugnis, einzelne Beamte der Institutionen zu administrativen Vorgängen zu befragen und den Beamten bei seiner Aussage von den von seiner Anstellungsbehörde erteilten Weisungen zu entbinden. Die Auffassung, dass die Untersuchungsbefugnisse des Bürgerbeauftragten nicht ausreichen, wurde durch die in den ersten Jahren der Anwendung seines Statuts gewonnenen Erfahrungen bestätigt. Es entstand ein erheblicher Reformdruck. In einem ersten Anlauf zur Änderung des Statuts konnte jedoch nur die Streichung zweier überholter Bestimmungen erreicht werden54. Im Jahre 2006 wurde das Europäische Parlament mit einem neuen Vorschlag des Bürgerbeauftragten zur Änderung seines Statuts befasst. Zentrale Punkte des Reformvorschlags sind wiederum die Untersuchungsrechte und die Frage, ob der Bürgerbeauftragte in begrenztem Umfang in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zu Aspekten angehört werden kann, die seinen Zuständigkeitsbereich betreffen. Der Ausgang dieser Reformbestrebungen ist noch offen. 3.1.3 Ernennung der Mitglieder des Rechungshofs Der Vertrag zur Änderung bestimmter Finanzvorschriften aus dem Jahre 197555 räumte dem Europäischen Parlament ein Anhörungsrecht im Verfahren zur Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofs ein. Ähnlich wie im Verfahren zur Ernennung der Kommission verstand es das Parlament, diese Beteiligung zu einer effektiven Kontrolle des Ernennungsverfahrens zu entfalten, indem es zur Voraussetzung für die Abgabe seiner Stellungnahme machte, dass sich die von 53 54 55
Beschluss des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten, Abl. L 113 vom 4.5.1994, S. 15. Beschluss des Europäischen Parlaments vom 14. März 2002 zur Streichung der Artikel 12 und 16 (Abl. L 92 vom 9.4.2002 S. 13). Vertrag zur Änderung bestimmter Finanzvorschriften (1975), Abl. Nr. L 359 vom 31. Dezember 1977.
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den Regierungen der Mitgliedstaaten für dieses Amt designierten Kandidaten einer Anhörung durch den Ausschuss für Haushaltskontrolle stellen. Abweichend vom Verfahren zur Ernennung der Kommission unterbreitet der Ausschuss gemäß Artikel 101 der Geschäftsordnung dem Parlament eine Empfehlung betreffend die Ernennung eines jeden einzelnen Kandidaten. Das vom Parlament zur Vorbereitung seiner Stellungnahme gewählte Verfahren gewährleistet eine effizientere Kontrolle der Befähigung und Eignung der für dies Amt vorgeschlagenen Persönlichkeiten als die nach Artikel 247 EG-Vertrag für die Ernennung erforderliche Einstimmigkeit im Rat. Denn bei den Anhörungen der Kandidaten durch den zuständigen Parlamentsausschuss sind die im Rat der Union üblichen Gepflogenheiten diplomatischer Rücksichtnahmen wirkungslos. In der Tat hat der Ausschuss für Haushaltskontrolle im Jahre 2004 einen Kandidaten für nicht geeignet angesehen, was dazu führte, dass ein anderer Kandidat vorgeschlagen wurde, dessen Befähigung und Eignung außer Zweifel stand. Allerdings war das Parlament in der Vergangenheit nicht immer so erfolgreich.56 Auch in diesem Zusammenhang macht der Reformwille des Parlaments nicht am gegenwärtigen Zustand halt. Gegenwärtig werden Überlegungen angestellt mit dem Ziel, zur Sicherung der Effizienz der Arbeit des Rechnungshofs die Zahl seiner Mitglieder zu verringern. Da im Vertrag für eine Verfassung für Europa noch vorgesehen ist, dass der Rechungshof aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedstaat besteht, und das Mandat für die Ausarbeitung des Reformvertrags insofern keine Änderung vorsieht, dürfte es sich hierbei eher um eine längerfristige Reformperspektive handeln. 3.1.4 Dialog mit der Europäischen Zentralbank und Wahl ihrer Mitglieder In Anwendung der Bestimmungen des Artikels 112 des EG-Vertrags über das Anhörungsrecht des Europäischen Parlaments bei der Ernennung des Präsidenten und des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, über die Vorlage des Jahresberichts an das Europäische Parlament und über die Möglichkeit der Anhörung des Präsidenten der Zentralbank durch die Gremien des Parlaments hat die Praxis des Parlaments ein echtes Kontrollinstrument der europäischen Währungspolitik entwickelt, das auf einem weiten Verständnis von Rechenschaftspflicht beruht und die Unabhängigkeit der Zentralbank nicht antastet. Dabei stellt das Parlament auch insoweit die Öffentlichkeit der währungspolitischen 56
Weitere Beispiele bei D. Nickel, Der parlamentarische Charakter des Europäischen Parlaments, Referat beim Walter-Hallstein-Kolloquium am 5. November 2007 in Frankfurt/Main.
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Diskussion her, als es alle ihm in diesem Zusammenhang vorgelegten Dokumente auf seiner Webseite veröffentlicht. Die jährliche Vorlage des Rechenschaftsberichts durch den Präsidenten der Zentralbank gibt regelmäßig Anlass zu einer intensiven Debatte im Plenum des Parlaments, an der auch der Präsident der „Eurozone“ teilnimmt und die durch die Verabschiedung einer parlamentarischen Entschließung abgeschlossen wird. Der Ausschuss für Wirtschaft und Währung führt mindestens jedes Vierteljahr einen Meinungsaustausch auf der Grundlage einer Erklärung des Präsidenten der Zentralbank über die wirtschaftliche und geldpolitische Lage der Europäischen Union. Darüber hinaus antwortet der Präsident der Zentralbank auf schriftliche, durch den Vorsitzenden des Ausschusses für Wirtschaft und Währung übermittelte Anfragen von Mitgliedern des Parlaments. Der Ausschuss für Wirtschaft und Währung trifft außerdem in regelmäßigen Abständen mit Vizepräsidenten der Zentralbank zusammen, um aktuelle Fragen oder beabsichtigte Entscheidungen der Bank zu erörtern. Schließlich begibt sich eine Delegation des Ausschusses regelmäßig zu einem Zusammentreffen mit dem Rat der Zentralbank nach Frankfurt. Im Verfahren für die Ernennung des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Mitglieder des Direktoriums ist das Parlament im Verfahren der Anhörung beteiligt. Vor Abgabe seiner Stellungnahme werden der designierte Präsident und die anderen Kandidaten zu einer Anhörung in den Ausschuss für Wirtschaft und Währung gebeten. Unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Anhörung unterbreitet dieser Ausschuss dem Parlament eine Beschlussempfehlung betreffend die Ernennung eines jeden einzelnen Kandidaten. Wie aus den Ausführungen im vorangehenden Abschnitt ersichtlich ermöglicht dieses Verfahren eine öffentliche und effektive Kontrolle der Ernennungen. 3.2 Haushaltsangelegenheiten Nachdem die Vertragsreform des Jahres 197557 dem Europäischen Parlament in Bezug auf die Gestaltung des Gesamthaushaltsplans der Gemeinschaften konkrete Entscheidungsbefugnisse übertragen hatte, wurde der Bereich der Haushaltspolitik in den ersten Jahren des direkt gewählten Parlaments zu einer zentralen politischen Priorität, für die die erforderlichen technischen und personellen Ressourcen vorrangig zur Verfügung gestellt wurden.
57
Siehe Fußnote 24.
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3.2.1 Das Haushaltsverfahren Das von den Verträgen vorgegebene Haushaltsverfahren mit seinen zwei Lesungen und fest vorgegebenen Fristen führte zu regelmäßig wiederkehrenden Konflikten. Hierzu zählen z.B. Auseinandersetzungen innerhalb des Hauses zwischen den Interessen der sektoriellen Politikbereiche und der Setzung von Prioritäten, die durch die Sachzwänge der Haushaltspolitik notwendig wird. Aber schärfer noch waren die Konflikte mit dem Rat über die Klassifizierung von Ausgaben als obligatorische oder nichtobligatorische Ausgaben, weil nur bei den letzteren dem Parlament ein Letztentscheidungsrecht zusteht. Weitere Streitpunkte waren die Notwendigkeit spezifischer Akte des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts als Rechtsgrundlage für die Tätigung von Ausgaben aus dem Gemeinschaftshaushalts, oder schließlich der jeweilige Umfang der Erhöhungsmarge, die dem Parlament gegenüber dem Haushaltsentwurf des Rates zusteht. Bei den Beratungen über den Haushalt des Jahres 1980 führten diese Auseinandersetzungen sogar zur Ablehnung des Haushaltsplans, im weiteren Verlauf regelmäßig zu dramatischen Verhandlungen mit Ablehnungsdrohungen und einem in letzter Minute geschlossenen Kompromiss, sowie zu juristischen Auseinandersetzungen vor dem EuGH. 3.2.2 Mehrjährige Finanzplanung Eine gewisse Beruhigung ist in die Haushaltspolitik der Union seit der Einführung der mittelfristigen Finanzplanung gekommen. Diese ist zwar in den Verträgen nicht vorgesehen, hat aber doch einen konkreten Anknüpfungspunkt in der Bestimmung des Primärrechts, die es Rat und Parlament erlaubt, einvernehmlich von den nach den Kriterien des Vertrages errechneten Höchstsätzen für die Erhöhung abzuweichen. Damit wurde eine Vereinbarung zwischen Parlament und Rat über die mittelfristige Entwicklung bestimmter Ausgabenkategorien des Gemeinschaftshaushalts denkbar. Die Einhaltung einer solchen Vereinbarung dürfte zwar auf dem Rechtsweg nicht erzwingbar sein. Die Drohung, dass bei Nichteinhaltung der Vereinbarung die früheren Auseinandersetzungen wieder in vollem Umfang aufbrechen würden, erschien aber als ausreichend, um die Einhaltung zu sichern. Vor diesem institutionellen Hintergrund konnte im Jahre 1988 eine erste Vereinbarung über den mittelfristigen Finanzrahmen für die Jahre 1988 bis 1992 geschlossen werden (Paket Delors I). Diese Vereinbarungen wurden seitdem regelmäßig erneuert, zuletzt durch die finanzielle Vorausschau für den Zeitraum 2007-2013.
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Die politische Auseinandersetzung um das Volumen des Gemeinschaftshaushalts verlagert sich damit auf die Verhandlungen über die mittelfristige Finanzplanung. Sie wird dadurch auf eine breitere Basis gestellt und rationalisiert. Die Verhandlungen werden hart geführt, in ihrem Verlauf wird auch immer wieder die Frage gestellt, ob es unter den angebotenen Bedingungen für das Parlament überhaupt sinnvoll ist, sich auf eine mittelfristige Finanzplanung einzulassen. Im Ergebnis scheint sich aber doch stets die Überzeugung durchzusetzen, dass ein frei ausgehandeltes Ergebnis für beide Seiten günstiger ist als das voraussichtliche Resultat jährlicher, unter dem Zeitdruck des Haushaltsverfahrens geführter Auseinandersetzungen. 3.2.3 Kontrolle der Ausführung und Entlastungsverfahren Auf der Grundlage der Berichte des Rechnungshofes und eigener Ermittlungen überwacht der Ausschuss für Haushaltskontrolle, mit Unterstützung der für die einzelnen Politikbereiche zuständigen Fachausschüsse, die Ausführung des Haushaltsplans durch die Europäische Kommission. Die Einzelheiten des Verfahrens ergeben sich aus einem besonderen Anhang V zur Geschäftsordnung des Parlaments. Das Verfahren wird normalerweise in jedem Frühjahr durch einen Beschluss des Parlaments gemäß Artikel 198 EG-Vertrag zur Erteilung der Entlastung abgeschlossen, es sei denn, dass festgestellte Probleme Anlass zu einer Vertagung geben, um in Zusammenarbeit mit dem betroffenen Organ eine Klärung anzustreben. Eine Verweigerung der Entlastung wird als ein schwerwiegender Akt angesehen, dessen politische Bedeutung einem Misstrauensvotum gegenüber der Kommission nahekommt. So resultierte der Vertrauensverlust der Kommission Santer, der zu ihrem Rücktritt führte, unmittelbar aus Missständen, die im Entlastungsverfahren aufgedeckt worden waren. 4
Ein autonomes demokratisches Repräsentativorgan
Wie für jedes andere Organ der Europäischen Union sind die Vorrechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments durch das Primärrecht der Union bedingt und bestimmt. Das konstitutionelle Prinzip der speziellen Befugnisübertragung58 hat zur Folge, dass die Handlungen des Europäischen Parlaments nur unter der Voraussetzung einer entsprechenden Bestimmung in den Europäischen 58
Ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der in Artikel I-11 des (nicht in Kraft getretenen) Vertrags über eine Verfassung für Europa zum ersten Mal ausdrücklich verankert wurde.
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Gründungsverträgen und in dem dort festgelegten Umfang rechtliche Folgen haben können. Die dem Parlament übertragenen Gesetzgebungs-, Haushaltsund Wahlrechte setzen für das Zustandekommen eines rechtsgültigen Aktes regelmäßig ein Zusammenwirken mit einem anderen Organ voraus. Die Effizienz dieser Verfahren kann durch die Fähigkeit des Parlaments zu inneren Reformen nur soweit gesteigert werden, wie die Mechanismen der Beschlussfassung und die Verfahrensregeln der anderen Organe dies zulassen. In einigen wenigen Fällen übertragen die Verträge dem Parlament autonome Handlungsbefugnisse. Auf diesen Gebieten führte die Handlungs- und Reformfähigkeit des Parlaments unmittelbar zu konkreten Ergebnissen. 4.1 Selbstorganisationsrecht Seit den Anfängen des europäischen Integrationsprozesses verleihen die Gründungsverträge dem Europäischen Parlament (anfänglich „der Versammlung“) das Recht, seine Geschäftsordnung mit der Mehrheit der Stimmen der ihm angehörenden Mitglieder selbst festzulegen. Diese Bestimmung wurde vom Parlament ausdehnend im Sinne eines Rechts, seine eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, verstanden und angewandt. Auf diese Weise konnten insbesondere während der Aufbauphase einige für die parlamentarische Arbeit dringend erforderliche Regelungen, für die keine andere Rechtsgrundlage vorhanden war, durch autonome Beschlüsse des Parlaments bereitgestellt werden. Beispiele hierfür sind die Regelungen für die finanzielle Ausstattung der im Europäischen Parlament gebildeten Fraktionen, der Erstattung der Kosten im Zusammenhang mit der Ausübung des Abgeordnetenmandates, unter anderem des Aufwands für Reisen zum und vom Tagungsort des Parlaments und für die Unterhaltung eines Abgeordnetenbüros. Diese Praxis wurde ungeachtet kritischer Stimmen zu Einzelaspekten von den anderen Institutionen und den Mitgliedstaaten hingenommen und schließlich auch vom Europäischen Gerichtshof akzeptiert59. 4.1.1 Geschäftsordnungsreformen Die Reformfähigkeit des Europäischen Parlaments ließe sich im Einzelnen durch eine Geschichte der Reformen seiner Geschäftsordnung dokumentieren. Eine zu diesem Zweck angestellte Nachforschung hat ergeben, dass das Parla59
Vgl. die Urteile des Gerichtshofes vom 15. September 1981, Bruce of Donington gegen Eric Gordon Aspden, Rechtssache 208/80, Slg. 1981, S. 2205. und vom 23. April 1986. – Parti Écologiste „Les Verts“/Europäisches Parlament, Rechtssache 294/83 Slg . 1986, 1339.
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ment von seinem Zusammentritt nach den ersten Direktwahlen bis zum Jahre 2003 in insgesamt 997 Fällen einzelne Bestimmungen seiner Geschäftsordnung abgeändert hat. Die Geschäftsordnung befindet sich in einem schrittweisen Evolutionsprozess, dessen Darstellung im Einzelnen einen monographischen Aufwand erfordern würde. Die Methode für die einzelnen Reformschritte ist an den Verfahrensbestimmungen der Artikel 201 und 202 der Geschäftsordnung betreffend ihre eigene Abänderung ablesbar: Die Beratungen über eine Änderung der Geschäftsordnung werden eingeleitet entweder durch eine Zweifelsfrage bei ihrer Anwendung, die nicht allein im Wege einer Auslegung beantwortet werden kann, oder durch einen durch ein konkretes Problem veranlassten Antrag eines Abgeordneten. Das auf Initiative des zuständigen Ausschusses60 ebenfalls mögliche Verfahren einer allgemeinen Revision der Geschäftsordnung diente vor allem der Bewältigung der qualitativen Sprünge in den Beratungsfunktionen des Parlaments beim Inkrafttreten der Einheitlichen Akte61 und der Verträge von Maastricht62, Amsterdam63 und Nizza64. Vor Inkrafttreten des Reformvertrags, der an die Stelle des nicht ratifizierten Verfassungsvertrags treten wird, wird das Parlament ein weiteres Mal über eine generelle Revision seiner Geschäftsordnung beraten. 4.1.2 Parlamentsinterne Wahlen Ein relevanter Indikator für die Handlungs- und Reformfähigkeit des Europäischen Parlaments ist seine Fähigkeit, seine eigene Konstituierung effizient und in einer Weise zu organisieren, die die Kohärenz der Institution sichert. Dies ist angesichts seiner sich mit den Erweiterungen der Union immer wieder ändernden Zusammensetzung und der schrittweisen Entfaltung seiner konstitutionellen Funktionen keine Selbstverständlichkeit. Ausgangspunkt ist der Grundkonsens darüber, dass die Leitungsfunktionen für die parlamentarische Arbeit nicht durch eine Folge voneinander unabhängiger Mehrheitswahlen allein dem jeweils stärksten politischen Lager zufallen, sondern auf Repräsentanten der verschiedenen Fraktionen im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Stärke verteilt werden 60
61 62 63 64
In Anwendung des Anhangs VI zur Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments ist dies der Ausschuss für konstitutionelle Fragen. In den ersten vier Legislaturperioden nach der Direktwahl hatte das Parlament einen eigenen Ausschuss für Geschäftsordnung, Wahlprüfung und Immunitäten eingesetzt. Die beiden zuletzt genannten Fragenkreise zählen jetzt zu den Zuständigkeiten des Rechtsausschusses. 01.07.1987, Amtsblatt Nr. L 169 vom 29. Juni 1987, S. 1. 01.11.1993, Amtsblatt Nr. C 191 vom 29. Juli 1992, S. 1. 01.05.1999, Amtsblatt Nr. C 340 vom 10. November 1997, S. 1. 01.02.2003, Amtsblatt Nr. C 80 vom 10. März 2001, S. 6.
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sollen. Dieser Verteilungsmodus schafft eine Basis für die interfraktionelle Zusammenarbeit und damit für die Kompromissfähigkeit in den Beratungen während der bevorstehenden Legislaturperiode. Deshalb erfordert die nach der Geschäftsordnung zu Beginn und zur Hälfte der Legislaturperiode durchzuführende Neuwahl des Präsidenten, der Fraktionsvorsitzenden, der Vizepräsidenten und Quästoren, der Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der Ausschüsse jedes Mal die Einbindung und den internen Ausgleich eines äußerst komplexen Geflechts parteipolitischer, nationaler und persönlicher Interessen. Nicht immer gelingt die Quadratur des Kreises und manche persönliche Ambition bleibt unbefriedigt. In Einzelfällen werden die Ergebnisse des angewandten d’Hondt’schen Höchstzahlverfahrens als ungerecht empfunden. Insgesamt aber ist es ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit der geschaffenen Strukturen, dass es dem Parlament auch nach größeren Veränderungen wie dem Hinzukommen von Abgeordneten aus 12 neuen Mitgliedstaaten gelungen ist, seine eigene Konstituierung im Laufe einer Plenartagung und der anschließenden Ausschusswoche durchzuführen. Gewisse Verzögerungen sind allerdings bei der Bildung der interparlamentarischen Delegationen eingetreten, über die das Parlament zu Beginn jeder Legislaturperiode beschließt. Für die höchste der Wahlfunktionen im Europäischen Parlament, das Amt seines Präsidenten, hat sich seit der Direktwahl eine – von Ausnahmen durchbrochene – Praxis eines Wechsels zwischen Mitgliedern der beiden größten Fraktionen in diesem Amt entwickelt. Durch eine Absprache zwischen diesen Fraktionen, denen zusammen mehr als die Hälfte der Mitglieder des Parlament angehören, wird erreicht, dass im Laufe der Legislaturperiode nacheinander je ein Mitglied der einen und der anderen dieser beiden Fraktionen in das Amt des Präsidenten gewählt wird. Seitens der anderen Fraktionen des Hauses wird diese Praxis allerdings kritisch beurteilt, weil sich durch sie die eigentliche Wahl auf die Designierung der beiden Kandidaten der beiden größten Fraktionen verlagert. Von dieser Absprache unabhängige Kandidaturen für dieses Amt konnten deshalb aufgrund des persönlichen Ansehens der Kandidaten manchmal überraschend viele Stimmen auf sich vereinigen. Trotzdem scheint die Mehrheit an dieser Praxis festhalten zu wollen. Sie hat den Vorteil, dass sie für die Dauer der Legislaturperiode einen politischen Rahmen für die interfraktionelle Zusammenarbeit in der Gesetzgebungsarbeit herstellt, in der das Parlament nach den Regeln des Mitentscheidungsverfahrens ein großes Interesse daran hat, dass seine Beschlüsse mit der Mehrheit der ihm angehörenden Mitglieder zustande kommen. Diese Mehrheit kann im Einzelfall, z.B. bei ideologisch kontroversen Fragen, auch zustande kommen, wenn eine der beiden größten Fraktionen abweichend votiert. Für die regelmäßige Gesetzgebungsarbeit ist es aber vorteilhaft, wenn das Zustandekommen der für wirksame Beschlüsse erforderlichen Mehrheit durch eine strukturierte interfraktionelle Zusammenarbeit vorgeprägt ist.
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4.1.3 Fraktionen und Parteien Bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit traf die noch aus delegierten Mitgliedern der Parlamente der Mitgliedstaaten zusammengesetzte Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl die weichenstellende Entscheidung, dass sich ihre Mitglieder nach politischen Affinitäten zu transnationalen Fraktionen zusammenschlossen und die Sitzordnung im Plenarsaal nach Fraktionen und nicht nach nationalen Delegationen gestaltet wurde. Dieser zu jener Zeit innovative und mutige Schritt in die unerforschte Dimension transnationaler Demokratie legte die Grundlagen für die späteren Errungenschaften des Parlaments, zu der die Fraktionen das Herzstück der politischen Gestaltung beitrugen. Im Rahmen der ihnen vom Parlament im jährlich festgelegten Sitzungskalender zugewiesenen Sitzungszeiten genießen die Fraktionen beträchtliche Autonomie in Bezug auf die Gestaltung ihrer Arbeitsweise und die Verwendung der ihnen vom Parlament in Ausübung seines Selbstorganisationsrechts zur Verfügung stehenden Mittel. Anders als die Plenartagungen und Ausschusssitzungen sind die Sitzungen der Fraktionen des Europäischen Parlaments im Grundsatz nicht öffentlich. Ihre Arbeitsweise und damit auch ihre innere Reformfähigkeit kann deshalb in diesem Zusammenhang nicht dargestellt werden. Die Bildung transnationaler Fraktionen im Europäischen Parlament gab wichtige Anstöße dafür, dass politische Parteien mit verwandter Programmatik auch außerhalb des institutionellen Rahmens des Parlaments zu politischen Familien zusammenfanden, die den Schritt zur Gründung politischer Parteien auf der Ebene der Europäischen Union wagten. Auch wenn diese neuen Parteien bis heute noch eher den Charakter von Dachverbänden der in ihnen zusammenwirkenden nationalen Parteien haben, hatte dieser Schritt erhebliche integrationspolitische Bedeutung und fand mit der Schaffung des Parteienartikels durch den Vertrag von Maastricht und seine Ergänzung durch den Vertrag von Nizza institutionelle Anerkennung. Es ist beispielsweise Tradition geworden, dass unmittelbar vor den Tagungen des Europäischen Rates die Europäischen Politischen Parteien mit den ihnen angehörenden Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zu einem vorbereitenden Dialog zusammentreffen. Die Bedeutung der Europäischen Politischen Parteien wird voraussichtlich noch zunehmen, wenn nach dem vorgesehenen Reformvertrag bei der Wahl des Kommissionspräsidenten die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament künftig eine größere Rolle spielen werden. Denn dann gibt es für Europäische Politische Parteien ein echtes politisches Motiv für eine Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten vor jeder Europawahl. Die auf Initiative des Europäischen Parlaments im Vertrag von Nizza geschaffene Ergänzung des Parteienartikels hat es ermöglicht, eine autonome und
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transparente Rechtsgrundlage für die Finanzierung der Europäischen Politischen Parteien zu schaffen65. Insgesamt hat der Reformwille des Parlaments auf diesem mit seiner Tätigkeit eng verbundenen Feld einen relevanten Beitrag zur Herstellung demokratischer Legitimation auf der Ebene der Europäischen Union geleistet. 4.1.4 Ordnungs- und Verhaltensregeln In den ersten Legislaturperioden nach der Direktwahl des Europäischen Parlaments warf die Aufrechterhaltung einer der Würde eines Parlaments angemessenen Ordnung keine Probleme auf. Bei schwerwiegenden Fällen des Fehlverhaltens von Abgeordneten ermöglichte die Geschäftsordnung die Verhängung von Sanktionen. Von dieser Möglichkeit musste aber praktisch nie Gebrauch gemacht werden. Die politischen Auseinandersetzungen vollzogen sich in einer Atmosphäre der Kollegialität, die von Abgeordneten, die zuvor Mandate in anderen Parlamenten innegehabt hatten, positiv bewertet wurde. Nach den Wahlen zur sechsten Legislaturperiode drohte eine Veränderung dieses Bilds. Die Versuche von Vertretern mancher Minderheitsgruppierungen häuften sich, ihre abweichenden Auffassungen nicht nur in der Debatte im Rahmen der ihnen nach ihrer zahlenmäßigen Bedeutung zugeteilten Redezeit, sondern darüber hinaus durch Aktionen zum Ausdruck zu bringen, die die Darstellung anderer Meinungen im Plenum erheblich störten. Angesichts dieser Erscheinung wurde man sich bewusst, dass die in der Geschäftsordnung vorgesehenen Sanktionen entweder wirkungslos waren (z.B. ein verbaler Verweis) oder so schwerwiegend, dass ihre Verhängung nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde (z.B. der zeitweilige Ausschluss aus der Sitzung). Ein weiteres Problem war die Sicherung der Vertraulichkeit von Informationen, die Abgeordneten im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle von Aktivitäten der Europäischen Union zugänglich gemacht werden und die aus Sicherheitsgründen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden wichtigen Gründen nicht veröffentlicht werden dürfen. Diese Problemlage gab Anlass zu einer Reform der Regeln über die innere Ordnung des Parlaments. Zentrales Anliegen der Debatten hierüber war, dass die Spontaneität der parlamentarischen Debatte nicht durch überzogene Regeln erstickt wird. Einigkeit bestand auch darüber, dass die im Parlament repräsen65
Verordnung Nr. 2004/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung, Abl. L 297 vom 15.11.2003, S. 1. Bis zum Inkrafttreten dieser Verordnung erfolgte die Finanzierung unter Berufung auf das Selbstorganisationsrecht direkt aus dem Haushalt des Europäischen Parlaments, was zu erheblichen rechtlichen Bedenken Anlass gab.
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tierten Bürger durch ein Fehlverhalten ihrer Repräsentanten keine Nachteile erleiden dürfen, mit anderen Worten, dass aus Ordnungsgründen verhängte Sanktionen nicht die Ausübung des Mandates und insbesondere des Rechts zur Teilnahme an den Abstimmungen im Plenum verkürzen dürfe. Diese Überlegungen führten zu der Bestimmung des jetzigen Artikels 9 Absatz 3 der Geschäftsordnung, wonach die Anwendung der Ordnungsregeln die im Primärrecht der Union und im Abgeordnetenstatut niedergelegten Vorrechte der Mitglieder, ihre Redefreiheit und die Lebhaftigkeit der Debatten in keiner Weise berühren dürfen. Im Ergebnis führte die Reform zur Einführung einer finanziellen Sanktionsmöglichkeit in Form eines zeitweisen Verlusts des Anspruchs auf Tagegeld, bei einer gleichzeitigen Verringerung des Höchstmaßes der Sanktionen, die bei Ordnungsverstößen möglich sind. Diese maßvolle Reform hat dazu beigetragen, dass seit ihrem Inkrafttreten66 die Zahl und Intensität der Ordnungsverstöße im Parlament erheblich zurückgegangen ist. 4.1.5 Der Name Gerade wegen des Umstandes, dass es sich um ein politisches Symbol handelt, ist der Erfolg des Europäischen Parlaments bei der Verwendung des eigenen Namens bezeichnend für seine Kapazität, Reformen durchzusetzen. Denn das Schicksal des Vertrags über eine Verfassung für Europa hat gezeigt, dass neue, identitätsstiftende Symbole für die Ebene der Europäischen Union noch schwerer durchsetzbar sind als funktionelle Reformen. Die in den Gründungsverträgen ursprünglich vorgesehene Bezeichnung „Versammlung“ wurde wegen ihrer Ähnlichkeit zu den parlamentarischen Versammlungen internationaler Organisationen als unangemessen empfunden67. Sie blieb deutlich hinter dem Anspruch zurück, die demokratische Repräsentation in einer im Entstehen begriffenen politischen Ordnung eigener Art auszuüben. Deshalb gab sich das Haus noch vor der ersten Direktwahl in seiner Geschäftsordnung und in Abweichung von den Verträgen die Bezeichnung „Europäisches Parlament“ und verwendete sie in seinen offiziellen Dokumenten. In der Einheitlichen Europäischen Akte68 wurde diese Namensgebung schließlich offiziell in das Primärrecht übernommen, ein Zeichen dafür, dass ein qualitativer Schritt gegenüber den parlamentarischen Versammlungen der anderen europäischen 66 67 68
Seit dem 1. Februar 2006. Allein in der französischen Sprache erlaubte die Bezeichnung „Assemblée“ eine Assoziierung mit dem Parlament eines Mitgliedstaats, der französischen Nationalversammlung. Einheitliche Europäische Akte (1986), beispielsweise Artikel 6, Amtsblatt Nr. L 169 vom 29. Juni 1987, S. 1.
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Organisationen vollzogen war und der lange Prozess des schrittweisen Ausbaus der Befugnisse des Europäischen Parlaments begonnen hatte. 4.2 Statutäre Fragen Besonders schwierige Probleme der parlamentarischen Reform treten in den Bereichen der parlamentarischen Aktivitäten auf, in denen die autonome Rechtsordnung der Europäischen Union und die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ineinander greifen und ihre Verschiedenheit die Fähigkeit zu pragmatischem Ausgleich erfordert. Diese Fragen sind im Folgenden unter dem Kapitel „statutäre“ Fragen zusammengefasst, weil sie um das Statut des Parlaments und seiner Abgeordneten kreisen. Rechtstechnisch konnte jedoch nur ein Teil dieser Fragen im Abgeordnetenstatut geregelt werden, weil das Primärrecht der Union bestimmte Materien an anderer Stelle regelt oder besondere Verfahren für sie vorsieht. 4.2.1 Wahlrecht Bei seinem Zusammentreten fand sich das erste direkt gewählte Europäische Parlament dem in dem jetzigen Artikel 190 des EG-Vertrags niedergelegten Auftrag gegenüber, einen Vorschlag für ein einheitliches Verfahren zur Direktwahl seiner Mitglieder auszuarbeiten. Dieser Auftrag wurde umgehend in Arbeit genommen und nach knapp zwei Jahren durch die Vorlage eines Entwurfs eines einheitlichen Wahlverfahrens für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments69 durchgeführt, der auf den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts unter Berücksichtigung der in den damals noch neun Mitgliedstaaten bestehenden Praxis aufbaute. Jedoch bestand zu keiner Zeit eine reale Aussicht, im Rat die für das Inkrafttreten eines solchen Vorschlags erforderliche Einstimmigkeit zu erreichen; denn in den Mitgliedstaaten, in denen das Mehrheitswahlrecht vorherrschte, bestand keine Bereitschaft, das Wahlrecht nach den Prinzipien der Verhältniswahl zu verändern. Aber auch ungeachtet dieses grundsätzlichen Unterschiedes gab es in den Mitgliedstaaten erhebliche Vorbehalte dagegen, die unterschiedlichen Traditionen des nationalen Wahlrechts durch ein einheitliches Europawahlrecht zu ersetzen. 69
Entschließung vom 10. März 1982, Amtsblatt C 87 vom 5. April 1982, S. 64 (Bericht Seitlinger). Bereits vor der ersten Direktwahl beriet das Parlament über einige Vorschläge auf diesem Gebiet, zuletzt am 14. Januar 1975 aufgrund eines Berichts Patijn (Abl. C 32 vom 11.2.1975).
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In die auf diese Weise blockierte Durchführung des primärrechtlichen Auftrags kam erst wieder Bewegung, als sich kurz vor Zustandekommen des Vertrags von Amsterdam im Vereinigten Königreich aus innenpolitischen Gründen eine Bereitschaft abzeichnete, für die nächsten Europawahlen das Wahlrecht in einer Weise zu modifizieren, die einen gewissen Verhältnisausgleich herbeiführt. In der Tat wurden bei der nachfolgenden Wahl Mitglieder von bis dahin im Europäischen Parlament nicht vertretenen Parteien aus dem Vereinigten Königreich gewählt. Die Öffnung des Vereinigten Königreichs für Elemente des Verhältniswahlrechts veranlasste die Vertreter des Europäischen Parlaments in der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Amsterdam vorbereitete, eine Ergänzung des im Primärrecht enthaltenen Auftrags betreffend ein einheitliches Wahlverfahren vorzuschlagen. Der im Vertrag unter dem Vorbehalt der Ratifizierung vorgesehene Akt des abgeleiteten Rechts muss demnach nicht notwendig ein einheitliches Wahlverfahren zum Gegenstand haben, sondern kann sich auf die Festlegung gemeinsamer Grundsätze beschränken, die die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres nationalen Wahlrechts für die Europawahlen beachten müssen. Diese im jetzigen Artikel 190.4 des EG-Vertrags enthaltene Klausel wurde in der Tat im Vertrag von Amsterdam vereinbart. Auf einen vom Europäischen Parlament vorgelegten Vorschlag70 wurde daraufhin die Direktwahlakte aus dem Jahre 1976 durch einen Ratsbeschluss71 in einer Weise abgeändert, die künftig alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ihr nationales Wahlrecht für die Europawahlen nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts auszugestalten. Im Hinblick auf die wenig später erfolgten Erweiterungen der Union darf die Bedeutung dieser Reform nicht unterschätzt werden. 4.2.2 Mandatsprüfung Artikel 11 der Direktwahlakte72 überträgt dem Europäischen Parlament die Aufgabe der Prüfung der Mandate seiner Mitglieder im Hinblick auf eventuelle Beanstandungen, die sich aus der Anwendung der Direktwahlakte ergeben. Der in der Praxis wichtigste Aspekt dieser Prüfung betrifft die Frage, ob einer der sich aus der Direktwahlakte ergebenden Fälle der Unvereinbarkeit vorliegt, 70
71 72
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Juli 1998 zur Ausarbeitung eines Entwurfs für ein Wahlverfahren, das auf gemeinsamen Grundsätzen für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments beruht, Abl. Nr. C 292 vom 21.9.1998, S.66, Bericht Anastassopoulos (Dok. A4-0212/98). Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 zur Änderung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Amtsblatt Nr. L 283 vom 21. Oktober 2002, S. 1 In der Fassung des Ratsbeschlusses vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 .
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wenn die zuständige Stelle eines Mitgliedstaates dem Europäischen Parlament die Wahl eines Mitglieds notifiziert. Da die Bestimmungen der Wahlakte in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht sind und von ihren Organen angewandt werden müssen, dürfte bei Vorliegen einer solchen Unvereinbarkeit eine solche Notifizierung nicht erfolgen. Die in einigen Mitgliedstaaten übliche Praxis, dass bekannte Spitzenpolitiker von ihren Parteien auf die Spitzenplätze der Listen für die Europawahlen gesetzt werde, ohne dass diese ernsthaft die Absicht haben, ein Mandat im Europäischen Parlament auszuüben, führt aber zuweilen dazu, dass die dem Parlament übermittelte Liste der Gewählten einen Inhaber eines – mit dem Mandat des Europaabgeordneten unvereinbaren – nationalen Regierungsamts enthält. In anderen Fällen zögerten die Gewählten angesichts bevorstehender Nominierungen auf nationaler Ebene ihre Entscheidung zwischen dem europäischen und dem nationalen Mandat hinaus. Seit der im April 2004 in Kraft getretenen Änderung der Europawahlakte73 ist zudem das Mandat des Abgeordneten im nationalen Parlament eines Mitgliedstaats mit dem Mandat des Europaabgeordneten unvereinbar74, was die potentiellen Fälle von Unvereinbarkeit aufgrund der Wahlakte beträchtlich vermehrte. Da im Europäischen Parlament die Mandatsprüfung erst nach der effektiven Aufnahme der Abgeordnetentätigkeit stattfindet75, bedeutete dies eine deutliche Zunahme des Risikos einer nicht rechtmäßigen Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bei seiner Beschlussfassung. Die Art und Weise, wie das Europäische Parlament diesen Gefahren begegnete, ist bezeichnend für seine pragmatische und flexible Arbeitsweise. Bei einer im Jahre 2006 beschlossenen Reform des Verfahrens der Mandatsprüfung76 wurde vorgesehen, dass nach den Europawahlen die zuständigen nationalen Stellen routinemäßig um unverzügliche Mitteilung der Gewählten ersucht und gleichzeitig auf die Bestimmungen über die Unvereinbarkeit hingewiesen werden. Nach dieser Neuregelung kann außerdem ein Abgeordneter vor Abschluss der Mandatsprüfung sein Mandat nur dann ausüben, wenn er zuvor in einer Erklärung versichert hat, kein mit der Funktion eines Europaabgeordneten unvereinbares Mandat auszuüben. Diese Vorkehrungen schaffen gewiss keine absolute Garantie dafür, dass ein Europaabgeordneter sein Mandat aufnimmt, obwohl er ein anderes unvereinbares Amt innehat. Die Transparenz der politischen Öffentlichkeit sorgt aber dafür, dass ein solcher Fall höchst unwahrscheinlich geworden ist. 73 74 75 76
Siehe den in den beiden vorangehenden Fußnoten zitierten Ratsbeschluss. Ausnahmen hiervon gelten noch bis zum Jahre 2009 für das Vereinigte Königreich. Gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Geschäftsordnung nimmt das Mitglied, solange sein Mandat noch nicht geprüft worden ist, mit vollen Rechten an den Sitzungen des Parlaments und seiner Organe teil. Beschluss vom 12. Oktober 2006 zur Änderung der Artikel 3 und 4 der Geschäftsordnung, Amtsblatt Nr. C 226 E vom 15. September 2005, S. 51.
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An der Schnittstelle zwischen europäischem und nationalem Europawahlrecht sind in jüngster Zeit zwei Fragen akut geworden, deren Klärung noch aussteht. Dabei geht es zum einen darum, ob es die Direktwahlakte ausschließt (oder künftig ausschließen sollte), dass ein Mitgliedstaat die nationalen Bestimmungen über die Wählbarkeit zum Europäischen Parlament in einer Weise ändert, dass das Mandat eines bereits gewählten Abgeordneten hinfällig wird. Zum anderen geht es um den Problemkreis von Absprachen und Vereinbarungen, die auf nationaler Ebene im Rahmen von Wahllisten über die Nachfolge von im Europäischen Parlament freiwerdenden Abgeordnetenmandaten getroffen werden. Die Frage ist, ob solche Vereinbarungen mit der in der Direktwahlakte garantierten Freiheit des Mandats vereinbar sind, unter Berücksichtigung des Umstands, dass in dem im Jahre 2009 in Kraft tretenden Abgeordnetenstatut diese Freiheit für die gewählten Abgeordneten dahingehend konkretisiert worden ist, dass Vereinbarungen über die Niederlegung des Mandats nichtig sind. Diese Bestrebungen, die sich in ersten Beschlüssen77, aber noch nicht in definitiven Reformen niedergeschlagen haben, lassen den Willen des Europäischen Parlaments zu kontinuierlicher Veränderung erkennen, um die demokratische Repräsentation der Bürger auf der Ebene der Europäischen Union gemäß höchsten Standards der Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen. 4.2.3 Abgeordnetenstatut Im Europäischen Parlament tagen Abgeordnete aus jetzt 27 verschiedenen Mitgliedstaaten mit gleichen politischen Rechten. Ihr individueller Rechtsstatus ist aber höchst unterschiedlich. Seit der ersten Direktwahl bis heute gleicht er weitgehend demjenigen der Abgeordneten des nationalen Parlaments eines jeden Mitgliedstaates. Von Anfang an wurde die Ungleichheit zwischen den politischen und den statutären Rechten der Europaabgeordneten als unbefriedigend empfunden. Im Rahmen der Instrumente des Selbstorganisationsrechts des Parlaments wurde versucht, eine gewisse Abhilfe für die gravierendsten Ungleichheiten zu schaffen, beispielsweise durch eine großzügige Pauschalisierung der Reisekostenerstattung, unter Berücksichtigung des Umstandes, dass nach den 77
Entschließung vom 24. Mai 2007 über die Prüfung des Mandats von Beniamino Donnici und Achille Occhetto, www.europarl.europa.eu, Dok. PE-0209/200, Dok. P6_TA(2007)0209 und Beschluss des Gerichts erster Instanz vom 15. November 2007 über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in der Rechtssache T-215/07 (nicht rechtskräftig). Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments beabsichtigt, auf Basis eines Berichts des Abgeordneten Duff (siehe Arbeitsdokumente PE 400476 - 478) einen Vorschlag zur Änderung der Direktwahlakte auszuarbeiten, der unter anderem zur Lösung der in diesem Zusammenhang auftretenden Probleme beitragen könnte.
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Beitritten Griechenlands, Spaniens und Portugals die Abgeordneten aus den am weitesten von den Tagungsorten entfernten Herkunftsländern ihr Mandat unter den ungünstigsten materiellen Bedingungen ausübten. Die tatsächlichen Entwicklungen auf dem Feld der Tarife für Flugreisen führten aber dazu, dass diese Pauschalierung immer mehr zum Gegenstand öffentlicher Kritik wurde. Die Antwort des Europäischen Parlaments hierauf war stets, dass diese Fragen nur im Rahmen eines einheitlichen Statuts der Europaabgeordneten befriedigend gelöst werden können. Hierfür existierten im Europäischen Parlament zwar Vorüberlegungen, doch mangels einer Rechtsgrundlage im Primärrecht der Union gab es lange Zeit keine Möglichkeit, ein solches Statut in Kraft zu setzen. Bei den Verhandlungen für den Vertrag von Amsterdam konnten die Repräsentanten des Parlaments schließlich die Regierungen der Mitgliedstaaten dazu bringen, das Primärrecht der Union durch eine Rechtsgrundlage für die Annahme einheitlicher statutärer Regelungen für die Europaabgeordneten zu ergänzen78, deren Struktur derjenigen zur Annahme des Statuts des Bürgerbeauftragten ähnelt. Damit hatte das Parlament den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand. Aber nach Einschätzung erfahrener Abgeordneter war die Lösung des Problems ebenso schwierig wie die Quadratur des Kreises. Denn einerseits war mit dem Abgeordnetenstatut die Erwartung verbunden, für alle Abgeordneten eine einheitliche Regelung der materiellen Bedingungen zu schaffen, unter denen sie ihr Mandat ausüben. Andererseits machten politische Statusfragen es aber auch schwer vorstellbar, die Mitglieder des Europäischen Parlaments günstiger oder auch ungünstiger zu stellen als die Mitglieder des nationalen Parlaments des Mitgliedstaats, in dem sie gewählt wurden. Die Ausarbeitung eines im Europäischen Parlament mehrheitsfähigen Vorschlags eines Abgeordnetenstatuts, das zudem noch der Zustimmung des Rates bedurfte, war deshalb eine äußerst schwierige und delikate Aufgabe. Kurz nach der Unterzeichnung und noch vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam benannte der im Europäischen Parlament für diesen Gegenstand zuständige Rechtsausschuss den Abgeordneten Willi Rothley als Berichterstatter für das Abgeordnetenstatut. Ein erster Entwurf eines Abgeordnetenstatuts fand im Dezember 1998 die Billigung des Parlaments79 und wurde nach Inkrafttreten
78
79
Artikel 190 Absatz 5 des EG-Vertrags in der Fassung des Vertrags von Amsterdam ermöglichte die Annahme durch das Parlament nach Zustimmung des Rates, die einstimmig zu erteilen war. Im Vertrag von Nizza wurde das Einstimmigkeitserfordernis für die Zustimmung des Rates ersetzt durch die Möglichkeit einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung, mit Ausnahme der steuerlichen Aspekte, für die die Zustimmung des Rates weiterhin einstimmig erteilt werden muss. Entschließung vom 3. Dezember 1998 über den Entwurf eines Abgeordnetenstatuts im Europäischen Parlament, Amtsblatt Nr. C.398 vom 21. Dezember 1998, S. 24
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des Vertrags von Amsterdam im Mai 1999 vom Parlament förmlich bestätigt80. Von Anfang an war es das Anliegen des Parlaments, dass das Abgeordnetenstatut nicht nur finanzielle, sondern auch inhaltliche Aspekte des Mandats der Europaabgeordneten regeln müsse. Dies warf schwierige rechtliche und politische Fragen betreffend das Verhältnis der neuen Regelung zu den bereits im Primärrecht geregelten Materien (Wahlverfahren, Vorrechte und Befreiungen) einerseits und zu den unter das Selbstorganisationsrecht des Parlaments fallenden Materien (Geschäftsordnung, Kostenerstattungen) andererseits auf. Für die Herstellung einer komfortablen Mehrheit im Parlament erwies sich dabei die Einführung einer großzügigen Übergangsregelung vom bisherigen zum neuen System als ausschlaggebend. Sie hat den Nachteil, dass die Anwendung des neuen Statuts nur schrittweise auf alle Abgeordneten ausgedehnt wird und die bestehenden Ungleichheiten noch für einen gewissen Zeitraum und in abnehmendem Umfang weiter bestehen werden. Der Vorteil dieser Lösung ist aber, dass Konflikte zwischen dem institutionellen Interesse des Parlaments an einem einheitlichen Statut seiner Abgeordneten und persönlichen Interessen einzelner Abgeordneter weitgehend vermieden werden konnten. Die von der Mehrheit des Parlaments befürworteten Regelungen begegneten jedoch im Rat einer breiten Ablehnung. Ein Versuch, in den Gremien des Rates Alternativen zu den vom Parlament vorgeschlagenen Regelungen auszuarbeiten, stieß auf die kategorische Ablehnung des Parlaments. Es folgte eine langwierige Phase von Kontaktgesprächen zwischen Repräsentanten des Parlaments und des Rates. Nachdem Einigkeit darüber hergestellt war, dass in Anwendung der im EG-Vertrag enthaltenen Rechtsgrundlage das „right of drafting“ beim Europäischen Parlament liegt, konnten in den Gesprächen zu den einzelnen Regelungsgegenständen die Positionen Schritt für Schritt einander angenähert werden. Kernstück war ein unter der belgischen Ratspräsidentschaft erreichter Kompromiss in der Steuerfrage, der die Mitgliedstaaten berechtigt, auf die Bezüge der Abgeordneten zusätzlich zu der Steuer zugunsten der Gemeinschaften, aber unter Vermeidung jeder Doppelbesteuerung eine zusätzliche nationale Einkommensteuer zu erheben. Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten konnte der Rechtsausschuss des Parlaments im April 2002 die wesentlichen Elemente des künftigen Abgeordnetenstatuts zusammenstellen81. Dies Dokument rief im Parlament keine Begeisterung hervor, wurde aber als Ausdruck eines Kompromisses mit dem Rat von der Mehrheit akzeptiert. Es bildete den Ausgangspunkt für die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs des Abgeordnetenstatuts, den das Parlament am 3./4. Juni 2003
80 81
Entschließung vom 5, Mai 1999 über den Entwurf eines Abgeordnetenstatuts im Europäischen Parlament, Amtsblatt Nr. C.279 vom 1. Oktober 1999, S. 171. Stellungnahme an den Präsidenten des Parlaments vom 9. April 2002, Dok. AD\465778.
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billigte82. Dieser Entwurf enthielt zusätzlich zu den Punkten, über die mit dem Rat bereits eine Verständigung erreicht war, eine von den Regelungen des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften abweichende, alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments gleich stellende Regelung der parlamentarischen Immunität und Indemnität. Es zeigte sich aber, dass diese Regelung, die von einer starken Gruppe von Abgeordneten zur Bedingung für ihre Zustimmung zum Statut gemacht worden war, einer Zustimmung des Rats zu dem neuen Entwurf im Wege stand. Als schließlich im Dezember 2003 die Mehrheit des Parlaments akzeptierte83, dass eine Neuregelung der Immunitäten nur im Wege einer alsbald in Angriff zu nehmenden Reform des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen zu erreichen war, schien der Weg für die einvernehmliche Annahme des Abgeordnetenstatuts frei zu sein. Doch bei der entscheidenden Tagung des Ministerrats vom 26. Januar 2004 zeigte sich, dass die für die Zustimmung des Rates zum Abgeordnetenstatut erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht mehr zustande kam. Wegen der zeitlichen Nähe zu den im Juni 2004 stattfindenden Europawahlen schien der deutschen Bundesregierung die Annahme des Statuts zu diesem Zeitpunkt nicht mehr opportun. Es bedurfte also eines weiteren Anlaufs, um die Beratungen über das Abgeordnetenstatut abzuschließen. Diesmal ging die Initiative von der luxemburgischen Ratspräsidentschaft aus, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2004 ihren Willen zu erkennen gab, auf der Grundlage der geleisteten Vorarbeiten eine Einigung herbeizuführen. Nach Aushandlung einiger Detailfragen und Anpassungen des Textes (der Zeitpunkt des Inkrafttretens wurde auf den Beginn der Legislaturperiode im Jahre 2009 hinausgeschoben) konnte im Rat eine politische Einigung erzielt werden. Daraufhin nahm das Parlament in seiner Sitzung vom 28. September 2005 die endgültige Fassung des Statuts84 an und der Rat erteilte umgehend seine Zustimmung – das wohl langwierigste Kapitel in der Geschichte der Reformen des Parlaments fand damit seinen vorläufigen Abschluss. Seitdem beraten die zuständigen Organe des Parlaments über die Ausarbeitung der zur Anwendung des Statuts notwendigen Durchführungsbestimmungen, die spätestens bis zur Mitte des Jahres 2008 verabschiedet werden sollen. 82
83 84
Entschließung vom 3. Juni 2003 über das Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments, Amtsblatt Nr. C.68 E vom 18. März 2004, S.115 und Beschluss vom 4. Juni 2003 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts für das Europäische Parlament, Amtsblatt Nr. C 68 E vom 18. März 2004, S. 210. Entschließung vom 17.Dezember 2003 zum Abgeordnetenstatut, Amtsblatt Nr. C.91 E vom 15. April 2004, S. 230. Abl. L 262 vom 7.10.2005, S. 1 ff.
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4.2.4 Sitzfrage Ein noch offenes Kapitel in der Reformgeschichte des Europäischen Parlaments ist die Frage seines Sitzes. Die Gründungsverträge hatten die Frage des Sitzes der Organe der Gemeinschaften ursprünglich offen gelassen. Zum Zeitpunkt seiner ersten Direktwahl trat das Parlament zwölf Mal im Jahr in Straßburg und gelegentlich in Luxemburg zu seinen Plenartagungen zusammen, die Ausschüsse und die Fraktionen tagten in Brüssel und Luxemburg und das Generalsekretariat war ausschließlich in Luxemburg angesiedelt. Der ständige Ortswechsel und der damit verbundene Aufwand wurden bald zum Gegenstand der Kritik, insbesondere in solchen Medien, die eher negative Schlagzeilen suchten als die sachliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt der parlamentarischen Beratungen. Das Parlament war für diese Entwicklung der öffentlichen Meinung sensibel, weil sie einen ungünstigen Schatten auf den europäischen Integrationsprozess warf. Außerdem konnte es selbst in Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Verantwortung keine überzeugende Rechtfertigung des Mehraufwands an öffentlichen Mitteln für die Arbeit an drei verschiedenen Orten finden. Für die Forderung nach einem einzigen Sitz und Tagungsort für das Parlament fand sich deshalb sehr rasch eine Mehrheit85. Daraufhin versuchte das Parlament durch pragmatische Schritte im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts Fakten zu schaffen, die eine Entwicklung zu einem einzigen Sitz begünstigten. So wurden zwischen 1981 und 2004 die für die Organisation der politischen Arbeiten des Parlaments zuständigen Dienststellen des Generalsekretariats, zunächst die Fraktionssekretariate und dann schrittweise die Ausschusssekretariate und wissenschaftlichen Dienste von Luxemburg nach Brüssel umgesiedelt. Auf die Abhaltung von Plenartagungen in Luxemburg wurde verzichtet und seit der Fertigstellung des Plenarsaals des Europäischen Parlaments in Brüssel werden dort zusätzliche Plenartagungen durchgeführt. Versuche des Parlaments, die jährliche Anzahl von Plenartagungen in Straßburg zu verringern, wurden jedoch durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs als für nicht rechtmäßig erklärt86. Eine weitere Klärung erfuhr die Rechtslage dadurch, dass mit dem Vertrag von Amsterdam in einem Zusatzprotokoll Straßburg zum Sitz des Parlaments bestimmt wurde mit der Maßgabe, dass es dort jährlich zu zwölf Plenarta85
86
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. November 1980 zum Sitz des Europäischen Parlaments, Amtsblatt Nr. C. 327 vom 15. Dezember 1980, S. 49, oder Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Dezember 1981 zum Sitz der Institutionen, Amtsblatt Nr. C. 11 vom 18. Januar 1982, S. 41. Urteil des Gerichtshofes vom 1. Oktober 1997. – Französische Republik gegen Europäisches Parlament. – Sitz der Organe – Europäisches Parlament – Tagungen. – Rechtssache C-345/95, S. I-5215.
Parlamentarische Reform im Europäischen Parlament
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gungswochen zusammentritt. Das Protokoll bestätigt außerdem die Praxis der in Brüssel stattfindenden Sitzungen der Ausschüsse und Fraktionen. Doch die Sitzfrage hat sich damit noch nicht beruhigt. Die Kritik an den Mehrkosten für die drei Arbeitsorte verstummt nicht und gewinnt immer wieder Unterstützung durch die öffentliche Meinung. Natürlich kann das Parlament darauf verweisen, dass die Verantwortung für die Sitzentscheidung bei den „hohen vertragsschließenden Parteien“, also bei den Mitgliedstaaten liegt. Doch angesichts seines gewachsenen Einflusses auch auf die Entwicklung des Primärrechts der Union trägt auch das Parlament selbst einen Teil der Verantwortung mit. Dabei lassen Beschlüsse aus jüngster Zeit erkennen, dass die Forderung nach einem einzigen Sitz nach wie vor mehrheitsfähig ist87, dass das Parlament aber dem Gelingen der institutionellen Reformen zur Wiederherstellung der vollen Funktionsfähigkeit der Union ihr gegenüber Vorrang einräumt88. Man könnte die gegenwärtige Lage deshalb so einschätzen, dass das Europäische Parlament ein geeignetes politisches Fenster abwartet, um eine seine Forderungen befriedigende Reform der Sitzfrage zu erreichen.
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Siehe Absatz 9 der Entschließung des Europäischen Parlaments mit seinen Vorschlägen für die Regierungskonferenz vom 13. April 2000, Abl. Nr. C 40 vom 7. Februar 2001, S. 411. Bei Annahme der Entschließung vom 11. Juli 2007 über die Einberufung der Regierungskonferenz lehnte das Parlament mit 526 gegen 138 Stimmen bei 26 Enthaltungen einen Änderungsantrag ab, der die zur Verwirklichung der substantiellen Reformen des (nicht ratifizierten) Verfassungsvertrages einberufene Regierungskonferenz mit der Sitzfrage belastet hätte, ähnlich bereits bei den Beratungen über die Entschließung vom 21. April 2004 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2002, P5_TA(2004)0345, Amtsblatt Nr. L.330 vom 4. November 2004, S.158.
Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis
Julia von Blumenthal, Prof. Dr., Fachbereich 03 – Sozial- und Kulturwissenschaften, Institut für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Stephan Bröchler, PD Dr., Institut für Politikwissenschaft, Vertretungsprofessur Lehrgebiet V – Demokratie und Entwicklung an der FernUniversität in Hagen. Heinrich Oberreuter, Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhl Politikwissenschaft I an der Universität Passau, Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing. Jürgen Stern, M.A., Lehrstuhl Politikwissenschaft I an der Universität Passau. Christan Demuth, M.A., Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden. Stefan Marschall, Prof. Dr., Politikwissenschaft, Fachbereich I der Universität Siegen. Dieter Wiefelspütz, Dr., Abgeordneter des Deutschen Bundestages, Innenpolitischer Sprecher der SPD Bundestagsfraktion. Stefan Köppl, M.A., Akademie für Politische Bildung Tutzing. Ruth Lüthi, Dr., Stellvertretende Kommissionssekretärin, Schweizerische Bundesversammlung. Peter Schiffauer, Prof. Dr., Leiter des Sekretariats des Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments, Brüssel, Mitglied des Vorstandes des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität Hagen.