Mr. BRONX FRANK REYNOLDS New York Detective
Flammen des Hasses Er hatte seine Verbrechen gesühnt. Doch niemand war ber...
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Mr. BRONX FRANK REYNOLDS New York Detective
Flammen des Hasses Er hatte seine Verbrechen gesühnt. Doch niemand war bereit, ihm ein Wort zu glauben… Ein Krimi von Martin Clauß Vor mir, Frank Reynolds, lag ein ungewöhnlicher Fall. Ein Fall, der höchstes Fingerspitzengefühl erforderte, denn wenn ich einen Fehler machte, konnte ich von einem Tag zum anderen den Großteil der amerikanischen Bevölkerung gegen mich haben. Selten war ich so unsicher gewesen, was richtig oder falsch, gut oder böse war. Selten hatte ich mich so oft geirrt und hatte so wenig voraussehen können, welche Wendung die komplexen Ereignisse als nächstes erfahren würden. Dabei hätte eine einzige Information als Schlüssel bereits ausgereicht, um den Fall zu lösen und weitere Opfer zu vermeiden. Solange ich diese Information nicht hatte, drohten mich die Flammen des Hasses zu verschlingen ... Als die junge Frau am Ende der Zeitschrift angelangt war und weiterschlenderte, heftete er sich in ausreichendem Abstand an ihre Fersen. Er verfolgte sie zwei Straßen weit und stand für einen Moment sogar neben ihr an einer Fußgängerampel. In diesem Moment wagte er nicht, sie anzusehen. Doch als der Verkehr auf der Straße ins Stocken geriet und ein Bus der Linie BX 11 direkt vor ihnen zum Stehen kam, sah er ihr Gesicht für einige Sekunden klar in der reflektierenden Seitenscheibe. Sie mochte vierzehn oder fünfzehn sein. Obwohl sie sich erwachsen kleidete, wie die meisten Mädchen ihres Alters, konnten ihre Züge etwas Kindliches nicht verbergen. Sie tänzelte von einem Bein auf das andere, wippte im Takt der Musik, die aus ihrem Walkman kam. Ihr Verfolger blieb in ihrer Nähe, bis sie in einem Drugstore verschwand. Der Mann schien zu zögern, blieb stehen. Er steckte
Das Mädchen hatte rote Strähnchen unter den glatten, blonden Haaren. Sie hatte sich etwas ungeschickt geschminkt, als hätte sie noch nicht allzu viel Erfahrung darin. Fast eine Viertelstunde lang stand sie vor dem Zeitschriftenladen und blätterte in einem dort ausliegenden Starmagazin. Ihre Jeans lagen eng an ihren wohlgeformten Beinen an, das beige T-Shirt dagegen umhüllte sie locker und war schätzungsweise drei Nummern zu groß. Die ganze Zeit über beobachtete sie ein Mann. Mehrmals ging er an ihr vorbei, blieb vor dem Schaufenster des Computergeschäfts nebenan stehen und betrachtete scheinbar interessiert die Notebooks in der Auslage. Wenn er sich von ihr entfernte, dann nie so weit, dass er sie aus den Augen verlor. Er nutzte jede Gelegenheit, sich in ihre Richtung umzudrehen. Ständer mit Ansichtskarten zogen ihn magisch an. Auch Werbeplakaten schien seine Aufmerksamkeit zu gehören. 2
Ronnie zu ihm, weil das sein zweiter Vorname ist. Nicht Ronnie eigentlich, sondern Ronald. Das ist sehr kompliziert. Alles, was mit Dad zu tun hat, ist ein bisschen kompliziert, weißt du? Hast du auch mehrere Namen? Ich bin Lil, einfach nur Lil. Eigentlich darf ich die Tür gar nicht aufmachen.“ „Wie wär’s, wenn du dann ... deinen Vater rufen würdest?“ „Dad wird ganz schön böse sein, wenn er erfährt, dass ich einem Fremden die Tür geöffnet habe. Und du musst ein Fremder sein, wenn du mir deinen Namen nicht verrätst. Möchtest du, dass Dad mir deinetwegen den Hintern versohlt?“ Der Mann schien nervös zu werden. Schon, als das kleine Mädchen ihm geöffnet hatte, war er unruhig von einem Fuß auf den anderen getreten, doch nun fuhr er sich immer öfter über den Kopf. Die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, lagen wie angeklebt auf seiner Glatze und glänzten fettig. Der Mann war weiß und recht groß. Allerdings hingen seine Schultern weit herunter, sein Kopf war nach vorn gestreckt und sein Rücken gekrümmt, was seiner Körpergröße jede Stattlichkeit nahm. Er schien Ende Fünfzig zu sein und hatte ein blasses, teigiges Gesicht, das aussah, als bewege es sich zu selten. Seine schmalen, bläulichen Lippen hatten alle Mühe, beim Sprechen seine schlechten Zähne zu verbergen. Er hätte ein Zombie sein können, wären da nicht seine ungeheuer flinken, hektischen Augen gewesen, die nicht zur Lethargie seines Körpers passten. Aufmerksam schienen sie jedes Detail einzufangen. Seine Blicke flogen über das Mädchen, über die enge Diele dahinter, und ab und zu wandte er sich zur Seite und spähte die Treppe hinab, als befürchte er, jemand könne dort jeden Augenblick auftauchen. „Bitte“, sagte er leise. „Kannst du wenigstens deine Mom rufen? Ich ... glaube, es ist wichtig. Ich ...“ Wieder warf er einen Blick auf das Namensschild an der Tür.
die Linke in die ausgebeulte Tasche seiner Weste und befühlte dort offenbar etwas. Ein längliches Objekt. Er sah sich um, atmete tief durch und mischte sich dann in den Strom der Passanten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die Verfolgung wieder aufzunehmen. Das Geschäft hatte nur einen Ausgang. Doch etwas in seinem Inneren ließ es nicht zu. Gestattete ihm nicht, die Jagd zu Ende zu führen und das Mädchen seinem Ziel zu opfern. Er hatte sein Opfer aufgegeben – begnadigt ... * „Mein Dad schläft, und meine Mom ist in der Küche. Ich soll die Tür nicht alleine aufmachen. Auf gar keinen Fall.“ Und doch hatte das kleine Mädchen genau das getan. Die winzige dunkle Hand noch auf dem Türknopf, die großen braunen Augen auf den Mann gerichtet, der draußen im Treppenhaus stand, den Mund zu einem unsicheren, aber warmen Lächeln geformt. Die Kleine mochte sieben Jahre alt sein und hatte einen Kopf voller straff gebundener Zöpfchen, die wie dicke schwarze Drahtstücke abstanden. Ein schneeweißes Kleidchen leuchtete auf ihrer tiefbraunen Haut, und in der Hand, die nicht auf dem Türknauf lag, hielt sie eine glitzernde, discotaugliche Version von Christie, Barbies farbiger Freundin. Von den Haaren der Puppe staubte goldener Glimmer. Irgendwo am Ende des schmalen Flures hantierte jemand mit Töpfen und Pfannen – so lautstark, dass es merkwürdig anmutete, wie jemand bei einer solchen Geräuschkulisse schlafen konnte. Es roch würzig nach Chili. „Ich glaube“, begann der Fremde vor der Tür, „dein Vater hat mich angerufen. Matthew Ports, das ... ist doch dein Vater, oder?“ „Mom nennt ihn Matt“, erklärte das Mädchen. „Und Onkel Sullivan sagt
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liebe meinen Dad trotzdem. Es ist sowieso nur vorübergehend.“ „Bist du still!“ zischte die Frau und verpasste ihr einen leichten Klaps mit der flachen Hand auf den Bauch. „Au!“ machte das Mädchen protestierend. „Ich sage Dad, dass du mich geschlagen hast. Sobald er aufwacht.“ „Aber Mr. Ports hat mir diese Adresse hier genannt.“ Der Fremde wirkte verstört. Seine Nervosität wuchs mit jeder Sekunde. Er zitterte jetzt förmlich am ganzen Leib und knetete sein schweißnasses, schlaffes Kinn so sehr, dass rote Flecken darauf zurück blieben. „Wir haben ausgemacht, dass ich heute um sieben Uhr hier vorspreche. Ich ... habe meine Unterlagen dabei. Viel ist es nicht, aber ...“ In einer Klarsichthülle steckten einige Papiere, und er streckte sie der Farbigen entgegen. Die Frau nahm sie nicht. Sie starrte die Prospekthülle an, als wäre sie kontaminiert. In ihren Mundwinkeln zuckte es. Sie trat einen Schritt zurück und zog ihre Tochter mit sich. „Matt!“ rief sie lautstark über die Schulter, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. „Matt! Wach auf! Du solltest dir das mal anschauen. Da behauptet jemand, du hättest ihm einen Job versprochen. Wenn da was dran ist, müssen wir beide uns mal in Ruhe unterhalten ...“ „Mrs. Ports“, würgte der Mann hervor und sah sich gehetzt um. Er setzte einen Fuß auf die erste Stufe nach unten. „Wenn Sie gehen möchten, dann gehen Sie in Gottes Namen“, sagte Mrs. Ports leise und hob eine Augenbraue. In der Wohnung der Ports öffnete sich die erste Tür zur Linken. Ein schlanker junger Schwarzer in einem roten Jogginganzug erschien. Er gähnte und kratzte seine Stoppelfrisur. Sein längliches Gesicht zierte ein schmaler Oberlippenbart. „Dad!“ rief das kleine Mädchen und warf sich auf ihn. Er packte sie unter den Achseln und nahm sie auf den Arm. Die Leichtigkeit, mit der er das tat, verriet, welche Kraft in seinem sehnigen Körper
Obwohl es ein kühler Herbsttag war, schwitzte der Mann. Mit einem zerknitterten Taschentuch undefinierbarer Färbung wischte er sich den Schweiß vom ganzen Gesicht. Nicht nur auf seiner Stirn perlten die Tropfen, auch von seinem Kinn lief ein dünnes Rinnsal. Er machte den Eindruck eines sehr kranken Mannes, der sich mühsam zusammenriss, um seinen Zustand zu kaschieren. Ohne, dass die kleine Lil Anstalten gemacht hätte, sie zu rufen, stand plötzlich ihre Mutter am Ende des Flurs. Sie wischte sich die Hände an der hellen, sauberen Schürze ab. Als sie den Fremden sah, verdüsterte sich ihr Gesicht. Ihre Brauen sanken lauernd herab, und ihre Augen blickten angriffslustig. Mit vier schnellen Schritten hatte sie die Tür erreicht und schob ihre Tochter beinahe gewaltsam zur Seite. Lils Mom war eine schöne Frau, noch sehr jung und attraktiv. Die leicht aufgehellten Haare fielen in weichen Locken über ihre Schultern, und ihre Lippen waren voll und sinnlich. „Was wollen Sie hier?“ herrschte sie den Fremden an. Weiße Zähne blitzten. Der Mann trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Dielen des Treppenabsatzes quietschten, als er das tat. Er zuckte zusammen und sah sich um. Dann erst begriff er offenbar, dass er selbst das Geräusch verursacht hatte. „Bitte“, sagte er. „Ich komme wegen des Jobs. Ihr ... Gatte hat mich gestern angerufen, Mr. Matthew Ports. Er war so freundlich, mir eine Arbeit anzubieten. Und da ich wirklich dringend etwas suche ... ich meine ... ich wäre sehr glücklich, wenn ich tatsächlich ...“ „Mein Mann hat Sie nicht angerufen!“ sagte die Frau scharf. „Das ist völlig unmöglich! Wir haben keine Arbeit für Sie!“ „Dad hat selbst gar keinen Job“, bemerkte die kleine Lil aus dem Hintergrund. Sie kämpfte mit der Hand ihrer Mutter, die sie hinter sich zu halten versuchte. „Aber das macht nichts. Ich
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gepackt und schüttelte ihn. „Du fängst doch nicht wieder krumme Touren an?“ „Bitte, Wendy ...“ Er schluckte. „Nicht vor dem Kind ...“ „Ich möchte wissen, ob du wieder mit der schiefen Bahn flirtest, Matt! Und es ist ganz besonders wichtig, dass die Kleine dabei ist, wenn wir darüber reden. Sie ist der beste Grund dafür, sauber zu bleiben, nicht wahr? Das hast du doch selbst gesagt. Weißt du nicht mehr? Also, raus mit der Sprache – hast du wieder ein Ding am Laufen oder nicht?“ „Nein!“ Matthew sah sie aus weit aufgerissenen Augen an. „Ich habe diesen Mann in meinem Leben noch nie gesehen. Das ist die Wahrheit. Ich schwöre es dir!“ „So?“ „Ja, ich schwöre.“ Er ließ den Kopf sinken. „Warum glaubst du mir eigentlich nicht?“ „Weil ich mich frage, woher der Kerl unsere Adresse kannte.“ Matthew hob die Arme. „Aber er kannte unsere Adresse doch gar nicht! Du kannst überall hineingehen, einen Blick auf das Türschild werfen und solche Dinge behaupten. Natürlich ist das hier unsere Adresse, weil wir verdammt noch mal hier wohnen!“ Wendy stockte. Sie ließ seinen Arm los, und ihr Blick ging an dem seinen vorbei. „Ja, du hast Recht“, gab sie leise zu. „Das macht Sinn. Er kannte unsere Adresse nicht.“ „Dad, was wollte der Mann hier?“ schaltete sich das Mädchen ein. Matthew kratzte sich am Kinn. „Ich glaube, er wollte erst einmal herausfinden, ob ein Mann in der Wohnung ist. Deshalb behauptete er, ich hätte ihn angerufen, verstehst du? Er wollte sehen, wer alles zu Hause ist.“ Plötzlich stockte er. „Habe ich dir eigentlich nicht gesagt, kleine Prinzessin, du sollst Fremden nicht die Tür öffnen? Hast du vergessen, was Dad dir eingeschärft hat?“ Lil kaute am nackten Fuß ihrer ChristiePuppe. „Aber ... aber wie soll ich wissen, ob es ein Fremder ist, wenn ich die Tür
steckte. „Das musst du dir unbedingt ansehen, Dad!“ flüsterte die Kleine verschwörerisch, doch sie tat es so laut, dass auch der Fremde ihre Worte nicht überhören konnte. „Ich glaube, das ist ein Irrer. Er sagt, du hättest ihn angerufen.“ Die beiden Männer musterten sich. „Ich kenne Sie nicht, Sir“, sagte Matthew Ports langsam. Seine Stimme klang fest, und eine verhaltene Drohung schwang darin mit. „Was soll ich am Telefon zu Ihnen gesagt haben?“ Der Weiße in Treppenhaus antwortete nichts. Er tastete nach dem Geländer. Die Klarsichthülle in seiner Hand gab raschelnde Geräusche von sich, als er sie immer enger zusammenrollte. Es war ein seltsamer, beinahe gruseliger Anblick. Lil wandte sich von ihm ab und vergrub ihr kleines Gesicht an der Schulter ihres Vaters. „Einen Job sollst du ihm angeboten haben“, half Mrs. Ports aus, als der Fremde die Frage ihres Gatten unbeantwortet ließ. „Und du sollst ihm unsere Adresse gegeben haben.“ „Aha.“ Matthew Ports setzte seine Tochter ab und ging an seiner Frau vorbei durch die Tür, auf den ungesund wirkenden Mann zu. Einen Augenblick lang starrte er ihn an. Dann brüllte er: „Verschwinden Sie von hier! Auf der Stelle!“ Der Weiße prallte zurück und gegen das Geländer. Er schnappte nach Luft, warf noch einen letzten Blick auf Mutter und Kind und stolperte dann Hals über Kopf die Stufen der Holztreppe hinunter. Zwei Stockwerke ging es hinunter, bis er im Erdgeschoss angekommen war. Das Zuknallen der Haustür verriet ihnen, dass er das Mietshaus verlassen hatte. Mrs. Ports schüttelte den Kopf, zerrte ihren Mann energisch an der Jacke des Jogginganzuges in die Wohnung zurück und schmetterte die Tür zu. Irgendwo im Haus meldete sich eine Stimme, die sich den ständigen Lärm verbat. „Was war das eben?“ fragte die Frau streng. Sie hatte den Arm ihres Gatten
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aufgerissen, und die Frau, die dort wohnte, stürmte in ihre Wohnung, wohl um das zu tun, wozu sie alle anderen Bewohner des Hauses ebenfalls aufgefordert hatte: alle Dinge von Wert in Sicherheit zu bringen. Er schnupperte. Es roch ein wenig nach Rauch. Noch war es ein schwacher, unaufdringlicher Geruch, und Matthew wusste nicht, ob er ihm aufgefallen wäre, wenn die Rufe der Frau seine Aufmerksamkeit nicht darauf gelenkt hätten. Er beugte sich über das Geländer und sah hinab. Wie viel Zeit er vergeudete, wusste er später nicht zu sagen. Trotz des Geruchs war er im ersten Moment nicht fähig, wirklich an einen Brand zu glauben. Es war zu ... unglaublich. Unvorstellbar. Irgendjemand hatte etwas auf dem Herd vergessen. Das musste es sein. Der Geruch musste aus einer der Küchen stammen. Hatte nicht Wendy eben selbst gesagt, das Chili würde gleich anbrennen, wenn ... Dann sah er die Rauschschwaden. Sie kamen nicht aus einer der Wohnungen, sondern von weiter unten, aus dem Keller. Dort aber gab es keine Küchen ... Einen Stock unter ihm öffnete sich eine Tür, und ein fülliger Mann stolperte ins Treppenhaus, beugte sich über das Geländer, genau wie Matthew es tat. Der Mann sah zuerst nach unten, dann zu ihm herauf. Ihre Blicke trafen sich. Der Mann war Zardes, Emilio Zardes, ein Mexikaner, der einst illegal eingereist war und es geschafft hatte, nicht ausgewiesen zu werden. Angeblich war einer seiner Verwandten ein hohes Tier in der Stadtverwaltung New Yorks und hatte ihn höchstpersönlich unter seine Fittiche genommen. Vielleicht log er auch nur. Zardes war ein allein stehender, einsamer Mann, der zu viel trank, zu viel fraß und sich den ganzen Tag über Pornovideos ansah. Matthew hatte ihn nie leiden können. Er war bestrebt, ihn von seiner Frau und seiner Tochter fernzuhalten, so gut es ging. Er duldete es nicht, dass der schmierige Kerl
nicht aufmache?“ „Da hat sie nicht Unrecht“, meinte Wendy. „Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Und jetzt kommt schon – das Chili brennt an. Ihr könnt schon mal in die Küche gehen. Lil, Liebes, passt du bitte auf, dass dein Dad sich vor dem Essen die Hände wäscht?“ „Klar!“ strahlte Lil, die sichtlich froh darüber war, dass ihre Mutter ein erfreulicheres Thema anschnitt. „Ich gehe mit Dad ins Badezimmer und lasse ihn keine Sekunde aus den Augen.“ „Hey, Engel! Weißt du eigentlich, dass deine Mom das nur sagt, damit ich mich vergewissern kann, dass du dir die Pfoten wäschst, kleiner Schmutzfink?“ Matthew grinste. „Das ist nicht wahr! Selber Schmutzfink!“ protestierte Lil. Und sie machte, dass sogar ihre Puppe auf den Vater zeigte und mit merkwürdiger, quietschender Stimme „Schmutzfink, Schmutzfink“ sagte. Sie gab sich dabei die größte Mühe, ihre Lippen nicht zu bewegen. Matthew schnappte ihre kleine Hand und wollte sie in Richtung Badezimmer zerren. Und da geschah es. Ein Schrei auf dem Treppenhaus ließ sie alle zusammenfahren. Wendy Ports, die schon in der Küche angelangt war und die Teller aus dem Schrank gefischt hatte, ließ den obersten fallen. Das Geschirrstück rutschte ab und zerbarst klirrend auf dem Küchenboden. „Feuer!“ schrie die überschnappende Stimme einer Frau. Sie musste unmittelbar vor der Tür ihrer Wohnung sein. Offenbar rannte sie die Stufen hinauf, denn ihre hektischen, trampelnden Schritte waren nicht zu überhören. „Es brennt! Rettet eure Wertsachen! Feuer!“ Matthew ließ seine Tochter los, wirbelte herum und jagte zur Tür. Als er sie aufriss, erkannte er auf der Treppe verstreut verschiedene Lebensmittel. Tomaten und Äpfel rollten die Stufen herab, und er trat auf ein vakuumverpacktes Stück Käse. Im Stockwerk über ihm wurde eine Tür
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Lagerfeuer. „Schnell! Bewegt euch! Haltet die Luft an und macht, dass ihr da runter kommt! In ein paar Minuten steht hier alles in Flammen!“ „Und du – warum kommst du nicht mit?“ schrie Wendy. „Ich komme ja! Ich muss nur kurz in die Wohnung, ein paar Sachen holen. Verdammt, Wendy, wo ist Lils Ausweis?“ „Dein Sozialversicherungsausweis ist im Nachtkästchen“, antwortete Wendy. „Ich weiß, wo meiner ist. Ich habe nach Lils Ausweis gefragt!“ Er verkrampfte die Hände zu Krallen und sah aus, als ob er ihr eine scheuern wollte. „Ich habe keine Ahnung, Matt!“ stieß die Frau hervor. „Uns bleibt keine Zeit mehr, ihn zu suchen. Das Feuer kommt, Matt!“ Inzwischen hatte auch sie einen Blick über das Geländer in die Tiefe gewagt, und auf ihrer Stirn stand der kalte Angstschweiß. „Wenn ihr nicht sofort losrennt, werfe ich euch eigenhändig die Treppe runter! Habt ihr das verstanden? Ich meine, was ich sage!“ Matthew stürzte zurück in die Wohnung. Wie ein Derwisch wirbelte er durch die kleinen Zimmer und sammelte alles zusammen, was ihm wichtig erschien. Die Papiere. Das einzige Sparbuch. Das Fotoalbum mit den Aufnahmen von ihrer Hochzeit und von Lil als Baby. Was noch? Was war sonst noch in diesem Apartment, auf das sie nicht verzichten konnten? Fieberhaft riss er Schubladen auf. Ein Poesiealbum fiel ihm in die Hände. Ein lächerliches, kitschiges Poesiealbum mit einem Veilchenmuster und zwei pummeligen Kindern darauf, die ein unschuldiges Küsschen tauschten. Es gehörte Wendy. Wäre es sein eigenes gewesen, hätte er es fast genussvoll den Flammen geopfert. Aber für Wendy musste er es mitnehmen. Was sie wohl sagen würde, wenn sie begriff, dass er es gerettet hatte? Würde sie mit ihm zu streiten beginnen, weil er stattdessen etwas weitaus Wichtigeres vergessen hatte? Seltsam, auf welche Gedanken man kam. Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit
eine seiner beiden Prinzessinnen auch nur ansprach. „Ist das ein Feuer?“ brüllte Zardes nun zu ihm herauf. Aus seiner Wohnung klang gekünsteltes Stöhnen vom Band. „Ist das wirklich ein gottverdammtes Feuer?“ „Woher soll ich das wissen?“ fauchte Matthew. Die Schwaden wurden dichter. Schwarz und schwer quoll der Rauch aus der geöffneten Kellertür, und die ersten Qualmwolken hatten Zardes bereits erreicht. „Verdammt, ja!“ schrie er jetzt. „Das ist ein verfluchtes Feuer! Im Keller brennt es!“ Sie mussten das Haus sofort verlassen. Als er sich umwandte, standen Wendy und Lil schon hinter ihm. Seine Frau starrte ihn mit unnatürlich geweiteten Augen an. Ihre Iris schwamm wie verloren im Weiß des Augapfels. Lil hing im wahrsten Sinne des Wortes an ihrem Rockzipfel. „Ihr geht runter!“ ordnete Matthew an. „Schnell! Im Augenblick lässt sich das Treppenhaus noch passieren. In ein paar Minuten ist kein Durchkommen mehr. Dann müssten wir über die Feuerleiter hinunter.“ „Die ist doch völlig durchgerostet“, sagte Wendy. „Eben!“ schnappte ihr Mann. „Wenn ihr sofort geht, ist es kein Problem. Das Feuer hat noch nicht auf die Treppe übergegriffen – im Moment ist es noch im Keller. Man kann nicht einmal ...“ Man kann nicht einmal die Flammen sehen, hatte er sagen wollen, und sich, noch während er sprach, davon vergewissert, ob es stimmte. Es stimmte nicht mehr. Das Treppenhaus war vollständig aus Holz gebaut, und die ersten Flammen leckten in diesem Moment über die Wand neben der Kellertür, zwei Stockwerke tiefer. Bläuliche, böse Flammen waren es. Sie gaben zischende Geräusche von sich wie exotische Schlangen, die im Keller gefangen gewesen waren und nun im Inneren des Gebäudes nach oben krochen – in die Freiheit. Es krachte wie bei einem
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rief er der Frau hustend zu, die sich hinter ihm die Treppe hinab quälte. „Zögern Sie keine Sekunde! Je schneller Sie springen, desto besser – hören Sie?“ Matthew machte einen Satz über die letzten drei Stufen, kam an der Stelle auf, die das Feuer im Moment noch aussparte, und vollführte den zweiten Sprung. Dieser katapultierte ihn durch die dünne Flammenwand hindurch ins Freie. Mit einem Aufschrei flog er hinaus und rollte sich ab. Als er sich aufrappelte, sah er, wie Wendy auf ihn zu rannte. „Nicht jetzt!“ brüllte er und stieß sie zurück. Er wandte sich der Feuerwand zu und schrie mit aller Kraft: „Schleudern Sie die Taschen durch das Feuer! Und dann kommen Sie selbst nach! Sie müssen sich beeilen!“ Eine Tasche flog ihm entgegen, und er erwischte sie sogar. Eine Kuckucksuhr, die die Fliehende als letztes hineingestopft hatte, fiel heraus und zerschellte auf dem Asphalt vor dem Haus. Endlose Sekunden vergingen, und die Frau im Inneren schien sich nicht zum Sprung in die Freiheit entschließen zu können. Mit jedem Augenblick sanken ihre Chancen, das brennende Gebäude unversehrt verlassen zu können. Ich hätte nicht als erster gehen dürfen, schoss es ihm durch den Kopf. Ich hätte sie vor mir her treiben und sichergehen müssen, dass sie ins Freie gelangt. Ich habe sie da drinnen alleine zurück gelassen, und sie wird mit der Situation nicht fertig. Das hätte ich wissen müssen. Sie kommt nicht. Sie kommt nicht heraus. Sie wird entweder ersticken oder am lebendigen Leibe verbrennen. Und ich trage die Schuld an ihrem Tod. Sie war es, die „Feuer!“ rief und uns alle warnte. Nun, da wir in Sicherheit sind, lassen wir sie jämmerlich im Stich. „Matt!“ rief Wendy. „Du musst weiter vom Feuer weggehen!“ Seine Frau stand drei Schritte entfernt von ihm, stierte ihn fragend an. Er warf einen Blick in die Runde. Zwei,
er in die Wohnung zurück gestürmt war? Dreißig Sekunden? Eine Minute? Wendy und Lil mussten längst unten sein. Hatte jemand daran gedacht, die Feuerwehr zu verständigen? Eigentlich war das die Aufgabe der Nachbarn – die Bewohner des brennenden Hauses konnten darauf keine Zeit verschwenden. Es würde ohnehin nichts mehr zu retten sein; das Treppenhaus brannte, die Flammen krabbelten mit tausend Fingern an den Wänden empor. Vielleicht brannten die Möbel der Wohnungen im Erdgeschoss bereits. Jetzt konnte man den beißenden Gestank des Rauches in jeder Ecke des Apartments riechen. Der Sauerstoff begann knapp zu werden. Es war höchste Zeit zur Flucht. Kaum war er durch die Tür seiner Wohnung, vergaß er all die Dinge, die hinter ihm zurück blieben, als hätte es sie nie gegeben. Er dachte nur noch an seine Frau und seine Tochter. Dass er sie nicht mehr sehen konnte, tat ihm sogar gut. Sie waren also längst draußen, längst in Sicherheit. Bleibt nicht in der Nähe des Gebäudes, dachte er, während er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Das ist viel zu gefährlich! Irgendetwas fällt immer herab und erschlägt irgendjemanden! Hinter ihm kam die füllige Frau aus dem Stock über ihm polternd die Treppe herunter. Sie trug mindestens fünf Tragetüten, alle voll gestopft mit Kleidungsstücken, Büchern und anderem Kram. Ächzend schleppte sie ihre Last hinter sich her. Matthew wandte sich um, hastete ihr einige Stufen entgegen und entriss ihr zwei der Taschen. Dann setzte er seine Flucht fort. Dort, wo einst die Haustür gewesen war, erwartete sie nun eine Feuerwand. Gelbe, unruhige Flammen prasselten in die Höhe, fast wie ein bizarrer, umgekehrter Wasserfall. Der Türrahmen und die Schwelle standen in Flammen, ebenso die untersten Stufen der Treppe. Erst jetzt fiel ihm auf, wie viel Holz es in diesem Haus gab. „Schauen Sie mir zu, wie ich springe!“
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überrascht und stolz zugleich, dass er im Mittelpunkt ihres Interesses stand. Sie alle würden morgen in ihren Fabriken, Büros und Kaffeekränzchen eine Menge zu erzählen haben. Die Kinder würden es in den Schulen verbreiten, und in der ersten Stunde würde an Unterricht nicht zu denken sein. „Ich habe Zardes nicht gesehen“, meinte Wendy. Inzwischen war Lil heran und klammerte sich an ihre beiden Eltern. „Zardes“, echote Matthew und löste sich gedankenverloren aus der Umarmung seiner Frau und seiner Tochter. Er ging zur anderen Seite des Hauses, wo sich ihm ein wunderlicher Anblick bot. Sprachlos verfolgte er das Schauspiel. Aus einem Fenster im ersten Stock des brennenden Hauses flogen kleine, quaderförmige Objekte heraus, etwa so groß wie Bücher, aber der Flugbahn nach zu urteilen offensichtlich etwas leichter. Videokassetten! Sie verteilten sich in einem Umkreis von zwanzig Metern unter dem Fenster. Die meisten der bunten Kunststoffhüllen sprangen auf, wenn sie auf den Asphalt schlugen, und spuckten dabei ihren schwarzen Inhalt aus. Drei Jugendliche – zwei Schwarze und ein Weißer – waren eifrig damit beschäftigt, die Videos aufzulesen und in Tüten zu stopfen. Immer wieder sahen sie sich verstohlen um und schienen die Flucht zu erwägen, doch immer wieder flogen Kassetten aus dem Fenster im ersten Stock, und sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, sie einzusammeln. Die Abstände, in denen das Fenster die Videos ausspuckte, wurden immer länger, und schließlich versiegte der Strom. Matthew starrte wie gebannt auf das Fenster und auf die schwarzen Rauchwolken, die daraus in den tiefblauen Himmel des frühen Abends aufstiegen. Als sich dahinter nichts mehr regte, spürte er, wie sein Mund trocken wurde. Er schluckte und dachte an Emilio Zardes. An den Mann aus Mexiko. Die Pornovideos, die sein Leben waren,
drei Dutzend Leute hatten sich versammelt. Schaulustige. Natürlich war von der Feuerwehr noch nichts zu sehen – dazu war es noch zu früh. Langsam löste sich Lil aus der Reihe der Menschen und ging mit schwankenden, schwerelos wirkenden Schritten in die Richtung ihrer Mutter. „Ich muss noch einmal hinein“, keuchte Matthew und konnte selbst kaum glauben, was er da sagte. „Was? Matt! Bist du verrückt geworden? Du bist gerettet! Du lebst. Wir alle leben. Wir sind alle unverletzt!“ Sie kam einen Schritt auf ihn zu. Matthews Blicke pendelten zwischen ihr und der Flammenwand in der Tür hin und her. Seine Muskeln spannten sich, und seine Zähnen bohrten sich schmerzhaft in seine Unterlippe. Wenn er jetzt nicht handelte, würde es zu spät sein. Er ... In diesem Moment kam die Frau durch den Vorhang aus Feuer. Sie war nicht gesprungen. Springen konnte sie nicht. Sie lief einfach, so schnell ihr übergewichtiger Körper und die beiden prallen Taschen, von denen sie noch immer nicht abgelassen hatte, es gestatteten. Ihr dunkles, sackartiges Kleid brannte am Saum. Einen Arm hatte sie erhoben und schützte damit ihr Gesicht. Die andere Hand trug die beiden Taschen. Matthew stürzte auf sie zu, und als sie vor ihm zu Boden sank, löschte er ihr brennendes Kleid, indem er mit einem Kissen darauf einschlug, das aus einer der Tragetüten gequollen war. Wendy stand plötzlich neben ihm, und gemeinsam halfen sie der schwergewichtigen Frau auf die Beine, die offenbar keine schweren Verbrennungen davongetragen hatte. „Sind alle Leute heraus gekommen?“ fragte Matthew keuchend. Er musste an die Menschen denken, die nicht zu Hause gewesen waren, als das Feuer ausbrach. Sie wussten noch nicht, dass all ihre persönliche Habe den Flammen zum Opfer gefallen war. Er sah sich um und entdeckte einige bekannte Gesichter unter den Schaulustigen. Er nickte ihnen zu,
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und die waren zu tief und zu kompliziert, um sie den anderen mitzuteilen. Irgendwann trat ein beleibter Mann in Uniform auf sie zu – ein Polizeibeamter, der sie zu dem Hergang des Brandes befragte. Zunächst waren sie ihm keine große Hilfe. Erst, als der Cop sich bei ihnen erkundigte, ob sie vor Ausbruch des Brandes verdächtige Personen im Haus oder in seiner Umgebung beobachtet hätten, fiel Matthew der merkwürdige Besuch des Mannes ein, der behauptet hatte, Matthew hätte ihn angerufen und herbestellt. Der Beamte notierte die Beschreibung, die die drei von dem Fremden abgeben konnten, sehr gewissenhaft und wurde dabei immer nachdenklicher ...
hatte er vor den Flammen gerettet und dabei sich selbst vergessen. Vermutlich lag er in diesem Moment mit aus den Höhlen quellenden Augen und weit aufgerissenem Mund auf dem Boden seines Wohnzimmers und erlag einer Rauchvergiftung. Und eben hatte er noch mit ihm gesprochen ... Als Matthew den Blick von dem Fenster abwandte, sah er, dass die drei Jugendlichen, die die Videos aufgelesen hatten, verschwunden waren. Eine leere Videohülle war direkt bis vor seine Füße geflogen. Er kickte sie mit einem Tritt gegen die Wand des brennenden Hauses. Langsam wandte er sich um und ging zurück zu Wendy und Lil. Noch immer trug er ihre Pässe, ihr Sparbuch, ihr Fotoalbum und ein paar andere Erinnerungsstücke unter dem Arm. Sie drei lebten, und das war alles, was zählte. Gemeinsam drehten sie sich von den prasselnden Flammen weg. Sie wollten nicht sehen, wie das Gebäude vollkommen ausbrannte. Nicht einmal Lil hegte ein Interesse für die wilde Feuersbrunst. Aber sie weinte auch nicht. Keiner von ihnen weinte oder brach zusammen. Alle drei waren sie sehr tapfer und ruhig. Als die Feuerwehr eintraf, saßen sie auf einem Treppenabsatz ein paar Häuser weiter, mit gesenkten Köpfen, Matthew in der Mitte, seine langen Arme über seine beiden Frauen ausgebreitet. Inzwischen hatten die Flammen den Dachstuhl erreicht und dem Haus eine Krone aus Feuer aufgesetzt. Die Zahl der Schaulustigen war auf einige hundert angewachsen, und während sich die Dunkelheit über die Stadt herabsenkte, blitzte die Straße vom roten Widerschein des Feuers und den kreisenden Blaulichtern von Feuerwehr und Polizei. Eine halbe Stunde lang saßen sie dort, während die Feuerwehr gegen die Feuerhölle kämpfte, und doch sahen sie dem Schauspiel nicht zu. Jeder von ihnen war in seine eigenen Gedanken versunken,
* „Hey, das Gesicht da oben kenne ich doch!“ Einer aus dem starken Dutzend Officer, denen die Rolle zukam, die noch immer nachdrängenden Schaulustigen zurückzuhalten, stieß seinen Kollegen an und wies auf ein Fenster im ersten Stock eines Hauses. Das Gebäude stand leer. Fast überall fehlten die Fensterscheiben, und ein Berg leerer Getränkedosen begrub die beiden Stufen vor dem Eingang unter sich. Dass sich manche Leute in einem solchen Haus einen Logenplatz für das Flammenspektakel aussuchten, war nicht ungewöhnlich. Doch meistens handelte es sich um Kinder oder Halbstarke, die sich dort hineinwagten. Das leichenblasse, formlose Gesicht, das da oben in der Fensteröffnung schimmerte, schien einem Gespenst zu gehören – zumindest aber einem Mann in reiferem Alter. „Das ist dieser van Beek!“ rief der Beamte. „Du weißt doch, der Feuerteufel, der letzte Woche aus dem Irrenhaus entlassen wurde. Sein Bild war in der Polizeidepesche.“ „Ich glaube, du könntest Recht haben“, meinte sein Kollege. „Der hier?“
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nahezu gelöscht, und wo die Lichtfinger der Lampen nicht hinreichten, türmten sich dicke Schatten. Es roch nach Moder und verfaulenden Speiseresten. Als sie den dritten Stock beinahe erreicht hatten, huschte eine Ratte auf Augenhöhe vor dem ersten Beamten vorüber. „Große Viecher, wenn sie einem so Auge in Auge begegnen“, kommentierte der Mutigere der beiden, der den Vortritt übernommen hatte. „Wovon sprichst du eigentlich?“ Nummer Zwei hatte das Tier nicht gesehen. Er blickte angestrengt hinter sich, obwohl er doch wusste, dass dort unten niemand sein konnte. „Vergiss es.“ „Wie soll ich etwas vergessen, wenn man mir nicht sagt, was ich vergessen soll?“ „Jesus! Man hätte dich zu Hause lassen sollen, weißt du das?“ „Zu Hause? Aber ich habe doch Dienst bis 21 Uhr ...“ „Still!“ Die beiden versteinerten. Aus dem dritten Stock waren Fußtritte zu hören. Jemand bewegte sich langsam über quietschende Dielen. Es war die Richtung, aus der die Ratte gekommen war. Die Schritte näherten sich. Obwohl die Lichtbahnen der Taschenlampen unmissverständlich auf das Kommen der Polizeibeamten hinwiesen, wandte sich der Mann nicht zur Flucht. Im Gegenteil, er kam auf sie zu. „Ich glaube, er will sich ergeben!“ flüsterte der erste Beamte. „Wen suchen Sie?“ drang eine brüchige, schwache Stimme aus dem dritten Stock. In dem leerstehenden Haus hallte jedes Geräusch gespenstisch von den Wänden wider, und diese Stimme klang, als käme sie direkt aus der Gruft. „Wir suchen Sie, Mr. van Beek!“ rief der Officer. Eine Pause. „Warum ... kennen Sie mich?“ „Die Fragen stellen wir ... ich! Kommen Sie mit erhobenen Händen zur Treppe.
„Na klar. Ein Feuer – und ein Feuerteufel. Passt zusammen, was? Komm, den Burschen krallen wir uns! Der starrt wie gebannt auf die Flammen – ich wette, der hört uns nicht einmal kommen ...“ Doch der blasse Mann konnte die beiden Officer nicht überhören. Einer von ihnen glitt beim Erklimmen der schmierigen Treppe im Halbdunkel auf einem verschimmelten Sandwich aus und stieß einen lauten Schrei aus. Als die Polizisten den ersten Stock erreichten, war dort keine Spur mehr von dem Blassgesichtigen. „Das hast du vermasselt“, zischte einer der beiden. „Wenn du schon ausrutschen musst, brauchst du deswegen doch nicht brüllen wie ein Feuermelder.“ „Gar nichts habe ich vermasselt“, gab der andere beleidigt zurück. „Der sitzt in der Falle. Oder denkst du, der hat einen Hubschrauber auf dem Dach geparkt?“ Mit eingeschalteten Taschenlampen und gezückten Revolvern arbeiteten sich die beiden in die Höhe. Das Haus hatte fünf Stockwerke. „Wir müssen Verstärkung holen. Zu zweit schaffen wir das nicht“, meldete sich der Vorsichtigere der beiden. „Ach was! Zwei gegen einen ist genug. Einer bewacht die Treppe, der andere durchsucht die Zimmer. Unsere Jungs haben da unten alle Hände voll zu tun. Die können jetzt niemanden entbehren.“ „Aber – wir sind allein in einem dunklen Haus mit einem Verbrecher.“ „Es ist nicht dunkel, weil wir Taschenlampen haben. Und außerdem ist das kein Verbrecher, das ist ein Irrer.“ „Ist das nicht noch schlimmer?“ „Begreif doch endlich! Er trägt keine Waffe. Das ist ein Brandstifter, kein Bankräuber, Mann!“ „Okay“, meinte der Furchtsame kleinlaut. „Okay. Dringen wir in den zweiten Stock vor.“ Hintereinander erklommen sie die schmale Treppe. Noch war es draußen nicht vollkommen finster, doch die Flammen aus dem brennenden Haus waren
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es, denen der New Yorker Privatdetektiv so manchen Einsatz auf Leben und Tod zu verdanken hatte. Wo die Klüfte des Verbrechens sich auftaten, tummelten sich verführerische Frauen an ihren Rändern, einen stöckelbeschuhten Fuß schon im Abgrund. Manchmal waren sie Täter, manchmal Opfer – und immer öfter beides ... Diesmal jedoch hatte er es mit Damenbesuch der ungewöhnlicheren Art zu tun. Seine Mitarbeiterin Mandy Torrance meldete ihm eine Frau namens „Mrs. van Beek“, und er ließ sie nicht lange warten. Reynolds war eben von einem kleinen Lunch in einem nahe gelegenen Steakhouse zurückgekehrt und hatte sich einen Plan für den Nachmittag gemacht. Ein spektakulärer Fall war in den letzten Tagen zur Auflösung gekommen und erforderte noch etwas von der lästigen Papierarbeit, um ihn endgültig als abgeschlossen zu den Akten legen zu können. Mandy nahm ihm so viel davon ab, wie es ihr möglich war, aber ab und zu kam er eben nicht umhin, selbst Hand anzulegen. Franks nicht alltäglicher Beruf war 99 Prozent der Zeit über dramatisch, atemberaubend, brisant und abenteuerlich. Umso unerträglicher erschien einem das restliche Prozent ... Froh um jede Abwechslung, sprang er von seinem bequemen Drehstuhl auf und stürzte zur Tür, um sie für die Besucherin weit zu öffnen. Es war so ein Nachmittag von der unerträglichen Sorte, an dem ein erfolgreicher Privatdetektiv sogar einer verwirrten älteren Dame geholfen hätte, ihr entlaufenes Schoßhündchen wieder zu finden, nur um nicht vor Langeweile am Schreibtisch einzuschlafen. „Einen wunderschönen guten Mittag“, begrüßte er Mrs. van Beek fast überschwänglich. „Bitte treten Sie doch näher!“ Er streckte seine Rechte zum Handschlag aus – und erstarrte. Die Besucherin sah tatsächlich aus, als hätte sie ihren Pinscher verloren: eine kleine, verschrumpelte Alte, um die
Falls Sie eine Waffe haben, lassen Sie sie fallen. Und keine schnellen Bewegungen!“ Endlose Sekunden vergingen, bis die hochgewachsene, schlaffe Gestalt in den Lichtkegeln erschien. Der Mann hatte die dünnen Arme etwas nachlässig auf Kopfhöhe erhoben. Er wirkte, als befinde er sich in einem tranceartigen Zustand. Sein Mund war ein wenig geöffnet. „Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht“, sagte er gedehnt und kniff geblendet die Augen zusammen. Unwillkürlich legte er sich die Hände vor die Augen, als man ihm mit den Taschenlampen direkt ins Gesicht leuchtete. „Hände hoch!“ schrie der vordere Beamte. „Hände hoch, Feuerteufel!“ In diesem Moment machte der blasse Mann, der im grellen Licht wie eine Marionette auf einer Bühne wirkte, einen Ausfallschritt, streckte die Arme zu den Seiten aus und kippte vornüber. Der erste Officer drückte ab. Der Schuss war ohrenbetäubend laut, und die Kugel bohrte sich in einem Meter Höhe in die Wand. Es war die Stelle, wo sich vor einer Sekunde noch der Unterleib des Mannes befunden hatte. „Was zum Teufel machst du da?“ meldete sich der hintere Beamte zu Wort. „Der Kerl ist ohnmächtig geworden, hast du das nicht gesehen?“ Der Officer, der eben noch den Mutigen gespielt hatte, zitterte plötzlich. „Ich weiß nicht“, brachte er hervor. „Ich muss ... die Nerven verloren haben.“ „Das kann man sich in unserem Beruf aber nicht erlauben“, antwortete sein Kollege und schüttelte tadelnd den Kopf. * Damenbesuch war natürlich Frank Reynolds’ liebster Besuch. Auch wenn es ihm manchmal so vorkam, als schleppten ihm die Vertreterinnen der holden Weiblichkeit regelmäßig die verzwicktesten und gefährlichsten Fälle in die gute Stube. Vor allem die jungen und schönen waren
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„Na ja, heute ist der dritte Mittwoch im Monat, und da ist Geschichtenerzählen gratis. Vielleicht kommen Sie ja auf meine diesbezügliche Werbeanzeige.“ Es hatte ein Scherz werden sollen. Die Frau allerdings schien seinen Humor nicht zu teilen und noch weniger zu schätzen. Ihr verkniffener Mund bewegte sich nicht, und der kalte Blick aus ihren Augen wurde nur noch eisiger. Im Sommer hätte sie mit Leichtigkeit eine Klimaanlage ersetzen können. „Entschuldigen Sie bitte“, lenkte Frank ein. „Sie können loslegen. Ich versichere Ihnen, ich werde Ihren Ausführungen lauschen, ohne eine Rechnung auszustellen.“ „Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht denken, Mr. Reynolds, dass Armut eine Schande ist.“ Er zuckte die Schultern. „Das denke ich nicht, und das habe ich nie gedacht.“ „Es gibt Menschen, die haben nie Geld besessen“, fuhr sie fort und schloss dabei die Lider, als müsse sie sich genau auf ihre eigenen Worte konzentrieren. „Dann wiederum gibt es Leute, die einst in guten Verhältnissen lebten und durch einen schweren Schicksalsschlag ihr ganzes Geld einbüßen mussten.“ „Ja, Mrs. van Beek, die gibt es zweifellos. Beiden Sorten von Menschen begegnet man äußerst häufig. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie zur letzteren Gruppe gehören und mit der ersten um nichts in der Welt in einen Topf geworfen werden wollen.“ Jetzt öffnete sie ihre Augen wieder, so weit, dass ihre Augäpfel aus den Höhlen zu fallen drohten. „Woher wissen Sie das, Mr. Reynolds?“ „Ganz einfach: Ich bin Detektiv. Ich kann zwar auch gut schießen, mich anständig prügeln und an einer Fassade hochklettern, wenn es sein muss, aber in erster Linie beobachte ich doch, ziehe meine Schlüsse, kombiniere, wie der gute alte Holmes. Sagen Sie“, wechselte er das Thema, „wäre es möglich, dass ich Ihr Foto in den letzten Tagen in der Zeitung gesehen habe?“
Körpermitte herum etwas füllig, doch zu den Enden hin spitz zulaufend und von Falten zerfurcht, die lichten Haare leicht violett gefärbt und auf der schmalen, scharfkantigen Nase eine gewaltige Brille mit einer Kette aus Messing daran. Sie machte keinen wohlhabenden Eindruck, schien aber von sich das Gegenteil anzunehmen, denn sie schmückte sich mit einem stolzen, etwas hochnäsigen Gehabe, das ihr nicht stand. Den Kopf hielt sie so hoch erhoben, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihr Gleichgewicht zu halten. Was Frank allerdings stocken ließ, war die Tatsache, dass er ihr Gesicht irgendwoher zu kennen glaubte. Nicht, dass sie sich jemals begegnet wären, aber er musste sie in den Medien gesehen haben, in der Zeitung vermutlich. Und es lag noch nicht lange zurück, erst wenige Tage. Während die Frau, die die Siebzig überschritten haben musste, es sich auf seinem Besucherstuhl bequem machte, erkundigte sich Frank Reynolds höflich, was er für sie tun könne. Die Alte hielt für einen Moment die Lippen fest aufeinander gepresst, dann sagte sie etwas Unerwartetes: „Mr. Reynolds, ich möchte, dass Sie folgendes wissen: Ich kann Ihre Dienste nicht bezahlen.“ Der Privatdetektiv, den man in gewissen Kreisen auch „Mr. Bronx“ nannte, hob die Augenbrauen, drehte sich mit einer federleichten Bewegung an seinem Schreibtisch vorbei und ließ sich ebenfalls in seinen Stuhl fallen. Er stapelte die Akten, die er vor sich ausgebreitet hatte, zu einem ordentlichen Stoß und verstaute sie der untersten Schublade. „Dann nehme ich an, Sie haben einen besonders guten Grund, mich dennoch aufzusuchen“, nahm Frank den Faden nach der kurzen Unterbrechung wieder auf. „Kostet es etwas, Mr. Reynolds, wenn ich Ihnen ein paar Minuten Ihrer Zeit stehle, um Ihnen eine kleine Geschichte zu erzählen?“ Frank musste unwillkürlich schmunzeln.
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beherrschte nicht nur Verbitterung und Hass – irgendwo in ihr versteckte sich noch ein kleines Häufchen Hoffnung. Hätte sie die nicht, wäre sie nicht zu ihm gekommen. „Ich soll Beweise dafür finden, dass Curt den Brand nicht gelegt hat, nehme ich an“, seufzte Frank. „Ja“, meinte die alte Frau nur. Sie schluckte und sah zu Boden. Was sie sagen wollte, war eindeutig. Sie sagte, ohne den Mund aufzumachen: Ich habe nur Sie, Mr. Reynolds. Wenn Sie mir nicht helfen, weiß ich nicht, wohin ich mich sonst wenden soll. Frank war es gewohnt, dass sein guter Ruf die unterschiedlichsten Menschen erreichte. Leute, die auf den seltsamsten Umwegen von ihm erfuhren und niemals erwartet hatten, seine Dienste jemals in Anspruch nehmen zu müssen, erinnerten sich plötzlich an ihn, wenn sie vor unüberwindbaren Problemen standen. „Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn, Mrs. van Beek“, verlangte er sachlich. „Vor allen Dingen interessiert mich, warum Sie so fest an seine Unschuld glauben.“ „Ich glaube nicht, Mr. Reynolds, ich weiß, dass er unschuldig ist. Das ist ein großer Unterschied.“ „Und was macht Sie so sicher?“ Frank legte sich einige Blatt Papier bereit und begann, sich Notizen zu machen. „Curt ist ... war ein echter Pyromane.“ „Was genau verstehen Sie unter diesem Wort?“ „Das müssen Sie doch wissen“, behauptete sie. „Gut. Ich gestehe, mir ist geläufig, was der Begriff bezeichnet“, gab Frank zu. „Aber es könnte wichtig sein, dass Sie es mir noch einmal erklären. So, wie Sie es verstanden haben.“ „Ein Pyromane – ein echter Pyromane wie Curt – ist fasziniert vom Feuer. Er beobachtet das Feuer, er spielt damit, er spricht davon, fantasiert darüber, ist vollkommen weggetreten, wenn er dem Feuer zusehen kann. Er zündet ein Haus nicht aus Rache oder persönlichen
Anstelle einer Antwort kramte sie eine Weile umständlich in ihrer Handtasche und beförderte eine mehrfach gefaltete Boulevardzeitung zutage. Die fetten Überschriften waren durch die unsanfte Behandlung etwas ramponiert worden, doch die wichtige Botschaft des Revolverblattes war dennoch gut zu lesen. „Der National Enquirer“, meinte Mr. Bronx amüsiert, als er die Gazette entgegennahm. „Die einzige Zeitung, deren Schlagzeilen man noch vom Mond aus zu lesen vermag ...“ MUTTER VON BRANDSTIFTER: MEIN SOHN IST UNSCHULDIG verkündeten die dicken Lettern. Und darunter stand in etwas moderaterer Größe: VERBITTERTE ALTE MUTTER VON ZÜNDLER-CURT SPRICHT VON EINEM KOMPLOT. „Wenn schon Komplott, dann aber bitteschön mit zwei t“, murmelte Frank abwesend. Er betrachtete das zerknitterte Bild der zerknitterten Frau, die nun auf der anderen Seite seines Schreibtisches saß. Mrs. Karen van Beek war also die Mutter von Curt van Beek, einem Brandstifter, der erst vor einer knappen Woche am Rande der Bronx ein Mietshaus in Brand gesteckt haben sollte. Frank hatte die Berichterstattung mit leidlichem Interesse verfolgt – allerdings in anderen Zeitungen. Offenbar beteuerte Curt vehement seine Unschuld, und das, obwohl die Polizei ihn noch am Abend des Verbrechens ganz in der Nähe des angezündeten Hauses aufgegriffen hatte. Augenzeugen wollten ihn zudem dabei beobachtet haben, wie er das Gebäude betrat. „Ihr Sohn sitzt in Untersuchungshaft“, rekapitulierte Frank die Situation. „Wenn ich die Artikel richtig in Erinnerung habe, ist die Indizienlast gegen ihn erdrückend.“ Karen van Beek nickte. „Sie werden ihn verurteilen.“ Frank Reynolds sah sie mit festem Blick an. Er glaubte, in ihren Augen nun etwas Weiches, Verletzliches zu finden, das ihm bis eben nicht aufgefallen war. Die Sorge einer Mutter um ihren Sohn. Diese Frau
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„Einmal gab es einen Einschnitt“, erzählte Mrs. van Beek weiter. „Als er siebzehn Jahre alt war, zogen wir von Philadelphia nach New York. Wir konnten das Gerede der Nachbarn nicht mehr ertragen. Curt versprach uns, ein neues Leben zu beginnen. Er wollte sogar zur Feuerwehr gehen, um, wie er sagte, seine Faszination vom Feuer in Bahnen zu lenken, in denen sie anderen Menschen nützlich sein konnte. Wir begrüßten das natürlich und hielten es für eine hervorragende Idee.“ Frank klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch. „Aber es war keine gute Idee, nicht wahr? Für Pyromanen ist es eine geradezu typische Verhaltensweise, sich für die Arbeit der Feuerwehr zu interessieren. Die meisten schließen sich irgendwann in ihrem Leben einmal der Feuerwehr an.“ „Ja. Aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Man hatte uns nicht richtig aufgeklärt. Wir dachten, es sei ein Schritt in die richtige Richtung – doch stattdessen wurde es nur noch schlimmer. Er war kaum neunzehn, als er ein Haus in der Nachbarschaft anzündete. Es gehörte einem Freund von ihm. Es hatte keinen Streit gegeben, keinen Grund, ihm etwas Böses zu wollen. Curt war einfach nur besessen von dem Gedanken, das schöne alte Holzhaus in Flammen aufgehen zu sehen.“ „Man hat ihn erwischt?“ „Er war so schockiert von seiner Tat, dass er sich selbst stellte. Er verschwand für drei Jahre in einer psychiatrischen Anstalt. Es war kein besonders guter Ort – er machte kaum Fortschritte, und als er wieder draußen war, legte er erst richtig los. Ich – ich möchte nicht darüber sprechen ...“ Die alte Frau vergrub ihr Gesicht in ihrem Taschentuch und weinte. Frank ließ ihr die Zeit und sprach sie erst wieder an, als sie ihre geröteten Augen wieder auf ihn richtete. „In den Zeitungsartikeln stand, glaube ich, dass Curt fast zehn Jahre in Behandlung war, bevor er vor etwa zwei Wochen als geheilt entlassen wurde.“
Interessen an, sondern einzig und allein, um ... um ...“ Das Sprechen fiel ihr schwer, ihre Stimme brach, und sie verstummte kläglich. Die alte Dame begann Emotionen zu zeigen. „ ...einzig und allein, um es brennen zu sehen“, ergänzte Frank. „Und das trifft auf Ihren Sohn zu?“ „Die Ärzte haben es mehrfach bescheinigt, und es stimmt.“ Sie räusperte sich mehrmals und strich sich übers Gesicht. „Er war schon seit seiner Kindheit hingerissen von den Flammen. Wir konnten ihn keine Sekunde aus den Augen lassen – einmal zündete er uns den Wohnzimmerteppich an. Damals wohnten wir in einer Villa in Philadelphia. Der Schulpsychologe schickte uns zu einem Fachmann, und dort wurde es schreckliche Gewissheit. Curt hatte eine seelische Störung, und er verbrachte immer mehr Zeit in Behandlung.“ „Wie alt ist Curt heute?“ wollte Frank wissen. „Achtundvierzig. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie ihm begegnen. Er sieht zehn Jahre älter aus.“ „Hat er seit der Schulzeit sein ganzes Leben in einer Anstalt verbracht?“ Die Mutter des Brandstifters zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen ab. Sie verwandelte sich zusehends, warf ihren Panzer ab, den sie als Schutz vor den Worten und Blicken ihrer Umwelt aufgebaut hatte. Vielleicht brauchte sie einfach nur jemanden, dem sie die Geschichte ihres Lebens erzählen konnte. Vielleicht rührte ihr Protest nur von dem sehnsüchtigen Wunsch her, sich einmal Gehör zu verschaffen, sich einmal ihr Schicksal von der Seele zu reden. Frank entschloss sich, ihr diesen Gefallen zu tun – unabhängig davon, ob ihr Sohn an dem Brand vor einer Woche Schuld trug oder nicht. Diese Frau brauchte in erster Linie einen Zuhörer. Unter all den Journalisten, die sich in den letzten Tagen um ein Interview mit ihr bemüht haben mussten, schien sie bizarrerweise keinen gefunden zu haben.
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Perry Avenue 315. Das Haus, das später ... das später ...“ „Kannten Sie diesen Mann?“ „Nein.“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Ich hatte nie von ihm gehört.“ „Waren Sie anwesend, als der Anruf kam?“ „Nein, das nicht. Ich war kurz aus dem Haus gegangen, um einige Besorgungen zu erledigen. Als ich zurückkam, war Curt ganz aufgeregt. Er fragte mich, ob er hingehen sollte. Am Telefon hatte er schon zugesagt, aber nach dem Auflegen kamen ihm Bedenken. Ich habe ihm geraten, die Chance am Schopf zu packen.“ „Hm.“ Mr. Bronx malte etwas auf das Papier. „Kam Ihnen die Sache denn nicht etwas sonderbar vor? Ich meine, Ihr Sohn verlässt nach zehn Jahren die Klinik und erhält wenige Tage später eine telefonische Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Ich kenne Menschen, die monatelang eine Arbeit suchen, ohne eine zu finden.“ Mrs. van Beek ließ sich wieder in den Stuhl sinken. „Ich dachte, es sei ein Wunder“, bemerkte sie leise. „Ich dachte, es sei ein Zeichen, dass Gott meinem Jungen noch eine Chance gab. Oh, ich hatte so große Angst davor, er könne sie sich entgehen lassen. Ich flehte ihn geradezu an, den Wink des Himmels nicht zu missachten. Ich bat ihn hinzugehen. Und jetzt ... trage ich die Schuld, dass er ...“ „Haben Sie einen Beweis für den Anruf?“ „Wie bitte?“ „Können Sie nachweisen, dass das Telefonat stattgefunden hat?“ „Wollen Sie damit andeuten, Curt hätte es sich aus den Fingern gesogen?“ „Es wäre eine Möglichkeit, die vor Gericht mit Sicherheit in Betracht gezogen wird.“ „Ich habe keine Beweise“, erwiderte Mrs. van Beek, und die Kälte kehrte wieder in ihre Blicke zurück. Ihr Körper spannte sich, ihre Züge wurden härter. Sie begann, den Schutzschild erneut aufzubauen, das sie den größten Teil ihres Lebens getragen
„Das ist richtig.“ „War er diesmal wirklich ... in Ordnung?“ „Ja.“ Mrs. van Beek sagte es mit Überzeugung. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und presste sie gegen ihre Brust. „Ja, er war geheilt. Ich weiß es von den vielen Briefen, die ich bekam, von den Gesprächen. Er war nicht mehr der, der er früher einmal gewesen war – vor dem wir uns fürchten mussten und für den wir uns so sehr schämten. Die Jefferson Mental Clinic, in der er die letzten zehn Jahre verbracht hat, hat einen normalen Menschen aus ihm gemacht.“ „Keine Faszination mehr für die Flammen?“ „Mr. Reynolds, Sie könnten ihm ein Feuerzeug geben und eine Scheune voll Stroh. Er würde es nicht tun. Auf keinen Fall.“ „Ich verstehe, Mrs. van Beek. Und damit kommen wir zum wichtigsten Punkt: Was ist Ihrer Meinung nach vor einer knappen Woche in der Perry Avenue geschehen? Wenn Ihr Sohn den Brand nicht gelegt hat, warum befand er sich dann vor Ort?“ Die Alte erhob sich plötzlich aus ihrem Stuhl. Ihre Hüfte schien zu schmerzen, doch sie ignorierte es und beugte sich über den Schreibtisch. Die Kette an ihrer Brille pendelte hin und her, und auf ihrer Stirn perlte der Schweiß. „Jemand hatte ihn am Vortag angerufen. Er wohnt bei mir. Ich habe ein kleines Zwei-Zimmer-Apartment. Leider ist mein Mann vor fünf Jahren verstorben. Curt wusste, dass bei seiner Mutter immer ein Platz für ihn sein würde – er hat uns viel Kummer bereitet, und seine Krankheit hat uns an den Bettelstab gebracht, aber wir haben ihn niemals verstoßen. Niemals!“ „Er hat also einen Anruf bekommen? Von wem?“ „Von einem Mann, der ihm einen Job anbot. Curt war überglücklich. Er hatte ja nicht erwarten können, so schnell etwas zu finden.“ „Wer war der Mann?“ „Ein gewisser ... Matthew Ports aus der
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„Was erwarten Sie von einem Menschen, der vier Häuser angezündet hat? Dabei kamen zwar nie Menschen zu Schaden, aber ... eine Menge Dinge von Wert wurden vernichtet.“ Sie senkte den Kopf, und Frank konnte die weißen Wurzeln ihrer Haare erkennen, und die Stelle, an der das Violett begann. Ihre Kopfhaut war fleckig. „Jeder, der etwas von Wert verloren hat, wird sich wünschen, dass Curt für immer weggeschlossen bleibt.“ „Der Gedanke liegt nahe“, stimmte Frank zu. „Am letzten Donnerstag kam ein Mensch ums Leben. Sein Name war ...“ „Emilio Zardes“, half Karen van Beek bitter, als er stockte und versuchte, sich an den Namen des Todesopfers zu erinnern. „Ein weiterer Hinweis darauf, dass mein Curt es nicht getan haben kann. Er hätte nie zugelassen, dass Menschen zu Tode kommen. Was vor ein paar Tagen in der Perry Avenue geschah, Mr. Reynolds, das war nicht das Werk eines Pyromanen, das war ein besonderes Feuer – Flammen des Hasses ...“
haben musste. „Ihr Sohn hat zum verabredeten Zeitpunkt an Mr. Ports’ Tür geklingelt?“ „Richtig.“ „Aber Mr. Ports behauptete, von nichts zu wissen.“ „Genau. Sie haben es aus der Zeitung, nicht wahr?“ Frank nickte beiläufig. „Was schließen Sie daraus?“ „Jemand hat Curt ins Haus gelockt und dann im Keller einen Brand gelegt. Jemand, dem Curts Entlassung aus der Anstalt ein Dorn im Auge war. Diese Person wollte sicherstellen, dass mein Sohn den Rest seines Lebens hinter geschlossenen Türen verbringt.“ Frank legte den Stift aus der Hand und lehnte sich im Stuhl zurück. „Es könnte so gewesen sein. Aber die Polizei schenkt den Aussagen Ihres Sohnes keinen Glauben. Man hält ihn für schuldig, weil er sich noch eine Stunde nach dem Ausbruch des Brandes in einem leerstehenden Gebäude in der Nähe aufhielt und das Spektakel beobachtete. Selbst, wenn er das Feuer nicht gelegt hat, muss er von den Flammen so gefesselt gewesen sein, dass er gar nicht anders konnte, als dem Brand zuzusehen. Schon diese Tatsache für sich alleine, Mrs. van Beek, wird vor Gericht als Beweis dafür gewertet werden, dass er nicht geheilt ist.“ Die kleine Faust der alten Frau knallte auf die Tischplatte. „Curt blieb in der Nähe, weil er Angst hatte, durch die Straßen zu fliehen. Er ahnte, dass ihm jemand eine Falle gestellt haben musste, und suchte sich ein Versteck, um in Ruhe nachzudenken.“ Frank beugte sich für eine Minute schweigend über seine Notizen. Gedankenverloren erhob er sich dann und verschwand im Nebenzimmer. Mit zwei Tassen Kaffee kehrte er zurück und stellte eine vor Mrs. van Beek ab, die dankbar nickte. „Hat Ihr Sohn Feinde?“ fragte er, als er sich wieder gesetzt hatte. „Viele“, antwortete die alte Frau rasch.
* Kaum hatte die Frau sein Büro verlassen, hatte er schon seinen Freund Captain Phil Stuart von der New Yorker Polizei an der Strippe. Er musste unbedingt ein bisschen mehr erfahren als in der Zeitung stand. Der beste Draht zu den Polizeiakten war immer noch der gute Captain. „Wenn du mich fragst, Frank“, antwortete Stuart auf die Eröffnungen seines Freundes, „enthält dieser Fall mehr Zündstoff als es auf den ersten Blick den Anschein hat.“ „Aha“, meinte Frank interessiert. „Inwiefern? Dass jemand ein Feuer legt, ist doch keine Seltenheit in New York.“ „Tja, da magst du ja Recht haben, aber ... bei dieser Geschichte geht es um mehr als nur um eine einfache Brandstiftung.“ „Ein Mensch kam ums Leben.“ „Das meine ich nicht, Frank. Ich spreche von der Stimmung in der Bevölkerung. Der kritische Unterton bei der Berichterstattung
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Bis in einer Stunde hast du die Daten.“ „Danke. Als nächstes werde ich dann wohl der Jefferson Mental Clinic einen Besuch abstatten ...“ „Fühlst du dich nicht wohl?“ feixte Phil Stuart. Frank lachte. „Wie man’s nimmt. Ich habe eben meinen Whisky mit fünf Eiswürfeln verdünnt“, ging er auf den Scherz ein. „Ist das ein schlimmes Zeichen?“ „Fatal“, sagte Phil. „Wenn du das dem Onkel Doktor erzählst, wird er dich in eine dieser gepolsterten Zellen stecken und den Schlüssel wegwerfen.“ Das gehässige Lachen des Captains klang scheppernd in der Muschel. „Wo du gerade von Zellen sprichst, Phil“, wurde Frank wieder ernst, „fällt mir ein, dass ich mich auch noch um einen Termin bei Curt van Beek bemühen sollte. Ich muss unbedingt mit ihm reden, ein Gefühl dafür bekommen, ob er es getan haben könnte.“ „Der Termin dürfte selbst für dich schwer zu kriegen sein, großer Mr. Bronx. Zur Stunde stehen nämlich eine Menge Leute auf der Warteliste. Die harmloseren Exemplare sind von der Presse – einige andere versuchen offenbar, spitze Gegenstände an den Sicherheitsbeamten vorbei zu schmuggeln und ihm zukommen zu lassen ...“ „Spitze Gegenstände? Wozu denn das?“ „Lass es mich einmal so ausdrücken: Ein paar sehr um das Wohl der Allgemeinheit bemühte Menschen möchten unter allen Umständen dafür sorgen, dass es van Beek an nichts fehlt. Falls er plötzlich den Wunsch verspüren sollte, in seiner Verzweiflung seinem verkorksten Leben ein Ende zu bereiten, dürfen ihm dabei keine Steine in den Weg gelegt werden. Aus der Sicht vieler wäre es eine Gnade, wenn dieser Mann einen raschen Schlussstrich ziehen würde. Er würde dem Steuerzahler damit eine Menge Geld sparen und eine unheilbare Krankheit schlagartig ausmerzen ...“ Dazu fiel Frank nichts mehr ein.
in den Medien dürfte dir nicht entgangen sein. Du weißt, wie rigoros die Öffentlichkeit darauf pocht, geistesgestörte Verbrecher bis zu ihrem Tod wegzuschließen. Immer wieder brandet die Kritik an unseren Kliniken auf, wenn Menschen, die als geheilt entlassen wurden, einen Rückfall erleiden. Wir hatten in den letzten Monaten einige solche Fälle in anderen Bundesstaaten. Den dortigen Regierungen weht aus den Reihen der Bevölkerung ein ganz schön kalter Wind entgegen. Das gleiche könnte uns im Fall von Curt van Beek passieren. Immerhin hat van Beek nach zehnjähriger Behandlung seinen Drang gerade mal eine Woche zurückhalten können, ehe er rückfällig wurde.“ „Falls er es tatsächlich getan hat.“ „Richtig, falls er es getan hat. Aber genau dafür spricht vieles. Sehr vieles. Er betrat und verließ das Haus nur wenige Minuten vor dem Ausbruch des Feuers. Leute aus der Nachbarschaft haben das zu Protokoll gegeben.“ „Und sonst wurde niemand gesehen?“ „Wenige. Einer der Mieter verließ das Gebäude etwa eine halbe Stunde vor dem Brand. Ungefähr um die gleiche Zeit betrat ein Paketbote das Haus. Gehen hat ihn leider niemand sehen, aber das kennen wir ja. Die Leute haben andere Dinge zu tun, als ein Haus rund um die Uhr lückenlos zu beobachten. Zeugenaussagen bringen immer nur einen Ausschnitt des Ganzen.“ „Ja, ich verstehe.“ Frank hatte sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und goss sich an der Hausbar einen kleinen Drink ein. „Ich nehme an, einer deiner Kollegen studiert zurzeit die Akte Curt van Beek aufmerksam. Kannst du dafür sorgen, dass ich die Namen und Adressen der Menschen erhalte, die seinerzeit durch seine Brandstiftungen zu Schaden kamen? Wenn jemand ihn gelinkt hat, dann kommt am ehesten eine dieser Personen in Frage. Ein anderes Motiv als Rache kann ich mir schwer vorstellen.“ Das Geräusch von Kritzeln auf Papier kam durch die Telefonleitung. „Geht klar.
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Betroffen legte er auf und kippte den Whisky hinunter, noch ehe die Eiswürfel schmelzen konnten.
Und sie würde nie erfahren, warum der Mann hinter ihr das Kino vorzeitig verlassen hatte ...
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Es war eine Nachmittagsvorstellung von „Spider-Man“ in einem Kino in der Bronx. Keine zehn Personen sahen sich den Film an, eine davon ein asiatisches Mädchen mit glatten, mittellangen Haaren. Sie hatte eine kleine Tüte Popcorn vor sich und sog von Zeit zu Zeit an einer Flasche Seven Up, in der drei Strohhalme steckten. Wenn sie ihren Kopf zur Seite wandte, konnte man ein puppenhaftes, rundes Gesicht erkennen, das im unwirklichen Licht des Kinosaals wie eine wunderschöne Maske wirkte. Bis auf einen tiefroten Lippenstift, der den puppenhaften Eindruck noch verstärkte, war sie ungeschminkt. Zwei winzige rubinrote Ohrstecker blitzen bisweilen auf, wenn sie die Haare beim Lachen zurück warf. Sie lachte ausgiebig und laut, und einmal blickte sie sich um und entschuldigte sich mit einem leichten Nicken bei den Menschen, die mit ihr im Saal saßen. Vier Reihen hinter ihr saß ein Mann, der keine Augen für den Film hatte. Während er jede ihrer Bewegungen verfolgte, spielte er mit dem kleinen Kolben in der Tasche seines Mantels. Der Kolben war eiskalt gewesen, als der Film begonnen hatte. Als er sich langsam erwärmte, verließ der Mann das Lichtspielhaus. „Ich glaube, der mag keine Superhelden“, flüsterte das Mädchen schmunzelnd im Selbstgespräch, als sie ihn – von den Geräuschen aufmerksam gemacht – hinausgehen sah. Die Fünfzehnjährige ahnte nicht, dass dieser Mann nur ihretwegen gekommen war. Er hatte – unsichtbar für alle – einen inneren Kampf ausgefochten. Hätte er ihn verloren, wäre morgen in den Zeitungen über sie zu lesen gewesen. Teenager – brutal vergewaltigt. So aber blieb ihr dieses Schicksal erspart.
Captain Stuart hatte Wort gehalten und ihm die Namen aller Brandgeschädigten per E-Mail zugesandt. Keine halbe Stunde nach dem Gespräch lagen ihm die Daten auf dem Computer vor. In einigen Fällen waren die Adressen aktualisiert worden, bei anderen würde man den jetzigen Aufenthaltsort erst noch ausfindig machen müssen. Frank Reynolds nahm sich vor, mit dem Mann zu beginnen, der am meisten verloren hatte. Ein wohlhabender Sammler namens Douglas Dringenberg hatte wertvolle Antiquitäten im Wert von über einer halben Million Dollar eingebüßt. Den größten Teil davon nahmen historische Militäruniformen aus der Zeit der napoleonischen Kriege ein. Zwar war Dringenberg versichert gewesen, doch es stand außer Zweifel, dass unersetzliche Werte den Flammen zum Opfer gefallen waren. Ob dieser Mann seine Hände im Spiel hatte? Auf einen Irren, der mutwillig unwiederbringliche Sammlerstücke vernichtete, die man selbst in jahrzehntelangen Bemühungen zusammengetragen hatte, konnte man schon Hass aufbauen. Und auf die Nachricht von der Entlassung dieses Psychopathen würden die meisten Leute mit Zorn reagieren. Verständlich. Aber reichte das aus, um einen Menschen in eine solche Falle zu locken und dabei auch noch über Leichen zu gehen? Mit verbrecherischem Potential war das so eine Sache – man wusste nie so recht, wann und woraus es entstand. Dringenberg, der früher am Rande von New York gewohnt hatte, lebte nun etwas weiter außerhalb, Richtung Hartford, in ländlicher Umgebung. Mit dem Auto würde es eine Fahrt von knapp zwei Stunden werden, deshalb verschob Frank
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Die Moderatorin verschaffte sich Gehör, indem sie überlaut in ihr Mikrofon sprach: „Wir wollen doch das Thema nicht verfehlen, bitte! Bleiben wir doch bei unserem konkreten Fall. Niemand dürfte bezweifeln, dass vor wenigen Wochen einige Gutachter einem verhängnisvollen Irrtum erlagen, als sie den einschlägig als Brandstifter aufgetretenen ... Curt äh ... van Beek in ihren Dokumenten als geheilt auswiesen. Diese Gutachter mögen vertrauenswürdige Personen sein, und wir wollen ihnen ihre Kompetenz nicht absprechen. Heute allerdings haben uns die Ereignisse gezeigt, dass Curt van Beek alles andere als geheilt war, als er die Jefferson Mental Clinic in New York verließ. Ich möchte daher jetzt gleich einen der wichtigsten Verantwortlichen dieser Klinik bei mir im Studio begrüßen, Dr. Steve Zhou, den leitenden Arzt. Nach einer kurzen Werbeunterbrechung wollen wir mit ihm über den Fall Curt van Beek und seine Konsequenzen für die Zukunft sprechen. Gehen Sie nicht weg. Wir sind gleich wieder zurück – mit einem Fall, der Amerika verändern kann.“ Frank Reynolds holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Wie benommen taumelte er in die Küche hinaus und zog einen Tetra-Pack Orangensaft aus dem Kühlschrank. Als er vor einigen Stunden mit Karen van Beek gesprochen hatte, war ihm tatsächlich nicht bewusst gewesen, wie brisant der Fall war, den sie ihm auf den Schreibtisch legte. Er trank einen Schluck, steckte den Kopf zwei Minuten unter den Wasserhahn und fühlte sich gleich wieder besser. Eigentlich hatte er duschen wollen, doch das musste warten, bis die Talkshow vorüber war. Als er sich im Wohnzimmer in den Sessel lümmelte, begann er die Sache etwas nüchterner zu sehen. Wenn er bedachte, wie oft die Medien jeden Tag bestimmte Themen zu Sensationen hochstilisierten, wie leidenschaftlich sich die Teilnehmer von Talkshows die Köpfe über Banalitäten heiß redeten – und wie wenig sich drei Tage später noch jemand an die
die Sache auf den folgenden Tag. Nachdem er noch einige Zeit am Computer verbracht hatte, verließ er das BüroApartment in der Washington Avenue und machte er sich auf den Heimweg. Zuhause angekommen knipste er den Fernseher an und geriet mitten in eine Live-Übertragung einer Talkshow. Noch mit den Gedanken bei seinem neuen Fall wollte er sich gerade abwenden, als ein Satz aus den Lautsprechern des Fernsehgeräts ihn zurückhielt. „ ... und deshalb ist der lasche Umgang mit geistesgestörten Verbrechern ein Schlag ins Gesicht jedes gesunden Bürgers, der ein Recht darauf hat, unter gesunden Menschen zu leben.“ Ohne sich zu setzen oder sich am Kühlschrank ein kaltes Getränk zu holen, starrte Frank gebannt auf den Bildschirm. Das Thema passte wie die Faust aufs Auge: „Werden psychisch gestörte Straftäter zu leichtfertig auf freien Fuß gesetzt?“ Am unteren Rand des Bildschirms liefen Telefonnummern und E-Mail-Adressen durch, über die der Zuschauer seine Meinung kundtun konnte. Fast schon frenetischer Applaus folgte der leidenschaftlich vorgetragenen Aussage eines sauber gekleideten Herren aus dem Publikum, der sich nun wieder setzte. Aber auch vereinzelte Stimmen des Protestes wurden laut. „Wofür“, rief eine Frau aus einer der letzten Reihen des Studios, „wofür promovieren unsere Fachleute an den angesehensten Universitäten Amerikas, wenn wir ihrem Urteil nicht trauen? Wofür haben wir hochqualifizierte Koryphäen in unseren Kliniken und Anstalten, wenn jeder Hilfsarbeiter ihnen vorwerfen darf, ihr Urteil sei nichts wert? Bedeutet das nicht, dass wir unser gesamtes Bildungssystem in Frage stellen, wenn wir ...“ Wirre Zwischenrufe ließen die letzten Worte der Frau untergehen. Irgendjemand machte einen Versuch, sich auf sie zu stürzen, wurde aber von anderen zurückgehalten.
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vernünftigen Eindruck“, sagte Frank. „Soweit man das im Fernsehen beurteilen konnte. Ich glaube, wenn man ihm die richtigen Fragen stellt, kann man aufschlussreiche Antworten bekommen. Jetzt bin ich nur gespannt, wie ich mit Dringenberg zurecht komme.“ „Der Sammler? Er wird nicht glücklich darüber sein, dass du alte Wunden aufreißt, schätze ich.“ „Das kann ich ihm leider nicht ersparen.“ „Denkst du, dass er es gewesen sein könnte?“ „Keine Ahnung, Phil. Ich rufe dich in zwei Stunden wieder an und lasse dich wissen, was mein Eindruck war, einverstanden?“ „Gut. Inzwischen klemme ich mich ein bisschen hinter meinen Kollegen Captain Palmer. Er leitet die Untersuchung im Fall van Beek.“ „Hat er etwas Neues herausgefunden?“ „Im Augenblick checkt er den Paketboten, der bei Betreten des Hauses gesehen wurde. Der hellgrünen Uniform nach zu urteilen muss er einer kleinen Zustellerfirma namens Parcel-By-Parcel angehören, die nur im Großraum New York arbeitet. Die Jungs bei der Firma prüfen gerade nach, ob letzten Donnerstag ein Paket in die Perry Avenue 315 zugestellt wurde. Scheinen ziemlich schlecht organisiert zu sein, wenn sie das nicht auf Anhieb sagen können.“ „Ein Paketbote wäre nicht die schlechteste Verkleidung, um in ein fremdes Haus einzudringen, ohne Verdacht zu erwecken.“ Sie unterbrachen die Verbindung, und Frank Reynolds näherte sich dem Ziel seiner Fahrt. Er kam durch mehrere kleinere Ortschaften, bevor er das allein stehende Haus erreichte, in dem Douglas Dringenberg sein Domizil aufgeschlagen hatte. Es war ein flaches Gebäude, das schon so manchen Winter dort gestanden haben musste. Offenbar war es ursprünglich als Farmhaus erbaut und genutzt worden, doch mittlerweile deutete nichts mehr darauf
hochbrisanten Enthüllungen erinnern konnte ... dann konnte er das Programm schon mit etwas mehr Gelassenheit folgen. Interessiert nahm er das Gespräch mit Dr. Zhou auf und schaltete ab, als die Zuschauer sich wieder in Haare kriegten. Eines war klar: Wenn sich herausstellen sollte, dass Curt unschuldig war, würde man mit Sicherheit keine Talkshows über die Frage veranstalten, warum Menschen so gerne vorschnell urteilten. Dr. Zhou hatte man kaum zu Wort kommen lassen; seine Ausführungen waren zu wissenschaftlich ausgefallen, um das Publikum zu fesseln. Die Moderatorin verwickelte den Arzt immer mehr in seichte Fragen, die alle interessierten: Hatten Curts Augen einen fanatischen Glanz gehabt? Hatte er eine Zwangsjacke tragen müssen? Hatte er in der Klinik bisweilen etwas angezündet? Irgendwann war der Netzschalter Franks letzte Rettung gewesen. Der Privatdetektiv entspannte sich und ließ seine Gedanken treiben. Er war neugierig, was der nächste Tag bringen würde. Die Flammen des Hasses, wie Karen van Beek sie genannt hatte – hatte Douglas Dringenberg, der Sammler, sie entfacht? * Es war ein warmer, durchwachsener Frühsommertag. Flauschige Schäfchenwolken zogen sich in Scharen über den hellblauen Himmel, und ihre Schatten wanderten gemächlich über die flache Landschaft außerhalb der HudsonMetropole. Frank Reynolds steuerte seinen silbergrauen Mercedes CL 600 zuerst über die breiten Highways und danach über die ebenso kerzengeraden Landstraßen. Während der Fahrt erhielt er einen Anruf von Phil Stuart. Er hatte die Talkshow am Abend ebenso gesehen – mit dem gleichen Widerwillen. Er hatte sogar an derselben Stelle abgeschaltet ... „Dieser Dr. Zhou machte einen
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wurde der Türöffner aktiviert. Er klang ähnlich wie der Summer, den man an den meisten Haustüren antraf, nur schätzungsweise dreimal so laut. Nachdem die Verriegelung gelöst war, setzte sich das Tor in Bewegung und glitt auf gewaltigen Rollen langsam nach rechts. „Lassen Sie Ihren Wagen stehen, Mr. Abramsky“, kam die tiefe, harsche Stimme aus der Sprechanlage. „Kommen Sie zu Fuß. Es sind nur hundert Meter.“ Frank gehorchte und betrat das Grundstück. Hinter ihm schloss sich das Tor wieder. Als er die Hälfte des Wegen zurückgelegt hatte, erschien vor dem Haus ein großer, fülliger Mann mit einem breitkrempigen Strohhut. Er trug ein Holzfällerhemd und hatte mehr von einem Farmer an sich, als der Privatdetektiv erwartet hatte. Dringenberg sah man die fünfundsechzig Lebensjahre nicht an, die er laut den Polizeiakten auf dem Buckel hatte. Nicht nur das Fett war es, das sein rundes Gesicht jugendlich erscheinen ließ. Der Mann hatte sich etwas Jungenhaftes bewahrt, schien nicht vollkommen erwachsen geworden zu sein. Allerdings machte ihn dieser Zug merkwürdigerweise nicht sympathischer. Eine naive Kindlichkeit glomm in seinen Augen, die ihn beinahe bedrohlich erscheinen ließ. In Verbindung mit seiner brummigen, abweisenden Stimme entwickelten diese einfältigen Augen einen unangenehmen Widerspruch – als verberge sich ein jähzorniges fünfjähriges Kind in der Gestalt eines alten Bären. Auf den Privatdetektiv machte der Mann den Eindruck eines leicht Schwachsinnigen. Die beiden schüttelten sich die Hand. Der Zwei-Meter-Koloss, der gut und gerne drei Zentner auf die Waage bringen mochte, hatte einen schlaffen, nachgiebigen Händedruck. Frank hätte die Hand seines Gegenübers am liebsten weggeworfen, so unangenehm war die Berührung. „Möchten Sie meine Sammlungen sehen? Sie sind schön“, fragte Dringenberg ohne
hin, dass dort Landwirtschaft betrieben wurde. Keine Ackergeräte oder Traktoren waren zu sehen, die ehemaligen Getreidefelder in der Umgebung waren zu weitläufigen Wiesen geworden, und Frank hätte wetten möchten, dass die beiden großen Scheunen, die das Hauptgebäude flankierten, kein Stroh, sondern Antiquitäten beherbergten. Das gesamte Anwesen war nämlich von einem drei Meter hohen, elektrisch gesicherten Zaun umgeben. Schon von weitem konnte man erkennen, dass es hier mehr zu stehlen gab als ein paar Tonnen Weizen. Offenbar hatte sich Dringenberg zumindest finanziell von dem Brand erholt und frönte noch immer seiner Sammelleidenschaft. Der Privatdetektiv parkte seinen Mercedes unmittelbar vor dem stählernen Tor, das die Zufahrt zum ehemaligen Bauernhof unterbrach. Er stieg aus, sah sich um – und als er niemanden entdecken konnte, drückte er einen kleinen schwarzen Knopf unterhalb einer Sprechanlage. Er musste lange warten, bis sich eine raue, männliche Stimme meldete. „Ja?“ „Entschuldigen Sie“, begann Frank. „Mein Name ist Ray Abramsky. Ich komme vom ‚National Enquirer’. Wir machen eine Reportage. Habe ich die Ehre, mit Mr. Douglas Dringenberg persönlich zu sprechen?“ Frank hielt es für klüger, sich nicht als Detektiv zu erkennen zu geben, und auch sein Name tat nichts zur Sache. „Wovon handelt ihre Reportage?“ Die Frage klang ruppig und wenig interessiert. Doch immerhin war es eine Frage, keine Abweisung. Frank sog die Luft tief ein. „Angesichts der unerfreulichen Tatsache, Mr. Dringenberg, dass ein ... hm ... Individuum namens Curt van Beek in diesen Tagen von sich reden macht, ist es die moralische Pflicht unserer Zeitung, unseren Lesern einen Einblick in die vergangenen Geschehnisse zu ermöglichen, die ...“ Noch bevor er ausgesprochen hatte,
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Schaufensterpuppen. Insgesamt mochten es über hundert sein, über zweihundert blicklose Kunststoffaugen starrten ins Leere, als handle es sich um eine aus Soldaten aller Epochen und Ländern zusammengestückelte Armee – ein uneinheitliches und doch diszipliniertes Heer, versteckt in einer unscheinbaren Scheune. Jede der hier ausgestellten Uniformen war komplett. Weder die charakteristischen Kopfbedeckungen fehlten, noch die zur Zeit passenden Waffen. Die meisten der Soldaten waren mit Säbeln ausgestattet und dadurch auch für den historischen Laien als Vertreter einer Zeit zu erkennen, in der Feuerwaffen noch nicht existiert oder bei Gefechten zumindest noch nicht zum Standard gehört hatten. Frank erkannte Uniformen, die er bereits auf Gemälden gesehen hatte. Andere waren ihm vollkommen unbekannt. Er schritt neben Douglas Dringenberg die Reihen ab wie ein General, der eine Parade abnahm. Sie gingen in chronologischer Richtung durch die Aufstellung, so dass die Uniformen immer jünger wurden und allmählich auch altertümliche Pistolen das Bild bestimmten. Frank, der sich mit Schusswaffen besser auskannte als mit Uniformen, entdeckte einige Stücke, die er bislang lediglich in Museen gesehen hatte. Alle Waffen zusammengenommen, konnte man schon von einem kleinen Arsenal sprechen. Er musste nicht schauspielern, um beeindruckt zu klingen, als er sagte: „Wenn diese Jungs alle noch einmal gemeinsam eine Schlacht führen könnten ... das wäre ein Anblick, was?“ Der Mensch, der all diese Schätze zusammengetragen hatte, betrachtete ihn von der Seite. „Möchten Sie eine der Waffen anfassen?“ Frank zuckte die Schultern. „Ich möchte nichts kaputt machen“, gab er sich schüchtern. Dringenberg nahm einem blaugekleideten Soldaten kurzentschlossen die Pistole ab und reichte sie seinem Gegenüber.
Umschweife, wie ein Kind, das jedem neuen Besucher als erstes seine Spielsachen zeigte. „Wenn ich darf“, meinte Frank und lächelte. „Kommen Sie mit! Gehen wir an den Fischteichen vorbei!“ Dringenberg, den sich Frank Reynolds vollkommen anders vorgestellt hatte, steuerte auf die linke der beiden Scheunen zu. In die Wiese davor waren mehrere kreisrunde Teiche eingelassen. Orangerote Zierkarpfen tummelten sich in Scharen darin und kamen neugierig an die Oberfläche, als die beiden Männer sich näherten. „Hübsche rote Gesellen“, stellte Frank sich dumm. „Ich kenne mich mit Fischen nicht so aus, aber die Burschen scheinen mir ein bisschen groß für Heringe.“ „Heringe!“ Dringenberg stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Das sind Koi-Karpfen, aus Japan. Der billigste von diesen Fischen bringt tausend Dollar.“ „Oops“, machte Frank alias Ray Abramsky. „Dann würde ich hier an Ihrer Stelle aber nicht angeln.“ Ohne auf den respektlosen Scherz einzugehen, schob Dringenberg weiter in Richtung Scheune. Der Privatdetektiv aus der Bronx staunte nicht schlecht, als sich das Türschloss als hypermoderne Sicherheitsanlage erwies. Mit tumbem Gesichtsausdruck presste der massige Mann seinen breiten Daumen auf eine Glasplatte. Das Gerät, das den Fingerabdruck prüfte, blinkte grün, und das gewaltige Schloss öffnete sich. Als ginge ihn das alles nichts an, hielt Douglas Dringenberg den schweren Kopf gesenkt und schien ungeduldig zu warten, bis er die Tür passieren konnte. Frank folgte dem Schwergewicht in die Scheune, und auch dort erwartete ihn ein überwältigender Anblick. Das von außen so schmucklose Gebäude präsentierte sich als Museum historischer Uniformen. In vier langen Reihen waren die antiken Kleidungsstücke angeordnet, getragen von gleichförmigen
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war von seinem Gesicht gewichen, seine Augen taxierten jetzt scharf und aufmerksam, der eben noch schlaffe Körper hatte sich gespannt. „Was ... wollen Sie, Dringenberg?“ sagte Mr. Bronx langsam. „Ich erwähnte bereits, dass mich ... der National Enquirer schickt, um ...“ „Erwarten Sie Ihre eigene Naivität bloß nicht von anderen Menschen, Ray Abramsky ... oder wie immer Sie auch heißen mögen!“ stieß der Massige hervor. „Seit letzter Woche warte ich darauf, dass einer von euch Jungs hier aufkreuzt. Denkt ihr, ich weiß nicht, was in euren Köpfen vorgeht?“ Frank ließ den Arm mit der historischen Pistole sinken. Inzwischen arbeitete sein Verstand auf Hochtouren, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Er zweifelte nicht daran, dass der Colt geladen sein konnte – und eine Kugel aus einer hundert Jahre alten Waffe war nicht weniger tödlich als eine aus dem allerneusten Modell. Wenn das Projektil einem den Schädel durchbohrte, spürte man gewiss keinen Unterschied ... „Was geht denn in unseren Köpfen vor, Dringenberg, das Sie so wütend macht?“ hakte Frank nach. Er trug einen Colt in einer Schulterhalfter unter dem Jackett, doch er kam nicht ran, solange sein Gegenüber ihn im Auge behielt. „Das werde ich Ihnen verraten! Ihr glaubt jedes Wort von dem pathetischen Geflenne dieses van Beek. Ihr nehmt ihm die Show ab, die er euch vorspielt, ohne zu kapieren, wie er euch alle für dumm verkauft. Ärzte und Polizeigutachter – alle gehen sie ihm auf den Leim. Er will von jemandem reingelegt worden sein, der arme Feuerteufel. Kaum heult er euch was vor, schwärmt ihr schon aus und sucht die Übeltäter unter seinen Opfern. Was für lächerliche kleine Idioten ihr doch seid.“ Sein Kopf lief rot an, während er sich in Rage redete. Doch trotz seiner Erregung verlor er nicht die Beherrschung. Eine außergewöhnliche Intelligenz verbarg sich hinter seinem feisten Gesicht, die auch sein
„Ein Zündnadelrevolver aus Preußen“, kommentierte der Sammler. „Der Lauf ist achteckig und verdickt sich zur Mündung hin. Es wurde um 1880 hergestellt. Ein hübsches Stück.“ Frank Reynolds wog die Waffe bedächtig in der Hand. Ihm, der er an moderne Revolver gewöhnt war und damit meisterhaft zu schießen vermochte, erschien sie schwer wie Blei. „Sie halten nicht zum ersten Mal eine Waffe in der Hand“, stellte Dringenberg eher beiläufig fest. „Ich war fünf Jahre bei der Army“, erklärte Frank rasch. Douglas Dringenberg grinste wie ein dummer Junge. „Das dachte ich mir schon. Bei der Army war es am schönsten. Ich denke jeden Tag an die Zeit zurück. Probieren Sie mal diese hier. Das ist ein echtes Schmuckstück ...“ Der Schwergewichtige war vor den nächsten Soldaten getreten und hatte ihm eine Waffe abgenommen, die im Gegensatz zur ersten etwas schlanker ausgeführt war und silbern glänzte. Es handelte sich um einen amerikanischen Colt – soviel konnte Frank erkennen. Als er nach der Waffe greifen wollte, die ihm Dringenberg schon entgegen streckte, riss dieser den Colt plötzlich zurück, wies mit der Mündung auf sein Gegenüber und legte den dicken Zeigefinger an den Abzug. „Was jetzt, Mr. Polizist?“ fauchte der Dicke. Frank starrte abwechselnd in das schwarze Loch der Mündung und auf das runde Gesicht des Mannes. Mr. Bronx war niemand, der sich leicht überrumpeln ließ, aber in diesem Moment war er nicht sicher, was eigentlich vorging. „Der Colt ist geladen, Mr. Polizist, geladen und funktionsfähig“, sagte Dringenberg. „Was man von dem Museumsstück in Ihrer Hand nicht behaupten kann. Das hat seine letzte Kugel vor einem Jahrhundert ausgehustet.“ Mit dem Mann war eine Veränderung vor sich gegangen. Der idiotische Ausdruck
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zerrte ihn mit sich. Der Dicke zog seinen Gegner an sich, um ihn unter sich zu begraben, wenn der Schwung seines eigenen Angriffs ihn zu Boden werfen würde. Genau das geschah. Und Frank konnte nichts dagegen tun. Mit einem dumpfen Laut schlugen sie beide auf die Steinplatten, doch dem Koloss machte der Sturz wesentlich weniger aus, denn er hatte einen Schutzschild vor sich, das den Aufprall wesentlich dämpfte. Frank Reynolds dagegen wurde unter drei Zentnern Lebendgewicht begraben. Es gelang ihm noch im letzten Moment, seine Hände vors Gesicht zu reißen und seinen Kopf zur Seite zu drehen, damit er nicht mit dem Kinn gegen den Stein schlug. Frank entfuhr ein heiserer Schrei. Ein brennender Schmerz im Rücken alarmierte ihn, und für eine lähmende Sekunde bohrte sich der Gedanke in sein Hirn, das Rückgrat könne etwas abbekommen haben. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gedrückt, und das Atmen wurde zur Qual. Er musste schnell handeln, bevor dieser Fleischberg sich etwas Neues einfallen ließ, um ihn womöglich tatsächlich ins Jenseits zu befördern. Eigentlich war er schon mit gefährlicheren Gegnern fertiggeworden, aber Douglas Dringenberg hatte ihm ein perfektes Theater vorgespielt, das jeden getäuscht hätte. Frank zog unter größten Mühen die Ellbogen an und rammte sie dann mit aller Wucht hinter sich. Einem normal gebauten Menschen hätte der brutale Stoß ein paar Rippen gebrochen, doch die Fettmassen dämpften den Angriff ab und schützten Dringenberg. Trotzdem zeigte der Schlag seine Wirkung. Der Sammler stöhnte auf, riss vor Schmerz den Kopf in den Nacken und rollte sich von seinem Opfer herunter, ehe der Privatdetektiv ein zweites Mal zuschlagen konnte. Ächzend rappelte Frank sich auf und saß noch am Boden, als er schon seinen Colt unter der Jacke hervorgezaubert hatte. Die
Zorn nicht ganz überlagern konnte. Frank, der schon so manches erlebt hatte und gewiss nicht der schlechteste Menschenkenner war, musste über die Verwandlungsfähigkeit dieses Mannes staunen. „Offenbar sind Sie ein besserer Schauspieler als ich, Mr. Dringenberg“, meinte er behutsam. „Was ich nicht ganz verstehe, ist, weshalb Sie mich mit einer Waffe bedrohen ... Ich will Ihnen nichts tun.“ „Sie lügen“, sagte Dringenberg lauernd. „Sie sind auf den Brandstifter hereingefallen – oder auf seine Frau Mama. In Wirklichkeit denken Sie, ich hätte ihn aus Rache zur Strecke gebracht. Herrgott, warum kann man mich denn nie in Frieden lassen! Erst vernichtet dieser Irre Antiquitäten, die nie wieder ersetzt werden können, und dann schafft er es noch, mich zum Verbrecher abzustempeln. Nimmt denn dieser Albtraum nie ein Ende?“ Er ballte die Faust und richtete seinen Blick für einen Augenblick nach oben, als könne er durch das Scheunendach den Himmel sehen, der ihm so übel mitspielte. Frank wusste, dass er zuschlagen musste – jetzt oder nie! Er ließ sich fallen und schleuderte gleichzeitig seine Beine nach vorne. Mit den Füßen erwischte er die Knöchel des Dicken und stieß unsanft sie weg. Dringenberg heulte vor Schmerzen auf. Sein Körper fiel zu Boden wie ein Sack Kartoffeln, die Waffe wurde geradezu aus seiner Hand katapultiert und einige Meter durch die Luft geschleudert. Frank Reynolds registrierte, dass sich kein Schuss löste, als sie auf den mit Steinplatten ausgelegten Boden der Scheune prallte. Für einen Moment sah es aus, als wäre der Kampf schon vorüber, eher er begonnen hatte. Doch dann wuchtete sich Dringenberg mit unerwarteter Stärke hoch und flog auf den Privatdetektiv zu. Frank drehte sich weg, doch eine der ausgestreckten Hände erwischte ihn und
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Er hob den Kopf ein wenig und sah sich um. „Mein Interesse für Uniformen rührt vom Theater her. Kleider und Verkleidungen haben mir immer etwas bedeutet. Ein Holzfällerhemd, ein dummes Grinsen, ein leerer Blick, und schon haben Sie mich für schwachsinnig gehalten. Es ist so einfach, wenn man die richtigen Tricks kennt.“ „Und was wollten Sie mit dieser Gratisvorführung Ihrer Künste bezwecken?“ Frank nahm die Waffe aus dem Gesicht des Liegenden und richtete sich auf. Dringenberg tat es ihm gleich, doch bei ihm dauerte es eine ganze Weile. „Sie haben mehrere Gesichter von mir gesehen, Mr. Polizist“, erwiderte er schließlich. „Daher wussten Sie, dass sie nicht alle real sein konnten. Sie wussten es, weil ich Ihnen gestattete, es zu wissen.“ „Kommen Sie zur Sache.“ „Ein Mann wie Curt van Beek ist ein ebenso guter Schauspieler wie ich. Vielleicht ein noch besserer. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Theater, das er Ihnen und seinen Ärzten vorspielt, und der Vorstellung, die ich Ihnen eben gegeben habe.“ Frank bückte sich nach dem antiken Colt und stellte fest, dass er tatsächlich nicht geladen war. Ebenso wenig wie der preußische Zündnadelrevolver, den er selbst in der Hand gehalten hatte. Dringenberg hatte tatsächlich zu keinem Zeitpunkt vorgehabt, ihn zu erschießen. Im Nachhinein eine beruhigende Information, auch wenn es ihm um ein Haar gelungen wäre, ihn unter sich zu zerquetschen ... „Es gibt Schauspieler, die sind so begnadet, dass die psychiatrischen Gutachter der Polizei und die besten Irrenärzte der Welt die Waffen strecken müssen“, sprach Dringenberg weiter. „Und diesen Punkt wird die Kriminologie niemals in den Griff bekommen. Es ist die ewige Schwachstelle, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Eure forensischen Abteilungen und Chemielabors können heute noch feststellen, wer vor
Mündung der Waffe drückte er dem Dicken hart gegen die Wange. Dringenbergs Glieder erschlafften. Seine weit aufgerissenen Augen schlossen sich. Er keuchte und hielt den rechten Arm auf die schmerzende Stelle auf der Brust. Der andere Arm lag kraftlos auf dem Stein. „Nicht schießen“, presste er kaum hörbar hervor. „Die Waffe war ... nicht geladen. Ich wollte Sie nicht töten. Sie müssen mir glauben ...“ „Was soll ich Ihnen denn noch alles glauben?“ fragte Frank scharf. „Dass Sie ein gutmütiger Schwachsinniger sind, der einem Fremden ohne Hintergedanken seine Sammlung historischer Uniformen zeigt? Dass Sie mich systematisch in eine Falle gelockt haben und mit einer antiken Waffe abknallen wollten? Oder soll ich doch lieber denken, dass Sie alles nicht so gemeint haben? Für welche Version soll ich mich entscheiden?“ „Das ... bleibt Ihnen überlassen“, stöhnte Douglas Dringenberg. „Vielleicht haben Sie ... Ihre Lektion jetzt gelernt ...“ „Werden Sie nicht frech zu einem Mann, der eine Waffe auf sie gerichtet hat, Mr. Dringenberg“, konnte Frank sich nicht beherrschen. Er bohrte die Mündung tief in die fleischige Wange des Schwergewichts. Eine Weile lang sagten sie nichts. Sie warteten beide, bis sich ihr Atem beruhigte. Frank massierte mit der freien Hand seinen Rücken und war erleichtert, dass er sich nichts gebrochen hatte, als das menschliche Nilpferd ihn gegen den harten Steinboden geschmettert hatte. Dann sagte Dringenberg: „Ich habe einmal eine Schauspielerausbildung genossen. In meiner Jugend war ich am Theater, und auch in einigen Spielfilmen konnte man mich ... bewundern. Irgendwann zeichnete sich ab, dass es mit der großen Karriere nichts werden würde. Ich machte nämlich eine große Erbschaft und hörte auf zu proben. Ich brauchte das Geld nicht mehr, und bald war ich nicht mehr gut genug für das Geschäft. Aber die Schauspielerei hat mich geprägt.“
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eben gesehen habe, glaube ich, dass Sie zu allem fähig wären. Ich behaupte nicht, dass Sie es getan haben – ich behaupte lediglich, dass Sie dazu fähig gewesen wären. Und noch eines, Mr. Dringenberg: Falls Sie es waren, dann glaube ich, dass Sie in der Lage sind, sogar sich selbst vorzuspiegeln, Sie hätten es nicht getan. Auf Wiedersehen. Ach, noch was: Mein Name ist übrigens Reynolds, Frank Reynolds. Ich bin kein Polizist, sondern Privatdetektiv. Und ich bin fast sicher, wir werden noch voneinander hören.“ Mit diesen Worten wandte sich Frank ab und ging mit langsamen Schritten in Richtung seines Wagens davon.
zweitausend Jahren im alten Rom einen Mord begangen hat. Genetische Fingerabdrücke, präzise Todeszeiten – alle Register der Medizin, der Chemie und der Physik könnt ihr ziehen, um das perfekte Verbrechen theoretisch unmöglich zu machen. Und doch: wenn euch ein talentierter Schauspieler ein Theater vorspielt – wenn ein Irrer so tut, als wäre er gesund, oder ein Gesunder, als wäre er irr, dann sind eure schärfsten Messer stumpf und all die Professoren von Harvard und Yale, all diese Herren mit ihrem Dutzend Doktortiteln stehen in ihren weißen Kitteln machtlos davor. Weil ihr keine Gedanken lesen könnt und es niemals können werdet.“ Frank gab die beiden historischen Waffen ihren „Besitzern“, den beiden kostümierten Puppen, zurück. Nachdenklich ging er die letzte Reihe der Uniformierten ab, die er noch nicht gesehen hatte, weil es in der Mitte der Anordnung zu diesem bizarren Zweikampf gekommen war. Am Ende der Reihe angekommen kehrte er um und schlenderte auf Dringenberg zu. Die beiden Männer sahen sich an. „Das war eine sehr beeindruckende Rede, Mr. Dringenberg. Ich glaube, dass viel Wahres in Ihren Worten liegt. Aber selbst wenn Sie Recht haben, dann beweisen Ihre Ausführungen nicht, dass Curt van Beek das Feuer gelegt hat.“ „Natürlich nicht. Ich kann es nicht beweisen. Ich befand mich fast fünfzig Meilen entfernt vom Tatort, als es geschah.“ „Sie waren hier?“ „Ja. Alleine. Wie immer.“ „Dann haben Sie kein Alibi.“ „Richtig, Mr. Polizist. Kein Alibi.“ Nach einer Pause fügte Dringenberg hinzu: „Glauben Sie wirklich, dass ich es getan haben könnte?“ Frank kniff die Augen zusammen und musterte sein Gegenüber, als versuche er, hinter der Oberfläche ein tieferes, ein verborgenes Ich zu erkennen. „Ich will Ihnen sagen, was ich glaube, Mr. Dringenberg. Nach alldem, was ich
* Auf der Heimfahrt sprach er wieder mit Phil Stuart. Der Captain hatte nur eine einzige Neuigkeit für ihn. Bei Phils Kollege Palmer war ein Anruf von dem kleinen Zustellservice Parcel-ByParcel eingegangen. Der zuständige Angestellte ließ ihn wissen, dass letzten Donnerstag keine Paketlieferung in die Perry Avenue verzeichnet war. „Damit steht beinahe schon fest, dass der Paketbote der Übeltäter war. In dem falschen Paket, das er trug, konnte er leicht das nötige Material ins Haus schmuggeln. Wie du weißt, Frank, hat man im Keller des Hauses Rückstände von petroleumgetränkten Stoffen entdeckt. Der Brandstifter hat sie unter alte, trockene Holzkisten geschoben, und von dort aus müssen sich die Flammen weiter ausgebreitet haben.“ „Hm“, machte Frank. Das abgebrannte Haus gehörte zu den wenigen in der Gegend, dessen Keller über holzverkleidete Wände und Decken verfügte. In einem Stein- oder Betonkeller wäre der Brand wesentlich schwerer zu legen gewesen. Der Feuerteufel hatte nichts dem Zufall überlassen. In der Tat wäre es für Curt van Beek schwierig gewesen, eine genügende Menge Benzin ins Haus zu schmuggeln. Die Zeugen
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war wirklich keinen Cent wert! Beschreibungen dieser Güteklasse trafen auf achtzig Prozent der Bevölkerung zu. Wenigstens konnte es damit als sicher gelten, dass der Zwei-Meter-Fleischberg Douglas Dringenberg nicht in der Uniform des falschen Paketboten gesteckt hatte. „Fragt sich, woher der Brandstifter die Uniform hatte“, dachte Frank laut nach. Jedes Mal, wenn ihm das Wort „Uniform“ durch den Kopf ging, musste er unwillkürlich an Dringenberg denken. An dessen Faszination für Verkleidungen, für Theater und Mummenschanz. Wenn der exzentrische Sammler einen napoleonischen Soldaten ausgesandt hätte, wäre es freilich zu auffallend gewesen. Aber einen Paketboten in einer grünen Uniform, die das meiste von ihm verbarg, zum Feuerlegen zu schicken – das würde vielleicht zu ihm passen. Schließlich war es nicht notwendig, dass er selbst vor Ort ging und sich die Finger schmutzig machte. Ein Mann mit seinen finanziellen Möglichkeiten hatte das nicht nötig. Und mit seiner Körpermasse wäre er am Tatort fast ebenso aufgefallen wie der historische Soldat. War Douglas Dringenberg, der Mann mit den vielen Gesichtern, doch der große Fädenzieher im Hintergrund? „Wenn der Täter die Uniform nicht gestohlen hat“, antwortete Phil Stuart, „könnte es sich um jemanden handeln, der bereits einmal bei Parcel-By-Parcel gearbeitet hat.“ „Du könntest Recht haben“, sagte Frank. „In solchen Betrieben herrscht eine hohe Fluktuation. Zusteller kommen und gehen. Oder kennst du jemanden, der noch nie bei einem Paketdienst gejobbt hat?“ „Dich, Frank!“ erwiderte der Captain lachend. „Stimmt. Moment! Soll das etwa heißen, du selbst hast es schon einmal gemacht?“ Der Privatdetektiv staunte. „Frank, ich war jung und ...“ „ ... brauchte das Geld“, ergänzte Mr. Bronx und fuhr grinsend auf den Highway Richtung New York ein.
sagten übereinstimmend, er habe nur eine dünne Mappe unter dem Arm getragen. Andererseits konnte er den Kraftstoff auch im Haus gefunden haben. Eine der vielen Theorien, die durch die Zeitungen gingen, besagte, dass van Beek tatsächlich eine Arbeit angeboten worden war. Matthew Ports hatte ein paar leichte Diebstahlsdelikte auf dem Kerbholz, die er vor Jahren mit einer kleinen Bande durchzog. Zurzeit war er wieder arbeitslos. Das konnte dafür sprechen, dass er erwog, ein neues Ding zu drehen. Angenommen, Ports hatte van Beek tatsächlich angerufen. Als van Beek dann bei ihm auftauchte, würde Ports so getan haben, als kenne er ihn nicht – schließlich waren Frau und Tochter anwesend und durften nichts von der Sache wissen. Van Beek wiederum konnte, zornig über Ports’ Ablehnung, durchgedreht sein und den Brand gelegt haben. Diese Theorie war hübsch und plakativ, aber löchrig wie ein Schweizer Käse. Warum sollte Ports ausgerechnet einen bekannten Brandstifter anheuern wollen? Und warum bestellte er ihn zu einer Tageszeit zu sich, zu der Frau Wendy und Tochter Lil todsicher im Haus sein würden? Und warum sollte van Beek, der bislang als echter Pyromane aufgetreten war, also Feuer ausschließlich aus Faszination legte, plötzlich zu einem Brandstifter aus Rache mutieren? Bei diesem Erklärungsversuch passte einfach nichts zusammen, und deshalb beschäftigte sich Frank nicht weiter damit. Seine Gedanken kreisten um Dringenberg. „Welche Statur hatte der Paketbote?“ wollte der Privatdetektiv wissen. „Die einzige Zeugin beschrieb ihn als mittelgroß und von mittlerer Statur. Besondere Kennzeichen konnte sie keine erkennen.“ „Haarfarbe?“ „Er trug die Mütze der Uniform, und die verdeckte seine Haare wohl.“ Mittelgroß und von mittlerer Statur. Keine besonderen Kennzeichen. Verflucht, die Beobachtungsgabe der meisten Leute
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„und für alle anständigen Bürger dieses Landes. Als nächster ist Rosetti an der Reihe. Ehrlich, ich versprech’s dir. Aber ich muss vorher mit dir darüber reden. Es ist sehr schwierig für mich. Gerade Rosetti, seine Vorgehensweise ...“ „Ich weiß nicht, was du meinst, aber du musst sofort damit aufhören. Unbedingt.“ „Das kann ich nicht. Es sind drei Teile. Sie gehören zusammen.“ „Wenn du nicht aufhörst, wird mein Mann dich aufhalten.“ Sie warf dem Nackten einen Blick zu. „Er kann und wird nicht zulassen, dass ich in so etwas hineingezogen werde.“ „Das geht ihn nichts an.“ „Ich warne dich. Er macht dich platt wie eine Flunder.“ „Was für Ausdrücke du gebrauchst, Carrie! Du solltest dich einmal hören! Was ist nur aus dir geworden? Wo ist meine kleine Schwester geblieben?“ Als Carrie zusammenzuckte, riss der Mann ihr das Mobiltelefon aus der Hand und drückte den Knopf, der die Verbindung unterbrach. „Was wollte er?“ fragte er lauernd, packte Carries Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Zuerst presste die Frau die Lippen zusammen, als wollte sie es für sich behalten. Dann sank sie gegen die breite Brust ihres Mannes. „Er ist verrückt geworden. Was er tut, ist vollkommen wahnsinnig.“ „Ich werde ihn stoppen“, erklärte der Mann. „Schon bald.“
* „Nicht rangehen“, sagte der Mann mit tiefer, beschwörender Stimme. „Lass es klingeln.“ Sein alternder Körper war noch immer durchtrainiert und muskulös. Die Frau, die ihren Kopf auf seine Brust gelegt hatte, verkrampfte sich und stieg von ihm herab. Nur eines war schlimmer als beim Sex gestört zu werden. Nach dem Sex gestört zu werden, in dieser Phase der vollkommenen Entspannung und Harmonie. Den Liebesakt konnte man nach einer Unterbrechung fortsetzen, solange der Hunger noch nicht gestillt war – dieses wundervolle Gefühl aber war dahin. „Es ist wichtig. Bestimmt!“ sagte Carrie und räusperte sich. Ihre Stimme klang belegt. „Diese Nummer kennen nur eine Handvoll Leute.“ Ihr Handy lag auf dem Tisch, neben einer leeren Sektflasche. Nackt lief sie in dem abgedunkelten Zimmer darauf zu und meldete sich. „Ja?“ „Carrie?“ „Wer ist da?“ „Du weißt, wer ...“ Pause. „Du? Warum rufst du hier an?“ Für einen Moment zögerte sie, als ihr Mann neben ihr erschien und seinen schweren Arm um sie legte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, als sie den Empfänger mit der Hand abdeckte und „Mein Bruder“ flüsterte. „Carrie, ich ... muss mit dir reden.“ „Worüber? Es passt jetzt nicht.“ „Hast du die Nachrichten gesehen? Über den Brand in der Perry Avenue?“ „Kann sein. Was ist damit?“ „Das war ich, Carrie.“ „Was? Wovon redest du eigentlich?“ Ihr Mann weitete bedeutungsvoll die Augen, als er sah, dass der Anruf sie erschreckte. Er verstärkte den Griff um ihre Schultern, seine Zärtlichkeit war im Begriff, in eine Drohung umzuschlagen. Was ihr Gesprächspartner sagte, hörte er nicht, aber es irritierte Carrie, und das war nicht nach seinem Geschmack. „Ich tu es für uns“, sagte der Anrufer,
* Frank Reynolds verbrachte einen sehr beschäftigten Nachmittag mit drei wichtigen Besuchen. Davon, weitere ehemalige Opfer von Curt van Beek aufzuspüren, sah er vorerst einmal ab. Zur Stunde erschien es ihm dringlicher, das Gespräch mit drei anderen Personen zu suchen. Auf seiner Liste standen Curt van Beek höchstpersönlich, dann Matthew Ports und
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ohnmächtig geworden war. Die Haut war nahezu durchscheinend, ein blaues Aderwerk gut zu erkennen. Frank hatte Fotos von ihm gesehen, doch im Vergleich zum Original waren diese geradezu schmeichelhaft ausgefallen. Es war nicht einfach, diesem Mann Sympathien entgegenzubringen. Frank unterhielt sich mit ihm durch ein kleines, mit einer Art dichtem Maschendraht vergittertes Fensterchen, das sich in einer Wand aus Metall öffnete. Der Vollzugsbeamte stand direkt neben dem Privatdetektiv und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. „Mr. van Beek“, begann er. „Mein Name ist Reynolds. Ihre Mutter hat mich gebeten, Ihre Unschuld zu beweisen. Dazu muss ich Ihnen zunächst die Frage stellen: Haben Sie den Brand in der Perry Avenue gelegt?“ „Nein.“ „Warum waren Sie dann dort?“ „Man hatte mir telefonisch einen Job angeboten.“ „Gut. Bis hierher kenne ich Ihre Aussage. Mich interessiert, ob die Stimme am Telefon wie die von Mr. Ports klang.“ Zum ersten Mal machte van Beek eine Pause. „Nein“, antwortete er dann. „Aber sie klang, als hätte sich jemand verstellt. Sie klang ... unecht.“ „Aha. Und das fiel Ihnen damals nicht auf?“ „Nein. Ja, ich meine ... mir wurde das erst später bewusst.“ „Könnte die Stimme jemandem gehört haben, den Sie kennen? Kam sie Ihnen trotz der Verstellung bekannt vor?“ „Sie meinen, ob es einer der Leute war, die sich vielleicht an mir rächen wollen ...“ „Zum Beispiel.“ „Ich glaube nicht. Schwer zu sagen. Die Verbindung war nicht besonders gut, als käme der Anruf von einem Handy vom Rande eines Funklochs. Und es war ein sehr kurzes Gespräch.“ „Mr. van Beek, ich war heute Morgen bei Douglas Dringenberg.“ „Dringenberg?“ Frank konnte durch das
schließlich Dr. Steve Zhou von der Jefferson Mental Clinic. Er wollte sie in dieser Reihenfolge aufsuchen und hatte gleich das unerhörte Glück, nach einer kurzen Wartezeit zu van Beek vorgelassen zu werden. Der Zündler-Curt, wie ihn die Revolverblätter in ihrer kindlichen Poetik nannten, war im Metropolitan Detention Center in Brooklyn untergebracht worden. Im MDC, wie die Vollzugsanstalt kurz genannt wurde, warteten zahlreiche Insassen auf ihre Gerichtsverhandlung. Wie Frank erfuhr, wurde van Beek momentan wie ein ganz normaler Untersuchungshäftling behandelt. Außer dem kurzen Besuch eines Psychologen dreimal die Woche erhielt er keinerlei medizinische Therapie. Mehr Energie als auf seine Behandlung verwandte man auf seine Abschirmung. Wie Phil Stuart bereits gesagt hatte, waren mehrere Versuche vereitelt worden, dem Inhaftierten Gegenstände zukommen zu lassen, die ihm einen Selbstmord erleichtern sollten. „Werden die Leute eigentlich strafrechtlich verfolgt, die so etwas tun?“ erkundigte sich Frank. „Wir geben ihnen einen Verweis“, erwiderte der Officer, der Reynolds eben durchsuchte. „Es sind alles anständige Leute. Irgendwo hat man ja Verständnis. Manche Menschen sollte man nicht davon abhalten, sich selbst für das Leid zu bestrafen, das sie über andere bringen.“ Er hob die Schultern. „Natürlich können wir es nicht zulassen.“ Aber Sie würden gerne, lag Frank die Bemerkung auf der Zunge. Er sprach es nicht aus. Eine einzige Kritik an der Meinung des Officers, und seine Besuchsgenehmigung würde null und nichtig sein. Das war es ihm nicht wert. Curt van Beek war ein krank aussehender, blasser Mann mit einem teigigen, langen Gesicht. Ein breites Pflaster auf seiner Stirn markierte die Stelle, wo er mit dem Kopf aufgeschlagen war, als er bei seiner Festnahme
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„Ja.“ „Sie verdrängen nichts?“ Van Beek verstummte. „Sie glauben mir nicht, Frank“, stellte er fest. Es klang nicht enttäuscht. Es klang, als habe er von der ersten Sekunde an nichts anderes erwartet. Frank konnte nicht anders als an Dringenbergs Worte zu denken. Spielte der Mann ihm Theater vor? Er wirkte aufrichtig, aber das hätte man auch von Dringenberg sagen können, als er seine Show abzog. „Haben Sie einen Paketboten gesehen, Curt?“ „Nein.“ Frank Reynolds dankte er Curt van Beek für das Gespräch und machte sich auf den Weg zu den Ports.
Gitter hindurch erkennen, wie Curts Augen zu schmalen Schlitzen wurden. „Ja, ich erinnere mich. Der Mann mit den Uniformen. Es tut mir leid um seine Sammlung.“ „Wirklich?“ „Ja, natürlich. Ich wollte das nicht.“ „Sagen wir mal, ich glaube Ihnen, Curt. Ich darf doch Curt zu Ihnen sagen? Nennen Sie mich Frank.“ Van Beek antwortete nichts. „Hat Dringenberg jemals Ihnen gegenüber angedeutet, dass er Sie für das bezahlen lassen möchte, was Sie ihm angetan haben?“ „Nein. Daran kann ich mich nicht erinnern.“ „Glauben Sie, dass er es trotzdem gewesen sein könnte, der Sie in die Falle lockte?“ „Frank“, sagte van Beek mit aller Eindringlichkeit, zu der er fähig war. Das war nicht viel. Er hatte etwas Apathisches an sich, nur seine Augen zuckten nervös umher. „Ich weiß nicht, wer es gewesen sein könnte. Ich habe keinen Verdacht.“ „Gar keinen?“ „Gar keinen.“ „In Ordnung, Curt. Verraten Sie mir noch eines: Warum haben Sie den Ort des Brandes nicht verlassen? Warum sind Sie in einem Haus in der Nähe geblieben, bis die Polizei Sie dort fand?“ „Ich war ... verwirrt. Ich sah Rauch aus dem Keller kommen. Zuerst dachte ich, ich sollte die Feuerwehr alarmieren. Dann sagte ich mir: es ist zu gefährlich, man wird dir den Brand in die Schuhe schieben! Ich verstand gar nichts mehr. Ich lief ein Stück, und dann kam ich an dieses leerstehende Haus. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich versuchte zu begreifen, was geschehen war – ein Zufall oder Absicht? Ein paar Minuten lang redete ich mir ein, ich hätte das Feuer selbst gelegt und versuchte meine Tat zu verdrängen. Es war furchtbar. Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte.“ „Aber jetzt sind Sie sicher, dass Sie es nicht doch getan haben?“
* Marvin Brendan Smokes war Küster in der St. Nicolas Kirche im Stadtteil High Bridge, der zur New Yorker Bronx gehörte. Marvin war zweiundfünfzig Jahre alt und ein Mischling. In seinen Adern floss indianisches, afrikanisches und europäisches Blut. Er war ein kleiner, hagerer Mann, der seinen bescheidenen Dienst mit großer Akribie und Pünktlichkeit versah. Dies tat er jedoch mehr aus einem anerzogenen Pflichtgefühl heraus denn aus glühender religiöser Frömmigkeit. Er brannte nicht für die Kirche, aber er mochte sie. Sie war sein Arbeitsplatz, der ruhige Mittelpunkt seines Lebens und ein bisschen vielleicht auch sein Zuhause. Heute reinigte er wie jeden Tag die kleine Kirche und traf jetzt schon erste Vorbereitungen für den Gottesdienst am kommenden Sonntag. Besonders gründlich kümmerte er sich um den Altarbereich, gab den Blumen frisches Wasser, achtete darauf, dass die Bibel an der richtigen Stelle aufgeschlagen war und verrichtete die vielen nebensächlichen Arbeiten, für die er bezahlt wurde und die ihn ausfüllten. Von Zeit zu Zeit betrat jemand die Kirche, um ein stilles Gebet zu sprechen oder eine Kerze anzuzünden. Oder auch
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für den Küster ein grauenvoller Albtraum. Seine Hände wurden ihm auf dem Rücken zusammengebunden – eine schmerzhafte Prozedur, doch sie war erst der Auftakt zu noch größerer Pein. Der Fremde legte Marvin zuerst einen Knebel an und stülpte ihm dann eine sackähnliche Kapuze über den Kopf. Er konnte weder um Hilfe rufen noch etwas sehen. Nur fühlen und hören konnte er, und was er fühlte und hörte, war furchtbar. Dumpfe Geräusche, ein Rascheln und dann ein vielfaches Klappern konnten nur bedeuten, dass der unheimliche Angreifer alles von dem marmornen Altar wischte, was sich dort befand: Die schwere Bibel zuerst, dann diverse Messinggefäße mit Blumen. Als nächstes wurde Marvin selbst auf den Altar gewuchtet. Der Fremde drehte ihn auf den Rücken, so dass er in schmerzhafter Haltung auf seinen gefesselten Armen zu liegen kam. Innerhalb weniger Sekunden hatte der Mann ihn mit Stricken so fest an den heiligen Tisch geheftet, dass er kaum noch atmen konnte. An ein Bewegen von Armen und Beinen war nicht zu denken. Marvin brach am ganzen Körper der Schweiß aus, und er begann zu zittern wie Espenlaub. Als er den Kopf hob, stießen ihn die behandschuhten Hände brutal auf die Marmorplatte zurück. Der Schmerz drohte den Küster ohnmächtig werden zu lassen. Plötzlich bohrte sich etwas Schmales, Hartes in seine Brust. Marvin Smokes zerrte wie von Sinnen an seinen Fesseln. Ohne Erfolg. Das Messer – denn um ein solches musste es sich bei dem Gegenstand handeln – stach nicht zu. Der Fremde führte es stattdessen immer wieder über seinen Körper. Immer stärker und stärker wurde der Druck, den er dabei ausübte. Zunächst wurde das Hemd zerschnitten, das der Küster trug, dann seine Haut, und schließlich fraß sich die Klinge in sein Fleisch wie die Zähne eines wilden Tieres, das ihn zu zerfleischen versuchte.
nur, um sich eines der Losungsheftchen am Eingang mitzunehmen. Alles in allem jedoch wurde das Gotteshaus nur schwach frequentiert. An guten Sonntagen füllten sich die Bankreihen zur Hälfte – unter der Woche war manchmal einen halben Tag niemand zu sehen. Es war kurz nach zwei Uhr, als ein Mann durch das Seitenportal kam. Die große Tür wurde nur zum Gottesdienst geöffnet. Marvin Smokes begrüßte ihn mit einem Nicken, das der Fremde vage zu erwidern schien. Der Besucher trug einen breitkrempigen Hut, der sein Gesicht in undurchdringliche Schatten tauchte. Sein gebeugter Gang ließ ihn wirken, als trage er eine schwere Last, und Marvin erkannte sofort, dass der Fremde nicht gestört werden wollte. Obwohl er das Gesicht nicht sehen konnte und der Besucher beide Hände in den Hosentaschen verbarg, hatte er das Gefühl, dass es sich um einen Weißen handelte – eine kleine Seltenheit in dieser Kirche, die gewöhnlich nur von Farbigen aufgesucht wurde. Der Küster kümmerte sich wieder um seine Arbeit und wandte dem Besucher absichtlich den Rücken zu, damit dieser sich nicht durch die Anwesenheit des Kirchenmannes behelligt fühlte. Manche Leute, die eine Kirche zu einem ernsten Gebet aufsuchten, traten wieder den Rückzug an, wenn sie glaubten, ein Pfarrer oder Küster beobachte sie. Sie bekamen Lampenfieber. Marvin Smokes zupfte vertrocknete Blüten aus dem riesigen Margaritenstrauß neben dem Altar und hatte den Fremden schon beinahe vergessen, als ... ... er plötzlich von zwei starken Händen an den Schultern gepackt und nach hinten gerissen wurde! Marvin wollte schreien, doch eine Hand löste sich blitzschnell von seiner Schulter und legte sich mit brutaler Gewalt auf seinen Mund. Erst jetzt bemerkte er, dass der Fremde dicke Lederhandschuhe trug. Ein Versuch, ihn zu beißen, hätte nichts gefruchtet. Ehe er wusste, wie ihm geschah, begann
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persönliche Sichtweise der Dinge und vergaß nicht darauf hinzuweisen, dass der Fremde einen ausgesprochen irren Blick gehabt habe. Ja, sie habe nachts noch Alpträume, aber sie sei froh, dass ihre Christie-Puppe und Dad und Mom gerettet worden seien. Sie sagte es in dieser Reihenfolge. Reynolds bedankte sich bei allen und wünschte ihnen einen guten Neuanfang. Sie erwogen, aufs Land zu ziehen. Von der Bronx hatten sie erst einmal genug und hofften nun auf eine Unterstützung von Seiten ihrer großen Familie, um an einem anderen Ort ein neues Leben beginnen zu können. Die größte Überraschung des Nachmittags erlebte Frank, als er die Jefferson Mental Clinic ansteuerte. Sie sollte seine letzte Station für den Tag sein – im Anschluss an das Gespräch mit Dr. Zhou wollte er in sein Büro in der Washington Avenue zurückkehren und die Erkenntnisse des Tages ordnen. Doch zu dem Gespräch, in das er so hohe Erwartungen setzte, sollte es nicht kommen. Als er sich dem Klinikum in der nordöstlichen Bronx näherte, fiel ihm bereits das ungewöhnlich große Verkehrsaufkommen auf. Zwar ging es auf die Rush Hour zu, doch in diesem Teil der Stadt kam es normalerweise zu weniger Behinderungen als anderswo. Er bemerkte rasch, dass sich die Fahrzeugmassen auf ein recht kleines Gebiet konzentrierten – auf die Gegend rings um die Jefferson Mental Clinic! Ein dichter Ring von Autos hatte sich um den Gebäudekomplex mit den großen Parkanlagen geschlossen. Die Zufahrt zum Klinikum war versperrt. Vereinzelt waren auch Polizeiwagen zu sehen, und weitere kamen nach. Frank stellte seinen Mercedes notgedrungen ins Parkverbot und näherte sich der Klinik zu Fuß. Vergeblich suchte er nach Police Officern, die er kannte. Man ließ ihn nicht zur Klinik vor und wollte ihm auch nicht verraten, was vorgefallen
„Ein Opfer!“ kam es dumpf aus dem Mund seines Peinigers. „Ein Opfer für den Herrn dieser Welt!“ Der Küster bekam trotz der entsetzlichen Schmerzen mit, wie der Wahnsinnige die Bibel, die er eben zu Boden gewischt hatte, aufhob und das aufgeschlagene heilige Buch auf Marvins blutige Brust legte und kreisend dort bewegte, bis sich seine Seiten mit dem Blut des Küsters voll gesogen haben mussten. Ein Satz brannte sich unauslöschlich in die Erinnerung des Kirchenmannes. Ein Satz, den der Irre ausstieß, kurz bevor er von ihm abließ und ungesehen verschwand: „Mit den besten Grüßen von Walter Watson, dem General des Teufels.“ Genau diese Worte waren es, die Marvin Smokes immer und immer wieder abspulte, als Sanitäter seinen halb verbluteten Körper eine Stunde später losschnitten und in den Notarztwagen schafften. Die riesige Bibel lag noch immer auf seiner Brust. Das verkrustete Blut hielt sie so fest an seinem Körper, dass man sie erst auf der Intensivstation behutsam entfernen konnte. Wie ein Panzer hatte sie ihn vor dem Verbluten geschützt ... * Die Familie Ports war bei Verwandten untergekommen. Der Schock, bei dem Brand eine Menge persönlicher Dinge verloren zu haben, saß ihnen noch in den Knochen, doch ihnen war auch anzumerken, dass sie sich glücklich schätzten, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Frank führte ein langes Gespräch mit Matthew Ports und erfuhr dabei nichts Neues. Der Farbige versicherte ihm glaubhaft, sich weder mit dem Gedanken zu tragen, an seine kriminelle Vergangenheit anzuknüpfen, noch diesen Curt van Beek angerufen zu haben, den er nicht kannte und den er nie zuvor gesehen hatte. Die kleine Lil schilderte dreimal ihre
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Jefferson Mental Clinic zu tun?“ „Der Kerl, der den armen Kirchendiener dem Teufel opfern wollte, ist offenbar ein Irrer, der das in der Vergangenheit schon einmal getan hat. Er wurde vor ein paar Tagen als geheilt entlassen – und zwar aus dieser Anstalt hier ...“ Sie machte eine vage Kopfbewegung in Richtung der Klinik. Von hier aus konnte man nur das Dach der Institution sehen. Die Fassade wurde von Bäumen, Autos und Menschen verdeckt. Frank traute seinen Ohren nicht. „Und jetzt wollen alle Presseleute der Stadt mit Dr. Zhou reden, nehme ich an ...“ „Klar“, gab die Rothaarige zurück, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. „Schließlich ist das schon der zweite Verrückte innerhalb einer Woche, den man als geheilt vor die Tür setzte und der wieder rückfällig wurde. Aber nicht alle Leute hier sind von der Presse. Einige sind offenbar gekommen, um ihrem Frust freien Lauf zu lassen. Kann man ja verstehen.“ Frank Reynolds richtete sich auf und atmete mehrmals tief durch. Diese Entwicklung erwischte ihn auf dem völlig falschen Fuß. Seine bisherigen Ermittlungen hatten sich um Curt van Beek und seine möglichen Feinde gedreht. Eine Brandstiftung galt es aufzuklären, und Frank hatte die möglichen Täter in einem engen Kreis von Menschen vermutet, die van Beek an den Kragen wollten. Nun war etwas geschehen, das in eine vollkommen andere Richtung wies. Ein satanistisches Menschenopfer in einer Kirche. Einen Zusammenhang schien es nicht zu geben, und der Vorfall hätte ihn nicht interessieren müssen, wäre nicht der Täter ein Mitpatient von Curt van Beek gewesen. Liefen die Fäden der Vorfälle tatsächlich hier in diesem Gebäude zusammen, von dem er in diesem Moment keine zweihundert Meter entfernt war? An einen Zufall konnte er nicht glauben. Aber wenn es keine zufällige Koinzidenz war, dass kurz nacheinander zwei
war. Da war nichts zu machen. In einem Ford saß eine junge Rothaarige und streckte ihre endlos langen Beine durch die geöffnete Fahrertür hinaus. Sie schüttelte heftig den Kopf, pfefferte ihr Handy auf den leeren Beifahrersitz und stieß ein paar üble Flüche aus. „Fahren Sie nicht aus der Haut“, sprach Frank Reynolds sie an. „So eine hübsche bekommen Sie vielleicht nie wieder ...“ Die Rothaarige funkelte ihn aus grünen Nixenaugen wütend an. „Gehen Sie mir aus der Schusslinie“, fauchte sie mit einer tiefen, rauchigen Stimme. „Oder ich kann für nichts garantieren!“ „Jaja, wer garantiert heutzutage schon noch etwas“, machte Frank auf philosophisch. Er umkreiste ihren Wagen langsam, entdeckte den Presseausweis auf der Ablage und beugte sich durch das geöffnete Fenster der Beifahrertür zu ihr ins Auto. „Zeitung?“ fragte er. „Nein danke, arbeite selbst bei einer.“ Sie grinste ihm böse entgegen, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. „Oh! Ihrer Schlagfertigkeit gebührt eine Neun auf der nach oben offenen RichterSkala. Können Sie mir vielleicht verraten, was für ein Auflauf das hier ist?“ „Hören Sie kein Radio?“ „Nein, ich warte immer, bis Ihre Berichte in der Zeitung erscheinen.“ Normalerweise lief das Autoradio bei ihm ununterbrochen, doch auf der Fahrt von den Ports hierher hatte er es abgestellt. Zu viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, zu viele abgerissene Enden, angefangene Gedanken. Er brauchte ein wenig Ruhe zum Nachdenken, und dabei konnte er die Berieselung aus dem Äther nicht brauchen. Offenbar hatte er ausgerechnet etwas Wichtiges verpasst. „In der St. Nicolas Kirche in High Bridge haben sie einen Mann halbtot aufgefunden. Den Küster. Mitten auf dem Altar. Es war eine Art Opferung. Satanistischer Hintergrund, heißt es.“ „Schlimme Sache“, meinte Frank schockiert. „Aber was hat das mit der
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Tomaten bei sich, doch Frank sah auch einige, die sich mit Flaschen und Steinen bewaffnet hatten. In schlecht organisierten Sprechchören forderten die Menschen, Dr. Zhou zu sehen, damit er ihnen Rede und Antwort stehen konnte. Sie hatten die Nase voll von den angeblich geheilten Irren, die die Stadt terrorisierten. „Kannst du das hören, Phil?“ fragte der Privatdetektiv und hielt den Empfänger des Handys in Richtung der protestierenden Menschenmenge. „Die Leute gehen entschieden zu weit!“ kam die Stimme des Captains dünn über den Äther. „Das kannst du laut sagen“, gab Frank zurück. „Aber wenn ihr nicht flink seid, gehen sie noch weiter. Wenn die Situation entgleist, herrschen hier in zehn Minuten bürgerkriegsähnliche Zustände.“ Kopfschüttelnd beobachtete er, wie die ersten Flaschen auf das Klinikgebäude zu flogen. „Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute hier mit Dr. Zhou über Psychiatrie debattieren möchten. Mir kommt es eher so vor, als wollten sie ihn lynchen ...“ „Frank, ich bekomme gerade die Meldung herein, dass weitere Fahrzeuge ausgerückt sind. Auch ein Wasserwerfer ist unterwegs. Tu mir einen Gefallen – verschwinde von dort, ehe dich einer dieser Verrückten oder einer unserer Cops niederknüppelt.“ „Können vor Lachen! Ich glaube, mein Wagen ist schon zugeparkt.“ Frank Reynolds unterbrach die Verbindung und rannte los. Immer mehr Menschen rückten nach, und einige trugen sogar Schusswaffen. „Macht doch keinen Unsinn!“ brüllte er den Leuten entgegen, und einem debil aussehenden Jugendlichen, der grinsend einen Revolver präsentierte, schlug er die Waffe aus der Hand, dass sie einem der wie aufgescheucht umherhastenden Polizeibeamten direkt vor die Füße schlitterte. Es kam, wie er es befürchtet hatte. Sein Mercedes war von vier Fahrzeugen
entlassene Patienten der Jefferson Mental Clinic dramatische und mörderische Rückfälle erlitten, dann bedeutete es möglicherweise, dass ... Das Handy piepste, und Frank zog es aus der Tasche seines Jacketts. „Ja?“ „Frank, hier ist Phil. Entschuldige, dass ich dich nicht früher angerufen habe, aber hier war die Hölle los. Ich nehme an, du weißt bereits, was passiert ist.“ „Ungefähr“, antwortete der Detektiv. „Dann hast du es aus dem Radio?“ vermutete der Captain. „Nein, von der Zeitung.“ „Was? Man hat den Kerl doch am frühen Nachmittag erst gefunden!“ Einen Moment lang herrschte verstörte Stille, und Frank konnte sich ungeachtet der ernsten Umstände ein Grinsen nicht verkneifen. * „Am besten, du machst dich sofort auf den Weg zu mir, Frank! Ich bin noch in der St. Nicolas Kirche und werde vermutlich noch ein paar Stunden lang nicht von hier wegkommen. Wir müssen uns in Ruhe unterhalten“, rief Phil Stuart. „Wo bist du gerade?“ „Vor der Jefferson Mental Clinic. Übrigens habe ich das Gefühl, dass die Polizeikräfte, die ihr aufgefahren habt, bald nicht mehr ausreichen werden ...“ „Wieso das denn? Es sind doch schon sechs Wagen im Einsatz.“ „Kann sein, aber hier geht es mittlerweile nicht mehr nur darum, die Jungs und Mädels von der Presse von der Klinik fernzuhalten. Im Volk brodelt es. Hier haben sich schätzungsweise dreihundert aufgebrachte Bürger versammelt, die ihren Unwillen auf nicht ganz diplomatische Weise herausschreien. Hör dir das an, Phil!“ Tatsächlich war Bewegung in die Massen gekommen. Immer mehr Leute stellten ihre Autos mitten auf der Straße ab und strömten auf das Klinikgelände. Einige von ihnen trugen harmlose Wurfgeschosse wie
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Stuart tat ihm den Gefallen, obwohl es ihm sichtliches Unbehagen bereitete, die blutigen Einzelheiten des Verbrechens noch einmal aufzuwärmen, das sich am frühen Nachmittag abgespielt hatte. Mit gebeugtem Kopf führte er Frank an den Absperrungen vorbei ins Innere der modernen Kirche. Inzwischen war der Abend hereingebrochen. Es ging auf 20 Uhr zu, und die meisten Schaulustigen hatten sich getrollt, als sie begriffen, dass aus den grimmig dreinblickenden Officern nichts herauszubekommen war, das sich als Kneipenthema eignete. Die wichtigste Information war ohnehin schon vor Stunden von eifrigen Radioreportern in die Welt hinaus posaunt worden. Der Mann, der den armen Küster beinahe in Scheiben geschnitten hatte, hieß Walter Watson. So zumindest hatte der offenbar Wahnsinnige sich selbst genannt. „Mit den besten Grüßen von Walter Watson, dem General des Teufels.“ Diesen Satz hatte er dem bestialisch zugerichteten Küster als Widmung hinterlassen. Walter Watson war keine Fantasiegestalt und kein Pseudonym. Ihn gab es tatsächlich. Vor siebzehn Jahren hatte ein Mann dieses Namens zwei Priestern in einer Kirche auf der anderen Seite von New York ähnliche Verletzungen zugefügt. Beide hatten sie überlebt, waren aber für ihr Leben gezeichnet gewesen. Der General des Teufels, wie er sich nannte, huldigte dem Satan und glaubte offenbar, sich bei dem Herrn der Hölle einschmeicheln zu können, indem er ihm geistliche Opfer brachte. Anscheinend war es ihm nicht einmal wichtig, sie zu töten – ihnen unmenschliche Qualen zuzufügen, schien ihm bereits die nötige Befriedigung zu verschaffen. Walter Watson wurde zunächst zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, landete aber später in einer psychiatrischen Anstalt, da er zweifellos geistesgestört war. Vor fünf Jahren war er aus einer anderen Institution in die Jefferson Mental Clinic verlegt worden, die einen hervorragenden
umringt. Kein Durchkommen möglich. „Verflucht, was mache ich jetzt?“ zischte er. Er konnte unmöglich Autoscooter spielen und die abgestellten Wagen mit seinem Mercedes wegschubsen. Das würde ihm seine Versicherung nie verzeihen ... Keuchend rannte er von einem der rücksichtslos geparkten Autos zum nächsten. Beim dritten hatte er Glück. Die Fahrertür war nicht abgeschlossen. Zwar steckte der Schlüssel nicht, aber es war nicht das erste Mal, dass Frank eine Zündung kurzschloss. Als das Fahrzeug – ein kleiner Honda – ansprang, fuhr er ihn eilig aus dem Weg. Dann murkste er ihn ab, hinterließ seine Visitenkarte, sprang heraus und stürzte in seinen eigenen Wagen. Mit einem letzten Blick auf die im Chaos versinkende Jefferson Mental Clinic stieß er zurück und gab seinem fahrbaren Untersatz die Sporen. Aus seinem Treffen mit Dr. Steve Zhou war nichts geworden. Hoffentlich ließ der Mob den leitenden Arzt am Leben – Frank brannte jetzt mehr denn je auf ein Gespräch mit der Koryphäe. * „Man hat mir den Fall Marvin Smokes übertragen.“ Mit diesen Worten empfing Phil Stuart seinen alten Freund Frank Reynolds vor der kleinen Kirche. Dabei zog der gute Captain ein Gesicht, als habe man ihm eben seine Entlassung verkündet. „Eigentlich sollte ich mich ja freuen, dass wir gemeinsam an der Sache arbeiten können, Frank, denn irgend einen Zusammenhang zu der van BeekAngelegenheit dürfte es ja wohl geben. Aber ehrlich gesagt will sich bei mir kein Frohsinn einstellen ... dieser Fall hier ist ziemlich hässlich. Obwohl das Opfer wohl noch einmal mit dem Leben davongekommen ist.“ „Smokes ist der Name des Küsters?“ hakte Mr. Bronx nach. „Du musst mir sämtliche Details nachliefern. Ich habe fast nichts mitbekommen.“
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würde. So, wie er es bei van Beek gemacht hat.“ Der Captain sah seinen Freund finster an. „Du glaubst tatsächlich, jemand hat zwei schreckliche Verbrechen begangen, nur um ... nur um ...“ „ ... um sicherzustellen, dass van Beek und Watson wieder weggeschlossen werden? Ja, das könnte ich mir allmählich vorstellen. Ist der Gedanke denn so abwegig?“ „Vielleicht nicht, wenn man sich die Amok laufenden Menschenmassen ansieht“, gestand Phil nachdenklich. „Andererseits muss man selbst ein Wahnsinniger sein, um so etwas fertig zu bringen! Der Brand hat ein Menschenleben gekostet, und der Küster ...“ „Du hast Recht. Wir haben es vielleicht mit jemandem zu tun, der schlimmer geistesgestört ist als die beiden, auf die er es abgesehen hat.“ Phil Stuart schüttelte sich. „Das sind ja rosige Aussichten!“ „Ja, aber er ist nicht unfehlbar. Diesmal hat er nicht so sauber gearbeitet wie beim letzten Mal. Schon bei der Brandstiftung hat ihn jemand gesehen, wenn auch nicht gut genug, um eine brauchbare Beschreibung zu liefern. Diesmal ist es ihm nicht einmal gelungen, den Mann, den er belasten wollte, in die Nähe des Tatorts zu locken. Er hat mächtig gepfuscht. Alles, was er getan hat, ist, dem Opfer den Namen dessen ins Ohr zu hauchen, den er denunzieren wollte. Ausgesprochen billig, wenn du mich fragst.“ Phil hob die Schultern. „Also, ich für meinen Teil habe das Gefühl, er hat ganze Arbeit geleistet. Schließlich mussten wir Walton hinter Gitter verfrachten – und es ist fraglich, ob er so leicht wieder raus kommt.“ Immer wieder schüttelte er den Kopf, als er die Bemühungen des Reinigungsteams verfolgte, die Spuren des Grauens vom Antlitz des Gotteshauses zu wischen. Ein leidender gekreuzigter Jesus beobachtete sie alle mitfühlend von hinter dem Altar.
Ruf hatte, was die Heilung von psychisch kranken Straftätern betraf. „Und jetzt kommt der Hammer, Frank“, brummte Phil Stuart. „Walter Watson wurde am selben Tag entlassen wie Curt van Beek. Angeblich war er vollkommen geheilt von seinem Zwang, Geistliche zu opfern. Fehlanzeige.“ Sie betraten die Kirche, und Frank sah einen Putztrupp, der das Gotteshaus von den Blutflecken reinigte. Den Altar hatten sie sich als erstes vorgenommen, und der wirkte mittlerweile wieder unbefleckt wie eh und je. Doch auf dem Boden zeugten noch immer rostrote Spritzer und eine Lache vor der Altarstufe von dem Verbrechen. „Habt ihr diesen Walter Watson?“ wollte Frank wissen. „Ja. Wir konnten ihn in der Nähe seiner neuen Wohnung festsetzen. Er wechselte aus der Klinik in eine betreute Wohneinheit zur Resozialisierung ehemaliger Straftäter. Ein offenes Haus ohne Zwänge, aber unter der Obhut einiger Sozialarbeiter, die zur Stelle sind, wenn die Leute auf Probleme stoßen.“ „Hat er gestanden?“ Phil schüttelte den Kopf, während sie sich den Altar betrachteten. „Er sagt, er hat es nicht getan. Er wirkte schockiert.“ Frank stieß den Atem pfeifend aus. „Das habe ich mir gedacht. Wie steht es mit seinem Alibi?“ „Zur Tatzeit war er nicht im Haus. Nach eigenen Angaben machte er einen Spaziergang durch die Stadt. Auch, um sich nach einem Job umzusehen. Wir suchen noch nach Zeugen, die es bestätigen können. Im Moment kann man nicht sagen, ob sich das Alibi halten lässt.“ „Er war nicht in der Nähe der Kirche?“ „Nach eigenen Angaben nicht. Und es ist bislang auch noch niemand aufgetaucht, der ihn gesehen haben will.“ „Hm. Das ist merkwürdig ...“ „Was ist merkwürdig, Frank?“ „Ich dachte, der Mann, der das getan hat, hätte vielleicht dafür gesorgt, dass man Watson in der Nähe des Tatorts sehen
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Frank. „Verdammt, das könnte bedeuten, dass ...“ „ ...irgendeinem unschuldigen Mädchen in dieser Stadt bald ein traumatisches Ereignis bevorsteht. Ja, Frank, es ist ein widerlicher Fall, den wir da auf dem Tisch haben. Für eines kann ich wenigstens garantieren: Rosetti wird niemanden vergewaltigen. Vor zwei Stunden habe ich angeordnet, dass er einen Schatten bekommt. Von jetzt an wird er Tag und Nacht von einem unserer Leute beobachtet. Der geht nirgendwo hin, ohne dass ich davon in Kenntnis gesetzt werde.“ „Das ist gut, Phil. Warum hast du mich über diese Entwicklung nicht informiert?“ „Na, hör mal, es war schon nach Mitternacht. Ich wollte dich nicht mehr stören. Ich dachte, du schläfst.“ Der Privatdetektiv ließ sich in die Kissen fallen. „Phil, versprich mir, mich sofort anzurufen, wenn sich irgend etwas Neues ergibt, ja? Ganz gleich, wie viel Uhr es ist.“ „Wenn du darauf bestehst ...“ Frank legte auf und war zehn Minuten später wieder eingeschlafen. Er hatte das Gefühl, noch nicht lange geschlafen zu haben, als das Telefon klingelte. Er nahm ab, während er sich die Augen rieb und auf die Uhr schielte. Die rote Digitalanzeige schnappte eben auf 4.41 Uhr um. „Frank, hier Phil.“ „Phil, verdammt, weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?“ brachte der Detektiv schlaftrunken hervor. „Na hör mal – du warst es doch, der angerufen werden wollte.“ „Schon gut, schon gut. Arbeitest du etwa immer noch?“ „Ja. Und es sieht so aus, als hätte es sich gelohnt aufzubleiben. Die Jungs im Labor haben ebenfalls ein paar Stunden drangehängt. Es ging um die Untersuchung des Blutes, das am Tatort vergossen worden war. Ich wollte es gleich untersucht haben, denn immerhin gibt es ja den Hauch einer Möglichkeit, dass der Täter sich selbst verletzt hat, als er mit dem
* Es war halb drei Uhr nachts. Frank Reynolds schreckte in seinem Bett hoch. Ein Gedanke hatte ihn geweckt. Er hatte noch bis ein Uhr gearbeitet, und das Puzzlespiel der Personen und Motive war ihm bis in die Träume gefolgt. Während sein Körper schlief, kombinierte sein Kopf weiter. Noch ehe er recht zu sich gekommen war, hatte er schon nach dem Telefon gegriffen und die einprogrammierte Nummer von Captain Stuart gewählt – die in seinem Büro. „Woher zum Teufel wusstest du, dass ich noch arbeite?“ fragte Phil verwundert. „Es ist halb drei.“ „Das war mir egal“, sagte Frank, und seine Zunge bewegte sich noch nicht, wie er es wollte. „Ich habe ... auch noch gearbeitet.“ „Danach klingst du aber nicht.“ „Hör zu, Phil, mich hat ein Punkt beschäftigt, die wir heute nicht angesprochen hatten.“ „Und der wäre?“ „Van Beek und Walton wurden am selben Tag aus der Jeffersons Clinic entlassen. Wurde vielleicht außer den beiden noch irgend ein psychisch kranker Verbrecher an diesem Tag oder in letzter Zeit als geheilt auf freien Fuß gesetzt?“ Der Captain lachte trocken auf. „Du wirst es nicht glauben, aber diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Die Antwort ist positiv. Drei Wochen vor van Beek und Watson wurde ein achtunddreißigjähriger Mann entlassen. Sein Name ist Rosetti. Er hat als Jugendlicher zwei minderjährige Mädchen vergewaltigt. Nach dem ersten Fall war er in der Psychiatrie gelandet, wenig später jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Als er rückfällig wurde, verfrachtete man ihn in die Jefferson Mental Clinic. Dort blieb er fast dreizehn Jahre, bevor Dr. Zhou ihn erneut für geheilt erklärte.“ „Ein Kinderschänder“, wiederholte
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aufgebrachten Öffentlichkeit in Schutz zu nehmen? Frank, kannst du dir das vorstellen? Frank? Frank ...?“ Frank Reynolds ließ den Hörer langsam auf die Gabel sinken.
Messer hantierte. Ich dachte mir, wenn wir ausnahmsweise mal ein wenig Glück hätten, könnten wir seinen genetischen Fingerabdruck finden. Das Labor hat in den letzten Stunden ein paar Dutzend von den Blutproben untersucht und etwas Sensationelles herausgefunden.“ „Mach’s nicht so spannend. Was ist es?“ „Es wird dir gar nicht gefallen, Frank.“ „Sag schon!“ „Erinnerst du dich noch, wie du sagtest, der Täter habe gepfuscht, weil er Watson nicht einmal an den Tatort lockte? Und wie ich darauf sagte, ich hätte nicht den Eindruck, er hätte einen Fehler gemacht? Erinnerst du dich?“ „Natürlich erinnere ich mich. Los, sprich endlich! Was hat das Labor herausgefunden?“ „Frank, die endgültige Bestätigung wird erst im Laufe des morgigen Tages erwartet, aber schon jetzt spricht alles dafür, dass ... in der St. Nicolas Kirche auf dem Altar Blut von Walter Watson gefunden wurde.“ Frank verschlug es die Sprache. Er setzte sich im Bett auf und knipste die Nachttischlampe an. „Frank, bist du noch dran?“ „Ja. Ich bin hier. Das ist ... unglaublich.“ „Vielleicht auch nicht. Frank, ich weiß, das ist keine gute Frage für diese Tageszeit, aber ... könntest du dir eventuell vorstellen, dass es diesen ominösen Unbekannten, der einen Kreuzzug gegen geistesgestörte Verbrecher führt, gar nicht gibt? Dass wir es mit einer Brandstiftung von Curt van Beek und einer satanistischen Opferung von Walter Watson zu tun haben – zwei Fälle, die sich nicht deshalb innerhalb einer Woche ereigneten, weil sie von einem irren Mr. X fingiert sind, sondern weil Dr. Steve Zhou zusammen mit ein paar Gutachtern den fatalen Fehler begangen hat, zwei hochgefährliche Irre in die Freiheit zu entlassen? Könnte es sein, dass dich deine Menschlichkeit zum Mitleid mit zwei Individuen verleitet hat, die dein Mitleid nicht verdienen? Dass du unbewusst versucht hast, zwei für geheilt erklärte Wahnsinnige vor der
* Wenn Captain Stuart mit seiner Einschätzung richtig lag, war Dr. Steve Zhou in diesen Tagen einer der gefährlichsten Männer in New York. Ein anerkannter Experte, der lebende Zeitbomben in die Gesellschaft entließ, vor denen er sie eigentlich zu schützen hatte. Ob Zhou damit eine Absicht verfolgte oder einfach senil geworden war, spielte dabei keine große Rolle. Wichtig war es, ihn zu stoppen. Genau das, was die aufgebrachten Menschen gestern vor der Klinik versucht hatten. Natürlich war es den Polizeikräften gelungen, den Mob zu zerstreuen. Wasserwerfer waren zum Einsatz gekommen, und einige Randalierer hatte man vorübergehend festgenommen. Er, Frank Reynolds, hatte verächtlich auf diese Leute herabgeblickt. Und warum? Weil er den Worten einer alten Mutter glaubte, die behauptete, ihr Sohn sei unschuldig. Als ob das nicht alle Mütter immer und überall auf diesem Planeten behaupten würden! Douglas Dringenbergs Worte kamen dem Privatdetektiv wieder in den Sinn. Wenn euch ein talentierter Schauspieler ein Theater vorspielt, dann sind eure schärfsten Messer stumpf, und all die Professoren von Harvard und Yale stehen machtlos davor. Wer waren die Schauspieler? Van Beek und Watson? Für den Rest der Nacht fand Frank Reynolds keinen Schlaf mehr. Um sechs Uhr stand er auf, um zu duschen und ein schnelles, leichtes Frühstück einzuwerfen. Ein wichtiger Tag lag vor ihm. Er hatte genug im Kreis herum gedacht – nun mussten Taten folgen. Entweder, er fand Beweise für die Existenz des großen
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peinlich. „Was sagen Sie zu den Vorfällen, Doktor? Geben Sie mir Ihre ehrliche Meinung“, verlangte Reynolds. „Sir“, erwiderte Zhou mit hilfloser, übertriebener Schärfe. „Ich bin Wissenschaftler und Arzt. Ich pflege erst dann eine Behauptung aufzustellen, wenn ich sehr sicher bin, dass sie zutrifft. So weit bin ich noch nicht.“ „Eine bewundernswerte Einstellung, Doktor“, meinte Frank. Nach einigem Hin und Her hatte der Mediziner ihn doch noch in sein Büro gebeten. Der Detektiv setzte sich, doch Zhou lief aufgeregt neben dem Bücherregal auf und ab. „Allerdings dürfte keine Zeit für diesen Luxus sein. Die Geschehnisse sägen Minute für Minute an Ihrem Stuhl. Während wir reden, nimmt die Zahl der Leute, die Ihren Kopf fordern, beständig zu. Wollen Sie wirklich tatenlos zusehen, wie das geschieht? Wenn Sie Licht in den Fall bringen können, sollten sie es tun, Doktor – und zwar, ehe es zu spät ist.“ „Wollen Sie mir drohen?“ Auf der hohen Stirn des Mediziners zeichnete sich eine dicke blaue Ader immer deutlicher ab. Man konnte das Blutgefäß pulsieren sehen. „Sie bedrohen sich selbst, Dr. Zhou. Ich gehöre zu den wenigen Leuten, die sich noch vorstellen können, dass Curt van Beek und Walter Watson unschuldig sind. Helfen Sie mir, den Unbekannten zu finden, der hinter diesen Verbrechen steckt.“ „Ich kenne ihn nicht.“ „Vielleicht doch. Es muss jemand sein, der entweder diesen beiden Entlassenen schaden möchte oder Ihnen, Doktor.“ Dr. Steve Zhou setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches. Seine Hand tastete blind nach einer kleinen Dose mit Pfefferminzbonbons, die neben dem Telefon lag. Auch Frank bekam ein Bonbon angeboten und nahm es an. „Ist in den letzten Wochen etwas Ungewöhnliches in Ihrer Klinik vorgefallen?“ fragte Frank langsam. „Etwas, das für ... Konflikte oder Probleme
Unbekannten, oder er musste Dr. Steve Zhou das Handwerk legen. Frank ahnte nichts von der nächsten und letzten Wendung dieses verzwickten Falles. Er ahnte auch nicht, dass schon in wenigen Stunden sein Leben keinen Pfifferling mehr wert sein würde ... * Von jetzt an ging es Schlag auf Schlag. Nur dank der Tatsache, dass seinem Freund Captain Stuart die Leitung des Falles Marvin Smokes übertragen worden war, war es Mr. Bronx möglich, an diesem Tag ein Gespräch mit Dr. Zhou zu führen. Die Jefferson Mental Clinic war von einem Kreis aus Polizisten umgeben. Zwar hatten nach dem harten Durchgreifen der New York Police am gestrigen Nachmittag viele Bürger die Lust auf Protest verloren. Bilder von niedergeknüppelten Demonstranten waren in den Nachrichten zu sehen gewesen und hatten einen nachhaltigen Eindruck bei den Zuschauern hinterlassen. Die Hartgesotteneren jedoch fühlten sich davon erst recht angestachelt, und so kam es immer wieder zu Einzelaktionen gegen die Klinik. Frank brauchte zwanzig Minuten, um mit seiner Sondergenehmigung durch die Reihe der Officer zu kommen. Wie erwartet, zeigte sich Dr. Zhou wenig begeistert von der Idee, dem Privatdetektiv Rede und Antwort stehen zu müssen. Der kleine, drahtige Mann mit den chinesischen Vorfahren versuchte Frank Reynolds mit der Begründung abzuwimmeln, er habe entsetzlich viel zu tun. Dabei sah es ganz so aus, als husche er ziellos durch die Gänge und versuche den enormen Druck, der auf ihm lastete, durch Bewegung abzubauen. Der 59jährige Arzt trug eine überdimensionale Brille, die ihm etwas von einem Rennfahrer verlieh. Seine Lippen waren schmale Striche, und er versuchte seine Hände hinter dem Rücken zu verbergen – offenbar war ihm bewusst, wie sehr sie zitterten, und es war ihm
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Einen schlechten Vergleich, zugegeben, aber ...“ „Verzeihen Sie.“ Dr. Zhou ließ den Kopf sinken. Er wirkte müde. „Ich war nur einen Augenblick verwirrt, weil ... weil Quentin als Paketbote arbeitete, ehe er zu uns kam. Ich dachte, Sie sprächen von ihm ...“ Nun war es an Frank Reynolds, überrascht zu sein! Seine Augen weiteten sich. In Zeitlupe erhob er sich vom Besucherstuhl. Auf einmal kam ihm ein Verdacht. „Wie lautet der volle Name des Entlassenen?“ wollte er wissen. „Quentin Sattler.“ „Alter?“ „Ich glaube, Quentin ist vierundzwanzig. Er hat etwa vier Jahre bei uns gearbeitet.“ „Zu Ihrer Zufriedenheit, nehme ich an.“ „Ja.“ „Warum haben Sie ihn dann entlassen?“ „Mr. Reynolds, ich sagte Ihnen bereits ...“ „Sie sagten mir überhaupt nichts! Dr. Zhou – Sie haben einen Mann entlassen und ihn damit so sehr verletzt, dass er sich nun auf eine geradezu mörderische Art und Weise an Ihnen zu rächen versucht. Seine Rache besteht darin, Ihren geradezu einzigartigen Ruf als unfehlbarer Arzt zu zerstören. Leider geht er dabei über Leichen, und das kann und werde ich nicht zulassen!“ „Quentin soll sich an mir rächen?“ Dr. Zhou lachte hysterisch auf. „Das ist ausgeschlossen.“ „Hatte die Entlassung persönliche Gründe?“ „Nein. Es ... also gut, ich verrate es Ihnen. Quentin hatte sich an einem Patienten vergangen. Er hatte Sex mit einem Insassen und verstieß damit gegen eine der Grundregeln jeder Pflegeanstalt.“ „Sie meinen: mit einer Insassin.“ „Nein, Mr. Reynolds, mit einem Insassen. Und bevor Sie sich neue Drohungen gegen mich einfallen lassen, verrate ich Ihnen auch, wer der Betreffende war. Es war Pietro Rosetti, der Mann, den Sie eben so ausgesprochen feinfühlig als ‚den
sorgte?“ „Nein.“ Dr. Zhou sagte es knapp und bestimmt. „Keine besonderen Vorkommnisse bei Ihren Patienten oder unter dem Personal vielleicht?“ Hier schwieg der Mediziner für einen Moment. Die Pause war lange genug, um Frank aufmerksam zu machen. „Was war es, Doktor? Sagen Sie es mir ganz offen. Sie können von mir dasselbe Vertrauen erwarten wie von einem Police Officer.“ „Sie geben es nicht an die Presse weiter?“ „Die Jungs von den Medien sind nicht gerade meine größten Freunde“, sagte Frank. „Also gut. Sie werden es ja doch herausfinden. Wir mussten einen unserer Pfleger entlassen. Es hat absolut nichts mit der Sache zu tun, und ich möchte nicht, dass Quentin da hineingezogen wird.“ „Wann war die Entlassung?“ „Vor etwas mehr als einem Monat.“ Frank dachte nach. „Also ungefähr um die Zeit, als Rosetti als geheilt entlassen wurde. Der Kinderschänder.“ „Das ist richtig“, sagte Dr. Zhou und hob die Augenbrauen. Er sah alarmiert aus. Als hätte die Erwähnung des Namens Rosetti ihn verunsichert. „Warum haben Sie das Dienstverhältnis dieses Quentin beendet?“ „Darüber möchte ich nicht sprechen.“ Dr. Zhou nahm sich ein zweites Pfefferminzbonbon. Das erste hatte er binnen weniger Sekunden zerbissen. „Geheimnisse machen mich nur neugierig.“ „Es ist in seinem Sinne, wenn die Sache nicht breitgetreten wird.“ „Das, Doktor, glaube ich gerne. Es muss schon etwas Größeres vorgefallen sein. Schließlich wechseln Pfleger in psychiatrischen Kliniken nicht so häufig ihren Arbeitsplatz wie beispielsweise ... Paketboten ...“ „Was sagen Sie da?“ Der Arzt sah ihn konsterniert an. „Ich habe nur einen Vergleich bemüht.
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psychischen Druck aus. Vermutlich empfindet er Schuldgefühle, ist Rosetti jedoch so sehr verfallen, dass er die Beziehung nicht beenden kann. Dann die Eskalation. Die Sache fliegt auf, und Dr. Zhou setzt ihn auf die Straße. Vielleicht droht der Arzt, den Grund der Entlassung publik zu machen – was Quentin Sattlers sozialen Tod bedeuten kann. Gleichzeitig wird Rosetti entlassen und hat damit ebenfalls die Möglichkeit, Quentin zu verraten, vielleicht sogar zu erpressen. All das ist zu viel für den arbeitslosen Pfleger. Er beschließt, sich an Dr. Zhou zu rächen. Die einzige Möglichkeit, als kleiner Mann dieser Koryphäe Schaden zuzufügen, ist, ihren makellosen Ruf zu zerstören. Innerhalb weniger Wochen werden drei ehemalige Schwerverbrecher aus der Jefferson Mental Clinic entlassen. Rosetti, der Kinderschänder, van Beek, der Brandstifter, und Watson, der Satanist. Dieser Umstand kommt Quentin wie gerufen. Davor, Rosetti zu schaden, schreckt er zurück, denn mit diesem Mann verbindet ihn eine verbotene Beziehung. Also müssen die anderen beiden für seinen teuflischen Plan herhalten. Da er täglich mit van Beek zusammen war, weiß er, wo der ehemalige Brandstifter unterkommen wird – bei seiner alten Mutter. Also ist es für ihn ein leichtes, einen Telefonanruf zu fingieren, der den Ahnungslosen in die Perry Avenue lockt. Quentin entsinnt sich seiner Zeit beim Paketdienst Parcel-By-Parcel, aus der er noch die Uniform hat. Die Mütze weit ins Gesicht gezogen, schmuggelt er die für den Brandanschlag nötigen Utensilien in einem Paket unauffällig ins Haus und erwartet van Beeks Ankunft. Noch während sich der Mann im Haus befindet, legt Quentin den Brand, wohl wissend, dass man ihn van Beek zur Last legen wird. Die ersten Wogen gegen Dr. Zhou schlagen hoch, reichen jedoch nicht aus, um ihn zu Fall zu bringen. Ein zweiter
Kinderschänder’ bezeichneten.“ Frank blieb die Luft weg. * „Dr. Zhou!“ rief der Privatdetektiv. „Beantworten Sie mir noch eine Frage: Werden in dieser Klinik Blutproben von den Patienten aufbewahrt?“ Der Arzt rutschte vom Schreibtisch und massierte sich den Hintern. „Das trifft in der Tat zu. Wir nutzen sie für diverse Analysen. Aber ...“ „Ist es möglich, dass die Blutprobe von Walter Watson entwendet wurde?“ „Entwendet? Wer sollte sie weggenommen haben? Quentin?“ „Genau der! Doktor, bitte führen Sie mich auf der Stelle in den Raum, wo Sie die Proben aufbewahren.“ Der Arzt gehorchte schulterzuckend. Fünf Minuten, mehrere weiße Korridore und eine verriegelte Stahltür später hatte Frank Gewissheit. Sie standen vor dem Schrank mit den gefrorenen Blutproben. Jene von Walter Watson, dem General des Teufels, fehlte. * Nachdem sich Frank Quentins Adresse und ein Photo aus den Bewerbungsunterlagen hatte geben lassen, verließ er eilig die Klinik. Er sprang in seinen Mercedes und drückte aufs Gaspedal. Sein Weg führte ihn in den nördlichen Teil der Bronx, in die 223. Straße. Dort befand sich Quentin Sattlers Wohnung. Von der Klinik aus würde er in zehn Minuten dort sein. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Komplexe Zusammenhänge schälten sich wie durch Zauberei aus dem Nebel. Ein vierundzwanzigjähriger Pfleger in einer psychiatrischen Klinik geht ein Verhältnis mit einem Insassen ein. Dass es sich bei seinem Partner um einen Mann handelt, um einen Patienten und dazu noch um einen ehemaligen Kinderschänder, setzt Quentin Sattler einem enormen
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ein. Das vierstöckige Gebäude, in dem Sattler wohnte, unterschied sich in nichts von den Nachbarhäusern. Diese Wohngegend strotzte nicht vor Reichtum, versank jedoch auch nicht in Armut. Die Menschen, die sich hier angesiedelt hatten, konnten sich kein Eigenheim leisten, bezahlten aber pünktlich ihre Miete. Drei kleine Mädchen spielten vor den Treppenstufen mit einem Hüpfgummi. Zwei Jungs sahen ihnen zu und gaben ihren obligatorischen Spott dazu ab. Quentins Wohnung war das Penthouse. Frank hastete die Stufen empor. Unterwegs zog er den Colt aus der Schulterhalfter. Niemand begegnete ihm. Im Treppenhaus war es unerwartet dunkel, trotz des helllichten Tages. Im obersten Stock angekommen, verharrte Frank für einen Moment vor der Tür. Lauschte. Aus dem Inneren der Wohnung klangen aufgebrachte Stimmen, doch er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Lief der Fernseher? Oder war Quentin Sattler nicht alleine? Frank klingelte, und die Stimmen verstummten augenblicklich. Also kein Fernseher. Der Privatdetektiv hatte damit gerechnet, Sattler alleine anzutreffen. Er ging einen Schritt zurück und brachte die Waffe in Anschlag. Schritte näherten sich der Tür. Doch noch ehe sie geöffnet wurde, krachte ein harter Gegenstand auf seinen Hinterkopf, und er stürzte wie vom Blitz gefällt zu Boden. Jemand hatte hinter ihm gestanden und die Tür von Quentin Sattlers Wohnung bewacht ...
Hinweis auf das Sicherheitsrisiko, das Zhou darstellt, wird nötig. Der Zorn der Öffentlichkeit muss noch weiter gesteigert werden, ehe der Fall van Beek in Vergessenheit gerät. Eine Woche später schlägt Quentin daher erneut zu. Walter Watson in eine Kirche zu locken, ist unmöglich. Quentin weiß das. Watson wird nach seiner Entlassung in einer betreuten Wohneinheit leben, was es ausgesprochen schwierig macht, ihn unter einem Vorwand wegzulocken. Das Risiko, dass er bei seinen Betreuern Rat sucht, ehe er selbst etwas unternimmt, ist zu groß. Doch Quentin hat das Problem frühzeitig erkannt und bereits vorgesorgt, solange er noch Zugang zu den Blutproben in der Klinik hat. Er kümmert sich einen feuchten Kehricht darum, wo sich Watson zur Tatzeit aufhält. Entscheidend ist es, sich dem Opfer als Walter Watson vorzustellen und das Blut aus der Probe zu verspritzen. Die emsigen Leute in den forensischen Labors der Polizei werden Watsons Blut schon finden. Und er hat Glück. Watsons Blut wird nachgewiesen, und der ehemalige General des Teufels hat zur Tatzeit einen Spaziergang unternommen und kein brauchbares Alibi. Ein erschreckender Plan, den Quentin Sattler mit schockierender Zielstrebigkeit durchführt. Randalierende Menschenmassen vor der Jefferson Mental Clinic beweisen, wie gut der Pfleger die Reaktionen der Öffentlichkeit vorhergesehen hat. Heute sind alle Zeitungen voll von diesem Thema. Frank Reynolds trommelte ungeduldig auf das Lenkrad, als er vor einer roten Ampel fest hing. Er wusste nicht, ob Quentin plante, auch Rosetti einen Rückfall anzuhängen. Falls er das tat, würde ein minderjähriges Mädchen zum Opfer werden. Frank wollte alles tun, damit dies nicht geschah. Falls er Quentin nicht in seiner Wohnung antraf, musste er dafür sorgen, dass eine Großfahndung nach ihm eingeleitet wurde. Vier rote Ampeln später bog er mit quietschenden Reifen in die 223. Straße
* „Verzeihen Sie, wenn ich auch Ihnen diese Frage stellen muss, Reverend. Vorschrift ist Vorschrift. Also: Tragen Sie irgendwelche spitzen Gegenstände, giftigen Substanzen oder andere Objekte
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Beistand jetzt mehr als irgendjemand auf dieser Erde.“ Fünf Minuten später saß der schwergewichtige Kirchenmann dem Brandstifter gegenüber. „Ach, mein Sohn!“ sprach der Reverend noch einmal den Beamten an, der neben ihm stand. „Ist es möglich, dass Mr. van Beek diese Heilige Schrift übergeben wird? Sie passt nicht durch das Drahtgitter. Da sie geprüft und für unbedenklich befunden wurde ...“ „Natürlich, Reverend.“ Ein zweites Mal nahm der Officer die Bibel entgegen und verließ damit für einen Moment den Raum. Der Weg in die Kammer, in der sich der Häftling aufhielt, führte über den Flur und durch zwei Türen hindurch, zu denen der Beamte die Schlüssel hatte. Die beiden Männer würden mindestens dreißig Sekunden miteinander alleine sein. „Dringenberg“, sagte van Beek ungläubig. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Was wollen Sie hier? Und was soll diese Verkleidung?“ „Pater Douglas kommt, um Sie zu retten, van Beek.“ Der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte sich verändert, wirkte jetzt ernst und lauernd. „Ich habe Ihnen vergeben, keine Sorge, aber falls Sie sich selbst nicht vergeben haben sollten und ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorziehen, brauchen Sie nur fest auf den Umschlag dieser Bibel zu beißen. Im Inneren befindet sich eine in Plastik eingeschweißte Zyankali-Schicht. Die wird Ihnen helfen, alle Ihre Probleme zu lösen. Denn ein Leben in Freiheit wird Ihnen nun für immer versagt sein.“ „Warum ... tun Sie das für mich?“ Van Beek sah sich gehetzt um, doch vom Officer war noch nichts zu sehen. „Das Schicksal hat uns verbunden, van Beek.“ „Danke“, sagte der Häftling schnell. In diesem Moment betrat der Beamte den Raum und legte die Bibel vor van Beek ab. „So“, meinte der angebliche Geistliche salbungsvoll. „Nun wollen wir mal sehen, was die Heilige Schrift zu unserem Trost
bei sich, die geeignet sind, einen Suizid durchzuführen?“ Der Vollzugsbeamte, der am Vortag auch Frank Reynolds untersucht hatte, rasselte den auswendig gelernten Spruch herunter. „Warum fragst du mich das, mein Sohn?“ Der großgewachsene, massige Geistliche sah sein Gegenüber mit mildem Lächeln an. In der Rechten hielt der Kirchenmann eine kleine Bibel. „Tja, wissen Sie, Reverend, manche Leute versuchen eben, dem Häftling dabei zu helfen, sein ... sein Leben zu beenden.“ „Hältst du das auch für eine Möglichkeit, mein Sohn?“ „Na ja ... natürlich nicht ... ich meine ...“ „Mein Sohn!“ Wie ein Hammer fiel die gewichtige Pranke des Priesters auf die Schulter des Beamten. In seinem tadelnden Blick lag ein Vorgeschmack auf das Letzte Gericht. „Die Selbsttötung ist eine der größten Sünden vor dem Antlitz des Herrn.“ Der Beamte ließ den Kopf sinken. „Na, komm schon, mein Sohn, taste mich ab!“ Doppelt widerwillig nahm er die Inspektion des Geistlichen vor. Es war schon unangenehm, einen Reverend untersuchen zu müssen – die weichen Fettmassen unter dem dunklen Talar machten die Arbeit nicht leichter. Schweiß stand auf der Stirn des Mannes, als er die eher oberflächliche Kontrolle beendet hatte. „Hast du nicht noch etwas vergessen, mein Sohn?“ „Vergessen?“ Der Priester streckte dem Mann die Bibel entgegen. „Ein gutes Versteck für Nadeln und ähnliches Zeug, nicht wahr?“ „Ja, Reverend.“ Er nahm die Heilige Schrift entgegen, schüttelte sie, blätterte sie durch und prüfte die Bindung und den Umschlag. Zum Schluss fuhr er noch mit dem Metalldetektor darüber. Dann reichte er dem Geistlichen die Bibel zurück. „In Ordnung. Sie können jetzt mit Curt van Beek sprechen, Reverend.“ „Ich danke dir. Er braucht meinen
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Aber sind wir das nicht alle?“ Allmählich sah Frank klarer. Er saß an einem langen Tisch, der vornehm gedeckt war. Ein Weinglas und ein Wasserglas standen vor ihm, beide noch leer. Auf dem obersten von zwei Tellern lag ein Salatblatt mit zwei dünnen Tomatenscheiben und einem Tropfen French Dressing. Das gleiche Gedeck gab es noch einmal am anderen Ende des Tisches. Und dahinter saß eine junge Frau. Sie hatte ein hübsches Durchschnittsgesicht, das von einem gleichgültigen Ausdruck dominiert wurde. Weniger mit Durchschnitt hatte ihr aufwändiges Rüschenkleid zu tun, durch das sich Frank in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt fühlte. „Ich kenne Sie nicht“, war das erste, was er an seiner sperrigen Zunge vorbei herausbrachte. „Sie sind auch nicht gerade eine Sandkastenbekanntschaft von mir“, erwiderte die Frau mit einer Art gelangweilter Erheiterung. „Wer und was Sie sind, konnte ich Ihren Papieren entnehmen. Mein Gatte sagt, Sie sind ein gefährlicher Mann. Er sagt, man nennt Sie auch Mr. Bronx. Der Anstand gebietet es, dass ich mich Ihnen ebenfalls vorstelle. Mein Name ist Carrie Sattler. Beruf: Gangsterbraut.“ „Ein Job ohne Aufstiegschancen“, meinte Frank. Woher er den Galgenhumor nahm, wusste er nicht. Offenbar hatten sie ihn ihm nicht abgenommen, bevor sie ihn an die Stuhllehne fesselten – leider ganz im Gegensatz zu seiner Waffe und seinem Handy. Die wären ihm jetzt wichtiger gewesen. „Sagen Sie, Mr. Reynolds“, fuhr die junge Frau fort, ohne auf seine Spöttelei einzugehen, „haben Sie auch immer diese Krimis gehasst, in denen man verzweifelt mitdenkt und kombiniert, und am Schluss, wenn man den Mörder zu kennen glaubt, kommt alles ganz anders? Irgendjemand steigt vom Himmel herab und sagt: ‚Nein, in Wirklichkeit bin ich die uneheliche Tochter des Grafen, und der angebliche Eifersuchts-Mord geschah, um an die
anzubieten hat.“ Er lächelte den Officer durch das Drahtgitter an. * „Kommen Sie zu sich, Mr. Reynolds – oder wollen Sie Ihre Hinrichtung verschlafen?“ Eine ihm unbekannte Stimme. Sie gehörte einer Frau. Sein Schädel schmerzte, als habe jemand damit Fußball gespielt, zwei Halbzeiten plus Verlängerung. Sein Rücken war steif, gelähmt, nein, gefesselt. Gefesselt an die Lehne eines Stuhles, denn er befand sich in sitzendem Zustand. Als er die Augen öffnete, weigerten sich die Dinge, scharf zu werden. Immer wenn er glaubte, etwas erkannt zu haben, verlor es wieder den Fokus und rutschte in einen vagen Dunst grober Umrisse zurück. So musste sich jemand fühlen, der hochgradig kurzsichtig war. Frank war es nicht, und er wusste es, deshalb wusste er auch, dass es sich lohnen würde, an der Fokussierung zu arbeiten. „Sie glauben nicht, wie leid es mir tut, dass ein Mann wie Sie in die Sache verwickelt wurde. Eigentlich ging Sie das alles nichts an. Eine Privatangelegenheit.“ Frank bewegte seine Zunge, die trocken und staubig wie ein Brikett in seinem Mund hing und alles versperrte, was mit Atmen, Reden und Schmecken zu tun hatte. „Eine Privatangelegenheit, die einen Menschen das Leben gekostet hat, werden Sie vielleicht einwerfen, Mr. Reynolds. Korrekt. Deshalb haben wir auch dafür gesorgt, dass mein Bruder Quentin damit aufhört. Mein Mann schätzt es nicht, wenn Angehörige seiner Familie ins Gerede kommen. Andererseits, wirklich schade ist es um diesen Emilio Zardes nicht. Da geht mir schon mehr zu Herzen, was dem armen Küster geschah. Kaum zu glauben, dass mein sanfter kleiner Bruder so etwas angerichtet hat. Er ist auf eine ziemlich unangenehme Weise erwachsen geworden.
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Knoblauch sind.“ „Keine Vampire in meiner Familie“, meinte Frank und öffnete den Mund. Der Salat schmeckte lecker, aber er konnte ihn nicht genießen. „Was für ein mittelmäßiger kleiner Schnüffler Sie sind, Reynolds“, sagte Carrie. „Man sagt Ihnen, dass Quentin mit Rosetti erwischt wurde, und sie können an nichts anderes denken als an eine romantische Liebesnacht von Mann zu Mann. Haben Sie denn keine Phantasie?“ „Ich brauchte schon ziemlich viel Phantasie, um mir das vorzustellen“, feixte Frank. „Quentin hatte nichts mit Rosetti. Sie wissen gar nicht, wie absurd diese Vorstellung ist! Quentin hasst keinen Menschen mehr als Rosetti. Er brauchte nur etwas von ihm, etwas bestimmtes, und das konnte er sich eben nur auf diese Weise besorgen ...“ „Äh ... wer hat wem was besorgt?“ Für diese Frage kassierte Frank seine zweite Ohrfeige. Sie schmerzte noch mehr als die erste. Entweder, Carrie kam in Übung, oder sie baute allmählich Hemmungen ab. Ein dritter Schlag würde ihm aller Wahrscheinlichkeit nach den Wangenknochen brechen, wenn sie weiter solche Fortschritte machte. „Kommen Sie wirklich nicht drauf, Sie Stümper? Von van Beek hatte er die Telefonnummer – die reichte, um ihn herbeizuzitieren. Von Watson hatte er sich Blut besorgt – wichtig, um zu beweisen, dass der General des Teufels den Küster auf dem Gewissen hatte. Und jetzt strengen Sie mal Ihre grauen Zellen an: Was könnte er von Rosetti gebraucht haben, von einem verdammten Kinderschänder, um ihn ein für alle Mal als die schreckliche Bestie zu entlarven, die er wirklich ist ... dieses Monstrum ... diese ... elende Kreatur ...“ Carrie hatte sich von ihm abgewandt, während sie sprach, und als ihre Stimme versagte, klang es, als weine sie leise. Frank war irritiert. Der plötzliche Umschwung in ihren Emotionen passte nicht in das Bild, das die selbstbewusste
Erbschaft zu kommen.’“ „Ich verstehe, was Sie meinen“, sagte Frank etwas hilflos. Carrie Sattler erhob sich, kam auf ihn zu und streichelte sein Kinn. Sie trug mit Brillianten verzierte Handschuhe. „Ich nehme an, es ist eine Schmach für einen Privatdetektiv, die Lösung eines Falles auf diese Weise zu erfahren. Man muss sich doch schrecklich nutzlos vorkommen.“ „Es gibt schlimmeres“, erwiderte Frank, während sie mit der Hand seinen Hals hinab und unter sein Hemd fuhr. „Da wir gerade von schlimmerem sprechen: Sie werden sterben, Mr. Reynolds. Wir können nicht zulassen, dass Quentin Ihretwegen in den Knast wandert und unsere ganze Geschichte in der Öffentlichkeit breittritt. Sie hätten von Anfang an die Finger von der Sache lassen sollen.“ „Quentin Sattler hat also eine Schwester, die einen schweren Jungen geehelicht hat. Darf man fragen, wie schwer?“ „Mein Schatzi heißt C. C. Owen.“ „Der Drogenbaron?“ Frank pfiff durch die Zähne. „Dann herzlichen Glückwunsch nachträglich! Und? Kommt er nicht zu meiner ... Hinrichtung?“ „Er hat wichtigeres zu tun.“ „Da kann man nichts machen.“ „Interessiert es Sie nicht, was meinen Bruder Quentin dazu getrieben hat, diese unschönen Dinge zu tun? Deswegen haben Sie ihm doch nachgestellt.“ „Leider weiß ich das bereits. Er hatte eine Affäre mit einem Kinderschänder.“ Carrie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die richtig wehtat. „Mein Bruder ist nicht schwul!“ zischte sie. „Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste“, sagte Frank. Carrie nahm die Gabel, fuhr ihm damit beinahe lasziv über die Wange und stach dann in das Salatblatt auf dem Teller. Sie hielt es vor seinen Mund. „Essen Sie!“ „Vergiftet?“ erkundigte sich der Privatdetektiv. „Nur, wenn Sie allergisch gegen
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sie sich nicht. Wenigstens konnte er aufrecht gehen. Er trat gegen den Tisch und stieß ihn von sich. Carrie, die mit einer solchen Gegenwehr nicht gerechnet hatte, war nicht schnell genug außer Reichweite der Tischplatte und wurde voll erwischt. Mit einem scheußlichen Aufschrei bekam sie die Rundung des Holzes in die Seite, klappte förmlich über den Tisch und glitt dann zu Boden. Frank ging mühsam in die Hocke. Der Versuch, seine Fesseln an den Scherben auf dem Parkett aufzuscheuern, misslang. Die Scherben wichen aus, als seien sie von Eigenleben erfüllt. Eilige Schritte näherten sich von draußen. Mindestens zwei Männer rannten einen Korridor entlang auf die Tür zu, die in dieses Zimmer führte. Frank entdeckte eine winzige Kamera an der Zimmerdecke. Man hatte beobachtet, was in diesem Raum geschah. Frank Reynolds wusste, dass sein Leben in den nächsten Sekunden vorüber sein konnte. Sobald die Tür aufging, würde er – unbewaffnet und gefesselt – mehreren mit Schusswaffen ausgestatteten Männern gegenüberstehen. Dann war Ultimo für Mr. Bronx, den sympathischen Detektiv aus der Washington Avenue. Frank ließ sich auf die Knie kippen. Er hatte eine Idee. Wenn sie misslang, war er so gut wie tot. Vor ihm auf dem Parkett lagen die Scherben der beiden Gläser. Frank setzte sich auf den Boden und nahm so viele Scherben mit den auf den Rücken gefesselten Händen auf, wie er in der Eile erreichen konnte. Die Hälfte der Scherben verbarg sich in seinen geballten Fäusten, als sich die Tür öffnete. Selbst einem abgebrühten Kerl wie ihm brach der kalte Schweiß aus angesichts des riskanten Manövers. Er hatte sich geschnitten. Damit kein Blut zu Boden tropfte, schloss er die Fäuste noch fester – und brachte sich dabei weitere Verletzungen bei.
junge Frau von sich präsentierte. Die grausame Kälte, die sie eben noch an den Tag gelegt hatte, war verschwunden. Sie senkte den Kopf, wischte sich etwas aus den Augen, ging zurück zu ihrem Stuhl, taumelte dabei mehr als sie ging. „Sperma“, sagte Frank leise. „Wenn Ihr Bruder vorhatte, auch einen Rückfall von Rosetti vorzutäuschen, brauchte er dessen Sperma.“ Der Gedanke war Wahnsinn! Quentin Sattler musste Rosetti befriedigt haben, um an dessen Sperma zu kommen. Wenn er es am Körper seines Opfers zurückließ, würde kein Gericht der Welt den Kinderschänder freisprechen. „Aber dazu hätte Quentin ein junges Mädchen ...“ Frank sprach den Satz nicht zu Ende. „Er brachte es nicht über sich“, schluchzte Carrie und gab sich alle Mühe, das Weinen zu unterdrücken. „Er konnte es einfach nicht tun.“ Frank Reynolds hätte gerne noch mehr gehört, aber er wusste, dass dies der Moment zum Handeln war. Das Seil, das ihn an den Stuhl fesselte, war so sorgfältig in den Verstrebungen der Lehne verknotet, dass er nicht einfach herausrutschen konnte. Es blieb nur eine Möglichkeit. Mr. Bronx sprang mitsamt dem Stuhl auf. Für den Bruchteil einer Sekunde stand er in gebückter Haltung da, den Stuhl auf dem Rücken, wie ein Kuli eine Last trug. Mit aller Kraft wirbelte er um die eigene Achse, so dass die Stuhlbeine gegen den Tisch krachten. Carrie schrie auf und sprang zurück. Zwei der vier Stuhlbeine brachen und flogen wie Geschosse davon. Frank drehte sich ein zweites Mal, noch verbissener, noch kraftvoller als zuvor. Er stieß sich die Hüfte an dem Tisch und brüllte den glühenden Schmerz hinaus, doch gleichzeitig zerschmetterte er die Sitzfläche in zahllose Teile. Lediglich die Lehne hing nun noch auf seinem Rücken, und seine Arme waren daran befestigt. Teller und Gläser waren vom Tisch geschleudert worden. Verbissen zerrte er an den Fesseln, doch noch lösten
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Als der zweite Mann sich über Carrie beugte, war der Moment der Wahrheit gekommen. Frank wirbelte ansatzlos herum und ... ... schleuderte die Glasscherben mit aller Macht von sich. Er hatte auf die Augen des Mannes gezielt, der nun keine drei Schritte mehr von ihm entfernt war. Es funktionierte! Die Splitter schossen auf das Gesicht des Mannes zu. Nicht schnell genug – Gott sei Dank, um sich in seine geöffneten Augen zu bohren, aber schnell genug, um sein Gesicht zu erwischen, als er sich vollkommen überrascht zur Seite drehte. Die Innenseiten von Franks Händen waren zerschnitten, und Blut spritzte gemeinsam mit den Scherben hinaus. Er bot ein Bild wie aus einem Splatter-Film. Ohne seinem Gegner eine Sekunde Reaktionszeit zu lassen, sprang Frank nach vorne und riss ein Bein hoch. Sein Fuß traf den Revolver in der Hand des Mannes, der für einen Augenblick abgelenkt war. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, sich um den zweiten zu kümmern. Der war bereits herumgewirbelt und legte auf den Detektiv an. Doch dieser musste einfach zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Dem ersten Kerl, der gar nicht wusste, ob er sich die schmerzende Hand oder das Gesicht halten sollte, in dem einige Glassplitter steckten, trat er mit aller Kraft in den Magen, dass dieser zusammenklappte. Es ging so schnell, dass der Bursche keine Gelegenheit mehr hatte, sich abzufangen. Er krachte zu Boden wie ein unkoordinierter Haufen Knochen, schlug sich den Kopf an und blieb benommen liegen. Der zweite Angreifer konnte nicht anders als abzudrücken. Frank sah, wie sich der Zeigefinger krümmte, und ließ sich fallen. Der Schuss bellte, und das Projektil bohrte sich über ihm in die Wand. Der Revolver lag keinen Meter entfernt auf dem Parkett, doch Franks Hände waren noch immer auf dem Rücken zusammengebunden. Er registrierte, dass
Zwei Männer standen im Raum – kräftige Burschen. Jeder von ihnen hielt einen Revolver auf ihn gerichtet. Noch immer kauerte er neben den Scherben. Sein einziger Vorteil war, dass die beiden nicht gesehen hatten, was er in den letzten Sekunden getan hatte. Da waren sie schon unterwegs gewesen. „Aufstehen!“ brüllte einer der beiden. Schwankend erhob sich Frank aus seiner Haltung. Der Kerl wusste zweifellos, dass er versucht haben musste, mit den Scherben seine Fesseln zu öffnen. „Umdrehen!“ befahl er daher. Er wollte sicherstellen, dass die Seile noch intakt waren. Frank tat ihm den Gefallen und drehte sich langsam, wie ein Model auf dem Laufsteg, um die eigene Achse. Offenbar gab es nichts zu beanstanden. Kein Blut war zu sehen. Das würde sich in den nächsten Sekunden ändern. Frank fühlte die warme Nässe. Der Blutpegel im Inneren seiner Fäuste stieg an – ein widerwärtiges Gefühl. „Da, an die Wand!“ Der nächste Befehl. Ein besonders unangenehmer. An die Wand stellte man Leute, um sie zu exekutieren. In diesem Fall würde es nicht anders sein. Frank ließ die beiden keine Sekunden aus den Augen. Solange sie nebeneinander standen, hatte er keine Chance. Erst wenn einer dem anderen die Sicht versperrte, konnte er seinen Angriff wagen. In seinen Fäusten knirschte es. Er spürte die scharfe Kante einer großen Scherbe gegen seine Handinnenfläche drücken. Verdammt, sie mussten bemerken, wie merkwürdig er seine Hände hielt! Dass er mühsam die Schmerzen verbarg! Während einer der Männer die Waffe auf ihn gerichtet hielt und ihm im Abstand von drei Schritten folgte, machte der zweite Anstalten, sich um Carrie Sattler zu kümmern. Die junge Frau lag keuchend und würgend auf dem Boden und schien sich übergeben zu wollen. Der Tisch hatte ihr möglicherweise eine Niere gequetscht oder etwas ähnliches ...
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Ein Sprung in die Freiheit erschien als verlockende Möglichkeit, konnte ihn jedoch umbringen. Auch der Hof unter dem Fenster war mit Ziegeln ausgelegt. Fieberhaft versuchte er, seine Fesseln an den im Fensterrahmen zurückgebliebenen Scherbenstücken zu zerschneiden. Ehe es ihm gelingen konnte, tauchten zwei neue Männer am Ende des Flurs auf. „Ich bin unbewaffnet!“ schrie Frank. „Und gefesselt.“ „Wen interessiert das schon?“ lachte einer der beiden und legte auf ihn an. „Ich kann es beweisen!“ Mit dieser unverschämten Lüge drehte sich Frank blitzschnell um und drückte mit jeder Hand sechs Mal blind in den Korridor ab. Beide Angreifer gingen zu Boden. Er musste durch dieses Fenster. In den unteren Stockwerken würden mehr Aufpasser bereitstehen, da war er ganz sicher. „Komm schon! Komm schon!“ presste er zwischen den Zähnen hervor. Noch immer steckten Splitter in seinen Fingern, und das bloße Festhalten der Waffen bereitete ihm höllische Schmerzen. Mit einem Ratschen kapitulierte das Seil vor dem scharfen Fensterglas. Sich wild schüttelnd und windend befreite sich der Detektiv von seinen Fesseln. Die leergeknallten Revolver warf er zu Boden, die Waffen der beiden letzten Gegner nahm er an sich und verstaute sie in seinen Gesäßtaschen. Nun ging es an den Abstieg. Mauervorsprünge von kaum zehn Zentimeter Breite zogen sich auf jedem Stock rund um das Haus. Seine blutüberströmten, zerschundenen Finger konnten kaum richtig zugreifen. Doch es musste sein. Er stieg durch die zerschmetterte Scheibe, stellte sich auf den Absatz. Es war vollkommen windstill, selbst in dieser Höhe. Kein Regen peitschte auf ihn ein, kein Sturm zerrte an ihm, und doch war es ein schreckliches Gefühl. Irgendwo musste es eine Feuerleiter geben. Irgendwo. Wenn er das Haus einmal umrundete, musste er
seine Füße gegen die Wand stießen. Im nächsten Moment stieß er sich mit aller Kraft davon ab und schoss wie ein Schlitten über die polierten Dielen. Ohne Rücksicht auf Verluste krachte er Kopf voraus gegen die Beine des Mannes und brachte ihn zu Fall. Laut ächzend arbeitete sich Frank in die Höhe. Kaum war er auf den Beinen, regten sich die beiden Kerle auf dem Boden wieder. Frank tat etwas, was er zutiefst verabscheute und was ihm jedes Mal Albträume bereitete. Doch in dieser Sekunde ging es um das nackte Überleben. Er schlug den Burschen mit dem Absatz seines Schuhs voll ins Gesicht. Den einen schickte diese Behandlung ins Reich der Träume, den anderen beschäftigten zwei abgebrochene Zähne so sehr, dass er vergaß, nach der davon geschlitterten Waffe zu greifen. Frank ging in die Hocke und bediente sich. Einen Revolver nach dem anderen nahm er mit den auf dem Rücken fixierten, blutigen Händen auf. Ein Hollywood-Held hätte die Waffen vielleicht abgefeuert und sich blind die Fesseln durchschossen – doch in der Realität lief ein solcher Versuch auf Selbstmord hinaus. Und dazu hatte Mr. Bronx keine Lust. Nicht nach den Mühen, die er in den letzten Sekunden in dieses Leben investiert hatte. Die Gangsterbraut lag noch immer wimmernd am Boden und würde keine Gefahr mehr darstellen. Frank hastete aus dem Zimmer. Der Flur, der sich anschloss, machte eine Biegung nach links. Niemand war zu sehen. Am Ende des Flurs gab es ein Fenster. Der Detektiv warf einen Blick hindurch und stellte fest, dass er sich im dritten oder vierten Stock eines Ziegelhauses befand. Es war keine schöne Gegend, und dieses Gebäude erinnerte ihn an eine leerstehende Fabrik. Eines der vielen Gebäude offenbar, in denen sich der Drogenbaron C. C. Owen eingenistet hatte. Mit dem Fuß zertrat Frank die Scheibe.
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zurück und klammerte sich beim Vorwärtsschwung mit den Beinen an der Leiter fest. Ächzend kroch er auf die Oberseite. Kaum fühlte er das Metall unter den Füßen, zog er eine der beiden Revolver. Unter ihm tauchte jemand auf. Frank drückte ab und erwischte ihn an der Schulter. So schnell er konnte, stürzte der Privatdetektiv die Feuerleiter hinab, und sich immer wieder umblickend jagte er hinaus aus dem Hof bis zur nächsten Straße. Niemand folgte ihm. Dem ersten Passanten entriss er grob das Handy und alarmierte die Polizei. Wenige Minuten später war der Block umstellt.
darauf stoßen. Hundert Meter auf zehn Zentimetern. Fast schon eine Rechenaufgabe. Frank krallte seine Hände in die Wand, suchte Räume zwischen den Ziegeln. Er presste sich so fest gegen die Mauer, dass er sich kaum rühren konnte. Er hatte die Wahl: entweder einen sicheren Stand behalten oder sich von der Stelle bewegen. Beides zusammen war nicht möglich. Zentimeter für Zentimeter schob er sich über die Wand. Er versuchte sich vorzustellen, sie breite sich horizontal unter ihm aus. Es half. Er erreichte die Ecke – den schwierigsten Teil. Ein Blick um die Ecke verriet ihm, dass die Feuerleiter schon fast in Reichweite war. Glück gehabt. Ausnahmsweise Glück gehabt. Sobald er die Ecke hinter sich gebracht hatte, waren es noch zwei Meter. Machbar. Jemand beugte sich aus dem Fenster, durch das er ausgestiegen war. Einer der Männer, die er mit seinen Absätzen gefüttert hatte. Die Nase des Gegners war eine blutige Masse. Der Junge musste einen der leeren Revolver aufgelesen haben – ob er ihn mit frischer Munition geladen hatte, entzog sich Franks Kenntnis. Eine interessante Variante des russischen Rouletts ... Frank wusste, dass er seine Waffe nicht ziehen durfte. Er brauchte beide Hände, um sich an der Wand festzuhalten. Jetzt gab es nur eines, wenn er überleben wollte. Er stieß sich in Richtung Feuerleiter ab. Alle Kraft legte er in den Sprung, streckte die Arme aus und ... Die Linke verfehlte die Sprosse, die Rechte erwischte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte sein ganzes Körpergewicht plus der Schwung des Sprunges auf eine Hand. Die Sehnen schienen zu reißen. Sofort griff er nach, biss die Zähne zusammen und presste die Augenlider aufeinander. Beide Hände umgriffen jetzt die Sprosse, doch das Blut machte sie glitschig, und er musste mehrmals nachfassen. Er pendelte
* Als man Frank nach einstündiger Behandlung aus dem Behandlungszimmer der Ambulanzstation entließ, wartete ein alter Bekannter im Vorzimmer auf ihn. Captain Phil Stuart sah so besorgt aus wie lange nicht mehr. Behutsam führte er Frank Reynolds aus dem Krankenhaus ins Parkhaus zu seinem Wagen und startete. „Üble Sache, Frank“, sagte er immer wieder. „Üble Sache.“ Der Privatdetektiv hob hilflos grinsend die Hände. Von den Handgelenken an steckten sie in weißen Verbänden. Er legte sie auf seinen Schoß wie zwei Fremdkörper. „Du musst mir alles erzählen“, bat Phil. „Ich habe noch immer nicht alles begriffen.“ „Hast du ...?“ begann Frank. „Im MDC angerufen? Ja, ist schon erledigt. Curt van Beek und Walter Watson wissen, dass man sie nicht mehr für schuldig hält. Denen wird ein Stein vom Herzen gefallen sein. Auch die Beschattung von Pietro Rosetti habe ich abgebrochen. Quentin Sattler wurde festgenommen, ebenso sein Schwesterherz Carrie und all die Burschen, die sich in dem Haus aufhielten, wo man versuchte, dich zu ...“ Der Captain räusperte sich.
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Maskottchen für schwere Jungs wurde. Diesen Abstieg seiner Schwester beobachtete Quentin, und da er kein Dummkopf war, wusste er, wo die Ursache für ihrer beider verkorkstes Leben lag. Das Wissen, dass ein zu Unrecht auf freien Fuß gesetzter Kinderschänder das Leben seiner Schwester und sein eigenes zerstört hatte, entfachte einen glühenden Hass auf pathologische Verbrecher in ihm – und auf jene, die sie leichtfertig für geheilt erklärten. Er begann sich für psychiatrische Anstalten zu interessieren und trat mit zwanzig Jahren seine erste feste Anstellung in der Jefferson Mental Clinic an. Dort fühlte er sich in seinem Element und arbeitete zur Zufriedenheit aller. Die Tatsache, dass ausgerechnet Pietro Rosetti dort behandelt wurde, fesselte ihn geradezu an diesen Ort, denn er war besessen von dem Gedanken, sich eines Tages an dem Mann zu rächen, zumindest aber dafür zu sorgen, dass er in seinem Leben keine dritte Chance bekommen würde, ein Mädchen zu missbrauchen. Hätte bei seiner Einstellung irgendjemand einen Zusammenhang zwischen Quentin und Rosetti hergestellt – einen simplen Zusammenhang namens Carrie Sattler -, hätte man ihm die Stelle niemals gegeben. Doch niemandem war aufgefallen, dass der neue Pfleger der Bruder von Rosettis letztem Opfer war. Vor etwa sechs Wochen mussten Quentin zwei Nachrichten wie ein doppelter Schlag ins Gesicht getroffen haben. Rosetti sollte als geheilt entlassen werden, und seine Schwester Carrie informierte ihn über ihre Hochzeit mit einem der meistgesuchten Gangsterbosse New Yorks. Quentin, der endlich ein Ziel vor Augen gehabt hatte, wurde erschüttert. Der Hass auf Rosetti und alle geistesgestörten Verbrecher kannte kaum noch Grenzen. Er beschloss, einen Rückfall für Rosetti zu inszenieren, kaum dass dieser die Anstalt verlassen haben würde – einen Rückfall, der sein letzter sein würde. In einem
Frank Reynolds nickte müde und zufrieden. Die Gefahr war gebannt. Natürlich hatte man Carries Gatten, den Drogenbaron C. C. Owen, nicht schnappen können. Aber darum ging es im Augenblick auch nicht. Man hatte seine frischgebackene Ehefrau, und vielleicht konnte man diese nutzen, um ihm irgendwann einmal eine Falle zu stellen. In der folgenden Zeit wurden einige Ermittlungen über Quentin und Carrie Sattler angestellt, und zwei Tage später lagen endlich die Hintergründe dieses bizarren Falles komplett auf dem Tisch. Eine einzige Information stand im Zentrum der schrecklichen Ereignisse – der Ausgangspunkt von Quentin Sattlers grässlichen Verbrechen. Wäre man früher auf diese winzige Information gestoßen, wäre der Fall von Anfang an durchsichtig und klar gewesen, und das Grauen hätte sich mit Sicherheit abwenden lassen. Der Grund für die Vorfälle war entsetzlich einfach: Das minderjährige Mädchen, das Pietro Rosetti vor dreizehn Jahren vergewaltigt hatte, war niemand anderes als Carrie Sattler gewesen! Damals war sie gerade zwölf Jahre alt gewesen, ihr Bruder Quentin elf. Das Verbrechen hatte sich in der elterlichen Wohnung abgespielt, als Carrie und ihr Bruder sich alleine zuhause aufhielten. Mit ansehen zu müssen, wie seine Schwester brutal missbraucht wurde, hatte in Quentin tiefe seelische Wunden hinterlassen. Er war in seiner Entwicklung schwer geschädigt worden, brach die Schule ab und hangelte sich schon mit Fünfzehn von einem Aushilfsjob zum anderen. Unter anderem war er bei dem Paketdienst Parcel-By-Parcel gewesen, doch auch dort hatte er es nur wenige Wochen ausgehalten. Auch seine Schwester fand den Weg in die Normalität nicht mehr. Sie fiel durch zahllose kleinere Verbrechen, meist Diebstähle auf, ging auf den Babystrich und schraubte sich immer tiefer in Unterweltkreise hinein, wo sie zu einer Art
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mochte hoch gesteckt sein für einen Mann, der nicht einmal seine Schulausbildung beendet hatte. Doch wie die Ausschreitungen vor der Jefferson Mental Clinic zeigten, war er nur einen winzigen Schritt davon entfernt gewesen, sein Utopia in die Wirklichkeit umzusetzen. Zwei Personen hatten ihn zu Fall gebracht, ehe seine Kampagne von Erfolg gekrönt werden konnte: Frank Reynolds, der ihm auf die Schliche kam. Und letztlich er selbst. Denn obwohl er keine Skrupel gehabt hatte, einen Menschen in den Flammen des Hauses in der Perry Avenue zu opfern, und obwohl er den unschuldigen Küster Marvin Smokes auf brutalste Weise zugerichtet hatte, war es ihm nicht gelungen, sich an einem minderjährigen Mädchen zu vergehen. Immer wieder war er – das Röhrchen mit dem eisgekühlten Sperma Pietro Rosettis in der Tasche – durch die Stadt gezogen und hatte Mädchen belauert, beobachtet und verfolgt. Doch er hatte es nicht tun können. Er brachte es nicht übers Herz, einem fremden Mädchen dasselbe anzutun, was Rosetti seiner Schwester angetan hatte. Letztlich war sein Mitleid größer gewesen als sein Hass. Und vielleicht tröstete ihn dieser Gedanke ein wenig in den endlosen Jahren seiner lebenslangen Haftstrafe ...
homoerotischen Akt gelang es ihm, Rosettis Sperma zu erbeuten. Dummerweise verpfiff ihn Rosetti, und Quentin musste die Klinik verlassen. Von diesem Moment an kannte er nur noch ein Ziel: Er musste dafür sorgen, dass sich die Stimmung im Lande änderte. Geisteskranke Verbrecher mussten ihr Leben hinter hohen Mauern beenden, ganz gleich, wie sie sich während der Behandlung entwickelten. Er durfte nicht zulassen, dass anderen Menschen widerfuhr, was seiner Schwester Carrie zugestoßen war. Innerhalb des kommenden Monats sollten drei Männer entlassen werden: Rosetti, van Beek und Watson. Wenn es ihm nur gelang, innerhalb kurzer Zeit für jeden der drei einen Rückfall zu simulieren, dann würde das amerikanische Volk auf die Barrikaden gehen und schärfere Gesetze erzwingen. Eine Welle der Entrüstung würde durch New York und die gesamten Vereinigten Staaten gehen, mit dem Ergebnis, dass in Zukunft Menschen wie Rosetti niemals mehr auf die Gesellschaft losgelassen würden. Quentin ging es in keiner Sekunde darum, sich selbst zu bereichern. Er sah sich als einen Helden, als den Initiator einer Revolution, die den Menschen eine bessere, sicherere Welt bringen würde. Das Ziel, den schwelenden Hass in der Bevölkerung zur Explosion zu bringen,
Tja. Je älter man wird, desto weiter schraubt man seine Erwartungen herunter, was einen glücklichen Ausgang eines Kriminalfalles ausgeht. Man kapiert irgendwann, dass nicht alle Leute, auf die man geschossen hat, wieder aufstehen, dass nicht alle, die Besserung geloben, auf den rechten Weg finden und dass nicht jeder, der in diesem speziellen Fall unschuldig war, auch bis zu seinem Tode unschuldig bleibt. Diesmal bin ich froh darüber, dass Dr. Steve Zhou – ein erstklassiger Arzt, wie ich glaube – seinen Ruf reinwaschen konnte. Ich bin froh, dass Curt van Beek vom Beweis seiner Unschuld erfuhr, ehe er sich mit der präparierten Bibel das Leben nehmen konnte. Ich bin sogar heimlich froh, dass Douglas Dringenberg für den Versuch, van Beeks Suizid zu ermöglichen, nur eine Bewährungsstrafe erhielt und wieder zu seiner kleinen heilen Welt der historischen Uniformen und Zierkarpfen zurück fand, wo er bis zu seinem Tode keine Gefahr für die Gesellschaft sein wird. Erleichtert bin ich, dass sich Marvin Smokes von seinen schweren Verletzungen erholt hat und dass ich keinen der Handlanger des Drogenbarons tödlich getroffen habe, auch wenn
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einige Zahnarztrechnungen sich in astronomischen Höhen bewegt haben müssen ... Ich bin ein wenig stolz darauf, Karen van Beeks Auftrag zu ihrer Zufriedenheit erledigt zu haben – und das, wohlgemerkt, ohne ihr Kosten zu berechnen ... Nicht sehr glücklich kann ich über die Tatsache sein, dass Jahre nach Abschluss des Falles immer öfter so getan wird, als hätten die Herren Rosetti, van Beek und Watson damals tatsächlich Rückfälle erlitten. In der Erinnerung der Menschen verändert sich vieles – die Wahrheit vermischt sich mit der Lüge und bildet einen schwer verdaulichen Brei. Dagegen helfen keine Detektive und keine Revolver. Carrie Sattler verlor ich aus den Augen. Und so kann ich nicht sagen, ob dieses erste Opfer in der Kette der Gewalttaten noch immer ihrer kitschigen Gangsterromantik anhängt, ob sie ein Leben abseits von Drogenbaronen und Unterweltbossen gefunden hat oder ob sie längst im Schmutz des Verbrechens untergegangen ist. Ich hoffe, dass jede der pathetischen Hinrichtungen, die sie in ihrem Leben durchführte, bei der Vorspeise endete, wie das glücklicherweise bei mir der Fall gewesen war ... ENDE
Im Oktober erscheint Mr. Bronx Nummer 8: „Endstation Bronx“ von Thomas Knip
Mr. Bronx erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D-32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei Alfred Wallon und vph. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
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