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Von Arthur W. Upfield sind erschienen:
Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
Arthur W. Upfield
Mr. Jellys Geheimnis Murder Down Under Kriminalroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN KRIMI VERLAG AG WOLLERAU/SCHWEIZ
Die Hauptpersonen des Romans sind: Inspektor Napoleon Bonaparte Sergeant John Muir Leonard Wallace Lizzie Wallace George Loftus Mavis Loftus Mick Landon Eric Hurley Bob Jelly Lucy Jelly Dulcie ›Sunflower‹ Jelly
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wird von seinen Freunden ›Bony‹ genannt aus Perth Hotelbesitzer seine Frau Farmer seine Frau Farmarbeiter Grenzreiter Farmer seine Töchter
Der Roman spielt im Weizengebiet Westaustraliens.
Made in Germany • III • 31142 © by Arthur W. Upfield. Aus dem Englischen übertragen von Heinz Otto. Ungekürzte Ausgabe. Alle Rechte, auch die der fotomedianischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf von Eduard Böhm. Gesetzt aus der Linotype-GaramondAntiqua. Druck: Presse-Druck Augsburg. KRIMI 2141 • ze/Str ISBN 3-442-02141-3
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W
enn doch schönes Wetter gewesen wäre! Wenn es doch in der Nacht vom 2. zum 3. November nicht geregnet hätte! Wirklich Pech, daß ausgerechnet in dieser Nacht sieben Millimeter Niederschlag fallen mußten. John Muir schlenderte in Perth durch die Hay Street, doch er beachtete weder den hektischen Verkehr noch den dichten Strom der Fußgänger. Er hatte versagt, und das bedrückte ihn. Der Durchschnittsmensch nimmt es nicht weiter tragisch, wenn er einmal versagt, doch in Muirs Beruf muß man Erfolg haben, um befördert zu werden. Wenn man aber gleich zweimal hintereinander versagt hatte, drohte sogar das Gespenst der Strafversetzung. Sergeant Muir sah durchaus nicht so aus, wie man sich einen Kriminalbeamten vorstellte – er hatte weder ein Bulldoggengesicht noch einen Stiernacken. Er war knapp über Vierzig, hatte rotes Haar und ein rotes Gesicht. Der Sergeant war so tief in Gedanken versunken, daß er nicht bemerkte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. »Folgen Sie mir unauffällig!« sagte eine leise Stimme. Wie oft schon hatte er selbst diese Worte gesprochen. Sie überraschten ihn nicht weiter – wohl aber die altbekannte Stimme. Sein finsteres Gesicht hellte sich auf. Er fuhr herum, packte die Hand, die auf seiner Schulter lag, und blickte in strahlend blaue Augen in einem dunkelbraunen Gesicht. »Bony! Ist es die Möglichkeit!« »Sie machen ein Gesicht, als würde man Sie zur Richtstätte führen«, meinte Inspektor Napoleon Bonaparte. »Warum so bekümmert an diesem herrlichen Morgen?« »Wo waren Sie in der Nacht des zweiten November?« wollte John Muir wissen, und seine grauen Augen blitzten spöttisch. 5
»Am zweiten November? Lassen Sie mich überlegen. Hm – ich war zu Hause in Banyo, bei Frau und Kindern. Ich las –« »Hat es in dieser Nacht geregnet?« unterbrach ihn Muir ungeduldig. Diesmal brauchte Bony nicht erst nachzudenken. »Nein, es war schönes, kühles Wetter.« »Dann möchte ich wissen, warum es ausgerechnet in Burracoppin regnen mußte!« »Diese Frage kann ich Ihnen allerdings nicht beantworten.« Sergeant Muir packte Inspektor Napoleon Bonaparte am Arm und steuerte ihn über die Straße. Ein Polizeiwachtmeister, der den Vorfall beobachtete, nahm an, daß der Sergeant den Mischling abführen wollte. Um so überraschter war er, als die beiden in einer Teestube verschwanden. Sie hatten Glück und fanden einen leeren Ecktisch. »Die Tatsache, daß es in einer bestimmten Nacht an einem bestimmten Ort geregnet hat, scheint Ihnen Kummer zu bereiten«, stellte Bony fest, nachdem Tee und Gebäck serviert worden waren. »Was machen Sie eigentlich hier?« fragte Muir besorgt. »Ich warte darauf, daß Sie mir endlich Tee einschenken.« Bonys blaue Augen funkelten, und die weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht. Das schwarze, tadellos frisierte Haar glänzte wie Ebenholz. »Also, was treiben Sie hier im Westen?« fragte Muir nochmals. »Ungeduldig wie immer, John. Fragen über Fragen! Dabei habe ich mir bei Ihrer Ausbildung ganz besondere Mühe gegeben – über acht Jahre lang. Sie haben das Glück, nicht wie ein Polizeibeamter auszusehen, und doch verraten Sie Ihren Beruf sofort durch übertriebene Fragerei.« John Muir lachte. »Ich bin froh, daß wir uns getroffen haben, Bony. Seit Tagen wünsche ich mir nichts sehnlicher als mit Ihnen sprechen zu können, und schon sind Sie da! Doch nun sagen Sie endlich: Wieso sind Sie ausgerechnet dann in Perth, wenn ich Sie dringend brauche?« »Eben deshalb bin ich hier – weil Sie mich brauchen.« »Sie wußten es? Woher?« »Im Fall Gascoyne haben Sie ganz schön gepatzt, wie?« brummte Bony vorwurfsvoll. 6
»Ich fürchte – ja.« Bony starrte auf seinen Teller. »Obwohl ich mir bei Ihrer Ausbildung größte Mühe gab, haben Sie einen Bach durchquert, ohne vorher festzustellen, wie tief er ist. Sie haben sich auf Ihr Gefühl verlassen, statt logische Schlußfolgerungen zu ziehen. Sie haben die wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden und unseren größten Verbündeten, die Zeit, ignoriert. Und auf diese Weise haben Sie Greggs verhaftet. Peinlich, wie?« John Muir stöhnte. »Sie sehen, John, ich habe Sie nicht aus den Augen gelassen.« Bony musterte den Sergeanten, über dessen Gesicht ein Schatten dumpfer Verzweiflung glitt. »Wenn in einer Hose Blutflecken sind, steht noch lange nicht fest, daß es sich um menschliches Blut handelt. Gewiß, Sie konnten nicht wissen, daß Greggs Schafe stahl und den Metzger mit billigem Fleisch versorgte, aber Sie hätten auf jeden Fall zunächst feststellen müssen, ob es sich um menschliches oder um tierisches Blut handelte. So aber ließen Sie Andrews entwischen!« »Ich weiß, ich war ein Riesennarr!« »Kein Narr, John, nur voreilig. So, und nun, erzählen Sie mir, warum Ihnen das Wetter in der Nacht zum dritten November solchen Kummer bereitet.« Das Gesicht des Sergeanten hellte sich auf. Er zog die Brieftasche heraus, entnahm ihr eine Skizze und legte sie vor Bony auf den Tisch. »Hier ist ein Plan von Burracoppin, einem kleinen Städtchen im Weizengebiet – hundertachtzig Meilen östlich von Perth«, erläuterte der Sergeant. »George Loftus, ein Farmer, hielt sich acht Tage lang in Perth auf – geschäftlich und auch, um sich zu amüsieren. Der Hotelier von Burracoppin, Leonard Wallace, traf Loftus am Nachmittag des ersten November hier in Perth. Loftus hatte alles erledigt und bot Wallace an, ihn am nächsten Tag im Auto mitzunehmen. Sie fuhren um zehn Uhr los, und da Loftus keinen sehr schnellen Wagen besaß, kamen sie erst gegen zehn Uhr abends vor dem Hotel von Wallace an. Nach dem Abendessen gingen sie zur Bar und tranken bis ein Uhr. Wallace gibt an, daß sie zu diesem Zeitpunkt beide ganz schön blau waren. Als sie vor das Hotel traten, regnete es in Strömen, und Wallace drängte Loftus, bei ihm zu übernachten. Aber der Alkohol hatte Loftus 7
stur gemacht. Er wollte unbedingt nach Hause fahren. Da entschloß sich Wallace, ihn zu begleiten. Er sagte rasch seiner Frau Bescheid. Nach ihren Angaben fuhr das Auto zehn Minuten nach eins ab.« Muir tippte mit einem Bleistiftstummel auf den Plan. »Sie fuhren zunächst die Main Road in östlicher Richtung. Bei der Garage hätte Loftus nach Süden abbiegen müssen, um zur Old York Road zu gelangen, auf der es dann eine Meile bis zum Kaninchenzaun gewesen wäre. Aber Loftus fuhr geradeaus weiter, parallel zur Eisenbahn, und Wallace machte ihm ein paar gutgemeinte Vorhaltungen, weil diese Straße voller tiefer Schlaglöcher ist. Nach einer Viertelstunde – sie hatten die ganze Zeit gestritten – hielt Loftus an und forderte Wallace auf, auszusteigen. Dann fuhr er allein weiter. Nach ungefähr einer Meile kam er zum Kaninchenzaun. Dort mußte er nach Süden abbiegen, am Zaun entlangfahren und die Old York Road überqueren. Nach einer weiteren Meile hätte er das Tor zu seiner Farm erreichen müssen. Er kam aber nie zu Hause an. Er fuhr vielmehr – vermutlich durch den heftigen Regen in der Sicht behindert – durch das geschlossene Tor des Kaninchenzaunes. Beim Zurückstoßen geriet er mit den Hinterrädern in den tiefen Graben, in dem die staatliche Wasserleitung verlegt ist. Der Wagen wurde dabei natürlich beschädigt, und Loftus konnte ihn nicht mehr flottmachen. Der Hut von Loftus wurde neben dem Wagen, der von Wallace auf dem Rücksitz gefunden. Gleich daneben lagen zwei offene Bierflaschen. Seit Wallace sich um ein Uhr zwanzig von Loftus getrennt hatte, wurde der Farmer nicht mehr gesehen. Zwölf Tage haben wir nach ihm gesucht – ohne Erfolg. Wenn es nicht ausgerechnet in dieser Nacht geregnet hätte, würde der schwarze Tracker, den man aus Merredin geholt hatte, bestimmt Loftus’ Spuren entdeckt und den Farmer tot oder lebendig gefunden haben.« Muir schwieg und starrte vor sich hin. »Und weiter?« »Reichlich komisch ist der Zeitpunkt, zu dem Wallace nach Hause zurückkehrte. Als er den Wagen verließ, hatten sie erst eine halbe Meile zurückgelegt, und sie waren, wie gesagt, zehn Minuten nach eins vom Hotel losgefahren. Es könnte also höchstens zwanzig Minuten nach eins gewesen sein, als sich die beiden trennten, aber laut Aussage von Mrs. Wallace kam ihr Mann erst Viertel nach zwei ins 8
Schlafzimmer. Wallace selbst gibt an, zunächst bis zur Garage gelaufen zu sein. Dort habe er gemerkt, daß er etwas zuviel Grog getrunken habe, und da sei er nach Süden abgebogen und habe einen kurzen Spaziergang gemacht. Ich glaube ihm nicht, es widerspricht doch jeglicher Vernunft. Was aber hat er in den fraglichen fünfundvierzig Minuten wirklich getan? Er hatte ja nur eine knappe halbe Meile bis nach Hause, und dazu benötigt man keine fünfundvierzig Minuten. Wenn die beiden aber zum Zeitpunkt des Unfalls noch zusammen waren, wenn sie ins Handgemenge gerieten und Wallace dabei den Farmer umbrachte – dann blieb ihm noch genügend Zeit, die Leiche beiseite zu schaffen und zu dem von Mrs. Wallace angegebenen Zeitpunkt zurückzukommen.« »Sie haben die Leiche bisher nicht gefunden?« fragte Bony. »Nein.« »Dann müssen wir zunächst annehmen, daß Loftus noch lebt. Ist Wallace vorbestraft?« »Es liegt nichts gegen ihn vor.« »Und Sie sind überzeugt, daß Loftus nicht zu Hause eintraf?« »Absolut. Mrs. Loftus ist ganz verzweifelt.« »Liegt der Wagen immer noch im Graben?« »Ja.« »Warum verhaften Sie dann Wallace nicht wegen dringenden Tatverdachts?« »Auf keinen Fall! Die Panne mit Greggs hat mir genügt«, erwiderte Muir erregt. »In Zukunft gehe ich so langsam vor, daß eine Schildkröte im Vergleich zu mir das reinste Rennpferd ist.« »Übergroße Vorsicht ist genauso verkehrt wie überstürzte Eile.« Bony zwinkerte. »Die Sache beginnt mich zu interessieren.« »Würden Sie mich unterstützen?« Bony seufzte. »Mein lieber John, Sie werden nach Queensland fahren müssen.« »Nach Queensland? Warum?« »Wenn Sie zu der in der Nähe von Winton gelegenen Myall Station fahren und sehr umsichtig vorgehen, werden Sie dort Andrew Andrews finden – Ihren Freund Andrews, den Sie entwischen ließen, weil Sie bei Greggs zu voreilig waren.« 9
»Aber warum haben Sie ihn nicht festnehmen lassen oder gleich selbst verhaftet?« »Wie Sie wissen, bin ich kein gewöhnlicher Polizeibeamter – ich nehme nur äußerst selten jemanden fest. Das ist Ihre Aufgabe, John. Wir werden mit Ihrem Chef sprechen und ihn überzeugen, daß es im Augenblick wichtiger ist, Andrew festzunehmen, als nach Loftus zu suchen, der vielleicht lediglich die Gelegenheit benützt hat, sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Ich habe noch drei Wochen Urlaub, und solange Sie in Queensland sind, werde ich mich etwas in Burracoppin umsehen.« »Bony, alter Freund, wie kann ich –« »Schon gut«, fiel Bony ihm ins Wort. »Vielleicht macht es mir sogar Spaß, meinen Urlaub auf diese Weise zu verleben. Und ganz im Vertrauen: Ich möchte, daß Sie endlich zum Inspektor befördert werden. Aber zügeln Sie in Zukunft Ihr Verlangen, fortwährend Fragen stellen zu wollen. Übergroße Neugier richtet oft mehr Schaden als Nutzen an.«
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I
nspektor Napoleon Bonaparte interessierte sich für einige junge Beamte, von denen er annahm, daß sie einmal gute Kriminalisten werden würden. John Muir war einer von ihnen. Er hatte das Glück gehabt, durch den genialen Mischling in die Geheimnisse der Kriminalistik eingeweiht zu werden. Doch er beging immer wieder den Fehler, alle Ratschläge in den Wind zu schlagen. Gemeinsam gingen sie zum Chef der Polizei von Westaustralien. Bony gelang es durch seinen Charme, die Zurückhaltung, mit der Major Reeves ihm begegnete, rasch zu überwinden. Am Ende der Unterredung war Major Reeves überzeugt, daß John Muir den Mörder ausfindig gemacht hatte, wobei ihn der Inspektor le10
diglich unterstützt hatte. Er willigte deshalb ein, den Sergeanten nach Queensland zu entsenden und Bony zu gestatten, sich für den Fall des vermißten Farmers zu interessieren. So kam es, daß Bony und Muir gemeinsam Perth mit dem Kalgoorlie-Expreß verließen. Der Inspektor stieg morgens um fünf in Burracoppin aus, während John Muir bis Kalgoorlie weiterfuhr, um dort in den Transaustralien-Expreß umzusteigen. Die Morgendämmerung kroch herauf, als Bony mit Koffer und Deckenbündel den kleinen Bahnsteig von Burracoppin entlangging. Der elegant gekleidete Kriminalinspektor, der Sergeant Muir in der Hay Street von Perth begegnet war, hatte sich in einen Farmarbeiter verwandelt. Burracoppin schlief noch. Das Donnern des Expreßzuges verklang im Osten. Einige Hähne begrüßten mit lautem Krähen den neuen Tag. Zwei Kühe trotteten die Main Street entlang, machten sich aus dem Staube, denn die Melkzeit nahte. Ein paar Ziegen blickten ihnen nach – sie schienen diabolisch zu grinsen. Bony trat aus dem kleinen Bahnhofsgebäude und sah sich um. Gleich gegenüber lag das aus Ziegeln errichtete Hotel, daneben ein älteres Holzgebäude: eine Pension. Daran schlossen sich einige Grundstücke mit Ladenbauten an. Rechts standen drei weiße Gebäude: Arbeiterunterkunft und Werkstätten des staatlichen Kaninchenamtes. Auf der anderen Seite der Bahnlinie – sie teilte den Ort in zwei Hälften – lagen ebenfalls Häuser; darunter der Gemeindesaal, die Schule und eine Garage. Parallel zur Eisenbahn verlief die dreihundert Meilen lange Wasserleitung, die das Weizengebiet und die Goldfelder von Kalgoorlie mit Wasser versorgte. Burracoppin glich den vielen anderen Weizenstädtchen: saubere, weißgestrichene Häuser inmitten grüner Eukalyptusbäume. Bis sieben Uhr wanderte Bony durch den Ort, rauchte unzählige Zigaretten und dachte über das Verschwinden von George Loftus nach. Der Fall interessierte ihn vor allem deshalb, weil es keinen vernünftigen Grund zu geben schien, weshalb Loftus freiwillig hätte verschwinden sollen. Ein Mann verwies Bony schließlich an die Pension von Mrs. Poole. Um diese frühe Morgenstunde war der Laden vor dem langgestreckten Wellblechbau noch geschlossen, aber der Inspektor fand die Pen11
sionsinhaberin in der Küche, wo sie das Frühstück zubereitete. Mrs. Poole war ungefähr Vierzig – eine stattliche, gutaussehende Brünette ohne ein einziges graues Haar. Als sie den Mischling sah, zog sie mißtrauisch die Augen zusammen. Bony mußte amüsiert lächeln – immer wieder stieß er bei weißen Frauen auf Rassenvorurteile. »Nun?« fragte Mrs. Poole barsch. »Ich bin heute morgen mit dem Zug eingetroffen«, erwiderte Bony betont höflich. »Wie ich höre, soll dies hier die beste Pension des Ortes sein, in der man auch Frühstück erhält.« »Das kostet zwei Shilling«, stellte die Frau nüchtern fest, und ihre Stimme verriet deutlich, daß sie die Zahlungsfähigkeit des Mischlings bezweifelte. »Ich habe etwas Geld, Madam.« Bony holte eine Pfundnote heraus. Das Gesicht von Mrs. Poole hellte sich sofort auf. Die Pensionswirtin holte eine Tasse und schenkte Tee ein. »Danke«, sagte Bony, nahm die Tasse entgegen und reichte der Frau den Geldschein. »Am besten nehmen Sie dies gleich als Vorschuß. Möglicherweise bleibe ich eine Weile in Burracoppin. Ich arbeite nämlich beim staatlichen Kaninchendienst.« »Tatsächlich!« Mrs Poole wirkte plötzlich äußerst zufrieden. »Dann werden Sie wahrscheinlich auch hier wohnen wollen?« »Hier möchte ich nur essen. Soviel ich weiß, ist eine Unterkunft vorhanden.« »Stimmt.« Von der Tür näherten sich rasche Schritte, und die Frau fuhr auf. »O Herr! Da kommt Eric.« Wie ein Wirbelwind schoß ein Mann in die Küche. »Ah, wieder verspätet, Mrs. Poole! Viertel nach sieben, und das Frühstück ist noch nicht fertig. Wann kommt Ihr Mann eigentlich zurück? Wenn er nicht zu Hause ist, finden Sie einfach nicht aus dem Bett. Sie werden bestimmt einmal im Bett sterben. Nun erzählen Sie mir nichts – beeilen Sie sich lieber! Keinen Haferbrei, ich habe keine Zeit zum Essen. Ich werde noch entlassen werden, wenn ich fortwährend zu spät komme.« Der Wirbelwind trug einen Overall und musterte Bony mit seinen haselnußbraunen Augen. »Guten Morgen«, sagte Bony. 12
»Er fängt beim Kaninchenamt an«, erklärte Mrs. Poole. »Aha! Na, dann rate ich Ihnen, nicht hier zu essen. Gehen Sie lieber ins Hotel. Mrs. Pooles Mann ist eine Wasserratte und deshalb oft wochenlang fort. In dieser Zeit verläßt Mrs. Poole kaum noch ihr Bett, so sehr liebt sie es. Es bleibt Ihnen dann nur eine Minute und zehn Sekunden, um das Frühstück hinunterzuschlingen, und davon bekommen Sie Magenbeschwerden. Ich bin schon halb tot.« »So schlimm bin ich doch gar nicht, Eric«, protestierte Mrs. Poole. Es klang leicht verzweifelt, und Bony gelangte zu der Überzeugung, daß er mit dieser Frau gut auskommen würde. Im nächsten Augenblick wandte sie sich an ihren neuen Gast. »Glauben Sie ihm ja nicht, Mr. – wie ist doch gleich Ihr Name?« »Bony.« »Es kommt schon mal vor, daß ich mich verspäte, Mr. Bony, aber doch nicht immer. Nehmen Sie Porridge?« »Ja, bitte.« »Sind Sie verheiratet?« fragte der Wirbelwind. »Ja.« »Dann sind Sie für uns Mr. Bony. Alle verheirateten Männer sind Misters, während die Junggesellen einfach beim Vornamen gerufen werden. Ich bin Eric Hurley, ledig, und deshalb ganz schlicht Eric. Wie heißen Sie mit Vornamen?« »Xavier«, brummte Bony. »Aber man nennt mich allgemein Bony – ohne Mister. Das ist mir auch lieber.« »Na schön, Xavier! Nein – Bony ist mir da lieber. Kommen Sie, wir haben nur noch vierzig Sekunden. Nun geben Sie doch endlich das Frühstück her, Mrs. Poole.« Im Speisezimmer, das zwischen Küche und Laden lag, aßen die beiden Männer hastig. Verstohlen musterte Bony sein Gegenüber. Hurley war knapp über Dreißig, hatte ein offenes, sympathisches Gesicht, das von Sonne und Wind gebräunt war und jugendlichen Optimismus ausstrahlte. »Ich bin der Grenzreiter für diesen Abschnitt des Kaninchenzauns«, erklärte Hurley zwischen zwei gewaltigen Bissen. »Zweihundert Meilen muß ich kontrollieren – hundert Meilen nördlich und hundert Meilen südlich von Burracoppin. Ein lausiger Job. Für jeden Sonntag, den ich draußen bin, erhalte ich einen freien Tag. Aber heute arbeite 13
ich trotzdem. Auf den Farmen sind die Leute knapp, und es ist noch eine Ladung Preßstroh versandfertig zu machen. He, Mrs. Poole! Ist mein Mittagsbrot fertig?« »Ich schneide es gerade.« »Machen Sie ein ordentliches Paket. Ich habe ja keine Zeit, ordentlich zu frühstücken.« Vom Bahnhof herüber tuckerte ein Motor – die Draisine mit den Streckenbeamten fuhr ab. »Beeilen Sie sich doch! Die Schlangenbeschwörer sind schon unterwegs. Wenn ich rausfliege, weil ich zu spät komme, bringe ich Ihren Mann um und nehme hier seine Stelle ein. Aber ich werde nicht vor Ihnen aufstehen und den Herd anzünden – ich werde Sie aus dem Bett werfen!« Eine leere Konservenbüchse schepperte, der Wirbelwind stürmte hinaus. Dann herrschte Stille. Plötzlich vernahm Bony Mrs. Pooles erregte Stimme. Sie befahl jemandem, endlich aufzustehen und die Kühe hereinzuholen, damit nicht wieder Mrs. Black die Milch wegschnappe. Gleich darauf erschien die Pensionswirtin in der Tür. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Mr. Bony. Der Inspektor ist gar nicht so schlimm, wie Eric ihn macht. Meine übrigen Gäste arbeiten alle im Ort, aber sie kommen erst Viertel vor acht zum Frühstück. Wenn Joe im Hause ist, habe ich es natürlich leichter. Das Holz ist zu hacken, und dann die Kühe, die Mrs. Black immer vor uns zu melken versucht. In letzter Zeit hatte ich sehr viel zu tun. Seit der arme Mr. Loftus verschwunden ist, wohnten zwei Polizeibeamte bei mir. Aber sie sind nun wieder nach Perth zurückgekehrt.« »Ach!« »Eine seltsame Geschichte«, fuhr sie fort. »Ich bin überzeugt, daß man ihn umgebracht hat. Eric hatte in dieser Nacht sein Zelt eine halbe Meile von der Loftus-Farm entfernt aufgeschlagen. Trotz des Regens konnte Eric hören, wie gegen zwei Uhr morgens die Hunde geheult haben. Als der Mann meiner Schwester vom Zug überfahren wurde, hat ihr Hund über eine Stunde lang geheult. Hunde wissen genau, wenn ihre Freunde sterben – meinen Sie nicht auch?« Fünfzehn Minuten später beobachtete Bony, wie der Gesichtsausdruck des Kanincheninspektors wechselte, als er den Brief seines Chefs las, den Inspektor Bonaparte ihm überreicht hatte. »Sie sind von der Polizei in Queensland?« Bony nickte. 14
»Ich werde angewiesen, Ihnen jede gewünschte Unterstützung zu geben. Was kann ich also für Sie tun?« »Zunächst eine kurze Erklärung: Ich befinde mich zur Zeit auf Urlaub. Mein Freund, Sergeant Muir, muß im Moment einen anderen dringenden Fall bearbeiten, und da mich das Verschwinden dieses George Loftus interessiert, habe ich mich entschlossen – mit Billigung der zuständigen Polizeibehörde –, einige Ermittlungen anzustellen. Außer der Polizei, Ihrem Chef und Ihnen selbst weiß niemand, wer ich in Wirklichkeit bin. Ich darf mich darauf verlassen, daß Sie absolutes Stillschweigen wahren. Vor Kriminalinspektor Bonaparte sind die Leute zugeknöpft, einem Mischling gegenüber benehmen sich die Leute hingegen zwanglos und reden ohne Scheu. Ich möchte, daß Sie mich am Karnickelzaun beschäftigen – vor allem an der Stelle, an der das beschädigte Auto gefunden wurde. Es wäre schön, wenn Sie mich heute vormittag einmal hinausfahren könnten.« »All right. Dann machen wir uns am besten gleich auf den Weg.« Bony nahm im Lastwagen neben dem Kanincheninspektor Platz. »Bitte fahren Sie dieselbe Strecke, die Loftus in der fraglichen Nacht benützt hat.« Der Lastwagen bog beim Hotel in die Main Road und fuhr in östlicher Richtung weiter. Sie passierten die Pension, die Läden, die Bank und gelangten schließlich zu der Garage am Ortsrand. »Hier hätte Loftus nach rechts abbiegen müssen«, erklärte Inspektor Gray. »Aber trotz der Einwände, die Wallace machte, fuhr er geradeaus weiter.« »Hm! Steht die Garage schon lange leer?« »Ja, seit über einem Jahr. Alle anfallenden Arbeiten erledigt jetzt die Garage auf der anderen Seite der Bahn.« Die nach Süden führende Straße erklomm einen Hügel, während die Straße, auf der sie weiterfuhren, sehr schmal wurde und sich zwischen Eukalyptusbüschen und Gimletbäumen hindurchschlängelte. Zur Linken tauchte zwischen den Büschen immer wieder der Erdwall auf, der beim Ausbaggern des Grabens für die Wasserleitung übriggeblieben war. Noch ein Stück weiter lag der Bahndamm. »Wie ich gehört habe, ist Mrs. Pooles Mann eine Wasserratte«, sagte Bony. »Was bedeutet das eigentlich?« 15
Inspektor Gray lachte. »Die Männer, die an der Wasserleitung arbeiten, heißen Wasserratten. Es kommt öfters vor, daß das Rohr bricht, und dann müssen sie bei der Reparatur im tiefen Wasser stehen.« »Aha. Und was sind Schlangenbeschwörer?« »Das sind die Streckenarbeiter bei der Eisenbahn. Und da Sie jetzt beim Kaninchenamt arbeiten, sind Sie ein Karnickler.« Jetzt mußte Bony lachen. »Kannten Sie eigentlich George Loftus gut?« »Einigermaßen. Wir waren nicht befreundet, obwohl er seit fünf Jahren hier lebte.« »Erzählen Sie mir doch bitte alles, was Sie über ihn wissen: wie er aussah, und so weiter.« Der Kanincheninspektor zögerte. Offensichtlich überlegte er sich seine Worte genau, bevor er dem Kriminalbeamten antwortete. Immer wieder mußte Bony feststellen, daß die Leute die Polizei nur ungern unterstützen, obwohl eben diese Polizei für ihren Schutz und ihre Sicherheit sorgen sollte. »Loftus war von mittlerer Größe und dürfte ungefähr fünfundsiebzig Kilo gewogen haben. Er war recht beliebt und mit seinen einundvierzig Jahren ein guter Kricketspieler. Er sang gern und war ein eifriges Mitglied unserer hiesigen Freimaurerloge. In den ersten drei Jahren hat er hart gearbeitet, aber im letzten Jahr hat er nicht mehr viel getan – da hat er alles seinem Farmarbeiter überlassen.« »Hat er viel getrunken?« »Etwas zuviel.« »Seine Frau ist noch auf der Farm?« »Ja. Eine sehr gutaussehende Frau.« »Kinder?« »Keine.« »Dieser Farmarbeiter – was ist das für ein Mann?« »Er ist ungefähr Dreißig. Ein anständiger Kerl. Loftus hatte Glück, ihn zu bekommen. Er heißt Mick Landon. Ist in Australien geboren. Einigermaßen gute Erziehung. Ist Schriftführer bei verschiedenen Vereinen und fungiert als Conferencier bei unseren Tanzveranstaltungen.« »Haben Sie eine Ahnung, was Mrs. Loftus vorhat, falls ihr Mann nicht gefunden wird?« 16
»Meine Frau hat mit ihr gesprochen. Mrs. Loftus glaubt nicht daran, daß ihr Mann tot ist. Sie will mit Landons Hilfe die Farm weiterführen, bis ihr Mann zurückkommt.« »Ich nehme an, daß das plötzliche Verschwinden ihres Mannes ein ziemlicher Schock für sie war?« »Ja, aber ich habe den Eindruck, daß sie sich mehr ärgert als sorgt. Natürlich wäre es möglich, daß er plötzlich wieder auftaucht. Genau wie der alte Jelly. Der verschwindet drei- bis viermal im Jahr, manchmal sogar öfter – und niemand weiß, wohin er verschwindet und was er treibt.« »Ach! Recht interessant. Vielleicht steckt eine Frau dahinter?« »Glaube ich nicht, denn ich kenne Bob Jelly. – So, da wären wir am Zaun.«
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in breites Tor führte durch den einen Meter vierzig hohen Maschendrahtzaun, dessen Oberkante mit Stacheldraht bewehrt war. Bony stieg aus und sah sich um. Der Zaun verlief schnurgerade von Nord nach Süd. Im Norden kletterte er auf einen Höhenzug, im Süden verschwand er in einem Streifen Hochwald. Beim Wasserleitungsgraben und an der Bahnlinie hatte man besondere Vorkehrungsmaßnahmen getroffen, damit keine Kaninchen durchschlüpfen konnten. Das Gattertor war inzwischen repariert worden, aber der beschädigte Wagen lag noch mit den Hinterrädern auf dem dicken Rohr der Wasserleitung. Bony schritt die Entfernung zwischen Tor und Wagen ab: es waren reichlich vierzehn Meter. Ungefähr fünfhundert Meter jenseits des Zauns befand sich die Farm des Kaninchenamtes, die von einem Verwalter geführt wurde. 17
Auf der anderen Seite des Bahndamms, ebenfalls jenseits des Zauns, lag eine zweite Farm. Gray war enttäuscht, weil Bony nicht wie ein Jagdhund schnüffelnd hin und her lief. Seiner Meinung nach tat dies jeder gute Kriminalist. Der Mischling aber wirkte gleichgültig, seine Augen verträumt. Doch Bony hatte gesehen, was er sehen wollte: der Wagen hatte tatsächlich beim Zurückstoßen in den Graben geraten können, denn an dieser Stelle standen weder Baumstümpfe noch andere Hindernisse. »Ich muß sagen, die Geschichte interessiert mich«, erklärte Bony. »Die Kreuzung von Kaninchenzaun und Eisenbahnlinie ist vorbildlich gelöst. Die Gleise führen über eine tiefe Grube, so daß kein Karnickel durchschlüpfen kann. Es ist schwer, hier eine Leiche zu beseitigen. Sollte man den Toten in dem wogenden Korn versteckt haben, würde er schon bald vom Fahrer einer Mähmaschine entdeckt werden. Und das hätte nur einen Sinn, wenn der Mörder in der Zwischenzeit möglichst weit vom Tatort flieht. Eine Leiche mit einem Gewicht von fünfundsiebzig Kilo bis zu dem eine knappe Meile entfernten Wald zu schleppen, halte ich für ziemlich ausgeschlossen.« »Trotzdem bleibt dieses plötzliche Verschwinden reichlich seltsam«, meinte der Kanincheninspektor nachdenklich. »Ich werde ihn finden – tot oder lebendig.« »Glauben Sie wirklich?« »Ich bin überzeugt davon. Mein großer Namensvetter erlitt nur eine einzige Niederlage – bei Waterloo. Offiziell habe ich bereits meine Niederlage erlebt: auf der Windee Station in Neusüdwales. Ein zweites Waterloo gibt es für mich nicht.« Inspektor Gray hielt die hohlen Hände vors Gesicht, um sich eine Zigarette anzuzünden – aber auch, um sein Lachen zu verbergen. Er fand ein derart übergroßes Selbstvertrauen erheiternd. Bony zeigte zum Zaun. »Wie ich sehe, müssen einige Pfosten erneuert werden. Lassen Sie mich das erledigen. Auf diese Weise hätte ich Gelegenheit, mich unauffällig umzusehen. Und nun fahren Sie bitte weiter auf der Straße, die Loftus hätte benützen müssen.« Sie fuhren westlich des Zauns nach Süden. Zu beiden Seiten dehnten sich die Weizenfelder wie ein goldener See, dessen smaragdgrüne 18
Ufer von Busch und Wald gebildet wurden. In dieser Welt ohne Schatten war nur das tiefe Brummen der Mähdrescher zu vernehmen. Sie überquerten die Old York Road, gelangten in sandiges Gelände, das mit frischen, saftigen Büschen bestanden war – ganz anders, als es Bony vom Osten Australiens gewöhnt war. »Was halten Sie eigentlich von dem Fall?« fragte Gray. »Sagen Sie mir doch zunächst einmal Ihre Meinung«, wich Bony aus. Gray schwieg eine volle Minute, dann räusperte er sich. »Zwölf Tage sind nun vergangen, seit Loftus verschwunden ist. Ich bin fest überzeugt, daß er nicht einfach in den Busch gelaufen und dort vor Erschöpfung zusammengebrochen ist. Wie Sie selbst sehen können, gibt es hier genausoviel kultiviertes Land wie unerschlossenen Busch. Loftus war kein Greenhorn, und selbst ein betrunkenes Greenhorn wäre irgendwo wieder auf kultiviertes Land gestoßen, hätte also mit Leichtigkeit ein Farmhaus finden können. Nein, meines Erachtens wurde Loftus getötet, weil er Geld bei sich hatte. Das kann an der Stelle passiert sein, an der man den Wagen gefunden hat, aber auch auf dem Weg nach Hause. Vielleicht bei der Old York Road.« »Muir hat mir gesagt, daß sowohl die Gegend um das Tor an der Old York Road als auch die Ränder der Weizenfelder gründlich abgesucht wurden.« »Stimmt zweifellos«, gab Gray zu. »Trotzdem bleibt die Möglichkeit bestehen, daß Loftus von jemandem umgebracht wurde, der mit dem Wagen kam und die Leiche dann weit draußen im Busch versteckt hat.« »Ihre Gedankengänge sind gar nicht so abwegig«, meinte Bony bedächtig mit halbgeschlossenen Lidern. »Anscheinend handelt es sich wieder einmal um die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Trotz allem dürfen wir aber auch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sich Loftus aus dem Staub gemacht hat. Wie stand er denn finanziell da?« »Er stand auf einem genauso gesunden Fundament wie alle Farmer hier.« »Und wie gesund ist das Fundament hier in dieser Gegend?« »Ziemlich wacklig. Fast alle sind bei der Government Bank verschuldet.« 19
»Glauben Sie, daß Loftus amouröse Abenteuer suchte?« Inspektor Gray zögerte – schließlich war es eine sehr heikle Frage. »Nein, ich glaube nicht«, erwiderte er schließlich. »Gewiß, er ging den Frauen nicht aus dem Weg, aber er war doch sehr häuslich veranlagt. Mrs. Loftus ist jung und hübsch und eine gute Ehefrau. Da vorn sehen Sie die Loftus-Farm.« Der Lastwagen hatte die sanfte Anhöhe erklommen. In einem weiten Halbkreis dehnten sich Weizenfelder und brachliegende Äcker. Im Osten und Südosten reichten sie bis zum Fuß einer sandigen Anhöhe, im Süden bis weit hinter den Horizont. Im Südwesten erhob sich ebenfalls ein Sandhügel. Gleich unter ihnen lag zur Rechten die Loftus-Farm. Das Haus lag eine knappe halbe Meile von der Straße entfernt am Fuße eines langgestreckten Granitfelsens, aus dessen Spalten Eichen wuchsen. Ganz in der Nähe zog ein Traktor eine Erntemaschine über ein Weizenfeld. »Der Mann auf dem Traktor ist Mick Landon«, erläuterte Gray, »und der auf der Mähmaschine Larry Eldon. Er kommt jeden Tag mit dem Fahrrad aus Burracoppin.« Bonys Augen bildeten schmale Schlitze, während er sich das Bild einprägte: das Farmhaus mit dem Wellblechdach, dahinter die Stallungen und eine frische Strohmiete. So weit das Auge über die goldenen Felder und die braunen Äcker reichte, krochen die Erntemaschinen herum wie riesige Hamster, die unersättlich das Korn schluckten. »Da hinten liegt die Farm von Mr. Jelly«, brach Gray schließlich das Schweigen. »Vielleicht erinnern Sie sich: ich erwähnte ihn bereits. Dieser Mann ist von Geheimnissen umgeben. Wenn unsereins verreist, gibt man eine Menge Geld aus. Wenn er aber zurückkommt, bringt er noch Geld mit.« »Geheimnisse!« Bony seufzte zufrieden, und er schloß kurz die Augen. »Geheimnisse bereiten mir stets das größte Vergnügen.« Bony saß am Tisch seines Zimmers im Depot des Kaninchenamtes und las noch einmal die von Sergeant Muir aufgenommenen Protokolle durch. Die wichtigste Aussage stammte von Leonard Wallace, dem Besitzer des Hotels. Anscheinend hatte er über jeden Augenblick von der Abfahrt in Perth bis zum Betreten des ehelichen Schlafzimmers Rechenschaft abgelegt. Diese Aussage wurde zum Teil durch seine Frau und drei weitere Protokolle bestätigt. 20
Mavis Loftus hatte angegeben, wann ihr Mann nach Perth abgereist war, was er dort vorgehabt hatte und daß sie ihn am 4. November – also zwei Tage nach der tatsächlichen Ankunft – zurückerwartet hatte. Mick Landon hatte erklärt, welche Aufträge er von Loftus erhalten hatte und daß er den Farmer weder in der Nacht zum 3. November noch später gesehen oder gehört habe. Den demolierten Wagen hatte Richard Thorn, ein Angestellter des Wasserwerks, gefunden. Nicht der geringste Hinweis deutete auf Mord. Aber ebensowenig schien Loftus freiwillig verschwunden zu sein. Nur eins konnte Bony all diesen Aussagen mit Sicherheit entnehmen: der vermißte Farmer hatte keine auffallenden Gewohnheiten gehabt, keine Laster und keine Tugenden. In der friedlichen Stille des Spätnachmittags studierte Bony die Unterschriften auf den Protokollen – das Gekritzel von Leonard Wallace, der gestochen scharfe Namenszug von Mick Landon. Es blieb ihm nichts anderes übrig: wie ein Fischer mußte er sein Netz auswerfen über das kleine Weizenstädtchen, und wenn er dann seine Beute an Land gezogen hatte, mußte er nach dem tödlichen Stachelrochen suchen, der zweifellos zwischen den Fischen steckte. Und sobald er den gefunden hatte, konnte er auch beweisen, daß George Loftus ermordet wurde. Bony hörte, wie das Tor des Depots geöffnet wurde. Gleich darauf fuhr ein Lastwagen in den Hof. Der Inspektor schob seine Papiere zusammen und verschloß sie in seinem Koffer. Er nahm ein Buch, legte sich aufs Bett und tat so, als ob er läse. Ein Hund raste über den Kies, eine Wagentür wurde zugeknallt, und ein Mann stieß einen schrillen Pfiff aus. »Ginger, hierher!« Der Wirbelwind stürmte ins Zimmer. Seine Kleidung war mit grauem Staub überzogen, Gesicht, Hals und Arme ebenfalls. Die rot entzündeten Augen leuchteten vergnügt. »Ginger! Du alter Lümmel! Du hast die Katze vom Boss gejagt – er wird mich noch rausschmeißen! Du Lümmel du …!« Der Hund war eine rothaarige Kreuzung zwischen einem Whippet und einem Irish-Terrier. Mit gesenktem Kopf kam er näher. »Platz – leg dich, du Frechdachs!« 21
Ginger legte sich gehorsam nieder, der Kopf ruhte auf den Vorderpfoten, der Schwanzstummel klopfte auf den Boden. »Na, wie war’s?« fragte Bony. »Wundervoll! Achteinhalb Stunden lang habe ich Strohstaub geschluckt. Mich juckt’s am ganzen Körper. Bis gleich. Jetzt muß ich erst mal duschen. Komm, Ginger!« Wirbelwind und Hund verschwanden, um zehn Minuten später ebenso ungestüm zurückzukehren. Bony las weiter in seinem Buch, während sich Hurley saubere Sachen anzog. Als er sich die Stiefel zuschnallte, blickte er auf den Umschlag von Bonys Buch. »Was lesen Sie da?« fragte er. Bony senkte das Buch, und seine blauen Augen funkelten. »Es heißt: ›Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der australischen Termite‹. Geschrieben wurde es von einem sehr klugen Mann namens Kurt von Hagen.« »Und wovon handelt das Buch?« »Von der australischen Termite.« »Und wer ist diese Berühmtheit?« »Meinen Sie den Autor oder die Termite?« »Die Termite. Was ist eine Termite?« »Eine Termite ist eine weiße Ameise.« »Oh! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Sie interessieren sich für weiße Ameisen?« »Ich interessiere mich für alles«, erklärte Bony großspurig. »Kunst, Philosophie, Naturwissenschaften. Im Moment beschäftige ich mich in meiner Freizeit mit den Termiten. Die weiße Ameise ist eins der seltsamsten Lebewesen. Ihr Staatswesen ist sehr einfach organisiert und doch auch wiederum komplex. Die Termite ist so stark, daß sie es mit jedem Lebewesen – außer dem Menschen – aufnehmen kann, und doch auch wieder so verwundbar, daß sie vom Sonnenlicht getötet wird. Man darf es uns nicht übelnehmen –« »Sagen Sie, Bony, interessieren Sie sich für Mord?« Es kam nur selten vor, daß es Bony vor Erstaunen die Sprache verschlug. Nun muß man zu seiner Entschuldigung sagen, daß er im Augenblick überhaupt nicht an Mord gedacht hatte. Er setzte sich auf. »Wie kommen Sie auf eine solche Frage?« »Weil ich jemanden suche, der sich für Mord interessiert.« 22
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Bony. Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte der Mann ihn als Kriminalbeamten erkannt? Oder wollte er Bony gegenüber sein Gewissen erleichtern? Wußte Hurley etwa, daß Loftus ermordet worden war? Kannte er den Täter? »Ich glaube«, murmelte er schließlich, »daß ich mich ernsthaft für Mord interessiere.« Hurley seufzte tief und lehnte sich auf seinem Bett zurück. Bony war überzeugt, das Geheimnis um Loftus’ Verschwinden gelöst zu haben, noch bevor er mit seinen Ermittlungen richtig begonnen hatte. Dabei war der Fall so vielversprechend gewesen. »Kennen Sie die Namen der Täter aller in den letzten zwanzig Jahren hier in Australien begangenen Morde?« bohrte Hurley weiter. »Gewiß: Phelp, Trilby, Smith –« »Genügt – Sie sind der richtige Mann!« Hurley sprang auf und schlug Bony kräftig auf die Schulter. »Sie sind der richtige Mann, Bony! Sie sind das gefundene Fressen für den alten Jelly. Hurra – ich bin gerettet!« »Würden Sie mir wohl den Grund für Ihren Begeisterungsausbruch erklären?« bat Bony. Eric Hurley bediente sich vom Zigarettenpapier und Tabak des Inspektors, rollte sich mit geschickten Griffen eine Zigarette und zündete sie an. Sein Gesicht strahlte. »Das will ich Ihnen gern erklären«, meinte Hurley. »Ich bin in ein Mädchen verliebt – in Lucy Jelly. Sie ist das hübscheste Mädel im Umkreis von tausend Meilen. Zwanzig Jahre ist sie. Ihr Vater ist ein kleiner Weizenfarmer, vier Meilen von hier. Er hat nichts dagegen, daß ich mit seiner Tochter flirte – aber im Grunde komme ich überhaupt nicht richtig dazu, mit ihr zu flirten.« Bony nickte voller Mitgefühl. »Jedesmal, wenn ich hinaus auf die Farm komme, kann ich ein paar Augenblicke mit Lucy alleinbleiben – dann taucht der alte Herr auf und spricht von Mord«, fuhr Hurley fort. »Er kann sich einfach über nichts anderes unterhalten. Er kennt die Einzelheiten aller Mordfälle, die sich in den letzten zehn Jahren hier in Australien ereignet haben. Er weiß, wie die Täter schließlich erwischt wurden und wie sie sich bei der Hinrichtung benommen haben. Dann schleppt Sie der alte Herr in sein Allerheiligstes, schiebt Sie in einen Sessel, und er läßt Sie erst 23
wieder los, wenn es Zeit zum Nachhausegehen ist. Die Wände sind mit Fotos von Mördern übersät, und wenn er besonders gut gelaunt ist, dann zeigt er Ihnen den Strick, mit dem Mercier gehängt wurde.« »Fast könnte man meinen, der alte Herr sei ein Kannibale«, entgegnete Bony. Sein Interesse war geweckt, und außerdem war er froh, daß der Fall, der ihn nach Burracoppin gebracht hatte, doch nicht so schnell gelöst war. »Und auf welche Weise kann ich Ihnen nun helfen?« »Das ist ganz einfach. Sie fahren mit mir heute abend hinaus. Ich mache Sie mit Lucy und dem alten Herrn bekannt. Dann sagen Sie der Reihe nach Ihre Mörder auf – und der alte Knabe wird Ihnen um den Hals fallen und Sie in seine Schreckenskammer schleifen. In der Zwischenzeit kann ich endlich mal mit Lucy allein sein. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Sie jetzt bei uns arbeiten.« »Nach allem, was Sie mir über Mr. Jelly erzählt haben, interessiert er mich sehr«, meinte Bony. »Wenn Sie den alten Herrn erst gesehen haben, wird er Sie noch viel mehr interessieren«, versprach Hurley.
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E
ric Hurley besaß ein Motorrad, und da Bony kein Greenhorn war, hätte er sich eigentlich hüten sollen, auf dem Soziussitz mitzufahren. Trotz der schlechten Straße schafften sie die Entfernung bis zum Kaninchenzaun in weniger als zwei Minuten. Diese Raserei vereinbarte sich zwar nicht mit der Würde eines Kriminalinspektors, doch er genoß den Fahrtwind, denn die Luft war immer noch warm, obwohl die Sonne bereits seit einer Stunde untergegangen war. Vom Tor der York Road aus benützten sie den Government Track, der östlich am Zaun entlangführte. Mit lautem Knattern ging es die lange sandige Steigung hinauf. Sie passierten die Loftus24
Farm, und nach einer weiteren Meile hielten sie mit einem eleganten Schwung vor einem schmucken Farmhaus. Zwei Hunde begrüßten die beiden Männer mit lautem Kläffen. Drei Truthähne flatterten von einem Ast, zu dem eine roh gezimmerte Leiter führte. Um die Hausecke kam mit steil erhobenem Schwanz eine Katze gestrichen. Ihr folgten ein Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren und eine junge Dame in einem weißen Leinenkleid. Schließlich tauchte auch Mr. Jelly auf. Um sich ein Bild von Mr. Jelly zu machen, muß man sich eine ein Meter achtzig hohe Zigarre vorstellen. Ein kleiner Kopf mit einem Haarkranz, und sehr kleine Füße. Zur Mitte zu aber wurde Mr. Jelly immer dicker. Er war Mitte Fünfzig und kahl, der schmale Haarkranz bereits ergraut. Er hatte ein rotes Gesicht – aber es war nicht die Röte des Alkohols, sondern eine Röte, die durch Sonne und Wind verursacht worden war. »Sie werden sich bestimmt noch mal den Hals brechen«, sagte er zu Hurley, und seine Stimme klang sanft wie die Stimme eines Arztes, der mit einem reichen Patienten sprach. »Ich nicht, Mr. Jelly. Hallo Lucy! Hast du mich erwartet?« Das Mädchen hatte große braune Augen. »Natürlich. Hast du denn vergessen, daß du es gestern abend versprochen hast?« »Vergessen!« brummte Mr. Jelly. »Natürlich hat er das nicht vergessen.« »Hallo Sunflower!« »Hallo Eric!« »Ich habe meinen neuen Freund mitgebracht«, verkündete Hurley. »Lucy, das ist Mr. Bony. Er hat beim Kaninchenamt angefangen.« Das Mädchen musterte Bony aufmerksam, und der Mischling, der keinen Hut trug, verbeugte sich tief. Über das vom Fahrtwind gerötete dunkle Gesicht glitt ein Lächeln, und die weißen Zähne leuchteten. »Mr. Hurly bestand darauf, mich mitzunehmen, Miss Jelly. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Als sie die gepflegte Aussprache hörte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. »Ich freue mich, daß Sie mitgekommen sind«, erwiderte Lucy, und es klang ehrlich. 25
»Und hier ist Miss Dulcie Jelly, die von ihren Freunden Sunflower gerufen wird«, stellte Hurley weiter vor. Wieder verbeugte sich Bony, und diesmal streckte er die Hand aus. »Ich hoffe, Sie rechnen auch mich zu Ihren Freunden, denn Sunflower ist ein sehr schöner Name.« »Ich werde es mir überlegen«, erwiderte die junge Dame ungewöhnlich reserviert. »So, und nun ist der alte Herr an der Reihe«, mischte sich Mr. Jelly ein. »Mr. Bony – Mr. Jelly.« Der alte Herr starrte in die blauen Augen des Mischlings, und Bony erwiderte den Blick ruhig. »Schön, dann kommen Sie ins Haus«, forderte Mr. Jelly seine Gäste auf. »Wir haben gerade zu Abend gegessen, aber eine Tasse Tee ist immer da.« Er wandte sich an Bony. »Ich habe Sie noch nie hier in Burracoppin gesehen. Aus welcher Gegend stammen Sie denn?« »Aus Queensland, Mr. Jelly. Ich habe dort recht gut verdient – habe Pferde zugeritten. Und nun wollte ich mir mal Westaustralien anschauen. Unglücklicherweise habe ich mit der Rückfahrt zu lange gezögert, nun muß ich mir das Fahrgeld erst verdienen.« »Sie haben Pferde zugeritten, wie?« Während Bony dem Farmer in die Küche folgte, blickte er sich verstohlen um. Hurley hatte den rechten Arm um Lucys Taille, die linke Hand auf Sunflowers Schulter gelegt. Die Wohnküche war blitzsauber, aber spärlich möbliert. Bony mußte am Tisch Platz nehmen, erhielt eine Tasse Tee und etwas Gebäck. Mr. Jelly zündete die Petroleumlampe an. Eine friedliche Stille herrschte. »Bony interessiert sich für Ameisen, Mr. Jelly«, bemerkte Hurley vergnügt. »Er hat vorhin ein Buch über die Termiten gelesen, das von lateinischen Ausdrücken nur so gewimmelt hat.« »Ach!« murmelte Mr. Jelly gleichgültig und musterte Bony im Lampenlicht. »Ich finde Ameisen überaus interessant«, erklärte Bony. »Besonders die Termite ist ein außergewöhnliches Insekt.« Der kritische Ausdruck wich aus Mr. Jellys Gesicht, er wirkte auf einmal zufrieden. 26
»Da haben Sie sehr recht, mein Freund. Ich freue mich, einem intelligenten Menschen zu begegnen. Wie Ihnen zweifellos bekannt ist, lebte die Termite schon Jahrmillionen vor den ersten Menschen. Und wenn man das Staatswesen der Termiten betrachtet, muß man zu dem Schluß kommen, daß wir in einer Anarchie leben.« »Ich muß sagen, daß ich es nicht bereue, mitgekommen zu sein«, meinte Bony lächelnd. »Und ich freue mich, endlich mal jemanden gefunden zu haben, mit dem man sich auch noch über andere Dinge als über Landwirtschaft und den Klatsch unseres Städtchens unterhalten kann.« »Haben Sie das Werk von Smeathman gelesen?« fragte Bony. »Nein, aber das von Dr. Livingstone über die Termiten Afrikas. Aber kommen Sie! Wir gehen in mein Zimmer. Dann sind die jungen Leute unter sich. Lucy, um halb zehn servierst du bitte den Kaffee.« Auch diesmal sah sich Bony um, als er Mr. Jelly durch die Tür folgte. Sunflower blickte dem Mischling aus großen, ernsten Augen nach. Eric Hurley aber zwinkerte ihm zu, und über sein Gesicht glitt ein spitzbübisches Grinsen. Mr. Jellys Allerheiligstes enthielt ein eichenes Bett, einen Schreibtisch, der mit Papieren und Kassenbüchern übersät war, einen Bücherschrank und einen großen Tisch, der vor einem Fenster stand. Der Tisch war mit schwarzem Tuch bedeckt, darauf lagen mehrere Alben mit Zeitungsausschnitten. Schreibmaterial, ein Glas mit Büroleim und ein leerer Bilderrahmen. An den Wänden hing eine Galerie von gerahmten Fotos. »Das ist meine Schreckenskammer«, sagte Mr. Jelly mit seiner sanften Stimme. »Niemand von meinen Angehörigen kommt jemals hier herein. Nun?« »Ist dies nicht Maurice, der Mörder von Longreach«, erwiderte Bony, der die Fotos betrachtete. »Und das ist Victor Lord, der in Bathurst eine Frau umbrachte. Interessieren Sie sich etwa nicht nur für Naturwissenschaften, sondern auch für Kriminologie?« »Allerdings!« Mr. Jelly nickte. »Ich interessiere mich sogar mehr für Kriminologie. Aber darunter lasse ich nicht die Landwirtschaft leiden. Zuerst kommt der Broterwerb, dann das Hobby. Seit meine Frau gestorben ist, trage ich die ganze Verantwortung allein. Ja, ich kenne die Lebensläufe der Männer genau, deren Bilder da an den Wänden 27
hängen. Es sind alles Mörder, und alle sind hingerichtet worden. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß jeder Mörder irgendwie krank ist. Nehmen Sie Platz. Wenn Sie sich für diese Dinge interessieren, sind Sie eine große Ausnahme.« »Ich interessiere mich sehr für diese Dinge«, erwiderte Bony. Allerdings interessierte er sich vor allem für Mr. Jelly selbst. Wenn man den Farmer betrachtete, das wettergebräunte Gesicht im weichen Licht der Lampe, den grauen Haarkranz, die blauen Augen – dann konnte man sich kaum vorstellen, daß sich dieser Mann in seiner Freizeit mit Mördern beschäftigte. »Verzeihen Sie meine Neugier«, fuhr Bony fort. »Aber wie sind Sie in den Besitz dieser Fotografien gekommen? Es sind doch alles erstklassige Vergrößerungen.« »Sie sind nach Pressefotos angefertigt«, erklärte der Farmer und fuhr mit der Hand über den Tisch. »Hier habe ich die Lebensläufe, Berichte vom Prozeß und von der Hinrichtung. Diese Alben enthalten unvorstellbare menschliche Dramen.« Mr. Jelly schob den leeren Bilderrahmen beiseite, zog ein Album heran und öffnete es. »Hier haben wir Arthur Fling, den Pfarrerssohn. Er erhielt eine ausgezeichnete Erziehung, alle Möglichkeiten standen ihm offen. Und doch erschlug er einen Mann wegen ganzer zweihundert Pfund.« Der alte Herr blätterte weiter. »Dann Henry Wilde. Seine Eltern waren verkommen, er wurde in den Slums von Sydney geboren. Neun Jahre lang verübte er kleinere Straftaten, dann erschoß er einen Mann, der ihn beim Aufbrechen eines Safes überraschte. Der Mord war nur die zwangsläufige Folge der kleineren Verbrechen. Können Sie mir folgen?« »Ohne weiteres«, erwiderte Bony. »Die Lebensumstände der beiden Mörder waren also völlig verschieden. Oberflächlich betrachtet besteht ein gewaltiger Unterschied – und doch sind beide Blutsbrüder Kains. Hier an den Wänden hängen die Bilder von siebenundzwanzig Mördern. Es ist mir gelungen, bei neunzehn von ihnen ihre Herkunft fünf Generationen zurückzuverfolgen. Bis auf zwei Fälle finden wir überall Geisteskrankheit und Selbstmord unter den Vorfahren.« »Sie sind also der Meinung, daß Mörder geistig anomal sind?« 28
»Zweifellos.« »Dann sollten sie auch – da sie ja krank sind – nicht gehenkt werden?« »Cesare Lombroso beschäftigte sich intensiv mit dem Phänomen des Kriminellen, und er kam zu dem Schluß, daß man den Verbrecher an gewissen physischen Merkmalen erkennen könne. Auch ich kann einen Verbrecher sofort erkennen – ein Arzt hat es mich gelehrt. Nicht die kleinen Missetäter, wohl aber den potentiellen Mörder. Und deshalb sollte man Leute, die das unsichtbare Kainsmal tragen, nicht erst dann einsperren, wenn sie getötet haben, sondern bereits vor Begehung der Tat – denn eine durchschnittene Kehle läßt sich nicht mehr zusammenflicken.« »Es wird aber schwer sein, eine Instanz zu finden, die dafür die Verantwortung übernimmt«, gab Bony zu bedenken. »Über die Schwierigkeiten bin ich mir durchaus im klaren«, pflichtete Mr. Jelly bei. »Und doch bleibt die traurige Tatsache bestehen, daß viele Mörder von Kind an in eine geschlossene Anstalt gehört hätten.« »Dann sind Sie ein Gegner der Todesstrafe?« fragte Bony rasch. Mr. Jelly zog die Brauen hoch. »Jeder vernünftige Mensch muß die Todesstrafe bejahen, denn sie schreckt ab. Gewiß, einen Geisteskranken wird auch die Todesstrafe nicht von einem Mord abhalten, aber ein großer Teil der Mörder ist geistig durchaus normal. Nein, meines Erachtens sollte man die potentiellen Mörder unter Kontrolle halten, sollte jeden, der wegen einer – auch nur geringen – Straftat ins Gefängnis kommt, genau unter die Lupe nehmen.« Mr. Jelly spielte mit dem leeren Bilderrahmen, sprach weiter über Mord und Mörder – und Bony war immer wieder erstaunt, wie gut der Farmer über die Prozesse Bescheid wußte. »Ich bin überzeugt, daß auch Loftus ermordet wurde«, sagte Mr. Jelly schließlich. »Er ist keinesfalls selbst verschwunden. Ich habe da so meine Ideen. Eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen. Dann findet ihn jemand unter einem Stein oder in einem Loch. Und in diesen leeren Rahmen kommt das Bild von Loftus’ Mörder, sobald er gehenkt worden ist. Armer Loftus! Er hat keinem Menschen etwas Böses getan.« 29
Bony genoß den Besuch auf der Farm, und als er mit Hurley in die Unterkunft des Kaninchenamtes zurückkehrte, sagte er dies dem Grenzreiter. »Freut mich, daß es Ihnen gefallen hat«, meinte Hurley gähnend. »Ich habe mich jedenfalls prächtig unterhalten!«
5
V
ierzehn Tage waren nun seit dem Verschwinden von George Loftus vergangen. An diesem Morgen lud Bony in der Nähe des verunglückten Wagens eine Ladung Pfosten ab. Eric Hurley war losgeritten, um den Kaninchenzaun im Norden zu kontrollieren, und so begleitete der Hund des Grenzreiters Bony – sehr zu dessen Leidwesen. Es war ein herrlicher Tag – warm und wolkenlos. Aus Osten wehte eine leichte Brise. Die Luft war voll vom Tuckern der Erntemaschinen. Das Land, in dem neun Monate lang eine friedliche Ruhe geherrscht hatte, war von hektischem Leben erfüllt. Bony, der die Stille und Einsamkeit des australischen Busches gewöhnt war, fühlte sich hier noch weiter von seinen schwarzen Ahnen entfernt als im Getriebe der Großstädte. Von der Stelle, an der er sich befand, konnte er weit ins Land sehen. Hier hatten früher Eingeborene gelebt – jetzt war alles ein riesiger, buntgewürfelter Garten. Der Inspektor hatte den Boden gründlich untersucht – Zentimeter für Zentimeter. Allerdings hatte er dazwischen immer wieder am Zaun gearbeitet, um keinen Verdacht zu erregen, denn immer wieder kamen auf der Straße die mit Weizen beladenen Lastwagen vorüber. Er fand viele Fußspuren und auch die Abdrücke von Autoreifen, denn eine Menge Leute hatten sich den beschädigten Wagen angesehen. Aber auch Hunde hatten ihre Spuren hinterlassen, ein Waran, zwei Schlangen, und die scharfen Augen des Mischlings entdeckten sogar die win30
zige Vertiefung, die ein Tausendfüßler verursacht hatte. Bony fand einen Zigarrenstummel, der vom Regen durchweicht worden war, jetzt aber zundertrocken war. Streichhölzer, Zigarettenkippen, ein alter Stiefel, ein Schraubenschlüssel, ein alter Filzhut – zum Schluß hatte er eine ganze Sammlung zusammengetragen. Aber eine wichtige Spur fand er nicht. Bony summte leise vor sich hin, während er die alten morschen Zaunpfosten gegen neue austauschte. Ab und zu verschwand Ginger, um ein Kaninchen zu jagen, kehrte keuchend und mit hängender Zunge zurück, um im Schatten Kühlung zu suchen. Wenn eine Schmeißfliege zu dicht an seinem Kopf vorüberbrummte, schnappte er danach. Ein Güterzug donnerte in Richtung Burracoppin vorüber, der Lokomotivführer winkte Bony zu. Die Lastwagenfahrer waren gezwungen, jedesmal anzuhalten, um das Tor zu öffnen und auch wieder zu schließen, wenn sie den längsten Zaun der Welt passiert hatten. Allerdings taten sie es nur, weil sie Bony am Zaun arbeiten sahen. Normalerweise ließen sie das Tor gern offen – sie betrachteten es als eine Art Sport, erwischt und zu einer Geldstrafe verdonnert zu werden. Mittags holte sich Bony von der Staatsfarm Wasser und kochte Tee. Während der Tee zog, setzte er sich ans Steuer des verunglückten Wagens. Dann vergegenwärtigte er sich die Lage des betrunkenen Farmers. Wie es Loftus vermutlich getan hatte, langte er über die Lehne seines Sitzes nach hinten und hob eine der beiden leeren Bierflaschen auf, die er sich von John Muir hatte geben lassen. Schließlich kletterte er aus dem Wagen, und da sah er, wie leicht der betrunkene Farmer dabei in den Graben mit der Wasserleitung gefallen sein konnte – und dabei würde er sich zweifellos verletzt haben. Bony holte die beiden leeren Bierflaschen aus dem Wagen, überquerte die Straße und kehrte zu dem Lagerfeuer zurück, das er im Schatten eines Gimbletbaums angezündet hatte. Er öffnete das Lunchpäckchen, das Mrs. Poole ihm mitgegeben hatte, und aß. Ginger war wieder einmal auf Kaninchenjagd gegangen. Auf jeden Fall ist es kein simpler Mord mit Leiche, blutigem Messer und einer Menge Fingerabdrücken! dachte Bony. Vielleicht ist es überhaupt kein Mord, und Loftus hat tatsächlich sein Verschwinden 31
längst geplant gehabt. So etwas ist ja schon dagewesen. Dieser Mr. Jelly verschwindet ja auch von Zeit zu Zeit. Bony war überzeugt, daß im Umkreis von hundert Metern nichts zu finden war, was jemand im Verlaufe eines Kampfes hätte verloren haben können. Er hatte lediglich einen Zigarrenstummel entdeckt, drei Meter vom Wagen entfernt – ein winziger Hinweis auf das Geschehen in der Unglücksnacht. Die erkaltete Zigarre zwischen den Zähnen, war Loftus die schmale Straße entlanggefahren. Der Regen hatte gegen die Windschutzscheibe getrommelt, das Reaktionsvermögen des Farmers war durch den genossenen Alkohol herabgesetzt – so war er durch das geschlossene Gattertor gefahren. Das Tor wurde schwer beschädigt, Kühler und Kotflügel verbeult. Loftus hätte nun dreihundert Meter weiterfahren und am Eingang zur Staatsfarm wenden können, er hätte aber auch auf der Straße, die er entlanggekommen war, zurückstoßen und dann nach rechts in den am Zaun entlangführenden Weg einbiegen können. Er hatte sich für die zweite Möglichkeit entschieden, war aber so durcheinander gewesen, daß er das Steuer nach links einschlug und mit den Hinterrädern im Graben mit dem Wasserrohr landete. Mit eigener Kraft konnte er den Wagen nicht mehr flottmachen. Offensichtlich war Loftus zunächst noch schimpfend im Wagen sitzengeblieben. Dann mochte er sich an die erkaltete Zigarre erinnert haben, und warf sie im hohen Bogen aus dem Fenster. Schließlich fielen ihm die Bierflaschen ein, er leerte sie und ließ sie auf den Boden fallen. Doch schließlich stieg er aus. Er starrte in den gefährlich gähnenden Graben, hielt sich am Wagen fest, bis er sicher genug auf den Füßen stand, um loszumarschieren. Wäre Loftus an dieser Stelle überfallen worden, hätte Bony Kampfspuren finden müssen, denn der Farmer war ein kräftiger Mann. Während der Inspektor sich eine Zigarette drehte, kam der Hund zurück und legte ein totes Kaninchen zu Bonys Füßen. Nach der Mittagspause arbeitete Bony wieder am Zaun. Ginger folgte ihm mit dem toten Kaninchen im Maul, legte es ihm vor die Füße und trottete davon, um erneut auf Jagd zu gehen. Als Bony den morschen Pfosten ausgegraben hatte, kehrte der Hund mit einem zweiten Kaninchen zurück. Der Mischling tadelte Ginger wegen dieser 32
Mordlust, warf das erste tote Kaninchen in das Loch und grub es zusammen mit dem neuen Zaunpfahl ein. Um halb neun Uhr am Abend ging Bony ins Hotel. Mr. und Mrs. Wallace standen hinter der Theke. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um ihre Gäste zu bedienen. Die Anwesenden musterten den eintretenden Fremdling kurz, beachteten ihn dann aber nicht weiter. Bony bestellte ein Glas Bier und sah sich um. Da war zunächst Leonard Wallace, der Hotelier: ein kleines schmächtiges Männchen mit grauem Bart und Haar. Doch der erste Eindruck trog. Die niedrige, fliehende Stirn schien auf mangelnde Intelligenz zu deuten, aber die harten schwarzen Augen bewiesen das Gegenteil, und die tiefe volle Stimme paßte nicht zu dem schüchternen Wesen. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, daß die Frau dieses Mannes 85 Kilo wog. Trotz ihrer Fülle, trotz ihrer fünfundvierzig Jahre war Mrs. Wallace immer noch eine schöne Frau – wenn man von den ernsten, abweisenden Augen absah, die unter dunklen, geraden Brauen funkelten. Sie beobachtete ihren Mann fortwährend, und dabei erinnerte sie an eine Eidechse, die eine Spinne belauert. Mr. Wallace bediente die Männer an der Theke, während seine Frau an der Durchreiche die Leute im Gastzimmer abfertigte, was mit einer gewissen Koketterie geschah. Doch jedesmal, wenn sie zu ihrem Mann blickte, huschte ein geringschätziger Ausdruck über ihr Gesicht. Offensichtlich war Mr. Wallace nicht zu beneiden. »Ich habe Sie heute am Karnickelzaun gesehen«, sagte einer der Männer zu Bony. »Trinken Sie ein Glas mit mir?« »Mit Vergnügen. Ja, ich arbeite für das Kaninchenamt.« »He, Leonard – zwei Bier!« Bonys neuer Freund war in mittleren Jahren und kräftig gebaut. »He, Leonard! Wann kriege ich die zwei Bier«, rief der Mann schnaufend. Mr. Wallace bediente gerade einige Gäste am Ende der Theke, füllte die Gläser mit rasantem Schwung. Doch seiner Frau ging auch dies zu langsam. »Geh doch aus dem Wege, du langweiliger Patron!« zischte sie und schob ihn beiseite. Gleich darauf strahlte ihr Gesicht wieder, als sie die 33
Gläser auf die Theke stellte und einen Shilling kassierte. »Zwei Bier, Mr. Thorn.« Mr. Thorn grinste, und als sich die Wirtin wieder den anderen Gäste zuwandte, sagte er ungeniert laut zu Bony: »Armer Wallace! Aber glauben Sie ja nicht, daß er immer so ein Duckmäuser ist. Eine Zeitlang schluckt er alles, bis er ganz plötzlich bockbeinig wird. Und dann gibt es einen gewaltigen Krach! Gestern abend habe ich Überstunden gemacht, und als ich in die Stadt zurückkam, hatte das Hotel bereits geschlossen. Ich wollte Wallace unauffällig herunterbitten, und als ich an die Tür komme, höre ich, wie sie lostobt. Sie wisse genau, daß er Loftus umgebracht habe, schrie sie, und er brüllte, wenn sie nicht endlich den Mund halte, dann werde er sie ermorden. Nein, manchmal ist Leonard gar nicht so nett, wie er aussieht.« »Dann scheint Mrs. Wallace etwas zu wissen, wie?« »Möglich, aber ich bezweifle es. Sie hat eine üble Phantasie. Nicht wundern würde ich mich allerdings, wenn er seine Frau tatsächlich einmal umbringen sollte. Sie forderte ihn ja geradezu heraus dazu.« »Es ist doch aber seltsam, daß George Loftus einfach so verschwunden ist, oder?« meinte Bony nachdenklich. Mr. Thorn beugte sich diskret vor und hauchte Bony Bierdunst ins Gesicht. »So seltsam ist das gar nicht«, flüsterte er. »An seiner Stelle hätte ich es auch getan. Diese Kriminalbeamten haben ein großes Aufhebens um die Geschichte gemacht, weil sie nicht die geringste Phantasie besitzen. Ich aber habe Phantasie. Ich könnte Bücher schreiben über dieses Städtchen und seine Bewohner. Nein, George Loftus hat sich ganz einfach aus dem Staub gemacht. Er hatte finanzielle Sorgen. Plötzlich sah er die Chance, alles abzuschütteln, und er nützte sie. Er ist nur verschwunden, weil er pleite war. Er fuhr nach Perth, um mit seinen Gläubigern zu sprechen, dann lieh er sich noch zweihundert Pfund. Für einen Mann, der pleite ist, sind zweihundert Pfund eine Menge Geld – ist man aber verheiratet und muß das Geld in die Farm stekken, langt es nicht weit. Also inszenierte er ein geheimnisvolles Verschwinden, und während alles nach seiner Leiche sucht, kann er in aller Ruhe untertauchen. Im Grunde ist es ganz einfach: man muß sich nur einmal in die Lage des anderen versetzen.« 34
»Ja, wirklich ganz einfach«, pflichtete Bony bei. »Darf ich Sie jetzt zu einem Glas einladen?« »Gern. Ich schlage niemals –« »He, Dick!« dröhnte eine tiefe Baßstimme. »Ich habe gerade deinen Boss getroffen. Ein Rohrbruch bei zwohundertfünf!« »Wegen mir soll das Rohr ruhig brechen«, erwiderte Thorn. »Ich verlasse die Theke erst, wenn man mich hier rauswirft.« Er wandte sich an Bony. »Sehen Sie sich diesen Mann einmal an.« An dem der Tür zugekehrten Ende der Theke stand militärisch aufrecht ein Hüne, der alle anderen um Haupteslänge überragte. Ein massiger Kopf mit einem Kranz aus weißen Haaren ruhte auf breiten Schultern. Unter den scharfen blauen Augen hatten sich dicke rote Säcke gebildet – zweifellos die Folge von Sandstürmen und dem gleißenden Licht der Luftspiegelungen. Dieser Mann wirkte mit seinem weißen, bis zur Brust reichenden Bart und dem kurzärmeligen Flanellhemd wie ein Riese aus grauer Vorzeit. »Sehen Sie ihn an«, drängte Mr. Thorn nochmals. »Es macht ihm nichts aus, den ganzen Tag lang die Axt zu schwingen. Und wenn ein gewöhnlicher Sterblicher zwei Pfosten gesetzt hat, dann hat er bereits eine ganze Meile Zaun gebaut. Er kann auch mehr trinken als ich. Wissen Sie, wie alt er ist?« »Nein«, gab Bony offen zu. »Ich auch nicht. Niemand weiß es genau. Wir wissen lediglich, daß er bereits über Achtzig ist. Sie werden es nicht glauben, aber es ist so. Anscheinend stirbt er überhaupt nicht. Wir nennen ihn das ›Sinnbild Australiens‹.«
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innbild Australiens! Welch ein Name! Wie zutreffend war er gewählt. Mut, Kraft, Zuverlässigkeit, Zähigkeit und Zielstrebigkeit: das Sinnbild Australiens! Unerschrocken und unsterblich. Ihn zierte das Alter wie eine Juwelenkrone, während andere wie von einer bleiernen Last niedergedrückt wurden. Über achtzig Jahre alt! Es schien unglaublich – und doch, wenn man in diese blauen Augen blickte, erkannte man die gewaltige Erfahrung, die dieser Mann in einem langen Leben gesammelt hatte. »Wer ist das?« fragte Bony schließlich. »Er hat zehn Meilen vor dem Städtchen eine kleine Weizenfarm«, erklärte Mr. Thorn und wischte sich mit dem behaarten Handrücken über den Mund. »Er fährt heute noch wie in den alten Tagen sechzehnspännig, bringt jeden zweiten Tag zehn Tonnen Weizen zur Bahn. Seine Söhne bedienen die Erntemaschinen. Hallo, da ist Mick Landon!« »Wo?« »Da drüben!« Mr. Thorn deutete auf einen Mann, der soeben eingetreten war. »Sehen Sie ihn?« Mr. Thorn hätte es gar nicht nötig gehabt, auf ihn zu zeigen, denn die Leute im Gastzimmer begrüßten den jungen, gutaussehenden Mann mit dem blonden Haar und den achatblauen Augen mit großem Hallo. Die Ebenmäßigkeit der Züge wurde allerdings beeinträchtigt durch eine seltsame Ausdruckslosigkeit der Augen. Diese kalten Fischaugen musterten die Männer, blickten prüfend zu Mrs. Wallace und den Gästen an der Theke. Ein agiler, zielbewußter Mann in der Vollkraft seiner Jahre. »Er arbeitet bei Loftus«, erklärte Mr. Thorn wie ein Zoodirektor, der auf einige besonders seltene Tiere hinweisen möchte. »Mick Landon 36
versteht etwas von der Landwirtschaft. Wenn die Weiber nicht wären, hätte er wohl längst eine eigene Farm. Die Weiber sind ganz verrückt nach ihm. Er kann mit ihnen machen, was er will. Sogar die verheirateten Frauen verlieren den Verstand, wenn er sie nur anblickt. Aber trotz allem ist er ein prima Kerl, und sollte Loftus tatsächlich nicht mehr am Leben sein, heiratet Mick vielleicht die Witwe. Na ja, sie ist recht hübsch, und er ein guter Farmer. He, Leonard, willst du uns nicht bedienen?« »Ich bin ein gebranntes Kind«, brummte der Wirt. »Jetzt passen Sie mal auf, wie sich die beiden in die Haare kriegen!« flüsterte Mr. Thorn Bony ins Ohr und lachte. »He, Mrs. Wallace! Bekommen wir nichts zu trinken? Zwei Bier bitte! Leonard möchte ins Bett gehen.« Das Gesicht von Mrs. Wallace verfinsterte sich, sie schob ihren Mann mit einer unwilligen Geste beiseite. Dann faßte sie mit ihrer riesigen Hand nach den beiden Gläsern, drückte den Bierzapfhebel herunter. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit strömte in das erste Henkelglas, füllte es bis zum Rand, doch als das zweite halb voll war, kam nur noch Schaum, und die Kohlensäure zischte. Man konnte direkt sehen, wie sich Mrs. Wallace zusammenriß und ruhig zu ihrem Mann sagte: »Geh runter und steck ein frisches Faß an.« »Schenken Sie doch endlich voll, Missus!« »Eine Minute Geduld, Mr. Garth.« »Ist das ein langweiliger Laden!« knurrte Mr. Garth. »Mach endlich los, Leonard, sonst schläfst du noch im Stehen ein«, zischte Mrs. Wallace, und man spürte deutlich die eisige Kälte, die zwischen ihren falschen Zähnen hindurchströmte. »Der langweiligste Laden, den ich je betreten habe«, sagte das Sinnbild Australiens nochmals. Die Umstehenden lachten, und Bony hatte das Gefühl, daß irgend etwas in der Luft lag. Mr. Wallace hatte inzwischen die Falltür geöffnet, die in den Keller führte. Mit wütendem Gesicht, aber einem Rest Würde schritt er die sechs Stufen hinab und schloß mit geübten Griffen ein neues Faß an. Mrs. Wallace stand zwischen der offenen Falltür und der Durchreiche zum Gastzimmer, während ihr einer der ›Honoratioren‹ eine 37
fragwürdige Geschichte erzählte. Jemand verlangte Zigaretten, doch die Wirtin achtete nicht darauf. Noch einmal verbreitete sich das Sinnbild Australiens laut und deutlich, was er von der Bedienung im Hotel von Burracoppin halte. Der andere Mann verlangte noch einmal energisch seine Zigaretten. Mrs. Wallace geriet in einen Zwiespalt: sie wollte unbedingt das Ende der Geschichte hören, wurde aber durch das Lärmen ihrer Gäste abgelenkt. Überdies ärgerte sie sich über die Langsamkeit ihres Ehegesponses. Endlich erschien Mr. Wallace aus der Unterwelt – eine wichtige Aufgabe war gewissenhaft erfüllt. Seine Frau sah, wie er aus dem Dunkel des Kellers auftauchte, und als sich sein Kopf auf halbem Weg zwischen Luke und Thekenrand befand, rief seine Frau mit lauter, beschwörender Stimme: »Lazarus, erscheine!« Totenstille herrschte plötzlich im Raum, langsam tauchte über der Theke das leichenblasse Gesicht von Mr. Wallace auf. Die schwarzen Augen glühten, und in seinem grauen Haar hatte sich ein Spinngewebe verfangen. Schallendes Gelächter brauste auf, übertönte das Zuknallen der Falltür. Alle Augen waren auf die Wirtsleute gerichtet – die walkürenhafte Frau hatte die Hände in die breiten Hüften gestemmt, das Männchen aber ballte hinter seinem Rücken die Fäuste. »Mörder!« fauchte Mrs. Wallace. »Dumme Ziege!« zischte ihr Mann. Entweder verließ ihn in diesem Moment der Mut, oder er wußte aus langjähriger Erfahrung, wenn es Zeit war, den Rückzug anzutreten. Auf jeden Fall setzte er mit erstaunlicher Gelenkigkeit über die Theke, drängte sich zwischen den Gästen hindurch und entschwand durch die Tür. Mrs. Wallace hatte ein volles Bierglas in der Hand, und mit wütendem Schwung kippte sie den Inhalt hinter ihrem Mann her. In Anbetracht der langen Praxis, die sie zweifellos haben mußte, hatte sie äußerst schlecht gezielt. Das Bier ergoß sich über das Sinnbild Australiens, das gerade dem entschwindenden Mr. Wallace nachblickte. Jeder normale Mensch hätte sich unter einigen kräftigen Flüchen den Bart abgewischt, aber Mr. Garth hatte viele Jahre in den Kneipen der westaustralischen Goldfelder zugebracht, und außerdem wußte er nicht, wer für diese Bierflut verantwortlich war. Nun hielt er es 38
für den einfachsten Weg, den Schuldigen zu bestrafen, indem er alle Anwesenden kurzerhand vor die Tür setzte. Einer nach dem anderen wurde von den schraubstockartigen Händen gepackt, aufgehoben – und dann flog er auch schon in hohem Bogen durch die Tür, um drei Meter weiter zu landen. Bony erging es nicht besser. Doch während die anderen, die Mr. Garth ja kannten, sich ohne Murren erhoben, ging Kriminalinspektor Bonaparte mit flammenden Augen zum Hotel zurück. Auf der Schwelle blieb er überrascht stehen. Mitten im Raum stand das Sinnbild Australiens und bat um ein Glas Bier. »Nein!« donnerte die Wirtin und schob sich langsam hinter der Theke vor. »Nur noch ein Bier, Madame.« »Raus!« »Geben Sie mir noch ein Bier, und ich werde ganz ruhig gehen.« »Es ist mir egal, wie Sie gehen – aber verschwinden Sie!« Wie ein Schlachtschiff, das aus dem Hafen auslief, näherte sich Mrs. Wallace dem Sinnbild Australiens. Mr. Garth war ein Hüne – Mrs. Wallace nicht ganz so groß, aber umfangreicher. Bony konnte ihr Gesicht sehen, es war von Wut verzerrt. Jetzt hätte die Klugheit Mr. Garth gebieten müssen, den Rückzug anzutreten, doch er zögerte zu lange. Und so, wie er die anderen Männer aus dem Hotel befördert hatte, wurde er nun von der Wirtin gepackt und auf die Straße gesetzt. Die Tür wurde zugeschlagen und gleich darauf eine zweite. Schwere Schritte stapften einen Korridor entlang, weitere Türen wurden zugeworfen und verriegelt. Mrs. Wallace war Siegerin geblieben, hatte die Festung sicher in der Hand. »Ein tolles Weib!« verkündete das Sinnbild Australiens und lachte trocken. »Wer hat eigentlich das Bier nach mir geschüttet?« »Das war sie selbst«, erwiderte Mr. Thorn. »Warum hat mir das eigentlich niemand gesagt?« meinte das Sinnbild Australiens und schüttelte verwundert den Kopf. »Wir hätten noch in aller Ruhe etwas trinken können«, kam eine Stimme aus der Dunkelheit. Mr. Garth lachte erneut. »Na ja! Immerhin hatten wir unseren Spaß. Und jetzt muß ich meine Pferde füttern. Gute Nacht!« 39
Trotz der rohen Behandlung, die ihnen widerfahren war, gingen die Männer ruhig nach Hause. Als Bony am Depot des Kaninchenamtes ankam, überlegte er es sich anders und schlenderte die zwischen Büschen nach Süden führende Straße entlang. Noch einmal ließ er die Ereignisse des Abends Revue passieren. Er war nicht ins Hotel gegangen, weil er Gesellschaft suchte oder sich betrinken wollte. Aber aus Erfahrung wußte er, daß sich im australischen Busch die Männer an der Theke und die Frauen im Gemeindesaal trafen. Die meist im Freien arbeitenden Männer sind nicht sehr gesprächig, aber wenn sie etwas Alkohol getrunken haben und sich unter ihresgleichen befinden, gehen sie aus sich heraus. Und man kann sich leicht vorstellen, wieviel sich die Frauen von den einsam gelegenen Farmen zu erzählen haben, wenn sie zu einer Veranstaltung im Gemeindesaal zusammenkommen. Tief in Gedanken versunken wanderte Bony unter den Bäumem entlang. Gewiß, Leonard Wallace könnte Loftus umgebracht haben, denn unter der stillen Oberfläche schlummerte zweifellos ein Vulkan.. Die Anschuldigung der Hotelwirtin, ihr Mann sei ein Mörder, nahm Bony nicht ernst. Das hatte die Frau in ihrer Erregung gesagt, hatte ihren Mann verletzen wollen, den sie – wenn die Umstände es erforderten – gewiß genauso leidenschaftlich verteidigt hätte. Andererseits enthielt Mr. Thorns Theorie durchaus logische Gesichtspunkte. Bony hatte bisher kein Motiv entdecken können, weshalb jemand hätte Loftus töten sollen. Lediglich ein zufällig vorüberkommender Landstreicher hätte der Täter sein können. Doch es bestanden recht vernünftige Gründe dafür, daß sich der Farmer ganz einfach aus dem Staub gemacht hatte. Ein wohlhabender Mann, allgemein beliebt, hatte sich plötzlich in finanziellen Schwierigkeiten befunden. Und nachdem es ihm gelungen war, in Perth einen Kredit aufzunehmen, war er ganz einfach der Versuchung erlegen, mit diesem Geld irgendwo in weiter Ferne ein neues Leben zu beginnen. Doch es half nichts: das Verschwinden des Farmers blieb unaufgeklärt. Als weit aus dem Süden das dumpfe Brausen erklang, mit dem sich die heftige Brise ankündigte, die um diese Jahreszeit und um diese Nachtstunde mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks von der Küste herüberwehte, kehrte Bony um. Den ›Doktor aus Albany‹ nann40
ten die Leute diesen Wind, weil er nach der Hitze des Tages erquikkende Kühlung brachte. Bony befand sich ungefähr eine Viertelmeile vom Depot entfernt, und das Brausen des Windes klang wie ferne Brandung, als der helle Stamm eines Weißgummibaums die Scheinwerfer eines sich nähernden Wagens reflektierte. Der Inspektor drehte sich um. Das Motorengeräusch war nicht mehr zu hören, weil in diesem Moment ein Windstoß durch die Blätter fuhr und eine gewaltige Staubwolke von der Straße auftrieb. Bony konnte später nicht sagen, warum er hinter einen Baumstamm getreten war, bevor der Fahrer des Wagens ihn sehen konnte. Wahrscheinlich wären es seine mütterlichen Ahnen, die ihm rieten, vor dem sich nähernden Unbekannten Deckung zu suchen. Dem Motorenklang nach war es ein Sportwagen. Plötzlich ertönte ein Knall, das Auto geriet gefährlich ins Schleudern und wurde unmittelbar vor dem heimlichen Späher zum Stehen gebracht. Ein Mann stieg aus und leuchtete mit einer Taschenlampe die Reifen ab. »Ein Platter!« sagte er zu jemandem, der offensichtlich in dem Sportcoupe sitzen geblieben war. Während der Fahrer Wagenheber und Schraubenschlüssel holte, stieg sein Begleiter aus – ein großer, breitschultriger Mann, der Popelinmantel und Hut trug. Gemeinsam zogen sie das Ersatzrad auf, wobei der Fahrer unaufhörlich fluchte. Bony zweifelte nicht, daß der große breitschultrige Mann, der die ganze Zeit schwieg, Mr. Jelly war. Nach vier Minuten war der Radwechsel vollzogen, der Wagen fuhr weiter. Die roten Schlußlichter wurden immer kleiner, schließlich bog das Auto nach links ein – in die Straße, die nach Merredin und Perth führte. Nachdenklich trat Bony hinter dem Baum hervor und ging nach Hause. Warum mochte Mr. Jelly zu dieser späten Stunde seine Farm verlassen haben? Der Mischling grübelte immer noch über dieses Geheimnis nach, als er beim Depot ankam. Am Tor blieb er stehen, weil er vom Hotel herüber eine Stimme vernahm. »Laß mich doch ins Haus, Lizzie«, flehte Mr. Wallace. Keine Antwort. »Hallo, Lizzie! Laß mich doch rein, altes Mädchen!« 41
Ein Zimmer im ersten Stock war erleuchtet, und im Lichtschein, der durch die Ritzen des heruntergelassenen Rolladens fiel, bemerkte Bony Mrs. Wallace, die auf der Veranda stand. Sie hob den Arm, gleich darauf klirrte vor dem Hotel Porzellan, und ihr Mann schrie erschrokken auf. Als der Hotelier zum Gartentor rannte, preßte Bony sich tief in den Schatten des Wellblechzauns. Wallace bemerkte ihn nicht, er riß das Tor auf und stürmte mit langen Schritten zum Haus des Kanincheninspektors. Dort klopfte er, und nach einigen Sekunden erschien der Inspektor. »Guten Abend, Mr. Gray«, sagte Wallace höflich. »Würden Sie mir bitte Ihre Doppelbüchse leihen?« »Tut mir leid, Leonard, aber die ist bei meinem Sohn.« »Ach so.« Mr. Wallace schien enttäuscht. »Na schön, entschuldigen Sie die Störung. Gute Nacht!« Die Tür wurde geschlossen, Wallace verschwand hinter dem Hotel. Wahrscheinlich wollte er im Stall oder im Schuppen schlafen. Langsam ging Bony zu seinem Zimmer. Eigentlich seltsam, dachte er – da kommt um Mitternacht jemand zu Gray, um sich ein Gewehr auszuleihen, doch der Kanincheninspektor ist nicht weiter überrascht und will auch nicht wissen, wozu die Büchse benötigt wird.
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evor Bony mit seiner Arbeit am Zaun begann, schrieb er einen Brief an das Polizeipräsidium in Perth. Er bat um Einzelheiten über die Verschuldung der Loftus-Farm. Ferner wollte er wissen, wieviel Geld sich George Loftus bei seinem Aufenthalt in Perth beschafft hatte. Zum Schluß bat er darum, daß sich der Polizeichef von Merredin so bald wie möglich mit Inspektor Bonaparte in Burracoppin in Verbindung setzte. Anschließend schrieb er noch einen Brief an seine Frau. 42
Nachdem er den Lastwagen aus der Garage geholt und die Briefe zur Post gebracht hatte, ging er hinüber zu Mrs. Poole, um sich sein Lunchpaket zu holen. Die Pensionswirtin hatte ein von Ärger gerötetetes Gesicht. »Wenn du eher aufgestanden wärst, hätte Mrs. Black keine Gelegenheit gehabt, unsere Kuh zu melken«, fuhr sie den älteren ihrer beiden Söhne an. »Du kennst sie doch. Wenn du morgen früh nicht rechtzeitig aufstehst, gieße ich dir kaltes Wasser über den Kopf.« »Wenn ich die Kuh noch vor der Alten melken wollte, müßte ich vor Tagesanbruch aufstehen«, verteidigte sich der Zwölfjährige. »Dann stehst du morgen eben vor Tagesanbruch auf«, entschied Mrs. Poole, dann wandte sie sich an Bony. »Das ist nun schon das zweitemal in dieser Woche, daß die Kuh keinen Tropfen Milch gibt, wenn Tom sie melken will.« »Wo ist denn die Kuh während der Nacht?« »Im Bett – mit diesem Schurken von Ehemann vermutlich.« Bony blinzelte irritiert. »Seit wann hat denn eine Kuh einen Ehemann?« Mrs. Poole schien Mühe zu haben, ihre Haltung zu bewahren. »Ich sprach von Mrs. Black«, erwiderte sie steif. »Ach so. Ich dachte, Sie sprechen von der Kuh.« »Das tue ich auch.« Bonys Verwirrung wurde immer größer. Der kleine Tom lachte. »Das ist nur der Spitzname von Mrs. Black.« Er erhielt von seiner Mutter eine schallende Ohrfeige, dann wandte sich die Pensionswirtin an Bony. »Wir wissen nicht, wo wir die Kuh über Nacht unterbringen sollen. Tagsüber binden wir sie an und geben ihr etwas Futter, und wenn wir schlafen gehen, lassen wir sie los, damit sie sich draußen etwas Grünzeug sucht. Manchmal ist sie am Morgen ganz in der Nähe, manchmal aber auch eine Meile entfernt. Goldie läuft immer über die Gleise zu Mrs. Black. Sie füttert Goldie mit Zuckerwerk und melkt sie, bevor sie unsere Kuh wegjagt. Ich weiß es.« »Haben Sie tatsächlich gesehen, wie Mrs. Black die Kuh gemolken hat?« »Nein. Aber es liegt doch auf der Hand?« 43
»Wo wohnt diese Dame denn?« »Hinter dem Gemeindesaal.« »Dort leben doch gewiß auch noch andere Leute. Da wäre es doch durchaus möglich, daß eine andere Frau die Milch stiehlt.« »O nein! Das ist nur Mrs. Black. Sie hat auch den Bart ihres Großvaters als Roßhaar verkauft.« Grinsend ging Bony zum Lastwagen und fuhr langsam die schmale, gewundene Straße neben dem Graben mit dem Wasserrohr entlang. Beim Gattertor hielt er an, nahm Bleistift und Papier und untersuchte alle Pfosten zwischen der Eisenbahnlinie und der Old York Road. Sollte jemand Bony beobachtet haben, dürfte er zweifellos zu dem Schluß gelangt sein, daß der Mischling kontrollierte, welche Pfosten erneuerungsbedürftig waren, und sich die jeweilige Anzahl notierte. In Wirklichkeit interessierte sich Bony weniger für die Beschaffenheit der Zaunpfähle als vielmehr für den nur wenig benutzten Weg, der auf der Westseite des Zaunes entlangführte. Vorausgesetzt, George Loftus war in den frühen Morgenstunden des 3. November hier entlanggekommen, war es durchaus möglich, daß etwas zu finden war, das den Beweis für seine Anwesenheit erbrachte. Dabei war es unerheblich, daß es in jener Nacht heftig geregnet hatte und seitdem bereits fünfzehn Tage vergangen waren. Bony wußte genau, daß der schwarze Tracker, der von der Polizei hinzugezogen worden war, nur versagt hatte, weil der australische Eingeborene zu schnell resigniert. Gelingt es, ihn davon zu überzeugen, daß Spuren vorhanden sein müssen, wird er seinen ganzen Stolz dareinsetzen, sie zu finden – und dann ist er zuverlässiger als ein Bluthund. Der Tracker aber, den man am 4. November aus dem reichlich zwanzig Meilen entfernten Merredin geholt hatte, glaubte, daß der Regen alle Spuren weggeschwemmt habe. Er war also von vornherein überzeugt, keine Spuren finden zu können, und deshalb suchte er auch nicht nach Dingen, die einem weißen Kriminalisten wichtige Hinweise gegegeben hätten. Während also der Schwarze sofort resignierte, nahm der Weiße nichts für erwiesen an, solange der Beweis fehlte. Bony hatte von seinem weißen Vater die Vernunft, von seiner schwarzen Mutter die Geduld geerbt. Vernunft und Geduld, gepaart mit einem überdurchschnittlichen 44
Wissen, hatten den Mischling zu einem hervorragenden Kriminalisten gemacht. Langsam ging Bony den Weg entlang, beobachtete die unzähligen Ameisen, von denen es hier mindestens ein Dutzend Arten gab: die seltene, fast vier Zentimeter lange, angriffslustige Bulldoggenameise, deren Biß giftig war, und die einen Zentimeter lange rote Ameise. Dann die kleinen schwarzen Ameisen, die nicht größer als eine Stecknadelkuppe waren und in riesigen Scharen um Baumstämme und Zweige schwärmten, um Honig aus den Blüten zu sammeln. Da waren große langbeinige Ameisen, die sich seltsam langsam vorwärtsbewegten und ihre Eier unter den von der Sonne erhitzten Steinen ausbrüten ließen. Da das Gelände nach Osten zu abfiel, hatte der Regen Zweige und abgestorbene Grasbüschel gegen den Maschendraht des Zaunes geschwemmt. Die Termiten hatten dieses Treibgut sofort entdeckt, hatten alles mit Gängen durchzogen, mit einem Gemisch aus Sand und Körpersäften ausbetoniert. Auch Bony übersah das Schwemmgut nicht, zerstörte das Werk der weißen Ameisen, die nun, aus ihrer geliebten Dunkelheit gerissen, sofort von den Bulldoggenameisen verzehrt wurden. Auf diese Weise entdeckte er ein kleines Notizbuch. Es war von der Regenflut gegen den Zaun geschwemmt, mit Zweigen und Sand bedeckt worden und so den Augen des schwarzen Spurensuchers verborgen geblieben. Der Umschlag und die äußeren Seiten waren von den Termiten zerfressen worden, doch die erhalten gebliebenen Seiten enthielten Einträge, die zweifellos von George Loftus während seines Aufenthaltes in Perth gemacht worden waren. Damit war unwiderlegbar bewiesen, daß George Loftus nicht an der Stelle ermordet worden war, an der sein beschädigter Wagen stand. Sergeant Westbury, der Polizeichef von Merredin, war mit seinem Leben restlos zufrieden – mit seiner Frau, den drei Söhnen, mit seiner Stellung und dem Bankkonto. Kein Wunder, daß er ein rotes Gesicht hatte, stämmig war und etwas zuviel Speck angesetzt hatte. Der Sergeant traf um zehn Uhr mit dem Güterzug in Burracoppin ein, suchte sofort Inspektor Gray auf und ließ sich von ihm zu Bony fahren. Der Sergeant war mit Inspektor Gray verwandt, denn ihre Frauen waren Cousinen. 45
»Dieser Mischling ist doch ein Sprüchemacher, oder?« meinte Inspektor Gray. »Dachte ich auch«, erwiderte der Sergeant, und seine barsche Stimme paßte nicht recht zu dem freundlichen Gesicht. Die stahlblauen Augen zusammengekniffen, sprach er stets wie ein Mann, der nur ungern den Mund aufmacht. »Erhielt neulich einen Brief. Vom Präsidenten persönlich. Soll Inspektor Bonaparte jede gewünschte Unterstützung bieten. Hielt den Präsidenten für verrückt. Vor zwei Tagen kam Mason. Du kennst doch Sergeant Mason. Ich sage zu ihm: ›Was soll eigentlich dieser Mischling in Burracoppin?‹ Erwidert er: ›Pst! Nicht so laut!‹ Nein, Fred – er ist kein Sprüchemacher.« »Macht einen ganz gebildeten Eindruck.« Gray nickte. »Hm – hat wohl Universität besucht. Bei uns gibt es ja keine Rassenschranken. Wir sind eben eine fortschrittliche Nation.« »Er hat mir erzählt, daß er bisher nur einen einzigen Fall nicht aufgeklärt hat.« Sergeant Westbury blickte den Kanincheninspektor an. »Dann hat er dich auf den Arm genommen. Sergeant Mason ist ein tüchtiger Beamter, und Mason sagte mir, daß Bonaparte bisher jeden Fall aufgeklärt hat. Sein Chef hält die größten Stücke von ihm. Mason ist mit Muir befreundet, und Muir behauptet, daß der Mischling hundertmal klüger ist als er selbst. Und Muir ist kein Dummkopf, das kannst du mir glauben.« »Aber warum haben wir noch nie etwas über ihn in den Zeitungen gelesen, wenn er so tüchtig ist?« »Dazu ist er viel zu klug. Die Unterwelt kennt ihn nicht, hat nie von ihm gehört. Niemand weiß, daß er Kriminalbeamter ist. Nein, er ist kein Sprüchemacher.« Bony arbeitete auf halbem Weg zwischen Eisenbahn und Old York Road am Zaun. Sergeant Westbury kletterte ungelenk aus dem Lastwagen und trat zu dem Mischling. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht zu salutieren. Ich habe Befehl, mich bei Ihnen zu melden«, schnarrte er. »Ausdrückliche Anweisung, nicht zu salutieren.« 46
»Gut, dann brauche ich Sie nicht erst darum zu bitten. Das Leben ist viel zu kurz, als daß wir die kostbare Zeit mit unnötigen Fisimatenten vergeuden dürfen.« Bony lächelte, reichte dem Sergeanten die Hand. »Tut mir leid, daß Sie wegen mir extra von Merredin herübergekommen sind, aber da wären einige Aufträge zu erledigen.« »Macht gar nichts. Ist mir ein Vergnügen, Sir.« »Schön, daß Sie daran denken, mich Bony zu nennen.« »Entschuldigung, Sir – äh, Bony.« Das Gesicht des Sergeanten überzog sich mit einer tiefen Röte. »Schon gut, Sergeant. Nun, haben Sie etwas von George Loftus gehört?« »Nein.« »Haben Sie Einzelheiten über die finanzielle Situation des Vermißten mitgebracht?« Der Sergeant zerrte einen Umschlag aus der Tasche seiner Uniformjacke. »Hier sind alle gewünschten Einzelheiten.« Bony studierte den Bericht. Die Landwirtschaftsbank hatte einen Kredit zur Verfügung gestellt, der allerdings nicht bar ausgezahlt wurde, sondern Verrechnungszwecken diente. Doch bei der Bank von Neusüdwales lagen die Verhältnisse anders. Hier hatte Loftus ein Guthaben von hundertdreiundsiebzig Pfund besessen, wovon er am 1. November hundert Pfund in Einpfundnoten abgehoben hatte. »Es besteht also die Möglichkeit, daß Loftus eine größere Geldsumme bei sich hatte, als er in Burracoppin ankam«, stellte Bony fest. »Sieht so aus«, pflichtete der Sergeant bei. »Kannten Sie Loftus?« »Nein, kann mich nicht an ihn erinnern.« »Waren Sie mit dem schwarzen Tracker hier, den man aus Merredin geholt hatte?« »Ja.« »Wie hat er gearbeitet?« »Gut. Ein tüchtiger Mann! Intelligent.« »Hat er auch hier an diesem Weg nach Spuren gesucht?« »Ja, und auch noch jenseits der Old York Road.« »Dann muß er halb blind sein.« 47
»Bestimmt nicht!« widersprach der Sergeant. »Falls Sie etwas gefunden haben, hatten Sie lediglich Glück. Ich habe selbst auch nach Spuren gesucht.« »Wunderbar!« Bony lächelte amüsiert. »Dann sehen Sie sich doch einmal diese Stelle hier an. Zweifellos erkennen Sie die Spur, die ein Tausendfüßler in der letzten Stunde hinterlassen hat.« Sergeant Westbury beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie, sein Gesicht war immer noch dunkelrot. »Zum Teufel auch, ich sehe nichts!« »Betrachten Sie die Stelle noch einmal ganz genau«, bat Bony, der die Ehrlichkeit des Sergeanten sympathisch fand. »Sehen Sie doch – entlang dieses Zweiges.« »Ich kann keine Spur sehen.« »Sehr gut. Ich nämlich auch nicht, weil da gar keine Spur ist.« Der Sergeant schnellte in die Höhe. »Aber Sie sagten doch –« »Ich bat Sie lediglich, nach einer Spur zu suchen, die überhaupt nicht existiert. Sie gaben offen zu, nichts zu erkennen, während andere Leute gewiß behauptet hätten, die Spur zu sehen, nur, um sich nicht vor mir zu blamieren. Ich schätze Ehrlichkeit. Nun weiß ich, daß ich mich auf Sie verlassen kann. So, und jetzt erzählen Sie mir einmal, was Sie von dem Fall halten.« Der Sergeant aus Merredin strahlte über das ganze Gesicht. »Es sieht ganz so aus, als ob Loftus sich aus dem Staub gemacht hat«, sagte er. »Warum sonst sollte er hundert Pfund in kleinen Noten abheben, kurz bevor er Perth wieder verläßt? Wenn ich nach Perth fahre, hebe ich vorher Geld ab. Hätte ich ein Konto in Perth, dann würde ich das Geld abheben, sobald ich eintreffe – nicht kurz vor der Rückfahrt.« »Was halten Sie von Intuition?« fragte Bony. »Ich? Gar nichts. Aber meine Frau sehr viel. Sobald ich einmal in die Kneipe gehen möchte, hat sie irgendwelche Einfälle.« »Offensichtlich ist Ihre Frau sehr klug. Es gibt Zeiten, in denen ich mich ebenfalls auf meinen sechsten Sinn verlasse – und das nennt man ja gemeinhin Intuition. Nun habe ich nicht den geringsten Beweis dafür, aber ich fühle, daß George Loftus getötet worden ist. In einem Umkreis von fünf Meilen liegt die Leiche des vermißten Farmers, und 48
ich bin überzeugt, sie zu finden. Es gibt nämlich kein perfektes Verbrechen, weil es keinen perfekten Verbrecher gibt, obwohl sich jeder Mörder für die geniale Ausnahme hält. Fast kann man von hier aus den kaputten Wagen von Loftus oben bei der Bahnlinie sehen. Ich weiß, daß er sehr ärgerlich war, als er aus seinem Auto stieg – einen Zigarrenstummel warf er in weitem Bogen weg. Ich weiß ferner, daß er hier entlanggekommen ist. Er erinnerte sich plötzlich, daß er noch eine Zigarre einstecken hatte, und zündete sie da drüben bei diesem großen Gimletbaum an. Ich zündete mir ebenfalls eine Zigarre an und rauchte sehr schnell, während ich zum Tor an der Old York Road marschierte. Als ich sie zu Ende geraucht hatte, warf ich den Stummel weg – und siebenunddreißg Meter von dieser Stelle entfernt fand ich den Stummel, den Loftus weggeworfen hatte. Es steht also fest, daß Loftus die Old York Road überquert hat. Nun dürfte es reichlich unwahrscheinlich sein, daß George Loftus seinen Wagen oben bei der Wasserleitung vorsätzlich ramponiert, dann eine volle Meile läuft, um auf der Old York Road ein anderes Auto zu besteigen und damit zu verschwinden.« »Vielleicht wollte er mit seinem eigenen Wagen bis zur Old York Road fahren und geriet aus Versehen in den Graben der Wasserleitung«, gab der Sergeant zu bedenken. »Ganz bestimmt wurde der Wagen nicht vorsätzlich in den Graben gefahren – es war ein Unfall. Er wäre ja sonst nicht einverstanden gewesen, als Wallace ihn begleiten wollte. Die beiden gerieten erst in Streit, als sie die Garage passiert hatten.« »Vielleicht steckt Wallace mit Loftus unter einer Decke«, beharrte der Sergeant. »Das sind durchaus vernünftige Überlegungen«, gab Bony zu. »Warum aber war Loftus so außer sich? Es steht einwandfrei fest, daß er wütend war: Er warf zwei leere Bierflaschen und zwei Zigarrenstummel in hohem Bogen weg, und um da drüben bei dem Gimletbaum die zweite Zigarre anzuzünden, benötigte er fünf Streichhölzer. Er war sogar derart erregt, daß er nicht bemerkte, wie sein Notizbuch herunterfiel, als er die zweite Zigarre aus der Tasche zog. Er war also äußerst wütend, trotz des genossenen Alkohols – und uns stellt sich nun die Frage: warum war er so wütend? Die Antwort ist einfach: weil er mit dem Wagen in den Graben der Wasserleitung geraten war und 49
nun mitten in der Nacht bei strömendem Regen zwei Meilen zu Fuß gehen mußte. Außerdem ärgerte er sich, daß er nicht an der Garagenecke abgebogen war, denn dann hätte er sich die ganzen Scherereien erspart. Hätte er sein Verschwinden geplant gehabt, würde er in Perth sein ganzes Geld abgehoben haben – aber er hätte bestimmt nicht erst den Wagen in den Graben gefahren und wäre dann zwei Meilen in Richtung auf seine Farm zu Fuß gegangen.« Das leuchtete Sergeant Westbury durchaus ein, trotzdem erhob er noch einen Einwand. »Wozu hat er aber das Geld dann abgehoben?« fragte er kopfschüttelnd. »Das müssen wir noch herausfinden, Sergeant. Wir wollen nichts übereilen. Geduld ist für einen guten Kriminalisten oberstes Gebot. Einen Schritt sind wir der Lösung bereits näher gekommen. Wir wissen jetzt, daß Loftus nicht freiwillig verschwunden ist – er wurde entweder getötet oder entführt.« »Sie erwähnten vorhin ein Notizbuch.« »Ja. Es war von dem Baum, unter dem Loftus sich die zweite Zigarre angezündet hatte, über den Weg hinweg gegen den Zaun gespült worden. Ich fand die fünf abgebrannten Streichhölzer und das Notizbuch zwischen angeschwemmten Zweigen und Sand. Sehen Sie: die äußeren Teile des Notizbuches wurden von den Termiten zerfressen, und diese weißen Holzsplitter sind alles, was die Ameisen von den fünf Streichhölzern übrigließen.« »Enthält das Notizbuch wichtige Hinweise?« »Daraus geht hervor, daß es Loftus gehörte und daß er es in Perth bei sich hatte. Wie gesagt – den ersten Schritt zur Aufklärung des Falles haben wir getan. Und nun notieren Sie sich bitte einige Instruktionen.« »Ich höre.« »Ich benötige nähere Einzelheiten über Mrs. Loftus und diesen Landon, der auf der Loftus-Farm arbeitet. Ihr Vorleben, ihre Gewohnheiten, ihre Laster und Tugenden – kurz alles, was Sie in Erfahrung bringen können. Ich kann mich ja darauf verlassen, daß Sie die Ermittlungen sehr behutsam führen – es darf niemand Verdacht schöpfen.« »Ich werde äußerst vorsichtig sein. Aber Sie wollen die beiden doch nicht beschuldigen, den Mord verübt zu haben?« 50
»Nein. Und erkundigen Sie sich bei der Bank von Neusüdwales, wie die an Loftus ausgezahlten Noten beschaffen waren: ob sie alt oder neu waren, vielleicht charakteristische Flecke enthielten. Das wäre alles.« Bony lächelte Westbury an, und der Sergeant, dessen Augen schmale Schlitze bildeten, lächelte zurück. »Sehr gut!« sagte er. »Wirklich – sehr gut! Auf Wiedersehen.« Damit drehte er sich um und kletterte in den Lastwagen.
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rs. Gray lud Bony zu dem Ball ein, der am Abend des 20. November im Gemeindesaal abgehalten wurde. Er kleidete sich sorgfältig an, und gegen neun Uhr verließ er zusammen mit den Grays das Depot. Aus dem Städtchen und von den umliegenden Farmen strömten die Leute zusammen – gutaussehende Frauen und kräftige, vor Gesundheit strotzende Männer. Ungefähr siebzig Gäste waren anwesend und warteten darauf, daß der Conferencier den Tanz eröffnete. Die Glühbirnen waren mit bunten Lampions verziert und tauchten die Menge in ein farbenfrohes Licht. Eine alte Überlieferung verlangte, daß sich Männer und Frauen am Saaleingang trennten: an der einen Seite nahmen die Frauen auf langen Bänken Platz, an der gegenüberliegenden Wand die Männer auf Stühlen. In der Nähe der Tür standen die Junggesellen. Immer wieder hatte Bony – vor allem in den kleinen Städtchen – diese Trennung der Geschlechter beobachten können. Offensichtlich entsprach dies der Psyche der Weißen, doch eine vernünftige Erklärung für dieses Verhalten hatte er bisher nicht gefunden. Eine unterdrückte Spannung herrschte im Saal, die der sensible Mischling deutlich spürte. Die Gesichter glänzten erwartungsfroh. Die 51
Männer der Tanzkapelle stimmten ihre Instrumente, hinter der Bühne klapperte Geschirr. Als Mick Landon die Bühne betrat, ging ein aufgeregtes Getuschel durch die Menge. »Meine Damen und Herren«, sagte er mit seiner klaren Stimme, »im Namen des Bürgerkomitees danke ich Ihnen, daß Sie so zahlreich erschienen sind. Wie Sie wissen, ist unser heutiger Tanzabend eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten von Mrs. Loftus, die durch das mysteriöse Verschwinden ihres Gatten in eine finanzielle Notlage geraten ist. Solange das Schicksal von Mr. Loftus nicht aufgeklärt ist, können seine finanziellen Angelegenheiten nicht geregelt werden. Wir wollen also hoffen, daß das Rätsel schon sehr bald gelöst wird. Und wenn Mrs. Loftus dann eintrifft, wollen wir ihr einen begeisterten Empfang bereiten.« »Bravo!« rief jemand, Beifall und Händeklatschen brandeten auf. Landon hob die Hände und gebot Ruhe. »Wir eröffnen den heutigen Abend mit einem Foxtrott«, verkündete er. Die Kapelle legte los, Männer und Frauen standen auf. Doch die Frauen warteten nicht, bis sie aufgefordert wurden – offensichtlich hatten die Partner bereits festgestanden, bevor man den Saal betreten hatte. Mick Landon – er hatte das Jackett ausgezogen, und die blauen Hosenträger leuchteten auf dem weißen Nylonhemd – sah aus wie der Verkäufer in der Sauna-Atmosphäre eines überfüllten Warenhauses. Der gutaussehende junge Mann mit dem gelockten Blondhaar tanzte mit einer jungen Dame, der man deutlich ansah, wie glücklich sie darüber war. Fünfzig weibliche Augenpaare ließen die beiden keine Sekunde unbeobachtet, und man sah es den Frauen an, daß sie auf das junge Mädchen eifersüchtig waren. Nun, man kann es den Frauen nicht übelnehmen! dachte Bony, denn der Anblick dieses Mannes mußte die Herzen der meisten Frauen höher schlagen lassen. Mick Landon war zweifellos die auffallendste Erscheinung im Saal. Bony beobachtete das bunte Treiben interessiert. Er erblickte Lucy Jelly. Sie trug ein weißes Leinenkleid und bot ein Bild erfrischender Kühle. Sie tanzte mit einem im gleichen Alter stehenden jungen Mann, 52
der über das ganze Gesicht strahlte, und dessen Haar ölig glänzte. Mr. Thorn hopste ungelenk durch den Saal. Seine Partnerin war genauso dick wie er selbst und offensichtlich seine Frau, denn er bemühte sich, ihr nicht den Bierdunst ins Gesicht zu hauchen. Ein Eisenbahnarbeiter tanzte mit Sunflower Jelly, und das Sinnbild Australiens mit einer zierlichen Frau von ungefähr vierzig Jahren, die wie eine Neunzehnjährige aussah. »Sie arbeiten fürs Kaninchenamt?« fragte ein hünenhafter Schotte, und es klang mehr wie eine Feststellung. »Ganz nett hier. Kennen Sie viele von den Leuten?« »Einige. Mr. Thorn zum Beispiel. Und diesen Riesen da drüben – das Sinnbild Australiens. Stimmt es eigentlich, daß er bereits über Achtzig ist?« »Unbedingt. Ich bin jetzt zehn Jahre hier in Burracoppin, und seitdem ist er keinen Tag älter geworden. Es gibt Leute, die behaupten steif und fest, daß er eher neunzig als achtzig ist.« »Ich sehe zwar Miss Lucy Jelly und auch Miss Sunflower, aber nicht Mr. Jelly«, meinte Bony beiläufig. »Tanzt er nicht?« »Er ist verreist«, erwiderte der Schotte. »Ein komischer Kauz, dieser Jelly. Ganz plötzlich fährt er weg. Sagt nicht einmal seinen Angehörigen, warum oder wohin. Vielleicht steckt eine Frau dahinter. Er ist Witwer, müssen Sie wissen. Manche Männer sind eben große Heimlichtuer.« »Mr. Jelly sieht mir aber gar nicht danach aus, als ob er auf galante Abenteuer ausginge.« »Stimmt genau. Aber warum verreist er dann? Manchmal bleibt er drei oder vier Wochen weg, manchmal auch nur einige Tage. Immerhin könnte er seinen Leuten ja sagen, wann er zurückkommt. Nicht einmal seine Tochter hat eine Ahnung, wenn er wieder mal urplötzlich verschwindet, und sie sorgt sich halb zu Tode. Es ist schon etwas arg, wie er es treibt.« »Wer erledigt eigentlich während seiner Abwesenheit die Farmarbeit?« »Der alte Middleton arbeitet für Jelly. – So, beim nächsten Tanz bin ich dabei. Bis später!« 53
Über das Gewoge hinweg sah Bony, wie Mrs. Gray ihm zuwinkte. Er bahnte sich vorsichtig durch die Tanzenden einen Weg und trat zu ihr. »Tanzen Sie nicht?« fragte sie, nachdem Bony zwischen ihr und ihrem Mann Platz genommen hatte. »Doch, Madam – ich habe nur nicht sehr oft Gelegenheit dazu«, erwiderte er, verschwieg aber, daß er vor allem fürchtete, von den weißen Frauen einen Korb zu erhalten. »Würden Sie mir die Ehre geben?« »Sehr gern, aber leider kann ich nicht tanzen«, antwortete sie offen. »Aber ich bin sicher, daß einige unserer Damen durchaus nicht abgeneigt wären, wenn Sie sie auffordern.« »Besten Dank! Ich werde Ihren Rat gern befolgen. Doch bevor Sie mich diesen Damen vorstellen, werde ich meinen ganzen Mut zusammenreißen und Miss Lucy Jelly um den nächsten Tanz bitten. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, sonst hat mich mein Mut wieder verlassen.« Er stand auf, verbeugte sich und ging zu Lucy Jelly, die mit Sunflower einige Meter weiter auf einer Bank saß. Mrs. Gray blickte Bony nach und beugte sich zu ihrem Mann. »Er arbeitet doch nicht für dich, weil er Geld verdienen muß. Was steckt eigentlich hinter der Geschichte?« Inspektor Gray lächelte und zwinkerte seiner Frau zu. »Finde es doch heraus.« »Nun gut – ich werde es herausfinden. Du erzählst mir ja nie etwas.« Bony war inzwischen zu Lucy Jelly getreten. »Ich hoffe, Sie erinnern sich an mich, Miss Jelly. Darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?« Er sah, wie sich ihre braunen Augen umwölkten, und da wußte er, daß er eine Absage erhalten würde. Doch es fiel ihr schwer, die rechten Worte zu finden. »Es tut mir leid, ich habe meinen nächsten Tanz schon vergeben.« »Oh – das tut mir ebenfalls leid«, meinte Bony und verbarg seine Enttäuschung hinter einem Lächeln. Er wollte sich gerade abwenden, als Sunflower ihn ansprach. »Sie könnten mich auffordern, Mr. Bony – ich würde Sie nicht anflunkern«, sagte sie leise. 54
»Dulcie, wie kannst du nur!« wurde sie von ihrer älteren Schwester angefahren, deren Gesicht sich mit einer dunklen Röte überzogen hatte. »Es wäre mir ein Vergnügen«, entgegnete Bony und bot seinen Arm an, als die Kapelle einen Walzer intonierte. Sunflowers Kopf reichte nur bis an die Schulter von Bony, der das golden schimmernde Haar bewunderte. Das Mädchen war die geborene Tänzerin, hatte Musik im Blut. Aus ihren altklugen, taubengrauen Augen blickte sie zu dem Mischling auf, während sie inmitten der sich drehenden Paare durch den Saal glitten. »Sie tanzen wunderbar«, flüsterte sie. »Haben Sie das bei den Tänzen der Eingeborenen gelernt?« »Nein. Tanzen habe ich in Brisbane gelernt, als ich auf die höhere Schule ging.« »Und die guten Manieren auch –« »Nein, die habe ich mir selbst angeeignet. Und wieso können Sie so gut tanzen?« »Das hat mir meine Schwester beigebracht«, antwortete das Mädchen, dann schwieg sie einige Sekunden. »Sie dürfen es Lucy nicht übelnehmen, daß sie vorhin Ausflüchte gebrauchte«, fuhr sie schließlich fort. »Sie müssen wissen, daß Vater wieder einmal ganz plötzlich verreist ist, ohne uns zu sagen, wohin oder wann er zurückkommt. Aber wenn er nach Hause kommt, bringt er stets einige Flaschen Alkohol mit und schließt sich tagelang in seinem Zimmer ein.« »Und Sie wissen tatsächlich nicht, warum er verreist?« fragte Bony. Sunflower schüttelte energisch den Kopf. Das seltsame Verhalten ihres Vaters lag wie ein Schatten über ihrem Leben. Der Walzer ging zu Ende. Sie standen in der Mitte des Saales, warteten mit den anderen auf eine mögliche Zugabe, klatschten in die Hände. »Nein, wir wissen nicht, warum Vater wegfährt«, sagte Sunflower schließlich. »Wenn wir es wüßten, wäre es ja nicht so schlimm. Vielleicht können Sie es herausfinden. Sie sind doch Polizeibeamter, nicht wahr?« Bony war wie vom Donner gerührt, er merkte nicht, daß die Kapelle wieder zu spielen begann. Dieses junge Mädchen wußte, wer er war! Sunflower hatte keine Ahnung, was sie angerichtet hatte. Sie 55
faßte nach Bonys Hand, und der Inspektor erwachte aus seiner Erstarrung. »Sie wissen, daß ich Kriminalbeamter bin?« fragte er irritiert. »Ja, seit Sie uns auf unserer Farm besucht haben. Sie sind mir doch nicht bös deswegen?« »Aber warum sollte ich, Sunflower. Wie haben Sie es herausgefunden?« »Eric erzählte es uns, als Sie bei Vater im Zimmer waren. Er legte uns ausdrücklich ans Herz, mit niemandem darüber zu sprechen.« »Ach! Und wie ist er dahintergekommen?« Sunflower lachte fröhlich, als sie sah, wie es um die Augen des Mischlings amüsiert wetterleuchtete. »Raten Sie!« rief sie übermütig. »Hat Eric vielleicht gehört, wie ich im Schlaf gesprochen habe?« »Nein, raten Sie weiter.« »Ich gebe es auf«, erklärte Bony resigniert. »Sagen Sie es ganz rasch, bevor mich vor Aufregung mitten auf der Tanzfläche der Schlag trifft.« »Nun gut. Eric erzählte uns, daß er im Hof des Depots einen Brief gefunden hat, der an Inspektor Gray gerichtet war. Er zeigte uns den Brief, aber Lucy meinte, es sei unrecht, einen Brief zu lesen, der nicht an uns gerichtet war. Sie veranlaßte Eric, ihn sofort im Herd zu verbrennen, und dann mußten wir ihr hoch und heilig versprechen, das Geheimnis für uns zu behalten. Und wir haben auch niemandem etwas gesagt.« »Nicht einmal Ihrem Vater?« »Nein, nicht einmal Vater.« Schweigend umrundeten sie einmal die Tanzfläche. »Wissen Sie – Sie sehen überhaupt nicht wie ein Kriminalbeamter aus«, fuhr Sunflower schließlich fort. »Sie sehen so gutmütig aus. Nicht wie die beiden, die vor Ihnen hier waren. Die waren groß, mit finsteren Gesichtern, daß man gleich Angst bekam. Sie sehen noch nicht einmal dann böse aus, wenn Sie wütend sind.« »Ich bin nicht streng, und ich bin auch nicht wütend. Ich bin lediglich überrascht, daß Sie wissen, daß ich Kriminalbeamter bin. Ich war der Meinung, daß nur Mr. Gray Bescheid weiß. Sie versprechen mir, niemandem etwas zu sagen?« 56
»Natürlich«, versicherte Sunflower. »Glauben Sie, daß der arme Mr. Loftus vor seiner Frau davongelaufen ist?« »Warum sollte er? Und weshalb stellen Sie diese Frage?« »Nun, Sie wollen doch gewiß das Geheimnis um sein Verschwinden aufklären, oder? Wenn ich Mr. Loftus gewesen wäre, würde ich auch davongelaufen sein. Ich hasse diese Frau.« »Aber, aber! Können Sie denn überhaupt hassen?« »Jawohl – und ich hasse sie. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Glauben Sie, daß er vor ihr davongelaufen ist?« Diesmal konnte Bony nicht wieder eine ausweichende Antwort geben. »Ich weiß nicht recht, was ich glauben soll.« »Sie werden bleiben, bis Sie es herausgefunden haben?« »Höchstwahrscheinlich.« »Würden Sie uns einmal besuchen und mir von den Corroborees der Eingeborenen erzählen?« fragte sie nach kurzem Zögern. »Ich interessiere mich sehr für das Leben der Eingeborenen. Und vielleicht können Sie auch herausbekommen, warum Vater so oft verreist. Werden Sie es versuchen?« »Ja, falls mich auch Ihre Schwester darum bittet«, antwortete Bony und musterte das Mädchen, über deren Gesicht ein Schatten huschte. »Sie müssen das verstehen. Vielleicht möchte sie gar nicht, daß ich das Geheimnis Ihres Vaters lüfte.« »O doch – ich denke schon! Sie macht sich große Sorgen um Vater.« »Na schön. Ich werde später mit ihr darüber sprechen.« Der Tanz ging zu Ende, und die Herren brachten die Damen zu ihren Plätzen zurück. »Werden Sie mich bald wieder zum Tanz auffordern, Mr. Bony?« fragte Sunflower, und man sah ihr deutlich an, wieviel ihr daran gelegen war. »Jawohl, das werde ich – und nicht nur einmal. Aber zunächst bringe ich Sie zu Ihrer Schwester zurück. Sie unterhält sich gerade mit –« Plötzlich entstand beim Haupteingang Bewegung. Aus der Gruppe Männer, die bisher von der Tür aus beim Tanzen zugesehen hatten, wurden Hochrufe laut, die von den übrigen Anwesenden aufgenommen wurden. Eine Gasse bildete sich, durch die eine Frau in rosarotem Kleid schritt. 57
Bony sah eine überaus aparte junge Frau, und er wußte sofort, daß es Mrs. Loftus war. Sie trug ein elegantes, mit echt Brüsseler Spitzen besetztes Kleid, das durchaus nicht zu den finanziellen Schwierigkeiten paßte, in denen sie sich durch das Verschwinden ihres Mannes angeblich befand. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und etwas größer als die meisten Frauen. Ihr Gesicht war leicht gerötet, und in ihren dunkelbraunen Augen spiegelten sich die Lichter des Saales, aber auch gleichzeitig die Sorge, ob es wohl schicklich sei, hier zu erscheinen, solange ihr Mann vermißt war. Die Kapelle intonierte ›For she’s a jolly good fellow‹, und Mick Landon geleitete Mrs. Loftus unter dem Beifall der Anwesenden vor die Bühne. Mit einem gemessenen Neigen des Kopfes dankte sie für die Ovationen. Bony ließ sich von dem lächelnden Gesicht nicht täuschen – er sah, daß diese Frau einen eisernen Willen besaß, daß sie sehr selbstsicher und egoistisch war. Sie war klug und berechnend. »Sie sind alle sehr freundlich«, sagte Mrs. Loftus, nachdem die Ovationen geendet hatten. »Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.« Erneut brandete tosender Beifall auf, und Bony war überrascht, wie beliebt Mrs. Loftus war. Mick Landon trat vor. Er hatte einen Zuckersack in der Hand. »Meine Damen und Herren!« verkündete er, nachdem Ruhe eingetreten war. »In diesem Sack befinden sich die Eintrittskarten. Ich hoffe, daß jeder seinen Namen daraufgeschrieben hat, denn Mrs. Loftus wird jetzt eine Eintrittskarte ziehen, und der Betreffende hat die Ehre, mit ihr den Eröffnungswalzer zu tanzen. Sollte der Betreffende nicht tanzen können oder sollte es sich um eine Frau handeln, dürfen diese einen Herrn wählen, der an ihrer Stelle den Ehrenwalzer tanzt. Und nun darf ich Sie bitten, Mrs. Loftus, eine Eintrittskarte zu ziehen.« Interessiert beobachtete Bony, wie die junge Frau in den Sack langte, wobei sie dem Mann, der ihn offenhielt, tief in die Augen sah. Nachdem Mrs. Loftus eine Eintrittskarte gezogen hatte, warf Mick Landon den Sack hinter die Bühne und nahm mit einer höflichen Verbeugung die Karte entgegen. Er las den Namen, zögerte volle fünf Sekunden, und dann verkündete er: »Mr. Garth!« »Der gute alte John!« rief jemand. »Das Sinnbild Australiens!« 58
Beifall brandete auf, während der alte Farmer durch die Menge auf die junge Frau zustakte, die ihre Enttäuschung hinter einem verlegenen Lächeln verbarg. Das Sinnbild Australiens trug einen blauen Anzug und wirkte auch heute um Jahrzehnte jünger. Wie ein Turm ragte er über Mrs. Loftus, und als er sich jetzt artig verbeugte und seinen Arm bot, konnte man sich nicht vorstellen, daß dieser Mann einst ein großer Raufbold auf den Goldfeldern gewesen war. Bony wollte gerade Sunflower um den nächsten Tanz bitten, als Mrs. Gray zu ihm trat und den Wunsch aussprach, ihn mit einer Freundin bekannt zu machen. Mit einer Geste des Bedauerns winkte er Sunflower zu, deren große Augen Enttäuschung verrieten, und folgte Mrs. Gray. Die Frau des Kanincheninspektors stellte Bony einer etwas überspannten Dame vor. Sie tanzte ganz leidlich, doch Bonys Gedanken beschäftigten sich mit Mrs. Loftus, so daß seine Antworten sehr einsilbig ausfielen. Trotzdem erfuhr Mrs. Gray später von ihrer Freundin, daß dieser Mr. Bony sehr charmant sei, obwohl er ja leider eine dunkle Hautfarbe habe. Während des gemeinsamen Abendessens wurden die beiden Schwestern von zwei jungen Männern mit Beschlag belegt, die offensichtlich um die Gunst von Lucy Jelly stritten. So mußte Bony sich gedulden, bis er sich ihr nähern konnte. »Hoffentlich erhalte ich diesmal nicht wieder einen Korb von Ihnen«, sagte er leise zu Lucy. »Oder komme ich zu spät – ich würde Sie gern um den nächsten Tanz bitten?« Das Mädchen betrachtete ihn aus ernsten Augen. Sie wich seinem Blick nicht aus, zögerte aber. Doch dann schien sie einen Entschluß gefaßt zu haben und stand auf. »Gern – wenn Sie wünschen«, murmelte sie. Zu einem Gespräch kam Bony allerdings noch nicht, denn ausgerechnet jetzt spielte die Kapelle einen Twist.
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a Bony die menschliche Psyche nur zu gut kannte, wunderte er sich über das seltsame Verhalten von Mr. Jelly nicht allzusehr. Vielleicht steckte eine Frau dahinter, vielleicht auch der Alkohol oder eine andere Leidenschaft. Das Laster ist allerdings bedeutend kostspieliger als die Tugend, und man durfte nicht übersehen, daß Mr. Jelly von seinen Reisen stets Geld und Whisky mitbrachte. Bony war überzeugt, daß zwischen Mr. Jellys Ausflügen und dem Verschwinden von George Loftus kein Zusammenhang bestand. Schließlich verreiste Mr. Jelly schon seit Jahren, außerdem führten viele Menschen ein Doppelleben. Bemerkenswert war bei Mr. Jelly lediglich, daß er von seinen Reisen Geld mitbrachte. »Wie ich von Sunflower erfuhr, wissen Sie, wer ich bin«, konnte Bony endlich seiner Partnerin zuflüstern. »Sie machen sich beide Sorgen wegen des gelegentlichen Verschwindens Ihres Vaters. Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, bin ich gern dazu bereit.« »Meine Schwester schwatzt etwas zuviel, Mr. Bony. Ich gebe allerdings zu, daß sie eine außergewöhnlich gute Menschenkenntnis besitzt. Normalerweise benötigt man einige Zeit, bis man sich über den Charakter eines Menschen schlüssig wird, sie aber erfaßt ihn intuitiv in Minutenschnelle. Und sie hat sich noch nie geirrt. Deshalb möchte ich mich auch bei Ihnen auf ihr Urteil verlassen.« Sie schwieg kurz. »Ja, ich mache mir Sorgen um Vater. Er hat ein Geheimnis, und ich hasse Geheimnisse. Ich möchte wissen, was Vater treibt, damit ich ihm helfen kann, falls er Hilfe nötig hat. Doch darüber möchte ich mich mit Ihnen gern einmal in Ruhe unterhalten. Könnten Sie am Samstagnachmittag zum Tee zu uns kommen?« 60
»Sehr freundlich. Ich komme selbstverständlich gern. Würde vier Uhr recht sein?« »Ja. Wir erwarten Sie dann.« Während er Lucy zu ihrem Platz zurückbegleitete, sah er, daß sich ihr besorgtes Gesicht aufhellte. Auch Sunflower fiel es auf, und sie sprach mit Bony darüber, als er sie zum nächsten Tanz aufforderte. Bony genoß diesen Abend sehr. Er tanzte mit Mrs. Poole, die ihm – eine Zornesfalte auf der Stirn – Mrs. Black zeigte, die sie bekanntlich im Verdacht hatte, die Poolesche Kuh zu melken. Mr. Thorn lud ihn ein, rasch mit hinüber ins Hotel zu laufen, bevor Mr. Wallace ins Bett gehe, und er war sehr enttäuscht, als Bony nicht mitkam. Mit offenen Armen war er in den Kreis um Mrs. Gray aufgenommen worden, so daß er schon bald nicht mehr das Gefühl hatte, ein Fremder zu sein. Doch andere blieben ihm gegenüber auch weiterhin reserviert, aber Bony wußte genau, daß dies nicht an seiner dunklen Hautfarbe lag, sondern ganz einfach daran, daß diese Leute anderen Kreisen angehörten als Mrs. Gray. Auch dies war eine Eigenart der Weißen, über die er nur amüsiert lächeln konnte. Gegen Ende des Abends hielt Mrs. Loftus noch eine kurze Ansprache. »Liebe Freunde«, sagte sie, und sie wirkte dabei etwas nervös. »Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, die Sie mir erweisen. Es ist tröstlich, soviel Mitgefühl zu spüren nach dem Kummer, den mir mein Mann durch sein Verschwinden bereitet hat. Ich bin sicher, daß er eines Tages zurückkommen wird, denn ich kann einfach nicht glauben, daß ihm etwas zugestoßen ist. Nochmals vielen Dank.« »Na, die wird’s dem alten Loftus schon besorgen, wenn er wieder auftauchen sollte«, rief jemand, als der Beifall abebbte. Mrs. Loftus lächelte schwach, doch ihre Augen hatten wieder einen berechnenden Ausdruck angenommen. Bony begleitete Lucy und Sunflower Jelly zum Wagen eines Nachbarn, der die beiden Schwestern nach Hause fahren wollte. Nachdem das Auto in der Ferne verschwunden war, benützte er den Fußweg, der über das Bahngelände hinweg zum Depot führte. Der Inspektor hatte jetzt sehr viel Stoff zum Nachdenken. Vor knapp drei Wochen war George Loftus nun verschwunden. Nachdem Sergeant Muir mit den Nachforschungen betraut worden 61
war, hatte er sofort die Polizei von Südaustralien gebeten, auf alle Passagiere zu achten, die mit dem Schiff aus Westaustralien kamen. Außerdem hatte er mit den Viehstationen telefoniert, die an den Fernstraßen lagen, denn er hatte von vornherein mit der Möglichkeit gerechnet, daß Loftus sich aus dem Staub gemacht haben könnte. Immerhin waren mehrere Motive für sein Verschwinden denkbar. Er konnte ganz einfach seine Frau verlassen haben, er konnte aber auch wegen seiner Schulden vor den Gläubigern geflohen sein. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß er ein Verbrechen begangen hatte und nun fürchtete, als Täter entlarvt zu werden. Bony kam mit seinen Ermittlungen nicht so rasch voran, wie der Polizeichef von Westaustralien aufgrund des Rufes, der dem Mischling vorauseilte, angenommen hatte. Doch das bedrückte Bony keineswegs. Bei seinen Ermittlungen verlor er jedes Zeitgefühl. Kein weißer Kriminalbeamter würde sich die Zeit nehmen, stundenlang in Bäume zu starren, unter halbverfaulten Baumstämmen zu graben oder in stachligen Büschen herumzustochern. Mit einer Gründlichkeit ohnegleichen suchte er jeden Meter Boden zu beiden Seiten des Gattertors an der Old York Road ab. Doch außer dem Notizbuch und den Zigarrenstummeln, die er bereits vorher gefunden hatte, konnte er nichts mehr entdecken. Er hatte den Weg des Vermißten von dem im Graben liegenden Wagen bis zum Gattertor an der Old York Road verfolgen können, doch nun deutete nicht die geringste Spur darauf hin, daß er in südlicher Richtung weitergegangen war. Blieb also nur die Möglichkeit, daß er entweder ein gewaltsames Ende gefunden hatte oder mit einem Auto, das ihn auf der Old York Road erwartet hatte, weitergefahren war. Sergeant Westbury erwies sich als schneller Arbeiter. Der Kassierer bei der Bank von Neusüdwales, der Loftus die hundert Pfund ausgezahlt hatte, erinnerte sich noch genau an die Transaktion. Er konnte den Farmer beschreiben und wußte genau, daß es sich um neue EinPfund-Noten gehandelt hatte. Er konnte zwar nicht die einzelnen Nummern angeben – immerhin hatte er an diesem Tag über vierhundert Ein-Pfund-Noten ausgezahlt –, aber er hatte immerhin die Seriennummern festgehalten. 62
Die Herkunft der beiden Bierflaschen, die Bony neben dem Wagen gefunden hatte, war leicht festzustellen gewesen. Sie stammten von einer Brauerei in Melbourne – Leonard Wallace hatte sie in einem Hotel in Merredin gekauft, denn er führte dieses Bier in seinem eigenen Hotel nicht. Um nähere Einzelheiten über Mick Landon und Mrs. Loftus zu beschaffen, benötigte der Sergeant freilich noch etwas Zeit, doch Bony hatte im Augenblick auch so genug zu tun. Joseph Poole war eine genauso eigenwillige Persönlichkeit wie Mr. Thorn oder das Sinnbild Australiens. Er war groß und schlank. Wenn man ihn sah, wurde man sofort an eine Trauerweide erinnert, denn alles an ihm strebte nach unten: die hängenden Schultern, der struppige graue Schnurrbart, und auch das Haar fiel über die hohe, schmale Stirn herab. Er war gerade beim Essen, als Bony am zweiten Abend nach der Tanzveranstaltung Mrs. Pooles berühmte Pension betrat. Schon fünfzig Meter vor dem Haus hatte der Inspektor die erhobene Stimme von Mrs. Poole vernommen. Sie beklagte sich über das Holz, das zu hacken war, über den schlecht brennenden Herd, über Mrs. Black und die Kuh – kurz, über alle Kümmernisse des Alltags. Und dazu gehörte auch der liebe Ehemann. »Er kümmert sich um gar nichts!« beschwerte sie sich bei Bony, als der Inspektor in die Küche kam. »Dieser Nichtsnutz! Kommt nach Hause, aber will keine Hand rühren. So, nun setzen Sie sich, Mr. Bony. Ich bringe Ihnen Ihr Abendessen.« »Man soll nicht immer nur an die Mißhelligkeiten des Lebens denken«, riet Bony. »Beschäftigen Sie sich doch lieber mit angenehmen Dingen. Denken Sie lieber an unseren Tanzabend – wie hübsch Sie aussahen in Ihrem blauen Kleid. Erinnern Sie sich noch, wie wir zwei zusammen getanzt haben?« »Hören Sie doch auf! Mein Mann sitzt nebenan.« »Dann sollte ich vielleicht gleich wieder gehen«, erwiderte er lachend. »Essen Sie lieber erst Ihr Abendbrot«, rief Mr. Poole aus dem Speisezimmer. »Wird gemacht.« Bony lächelte Mrs. Poole an, deren Zorn schon weitgehend verraucht war. 63
Als Bony am Eßtisch Platz nahm, musterte Mr. Poole ihn aus seinen traurigen braunen Augen. »Sie eignen sich«, brummte er schließlich. »Wofür, wenn ich fragen darf?« Bony sah, wie es in den Augen seines Gegenübers amüsiert wetterleuchtete. »Jawohl, Sie eignen sich prächtig.« »Idiot!« fauchte Mrs. Poole. »Zwei Wochen ist er weg gewesen, und nun kommt er mit seinen albernen Witzen. Was ist nun mit dem Holz? Es wird dunkel. Die ganze Zeit über haben die Kinder das Holz gehackt, während du dich unterwegs amüsiert hast. Aber solange ihr fauler Vater zu Hause ist, werden sie kein Holz hacken.« Mr. Poole starrte Bony noch durchdringender an. »Ja, Sie eignen sich«, sagte er dann nochmals. »Was meinst du eigentlich, du alter Narr!« fuhr ihn seine Frau an, die wieder außer sich war. Auf diese Frage schien Joe Poole die ganze Zeit gewartet zu haben. Er richtete seinen Zeigefinger auf Bony. »Sie eignen sich prächtig als Scheidungsgrund. Dann brauche ich ihr nämlich nicht erst die Kehle durchzuschneiden.« Dann lehnte er sich zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Mrs. Poole aber rauschte beleidigt davon, und gleich darauf drang aus der Küche das wütende Klappern von Geschirr. »Sie sind der neue Tischgast?« meinte Joe Poole. Bony bestätigte es, und Joe hob seine Hände. »Ich freue mich jedesmal, wenn ich nach Hause komme«, sagte er. »Die Kuh und Mrs. Black, der qualmende Herd und der Holzstoß – das macht mich von Mal zu Mal glücklicher.« Er stand schwerfällig auf. »Bis nachher! Wenn ich jetzt nicht das Holz hacke, läßt sie mir die ganze Nacht keine Ruhe.« Er zwinkerte Bony mit Verschwörermiene zu und verließ das Zimmer. Später half der Inspektor Mrs. Poole beim Abspülen des riesigen Geschirrberges, und anschließend setzte er sich zu den Pooles und den beiden Männern von der Garage ins Speisezimmer. In der Ecke spielten die beiden Buben, das Grammophon plärrte ununterbrochen, so daß die Unterhaltung sehr laut geführt werden mußte. »Der alte Jelly ist also wieder mal verduftet«, meinte Joe Poole. »Ja, schon seit ein paar Tagen«, fügte einer der Garagenmänner hinzu. »Ein seltsamer Vogel. Ich möchte zu gern wissen, was er jetzt 64
treibt. Stimmt es eigentlich, daß er Zeitungsausschnitte über Mordprozesse sammelt?« »Stimmt«, pflichtete Joe bei, ohne die unter dem Schnurrbart hervorragende Zigarette aus dem Mund zu nehmen. »Ich bin mal bei ihm gewesen. Es schauert mich heute noch, wenn ich an sein Zimmer denke.« »Ein seltsames Hobby«, bemerkte der zweite Garagenmann. »So seltsam ist das nun auch wieder nicht, wenn man an manche Professoren denkt«, widersprach Joe. »Ich kannte mal einen, der sammelte menschliche Schädel. Er gab mir fünfzig Pfund, und dafür mußte ich ihm fünfzig Schädel von Eingeborenen ausgraben. Da war eine Stelle, wo sich zwei Stämme einen mörderischen Kampf geliefert haben. Der alte Professor hat sie behandelt wie rohe Eier. Ach was! Jelly ist harmlos.« Mr. Poole zündete sich eine Zigarette an und schob den Stuhl zurück, um die Beine ausstrecken zu können. »Ich will euch sagen, was ich von der Geschichte halte: der alte Jelly macht ab und zu ein paar Flitterwochen. Hinterher überkommt ihn Katzenjammer, und den ersäuft er dann in Alkohol.« »Hör doch auf!« rief Mrs. Poole empört und wandte sich an die Kinder. »So, ihr geht jetzt ins Bett – hört ihr? Es ist zehn Uhr, und morgen früh muß die Kuh gemolken werden, bevor Mrs. Black sie erwischt. Also, ins Bett mit euch!« Nachdem die beiden Buben widerwillig gegangen waren, blickte Mrs. Poole ihren Mann vorwurfsvoll an. »Du mit deinen Flitterwochen! Was sollen denn die Kinder denken! Der alte Jelly fährt einfach weg, um sich ordentlich zu besaufen. Wenn du die Gelegenheit dazu hättest, würdest du es genauso machen.« »Die Gelegenheit hätte ich schon – aber du sorgst immer dafür, daß ich nicht das nötige Kleingeld habe«, konterte Joe ruhig. »Jawohl – und dafür werde ich auch in Zukunft sorgen!« Bony verabschiedete sich rasch. Joe Poole schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen, und gerade das brachte seine Frau regelmäßig in Harnisch. Die Nacht war ruhig und warm. Vom Graben der Wasserleitung herüber drang das Quaken und Knarren der Frösche – sie sehnten sich nach dem kühlen Wind aus Süden. Im Osten zog unter lautem Schnaufen eine Lokomotive einen Zug die Steigung herauf. 65
Als Bony am Hotel vorüberkam, hörte er lautes Gelächter. Die Tür war geschlossen, nur durch die Fenster und die Ventilatorklappe fiel ein Lichtschein. Mitten auf der Straße bemerkte er eine große, füllige Frau, die mit raschen Schritten auf das Depot zuging. Der Mischling trat durchs Tor und sah, daß die Frau an Inspektor Grays Tür klopfte. Die Tür öffnete sich, im Schein des aus dem Haus fallenden Lichtes erschien Gray auf der Schwelle. »Leihen Sie mir doch mal Ihr Gewehr, Mr. Gray«, vernahm Bony die Stimme von Mrs. Wallace. »Tut mir leid«, erwiderte Inspektor Gray. »Aber das ist bei meinem Sohn.« »Oh!« Mrs. Wallace zögerte. »Na schön! Aber ich besorge mir schon noch eine Flinte, und dann schieß’ ich ihm ein Loch in seinen Dickschädel! Er hat mich wieder mal ausgeschlossen. Dieses Miststück!« »Dann schlafen Sie am besten bei Mrs. Poole«, riet Gray. Nachdem sie verschwunden war, ging Bony zu Bett. Er wunderte sich über die Bierruhe des Kanincheninspektors. Als ob diese Frau um eine Kerze gebeten hätte! Vom Hotel herüber drang wieder dröhnendes Gelächter. Mr. Wallace feierte mit einigen Freunden seinen großen Sieg …
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A
n den letzten Tagen der Woche arbeitete Bony hart, kam aber bei der Aufklärung des Verschwindens von George Loftus keinen Schritt weiter. Die Männer, die auf den umliegenden Feldern die Erntemaschinen bedienten, hielten Ausschau nach einer Leiche. Jeden Tag schrumpften die riesigen braungoldenen Rechtecke weiter zusammen, während die Streifen mit den gelben Stoppeln immer breiter wurden. Mit einem 66
lauten Brummen und unter Aufwirbelung von riesigen Staubwolken fraßen sich die Mähdrescher durch den Weizen. Es war ein schöner Sommeranfang. Strahlender Sonnenschein erwärmte den Boden, und die Ameisen suchten schleunigst schattige Stellen auf. Um neun Uhr hatte die Sonne den nächtlichen Tau aus den Ähren gesaugt, und die Mähdrescher konnten ihr Tagewerk beginnen. Die Weizenflut hatte den Höchststand erreicht, täglich wurden bis zu zwölfhundert Sack im Speicher von Burracoppin abgeliefert. Zweimal suchte Bony die Straße und das angrenzende Land zwischen dem Tor an der Old York Road und dem Gipfel des im Süden liegenden langen Sandhügels gründlich ab. Einmal folgte er sogar dem Weg den Sandhügel hinab bis zum Tor der Loftus-Farm. Er fand nichts – nicht den geringsten Hinweis, daß der Farmer in der fraglichen Nacht hier entlanggekommen, war. Bony hatte Mick Landon bei der Erntearbeit beobachtet. Täglich kam ein Mann mit dem Fahrrad aus dem Städtchen und half Landon. Bony sah, wie die Farmer die gefüllten Säcke an den Ecken ihrer Felder deponierten, wo sie zugenäht und von den Lastwagen abgeholt wurden. Der Samstag kam. Punkt zwölf Uhr mittags stellte Bony den Lastwagen im Hof des Depots ab. Für diese Woche war er mit der Arbeit fertig. Er putzte Schuhe, zog sich ein weißes Sporthemd und eine graue Hose an und machte sich auf den Weg zur Jelly-Farm. Vom Depot aus ging er die nach Süden führende Straße entlang und erreichte nach einer knappen Meile die Old York Road. Hier bog er nach links ein und gelangte kurze Zeit später zu der von der leerstehenden Garage herunterkommenden Straße, in die Loftus in der fraglichen Nacht hätte einbiegen sollen. Nach weiteren vierhundert Metern erhob sich zu seiner Rechten ein sechzig Meter hoher Granitfelsen. Dieser Felsen bedeckte eine Fläche von mehreren Hektar, und auf dem höchsten Punkt stand das Gerüst eines trigonometrischen Punktes. Von dort oben bot sich Bony ein wundervoller Blick auf das breite, flache Tal, durch das sich die von Perth nach Kalgoorlie führende Eisenbahnlinie zog, und jetzt sah er, wie weit sich die Weizenfelder dehnten. Auch jenseits des Tales erhoben sich einige Granitfelsen, und auf einigen ragten die trigonometrischen Gerüste auf. 67
Im Osten verschwand die Old York Road zwischen hohen Bäumen. Dort lag der Kaninchenzaun mit dem Gattertor, bei dem er so viele Stunden das Gelände abgesucht hatte, ohne etwas zu finden. Ein wenig weiter im Süden konnte er die Felsen erkennen, zu deren Füßen die Loftus-Farm lag, die er allerdings von seinem Standort aus nicht sehen konnte. Ein kurzer Blick zur Sonne und auf die Länge des Schattens, den sie warf, dann machte Bony sich an den Abstieg. Für den Weiterweg benützte Bony allerdings nicht die Straße, ging statt dessen quer durchs Gelände in Richtung auf die Loftus-Farm. Er stammte aus dem Osten Australiens, und diese Gegend mit ihren Granitfelsen, die oft zwischen Akazienbäumen versteckt waren, die blühenden Sträucher und die Bäume mit den seltsam schraubenartig eingekerbten Stämmen waren eine neue Erfahrung für ihn. Er sah einen gestreiften Ameisenbären, erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein Buschkänguruh, entdeckte die Spuren eines Rudels wilder Hunde und eines Fuchses. Und immer wieder wechselten Dickicht und Lichtung miteinander ab. Das Gelände stieg langsam an, der Busch war sehr dicht, so daß Bony ganz unvermutet auf den Felsen bei der Loftus-Farm stieß. Er erklomm den niedrigen Grat und blickte hinab auf die Farm, die dreißig Meter unter ihm lag. Dahinter war der Kaninchenzaun zu erkennen. Weit dehnte sich das flache Land, schachbrettartig gemustert mit Weizenfeldern und brachliegenden Äckern. So farbenprächtig leuchtete dieses Bild, daß Bony unwillkürlich die Augen mit der Hand abschirmte. Eine Stunde lang saß er auf dem Felsgrat. Die Behördenangestellten mochten ihre Vierzigstundenwoche haben, die Weizenfarmer arbeiteten während der drei Monate andauernden Erntezeit vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung. Bony kletterte von den Felsen herunter, wanderte an den Ballen mit Preßstroh entlang, bis er die Rückseite der LoftusFarm erreichte. Er betrachtete die neu errichtete Strohmiete und überlegte, wie viele Tonnen Stroh das wohl sein mochten. Die Stallungen waren in schlechter Verfassung, und das kleine Farmhaus bestand aus Wellblech. Drei Hunde waren angekettet. Ein Stück weiter befand sich ein großes Wasserbekken, vor einem Windschutz aus Büschen stand ein Hauszelt, das offensichtlich Landon als Quartier diente. 68
Als Bony um die Ecke bog, sah er eine Frau. Sie hatte einen Korb am Arm hängen und brachte offensichtlich den Männern draußen auf dem Feld das Vesperbrot. Bony fiel auf, daß dieses Haus nur eine Tür besaß – normalerweise besaßen die Häuser hier zwei Türen, um im Sommer besser durchlüften zu können. Vor dieser Tür stand Mrs. Loftus. »Darf ich Sie um ein Glas Wasser bitten?« sagte Bony betont höflich. Bei Tageslicht schimmerten ihre Augen hart wie Diamanten, in deren Tiefen blaue und grüne Lichter flackerten. Mrs. Loftus trug einen Overall, Frisur und Make-up waren makellos. Auch am hellen Tag bot sie ein Bild von Anmut und Frische. Sie holte einen Aluminiumbecher aus der Küche und gestattete dem Mischling großzügig, sich Wasser aus dem Regentank zu holen. Bony stillte seinen Durst, und die Frau musterte ihn verstohlen. Eine stolze Frau! dachte er. Und hartherzig obendrein, denn der Nachmittagstee war gerade fertig geworden, da hätte sie ihm durchaus eine Tasse Tee anbieten können. Bony bedankte sich, ging hinüber zur Straße, überquerte sie und marschierte durch den niedrigen Busch zum Kaninchenzaun. Dort drehte er sich um. Mrs. Loftus stand immer noch in der Tür und blickte ihm nach. Er sprang über den Zaun und wandte sich nach Süden, und als er an Sunflower dachte, hellte sich sein Gesicht auf. Als Bony die Jelly-Farm erreichte, stürmten zwei Hunde um die Hausecke, die Katze folgte langsam mit steil aufgerichtetem Schwanz. Schließlich bog auch Lucy Jelly um die Ecke. Weder Sunflower noch Mr. Jelly waren zu sehen, wohl aber eine ältere Frau, die Bony nicht kannte. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Lucy. »Wenn Sie uns nicht besucht hätten, wäre Sunflower sehr enttäuscht gewesen. Dies ist Mrs. Saunders. Sie wohnt bei uns, bis Vater nach Hause kommt.« Nachdem Bony die Frau begrüßt hatte, fragte er mit besorgter Stimme: »Was ist mit Sunflower?« »Sie hatte einen Unfall und liegt auf der Veranda.« »Einen Unfall!« stieß Bony aus. »Es ist nicht weiter schlimm, aber ziemlich schmerzhaft. Sie hat sich einen Topf mit heißem Wasser über den Fuß gegossen. Mrs. Saunders ist eine so gute Pflegerin, daß der Fuß schon gar nicht mehr schmerzt. In einer Woche wird er wieder völlig abgeheilt sein.« 69
Sunflower lag auf der Südveranda auf einem mit Kissen gepolsterten Liegebett im kühlen Schatten. Ihr Gesicht war vor Erwartung gerötet. Bony war mit wenigen Schritten bei ihr und zog sich einen Stuhl heran. »Es tut mir leid, daß Ihnen das passieren mußte. Ich hatte keine Ahnung davon.« »Ach, ich war ganz einfach unvorsichtig«, erwiderte sie lächelnd. »Es passierte am Donnerstagnachmittag. Was hätten Sie denn getan, wenn Sie es gewußt hätten?« fügte sie herausfordernd hinzu. »Dann hätte ich Sie sofort besucht«, antwortete er ohne Zögern. »Ich glaube es Ihnen. Aber ich werde bald wieder ganz auf dem Damm sein. Es tut schon gar nicht mehr weh.« Bony erzählte dem Mädchen, daß sein Jüngster sich auch einmal den Fuß verbrannt habe, als sich die ganze Familie auf einer Buschwanderung befand, und es sei alles gut abgeheilt. Sunflower lag auf der Seite, den Kopf in die Hand gestützt. »Ist der kleine Ed genauso braun wie Sie?« fragte sie treuherzig. »O nein! Seine Haut ist weiß. Er wird zwar noch etwas dunkler werden, aber nie so braun wie ich.« »Es macht Ihnen doch aber nichts aus, daß Sie dunkelfarbig sind?« »Manchmal schon. Aber manchmal bin ich auch stolz darauf.« »Warum sind Sie manchmal traurig darüber?« »Du darfst doch nicht derart aufdringliche Fragen stellen, Liebes«, mischte sich Lucy ein, die sich mit einer Handarbeit dazugesetzt hatte. »Sie sind mir doch deshalb nicht böse?« fragte das Mädchen besorgt. »Nein – fragen Sie ruhig.« Sunflower streichelte schüchtern seinen Arm. »Ich werde jetzt keine Fragen mehr stellen. Aber ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Erzählen Sie mir doch von den Eingeborenen – von Kämpfen und feierlichen Corroborees. Bitte!« Bony kam diesem Wunsch gern nach. Er erzählte vom Leben der Eingeborenen, von ihrem Brauchtum und ihren Sagen. Lucy hörte ebenfalls interessiert zu, und schon bald hatte sie vergessen, daß dieser Mann Kriminalbeamter und obendrein ein Mischling war. 70
Auf einem kleinen Tisch am Fußende des Liegebettes servierte Mrs. Saunders den Nachmittagstee. Sie war eine ruhige, freundliche Frau von ungefähr fünfzig Jahren. Bony kümmerte sich rührend um Sunflower, erzählte von seiner Frau und den drei Söhnen, von denen der älteste als Missionsarzt in den Busch gehen wollte, sobald er die Universität von Brisbane absolviert hatte. Mrs. Saunders und Lucy wurden von der starken Persönlichkeit des Inspektors genauso gefangengenommen wie Sunflower. Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sich Lucy, um die Hühner vor den in der Nacht herumstreifenden Füchsen einzuschließen, und sie fragte Bony, ob er nicht Lust habe, sie zu begleiten. Im Widerschein des rot und grün leuchtenden Himmels verließen sie die Veranda, und Sunflower blickte ihnen aus großen Augen nach. »Wollen Sie uns wirklich helfen, das Geheimnis um Vater zu lüften?« fragte Lucy und sah den Mischling prüfend an. »Gewiß, wenn Sie es wünschen.« »Ich weiß nicht recht.« Sie zögerte. »Angenommen, Vater tut etwas ganz Schreckliches – dann werden Sie doch nicht gegen ihn vorgehen?« »Alle halten mich für einen Polizeibeamten!« protestierte Bony. »Sind Sie das denn nicht? Sie sind doch Kriminalbeamter.« »Ich bin ein Kriminalist und kläre Verbrechen auf. Gegenwärtig stelle ich wegen des Verschwindens von George Loftus Ermittlungen an. Ich glaube nicht, daß Ihr Vater etwas damit zu tun hat. Deshalb kann ich Ihnen versprechen, daß wir alles mit äußerster Diskretion behandeln werden – ganz gleich, was der Grund für sein seltsames Verhalten sein mag. Und ich werde sein Geheimnis lösen.« Bony wußte genau, wie voreilig dieses Versprechen war. Immer wieder kam es vor, daß sein Verstand vom Gefühl übermannt wurde – das war ein Erbteil seiner schwarzen Mutter. »Seit wieviel Jahren unternimmt Ihr Vater eigentlich diese Reisen?« fragte er. »Seit ungefähr sieben Jahren.« »Und er sagt Ihnen vorher nie Bescheid?« »Nein, niemals.« ‚ »Er kehrt auch völlig unverhofft wieder zurück?« 71
»Stets.« »Geschieht vielleicht etwas ganz Bestimmtes, bevor er abreist?« »Ja, er erhält jedesmal ein Telegramm.« »Aha – das ist schon ein wertvoller Hinweis. Hatten Sie Gelegenheit, ein solches Telegramm zu lesen?« »Ja, zweimal. Das eine Anfang des Jahres, das andere liegt schon lange Zeit zurück. Das eine lautete ›Komme Sydney‹, das andere: ›Komme Adelaide‹ Sie kamen beide aus Merredin, trugen aber keine Unterschrift.« »Wissen Sie, ob Ihr Vater auch diesmal ein Telegramm erhalten hat, bevor er wegfuhr?« »Ich habe nicht gesehen, wie es zugestellt wurde.« Ihre Worte ließen keinen Zweifel, daß sie überzeugt war, ihr Vater habe auch diesmal ein Telegramm erhalten. »Nun beschreiben Sie doch bitte mal seine Rückkehr.« Lucy Jelly antwortete nicht sofort. Sie schloß zunächst den Hühnerstall und den Entenstall ab. »Er kommt stets in der Nacht zurück«, erwiderte sie bedächtig. »Manchmal am späten Abend, manchmal um Mitternacht. Ein Auto bringt ihn, aber ich habe diesen Wagen noch nie gesehen, denn er läßt sich am Tor unserer Farm in der Nähe des Kaninchenzauns absetzen. Wenn er nicht zu spät kam, konnten wir das Paket mit Whisky sehen, das er mitbrachte. Ich weiß, daß Whisky in diesen Paketen ist, denn ich habe Vater beobachtet, wie er die leeren Flaschen vergraben hat. Manchmal sagt er uns noch gute Nacht, bevor er auf sein Zimmer geht, manchmal ist er aber auch völlig schweigsam und geht wortlos auf sein Zimmer. Er schließt sich dann tagelang ein und öffnet nicht einmal mir, wenn ich ihm etwas bringen will. Und wenn er dann wieder erscheint, sieht er grauenvoll aus.« »Er hat Geld?« »Ja – er bringt stets Geld mit. Sobald er dann wieder normal ist, bezahlt er alle Schulden.« »Vermutlich gibt er auch Ihnen etwas von diesem Geld?« »Nein – seltsamerweise gibt er weder mir noch Sunflower auch nur einen Penny, obwohl er sonst sehr großzügig zu uns ist. Manchmal habe ich den Eindruck, daß es schmutziges Geld ist, das er nach Hause bringt. Sie verstehen?« 72
»Durchaus.« »Werden Sie uns helfen?« »Bestimmt. Ich werde herausfinden, wohin Ihr Vater fährt und womit er das Geld verdient, das er nach Hause bringt.« »Und Sie werden mir sagen, was Sie herausgefunden haben?« Bony schwieg, und Lucy mußte ihre Frage wiederholen. »Das kommt darauf an«, erwiderte er schließlich. »Sehen Sie, Miss Jelly – die Männer sind seltsame Wesen. Manchmal tun sie schreckliche Dinge – Dinge, über die ich nicht einmal mit meiner Frau sprechen würde. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe Ihren Vater kennengelernt, und ich glaube nicht, daß er irgend etwas Ehrenrühriges tut. Vielleicht ist er dem Alkohol oder einem anderen Laster verfallen, das ihn mit eisernem Griff festhält. Sollte es so sein, werde ich es Ihnen sagen, und dann werden Sie sicherlich in der Lage sein, Ihrem Vater zu helfen. Aber ganz gleich, was wir herausfinden – Sie dürfen sich auf meine Unterstützung und Diskretion verlassen. Also keine Angst: auf jeden Regen folgt Sonnenschein.« »Danke«, murmelte das Mädchen, und da sie sich dem Haus näherten, wechselten sie das Thema. Mrs. Saunders hatte Sunflower inzwischen ins Wohnzimmer gebracht. Lucy und Bony nahmen ebenfalls dort Platz. »Ich sah heute nachmittag, wie eine Frau Mick Landon und diesem Mann aus der Stadt das Vesperbrot aufs Feld gebracht hat. Wer ist diese Frau?« wandte Bony sich an Lucy. »Wenn sie groß und schlank war, dann dürfte es Miss Waldron gewesen sein, die Schwester von Mrs. Loftus. Seit Mr. Loftus verschwunden ist, wohnt sie bei ihrer Schwester.« »Sie war also nicht anwesend, als Loftus in Perth war und anschließend verschwand?« »Nein – aber nein!« Bony bemerkte, wie das Mädchen ihn anstarrte. Offensichtlich hatte seine Frage sie an etwas erinnert, doch wegen der Anwesenheit Sunflowers verzichtete er darauf, diesen Punkt weiter zu verfolgen. Statt dessen erzählte er vom Kampf zwischen zwei Adlern und einem Fuchs, den er einmal im Busch beobachtet hatte. Mrs. Saunders strickte, doch Lucy vergaß ihre Handarbeit schon bald und lauschte genauso gebannt wie ihre Schwester. Durch die of73
fenen, mit Fliegendraht bespannten Fenster und Türen drangen die Geräusche der Nacht: das pausenlose Zirpen der Zikaden, das knarrende Quaken der Ochsenfrösche, das Bellen eines Fuchses, der über die fernen Sandhügel strich. Und plötzlich schlugen die Hunde an. Bony erzählte weiter, wunderte sich aber, warum die Hunde Laut gaben. Zwanzig Sekunden später hörte er das leise Brummen eines Motors. Gleich darauf bemerkte er, daß Sunflowers Augen Furcht verrieten. Sie hatte das Motorengeräusch also ebenfalls vernommen. Lucy hatte leise und unauffällig das Zimmer verlassen. Mrs. Saunders starrte vor sich hin, schien mit ihren Gedanken auf der Straße am Kaninchenzaun zu sein. Auch sie wartete darauf, daß am Tor zur Farm ein Auto anhielt. Lucy stand vor dem Haus, beobachtete die Scheinwerfer, die durch die Bäume blinkten, wartete gespannt, ob der Wagen jenseits des Kaninchenzauns verschwinden oder sich der Farm nähern würde. Schließlich hielt der Wagen vor dem Tor. Die im Haus Zurückgebliebenen hörten, wie das Motorengeräusch in ein leises Summen überging, wußten genau, daß Mr. Jelly nun ausstieg. Ein paar Worte würde er noch mit dem Fahrer wechseln, da heulte auch schon der Motor auf, und der Wagen rollte davon. »Vater!« murmelte Sunflower. »Es wird schon alles gut«, versicherte Bony. Lucy kam zurück, setzte sich wortlos auf ihren Stuhl und nahm die Handarbeit auf, während Mrs. Saunders mit stoischer Ruhe strickte. Bony schilderte eine Känguruhjagd und wußte doch, daß niemand zuhörte, denn alle lauschten angespannt auf näherkommende Schritte. Die Zeit schien stillzustehen. Die Hunde stürmten davon, und ihr aufgeregtes Gekläff ging in freudiges Gebell über. Eine Männerstimme gebot Ruhe, dann näherten sich auf der Veranda Schritte. Bony stand auf, stellte sich ans Fußende des Liegebettes. In der Tür erschien die zigarrenförmige Gestalt von Mr. Jelly. Den Regenmantel hatte er nachlässig über die Schulter geworfen, in der Rechten hielt er einen Koffer, im linken Arm ein großes, verschnürtes Paket. Die rote Gesichtsfarbe war einer ungesunden Blässe gewichen, und um die seltsam glasig blickenden Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. 74
Ohne zu grüßen, durchquerte er das Wohnzimmer, um in seinem Privatgemach zu verschwinden. »Vater!« sagte Lucy in stiller Verzweiflung. »Sunflower hat sich den Fuß bös verbrüht. Möchtest du nicht mit ihr sprechen?« Widerwillig hielt Mr. Jelly an, stellte sein Gepäck ab. Dann trat er zu Sunflower und blickte stumm auf das Mädchen herab. Sunflower lächelte ihren Vater an, musterte das aschgraue Gesicht. »Mein Fuß ist schon besser, Daddy. Aber es hat sehr weh getan«, meinte sie leise. Mr. Jellys Lippen bewegten sich, und für eine kurze Sekunde schwand der glasige Ausdruck aus seinen Augen. »Du mußt tapfer sein, Sunflower«, murmelte er, und ohne das Mädchen zu streicheln oder zu küssen, drehte er sich um und verließ den Raum. Kurz darauf hörten die Zurückgebliebenen, wie er sich in seinem Zimmer einschloß. Sunflower begann leise zu weinen, Lucy kniete neben ihr nieder und schluchzte ebenfalls.
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D
ie beiden Geheimnisse, die es in Burracoppin gab, wurden immer interessanter. Inspektor Bonaparte hatte sofort erkannt, daß das Verschwinden von George Loftus undurchsichtiger war als ein Mord in einer Großstadt. Außerdem bestand ein Unterschied zu anderen Fällen, in denen Menschen freiwillig verschwunden waren. Bony hatte den Weg des Farmers auf einer wenig benützten Straße verfolgen können – bis zum Gattertor der verkehrsreichen Hauptstraße. Von dort aus war die nächste menschliche Behausung über eine Meile entfernt. Im Fall des vermißten Farmers stellten sich drei entscheidende Fragen: Wurde der Mann in der Nähe des Gattertors an der Old York Road ermordet und die Leiche raffiniert versteckt? Hatte er sein Ver75
schwinden von langer Hand geplant und bestieg am Gattertor einen dort wartenden Wagen, mit dem er dann geflohen war? Oder war er weitergegangen und hatte tatsächlich seine Farm erreicht? Mr. Jelly bildete ein noch komplizierteres Problem. Was verbarg sich hinter seinen Reisen? Welchen Geschäften ging er nach, um in finanziell angespannten Zeiten Geld zu beschaffen? Welche Tätigkeit konnte Mr. Jelly so nachhaltig verändern, wie Bony bei der Rückkehr des Mannes selbst hatte beobachten können? Jelly hatte behauptet, mit Loftus befreundet gewesen zu sein. Auf jeden Fall aber waren sie Nachbarn gewesen. Bestand also doch eine Verbindung zwischen den beiden Männern? Diese Fragen beschäftigten Bony am Montagnachmittag, während er mit dem Lastwagen langsam südlich der Old York Road auf der Ostseite des Kaninchenzauns entlangfuhr. Er war der Ansicht, daß es nicht weiter schwer sein dürfte, Mr. Jellys Geheimnis zu lüften. Deshalb wollte er zunächst die Frage klären, ob Loftus seine Farm erreicht hatte. Auf der Loftus-Farm waren die beiden Männer immer noch mit der Weizenernte beschäftigt. Östlich der Farm und des Zaunes war das Land unkultiviert, aus dichtem Busch ragten die Stämme der weißen Eukalyptusbäume. Nachdem Bony die Stelle erreicht hatte, an der Hurley in der fraglichen Nacht gelagert hatte, stellte er den Lastwagen im Schatten ab. Er befand sich jetzt eine halbe Meile südlich der Loftus-Farm, und von hier aus hatte der Grenzreiter gehört, wie gegen zwei Uhr morgens die Hunde auf der Farm geheult hatten. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel. Bony zündete sich ein Feuer an und brühte Tee auf. Dann setzte er sich – wegen der vielen Ameisen – auf das Trittbrett des Lastwagens und nippte den Tee. Ein Kaninchen hoppelte unter einem Busch hervor, und da wurde Bony an Ginger erinnert. Vor drei Tagen hatte Inspektor Gray den Hund mitgenommen, um ihn dem Grenzreiter zu bringen. Und sofort mußte Bony wieder an Hurleys Worte denken, daß in der fraglichen Nacht die Hunde auf der Farm geheult hätten. Jetzt war die Gelegenheit günstig, die Aussage nachzuprüfen, und außerdem wollte Inspektor Bonaparte mehr über die Bewohner der Loftus-Farm herausfinden. 76
Alle Hunde können heulen, aber nicht alle Hunde können bellen. Ein Dingo wird heulen, aber niemals bellen wie ein Haushund. Der wilde Hund, diese Kreuzung zwischen Haushund und Dingo, wird nur selten bellen, dafür aber mit den anderen Tieren des Rudels im Chor heulen. Der Haushund heult den Mond an, und es wird auch behauptet, daß er heult, wenn er traurig ist. Unbestritten ist jedenfalls, daß er heult, wenn er sich nach dem Herrn sehnt – vor allem aber, wenn sein Herr stirbt. Nun erhob sich die Frage: Haben die Hunde geheult, weil ihr Herr sterben mußte? Als die Sonne am Horizont verschwand, aß Bony kalte Hammelkoteletts und Butterbrot. Über das Stoppelfeld näherte sich Mick Landon, und Inspektor Bonaparte fragte sich, ob der Mann mit ihm sprechen wollte. Doch Landon sprang über den Kaninchenzaun und ging weiter zur Jelly-Farm, die eine halbe Meile östlich lag. Es dämmerte bereits, als Landon zurückkehrte. Er trug ein Maschinenteil, das er sich von Mr. Jelly oder Lucy geliehen haben mochte. Diesmal kam er zu Bonys Lagerplatz »Guten Abend«, sagte er freundlich. »Habe ich Sie nicht bei unserem Tanzabend gesehen?« »Ja, ich war dort«, erwiderte Bony, der sich gerade eine Zigarette drehte. »War eine gelungene Veranstaltung.« »Durchaus. Übrigens – nächsten Samstag findet in der Jilbadgie Hall wieder ein Tanzabend statt. Es werden auch viele Leute aus Burracoppin kommen. Es wird Sie bestimmt jemand im Wagen mitnehmen.« »Wo ist Jilbadgie Hall?« »Gleich beim Zehnmeilentor. Kommen Sie doch auch!« »Ich will sehen, daß ich es einrichten kann«, versprach Bony und musterte den Farmarbeiter, dessen athletische Gestalt unter dem kurzärmligen Baumwollhemd deutlich zu erkennen war. Obwohl der Mann von Getreidestaub bedeckt war, wirkte er sauber, und er schien sich auch täglich zu rasieren. »Waren Sie am Samstagnachmittag oben auf unserem Felsen?« »Ja. Miss Jelly hatte mich zum Tee eingeladen, und da bin ich von Burracoppin aus gleich querfeldein gegangen.« »Das Gelände ist aber reichlich unwegsam.« »Trotzdem war es mir lieber als die staubigen Straßen.« 77
»Ein Lastwagen hätte Sie bestimmt mitgenommen.« »Sicher, aber ich laufe lieber. Dazu habe ich ja meine Beine. Und wenn ich eine Tanzveranstaltung besuchen will, laufe ich sogar zehn Meilen.« »Da müssen Sie ein leidenschaftlicher Marschierer sein«, meinte Landon. »Und Sie haben Glück, beim Kanincheninspektor Arbeit gefunden zu haben.« »Da muß man nicht Glück, sondern Beziehungen haben«, entgegnete Bony geringschätzig. »Die Organisation der Schwarzen Hand, müssen Sie wissen.« Landon lachte laut auf, doch abrupt wurde sein Gesicht wieder ernst. Fast schien es, als sei er nicht gewohnt, zu lachen. Er musterte Bonys Gesicht und kramte offensichtlich in seinem Gedächtnis, ob er diesen Mischling nicht schon irgendwo getroffen habe. Inspektor Bonaparte bot ihm einen Becher Tee an, und als dieser abgelehnt wurde, Tabak und Zigarettenpapier. »Übrigens – als ich am Samstag bei Ihnen vorbeikam und um ein Glas Wasser bat, habe ich die Strohmiete bewundert«, sagte Bony, während Landon sich mit geschickten Bewegungen eine Zigarette drehte. »Sie ist sehr sachkundig errichtet worden. Ich habe überlegt, wie viele Tonnen das sein können, und habe fünfzig Tonnen geschätzt. Wieviel veranschlagen Sie?« »Die Strohmiete!« Landon schien zusammenzuzucken. »Hm – das Gewicht? Rund vierundsechzig Tonnen. Interessieren Sie sich für Strohmieten?« »Ich interessiere mich für alles. Sehen Sie, ich komme von den Viehstationen in Queensland. Das Weizengebiet lerne ich jetzt zum erstenmal kennen«, erklärte Bony seelenruhig. »In Queensland bin ich noch nie gewesen. So, und nun muß ich mich auf den Weg machen. Also, wir sehen uns dann wahrscheinlich auf dem Tanzabend. Gute Nacht!« »Gute Nacht«, erwiderte Bony höflich. Um elf Uhr ging der Mond auf. Um halb zwölf begannen die Hunde auf der Loftus-Farm lange und anhaltend zu heulen. Die Nacht war so still, daß Bony sogar hörte, wie Mick Landon ihnen befahl, ruhig zu sein. 78
Am Spätnachmittag des nächsten Tages kehrte Bony nach Burracoppin zurück. Als er auf dem Postamt nachfragte, erhielt er drei Briefe. Zwei waren in Brisbane abgestempelt, der dritte kam aus Perth. Nachdem er den Lastwagen abgestellt hatte, ging er auf sein Zimmer und las die Post. Der erste Umschlag enthielt eine Nachricht von Muir. Sie war im Telegrammstil abgefaßt. ›Habe ihn. Verlasse heute Brisbane. Habe Ihre Frau besucht. Sie sollen unverzüglich zurückkommen. Habe ihr gesagt, daß Sie sich köstlich amüsieren. John‹ Diese Zeilen waren ein erneuter Beweis für John Muirs Impulsivität, und Bony ärgerte sich darüber, denn ihm lag die Karriere des Sergeanten am Herzen. Muir war nicht in der Lage gewesen, einen vernünftigen Brief zu schreiben. Der zweite Umschlag enthielt ein Schreiben, das von Colonel Spender, dem Chef der Polizei von Queensland, unterzeichnet war. ›Bitte beenden Sie Ihren Urlaub und kehren Sie sofort zurück. Sie sollen einen wichtigen Fall in Cunnamulla übernehmen. Er wird ganz nach Ihrem Geschmack sein.‹ Nach dem Namenszug des Colonel folgte in seiner eigenen Handschrift noch ein Postskriptum: ›Kommen Sie um Himmels willen schnell zurück. Bin von unfähigen Wichtigtuern umgeben, die nicht einmal einen Betrunkenen festnehmen können. In dieser Horde bin ich der einzige Polizeibeamte. G.H.S.‹ Der dritte Brief war von seiner Frau, und nachdem Bony ihn gelesen hatte, nahmen seine Augen einen verträumten Ausdruck an. Zweiundzwanzig Jahre waren sie nun verheiratet, aber sie verstanden sich noch immer wie am ersten Tag. Am nächsten Morgen entschloß sich Inspektor Bonaparte, einen Tag frei zu nehmen, um nach Merredin zu fahren und festzustellen, woher die Telegramme kamen, die Mr. Jelly erhielt. So kletterte er um neun Uhr fünfundvierzig in den Schaffnerwagen des Güterzugs. Als er in Merredin – dem Chicago von Westaustralien, wie man im Volksmund das Städtchen nannte – ankam, fragte Bony einen Jungen nach der Polizeistation. Er fand sie ohne große Schwierigkeiten, und als er eintrat, saß Sergeant Westbury an einem einfachen Holztisch. 79
»Guten Tag!« rief der Polizeichef von Merredin, beugte sich zur Seite und zog einen Stuhl heran. »Nehmen Sie Platz. Freue mich, Sie zu sehen.« Der Sergeant musterte den Mischling aus zusammengekniffenen Augen. »Ich erhole mich von der körperlichen Arbeit«, erklärte Bony mit ernstem Gesicht. »Ich verabscheue körperliche Arbeit. Der weiße Mann mag dafür geschaffen sein, aber ich bin nicht völlig weiß. Haben Ihre Erkundigungen schon ein Ergebnis gebracht?« »Es geht sehr langsam. Muß vorsichtig sein – sehr vorsichtig. Ich habe alles hier, aber die Unterlagen sind noch unvollständig.« Bony nahm die Bogen, sortierte sie kurz und sah sich die Daten an, die der Sergeant zusammengetragen hatte. Landon war im Jahre 1933 in Northam im Staate Westaustralien geboren worden. Er hatte bei der Armee gedient und war 1955 in den Polizeidienst eingetreten. Allerdings hatte man ihn im darauffolgenden Jahr wegen einer Affäre mit einer Frau wieder entlassen. Danach hatte er in den Goldminen von Kalgoorlie gearbeitet, bis er schließlich 1957 bei George Loftus angefangen hatte. »Landon war also Polizeibeamter?« »Ja. Sergeant Mason war gestern hier. Er kann sich an Landon erinnern. Sehr tüchtig, versprach ein guter Polizeibeamter zu werden. Aber ein toller Schürzenjäger, und wegen einer Weibergeschichte mußte er ja auch den Dienst quittieren. Wie ich in Burracoppin hörte, spielt er auch dort den Pascha!« »Zweifellos spielt er den Pascha«, pflichtete Bony bei. »Aber das ist kein Verbrechen. Was war das eigentlich für eine Affäre, wegen der er den Dienst quittieren mußte?« »Verletzung der Unterhaltspflicht.« Bony nahm sich den nächsten Dossier vor. Mrs. Mavis Loftus wurde im März 1934 als Tochter eines Viehzüchters in Cobar im Staate Neusüdwales geboren. Soweit der Sergeant bisher hatte feststellen können, war ihr Leben ohne Zwischenfälle verlaufen. Am 2. Mai 1956 hatte sie in Cobar George Loftus geheiratet. Bony lehnte sich zurück und nagte nachdenklich an der Unterlippe. Diese Dossiers enthielten keine wichtigen Informationen. Er schien gegen eine Wand anzurennen, über die kein Weg führte. 80
»Nun, hat es Ihnen weitergeholfen?« »Nein«, gab Bony offen zu. »Aus Südaustralien haben wir auch keine Nachricht, aber das hat nicht viel zu besagen. Loftus kann sich ja an Bord des Schiffes versteckt haben, als es Adelaide anlief, und ist nun weiter nach Melbourne gefahren.« »Er hat Westaustralien überhaupt nicht verlassen.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich weiß es – genau wie Ihre Frau weiß, wenn Sie in der Kneipe waren.« Westbury brach in schallendes Gelächter aus. »Dann müssen Sie recht haben«, stieß er schließlich aus. »Meine Frau hat nämlich auch immer recht. Also ist Loftus noch in Westaustralien.« »Wie verstehen Sie sich mit dem Postmeister?« »Einigermaßen.« Einige Sekunden lang studierte Bony das rote, treuherzige Gesicht und fragte sich, ob der Sergeant wohl zu den sturen Beamten gehörte, die sich streng an ihre Dienstvorschriften halten. »Ich möchte Sie jetzt um einen Gefallen bitten«, begann Bony schließlich. »Schreiben Sie dem Postmeister ein paar Zeilen. Teilen Sie ihm mit, wer ich bin. Bitten Sie ihn, unbedingt meine Identität zu wahren und mir bei einer Angelegenheit behilflich zu sein, die ich ihm erklären werde. Auf diese Weise würde ich viel Zeit und Mühe sparen, denn der offizielle Weg ist oft reichlich umständlich. Nun, werden Sie mir das Empfehlungsschreiben mitgeben – und im übrigen von nichts wissen?« »Gewiß. Und ich werde keinerlei Fragen stellen.« »Sie sind ein äußerst kluger Mann, Sergeant.« Sergeant Westbury strahlte über das ganze Gesicht und schrieb die erbetenen Zeilen. Nachdem der Postmeister Westburys Brief gelesen hatte, blickte er Bony prüfend an, der ihm lächelnd gegenübersaß. »Nun, was kann ich für Sie tun, Inspektor?« »Zeigen Sie mir bitte das Telegrammformular, das kurz vor dem siebzehnten November hier aufgegeben wurde – an einen Mr. Jelly in South Burracoppin. Das ist alles.« 81
Der Postmeister ging hinaus in den Dienstraum. Als er nach zehn Minuten zurückkehrte, hatte er das gewünschte Telegrammformular in der Hand. Bony las: ›Komme Perth‹. Er drehte das Formular um, denn auf der Rückseite mußte nach den Postvorschriften der Absender stehen. Er war in einer steilen Handschrift vermerkt und lautete: ›Miss Sunflower Jelly, South Burracoppin.‹ »Vielen Dank«, sagte Bony höflich und verabschiedete sich.
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ährend der Rückfahrt im Schaffnerwagen des Güterzuges, der Merredin um fünf Uhr nachmittags verließ, hatte Bony Zeit, über die beiden Fälle nachzudenken, die ihn in Burracoppin beschäftigten. Der Schaffner beschäftigte sich mit seinen Frachtbriefen und Ladelisten, andere Fahrgäste befanden sich nicht im Wagen, so daß sich Bony nicht die üblichen Klatschereien anhören mußte. Das Geheimnis, das Mr. Jelly umgab, hatte Bony durch seine Reise nach Merredin nicht aufhellen können. Das Telegrammformular, das der Postmeister herausgesucht hatte, vergrößerte die Verwirrung nur, denn es stand einwandfrei fest, daß Sunflower Jelly nicht der Absender sein konnte. Bony war eine Stunde lang durch die Straßen von Merredin gewandert, dann war er zum Postamt zurückgekehrt, um zu versuchen, eine Beschreibung der Person zu erhalten, die das Telegramm in Sunflowers Namen aufgegeben hatte. Der Beamte, der das Telegramm angenommen hatte, konnte sich nicht mehr an den Aufgeber erinnern. Er glaubte sich aber zu entsinnen, den Namen Sunflower bereits früher gesehen zu haben. Offensichtlich war Mr. Jelly unter Verwendung dieses Namens in die verschiedenen Städte bestellt worden. 82
Bony war überzeugt, daß weder Sunflower noch Lucy noch Mr. Jelly selbst das Telegramm aufgegeben hatten. Der Farmer mußte allerdings wissen, was er in Perth sollte, und er mußte zweifellos auch wissen, wer ihm im Namen seiner Tochter das Telegramm schickte. Natürlich mußte es sich bei dem Aufgeber um eine Frau handeln, denn hätte ein Mann einen weiblichen Vornamen gewählt, wäre es dem Postbeamten unweigerlich aufgefallen. Bony hatte damit lediglich herausgefunden, daß am 16. November um 14 Uhr 20 das Telegramm von einer Frau aufgegeben worden war. Im Falle des verschwundenen George Loftus kam Bony ebenfalls mit seinen Ermittlungen nicht voran. Langsam kam er zu der Überzeugung, daß ihn sein Gefühl, auf das er Sergeant Westbury gegenüber so stolz gewesen war, doch getrogen hatte. Wenn es erst so ausgesehen hatte, als sei George Loftus ermordet worden, sah es jetzt eher so aus, als habe er sein Verschwinden sorgfältig geplant. Sergeant Westbury klammerte sich an diese Theorie, und wenn er auch zur Bequemlichkeit neigte, so war er doch ein tüchtiger und intelligenter Polizeibeamter. Inspektor Gray und Mr. Jelly hingegen waren der Ansicht, daß George Loftus ermordet worden war. Doch diese beiden Männer besaßen nicht die Ausbildung des Sergeanten, und außerdem hatte Westbury die ersten Ermittlungen durchgeführt. Mr. Thorn und Mrs. Poole waren noch weniger kompetent – und sie vertraten völlig gegensätzliche Meinungen. Bony besaß ebenfalls nichts, worauf er seine eigene Meinung hätte gründen können. Trotzdem resignierte er nicht. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß bei einer Morduntersuchung die Zeit der wichtigste Helfer war. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde etwas geschehen, was man gemeinhin als Zufall bezeichnete, und damit hätte Bony ein weiteres Glied in der Beweiskette. Während der Zug langsamer fuhr, um den höchsten Punkt der Strecke zu erklimmen, zog Bony sein Notizbuch heraus und studierte den Eintrag, den er unter dem 16. November gemacht hatte. An diesem Tag hatte er sich den verunglückten Wagen angesehen und die Umgebung abgesucht. Ginger, der Hund des Grenzreiters, hatte ihm zwei tote Kaninchen gebracht, von denen er eins am Fuße eines Zaunpfahls begraben hatte. Am Abend hatte er Mr. Thorn und das Sinnbild Australiens kennengelernt und später bei einem Spazier83
gang beobachtet, wie Mr. Jelly und ein Fremder einen Reifen gewechselt hatten und dann in Richtung Merredin weitergefahren waren. Daraus ergab sich die Schlußfolgerung: Am 16. November hatte um 14 Uhr 20 eine Frau auf dem Postamt von Merredin ein Telegramm aufgegeben, das an Mr. Jelly in South Burracoppin gerichtet war. Dieses Telegramm wurde dann telefonisch nach Burracoppin durchgegeben, und obwohl der Empfänger vier Meilen außerhalb des Städtchens wohnt, mußte er es kurz nach der Übermittlung erhalten haben, denn er hatte dem Ruf noch am Abend Folge geleistet. Offensichtlich hatte Mr. Jelly mit dem Telegramm gerechnet und in Burracoppin darauf gewartet, oder er hatte den Fahrer eines Lastwagens gebeten, es ihm mitzubringen. Auf jeden Fall schien er mit dem Eintreffen des Telegramms gerechnet zu haben, denn er hatte an diesem Tag bereits die Reisevorbereitungen getroffen. Andererseits schien der Termin nicht absolut sicher festgestanden zu haben, denn sonst hätte für die Absendung des Telegramms überhaupt keine Notwendigkeit bestanden. Zweifellos hatte der Wagen, mit dem Mr. Jelly abgereist war, den Farmer auch wieder zurückgebracht. Bony hatte beobachtet, daß es eine viertürige Limousine englischer Herkunft gewesen war. Die Tatsache, daß die polizeilichen Kennzeichen gefehlt hatten, war nicht weiter verdächtig. Es gab Farmer im Busch, die sich einen Sport daraus machten, nicht erwischt zu werden – genau wie die Lastwagenfahrer, die aus den gleichen Motiven die Tore im Kaninchenzaun offenließen. Gutgelaunt stieg Bony in Burracoppin aus, denn je mysteriöser ein Fall war, um so mehr Vergnügen bereitete er ihm. Die Sonne ging am Horizont unter. Der Weizen war verladen, und die Transportarbeiter rauchten eine hart verdiente Zigarette, bevor sie nach Hause gingen, um zu duschen und zu Abend zu essen. Als Inspektor Bonaparte am Hotel vorüberkam, sah er, daß die Theke von Lastwagenchauffeuren und Farmern belagert wurde. Im Hof des Depots wartete Mrs. Gray mit einem Brief. »Der kam heute nachmittag«, erklärte sie. »Ein Lastwagenfahrer hat ihn von Lucy Jelly mitgebracht. Sie stechen doch nicht etwa Eric Hurley aus?« »Ich bin verheiratet, Madam!« protestierte Bony lächelnd. »Ich erwarte die Einladung zum Bridge – und dies hier ist sie vermutlich.« 84
»Wenn Sie heute abend zu den Jellys wollen, können Sie vielleicht mit Mrs. Loftus bis zu ihrer Farm mitfahren. Sie holt den Wagen, den ihr Mann in den Graben gefahren hat, aus der Werkstatt.« »Dann ist er repariert worden?« »Ja. Die Polizei gab in der vergangenen Woche die Genehmigung.« Bony wußte dies zwar, stellte sich aber weiterhin unwissend. »Sicher war der Schaden gar nicht so schlimm, wie es zunächst aussah«, meinte er. »Stimmt. Die Garagenleute haben für die Reparatur nur zwei Tage gebraucht. Also, wenn Sie zu den Jellys wollen, dann laufen Sie rasch und sprechen Sie mit Mrs. Loftus.« »Ich werde Ihren Rat befolgen. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte.« Bony zog lächelnd den Hut und entfernte sich. Auf der Straße angekommen, öffnete er den Umschlag und las den Zettel, der mit Lucy Jellys Initialen unterzeichnet war. ›Bitte kommen Sie heute abend. Vater ist sehr sonderbar, und wir machen uns die größten Sorgen.‹ Bony schob nachdenklich die Unterlippe vor und bog um die Ecke des Hotels. Mr. Thorn wollte ihn unbedingt überreden, mit zur Theke zu kommen, doch er lehnte ab. Der reparierte, aber immer noch klapprige Wagen stand vor einem der Läden. Bony mußte fünf Minuten warten, dann trat Mrs. Loftus aus dem Laden, gefolgt vom Verkäufer, der ein Lebensmittelpaket trug. »Ich bin heute abend bei den Jellys eingeladen, und da wollte ich fragen, ob Sie mich wohl bis zu ihrer Farm mitnehmen könnten.« Die grünblauen Augen der aparten Frau musterten den Mischling, sahen ein scharfgeschnittenes braunes Gesicht. »Schön.« Mrs. Loftus lächelte. »Ich fahre um sechs, aber ich kann nicht eine einzige Minute warten. Habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?« Diese Frage klang sehr herablassend. Man merkte deutlich, daß die junge Frau auf der Viehstation ihres Vaters oft auf diese Weise mit den Eingeborenen gesprochen haben mußte. »Ja.« Bony strahlte immer noch. »Sie waren so freundlich, mir einen Becher Wasser zu geben, als ich neulich bei Ihnen vorbeikam.« »Ach, richtig. Sie besuchten die Jellys, nicht wahr?« »Ja, ich verbrachte den Abend dort.« 85
»Lucy Jelly ist ein nettes Mädchen, nicht wahr?« »Sehr nett«, versicherte Bony mit ernstem Gesicht. »Und ebenfalls Miss Sunflower.« Mrs. Loftus wandte sich ab, doch Bony bemerkte noch den verächtlichen Zug, der um ihre Lippen spielte. Er machte sich auf den Weg zur Garage, die auf der anderen Seite der Bahnlinie lag. Die beiden Werkstattbesitzer wuschen sich gerade die Hände. »Hallo Bony!« rief der ältere. »Sie haben vielleicht einen ruhigen Posten. Wenn man Sie sieht, glaubt man glatt, es sei Sonntag.« »Ich habe mir heute frei genommen, weil mir das Wetter auf die Nerven geht«, erwiderte Bony lachend. »Ich war in Merredin und wollte meiner Frau fünf Pfund schicken, aber ich habe es vergessen. Können Sie mir einen Zehnpfundschein wechseln? Schließlich möchte ich ein paar Shilling behalten.« »Einen Zehnpfundschein, Fred!« »Es wird Zeit, daß wir auch zu Gray gehen und bei einer Behörde arbeiten. Privatinitiative bringt nichts mehr ein«, fügte Fred hinzu. Er hatte ein blasses Gesicht, einen dichten Haarschopf und war Anfang Vierzig. »Na ja, Sie haben Glück«, meinte der zweite Mechaniker. »Manchmal bezahlen unsere Farmer sogar. Erst heute nachmittag ist eine Rechnung bezahlt worden. Da können wir Ihnen wechseln. Warten Sie einen Augenblick.« »Ich sah Mrs. Loftus vorhin mit einem Wagen«, wandte Bony sich an Fred. »Das war doch aber wohl nicht der, mit dem ihr Mann in den Graben gefahren ist?« »Doch, Bony. Die Reparatur hat sie fünfzehn Pfund gekostet, und weil wir wissen, wie es auf der Farm in finanzieller Hinsicht steht, haben wir ihn nur gegen Barzahlung herausgegeben. Aber ohne mit der Wimper zu zucken, zog die Frau ein Bündel Banknoten aus der Tasche, blätterte die fünfzehn Pfund auf den Tisch und zahlte auch noch eine alte Rechnung über sechs Pfund.« Freds Partner kehrte mit einem Bündel Geldscheinen zurück, zählte Bony zehn Einpfundnoten in die Hand und nahm die Zehnpfundnote entgegen. 86
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Bony ruhig. »Wir sehen uns sicher beim Essen. Ich muß jetzt gehen, denn ich bin um sechs mit einer Dame verabredet.« Fred grinste. Bony blinzelte, und alle drei brachen in lautes Gelächter aus. Auf dem Weg zu Mrs. Pooles Fremdenpension besah sich Bony die Geldscheine, mit denen Mrs. Loftus die Rechnung beglichen hatte. Es waren nagelneue Scheine, und alle stammten aus der Serie K/II. Aus dieser Serie hatte der Kassierer der Bank von Neusüdwales an George Loftus hundert Pfund ausgezahlt.
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s ging bereits auf halb sieben, als Mrs. Loftus endlich zu ihrem Wagen kam, neben dem Bony geduldig wartete. Zu seiner Erleichterung sah er, daß die junge Frau von ihrer Schwester, Miss Waldron, begleitet wurde. Bony durfte auf dem Rücksitz Platz nehmen. Nachdem er die zahlreichen Päckchen umgestapelt hatte, konnte er es sich einigermaßen bequem machen. Mrs. Loftus setzte sich ans Steuer, ihre Schwester nahm neben ihr Platz. Bony war froh, daß Miss Waldron mitfuhr, denn auf diese Weise war er nicht verpflichtet, sich mit Mrs. Loftus unterhalten zu müssen. Seine Gedanken kreisten um die mysteriösen Vorgänge in Burracoppin. Über Lucy Jellys Hilferuf zerbrach er sich im Augenblick nicht den Kopf – er würde ja schon bald erfahren, was es gab. Im Moment beschäftigten ihn ausschließlich die bankneuen Pfundnoten, die er von dem Garagenbesitzer erhalten hatte, und die alle zur Serie K/II gehörten. Nun bestand durchaus die Möglichkeit, daß es sich um einen reinen Zufall handelte. Schließlich gehörten zu einer Serie zehntausend Banknoten, die von einem Dutzend Banken in Westaustralien an Hunderte von Firmen ausgegeben wurden. Wichtig war allein der Umstand, 87
daß Mrs. Loftus in der Lage gewesen war, eine Werkstattrechnung über einundzwanzig Pfund zu begleichen und außerdem noch zahlreiche Einkäufe zu tätigen, wobei sie gewiß auch bei den Kaufleuten Rückstände zu regulieren hatte. Der Tanzabend aber, der kürzlich zu ihren Gunsten veranstaltet worden war, hatte lediglich einen Reinertrag von sieben Pfund und zwei Shilling erbracht. Woher hatte Mrs. Loftus also plötzlich so viel Geld? Ihr Vater, der in der Nähe von Cobar ein Weidegut besaß, konnte ihr natürlich einen Scheck gesandt haben. Sie konnte auch ein wertvolles Schmuckstück verkauft haben, um die laufenden Unkosten decken zu können, denn es stand fest, daß sie sich vor ihrer Heirat mit Loftus finanziell besser gestanden hatte. Nahm man hingegen an, daß die Banknoten, mit denen sie in der Werkstatt bezahlt hatte, zu jenen gehörten, die von der Bank an George Loftus ausgegeben worden waren, erhob sich die Frage: Wie war Mrs. Loftus in den Besitz des Geldes gelangt? Sie war immerhin eine intelligente Frau und mußte sich sagen, daß die Polizei die größten Anstrengungen unternehmen würde, festzustellen, wieviel Geld ihr Mann bei sich hatte, als er verschwand, und woher es stammte. Durch ein Verbrechen konnte sie es sich also kaum beschafft haben. Blieb nur die Erklärung, daß George Loftus seiner Frau das Geld geschickt hatte. Also mußte Sergeant Westbury recht haben, und Bonys Gefühl hatte getrogen. Es gab nur eine logische Erklärung: Loftus war am Leben und hatte seiner Frau Geld geschickt. Vermutlich wußte sie auch, wo er sich aufhielt und warum er verschwunden war. Bony war mit seinen Überlegungen gerade bei diesem Punkt angelangt, als der Wagen das offenstehende Tor der LoftusFarm erreichte. Der rosa schimmernde Westhimmel verwandelte sich jetzt rasch in ein glühendes Rot. »Vielen Dank, Mrs. Loftus«, sagte Bony, nachdem er ausgestiegen war. »Schon gut. Und viel Vergnügen heute abend. Grüßen Sie Miss Jelly von mir, ja?« Obwohl die Worte freundlich klingen sollten, verrieten ihre Stimme und ihr Lachen Spott. »Ich werde daran denken, Madam. Nochmals besten Dank.« 88
Der Wagen schoß die Straße entlang, die zum Haus führte. Zu beiden Seiten dehnten sich Stoppelfelder. Bony blickte dem Wagen nach, und ein unergründliches Lächeln umspielte seine Lippen. Sobald er auf diesen Frauentyp stieß, wurde er sich schmerzlich bewußt, zwei Rassen anzugehören. Und obwohl ihm bekannt war, daß Snobismus nur eine Maske war, mit der Dummheit und geistige Flachheit verdeckt wurden, fühlte er sich doch gekränkt. Der weinrote Himmel ging in das abendliche Graublau über, während Bony mit langen Schritten am Kaninchenzaun entlang nach Süden marschierte. Je weiter er sich von der Loftus-Farm entfernte, um so mehr hellte sich sein Gesicht auf. Als Bony bei den Jellys eintraf, glitzerten die Sterne am samtschwarzen Himmel. Nur am westlichen Horizont dehnte sich ein schmaler blaßgelber Streifen. In der Dunkelheit konnte er die Hunde nicht sehen, doch plötzlich sprangen sie an ihm hoch. Und obwohl Lucy ein weißes Kleid trug, bemerkte er auch sie erst, als sie dicht vor ihm stand. »Schön, daß Sie gekommen sind, Mr. Bony«, begrüßte sie ihn herzlich. »Bitte treten Sie ein. Wenn Sie Vater begegnen sollten, dann sagen Sie ihm bitte, daß Sie zufällig vorbeigekommen sind, ja?« »Selbstverständlich«, versicherte er. »Wie geht es ihm denn?« »Wir haben ihn nicht mehr gesehen, seit er am letzten Samstag in seinem Zimmer verschwunden ist.« »Mein Gott! Heute ist Mittwoch. Haben Sie gehört, was er in seinem Zimmer treibt?« »Ja. Er läuft umher und führt Selbstgespräche. Sein Essen muß ich vor der Tür absetzen. Wir haben gehört, wie er spät in der Nacht das Haus verlassen hat.« Ihre zitternde Hand tastete nach Bonys Arm, und der Inspektor sah ihr weißes, besorgtes Gesicht. »Es ist zwar nicht schlimmer als früher, aber Sie hatten uns versprochen zu helfen. Bisher mußte ich ganz allein mit allem fertig werden. Um Sunflower nicht zu beunruhigen, habe ich mir nichts anmerken lassen. Aber Sunflower ist nun fast erwachsen, da nützt auch ein lächelndes Gesicht nichts. Sie will wissen, was los ist. Wie oft habe ich mir gewünscht, Hilfe zu finden – jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Eric mag ich mich nicht anvertrauen, obwohl ich ihn liebe. 89
Dafür kennen wir uns nicht lange genug. Gewiß, Mr. Bony, unsere Bekanntschaft ist noch viel jüngeren Datums, aber ich mußte mich ganz einfach an Sie um Hilfe wenden. Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Sie halten mich doch nicht für übergeschnappt oder?« Bony bemerkte den schrillen Unterton. Am liebsten hätte er das Mädchen in die Arme genommen und getröstet. Doch das ziemte sich für einen Kriminalinspektor nicht. »Überlassen Sie Ihren Vater nur mir«, sagte er ruhig. »Es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge. Und nun wollen wir erst einmal hineingehen und Sunflower und Mrs. Saunders begrüßen. Ich nehme an, daß sie noch bei Ihnen wohnt?« »Ja. Und nochmals vielen Dank für Ihr Kommen.« Er spürte den Druck ihrer Finger, dann zog sie die Hand zurück. Diese kleine Geste verriet deutlich, welche Verantwortung auf ihr lastete, seit ihre Mutter verstorben war. Am oberen Ende der Verandastufen wartete Sunflower. Der verbrühte Fuß war immer noch dick bandagiert. »Mr. Bony!« rief sie erfreut. »Das ist aber schön, daß Sie uns besuchen!« »Ich bin vor allem gekommen, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, log Bony munter darauf los. Die beiden Mädchen geleiteten ihn in die Wohnküche, wo er auf dem Sofa neben Sunflower Platz nehmen mußte. Mrs. Saunders brachte ihm eine Tasse Tee. Er bedankte sich, dann wandte er sich an Sunflower. »Nun, was macht der Fuß?« »Er ist schon viel besser. Lucy meint, daß ich am Freitag den Verband abnehmen kann.« »Wirklich? Das ist wunderbar. Ich wollte Sie, Miss Lucy und Mrs. Saunders nämlich einladen, mit mir am Samstagabend den Ball in Jilbadgie Hall zu besuchen. Haben Sie Lust?« Sunflowers Augen leuchteten auf, als sie zu ihrer Schwester blickte. »Ich komme auf jeden Fall mit, Mr. Bony«, erklärte Mrs. Saunders. »Es ist mir ein Vergnügen.« Der Inspektor nickte, zog die Brauen hoch und sah die beiden Mädchen an. »Und wie steht es mit Ihnen?« Wieder warf Sunflower ihrer Schwester einen flehenden Blick zu. 90
»Lucy – so sage doch ja!« flüsterte sie. »Wir nehmen Ihre Einladung gern an, Mr. Bony«, sagte Lucy lächelnd. »Gut – das wäre also abgemacht«, meinte der Inspektor erleichtert. »Der Ball beginnt um neun Uhr. Ich werde Sie um halb neun abholen.« »Womit fahren wir eigentlich?« wollte Sunflower wissen. »Im Auto natürlich. Fred, der Garagenbesitzer, besitzt einen wunderschönen Wagen.« »Wundervoll. Wird er uns denn auch wieder nach Hause bringen?« »Aber gewiß. Und er wird nicht eher nach Hause fahren, bevor Sie sich nicht müde getanzt haben oder der Ball zu Ende geht. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte auch Ihren Vater einladen.« »Vater?« »Natürlich. Wir müssen ihn überreden, ebenfalls mitzukommen.« »Wenn er doch nur mitkommen würde!« »Wenn ich ihn einlade, wird er schon kommen.« Bony stand auf. »Ich werde nicht lange bleiben.« Er lächelte. »Und sobald ich zurück bin, müssen Sie mir sagen, welche Tänze Sie für mich reservieren. Wenn ich damit nämlich warte, bis wir in Jilbadgie Hall sind, kommen mir womöglich andere Männer zuvor.« Er hatte sich betont unbeschwert gegeben, doch der Schatten, der sich über die Mädchen gesenkt hatte, als er ihren Vater erwähnt hatte, wich nicht. Ihre Augen verrieten deutliche Furcht, während Bony den Korridor entlangging, der zum Zimmer des Farmers führte. Und während der Mischling auf die Tür zuschritt, verspürte er eine kalte Wut. Warum mußte der Mann mit diesem seltsamen Benehmen das Leben seiner beiden Töchter verdüstern! Bony klopfte energisch, und es klang, als klopfte das Schicksal an die Tür. Nicht das geringste Geräusch drang aus dem Zimmer. Bony klopfte erneut, denn das Schicksal ließ sich nicht aufhalten. »Lucy – verschwinde«, befahl Mr. Jelly mit seiner leisen, wohltönenden Stimme. »Ich bin es, Napoleon Bonaparte«, sagte Bony laut. »Lassen Sie mich eintreten, Mr. Jelly. Ich muß mit Ihnen sprechen.« »Verschwinden Sie!« »Bitte öffnen Sie, Mr. Jelly.« 91
»So gehen Sie doch! Können Sie denn nicht hören?« »Ich gehe erst, nachdem ich wegen einer dringenden Angelegenheit mit Ihnen gesprochen habe. Und ich kann sehr hartnäckig sein, Mr. Jelly.« Diesmal schwieg Mr. Jelly, und Bony wartete zehn Sekunden. »Sie müssen mich ja wohl verstanden haben, Mr. Jelly«, sagte er, und seine Stimme verriet deutlich, daß er sich nicht wegschicken ließ. Urplötzlich flog die Tür auf. Gegen das sanfte Licht der Lampe hob sich die Silhouette von Mr. Jellys hünenhafter, zigarrenförmiger Gestalt ab. Mit eisernem Griff umklammerten seine Hände die Arme des Inspektors. Bony wurde herumgerissen und spürte, wie um seine nach hinten gebogenen Gelenke Handschellen zuschnappten. Er wurde ins Zimmer gezerrt, die Tür fiel krachend ins Schloß. Auf dem Tisch stand eine Lampe mit rotem Schirm, wie ein Leuchtturm ragte sie aus einem Meer von Zeitungen und Zeitungsausschnitten. Dazwischen standen und lagen bunt durcheinander Alben, ein Kleistertopf und Scheren, zwei leere, eine halbvolle Flasche, mehrere Gläser und ein Wasserkrug, Vergrößerungen und Bilderrahmen, Brotscheiben und ein Teller mit Butter. Der Farmer trug nur Hemd und Hose. Der graue Haarkranz war zerwühlt, das Gesicht weiß wie Kalk. Nur die blauen, rotgeränderten Augen verrieten, daß dieser Mann lebte. Seine Stimme klang ruhig, keineswegs ärgerlich, und Bony spürte sofort, daß dieser Mann gefährlich war. »So, nun sind Sie hier – sagen Sie Ihr Sprüchlein auf!« befahl Mr. Jelly. »Setzen Sie sich, dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, meinte Bony leise. »Es wäre besser für Sie, wenn Sie von Ihrem hohen Roß herunterstiegen«, sagte der Farmer, und es klang, als versuchte er einem begriffsstutzigen Kind etwas zu erklären. »Wie alle Farbigen neigen Sie zur Überheblichkeit. Wenn ein Weißer freundlich zu Ihnen ist, glauben Sie sofort, unverschämt werden zu können. So, und jetzt werden Sie mir sagen, warum Sie sich den Eintritt erzwungen haben, oder –« »Setzen Sie sich zunächst, dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, wiederholte Bony gelassen. »Ich kam als Freund zu Ihnen, und wir wollen doch Freunde bleiben.« 92
Mr. Jelly verzog die Mundwinkel und musterte Bony volle zehn Sekunden lang. Dann ging er zur Kommode, wühlte in einem Kasten. Plötzlich hatte er eine Nilpferdpeitsche in der Hand und trat zu Bony. »Sollte es tatsächlich nötig sein, daß ich deutlicher werde?« Bony richtete sich hoch auf. Mr. Jelly kam noch einen Schritt näher. Langsam zog Bony die Hände hinter dem Rücken hervor, warf mit betonter Lässigkeit die Handschellen auf den Tisch. Mr. Jelly starrte auf die Stahlfesseln. Er hatte sie selbst zuschnappen lassen, und er sah, daß sie auch jetzt noch verschlossen waren. Langsam ging Bony um den Tisch, aber der Farmer folgte ihm nicht. Mr. Jelly starrte auf die Handschellen, als hypnotisierte ihn der glitzernde Stahl. Reglos und stumm stand er da. Bony holte einen Stuhl, stellte ihn hinter Mr. Jelly. »Setzen Sie sich, dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, sagte er zum drittenmal. Der Blick des Farmers löste sich von den Handschellen, glitt über das Gesicht des Mischlings. Die beiden Männer musterten sich wie zwei Boxer vor dem ersten Schlagaustausch. Plötzlich begann Mr. Jellys Gesicht zu zucken, er war mit den Nerven am Ende. »Setzen wir uns und unterhalten uns«, sagte Bony zum viertenmal. Er wandte dem Farmer den Rücken zu, schob auf dem Tisch einige Zeitungen beiseite, langte nach dem Whisky und den Gläsern. Jeden Augenblick erwartete er einen Schlag mit der Nilpferdpeitsche. Er schüttete Whisky in zwei Gläser, stellte sie an die beiden Enden des frei gemachten Platzes, den Wasserkrug in die Mitte. Da vernahm er hinter sich eine leise Bewegung, war versucht, herumzufahren und zu kämpfen, bevor die Peitsche auf ihn niedersausen konnte. Doch dann hörte er, daß sich Mr. Jelly auf den Stuhl setzte, den Bony ihm zurechtgerückt hatte. Ohne den Farmer anzusehen, zog Bony Tabak und Papier aus der Tasche, nahm ebenfalls Platz und drehte sich eine Zigarette. Erst als die Zigarette brannte, blickte er Mr. Jelly an. Die blaßblauen Augen musterten ihn mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Neugier. Bony lehnte sich bequem zurück. »Vor einigen Jahren war ich für die Polizei von Queensland als Spurensucher tätig«, sagte er und war erleichtert, daß er über diesen ungewöhnlichen Mann gesiegt hatte. »Manchmal erlaubten sich die Beamten einen Scherz mit mir – packten mich ganz plötzlich und ließen 93
die Handschellen zuschnappen. Die von unserer Polizei benützten sind zwar besser als die amerikanischen, aber ich bin durchaus Ihrer Meinung, daß die von Ihnen verwendeten neuen französischen Handschellen den beiden anderen Modellen überlegen sind. Zum Wohl!« Mr. Jelly regte sich nicht, starrte Bony lediglich an. »Nun trinken Sie schon«, drängte Bony und betrachtete die Vergrößerung einer Porträtaufnahme. Als Mr. Jelly endlich sprach, verriet seine Stimme deutlich, wie sehr er um Haltung kämpfte. »Warum sind Sie zu mir gekommen?« fragte er. »Weil ich Vater von drei Söhnen bin.« »Was haben Ihre Söhne damit zu tun, daß Sie unaufgefordert bei mir eindringen?« »Ich weiß nicht, wie alt Sie sind, aber ich bin dreiundvierzig«, erwiderte Bony gelassen und zog an seiner Zigarette. »Ich heiratete sehr früh und führe ein glückliches Familienleben.« Mit einem Ruck beugte er sich vor und durchbohrte sein Gegenüber mit den Augen. »Vor dieser Tür, die Sie ständig verschlossen halten, leben Ihre beiden Töchter – in ständiger Furcht und Sorge um Sie. Die beiden waren so freundlich, mich am vergangenen Samstag zum Tee einzuladen. Ich war zufällig anwesend, als Sie nach Hause kamen. Um mich zu revanchieren, lud ich die jungen Damen zu einem Ball ein, der am kommenden Samstag in der Jilbadgie Hall stattfindet. Von Mrs. Saunders hörte ich, daß Sie Ihr Zimmer nicht verlassen haben, seit Sie nach Hause kamen, und daß Sie auch Ihren Töchtern nicht erlauben, Sie zu besuchen. Als Vater von drei Söhnen war es meine Pflicht, bei Ihnen einzudringen und Ihnen von Mann zu Mann in aller Offenheit zu sagen, daß Sie sich schändlich benehmen.« »Was erlauben Sie sich!« brummte Mr. Jelly ergrimmt. »Das tue ich vor allem für Sunflower.« »Aber neugierig sind Sie auch, wie?« »Ich war von jeher neugierig«, antwortete Bony. Der Farmer, der bisher – ohne zu trinken – mit dem Whiskyglas gespielt hatte, packte plötzlich Bonys rechtes Handgelenk. Der Inspektor unternahm keinen Versuch, sich aus dem stählernen Griff zu befreien. »In welchem Gefängnis waren Sie?« fragte er statt dessen ruhig. 94
Hätte er unter Mr. Jelly eine Sprungfeder ausgelöst, wäre die Wirkung kaum anders gewesen. Der Farmer schoß in die Höhe und starrte auf den Mischling herab, ohne dessen Handgelenk loszulassen. Bony stellte mit Genugtuung fest, daß die Bombe, die er geworfen hatte, ein Volltreffer gewesen war. »Wie meinen Sie das, Sie schwarze Ratte?« Jellys Stimme klang heiser. »Meine Frage ist lediglich die logische Schlußfolgerung aus Ihrem Verhalten: die Gewandtheit, mit der Sie mir die Handfesseln anlegten und mich ins Zimmer zerrten, dazu der Griff, mit dem Sie mich jetzt festhalten. Wenn Sie Ihren früheren Beruf so offen eingestehen, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ich mich danach erkundige.« »Sie scheinen über meinen früheren Beruf ja gut Bescheid zu wissen«, brummte Jelly. »Ich sagte Ihnen bereits, daß ich viel mit Polizisten und Gefängnisbeamten zu tun hatte. Aber wir schweifen ab – wir sprachen von unseren Familien. Können Sie nicht verstehen, daß Ihr eigenartiges Benehmen Ihren Töchtern viel Kummer bereitet?« Erneut war die Wirkung dieser Frage verblüffend. Der Farmer sank auf seinen Stuhl, vergrub den Kopf in seinen Händen. Dann begann er zu schluchzen. Der spitz zulaufende Schädel mit dem grauen Haarkranz berührte die Vergrößerung, die auf dem Tisch lag. Sie zeigte einen jungen Mann von ungefähr Fünfundzwanzig. Er war glatt rasiert und sah sympathisch aus. Das Haar war vom Wind zerzaust, die großen Augen verrieten Offenheit. Bony nahm die Fotografie in die Hand, um sie genau zu betrachten, dann drehte er sie um. ›Charles Laffer. Gehenkt. Freemantle‹, stand in Mr. Jellys pedantischer Handschrift auf der Rückseite. Offensichtlich hatte er gerade das Datum hinzufügen wollen, als er von Bony gestört wurde. Das entsetzliche Hobby des Farmers ließ Bony erschauern. Nach kurzem Zögern begann er, mit ruhiger Stimme auf Mr. Jelly einzureden, drang in ihn, das seltsame Steckenpferd aufzugeben. Er sprach davon, wie unglücklich Sunflower und Lucy seien, erwähnte aber nicht die Reisen, die der Farmer unternahm, sobald er eins von diesen geheimnisvollen Telegrammen erhielt. Mit der Zeit 95
wurde Mr. Jelly ruhiger, und als er den Kopf hob, wirkte sein Gesicht verbittert. »Ich bin ein altes Waschweib, Bony«, murmelte er. »Manchmal habe ich den Eindruck, daß ich verrückt bin. Es tut mir leid, daß ich Ihnen Ihre dunkle Hautfarbe vorgeworfen habe. Aber ich war in den letzten Tagen nicht mehr zurechnungsfähig. Und weil Sie so mutig waren, hier einzudringen, will ich Ihnen auch von der Tragödie meines Lebens erzählen.« Er ging zur Kommode und kam mit einem kleinen silbergerahmten Bild zurück, das er vor Bony auf den Tisch legte. »Das ist meine Frau. Die Aufnahme wurde ungefähr ein Jahr nach unserer Hochzeit gemacht.« Es war Sunflower, nur einige Jahre älter. Der Farmer holte inzwischen von der Wand eine der gerahmten Vergrößerungen und legte sie neben das Bild seiner Frau. »Und dies hier ist Thomas Kingston, der sie ermordete, als Dulcie zehn Monate alt war.« Bony starrte den Farmer an. »Dann heißen Sie gar nicht Jelly?« »Nein, ich nahm den Mädchennamen meiner Mutter an. Das mußte ich, denn ich gab meine Stellung im Gefängnis auf und ließ mich hier nieder. Ich verstand mich mit Hetty genauso gut wie Sie mit Ihrer Frau. Hetty ist tot, Kingston wurde gehenkt. Und seitdem interessiert sich Bob Jelly für alle diese Teufel, die morden. Ich bin tief traurig, wenn es den Psychiatern gelingt, der Gerechtigkeit ein Schnippchen zu schlagen.« »Trotzdem sollten Sie vor allem an Ihre Töchter denken«, meinte Bony verständnisvoll. »Für Ihre Töchter müssen Sie leben, Ihre Töchter müssen Sie glücklich machen. Merken Sie eigentlich nicht, daß Sie es durch Ihre seltsame Leidenschaft Kingston ermöglichen, auch noch Ihre Töchter zu treffen? Lassen Sie endlich die Vergangenheit ruhen, denken Sie nur noch an die Zukunft!« Mr. Jelly vergrub seinen Kopf wieder in den Händen. »Als ich Ihre Töchter und Mrs. Saunders bat, mit mir einen Ball zu besuchen, leuchteten ihre Augen erwartungsfroh auf, aber als ich sagte, daß ich Sie ebenfalls einladen wollte, trat Furcht in ihre Gesichter. Geben Sie doch dieses abscheuliche Hobby auf. Wir nehmen jetzt 96
die ganze Sammlung, gehen hinaus in den Garten und verbrennen alles.« »Nein!« erwiderte Mr. Jelly energisch. »Aber ich bin bereit, einen Kompromiß einzugehen: sobald ich das Bild von George Loftus’ Mörder eingerahmt habe, werde ich meine Sammelleidenschaft aufgeben.« »Sie meinen, daß Loftus’ Mörder den Schlußstein Ihrer Sammlung bilden soll?« »Ganz recht.« »Gut.« Bony seufzte. »Sie sind ja wohl ein Mann, der Wort hält. So, und jetzt gehen wir beide in die Küche und sagen Ihren Töchtern, daß Sie meine Einladung angenommen haben, ja?« Mr. Jelly hob den Kopf. »Nicht sofort. Ich muß mich erst waschen und rasieren.« »Dann hole ich Ihnen heißes Wasser und ein Handtuch«, erklärte Bony und stand auf. »Passen Sie auf: noch ehe eine Stunde vergangen ist, wird Sunflower wieder lachen.« Trotz der Proteste des Farmers verließ Bony das Zimmer und ging den kurzen Korridor entlang. Als er in die Küche trat, richteten sich drei Augenpaare fragend auf ihn. »Ein Krug heißes Wasser, eine Waschschüssel und ein Handtuch bitte«, sagte er kurz. »Um Gottes willen! Ist Vater verletzt?« fragte Lucy erregt. »Aber nein!« Bony lachte leise. »Ihm geht es gut. In wenigen Minuten wird er hier sein – frisch wie Peter Pan.« Mrs. Saunders mußte lächeln – sie konnte sich offensichtlich die zigarrenförmige Gestalt mit dem grauen Haarkranz nicht als Peter Pan vorstellen. Es dauerte keine zwei Minuten, dann hatte Bony das Gewünschte. Als er in Mr. Jellys Zimmer zurückkehrte, stand der Farmer am Fenster und goß den Rest Whisky, der sich noch in der Flasche befand, in einen unschuldigen Blumentopf. Bony stellte Waschbecken und Krug ab, und Mr. Jelly drehte sich um. »Sie sind ein seltsamer Mensch«, sagte der Farmer. »Ich glaube, Sie werden mir noch direkt sympathisch.« »Früher oder später findet mich jeder sympathisch.« »Hier, legen Sie mir eine neue Klinge in den Rasierapparat. Meine Hand zittert zu sehr.« 97
Trotz der zitternden Hand rasierte sich Mr. Jelly mit größter Sorgfalt. Er kämmte sich den grauen Haarkranz, zog ein sauberes Hemd und ein Jackett an. Die Verwandlung, die der soeben noch dem Alkohol verfallene Mann durchmachte, war erstaunlich. »Ich schäme mich zu sehr«, murmelte er. »Ich werde meine Töchter morgen früh begrüßen.« »Nein, wir gehen jetzt«, entgegnete Bony unerbittlich. »Ich will Ihnen etwas sagen: wir klettern durchs Fenster und spazieren durch die Vordertür in die Küche.« Mr. Jelly starrte Bony an, als sähe er ihn zum erstenmal. Dann nickte er feierlich und kroch gehorsam durch das offene Fenster. Sie stiegen die Verandastufen hinauf, Mr. Jelly trat in die Wohnküche, und seine Augen leuchteten. Bony blieb auf der Schwelle stehen. Sunflower, die gerade vor dem Sofa stand, riß überrascht die Augen auf, vergaß ihren verbundenen Fuß und rannte zu ihrem Vater. Lucy folgte etwas gemessener, dann schloß Mr. Jelly seine beiden Töchter in die Arme. Bony riß einen Zettel aus seinem Notizbuch und kritzelte rasch ein paar Worte darauf: ›Hole Sie alle am Samstag 8.30Uhr ab.‹ Er legte den Zettel auf den Küchenschrank, als Mrs. Saunders gerade zu ihm herüberblickte. Er deutete auf den Zettel, nickte ihr zu, hielt den Zeigefinger an die Lippen und machte sich auf den Heimweg.
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D
en ganze Donnerstag über fällte Bony im Wald östlich der Staatsfarm Bäume. Seit Jahren wurden dort die Zaunpfähle geschnitten, doch Bony fand, daß sich dieses Holz schlecht eignete. Viele Bäume waren verdorrt, so daß die Pfosten dann rasch den allgegenwärtigen Termiten zum Opfer fielen. 98
Bony stapelte die Pfähle unter den Bäumen in der Nähe des Gattertors. Er parkte den Lastwagen im Schatten, zündete ein Feuer an, füllte das Kochgeschirr aus dem Wassersack und stellte es auf die Feuerstelle. Kein Australier kann auch nur einen Bissen essen, ohne ihn mit Tee hinunterzuspülen. Hoch mit Weizen beladene Lastwagen fuhren nach Burracoppin und kehrten leer zurück. Die Sonne brannte auf die Straße, hielt die weiße Staubwolke in Höhe der Baumwipfel. Ein langer Güterzug donnerte vorüber, brachte Weizen zum Hafen. Während Bony darauf wartete, daß das Wasser zu kochen begann, lehnte er sich gegen den Zaun. An dieser Stelle hatte er die Pfosten bereits ausgewechselt. Bony blickte hinüber zum Kochgeschirr. Dabei bemerkte er einige Schmeißfliegen, die sich am Fuße des Zaunpfahls niedergelassen hatten. Mit einer Fußbewegung trieb er sie weg, doch kaum hatte er den Fuß zurückgezogen, waren die Fliegen wieder da. Wovon wurden die Fliegen angezogen? Die Erde war an dieser Stelle nicht feuchter als woanders auch. Geistesabwesend warf Bony eine Handvoll Teeblätter in das kochende Wasser, nahm aber das Kochgeschirr noch nicht vom Feuer. Zuvor wollte er feststellen, was die Fliegen anzog. Es war der Pfosten, an dessen unterem Ende er ein totes Kaninchen begraben hatte. Der Kadaver lag dreißig Zentimeter tief in der Erde, der Verwesungsgeruch drang offensichtlich zur Oberfläche und lockte die Schmeißfliegen an. Bony nahm den Tee, der inzwischen eine tiefschwarze Farbe angenommen hatte, vom Feuer und setzte sich auf das Trittbrett des Lastwagens, weil er dort vor Ameisen sicher war. Er hatte gerade zu essen begonnen, als sich Mr. Thorn mit dem Fahrrad dem Zaun näherte und abstieg. Der Wasserrohrkontrolleur blickte erst auf die Uhr, dann auf den Stand der Sonne. Er sah sich um, wobei er Bony entdeckte, schnallte den Proviantbeutel vom Gepäckträger und kam näher. »So ein Glück«, sagte er. »Wenn Sie nichts dagegen haben, brühe ich mir auf Ihrem Lagerfeuer meinen Tee auf.« »Aber bitte, bedienen Sie sich«, erwiderte Bony gutgelaunt. »Ich wünschte, es wäre Bier.« Mr. Thorn seufzte und füllte sein Kochgeschirr aus Bonys Wassersack. 99
»Um diese Tageszeit ist Tee besser«, meinte Bony und sah zu, wie Thorn den Kessel aufs Feuer stellte. »Bier ist zu jeder Tageszeit richtig – bei Tag und bei Nacht, im Sommer und im Winter«, widersprach Mr. Thorn. »Ganz besonders an einem heißen Tag wie heute. Ich habe eben immer Pech. Jetzt bricht das Wasserrohr nicht, wohl aber mitten im Winter, wenn das Wasser sofort gefriert. Gehen Sie am Samstag zum Tanz?« »Nach Jilbadgie Hall? Ja, ich denke schon. Gehen Sie auch?« »Ich hatte eigentlich keine Lust. Dort gibt’s nämlich kein Lokal, und mit Kaffee im Magen kann ich nicht tanzen. Aber meine bessere Hälfte möchte unbedingt hin, und ich liebe den häuslichen Frieden.« Ein Hoffnungsschimmer glitt über Thorns Gesicht. »Vielleicht könnten wir ein paar Flaschen mitnehmen?« »Hm.« »Wie kommen Sie hin?« »Mit dem Wagen. Ich nehme die Jellys mit.« »Oh!« Thorn pfiff durch die Zähne. »Der alte Herr hat wieder Geld? Er ist also wieder aufgetaucht?« »Ich weiß nicht, wann er zurückgekehrt ist«, log Bony und gähnte. »So, das Wasser sprudelt«, verkündete Thorn und nahm das Kochgeschirr vom Feuer. »Geben Sie mir Ihren Becher?« bat er, nachdem der Tee genügend gezogen hatte. »Wie hat es Ihnen eigentlich auf dem Wohltätigkeitsball gefallen?« fragte Bony. »Gut.« Die kleinen, grauen Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. »Sie hätten mit ins Hotel gehen sollen. Wir waren eine Stunde dort. Aber hinterher wäre ich bald krank geworden, weil ich soviel Pfefferminz gegessen hatte, um den Bierdunst wegzubringen. Aber es hat nichts genutzt – meine Alte behauptete trotzdem, ich sei betrunken. Sind Sie verheiratet?« »Seit mehr als zwanzig Jahren.« »Armer Teufel«, murmelte Thorn voller Mitgefühl. »Der Lokführer des Güterzugs hat heute morgen den Ladearbeitern erzählt, daß George Loftus in Leonora ausfindig gemacht worden ist. Er hat es in Merredin erfahren, und zwar von einem Mann, dessen Schwester mit einem Polizisten verheiratet ist. Ich wußte ja, daß er sich aus dem Staub gemacht hat!« 100
»Aber weshalb sollte er sich aus dem Staub machen?« fragte Bony ruhig, wenn auch tief enttäuscht. »Keine Ahnung. Aber man kann ihm nichts anhaben. Schließlich ist es nicht verboten, sich eine andere Arbeit zu suchen. Ganz unter uns: Ich glaube, er hatte es ganz einfach satt, länger mit diesem eiskalten Zierpüppchen zusammenzuleben. Klar, sie ist allgemein beliebt, aber es gibt auch einige Leute, die sie nicht mögen. Meine Frau hält auch nicht viel von ihr. Mrs. Loftus ist arrogant. Jetzt wird sie wahrscheinlich die Scheidung beantragen. Meine Frau war immer schon der Ansicht, daß Mick Landon Mrs. Loftus heiraten würde, wenn er Gelegenheit fände – um gleichzeitig in den Besitz der Farm zu kommen.« Mr. Thorn war mit seiner Mahlzeit fertig, packte die Utensilien zusammen. Dann stopfte er bedächtig die Pfeife und zündete sie an. Erst nachdem er vier Streichhölzer geopfert hatte, brannte sie zufriedenstellend. »Wir sprachen vorhin von dem Wohltätigkeitsball«, fuhr er in seinem Monolog fort. Bony hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. »Am Mittwoch hat meine Frau fünf Pfundnoten von der Bank geholt. Als wir am Samstag zum Ball gingen, steckte sie die verbliebenen drei Scheine in die Handtasche, weil sie ihr unter der Matratze nicht sicher genug schienen – wobei sie mich gemeint hat. Sie nimmt also das Geld mit auf den Ball, und als sie sich einmal gepudert hat, müssen die zusammengefalteten Scheine unbemerkt aus der Handtasche gefallen sein. Wir haben sie nicht wiedergefunden. Stellen Sie sich vor: Da hat sich einer hundertzwanzig Glas Bier einverleiben können! Seelenruhig hat meine Frau es mir gebeichtet – aber wenn ich nur drei Shilling verloren hätte, würde sie eine ganze Woche lang Theater gemacht haben. Ich bin sofort zu Mick Landon gegangen, und er meinte, daß die Bank vielleicht die Nummern notiert habe. Mick ist immer sehr gefällig. Am nächsten Tag hat er die Einnahmen des Wohltätigkeitsballes abgerechnet, und da hat er in der Bank danach gefragt. Aber der Direktor sagte ihm, daß bei Pfundnoten die Nummern nicht festgehalten würden. Wirklich ein netter Bursche, der Landon! Würde gut zu Mrs. Loftus passen, wenn die beiden heiraten sollten. Aber sie dürfte rasch dahinterkommen, daß sie mit Mick Landon nicht so umspringen kann wie mit dem alten Loftus.« 101
Bony lauschte schweigend, während Mr. Thorn sich über die Leute von Burracoppin ausließ. Bony hätte zu gern gewußt, ob Landon nicht so umspringen kann wie mit dem alten Loftus.« interessiert hatte, weil Mrs. Thorn einige Scheine verloren hatte, und ob Loftus tatsächlich in Leonora war. Schließlich verkündete Mr. Thorn lautstark, daß seine Mittagspause zu Ende sei. »Ich muß gehen«, meinte er traurig. »Wir sehen uns dann am Samstag in Jilbadgie. Aber vergessen Sie nicht, ein paar Flaschen Bier mitzubringen. Dann suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen, wo wir einen Schluck nehmen können. Adieu!« »Au revoir!« erwiderte Bony und lächelte unergründlich, während Mr. Thorns rundliche, gutgenährte Gestalt davonstampfte. Der Mann kletterte über das Wasserrohr, bestieg sein Rad und fuhr auf dem schmalen Kontrollweg davon. »Vielen Dank, Mr. Thorn«, murmelte Bony. »Sie haben sich ein paar Flaschen Bier verdient.«
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A
m Freitag vor dem Tanzabend erhielt Bony einen langen Brief von Sergeant Westbury. In triumphierendem Ton berichtete der Sergeant, daß George Loftus in der Gesellschaft zweier Männer entdeckt worden sei. Sie hätten in der Nähe von Leonora einen Stollen vorgetrieben in der Hoffnung, auf eine Goldader zu stoßen. Da Mrs. Loftus keine Anzeige wegen böswilligen Verlassens erstattet habe und durch den Verkehrsunfall kein Schaden an öffentlichem Eigentum entstanden sei, könne auch nichts gegen den Farmer unternommen werden. Man habe den Mann lediglich fotografiert. Die Bilder würden zum Zwecke der Identifizierung noch übersandt. Der Betreffende bestreite allerdings energisch, George Loftus zu sein: Er behaupte, sein Name laute Frank Lovelac und er sei erst kürzlich 102
auf den Goldfeldern eingetroffen. Sein Aussehen stimme allerdings mit der Beschreibung überein, die von der Polizei in Merredin gegeben worden war. Sergeant Westbury drückte seine Genugtuung aus, daß der Fall nun endlich seine Aufklärung gefunden habe. Er hoffe, daß Bony ihn auf der Rückreise noch besuchen werde. Doch Inspektor Bonaparte war auch jetzt noch nicht überzeugt, daß der vermißte Farmer tatsächlich noch lebte. Sein sechster Sinn warnte ihn, etwas als Tatsache hinzunehmen, für das der letzte Beweis fehlte. Gewiß, dieser Mann in Leonora konnte George Loftus sein. Aber welchen Grund sollte er haben, seine hübsche junge Frau und ein gemütliches Zuhause zu verlassen und statt dessen bei größter Hitze die Strapazen eines Goldsucherlagers auf sich zu nehmen? Und man mußte auch nicht unbedingt erst den Wagen demolieren, wenn man ein neues Leben beginnen wollte. Natürlich hatten sich mancherlei Fäden verwirrt und Spuren waren verwischt, da seit dem Verschwinden des Mannes einige Zeit verstrichen war. Ein Tag nach dem anderen war vergangen, ohne daß Bony einen wichtigen Hinweis zur Lösung des Rätsels gefunden hatte. Langsam gelangte er zu der Überzeugung, daß das Verschwinden von George Loftus und die Reisen von Mr. Jelly irgendwie zusammenhingen – wenn ihm dafür auch jeglicher Beweis fehlte. Sobald er das Geheimnis um Mr. Jelly gelöst hatte, würde er auch bei Loftus weiterkommen. Bony hätte sich jetzt auf den Weg machen müssen, wenn er sich rechtzeitig am Ende seines Urlaubs bei seinem Chef hätte zurückmelden wollen. Er konnte sich aber nicht zur Abreise entschließen, solange er das doppelte Geheimnis nicht gelöst hatte. Er hatte Lucy Jelly versprochen, das Geheimnis ihres Vaters herauszufinden, und er hatte John Muir versprochen, für ihn den Fall Loftus aufzuklären. Doch Bony wußte nur zu gut, daß er – auch ohne diese Versprechen gegeben zu haben – nicht aufgeben würde. Bony setzte sich sofort hin und schrieb einen langen Bericht, den Sergeant Westbury telegrafisch an Colonel Spender weiterleiten sollte. Hätte Bony das Telegramm in Burracoppin aufgegeben, wäre seine Identität unweigerlich ans Tageslicht gekommen. Da George Loftus in Leonora ausfindig gemacht worden sei, schrieb Bony an seinen Chef, bitte er um einen weiteren Monat Urlaub, um die Ermittlungen in Bur103
racoppin fortsetzen zu können. Als Sergeant Westbury dies las, runzelte er höchst erstaunt die Stirn. Bony war inzwischen zu dem Schluß gekommen, daß er diesmal nicht darauf warten durfte, bis ihm Zeit und Zufall zu Hilfe kamen. Mit ziemlicher Sicherheit war anzunehmen, daß Mrs. Loftus und Mick Landon ebenfalls den Tanzabend in Jilbadgie besuchen würden. Es stand allerdings nicht fest, ob auch Miss Waldron daran teilnahm – doch man würde sie zweifellos dazu überreden können. Dann wurde die Loftus-Farm lediglich von drei Hunden bewacht, von denen zwei immerhin in der Lage waren, einem nächtlichen Eindringling gefährlich zu werden. Bony hatte sie sich genau angesehen, als er Mrs. Loftus um ein Glas Wasser gebeten hatte. In dem Haus aber, das sie zu beschützen hatten, war möglicherweise die Erklärung zu finden, warum der Farmer sich nach Leonora abgesetzt haben konnte – falls er tatsächlich in den Goldfeldern war, was Bony nach wie vor bezweifelte. Nachdem Bony am Samstag seine Arbeit beendet hatte, besuchte er die Garage, um Freds Wagen für den Abend zu mieten. Dann nahm er Freds Teilhaber auf die Seite und verhandelte mit ihm über eine Dienstleistung ganz spezieller Art. Bony hatte bemerkt, daß die beiden Männer äußerst zurückhaltend waren. Er hatte deshalb keine Bedenken, William ins Vertrauen zu ziehen. Sie standen mitten auf dem großen Hof, ein unliebsamer Lauscher konnte sich nirgends verstecken. »Ich benötige Ihre Hilfe«, sagte Bony. »Wie Sie wissen, wird Fred mich heute abend nach Jilbadgie bringen. Doch zunächst muß ich Sie in ein kleines Geheimnis einweihen.« Bony blickte den Mann fragend an, und William nickte. »Ich bin in Wirklichkeit Kriminalbeamter und stelle wegen des Verschwindens von George Loftus Ermittlungen an. Ich halte es für möglich –« Er reichte William den Brief des Sergeant. »Da, lesen Sie zunächst einmal.« »Dann haben sie ihn also doch gefunden?« meinte William, nachdem er das Schreiben überflogen hatte. »Man glaubt es, aber ich bin anderer Meinung«, erklärte Bony. »Selbst, wenn dieser Mann in Leonora Loftus sein sollte, wären noch 104
einige dunkle Punkte zu klären. Nun würde ich einen großen Schritt weiterkommen, wenn ich mich eine Stunde lang ungestört im Hause von Loftus umsehen könnte. Mrs. Loftus und Mick Landon besuchen heute abend den Ball. Sollte Miss Waldron keine Lust haben, müßte ich es ihr irgendwie schmackhaft machen, damit sie ebenfalls hingeht. Nun möchte ich, daß Sie um zehn Uhr mit dem Motorrad von hier losfahren und gut versteckt ungefähr fünfhundert Meter vor Jilbadgie Hall auf mich warten. Sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich zu Ihnen kommen. Dann sollen Sie mich mit dem Motorrad zur Loftus-Farm fahren, mich dort absetzen, die Hunde weglocken und mich nach ungefähr einer Stunde zum Tanzsaal zurückbringen. Oder wollten Sie selbst den Ball besuchen?« »Nein.« »Gut. Bitte erzählen Sie überall, daß Sie nicht hingehen. Fred wird den ganzen Abend bleiben und tüchtig tanzen. Infolgedessen wird man meine Abwesenheit – falls sie bemerkt werden sollte – nicht mit Ihnen oder Ihrem Teilhaber in Verbindung bringen, sondern höchstens mit Mr. Thorn. Und bei ihm weiß ja jeder, warum er gelegentlich verschwindet. Würden fünf Pfund als Lohn für Ihre Bemühungen genügen?« »Aber klar – ich bin Ihr Mann!« »Und Sie werden niemandem erzählen, wer ich bin?« »Nicht einmal Fred, obwohl auch er den Mund halten kann.« »Gut. Ich werde Ihnen später noch ein kleines Päckchen bringen, das Sie unbedingt mitnehmen müssen. Ich brauche es bei unserem Unternehmen. Adieu!« Fred holte Bony pünktlich in einer geräumigen Limousine ab. Um sich die Sympathien der ›Wasserratte‹ zu erhalten, verpackte Bony, der einen eleganten blauen Anzug trug, sechs Flaschen Bier und ein Glas unter dem Sitz. Kurz nach halb neun kamen sie auf der Jelly-Farm an. Sunflower und ihr Vater warteten bereits, Lucy und Mrs. Saunders waren mit ihrer Toilette noch nicht fertig. Auf dem Tisch standen Tassen und eine Schale mit Gebäck, auf dem Herd duftete eine Kanne Kaffee. »Alles bereit?« fragte Bony, als er in die Wohnküche trat. 105
»Sunflower ist fertig, und ich ebenfalls«, verkündete Mr. Jelly. »Aber Lucy hat ein neues Kleid angezogen, da braucht sie etwas länger. Und Mrs. Saunders ist bekanntlich durch nichts aus der Ruhe zu bringen.« Mr. Jelly wirkte wieder selbstzufrieden wie eh und je. Sein Gesicht strahlte Wohlwollen und gute Laune aus. Schließlich erschien Mrs. Saunders, fröhlich wie immer, und schenkte Kaffee ein. Dann ging die Tür auf, Lucy trat ein. Sie trug ein weißes Nylonkleid und wirkte ruhig und entspannt. Sie lachten über eine Bemerkung, die Mr. Jelly gemacht hatte, als der Wagen auf den Zaun zurollte. Dort bog Fred nach Süden ab, und als sie in Jilbadgie Hall eintrafen, waren alle ausgelassen fröhlich. Bony tanzte zweimal mit Sunflower und einmal mit Lucy, dann entschuldigte er sich – er habe noch dringend etwas zu erledigen. Ungefähr eine Stunde werde er wegbleiben, aber sie sollten mit niemandem darüber sprechen! »Das ist wegen Vater!« rief Sunflower aufgeregt. »Nein, wegen Mr. Loftus. Aber Ihr Vater wird sein seltsames Hobby und die geheimnisvollen Reisen in naher Zukunft aufgeben. Er hat es mir versprochen.« »Sie machen mich wirklich glücklich.« Lucy seufzte und lächelte, weil in diesem Augenblick ihr Vater kam und sie um den nächsten Tanz bat. Es herrschte großes Gedränge im Saal. Mrs. Loftus wurde von allen Seiten beglückwünscht, daß endlich ihr Mann gefunden worden sei. Mick Landon fungierte auch diesmal als Maitre de plaisir. Er hatte sein Jackett ausgezogen, und die roten Hosenträger leuchteten auf dem weißen Hemd. Miss Waldron war ebenfalls anwesend, tanzte mit dem Sinnbild Australiens, dessen Tanzlust auch mit den fortgeschrittenen Jahren nicht nachgelassen hatte. Die falstaffhafte Gestalt von Mr. Thorn bildete ein ernsthaftes Hindernis, als Bony unbemerkt verschwinden wollte. Die ›Wasserratte‹ befand sich in entsetzlichen Nöten. Mr. Thorn sehnte sich nach den sechs Flaschen Bier, die er mit unerhörter Raffinesse vor seiner Frau in einem Gebüsch, das sich ungefähr hundert Meter vom Tanzsaal entfernt befand, versteckt hatte. Doch seine nicht minder raffinierte Frau war ihm nicht von den Fersen gewichen, und Bony hatte er auch nicht finden können. 106
»Zum Teufel!« murmelte er, als es ihm endlich gelungen war, die Bewachung seiner Frau abzuschütteln und aus dem Saal zu schlüpfen. »Ich möchte nur wissen, wo dieser Mischling steckt. Ich kann mir nicht denken, daß er sich ein eigenes Bierlager angelegt hat, und solange ich nicht weiß, ob er Bier mitgebracht hat, möchte ich auch nichts trinken.« Schließlich mußte er sich dann doch allein über seinen Biervorrat hermachen – genau zu der Minute, als Bony, in einen Mechanikeroverall gekleidet, um den Anzug zu schützen, auf dem Soziussitz von Williams Motorrad das Tor der LoftusFarm erreichte. Dort packte er das kleine Päckchen auf, das der Tankstellenbesitzer mitgebracht hatte. Es enthielt eine Taschenlampe, ein schwarzes Seidentuch, ein paar grobe Schaffellstiefel, die er über die Straßenschuhe ziehen konnte, eine Flasche Anisöl, in das er noch fünf Tropfen Rosenöl getan hatte, ein Knäuel Wollgarn und einen langen kräftigen Strick. Die Schaffellstiefel gestatteten ihm, sich zu bewegen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das Garnknäuel band er an den Strick und goß ein Viertel des Anisöls darauf. Taschenlampe und Tuch schob er in die Tasche des Overalls. »So, nun kann es losgehen«, sagte Bony zu William, der interessiert den Vorbereitungen zugeschaut hatte. »Hören Sie gut zu: Der starke Geruch des Anisöls wird die Hunde weglocken. Das Ende des Stricks binden wir an den Gepäckträger. Sie bringen mich jetzt zur Farm, halten sich aber sorgfältig in einer Wagenspur. Sobald wir hinter der Farm den felsigen Grund erreichen, wenden Sie und fahren langsam zum Haus zurück, halten sich aber immer in einer Wagenspur. Sobald wir beim Haus ankommen, lasse ich den Garnknäuel fallen, er wird dann vom Motorrad mitgeschleppt. Die Hunde werden den Geruch aufnehmen und folgen. Sobald wir auf halbem Wege zum Tor sind, springe ich ab. Die Hunde werden sich dann nicht mehr um mich kümmern. Sie fahren zurück nach Burracoppin. Schleifen Sie den Garnknäuel zu der leerstehenden Garage, zu der Sie ja, wie Sie mir sagten, einen Schlüssel besitzen. Fahren Sie durch die Vordertür hinein und verschwinden Sie durch die Hintertür, die Sie allerdings sofort wieder abschließen müssen. Sobald die Hunde in der Garage verschwunden sind, schließen Sie die Vordertür ab. Es ist jetzt zwanzig 107
Minuten nach zehn. Um halb zwölf holen Sie mich am Farmtor wieder ab. Alles klar?« »Alles klar!« »Gut, dann los!« Es war nicht ganz einfach, die Maschine in einer der tiefen Wagenspuren zu halten. Die Reifenabdrücke, die das Motorrad dort hinterließ, würde Mrs. Loftus bei der Rückkehr mit ihrem Wagen auslöschen. Beim Farmhaus wurden sie vom wütenden Gebell der Hunde empfangen. Als William auf dem harten Untergrund hinter dem Haus wendete, ließ Bony den anisgetränkten Garnknäuel fallen, der nun vom Motorrad mitgeschleift wurde. Bony konnte die Hunde in der Dunkelheit gut erkennen, und nachdem sie fünfzig Meter zurückgelegt hatten, wurde das Gekläff plötzlich aufgeregt. Da wußte Bony, daß die Hunde die Spur aufgenommen hatten. Der Geruch von Rosen und Anis war für sie derart verführerisch, daß sie ihm folgen würden, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Bony sprang ab, lief einige Meter seitlich ins Stoppelfeld. Dort blieb er reglos stehen, bis die Hunde vorüber waren. Mit tiefgesenkten Schnauzen folgten sie dem unwiderstehlichen Duft. Mit einer Handvoll Stroh beseitigte Bony die Spuren, die er beim Abspringen auf der staubigen Straße hinterlassen hatte. Er vergewisserte sich, daß die Schaffellstiefel fest saßen und die Taschenlampe griffbereit war, dann band er das schwarze Seidentuch über den weißen Kragen und ging zum Haus. Diesmal herrschte absolute Stille, als die Gebäude erneut schwarz aus der Dunkelheit auftauchten. Das Wohnhaus wirkte wie eine große viereckige Schachtel – es war völlig schmucklos. Bony schlich einmal um das Haus, strengte Augen und Ohren an, um festzustellen, ob ein menschliches Wesen in der Nähe war. Eine schmale Veranda bildete einen Teil der Vorderfront. Die Veranda blickte nach Osten und war so schmal, daß sie kaum ihren Zweck erfüllen konnte. Die breitere Südveranda war von Gitterwerk umgeben, an dem sich Wein emporrankte. Dieser Wein war der einzige Schmuck des Hauses. Offensichtlich hatte George Loftus sein ganzes Geld in den landwirtschaftlichen Betrieb gesteckt und keinen Wert auf ein komfortables Heim gelegt. 108
Nachdem sich Bony überzeugt hatte, daß niemand im Haus war, trat er auf die Veranda und öffnete mit seinem Dietrich das einfache Schloß. Zehn Sekunden später war er im Haus. Er ließ die Tür angelehnt, lauschte nochmals angespannt. Dann ließ er die Taschenlampe aufblitzen, der weiße Strahl huschte durch den Raum. Bony befand sich in der geräumigen Wohnküche. In der Mitte stand der große Eßtisch mit den Stühlen, an der Wand zwei Ledersessel, ein Korbsofa und in der Ecke ein Bücherschrank. In den Fächern des riesigen Küchenschranks leuchtete weißes Porzellan, und zu beiden Seiten des Herdes glitzerten die Schürhaken. Ein gemütlicher Raum, wenn auch die Wellblechwände lediglich mit Sackleinen bespannt waren. Alles war sauber, verriet das Wirken einer Frau. Nur eine Tür führte in einen Nebenraum. Bony öffnete sie und gelangte ins Schlafzimmer, das – genau wie die Küche – in seltsamem Kontrast zu dem ärmlichen Äußeren des Hauses stand. Ein weiterer Raum war nicht vorhanden. Alle Fenster gingen nach Osten, an der Westseite des Hauses waren lediglich dicht unter der Decke lange schmale Luftklappen angebracht, die man bei Bedarf öffnen konnte. Das Schlafzimmer ließ besser als die Küche den Charakter von Mrs. Loftus erkennen. Die Wohnküche mußte sie mit den anderen Bewohnern teilen, das Schlafzimmer aber gehörte ihr ganz allein – seit ihr Mann verschwunden war. Hier war ihre ureigene Welt, hier träumte sie ihre Träume, hier dachte sie ihre geheimen Gedanken. Die Möbel, die Bilder an den Wänden, die achtlos auf dem Schreibtisch gestapelten Bücher verrieten deutlich, daß sie sich auch noch für andere Dinge interessierte, als es normalerweise auf einer australischen Farm der Fall war. Das cremefarbene Doppelbett mit der spitzenbesetzten Zierdecke, der cremefarbene hohe Ankleidespiegel und der Toilettentisch – dazu in scharfem Kontrast ein schwarzer Eichentisch und ein altes Schreibpult aus Nußbaum: alles verriet guten Geschmack. Zwei Aquarelle – lebhafte Küstenlandschaften, bei denen man Sonne und Wind zu spüren vermeinte – hingen an der Wand. Die Initialen M. L. in der unteren rechten Ecke bewiesen, daß Mrs. Loftus nicht nur eine Sonntagsmalerin war. Zuerst interessierte sich Bony für den Schreibtisch. Er war sehr einfach konstruiert, enthielt weder Fächer noch Schubkästen. Ein schwe109
res massives Stück mit geschwungenen Beinen, die in Löwenpranken endeten. Bony setzte sich davor und sah sich um. Da lag zunächst das Foto einer jungen Frau, die Tenniskleidung trug – vermutlich eine Schwester von Mrs. Loftus, denn gewisse Linien um ihren Mund deuteten auf Verwandtschaft. Daneben stand eine gerahmte Fotografie von Mrs. Loftus selbst. Sie zeigte die junge Frau vor einer Staffelei, im Hintergrund ein großes Haus mit einer breiten Veranda. War dies ihr Elternhaus? Mit einem in Leder gebundenen Gedichtband beschäftigte sich Inspektor Bonaparte einige Minuten. Der Autor war Australier, die Gedichte erzählten von Liebe und Leidenschaft. Bony blätterte in den zerlesenen Seiten, fand Stellen, die dick unterstrichen waren, las sie mehrmals. Das Gedicht handelte von unerwiderter Liebe – seltsame Verse, doch sie hatten Mrs. Loftus angesprochen. Als nächstes nahm sich Bony ein schwarzes Tagebuch mit Goldschnitt vor. Es war angefüllt mit Versen über Liebe und Haß, über Glück und Leid. Die Zeilen waren in einer schönen Handschrift geschrieben, dazwischen Bleistiftskizzen von traumhaft schönen Häusern, aber auch männliche Akte. Einige trugen deutlich die Züge von Mick Landon, andere die des Sinnbilds von Australien. Tagebuch und Gedichtband verrieten mehr als deutlich die geheimen Sehnsüchte der Frau. Nun untersuchte Bony jeden Zentimeter des Schreibtisches. Der Inspektor war zwar kein Fachmann, aber er sah doch, daß es sich um ein sehr altes Stück handelte, das zweifellos ein Geheimfach besaß. Tatsächlich entdeckte er in einer der Löwenpranken eine lange flache Vertiefung, in der ein kleiner Schlüssel mit kompliziertem Bart lag. Offensichtlich ein wichtiger Schlüssel. Bony suchte zehn Minuten lang nach einem passenden Schloß, fand es aber weder im Schlafzimmer noch in der Wohnküche. Bei seiner Suche stieß er auf einen Karton mit Kerzen, die durch die Hitze weich geworden waren. Er benützte eine Kerze, um einen Abdruck des Schlüssel anzufertigen, ließ das Wachs im Wasser der Waschschüssel hart werden und legte den Schlüssel in das Versteck zurück. Die gründliche Durchsuchung des Schreibtisches führte zu keinem Ergebnis. Außer den zur Führung der Farm benötigten Büchern und Papieren fand Bony keinen Hinweis, wo sich George Loftus aufhalten 110
könnte – keinen Brief, keine Adresse, keinen Zettel, auf dem er seine Absicht mitgeteilt hätte, nach Leonora zu gehen. Bony hob an verschiedenen Stellen den Teppich hoch, untersuchte die Fußbodenbretter – doch keins war locker. Bei den Wänden hatte er ebenfalls kein Glück. Zum Schluß nahm er sich das Bett vor. Zunächst zögerte er, denn es war auf eine ihm nicht geläufige Art gebaut. Wenn er es bei der Durchsuchung in Unordnung brachte, würde er es wahrscheinlich nicht wieder so herrichten können, wie er es vorgefunden hatte. Und doch mußte er das Bett durchsuchen. Mit größter Sorgfalt schlug er die Decke zurück, tastete vorsichtig Kissen und Laken ab, denn die vorgefundenen Gedichte und Zeichnungen hatten sein Mißtrauen nur verstärkt. Im Spitzenbesatz des einen Kissens hatte sich ein Haar verfangen – ein blondes Haar. Es konnte durchaus von Mick Landon stammen. Bony ging zum Toilettentisch und entnahm der Bürste zwei Haare von Mrs. Loftus. Sie waren dreißig Zentimeter lang, aber als er sie mit dem kurzen Haar verglich, konnte er im Schein der Taschenlampe keinen Farbunterschied feststellen. Er verwahrte die Haare in zusammengefaltenem Papier, das er in sein Notizbuch steckte. Dann kehrte er zum Bett zurück. Zunächst tastete er die Matratze ab, fuhr mit der Hand darunter, wobei er darauf achtete, keine Unordnung zu hinterlassen. Am Fußende der Matratze spürte er eine knapp zwanzig Zentimeter lange Naht, und nach einer weiteren Minute spürte er – ungefähr dreißig Zentimeter vom Matratzenrand entfernt – zwischen dem Kapok einen Gegenstand. Mehrere Minuten versuchte er, diesen Gegenstand näher an den Rand der Matratze zu schieben. Doch als er sich die Naht besah, wußte er sofort, daß er diesen Grätenstich niemals fertigbringen würde. Er konnte die Naht unmöglich auftrennen. Nachdenklich kaute Bony an der Unterlippe. Hier befand er sich auf unbekanntem Territorium. Draußen im offenen Busch wußte er Bescheid, aber hier nützten ihm sein ganzes Wissen und seine ganze Erfahrung nur herzlich wenig. Er durfte die Naht nicht auftrennen, denn dann hätte Mrs. Loftus sofort gesehen, daß sich jemand an ihrem Bett zu schaffen gemacht hatte. 111
Doch die Zeit drängte. Achtzig Minuten hatte er sich für die Durchsuchung des gesamten Grundstücks zugestanden, fünfunddreißig Minuten waren bereits vergangen. Er seufzte resigniert, brachte die Zierdecke in Ordnung und ging in die Wohnküche. Fünf Minuten hielt er sich dort auf, ohne etwas zu finden. Da keine weiteren Räume vorhanden waren, verließ er das Haus und verschloß die Tür mit dem Dietrich. Er hätte etwas darum gegeben, wenn er gewußt hätte, was in der Matratze versteckt war. Wie ein Schatten glitt er um die Ecke der Südveranda. Am Spalier mit den Weinranken lauschte er angestrengt, dann öffnete er die Tür und trat ein. Er dunkelte die Taschenlampe mit der Hand ab, sah ein schwarzes Eisenbett und einen schlichten Toilettentisch aus Fichtenholz. Aus rohen, mit Stoff bespannten Brettern war eine einfache Waschkommode hergestellt worden. Unter dem Bett stand ein großer Aluminiumkoffer mit den aufgemalten Initialien E. W. Der Koffer war unverschlossen, aber Bony hatte keine Zeit, sich den Inhalt anzusehen. Hier schlief offensichtlich Miss Waldron, aber kein Behältnis war zu sehen, wozu der versteckte Schlüssel hätte passen können. Bony trat wieder hinaus in die Nacht und ging leise zu dem Zelt, das Mick Landon als Unterkunft diente. Das Klappbett war bereits für die Nacht zurechtgemacht. Für das Bett eines Farmarbeiters war es geradezu luxuriös – mit Leinenzeug bezogen, das Kopfkissen mit Federn gefüllt. Auf dem Kissen lag der zusammengefaltete Seidenpyjama, auf einem kleinen Vorleger neben dem Bett standen rote Lederslipper. Am Kopfende des Bettes stand ein aus rohen Brettern gezimmerter Tisch, der mit Chintz bezogen war. Darauf lagen mehrere Bücher, Rasierzeug und Spiegel, daneben stand ein Silberrahmen. Das Foto zeigte einen Mann, den Bony noch nie gesehen hatte. Außerdem war noch ein Wecker vorhanden. Dem Bett gegenüber lag ein Lederkoffer. Er war unverschlossen und enthielt Kleidungsstücke sowie ein Bündel Briefe, die alle englische Briefmarken trugen. Das war alles. Bony blickte auf die Uhr. Sechs Minuten standen ihm noch zur Verfügung. Gleichgültig nahm er die Fotografie in die Hand, um sie besser betrachten zu können. Der Mann auf dem Bild trug Knickerbocker, 112
hatte einen Köcher mit Golfschlägern geschultert. Der Rahmen war ungewöhnlich dick und schwer. Bony legte die Taschenlampe auf den Tisch, drehte den Rahmen um. Er entdeckte sofort den kleinen Klipp, und als er ihn zurückschnappen ließ, klappte der Rahmen auseinander. Es war ein Doppelrahmen. Das Foto im Innern zeigte Mrs. Loftus, aufgenommen – so besagte eine Bleistiftnotiz am unteren Rand – in Bondi Beach. Bony besorgte sich noch zwei Haare von Landons Kamm, dann machte er sich aus dem Staub.
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as war eine ganz schöne Hetze mit den Hunden«, erklärte William, als er am Farmtor eintraf. »Nachdem ich Sie abgesetzt hatte, fuhr ich im Schrittempo. Bei der Old York Road bog ich nach Westen ein. Da sah ich, daß sich auf der anderen Seite des Gattertors ein Auto näherte. Ich fuhr also eine kurze Strecke sehr schnell, dann bin ich abgestiegen. Der Wagen hatte inzwischen das Gattertor passiert, und im Licht seiner Scheinwerfer konnte ich die Hunde sehen. Mit tiefgesenkten Schnauzen folgten sie der Spur. Wie besprochen, bin ich dann kreuz und quer durch Burracoppin gefahren und zum Schluß in die leere Garage. Sobald ich in der Garage war, habe ich den Garnknäuel in die Werkzeugtasche gepackt und bin durch die Hintertür verschwunden. Ich habe das Motorrad an die Wand gelehnt und bin nach vorn geschlichen. Ich konnte gerade noch sehen, wie zwei Hunde in der Garage verschwanden. Dann kamen immer mehr Hunde – siebzehn habe ich gezählt. Als ich mich aus dem Staub machte, kam auch noch Mrs. Pooles Kuh und eine Ziegenherde angetrottet. Alle folgten der Spur. Unterwegs begegnete ich noch zwei Pferden, einer Kuh, vier Hunden und Tausenden von Karnickeln – alle zogen in Richtung 113
Garage. Die Leute werden sich morgen früh wundern, warum sich diese Menagerie vor der Garage versammelt hat.« »Der Anblick dürfte grandios sein«, pflichtete Bony bei. »Sie haben Ihre Sache ausgezeichnet gemacht. Aber jetzt müssen wir zurück nach Jilbadgie Hall.« »Und wie hat es bei Ihnen geklappt?« »Die Zeit war zu kurz, so war das Resultat nicht zufriedenstellend – falls man überhaupt mit Resultaten rechnen konnte.« »Sind Sie immer noch der Meinung, daß Loftus nicht in Leonora ist?« »Ganz unter uns: ich bezweifle, daß er in Leonora ist. Aber stellen Sie keine weiteren Fragen, denn ich lüge nicht gern. Auch wenn ich darin Experte bin.« Eine Viertelmeile fuhren sie schweigend, dann hielt William wieder an. »Tut mir leid, aber ich kann vor Lachen nicht mehr«, sagte er und prustete los. »Ich ärgere mich nur, daß ich Mrs. Pooles Kuh und Mrs. Henrys Ziegen nicht auch in die Garage gesperrt habe.« »Nun, es wird auch so genügend gegenseitige Verdächtigungen geben«, meinte Bony lächelnd. Fünfzehn Minuten später stoppte die Maschine vierhundert Meter vom Tanzsaal entfernt. Bony zog den Overall aus, packte die Flasche Anisöl dazu und schnallte das Päckchen auf den Gepäckträger. »Heute nacht brauche ich Sie dann nicht mehr.« Er lachte leise. »Wenn ich es nicht verschlafe, werde ich morgen früh die Arche Noah anschauen. Nochmals besten Dank für Ihre Unterstützung. Auf Ihre absolute Verschwiegenheit kann ich mich ja verlassen.« »Darauf können Sie Gift nehmen. Je weniger man mit einem Lausbubenstreich zu tun hat, um so mehr darf man darüber lachen. Adieu!« Bony wartete, bis das Schlußlicht auf der schnurgeraden Landstraße nicht mehr zu sehen war, dann marschierte er zum Saal. Schon von weitem hörte er Saxophone und Trompete. Der erste, der ihm begegnete, war Mr. Thorn. »Zum Teufel, wo haben Sie eigentlich gesteckt?« fragte Thorn bekümmert. »Den ganzen Abend habe ich Sie gesucht. Ich konnte nicht länger warten – jetzt habe ich die Hälfte von meinem Bier getrunken. Haben Sie was mitgebracht?« 114
Im Licht der Saalfenster war Bony deutlich zu erkennen. Seine Schuhe waren tadellos blank, der weiße Kragen leuchtete. »Ich konnte die Hitze im Saal nicht länger aushalten«, antwortete er. »Die Sonne macht mir nichts weiter aus, wohl aber die dumpfe Schwüle, die von einer Menschenmenge in einem geschlossenen Raum ausgeht. Ich habe deshalb einen Spaziergang gemacht.« »Na, dem Himmel sei Dank, daß ich Sie endlich gefunden habe. Sie haben etwas Bier mitgebracht?« »Ein paar Flaschen. Sie liegen in Freds Wagen.« Mr. Thorn seufzte erleichtert auf. Der fette Hals schien den Kragen sprengen zu wollen, als er mehrmals in Erwartung des kommenden Genusses schluckte. »Dann wollen wir sie holen und zu meinem Versteck gehen«, bat er. Als Bony mit vier Flaschen zurückkehrte, war die ›Wasserratte‹ verschwunden. Schließlich entdeckte er ihn: Mr. Thorn hockte auf dem Trittbrett eines geparkten Wagens. »Pst, leise!« flüsterte er. »Meine Alte steht gerade drüben an der Tür. Wenn sie uns entdeckt, verdirbt sie uns den Spaß.« Er schwieg einige Sekunden. »Jetzt ist sie wieder verschwunden. Kommen Sie!« Mr. Thorn marschierte mit außergewöhnlicher Vorsicht in Richtung zum Kaninchenzaun davon, bog nach Norden in den am Zaun entlangführenden Weg ein. Schließlich gelangten sie zu einem dichten Buschwerk, in dem Mr. Thorn verschwand. Bony folgte dichtauf. Mit der Feierlichkeit, mit der ein Häuptling seinen Gast zur geheiligten Versammlungsstätte führt, schritt Mr. Thorn zu einer kleinen Lichtung. Bony sah zu seiner Überraschung, daß die ganze Lichtung mit leeren Flaschen übersät war. Der Tanzsaal war erst vor wenigen Jahren eröffnet worden, und wenn Mr. Thorn dieses ganze Bier allein getrunken haben sollte, mußte sein Durst unstillbar sein. Mit Sicherheit fand der Mann unter all diesem Plunder die ihm noch verbliebenen zwei Flaschen. »Ich konnte nicht länger warten«, erklärte er mit weinerlicher Stimme. »Wie ein verlorener Hund bin ich den ganzen Abend herumgelaufen, weil ich keinen richtigen Freund habe. Öffnen Sie Ihre Flasche, ich mache inzwischen meine auf.« Er trank und seufzte zufrieden, schenkte das Glas erneut voll, trank es aus und seufzte erneut. Jede Flasche enthielt drei Glas Bier, und 115
während Bony ein Glas trank, hatte er das seines Freundes zweimal nachgeschenkt. »Jetzt fühle ich mich schon besser«, meinte Mr. Thorn und versteckte Bonys Flasche bei der letzten ihm noch verbliebenen. »Die nächsten zwei Tänze darf ich allerdings meine Alte nicht auffordern. Sie hat eine feine Nase. Es ist schon ein Kreuz mit ihr.« »Dann wollen wir lieber gehen, bevor Ihre Frau mißtrauisch wird«, riet Bony, als er merkte, daß Mr. Thorn noch keine Lust hatte, seinen Lieblingsplatz zu verlassen. Am Saaleingang mischte sich Mr. Thorn unter die jungen Männer, die dort herumstanden, während Bony sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Ein neuer Tanz hatte gerade begonnen, Mr. Jelly saß allein am Tisch. Bony setzte sich zu ihm. »Wo haben Sie gesteckt?« fragte Mr. Jelly mit gespielter Strenge. »Ich habe einen Spaziergang gemacht, weil mir in der stickigen Luft übel wurde. Als ich zurückkam, traf ich Mr. Thorn. Er verführte mich, ihn zu seinem Stammplatz zu begleiten.« »Zu welchem Stammplatz?« Bony lächelte. »Er hat hier ganz in der Nähe ein Geheimlager mit alkoholischen Erfrischungen angelegt. Wirklich ein sehr sympathischer Mensch. Ich möchte nur wissen, wieviel Bier er im Laufe eines Jahres trinkt.« »Da kommen bestimmt zehn bis zwölf Hektoliter zusammen«, meinte Mr. Jelly zwinkernd. »Sehen Sie ihn nur an, er tanzt jetzt mit Mrs. Poole. An seinen verdrehten Augen sieht man deutlich, daß er getrunken hat, und Mrs. Poole versucht krampfhaft, seinem Bieratem auszuweichen.« »Was natürlich dem Adlerauge von Mrs. Thorn nicht entgeht«, fügte Bony hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Frau, die mit grimmigem Gesicht und zusammengekniffenen Lippen ihren Mann beobachtete. »Sie wird ihm den Kopf abreißen, wenn die beiden nach Hause kommen – aber wahrscheinlich merkt er es gar nicht, weil er sofort einschlafen wird«, brummte Mr. Jelly. »Glauben Sie, daß Loftus nach Leonora gegangen ist?« Bony war über diesen plötzlichen Themawechsel überrascht, ließ sich aber nichts anmerken. 116
»Was halten Sie denn davon?« stellte er die Gegenfrage. »Ich glaube nicht, daß dieser Mann in Leonora Loftus ist.« Mr. Jelly versank in minutenlanges Schweigen. »Warum sollte Loftus denn auf diese ungewöhnliche Art verschwinden«, fuhr er fort, als Bony ebenfalls schwieg. »Dafür hatte er überhaupt keinen Grund – es sei denn, man hatte einen Grund vorbereitet, als er morgens um zwei Uhr aus Perth zurückkehrte. Zwei Tage, bevor man ihn zurückerwartete.« »Ach! Und was meinen Sie damit?« »Ich verlasse mich darauf, daß Sie mit niemandem darüber sprechen. Halten Sie Ihre Augen offen. Sie haben ja schon für die Polizei als Spurensucher gearbeitet. Beobachten Sie einmal, wie Mrs. Loftus Mick Landon nicht aus den Augen läßt, wenn er mit einer anderen Frau tanzt. Wenn das nicht Eifersucht ist, will ich auf einem Bein nach Hause hüpfen.« »Sie glauben also, daß sie einen Farmarbeiter liebt?« »Jawohl – und diese Liebe wird erwidert. Nur läßt er es sich nicht so offen anmerken.« Mr. Jellys Lippen bildeten einen schmalen Strich. »Angenommen – ich sage ausdrücklich angenommen –, Loftus kam unerwartet nach Hause und mußte feststellen, daß Mick Landon nicht in seinem eigenen Bett lag. Da wäre es durchaus möglich, daß er auf der Stelle kehrtmachte und sich vom ersten besten Lastwagenfahrer zu einem Bahnhof mitnehmen ließ, von wo aus er mit dem Zug nach Leonora gefahren ist. Oder aber –« »Nun – welche andere Möglichkeit sehen Sie noch?« fragte Bony leise. »Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß George Loftus einen gewaltigen Krach gemacht hat, als er sah, daß Mick Landon sich im Bett geirrt hatte. Es kam zu einer Rauferei, wobei er ums Leben kam. Bleibt die Frage: was haben die beiden mit der Leiche gemacht?« »Sie haben wirklich eine blühende Phantasie, Mr. Jelly.« Bony lachte laut, doch seine Gedanken rasten. »Aber keineswegs. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Landon nicht in seinem eigenen Bett schlief. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß George Loftus in dieser Nacht die Farm erreichte. Nun kann er zweierlei getan haben – aber da ich George sehr gut kenne, bin ich sicher, 117
daß er sich nicht heimlich nach Leonora abgesetzt hat, sondern seine Fäuste gebrauchte.« »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, widersprach Bony, dachte aber an das kurze blonde Haar, das er am Kopfkissen von Mrs. Loftus gefunden hatte. »Sie können doch wohl nicht ernstlich glauben, daß Landon und Mrs. Loftus George Loftus umgebracht haben, weil er unverhofft nach Hause kam und die beiden in flagranti ertappte?« »Ich habe lediglich einige Möglichkeiten angedeutet«, entgegnete Mr. Jelly. »Bei vielen Leuten glaubt man, sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun – aber es kommt nur auf die Umstände an, um sie in reißende Bestien zu verwandeln. Sie wissen, daß ich lange Jahre als Wachtmeister im Gefängnis war, da hatte ich Gelegenheit, die Verbrechertypen zu studieren. Ich kann einen Mörder erkennen, bevor er getötet hat – und Landon hat die Augen eines Mörders.« Mr. Jelly schwieg und lächelte Sunflower zu, die mit Mr. Poole vorübertanzte. »Bei Frauen ist meine Erfahrung nicht so groß, aber Mrs. Loftus könnte ich mir gut im alten Rom vorstellen. Der gestürzte Gladiator blickt zu ihr, die in der Kaiserloge sitzt, Erbarmen heischend auf, doch sie weist kalt lächelnd mit dem Daumen nach unten.« »Sie mögen Mrs. Loftus nicht?« »Nein. Ich habe sie nie leiden können. Sie erinnert mich immer an ein ärmliches Haus mit einer prunkvollen Fassade.« Er schwieg sekundenlang. »Der Direktor eines Gefängnisses, in dem ich Dienst tat, ließ sich alle neu eingelieferten Häftlinge vorführen. Er interessierte sich besonders für alle, die zum erstenmal mit dem Gefängnis Bekanntschaft machten. Er tastete die Schädelhöcker ab und notierte sich das Ergebnis in einem großen Buch. Wenn dann Jahre später ein Delinquent wegen Mordes eingeliefert wurde, fand er den Namen häufig in seinen Buch. Wenn man also alle, bei denen der Gefängnisdirektor die Anzeichen des Mörders feststellte, lebenslänglich eingesperrt hätte, würden ihre Opfer vielleicht heute noch leben. Vor zwei Jahren hatten wir ein Picknick, und aus Spaß tastete ich einmal Landons Schädel ab. Das Ergebnis habe ich ihm allerdings verschwiegen.« »Zu welchem Ergebnis kamen Sie denn?« fragte Bony. »Daß er eines Tages einen Mord begehen würde. Deshalb wäre ich nicht überrascht, wenn er Loftus umgebracht hätte.«
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igentlich bestand kein besonderer Grund, warum Bony in dieser Nacht der Loftus-Farm noch einen zweiten Besuch hätte abstatten sollen. Gewiß, Mr. Jellys Verdacht hatte den Inspektor in den eigenen Vermutungen bestärkt. Er brauchte ja nur an die seltsamen Gedichte zu denken, an das kurze blonde Haar auf Mrs. Loftus’ Kopfkissen und den Bilderrahmen neben Landons Bett. Da Mick Landon als Maitre de plaisir fungierte, konnte Bony damit rechnen, daß er und seine beiden Damen den Saal als letzte verließen. Bony brach mit den Jellys auf, sobald der Tanz beendet war. Dankend lehnte er ab, bei ihnen noch einen kleinen Imbiß zu nehmen, und machte sich mit Fred sofort auf den Heimweg nach Burracoppin. Der Wagen von Mrs. Loftus war noch nicht vorbeigekommen, deshalb ließ sich Bony von Fred vierhundert Meter hinter der Loftus-Farm absetzen. Er wolle den restlichen Weg zu Fuß fortsetzen, um noch etwas Luft zu schnappen, erklärte er harmlos. Nachdem Fred weitergefahren war, kehrte er um, sprang über den Kaninchenzaun und erreichte kurz darauf den nördlich des Farmhauses gelegenen Geräteschuppen. Der Inspektor hatte wieder die Schaffellstiefel übergezogen und den weißen Kragen mit dem schwarzen Tuch getarnt. Zwischen landwirtschaftlichen Maschinen versteckt wartete er auf die Rückkehr des Trios. Er rauchte einige Zigaretten und dachte noch einmal über Mr. Jellys Worte und seine eigenen Ermittlungen nach. Dreiundzwanzig Minuten nach zwei Uhr bog der Wagen von Mrs. Loftus in den Farmweg ein. Das Auto hielt vor der Haustür, die Scheinwerfer tauchten den offenen Geräteschuppen in gleißende Helle. Bony versteckte sich hinter einem kleinen Karren. Als die Scheinwerfer verlöschten, sah er, daß in der Wohnküche die Lampe angezündet worden war. Gleich danach 119
wurde auch das Fenster aufgestoßen, und er konnte Mick Landon, der gerade durch die Tür trat, deutlich erkennen. Eine Frau lachte, und es wurde rasch klar, daß die drei noch keine Lust hatten, schlafen zu gehen. Ein schwarzer Schatten glitt vom Geräteschuppen zur Nordseite des Hauses, tauchte in der Finsternis unter. Bony konnte Stimmengemurmel vernehmen, das lauter wurde, als er um die Ecke bog. Gleich darauf hatte er das Fenster erreicht, konnte durch die in der leichten Brise wehenden Vorhänge hineinschauen und deutlich hören, was gesprochen wurde. »Nun mach doch schon, daß endlich der Kessel kocht, Mick. Ich komme um vor Durst nach einer Tasse Tee«, sagte Mrs. Loftus. Sie saß in einem der Ledersessel, blickte zum Fenster, während sie dem Küchenschrank den Rücken zukehrte. Miss Waldron hatte im zweiten Ledersessel Platz genommen und sah hinüber zum Herd, so daß Bony deutlich ihr schönes Profil betrachten konnte. Landon beugte sich über den Herd und fachte die Flammen an. »Du hast mehrmals mit dem jungen Smedley getanzt«, sagte die Farmersfrau mit ihrer kalten Stimme zu ihrer Schwester. »Sei vorsichtig! Er besitzt keinen Penny. Diese Ernte kann ihn auch nicht mehr retten.« »Er ist ein netter Junge, aber ich bin nicht schwachsinnig«, stellte Miss Waldron mit Nachdruck fest. Sie war nicht ganz so hübsch wie ihre Schwester, wirkte aber bedeutend sympathischer. »Und warum hast du mit diesem Schwarzen getanzt?« fragte Mrs. Loftus und deutete ein Stirnrunzeln an, denn sie mochte sich ihre makellose Stirn nicht durch Fältchen verunzieren lassen. »Er bat mich so liebenswürdig darum«, antwortete Miss Waldron kühl. »Aber er ist ein Schwarzer, Schwesterlein«, gab Mrs. Loftus zu bedenken. »Mir ist ein schwarzer Gentleman lieber als ein weißer Rüpel.« »Bitte! Amüsier dich ganz, wie es dir beliebt. Worüber hat er denn gesprochen?« »Meist über dich.« »Über mich?« »Ja. Er meinte, du seiest die hübscheste Frau im Saal. Er habe noch nie eine Frau getroffen, die so schön sei wie du, aber –« 120
»Und? So sprich doch weiter!« drängte Mrs. Loftus ungeduldig. »Er sagte –« Miss Waldron zögerte erneut. Offensichtlich wollte sie ihre Schwester nicht verletzen, obwohl diese ihr gegenüber durchaus nicht zimperlich war. »Er sagte, du würdest zwar ganz gut tanzen, aber seiner Meinung nach würde ich besser tanzen.« »Woher will er das wissen? Ich habe ihm ja überhaupt nicht erlaubt, mit mir zu tanzen.« »Ein Preisrichter muß ja auch nicht unbedingt mit einer Frau tanzen, um festzustellen, ob sie gut oder schlecht tanzt«, erwiderte Miss Waldron gefährlich liebenswürdig, denn sie wußte genau, daß Bony ihre Schwester überhaupt nicht aufgefordert hatte. »Und übrigens ist er nicht völlig schwarz. Er sieht sogar recht gut aus und ist ein charmanter Gesellschafter. Oh – brühe einen starken Tee auf, Mick – bitte sei so lieb. Der einzige Tanz, der mir in unliebsamer Erinnerung ist, war der mit diesem Thorn. Ich glaube, dieser Mann ist ein Trinker.« Ob dieser Bemerkung gab es ein großes Gelächter, und Bony mußte sich zusammenreißen, nicht ebenfalls laut loszulachen. »Aber Schwesterlein, wie kannst du solch schreckliche Dinge unterstellen!« Mrs. Loftus prustete erneut los. »Da haben Sie sich doch gewiß getäuscht, Miss Waldron?« meinte Mick Landon. »Ein Trinker! Jeder andere Mensch wäre in diesen Biermengen längst ertrunken.« »Aber es wurde doch kein Alkohol ausgeschenkt, oder?« »Allerdings – aber Sie dürfen sich darauf verlassen, daß es dem alten Thorn gelungen ist, trotz der Wachsamkeit seiner Frau ein paar Flaschen mitzubringen.« »Ich mag seine Frau nicht, und sie mag mich ebenfalls nicht«, bemerkte Mrs. Loftus, und ein kaltes Glitzern trat in ihre Augen. »Es gibt eine ganze Menge Leute in Burracoppin, die mich gern schneiden möchten, seit es mit unserer Farm bergab gegangen ist. Früher, als wir Geld hatten, liefen sie uns das Haus ein.« »Vielleicht kommen sie wieder angerannt, wenn George in Leonora auf eine Goldader stoßen sollte«, erwiderte ihre Schwester und schenkte Tee ein, den Landon aufgebrüht hatte. »Darauf kannst du dich verlassen.« Mrs. Loftus nickte. 121
»Bei manchen Leuten zählt eben nur das Geld. Aber mir ist es gleichgültig – so etwas amüsiert mich nur.« »Dieser Schwarze scheint sich mit den Jellys dick angefreundet zu haben, wie?« brummte Landon. »Ja. Und ich dachte immer, Lucy Jelly sei mit diesem Grenzreiter so gut wie verlobt.« »Das ist sie wohl auch noch«, meinte Landon. »Aus diesem Schwarzen werde ich nicht ganz schlau. Poole hat mir erzählt, daß er in Queensland einmal die Spur eines vermißten Kindes verfolgt hat. Sie führte siebzehn Meilen durch unwegsames Gelände, aber er hat das Kind noch rechtzeitig gefunden. Wieso er diese Stelle beim Kaninchenamt bekommen hat, nach der sich viele Weiße die Finger abschlecken würden, ist mir ein Rätsel. Eigentlich eine Schande, daß man dafür nicht jemanden aus Burracoppin genommen hat.« »Mir ist dieser Mann irgendwie unsympathisch«, sagte Mrs. Loftus und langte nach einer Zigarettenschachtel. Landon reichte ihr höflich Feuer, und die Farmersfrau fügte hinzu: »Und die Jellys kann ich auch nicht leiden. Die Mädels sind hochnäsig, und der Alte tut immer so vornehm.« Offensichtlich fand Mrs. Loftus die meisten Leute unsympathisch. »Aber George hielt große Stücke von ihm«, widersprach Miss Waldron. »Als ich euch im vergangenen Jahr besucht habe, waren die beiden dick befreundet.« »Zum Teufel mit George!« fauchte Mrs. Loftus. »Vergessen wir ihn endlich. Er ist davongelaufen, also soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich will ihn nicht mehr wiedersehen.« »Aber –« »Ach hör doch auf – ich bin müde.« »Ich ebenfalls. Ich werde ins Bett gehen. Gib mir bitte eine Kerze, meine ist heruntergebrannt.« Miss Waldron stand auf. Mrs. Loftus drehte sich im Sessel um und zog ein Schubfach des Küchenschranks auf. Sie holte einen Karton heraus, öffnete ihn und entnahm zwei Kerzen. »Komisch.« Sie blickte ihre Schwester an. »Hast du wirklich noch keine genommen?« 122
»Natürlich nicht. Meine ging aus, als ich gerade mit Ankleiden fertig war.« »Aber es waren drei Kerzen in diesem Karton, als wir weggingen«, beharrte Mrs. Loftus. »Ich weiß es ganz genau. Nachdem ich mich angezogen hatte, holte ich für Mick etwas Klebeband aus dem Kasten, und da ragten die drei Kerzen halb aus der Schachtel. Erinnerst du dich, Mick? Du standest doch neben mir.« »Ja. Es waren drei Kerzen drin.« »Gott, warum dieser Wirbel wegen einer Kerze?« meinte Miss Waldron gelangweilt. »So sehr pleite sind wir doch nun auch wieder nicht. Gib mir endlich eine und starre sie nicht an, als ob es sich um einen Goldschatz handelt. Ich falle um vor Müdigkeit.« »Sehr komisch«, murmelte Mrs. Loftus und reichte ihrer Schwester eine Kerze. »Hoffentlich kannst du deswegen schlafen.« Miss Waldron lachte und gähnte. »Gute Nacht, Mavis! Gute Nacht, Mick!« Bony schlich rasch an die Hausecke zurück. Er beobachtete, wie Miss Waldron aus dem Haus trat und zu den glitzernden Sternen blickte. Dann verschwand sie auf der Südveranda, die ihr als Schlafzimmer diente. Zwei Minuten wartete Bony, dann kehrte er zum Fenster zurück. Als er wieder in die Wohnküche spähte, stand Landon mit dem Rücken zum Herd. Er rauchte eine Zigarette und sah sich prüfend um. Gleich darauf kam Mrs. Loftus aus ihrem Schlafzimmer, und die beiden musterten sich schweigend. »Irgend etwas verändert?« fragte Mick Landon schließlich. »Nichts. Aber ich bin sicher, daß vorhin doch drei Kerzen da waren.« »Das steht fest. Morgen früh werde ich mich draußen umsehen, vielleicht entdecke ich Spuren.« Mrs. Loftus riß die Augen weit auf, und sie war so erschrocken, daß sie sogar die Stirn runzelte. »Mick!« hauchte sie. »Was ist?« »Die Hunde!« »Was ist mit den Hunden?« 123
»Aber Mick! Wo sind sie? Sie haben uns überhaupt nicht begrüßt. Du weißt doch, was es immer für eine Bellerei gegeben hat, wenn wir spät nach Hause kamen.« »Donnerwetter! Ja, das ist seltsam. Ich werde sie rufen.« Als er auf die Tür zuging, verschwand Bony wieder um die Ecke. Landon trat ins Freie, schob Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff schrill. Als alles still blieb, rief er laut. Schließlich kam er zur Ecke, und Bony zog sich rasch zur Westseite des Hauses zurück. Landon pfiff erneut und lauschte, aber nichts war zu hören, auch kein fernes Bellen. Er pfiff und rief noch einmal, dann kehrte er in die Küche zurück. Zwei Sekunden später hatte Bony seinen Beobachtungsposten vor dem Fenster wieder bezogen. »Ich hatte dir geraten, die Hunde anzuketten«, sagte Mrs. Loftus vorwurfsvoll. »Es ist besser, wenn sie frei herumlaufen«, entgegnete Landon. »Gip würde jeden zerreißen, der hier herumschleichen sollte. Aber es ist sehr seltsam, daß sie nicht da sind. Gefällt mir gar nicht. Sie sind doch noch nie verschwunden.« »Und mir gefällt es nicht, daß eine Kerze verschwunden ist.« Volle dreißig Sekunden lang starrten sich die beiden schweigend an. Dann lachte Landon nervös auf. »Wir sehen Gespenster, Liebling. Es waren eben doch nur zwei Kerzen. Wer sollte denn eine Kerze stehlen? Und die Hunde jagen vielleicht hinter einem Fuchs her. Sie werden schon zurückkommen.« »Ich könnte schwören –« »Wirklich, wir sehen Gespenster. Es besteht überhaupt kein Grund, in Panik zu geraten. So, und jetzt geht’s ins Bett. Es ist bereits halb vier.« »Hm, wahrscheinlich ist es wirklich dumm von uns, Darling.« Mrs. Loftus kam um den Tisch herum, und der Mann nahm sie in die Arme. »Ich gehe jetzt ins Bett. Aber du wirst trotzdem wachsam sein? Ich bin sehr müde. Und nun entschuldige mich bitte.« »Gewiß, Mavis. Aber zuvor bekomme ich noch einen anständigen Gutenachtkuß.« Die junge Frau erfüllte diesen Wunsch ohne Zögern, und Bony mußte wieder an Mr. Jellys Worte denken: der Verdacht hatte sich be124
wahrheitet. Wie gut, daß er den Gang der Ereignisse etwas beschleunigt hatte! Als sich die junge Frau aus den Armen des Mannes löste, schlich Bony zurück zur Ecke. Landon trat vor die Tür, drehte sich noch einmal um. »Gute Nacht, Mavis! Und angenehme Träume!« Bony wartete nicht länger, lief geradewegs zu der umzäunten Strohmiete. In ihrem Schatten beobachtete er Landon, der ebenfalls auf die Strohmiete zukam. Zuerst glaubte Bony, der Mann habe ihn gesehen und wollte wissen, was er hier zu suchen habe, doch Landon ging ans Nordende, kletterte eine Leiter hinauf und holte sechs Strohgebinde. Er brachte sie zu einem kleinen Pferch neben den Ställen, wo er das Stroh den Kühen vorwarf, dann ging er zu seinem Zelt. Im Zelt ging Licht an, und drei Minuten lang war der Schatten des Mannes zu beobachten, dann verlöschte das Licht. Bony machte es sich bequem. Er war gespannt, was nun geschah – falls überhaupt etwas geschah. Er hatte vorhin eine ausgezeichnete Gelegenheit gehabt, diese drei Menschen zu studieren. Er war jetzt sicher, daß Miss Waldron nichts mit dem Verschwinden von George Loftus zu tun hatte – sie glaubte ja tatsächlich, daß man ihn in Leonora gefunden hatte. Er war außerdem überzeugt, daß sie nichts von dem versteckten Schlüssel und dem Gegenstand in Mrs. Loftus Matratze wußte, und sie schien auch das intime Verhältnis zwischen Landon und ihrer Schwester nicht bemerkt zu haben. Aber was Bony gesehen hatte, bestärkte ihn in seiner Ansicht über Mrs. Loftus. Sie wußte genau, was mit ihrem Mann geschehen war, aber das war ihr gleichgültig. Sie war eine harte, selbstsüchtige Frau und hatte Geheimnisse mit einem Farmarbeiter, der sehr gut aussah. In bezug auf Mick Landon hatte Mr. Jelly völlig recht: er vermochte seine Gefühle besser im Zaum zu halten als seine Geliebte. Dafür war seine Persönlichkeit nicht so ausgeprägt wie die von Mrs. Loftus. Er besaß einen kühlen Verstand, war in der Lage, sorgfältig zu planen, und darum gefährlich. Obwohl er Mrs. Loftus über die fehlende Kerze und die abwesenden Hunde lachend hinweggetröstet hatte, wußte Bony genau, daß sich der Mann ernsthafte Sorgen machte. Während andere erst noch nach den Hunden gesucht hätten, war er ins Bett ge125
gangen. Es war deshalb damit zu rechnen, daß er am Zeltausgang auf der Lauer lag und die Gegend beobachtete. Warum wohl mochten er und Mrs. Loftus sich so unwohl fühlen bei dem Gedanken, daß die Hunde nicht da waren und eine Kerze fehlte, mit der Bony sich einen Abdruck des versteckten Schlüssels gemacht hatte? Was hatten sie zu fürchten? War es vielleicht das schlechte Gewissen? Glaubten sie, daß George Loftus sich rächen könnte? Oder aber – Bonys scharfe Augen bemerkten den Schatten in dem Moment, in dem er sich vom Geräteschuppen löste. Was mochte Landon vorhaben? Bony hatte nicht gesehen, daß er sein Zelt verlassen hatte. Gebückt schlich er auf das Haus zu. Bony war froh, noch gewartet zu haben, denn in diesem Augenblick beobachtete er, wie sich ein zweiter Schatten dicht bei Landons Zelt bewegte. Wer mochte es sein? Sollte es Landon sein, wer war dann der erste Mann? Der Abstand zwischen den beiden Schatten verringerte sich, sie prallten zusammen. Bony hörte einen überraschten Aufschrei, und eine Sekunde später blitzte es bei dem zweiten Schatten auf, ein Revolverschuß und ein Schmerzensschrei drangen an Bonys Ohr. Der eine Schatten sank zu Boden, sprang plötzlich wieder auf. Dann rannte ein Mann in Richtung Straße und Kaninchenzaun davon – quer über das Stoppelfeld. Noch zweimal blitzten kurz hintereinander Schüsse auf – es schien Mick Landon zu sein. Im nächsten Augenblick stolperte Landon und fiel hin, und als er wieder auf die Füße kam, war der Unbekannte in der Dunkelheit verschwunden. Landon fluchte laut, und vom Haus herüber drang aufgeregtes Rufen. Miss Waldron erschien an der Hausecke, eine Kerze in der Hand, dann trat Mrs. Loftus mit einer Petroleumlampe durch die Tür. »Mick, was ist passiert?« Ihre Stimme klang seltsam schrill. »Bist du verletzt? Auf wen hast du geschossen?« »Mir ist nichts passiert«, versicherte Landon. »Ich wartete noch etwas in der Dunkelheit, und da sah ich, wie er vom Geräteschuppen zum Haus schlich. Ich habe ihn getroffen, aber er ist mir trotzdem entwischt.« »War es ein Mann? Bist du sicher?« fragte Miss Waldron. »Absolut, Miss Waldron«, antwortete Landon kühl. »Aber er wird nicht zurückkommen – er hat seinen Denkzettel erhalten. So, und nun 126
steht in eurem dünnen Nachtzeug nicht so herum. Marsch ins Bett, bevor ihr euch erkältet. Wenn ihr wollt, kann ich mir mein Bett ja in der Küche aufbauen. Soll ich?« »Ach, ich werde bestimmt kein Auge zumachen«, jammerte Miss Waldron. »Es ist ja alles in Ordnung, Schwesterlein.« Mrs. Loftus hatte sich wieder völlig in der Gewalt. »Du schläfst mit bei mir. Und Mick holt sein Bettzeug in die Küche.« »In Ordnung«, rief Landon. »Ich eile schon.« Bony sah, wie der Mann mit langen Schritten zum Zelt lief. Gleich darauf kehrte er mit der Matratze und dem Bettzeug zurück und drängte die Frauen in die Küche. Der Inspektor wartete noch fünf Minuten, dann stahl er sich davon. Ihn konnten auch die schärfsten Augen nicht entdecken. Er ging am Rande des Stoppelfeldes entlang, erreichte die Straße und zog sich die Schaffellstiefel aus, als er die Hälfte der sandigen Anhöhe hinter sich gebracht hatte. Ihn beschäftigte einzig und allein die Frage, woher Landon den Revolver hatte. Als Bony das Zelt durchsucht hatte, war er nicht dort gewesen. Sollte der Mann vielleicht bewaffnet zu einem harmlosen Tanzvergnügen gegangen sein?
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s war bereits zwanzig Minuten vor fünf, als Bony endlich ins Bett kam, und obwohl am Sonntag das Frühstück in der Pension erst um neun Uhr serviert wurde, schlief er weiter. Fünf Minuten vor elf wurde er aus dem Schlaf gerissen, und er hätte den Mann, der ihn aufweckte, am allerwenigsten erwartet. »Sie schlafen ja wie ein Murmeltier«, sagte Mick Landon gutgelaunt. »Wollen Sie vielleicht den ganzen Tag verschlafen?« 127
»Lust dazu hätte ich«, erwiderte Bony, der sofort hellwach war. »Ich weiß nicht, wann Sie ins Bett gekommen sind, aber ich war erst Viertel vor drei zu Hause.« »Da können Sie von Glück reden. Bei mir war es bereits vier Uhr vorbei, als ich endlich daran denken konnte, schlafen zu gehen. Erst hatte ich noch in Jilbadgie Hall zu tun, und als wir dann nach Hause kamen, passierten einige seltsame Dinge. Dabei habe ich auf einen Unbekannten geschossen.« »Sie haben auf jemanden geschossen?« meinte Bony und langte nach Tabak und Zigarettenpapier. »Haben Sie ihn getötet?« »Nein, aber getroffen habe ich ihn. Jetzt hören Sie zu, Bony: Ich habe erfahren, daß Sie einmal für die Polizei als Tracker tätig waren. Würden Sie Mrs. Loftus einen Gefallen tun? Sie kommt fast um vor Angst. Würden Sie also gleich mit mir hinausfahren und nach Spuren suchen? Es lohnt ja nicht, deswegen die Polizei zu benachrichtigen.« »Hm, das könnte ich schon tun«, antwortete Bony zögernd. »Ich werde nach dem Essen hinauskommen.« »Wir möchten, daß Sie sofort kommen. Mrs. Loftus hat mich mit dem Wagen geschickt.« Der Inspektor tat immer noch, als zögere er, doch in Wirklichkeit war er mit der Entwicklung des Falles höchst zufrieden. »Na schön. Während ich mich rasiere und anziehe, erzählen Sie einmal, was sich alles ereignet hat.« »Zunächst einmal glauben wir, daß uns jemand einen Streich gespielt hat«, berichtete Landon. »Sawyers brachte heute morgen einige Leute von Jilbadgie nach Burracoppin zurück und wurde bei der leeren Garage von einigen Kühen und Pferden und unzähligen Hunden aufgehalten, die dort alle aufgeregt herumschnüffelten. Nun war es dunkel und die Leute müde, so daß niemand weiter darauf geachtet hat. Heute morgen kam ein Streckenarbeiter vorbei, und der hörte, daß außer den vielen Tieren vor der Garage auch noch einige Hunde im Innern herumtobten. Als ich vorhin kam, bin ich nicht in die Straße zur Garage eingebogen, aber mir fiel auf, daß von Mrs. Loftus’ Farm aus einige Hunde, zwei Pferde und eine riesige Schar Karnickel die Straße entlangzogen.« 128
»Da dürfte ein Spaßvogel eine Lockspur gelegt haben – vielleicht mit Anisöl«, meinte Bony nachdenklich. »Ich erinnere mich, daß es in Queensland einmal auf diese Weise gemacht worden ist.« »Ich glaube allerdings nicht, daß es sich nur um einen Scherz gehandelt hat«, fuhr Landon fort. »Die Spur führte von Mrs. Loftus’ Farm bis in die Garage. Eine Menge Hunde sind der Spur natürlich gefolgt – auch unsere drei. Sie wurden in der Garage eingeschlossen.« »Die Spur wurde bis zur Farm von Mrs. Loftus gelegt?« erkundigte sich Bony. »Ja. Und nach allem, was später passiert ist, bezweifle ich, daß es nur ein Lausbubenstreich war.« »Was ist nun eigentlich passiert?« »Während wir in Jilbadgie waren, wurde auf der Farm eingebrochen. Als wir nach Hause kamen, fanden wir ein wüstes Durcheinander vor: Möbel verrückt, Schubkasten herausgezogen, das Bettzeug heruntergerissen. Seltsamerweise vermißt Mrs. Loftus aber nichts, und sie kann sich auch nicht vorstellen, was die Einbrecher gesucht haben könnten. Auf jeden Fall sind sie immer noch herumgeschlichen, nachdem wir nach Hause gekommen waren. Miss Waldron hat bei Mrs. Loftus geschlafen, weil die beiden Frauen naturgemäß schrecklich aufgeregt waren. Ich tat so, als würde ich auch schlafen gehen, nahm aber statt dessen mein Gewehr und setzte mich an den Zelteingang. Und richtig! Eine halbe Stunde später schleicht jemand vom Geräteschuppen zum Haus. Ich schoß auf ihn, aber infolge der Dunkelheit war es nur ein Streifschuß, und der Mann entkam.« »Meines Erachtens sollten Sie das aber der Polizei melden«, erklärte Bony ruhig. »Ja und nein«, entgegnete Landon achselzuckend. »Sehen Sie, seit George Loftus verschwunden ist, habe ich den ganzen Laden geschmissen. Mrs. Loftus verläßt sich voll und ganz auf mich. Nun ist sie der Ansicht, daß es sich um keinen gewöhnlichen Einbruch handelt, und ich teile diese Ansicht. Wir glauben vielmehr, daß George Loftus zurückgekommen ist. Er wußte, daß wir zu dieser Tanzveranstaltung gehen, und da muß er irgend etwas für ihn Wichtiges gesucht haben, obwohl sich Mrs. Loftus nicht denken kann, was es sein könnte. Nun mußte er die Suche wohl wegen unserer Rückkehr abbrechen, und da wartete er auf eine Gelegenheit, weitersuchen zu können. Mrs. Loftus 129
kommt fast um vor Angst, aber sie möchte sich doch nicht an die Polizei wenden. Nun hörte ich, daß Sie ein guter Spurensucher sind, und da wir keinen Skandal wünschen, möchte ich Sie bitten, mitzukommen und festzustellen, woher er gekommen und wohin er verschwunden ist.« Bony stand vor dem Spiegel und bürstete sich sein schwarzes Haar. Jetzt drehte er sich um. »Wenn der Einbrecher aber nun ernstlich verletzt sein sollte?« meinte Bony bedenklich. »Wenn er durch den Blutverlust ohnmächtig wurde und im Busch an Erschöpfung starb? Dann müßte ich es doch der Polizei melden, sobald ich ihn finde.« »Wenn Sie gesehen hätten, wie der Kerl davongelaufen ist, würden Sie wissen, daß er nicht ernstlich verletzt war«, erklärte Landon energisch. »Nein, in dieser Hinsicht habe ich keine Bedenken. Aber wir müssen herausfinden, was er wollte. Er muß allerdings einen Komplicen haben, denn ein Mann allein kann unmöglich diese Anisspur legen und gleichzeitig das Haus durchsuchen.« Bony war nun fertig angekleidet. Er hockte sich auf die Tischkante und drehte sich die zweite Zigarette. Und während er Mick Landon betrachtete, bewunderte er seine Kaltblütigkeit. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er behauptet, alles sei auf den Kopf gestellt gewesen, obwohl Bony sich sogar bemüht hatte, keinerlei Veränderung vorzunehmen. Außerdem hatte Landon behauptet, mit einem Gewehr geschossen zu haben, während Bony genau wußte, daß er einen Revolver benützt hatte. Landon war zweifellos ein gefährlicher Mann, und da hieß es, vorsichtig zu sein. Bony war überzeugt, daß dieser Mann durchaus in der Lage war, ein neues Verbrechen zu begehen, um ein bereits begangenes Verbrechen zu verbergen. Es war also durchaus denkbar, daß Bony auf der Fahrt zur Farm ›verunglückte‹. Andererseits war es natürlich auch möglich, daß man tatsächlich wissen wollte, ob Mick Landon auf George Loftus geschossen hatte. »Sie sind also der Meinung, daß George Loftus in das Haus eingedrungen ist«, sagte Bony bedächtig. »Diese Theorie hat allerdings einen Schönheitsfehler. Loftus hätte nämlich gar nicht nötig gehabt, die Hunde wegzulocken, denn sie würden ihrem Herrn ja nichts getan haben.« 130
»Aber wer, zum Teufel, war es dann?« fuhr Landon hoch. »Ich bestimmt nicht«, erklärte Bony lächelnd. »Sie können sich ja überzeugen, daß ich nicht verwundet bin.« »Natürlich waren Sie es nicht. Weshalb sollten Sie denn auch bei uns einbrechen? Es muß entweder Loftus gewesen sein oder jemand, den er geschickt hat. Schließlich kann er ja jemanden geschickt haben, oder? Ein gewöhnlicher Einbrecher hätte die silbernen Fotorahmen und den Schmuck von Mrs. Loftus mitgenommen, den sie in einem Schubfach aufbewahrt. Also, fahren wir los. Vielleicht finden Sie Spuren. Mrs. Loftus würde sich freuen, wenn Sie bei ihr zu Mittag essen würden.« »Schön.« Bony nickte. »Aber wir fahren rasch noch bei Mrs. Poole vorbei. Ich muß ihr sagen, daß ich nicht zum Essen komme. Und wir können uns auch gleich die leere Garage ansehen.« Landon war mit diesem Vorschlag einverstanden. Als der Wagen vor der Pension anhielt, stand Mrs. Poole in der Ladentür, Mr. Poole saß auf einer Obstkiste vor dem Schaufenster. Ein Stück weiter standen Männer und Kinder vor der leeren Garage. Unter Gelächter und Gejohle beobachteten sie, wie zwei Pferde und mehrere Kühe schnüffelnd die Straße auf und ab trotteten. Mr. Poole strahlte über das ganze Gesicht, und die unvermeidliche Zigarette ragte unter dem struppigen Schnurrbart hervor. »Meine Frau behauptet, ich hätte diesen Streich gespielt«, meinte er mit müder Stimme. »Ich möchte nur wissen, wie ich das gemacht haben soll.« »Joe!« fuhr seine Frau ihn an. »Du wirst mit jedem Tag ein größerer Lügner. Ich habe überhaupt nichts Derartiges gesagt.« »Möglich, aber gedacht hast du es.« »Wenn du unbedingt willst, dann werde ich dir mal sagen, was ich von dir denke.« »Ich bitte darum«, sagte Mr. Poole betont demütig. »Ich denke, es ist Zeit, daß du endlich etwas Holz hackst!« »Holz! Und wenn es das Holz nicht ist, dann ist es die Kuh. Und wenn’s die Kuh nicht ist, dann Mrs. Black!« brummte Mr. Poole und zwinkerte Bony zu. »Warum denkst du nicht mal an so nette Dinge wie Liebe und Mondschein und – und Bier?« Bony lachte, und auch Landon grinste. »So, nun müssen wir aber fahren«, sagte der Farmarbeiter. 131
»Ich wollte Ihnen nur rasch sagen, daß ich zum Essen nicht da bin, Mrs. Poole«, erklärte Bony. Mr. Poole wuchtete sich am Schaufensterrahmen in die Höhe und stand auf. »Dann seien Sie um Himmels willen wenigstens zum Tee zurück«, beklagte er sich. »In dieser Eintönigkeit kommt man ja sonst um.« Das Auto rollte davon, und Bony blickte lächelnd zu dem ungleichen Paar zurück, das sich wie Hund und Katze aufführte und doch glücklich war. Vor der Garage gab es ein großes Hallo, als Mick Landon um ein Haar mit einer Kuh zusammengestoßen wäre, die um keinen Preis von der Stelle weichen wollte, obwohl sich die dicke, rotgesichtige Mrs. Black alle Mühe gab. Auf der breiten geraden Straße, die hinunter zur Old York Road führte, begegneten sie zwei Pferden, einem Hund, mehreren Kühen und zahllosen Kaninchen, und auch die am Zaun entlangführende Straße war von Vierbeinern bevölkert. »Sind Ihre Hunde schon zu Hause?« fragte Bony. »Als sie freigelassen wurden, sind sie die Spur entlang nach Hause gelaufen. Ich wollte gerade losfahren, da kamen sie an. Ich habe sie sofort angekettet, dann konnte ich gerade noch rechtzeitig das Tor schließen, als drei Kühe losmarschieren wollten. Wenn man nicht bei uns eingebrochen hätte, würde ich über diesen Streich nur lachen. Wer immer es gewesen sein mag – der Bursche versteht sein Handwerk.« »Allerdings«, pflichtete Bony bei. »Damals in Queensland wurden sämtliche Hunde und Katzen aus der Stadt gelockt und in einem zwei Meilen außerhalb gelegenen Haus eingesperrt. Dann boten die Täter den Besitzern an, die Tiere gegen entsprechende Belohnung zu ›suchen‹.« »Waren Sie lange in Queensland?« »Ich bin dort geboren und ging in Brisbane zur Schule.« »Wie kommt es dann, daß Sie hier in Westaustralien arbeiten?« »Ich hatte mir mit dem Zureiten von Pferden ein schönes Stück Geld verdient, und da ich schon lange einmal den Westen kennenlernen wollte, habe ich mich auf den Weg gemacht. Bis Adelaide mit dem Zug, dann mit dem Flugzeug. Und eines Tages fehlte mir dann das Geld für die Rückreise – ich war ganz einfach pleite. Ich hatte etwas zuviel getrunken, irgendein Halunke hat mir meine letzten zwanzig Pfund gestohlen.« 132
»Und nun arbeiten Sie beim Kaninchenamt.« »Ja. Ich traf jemanden, der gewisse Beziehungen hatte. Es war zwar nicht ganz einfach, aber schließlich nahm man mich, und ich wurde nach Burracoppin geschickt.« »Wunderbar!« »Wie bitte?« fragte Bony verwundert. »Daß Sie die Stellung so mir nichts, dir nichts bekommen haben. Sie scheinen überhaupt nicht zu wissen, welches Glück Sie hatten.« »Nun ja, in gewisser Hinsicht hatte ich schon Glück.« »In gewisser Hinsicht!« äffte Landon nach. »Erst vor wenigen Monaten wurde eine Menge Leute entlassen. Ein paar von ihnen sitzen heute noch in Burracoppin und drehen Däumchen.« »Nun ja«, meinte Bony gedehnt. »Einer von ihnen wird schon bald seine Chance bekommen. Ich habe mein Fahrgeld nach Brisbane so ziemlich zusammen.« Sie erreichten das Farmtor. Bony stieg aus und öffnete es. Nachdem der Wagen hindurchgefahren war, schloß er es sofort wieder. Als sie vor dem Farmhaus hielten, trat Mrs. Loftus aus der Tür. »Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind, Mr. Bony«, sagte sie freundlich und reichte ihm die Hand. »Bitte, treten Sie ein. Wir wollten gerade ein verspätetes Frühstück einnehmen.« Verschwunden war die zynische Arroganz. Sie erkannte Bony als ebenbürtig an, lud ihn mit einem nervösen Lachen in ihr Haus ein, entschuldigte sich, daß die Einbrecher einige Unordnung zurückgelassen hätten. Miss Waldron stand am Herd, hatte eine Platte mit Ei und Schinken in der Hand. Sie drehte sich um und meinte lächelnd, sie hoffe, daß er – Bony – noch nicht gefrühstückt habe. Bony konnte am Mobiliar keinerlei Veränderung feststellen, alles stand genau an derselben Stelle wie in der Nacht, als er seinen geheimen Besuch abgestattet hatte. Tür und Fenster waren weit geöffnet, die Jalousien herabgelassen, so daß ein angenehmes Dämmerlicht herrschte. Trotz der Unterhaltung war das permanente Summen der vom Speisenduft angezogenen Fliegen zu hören. »Sie hatten ja in der vergangenen Nacht ein tolles Abenteuer«, sagte der Mischling, als alle am Tisch Platz genommen hatten. »Allerdings. Wir sind bald umgekommen vor Angst«, erwiderte Mrs. Loftus mit einem schiefen Lächeln. »Wir waren heilfroh, als end133
lich der Morgen dämmerte. Ich fühle mich noch wie zerschlagen, denn ich habe kaum ein Auge zugemacht.« »Na, in der kommenden Nacht werde ich bestirhmt gut schlafen«, meinte Miss Waldron fröhlich. »Heute nacht brauchen Sie auch keine Angst zu haben«, versicherte Landon lachend. »Der Mann kommt bestimmt nicht zurück!« Miss Waldron erschauerte. »Hoffentlich nicht.« Dann wandte sie sich an Bony. »Glauben Sie, daß Sie seine Spur ausfindig machen können?« »Ich bin überzeugt, seine Spuren zu finden«, erklärte Bony selbstgefällig. »Ein Farbiger sieht selbst dort noch Spuren, wo ein Weißer überhaupt nichts entdecken würde.« »Ist es wahr, daß Sie schon für die Polizei gearbeitet haben?« fragte Mrs. Loftus. »Mehrere Male«, antwortete er lächelnd, wobei er seine weißen Zähne blitzen ließ. »Aber der Dienst ist anstrengend, wenn er auch gut bezahlt wird. Ich arbeite nicht gern für die Polizei. Diese Leute sind so mißtrauisch. Sie selbst sind nicht in der Lage, Spuren zu finden, und wenn tatsächlich einmal keine vorhanden sind und der Tracker infolgedessen auch keine finden kann, glauben sie sofort, er sei faul oder wollte die Polizei irreführen.« »Erzählen Sie doch mal, was Sie da so alles erlebt haben, Mr. Bony«, bat Mrs. Loftus. »Aber zunächst darf ich Ihnen einschenken?« »Vielen Dank. Der Kaffee ist köstlich.« Bony lehnte sich zurück und rührte den Kaffee um. »Aber wenn ich Sie langweilen sollte, dann sagen Sie es bitte. Erinnern Sie sich noch an den Fall Metters? Nein? Also: auf einer Farm fünfzig Meilen westlich von Toowoomba, Queensland, wurde ein kleines Mädchen ermordet. Ich war gerade in Brisbane, und in der Queen Street traf ich zufällig einen Kriminalbeamten, den ich kannte. Kurzum – ich erhielt fünfundsechzig Pfund plus Spesen. Drei Tage nach dem Mord kam ich an den Tatort. Das Kind war in einem kleinen Wäldchen umgebracht worden. Das Mädchen kam aus der Schule und benützte wie immer einen schmalen Pfad. Offensichtlich hatte der Mörder ihr aufgelauert. Es war eine so verwerfliche Tat, daß ich den Mörder auch ohne Bezahlung gesucht hätte. Man kann eventuell noch verstehen, wenn jemand unter Alkoholeinfluß oder in der Erregung des Augen134
blicks tötet, aber man kann nicht das geringste Mitgefühl haben mit einem Menschen, der kaltblütig und vorsätzlich ein kleines unschuldiges Mädchen ermordet. Der Täter hatte sich keine Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, bis er die zwei Meilen entfernte Landstraße erreicht hatte. Hier hielt er sich in der Straßenmitte, wo seine Spuren naturgemäß durch den starken Fahrverkehr ausgelöscht wurden. Ich mußte also das Gelände zu beiden Seiten der Straße genau absuchen – elf Meilen weit. Dann fand ich die Stelle, wo der Mörder – in Socken! – die Straße verlassen hatte. Nun war er, immer in Socken, fünfzehn Meilen weit gelaufen, wobei er steinigen Untergrund und Wasserläufe bevorzugte. Morgens um zehn Uhr begann ich mit der Spurensuche. Drei berittene Polizisten begleiteten mich. Abends um sechs zeigte ich ihnen das Versteck des Mörders.« »Und wo versteckte er sich?« fragten die beiden Frauen gleichzeitig. Bony lachte, und es klang ein wenig triumphierend. Er blickte erst seine Zuhörer an, dann auf seinen Teller und strich sich Butter auf eine Scheibe Brot. »Als Metters sah, wie wir uns über die Weide näherten, verbarrikadierte er sich in seinem Haus. Es glich ganz dem Ihren, hatte auch nur eine einzige Tür. Er war mit zwei Gewehren bewaffnet und drohte, jeden zu erschießen, der versuchen sollte, ihn zu verhaften. Die Nachbarn kamen mit ihren Wagen angefahren, und um das Farmhaus wurde ein Kordon gezogen. Die Autoscheinwerfer machten die Nacht zum Tage. Fünf Tage und Nächte dauerte die Belagerung, dann stürmte Metters aus dem Haus, erschoß noch einen Mann, ehe er selbst tödlich getroffen wurde.« »Schrecklich!« rief Mrs. Loftus. »Konnte die Polizei diesem Mann nicht die Chance geben, eine ordentliche Gerichtsverhandlung zu bekommen?« »Ich glaube, es war besser so«, antwortete Bony leise. »Inzwischen waren nämlich aus der Umgebung über zweihundert Männer zusammengekommen, und sie waren äußerst aufgebracht. Ihnen standen lediglich sieben Polizisten gegenüber. Verstärkung war auf dem Weg, und das wußte die wütende Menge. Die Männer wollten das Haus in Brand stecken, und Metters war dies nicht verborgen geblieben. Und er wußte auch, daß man ihn in die Flammen zurückgetrieben hätte, 135
wenn er aus dem Haus gekommen wäre. Die paar Polizeibeamten hätte man inzwischen mit Leichtigkeit zur Seite gedrängt – sie hätten machtlos zusehen müssen.« »Schrecklich!« murmelte Mrs. Loftus. »Dann ist es schade, daß man ihn erschossen hat«, erklärte ihre Schwester erregt. »Für einen Verbrecher, der sich an Kindern vergreift, sieht das Gesetz auf jeden Fall nur ungenügende Strafen vor«, meinte Bony. »Wenn es nach mir ginge, würde jeder, der ein Kind zu Tode quält, gefesselt auf einen Ameisenhaufen geworfen.« Mrs. Loftus riß die Augen auf, ihr Gesicht war kalkweiß. »Doch, das sollte man tun!« pflichtete Miss Waldron bei. »Grausamkeit muß man mit Grausamkeit begegnen«, sagte Bony. »Und doch hat auch die grausame Folter des Mittelalters keine Verbrechen verhüten können«, gab Landon zu bedenken. »Mit Milde und Nachsicht hat man erst recht keine Verbrechen verhindert«, entgegnete Bony. »Und nun möchte ich mir die Spuren ansehen, die der Einbrecher hinterlassen hat, wenn es Ihnen recht ist. Die Damen möchte ich bitten, im Haus zu bleiben, damit die Spuren nicht verwischt werden, und falls Sie mich begleiten wollen, Landon dann halten Sie sich bitte stets hinter mir.« Er stand auf und trat mit Landon vor das Haus. »Können Sie mir sagen, wo Sie genau standen, als Sie auf den Mann feuerten?« wandte sich Bony an den Farmarbeiter. »Ja«, erwiderte Landon. »Ich stand ungefähr vier Meter neben diesem zerbrochenen Schleifstein. Ich stürzte nämlich darüber, als ich hinter ihm herrannte.« »Gut. Und nun wollen wir nicht mehr reden.« Bony ging zu dem Schleifstein. Da waren die Spuren Landons, er hatte Slipper getragen. Auf der anderen Seite des Schleifsteins aber waren die Spuren eines Mannes zu erkennen, der vom Geräteschuppen gekommen war, plötzlich einen Haken nach Osten geschlagen hatte. Er war gestolpert, hatte mit den Händen den Boden berührt und war dann zur Ecke des Stoppelfeldes gerannt. Der Unbekannte war von der Straße herübergekommen und auch nach dorthin geflohen, nachdem er angeschossen worden war. Bony gab sich den Anschein, einer 136
Spur zu folgen, ging um den Geräteschuppen herum und dann zu dem nicht weit entfernten Zelt, in dem Landon schlief. »Haben Sie etwas vermißt?« fragte Bony den Farmarbeiter. »Nein. War er denn auch in meinem Zelt?« »Wenn er drin war, dann zu der Zeit, als Sie noch in Jilbadgie waren. Leider ist es nicht mehr festzustellen, weil Sie selbst schon wiederholt ein- und ausgegangen sind. Aber ich möchte doch behaupten, daß er in Ihrem Zelt war.« Bony ging langsam hinüber zu dem Wasserbecken, das eingezäunt war, um das Vieh abzuhalten. Ein Windrad pumpte das Wasser in einen Tank, der auf einem hohen Gerüst stand. Von dort aus wurde es dann durch Rohre ins Haus und zu den Trögen hinter den Stallungen geleitet. Bony schlenderte nach Süden weiter, kam an den knurrenden Hunden vorbei, die bei den aus Kistenbrettern zusammengezimmerten Hütten angekettet waren, und gelangte zu einem kleinen Schuppen, in dem Düngemittelsäcke und Gerümpel lagerten. Hühner scharrten in den Ecken. Von hier aus ging er hinüber zu der großen Strohmiete. »Ist er auch hier gewesen?« fragte Landon sofort. »Ja«, erwiderte Bony lächelnd, beugte sich vor und zeigte auf den mit Strohhalmen übersäten Boden. »Da ist der Abdruck seines rechten Fußes. Können Sie ihn nicht erkennen?« »Zum Teufel – nein!« Bony richtete sich auf. Er strahlte über das ganze Gesicht, marschierte an der Seite der Strohmiete entlang. Er sah die Löcher, die sich die Hunde gegraben hatten, um Kühle vor der sengenden Hitze zu finden, und die flachen Kuhlen, in denen die Hühner gelegen hatten. Am Südende war der meiste Schatten, denn die Sonne stand im Zenit. Hier blieb Bony stehen und kaute an der Unterlippe. »War der Kerl auch hier?« wollte Landon wissen. Bony deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden. »Da ist er entlanggegangen«, erklärte er, und seine Stimme verriet eine leise Ungeduld. Ein Hahn hockte auf einer Stange, die gegen die Strohmiete gelehnt war, und krähte heftig. Die Schmeißfliegen summten laut, hielten sich im tiefen Schatten, krochen in die Ritzen. Bony hatte gedankenverloren vor sich hingestarrt, jetzt blickte er Landon durchdringend an. Der Mund des Farmarbeiters bildete einen 137
dünnen Strich, die blauen Augen waren groß und ausdruckslos, versuchten, die Gedanken des Mischlings zu ergründen. Das Gesicht wirkte wie versteinert. »Ich verstehe einfach nicht, warum sich der Einbrecher für das Wasserbecken, für Ihr Zelt, den Düngerschuppen und die Strohmiete interessiert haben sollte. Wenn es tatsächlich Loftus war, dann muß er etwas gesucht haben, was sowohl im Haus als auch außerhalb versteckt sein kann.« Bony drehte sich abrupt um und ging zum Haus zurück, wo ihn zwei ängstliche und neugierige Frauen erwarteten. Er berichtete ihnen, daß der Einbrecher zunächst das Haus durchsucht habe, später dann draußen herumgeschlichen sei, wobei er angeschossen wurde. Nun kehrte Bony noch einmal zu dem zerbrochenen Schleifstein zurück und folgte wirklich der Spur des Unbekannten. Sie führte zum Rande des Stoppelfelds, ging dann in einen Zickzackkurs über. Siebenmal konnte er dem neugierig folgenden Landon Blutstropfen im gelben Stroh zeigen. Die Spur führte zum Zaun, war auf der anderen Seite im hohen Gras deutlich zu erkennen. Der Unbekannte war zur Straße gelaufen, hatte sich dann nach Süden gewendet – doch Bony bog nach Norden ab und marschierte die Anhöhe hinauf. In halber Höhe blieb er stehen und wandte sich zu Landon um. »Hier ist der Mann in einen Wagen gestiegen. Er trug mehrere Socken über den Stiefeln. Seine Schuhgröße ist sieben oder acht. Er dürfte ungefähr siebzig Kilo gewogen haben. Wenn man die Hunde nicht weggelockt hätte, würde ich annehmen, daß es Loftus war.« »Es war bestimmt Loftus. Er hat Schuhgröße acht.« Bony lachte. »Wie Sie meinen.« »Es muß ganz einfach Loftus gewesen sein«, beharrte Landon. »Wer sonst sollte hier herumschnüffeln, ohne etwas mitzunehmen – soweit wir festgestellt haben. Auf jeden Fall ist Ihnen Mrs. Loftus sehr dankbar, daß Sie sich die Mühe gemacht haben. Jetzt wollen wir eine Tasse Tee trinken, dann bringe ich Sie mit dem Wagen nach Burracoppin zurück.« »Diese Umstände möchte ich Ihnen gar nicht machen, Mick, vielen Dank. Ich gehe gleich von hier zu Fuß zurück. Ich laufe gern. Bitte 138
übermitteln Sie den Damen meine besten Empfehlungen, und ich möchte mich noch einmal für das Frühstück bedanken.« »Aber ich bringe Sie gern mit dem Wagen zurück, das macht weiter keine Mühe.« »Wirklich – ich gehe lieber zu Fuß«, antwortete Bony lächelnd. »Ich hoffe, wir treffen uns bald wieder. Vielleicht beim nächsten Tanzabend? Adieu!« Die beiden Männer lächelten sich noch einmal an. Sie erinnerten an zwei Hunde, die sich nicht ganz schlüssig waren, ob sie sich anfreunden sollten oder nicht. Während Bony den jenseitigen Hang der Anhöhe zur Old York Road hinabmarschierte, hatte er Zeit zum Nachdenken. Warum waren diese Leute so erschrocken, als sie feststellten, daß eine Kerze fehlte? Warum wollten sie unbedingt wissen, wen Landon angeschossen hatte? Warum hatte Landon sofort ohne Anruf geschossen, statt den Eindringling zu stellen? Und warum behauptete er, mit einem Gewehr geschossen zu haben, obwohl Bony genau wußte, daß es ein Revolver gewesen war?
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E
ric Hurley war bereits drei Tage überfällig. Mit einer Gedankenlosigkeit, die man nur dadurch erklären konnte, daß die Beamten im Hauptbüro des Kaninchenamtes keine praktische Erfahrung besaßen, war den Farmern nördlich von Burracoppin erlaubt worden, die Stoppelfelder westlich des Zauns abzubrennen – bis auf einen Streifen von zwanzig Metern. Auf diese Weise wurde aber auch das niedrige Buschwerk vernichtet, das den Zaun vor Sandanwehungen schützte. Als Inspektor Gray von seiner Inspektionsfahrt zurückkehrte, die ihn vierhunderteinundzwanzig Meilen nach Norden geführt hatte, fragte ihn Bony nach dem Verbleib von Eric Hurley. Der sei aufgehalten worden, weil überall am Zaun Sandverwehungen zu beseitigen 139
seien, erklärte der Kanincheninspektor. Aber als er hörte, daß Bony den Mann dringend sprechen müßte, bot er ihm für den Nachmittag den Lastwagen an. Bony fand Eric Hurley an der Fünfzehn-Meilen-Marke, wo er den Sand vom Zaun schaufelte. Es war ein sengend heißer Tag, durchaus nicht ideal für eine solche Arbeit. Die Stelle lag auf einer kleinen Anhöhe am Südrand des Weizengürtels. Zu beiden Seiten des Zauns fiel das Land ab, bildete bis zum Horizont ein gigantisches Schachbrett aus reifen Weizenfeldern und brachliegenden Äckern. An einigen Stellen waren Mähdrescher an der Arbeit, dort standen dichte Staubwolken in der Luft, während entlang der Straße von den Lastwagen hohe Staubfahnen aufgeweht wurden. Über den Granitfelsen am Horizont waberte der Glast des heißen Tages, der auch die Weizenähren tanzen ließ. »Hallo, Bony – haben Sie jetzt den Job des Inspektors?« rief Hurley und stützte sich auf die Schaufel. Im nächsten Moment warf er sie weg, setzte mit einer Flanke, die lange Praxis verriet, über den Zaun und hockte sich zu Bony in den Schatten. »Welchen Inspektor meinen Sie denn?« fragte Bony leise. »Gray natürlich.« »Wie ich inzwischen erfahren habe, wissen Sie, daß ich Polizeiinspektor bin«, sagte Bony streng. »Oh! Wer hat Ihnen denn das erzählt?« »Sunflower.« »Dann wissen Sie auch, daß ich rein zufällig hinter Ihr Geheimnis gekommen bin. Der Boss war etwas leichtsinnig mit diesem Brief. Aber ich habe sonst niemandem etwas davon gesagt. Das mußte ich Lucy versprechen.« Der Inspektor musterte das schlanke, energische Gesicht. Es gefiel ihm, daß Hurley sein Versprechen gehalten hatte. »Freut mich, das zu hören, Eric. Ein Mann, der seine Zunge im Zaum hält, wird stets Freunde finden. Jetzt gehen wir zu Ihrem Lager und kochen Tee. Es ist doch viel zu heiß, um Sand zu schaufeln. Und damit Sie Ihre verlorene Zeit wieder einholen, werde ich Ihnen heute abend eine Stunde helfen.« Bony nippte Tee aus einem emaillierten Becher. 140
»Sie haben sicher viel über Mr. Jellys mysteriöse Reisen nachgedacht. Haben Sie eine Ahnung, was dahinterstecken könnte?« »Der alte Herr ist ganz in Ordnung«, antwortete Hurley ohne Zögern. »Bißchen schwierig und ein wenig verrückt. Wenn er endlich aufhören würde, Mörder zu sammeln, wären Lucy und Sunflower bedeutend glücklicher.« »Und das möchten Sie natürlich?« »Klar. Aber krumme Dinge gibt’s bei dem alten Herrn nicht«, versicherte Eric. »Manche glauben, eine Frau stecke dahinter, andere, er gehe jedesmal auf eine Sauftour. Nun, beides soll man einem Mann gönnen – wenn er nicht übertreibt. Aber meines Erachtens stecken hinter diesen Reisen weder Frauen noch Alkohol, denn der alte Herr hat bei seiner Rückkehr immer mehr Geld als vorher.« »Er ist inzwischen wieder einmal weg. Als Lucy am Sonntagmorgen aufstand, war er nicht mehr zu Hause«, berichtete Bony. »Wirklich schade, daß er nicht einmal in der Erntezeit zu Hause bleiben kann. Jetzt hat der alte Middleton doppelt zu tun. Lucy macht sich natürlich wieder große Sorgen.« »Sie macht sich diesmal doppelte Sorgen, weil ihr Vater verletzt war, als er am Sonntagmorgen verschwunden ist.« »Verletzt?« rief Hurley erschrocken. »Ja. Er ist auf der Loftus-Farm herumgeschlichen, Mick Landon hat auf ihn geschossen.« »Was, zum Teufel, mußte der alte Knabe denn auf der Loftus-Farm herumschleichen?« »Das weiß ich nicht. Viertel nach drei wurde auf ihn geschossen, und er kehrte verletzt nach Hause zurück. Am Sonntagabend habe ich seine Spur verfolgt. Lucy erzählte mir, daß eins seiner Bettlaken zerrissen war. Vermutlich hat er damit einen provisorischen Verband hergestellt. Und die Waschschüssel war blutig.« »Aber was hatte er denn um diese Zeit auf der Loftus-Farm zu suchen?« »Das wissen wir noch nicht.« »Was hält denn Mick Landon davon? Warum hat er auf ihn geschossen?« »Landon weiß ja nicht, daß es Mr. Jelly war. Niemand weiß es, außer Lucy und mir – und nunmehr Ihnen.« 141
»Aber woher wissen Sie es?« »Weil ich gesehen habe, wie auf ihn geschossen wurde.« »Ja – was haben Sie denn auf der Loftus-Farm gewollt?« »Ich wollte mich dort umsehen.« »Ich gebe es auf.« Hurley seufzte resigniert. »Hundert Fragen soll man Ihnen beantworten, aber Sie selbst verraten nichts.« Der Inspektor blickte von der Zigarette auf, die er gerade drehte. »Weil Sie bewiesen haben, daß Sie den Mund halten können, weil Sie Lucy Jelly lieben, und weil ich Ihre Hilfe benötige, werde ich Sie ins Vertrauen ziehen«, sagte Bony bedächtig. Dann berichtete er Hurley, was sich nach dem Tanzabend in Jilbadgie Hall ereignete. »Ich habe so ein Gefühl, als ob die Reisen Ihres zukünftigen Schwiegervaters irgendwie mit dem Verschwinden von George Loftus zusammenhängen«, schloß Bony, nachdem der Grenzreiter Tränen gelacht hatte über den Zug der Tiere nach Burracoppin. »Ganz unter uns: Ich habe Ihrer Braut versprochen, den Grund für die Reisen ihres Vaters herauszufinden.« »Und weshalb glauben Sie, daß die beiden Geheimnisse zusammenhängen?« »George Loftus und Mr. Jelly waren eng befreundet. Sie waren Nachbarn und halfen sich gegenseitig, wenn Schwierigkeiten auftauchten. Während die meisten Farmer in dieser Gegend ohne Geld dasitzen, bringt Mr. Jelly von seinen Reisen stets Geld mit, und Loftus hatte hundert Pfund bei sich, als er aus Perth zurückkam, wo er etwas über hundertsiebzig Pfund auf der Bank hatte.« »Ich habe gehört, daß man Loftus in Leonora gefunden hat«, warf Hurley ein. »Man hat den Betreffenden fotografiert und die Bilder einem Motorradfahrer mitgegeben. Der Mann in Leonora ist nicht Loftus. Ich hatte von Anfang an bezweifelt, daß er es ist. Aber ich weiß jetzt, wo George Loftus steckt.« »Oh! Wo denn?« »Alles zu seiner Zeit, Eric.« Bony lächelte. »Erst muß ich Mr. Jellys Geheimnis herausfinden. Ich fürchte nämlich, daß ich es nie herausfinde, wenn ich zuvor den Fall Loftus aufkläre. Glauben Sie, daß Mr. Jelly zeitweilig den Verstand verliert?« »Nein, er ist durchaus bei Verstand.« 142
»Dieser Meinung bin ich auch, aber ich bin kein Psychiater.« Eine Weile schwiegen die beiden Männer. Bony blickte den Zaun entlang zu Hurleys Pferd, das angehobbelt war und an den von der Sonne verdorrten Gräsern zupfte. Das Brummen der Erntemaschinen vermengte sich mit dem Summen der Fliegen, nach denen Ginger ab und zu mit einer müden Kopfbewegung schnappte. Die am Zaun entlangführende Straße wurde nur selten benützt, aber eine Meile weiter unten befand sich das Gattertor, und auf dieser Straße knatterten die Lastwagen hoch mit Weizen beladen nach Burracoppin. »Wissen Sie, ob Mr. Jelly in Merredin Freunde hat?« fragte Bony schließlich. »Ich glaube nicht, daß er welche hat. Ich habe jedenfalls nie gehört, daß er oder Lucy von ihnen gesprochen haben.« »Noch etwas: Wozu benötigen die Leute auf der Loftus-Farm eine riesige Strohmiete, obwohl sie keine Pferde und nur zwei Kühe haben?« »Das ist nicht weiter ungewöhnlich, Bony. Viele Farmer verwenden das Stroh als Futter, besonders wenn der Weizen hochsteht, wie in diesem Jahr. Es rentiert sich immer, Häcksel zu schneiden, denn wenn der Preis einmal sinkt, weil sehr viel Stroh anfällt, zieht er in den Jahren wieder an, in denen das Getreide niedrig ist. Und Stroh kann man einige Jahre lagern.« »Hm, ich dachte schon, daß dies der Grund sein könnte. Und nachdem ich die Marktberichte gelesen habe, halte ich es für ein gutes Spekulationsgeschäft, jetzt Stroh zu kaufen, Häcksel schneiden zu lassen und ihn einzulagern, bis einmal eine schlechte Ernte kommt und die Preise anziehen.« Hurley lachte. »Sie scheinen eine Menge Geld zu haben.« »Ganz und gar nicht.« »Dann würde ich das Risiko nicht eingehen«, riet der Grenzreiter. »Und wenn Sie schon Stroh ankaufen wollen, dann lassen Sie es erst zu Häcksel schneiden, wenn Sie verkaufen wollen. Sonst schlucken die Lagerkosten jeden Gewinn – wenn Sie überhaupt einen Gewinn erzielen.« »Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Kennen Sie einen Farmer, der seine Strohmiete verkaufen würde?« 143
»Nein.« »Was wäre Ihrer Meinung nach wohl ein fairer Preis für eine Strohmiete?« »Keine Ahnung. Häcksel kostet drei Pfund fünfzehn Shilling pro Tonne.« »Ob ich das Stroh für zwei Pfund pro Tonne erhalten kann?« wollte Bony wissen. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« ‚ »Auf Stroh, mein lieber Hurley; ich interessiere mich für Stroh und Häcksel. Ich möchte in Häcksel spekulieren. Würden Sie für mich als Einkäufer fungieren? Sagen wir auf Provisionsbasis – ein Prozent des Verkaufserlöses.« »Gewiß, natürlich. Wenn Sie unbedingt Ihr Geld loswerden wollen. Ich kann ja mal ein paar Farmer fragen, sobald ich wieder nach Süden komme.« »Wunderbar! Ich möchte die Strohmiete auf der Loftus-Farm kaufen. Sie enthält ungefähr vierundsechzig Tonnen. Es ist ausgezeichnetes Stroh. Diese Strohmiete würde mir für den Augenblick genügen. Offen gestanden, ich interessiere mich vor allen Dingen für diese Strohmiete.« »Ausgerechnet diese?« »Jawohl, ausgerechnet diese«, erklärte Bony mit Nachdruck, und der Grenzreiter musterte den Inspektor mißtrauisch. »Nun kommen Sie mir nur noch mit einem dritten Geheimnis«, brummte Hurley. »Warum wollen Sie ausgerechnet diese Strohmiete kaufen?« »Weil sie mit einer so perfekten Symmetrie errichtet ist, daß der Anblick jedes Künstlerauge erfreut«, erwiderte Bony, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich wünsche diese Miete, und ich besitze genügend Geld, um zwei Pfund pro Tonne zu bezahlen. Sie bitte ich um den Gefallen, als mein Aufkäufer zu fungieren. Vergessen Sie doch einmal, daß ich Kriminalbeamter bin. Sie sagten mir, daß Sie morgen nach Burracoppin kommen. Treffen Sie am frühen Nachmittag ein. Ich habe mit Inspektor Gray gesprochen. Er wird beide Augen zumachen, wenn Sie um drei in den Hof reiten. Sie können dann um vier zur Jelly-Farm aufbrechen. Lucy möchte Sie unbedingt sprechen. Übermitteln Sie ihr und Sunflower meine besten Grüße. Auf dem Hinweg gehen Sie bei 144
Mrs. Loftus vorbei und sagen ihr, daß ein Farmer, der nicht genannt sein möchte, sich für eine komplette Strohmiete interessiert. Fragen Sie, ob sie ihre Miete verkaufen will, da sie ja keine Pferde habe. Alles klar?« »Durchaus – aber ich weiß trotzdem noch nicht, worauf Sie hinauswollen. Ich werde jedenfalls alles so machen, wie Sie gesagt haben. Und vielen Dank, daß Sie mir einen freien Nachmittag beschafft haben. Was wollen Sie eigentlich mit dem vermaledeiten Stroh anfangen, wenn Sie es bekommen?« Ein grimmiges Lächeln glitt über Bonys Gesicht, und seine Augenlider senkten sich tief herab. »Keine Angst – Mrs. Loftus wird nicht verkaufen!«
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A
m nächsten Tag – es war Mittwoch, der 6. Dezember – traf Sergeant Muir in Burracoppin ein. Außerdem erhielt Bony das Antworttelegramm von Colonel Spender und einen Brief von Marie Bonaparte. Diesen Brief Öffnete der Inspektor zuerst. Liebster Bony, Du mußt umgehend nach Hause kommen. Im Amt ist man sehr ungehalten, daß Dich John Muir für einen Fall in Westaustralien interessiert hat, denn man fürchtet, daß Du nun nicht pünktlich aus dem Urlaub zurückkehrst. Dein Brief, den ich soeben erhalten habe, bestärkt mich in dieser Befürchtung. – Inspektor Todd war heute vormittag bei mir. Auch ich soll meinen Einfluß geltend machen und Dich bitten, sofort nach Hause zurückzukehren. Du wirst hier dringend benötigt. Du sollst einen Fall bearbeiten, in den Eingeborene verwickelt sind. Außerdem ist das Opfer des brutalen Mordes mit dem Premierminister verwandt. Der Premierminister wirft bereits Colonel Spender und seinen Leuten Unfähigkeit vor. 145
Der Rest des Briefes betraf private Dinge. Nachdem er ihn zweimal gelesen hatte, fühlte sich Bony in gehobener Stimmung. Nicht nur seine Frau wünschte ihn bei sich zu haben, sondern auch der hohe Polizeichef verlangte dringend nach ihm – einem Mischling! Mit einem schiefen Lächeln öffnete er das Telegramm. Der Text war kurz und unmißverständlich. Urlaubsverlängerung kann nicht gewährt werden stop melden sie sich sofort zurück stop Spender Ängstliche Gemüter wären ob eines solchen Telegramms in Panikstimmung geraten, Bony aber lächelte, denn er sah direkt vor sich, wie Colonel Spender mit rotem Gesicht und barschen Worten das Telegramm diktiert hatte. Es half nichts, der Inspektor mußte wieder einmal das Risiko auf sich nehmen, entlassen zu werden – bisher war er ja jedesmal wieder eingestellt worden. Nach dem Abendessen setzte sich Bony zu Mr. Poole auf die Obstkisten vor den Laden. Der westliche Himmel färbte sich blutrot, die Luft schien sich in alten Portwein zu verwandeln. Ein langer Güterzug, der von zwei Lokomotiven gezogen wurde, hielt am Bahnhof, und die beiden Lokomotiven bunkerten Wasser aus den gewaltigen Tanks, die auf hohen Gerüsten ruhten. Eine Maschine ließ dröhnend Dampf ab. Das Trommelfell schmerzte von dem durchdringenden Geräusch, und Mr. Poole seufzte erleichtert, als das Ventil endlich geschlossen wurde. »Meine Alte ist heute geladen«, brummte er, während er sich eine Zigarette drehte. »Sie hat sich wieder mal über Mrs. Black geärgert. Als ich heute morgen unsere Kuh melken wollte, war kein Tropfen aus ihr herauszubringen.« »Warum binden Sie die Kuh über Nacht nicht an?« meinte Bony. »Das sage ich ja auch immer, aber meine Gnädigste will es nicht«, erwiderte Mr. Poole. »Nicht einmal der weise Sokrates konnte seine Xanthippe verstehen. Betrachten Sie einmal meine Alte – sie ist doch gewiß eine ganz durchschnittliche Frau. Manchmal ist sie lieb und nett, und ganz plötzlich läßt sie Dampf ab wie diese Lokomotive vorhin, daß einem Hören und Sehen vergeht. Aber niemand kann mir sagen, warum sie plötzlich in die Luft geht. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Kuh abends anbinden, und Mrs. Black hätte das Nachsehen. Aber nein, meine Frau muß die Kuh über Nacht frei herumlaufen 146
lassen. Und warum? Das kann ich Ihnen genau sagen: weil sie unbedingt Streit sucht mit Mrs. Black. Sie wäre bestimmt todunglücklich, wenn Mrs. Black plötzlich aufhörte, unsere Kuh zu melken. Da kommt Thorn. Er wird auch mit jedem Tag fetter.« »Habt ihr meine Frau gesehen?« wollte die ›Wasserratte‹ wissen. »Nein. Suchen Sie sie?« »Um Himmels willen, nein! Aber ich möchte mir einen Schluck genehmigen, und da möchte ich ihr nicht gerade in die Arme laufen. Kommt ihr mit?« Mr. Poole lugte in den Laden, dann nickte er. »All right. Und wie ist es mit Ihnen, Bony?« »Nun ja.« Der Inspektor zögerte. »Aber ich kann nicht lange bleiben. Ich muß noch Briefe schreiben, die ich schon vor einer Woche hätte abschicken müssen.« Zum drittenmal während seines Aufenthaltes in Burracoppin betrat Bony das Hotel. Mr. Wallace bediente die Gäste allein. Die Unterhaltung wurde zwar im lauten Ton geführt, aber keiner der Männer war betrunken, denn dazu war es noch zu früh. »Na, Leonard?« meinte Mr. Thorn, und sein rotes Gesicht strahlte, als er sich auf die Theke stützte. Leutselig stieß er Bony an. »Fragen Sie lieber nicht!« brummte Mr. Wallace. »Ach – wieder mal Krach mit der besseren Hälfte? Geben Sie’s doch auf, Leonard«, riet Mr. Poole. »Sie sind doch alt genug, um zu wissen, daß gegen die Frauen nicht anzukommen ist.« Der Wirt beugte sich über die Theke. »Sie macht mich krank! Vergangene Nacht hat sie mich wieder ausgeschlossen, nachdem sie überall erzählt hat, daß ich George Loftus ermordet hätte. Wenn ich doch bloß mal ein Gewehr in die Finger bekäme!« Mr. Thorn lachte. »Geben Sie’s auf, Leonard. Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir. Einfach ignorieren! Lassen Sie sich nichts anmerken, zahlen Sie’s ihr heimlich wieder zurück. Gebrauchen Sie doch Ihren Verstand. Mit unserem Verstand können wir die Frauen allemal schlagen.« »Nein, ich nehme lieber das Gewehr«, knurrte Wallace drohend. Dann bediente er einen Gast, der ungeduldig wurde. 147
»Vor einigen Tagen erst hörte ich, wie er sich von Inspektor Gray das Gewehr borgen wollte«, murmelte Bony, und seine beiden Begleiter lachten. »Das Theater, das die beiden aufführen, ist allgemein bekannt«, meinte Poole. »Ganz gleich, von wem sie sich ein Gewehr borgen wollen – jeder sagt, daß es gerade repariert wird oder nicht im Haus ist«, fügte Thorn hinzu. »Sie geraten manchmal so sehr in Wut, daß sie sich glatt gegenseitig über den Haufen schießen würden. Aber wenn sie sich beruhigt haben, kommt niemand auf die Idee, ein Gewehr zu kaufen. Armer alter Wallace! Er –« »Guten Abend, Herrschaften!« Mrs. Wallace erschien in ihrem üblichen schwarzen Seidenkleid und lächelte die Gäste an. Als sie ihren Mann erblickte, war das Lächeln wie weggeblasen. »Geh hinein und trink deinen Tee. Glaubst du, das Mädchen wartet den ganzen Abend auf dich? Nun steh nicht da wie die Kuh vorm neuen Tor – geh ’rein und laß dir deinen Tee geben!« Sie blickte zur Tür, und der mürrische Gesichtsausdruck wich einem strahlenden Lächeln. Die Unterhaltung erstarb, ein Lachen brach abrupt ab. Mr. Thorn stieß Bony wieder an, und als sich der Inspektor umdrehte, sah er die militärische Gestalt von John Muir. Die Stimme von Mrs. Wallace klang eine Nuance schriller als sonst. »Hallo, Mr. Muir! Sie lassen sich ja gar nicht mehr blicken. Hoffentlich wollen Sie mir nicht wieder Fragen stellen wegen meinem Mann und dem armen Mr. Loftus.« »Ich werde Ihnen nur eine sehr ernste Frage stellen, Mrs. Wallace«, sagte Muir betont grimmig. »Gut, dann fragen Sie.« »Ist das Bier auch gut gekühlt?« »Selbstverständlich. Mein Gott, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt! Ja, das Bier ist gut gekühlt. Möchten Sie ein Glas?« Muir musterte die Gäste, verriet aber nicht, daß er Bony kannte. Mr. Wallace verschwand in den Privaträumen, und seine Frau unterhielt sich fröhlich mit dem Sergeanten. Man konnte glauben, daß sie die glücklichste Ehe von der ganzen Welt führte. 148
Obwohl alle Gäste friedliche Bürger waren, die die Gesetze achteten, herrschte seit dem Erscheinen des Sergeanten eine unterkühlte Atmosphäre. Wie oft schon hatte Bony erlebt, daß die Menschen schweigsam wurden, sobald ein Polizeibeamter auftauchte. Dies war auch der Hauptgrund, warum er meist inkognito arbeitete. Er wollte zwar keine Briefe schreiben, wie er behauptet hatte, wohl aber mit John Muir sprechen. Deshalb verabschiedete er sich von Mr. Thorn und Mr. Poole und ging hinüber in sein Zimmer im Depot. Zwanzig Minuten später folgte ihm der Sergeant. »Guten Abend, Bony«, sagte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Wie stehen die Aktien?« »Ausgezeichnet, John. Ich hoffe, Sie hatten auf Ihrer Reise Erfolg?« »Ja, ich habe Andrew Andrews ohne Schwierigkeiten festnehmen können. Er gehört zu jenen, die sofort aufgeben, wenn man sie erwischt. Nun erwarten ihn fünfzehn Jahre Staatspension. Mein Chef war sehr zufrieden mit mir. Er versteht nicht, warum er von Ihnen keine Erfolgsmeldung hat.« »Ich wollte, daß Sie für die Auffindung und Festnahme von Andrews belobigt werden, und ich freue mich, daß es geklappt hat. Ich möchte, daß Sie auch im Fall Loftus die Lorbeeren ernten, und das wird klappen, wenn Sie meine Anweisungen befolgen. Im Gegensatz zu Ihnen pfeife ich auf eine Beförderung. Mir genügt die innere Befriedigung, einen Fall erfolgreich abgeschlossen zu haben. Sie waren bei Marie?« »Ja, ich habe sie natürlich besucht.« »Und wie finden Sie Colonel Spender?« John Muir biß sich auf die Lippen, um sich das Lachen zu verkneifen. »Ich mußte mich bei dem alten Knaben melden. Und ich war dumm genug, ihm zu erzählen, daß ich Sie für den Fall Loftus interessiert hätte. Ich dachte, ihn träfe der Schlag. Und dann sagte er plötzlich nur noch ›Sir‹ zu mir – da wußte ich, was die Stunde geschlagen hat. Bony, Sie müssen auf dem kürzesten Weg zurückkehren!« »Dazu ist es schon zu spät, John. Das Kündigungsschreiben ist gewiß bereits unterwegs. Ich muß mir diesmal etwas Neues einfallen lassen, um wieder eingestellt zu werden – aber ich bin so ziemlich am Ende mit meinem Latein.« 149
»Ich habe einen Brief für Sie von Inspektor Todd. Er macht sich Sorgen. Er hat noch einmal alles gesagt, was ich mir schon vom Colonel anhören mußte – nur daß er mich nicht mit ›Sir‹ angeredet hat.« Lächelnd nahm Bony den Brief entgegen, riß den Umschlag auf und zog den Bogen heraus. »Gehen Sie doch bitte hinaus«, sagte er zu Muir. »Schauen Sie sich den Himmel im Südosten an. Achten Sie auf einen roten Schein am Himmel!« »Was?« »Bitte gehen Sie, John!« Bonys Stimme klang plötzlich schneidend, und der Sergeant verschwand. Der Inspektor las Todds langen Brief, in dem ausführlich der Fall geschildert wurde, der sich bei Cunnamulla ereignet hatte. Zwischen den Zeilen war deutlich zu merken, daß Colonel Spender dringend auf seine Hilfe wartete. In diesem Augenblick trat Muir ein. »Ich kann am Himmel nichts bemerken«, meldete er. »War das ein Scherz, Bony?« »Nein. Ich rechne mit einer neuen Entwicklung im Fall Loftus.« »Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen? Ist Loftus ermordet worden? Kennen Sie den Täter? Wann werden Sie die Festnahme veranlassen? Wie …?« »Um Himmels willen, hören Sie doch mit Ihrer ewigen Fragerei auf!« »Entschuldigung«, murmelte Muir verlegen. »Aber ich bin doch kein Doktor Watson.« »Doch!« erwiderte Bony heftig. »Für die nächsten vier bis fünf Tage bleiben Sie Doktor Watson. Sie werden nach Merredin zurückkehren und werden so tun, als ob Sie mit Ermittlungen beschäftigt sind. Sie werden Ihrem Chef berichten, daß Sie kurz vor Abschluß des Falles stehen – Sie hätten von mir einen Tip erhalten. Nur mit Geduld werden Sie Ihre Beförderung erreichen.« John Muirs graue Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an, und die mit Sommerprossen übersäten Finger fuhren durch das rote Haar. »Seien Sie doch nicht so hartherzig«, bat er. »Erzählen Sie schon: wurde Loftus ermordet?«
»Ja.« 150
»Und wer hat ihn umgebracht?« »Der Mörder.« »Man sollte Sie doch einmal kräftig durchbeuteln!« Bony seufzte. »Wann werden Sie endlich Geduld lernen, John? Vielleicht mit zunehmendem Alter. Ich hoffe es jedenfalls in Ihrem Interesse. Den Mörder präsentiere ich Ihnen in den nächsten Tagen. Und nun erzählen Sie mir einmal von dem Fall, der meinem hohen Chef solche Sorgen bereitet. Wiederholen Sie alles, was Sie von Inspektor Todd gehört haben. Lassen Sie nicht die kleinste Kleinigkeit aus!« Zwei Stunden lang beschäftigten sie sich mit dem Fall. Sie studierten die Kopien der Berichte und Protokolle, betrachteten Kartenskizzen und Fotos von Eingeborenen, von Spuren und Viehstationen, von Eingeborenenzeichen. »Für mich ist jetzt alles ganz klar«, meinte Bony schließlich. »Dies hier ist ein Eingeborenenzeichen, das nur der Eingeweihte erkennen kann. Es bezeichnet den gewaltsamen Tod, und die Tat wurde von einem Eingeborenen begangen. Die Emufedern zwischen den fächerförmig arrangierten Stöckchen am Ende des Beinknochens eines Stiers verraten das Totem des Mörders. Der Ermordete verführte eine Eingeborenenfrau, und der Ehemann oder Verlobte rächte sich. Trotz allem war der Mörder kein Schwarzer. Der Mörder war ein Weißer, der – obwohl alles sehr klug eingefädelt war – einen großen Fehler machte. Gewiß, er hat das Totem sehr geschickt gefälscht – aber er hat vergessen, das Haar einer Eingeborenen hinzuzufügen. Das würde ein Schwarzer unmittelbar unter die Emufedern gelegt haben. Der Mord wurde also von einem einzigen Weißen verübt, der dazu in der Lage war. Gleich morgen früh werde ich Todd telegrafieren, Riley zu verhaften. Sie sehen, John, ich kann einen Fall auch per Post lösen. Es ist alles ganz leicht, nicht wahr?« »Leicht! Wenn ich doch nur den zehnten Teil Ihrer Intelligenz besäße, Bony.« »Geduld ist genauso viel wert wie Intelligenz. Sie müssen lernen, Schritt um Schritt voranzugehen. Und nun fahren Sie nach Merredin zurück. Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen. Bleiben Sie in Merredin. Sie werden bald von mir hören.« Am Tor des Depots blickte Bony lange prüfend nach Südosten. 151
»Wonach halten Sie eigentlich Ausschau?« wollte John Muir wissen. »Immer wieder müssen Sie Fragen stellen. Aber weil es für heute abend die letzte ist, will ich sie Ihnen beantworten. Ich betrachte den Himmel, ob er eine brennende Strohmiete reflektiert. Und nun gute Nacht!«
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W
ie Bony erwartet hatte, weigerte sich Mrs. Loftus, die Strohmiete zu verkaufen. Das bedeutete allerdings nicht, daß die Farmersfrau ein schlechtes Gewissen hatte – das Stroh konnte ja bereits an die Landwirtschaftsbank übereignet worden sein. Vielleicht rechnete sie auch damit, daß im kommenden Jahr der Preis für Häcksel anzog. Für Inspektor Bonaparte aber blieben Mrs. Loftus und ihr Farmarbeiter nach wie vor verdächtig. Und obwohl er Hurley versichert hatte, genau zu wissen, wo die Leiche von George Loftus versteckt sei, konnte er nicht einmal beweisen, daß der Farmer tot war. Hätte sich Mr. Jelly nicht so auffallend für den Fall Loftus interessiert, würde Bony die weiteren Ermittlungen Sergeant Muir übertragen haben und nach Brisbane zurückgekehrt sein. Aber er hatte Lucy Jelly das Versprechen gegeben, nichts gegen ihren Vater zu unternehmen, falls sich herausstellen sollte, daß er etwas Unrechtes getan hatte. Deshalb konnte er den Fall im augenblicklichen Stadium nicht an John Muir übergeben, der die Ermittlungen dann auf seine Weise abgeschlossen hätte. Bony besaß immerhin das Duplikat eines Schlüssels, der in einem Schreibtischbein versteckt war. Außerdem hatte er an diesem Morgen aus Perth das Gutachten über die drei Haare erhalten: ein langes Haar aus Mrs. Loftus’ Haarbürste, ein kurzes von ihrem Kopfkissen, und ein zweites kurzes Haar von Mick Landons Kamm. Die Kriminaltechniker hatten festgestellt, daß die beiden kurzen Haare von ein und derselben Person stammten – und zwar von einem Mann. Damit war erwiesen, daß Landon bei Mrs. Loftus geschlafen hatte. Gleichzeitig aber wurde auch die von Mr. Jelly geäußerte Ansicht untermauert, George Loftus sei überraschend in der Nacht nach Hause gekommen, 153
habe die beiden in flagranti ertappt und sei bei dem darauffolgenden Streit umgebracht worden. Am Morgen nach der Abreise des Sergeanten berichtete Hurley, was er auf der Loftus-Farm erlebt hatte. Landon war mit der Erntemaschine auf dem Feld, Miss Waldron war mit dem Wagen nach Merredin gefahren, so daß Mrs. Loftus allein anwesend war. Als Hurley die Farmersfrau beiläufig gefragt hatte, ob sie die Strohmiete verkaufen wollte, war sie zunächst erschrocken, hatte sich aber rasch wieder in Gewalt gehabt und geantwortet, daß sie nicht die Absicht hätte. Sie wollte unbedingt wissen, wer sich für das Stroh interessiere, doch Hurley gab ihr keine Auskunft. Er meinte vielmehr, er wollte zu einem Farmer weiter im Süden fahren, der noch zwei Strohmieten vom vergangenen Jahr stehen habe, worauf Mrs. Loftus erleichtert aufatmete. Doch dann gab sie sich eine Blöße und verriet, wie sie in Wirklichkeit über Bony dachte – dem sie am Sonntag mit übergroßer Freundlichkeit begegnet war. »Ich will Ihnen einen Rat geben, Eric«, hatte sie zu Hurley gesagt. »Führen Sie Ihre Bekannten nicht bei Ihrer besten Freundin ein. Einer von ihnen kümmert sich jetzt reichlich viel um Lucy. Das kann sich ein Grenzreiter nicht leisten, dafür ist er zu lange unterwegs.« »Der alte Herr ist immer noch nicht zurück«, schloß Eric grinsend, um zu dokumentieren, daß Mrs. Loftus’ Querschuß auf ihn keinen Einfluß gehabt hatte. »Ich darf Ihnen von Lucy bestellen, daß sie und Sunflower uns heute abend um sechs zum Tee erwarten.« »Das ist wunderbar«, erwiderte Bony. »Ich nehme die Einladung mit Vergnügen an.« »Gut! Ich bin heute den ganzen Tag draußen – habe noch drei Sonntage auszugleichen. Ich hole Sie gegen fünf ab. Machen Sie also rechtzeitig Schluß!« Bony lächelte. »Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, daß ich keinen Sonntagsausgleich zu beanspruchen habe. Ich arbeite fürs Kaninchenamt, und wenn ich mich nicht unverzüglich auf die Socken mache und frühstücke, komme ich zu spät zur Arbeit.« Hurley seufzte. »Wenn ich doch Ihr Mundwerk hätte. Sagen Sie Mama Poole, daß ich um acht zum Frühstück komme.« 154
Bony verließ das Depot, marschierte mit langen Schritten die Main Street entlang. Am Bahnhof warteten bereits neun Lastwagen darauf, entladen zu werden. Am Schwarzen Brett des Postamts leuchtete ein Zettel. Die roten, mit der Hand gemalten Buchstaben machten Bony neugierig, und er trat näher. Der Anschlag verkündete, daß am kommenden Samstag eine Versammlung des Verbandes der Weizenfarmer abgehalten würde. Alle Mitglieder wurden aufgefordert, daran teilzunehmen. Unterschrieben hatte der Verbandssekretär für Burracoppin: Mick Landon. Als Bony weiterging, hatte er es nicht mehr so eilig. Am nächsten Samstag ist Mick Landon also beim Farmertreffen in Burracoppin! dachte er. Ob Mrs. Loftus ihn begleiten wird? Schließlich war sie als Verbandsmitglied stimmberechtigt, und deshalb war mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß sie die Versammlung besuchte. Miss Waldron würde dann gewiß auch mitkommen, denn nach allem, was geschehen war, dürfte sie viel zu ängstlich sein, allein auf der Farm zurückzubleiben. »Sie können sehr geschickt mit Nadel und Faden umgehen, Miss Jelly«, sagte Bony, als er nach dem Tee mit Lucy auf der Veranda Platz genommen hatte, während Hurley in der Küche Sunflower beim Geschirrspülen half. »Ja, in dieser Hinsicht bin ich nicht ungeschickt.« Lucy lachte. »Gefällt Ihnen dies?« Bony, der Mrs. Saunders zugesehen hatte, die einen Rosenbusch goß, blickte zu dem Schmuckdeckchen, das auf dem Schoß des Mädchens lag. Die Sonne stand tief am Horizont, doch das dumpfe Brummen der Erntemaschinen hing immer noch in der Luft. »Wirklich sehr hübsch«, meinte Bony mit einem aufmunternden Lächeln. »Gewiß gehört eine lange Praxis dazu, eine so schöne Arbeit fertigzubringen.« »Das Deckchen ist nahezu fertig. Raten Sie einmal, für wen es bestimmt ist.« »Für Eric?« »O nein! Man schenkt einem Mann doch kein Zierdeckchen.« »Dann ist es gewiß für Mrs. Saunders bestimmt. Wenn das auch wieder falsch ist, gebe ich es auf.« 155
»Nein, es ist nicht für Mrs. Saunders. Ich mache das Deckchen für Ihre Frau.« »Für Marie?« »Jawohl. Ob es ihr wohl gefallen wird?« »Aber natürlich wird es ihr gefallen«, rief Bony erfreut. »Eine derat schöne Decke besitzen wir nicht. Solch eine kunstvolle Handarbeit kann man ja nicht kaufen. Und ob sich meine Frau darüber freuen wird. Wirklich sehr freundlich von Ihnen!« Bonys blaue Augen leuchteten, und er war froh, dieser jungen Frau helfen zu können. »Ich möchte Ihnen auf diese Weise unseren Dank ausdrücken«, fuhr Lucy fort. »Gleichzeitig soll Sie dieses Deckchen an uns erinnern, wenn Sie wieder zu Hause sind. Werden Sie uns schon bald verlassen?« »Wahrscheinlich schon sehr bald.« Nachdenklich blickte er über die weite Ebene zu den fernen, grüngesprenkelten Sandhügeln, auf deren Rücken sich zerzauste Baumgruppen erhoben. »Können Sie mir schon sagen, wann Sie abreisen?« meinte Lucy. »Sehen Sie, ich möchte das Deckchen nämlich fertig haben, damit Sie es mitnehmen können.« »Ich werde in Burracoppin bleiben, bis ich herausgefunden habe, warum Ihr Vater diese merkwürdigen Reisen antritt – und das dürfte der Fall sein, sobald er wieder ein Telegramm erhält. Hätten Sie eigentlich Lust zu einem kleinen Abenteuer?« Lucy Jelly starrte den Inspektor aus großen Augen an. »Und was wäre das für ein Abenteuer?« fragte sie. »Ich brauche jemanden, der gut mit Nadel und Faden umgehen kann«, erklärte er bedächtig. »Unglücklicherweise bin ich in dieser Hinsicht sehr ungeschickt. Ich erzählte Ihnen doch, daß auf Ihren Vater geschossen wurde. Nun weiß ich, daß Sie sich den Kopf zerbrochen haben, was ich zu diesem Zeitpunkt auf der Loftus-Farm gemacht haben könnte. Ich habe, lange bevor Mrs. Loftus mit ihren Leuten von dem Tanzabend heimkehrte, das Haus gründlich durchsucht. Dabei fand ich einige interessante Dinge und entdeckte auch ein kleines Geheimnis, das mir seither keine Ruhe gelassen hat. Ich entdeckte nämlich, daß Mrs. Loftus’ Matratze aufgeschnitten worden war, dann hat man etwas darin versteckt und die Stelle wieder säuberlich 156
zugenäht. Ich konnte die Naht nicht einfach aufschneiden, denn ich wäre nicht imstande gewesen, alles wieder sauber zu vernähen. Ich konnte die Matratze aber auch nicht an einer anderen Stelle aufschneiden, denn das hätte Mrs. Loftus ebenfalls gemerkt. Sie darf aber keinesfalls erfahren, daß ich in ihrem Haus gewesen bin. Dann fielen Sie mir ein. Ich könnte die Naht aufschneiden und nachsehen, was in der Matratze versteckt ist, und dann vernähen Sie alles wieder sauber.« »Aber was würde Mrs. Loftus dazu sagen?« gab Lucy zu bedenken. »Sie würde es doch überhaupt nicht erfahren. Wir würden am nächsten Samstag hinfahren, wenn sie, ihre Schwester und Mick Landon die Farmerversammlung in Burracoppin besuchen. Wir haben dann schätzungsweise drei Stunden Zeit, also mehr als genug.« »Es ist sehr wichtig, daß Sie erfahren, was in der Matratze versteckt ist?« »Wenn es nicht wichtig wäre, würde ich nicht im Traum daran denken, Ihre Hilfe zu erbitten.« »Natürlich – entschuldigen Sie meine dumme Frage.« Lucy nagte an der Unterlippe. »Ich helfe Ihnen. Wie stark war denn das Garn? Es war doch sicher weiß?« »Wie stark?« »Nähgarn ist nach Nummern eingeteilt. Die Matratze ist gewiß aus kräftigem Material, also wird sie vierziger Garn verwendet haben. Es war doch Nähgarn – oder war es weiße Nähseide?« Bony lächelte. »In dieser Hinsicht bin ich ein hoffnungsloser Laie. Ich glaube, Mrs. Loftus hat weißes Garn verwendet – keine Nähseide. Aber die Nummer –« »Ich werde verschiedene Nummern mitnehmen, und auch mehrere Nadelgrößen. Auch etwas Nähseide, denn sie ist vom Nähgarn kaum zu unterscheiden.« »Aber es würde doch wohl Mrs. Loftus nicht auffallen, wenn Sie eine andere Nummer verwenden als sie selbst?« meinte Bony stirnrunzelnd. »Einer Frau könnte das durchaus auffallen, und Mrs. Loftus ist intelligent. Wenn Sie wollen, daß ich alles wieder so vernähe, wie es war 157
– dann muß es auch eine gute Kopie werden. Um welche Zeit brechen wir auf?« »Sie wollen mich also wirklich begleiten?« »Ja. Steht Mrs. Loftus in einem ganz bestimmten Verdacht? Ich werde kein Sterbenswörtchen verraten, Mr. Bony.« »Ich glaube, daß sie den Schlüssel des Geheimnisses in Händen hält. Und ich glaube auch zu wissen, wo George Loftus steckt – und seine Frau dürfte es auch wissen.« »Wirklich?« Lucy riß die Augen auf. »Glauben Sie, daß es Vater auch weiß?« »Diese Frage kann ich Ihnen nicht eindeutig mit Ja beantworten. Ich habe keine Ahnung, warum er sich so sehr für das Verschwinden von George Loftus interessiert. Vielleicht glaubt er, die Polizei habe den Fall ad acta gelegt, und nun spielt er Privatdetektiv. Es kann natürlich auch sein, daß sich etwas im Haus von Loftus befindet, was er dringend haben möchte. Dann hätten wir auch eine Erklärung, warum er in der Nacht dort herumgeschlichen ist. Ich werde klarer sehen, sobald er das nächste Telegramm erhält – dann werde ich nämlich wissen, wer der Absender ist, und damit kann ich auch den Grund für die Reisen feststellen. Ich werde Eric in unser Vorhaben einweihen. Wir benötigen seine Unterstützung. Hallo Sunflower! Haben Sie mit Erics Hilfe das Geschirr gespült?« »Das geht bei uns sehr schnell. Wir unterhalten uns bei der Arbeit. Lucy und Mrs. Saunders können sich nicht unterhalten, wenn sie arbeiten«, erklärte das Mädchen, dann sah sie, daß ihre Schwester protestieren wollte. »Na bitte, was habe ich gesagt? Seit Sie beide hier auf der Veranda sitzen, hat sie kaum fünf Stiche gemacht. Sie kann eben nicht arbeiten und sich gleichzeitig unterhalten.« »Sie haben scharfe Augen«, meinte Bony bewundernd. »Tatsächlich? Na, ich wünschte, sie wären so scharf wie Ihre.« »Das ist alles nur Übung, Sunflower. Man muß sich angewöhnen, scharf zu beobachten. Was haben Sie beide heute nachmittag unten am Staubecken gemacht?« Sunflower errötete. »Woher wissen Sie, daß wir dort waren?« 158
»Ich nehme an, daß Sie gebadet haben. An Ihren Schuhen sind nämlich schwache Lehmspuren, und diesen Lehm findet man unten am Staubecken.« Nachdem das allgemeine Gelächter abgeebbt war – Mrs. Saunders und Eric waren ebenfalls auf die Veranda gekommen–, fragte Sunflower zwinkernd, ob Bony nicht Lust habe, ein Kartenspielchen zu machen. Der Inspektor nickte, denn er hatte sofort verstanden, warum der Vorschlag gemacht wurde, und folgte Sunflower und Mrs. Saunders in die Wohnküche. Lucy und Eric aber brachen auf zu einem Dämmerspaziergang. Über eine Stunde lang spielten die drei Euchre, dann schlugen plötzlich die Hunde an, gleich darauf waren auf der Veranda Schritte zu hören, und Mick Landon erschien in der offenen Tür. »Guten Abend allerseits! Darf ich eintreten?« »Aber gewiß, Mr. Landon«, sagte Sunflower höflich, aber kühl. »Möchten Sie nicht mitspielen?« Landon trug eine scharfgebügelte Gabardinehose, ein weißes Hemd mit offenem Kragen, die Ärmel zurückgerollt, und weiße Tennisschuhe. Er setzte sich an den Tisch. »Ich wollte eigentlich mit Eric sprechen. Er ist nicht da?« »Es gibt bald Essen, dann kommt er zurück«, erwiderte Mrs. Saunders, die gerade die Karten gemischt hatte und austeilen wollte. »Dann möchte ich warten, wenn Sie nichts dagegen haben. Inzwischen kann ich mich ja an Ihrem Spielchen beteiligen.« Selbstsicher wie immer nahm Landon die Karten auf, lächelte Sunflower an und nickte Bony freundlich zu. Er fragte Mrs. Saunders, wie sie die Hitze vertrüge, und Sunflower, ob ihr der Tanzabend in Jillbadgie Hall gefallen habe. »Bis März ist es nun vorbei mit der Tanzerei«, meinte er bedauernd. »Während der Sommermonate ist es zu heiß dazu, meinen Sie nicht auch?« »Allerdings«, pflichtete Mrs. Saunders bei. »Außerdem sind die Leute viel zu müde, wenn sie den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet haben. – Da bellen die Hunde. Lucy wird mit Eric zurückkommen.« Wenige Sekunden später traten die beiden ein. »Mr. Landon möchte mit Ihnen sprechen, Eric«, verkündete Sunflower. 159
»Guten Abend, Miss Jelly. Hallo, Eric!« »Weshalb möchten Sie mich sprechen?« fragte Hurley und warf ungeschickterweise Bony einen schrägen Blick zu. Landon legte die Karten nieder und sah den Grenzreiter an. »Mrs. Loftus sagte mir, daß Sie gestern ein Angebot für die Strohmiete gemacht haben. Nun sahen wir, daß Sie heute abend mit Bony zu den Jellys fuhren, und da bat sie mich, einmal zu hören, ob Sie schon einen Kauf tätigen konnten.« »Hm – nein, noch nicht.« »Sie haben zwei Pfund geboten?« »Ja«, antwortete Hurley steif. »Glauben Sie, daß Ihr Auftraggeber noch etwas höher gehen würde?« Bony blickte auf die Zigarette, die er gerade drehte, doch er spürte, wie Hurley erneut hilfesuchend zu ihm herübersah. »Vielleicht geht er noch etwas herauf mit dem Preis«, sagte Hurley zögernd. »Was verlangt Mrs. Loftus denn?« »Nun ja, sie möchte eigentlich überhaupt nicht fordern«, meinte Landon gedehnt, und Bony wußte, daß er nur bluffte. »Es kommt darauf an, was Ihr Interessent bietet. Mrs. Loftus ist nicht scharf darauf, das Stroh zu verkaufen. Aber sie ist natürlich eine gute Geschäftsfrau, und bei einem entsprechenden Preis –« Landon legte eine Kunstpause ein. »Zum Beispiel drei Pfund pro Tonne.« Hurley brauchte nicht erst zu Bony blicken. Drei Pfund – dieser Preis war unannehmbar hoch. Der Grenzreiter wußte allerdings nicht, was Bony wußte: daß absichtlich ein überhöhter Preis gefordert wurde. »Nur ein Narr würde drei Pfund bezahlen, Mick.« »Natürlich.« Landon zuckte die Achseln. »Wie gesagt, Mrs. Loftus liegt an sich nichts an einem Verkauf. Aber bei einem anständigen Preis würde sie es sich selbstverständlich überlegen. Wer ist denn Ihr Auftraggeber?« »Er bat mich ausdrücklich, seinen Namen nicht zu nennen.« »Vielleicht kann ich mir denken, wer es ist?« »Das glaube ich nicht.« »Vielleicht George Loftus?« 160
Landons blaue Augen funkelten Hurley an. Statt eine Gegenfrage zu stellen, wie es der erfahrene Bony getan hätte, verneinte der Grenzreiter. »Dann Mr. Jelly?« Jetzt erkannte Hurley, daß Mick Landon auf diese Weise leicht zu viel erfahren konnte, und er machte seinen anfänglichen Fehler rasch wieder gut. »Ach – wissen Sie, es ist auch nicht Mr. Jelly. Es hat keinen Sinn, Mick: Ich wurde gebeten, den Namen nicht zu nennen, und wenn Mrs. Loftus nicht für zwei Pfund verkaufen will, dann versuche ich es bei einem anderen Farmer.« Landon erhob sich lächelnd. »Na schön, wenn Sie mir den Namen nicht verraten wollen.« Er wandte sich an Lucy. »Ist ihr Vater wieder mal abwesend?« »Ja, seit Sonntag«, erwiderte Lucy kühl. »Um welche Zeit denn?« »Ich glaube, Mrs. Loftus möchte wissen, wie es mit dem Stroh steht, Mr. Landon«, ließ sie ihn abblitzen. Landon lachte ungezwungen. Er war sich seiner Anziehungskraft auf Frauen bewußt. »Ich stelle heute eine Menge Fragen, wie?« meinte er. »Mr. Jelly ist ein seltsamer Mensch. Eines Tages wird er von diesen Reisen nicht mehr zurückkehren. Und jetzt darf ich mich verabschieden. Gute Nacht allerseits!« Lächelnd spazierte er davon. Bony folgte ihm, denn er wollte sichergehen, daß der Mann auch tatsächlich verschwand. »Haben Sie noch einmal jemanden erwischt, der bei Ihnen herumgeschlichen ist?« fragte er. »Nein. Ich glaube, der alte Loftus ist bedient.« »Sie denken immer noch, es war Loftus?« »Ich bin sogar überzeugt, seitdem ich gehört habe, daß er nicht mit dem Mann in Leonora identisch ist. Übrigens – haben Sie eine Ahnung, wer sich für eine Strohmiete interessiert?« »Nein, keine Ahnung«, antwortete Bony ohne Zögern. »Möchten Sie sich gern zehn Pfund verdienen?« »Warum nicht?« Bony lachte. »Ich habe Westaustralien reichlich satt und möchte endlich nach Queensland zurück.« 161
Landon packte Bony beim Arm. »Sie erhalten von mir zehn Pfund, wenn Sie herausfinden, wer die Strohmiete von Mrs. Loftus kaufen möchte. Nun, wollen Sie?« »Und ob!« erklärte Bony energisch. »Diese zehn Pfund sind leicht zu verdienen.«
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ie Farmerversammlung sollte um zwanzig Uhr dreißig im Gemeindesaal von Burracoppin beginnen. Um zwanzig Uhr war Bony mit allen Vorbereitungen fertig, der Loftus-Farm einen zweiten nächtlichen Besuch abzustatten. Bony war nach wie vor überzeugt, daß die Leiche von George Loftus unter der riesigen Strohmiete begraben war, und er rechnete damit, daß Mrs. Loftus das Stroh in Brand stecken würde, sobald sie hörte, daß sich jemand dafür interessiere. Die Leiche mußte ziemlich dicht am Boden liegen, denn die Strohmiete wurde gerade erst errichtet, als Loftus verschwand, und außerdem genau in der Mitte, damit der Verwesungsgeruch nicht bemerkt werden konnte. Es wäre eine Heidenarbeit, das ganze Stroh abzutragen, und außerdem würde dieses Verfahren allgemeines Aufsehen erregen. Es blieb also nichts übrig, als die Strohmiete anzuzünden und die Überreste der Leiche irgendwo zu verscharren. Bony war überzeugt, daß Landon und Mrs. Loftus dieses Verfahren wählen würden, sobald sie überzeugt waren, daß man die Suche nach George Loftus aufgegeben hatte. Mit seinem Kaufangebot hatte er gehofft, sie zu veranlassen, ihr Vorhaben vorzeitig auszuführen. Doch nichts war geschehen, seit Hurley das Kaufangebot gemacht hatte. Nicht einmal die Andeutung, daß Mr. Jelly der Unbekannte sein könnte, der sich für die Strohmiete interessierte, hatte die Aktion 162
beschleunigt, und Bony begann bereits zu zweifeln, ob die Leiche tatsächlich unter dem Strohberg begraben war. Nun hoffte der Inspektor, sich auf andere Art weitere Beweise zu beschaffen, die seinen Verdacht bestätigen würden. Vielleicht fand er diesmal das Kästchen, zu dem der Geheimschlüssel paßte. Wenn es nicht in der Küche versteckt war, hatte Mick Landon es vielleicht im Boden seines Zeltes vergraben. Um acht Uhr hatte der scheidende Tag am westlichen Horizont nur noch einen purpurroten Streifen hinterlassen. Im Norden und im Nordwesten zuckten Blitze aus den aufgetürmten Wolken, doch der kaum wahrnehmbare Donner verriet, wie weit entfernt das Gewitter stand. Hurley saß mit dem Inspektor an der nach Süden führenden Straße auf der sandigen Anhöhe, die sich zwischen der Old York Road und der Loftus-Farm befand. Aus dem Fenster des Farmhauses fiel ein Lichtschein. Hurleys Motorrad lag auf der anderen Seite des Kaninchenzauns, zwischen Büschen versteckt. Die beiden Männer hatten die Maschine bereits am Vormittag mit dem Lastwagen an diese Stelle gebracht, denn auf der Loftus-Farm hätte man leicht mißtrauisch werden können, wenn am Abend auf der Anhöhe ein Motorrad gehalten hätte. Bony hatte alle entstandenen Spuren verwischt, und außerdem hatten sie noch drei Zaunpfähle erneuert, um ihren Aufenthalt zu motivieren. Es war also alles getan worden, kein Mißtrauen zu erregen, denn sonst wäre es leicht möglich gewesen, daß Mrs. Loftus zu Hause geblieben wäre. Bony und Hurley warteten darauf, daß Mrs. Loftus mit ihren Leuten endlich aufbrach. Zwanzig Minuten nach acht leuchteten dicht beim Haus Scheinwerfer auf, und kurz darauf rollte der Wagen über den unebenen Zufahrtsweg zum Tor. Hurley versteckte sich am Zaun, Bony auf der anderen Straßenseite hinter einem Busch, so daß sie genau beobachten konnten, wie viele Personen im Auto saßen. »Landon saß am Steuer«, meldete Hurley, als die roten Schlußlichter des Wagens in der Ferne verglühten. »Die beiden Frauen saßen auf dem Vordersitz neben ihm. Im Fond saß niemand.« »Das deckt sich mit meiner Beobachtung – ich konnte allerdings von meiner Position aus den Fahrer nicht erkennen«, erwiderte Bony. »Wir wollen jetzt noch eine Viertelstunde warten.« 163
Es vergingen sogar fünfundzwanzig Minuten, bevor die beiden Männer das Motorrad zur Straße schoben. »Sie fahren jetzt los, Eric«, sagte Bony. »Ich erwarte Sie dann am Farmtor.« Nachdem Hurley davongeknattert war, um Lucy Jelly abzuholen, schulterte Bony zwei Zuckersäcke und marschierte die Anhöhe hinab. Er begegnete drei Wagen, die mit hoher Geschwindigkeit nach Burracoppin fuhren – offensichtlich Farmer, die an der Versammlung teilnehmen wollten. Es war fünf Minuten vor neun, als Eric mit Lucy eintraf. »Sind Sie immer noch bereit, mir zu helfen, Miss Jelly?« fragte Bony, als sie vom Soziussitz kletterte. »Ja. Ich habe Nadel, Faden und Schere mitgebracht.« »Es wird nicht lange dauern. Eric, Sie heben Lucy über den Zaun. Ich klettere zuerst hinüber, denn der Stacheldraht ist nicht ungefährlich.« »Nachdem sie den Kaninchenzaun überwunden hatten, führte Bony seine beiden Begleiter zum Farmtor, das weit offenstand. Bevor sie hindurchschritten, versteckten sie sich zwischen den niedrigen Büschen. Bony öffnete zunächst den einen Zuckersack und nahm drei Rollen Bindfaden heraus. Er bat Hurley, ein Ende an seinem Handgelenk zu befestigen, denn der Grenzreiter sollte mit Hilfe dieser Leine ein Signal geben können. »Sobald ich im Haus bin, werde ich die Leine straff ziehen«, erklärte der Inspektor. »Anschließend reiße ich dreimal an der Leine, und wenn die Luft rein ist, ziehen Sie ebenfalls dreimal an der Leine. Sie, Miss Lucy, kommen dann sofort zu mir. Sie werden diese eleganten Schaffellschuhe anziehen und sich auf dem Stoppelfeld halten. Sollte jemand durch das Farmtor kommen, ziehen Sie die Leine an, Eric – auf diese Weise werde ich gewarnt. Sie halten dann alles bereit, daß wir schleunigst den Rückzug antreten können. Alles klar?« Bony schulterte den zweiten Zuckersack, nahm die beiden verbliebenen Rollen Bindfaden und machte sich auf den Weg. Er ließ die erste Rolle langsam abspulen, und als sie zu Ende war, knüpfte er die zweite Rolle an. Als er am Rande des Stoppelfeldes gegenüber dem Farmhaus ankam, war die dritte Rolle zur Hälfte abgespult. 164
Die drei Hunde bellten wütend, waren diesmal aber an ihre Hütten angekettet. Sie bildeten das größte Problem. Da Bony sie nicht vergiften wollte, mußte er sie mit einem Berg Rinderknochen besänftigen. Er ließ die Bindfadenrolle in der Nähe der Haustür liegen und ging furchtlos auf die Hunde zu, wobei er mit barscher Stimme auf sie einredete. Zwei beruhigten sich auch sofort, nur der dritte zerrte weiter an der Kette und kläffte wütend. Während die anderen beiden sich sofort schweifwedelnd über die Knochen hermachten, fuhr der andere weiter wütend auf Bony los. Bony suchte sich rasch einen Knüppel und prügelte auf den Hund ein, bis sich das Tier widerwillig knurrend in seiner Hütte verkroch. Nun herrschte Ruhe. Zunächst sah sich der Inspektor die Strohmiete an, konnte aber feststellen, daß kein Versuch unternommen worden war, etwas aus ihrem Innern herauszuholen. Dann ging er hinüber zum Haus. Die Tür besaß ein Yaleschloß, und Bony untersuchte die Fenster. Jemand – vermutlich Landon – hatte noch zwei zusätzliche Riegel angebracht. Trotzdem waren die Fenster schneller zu öffnen als das Yaleschloß, und eine halbe Minute später war Bony im Haus, ließ den Strahl der Taschenlampe durch die beiden Räume wandern. Er war nun in der Lage, von innen die Tür zu öffnen, ging hinaus und holte den Bindfaden herein. Er straffte ihn und zog dreimal. Unmittelbar darauf spürte er, wie Hurley auf die gleiche Art antwortete. Der Inspektor schnitt den Faden ab, machte eine Schlaufe und zog sie über den Henkel einer Waschschüssel, die er auf der schmalen Ostveranda anlehnte. Sollte Hurley ein Alarmsignal geben, würde die Schüssel laut klirrend umfallen, die Schlinge würde vom Henkel abrutschen, und der Grenzreiter konnte die Leine einholen. »Sehr aufgeregt?« fragte Bony, als Lucy Jelly zu ihm trat. »Gar nicht«, flüsterte sie zurück. »Sie können ruhig laut reden. Es ist niemand hier. Und es besteht auch kein Grund, nervös zu werden, denn Eric kann uns rechtzeitig warnen, falls jemand vorzeitig zurückkehrt. So, nun kommen Sie!« Er führte das Mädchen ins Haus und schloß die Tür, ließ aber das Fenster, durch das er eingestiegen war, auch weiterhin offen. Auf diese Weise konnten sie das Umfallen der Waschschüssel – das von Hurley gegebene Notsignal – nicht überhören. Im Schlafzimmer zog der In165
spektor sofort die Jalousie herunter, reichte dem Mädchen die Taschenlampe und zog am Fußende der Matratze das Leintuch zurück. »Nun, was halten Sie von dieser Naht, Miss Jelly?« »Sie hat Nähgarn Nummer vierzig verwendet«, erklärte sie sofort. »Gut, daß Sie die Naht nicht aufgetrennt haben, denn Sie hätten es niemals wieder richtig fertiggebracht. Ich bezweifle, daß ich es so gut kann wie Mrs. Loftus. Es wird mich mehr als eine halbe Stunde kosten, die Stelle auf diese Weise zu vernähen. Halten Sie doch bitte die Taschenlampe näher heran.« Bony warf einen kurzen Blick auf die Armbanduhr. Es war achtzehn Minuten nach neun. Die Farmerversammlung dauerte nun schon vierzig Minuten – und in vierzig Minuten konnte viel gesprochen und entschieden werden. »Schneiden Sie die Fäden durch und beeilen Sie sich!« Bonys Stimme klang ungewöhnlich scharf. »Vernähen Sie dann alles, so gut es geht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Hängen Sie die Lampe auf, damit Sie das Nähzeug halten können.« Der Inspektor befestigte die Taschenlampe mit einem Stück Bindfaden am Fußende des Bettes, so daß der Strahl unmittelbar auf die Naht fiel. Die Schere schnippte, die kurzen Fäden wurden sorgfältig aufgesammelt. Dann tasteten Bonys Finger vorsichtig in das Matratzeninnere. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein flaches weißes Päckchen. Dieses Päckchen war mit Nähgarn verschlossen. Der Inspektor ließ von Lucy den Faden durchschneiden, dann entfernte er mit geschickten Griffen das weiße Packpapier – ein Bündel Einpfundnoten kam zum Vorschein. Obenauf lag eine goldene Krawattennadel mit einem kleinen Mondstein. Bony steckte die Nadel in den Kragenaufschlag seines Jacketts und zählte das Geld. Es waren sechzig bankneue Einpfundnoten – alle mit der Seriennummer K/II. Der Inspektor verwahrte die Geldscheine sicher in seiner Brusttasche, wickelte ein vorbereitetes Bündel aus Zeitungspapier in das weiße Packpapier und schob das Päckchen in die Matratze zurück. »So, Miss Lucy, und nun ans Werk. Machen Sie schnell – versuchen Sie es, so gut es geht«, sagte Bony. 166
Mit geschickten Fingern führte das Mädchen die Nadel, zog zunächst die Naht zusammen, indem sie die ursprünglichen Löcher benützte. Fünfzehn Minuten vor zehn war sie mit dem Fischgrätenstich fertig, nun kam der Federstich. »Ich kann nichts mehr erkennen!« Sie stöhnte. »Kümmern Sie sich nicht mehr um die ursprünglichen Löcher. Kopieren Sie, so gut es geht«, riet Bony. Immer langsamer wurden die Bewegungen der schlanken Finger, und der Inspektor erkannte erst jetzt, wie schwer die Aufgabe war. Trotz der Zeitnot gelang es Lucy, die Arbeit von Mrs. Loftus ausgezeichnet nachzuahmen. »Wenn sie die Matratze nicht gerade hinaus ins helle Sonnenlicht bringt, dürfte sie nichts merken«, sagte das Mädchen, als sie mit der Arbeit fertig war. Sie richtete sich auf, und ihr Gesicht war blaß. Plötzlich drohten die Nerven zu versagen. Bony drückte ihre Hand. »Vielen Dank! Sie haben wunderbar durchgestanden. Bleiben Sie auch weiterhin ruhig. Es besteht kein Grund zur Nervosität. Wir haben noch genügend Zeit.« Er löste die Taschenlampe vom Fußende des Bettes, ließ den Strahl über die Wände und den Fußboden wandern. Er richtete ihn auf den Tisch und das Bild auf der Staffelei. »Es ist nicht hier«, murmelte er. »Was ist nicht hier?« »Ein kleines Kästchen, zu dem ein ganz bestimmter Schlüssel gehört. Bleiben Sie hier.« Bonys Stimme hatte die kehligen Laute der Eingeborenen angenommen, alle Nerven waren angespannt, als er mit seinen Schaffellschuhen in die Wohnküche schlich. Lucy folgte ihm zur Tür des Schlafzimmers, beobachtete ihn, wie er den Strahl der Taschenlampe umherwandern ließ. Sie wunderte sich, daß er die Jalousie nicht herunterließ, wie er es im Schlafzimmer getan hatte. Er untersuchte jetzt den Bücherschrank, nahm alle Bücher heraus, um festzustellen, ob eins vielleicht eine als Buch getarnte Kassette war. Anschließend stieg er auf einen Stuhl, betrachtete den Bücherschrank von oben, dann legte er sich flach auf den Boden und blickte unter den Schrank. Mit der Flatterhaftigkeit eines Schmetterlings suchte er das 167
kleine Kästchen, räumte sogar die Holzscheite aus dem Kohlenkasten. Schließlich richtete er den Lichtstrahl auf die Feuerstelle des Herdes. Die offene Feuerstelle nahm ungefähr ein Drittel des Kochherdes ein. Da man um diese Jahreszeit kein offenes Holzfeuer brannte, war der Ziegelboden der Feuerstelle mit rosa Seidenpapier bedeckt. Bony entfernte das Seidenpapier und untersuchte den Ziegelboden. Die Ziegel schienen durch Mörtel fest miteinander verbunden zu sein. Da alles mit weißer Kalkfarbe gestrichen war, konnte Bony die Fugen nicht erkennen. Er tastete die Ziegel ab und entdeckte, daß die mittleren drei locker waren. Das Mädchen schien er völlig vergessen zu haben. Mit zwei Schritten war er am Küchenschrank, holte aus dem Besteckkasten zwei kräftige Messer. Mit ihrer Hilfe zog er einen der Ziegel so weit nach oben, daß er ihn mit den Fingern greifen konnte, und nun ließ er sich ohne Mühe herausheben. Die anderen beiden Ziegel folgten, und der Strahl der Taschenlampe fiel in eine Höhlung, aus der ein lackierter Griff emporglitzerte. Bony faßte den Griff, holte mühelos eine viereckige Metallkassette heraus. Er betrachtete gerade das Schloß und wollte den Nachschlüssel aus der Tasche ziehen, um ihn auszuprobieren, als draußen auf der Veranda die Waschschüssel mit einem lauten Klirren umfiel. Blitzschnell knipste der Inspektor die Taschenlampe aus. Beim Klirren der Waschschüssel schrak Lucy zusammen, und ihre Hand fuhr zum Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Hurley hatte signalisiert – jemand mußte durch das Farmtor gekommen sein! Schwer lastete die Stille auf dem Mädchen. Es war kein Motorengeräusch zu hören, sie kamen also nicht im Wagen. Bony stand am Fenster, Kopf und Schultern hoben sich schwach gegen den dunklen Himmel ab. Dreißig Sekunden verstrichen – Lucy erschienen sie wie eine Ewigkeit –, dann war Bony plötzlich vom Fenster verschwunden. Jetzt bin ich allein! dachte sie verzweifelt. Und diese schrecklichen Leute kamen zurück. Sie spürte eine Berührung an ihrem Arm und wich erschrocken zurück. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Warmer Atem wehte um ihr linkes Ohr. 168
»Es ist jemand vor dem Haus«, flüsterte Bony. »Er ist über die Schnur gestolpert und hat dadurch den Alarm ausgelöst. Bewegen Sie sich nicht, und seien Sie ganz still. Keine Angst, ich bin ja bei Ihnen.« Beide starrten auf das dunkelgraue Rechteck des Fensters. Rechts davon war die geschlossene Tür. Die tiefe Stille lastete auf ihnen, und das schwache Motorengeräusch, das in weiter Ferne zu hören war, schien aus einer anderen Welt zu kommen. Ganz langsam wurde in der linken unteren Fensterecke eine runde Scheibe sichtbar. Lucy stand wie gelähmt, starrte aus großen Augen auf die seltsame Scheibe – und dann erkannte sie Nase, Lippen und Kinn. Einen Augenblick später war die Scheibe wieder verschwunden. Vor dem Fenster lauschte jemand! Die Hunde hatten nicht angeschlagen. Wenn die Waschschüssel nicht umgekippt wäre, hätte Bony überhaupt nicht gemerkt, daß sich jemand näherte. War es George Loftus? Oder Mick Landon? Bony erschauerte. Er war so sicher gewesen, daß die Leiche von George Loftus unter der Strohmiete begraben war!
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ühren Sie sich nicht«, flüsterte Bony dem Mädchen ins Ohr. Mit der lautlosen Geschmeidigkeit eines Tigers ging er bis auf zwei Meter an das Fenster heran. Er konnte die Sterne und im Osten eine schwarze Gewitterwolke erkennen. Das Stoppelfeld leuchtete gelblich. Unendlich vorsichtig schlich er näher ans Fenster, und mit jedem Schritt vergrößerte sich sein Blickfeld. Noch vier, noch drei – noch ein Schritt. Jetzt konnte er vor dem Haus den Rand des Stoppelfeldes erkennen. Weder auf dem Zufahrtsweg noch vor dem Farmtor waren die Scheinwerfer eines Autos zu sehen. Der Wagen, dessen Motorengeräusch vor wenigen Minuten zu hören gewesen war, mußte eine andere Straße benützt haben. 169
Jetzt herrschte vor dem Fenster eine genauso tiefe Stille wie im Haus. Und doch lauerte da draußen ein Mann. Aber die Hunde verhielten sich ruhig. Die Tatsache, daß die Hunde nicht ein einziges Mal gebellt hatten, gab zu denken. Bei der Ankunft des Unbekannten hätten sie in wütendes Gekläff ausbrechen müssen, doch sie waren völlig still – wie tot. Eins bedauerte Bony, als er reglos am Fenster stand: daß er seine Dienstpistole im Koffer gelassen hatte. Gewiß, er trug nur selten eine Waffe, verließ sich auf seinen Verstand und seinen Instinkt. Doch diesmal war er für die Sicherheit von Lucy Jelly verantwortlich, und er hatte ihr mehrmals beteuert, daß sie keine Angst zu haben brauchte. Nun machte er sich wegen seiner Nachlässigkeit größte Selbstvorwürfe. Rasch entschlossen trat er dicht ans Fenster, schob den Kopf mit äußerster Vorsicht hinaus. Er blickte nach rechts, nach links, nach unten – niemand lauerte vor dem Haus. Gegen das hellere Stoppelfeld hob sich schwarz der Geräteschuppen ab, und Bony hatte den Eindruck, als habe sich an seiner Ostseite für den Bruchteil einer Sekunde ein großer Schatten bewegt. Der Inspektor starrte weiter angestrengt in diese Richtung, und dann bemerkte er den Mann, der sich um die Hausecke schob. Unsagbar langsam zog sich Bony vom Fenster zurück, lehnte sich gegen den Eßtisch und wartete ab. Wenn ich doch nur meine Pistole hätte! dachte er. Hoffentlich verhält sich Lucy ruhig! Er erinnerte sich, daß auf dem Eßtisch eine große Vase mit Blumen gestanden hatte. Er tastete danach, zog die Blumen heraus, packte sie fest und blickte wieder zum Fenster. Es dauerte eine ganze Weile, dann erschien am Fensterrahmen eine Hand, befühlte das Fensterbrett. Gleich darauf verschwand die Hand wieder. Der Unbekannte hatte wohl nur feststellen wollen, ob das Fenster offen war. Bony rührte sich nicht, und auch Lucy, die zweifellos die Hand am Fenster gesehen haben mußte, verhielt sich sehr tapfer. Plötzlich wurde der Schlüssel in das Yaleschloß geschoben, die Tür flog auf. Mit lautem Krach schlug sie gegen einen Stuhl, der zwischen Tür und Fenster an der Wand stand. 170
»Jelly – kommen Sie raus!« befahl Mick Landon. Bony hoffte inständig, daß sich das Mädchen auch weiterhin still verhielt. Er selbst löste sich vom Tisch, stellte sich neben der Tür auf, packte die Vase mit beiden Händen, hielt sie über dem Kopf. »Mr. Jelly, hören Sie mich? Kommen Sie heraus!« kommandierte Landon erneut mit drohender Stimme. Da er seitlich an der Tür stand, konnte Bony ihn nicht sehen. Unsagbar langsam schlichen die Sekunden dahin. Weder Lucy noch Bony gaben den geringsten Laut von sich. Der Inspektor wußte genau, wie gefährlich Landon war, und er machte sich nochmals die heftigsten Vorwürfe, das Mädchen in diese Situation gebracht zu haben. Und nur, weil er noch den letzten Beweis sichern wollte, bevor er den Fall Sergeant Muir übergab. Dabei hätte man die Verdächtigen jederzeit festnehmen und eine Haussuchung vornehmen können. Urplötzlich stand Mick Landon mitten in der Tür. Bevor das Streichholz richtig aufflammen konnte, das er anzündete, hatte Bony bereits den Revolver gesehen. Er schleuderte die mit Wasser gefüllte Vase Landon ins Gesicht, sprang gleichzeitig vorwärts und packte die Hand, die den Revolver hielt. Er war so schnell zugesprungen, daß sich das Wasser auch über ihn ergoß, während die Vase mit lautem Krachen zwischen den beiden Männern zu Boden fiel. Mit einem betäubenden Knall löste sich ein Schuß. Bony war völlig taub, denn die Revolvermündung hatte sich dicht neben seinem Ohr befunden. Doch schon im nächsten Moment war sein Gehör wieder intakt, und als er Landons Arm umklammerte, schrie Lucy Jelly auf. Aber auch Mick Landon hatte nicht vergessen, was er auf der Polizeischule gelernt hatte. Jünger und kräftiger als Bony, löste er sich blitzschnell aus der Umklammerung, stieß mit dem linken Ellbogen nach dem Gesicht seines Widersachers und preßte die Revolvermündung in Bonys Magengrube. »So, nun habe ich Sie!« Er lachte brutal auf. »Die Hände über den Kopf, aber rasch!« »Mr. Bony!« jammerte Lucy und stöhnte. »Mr. Bony, ich bin verwundet.« »Wer ist da drin?« fragte Landon irritiert und pfiff plötzlich überrascht durch die Zähne. »Ach, du bist es, du schwarzer Schnüffler! Was suchst du denn hier?« 171
Bony sah deutlich das Weiß in Landons Augen. Er zweifelte keinen Augenblick, daß Landon George Loftus umgebracht hatte, und er würde deshalb auch nicht zögern, weitere Menschenleben auszulöschen, um diesen Mord zu vertuschen. Es hatte keinen Sinn, irgendwelche Ausflüchte zu machen – Bony mußte versuchen, Landon mit der Wahrheit zu überrumpeln. »Ich suche Sie, Landon, und Ihre Komplicin«, sagte der Inspektor ruhig, ohne den anderen auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. »Sie scheinen eine Menge zu wissen. Warum suchen Sie mich? Los, reden Sie!« »Ich suche Sie wegen Mordes, das ist doch klar – Sie und Mrs. Loftus. Ich habe Sie beide –« »Oh! Mr. Bony!« Ich blute so sehr. Kommen Sie doch. Können Sie mich nicht hören? Ich – ich kann überhaupt nichts mehr sehen.« »Wer ist da drin? Ich habe Sie schon einmal gefragt.« Die Stimme des Farmarbeiters klang nervös. »Das ist Miss Jelly, Landon. Sie haben ja selbst gehört – sie ist verwundet. Es muß passiert sein, als sich der Schuß gelöst hat. Wir müssen ihr helfen –« Der Inspektor setzte alles auf eine Karte. Blitzschnell fuhren seine erhobenen Hände nach unten, schlugen den Revolver nach links, während Bony gleichzeitig nach rechts sprang. Er bückte sich, griff nach den Beinen seines Gegners. Landon spürte, wie die Füße unter ihm weggerissen wurden. Er stürzte schwer zu Boden, doch seine Hand umklammerte nach wie vor den Revolver. Er schoß auf einen Schatten, verfehlte das Ziel, und im nächsten Moment sah er, daß jemand vom Geräteschuppen herübergelaufen kam. Eine zweite Gestalt näherte sich über das Stoppelfeld. Das war zuviel! Landon sprang auf, entwand sich Bonys Händen, raste zur Südveranda. Panik drohte ihn zu lähmen. Die Polizei hatte das Haus umstellt – er sah sich bereits dem Henker gegenüber. Bony verfolgte den Flüchtenden nicht, er dachte vor allem an die Verletzung seiner tapferen Assistentin. »Laßt ihn laufen!« rief er Inspektor Hurley und dem zweiten Mann zu, die inzwischen beim Haus angelangt waren. »Kommt mit – Miss Jelly ist verwundet. Schnell!« 172
Bony stürmte ins Haus zurück, riß ein ganzes Bündel Streichhölzer an und zündete die Tischlampe an. Als er sich umwandte, kam Hurley zur Tür herein, ihm folgte auf den Fersen Mr. Jelly. Lucy lag reglos und seltsam verkrümmt auf der Schwelle zum Schlafzimmer. Mr. Jelly stieß Hurley zur Seite, war mit einem Schritt bei seiner Tochter. Er hob sie auf und strich ihr zärtlich über das aschgraue Gesicht, während Bony mit der Petroleumlampe näher kam. Das Mädchen öffnete die Augen, erkannte das Gesicht des Vaters unter dem grauen Haarkranz. »Vater!« murmelte sie. »Es war so schrecklich dunkel. Dieser Landon hat auf mich geschossen. Der Revolver ging los – ich hatte das Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden.« »Du mußt jetzt tapfer sein«, sagte Mr. Jelly. Die Bluse des Mädchens war blutdurchtränkt. Ihr Vater nahm ihr die Schere ab, die sie noch immer in der Hand hielt, schnitt die Bluse am Hals auf. In diesem Augenblick vernahm Bony fernes Motorengeräusch. »Eric, bringen Sie diesen Wagen her!« befahl er. Während der Grenzreiter losstürmte, trat Bony zum Herd, wo er Taschenlampe und Kassette hatte liegenlassen. Die Taschenlampe bot ein helleres Licht als die Petroleumlampe. Bony entdeckte eine große Emailleschüssel und füllte sie aus dem Tank vor dem Haus mit Regenwasser. Schweigend setzte er die Schüssel neben den Farmer, der sich um seine Tochter bemühte, ging ins Schlafzimmer und riß das Bettlaken in Streifen, damit das Mädchen verbunden werden konnte. »Dieser niederträchtige Halunke! Er wird mir nicht entkommen, und dann werde ich dafür sorgen, daß er aufgehängt wird!« stieß Bony wütend aus, und Mr. Jelly musterte ihn verwundert. Eine volle Minute lang sah er dem Farmer schweigend zu, dann fragte er besorgt: »Ist sie schwer verletzt? Wird sie sterben?« »Gott sei Dank – nein«, antwortete Mr. Jelly, und Bony atmete erleichtert auf. »Es ist ein Schulterschuß. Ich fürchte, das Schulterblatt ist verletzt – aber das muß der Arzt feststellen.« Der Farmer machte kalte Kompressen, während Bony den Verband vorbereitete. Er suchte gerade Sicherheitsnadeln, als vor dem Haus ein Wagen scharf bremste. Wenige Sekunden später trat das Sinnbild Australiens mit zwei Männern zur Tür herein. 173
»Was ist los, Bob?« fragte er besorgt. »Landon hat sie angeschossen«, erwiderte Mr. Jelly barsch. »Das hat uns Hurley schon gesagt. Aber warum?« »Jetzt ist keine Zeit für dumme Fragen«, polterte Mr. Jelly los. »Sie muß schnellstens nach Hause gebracht werden. Mrs. Saunders kann sich um sie kümmern, wenn der Doktor da war. Los – helft uns, sie in den Wagen zu heben!« Mr. Jelly nahm auf dem Rücksitz Platz, hielt seine Tochter in den Armen. Als der Wagen davonrollte, wandte sich Bony an den Grenzreiter. »Eric, nehmen Sie Ihre Maschine und fahren Sie nach Merredin. Sergeant Westbury soll sofort kommen. Er soll einen Arzt mitbringen und Sergeant Muir. Und er soll sofort die Fahndung nach Mick Landon einleiten, damit er uns nicht entkommen kann. Aber fahren Sie, was Ihre Maschine hergibt, ja?« »Ich werde so schnell fahren wie noch nie in meinem Leben!«
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aut knatternd raste das Motorrad auf der Ostseite des Kaninchenzauns entlang. Bony lief zur Straße, hielt den ersten Wagen an, der sich näherte. Mit kurzen Worten erklärte er dem Fahrer, worum es ging, dann fuhren sie los, verständigten alle erreichbaren Farmer im Umkreis, die sich sofort bereit erklärten, Straßensperren zu errichten. Als Mrs. Loftus um zwanzig Minuten vor elf mit ihrer Schwester durch das Farmtor fuhr, stand die Strohmiete in hellen Flammen. Mrs. Loftus fuhr zur Rückseite des Hauses, trat hart auf die Bremse und starrte wie hypnotisiert in das Feuer. Haus, Stallungen und Schuppen leuchteten rot im Widerschein der Flammen. Die drei Hunde lagen vor ihren Hütten, schienen zu schla174
fen. Der schwache Südwind trieb Rauch und Funken zu einer gewaltigen, den Feuerschein widerspiegelnden Säule auf. »Aber wieso kann das Stroh in Brand geraten«, murmelte Miss Waldron fassungslos. »Das muß doch jemand angezündet haben!« »Sieht ganz so aus«, pflichtete Mrs. Loftus bei, während sie sich wunderte, warum Mick Landon nicht aus dem Haus kam. Die brennende Petroleumlampe bewies ja, daß er zu Hause war, und bei der Strohmiete konnte sie ihn nicht entdecken. Mit ihrem Wissen hatte Landon die Farmerversammlung vorzeitig verlassen. Er habe Kopfschmerzen, hatte er erklärt und sich von Fred nach Hause bringen lassen. Am Gattertor der Old York Road war er ausgestiegen. Er wollte das letzte Stück zu Fuß gehen, denn die frische Luft würde ihm guttun, hatte er behauptet. Auf diese Weise hatte sich Landon von der Nordostecke der Farm genähert, so daß Hurley ihn nicht hatte sehen können. Mrs. Loftus hatte ein ungutes Gefühl. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie sich einer Selbsttäuschung hingegeben hatte – daß das Glück, das sie sich geschaffen zu haben glaubte, trügerisch gewesen war. Sie stellte den Motor ab und stieg aus, ging um die Ecke zur Haustür. Miss Waldron folgte ihr auf den Fersen. »Hallo, Mick! Wo bist du?« rief Mrs. Loftus, als der Farmarbeiter immer noch nicht zu sehen war. Sie stand auf der Türschwelle und starrte auf die Scherben der Vase. Der Fußboden war naß, die Petroleumlampe stand am Ende des Tisches. Zwischen Tisch und Schlafzimmer stand auf dem Boden die Emailleschüssel – und dann entdeckten die beiden Frauen gleichzeitig das Blut und das blutgerötete Wasser in der Waschschüssel. Eiskalt überlief es Mrs. Loftus. Sie vernahm zwar den entsetzten Aufschrei ihrer Schwester, aber der schien aus einer anderen Welt zu kommen. Mick! Stammte dieses Blut von Mick? Wen mochte er im Haus überrascht haben, und was mochte ihm zugestoßen sein? Diese quälenden Fragen! Und doch hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie so eine eisige Ruhe verspürt. Ein sicherer Instinkt sagte ihr, daß die Geheimnisse, die dieses Haus geborgen hatte, nicht mehr vorhanden waren. Eine volle Minute starrte sie auf den geöffneten Herd, auf das rosa Seidenpapier und die herausgehobenen Ziegel. 175
Ohne auf die Fragen ihrer Schwester zu achten, drehte sie sich um, nahm die Lampe und ging ins Schlafzimmer. Steppdecke und Bezüge lagen auf dem Boden. Das zerrissene Bettzeug verriet – zusammen mit dem vielen Blut – deutlich, daß jemand schwer verletzt worden war. Zum erstenmal spürte Mrs. Loftus Angst – Angst um den Mann, den sie so leidenschaftlich geliebt hatte. Wo steckte Mick Landon? Die Matratze schien unversehrt. Trotzdem betrachtete sie die Naht genau, doch Lucy hatte gut gearbeitet – Mrs. Loftus konnte keinen Unterschied erkennen. Aber sie mußte wissen, ob das Schlimmste eingetreten war. Sie hatte längst geahnt, daß sie die große Reise würde antreten müssen. Und jetzt, wo der Augenblick gekommen war, flößte ihr der Gedanke daran keine Furcht ein, denn ihr geliebter Mick würde sie ja begleiten. Es schien, als sei sie plötzlich in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Miss Waldron hörte nicht auf, Fragen zu stellen, und Mrs. Loftus wurde sich bewußt, daß ihre Schwester nicht länger bei ihr bleiben durfte. Sie mußte sofort abreisen, bevor sie kamen – »Du siehst, es ist eingebrochen worden«, sagte die Farmersfrau mit ruhiger Stimme. »Sie sind verschwunden, nachdem sie mitgenommen haben, was sie suchten, und die Strohmiete haben sie auch noch angezündet. Die Polizei wird eine Menge Fragen stellen, aber dabei kann ich dich nicht gebrauchen – dazu muß ich allein sein. Du kannst heute auch nicht auf der Veranda schlafen. Du mußt sofort zu den Kingstons fahren!« »Aber Mavis – ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen«, widersprach Miss Waldron besorgt. »Wenn du mich wirklich gern hast, fährst du, ohne lange zu debattieren«, entgegnete Mrs. Loftus leise, und ihr hübsches Gesicht verriet Rührung. »Ich habe alles verkehrt gemacht. Hier siehst du, was aus meinem Leben geworden ist: ein heilloses Durcheinander! Fahre mit dem Wagen zu den Kingstons! Bitte, sage nichts mehr!« »Aber –« »Bitte!« Miss Waldron wich zurück vor dem wütenden Funkeln, das plötzlich in den Augen ihrer Schwester aufflammte. Furcht überkam sie, sie wich zurück zur Tür, hätte am liebsten laut geschrien, als ihre Schwe176
ster ihr folgte. Sie schluchzte auf, wurde hinüber zum Wagen gedrängt und in den Fahrersitz geschoben. »Auf Wiedersehen!« vernahm sie die Stimme ihrer Schwester. »Fahre zu den Kingstons! Sie sollen sich keine Sorgen um mich machen. Und komme nicht vor morgen nachmittag zurück!« »Gut, Mavis.« Der Wagen rumpelte den Zufahrtsweg entlang und durch das Farmtor. Miss Waldron war immer noch bestürzt und verwirrt, konnte nicht fassen, was plötzlich mit ihrer Schwester geschehen war. Mrs. Loftus blickte dem Wagen nach, sah, wie die Schlußlichter immer kleiner wurden, wie das Auto in die Landstraße einbog. Da legte sich ein Schraubstock um ihren Arm. »Wohin ist sie gefahren? Hast du denn nicht gehört, wie ich gerufen habe?« fuhr Landon sie an. »Mit dem Wagen hatten wir noch eine Chance – warum hast du ihn ihr überlassen?« »Mick! Was hat das alles zu bedeuten?« Mrs. Loftus fühlte sich plötzlich sicher und geborgen. »Es bedeutet – ach, komm ins Haus. Oder ist jemand drin?« Sie klammerte sich an ihn, ihre Kehle krampfte sich zusammen, und sie spürte nicht, daß Landon sie grob ins Haus stieß. Der Farmarbeiter schlug mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Seine Augen waren blutunterlaufen, sehr groß und starr. Noch nie hatte die junge Frau den Mann so gesehen – er schien wie von Sinnen. »Was es zu bedeuten hat?« polterte er los. »Es bedeutet, daß das Spiel aus ist. Sie scheinen zu ahnen, daß Loftus unter der Strohmiete liegt. Auf jeden Fall habe ich sie angezündet, als Bony und die anderen abfuhren. Ich überraschte Bony hier im Haus. Zwei andere wollten mich in Empfang nehmen, aber ich kam etwas zu früh. Bony ist tatsächlich ein Tracker – ein amtlicher Polizeitracker. Ich muß verschwinden. Ich habe noch eine Chance, wenn du den Mund hältst. Ich brauche das Geld – und die Kassette, um sie an einer anderen Stelle zu verstecken.« »Du willst mich doch nicht verlassen, Mick?« Mrs. Loftus war kreidebleich. 177
»Natürlich muß ich dich verlassen. Ich muß versuchen, über die Staatsgrenze zu entkommen. Es hat doch keinen Sinn, wenn sie uns beide erwischen. Ich hole jetzt die Kassette, und du holst das Geld.« »Die Kassette ist verschwunden, du Idiot! Das Niederbrennen der Strohmiete rettet uns auch nicht mehr. Wer ist eigentlich verletzt worden?« »Dann haben sie die Kassette!« Landon starrte die junge Frau ungläubig an. »Jawohl, sie haben die Kassette mitgenommen«, rief sie, und Verzweiflung überkam sie. »Nun, sie wissen ja ohnehin alles. Ich brauche das Geld. Dir nützt es doch nichts mehr. Ich muß verschwinden, bevor sie zurückkommen. Sie bringen jetzt das Mädchen nach Hause. Ich war oben auf dem Felsen, als sie sie in den Wagen gepackt haben.« »Mädchen – welches Mädchen?« »Lucy Jelly. Sie war mit Bony hier. Er sprang mich an, und da löste sich ein Schuß. Dabei wurde sie verwundet.« Landon riß ein Messer aus dem Küchenschrankkasten, stürmte ins Schlafzimmer. Mrs. Loftus folgte ihm mit der Petroleumlampe. Sie stellte sie auf dem Schreibtisch ab und lachte schrill. »Du Narr, Mick! Welche Chance hast du noch, wenn sie bereits die Kassette besitzen?« Erneut lachte sie, und diesmal klang das Lachen spöttisch. »Lucy Jelly war also hier! Dann hol dir doch das Geld, Mick. Du kannst alles haben. Und mich darfst du zurücklassen, damit ich alles allein ausbade. Du dummer Mick!« »Hör auf!« brüllte er, als sie erneut lachte. »Ich kann mir nicht helfen, Mick. Du kommst mir vor wie ein Karnickel, das zusammen mit einem Frettchen in einen Käfig gesperrt wurde.« Mit einem kräftigen Schnitt schlitzte Landon die Matratze auf. Er fuhr mit der Hand hinein, fand das Päckchen, betrachtete es kurz und schob es in die Tasche. Wieder gellte das Lachen von Mrs. Loftus durch das Zimmer. »Sieh doch hinein! Kapierst du eigentlich nicht, warum sie Lucy Jelly mitgebracht haben?« 178
Landon starrte die Frau an, zog das Päckchen aus der Tasche. Er riß das weiße Papier herunter: Zeitungspapier, auf die Größe von Geldscheinen zurechtgeschnitten! Seine Hand wurde schlaff, die Papierfetzen flatterten zu Boden. »Wo hast du das Geld?« fuhr er auf die Frau los, und jetzt ließ er die letzte Maske fallen: Er war ein selbstsüchtiger Feigling. »Kapierst du immer noch nicht, daß Lucy Jelly die Matratze wieder zunähen mußte, nachdem sie das Geld herausgeholt hatten?« »Nicht Jelly hat die Kreuze mitgenommen, als wir in Jilbadgie Hall waren – es war Bony! Ich erinnere mich jetzt, daß ich ihn stundenlang nicht gesehen habe. Er war hier und entdeckte das Päckchen in der Matratze, aber er erkannte sofort, daß er eine so kunstvolle Naht nicht fertigbringen würde. Aus diesem Grund brachte er heute das Mädchen mit. Aber wieso er George unter der Strohmiete entdecken konnte, ist mir schleierhaft. Sie boten uns nur deshalb einen guten Preis für das Stroh, weil sie genau wußten, daß wir nicht verkaufen würden. Du wolltest die Miete gleich in Brand stecken, aber ich habe Bluff mit Bluff beantwortet. Doch was nützt es uns noch? Es hat keinen Sinn davonzulaufen. Sie werden dich auf jeden Fall erwischen!« »Mich werden sie nicht erwischen«, murmelte er trotzig, dann nahm seine Stimme einen flehenden Klang an. »Du liebst mich doch, Mavis, ja? Warum willst du mich in die Sache hineinziehen? Du brauchst doch nur zu sagen, daß George in der Nacht betrunken nach Hause kam und dich tätlich angegriffen hat. Es war Notwehr. Mich kannst du auf diese Weise völlig aus dem Spiel lassen.« »Ich dich lieben! Ich habe mir eingebildet, einen Mann zu lieben – aber es war ein Feigling. Lauf doch! Renne davon! Bony wird dich trotzdem erwischen. Er ist kein gewöhnlicher Polizeitracker, er ist ein gerissener Kriminalbeamter.« »Wenn sie mich erwischen, dann werde ich dafür sorgen, daß du gehängt wirst!« Keine Spur mehr von Liebe, nur noch abgrundtiefer Haß! Unwillkürlich wichen beide voreinander zurück. »O nein, mich werden sie nicht hängen«, sagte die Frau und lachte höhnisch auf. »Meine Vorfahren waren Pioniere – aber du stammst aus der Gosse!« 179
Sie trat an die Staffelei, zog aus einer Vertiefung des Rahmens eine Ampulle. Dann blickte sie Landon aus funkelnden Augen an. »Du würdest mit dem Geld davonlaufen, wie? Ich aber dürfte alles ausbaden, soll auch noch lügen, um dich vor deinem Schicksal zu bewahren. Wenn ich sterbe, wirst auch du der Mittäterschaft bei der Ermordung meines Mannes überführt. Mord – ein schönes Wort! Du elende Memme! Dir fehlt der Mut, mir auf dem Weg zu folgen, den ich jetzt gehe. Aber man wird dich mir nachschicken, Mick – das steht fest.« Reglos sah Landon zu, wie sie die Ampulle in den Mund schob und zerbiß. Da machte er kehrt, rannte aus dem Haus und hetzte im Widerschein der roten Glut auf den großen Felsen zu.
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ie Sonne kletterte über den Horizont, erhellte den Himmel über der Loftus-Farm. Kein Lüftchen regte sich, und die Rauchsäule von der immer noch glimmenden Strohmiete stieg kerzengerade in die Höhe, bauchte sich zu einem schneeweißen Pilz. Aber niemand hatte Augen für die Schönheiten der Natur. Trotz der frühen Morgenstunde kamen von allen Richtungen die Männer mit ihren Autos und Lastwagen nach Burracoppin, denn Bony hatte während der Nacht die Farmer des Bezirks alarmiert. Da es eine Weile dauern würde, bis die notwendigen Polizeiverstärkungen eintrafen, hatte er den Farmern offen erklärt, worum es ging. Auf diese Weise war Landon jeder Fluchtweg abgeschnitten. Eine Gruppe von zwölf Männern stand auf dem langen Granitfelsen, der sich westlich der Loftus-Farm erhob. Die Männer beobachteten interessiert, wie Bony das moosbewachsene Gelände zwischen dem Felsen und dem angrenzenden Busch absuchte. Alle waren mit Gewehren bewaffnet, auch Sergeant John Muir war anwesend. 180
Hier war Bony in seinem Element. Er hatte die Hände im Rücken verschränkt, den Kopf gesenkt. Schließlich blieb er stehen, bohrte mit dem Absatz ein Loch in den weichen Boden und blickte hinauf zu den Männern. »Gentlemen, wie Sie von Sergeant Muir gehört haben, bin ich von der westaustralischen Polizei beauftragt worden, Mick Landon festzunehmen. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie mir dabei zusehen – aber über eines müssen Sie sich klar sein: Mick Landon soll als mutmaßlicher Mörder von George Loftus vor Gericht gestellt werden. Sollten Sie den Mann aber erschießen, würden Sie dem Gesetz vorgreifen. Ich muß mich also weigern, etwas zu unternehmen, solange Sie Ihre Gewehre dabeihaben. Der Mann entkommt mir nicht – er steckt dort drüben im Busch. Ich habe Zeit, ich kann ihn auch morgen oder nächste Woche ergreifen.« Ein unwilliges Gemurmel war die Antwort, denn die Männer waren wütend – und Bony konnte lediglich mit der Unterstützung des Sergeanten rechnen, wenn die Männer zur Lynchjustiz schreiten wollten. Die Polizeibeamten des Bezirks waren damit beschäftigt, an den wichtigen Straßenkreuzungen die Autos und auf den Bahnhöfen die Züge zu kontrollieren. »Überlegen Sie doch!« fuhr Bony fort, und er unterdrückte seine Erregung mühsam. »Wenn Sie Landon erschießen, ist für ihn alles in wenigen Sekunden vorbei. Dann hat er den ewigen Frieden. Ich aber will ihn lebend ergreifen. Stellen Sie sich vor: Er weiß genau, daß er mir nicht entkommen kann! Er wird vor Gericht gestellt, doch er kämpft einen hoffnungslosen Kampf. Sein Leben besteht nur noch aus Angst – Angst, von mir erwischt zu werden, und Angst vor dem Henker. Sehen Sie nicht, daß seine Strafe so viel schlimmer ist? Sie aber wollen Gnade üben mit einem Mann, der George Loftus die Frau wegnahm und ihn obendrein ermordete. Sie wollen Gnade üben mit einem Mann, der Lucy Jelly um ein Haar erschossen hätte und mich daran hinderte, ihr Hilfe zu bringen. Also – wollen Sie Mick Landon immer noch erschießen?« »Wie ist es, Sergeant – wird er auch wirklich hängen?« fragte das Sinnbild Australiens mit dröhnender Stimme. »Daran besteht für mich nicht der geringste Zweifel«, erwiderte Muir grimmig. 181
Die Männer berieten, dann trat das Sinnbild Australiens vor. »All right! Wir lassen unsere Gewehre zurück. Ted bringt sie hinunter zu dem Wachtmeister, der das Haus bewacht. Aber wenn wir Landon erwischen, werden wir dafür sorgen, daß er sicher im Gefängnis von Merredin landet.« Über Bonys Gesicht huschte ein Lächeln. »Ich freue mich, daß Sie vernünftig sind«, erklärte er. »Bitte, halten Sie sich dicht geschlossen hinter mir. Der Sergeant folgt mir unmittelbar, um mich beschützen zu können, falls Landon im Hinterhalt lauern sollte. Mick Landon ist bewaffnet. Sollte er mich erschießen, sollte er Sergeant Muir und die Hälfte von Ihnen erschießen – denken Sie stets daran, ihn lebendig dem Henker zu übergeben und nicht tot dem Leichenbeschauer!« John Muir kannte Bony nun schon seit vielen Jahren, und er war erstaunt über den Haß, den der Mischling verriet. Er wußte auch nicht, welche Gewissensbisse sich Bony machte, Lucy Jelly in eine derart gefährliche Lage gebracht zu haben. Am Anfang war die Spur so deutlich, daß auch die Farmer sie hätten verfolgen können, doch sobald Bony in den dichten Bogetabusch eindrang, wurde der Boden steinhart, war mit den vertrockneten nadelspitzen Blättern bedeckt. Doch Bony sah an den abgebrochenen Zweigen mühelos, welchen Weg Landon genommen hatte. Plötzlich hörte der dichte Busch auf – Unterholz wechselte mit Weißgummi- und Gimletbäumen. Einmal war es eine kleine Rundung im sandigen Boden, dann wieder ein umgedrehter Stein oder abgebrochener Zweig, einmal sogar eine Patronenhülse, die den Weg des Flüchtenden verrieten. Bony und Muir hätten zu gern gewußt, wieviel Munition Landon bei sich führte. Der Mischling hatte sofort festgestellt, daß Landon mit dem linken Bein weiter ausschritt als mit dem rechten und deshalb dazu neigte, einen Rechtsbogen zu schlagen. Schließlich gelangten die Verfolger zu einer moosbewachsenen Stelle am Rande eines sanft ansteigenden Granitfelsens. Da Bony diesen Stein nicht bemerkt hatte, als er vom Felsmassiv am Rande von Burracoppin zur Loftus-Farm gewandert war, wandte er sich zu seinen Begleitern um. »Ist dieser Felsen sehr umfangreich?« fragte er. 182
»Er bedeckt ungefähr sechzehnhundert Ar«, wurde ihm geantwortet. »Danke. Landon ist hier hinaufgeklettert. Wenn er sich nicht mehr auf dem Felsen versteckt, muß er ihn auf der anderen Seite verlassen haben. Ich werde diese Stelle jetzt suchen. Sie aber klettern auf den Felsen, um nachzusehen, daß er sich dort nicht versteckt hat. Aber bleiben Sie dort oben, bis ich die Spur wieder aufgenommen habe – Sie könnten sie sonst zertreten.« »Sie verschwinden nicht heimlich und lassen uns dort oben sitzen?« rief das Sinnbild Australiens. »Bestimmt nicht, dafür gebe ich mein Wort.« »Auf sein Wort dürft ihr euch verlassen«, erklärte Hurley. »Los! Dann wollen wir uns den Stein einmal ansehen.« Doch die Männer kamen nicht dazu, den Felsen zu untersuchen. Bereits fünf Minuten später rief Bony, daß er die Spur gefunden habe, und alle liefen und sprangen über die sanft abfallende Wand zu ihm hinab. Bony deutete lächelnd auf den Boden, aber niemand konnte etwas erkennen. Das riesige Granitmassiv am Rande von Burracoppin bedeckte eine Fläche von reichlich anderthalb Quadratkilometern. Von dort oben hatte Bony in das weite Tal geblickt, hatte die Weizenfelder und die Eisenbahnlinie betrachtet. Auf dem höchsten Punkt, bei dem trigonometrischen Gerüst, hatte Landon Zuflucht gesucht. Er war äußerst vorsichtig gewesen, hatte Felsspalten und Wasserläufe benützt, sich von keinem Menschen blikken lassen. Nun lag er in einer flachen Kuhle, die nach Regenfällen mit Wasser gefüllt war. Jetzt aber war sie leer, die brennende Sonne hatte längst den letzten Tropfen aufgesogen. Von hier oben hatte Landon nach allen Seiten einen freien Blick, und er war sogar vor Gewehrschüssen sicher. Lange bevor der Tag zu dämmern begonnen hatte, war er hier oben eingetroffen, hatte die Züge beobachtet, die durch Burracoppin gefahren waren. Er war überzeugt, daß die Männer, die Bony zu Hilfe geeilt waren, als er in der Nacht mit dem Mischling gekämpft hatte, Polizeibeamte gewesen waren. Und er war intelligent genug, sich zu sagen, daß alle Fluchtwege abgeschnitten waren. Doch die Hoffnungslosig183
keit seiner Lage war ihm erst bewußt geworden, als er das Granitmassiv von Burracoppin erreicht hatte. Er hatte neben dem trigonometrischen Gerüst gestanden, die erleuchteten Züge beobachtet, und Verzweiflung hatte ihn gepackt. Mit der Zeit war er etwas ruhiger geworden, hatte den grimmigen Entschluß gefaßt zu kämpfen, so viele Verfolger wie möglich zu töten, bevor er den Revolver gegen sich selbst richtete. Bevor der Morgen graute, war er hinuntergeklettert zur alten Tränke, hatte den Benzinkanister, der zum Schöpfen diente, mit Wasser gefüllt. Dann hatte er noch einen nahegelegenen Garten geplündert, hatte so viel Gemüse geholt, wie er nur tragen konnte. Mit all dem war er wieder hinauf zum Vermessungspunkt geklettert – er besaß nun Wasser und Nahrung für mehrere Tage. Die Strahlen der Morgensonne wärmten den Granit. Kein Lüftchen brachte Kühlung. Landon lag im langen Schatten des Vermessungsgerüsts, spähte vorsichtig über die aufgetürmten Steinbrocken. Kalte Wut überkam ihn. Wie hatte er nur so dumm sein können, in der Nähe des Farmhauses zu warten, um sich das versteckte Geld aus der Matratze zu holen. Wenn er rechtzeitig geflohen wäre, hätte er noch einen Zug besteigen können, bevor nach ihm gefahndet wurde. Er hätte fünfzig oder hundert Meilen fahren können, wäre auf irgendeiner kleinen Station abgesprungen und hätte ein neues Leben begonnen. Die Sonne kletterte höher, und Landon bedauerte jetzt erst recht, sich auf den Felsen zurückgezogen zu haben. Nun war es zu spät, nun konnte er den Ring der Verfolger nicht mehr durchbrechen. Der Tod griff nach ihm. Er mußte sterben – wenn nicht durch eigene Hand oder durch die Hand der wütenden Verfolger, dann durch die Hand des Henkers. Noch gestern hatte er an diese Möglichkeit überhaupt nicht gedacht. Plötzlich entdeckte er den Todesengel, und er biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschluchzen. Gebannt beobachtete er, wie Bony und seine Begleiter eine schmale Lichtung überquerten, die eine Viertelmeile vom Ostrand des Felsmassivs entfernt war. Landon versuchte, die Männer zu zählen, doch sie bildeten eine zu dichte Gruppe. Nun, er würde einige von ihnen ins Jenseits schicken, bevor sie ihn erwischten. Zweifellos waren sie ihm auf der Spur, denn er erinnerte sich, ebenfalls die Lichtung überquert 184
zu haben. Was war er doch für ein Narr gewesen, hier oben Zuflucht zu suchen, anstatt die Flucht fortzusetzen. Die Todesfurcht drohte ihm die Kehle zuzuschnüren. War es nicht besser, auf der Stelle Schluß zu machen? Er nahm den Revolver, preßte die Mündung gegen die Stirn – doch dann setzte er die Waffe rasch wieder ab. Nein, er brachte es nicht fertig. Als er wieder über den Felsrand spähte, sah er einen der Verfolger. Landon versuchte, die Furcht abzuschütteln und klare Gedanken zu fassen. Wäre in diesem Moment nicht Bony am Rande des Busches, unmittelbar am Fuße des Granitfelsens aufgetaucht, wäre der Farmarbeiter vielleicht als ein tapferer, wenn auch böser Mensch gestorben. Doch beim Anblick der beiden Kriminalbeamten und der übrigen Männer verließ ihn erneut der Mut, und panische Furcht überkam ihn. Mit der Schnelligkeit und Geschmeidigkeit eines Riesenwarans glitt er den Westhang hinab. In seiner Panik vergaß er die Schachtel mit Munition, nahm lediglich den Revolver mit. Als er den Busch erreicht hatte, stürmte er in blinder Angst davon, ohne auf die Richtung zu achten. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: diesen Spürhunden zu entkommen! Eine halbe Meile weit rannte er durch dichten Busch. Die Zweige schlugen ihm ins Gesicht, zerrissen seine Kleidung. Nach kurzer Zeit war er in Schweiß gebadet, zog keuchend die Luft ein. Auf dem Gipfel eines Quarzfelsens hielt er an und drehte sich um. Durch die Wipfel einiger Weißgummibäume konnte er die Spitze des Burracoppin-Felsens erkennen – dort wimmelte es von Männern. Landon rannte weiter, verausgabte sich sinnlos. Er erreichte die Old York Road an dem Punkt, an dem eine Seitenstraße zum Bahnhof führte. Dort näherte sich ein Auto, und er versteckte sich rasch im Busch. Außer dem Fahrer saßen vier Männer in dem Wagen, und aus den Seitenfenstern ragten drohend die Gewehrläufe. Die Jäger fuhren zur Kaninchenjagd – und er, Landon, war das Kaninchen! Völlig erschöpft erreichte er einen kleinen Granitfelsen, der eine halbe Meile weiter südlich aufragte. Entkräftet sank er auf die heißen Steine. Fassungslos starrte er auf die leeren Hände, versuchte sich vergeblich zu erinnern, wo er den Revolver verloren haben könnte. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen. Immer wieder sah er die Männer in dem Auto vor sich, sah die drohend herausragenden 185
Gewehrläufe. Sein verschwitztes, schmutziges Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Und als er sah, wie Bony aus dem Busch trat, genau an dem Punkt, an dem er selbst herausgekommen war, als er die Männer mit den grimmigen Gesichtern hinter den beiden Kriminalbeamten erblickte – da sprang er auf, hob die Arme über den Kopf und schluchzte. Die Männer bildeten rechts und links von Bony eine Kette. Sie hatten sich Knüppel besorgt, um im Busch besser voranzukommen, doch Landon hielt diese Knüppel für Gewehre. »Ich ergebe mich!« schrie er schrill und rannte den Hang herab auf den überraschten Inspektor zu. Bony wußte, daß Landon unbewaffnet war, denn er hatte den Revolver gefunden, den der Flüchtende hinter dem Busch vergessen hatte, als an der Old York Road plötzlich das Auto auf ihn zugekommen war. »Ich ergebe mich – Gnade!« Mick Landon warf sich schluchzend vor Bony nieder und umklammerte die Beine des Inspektors.
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ehen Sie, John, der Fall lag ganz einfach. Man muß nur wissen, wie man die Ermittlungen anpackt.« Bony lächelte Sergeant Muir an. Die beiden Männer saßen im Schatten eines großen Rotgummibaums neben der Goomarin Road, eine Meile außerhalb von Merredin. Eine Woche war seit der Festnahme von Mick Landon vergangen, und der Farmarbeiter war des Mordes angeklagt worden. »Und wie haben Sie die Ermittlungen angepackt? Woher wußten Sie, daß Loftus’ Leiche unter der Strohmiete lag? Und was hatte Jelly mit der ganzen Geschichte zu tun?« Bony verzog das Gesicht und seufzte. 186
»Auf jeden Fall muß man es anders anpacken als Sie. Ihnen fehlt – genau wie unseren beiden Chefs – vor allem Geduld. Ich halte es durchaus für möglich, daß Sie eines Tages Chef der westaustralischen Polizei werden, denn Sie besitzen Organisationstalent. Aber sie werden nie ein guter Kriminalist werden. Colonel Spender ist ein fähiger Polizeichef, aber er wäre unfähig, einen verlorenen Manschettenknopf wiederzufinden.« »Nun übertreiben Sie.« Muirs Gesicht hatte sich mit einer leichten Röte überzogen. »Die erste Frage haben Sie auf eine sehr drastische Weise beantwortet – nun beantworten Sie mir bitte noch die restlichen zwei Fragen.« »Gut! Woher wußte ich, daß Loftus unter der Strohmiete begraben war? Wichtig für meine Ermittlungen war vor allem, daß ich nicht als Kriminalinspektor Bonaparte nach Burracoppin kam, sondern als unscheinbarer Arbeiter. Sie wissen aus Erfahrung, wie zugeknöpft die Leute werden, sobald sie sich einem Polizeibeamten gegenübersehen. Wenn Landon gewußt hätte, wer ich bin, hätte er mich am Sonntag nach dem Ball in Jilbadgie Hall niemals auf die Farm geholt. Als ich am Südende der Strohmiete stehenblieb, verriet er deutliche Anzeichen von Nervosität, weil er glaubte, der nächtliche Eindringling habe sich für diese Stelle interessiert. Mir war aber aufgefallen, daß dort ungewöhnlich viele Schmeißfliegen ins Stroh einzudringen versuchten. Nun war ich zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend davon überzeugt, daß Loftus ermordet worden war, denn ich hatfe ja Landons Haar auf dem Kopfkissen von Mrs. Loftus gefunden, und außerdem hatte die Farmersfrau mit Banknoten bezahlt, die zweifellos zu jenen gehörten, die Loftus von der Bank abgehoben hatte. Wie gesagt, die Schmeißfliegen machten mich stutzig. Vor einiger Zeit hatte ich nämlich ein totes Kaninchen, das mir von Hurleys Hund vor die Füße gelegt worden war, am Fuße eines Zaunpfahls begraben. Wenige Tage später stellte ich fest, daß die Schmeißfliegen den Kadaver entdeckt hatten, obwohl er dreißig Zentimeter tief in der Erde steckte. Es ist also dem guten Geruchssinn der Schmeißfliegen zu verdanken, wenn Landon nun am Galgen landet. An sich war der Gedanke, die Leiche unter der Strohmiete zu begraben, nicht schlecht. Landon hätte lediglich ein normales Grab ausheben und dann erst die vielen Tonnen Stroh darüber zu packen brauchen, und die Schmeißfliegen hätten 187
nichts gewittert. Aber jeder Verbrecher macht Fehler, und außerdem war Landon nicht in der Lage, im kritischen Augenblick ruhig und nüchtern zu überlegen. Inzwischen ist er zusammengebrochen und hat alles gestanden. Es war so, wie ich vermutet hatte. Als Loftus in der Nacht unvermutet nach Hause kam, war Landon im Schlafzimmer der Farmersfrau. Die treibende Kraft war die Frau, der Landon völlig hörig war. Sie war es, die den Vorschlag machte, ihren Mann zu ermorden. Landon weigerte sich zunächst, doch schließlich gehorchte er. Mrs. Loftus nahm die Lampe und öffnete die Tür, hinter der Landon lauerte, und als der Farmer eintrat, schoß er ihn in den Kopf. Sie nahmen dem Toten die Wertsachen – Uhr, Feuerzeug und dergleichen – ab und verschlossen die Dinge in einer Kassette, die sie unter den Ziegeln des Herdes versteckten. Nun komme ich zu Ihrer letzten Frage, John. Mr. Jellys Rolle bei diesem Fall ist leicht erklärt. Er glaubte, wie alle anderen auch, daß die Polizei die Ermittlungen abgeschlossen habe. Da er überzeugt war, daß die Farmersfrau und Landon etwas miteinander hatten, andererseits George Loftus niemals freiwillig verschwunden war, wollte er auf eigene Faust Ermittlungen anstellen. Bei seinem ersten Versuch wurde er angeschossen. Er mußte für einige Tage verschwinden, bis die Wunde so weit verheilt war, daß man ihm nichts mehr anmerkte. Als in Burracoppin die Farmerversammlung abgehalten wurde, nahm er die Gelegenheit wahr und unternahm den zweiten Versuch. Leider vergiftete er dabei die Hunde. Ich bedauere das sehr, denn die armen Tiere konnten ja nichts dafür. Selbst wenn Landon kein Geständnis abgelegt hätte, würden Sie genügend Beweise vorlegen können, um ihn dem Henker auszuliefern.« »Jelly als Privatdetektiv.« John Muir schüttelte den Kopf. »Ein seltsamer Vogel. Wußten Sie eigentlich …? Wann fahren Sie nun nach Brisbane zurück? Colonel Spender wird außer sich sein.« »Colonel Spender ist sehr impulsiv. Deshalb wird er nicht so alt werden wie ich. Mit Ungeduld und Zornesausbrüchen verkürzt man sich unweigerlich das Leben. Ich werde nach Queensland zurückkehren, sobald ich noch eine kleine Privatangelegenheit geregelt habe.« Bony stand auf, der Sergeant folgte seinem Beispiel. 188
»Dieser Fall sollte Ihnen weiterhelfen. Stellen Sie niemals Ihr Licht unter den Scheffel – das ist das Geheimnis des Erfolgreichen. Machen Sie es ganz einfach wie unsere Politiker: Erzählen Sie allen Leuten, wie tüchtig Sie sind. Bleiben Sie aber bescheiden im Hintergrund, dann geht es Ihnen wie unseren Wissenschaftlern.« John Muir drückte den Arm des Inspektors. »Wie soll ich Ihnen nur danken, Bony! Sie sind der prächtigste Mensch, den ich kenne.« Mehrere Tage vergingen, dann erhielt Bony die langersehnte Nachricht vom Postmeister in Merredin. Er ging sofort zu ihm, und man legte ihm ein Telegrammformular vor, das soeben aufgegeben worden war. Adressiert an ›Mr. Jelly, South Burracoppin‹, es lautete: ›Komme Adelaide.‹ Auf der Rückseite war als Absender angegeben: ›Sunflower Jelly – South Burracoppin.‹ »Der Beamte, der das Telegramm entgegengenommen hat, achtete wunschgemäß darauf, wer es aufgab«, erklärte der Postmeister. »Ich kann Ihnen deshalb sagen, daß die Absenderin eine Mrs. Chandler ist. Sie wohnt Nummer 18 Mark Street.« »Sie haben mir sehr geholfen«, erwiderte Bony. »Wissen Sie etwas über diese Mrs. Chandler?« »So gut wie nichts. Sie ist Mrs. Westburys Schwester.« »Ach! Schön, ich werde mit ihr sprechen. Nochmals besten Dank.« Die Frau, die auf sein Klopfen öffnete, wirkte matronenhaft. »Madam, Sie haben heute morgen ein Telegramm an einen Mr. Jelly in Burracoppin aufgegeben«, sagte Bony mit ernstem Gesicht. Mrs. Chandler hatte plötzlich eine eisige Miene. »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, antwortete sie. »Wer sind Sie eigentlich?« »Ich bin Detektiv und arbeite für das Telegrafenamt«, log er munter darauf los. »In letzter Zeit kommt es häufig vor, daß falsche Absender auf den Telegrammformularen angegeben werden. Der Schalterbeamte –« »Ich kann dazu nichts sagen«, unterbrach ihn die Frau. »Sie sprechen besser mit meinem Schwager, Sergeant Westbury. Sie finden ihn auf der Polizeistation.« 189
»Oh! Vielen Dank. Dann werde ich mit dem Sergeanten sprechen.« Bony zog höflich den Hut und machte sich auf den Weg zur Polizeistation. Er hoffte, daß sich seine Vermutung nicht bewahrheiten möge. »Guten Tag, Sir!« rief Sergeant Westbury und sprang auf, als Bony sein Büro betrat. Nachdem der Fall in Burracoppin abgeschlossen war, glaubte Westbury, dem Inspektor auch wieder mit dem nötigen Respekt begegnen zu müssen. »Nehmen Sie Platz, Sir. Freue mich, Sie zu sehen, Sir.« »Sergeant, können Sie mir sagen, warum Ihre Schwägerin heute morgen Mr. Jelly in South Burracoppin telegrafisch nach Adelaide bestellt hat?« fragte Bony, während er sich eine Zigarette drehte. »Ach! Ja natürlich, das kann ich Ihnen sagen.« Sergeant Westburys Gesicht überzog sich mit einer tiefen Röte. »Das hätte Ihnen Muir aber auch sagen können.« »Ich habe mich absichtlich nicht an Muir gewandt. Ich würde auch nicht zu Ihnen gekommen sein – aber leider drängt die Zeit.« Sergeant Westbury kam um den Schreibtisch herum, bückte sich und flüsterte Bony etwas ins Ohr. »So ist das also«, murmelte Bony. »Ich habe es bereits befürchtet. Damit erklärt sich auch sein fast krankhaftes Interesse für Verbrecher. Und die Art und Weise, wie er jedesmal verständigt wurde, garantierte, daß sein Beruf geheim blieb.« Er stand auf. »Ich reise heute abend nach Brisbane ab. Auf Wiedersehen, Sergeant! Die gute Zusammenarbeit mit Ihnen habe ich in meinem Bericht ausdrücklich erwähnt.« »Es war mir eine Freude, Sir«, stammelte Westbury verlegen. Bony schlenderte zum Krankenhaus von Merredin. Lucy Jelly hatte sich bereits gut erholt. Eric Hurley hatte sich für eine Bluttransfusion zur Verfügung gestellt und wohnte jetzt als Gast von Mr. Jelly im Hotel von Merredin. Bony zog sich einen Stuhl an das Krankenbett und musterte das Mädchen. »Nun haben Sie wegen mir Ihre Abreise verschoben«, sagte Lucy schüchtern. »Heute morgen hat mich Sunflower besucht. Sie brachte das Deckchen, das Sie Ihrer Frau mitnehmen sollen. Glücklicherweise hatte ich es ja fertiggestellt, bevor – bevor –« »Sie sind sehr freundlich«, meinte Bony rasch, als er merkte, wie der Gedanke an die Schreckensnacht die Patientin erregte. »Ich werde oft 190
an Sie und an Sunflower denken. Um fünf kommt sie mit Ihrem Vater und Eric. Ich habe die Schwester um eine Kanne Tee gebeten, damit ich meine Abschiedsparty geben kann. Ich reise nämlich heute abend nach Brisbane ab. Da Ihr Vater in Adelaide zu tun hat, fahren wir bis dorthin gemeinsam.« »Er – er hat wieder ein Telegramm erhalten?« »Ja. Aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorgen zu machen«, versicherte Bony. »Ich habe inzwischen herausgefunden, weshalb er manchmal verreist. Er hat keinerlei Grund, sich deshalb schämen zu müssen. Es handelt sich um eine streng geheime Angelegenheit. Ich bitte Sie, nicht weiter in mich zu dringen, aber ich versichere nochmals, daß Ihr Vater nichts Unrechtes tut. Wäre Ihr Vater jemals bei der Ausübung seines Berufs nach Queensland gekommen, hätte ich über ihn Bescheid gewußt.« »Sie nehmen mir eine Zentnerlast vom Herzen.« Dem Mädchen traten Tränen in die Augen. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wenn er sich mir doch anvertraut hätte.« »Nun, er hat mir versprochen, seinen Beruf aufzugeben. Wenn er aus Adelaide zurückkommt, wird er noch nach Perth gerufen werden. Danach wird er nicht mehr verreisen.« Lucy seufzte. »Ich bin so froh, daß ich mir dann keine Sorgen mehr machen muß.« »Ich habe heute morgen noch ein kleines Geheimnis herausgefunden«, fuhr Bony fort. »Ihr Vater und Eric haben die Anzahlung auf die leerstehende Farm geleistet, die südlich von Ihrer Farm liegt. Eric gibt seine bisherige Stellung auf. Ich habe diese Farm gesehen. Sie besitzt ein ganz reizendes Wohnhaus.« »Ach Bony– ist das wahr?« fragte sie aufgeregt. Er nickte. »Aber verraten Sie nicht, daß Sie bereits Bescheid wissen! Schließlich soll es ja eine Überraschung sein.«
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ick Landon hatte schlecht geschlafen. Als er erwachte, wußte er, daß sein letzter Tag angebrochen war. Er starrte an die Decke und versuchte, die würgende Angst zu überwinden. Plötzlich wurde er sich seiner Situation voll bewußt, und eine tiefe Lethargie überkam ihn. Mit großen Augen stierte er auf den Gefängnisbeamten, der vor den Gitterstäben der Zellentür saß. Ein Tisch stand dort. Seit drei Wochen hatte Tag und Nacht ein Wachtmeister daran gesessen, hatte jede Bewegung und jedes Wort des Gefangenen aufgeschrieben. Drei Beamte hatten sich bei dieser Aufgabe abgelöst, und Landon kannte jede Linie in ihren ernsten Gesichtern. Der Gefangene wollte etwas sagen, ließ es dann aber, denn er würde doch keine Antwort erhalten. Langsam kleidete er sich an. Der Gefängnisgeistliche kam, trat zu ihm in die Zelle. Wie im Traum ließ Landon alles über sich ergehen, murmelte automatisch die Gebete mit. Schließlich erhob sich der Geistliche, und Landon legte die Hand auf seinen Arm. »Ist es jetzt – soweit?« würgte er hervor. Der Pfarrer war erschüttert, daß der Häftling den Grund seines Besuches erfaßt hatte, konnte nur schweigend nicken, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Wenige Minuten später erschien ein Wachtmeister mit einem Tablett, das er auf dem kleinen, an der Wand befestigten Tisch absetzte. »Das Frühstück, Landon«, meinte er freundlich, als Landon ihm aus leeren Augen entgegenblickte. »Kommen Sie, ich habe Ihnen schönen knusprigen Frühstücksspeck und Rührei gebracht. Und eine Kanne starken Kaffee.« Bevor sich Landon auf den am Boden festgeschraubten Hocker setzte, zupfte er den Gefängnisbeamten am Ärmel. 192
»Es ist soweit – heute?« fragte er leise. Der Beamte nickte. Landon sank auf den Hocker, aß mechanisch sein Frühstück. Er kaute sehr langsam, doch er hatte jeglichen Geschmackssinn verloren. Selbst der starke Kaffee schmeckte ihm wie heißes Wasser. Der Wachtmeister brachte ihm eine Schachtel Zigaretten, reichte ihm Feuer – da mußte Landon feststellen, daß er auch den Geruchssinn verloren hatte. Der Beamte ließ ihn allein, und der Gefangene wanderte in stummer Verzweiflung auf und ab. Er hatte den Rücken gerade der Tür zugekehrt, als der Arzt eintraf. Der Riegel klirrte, Landon fuhr herum, starrte aus glanzlosen Augen auf seinen Besucher. »Nun, Landon, wie fühlen Sie sich?« fragte der Arzt. »All right, Doktor. Ist es soweit?« Der Arzt tastete nach dem Puls des Gefangenen, dann nickte auch er, wie zuvor der Geistliche und der Wachtmeister. »Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel geben«, meinte er freundlich. »Auf diese Weise ist alles halb so schlimm.« Er reichte dem Gefangenen ein Medizinglas mit einer bräunlichen Flüssigkeit. »Wie spät ist es, Sir?« fragte Landon. »Keine Ahnung. Meine Uhr ist kaputt. Zerbrechen Sie sich doch darüber nicht den Kopf.« Der Arzt ging, Landon stand an der Tür, klammerte sich an die Eisenstäbe. Der diensthabende Beamte tat so, als blickte er in sein Buch. »Wie spät ist es, Wachtmeister?« fragte Landon. Doch der Beamte antwortete nicht, er schrieb etwas in sein Buch. Schließlich vernahm Landon Schritte. Es waren energische Schritte, mit denen einige Männer den Gang entlangkamen. Der Wachtmeister erhob sich, ohne den Gefangenen anzublicken. Zwei. Zivilisten näherten sich, hinter ihnen mehrere Gefängnisbeamte, der Geistliche, der Arzt und der Direktor. Die beiden Zivilisten traten in die Zelle, und Landon konnte seinen Blick nicht von dem wettergebräunten Gesicht des hochgewachsenen Mannes lösen, der auf ihn zutrat. Dieses Gesicht war ihm vertraut, er fühlte sich plötzlich leicht, wunderte sich, warum ihn der Mann mit versteinerten Zügen musterte. Im nächsten Moment war 193
der zweite Zivilist hinter ihm, während der andere blitzschnell nach Landons Handgelenken griff. »Jetzt müssen wir sehr tapfer sein«, sagte der Mann. Plötzlich erkannte ihn Mick Landon. Dies war kein Freund. Dieser große kräftige Mann mit dem grauen Haarkranz war der Scharfrichter! Landon schrie auf. »Ich will nicht sterben, Mr. Jelly! Ich will nicht sterben!« ENDE
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