Raumschiff Monitor Start zur Unterwasserstadt 1. Ein rätselhafter Brief „Ich bin hier, um ein Geheimnis zu klären“, murr...
53 downloads
1033 Views
123KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Raumschiff Monitor Start zur Unterwasserstadt 1. Ein rätselhafter Brief „Ich bin hier, um ein Geheimnis zu klären“, murrte Henri. „Und wir? Wir etwa nicht?“ riefen Prosper und Gérard. Henris jüngere Schwester Tatjana - genannt Tati schüttelte den Kopf. „Dazu habt ihr Ferien! Ferien, ha die bedeuten für euch nichts weiter als Geheimnisse, Abenteuer, Piratenjagd und andere ausgefallene Sachen. Aber mittlerweile seid ihr vierzehn. Ihr solltet wirklich mal versuchen, euch was Vernünftiges einfallen zu lassen!“ „Blödsinn!“ rief Henris und Tatis neunjähriger Bruder Micha. „Ich will nicht andauernd nur was Vernünftiges tun. Ich will genau wie die anderen was Spannendes erleben.“ Waff, waff! bellte Michas Zwergpudel Loulou. „Der Hund hat immer das letzte Wort“, meinte Henri und lachte. Tatjana blieb gelassen. Sie lächelte nur, als sie sagte: „Ihr täuscht euch, Sportsfreunde! Das letzte Wort hat kein Pudel. Das letzte Wort habe ich! Denn wer müßte wohl Micha und Loulou zurückhalten, wenn ihr auf richtigen Pferden Reiterkämpfe veranstalten wolltet? Oder wenn ihr auf die Idee kämt, ein Wettessen mit Händen voller Pfeffer zu machen?“ Henri blieb stehen. „Also, mit deinem Pfeffervergleich kannst du dich ins Pfefferland scheren“, sagte er wütend. „Warst du vielleicht nicht mit Micha und Loulou in der geheimen Raumfahrtstation unterm Hochmoor?“ setzte Prosper hinzu. „Hast du damals etwa Micha und den Pudel zurückgehalten?“ „Und im Raumschiff Monitor!“ schloß sich Gérard, an. „Ob in der Luft, ob im Weltraum, ob im Meer - nie bist du da ein Spielverderber gewesen, wenn's richtig gefährlich wurde! Und wenn du uns jetzt zu vernünftigen alten Herren machen willst - damals hast du dich jedenfalls nicht wie eine dumme Gans benommen, die um Brüderchen und Hundchen bangt.“ Scharf sagte Tati: „Wollt ihr hier auf der Straße alles ausposaunen? Ja, wir haben im vorigen Jahr Abenteuer erlebt, um die uns alle Schüler in der Welt beneiden würden. Keiner von uns hat durchgedreht, selbst Micha nicht. Aber diesmal wird's eben nichts mit Abenteuer und Nervenkitzel und so - unser Professor Charivari hat das Hochmoor verlassen, allein dürfen wir dort nicht mehr hin - und Marcel, das Superhirn, der Junge, ohne den ihr nicht bis drei zählen könnt, kommt diesmal auch nicht her.“ „Das ist noch lange nicht raus“, murmelte Prosper. Alle schwiegen. Ein Zeichen dafür, wie sehr sie den Jungen vermißten: Marcel, in diesem Jahr fünfzehn, war ein spindeldürrer, blonder Eierkopf mit großen, dicken, runden Brillengläsern. Weil er so viel wußte und so unwahrscheinlich treffsicher urteilen konnte, nannten ihn die anderen Superhirn. „Wir müssen uns eben selber was einfallen lassen!“, fuhr Tati fort. „Vielleicht gibt's hier eine Ballettschule, dann könnte ich täglich meine Übungen machen...“ „Und Micha und Loulou gibst du inzwischen im Kleintierzoo ab, wie?“ höhnte Prosper. „Henri, Gérard und ich spielen dann so lange ´Backe, backe Kuchen´ am Strand!“ „Quatschkopf“, antwortete Tati, aber sie lachte. Doch dann wurde auch sie schweigsam. Und so wanderten die fünf, ihr Badezeug schwenkend, durch das Seebad Marac am Golf von Biskaya. Die Vormittagssonne stand am sonderbar silbrigen Himmel, ständig wehte vom Meer eine sanfte Brise. Der Atlantische Ozean, der hier wahre Tobsuchtsanfälle bekommen kann, zeigte sich - im Gegensatz zu Tatis Begleitern - in bester Ferienlaune. Wer aber die Gruppe mit dem feingeschorenen Zwergpudel nur nach dem Äußeren beurteilte, mochte
meinen, sie sei mit sich und ihren Ferien sehr zufrieden. Kein Wunder: Henri und Prosper trugen flotte, ärmellose Westernanzüge zu leichten Pullis; der stämmige Gérard hatte sich für einen gelben Sportanzug entschieden, so daß er mit seinem Rundkopf wie die Lockfigur einer lustigen Zitronenwerbung aussah. Micha steckte in blauer Farmerkluft und Tati in einem lustig gestreiften Zigeuneranzug. Loulou schnüffelte mißmutig in die Luft. Auf dem Markt roch es nach Fisch, aber schließlich war er keine Katze. Was Henri ein Geheimnis genannt hatte, war das Verschwinden eines Mannes - des von Tati erwähnten Professors. Durch ihn - und mit Superhirns Hilfe - hatten die fünf im vergangenen fahr tolle Weltraumabenteuer erlebt. Im Hochmoor bei Marac waren sie dem kahlschädeligen, strippenbärtigen Professor Doktor Brutto Charivari - den alle Leute für einen harmlosen Gelehrten hielten - zum erstenmal begegnet. Und nur sie hatten erfahren, wer der Mann wirklich war: der Chef einer geheimen unterirdischen Raumfahrtstation, ein Wissenschaftler, der die Ideen einiger der kühnsten Zukunftsforscher bereits in die Tat umzusetzen begann. In seinen Raumstationen, ob auf der Erde, ob auf dem Mond, waren seine Leute längst dabei, der Menschheit neue Lebensräume zu erschließen. Merkwürdige Umstände hatten die Freunde in die geheime Raumfahrtbasis unter dem Hochmoor geführt, und von der „Unterwassergarage“ aus waren sie mit dem Raumschiff Monitor gestartet. „Das waren Zeiten!“ seufzte Prosper. „Vielleicht liegt der Professor erschossen in seinem Befehlsraum!“ meinte Micha. „Quatsch!“ antwortete Henri. Er blieb stehen und zog einen Briefumschlag aus der Tasche. „Und das hier? Habt ihr das vergessen?“ Er entnahm dem Umschlag ein weißes Blatt. „Professor Charivari hatte diese Nachricht beim Bauern Dix hinterlegt: Er ist in unerreichbarer Ferne', heißt es. Wir sollen das Hochmoor nicht betreten, weil dort noch Gefahren lauern, die er nicht eindämmen kann. Weiß er denn, in welchem Zustand das Abwehrsystem über der verlassenen Raumstation ist? Auf jeden Fall geht aus dem Brief hervor, daß er lebt und im Weltraum herumschwirrt. Was hätte die unerreichbare Ferne' denn sonst zu bedeuten?“ „Gib mal her!“ bat Gérard. „Ich möchte den Brief mal selber lesen!“ „Den hast du in voller Länge und Breite vor deinem Mondgesicht!“ erklärte Henri unwillig. „Verlangst du noch eine beglaubigte Abschrift?“ „Eine Schrift würde mir genügen!“ murrte Gérard. „Aber auf diesem Papier er drehte es um, „ist noch nicht mal ein Fliegenklecks, geschweige ein einziger Buchstabe zu sehen!“ Prosper riß ihm das Blatt aus der Hand. Henri blickte verblüfft in das leere Kuvert. Ein unbeschriebener Bogen“, überzeugte sich Tati. Prosper meinte: „Henri hat den Brief wahrscheinlich aus Versehen weggeschmissen und ein leeres Blatt in den Umschlag getan!“ Es steht nichts drauf, überhaupt nichts!“ rief Micha, gemeinsam mit Loulou neben Tati hochhopsend. Der Pudel, der doch gar nichts begriff, knurrte wie ein Rechtsanwalt, dem der Inhalt eines Schriftstücks nicht geheuer vorkommt. Aber war es denn ein Schriftstück - dieses leere Blatt? „Eine dumme Verwechslung“, ärgerte sich Gérard. „Der Brief des Professors liegt wahrscheinlich in unserer Scheune, und du trägst ein Nichts mit dir herum!“ „Mensch, Henri, wo hast du nur deinen Kopf gehabt?“ fragte Prosper. „Dort, wo du ihn hast: auf dem Hals!“ erwidert Henri. Er war jetzt ganz ruhig. „Versehen und Verwechslung kommen überhaupt nicht in Frage. Woher sollte ich so schnell ein blütenreines Blatt gehabt haben, um es anstelle des Briefes in den Umschlag zu tun?“ „Ja“, meinte Tati gedehnt, „das war doch so: der Bauer Dix hat dir das verschlossene Kuvert gegeben, du hast es vor unseren Augen geöffnet, den Brief vorgelesen und sofort wieder in den Umschlag getan. Ich erinnere mich. Und dann stecktest du ihn gleich in die rechte Schrägtasche deiner Weste.“
Gérard lachte trübe. „Ein Geist, so ein winziger Taschenkobold, wird ja wohl nicht am Werk gewesen sein, obwohl es jetzt beinahe so aussieht!“ „Was das Papier betrifft, hat kein Kobold seine Hände im Spiel gehabt - sofern solche Biester überhaupt Hände haben“, meinte Henri bitter. „Seht euch das Blatt mal an! Ist das etwa gewöhnliches Schreibmaschinenpapier, ein Originalbogen oder ein Durchschlag, wie man ihn im Laden kaufen kann?“ Prosper krümmte seinen langen Hals zu annähernder Bananenform. Der kleine Micha reckte sich. Tati und Gérard schoben die Köpfe vor. Sie betrachteten den leeren Bogen. Eine Weile herrschte gespanntes Schweigen. „Laß mich mal fühlen“, forderte Tati. Sie rieb eine Ecke des leeren Blattes vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. „Dünn wie Seidenpapier, aber es fühlt sich steifer an!“ „Das ist kein Papier, sondern ein papierähnlicher Werkstoff“, meinte Gérard jetzt. „Ich brauche nicht Superhirn zu sein, um euch das zu erklären: Papier wurde früher aus Baumwollumpen und Leinenfetzen hergestellt. Heute nimmt man gewöhnlich Kiefern-, Fichten-, Pappel-, Buchen- und Espenhölzer dazu. Trotzdem werden selbst die finnischen und sogar auch die kanadischen Wälder in Zukunft nicht mehr ausreichen, um den Papierbedarf der Welt zu decken.“ „Ja, aber was hat dein gelehrter Vortrag mit dem Blatt zu tun?“ unterbrach Prosper. Gérard nahm es in die Hand. Und mit noch größerer Entschiedenheit erklärte er: „Das ist kein gewöhnliches Papier. Das ist irgendein Kunststoff, den man präpariert hat. Paßt mal auf. Kommt rasch in den Hausflur!“ Die Gefährten und Loulou folgten ihm eilig. „Hier ist's dunkel - jedenfalls schattig genug“, fuhr Gérard fort. „Jetzt will ich euch etwas zeigen! Seht!“ Er legte das Blatt gegen die hölzerne Tür, zog einen Ärmel seines wollenen Pullis herunter und hielt das Ende in der Hand fest. Dann begann er, mit dem gespannten Pulloverärmel über das Papier zu reiben. Als Prosper ungeduldig zu werden begann, ließ er von seinem Zauber ab: „So, und jetzt tippt mal vorsichtig drauf!“ Micha zuckte zurück. „Ich hab einen Schlag gekriegt!“ „Ach wo, das war nur ein leises Knistern“, meinte Tati. Henri streckte den Zeigefinger aus und tippte auf das Blatt. Er zuckte zusammen. „Es hat einen Funken zwischen Fingerspitze und dem Bogen gegeben!“ bemerkte er. Tati kam ganz nahe heran. Plötzlich sträubten sich ihre Haare in Richtung des Blattes. Gérard ließ es los. Schon klebte es an der Haustür! „Henri, gib mir mal das Kuvert!“ bat er. Er sperrte es so weit auseinander, daß es gerade nicht zerriß. Dabei blickte er lange und aufmerksam hinein. „Ha, da habt ihr's!“ rief er. „Das, was uns der Professor geschrieben hat, liegt in Form von schwarzen Pulverkörnchen in der unteren Falte.“ Er schüttete die winzigen Teilchen auf die Hand und näherte sich dem leeren Blatt an der Tür. Sofort wurden die Körnchen wie magnetisch von dem Bogen angezogen und blieben auf ihm haften! „Ich habe das ganze Blatt gerieben, und jetzt hält das Pulver überall. Wenn ich einen Reibschreiber hätte, würde es nur dort haften, wo ich geschrieben hätte“, fügte Gérard erklärend hinzu. „Aber diese - diese Pulverschrift des Professors ist doch wieder abgefallen“, hielt ihm Prosper entgegen. „Was heißt denn da haften?“ „Schließlich sind wir hier an der Küste“, sagte Gérard. „Aber der Reihe nach: Eben habe ich nichts anderes getan, als das Blatt durch Reibung elektrisch aufgeladen. Man nennt diese Erscheinung Reibungselektrizität. Daher auch die Funken und die gesträubten Haare von Tati. Elektrisch geladene Dinge üben Anziehungskraft aus. Man kann sogar einen dünnen Wasserstrahl dadurch ablenken, der aus dem Hahn rinnt. Wegen dieser Anziehungskraft haben auch die Pulverkörnchen gehaftet. In der feuchten Luft schwindet die Anziehungskraft wieder. Vielleicht hat das schon angefangen, als wir den Brief geöffnet haben. Und dann in der Tasche: Bei diesem Wetter schwitzt man, das ergibt einen Dunst in der Kleidung, Nun, da ist die Schrift eben abgefallen. Das hat der Professor sicher vorausgesehen und auch beabsichtigt.“
„Jetzt wird mir alles klar!“ rief Prosper. „Das Schreiben war präpariert!“ „Das Blatt war präpariert“, bestätigte Henri. „Es blieb uns Zeit genug, den Inhalt zu lesen, dann hat sich die Schrift vernichtet, wie Gérard es uns erklärte!“ Er blickte auf das Kuvert, dessen Anschrift lautete: „An Henri, Tatjana, Gérard, Prosper, Micha - oder den von der Feriengruppe, der zuerst eintrifft. Zu Händen des Herrn Landwirts Dix.“ Die Adresse war seltsam genug, vor allem, weil Superhirn nicht erwähnt war, mit dem sich die fünf doch hatten treffen wollen. Die Gruppe, gefolgt von Loulou, ging wieder auf die Straße hinaus. „Die Adresse ist mit Schreibmaschine geschrieben, und der Brief kam über Paris“, meinte Prosper. „Das will nichts heißen. Es würde niemanden auf die Spur des Professors bringen. Er wollte den Inhalt auslöschen.“ „Aber in dem Brief stand doch nichts Besonderes!“ rief Micha verständnislos. „Glaubst du?“ Henri lachte leise. „Meine jungen Freunde, hieß es da - oder so ähnlich - hm. Aber zur Hauptsache: bin in unerreichbarer Ferne! Stimmt´s?` „Ich erinnere mich!“ bestätigte Tati. Henri legte den Finger an die Nase. Er dachte nach. „Ja, und dann: Diesmal haltet Euch in Marac an den Bauern Dix und an den Campingverwalter Bertrand.“ Prosper nickte. „Vergeßt alles, was Ihr im Hochmoor erlebt habt.“ fuhr Henri fort. „Vergeßt die geheime Bodenstation und die Raumschiffe vor der Todesküste. Ja, und vor allem, und zwar dreimal dick unterstrichen: Betretet das Hoch-Moor nie wieder, sucht auch meine Hütte nicht! Zum Schluß dann: Wenn Euch Euer Leben lieb ist! Wir sehen uns nie wieder, aber ich werde immer an Euch denken. Euer getreuer Freund Charivari. Stand das in dem Brief oder nicht?“ „Ziemlich genau“, erwiderte Gérard stirnrunzelnd. Schon bei der Begrüßung am Vortage, war der Bauer, Herr Dix, damit herausgerückt, daß sie in diesem Sommer nicht mehr im Hochmoor zelten dürften. Und er bestand auch im folgenden Gespräch darauf. „Wie bitte?“ fragte Henri erstaunt Herrn Dix „Damals hatten Sie's uns doch extra erlaubt! Wir wissen doch, daß wir nicht an die Steilküste und zu den Todesklippen dürfen! Aber bei der Bruchsteinkapelle ist es schöner als am überfüllten Badestrand oder auf dem Campingplatz von Marac!“ „Das weiß ich“, sagte der Bauer lächelnd. „Und bisher kam dort auch kaum jemand hin. Aber wenn man nicht aufpaßt, wird bald auf jeder Wiese rund um Marac ein Campingwagen stehen. Außerdem habe ich dem Professor meinen Anteil am Hochmoor verkauft!“ „Dem Professor Charivari?“ rief Micha hoffnungsvoll. „In Paris ist er? Kommt er nicht her? Wenn ihm jetzt das Land gehört, wird er uns bestimmt hinauflassen!“ Henri dachte an die geheime Raumstation unter dem Hochmoor und gab Micha einen Rippenstoß. „Wenn der Professor über einen Rechtsanwalt mit mir verhandelt, braucht er selber nicht im Lande zu sein, Micha“, sagte Herr Dix. „Ich hörte, er hat sich nach Kanada zurückgezogen“, mischte sich die Bäuerin ein. „Da, in der Wildnis, will er wohl seine Gesteinsforschungen fortsetzen.“ „Und Sie haben seine Adresse nicht?“ fragte Gérard niedergeschlagen. „Nein. Und auch der Rechtsanwalt wollte sie nicht nennen“, erwiderte Herr Dix. „Ich bekam den Kaufpreis und eine Summe, um das Gelände einzäunen zu lassen. Ich habe auch Schilder aufgestellt: Vorsicht, Steilküste! Betreten verboten! Lebensgefahr!“ Henri und Tati wechselten einen Blick. „Na ja“, sagte der Bauer arglos. „Wir wollen ja nicht, daß Leute von der Steilküste ins Meer stürzen.“ „Hat sich unser Freund Superhirn gemeldet?“ erkundigte sich Prosper. „Nein. Darüber wundern wir uns auch“, meldete sich Frau Dix. „Im vorigen Jahr war er viel früher in Marac als ihr. Aber sie schwieg, denn ihr Mann hatte sich geräuspert.
„Eure Campingausrüstung ist noch auf dem Dachboden“, fuhr der Bauer fort. „Eßt erst mal hier, dann blast eure Luftmatratzen auf und seht zu, wie ihr für die Nacht in der Scheune zurechtkommt. Morgen sprecht ihr mit dem Campingplatz-Verwalter Bertrand. Der ist ja auch ein alter Freund von euch. Diesmal wird er ein hübsches Zeltplätzchen freihaben, denn das Lager ist bedeutend erweitert worden.“ „Ferien in Marac - ohne den Professor und ohne Superhirn“, murmelte Micha bald darauf beim Einschlafen. „Na, das wird langweilig werden.“ 2. Das Gespenst von Marac „Gehen wir zu Herrn Bertrand, der angeblich ein hübsches Zeltplätzchen für uns übrig haben soll!“ sagte Tati. Sie bogen in das riesige Campinglager vor dem Badestrand ein. „Das ist, als hätte man einen riesigen Malkasten in die Gegend geknallt“, murmelte Gérard. „Seht! Die Zelte und Wagen kleben fast aneinander.“ Der Anblick des Campingplatzes war tatsächlich hübsch. Aber die Freunde, an die Freiheit im Hochmoor gewöhnt, sahen das alles jetzt mit anderen Augen. „Wo soll ich hier meine Ballettübungen machen?“ seufzte Tati. „Wenn man hier ein Bein schwingt, reißt man gleich drei Zelte um!“ „Und wie wird's erst am Strand sein!“ maulte Micha. „Da kriegt man bestimmt nur noch Stehplätze!“ „Ich will nicht wie in einem Bündel Spargel meine Ferien verbringen“ sagte Prosper. Nach einer halben Stunde, als ihnen der Schweiß fast in die Augen rann, trafen sie endlich den Verwalter des Campingplatzes, ihren alten Freund, Herrn Bertrand. „Diesmal bleibt euch wohl nichts anderes übrig, als hier zu zelten“, begrüßte er die fünf, während Loulou freudig an ihm hochsprang. „ich weiß, im Moor geht's nicht mehr; na, ich habe euch ein hübsches Plätzchen reserviert.“ „Puh!“ stöhnte Micha. „Aber wir müssen doch die Sachen nicht gleich herschleppen?“ „Nein, nein“, meinte der Verwalter lächelnd. „Geht erst mal an den Strand, und verschnauft ein bißchen.“ Henri blickte sich um. „Komisch“, sagte er, „ich sehe da überall Gestalten, die ich noch nie auf einem Campingplatz bemerkt habe...“ „Was denn?“ rief Micha neugierig. „Ritter!“ erwiderte Henri. „Lauter Ritter! Vor, neben oder hinter jedem fünften, sechsten Zelt steht ein Ritter!“ „Ein Ritter?“ fragte Gérard verständnislos. Im grellen Sonnenlicht hatte er dauernd die Augen zugekniffen, als er durch das Lager gegangen war. Doch Prosper staunte. „Klar! Henri hat recht! Ich habe mich auch gewundert!“ „Ja!“ schrie Micha. „Da! Jetzt sehe ich auch einen! Ich dachte, das ist ein Taucher, der nachher ins Meer springen will!“ „Ritter?“ Tati drehte sich fassungslos im Kreise. „Wahrhaftig! Man könnte glauben, die Sonne hätte unsere Gehirne zum Schmelzen gebracht. Was sollen Ritter auf einem Campingplatz? Jahrhundertealte Spukgestalten in Lebensgröße - am hellichten Tag in einem modernen Ferienlager?“ Herr Bertrand lachte. „Das ist jetzt hier große Mode!“ sagte er. „Natürlich laufen hier keine Ritter herum - das sind nur aufgestellte Ritterrüstungen. Und auch keine echten, Ich meine: große Souvenirs.“ „Lebensgroße Andenken!“ rief Prosper. Es klang, als meine er: Wer so etwas kauft, hat einen Klaps! Wieder lachte Herr Bertrand. „Ein findiger Kopf macht aus dem Wappenzeichen von Marac viel Geld. Und wißt ihr, wo er die Figuren herstellt?“ „In der Schmiede!“ meinte Gérard. „Nein!“ Bertrand grinste. „Auf dem Schrottplatz! Auf dem Autofriedhof von Marac!“ „Wollen Sie damit sagen, die Ritter sind aus Autoblech?“ rief Prosper.
„Genau! Mit Schneidbrenner, Blechsäge, Meißel, Hammer und Bohrer beschafft sich der Meister Duval die Teile die er für die Ritterrüstungen braucht. Dann lötet und schweißt er sie zusammen, schraubt, was zu schrauben ist und bespritzt das Ganze mit Grausilberlack.“ „Aber wieso macht er ausgerechnet Ritterrüstungen?“ Tati schüttelte den Kopf. „Die passen doch nicht ins Ferienlager! Hätte er aus dem Autoblech nicht Fische machen können?“ Herr Bertrand blinzelte. „Ritter sind beliebter! Die stellen sich die Touristen zu Hause gern neben die Eingangstür. Auch hat die Wappengestalt von Marac besonderen Wert.“ „Und warum?“ fragte Micha. Herr Bertrand erwiderte in fast geheimnisvollem Ton: „Auf den westlichen Hängen steht das Schlößchen Roche Clermont; ein kleiner, fast völlig zugewachsener Bau, der nur mühsam zu erreichen ist. Touristen gehen da nicht mehr hin, denn die Wege sind steil, und unten ist kein Parkplatz.“ „Ja und?“ drängte Micha. „Dort oben soll das Gespenst von Roche Clermont hausen - eine alte Spukgestalt, der Ritter Marmozan! Das ist die Wappengestalt von Marac, die sich Herr Duval zum Vorbild genommen hat!“ „Den, den Ritter...“, stotterte Micha. „Marmozan!“ sagte Herr Bertrand. „Zwar hat Duval ihn nie gesehen. Kein Mensch hat ihn je erblickt - außer einer alten Dame, die behauptet, sie sei mit ihm Omnibus gefahren.“ Tati und die älteren jungen lachten. Doch Micha stand da mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen. „Der Ritter Marmozan, so geht eine alte Sage“, berichtete Herr Bertrand weiter, „ist einst von seinem Bruder eingesperrt worden und verhungert. Als Gespenst klappert er nun da herum.“ „Am Schloß?“ vergewisserte sich Micha. „Nur im Schloß, keine Bange“, beruhigte Herr Bertrand. „Vergiß nicht, Kleiner: Auch das ist nur ein Märchen. Mancher Heimatforscher hat das Gemäuer seit Jahren durchsucht, von unten bis oben, von hinten bis vorn, bei Tag und bei Nacht.“ „Und keiner hat was von diesem - diesem Ritter Marmozan bemerkt?“ fragte Prosper. „Keiner. Vor vielen Jahren war sogar eine Küstenstation in Roche Clermont untergebracht“, fügte Herr Bertrand hinzu. „Allerdings war da das Schloß noch nicht so überwuchert. Nun, die Wachen, die dort wohnten, begegneten dem Ritter nie. Trotzdem - die Einwohner von Marac meiden das Schloß. Sie sind abergläubisch.“ Micha war neugierig genug, sich nach dem Schrottplatz zu erkundigen. Ach will sehen, wie Herr Duval aus kaputten Autos Schrottritter macht!“ verlangte er. Tati hatte keine Lust, an Sagen, Schrott und Schweißgeräte zu denken. Es war auch ohne Schweißgeräte heiß genug. Sie wollte an den Strand. Auch die Älteren hatten jetzt nichts anderes im Sinn, und so vergaß Micha vorübergehend den Ritter Marmozan. Niemand ahnte, daß sie ihm bald begegnen sollten, aber nicht nur einer Rüstung aus Autoblech sondern dem lebendigen Ritter von Roche Clermont. Es war, wie Micha befürchtet hatte: Am Strand sah es tatsächlich so aus, als fände man wegen des Gedränges nur Stehplätze. „Seit wann liegt das Meer in der Luft?“ spottete Prosper. „Die Leute gucken alle in die Höhe, als schwärmen die Fische in den Wolken!“ Ein donnerndes Brausen verschluckte seine Worte. Loulous verängstigtes Winseln war nicht mehr zu hören. Und nun bemerkten die fünf, was das Publikum so fesselte: Über der See, parallel zur Küste, schoß eine Flugzeugstaffel dahin. Doch sie verfolgte offensichtlich kein Ziel. In dauernd wechselnden, staunenswerten Formationen - wie an der Schnur gezogen - blieb sie stets in Sichtweite. Einmal bildete sie ein rundum sausendes, senkrechtes Rad über dem Wasser, dann wieder ein waagerechtes Karussell. Bevor man dazu kam, die tollen Flugfiguren richtig zu betrachten, lösten sie sich auch schon wieder auf und überraschten mit einer blitzschnellen Umgruppierung. Sie formierten sich Tragfläche an Tragfläche zu einer Reihe und kamen wie ein „fallender Vorhang“ herabgestürzt. Schreckensrufe
erklangen. Micha quietschte vor Entsetzen. „Ist das ein Luftkampf?“ kreischte er. Die Flugzeuge waren im Augenblick hoch in der Luft, das Dröhnen wurde schwächer. So hörte man Henris Antwort: „Luftkampf? Quatsch! Hast du nicht gesehen, daß das ein fabelhafter Ringelpiez war? Das ist die Kunstflugstaffel der französischen Luftwaffe!“ „Jetzt weiß ich!“ Gérard patschte sich an die Stirn. „Die macht hier Zirkus zur Unterhaltung der Fremden!“ „Natürlich!“ rief Prosper. „Jedes Flugzeug hat an Rumpf und Tragflächen die Farben der Trikolore, aber in Zebrastreifen! Das ist die Kunstflugstaffel der Aérobats.“ „Ach so“, sagte Tati. „Ich kenne allerdings nur die britischen Flugakrobaten, die Red Arrows; diese roten Pfeile habe ich vor zwei Jahren in England gesehen. Das sind wohl die berühmtesten.“ „Stimmt“, bestätigte Prosper, „aber die Aérobats sind auch nicht zu verachten „Alles nichts gegen Raketen!“ rief Micha aufgeregt. „Alles nichts gegen Professor Charivaris Raumschiffe, die in der Luft, im Weltraum und im tiefen Meer...“ Henri hielt ihm rasch den Mund zu. „Bist du blöde?“ Doch plötzlich imponierte auch ihm die tolle Vorführung der Aérobats nicht mehr; er wußte: Micha hatte recht. Was war das alles hier - im Vergleich mit einem Flug im Raumschiff Monitor? „Freunde“, sagte er, „versuchen wir da irgendwo am Rand einen Platz zu finden. Ich will wenigstens mal kurz ins Wasser gehen!“ Das war den anderen recht; sogar Loulou tapste in den letzten, seichten Ausläufern der Brandung umher, dort, wo die Muschelschalen lagen. Bald aber erinnerte sich Micha wieder an den Ritter Marmozan. Er wollte unbedingt die Werkstatt des Meisters sehen, der aus Autoblech Rüstungen machte. Die Geschichte vorn Ritter Marmozan spukte ihm buchstäblich im Kopf herum. Er hoffte wohl, in der Werkstatt einen gefahrlosen Abglanz des Grauens zu finden - und in dem Rüstungsmacher fast so etwas wie ein gutmütiges Gespenst. Doch Meister Duval war ein moderner junger Mann, und sein Arbeitsplatz war ein eher trostloses Gelände am Ortsrand. Hier häuften sich Autos aller Typen und Marken so, wie sie in der Umgebung liegengeblieben oder aus der Ferne herangeschafft worden waren. Ober dem Zauntor hing ein Schild mit der Aufschrift: „Kaufe Autowracks zu Höchstpreisen! L. Duval, Kunstversand.“ „Kunstversand!“ las Tati laut lachend vor. „Das Zeug aus zurechtgehämmertem Autoblech versendet er wohl auch noch ins Ausland?!“ Der junge Duval bestätigte das kurz darauf: „Ich kriege Bestellungen aus aller Welt“, behauptete er, „Da, aus diesem Kotflügel hämmere ich ein Visier. Der Helm stammt aus zusammengeschweißten Stücken einer Kofferraumklappe, der Brustpanzer aus einem Stück Bus-Seitenteil!“ Die Gefährten bestaunten die fertigen, grausilber lackierten oder angespritzten lebensgroßen Rüstungen. „Glauben Sie an den Ritter Marm... Marm... ?“ fragte Micha, der sich trotz seiner Neugier den Namen noch immer nicht richtig gemerkt hatte. „Marmozan auf Schloß Roche Clermont!“ Meister Duval lachte und fuchtelte mit seinem Hammer herum. „Wenn ich die Rüstungen verkaufe, muß ich wohl daran glauben“, sagte er. „Ich muß wenigstens daran glauben, daß an der Sage etwas Wahres ist, oder?“ „Na ja“, meinte Prosper und grinste dabei, als sie sich verabschiedet hatten. „Das ist eben Herrn Duvals Art, mit dem Müllproblem fertig zu werden. Ganz natürlich! Immerhin besser, als wenn der Schrott auf Wiesen oder an Waldrändern herumliegt!“ „So, Micha, bist du nun beruhigt?“ fragte Tati. „Ach wäre erst beruhigt, wenn ich wüßte, wo der Professor ist“, jammerte Micha. „Daß wir ihn nie wiedersehen sollen, ist zum Heulen! Auch, daß wir nichts von Superhirn wissen!“ „Meinst du, uns gefällt das?“ brummte Gérard. „Guck dir die Gesichter von Henri und Prosper an!“ Tati warf dem älteren Bruder einen prüfenden Blick zu. „Hm“, murmelte Henri, „wir hatten uns für gestern beim Bauern Dix verabredet. Superhirn ist nicht
nur klug, er ist gewöhnlich fast noch pünktlicher als eine elektronische Armbanduhr! Ich denke, wir werden wenigstens einen Brief von ihm kriegen.“ Sie gingen noch einmal durchs Campinglager; sie wollten sich jetzt ihren Zeltplatz zeigen lassen, um ihre Sachen dann vom Bauern Dix zu holen. „Ihr habt euch doch vorhin nach Schloß Roche Clermont erkundigt - und nach dem Ritter Marmozan?“ fragte Herr Bertrand. „Jaja“, bestätigte Tati. „Aber wir haben das Blechzeug inzwischen gesehen, aus dem Herr Duval seine Figuren macht. Wenn ich mir´s recht überlege, ist gegen dieses unedle Material nichts zu sagen. Sogar der berühmte Picasso hat für seinen Büffelkopf eine alte Fahrradlenkstange als Hörner verwendet.“ Jedenfalls ist dieser Ritter Marmozan eher etwas zum Lachen“, kam Gérard auf das Thema zurück, „Hm...“ Herr Bertrand rückte an seiner Baskenmütze. Vielleicht seht ihr das bald ganz anders!“ meinte er. „Aber jetzt lauft zum Bauern Dix!“ Der Bauer Dix wartete schon an der Gartenhecke. „Tja“, empfing er die Gruppe, „mit dem Zelten, fürchte ich, wird es diesmal nichts - weder im HochMoor noch im Campinglager!“ „Aber“, rief Tati, „Sie haben doch gesagt ...“ „Hatte ich“, unterbrach der Bauer mit Grabesstimme. „Das gilt nicht mehr! Auch in meinem Haus werdet ihr nicht bleiben!“ „Wa-wa-was haben wir denn getan?“ rief Prosper. „Die Po-polizei will uns doch nicht etwa wegschicken?“ „Weshalb auch?“ keuchte Gérard trotzig: „Das wäre ja noch schöner!“ Standhaft erklärte Henri: „Ein gegebenes Wort gilt! Auch für Sie und Herrn Bertrand!“ „Daß wir Ihnen im Haus zuviel Arbeit machen würden, begreife ich“, mischte sich Tati ein. „Ebenso, daß uns das Hochmoor versperrt ist. Aber Sie hatten uns dafür versprochen, daß wir auf Bertrands Campingplatz zelten könnten!“ „Ich weiß das alles, ebenso wie Herr Bertrand“, brummte der Bauer. „Doch inzwischen hat ein anderer ein Machtwort gesprochen, einer, dem wir beide schlecht widerstehen können.“ „Etwa - etwa der Ritter Marmozan?“ hauchte Micha entsetzt. Einen Augenblick war Herr Dix ganz offensichtlich verblüfft. Dann sagte er gedehnt: „Wenn du mich so fragst, Micha - dann ja.“ Er holte seine Tabakspfeife aus der Tasche und schob sie zwischen die Zähne. „Der Ritter Marmozan erwartet euch auf Schloß Roche Clermont!“ murmelte er. Die fünf erstarrten. Endlich, nach ein paar Sekunden, lachte Tati. Doch es klang ziemlich verkrampft. „Der Herr Ritter erweist uns die Ehre einer Einladung?“ spottete sie. „Das Gespenst von Roche Clermont? Womöglich sollen wir die Ferien über bei ihm wohnen?“ „Du hast mich richtig verstanden“, bestätigte der Bauer. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und stopfte sie mit Tabak aus einem Lederbeutel. „Roche Clermont ist von heute euer Ferienaufenthalt!“ „Bis - bis wir selber Gespenster geworden sind?“ rief Prosper. „Nee, Herr Dix! Kein Mensch kann uns zumuten, mit Micha in einem Spukschloß zu hausen. Das - das ist geschmacklos!“ „Unverschämt ist das“, grollte Gérard. „Wer hat sich denn so was ausgedacht? Ich möchte in meinen Ferien nicht von Angstschreien geweckt werden!“ Ungerührt paffte der Bauer vor sich hin. Henri beobachtete sein Gesicht genau. Plötzlich gab er Prosper einen Stoß in die Rippen. Doch er mußte erst tief atmen, bevor er es herausbrachte: „Mensch, begreifst du nicht, wen Herr Dix mit Marmozan meint?“ „Was ist?“ wisperte Gérard, sich vorbeugend. „Was hast du zu Prosper gesagt?“ „Der Ritter Marmozan ist eine Tarnung“, behauptete Henri. „Tarnung?“ rief Micha. „Wofür? Für wen?“ „Für den Professor!“ zischte Henri. „Für unseren Professor Doktor Brutto Charivari!“
Herr Dix hatte die Jungen und das Mädchen an der Hecke stehenlassen und war zum Haus geschlendert. Anscheinend wollte er sich in ihre Überlegungen nicht einmischen. „Charivari? Charivari im Schloß Roche Clermont?“ stammelte Prosper. „Du glaubst, er hat seine Raumstation in die westlichen Felsen verlegt? Im Schutz der alten Sage - und weil das alte Gemäuer schwer zu erreichen ist - fühlt er sich dort sicherer als im Hochmoor?“ „Klar, das meint Henri!“ sagte Gérard hastig. Von seinem runden Gesicht waren alle Sorgenfalten auf einmal wie weggewischt. „Bertrand und Dix werden auch jetzt noch nicht wissen, was Charivari wirklich macht und welche Mittel er hat, Raumstationen so schnell zu errichten wie Fertighäuser, unbemerkt wie Spinnennetze - im Weltall, auf dem Meeresgrund oder hoch zwischen Felsen!“ „Sie werden denken, was sie immer gedacht haben“, meinte Tati, „nämlich, daß der Professor über seinen Gesteinsbüchern sitzt und sich um die Welt nicht kümmert. Wahrscheinlich nehmen sie an, er hat sich nach Roche Clermont verzogen, um ungestörter zu sein!“ „Ja, weil die angebliche Spukgestalt Marmozan die Einheimischen davon abhält, ihn zu belästigen“, meinte Gérard und grinste. Der Bauer kam, aus seiner Pfeife paffend, zurückgeschlendert. Er kniff ein Auge zu. „Nun, was habt ihr beschlossen?“ fragte er listig. „Erst einmal, daß wir Ihnen nicht auf den Leim gehen, Herr Dix!“ erklärte Prosper lachend. „Von wegen Ritter Marmozan! Wer uns da nach Roche Clermont eingeladen hat, ist kein Geist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut!“ „Der Professor!“ strahlte Micha. „Das glaube ich auch! Wenn der Professor Charivari im Schloß ist, habe ich keine Angst! Der beschützt uns vor allen Geistern der Welt! Bitte, bitte, Herr Dix, fahren Sie uns gleich hin!“ „Wir können die Zelte, Luftmatratzen, Schlafsäcke und all das andere Zeug nicht die Felsen hochschleppen“, erklärte Tati. Der Bauer stieß eine besonders große Rauchwolke aus seiner Pfeife aus, als er sagte: „Eure Sachen sind längst nicht mehr hier - außer einem Schuh, der der Größe nach Loulou gehören muß.“ Er verbesserte sich: „ich meine natürlich Micha.“ Mit hochgezogenen Brauen fragte Henri: „So, so - unser Zeug hat wohl auch der Ritter Marmozan geholt - wahrscheinlich mit einer Maschine der Kunstflugstaffel?!“ „Das nun gerade nicht“, antwortete Herr Dix lächelnd, „mein Schwager hat alles im Kombiwagen bis zum Berghang gefahren. Für den steilen Pfad zum Schloß hat er sich die beiden Eselchen vom Bauern Cambronne geborgt.“ „Und wie kommen wir nach Roche Clermont?“ erkundigte sich Henri. Und er wollte noch etwas anderes wissen: „Sie haben uns noch nicht gesagt, wem das Schloß nun wirklich gehört, Herr Dix“, erinnerte er. „Wie steht's da mit Wasser und elektrischem Licht? Mit Kochgelegenheit, mit Heizung und so weiter?“ „Kann man von Roche Clermont überhaupt noch aufs Meer schauen?“ fragte Prosper. „Da soll ja mal eine Küstenstation drin gewesen sein, aber das Schloß ist jetzt so zugewachsen, daß man vorn Strand aus keine Turmspitze mehr sieht!“ „Halt, halt, nicht alle Fragen auf einmal!“ wehrte Herr Dix lachend ab. „Zuerst das Wichtigste, aber das dürfte inzwischen wohl klar sein: Das Schlößchen Roche Clermont gehört eurem Freund, dein Professor Charivari.“ „Hurra!“ schrie Micha. „Ja“, fuhr der Bauer fort, „der Professor hat das Schloß dem letzten Herrn von Clermont abgekauft und zwar über einen Pariser Notar. Die Hütte im Moor ist ihm zu klein geworden.“ „Aber Ihre Frau meinte, Professor Charivari sei in Kanada!“ rief Tati. „Und in dem Brief stand nichts von Roche Clermont!“ Herr Dix sagte augenzwinkernd: „Glaubt, was ihr selbst seht! Um die übrigen Fragen zu beantworten: Das Schlößchen war tatsächlich vor vielen Jahren Küstenstation. Zu diesem Zweck hatte man's innen etwas umgebaut. Elektrisches Licht ist vorhanden. Ebenso Wasseranschluß aus einer reinen Quelle. Eine Kochplatte habe ich mit hinaufgeschickt, denn es gibt dort auch Netzanschluß. Hm - und sonst?
Für einen Tennisrasen verbürge ich mich nicht, auch nicht für einen Fußballplatz.“ Gérard machte ein Gesicht, das für die anderen etwa ausdrückte: Jede Erklärung ist unnötig. Wenn Charivari sich da eine Raumfahrtbasis gebaut hat, wird alles vorhanden sein, was man sich wünschen kann! Wir werden ein technisches Schlaraffenland vorfinden, genau wie wir's unter dem Hochmoor gesehen haben. Und es wird genauso raffiniert getarnt sein! Aber es ist gut, daß wir uns dumm stellen ... Trotzdem fragte er: „Wissen die Leute in Marac, daß das Schloß dem Professor gehört?“ „Außer mir und meiner Frau, den Bertrands, meinem Schwager Victor und dem Bauern Cambronne ahnt niemand was“, erwiderte Herr Dix. „Alle anderen mögen glauben, Roche Clermont sei verwaist. Seit Jahrzehnten kümmert es sowieso keinen mehr.“ 3. Eine neue Raumfahrtstation? Das Gebäude auf den zerklüfteten, verkrauteten, von Krüppelbäumen bedeckten Felsen war alles andere als ein Märchenschloß. Es verdiente die Bezeichnung Schloß oder Schlößchen gar nicht. Es ähnelte auch nicht im entferntesten einem prunkvollen Residenzsitz mit Gartenanlagen, Marställen, Statuen, künstlichen Teichen, Pavillons und Freitreppen - noch weniger war es ein malerischer Sommersitz mit Blumenrondells, steinernen Vasen und Gartenbänken. „Das ist ja nur eine olle Burg!“ ächzte Micha. Aber zu einer Burg fehlten die Mauern mit ihren Zinnen, die Söller, die Wehrgänge ... „Sieht aus, als hätte hier ein Riese Murmeln gespielt“, keuchte Gérard. „Nee - Pfefferkuchenstücke aufeinandergeklebt“, meinte Tati. „Die Steine haben jedenfalls diese Farbe. Der Turm ist rund und plump und sieht richtig gequetscht aus, als hätte jemand draufgesessen: wahrscheinlich Gérards Riese. Das Wohnhaus wirkt wie in den Turm reingeschoben.“ „Nichts als eine große Hundehütte für den Ritter Marmozan“, witzelte Prosper. „Aber im Ernst“, fügte er hinzu, „das hat Professor Charivari wieder mal genial hingekriegt! Oben ein Steinhaufen, darunter die modernste Weltraumstation! Los, gehen wir rein!“ in diesem Augenblick bog der Bauer Cambronne mit seinen beiden Eselchen um die Ecke des Hauses. „Seid ihr die Feriengäste?“ rief er. „ja!“ erwiderte Gérard mit Schauerstimme. „Der Ritter Marmozan hat uns eingeladen!' Herr Cambronne war ein kleines, altes Männchen, knorrig wie die vom Wind gekrümmten Krüppelbäume. „Ich danke für den Ritter Marmozan“, krächzte er, „hier hielten mich keine zehn Esel, selbst wenn sie viel störrischer wären als meine beiden.“ Er musterte die Gruppe, wobei er sich sein stoppliges Kinn rieb. ,Na ja“, meinte er, „ängstlich seht ihr nicht aus. Und es ist ja nicht bekannt, daß der Ritter jemandem was getan hätte. Trotzdem ist es kein gemütlicher Ort. Der ganze Berg scheint mir nicht geheuer. Habt ihr gesehen, wo das Flugzeug abgestürzt ist?“ „Welches Flugzeug?“ fragten Henri, Gérard und Prosper wie aus einem Munde. Herr Cambronne strich sich wiederum das stopplige Kinn. „War da nicht so eine Kunstflugvorführung am Strand?“ „Von der französischen Staffel!“ rief Tati. „Aber da ist kein Flugzeug abgestürzt!“ „Doch!“ behauptete Herr Cambronne. „Der Schwager vom Bauern Dix, Victor, der hat's gesehen! Das heißt eigentlich seine Frau. Als wir euer Zeug vom Kombiwagen auf die Esel verluden, erzählte sie's uns. Ihr Garten liegt am Fuß des Felsbergs. Da hat sie gestanden und hat die Vorführung mit angesehen. Die Flugzeuge sind dann wie ein Keil nach Süden abgedreht und weggeflogen anscheinend zu ihrem Heimatflugplatz.“ „Der ist in Point Blanc“, sagte Prosper. „Wir haben sie nach der Luftschau abfliegen sehen, genau in diese Richtung, und zwar vollzählig.“ „Eins ist aber hier aufs Felsmassiv gestürzt', beharrte Cambronne. „Victors Frau kann sich das nicht ausgedacht haben. Sie sagte, eine Tragfläche hätte den Berg gestreift. Das Ding muß irgendwo im
Unterholz runtergegangen sein. Landeinwärts. Weiß der Teufel, wie man da hinkommen soll!“ „Ausgeschlossen!“ rief Henri. Er blickte in die angegebene Richtung, aber dort sah er nichts als natürliches Geröll, ein Auf und Ab von Felsbuckeln und Mulden, zähe, schiefgewachsene Bäume und undurchdringliches Gestrüpp. Nichts deutete darauf hin, daß hier ein Unglück passiert war. „Da müßte doch etwas brennen! Zumindest wäre eine Rauchwolke zu sehen!“ sagte er. „Und die übrigen Maschinen der Staffel würden über der Absturzstelle kreisen“, fügte Tati hinzu. „Wir haben erlebt, welch großartigen Kontakt sie hatten! Wäre da eine Maschine runtergegangen, hätten es die anderen sofort bemerkt!“ „Tati hat recht!“ rief Micha. Er beschattete die Augen mit der Hand. „Ich sehe nichts! Kein Suchflugzeug kreist in der Luft! Ich höre auch kein Motorengeräusch!“ „Victors Frau hatte mit der Feuerwehr telefoniert, und da waren schon zwei Meldungen eingegangen!“ berichtete Cambronne stolz. „Was sagt ihr nun?“ „Auch eine Feuerwehr haben wir nicht gesehen“, erklärte Gérard. „Auf dem Pfad waren wir die einzigen menschlichen Lebewesen.“ „Die Feuerwehr kann hier nicht herauf“, belehrte sie der Bauer. „Sie hat ja keine Esel wie ich; sie ist vollmotorisiert. Sie wird sich zehn Kilometer weiter über einen breiteren Weg voranzukämpfen versuchen. Wenn der Gendarmerie-Hubschrauber von Süden käme, könnte man ihn hier nicht hören. Der Wind weht von See. Und der Hubschrauber fliegt womöglich sehr tief. Aber wenn keine Explosion stattgefunden hat, ist die Unglücksmaschine vielleicht gut zu Boden gekommen. So schneeweiß, wie sie ist, wird man sie gleich erkennen!“ „Schneeweiß?“ fragte Henri verblüfft. „Wer war schneeweiß?“ „Na, dieses - dieses Staffelflugzeug!“ stotterte Herr Cambronne. Prosper lachte. „Nichts gegen Herrn Victors Frau!“ rief er. „Der ist bei der Hitze wahrscheinlich eine weiße Maus über die Augen gelaufen! Die Maschinen der Kunstflugstaffel der Aérobats sind nicht schneeweiß. Sie haben an Rumpf und Tragflächen die blau-weiß-roten Farben der Trikolore! Unter einem schneeweißen Flugzeug stellt man sich so eine Art fliegenden Schwan vor!“ „Klar!“ Auch Gérard grinste. Tati runzelte die Stirn, als fürchte sie jetzt, der Bauer habe am hellen Tage zuviel Wein getrunken. „Vielleicht hat die Frau eine Wolke gesehen“, meinte Micha. Altklug fügte er hinzu: „Frauen verstehen sowieso nichts von der Technik!“ Tati gab ihm einen leichten Klaps. „Hm!“ Herr Cambronne hörte nicht auf, sich das stopplige Kinn zu reiben, während seine Eselchen weltvergessen staubiges Gras rupften. Es schien ihnen zu schmecken wie den Menschen das feinste Gemüse. „Hin, ich werde ja erfahren, was die Feuerwehr festgestellt hat. Nun muß ich mich aber auf den Weg machen. Ich wünsche euch alles Gute. Eure Sachen habe ich erst mal in den Schuppen gelegt!“ „Schuppen? In welchen Schuppen?“ rief Micha. „Hinterm Haus“, erwiderte Cambronne. „Ins Schloß wollte ich nicht.“ Er kicherte. „Hatte keine Lust, den Ritter Marmozan zu stören!“ Als der Bauer mit den beiden Eseln auf dem Pfad verschwunden war - buchstäblich schlugen die Zweige hinter ihm und den Tieren zusammen -, rief Micha: „Ich will zum Professor!“ Das wollten die anderen auch. Sie eilten zur schiefen Tür des Wohnhauses. Henri klopfte an. „Stärker!“ rief Prosper. „Die Tür ist ja so dick wie eine Schiffswand!“ Henri und Gérard schlugen mit den Fäusten dagegen. Drinnen blieb alles still. „Vie-vie-vielleicht ist der Professor Charivari doch nicht in der Burg?“ stammelte Micha. „Wenn uns nun“, er schluckte, „der Ritter Marmozan eine Falle gestellt hat?“ „Unsinn!“ murmelte Henri. Er blickte auf das Türschloß. „Seht mal, der Schlüssel steckt! Und was für ein Schlüssel! Das ist ja schon eher eine Brechstange mit einem Ring dran!“ Ächzend drehte er ihn um. Es rumpelte gewaltig im Schloßwerk. Dann ließ sich die schwere Tür mit
vereinten Kräften öffnen. Sie knarrte allerdings schauerlich in den Angeln. Sie betraten einen winzigen, dunklen Vorraum, nicht größer als ein alter Fahrstuhl. Durch eine zweite Tür gelangten die fünf in einen kahlen Gang. Der Fußboden bestand aus rohen Brettern. Eine alte, geborstene Wandtafel stammte wohl noch aus den Zeiten, als Roche Clermont Küstenstation gewesen war. Eine Glühlampe hing von der Decke herab. „Da sind überall Türen!“ sagte Henri. „Die führen in die vorderen Räume mit Blick zum Meer“, meinte Tati. „Aber rechts entlang muß es zum Turm gehen“, drängte Prosper. „Dort wird Charivari seine Raumstation haben!“ „Aber wo sonst?“ murmelte Gérard. „Puh - wenigstens ist's hier angenehm kühl“, flüsterte Tati, als sie den Gang entlangtappten. Die wiederum sehr starke Tür zum Turm ließ sich leicht aufstoßen. Verblüfft standen die Freunde in einem riesigen, dämmrigen, fast völlig runden und gänzlich leeren Raum. „Das Untergeschoß des Turms“, sagte Henri. Auch er dämpfte unwillkürlich seine Stimme. „Sieht nicht gerade nach einer Raumstation aus“, brummte Gérard enttäuscht. „Mensch, sein Geheimnis bindet Charivari doch den Leuten nicht auf die Nase. Das weißt du doch!“ ereiferte sich Prosper. „Erinnerst du dich nicht an die Hütte im Moor? Da drin sah´s aus, als hause ein Verrückter zwischen kaputten Möbeln und Kisten. Und wo war Charivaris Arbeitsplatz wirklich?“ „Tief drunter in der Erde“, sagte Tati nachdenklich. „Und so wird's auch hier sein“, hoffte Henri. Im vergangenen Jahr hatten die Freunde unter der erwähnten Hütte nichts anderes erwartet als ein Gewirr von Felsgängen, die zur Steilküste führten. Statt dessen hatten sie supermoderne, blitzsaubere Räume angetroffen wie in einem gewaltigen Werkbüro: alles war durch indirektes Licht erhellt, die Zimmer waren durch Schleusen voneinander getrennt; es gab Türen, die sich automatisch öffneten, ein Selbstbedienungskasino, in dem das fertige Essen portionsweise auf Automatikklappen aus der Wand glitt. Schließlich waren sie in die Schalt- und Befehlszentrale der fortschrittlichsten Raumfahrtbasis der Welt gelangt: fernsehgerätähnliche Bildschirme, rund, mit grünlichen Mattscheiben, auf denen quadratische Linienmuster zu sehen waren - Spulen, die sich wie rasend drehten - orangefarbene, rote, grüne, violette, blaue und gelbe Signallampen füllten die Räume der Zentrale. „Eine elektronische Anlage“, hatte ihnen Freund Superhirn damals erklärt; der äußerst schnell und scharf denkende Junge war bei jenem Abenteuer zum Glück von Anfang an dabeigewesen. Und in einem ellipsenförmigen Riesenraum befand sich der gewaltige Tastenschreibtisch des Befehlshabers der geheimen Erd-, Untersee- und Mondstützpunkte mit den Allzweckfahrzeugen Monitor, Meteor und Rotor. Der unterirdische Befehlssitz des mächtigen Professors. „Charivari wird schon kommen“, beschwichtigte Henri die anderen. „Wahrscheinlich hat er uns drunten in seiner Befehlszentrale längst auf dem Bildschirm gesehen, und er wartet nur noch ein Weilchen, bis er den Bauer mit den Eseln weit weg weiß.“ Das leuchtete allen ein. „Komisch, daß in diesem Turm noch nicht mal eine Ritterrüstung oder eine Nachbildung vom Ritter Marmozan steht“, wunderte sich Prosper. „Das wäre doch eine herrliche Abschreckung für abergläubische Leute, vor allem für Kinder! Stellt euch vor, es käme eine Jugendgruppe auf die Idee, sich hier einzunisten - hier, über der Weltraumzentrale. Dann würde es Charivari wieder so ergehen wie voriges Jahr mit uns im Hochmoor! Nur womöglich schlimmer - ach, was sage ich! Wir haben ihn ja gerettet, andere aber könnten ihn verraten!“ „Also, jetzt sollte Charivari sich allmählich melden“, brummte Gérard ungeduldig. In diesem Augenblick hörten sie einen schrillen Schrei. Er kam aber nicht aus der Tiefe des Felsmassivs unter der Burg, sondern von oben. Und er klang nicht etwa durch eine Lautsprecheranlage, sondern durch eine Lücke in der Holzdecke über den Köpfen der fünf Gefährten.
Der fünf? Micha fehlte! Und Tati hatte das Winseln des Pudels nicht bemerkt. Waff, waff! bellte Loulou jetzt laut. Waff, waff „Micha ist über die Leiter nach oben gestiegen!“ rief Prosper. Aus dem Kleinen wurde man niemals klug. Manchmal war er furchtbar ängstlich, zuweilen aber kletterte er den anderen voran wie eine tollkühne kleine Wildkatze. Henri rannte zur Leiter, reckte den Hals und schrie: „Was ist los, Micha? Was siehst du denn da oben?“ „Die Station!“ klang Michas aufgeregte, vorn Echo seiner eigenen Stimme bekräftigte Antwort. „Nichts wie rauf!“ drängte Gérard. Die drei Jungen und das Mädchen hasteten die Leiter hoch. Auf der Plattform des oberen Turmstockwerks standen sie starr wie Salzsäulen. Aber ihre Köpfe drehten sich beinahe auf den Hälsen. Dumpf, wie durch zwei Taschentücher hindurch, murmelte Gérard: „Das ist die neue Raumstation?“ Durch die Mauerlöcher drangen rötliche Sonnenstrahlen von Westen her in den runden Raum, genügend Licht, um zu überblicken, was hier vorhanden war. Der Raum war fast völlig mit verstaubten Regalen, alten Holzschränken, Tischen und Pulten vollgestellt. In einer Ecke stand ein riesiger Kasten mit Drehknöpfen, den ein großer Speichenrahmen überragte. Ober ihn - ringsherum - waren Drähte gezogen. Daneben sah man etwas, das an eine riesige, zweistöckige Glühlampe erinnerte... Rechts davon lagen gewaltige Spulen aus lackiertem Draht, vor denen Eisenstäbe mit kugeligen Enden sich beinahe berührten. Henri sah sich das ganze Gewirr aufmerksam an. „Die Anfänge der Telegrafie, Freunde!“ behauptete er. „Urgroßvaters Küstenwachstation!“ rief Prosper enttäuscht. „Wir denken, wir finden hier das Modernste - und kommen in eine technische Rumpelkammer“, maulte Henri. Überall hingen uhrenähnliche Zeigerinstrumente an den Wänden, aber am sonderbarsten schien eines: Es war zwischen den beiden kleinen Fenstern zum Meer angebracht. Man hätte es für eine braunlackierte Kiste mit einem aufgesetzten Barometer halten können - wenn die zifferblattähnliche Skala um den Zeiger herum nicht aus Buchstaben bestanden hätte. „Also, ich habe alle möglichen Instrumente im Physikunterricht gesehen“, meinte Henri. „Mit diesem Buchstabenbarometer werde ich allerdings nicht fertig!“ Doch eines erkannten alle sofort: Dies war eine Station, eine Anhäufung von technischen Geräten, von elektrischen und sonstigen Apparaturen - auf gar keinen Fall aber eine Zentrale, wie die Gefährten sie von der geheimen Raumfahrtbasis unterm Hochmoor gewohnt waren. „Was soll denn das alles?“ fragte Tati unwillig. „Ich denke, das ist die neue Raumstation?“ Henris, Prospers und Gérards Gelächter klang schaurig. „Neu!“ höhnte Prosper. „Hier hast du das Vermächtnis von Edison, Morse und Marconi in greifbaren Stücken!“ „Und von Raumstation, Raketenbasis, chemischen oder biologischen Labors keine Spur!“ fügte Gérard hinzu. „Guck mal, die Spinnweben! Auch die stammen aus Großmutters Zeiten!“ Tati wich zurück. Es war schrecklich still in dem unheimlichen Rund des oberen Turmstockwerks. „Aber...“, begann Tati, „das kann doch unmöglich der Befehlsraum des Professors sein! Mit diesem furchtbaren alten Zeug kann er doch keine Raumschiffe vom Boden aus leiten!“ „Nein, haha, allerdings nicht!“ lachte Gérard düster. „Ich würde nicht spotten“, meinte Henri, der sich aufmerksam umgesehen hatte. „Einige dieser Sachen stammen aus der Zeit der großen Erfindungen.“ „Na ja“, murmelte Prosper. „Da hat Henri recht. Auf diesem ungefügen Zeug haben ja nicht nur neue Erfindungen aufgebaut, sondern das Klotzige ist immer mehr verfeinert und verkleinert worden.“ „Superhirn würde das den Miniaturisierungs-Prozeß nennen“, erinnerte sich Gérard, ernsthaft. „Die
Technik bemüht sich eben fortwährend, mit immer kleineren Geräten immer mehr zu leisten. In den ersten Fotoapparaten hätte Micha bequem Platz gehabt, in den neuesten kann sich keine Fliege mehr regen!“ „Still!“ rief Henri. „Da schlägt eine Glocke an!“ Er wandte sich um. „Da, auf dem Buchstabenbarometer der komischen Zeigertafel!“ „Der Zeiger bewegt sich!“ rief Tati entsetzt. „Er zeigt mal auf diesen, mal auf jenen Buchstaben!“ „Henri!“ sagte Prosper hastig. „Das ist ein uralter Zeigertelegraf. Der sendet nicht lange und kurze Töne wie ein Morseapparat, sondern Buchstaben, die man zu Wörtern zusammensetzen muß!“ „Hat jemand einen Notizblock?“ fragte Henri aufgeregt. „Kugelschreiber habe ich!“ Er sauste zur Wand mit dem Zeigertelegrafen. „Wie lautet die Nachricht?“ erkundigte sich Tati. „Den Anfang habe ich versäumt“, sagte Henri. „Da! Der Zeiger ruckt wieder!“ „Aufschreiben, aufschreiben!“ drängte Gérard. Alle starrten auf die Buchstabenuhr mit dem einen, von einem Buchstaben zum anderen ruckenden Zeiger. „Da verulkt uns einer“, meinte Prosper. Nach einer Weile rührte sich der Zeiger nicht mehr. Es ertönte auch kein weiteres Glockenzeichen. „Hm!“, Henri blickte auf seine Aufzeichnungen, Aber unbekannte Telegrafist gibt folgendes durch soweit ich richtig mitgeschrieben habe: Nicht Ritter Marmozan suchen. Lebensgefahr! - Hier fehlt ein ganzes Stück. Weiter: Richtet die Zimmer ein. Wartet auf mich. Bei Angriff im unteren Turmteil. Verrammelt euch. Und nun kommt das Eigenartigste!“ „Was?' fragte Tati erschrocken. „Achtet auf weißes Flugobjekt. Ich suche es!“ Tiefe Stille herrschte. Man hörte nur noch Loulous leises Winseln am Fuß der Leiter. Schließlich räusperte sich Gérard und wiederholte: „Nicht Ritter Marmozan suchen? Lebensgefahr?“ „Die Zimmer sollen wir einrichten?“ rief Tati. Henri blickte auf die Notiz: „Er wird Schlafräume gemeint haben - sicher hat der Zeiger versagt. Hm. Wir sollen auf ihn warten. Aber auf wen eigentlich? Und aus dem übrigen geht hervor, daß wir uns auf einen Angriff gefaßt machen müssen.“ „Und daß wir die Türen verrammeln sollen“, vollendete Prosper gedrückt. Er - der Nachrichtengeber - sucht inzwischen den weißen Flugkörper!“ „Die abgestürzte Maschine!“ Tati schrie es fast. „Das Ding, von dem Herr Cambronne immer gefaselt hat!“ „Hörst ja, es war vermutlich keine Faselei“, bemerkte Gérard. „Was hast du aufgenommen, Henri? Achtet auf weißes Flugobjekt? Das kann soviel bedeuten wie: Hütet euch vor diesem Ding!“ Henri erhob sich. „Die Nachricht kommt von Professor Charivari“, behauptete er. „Er ist irgendwo in der Gegend, um den Landeplatz des Flugkörpers festzustellen. Ich schätze, es ist ein feindliches Raumschiff. Die Besatzung will diese Station ausheben!“ Wieder schwiegen alle. „Willst du mir mal erklären, was es hier auszuheben gibt?“ versuchte Prosper zu spotten. „Etwa Urgroßvaters Kabelsalat da? Oder die Radioröhren für eine Rummelplatzbeleuchtung? Wo ist denn die Station hier?“ „Auf jeden Fall scheint mir das mit dem Ritter Marmozan kein Spaß zu sein“, erwiderte Henri ernst, „ebenso, wie es bestimmt kein Zufall ist, daß der Geister-Telegrafist von einem weißen Flugobjekt spricht. Der Bauer hat was von einem schneeweißen Flugzeug erzählt. Das gibt doch zu denken!“ „Ich will sofort nach Marac!“ forderte Tati. „Hier bleibe ich keine Minute länger, keine Sekunde:“ „Du willst dir wohl auf dem Pfad das Genick brechen?“ rief Prosper. „Vergiß die Abendschatten nicht! Ein ganzes Stück ist Hohlweg durch den Fels!“ „Vor allem herrscht draußen die meiste Gefahr, wenn wir die Nachricht nicht falsch deuten“, meinte Henri. „Die Leute aus dem gelandeten Raumschiff - so verstehe ich das - könnten uns angreifen! Warum sollten wir sonst die Türen verrammeln?“
Tati schwieg. „Aber wir müssen unsere Sachen aus dem Schuppen hereinholen“, fiel Micha ein. „Los!“ befahl Henri. „Bevor es einer so mit der Angst kriegt, daß ihm die Knie zittern! Überlegen wir nicht lange - holen wir unser Zeug!“ „Die neue Weltraumstation liegt unter diesem alten Kasten!“, lenkte Gérard ab. „Ich lasse mir das nicht ausreden. Das Felsmassiv wird bis hinab in Meerestiefe von Stollen und Gräben, von Fahrstühlen und Rolltreppen durchzogen sein. Wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht den Zugang? In der unterirdischen Zentrale sind wir bestimmt sicherer als hier!“ „Da ist eine Tür! An den Seiten schimmert Licht hindurch!“ rief Prosper. Henri hatte sagen wollen: Eine Tür im ersten Stockwerk kann nie ins Felsmassiv führen! Wenn schon, dann müssen wir unten nach einer Bodenklappe suchen! Doch es ging alles so schnell, daß niemand ein vernünftiges Wort herausbrachte. Der gemeinsame Ruf der anderen war eher ein Angstschrei: „Haaalt...!“ Prosper hatte die Tür in der Mauer schwungvoll aufgestoßen: Nicht künstliches Licht, sondern die nachmittägliche Helligkeit des der Sonne abgewandten Teils des Burggeländes drang herein. Die Tür führte nach draußen. Und Prosper sauste über die Schwelle ins Freie! Doch er fiel nicht in die Tiefe hinunter. Wie ein Fisch am Haken, so zappelte er an der Riesenklinke. „Hilfe!“ brüllte er. „Hilfe!“ Henri und Gérard gelang es langsam, die Tür so weit zuzuziehen, daß der Freund ins Turminnere zurückspringen konnte. Niemand beglückwünschte ihn zu dieser Meisterleistung. „Auch ohne Herrn Marmozan und ohne merkwürdige Flugkörper und andere geheimnisvolle Dinge scheint es hier gefährlich genug zu sein“, schalt Tati. „Man rennt doch nicht wie ein Blödsinniger auf eine Tür zu, wenn man nicht weiß, wo sie hinführt! Noch dazu in einer alten Burg!“ „Dein Vorstoß in die Meerestiefe hätte beinahe im Krankenhaus von Marac geendet“, brummte Gérard. „Auf der anderen Seite ist noch eine Tür!“ meldete Micha. „Die geht nach innen auf“, stellte Henri fest. Sie führt auf einem Gang!“ Er öffnete dabei schon die nächsten Türen. „Kinder!“ hörte man ihn rufen. „Lauter ordentliche Zimmer; Fenster alle zur Seeseite!“ Waff! bellte Loulou am Fuß der Leiter verzweifelt. Doch selbst Tati war neugierig auf die Zimmer, so daß sie die jämmerlichen Laute nicht beachtete. „Prima“, staunte Prosper im ersten Raum, der an den Turm angebaut war. „Aber komisch - hier sieht's fast wie in einer Amtsstube aus!“ Gérard blickte aus dem Fenster. „Ich sehe so eine Art Terrasse mit einer Mauer! Dahinter Busch und Kraut - und wenn mich nicht alles täuscht, glitzert in der Ferne, ganz tief unten, das Meer!“ „An diesem Zimmer war die alte Küstenwachstation“, vermutete Henri. Er blickte nach oben: „Die Wendeltreppe führt zu einer Dachluke, ich nehme an, auf die Turmplatte!“ Tati hatte in die Nebenräume geblickt und festgestellt, daß dort einfache Eisenbetten standen. Dort mochte die Wachmannschaft geschlafen haben, und diese Zimmer mit der schönen Aussicht waren sicher für die Gäste bestimmt. Doch Henri öffnete bereits die Dachluke. „Kommt schnell mal rauf!“ forderte er. „Wie ich sehe, ist alles abgesichert! Die Turmplatte dient als Ausguck!“ Prosper und Gérard, begriffen, was er meinte. Den Ausguck hatten die Küstenwächter vom Dienstzimmer aus benutzt. Von dort oben hatten sie den Schiffen Signale gegeben - oder Signale von See her empfangen. jetzt würde man vielleicht Professor Charivari im Gelände herumpirschen sehen und das geheimnisvolle weiße Flugobjekt entdecken können ... Schließlich standen alle auf der Dachplatte des Turms. Die Ringmauer ging Henri bis an die Hüfte und Micha bis zu den Schultern. Also bestand für den Kleinen 'keine Gefahr, hinabzustürzen.
„Durch die Zweige und Blätter sieht man ein Stück von Marac!“ sagte Prosper begeistert. „ja, und da das Meer! „ „Ich kann sogar das Hochmoor erkennen, wo wir im vorigen Jahr gezeltet haben!“ rief Tati. Gérard blickte zur Mitte der Turmplatte. „Was sind denn das für komische Geräte?“ fragte er staunend. „Abgebrochene, stillgelegte Signalmasten“, erklärte Henri. „Und natürlich alte Signale. Das sind Semaphoren, Flügelsignale zur Handbedienung. Daneben, die Gestelle mit den halbblinden SpiegelDrehtellern, sind Heliographen, Sonnenlicht-Telegrafen, ebenfalls Handsignale. Die hat man bei Tage verwendet, ganz früher, als es noch nichts anderes gab. Natürlich nur bei geeignetem Wetter.“ „Und wie hat man nachts signalisiert?“ fragte Tati. „Na, mit Lampen, du Schaf“, antwortete Henri lachend. „Entweder mit Fackeln oder mit Petroleumlampen.“ Sie blickten über die Ringmauer hinab auf den Pfad. „Und wo ist der Draht, den der Professor durchs Gelände gezogen hat, um uns Zeichen zu geben?“ wunderte sich Gérard. Henri spähte über die Mauer. „Er führt dicht unter uns aus dem Turm heraus - da, über diesen pfahlartigen Baum - und weiter landeinwärts ins Gestrüpp hinein. Charivari muß einfach ein Zweitgerät und eine Rolle Gärtnerdraht mitgenommen haben. Mit so einem Packen dicker Kabel, wie wir sie im Turm sahen, würde er nicht weit kommen.“ „Nee“, meinte Prosper. „Er kann ja nicht wie ein Seekabelleger im Gestrüpp rumschwanken.“ Plötzlich reckte er den Hals. Es schien, als wollten sich seine Haare sträuben: „Da steht - steht ...“ „Ja!“ hauchte Prosper fassungslos. Und Henri sagte wie im Traum: „Wo kommt der denn her ... ?“ 4. Ein Auftrag für Superhirn Vor der Burg Roche Clermont stand Superhirn, der von Anfang an so sehnlich herbeigewünschte, fast schon aufgegebene Freund, der spindeldürre „Eierkopf“ Marcel mit den dicken, runden Brillengläsern - der Retter aus vielen Nöten. „Superhirn!“ schrie Tati begeistert. Sie war die erste, die die Sprache wiederfand. „Wo kommst du denn her? Bist du vom Himmel runtergefallen?“ „Ich nicht“, rief der dünne Junge zurück. Niemand achtete auf die sonderbare Betonung. „Aber ich merke, ihr habt das Schloß noch nicht erforscht, sonst hättet ihr längst meinen Schlafsack und all mein Zeug gefunden!“ „Wo ist der Professor?“ brüllte Gérard. „Er hat uns Nachrichten gefunkt! Wir sollen die Türen verrammeln - oder was er da meinte. Jedenfalls besteht Gefahr!“ „Nicht mehr!“ erwiderte Superhirn, so laut er konnte. Das Schreien strengte ihn an. „Der Mann mit den Nachrichten war ich!“ Er schwenkte einen Gegenstand, der unschwer als ein zweites Zeigerkästchen zu erkennen war. Den Draht hatte er wohl inzwischen abmontiert. „Ist die Tür offen?“ „Schlüssel steckt noch!“ rief Henri. „Komm rein!“ Schnell wie die Feuerwehr eilten alle ins Erdgeschoß, wo zuerst einmal der Pudel begrüßt werden wollte. „Kommt, wir gehen in den Rittersaal, da ist's gemütlich!“ rief Superhirn. Zu diesem Raum, den die fünf noch nicht kannten, weil sie gleich zum Turm gelaufen waren, führten drei Türen im Erdgeschoß. Der Saal war dunkel getäfelt. Er enthielt eingebaute Bücherschränke und einen gewaltigen Kamin. Die Fenster zur Seeseite waren hoch und schmal. In der Mitte stand ein rechteckiger, für seine Länge ziemlich schmaler, schwerer Tisch. Die dazu passenden Stühle hatten fast senkrechte Rücklehnen. „Was sind denn das alles für geheimnisvolle Sachen?“ drängte Prosper. „In Marac finden wir keine Nachricht von dir vor, dann heißt es, der Professor bestelle uns aufs Schloß. Kaum sind wir da, fängt so ein alter Apparat in dem Fledermausturm an zu klingeln. Wir hören was von Rittern, Lebensgefahr,
von einem weißen Flugobjekt und so weiter - und dann stehst du plötzlich vor der Tür!“ Superhirn lachte. Er legte das Zeigerkästchen auf den Tisch. „Euch eine Nachricht zu geben, war ein rascher Einfall von mir. Ich kenne das technische Gerümpel im Turm nämlich schon. Ich bin ja den dritten Tag hier.“ „Den dritten Tag?“ Tati war empört. Doch Superhirn fuhr unbeirrt fort: Als ich in Marac ankam, übergab mir Herr Dix einen Brief von Professor Charivari. Darin stand, daß er Roche Clermont gekauft habe und daß wir alle dort seine Gäste sein dürften. Aber der Text enthielt etwas Sonderbares. Deshalb bat ich Herrn Dix und seine Frau - und auch Bertrands - euch noch nichts zu verraten. Ein Satz enthielt die klare Anweisung: Superhirn! Geh erst allein ins Schloß hinauf und nimm des Ritters Augen. Dann erst übermittle deinen Freunden die Einladung.“ „Des Ritters Au-au-augen?“ fragte Prosper. Superhirn lachte ärgerlich. „Seit zweieinhalb Tagen bin ich damit beschäftigt, zu erforschen, was Charivari meinen könnte. Heute vormittag bin ich nur mal schnell nach Marac hinuntergelaufen, um mir eine Tragtasche voller Proviant zu holen. Dabei habe ich Victor gebeten, Dix und Bertrand Bescheid zu sagen, daß ihr heraufkommen sollt. Vielleicht könnt ihr mir helfen!“ Ja, und was war das für ein weißes Flugobjekt?“ Superhirn winkte ab. „Geklärt und doch wieder nicht geklärt! Ich habe dieses Flugobjekt gefunden. Das war ein Ding, wahrhaftig - ich habe gedacht, ich träume . . .“ Er schüttelte sich. „Trotzdem scheint es mir jetzt mehr ein Rätsel als eine Gefahr zu sein. Von Robane her sah ich Feuerwehrleute kommen, vor allem kreiste ein Hubschrauber über der Schlucht landeinwärts. Aber er flog bald wieder ab. Er muß über Point Blanc die Meldung bekommen haben, daß kein Flugzeug vermißt wird. Wir brauchen hier also keine Spürhunde zu befürchten, denke ich.“ „Hat Herr Cambronne auch dir was von diesem schneeweißen Flugzeug vorgefaselt?“ erkundigte sich Gérard. „Ich habe den komischen Flieger gesehen“, behauptete Superhirn grinsend. Doch sein Grinsen wirkte alles andere als vergnügt. „Ich sagte ja: das war ein Ding!“ „Eine Rakete? Ein fremdes Raumschiff?“ rief Henri. „Nein“, erwiderte Superhirn düster, „eine Möwe! Ihr habt richtig gehört“, ächzte er. „Der Apparat, der da runterging - groß wie ein Flugzeug -, war nichts als eine riesige gewöhnliche Möwe! Habt ihr je etwas von Alteration gehört?“ „Du meinst Mutation?“ fragte Tati. Superhirn wehrte ab: „Nein, das meine ich nicht. Mutationen sind mehr oder weniger plötzliche Änderungen der Eigenschaften lebender Wesen durch Wandlung des Erbguts. Mutationen können aber auch durch Strahlen, Hitzeschocks und Chemikalien bewirkt werden. Manche Wissenschaftler erhoffen sich zum Beispiel von chemikalischen Mutationen eine neue Art von Menschen, einen, der Vernunft und Klugheit von zehn Nobelpreisträgern in sich vereinigt, einen, der ohne jeglichen Egoismus, ohne persönlichen Ehrgeiz nur dem Wohl der Menschheit dient.“ „Einen Typ wie Superhirn“, spöttelte Prosper. „Nein, wie Professor Charivari!“ rief Micha. „Unsinn“, sagte Superhirn ärgerlich. „Es geht um den Zukunftsmenschen, nicht um einen mehr oder weniger genialen oder gescheiten Kopf der Gegenwart. Charivari kommt diesem Typ allerdings ziemlich nahe.“ „Was hat das mit deiner Möwe zu tun?“ fiel Tati ungeduldig ein. „Mutationen, also Abänderungen von Eigenschaften lebender Wesen, sind ein Erbprozeß oder die Folge von künstlichen Einwirkungen“, fuhr Superhirn ungerührt in seinem Vortrag fort. „Doch man hat noch nie aus einer Mücke einen Elefanten machen können - das wäre eine Alteration. Eine Möwe in der Größe und mit der Spannweite eines Seeadlers wäre schon ein kleines Alterationswunder und nun gar eine, die die Ausmaße eines Sportflugzeugs hat!“ Er wischte sich wieder die Stirn. Dann sagte er: „Aber die, die ihre Bruchlandung auf dem Felsmassiv gemacht hat, war so groß! Das kann ich beschwören!“
„Du nimmst an, der Vogel war kurze Zeit vorher ein Tier wie alle anderen seiner Art?“ fragte Henri. „Denn darauf willst du doch mit deiner Alterationsidee hinaus!?“ „Du merkst aber auch alles“, meinte Superhirn lächelnd. „Vor allem glaube ich mit Bestimmtheit, er war noch heute morgen, ja bis kurz vor seinem Flug hierher nicht größer und nicht kleiner als seine Artgenossen. Etwas muß ihn ganz plötzlich verändert, ins Riesenhafte vergrößert haben.“ Bedeutungsvoll fügte er hinzu: „Wir hätten es also mit einer explosiven Alteration zu tun, deren Ursache wir nicht kennen. Darüber sind wir uns doch einig?“ „Ob noch mehr von diesen Vergrößerungsviechern vorhanden sind?“ überlegte Gérard laut. „Cambronne sprach nur von einem schneeweißen Flugzeug, das die Schwester vom Bauern Dix gesehen hätte. Er sagte auch was von Anrufen bei der Feuerwehr - aber die schienen sich alle nur auf das eine Flugobjekt zu beziehen.“ „Meinst du, ein Wissenschaftler hätte was mit der Sache zu tun?“ fragte Henri. „Professor Charivari vielleicht?“ rief Tati schnell. „Wo ist er eigentlich? Erst meint Dix, er sei in Kanada, dann kriegen wir einen Brief - und dann . . .“ dann denken wir, er erwartet uns auf Roche Clermont fuhr Gérard fort. „Und schließlich bilden wir uns ein, er sei der Telegrafist im Busch“ ' sagte Prosper. „Charivari leitet eine neue Meeresbodenstation“, erklärte Superhirn. „Richtiger: er macht Versuche einer Besiedelung des Meeresgrundes. Das heißt, er will die Voraussetzungen dazu schaffen.“ „Hier, vor der Felsküste?“ fragte Micha hoffnungsvoll. „Oder bei den Steilklippen hinterm Hochmoor?“ „Blödsinn“, meinte Gérard. An dem Brief stand ja, wir würden ihn nie wiedersehen, er sei in unerreichbarer Ferne! „ „Und was stand in deinem Brief, Superhirn?“ wollte Henri wissen. Der dürre Junge zog ein Kuvert von der Art hervor, wie es die anderen auch erhalten hatten. Er nahm das Blatt heraus und sagte: „Also, hier steht . . .“ Selten hatten die Gefährten Superhirn so verblüfft gesehen wie in diesem Augenblick. Er wendete das Blatt immer wieder und beendete den Satz kaum hörbar: „ ... hier steht nichts!“ Dann rieb er sich erregt die Nase. „Nicht möglich!“ „Oh, du größtes aller Superhirne von Marac bis zu den Sternen!“ wieherte Prosper vor Lachen. „Bist du nie auf den Gedanken gekommen, ihn ein zweites Mal zu lesen? Du hättest wahrhaftig früher bemerken können, daß das Blatt präpariert war! Auch die Schrift auf unserem Brief hat sich schnell in Wohlgefallen aufgelöst!“ Henri berichtete von der bösen Überraschung am Vormittag. „Ja, aber wir wissen immer noch nicht, was das alles bedeuten soll!“ sagte Gérard. „Ins Hochmoor sollen wir nicht, wenn uns unser Leben lieb ist. Wir dürfen auch die Hütte nicht mehr aufsuchen, in der Charivari zum Schein gewohnt hat. Die Angst vor Ritter Marmozan nutzt er aus, damit die Leute von Roche Clermont fernbleiben. Für uns aber kann hier keine Gefahr bestehen, sonst würde er uns nicht eingeladen haben. Und doch hat er das im Brief an Superhirn gestanden.“ Superhirn nickte. „Ja. Darin stand: Geh erst allein ins Schloß und nimm des Ritters Augen! Wie ich Charivari einschätze, ist das ein lebenswichtiger Befehl. Und wie er mich einschätzt, müßte ich den Sinn dieses Satzes begreifen. Aber ihr könnt mich kopfstellen - da bin ich überfordert!“ „Es ist also doch was dran an der Sache mit dem Ritter Marmozan!“ sagte Tati. „Das steht im Widerspruch zu dem angeblich albernen Spuk!“ „Im Gegenteil“, murmelte Superhirn. „Es reimt sich mehr und mehr zusammen: Ich sollte hier eine Aufgabe lösen, die mit dem Ritter zusammenhängt, und erst danach sollte ich euch nach Roche Clermont holen. Ich habe eigenmächtig gehandelt, in der Hoffnung, ihr könntet mir helfen!“ „Klar! Wir werden dir helfen!“ betonte Henri. Superhirn achtete nicht darauf, sondern dachte nach. Dann sagte er: „Geheimdienstleute und alte Kriminalbeamte behaupten, wenn kurz nacheinander an einem verdächtigen Ort zuviel Merkwürdiges geschieht, so besteht zumeist ein Zusammenhang.“ „Welchen verdächtigen Ort meinst du?“ fragte Prosper. „Roche Clermont?“
„Marac!“ erwiderte Superhirn. „Ich meine den ganzen, hübschen Küstenort mit allem Drum und Dran, Drüber und Drunter. Das Verdächtige ist die nur uns bekannte Tatsache, daß im Hochmoor die verlassene Weltraumstation liegt. Da könnten zum Beispiel - trotz bester Absicherung - ein paar Apparate verrückt spielen. Und nun weist Charivari sogar noch brieflich auf die Gefährlichkeit dieser Gegend hin! Gleichzeitig benutzt er die Rittersage als Abschreckung für sein neuerworbenes Schloß, schreibt mir aber, ich solle mir Marmozans Augen nehmen. Ein Geist aus Dunst - oder ein rostiger Ritter aus vergangenen Jahrhunderten - hat keine Augen! Weiter: Ihr habt mir von der Kunstflugstaffel erzählt. Die Maschinen habe ich auch ein paar Minuten vorn Turm aus beobachtet. Ich sah sie abschwirren, kurz bevor der weiße Riesenvogel kam. Ich sehe, nein, ich ahne da Zusammenhänge.“ „...die bis auf den Meeresgrund zurückgehen?“ unterbrach Henri. „Bis zur fernen UnterseeBodensiedlung Charivaris?“ „Genau!“ nickte Superhirn. „Und die Schlüssel zu dem Rätsel sind die Augen Ritter Marmozans!“ 5. Verbindung mit geheimer Tiefseestadt Als die Sonne hinter dem Felsmassiv verschwunden war, kamen Superhirn und Henri aus dem Gelinde zurück. Sie brachten eine für die Jungen enttäuschende Nachricht mit. Nur Tati und Micha waren erleichtert. Der unheimliche Riesenvogel war zu seiner Normalgröße zurückgeschrumpft, berichteten sie. Henri hatte das Monstrum fotografieren wollen, aber in der muldenartigen Höhle hatten Superhirn und Henri nichts anderes gefunden als eine tote, ganz gewöhnliche Möwe. „Die Alteration ist zu rasch erfolgt“, versuchte Superhirn sich die Sache zu erklären. „Ein Umstand, nennen wir ihn den Faktor X, ist offenbar nicht berücksichtigt worden, wenn es sich um eine wissenschaftlich gesteuerte Alteration gehandelt hat. Ich würde sagen - der Zeitfaktor.“ „Zeit?“ Prosper verstand das nicht. „Was hat die Zeit mit Chemie zu tun? Wenn der komische Vogel ein paar Pillen geschluckt hat, dann wird er davon groß oder nicht. Zeit ist doch keine Kraft oder Gegenkraft!“ „Zeit ist etwas Entscheidendes. In der Schule lernt man zuerst, daß ein Raum in Länge, Breite und Höhe bemessen wird. Das ist aber noch nicht alles. Denn was auch immer geschieht, geschieht auch in der Zeit. Wenn ich einen Stein werfe, war er eben noch bei mir - und dann ist er anderswo. Das heißt, daß zwischen dem Hier und dem Anderswo nicht bloß der Meterabstand, sondern auch der Zeitunterschied liegt. Deshalb kann ohne die Zeit nichts passieren: Ohne sie ist alles tot und bewegungslos! Und man kann die Zeit ebensowenig überspringen wie einen Abstand (ohne dadurch den Zwischenraum aus der Welt zu schaffen). Von vier bis fünf Uhr dauert es nun eben mal eine Stunde - genau wie zwischen meinem Kopf und meinen Füßen eineinhalb Meter Abstand sind, na, und ein paar Zentimeter mehr. Die Zeit ist also für die Forscher sehr wichtig, wenn sie etwas exakt erkennen und beschreiben wollen. Um es mal ganz platt auszudrücken: Wenn also mit der Möwe, sagen wir, eine Alteration passiert ist, so ist die Vergrößerung zu Lasten der Lebensdauer gegangen. Verstehst du? An einem Tag wird man nicht fett! Du kannst das auf ganz primitive Weise selber ausprobieren!“ „Weil du gerade von fett sprichst“, mischte sich Tati ein. „Wir essen! Wo ist die Küche?“ „Direkt am Turm, unterhalb des alten Stationsraums“, sagte Superhirn. „Kommt, ich übernehme die Führung!“ Superhirn erhob sich. „Aber“, begann Prosper erneut über die Möwe zu sprechen, „warum ist das Tier zurückgeschrumpft?“ „Weil sich die Aufbaustoffe im Augenblick des Todes ebenso rasch zurückgebildet haben, wie sie das Tier vorher vergrößerten“, vermutete Superhirn. „Anders kann ich es mir auch nicht vorstellen.“ Nun blickten alle auf Tati, die die Schloßküche kritisch musterte. „Also, der Herd ist stabil und in Ordnung“, stellte Henri fest. „Holz haben wir genug im Schuppen.“ „Und was ist dort hinter dem Bretterverschlag?“ fragte Tati.
„Eine Dusche“, sagte Superhirn. „Und du wirst lachen, Tati: sie funktioniert sogar! Da können wir gleich mal hineinmarschieren, um uns den Staub abzuspülen!“ Frau Dix hatte durch Schwager Victor und Herrn Cambronne Verpflegung für eine ganze Woche heraufschaffen lassen. Während die Jungen das ganze Schloß nun nach Geheimtüren abklopften, um des „Ritters Augen“ zu finden, kochte Tati das Essen. Das Abendessen bei Kerzenschein am langen Tisch im Saal von Roche Clermont wurde zum Festmahl. Danach rückten alle ihre Stühle vor das lustig flackernde Kaminfeuer. Wohlig ausgestreckt, lag Loulou Micha zu Füßen. „Tja“, murmelte Superhirn. „Herrlich! Mal was anderes als in einer geleckten Raumstation oder im Kommandostand von Monitor! Aber daß wir noch nicht heraushaben, was Charivari gemeint hat, raubt mir die Laune!“ „Ich denke“, sagte Henri, ein Holzscheit in die Flammen werfend, „der Professor hat nur geblufft!“ „Er wollte uns nur ablenken“, spann Henri den Gedanken fort. „Einmal, weil wir auf keinen Fall mehr ins Hochmoor sollen - zum anderen, weil er uns in seine neuesten Pläne nicht einweihen will.“ „Vielleicht ist er gar nicht in unerreichbarer Ferne am Grund des Meeres!“ rief Prosper. „Kinder, ich hab's! Er hat uns bestimmt getäuscht! Ich wette, er sitzt mit seinen Leuten noch immer - oder schon wieder - in der unterirdischen Zentrale bei den Todesklippen!“ „Im Hochmoor?“ fragte Micha aufgeregt. „Dann müssen wir dorthin. Gleich! Heute nacht noch! Er ist ein guter Mann, und er wird uns nicht wegschicken.“ Die Gefährten - außer Superhirn - steigerten sich derart in diese Vorstellung hinein, daß es für sie schließlich feststand: Der Professor war in der Gegend von Marac. Er war dort, wo sie ihn zum letztenmal gesehen hatten. in der Befehlszentrale tief unter dem Hochmoor. „Der Ritter! Der Ritter Marmozan!“ Prosper schnellte hoch. „Wo?“ Gérard, Tati und Micha saßen starr wie Wachspuppen. Waff, waff! Der erschreckte Pudel lief ziellos um die Stühle. „Der Ritter!“ rief Superhirn wieder. Er schrie es fast. „Da!“ Er zeigte ins Feuer, als sehe er Marmozan darin verbrennen. Auch Prosper starrte jetzt in die Flammen. „Ich sehe nichts, ich sehe nichts!“ stammelte er. Tati wandte ihr Gesicht Superhirn zu, als wolle sie prüfen, ob der Junge jetzt verrückt geworden sei. Superhirn ließ sich jedoch nicht beirren. „Henri!“ befahl er auf einmal ganz ruhig. „Leg schnell zwei trockene Scheite auf! Laß das Feuer auflodern!“ Prosper reckte den Hals: „Sag mal, Superhirn - du sprichst wie ein Henker, der den alten Marmozan auf dem Scheiterhaufen verbrennen will. Oder jedenfalls als wolltest du ein bißchen nachhelfen? Wo soll der Bursche sein? Im Kaminfeuer?“ „Achtet auf das Muster des Kamingitters!“ gebot Superhirn. „So, und nun schaut in den Saal, auf die tanzenden Schatten! Was seht ihr da?“ „Unsere eigenen Schatten“, erwiderte Tati verständnislos. „Wir sitzen doch vor dem Feuer!“ „Nein!“ gellte Michas Schrei. „Nicht nur unsere! Nicht nur unsere Schatten! Da ist noch einer dabei! Der von einem Ritter!“ „Wahrhaftig!“ brummte Gérard. Er stand auf. Im selben Augenblick verschwand der Schatten des unheimlichen Gebildes. „Setz dich!“ herrschte Superhirn ihn an. „Da ist die Schattenfigur wieder! Erkennt ihr sie? Sie wird durch das mannshohe, seitliche Ziergitter des linken Kaminrandes erzeugt! Das schmiedeeiserne Muster stellt eine Ritterfigur gar, und sein Schatten gleitet teils deutlich, teils undeutlich auf dem Fußboden hin und her!“ Schweigend blickten alle auf die unerwartete Erscheinung. Endlich sagte Gérard, und es klang beinahe enttäuscht, „So ein Schatten ist doch nichts Besonderes! Ist ja klar, daß Kamingitter auf alten Schlössern bestimmte Muster oder Ornamente haben. Und dieses Geschlinge wirft im Flammenschein
seine Schatten auf den Boden wie ein windzerzauster Busch bei Sonne!“ „Dabei ist wirklich nichts Unheimliches!“ bemerkte Tati. Superhirn lächelte. „Ihr denkt, darauf wäre ich nicht schon längst von allein gekommen? Und ihr haltet euch natürlich für mächtig schlau? Na, dann will ich euch mal ein paar Fragen stellen. Erstens: Behaupten die Leute in Marac denn nicht, es hätte bisher kein Mensch den Ritter Marmozan jemals gesehen?“ „Stimmt! Weder den Männern von der Küstenstation noch den Heimatforschern ist er begegnet!“ stimmte Prosper zu. „Zweitens: Dennoch hält sich die Sage hartnäckig - und Herr Marmozan ist die Wappengestalt von Marac!“ „Ja!“ nickte Gérard. „Auch das wird nicht bestritten.“ „Drittens: Der Professor fordert mich auf, die Augen des Ritters zu nehmen - aber wir finden nichts, obwohl wir das Schloß vom Dachboden bis hinab in den letzten Winkel durchsucht haben!“ „Ja, und was schließt du daraus?“ fragte Henri. „Daß wir uns nach dem einzigen Hinweis richten müssen, der in die genannte Richtung zielt, und das ist der Schatten!“ erklärte Superhirn. „Aber der Schatten hat doch keine Augen, die du dir nehmen kannst“, rief Micha. „Meinst du?“ Superhirn lachte kurz. Er klatschte in die Hände. „Henri, steig ins obere Turmstockwerk und sieh zu, ob da etwas Ähnliches wie ein Stemmeisen liegt! Tati, wirf tüchtig Holz ins Feuer, damit der Schatten nicht verblaßt! Gérard, hilf mir.“ Eine halbe Stunde später hatten die Jungen in Reichweite des hin und her schwankenden Schattenmusters die Bodenbretter im Saal herausgehoben. Dort, wo der Ritterschatten am weitesten in den Raum hineinragte, also wo das Visier war, fand Superhirn zwischen den freigelegten Balken und dem Felsboden, auf dem das Schloß stand, eine Vertiefung. „Da!“ keuchte er. Er richtete sich auf und trug einen Holzkasten zum Tisch. „Da haben wir Marmozans, oder besser: des Professors Geheimnis!“ „Laß mich sehen!“ rief Micha. Superhirn klappte den Deckel zurück, nahm ein Lederetui heraus und zog aus diesem - eine Brille! im hellodernden Schein des Kaminfeuers schillerten die Gläser eigenartig, - doch das Gestell war modern, beinahe schick. „Was sollen wir denn mit diesen ulkigen Gesichtsschaufenstern?“ murrte Gérard enttäuscht. „Eben!“ stimmte Prosper ihm bei. „So ein Nasenfahrrad hätten wir uns auch vorn Optiker in Marac besorgen können!“ Henri wollte nach der Brille greifen, doch Superhirn hielt sie rasch hoch: „Vorsicht! Die Gläser sind ein Schatz!“ „Ein Schatz!“ maulte Micha. „'n Schatz stell ich mir anders vor! Besonders Piratenschätze. Die sind in großen, alten Kisten und bestehen aus Gold und Silber und Edelsteinen!“ „Und trotzdem würde Charivari diese Brillengläser nicht gegen alle Piratenschätze der Welt eintauschen!“ behauptete Superhirn. „Weißt du, Gérard, was die Gesichtsschaufenster, wie du sie nanntest, darstellen?“ „Nein.“ Gérard schüttelte den Kopf. „Ritter Marmozans Augen!“ triumphierte Superhirn. „Wir haben sie gefunden! Der Kopf des tanzenden Schattens aus dem Kamingitter hat uns die Stelle gewiesen!“ Schlagartig war es nun Gérard und den anderen klar: Das war eins von des Professors telepathischen Instrumenten - jener Art, wie sie sie bereits im vergangenen Sommer kennengelernt hatten: eine Gedankenlesebrille. Mit ihrer Hilfe würde man Charivaris Gedanken von jedem Punkt der Erde, aus dem Weltall oder von den Tiefen aller Meere her empfangen - und mit eigenen Gedanken beantworten können. Der Professor selber benutzte entweder telepathische Augenhaftschalen, eine große telepathische Lupe oder ebenfalls eine solche Brille. Die Verbindung zu ihm war jetzt möglich! „Ich will gleich mal sehen, ob er uns was zu melden hat!“ sagte Superhirn. Er setzte das Gestell mit
den telepathischen Augengläsern auf. Dann lehnte er sich gegen den Tisch, scheinbar jeden Gedanken abschaltend. In Wahrheit konzentrierte er sich auf den Empfang der etwa von fern herkommenden Gehirnstrahlen Professor Charivaris. Es war so still im großen Saal von Roche Clermont, daß man nur das Knistern der Scheite im Kamin hörte. „Blitzt was in deinem Kopf?“ hauchte Micha nach einer Weile gespannt. Superhirn winkte ab, doch plötzlich wurde er sehr aufgeregt. Die Worte sprudelten nur so von seinen Lippen: „Kinder! Ich erkenne genau, was Charivari macht! Ganz klar! Er sitzt mit seinem Team in der F-Siedlung im Atlantischen Ozean! Sie haben eine neue Probestadt gebaut - fangen an, die Meeresbodenschätze auszubeuten.“ Er lehnte den Kopf zurück, als wolle er sich sonnen, hier, im geschlossenen Raum, bei annähernder Finsternis. Doch er funkte mit geraffter Energie seine eigenen Gedanken zum Professor in der FSiedlung irgendwo auf dem fernen Meeresboden. Micha rief ärgerlich: „Was ich nicht selber sehen kann, ist mir zu langweilig. Hast du dem Professor durchgegeben, was hier in Marac los war? Hast du Grüße von mir bestellt?“ Ja, auch von Loulou!“ witzelte Superhirn. Er wurde nachdenklich: „Von der Riesenmöwe habe ich ihm allerdings nichts telepathiert!“ Er verstaute das kostbare Gerät wieder im Etui und steckte es behutsam in die Brusttasche. Henri meinte: „Du hättest unbedingt melden müssen, daß du Zusammenhänge zwischen einigen Vorfällen ahnst! Ist die Bodenstation im Hochmoor stillgelegt? Hast du wenigstens das gefragt?“ Superhirn schüttelte den Kopf. „Der Professor hat mich so mit Neuigkeiten eingedeckt, daß ich gar nicht dazu kam! Charivari läßt euch alle grüßen. Wenn wir mit ihm in Verbindung treten wollen, sollen wir die telepathische Brille benutzen. Dadurch will er uns die Ferien hier ein bißchen interessanter machen. Nach einigen Wochen verlieren die Augengläser ihre Wirkung.“ „Was“' rief Prosper wütend. „Wir sollen hier nichts weiter sein als Zuschauer? Und wenn die komische Brille sich in Wohlgefallen auflöst, erfahren wir überhaupt nichts mehr?“ „Charivari kann nicht riskieren, daß das Instrument ewig benutzbar ist!“ sagte Tati beschwichtigend. „Stell dir vor, es käme in fremde Hände!“ „Aber ich will in meinen Ferien gefälligst was erleben!“ meinte auch Gérard. „Setz die telepathische Brille noch mal auf, Superhirn!“ drängte Henri. „Gib dem Professor durch, ob wir nicht doch in die Hochmoorbasis gehen dürfen! Dann können wir ihn auf Bildschirmen sehen!“ Seufzend nahm Superhirn das kostbare Brillengestell aus dem Etui. Doch kaum hatte er es mit seiner gewöhnlichen Brille vertauscht, fuhr er hoch, als wäre er von einer Tarantel gestochen worden. „Was ist das?“ stammelte er. „Im Gehirn Charivaris drehen sich die tollsten Gedanken - Gedanken, die sicher nicht für uns bestimmt sind...“ Er stand wie erstarrt. Unheimlich funkelte die Brille im Widerschein des Kaminfeuers. „Aus“, sagte er tonlos, „aus!“ „Ist - ist die Unterwasserstadt zusammengebrochen?“ fragte Tati heiser. „Nein.“ Superhirn nahm das telepathische Instrument vorsichtig ab. Er zwang sich zur Ruhe, doch seine Stimme bebte: „Wahrscheinlich wollte der Professor uns noch irgend etwas durchgeben, denn er war für Gedankensendungen und -empfang noch bereit. Das heißt, er hatte seine Augenhaftschalen noch auf. Da muß ihm wohl ein Alarmsignal dazwischengekommen sein, das seine Gedanken ablenkte. Unbewußt strahlte er die Bilder, die ihm durchs Hirn blitzten, aus. Dann hat er um so schneller abgeschaltet.“ „Damit wir nichts mitkriegen?“ forschte Henri. „Genau!“ bestätigte Superhirn. „Wo sind die Taschenlampen? Los, rauf auf den Turm! Im Hochmoor, in der verlassenen Station, ist der Teufel los!“ „Weshalb vermutest du das?“ keuchte Gérard, als die vier großen Jungen durch den Gang hetzten. Micha, Tati und Loulou hatten sie zurückgelassen. „Charivaris Gedanken spiegelten die alte Hütte wider!“ sagte Superhirn hastig. Auch die Unterwassergarage und die geheime Bodenstation - sogar unser Raumschiff ,Monitor' unter dem
Moor von Marac.“ Als sie die Leitern hochgeklettert waren, standen sie unter mondhellem Himmel auf der weiten Turmplattform. Henri wies mit seiner Hand nach Osten. „Dort liegt das Moor!“ sagte er. Man brauchte weder Superhirns dicke Normalgläser noch die telepathische Brille, um zu sehen, daß dort etwas los war. „Ich sehe Irrlichter!“ meinte Prosper. „Quatsch!“ brummte Gérard. „Böse Kobolde, tanzende Geisterchen, was? Haha!“ „Selbstzündendes Erdgas!“ vermutete Henri. „Nein, das ist nichts Natürliches!“ murmelte Superhirn. „Seht, zwei dicht aneinandersitzende Leuchtsignale! Ihr Zwischenraum wird nicht größer und nicht kleiner!“ „Zwei grünblaue Signale von gleichbleibender Helligkeit“, stellte Henri jetzt fest. „Ob das ein Gefahrenzeichen ist? Ein Hilferuf wie SOS oder May-Day?“ ,Aber ich denke, die Geheimstation im Hochmoor existiert nicht mehr?“ rief Prosper. „Jedenfalls soll sie doch unbesetzt sein!“ „Siehst du nicht? Da läuft einer rum!“ sagte Henri ärgerlich. „Sperr deine Augen auf! Das grünblaue Doppellicht bewegt sich so, als schwenke es jemand auf einer Tafel hin und her!“ „Freunde“, erklärte Superhirn gepreßt, „ich habe euch noch nicht alles verraten! Charivaris Gedanken haben noch viel mehr widergespiegelt! Und was ich da sehe...“ Er gab sich einen Ruck: „Wir müssen sofort ins Hochmoor!“ „Um die Lichter auszuknipsen?“ fragte Gérard. „Um eine Art Weltuntergang zu verhindern!“ erwiderte Superhirn. 6. Wieder im Raumschiff Monitor Als Henri, Gérard, Prosper und Superhirn über den Zaun am Hochmoor stiegen, war es genau vierzig Minuten nach Mitternacht. „Überlegt es euch noch einmal“, sagte Superhirn. „Wenn ihr wollt, könnt ihr umkehren! Noch ist Zeit!“ „Bevor du uns nicht erklärst, was Charivari zuletzt ausgestrahlt hat, weiche ich dir nicht von der Seite!“ antwortete Henri verärgert. „Ich auch nicht!“ schloß sich Prosper an. „Und erst recht nicht ich!“ brummte Gérard. „Was schleppst du da übrigens in deinem Brotbeutel mit?“ „Einen Klingeltrafo“, antwortete Superhirn und kicherte dabei. „Denn wenn ich mir alles richtig zusammengereimt habe, was ich durch die telepathische Brille empfing...“ Er schwieg. Sie waren an der Ruine der Bruchsteinkapelle vorbeigelaufen und hatten den kleinen Bach erreicht. „Die Hütte liegt weiter links!“ schnaufte Gérard. Er meinte das kleine Haus, das den Eingang zur geheimen Bodenstation tarnte. „Ich wundere mich, daß das Gelände nicht abgeschirmt ist“, sagte Henri. „Vergangenes Jahr hatte Charivari eine himmelhohe Glocke aus gepanzerter Luft darübergestülpt - diesmal stoßen wir auf keinen Widerstand!“ Er hatte kaum ausgesprochen, als Prosper vor Schreck in die Knie ging. Vor ihnen erhob sich ein Monstrum mit grünblau schimmernden Augen. Henri blieb jäh stehen. Superhirn riß Gérard zurück. „Weg!“ befahl das schreckliche Wesen. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem rostigen Trichter, „Weg! Ich bringe den Toood!“ Die grünblauen Augen gingen auf - zu - auf - zu - auf - zu - auf ... Und nun entrang sich der Kehle des Monstrums ein Fauchen, das einem die Haare zu Berge stehen ließ. „Hilfe!“, stammelte Prosper. „Leuchte den Kerl mal an, Henri!“ zischte Superhirn.
Der zitternde Strahl der Taschenlampe fiel auf die menschenähnliche Figur. „Teufel!“ Niemand wußte, ob Gérard mit diesem Schrei Schreck oder Wut ausdrückte: Die Gestalt war ein Ritter! Oder vielmehr: Sie trug eine Ritterrüstung! „Was soll denn dieser endlose Blödsinn mit dem alten Marmozan?“ murmelte Henri. „Im Campinglager, auf dem Schrottplatz, im Brief, auf Roche Clermont - nichts wie Marmozan, Marmozan, Marmozan! Und jetzt gehen wir hier im Hochmoor einem automatischen Gespenst auf den Leim!“ „Weg!“ fauchte die Gestalt wieder. Nun sah man, daß die Augen unter dem Visier nicht auf- und zuklappten, sondern aufleuchteten und erloschen und wieder aufleuchteten. „Lämpchen, relaisgesteuert“, erklärte Superhirn, während er sich in weitem Bogen vorsichtig um die Figur herumbewegte. „Sind das etwa die Augen, die Charivari zu suchen befahl?“ fragte Gérard spöttisch. „Im Gegenteil!“ sagte Superhirn mit Nachdruck. „Von diesem Kerl hier wollte er uns fernhalten! Nur die Brille sollte ich finden, nichts anderes! Und wir sollten unsere Ferien in hübscher Abgelenktheit auf Roche Clermont verbringen!“ „Aber was soll dieser Quatsch?“ rief Prosper, sich aufrappelnd. „Kein Quatsch!“ warnte Superhirn. „Das ist schrecklicher Ernst.“ Er näherte sich der Figur, plötzlich stolperte er und fiel bäuchlings hin. Im gleichen Augenblick setzte sich das Monstrum in Bewegung: Schritt für Schritt, Schritt für Schritt ging es auf die alte Hütte zu. „Der Kerl schleift ihn mit! Er schleift Superhirn mit!“ schrie Prosper. Aber Superhirn rollte eher. Er versuchte sich zu fangen; endlich stemmte er sich - rückwärts tappend - gegen etwas Unsichtbares an, machte eine Art Flanke und kam zu den Freunden zurück. „Das ist ein Roboter!“ berichtete er schwer atmend. „Er hat eine unsichtbare Stolperschwelle um sich, damit niemand an ihn heran kann. Legt euch hin! Paßt auf, was er macht! Vielleicht habe ich durch die Berührung einen Gegenangriff ausgelöst!“ „Stolperschwelle?“ wiederholte Gérard. „So 'ne Art unsichtbarer Schutzring, In den bin ich hineingeraten“, erklärte Superhirn rasch. Sie lagen alle vier im Heidekraut und beobachteten den Roboter. „Er geht in die Hütte!“ raunte Prosper. „Hast du die Brille bei dir?“ fragte Henri. „Gib dem Professor durch, daß hier ein Roboter - getarnt als Rittergespenst - Menschen tödlich bedroht! Superhirn lachte leise. „Das weiß Charivari längst! Der Roboter ist von ihm selber geschickt!“ „Das ist doch nicht dein Ernst!“ zischte Prosper. „Charivari ist unser Freund! Wie kann er uns einen gefährlichen Roboter senden?“ „Mein voller Ernst!“ beharrte Superhirn. „Der Professor hat gar nicht damit gerechnet, daß wir im Hochmoor sein könnten. Ich sagte ja, er wollte uns von hier fernhalten!“ „Wir sollten dem Roboter nicht begegnen?“ überlegte Henri laut. „Wir durften nicht einmal was von seiner Anwesenheit wissen?“ „Damit uns die Neugier nicht etwa hertriebe!“ vermutete Superhirn. „Der Roboter ist aus der Meerestiefe geschickt worden, um die Bodenstation hier zu vernichten, die Charivari jetzt entbehren kann!“ „Aber wieso in Form eines alten Ritters?“ Prosper konnte sich nicht beruhigen. „Erstens ist der Roboter in Rittergestalt nicht aus Eisen, sondern aus Plastik, wie ich gemerkt habe“, flüsterte Superhirn. „Und Charivari hat gerade diese Figur gewählt, die Wappengestalt von Marac, weil er mit dem Aberglauben der Leute rechnet. Wer hier der Spukgestalt von Roche Clermont begegnet, reißt bestimmt aus. Um diese Zeit treibt viele Leute sogar ein harmloses Nebelgebilde in die Flucht.“ „Also, der Roboter soll die Bodenstation von Marac vernichten“, kam Gérard auf den Hauptpunkt zurück. „Wie mag er her gelangt sein?“ „Mit unserem damaligen Raumschiff Monitor das jetzt in der Unterwassergarage vor den Todesklippen liegt“, entgegnete Superhirn. „Das erfuhr ich durch die telepathische Brille. Das
Raumschiff und der Roboter sind programmiert. Trotzdem scheint da was schiefgegangen zu sein. Charivari muß ganz plötzlich automatische Warnsignale aus dem Bordcomputer erhalten haben, daß die Dinge verkehrt laufen. Die Gedanken, die durch sein Hirn blitzten - und die nicht für mich bestimmt waren deuteten darauf hin.“ „Wieso?“ fragte Henri, atemlos vor Spannung. „Was hat er gedacht?“ „Dem Gedankendurcheinander Charivaris entnahm ich, daß er fürchtet, der Roboter könne Marac vernichten ... Seht! Der Roboter wirkt wie betrunken! Offenbar findet er den Eingang zur Hütte nicht mehr!“ Superhirn sprang rasch auf und fuhr fort: „Irgendwas in dem Elektronengehirn hat ausgesetzt! Das Kontrollgerät an Bord von Monitor' wird ihn nicht mehr lenken können . Plötzlich ging ein Ruck durch die schattenhafte Figur - der Roboter kam auf die Freunde zugestelzt! „Achtung!“ mahnte Superhirn scharf. „Das kann ein Gegenangriff sein. Er wird außer der Stolperschwelle auch noch andere Schutzmaßnahmen haben!“ Die vier schnellten hoch und rannten ein Stück zurück. Prosper drehte sich um. „Er ist weg!“ rief er verblüfft. Ruhig sagte Henri: „Er ist hingefallen. Er kommt nicht mehr hoch!“ Das stimmte. Als sei er schwer angeschlagen, stellte sich der Roboter doch wieder schwankend auf seine Füße. „Das eine Licht funktioniert nicht mehr!“ bemerkte Superhirn. „Wahrscheinlich sind auch die unsichtbaren Strahlen ausgefallen, mit denen er die Umgebung abzutasten hatte. Jetzt läuft er im Kreis!“ Plötzlich schrie Prosper: „Ich bin getroffen! Er hat geschossen! Au, au, mein Kopf!“ Superhirn verspürte einen Schlag gegen die Schulter. „Luftkugeln!“ brüllte er. „Kugeln aus geballter Luft - wie geschmetterte Tennisbälle! Deckung!“ Er wußte, schon ein Schmetterball beim Tennis konnte einen Menschen außer Gefecht setzen. Doch der Roboter und die ihm eingespeicherte Selbstverteidigung schienen überhaupt nicht mehr zu funktionieren: er drehte sich bebend um und schoß seine Luftkugeln nun gegen die alte Hütte. „Der hat überhaupt keine Orientierung mehr!“ rief Henri. „Superhirn, Superhirn! Jetzt läuft er in Richtung Straße!“ Die Straße war weit, aber im landeinwärts gelegenen Teil des Hochmoors hatte der Roboter gewiß nichts zu suchen. „Dachte ich mir´s! Der ist durchgedreht“, murmelte Superhirn. „Das habe ich den Gedanken Charivaris entnommen.“ Er kramte in seinem Brotbeutel. „Was willst du mit dem komischen Klingeltrafo?“ rief Gérard. „Soll das eine Waffe sein? Deine Batterie hat doch höchstens viereinhalb Volt!“ „Trotzdem“, erwiderte Superhirn hastig, „so ein alter Wachmann auf Roche Clermont hat sich da was zurechtgebastelt. Und das habe ich schon bei meiner ersten Durchsuchung gefunden. Die Funken aus dem lachhaften Kästchen geben immerhin ein paar tausend Volt Hochspannung.“ Er rannte jetzt dem schwankenden Roboter nach. „Was will er tun?“ fragte Prosper. „Eine Funkstörung im Gehirn des Roboters erzeugen“, meinte Henri. Superhirn „befunkte“ in vollem Lauf die unheimliche Figur, die weiter landeinwärts schwankte. Die Wirkung hatte keiner vorausgeahnt. Der Roboter gab sämtliche Abschreckungsschreie her, die seiner Maschinenstimme eingegeben waren. Auf einmal flogen Teile durch die Gegend. „Deckung!“ schrie Superhirn wieder. „Er reißt sich die Beine aus.“ Im Mondlicht sah man die künstlichen Gliedmaßen durch die Luft fliegen. „Die Arme lösen sich von selber!“ brüllte Superhirn. Und plötzlich sauste der Kopf des Roboters etwa hundert Meter in die Höhe. Ein kurzes, geräuschloses, grünblaues Aufflammen - dann bewegte sich nichts mehr.
„Der ist futsch!“ stellte Superhirn erleichtert fest. „ich habe seine Selbstzerstörung ausgelöst. Seht mal, wie die Teile kalt erglühen!“ Prosper atmete auf. Trotzdem fragte er: „Na, und was hätten wir damit erreicht?“ „Daß dieser Automat nicht etwa in den Ort taumelte“, entgegnete Superhirn ernst. „Weißt du denn, was er dort hätte anrichten können? Ich meine: der Roboter sollte die unterirdische Bodenstation vernichten - doch dann torkelte er von seinem Aufgabenplatz weg! Wer weiß, was er anderswo zerstört hätte!“ „Dann hättest du Marac gerettet?“ meinte Henri. „Ich nicht, sondern du!“ widersprach Superhirn. „Du hast mich ja gedrängt, die Brille in Roche Clermont noch einmal aufzusetzen. He, wo ist sie überhaupt?“ Er tastete seine Brusttasche ab. „Auch das noch!“ seufzte er gleich darauf. „Bei dem Sturz über die Stolperschwelle des Roboters ist mir das Ding zerbrochen!“ „Keine Verbindung mit dem Professor mehr hauchte Prosper entgeistert. Aber dann kam ihm die rettende Idee: „Wenn der Roboter mit Monitor' gekommen ist, muß das Raumschiff in der Unterwassergarage vor der Küste liegen! Und im Kommandostand ist eine große Gedankenleselupe! Versuchen wir, Charivari damit zu erreichen!“ Die Freunde liefen zur Hütte. Die Tür ließ sich leicht öffnen; anscheinend hatte der Roboter alle Sicherungsmaßnahmen außer Kraft gesetzt. „Wenn ich mich nicht irre“, brummte Gérard, „bin ich draußen über einen Schlauch gestolpert!“ „Du bist über ein Kabel gestolpert!“ verbesserte Superhirn. „Die Lage scheint mir brenzlig! Der Bursche hatte bestimmt schon einiges zur Vernichtung der Basis - und auch der Hütte - vorbereitet!“ Durch den eisernen Ofen stiegen sie in die geheime Weltraumbasis unter dem Hochmoor hinab. Die mattschimmernden Wände waren noch immer indirekt beleuchtet; die Automatik der Türen und Schleusen funktionierte, und die Befehlszentrale mit dem riesigen Tastenschreibtisch schien unverändert. „Niemand da!“ stellte Prosper fest. „Rein in den Fahrstuhl, runter in die Garage!“ befahl Superhirn. „Monitor“ lag tatsächlich auf seiner Gleitrampe. Allen voran kletterte Superhirn durch die Einstiegsluke. Rasch blickte er im hell erleuchteten Kommandostand umher. „Da haben wir's“, sagte er. Er deutete auf eine Leuchttafel. „Seit Vormittag liegt Monitor hier - genau seit neun Uhr vierzig. Der Zeiger steht bei der roten Markierung. Und dort: die Schaltuhr! Daran könnt ihr ablesen: Alle Instrumente schweigen bis Mitternacht. Danach sollte der Roboter wohl aussteigen und die Station vernichten.“ Superhirn prüfte alle Instrumente und die Zahlenkolonnen, die von winzigen Leuchtpunkten an den Wänden gebildet wurden. Den anderen war nicht klar, was er suchte. Doch Superhirn war eben Superhirn - er begriff die Zusammenhänge, die sogar die meisten Erwachsenen nicht erkannt hätten. „Hier hat ein Impulsgeber zu früh eingesetzt“, erklärte er mit Entschiedenheit. Der Roboter hat die von der Schattenuhr festgesetzte Frist nicht abgewartet! Er ist sofort ausgestiegen.“ Plötzlich durchfuhr Superhirn eine Frage: Wann bloß, wann...? „Hier ist es registriert!“ beantwortete er laut seinen Gedanken. „Um zehn Uhr früh war der Roboter im Freien! Wann ist die Kunstflugstaffel an den Küsten von Marac entlanggedonnert?“ „Kurz danach!“ erwiderte Henri. Er riß verblüfft die Augen auf. „Meinst du etwa...“ „Ich meine, was ich irgendwie schon längst ahnte: Zusammenhänge. Jetzt weiß ich, welche es sind: Solche Kunstflugzeuge stecken voll Elektronik. Wichtige Messungen werden ständig automatisch an die Bodenstation gefunkt. Die Piloten haben Radiohöhenmesser, die unaufhörlich Mikrowellen senden, und sie haben auch Radar an Bord! Die unaufhörlichen Mikrowellensendungen haben dem Roboter wohl einen Stich versetzt. Sein Elektronenhirn ist durch die Sendungen zerstört worden. Der Professor konnte ja nicht ahnen, daß hier soviel gesendet wird, und sogar auf einer Wellenlänge, die die Robotersteuerung beeinflußt. Als die automatischen Befehle wieder ungestört kamen, leistete er nur noch verkehrte Arbeit. Die Kontrollanlagen müssen in der F-Siedlung falsch angezeigt haben bis zu dem Moment, als der künstliche Kerl seine Augenstrahler immer in die verkehrte Richtung
lenkte und landeinwärts ging!“ „Was ist das da für eine Formelreihe auf dem Kommandopult?“ fragte Henri. Superhirn beugte sich darüber. Die Zahlen und Buchstaben waren winzig, kaum noch mit dem bloßen Auge zu erkennen. Sie blinkten in kurzen Abständen feuerrot, und zwar so, daß das Licht wie bei einer Leuchtreklame von einer Lämpchenfigur zur anderen glitt, nur viel, viel schneller. „Doch nicht etwa Treibstoffverlust?“ murmelte Superhirn. „Aber die Zahlenreihe besteht fast nur aus Nullen! Hier sehe ich sogar abgekürzt: 10-18 - und das bedeutet achtzehn Nullen hinter dem Komma.“ Er blickte angestrengt auf das Pult mit den seltsamen, schreckerregenden Zeichen. Also doch: „Treibstoffverlust etwa ein Attogramm“, sagte er schließlich. „Atto ... was?“ fragte Gérard. „Ein Attogramm“, erklärte Superhirn, „das ist der milliardste Teil eines milliardstel Gramms. Das kann für das hochempfindliche Raumschiff immerhin soviel bedeuten, als habe ein Ozeanschiff dreitausend Liter Dieselöl verloren.“ Prosper lauschte. „Da ist jemand! Draußen, in der Garage!“ Die drei anderen fuhren herum. „Henri!“ ertönte es vor der Einstiegsluke. Es war Tatis Stimme. 7. Die Superhaie greifen an „Was wollt ihr denn hier?“ schimpfte Superhirn, als Tati und Micha in den Kommandoraum kamen. „Meint ihr, wir konnten schlafen, als ihr weg wart?“ gab Tati zurück. „Micha ließ mir keine Ruhe. Ich fand´s ja auch nicht fein von euch, uns allein zu lassen!“ „Den Grund dafür hättest du begriffen, wenn ihr eine Viertelstunde früher gekommen wärt“ brummte Gérard. „Hier ist nämlich die Hölle los!“ „Weil's in der leeren Raumstation so heiß ist?“ fragte Micha. Superhirn blickte auf. „Heiß?“ rief er „Na, wie in der Wüste!“ erklärte Tati. „Oder fast schon wie in einem Bratofen. In der Zentrale bekamen wir kaum noch Luft!“ „Raus hier!“ schrie Prosper, der Superhirns Erbleichen bemerkt hatte. „Die Garage füllt sich auch schon mit Heißluft! Merkt ihr's nicht? Sie kommt schon zur Luke herein! Schnell, wir müssen nach oben ins Freie!“ „Halt!“ befahl Superhirn. Er warf einen raschen Blick auf die Innenskala des Außenthermometers. „Die Temperatur steigt wie verrückt! Es ist zu spät!“ „Was? Soll das bedeuten, wir sind im Raumschiff gefangen? Wir kommen nicht mehr heraus?“ rief Tati. „Luke schließen!“ sagte Henri ruhig. Auf einmal war er wieder der besonnene Bordkommandant an der Seite seines Chefingenieurs Superhirn. „Wir müssen weg, und zwar mit dem Raumschiff!“ erklärte Superhirn. „Ob ihr nun müde zum Umfallen seid oder nicht, es gibt kein Zurück oder Hinauf. Der Roboter hat einen Teil seiner Arbeit geleistet. Diese Bodenstation und ihre Wassergarage werden verglühen. Schnell, fertigmachen zum Start!“ „Raumschiff ist programmiert, und zwar zur Meeresbodenstation F-Siedlung im Atlantik“, stellte Henri fest. Er hatte aufs Geratewohl die Taste „Zielposition“ gedrückt. An der Backbordwand erschien die Reliefkarte des Meeresbodens zwischen Afrika und Amerika von der eisfreien Region südlich Grönlands bis zur Höhe von Feuerland hinab. Im Nordatlantik leuchtete ein grüner Punkt. Superhirn sah auf. „Stimmt“, bestätigte er. „Wir brauchen nichts zu machen, als Monitor in Bewegung zu setzen. Verflixt“, er blickte auf das gewaltige, lupenartige Glas neben dem Kommandotisch, „der große Gedankenleseapparat!“ „Was ist mit dem?“ fragte Henri ahnungsvoll. „Trüb, völlig trüb! Kaputt. Dieser Roboterkommandant scheint noch mehr Mist gemacht zu haben, als ich dachte. Prosper, schalte Bildfunk Zielposition F-Siedlung. Laß den Kennwortsprecher laufen, der die Stichworte gespeichert hat!“
„Auch kaputt!“ meldete Prosper. „Mensch, Superhirn! Guck mal auf die Skala des Außenthermometers! Wir kommen nicht mehr aus der Garage raus! Gleich bricht die Decke ein!“ „Bild auf Schirm sechs, steuerbords!“ rief Henri. Wie gebannt starrten alle darauf. Nein, das war nicht Charivaris ferne Meeresstation - das war die Basis von Marac, in der sich das Raumschiff noch immer befand! Was man sah, war die Befehlszentrale unterm Hochmoor, die sie vor kurzem noch durchmessen hatten. Aber sie sah auf einmal nicht mehr so geleckt aus. „Ich muß mein Urteil über den Roboter dauernd ändern“, murmelte Superhirn. „Zwischen dem Stich, den er heute vormittag gekriegt hat, und seiner Vernichtung, heute nacht, hat er seine Arbeit großenteils programmgemäß verrichtet. Draußen hat er Kabel gelegt, und die wird er an die Hauptkraftzentrale der Bodenstation angeschlossen haben. Und in die Befehlszentrale strömt Luft mit Zusatzstoffen durch die Klimaanlagen: Seht ihr die schleierartigen Wolken? Die Temperatur erhöht sich. Sie hat sich stufenweise erhöht, damit er Gelegenheit gehabt hätte, ins Raumschiff zurückzukehren und zu starten. Aber da hat ihn sein Elektrogeist wieder verlassen, und er ist ins Moor hinausgelaufen.“ „Und wir sitzen jetzt hier!“ brummte Gérard. „Warum brausen wir nicht ab?“ „Alle Hebel sind bereits auf Start, du Schaf!“ sagte Henri ruhig. Inzwischen vollzog sich vor den Augen der Besatzung - im Bild genau sichtbar - die gespenstische Auflösung der Raumfahrtbasis Marac. „Mensch, daß die Kunststoffe überhaupt glühen!“ wunderte sich Prosper. „Wenn Metall glüht, zerfließt und zerfällt der Kunststoff mit“, erklärte Superhirn. „Seht mal - die Schuppen auf den Eisenteilen! Das nennt man verzundern. Aus Aluminium wird Tonerde und...“ Er unterbrach sich, denn das Bild begann zu wandern. „Monitor bewegt sich auf der Rampe seewärts!“ meldete Bordkommandant Henri, ein SilhouettenSichtzeichen beobachtend. „Monitor jetzt auf Drehplatte. Das Schiff richtet sich auf zum Senkrechtstart!“ Davon merkte freilich niemand etwas. Denn Monitor besaß ein künstliches Schwerkraftzentrum, so daß im Kommandoraum und Lastenteil „oben“ und „unten“ sich nicht veränderten, also für die Insassen alles gewissermaßen stets waagerecht blieb, wohin auch immer die Spitze des Raumschiffs wies. Alle Nutzräume, auch die Messe, die Küche, das Freizeit-Center, das Bordlabor und die Schlafkabinen, waren wie die Luftblase in der Wasserwaage. Die Waage konnte man drehen, wie man wollte, die Luftblase veränderte ihre Lage nicht. Die jungen Raumfahrer saßen jetzt bequem, fast gemütlich, in schrägen, drehbaren Sesseln. Micha hielt den Hund an sich gepreßt. Henri und Superhirn - der eine auf dem Platz des Bordkommandanten, der andere auf dem des Flugingenieurs - starrten gespannt auf eine sonderbare, runde Fläche, die wie eine Tischplatte wirkte. Das war der Himmelsvisor. Er sollte ihnen einen Blick ins All ermöglichen. „Aber ich denke, wir wollen runter in die Meerestiefe!“ rief Micha. „Der Professor wird das berechnet haben!“ antwortete Henri. „Wir machen einige Erdumkreisungen, dann tauchen wir wieder in die Atmosphäre und an der vorgesehenen Stelle ins Meer ein.“ Superhirn warf Henri einen Blick zu, dann sagte er leichthin: „Legt euch lieber ein Stündchen aufs Ohr. Ihr könnt uns ja nachher ablösen!“ Nach einigen Minuten war Superhirn mit Henri in der Kommandozentrale allein. Alle übrigen schliefen im Wohnteil. „Du hast doch was, oder?“ fragte Henri. „Und ob!“ murmelte Superhirn. „Ich will nur die anderen nicht kopfscheu machen. Wir sitzen hier in einem Pulverfaß!“ „Im Augenblick läuft doch alles prima!“ Doch Superhirn tippte auf das Pult mit den winzigen, unaufhörlich blinkenden Ziffern und Buchstaben: „Treibstoffverlust!“ sagte er ernst. „Monitor fliegt ja nicht mit Treibstoffen gewöhnlicher Raumschiffe. Es benutzt Hyperkomprimate, deren Zusammensetzung Charivaris Geheimnis ist. Normale Treibstoffe könnten Monitor weder die unerhörten Reichweiten noch seine Verwendung als Allzweckfahrzeug gestatten.“
„Hyperkomprimate?“ „Na ja - auf engstem Raum zusammengedrückte Energien“, erklärte Superhirn. „Kraftpakete, die automatisch in den Antriebteil gefördert werden und trotz ihrer Winzigkeit einen irrsinnigen Schub entwickeln.' „Der scheinbar lächerlich geringe Verlust, der auf dem Pult signalisiert wird, könnte also trotzdem höchste Gefahr bedeuten?“ fragte Henri. Superhirn nickte. „Das Komische ist nur: Der Start ist gelungen, und der Treibstoffverlust erhöht sich nicht. Ich schätze, das Leck ist automatisch behoben worden. Mich wundert nur, daß die Schrift nicht verschwindet!“ „Vielleicht hat der Roboter falsch reagiert“, vermutete Henri. „Ja“, Superhirn runzelte die Stirn, „und das hat er sicher mehrfach getan.“ Er sah Henri lange an. Sein Gesicht wirkte fast käsig. „Wenn das nicht der erste Treibstoffverlust war? Wenn die Formelreihe vielleicht falsche Werte angab?“ „Dann - dann kreisen wir bis zum jüngsten Tag im All!“ murmelte Henri. „Verflixt, wir hätten auf dem alten Schloß bleiben sollen!“ „Noch etwas stimmt mich nachdenklich“, fuhr Superhirn heiser fort. „Professor Charivari hat doch alle Möglichkeiten, Monitors Kommandoraum mit sämtlichen hier vorhandenen Geräten zu kontrollieren. Es gibt doch eine Längswellenverbindung zwischen Meeressiedlung und Monitor!“ „Wie meinst du das?“ Henri hob die Brauen. „sollte sich der Roboter über die Mattscheiben mit ihm unterhalten haben?“ „Quatsch“, sagte Superhirn rauh. „Der Roboter hat hier gesessen wie ein Elektro-Affe, nur so weit ansprechbar, wie es die Aufgabe erforderte. Aber der Kasten neben mir, der im vorigen Jahr noch nicht eingebaut war, ist sein Kontrolleur gewesen - koordiniert mit dem künstlichen Gehirn dieses Burschen. Steht doch dran: Achtung! Gefahr! Robot spezial! Was kann das denn anderes bedeuten?“ „Aha, und die beiden Gesellen, der Kasten und der Plastik-Ritter, haben sich nicht immer verstanden?“ „Jedenfalls nicht so gut wie wir!“ erklärte Superhirn grinsend. Er wurde aber gleich wieder ernst. „Aber es muß doch eine zusätzliche Verbindung zwischen Monitor' und der Meeresbodenzentrale Charivaris gegeben haben“, wiederholte er seine Gedanken, „Als ich in Roche Clermont die telepathische Brille aufhatte, wurde mir das deutlich klar: Der Kasten neben mir, also der Wächter, hat dem Professor entsprechende Signale gegeben, und der Professor hat durch Strahlenstöße diesen Robot-Aufpasser überwacht. Er teilte ihm die Befehle mit, die das Ding an unseren künstlichen Ritter weitergab.“ „Ich weiß!“ rief Henri aufgeregt. „Der automatische Aufpasser hat eine Art - na, beim Menschen würde man sagen: Doppelspiel getrieben. jedenfalls hat der Professor manche Werte nicht richtig empfangen!“ „So ähnlich!“ meinte Superhirn. ,Aber der Professor hätte den Roboter auf dem Bildschirm in der Meeressiedlung beobachten können!“ „Eben!“ Superhirn rieb sich die Nase. Ich habe alle Geräte auf Sendung gestellt, Der Professor müßte längst wissen, wer jetzt hier drinnen sitzt!“ „Und doch bleiben die Bildschirme in unserem Kommandoraum dunkel“, bemerkte Henri. „Auch haben wir nicht mal ein Räuspern des Professors gehört!“ Superhirn blickte schweigend auf den Himmelsvisor und auf einige andere Geräte. „Wir sind auf Erdumlaufbahn“, sagte er endlich. Seine Stimme klang erleichtert. „Die Instrumente bestätigen es.“ Henri antwortete nicht. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt. Er war in seinem Drehsessel eingeschlafen. Nach einer Weile fielen auch Superhirn die Augen zu. Er und Henri wurden erst durch Tati wieder geweckt. „Ihr seid mir schöne Lokführer!“ rief das Mädchen lachend. „Pennt hier im Führerstand und überfahrt womöglich jedes Signal!“
Superhirn sprang auf. Er war sofort hellwach. Eilig schritt er an den Wänden entlang und prüfte die Instrumente. „Sind wir noch im Weltraum oder in der Luft?“ fragte Tati, auf den Himmelsvisor blickend. „Ja, wenigstens gehe, ich keine Fische! Das Ding hat sich noch nicht auf Unterwassersicht umgestellt!“ Superhirn wandte sich zu Henri um. „He, Kommandant, reiß die Augen auf! Siehst du irgendwo eine Warnlampe?? „Nein.“ Henri, jetzt ebenfalls wach, schaute aufmerksam umher. „Sogar die blinkenden Formelzeichen für den Treibstoffverlust sind jetzt dunkel. Man sieht nur noch eine Platte, die mit winzigen Glasperlen bestückt ist“ „Sonst kein Warnzeichen? Nichts?“ wollte Superhirn bestätigt wissen. „Keins!“ erklärte Henri. „Auch Signale, die Gefahren melden sollen, können ausfallen“, murmelte Superhirn. „Sieh mal! Die Meeresbodenkarte mit dem grünen Zielpunkt ist verschwunden! Anscheinend funktioniert die Zielprogrammierung nicht!“ „Aber wir trudeln doch nicht!“ rief Tati, die Superhirns Sorge nicht begriff. „Die Automaten in der Küche funktionieren jedenfalls! Die Verpflegung ist also gesichert!“ Daß die Verpflegung an Bord gesichert war, sah man der Bordküche zunächst freilich nicht an - sie war völlig leer. Lediglich eine Reihe von farbigen, durchsichtigen Leuchttafeln lenkte das Auge auf sich: die Speisekarten. Man brauchte nur auf Zahlen vor den einzelnen Gerichten oder Leckerbissen zu tippen. Sofort wurde hinter der Wand alles fix und fertig zubereitet und schließlich auf Tabletts aus Fächern herausgeschoben - ähnlich wie in einem Automatenrestaurant. Nur daß dort dienstbare Geister aus Fleisch und Blut dahinter standen. Wenig später hatte Tati den Frühstückstisch in der Messe gedeckt. Micha hockte strahlend vor einer Portion Spiegeleier, Gérard aß ein saftiges Steak, Prosper hatte sich heiße Würstchen gewählt. „Ihr seht mir viel zu frisch aus!“ tadelte Henri die beiden großen Jungen. „Ihr schlaft, geht unter die Dusche und laßt euch zum fröhlichen Picknick nieder! Los, Ablösung vor!“ Als Henri und Superhirn ebenfalls geduscht und gefrühstückt hatten, fanden sich alle Besatzungsmitglieder in der Kommandozentrale zusammen. Superhirn war sehr nervös. Er drückte auf alle möglichen Tasten und Knöpfe. „Was ist das, was da aufleuchtet?“ fragte Tati. Ein roter Blitz war über die ganze Bordwand gezuckt. „Henri, schnell in den Lastenraum! Sieh nach, ob das Schaltmodell von Monitor funktioniert!“ rief Superhirn. Henri kam zurück. „Nein“, meldete er. „Komisch! Das Raumschiff gleitet gleichmäßig - so scheint es. Aber die meisten Armaturen spielen nicht mit!“ „Dann öffne das Pult! Wenn schon das Schaltmodell und die Maschinenstimme sowie jede Orientierungs- oder Befragungsmöglichkeit ausfallen, muß uns wenigstens ein lumpiger Schaltplan aus Papier helfen können!“ „Oder ein Heft mit Zeichenerklärungen!“ fügte Henri hinzu. Er fand auch wirklich ein Signalbuch. Superhirn riß ihm das Buch aus der Hand. „Der Blitz“, sagte er hastig, „was bedeutet der Blitz?“ „Sag schon - was steht da? Lies vor!“ drängte Micha. „Lieber nicht“, ächzte Superhirn kaum hörbar. Als Erklärung für das unheimliche Zeichen stand nämlich in dem Heft: „Raumschiff Monitor löst sich auf!“ Henri hatte Superhirn über die Schulter geblickt. Seine Augen weiteten sich. „Raumschiff Monitor löst sich auf?“ Sollte das heißen, daß das Raumschiff gleich zerplatzen oder mit allen, die in ihm sitzen, lautlos in ein Nichts zergehen würde? Der Gedanke war unfaßbar. Vor Henris Blick verschwamm alles. Er hatte den Eindruck: Jetzt, jetzt
ist es soweit! Doch ein gellender Schrei von Prosper brachte ihn zu sich! „Achtung, linke Seite, Bildschirm eins!“ Alle starrten auf die angegebene Mattscheibe. Sie wirkte plötzlich wie ein Fenster, durch das das leibhaftige Grauen hereinblickte. Aus Halbschatten, Schatten und Zwielicht entwickelte sich immer deutlicher ein Gesicht. Erst flackerte es. Es schien, als strebten Nase, Kinn und Stirn in verschiedene Richtungen. Dann zog sich der Mund ganz widerwärtig in die Breite, während die Ohren, die Schläfen und Wangenknochen schrumpften. Endlich war das Bild klar. Die Umrisse des Kopfes erinnerten an eine Salatgurke. Der spitze Schädel war kahl. Die Augenbrauen des Mannes wirkten wie zwei starke Striche, unter denen die sonderbar flimmernden Augen fast verschwanden. Das Auffälligste aber waren der dünnsträhnige, schwarze Kinnbart und die bartlosen, eingefallenen Wangen unter hohen Backenknochen. „Professor Charivari!“ jauchzte Micha. „Professor! Wir sind alle da! Wir kommen Sie besuchen! Wir...“ Er schrie vor Begeisterung alles mögliche. Denn wenn der Mann auch unheimlich wirken mochte - eins wußte Micha nur zu gut: Professor Dr. Brutto Charivari war der treueste Mensch, den man sich vorstellen konnte. „Still!“ herrschte Tati den kleinen Bruder an. „Halt die Klappe, Micha!“ rief Gérard, „Nimm den Pudel auf den Arm. Siehst du nicht, daß Professor Charivari zu uns sprechen will?“ .Seid gegrüßt, meine Freunde!“ kam die sanfte, fast schmeichelnde Stimme des Professors aus einem Lautsprecher. Sie paßte ganz und gar nicht zu dem schrecklichen Eindruck. „Ich wußte längst, daß ihr an Bord seid. In der Meeresstation erreichten mich ein paar Wortfetzen von euch. Doch bisher hat die Verbindung nicht geklappt, obwohl meine neuen Nachrichtensatelliten um die Erde kreisen. Superhirn, bitte schnell einen Bericht!“ Der junge Flugingenieur meldete dem Professor alles, was sich seit der telepathischen Verbindungsaufnahme zwischen Roche Clermont und der Meeresstation ereignet hatte. Er schilderte auch seine Vermutungen über das Durcheinander, den der Roboter-Kontrollkasten und der Roboter selbst verursacht haben mußten. „Die Signale kamen hier unterschiedlich an“, bestätigte Professor Charivari. Im großen und ganzen schien die Programmierung zu klappen. Auf Monitors Reise nach Marac gab es zwar die ersten Störungen, so daß ich auf dem Bildschirm das Verhalten des Roboters nicht sah. Erst als das Schiff in Marac angelangt war, hatte ich wieder Kontakt. Ich glaubte, es ginge alles nach Plan.“ „... bis sich der Roboter plötzlich selbständig machte“, vollendete Superhirn. „Herr Professor, ich habe mir das ungefähr zusammengereimt. Das Ding, das den Roboter von hier aus überwachte, hat einen Dachschaden. Es hat den Kerl erst mal zu früh ins Hochmoor geschickt.“ Er berichtete jetzt von den mutmaßlichen Beeinflussungen durch die Kunstflugstaffel. „Dann ist der Roboter statt zurück zur Station in Richtung Marac gestelzt. Vor allem muß er aber schon auf dem Herflug samt seinem Kontrolleur verschiedenes durcheinandergebracht haben.“ „Die telepathische Lupe ist trübe, die Maschinenbefehle sind verstummt, die Geräte funktionieren, wann sie wollen, bloß nicht, wenn man sie braucht“, erklärte Henri. „Vor allem leuchtete hier eine Zahlen- und Buchstabenreihe über Treibstoffverlust auf!“ sagte Superhirn. Das Gesicht des Professors auf dem Bildschirm verzerrte sich. „Treibstoffverlust?“ Seine Stimme klang plötzlich nicht mehr so ruhig. „Wieviel ungefähr?“ Superhirn nannte ihm die Werte. „Wo mag das passiert sein?“ fragte Charivari hastig. „Etwa in Marac?“ „Wir haben nichts gemerkt“, meinte Tati ahnungslos. „Es hat weder nach Benzin noch sonst irgendwie chemisch gerochen!“ „Ist euch irgend etwas aufgefallen, irgend etwas schrecklich Sonderbares, das scheinbar überhaupt nicht mit ,Monitor' oder dem Roboter zusammenhing?“ bohrte der Professor. „Der rote Blitz an der Wand!“ rief Micha. „Blackout!“ erwiderte der Professor. Nur Superhirn und Henri verstanden, was er damit meinte. Die
anderen sollten es sicher nicht verstehen. Aber diese Schreckensmeldung schien Charivari im Augenblick weniger zu kümmern. Wird ein besonders böser Relaisschaden gewesen sein. Blinder Alarm. Habt ihr draußen etwas Seltsames bemerkt?“ „Die Möwe!“ Superhirn schrie es fast. „Daß ich daran nicht gedacht habe! Bei Roche Clermont ist eine Möwe abgestürzt, die so groß wie ein Sportflugzeug war!“ „Was hat denn die mit uns zu tun?“ wunderte sich Gérard. Doch das Gesicht des Professors auf dem Bildschirm wurde zu einer Fratze. In seiner Stimme schwang unverhohlenes, ja rasendes Entsetzen. „Eine Möwe?“ ächzte er. „Ein vergrößerter Seevogel? Und ihr habt euch nicht geirrt?“ .Nein“, erwiderten Superhirn und Henri wie aus einem Munde. „Superhirn! Genau zuhören! Schalte den Roboter-Kontrollkasten ab! Ich denke, die Instrumente werden dann wieder funktionieren. Schnell, ich warte!“ „Anweisung befolgt!“ meldete der junge Flugingenieur. „Testet alle Geräte, die ich jetzt nenne“, fuhr der Professor fort. Bildschirm drei leuchtete auf. Ebenso begann der Kursrechner zu summen. Er zeigte die Bahndaten. Superhirn blickte zwischen Bild und Kursrechner hin und her: Professor! Ich habe unsere Flugbahn! Ich gebe die Bahndaten durch: 0-0-0-0-0-0! Sechsmal die Null!“ „Erdumlaufbahn“, bestätigte Charivari. Seine Stimme klang erleichtert, sein Gesicht entspannte sich. „Zielprogrammierung ist durch Ausschaltung des Kontrollkastens aufgehoben. Bleibt auf der Bahn und wartet auf weitere Befehle!“ Auf Bildschirm zwei sah man, wie sich ein Mann über den Professor beugte - der Spezialbekleidung nach war es ein Laborant. „Superhirn!“ Charivari hatte die Mitteilung des Mannes entgegengenommen. Jetzt starrten seine fast fiebrig glänzenden Augen wieder geradeaus: „Superhirn! Ihr bleibt auf jeden Fall auf Erdumlaufbahn. Handle jetzt ganz schnell: Nimm die Fahrtenschreiber-Rolle aus dem Kursfach 2200312!“ Henri drückte die Zahlentasten auf dem Kommandotisch. In der Wand blinkte ein Signallämpchen, daneben fiel eine Klappe herunter. Sofort war Superhirn zur Stelle. Im frei gewordenen Fach bewegte sich eine Rolle. Die Spule wirkte wie eine senkrecht rotierende Trommel. Das sichtbar gewordene Band zeigte Leuchtschrift. „Laß es zurücklaufen bis zum Countdown!“ ertönte die sich fast überschlagende Stimme des Professors aus dem Lautsprecher. „Was hat er nur?“ flüsterte Tati. „So aufgeregt war der Professor ja noch nie!“ „Countdown!“ meldete Superhirn. „Uhrzeit - Ortszeit - F-Siedlung - Zielpunkt!“ „Weiter!“ schrie der Professor. „Treibstoffverlust!“ stellte Superhirn fest. Er stockte. „Demnach hat es zweimal Treibstoffverluste gegeben?“ rief er. Die Werte stimmen nicht mit denen überein, die ich auf der Pulttafel sah. Sie sind höher!“ „Höher - um wieviel?“ Superhirn ließ den Fahrtenschreiber noch einmal zurücklaufen. Exakt gab er die Zahlen und Buchstaben durch. „Das genügt!“ sagte der Professor hoffnungslos. Doch nun schien er sich wieder aufzuraffen. Sein Gesicht wurde hart, als er befahl: „Ihr bleibt auf Erdumlaufbahn, wie ich gesagt habe! Wenn ihr das nicht tut, muß ich Monitor vernichten! Superhirn, verstehst du?!“ Superhirn überlegte einen Augenblick, dann sagte er zur Verblüffung aller seelenruhig: „Nein!“ „Ich gebe dir den ausdrücklichen Befehl...“ Das Gesicht Charivaris verzerrte sich wieder. Superhirn unterbrach ihn - ruhig, wie zuvor: „Sie geben mir eine Erklärung, Professor. Sonst lande ich dort, wo ich will - und wo ich es kann!“ „Es ist nicht möglich, dir jetzt etwas zu erklären!“ rief Charivari in höchster Erregung. „Doch!“ Superhirn ließ sich nicht beirren. „Den Grund, weshalb wir dies oder jenes tun sollen! Sie werden doch einen Grund für Ihre Anweisung haben!“ „Es könnte euch maßlos erschrecken!“ sagte der Professor etwas gemäßigter.
„Sie haben uns schon genug erschreckt“, gab Superhirn kühl zurück. „Hier an Bord sind Henri und ich verantwortlich für die Besatzung!“ „Nun gut!“ Man sah, wie der Professor sich mit einem Tuch die Stirn trocknete. Hastig erklärte er. „Nach dem Fahrtenschreiber habt ihr schon beim Start Treibstoff verloren. Das heißt, frisches Hyperkomprimat ist ins Meer geflossen, und zwar in weit größerer Menge als bei Marac.“ „Was bei Marac ausgeflossen ist, weiß ich nur von der Pulttafel her, aber das kann ja eine Falschanzeige gewesen sein!“ unterbrach Superhirn. „Die Werte waren fast Null!“ „Und doch haben sie gereicht, eine Möwe zu verändern!“ erklang die Stimme des Professors schneidend. „Das paßt genau ins Bild! Die bei der Bremszündung ungenutzt entwichene Treibstoffmenge war mikroskopisch klein. Sie reichte aus, einen Seevogel, der sie durch Zufall berührte, ins Riesenhafte zu vergrößern!“ „Ich begreife!“ sagte Superhirn tonlos. „Vergrößert der komische Treibstoff etwa alle Lebewesen?“ fragte Prosper. „Alle!“ entgegnete Charivari, nun wieder fast außer sich. „Ich wiederhole: Der erste Treibstoffverlust ist hier nach dem Start erfolgt, als Monitor mit dem Roboter zur Meeresoberfläche emporschoß - eine erhebliche Menge Hyperkomprimat, mit dem wir unsere geheimen Raumschiffe antreiben!“ „Und?“ fragte Superhirn ahnungsvoll. „Seit etwa dreißig Stunden wundern wir uns, warum die Haie größer und größer werden und in Tiefen vorstoßen, in denen selbst U-Boote schon zerdrückt worden sind! Es ist dasselbe Vergrößerungsphänomen wie bei der Möwe. Nur handelt es sich hier um Fische, die ganz anders reagieren. Und nicht um ein Einzelexemplar, sondern um ganze Rudel! Ich bekam die Meldung, daß sie sich unserer F-Siedlung nähern! Sie haben die Größe von Walen und die Angriffskraft von enormen Torpedos! Sie können die Station zerreißen!“ „Dann müssen wir ihr zu Hilfe kommen!“ rief Superhirn entschlossen. „Die Ungetüme haben bereits ein Tauchboot geknackt!“ erwiderte Charivari. „Ich befahl, die Kraftstation gegen sie zu mobilisieren. Elektrizität schreckt sie ab. Euer Eintauchen ins Meer könnte wiederum mit Treibstoffverlusten verbunden sein, das würde Erfolge zunichte machen!“ „Aber wir können doch nicht um die Erde sausen, während uns das Komprimat zu den Düsentriebwerken rausfliegt!“ meinte Henri. „Mit dem ersten Treibstoffverlust hat sich die defekte Düse von selber geschlossen“, erklärte Charivari. „Das ist ein automatischer Vorgang. Dann, in Marac, hat die Bremszündung noch den Verlust eines einzigen, ungenutzten Partikelchens bewirkt. Aber ich weiß nicht, wie ich euch jetzt helfen soll, totale Sicherheit festzustellen. Und die wäre für die Wasserung nötig! Isoliert Triebwerke und Treibstoff-Hauptlager mit der Strahlenpanzerung! Ihr erkennt die Knöpfe an den Sichtzeichen und Beschriftungen in der Steuerungskabine! Schaltet Hilfsaggregate im Lastenraum ein, Kabine gleich neben dem Labor! Wenn die Anlage funktioniert, leuchtet grünes Licht auf, und eine Stimme tönt fortwährend: Keine Gefahr! Keine Gefahr! Keine Gefahr! „Mit den Hilfsaggregaten kommen wir zur Not herunter?“ fragte Prosper. „Ihr kämt damit sogar noch ein paarmal zum Mond und zurück“, sagte Charivari. Henri wollte noch etwas fragen, doch da verschwand der Kopf des Professors von der Mattscheibe. Das Bild wurde plötzlich dunkel. „Verbindung wieder abgebrochen“, sagte Gérard. Superhirn ging darauf sofort in die Steuerungskabine und isolierte Triebwerke und TreibstoffHauptlager mit der Strahlenpanzerung, wie Charivari befohlen hatte. Während Henri probierte, ob das Schaltmodell des Monitor wieder in Ordnung war, setzte Superhirn die Hilfsaggregate in Tätigkeit: Das grüne Licht - ersehntes Zeichen dafür, daß alles klappte - leuchtete auf! Henri meldete: „Schaltmodell zeigt wieder an; läßt keine Mängel erkennen!“ In der Aggregatkabine ertönte die Maschinenstimme. „Keine Gefahr! Keine Gefahr! Keine Gefahr!“ „Keine Gefahr - für uns!“ sagte Superhirn grimmig. „Aber ich möchte nicht wissen, was jetzt in der F-Siedlung am Meeresgrund los ist.“
Sie hatten die Erde ein weiteres Mal umkreist. Die Besatzung sag wieder im Kommandoraum und blickte auf die Sichtplatte. „Professor auf Bildschirm!“ meldete Henri, der kurz aufgesehen hatte. Charivaris Gesicht wirkte steinern. „Elektrische Stromstöße haben die vergrößerten Haie in Richtung Oberfläche vertrieben!“ hörte man seine Stimme. „Ihr müßt sie jetzt ablenken und vernichten!“ „Vernichten?“ rief Prosper. „Wie denn? Mit der Angel?“ „Nein, mit Blutplasma“, erwiderte der Professor ungerührt. „Superhirn, geh ins Labor und nimm die Blutplasma-Behälter heraus!“ „Sollen wir damit etwa die Haie anlocken?“ fragte Gérard. „Ja“, kam die Antwort des Professors. „Aber dazu müssen Superhirn und Henri Monitor aus der Erdatmosphäre herausbringen und das Raumschiff auf Flugzeug umprogrammieren. Dann fliegt ihr dicht über die Meeresoberfläche - und lockt die Riesenbestien an. „Achtung! Ich gebe euch Kursbefehle!“ „Also ist die Meeresbodenstation in großer Gefahr, wenn der Professor zu solchen Maßnahmen greift“, murmelte Henri. „Wahrscheinlich sind die Riesenbestien nach der Alteration den Tauchbooten der F-Siedlung nachgeschwommen. Wenn das mit dem Blutplasma nun nicht klappt?“ Superhirn runzelte die Stirn. „Den Versuch zumindest müssen wir machen , sagte er entschlossen. „So, ich kümmere mich jetzt um das Blutplasma im Labor!“ Prosper und er holten die Behälter heraus. Und schon kamen neue Anweisungen des Professors, den Eintritt in die Erdatmosphäre betreffend. „ Stichwort Landung!“ schrie Henri. Die Maschinenstimme an Bord erklang scheppernd zur Einweisungshilfe: „Achtung, Lufthülle! Grüner Zeiger auf Landeuhr muß in Deckung mit rotem Zeiger gebracht werden. Es erfolgt automatisch richtige Winkeleinstellung für den Eintritt in die Atmosphäre. Bremsraketen zünden!“ Nach einer Weile öffnete sich das Cockpit für die Handsteuerung. Die Hitzeschilde draußen, an der Außenhülle des Raumschiffes, waren geschlossen. Nur auf dem Panoramabildschirm vorne und auf dem Himmelsvisor konnte man jetzt sehen, daß man sich der Wolkendecke näherte. Henri und Superhirn - Pilot und Kopilot - benutzten jetzt die Handsteuerung im Cockpit. Dabei hielten sie eine Umrißzeichnung ihres Schiffes immer auf einem Fadenkreuz. Dadurch konnte sich das Raumfahrzeug während des Abstiegs selbständig regeln. .Hitzeschild vor Cockpit geht hoch!“ bemerkte Henri. Sie bewegten sich wie ein Flugzeug dicht über der Meeresfläche hin. Nun brauchten sie bugwärts keinen Panoramabildschirm mehr: Sie blickten wie aus einer großen Flugmaschine hinaus direkt aufs Wasser. Prosper und Gérard hatten zusätzliche Befehle des Professors entgegengenommen. „Monitor“ machte jetzt ganz, ganz langsame Fahrt dicht über der Meeresfläche. „Blutplasma aus vorgesehenen Schächten im Lastenraum ins Wasser schießen!“ kam eine weitere Anweisung. Henri ließ Monitor langsam über der vom Professor angegebenen Position kreisen. Die Geräte zeigten an, daß sie sich über der F-Station befanden. „Atom-U-Boote!“ kreischte Micha, der sich im Kommandostand über den Himmelsvisor gebeugt hatte. Tati zog ihn rasch zurück. „Haie!“, stammelte sie. „Haie, größer als Wale! Himmel, diese schrecklichen Zähne!“ „Geht in die Messe!“ brüllte Prosper. „Seht euch das nicht an!“ Er war schreckensbleich. Ob das Dutzend irrsinnig vergrößerter Bestien nun tatsächlich dem Blutgeruch gefolgt war oder nur irgend etwas, das sich bewegte, wie zum Beispiel einem Tauchboot der F-Siedlung, wußte keiner mit Sicherheit zu sagen. Jedenfalls war das ganze Rudel an der vom Professor vorgesehenen Stelle zusammengetroffen. Dort aber hatten die furchtbaren Monstren nichts anderes vorgefunden - als ihresgleichen. Und nun begann ein Kampf zwischen den Tieren, so, wie es ernsthafte Taucher glaubhaft zu schildern pflegen.
Tati zerrte Micha, der den Pudel an sich gerissen hatte, durch die Küche in die Messe. Prosper wandte sich ab. Nur Gérard sah schluckend auf der Sichtplatte in das von kämpfenden Ungeheuern aufgewühlte Meer. Immer, wenn sie die Stelle anflogen, sahen auch Henri und Superhirn im Cockpit das entsetzliche Bild der gegenseitigen Zerfleischung. „Das sagen alle Seeleute und Forscher übereinstimmend“, murmelte Superhirn, „wenn die mal angefangen haben, geraten sie in Raserei! Aber was machen wir jetzt?“ Er sprach durchs Mikrofon mit Prosper. Gleich darauf kam die Antwort: „Ultraschall aus den Sonaren abstrahlen“, befahl Charivari. „Gehirne von Haien sollen empfindlich sein, und mit diesen „Ultraschall-Gehirnschüben“ werden die Viecher nicht fertig. Sie sterben und schrumpfen auf normale Größe zurück!“ Nach zwanzig Minuten regte sich nichts mehr an der bisher vom Kampf aufgewühlten Stelle der Meeresoberfläche. „Cockpit schließen!“ wies Charivari sie an. Seine Stimme klang erleichtert. „Platte im Kommandoraum umstellen auf Unterwassersicht. Scheinwerfer an! Eintauchen ins Meer nach meinen Datenangaben.“ „Tati, Micha und Loulou erschienen wieder im Befehlsstand von Monitor. „Wenn...“, begann Micha mit schreckgeweiteten Augen, „wenn uns aber so ein Ungeheuer gefolgt ist - eins, das wir nicht erwischt haben...?“ Der Gedanke war nicht nur ihm unbehaglich. „Selbsthilfe zur Einfahrt in F-Siedlung unterlassen!“ meldete sich der Professor jetzt mit freudigem Gesicht auf dem Bildschirm. „Ruht euch aus.“ Aufatmend fiel Prosper in seinen Drehsessel. „Das war das richtige Wort!“ schnaufte er. „Ich bin bedient.“ Als die Besatzung den Monitor auf dem Meeresboden-Flughafen der F-Siedlung verließ, glaubte sie zu träumen. Nein, das war nicht die erwartete Unterseestation, wie sie Charivaris Bruder im Pazifik leitete, das hier war eine richtige Meeresboden-Metropole mit U-Bahnen, Kränen, Autos, Arbeitsfahrzeugen jeder Art und Größe. Die Beleuchtung glich der eines Flughafens irgendeiner großen Stadt bei Nacht. Dazu ging auch von dem aus Kuppeln zusammengebauten „Himmel“ der in unfaßbarer Tiefe liegenden Meeresstadt ein künstliches, gleißendes Licht aus. Micha war so beeindruckt, daß er den Professor nicht bemerkte, der am Fuß der Ausstiegsleiter stand. Auch seine engsten Mitarbeiter hatten sich zur Begrüßung ihrer jungen Retter eingefunden. „Herr Professor!“ schrie Micha begeistert. „Was für ein Glück, daß Sie nicht aufgefressen worden sind!“
Ende