C.NORDHOFF und J.N.HALL
DIE MEUTEREI AUF
DER BOUNTY
SCHIFF OHNE HAFEN
MEER OHNE GRENZEN
VERLAG KURT DESCH WIEN M...
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C.NORDHOFF und J.N.HALL
DIE MEUTEREI AUF
DER BOUNTY
SCHIFF OHNE HAFEN
MEER OHNE GRENZEN
VERLAG KURT DESCH WIEN MÜNCHEN BASEL
SCHIFF OHNE HAFEN Autorisierte Übersetzung von Ernst Simon
nach der 256. Auflage des englischen Originals »MUTINY«
MEER OHNE GRENZEN Die englische Originalausgabe erschien in zwei Bänden, die den
Titel führen:
MEN AGAINST THE SEA — PITCAIRN'S ISLAND
ins Deutsche übertragen von Georg Anton Kern
Berechtigte Lizenzausgabe für
WELT IM BUCH
und
EUROPAISCHER KULTURKREIS,
eine Gemeinschaft der Freunde des guten Buches
Wahlband Nr. 490
Gesamtdeutsche Rechte beim Verlag Kurt Desch München Wien Basel
Gedruckt im Graphischen Großbetrieb Friedrich Pustet, Regensburg
Gebunden in der Großbuchbinderei R. Oldenbourg, München
Schutzumschlag-Entwurf von Donald Brau, Basel
Printed in Germany 1961
obx
Vorwort
Die Meuterei auf der Bounty, die im Mittelpunkt dieses Buches steht, trug sich vor mehr als 150 Jahren zu. Sir John Barrows klassischer Bericht über die Fahrt dieses bewaffneten Transportschiffes der englischen Marine wurde vor über hundert Jahren geschrieben; seither haben sich immer neue Legenden um die wirklichen Geschehnisse gewoben; aber auch umfangreiches neues Tatsachenmaterial wurde zutage gefördert. So verwirrend und gegensätzlich wurde das Bild, daß es den Verfassern an der Zeit schien, die Geschichte der Bounty, die durch Generationen im Bewußtsein der Seeleute aller Länder wach geblieben ist, neu zu schreiben. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß in dieser neuen Erzählung nichts von der historischen Wahrheit geopfert werden dürfe. So gingen sie denn daran, gewissenhaft und unermüdlich alle verfügbaren Quellen zu durchforschen. Das Britische Museum wurde ebenso durchstöbert wie die Archive der Londoner Admiralität; ganze Berge von vergilbten Manuskripten, Gerichtsakten, Landkarten, Plänen, Zeichnungen und zeitgenössischen Bildern wurden der Vergessenheit entrissen. Diese Schätze stapelten die Verfasser in ihrem Arbeitszimmer auf Tahiti auf, wo das Widerspiel der Wogen des Stillen Ozeans an den Wänden glitzert und durch das Fenster der Duft tropischer Blumen hereinströmt. So begannen sie, die Geschichte von der Bounty neu zu gestalten, in Form eines Romans, aber eines Romans, dessen wesentlicher Inhalt bis in die kleinsten Einzelheiten Wirklichkeit ist.
Für Kapitän Viggo Rasmussen, Schoner Tiaré Taporo, Rarotonga, und Kapitän Andy Thomson, Schoner Tagua, Rarotonga, alte Freunde, die dasselbe Meer befahren, welches die Bounty durchsegelte
ERSTES BUCH
ROGER BYAM
Kadett auf H. M. S. Bounty, berichtet von der Fahrt der
Bounty nach Tahiti, der Meuterei unter Fletcher Christian
und seinen eigenen weiteren Schicksalen
1
Die Briten werden von Angehörigen anderer Nationen häufig wegen ihrer Abneigung gegen alle Neuerungen bekrittelt, und in der Tat lieben wir England am meisten um der Dinge willen, die sich am wenigsten ändern. Hier im Westen des Landes, wo ich zur Welt kam, sind die Menschen langsam im Sprechen; sie halten eigensinnig an einmal gefaßten Meinungen fest und sind in noch höherem Maße als ihre Landsleute in anderen Gegenden jeglicher Neuerung abhold. Die Landsitze meiner Nachbarn, die Hütten der Pächter, ja sogar die Fischerboote, die den Kanal von Bristol befahren, haben die Formen beibehalten, die sie in einem primitiveren Zeitalter hatten. Und vielleicht wird man einem alten Manne, der vierzig von seinen dreiundsiebzig Lebensjahren auf dem Meere zugebracht hat, eine Schwäche für die Schauplätze verzeihen, auf denen sich seine Jugend abspielte, und die Befriedigung darüber, daß diese Schauplätze vom Ablauf der Zeit so wenig berührt wurden. Kein Mensch ist konservativer als der, welcher Schiffe entwirft und baut, es sei denn jener, der auf ihnen zur See fährt; und da die Stürme auf dem Meer seltener vorkommen, als manche Landratte glaubt, so besteht das Leben eines Seemannes hauptsächlich aus der täglichen Erfüllung bestimmter, ewig wiederkehrender Pflichten. Vierzig Jahre eines solchen Daseins haben einen Sklaven aus mir gemacht, und ich fahre, beinahe gegen meinen Willen, fort, nach der Uhr zu leben. Es gibt keinen Grund, aus dem ich jeden Morgen um sieben Uhr aufstehen müßte, und doch beginne ich um diese Stunde mit dem Ankleiden; meine Nummer der »Times« würde mich
auch erreichen, wenn ich mir nicht jeden Vormittag um zehn Uhr ein Pferd satteln ließe, um der Post entgegenzureiten. Aber die Gewohnheit ist stärker als ich, und sie findet eine mächtige Bundesgenossin in Frau Thacker, meiner Haushälterin. Die will nichts davon hören, sich zur Ruhe zu setzen. Trotz ihrem hohen Alter sie muß an die Achtzig sein - ist ihr Gang noch flott und elastisch, und in ihren dunklen Augen blitzt zuweilen ein Rest der früheren Schelmerei auf. Ich würde gerne mit ihr von den Tagen sprechen, als meine Mutter noch lebte, aber wenn ich versuche, eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen, so verweist sie mich sogleich auf meinen Platz. Wir bleiben Herr und Dienerin, mag auch der Friedhof nur noch einen Schritt entfernt sein! Ich bin einsam; wenn Frau Thacker stirbt, werde ich noch einsamer sein. Sieben Generationen Byams haben in Withycombe gelebt und sind hier gestorben; seit fünfhundert Jahren kennt man den Namen in der Gegend. Ich bin der Letzte meines Geschlechtes; welch seltsamer Gedanke, daß nach meinem Tode alles, was von unserem Blute übrigbleibt, in den Adern einer Eingeborenen auf einer Südseeinsel fließt! Wenn es wahr ist, daß das Leben eines Menschen in dem Augenblick aufhört, nützlich zu sein, da seine Gedanken beginnen, in der Vergangenheit zu weilen, so hat mein Leben nicht mehr viel Zweck, seit ich vor fünfzehn Jahren meinen Abschied von Seiner Majestät Marine genommen habe. Die Gegenwart hat Sinn und Wirklichkeit für mich verloren, und nicht ohne Bedauern habe ich entdeckt, daß das Nachdenken über die Zukunft weder Vergnügen noch Kummer bringt. Aber vierzig Jahre zur See, darunter die erregte Epoche der Kriege
gegen die Dänen, die Holländer und die Franzosen, haben meine Erinnerung mit so reichen Vorräten angefüllt, daß mir nichts größere Freude macht, als nach Herzenslust in die Vergangenheit zurückzuwandern. Mein Arbeitszimmer, hoch oben im nördlichen Flügel von Withycombe, mit seinen großen Fenstern, die auf den Kanal von Bristol und die ferne Küste von Wales hinausgehen, ist der Ausgangspunkt für diese Reisen durch die Vergangenheit. Das Tagebuch, das ich geführt habe, seit ich im Jahre 1787 als Kadett zum erstenmal zur See gefahren bin, liegt immer in der Kampferholztruhe neben meinem Sessel, und ich brauche nur ein Blatt davon in die Hand zu nehmen, um aufs neue den Geruch des Pulverdampfs in der Schlacht zu riechen, die Eisnadeln eines Nordseesturms im Gesicht zu spüren oder die ruhige Schönheit einer tropischen Nacht unter den Sternbildern der südlichen Hemisphäre zu genießen. Am Abend, wenn die unwichtigen Tagespflichten eines alten Mannes getan sind, wenn ich allein und schweigend mein Abendessen eingenommen habe, verspüre ich die spannende Vorfreude eines Besuchers der Hauptstadt, der am ersten Tage eine halbe Stunde aufs angenehmste damit verbringt, zu überlegen, welches Theaterstück er sich ansehen will. Soll ich noch einmal in den alten Schlachten kämpfen? Camperdown, Kopenhagen, Trafalgar - diese Namen donnern in der Erinnerung wie das Gebrüll schwerer Geschütze. Und doch blättere ich die Seiten meines Tagebuchs häufiger und immer häufiger noch weiter zurück, bis zu den verblaßten Aufzeichnungen eines Seekadetten - zu einer Episode, die ich mich Jahrzehnte hindurch zu vergessen bemüht habe. So unbedeutend diese Episode auch in den Annalen der Marine und erst recht vom Standpunkte des
Geschichtsschreibers aus sein mag, so war dieses Ereignis dennoch das seltsamste, abenteuerlichste und tragischste meiner Laufbahn. Seit langem ist es meine Absicht, nach dem Beispiel anderer Offiziere im Ruhestand die reichliche Mußezeit eines alten Mannes dazu zu verwenden, mit Hilfe meines Tagebuches einen getreuen Bericht über eine Episode aus meinem Leben zur See zu geben. Gestern abend habe ich den Entschluß gefaßt; ich werde über mein erstes Schiff, die Bounty, über die Meuterei an Bord und über meinen langen Aufenthalt auf der Insel Tahiti schreiben, auch darüber, wie ich, in Fesseln zurückgebracht, vor das Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde. Zwei Charaktere stießen auf dem Schauplatz dieses Dramas aus längst vergangener Zeit aufeinander, zwei Männer, stark und unergründlich - Fletcher Christian und William Bligh. Als mein Vater im Frühjahr des Jahres 1787 an Lungenentzündung starb, gab meine Mutter ihrem Schmerz nur kargen Ausdruck, obgleich das Zusammenleben meiner Eltern in einer Zeit, da häusliche Tugenden nicht der Mode entsprachen, ungemein glücklich gewesen war. Meine Mutter teilte das Interesse meines Vaters für die Naturwissenschaften, das ihm die Ehre einbrachte, zum Mitglied der hervorragendsten gelehrten Gesellschaften ernannt zu werden; im übrigen zog sie das ländliche Leben in Withycombe den Zerstreuungen der Stadt London vor. Ich hätte im Herbst jenes Jahres die Universität Oxford beziehen sollen, und während des ersten Sommers der Witwenschaft meiner Mutter begann ich diese erst wahrhaft kennenzulernen, nicht so sehr als Mutter wie als
charmante Freundin, deren Gesellschaft ich niemals müde wurde. Die Frauen ihrer Generation hatten gelernt, ihre Tränen für die Leiden anderer zu bewahren und die Widrigkeiten des eigenen Lebens mit einem Lächeln hinzunehmen. Ein warmes Herz und ein reger Verstand machten das Gespräch mit ihr unterhaltend oder philosophisch, wie es dem Gegenstande entsprach; und im Gegensatz zu den jungen Damen der heutigen Zeit hatte man sie auch gelehrt, daß es ratsam sei, zu schweigen, wenn man nichts zu sagen hat. An dem Morgen, an dem Sir Joseph Banks' Brief eintraf, schlenderten wir durch den Garten, fast ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Es war spät im Juli, der Himmel war blau und die warme Luft vom Dufte der Rosen erfüllt; ein Morgen, der uns unser nicht zu Unrecht viel gescholtenes Klima erträglich erscheinen ließ. Ich dachte darüber nach, wie wunderschön meine Mutter in Schwarz aussah, mit ihrem reichen blonden Haar, ihren frischen Farben und ihren dunkelblauen Augen. Die Thacker, ihre Zofe - ein schwarzäugiges Mädchen aus Devonshire -, trippelte den Pfad entlang auf uns zu. Sie knickste und überreichte meiner Mutter einen Brief auf einem silbernen Tablett. Meine Mutter warf mir einen Blick der Entschuldigung zu und begann, während sie sich auf eine Holzbank setzte, den Brief zu lesen. »Von Sir Joseph«, sagte sie, nachdem sie das Schreiben durchgesehen hatte. »Du hast wohl schon von Leutnant Bligh gehört, der Kapitän Cook auf seiner letzten Fahrt begleitete? Sir Joseph schreibt, daß dieser Offizier auf Urlaub sei, gegenwärtig bei Freunden in der Nähe von Taunton weile und sich freuen würde, einen Abend mit uns zu verbringen. Dein Vater hatte eine sehr hohe Meinung von ihm.«
Ich war damals ein hagerer, lang aufgeschossener Siebzehnjähriger, träge an Körper und Geist, aber diese Worte wirkten wie ein elektrischer Schlag auf mich. »Ein Begleiter Kapitän Cooks!« rief ich aus. »Du mußt ihn unbedingt herbitten, Mama!« Meine Mutter lächelte. »Ich wußte, daß du dich freuen würdest«, sagte sie. Die Kutsche wurde rechtzeitig abgeschickt nebst einem Briefchen für Herrn Bligh, in dem wir ihn baten, wenn möglich, am selben Abend mit uns zu speisen. Meine Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit unserem Besucher, und die Stunden bis zum Abendessen schienen mir mit schneckenhafter Langsamkeit dahinzuschleichen. Ich las vielleicht lieber als die meisten jungen Leute meines Alters, und mein Lieblingsbuch war Dr. Hawkesworths »Beschreibung der Reisen zum Stillen Ozean«; mein Vater hatte es mir an meinem zehnten Geburtstag geschenkt. Ich kannte die drei schweren, in Leder gebundenen Bände beinahe auswendig, und mit gleichem Interesse hatte ich die französische Erzählung von der Reise Monsieur de Bougainvilles studiert. Diese frühen Berichte über die Erforschung der Südsee und der Sitten und Gebräuche der Einwohner von Otaheite und Owhyhee, wie die Inseln damals genannt wurden, erregten ein Interesse, welches heute kaum mehr verständlich erscheint. Die Schriften von Jean Jacques Rousseau, die so bedauernswerte und verhängnisvolle Folgen zeitigen sollten, predigten eine Lehre, die selbst unter den Leuten von Stand Anhänger fand. Es gehörte zum guten Ton, zu glauben, daß nur die im Naturzustand lebenden, allen konventionellen Zwangs ledigen Menschen die wahre Tugend und das wirkliche Glück finden würden. Und als Wallis, Byron, Bougainville und
Cook von ihrer Entdeckungsreise zurückkehrten und Wunderdinge von den Inseln der Seligen erzählten, deren Einwohner, frei vom Fluche Adams, ihre Tage mit Tanz und Gesang verbrächten, da erhielten die Rousseauschen Lehren neuen Glanz. Sogar mein Vater, der so sehr in seine astronomischen Studien vertieft war, daß er den Zusammenhang mit der Welt verloren hatte, horchte begierig den Erzählungen seines Freundes Sir Joseph Banks und erörterte mit meiner Mutter häufig die Vorzüge des »natürlichen Lebens«. Mein persönliches Interesse an diesen Dingen war weniger philosophisch als abenteuerhaft; gleich anderen jungen Leuten sehnte ich mich danach, unbekannte Meere zu durchfahren, Inseln, die noch auf keiner Landkarte eingezeichnet sind, zu entdecken und Handel mit sanften Indios zu treiben, die die weißen Menschen als Götter betrachten. Der Gedanke, daß ich bald mit einem Offizier Unterhaltung pflegen werde, der Kapitän Cook auf seiner letzten Fahrt begleitet hatte - einem Seemann und nicht einem Mann der Wissenschaft wie Sir Joseph -, hatte etwas unsagbar Spannendes für mich; übrigens war ich keineswegs enttäuscht, als der Wagen endlich vorfuhr und Herr Bligh ausstieg. Bligh stand zu jener Zeit in der Blüte seines Lebens. Er war von mittlerer Größe, kräftig gebaut und ein wenig zur Korpulenz neigend, obgleich seine Haltung vortrefflich war. Sein wettergebräuntes Gesicht war breit, mit einem energischen Mund und sehr schönen dunklen Augen; oberhalb der hohen Stirn erhob sich das dick gepuderte Haar. Er trug einen dreieckigen schwarzen Hut quer auf dem Kopf; sein Rock war aus hellblauem Tuch, weiß verziert, mit goldenen Ankern geschmückt und nach der damaligen Mode mit langen Schößen versehen;
Weste, Kniehose und Strümpfe waren weiß. Die altmodische Uniform setzte die Vorzüge einer guten Gestalt ins rechte Licht. Blighs Stimme, die kräftig, volltönend und ein wenig rauh war, machte den Eindruck ungewöhnlicher Lebenskraft; sein Gehaben drückte Entschlossenheit und Mut aus, und sein Blick zeugte von einem Selbstbewußtsein, wie es nur wenigen Menschen zu eigen ist. Diese Kennzeichen einer starken und angriffslustigen Natur wurden gemildert durch die hohe Stirn eines Geistesmenschen und die angenehmen, bescheidenen Umgangsformen, die er auf dem Festlande zur Schau zu tragen verstand. Die Kutsche fuhr vor unserem Tore vor, der Lakai sprang vom Bock, und Herr Bligh stieg aus. Ich stand bereit, um ihn zu empfangen; als ich mich vorgestellt hatte, begrüßte er mich mit einem Händedruck und einem Lächeln. »Der Sohn seines Vaters«, sagte er. »Ein großer Verlust. Er war zumindest dem Namen nach allen, die sich mit der Schiffahrt befassen, wohlbekannt.« Gleich darauf erschien meine Mutter, und wir begaben uns zu Tische. Bligh sprach mit höchster Anerkennung von den Verdiensten meines Vaters um die wissenschaftliche Längenbestimmung. Nach einiger Zeit wandte sich die Unterhaltung den Inseln der Südsee zu. »Sind die Eingeborenen von Tahiti wirklich so glücklich, wie Kapitän Cook annahm?« fragte meine Mutter. »Ja nun, gnädige Frau«, entgegnete unser Gast, »Glück ist ein großes Wort! Es ist wahr, daß diese Menschen ohne viel Arbeit leben und daß sie sich die leichten Pflichten, die sie erfüllen, fast alle selbst auferlegt haben; da sie weder Furcht vor Not und Disziplin kennen, so nehmen sie nichts ernst.«
»Roger und ich«, bemerkte meine Mutter, »haben uns mit den Ideen J. J. Rousseaus befaßt. Wie Sie wissen, ist dieser Autor der Ansicht, daß der Mensch nur im Naturzustand wahrhaft glücklich sein könne.« Bligh nickte. »Ich habe von seinen Ideen gehört«, meinte er, »obwohl ich leider die Schule zu früh verlassen habe, und ohne Französisch zu lernen. Aber wenn ein rauher Seemann eine Meinung über ein Thema aussprechen darf, das sich besser für einen Philosophen ziemt, so glaube ich, daß nur zuchtvolle und aufgeklärte Menschen wirklich Glück genießen können. Was die Indios von Tahiti betrifft, so wird ihre Lebensweise von tausend lächerlichen Vorschriften beeinflußt, mit denen sich kein zivilisierter Mensch abfinden würde. Diese Vorschriften stellen eine Art ungeschriebenes Gesetz dar, Tabu genannt; statt sich einer vernünftigen Lebenszucht zu unterwerfen, stellen diese Eingeborenen willkürliche und ungerechte Regeln auf, denen alle menschlichen Handlungen unterliegen. Ein Aufenthalt von wenigen Tagen inmitten von Menschen im Naturzustand hätte Monsieur Rousseau sicher in seinen Anschauungen wankend gemacht.« Er hielt inne und wandte sich mir zu. »Sie können Französisch, junger Mann?« fragte er mich. »Jawohl, Sir«, entgegnete ich. »Alles, was recht ist, Herr Bligh«, warf meine Mutter ein; »er hat eine besondere Begabung für Sprachen. Mein Sohn könnte in Frankreich oder Italien für einen Bewohner des Landes gelten, und im Deutschen macht er gleichfalls schöne Fortschritte. Sein Latein trug ihm vergangenes Jahr einen Preis ein.« »Ich wollte, ich hätte diese Begabung!« Bligh lachte. »Weiß Gott, ich habe es heute lieber mit einem Orkan als mit der Übersetzung einer Seite Cäsar zu tun! Und die
Aufgabe, die Sir Joseph mir gestellt hat, ist noch schwerer! Ich kann Ihnen ja ruhig sagen, daß ich mich bald nach den Südseeinseln einschiffen werde.« Da er unser lebhaftes Interesse bemerkte, fuhr er fort: »Seit ich vor vier Jahren, als der Friede unterzeichnet wurde, den Dienst in der Kriegsmarine quittierte, gehörte ich der Handelsmarine an. Ich war Kapitän des Westindienschiffes Britannia. Während meiner Fahrten hatte ich häufig angesehene Plantagenbesitzer als Passagiere an Bord und wurde oft gefragt, was ich über die Brotfrucht wisse, die in Tahiti wächst. Da sie der Ansicht sind, die Brotfrucht sei ein billiges und gesundes Nahrungsmittel für ihre Negersklaven, richteten mehrere westindische Kaufleute und Pflanzer das Gesuch an die Regierung, man möge ein Fahrzeug entsprechend einrichten, um die Brotfrüchte von Tahiti zu den Westindischen Inseln zu bringen. Sir Joseph Banks hielt die Idee für gut und unterstützte sie. Hauptsächlich infolge seiner Befürwortung rüstet die Admiralität jetzt ein kleines Schiff für die Fahrt aus, und auf Sir Josephs Vorschlag wurde ich wieder in den aktiven Dienst eingestellt und zum Kapitän des Schiffes ernannt. Vor Ende des Jahres sollen wir unter Segel gehen.« »Wenn ich ein Mann wäre«, rief meine Mutter mit leuchtenden Augen, »würde ich Sie bitten, mich mitzunehmen; Sie brauchen sicher Gärtner, und ich könnte mich der jungen Pflanzen annehmen.« Bligh lächelte. »Ich würde mir nichts Besseres wünschen, gnädige Frau«, meinte er galant, »obgleich man mir einen Botaniker zugeteilt hat - David Nelson, der Kapitän Cook auf seiner letzten Reise in gleicher Eigenschaft begleitete. Mein Schiff, die Bounty, wird ein schwimmender Garten sein, ausgestattet mit allen
Einrichtungen für die Pflege der Pflanzen, und wir werden den Zweck unserer Reise bestimmt erreichen. Die einzige wirkliche Schwierigkeit ist der Auftrag, mit dem mich mein Freund Sir Joseph Banks betraut hat. Er hat mir eindringlichst zugeredet, meinen Aufenthalt in Tahiti dazu zu benutzen, eine genauere Kenntnis der Inselbewohner und ihrer Gebräuche zu erlangen und ein vollständigeres Vokabularium nebst einer Grammatik ihrer Sprache anzulegen, als es bisher möglich war. Er ist der Ansicht, daß insbesondere ein Wörterbuch der Eingeborenensprache den Seeleuten in der Südsee die wertvollsten Dienste leisten könne. Aber ich habe von Diktionären sowenig Ahnung wie vom Griechischen, und ich habe auch niemanden an Bord, der einer solchen Aufgabe gewachsen wäre.« »Welche Seeroute werden Sie wählen, Sir?« fragte ich. »Um das Kap Hoorn herum?« »Ich werde den Versuch machen, wenn auch die Jahreszeit für ein solches Unterfangen nicht günstig sein wird. Zurückkehren werden wir von Tahiti über Ostindien und das Kap der Guten Hoffnung.« Meine Mutter hob die Tafel auf und ließ uns allein. Während Bligh Walnüsse knackte und den Madeira meines seligen Vaters schlürfte, stellte er auf seine liebenswürdige Art Fragen über meine Sprachkenntnisse. Schließlich schien er befriedigt, trank sein Glas aus und schüttelte den Kopf, als der Diener es ihm wieder füllen wollte. Er war mäßig im Weingenuß in einem Zeitalter, in dem fast alle Offiziere in Seiner Majestät Marine unmäßig tranken. Endlich sprach er. »Junger Mann«, begann er ernst, »hätten Sie Lust, mich auf meiner Fahrt zu begleiten?«
Seit er die große Reise zum ersten Male erwähnt hatte,
war der Wunsch in mir wach, die Fahrt mitzumachen,
aber seine Worte trafen mich dennoch unvorbereitet.
»Ist das Ihr Ernst, Sir?« stammelte ich. »Wäre es
möglich?«
»Die Entscheidung darüber liegt nur bei Ihnen und Ihrer
Frau Mutter. Ich würde mir ein Vergnügen daraus
machen, Ihnen einen Platz unter meinen jungen Herren
einzuräumen.«
Der warme Sommerabend war ebenso schön wie der Tag,
der ihm vorangegangen war, und als wir uns im Garten
zu meiner Mutter gesellt hatten, sprach sie mit Bligh über
die beabsichtigte Reise. Wie ich merkte, wartete er
darauf, daß ich seinen Vorschlag zur Sprache bringe, und
während einer Gesprächspause faßte ich mir auch
wirklich ein Herz.
»Mama«, sagte ich, »Leutnant Bligh hatte die
Freundlichkeit, vorzuschlagen, daß ich ihn begleite.«
Wenn sie überrascht war, so ließ sie es durch nichts
erkennen, sondern wandte sich ruhig an unseren Gast.
»Sie haben Roger damit ein Kompliment gemacht«,
bemerkte sie. »Kann ein unerfahrener Junge Ihnen an
Bord von Nutzen sein?«
»Er wird ein tüchtiger Seemann werden, gnädige Frau;
dafür lassen Sie mich sorgen! Der junge Mann gefällt mir.
Auch seine Sprachbegabung kommt mir sehr gelegen.«
»Wie lange gedenken Sie auszubleiben?«
»Etwa zwei Jahre.«
»Er sollte nach Oxford gehen, aber das kann wohl
warten.« Sie fragte mich, halb im Scherz: »Nun, junger
Herr, wie denken Sie darüber?«
»Mit deiner Erlaubnis würde ich sogleich mit Freuden
annehmen.«
Sie lächelte mich im Zwielicht an und gab mir einen leichten Klaps auf die Hand. »Da hast du sie«, sagte sie. »Ich bin die letzte, die dir im Wege steht. Eine Fahrt in die Südsee! Wenn ich ein Junge wäre und Herr Bligh mich haben wollte, so würde ich von zu Hause durchbrennen, um mitzufahren!« Bligh lachte kurz auf und blickte meine Mutter bewundernd an. »Sie hätten einen famosen Seemann abgegeben, gnädige Frau«, bemerkte er, »einen, der sich vor nichts fürchtet, möchte ich wetten!« Es war vereinbart worden, daß ich sogleich in Spithead an Bord der Bounty gehen sollte, aber die Ausrüstung des Schiff es und seine Versorgung mit Vorräten nahmen so lange Zeit in Anspruch, daß es Spätherbst wurde, ehe es abfahrtbereit war. Im Oktober nahm ich von meiner Mutter Abschied und fuhr nach London, um meine Uniform zu bestellen, den alten Rechtsfreund unserer Familie, Herrn Erskine, zu besuchen und Sir Joseph Banks meine Aufwartung zu machen. Meine deutlichste Erinnerung an jene Tage knüpft sich an einen Abend in Sir Josephs Haus. Er war in meinen Augen eine romantische Figur - ein stattlicher, blühender Mann von fünfundvierzig Jahren, Präsident der Royal Society, Gefährte des unsterblichen Kapitäns Cook, Freund indischer Prinzessinnen und Erforscher von Labrador, Island und des gewaltigen Stillen Ozeans. Als wir gespeist hatten, führte er mich in sein Studierzimmer, an dessen Wänden seltsame Waffen und Schmuckgegenstände aus fernen Ländern hingen. Er nahm ein Dokument in die Hand, das unter anderen Papieren auf seinem Schreibtisch gelegen war.
»Mein Wörterbuch der Sprache von Tahiti«, sagte er. »Diese Kopie habe ich anfertigen lassen. Das Vokabularium ist kurz und unvollständig, aber es mag dennoch von einigem Wert für Sie sein. Merken Sie sich bitte, daß die Schreibarten, die Kapitän Cook und ich anwendeten, geändert werden sollten. Ich habe über die Sache nachgedacht, und Bligh teilte meine Ansicht, daß es besser und einfacher sei, die Worte so niederzuschreiben, wie ein Italiener sie aussprechen würde. Sie können Italienisch, nicht wahr? « »Jawohl, Sir.« »Gut«, fuhr er fort. »Sie werden einige Monate in Tahiti bleiben. Während sich die anderen mit dem Einsammeln der Brotfruchtsetzlinge befassen, wird Bligh dafür sorgen, daß Sie Muße haben, sich dem Wörterbuch zu widmen, das ich bei Ihrer Rückkehr herauszugeben hoffe. Die Dialekte der Sprachen von Tahiti werden in ausgedehnten Gebieten jener Zonen gesprochen, und ein einfaches Wörterbuch wird von den Seeleuten dringend benötigt werden, ehe viele Jahre vergangen sind. Gegenwärtig kommt uns die Südsee beinahe so entfernt wie der Mond vor; aber verlassen Sie sich darauf, die ertragreichen Walfischstationen und neuen Ländereien für Ansiedler werden bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf jene Gegenden lenken, insbesondere jetzt, da wir die amerikanischen Kolonien verloren haben. Es gibt mancherlei Zerstreuungen in Tahiti«, setzte er nach einer Pause hinzu, »lassen Sie sich nur nicht dazu verleiten, Ihre Zeit zu vergeuden. Vor allem aber seien Sie vorsichtig bei der Wahl Ihrer Freunde unter den Eingeborenen. Wenn ein Schiff in der Bucht von Matavai vor Anker geht, eilen die Indios in Scharen herbei, und jeder ist begierig, sich unter der Schiffsmannschaft einen
Freund oder Taio zu suchen. Lassen Sie sich Zeit, erkunden Sie die augenblickliche politische Lage und wählen Sie als Taio einen Mann von Ansehen und Macht. Solch ein Mann kann von unermeßlichem Nutzen für Sie sein; als Gegenleistung für Äxte, Messer, Angelhaken und Schmuck für seine Frauen wird er Sie mit frischen Lebensmitteln versorgen, Sie in sein Haus einladen, wenn Sie an Land gehen, und überhaupt alles tun, was in seiner Macht steht, um Ihnen dienlich zu sein. Wenn Sie aber den Fehler begehen, als Taio einen Mann von geringem Stande zu wählen, werden Sie ihn wahrscheinlich dumm und unachtsam finden; auch werden seine Kenntnisse der Landessprache nur unvollkommen sein. Meiner Ansicht nach gehören diese Menschen nicht nur einer anderen Klasse, sondern auch einer anderen Rasse an, die vor langer Zeit von jenen, die jetzt das Land beherrschen, unterjocht wurde. Leute von Ansehen in Tahiti sind größer, schöner und weitaus intelligenter als die Manahune oder Sklaven.« »Dann gibt es also unter den Bewohnern von Tahiti nicht mehr Gleichheit als unter uns?« Sir Joseph lächelte. »Weniger, möchte ich sagen. Die Indios erscheinen uns fälschlich als gleich, und zwar wegen der Einfachheit ihrer Sitten, und weil alle Klassen sich mit den gleichen Dingen beschäftigen: Man kann den König mit den anderen fischen gehen und die Königin ihr eigenes Kanu paddeln oder mit ihren Frauen Kleidungsstücke aus Rindenstoff ausklopfen sehen. Aber wirkliche Gleichheit gibt es nicht; keine Handlung, mag sie noch so verdienstvoll sein, kann dort einen Menschen über den Stand emporheben, für den er geboren ist. Nur den Häuptlingen, von denen man glaubt, daß sie von den Göttern abstammen, wird eine Seele zugesprochen.« Er
hielt inne, während seine Finger auf die Lehne seines Sessels trommelten. »Haben Sie alles, was Sie brauchen werden?« fragte er dann. »Kleider, Schreibzeug, Geld? Die Verpflegung eines Kadetten ist nicht die beste der Welt, aber wenn Sie an Bord gehen, wird einer der Gehilfen des Schiffers drei oder vier Pfund von jedem von euch verlangen, um ein paar Leckerbissen und Annehmlichkeiten zu besorgen. Haben Sie einen Sextanten?« »Jawohl, Sir - einen von denen meines Vaters. Ich zeigte ihn Herrn Bligh.« »Ich bin froh darüber, daß Bligh das Schiff befehligt; einen besseren Seemann wird man auf allen Meeren vergeblich suchen. Ich höre, daß er an Bord gerne ein wenig den Tataren spielt und kein sehr bequemer Herr ist, aber eine feste Hand ist mir immer lieber als eine schwächliche! Er wird Sie in Ihre Pflichten einführen; führen Sie sie stramm aus und denken Sie daran — Disziplin ist die Hauptsache!« Als ich mich schon von Sir Joseph verabschiedet hatte, klangen mir seine Worte noch immer in den Ohren: »Disziplin ist die Hauptsache!« Es war mir bestimmt, über diesen Satz oft und zuweilen schmerzlich nachzudenken, ehe wir einander wieder begegneten.
2
Gegen Ende November ging ich in Spithead an Bord der Bounty. Heute muß ich lächeln, wenn ich an die Uniformen und sonstigen Kleidungsstücke denke, die ich damals von der Londoner Postkutsche ablud. Über hundert Pfund hatte ich in diese Dinge hineingesteckt. Da gab es blaue Röcke mit langen Schößen, mit weißer Seide gefüttert; Kniehosen und Westen aus weißem Nanking und elegante Dreispitzhüte mit goldenen Schnüren und Kokarden. Ein paar Tage lang stolzierte ich in all dieser Pracht umher, aber als die Bounty unter Segel ging, wurde das Zeug ein für allemal weggeräumt und nie mehr getragen. Neben den Kriegsschiffen erster Klasse, die nahebei vor Anker lagen, sah unser Schiff nur wie eine größere Barkasse aus. Es war vor drei Jahren für den Handelsverkehr gebaut worden und hatte 2000 Pfund gekostet; die Decklänge betrug 90 Fuß, die Balkenlänge 24 Fuß und der Laderaum kaum mehr als 200 Tonnen. Auf den Umbau und die Neueinrichtung des Schiffes hatte die Admiralität 4000 Pfund verwendet. Die große Kajüte achtern war in einen Garten verwandelt worden: Unzählige Blumentöpfe standen in Gestellen, und auf dem Fußboden waren Rinnen angebracht, um das Wasser immer wieder benützen zu können. So war nichts übriggeblieben, als Leutnant Bligh, der das Schiff kommandierte, und den zweithöchsten Offizier oder »Schiffer«, Herrn Fryer, in zwei engen Kammern zu beiden Seiten der Schiffstreppen unterzubringen. Infolge des Raummangels mußten die beiden Herren die Mahlzeiten gemeinsam mit dem Schiffsarzt in einem abgeteilten Raum des Zwischendecks einnehmen. Das
Schiff war an und für sich schon klein; zudem trug es eine schwere Ladung von Waren, die für den Tauschhandel mit den Eingeborenen bestimmt war; infolgedessen war jedermann an Bord so beengt, daß die Leute schon vor der Abfahrt zu murren begannen. In der Tat glaube ich, daß die Unbequemlichkeit unserer Lebensweise und die schlechte Laune, die sie im Gefolge hatte, keine geringe Schuld an dem unglücklichen Ende einer Reise trug, die von vornherein unter einem bösen Omen zu stehen schien. Die Bounty war mit Kupfer gedoppelt, damals eine ganz neue Einführung, und mit ihrem breiten, plumpen Rumpf, den kurzen Masten und dem festen Takelwerk sah sie einem Walfischfänger ähnlicher als einem bewaffneten Transportschiff der britischen Marine. Sie trug zwei drehbare Kanonen am Vorderdeck und achtern am Oberdeck sechs drehbare Geschütze und vier Vierpfünder. An dem Morgen, an dem ich mich bei Leutnant Bligh meldete, erschien mir alles neu und merkwürdig. Das Schiff war überfüllt mit Weibern, den »Frauen« der Seeleute, der Rum floß überall in Strömen, und Juden mit scharfen Gesichtszügen fuhren in ihren Jollen dicht an das Schiff heran, begierig, Geld gegen Zinsen bis zum Löhnungstag zu borgen oder unechte Schmuckstücke auf Kredit zu verkaufen. Die Rufe der Männer in diesen Booten, das schrille Gekeife der Weiber und das Johlen und Fluchen der Matrosen vereinigten sich zu einem Höllenlärm. Ich machte mich auf den Weg nach achtern und fand Leutnant Bligh auf dem Quarterdeck. Vor ihm stand ein hochgewachsener, sonnengebräunter Mann. »Ich bin in der Sternwarte zu Portsmouth gewesen, Sir«, meldete der Mann dem Kapitän; »der Chronometer geht
um 1 Minute 52 Sekunden vor. Herr Bailey berichtet Ihnen darüber in diesem Brief.« »Danke, Herr Christian«, sagte Bligh kurz; in diesem Augenblick wandte er den Kopf und bemerkte mich. Ich nahm den Hut ab und ging auf ihn zu. »Sieh da, Herr Byam«, fuhr er fort, »da kann ich Sie gleich mit Herrn Christian, dem Schiffersmaat, bekannt machen; er wird Ihnen Ihre Kammer anweisen und Sie in einen Teil Ihrer Pflichten einführen ... Übrigens, was ich sagen wollte, Sie speisen heute mit mir an Bord der Tigreß; Kapitän Courtney kannte Ihren Vater und möchte Sie sehen.« Er blickte auf seine große silberne Uhr. »Seien Sie in einer Stunde bereit.« Ich machte eine stumme Verbeugung und folgte Christian zur Schiffstreppe. Die Kammer war ein abgeteiltes Stück des Zwischendecks. Sie war kaum acht Fuß breit und zehn Fuß lang, und doch sollte dieser Hundestall vieren von uns als Heim dienen. Drei oder vier hölzerne Kisten standen umher; eine Springluke aus schwerem, mißfarbenem Glas ließ ein wenig Licht herein; an der Wand hing ein Quadrant. Obgleich das Schiff erst vor kurzem die Werft verlassen hatte, breitete sich bereits der faulige Geruch des in den Schiffskörper eingedrungenen Wassers aus. Ein hübscher, mürrisch dreinblickender Bursche, etwa in meinem Alter und auch in eine Uniform gleich der meinen gekleidet, war damit beschäftigt, in seiner Schiffskiste Ordnung zu schaffen. Mit einem hochmütigen Blick auf mich richtete er sich auf. Sein Name war Hayward, wie ich hörte, als Christian uns kurz vorstellte, und er ließ sich kaum dazu herab, meinen Händedruck zu erwidern. Als wir das Oberdeck wieder erreicht hatten, lächelte Christian. »Der junge Herr Hayward fährt schon zwei
Jahre zur See«, bemerkte er. »Er weiß, daß Sie ein Neuling sind. Aber die Bounty ist ein kleines Schiff, auf dem sich Kameradschaftlichkeit besser ziemt als solches Vornehmgetue.« Seine Sprache war die eines Mannes von Bildung. Ich betrachtete meinen Begleiter im Licht dieses ruhigen, klaren Wintertages, und er war es sicherlich wert, sogar öfter als einmal betrachtet zu werden. Fletcher Christian stand um diese Zeit in seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr und war in seiner einfachen blauen Uniform eine prächtige Seemannsgestalt: kraftvoll und ebenmäßig gebaut, mit dichtem, dunkelbraunem Haar und einer Gesichtsfarbe, die, von Natur aus dunkel, von der Sonne so stark gebräunt war, wie man es bei einem Angehörigen der weißen Rasse nur selten sehen kann. Sein Mund und sein Kinn drückten große Entschlossenheit aus, und seine dunklen, tiefliegenden, glänzenden Augen, die stets ins Weite zu blicken schienen, übten einen fast hypnotischen Zauber aus. Er sah eher wie ein Spanier denn wie ein Engländer aus, obgleich seine Familie seit dem 15. Jahrhundert auf der Insel Man gelebt hatte. Christian war, was die Frauen einen romantisch aussehenden Mann nennen; heitere Laune wechselte bei ihm jäh mit Anfällen tiefster Niedergeschlagenheit, und es kostete ihn oft so viel Mühe, die heftigen Ausbrüche seines Temperaments zu bändigen, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Wenn er auch nur ein Schiffersmaat war, also nur eine Stufe über dem Seekadetten stand, so war er doch von höherer Abstammung als Bligh und ein vollkommener Gentleman. »Leutnant Bligh«, erklärte er mir, »wünscht, daß ich Sie in einen Teil Ihrer Pflichten einführe. Navigation,
nautische Astronomie und Trigonometrie wird er Sie selbst lehren, da wir nicht, wie auf Kriegsschiffen, einen Schulmeister an Bord haben. Und ich kann Ihnen versichern, daß Sie nicht zu Abend essen werden, ehe Sie nicht jeden Tag die augenblickliche Lage des Schiffes ausgerechnet haben. Sie werden einer der Wachmannschaften zugeteilt werden; ferner werden Sie am Morgen kontrollieren, ob alle Hängematten verstaut sind; die Leute, deren Matten nicht ordentlich festgemacht sind, werden Sie anzeigen. Lehnen Sie sich niemals an die Geschütze oder die Schiffswand und gehen Sie niemals mit den Händen in den Taschen über das Quarterdeck. Außerdem müssen Sie lernen, wie ein Segel gesetzt und niedergeholt wird. Wenn das Schiff vor Anker liegt, werden Sie vielleicht das Kommando über eines der Boote erhalten. Und schließlich sind Sie der Sklave der beiden schrecklichen Tyrannen, des Schiffers und des Schiffersmaats.« Bei diesen Worten lächelte er mich kameradschaftlich an. Gleich darauf kam ein beleibter älterer Mann in einer Uniform, ähnlich der des Leutnants Bligh, die Treppe heraufgekeucht. Sein gebräuntes Gesicht war gleichzeitig freundlich und energisch; ich hätte ihn überall sogleich als Seemann erkannt. »Ah, Herr Christian, da sind Sie ja!« rief er, als er das Deck erreicht hatte. »Welch ein Tollhaus! Am liebsten möchte ich all die Juden ins Meer versenken und die Frauenzimmer über Bord werfen...! Wer ist denn das? Ach so, vermutlich Herr Byam, der neue Kadett! Willkommen an Bord, Herr Byam! Der Name Ihres Vaters hat einen guten Klang in unserer Wissenschaft, was, Herr Christian?« »Herr Fryer, der Schiffer«, raunte mir Christian ins Ohr.
»Ein Tollhaus«, wiederholte Fryer, »Gott sei Dank, daß morgen Löhnungstag ist! Überall Weiber, auf Deck und unten.« Er wandte sich Christian zu. »Versuchen Sie, eine Bootsmannschaft für Leutnant Bligh zusammenzustellen - vielleicht sind doch noch ein paar Leute nüchtern.« »Wenn ein Kriegsschiff einmal auf offener See ist, herrscht Disziplin«, fuhr er fort; »aber im Hafen ist mir sogar ein Handelsschiff noch lieber. Der Schreiber des Kapitäns ist der einzige dort unten, der nicht betrunken ist. Der Wundarzt hingegen ... ah, da kommt er ja gerade!« Und in der Tat wurde oberhalb der engen Schiffstreppe ein mit schneeweißem Haar bedeckter Kopf sichtbar. Unser Äskulap hatte einen Stelzfuß und ein langes Pferdegesicht, rot wie der Bart eines Truthahns; seine zwinkernden, hellblauen Augen erblickten den Mann an meiner Seite. Während er sich mit der einen Hand am Treppengeländer festhielt, schwenkte er in der anderen eine halbgeleerte Branntweinflasche. »Ahoi, Herr Fryer!« rief er gutgelaunt. »Haben Sie Nelson, den Botaniker, gesehen? Ich habe ihm einen Tropfen Branntwein gegen seinen Rheumatismus verschrieben; es ist Zeit, daß er seine Medizin nimmt.« »Herr Nelson ist an Land gegangen.« Der Arzt schüttelte mit gespieltem Bedauern den Kopf. »Ich möchte wetten, daß er seine guten Shillinge einem Quacksalber in Portsmouth hinschmeißt. Und doch könnte er hier an Bord, ohne einen Penny zu bezahlen, den Rat eines der ersten Ärzte unserer Zeit erhalten.« Er schwenkte aufs neue seine Flasche. »Hier ist das richtige Mittel für neun Zehntel aller menschlichen Leiden. Ein paar Tropfen Branntwein! Das ist das ganze Geheimnis!«
Plötzlich begann er mit schöner, wenn auch ein wenig
heiserer Stimme zu singen:
»Und Johnny kriegt einen neuen Hut,
Und Johnny geht auf den Markt.
Und Johnny kriegt ein Schleifchen gut.
Zu binden sein braunes Haar.«
Mit einem letzten Schwenken seiner Flasche hinkte er
wieder die Treppe hinab. Fryer blickte ihm einen
Augenblick nach und folgte ihm dann. Inmitten des
Tohuwabohus auf dem Verdeck mir selbst überlassen,
blickte ich mich neugierig um.
Leutnant Bligh ließ sich als Mann, der die Gebräuche in
der Marine kennt, nirgends blicken. Am nächsten
Morgen würden die Leute den Sold für zwei Monate im
voraus erhalten, und am Tag darauf würden wir die
Anker zu einer Reise zum anderen Ende der Welt lichten,
auf der uns alle Entbehrungen und Gefahren kaum
entdeckter Meere bevorstanden. Die Bounty mochte gut
und gerne zwei Jahre oder noch länger unterwegs sein,
und es war wohl nur recht und billig, daß sich die
Mannschaft unmittelbar vor der Abfahrt auf jene Art
ergötzte, an der Seeleute ihre Freude haben.
Während ich in dem allgemeinen Durcheinander auf
Bligh wartete, vertrieb ich mir die Zeit damit, das
Takelwerk der Bounty zu studieren. Da ich an der
Westküste Englands aufgewachsen war, hatte ich das
Meer von Kindheit an geliebt und unter Menschen gelebt,
die von Schiffen und deren Eigenschaften so sprechen,
wie man sich anderswo über Pferde unterhält.
Ich fragte mich, wie ich mich wohl anstellen werde,
wenn ich den Befehl erhielte, das Oberbramsegel
einzuziehen oder mich am Tauwerk nützlich zu machen, und ich konnte mich des Zaubers nicht erwehren, der mich bis auf den heutigen Tag beim Anblick selbst des kleinsten Schiffes packt. Ein Schiff steht unter allen Werken von Menschenhand obenan - ein gar künstliches Gebilde aus Holz, Eisen und Hanf, auf wunderbare Weise durch Flügel vorwärts getrieben; zuweilen kommt es einem vor wie ein atmendes, lebendiges Wesen. Plötzlich riß mich Blighs Stimme, die jetzt schroff und militärisch klang, aus meinen Gedanken. »Herr Byam!« Ich zuckte ein wenig zusammen, und schon stand der Kapitän unseres Schiffes in voller Uniform neben mir. Mit einem Anflug von Lächeln sagte er: »Ein kleines Schiff, was? Aber ein gutes Schiff.« Er gab mir ein Zeichen, ihm die Fallreeptreppe hinab zu folgen. Die Bemannung unseres Bootes war, wenn auch nicht ganz nüchtern, doch immerhin fähig, zu rudern, und so waren wir bald bei Kapitän Courtneys großem Kriegsschiff Tigreß angelangt. Eine lange Reihe Matrosen stand stramm, als Herr Bligh das Schiff betrat, und der Bootsmann in Paradeuniform blies nach altem Brauch auf seiner silbernen Querpfeife die feierliche Melodie des Willkommengrußes. Auf dem Hinterdeck erwartete uns Kapitän Courtney. Courtney und Bligh waren alte Bekannte; sie hatten vor sechs Jahren in der blutigen Schlacht bei der Doggerbank Seite an Seite auf der Belle Poule gekämpft. Kapitän Courtney entstammte einer vornehmen Familie; er war ein hochgewachsener, schlanker Offizier und fiel mir durch den ironischen Zug um die dünnen Lippen auf. Er begrüßte uns freundlich, sprach zu mir von meinem Vater und führte uns zu seiner Kajüte, an deren Eingang eine Schildwache in roter Uniform stand, den gezogenen
Degen in der Hand. Ich war zum erstenmal in der Kajüte eines Kriegsschiffes und blickte mich neugierig um. Sie war mit spartanischer Einfachheit ausgestattet. Ein langes Sofa, ein schwerer, befestigter Tisch und ein paar Stühle; dann noch eine Hängelampe, ein Teleskop, ein Büchergestell und ein paar alte Waffen, das war alles. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. »Ein Glas Sherry«, sagte der Kapitän, als ein Mann die Gläser auf einem Tablett reichte. Er lächelte mich auf seine höfliche Art an und erhob sein Glas. »Auf das Andenken Ihres Vaters, junger Mann, wir Seeleute sind ihm ewige Dankbarkeit schuldig.« Während wir tranken, hörte ich draußen großen Lärm und in der Ferne den Klang einer Trommel. Kapitän Courtney warf einen Blick auf seine Uhr, trank seinen Wein aus und erhob sich von dem Sofa. »Ich bitte um Entschuldigung, meine Herren. Ein Mann wird zwischen den Schiffen der Flotte durchgepeitscht; ich höre die Boote schon kommen. Ich muß das Urteil verlesen schrecklich langweilige Sache. Machen Sie es sich inzwischen bequem! Wenn Sie zusehen wollen, so empfehle ich Ihnen das Hüttendeck.« Im nächsten Augenblick verließ er den Raum. Bligh stellte sein Glas nieder und winkte mir, ihm zu folgen. Von dem Quarterdeck führte eine kurze Leiter zum Hüttendeck empor, das sich als ausgezeichneter Aussichtspunkt erwies. Obgleich die Luft frisch war, war der Wind kaum mehr als ein lindes Lüftchen, und die Sonne schien vom blauen, wolkenlosen Himmel herab. Der Befehl, die ganze Mannschaft habe sich nach achtern zu begeben, um dem Strafvollzug beizuwohnen, wurde unter Pfeifenbegleitung laut ausgerufen. Die Marinesoldaten eilten, mit Muskete und Seitengewehr
bewaffnet, auf das Hüttendeck, während Kapitän Courtney und seine Offiziere auf der Luvseite der Windvierung Aufstellung nahmen. Die übrige Besatzung versammelte sich leewärts längs der Brustwehr; manche fanden, um besser zu sehen, in den Booten oder auf den Spieren Platz. Zwei weitere große Schiffe waren ganz in unserer Nähe verankert, und auch auf diesen standen schweigende Männer Kopf an Kopf. Allmählich näherte sich der Trommelwirbel, und dann kam um den Bug der Tigreß herum ein Zug, den ich niemals vergessen werde. Den Anfang machte die Pinasse eines der im Hafen liegenden Schiffe; langsam wurde sie nach dem nervenaufpeitschenden Takt des Trommelwirbels gerudert. Neben dem Trommler stand der Schiffsarzt und neben diesem der Waffenmeister; hinter ihnen sah ich eine menschliche Gestalt in einer seltsamen Stellung zusammengekauert. Der Pinasse folgte, nach derselben klagenden Musik gerudert, je ein Kutter von jeglichem Schiff der Flotte, bemannt mit Marinesoldaten. Ich hörte den Befehl »Freie Fahrt«; die Leute hörten auf zu rudern und ließen die Pinasse treiben, bis sie längs dem Schiffsgang zum Stillstand kam. Ich blickte über die Brustwehr hinab. Der Atem wollte mir stocken, und ohne daß ich dessen gewahr geworden wäre, rief ich leise: »Oh, mein Gott!« Herr Bligh maß mich von der Seite mit einem raschen Blick und einem schnell vorüberhuschenden grimmigen Lächeln. Die zusammengesunkene Gestalt in der Pinasse war die eines kräftigen Mannes von dreißig oder fünfunddreißig Jahren. Er war nur mit einer weiten Seemannshose bekleidet. Seine nackten Arme waren sonngebräunt und tätowiert. Seine Hände waren gefesselt. Sein lichtes,
hellblondes Haar war wirr. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, denn sein Kopf hing über die Brust hinab. Seine Hose und die Planken des Bootes zu beiden Seiten der Gestalt waren mit geronnenem Blut bespritzt. Ich hatte schon früher in meinem Leben Blut gesehen; der Rücken des Mannes war es, dessen Anblick mir den Atem benahm. Vom Hals bis zur Hüfte hatte die neunschwänzige Katze die Knochen bloßgelegt, und das Fleisch hing in schwärzlichen Fetzen herab. Kapitän Courtney schlenderte gemächlich über das Deck und blickte sodann auf das furchtbare Schauspiel hinab. Der Wundarzt im Boot beugte sich über den verstümmelten Körper und rief dann in militärischem Tone zu Courtney hinauf: »Der Mann ist tot, Sir.« Ein Gemurmel, kaum lauter als ein Lufthauch in Baumwipfeln, glitt durch die versammelten Mannschaften. Der Kapitän der Tigreß verschränkte die Arme und wandte den Kopf langsam zur Seite. Er war prächtig anzusehen mit seinem Degen, seiner reichbetreßten Uniform, seinem Dreispitz und seinem gepuderten Haar. Inmitten des drückenden Schweigens ringsumher wandte er sich wieder dem Wundarzt zu. »Tot«, sagte er leichthin, in seinem elegant-blasierten Tone. »Der Mann hat Glück! Heda, Waffenmeister!« Der Subalternoffizier neben dem Arzte stand stramm. »Wieviel Streiche hat er noch zu bekommen?« erkundigte sich der Kapitän. »Zwei Dutzend, Sir.« Courtney nahm jetzt aus der Hand seines ersten Leutnants eine Abschrift des Marine-Strafgesetzes. Als er mit Grazie seinen Dreispitz abnahm und ihn vor die Brust hielt, entblößten alle Männer ringsumher das Haupt in Ehrfurcht vor den Geboten des Königs. Dann las der
Kapitän den Absatz vor, der die Strafe für einen tätlichen Angriff gegen einen Offizier der königlichen Marine enthielt. Der Bootsmannsmaat entnahm einem roten Beutel die Katze mit dem roten Stiel und blickte sich unsicher um. Der Kapitän hatte inzwischen seine Verlesung beendet, wiederum den Hut aufgesetzt und sah dem Mann jetzt ins Auge. Wieder hörte ich das kaum hörbare Gemurmel, und wieder wurde es still, als Courtney zu sprechen begann. »Tun Sie Ihre Pflicht«, befahl er ruhig. »Zwei Dutzend, glaube ich.« »Zwei Dutzend - so ist es, Sir«, sagte der Vollzieher des Urteils mit hohler Stimme. Mit zusammengebissenen Zähnen und glänzenden Augen standen die Leute da, aber das Schweigen war so tief, daß ich das leise Geräusch hörte, das die im schwachen Wind hin und her schwankenden Segelstangen verursachten. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Bootsmannsmaat abwenden, der nunmehr langsam die Fallreeptreppe hinabkletterte. Selbst wenn der Mann laut aufgeschrien haben würde, hätte er den Widerwillen gegen seine Tätigkeit nicht deutlicher zum Ausdruck bringen können. Er stieg in das Boot; mit starren, finsteren Gesichtern machten ihm die Ruderer Platz. Von oben her sah ihm Courtney mit gekreuzten Armen zu und rief: »Los! Tun Sie Ihre Pflicht!« Der Mann mit der Katze ließ die Schwänze durch die Finger seiner linken Hand gleiten, erhob den Arm und ließ das Instrument auf den armen, zerschundenen Körper niedersausen. Ich wandte mich ab; mir war schwindlig und übel. Bligh stand neben mir an der Brustwehr, eine Hand auf der Hüfte, und sah den Vorgängen zu, wie man einem schlecht gespielten Theaterstück zusehen mag. Die Hiebe folgten einander in
gleichen Abständen - jeder einzelne durchbrach die Stille wie ein Pistolenschuß. Während der letzten Minuten, die mir wie ein Jahrhundert vorkamen, zählte ich mit, aber schließlich kam doch das Ende - zweiundzwanzig ... dreiundzwanzig ... vierundzwanzig. Ich vernahm ein Kommandowort; die Marinesoldaten kletterten die Hüttendeckleiter hinab. Es schlug acht Glasen. Auf dem Schiffe entstand Bewegung, und ich hörte, wie der Bootsmann auf seiner Pfeife das langgezogene, fröhliche Signal zum Essen blies. Als wir uns zum Speisen niedersetzten, schien Courtney gar nicht mehr an die Vorgänge, die sich soeben abgespielt hatten, zu denken. Er leerte ein Glas Sherry auf Blighs Gesundheit und kostete die Suppe. »Kalt!« bemerkte er bedauernd. »Ja, das sind die Schattenseiten des Seemannslebens, was, Bligh?« Sein Gast schlürfte die Suppe mit hörbarem Vergnügen. Er hätte vielleicht besser in die Messe der Matrosen gepaßt als an den Tisch des Kapitäns, denn seine Tischsitten waren recht derb. »Gott strafe mich!« sagte er. »Damals auf der alten Poule haben wir uns mit schlechterem Essen begnügen müssen!« »Dafür werden Sie es sich in Tahiti um so besser ergehen lassen, möchte ich wetten. Ich höre, daß Sie den braunen Damen der Südsee wieder einmal einen Besuch abstatten werden.« »Stimmt, und zwar einen langen. Es wird mehrere Monate dauern, bis wir unsere Ladung Brotfruchtbäume an Bord haben.« »Ich habe in London von Ihrer Reise gehört. Billige Nahrung für die westindischen Sklaven, was? Ich wollte, ich könnte mit Ihnen fahren.«
»Bei Gott, das wäre fein! Und Sie würden es nicht bereuen.« »Sind die Weiber von Tahiti wirklich so schön, wie Cook sie beschrieben hat?« »Das will ich meinen, vorausgesetzt, daß Sie kein Vorurteil gegen eine braune Haut haben. Die Frauen dort halten ihren Körper wunderbar rein und vermögen auch den anspruchsvollsten Mann anzuziehen. Fragen Sie nur Sir Joseph; er behauptet, daß es in der ganzen Welt solche Frauen nicht mehr gibt!« Unser Gastgeber seufzte romantisch. »Sprechen Sie nicht weiter! Ich sehe Sie bereits wie einen Pascha unter den Palmen wandeln, inmitten eines Harems, um den Sie der Sultan selbst beneiden würde!« Mir war noch immer übel von dem, was ich kurz vorher gesehen hatte; kaum imstande, einen Bissen hinunterzuwürgen, saß ich schweigend neben den plaudernden Männern. Bligh war der erste, der den Strafvollzug erwähnte. »Was hat der Mann eigentlich verbrochen?« fragte er. Kapitän Courtney stellte sein Weinglas nieder und blickte Bligh zerstreut an. »Ach so, Sie meinen den Burschen, der geprügelt wurde«, sagte er. »Er war einer von Kapitän Allisons Fockmarsleuten auf der Unconquerable. Soll ein tüchtiger Kerl gewesen sein. Er desertierte, und dann sah ihn Allison in Portsmouth aus einer Kneipe kommen. Der Mann versuchte, sich aus dem Staub zu machen; Allison packte ihn beim Arm. Gute Marsmatrosen findet man nicht alle Tage. Da schlug der unverschämte Kerl seinem Kapitän mit der Faust ins Gesicht, gerade als eine Schar Matrosen vorbeikam. Die nahmen ihn gleich gefangen, und das übrige haben Sie ja gesehen. Merkwürdig! Wir waren erst das fünfte Schiff;
acht Dutzend Streiche genügten. Aber Allison hat einen Mann, der ein wahrer Künstler in der Anwendung der Katze ist und dabei stark wie ein Ochs.« Bligh hörte mit Interesse zu und nickte befriedigt. »Also seinen Kapitän hat er geschlagen? Na, dann verdient er ja alles, was ihm zuteil geworden ist, und noch ein bißchen mehr! Es gibt keine gerechteren Gesetze als die der Marine.« »Ist solche Grausamkeit wirklich notwendig?« warf ich ein, unfähig, länger zu schweigen. »Warum hat man den armen Menschen nicht einfach gehängt? Da hätte er nicht so leiden müssen.« »Armer Mensch?« Kapitän Courtney maß mich mit gerunzelter Stirn. »Sie haben noch viel zu lernen, junger Mann. Ein paar Jahre zur See werden ihn abhärten, was, Bligh?« »Dafür werde ich sorgen«, nickte der Kapitän der Bounty. »Nein, Herr Byam, an Schurken dieser Art dürfen Sie kein Mitleid verschwenden.« »Und denken Sie daran«, ermahnte mich Courtney in väterlichem Tone, »daß es, wie Herr Bligh soeben sagte, keine gerechteren Gesetze gibt als die der See. Nicht nur gerecht, sondern auch notwendig; Disziplin muß bewahrt werden, auf einem Kauffahrteischiff ebenso wie auf einem Kriegsschiff. Meuterei und Piratenwesen müssen unterdrückt werden.« »Ja«, sagte Bligh, »unser Gesetz ist streng, aber in ihm liegt die Tradition vieler Jahrhunderte bewahrt. Übrigens ist es mit der Zeit humaner geworden. Kein Kapitän hat heute mehr das Recht, einen seiner Leute ohne Einberufung eines Kriegsgerichtes zum Tode zu verurteilen.«
Noch immer im tiefsten aufgewühlt von der schrecklichen Szene, der ich beigewohnt hatte, aß ich wenig und trank mehr Wein, als es meine Gewohnheit war. Schweigend saß ich da, während die beiden Offiziere nach Seemannsart von alten Freunden und gemeinsam geschlagenen Schlachten plauderten. Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, als Bligh und ich zur Bounty zurückgerudert wurden. Es war Ebbe, und ich sah, wie in einiger Entfernung Männer eilig ein Grab in den Schlamm gruben. Sie beerdigten die Leiche des armen Burschen, der zwischen der Flotte hindurchgeprügelt worden war - schweigend verscharrten sie ihn und ohne kirchlichen Beistand.
3
Am 28. November, bei Tagesanbruch, ging die Bounty unter Segel, aber bei St. Helens warfen wir abermals Anker und wurden durch widrige Winde fast einen Monat lang zurückgehalten; erst am 23. Dezember segelten wir mit einer günstigen Brise in den Kanal hinaus. Ein Monat scheint eine lange Zeit, besonders wenn man ihn an Bord eines kleinen, vor Anker liegenden Schiffes mit vierzig anderen Männern verbringen muß, aber ich lernte meine Kameraden kennen, und mit solchem Eifer machte ich mich daran, mich mit meinen neuen Pflichten vertraut zu machen, daß mir die Tage als zu kurz erschienen. Die Bounty hatte sechs Kadetten an Bord; Leutnant Bligh und der Schiffer teilten sich in den Unterricht in Trigonometrie, nautischer Astronomie und Navigation. Gemeinsam mit Stewart und Young hatte ich den Vorzug, Navigation bei Bligh zu studieren, und ich muß einem Offizier, dessen Charakter in anderer Beziehung keineswegs vollkommen war, die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß es zu jener Zeit keinen besseren Seemann und Navigator gab als ihn. Meine beiden engeren Kameraden waren älter als ich: George Stewart, der einer guten Familie auf den Orkneyinseln entstammte, war drei- oder vierundzwanzig Jahre alt und hatte schon mehrere Seereisen hinter sich; Edward Young war ein robuster Mensch von echt seemännischem Aussehen, mit einem hübschen Gesicht, das nur durch das Fehlen der meisten Vorderzähne entstellt wurde. Beide waren schon ziemlich tüchtige Navigatoren, und ich mußte mein Bestes hergeben, um nicht in den Ruf eines Dummkopfes zu kommen.
Der Bootsmann, Herr Cole, und sein Maat James Morrison lehrten mich die eigentliche Seemannskunst. Cole war ein Seebär von altem Schrot und Korn, sonngebräunt und schweigsam, der seine Arbeit durch und durch, sonst aber nicht viel verstand. Da war Morrison ganz anders - ein Mann von guter Herkunft, der Kadett gewesen war und die Fahrt nur mitmachte, weil sie ihn interessierte. Er war ein Seemann und Navigator ersten Ranges; ein dunkler, schlanker, kluger Mensch, etwa dreißig Jahre alt, der in gefährlichen Augenblicken die Ruhe nicht verlor und niemals fluchte. Morrison trieb die Leute nicht wahllos mit Schlägen zur Arbeit an, wie es sonst üblich war; wohl trug er ein knotiges Strickende bei sich, aber er benutzte es nur bei offenkundigen Übeltätern oder wenn Bligh ihn anschrie: »Treiben Sie den Kerl doch zur Arbeit an!« Am Abend des 22. Dezember klärte sich der Himmel endlich auf, und der Wind schlug nach Osten um. Am nächsten Morgen war es noch dunkel, als mich die Befehle zur Abfahrt des Schiffes aus dem Schlaf weckten. Hell leuchteten die Sterne am Himmel, als ich auf Deck kam, und im Osten dämmerte grau der Morgen herauf. Drei Wochen lang hatten wir heftige südwestliche Winde mit Regen und Nebel gehabt; jetzt war die Luft klar und kalt, und ein kräftiger Ostwind wehte von der französischen Küste herüber. Auf Deck war schon alles in Bewegung, und die Pfeife des Bootsmannes übertönte schrill den Lärm. »Setzt das Marssegel bei!« befahl Fryer, und Christian gab das Kommando weiter. Die Takelage war steif vor Frost, und die Leute, die das Fockmarssegel beisetzten, kamen nur langsam mit ihrer Arbeit vorwärts. Bligh blickte ungeduldig herüber.
»Was macht ihr denn?« brüllte er ärgerlich. »Schlaft ihr noch dort drüben? Erwacht doch endlich, ihr kriechenden Raupen!« Die Leute arbeiteten nach besten Kräften, aber Bligh war nervös, denn tausend kritische Augen beobachteten von den ringsumher vor Anker liegenden Schiffen aus unsere Abfahrt. Endlich hatte das Schiff das offene Meer erreicht. Am wolkenlosen Himmel ging die Sonne auf - ein herrlicher klarer, kalter Wintermorgen brach an. Wie ein Rennpferd schoß die Bounty nun mit beigesetzten Bramsegeln dahin. Während der folgenden Nacht frischte der Wind zum heftigen Sturm auf, und die See ging hoch, aber am Tag darauf nahm die Windstärke wieder ab, so daß wir das Weihnachtsfest ruhig und vergnügt feiern konnten. Nach und nach begann ich mit meinen Kameraden Bekanntschaft zu schließen. Die Mannschaft der Bounty war teils von der Aussicht auf eine Reise in die Südsee angelockt, teils von dem Schiffer oder von Bligh selbst ausgewählt worden. Unsere vierzehn befahrenen Matrosen waren wirklich tüchtige Seeleute, nicht der Abschaum der Hafenkneipen und Gefängnisse, den man auf Seeschiffen nicht selten findet; die Offiziere waren fast alle Männer von großer Erfahrung, und selbst unser Botaniker, Herr Nelson, war von Sir Joseph Banks wegen seiner früheren Tahiti-Reise unter Kapitän Cook empfohlen worden. Kapitän Bligh hätte hundert Kadetten haben können, wenn er alle Bewerber angenommen hätte; immerhin waren wir unser sechs, obgleich im Schiffsreglement nur zwei vorgesehen waren. Stewart und Young waren nette Burschen, die schon Erfahrung zur See hatten; Hallet war ein fünfzehnjähriger, kränklich aussehender Junge mit unruhigen Augen und einem
mürrischen Zug um den Mund. Tinkler, der Schwager des Herrn Fryer, war ein Jahr jünger, aber auch er war schon zur See gefahren - ein Possenreißer von einem Jungen, der wegen seiner Streiche aus den Strafen gar nicht herauskam. Hayward, der hübsche, hochmütig dreinblickende Bursche, dem ich begegnet war, als ich unsere Kammer zum erstenmal betreten hatte, war erst sechzehn Jahre alt, aber sehr groß und stark für sein Alter; er hielt sich für etwas Besonderes, weil er zwei Jahre lang auf einem richtigen Kriegsschiff gedient hatte. Ich teilte mit Hayward, Stewart und Young eine Kammer im Zwischendeck. In diesem schmalen Raum waren des Nachts unsere vier Hängematten aufgehängt, und dort nahmen wir unsere Mahlzeiten ein; eine Kiste diente uns als Tisch, andere Kisten als Stühle. Gegen einen beträchtlichen Anteil an unserer Grogration hängte der Matrose Alexander Smith am Abend unsere Hängematten auf und verstaute sie am Morgen wieder, während uns Thomas Ellison, der jüngste der Matrosen, gegen eine geringe Menge der gleichen flüssigen Schiffswährung das Essen bereitete. Herr Christian hatte für unsere Verpflegung zu sorgen; gleich den anderen hatte ich ihm vor Antritt der Reise fünf Pfund übergeben, und er hatte das Geld in Kartoffeln, Zwiebeln, Holländerkäse, Tee, Zucker und anderen Delikatessen für uns angelegt. Diese privaten Vorräte erlaubten es uns, einige Wochen hindurch gut zu leben, obgleich ein schlechterer Koch als der junge Tom Ellison wohl nirgends zu finden gewesen wäre. Getränke gab es in Hülle und Fülle, so daß wir nach dieser Richtung hin nicht besonders vorzusorgen brauchten. Während des ersten Monats erhielt jeder Mann täglich eine Gallone Bier und, als dieses ausgetrunken war, eine
Pinte feurigen spanischen Weißweins. Und als auch von dem Wein nichts mehr vorhanden war, wurden wir reichlich mit Grog, der letzten Zuflucht des Seemannes, versorgt. Wir hatten einen wunderbaren Pfeifer an Bord, einen halbblinden Irländer namens Michael Byrne. Er hatte es verstanden, seine Blindheit zu verbergen, bis die Bounty auf offener See war. Als er am ersten Tag die alte Melodie spielte, welche die Matrosen zur Grogstunde ruft, legte er so viel Feuer und Fröhlichkeit in sein Spiel, daß ihm sogar Kapitän Bligh seine Blindheit verzieh. Einen guten Teil unseres Biervorrates verloren wir in einem heftigen östlichen Sturm, in den das Schiff am Tage nach Weihnachten geriet. Mehrere Fässer wurden über Bord gespült, als wir eine schwere Sturzsee bekamen; beinahe hätte dieselbe Woge alle drei Boote mitgerissen. Ich war in jenem Augenblick nicht auf Wache, sondern unterhielt mich achtern in der Kammer des Arztes. Die bestand aus einem kleinen, übelriechenden Verschlag unterhalb der Wasserlinie, der von einer aus Mangel an Luft blau brennenden Kerze beleuchtet war. Aber »Vater Bacchus« kümmerte das nicht. Unser Knochensäger hatte vermutlich auch irgendeinen bürgerlichen Namen, aber der blieb uns allen bis zum Tage seines Todes verborgen. Einen Schwips zu haben war für ihn ein natürlicher Zustand, und durch das Signal, das den Eintritt dieses Zustandes ankündigte, kam er zu dem Namen, unter dem er uns allen bekannt war. Sobald er ein Gläschen mehr getrunken hatte, als er vertrug - und er vertrug sehr viel -, pflegte er auf einem Beine zu belancieren, eine Hand zwischen den dritten und vierten Knopf seiner Weste zu stecken und mit komischem Pathos ein Gedicht zu deklamieren, das mit der Verszeile begann:
»Nun ist's vorbei mit der Herrschaft des Bacchus.« Mit seinem Stelzfuß, seinem grimmigen Gesicht, seinem schneeweißen Haar und seinen schelmischen blauen Augen sah Vater Bacchus wie das wahre Urbild aller Schiffswundärzte aus. Er war schon so lange zur See gefahren, daß er kaum mehr an die Zeit zurückdenken konnte, wo er auf dem Festlande gelebt hatte. Pökelfleisch zog er den feinsten Delikatessen vor, und einmal vertraute er mir an, daß es ihm beinahe unmöglich sei, in einem richtigen Bett zu schlafen. Vor vielen Jahren hatte ihm ein Kanonenschuß ein Bein weggerissen. Vater Bacchus' Kumpane waren Herr Nelson, der Botaniker, und Peckover, der Schiffskonstabler. Die Pflichten eines Konstablers, die auf einem richtigen Kriegsschiff sehr schwer sind, waren auf der Bounty leicht genug, und Peckover - ein gemütlicher Kerl, dem ein lustiges Lied und ein kräftiger Trunk über alles gingen - hatte viel Muße für Geselligkeit. Herr Nelson war ein ruhiger, ältlicher Mann, der sich trotz seinem ernsten, wissenschaftlichen Beruf in der Gesellschaft des Vaters Bacchus sehr wohl fühlte und, wenn er in der Laune dazu war, ein Garn spinnen konnte wie ein echter Seemann. Alle Kajüten der Offiziere und der anderen Personen im Offiziersrang waren mit richtigen eingebauten Betten ausgestattet, aber Bacchus zog es vor, bei Nacht in einer Hängematte zu schlafen. Sein Bett benutzte er als Sofa und den ausgedehnten Raum darunter als Getränkekeller. Das Bett füllte beinahe die Hälfte der kleinen Kajüte aus. Ihm gegenüber standen drei augenblicklich noch nicht angezapfte Weinfässer, deren eines mir als Sitz diente. Bacchus und Nelson saßen nebeneinander auf dem Bett; jeder von ihnen hielt einen Becher kräftig mit Rum
versetzten Bieres in der Hand. Das Schiff schlingerte mächtig hin und her, so daß mein Faß öfters unter mir durchzugehen drohte; den beiden Männern auf dem Sofa aber schien das schwere Wetter gar nicht zum Bewußtsein zu kommen. »Ein Mann, der sein Geschäft versteht, dieser Purcell!« bemerkte der Arzt, bewundernd an seinem neuen Holzbein hinunterblickend. »Einen besseren Schiffszimmermann hat es niemals gegeben! Mein früheres Bein war verdammt unbequem, aber dies hier ist wie mein eigenes Fleisch und Blut! Purcell soll leben!« Er tat einen tiefen Zug aus seinem Krug. »Du hast Glück, Nelson! Sollte einmal etwas mit deinem Untergestell schiefgehen, so bin ich da, um dir dein altes Bein abzusägen, und Purcell wird dir ein besseres machen!« Nelson lächelte. »Wirklich sehr freundlich von dir, aber hoffentlich brauche ich dich nicht zu belästigen.« »Hoffentlich nicht, lieber Freund - hoffentlich nicht! Aber vor einer Amputation braucht man sich nicht zu fürchten. Mit einem kräftigen Schluck Rum, einem gutgeschliffenen Rasiermesser und einer Säge schneide ich dir dein Bein weg, ehe du überhaupt was merkst. Bei mir hat ein amerikanischer Wundarzt die kleine Operation ausgeführt. Das muß so ... ja, es muß im Jahr 78 gewesen sein. Ich war auf dem alten Kasten, der Drake, und wir waren damals auf der Jagd nach dem Amerikaner Ranger. Plötzlich hörten wir, daß er nahe bei Belfast liege. Eine merkwürdige Geschichte, weiß der Teufel! Wir gingen langsam an den Amerikaner ran, hißten unsere Flagge und brüllten: »Wer seid ihr?« »Schiff der amerikanischen Flotte Ranger!« schrie der Yankee, während seine eigene Flagge aufstieg. »Kommt
nur her - wir warten auf euch!« Im nächsten Augenblick feuerten beide Schiffe die Geschütze ab ... Großer Gott!« Die Bounty erbebte unter dem Anprall einer schweren See. »Machen Sie, daß Sie hinaufkommen, Byam!« befahl der Arzt. Und während ich die Treppen emporsprang, hörte ich inmitten des Krachens und Knarrens des Schiffes und des Gebrülls der Wogen das Signal: »Alle Mann auf Deck!« Oben herrschte ein furchtbarer Wirrwarr. Bligh stand beim Besanmast, neben ihm Fryer; die Maate bargen die Segel, um das Schiff aufzurichten. Die Leute an den Geitauen arbeiteten mit aller Kraft, um die widerspenstigen Segel niederzuholen. Ich selbst hatte mit zwei anderen Kadetten die Aufgabe zu erfüllen, das hintere Toppsegel zu beschlagen, unter solchen Umständen gar keine leichte Aufgabe. Ebenso legte jeder andere Mann der Besatzung Hand an, um das Schiff aus seiner gefährlichen Lage zu befreien. Dies gelang auch schließlich, aber der Schaden war beträchtlich. Alle drei Boote waren zwar gerettet worden, aber die Bierfässer, die auf Deck festgebunden waren, waren nirgends zu sehen, und der hintere Teil des Schiffes war so schwer beschädigt, daß die Kajüte sich mit Wasser füllte; dieses sickerte in die darunterliegende Brotkammer und machte einen großen Teil unseres Brotvorrates gänzlich unbrauchbar. Als wir den 39. Grad nördlicher Breite erreicht hatten, flaute der Sturm ab. Die Sonne begann zu scheinen, und wir nahmen, von einer nördlichen Brise getrieben, Kurs auf Teneriffa. Am 5. Januar sahen wir die Insel, etwa 12 Meilen entfernt, vor uns, aber nahe dem Land trat Windstille ein, und wir brauchten noch einen Tag und
eine Nacht, um uns nach Santa Cruz durchzuarbeiten, wo wir neben einem spanischen Paketboot und einer amerikanischen Brigg Anker warfen. Fünf Tage lagen wir vor Anker, und dort war es auch, wo sich die ersten Spuren der Unzufriedenheit, die schließlich unserer Fahrt zum Verderben wurde, bemerkbar machten. Leutnant Bligh heuerte nämlich Einwohner der Insel, damit sie mit ihren Booten Wasser und Vorräte auf die Bounty schafften, während er seine eigenen Leute von Morgen bis Abend damit beschäftigte, den Schaden, den der Sturm unserem Schiff zugefügt hatte, auszubessern. Hierüber murrte die Mannschaft, denn die Leute hatten gehofft, an Land gehen und sich an dem vortrefflichen Wein gütlich tun zu können, der dort wächst. Während unseres Aufenthaltes wurde die Verteilung des Pökelfleisches eingestellt und von der Insel frisches Fleisch bezogen. Nun war zwar das Pökelfleisch auf der Bounty das schlechteste, das ich jemals auf See gekostet habe, aber das Fleisch, das wir von Teneriffa bezogen, war noch schlechter. Die Leute sagten, es müsse von den Leichen eingegangener Pferde oder Maultiere stammen, und erklärten es dem Schiffer gegenüber für ungenießbar. Fryer erstattete Bligh über diese Beschwerde Bericht; der Kapitän geriet in furchtbare Wut und befahl, daß die Besatzung entweder das frische Fleisch oder gar nichts essen werde. Der größte Teil des Fleisches wurde über Bord geworfen - ein Anblick, der nicht dazu angetan war, Blighs Ärger herabzumindern. Ich hatte das Glück, an Land zu gehen, denn Bligh nahm mich mit, als er dem Gouverneur, Marquis Brancheforte, einen Besuch abstattete. Mit Erlaubnis des Gouverneurs durchsuchte Herr Nelson das Gebirge jeden Tag nach
seltenen Pflanzen. Vater Bacchus wiederum benutzte den Aufenthalt, um seinen Vorrat an Branntwein zu ergänzen. Als wir von Teneriffa abfuhren, teilte Bligh die Mannschaft in drei Wachen und übergab Christian das Kommando über die dritte Wache mit dem Rang eines Leutnant-Stellvertreters. Bligh kannte ihn seit mehreren Jahren und hielt sich für Christians Freund und Wohltäter. Seine Freundschaft fand ihren Ausdruck darin, daß er ihn heute zum Abendessen einlud und ihn am nächsten Tag vor den Leuten auf das unflätigste beschimpfte; diesmal allerdings erwies er ihm einen wirklichen Dienst, denn es war sehr wahrscheinlich, daß, falls auf der Fahrt alles gut gehen sollte, die Admiralität die Ernennung zum Leutnant bestätigen würde; auf diese Art hätte Christian Offiziersrang erlangt. Schon jetzt galt er als ein »Gentleman«, was der in seinem Stolz verletzte Fryer nicht nur dem Kapitän, sondern auch - so ist die menschliche Natur nun einmal - seinem früheren Untergebenen verübelte. Die Fahrt von Teneriffa zum Kap Hoorn brachte neuen Gärungsstoff. Die Ernährung der Mannschaft auf britischen Schiffen ist immer schlecht und unzureichend; dieser Tatsache ist es auch zuzuschreiben, daß in späterer Zeit so viele Seeleute desertierten, um sich für die amerikanische Flotte anwerben zu lassen. Auf der Bounty war das Essen von noch geringerer Qualität und noch spärlicher, als es die Leute gewohnt waren. Als Bligh die Mannschaft zusammenrief, um sie von der Ernennung Christians zum Leutnant-Stellvertreter zu unterrichten, teilte er ihr auch mit, daß infolge der Ungewissen Zeitdauer der Reise die Brotration auf zwei Drittel der bisherigen Menge verringert werden müsse. Die Leute sahen zwar die Notwendigkeit des Sparens ein,
fuhren aber fort, über das gepökelte Rind- und Schweinefleisch zu murren. Wir hatten keinen Proviantmeister an Bord. Bligh übte dieses Amt selbst aus, wobei ihm sein Schreiber, Samuel, ein kleiner Mensch von jüdischem Aussehen, zur Seite stand. Samuel stand, wahrscheinlich nicht ohne Grund, im Geruche, der Spion des Kapitäns unter der Mannschaft zu sein. Er war bei allen Leuten herzlich unbeliebt, und es zeigte sich, daß jeder Mann, der seine Abneigung gegen Herrn Samuel zu deutlich zeigte, bei Leutnant Bligh in Ungnade fiel. Es gehörte zu Samuels Aufgaben, den Köchen der einzelnen Messen die Lebensmittel zuzuteilen; jedesmal, wenn ein Faß Pökelfleisch angebrochen wurde, wurden die besten Stücke für die Offiziersmesse reserviert, während der Rest, der häufig ganz ungeeignet zu menschlicher Nahrung war, an die Mannschaftsmessen abgeliefert wurde, ohne gewogen zu werden. Samuel sagte »vier Pfund« und zeichnete diese Menge in seinem Buch auf, obgleich jeder sehen konnte, daß das Fleisch nicht einmal drei Pfund wog. Seeleute blicken auf Geiz in ihren eigenen Reihen mit äußerster Verachtung hinab, und ein geiziger Offizier, übrigens eine Seltenheit im Dienste Seiner Majestät, zieht sich nur zu leicht den Haß seiner Leute zu. Britische Seeleute verzeihen einem Kapitän seine Strenge, aber nichts treibt sie rascher zur Meuterei als ein Schiffskommandant, der sich auf ihre Kosten bereichert. Eines Tages ereignete sich ein Zwischenfall, der uns Anlaß zur Annahme gab, Bligh mache sich solch eigensüchtigen Verhaltens schuldig. Das Wetter war schön; eines Morgens wurde die große Schiffsluke geöffnet und unser Vorrat an Käse zum
Lüften auf Deck gebracht. Bligh überwachte alles, was auf dem Schiff vorging, persönlich, denn er traute keinem seiner Untergebenen. Auch an diesem Tage stand er neben Hillbrandt, dem Böttcher, während dieser die Reifen von den Käsefässern entfernte und die Deckel herausschlug. In einem der Fässer fehlten zwei Käse im Gewicht von etwa fünfzig Pfund; Bligh bekam wieder einmal einen seiner Wutanfälle. »Verflucht! Die Käse sind gestohlen worden«, brüllte er. »Vielleicht erinnern Sie sich, Sir«, wagte Hillbrandt einzuwenden, »daß in Deptford das Faß auf Ihre Weisung hin geöffnet und die Käse an Land getragen wurden.« »Unverschämter Halunke! Halt den Mund!« Christian und Fryer befanden sich zufällig auf Deck, und Bligh bezog auch sie in die Beschimpfungen ein, mit denen er die Umherstehenden überschüttete. »Verdammte Diebesbande«, schrie er. »Ihr habt euch alle gegen mich verschworen - Offiziere und Mannschaft. Aber ich werde euch schon zähmen - bei Gott, das werde ich!« Er wandte sich wieder dem Böttcher zu. »Noch ein Wort, und ich werde dich blutig prügeln lassen.« Dann fuhr er herum und rief: »Herr Samuel! Kommen Sie sofort herauf!« Samuel kam gehorsam auf Deck, und Bligh fuhr fort: »Zwei Käse sind gestohlen worden. Sorgen Sie dafür, daß keine Käserationen mehr ausgegeben werden - auch an die Offiziersmesse nicht -, ehe das Manko eingebracht ist.« Ich bemerkte wohl, daß Fryer tief verletzt war, wenn er auch im Augenblick nichts sagte; Christian - ein Ehrenmann durch und durch - gab sich gar keine Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Die Leute erkannten sogleich, woher der Wind blies, und als das nächste Mal nur Butter ausgeteilt wurde, wiesen sie diese mit der
Begründung zurück, Butter ohne Käse anzunehmen sei ein stillschweigendes Eingeständnis des Diebstahls. John Williams, einer der Matrosen, erklärte öffentlich, daß er die zwei Käse zum Hause des Herrn Bligh gebracht habe, mit einem Faß Essig und anderem Proviant. Als die privaten Zubußen an Lebensmitteln, über die jeder Mann an Bord verfügte, aufgebraucht waren, war es mit der Ernährung schlecht bestellt. Unser Brot, in dem sich die Maden erst zu entwickeln begannen, war leidlich gut, obgleich kräftige Zähne dazu gehörten, es zu kauen; unser Pökelfleisch hingegen war unbeschreiblich schlecht. Als ich eines Morgens Alexander Smith, der der Mannschaftsmesse zugeteilt war, traf, zeigte er mir ein Stück, das gerade dem Faß entnommen worden war einen dunklen, steinharten, unappetitlich aussehenden Klumpen, der vor Salz glitzerte. »Sehen Sie sich das an, Herr Byam«, bat er mich. »Ich möchte bloß wissen, was das ist! Rindfleisch bestimmt nicht und Schweinefleisch auch nicht, so viel ist gewiß! Ich möchte nur daran erinnern, daß auf meinem früheren Schiff einmal drei Hufeisen in einem Faß gefunden wurden!« Er steckte ein großes Stück Kautabak in den Mund. »Sind Sie schon einmal an den Lebensmittelhöfen von Portsmouth vorbeigekommen, junger Herr? Dann haben Sie sicher auch die Hunde bellen und die Pferde wiehern gehört!« Mit einem Grinsen fügte er hinzu: »Und bei Nacht soll es nicht ratsam sein, dort allein spazierenzugehen. Ehe man sich's versehen hat, steckt man in einem solchen Faß!« Smith war ein großer Verehrer von Vater Bacchus, den er von anderen Schiffen her kannte, und einige Tage später drückte er mir eine kleine Holzdose in die Hand. »Für
den Wundarzt, Sir«, sagte er, »wollen Sie ihm das
geben?«
Es war eine Schnupftabaksdose aus dunklem, rötlichem
Holz, mit einem Deckel versehen; eine hübsche Arbeit,
mit der Handfertigkeit eines Matrosen geschnitzt und
poliert. Am selben Abend hatte ich Gelegenheit, den Arzt
zu besuchen.
Um jene Stunde hatte Christians Wachmannschaft Dienst.
Tinkler und ich waren in Herrn Fryers Wache eingeteilt,
während die dritte Wache Herrn Peckover unterstellt war,
einem kleinen kräftigen Mann in den Vierzigerjahren,
dessen gutmütiges Gesicht die westindische Sonne
geschwärzt hatte und dessen Arme mit Tätowierungen
bedeckt waren.
Bei dem Doktor fand ich Peckover und Nelson - alle drei
saßen auf dem Sofa.
»Nur immer rein«, rief der Arzt. »Augenblick, mein Sohn,
ich werde Ihnen gleich eine Sitzgelegenheit verschaffen.«
Mit erstaunlicher Behendigkeit sprang er auf und rückte
mir ein kleines Faß zurecht. Ehe ich mich setzte,
überreichte ich Vater Bacchus die Schnupftabaksdose.
»Von Smith, sagen Sie?« fragte der Arzt. »Sehr nett von
ihm! Ich kenne Smith gut, noch von der Antilope her -
erinnerst du dich, Peckover? Wenn mich mein
Gedächtnis nicht trügt, habe ich ihn hie und da einmal
mit einem Tropfen Grog bewirtet. Warum auch nicht!
Mit einem Mann, der Durst hat, habe ich immer Mitleid.
Gott sei Dank, daß weder ich noch meine Freunde auf
dieser Reise Durst leiden werden!«
Nelson untersuchte die Schnupftabaksdose mit Interesse.
»Ich staune immer von neuem«, bemerkte er, »über die
Geschicklichkeit unserer Matrosen. Ein Handwerker auf
dem Lande mit all seinem Handwerkszeug hätte dieses
Stück nicht besser machen können. Auch ein feines, schön poliertes Stück Holz! Scheint Mahagoni zu sein.« Bacchus warf Peckover einen verschmitzten Blick zu. »Holz? So habe ich es auch schon nennen gehört, allerdings gibt man ihm manchmal auch ärgere Namen. Holz, das einmal bellte und wieherte, wenn die Geschichten wahr sind, die man sich erzählt. In sachlichen Worten, mein lieber Nelson, dein Mahagoni ist braves, ehrliches Pökelfleisch!« »Großer Gott!« rief Nelson aus, die rötliche Dose erstaunt betrachtend. »Jawohl, Pökelfleisch! Geradeso hübsch wie Mahagoni und mindestens so dauerhaft. Auch für das Beschlagen von Kriegsschiffen wegen seiner Widerstandsfähigkeit sehr zu empfehlen.« Vater Bacchus zog behaglich eine Prise Schnupftabak auf, nieste, schneuzte sich heftig in ein riesiges blaues Taschentuch und füllte seinen Becher erneut mit Wein. »Auf euer Wohl, meine Freunde«, rief er und stürzte den Inhalt des Bechers auf einmal hinunter, ohne auch nur Atem zu holen. Herr Peckover warf seinem Freund einen bewundernden Blick zu. »So ist es nun einmal, Peckover«, sagte der Arzt, dem der Blick nicht entgangen war. »Nichts macht so viel Durst wie ein ordentliches Stück Pökelfleisch. Na, mir kann ja jetzt nichts mehr geschehen. Stellt euch nur vor, daß wir Schiffbruch erleiden und ohne Nahrungsmittel auf eine unbewohnte Insel verschlagen würden. Da würde ich ganz einfach meine Schnupftabaksdose aus der Tasche ziehen und hätte ein kräftiges Mahl, während ihr Hunger leiden müßtet! Hahaha!« »Haha!« stimmte Peckover dröhnend ein.
4
Eines Abends forderte mich Bligh auf, mit ihm zu speisen. Ich kleidete mich sorgfältig an und sah, in der Kajüte des Kapitäns angelangt, daß außer mir auch Christian eingeladen war. Der Arzt und Fryer nahmen ihre Mahlzeiten regelmäßig mit Bligh ein, aber an diesem Abend hatte sich Vater Bacchus entschuldigen lassen. Der Tisch des Kapitäns war zwar mit prächtigem Geschirr ausgestattet, aber ich bemerkte bald, daß Bligh nicht viel besser aß als seine Leute. Es gab Pökelfleisch, allerdings ausgesuchte Stücke, in ausreichender Menge, Kohl, schlechte Butter und noch schlechteren Käse, aus dem die langen roten Würmer mit der Hand entfernt worden waren. Herr Bligh war zwar mäßig im Weingenuß, aber er zeigte das Vergnügen, das ihm das Essen bereitete, unverhohlener, als ein Offizier es zu tun pflegte. Fryer war ein rauher Seebär, doch waren seine Manieren bei Tisch weit besser als die des Kapitäns; und Christian, der vor wenigen Tagen noch ein gewöhnlicher Maat gewesen war, speiste mit so viel weltmännischer Eleganz, als gäbe es nicht derbe Schiffskost, sondern die feinsten Delikatessen. Christian saß zur Rechten des Kapitäns, Fryer zu seiner Linken, während mir auf der anderen Seite ein Platz angewiesen wurde. Das Gespräch hatte sich der Mannschaft der Bounty zugewandt. »Eine faule, unfähige Schurkenbande!« sagte Bligh mit vollem Munde. »Gott weiß, daß ein Kapitän genug Sorgen hat, ohne mit einer solchen Mannschaft geschlagen zu sein. Der Abschaum der Menschheit...« Er schluckte heftig und füllte seinen Mund aufs neue. »Der
Kerl, den ich gestern prügeln ließ ... Wie hieß er doch nur gleich?« »Burkitt«, antwortete der Schiffer, etwas rot im Gesicht. »Jawohl, Burkitt, der freche Hund! Und alle ändern sind genauso schlecht wie er. Keiner von ihnen versteht seine Arbeit!« »Da bin ich nicht Ihrer Ansicht, Sir«, sagte der Schiffer. »Ich halte Smith, Quintal und McCoy für erstklassige Seeleute, und selbst Burkitt, wenn er auch im Unrecht war ...« »Der freche Hund!« wiederholte Bligh heftig, den Schiffer unterbrechend. »Wenn er sich noch einmal das geringste zuschulden kommen läßt, bekommt er vier Dutzend, statt zwei Dutzend wie diesmal!« »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Herr Kapitän«, nahm Christian ruhig das Wort, »so möchte ich sagen, daß Burkitt leichter durch Güte als durch Hiebe zu bessern ist.« Bligh lachte grimmig auf. »Haha, Herr Christian! Auf mein Wort, Sie sollten sich nach einer Stelle als Lehrer in einer Schule für junge Damen umsehen! Güte wahrhaftig, das gefällt mir! Einen feinen Kapitän würden Sie abgeben mit solchen Anschauungen. Unsere Matrosen haben für Güte soviel Verständnis wie für das Griechische. Angst müssen sie haben! Ohne Angst würde auf See Meuterei und Piratentum an der Tagesordnung sein!« Fryer nickte wie bedauernd. »Daran ist etwas Wahres.« Christian schüttelte den Kopf. »Da kann ich nicht zustimmen«, meinte er in höflichem Tone. »Unsere Matrosen unterscheiden sich nicht von anderen Engländern. Manche müssen durch Furcht beherrscht werden, das ist wahr, aber es gibt andere, feinere Kerle
unter ihnen, die einem gütigen, gerechten und mutigen Offizier bis in den Tod folgen.« »Haben wir einige Musterknaben dieser Art an Bord?« fragte der Kapitän höhnisch. »Meiner Ansicht nach ja, Sir«, antwortete Christian auf seine gewohnte höfliche Art, »sogar eine ganze Anzahl.« »Nun, dann nennen Sie mir einen!« »Purcell, der Zimmermann, zum Beispiel. Er ...« Diesmal lachte Bligh lange und dröhnend. »Verflucht noch mal!« rief er. »Sie sind mir ein schöner Menschenkenner! Dieser widerspenstige, eigensinnige alte Halunke! Güte bei dem ... haha, das ist wirklich köstlich!« Christian wurde rot und hielt sich anscheinend nur mit Mühe zurück. »Nun, Herr Kapitän, darf ich, da Sie den Zimmermann nicht gelten lassen, Morrison nennen?« »Nennen können Sie ihn, aber das ist auch alles. Morrison? Der nobel tuende Bootsmannsmaat? Dieser Wolf im Schafspelz?« »Aber er ist ein tüchtiger Seemann, Sir«, warf Fryer ein. »Er war einmal Kadett und ist aus guter Familie.« »Ich weiß, ich weiß«, sprach Bligh in seinem verletzenden Tone, »das erhöht meine Achtung für ihn nicht im geringsten.« Er wandte sich mir mit einem höflich gemeinten Lächeln zu. »Entschuldigen Sie, daß ich das in Ihrer Gegenwart sage, Herr Byam, aber die Kadetten sind allesamt keinen Schuß Pulver wert. Aus Kadetten werden die schlechtesten Seeoffiziere.« Seine nächsten Worte galten wieder Christian; sein Gesichtsausdruck bekam etwas Grausames. »Dieser Morrison soll sich in acht nehmen! Es ist mir nicht entgangen, daß er mit der Katze spart. Ein Bootsmannsmaat, der nicht aus guter Familie wäre, hätte
diesem Burkitt die halbe Haut vom Rücken gerissen. Er soll nicht mit mir spielen! Zuhauen soll er, wie es seine Pflicht ist, sonst könnte er selbst einmal unliebsame Bekanntschaft mit der Katze machen!« Je länger das Mahl dauerte, desto klarer wurde es mir, daß am Tische des Kapitäns ganz und gar keine Harmonie herrschte. Fryer konnte den Kapitän nicht leiden und hatte auch den Zwischenfall mit den Käsen nicht vergessen. Bligh wiederum machte kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen den Schiffer, den er oft vor der versammelten Mannschaft herunterkanzelte; noch weniger bemühte er sich, die Verachtung zu verbergen, die er Christian entgegenbrachte. Ich war gar nicht erstaunt, als ich einige Tage später von Vater Bacchus erfuhr, daß Christian und der Schiffer die Kapitänsmesse verlassen hatten, so daß Bligh seine Mahlzeiten allein einnahm. Wir waren jetzt schon südlich vom Äquator. In Teneriffa hatten wir einen großen Vorrat Kürbisse geladen, die nunmehr unter der Einwirkung der tropischen Sonne zu verderben begannen. Samuel erhielt die Weisung, der Mannschaft diese Früchte an Stelle von Brot zu geben, und zwar ein Pfund Kürbis statt zwei Pfund Brot. Hierüber murrten die Leute; als Bligh dies erfuhr, ließ er den ältesten Mann von jeder Messe zu sich kommen. »Nun denn«, herrschte er die Leute an. »Ich werde ja sehen, wer es wagen wird, die Kürbisse oder irgend etwas anderes, das auf meine Weisung hin ausgeteilt wird, zurückzuweisen. Ihr unverschämten Schurken! Bei Gott, ihr werdet noch Gras fressen, ehe ich mit euch fertig bin.«
Die Leute, die Offiziere nicht ausgenommen, nahmen die Kürbisse nun an. Man beklagte sich insgeheim darüber, aber die Sache hätte wohl keine weiteren Folgen gehabt, wenn nicht inzwischen allen zu Bewußtsein gekommen wäre, daß die Fleischfässer nicht das volle Gewicht enthielten. Vermutet hatte man dies schon längst, da Samuel unter keinen Umständen dazu veranlaßt werden konnte, beim öffnen der Fässer das Fleisch zu wiegen; schließlich aber wurde das Untergewicht so unverkennbar, daß die Leute sich mit der Bitte an den Schiffer wandten, er möge die Angelegenheit untersuchen und ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Bligh kommandierte die ganze Mannschaft auf das Quarterdeck. »Also ihr habt euch bei Herrn Fryer beklagt, Leute?« begann er in drohendem Tone. »Ihr seid nicht zufrieden! Bei Gott, da kann ich euch nur raten, eure Ansicht zu ändern und zufrieden zu sein! Alles, was Herr Samuel tut, geschieht auf meinen Befehl, versteht ihr? Auf meinen Befehl! Verliert keine Zeit mehr mit Beschwerden, denn es nützt euch nichts! Ich allein bin der Richter darüber, was Recht und Unrecht ist. Der Teufel soll euch holen! Ich habe euch und eure Beschwerden satt! Der erste, der sich von nun an beschwert, wird angebunden und geprügelt.« Da die Mannschaft jede Hoffnung schwinden sah, vor Ende der Fahrt zu ihrem Recht zu kommen, beschlossen die Leute, ihre Leiden geduldig zu tragen, und von Stund an beklagte sich keiner mehr. Die Offiziere hingegen waren, wenn sie es auch nicht wagten, sich offen aufzulehnen, nicht so leicht befriedigt, und untereinander murrten sie häufig über ihr ununterbrochenes Hungern, an dem, wie sie glaubten, die Habgier des Kapitäns und seines Schreibers die Schuld trug. Unsere Rationen
waren so dürftig, daß die Leute bei der Verteilung der Lebensmittel in der Küche häufig in Streit gerieten; als bei solcher Gelegenheit einmal mehrere Leute Verletzungen davontrugen, hielt der wachthabende Bootsmannsmaat es für notwendig, die Austeilung des Essens zu beaufsichtigen. Als wir etwa hundert Meilen von der brasilianischen Küste entfernt waren, schlug der Wind nach Norden und Nordwesten um. Es geschah nun mehrmals, daß ein oder zwei Tage lang völlige Windstille herrschte; die Mannschaft beschäftigte sich dann mit Fischen; jede Messe opferte einen Teil ihrer schmalen Pökelfleischration in der Hoffnung, einen der Haifische zu fangen, die das Schiff umschwärmten. Der Landbewohner rümpft die Nase über das Haifischfleisch, aber für den Seemann, der nach frischen Speisen lechzt, ist das Fleisch eines unter zehn Fuß langen Hais eine richtige Delikatesse. Die größeren Haifische haben einen stark ranzigen Geruch, aber das Fleisch der kleinen, gleich Beefsteaks in Stücke geschnitten, schmeckt, zuerst gesotten und dann mit viel Pfeffer und Salz gebraten, vortrefflich. Eines Abends kostete ich zum erstenmal Haifischfleisch. Es war so windstill, daß die Segel schlaff an den Rahen hingen. John Mills, der Konstablersmaat, stand mit einer schweren Angel in der Hand ganz vorne auf einer Planke. Ich konnte den Mann, einen großen, mürrischen Kerl, nicht leiden, aber ich sah ihm aufmerksam zu, wie er jetzt den Köder, ein großes Stück Pökelfleisch, auswarf. Zwei Leute von seiner Messe standen neben ihm, um ihm, wenn nötig, an die Hand zu gehen, Brown, der Gehilfe des Botanikers, und Norman, der Zimmermannsmaat. Sie trugen gemeinsam das Risiko, den Köder zu verlieren,
aber sie waren natürlich auch beteiligt, wenn Mills einen Fisch fangen würde. Ein etwa zehn Fuß langer Hai schwamm gerade unter den Schiffsbug. Im gleichen Augenblick schoß ein kleiner, gestreifter Fisch um den Köder herum. »Ein Lotsenfisch!« rief Norman. »Gib acht, dort kommt der Hai!« »Tanz doch nicht herum wie ein Affe«, brummte Mills, »du wirst ihn noch verscheuchen!« Der Hai, eine häßliche gelbe Masse in dem blauen Wasser, schwamm immer näher an den Köder heran; alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er sich jetzt auf die Seite legte, das Maul öffnete und das Stück gesalzenes Schweinefleisch verschlang. »Wahrhaftig, er hat angebissen!« brüllte Mills, als er an der Leine zog. »Jetzt, Jungens, herauf mit ihm.« Mit aller Kraft zogen seine Kameraden an der schweren Leine. Einen Augenblick später flog der Fisch, wild um sich schlagend, über das Geländer und fiel krachend zu Boden. Mills ergriff ein Beil und gab dem Fisch einen schweren Schlag auf das Maul; gleich darauf hatten sich sechs oder sieben Männer auf den noch zuckenden Körper des Fisches gestürzt, rissen ihre Messer heraus und schnitten um die Wette. Mills, dem als Siegespreis der Kopf gehörte, saß am vorderen Ende des Fisches; die anderen bemühten sich, möglichst große Stücke zu ergattern; und in kaum drei Minuten war der arme Fisch in so viele große Stücke zerschnitten worden, als Leute an ihm beteiligt waren. Das Deck war gewaschen worden, und Mills war gerade damit beschäftigt, seinen Anteil an dem Fisch in mehrere kleine Scheiben zu schneiden, als Herr Samuel, der Schreiber, heranschlenderte.
»Ein feiner Fang, guter Mann«, bemerkte er auf seine gönnerhafte Art. »Ich muß aber auch eine Scheibe kriegen, was?« Ebenso wie alle anderen Leute auf der Bounty verabscheute Mills Samuel von ganzem Herzen. Der Schreiber trank weder Rum noch Wein, und man argwöhnte, daß er seine Getränkerationen ansammelte, um sie später an Land zu verkaufen. »So, Sie müssen also eine Scheibe haben«, brummte der Konstablersmaat. »Na, ich muß ein Glas kräftigen Grog trinken, wenn Sie heute Haifisch essen wollen.« »Aber Ihr habt doch genug Fisch für ein Dutzend Leute.« »Und Sie haben genug Grog für tausend Leute beiseite geschafft, soviel ist gewiß.« »Ich brauche das Fleisch für den Tisch des Kapitäns«, sagte Samuel. »Dann fangen Sie ihm selbst einen Haifisch. Der hier gehört mir. Der Kapitän bekommt ja ohnehin schon das beste Brot und die auserlesensten Stücke aus den Fleischfässern!« »Ihr vergeßt Euch, Mills! Kommt, gebt mir ein Stück das große dort —, und ich werde nichts sagen.« »Der Teufel soll Sie holen mit Ihrem »Nichtssagen«! Da nehmen Sie Ihr Stück!« Mit diesen Worten warf Mills Samuel das etwa zehn Pfund schwere Stück Fisch ins Gesicht, mit der ganzen Kraft seines muskulösen Armes. Dann kehrte er sich um und ging leise fluchend unter Deck. Herr Samuel, der zu Boden gestürzt war, erhob sich, nicht ohne ein Stück Haifisch mitzunehmen, und ging langsam nach achtern. Der Ausdruck seiner Augen verhieß dem Konstablersmaat nichts Gutes.
Die Neuigkeit verbreitete sich mit Windeseile über das Schiff, und zum erstenmal seit Antritt der Reise erfreute sich Mills allgemeiner Beliebtheit, obgleich wenig Hoffnung bestand, daß er ohne Strafe davonkommen würde. Vater Bacchus meinte: »Das Geringste, das ihn erwartet, ist eine Tracht Prügel. Samuel ist ein elender Wicht, aber Disziplin muß es nun einmal geben!« Ich glaube, daß ein Tag kommen wird, an dem die Prügelstrafe auf den Schiffen Seiner Majestät abgeschafft sein wird. Sie ist eine brutale Bestrafung, die die Selbstachtung eines guten Menschen zerstört und einen schlechten noch schlechter macht. Wie vorauszusehen war, verbrachte Mills die Nacht in Fesseln. Am nächsten Morgen erwies sich die Gutherzigkeit der britischen Seeleute, denn seine Messekameraden überließen Mills ihre ganze Grogration, um ihn für den unausbleiblich erscheinenden Vollzug der Prügelstrafe zu stärken. Als es sechs Glasen schlug, erschien Herr Bligh auf Deck und befahl Christian, alle Leute nach achtern zu rufen, um der Bestrafung beizuwohnen. Es war kühler geworden, und die Bounty nahm vor einer leichten nordwestlichen Brise Kurs gegen Süden. Die ganze Mannschaft war versammelt. Kein Laut war zu hören. »John Mills!« sagte Bligh. »Tritt vor!« Mit infolge des reichlich getrunkenen Rums gerötetem Gesicht trat Mills, in seine beste Uniform gekleidet, vor. In seinem Gehaben lag eine Spur Herausforderung. Er war ein harter Mann, und er hatte das Empfinden, schlecht behandelt worden zu sein.
»Hast du etwas zu sagen?« fragte Bligh den Seemann,
der barhäuptig vor ihm stand.
»Nein, Sir«, brummte Mills mürrisch.
»Ausziehen!« befahl der Kapitän.
Mills legte mit einem raschen Griff sein Hemd ab und
warf es einem seiner Kameraden zu.
»Bindet ihn an«, kommandierte Bligh.
Norton und Lenkletter, unsere Quartiermeister - alte
bezopfte Seeleute, die dieses Amt unzählige Male
ausgeübt hatten -, näherten sich jetzt mit dünnen Stricken
und banden Mills' Handgelenke an den aufrecht
stehenden Abtropftrog für das geteerte Tauwerk.
»Mann angebunden, Sir!« meldete Norton.
Bligh nahm, ebenso wie wir alle, den Hut ab und verlas
aus dem Seerecht die Strafe, die auf Aufruhr steht.
Morrison, der Bootsmannsmaat, nahm die Katze zur
Hand.
»Drei Dutzend, Herr Morrison«, sagte Bligh, nachdem er
die Verlesung beendet hatte. »Tun Sie Ihre Pflicht.«
Morrison war ein freundlicher, nachdenklicher Mann. Er
tat mir in diesem Augenblick leid, denn ich wußte, daß er
nicht nur grundsätzlich gegen die Prügelstrafe war,
sondern auch die Ungerechtigkeit der gegenwärtigen
Züchtigung empfand. Und doch würde er es nicht wagen,
unter dem scharfen Blick des Kapitäns die Kraft seiner
Hiebe herabzumindern.
Mills war ein bärenstarker Kerl und ertrug die ersten
zwölf Hiebe, ohne zu schreien.
Bligh sah dem Vollzug des Urteils mit verschränkten
Armen zu. »Ich werde dem Mann zeigen, wer der
Kapitän dieses Schiffes ist«, sagte er ruhig zu dem neben
ihm stehenden Christian. »Bei Gott, das will ich!«
Der dreizehnte Hieb brach Mills' eiserne Selbstbeherrschung. Er wand sich hin und her und zerbiß sich die Lippen, bis das Blut hervorspritzte. Ein über das andere Mal stöhnte er wild auf. Es schien mir, als nähme die Bestrafung kein Ende. Als Mills endlich losgebunden wurde, war er blau im Gesicht und brach sogleich zusammen. Vater Bacchus humpelte herbei und gab Order, den Mann in die Krankenkammer hinunterzuschaffen. Bligh schlenderte gemächlich zur Schiffstreppe, während die Leute mit mürrischen Mienen an die Arbeit zurückgingen. Zu Beginn des Monats März erhielten wir den Befehl, unsere leichte Tropenkleidung mit den warmen Kleidungsstücken zu vertauschen, die für die Umschiffung des Kaps Hoorn vorbereitet worden waren. Die Takelung des Schiffes wurde den schweren Stürmen und der rauhen See angepaßt, die uns erwarteten. Jeden Tag wurde es kühler und endlich so kalt, daß ich mich auf die Abende freute, die ich mit Bacchus und seinen Kumpanen oder in unserer Kammer verbringen durfte. An unseren Mahlzeiten nahmen nun auch Stewart und Hayward, meine Mitkadetten, ferner Morrison, Herr Nelson, der Botaniker, und der Wundarzt teil. Wir hielten alle gute Kameradschaft, wenn auch Hayward keinen Augenblick vergaß, daß ich zur See noch ein grüner Junge war, und mich seine größere Erfahrung bei jeder Gelegenheit spüren ließ. Es kamen schwere Tage und Nächte für jeden Mann an Bord. Zuweilen schralte der Wind nach Südwesten und brachte schwere Schneeböen. Nicht selten gerieten wir in furchtbare Orkane. Obgleich unser Schiff durchaus
seetüchtig war, öffneten sich seine Luken, und es erwies sich als notwendig, die Pumpen stündlich in Tätigkeit zu setzen. Als das Vordeck ein Leck bekam, befahl Bligh, daß die Leute ihre Hängematten in der großen Kabine achtern aufzuhängen hätten. Aber die eiserne Entschlußkraft unseres Kapitäns brachte uns über alle Fährlichkeiten hinweg, und es war für uns eine große Freude und Erleichterung, als das Kommando kam, Kurs auf das Kap der Guten Hoffnung zu nehmen. Das schöne Wetter, das nun folgte, und das rasche Tempo, in dem wir gegen Osten segelten, trugen viel dazu bei, die Laune der Mannschaft zu verbessern. In der Nähe des Kaps Hoorn hatten wir zahlreiche Seevögel gefangen, die wir in Käfigen unterbrachten, die von den Zimmerleuten gefertigt waren. Die wilden Perlhühner und die Albatros waren die besten darunter; nachdem sie von uns einige Tage gemästet worden waren, schmeckten sie so gut wie Enten oder Gänse, und diese frische Nahrung wirkte insbesondere bei den Kranken wahre Wunder. Nun, da wieder Fröhlichkeit an Bord herrschte, begannen die Kadetten der Bounty die lustigen Streiche zu vollführen, die bei den jungen Seeleuten der ganzen Welt üblich sind. Keiner von uns entging der Strafe, einige Zeit an der Spitze des Mastes zubringen zu müssen, und ich gestehe, daß wir die Bestrafung im allgemeinen reichlich verdienten. Keiner von uns war öfter in Nöten als Tinkler, ein Spaßvogel, den auf dem Schiffe jeder gern hatte. Blighs Strenge gegenüber Tinkler, in einer kalten Mondnacht auf der Höhe der Insel Tristan da Cunha, war eine Warnung für uns und die Ursache großer Erbitterung unter den Leuten.
An jenem Abend hatten Stewart und Young Wachdienst auf Deck, während Hallet, Hayward, Tinkler und ich in unserer Kammer beisammensaßen. Wir hatten das Abendessen eingenommen und vergnügten uns bis in die späte Nacht mit ausgelassenen und lärmenden Spielen. Plötzlich hörten wir den Kapitän draußen ergrimmt nach dem Waffenmeister rufen. Tinkler und Hallet stürzten eilends in ihre gegen Steuerbord gelegene Kammer; Hayward hatte im Nu das Licht gelöscht, seine Pantoffeln abgestreift, seine Jacke abgeworfen und mit einem Satz seine Hängematte erreicht, wo er die Decke bis zum Kinn heraufzog und sanft und regelmäßig zu schnarchen begann. Ich tat, ohne eine Sekunde zu verlieren, das gleiche, aber der arme Tinkler hatte sich in seiner Angst offenbar so hingelegt, wie er gerade war. Im nächsten Augenblick tastete sich Churchill, der Waffenmeister, in unsere dunkle Kammer. »Kommen Sie, junge Herren, verstellen Sie sich nicht!« rief er. Er horchte auf unsere Atemzüge, tastete uns ab, um sich zu vergewissern, daß wir ohne Jacken und Pantoffeln in unseren Hängematten lagen, und ging dann brummend in die andere Kammer hinüber. Hallet hatte dieselben Vorsichtsmaßregeln ergriffen wie wir, aber der arme kleine Tinkler wurde auf frischer Tat ertappt - in Jacke und Pantoffeln. »Auf, auf, Herr Tinkler«, knurrte Churchill. »Sie kommen an die Mastspitze, und es ist eine verdammt kalte Nacht. Ich würde Sie gerne entwischen lassen, aber ich darf nicht. Ihr jungen Herren stört aber auch das ganze Schiff mit euren verfluchten Possen!« Er führte ihn hinaus, und gleich darauf vernahm ich Blighs schroffe Stimme: »Hol Sie der Teufel, Herr Tinkler! Halten Sie dieses Schiff für einen Biergarten?
Bei Gott, ich hätte gute Lust, Sie prügeln zu lassen! An die Mastspitze mit Ihnen!« Am nächsten Morgen hing Tinkler noch immer an der Spitze des Großmastes. Der Himmel war klar, aber der heftige westsüdwestliche Wind war eisig kalt. Herr Bligh kam auf Deck und rief zu Tinkler hinauf, er möge herunterkommen. Es erfolgte keine Antwort, auch nicht, als er ein zweites Mal rief. Auf einen Wink Christians kletterte ein Matrose in die Takelung, erreichte die Kreuzhölzer und rief hinunter, Tinkler scheine dem Tode nahe zu sein; er wage es nicht, ihn allein zu lassen, weil er fürchte, der junge Mann könne stürzen. Nun kam ihm Christian zu Hilfe, und gemeinsam schafften sie Tinkler auf das Deck hinab. Der arme Bursche war blau vor Kälte; er konnte weder stehen noch sprechen. Wir trugen ihn in seine Hängematte, hüllten ihn in warme Tücher, und Vater Bacchus brachte in einer Kanne sein Universalmittel herbei. Er fühlte dem Jungen den Puls, hob seinen Kopf und begann ihm mit einem Löffel puren Rum einzuflößen. Tinkler hustete, öffnete die Augen, und eine leichte Röte trat auf seine Wangen. »Aha«, rief der Arzt. »Es gibt nichts Besseres als Rum! Noch einen Schluck ... so ... und jetzt noch einen. So wahr ich lebe, es geht nichts über Rum. Bald wird er wieder gesund wie ein Fisch im Wasser sein! Und damit ich nicht vergesse - auch einen Tropfen für mich. Dieser Rum macht Tote lebendig, was?« Tinkler hustete aufs neue, als ihm die scharfe Flüssigkeit durch die Kehle rann, und wider Willen mußte er lächeln. Zwei Stunden später war er wieder auf Deck, ohne durch die Nacht auf luftiger Höhe Schaden an seiner Gesundheit genommen zu haben.
Am 23. März warfen wir vor Kapstadt Anker. Das Schiff mußte in allen Teilen kalfatert werden, so leck war es. Segel und Tauwerk bedurften dringend der Ausbesserung, und auch die Uhren mußten auf ihren Gang geprüft werden. Am 29. Juni lichteten wir die Anker, nicht ohne das holländische Fort mit 13 Salutschüssen gegrüßt zu haben. Ich habe nur wenige Erinnerungen an die lange, kalte und trübselige Fahrt vom Kap der Guten Hoffnung nach VanDiemens-Land. Einen Tag nach dem anderen lenzten wir unter heftigen westlichen bis südwestlichen Winden nur mit dem Focksegel und dem gerefften großen Marssegel. Tausende von Meilen weit breitet sich hier das Meer aus, ungehindert durch Festland oder Inseln, und die Wogen schäumen zur Höhe von Gebirgskämmen empor. Am 20. August sichteten wir den Felsen, der nahe der Südwestspitze von Van-Diemens-Land liegt, und zwei Tage später gingen wir in der Abenteuerbai vor Anker. Wir verbrachten dort vierzehn Tage, um unseren Holzund Wasservorrat zu erneuern und Planken, deren der Zimmermann bedurfte, zurechtzusägen. Die Bucht war von Eukalyptuswäldern umgeben, deren Bäume eine Höhe von 150 Fuß erreichten; 60 bis 80 Fuß ragten die Stämme astlos empor. Fast nie war Vogelgesang zu hören, und ich sah nur ein einziges Säugetier, ein kleines opossumartiges Geschöpf, das sich in einen hohlen Baumstamm verkroch. Es gab auch Menschen hier, aber sie waren so scheu wie wilde Tiere - schwarz, nackt, mit buschigem Haar und einer Stimme, die dem Schnattern der Gänse glich. Sobald sie unser ansichtig wurden, nahmen sie Reißaus. Herr Bligh betraute mich mit der Aufgabe, mit einigen Leuten am westlichen Ende der Bucht Wasser zu holen.
In der Nähe hatte Purcell, der Zimmermann, seine Sägegrube angelegt und war mit seinen Maaten, Norman und McIntosh, und zwei ihm zugeteilten Matrosen eifrig damit beschäftigt, Planken zurechtzusägen. Sie hatten einige große Eukalyptusbäume gefällt, aber nachdem der Zimmermann das Holz untersucht hatte, erklärte er es für unverwendbar und wies seine Leute an, kleinere, zu einer anderen Gattung gehörende Bäume zu fällen, die eine rote Borke und festes, rötliches Holz hatten. Eines Morgens beaufsichtigte ich gerade das Füllen meiner Wasserfässer, als Bligh, mit einer Vogelflinte über dem Arm, begleitet von Herrn Nelson, erschien. Er warf einen Blick auf die Sägearbeiten und blieb stehen. »Herr Purcell!« rief er scharf. »Hier, Sir.« Der Zimmermann der Bounty war ihrem Kapitän in manchen Dingen nicht unähnlich. Mit Ausnahme des Arztes war er der älteste Mann an Bord und hatte beinahe sein ganzes Leben auf See verbracht. Er verstand sein Handwerk so gut, wie Bligh die Navigation verstand, und war kaum weniger launenhaft und jähzornig als Bligh. »Verflucht, Herr Purcell!« rief der Kapitän. »Diese Stämme sind zu klein für Planken. Habe ich Ihnen nicht die Weisung gegeben, die großen Bäume zu verwenden?« »Doch, das haben Sie, Sir«, antwortete Purcell mit aufsteigendem Ärger. »Dann befolgen Sie Ihre Order, statt Zeit zu verlieren.« »Ich verliere keine Zeit, Sir«, sagte der Zimmermann mit hochrotem Gesicht. »Das Holz der großen Bäume ist unverwendbar, wie ich herausfand, als ich einige hatte fällen lassen.«
»Unverwendbar? Unsinn ... habe ich nicht recht, Herr Nelson?« »Ich bin Botaniker, Sir«, meinte Nelson, der sich nicht in eine Meinungsverschiedenheit einmischen wollte. »Ich kann nicht behaupten, so viel von Hölzern zu verstehen wie ein Zimmermann.« »Jawohl, davon versteht ein Zimmermann wirklich was«, warf der alte Purcell ein. »Das Holz dieser großen Bäume kann niemals ordentliche Schiffsplanken geben.« Bligh konnte seine Wut nicht länger unterdrücken. »Tun Sie, was Ihnen aufgetragen ist, Herr Purcell«, befahl er heftig. »Ich habe nicht die Absicht, mich mit Ihnen oder irgendeinem anderen meiner Untergebenen in Diskussionen einzulassen.« »Sehr wohl, Sir«, entgegnete Purcell eigensinnig. »Es bleibt bei den großen Bäumen. Aber ich sage Ihnen, daß die Planken unverwendbar sein werden. Ein Zimmermann kennt sein Geschäft so gut wie ein Kapitän das seine.« Bligh hatte sich zum Gehen gewendet; jetzt fuhr er herum. »Sie sind zu weit gegangen - Sie aufrührerischer alter Halunke! Übernehmen Sie hier das Kommando, Norman! Sie aber, Herr Purcell, melden sich sogleich bei Leutnant Christian - auf 14 Tage werden Sie in Eisen gelegt.« Mir fiel es zu, Purcell zum Schiff hinauszurudern. Der alte Mann war hochrot im Gesicht; er biß die Zähne zusammen und verkrampfte die Fäuste, bis die Adern auf seinen Unterarmen hervortraten. »Nennt mich einen Halunken«, murmelte er vor sich hin, »und läßt mich in Eisen legen, weil ich meine Pflicht tue. Er wird noch von mir hören, das schwöre ich ihm! Warte nur, bis wir nach
England kommen! Ich werde mein Recht schon zu finden wissen!« Wir waren noch immer auf schmalste Rationen gesetzt, und die Abenteuerbai bot wenig zur Verbesserung unserer Nahrung. Wir fingen nur wenige Fische, und diese waren von geringer Qualität. Die Muscheln zwischen den Klippen, auf die wir große Hoffnungen gesetzt hatten, erwiesen sich als giftig. Während Herr Bligh sich die wilden Enten wohlschmecken ließ, die er mit seiner Vogelflinte erlegte, war die Mannschaft halb verhungert, und insbesondere die Offiziere murrten mehr denn je. Die vierzehn Tage, die wir in der Abenteuerbai zubrachten, waren mit Hader und Zwistigkeiten ausgefüllt. Der Zimmermann lag in Eisen; Fryer und Bligh sprachen kaum ein Wort miteinander, da der Schiffer den Kapitän verdächtigte, sich an der Verproviantierung des Schiffes zu bereichern; und kurz vor unserer Abfahrt wurde Edward Young, einer der Kadetten, an eine Kanone auf dem Quarterdeck gebunden und mit einem Dutzend Hieben mit dem Tauende bestraft. Young war mit drei Mann mit einem kleinen Kutter ausgesandt worden, um Krabben für die Ernährung der Kranken zu fangen. Sie ruderten in die Richtung des Kaps Frederick Henry, und als sie lange nach Sonnenuntergang zurückkehrten, meldete Young, daß Dick Skinner, Matrose und Schiffsbarbier, in die Wälder gewandert und verschwunden sei. »Skinner sah einen hohlen Baum«, berichtete Young dem Kapitän, »der, nach den ihn umschwirrenden Bienen zu schließen, Honig enthalten mußte. Er erbat meine
Erlaubnis, die Bienen auszuräuchern und den Honig für unsere Kranken einzusammeln. Ich glaubte in Ihrem Sinne zu handeln, Sir, als ich ihm die Erlaubnis gab. Ein paar Stunden später kehrten wir, nachdem wir unser Boot mit Krabben beladen hatten, zu dem Baum zurück. An seinem Fuß rauchten noch die Überreste eines Feuers, aber Skinner war nicht zu sehen. Wir wanderten bis Sonnenuntergang in den Wäldern umher, aber zu meinem Bedauern muß ich melden, Sir, daß wir keine Spur von dem Mann fanden.« Zufällig wußte ich, daß Bligh am gleichen Nachmittag nach dem Barbier gefragt hatte, weil er seine Dienste benötigte. Die Auskunft, daß der Mann Young begleitet habe, hatte ihn gegen den Kadetten sehr aufgebracht, und jetzt, wo er hörte, daß der Barbier nicht zurückgekehrt sei, geriet er in helle Wut. »Nun hole doch der Teufel auf der Stelle Sie und alle anderen Kadetten«, tobte der Kapitän. »Ihr seid alle gleich! Wenn ihr Honig gefunden hättet, hättet ihr ihn auf der Stelle aufgefressen! Wo zum Teufel ist Skinner? frage ich. Sofort machen Sie sich mit ihrer Mannschaft auf und kehren zu der Stelle zurück, wo sie den Mann das letztemal gesehen haben. Und wehe Ihnen, wenn sie ihn nicht zurückbringen!« Young war ein erwachsener Mensch. Er wurde bei den Worten des Kapitäns rot, salutierte jedoch respektvoll und rief sogleich seine Leute zusammen. Sie kamen erst am nächsten Tag gegen Mittag zurück; beinahe 24 Stunden hatten sie keine Nahrung zu sich genommen. Diesmal brachten sie Skinner zurück; er war auf der Suche nach einem zweiten Honig enthaltenden Baum weiter in den Wald hineingewandert und hatte sich in dem dichten Gestrüpp verirrt.
Bligh ging erregt auf dem Quarterdeck auf und ab, als sich das Boot näherte. Er war von Natur aus ein Mann, der über die Verfehlungen seiner Mitmenschen so lange nachbrütete, bis sie ihm riesengroß erschienen, und es wunderte niemanden unter uns, daß er einen furchtbaren Zornesausbruch erlitt, als Young das Deck betrat. »Kommen Sie achtern, Herr Young!« rief er barsch. »Ich werde Ihnen beibringen, Ihre Pflicht zu erfüllen, statt müßig in den Wäldern herumzuspazieren. Herr Morrison!« »Zu Befehl, Sir!« »Sie binden Herrn Young an die Kanone dort! Sodann verabreichen Sie ihm ein Dutzend mit einem Tauende!« Young hatte Offiziersrang und war ein stolzer, furchtloser Mann von vornehmer Geburt. Obgleich Bligh seine Rechte als Kapitän nicht überschritt, war die öffentliche Züchtigung eines solchen Mannes fast ohne Beispiel in der englischen Marine. Morrisons Gesichtsausdruck zeigte unwillkürlich solchen Widerwillen gegen den Befehl, der ihm erteilt worden war, daß Bligh ihn drohend anbrüllte: »Tun Sie Ihre Pflicht ordentlich und ohne Widerrede, Herr Morrison! Ich werde Sie dabei beobachten!« Ich will von der Züchtigung Youngs und der grausamen Prügelstrafe, die an Skinner vorgenommen wurde, nicht weiterreden. Es sei genug damit, wenn ich erwähne, daß Young von diesem Tag ein anderer Mensch wurde, der seinen Dienst mürrisch und schweigend tat und die Gesellschaft seiner Mitkadetten floh. Später erzählte er mir, daß er, wenn sich die Ereignisse anders gestaltet hätten, nach der Rückkehr des Schiffes nach England den Dienst quittiert und Bligh von Mann zu Mann zur Rechenschaft gezogen haben würde.
Am 4. September lichteten wir die Anker und segelten mit einer feinen, frischen Brise aus der Abenteuerbai. Sieben Wochen später sah ich nach einer ereignislosen, aber durch die vielen Skorbutfälle und den Hunger, unter dem wir ununterbrochen litten, zur Qual gewordenen Fahrt meine erste Südseeinsel. Wir hatten jetzt die wirklichen Tropen erreicht, und Anzeichen nahen Landes machten sich bemerkbar. Seeadler schwebten mit unaufhörlichem Schwingenschlag zu unseren Häupten, Schwärme von fliegenden Fischen tummelten sich um das Schiff. Das Meer hatte jene helltürkisblaue Färbung, die es nur in tropischen Gegenden annimmt, und zuweilen, wenn Wolken die Sonne verdunkelten, spielte es ins Purpurrot hinüber. Das Rollen des Stillen Ozeans von Ost nach West wurde durch das Labyrinth niedriger Koralleninseln, die östlich vom Kurs des Schiffes lagen, gebrochen, und die Bounty durchsegelte ruhige Gewässer. Ich hatte an jenem Nachmittag keinen Dienst und beschäftigte mich damit, die Gegenstände, die ich auf Sir Joseph Banks` Rat hin für den Tauschhandel mit den Eingeborenen von Tahiti eingekauft hatte, zu ordnen. Nägel, Feilen und Angelhaken waren besonders begehrt, ebenso wie billige Schmuckstücke für die Frauen und Mädchen. Meine Mutter hatte mir 50 Pfund für den Ankauf dieser Sachen gegeben, und Sir Joseph hatte weitere 50 Pfund mit dem Bemerken hinzugefügt, daß sich Freigebigkeit gegenüber den Indios immer bezahlt mache. »Vergessen Sie niemals«, hatte er gesagt, »daß in der Südsee die sieben Todsünden in einer einzigen zusammengefaßt sind, und die heißt Geiz.« Ich hatte mir diesen Ratschlag zu Herzen genommen, und als ich jetzt
meinen Schatz an Geschenken überblickte, gewann ich die Überzeugung, daß ich meine 100 Pfund gut angelegt hatte. Ich bin seit meiner frühesten Kindheit ein Freund des Fischens gewesen, und meine Angelhaken wiesen nicht nur alle denkbaren Größen auf, sondern waren auch die besten, die man für Geld kaufen kann. Meine Schiffskiste war zur Hälfte mit anderen Gegenständen gefüllt - billigen Ringen, Armreifen und Halsketten, Feilen, Scheren, Rasiermessern, verschiedenartigen Brillen und einem Dutzend Bildern König Georgs, die Sir Joseph für mich besorgt hatte. In einer ganz verborgenen Ecke der Kiste, wohlbehütet vor den neugierigen Augen meiner Kameraden, bewahrte ich ein mit Samt gefüttertes Kästchen auf, in dem sich, aus Gold kunstvoll und zierlich gefertigt, ein Armband und eine Halskette befanden. Ich war damals ein romantischer Junge und träumte von einem schönen Barbarenmädchen, das mir seine Gunst zuteil werden ließe. Wenn ich auf die lange Reihe der Jahre zurückblicke, die seither vergangen sind, so muß ich über diesen Einfall eines Knaben lächeln, und doch würde ich meine ganze schwer erworbene Weltweisheit dafür geben, noch einmal eine Stunde lang die Empfindung jener guten Tage wiederzugewinnen. Ich hatte meine Schätze gerade wieder in die Kiste zurückgelegt, als ich Herrn Blighs laute, durchdringende Stimme vernahm. Seine Kajüte war kaum fünfzehn Fuß von der Stelle entfernt, an der ich saß. »Herr Fryer«, rief er in herrischem Tone, »kommen Sie bitte in meine Kajüte.« »Gleich, Sir«, hörte ich den Schiffer antworten. Ich hatte nicht den Wunsch, der Unterredung, die folgte, zu lauschen, aber ich konnte dies nicht verhindern, ohne die Kiste in meiner Kammer offenstehen zu lassen.
»Morgen oder übermorgen«, sagte Bligh, »werden wir in der Bucht von Matavai Anker werfen. Herr Samuel hat in meinem Auftrage ein Verzeichnis aller auf dem Schiff noch vorhandenen Vorräte angelegt; dies hat ihn in die Lage versetzt, festzustellen, welche Lebensmittel während der Fahrt verbraucht wurden. Ich wünsche, daß Sie dieses Buch durchsehen und die Aufstellung unterzeichnen.« Ein langes Schweigen folgte, das endlich durch Herrn Fryers Stimme unterbrochen wurde. »Ich kann dies nicht unterzeichnen, Sir«, sagte er. »Sie können es nicht unterzeichnen? Was soll das heißen?« »Der Schreiber muß sich geirrt haben, Herr Bligh. Es ist ausgeschlossen, daß solche Mengen Rind- und Schweinefleisch ausgegeben worden sind!« »Sie irren sich!« antwortete der Kapitän ärgerlich. »Ich weiß, was an Bord genommen wurde und was noch vorhanden ist. Samuels Rechnung stimmt.« »Ich kann nicht unterzeichnen«, entgegnete Fryer hartnäckig. »Warum nicht, zum Teufel? Alles, was der Schreiber getan hat, geschah auf meinen Befehl. Unterschreiben Sie augenblicklich! Verflucht noch einmal! Ich bin nicht der geduldigste Mann der Welt.« »Ich kann nicht unterschreiben«, wiederholte Fryer erregt; »nicht mit gutem Gewissen, Sir!« »Doch, Sie können unterzeichnen«, brüllte Bligh wuterfüllt; »und Sie werden unterzeichnen!« Er stürmte die Treppe hinauf. »Herr Christian!« hörte ich ihn zu dem diensthabenden Wachoffizier sagen. »Beordern Sie sogleich alle Leute auf Deck!«
Als die gesamte Mannschaft versammelt war, nahm der Kapitän mit hochrotem Gesicht den Hut ab und verlas die Bestimmungen des Seerechtes. Dann trat Herr Samuel mit seinem Buch, einer Feder und einem Tintenfaß vor. »Nun, Sir!« wandte sich Bligh in drohendem Ton an den Schiffer. »Unterzeichnen Sie diese Abrechnung!« Tiefes Schweigen herrschte, während Fryer widerwillig die Feder zur Hand nahm. »Herr Bligh«, sprach er und konnte dabei seine Erregung nur mit äußerster Mühe meistern, »die ganze Mannschaft dieses Schiffes wird bezeugen, daß ich, Ihrem Befehl Folge leistend, unterzeichne, aber vergessen Sie nicht, Sir, daß über diesen Fall noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.« In diesem Augenblick ließ der Mann auf dem Fockmast weithin schallend den Ruf ertönen: »Land in Sicht!«
5
Der Mastwächter hatte Mehetia, ein kleines, gebirgiges Eiland, vierzig Meilen südöstlich von Tahiti, gesichtet. Beinahe ungläubig blickte ich auf das winzige, unbewegliche Bild am Horizont. Gegen Abend trat Windstille ein, und es kostete uns die ganze Nacht, an die Insel heranzukommen. Als es acht Glasen schlug, war mein Wachdienst zu Ende, aber ich konnte nicht schlafen; eine Stunde später beobachtete ich vom Fockmast aus den Anbruch des neuen Tages. Die Schönheit dieses Sonnenaufganges erschien mir wie eine reichliche Entschädigung für alle Mühsal der langen Fahrt. Es war ein Sonnenaufgang, wie ihn nur der Seemann kennenlernt, und auch dieses nur in fernen, tropischen Gegenden. Bis auf zarte Lämmerwölkchen am Horizont war der Himmel klar. Allmählich verblaßten die Sterne; das samtige Dunkel des Himmels verblich und wandelte sich in ein helles Blau, während rosiges Licht immer stärker und stärker aufleuchtete. Dann begann die noch unsichtbare Sonne die Wölkchen im Osten mit den vielfältigen Perlmutterschattierungen zu färben. Eine Stunde später erhob sich ein leichter Südwind, und wir segelten näher an das Inselriff heran. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich den schlanken, anmutigen Stamm und die grünen Wedel der Kokospalme, die mit Stroh gedeckten Hütten der Eingeborenen inmitten schattiger Haine und die Menschen selbst, die in Scharen auf dem Strande umherwanderten. Sie schwenkten große weiße Tücher und ließen Rufe ertönen, die ich für Einladungen, an Land zu kommen, hielt, wenn ihre Stimmen auch beinahe im Lärm der Brandung
untergingen. Die Brandung war so stark, daß es unmöglich gewesen wäre, an dieser Stelle mit einem Boot das Land zu erreichen. Mehetia weist an keiner Stelle eine größere Breite als drei Meilen auf. Das Dorf liegt am Südende der Insel, umgeben von einem kleinen Stück ebenen Landes am Fuße der Berge; an allen anderen Stellen stürzen die grün bewachsenen Klippen steil ins Meer ab. Die weiße Kette der Brandung, das lebhafte Smaragdgrün der tropischen Vegetation, das reiche Laubwerk der Brotfruchtbäume in den kleinen Tälern und die gefiederten Wipfel der Kokosnußpalmen vereinigten sich zu einem Bild, das mich bezauberte. Die Insel machte den Eindruck eines kleinen, soeben erschaffenen Paradieses. Die Inselbewohner waren zwar zu weit entfernt, als daß ich sie hätte genau betrachten können, aber sie schienen mir stattliche, kräftige Menschen und größer als Engländer zu sein. Sie waren mit einem Lendenschurz aus Baumrindenstoff bekleidet, der in der Morgensonne strahlend weiß aufleuchtete. Im übrigen waren sie nackt und lachten und jauchzten wie fröhliche Kinder, als sie uns, mit großer Behendigkeit die Felsen entlangkletternd, zu folgen versuchten. Als wir das Nordende der Insel umschifft hatten, rief Smith vom Topp zu mir herab: »Da, sehen Sie nur, Herr Byam!« und wies erregt nach vorne. In der Ferne sah ich die Umrisse eines mächtigen Berges hellblau und wie unwirklich aus dem Meere auftauchen, eine hohe Kuppe, von dem sich symmetrische Grate herabsenkten. Der Wind frischte immer mehr auf, und die Bounty segelte, ein wenig nach backbord geneigt, eine weiße Kielwasserspur hinter sich herziehend, in guter Fahrt dahin. Ich ging zum Quarterdeck, wo ich Herrn Bligh in
ungewohnt guter Laune antraf. Ich wünschte ihm guten Morgen, und er dankte mir mit einem freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. »Dort drüben liegt es, junger Mann«, sagte er, auf die gespensterhaften Umrisse des fernen Gebirges deutend. »Tahiti! Unsere Reise war lang und schwer, aber jetzt, bei Gott, sind wir wahrhaftig am Ziel!« »Die Insel scheint schön zu sein, Sir«, bemerkte ich. »Das will ich meinen - es gibt keine schönere. Kapitän Cook liebte sie kaum weniger als England; wäre ich ein alter Mann, der seine Lebensarbeit getan und keine Familie daheim hätte, so wünschte ich mir nichts Besseres, als meine Tage unter den Palmen von Tahiti zu beschließen! Und Sie werden finden, daß die Eingeborenen ebenso gastfreundlich sind wie das Land, das sie bewohnen. Und wie schön manche Mädchen dieser Insel sind! Nun, wir sind ja weit genug hergereist, um sie zu besuchen! Vergangene Nacht habe ich anhand meines Logbuches die Entfernung festgestellt, die wir seit unserer Abfahrt von England zurückgelegt haben. Wenn wir morgen früh in der Bucht von Matavai vor Anker gehen, werden wir über 27 000 Meilen hinter uns gebracht haben!« Seit jenem nun schon so viele Jahre zurückliegenden Morgen habe ich die Meere der ganzen Welt befahren und die meisten Inseln, die es auf der Erde gibt, besucht, darunter die Antillen und den asiatischen Archipel. Aber unter allen Inseln, die ich gesehen habe, erreicht keine an Lieblichkeit Tahiti. Als wir uns dem Lande näherten, gab es wohl keinen Mann an Bord der Bounty, der nicht mit Staunen und ehrfürchtiger Scheu das sich uns bietende Bild genossen hätte. Und doch irre ich mich - einen gab es. Als wir an
die Südspitze der Insel bereits bis auf wenige Meilen herangekommen waren, humpelte Vater Bacchus an Bord. Auf einen Krückstock gelehnt, blickte er einen Augenblick lang gleichgültig auf die begrünten Abhänge, die Wasserfälle und die schlanken Bergspitzen. Dann zuckte er die Achseln. »Sie sind alle gleich«, meinte er geringschätzig. »Wenn man eine Insel in den Tropen gesehen hat, hat man alle gesehen.« Mit diesen Worten hinkte der Wundarzt die Treppe wieder hinab. Als er verschwunden war, hörte Herr Nelson auf, auf dem Deck auf und ab zu marschieren, und blieb an meiner Seite stehen. Der Botaniker hielt große Stücke auf Bewegung in frischer Luft und machte jeden Morgen auf dem Deck einen Marsch von zwei oder drei Meilen, um seine Muskeln hart und seine Gesichtsfarbe frisch zu erhalten. »Wahrhaftig, Byam«, bemerkte er, »ich freue mich, hierher zurückzukehren! Seit meiner Fahrt mit Kapitän Cook habe ich oft davon geträumt, Tahiti noch einmal zu besuchen, obgleich ich nicht die geringste Hoffnung hatte, mein Traum könne in Erfüllung gehen. Und jetzt sind wir hier! Ich kann es kaum erwarten, die Insel zu betreten!« Wir fuhren jetzt längs der luvseitigen Küste von Taiarapu, des reichsten und schönsten Teiles der Insel, und ich konnte meine Augen von der Landschaft nicht abwenden. Im Vordergrund, etwa eine Meile vom Strande entfernt, hielt ein Korallenriff die Meeresflut auf, und die ruhigen Gewässer der auf diese Art entstandenen Lagune bildeten einen Verkehrsweg, auf dem die Indios in ihren Kanus hin und her fuhren. Hinter dem inneren Ufer lag der schmale Streifen flachen Landes, auf dem die primitiven Heimstätten der Eingeborenen malerisch inmitten sauber
angelegter Anpflanzungen verstreut lagen, beschattet von Hainen aus Brotfruchtbäumen und Kokosnußpalmen. Im Hintergrund ragten die Berge in phantastischen Formen empor, bis zu den Gipfeln bewaldet. Zahllose Wasserfälle stürzten, glitzernden Silberbändern gleich, über die Felsen hinab; manche von ihnen waren tausend Fuß und mehr hoch und, da sie sich von dem dunkelgrünen Hintergrund scharf abhoben, auf große Entfernung sichtbar. Wenn ein Europäer diese Küste, die mit nichts auf unserem nüchternen Planeten zu vergleichen ist, zum erstenmal sieht, glaubt er, nicht Wirklichkeit, sondern ein zauberhaftes Traumgebilde vor sich zu sehen. Nelson wies auf eine Lücke in der langgezogenen Rifflinie. »Dort drüben verlor Kapitän Cook beinahe sein Schiff«, erzählte er. »Einer seiner Anker liegt dort bis auf den heutigen Tag. Ich kenne diesen Teil der Insel gut. Wie Sie sehen können, besteht Tahiti eigentlich aus zwei gebirgigen Inseln, die durch die niedrige, von den Indios Taravao genannte Landenge verbunden sind. Was Sie hier vor sich sehen, ist die kleinere Insel, genannt Taiarapu oder Tahiti Iti; die größere dort drüben wird Tahiti Nui genannt. Der König der kleinen Insel heißt Vehiatua; er ist der mächtigste aller eingeborenen Fürsten. Sein Gebiet ist reicher und bevölkerter als das seiner Rivalen.« Während des ganzen Nachmittages segelten wir längs der Küste, passierten die Landenge zwischen den beiden Inseln, kamen an den in üppigem Grün prangenden Gegenden von Faaone und Hitiaa vorüber und bewegten uns gegen Abend, als die leichte Brise geschwunden war, langsam die felsige Küste von Tiarei entlang, wo das Riff
endet und die Wogen unvermittelt gegen den Fuß der felsigen Berge donnern. Während der Nacht schliefen auf der Bounty nur wenige. Das Schiff lag in völliger Windstille vor dem Eingang zum großen Tal von Papeno; nur von der Insel her wehte eine sanfte Brise und trug den köstlichen Geruch von Land und Pflanzen zu uns herüber. Wir sogen den Geruch gierig in uns ein, und uns war, als spürten wir den Duft exotischer Blumen und den köstlichsten Duft, den es für den Seemann gibt — den der Mutter Erde selbst. Die Skorbutkranken atmeten den Landwind tief ein, und neues Leben schien ihnen daraus zuzuströmen; Gleichgültigkeit und Schweigsamkeit fielen von ihnen ab, und sie redeten untereinander von den Früchten, die sie am nächsten Tage zu essen hofften und nach denen sie begierig waren wie ein Verdurstender nach einem Trunk Wasser. Kurz vor Sonnenuntergang sichteten wir Eimeo, das kleine Eiland, das vier Meilen westlich von Tahiti liegt. Die Sonne ging hinter den seltsam gezackten Bergen dieser Insel unter, gefolgt von dem dünnen goldenen Halbkreis des jungen Mondes. Zwielicht ist in diesen Breiten fast unbekannt, und es schien mir, als ob gleich darauf die Sterne am wolkenlosen Himmel aufschienen. Von der Kajüte, in der Vater Bacchus mit Peckover zechte, drang leise Gesang herauf; die ganze übrige Besatzung des Schiffes war, glaube ich, auf Deck. Am Strande sahen wir unzählige Fackeln aufflammen; die Indios gingen der Beschäftigung des Fischens nach oder wanderten längs des Strandes von Haus zu Haus. Die Mannschaft der Bounty lehnte an der Brustwehr des Schiffes und unterhielt sich in leisem Ton oder blickte stumm zur Küste hinüber. In jener Nacht schien mit uns
allen eine Veränderung vorgegangen zu sein: alles Leid schien gebannt, und an seine Stelle war ruhige Freudigkeit, glückliche Erwartung dessen, was der nächste Morgen uns bescheren würde, getreten. Selbst Herr Bligh, der mit Christian auf dem Deck promenierte, war ungewohnt liebenswürdig; wenn die beiden Männer von Zeit zu Zeit an mir vorüberkamen, hörte ich den Kapitän etwa sprechen: »Keine schlechte Fahrt, wie ...? Nur vier Skorbutfälle, und auch die vier Leute werden nach einer Woche an Land wieder wohlauf sein ... Das Schiff hat sich wirklich prächtig gehalten ...« Ich war der Wache des Schiffers zugeteilt; gegen Mitternacht bemerkte Herr Fryer zufällig, daß ich ein Gähnen unterdrückte, weil ich lange nicht geschlafen hatte. »Legen Sie sich ein bißchen hin, Herr Byam«, sagte er freundlich, »machen Sie ein Schläfchen. Heute nacht ist alles ruhig. Wenn wir Sie brauchen, werde ich Sie wecken lassen.« Ich wählte mir einen Platz hinter der großen Luke und legte mich aufs Deck, aber obgleich mir die Augen gleich zufielen, dauerte es lange, ehe ich wirklich einschlief. Als ich erwachte, dämmerte im Osten schon das fahle Licht des Morgens. Wir waren während der Nacht ein wenig nach Westen getrieben worden, und nun lag das Schiff vor dem Tal von Vaipoopoo, welches von dem Fluß durchströmt wird, der sich bei Kap Venus, dem nördlichsten Punkt von Tahiti Nui, ins Meer ergießt. Dies war die Stelle, an der Kapitän Cook seine Sternwarte errichtet hatte, um den Durchgang des Planeten zu beobachten, nach dem das Kap benannt war. In weiterer Entfernung erhob sich der zentrale Gebirgsstock, Orohena genannt, eine scharfe Nadel aus vulkanischem Gestein, der die Höhe von 7000
Fuß erreicht und mit senkrechten Felswänden in den oberen Teil des Tales abstürzt. Sein Gipfel war jetzt von der Sonne beleuchtet, und als das Tageslicht immer stärker wurde, die Schatten aus dem Tale vertrieb und die Vorhügel sowie das lachende, üppig begrünte Küstenland beleuchtete, war mir, als habe ich in meinem ganzen Leben keinen Anblick genossen, der den Augen angenehmer gewesen wäre. Die Einfahrt zur Bucht von Matavai war kaum eine Meile entfernt, und zahlreiche Kanus näherten sich unserem Schiffe. Die meisten waren klein und faßten nur vier bis fünf Personen; seltsame Fahrzeuge, deren hinterer, beinahe halbkreisförmig geschweifter Teil stark erhöht war. Ich sah auch zwei oder drei Doppelkanus, deren jedes etwa dreißig Passagiere aufnehmen konnte. Die Fahrzeuge der Indios kamen mit großer Geschwindigkeit näher. Ihre Ruderer machten ein halbes Dutzend rasche Paddelschläge auf der einen Seite und taten dann auf ein Kommando des Mannes am Steuer das gleiche auf der anderen. Als die ersten Boote unser Schiff erreicht hatten, hörte ich fragende Rufe: »Taio? Peritane? Lima?«, was soviel bedeutet wie: »Freunde? Britisch? Lima?« Die letzte Frage bedeutete, ob die Bounty ein spanisches Schiff aus Peru sei. »Taio!« schrie Bligh, der einige Worte der Sprache von Tahiti kannte. »Taio! Peritane!« Im nächsten Augenblick sprang die Besatzung des ersten Bootes an Bord, und ich konnte nunmehr die Menschen dieser weltberühmten Rasse in der Nähe betrachten. Unsere Besucher waren zum größten Teil Männer - große, stattliche, muskulöse Kerle, deren Haut von heller Kupferfarbe war. Sie trugen Röcke aus selbstgefertigtem, gemustertem Zeug; über die Schulter hatten sie mit Fransen versehene Tücher geschlungen, und sie trugen
Turbane aus braunem Stoff auf dem Kopf. Einige von ihnen, die von den Hüften aufwärts nackt waren, stellten Oberkörper und Arme zur Schau, die Riesen keine Schande gemacht hätten, wieder andere trugen an Stelle der Turbane kleine Mützen aus Kokosblättern auf dem Haupte, die sie Taumata nannten. Ihre Gesichtszüge spiegelten, wie die von Kindern, jede flüchtige Stimmung wider, und wenn sie lächelten, was oft geschah, war ich erstaunt über die Weiße und Vollkommenheit ihrer Zähne. Die wenigen Frauen, die zu dieser Zeit auf das Schiff kamen, gehörten alle den unteren Schichten der Bevölkerung an und waren, verglichen mit den Männern, unverhältnismäßig klein. Sie trugen in anmutige Falten gelegte Röcke aus weißem Stoff; Tücher aus gleichem Material, die den rechten Arm frei ließen und der römischen Toga nicht unähnlich waren, schützten ihre Schultern vor der Sonne. Ihre Gesichter drückten Gutmütigkeit und Heiterkeit aus, und es war wohl zu verstehen, daß in früheren Jahren viele unserer Matrosen mit diesen Mädchen, die alle liebenswerten Eigenschaften ihres Geschlechtes aufwiesen, Freundschaft geschlossen hatten. Herr Bligh hatte Weisung gegeben, die Indios mit größter Freundlichkeit zu behandeln, sie aber sorgfältig zu überwachen, um Diebstähle zu verhindern, denen die Geringeren unter ihnen nicht abgeneigt seien. Als die Morgenbrise auffrischte und wir uns anschickten, in die Bucht einzufahren, wurde der Lärm auf dem Schiffe ohrenbetäubend. Mindestens hundert Männer und etwa fünfundzwanzig Frauen liefen auf Deck umher, schrien, lachten, gestikulierten und sprachen in so angeregter Weise auf unsere Leute ein, als hielten sie es für selbstverständlich, daß wir ihr Kauderwelsch verstünden.
Die Seeleute fanden den weiblichen Teil unserer Besucher so anziehend, daß sie nur mit Mühe bei ihrer Arbeit zu halten waren. Wenig später passierten wir die enge Durchfahrt zwischen Kap Venus und den Klippen, an denen das Schiff des Kapitäns Wallis beinahe zerschellt wäre. Um neun Uhr vormittags warfen wir in der Bucht von Matavai Anker. Immer neue Scharen von Besuchern näherten sich uns in ihren Kanus, aber zunächst kam keine Persönlichkeit von Bedeutung an Bord. Ich schäkerte gerade mit einigen Mädchen, denen ich kleine Geschenke gemacht hatte, als Herr Bligh mir sagen ließ, daß er mich in seiner Kajüte zu sprechen wünsche. Dort traf ich den Kapitän allein an. »Hören Sie, Herr Byam«, sagte er, indem er mich aufforderte, auf seiner Truhe Platz zu nehmen. »Ich möchte mit Ihnen sprechen. Wir werden wahrscheinlich einige Monate hier verweilen, während Herr Nelson die Brotfruchtschößlinge einsammelt. Ich beurlaube Sie von Ihrem Dienst an Bord, so daß Sie über genügend Zeit verfügen, um den Wünschen meines würdigen Freundes Sir Joseph Banks zu entsprechen. Ich habe der Angelegenheit einige Überlegung geschenkt und glaube, daß Sie Ihre Aufgabe am besten erfüllen werden, wenn Sie auf der Insel unter den Eingeborenen leben. Alles hängt von Ihrer Wahl eines Taio oder Gastfreundes ab, und ich rate Ihnen, nichts zu übereilen. Leute von Rang sind in Tahiti ebenso wie anderswo zurückhaltend, und wenn Sie den Fehler begehen, unter den Angehörigen der unteren Klassen einen Gastfreund zu suchen, so wird Sie das in Ihrer Tätigkeit sehr hindern.« Er hielt inne, und ich sagte: »Ich glaube Sie zu verstehen, Sir.«
»Gut denn«, fuhr er fort. »Übereilen Sie nichts. Verbringen Sie während der nächsten Tage so viel Zeit an Land, wie Sie wünschen, und wenn Sie eine Familie gefunden haben, die Ihnen gefällt, so verständigen Sie mich davon, damit ich Erkundigungen über ihren Stand einholen kann. Sobald Sie sich für einen Taio entschlossen haben, können Sie Ihre Kiste und Ihr Schreibmaterial an Land bringen lassen. Von da an erwarte ich nicht mehr, Sie zu sehen, außer wenn Sie mir einmal wöchentlich Bericht über Ihre Fortschritte erstatten.« Er nickte mir kurz, aber freundlich zu; ich erhob mich und verabschiedete mich von ihm. Auf Deck winkte mich Herr Fryer, der Schiffer, zu sich heran. »Sie haben mit Herrn Bligh gesprochen?« fragte er; er hatte Mühe, sich in dem schrecklichen Lärm verständlich zu machen. »Der Kapitän teilte mir gestern abend mit, daß Sie während unseres Aufenthaltes in Tahiti vom Schiffsdienst befreit sind. Von den Eingeborenen haben Sie nichts zu befürchten. Gehen Sie an Land, wann immer Sie wünschen. Es steht Ihnen frei, aus Ihren eigenen Beständen den Inselbewohnern Geschenke zu machen, aber vergessen Sie nicht - Tauschhandel ist nicht erlaubt. Der Kapitän hat mit allen Tauschgeschäften Herrn Peckover betraut. Es ist Ihre Aufgabe, ein Wörterbuch der Eingeborenensprache anzulegen, wenn ich recht unterrichtet bin.« »Jawohl, Sir - auf Wunsch Sir Joseph Banks'.« »Ein anerkennenswertes Beginnen wirklich anerkennenswert! Eine gewisse Kenntnis der Landessprache wäre ohne Zweifel künftigen Befahrern dieses Meeres von großem Nutzen. Sie sind ein
glücklicher junger Mann, Herr Byarn! Wahrhaftig, ich beneide Sie!« In diesem Augenblick stieß ein Doppelkanu, das eine Ladung Schweine als Geschenk eines der einheimischen Häuptlinge gebracht hatte, vom Schiff ab. Ich war begierig, die Insel sogleich zu betreten. »Darf ich mit diesen Leuten fahren, wenn sie mich mitnehmen wollen?« fragte ich den Schiffer. »Gewiß, junger Freund, fort mit Ihnen! Rufen Sie die Leute an!« Ich sprang zum Schiffsrande und versuchte, durch lautes Rufen die Aufmerksamkeit eines Mannes in einem der Schiffe auf mich zu lenken, der es zu befehligen schien. Als mir dies gelungen war, zeigte ich zuerst auf mich, dann auf das Kanu und schließlich auf den nahen Strand. Er begriff sogleich, was ich wollte, und rief seinen Ruderern einen Befehl zu. Sie paddelten zurück, bis das hohe Ende eines der Kanus unmittelbar neben die Bounty zu stehen kam. Als ich über das Geländer in den hinteren Teil des Bootes sprang, blickten sich die Paddler um und bewillkommneten mich mit fröhlichem Geschrei. Der Kommandant des Bootes ließ ein Kommando ertönen, die Ruder tauchten gleichzeitig ins Wasser, und das Kanu bewegte sich auf das Land zu. Wir näherten uns in rascher Fahrt der Brandung, die gegen das aus schwarzem vulkanischem Sand bestehende Steilufer anschlug. Der Mann am hinteren Ende des anderen Kanus ergriff ein schweres Steuerruder, während gleichzeitig die Männer zu paddeln aufhörten und große Wellen unter uns dahinrollten. Eine große Schar Indios hatte sich am Strande versammelt, um unsere Ankunft zu erwarten. Plötzlich ließ der Mann an meiner Seite einen
lauten Kommandoruf ertönen und umklammerte den Griff seines Steuerruders mit aller Kraft. »A Hoe!« brüllte er. »Teie Te Are Rahi!« (Rudert! Hier ist die große Welle!) Ich erinnere mich dieser Worte, denn ich sollte sie in der Folge sehr häufig hören. Die Männer arbeiteten, laut schreiend, aus Leibeskräften; das Kanu schoß dahin, und eine Woge, die größer war als alle vorhergehenden, hob das Boot hoch in die Luft und warf es dann an den Strand, wo helfende Hände es festhielten. Ich sprang aus dem Fahrzeug, während das Doppelkanu unter lautem Schreien und Gelächter vollends an Land gezogen und in einem strohgedeckten Schuppen untergebracht wurde. Im nächsten Augenblick befand ich mich in einem so dichten Gedränge, daß ich kaum atmen konnte. Aber die Menschenmenge war so gutmütig und höflich, wie keine Menschenansammlung in England sein könnte; jeder einzelne schien ein besonderes Vergnügen darin zu finden, mich auf das herzlichste zu begrüßen. Das Getöse war betäubend, denn alle sprachen und schrien gleichzeitig. Kleine Kinder mit dunklen, glänzenden Augen klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter und starrten mich furchtsam an, während ihre Eltern auf mich losstürmten, um mir die Hand zu reichen, eine Begrüßungsart, die, wie ich mit einigem Erstaunen hörte, in Tahiti seit undenklichen Zeiten gebräuchlich ist. Dann verstummte das Stimmengewirr mit einem Male. Die Leute traten ehrerbietig zurück, um einem Mann mittleren Alters Platz zu machen, der sich mir mit natürlicher, würdevoller Sicherheit näherte. Ein Gemurmel pflanzte sich durch die Menschenmenge fort: »O Hitihiti!«
Der Neuankömmling war im Gegensatz zu den meisten anderen Eingeborenen, die kurze Bärte trugen, glatt rasiert. Sein dichtes, leicht angegrautes Haupthaar war kurz geschnitten; sein Rock und sein Schultertuch waren von feinster Arbeit und untadelig rein. Er maß sicherlich weit über sechs Fuß, seine Hautfarbe war heller als die seiner Landsleute, und sein Körperbau war von wunderbarem Ebenmaß; sein Antlitz, offen, fest und fröhlich, zog mich sogleich an. Dieser Edelmann - denn ich erkannte auf den ersten Blick, daß er einem anderen Stande als die übrigen angehörte näherte sich mir mit Würde, ergriff herzlich meine Hand und näherte sodann, während er seine Hände auf meine Schultern legte, seine Nase meiner Wange; hierbei beschnüffelte er mich sorgfältig mehrere Male. Im ersten Augenblick war ich von der Neuartigkeit dieser Begrüßung überrascht, aber dann fiel mir ein, daß es sich um das »Nasen-Aneinanderreiben« handelte, von dem Kapitän Cook spricht, wenn es auch in Wirklichkeit eher ein Beriechen der Wangen war, das unserem Kuß entspricht. Endlich ließ mich mein neuer Freund los und trat unter dem beifälligen Gemurmel der Menge einen Schritt zurück. Sodann zeigte er auf seine breite Brust und sprach in englischer Sprache: »Ich Hitihiti! Du Kadett! Welcher Name?« Über diese Worte in meiner Muttersprache war ich so verblüfft, daß ich ihn einen Augenblick lang anstarrte, ehe ich antwortete. Die Leute ringsumher hatten offenbar auf den Eindruck gewartet, den die wunderbare Leistung ihres Landsmannes auf mich hervorrufen würde, und mein Erstaunen schien eben das zu sein, was sie erhofft hatten. Auf allen Seiten ertönten Ausrufe der Befriedigung, und Hitihiti, der nunmehr mit sich und mit
mir vollkommen zufrieden war, wiederholte seine Frage: »Welcher Name?« »Byam«, entgegnete ich; er wiederholte mit heftigem Nicken: »Byam! Byam!« Und ringsumher echote es: »Byam, Byam, Byam!« Hitihiti wies wiederum auf seine Brust. »Vierzehn Jahre jetzt«, sprach er stolz, »ich fuhr mit Kapitän Cook!« »Tuté! Tuté!« rief ein in der Nähe stehender alter Mann, der offenbar fürchtete, ich könnte die Worte des Häuptlings nicht verstehen. »Könnte ich einen Schluck Wasser haben?« fragte ich, denn seit langem hatte ich kein anderes Wasser gekostet als das scheußliche Naß, das es auf dem Schiffe gab. Hitihiti ergriff meine Hand. Er rief den Umstehenden einen Befehl zu, und sogleich machten sich einige Knaben und junge Männer auf den Weg. Dann führte mich Hitihiti einige Schritte steil bergauf zu einem rohgezimmerten Schuppen, in dem einige junge Frauen sogleich eine Matte ausbreiteten. Wir setzten uns Seite an Seite nieder, und die Volksmenge, die ununterbrochen größer wurde, nahm auf dem Grasboden rings um den Schuppen Platz. Ein bis zum Rande mit klarem, frischem Wasser aus dem nahen Bach gefülltes Gefäß wurde mir gebracht; ich trank und trank, bis das Gefäß halb leer war. Als nächstes Getränk brachte man mir eine junge Kokosnuß, und ich kostete zum erstenmal den kühlen, süßen Wein der Südsee. Sodann wurde ein großes Blatt ausgebreitet, auf welches Jünglinge reife Bananen sowie einige andere Früchte, die ich noch nie gesehen hatte, vor mich hinlegten. Während ich mich an diesen Leckerbissen erlabte, hörte ich, wie sich ein Ruf durch die Menge fortpflanzte, und sah, daß sich die Barkasse der Bounty mit Bligh an Bord durch
die Brandung hindurcharbeitete. Mein Gastgeber sprang auf. »O Parai!« rief er aus, und als wir auf die Landung des Bootes warteten, fügte er hinzu: »Du mein Taio, wie?« Hitihiti begrüßte als erster den Kapitän, den er gut zu kennen schien, und auch Bligh erkannte meinen Gastfreund sogleich. »Hitihiti«, sagte er, die Hand des Indios schüttelnd, »du bist kaum älter geworden, mein Freund, wenn du auch jetzt einige graue Haare hast.« Hitihiti lachte. »Zehn Jahre, wie? Große, lange Zeit! Parai, du dick geworden!« Nun war die Reihe zu lachen an dem Kapitän; sein Leibesumfang war in der Tat nicht gering. »Komm«, fuhr der Häuptling einladend fort. »Iß viel Schwein! Wo Kapitän Cook? Er kommt Tahiti bald?« »Mein Vater?« Hitihiti blickte Bligh erstaunt an. »Kapitän Cook dein Vater?« fragte er. »Gewiß - wußtest du das nicht?« Einen Augenblick stand Hitihiti in stummem Erstaunen da; dann gebot er der Volksmenge mit einer Handbewegung Schweigen und hielt eine Ansprache an sie. Seine Worte waren für mich unverständlich, aber ich erkannte sogleich, daß Hitihiti ein gewandter Redner war, und begriff auch, daß er den Leuten sagte, Bligh sei der Sohn Kapitän Cooks. »Ich habe der ganzen Mannschaft Befehl gegeben, die Indios nicht wissen zu lassen, daß Kapitän Cook tot ist«, flüsterte mir Herr Bligh zu, »und ich glaube, daß wir rascher zum Ziele kommen, wenn sie mich für seinen Sohn halten.«
Diese Täuschung wollte mir anfangs nicht recht gefallen, aber in Anbetracht des Ansehens, dessen sich der Name Cook erfreute, hatte Bligh mit diesem Manöver vermutlich recht. Als Hitihiti seine Ansprache beendet hatte, erhob sich aufs neue ein erregter Wortschwall unter den Inselbewohnern, die Bligh mit erneutem Interesse, in das sich Furcht zu mischen schien, anblickten. In ihren Augen war der Sohn Kapitän Cooks kaum weniger als ein Gott. Ich benutzte die Gelegenheit, um Kapitän Bligh davon zu unterrichten, daß Hitihiti mich aufgefordert habe, sein Taio zu werden. »Vortrefflich«, stimmte der Kapitän zu. »Er ist ein Mann von großem Einfluß in diesem Teile der Insel und mit allen Familien von Rang nahe verwandt. Auch werden Ihnen die Kenntnisse der englischen Sprache, die er an Bord der Resolution erwarb, bei Ihrer Arbeit von großem Nutzen sein.« Er wandte sich dem Häuptling zu. »Hitihiti!« »Ich höre, Parai.« »Herr Byam teilt mir mit, daß du und er Freunde sein werden.« Hitihiti nickte. »Ich, Byam - Taio!« »Gut!« sprach Bligh. »Herr Byam ist selbst der Sohn eines Häuptlings. Er hat Geschenke für dich, und ich ersuche dich, ihn in deinem Hause aufzunehmen. Seine Arbeit während unseres Aufenthaltes in Tahiti besteht darin, eure Sprache zu erlernen, so daß die britischen Seeleute sich mit deinen Landsleuten unterhalten können.« Hitihiti streckte mir seine riesige Hand entgegen. »Taio?« bemerkte er lächelnd, und wir besiegelten die Abmachung mit einem Händedruck.
Bald darauf wurde ein Kanu entsandt, um meine Habseligkeiten vom Schiff zu holen, und schon in dieser Nacht schlief ich im Hause meines neuen Freundes, Hitihiti-Te-Atua-Iri-Hau, des Häuptlings von Mahina und Ahonu, des erblichen Hohenpriesters des Tempels von Fareroi.
6
Ich erinnere mich noch lebhaft des Spazierganges zu Hitihitis Haus, den ich an jenem Nachmittag machte, von der Landungsstelle zum Kap Venus, dann nach Osten, längs eines halbkreisförmigen Sandstrandes, gegen den das Meer in hohen Wellen schäumte. Das Haus meines Taio lag an einer begrasten Stelle und war von den Wogen der See durch ein Korallenriff geschützt, das sich an einer Stelle zu einem schönen, kleinen, Motu Au genannten Inselchen ausweitete. Der Strand dieser kleinen Insel bestand aus schneeweißem Korallensand, der sich lebhaft von dem satten, dunklen Grün der hohen Bäume abhob. Zwischen unserem Strand und der Insel lag die Lagune - warmes, blaues Wasser, klar wie die Luft. Wir wandelten unausgesetzt im Schatten, inmitten von Hainen aus Brotfruchtbäumen, die gerade zu reifen begannen. Manche dieser Bäume mußten, ihrer Höhe und ihrem Umfang nach zu schließen, von ungeheurem Alter sein. Mit ihren großen, glänzenden Blättern, ihrer glatten Rinde und ihrer majestätischen Form gehören sie zu den edelsten Bäumen, die es gibt, und sicherlich auch zu den nützlichsten. Hier und dort ragten die schlanken Stämme alter Kokosnußpalmen hoch in die Luft; malerisch, anscheinend planlos lagen die Häuser der Indios inmitten der Haine zerstreut, mit gelben Palmenblättern gedeckt und von Bambuszäunen umgeben. Mein Gastgeber hatte, obgleich er erst fünfundvierzig Jahre alt war, zahlreiche Enkelkinder, und als wir etwa nach einer halben Stunde sein Haus erreichten, hörte ich freudiges Geschrei und sah ein Dutzend kräftiger Kinder
herausstürmen, um ihn zu begrüßen. Sie blieben stehen, als sie mich sahen, verloren aber bald ihre Angst und fingen an, an Hitihitis Beinen emporzuklettern und, neugierig wie Äffchen, meine seltsame Gewandung zu betrachten. Als wir das Tor erreichten, hatte der Häuptling einen kleinen Knaben auf jeder Schulter, und seine älteste Enkelin führte mich an der Hand. Das Haus machte einen stattlichen Eindruck, es war sechzig Fuß lang, vierzig Fuß breit und hatte ein hohes, frisch gedecktes Dach. Solche Häuser wurden nur für die Häuptlinge gebaut. Die Schmalseiten, überragt von Säulen aus altem poliertem Kokosnußholz, waren offen, während die Breitseiten mit vertikalen Bambusstäben versehen waren, durch welche die Luft freien Zutritt hatte. Der Fußboden war mit frischem weißem Korallensand bedeckt und an einem Ende mit Matten belegt, unter die man eine dicke Lage angenehm riechendes Gras gebreitet hatte. Möbel waren kaum vorhanden; es gab nur kleine, mit vier Beinen versehene Holzgestelle auf dem Familienbette, welche als Stütze für den Kopf dienten; ferner zwei oder drei nur von dem Häuptling und seinen Gästen benutzte, aus einem einzigen Stück harten roten Holzes geschnitzte Stühle. Einige Waffen, unter denen sich die mächtige Kriegskeule meines Gastgebers befand, hingen an einer Säule und vervollständigten die Einrichtung. Hitihitis Tochter, die Mutter der beiden jüngsten Kinder, die uns begleitet hatten, empfing uns beim Tor. Sie war eine fünfundzwanzigjährige Frau von stattlicher Gestalt und edler Haltung; sie hatte die goldgelbe Haut und das rötlichblonde Haar, das unter diesen Menschen nicht selten zu finden ist. Die blonden Indios werden Ehu genannt; ich habe Männer und Frauen dieser Art gesehen,
die, obgleich sie kein europäisches Blut in den Adern trugen, blaue Augen hatten. Der Hausherr lächelte zuerst seine Tochter und dann mich an. »O Hina«, stellte er sie mir vor. Er sprach etwas zu ihr, von dem ich das Wort Taio und meinen Namen verstand. Hina trat mit einem ernsten Lächeln vor, schüttelte mir die Hand und faßte mich sodann bei der Schulter, um ihre Nase an meine Wange zu legen, wie ihr Vater es getan hatte. Ich gab diesen landesüblichen Kuß zurück und roch zum erstenmal den Duft des parfümierten Kokosnußöles, mit dem sich die Frauen von Tahiti salben. Es gibt vielleicht keine Frauen der Welt - die größten Modedamen Europas nicht ausgenommen -, die auf die Pflege ihres Körpers mehr Sorgfalt verwenden als die Frauen der oberen Klassen in Tahiti. Jeden Morgen und jeden Abend baden sie in einem der zahllosen klaren, kühlen Flüsse, und zwar tauchen sie nicht nur hinein und wieder heraus, sondern bleiben längere Zeit darin, um sich von ihren Dienerinnen mit einem porösen, vulkanischen Stein von Kopf bis Fuß abreiben zu lassen. Dann reiben ihre Dienerinnen sie mit Monoi ein, das ist mit den Staubblättern der Gardenia parfümiertes Kokosnußöl. Ihr Haar wird sodann getrocknet und geordnet, eine Arbeit, die zumindest eine Stunde in Anspruch nimmt; ihre Augenbrauen werden in einem Spiegel, der aus einer geschwärzten, mit Wasser gefüllten Kokosnußschale besteht, untersucht und mit einem Haifischzahn rasiert, um den schmalen Bogen zu erzielen, den die Mode vorschreibt. Dann bringt eine Dienerin zerkleinerte Holzkohle, mit der die Zähne geputzt werden. Erst nach dieser Körperpflege sind sie bereit, angekleidet zu werden; der Rock oder Pareu, der von den Hüften bis zu den Knien reicht und aus schneeweißem Rindenstoff
besteht, wird so gelegt, daß jede einzelne Falte eine bestimmte Lage einnimmt. Endlich kommt der Umhang, der den Oberkörper vor den Sonnenstrahlen schützt, welch letztere die Damen von Tahiti geradeso fürchten wie die Damen vom englischen Hofe. Hinas Umgangsformen waren ebenso edel wie ihre äußere Erscheinung. Sie hatte die heitere Würde und die vollkommene Sicherheit, die nur in den höchsten Kreisen unserer eigenen Rasse zu finden sind, eine Weltgewandtheit, die sie weder aufdringlich noch schüchtern erscheinen ließ. Und vielleicht ist hier der rechte Platz, ein Wort zugunsten der Damen von Tahiti zu sagen, die so oft und so schamlos von den fremden Besuchern jenes Himmelsstriches verleumdet worden sind. Nur Kapitän Cook, der sie am besten kannte und ihr aufrichtiger Freund war, hat ihnen Gerechtigkeit zuteil werden lassen, indem er sagte, daß unter ihnen die Tugend ebenso verbreitet und ebenso hoch gepriesen sei wie unter den Frauen unserer Heimat; sie nach den Frauen zu beurteilen, die unsere Schiffe besuchen, sei, fügte Kapitän Cook hinzu, ebenso sinnlos, als wenn man die Tugend der Engländerinnen nach den gefälligen Mädchen in den Hafenstädten beurteilen würde. In Tahiti wie in anderen Ländern gibt es Frauen, die dem Laster verfallen sind, aber nach meinen Erfahrungen gibt es dort ebenso viele treue Ehefrauen und zärtliche Mütter wie anderswo, und viele von ihnen machen ihrem Geschlecht wahrhaft Ehre. Das Haus, das für viele Monate mein Heim werden sollte, stand, wie ich bereits erzählt habe, auf einer begrasten Stelle, etwa eine Meile östlich von Kap Venus. Entweder zufällig oder mit Absicht war die Lage des Hauses eine solche, daß sich nach allen Seiten Ausblicke boten, die
einen Landschaftsmaler in Entzücken versetzt hätten. Gegen Norden sah man den Strand, die Lagune und die schon erwähnte kleine Insel; im Süden das weite Tal von Vaipoopoo und in der Ferne den Orohena mit seinen Schluchten und Felsabstürzen; gegen Westen lag Kap Venus, wo sich die See an dem schützenden Riff bricht; und im Osten, gegen Sonnenaufgang, bot sich eine wunderbare Aussicht auf die felsige, ungeschützte Küste, wo die Wogen des Stillen Ozeans gegen die nackten schwarzen Klippen schäumten und donnernd anstürmten. Zweifellos hatte die Schönheit des östlichen Ausblicks der Stelle den Namen gegeben; sie hieß Hitimahana - die aufgehende Sonne. Eine kleine Schar von Anhängern Hitihitis sammelte sich um uns und betrachtete den Gastfreund ihres Häuptlings mit respektvoller Neugierde. Während Hina den Köchen einige Aufträge erteilte, trat ein ungewöhnlich schönes Mädchen aus dem Hause und begrüßte mich auf die gleiche Art wie die Tochter meines Taio. Ihr Name war Maimiti, und sie war eine Nichte des Hausherrn - ein stolzes, schüchternes Mädchen im Alter von etwa siebzehn Jahren. Hitihiti führte mich in sein Speisegemach - eine Hütte, die im Schatten einer Gruppe von Eisenholzbäumen etwa hundert Meter von dem Haupthause entfernt stand. Der Fußboden war mit Matten belegt, auf denen ein Dutzend frische Platanenblätter als Tischtuch dienten. Die Männer von Tahiti verbringen ihre Zeit außerordentlich gerne in Gesellschaft ihrer Frauen, deren Rang in der Gesellschaft zumindest ebenso hoch ist wie bei uns. Die Frauen werden mit Zärtlichkeiten überhäuft, man macht ihnen den Hof, und an schweren Arbeiten brauchen sie nicht teilzunehmen. Auch verfügen sie über soviel Freiheit wie
bei uns die großen Damen. Trotz alledem glauben die Indios, daß der Mann vom Himmel abstammt, die Frau aber von der Erde: Mann Raa oder heilig, Weib Noa oder gewöhnlich. Es war den Frauen nicht erlaubt, die Tempel der bedeutenderen Götter zu betreten, und in allen Gesellschaftsschichten war es verboten - ja sogar undenkbar -, daß Angehörige der beiden Geschlechter gemeinsam eine Mahlzeit einnahmen. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß Hitihiti sich mit mir allein zum Essen niedersetzte und daß die Frauen die Speisen weder bereiten noch auftragen durften. Wir nahmen einander gegenüber an dem grünen Tischtuch Platz. Eine angenehme Brise durchwehte das Haus ohne Wände, und die Melodie der Brandung klang aus der Entfernung unablässig an unser Ohr. Ein Diener brachte zwei mit Wasser gefüllte Kokosnußschalen, und wir wuschen unsere Hände und spülten unseren Mund aus. Ich verspürte starken Hunger, der durch den appetitlichen Geruch des gebratenen Schweinefleisches, der aus dem nahen Kochhause herüberdrang, noch erhöht wurde. Es gab gebackenen Fisch mit gekochtem Pisang und Bananen; frisches Schweinefleisch mit verschiedenen Gemüsen, die ich vorher niemals gekostet hatte; und als Abschluß einen großen Pudding, der mit einer Sauce aus dicker, süßer Kokosnußcreme angerichtet wurde. Der Appetit der Kadetten ist sprichwörtlich, und ich war lange Monate auf See gewesen; aber obgleich ich mein Bestes tat, um die Ehre Englands zu retten, und für dreie aß, besiegte mich mein Gastgeber in diesem edlen Wettstreite mit Leichtigkeit. Lange nachdem ich so satt war, daß ich nicht weiteressen konnte, setzte Hitihiti sein Mahl fort; die Mengen von Fisch, Schweinefleisch,
Gemüse und Pudding, die er verzehrte, kann ich nur als märchenhaft bezeichnen. Endlich seufzte er befriedigt und verlangte Wasser zum Händewaschen. »Erst essen - jetzt schlafen«, sagte er, während er sich erhob. Am Strande wurde unter einem alten, breitästigen Paraubaume eine Matte für uns ausgebreitet. Wir legten uns Seite an Seite zur Ruhe nieder, die in Tahiti dem Mittagsmahle stets folgte. Dies war für mich der Beginn eines Lebensabschnittes, auf den ich mit ungetrübtem Vergnügen zurückblicke. Ich hatte gar keine Sorgen, es sei denn die Anlegung meines Wörterbuches, die ich mit größtem Eifer betrieb und die mir genügend Beschäftigung bot, um mich vor Langeweile zu schützen. Ich lebte herrlich und in Freuden, umgeben von Menschen, die mir von Herzen zugetan waren, und inmitten einer Landschaft von vollkommener Schönheit. Wir erhoben uns bei Sonnenaufgang, tauchten in den Fluß, der einen Büchsenschuß weit entfernt war, verzehrten ein leichtes, aus Früchten bestehendes Frühstück und gingen unseren Beschäftigungen nach, bis gegen elf oder zwölf Uhr die Kanus vom Fischfang zurückkehrten. Dann nahm ich, während das Mittagessen zubereitet wurde, ein Bad im Meere; ich schwamm zu dem Inselchen hinüber oder tummelte mich in der hohen Brandung. Nach dem Essen schlief der ganze Haushalt bis drei oder vier Uhr, worauf ich die Familie häufig bei Besuchen begleitete, die sie ihren Bekannten abstatteten. Nach Sonnenuntergang lagen wir bei Kerzenschimmer auf unseren Matten und unterhielten uns oder erzählten Geschichten, bis einer nach dem anderen in Schlummer versank. Während der Reise hatte ich Dr. Johnsons Wörterbuch durchgearbeitet und die Ausdrücke angemerkt, die mir
als im täglichen Gebrauch am häufigsten vorkommend erschienen. Ich ordnete sie - etwa siebentausend an der Zahl - in alphabetischer Reihenfolge, und nun war es meine Aufgabe, die entsprechenden Wörter in der Sprache von Tahiti zu finden. Ich habe die Sprache immer geliebt; ihr Studium war eine der wichtigsten Interessen meines Lebens, und als ich noch jünger war, konnte ich mir eine neue Sprache vielleicht rascher aneignen als die meisten anderen Menschen. Wenn ich überhaupt mit einem Talent gesegnet bin, so ist es die bescheidene Begabung für fremde Sprachen. Die Sprache von Tahiti gefiel mir alsogleich, und mit Hilfe meines Taio, seiner Tochter und der jungen Maimiti machte ich rasche Fortschritte und war bald imstande, einfache Fragen zu stellen und die Antworten darauf zu verstehen. Es ist eine seltsame und sehr schöne Sprache. Gleich dem Griechischen des Homer ist sie reich an Wörtern, welche die wechselnden Stimmungen der Natur und der Menschenseele beschreiben; und, wiederum gleich dem Griechischen, besitzt sie in mancher Hinsicht eine Genauigkeit, die meiner Muttersprache mangelt. Eine Flasche zerbrechen heißt parari; einen Knochen zerbrechen hingegen fati. Die Indios unterscheiden mit großer Feinheit zwischen den verschiedenen Arten der Furcht; die Furcht vor Schelten und Beschämung heißt Matau; die Furcht vor einem Haifisch oder Mörder Riaria; die Furcht vor einem Gespenst muß wiederum durch ein anderes Wort ausgedrückt werden. Die Leute von Tahiti haben unzählige Eigenschaftswörter, um die wechselnden Stimmungen des Meeres und des Himmels zu bezeichnen. Auch kennen sie verschiedene Ausdrücke für den Blick, mit dem ein Mann und ein Mädchen ein Stelldichein
vereinbaren, und für den Blick, den sich zwei Männer zuwerfen, welche einen dritten umbringen wollen. Die Sprache ihrer Augen ist in der Tat so beredt, daß sie kaum des gesprochenen Wortes bedürfen. Ich glaube, mit Recht sagen zu dürfen, daß ich der erste Weiße war, der die Sprache von Tahiti fließend zu sprechen verstand, und auch der erste, der den Versuch machte, sie im geschriebenen Worte festzuhalten. Da meine Arbeit dem Gebrauch der Seeleute dienen sollte, verzichtete ich auf akademische Vollkommenheiten und erfand ein ganz einfaches Alphabet von dreizehn Buchstaben, fünf Vokalen und acht Konsonanten, mit dessen Hilfe der Klang der Sprache leidlich gut wiedergegeben werden konnte. Hitihiti beherrschte die Sprache der Insel so, wie nur ein Häuptling es vermochte, denn die unteren Volksschichten verfügten nur über einen Sprachschatz von einigen hundert Wörtern. Er zeigte lebhaftes Interesse für meine Arbeit und war mir von unschätzbarem Nutzen, obgleich ihn, wie alle seine Landsleute, geistige Anstrengung nach ein oder zwei Stunden zu ermüden begann. Ich überwand die Schwierigkeit, indem ich von Hitihiti die Wörter erlernte, die sich auf Krieg, Religion, Schifffahrt, Fischerei, Landwirtschaft und andere männliche Beschäftigungen bezogen, während ich mir mit Hilfe von Hina und Maimiti einen Sprachschatz aneignete, der auf weiblicher Tätigkeit und den Zerstreuungen der Frauen fußte. Ich öffnete meine Kiste am Tage meiner Ankunft bei Hitihiti und machte meinem Gastgeber die Gegenstände zum Geschenk, die, wie ich annahm, ihm und den Damen die meiste Freude bereiteten. Dies war gleichsam die Besiegelung unserer Freundschaft, aber wenn meine
Feilen, Angelhaken, Scheren und Schmuckgegenstände auch dankbar gewürdigt wurden, so erkannte ich doch zu meiner Befriedigung mehr und mehr, daß die Freundschaft eines Mannes wie Hitihiti nicht käuflich ist. Er, seine Tochter und seine Nichte hatten mich, wie ich glaube, wirklich gerne, und sie zeigten ihre Zuneigung in unverkennbarer Weise. Ich muß mit meiner Feder und Tinte und meinen endlosen Fragen eine arge Last für sie gewesen sein, aber ihre Geduld und gute Laune waren unerschöpflich. Zuweilen rang Maimiti in gespielter Verzweiflung die Hände und rief lachend: »Lasse mich in Frieden! Ich kann nicht mehr denken«; oder der alte Häuptling sagte etwa, nachdem er meine Fragen eine Stunde lang geduldig beantwortet hatte: »Komm, wir wollen schlafen, Byam! Gib acht, oder du wirst deinen Kopf und den meinen durch zu vieles Denken zerbrechen!« Aber am nächsten Morgen waren sie immer wieder bereit, mir zu helfen. Jeden Sonntag sammelte ich meine Aufzeichnungen und meldete mich an Bord der Bounty bei Herrn Bligh. Ich muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er alles, was er in Angriff nahm, gründlich tat. Er brachte meiner Arbeit das größte Interesse entgegen und verabsäumte nie, die Liste der Wörter, die ich während der Woche zusammengestellt hatte, mit mir durchzugehen. Hätte sein Charakter in anderer Hinsicht seinem Mut, seiner Tatkraft und seinem Verständnis entsprochen, so hätte Bligh wohl seinen bleibenden Platz unter den großen englischen Seeleuten gefunden. Kurz nach der Ankunft der Bounty hatte Herr Bligh angeordnet, daß ein großes Zelt in der Nähe der Landungsstelle aufgeschlagen werde; Nelson und sein Gehilfe, ein junger Gärtner namens Brown, hatten sich
dort mit sieben Mann, die sie beim Einsammeln und Umsetzen der Brotfruchtpflanzen unterstützten, häuslich niedergelassen. Der Brotfruchtbaum pflanzt sich nicht durch Samen fort. Herr Nelson teilte mir mit, daß seiner Ansicht nach die Brotfrucht seit undenklichen Zeiten angebaut und veredelt worden sei, bis endlich — genauso wie bei der Banane — der Samen vollkommen verkümmert sei. Der Baum scheint am besten zu gedeihen, wenn er vom Menschen in der Nachbarschaft seiner Wohnstätte gepflegt wird. Wenn der Brotfruchtbaum seine volle Höhe erreicht hat, sendet er ein bis zwei Fuß unter dem Boden seitliche Wurzeln von großer Länge aus. Wünscht nun ein Eingeborener an einer anderen Stelle einen jungen Baum anzupflanzen, so braucht er nur wenig zu graben und eine der Wurzeln abzuschneiden, die sogleich einen kräftigen jungen Setzling emportreibt. Sobald der Setzling Mannshöhe erreicht hat, kann er in andere Erde verpflanzt werden; wenn der neue Boden geeignet ist und von Zeit zu Zeit gewässert wird, so wird von hundert jungen Bäumen nicht ein einziger eingehen. Nelson unternahm jeden Tag lange Wanderungen, um die Gegenden von Mahina und Pare nach geeigneten Setzlingen zu durchstreifen. Die Häuptlinge hatten ihren Untertanen befohlen, Nelson alles zu geben, dessen er bedürfe, als Gegengeschenk an König Georg für die Geschenke, welche die Bounty aus England gebracht hatte. Die Leute der Bounty, die an Bord blieben, schienen im Augenblick die übermäßige Strenge ihres Kapitäns und die Entbehrungen der langen Seereise vergessen zu haben. Die Manneszucht war gelockert; die Leute durften häufig an Land gehen; und mit Ausnahme des Arztes hatte jeder
von ihnen seinen Taio und fast jeder sein eingeborenes Mädchen. Tahiti war in jenen Tagen ein wirkliches Paradies für den Seemann — eine der reichsten Inseln der Welt, mit mildem und gesundem Klima, mit einem Überfluß an den verschiedensten köstlichsten Nahrungsmitteln und bewohnt von sanften und gastfreundlichen Menschen. Der niedrigste Matrose im Vorschiff durfte jedes Haus an Land betreten und eines herzlichen Willkommens gewiß sein. Und was die Möglichkeiten jener Zerstreuung anbetraf, nach denen in allen Häfen den Seeleuten der Sinn steht, so konnte die Insel mit Recht als ein mohammedanisches Paradies bezeichnet werden. Als ich etwa einen halben Monat im Hause meines Taio zugebracht hatte, wurde mir eines Morgens die angenehme Überraschung eines Besuches einiger meiner Schiffskameraden zuteil, die in einem Doppelkanu von der Bucht von Matavai herübergerudert kamen. Das Boot wurde von einem ganzen Dutzend Indios vorwärts bewegt, hinter denen drei weiße Männer saßen. Mein Gastgeber war an jenem Tage an Bord der Bounty, um dort mit Bligh zu speisen; Hina, Maimiti und Hinas Gatte, ein junger Häuptling namens Tuatau, standen am Ufer, als das Boot sich näherte. Bald erkannte ich, daß die drei weißen Männer Christian, Peckover und Vater Bacchus waren. Der Wundarzt stieg als erster an Land und hinkte auf mich zu, um mich zu begrüßen, wobei sein Stelzfuß tief in den Sand einsank. Ich war nur mit einem Lendenschurz aus einheimischem Stoff bekleidet, und meine Schultern waren von der Sonne ganz braun gebrannt.
»Höre, Byam«, rief Bacchus, als er mir die Hand schüttelte, »der Teufel soll mich holen, wenn ich dich nicht zuerst für einen Indio gehalten habe! Es wurde langsam doch Zeit, einmal an Land zu gehen, fand ich, und da konnte ich wohl nichts Besseres tun, als dir einen Besuch abzustatten, mein Junge! Zur Vorsicht habe ich jedenfalls ein Dutzend Flaschen Teneriffawein abfüllen lassen.« Er wandte sich dem Konstabler zu, der noch bei dem Boote stand. »Heda, Peckover«, rief er besorgt, »sag den Kerls, sie sollen auf den Korb aufpassen; wenn eine einzige der Flaschen zerbrochen wird, müssen sie nochmals zum Schiff zurückfahren.« Christian schüttelte mir mit einem verständnisvollen Lächeln über die beiden Zechkumpane die Hand, und wir warteten, bis der große, mit Weinflaschen angefüllte Tragkorb unversehrt an Land gebracht worden war. Sodann stellte ich die Männer meinen eingeborenen Bekannten vor. Hina und ihr Gatte führten uns zum Hause; Maimiti ging mit Christian und mir. Christian hatte mir vom ersten Augenblick an gefallen, aber jetzt in Tahiti lernte ich ihn erst so recht kennen. Er war ein stattlicher, kraftvoller Mann, und öfter als einmal bemerkte ich während des kurzen Weges zum Hause, daß die junge Maimiti ihm von der Seite her einen schüchternen Blick zuwarf. Als wir es uns auf Hitihitis kühler Veranda bequem gemacht hatten, winkte Vater Bacchus den Leuten, den Korb mit den Weinflaschen niederzustellen. Infolge der Anstrengung des Spaziergangs noch immer schwer atmend, nahm er eine kräftige Prise; nachdem er heftig geniest und sich mit einem riesigen Taschentuch geräuschvoll geschneuzt hatte, griff er in seine Rocktasche und zog einen Korkzieher hervor.
Während er und Peckover noch tapfer dem Weine zusprachen und Tuatau sich eifrig an dem Gelage beteiligte, spazierten Christian, Maimiti, Hina und ich zum Strande; die Vorbereitungen für das Mittagessen wurden Hitihitis zahlreichen Köchen überlassen. Der Morgen war warm und ruhig, und wir waren froh, im Schatten der hohen Eisenholzbäume zu wandeln, die sich am Rande des Sandstrandes erhoben. Ein Flüßchen, kaum größer als ein englischer Bach, floß etwa eine Meile östlich vom Hause in das Meer und bildete kurz vor der Mündung einen klaren, tiefen Teich. Die Wipfel knorriger alter Baumriesen strebten über unseren Häuptern einander zu, so daß sie gleichsam ein Dach bildeten; die durch das dichte Blätterwerk sickernden Sonnenstrahlen malten wechselnde Muster von Licht und Schatten auf die unbewegte Wasserfläche. Die zwei Frauen zogen sich in das Gebüsch zurück, um bald darauf, nur mit einem leichten Rock um die Hüften bekleidet, wieder zu erscheinen. Keine Frau der Welt ist sittsamer als die Damen von Tahiti, aber sie entblößen ihren Busen ebenso unbefangen, wie eine Engländerin ihr Gesicht zeigt. Christian stand neben mir am Ufer, gleichfalls nur mit einem einheimischen Lendenschurz bekleidet; er blickte nunmehr zu den Frauen auf, und ein Gefühl der Bewunderung durchzuckte ihn. Zart und doch kräftig gebaut, in der ersten Blüte junger Weiblichkeit, ihr herrliches dunkles Haar gelöst - so bot Maimiti ein liebliches Bild. Einen Augenblick lang stand sie da, die Hand auf der Schulter Hinas, dann lief sie, ihren Rock zusammenraffend, mit zierlichen Bewegungen auf das Brett, das über dem tiefen Wasser schwebte. Nachdem sie sich eine Sekunde lang hoch über dem Teich im Gleichgewicht gehalten hatte, sprang sie
mit einem fröhlichen Schrei ins Wasser, um gleich darauf mit kurzen, leichten Schlägen auf dem Grunde des Teiches dahinzuschießen. Christian, ein ausgezeichneter Schwimmer, sprang mit dem Kopf voran ins Wasser; Hina folgte ihm. Über eine Stunde tummelten wir uns fröhlich in dem Teich. Wir schreckten Scharen von kleinen, gefleckten, forellenähnlichen Fischen aus ihrer Ruhe auf und ließen die kühle grüne Blätterwand über uns von hellem Gelächter widerklingen. Die Indios von Tahiti baden selten im Meere, außer wenn die Brandung sehr stürmisch ist. Zu solchen Zeiten finden die wagemutigeren Männer und Frauen ihr größtes Vergnügen in einem Spiele, das sie Horue nennen und das darin besteht, daß sie sich von leichten Brettern mit großer Geschwindigkeit über die weißen Schaumkämme der stürmischen See tragen lassen. Ihr tägliches Bad aber nehmen sie in den klaren, kühlen Flüssen, die überall von den Bergen herabströmen, und obgleich sie zweimal oder dreimal täglich baden, freuen sie sich auf das nächste Bad, als wäre es das erste seit einem Monat. Männer, Frauen und Kinder baden gemeinsam mit viel Lärm und Fröhlichkeit, denn dies ist die tägliche Stunde des geselligen Beisammenseins, wo man Bekannte trifft, der Geliebten den Hof macht und Klatsch und Neuigkeiten austauscht. Nach dem Bade ließen wir uns von der Sonne trocknen, während die Mädchen ihr Haar mit kunstvoll geschnitzten Bambuskämmen kämmten. Christian war ein Mann von Lebensart und keineswegs ein Wollüstling, wenn ihm auch Empfindung und Leidenschaft nicht fremd waren. Auf dem Heimweg blieb er mit der jungen Maimiti zurück, und als ich einmal zufällig den Kopf wandte, sah ich, daß die beiden Hand in Hand gingen. Sie
waren ein schönes Paar - der junge englische Seemann und das eingeborene Mädchen. Das gütige Schicksal, welches die Zukunft vor unserem Blick verhüllt, ließ mich nichts von dem erkennen, was diesen beiden bestimmt war, deren Los es sein sollte, Hand in Hand, so wie jetzt, eine lange Wanderung miteinander zu machen und ein tragisches Schicksal zu erdulden. Maimiti senkte die Augen, und eine leichte Röte färbte ihre hellolivenfarbenen Wangen; sanft wollte sie ihre Hand befreien, aber Christian hielt sie fest und lächelte mir zu. »Jeder Seemann muß ein Liebchen haben«, sagte er halb im Scherz, halb im Ernst, »ich habe das meine gefunden. Ich wette um mein Leben, daß es kein treueres Mädchen auf allen Inseln der Südsee gibt!« Hina lächelte ernsthaft und berührte meinen Arm, zum Zeichen, ich möge Christian in seiner Werbung nicht stören. Er hatte ihr auf den ersten Blick gefallen, und sie kannte seinen Rang an Bord. Und da Neuigkeiten jeder Art sich unter der Bevölkerung von Tahiti auf märchenhafte und beinahe unheimliche Art verbreiten, so wußte Hina auch schon, daß Christian keinen Umgang mit den Frauen, die das Schiff unsicher machten, gepflogen hatte.
7
Seit dem Tage, an dem Christian Maimiti zum erstenmal begegnet war, versäumte er keine Gelegenheit, uns zu besuchen. Zuweilen kam er bei Tag, zuweilen bei Nacht, wie es sein Dienst auf der Bounty gestattete. Die Eingeborenen, die kein Bedürfnis nach ununterbrochenem Schlaf haben, erhoben sich häufig während der Nacht und rüsteten oft um Mitternacht, wenn die Fischer vom Riff zurückkehrten, ein Mahl. Hitihiti weckte mich oft nur aus dem Bedürfnis heraus, sich zu unterhalten, oder wenn ihm plötzlich ein Wort einfiel, an das er während des Tages nicht gedacht hatte. Ich gewöhnte mich bald an diese Störungen meiner Nachtruhe und lernte, das während der Nacht Versäumte am Nachmittag nachzuholen. Die ganze Familie nahm ohne Widerspruch zur Kenntnis, daß Christian und Maimiti ein Liebespaar waren. Er kam selten ohne kleine Geschenke, und man sah seinen Besuchen mit freudiger Erwartung entgegen. Christian war ein Mann, der seine Launen hatte; auf dem Meere hatte ich ihn zuweilen wochenlang ernst, zurückhaltend, sogar grimmig gesehen. Dann pflegte er auf einmal aufzutauen, seine Sorgen von sich zu werfen und der heiterste Gefährte zu werden. Niemand verstand es besser, sich seinen Mitmenschen angenehm zu machen, als er, wenn er es wollte; seine Aufrichtigkeit, seine Bildung, die weit über die bei den Seeoffizieren seiner Zeit übliche hinausging, und der Reiz seines Wesens vereinten sich, um ihn bei Männern ebenso wie bei Frauen beliebt zu machen. Und infolge seines feurigen Wesens, seines stattlichen Aussehens und seines
wechselnden Gemütszustandes galt er außerdem bei den Frauen als ein romantischer Mann. Etwa sechs Wochen nach meiner Ankunft in Hidhitis Haus wurde ich eines Nachts nach heimischem Brauch durch eine Hand an meiner Schulter sanft geweckt. Im flackernden Kerzenschein sah ich Christian und Maimiti vor mir stehen. »Kommen Sie zum Strand, Byam«, sagte Christian; »man hat dort unten ein Feuer angezündet. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und folgte ihm zu der Stelle, wo ein helles Feuer brannte. Es war Neumond, und das Meer war so ruhig, daß das Brausen der Brandung sich in ein Flüstern verwandelt hatte. Rings um das Feuer waren Matten ausgebreitet, und Hitihitis Familie lag, sich leise unterhaltend, umher, während auf den glühenden Kohlen Fische geröstet wurden. Christian ließ sich nieder und legte den Arm um Maimitis Hüften, während ich an der Seite des Paares Platz nahm. Sogleich bemerkte ich, daß Christians fröhliche Laune der letzten Woche einem düsteren Gemütszustande gewichen war. »Ich muß es Ihnen sagen«, sagte er nach einem langen Schweigen, »Vater Bacchus ist vergangene Nacht gestorben.« »Um Gottes willen!« rief ich. »Was...« »Er starb nicht infolge übermäßigen Trinkens, was ja weiter nicht verwunderlich gewesen wäre, sondern weil er einen giftigen Fisch aß. Wir kauften ungefähr vierzig Pfund Fisch von einem Kanu, das von Tetiaroa gekommen war, und Ihre Messe aß von den Fischen, die eine seltsame hellrote Farbe hatten. Hayward, Nelson und
Morrison kämpften sechs Stunden mit dem Tode, aber es geht ihnen jetzt besser. Der Arzt starb vor vier Stunden.« »Um Gottes willen!« wiederholte ich mechanisch. »Er wird am Morgen beerdigt werden; Herr Bligh fordert Sie auf, an dem Begräbnis teilzunehmen.« Zuerst war ich von der schlimmen Nachricht so verwirrt, daß ich die Größe des Verlustes nicht ermessen konnte; erst nach und nach begriff ich richtig, daß ich Vater Bacchus nie mehr sehen würde. »Er war ein Säufer«, grübelte Christian vor sich hin, »und doch liebte ihn jeder an Bord. Durch seinen Tod sind wir alle ärmer geworden.« Im rötlichen Widerschein des Feuers bemerkte ich, daß in Maimitis Augen Tränen schimmerten. »Ua Mate Te Ruau Avae Hoe«, sagte sie bekümmert. (Der alte Mann mit einem Bein ist tot.) »Ich fahre seit vielen Jahren zur See«, fuhr Christian fort, »und ich kann Ihnen sagen, daß das Wohlergehen der Männer an Bord eines Schiffes von Dingen abhängt, die klein erscheinen. Ein Scherz zur rechten Zeit, ein freundliches Wort oder ein Glas Grog - das ist zuweilen wirksamer als die neunschwänzige Katze. Ohne Bacchus wird das Leben auf der Bounty nicht mehr das gleiche sein wie bisher.« Christian sprach in dieser Nacht nicht mehr, sondern blickte stumm, mit finsterem Blick ins Feuer. Maimiti legte ihren Kopf an seine Schulter und schlief ein, während er ihr Haar zärtlich streichelte. Ich lag noch lange wach und mußte an Vater Bacchus und die Schicksalsfügung denken, die sein Leben so plötzlich auf einer heidnischen Insel, Zwölftausend Meilen von England entfernt, beendet hatte. Vielleicht würde sein freundlicher Schatten damit zufrieden sein, in den
mondüberglänzten Hainen von Tahiti umherzustreifen, wo der salzige Geruch des Meeres, das er liebte, die Luft erfüllt und das Donnern der Brandung bei Tag und Nacht ertönt. Und er war an Bord gestorben, wie er es gewünscht hatte; die gefürchteten Jahre des Ausruhens an Land waren ihm erspart geblieben. Christian hatte recht, empfand ich; ohne Vater Bacchus würde das Leben auf der Bounty nicht mehr das gleiche sein wie bisher. Wir begruben ihn auf Kap Venus, nahe der Stelle, wo Kapitän Cook vor zwanzig Jahren seine Sternwarte errichtet hatte. Es dauerte einige Zeit, bis wir von dem großen Häuptling Teina die Erlaubnis hierzu erhielten, dann aber gruben die Eingeborenen selbst das Grab. Um vier Uhr nachmittags trugen wir Vater Bacchus zu Grabe. Bligh hielt einen schlichten Trauergottesdienst ab, währenddessen eine große Menge Indios uns schweigend, aufmerksam und respektvoll umstanden. Als der Kapitän und die Mannschaft an Bord gegangen waren, um die Versteigerung der Habseligkeiten des Verstorbenen vorzunehmen, blieben Nelson und Peckover an Land, der erstere noch bleich und angegriffen von der überstandenen Vergiftung. Die Eingeborenen hatten sich zerstreut, so daß nur wir drei das frische, mit Korallen geschmückte Grab umstanden. Nelson räusperte sich und entnahm einem Korb, den er in der Hand trug, drei Gläser und eine Flasche spanischen Wein. »Wir waren seine besten Freunde«, sagte er zu Peckover, »du, Byam und ich. Ich glaube, es würde ihm gefallen, wenn wir dem Gottesdienst eine kleine Zeremonie hinzufügten.« Der Botaniker räusperte sich aufs neue, reichte jedem von uns ein Glas und entkorkte die Flasche. Dann tranken wir schweigend, mit entblößtem Haupt, zu Ehren
Vater Bacchus', und als die Flasche leer war, zerbrachen wir unsere Gläser an dem Grab. Das Nachlassen der Manneszucht, das den Entbehrungen der langen Fahrt gefolgt war, hatte nun ein Ende, und Blighs rauhes und unzähmbares Naturell kam wieder zum Vorschein. Manches von dem, was an Bord vorging, sah ich während meiner sonntäglichen Besuche; Weiteres darüber erfuhr ich von Christian, der mir nicht verschwieg, daß die Mannschaft wieder gegen den Kapitän zu murren begann. Wie ich schon erzählte, hatte jeder Mann an Bord unter den Eingeborenen einen Freund, der es für seine Pflicht hielt, seinem Taio häufige Geschenke in Gestalt von Nahrungsmitteln zu machen. Die Seeleute betrachteten diese natürlich als ihr Eigentum, aber Bligh bestimmte, daß alles, was an Bord kam, dem Schiff gehöre und nach Gutdünken des Kapitäns zu verteilen sei. Es war ein harter Schlag für einen Matrosen, dem sein Taio ein fettes Schwein gesandt hatte, wenn das Tier den Schiffsvorräten einverleibt wurde und er selbst sich mit einer kleinen Portion schlechten Schweinefleisches begnügen mußte, das Herr Samuel ihm zuteilte. Sogar die Schweine des Schiffers wurden konfisziert, obgleich Bligh zu jener Zeit vierzig Stück für sich selbst hatte. Eines Morgens, als ich an Bord der Bounty kam und dort auf Herrn Bligh, der an Land gegangen war, wartete, hatte gerade der kleine Hallet, den ich unter meinen engeren Kameraden am wenigsten leiden konnte, Dienst; er hatte dafür zu sorgen, daß keine Vorräte an Bord geschmuggelt wurden. Als sich ein kleines Kanu, von zwei Männern gepaddelt, näherte, eilte er sogleich auf den Schiffsgang, um Ausschau zu halten. Der eine der
beiden Ruderer war Ellison, der jüngste und beliebteste aller Matrosen. Er salutierte, kletterte an der Schiffswand empor und lehnte sich vor, um die Geschenke, die ihm sein Taio hinaufreichte, entgegenzunehmen. Diese bestanden aus einer Handvoll tropischer Äpfel, einem Fächer mit einem aus dem Zahn des Walfisches gefertigten Stiel und einem Bündel landesüblicher Kleidungsstücke. Der Indio winkte mit der Hand und paddelte davon. Hallet bückte sich, nahm einen der auf dem Deck liegenden Äpfel und begann ihn zu essen, wobei er sagte: »Die muß ich haben, Ellison.« »Gut, Sir«, sagte Ellison, wenn ich auch bemerkte, daß er seinen Früchten nachtrauerte. »Sie werden sie süß finden!« »Und diesen Fächer hier«, fuhr der Kadett fort, während er Ellison das Stück aus der Hand nahm, »willst du ihn mir geben?« »Das kann ich nicht, Sir. Er ist von einem Mädchen.« »Und was hast du da?« »Ein Bündel Kleidungsstücke.« Hallet befühlte das dicke Bündel und lächelte dem Matrosen tückisch zu. »Darin scheint mir, wenn mich nicht alles täuscht, ein Spanferkel zu stecken. Soll ich Herrn Samuel rufen?« Ellison wurde rot; der andere fuhr fort, ohne ihm Zeit zur Antwort zu lassen: »Paß auf! Ich will ein Geschäft mit dir machen - du läßt mir den Fächer, und ich sage nichts von dem Ferkel.« Ohne ein Wort zu sprechen, ergriff der junge Matrose sein Bündel und ging wütend zum Vordeck; den Fächer ließ er in der Hand seines Vorgesetzten. Ich schickte mich gerade an, meinem Ärger Ausdruck zu geben, als Samuel des Weges kam. Hallet hielt ihn an. »Möchten
Sie ein Stück zartes Schweinefleisch?« fragte er leise. »Dann gehen Sie zum Vordeck. Ich habe Ellison in Verdacht, in einem Stoffbündel ein Spanferkel versteckt zu haben!« Samuel nickte ihm mit einem verständnisvollen Grinsen zu und ging weiter. Ich trat vor. »Du bist ein gemeiner Kerl!« sagte ich zu Hallet. »Du spionierst mir nach, Byam!« quiekte er. »Wenn mir nicht vor dir ekelte, würdest du noch etwas ganz anderes von mir erleben!« In diesem Augenblick nahte das Boot des Kapitäns; ich schluckte meinen Ärger hinunter und begann, das Manuskript der dieswöchentlichen Arbeit herzurichten. Als meine Unterredung mit Bligh zu Ende war und wir wieder an Deck kamen, traf ich auf dem Gang Christian, der gerade Geschenke entgegennahm, die Maimiti, die persönlich über viel Grund und Boden verfügte, ihm geschickt hatte. Da gab es zwei fette Schweine, verschiedene Gemüse, kunstvolle Matten, Schulterumhänge und ein Paar sehr schöne Perlen. Bligh befahl Samuel sogleich, die Schweine für das Schiff zu annektieren. Christian wurde rot. »Herr Bligh«, rief er, »diese Tiere hatte ich für meine eigene Messe bestimmt.« »Nein!« antwortete der Kapitän kurz angebunden. Er warf einen Blick auf die Matten und Umhänge, die Christian gerade hinuntertragen lassen wollte. »Herr Samuel«, fuhr der Kapitän fort, »nehmen Sie diese Kuriositäten an sich; sie können uns beim Tauschhandel auf anderen Inseln von Nutzen sein.« »Einen Augenblick, Sir«, widersetzte sich Christian. »Diese Gegenstände wurden mir für meine Familie in England geschenkt.«
Statt jeder Antwort wandte sich der Kapitän verächtlich zum Gehen. Maimitis Diener übergab Christian ein kleines, in Tapatuch gehülltes Paket. »Perlen«, sagte der Mann in der Landessprache. »Meine Herrin sendet sie dir, auf daß du sie deiner Mutter in England bringest.« Noch immer rot vor Zorn, ergriff Christian das Paketchen. »Sagte er - Perlen?« warf Bligh ein. »Lassen Sie mich sie sehen!« Widerwillig, aber ohne ein Wort zu sprechen, wickelte Christian aus der Umhüllung ein Paar Perlen, die so groß waren wie Stachelbeeren und auf das prächtigste schimmerten. Nach einem Augenblick des Zögerns befahl Bligh: »Geben Sie die Perlen Herrn Samuel. Auf den Freundschaftsinseln werden solche Stücke sehr geschätzt.« »Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, Sir«, entfuhr es Christian, »mir auch diese Perlen wegnehmen zu wollen! Ich erhielt sie als Geschenk für meine Mutter!« »Übergeben Sie sie Herrn Samuel!« wiederholte Bligh kalt. »Ich weigere mich!« entgegnete Christian, sich mühsam zurückhaltend. Er wandte sich jäh ab, umklammerte die Perlen mit seiner Hand und ging die Treppe hinab. Zwischen dem Kapitän und seinem Schreiber wurden Blicke gewechselt, aber obgleich Bligh die Hände hinter dem Rücken vor Wut zusammenpreßte und wieder öffnete, sprach er kein Wort. Es hielt nicht schwer, die Gefühle der Mannschaft zu dieser Zeit zu ergründen - sie darbten inmitten des Überflusses, und jedesmal, wenn sie von der Insel zurückkehrten, wurden sie wie Schmuggler behandelt. Wahrlich, der Kontrast zwischen dem Leben an Land und dem Leben an Bord war allzu scharf. Ich hatte ein Heim
und eine Mutter, die auf mich wartete, die Matrosen aber erwartete in England nichts anderes als die Aussicht, wiederum von den Werbern zum Dienst gepreßt zu werden oder in den Straßen von Portsmouth zu betteln. Ich fürchtete, daß wir, falls Herr Bligh kein Einsehen hätte, bald Desertionen oder noch Ärgeres erleben würden. Als ich um die Mitte Januar eines Morgens wieder einmal das Schiff betrat, um Bericht zu erstatten, ging der Kapitän wütend auf dem Quarterdeck auf und ab. Zuerst sah er mich gar nicht; als er mich endlich bemerkte, blieb er unvermutet stehen und sagte: »Ah, Sie sind es, Herr Byam. Ich kann heute Ihre Arbeit nicht durchsehen; wir wollen es auf nächste Woche verschieben. Der Waffenmeister und zwei Matrosen - Muspratt und Millward - sind desertiert. Die undankbaren Halunken werden dafür büßen, wenn ich sie erwischt habe! Sie nahmen den kleinen Kutter und acht Armaturen nebst der dazugehörigen Munition mit sich. Soeben habe ich erfahren, daß sie den Kutter verlassen und in einem Segelkanu die Fahrt nach Tetiaroa angetreten haben.« Herr Bligh hielt inne und dachte nach. »Hat Ihr Taio ein großes Boot?« fragte er dann. »Jawohl, Sir«, gab ich zur Antwort. »Dann lege ich die Verfolgung in Ihre Hände. Ersuchen Sie Hitihiti, Ihnen sein Boot und so viele seiner Leute, als Sie benötigen, zu geben, und machen Sie sich noch heute auf den Weg nach Tetiaroa. Der Wind ist günstig. Bemächtigen Sie sich der Flüchtlinge, wenn möglich, ohne Gewalt anzuwenden - auf jeden Fall aber bemächtigen Sie sich ihrer! Churchill wird Ihnen vielleicht zu schaffen machen. Sollten Sie finden, daß die
Kerle nicht auf der Insel sind, so kehren Sie morgen zurück, falls der Wind es gestattet.« Als ich den Kapitän verlassen hatte, suchte ich Stewart und Tinkler in unserer Kammer auf. »Du hast natürlich die große Neuigkeit schon gehört?« fragte Stewart. »Jawohl, der Kapitän unterrichtete mich davon und betraute mich damit, die Leute zu fangen.« Stewart lachte. »Bei Gott! Da beneide ich dich nicht!« »Wie konnten sie denn aber mit dem Kutter unbemerkt entkommen?« »Hayward war Maat der Wache und beging die Dummheit, ein Schläfchen zu machen. Die Leute stahlen sich mit dem Kutter weg, während er sanft schlummerte. Bligh war wie ein Wahnsinniger, als er es vernahm. Er ließ Hayward auf einen Monat in Eisen legen und droht, ihn prügeln zu lassen, sobald er herauskommt!« Eine Stunde später berichtete ich Hitihiti von dem Auftrage, den ich erhalten hatte, und von dem Ersuchen des Kapitäns. Der Häuptling erklärte sich sofort bereit, mir sein großes Segelkanu nebst zwölf Mann Besatzung zur Verfügung zu stellen, und bestand darauf, die Expedition selbst mitzumachen. Das Fahrzeug meines Gastgebers war ein Boot, etwa fünfzig Fuß lang, mit einem Segel. Der Mast war hoch und kräftig, das große Segel aus dichtgewebtem Mattenstoff war von einem leichten Holzrahmen eingefaßt. Ich sah müßig zu, wie Hitihitis Anhänger das Fahrzeug aus seinem Schuppen rollten und mit Sorgfalt fahrtbereit machten. Die Frauen trugen indessen frische Kokosnüsse und anderen Reisevorrat herbei.
Die Männer schienen sich auf die Fahrt lebhaft zu freuen, bedeutete sie doch eine Unterbrechung der träumerischen Einförmigkeit, in der sie dahinlebten. Da sie damit rechneten, die Deserteure zu überraschen, schienen sie keine Angst vor den Musketen zu haben, aber Hitihiti fragte mich mit einiger Besorgnis, ob Churchill und seine Gefährten Pistolen hätten. Als ich dies verneinte, schien er sichtlich erleichtert. Um zwei Uhr nachmittags gingen wir mit einer frischen östlichen Brise in See. Tetiaroa liegt etwa dreißig Meilen nördlich von Matavai. Es besteht aus einer Gruppe von fünf niedrigen Koralleninseln, die auf das Riff aufgesetzt sind, welches eine etwa vier Quadratmeilen große Lagune umgibt. Die Inselgruppe ist Eigentum des großen Häuptlings Teina oder Pomare, den die Seeleute den König von Tahiti nennen. Tetiaroa ist eine Art vornehmer Badeort für die Häuptlinge des nördlichen Teiles von Tahiti; in schattigen Hainen erholen sie sich bei leichter Kost von den Schäden, die der allzu reichliche Genuß des Ava, eines im höchsten Grade berauschenden Getränkes, ihrem Körper zufügt. In Tetiaroa versammeln sich auch die Pori, junge Mädchen - aus jedem Bezirk von Tahiti eines -, die zu gewissen Zeiten auf steinerne Plattformen gestellt wurden, wo sie ob ihrer Schönheit bewundert und von den Vorübergehenden mit ihren Konkurrentinnen verglichen werden konnten. Diese Poris werden in Tetiaroa nach besonderen Vorschriften ernährt und mit duftendem, die Haut erweichendem öl eingerieben; auch müssen sie stets im Schatten bleiben, um ihre Haut zu bleichen; ich muß den alten Weibern, denen ihre Pflege oblag, die Anerkennung zuteil werden lassen, daß man ganz Europa durchsuchen könnte, ohne eine gleiche
Anzahl vollkommener Schönheiten zu finden, wie sie hier auf einer kleinen Koralleninsel versammelt waren. Während der Fahrt nach Tetiaroa lernte ich die Eigenschaften von Hitihitis Kanu schätzen. Die Bounty fuhr, nach dem Maßstabe jener Zeit gemessen, schnell, aber dieses einheimische kleine Fahrzeug erreichte zumindest die doppelte Geschwindigkeit. Nicht ohne Gefahr schossen wir über das Riff in die ruhigen Gewässer der Lagune von Tetiaroa. Bald waren wir von kleinen Booten und von Schwimmern umringt, die alle eifrig bemüht waren, uns wichtige Mitteilungen zukommen zu lassen. Die Deserteure waren aus Furcht vor Verfolgung vor zwei oder drei Stunden abgefahren, nach Eimeo, wie die einen glaubten, nach der Westküste von Tahiti, wie die anderen vermuteten. Der Wind legte sich gegen Sonnenuntergang, und da wir nicht sicher wußten, wohin sich Churchill gewandt hatte, hielt Hitihiti es für das beste, die Nacht in Tetiaroa zu verbringen und mit der Morgenbrise zu Bligh zurückzukehren, um ihm Nachricht zu bringen. Die Nacht, die ich auf der Koralleninsel verbrachte, werde ich nie vergessen. Die Eingeborenen von Tahiti neigten von Natur aus zu Leichtsinn und Vergnügungssucht und waren außerstande, sich die schwerste Bürde des weißen Mannes - Sorge und Kummer - aufzuladen. In Tetiaroa aber schienen auch die letzten Reste der leichten Sorgen von ihnen abzufallen, die sie zu Hause doch etwa von Zeit zu Zeit bedrückten. Man verbrachte die Zeit miteinander bei Tag und Nacht ununterbrochen folgenden Vergnügungen. Hitihiti gab seinen Paddlern Auftrag, das nächstgelegene der kleinen Inselchen, Rimatuu, zum Ziel zu nehmen. Drei oder vier Häuptlinge befanden sich bereits mit
ihrem Gefolge auf dem Eiland. Wir stiegen im Hause eines berühmten Kriegers namens Poino ab, dessen Trinkexzesse ihn beinahe das Leben gekostet hatten. Er lag auf einem Haufen Matten und vermochte sich kaum zu bewegen, seine Haut schälte sich und war grasgrün; Hitihiti sagte mir jedoch, daß der große Krieger in einem Monat wieder vollkommen hergestellt sein werde. Mehrere Angehörige hatten Poino nach Tetiaroa begleitet, darunter auch ein junges Mädchen, welches der großen Familie Vehiatua angehörte und von zwei alten Frauen betreut wurde. Während des Abendessens konnte ich einen Blick auf sie werfen, aber ich dachte nicht mehr an die junge Dame, bis ich nach Sonnenuntergang eingeladen wurde, einer Unterhaltung beizuwohnen, die man Heiva nannte. Schon von weitem sahen wir das Licht vieler Fackeln und hörten rasenden Trommelwirbel. Hitihiti beschleunigte seine Schritte. Nun erhob sich an einer baumlosen Stelle eine aus Korallenblöcken erbaute Plattform vor uns. Ringsum lagerte auf der Erde eine Zuschauermenge von zumindest zwei- oder dreihundert Personen. Die Bühne war durch Fackeln aus Kokosnußblättern, die von den Dienern ununterbrochen erneuert wurden, hell erleuchtet. Als wir unsere Plätze einnahmen, beendeten gerade zwei Possenreißer ihre Darbietungen, die schallendes Gelächter hervorriefen; sodann stiegen sechs junge Frauen, von vier Trommlern begleitet, auf die Plattform. Diese Mädchen gehörten den unteren Gesellschaftsschichten an, und ihrem Tanz schrieben die Eingeborenen einen günstigen Einfluß auf die Fruchtbarkeit des Erdbodens zu. Die Kleidung der Tänzerinnen bestand nur aus einem Kranz aus Blumen und grünen Blättern, den sie um die Hüften geschlungen
hatten. Der Tanz selbst aber, den sie in zwei Dreierreihen, Gesicht zu Gesicht, ausführten, war so schamlos, daß keine Worte ihn beschreiben könnten. Wenn aber die Spaßmacher einen Sturm des Gelächters hervorgerufen hatten, so begleitete den Tanz ein wahrer Orkan. Hitihiti lachte so herzlich, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Als die Darbietung zu Ende war, kündigte mir mein Taio an, daß wir nunmehr einen Tanz von ganz anderer Art zu sehen bekommen würden. Die zweite Gruppe der Tänzerinnen schritt durch die Menge, die ihnen bereitwillig Platz machte. Jedes Mädchen wurde von zwei alten Frauen begleitet und von einem Herold angekündigt, der ihren Namen und ihre Titel ausrief, während sie die Plattform bestiegen. Alle waren gleich und ungemein schön in wallende Gewänder aus schneeweißem Stoff gekleidet. Auf dem Kopfe trugen sie seltsame, Tamau genannte Kopfbedeckungen und in den Händen kunstvoll geschnitzte Fächer. Ihre Brüste waren mit Schilden aus polierten Perlmuscheln bedeckt, die wie Spiegel glänzten und in allen Farben des Regenbogen« spielten. Diese Mädchen, wegen ihrer Schönheit ausgewählt, mit der größten Sorgfalt ernährt und mit zahlreichen geheimen Schönheitsmitteln, gepflegt, waren von beinahe überirdischem Liebreiz. Als Poinos junge Verwandte angekündigt wurde, ging ein Murmeln der Bewunderung durch die Zuschauer. Wie alle Eingeborenen der Oberklasse war sie einen vollen Kopf größer als die Mädchen aus niedrigeren Schichten. Ihre Gestalt war von vollendetem Ebenmaß, ihre Haut glatt und blühend wie eine Aprikose, und ihre Augen schimmerten dunkelglänzend in dem entzückenden Gesicht. Als der Herold ihren langen Namen und ihre noch weit längeren Titel nannte, stand
sie uns stolz und doch mit sittsam niedergeschlagenen Augen gegenüber. Hitihiti, der begriff, daß mir die Ankündigung unverständlich sei, flüsterte mir ihren Alltagsnamen ins Ohr. »Tehani« nannte er sie, und dies bedeutet »der Liebling«. Der Hura wird paarweise getanzt, und im nächsten Augenblick begannen Tehani und ein anderes Mädchen diesen Tanz. Der Takt ist langsam, gemessen und würdevoll; die Bewegungen, insbesondere die der Arme, sind von seltsam anmutiger Schönheit. Als Tehani und ihre Begleiterin unter lebhaftem Beifall von der Bühne abtraten, folgten ihnen wieder zwei Spaßmacher, deren Possen uns lachen machten, bis die beiden nächsten Mädchen zum Tanze bereit waren. Aber ich schenkte den übrigen Darbietungen nur wenig Beachtung, denn ich sehnte mich danach, in das Haus zurückzukehren, in das auch Tehani zurückgeführt worden war. Es war ein Glück für meine Arbeit und den Frieden meines Gemütes, daß sie nicht zu Hitihitis Haushalt gehörte, das begriff ich wohl, und doch hätte ich gerne alles, was ich besaß, dafür gegeben, in ihrer Nähe zu sein. Aber es war mir nicht vergönnt, Tehani in Tetiaroa noch einmal zu sehen, denn die beiden alten Frauen bewachten sie aufs strengste in einem gesonderten Häuschen. Am folgenden Tage, um zwei Uhr nachmittags, segelten wir von Tetiaroa ab, und wenige Stunden später erstattete ich Herrn Bligh Bericht. Die Deserteure stellten sich drei Wochen später selbst, zermürbt von den ununterbrochenen Versuchen der Eingeborenen, sie gefangenzunehmen. Churchill erhielt zwei Dutzend Hiebe, Muspratt und Millward je vier Dutzend.
Die Bounty hatte inzwischen ihren Ankerplatz gewechselt und lag nun im Hafen von Toaroa, sehr nahe beim Ufer. Bligh hatte ursprünglich die Absicht gehabt, Hayward zugleich mit den Deserteuren prügeln zu lassen, aber im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und beließ es bei der strengen Haftstrafe. Gegen Ende März konnte kein Zweifel mehr darüber obwalten, daß die Bounty bald die Anker lichten werde. Über tausend junge Brotfruchtbäume in Töpfen und Kisten waren an Bord geschafft worden, und die große Kabine achtern ähnelte einem botanischen Garten. Große Mengen Schweinefleisch waren eingepökelt und ein gewaltiger Vorrat an Yamwurzeln angelegt worden. Nur der Kapitän wußte, wann wir segeln würden, aber es war klar, daß der Tag der Abfahrt nicht mehr fern war. Ich gestehe, daß ich keine Sehnsucht verspürte, Tahiti zu verlassen. Niemand hätte bei einem so liebenswürdigen Gastgeber wie Hitihiti wohnen können, ohne sich ihm und seiner Familie verbunden zu fühlen, und auch meine Arbeit fesselte mich von Tag zu Tag mehr. Ich war jetzt in der Lage, gewöhnliche Unterhaltungen fließend zu führen, wenn ich auch eingesehen hatte, daß die wirkliche Beherrschung dieser vielgestaltigen Sprache Jahre in Anspruch nehmen würde. Das vorgesehene Wörterbuch war beendet, und mit der Grammatik hatte ich gute Fortschritte gemacht. Hätte ich nicht den Wunsch gehabt, meine Mutter wiederzusehen, so wäre ich sicher damit einverstanden gewesen, einen Teil meines Lebens auf der Insel zuzubringen. Hätte ich die Sicherheit gehabt, daß binnen sechs Monaten oder eines Jahres wiederum ein Schiff anliefe, so würde ich Herrn Bligh zumindest um die Erlaubnis gebeten haben, noch auf der Insel zu bleiben und meine Arbeit zu beenden.
Christian war der Gedanke an die Abreise ebenso schmerzlich wie mir. Seine Neigung zu Maimiti war überaus zärtlich, und ich wußte, daß ihm der Gedanke, sie zurückzulassen, unerträglich war. Mein Kamerad Stewart war seiner eingeborenen Liebsten ebenso herzlich zugetan wie Christian der seinen. Young war ohne Unterlaß in Gesellschaft eines Mädchens namens Taurua, das heißt »Abendstern«. Stewart nannte seine Geliebte Peggy; sie war die Tochter eines Häuptlings im Norden der Insel und ihrem Freunde überaus anhänglich. Einige Tage, bevor die Bounty unter Segel ging, besuchten mich Christian, Young und Stewart in Begleitung des Matrosen Alexander Smith, der mir an Bord für kleine Dienstleistungen zugeteilt war. Smith hatte sich mit einem kleinen, dunklen, lebhaften Mädchen der unteren Klassen angefreundet, das ihm auf die derbe Art eines Seemannsliebchens zugetan war. Er nannte sie Balhadi; ihr wirklicher Name war länger und umständlicher, aber der gute Smith brachte es nicht dazu, ihn richtig aussprechen zu lernen. Wir waren so lange in Tahiti gewesen, daß viele meiner Kameraden sich bis zu einem gewissen Grade in der Landessprache verständlich machen konnten. Nur Smith war so ganz und gar Engländer, daß er keine fremde Sprache erlernte. Gleich vielen seiner Landsleute daheim glaubte er, daß das Englische, wenn man es nur laut und langsam genug spräche, auch von den einfältigsten Fremden verstanden werden müsse. Als meine Besucher von der Bounty herannahten, spürte ich unwillkürlich, daß Christian Neuigkeiten für mich habe, aber er hatte so viel unter den Eingeborenen gelebt, daß er sich ihrem Höflichkeitsbegriff anpaßte, der während eines gewissen Zeitraumes leichte Unterhaltung
vorschreibt, ehe eine wichtige Mitteilung gemacht werden darf. Maimiti begrüßte ihren Liebhaber auf das zärtlichste, und Hitihiti ließ an einer schattigen Stelle Matten für uns ausbreiten. Mein Gastgeber hatte sich als letzte Gunst ein Modell der Barkasse der Bounty erbeten. Er hoffte, daß seine eingeborenen Bootsbauer mit Hilfe dieses Modells ein gleiches Fahrzeug herstellen könnten. Ich hatte die Arbeit Smith anvertraut, der in derlei Handfertigkeiten sehr geschickt war, und in der Tat hatte er die Arbeit in kaum einer Woche fertiggestellt. Balhadi trug das Modell auf ihrer Schulter. Hitihiti strahlte vor Freude, als er es sah. »Sogleich werde ich an den Bau des Bootes gehen«, sagte er in der Landessprache zu mir. »Du hast dein Wort gehalten, und ich bin wahrhaft zufrieden!« Auf seinen Befehl brachte ein Diener zwei prächtige Schweine. »Die sind für dich«, erklärte ich Smith, aber der Bursche schüttelte bedauernd den Kopf. »Keinen Zweck, junger Herr«, meinte er. »Herr Bligh erlaubt uns nicht, die Schweine zu behalten, die man uns schenkt. Aber wenn der alte Häuptling mir ein Spanferkel schenken wollte, so würde ich es mit meinem Mädel im Nu aufessen.« Man sah deutlich, wie ihm bei dem Gedanken das Wasser im Munde zusammenlief. Hitihiti lachte laut über diesen Wunsch und gestattete Smith, sich selbst das Schweinchen auszusuchen, das ihm am besten gefalle. Wenige Minuten später kam der Matrose an uns vorüber, sein Mädchen an der Seite und ein quiekendes Ferkel unter dem Arm. Sie verschwanden in einem nahen Gebüsch; gleich darauf hörten wir ein noch lauteres Gequieke, das aber bald ein Ende nahm;
dann stieg eine Rauchwolke über den Bäumen empor. Ich habe das Gefühl, daß das Gesetz, demzufolge Männer und Frauen nicht mitsammen speisen dürfen, an diesem Tage gebrochen wurde. Wir aber lagerten im Schatten, tranken die süße Milch der jungen Kokosnüsse und plauderten lässig mit den Mädchen. Da plötzlich blickte Christian zu mir herüber. »Ich habe eine Botschaft für dich, Byam«, sagte er. »Wir gehen am Samstag unter Segel. Der Kapitän ersucht dich, Freitag abend an Bord zu kommen.« So bekümmert, als habe sie die Worte verstanden, blickte Maimiti mich an; dann nahm sie die Hand ihres Liebhabers in die ihre und hielt sie fest. »Eine schlechte Nachricht, zumindest für mich«, fuhr Christian fort. »Ich bin sehr glücklich gewesen.« »Für mich auch«, warf Stewart mit einem Seitenblick auf seine Peggy ein. Young gähnte. »Ich bin nicht sentimental«, meinte er. »Taurua wird bald einen anderen Galan finden.« Das lebhafte, braunäugige Mädchen an seiner Seite verstand seine Worte genau. Sie schüttelte als Zeichen des Widerspruchs den Kopf und gab ihm einen scherzhaften Klaps auf die Wange. Christian lächelte. »Young hat recht«, bemerkte er; »wenn ein richtiger Seemann sein Liebchen verläßt, denkt er schon an das nächste! Aber ich finde es schwer, diese Lehre in die Praxis umzusetzen!« Gegen Abend verließen uns unsere Gäste, und am nächsten Tage mußte ich ihnen auf das Schiff folgen. Ich verabschiedete mich mit ehrlichem Bedauern von Hitihiti und seiner Familie, vollkommen überzeugt, daß ich nie mehr jemanden von ihnen wiedersehen würde.
Ich fand die Bounty von Eingeborenen überfüllt und beladen mit Kokosnüssen, Pisangfrüchten, Schweinen und Ziegen. Der große Häuptling Teina und seine Frau waren die Gäste des Kapitäns und schliefen diese Nacht auf dem Schiffe. Bei Tagesanbruch arbeiteten wir uns durch den engen Durchlaß von Toaroa, und erst kurz vor Sonnenuntergang hatten wir das offene Meer erreicht. Bligh bedachte Teina mit Abschiedsgeschenken, verabschiedete sich von dem Häuptling und ließ ihn in der Barkasse an Land rudern. Eine Stunde später war jeder Mann auf seinem Platze, und die Bounty fuhr mit vollen Segeln ins Weite.
8
Nun, da wir wieder auf See waren, konnte ich die Veränderung, die der lange Aufenthalt auf der Insel bei der Mannschaft verursacht hatte, erst so recht feststellen. Wir alle waren beinahe so braun geworden wie Indios, und die meisten von uns trugen an verschiedenen Körperstellen fremdartige Tätowierungen, die uns erst recht ein exotisches Aussehen gaben. Die Bewohner von Tahiti sind vollendete Meister dieser Kunst, und obgleich die Prozedur des Tätowierens ebenso schmerzhaft wie langwierig ist, widerstanden doch nur wenige unserer Leute der Versuchung, solch einen augenscheinlichen Beweis ihrer Südseeabenteuer mit nach Hause zu bringen. Unter uns Kadetten war Edward Young am vollständigsten geschmückt. Auf jedem Bein trug er die Zeichnung einer Kokospalme, und auf seinem Rücken prangte ein Brotfruchtbaum, der mit solcher Natürlichkeit wiedergegeben war, daß man beinahe glaubte, den Wind durch die Äste rauschen zu hören. Auch hatten sich alle eine notdürftige Kenntnis der Eingeborenensprache angeeignet, und wenn man sie sah, wie sie, nur mit einem Turban aus Bast und einem Lendentuch aus dem gleichen Material angetan, beim Waschen des Decks in dem fremden Kauderwelsch miteinander parlierten, so hätte sie ein Engländer sicherlich nicht für Landsleute gehalten. Die innerlichen Veränderungen aber waren für den aufmerksamen Beobachter nicht weniger deutlich erkennbar. Der Dienst wurde in gewohnter Weise getan, aber man arbeitete ohne Lust und Liebe, und zwar traf dies nicht nur auf die Mannschaft, sondern auch auf die Offiziere zu. Ich glaube, daß noch niemals auf einem
nach langer Abwesenheit zur Heimat zurückkehrenden Schiff Seiner Majestät so wenig frischer Mut zu finden war. Eines Tages sprach ich hierüber mit Herrn Nelson, der, solange es hell war, stets in der großen Kajüte weilte und sich mit seinen geliebten Brotfruchtbäumen befaßte. Ich verspürte um diese Zeit ein seltsames Unbehagen, und ein Gespräch mit dem Botaniker hatte stets etwas Beruhigendes für mich. Er war ein wahrer Fels des Friedens in unserer erregten Schiffsgesellschaft. Ich gestand ihm, daß ich über den Lauf, den die Dinge auf der Bounty nahmen, beunruhigt sei, ohne einen bestimmten Grund dafür angeben zu können. Nelson fand, daß kein Anlaß zur Besorgnis vorhanden sei. »Kommt es Ihnen wirklich so merkwürdig vor, lieber junger Freund, daß wir uns alle nach dem idyllischen Leben in Tahiti ein wenig niedergeschlagen fühlen? Meine eigenen Gefühle, wenn ich an England, das vor uns, und Tahiti, das hinter uns liegt, denke, sind sehr gemischt. Ihnen wird es wohl kaum anders gehen.« »Ich gestehe, daß Sie recht haben«, entgegnete ich. »Dann stellen Sie sich einmal vor, wie den Leuten zumute sein muß, die daheim so wenig Schönes erwartet. Ehe sie eine Woche an Land sind, werden die meisten von ihnen von den Werbern gezwungen werden, Handgeld für ein anderes Schiff Seiner Majestät zu nehmen. Wer weiß, wie die Lage sein wird, wenn die Bounty England erreicht? Vielleicht haben wir Krieg mit Frankreich, Spanien oder Holland? In diesem Falle gnade Gott unseren armen Matrosen! Man wird ihnen nicht einmal Zeit geben, die Löhnung für die Rückfahrt auszugeben. Das Seemannsleben ist ein Hundeleben, daran ist nun einmal nichts zu ändern.«
»Halten Sie einen Krieg mit Frankreich für möglich?« fragte ich. »Krieg mit Frankreich ist immer möglich«, antwortete er lächelnd. »Wahrhaftig, es wundert mich, daß nicht die ganze Mannschaft in das Gebirge geflüchtet ist, ehe wir Tahiti, dieses Paradies, verlassen haben. Wenn ich ehrlich sein soll - ich an ihrer Stelle hätte es sicher so gemacht.« Als ein Tag nach dem anderen verging und wir Tahiti weiter und weiter hinter uns ließen, begann uns die Erinnerung an das Leben, das wir dort geführt hatten, wie ein Traum zu erscheinen, und allmählich gewöhnten wir uns wieder an das harte Alltagsleben. Kapitän Bligh machte wohl seine gewohnten Rundgänge, aber er sprach nur selten mit jemandem und verbrachte den größten Teil der Zeit in seiner Kajüte, wo er eifrig an seiner Karte der Inseln arbeitete. So verlief diese Zeit vollkommen ruhig, bis wir am 23. April die Insel Namuka, die zu den Freundschaftsinseln gehört, sichteten. Bligh war schon einmal hier gewesen und beabsichtigte, unseren Holzund Wasservorrat zu erneuern. Die Insel war viel weniger romantisch als Tahiti, aber ich empfand dennoch ein Gefühl des Staunens und der Scheu, als ich auf dieses Land blickte, das nur so wenige weiße Menschen bisher gesehen hatten und dessen Existenz den meisten Leuten in meiner Heimat unbekannt war. Am Morgen des 24. gingen wir, anderthalb Meilen vom Ufer entfernt, vor Anker. Die Ankunft des Schiffes war inzwischen auf der Insel allgemein bekanntgeworden, und die Indios eilten nicht nur von ganz Namuka, sondern auch von den umliegenden Inseln herbei. Binnen kurzem waren wir von Kanus umringt, und das Deck war so überfüllt, daß wir nur mit Mühe unseren Dienst tun
konnten. Zuerst war die Verwirrung groß, aber die Ordnung wurde wiederhergestellt, als zwei Häuptlinge an Bord kamen, deren sich Bligh von seinem Besuch der Insel im Jahre 1777 erinnerte. Wir konnten ihnen verständlich machen, daß vor allem das Deck geräumt werden müsse; auf einige energische Befehle der Häuptlinge hin bestiegen bald darauf alle Indios, mit Ausnahme des Gefolges der Anführer, wieder ihre Kanus. Kapitän Bligh berief mich als Dolmetsch, aber mein Studium der Sprache von Tahiti erwies sich hier als beinahe wertlos. Immerhin vermochten wir uns mit Zeichen und einem gelegentlich eingeworfenen Wort oder Satz verständlich zu machen. Kapitän Cook war es gewesen, der dieser Inselgruppe den Namen »Freundschaftsinseln« gegeben hatte, aber meine persönlichen Eindrücke von den Einwohnern waren ganz und gar nicht vorteilhaft. Sie ähnelten den Leuten von Tahiti in Gestalt, Haut- und Haarfarbe, aber sie waren von einer herausfordernden Frechheit, die unseren Freunden von Tahiti keineswegs eignete. Zudem waren sie Diebe ärgster Sorte, und wenn man ihnen die geringste Gelegenheit dazu gab, nahmen sie alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war. Christian war der Ansicht, daß man diesen Leuten durchaus nicht trauen dürfe, und schlug vor, daß die Gruppen, die zum Einholen von Holz und Wasser an Land geschickt wurden, von starken Wachmannschaften begleitet werden sollten. Kapitän Bligh lachte ihn darob aus. »Sie haben doch nicht am Ende Angst vor diesen elenden Tröpfen, Herr Christian?« »Nein, Sir, aber ich glaube, wir haben Grund, ihnen gegenüber auf der Hut zu sein. Meiner Meinung nach ...« Doch der Kapitän unterbrach ihn.
»Wer hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt? Verflucht noch einmal! Ich glaube wahrhaftig, daß ich ein altes Weib zu meinem Stellvertreter gemacht habe! Kommen Sie, Herr Nelson, wir müssen etwas tun, um diese ängstlichen Naturen zu beruhigen.« Mit diesen Worten stieg er die Strickleiter zum Kutter hinab, der darauf wartete, ihn ans Ufer zu bringen. Herr Nelson, der einige während der Fahrt eingegangene Brotfruchtbäume durch neue zu ersetzen hatte, folgte ihm, und mit den beiden Häuptlingen wurden sie an Land gerudert. Herr Bligh hatte die unglückselige Gewohnheit, seinen Offizieren gegenüber verletzende Bemerkungen zu machen, auch wenn ein Teil der Schiffsmannschaft zugegen war. Zu seiner Verteidigung mag angeführt werden, daß er sich, weil er selbst ein dickes Fell hatte, keine Vorstellung davon machen konnte, wie aufreizend ein solches Verhalten auf eine empfindliche Natur wie Christian wirken mußte. Übrigens ereignete sich an diesem Tage nichts Ungewöhnliches. Die Tatsache, daß Herr Bligh sich in Begleitung zweier Häuptlinge befand, schützte ihn vor Belästigungen. Am Nachmittag und während des ganzen folgenden Tages brachten die Eingeborenen Vieh und Produkte ihrer Insel zum Tauschhandel an Bord, und erst am Morgen des dritten Tages wurden Leute an Land geschickt, um unter Christians Kommando Holz und Wasser zu holen. Nun erst erwies sich dessen Mißtrauen gegen die Indios als vollkommen berechtigt, denn kaum hatten wir das Ufer betreten, als die Eingeborenen sich störend bemerkbar machten. Der Kapitän hatte uns zwar eine Wachmannschaft mitgegeben, aber ausdrücklich Befehl erteilt, daß von den Waffen kein Gebrauch
gemacht werden dürfe. Die Eingeborenen umringten uns, und kaum hatten wir unsere Arbeit begonnen, als sie sich anschickten, den Holzfällern die Äxte aus der Hand zu reißen. Christian ging mit größter Kaltblütigkeit vor, und nur ihm war es zu verdanken, daß wir von den Wilden, die uns an Zahl fünfzigfach überlegen waren, nicht überwältigt wurden. Es gelang uns, Wasser und Holz an Bord der Boote zu bringen, ohne daß es zu eigentlichen Kämpfen gekommen wäre, aber als wir uns gegen Sonnenuntergang zur Abfahrt bereit machten, gelang es ihrer Übermacht, sich in den Besitz des Enterhakens zu setzen. Als wir an Bord der Bounty kamen und unseren Verlust meldeten, geriet Kapitän Bligh in Wut und beschimpfte Christian in Worten, die selbst einem gewöhnlichen Matrosen gegenüber nicht am Platze gewesen wären. »Sie sind ein unbrauchbarer, feiger Tropf! Haben Sie wahrhaftig Angst vor armseligen Wilden, wenn Sie Waffen in der Hand tragen?« »Helfen mir die Waffen etwas, Sir, wenn Sie verbieten, davon Gebrauch zu machen?« fragte Christian ruhig. Bligh ging über diese Frage hinweg und fuhr fort, Christian mit einer solchen Flut von Beschimpfungen zu überschütten, daß dieser sich plötzlich umdrehte und das Deck verließ. Wenn Bligh einen seiner Wutanfälle hatte, glich er einem Wahnsinnigen. Ich hatte nie zuvor einen Menschen seiner Art gesehen, und ich kam zur Überzeugung, daß er sich nachher dessen, was er in seiner Wut sagte oder tat, kaum erinnerte. Sehr häufig wurden solche Ausbrüche durch Fehler verursacht, die er selber begangen hatte; es schien mir, als wolle er sich mit Gewalt selbst davon überzeugen, daß ein anderer die Schuld daran trage.
Wenn Bligh sich wieder einmal auf solche Art hatte gehenlassen, so folgten meist mehrere ruhige Tage, an denen er kaum mit jemandem sprach. In diesem Falle aber geschah es, daß sich am nächsten Tage ein ähnlicher Vorfall ereignete, der für uns alle die verhängnisvollsten Folgen haben sollte. Ich glaube nicht an ein Fatum. Der denkende Mensch ist stets selbst Herr seiner Entschließungen und damit zum großen Teile seines Schicksals; und doch gibt es Zeiten, wo böse Mächte sich ein teuflisches Vergnügen daraus zu machen scheinen, mit den Menschen und ihrem armseligen Dasein zu spielen. Ein solches Datum war sicherlich der 27. April des Jahres 1789. Am Abend des 26. waren wir von Namuka abgesegelt, aber da nur ein sehr schwacher Wind wehte, kamen wir während der Nacht nur langsam vorwärts. Während des folgenden Tages entfernten wir uns nie mehr als sieben oder acht Meilen vom Lande. Die Vorräte, die wir von den Indios erhalten hatten, wurden weggeräumt; auf dem Quarterdeck war zwischen den Kanonen eine große Anzahl von Kokosnüssen aufgehäuft, und Bligh, der über die geringsten Einzelheiten des Vorratsbestandes Bescheid wußte, entdeckte, daß einige Nüsse fehlten. Er ließ sogleich alle Offiziere zusammenrufen und fragte jeden von ihnen, wie viele Kokosnüsse er auf eigene Rechnung gekauft und ob er gesehen habe, daß seitens der Leute Nüsse vom Quarterdeck gestohlen worden seien. Alle verneinten dies, was Bligh, der offenbar glaubte, daß die Offiziere die Mannschaft schützten, in noch größere Wut versetzte. Schließlich kam er zu Christian.
»Und nun, Herr Christian, möchte ich genau wissen, wie viele Kokosnüsse Sie für eigenen Gebrauch gekauft haben.« »Das weiß ich wirklich nicht, Sir«, entgegnete Christian, »doch hoffentlich halten Sie mich nicht für geizig genug, die Ihren zu stehlen.« »Doch, Sie Halunke! Dafür halte ich Sie! Sie müssen welche von meinen gestohlen haben, sonst könnten Sie mir einen klaren Bericht über Ihre eigenen geben. Ihr seid allesamt Gauner und Betrüger! Aber ich werde euch lehren zu stehlen, ihr Hunde! Ich werde euch kujonieren, daß ihr wünschen werdet, ihr hättet mich nie in eurem Leben gesehen!« Von allen beschämenden Szenen, die sich ereignet hatten, war diese die ärgste, wenngleich sie in Anbetracht ihrer lächerlich geringfügigen Ursache beinahe etwas Komisches hatte. Christian allerdings konnte die Sache nicht so ansehen, und das war wahrhaftig nicht zu verwundern. Kein anderer Kapitän im Dienste Seiner Majestät hätte eine solche Anklage gegen seine Offiziere erhoben. Blighs Züge waren wutverzerrt; er brüllte, als ob wir uns am anderen Ende des Schiffes befänden. Plötzlich blieb er stehen. »Herr Samuel!« »Hier, Sir.« Samuel trat vor. »Die Schurken erhalten bis auf weiteres keinen Grog. Und statt eines Pfundes Yamwurzeln wird von nun an nur ein halbes Pfund pro Mann an alle Messen ausgegeben. Verstanden?« »Jawohl, Sir.« »Und, bei Gott, wenn noch etwas fehlt, so reduziere ich die Ration auf ein Viertelpfund, und um dieses sollen sie zuerst betteln!«
Sodann befahl er, daß alle Kokosnüsse, die den Offizieren oder der Mannschaft gehörten, von nun als allgemeiner Schiffsvorrat zu gelten hätten. Niemals habe ich das Schiff stiller gesehen als an jenem Abend. Die meisten von uns dachten sicherlich an die lange Reise, die uns noch bevorstand. Es mochte noch ein ganzes Jahr dauern, bis die Bounty England wieder erreichen würde. Inzwischen standen wir unter der Fuchtel eines Kapitäns, der mit uns tun konnte, was er wollte, und gegen dessen Tyrannei es keine Berufung gab. Meine Messe war besonders schweigsam, denn zu jener Zeit speiste Samuel mit uns, und wir wußten, daß jedes unserer Worte Bligh hinterbracht werden würde. Um acht Uhr begann Herrn Fryers Wache. Fast die ganze Mannschaft war wegen des schönen Abends auf Deck. Wenn auch nur eine leichte Brise wehte, so war die Luft doch erfrischend kühl. Der Mond stand in seinem ersten Viertel, und in der Ferne sahen wir die schwachen Umrisse der Insel Tofoa. Als mein Wachdienst um Mitternacht zu Ende ging, war der Wind schwächer geworden, und die südlichen Sternbilder spiegelten sich in einem Meere, das unbewegt wie ein Mühlteich dalag. Ich ging in meine Kammer hinunter, aber es war viel zu heiß zum Schlafen. Gemeinsam mit Tinkler ging ich wieder auf Deck. Eine Zeitlang schlenderten wir, über dieses und jenes plaudernd, auf und ab. Plötzlich blickte sich mein Kamerad vorsichtig um und sagte dann: »Byam, weißt du, daß ich ein hartgesottener Verbrecher bin? Ich habe eine von Herrn Blighs Kokosnüssen gestohlen.« »So haben wir also dir die erbauliche Strafpredigt zu verdanken, du kleiner Halunke«, antwortete ich lächelnd.
»Leider ja! Ich bin einer der »Gauner und Betrüger«. Ich könnte dir die Namen von zwei anderen nennen, aber ich bin edel und tue es nicht. Wir waren durstig und zu faul, uns Wasser zu holen. Und dort lag ein großer Haufen Kokosnüsse, wirklich ein zu verlockender Anblick. Ich möchte, sie lägen noch immer dort; gleich würde ich wieder eine stehlen. Der Teufel soll Nelsons Brotfruchtgarten holen! Dem haben wir es zu verdanken, daß wir halb verdursten.« Und wirklich waren wir alle neidisch auf die Brotfruchtpflanzen. Die mußten regelmäßig ihr Wasser erhalten, was immer auch geschah, und um den Wasserkonsum zu beschränken, war Bligh auf ein höchst geistreiches Mittel verfallen. Jeder, der trinken wollte, mußte zuerst die große Mars besteigen, um einen dort aufbewahrten Flintenlauf zu holen. Mit diesem kletterte er dann wieder hinab, führte den Lauf in das Spundloch des Wasserfasses ein, stillte seinen Durst und trug das Trinkrohr wieder zu seinem luftigen Aufbewahrungsort zurück. Niemand, mochte er noch so durstig sein, durfte diese Kletterpartie während seines Wachdienstes öfter als zweimal unternehmen, und so kam es, daß faule Leute so lange auf ihren Trunk verzichteten, bis das Durstgefühl sie übermannte. »Gott sei Dank! Diesmal wurde ich ausnahmsweise nicht verdächtigt«, fuhr Tinkler fort. »Unglaublich, aber wahr! Wenn der Alte mich gefragt hätte, so hätte ich natürlich geleugnet, etwas mit seinen dummen Kokosnüssen zu tun gehabt zu haben. Aber mein böses Gewissen hätte mich dieses Mal verraten. Christian tat mir so leid.« »Wußte Christian, daß du einige Nüsse genommen hattest?«
»Eine Nuß - nicht gleich übertreiben, lieber Freund! Wie gesagt, hatte ich Mitverschworene. Natürlich wußte er es. Er sah sogar, wie ich sie nahm, und blickte weg, wie es auch jeder andere anständige Offizier getan hätte. Schließlich haben wir ja die Sicherheit des Schiffes nicht gefährdet. Vier Nüsse von Tausenden, das war alles - ich schwöre es dir! Und von den vieren habe ich nur eine auf dem Gewissen. Nun, ich werde meine Sünden einmal überschlafen, vielleicht kommen sie mir morgen nicht mehr so schwer vor.« Tinkler war wie die Schiffskatze; er konnte sich überall zusammenrollen und sogleich einschlafen. Jetzt legte er sich neben ein Geschütz, benutzte seinen Arm als Kissen und war, so nahm ich wenigstens an, nach wenigen Minuten fest eingeschlafen. Es war inzwischen ein Uhr geworden, und außer der Wachmannschaft, Tinkler und mir war niemand auf Deck. Peckover stand auf der anderen Seite des Decks am Geländer, ich konnte seine Gestalt im Sternenlicht undeutlich erkennen. Nun stieg jemand die hintere Treppe empor. Es war Christian. Nachdem er einige Male das Deck abgeschritten hatte, sah er mich zwischen den Geschützen stehen. »Ah, Sie sind's, Byam!« Er kam auf mich zu, stellte sich neben mich und stützte die Ellenbogen auf das Geländer. Seit dem peinlichen Auftritt am Nachmittag hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Nach langem Schweigen fragte er: »Wissen Sie, daß er mich zum Abendessen eingeladen hat? Warum nur? Können Sie mir das vielleicht erklären? Zuerst schreit er mich an, tritt mich mit Füßen, und dann läßt er mich an seinen Tisch bitten!« »Und Sie sind nicht gegangen?«
»Nach dem, was vorgefallen ist? Nein - wie können Sie nur fragen!« Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Menschen in solch hoffnungsloser Verzweiflung gesehen. Er machte den Eindruck eines Mannes, der eine schwere Last nicht länger tragen kann. Ich war froh, in seiner Nähe zu sein, denn es war klar ersichtlich, daß er das dringende Bedürfnis empfand, einem Vertrauten gegenüber sein Herz auszuschütten. »Er hat uns alle in der Hand«, sprach Christian mit einem finsteren Blick. »Er betrachtet uns als Hunde, die man einmal schlägt und einmal streichelt, wie man gerade gelaunt ist. Und es gibt keine Befreiung. Keine ...! Nicht, ehe wir nach England kommen. Gott weiß, wann das sein wird!« Bekümmert blickte er auf das nächtliche Meer hinaus. Schließlich sprach er: »Byam, Sie könnten etwas für mich tun.« »Was ist es?« »Vielleicht erweist es sich als nicht notwendig, aber auf einer so langen Reise weiß man nie, was geschehen kann. Wenn ich aus irgendeinem Grunde die Heimat nicht wiedersehen würde, so möchte ich, daß Sie meine Familie in Cumberland besuchen. Wäre das zuviel Mühe?« »Gewiß nicht«, antwortete ich. »Während der letzten Unterredung mit meinem Vater, unmittelbar bevor ich abreiste, wünschte er, daß ich mit jemandem an Bord der Bounty eine solche Abmachung träfe. Ich versprach es ihm, und nun habe ich die halbe Reise vergehen lassen, ohne mein Wort zu halten. Jetzt, wo ich mit Ihnen gesprochen habe, fühle ich mich erleichtert.«
»Sie können auf mich rechnen«, sagte ich mit einem Händedruck. »Gut denn, das wäre abgemacht!« »Sieh da, Herr Christian! Sie sind noch spät auf!« Wir fuhren herum und sahen Bligh etwa einen Meter entfernt vor uns stehen. Er war barfuß und nur mit Hemd und Hose bekleidet. Keiner von uns beiden hatte ihn kommen gehört. »Jawohl, Sir«, entgegnete Christian kalt. »Und Sie auch, Herr Byam. Können Sie nicht schlafen?« »Unten ist es sehr heiß, Sir.« »Ein richtiger Seemann kann auch in einem Ofen schlafen, wenn es sein muß, oder in einem Eiskeller.« Er blieb einen Augenblick stehen, als erwarte er eine Antwort von uns; dann wandte er sich unvermittelt ab und schritt zur Treppe. Ehe er hinabschritt, blieb er einen Augenblick stehen, um einen Blick auf die Segel zu werfen. Christian unterhielt sich noch kurze Zeit über gleichgültige Dinge mit mir; dann wünschte er mir eine gute Nacht und ging. Tinkler, der im Schatten einer der Kanonen gelegen war, richtete sich auf und dehnte sich gähnend. »Geh hinunter, Byam, und beweise dem Alten, daß du ein richtiger Seemann bist. Der Teufel soll dich, Christian und euer Geschwätz holen! Ich war gerade im Begriff einzuschlafen, als er kam.« »Hast du gehört, was er sagte?« fragte ich. »Daß du es seinem Vater mitteilen sollst, wenn ihm etwas zustößt, meinst du? Allerdings; ich mußte horchen, ob ich wollte oder nicht. Mein Vater hat kein solches Ansinnen an mich gestellt, was nur beweist, daß er nicht die geringste Hoffnung hat, ich könnte nicht zurückkommen ... Ich verdurste! Und dabei habe ich vor
Tagesanbruch kein Anrecht auf einen Schluck Wasser. Was würdest du an meiner Stelle tun?« »Herr Peckover ist gerade auf einen Augenblick hinuntergegangen«, sagte ich. »Du könntest es versuchen.« »Glaubst du?« Tinkler sprang auf. Er kletterte zum großen Mars empor, holte den Flintenlauf und trug ihn wieder zurück, ehe Peckover sichtbar wurde. Als wir hinuntergingen, hörte ich, wie es drei Glasen schlug und der Wächter vom Fockmast herab die Meldung erstattete: »Alles wohl!« Ich legte mich in meine Hängematte und war bald eingeschlafen.
9
Kurz vor Tagesanbruch wurde ich dadurch geweckt, daß mich jemand derb an der Schulter packte. Gleichzeitig drangen laute Stimmen, darunter die des Kapitäns, an mein Ohr. Vom Deck her kam wilder Lärm. Churchill, der Waffenmeister, stand mit einer Pistole in der Hand bei meiner Hängematte, während Thompson mit aufgepflanztem Bajonett bei dem Waffenkasten Wache hielt, der draußen auf dem Gang stand. Im gleichen Augenblick stürzten zwei Leute, deren Namen ich vergessen habe, in die Kammer, und einer von ihnen brüllte: »Wir gehen mit euch, Churchill! Gebt uns Waffen!« Sie wurden von Thompson mit Musketen beteilt und eilten wieder auf Deck. Stewart, dessen Hängematte nächst der meinen war, hatte sich bereits erhoben und kleidete sich hastig an. Trotz dem Tumult über uns war Young nicht erwacht. »Sind wir angegriffen worden, Churchill?« fragte ich; denn mein erster Gedanke war, daß die Bounty einer der umliegenden Inseln zu nahe gekommen sein müsse und daß die Wilden unser Schiff geentert hätten. »Ziehen Sie sich an, und zwar rasch, Herr Byam«, antwortete er. »Wir haben von dem Schiff Besitz ergriffen, und Kapitän Bligh ist unser Gefangener.« Soeben erst aus dem tiefsten Schlummer gerissen, verstand ich die Bedeutung dieser Worte nicht sogleich und blickte ihn verständnislos an. »Es ist eine Meuterei ausgebrochen, Byam!« sagte Stewart. »Um Gottes willen, Churchill, sind Sie verrückt? Begreifen Sie überhaupt, was Sie tun?«
»Wir wissen sehr gut, was wir tun«, antwortete der Gefragte. »Bligh hat sich alles selbst zuzuschreiben. Jetzt werden wir ihn büßen lassen, was er uns angetan hat!« Thompson schwenkte drohend seine Muskete. »Wir werden den Hund totschießen!« rief er. »Und ihr jungen Herren sollt euch nur ja nicht unterstehen, uns in die Quere zu kommen, sonst werden ein paar umgebracht! Nehmt sie fest, Churchill! Man darf ihnen nicht trauen.« »Halt den Mund und kümmere dich um deinen Waffenkasten«, wies ihn Churchill zurecht. »Rasch, Herr Byam, ziehen Sie sich an! Quintal, du bleibst dort bei der Tür stehen! Niemand darf ohne meinen Befehl herein verstanden?« »Gut, Sir!« Als ich mich umblickte, sah ich Quintal am hinteren Eingang der Kammer stehen. Unmittelbar darauf erschien Samuel hinter ihm, nur mit einer Hose bekleidet; sein blasses Gesicht war noch bleicher als sonst. »Herr Churchill!« rief er, »Zurück, du dickes Schwein, oder ich renne dir die Muskete in den Leib!« brüllte Quintal. »Aber Herr Churchill, lassen Sie mich doch wenigstens sprechen«, rief Samuel aufs neue. »Treib ihn zurück«, gebot Churchill, und Quintal machte eine so drohende Bewegung mit seiner Muskete, daß Samuel eilends verschwand. »Gib ihm einen Tritt in den Hintern, Quintal«, schrie jemand; als ich aufblickte, sah ich am Lukengang zwei weitere bewaffnete Männer stehen. Da wir völlig unbewaffnet waren, blieb Stewart und mir nichts übrig, als Churchills Befehlen zu gehorchen. Sowohl er als Thompson waren bärenstarke Leute, und wir hätten es selbst dann nicht mit ihnen aufnehmen
können, wenn sie umbewaffnet gewesen wären. Ich dachte sogleich an Christian, der ebenso rasch einen Entschluß zu fassen wie zu handeln verstand, aber ich konnte nicht hoffen, daß er sich noch in Freiheit befände. Er befehligte an diesem Morgen die Wachmannschaft und war zweifellos überwältigt worden, noch ehe die Meuterer sich des Kapitäns bemächtigt hatten. Wir kleideten uns rasch an; dann befahl uns Churchill, vor ihm her die vordere Treppe hinaufzusteigen. Der nächste Bewaffnete, den ich antraf, war der mir als Diener zugeteilte Alexander Smith, an dessen Treue ich niemals gezweifelt hätte. Es schmerzte mich, ihn in der Gefolgschaft Churchills zu sehen, aber das Bild, das sich mir auf Deck bot, ließ mich die Existenz Smiths völlig vergessen. Kapitän Bligh stand, nur mit dem Hemd bekleidet, mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen am Besanmast. Christian stand vor ihm; in der einen Hand hielt er das Ende des Stricks, mit dem Bligh an den Mast gefesselt war, in der anderen ein Bajonett. Um ihn her standen, bis an die Zähne bewaffnet, mehrere Matrosen, unter denen ich Mills, Martin und Burkitt erkannte. Churchill rief uns zu: »Bleibt hier stehen; wir werden euch kein Leid antun, wenn ihr nichts gegen uns unternehmt.« Dann verließ er uns. Stewart und ich waren der festen Meinung gewesen, der Rädelsführer der Aufrührer sei Churchill. Wie bereits berichtet, war dieser nach seiner versuchten Desertion in Tahiti von Bligh empfindlich bestraft worden; ich wußte, wie bitter er den Kapitän haßte. Aber daß Christian an der Meuterei beteiligt sei, erschien mir als etwas völlig Unmögliches. Stewart flüsterte mir zu: »Christian! Um Gottes willen! Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr!«
Und in der Tat sah die Lage hoffnungslos aus. Das Schiff war völlig in der Hand der Meuterer. Offenbar hatte man uns heraufgeführt, um die Kadetten nicht beisammenzulassen und auf diese Art jede gemeinsame Aktion zu unterbinden. Inmitten der allgemeinen Verwirrung gingen wir ein wenig nach achtern, und als wir uns der Stelle näherten, wo Bligh stand, hörte ich Christian sagen: »Werden Sie schweigen, Sir, oder soll ich Sie dazu zwingen? Ich habe jetzt auf diesem Schiff zu befehlen, und, bei Gott, ich werde mir Ihre Beleidigungen nicht länger gefallen lassen!« Schweiß perlte auf Blighs Stirn. So laut er konnte, hatte er gebrüllt: »Mord! Verrat!« »So, du befiehlst auf meinem Schiff, du aufrührerischer Hund!« heulte er jetzt. »Ich werde dich hängen lassen! Ich werde dich blutig peitschen lassen! Ich werde ...« »Halten Sie den Mund, oder Sie sind in diesem Augenblick des Todes.« Christian richtete die Spitze seines Bajonetts auf Blighs Brust, und der Ausdruck seiner Augen verhieß nichts Gutes. »Schlagt den Hund tot!« brüllte jemand; andere riefen: »Werft ihn über Bord!« »Füttert die Haifische mit dem Halunken!« Erst jetzt, glaube ich, erkannte Kapitän Bligh in Wahrheit die Lage, in der er sich befand. Einen Augenblick lang stand er schwer atmend da und blickte wie ungläubig vor sich hin. »Christian, lassen Sie mich sprechen!« bat er mit heiserer Stimme. »Denken Sie daran, was Sie tun! Befreien Sie mich - legen Sie Ihre Waffen weg! Wir wollen wieder Freunde sein, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihre unüberlegte Handlung keine Folgen haben soll.«
»Ihr Wort ist wertlos, Sir«, entgegnete Christian. »Wären Sie ein Mann von Ehre, so hätte sich dies nie ereignet.« »Was gedenken Sie mit mir zu tun?« »Erschießen werden wir dich, du blutige Bestie!« rief Burkitt, mit seiner Muskete vor dem Gesicht des Kapitäns hin und her fuchtelnd. »Erschießen ist zu gut für ihn! Lassen Sie ihn die Katze schmecken, Herr Christian!« »So soll es sein! Gebt ihm sein eigenes Gift zu schmecken!« »Zieht ihm die Haut ab!« »Ruhe!« gebot Christian streng; dann, zu Bligh gewandt: »Wir werden Ihnen Gerechtigkeit zuteil werden lassen; die Gerechtigkeit, die wir bei Ihnen niemals gefunden haben. Wir werden Sie als Gefangenen nach England bringen ...« Ein Dutzend Stimmen unterbrach ihn gleichzeitig. »Nach England? Niemals! Das gestatten wir nicht, Herr Christian!« Der Tumult war unbeschreiblich. Niemals war Blighs Lage so kritisch wie in diesem Augenblick, und zu seiner Ehre muß gesagt werden, daß er keine Furcht zeigte. Die Leute befanden sich in furchtbarer Erregung, und es hing an einem Haar, ob er stehenden Fußes erschossen werde oder nicht; aber er blickte sie der Reihe nach herausfordernd an. Glücklicherweise entstand eine Entspannung, als Ellison, mit einem Bajonett in der Luft herumfuchtelnd, heraufstürmte. Ellison war im Grunde genommen ein harmloser Bursche, aber nichts ging ihm über Possen und Streiche; er mußte, koste es, was es wolle, bei allem dabeisein. Offenbar hielt er eine Meuterei ganz einfach für einen feinen Spaß, und er tanzte jetzt mit einem so drolligen Gesichtsausdruck vor
Bligh umher, daß die Spannung sogleich nachließ. Die Leute begannen ihm Beifall zu klatschen. »Hurra, Tommy! Also du bist auch auf unserer Seite, Junge?« »Lassen Sie mich den Kapitän bewachen, Herr Christian!« schrie Ellison. »Ich will ihn bewachen wie eine Katze die Maus!« Er führte vor Bligh einen förmlichen Kriegstanz auf. »Oh, du alter Schuft! Du wolltest uns durchhauen, wie? Du wolltest uns keinen Grog geben, was? Du wolltest uns Gras fressen lassen, nicht wahr?« Die Leute munterten ihn auf. »Gut so, gib's ihm nur! Gib's ihm nur ordentlich!« »Du und dein Herr Samuel! Ein paar Schwindler seid ihr, sonst gar nichts! Uns um unser Essen betrügen! Ein schönes Stück Geld mußt du dir zurückgelegt haben, du alter Dieb!« Christian hatte offenbar begriffen, daß die Redeflut Ellisons die aufs höchste gesteigerte Wut der Mannschaft gegen ihren Kapitän gemildert und diesem vielleicht das Leben gerettet hatte. Deshalb ließ er den jungen Matrosen einige Zeit gewähren. Nun aber schnitt er ihm das Wort ab, indem er mit lauter Stimme rief: »Macht den Kutter klar ...! Herr Churchill!« »Hier, Sir!« »Bringen Sie den Herrn Fryer und Herrn Purcell an Bord ...! Burkitt!« »Hier, Sir!« »Du, Sumner, Mills und Martin, ihr bleibt hier und bewacht Herrn Bligh!« Burkitt nahm das Ende des Stricks, mit dem der Kapitän gefesselt war, in seine riesigen, behaarten Hände. »Wir werden gut auf ihn aufpassen! Darauf können Sie sich verlassen!«
»Was haben Sie für Absichten, Herr Christian? Wir haben ein Recht darauf, das zu erfahren«, rief Sumner. Christian wandte sich rasch um und blickte ihn an. »Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Sumner!« sagte er ruhig. »Auf diesem Schiff kommandiere ich! Rasch, Leute, macht den Kutter bereit.« Einige Matrosen kletterten in das Boot, um den Proviant, der darin aufbewahrt war, auszuräumen, während andere es abfahrtbereit machten. Burkitt stand unmittelbar vor Bligh; die Spitze seines Bajonetts war auf die Brust des Kapitäns gerichtet. Hinter ihm stand Sumner, die Muskete in der Faust; rechts und links hielten die anderen Leute Wache. Mit Ausnahme von Ellison gehörten sie zu den wildesten und entschlossensten Kerlen an Bord, so daß Bligh gut daran tat, sie nicht noch mehr zu reizen. Weitere Meuterer waren über das ganze Deck verteilt, während drei Leute die Treppe besetzt hielten. Ich wunderte mich darüber, daß der Aufruhr so gut und gleichzeitig so geheim vorbereitet worden war. Während der letzten Tage hatte sich nichts ereignet, das mir im geringsten verdächtig erschienen wäre. Ich war in den Anblick dieser Szene so versunken, daß ich Stewart vergessen hatte. Als ich mich suchend nach ihm umsah, traf mich Christians Blick. Er kam auf mich zu und sagte in einem Tone, dessen äußere Ruhe seine Erregung notdürftig verbarg: »An der Spitze dieser Aktion stehe ich. Niemandem soll ein Haar gekrümmt werden, aber wenn jemand Partei gegen uns ergreift, so bringt er damit nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr. Handeln Sie nun, wie es Ihnen gut dünkt.« »Was gedenken Sie zu tun?« fragte ich. »Ich hatte die Absicht, Bligh gefangen nach England zu bringen. Das ist unmöglich; die Leute erlauben es nicht.
Er soll den Kutter haben; wohin er sich wendet, ist seine Sache. Fryer, Hayward, Hallet und Samuel sollen ihn begleiten.« Es war keine Zeit mehr für weitere Unterhaltung. Churchill kam mit dem Schiffer und Purcell auf Deck. Der Zimmermann war wie gewöhnlich schweigsam und mürrisch. Er und Fryer waren entsetzt über das Vorgefallene, aber sie hatten sich vollkommen in der Gewalt. Christian wußte sehr wohl, daß diese beiden Männer die erste sich etwa bietende Gelegenheit ergreifen würden, um die Mannschaft wieder in ihre Gewalt zu bekommen. »Sie haben doch sicherlich keinen Anteil an dem, was hier vorgeht?« fragte mich Fryer. »Sowenig wie Sie selbst, Sir«, antwortete ich. »Herr Byam hat nichts damit zu tun«, bestätigte Christian. »Herr Purcell ...« Fryer unterbrach ihn. »Um 's Himmels willen, Herr Christian, was tun Sie da? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie uns alle ins Verderben stürzen? Machen Sie dieser Tollheit ein Ende, und ich verspreche Ihnen, daß wir alle Ihre Interessen vertreten werden. Lassen Sie uns nur erst England erreichen und ...« »Es ist zu spät, Herr Fryer«, sagte Christian kalt. »Ich habe während der letzten Wochen in einer Hölle gelebt, und ich gedenke nicht, dies länger zu ertragen.« »Ihr Zerwürfnis mit Kapitän Bligh gibt Ihnen nicht das Recht, uns alle ins Unglück zu stürzen.« »Schweigen Sie, Sir«, entgegnete Christian. »Herr Purcell, geben Sie Ihren Leuten die Weisung, die Balken und Bolzen für den großen Kutter heraufzuholen. Geben Sie dem Zimmermann eine Wache mit, Churchill.«
Purcell und Churchill stiegen die vordere Treppe hinab. »Haben Sie am Ende die Absicht, uns auszusetzen?« fragte Fryer. »Wir sind höchstens neun Meilen vom Land entfernt«, entgegnete Christian. »Die See ist so ruhig, daß Herr Bligh keine Schwierigkeiten haben wird, das Ufer zu erreichen.« »Ich will das Schiff nicht verlassen.« »Sie werden Kapitän Bligh begleiten, Herr Fryer. Williams! Führen Sie den Schiffer in seine Kajüte, damit er seine Sachen packen kann. Lassen Sie ihn dort scharf bewachen!« Purcell kehrte jetzt mit seinen Maaten, Norman und McIntosh, zurück; sie brachten die Geräte zur Ausrüstung des Kutters. »Herr Byam, ich weiß, daß Sie bei dieser Sache die Hand nicht mit im Spiele haben. Aber Sie sind - oder waren Herrn Christians Freund. Ersuchen Sie ihn, Kapitän Bligh die Barkasse zu geben. Der Kutter ist morsch und wird niemals das Land erreichen.« Ich wußte, daß dem so war. Der Kutter war so wurmig und leck, daß er kaum zu verwenden war. An eben diesem Morgen hätten die Zimmerleute mit seiner Ausbesserung beginnen sollen. Purcell wollte Christian den Wunsch nicht selber vortragen, weil er glaubte, dieser sei ihm nicht gut gesinnt. »Mir würde er die Bitte niemals erfüllen«, sagte er. »Die Fahrt im Kutter würde für Kapitän Bligh und alle, die mit ihm gehen dürfen, fast sicheren Tod bedeuten.« Ohne Verzug trug ich Christian das Ersuchen des Zimmermanns vor. Mehrere Meuterer umringten uns, um zu hören, was ich zu sagen habe. Christian war sogleich einverstanden. »Gut, er soll die Barkasse haben«, sagte er.
»Sagen Sie dem Zimmermann, er möge sie bereitmachen.« Dann rief er: »Hört auf mit dem Kutter, Jungens! Räumt die Barkasse aus!« Die Leute, Churchill an der Spitze, murrten gegen diese Entscheidung. »Die Barkasse, Herr Christian?« »Geben Sie sie ihm nicht, Sir! Der alte Fuchs wird mit ihr nach Hause zurückkehren!« »Sie ist zu gut für ihn, verflucht noch einmal!« Aber Christian zwang ihnen bald seinen Willen auf. Schließlich kam es den Leuten vor allem darauf an, den Kapitän loszuwerden, und sie hatten wenig Grund, zu fürchten, daß er England je wiedersehen werde. Nun wurde der Rest derer, die sich den Meuterern nicht angeschlossen hatten, auf Deck berufen. Unter den ersten, die heraufgeführt wurden, war Samuel. Er ging, ohne die Beschimpfungen der Matrosen zu beachten, geradewegs auf den Kapitän zu, um dessen Befehle entgegenzunehmen. Man gestattete ihm, in Blighs Kajüte zu gehen und die Kleider des Kapitäns zu holen. Achtern standen Hayward und Hallet beim Geländer. Beide befanden sich in großer Erregung; Hallet weinte sogar. Jemand berührte meine Schulter, und als ich mich umwandte, sah ich Herrn Nelson neben mir stehen. »Nun, Byam, ich fürchte, daß wir noch weiter von der Heimat sind, als wir glauben. Wissen Sie, was man mit uns vorhat?« Ich berichtete ihm das wenige, das ich wußte. Er lächelte wehmütig, mit einem Blick auf die Insel Tofoa, deren Küstenlinie einem blauen Streifen gleich am Horizont sichtbar war. »Ich nehme an, daß Kapitän Bligh sich dorthin wenden wird«, meinte er. »Die Aussicht, die
Freundschaftsinsulaner wiederzusehen, begeistert mich
nicht. Ich fürchte, mit ihrer Freundschaft ist es nicht weit
her.«
Der Zimmermann tauchte auf der Treppe auf, gefolgt von
Lamb, dem Metzger, der ihm half, seinen
Werkzeugkasten auf Deck zu tragen. »Wir wissen ja,
wem wir das alles zu verdanken haben, Herr Nelson«,
brummte der Zimmermann.
»Gewiß, Herr Purcell, unserem unglücklichen Stern«,
gab Nelson zur Antwort.
»Nein, Sir! Kapitän Bligh haben wir dafür zu danken,
sonst niemandem! Er hat uns mit seinem verfluchten
Verhalten in diese Lage gebracht!«
Purcell empfand tiefsten Haß für Bligh, den dieser mit
Zinsen zurückgab. Seit Monaten hatten die beiden
Männer kein überflüssiges Wort miteinander gesprochen.
Und dennoch war der Zimmermann, als Herr Nelson
meinte, er könne vielleicht auf dem Schiff bleiben,
geradezu entsetzt.
»An Bord bleiben? Mit Verbrechern und Piraten?
Niemals, Sir! Ich folge meinem Kommandanten.«
In diesem Augenblick erblickte uns Churchill, der seine
Augen überall hatte.
»Was treiben Sie da, Purcell? Der Teufel soll Sie holen!
Sie möchten uns wohl unser Handwerkszeug stehlen,
was?«
»Euer Handwerkszeug, Sie Halunke? Die Sachen
gehören mir und begleiten mich, wohin immer ich gehe!«
»Wenn mein Wille etwas gilt, werden Sie nicht einen
einzigen Nagel von diesem Schiff fortschleppen«, gab
Churchill zurück. Er rief Christian herbei, und wieder
entspann sich eine Meinungsverschiedenheit, nicht nur
wegen des Werkzeugkastens, sondern auch wegen des
Zimmermanns selber. Christian hätte gute Lust gehabt, ihn an Bord zu behalten, denn er schätzte ihn als tüchtigen Handwerker; alle anderen aber widersetzten sich dem, weil Purcell heftig und aufbrausend war und von den Leuten als Tyrann gefürchtet wurde, der Bligh nicht viel nachstand. »Er ist ein verfluchter alter Schuft, Sir!« »Behalten Sie seine Maate, Herr Christian. Das sind die richtigen Leute für uns!« »Zwingen Sie ihn, das Boot zu besteigen!« »Ihr wollt mich zwingen, das Boot zu besteigen, Ihr Seeräuber?« schrie Purcell. »Ich möchte den Mann sehen, der mich daran hindern könnte!« Unglücklicherweise war Purcell ebenso eigensinnig wie furchtlos, und er vergaß sich jetzt so weit, daß er damit zu prahlen begann, was sie tun würden, wenn sie sich von den Meuterern frei gemacht hätten. »Paßt auf meine Worte gut auf, ihr Verbrecher! Jeden einzelnen von euch werden wir hängen lassen. Wir werden ein Schiff bauen, das uns heimbringt...« »Ja, das werden sie, Herr Christian, wenn wir dem Kerl sein Handwerkszeug geben«, riefen einige. »Der alte Fuchs kann ein Schiff bauen, wenn er nur soviel wie ein Taschenmesser hat!« Purcell erkannte zu spät, was er angerichtet hatte. Ich glaube, Christian würde ihm alle Werkzeuge gegeben haben, die an Bord doppelt vorhanden waren, nun aber gestattete er Purcell nur, eine Handsäge, eine kleine Axt, einen Hammer und eine Schachtel Nägel mitzunehmen. Bligh, der alles mit angehört hatte, konnte sich nun nicht mehr länger zurückhalten. »Sie verfluchter Narr!« fuhr er Purcell an und hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, wenn ihn Burkitt nicht mit seinem Bajonett bedroht hätte.
Die Decks waren jetzt voll von Menschen, aber Christian achtete darauf, daß die, welche nicht zu seinen Anhängern gehörten, keine Gelegenheit fanden, sich zusammenzurotten. Sobald die Barkasse frei gemacht war, befahl er dem Bootsmann, sie hinabzulassen. Wir mußten ihm dabei helfen, denn die Meuterer selbst waren vorsichtig genug, ihre Waffen nicht abzulegen. Als erster wurde Samuel in das Boot kommandiert; dann folgten Hayward und Hallet. Beide weinten und baten um Gnade; man mußte sie den Gang entlang beinahe tragen. Hayward ergriff beschwörend Christians Hände. »Was habe ich getan, Herr Christian, daß ich eine solche Behandlung verdiene?« rief er aus. »Um Christi willen, erlauben Sie mir, auf dem Schiff zu bleiben.« »Wir können Sie hier entbehren«, entgegnete Christian grimmig. »Ins Boot alle beide!« Dann kam die Reihe an Purcell. Bei ihm bedurfte es keiner Gewaltanwendung. Er wäre sicherlich lieber gestorben, als auf dem Schiffe zu bleiben, nun, da es in der Gewalt der Meuterer war. Seine wenigen Werkzeuge wurden ihm von dem Bootsmann, der als nächster folgte, hinabgereicht. Sodann befahl Christian, daß Bligh herbeigeführt werde. Die Hände des Kapitäns wurden von den Fesseln befreit. »Nun denn, Herr Bligh, hier ist Ihr Boot; Sie können sich glücklich schätzen, die Barkasse und nicht den Kutter erhalten zu haben. Steigen Sie sogleich ein, Sir!« »Herr Christian«, sagte Bligh, »zum letzten Male bitte ich Sie, zu überlegen, was Sie tun! Ich gebe meine Ehre zum Pfände, daß Sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn Sie sich eines Besseren besinnen. Denken Sie an meine Frau und meine Kinder!«
»Nein, Herr Bligh. An Ihre Familie hätten Sie früher denken sollen, und wir wissen, was Ihre Ehre wert ist. Besteigen Sie das Boot, Sir!« Da Bligh einsah, daß alles Bitten nutzlos war, gehorchte er, gefolgt von Herrn Peckover und Norton, dem Quartiermeister. Dann ließ Christian einen Sextanten und ein nautische Tabellen enthaltendes Buch hinunterreichen. »Ihren Kompaß haben Sie, Sir. Dieses Buch genügt allen Ansprüchen, und der Sextant ist mein eigener. Sie wissen, daß er gut ist.« Jetzt, da er seine Hände frei hatte und wieder ein Fahrzeug befehligte, wenn es auch nur eine Barkasse war, wurde Bligh wieder er selbst. »Ich weiß nur, daß Sie ein verfluchter Schurke sind!« brüllte er, Christian mit der geballten Faust drohend. »Aber ich werde mich rächen! Denken Sie daran, Sie undankbarer Halunke! Ich werde dafür sorgen, daß Sie baumeln, ehe zwei Jahre vergangen sind, und jeder Verräter mit Ihnen!« Zu Blighs Glück hatte Christian seine Aufmerksamkeit bereits anderen Pflichten zugewandt, aber die an der Brustwehr stehenden Meuterer blieben ihm die Antwort nicht schuldig, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre die Barkasse beschossen worden. In der allgemeinen Verwirrung hatte ich Stewart aus den Augen verloren. Es war mir klargeworden, daß man mir, wenn ich Kapitän Bligh begleiten wollte, keine Schwierigkeiten in den Weg legen würde. Mit Herrn Nelson eilten wir auf die hintere Treppe zu, als uns Christian in den Weg trat. »Herr Nelson, Sie und Herr Byam können auf dem Schiff bleiben, wenn Sie wollen«, sagte er. »Ich habe Mitleid mit Ihnen wegen des Unrechts, das man Ihnen angetan hat, Herr Christian«, entgegnete
Nelson, »aber keinerlei Verständnis für Ihre Art und Weise, sich dagegen zu wehren.« »Habe ich um Ihr Mitleid gebettelt, Sir? Herr Byam, welchen Entschluß haben Sie gefaßt?« »Ich gehe mit Kapitän Bligh.« »Dann eilt euch, alle beide.« »Dürfen wir unsere Kleider holen?« fragte Nelson. »Ja, aber rasch!« Ich trennte mich von Nelson und lief in unsere Kammer, vor der Thompson noch immer den Waffenkasten bewachte. Tinkler und Elphinstone hatte ich nicht mehr gesehen, und ich schickte mich an, nachzusehen, ob sie noch in der rechts gelegenen Kammer seien. Thompson hinderte mich daran. »Hier haben Sie nichts zu suchen«, sagte er. »Holen Sie Ihre Kleider und machen Sie, daß Sie fortkommen!« Zu meinem Erstaunen fand ich Young in tiefem Schlaf. Er hatte von zwölf bis vier Uhr nachts Wachdienst getan, aber daß er von dem wilden Tumult nicht geweckt worden war, war dennoch seltsam. Ich versuchte, ihn zu wecken, aber er hatte einen so festen Schlaf, daß ich den Versuch als zwecklos aufgab. Nun durchsuchte ich in größter Eile meine Kiste nach Dingen, die ich am dringendsten benötigte. In einer Ecke des Raumes lehnten mehrere Kriegskeulen, die wir von den Wilden auf Namuka erhalten hatten. Sie waren aus dem Holz des Eisenholzbaumes geschnitzt, der seinen Namen verdiente, denn das Holz war so stark und fest wie Eisen. Beim Anblick dieser Waffe schoß mir der Gedanke durch den Kopf: Könnte ich Thompson damit niederschlagen? Ich warf einen raschen Blick auf den Gang. Aber Thompson, der auf dem Waffenkasten saß und seine Muskete zwischen den Beinen hielt, bemerkte, wie ich
den Kopf zur Tür hinaussteckte, und gebot mir mit einem Fluch, mich zu eilen und zum Teufel zu gehen. In diesem Augenblick näherte sich Morrison, und Thompsons Aufmerksamkeit wurde gleichzeitig durch jemanden abgelenkt, der ihm von oben etwas zurief. Ich winkte Morrison, in die Kammer zu kommen, und dies gelang ihm, ohne daß er gesehen wurde. Es bedurfte keiner Worte. Ich reichte ihm eine der Keulen und ergriff selbst eine andere; dann machten wir einen letzten, vergeblichen Versuch, Young aus dem Schlaf zu wecken. Morrison stellte sich mit erhobener Keule zur Tür; ich stand gleichfalls bereit, denn wir erwarteten, daß Thompson bald hereinkommen werde, um mich abzuholen. Statt dessen rief er nur von draußen: »Nun, wird's bald, Byam?« »Komme schon«, antwortete ich und blickte neuerdings hinaus. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, daß Burkitt und McCoy sich näherten. Sie blieben bei dem Waffenkasten stehen und sprachen mit Thompson; beide waren mit Musketen bewaffnet. Unsere Chance, Thompson zu überwältigen und uns des Waffenkastens zu bemächtigen, war verloren, wenn die beiden sich nicht entfernen würden. Das Glück war gegen uns. Wir warteten zwei lange Minuten, aber die beiden Männer blieben, wo sie waren. Ich hörte Nelson herunterrufen: »Byam! Rasch, Junge, sonst bleiben Sie zurück!« Und Tinkler rief: »Um Gottes willen, Byam, beeile dich!« Es war ein bitterer Augenblick für Morrison und mich. Im besten Falle wäre unsere Chance klein gewesen, aber vielleicht hätten wir sie doch nützen können. Nun blieb uns nichts übrig, als die Keulen an ihren Platz zurückzustellen und hinauszustürzen. Wir stießen mit Thompson zusammen, der mich holen kam.
»Zum Teufel, Morrison, was haben Sie hier zu suchen?« Wir ließen uns keine Zeit zu Erklärungen, sondern rannten den Gang entlang zur Treppe. Morrison stieg vor mir hinauf, und in meiner Hast, das Deck zu erreichen, glitt ich mit meinem Kleiderbündel aus und stürzte ab. Ich kletterte wieder hinauf und wollte zum Schiffsgang eilen, als Churchill mich festhielt. »Es ist zu spät, Byam«, sagte er, »Sie können nicht mehr mit.« »Ich kann nicht mehr mit? Bei Gott, ich muß!« schrie ich und stieß ihn mit solcher Wucht von mir, daß er taumelte. Ich war außer mir, denn ich sah, daß die Barkasse zum Hinterteil des Schiffes gezogen wurde. Burkitt und Quintal hielten Coleman, den Rüstmeister, fest, der darum bat, ins Boot gelassen zu werden, während Morrison mit mehreren Matrosen rang, die auch ihn zurückhalten wollten. Wir waren wirklich zu spät gekommen; das Boot war so beladen, daß es dem Kentern nahe war; ich hörte Bligh rufen: »Ich kann euch nicht mehr mitnehmen, Jungens! Aber ich werde euch zu eurem Recht verhelfen, wenn wir nach England kommen.« Als die Barkasse sich dem Hinterteil des Schiffes genähert hatte, warf der Mann, der die Fangleine hielt, deren freies Ende einem der im Boot befindlichen Leute zu. Alle auf der Bounty Zurückgebliebenen drängten sich längs des Geländers, und ich hatte Mühe, einen Platz zu finden, von dem aus ich über die Schiffsseite hinunterblicken konnte. Ich war ganz verzweifelt, als ich begriff, daß ich inmitten der Meuterer zurückbleiben mußte. Bligh stand ganz hinten in der Barkasse, während die anderen teils saßen, teils standen. Zwischen dem Schiff und der Barkasse wurde wild hin und her geschrien. Bligh trug zu dem Tumult nach besten Kräften
bei, indem er einerseits laute Kommandorufe und andererseits Verwünschungen gegen Christian und seine Leute ausstieß. Fryer rief zu uns herauf: »Im Namen Gottes beschwöre ich Sie, Herr Christian, geben Sie uns Waffen und Munition! Denken Sie daran, wohin wir gehen! Geben Sie uns eine Möglichkeit, unser Leben zu verteidigen!« »Ihr braucht keine Waffen!« rief einer an meiner Seite. »Vater Bligh ist gut Freund mit den Wilden. Er wird euch schon verteidigen!« Wir riefen Christian herbei und baten ihn, Bligh wenigstens einige Musketen und die nötige Munition zu geben. »Niemals!« sagte er. »Sie dürfen keine Feuerwaffen haben.« »Dann geben Sie ihnen wenigstens ein paar Stutzsäbel, Herr Christian«, bat Morrison nunmehr, »sonst werden sie im gleichen Augenblick ermordet, wo sie an Land gehen. Denken Sie doch nur an das, was wir auf Namuka erlebt haben!« Damit erklärte Christian sich einverstanden. Auf seine Weisung hin brachte Churchill vier Säbel, die in das Boot hinabgelassen wurden. »Ihr Feiglinge!« rief Purcell zu den Meuterern hinauf. »Nur diese paar armseligen Waffen wollt ihr uns geben?« »Sollen wir am Ende die ganze Waffenkiste hinunterlassen, Zimmermann?« höhnte Brown. »Pfeffert ihnen ein paar blaue Bohnen in den Leib!« schrie einer der Matrosen. Burkitt erhob seine Muskete und zielte auf Bligh. Ich bin überzeugt davon, daß er die Absicht hatte, ihn zu erschießen, aber Christian befahl, daß man dem Manne seine Waffen abnehmen und ihn bewachen solle. Burkitt
wehrte sich aus Leibeskräften; vier Männer waren notwendig, um ihn zu entwaffnen. Fryer und andere beschworen Bligh nunmehr, abzufahren, da sie sonst alle ermordet werden würden, Bligh gab die erforderlichen Befehle; die Ruder tauchten ins Wasser, und das Boot nahm Kurs auf die etwa zehn Meilen entfernte Insel Tofoa. Zwölf Personen wären die richtige Bemannung für die Barkasse gewesen; nun befanden sich deren neunzehn darin, nicht zu sprechen von den Lebensmitteln, dem Wasservorrat und der Ausrüstung der Leute. »Wir müssen Gott danken, daß wir zu spät gekommen sind, Byam!« Morrison stand jetzt wieder neben mir. »Ist das Ihr Ernst?« fragte ich. Er schwieg einen Augenblick, so als überlege er die Sache reiflich. Dann sagte er: »Nein, ich hätte es gerne gewagt, mitzufahren, obgleich sie alle verloren sind. Keiner von ihnen wird England wiedersehen.« Und wirklich waren sie alle, die dort in dem Boot saßen oder standen, so gut wie tot. Der nächste Hafen, in dem sie Hilfe erwarten konnten, war über tausend Meilen entfernt. Die Inseln ringsumher waren von blutdürstigen Wilden bewohnt, die nur mit schwerer Bewaffnung in Schach gehalten werden konnten. Aber selbst wenn der eine oder andere dem Tod von der Hand der Eingeborenen entgangen wäre - welche Aussicht hatte ein so winziges Fahrzeug, je einen zivilisierten Hafen zu erreichen? Bis in die Tiefe meiner Seele erschüttert, wandte ich meinen Blick von dem Boot ab, das auf dieser riesigen Wasserfläche so klein und hilflos erschien. Aus den Reihen der Meuterer ertönte der Ruf: »Auf nach Tahiti!«, als Christian den Befehl gegeben hatte, die Bounty fahrbereit zu machen. Während Ellison, McCoy
und Williams am Fockmast das Bramsegel beisetzten, standen die anderen bei der Brustwehr und blickten der Barkasse nach, die immer kleiner und kleiner wurde. Auch Christian blickte schweigend auf das Meer hinaus. Seine Gedanken zu enträtseln, war mir unmöglich. Der Gedanke an das Unrecht, das ihm Bligh hatte widerfahren lassen, hatte sicherlich alle anderen Erwägungen in ihm verdrängt. Ich kannte ihn vielleicht besser als jeder andere, und doch gelang es mir niemals, seine Gefühle und Gedanken wirklich zu verstehen. Menschen von solch leidenschaftlicher Wesensart vergessen, einmal zum Äußersten getrieben, alles außer ihrem eigenen Elend. Erst wenn es zu spät ist, vermögen sie zu begreifen, welches Unglück ihre Taten über ihre Mitmenschen heraufbeschworen haben. Als das Boot sich vom Schiff entfernt hatte, war es acht Uhr gewesen. Kurz nachher frischte die nordöstliche Brise auf, und die Bounty segelte in guter, ruhiger Fahrt dahin. Das Boot war nur mehr als winziger Punkt sichtbar, wenn eine Welle es emportrug oder das Sonnenlicht seine Ruder aufleuchten ließ. Eine halbe Stunde später war es vollends verschwunden, als habe das Meer es verschluckt. Die Bounty nahm westnordwestlichen Kurs.
10
Obgleich die Mannschaft der Bounty von gemeinsamem Unheil betroffen wurde, war ihr kein gemeinsames Schicksal bestimmt. Ich zweifle daran, ob jemals die Mannschaft eines englischen Schiffes so weit über die Erde zerstreut und von einem so seltsamen, zum Teil tragischen Schicksal betroffen worden ist wie die der Bounty. Dem Kapitän waren folgende Leute auf die Barkasse gefolgt: John Fryer, Schiffer Thomas Ledward, Gehilfe des Arztes David Nelson, Botaniker William Peckover, Konstabler William Cole, Bootsmann William Elphinstone, Waffenmeistersmaat William Purcell, Zimmermann Thomas Hayward, Kadett John Hallet, Kadett Robert Tinkler, Kadett John Norton, Quartiermeister Peter Lenkletter, Quartiermeister George Simpson, Quartiermeistersmaat Lawrence Lebogue, Segelmacher Samuel, Schreiber Robert Lamb, Metzger John Smith, Koch Thomas Hall, Koch Von denen, die auf der Bounty blieben, hatten die folgenden an der Meuterei tätigen Anteil genommen:
Fletcher Christian, während der Fahrt zum Leutnant ernannt John Mills, Konstablersmaat Charles Churchill, Waffenmeister William Brown, Gärtner Thomas Burkitt, befahrener Matrose Matthew Quintal, befahrener Matrose John Sumner, befahrener Matrose John Millward, befahrener Matrose William McCoy, befahrener Matrose Henry Hillbrandt, befahrener Matrose Alexander Smith, befahrener Matrose John Williams, befahrener Matrose Thomas Ellison, befahrener Matrose Isaac Martin, befahrener Matrose Richard Skinner, befahrener Matrose Matthew Thompson, befahrener Matrose Die folgenden waren auf der Bounty geblieben, ohne sich Christian angeschlossen zu haben: Edward Young, Kadett George Stewart, Kadett James Morrison, Bootsmannsmaat Josef Coleman, Rüstmeister Charles Norman, Zimmermannsmaat Thomas McIntosh, Zimmermannsgehilfe William Muspratt, befahrener Matrose Ferner Michael Byrne, der halbblinde Seemann, und ich selbst. Muspratt hatte einen Augenblick lang so getan, als nähme er an dem Aufstand teil; er hatte sich von
Churchill eine Muskete geben lassen. Ich bin aber gewiß, daß er die Waffe nur genommen hatte, um Fryer bei der Wiedereroberung des Schiffes zu helfen. Als er erkannt hatte, daß das Unternehmen hoffnungslos war, legte er seine Waffe sogleich beiseite. Coleman, Norman und McIntosh waren daran gehindert worden, das Boot zu besteigen, weil die Meuterer sie als Handwerker benötigten. Es war begreiflich, daß wir, die wir uns an der Meuterei nicht beteiligt hatten, von den anderen mit Mißtrauen betrachtet wurden. Als einige Leute eine drohende Haltung gegen uns einnahmen und es aussah, als werde es zu einem Handgemenge kommen, bei welchem wir zweifellos den kürzeren gezogen hätten, legte sich Christian sogleich ins Mittel. »Geh an deine Arbeit, Thompson«, herrschte er diesen, der an der Spitze unserer Angreifer stand, wutentbrannt an. »Und dich, Burkitt, werde ich in Eisen legen lassen, wenn du noch einmal Anlaß zu Klagen gibst!« »Also so sieht die Sache aus?« murrte Thompson. »Dann lassen Sie sich gesagt sein, Herr Christian, daß wir uns das nicht gefallen lassen. Wir sind keine Meuterer geworden, damit Sie jetzt den Kapitän Bligh spielen!« »Nein, bei Gott, das lassen wir uns nicht gefallen«, stimmte Williams ein, »das werden Sie bald merken!« Christian blickte sie einen Augenblick lang schweigend an, und der Ausdruck seiner Augen ließ erkennen, daß er der Lage gewachsen war. »Die ganze Mannschaft aufs Quarterdeck«, kommandierte er und ging auf und ab, bis alle Leute versammelt waren. Dann wandte er sich um und sprach: »Eine Frage muß ein für allemal entschieden werden, und zwar, wer der Kapitän des Schiffes ist. Ich habe es mit
eurer Hilfe in Besitz genommen, um uns von einem Tyrannen zu befreien, der uns allen das Leben zur Last gemacht hat. Vergeßt keinen Augenblick, woran ihr seid! Wir sind Meuterer, und wenn wir entdeckt und gefangengenommen werden, wird kein einziger der Todesstrafe entgehen. Diese Möglichkeit ist nicht so weit entfernt, wie ihr vielleicht glaubt. Falls es Bligh gelingt, England zu erreichen, wird sogleich ein Kriegsschiff auf die Suche nach uns geschickt werden. Aber auch wenn von der Bounty innerhalb eines oder höchstens zweier Jahre keine Nachricht kommt, wird ein Schiff ausgesandt werden, um den Grund unseres Verschwindens festzustellen. Wir sind nicht nur Meuterer, sondern auch Piraten, weil wir uns eines bewaffneten Schiffes Seiner Majestät bemächtigt haben. Wir. sind auf ewig von England abgeschnitten, es sei denn, daß wir als Gefangene heimgebracht würden, und dann wäre unser Schicksal nicht ungewiß. Der Stille Ozean ist groß und noch so wenig bekannt, daß wir niemals entdeckt zu werden brauchen, es sei denn durch unsere eigene Torheit. In unserer Lage muß einer der Führer sein, dessen Wille ohne Gegenrede befolgt wird. Es sollte unnötig sein, britischen Seeleuten erst zu sagen, daß kein Schiff ohne Disziplin bestehen kann, auch ein Meutererschiff nicht. Wenn ich die Bounty befehligen soll, so verlange ich Gehorsam von euch. Ungerechtigkeit wird es nicht geben. Ich werde niemanden ohne guten Grund bestrafen, aber meine Autorität lasse ich von niemandem in Zweifel ziehen. Ihr selbst sollt entscheiden, wer auf der Bounty zu befehlen hat. Wenn einer da ist, den ihr an meine Stelle setzen wollt, nennt ihn, und ich trete zurück. Wenn ihr
wollt, daß ich euch führe, denkt daran, was ich gesagt habe: Ich verlange Gehorsam von euch.« Churchill sprach als erster: »Nun, Leute, was habt ihr dazu zu sagen?« »Ich bin für Herrn Christian«, rief Smith. Alle Meuterer gaben ihrer Zustimmung laut Ausdruck, ausgenommen Thompson und Williams; aber als Christian durch Erheben der Hände abstimmen ließ, hoben auch diese die Hand. »Noch eine Angelegenheit muß geklärt werden«, fuhr Christian fort. »An Bord dieses Schiffes befinden sich Männer, die sich uns nicht angeschlossen haben. Sie wären mit Bligh gegangen, wenn es ihnen möglich gewesen wäre ...« »Legen Sie sie in Ketten«, rief Mills. »Sie werden uns schaden, wo sie nur können.« »Auf diesem Schiffe wird niemand ohne triftigen Grund in Ketten gelegt werden«, entgegnete Christian. »Diese Männer verdienen keinen Tadel dafür, daß sie nicht unsere Partei ergriffen haben. Sie taten, was sie für richtig hielten, und ich achte ihren Entschluß, Aber ich werde wissen, was ich zu tun habe, wenn sie sich als Verräter erweisen sollten. Sie mögen nunmehr selbst entscheiden.« Er fragte uns sodann der Reihe nach, ob wir zur Mitarbeit gewillt seien, solange wir uns auf der Bounty befänden. Mit Young begann er. »Für mich hat das Schicksal die Frage entschieden, Herr Christian«, antwortete dieser. »Ich hätte Ihnen nicht geholfen, das Schiff in Besitz zu nehmen, wenn ich wach gewesen wäre, aber jetzt erkläre ich mich mit allem einverstanden. Ich habe keine sonderliche Lust, nach
England zurückzukehren. Auf mich können Sie rechnen, wohin immer Sie sich wenden.« Er war der einzige von uns, der diese Entscheidung traf. Wir anderen versprachen nur, den Befehlen zu gehorchen, unseren Pflichten an Bord wie bisher nachzukommen und keinerlei Verrat zu üben, solange wir auf der Bounty seien. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Insgeheim wußte Christian sicherlich, daß wir das Schiff verlassen würden, sobald sich uns eine Gelegenheit dazu böte. »Das genügt mir«, sagte er, nachdem er jeden von uns angehört hatte. »Aber ihr werdet verstehen, daß ich mich und meine Leute davor bewahren muß, gefangengenommen zu werden.« Dann ging er daran, seine Offiziere zu ernennen. Young wurde Schiffer, Stewart Schiffersmaat, ich Quartiermeister, Morrison Bootsmann und Alexander Smith Bootsmannsmaat. Burkitt und Hillbrandt wurden Quartiermeistersmaate, Millward und Byrne Köche. Wir wurden in drei Wachmannschaften eingeteilt. Wir gingen sogleich an die Arbeit. Ein Teil der großen Kajüte wurde als Wohnraum für Christian hergerichtet, und er ließ die Waffenkiste dorthin schaffen. Er benützte sie als Bett und trug die Schlüssel dazu immer bei sich. Einer der Meuterer stand Tag und Nacht bei der Kajütentür Wache. Christian speiste allein und sprach nur selten mit jemandem, außer wenn er Befehle zu erteilen hatte. Der Kapitän eines Schiffes führt immer ein einsames Leben, aber nie hat einer einsamer gelebt als Fletcher Christian. Trotz dem bitteren Gefühl, das ich ihm gegenüber zu dieser Zeit verspürte, tat mir das Herz weh, wenn ich ihn bei Tag und auch oft bei Nacht Stunde um Stunde auf dem Quarterdeck auf und ab gehen sah. Alle Fröhlichkeit war von ihm gewichen; niemals war die
Spur eines Lächelns auf seinem Antlitz zu sehen - nur der Ausdruck finsterer Melancholie. Stewart, Young und ich aßen gemeinsam wie bisher, aber unsere Mahlzeiten waren nicht mehr so fröhlich, wie sie gewesen waren. Es gelang uns nicht, uns an die Leere und Stille auf dem Schiff zu gewöhnen. Wir vermieden es, von denen zu sprechen, die das Schiff verlassen hatten, wie man es vermeidet, von kürzlich Verstorbenen zu sprechen, und doch wurden wir ohne Unterlaß an sie erinnert; der Gedanke an ihr Geschick und an das unsere bedrückte uns unausgesetzt. Young allerdings schien die Aussicht, den Rest seines Lebens auf einer Südseeinsel zu verbringen, keinen Kummer zu bereiten. »Wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind«, sagte er eines Abends. »Wenn man es richtig betrachtet, ist unsere Lage gar nicht so traurig. Ich habe immer davon geträumt, auf einer tropischen Insel zu leben. Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich schon in Tahiti desertiert.« »Eines ist gewiß, Tahiti werden wir niemals wiedersehen«, sagte Stewart düster. »Herr Christian denkt sicherlich nicht daran, auf der Insel Zuflucht zu suchen. Er weiß nur zu gut, daß früher oder später ein Kriegsschiff dort auftauchen wird.« »Was schadet das?« fragte Young. »Es gibt hunderte Inseln, auf denen wir geradeso glücklich leben können. Laßt all Hoffnung, je in die Heimat zurückzukehren, fahren! Genießt lieber, was euch das Leben hier zu bieten hat!« Die Bounty hatte ihren Kurs geändert und segelte nach Südosten. Wir befanden uns jetzt in einem Teile des Stillen Ozeans, der, soviel mir bekannt war, noch niemals von einem europäischen Schiff befahren worden war. Es
war klar, daß Christian die Suche nach unentdeckten Inseln aufgenommen hatte. Jene Tage und Nächte sind mir als eine überaus friedvolle Zeit in Erinnerung geblieben. Blighs Abwesenheit empfanden wir alle als ein wahres Gottesgeschenk. Christian hielt strengste Disziplin, aber niemand hatte Ursache, sich über Ungerechtigkeit zu beklagen. Er war der geborene Führer und verstand es, seinen Leuten ohne Züchtigungen und Beschimpfungen Respekt einzuflößen. Nach den stürmischen Ereignissen, die sich während der Meuterei abgespielt hatten, schien die Mannschaft sich über die Ruhe, welche auf dem Schiff herrschte, von Herzen zu freuen. Der Mond hatte zugenommen und war nun wieder im Abnehmen begriffen, als eines Morgens, kurz nach Sonnenaufgang, im Norden Land gesichtet wurde. Am späten Nachmittag waren wir bis auf eine Meile an eine Insel herangelangt, die eine Länge von etwa acht Meilen zu haben schien und ebenso gebirgig und fruchtbar war wie Tahiti. Mehrere Kanus, mit je acht bis zehn Ruderern bemannt, näherten sich unserem Schiff. Die Indios glichen in Farbe, Gestalt und Kleidung den Bewohnern von Tahiti; es war augenscheinlich, daß sie noch nie ein europäisches Fahrzeug gesichtet hatten. Wir versuchten sie anzulocken, und schließlich kam eines der Boote dicht an das Schiff heran. Auf Christians Geheiß fragte ich die Eingeborenen in der Sprache von Tahiti nach dem Namen ihrer Insel. Sie verstanden meine Worte und antworteten, sie hieße Rarotonga. Im übrigen aber war mir ihre Sprache unverständlich. Wir hüllten einige Schmuckstücke in ein Tuch und ließen sie zu den Eingeborenen hinab. Sie
nahmen das Paket an sich, ohne nachzusehen, was sich darin befand. Da alle unsere Versuche, die Indios zu überreden, an Bord zu kommen, fehlschlugen, gab Christian Befehl, weiterzusegeln. Wir bedauerten dies lebhaft, denn die Insel war kaum weniger schön als Tahiti, und die Bewohner hätten, ihrem Verhalten nach zu schließen, unserer Landung keinen Widerstand entgegengesetzt. Es ist mir immer ein Rätsel geblieben, warum Christian diese Insel nicht als Versteck wählte. Denn Rarotonga liegt beinahe siebenhundert Meilen südwestlich von Tahiti und war zu jener Zeit sicherlich noch keinem anderen Europäer bekannt. Vielleicht lag der Grund darin, daß er an der ganzen Küste keinen geeigneten Ankerplatz sah. Vielleicht hatte er aber auch damals noch keine endgültige Entscheidung über unsere Zukunft gefaßt. Eines Abends ließ mich Christian zu meiner großen Überraschung ersuchen, mit ihm zu Abend zu speisen. Ich fand ihn in seiner Kabine sitzend, eine große Landkarte vor sich. Er begrüßte mich mit formeller Höflichkeit, aber als sich der Mann, der an der Tür Wache hielt, auf einen Wink von ihm entfernt hatte, sprach er wieder auf die gleiche freundliche Art zu mir wie vor der Meuterei. »Ich habe Sie eingeladen, mit mir zu speisen, Herr Byam«, sagte er, »aber Sie brauchen nicht anzunehmen, wenn Sie es nicht wünschen.« Entgegen meiner anfänglichen Absicht ging ich auf seinen freundlichen Ton ein. Voll Bitterkeit über das Unglück, in das er uns alle gestürzt hatte, war ich gekommen; aber unter dem Einfluß seiner bezwingenden Freundlichkeit schmolz mein Unwille dahin. Ich stand vor meinem Freunde Fletcher Christian, nicht vor dem
Meuterer, der neunzehn Menschen, Tausende von Meilen von der Heimat entfernt, in einem kleinen Boot dem Ozean preisgegeben hatte. Er bedurfte dringend eines Menschen, dem gegenüber er sein Herz erleichtern konnte, und ich war kaum länger denn fünf Minuten in seiner Kajüte, als er bereits von der Meuterei zu sprechen begann, »Wenn ich an Bligh denke«, sagte er, »empfinde ich kein Bedauern - gar keines. Ich habe durch ihn zu viel gelitten, als daß ich mir über sein Schicksal Sorgen machen könnte. Hingegen die, die ihn begleitet haben ...« Er schloß die Augen und barg sie in den Händen, als wolle er das Bild des gebrechlichen, bis zum Kentern mit unschuldigen Menschen gefüllten Fahrzeuges aus seinem Gedächtnis löschen. So tief war die Trostlosigkeit, die sich in seinen Zügen malte, daß ich Mitleid mit ihm empfand. Ich begriff, daß er nie mehr Ruhe finden werde - nie mehr bis zu seinem letzten Tag. Als er mich ermahnte, mir sein Beispiel zu Herzen zu nehmen und niemals einer plötzlichen Eingebung folgend zu handeln, konnte ich trotz allen Mitgefühls nicht umhin, zu sagen, daß ein so sorgfältig und geheim vorbereiteter Aufstand wohl kaum als eine unüberlegte Handlung bezeichnet werden könne. »Gott im Himmel!« rief er aus. »Glaubten Sie, daß der Aufstand geplant war? Zehn Minuten bevor Bligh festgenommen wurde, dachte ich sowenig an eine Meuterei wie Sie selbst. Wie konnten Sie so etwas nur denken?« »Mußte ich das nicht? Es ereignete sich während Ihres Wachdienstes. Als Churchill mich weckte, waren Sie bereits Herr des Schiffes, und überall sah ich Bewaffnete
Wache halten. Es ist unfaßbar für mich, daß all dies ohne vorgefaßten Plan geschehen konnte.« »Und doch ist es so«, sprach Christian ernst. »Alles war das Werk eines Augenblicks. Lassen Sie sich erzählen ... Erinnern Sie sich des Gespräches, das wir in der Nacht vorher geführt hatten?« »Gewiß!« »Der Grund, weshalb ich Sie bat, meine Eltern zu besuchen, wenn mir etwas zustoßen würde, war der, daß ich die Absicht gefaßt hatte, das Schiff vor der Morgenwache zu verlassen. Ich hatte niemanden ins Vertrauen gezogen als John Norton, den Quartiermeister, einen Mann, dem ich trauen konnte. Ihnen sagte ich nichts davon, weil ich Sie nicht in einen Gewissenskonflikt bringen wollte. Norton hatte insgeheim ein winziges Floß gezimmert, mit welchem ich hoffte die Insel Tofoa zu erreichen. Da das Meer vollkommen ruhig war, wäre mir das auch sicher gelungen.« »Sie wollten sich wirklich für immer den Rückweg zu Ihrer Heimat und Ihren Freunden abschneiden?« »Ja, Byam! Ich war am Ende meiner Kräfte. Als Bligh mich an jenem Nachmittag beschuldigte, seine Kokosnüsse gestohlen zu haben, spürte ich plötzlich, daß ich es nicht länger ertragen könne.« »Ich verstehe Sie; Sie haben Arges erduldet! Aber waren wir nicht alle in der gleichen traurigen Lage?« »Daran dachte ich nicht. Ich dachte nur an die Schande, die er mir mit dieser Beschuldigung antat, an die unendliche Niedrigkeit eines Mannes, der seinen Offizieren gegenüber solches imstande war. Und dann dachte ich an die lange, lange Fahrt, die vor uns lag, und
ich wußte mit einem Male, daß ich ein weiteres Jahr in dieser Hölle nicht ertragen würde. Aber ich hatte kein Glück. Die schöne, ruhige Nacht, die meinem Plan im übrigen so günstig gewesen wäre, war schuld daran, daß ich ihn nicht ausführen konnte. Wie Sie wissen, war fast die ganze Mannschaft auf Deck; ich hätte mich nicht ungesehen davonmachen können. So mußte ich den Plan zumindest vorläufig aufgeben. Selbst um vier Uhr morgens, als ich das Kommando der Wache übernahm, war mir der Gedanke an eine Meuterei noch nicht gekommen. Ich schwöre Ihnen, daß dies wahr ist. Ich verteidige mich nicht; ich berichte nur Tatsachen. Ich war in der Stimmung, den Menschen umzubringen. Ja, mehr als einmal fuhr mir der Gedanke durch den Kopf: Ermorde ihn, und alles ist vorüber. Mit einem Worte: Ich war nicht bei Sinnen. Hayward war der Maat meines Wachdienstes. Um mich wieder in die Gewalt zu bekommen, suchte ich ihn und fand ihn im Kutter schlafend. Zu einer anderen Zeit hätte eine solche Pflichtverletzung meinen Zorn erregt. Wir waren in unbekannten Gewässern, und Bligh hatte mit Recht Order gegeben, daß bei Tag und Nacht strengste Wache zu halten sei. Drei der Leute hatten das schlechte Beispiel ihres Vorgesetzten befolgt und schliefen gleichfalls. Einen Augenblick lang blickte ich auf Hayward hinab. Dann hörte ich, so deutlich, als wären sie wirklich gesprochen worden, die Worte: Bemächtige dich des Schiffes! Von dieser Sekunde an arbeitete mein Hirn mit äußerster Klarheit und Genauigkeit. Es schien unabhängig von mir zu funktionieren. Ich hatte nur zu gehorchen. Ich erkannte, welche Gelegenheit sich mir bot, nicht das Unrecht, das ich euch anderen zufügte. Burkitt war wach.
Er war von Bligh oft bestraft worden, und ich wußte, daß ich auf ihn rechnen konnte, aber noch weihte ich ihn nicht in meinen Plan ein - denn nun hatte ich schon einen Plan. Ich forderte ihn auf, mit mir hinunterzugehen, Churchill, Martin, Thompson und Quintal zu wecken und ihnen zu sagen, daß ich sie bei der vorderen Treppe zu sprechen wünsche. Ich weckte, inzwischen Coleman auf und verlangte den Schlüssel zur Waffenkiste, unter dem Vorwand, ich brauche eine Muskete, um einen Haifisch zu erlegen. Er gab ihn mir, drehte sich um und schlief wieder ein. Hallet fand ich auf der Waffenkiste schlafend vor. Da er gleichfalls zu meiner Wachmannschaft gehörte, weckte ich ihn mit gespieltem Zorn und schickte ihn über die hintere Treppe auf Deck. Er war zu Tode erschrocken und bat mich, Kapitän Bligh nichts zu sagen. Burkitt und die Leute, die er geweckt hatte, erwarteten mich. Sie erklärten sich sogleich mit meinem Plan einverstanden. Wir versahen uns mit Musketen und Pistolen; dann weckten wir McCoy, Williams, Alexander Smith und andere; alle sagten mir Gefolgschaft zu. Sie erhielten Waffen, und nachdem ich Posten über das ganze Schiff verteilt hatte, gingen wir zu Blighs Kajüte. Das Weitere wissen Sie.« Er verfiel in Schweigen und starrte eine Weile regungslos vor sich hin. Schließlich zwang ich mich dazu, zu fragen: »Welche Aussicht, England zu erreichen, hat Bligh Ihrer Ansicht nach?« »Eine sehr geringe. Timor ist der nächste Hafen, wo er Hilfe erwarten kann. Es liegt 1200 Meilen von der Stelle entfernt, wo die Barkasse ausgesetzt wurde ... Als ich mich des Schiffes bemächtigte, war mein einziger Gedanke, Bligh als Gefangenen nach England zu bringen.
Die Leute erlaubten es nicht; ich mußte ihnen in diesem Punkt nachgeben. Dann kam die Frage, wer den Kapitän begleiten solle. Zuerst gedachte ich, nur Fryer, Samuel, Hallet und Hayward mit ihm zu schicken, aber ich konnte denen, die ihn begleiten wollten, diesen Wunsch nicht abschlagen. Auch wäre dies im höchsten Grad gefährlich gewesen. Fryer, Purcell, Cole und Peckover würden die erste Gelegenheit benutzt haben, das Schiff zurückzuerobern ... Nun, genug davon. Was geschehen ist, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Ich muß jetzt an die Leute denken, die mir gefolgt sind. Ich muß zumindest dafür sorgen, daß sie nicht gefangen werden.« »Und was geschieht mit uns anderen?« »Es ist Ihr gutes Recht, diese Frage zu stellen. Ich kann nicht erwarten, daß auch ihr alle Hoffnung aufgebt, die Heimat wiederzusehen. Wenn ich euch nach Tahiti bringen und euch dort freilassen würde, könnte ich von keinem von euch Stillschweigen über die Meuterei erwarten. Gegenwärtig muß ich euch, sosehr ich es bedaure, an Bord behalten. Damit müssen Sie sich vorläufig begnügen.« Über seine Pläne für die nächste Zukunft sagte Christian nichts. Am Morgen des 28. Mai, genau vier Wochen nach der Meuterei, wurde in sechs Meilen Entfernung eine Insel gesichtet. Da Windstille eintrat, konnten wir sie erst am nächsten Morgen erreichen. Stewart, der ein vortreffliches Gedächtnis für Längen- und Breitengrade besaß, war überzeugt, daß es sich um die Insel Tupuai handle, die von Kapitän Cook entdeckt worden war. Nach zwei Monaten auf See erschien diese Insel uns
allen wie ein Garten Eden, und wir waren begierig, an Land zu gehen. Längs des Riffs lagen mehrere Inselchen zerstreut, und zwischen diesen, über die Lagune hinweg, boten sich uns prächtige Blicke auf die Hauptinsel. Längs der ganzen Küste sahen wir Anzeichen, daß auf Tupuai eine zahlreiche Bevölkerung lebte. An einer Stelle bot das Riff eine Durchfahrt, und Christian beabsichtigte, das Schiff in die Lagune zu lenken; als wir jedoch ganz nahe an die Durchfahrt herangekommen waren, bemerkten wir, daß uns eine gewaltige Menge von Eingeborenen erwartete. Wir schätzten ihre Anzahl auf acht- bis neunhundert. Alle waren mit Speeren, Keulen und Steinen bewaffnet. Über ihre feindselige Gesinnung konnte kein Zweifel bestehen; sie wiesen unsere Freundschaftsbezeigungen zurück, schwangen ihre Speere und überschütteten uns mittels ihrer Schleudern mit einem solchen Steinhagel, daß mehrere unserer Leute verletzt wurden. Von der Mastspitze aus erkannten wir, daß die Lagune mit Korallenbänken übersät war, die die Manövrierung des Schiffes selbst dann schwierig gestaltet hätten, wenn wir von den Wilden unbelästigt geblieben wären. Einige der Meuterer schlugen vor, die Kanonen auf die Indios zu richten; wenn wir dies getan hätten, würden wir Hunderte von ihnen getötet und den Rest unterjocht haben. Aber Christian wollte davon nichts hören. Er berief eine Versammlung der Mannschaft ein, von der wir, die wir an der Meuterei nicht teilgenommen hatten, ausgeschlossen blieben. Schließlich nahm das Schiff Kurs nach Norden. Young hatte sich verpflichtet, uns über das Ergebnis der Versammlung nichts zu sagen, aber da wir die Lage des Schiffes feststellen konnten und sahen, daß der Kurs nach
Norden mehrere Tage lang eingehalten wurde, konnte kein Zweifel bestehen: Unser Ziel war Tahiti. Während der Nacht besprach ich mit Morrison und Stewart flüsternd unsere Lage. Die Rückkehr nach Tahiti bedeutete einen unverhofften Glücksfall für uns. Vielleicht müßten wir dort mehrere Jahre auf ein Schiff warten, das uns in die Heimat brächte, aber einmal würde es kommen. Wir beschlossen, in Tahiti auf irgendeine Weise von der Bounty zu fliehen und uns verborgen zu halten, bis sie wieder die Anker lichtete.
11
Am nächsten Tage ließ mich Christian abermals zu sich rufen. Ich fand ihn in Gesellschaft Churchills, der mich mit einem Lächeln begrüßte, während Christian düster und vergrämt aussah. »Ich habe Sie rufen lassen, Herr Byam«, sagte Christian in förmlichem Tone, »um Sie über den Entschluß zu unterrichten, den wir in bezug auf Sie und Ihre Gefährten getroffen haben. Wir hegen keinen Groll gegen Sie, aber die Umstände zwingen uns, die nötigen Maßnahmen für unsere eigene Sicherheit zu treffen. Wir steuern jetzt auf Tahiti zu, wo wir mindestens eine Woche bleiben werden, um Vieh und Vorräte an Bord zu nehmen.« Meine Züge müssen meine Gedanken verraten haben, denn Christian schüttelte den Kopf. »Ich hatte zuerst die Absicht«, fuhr er fort, »Sie dort zurückzulassen; früher oder später könnten Sie auf ein Schiff hoffen, das Sie in die Heimat bringen würde. Aber die Leute wollen davon nichts hören, und ich fürchte, sie haben recht.« Churchill nickte. »Nein, Herr Byam; die ganze Mannschaft will Ihnen wohl, aber wir dürfen es nicht zugeben.« »Wir können Sie weder auf Tahiti lassen noch Ihnen erlauben, an Land zu gehen«, fuhr Christian fort. »Die Leute wollten, daß wir Sie alle unter Bewachung stellen, aber ich erwirkte, daß Herr Stewart, Herr Morrison und Sie sich frei auf Deck bewegen dürfen, wenn Sie Ihr Ehrenwort geben, den Indios nichts von der Meuterei zu sagen und nichts zu tun, was uns schaden könnte.« »Ich verstehe das, Sir«, entgegnete ich, »wenn wir auch gehofft hatten, Sie würden uns in Tahiti zurücklassen.«
»Unmöglich!« sprach Christian. »Nur ungern nehme ich Sie gegen Ihren Willen mit, aber die Sicherheit der Mannschaft erfordert es. Keiner von uns wird England wiedersehen - damit müssen wir uns abfinden. Es ist meine Absicht, eine der vielen unbekannten Inseln in diesem Meere aufzusuchen, unsere Vorräte und unseren Viehbestand an Land zu bringen, das Schiff zu vernichten und uns dort dauernd anzusiedeln, in der Hoffnung, nie wieder ein fremdes weißes Gesicht zu sehen.« »So ist es, Herr Christian«, stimmte Churchill zu. »Das ist die einzige Möglichkeit.« Christian stand auf, um anzudeuten, daß die Unterredung beendet sei, und ich ging zutiefst entmutigt auf Deck. Ich blickte auf das blaue Wasser hinab, das die Schiffswand umspielte, und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Das Versprechen, das man von uns verlangte, enthielt wohl nichts auf eine Flucht Bezügliches, aber sicherlich würden wir streng bewacht werden. Und selbst wenn wir entkommen könnten, würden wir aller menschlichen Voraussicht nach wieder eingefangen werden. Die Häuptlinge hätten auf Christians Geheiß sicherlich alle Berge und Täler nach uns absuchen lassen. Unsere einzige Chance, und die war wirklich recht gering, bestand darin, uns in den Besitz eines schnellen Kanus zu setzen und eine andere Insel zu erreichen, wohin die Macht der großen Häuptlinge von Tahiti nicht reichte. Das Schiff unter den Augen der Meuterer zu verlassen, würde schwer sein; sogleich ein geeignetes Kanu abfahrtsbereit zu machen und mit Vorräten zu versehen, noch schwerer. Am schwersten zu ertragen erschien uns die einzige andere Möglichkeit - nie wieder ein fremdes weißes Gesicht zu sehen.
Wie ich so, tief in angstvolles Nachdenken versunken, dastand, berührte Stewart meinen Arm. »Sieh nur«, sagte er, »sie werfen die jungen Brotfruchtpflanzen über Bord!« Und in der Tat hatte sich auf der Treppe eine Reihe von Männern gebildet, die unter Youngs Kommando die Töpfe von Hand zu Hand gehen ließen. Ein Mann am Geländer des Hinterschiffes riß eine junge Pflanze nach der anderen mit den Wurzeln heraus und warf sie über Bord, während andere die Erde in das Meer schütteten. Wir hatten über tausend junge Brotfruchtbäume an Bord, und nun trieb im Kielwasser der Bounty üppig grünes Blattwerk, ein Spielzeug der blauen Wogen. Die Pflanzen waren mit unendlicher Mühe eingesammelt und gepflegt worden; um sie zu erlangen, hatten wir Entbehrungen erlitten, unbekannten Meeren getrotzt und über siebenundzwanzigtausend Meilen in gutem und in bösem Wetter durchsegelt. Und nun gingen die in Westindien sehnlich erwarteten Pflanzen über Bord wie unnützer Ballast. »Verschwendung!« murmelte Stewart. »Zerstörung und Verschwendung! Dinge, die ich als guter Schotte verabscheue!« Es war traurig, über die Ergebnisse der Expedition nachzudenken: die kostbaren Pflanzen über Bord geworfen; Bligh und seine Gefährten vermutlich ertrunken oder von Wilden ermordet; die Meuterer, verzweifelt und unglücklich, dazu bestimmt, aus den Reihen der Menschheit zu verschwinden; wir selbst von dem gleichen harten Schicksal bedroht. Als wir am Abend ungestört in unserer Kammer beisammensaßen, unterrichtete ich Stewart von meinem Gespräch mit Christian und den trüben Aussichten, die sich uns boten.
Er schwieg eine Weile; dann blickte er auf. »Wenigstens werde ich Peggy wiedersehen. Vielleicht kann sie uns die Möglichkeit verschaffen, zu entfliehen.« »Ja, das wäre möglich!« stimmte ich zu. »Sie könnte uns ein Kanu verschaffen - nur sie. Die Häuptlinge allein besitzen Fahrzeuge, die für unsere Zwecke groß genug sind. Teina und Hitihiti fühlen sich König Georg gegenüber zu verpflichtet, um die Hand zu einem Unternehmen zu reichen, das sie als eine Verschwörung gegen ihn betrachten würden. Bei Peggys Vater fällt dieses Bedenken weg.« Stewart folgte meinem Gedankengang sogleich. »So ist es! Peggy bietet uns die einzige Möglichkeit. Wenn ich zehn Minuten mit ihr allein bin, kann ich alles vorbereiten. Es muß in einer Nacht geschehen, in der der Wind von Osten her weht. Das Kanu muß an der Bounty vorbeigerudert werden, als sei es auf einer Fahrt nach Tetiaroa begriffen, und die Besatzung muß Lärm machen, der die Wachmannschaft auf die eine Seite des Schiffes lockt. Inzwischen können wir auf der anderen Seite über Bord springen und schwimmend das Kanu erreichen. Wenn wir Glück haben, wird uns in der Dunkelheit niemand bemerken.« »Wahrhaftig, Stewart! Ich glaube, es wird gehen!« »Es muß gehen, Byam!« Am Abend des 5. Juni sahen wir in der Ferne die Bergspitzen von Tahiti aus den Wolken auftauchen, und am nächsten Nachmittag warfen wir in der Bucht von Matavai Anker. Jeder Mann an Bord hatte genaue Weisungen darüber, was er den Indios zu sagen habe: Bei Aitutaki seien wir Kapitän Cook, Blighs Vater, begegnet, der auf dieser Insel eine englische Niederlassung
errichten wolle. Bligh und andere Mitglieder der Schiffsmannschaft seien von Cook aufgenommen worden, der der Bounty den Auftrag gegeben habe, ihm die Brotfruchtpflanzen zu übergeben und nach Tahiti zurückzukehren, um Vorräte und Vieh zu laden. Sodann solle unser Schiff auf die Suche nach anderen, für eine Niederlassung geeigneten Inseln gehen. Die Indios strömten in Scharen auf das Schiff zu, unter ihnen auch Taina, Hitihiti und die anderen Häuptlinge. Die Geschichte, die Christian erdichtet hatte, befriedigte sie vollkommen, und da er sehr beliebt war, weit beliebter als Bligh, versprachen die Eingeborenen, alles Gewünschte zu liefern. An diesem Abend speiste ich mit Christian; Maimiti und Hitihiti, mein Taio, waren die übrigen Gäste. Als das Mädchen an seiner Seite saß, schien Christian für einen Augenblick die finstere Stimmung, die seit der Meuterei niemals von ihm gewichen war, abgeschüttelt zu haben. Er erhob sein Glas und lächelte mir über den Tisch hinweg zu. »Auf das Wohl unserer Liebsten«, rief er fröhlich. »Sie können auf das Wohl der meinen trinken, Byam, da Sie selbst keine haben.« Maimiti lächelte ernsthaft und berührte das Glas mit den Lippen, während mein Taio sein Glas in einem Zuge leerte. »Komm an Land und wohne in meinem Hause, Byam«, forderte er mich auf. Ich spürte Christians Blick auf mir ruhen, als ich antwortete: »Es tut mir leid, aber wir bleiben nur einige Tage hier, und Herr Christian benötigt mich an Bord.« Hitihiti war augenscheinlich überrascht hierüber. Er sah Christian an; dieser nickte und sprach: »So ist es! Er wird während der Zeit, die wir hier vor Anker liegen, an Bord
benötigt.« Der Häuptling verstand genug von der Disziplin auf einem britischen Schiff, um das Thema fallenzulassen. Während des Nachmittags war Peggy an Bord gekommen; und als ich auf Deck kam, sah ich das Paar beim Großmast sitzen. Stewarts Arm war um ihre Hüfte geschlungen, und sie unterhielten sich in der Landessprache. Als sie das Schiff verlassen hatte, traf ich bei der großen Luke mit Stewart und Morrison zusammen. Young kommandierte die Wache, und da wir vor Anker lagen und die Nacht ruhig war, hatte er seinen Leuten die Erlaubnis erteilt, auf Deck zu schlafen. Er war ein sorgloser Bursche, der kein Mißtrauen kannte, und lehnte gegen eine Schießscharte, den Blick auf die dunkle Masse des Landes gerichtet. Taurua, sein Liebchen, hielt mit ihm Wache, eine schlanke, in weißen Tapastoff gehüllte Gestalt. Die Nacht war kühl, und in der schwarzen Fläche der Bucht spiegelten sich die Sterne. »Ich habe mit Peggy gesprochen«, berichtete Stewart leise, »und sie von unserem Entschluß unterrichtet, vom Schiff zu entweichen. Sie glaubt, daß ich um ihretwillen entfliehe, was ja zum Teil auch Wahrheit ist. Was euch beide betrifft, so nimmt sie an, daß ihr das Leben auf Tahiti liebgewonnen habt. Peggy wird uns von Herzen gern helfen. Leider ist das einzige große Kanu, das ihre Familie besitzt, in Tetiaroa. Sie wird morgen ein kleines Boot aussenden, um es zu holen, falls der Wind günstig ist.« »Ich wünschte, wir könnten die anderen mitnehmen«, sagte ich. »Das ist unmöglich«, meinte Morrison. »Christian hält sie unter Deck bewacht, bis das Schiff absegelt.«
»Auf jeden Fall wären ihrer zu viele«, sagte Stewart. »Ihre Anzahl würde die Flucht unmöglich machen.« Morrison zuckte die Achseln. »Nein, wir müssen an uns selbst denken. Ich habe nur einen Wunsch, einen Gedanken - nach England zurückzukehren. Ein Schiff wird kommen, wenn wir auch vielleicht zwei oder drei Jahre warten müssen. Wir müssen Geduld haben, das ist alles.« »Geduld?« sprach Stewart. »Nun denn, ich kann es gut und gerne drei Jahre hier aushalten, auch vier oder fünf, wenn es sein muß! Auch Byam liebt das Leben auf dieser Insel.« »Das Leben auf dieser Insel soll der Teufel holen«, rief Morrison, ohne zu lächeln. »Wer weiß, welche Kriege ausbrechen, welche Aussichten auf Beförderung und Beute uns entgehen!« Ich ging in jener Nacht mit leichterem Herzen zur Ruhe, denn unsere Flucht schien gesichert. Bei Sonnenaufgang sah ich Peggys leichtes Kanu, mit einem halben Dutzend kräftiger Burschen bemannt, Kurs auf Tetiaroa nehmen, und während des ganzen Vormittags beobachtete ich angstvoll die Entwicklung des Wetters. Die Natur war gegen uns. Der Tag wurde kühl, und Wolkenmassen senkten sich vom Gebirge auf die See hinab. Die Bucht von Matavai selbst blieb unter dem Schutze der Berge ruhig wie ein Teich, aber draußen auf dem offenen Meere tobte ein heftiger Sturm von Süden her. Ich erkannte, daß, solange der Südwind anhielt, kein Kanu es wagen würde, von Tetiaroa zurückzukehren. Tag um Tag verging, und der Südwind blies ohne Unterlaß, während wir unsere seltsame Ladung an Bord nahmen. Schweine, Hühner, Hunde und Katzen wurden auf das Schiff gebracht, bis es einer Menagerie glich,
zum Schluß der Stier und die Kuh, die Kapitän Cook auf Tahiti zurückgelassen hatte. Ziegen liefen meckernd zwischen Bergen von Taro, süßen Kartoffeln und Yamwurzeln umher. Und allmählich verwandelten sich unsere Hoffnungen in Befürchtungen. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß Christian an baldige Abfahrt dachte, und Peggys Gesicht war, wenn sie ihren Liebhaber an Bord besuchte, von Sorge umschattet. Ich will bei diesen Tagen ängstlicher Spannung nicht lange verweilen. Genug damit, daß am neunten Tage der Wind nach Nordosten umschlug und unser Segelkanu endlich anlangte. Dies geschah zu Mittag, und alles war für unsere Flucht in der folgenden Nacht vorbereitet, als das Schicksal im letzten Augenblick sich wieder gegen uns wandte. Um zwei Uhr nachmittags gab Christian Befehl, die Anker zu lichten, und die Bounty segelte ab. Die Monate Juni bis September des Jahres 1789 werden ewig als Alpdruck in meiner Erinnerung bleiben, und da sie mit meiner eigentlichen Erzählung wenig zu tun haben, will ich nicht mehr als notwendig darüber berichten. Trotz dem feindseligen Empfang bei unserem ersten Besuch in Tupuai hatte sich Christian entschlossen, diese Insel als Niederlassungsort zu wählen. Wir segelten nun gegen Süden, und die Bounty glich einer neuen Arche Noah; sie hatte Vieh mancherlei Art an Bord, dazu bestimmt, sich auf der Insel zu vermehren. Aber auch eingeborene Frauen waren auf dem Schiff, die Stammütter einer neuen Rasse werden sollten. Christians Maimiti befand sich darunter und Youngs Taurua; Alexander Smith, der den Damen von Tupuai
mißtrauisch gegenüberstand, hatte Balhadi überredet, ihn zu begleiten. Übrigens waren keine großen Überredungskünste erforderlich, denn die Indios lieben Reisen und Abenteuer jeglicher Art leidenschaftlich. Als wir Tahiti längst hinter uns gelassen hatten, entdeckten wir erst, daß wir neun eingeborene Männer, zwölf Frauen und acht Knaben an Bord hatten, die sich zum größten Teil ohne unser Wissen auf das Schiff geschmuggelt hatten. Der Empfang in Tupuai war am Anfang freundlich, und zwar dank den Passagieren aus Tahiti, die den Bewohnern unsere Absicht auseinandersetzten, auf der Insel eine Heimstätte zu gründen. Mit unendlicher Mühe zogen wir das Schiff an Land und errichteten Schutzdächer gegen die Sonne. Dann bauten wir ein Fort und umgaben es mit einem zwanzig Fuß tiefen, vierzig Fuß breiten Graben. Die Leute murrten sehr über diese Herkulesarbeit, aber es zeigte sich bald, daß Christians Vorsichtsmaßnahme nur zu begründet war. Unsere Ziegen, die wir freigelassen hatten, damit sie sich in dem gebirgigen Innern vermehrten, fielen über die mit unendlicher Mühe angelegten und bewässerten Taropflanzen der Eingeborenen her. Die Leute kamen mit der Forderung zu uns, die Tiere, deren sie nicht Herr werden konnten, mit unseren Musketen zu erlegen. Als wir uns weigerten, brach unter den Eingeborenen offene Feindseligkeit gegen uns aus. Ein ums andere Mal griffen sie unsere Festung wütend an; zwar wurden sie durch unser Geschützfeuer immer wieder vertrieben, aber wir konnten nur noch in größeren Gruppen, schwer bewaffnet, unser befestigtes Lager verlassen. Die Lage wurde immer unerträglicher, und Anfang September berief Christian eine Versammlung ein, die über unsere
weiteren Schritte entscheiden sollte. Alle waren dafür, Tupuai zu verlassen; sechzehn wünschten, in Tahiti zurückgelassen zu werden, während die andern lieber auf der Bounty die Suche nach einer anderen, unbewohnten Insel aufnehmen wollten. Als wir den Eingeborenen unseren Entschluß, Tupuai zu verlassen, mitgeteilt hatten, stellten sie ihre Feindseligkeiten ein, und wir machten die Bounty mit großer Mühe segelfertig. Mit einer frischen östlichen Brise nahmen wir wieder Kurs auf Tahiti und warfen fünf Tage später aufs neue in der Bucht von Matavai Anker. Christian, Mills, Young, Brown, Martin, McCoy, Williams, Quintal und Alexander Smith beschlossen, auf dem Schiff zu bleiben. Der Rest der Mannschaft zog es vor, sich in Tahiti niederzulassen. Ich war überglücklich über diese plötzliche Änderung meines Loses, und Stewart und Morrison teilten meine Gefühle. Als mein Freund Hitihiti vernahm, daß ich die Absicht habe, sein Haus zu meinem neuen Heim zu machen, strahlte er über das ganze Gesicht. Da er in einem Doppelkanu, das alle meine Habseligkeiten aufnehmen konnte, gekommen war, erbat ich sogleich Christians Erlaubnis, das Schiff zu verlassen. Dieser war gerade damit beschäftigt, Waffen zu verteilen; jeder der in Tahiti Verbleibenden erhielt den ihm zukommenden Teil. »Gehen Sie an Land, wann immer Sie wünschen«, sagte er, von der Liste, die er in der Hand hielt, aufblickend. »Und nehmen Sie eine Muskete und genügend Blei mit, um Kugeln daraus zu gießen. Heute abend werde ich Sie bei Hitihiti besuchen; sagen Sie Stewart, er möge sich gleichfalls einfinden.«
Wieder im Hause meines Taio zu sein, Hina und ihren Gatten zu begrüßen und von Hitihitis Enkelkindern bewillkommnet zu werden, das alles erschien mir wie eine richtige Heimkehr. Ich hatte so lange unter diesen guten Menschen gelebt, daß sie mir durch stärkere Bande als die bloßer Freundschaft verbunden schienen. Bald hatte sich ein Kreis neugieriger Nachbarn um mich versammelt, und ich mußte unsere Abenteuer auf Tupuai des langen und breiten in der Landessprache erzählen. »Was gedenkst du zu tun, nun, da du zurückgekehrt bist? Wirst du lange unter uns leben?« wollte Hina wissen. »Morgen oder übermorgen wird Christian mit acht Männern nach Aitutaki segeln, um mit Kapitän Cook zusammenzutreffen. Wir anderen, die wir diese Insel liebgewonnen haben, erhielten die Erlaubnis, uns hier niederzulassen.« Hina lehnte sich an mich und ergriff mit einem herzlichen Gruß nach einheimischer Art meine Schulter. »Oh, Byam«, sprach sie, »wir alle sind erfreut über deinen Beschluß, das Haus ist leer, seit du nicht mehr darin wohnst.« »So ist es«, stimmte ihr Mann herzlich zu. »Du bist einer der Unseren, und wir lassen dich nicht mehr weg!« Am späten Nachmittag kam Stewart, während Hitihiti zum Schiff zurückgekehrt war, um Christian und Maimiti abzuholen. Lässig schlugen die Wellen des ruhigen Meeres an das Ufer, und wir saßen schweigend am Strande; es war, als ob die Schönheit des Abends uns in einen Zauber von Schweigen und Unbeweglichkeit eingehüllt hätte. Der Abend wandelte sich zur Nacht, als das Doppelkanu, auf den Wellen schaukelnd, wie ein wandernder Schatten näher kam. Nun war es da; Christian sprang an Land und
war Maimiti beim Aussteigen behilflich. Er bat Stewart und mich, auf ihn zu warten, während er sich von Maimitis Verwandten verabschiedete. Als er zum Strande zurückkehrte, hatte sich bereits tiefes Dunkel herabgesenkt. Mich überkam unendliche Rührung. »Ich sehe euch jetzt zum letztenmal«, sprach Christian unvermittelt nach langem Schweigen. »Wir segeln morgen, sobald ein günstiger Wind weht, ab. Ich habe euch über die Meuterei alles offen und ehrlich erzählt. Vergeßt nicht, daß ich, ich allein, verantwortlich bin. Bligh und seine Begleiter sind sicherlich längst tot. Blighs wegen hege ich kein Bedauern; der Gedanke an die anderen, unschuldigen Männer lastet schwer auf meinem Gewissen. Ihr kennt die Umstände; sie mögen meine Handlung erklären, wenn sie sie auch niemals entschuldigen können. Ich bin ein Meuterer und ein Pirat, und es ist meine Pflicht, jene zu schützen, die sich meiner Führung anvertrauen. Dies ist der größte Ozean der Welt, mit unzähligen Inseln besät. Auf einer derselben, nördlich oder südlich, östlich oder westlich, werden wir uns niederlassen und das Schiff zerstören. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen, das verspreche ich euch.« Er schwieg. Die Stille der Nacht wurde nur durch das sanfte Plätschern des Meeres unterbrochen. »Früher oder später«, fuhr Christian nach einer langen Pause fort, »wird ein britisches Kriegsschiff hier Anker werfen. Wenn dies geschieht, rate ich euch, sofort an Bord zu gehen und euch beim Kommandanten zu melden, ihr und die anderen, die an der Meuterei nicht beteiligt waren. Ihr seid unschuldig, und es kann euch nichts geschehen. Die anderen mögen tun, was sie für richtig halten. Da sie nicht mit mir gehen wollen, trage ich keine
Verantwortung für ihr Schicksal mehr. Noch einmal bitte ich Sie, Byam, meinen Vater aufzusuchen, wenn Sie nach England zurückkehren. Erzählen Sie ihm meine Geschichte, wie ich sie Ihnen erzählt habe; erklären Sie ihm vor allem, daß ich nur die Absicht hatte, Bligh seines Kommandos zu entheben und ihn als Gefangenen heimzubringen. Vielleicht wird dies mein Verbrechen in den Augen meines Vaters weniger schwer erscheinen lassen. Wollen Sie das für mich tun?« Christian erhob sich; auch Stewart und ich sprangen auf. Ich ergriff als erster Christians Hand. »Ich verspreche es«, sagte ich, im Innersten bewegt. Im nächsten Augenblick rief Christian zum Hause hinüber: »Maimiti!« Sie mußte den Ruf erwartet haben, denn gleich darauf tauchte eine schlanke weiße Gestalt zwischen den Palmen auf. Die Ruderer folgten ihr, hoben das Kanu in die Höhe und schoben es ins Meer. Das Mädchen kam wortlos auf mich zu und umarmte mich zärtlich nach dem Brauch ihrer Heimat. Dann umarmte sie, gleichfalls schweigend, Stewart und sprang in das Kanu. Christian schüttelte zum letztenmal unsere Hände. »Gott segne euch!« sprach er. Wir standen am Ufer und sahen das Kanu allmählich im Dunkel verschwinden. Als ich bei Tagesanbruch das Haus verließ, bewegte sich die Bounty, alle Segel gesetzt und von einer leichten östlichen Brise getrieben, in nördlicher Richtung vom Lande fort.
12
Obgleich ich Grund hatte, mit meiner gegenwärtigen Lage zufrieden zu sein, war die auf die Abfahrt der Bounty folgende Woche eine unglückliche Zeit für mich. Ich begann in meiner knabenhaften Einfalt darüber nachzugrübeln, ob das Schicksal des Menschen von einem göttlichen Gesetz oder vom Zufall gelenkt werde. Viele gute, unschuldige Menschen hatten Bligh in das Boot begleitet. Wo waren sie nun? Die meisten Meuterer waren brave, einfältige Burschen und hatten geduldig Dinge ertragen, die andere zur Verzweiflung getrieben hätten. Unter dem eisernen Gesetz der See hatten sie, ohne viel zu murren, die Entbehrungen der langen Reise und die Launen eines Mannes, der selbst in jenem harten Zeitalter als brutal gelten mußte, erduldet. Ein Augenblick hemmungsloser Leidenschaft hatte unser aller Los geändert. Auch mein eigenes Schicksal und das meiner Gefährten war weit davon entfernt, beneidenswert zu sein, wenn wir auch die Prüfungen bestanden hatten, ohne Schuld auf uns zu laden. Was hingegen die Meuterer anbetraf, die auf Tahiti geblieben waren, so wußte ich nur zu wohl, welches Los ihnen bevorstand. Oft schweiften meine Gedanken zu dem kleinen Ellison, der sich keinen Begriff von der Schwere seiner Verfehlungen machte. Und doch wußte ich, daß er nach dem Seerecht unfehlbar zum Tode verurteilt werden mußte. Während dieser Tage hörte ich auf, ein Knabe zu sein. Morrison hatte sich bei Poino, dem in der Nähe lebenden großen Krieger, niedergelassen, während Stewart mit Peggy im Hause Tipaus, ganz in meiner Nähe, lebte. Ich kam häufig mit diesen beiden Freunden zusammen, und
ihr Beispiel lehrte mich, mich meiner unfruchtbaren Niedergeschlagenheit zu schämen. Morrison und Millward, der gleichfalls in Poinos Haus wohnte, planten bereits, einen kleinen Schoner zu bauen und in diesem Batavia zu erreichen, ohne die Ankunft eines Schiffes aus England abzuwarten. Stewart beschäftigte sich damit, die Gründe rings um das Haus, welches Tipau für ihn erbauen ließ, zu verschönern. Als ich ihn in meine Gedanken einweihte, meinte er lächelnd: »Man soll sich nie Sorgen über etwas machen, was man nicht ändern kann.« Und unverdrossen fuhr er fort, zu graben, zu säen und Pfade anzulegen. Da auch ich endlich begriff, daß schwere Arbeit das einzige Mittel gegen meine Melancholie war, nahm ich mein Wörterbuch vor und vertiefte mich von neuem in meine Tätigkeit. Eines frühen Morgens, etwa zehn Tage nach der Abfahrt der Bounty, konnte ich keinen Schlaf mehr finden und machte einen Spaziergang längs des gewundenen Strandes, der nach Kap Venus führt. Es war eine Stunde vor Sonnenaufgang; die Sterne leuchteten hell, und die nördliche Brise, die aus der Gegend des Äquators herüberwehte, machte die Luft warm und mild. Ganz nahe dem Kap liegt einer der schönsten kleinen Häfen der Insel, der häufig von Reisenden in Segelbooten dazu benützt wird, die Nacht an Land zu verbringen. Das Wasser ist dort immer ruhig und klar. Das Kap war zu dieser Tagesstunde eines meiner Lieblingsplätzchen, denn der Blick über die Küste bei Sonnenaufgang erfreute mich stets von neuem. Ich ließ mich behaglich auf einer der hohen Sanddünen nieder und schaute gen Osten, wo der erste zarte Schimmer der Morgendämmerung aufleuchtete. In diesem Augenblick
drang ein leises Geräusch an mein Ohr, und ich bemerkte, daß ein großes Segelboot in den Hafen einfuhr. Ein wenig später hörte ich auch die leisen Kommandorufe des Mannes an der Mastspitze; einer der Schiffer sprang an Land und befestigte das Ende des Kanus an einem Pfosten. Aus der Größe des Fahrzeuges und der Zahl der Schiffer schloß ich, daß es Fahrgäste von Rang an Bord hatte, aber diese schliefen offenbar noch in der kleinen gedeckten Kajüte. Einige Mann der Besatzung kamen an Land, um ein Feuer anzuzünden und das Morgenmahl vorzubereiten. Dann sah ich, wie mit Hilfe der Ruderer zwei Frauen ans Ufer stiegen und sich in westlicher Richtung entfernten. Es war vollends Tag geworden, als ich mich erhob und zu dem großen Fluß ging, der sich westlich vom Kap in die See ergießt. Er heißt Vaipoopoo, und nahe der Mündung war sein Wasser so klar und tief, daß ich an dieser schönen, weltabgeschiedenen Stelle oft zu schwimmen pflegte. Hohe, alte Bäume, deren Wurzeln prächtige Sitzgelegenheiten bildeten, überschatteten die Wasserfläche. Hierher lenkte ich nun meine Schritte, um mein Morgenbad zu nehmen. Ich warf den leichten Oberwurf von den Schultern, behielt nur den landesüblichen Lendenschurz an, stieg ins Wasser und ließ mich von der sanften Strömung gemächlich tragen. Hoch über mir ließ ein Vogel seine Stimme ertönen, ein Omaomao, dessen Gesang süßer ist als der unserer Nachtigall. Plötzlich sah ich ein junges Mädchen, lieblich wie eine Wassernixe, auf einer Baumwurzel sitzen. Das Geräusch meines Umherplätscherns mußte an ihr Ohr gedrungen sein, denn sie hob plötzlich den Kopf und blickte mir voll in die Augen. Ich erkannte sie sofort - es war Tehani, die
ich vor langer Zeit in Tetiaroa gesehen hatte. Sie verriet weder Scheu noch Verlegenheit, denn ein Mädchen ihres Standes hatte in jener Zeit nichts zu fürchten, weder bei Tag noch bei Nacht, weder allein noch in Gesellschaft. Ein ungehöriges Wort ihr gegenüber hätte für den Missetäter den sofortigen Tod bedeutet, ein tätlicher Angriff wäre die Ursache eines blutigen Krieges geworden. Dieses Gefühl des Geschütztseins verlieh den Mädchen ihres Standes eine unbewußte Sicherheit des Benehmens, die ihren besonderen Reiz ausmachte. »Lang sollst du leben!« sprach ich zu ihr, gegen den Strom auf sie zuschwimmend. »Auch du!« antwortete Tehani mit einem Lächeln. »Ich weiß, wer du bist. Du bist Byam, der Taio Hitihitis!« »Der bin ich«, sagte ich, begierig, die Unterhaltung zu verlängern. »Soll ich dir auch sagen, wer du bist? Du bist Tehani, Poinos Verwandte. Ich sah dich in Tetiaroa, als du dort tanztest.« Darüber lachte sie laut auf. »So, du sahst mich? Tanzte ich gut?« »So herrlich, daß ich jene Nacht nie vergessen werde!« »Arero mona!« rief sie scherzend, denn die Indios nennen einen Schmeichler »süße Zunge«. »So herrlich«, fuhr ich fort, als hätte ich ihre Worte nicht gehört, »daß ich zu Hitihiti sagte: »Wer ist jenes Mädchen, lieblicher als jedes andere in Tahiti, sie, die die junge Göttin des Tanzes selber sein könnte?«« »Arero mona!« spottete sie aufs neue, aber ich konnte sehen, wie eine leichte Röte ihre Wangen überflog. Sie war gerade aus dem Wasser gestiegen, und ihr braunes Haar fiel in feuchten Löckchen auf ihre Schulter. »Komm, laß uns sehen, wer weiter unter Wasser schwimmen kann,
du oder ich!« Tehani schlüpfte in den Fluß und tauchte so leicht unter, daß sich das Wasser kaum kräuselte. Von jenseits der Biegung, die der Fluß ein Stückchen weiter unten machte, ertönte nach einer Zeit, die mir unendlich lang schien, Tehanis Stimme: »Nun zeig du, was du kannst!« Ich tauchte ins Wasser; es war klar wie Luft, und ich konnte Scharen kleiner, bunter Fische vor mir fliehen sehen. Immer weiter schwamm ich, entschlossen, daß kein Mädchen mich im Wasser, in dem Element, das ich immer geliebt hatte, besiegen solle. Endlich, als meine Lungen die Anstrengung nicht mehr aushielten und ich überzeugt war, gewonnen zu haben, streckte ich den Kopf aus dem Wasser. Ein Kichern, musikalisch wie das Gemurmel des Flusses, grüßte mich, und als ich aufblickte, sah ich das Mädchen auf einer langgestreckten Wurzel, volle zehn Meter vor mir, sitzen. »Bist du bis dorthin geschwommen?« fragte ich betrübt. »Ich habe dich nicht betrogen!« »Wir wollen eine Weile rasten; dann versuche ich es noch einmal.« Tehani wies auf den Platz neben sich. »Komm und ruhe dich hier aus«, lud sie mich ein. Ich setzte mich neben sie und strich mein nasses Haar aus dem Gesicht. Einer gemeinsamen Regung folgend, wandten sich unsere Gesichter einander zu, und Tehanis klare braune Augen lächelten mich an. Dann wandte sie sich plötzlich ab, und mit einem Male hörte ich, wie mein Herz schneller schlug. Ihre Hand lag ganz nahe bei der meinen, ich ergriff sie sanft, und sie wurde mir nicht entzogen. Tehani senkte das Haupt, um in das klare Wasser zu blicken, und lange Zeit schwiegen wir beide.
Ich blickte nicht in das Wasser, sondern auf das schöne Mädchen an meiner Seite. Sie trug nur ein leichtes Röckchen aus weißem Stoff, und ihre nackten Arme und Schultern waren glatt wie Seide und auf das edelste geformt. Ihre zarten kleinen Hände und Füße hätten den Neid einer Prinzessin erregen können, und Phidias selbst hätte in kaltem Marmor nichts Vollkommeneres hervorbringen können als ihren in voller Unbefangenheit entblößten Busen. Ihr Antlitz drückte Sanftmut und Festigkeit zugleich aus. »Tehani!« sagte ich endlich und nahm zärtlich ihre Hand in meine beiden Hände. Sie sprach nicht, sondern hob nur langsam den Kopf und blickte mich an. Dann auf einmal, ohne daß ein weiteres Wort zwischen uns gewechselt worden wäre, lag sie in meinen Armen. Der schwache Duft ihres Haares berauschte mich, und zunächst hinderte mich das Klopfen meines Herzens daran, zu sprechen. Das Mädchen war es, das zuerst Worte fand. »Byam«, fragte sie, mein nasses Haar zärtlich streichelnd, »hast du keine Frau?« »Nein«, entgegnete ich. »Ich habe keinen Gatten«, sagte das Mädchen. In diesem Augenblick ertönte eine weibliche Stimme: »Tehani! Tehani! O!« Das Mädchen rief zurück, die Frau möge warten. »Es ist nur meine Dienerin, die an der Mündung des Flusses wartet, bis ich gebadet habe.« »Du kamst von Tetiaroa?« fragte ich, indes mein Kopf an ihrer Schulter lehnte und mein Arm ihre Hüfte umschlang. »Nein, ich bin mit meinem Onkel in Raiatea gewesen. Zwei Tage und Nächte waren wir auf dem Meere.«
»Wer ist dein Onkel?« Das Mädchen war erstaunt. »Das weißt du nicht?« fragte sie ungläubig. »Nein.« »Es ist Vehiatua, der oberste Häuptling von Taiarapu.« »Ich habe oft von ihm sprechen gehört.« »Bist du in deinem Heimatland auch ein Häuptling?« »Vielleicht... wenn auch nur ein geringer.« »Ich wußte es! Vom ersten Augenblick an wußte ich es!« Wieder schwiegen wir. Ich hob ihren Kopf in die Höhe und küßte sie in der Art meiner Heimat auf den Mund. Hand in Hand wanderten wir zur Bucht zurück. Tehanis Dienerin folgte uns mit erstaunten Augen. Vehiatua war an Land gekommen und frühstückte gerade, als wir die Anlegestelle erreichten. Er war ein alter Mann von edler Erscheinung, fröhlich und gutmütig. Sein Gefolge hatte sich um ihn versammelt und bediente ihn mit Brotfrucht, gebratenen Fischen und Bananen. Die Tätowierung des alten Häuptlings, die seinen ganzen Körper mit Ausnahme des Gesichtes bedeckte, war die schönste und kunstvollste, die ich je gesehen habe. Ich war froh darüber, daß ich nur meinen Lendenschurz trug, denn es galt als unhöflich, sich einem der großen Häuptlinge mit bedeckten Schultern zu nähern. Vehiatua zeigte sich über mein Kommen nicht erstaunt. »Willkommen, Tehani!« begrüßte er seine Nichte liebevoll. »Dein Frühstück erwartet dich an Bord. Und wer ist der junge Mann an deiner Seite?« »Der Taio Hitihitis; sein Name ist Byam.« »Ich habe von ihm gehört.« Dann lud mich Vehiatua höflich ein, an seinem Mahle teilzunehmen. Ich war hierüber keineswegs ungehalten, setzte mich neben ihm nieder und beantwortete seine Fragen über die Bounty,
von der er viel gehört hatte. Er gab seinem Erstaunen über meine Kenntnisse der Landessprache Ausdruck, worauf ich ihm von meinem Auftrag und der Hilfe, die mir mein Taio angedeihen ließ, erzählte. »Und nun wollt ihr euch in Tahiti niederlassen, um in unserer Mitte zu leben?« fragte Vehiatua. »Zumindest für lange Zeit«, entgegnete ich. »Wenn in zwei oder drei Jahren das nächste britische Schiff ankommt, wird König Georg vielleicht einige von uns oder uns alle zurückberufen.« »Ja«, sprach der alte Edelmann, »seinem König muß man gehorchen!« Als Tehani zurückkehrte, war sie sehr verschieden von dem Mädchen, das sich vor so kurzer Zeit, einem Knaben gleich, im Schwimmen mit mir gemessen und mich besiegt hatte. Ihr schönes, nun von der Sonne getrocknetes Haar war fast auf griechische Art frisiert. Ihr Überwurf aus schneeweißem Stoff war in klassische Falten gelegt, und sie schritt mit einer Würde vor ihren sechs Dienerinnen einher, die wohl nur bei wenigen sechzehnjährigen Mädchen meiner Heimat anzutreffen gewesen wäre. Der Häuptling nickte mir zu und erhob sich. »Komm, wir wollen das Haus meines Freundes aufsuchen«, sagte er. Ein muskulöser Bursche warf sich vor Vehiatua nieder, auf dessen Schultern sich der Häuptling nun niederließ. Der Mann, der ihm als Reittier diente, erhob sich wieder. Vehiatua, Teina und einige andere große Häuptlinge jener Zeit durften niemals zu Fuß gehen, denn der Grund und Boden eines gewöhnlichen Mannes, den sie betraten, gehörte von jenem Augenblick an ihnen. Wohin immer
sie sich begaben, wurden sie von Männern getragen, die eigens dazu ausgebildet waren. Hitihiti empfing uns vor dem Tore seines Hauses, warf seine Umhülle ab und trat vor, um seinen Freund mit entblößten Schultern zu begrüßen. Ein Mahl war vorbereitet, und obgleich unser Besucher soeben erst gewaltige Speisemengen verzehrt hatte, erklärte er sich bereit, an einem zweiten Frühstück teilzunehmen. Tehani und Hina kannten einander gut und hatten sich viel zu erzählen. Aus den Blicken, die Hina mir von der Seite zuwarf, erkannte ich, daß Tehani ihr über unser Zusammentreffen beim Fluß berichtet hatte. Gegen Mittag, als die anderen ein Schläfchen machten, fand ich meinen Taio wach. Er ruhte allein unter seinem Lieblingsbaum nahe dem Ufer, und ich eröffnete ihm, daß mir die Liebe zu Tehani den Frieden meiner Seele geraubt habe. »Warum heiratest du sie nicht, falls sie einverstanden ist?« fragte Hitihiti. »Ich glaube, daß sie einverstanden ist, aber was werden ihre Eltern dazu sagen?« »Sie hat keine Eltern; beide sind tot.« »Und Vehiatua?« »Hat Gefallen an dir gefunden.« »Vortrefflich! Wenn wir nun aber heiraten und ein englisches Schiff käme, um mich in meine Heimat zurückzurufen?« Mein Taio zuckte verzweifelt die Achseln. »Ihr Engländer seid alle gleich«, sagte er mißbilligend; »ihr macht euch unglücklich wegen Dingen, die vielleicht nie kommen werden! Ist das Heute nicht genug, daß du immer an morgen und übermorgen denken mußt? Zehn oder zwanzig Jahre mögen vergehen, ehe wieder ein
Schiff hierherkommt! Laß mich solches Gerede nicht mehr hören! Gestern ist vorbei; das Heute gehört dir; aber das Morgen wird vielleicht niemals kommen!« Wider Willen mußte ich über die Lehren meines Freundes lächeln, wenn ich auch begriff, daß ein gutes Stück gesunder Weltweisheit darin lag. Sich über die Zukunft Sorgen zu machen ist ohne Zweifel die größte Stärke und die größte Schwäche des weißen Mannes in seiner Jagd nach dem Glück. Den Bewohnern von Tahiti waren Sorgen um die Zukunft unbekannt; ihre Sprache enthielt nicht einmal ein Wort, um einen solchen Begriff auszudrücken. Sicherlich hatte Hitihiti recht; da es mir nun einmal bestimmt war, lange Zeit unter den Indios zu leben, mußte ich mich ihren Grundsätzen anpassen. »Du bist mein Taio«, sagte ich, »willst du mein Fürsprecher bei Vehiatua sein?« Der Häuptling klopfte mir auf den Rücken. »Von Herzen gern!« rief er. »Du bist mir schon zu lange ohne Weib! Nun aber laß mich schlafen!« Tehani erwachte früher als die anderen; als sie mich sah, kam sie gleich auf mich zu. »Liebste«, sagte ich, »mein Taio hat versprochen, für mich bei Vehiatua um deine Hand anzuhalten. Habe ich unrecht gehandelt?« »Ich sprach mit meinem Onkel, bevor er sich zum Schlummer niederlegte«, antwortete Tehani lächelnd. »Ich sagte ihm, daß du mein Gatte werden mußt. Er wollte wissen, ob du einverstanden seist; da meinte ich, ich müsse dich bekommen, ob du willst oder nicht! >Verlangst du vielleicht von mir, ich soll Hitihiti mit Krieg überziehen und seinen Taio entführen?< fragte er. >Ja<, entgegnete ich, >wenn es notwendig ist!< Er blickte mich liebevoll an und sprach: >Habe ich dir
jemals etwas versagt, meine kleine Taube, seit deine Mutter gestorben ist? Dein Byam ist ein Fremdling, aber immerhin ist er ein Mann, und kein Mann könnte dir widerstehen!< Sag mir, glaubst du, daß er recht hat?« »Er hat recht!« antwortete ich, ihre Hand drückend. Als wir zum Hause zurückkehrten, stand die Sonne schon tief, und die beiden Häuptlinge waren in eine ernste Unterhaltung vertieft. »Vehiatua gibt seine Zustimmung zu der Heirat«, sagte Hitihiti, als wir uns näherten. »Er stellt nur eine Bedingung - ihr müßt den größten Teil eurer Zeit in Tautira verbringen. Er könnte es nicht ertragen, von seiner Nichte getrennt zu leben. Aber ihr müßt den alten Hitihiti oft besuchen!« »Die Hochzeit wird sogleich in meinem Hause stattfinden«, sprach der Beherrscher von Taiarapu. »Ihr könnt morgen mit mir fahren; Hitihiti und Hina werden in ihrem Boote folgen. Ihr könnt euch als verlobt betrachten.« Bei diesen Worten erhob ich mich und ging in das Haus, um meine Kiste zu öffnen. Als ich zurückkehrte, brachte ich das Armband und die Halskette mit, die ich vor so langer Zeit in London erworben hatte. Ich zeigte die Schmuckstücke zuerst Vehiatua, der sie bewundernd betrachtete. »Mein Brautgeschenk für Tehani«, erklärte ich, »mit deiner Erlaubnis.« »Sie kann sich glücklich schätzen, denn kein Mädchen auf diesen Inseln besitzt solche Dinge. Ich habe schon Gold gesehen und weiß, daß es sehr kostbar ist und nicht rostet wie Eisen. Ein königliches Geschenk, Byam, was können wir dir wohl als Gegengabe bieten?« »Das hier!« rief ich, legte die Kette um Tehanis Hals und nahm sie bei der Schulter, als ob ich sie forttragen wolle.
Vehiatua schmunzelte anerkennend. »Gut geantwortet!« sprach er. »Auch Tehani ist in Wahrheit ein königliches Geschenk. Auf eine Ahnenreihe von dreiundsiebzig Generationen kann sie zurückblicken; sie stammt von den Göttern ab! Sieh sie nur an! Wo auf all diesen Inseln fändest du eine, die ihr gliche?« In der Morgenfrühe des nächsten Tages trugen Vehiatuas Leute meine Habseligkeiten zum Ufer, wenig später gingen wir an Bord, und die Schiffsleute ruderten das Fahrzeug durch die enge Durchfahrt in das ruhige Meer hinaus. Dies war das schönste Eingeborenenboot, das ich je gesehen habe. Es war mit zwei Segeln versehen; auf einer Plattform erhob sich das als Kajüte dienende Häuschen, in dem der Häuptling und die Frauen schliefen; auch ich durfte es mir hier, geschützt vor der Sonne, während der fünfundvierzig Meilen langen Fahrt bequem machen. Gegen Mittag, als wir uns auf der Höhe des Kap Maraa befanden, frischte der Wind auf, und ich wurde gewahr, daß die großen Boote der Eingeborenen an Schnelligkeit jedes europäische Fahrzeug jener Zeit übertrafen. Gegen Abend, als wir die Südküste von Tahiti Nui erreicht hatten, trat Windstille ein, und wir mußten die Segel einziehen. Von den Ruderern fortbewegt, fuhr das Boot in eine prächtige Bucht ein, die einen vortrefflichen Naturhafen bildete und den Flotten aller europäischen Nationen sichere Zuflucht vor Stürmen geboten hätte. Wir schliefen in dieser Nacht an Bord, und da die Umschiffung der Südostspitze von Taiarapu wegen der lebhaften Strömungen und der vielen unsichtbaren Riffe als gefährlich galt, wurde das Fahrzeug mit Hilfe zahlreicher in der Nähe wohnender Leute auf Rollen über
die Landenge befördert. Bei Pueu fuhren wir in die Lagune ein und erreichten am Nachmittag Tautira, wo Vehiatua während des größten Teiles des Jahres residierte. Der Häuptling wurde von den Mitgliedern seines Haushaltes, dem Priester des Tempels, welcher den Göttern in einem langen Gebet für die Bewahrung des Herrschers vor den Gefahren des Meeres dankte, und einer großen Volksmenge feierlich empfangen. Ein Mahl war vorbereitet worden, denn die Nachricht von unserer Ankunft war uns vorangeeilt, und als ich mich mit Vehiatua, Taomi, dem alten Priester, und Tuahu, Tehanis älterem Bruder, auf der großen, halbkreisförmigen Veranda des Hauses niederließ, war ich einen Augenblick sprachlos über die Herrlichkeit der Aussicht. Das Haus, von alten Brotfruchtbäumen beschattet, stand auf einer Anhöhe. Im Osten erstreckte sich die blaue Fläche des Stillen Ozeans ins Unendliche; im Norden und Westen stieg in der Ferne Tahiti Nui zur erhabenen Pracht der Bergspitzen empor; im Westen blickte ich tief in das große Tal von Vaitepiha, das mit Wasserfällen inmitten blühender Vegetation geschmückt und von Bergen, welche die fremdartigsten Formen von Türmen und Zinnen hatten, umgeben war. Hitihiti und seine Tochter trafen am nächsten Tage ein, und am Tage darauf begannen die Hochzeitszeremonien. Vehiatuas erste Handlung war, mir ein schönes neues Haus am Ufer, nicht weit von dem seinen, zu schenken. Es war für einen Unterhäuptling, einen berühmten Krieger, errichtet worden, der es mir mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit abtrat.
Sogleich zog ich mit Hitihiti, seiner Tochter, deren Gatten und ihrem Gefolge in mein neues Haus. Am frühen Morgen begaben wir uns alle zu Vehiatuas Residenz, zahlreiche Geschenke mit uns tragend. Diese wurden »O« genannt, ein außerordentlich kurzer Ausdruck für »Zeichen des Willkommens«. Nachdem die Geschenke feierlich entgegengenommen worden waren, schritten beide Familien in einem stattlichen Zuge zu meinem Haus, gefolgt von Dienern, welche die Geschenke der Braut brachten: Vieh, Stoff, Matten und andere für den neuen Haushalt unentbehrliche Gegenstände. Rechts und links vom Wege hatten sich zahlreiche Untertanen Vehiatuas angesammelt, während eine Schar fahrender Possenreißer durch ihre Späße und Lieder für unausgesetzte Heiterkeit sorgte. Im Hause angelangt, breitete Hina, die die weibliche Seite meiner »Familie« vertrat, eine große neue Matte aus, und darüber legte sie ein neues, schneeweißes Tuch. Tetuanui, die ältere Schwester Vehiatuas, welcher Witwer war, breitete sodann über Hinas Tuch ein zweites von gleicher Farbe aus. Dies bedeutete die Vereinigung der beiden Familien; Tehani und ich wurden angewiesen, uns Seite an Seite auf das Tuch zu setzen. Nachdem die Geschenke rechts und links von uns ausgebreitet worden waren und wir uns in den vorgeschriebenen Worten bedankt hatten, ließen sich Hina und Tetuanui ihre Paonihos reichen, kleine Instrumente aus poliertem Holz, mit einem Haifischzahn, scharf wie ein Rasiermesser, versehen. Jede Frau in Tahiti besaß ein solches Marterinstrument, das dazu benutzt wurde, um sich damit bei freudigen und traurigen Anlässen den Kopf zu ritzen, bis das Blut über das Gesicht hinabrann. Während die Zuschauer ihnen bewundernd zusahen, taten mir die beiden Damen die
Ehre an, sich die Köpfe so heftig zu zerschneiden, daß ich mich zurückhalten mußte, um nicht zu protestieren. Sodann nahm der Priester sie bei der Hand und führte sie immer wieder im Kreise um Tehani und mich herum, so daß das Blut auf das Tuch, auf welchem wir saßen, rann. Dann mußten wir uns erheben, und das Tuch, auf welchem sich das Blut der beiden Familien vereinigt hatte, wurde sorgsam gefaltet und aufbewahrt. Vehiatua hatte am Abend vorher einige seiner Felsenkletterer in das Gebirge entsandt. Das Amt dieser Leute war erblich, und jeder Häuptling hatte deren mehrere. Wenn eine religiöse Zeremonie von Bedeutung stattfand, mußten diese Männer die Schädel der Vorfahren des Häuptlings herbeischaffen, die in geheimen, schwer zugänglichen Berghöhlen aufbewahrt wurden, um vor der Entweihung von feindlicher Hand geschützt zu bleiben. Nach der Zeremonie wurden diese Reliquien wieder in ihr Versteck zurückgebracht. Nachdem im Hause Vehiatuas die gleichen Zeremonien wie in meiner neuen Wohnstätte stattgefunden hatten, setzten wir uns zu einem Mahle nieder, das bis gegen Abend dauerte; natürlich waren auch hier die Männer von den Frauen getrennt. Hiermit war der gesellschaftliche Teil der Hochzeit beendet; ihm folgte die religiöse Feier. Sie wurde in Vehiatuas Familientempel abgehalten. Taomi, der alte Priester, führte die Prozession an. Der Tempel bestand aus einer von Mauern umgebenen, mit Steinen belegten Stelle. Auf der einen Seite stieg eine dreißig Fuß lange und zwanzig Fuß breite Pyramide in vier Stufen zu einer Höhe von etwa vierzig Fuß an, überragt von dem kunstvoll aus Holz geschnitzten Abbild eines Vogels. Von Hitihiti und seiner Tochter begleitet, wurde ich in eine Ecke der
ummauerten Stelle geleitet, während Tehani, geführt von Vehiatua und anderen Verwandten, ihren Platz in der mir gegenüberliegenden Ecke einnahm. Sodann näherte sich mir der Priester feierlich und richtete die Frage an mich: »Du wünschest dieses Mädchen zur Frau zu nehmen; wird deine Zuneigung für sie nicht erkalten?« »Nein«, antwortete ich. Taomi ging hierauf langsamen Schrittes zu der Stelle, wo meine Braut ihn erwartete, und stellte die gleiche Frage an sie. Als Tehani diese mit »Nein« beantwortet hatte, gab er den anderen ein Zeichen, die nun die beiden weißen Tücher, auf denen das Blut der beiden Familien sich vermischt hatte, entfalteten. Weitere Priester näherten sich, mit allen Zeichen der Ehrfurcht die Ahnenschädel herbeitragend, deren einige so alt waren, daß sie in Staub zu zerfallen drohten. Diese stummen Zeugen der Zeremonie wurden auf dem Steinboden sorgfältig in eine Reihe gelegt, auf daß ihre blicklosen Augen die Vermählung der Jüngsten ihres Stammes mit ansähen. Während Tehani und ich auf den blutbefleckten Tüchern Hand in Hand Platz nahmen, hielt der Priester eine Ansprache an die mächtigen Häuptlinge und Krieger, deren Schädel vor uns ausgebreitet waren, wobei er jeden einzelnen Mann bei seinem Namen nannte. Er rief die Toten auf, die Vereinigung Tehanis mit dem weißen Manne von jenseits des Meeres zu segnen. Als das geschehen war, richtete Taomi folgende Worte an mich: »Dieses Mädchen wird bald dein Weib sein. Vergiß nicht, daß sie eine Frau und daher schwach ist. Ein Mann aus dem Volke mag sein Weib im Grimme schlagen, nicht aber ein Häuptling. Sei gütig und rücksichtsvoll zu ihr.« Nach einer Pause sprach er zu
Tehani: »Dieser Mann wird bald dein Gatte sein. Halte deine Zunge im Zaume, wenn du dich ärgerst; sei geduldig; laß dir sein Wohlergehen angelegen sein. Wenn er krank ist, pflege ihn; wenn er in der Schlacht verwundet ist, heile seine Wunden. Die Liebe ist die Nahrung der Ehe; laß deine Ehe nicht hungern.« Er hielt abermals inne und schloß, sich an uns beide wendend: »Alles wird gut sein, wenn es also mit euch geschehen wird!« So feierlich waren diese Worte, und so feierlich war der Ton, in dem der alte Priester sie sprach, daß Tehani aufs tiefste gerührt war und ihre Hand in der meinen erzitterte; in ihren Augen glänzten Tränen. Schließlich sprach der Priester ein langes Gebet an Taaroa, den Gott des Stammes, dem Vehiatua angehörte, und flehte ihn an, unseren Bund zu segnen. Dann schwieg er lange und rief plötzlich: »Bringt das Tapoi!« Ein junger Priester trug ein großes Tuch aus dem heiligen braunen Stoff herbei, der nur von Männern erzeugt wird. Der Priester ergriff es, breitete es aus und warf es über uns, so daß Tehani und ich völlig bedeckt waren. Im nächsten Augenblick entfernte er es wieder und hieß uns aufstehen. Die Hochzeit war vorüber, und wir wurden nunmehr von den Mitgliedern der beiden Familien auf heimische Art umarmt. Von den Festmählern und allgemeinen Belustigungen, die unserer Hochzeit folgten, brauche ich nicht zu erzählen.
13
Daß ich in Tahiti glücklich war, besagt nur wenig. Mehr mag es bedeuten, wenn ich behaupte, daß nur zwei Frauen in meinem Leben eine wirkliche Rolle gespielt haben, meine Mutter und dieses Mädchen. Lange vor der Geburt unserer Tochter hatte ich mich damit abgefunden, in Tautira ein Dasein ruhigen Glücks zu führen; je weiter die Zeit fortschritt, desto stärker spürte ich die unendliche Entfernung von der Heimat, und die Hoffnung, daß ein Schiff kommen möge, schwand fast völlig aus meinem Bewußtsein. Wäre nicht meine Mutter gewesen, die meine Erinnerung an England allein mit Wirklichkeit zu erfüllen schien, so hätte ich wohl kaum mit Freude an die Möglichkeit einer Rückkehr gedacht. Und da ich überzeugt war, daß weder Bligh noch einer seiner Begleiter jemals die Heimat wiedersähe, so wußte ich, daß meine Mutter sich um meinetwillen keine Sorgen machte, wenigstens nicht, solange die Bounty nicht überfällig war. Ich machte mir Hitihitis Philosophie zu eigen und dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Achtzehn Monate lang, die glücklichste Zeit meines Lebens, bot mir jeder Tag neue, reine Freude. Seit ihrer Hochzeit schien Tehani eine neue Würde und Ernsthaftigkeit angenommen zu haben, obgleich sie, wenn sie in unserem Heim mit mir allein war, zuweilen noch immer das wilde, jugendfrohe Mädchen sein konnte, welches mich im Schwimmen besiege hatte. Ich arbeitete jeden Tag an meinem Wörterbuch, und Sir Joseph Banks selbst hätte mir kein eifrigerer und verständigerer Mitarbeiter sein können als meine Frau. Sie leitete unseren Haushalt mit einer Festigkeit und Gewandtheit, die bei einem so jungen Wesen erstaunlich war. So hatte
ich genügend Zeit für meine Arbeit und für Jagdexpeditionen in das Gebirge. Aber ich zog Ausflüge vor, bei denen Tehani mich begleiten konnte, und versäumte manche Eberjagd, um mit meiner Gattin kurze Reisen in unserem Segelkanu zu unternehmen. Etwa einen Monat nach unserer Hochzeit segelten wir nach Matavai, um meinen Taio zu besuchen. Ich freute mich ebensosehr darauf, Hitihiti wiederzusehen wie Stewart, Morrison und andere Kameraden, die sich dort niedergelassen hatten. »Deine Freunde bauen ein Schiff«, berichtete mir Hitihiti während des Mittagsmahles. »Morrison und Millward leiten die Arbeiten, einige andere helfen ihnen. Sie arbeiten am Kap.« Gegen Abend wanderten wir - Hina, ihr Vater, Tehani und ich - zu der kleinen Schiffswerft hinüber. Morrison hatte eine begraste Lichtung inmitten hoher Brotfruchtbäume gewählt. Zahlreiche Indios saßen ringsherum im Gras und beobachteten die weißen Männer bei der Arbeit. Als Gegenleistung, daß sie zusehen durften, versorgten sie die Schiffsbauer überreichlich mit Nahrungsmitteln. Der große Häuptling Teina, dem das Land gehörte, war dort, begleitet von seiner Gattin Itea. Sie begrüßten uns; im gleichen Augenblick sah Morrison auf und bemerkte mich. Er legte seine Axt aus der Hand, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte mir kräftig die Hand. »Wir haben von deiner Hochzeit gehört«, sagte er, »laß mich dir Glück wünschen.« Ich machte ihn mit Tehani bekannt, und als er ihr die Hand gab, näherte sich uns Tom Ellison. »Was halten Sie von unserem Schiff, Herr Byam?« fragte er. »Es wird nur dreißig Fuß lang, aber Herr Morrison hofft, Batavia
damit zu erreichen. Wir haben es auch schon getauft:
Resolution wird es heißen. Bei Gott, es ist nicht leicht,
ein Schiff ohne Nägel und richtige Werkzeuge zu
erbauen!«
Ich schüttelte Coleman, dem Rüstmeister der Bounty,
Hillbrandt, Norman, McIntosh und Skinner die Hand.
Alle arbeiteten unter Morrisons Leitung nach besten
Kräften; einige von dem Wunsche beseelt, England
wiederzusehen, andere, die sich ihrer Schuld bewußt
waren, aus Furcht, an Bord eines britischen Schiffes in
Eisen gelegt zu werden, ehe ihr Schoner fahrbereit war.
Bei Sonnenuntergang legten die Scbiffsbauer ihr
Handwerkszeug nieder, und ich begleitete Morrison zum
Hause Poinos, wo er, unweit der Wohnstätte Stewarts,
lebte. Tehani ließ ich unter der Obhut Hinas und Hitihitis.
Ich traf Stewart, wie er trotz der hereingebrochenen
Dämmerung in seinem Garten arbeitete. Er hieß mich
willkommen, reckte sich und reinigte seine Hände von
der Erde.
»Du bleibst doch selbstverständlich zum Abendessen,
Byam? Und du auch, Morrison?«
Da in diesem Augenblicke gerade der junge Ellison auf
dem Heimweg an uns vorbeikam, rief ihm Stewart zu:
»Willst du nicht über Nacht hierbleiben?«
»Von Herzen gern, Herr Stewart!« grinste der Bursche.
»Ich habe ohnedies ein wenig Angst vor dem
Nachhausekommen.«
»Warum denn?« fragte Morrison.
»Ja, sehen Sie, Sir, wegen meines Mädels. Gestern abend
hat sie mich dabei erwischt, wie ich ihrer Schwester
einen Kuß gab. Ich schwöre, daß es ganz harmlos war,
aber glauben Sie vielleicht, daß sie Vernunft annehmen
wollte? Sie schlug ihre Schwester mit einer Tapakeule
nieder, mir wäre es geradeso gegangen, wenn ich nicht Reißaus genommen hätte.« Stewart lachte. »Du hättest es bestimmt verdient, du Taugenichts!« Eine halbe Stunde später saßen wir beim Abendessen in Stewarts Speiseraum, einer offenen, mit Farnkräutern in hängenden Körben geschmückten Halle. Ein Diener hielt eine Fackel, die den Raum mit flackerndem Licht erfüllte. »Wie lange wird es dauern, bis ihr euer Fahrzeug vollendet habt?« fragte ich Morrison. »Mindestens sechs Monate.« »Und du hoffst, mit ihm Batavia zu erreichen?« »Ja, das hoffe ich. Von dort wird uns ein holländisches Schiff nach Europa bringen. Unser fünf wollen den Versuch wagen, Norman, McIntosh, Muspratt, Byrne und ich. Stewart und Coleman ziehen es vor, hier ein englisches Schiff abzuwarten.« »Diese Absicht habe ich auch«, bemerkte ich. »Ich fühle mich in Tautira glücklich und bin froh, an meinem Wörterbuch weiterarbeiten zu können.« »Was mich betrifft«, warf Stewart ein, »so gefällt mir Tahiti ausgezeichnet. Auch habe ich keine Lust, zu ertrinken!« »Von Ertrinken ist keine Rede!« rief Morrison ungeduldig. »Unser Schoner ist gut genug für eine Weltumseglung!« »Und wir wollen unser eigenes kleines Königreich gründen«, mischte sich Ellison ins Gespräch. »Tüchtige Kerle sind wir ja, und in England müßten wir alle baumeln! Herr Morrison hat uns versprochen, uns auf einer Insel westlich von Tahiti auszusetzen.« »Das ist das Beste, was sie tun können«, nickte Morrison. »Ich werde versuchen, eine Insel zu finden, deren
Bevölkerung harmlos ist. Außer Tom haben auch Millward, Burkitt, Hillbrandt und Sumner die Absicht, sich dort niederzulassen. Churchill will hierbleiben, obgleich er damit rechnen muß, gefangen und gehenkt zu werden. Skinner hält es für seine Pflicht, sich selbst zu stellen und für sein Verbrechen zu büßen. Thompson ist eher ein Vieh als ein Mensch; ich will ihn nicht an Bord haben.« So unterhielten wir uns bis in die späte Nacht, während Tipaus Diener eine Fackel nach der anderen anzündete. Der Mond ging bereits auf, als ich mich von meinen Freunden verabschiedete und längs des menschenleeren Strandes nach Hause schlenderte. Am nächsten Morgen hatte ich Gelegenheit, mich dessen zu erinnern, was Morrison über Thompson, den dümmsten und brutalsten Mann von der Bounty, gesagt hatte. Thompson hatte mit Churchill Freundschaft geschlossen, obgleich die beiden gar nicht zueinander paßten. Sie verbrachten den größten Teil ihrer Zeit damit, in einem kleinen, mit einem europäischen Segel versehenen Kanu längs den Küsten von Tahiti zu kreuzen. Thompson haßte die Indios ebensosehr, wie er ihnen mißtraute, und an Land trug er stets eine geladene Muskete bei sich. Als ich zum Strande hinunterging, um ein frühes Bad im Meere zu nehmen, traf ich die beiden, die unweit ihres am Ufer festgemachten Kanus ein Feuer angezündet hatten, an dem sie ein Spanferkel rösteten. »Kommen Sie, frühstücken Sie mit uns, Herr Byam!« rief mir Churchill gastfreundlich zu. Thompson blickte mürrisch auf. »Der Teufel soll dich holen, Churchill«, brummte er, »wie kannst du einen
verfluchten Kadetten einladen, wo nicht einmal genug für uns beide da ist!« Churchill stieg die Zornesröte in die Wangen. »Du elender Halunke!« rief er. »Herr Byam ist mein Freund! Geh und lerne von den Indios Manieren, ehe ich sie dir mit einem Stock einbleue!« Thompson ging brummend weg und setzte sich auf einen Sandhaufen, seine Muskete zwischen den Knien. Als ich mich umwandte, sah ich, wie ein Dutzend Leute ein großes Segelboot ans Ufer zog, dessen Besitzer sich uns mit seiner Frau näherte. Der Mann trug ein etwa dreijähriges Kind auf dem Arm. Sie blieben bewundernd bei Churchills Kanu stehen. Als die Frau das Segel berührte, hörte ich Thompson mit barscher Stimme befehlen: »Macht, daß ihr fortkommt!« Die Indios, die die Worte nicht verstanden, blickten auf; da brüllte Thompson abermals: »Fort mit euch, elendes Gesindel!« Das Paar blickte uns erstaunt an, und Churchill wollte gerade sprechen, als Thompson ohne vorherige Warnung anlegte und schoß. Die Kugel durchbohrte das Kind und die Brust des Vaters; beide sanken zu Tode getroffen nieder. Die Frau kreischte gellend auf, während die Bootsmannschaft herbeilief. Churchill sprang auf und lief zu der Stelle, wo Thompson, das rauchende Gewehr in der Hand, saß. Mit einem einzigen Faustschlag streckte er den Mörder in den Sand; dann ergriff er die Muskete und schleifte Thompsons regungslosen Körper in sein Boot, sprang selbst hinein und stieß vom Lande ab. Im nächsten Augenblick hatte er bereits das Segel gesetzt, und das kleine Fahrzeug schoß davon, ehe die Schiffer recht begriffen hatten, was geschehen war.
Ich eilte zu dem sterbenden Vater und seinem Töchterchen, erkannte aber sogleich, daß keine Rettung mehr möglich war. Fünf Minuten später waren beide tot. Die Mannschaft des Kanus bewaffnete sich mit großen Steinen und begann, mich mit drohenden Gesten zu umringen, als Hitihiti erschien. Er erfaßte die Lage sogleich, und als er mit einer Handbewegung Ruhe gebot, erstarb das erregte Murren der Leute. »Dieser Mann ist mein Taio«, sprach er, »er ist so unschuldig wie ihr selbst! Warum steht ihr hier herum und schnattert wie Weiber? Ihr habt Waffen! Laßt das Boot ins Meer! Ich kenne den Mann, der euren Herrn getötet hat; er ist ein übelriechender Hund, und nicht einer der Fremdlinge wird die Hand erheben, um ihn zu schützen!« Die Leute machten sich sofort an die Verfolgung, aber wie ich später erfuhr, vermochten sie die Flüchtlinge nicht zu erreichen. Die Toten wurden in der folgenden Nacht beerdigt; Hina und Tehani taten ihr möglichstes, um die arme Frau zu trösten, die auf der benachbarten Insel Eimeo wohnte. Das Nachspiel zu dieser Tragödie kam vierzehn Tage später, als Tehani und ich in unser Heim zurückgekehrt waren. Da Churchill die Rache der Bewohner der Westküste von Tahiti fürchtete, die demselben Stamm angehörten wie der Ermordete, hatte er sich nach Tautira gewandt, wo ihn Vehiatua, der ihn für einen meiner Freunde hielt, gastlich aufnahm. Thompson hingegen war sein übler Ruf vorangeeilt; er wurde von allen gehaßt und gemieden. Churchill war seines Begleiters herzlich überdrüssig geworden und sagte mir, als er am Abend meiner Ankunft mit der Muskete in der Hand in mein Haus kam, daß er Thompson so rasch wie möglich loswerden wolle.
»Am liebsten würde ich den Hund erschießen!« meinte er. »Gehenkt zu werden ist zu gut für ihn! Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich einen Menschen kalten Blutes umbringen kann. Ich war ein Narr, ihn nicht in Matavai der Rache der Indios überlassen zu haben!« »Sie hätten kurzen Prozeß mit ihm gemacht«, sagte ich. »Und ihm wäre recht geschehen. Ich bin fertig mit ihm. Heute erkläre ich ihm, daß er das Kanu haben könne, wenn er verschwände, um nie wieder zurückzukehren. Sehen Sie nur, dort drüben sitzt er.« Thompson saß in einiger Entfernung am Strande, die Muskete zwischen den Knien haltend. »Der Mann ist halb verrückt«, knurrte Churchill. »Sie haben eine Muskete, Byam; Sie sollten sie laden und bei der Hand halten, bis er weg ist.« Vehiatua hatte uns eingeladen, an diesem Abend einem nächtlichen Tanzfest beizuwohnen, wie wir es in Tetiaroa gesehen hatten. Wir fanden den Festplatz hell beleuchtet und mit Zuschauern übersät. Ich setzte mich mit Tehani und Churchill ins Gras, am äußeren Rande der Menschenmenge. Kaum hatte der Trommelwirbel eingesetzt, als ich hinter mir den Warnungsruf eines Eingeborenen hörte; gleich darauf folgte eine Schußdetonation. Churchill versuchte aufzuspringen, sank aber getroffen neben mir zusammen; die Muskete entfiel seinen Händen. Ringsumher schrien Weiber auf; Männer brüllten, und Vehiatuas Stimme übertönte den Tumult: »Tötet ihn!« In dem flackernden Fackelschein sah ich Thompson mit unbeholfenen Sätzen dem Strande zurennen, aber ein großer Stein, den ihm der Häuptling Atuanui nachwarf, traf den Mörder an der Schulter, so daß er zu Boden stürzte. Im nächsten Augenblick war Atuanui bei ihm und schlug ihm mit dem
gleichen Stein den Schädel ein. Als ich zum Hause zurückkehrte, war auch Churchill schon tot. Diese traurigen Vorfälle gerieten nach und nach in Vergessenheit. Ich hatte mein ruhiges Leben und das Studium der Landessprache wieder aufgenommen. Von den Beobachtungen, die ich über das Leben und die Bräuche der Indios machte, will ich in diesem Bericht nicht viel erzählen, da Cook und andere frühere Besucher Tahitis ausführlich darüber geschrieben haben. Ich will den Bewohnern der Insel nur die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zwei Bräuche zu erwähnen, die zwar an und für sich abscheulich sind, aber weniger anstößig erscheinen mögen, wenn man die Gründe dafür kennt. Ich meine den Kindermord und das Menschenopfer. Nirgends in der Welt werden Kinder mehr in Ehren gehalten als auf den Südseeinseln, und doch galt der Kindermord den Indios als ein verdienstvoller Akt der Selbstaufopferung. Die Gesellschaften fahrender Possenreißer, deren Anführer den angesehensten Familien Tahitis angehörten, waren dazu ausersehen, den Häuptlingen und dem Volk ein Beispiel zu bieten, wie der Übervölkerung der Insel Einhalt zu tun sei. Wenn eine Frau ein Kind gebar, wurde dieses sogleich auf die rascheste und schmerzloseste Weise getötet; das ärgste Schimpfwort unter diesen Leuten war Vahine Fanaunau, das heißt »schwangere Frau«. Die Eingeborenen hatten großes Verständnis für die Gefahren der Übervölkerung und schützten sich dagegen, indem sie den Kinderreichtum verpönten. So grausam die Methode auch scheinen mag, so sollte man, ehe man sie verurteilt, doch daran denken, daß die Bevölkerung sich
vermehrt, während das Ausmaß des bewohnbaren Landes auf einer kleinen Insel immer gleich bleibt. Was nun das Menschenopfer anbelangt, so wurde diese Zeremonie sehr selten vollführt, und zwar nur auf dem Altar des Kriegsgottes Oro. Das Opfer wurde stets unversehens und auf schmerzlose Art durch einen Schlag von hinten getötet, und es handelte sich immer um Menschen, die nach Ansicht der Häuptlinge im Interesse des Allgemeinwohls den Tod verdienten. In einem Land, in dem Gerichte und Henker unbekannt waren, hielt die Furcht vor dieser Todesart viele davor zurück, Verbrechen gegen die Gesellschaft zu begehen. Die Bewohner von Tahiti waren in mancher Hinsicht beneidenswert; das Klima, die Fruchtbarkeit ihrer Insel und der Oberfluß an Nahrungsmitteln erleichterten die Lebensführung sehr; noch beneidenswerter aber waren sie vielleicht, weil sie den Begriff des Geldes oder anderer Zahlungsmittel nicht kannten. Schweine, Matten, Rindenstoff wurden als Belohnung für die Erbauung eines Hauses oder die Tätowierung eines jungen Häuptlings gegeben, aber sie galten eher als Geschenk denn als Bezahlung. Da es nichts gab, was ein Geizhals hätte aufhäufen können, war Habgier, die verächtlichste aller menschlichen Untugenden, hier unbekannt. Dadurch, daß wir das Eisen einführten und die Eingeborenen mit den Grundsätzen des Tauschhandels bekannt machten, haben wir ihnen ohne Zweifel unendlichen Schaden zugefügt. Am 15. August 1790 kam unsere Tochter Heien zur Welt. Das Kind erhielt Tehanis Namen und ihren langen Titel, aber ich gab ihr außerdem den Namen meiner Mutter. Sie war ein reizendes kleines Geschöpf mit seltsam schönen Augen, die dunkelblau waren wie das Meer.
Auf dem heiligen Grund hinter Vehiatuas Familientempel waren drei kleine Häuser errichtet worden. Das erste hieß »Das Haus des süßen Farnkrautes«, und in ihm fand die Entbindung statt; das zweite führte den Namen »Das Haus der Schwachen«, und in diesem verbrachten Mutter und Kind die ersten vierzehn Tage nach der Geburt; das dritte nannte man »Das gemeinsame Haus«; in ihm waren Tehanis Dienerinnen untergebracht. Da die kleine Heien unsere Erstgeborene war, mußte nach uraltem Brauch sechs Tage lang nach ihrer Geburt an der Küste von Tiarapu Schweigen herrschen. Das Volk zog sich in das Gebirge zurück, wo es sprechen durfte und unbehindert leben konnte, bis die Schweigepflicht vorüber war. Am siebenten Tage durfte ich das Haus der Schwachen betreten und sah meine Tochter zum erstenmal. Vorher durfte kein Mann mit Ausnahme Taomis, des Priesters, seinen Fuß in die drei Häuser setzen. Es war dunkel in dem Hause, und einen Augenblick lang konnte ich Tehani auf ihrem Lager von weichen Matten und das Neugeborene, das mir seine zu kleinen Fäusten geballten Patschhändchen entgegenstreckte, kaum erkennen. Unser Kind war drei Monate alt, als Stewart und Peggy die Insel umsegelten, um uns zu besuchen. Sie hatten gleichfalls ein Töchterchen, und die beiden jungen Mütter fanden in ihren Kindern ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Ich entsinne mich einer Unterhaltung, die ich in jenen Tagen mit Stewart führte, während wir ausgestreckt am Strande lagen.
»Sag, Byam, was mag wohl aus Christian geworden sein?« forschte Stewart. »Zuweilen kommt mir der Gedanke, er könne sich das Leben genommen haben.« »Niemals! Er ist sich seiner Verantwortung den anderen gegenüber viel zu sehr bewußt.« »Du magst recht haben. Jetzt müssen sie sich schon auf irgendeiner Insel niedergelassen haben - ich frage mich nur, auf welcher! In diesem Meer muß es unzählige Inseln geben, die noch auf keiner Karte eingezeichnet sind.« Lange hingen wir stumm unseren Gedanken nach. Später fragte ich Stewart: »Möchtest du immer hier leben?« »Vielleicht. Und doch vermisse ich den Anblick weißer Gesichter. Geht es dir nicht auch so, Byam?« Ich dachte einen Augenblick nach, ehe ich antwortete: »Bisher noch nicht.« Stewart lächelte. »Du bist schon ein halber Eingeborener geworden. So innig ich Peggy auch liebe, würde ich in Matavai doch ohne Ellison weniger glücklich sein. Ich habe den Jungen liebgewonnen, und er verbringt den halben Tag in unserem Hause. Es ist verflucht schade, daß er an der Meuterei teilgenommen hat.« »Der Bursche ist wahrhaftig harmlos genug«, meinte ich; »und doch muß er sich für den Rest seiner Tage auf einer Insel unter Wilden verbergen. Alles um des Vergnügens willen, mit einem Bajonett vor Blighs Nase herumgefuchtelt zu haben!« »In sechs Wochen wird die Resolution fahrbereit sein«, berichtete Stewart. »Morrison hat Wunder gewirkt! Sie ist ein gutes kleines Schiff, das jedem Sturm widerstehen kann.« Nach sieben Tagen reiste Stewart mit den Seinen ab, und es dauerte vier Monate, bis ich ihn wiedersah. Und doch
erscheinen mir diese Monate, wenn ich sie mir jetzt in das Gedächtnis zurückrufe, wie ebenso viele Wochen. Es ist oft - und zwar mit vollem Recht - behauptet worden, daß der Mensch in der Südsee den Sinn für die Zeit verliert. In einem Klima, in dem der Sommer niemals ein Ende nimmt und in dem eine Woche kaum von der nächsten verschieden ist, gleiten die Tage unmerkbar vorüber. Das Jahr 1790 war das glücklichste und erschien mir als das kürzeste meines ganzen Lebens. Auch das Jahr 1791 begann auf das heiterste. Der Januar verging, und nach ihm der Februar. Gegen Mitte März reiste Vehiatua mit Tehani zur anderen Seite der Insel, um einem religiösen Fest beizuwohnen. Da mich die hierbei üblichen Zeremonien langweilten, beschloß ich, mit meinem Schwager in Tautira zu bleiben. Meine Frau war seit einer Woche fort, als das Schiff kam. Tuahu und ich hatten am Abend vorher an einer Heiva teilgenommen, und da wir uns spät zur Ruhe begeben hatten, schlief ich, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Tuahu weckte mich. »Byam«, rief er, atemlos vor Erregung, »wache auf! Ein Schiff! Ein Schiff!« Mir den Schlaf aus den Augen reibend, folgte ich ihm zum Strande, wo sich bereits viele Leute versammelt hatten. Alle blickten gen Osten in das blendende Licht der Morgensonne. Eine leichte Brise wehte, und in der Ferne bemerkte ich ein europäisches Schiff. Marssegel, Bramsegel und Oberbramsegel waren, klein wie ein Spielzeug, zu erkennen, aber das Schiff war noch zu weit entfernt, als daß ich seine Nationalität hätte bestimmen können. Der Indios hatte sich eine große Erregung bemächtigt.
»Glaubst du, daß es ein britisches Schiff ist?« fragte mich Tetuanui, die Tante meiner Frau. Zunächst konnte ich die Frage noch nicht beantworten, aber als das Schiff ein wenig näher kam, schloß ich aus der Form seiner Marssegel beinahe mit Sicherheit, daß es in der Tat ein britisches Fahrzeug sei. »Tuahu«, sagte ich, »ich glaube, es ist ein Schiff aus meinem Heimatlande! Komm, wir wollen unser kleines Segelkanu bereitmachen und nach Matavai segeln!« Mein Schwager sprang ungestüm auf. »Wir werden um Stunden früher dort sein als das große Schiff«, rief er; »der Wind bläst nahe der Küste immer am stärksten. Draußen auf dem offenen Meere wird bald Windstille eintreten.« Wir frühstückten in Eile, versahen das Kanu mit Vorräten und gingen eine Stunde später unter Segel, von einem Diener begleitet. Mit der kräftigen Brise schoß unser Boot durch die geschützten Gewässer der Lagune; bei Pueu fuhren wir auf die offene See hinaus. Am Nachmittag legten wir bereits vor Hitihitis Wohnstätte an. Das Haus war ausgestorben, denn die Nachricht von der Ankunft des Schiffes war uns vorausgeeilt, und mein Taio hatte sich, begleitet von den Hausgenossen, zu dem Aussichtspunkt begeben, der den Namen »Hügel des einzigen Baumes« trug.
14
Während des ganzen Tages strömten Eingeborene von allen Teilen der Insel nach Matavai; das Ufer war mit an Land gezogenen großen und kleinen Kanus übersät. Als ich am späten Nachmittag den »Hügel des einzigen Baumes« erstieg, fand ich ihn überfüllt mit Menschen, die nach dem Schiff Ausschau hielten. Das Gedränge war so groß, daß ich Schwierigkeiten hatte, Stewart zu finden. Schließlich erspähte ich ihn aber doch; er stand ganz nahe bei dem uralten Baum, der dem Hügel den Namen gegeben hatte. »Ich habe dich bereits erwartet, Byam«, rief er mir entgegen. »Was kannst du mir von dem Schiff sagen? Du mußt es von Tautira aus gesehen haben.« »Ja«, antwortete ich. »Ich halte es für eine englische Fregatte.« »Eigentlich müßten wir froh darüber sein. In einem gewissen Sinne bin ich es ja auch. Aber das Schicksal hat uns einen seltsamen Streich gespielt. Empfindest du das nicht auch?« Ja, auch ich hatte zutiefst diese Empfindung. Beim ersten Anblick des Schiffes hatte mich jähe Freude durchzuckt. Das bedeutete die Rückkehr in die Heimat! Aber auch Tahiti war mir zur Heimat geworden, und ich fühlte, daß die Bande, die mich an die Insel fesselten, nicht schwächer waren als jene, welche mich mit der Heimat verknüpften. In Tahiti zu bleiben oder es zu verlassen das schien eine schmerzliche Wahl; und doch wußte ich, daß es keine Wahl gab. Unsere Pflicht war uns klar vorgeschrieben. Sobald das Schiff Anker warf, mußten wir an Bord gehen und über die Meuterei Meldung erstatten.
Wir zweifelten kaum daran, daß das Fahrzeug ausgesandt war, die Bounty zu suchen. Die Indios hatten hiervon natürlich keine Ahnung. Sie glaubten, daß das herannahende Schiff dem Kapitän Cook gehören müsse und daß Kapitän Bligh, den sie für seinen Sohn hielten, ihn begleiten werde. Während ich mich mit Stewart unterhielt, kam ein Bote von Teina; der Häuptling wünschte uns in seinem Hause zu sehen. Wir ließen ihm mitteilen, daß wir bald kommen würden. »Was wird aus unseren Frauen und Kindern?« fragte Stewart sorgenvoll. »Es mag dir seltsam vorkommen, Byam, aber ich habe niemals so recht daran gedacht, daß wir sie einmal verlassen müßten. England kommt mir so weit entfernt vor, als läge es auf einem andern Planeten.« »Ich verstehe dich; mir ist es geradeso ergangen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Reden wir nicht davon! Bist du sicher, daß es ein englisches Schiff ist?« »So gut wie sicher.« »Dann tut mir der arme Morrison leid. Er ist in dem Schoner vor vier Tagen abgefahren. Jetzt befindet er sich wohl schon auf dem Wege nach Westen.« Morrisons Pläne, berichtete Stewart weiter, hatten sich nicht geändert. Alle Meuterer, die auf Tahiti geblieben waren, mit Ausnahme von Skinner, hatten sich entschlossen, ihn auf der Resolution zu begleiten. Sie wollten auf einer kleinen, westlich gelegenen Insel, auf der sie kaum je entdeckt werden würden, an Land gehen. Morrison, Norman, McIntosh, Byrne und Muspratt hingegen hatten die Absicht, die gefährliche Fahrt nach Batavia zu versuchen, wo sie hofften, den Schoner zu verkaufen und eine Reisegelegenheit nach Europa zu finden. Der Schoner war zuerst nach Papara an der Südküste von Tahiti gefahren, um McIntosh, Hillbrandt
und Millward an Bord zu nehmen. Es sei sogar möglich, meinte Stewart, daß der Schoner noch dort sei. Bald darauf ertönten laute Rufe. Die Fregatte, die ein entferntes Vorgebirge umschifft hatte, war in Sicht gekommen. Sie befand sich vier oder fünf Meilen von der Küste entfernt; der Wind war so schwach geworden, daß das Schiff den Hafen sicherlich nicht vor Eintritt der Dunkelheit erreichen konnte. Infolgedessen stiegen die meisten Indios vom Hügel herab. Wir schlossen uns ihnen an und trafen auf dem Weg zu Teinas Haus Skinner und Coleman, die eine Wanderung in das Gebirge unternommen hatten und soeben erst von der bevorstehenden Ankunft der Fregatte unterrichtet worden waren. Coleman war tief bewegt, als ich ihm sagte, das Schiff sei beinahe sicher englisch. Mehr als jeder andere von uns sehnte er sich nach der Heimat. Er hatte Frau und Kinder zu Hause und war keine Verbindung mit einem Mädchen der Insel eingegangen. Freudentränen schimmerten in seinen Augen, und ohne weiteren Bericht abzuwarten, stürmte er den Hügel empor, der ihm Ausblick auf das Schiff, das ihn nach England zurückführen sollte, gewähren würde. Stewart und ich waren Skinners wegen sehr besorgt. Dieser hatte seit langem seine Teilnahme an dem Aufstand bereut, wohl als einziger der Meuterer. Er war ein tief religiöser Mann, der über seine Untreue der Obrigkeit gegenüber lange nachgegrübelt hatte und entschlossen war, sich bei der ersten Gelegenheit selbst zu stellen. Wir wußten, daß Reue vor dem Kriegsgericht nicht als mildernder Umstand betrachtet werden würde. Sein Schicksal war besiegelt, wenn er sich stellte.
»Ich hege nicht den Wunsch zu entkommen«, sagte uns der arme Mann. »Mein Tod wird eine Warnung für alle sein, die an Meuterei denken.« Wir versuchten, ihn von seiner Absicht abzubringen, aber als sich dies als unmöglich erwies, setzten wir unseren Weg zu Teina fort. Wir fanden den Häuptling beim Abendessen, an dem teilzunehmen er uns einlud; während der Mahlzeit überhäufte er uns mit Fragen über das Schiff. Wie viele Kanonen würde es wohl haben? Wieviel Mann Besatzung? Würde König Georg an Bord sein? Alle Bewohner von Tahiti hegten den glühenden Wunsch, den König von England zu sehen, und Bligh, ebenso wie die anderen englischen Kapitäne, welche die Insel vor ihm besuchten, hatten, die Leichtgläubigkeit der Indios ausnützend, die Meinung verbreitet, der König würde Tahiti eines Tages besuchen. Wir erklärten Teina, daß König Georg über viele Länder herrsche und in seinem Reiche so mit Geschäften überhäuft sei, daß er selten Gelegenheit habe, ferne Gegenden zu besuchen. Es war lange nach Mitternacht, als wir Teinas Haus verließen, aber niemand in der ganzen Gegend dachte in jener Nacht an Schlaf. Die, welche von entfernten Teilen der Insel gekommen waren, hatten längs des Strandes ihre Lager aufgeschlagen, und das Licht der von ihnen angezündeten Feuer beleuchtete die ganze Bucht. Noch immer kamen große und kleine Kanus an, beladen mit heimischen Produkten für den Tauschhandel mit dem Schiff. Auch in Stewarts Haus war noch alles wach. Peggy, Stewarts Frau, wählte aus großen Rollen Rindenstoff die feinsten Stücke als Geschenke für die Freunde ihres Gatten auf dem Schiffe aus. Sie hielt es für
selbstverständlich, daß wir an Bord jeden kennen mußten, und es war klar ersichtlich, daß sie keine Ahnung davon hatte, was die Ankunft des Schiffes für uns bedeutete. Endlich entfernte ich mich, um Tuahu und meine anderen Freunde aus Tautira aufzusuchen, die sich in der Nähe gelagert hatten. Inzwischen war es beinahe Tag geworden, und Tuahu schlug vor, in einem Kanu dem Schiffe entgegenzufahren. »Ist es ein fremdes Schiff, so wird der Kapitän froh sein, wenn wir ihn in die Bucht lotsen. Freilich glaube ich, daß es Parai (Kapitän Bligh) ist, der kommt, uns zu besuchen. Und wir sind dann die ersten, die ihn begrüßen.« Ich erklärte mich mit Tuahus Vorschlag sogleich einverstanden; wir nahmen den alten Diener Paoto mit, schoben unser Kanu ins Wasser, und wenige Minuten später hatten wir Kap Venus umschifft und strebten dem offenen Meere zu. Tahiti war mir niemals so schön erschienen wie im schwachen Dämmerscheine dieses frühen Morgens. Die Sterne leuchteten hell, als wir abfuhren, aber sie verblaßten nach und nach, und die Insel hob sich in einer klaren, kalten Silhouette vom Himmel ab. Wir ruderten eine halbe Stunde lang, ehe wir des Schiffes ansichtig wurden; dann ließen wir uns treiben, um es zu erwarten. Die Brise war überaus schwach, und eine halbe Stunde später war die Fregatte noch ein beträchtliches Stück von uns entfernt. Sie hatte vierundzwanzig Kanonen an Bord, und obgleich ich schon vorher überzeugt gewesen war, daß es sich um ein britisches Kriegsschiff handle, schlug mein Herz doch schneller, als ich endlich die englischen Farben erkannte. In meinern ersten Eifer, dem Schiffe nahe zu kommen, hatte ich vergessen, daß ich wie ein Indio und nicht wie
ein englischer Kadett gekleidet war. Nun erinnerte ich mich meines halbnackten Zustande« und hatte gute Lust, zurückzukehren, aber es war bereits zu spät. Das Fahrzeug war nur noch einige hundert Meter entfernt und hatte seinen Kurs geändert, um uns aufzunehmen. Die Backbord-Bollwerke waren voll mit Menschen, und ich sah auf dem Quarterdeck den Kapitän, der sein Fernrohr auf uns gerichtet hatte, und neben ihm eine Gruppe Offiziere. Dann ließ man eine Strickleiter an der Schiffsseite hinab, an der ich, von Tuahu gefolgt, emporkletterte. Paoto blieb im Boot, das ins Schlepptau genommen wurde. Meine Haut war so braun wie die der Indios, und da meine Arme mit Tätowierungen bedeckt waren, ist es nicht verwunderlich, daß man mich für einen Eingeborenen hielt. Ein Leutnant stand auf dem Schiffsgange, und als wir das Deck erreicht hatten, eilten Matrosen und Marinesoldaten herbei, um uns besser betrachten zu können. Der Leutnant lächelte liebenswürdig und klopfte Tuahu auf die Schulter. »Maitai! Maitai!« (Gut! Gut!) sagte er. Dies war offenbar das einzige Wort der Landessprache, das er kannte. »Sie können ihn auf englisch anreden, Sir«, erklärte ich lächelnd. »Er versteht es sehr gut. Mein Name ist Byam, Roger Byam, früherer Kadett auf S. M. Schiff Bounty. Wenn Sie es wünschen, wird es mir eine Freude sein, Sie zum Ankerplatz zu lotsen.« Der Gesichtsausdruck des Offiziers änderte sich sogleich. Ohne zu antworten, maß er mich von oben bis unten. »Korporal!« rief er. Der Korporal der Marinesoldaten trat vor und salutierte. »Wache vor! Dieser Mann ist achtern zu bringen.«
Zu meinem Erstaunen wurde ich von vier Leuten mit Musketen und gefälltem Bajonett zum Kapitän geführt, der uns auf dem Quarterdeck erwartete. Der Leutnant war vorausgegangen. »Hier ist einer der Piraten, Sir«, meldete er. »Ich bin kein Pirat, Sir«, widersprach ich. »Sowenig wie Sie selbst!« »Schweigen Sie!« gebot mir der Kapitän. Er betrachtete mich mit dem Ausdruck kalter Feindseligkeit, aber ich war über die Anschuldigung so empört, daß ich nicht schweigen konnte. »Erlauben Sie mir zu sprechen, Sir«, sagte ich. »Ich gehöre nicht zu den Meuterern. Mein Name ist...« »Hast du mich nicht verstanden, du Schuft? Ich befahl dir zu schweigen!« Obgleich ich über diesen Schimpf aufs äußerste ergrimmt war, gelang es mir, mich zu beherrschen; ich hegte keinen Zweifel darüber, daß das Mißverständnis bald aufgeklärt werden würde. Tuahu blickte mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens auf mich. Ich durfte nicht mit ihm sprechen. Die erniedrigendste Behandlung sollte aber erst kommen. Der Rüstmeister wurde herbeigeholt; man legte mir Handschellen an und führte mich unter Bewachung zur Kajüte des Kapitäns. Zwei Stunden lang ließ man mich bei der Türe warten. Ich sah niemanden außer den Wachen, die sich weigerten, mit mir zu sprechen. Inzwischen war das Schiff in die Bucht gelotst worden und warf an derselben Stelle Anker, an der die Bounty bei ihrer Ankunft vor fast drei Jahren gelegen war. Durch die Luken sah ich das Gewimmel der Indios am Strande und Kanus, die auf die Fregatte zusteuerten. In einem der ersten Boote befanden sich Coleman und Stewart.
Stewart war in seine Kadettenuniform gekleidet, Coleman in eine alte Jacke und eine mit Baststücken ausgebesserte Hose. Die Fregatte führte den Namen Pandora und wurde von Kapitän Edward Edwards befehligt, einem großen hageren Mann mit kalten blauen Augen. Sobald das Schiff sicher verankert war, kam er in seine Kajüte, gefolgt von einem seiner Leutnants, Herrn Parkin. Er setzte sich an seinen Tisch und ließ mich vorführen. Ich erhob sogleich gegen die Behandlung, die mir zuteil geworden war, Einspruch, aber er gebot mir aufs neue Schweigen und musterte mich, als wäre ich eine exotische Merkwürdigkeit. Sodann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und blickte mir streng ins Gesicht. »Wie heißt du?« »Roger Byam.« »Du warst Kadett auf Seiner Majestät bewaffnetem Schiff Bounty?« »Jawohl, Sir.« »Wieviel Mann der Besatzung jenes Schiffes befinden sich gegenwärtig auf Tahiti?« »Meines Wissens drei, ohne mich zu zählen.« »Wie heißen die Leute?« Ich nannte die Namen. »Wo ist Fletcher Christian? Und wo ist die Bounty?« Ich berichtete ihm über Christians Abreise mit acht Mann und über alle Ereignisse, die seither in Tahiti vorgefallen waren. Ich erzählte ihm auch von dem Bau des Schoners, der unter Morrisons Leitung mit der Bestimmung Batavia in See gegangen war. »Eine glaubhafte Geschichte!« sagte der Kapitän ironisch. »Warum hast du dann die Leute nicht begleitet?«
»Weil der Schoner für eine so lange Reise nicht geeignet ist. Es erschien mir klüger, hier die Ankunft eines englischen Schiffes abzuwarten.« »Welches du ohne Zweifel nie zu sehen hofftest. Du wirst überrascht sein, wenn ich dir sage, daß Kapitän Bligh England glücklich erreicht hat.« »Ich freue mich außerordentlich darüber, Sir.« »Nicht weniger erstaunt wirst du darüber sein, daß alle Einzelheiten der Meuterei, deine eigene Schurkerei Inbegriffen, bekanntgeworden sind.« »Meine Schurkerei, Sir? Ich bin an dieser Sache geradeso schuldlos wie irgendein Mann Ihres Schiffes!« »Du wagst zu leugnen, daß du mit Christian ein Komplott schmiedetest, um die Bounty in Besitz zu nehmen?« »Sie wissen doch sicherlich, Sir, daß einige von denen, die auf dem Schiff zurückgelassen wurden, dort bleiben mußten, weil in der Barkasse kein Platz mehr war? Unser neun hatten keinen wie immer gearteten Anteil an der Empörung. Die Barkasse war so überfüllt, daß Kapitän Bligh selbst den Wunsch aussprach, es solle kein Mann mehr an Bord kommen; und er versprach, in England dafür zu sorgen, daß uns unser Recht werde. Warum werde ich unter diesen Umständen wie ein Pirat behandelt? Wenn Kapitän Bligh hier wäre ...« »Genug«, schnitt mir Edwards die Rede ab. »Du wirst Kapitän Bligh gegenübergestellt werden, wenn du in England die Strafe erleiden wirst, die du so reichlich verdient hast. Also willst du mir sagen, wo die Bounty zu finden ist, oder nicht?« »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, Sir.« »Ich werde sie finden, verlasse dich darauf. Und ich verspreche dir, daß du ebensowenig wie die anderen
Meuterer einen Vorteil davon haben wirst, daß ihr eure Spießgesellen zu schützen versucht.« Ich war zu ergrimmt und verzweifelt, um zu antworten. Niemals während all der Zeit, die seit der Meuterei vergangen war, hatte ich an die Möglichkeit gedacht, ich könnte als Anhänger Christians betrachtet werden. Wenn es mir auch nicht möglich gewesen war, an jenem Morgen mit Bligh zu sprechen, so wußten doch Nelson und andere, die ihn begleitet hatten, von meiner Treue und meiner Absicht, mit ihnen zu fahren. Ich war fest überzeugt davon, daß Bligh sich ein richtiges Bild von meiner Haltung machte, und konnte ganz und gar nicht begreifen, warum ich auf die Liste der Meuterer gekommen war. Ich war begierig, etwas über das Schicksal derer, die Bligh begleitet hatten, zu erfahren, aber Edwards gab mir keine Auskunft. »Du wirst hier verhört, nicht ich«, sagte er. »Du weigerst dich noch immer, mir zu sagen, wo Christian ist?« »Ich weiß darüber nicht mehr als Sie selbst, Sir.« Er wandte sich an den Leutnant. »Lassen Sie diesen Mann hinunterschicken, Herr Parkin, und sorgen Sie dafür, daß er mit niemandem in Berührung kommt ... Warten Sie einen Augenblick! Ersuchen Sie Herrn Hayward, jetzt zu mir zu kommen.« Ich konnte bei der Nennung dieses Namens mein Erstaunen nicht verbergen. Gleich darauf trat Thomas Hayward, mein ehemaliger Kamerad von der Bounty, ein. Ohne an meine Handfesseln zu denken, ging ich auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, aber er maß mich mit einem Blick der Verachtung und versteckte seine Hände hinter dem Rücken. »Sie kennen diesen Mann, Herr Hayward?«
»Jawohl, Sir. Es ist Roger Byam, vormals Kadett auf der Bounty.« »Danke«, sagte Edwards. Mit einem neuerlichen kalten Blick auf mich ging Hayward hinaus, während ich von der Wache auf militärische Weise in einen Raum gebracht wurde, der offenbar für Gefangene vorbereitet worden war. Er lag unterhalb der Wasserlinie, war von üblem Geruch überfüllt, der durch das ständig eindringende Seewasser verursacht wurde, und erhielt seine Luftzufuhr nur durch eine im Vordergrund angebrachte Treppe. An den Beinen wurden mir die gleichen Fesseln angelegt wie an den Handgelenken, und ich mußte, von je einem Mann vor beiden Türen bewacht, in diesem Verlies bleiben. Etwa eine Stunde später wurden Stewart, Coleman und Skinner heruntergebracht und auf die gleiche Art in Eisen gelegt wie ich. Es war uns verboten, miteinander zu sprechen. Dort lagen wir den ganzen, uns endlos erscheinenden Tag lang, so elend an Leib und Seele, wie ein Mensch nur sein kann.
15
Während der nächsten vier Tage waren Stewart, Coleman, Skinner und ich kaum fähig, an etwas anderes zu denken als an unser eigenes Elend. Der Aufenthalt in unserem stinkenden, glühendheißen Gefängnis war fast unerträglich. Unsere Wachen wurden alle zwei Stunden abgelöst, und ich erinnere mich, mit welcher Sehnsucht wir den Leuten nachsahen, wenn sie in die frische Luft zurückkehren durften. Am Morgen und Abend wurde uns das Essen gebracht; nur dann konnten wir die Nacht vom Tage unterscheiden, denn kein Sonnenstrahl drang in unser Verlies. Unsere Nahrung bestand aus schlechtem Pökelfleisch und hartem Brot; niemals durften wir das frische Fleisch, die Früchte und Gemüse kosten, die die Insel in solchem Überfluß hervorbringt. Aber mehr als nach Nahrung sehnten wir uns nach frischer Luft und dem köstlichen Genuß der Bewegung. Unsere Fußeisen waren durch Ringbolzen an den Planken befestigt, und obgleich wir unsere Füße bewegen konnten, war es unmöglich, mehr als einen Schritt nach einer Richtung zu tun. Am fünften Morgen unserer Gefangenschaft erschien der Korporal der Marinesoldaten. Meine Fußfesseln wurden mir abgenommen, und ich wurde die Treppe hinauf, dem Kanonendeck entlang, in die Kajüte des Schiffsarztes geführt. Dort erwartete mich der Arzt selbst, Dr. Hamilton. Er wies, als er die Handschellen bemerkt hatte, den Korporal an, mir die Eisen abzunehmen. Der Mann zögerte. »Leutnant Parkin hat befohlen ...« »Unsinn«, unterbrach ihn der Doktor. »Ich stehe für den Mann ein.« Die Eisen wurden mir abgenommen, und auf
einen Wink des Arztes zog sich der Korporal zurück. Dr. Hamilton sperrte lächelnd die Tür ab. »Diese Vorsichtsmaßregel richtet sich nicht gegen Sie, Herr Byam«, sagte er. »Ich will, daß unsere Unterhaltung nicht gestört wird. Bitte, nehmen Sie Platz.« Er war ein kräftiger, etwa vierzigjähriger Mann von angenehmem Wesen. Ich fühlte mich gleich zu ihm hingezogen. Nach der Behandlung, die mir von Edwards und Parkin zuteil geworden war, erschien mir bloße Höflichkeit als die höchste der Tugenden. Ich nahm auf der Kleiderkiste Platz und wartete. »Zunächst einmal«, begann der Arzt, »wie steht es mit Ihrem Studium der Sprache von Tahiti? Haben Sie es während Ihres langen Aufenthaltes auf Tahiti weitergeführt?« »Das habe ich, Sir. Kein Tag ist vergangen, an dem ich mein Wörterbuch nicht bereichert hätte. Ich habe auch eine Grammatik der Sprache fertiggestellt.« »Ausgezeichnet! Sir Joseph Banks hat Ihnen also nicht mit Unrecht Vertrauen geschenkt.« »Sir Joseph! Sie kennen ihn, Sir?« »Leider nicht so gut, wie ich es wünschen würde. Ich habe ihn erst kurz vor unserer Abfahrt kennengelernt.« »Sicherlich werden Sie mir aber sagen können, ob er mich für schuldig hält. Glauben Sie selbst, Sir, daß ich so hirnverbrannt war, mich an dem Aufruhr zu beteiligen? Und doch bin ich von Kapitän Edwards behandelt worden, als wäre ich einer der Rädelsführer.« Der Arzt sah mich einen Augenblick ernst an. »Vielleicht wird es Ihnen Trost gewähren, wenn ich Ihnen sage, daß Sie nicht wie ein Mensch aussehen, der sich schuldbewußt fühlt. Sir Joseph glaubt trotz allem, was gegen Sie vorgebracht wurde, an Ihre Unschuld.«
»Gestatten Sie mir, weiterzusprechen«, fuhr er fort, als er bemerkte, daß ich ihn unterbrechen wollte. »Ich werde Sie mit Vergnügen anhören, aber zunächst möchte ich Sie darüber unterrichten, wie schwer die Anschuldigungen sind, die gegen Sie erhoben wurden. Eine Einzelheit wird Ihnen beweisen, wie schwer Sie belastet sind. In der Nacht, ehe die Meuterer sich der Bounty bemächtigten, überraschte Sie Kapitän Bligh persönlich bei einem ernsten Gespräch, das Sie mit Herrn Christian führten. Kapitän Bligh versicherte, daß er hörte, wie Sie zu Christian sagten: »Sie können auf mich rechnen«, oder Worte ähnlichen Inhaltes.« Ich war einen Augenblick lang sprachlos. So klar ich mich auch des Gesprächs mit Christian erinnerte, so war diese wichtige Einzelheit meinem Gedächtnis doch vollkommen entschwunden. Die Aufregungen, die unmittelbar darauf folgten, waren vermutlich daran schuld. Nun begriff ich sogleich, daß es um meine Sache sehr schlecht stand und daß Bligh berechtigt war, aus meinen Worten die schlimmsten Folgerungen zu ziehen. Was sonst konnte er glauben, als daß ich Christian meiner unbedingten Gefolgschaft bei der Besitznahme des Schiffes versichert hatte? Dr. Hamilton saß mit gefalteten Händen da und sprach: »Ich sehe Ihnen an, Herr Byam, daß Sie sich dieses Gespräches erinnern.« »Sie haben recht, Sir. Ich habe diese Worte in der Tat gesprochen, und zwar unter den von Kapitän Bligh geschilderten Umständen.« Ich erzählte ihm sodann die ganze Geschichte der Meuterei, ohne irgend etwas auszulassen. Er hörte mich an, ohne mich zu unterbrechen. Als ich geendet hatte, blickte er mir voll ins Gesicht; dann sagte er: »Mein
Junge, Sie haben mich überzeugt, hier haben Sie meine Hand darauf!« Ich schüttelte sie warm. »Aber ich muß gestehen, daß meine Überzeugung mehr auf meinem persönlichen Eindruck von Ihnen als auf Ihrem Bericht beruht. Sie müssen einsehen, daß gerade die Wahrscheinlichkeit Ihrer Erzählung gegen Sie spricht.« »Wie soll ich das verstehen, Sir?« »Ich glaube Ihnen; aber stellen Sie sich einmal vor, Sie seien ein Mitglied des Kriegsgerichtes. Ihre aufrichtige Art wird auch auf die Richter Eindruck machen. Werden sie jedoch die Erzählung selbst nicht für zu vollkommen und deshalb für konstruiert halten? Sie entspricht so genau Ihren Erfordernissen. Die belastenden Worte, die Sie an Christian richteten, sind einwandfrei erklärt. Daß Sie unmittelbar vor der Abfahrt der Barkasse das Deck verließen, ist gleichfalls aufs glaubhafteste erklärt. Jeder der Kapitäne, die über Sie zu Gericht sitzen werden, wird sich denken: Das ist genau die Erzählung, die ein schlauer Kadett, der sein Leben retten will, erfinden würde.« »Aber wie ich Ihnen bereits sagte, Sir, hat Robert Tinkler mein Gespräch mit Christian mit angehört. Er kann jedes Wort meiner Aussage bezeugen.« »Ja, ich hoffe, daß Tinkler Sie retten wird. Ihr Leben liegt in seiner Hand. Er ist gesund nach England zurückgekehrt. Sie werden aber weiter begreifen, wie schwer es sein wird, das Kriegsgericht davon zu überzeugen, daß Christian, ein kluger und besonnener Mann, den Wahnsinnsplan faßte, allein auf einem winzigen Floß eine von Wilden bewohnte Insel zu erreichen.«
»Es ist verständlich, wenn man Christians Charakter und die Beschimpfungen, denen er seitens Kapitän Blighs ausgesetzt war, kennt.« »Aber diese Offiziere werden nichts über Christians Charakter wissen; sie werden alle auf Seiten Blighs stehen. Gibt es niemanden, der Christians Absicht bezeugen kann? Ein solcher Mann wäre ein überaus wichtiger Zeuge für Sie.« »Es gibt einen: John Norton, einer der Quartiermeister. Er stellte das Floß für Christian her.« Der Arzt zog ein Dokument aus der Schublade seines Schreibtisches. »Hier habe ich eine Liste der Leute, die Kapitän Bligh begleiteten. Zwölf davon blieben am Leben und erreichten England.« Er überflog die Liste und sah mich dann ernst an. »Norton befindet sich leider nicht darunter. Er wurde auf der Insel Tofoa von Wilden getötet.« Nortons Tod war ein schwerer Schlag für mich. Auch Herr Nelson war tot; er fiel in Coupang einem Fieber zum Opfer. Herr Nelson war nicht nur mein Freund gewesen; er hätte auch bezeugen können, daß ich die Absicht hatte, das Schiff zu verlassen. Das Fehlen dieser beiden Zeugen ließ meine Chance, freigesprochen zu werden, gering erscheinen. Dr. Hamilton beurteilte meine Lage hoffnungsvoller. »Sie dürfen sich nicht entmutigen lassen«, meinte er. »Tinklers Aussage ist wichtiger für Sie als die von Norton und Herrn Nelson. Sir Joseph Banks wird dafür sorgen, daß alles, was zu Ihren Gunsten spricht, ins Treffen geführt wird. Nehmen Sie mein Wort darauf, Ihre Lage ist keineswegs verzweifelt.« Seine zuversichtliche Art beruhigte mich, und für den Augenblick hörte ich auf, mir Gedanken über mein Los
zu machen. Dr. Hamilton erzählte mir sodann in aller Kürze, was mit Bligh und seinen Begleitern geschehen war, nachdem wir die Barkasse aus den Augen verloren hatten. Sie landeten zuerst auf Tofoa, aber die Wilden griffen sie in solchen Massen an, daß sie mit knapper Mühe dem Tode entgingen. Es war ein Wunder, daß nur Norton getötet wurde. Die weiteren Erlebnisse bildeten eine Kette ununterbrochener unsäglicher Entbehrungen, und unter einem anderen Kommandanten wäre die Barkasse sicherlich dem Untergang geweiht gewesen. Am 14. Juni, siebenundvierzig Tage nach der Meuterei, erreichte das Boot die holländische Niederlassung Coupang auf der Insel Timor, über 1200 Meilen von Tofoa entfernt. Nachdem sie sich zwei Monate erholt hatten, wurde ein kleiner Schoner ausgerüstet, in dem sie am 1. Oktober 1789 Batavia erreichten. Hier starben drei weitere Teilnehmer der Fahrt: Elphinstone, Lenkletter und Hall. Ledward wurde in Batavia zurückgelassen; die übrigen schifften sich auf Fahrzeugen der HolländischOstindischen Compagnie nach Europa ein. Lamb starb unterwegs, so daß von den neunzehn Männern nur zwölf die Heimat wiedersahen. »In den Annalen der Geschichte der Schiffahrt ist keine Reise in einem offenen Boot verzeichnet, die dieser gliche«, fuhr Doktor Hamilton fort. »Wochenlang bildeten die Abenteuer der Bounty in London fast den einzigen Gesprächsstoff. Im ganzen Lande erklang Blighs Lob. Es wäre nutzlos, es Ihnen zu verheimlichen, Herr Byam: Die, welche auf der Bounty zurückblieben, gelten allgemein als Verbrecher verworfenster Art.« »Tat Bligh denn gar nichts, um die gegen ihren Willen Zurückgebliebenen reinzuwaschen?« fragte ich. »Ich verstehe nunmehr seine Erbitterung gegen mich, aber es
gibt andere, von denen er weiß, daß sie unschuldig sind, und denen er zu ihrem Recht zu verhelfen versprach. Stewart und Coleman liegen in Ketten auf diesem Schiff, und doch sind sie genauso schuldlos wie jene, die Kapitän Bligh begleiteten.« »Ich habe die Instruktionen gelesen, die Kapitän Edwards von der Admiralität erhielt. Sie enthalten eine Liste der Leute, die auf der Bounty blieben, und ihr alle werdet als Meuterer betrachtet. Ein Unterschied zwischen den einzelnen wird nicht gemacht, und Kapitän Edwards hat Weisung, sie so streng zu bewachen, daß eine Flucht unmöglich ist.« »Bedeutet das, daß wir in unserem jetzigen Gefängnis bleiben, bis die Pandora England erreicht?« »Wenn Kapitän Edwards meinem Rat folgt, nicht. Seine Weisungen verpflichten ihn auch, geeignete Vorkehrungen für die Erhaltung eures Lebens zu treffen. In dieser Hinsicht teile ich die Verantwortung mit ihm, und in Ihrem jetzigen Gefängnis kann ich unmöglich für Ihr Leben und das Ihrer Kameraden einstehen. Ich werde mein möglichstes tun, um den Kapitän dazu zu bewegen, Ihnen einen gesünderen Aufenthaltsort anzuweisen.« »Und wenn es Ihnen möglich ist, Sir«, bat ich, »sorgen Sie bitte auch dafür, daß uns erlaubt wird, miteinander zu sprechen.« »Gott im Himmel! Hat er Ihnen nicht einmal diese kleine Vergünstigung gewährt?« Der Arzt betrachtete mich mit einem grimmigen Lächeln. »Kapitän Edwards ist ein gerechter Mann, Herr Byam. Sie verstehen vielleicht, in welchem Sinne ich das meine? Er wird seine Weisungen mit peinlicher Genauigkeit befolgen, und des Vergehens zu großer Milde wird er sich sicherlich nicht schuldig machen. Aber ich denke, ich kann Ihnen kleine
Erleichterungen versprechen. Um zum Thema Ihrer Studien zurückzukehren - Sie haben Ihre Manuskripte vermutlich in Ihrem Hause?« All mein persönliches Eigentum befand sich in Tautira. Ich sagte Dr. Harnilton, daß Tuahu meine Kiste auf das Schiff bringen würde, wenn ich Erlaubnis erhielte, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. »Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen«, nickte der Arzt. »Sir Joseph legt größten Wert darauf, daß diese Manuskripte nicht verlorengehen.« »Es wäre ein wahres Gottesgeschenk für mich, während der Heimreise meine Arbeit fortsetzen zu dürfen.« »Ebendieses hat Sir Joseph für den Fall, daß wir Sie finden würden, vorgeschlagen. Ich glaube, daß Kapitän Edwards die Erlaubnis dazu erteilen wird.« Diese Nachricht gab mir neuen Mut. Diese Beschäftigung würde die lange Gefangenschaft erträglicher machen. Dr. Hamilton blickte auf die Uhr und sagte dann: »Ich muß Sie bald wieder hinunterschicken. Vorher aber habe ich Ihnen noch einen Brief zu übergeben, den mir Sir Joseph Banks für den Fall, daß wir Sie finden würden, anvertraut hat.« Dr. Hamilton beschäftigte sich mit seinen Papieren, während ich meinen Brief las. Das Schreiben war von meiner Mutter. Ich besitze es bis zum heutigen Tage, und trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, kenne ich es Wort für Wort auswendig: »Mein lieber Sohn!
Soeben erst habe ich erfahren, daß ich eine unschätzbare Gelegenheit habe, Dir zu schreiben. Ich darf keinen Augenblick mit unnützen Worten verlieren. Als Kapitän Bligh die Nachricht von dem schrecklichen Schicksal der Bounty brachte, schrieb ich ihm sogleich und erhielt von ihm den Brief, den ich beifüge. Was ihn gegen Dich aufgebracht hat, weiß ich nicht. Nach dem Empfang seines herzlosen Schreibens wandte ich mich nicht wieder an ihn, aber Du darfst nicht glauben, daß ich sehr bekümmert bin. Ich kenne Dich zu gut, lieber Roger, um den geringsten Zweifel an Deiner Schuldlosigkeit zu haben. Ich weiß, welche Sorgen Du Dir um mich machen wirst, wenn Du bei der Ankunft der Pandora erfahren wirst, daß man Dich für einen Meuterer hält. Stelle Dir also vor, lieber Sohn, Du seiest in der Lage gewesen, mir alle Umstände ausführlich zu erklären, und daß dieser Brief mich erreicht habe. Ich bin so sicher, als wenn ich Deinen Brief vor mir liegen hätte, daß unüberwindliche Hindernisse es Dir unmöglich machten, die Bounty mit Kapitän Bligh zu verlassen. Ich warte mit vollkommenem Vertrauen, bis Du heimkehrst und Deinen Namen von dieser schändlichen Anschuldigung reinigst. Meine einzige Sorge ist die wegen der Leiden, die Du als Gefangener während der langen Fahrt nach England zu ertragen haben wirst. Aber Du wirst sie ertragen; vergiß nicht, mein Sohn, daß am Ende dieser Reise die Heimat liegt. Du wirst Dich darüber freuen, zu erfahren, daß Sir Joseph Kapitän Blighs Ansicht, Du gehörest zu seinen Feinden, nicht teilt. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen man Dich der Meuterei bezichtigt, aber Sir Joseph schließt seinen Brief an mich mit den Worten: »Ich hoffe zuversichtlich, daß der Beweis für die Unschuld Ihres
Sohnes an dem Tage offenbar wird, an dem die Pandora zurückkehrt und alle Tatsachen bekanntwerden.« Ich erwarte dies nicht nur, ich weiß es so sicher, wie daß morgen die Sonne aufgehen wird. Lebe wohl, mein lieber Roger. Die Pandora segelt in drei Tagen ab, und mein Brief muß die heutige Londoner Postkutsche erreichen. Glaube mir, mein lieber Junge, daß ich bei dem Gedanken an die schändlichen Beschuldigungen gegen Dich lächeln kann. Möge England viele Verbrecher hervorbringen, wie Du einer bist.« Dr. Hamilton war die Güte selbst. Unser Verlies war so dunkel wie ein Keller, und ich hätte meinen Brief dort niemals lesen können. Er gestattete mir, ihn wieder und wieder zu lesen, solange bis ich ihn auswendig kannte. Der beigelegte Brief Blighs an meine Mutter war zweifellos das grausamste und herzloseste Schreiben, das jemals an eine Mutter über ihren Sohn gerichtet worden ist: »London, den 2. April 1790. Gnädige Frau! Ich erhielt heute Ihren Brief und bedauere Sie sehr, denn ich begreife vollkommen den Kummer, den Ihnen das Verhalten Ihres Sohnes verursachen muß. Seine Nichtswürdigkeit ist unbeschreiblich. Aber ich hoffe, daß Sie den Verlust eines solchen Sohnes überwinden werden. Ich nehme an, daß er mit den übrigen Meuterern nach Tahiti zurückgekehrt ist. Ich zeichne, gnädige Frau, als Ihr William Bligh.«
Ich kehrte in völlig geänderter Stimmung in unser dunkles Loch zurück. Als wir das Zwischendeck passierten, konnte ich durch die Luken einen Blick auf die Bucht und die zwischen dem Ufer und der Fregatte hin und her fahrenden Boote erhäschen. Diese kurzen Blicke ließen mich den unermeßlichen Wert des bloßen Lebens und Freiseins erkennen. Ich verhehlte mir nicht, daß lange Zeit vergehen müsse, ehe ich diese beiden köstlichen Güter mein eigen nennen würde.
16
Am folgenden Morgen wurde unser Gefängnis zum ersten Male, seit wir uns darin befanden, gereinigt und mit zwei Extrakerzen beleuchtet. Man brachte uns einen Eimer Seewasser und erlaubte uns, die Hände und das Gesicht zu waschen. Kaum hatten wir unsere Säuberung in Hast beendet, als Kapitän Edwards, gefolgt von Leutnant Parkin, eintrat. Der Waffenmeister kommandierte: »Häftlinge, aufstehen!« Wir erhoben uns; Edwards blickte sich in dem Raum um und musterte uns sodann der Reihe nach. »Herr Parkin, sorgen Sie dafür, daß der Rüstmeister jede einzelne Fessel genau untersucht«, sagte der Kapitän. »Wenn es einem der Häftlinge gelingt, sich zu befreien, ist er mir verantwortlich dafür.« »Ich werde sogleich Sorge dafür tragen, Sir«, entgegnete Parkin. Edwards fuhr fort, uns mit kaltem Blick zu messen. »Teilen Sie den Häftlingen mit, Waffenmeister, daß sie von nun an miteinander sprechen dürfen, aber nur in englischer Sprache. Wenn auch nur ein einziges Wort in der Eingeborenensprache zwischen ihnen gewechselt wird, wird die Erlaubnis zurückgezogen.« Der Waffenmeister wiederholte die Mitteilung. »Unter keinen Umständen«, fuhr Edwards fort, »dürfen die Häftlinge mit einer Wache oder mit jemand anderem sprechen als mit Herrn Parkin und dem Korporal der Wache. Jede Verletzung dieses Befehls werde ich aufs schwerste ahnden.« Parkin hatte die Oberaufsicht über uns. Ich verspürte eine instinktive Abneigung gegen den Mann. Er war klein, vierschrötig und außerordentlich stark behaart; seine
Augenbrauen trafen sich in einer unregelmäßigen Linie oberhalb der Nase. Das Laster der Grausamkeit stand deutlich auf seinem Gesicht geschrieben; bald sollten wir den Charakter des Mannes, in dessen Macht wir uns befanden, erkennen. Edwards hatte ihm jetzt die Gelegenheit gegeben, nach der er begierig war. Kaum war der Kapitän gegangen, als Parkin persönlich eine Untersuchung unserer Fesseln vornahm. Zuerst befahl er Stewart, sich hinzulegen und die Hände auszustrecken. Dann stemmte er einen Fuß gegen seine Brust und zog so lange mit aller Kraft an der Kette, an der die Handschellen befestigt waren, bis er die Fesseln losgerissen hatte. Dies ging nicht ohne Hautabschürfungen an Stewarts Handrücken und Gelenken ab. Als die Handschellen endlich nachgaben, stürzte der Leutnant beinahe nach hinten. In seiner Wut vergaß Stewart seine hilflose Lage. Er sprang auf, und wenn er Parkin erreicht hätte, hätte er ihn sicher zu Boden geschlagen. »Sie gemeiner Unmensch!« schrie er. »Und Sie wollen ein Offizier sein?« Parkin hatte eine hohe, beinahe weibliche Stimme, die in seltsamem Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung stand. »Was haben Sie gesagt?« fragte er. »Wiederholen Sie das!« »Ich nannte Sie einen gemeinen Unmenschen«, sagte Stewart, »und das sind Sie auch!« Der Leutnant beeilte sich, aus Stewarts Nähe zu kommen. »Das werden Sie bereuen«, knirschte er. »Ich verspreche Ihnen, daß Sie diese Worte öfter als einmal bedauern werden, ehe Sie gehenkt werden.«
Ich weiß nicht, ob er die Absicht hatte, unsere Fesseln auf die gleiche Art zu prüfen. Ich war entschlossen, daß zumindest ich es nicht zulassen würde; aber in diesem Augenblick trat der Rüstmeister ein. Parkin wies ihn an, die Prüfung fortzusetzen. Er befahl, alle Handfesseln enger zu machen. Als sie geändert und zurückgebracht worden waren, konnten sie uns nur mit größter Anstrengung angelegt werden. Von uns vieren war Skinner der einzige, der nichts zu hoffen hatte, und doch war er der Fröhlichste unter uns. Er sagte öfter als einmal, daß er sich, wenn er die Entscheidung nochmals zu treffen habe, wieder der Gerechtigkeit stellen würde; er schien mit Vergnügen auf den Tag seiner Hinrichtung zu warten. Wir befolgten Edwards Befehl, nicht mit den Wachen zu sprechen, aufs genaueste. Wir wollten den Leuten keine Unannehmlichkeiten bereiten; außerdem spionierte Parkin zu allen Tageszeiten herum. Nun gab es aber unter den Matrosen einen Mann namens James Good, der uns gewöhnlich das Essen brachte und niemals verabsäumte, uns willkommene kleine Neuigkeiten ins Ohr zu flüstern, wenn er die Schüsseln austeilte. »Herr Parkin ist an Land gegangen, junger Herr«, sagte er etwa; »heute morgen wird er Sie nicht belästigen.« Wenn immer es möglich war, brachte er uns ein Stückchen Schweinefleisch oder süße Kartoffeln, die er, in ein Taschentuch gewickelt, in seiner Bluse verbarg. Er tat dies mit Wissen der Köche. Wäre einer dieser Leute entdeckt worden, so hatte er sich einer schweren Prügelstrafe ausgesetzt, und doch nahmen sie diese Gefahr freiwillig auf sich, um unser Elend zu mildern. Niemals aber brachte uns Good eine willkommenere Nachricht als an dem Abend, an dem er uns mitteilte, daß
wir in ein anderes Quartier geschafft werden würden. »Haben Sie das Klopfen und Hämmern auf Deck gehört?« flüsterte er mir zu. »Die Zimmerleute bauen ein richtiges Haus für euch.« Wir hatten die Hammerschläge wohl gehört, und jetzt, wo wir wußten, daß sie uns angingen, waren sie Musik für unsere Ohren. Am folgenden Tage wurden wir die Treppe hinauf zum Zwischendeck und über eine weitere Treppe in die frische Luft des Oberdecks gebracht. Zuerst waren wir vom Glanz der Sonne so geblendet, daß wir kaum sehen konnten und daher das halbe Vergnügen an dem Augenblick im Freien verloren. Es war in der Tat nur ein Augenblick. Wir mußten über eine Leiter zum Dach der viereckigen Hütte, die auf dem Quarterdeck errichtet worden war, empor- und dann durch ein enges Loch in das Innere hinabsteigen. Dies war unser Gefängnis, solange wir auf der Pandora blieben. Es wurde »Das Rundhaus« genannt, wir Gefangenen pflegten es jedoch als »Büchse der Pandora« zu bezeichnen. Der Raum war elf Fuß breit und achtzehn lang. In den Wänden befanden sich zwei Gucklöcher, die, ebenso wie die Öffnung im Dach, fest vergittert waren und nur spärliches Licht eindringen ließen. In der Mitte waren in einer Reihe vierzehn Ringbolzen angebracht, an denen die Fußeisen befestigt wurden. Wir wurden in den Ecken des Raumes untergebracht. Wie in unserem alten Gefängnis konnten wir einen halben Schritt in jeder Richtung gehen. Auf dem Dach marschierten unausgesetzt zwei Wachen auf und ab. An die gleichmäßigen, unaufhörlichen Schritte unmittelbar über unserem Kopf gewöhnten wir uns allmählich ebenso wie an das Klirren unserer Fesseln.
Es war nicht anzunehmen, daß ein so großes Gefängnis für vier Personen erbaut worden war, und bei jedem der unbenutzten Ringbolzen lag ein Paar Fußeisen. Offenbar rechnete Kapitän Edwards damit, bald weitere Gefangene einzubringen. Da Christian und seine Begleiter kaum in Frage kamen, hatte sich vermutlich die Abfahrt der Resolution verzögert, und die Gefangennahme der Mannschaft war entweder schon geschehen oder binnen kurzem zu erwarten. Wir blieben nicht lange im Zweifel. Zwei Tage später wurden Morrison, Norman und Ellison hereingeführt und neben uns angekettet. Dies war ein Wiedersehen, das wohl keiner von uns erwartet hätte. Morrison und Norman hatten sich von dem Erstaunen, als Meuterer behandelt zu werden, noch nicht erholt. Ellison war der gleiche leichtsinnige Junge geblieben wie früher. Für einen gefährlichen Menschen gehalten und wie ein wildes Tier eingesperrt zu werden, erschien ihm wie ein großartiger Spaß. Der Rüstmeister legte den neuen Gefangenen Handfesseln an, und da Ellison kaum mehr als ein Knabe war, wagte Parkin es, bei ihm das gleiche zu versuchen wie früher bei Stewart. Er stemmte seinen Fuß gegen Ellisons Brust und versuchte, ihm die Fesseln über die Hände zu riehen. Einen Augenblick ließ sich Ellison diese Behandlung gefallen, dann aber sagte er lächelnd: »Lassen Sie los, Sir, ich gebe Ihnen die Dinger freiwillig, wenn Sie wollen, aber so können Sie sie nie bekommen.« Parkins einzige Antwort bestand darin, die Kette so plötzlich loszulassen, daß Ellison zurückfiel und mit dem Kopf schwer auf dem Fußboden anschlug. Dann versuchte es Parkin von neuem, aber diesmal war Ellison vorbereitet, und als Parkin die Kette wieder losließ, fiel der Junge auf eine Schulter, ohne sich weh zu tun.
»Diesmal haben Sie gewonnen, Sir«, grinste er. Die Tatsache, daß ein gewöhnlicher Matrose, noch dazu ein Meuterer, es gewagt hatte, ihn anzureden, war mehr, als der Leutnant ertragen konnte. »Leg dich nieder!« befahl er. Ellison blickte jetzt ängstlich drein. Wieder streckte er die Arme aus und erwartete, daß Parkin aufs neue an der Kette ziehen werde. Statt dessen gab ihm der Leutnant mit aller Kraft einen schmerzhaften Stoß in die Seite. »Das wird dich lehren, einen Offizier anzureden«, sagte er. Glücklicherweise stand Parkin in der Nähe Morrisons, der ihm mit seinen gefesselten Händen einen solchen Hieb versetzte, daß der Leutnant in meine Richtung flog. Ich fand gerade noch Zeit, ihm gleichfalls einen kräftigen Stoß zu geben, so daß er das Gleichgewicht verlor und sich im Fallen den Kopf an einem der Ringe stieß. Langsam erhob er sich und blickte uns schweigend an. Dann sagte er zu dem Rüstmeister: »Sie können gehen, Jackson! Ich werde mit diesen Burschen schon fertig werden.« Der Rüstmeister stieg die Treppe hinauf, während Parkin auf Ellison niederblickte, der auf dem Bauch lag und sich stöhnend die schmerzende Stelle hielt. »Ihr Hunde!« sagte der Leutnant leise, als spräche er mit sich selbst. »Ich könnte euch dafür zu Tode prügeln lassen. Aber ich will euch baumeln sehen!« Dann stieg er die Leiter hinauf und kletterte hinaus. Wäre der Rüstmeister nicht Zeuge des rohen Angriffs gegen Ellison gewesen, so hätten wir sicherlich für unsere rebellische Tat büßen müssen. Aber offenbar fürchtete Parkin, daß die Wahrheit ans Licht kommen werde, wenn er sich beim Kapitän beklagte. Jedenfalls
wurde nichts gegen uns unternommen, und einige Tage sahen wir den Mann nicht. Als wir wieder einmal allein waren, berichtete uns Morrison über die Vorgänge, die seiner Gefangenschaft vorangegangen waren. Der Schoner war nach Papara gesegelt, um McIntosh, Hillbrandt und Willward aufzunehmen. Sie hatten sich entschlossen, weiteres Schweinefleisch einzupökeln. So vergingen einige Tage, und an dem Morgen, der der letzte des Aufenthaltes auf der Insel sein sollte, hatten die meisten Leute eine Expedition unternommen, um Gebirgspisang zu sammeln. Morrison, Ellison und Norman blieben bei dem Schoner, und gegen Mittag verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft eines fremden Schiffes. Ehe die, welche Bestrafung zu fürchten hatten, gewarnt werden konnten, erschien ein Kutter des Kriegsschiffes, der von Hayward kommandiert wurde. Die Leute wurden sogleich gefesselt und in dem Kutter zur Pandora gebracht, während Hayward mit einem Teil der Marinesoldaten bei dem Schoner blieb. Bald wurden auch die anderen Leute aus Papara in unser Gefängnis gebracht. Es waren ihrer sieben: McIntosh, Hillbrandt, Burkitt, Millward, Sumner, Muspratt und Byrne. Das Rundhaus war jetzt nicht mehr zu groß für uns. Einige Tage später bemerkte ich, daß sich in dem feuchten Bretterwerk unter dem Einfluß der Sonne ein Astknorren gelockert hatte. Während mehrerer Nächte versuchte ich ohne Erfolg, ihn herauszuziehen. James Good war mir behilflich. Er drückte den Knorren zu mir hinein, und nun hatte ich ein winziges Fensterchen, durch welches ich einen Blick auf die Bucht und die Küste werfen konnte.
Ich beobachtete das Kommen und Gehen der Boote und Kanus. Mehrere Male sah ich, wie Peggy, Stewarts Frau, von ihrem Vater oder einem ihrer Brüder um die Pandora herumgerudert wurde. Mit welchem Verlangen sie in unsere Richtung schaute! Stewart sagte ich nichts davon. Ich hätte seine Seelenpein damit nur verstärkt. Als ich eines Morgens durch mein Guckloch blickte, ließ Muspratt das Warnsignal »Sie kommen!« vernehmen; ich hatte gerade noch Zeit, die Öffnung zu verschließen, als der Waffenmeister, gefolgt von Edwards, die Leiter herabstieg. Es war der erste Besuch des Kapitäns, seit wir in das Rundhaus gesperrt worden waren. Unser Gefängnis war während all der Zeit nicht gereinigt worden, und ich will über seinen Zustand nur das eine sagen, daß vierzehn Männer in Ketten in diesem engen Raum ihre Notdurft verrichten mußten. Edwards blieb am Fuße der Leiter stehen. »Warfenmeister, warum befindet sich dieser Raum in einem derart schmutzigen Zustande?« »Herr Parkin hat den Befehl gegeben, das Gefängnis sei einmal wöchentlich zu reinigen, Sir.« »Lassen Sie es sofort säubern und berichten Sie mir, sobald dies geschehen ist.« »Zu Befehl, Sir!« Edwards verließ uns sogleich wieder. Dann wurden uns zu unserer großen Freude Schrubber gereicht sowie ein Eimer Seewasser nach dem anderen. Nachdem wir unser Quartier gründlich gereinigt hatten, rieben wir uns gegenseitig ab. Das Gefühl, wieder einmal sauber zu sein, hatte eine wunderbare Wirkung auf den Gemütszustand. Einige der Leute sangen und pfiffen während der Arbeit, Töne, die zu dem Klirren der Fesseln in einem seltsamen Gegensatz standen. Ein kurzer Befehl des
Waffenmeisters machte diesem fröhlichen Lärm ein Ende. In einer halben Stunde hatten wir den Raum so rein gemacht, wie es mit Salzwasser und gutem Willen möglich war. Bald darauf kam der Waffenmeister zurück, diesmal in Gesellschaft Dr. Hamiltons. Der Arzt warf mir einen freundlichen Blick zu, musterte dann jeden einzelnen Mann und blieb schließlich vor Muspratt stehen. »Das muß behandelt werden, Mann«, sagte er, indem er auf eine große Beule an Muspratts Knie wies. »Schicken Sie ihn mir um zehn Uhr ins Lazarett, Herr Jackson.« »Zu Befehl, Sir.« »Leidet sonst noch jemand von euch an Hautausschlägen oder sonstigen Krankheiten?« erkundigte sich Dr. Hamilton. »Wenn dem so ist, meldet euch, und ich werde jeden einzelnen Fall untersuchen. Zögert nicht, mir zu melden, wenn ihr meine Dienste benötigt.« »Darf ich sprechen, Sir?« fragte Stewart. »Gewiß.« »Wäre es möglich, daß wir, solange das Schiff hier vor Anker liegt, hie und da frische Nahrungsmittel bekommen?« Morrison unterstützte die Bitte eifrig. »Wir haben Freunde unter den Eingeborenen, Sir, die uns gerne Früchte und Gemüse senden würden, wenn es erlaubt wäre.« Dr. Hamilton blickte uns erstaunt an. »Aber ihr erhaltet doch frische Nahrungsmittel!« sagte er. »Nein, Sir«, meldete sich Coleman. »Nur Pökelfleisch und hartes Brot.« Dr. Hamilton sah den Waffenmeister fragend an. »Die Häftlinge erhalten nichts anderes, Sir. Auf Befehl von Herrn Parkin.«
»Hm!« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich werde der Sache nachgehen. Vielleicht ist es möglich.« Wir dankten ihm herzlich, ehe er uns verließ. Es war uns nunmehr klar, daß weder der Kapitän noch Dr. Hamilton Kenntnis von der Behandlung hatten, die uns Parkin angedeihen ließ. Von diesem Tage an besuchte uns Dr. Hamilton regelmäßig. Es wurde für Sauberkeit im Rundhaus gesorgt, und unsere Nahrung war nun die gleiche, die die Besatzung der Pandora erhielt.
17
Eines Morgens zu Anfang des Monats Mai wurden Stewart und mir die Fußeisen abgenommen, und man führte uns zu dem als Lazarett dienenden Raum. Dr. Hamilton erwartete uns auf dem Gange. Er winkte uns, einzutreten. Dies taten wir, ohne zu wissen, was uns erwartete; hinter uns wurde die Tür geschlossen. In dem Raum befanden sich Tehani und Peggy mit unseren Töchterchen. Tehani kam auf mich zu, umschlang mich und flüsterte mir ins Ohr: »Höre, Byam. Ich habe keine Zeit, zu weinen. Ich muß rasch sprechen. Atuanui ist mit dreihundert Kriegern aus Tautira, seinen besten Kriegern, hierhergekommen. Sie kamen in kleinen Gruppen, nicht mehr als fünf oder zehn zur gleichen Zeit. Seit vielen Tagen habe ich versucht, dich zu sehen. Die Krieger werden das Schiff bei Nacht angreifen. In der Dunkelheit werden uns die großen Feuerrohre wenig Schaden zufügen. Nur das eine fürchten wir, daß du von den Soldaten getötet wirst, ehe wir dich erreichen können. Deshalb ist der Angriff noch nicht erfolgt. Seid ihr alle in dem Haus, das auf dem Deck erbaut wurde? Atuanui wünscht zu wissen, wie ihr bewacht werdet.« Ich war so überglücklich, Tehani und unsere kleine Tochter zu sehen, daß ich einen Augenblick lang außerstande war, zu sprechen. »Gib mir Auskunft, Byam, rasch! Wir haben nicht lange Zeit, zu sprechen.« »Seit wann bist du in Matavai, Tehani?« »Drei Tage nachdem du Tautira verließest, kam ich her. Hattest du geglaubt, ich werde dich im Stiche lassen?«
»Tehani«, sagte ich, »du mußt Atuanui begreiflich machen, daß es unmöglich ist, uns zu retten. Er würde mit all seinen Leuten den Tod finden.« »Nein, nein, Byam! Wir werden sie mit Keulen erschlagen, ehe sie ihre Feuerrohre verwenden können. Atuanui will morgen abend den Angriff unternehmen. Es ist Neumond. Wir müssen rasch handeln, denn das Schiff soll Matavai bald verlassen.« Es erwies sich als unmöglich, Tehani den Grund unserer Gefangenschaft zu erklären. Daran waren wir selber schuld, da wir die Meuterei vor allen Bewohnern Tahitis geheimgehalten hatten. »Der Kapitän hat Hitihiti gesagt, ihr seiet böse Menschen. Er erklärt, er müsse euch nach England bringen, um euch bestrafen zu lassen. Hitihiti glaubt das nicht. Niemand glaubt es.« Inzwischen hatte Stewarts Frau ihm die gleichen Mitteilungen gemacht wie Tehani mir. Es gab nur eine Möglichkeit, den Angriff auf die Fregatte zu verhindern. Wir erklärten, daß wir vollkommen hilflos seien und zweifellos getötet würden, ehe das Schiff erobert werden könne. Ich erklärte Tehani weiter der Wahrheit gemäß, daß Kapitän Edwards auf einen solchen Angriff vorbereitet sei und daß unsere Wachen den Befehl hätten, auf die ersten Anzeichen eines Befreiungsversuches hin Feuer zu geben. Endlich gelang es, unsere Frauen von der Aussichtslosigkeit des Planes zu überzeugen. Bis zu diesem Augenblick hatten Tehani und Peggy sich beherrscht. Nun, da sie sahen, daß es keine Rettung für uns gäbe, brach Peggy in hemmungsloses Weinen aus. Stewart versuchte vergeblich, sie zu trösten. Tehani saß stumm zu meinen Füßen, ihr Gesicht in den Händen bergend. Hätte sie geweint, so hätte ich es leichter
ertragen können. Ich kniete neben ihr nieder, unser Kind in den Armen. Zum ersten Male in meinem Leben kostete ich die Bitterkeit wirklichen Elends bis zur Neige aus. Stewart konnte den Schmerz nicht länger ertragen. Er öffnete die Tür. Dr. Hamilton und die Wachen warteten draußen. Stewart winkte ihnen, hereinzukommen. Peggy klammerte sich verzweifelt an ihn; nur mit größter Schwierigkeit gelang es ihm, ihre Finger zu lösen. Wäre Tehani nicht gewesen, so hätte sie mit Gewalt vom Schiffe entfernt werden müssen. Tehanis Leid war, wie das meine, zu tief für Tränen. Einen Augenblick lang hielten wir uns wortlos umschlungen. Dann hob sie Peggy sanft empor und stützte sie beim Hinausgehen. Stewart und ich folgten, unsere Kinder in den Armen. Auf dem Gange übergaben wir sie den Dienerinnen, die unsere Frauen begleitet hatten. Stewart ersuchte, sogleich in das Rundhaus zurückgebracht zu werden. Ich wurde in Dr. Hamiltons Kajüte geführt und war zutiefst dankbar für die Erlaubnis, dort einige Minuten allein zu bleiben. Durch die Luke sah ich, wie das Kanu, welches von Tuahu und Tipau, Peggys Vater, gerudert wurde, von der Fregatte abfuhr. Eine der Dienerinnen hielt Peggys Kind. Tehani saß in dem Boote, unsere kleine Heien in den Armen haltend. Ich sah das Kanu kleiner und kleiner werden; mein Herz war von grenzenloser Verzweiflung erfüllt. Ich stand noch immer bei der Luke, als Dr. Hamilton eintrat. »Setzen Sie sich, mein Junge«, sagte er. Seine Augen waren feucht. »Ich erwirkte von Kapitän Edwards die Erlaubnis zu dieser Zusammenkunft. Meine Absichten
waren die besten, aber ich hatte nicht überlegt, welch grausame Prüfung es für euch alle wäre.« »Ich kann in Stewarts Namen wie in meinem eigenen sprechen, Sir. Wir sind Ihnen aus tiefstem Herzen dankbar.« »Ihr Weib ist eine edle Frau, Herr Byam. Ihre Würde hat tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ich muß gestehen, daß meine Vorstellungen von den Frauen dieser Inseln sich vollkommen geändert haben, seit ich sie kennengelernt habe. Nach den Erzählungen, die ich in England gehört habe, habe ich sie alle für Kreaturen ohne Gefühl gehalten. Ich erkenne von Tag zu Tag deutlicher, wie falsch dieses Urteil war. Wir nennen diese Menschen Wilde! Nun sehe ich ein, daß in mancher Hinsicht wir die Wilden sind, nicht sie.« »Sie haben meine Frau heute zum erstenmal gesehen?« fragte ich. »O nein, ich sah sie während des vergangenen Monates fast täglich. Sie hat Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um Sie sehen zu dürfen. Stewarts Frau tat das gleiche. Bis gestern wies Kapitän Edwards alle Gesuche der Indios, die Gefangenen besuchen zu dürfen, zurück. Er fürchtet, daß sie versuchen würden, Sie zu befreien.« »Er hat allen Grund zu dieser Befürchtung, Sir.« »Wie soll ich das verstehen?« Wäre ich sicher gewesen, Atuanui habe seinen Plan aufgegeben, so hätte ich es vermieden, Dr. Hamilton von dem Gehörten Mitteilung zu machen. Aber ich kannte die Furchtlosigkeit und die impulsive Natur des Häuptlings, und weder er noch Tehani konnten sich einen Begriff von der mörderischen Wirkung großer Geschütze machen. Es war mehr als wahrscheinlich, daß Atuanui den Handstreich noch immer für ausführbar hielt. Deshalb
weihte ich den Arzt in den Angriffsplan ein und berichtete ihm über meine Bemühungen, die Eingeborenen davon abzubringen. »Sie haben recht daran getan«, nickte Dr. Hamilton. »Ein Angriff hätte für Dutzende, vielleicht Hunderte von den Leuten den Tod bedeutet.« »Kapitän Edwards kann nun leicht alle Gefahr abwenden«, fügte ich hinzu. »Er braucht nur eine starke Wache am Ufer zu belassen und jede Ansammlung von Kanus in der Nähe des Schiffes zu verbieten.« Der Arzt teilte mir sodann mit, daß er von Tuahu die Manuskripte meines Wörterbuches und meiner Grammatik erhalten habe. »Ich bin auch im Besitz Ihres Tagebuches«, fügte er hinzu. »Würden Sie mir gestatten, in dieses gelegentlich Einsicht zu nehmen, oder enthält es Dinge, die Sie geheimzuhalten wünschen?« Ich erklärte ihm, daß es nichts enthalte als einen täglichen Bericht meiner Erlebnisse, angefangen von unserer Abfahrt von England bis zur Ankunft der Pandora, und daß ich ihm gern die Erlaubnis gäbe, die Aufzeichnungen zu lesen. »Ich danke Ihnen dafür«, sagte er. »Ihr Tagebuch wird in späteren Jahren von großem Werte für Sie sein. Wenn Sie es wünschen, werde ich alle diese Dokumente für Sie aufbewahren. In meinem Arzneischrank sind sie wohlgeborgen. Was das Wörterbuch betrifft, so ist Kapitän Edwards über das große Interesse, das Sir Joseph Banks ihm entgegenbringt, unterrichtet; Sie haben die Erlaubnis, während der Heimreise daran weiterzuarbeiten.« Das war eine wahrhaft erfreuliche Botschaft für mich. Ich nahm die Gelegenheit wahr, das Verbot des Kapitäns, in der Sprache der Indios zu sprechen, zu erwähnen.
»Wenn dieses Verbot aufgehoben würde, Sir, könnten meine Mitgefangenen mich sehr unterstützen; gleichzeitig wäre diese Beschäftigung eine große Gunst für sie.« Der Arzt versprach, meine Bitte weiterzugeben. James Good berichtete mir, daß die Fregatte in den nächsten vierundzwanzig Stunden absegeln werde. Edwards hatte nichts über den Verbleib Christians und der Bounty erfahren und schien erkannt zu haben, daß wir ihm hierüber die Wahrheit gesagt hatten. Während dieses letzten Tages sah ich mich noch einmal an dem grünen Land, in dem ich so glücklich gewesen war, satt. Die ganze Nacht lag ich wach. Glücklicherweise wurde kein Versuch gemacht, die Fregatte zu erobern. Bei Sonnenaufgang lichteten wir die Anker. Um zehn Uhr sah ich durch mein Guckloch nichts mehr als das offene Meer. Für die vierzehn Insassen der »Büchse der Pandora« folgte nun eine langweilige Zeit. Mein Wörterbuch erwies sich als Segen für uns alle. Am zweiten Tag auf See brachte es mir Dr. Hamilton persönlich, zugleich mit Schreibmaterial und einem kleinen Tischchen. Das frische Holz, aus welchem das Rundhaus erbaut worden war, schrumpfte in der heißen Sonne ein, und durch die Ritzen drang genug Licht, um das Arbeiten zu ermöglichen. Das Verbot, uns in der Eingeborenensprache zu unterhalten, wurde aufgehoben, und die anderen beteiligten sich mit Lust und Liebe an meinen Studien. Am meisten überraschte mich Ellison. Er schien die Sprache ohne die geringste Mühe erlernt zu haben und wies mich auf manche feine Unterschiede hin, die mir entgangen waren. Dieser arme Bursche hatte
niemals seine Eltern gekannt. Solange er sich entsinnen konnte, war er auf Schiffen umhergestoßen worden; niemals war ihm der Gedanke gekommen, daß er einen guten Kopf haben könne. Der Gedanke betrübte mich, daß dieser junge Mensch keine Erziehung erhalten hatte, während so mancher einfältige Sohn reicher Eltern Bildungsmöglichkeiten hat, aus denen er keinen geistigen Nutzen ziehen kann. Graue Tage, an denen unablässig Stürme wüteten, kamen. Die Fregatte arbeitete sich mühsam durch schwere See; sie wurde von den Wogen hin und her geworfen und wir mit ihr, wobei jeder von uns sich an seinem Ringbolzen anklammerte, um sich im Gleichgewicht zu halten. Unser Elend während des schlechten Wetters wurde noch dadurch vergrößert, daß der Regen Tag und Nacht durch die Fugen des Daches drang und wir auf schlüpfrig feuchten Brettern schliefen oder zu schlafen versuchten. Wir waren bereits mehrere Tage unterwegs, als wir erfuhren, daß die Resolution, Morrisons kleiner Schoner, die Pandora begleite. Sie wurde von Herrn Oliver, dem Schiffersmaat der Pandora, befehligt und hatte eine Bemannung von acht Leuten. Die Resolution war ein vorzügliches kleines Fahrzeug und übertraf die Fregatte bei weitem an Schnelligkeit. Oft und oft hatten Morrison und die Leute, die ihn auf der Resolution begleiten sollten, Gelegenheit, ihr Mißgeschick, in Papara gefangengenommen worden zu sein, zu bedauern. Bei Hillbrandt, einem grüblerischen, melancholischen Menschen, zeigten sich bald Anzeichen dafür, daß seine Nerven der langen Haft nicht gewachsen waren. Ich erinnere mich noch gut, daß ich eines Nachts durch eine Stimme aus unruhigem Schlummer geweckt wurde. Es war stockdunkel. Hillbrandt sprach unaufhörlich leise
einförmige Gebete vor sich hin. Seeleute haben, mögen sie auch selbst noch so ungläubig sein, fast stets Achtung vor den religiösen Gefühlen ihrer Kameraden. Obgleich ich in der Finsternis nichts sehen konnte, spürte ich, daß die anderen wach lagen und Hillbrandts Gebeten lauschten. Zumindest eine halbe Stunde lang flehte er Gott an, ihn vor dem Strick zu bewahren. Immer wiederholte er die gleichen Worte. Schließlich hörte ich Millward rufen: »Hillbrandt! Sei doch endlich still!« »Ja«, ließ sich ein anderer vernehmen. »Bete still für dich, wenn du willst, aber laß uns schlafen.« Unvermittelt brach Hillbrandt in heftiges Schluchzen aus. »Wir sind verloren, Leute«, schrie er; »verloren jeder einzelne von uns! Wir werden gehenkt, denkt daran! Mit einem Strick erwürgt!« »Der Teufel hole dich! Wirst du endlich das Maul halten?« hörte ich Burkitt sagen. »Dreh ihm den Hals um, Sumner, wenn er noch ein einziges Wort spricht.« Sumner war neben Hillbrandt angekettet. »Das werde ich!« brummte er. »Wenigstens erspare ich auf die Art dem Henker eine Arbeit!« Über das uns in der Heimat bevorstehende Schicksal wurde im Rundhaus einem stillen Übereinkommen gemäß niemals gesprochen. Das gegenwärtige Elend genügte uns; wir hatten keine Lust, an die Zukunft zu denken. Wir hatten keine Ahnung, welchen Kurs das Schiff nahm. James Good berichtete uns, daß Kapitän Edwards im Zickzack gegen Westen segle und auf jeder Insel Nachschau nach der Bounty halte. Unsere Vermutungen darüber, wo wir uns befanden, stützten sich nur auf das wenige, was ich durch mein Fensterchen sehen konnte.
Nach und nach gelang es auch einigen meiner Mitgefangenen, durch Ritzen im Plankenwerk einen Blick auf die Außenwelt zu tun. Hier und da sahen wir die Resolution, die uns von Insel zu Insel folgte. Der Schoner erwies sich jetzt als äußerst wertvoll für Edwards. Infolge ihres geringen Tiefganges konnte sie ganz nahe an die verschiedenen Inseln, die wir berührten, herangelangen. Während der nächsten zwei Monate kreuzten wir zwischen verschiedenen Inselgruppen hin und her, immer noch auf der Suche nach einer Spur der Bounty. Am 21. Juni - ich hatte mir selbst einen Kalender angelegt - verloren wir in schwerem Wetter die Resolution. Die Fregatte kreuzte mehrere Tage in der Gegend, aber der Schoner blieb verschwunden, worauf Kapitän Edwards Kurs auf Namuka, eine der Freundschaftsinseln, nahm. Hier sollten sich die beiden Fahrzeuge im Falle einer Trennung verabredungsgemäß treffen. Man wird sich erinnern, daß die Bounty einige Tage vor der Meuterei die Insel angelaufen hatte. Durch mein Guckloch erblickte ich die Hütten der Eingeborenen inmitten ihrer Haine, die Stelle, wo der Enterhaken geraubt worden war, und das gleiche Gewimmel der mit diebischen Wilden gefüllten Kanus wie früher. Die Pandora wartete hier vom 28. Juli bis 2. August. Da der Schoner nicht kam, wurde er verlorengegeben; Kapitän Edwards beschloß nun, ohne weiteren Zeitverlust die Heimreise anzutreten. Am nächsten Tag passierten wir die Insel Tofoa und kamen in einer Entfernung von wenigen Meilen an der Stelle vorbei, an der sich die Meuterei ereignet hatte. Die Erregung der Männer im Rundhaus, als wir durch die Ritzen unseres Gefängnisses die blaue Küstenlinie von Tofoa erblickten, kann man sich leicht vorstellen. Mir
erschienen die Ereignisse jenes traurigen Morgens und alles, was seither geschehen war, wie etwas Unwirkliches; unser gegenwärtiges Mißgeschick kam mir wie ein Alptraum vor, aus dem ich im nächsten Augenblick in meiner englischen Heimat zu erwachen hoffte.
18
Der Monat August erschien uns Gefangenen endlos. Insel um Insel tauchte auf und verschwand wieder, während wir uns der Torresstraße näherten. Als wir uns so durch den gewaltigen, mit Inseln und Sandbänken übersäten Ozean arbeiteten, kam mir erst so recht die Leistung zu Bewußtsein, die Kapitän Bligh vollbracht hatte. Daß es ihm gelungen war, siebzehn Menschen ohne Waffen, mit so geringen Proviant- und Wasservorräten, an einen Bestimmungsort zu bringen, der fast viertausend Meilen vom Ausgangspunkt entfernt war, war beinahe ein Wunder. Unsere persönlichen Gefühle Bligh gegenüber waren sicherlich nicht die freundlichsten, doch gab es keinen unter uns, der nicht als Engländer auf die Tat dieses Mannes stolz gewesen wäre. Edwards sahen wir nur selten. Wir waren in der Gewalt Parkins, der uns das Leben so sauer machte, wie es ihm möglich war. Als wir in die Torresstraße gelangten, hörten auch Parkins Besuche auf. Die Offiziere ebenso wie der Kapitän waren um diese Zeit mit der Steuerung des Schiffes vollauf beschäftigt. Die Pandora arbeitete sich im Zickzack zwischen zahllosen Riffen und Sandbänken durch; den ganzen Tag über konnten wir die Rufe der Leute vernehmen, die das Senkblei auswarfen. Der 28. August war ein trüber Tag, an dem Windstille mit heftigen Böen abwechselte. Als ich beim Morgengrauen durch mein Guckloch blickte, sah ich, daß wir uns inmitten eines Labyrinths von Klippen befanden, über die die Wogen mit ungeheurer Gewalt hinwegstürmten. Eines der Boote war dem Schiff vorangefahren, um den besten Weg zu erkunden. Wir
konnten nur wenig von dem, was vorging, sehen, aber die ununterbrochenen Kommandorufe bewiesen uns, in welch schwieriger Lage sich die Fregatte befand. Gegen Abend wurde es offenbar, daß sich die Gefahr noch vergrößert hatte. Der Kutter fuhr noch immer vor uns her; unablässig gaben wir Musketenschüsse ab, um mit dem Boot in Verbindung zu bleiben. Das Musketenfeuer wurde vom Kutter aus beantwortet, und da die Schüsse deutlicher hörbar wurden, wußten wir, daß das Boot sich uns langsam näherte. Während dieser ganzen Zeit wurde das Senkblei ohne Unterlaß ausgeworfen; bei 110 Faden wurde noch kein Grund gefunden. Bald aber lauteten die Tiefenmeldungen: 50 Faden, 40, 36, 32. Unmittelbar nach der letzten Meldung stieß die Fregatte auf Grund. Wir im Rundhaus stürzten zu Boden. Ehe wir uns noch erheben konnten, erfolgte ein zweiter, so gewaltiger Stoß, daß wir glaubten, die Mäste müßten brechen. Es war jetzt stockdunkel, und um unser Unglück vollzumachen, wurden wir von einer neuen heftigen Bö erfaßt. Durch das Heulen des Sturmes ertönten, wie von weit her, Kommandorufe. Jeder erdenkliche Versuch, das Schiff mit Hilfe der Segel freizubekommen, wurde gemacht, aber als dies mißlang, wurden die Segel eingezogen und die verbleibenden Boote über die Schiffsseite hinabgelassen. Die Bö hörte ebenso plötzlich auf, wie sie gekommen war, und wir hörten jetzt deutlich die Musketenschüsse von dem sich nähernden Kutter. Die Heftigkeit der Stöße, die wir abbekommen hatten, ließ keinen Zweifel darüber offen, daß die Pandora schwer beschädigt worden war. Ich hörte Edwards Stimme: »Wie steht's, Roberts?« und Roberts' Antwort:
»Das Schiff füllt sich rasch mit Wasser, Sir. Im Schiffsraum steht es fast drei Fuß hoch.« Den Eindruck, den diese Nachricht auf uns machte, kann man sich leicht vorstellen. Hillbrandt und Byrne begannen, die draußen mit kläglicher Stimme zu bitten, uns von unseren Fesseln zu befreien. Unsere Versuche, die beiden Leute zu beruhigen, waren vergeblich; ihr Gebrüll trug, mit dem von draußen hereindringenden Lärm und dem donnernden Anprall der Brandung an das Riff, dazu bei, unsere Lage noch schrecklicher erscheinen zu lassen. Sogleich wurden alle verfügbaren Leute an die Pumpen beordert. Gleich darauf wurde das Gitter in unserem Dach geöffnet, und der Waffenmeister trat mit einer Laterne ein. Rasch befreite er Coleman, Norman und McIntosh von ihren Fesseln und kommandierte sie auf Deck. Wir baten den Mann, uns alle zu befreien, aber er schenkte uns kein Gehör. Als er unser Gefängnis mit den drei Leuten verlassen hatte, wurde das Gitterloch wieder versperrt. Einige der Gefangenen begannen zu toben und zu fluchen wie Wahnsinnige; sie rissen an ihren Ketten, als wollten sie sie brechen. In diesem Augenblick erschien Edwards bei dem Gitter und befahl uns streng, ruhig zu sein. »Um Gottes Barmherzigkeit willen, nehmen Sie uns unsere Fesseln ab, Sir!« brüllte Muspratt. »Geben Sie uns eine Chance, unser Leben zu retten!« »Ruhe! Versteht ihr mich?« war Edwards' einzige Antwort; dann sagte er zum Waffenmeister, der neben ihm stand: »Ich mache Sie für die Gefangenen verantwortlich. Ohne meinen Befehl dürfen sie nicht befreit werden.«
Da sie einsahen, daß alles Bitten zwecklos sei, beruhigten sich die Leute allmählich, wir fanden uns in unsere Lage mit dem Gefühl der Teilnahmslosigkeit, wie es vollkommen hilflose Menschen befällt. Nach einer Stunde begannen Sturm und Regen aufs neue zu wüten, und wiederum wurde die Fregatte von den Wogen emporgehoben und mit entsetzlichem Anprall gegen das Riff geschleudert. Diese wiederholten Stöße warfen uns gegen die Wände und gegeneinander, so daß wir arge Schrammen und Beulen davontrugen. Es muß gegen zehn Uhr gewesen sein, als die zweite Bö ein Ende nahm; in der nun folgenden Stille konnten wir die Kommandorufe wieder deutlich vernehmen. Die Geschütze wurden über die Schiffswand hinabgelassen. Das Leck vergrößerte sich so rasch, daß jeder Mann an Bord, mit Ausnahme von uns und unseren Wächtern, sich an den Pump- und Schöpfarbeiten beteiligte. Edwards' Verhalten uns gegenüber ist weder zu erklären noch zu entschuldigen. Das Riff, an welchem die Pandora gestrandet war, befand sich viele Meilen von jedem bewohnbaren Land entfernt. Auch wenn wir frei gewesen wären, hätten wir keine Möglichkeit der Flucht gehabt; und doch verdoppelte Edwards unsere Wachen und gab Befehl, uns an Händen und Füßen gefesselt zu lassen. Glücklicherweise erkannten wir die Unmittelbarkeit der Gefahr nicht. Da das Rundhaus auf dem Quarterdeck war, befanden wir uns hoch über dem Wasser; wenn wir auch wußten, daß das Schiff verloren war, so wußten wir damals doch noch nicht, mit welch unheimlicher Geschwindigkeit sich das Leck vergrößerte. Es war in der Tat ein Wettlauf zwischen Meer und Tageslicht; wäre die Fregatte während der Nacht
gesunken, so hätte nicht ein einziger Mann gerettet werden können. Als der Morgen graute, erkannten freilich auch wir, daß das Ende nicht mehr eine Frage von Stunden, sondern nur noch von Minuten war. Die Neigung des Decks war so groß, daß man nicht mehr darauf stehen konnte. Alle Boote waren hinabgelassen worden und wurden mit Vorräten gefüllt. Wir baten inständig, befreit zu werden. Endlich wurde unser Flehen erhört. Hodges, der Rüstmeistersmaat, kam zu uns herab und befreite Byrne, Muspratt und Skinner von ihren Fesseln. Als die drei Männer den Raum verlassen hatten, wurde die Gittertür wieder geschlossen, und zwar, wie ich vermute, auf Befehl Parkins, den ich eine Sekunde lang auf uns hinabblicken sah. Hodges hatte nicht bemerkt, daß das Gitter geschlossen worden war. Er nahm uns unsere Fesseln so rasch wie möglich ab, als plötzlich der allgemeine Schrei »Das Schiff sinkt!« ertönte. Auf allen Seiten sprangen Menschen ins Meer. Wir brüllten aus Leibeskräften, denn schon drang das Wasser in den Raum. Daß wir nicht alle ertranken, ist der Menschlichkeit James Moulters, des Bootsmannsmaats, zu danken. Er hatte das Dach des Rundhauses erklettert, um von dort aus ins Meer zu springen. Als er unser Schreien hörte, rief er uns zu, daß er uns entweder befreien oder mit uns untergehen werde. Er zog die Stangen heraus, die das Gitter festhielten, und warf dieses über Bord. »Macht rasch, Jungens!« rief er; dann sprang er in die See. In seiner Angst und Erregung hatte der Rüstmeistersmaat Burkitt und Hillbrandt nur die Fußeisen, nicht aber die Handschellen abgenommen. Wir kletterten, einander helfend, hinaus; es war wahrlich keine Minute zu früh.
Das Schiff lag bis zum Mittelmast im Wasser; ich sah Kapitän Edwards der Pinasse zuschwimmen. Ich selbst sprang in das Meer und hatte große Mühe, mich von der Spiere des Treibsegels frei zu machen, ehe das Schiff unterging. Nur wenige Seeleute können schwimmen, und die Schreie der ertrinkenden Menschen waren über alle Maßen schrecklich anzuhören. Einigen Leuten gelang es, sich an im Wasser treibenden Holzstücken festzuhalten; andere hingegen sanken fast in Reichweite der rettenden Planke unter. Mir selbst gelang es, ein kurzes Brett zu erreichen, und ich schwamm, mich daran festhaltend, auf eines der Boote zu. Ich hatte fast eine Stunde im Wasser zugebracht, als mich die blaue Jolle aufnahm. Auch Ellison und Byrne waren von diesem Boot gerettet worden, das nun auf eine kleine Sandbank lossteuerte, das einzige Stückchen Land, das über die Oberfläche des Meeres hinausragte. Rings um die Sandbank, die ein Riff beinahe kreisförmig umgab, war das Wasser ruhig, so daß wir ohne Schwierigkeit landen konnten. Sobald die Leute und die im Boote enthaltenen Vorräte ausgeladen waren, wurde die Jolle zum Schauplatz des Schiffbruches zurückbeordert. Ellison, Byrne und ich ruderten, während Bowling, der Schiffersmaat, am Steuer saß. Wir suchten lange zwischen den umhertreibenden Wrackteilen und retteten zwölf Leute, darunter Burkitt, der sich mit gefesselten Handgelenken an eine Planke klammerte. Es war beinahe Mittag geworden, als wir zur Sandbank zurückkehrten; inzwischen waren auch die anderen Boote dort gelandet. Sie war etwa dreißig Schritt lang und zwanzig Schritt breit. Nichts wuchs dort; nicht ein einziger grüner Strauch bot den Augen Erholung von der blendenden Sonne. Kapitän Edwards hielt eine
Musterung der Überlebenden ab; es wurde festgestellt, daß dreiunddreißig Mann der Besatzung und vier Gefangene ertrunken waren. Von den Gefangenen fehlten Stewart, Sumner, Hillbrandt und Skinner. Morrison berichtete mir, daß Stewart, von einem schweren Holzklotz am Kopf getroffen, untergegangen sei. Von allem, was ich seit meiner Abfahrt von England erlebt hatte, hat nichts, vielleicht mit Ausnahme des Abschiedes von meiner Frau mit meiner kleinen Tochter, mein Gemüt so sehr umdüstert wie Stewarts Tod. Einen besseren Gefährten und treueren Freund, in guten Tagen und in schlimmen, hat es nie gegeben. Kapitän Edwards verfügte, daß aus den Segeln der Schiffsboote Zelte zu errichten seien, eines für die Offiziere und eines für die Mannschaft. Wir Gefangenen wurden an das äußerste Ende der Sandbank verwiesen und, da es keine Fluchtmöglichkeit gab, bei Tag nicht bewacht; während der Nacht wurde uns jedoch eine Wache von zwei Mann beigegeben. Die Gefangenschaft hatte unseren Körper, der vorher gegen das tropische Sonnenlicht unempfindlich gewesen war, gebleicht; wir waren beinahe so weiß wie irgendein Schreiber in einem Londoner Handelshaus. Die meisten von uns waren splitternackt, und die unbarmherzig herniederstrahlende Sonne hatte uns die Haut schwer verbrannt. Wir baten um die Erlaubnis, uns aus einer der nicht benötigten Segel ein Schutzdach zu errichten, aber Edwards war so unmenschlich, uns dies abzuschlagen. So blieb nichts übrig, als den glühenden Sand zu befeuchten und uns darin bis zum Halse einzugraben. Wir litten unerträglichen Durst. Fast alle hatten wir viel Salzwasser geschluckt, ehe wir von den Booten aufgenommen worden waren, und dies erhöhte unsere
Qual noch. Unsere Vorräte waren so gering, daß wir am ersten Tage nur ein winziges Stück Brot und eine halbe Finte Wein erhielten. Wasser wurde an jenem Tag nicht verabreicht. Einer der Matrosen, ein gewisser Connell, verlor, weil er Salzwasser getrunken hatte, den Verstand. Wir Gefangenen lagen, in Sand eingegraben, am Rande des Wassers und sehnten uns nach der Nacht; doch als diese kam, hinderten uns der wütende Durst und unsere verbrannte Haut am Schlafen. Am nächsten Morgen wurde die Pinasse ausgesandt, um, wenn möglich, noch etwas von dem Wrack der Pandora zu retten. Sie kehrte mit dem oberen Teil des Bramsegelmastes und einer Katze zurück, die sich auf die Kreuzhölzer geflüchtet hatte. Das arme Tier war jedoch nur gerettet worden, um schiffbrüchigen Seeleuten als Nahrung zu dienen. Sie wurde am selben Tage gekocht und gegessen; aus ihrem Fell wurde eine Kappe für das kahle Haupt eines der Offiziere gemacht, der seine Perücke verloren hatte. Der folgende Tag war eine Wiederholung des vorangegangenen. Am frühen Morgen wurde das seichte Wasser nach Schaltieren abgesucht und eine Anzahl von riesigen Krebsen gefangen, aber der Durst der Leute war so groß, daß die Tiere nicht gegessen werden konnten. Die Zimmerleute waren inzwischen damit beschäftigt, die Boote für die bevorstehende lange Reise auszurüsten. Am Morgen des 31. August war die Ausbesserung der Boote beendet. Kapitän Edwards nahm eine neuerliche Musterung vor. Wir alle, Offiziere, Mannschaften und Gefangene, befanden uns in einem jammervollen Zustande. Edwards war mit einem Hemd, einer Hose und Schuhen bekleidet, hatte aber keine Strümpfe an. Dr. Hamilton war im Besitz der gleichen Kleidungsstücke, bis auf die Schuhe, die er verloren hatte; hingegen hatte
er seinen Arzneikasten gerettet und fand Gelegenheit, mir zuzuflüstern, daß mein Tagebuch und meine Manuskripte in Sicherheit seien. Die meisten Matrosen standen mit entblößtem Oberkörper da und trugen aus roten oder gelben Taschentüchern geknüpfte Mützen auf dem Kopf. Von uns Gefangenen waren vier vollkommen nackt, während die anderen nur Fetzen aus Rindenstoff um die Lenden geschlungen hatten. Keiner von uns hatte eine Kopfbedeckung, und erst auf Veranlassung Dr. Hamiltons erhielten wir kleine Stückchen Segeltuch, um uns vor der Sonne zu schützen. Edwards schritt eine Weile schweigend die traurige Front ab. Wir warteten stumm auf die Ansprache des Kapitäns. Endlich sagte Edwards: »Leute! Wir haben eine lange, gefährliche Fahrt vor uns. Der nächste Hafen, der uns Hilfe leisten kann, ist die holländische Niederlassung auf der Insel Timor. Wir werden an vielen Inseln vorbeikommen, aber sie sind von Wilden bewohnt, von denen wir nichts zu erwarten haben. Unsere Vorräte sind so gering, daß die Rationen sehr klein sein werden; aber sie werden ausreichen, uns am Leben zu erhalten. Jeder Mann, wir Offiziere nicht ausgenommen, wird täglich zu Mittag die gleiche Ration erhalten, und zwar zwei Unzen Brot, eine halbe Unze Suppe, eine halbe Unze Malzextrakt, zwei kleine Glas Wasser, ein kleines Glas Wein. Es ist zu hoffen, daß wir während der Fahrt unsere Vorräte vermehren können, aber damit dürfen wir nicht rechnen. Bei günstigem Wind und Wetter können wir Timor in vierzehn Tagen erreichen, aber das wäre ein besonderer Glücksfall. In drei Wochen jedoch werden wir, wenn uns kein Unglück zustößt, am Ziel angelangt sein. Die Boote müssen möglichst dicht beieinander bleiben. Ich erwarte von jedem Mann unbedingten
Gehorsam. Unsere Sicherheit hängt davon ab; jede Disziplin Verletzung wird aufs strengste bestraft werden. Kapitän Bligh hat dieselbe Reise, die uns bevorsteht, in einem schwerer beladenen Boot und mit noch geringeren Vorräten durchgeführt. Als er in der Nähe dieser Stelle vorbeikam, hatte er mit seinen Leuten bereits über sechshundert Meilen zurückgelegt. Dennoch kam er in Timor mit dem Verlust nur eines Mannes an. Was er vollbracht hat, muß auch uns möglich sein.« Edwards wandte sich nun an uns. »Was euch anbelangt«, fuhr er fort, »sollt ihr nie vergessen, daß ihr Piraten und Meuterer seid, die nach England gebracht werden, um die wohlverdiente Strafe zu erleiden. Ich habe von der Regierung Seiner Majestät Auftrag, für die Erhaltung eures Lebens zu sorgen. Dieser Pflicht werde ich auch in Zukunft genügen.« Dies war das erste und zugleich das einzige Mal, daß er sich herabließ, uns persönlich anzureden. Die Boote wurden nun ins Wasser gezogen; wir Gefangenen wurden auf die vier Fahrzeuge aufgeteilt. Morrison, Ellison und ich kamen in die Pinasse des Kapitäns. Unsere Abfahrt verzögerte sich infolge des Zustandes des Matrosen Connell, der Salzwasser getrunken hatte, um seinen Durst zu löschen. Während der ganzen Nacht hatte er getobt, und es war offensichtlich, daß sein Leben nur noch nach Stunden zählte. Um zehn Uhr vormittags erlöste ihn der Tod von seinen Leiden. Er wurde im Sande beerdigt; ein von der Sonne geschwärzter Korallenblock diente als Grabstein. Kein britischer Seemann hat, glaube ich, jemals eine einsamere Grabstätte gefunden. Dann bestiegen wir eilends die Boote und fuhren unserem fernen Ziele zu.
19
Der Wind war günstig und die See ruhig. Sobald wir die Sandbank verlassen hatten, hißten wir das Segel. Edwards saß am Steuer. Er sah geradeso abgezehrt und verwahrlost aus wie seine Leute, aber seine Lippen waren zur gleichen dünnen Linie zusammengepreßt wie sonst, und sein Gesichtsausdruck war derselbe wie zur Zeit, als er noch auf dem Quarterdeck auf der Pandora auf und ab stolzierte. Einer der Leute rief aufmunternd: »Jetzt sind wir bald in Timor, Jungens!«, aber der Scherz fand keinen Widerhall. Wir waren so von Durst geplagt, daß auf dem ganzen Boote kaum ein Wort gesprochen wurde. Uns - Morrison, Ellison und mir — waren Plätze im vorderen Teile der Pinasse angewiesen worden. Wenn Windstille herrschte, mußten wir gleich den anderen rudern, aber keinen Augenblick ließ man uns vergessen, daß wir Piraten waren, die sich auf dem Wege zum Galgen befanden. Nach etwa zwölf Meilen war es mit der ruhigen See zu Ende; wir gerieten wieder, wie vormals die Pandora, in ein Gewirr von Sandbänken und halb von den Wogen überfluteten Riffen. Die Strömungen waren ebenso stark wie tückisch, und es kostete große Mühe, das schwerbeladene Boot zwischen den Klippen hindurchzusteuern. Um die Mittagszeit wurde uns unsere Ration Nahrungsmittel und Wasser zugeteilt. Edwards hatte eine primitive Waage herstellen lassen; Wasser und Wein wurden in einem kleinen Glas abgemessen. Wir hatten nur zwei solcher Gläser und mußten unsere Ration sogleich trinken, damit auch die anderen an die Reihe kämen; später rüsteten wir uns jedoch mit Austernschalen
aus, die es uns ermöglichten, die Getränke schluckweise zu uns zu nehmen. Die Arbeit an den Rudern steigerte unseren Durst bis zur Unerträglichkeit. Einige Leute, vor Durst fast von Sinnen, erbaten oder forderten eine größere Wasserration; einer von ihnen versuchte, sich des Glases eines Kameraden zu bemächtigen, wobei das kostbare Naß verschüttet wurde. Der Mann wurde von einem der Bootsmannsmaate sogleich zu Boden geschlagen. Unter den obwaltenden Umständen war diese Strafe nur gerecht. Dann sprach Edwards folgendermaßen zu uns: »Ich habe die Absicht, euch alle heil nach Timor zu bringen; wenn sich aber noch ein einziges Mal ein solcher Vorfall abspielt, wird der Schuldige sogleich erschossen werden. Keiner von euch soll vergessen, daß wir alle die gleichen Entbehrungen zu erdulden haben. Morgen werden wir uns der Küste von Australien nähern. Dort werden wir ohne Zweifel irgendwo Wasser finden; ich verspreche euch, daß wir nicht früher weiterfahren werden. Merkt euch inzwischen, was ich euch gesagt habe!« Am nächsten Morgen kam dunstig die nördliche Küste von Australien in Sicht, aber ob es der Kontinent selbst oder eine der unzähligen vorgelagerten Inseln war, wußte keiner von uns. Die Pinasse und die rote Jolle waren um diese Zeit dicht beieinander. Mehrere Stunden fuhren wir die Küste entlang, sahen aber weder Mensch noch Tier, und die Vegetation bestand nur aus einigen Bäumen und Pflanzen, die ebenso von Durst geplagt aussahen wie wir. Wir gelangten zu einer tief in die Küste eingeschnittenen Bucht. Der Wind legte sich, wir griffen zu den Rudern und fuhren in die Bucht ein. Das Wasser glich hier einer Glasplatte; der Himmel und die Küste spiegelten sich darin. Am Ende der Bucht erblickten wir ein schmales
Tal, das Pflanzenwuchs von satterem Grün aufwies; dies wies darauf hin, daß in der Nähe Wasser zu finden sei. Edwards befahl, daß in jedem der beiden Boote einige Leute zur Bewachung der Gefangenen zurückbleiben mußten. Die übrigen erhielten sodann die Erlaubnis, an Land zu gehen; wir sahen mit fiebrigen Augen zu, wie sie sich am Ufer verteilten. Plötzlich erklang ein lauter Ruf, und alle rannten wie Wahnsinnige der gleichen Stelle zu. Kaum fünfzig Meter von der Küste entfernt war eine vorzügliche Quelle gefunden worden. Wir mußten lange, quälend lange warten, aber endlich kam die Reihe auch an uns. Wir tranken und tranken und tranken dann nochmals, bis wir nicht mehr konnten. Alles andere war vergessen. Von der schrecklichen körperlichen Qual, die der Mensch kennt, befreit, waren wir zufrieden. Jene, deren Durst gelöscht war, schleppten sich in den Schatten der Bäume und schliefen sogleich ein. Wie Tote lagen sie dort. Edwards wäre gerne länger hiergeblieben, aber die Barkasse und die blaue Jolle hatten die Bucht verfehlt, und da wir das offene Meer nicht sahen, konnten wir ihnen kein Zeichen geben. Infolgedessen ließen die Offiziere unser kleines Faß, den Teekessel, zwei Flaschen und sogar ein paar wasserdichte Stiefel füllen und in die Boote verstauen. Einige der Matrosen waren so erschöpft, daß man sie nicht wecken konnte. Sie mußten in die Boote getragen werden. Als wir die Bucht verlassen hatten, sahen wir die Barkasse und die blaue Jolle weit vor uns. Wir gaben Zeichen mittels Musketenschüssen, aber die Signale wurden nicht gehört, und erst am späten Nachmittag hatten wir die anderen erreicht. Edwards ließ jedem
Mann der beiden Boote drei Glas Wasser verabreichen, dann segelten wir weiter. Bei Anbruch des folgenden Tages waren wir nicht weit von einer Insel entfernt, die bewohnt zu sein schien. Wir suchten eifrig nach einem Landungsplatz, waren aber von der Küste aus gesehen worden, und Eingeborene in großer Zahl versammelten sich am Strande. Sie waren kohlschwarz, splitternackt und mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Endlich fanden wir im Riff eine Öffnung, fuhren in eine schmale Lagune ein und näherten uns dem Ufer. Der Wilden bemächtigte sich große Erregung; offenbar hatten sie nie zuvor weiße Menschen gesehen. Wir gaben ihnen durch Zeichen zu verstehen, daß wir Wasser wünschten; nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es uns, ein halbes Dutzend der Leute so nahe an die Boote heranzulocken, daß wir ihnen Knöpfe von verschiedenen Kleidungsstücken reichen konnten. Sie nahmen das Faß der Pinasse, unseren einzigen großen Wasserbehälter, entgegen und brachten es nach kurzer Zeit gefüllt zurück. Die furchtbare Hast, mit der wir tranken, hätte bei jedem zivilisierten Beobachter Mitleid hervorgerufen; die Wilden aber lachten und jauchzten bei diesem Anblick vor Vergnügen. Das Faß war bald geleert und wurde den Eingeborenen neuerdings gereicht, aber als sie es zum zweiten Male gefüllt hatten, stellten sie es ans Ufer und forderten uns durch Zeichen auf, es zu holen. Dies gestattete Edwards nicht; er gab Order, die Boote in sichere Entfernung vom Lande zu bringen. Auf dieses Zeichen der Furcht hin stürmten die Wilden vor und überschütteten uns mit einem Pfeilregen. Wie durch ein Wunder wurde niemand getroffen. Edwards ließ hierauf eine Salve über die Köpfe der Eingeborenen hinweg abfeuern. Dies jagte ihnen solche
Furcht ein, daß sie in wilder Hast davonliefen. Einen Augenblick später lag das Ufer verlassen da. Die Pinasse fuhr heran, und wir holten das Faß zurück; dies geschah keine Minute zu früh, denn die Wilden stürmten wieder heran. Es gelang uns jedoch, ohne Verlust davonzukommen. Während der nächsten Tage liefen wir mehrere andere Inseln an, aber nur auf einer, die Edwards »Laforeyinsel« nannte, fanden wir Wasser. Am 2. September hatten wir die Torresstraße endgültig hinter uns und erreichten wieder das offene Meer. Trotz der vielen Jahre, die seither vergangen sind, erinnere ich mich noch genau an das Gefühl des Schreckens und der lastenden Schwermut, von der die meisten Männer in der Pinasse um diese Zeit erfaßt wurden. Timor war noch unendlich weit, und nur wenige von uns hofften, es jemals zu erreichen. Hier auf dem offenen Meere hatten wir neue Gefahren zu überwinden. Wir gerieten in einen heftigen Weststurm, und da unsere vollbeladenen Boote sehr tief im Wasser lagen, nahm die Schöpfarbeit kein Ende. Hierfür standen uns nur die Schalen der Riesenmuscheln zur Verfügung, die wir auf den Laforeyinseln gefunden hatten, und diese waren schwer und für den Zweck wenig geeignet. Während des ersten Sturmtages hatten wir keinen Augenblick Ruhe, und sogar die Zuteilung der Nahrungsmittel und des Wassers konnte nur unter großen Schwierigkeiten erfolgen. Bei Einbruch der Nacht wurden die Boote aneinander befestigt, aber die Taue rissen wiederholt, und die Fahrzeuge waren in so großer Gefahr, gegeneinandergeschleudert und zertrümmert zu werden, daß wir uns wieder trennen mußten. Alle zwei Stunden versuchten wir uns durch Musketensignale miteinander
zu verständigen, aber da unser Pulver feucht geworden war, war auch dies nur schwer möglich. Gegen Morgen hatte uns der Sturm weit auseinandergetrieben, mehrere Stunden lang hielten wir die blaue Jolle für verloren, bis wir sie schließlich doch wieder, von einer hohen Woge emporgetragen, erblickten. Um die Mittagszeit waren wir wieder beisammen, und die dürftigen Rationen konnten verteilt werden. Diese mittäglichen Zusammenkünfte haben eine Reihe unauslöschlicher Bilder in meinem Gedächtnis zurückgelassen. Ich sehe die blaue Jolle, wie sie sich uns langsam nähert; unvorstellbar klein und verlassen sieht sie aus; zuweilen entschwindet sie unserem Blick in der stürmischen See vollkommen. Nun ist sie so nahe, daß wir die Menschen darin unterscheiden können, wie sie ohne Unterlaß schöpfen ... schöpfen ... schöpfen. Und jetzt kann ich auch die eingefallenen, hohläugigen Gesichter unterscheiden und den Eindruck unaussprechlicher Müdigkeit auf diesen Gesichtern sehen. Zuweilen starren wir einander an, als wären wir Gespenster ... Die Männer in der roten Jolle hatten das Glück, Dr. Hamilton in ihrer Mitte zu haben. Er litt soviel wie jeder andere, aber immer wieder flößte er aufs neue den Leuten Mut und Hoffnung ein. Ich war um Muspratts und Burkitts willen froh, daß sich der Arzt in jenem Boot befand, denn es stand unter dem Kommando Parkins, und dieser hätte das Elend der Gefangenen sicherlich noch erhöht, wäre Dr. Hamilton nicht gewesen. Während der nächsten Wochen gelang es uns, beisammenzubleiben. In der Pinasse wurde ein Seestorch gefangen. Dieser Glücksfall ereignete sich am 11.
September, zu einer Zeit, da wir dieser Zubuße zu unserer Nahrung schon dringend bedurften. Am Morgen des 13. September wurde Land gesichtet, ein dünner, bläulicher Streifen am westlichen Horizont. Zuerst konnten wir nicht glauben, daß es wirklich Timor sei, was da vor uns lag, aber im Verlaufe des Morgens überzeugten sich auch die Skeptiker unter uns davon, daß es Land und keine Wolke sei. Wir waren so elend an Leib und Seele, daß wir uns nicht einmal recht freuen konnten. Unglücklicherweise trat am Nachmittag völlige Windstille ein. Unendlich müde ruderten wir dem Lande zu. Einige der älteren Leute in der Pinasse waren um diese Zeit so kraftlos geworden, daß sie nicht mehr aufrecht sitzen konnten. Sie lagen auf dem Boden des Bootes, stöhnend und um Wasser flehend. Zu Mittag des folgenden Tages hatte die Pinasse das Land beinahe erreicht. Die übrigen Boote waren nicht in Sicht. Die Qual des Durstes war so groß geworden, daß sich Edwards entschloß, den verbleibenden Wasservorrat aufzuteilen; auf jeden Mann entfiel eine halbe Flasche. Dies erfrischte uns unendlich; wir fuhren die Küste entlang und hielten nach einer Landungsmöglichkeit Ausschau. Auf die grünen Hügel und die dahinter auftauchenden Gebirge warfen wir kaum einen Blick; wir hatten nur Augen für das Ufer, aber die Brandung war so stark, daß unser Boot beim ersten Landungsversuch an den Klippen zerschellt wäre. Während der Nacht erhob sich eine Brise, und wir kamen rascher weiter. Am nächsten Morgen fanden wir einen Landungsplatz und vortreffliches Trinkwasser. Es ist fraglich, ob einige der Leute den Durst einen einzigen Tag länger ausgehalten hätten.
In der Nacht vom 15. auf den 16. September erreichten wir das Fort von Coupangbai. Es war eine stille, sternklare Nacht. In der Niederlassung schien alles zu schlafen. Nicht weit von uns lag ein Schiff vor Anker nebst einigen kleineren Fahrzeugen, aber in der Dunkelheit war es unmöglich, festzustellen, ob eines der anderen Boote der Pandora angelangt war. Von dem hohen Festungswall herab bellte uns ein Hund kläglich an. Das war unser Empfang in Coupang. Völlig erschöpft von unserer langen Fahrt, blieben wir, wo wir waren, bis der Morgen dämmerte. Auf unseren Sitzen zusammengekauert, schliefen wir, und niemals, glaube ich, haben Menschen gesünderen Schlummer genossen. Über unsere Erlebnisse vom Morgen unserer Ankunft in Coupang bis zu dem Tage, an dem wir die Klippen Englands sichteten, will ich nur kurz berichten. Kapitän Edwards und seiner Mannschaft gefiel es auf Timor vermutlich ausgezeichnet; sie waren Gäste der Holländisch-Ostindischen Compagnie. Wir Gefangenen waren gleichfalls Gäste, aber Gäste anderer Art. Wir wurden sogleich in das Fort gebracht und in den Stock gelegt. Parkin sorgte dafür, daß uns selbst die notwendigsten Bequemlichkeiten versagt blieben. Edwards suchte uns nicht ein einziges Mal auf, aber Dr. Hamilton vergaß uns nicht. Während der ersten Woche auf Timor war er Tag und Nacht mit den Kranken der Pandora beschäftigt, von denen einige kurz nach unserer Ankunft starben, doch sobald er ein wenig Zeit hatte, besuchte er uns in Begleitung des holländischen Arztes. Wir baten Dr. Hamilton, seinen Einfluß geltend zu machen, damit Leutnant Corner, ein anständiger und menschenfreundlicher Mann, mit unserer Beaufsichtigung betraut werde. Edwards lehnte dies
jedoch ab, und Parkin fuhr fort, uns das Leben zur Hölle zu machen. Oft und oft wünschten wir, tot zu sein, ehe wr das Kap der Guten Hoffnung erreichten. Am 6. Oktober schifften wir uns alle auf der Rembang, einem holländischen Schiff, mit Bestimmung Batavia ein. Nach einer stürmischen Fahrt, während der die Rembang, ein altes und schadhaftes Fahrzeug, mehr als einmal in Gefahr geriet, unterzugehen, erreichten wir am 30. Oktober Samarang. Hier fanden wir zu jedermanns Freude den Schoner Resolution wieder, den wir vor vier Monaten verloren hatten. Oliver, der Kommandant der Resolution, hatte die Insel Tafoa irrtümlich für den vereinbarten Treffpunkt Namuka gehalten. Er und seine neunköpfige Mannschaft hatten Gefahren und Entbehrungen durchgemacht, die zumindest so groß waren wie die unseren. Edwards verkaufte in Samarang die Resolution; der Erlös wurde unter die Mannschaft der Pandora für den Ankauf von Kleidungsstücken und anderen notwendigen Dingen verteilt. Dies erschien mir als ein Unrecht gegen Morrison und die anderen Gefangenen, die den Schoner gebaut hatten. Sie erhielten keinen Shilling, aber wenigstens hatten sie die Genugtuung, zu wissen, daß ihr kleines Schiff so gut war, als wäre es aus der berühmtesten Werft Englands hervorgegangen. In Samarang wurde die Rembang ausgebessert; dann ging die Reise weiter nach Batavia. Dort wurden wir auf vier Schiffe der Niederländisch-Ostindischen Compagnie verteilt, um die lange Fahrt nach Europa anzutreten. Kapitän Edwards schiffte sich mit Leutnant Parkin, mehreren anderen Offizieren, zwei Kadetten und den zehn Gefangenen auf der Vreedenberg ein, die am 15. Januar 1792 das Kap der Guten Hoffnung erreichte, wo
uns Seiner Majestät Schiff Gorgon aufnahm. Wir blieben beinahe drei Monate am Kap; während dieser Zeit wurden wir an Bord gefangengehalten. Herr Gardner, der Erste Leutnant des Kriegsschiffes, behandelte uns sehr menschlich. Wir waren nur noch an einem Bein angekettet statt an beiden Füßen und Händen wie bisher. Auch gab man uns während der Nacht ein altes Segel als Lagerstätte, ein Luxus, dessen wir uns während der vergangenen zwölf Monate nicht erfreut hatten. Während der langen Fahrt nach England durften wir jeden Tag mehrere Stunden auf Deck bleiben, um frische Luft einzuatmen. Über diese humane Behandlung ärgerte sich Edwards sehr; da das Schiff jedoch nicht seinem Kommando unterstellt war, konnte er nichts dagegen tun. Am Abend des 19. Juni warfen wir im Hafen von Portsmouth Anker. Vier Jahre und sechs Monate waren seit der Abfahrt der Bounty verstrichen. Fünfzehn Monate davon hatten wir in Ketten zugebracht.
20
Die Mannschaften aller Schiffe im Hafen von Portsmouth waren von der Ankunft des Kriegsschiffes Gorgon unterrichtet, und sie wußten auch alle, daß es einige der berüchtigten Meuterer von der Bounty an Bord hatte. Am 21. Juni 1792 wurden wir auf S. M. Schiff Hector gebracht, um dort die Kriegsgerichtsverhandlung zu erwarten. Es war ein wolkiger, regnerischer Tag. Als wir ein Schiff nach dem anderen passierten, sahen wir Reihen von Matrosen auf uns niederblicken. Wir wußten nur zu gut, daß sich jeder einzelne Mann dachte: Gott sei Dank, daß ich nicht einer von diesen bin. An Bord der Hector wurden wir mit eindrucksvoller Feierlichkeit empfangen. Eine Doppelreihe Marinesoldaten mit aufgepflanztem Bajonett hatte auf dem Schiffsgang Aufstellung genommen. Tiefes Schweigen herrschte, als wir zwischen den Soldaten hindurchschritten. Wir sahen wie rechte Piraten aus; einige von uns hatten keine Hüte, andere keine Schuhe, und kein einziger besaß etwas, was einer Uniform ähnlich sah. Die Lumpen, die wir trugen, bestanden aus abgelegten Kleidungsstücken, die wir von gutherzigen englischen Matrosen in Batavia und am Kap der Guten Hoffnung erhalten hatten. Wir wurden in den Kanonenraum gebracht, der rechts achtern lag, und es bedeutete eine große Erleichterung für uns, daß die Behandlung, an die uns Edwards gewöhnt hatte, nunmehr der Vergangenheit angehörte. Wir wurden nicht als Verurteilte, sondern als Angeklagte angesehen; welch unermeßlicher Unterschied darin liegt, kann nur jemand beurteilen, der sich einmal in einer ähnlichen Lage befunden hat. Wir waren ungefesselt und durften uns in
dem von Marinesoldaten bewachten Raum frei bewegen. Wir erhielten anständiges Essen, Hängematten als Lagerstätten; alle Erleichterungen wurden uns zuteil, die wir als Gefangene füglich erwarten durften. Wenn man unsere ganzen Entbehrungen und unsere lange Gefangenschaft bedenkt, so befanden wir uns alle in einem bemerkenswert guten Gesundheitszustand. Während der ganzen Zeit war keiner von uns krank gewesen. Ohne Zweifel rechnete sich Edwards dies als Verdienst an, aber ohne jede Berechtigung. Wir waren nicht infolge seiner Behandlung, sondern trotz dieser gesund geblieben. Kaum waren wir eine Stunde an Bord der Hector, als Kapitän Montague, der Kommandant des Schiffes, mich in seine Kajüte rufen ließ. Er entließ die Wache und ersuchte mich in freundlichster Weise, Platz zu nehmen. Die Meuterei wurde gar nicht erwähnt. Eine Viertelstunde lang plauderte er mit mir ebenso höflich wie mit einem seiner Offiziere. Er befragte mich ausführlich nach dem Schiffbruch der Pandora und unseren weiteren Abenteuern auf der Reise nach Timor. Wenn er auch meiner Erzählung mit ehrlichem Interesse zuhörte, so war ich doch überzeugt, daß er mich noch aus einem anderen Grunde hatte rufen lassen. Schließlich öffnete er eine Schublade seines Tisches und übergab mir ein kleines Paket. »Ich habe Briefe für Sie, Herr Byam, Sie können sie hier in aller Ruhe lesen. Wenn Sie bereit sind, in Ihr Quartier zurückzukehren, brauchen Sie nur die Tür zu öffnen und die Wache zu benachrichtigen.« Mit diesen Worten verließ er mich; ich öffnete das Paket mit zitternden Händen; es enthielt einen Brief von Sir Joseph Banks, den mir dieser auf die Nachricht vom
Eintreffen des Schiffes hin geschrieben hatte. Er teilte mir mit, daß meine Mutter vor sechs Wochen gestorben sei, und legte ein Schreiben bei, das sie in der Nacht vor ihrem Tode an mich gerichtet hatte. Ich war Kapitän Montague wahrhaft dankbar dafür, daß er mich in solch zartfühlender Weise allein gelassen hatte; aber Trost in meinem Leide fand ich weder damals noch später. Während all der Jahre, seit die Bounty England verlassen hatte, war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht an meine Mutter gedacht und mich nach ihr gesehnt hatte; das Bewußtsein ihrer Liebe hatte mich während der endlosen Monate meiner Gefangenschaft aufrechterhalten. Sicherlich hatte sie niemals an meiner Schuldlosigkeit gezweifelt, aber sie war nicht nur sanft und gütig, sondern auch stolz; der Makel, der nun an dem guten Namen unserer Familie haftete - insbesondere aber der Umstand, daß Bligh mich für einen der Hauptschuldigen hielt -, untergrub ihre Lebenskraft. Ihr Brief allerdings enthielt nichts hierüber; ich erfuhr all dies erst später von Frau Thacker, die mir erzählte, daß meine Mutter an dem Tage, an dem sie Blighs Brief erhielt, zu kränkeln begann. Ich habe seither versucht, alle möglichen Entschuldigungsgründe für Bligh geltend zu machen; er konnte annehmen, daß ich Christians Komplice sei. Aber ein Mann mit einem Funken von Menschlichkeit hätte einer Mutter einen solchen Brief niemals geschrieben. Ich vergebe ihm seine Grausamkeit heute ebensowenig wie damals, als ich diesen Brief zum ersten Male las. Es war die Ironie meines Schicksals, daß ich, der ich mit der standhaften Liebe zweier Frauen gesegnet war, jetzt, wo ich sie am meisten benötigte, von meiner Mutter durch den Tod und von meiner Frau durch die halbe Erde
getrennt war. Diesen beiden Frauen hatte alle meine Zärtlichkeit gegolten. Nun, da meine Mutter dahingegangen war, wurde meine Erinnerung an Tehani um so zärtlicher. Was jetzt geschehen werde, schien mir unwichtig. Ich konnte mir ein Leben in England ohne meine Mutter nicht vorstellen. Der Gedanke, sie zu verlieren, war mir niemals gekommen. Als ich ruhiger wurde, begriff ich jedoch, daß ich zumindest um ihretwillen meinen Namen von dem Schmutz, der an ihm haftete, reinigen müsse. Sir Joseph Banks besuchte mich, einige Tage nachdem ich seinen Brief erhalten hatte. Mein eigener Vater hätte nicht gütiger sein können. Er hatte meine Mutter wenige Wochen vor ihrem Tode gesehen und berichtete mir über alle kleinen Einzelheiten seines Besuches. Er erinnerte sich jedes Wortes, das sie gesprochen hatte, und gestattete mir, ihn nach Herzenslust auszufragen. Ich fühlte mich unsäglich getröstet und gestärkt. In seiner äußeren Erscheinung war Sir Joseph ein typischer John Bull, kräftig gebaut, mit der gesunden Gesichtsfarbe, die unser englisches Klima verleiht. Er strahlte Energie aus, und niemand konnte fünf Minuten in seiner Gegenwart zubringen, ohne ein besserer Mensch zu werden. Zu jener Zeit war er Präsident der Royal Society, und sein Name war nicht nur in England, sondern in ganz Europa bekannt und geachtet. Es gab vielleicht keinen beschäftigteren Mann in ganz London, und doch hätte man während dieser angstvollen Wochen vor der Kriegsgerichtsverhandlung glauben können, seine einzige Sorge sei, daß uns allen Gerechtigkeit zuteil werde. Er verstand es, mich rasch aus meiner Verzweiflung aufzurütteln; bald erzählte ich ihm mit Eifer und Enthusiasmus von meinem Wörterbuch und meiner
Grammatik. Ich berichtete ihm, daß sich meine Manuskripte in der Obhut Dr. Hamiltons befänden, der mit dem Rest der Überlebenden von der Pandora bald in England eintreffen müsse. »Vortrefflich, Byam! Vortrefflich!« rief Sir Joseph. »Ich werde mit Dr. Hamilton sprechen, sobald er ankommt. Aber genug davon für den Augenblick! Jetzt möchte ich von Ihnen die Geschichte der Meuterei - die ganze Geschichte, jede Einzelheit - hören.« »Haben Sie Kapitän Blighs Bericht gelesen, Sir? Wissen Sie, wie schwer die Anschuldigungen gegen mich sind?« »Ja«, antwortete er ernst. »Kapitän Bligh ist mein Freund, aber ich kenne seine Charakterschwächen ebenso wie seine Tugenden. Er glaubt an Ihre Schuld; aber gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich keinen Augenblick an Ihrer Schuldlosigkeit gezweifelt habe.« »Ist Bligh gegenwärtig in England, Sir?« »Nein. Er wurde wiederum nach Tahiti entsandt, um Brotfruchtpflanzen nach Westindien zu bringen.« Das war eine böse Nachricht für mich. Ich war überzeugt, daß ich Bligh persönlich von meiner Schuldlosigkeit hätte überzeugen können. Nun war diese Hoffnung geschwunden. »Denken Sie nicht mehr daran, Byam«, riet mir Sir Joseph. »Es ist nun einmal nichts daran zu ändern; ihr Wunsch, Bligh gegenübergestellt zu werden, bringt ihn nicht rechtzeitig zur Verhandlung nach England zurück. Und jetzt erzählen Sie mir, wie die Meuterei vor sich gegangen ist.« Ich gab ihm genauso wie seinerzeit Dr. Hamilton einen vollständigen Bericht über die Meuterei und alles, was sich seither begeben hatte. Er unterbrach mich kaum ein
einziges Mal. Als ich geendet hatte, wartete ich begierig
auf seine Äußerung.
»Wir wollen den Tatsachen ins Auge blicken, Byam. Sie
sind in großer Gefahr. Herr Nelson, der von Ihrer Absicht,
Bligh zu begleiten, wußte, ist tot. Norton, dem Christians
Plan, in der Nacht vor der Meuterei von der Bounty zu
entweichen, bekannt war, ist gleichfalls nicht mehr am
Leben. Ihre Aussicht auf einen Freispruch beruht fast
ausschließlich auf der Aussage eines einzelnen Menschen,
Ihres Freundes Robert Tinkler.«
»Nun, er ist wohlbehalten nach England zurückgekehrt.«
»Ja, aber wo ist er jetzt? Wir müssen ihn sogleich finden.
Sie sagten, er sei Fryers Schwager?«
»So ist es, Sir.«
»In diesem Falle sollte es mir möglich sein, ihn
aufzuspüren. Bei der Admiralität kann ich erfahren, auf
welchem Schiff Fryer gegenwärtig dient.«
Ich hatte als sicher angesehen, daß Tinkler wissen müsse,
wie nötig er mir sei, wenn ich je nach Hause
zurückkehre; Sir Joseph wies mich jedoch darauf hin, daß
Tinkler hiervon vermutlich keine Ahnung habe.
»Es ist sehr unwahrscheinlich«, sagte er, »daß er etwas
von Blighs Aussage bei der Admiralität weiß.
Ebensowenig dürfte ihm der Gedanke gekommen sein,
daß Ihre Unterhaltung mit Christian als Schuidbeweis
gegen Sie benutzt wird. Nein, glauben Sie mir, er wird
keine Befürchtungen um Sie hegen. Wir müssen ihn
finden; kein Augenblick darf verlorengehen!«
»Wann wird das Kriegsgericht zusammentreten, Sir?«
erkundigte ich mich.
»Da der Fall schon lange anhängig ist, wird ihn die
Admiralität so rasch wie möglich erledigen wollen.
Natürlich ist es notwendig, die Ankunft der übrigen
Schiffbrüchigen von der Pandora abzuwarten, aber sie dürften sich England bereits nähern.« Sir Joseph verließ mich bald darauf. Er wollte mit der Nachtpostkutsche nach London zurückkehren. »Sie werden bald von mir hören«, sagte er mir beim Abschied. »Seien Sie inzwischen überzeugt, daß ich Tinkler finden werde, wenn er in England überhaupt zu finden ist.« Unser Gespräch hatte in Kapitän Montagues Kajüte stattgefunden. Die anderen erwarteten im Kanonenraum angstvoll meine Rückkehr und meinen Bericht. Im allgemeinen sprachen wir selten von der bevorstehenden Verhandlung. Zuweilen unterhielten wir uns, um uns von unseren Sorgen abzulenken, von dem glücklichen Leben in Tahiti, aber den größten Teil des Tages verbrachten wir schweigend; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Oder wir standen an den Luken und blickten auf das geschäftige Leben im Hafen hinaus. Es gab Zeiten, in denen mir alle meine Erlebnisse wie etwas Unwirkliches vorkamen. Mir war dann wie einem, der aus einem ungewöhnlich verworrenen und phantastischen Traum erwacht ist. Am schwersten fiel es mir, die Tatsache zu erfassen, daß wir uns wirklich in der Heimat befanden, wenige Meilen von Spithead, dem Ausgangspunkt unserer Fahrt, entfernt. Inzwischen wurden wir dank der Güte Sir Josephs mit anständiger Kleidung für die bevorstehende Kriegsgerichtsverhandlung versorgt. Das Gefühl, wieder einmal sauber gekleidet zu sein, war von ausgezeichneter Wirkung auf unsere Stimmung. Nach zehn Tagen erhielt ich folgenden Brief von Sir Joseph:
»Mein lieber Byam! Ich kann mir vorstellen, wie begierig Sie auf Nachricht von mir warten. Da es mir zur Zeit unmöglich ist, nach Portsmouth zu kommen, muß Ihnen dieses Schreiben genügen. Sogleich nach meiner Rückkehr wandte ich mich an die Admiralitätskanzlei und vernahm, daß Fryer in London ist. Ich erfuhr von ihm, daß Tinkler kurz nach seiner Heimkehr eine Stelle als Schiffersmaat auf der Carib Maid, einem Kauffahrteischiff, angeboten erhielt, die er annahm. Vor einem Jahr kehrte Tinkler von seiner ersten Reise nach Westindien zurück und trat darauf eine zweite an. Vor etwa drei Monaten empfing Fryer die Nachricht, daß die Carib Maid nahe Kuba in einem Orkan mit der gesamten Mannschaft untergegangen sei. Es wäre zwecklos, zu leugnen, daß dies ein großes Unglück für Sie ist. Aber auch so halte ich Ihre Lage nicht für hoffnungslos. Fryer spricht von Ihnen in den freundlichsten Ausdrücken. Er ist überzeugt davon, daß Sie an der Meuterei nicht teilgenommen haben, und seine Aussage wird wertvoll sein. Auch Cole, Purcell und Peckover habe ich gesprochen. Sie alle haben eine vortreffliche Meinung von Ihnen. Mein Freund, Herr Graham, der als Sekretär verschiedener Admirale häufig als Kanzler bei Kriegsgerichten fungierte, hat mir versprochen, Ihnen zur Seite zu stehen. Er hat genaue Kenntnisse des Dienstes und ist ein ausgezeichneter Jurist. Der größte Teil des Beweismaterials befindet sich bereits in seinen Händen. Leben Sie wohl, mein lieber Byam. Lassen Sie den Mut nicht sinken und seien Sie überzeugt, daß ich mich Ihrer Interessen annehme. Ich werde der Verhandlung bestimmt beiwohnen, und nun, da mein Freund Graham
Ihre Verteidigung übernommen hat, fühle ich mich zuversichtlicher, als wenn Ihnen der berühmteste Advokat Englands zur Seite stünde.« Meine Gefühle bei der Lektüre dieses Briefes sind leicht zu erraten. Sir Joseph hatte alles getan, um die bittere Pille zu versüßen, aber ich war mir des Ernstes meiner Lage vollkommen bewußt. Ohne Tinklers Aussage war mein Fall so gut wie aussichtslos. Und doch klammerte ich mich an die Hoffnung, wie es des Menschen Art ist. Ich beschloß, mit aller Kraft um mein Leben zu kämpfen. Marineoffiziere haben, wie mir Sir Joseph mitteilte, eine große Abneigung gegen Advokaten. Ich war deshalb froh darüber, Herrn Graham, der selbst der Marine angehörte, zur Seite zu haben. Morrison beschloß, sich selbst zu verteidigen. Coleman, Norman, McIntosh und Byrne, die alle hoffen durften, schuldlos befunden zu werden, sicherten sich den Beistand eines Marineoffiziers im Ruhestand, Kapitäns Manly; den übrigen wurde von der Regierung ein Offizier der Admiralität, Kapitän Bentham, als Berater beigestellt. Diese Herren besuchten uns in der folgenden Woche; als erster kam Herr Graham. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, gegen Ende der Fünfzig, von würdevollem Auftreten; seine ruhige Stimme und seine ganze Art flößten mir sogleich Vertrauen ein. Er klärte uns darüber auf, wie es bei einer Kriegsgerichtsverhandlung zuging. »Ich habe den ganzen Vormittag zur Verfügung, Herr Byam«, sagte er, »und stehe Ihnen und den übrigen Beschuldigten gerne mit Auskünften zur Seite.« »Ich gedenke mich selbst zu verteidigen, Sir«, sagte Morrison. »Mir liegt besonders daran, den genauen
Wortlaut des Paragraphen kennenzulernen, nach dem wir abgeurteilt werden.« »Ich kenne ihn auswendig«, erklärte Graham. »Es ist der Paragraph 19 des Kriegsgesetzes: »Wenn eine Person, die der Marine angehört, unter welcher Begründung immer eine aufrührerische Zusammenrottung veranstaltet oder eine solche zu veranstalten versucht, so soll jede Person, die daran teilnimmt und dieses Verbrechens durch Spruch des Kriegsgerichts schuldig befunden wird, den Tod erleiden.« »Gibt es für den Gerichtshof keine andere Möglichkeit?« fragte ich. »Keine. Das Gericht muß entweder freisprechen oder aber das Todesurteil fällen.« »Wenn es nun aber mildernde Umstände gibt, Sir?« fügte Morrison hinzu. »Wenn zum Beispiel auf einem Schiffe eine Meuterei ausbricht und jemand keine Kenntnis von den Absichten der Meuterer hat und an der Besitzergreifung des Schiffes keinen Anteil nimmt?« »Wenn er mit den Meuterern auf dem Schiffe zurückbleibt, so gilt er vor dem Gesetz als ebenso schuldig wie die anderen. Der Mann, der sich neutral verhält, wird nach dem gleichen Maße gemessen wie jener, der die Hand gegen seinen Kapitän erhebt.« »Nun gab es einige unter uns, Sir«, gab Coleman zu bedenken, »die Kapitän Bligh nur zu gerne begleitet hätten. Wir wurden aber von den Meuterern, die unsere Dienste benötigten, mit Gewalt zurückgehalten.« »Ein solcher Fall wird ohne Zweifel vom Gerichtshof berücksichtigt werden«, entgegnete Herr Graham. »Wenn der Betreffende seine Schuldlosigkeit einwandfrei beweisen kann, droht ihm keine Gefahr.«
»Darf ich auch eine Frage stellen, Sir?« meldete sich Ellison. »Gewiß, mein Junge.« »Ich gehöre zu den Meuterern, Sir. Am Anfang habe ich mit der Sache nichts zu tun gehabt. Aber ich war so wie die anderen auf Kapitän Bligh nicht gut zu sprechen, und als man mich aufforderte, tat ich mit. Gibt es eine Hoffnung für mich?« Herr Graham bückte ihn einen Augenblick lang ernst an. Dann sagte er: »Ich habe an so mancher Kriegsgerichts Verhandlung teilgenommen, und genauso wie bei einem bürgerlichen Gericht soll man keine Meinung über das Urteil abgeben, ehe das gesamte Beweismaterial vorliegt. Deshalb, junger Mann, wäre es unrecht von mir, Ihre Frage zu beantworten.« Die Tage schleppten sich mit quälender Langsamkeit dahin. Der Juli verging, dann der August, und immer noch warteten wir.
21
Am Morgen des 12. September erhielten wir die Weisung, uns bereit zu halten, da wir in den nächsten Stunden an Bord des Kriegsschiffes Duke gebracht werden würden. Es war ein grauer, kühler, windstiller Tag, so daß wir die Schiffsglocken von nah und fern glasen hörten. Die Hector lag nur etwa eine halbe Meile von der Duke entfernt vor Anker. Kurz vor acht Uhr sahen wir einen mit Marinesoldaten in Paradeuniform bemannten Kutter von dem großen Schiff aus auf die Hector zufahren, und Schlag acht Uhr wurde von S. M. S. Duke ein einziger Kanonenschuß abgegeben. Dies war das Signal für den Beginn der Kriegsgerichtsverhandlung. Unsere Zeit war gekommen. Das einzige Gefühl, das ich verspürte, war das der Erleichterung. Zu lange hatte ich gewartet und zu viel erduldet, um stärkerer Empfindungen fähig zu sein. Ich fühlte mich geistig und körperlich unaussprechlich müde, und wenn ich überhaupt etwas erhoffte, so war es Frieden - den Frieden der Gewißheit über mein Schicksal, welches immer es auch sein würde. Die Kriegsgerichtsverhandlung fand in der großen Kajüte der Duke statt, welche die ganze Breite des Schiffes einnahm. Das Quarterdeck war von Menschen überfüllt; zum großen Teil waren es Offiziere in Paradeuniform, die sich von den vielen im Hafen liegenden Kriegsschiffen hierherbegeben hatten, um der Verhandlung beizuwohnen. Es waren jedoch auch einige Zivilisten anwesend, darunter Sir Joseph Banks. Dr. Hamilton, den ich das letztemal am Kap der Guten Hoffnung gesehen hatte, stand mit den anderen Offizieren der Pandora auf
der Backbordseite des Decks. Edwards war gleichfalls anwesend, begleitet von Parkin. Der Kapitän maß uns mit dem gewohnten Ausdruck kalter Feindseligkeit und schien zu denken: Was, diese Halunken sind nicht gefesselt? Welch grobe Pflichtverletzung! Auf der anderen Seite des Decks hatten sich die Offiziere der Bounty versammelt; sie schienen sich inmitten all dieser Schiffskapitäne und Admirale nicht gerade wohl zu fühlen. Es war ein seltsames Wiedersehen für ehemalige Schiffskameraden, und so mancher schweigende Blick wurde zwischen uns ausgetauscht. Herr Fryer, der Schiffer, stand dort, Cole, der Bootsmann, Purcell, der Zimmermann, und Peckover, der Konstabler. Ein klares Bild blitzte in mir auf; ich sah diese Männer vor mir wie damals, als sie von der sich entfernenden Barkasse aus über die immer größer werdende blaue Wasserfläche hinweg zum letztenmal zur Bounty zurückgeblickt hatten. Damals hätte wohl kaum einer von uns gedacht, daß wir einander je wieder begegnen würden. Die allgemeine Unterhaltung erstarb, als die Tür zur großen Kajüte geöffnet wurde. Zuerst betraten die Zuschauer den Raum; dann wurden wir mit unserer Wache von einem Marineleutnant mit gezogenem Säbel hineingeführt. Wir wurden rechts von der Tür in einer Reihe aufgestellt. Während des ersten Verhandlungstages mußten wir stehen; wegen der langen Dauer des Prozesses wurde uns später eine Bank zur Verfügung gestellt. In der Mitte der Kajüte stand ein langer Tisch; rechts und links vom Sessel des Vorsitzenden saßen die Richter. Hinter dem Präsidenten war ein Tischchen für den Kanzler des Gerichtes aufgestellt; diesem gegenüber ein
weiterer Tisch für die Schreiber, die das Verhandlungsprotokoll aufnahmen. Den Beiständen der Angeklagten war gleichfalls ein Tisch eingeräumt. Längs der Wände hatten die Zuschauer auf langen Bänken Platz genommen. Punkt neun Uhr öffnete sich die Tür aufs neue, und die Mitglieder des Gerichtshofes nahmen ihre Plätze ein. Den Vorsitz führte Lord Hood, Vizeadmiral und Oberbefehlshaber der Kriegsschiffe im Hafen von Portsmouth. Von den übrigen elf Richtern, samt und sonders Kapitänen von Kriegsschiffen, kannte ich nur Sir George Montague, den Kommandanten der Hector. Meine Teilnahmslosigkeit wich von mir, als ich mich dem eindrucksvollen Bild zuwandte. Zunächst wurde meine Aufmerksamkeit vollkommen von den Richtern in Anspruch genommen. Sie waren zum größten Teil Männer in mittlerem Alter; man hätte sie auch in Zivilkleidung sogleich als Marineoffiziere erkannt. Als ich der Reihe nach in ihre strengen, unbewegten Züge blickte, war ich sehr entmutigt. Der einzige von diesen Männern, von dem wir ein wenig Milde zu erwarten hatten, schien mir Sir George Montague, der Kapitän der Hector, zu sein. Der Waffenmeister rief unsere Namen; wir standen unmittelbar vor dem Gerichtshof, während die Anklage gegen uns verlesen wurde. Die Anklageschrift war von beträchtlicher Länge und enthielt die Geschichte der Bounty von ihrer Abfahrt bis zu dem Augenblick, in dem sich die Meuterer des Schiffes bemächtigten. Dann verlas der Kanzler die beeidete Aussage Kapitän Blighs, die wiederum eine genaue Darstellung der Vorgänge während der Meuterei, vom Gesichtspunkte des Kapitäns aus betrachtet, gab.
Der Schluß des Dokuments hatte folgenden Wortlaut: »Ich gestatte mir, die verehrliche Admiralität darauf aufmerksam zu machen, daß die Vorbereitungen zu der Meuterei mit größter Heimlichkeit getroffen wurden, so daß keiner der mir Treugebliebenen die geringste Ahnung von dem, was vorging, hatte. Folgendes erscheint mir als eine Tatsache von größter Wichtigkeit: Als ich in der Nacht vor dem Aufstande während der mittleren Wache meiner Gewohnheit gemäß auf Deck kam, sah ich Fletcher Christian, den Rädelsführer der Piraten, in ernstestem Gespräch mit Roger Byam, einem der Kadetten. Infolge der herrschenden Dunkelheit bemerkten mich diese Leute nicht; auch argwöhnte ich damals nicht, daß diese Unterredung einen gefährlichen Inhalt haben könne. Als ich mich jedoch unbemerkt näherte, sah ich, wie Byam Christian die Hand schüttelte und sagte: »Sie können auf mich rechnen.« Christian antwortete hierauf: »Gut denn, das wäre abgemacht.« Als sie mich bemerkten, brachen sie ihr Gespräch sogleich ab. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß sich diese Unterredung auf die bevorstehende Meuterei bezog.« Der Verlesung der Aussage des Kapitäns folgte ein Augenblick tiefen Schweigens. Ich spürte den Blick vieler Augenpaare auf mich gerichtet. Eine vernichtendere Anklage gegen mich wäre undenkbar gewesen, und es war nur zu klar ersichtlich, welch tiefen Eindruck sie auf den Gerichtshof gemacht hatte. Wie konnte ich diese Beschuldigung ohne Tinklers Zeugenaussage entkräften? Das Bewußtsein der Hoffnungslosigkeit meiner Lage überfiel mich. Wäre ich einer der Richter gewesen, so hätte ich schon jetzt an der Schuld eines der Angeklagten nicht mehr gezweifelt.
Der Kanzler fragte: »Ist es Eurer Lordschaft Wunsch, daß ich die Namen, welche in der der Aussage beiliegenden Liste enthalten sind, verlese?« Lord Hood nickte. Zuerst wurden die Namen jener, die Bligh begleitet hatten, verlesen, dann die Namen derer, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren. Ich wunderte mich sehr darüber, daß Bligh bezüglich Colemans, Normans und McIntoshs völliges Stillschweigen bewahrte. Er wußte sehr wohl, daß diese Männer von den Meuterern daran gehindert worden waren, die Barkasse zu besteigen. Und doch machte er keinen Unterschied zwischen ihnen und den Anhängern Christians. Bis zum heutigen Tage ist mir Blighs Mangel an Gerechtigkeitsgefühl diesen dreien gegenüber unverständlich geblieben. Nun wurde Fryer aufgerufen. Er hatte sich, seit ich ihn zum letzten Male gesehen hatte, gar nicht verändert. Nachdem er den Eid abgelegt hatte, gab er einen klaren und unparteiischen Bericht über die Meuterei, aus dem ich jedoch kaum etwas über die Vorgänge jenes Tages erfuhr, das ich nicht bereits wußte. Nachdem er geendet hatte, begann die Fragestellung des Gerichtshofes. Im allgemeinen erfolgte sie durch den Vorsitzenden, doch beteiligten sich auch die übrigen Richter daran. Der Gerichtshof: »Sie haben ausgesagt, daß Sie die folgenden bewaffnet gesehen haben: Christian, Churchill, Sumner, Martin, Quintal und die Angeklagten Burkitt und Millward. Waren Sie der Ansicht, daß nur diese Leute bewaffnet waren?« Fryer: »Nein.« Der Gerichtshof: »Aus welchem Grunde nicht?«
Fryer: »Meine Gefährten in der Barkasse sprachen von
einer größeren Anzahl Bewaffneter. Ich selbst kann mich
nicht erinnern, mehr gesehen zu haben.«
Der Gerichtshof: »Haben Sie gesehen, daß einer der
Angeklagten auf Befehl Christians oder Churchills sich
aktiv an der Meuterei beteiligte?«
Fryer: »Burkitt und Millward bewachten Kapitän Bligh.
Sie waren bewaffnet.«
Der Gerichtshof: »Sahen Sie den Angeklagten Ellison am
Morgen des Aufstandes?«
Fryer: »Im Anfang nicht. Später stand er in der Nähe des
Kapitäns.«
Der Gerichtshof: »War er bewaffnet?«
Fryer: »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
Der Gerichtshof: »Sahen Sie William Muspratt?«
Fryer: »Nein.«
Der Gerichtshof: »Wie viele Leute waren erforderlich,
um die Barkasse hinabzulassen?«
Fryer: »Etwa zehn.«
Der Gerichtshof: »Befand sich unter diesen Leuten einer
der Angeklagten?«
Fryer: »Ja. Byam, Morrison, Coleman, Norman und
McIntosh halfen dabei, taten es jedoch im Auftrage des
Bootsmannes Cole.«
Der Gerichtshof: »Waren Sie der Meinung, daß diese
Leute auf seiten Kapitän Blighs oder der Meuterer
standen?«
Fryer: »Auf seiten Kapitän Blighs.«
Der Gerichtshof: »Woraus schlossen Sie, daß Millward
Ihnen freundlich gesinnt war, als er Sie bewachte?«
Fryer: »Er machte auf mich den Eindruck, als habe er die
Waffen nur widerwillig entgegengenommen.«
Der Gerichtshof: »In welchem Teile des Schiffes
befanden sich die Kammern der Kadetten?«
Fryer: »Im Zwischendeck, zu beiden Seiten des
Hauptganges.«
Der Gerichtshof: »Nahmen Sie wahr, ob dieser Gang
bewacht war?«
Fryer: »Ja. Ich vergaß zu erwähnen, daß Thompson mit
Muskete und aufgepflanztem Bajonett bei der
Waffenkiste Wache hielt.«
Der Gerichtshof: »Waren Sie der Ansicht, daß er die
Kadettenkammern zu bewachen hatte?«
Fryer: »Ja, die Kammern und die Waffenkiste
gleichzeitig.«
Der Gerichtshof: »Ist Ihnen bekannt, daß ein Versuch
gemacht wurde, das Schiff zurückzuerobern?«
Fryer: »Nein.«
Der Gerichtshof: »Wieviel Zeit lag zwischen dem ersten
Alarm und dem Augenblick, da Sie gezwungen wurden,
in das Boot zu steigen?«
Fryer: »Etwa drei Stunden, soweit ich mich erinnere.«
Der Gerichtshof: »Hatte es in allerletzter Zeit Streit
zwischen Kapitän Bligh und Christian gegeben?«
Fryer: »Am Tag vor der Meuterei hatte Herr Bligh
Christian beschuldigt, seine Kokosnüsse gestohlen zu
haben.«
Nun wurde es den Angeklagten gestattet, den Zeugen zu
befragen.
Ich stellte als erster drei Fragen.
Ich: »Hörten Sie, als Sie auf Deck kamen und mich mit
Herrn Christian sprechen sahen, etwas von dem, was
gesprochen wurde?«
Fryer: »Nein, Herr Byam. Es war . . .«
Lord Hood unterbrach ihn. »Sie müssen die Fragen des Angeklagten beantworten, indem Sie sich an den Gerichtshof wenden«, sagte er. Fryer: »Ich kann mich nicht erinnern, von dem Gespräch etwas gehört zu haben.« Ich: »Hatten Sie Anlaß, zu glauben, daß ich für Herrn Christian Partei nahm?« Fryer: »Nicht im geringsten.« Ich: »Gesetzt den Fall, man hätte Ihnen erlaubt, an Bord zu bleiben, und Sie hätten versucht, das Schiff zurückzuerobern, wäre ich dann einer von denen gewesen, die Sie ins Vertrauen gezogen hätten?« Fryer: »Er wäre einer der ersten gewesen, mit dem ich gesprochen hätte.« Der Gerichtshof: »Haben Sie bemerkt, daß während Ihrer Wache in der Nacht vor dem Aufstand Christian und der Angeklagte Byam auf Deck zusammenkamen?« Fryer: »Nein. Herr Byam war während meiner ganzen Wache auf Deck, während sich Herr Christian überhaupt nicht zeigte.« Der Gerichtshof: »Schien Byam erregt, nervös oder verstört zu sein?« Fryer: »Nicht im geringsten.« Ich war Fryer zutiefst dankbar, nicht nur wegen des Tatsächlichen seiner Aussage, sondern auch wegen der Art, in der er sie vorbrachte. Der Gerichtshof mußte klar erkennen, daß er mich für unschuldig hielt. Morrison fragte: »Ist Ihnen an meinem Verhalten etwas aufgefallen, das Sie glauben ließ, ich gehöre zu den Meuterern?« Fryer: »Nein.« Nun stellten die ändern Angeklagten der Reihe nach Fragen an ihn. Dann wurde der Schiffer entlassen und
Herr Cole, der Bootsmann, vorgerufen. Seine Aussagen stimmten naturgemäß in vielen Teilen mit denen Fryers überein, dennoch gab es zwischen den Darstellungen der einzelnen Zeugen beträchtliche Unterschiede. Jeder hatte die Ereignisse von einem anderen Teil des Schiffes mit angesehen; die Auslegung des Geschehenen, ebenso wie die Erinnerung nach so langer Zeit, wich bei den einzelnen Zeugen voneinander ab. Ich erfuhr aus Coles Aussage, daß er Stewart und mich beim Ankleiden in unserer Kammer gesehen hatte, während Churchill uns bewachte. Seine Aussage war besonders schwerwiegend für Ellison und schadete diesem um so mehr, als sie offensichtlich nur widerstrebend gemacht wurde. Cole hatte, wie fast jeder auf dem Schiff, Ellison sehr gerne. Da er aber ein Mann von unbedingtem Pflichtgefühl war, mußte er dennoch zugeben, daß er Ellison gesehen hatte, wie dieser Wache bei Bligh hielt. Sein Zwiespalt zwischen dem Wunsch, alle Angeklagten soweit wie möglich zu entlasten, und der Notwendigkeit, die Wahrheit zu sagen, trug ihm die Sympathie des Gerichtshofes, uns aber keine Gnade ein. Der Gerichtshof: »Wie war Ellison bewaffnet?« Cole: »Mit einem Bajonett.« Der Gerichtshof: »Hörten Sie ihn irgendwelche Bemerkungen machen?« Cole: »Ja.« Der Gerichtshof: »Wie lauteten diese?« Cole: »Ich hörte, wie er Kapitän Bligh einen alten Halunken nannte.« Ich richtete an Cole folgende Frage: »Konnten Sie, als Sie Stewart und mich in unserer Kammer sahen und Churchill mit geladener Pistole neben uns stand, etwas
von dem vernehmen, was zwischen mir, Churchill und
Thompson gesprochen wurde?«
Cole: »Nein, ich konnte nichts verstehen. Der Lärm war
zu groß.«
Ellison: »Sie sagten, ich sei mit einem Bajonett
bewaffnet gewesen, Herr Cole. Sahen Sie auch, daß ich
irgendwelchen Gebrauch davon machte?«
Cole: »Keineswegs, Junge. Du ...«
Der Gerichtshof: »Richten Sie Ihre Antworten an den
Gerichtshof!«
Cole: »Er versuchte nicht ein einziges Mal, sein Bajonett
zu benutzen. Er fuchtelte Kapitän Bligh nur damit vor der
Nase herum.«
Bei dieser Antwort sah ich die Spur eines grimmigen
Lächelns in den Mienen einiger Mitglieder des Gerichts.
Cole fuhr ernsthaft fort: »Der Bursche ist kein schlechter
Kerl. Er war damals noch ein Knabe und hatte immer
dumme Streiche im Kopf.«
Der Gerichtshof: »Glauben Sie, daß das eine
Entschuldigung für die Teilnahme an einer Meuterei ist?«
Cole: »Nein, Sir, aber ...«
»Das genügt, Bootsmann«, unterbrach ihn Lord Hood.
»Hat noch einer der Angeklagten Fragen zu stellen?«
Morrison: »Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen dabei half,
Ihre Sachen aus der Kammer zu holen?«
Cole: »Das hatte ich vergessen, aber es stimmt
vollkommen. Ich hatte niemals Anlaß, zu glauben, Herr
Morrison gehöre zu den Meuterern.«
Morrison: »Lief ich nicht, nachdem ich Ihnen geholfen
hatte, Ihre Sachen in das Boot zu bringen, nach unten, um
meine eigenen zu holen, in der Hoffnung, Kapitän Bligh
begleiten zu dürfen?«
Cole: »Ich weiß, daß er hinunterlief, und ich zweifle nicht an seiner Absicht, uns zu begleiten.« Der Gerichtshof: »Schien der Angeklagte Morrison begierig zu sein, das Boot zu besteigen?« Cole: »Keiner von uns war begierig, denn wir hatten keine Hoffnung, England jemals wiederzusehen. Aber er war bereit, mitzufahren, und ich zweifle nicht daran, daß er es getan hätte, wenn Platz gewesen wäre.« Nachdem Cole auch von den anderen Angeklagten und dann nochmals vom Gerichtshof befragt worden war, wurde die Verhandlung auf den nächsten Morgen vertagt. Als wir uns wieder im Kanonenraum der Hector befanden, brachte mir Herr Graham ein kurzes Schreiben von Sir Joseph folgenden Inhaltes: »Seien Sie guten Mutes. Fryer und Cole haben sich tapfer für Sie geschlagen. Es ist offensichtlich, daß ihr Urteil über Ihren Charakter auf das Gericht Eindruck gemacht hat.« Herr Graham unterhielt sich eine halbe Stunde mit mir; er ging die Zeugenaussagen in allen Einzelheiten mit mir durch und gab mir Weisungen über die Fragen, die ich an die weiteren Zeugen stellen sollte. Er lehnte es ab, über meine Aussichten ein Urteil abzugeben. »Wenn es Ihnen möglich ist, zerbrechen Sie sich darüber gar nicht den Kopf«, sagte er. »Inzwischen können Sie versichert sein, daß ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Ihnen zu helfen.« »Darf ich noch eine Frage stellen, Herr Graham?« »Gewiß. So viele Sie wollen.« »Halten Sie mich für schuldig oder für unschuldig?« »Diese Frage kann ich ohne Zögern beantworten. Ich halte Sie für unschuldig.«
Dies gab mir neuen Mut und die Berechtigung, zu hoffen, daß zumindest einige der Richter der gleichen Ansicht sein würden. An diesem Abend wurde im Kanonenraum wenig gesprochen. Solange das Tageslicht es erlaubte, saß Morrison bei einer Luke und las Muspratt auf dessen Wunsch aus der Bibel vor. Ellison legte sich früh in seine Hängematte und schlief sogleich ein. Vier der Angeklagten hatten wenig zu fürchten. Die Ereignisse des ersten Verhandlungstages hatten es immer klarer gemacht, daß Coleman, Norman, McIntosh und Byrne so gut wie sicher auf Freispruch rechnen durften. Burkitt und Millward gingen lange mit nackten Füßen im Räume auf und ab. Dieses Geräusch war das letzte, was ich hörte, ehe ich einschlief.
22
Am nächsten Morgen, um neun Uhr, wurde die Verhandlung wieder aufgenommen. Als wir in die große Kajüte geführt wurden, bemerkte ich, daß noch mehr Zuschauer anwesend waren als am Vortage. Es herrschte die gleiche feierliche Stimmung, und wiederum lauschten Richter und Zuhörer dem Zeugenverhör mit angespanntem Interesse. William Peckover, der Konstabler der Bounty, wurde vorgerufen und vereidigt. Das Merkwürdigste an seiner Aussage war, daß er behauptete, während der ganzen Meuterei nur vier Leute bewaffnet gesehen zu haben. Christian, Burkitt, Sumner und Quintal. Wahrscheinlich dachte er sich: Die Meuterei ist schon so lange her; wie kann ich heute noch wissen, wen ich mit Waffen in der Hand sah? Nur an vier erinnere ich mich mit Sicherheit. Den anderen Burschen soll mein schlechtes Gedächtnis zugute kommen. Weiß Gott, sie können das brauchen! Sobald er seine Aussage beendet hatte, wurde er darüber befragt. Der Gerichtshof: »Wieviel Mann waren auf der Bounty?« Peckover: »Dreiundvierzig waren es damals, glaube ich.« Der Gerichtshof: »Und Sie waren der Ansicht, daß vier Leute gegen neununddreißig die Oberhand behalten konnten?« Peckover: »Keineswegs. Es müssen mehr beteiligt gewesen sein, sonst hätten sie uns das Schiff nicht abnehmen können. Aber ich kann mich eben nur an vier Bewaffnete erinnern.« Der Gerichtshof: »Warum haben Sie sich denn ergeben, wenn Sie nur vier Bewaffnete sahen?«
Peckover: »Als ich auf Deck kam, hatte ich nur meine Hose an. Ich sah Burkitt mit einer Muskete und einem Bajonett bewaffnet und Herrn Christian bei Kapitän Bligh stehen. Auf dem Gange sah ich eine Wache, aber ich weiß nicht, wer es war.« Der Gerichtshof: »Sahen Sie den Angeklagten Byam?« Peckover: »Ja. Er sprach mit Herrn Nelson, dem Botaniker. Dann ging er hinunter, und ich sah ihn nicht mehr, bis die Barkasse fahrbereit war.« Der Gerichtshof: »Woraus schließen Sie, daß Coleman, Norman, McIntosh und Byrne den Meuterern feind waren?« Peckover: »Als ich sie auf uns hinabblicken sah, schien es mir, daß sie wünschten, in das Boot gelassen zu werden. Ich war damit beschäftigt, Gegenstände in der Barkasse zu verstauen, so daß ich mich nur erinnern kann, daß Coleman mir etwas zurief.« Der Gerichtshof: »Sie sagten, Herr Purcell habe Ihnen erklärt, er wisse, wer die Schuld an der ganzen Sache trage. Legen Sie das so aus, daß Herr Purcell einen der Angeklagten meinte?« Peckover: »Nein. Er meinte Kapitän Bligh, weil er die Mannschaft so schlecht behandelt hat.« Der Gerichtshof: »Worin bestand eigentlich diese schlechte Behandlung?« Peckover: »In häufigen schweren Strafen für kleine Vergehen und in Beschimpfungen aller Leute an Bord. Sosehr sie sich auch bemühten, konnten weder Offiziere noch Mannschaften ihm etwas recht machen.« Sodann befragte Morrison den Konstabler, und aus dessen Antworten ging noch klarer als früher hervor, daß Morrison nicht bewaffnet gewesen war und alles Erdenkliche tat, was im Interesse der Leute in der
Barkasse lag. Morrison führte seine Verteidigung ausgezeichnet. Meine eigenen Fragen an Peckover erwiesen sich leider als ziemlich zwecklos. Er hatte Christian und mich in der Nacht vor der Meuterei auf Deck gesehen, aber nichts von dem Gesprochenen gehört. Als nächster wurde Purcell, der Zimmermann, verhört. Er war noch der gleiche bärbeißige Geselle, der am Morgen des Aufstandes zu Nelson gesagt hatte: »An Bord bleiben? Mit Verbrechern und Piraten? Niemals, Sir! Ich folge meinem Kommandanten.« Ich hatte großen Respekt vor dem Mann. Niemand konnte Bligh mehr gehaßt haben als er, aber als es sich um die Frage der Pflichterfüllung handelte, war seine Entscheidung keinen Augenblick zweifelhaft. Seine Aussage war von großer Wichtigkeit für mich, aber ob sie mir nützte oder schadete, war schwer zu entscheiden. Purcell nannte die Namen von siebzehn Leuten, die er mit der Waffe in der Hand gesehen hatte; darunter befanden sich Ellison, Burkitt und Millward. Der Gerichtshof fragte: »Sie haben ausgesagt, daß Sie Herrn Byam ersuchten, bei Christian zu erwirken, er möge den Kutter durch die Barkasse ersetzen. Warum sprachen Sie darüber mit Byam? Hielten Sie ihn für einen Meuterer?« Purcell: »Keineswegs. Aber ich wußte, daß er mit Herrn Christian befreundet sei. Mich konnte Christian nicht leiden, und er hätte mich niemals angehört.« Der Gerichtshof: »Glauben Sie, daß die Überlassung der Barkasse der Vermittlung des Herrn Byam zu verdanken ist?« Purcell: »Bestimmt; und hätten wir die Barkasse nicht bekommen, so hätte keiner von uns die Heimat wiedergesehen.«
Der Gerichtshof: »Wie waren die Beziehungen zwischen Christian und Byam während der Fahrt und in Tahiti?« Purcell: »Ausgezeichnet. Herr Christian schloß nicht leicht Freundschaft mit jemandem, aber mit Herrn Byam doch.« Der Gerichtshof: »Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Herr Christian Byam, seinen einzigen Freund, nicht in seine Absichten eingeweiht hatte?« Purcell: »Für sehr wahrscheinlich. Herr Christian wußte sicher, daß Herr Byam seinem Kommandanten treu bleiben würde.« Der Gerichtshof: »Wo war Byam, unmittelbar bevor die Barkasse losgemacht wurde?« Purcell: »Das weiß ich nicht. Kurz vorher hatte ich ihn auf Deck gesehen, und er hatte mir gesagt, er gehe mit Kapitän Bligh. Ich nehme an, daß er hinuntergegangen war, um seine Kleider zu holen.« Der Gerichtshof: »Sahen Sie Morrison um diese Zeit?« Purcell: »Nein.« Der Gerichtshof: »Halten Sie es für möglich, daß Byam und Morrison Angst davor hatten, das Boot zu besteigen, und sich deshalb in der Kammer versteckten?« Purcell: »O nein! Sie waren sicherlich daran verhindert, mitzukommen. Sie waren keine Feiglinge wie Herr Hayward und Herr Hallet ...« Lord Hood ermahnte den Zimmermann streng, sich auf die Beantwortung der gestellten Fragen zu beschränken. Der Gerichtshof: »Sagen Sie uns nun unter Ihrem Eid, ob Sie unter Berücksichtigung aller Umstände den Angeklagten Byam für einen Anhänger der Meuterer oder für einen Mann hielten, der auf seilen Kapitän Blighs stand.«
Purcell: »Ich habe ihn keinen Augenblick für einen Meuterer gehalten.« Der Gerichtshof: »Halten Sie Morrison für einen Meuterer?« Purcell: »Nein.« Nach einer Pause sagte Lord Hood: »Die Angeklagten dürfen jetzt Fragen an den Zeugen stellen.« Ich: »Glauben Sie, daß die Barkasse noch weitere Leute hätte aufnehmen können, ohne die Sicherheit aller Insassen zu gefährden?« Purcell: »Nicht ein einziger hätte mehr Platz gehabt. Kapitän Bligh selbst ersuchte, man möge niemanden mehr hereinlassen. Als Norton von den Wilden in Tofoa getötet wurde, waren wir, sosehr wir ihn auch bedauerten, froh darüber, daß das Boot entlastet war. Wir anderen hatten dadurch eine größere Chance, am Leben zu bleiben.« Am nächsten Morgen, Freitag, den 14. September, wurde Hayward verhört. Wir warteten begierig auf seine Aussage. Insbesondere war ich neugierig darauf, ob er das, was mir Christian an jenem Abend kurz nach der Meuterei erzählt hatte, bestätigen würde. Hayward erwähnte nicht das geringste davon, daß er, als die Meuterei ausbrach, auf Wache eingeschlafen war. »Während ich auf das Meer hinausblickte«, berichtete Hayward, »sah ich auf einmal zu meinem unaussprechlichen Erstaunen Christian an der Spitze eines Trupps Matrosen, die mit Musketen und Bajonetten bewaffnet waren, auf mich zukommen. Als ich von Christian eine Erklärung hierfür forderte, herrschte er mich an, ich solle augenblicklich den Mund halten. Martin wurde als Wache auf Deck belassen; die übrigen stürzten in Herrn Blighs Kajüte.
Ich hörte Herrn Bligh »Mord!« schreien und Christian nach einem Strick rufen. Immer neue Leute strömten nun auf das Deck. Ich sah Stewart und die Angeklagten Morrison und Byam bei den Spieren stehen. Sobald die Barkasse hinabgelassen worden war, erhielten Samuel, Hallet und ich den Befehl, sie zu besteigen. Man erlaubte uns, aus unseren Kammern einige Kleider zu holen. Um diese Zeit sprach ich entweder mit Stewart oder mit Byam; ich erinnere mich nicht genau, mit welchem von beiden, glaube aber eher, daß es Byam war. Ich sagte ihm, er solle das Boot besteigen, kann mich aber nicht erinnern, eine Antwort erhalten zu haben. Als ich wieder auf Deck kam, war Ellison unter den Leuten, die Kapitän Bligh bewachten. Nun wurden wir genötigt, einzusteigen. Ich erinnere mich, wie Tinkler, der noch nicht im Boot war, rief: »Um Gottes willen, Byam, eile dich!« Als das Boot abfuhr, sah ich die Angeklagten Byam und Morrison am Deckrand mitten unter den Meuterern stehen. Sie schienen sehr froh darüber, dort zu sein. Ich hörte, wie Burkitt und Millward Kapitän Bligh beschimpften. Das ist alles, was ich von der Meuterei auf der Bounty weiß.« Der Gerichtshof: »Wieviel Bewaffnete sahen Sie?« Hayward: »Achtzehn.« Der Gerichtshof: »Befanden sich einige der Angeklagten darunter?« Hayward: »An Burkitt, Muspratt, Millward und Ellison erinnere ich mich mit Bestimmtheit.« Der Gerichtshof: »Wissen Sie, um welche Zeit der Angeklagte Byam in der Nacht vor der Meuterei in die Schlafkammer kam?« Hayward: »Ja. Ich war zufällig wach und hörte die Schiffsglocke halb zwei schlagen.«
Der Gerichtshof: »Erzählen Sie alles, was Sie über Morrison wissen.« Hayward: »Ich erinnere mich, daß Morrison mithalf, die Barkasse zu räumen, aber ich weiß nicht sicher, ob er im Anfang bewaffnet war.« Der Gerichtshof: »Wollen Sie damit sagen, daß er später bewaffnet war?« Hayward: »Ich glaube ja, aber mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen.« Der Gerichtshof: »Schien er Ihnen, seinem Gehaben nach, die Meuterer zu unterstützen, oder gehorchte er nur den Befehlen, das Boot zu räumen?« Hayward: »Meiner Meinung nach unterstützte Byam die Meuterer.« Der Gerichtshof: »Haben Sie Grund zur Annahme, daß Byam daran gehindert worden wäre, gleichzeitig mit Ihnen das Boot zu besteigen, wenn er diese Absicht gehabt hätte?« Hayward: »Nein.« Später fragte Morrison den Zeugen: »Sie sagen, daß ich mich darüber freute, bei den Meuterern bleiben zu dürfen. Können Sie vor Gott und diesem Gerichtshof bezeugen, daß Ihre Annahme nicht auf einer persönlichen Feindseligkeit gegen mich beruht?« Hayward: »Nein, meine Annahme beruht nicht auf einer persönlichen Feindseligkeit.« Morrison: »Können Sie leugnen, daß Kapitän Bligh ersuchte, man möge das Boot nicht überlasten; können Sie ferner leugnen, daß er sagte: »Ich werde euch zu eurem Recht verhelfen, Jungens.«« Hayward: »Ich hörte diese Worte wohl, aber ich bezog sie auf die Leute im Boot.«
Die boshafte Art und Weise, in der Hayward ausgesagt hatte, erstaunte mich. Er mußte innerlich wissen, daß wir genauso schuldlos waren wie er selbst; und doch versäumte er keine Gelegenheit, die Reinheit unserer Absichten anzuzweifeln. Ich erinnerte mich deutlich an jede Einzelheit der Meuterei. Hayward hatte an jenem Morgen nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen, und Stewart hatte mir gesagt, daß er ihn nur von weitem gesehen hatte. Und doch hatte Hayward bezeugt, daß er einen von uns beiden aufgefordert habe, das Boot zu besteigen. Die Wahrheit war, daß er während der ganzen Zeit solche Angst gehabt hatte, daß er überhaupt nicht wußte, was er sagte oder tat. Meiner Ansicht nach hatte er sich seine Aussage so zurechtgelegt, daß er persönlich in einem möglichst günstigen Licht erschien. Er war ein leicht beeinflußbarer Charakter, und ich glaube, daß seine lange Verbindung mit Kapitän Edwards, der uns alle für Verbrecher hielt, Haywards eigene Meinung aufs stärkste beeinflußt hatte. Als nächster wurde Hallet aufgerufen. Er war jetzt zwanzig Jahre alt, und in dem mit fast geckenhafter Eleganz gekleideten Leutnant erkannte ich kaum mehr den mageren, verängstigten Burschen, als den ich ihn früher gekannt hatte. Als er vor dem Richtertisch erschien, blickte er uns mit einer Miene an, die deutlich ausdrückte: Seht ihr, ich habe es zu etwas gebracht! Und was seid ihr? Piraten und Meuterer! Seine Aussage war die kürzeste aller bisherigen Zeugen, aber sie war von größter Wichtigkeit für Morrison und mich. Er erklärte mit Überzeugung, daß er im Augenblick, als die Barkasse abfuhr, Morrison mit einer Muskete bewaffnet am Deckrand stehen gesehen habe.
Mich belastete er, als er von verschiedenen Mitgliedern des Gerichtshofes befragt wurde. Der Gerichtshof: »Sahen Sie Byam am Morgen des Aufstandes?« Hallet: »Ich erinnere mich, ihn einmal gesehen zu haben.« Der Gerichtshof: »War er bewaffnet?« Hallet: »Das kann ich nicht behaupten.« Der Gerichtshof: »Wissen Sie, ob er daran gehindert wurde, ins Boot zu kommen?« Hallet: »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß er den Versuch gemacht hätte, das Boot zu besteigen.« Der Gerichtshof: »Hörten Sie, daß jemand ihn aufforderte, das Boot zu besteigen?« Hallet: »Nein.« Der Gerichtshof: »Können Sie etwas anderes über den Angeklagten aussagen?« Hallet: »Als Kapitän Bligh gefesselt dastand, sagte der Kapitän etwas zu Byam, was ich nicht verstand, da lachte Byam, wandte sich ab und ging weg.« Auf Rat Herrn Grahams unterließ ich es, Hallet zu befragen. »Dies ist die schwerste Beschuldigung, die bisher gegen Sie erhoben wurde«, flüsterte er mir zu, »mit Ausnahme der Kapitän Blighs. Befragen Sie Hallet jetzt nicht darüber. Wir werden später Gelegenheit haben, jeden Zeugen eingehend zu befragen.« Hallet wurde entlassen und John Smith, Kapitän Blighs Diener, vorgerufen. Er war der einzige Matrose der Bounty, der Zeugenschaft ablegte. Nur drei Matrosen der Bounty hatten sich Christian nicht angeschlossen, und von diesen waren zwei tot. Smiths Aussage war ohne Bedeutung.
Sodann wurden Kapitän Edwards und die Offiziere der Pandora vor den Richtertisch gerufen. Als ich Edwards und Parkin sah, überfiel mich die gleiche Wut, die ich oft empfunden hatte, als ich in ihrer Gewalt gewesen war. Ich muß ihnen jedoch die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zuzugeben, daß ihre Aussagen über die Vorgänge in Tahiti bis in die kleinsten Einzelheiten genau und unparteiisch waren. Damit war das Verhör der von der Admiralität vorgeladenen Zeugen beendet. Die Verhandlung wurde vertagt; am nächsten Tag sollten wir Gelegenheit haben, uns zu verteidigen.
23
Am Samstagmorgen wurde zunächst Coleman, dessen Freispruch bereits als feststehende Tatsache gelten konnte, aufgerufen. Seine Rede war kurz; dann befragte er Fryer, Cole, Peckover und Purcell, die alle bezeugten, daß Coleman unschuldig sei und gegen seinen Willen auf der Bounty zurückgehalten wurde. Hierauf wurde die Sitzung vertagt. Beinahe den ganzen Sonntag verbrachte ich mit meinem Berater. Kapitän Manly und Kapitän Bentham, die Berater der anderen Angeklagten, kamen mit ihm; wir trafen die Einteilung so, daß die einzelnen Gruppen einander nicht störten. Ich hatte schon das Konzept meiner Verteidigungsrede fertiggestellt. Herr Graham prüfte es sorgfältig, machte mich auf einige Auslassungen aufmerksam und schlug verschiedene Änderungen vor. Er gab mir Ratschläge betreffs der Zeugen, die ich nach Verlesung meiner Rede aufrufen, und über die Fragen, die ich an sie richten solle. Hayward hatte ausgesagt, daß er mich in der Nacht vor dem Aufruhr in die Kammer zurückkommen gehört habe. »Diese Aussage ist von Wichtigkeit für Sie, Herr Byam«, erklärte mir Herr Graham. »Sie haben mir gesagt, daß Tinkler mit Ihnen hinunterging und daß Sie einander gute Nacht wünschten, nicht wahr?« »Ganz richtig, Sir.« »Dann muß Hayward Sie sprechen gehört haben. Wir müssen ihn dazu bringen, das zu bestätigen. Wenn wir nachweisen können, daß Sie in Gesellschaft Tinklers waren, so gewinnt Ihre Behauptung, Tinkler habe Ihre Unterhaltung mit Christian mit angehört, an Wahrscheinlichkeit. Meiner Ansicht nach machten
Hayward und Hallet keinen günstigen Eindruck auf die Richter. Dennoch müssen wir mit ihren Aussagen rechnen. Hatten Sie die Möglichkeit, Hayward und Hallet während der Meuterei zu beobachten?« »Jawohl, ich sah sie mehrere Male.« »Was können Sie über die beiden sagen? Waren sie ruhig und beherrscht?« »Im Gegenteil, sie hatten beide vor Angst beinahe den Verstand verloren; sie weinten und baten um Gnade, als sie in das Boot geschickt wurden.« »Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß Sie mit aller Energie auf diesen Umstand hinweisen. Wenn es Ihnen gelingt, den Gerichtshof zu überzeugen, daß Hallet und Hayward sich in großer Aufregung befanden, so wird dadurch die Verläßlichkeit ihrer Aussagen schwer erschüttert.« Erst am späten Nachmittag erhob sich Herr Graham, um zu gehen. »Ich glaube, wir haben alles besprochen«, sagte er. »Wünschen Sie Ihre Verteidigungsrede selbst zu halten, oder ziehen Sie es vor, daß ich sie verlese?« »Was raten Sie mir, Sir?« »Wenn Sie glauben, daß Sie die nötige Ruhe aufbringen werden, sprechen Sie besser selbst.« Ich sagte ihm, daß ich hierüber keine Befürchtungen hege. »Gut denn!« entgegnete er. »Sprechen Sie klar und langsam! Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß einige Richter von Ihrer Schuld beinahe überzeugt zu sein scheinen. Das ging aus ihrer Fragestellung deutlich hervor.« »Es ist mir nicht entgangen, Sir.« »Ich rate Ihnen, während Sie sprechen, immer an diese Herren zu denken. Wenn Sie das tun, werden Sie ganz von selbst den richtigen Ton treffen. Daß Sie um Ihr
Leben kämpfen, brauche ich Ihnen nicht noch einmal zu sagen.« Am Morgen des 17. September gab ein einziger Kanonenschuß donnernd das Signal zur Wiederaufnahme der Kriegsgerichtsverhandlung. Als wir über das Quarterdeck der Duke geführt wurden, kam ich mir wie ein Schauobjekt vor; viele der Offiziere starrten uns an, als wären wir wilde Tiere. Wenigstens kam es mir damals so vor; vermutlich war ich aber in jenen Tagen besonders empfindlich und hielt für Feindseligkeit, was in Wirklichkeit nur natürliche Neugierde war. Schlag neun Uhr betraten die Mitglieder des Gerichts den Verhandlunssraum. Der Waffenmeister sprach: »Roger Byam, treten Sie vor!« Ich erhob mich und stand wartend vor Lord Hood. »Sie haben die Anklage, die gegen Sie erhoben wurde, vernommen. Der Gerichtshof ist nun bereit, alles anzuhören, was Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen haben. Sind Sie vorbereitet?« »Ja, Mylord.« »Erheben Sie die rechte Hand.« Ich wurde vereidigt und erinnere mich, daß meine Hand zitterte, als ich den Schwur ablegte. Der Gerichtshof wartete. Einen Augenblick lang schwindelte mir. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, und die vielen Gesichter verschwammen vor meinen Augen. Dann hörte ich, als spräche jemand von ferne her, meine eigene Stimme: »Mylord und ihr Herren dieses Hohen Gerichtes! Das Verbrechen der Meuterei, dessen ich beschuldigt bin, ist so schwer, daß es allgemeinen Abscheu erwecken muß. Ich sehe ein, daß die Umstände gegen mich sprechen,
aber ich erkläre vor Gott, daß ich schuldlos bin; daß ich weder in Gedanken noch in der Tat das Verbrechen begangen habe, dessen ich angeklagt bin.« Nun, da ich begonnen hatte, gewann ich meine Selbstbeherrschung wieder und sprach, Herrn Grahams Rat folgend, langsam und mit Überlegung. Ich erklärte in allen Einzelheiten das Gespräch mit Christian in der Nacht vor der Meuterei. Ich berichtete über meine Unterhaltung mit Herrn Purcell und Herrn Nelson, die beide meinen Entschluß, das Schiff zu verlassen, kannten. Ich erzählte von den Ereignissen in unserer Kammer, von der Gelegenheit, die sich zu bieten schien, den Wagenkasten in unseren Besitz zu bringen. Ich erzählte, wie Morrison und ich, mit Keulen in den Händen, auf eine Möglichkeit warteten, Thompson anzugreifen; wie diese Möglichkeit schwand; wie Morrison und ich sodann auf Deck stürzten, aber erkannten, daß es schon zu spät war, Kapitän Bligh zu begleiten. »Mylord und ihr Herren vom Gericht«, schloß ich, »es ist ein schweres Unglück für mich, daß die drei Männer tot sind, deren Aussagen die Wahrheit meiner Behauptung unwiderleglich beweisen würden. John Norton, der von Christians Absicht, die Bounty in der Nacht vor der Meuterei zu verlassen, wußte und der das kleine Floß für ihn zimmerte, ist tot. Herr Nelson starb in Batavia, und Robert Tinkler, der mein Gespräch mit Christian anhörte, ist ein Opfer des Meeres geworden. Da mir die Aussagen dieser drei Männer fehlen, kann ich Sie nur beschwören, mir zu glauben. Mein guter Name ist mir so wichtig wie mein Leben, und ich bitte Sie, Mylord und ihr Herren, die Lage, in der ich mich befinde, zu berücksichtigen; daran zu denken, daß ich jener Zeugen beraubt bin, deren Aussage Sie mit unbedingter Gewißheit von der
Wahrheit meiner Darstellung überzeugt haben würde. Ich überantworte mich der Gnade dieses Hohen Gerichtes!« Es war unmöglich, zu beurteilen, welchen Eindruck meine Worte auf die Richter gemacht hatten. Lord Hood hatte das Kinn in die Hand gestützt und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Ich warf einen hastigen Blick auf die anderen Richter. Zwei oder drei machten sich Aufzeichnungen. Ein Kapitän mit knochigem, bleichem Gesicht saß wie schlafend da. Während der ganzen Verhandlung hatte er seine Stellung nicht verändert und den Eindruck völliger Teilnahmslosigkeit nicht abgelegt; und dennoch war er einer der eifrigsten Fragesteller. Nicht ein einziges Mal hob er den Blick vom Tisch, so als sei der aussagende Zeuge oder Angeklagte dort angenagelt. Ein anderer, den ich besonders fürchtete, saß Stunde um Stunde bewegungslos wie eine Bronzestatue da. Nur seine Blicke schossen wie Degenstöße hin und her. Als ich geendet hatte, war der Blick dieses Kapitäns einen Augenblick auf mich gerichtet und jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich erinnerte mich an die Worte, die Dr. Hamilton zu mir gesprochen hatte: »Jeder der Kapitäne, die über Sie zu Gericht sitzen werden, wird sich denken: Das ist genau die Erzählung, die ein schlauer Kadett, der sein Leben retten will, erfinden würde.« Ich fühlte mich körperlich und geistig unendlich müde. Dann sah ich, wie Sir Joseph mich in seiner gütigen Art anschaute, als wolle er sagen: Nur nicht den Mut verlieren, Junge! Sein Blick gab mir neuen Mut und neue Kraft. »Mylord«, sagte ich, »darf ich nun meine Zeugen aufrufen?«
Lord Hood nickte. Der Waffenmeister ging zur Tür und
rief: »John Fryer!« Der Schiffer der Bounty trat vor den
Richtertisch, wurde aufs neue vereidigt und erwartete
meine Fragen.
Ich: »Hielten Sie die Leute, die halfen, die Barkasse
hinabzulassen, für Anhänger Kapitän Blighs oder der
Meuterer?«
Fryer: »Die, welche keine Waffen trugen, hielt ich für
Anhänger Kapitän Blighs.«
Ich: »Wie viele Personen, Kapitän Bligh inbegriffen,
waren im Boot?«
Fryer: »Neunzehn.«
Ich: »Hätte das Boot mehr Personen aufnehmen
können?«
Fryer: »Meiner Ansicht nach nicht eine einzige mehr,
ohne das Leben aller anderen zu gefährden.«
Ich: »Sahen Sie mich während der Meuterei ein einziges
Mal bewaffnet?«
Fryer: »Nein.«
Ich: »Sprach Kapitän Bligh am Morgen der Meuterei
auch nur ein einziges Mal mit mir?«
Fryer: »Meines Wissens nicht.«
Ich: »Habe ich an jenem Morgen ein unwürdiges
Benehmen zur Schau getragen?«
Fryer: »Durchaus nicht.«
Ich: »Sahen Sie während der Meuterei Herrn Hayward
auf Deck?«
Fryer: »Ja, mehrmals.«
Ich: »In welchem Gemütszustand befand er sich?«
Fryer: »Er war äußerst erregt und verängstigt und weinte,
als man ihn zwang, das Boot zu besteigen.«
Ich: »In welchem Zustande befand sich Herr Hallet?«
Fryer: »Er hatte große Angst und weinte, als er das Boot
bestieg.«
Ich: »Was hatte ich auf der Bounty im allgemeinen für
einen Ruf?«
Fryer: »Einen ausgezeichneten. Alle brachten ihm
höchste Achtung entgegen.«
Der Gerichtshof: »Hat Kapitän Bligh jemals während
Ihrer Fahrt nach Timor von dem Angeklagten Byam
gesprochen?«
Fryer: »ja, mehr als einmal.«
Der Gerichtshof: »Können Sie sich daran erinnern, was
er sagte?«
Fryer: »Am Tage nach der Meuterei hörte ich Herrn
Bligh sagen: »Byam ist ein undankbarer Schurke; neben
Christian der schlimmste von allen.« Dieser Meinung gab
er dann noch wiederholt Ausdruck.«
Der Gerichtshof: »Versuchte irgend jemand im Boot,
Byam zu verteidigen?«
Fryer: »Ja, ich und verschiedene andere. Aber Kapitän
Bligh hieß uns schweigen. Er erlaubte nicht, daß etwas
zugunsten Byams gesagt wurde.«
Der Gerichtshof: »Hörten Sie je Robert Tinkler ein
Gespräch erwähnen, das in der Nacht vor der Meuterei
zwischen Christian und Byam stattgefunden hat?«
Fryer: »Dessen kann ich mich nicht entsinnen.«
Der Gerichtshof: »Verteidigte Tinkler Byam?«
Fryer: »Ja, mehrere Male. Er glaubte nicht an Byams
Schuld.«
Der Gerichtshof: »Tinkler war Ihr Schwager?«
Fryer: »Ja.«
Der Gerichtshof: »Er hat auf See sein Leben eingebüßt?«
Fryer: »Er wurde ebenso wie die übrige Besatzung des
Schiffes Carib Maid als vermißt gemeldet.«
Cole, der Bootsmann, wurde als nächster aufgerufen; dann Herr Purcell. Ich stellte an diese beiden die gleichen Fragen wie an den Schiffer. Keiner von beiden konnte sich erinnern, daß Tinkler meiner Unterhaltung mit Christian Erwähnung getan hätte. Ich hoffte, daß Herr Peckover, der Konstabler und Offizier der mittleren Wache, einen Teil dieses Gespräches mit angehört hätte, aber er konnte nur aussagen, daß er Christian und mich während seiner Wache auf dem Quarterdeck in ein Gespräch vertieft gesehen habe. Der Gerichtshof: »Haben Sie während Ihrer Wache in jener Nacht Norton gesehen?« Diese Frage stellte Sir George Montague, der Kapitän der Hector. Ich weiß nicht, weshalb mir diese Frage nicht eingefallen war und warum Herr Graham mich nicht darauf hingewiesen hatte. Nun erkannte ich sogleich, wie wichtig diese Frage war. Peckover: »Ja, ich sah Norton gegen zwei Uhr.« Der Gerichtshof: »Bei welcher Gelegenheit?« Peckover: »Ich hörte ein Hämmern und sah nach, was dieses Geräusch zu bedeuten habe. Ich fand Norton mit einer Arbeit beschäftigt und fragte ihn, was ihm einfiele, mitten in der Nacht zu arbeiten. Er antwortete, daß er einen Stall für die Hühner baue, die wir von den Wilden auf Namuka gekauft hatten.« Der Gerichtshof: »Sahen Sie, woran er arbeitete?« Peckover: »Nicht genau. Dazu war es zu dunkel.« Der Gerichtshof: »War eine solche Arbeit nicht Sache der Zimmerleute?« Peckover: »Ja; aber es kam nicht selten vor, daß Norton ihnen half, wenn die Zimmerleute viel zu tun hatten.« Der Gerichtshof: »Halten Sie es für möglich, daß der Quartiermeister an einem kleinen Floß arbeitete?«
Peckover: »Ja, das wäre denkbar. Aber es war, wie erwähnt, dunkel, und ich sah mir den Gegenstand nicht genau an.« Hier war endlich ein schwacher Hoffnungsstrahl für mich; die einzige Aussage, die meine Behauptung, Christian habe mit Hilfe Nortons das Schiff verlassen wollen, etwas glaubwürdiger erscheinen ließ. Der nächste Zeuge war Hayward, aber sosehr ich auch in ihn drang, wollte er nicht bezeugen, daß Tinkler in der Nacht vor der Meuterei mit mir in die Kammer gekommen sei. Und doch mußte er gehört haben, wie wir einander gute Nacht wünschten. Hallet blieb bei seiner Behauptung, ich hätte gelacht und mich abgewandt, als Kapitän Bligh zu mir gesprochen habe. Sodann wurde Morrison aufgerufen. Er war ruhig und selbstsicher. Seine Darstellung der Ereignisse war vollkommen klar, folgerichtig und, wie mir schien, durchaus überzeugend. Seine Aussage wurde von den Zeugen in allen Punkten bestätigt. Hallet und Hayward blieben zwar zunächst dabei, daß sie ihn bewaffnet gesehen hätten, aber er zwang sie, zuzugeben, daß sie sich geirrt haben könnten. Nun trat eine Pause ein. Um ein Uhr wurde die Verhandlung wiederaufgenommen. Normans, McIntoshs und Byrnes Unschuld war bereits klar erwiesen; ihre Verteidigungsreden waren demgemäß kurz. Burkitt, Millward und Muspratt kamen als nächste daran. Die Schuld der beiden ersteren war so offensichtlich, daß sie nur wenig zu ihrer Entlastung vorbringen konnten. Beide hatten sich den Meuterern von Anfang an freiwillig angeschlossen. Der letzte, der vernommen wurde, war Ellison. Er hatte seine Verteidigungsrede selbst aufgesetzt, und Kapitän Bentham hatte nichts
daran geändert; er glaubte, daß die naive, kindliche Art,
in der Ellison seine Handlungen erklärte, ihm am ehesten
die Gnade der Richter verschaffen könne.
Inzwischen war es vier Uhr nachmittags geworden. Die
Verhandlung wurde vertagt; wir wurden an Bord der
Hector zurückgebracht, um das Urteil zu erwarten.
24
Der 18. September 1792 war ein richtiger englischer Herbsttag; grau war die See und grau der Himmel. Erst als wir auf dem Deck der Duke den Beginn der Verhandlung erwarteten, drang die Sonne durch die Wolken. Als ich einen Blick auf die versammelten Zuschauer warf, schlug mein Herz plötzlich schneller. Ich hatte Herrn Erskine, den Rechtsfreund meines verstorbenen Vaters, erblickt. Der Anwalt, der bereits ein Siebziger war, hatte uns oft in Withycombe besucht, und wenn ich als Knabe zuweilen meinen Vater nach London begleiten durfte, pflegte mir Herr Erskine die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt zu zeigen. Ich war, zum ersten Male seit Beginn der Gerichtsverhandlung, tief erschüttert und bemerkte, daß auch der alte Herr nur mühsam seine Bewegung verbarg. Seine Beziehungen zu meiner Familie waren so eng, daß er mir wie ein wahrer, zärtlich geliebter Verwandter erschien. Nun wurde die Tür der großen Kajüte geöffnet, und die Zuschauer strömten hinein; die Angeklagten folgten. Wir erhoben uns, als die Richter ihre Plätze einnahmen. Der Waffenmeister rief: »Roger Byam!« Ich erhob mich. Der Vorsitzende fragte: »Haben Sie noch etwas zu Ihrer Verantwortung zu sagen?« »Nein, Mylord.« Die gleiche Frage wurde an jeden von uns gerichtet. Dann mußten die Zuschauer den Raum verlassen. Auch wir wurden hinausgeführt; die Tür der großen Kajüte schloß sich hinter uns. Man eskortierte uns auf das Vorderdeck, während die Zuschauer in Gruppen auf dem
Quarterdeck standen oder plaudernd auf und ab gingen. Wir konnten von dem, was sie sprachen, nichts hören; Schweigen schien sich auf das ganze Schiff gesenkt zu haben. Matrosen gingen ihren täglichen Verrichtungen nach, aber sie vollführten sie auf seltsam lautlose Weise, wie in einer Kirche. Herr Graham hatte mir gesagt, daß ich mein Schicksal sogleich beim Eintritt in den Verhandlungsraum erkennen könne. Ein Degen werde vor dem Vorsitzenden auf dem Tische liegen. Läge er quer, so hätte das zu bedeuten, daß ich freigesprochen sei. Würde hingegen seine Spitze mir zugewandt sein, so sei ich verurteilt worden. Eine seltsame Gleichgültigkeit hatte mich erfaßt. Ich befand mich in einem Zustande der Erstarrung; nur wirre, zusammenhanglose Bilder tauchten in meinem Bewußtsein auf, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Als die große Kajüte geräumt worden war, mochte es halb zehn gewesen sein. Als ich aus meinem der Bewußtlosigkeit ähnlichen Zustande erwachte, hörte ich die Schiffsglocke ein Uhr schlagen. Die Wolken waren verschwunden, der Himmel war hellblau, heller Sonnenschein strahlte auf das Deck des Kriegsschiffes herab. Die großen Kanonen sahen in diesem Licht wie verzaubert aus, und die Männer auf dem Quarterdeck in ihren vielfarbigen Uniformen glichen eher Figuren aus einer romantischen Erzählung als Offizieren der Marine Seiner Majestät. Endlich wurde die Tür zur großen Kajüte wieder geöffnet. Der Waffenmeister hieß die Zuschauer eintreten; dann hörte ich meinen Namen rufen. Der Klang der Silben
erschien mir so fremd, als vernähme ich meinen Namen zum erstenmal. Ein Leutnant mit gezogenem Säbel und vier Leute mit aufgepflanztem Bajonett begleiteten mich. Jetzt stand ich vor dem Richtertisch. Die Spitze des Degens, der vor dem Vorsitzenden lag, war gegen mich gerichtet. Der Gerichtshof erhob sich. Lord Hood blickte mich einen Augenblick lang schweigend an. Dann sprach er: »Roger Byam! Wir haben die Beschuldigungen, die gegen Sie erhoben wurden, gehört. Wir haben auch gehört, was Sie zu Ihrer Verteidigung vorgebracht haben. Nachdem wir reiflich und sorgsam Anklage und Verteidigung gegeneinander abgewogen haben, sind wir zu dem Schlusse gelangt, daß Sie des Ihnen zur Last gelegten Verbrechens schuldig sind. Dieses Gericht verurteilt Sie deshalb zum Tode durch den Strang. Das Urteil wird an Bord eines Kriegsschiffes Seiner Majestät vollstreckt werden, zu einer Zeit, die Ihnen von den Kommissären der Admiralität von Großbritannien und Irland in einem mit eigener Hand unterzeichneten Schreiben bekanntgegeben wird.« Ich wartete auf etwas, das noch kommen werde, und wußte gleichzeitig, daß nichts mehr kommen werde. Dann drang eine Stimme an mein Ohr: »Der Verurteilte ist hinauszuführen.« Ich wurde zu den anderen zurückgeführt. In diesem Augenblick empfand ich kaum etwas anderes als Erleichterung darüber, daß das qualvolle Warten zu Ende sei. Offenbar verriet meine Miene den anderen nichts, denn Morrison fragte: »Nun, Byam?« »Ich werde gehängt«, sagte ich; niemals werde ich den Ausdruck des Schreckens auf Morrisons Antlitz vergessen. Er hatte keine Zeit, eine Bemerkung zu machen, denn gleich
darauf wurde er vorgerufen. Wir sahen, wie die Tür des Verhandlungsraumes sich hinter ihm schloß. Coleman, Norman, McIntosh und Byrne standen in einer Gruppe beisammen, während die anderen näher zu mir kamen, wie zu gegenseitigem Schutz und Trost. Ellison berührte meinen Arm und lächelte mir stumm zu. Die Tür öffnete sich aufs neue; Morrison wurde zu uns zurückgeführt. Sein Gesicht war bleich, aber er beherrschte sich vollkommen. Bitter lächelnd sagte er zu mir: »Wir müssen das Leben genießen, solange wir können, Byam.« Einen Augenblick später fügte er leise hinzu: »Ich wünschte bei Gott, meine Mutter wäre auch tot.« Ich spürte heilsamen Grimm in mir aufsteigen. Morrison war ohne Zweifel nur auf die Aussage Haywards und Hallets hin verurteilt worden. Keinen Augenblick hatte ich daran gezweifelt, daß er freigesprochen werde; er selbst wahrscheinlich auch nicht. Ich fand kein Wort des Trostes für ihn. Der nächste war Coleman. Als er die Kajüte verließ, trat die Wache beiseite; Coleman verließ den Verhandlungsraum als freier Mann. Dann kamen Norman, McIntosh und Byrne an die Reihe; auch als sie herauskamen, machte ihnen die Wache Platz, und sie gesellten sich zu Coleman. Byrne schluchzte vor Freude. Der arme Bursche war beinahe blind; er tastete sich mit ausgestreckten Händen zu den anderen, während ihm die Tränen über das Gesicht hinabströmten. Burkitt, Ellison, Millward und Muspratt wurden in rascher Folge vorgerufen. Alle wurden schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Gleich nach dem letzten Urteilsspruch strömten die Zuschauer heraus. Wir erwarteten, daß die Mitglieder des Gerichts ihnen folgen
würden, aber nachdem die Kajüte geräumt worden war, blieb die Tür geschlossen. Offenbar war die Verhandlung noch nicht beendet. Das Warten während der nächsten halben Stunde war kaum zu ertragen. Wieder wurden die Zuhörer eingelassen, und der Waffenmeister erschien bei der Tür. »James Morrison!« Morrison wurde in die Kajüte eskortiert. Als er zurückkehrte, hatte er zum ersten und einzigen Male die Fassung verloren. Er war der Gnade Seiner Majestät empfohlen worden. Das bedeutete fast mit Sicherheit seine baldige Befreiung. Einen Augenblick später kam Lord Hood, gefolgt von den Richtern, heraus. Die Kriegsgerichtsverhandlung war zu Ende. Wir wurden in das Boot eskortiert, das bereitlag, um uns auf die Hector zurückzubringen. Unmittelbar daneben lag ein anderes Boot. In diesem waren keine Marinesoldaten, nur sechs Matrosen an den Rudern. Wir stießen ab; gleich darauf sahen wir die Freigesprochenen die Schiffswand hinabklettern. Wir winkten einander zum letzten Male zu. Ich habe keinen von ihnen wiedergesehen. Während der ganzen Dauer unserer Gefangenschaft an Bord der Hector waren wir von Kapitän Montague mit großer Freundlichkeit behandelt worden. Nun, da wir verurteilt waren, tat er gleichfalls alles Erdenkliche, um uns unsere Lage erträglich zu machen. Er wies mir die Kajüte an, die von einem augenblicklich auf Urlaub befindlichen Leutnant bewohnt wurde. Achtzehn Monate lang war ich nicht mehr allein gewesen, so daß ich diese Gunst ihrem vollen Werte nach zu schätzen wußte. Zweimal täglich durfte ich meine Mitgefangenen im Kanonenraum besuchen.
Sir Joseph Banks war feinfühlend genug, mich erst am zweiten Tage nach meiner Verurteilung zu besuchen. Er drückte mir lange die Hand, dann nahm er dem Matrosen, der ihn begleitet hatte, ein umfangreiches Paket ab. Er begann, es von seiner Hülle zu befreien, und sagte dann: »Ich habe Ihnen einen alten Freund und Begleiter gebracht. Erkennen Sie ihn?« Es war das Manuskript meines Wörterbuches und meiner Grammatik. »Gestatten Sie mir folgende Bemerkung«, fuhr er fort. »Ich habe Ihre Manuskripte mit großem Interesse durchgesehen und kenne die Sprache von Tahiti gut genug, um die Qualität Ihrer Arbeit zu würdigen. Sie ist ausgezeichnet, Byam; genau das, was benötigt wird. Nun sagen Sie mir eines: Wie lange würden Sie brauchen, um die Manuskripte druckfertig zu machen?« »Wollen Sie damit sagen, daß ich hier daran arbeiten darf?« »Würden Sie das gerne tun?« »Nichts würde mir mehr Freude machen, Sir«, entgegnete ich. »Ich gebe mich keinen Illusionen über den Wert dieser Arbeit ...« »Doch, sie ist wertvoll, lieber Freund«, unterbrach er mich. »Glauben Sie nicht, daß ich die Manuskripte nur Ihnen zuliebe mitgebracht habe. Diese Aufgabe muß beendet werden. Die Royal Society ersuchte mich, eine einführende Studie zu diesem Werke zu schreiben, in der insbesondere die Unterschiede zwischen dieser Sprache und allen europäischen Sprachen herausgearbeitet werden sollen. Aber nur Sie können diese Studie schreiben.« »Ich würde es gerne versuchen«, entgegnete ich, »falls genügend Zeit vorhanden ist...« »Könnten Sie in einem Monat damit fertig sein?«
»Ich glaube wohl.« »Dann sollen Sie diesen Monat haben! Ich verfüge über genug Einfluß bei der Admiralität, um Ihnen das versprechen zu können.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ziehen Sie es vor, von den ... Ereignissen der letzten Wochen nicht zu sprechen?« »Das macht mir nichts, Sir. Wenn Sie mir etwas zu sagen wünschen ...« »Nur eines, Byam. Es ist unnötig, Ihnen etwas über meine Gefühle zu sagen. In der Geschichte der Marine Seiner Majestät hat es niemals einen tragischeren Justizirrtum gegeben. Ich begreife, daß Sie sehr verbittert sein müssen. Wissen Sie, weshalb Sie verurteilt wurden?« »Ich glaube es zu wissen, Sir.« »Das Gericht hatte keine andere Wahl, Byam. Alles, was zu Ihren Gunsten sprach, war kein genügendes Gegengewicht gegen Blighs Aussage, Sie hätten gemeinsam mit Christian die Meuterei geplant. Nur Tinkler hätte diese Beschuldigung entkräften können. Ohne seine Aussage ...« »Ich verstehe, Sir. Wir wollen nicht weiter darüber sprechen. Für einen wahrhaft tragischen Justizirrtum halte ich das Urteil gegen den armen Muspratt. Er hat die Muskete wirklich nur entgegengenommen, um Fryer bei der Wiedereroberung des Schiffes zu helfen. Als sich dies als unmöglich erwies, warf er sie sogleich weg.« »Ich teile Ihre Ansicht vollkommen, und Sie werden sicherlich gerne hören, daß für Muspratt noch Hoffnung besteht. Sagen Sie dem armen Burschen nichts davon, aber ich weiß aus guter Quelle, daß Aussicht auf seine Begnadigung besteht.«
Diese Septembertage waren die schönsten, deren ich mich entsinnen kann. Ein durchsichtiger Dunstschleier hing vor der Sonne; goldener Nebel veränderte und verschönte das Aussehen aller Dinge. Da ich wußte, wie wenig Zeit mir verblieb, schien mir nichts des Interesses und der Beachtung unwürdig. Sogar die gewöhnlichen Gegenstände in meiner kleinen Kajüte, den Tisch und das Tintenfaß darauf, fand ich in der wechselnden Beleuchtung der Tageszeiten schön, und ich wunderte mich darüber, daß ich solche Dinge bisher nie bemerkt hatte. Ich war in diesen Tagen nicht völlig unglücklich. Ein Mensch, der weiß, daß er bald sterben wird, daß sein Schicksal besiegelt und unabänderlich ist, scheint von der Natur mit der Gabe verminderten Bewußtseins ausgestattet zu werden. Das Ende muß kommen, und doch bleibt einem die Erkenntnis während langer Stunden gnädig erspart. Freilich gab es, insbesondere bei Nacht, auch Zeiten, wo unsägliche Angst mir ans Herz griff. Dann spürte ich den Strick um meinen Hals, sah die Gesichter der Matrosen, die das Urteil vollstrecken mußten, vor mir, hörte die letzten Worte, die jemals an mein Ohr dringen würden: »Gott sei deiner armen Seele gnädig.« In solchen Stunden betete ich innerlich um die Standhaftigkeit, den letzten Augenblick gefaßt zu ertragen. Von den anderen Verurteilten ertrug Ellison das grausame Warten am besten. Er hatte seinen früheren Frohsinn verloren, aber an seine Stelle war ein stiller Mut getreten, der Bewunderung verdiente. Burkitt begann immer mehr einem gefangenen Raubtier zu gleichen. Stundenlang ging er im Kanonenraum auf und ab, stets mit dem gleichen Ausdruck verwirrter Ungläubigkeit. Er
hatte den mächtigen Brustkasten eines Wikingers und riesige Gliedmaßen. Menschen von solch gewaltiger Lebenskraft glauben nicht an den Tod, solange er nicht da ist. Selbst jetzt schien Burkitt noch nicht die Hoffnung aufgegeben zu haben. Gab es nicht die Möglichkeit, zu entfliehen? Ohne Unterlaß ruhten die Augen der Wachen auf ihm. Miliward und Muspratt waren in dumpfe Teilnahmslosigkeit verfallen und sprachen selten zu jemand. Niemand wußte, an welchem Tage die Hinrichtung stattfinden würde. Am schlimmsten mußte diese Zeit des lähmenden Wartens für Morrison sein. Ein Tag verging nach dem anderen, und die Begnadigung kam nicht, aber Morrison war so ruhig wie immer und unterhielt sich mit mir über meine Arbeit, als interessiere er sich für nichts anderes auf der Welt. Herr Graham verabschiedete sich von mir, ehe er Portsmouth verließ; wenn er es mir auch nicht geradeheraus sagte, so gab er mir doch zu verstehen, daß ich nicht auf eine Begnadigung rechnen dürfe. Am nächsten Nachmittag kam Herr Erskine, mit dem ich meine irdischen Geschäfte ordnete und mein Testament machte. Mein einziger lebender Verwandter war ein Vetter mütterlicherseits, ein fünfzehnjähriger Junge, der in Indien lebte. Der Gedanke schien mir seltsam, daß unser altes Heim in Withycombe einem Knaben zufallen werde, den ich nie gesehen hatte. Ich weiß nicht, wie ich diese Tage ohne meine Arbeit ertragen hätte. Jede der Manuskriptseiten strömte Erinnerungen an Tahiti, an Tehani und unsere kleine Heien aus. Manche Seiten waren von dem Kind zerrissen oder zerknittert worden; deutlich hörte ich die Stimme seiner Mutter, wie sie der Kleinen das Buch rasch
wegnahm und sie liebevoll schalt: »Warte, du böses Kind! So hilfst du deinem Vater?« Am 25. Oktober war ich gerade damit beschäftigt, die Einleitungsstudie zum vierten oder fünften Male durchzusehen, als es klopfte. Das jagte mir sonst stets den Angstschweiß auf die Stirn, aber diesmal hörte ich sogleich eine wohlbekannte Stimme: »Sind Sie hier, Byam?« Ich öffnete, und Dr. Hamilton trat ein. Ich hatte ihn seit dem letzten Verhandlungstage nicht mehr gesehen. Er teilte mir mit, daß er zum Arzt des Schiffes Spitfire ernannt worden sei, am folgenden Tage nach Neufundland abreise und gekommen sei, um sich von mir zu verabschieden. Wir plauderten über die Pandora, den Schiffbruch, die Reise nach Timor und die beiden herzlosen Unmenschen Edwards und Parkin. Dr. Hamilton freilich fand selbst für Edwards ein gutes Wort. Er betrachtete den Kapitän nicht als Ungeheuer, sondern als einen beschränkten Paragraphenmenschen, der nur den Wortlaut, nicht aber den Geist des Gesetzes begriff. »Ich fürchte, Sir«, meinte ich, »daß ich mich dieser milden Auffassung nicht anschließen kann. Ich habe durch ihn zu viel gelitten.« »Ich begreife Sie vollkommen, Byam. Sie haben ...« Noch ehe der Arzt den Satz beendet hatte, wurde die Tür aufgerissen, und Sir Joseph trat ein. Er atmete schwer, als sei er gelaufen, und schien aufs höchste erregt. »Byam, lieber junger Freund!« Er brach ab, außerstande, weiterzusprechen. Ich spürte eisige Kälte mein Herz durchströmen. »Nein ... warten Sie ... Es ist nicht, was Sie glauben ...« Er kam auf mich zu und faßte mich bei der Schulter.
»Byam ...! Tinkler lebt ...! Ich habe ihn gefunden ... er ist in London!« »Setzen Sie sich, Junge«, sagte Dr. Hamilton. Es bedurfte der Aufforderung nicht. Meine Beine waren so schwach, als wäre ich monatelang im Bett gelegen. Der Arzt zog eine kleine Flasche aus der Tasche und reichte sie mir. Sir Joseph setzte sich auf den Stuhl bei meinem Tisch und wischte sich mit einem großen seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Wollen Sie auch mir Ihre Arznei verschreiben, Doktor?« fragte er nach Atem ringend. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ich, ihm die Flasche reichend. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Byam!« rief Sir Joseph. »Not kennt kein Gebot.« Er tat einen kräftigen Schluck und gab dann die Flasche dem Arzt zurück. »Ich bin so rasch von London hergeeilt, als mich eine schnelle Kutsche trug, Byam. Gestern blickte ich beim Frühstück in die Times. Ganz zufällig sah ich eine Nachricht, daß das Kauffahrteischiff Saphire mit den Überlebenden des untergegangenen Schiffes Carib Maid im Londoner Hafen eingetroffen sei. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich mein Frühstück nicht beendete. Als ich zum Hafen kam, erfuhr ich, daß die Leute von der Carib Maid schon am Abend vorher an Land gegangen seien. In einer nahe gelegenen Herberge stöberte ich sie auf. Tinkler befand sich darunter; er wollte sich gerade auf den Weg zu seinem Schwager Fryer machen. In seinen ihm von Matrosen der Saphire geschenkten Kleidern sah er auch wie ein richtiger Schiffbrüchiger aus. Ich packte ihn, schleppte ihn zu meinem Wagen und fuhr sogleich mit ihm zu Lord Hood. Tinkler war natürlich unsäglich verwundert. Ich klärte ihn nicht mit
einem Wort darüber auf, wozu ich ihn brauchte. Um halb elf war ich mit Lord Hood bei der Admiralität. Zwischen uns saß Tinkler noch geradeso gekleidet, wie er angekommen war; in einer Matrosenbluse und Schuhen, die ihm dreimal zu groß waren. Nun wird folgendes geschehen: Tinkler wird von den Kommissären der Admiralität verhört werden, die allein dazu berechtigt sind. Er hat keine Ahnung von dem Kriegsgericht und glaubt, Sie seien zehntausend Meilen von London entfernt. Ich ließ ihn in der Admiralität und eilte, so rasch ich konnte, nach Portsmouth.« Ich konnte kein Wort hervorbringen. Wie ein Stummer starrte ich Sir Joseph an. »Wird das Kriegsgericht neuerdings zusammentreten?« erkundigte sich Dr. Hamilton. »Das ist unmöglich und auch ganz unnötig. Die Kommissäre, die Tinkler verhören, dürfen, falls eine neue Zeugenaussage dies rechtfertigt, das Urteil des Kriegsgerichtes umstoßen und Byam von aller Schuld freisprechen. Ich hoffe, daß sie ihre Entscheidung in wenigen Tagen treffen werden.« »Mein Schiff segelt morgen ab«, warf Dr. Hamilton bedauernd ein. »Ich muß England verlassen, ohne Ihr Schicksal zu kennen, Byam.« »Vielleicht ist es besser so«, sagte ich leise. Sir Joseph blickte mich auf einmal beinahe entsetzt an. »Ich fürchte, Byam, daß ich einen unverzeihlichen Fehler gemacht habe! Diese Erkenntnis kommt mir erst jetzt! Großer Gott, was habe ich getan? Ich hätte Ihnen nichts von alledem sagen sollen, ehe die Kommissäre ihr Urteil gefällt haben!« »Machen Sie sich darob keine Sorgen, Sir«, entgegnete ich. »Sie haben mir Grund zur Hoffnung gegeben. Wenn
die Hoffnung sich nicht erfüllen wird, werde ich Ihnen nicht weniger dankbar sein.« »Ist das auch wirklich wahr?« »Ja, Sir.« Er warf mir einen scharfen, prüfenden Blick zu. »Ich sehe, daß es wahr ist. Und ich bin froh, gekommen zu sein.« Er erhob sich. »Nun muß ich Sie aber verlassen, ich fahre sofort nach London zurück, um die Sache so sehr wie möglich zu beschleunigen.« Er reichte mir die Hand. »Wenn ich gute Nachrichten für Sie haben werde, lasse ich sie Kapitän Montague durch einen reitenden Boten übermitteln. Und ich verspreche Ihnen, daß dieser Bote das schnellste Pferd bekommen soll, das je von London nach Portsmouth galoppiert ist!«
25
Sir Joseph Banks nahm meine fertiggestellten Manuskripte mit nach London. Nun, da ich meine Arbeit beendet hatte, bat ich um die Erlaubnis, wieder im Kanonenraum untergebracht zu werden. Das zermürbende Warten war in Gesellschaft weniger schwer zu ertragen. Ich berichtete nur Morrison von Tinklers Rückkehr; es wäre grausam gewesen, Menschen, die aller Hoffnung beraubt waren, etwas davon zu erzählen. Morrisons Bibel wurde in diesen letzten Tagen eine Quelle des Trostes für uns alle. Es war dieselbe Bibel, die er auf die Bounty mitgenommen und selbst während des Schiffbruches der Pandora bewahrt hatte. Wir lasen Stunde um Stunde abwechselnd daraus vor, um unsere Gedanken von dem abzulenken, was bald kommen würde. Millward und Muspratt hatten sich aus ihrer verzweifelten Stimmung aufgerafft; Ellison hatte nicht einen Augenblick den Mut verloren. Nur Burkitt blieb der gleiche, der er seit der Verkündung des Urteils gewesen war. Am Sonntag las gerade Morrison vor. Es war ein kalter, regnerischer Tag; Morrison saß bei einer der Luken und hielt das Buch in Gesichtshöhe, um besser lesen zu können. Mit Ausnahme von Burkitt, der, wie sonst, ruhelos im Räume auf und ab ging, hatten wir uns alle um ihn versammelt und lauschten dem schönsten aller Psalmen: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!« Plötzlich hielt er mitten in einem Satz inne und wandte den Kopf der Tür zu. Soweit ich mich erinnern kann, hatten wir nichts gehört, kein Geräusch, keine Stimme, keine Schritte, und dennoch erhoben wir uns gleichzeitig
und standen wartend da, die Augen zur Tür gerichtet. Diese wurde geöffnet, und ein Leutnant trat ein, gefolgt von dem Waffenmeister und acht Marinesoldaten. Es war inzwischen fast völlig dunkel geworden; wir konnten kaum die Gesichter der Männer, die eingetreten waren, erkennen. Der Waffenmeister ging zur Luke und las von einem Papier die Namen ab: »Thomas Burkitt - John Millward - Thomas Ellison.« »Die genannten Häftlinge - vortreten!« kommandierte der Leutnant. Die drei Männer versammelten sich in der Mitte des Raumes. Blitzschnell wurden ihnen Handschellen angelegt; vier Soldaten nahmen vor ihnen, vier hinter ihnen Aufstellung. »Vorwärts, marsch!« Sie waren verschwunden, ohne daß ein Abschiedswort gefallen wäre. Morrison, Muspratt und ich blieben regungslos stehen, bis die Tür wieder geschlossen und verriegelt worden war. Als wir ein wenig später durch die Luken spähten, sahen wir im schwachen Lichte der Dämmerung, wie ein Boot von dem Schiff abstieß und auf das wenige hundert Meter entfernt vor Anker liegende Kriegsschiff Brunswick zusteuerte. Die drei gefesselten Männer standen im hinteren Teil des Bootes. Während der folgenden Nacht versuchten wir gar nicht, zu schlafen. Wir saßen bei einer der Luken, blickten zuweilen in die Dunkelheit hinaus und sprachen mit leiser Stimme über die Männer, die nicht mehr bei uns waren. Wir wußten, daß dies die letzte Nacht ihres Lebens sei. Mein Mitgefühl wandte sich dem armen Muspratt zu, dessen Herzensangst man sich vorstellen kann. Selbst jetzt wagte ich es nicht, ihm mitzuteilen, daß, wie mir Sir Joseph gesagt hatte, noch Hoffnung für ihn
vorhanden sei; aber ich war froh darüber, daß ihm Morrison Mut zusprach. »Du wirst bestimmt zur Begnadigung vorgeschlagen werden«, sagte er. »Ich habe nie daran gezweifelt. Daß man uns hier zurückgelassen hat, kann gar nichts anderes bedeuten.« »Wie denken Sie darüber, Herr Byam?« fragte Muspratt angstvoll. »Morrison hat bestimmt recht«, antwortete ich. »Er wurde der Gnade des Königs empfohlen. Uns beide hat man mit ihm hier zurückgelassen. Begreifst du, Muspratt? Wenn wir gehenkt werden sollten, hätte man uns mit den anderen auf die Brunswick gebracht.« So redeten wir während der ganzen langen Nacht. Die Minuten und Stunden schleppten sich mit unendlicher Langsamkeit hin, bis wir schließlich im grauen Frühlicht die Umrisse der Brunswick deutlicher und immer deutlicher erkennen konnten. Unsere Wache wurde gewechselt, aber es kam keine Nachricht. Um neun Uhr wandte sich Morrison, der Ausschau hielt, um und sagte: »Auf der Brunswick wurde das Signal für eine Urteilsvollstreckung aufgezogen.« Auf allen britischen Schiffen ist elf Uhr vormittags die Stunde des Urteilsvollzuges. Wir wußten, daß Ellison, Burkitt und Millward nur noch zwei Stunden zu leben hatten. Um halb elf verließ ein mit Matrosen bemanntes Boot unser Schiff und steuerte der Brunswick zu. Boote von den anderen im Hafen liegenden Kriegsschiffen folgten; wir begriffen, daß die Leute dorthin gesandt wurden, um der Hinrichtung beizuwohnen. Muspratt starrte durch die Luke, wie gebannt von dem Anblick der Brunswick.
Morrison und ich gingen auf und ab; wir unterhielten uns in der Eingeborenensprache von Teina, Hitihiti und den anderen Freunden in Tahiti, in einer verzweifelten Bemühung, unsere Gedanken von dem Schrecklichen abzulenken. Es war beinahe elf Uhr, als Kapitän Montague eintrat, gefolgt von dem Leutnant, der am Abend vorher bei uns gewesen war. Ein Blick auf das Antlitz des Kapitäns lehrte uns alles, was wir zu wissen brauchten; der letzte Zweifel wurde zerstreut, als der Leutnant den Wachen befahl, abzutreten. Die Leute gingen, uns freundlich anlächelnd, hinaus. Kapitän Montague entfaltete das Dokument, das er in der Hand hielt. »James Morrison, William Muspratt«, sagte er. Die beiden traten vor. Kapitän Montague warf ihnen über den Rand des Papieres weg einen gütigen Blick zu und las dann in feierlichem Tone folgendes vor: »Auf Antrag Lord Hoods, Vorsitzenden des Kriegsgerichtes, welches euch des Verbrechens der Meuterei schuldig befunden und euch aus diesem Grunde zum Tode verurteilt hat, hat Seine Majestät der König infolge der obwaltenden mildernden Umstände verfügt, daß das Todesurteil nicht an euch zu vollstrecken sei. Seine Majestät der König hat gnädigst geruht, euch zu begnadigen und euch die Freiheit wiederzugeben.« »Roger Byam!« Ich stellte mich neben meine beiden Kameraden. »Die Kommissäre der Admiralität von Großbritannien und Irland haben die beschworene Zeugenaussage Robert Tinklers, vormals Kadett auf Seiner Majestät bewaffnetem Transportschiff Bounty, angehört und zur Kenntnis genommen. Sie haben die Überzeugung gewonnen, daß Sie an dem Verbrechen der Meuterei, um
dessentwillen Sie zum Tode verurteilt wurden, völlig unschuldig sind. Die Kommissäre heben deshalb das Urteil des Kriegsgerichtes, soweit es Ihre Person betrifft, auf. Roger Byam, Sie sind freigesprochen.« Kapitän Montague trat vor und schüttelte jedem von uns warm die Hand. »Ich zweifle nicht daran«, sagte er, »daß hiermit Seiner Majestät drei treue Untertanen zu weiterer ersprießlicher Dienstleistung zurückgegeben worden sind.« Mein Herz war zu voll für Worte. Ich konnte nur murmeln: »Danke, Sir!« Morrison aber wäre nicht Morrison gewesen, wenn er nicht auch auf eine solche Gelegenheit vorbereitet gewesen wäre. »Sir«, sprach er in würdigem Tone, »als das Urteil des Gerichts über mich ausgesprochen wurde, nahm ich es auf wie ein Mann. Wäre es vollstreckt worden, so hätte ich mein Schicksal erduldet, wie es einem Christen geziemt. Dankbar empfange ich die Gnade meines Herrschers und werde mein weiteres Leben in Treue seinem Dienste widmen.« Kapitän Montague verneigte sich ernst. »Sind wir jetzt frei?« fragte ich, noch immer zweifelnd. »Sie können sich sofort entfernen, wenn Sie es wünschen.« Er wandte sich an den Leutnant. »Wollen Sie dafür Sorge tragen, daß unverzüglich ein Boot bereitgemacht wird, Herr Cunningham?« Kapitän Montague begleitete uns aufs Deck; einige Minuten später erhielten wir die Mitteilung, daß uns das Boot erwarte. Als ich mich von dem Kapitän verabschiedete, sagte er: »Ich hoffe, Herr Byam, bald das Vergnügen zu haben, Sie unter erfreulicheren Umständen wiederzusehen.« Rasch kletterten wir die Schiffsseite hinab; der Kadett, der das Boot befehligte, gab Order,
abzustoßen. Die Wonne der ersten Augenblicke wiedererlangter Freiheit konnten wir nicht genießen. In
nächster Nähe ragten die hohen Masten der Brunswick in
den grauen Himmel; auf unserem Wege zum Hafen von
Portsmouth mußten wir unmittelbar unter ihrem geschnitzten, vergoldeten Heck vorbeifahren. Mit abgewendeten Gesichtern saßen wir auf unseren Plätzen.
Plötzlich zerriß ein Kanonenschuß die Stille. Unwillkürlich wandte ich den Kopf. Eine Rauchwolke
umgab das Kriegsschiff, aber als der Wind sie verteilte,
sah ich drei kleine Figuren scheinbar mitten in der Luft
hängen.
Kapitän Montague hatte mir einen Brief von Sir Joseph überreicht, den mir dieser, unmittelbar nachdem die Kommissäre ihre Entscheidung gefällt hatten, geschrieben hatte. Sir Joseph hatte Plätze in der am gleichen Abend abgehenden Postkutsche nach London für uns belegt. Das Postskriptum des Briefes lautete:
»Herr Erskine erwartet Sie in seinem Haus. Sie dürfen den alten Herrn nicht enttäuschen, Byam. Ich nehme an, daß Sie in den ersten Tagen niemanden zu sehen wünschen. Wollen Sie mir bitte eine Zeile zukommen lassen, sobald Sie mich sprechen wollen.
Ich habe Ihnen Wichtiges mitzuteilen.«
Nichts hätte Sir Joseph besser kennzeichnen können als
dieses Postskriptum. Mit allen kraftvollen Eigenschaften
eines Mannes verband er die Feinfühligkeit einer Frau.
Wir drei waren zu erschüttert, um miteinander reden zu
können. Zu weh war uns ums Herz, zu neu war uns noch
die plötzliche Änderung unseres Schicksals. Wir sahen
durch die Fenster der Kutsche auf die heimatlichen Felder hinaus, bis die Dunkelheit des Herbstabends sie unseren Blicken entzog. Mir gegenüber war ein Platz unbesetzt und blieb frei, bis wir bei Tagesanbruch London erreichten. Mir aber war, als säße während der ganzen Nacht Tom Ellison dort. Ich hörte, wie er sich mit dem alten Herrn unterhielt, der neben mir saß. »Jawohl, Sir, fünf lange Jahre sind wir von der Heimat fort gewesen. Wenn Sie jemals zur See gefahren sind, so wissen Sie, was das bedeutet... Wie, Sir ...? Nein, nein; noch viel weiter. Haben Sie je von einer Insel namens Tahiti gehört? Jawohl, dort waren wir. Wenn Sie ein Loch mitten durch die Erde graben würden, so kämen Sie gerade dort drüben heraus.« Gesetz der See ... gerecht, sicherlich! Gerecht, grausam und unversöhnlich ... Bald kam für uns drei der Abschied. Wir standen vor der Fahrkartenverkaufsstelle für die Postkutschen am Londoner »Strand« und sahen den lebhaften Verkehr der Fußgänger, Karren, Mietwagen und Equipagen an uns vorüberfluten. Morrison und ich waren mit Geld versehen, aber Muspratt, das wußten wir, hatte nicht einen Penny in der Tasche. Seine Heimat war Yarmouth, wo er mit seiner Mutter und zwei jüngeren Schwestern lebte. Morrisons Familie lebte in Nordengland. »Hör zu, Muspratt«, sagte Morrison, »wie sieht es denn bei dir mit Bargeld aus?« »Ach, ich werde mir schon helfen, Herr Morrison«, entgegnete dieser. »Ich bin schon öfters auf Schusters Rappen nach Yarmouth marschiert.« »Aber diesmal sollst du das nicht tun, wie, Byam?« »Nein, das soll er nicht!« stimmte ich herzlich bei. Jeder von uns drängte Muspratt fünf Pfund auf. Es tat uns wohl,
den Ausdruck des Staunens und der Freude in Muspratts Augen zu sehen. Wir schüttelten ihm warm die Hand, und er beeilte sich, einen Platz in der Kutsche nach Yarmouth zu belegen. An der Ecke wandte er sich noch einmal um, winkte uns zu und verschwand in der Menge. »Und wir zwei, Byam?« fragte Morrison. Ich drückte ihm stumm die Hand. »Gott segne dich, Junge«, rief er bewegt. »Wir dürfen einander niemals aus den Augen verlieren.« Einen Augenblick später war ich allein unter Fremden. Das erstemal seit fünf Jahren. Einen gütigeren, aufmerksameren Gastgeber als Herrn Erskine hätte ich mir nicht wünschen können. Er war seit langem Witwer und bewohnte mit drei ältlichen Dienstboten ein Haus auf einem stillen Platz nahe dem »Temple«. Die Stille dieses Hauses wirkte auf mein Gemüt so heilsam wie der frische Hauch des Meeres auf einen nach langer Krankheit Genesenden. Ich schlenderte durch die stillen Straßen und Höfe in der Umgebung des Temple oder saß stundenlang am Fenster meines freundlichen Zimmers und blickte auf den Platz hinaus, der im Laufe eines Nachmittags kaum von einem Dutzend Menschen betreten wurde. Ich dachte an nichts. Langsam mußte ich mich wieder an das Leben gewöhnen, ja sogar an das bloße Bewußtsein, daß mir das Dasein neu geschenkt worden war. Während dieser Zeit war ich fast so unbewegt wie die alten Bäume vor meinem Fenster, die in der schwachen Herbstsonne zarte Schatten auf den Gehsteig warfen. Eines Nachmittags hatte ich meinen gewohnten Spaziergang gemacht. Als ich um fünf Uhr zurückkam, war Herr Erskine noch nicht zu Hause, aber Clegg, sein alter Diener, empfing mich in der Halle.
»Ein Herr wartet auf Sie, Sir. Er ist in der Bibliothek.« Ich nahm drei Stufen auf einmal. Ja, dort stand Tinkler und wärmte sich am Kamin. Herr Erskine hatte an diesem Abend eine Verabredung, wenigstens ließ er mir das durch Clegg sagen; aber ich glaube, daß er sich, als er von meinem Besuch erfuhr, in sein Zimmer zurückzog, damit ich mit meinem Freund allein sein könne. Wir speisten in der Bibliothek. So viel hatten wir einander zu sagen, daß wir kaum wußten, wo wir beginnen sollten. Tinkler hatte sich von seinem Erstaunen über die Art und Weise, in der er von Sir Joseph Banks entführt worden war, noch immer nicht recht erholt. »Vergiß nicht, Byam, daß ich immer noch glaubte, du seist irgendwo in einem fremden Erdteil. Als ich von meiner ersten Westindienfahrt zurückkehrte, hörte ich nur, daß ein Schiff, die Pandora, auf die Suche nach der Bounty geschickt worden war. Als ich jetzt zum zweiten Male zurückkam, wußte ich nichts von Edwards' Heimkehr und dem Kriegsgericht. Am Abend vorher war ich in Kleidern, die mir die Leute der Saphire geborgt hatten, an Land gegangen. Die Geschichte vom Untergang der Carib Maid werde ich dir ein anderes Mal erzählen. Nur zehn von uns blieben am Leben, die anderen Boote gingen unter. Und jetzt saß ich in einer Herberge nahe beim Hafen. Ich hatte gerade mein Frühstück beendet und war im Begriff, zum Hause meines Schwagers zu gehen, als eine elegante Kutsche vorfuhr. Ehe ich noch recht guten Tag sagen konnte, saß ich schon drinnen und Sir Joseph Banks mir gegenüber. Bis zu jenem Augenblick hatte ich ihn noch nie gesehen. Er deutete nicht mit einem einzigen Wort an, wozu er mich brauchte, aber irgendwie hatte ich eine Ahnung,
daß es sich um die Bounty handle. »Fassen Sie sich in Geduld, Herr Tinkler«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß Herr Fryer sogleich verständigt wird. Er wird ganz bestimmt damit einverstanden sein, daß ich mich Ihrer so mir nichts, dir nichts bemächtige.« Damit mußte ich mich zufriedengeben. Bald hielten wir vor einem prächtigen Hause. Sir Joseph sprang ab, verschwand und kam zehn Minuten später mit Admiral Hood im Schlepptau zurück! Natürlich verstand ich weniger denn je, um was es sich handelte, aber jedenfalls war ich sehr geschmeichelt, zwei solche Leute als Wächter zu haben. Wir fuhren geradeswegs zur Admiralität. Sir Joseph und der Admiral überließen mich bis zum nächsten Vormittag der Obhut eines gewissen Kapitäns Maxon. Ein reizender Kerl, aber er sagte mir kein Wort darüber, um was es sich handelte. Am nächsten Vormittag, Punkt zehn Uhr, wurde ich vor die Kommissäre der Admiralität berufen. Stell dir nur vor, wie ich da in den abgelegten Kleidern dreier verschiedener Matrosen vor diesen hohen Tieren stand! Ich wurde vereidigt und dann liebenswürdig aufgefordert, Platz zu nehmen. »Herr Tinkler, wollen Sie die Kommissäre über alles unterrichten, was Sie bezüglich Roger Byams, vormals Kadett auf der Bounty, wissen?« Du kannst dir vorstellen, Byam, welchen Eindruck die Nennung deines Namens auf mich machte! Ich spürte, wie mir ein kalter Schauer der Befürchtung mit beträchtlicher Geschwindigkeit das Rückgrat hinauf bis in die Haarwurzeln fuhr. Plötzlich fiel mir ein, daß Bligh dich oft als einen Meuterer und Verbrecher verdammt hatte, ohne daß einer von uns ein Wort zu deiner Verteidigung sagen durfte. Als ich es einmal versuchte, warf er mich beinahe aus dem Boot. Nun dachte ich bei
mir: Bei Gott, mein alter Freund Byam sitzt in der Tinte. Ich blickte einem Kommissär nach dem anderen ins Gesicht, um zu erforschen, was man von mir wollte. Endlich sagte einer: »Vielleicht war die Frage etwas unbestimmt. Wir wollen von Ihnen Einzelheiten über ein Gespräch hören, das in der Nacht vor der Meuterei auf dem Quarterdeck der Bounty zwischen Herrn Fletcher Christian und Herrn Byam stattgefunden haben soll. Haben Sie ein solches Gespräch mit angehört?« Jetzt ging mir ein Licht auf. »Ja, Sir«, antwortete ich, »ich erinnere mich sehr wohl.« »Denken Sie sorgfältig nach, Herr Tinkler. Ein Menschenleben hängt von Ihrer Aussage ab. Lassen Sie sich Zeit, rufen Sie sich alles genau ins Gedächtnis zurück. Lassen Sie nicht die kleinste Einzelheit aus.« Jetzt stand die Sache auf einmal wieder in vollkommener Klarheit vor mir, Byam. Ich wußte nun ganz genau, was man von mir erwartete, und du darfst Gott dafür danken, daß mein Gedächtnis noch nicht von Altersschwäche getrübt ist. Das Merkwürdige daran ist, daß ich während all der Jahre die ungeheuer wichtige Tatsache vergessen hatte, daß Bligh einen Teil eures Gespräches mit angehört hatte. Eigentlich ist das ja begreiflich; nicht ein einziges Mal hatte Bligh erwähnt, weshalb er dich für einen Meuterer hielt. Du kannst dir vorstellen, daß meine Aussage sehr ausführlich ausfiel. Ich erzählte die Geschichte von dem Augenblick an, als wir während Peckovers Wache mitsammen auf Deck gingen. Ich gestand sogar, daß ich einer der Missetäter war, die Blighs unschätzbare Kokosnüsse gestohlen hatten. Weiter berichtete ich, wie ich mich, unmittelbar ehe Christian kam, zu einem Schläfchen niederlegte. Vor allem aber, Byam, kannst du
dem Himmel und Robert Tinkler für dieses dankbar sein: Ich erinnerte mich, daß Bligh gerade in dem Augenblick heraufkam, als du Christian die Hand schütteltest und zu ihm sagtest: »Sie können auf mich rechnen.« Die Kommissäre beugten sich vor, um besser zu hören. Ein alter Herr hielt die Hand hinters Ohr, damit ihm nur ja kein Wort entgehe. Ihm zuliebe sprach ich ganz besonders langsam und deutlich. »Herr Christian antwortete: >Gut, Byam< oder >Danke, Byam<; welches von beiden, weiß ich nicht mehr genau. Dann schüttelten sie einander die Hände. In diesem Augenblick wurden sie von Bligh unterbrochen; sie hatten ihn nicht kommen gehört. Er machte eine Bemerkung darüber, daß sie noch so spät auf seien und ...« »Das genügt, Herr Tinkler«, sagte man mir. Ich wurde hinausgeführt und ... na, alter Junge, jetzt sitzen wir also hier!« »Weißt du, Byam«, fuhr Tinkler nach einigen Augenblicken des Schweigens fort, »ich habe mich oft gefragt, ob die Sache mit den Kokosnüssen nicht die unmittelbare Ursache der Meuterei war. Erinnerst du dich, wie Bligh Christian beschimpfte?« »Gewiß erinnere ich mich dessen, Tinkler«, sagte ich. »Aber sprechen wir nicht mehr darüber. Ich bin der ganzen Sadie zum Sterben überdrüssig.« »Entschuldige, Junge! Ich verstehe das vollkommen.« »Aber nichts wäre mir lieber, als von dir etwas über die Fahrt in der Barkasse zu hören.« »Eines muß ich sagen, Byam: Blighs Leistung war über alles Lob erhaben. Er war derselbe unausstehliche Tyrann wie früher und herrschte mit eiserner Hand über uns, aber, bei Gott, er brachte uns durch! Ich glaube, kein anderer Mann in England wäre dazu imstande gewesen.«
»Denkst du noch manchmal an Coupang, Tinkler?«
»An Coupang! Diesen Himmel auf Erden! Laß dir
erzählen, wie wir dort ankamen. Es war ungefähr drei
Uhr morgens ... Aber warte einen Augenblick! Wie wäre
es, wenn du zunächst einmal mein Glas füllen würdest?
Als Gastgeber, lieber Byam, läßt du wirklich einiges zu
wünschen übrig.«
Und so ging es weiter. Die ganze Nacht hindurch!
26
Ich hatte bereits eine Woche in Herrn Erskines Haus verbracht, als ich Sir Joseph die Nachricht sandte, um die er mich ersucht hatte. Ich nahm an, daß er mich in einer auf mein Wörterbuch bezüglichen Angelegenheit zu sprechen wünsche. Jetzt, da die seelische Erstarrung der ersten Zeit nach dem Freispruch von mir gewichen war, sah ich der Zusammenkunft mit Vergnügen entgegen; sie sollte mir gleichzeitig Gelegenheit zu der Frage geben, ob ich ihm oder der Royal Society bei meiner Rückkehr in die Südsee von Nutzen sein könne. Der Tod meiner Mutter hatte die letzten Bande, die mich mit England verknüpften, zerrissen; ich hatte so viel gelitten, daß jeder Ehrgeiz, jede jugendliche Sehnsucht nach einem Leben der Tat in mir erstorben schien. Vielleicht war mein damaliges Gefühl der Bitterkeit verzeihlich. Englische Gesichter kamen mir fremd vor, englische Sitten rauh, ja sogar grausam. Mich verlangte nur nach Tehani und der ruhigen Schönheit Tahitis. Ich hatte die Absicht, Sir Joseph von meinem Plan, die Heimat für immer zu verlassen, zu unterrichten. Ich verfügte über genügend Mittel, um diesen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen, ja sogar ein Fahrzeug zu kaufen, wenn sich dies als notwendig erweisen sollte. Von Zeit zu Zeit fuhren Schiffe nach der neugegründeten Niederlassung Port Jackson in Neusüdwales. Dort würde ich die Möglichkeit finden, einen Kutter für die Fahrt nach Tahiti zu kaufen oder zu chartern. Um der Erinnerung an meine Mutter willen konnte ich England nicht verlassen, ohne Withycombe zu besuchen; ich sehnte mich nach diesem Besuch und fürchtete mich gleichzeitig vor ihm.
Sir Josephs Antwort auf meinen Brief war eine Einladung zum Abendessen für den gleichen Abend; ich traf ihn in Gesellschaft Kapitän Montagues. Wir unterhielten uns eine Zeitlang über die politischen Ereignisse des Tages, die den baldigen Ausbruch eines Krieges befürchten ließen. Dann fragte mich Sir Joseph: »Was haben Sie für Pläne, Byam? Werden Sie zur Marine zurückkehren oder die Universität Oxford besuchen, wie Ihr Vater es wünschte?« »Weder das eine noch das andere, Sir«, antwortete ich. »Ich habe mich entschlossen, in die Südsee zurückzukehren.« Montague stellte bei meinen Worten brüsk sein Glas nieder, und Sir Joseph blickte mich überrascht an, aber keiner der beiden sprach. »In England gibt es nichts, was mich zurückhielte«, fügte ich hinzu. Sir Joseph schüttelte bedächtig den Kopf. »Der Gedanke, daß Sie an eine Rückkehr nach Tahiti denken, wäre mir nie gekommen«, sagte er. »Ich hielt es für möglich, daß Sie in Ihrem gegenwärtigen Gemütszustande beabsichtigen würden, das Leben zur See zugunsten einer ruhigen akademischen Laufbahn aufzugeben. Aber die Südseeinsel ... nein, mein Junge!« »Warum nicht, Sir?« fragte ich. »Ich habe daheim keine Verpflichtungen, und dort drüben würde ich mich glücklich fühlen. Mit Ausnahme von Ihnen, Kapitän Montague und wenigen anderen Freunden gibt es in England niemanden, den ich je wiedersehen möchte.« »Ich verstehe ... ich verstehe«, bemerkte Sir Joseph gütig. »Sie haben viel gelitten; aber die Zeit heilt auch die tiefsten Wunden. Und vergessen Sie eines nicht: Sie haben Verpflichtungen, sehr schwerwiegende sogar.«
»Gegen wen, Sir?« fragte ich. Mein Gastgeber schwieg nachdenklich. »Ich sehe, daß Ihnen dieser Gedanke bisher gar nicht gekommen ist«, sagte er dann. »Es ist nicht ganz leicht zu erklären. Wie wäre es, Montague, wenn ich das Ihnen überließe?« Der Kapitän nippte an seinem Wein, als denke er darüber nach, wie er beginnen solle. Endlich blickte er auf. »Sir Joseph und ich haben mehr als einmal von Ihnen gesprochen, Herr Byam. Sie haben Verpflichtungen, wie er ganz richtig sagte.« »Gegen wen, Sir?« fragte ich zum zweiten Male. »Gegen Ihren Namen; gegen das Andenken Ihres Vaters und Ihrer Mutter. Sie sind wegen Meuterei vor Gericht gestanden; wenn Sie auch freigesprochen worden sind und so unschuldig sind wie Sir Joseph oder ich, könnte doch etwas - ein kleines, unerfreuliches Etwas - an Ihrem Namen haftenbleiben. Könnte haftenbleiben, sagte ich: ob dies der Fall sein wird, hängt von Ihnen ab. Wenn Sie eine Laufbahn auf dem Lande wählen oder, das Schlimmste von allem, sich in der Südsee begraben, werden die Leute sagen, wenn von Ihnen die Rede ist: »Roger Byam? Gewiß erinnere ich mich; einer der Meuterer von der Bounty. Er wurde vom Kriegsgericht abgeurteilt und im letzten Augenblick freigesprochen. Er hat Glück gehabt!« Die öffentliche Meinung ist eine gewaltige Macht, Herr Byam. Niemand kann es sich erlauben, sie außer acht zu lassen.« »Wenn ich offen sprechen darf, Sir«, antwortete ich hitzig, »so soll die öffentliche Meinung der Teufel holen! Ich bin unschuldig, und meine Eltern - wenn es ein Leben nach dem Tode gibt - wissen es. Mögen die anderen glauben, was sie wollen!«
»Ich verstehe Ihre Bitterkeit vollkommen«, sagte Kapitän Montague freundlich. »Und dennoch haben wir recht. Sie schulden es dem ehrenwerten Namen, den Sie tragen, die Laufbahn eines Marineoffiziers fortzusetzen. Ein Krieg liegt in der Luft; Ihre Teilnahme daran wird die bösen Zungen bald zum Schweigen bringen! Ich will offen mit Ihnen reden, Byam: Mein Wunsch ist, daß Sie unter meinem Kommando auf meinem Schiffe Dienst tun.« Sir Joseph nickte. »Sie sollten dieses Angebot annehmen, Byam.« Kapitän Montagues Güte rührte mich tief. »Ich bin Ihnen unendlich dankbar, Sir«, murmelte ich ein wenig verwirrt, »aber ...» »Sie brauchen sich nicht sogleich zu entscheiden«, unterbrach mich der Kapitän. »Denken Sie über die Sache nach und lassen Sie mich Ihren Entschluß innerhalb eines Monats wissen. So lange kann ich mein Angebot aufrechterhalten.« Kapitän Montague verließ uns zu früher Stunde. Später führte mich Sir Joseph in sein Studierzimmer. »Byam«, sagte er, als wir es uns vor dem Kamin bequem gemacht hatten, »seit langem möchte ich Sie etwas fragen. Sie kennen mich als einen Ehrenmann; wenn Sie es für richtig halten, mir zu antworten, gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich über die Antwort strengstes Stillschweigen bewahren werde.« Er hielt inne. »Bitte, fragen Sie, Sir«, forderte ich ihn auf. »Wo ist Fletcher Christian - können Sie mir das sagen?« »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sir«, entgegnete ich, »daß ich es weder weiß noch auch die geringste Vermutung darüber habe.«
Er blickte mich eine Sekunde lang mit seinen klugen blauen Augen an, stand rasch auf und entrollte eine an der Wand angebrachte große Karte des Stillen Ozeans. Während er die Lampe emporhielt, blickten wir gemeinsam auf die Karte des größten Meeres der Welt. »Hier ist Tahiti«, sagte Sir Joseph. »In welcher Richtung segelte die Bounty, als Sie sie zum letzten Male sahen?« »Nach Nordosten, möchte ich sagen.« »Vielleicht wollte er Sie irreführen, aber in jener Richtung liegen die Marquesas. Fruchtbare Inseln, bei günstigem Wind von Tahiti in einer Woche zu erreichen. Sehen Sie, hier sind sie.« »Ich glaube nicht, daß Christian sich dorthin gewandt hat. Er hatte die Absicht, eine unentdeckte Insel anzulaufen.« Schweigend wanderten unsere Blicke über die winzigen Punkte, die Land inmitten der unermeßlichen Wasserfläche bedeuteten. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke. »Bei Gott!« rief ich aus. »Was gibt es, Byam?« »Ich muß Ihnen im Vertrauen etwas sagen, Sir Joseph.« »Sie haben mein Wort.« »Soeben fällt mir eine Möglichkeit ein. Als wir nach der Meuterei gegen Osten segelten, sichteten wir eine reiche, vulkanische Insel, die auf keiner Karte eingezeichnet ist. Wir landeten nicht, aber die Indios näherten sich uns in ihren Kanus und schienen durchaus friedliche Absichten zu haben. Ich befragte einen Mann in der Sprache von Tahiti; er sagte mir, die Insel heiße Rarotonga. Als Christian Tahiti zum letztenmal verließ, muß er an diese fruchtbare, unbekannte Insel gedacht haben. Wenn ich Christian heute suchen sollte, würde ich Kurs auf Rarotonga nehmen, und ich glaube, daß ich ihn dort finden würde.«
Achtzehn Jahre sollten vergehen, ehe ich erfuhr, daß diese Ansicht falsch war. Sir Joseph lauschte aufmerksam. »Sehr interessant«, sagte er. »Gerne würde ich der Royal Society diese Entdeckung bekanntgeben. Aber fürchten Sie nichts ... Das Geheimnis ist bei mir sicher ... Christian ... armer Teufel!« »Sie haben ihn gekannt, Sir?« Er nickte. »Ich kannte ihn gut.« »Er ist mir ein wahrer Freund gewesen«, sagte ich. »Gott weiß, daß Bligh ihn zum Äußersten getrieben hat.« »Ohne Zweifel. Es ist seltsam ... Ich hatte geglaubt, Bligh sei sein bester Freund.« »Kapitän Bligh glaubte das vielleicht selbst. Vor mir liegt eine traurige Aufgabe. Ich habe Christian versprochen, seine Mutter zu besuchen, wenn ich jemals nach England zurückkehren sollte.« »Seine Familie lebt in Cumberland.« »Ich weiß es.« Sir Joseph rollte die Karte zusammen. Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. »Es wird Zeit, daß ich mich verabschiede, Sir«, meinte ich. »Ja, es ist Schlafenszeit. Noch ein Wort, ehe Sie gehen. Ich rate Ihnen ernsthaft, Kapitän Montagues Angebot in Betracht zu ziehen. Sie sind mit Recht verbittert, aber das wird vorübergehen. Wir sind älter als Sie, Montague und ich. Wir kennen diese traurige alte Welt besser als Sie. Geben Sie den Gedanken auf, sich in der Südsee zu begraben!« »Ich werde darüber nachdenken, Sir«, sagte ich. Tag um Tag schob ich meinen Besuch in Withycombe auf. Ich fürchtete mich, das ruhige alte Haus in der Londoner City zu verlassen, und als ich mich schließlich von Herrn Erskine verabschiedete, hatte ich mein
Versprechen, nach Cumberland zu fahren, bereits eingelöst. Von meiner Unterredung mit Christians Mutter zu sprechen sei mir erlassen. An einem regnerischen Winterabend entstieg ich in Taunton der Postkutsche; mein Wagen erwartete mich bereits. Unser alter Kutscher war tot, auf dem Bocke saß sein Sohn, der Gefährte vieler Jugendstreiche. Auf der Landstraße schimmerten Wasserpfützen im schwachen Licht der Laternen. Ich stieg ein; der Wagen rumpelte die holprige Chaussee entlang. Der schwache, muffige Geruch des Leders erschien mir wie ein köstlicher Duft und überflutete mich mit Erinnerungen an vergangene regnerische Sonntage, als wir zur Kirche fuhren, dort in die Tasche pflegte meine Mutter während der Fahrt ihr Gebetbuch zu stecken; und mir war, als sei der Wohlgeruch englischen Lavendels, den meine Mutter allen französischen Parfüms vorzog, an der Kutsche haftengeblieben. Immer dichter fiel der Regen. Die Pferde trabten durch die Pfützen; nun, als der Weg den Hügel emporzusteigen begann, gingen sie im Schritt. Von der langen Fahrt ermüdet, fiel ich in leichten Schlummer. Als ich erwachte, knirschten die Räder über den Kies des Parks von Withycombe; vor mir leuchteten bereits die Lichter des Hauses auf. Einen Augenblick lang waren fünf Jahre in meiner Erinnerung ausgelöscht; ich kehrte von der Schule zurück, um die Weihnachtsferien zu Hause zuzubringen; oben beim Tore wartete schon meine Mutter, um mich zu begrüßen ... Ich kehrte in die Wirklichkeit zurück. Statt meiner Mutter erwartete mich nur der alte Kammerdiener mit dem übrigen Gesinde. Nie, außer an diesem Abend, habe ich in Frau Thadcers Augen Tränen gesehen.
Einige Minuten später saß ich allein in dem hohen Speisezimmer. Die Kerzen auf dem Tisch brannten, ohne zu flackern, und in ihrem gelblichen Lichte bewegte sich der Diener geräuschlos hin und her, füllte mein Glas und stellte Speisen vor mich hin, die ich aß, ohne zu wissen, was es war. Als kleiner Junge durfte ich des Sonntags hier meine Mahlzeiten einnehmen; an anderen Abenden kam ich, um meinem Vater und meiner Mutter gute Nacht zu sagen, wenn sie beim Nachtisch saßen; immer wurde mir der Gutenachtkuß durch eine Handvoll Trauben oder Feigen versüßt. Hier saß ich nach meines Vaters Tod meiner Mutter gegenüber; hier hatte Bligh mit uns gespeist, an jenem entscheidenden Abend vor langer, langer Zeit. Wäre er und sein Brief nicht gewesen, so würde mir meine Mutter wohl noch heute gegenübersitzen ... Ich stand auf und ging hinauf. Im Arbeitszimmer meines Vaters, hoch oben im Nordflügel, streckte ich mich auf dem Sofa unter dem Kerzenleuchter aus. Sein Geist schien noch in den Räumen zu weilen: eine Sammlung von Sextanten, die astronomischen Karten an der Wand, die Bücher in den bis fast zur Decke reichenden Gestellen - alles sprach von ihm. Ich nahm einen in Leder gebundenen Band der »Reisen« von Kapitän Cook zur Hand, aber ich konnte nicht lesen. Schließlich ergriff ich eine Kerze und suchte mein Zimmer auf. Unterwegs kam ich an der Tür des Zimmers meiner Mutter vorbei. Einzutreten wagte ich an jenem Abend nicht. Ich stellte sie mir vor, wie ich sie dort hunderte Male gesehen hatte, im Bette lesend, ihr reiches Haar auf das Kissen gebreitet ... Der Westwind, der vom Atlantischen Ozean herüberwehte, machte den Dezember warm und
regnerisch; oft wanderte ich über die aufgeweichten Wege der Umgebung; der Regen schlug mir ins Gesicht, und der Wind stöhnte in den entlaubten Bäumen. Eine Änderung, so allmählich, daß sie kaum bemerkbar war, ging mit mir vor; ich fing an zu erkennen, daß ich, wie meine Vorfahren, tief im Boden des Landes wurzelte. Tehani, unser Kind, die Südsee - all das schien unwirklich zu werden, zu einem schönen, halbvergessenen Traum zu verbleichen. Die Wirklichkeit lag hier, in den Gräbern des nahen Friedhofes, in Withycombe, in den Häuschen unserer Pächter. Und die festen Mauern unseres alten Hauses, die Ordnung, die darin trotz Leid und Tod bestehengeblieben war, ließen mich den Sinn der Zusammenhänge begreifen, die aufrechtzuerhalten meine Pflicht war. Alimählich schwand meine Bitterkeit. Gegen Ende des Monats war mein Entschluß gefaßt. Es war schwer gewesen, ihn zu fassen, aber ich habe seither keinen Grund gehabt, ihn zu bereuen. Ich schrieb Kapitän Montague, daß ich sein Anerbieten annähme; eine Abschrift legte ich einem langen Brief an Sir Joseph Banks bei. Zwei Tage später, an einem grauen, windstillen Morgen, stand ich vor dem Portal unseres Hauses und wartete auf den Wagen, der mich nach Taunton zur Londoner Postkutsche bringen sollte. Das Meer lag wie glänzender Stahl unter den niedrigen Wolken; die Luft war so still, daß ich das Krächzen der Krähen von nah und fern hörte. Ich blickte zwei Segelbooten nach, die langsam die offene See gewannen, bis ich den Kutscher mit der Zunge schnalzen und die Räder des Wagens über den Kies des Parkweges knirschen hörte.
27
Im Januar 1793 trat ich meinen Dienst auf Kapitän Montagues Schiff an. Im nächsten Monat brachen Feindseligkeiten aus, die den Beginn unserer Kriege mit den verbündeten Nationen fast ganz Europas bildeten. Zwölf Jahre hindurch folgte für die britische Marine eine militärische Aktion der anderen. Ich hatte die Ehre, mit den Holländern bei Camperdown, mit den Dänen bei Kopenhagen und mit den Spaniern und Franzosen bei Trafalgar zu kämpfen. Nach dem herrlichen Siege von Trafalgar wurde ich zum Kapitän befördert. Während dieser Kriegsseiten hatte ich zuweilen davon geträumt, nach Wiederherstellung des Friedens im Stillen Ozean stationiert zu werden, aber ein Marineoffizier hat im Krieg wenig Muße, seinen Gedanken nachzuhängen; im Laufe der Jahre wurde mein Verlangen, zur Südsee zurückzukehren, weniger schmerzlich und die Erinnerung an vergangene Leiden erträglicher. Erst im Sommer 1809, als ich die Curieuse, eine mit zweiunddreißig Kanonen bestückte, den Franzosen abgenommene Fregatte befehligte, erfüllte sich mein Traum. Ich erhielt die Order, Kurs auf Port Jackson in Neusüdwales zu nehmen und von dort über Tahiti nach Valparaiso zu segeln. Ich hatte eine halbe Kompanie des dreiundsiebzigsten Regiments an Bord, das die in Neusüdwales stationierten Truppen ablösen sollte; der Rest des Regiments war an Bord der Schiffe Dromedary und Hindostan vorausgefahren. Vier Jahre früher war Kapitän Bligh zum Gouverneur von Neusüdwales ernannt worden; inzwischen hatte der berüchtigte Rumaufstand in der Kolonie gewütet, nun war ein neuer Gouverneur, Oberst
Lachlan Macquarie, ausgesandt worden, um die Ruhe wiederherzustellen. Major Johnston, der Befehlshaber des Militärkorps von Neusüdwales, und ein Herr McArthur, der einflußreichste Ansiedler des Landes, hatten Bligh des tyrannischen Mißbrauches seiner Amtsgewalt angeklagt, ihn seit einem Jahre im Regierungsgebäude gefangengehalten und die Zügel der Regierung an sich gerissen. Während der langen Fahrt nach Australien dachte ich oft an Bligh. Daß er mich für einen Meuterer hielt, hatte ich ihm innerlich nie verübelt. Anders stand es um den Brief an meine Mutter, der sicherlich ihren Tod herbeigeführt hatte. Ich wußte, daß ich dem Mann nie mehr die Hand würde reichen können. Während der Kriege hatte er sich durch Tapferkeit ausgezeichnet; bei Kopenhagen hatte ihn Nelson persönlich beglückwünscht. Jetzt aber, wo seine Laufbahn ihrem Ende zuging, wiederholte sich in anderem Rahmen die Geschichte der Bounty; Bligh war wiederum die Hauptfigur eines Aufstandes. Wir hatten die englische Küste im August verlassen, aber erst im Februar 1810 fuhr die Curieuse in den herrlichen Hafen von Port Jackson ein, in dem schon die englischen Kriegsschiffe Porpoise, Dromedary und Hindostan vor Anker lagen. Gleich nach unserer Ankunft erhielt ich an Bord den Besuch meines alten Freundes John Pascoe, des Kapitäns der Fregatte Hindostan. Es war ein heißer Tag; erbarmungslos brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab. Ich begleitete den Besucher in meine Kajüte, wo es kühler war als auf Deck, und beauftragte den Steward, eine Bowle zu bereiten. Pascoe sank in einen Sessel und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. »Pfui Teufel! Ich möchte wetten, daß es in der Hölle auch nicht heißer
ist als in Sydney!« stöhnte er. »Kein Wunder, daß es hierzulande auch in der Politik heiß hergeht! Was haben Sie darüber in England gehört?« »Nur Gerüchte; die Wahrheit kennen wir nicht.« »Die Wahrheit ist auch hier schwer zu erfahren. Ohne Zweifel haben beide Parteien von ihrem Standpunkt aus recht. Der Rumhandel war der Ruin der Kolonie und lag in den Händen der Offiziere. Bligh erkannte das Übel und versuchte ihm zu steuern, wobei er mit demselben Takt vorging, der seinerzeit die Meuterei auf der Bounty hervorrief. Das Ergebnis kennst du: Bligh wurde im Regierungsgebäude gefangengehalten; Major Johnston, eine bloße Marionette in der Hand des Herrn McArthur, des reichsten Ansiedlers der Kolonie, übernahm die Regierungsgeschäfte. Eine nette Geschichte!« »Und was wird nun geschehen?« »Das dreiundsiebzigste Regiment bleibt hier; die bisher hier stationierten Truppen kehren nach England zurück. Johnston, McArthur und Bligh werden die Sache in England miteinander auszutragen haben. Oberst Macquarie wurde zum Gouverneur ernannt.« Pascoe war begierig nach Neuigkeiten aus der Heimat; wir plauderten eine Weile. Dann erhob sich mein Gast. »Ich muß gehen, Byam«, sagte er; »Bligh hat für heute nachmittag Order zur Abfahrt gegeben.« Als ich mich von ihm verabschiedet hatte, ließ ich mich ans Ufer rudern, um dem neuen Gouverneur meine Aufwartung zu machen. »Seine Exzellenz ist augenblicklich beschäftigt, Herr Byam«, meldete mir der Adjutant, der mich im Vorzimmer des Gouverneurs empfing. Er verbeugte sich und nahm wieder seine Schreibarbeit auf; gleich darauf hörte ich durch die geschlossene Tür den Klang einer
aufgeregten Stimme. Mit einem Mal fühlte ich mich zwanzig Jahre jünger; mir war, als wäre ich wie durch Zauber auf das Deck der Bounty am Nachmittag vor der Meuterei zurückversetzt worden. In meiner Erinnerung ertönte die gleiche unbeherrschte Stimme, die ich soeben gehört hatte; ich glaubte die Worte zu hören, die Christian zur Raserei getrieben hatten: »Ihr seid allesamt Schurken und Betrüger! Aber ich werde euch lehren zu stehlen, ihr Hunde! Ich werde euch kujonieren, daß ihr wolltet, ihr hättet mich nie in eurem Leben gesehen!« Die Stimme im Nebenzimmer erstarb; ich hörte den Gouverneur leise und begütigend sprechen. Dann folgte ein neuer Zornesausbruch Blighs: »Major Johnston, Sir? Bei Gott, der Mann sollte erschossen werden! McArthur, diesen Halunken, habe ich gleich richtig erkannt, als ich ihn das erstemal sah. »Wie, Sir«, sagte ich ihm damals, »Sie haben solch gewaltige Rinder- und Schafherden? Sie haben fünftausend Joch Land? Nun, Sie werden sie nicht behalten, das schwöre ich Ihnen !« »Ich habe das Land vom Staatssekretär erhalten«, antwortete mir der Bursche. »Den Staatssekretär soll der Teufel holen«, antwortete ich, »was geht mich der Staatssekretär an!«« Wieder vernahm ich die begütigende Stimme des Gouverneurs, aber Bligh unterbrach ihn schreiend: »Sydney, Sir? Ein Sodom und Gomorra! Ein verworfeneres Pack als hier findet man auf der ganzen Welt nicht! Die Ansiedler? Der Abschaum der Menschheit! Sie wissen vielleicht, daß ich ein Mann der Milde und des Entgegenkommens bin, aber bei Gott, Sir, damit richtet man hier nichts aus! Regieren Sie die Kerle mit eiserner Faust!« Dann wurde ein Stuhl beiseite gestoßen und die Tür aufgerissen. Ein korpulenter, kräftiger Mann in
Kapitänsuniform stand mit vor Erregung purpurrotem Gesicht im Türrahmen. Ohne mich auch nur zu sehen, stürmte er durch das Vorzimmer. Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Der junge Adjutant schloß die Tür hinter ihm und sah mich mit einem leisen Lächeln an. »Gott sei Dank!« murmelte er und atmete sichtbar erleichtert auf. Wir sichteten Tahiti an einem Aprilmorgen. Als wir uns der Küste näherten, trat Windstille ein, und wir benötigten einen ganzen Tag, um die Bucht von Matavai zu erreichen. Mein Leutnant, Herr Cobden, schien zu ahnen, was in mir vorging, denn er ließ mich den ganzen Tag ungestört. Tahiti war in jenen Tagen von der übrigen Welt beinahe abgeschlossen. Nicht ein einziges Mal während der zwanzig Jahre, seit ich Tehani im Lazarett der Pandora zum letzten Male umarmt hatte, hatte ich Nachricht von ihr erhalten. Im Jahre 1796 erfuhr ich, daß der Segler Duff mit Missionaren an Bord - den ersten in der Südsee - Tahiti anlaufen würde. Ich machte die Bekanntschaft eines der ehrwürdigen Männer; er versprach mir, sich auf die Suche nach meiner eingeborenen Frau und meinem Kind zu begeben und mir nach seiner Rückkehr nach England Nachricht von ihnen zu bringen. Aber kein Brief kam. In Port Jackson hatte ich einige dieser Missionare angetroffen und ihnen mitgeteilt, daß ich Tahiti anlaufen werde. Ihre Berichte von der Insel waren sehr traurig. Sie hatten zwölf Jahre in Tahiti gelebt und die Landessprache erlernt, wobei ihnen, wie sie mir liebenswürdigerweise sagten, mein Wörterbuch äußerst wertvoll gewesen sei. Es war ihnen jedoch nicht gelungen, einen einzigen Eingeborenen zum Christentum zu bekehren. Kriege und
von europäischen Schiffen eingeschleppte Krankheiten hatten, wie man mir sagte, vier Fünftel der Bevölkerung vernichtet. Keiner der Missionare hatte je von Tehani gehört oder Taiarapu besucht. Als mein Schiff sich an jenem Aprilnachmittag dem Lande näherte, erschien mir Tahiti ebenso schön wie früher; es war schwer zu glauben, daß eine dem Auge so wohlgefällige Insel der Schauplatz von Kriegen und Seuchen sein könne. Eine Flut von Erinnerungen drang auf mich ein, als Kap Venus in Sicht kam. Dort drüben lag das Inselchen Motu Au, gegenüber Hitihitis Haus, nicht weit davon Stewarts schattiges Tal und ein wenig weiter die Stelle, wo Morrison und Millward bei Poino gewohnt hatten. Und dort, ja dort erblickte ich die Mündung des Flusses, an dessen Ufer ich Tehani kennengelernt hatte. Ich war erst vierzig Jahre alt, in der Vollkraft des Lebens, und doch hatte ich das Gefühl sehr alter Leute, zu lange gelebt zu haben. Jahrhunderte schienen mir vergangen, seit ich diese Aussicht zum letztenmal genossen hatte. Ich fürchtete mich davor, das Land zu betreten. Als wir Anker warfen, erschien es mir verwunderlich, daß sich uns keine Kanus näherten. Vom Strande aus sahen uns einige Leute teilnahmslos zu, aber wie wenige waren ihrer, verglichen mit dem Gewimmel früherer Tage! Und wo einstmals ganze Gruppen von Häusern inmitten schattiger Haine gewesen waren, erblickte ich jetzt nur ein paar elende Hütten. Sogar die Bäume sahen gelblich und abgestorben aus. Ich erfuhr bald, daß die siegreiche Partei fast alle Brotfruchtbäume in Matavai gefällt oder durch Einschnitte vernichtet hatte. Endlich näherte sich uns ein kleines, mit zwei Leuten bemanntes Kanu. Die Insassen trugen zerlumpte europäische
Kleidungsstücke und waren eigentlich Bettler, denn sie konnten uns für das, was wir ihnen gaben, nichts zum Tausche anbieten. Sie sprachen uns in gebrochenem Englisch an. Als sie sich dann in ihrer Muttersprache unterhielten, freute ich mich, leidlich gut zu verstehen, was sie sagten. Ich erkundigte mich nach Tipau, Poino und Hitihiti, erhielt aber als Antwort nur verständnislose Blicke. Eine Stunde vor Sonnenuntergang ließ ich mich zu der Stelle rudern, wo Hitihiti gelebt hatte. Ich wies meine Leute an, mich in der Bucht von Matavai zu erwarten, und ging allein landeinwärts. Kein menschliches Wesen war zu erblicken, auch vom Hause meines Taio war keine Spur mehr zu finden. An Stelle der gepflegten Wiesen sah ich nur wucherndes Unkraut. Auf dem Wege zum Fluß, an dem ich Tehani begegnet war, saß eine alte Frau und blickte reglos auf das Meer hinaus. Sie schaute mich gleichgültig an, aber als ich sie in der Sprache des Landes anredete, wurde sie lebhafter. Hitihiti? Ja, sie hatte von ihm gehört, aber er war seit langem tot. Hina? Sie schüttelte den Kopf. Poinos erinnerte sie sich. Auch er war tot. Sie zuckte die Achseln. »Einst war Tahiti ein Land der Menschen«, sagte sie, »jetzt füllen nur noch Schatten das Land.« Der Fluß war unverändert, und obgleich das Ufer vom Pflanzenwuchs überwuchert war, fand ich unter den Wurzeln der alten Bäume meinen Lieblingssitz wieder. Der Fluß strömte, wie ehemals, leise murmelnd dahin. Aber meine Jugend war vergangen, und alle meine alten Freunde waren tot. Einen Augenblick lang ergriff mich tiefe Herzensangst; ich hätte meine Laufbahn und alles, was ich in der Welt besaß, dahingegeben, um zwanzig
Jahre jünger zu sein und im Fluß mit Tehani um die Wette zu schwimmen. Ich wagte kaum, an sie und an unser Kind zu denken. Endlich stand ich auf, überquerte den Fluß an einer seichten Stelle und schritt dem »Hügel des einzigen Baumes« zu. Unterwegs fand ich nur schmutzige Hütten; wo vor zwanzig Jahren tausend Menschen gelebt hatten, sah ich jetzt kaum mehr als ein Dutzend. Es war schon Nacht geworden, als ich in Stewarts Tal kam, aber der Mond schien hell. Ich setzte mich auf einen flachen Stein. Keine Spur des Hauses und des Gartens war vorhanden. Stewarts Gebeine lagen, vermischt mit dem faulenden Holz des Pandora-Wracks, auf dem Grunde des Meeres. Wo war Peggy? Wo war ihr Kind? Ein kühler Nachtwind erhob sich, und plötzlich füllte sich die Gegend mit Geistern - den Schatten lebender und toter Menschen -, und mein eigener war darunter. Am nächsten Morgen fuhr ich mit zwölf Mann in der Pinasse nach Taiarapu. Die Ostküste schien weniger gelitten zu haben als Matavai; ich war angenehm überrascht, Vehiatuas früheres Reich nicht vom Krieg verwüstet zu sehen. Aber auch hier hatten die Seuchen ihr Werk vollbracht. Wo früher fünf Menschen gelebt hatten, war jetzt nur noch einer zu finden. Als wir uns Tautira näherten, hielt ich vergeblich nach Vehiatuas großem Haus auf der Anhöhe Ausschau. Es war verschwunden, aber gleich darauf bemerkte ich bewegt, daß mein eigenes Haus noch vorhanden war. Das Boot legte an; einige Leute, deren Züge lebhafter waren als die der Bewohner von Matavai, begrüßten uns. Ich bildete einem nach dem anderen klopfenden Herzens ins Gesicht, aber keinen von ihnen kannte ich. Ich wagte nicht, nach
Tehani zu fragen, und da die Missionare mir berichtet hatten, daß Vehiatua tot sei, gab ich meinen Leuten Order, Kokosnüsse einzuhandeln, und machte mich auf die Suche nach jemandem, den ich kannte. Ehe ich den halben Weg zum Hause zurückgelegt hatte, begegnete ich einem stattlichen Mann mittleren Alters. Unsere Blicke trafen einander, einen Augenblick lang schwiegen wir. »Tuahu?« »Byam!« Er eilte auf mich zu und umarmte mich nach der Sitte des Landes. In seine Augen traten Tränen. Dann sagte er: »Komm in das Haus.« »Ich war auf dem Wege dorthin«, antwortete ich, »aber wir wollen ein wenig hierbleiben, wo wir allein sein können.« Er begriff vollkommen, was in mir vorging, und wartete mit niedergeschlagenen Augen, während ich all meinen Mut zusammennahm, um eine Frage zu stellen, die sein Schweigen nur zu beredt beantwortet hatte. »Wo ist Tehani?« »Ua mate - tot«, entgegnete er ruhig. »Sie starb im Monat Paroro, als du drei Monate weg warst.« »Und meine Tochter?« fragte ich nach langem Schweigen. »Sie lebt«, sagte Tuahu. »Sie ist eine Frau geworden und hat selbst ein Kind. Ihr Mann ist der Sohn Atuanuis. Er wird einmal Herrscher von Taiarapu werden. Gleich sollst du deine Tochter sehen.« Wieder schwieg ich lange. Endlich sagte ich: »Tuahu, du weißt, wie zärtlich ich Tehani geliebt habe. All die Jahre hindurch, während mein Vaterland in unaufhörliche Kriege verwickelt war, habe ich davon geträumt, nach Tahiti zurückzukehren. Ich will meine Tochter sehen,
mich ihr aber nicht zu erkennen geben. Ihr zu sagen, daß ich ihr Vater bin, sie zu umarmen, mit ihr über ihre Mutter zu sprechen, ginge über meine Kraft. Verstehst du das?« Tuahu lächelte schmerzlich. »Ich verstehe.« In diesem Augenblick hörte ich Stimmen; Tuahu berührte meinen Arm. »Sie kommt, Byam«, sagte er leise. Ein hochgewachsenes Mädchen näherte sich uns, gefolgt von einer Dienerin; sie führte ein kleines Kind an der Hand. Ihre Augen waren dunkelblau wie das Meer; ihr Gewand aus schneeweißem Stoff lag in anmutigen Falten um ihre Schultern; an ihrem Hals glänzte eine goldene Kette, die mir wohlbekannt war. »Tehani«, rief der Mann an meiner Seite; der Atem stockte mir, als ich ihr Gesicht in der Nähe betrachtete, denn sie hatte die Schönheit ihrer Mutter geerbt und dazu ein wenig von der Schönheit meiner Mutter. »Der englische Kapitän aus Matavai«, hörte ich Tuahu sagen; sie gab mir freundlich die Hand. Meine Enkelin starrte mich verwundert an; ich wandte mich ab, um die Tränen in meinen Augen zu verbergen. »Wir müssen weitergehen«, sagte Tehani zu ihrem Onkel. »Ich habe dem Kind versprochen, ihm das englische Boot zu zeigen.« »Gut denn, so gehe!« sagte Tuahu. Nach unserer Abfahrt von Tahiti hielt ich südwestlichen, später östlichen Kurs ein. Am Morgen des 15. Mai wurde in östlicher Richtung, etwa acht Meilen entfernt, Land gesichtet. Dies rief unter meinen Offizieren große Aufregung hervor, denn an dieser Stelle war auf den Karten kein Land eingezeichnet, und ich selbst glaubte anfangs, eine neue Insel entdeckt zu haben. Der Karte
zufolge lag das nächste Land, Pitcairns Insel, hundertfünfzig Meilen von dem Punkte, an dem wir uns befanden, entfernt. Gegen Mittag waren wir der Küste ganz nahe gekommen. Eine schönere und romantischere Insel war kaum vorstellbar. Ich schätzte die Ausdehnung auf höchstens zwei Quadratmeilen. Das Ufer war in höchstem Grade zerklüftet; jähe Felsen stürzten senkrecht gegen das Meer ab, von ungestümen Wogen wild umbrandet. Schmale, von großwipfeligen Bäumen halb verborgene Täler waren hier und dort sichtbar; das ganze Eiland bot ein Bild wilder, jungfräulicher Schönheit, dessen Wirkung durch den Gegensatz des weiten Meeres ringsumher noch erhöht wurde. Ich zweifelte nicht daran, daß eine so kleine, zerklüftete, von jedem bewohnbaren Land unendlich weit entfernte Insel nur den Seevögeln bekannt sein könne, die die kühngeformten Felszinnen umkreisten. Obgleich wir fast die ganze Insel umsegelt hatten, sahen wir keine Landungsmöglichkeit. Plötzlich bemerkten wir zu unserer großen Überraschung, daß ein kleines Kanu mit großer Geschwindigkeit auf uns zusteuerte. In einer halben Stunde hatte es das Schiff erreicht; einer der beiden Insassen rief in englischer Sprache zu uns herauf: »Wollen Sie uns bitte ein Tau herabwerfen, Herr?« Dies geschah sogleich; nachdem die Männer ihr Boot festgemacht hatten, ließen wir eine Strickleiter hinab, und sie kletterten behende an Bord. Mein erster Gedanke war, es handle sich um Überlebende eines englischen Fahrzeuges, das Schiffbruch erlitten hatte, etwa eines Walfischfängers, der von der üblichen Route abgekommen war. Zwar war die Haut der Leute so braun gebrannt, daß man sie hätte für Eingeborene halten
können, aber sie hatten das offene, männliche Aussehen englischer Seeleute. Der ältere war ein Jüngling von neunzehn bis zwanzig Jahren, während sein Gefährte etwa fünfzehn Jahre alt sein mochte. Sie waren nur mit Lendentüchern aus Tapastoff bekleidet und trugen mit Hahnenfedern geschmückte Strohhüte auf dem Kopf. Es waren starke, hübsche Burschen; ihr Gang hatte die natürliche Grazie der Wilden; ihr unverhohlenes Entzücken über alles, was sie ringsumher sahen, war das unverdorbener Kinder. Sie begrüßten mich in ausgezeichnetem Englisch, das sie jedoch auf eine Art sprachen, die mich annehmen ließ, sie seien nicht in England geboren. »Wir freuen uns, Sie zu sehen, Herr«, sagte der Ältere der beiden; »wir wurden ausgesandt, um Sie einzuladen, uns an Land zu besuchen.« Die Stimme des jungen Mannes, seine Haltung, seine Art, zu sprechen, weckte eine unbestimmte Erinnerung in mir. Wo und wann hatte ich nur jemanden gesehen, der ihm glich? »Wer sind Sie?« fragte ich. »Mein Name ist Christian«, antwortete er. Eine Stimme in meinem Innern schrie so laut, daß ich glaubte, die mich Umstehenden müßten es hören: »Du hast ihn gefunden - den Zufluchtsort der Bounty!« Ich hatte den Sohn meines Freundes Fletcher Christian vor mir; er war Christian, wie ich ihn vor zwanzig Jahren gekannt hatte, so ähnlich, daß ich mich darüber wunderte, den Zusammenhang nicht gleich begriffen zu haben. Die gleichen dunklen Augen und das gleiche tief schwarze Haar; die gleiche kraftvolle Gestalt, die gleiche Stimme, das gleiche lebhafte Mienenspiel; nur die düstere,
launenhafte Seite von Christians Charakter fand in diesem jungen Menschen keinen Ausdruck. »Ihr Vater ist auf der Insel?« fragte ich rasch. »Mein Vater ist tot, Sir. Er hieß Fletcher Christian.« Auf die gleiche unbefangene, offenherzige Art fuhr er fort, mir zu erzählen, daß er keine Erinnerung an seinen Vater, der vor vielen Jahren gestorben sei, bewahrt habe. Ich glaube, daß es mir gelang, mein Erstaunen darüber, daß ich durch bloßen Zufall Christians Versteck gefunden hatte, zu verbergen. Ich wollte die jungen Leute nicht in Unruhe versetzen. Der jüngere Bursche war Edward Young, der Sohn meines alten Messekameraden auf der Bounty. »Ihr habt vorher noch nie ein Schiff gesehen?« erkundigte ich mich. »Nur ein einziges Mal, Herr. Vor zwei Jahren. Ein Schiff kam, das Topaz genannt wurde. Es kam aus dem Loch, in dem die Sonne aufgeht. Der Kapitän, Herr Folger, gab uns viele nützliche Dinge, einen kupfernen Kessel, Äxte und Messer. Unser Vater war an dem Tag glücklich; Sie müssen wissen, Herr, daß auch unser Vater durch die Löcher gefahren ist, in denen die Sonne auf- und untergeht.« »Wie groß sind diese Löcher, Herr?« wollte Edward Young wissen. »Unser Vater sagt, daß sogar ein so großes Schiff wie das eure leicht hindurchfahren kann.« Diese einfache Frage rührte mich. Offenbar hatte man diesen Burschen wenig von der Außenwelt erzählt; was sie wußten, hatten ihre eingeborenen Mütter sie gelehrt. »Das stimmt«, sagte ich. »Noch viel größere Schiffe als dieses hier können ohne Gefahr hindurchfahren.« Die beiden blickten mich voll Staunen an. »Gibt es denn noch größere Schiffe?« fragten sie ungläubig.
Es war halb zwei geworden, und ich lud die beiden jungen Leute ein, das Mittagessen mit mir zu teilen. Obgleich meine Kajüte einfach und schmucklos war, blickten sie sich mit Erstaunen um. Ihr Benehmen bei Tisch war vortrefflich, wenn sie auch offensichtlich nicht daran gewöhnt waren, mit Messer und Gabel zu hantieren. Ehe sie sich setzten, standen sie mit gesenktem Kopf da und sprachen ein Tischgebet; dies geschah auf so natürliche, schlichte und gläubige Art, daß sie zweifellos seit ihrer Kindheit daran gewöhnt waren. Beide sprachen auf solche Art von »unserem Vater«, daß ich glaubte, sie seien trotz der Verschiedenheit der Namen Brüder; aber bald erkannte ich, daß sie nicht ihre wirklichen Väter meinten. »Wir meinen Alexander Smith«, sagte der junge Christian. »Der ist jetzt unser Vater.« »Hat Alexander Smith euch auch lesen gelehrt?« fragte ich. »Ja, Alexander Smith unterrichtete uns.« »Welche anderen älteren Männer leben bei euch?« »Keiner; unser Vater ist der einzige«, entgegnete Christian. Ich war erstaunt darüber. Wo waren Mills, Brown, Martin, McCoy, Williams und Quintal? John Mills, der Konstablersmaat der Bounty, war der einzige Mann mittleren Alters gewesen, der Christian begleitet hatte. Ich war begierig, zu hören, was aus den anderen geworden war; aber ich unterließ es, meine Gäste danach zu fragen. Sogleich nach der Beendigung der Mahlzeit segelten wir noch dichter an die Insel heran. Ich hatte mich entschlossen, an Land zu gehen, aber ein Blick auf die einzige Landungsstelle überzeugte mich davon, daß es
gewagt sei, die Fahrt in einem der Boote der Fregatte zu unternehmen. Die Stelle war mit halb überschwemmten Klippen besät, gegen die die Brandung wütend anstürmte. Deshalb bestieg ich mit den beiden jungen Leuten deren Kanu. Sie lenkten ihr winziges Fahrzeug mit größter Geschicklichkeit; niemals habe ich eine Küstenstelle gesehen, an der Sicherheit und völlige Beherrschung der Ruderkunst notwendiger gewesen wären. Der Sandstreifen am Fuße der Felsen war so schmal, daß nicht einmal ein Schuppen für das Kanu Platz hatte. Die Burschen hoben das kleine Boot auf die Schultern und begannen, den Pfad zu der Siedlung emporzuklimmen. Der Aufstieg war an manchen Stellen so steil, daß der schmale Weg im Zickzack angelegt worden war. Es kostete Mühe, unbelastet hinaufzusteigen, und ich bewunderte die Gelenkigkeit, mit der Christian und Young, ohne ein einziges Mal Atem zu schöpfen, ihre Last zuweilen von einer Schulter auf die andere luden. Auf der Hochfläche angelangt, bot sich mir ein Bild des Friedens und der Schönheit, das die Mühe des Aufstiegs reichlich lohnte. Die ausgedehnte, ebene Fläche war mit weichem, grünem Rasen bedeckt und von prächtigen alten Brotfruchtbäumen beschattet. Auf dem sanften Hang, der vom Innern der Insel zu den so jäh ins Meer abstürzenden Bergspitzen emporführte, erhoben sich die vier Häuser der kleinen Ansiedlung. Sie waren aus rohem Blockwerk erbaut. Jedes hatte zwei Stockwerke und war mit Kokosnußwedeln gedeckt. Rings um die Ansiedlung befanden sich Ställe für Schweine, Ziegen und Hühner. Im Norden und Nordwesten breiteten sich Haine von Kokosnußpalmen aus, an die sich die natürlichen Wälder der Insel schlossen.
Diese Einzelheiten bemerkte ich erst später. Im Augenblick war meine Aufmerksamkeit völlig von der kleinen Menschengruppe in Anspruch genommen, die unter Führung eines kräftigen Mannes mittleren Alters auf mich zukam, um mich zu begrüßen. Er war sauber nach Art der Matrosen aus alter Zeit gekleidet, obgleich die Kleidungsstücke aus einheimischen Stoffen gefertigt waren. Ich erkannte ihn sogleich. Es war Alexander Smith, der mich auf der Bounty bedient hatte. Ein Lächeln aufrichtiger Freude war über sein Gesicht gebreitet. »Willkommen, Sir! Ich hoffe, daß Sie sich bei uns wohl fühlen werden.« Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Smith, kennst du mich denn nicht mehr?« fragte ich. Er trat einen Schritt zurück und sah mich prüfend an. »Nein, Sir, ich kann mich wirklich nicht ... Gott helfe mir! Sie sind doch nicht... Sie sind doch nicht Herr Byam?« Seine ungekünstelte Freude rührte mich tief. Er ergriff meine beiden Hände; Tränen traten ihm in die Augen, und einen Augenblick lang war er unfähig, zu sprechen. Dann rief er in der Sprache von Tahiti: »Maimiti! Taurua! Balhadi! Kommt her! Es ist Herr Byam!« Drei Frauen näherten sich uns und schauten mich ungläubig an. Dann stieß eine von ihnen einen Schrei des Erkennens aus, umarmte mich, lehnte den Kopf an meine Schulter und begann leise zu weinen. Es war Taurua, Youngs Frau, die ich zum letzten Male als siebzehnjähriges Mädchen gesehen hatte. Jetzt war ihr Gesicht faltig und ihr Haar mit weißen Fäden durchzogen. Smiths Frau war beinahe blind und tastete sich auf mich zu; ich erkannte sie kaum. Maimiti jedoch, Christians
Frau, zeigte noch Spuren ihrer einstigen Schönheit. Sie war jetzt etwa vierzig Jahre alt; ihrer Würde und ihrem reizvollen Wesen hatten die Jahre nichts anhaben können. Über die Einzelheiten dieses rührenden Wiedersehens will ich hinweggehen. Eine unermeßliche, in Jahren nicht auszudrückende Zeitspanne schien zwischen jenem Augenblick und dem Abend zu liegen, an dem Christian und Maimiti mir am Strand von Tahiti Lebewohl gewünscht hatten. Die kleine Gemeinde zählte um diese Zeit etwa fünfunddreißig Köpfe. Da gab es eine Mary Christian, ein siebzehnjähriges Mädchen, so reizend, wie ihre Mutter in ihrem Alter gewesen war. Dann ein halbes Dutzend Youngs, beinahe ebenso viele Quintais, eine Sarah und einen Daniel McCoy. Schönere, gesündere Kinder habe ich niemals gesehen, und sie lebten, als wären sie alle Mitglieder einer großen, glücklichen Familie. Aber was mich überraschte, war, daß von all den Männern, Weißen und Eingeborenen, die Fletcher Christian in der Bounty begleitet hatten, nur Alexander Smith übriggeblieben war. Smith erwähnte ihre Namen nicht; ich begriff, daß er es vermied, in Gegenwart der Kinder von ihnen zu sprechen. Es war Abend geworden, und Vorbereitungen für das Nachtessen wurden getroffen. Ich hatte Herrn Cobden, meinem Leutnant, mitgeteilt, daß ich die Nacht an Land verbringen werde. Bald wurde das Essen aufgetragen. Es gab Spanferkel, Yamwurzeln, süße Kartoffeln und Pisanggemüse. Dazu klares Quellwasser. Als das Mahl beendet war, schlenderte ich mit Alexander Smith in die Abendkühle hinaus. Es war eine herrliche Nacht; der Mond stand im ersten Viertel und warf einen
schwachen Lichtschein über die Landschaft. Wir stiegen den Abhang empor und setzten uns an einer Stelle, von der aus wir das Meer tief unter uns erblicken konnten. Ich erzählte Smith von den Dingen, die sich in den letzten zwanzig Jahren ereignet hatten; von unseren Kriegen mit den Dänen, den Holländern, den Spaniern und den Franzosen. Er lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit; als ich ihm von der Schlacht bei Kopenhagen berichtete, wo neun britische Schiffe achtzehn schwimmende Batterien der Dänen erobert hatten, sprang der alte Bursche vor Erregung auf, warf seinen Hut in die Luft und rief: »Es lebe England!« »Und das alles habe ich versäumt, Herr Byam!« sagte er, während er sich mit traurigem Kopfschütteln wieder hinsetzte. Dann plauderten wir von den alten Zeiten auf der Bounty; schließlich erzählte ich ihm, wie wir seine Insel durch Zufall entdeckt hatten. »Sie heißt Pitcairns Insel, Herr Byam« antwortete er auf meine Frage nach ihrem Namen. »Ich weiß es, weil Herr Christian es uns gesagt hat. Erinnern Sie sich, daß er Kapitän Carterets Karte bei sich hatte? Als wir Tahiti verließen, rief er uns zusammen und sagte uns, daß er daran denke, diese Insel zu suchen. Eine Woche lang kreuzten wir in den Gewässern, ohne sie zu finden. Ihre Lage war auf Kapitän Carterets Karte falsch angegeben, und Herr Christian glaubte schon, eine solche Insel gäbe es gar nicht. Dann fanden wir sie auf einmal; ich sichtete sie als erster. Wir hatten viel Mühe, unsere Hühner, Schweine und Ziegen an Land zu bringen, aber es gelang. Dann beschloß Herr Christian, das Schiff an den Felsen zerschellen zu lassen. Anfangs waren ein paar von uns
dagegen, aber er überzeugte uns davon, daß wir nie eine bessere Insel finden würden. So erklärten wir uns denn schließlich einverstanden und fuhren mit einer guten Brise im Rücken auf die Felsen los, bei denen Sie gelandet sind; als unser altes Schiff gegen die Felsen stieß, Herr Byam, war mir zumute, als habe mir jemand einen schweren Schlag aufs Herz versetzt. Ich wußte, daß ich England nie wiedersehen würde. Wir räumten die Bounty vollkommen aus und benutzten auch jedes Stück des Schiffes selbst, das auf irgendeine Art zu brauchen war; dann steckten wir die Bounty in Brand. Was von ihr übrigblieb, sank später und liegt in fünfundzwanzig Faden Tiefe begraben. Wenn es auch schon lange her ist, so weiß ich doch noch genau den Tag, an dem wir sie verbrannten. Es war der 23. Januar 1790. Von dem Tag an bis zum Februar 1808, als Kapitän Folger mit der Topaz herkam, haben wir kein fremdes menschliches Wesen mehr gesehen.« »Wie viele wart ihr, als ihr hier ankamt?« fragte ich. »Neun Leute von der Bounty und sechs Indios. Außerdem zwölf Frauen von Tahiti; macht alles in allem siebenundzwanzig ...« Und Smith erzählte mir die Geschichte der Meuterer und der Indios, die ihnen gefolgt waren. Der Mond war schon lange untergegangen, als wir zu Smiths Haus zurückkehrten. Wir stahlen uns leise hinein. »Warten Sie eine Minute, Herr Byam, ich zeige Ihnen Ihr Bett.« Gleich darauf kehrte er mit einer primitiven Lampe zurück. Ich folgte ihm zum oberen Stockwerk des Hauses. Das Zimmer war peinlich rein; auf beiden Seiten ließen große Fenster die Nachtkühle ein. Ein großes Bett, ähnlich dem in einem Bauernhaus der Heimat, war meine
Lagerstätte. Über die Matratze aus süßem Farnkraut waren Decken aus schneeweißem Tapastoff gebreitet. »Gute Nacht, Sir. Ich hoffe, Sie werden gut schlafen!« Leise stieg er die Leiter hinab. Eine Weile lag ich da und blickte auf die Wedel der Kokospalmen hinaus, die sich deutlich von dem sternhellen Himmel abhoben; dann fiel ich in erfrischenden Schlummer. Bei Tagesanbruch unterrichtete mich Smith davon, daß völlige Windstille herrsche. »Ich kenne das Wetter hier«, sagte er, »vor Abend können Sie nicht unter Segel gehen.« Ich sandte Herrn Cobden Nachricht, daß er mich nicht vor Abend erwarten möge. Am Nachmittag stieg ich zu dem Grat empor, der in der Höhe von tausend Fuß über dem Meeresspiegel zwei Bergspitzen miteinander verbindet. Er ist kaum einen Meter breit, und an manchen Stellen stürzen die Wände auf beiden Seiten senkrecht ab. Mary Christian, Fletchers einzige Tochter, hüpfte, ohne ein einziges Mal zu zögern, als meine Führerin vor mir her, während ich langsam und vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte und mit Schrecken daran dachte, einen Fehltritt zu tun. Sie erwartete mich kurz vor dem Gipfel der Nordspitze. Hier oben spürte ich zum ersten Male die Gegenwart Fletcher Christians und seines stolzen, ruhelosen, unbesiegbaren Geistes. Mary ließ mich allein, und ich saß lange hier oben. Ich stellte mir meinen Freund vor, wie er von hier aus grimmigen Sinnes Ausschau hielt nach einem Segel, das niemals kam; wie er auf den leeren Ozean hinausblickte, der sich den einsamsten Horizonten der Erde entgegendehnt; wie er den fernen Schreien der Seevögel lauschte und dem schwermütigen Rauschen der Brandung in den Grotten am Fuße der Felsen.
Ich wähnte mich allein; doch als ich mich umblickte, sah ich Mary Christian auf der äußersten Spitze des Nordgipfels stehen. Klar hob sich ihre Gestalt vom wolkenlosen Himmel ab; die Arme hatte sie auf der Brust verschränkt; ihr Haar flatterte im Winde. Zwei tropische Vögel, deren schneeweißes Gefieder in der Sonne schimmerte, kreisten um ihren Kopf, als kannten und liebten sie sie. Sie glitten, vom Winde getragen, abwärts, um gleich darauf schwingenschlagend wieder emporzusteigen. Von allen Erinnerungen an die Bounty tauchte keine öfter in mir auf als dieses Bild.
ZWEITES BUCH
THOMAS LEDWARD
Wundarzt in Sr. Majestät Marine, erzählt von der Fahrt,
die Kapitän William Bligh mit achtzehn seiner Leute im
offenen Boot durch 3600 Meilen undurchforschten
Ozeans unternahm
1
Heute hat man meinen guten Freund William Elphinstone zu Grabe getragen. Herr Sparling, der Oberarzt von Batavia, half mir ins Boot, und zwei seiner malaiischen Diener warteten am Ufer des Flusses mit einer Sänfte, um mich zum Friedhof zu bringen. Zwei andere von uns, die unter der Mühsal und den Entbehrungen unserer abenteuerlidhen Fahrt im offenen Boot zusammengebrochen waren, waren Elphinstone auf dem Weg zum Friedhof vorausgegangen. Sie waren niederer Abkunft, aber Elphinstone wird es wohl zufrieden sein, neben ihnen zu ruhen, denn sie waren brave Seeleute, die sich als wahre Männer erwiesen hatten. Herr Sparling hatte alles versucht, um sie am Leben zu erhalten, aber sie hatten zu viel gelitten. Herr Fryer, der Schiffer, Cole, der Bootsmann, und die Seekadetten Hayward und Tinkler wurden vier Meilen den Fluß hinaufgerudert, um dem Begräbnis beizuwohnen. Als wir unserem toten Kameraden die letzte Ehre erwiesen hatten, erfuhr ich, daß meine Freunde am nächsten Morgen mit den letzten Leuten von der Bounty, die noch in Batavia weilten, an Bord des Schiffes Hollandia nach Europa abreisen würden. Mich schmerzte der Gedanke an den Abschied, aber ich freute mich um meiner Freunde willen, deren Sehnsucht nach England nun, nach fast zweijähriger Abwesenheit, ebenso groß war wie die meine. Das Geschwür an meinem Bein ist unter dem Einfluß des tropischen Klimas so schlimm geworden, daß es unratsam für mich wäre, im gegenwärtigen Zeitpunkt die lange Schiffsreise zu unternehmen. Nach Herrn Sparlings Ansicht werde ich noch einige Monate lang reiseunfähig sein. Wenn meine
Kameraden abgereist sind, werde ich mich einsam fühlen. Ich will zur Feder greifen, um die langen, leeren Tage, die vor mir liegen, zu kürzen. Das Marinehospital ist ein Muster seiner Art: groß, luftig, in einzelne Gebäude geteilt, in denen die Kranken, je nach ihren Leiden, getrennt untergebracht sind. Ich wohne bei dem Oberarzt in einem Haus, das abseits des eigentlichen Hospitals liegt. Er hat im Schatten blühender Bäume und Sträucher ein Lager für mich hergerichtet, auf dem ich schreiben, lesen oder auch, mein verbundenes Bein auf einem Stuhl ausgestreckt, in Muße träumen kann, indes mein Blick über die in der Sonnenglut dampfende üppige und vielgestaltige Landschaft schweift. Mein Gastgeber ist der gütigste aller Menschen und der einzige hier, mit dem ich mich unterhalten kann, aber seine Pflichten lassen ihm wenig Zeit zu müßigem Geplauder. Seine Gattin, eine junge und schöne Nichte des Gouverneurs von Kapstadt, ist kaum zwanzig Jahre alt und sieht in der malaiischen Tracht, die sie mit Vorliebe anlegt, entzückend aus. Von ihren eingeborenen Dienerinnen begleitet, kommt sie am Nachmittag oft, um bei mir zu sitzen. Ihre blauen Augen ruhen mit Anteilnahme und Mitgefühl auf mir. Ich bin so lange des Vergnügens weiblicher Gesellschaft beraubt gewesen, daß es eine Freude für mich ist, sie anzusehen. Könnte ich mich mit Frau Sparling unterhalten, so würde mir die Zeit gewiß nicht lang werden. Als wir Elphinstone begraben hatten und ich den Oberarzt um Schreibzeug gebeten hatte, brachte sie es mir. Aber sie verabschiedete sich bald darauf, und da der Abend noch weit entfernt ist, will ich beginnen, meine
Erinnerungen zu Papier zu bringen, um mir die Zeit zu vertreiben, bis ich wieder gehen kann. Über die Meuterei an Bord des bewaffneten Transportschiffes S. M. Bounty habe ich wenig zu sagen. Kapitän Bligh hat einen Bericht darüber geschrieben, den der Sekretär des Gouverneurs in Coupang ins Holländische übersetzte, so daß die hiesigen Hafenbehörden in dem unwahrscheinlichen Fall, daß sich das Meutererschiff hier blicken lassen würde, wohl wüßten, was sie zu tun hätten. Aber über die Ereignisse, die sich abspielten, nachdem wir auf der Barkasse des Schiffes auf den Ozean ausgesetzt worden waren, mag ein Bericht von Nutzen sein, um so mehr, als Herr Nelson, der Botaniker, der mir in Coupang eine ähnliche Absicht kundtat, in Timor als Opfer der Entbehrungen, denen wir ausgesetzt waren, gestorben ist. Vielleicht noch nie in der Geschichte der Schiffahrt hat ein Kapitän eine großartigere Leistung vollbracht als Herr Bligh, indem er ein kleines, offenes, unbewaffnetes Boot - nur 21 Fuß lang und so schwer beladen, daß es unausgesetzt zu kentern drohte - von den Freundschaftsinseln nach Timor lenkte, eine Entfernung von 3600 Meilen, durch Inselgruppen, die von grausamen Wilden bewohnt sind, über einen gewaltigen Ozean, von dem keinerlei Karten vorhanden sind. Unser achtzehn waren in dieser Nußschale zusammengepfercht, als wir einundzwanzig Tage lang, von schweren östlichen Stürmen bedroht, dahinfuhren, bei Tag und Nacht von wolkenbruchartigen Regengüssen gepeitscht. Und dennoch kamen wir alle, mit Ausnahme von John Norton, der auf Tofoa von Wilden ermordet wurde, zu der Insel Timor. Keinem andern als Kapitän Bligh haben wir es zu danken, daß wir am Leben geblieben sind. Wir erreichten Niederländisch
Ostindien nicht durch ein Wunder, sondern weil uns ein Offizier von unbeugsamem Willen und höchsten seemännischen Eigenschaften führte, den seine Kaltblütigkeit auch in den Augenblicken größter Gefahr niemals verließ. Sein Name wird von denen, die ihn begleiteten, geehrt werden, solange sie leben. Am Morgen des 28. April 1789, als die Bounty vor einem leichten östlichen Winde, nicht weit von Tofoa, einer der Freundschaftsinseln, dahinsegelte, wurde ich kurz nach Tagesanbruch von Charles Churchill, dem Waffenmeister, und John Mills, dem Konstablersmaat, geweckt, die mir mitteilten, daß sich Leutnant Fletcher Christian mit Einwilligung des größten Teiles der Mannschaft des Schiffes bemächtigt habe und daß ich sogleich auf Deck gehen solle. Die beiden Meuterer waren schwer bewaffnet. Ich kleidete mich in Hast an und eilte auf Deck. Als ich das Schiff in der Gewalt bewaffneter Aufständischer und Kapitän Bligh als Gefangenen in ihrer Mitte sah, wollte ich meinen Augen zuerst nicht trauen. Aber es war nichts zu machen. Jene, von denen man annehmen konnte, daß sie dem Kapitän treu bleiben würden, waren so streng bewacht, daß jeder Gedanke an Widerstand nutzlos gewesen wäre. Zwei Matrosen richteten die Bajonette ihrer Musketen auf mich, Elphinstone und John Norton, einen der Quartiermeister. Ich erinnere mich genau, daß einer der Männer mir sagte: »Bleiben Sie dort stehen, Herr Ledward. Wir wollen Ihnen nichts zuleide tun, aber, bei Gott, wenn Sie nur einen einzigen Schritt auf Kapitän Bligh zu tun, renne ich Ihnen das Ding hier in den Leib!« Wir versuchten, die Leute zur Vernunft zu bringen, aber sie waren von
solchem Haß gegen Kapitän Bligh besessen, daß unsere Worte nicht den geringsten Eindruck auf sie machten. Wäre Kapitän Bligh nicht gebunden gewesen, ich glaube, er hätte sich unbewaffnet, wie er war, auf die Meuterer gestürzt und auf diese Art den Tod gefunden. Bald darauf erfuhren wir, was man mit uns vorhatte, doch wir hatten damals gar keine Zeit, über die schrecklichen Folgen dieser grausamen und tollen Entschlüsse nachzudenken. Auf dem Schiff herrschte völliger Aufruhr, und um ein Haar wäre Kapitän Bligh ermordet worden. Zuerst hatte man die Absicht, uns in dem Kutter auszusetzen, aber dessen Boden war so morsch, daß man uns schließlich die Barkasse zugestand. Während Vorbereitungen getroffen wurden, das Fahrzeug auf das Meer hinabzulassen, kam Fletcher Christian auf mich zu. »Herr Ledward, Sie können auf dem Schiff bleiben, wenn Sie es wünschen«, sagte er. »Ich werde Kapitän Bligh folgen«, entgegnete ich. »Dann los - in das Boot mit Ihnen!« »Aber sicher werden Sie uns doch nicht ohne die notwendigsten Arzneimittel aussetzen, Herr Christian! Auch brauche ich meine Kleider.« Christian gebot einem Matrosen, mich hinunterzuführen, und gestattete mir, die notwendigsten Kleidungsstücke und den kleinen Medizinkasten mitzunehmen. Dann ließ mich dieser irregeleitete Mann, der neunzehn Mitmenschen zu unausdenkbaren Leiden verurteilt hatte, kurzerhand stehen. Glücklicherweise enthielt der Kasten, den ich immer für Landexpeditionen bereithielt, chirurgische Instrumente, Verbandzeug und die wichtigsten Heilmittel, die für Leute in unserer Lage am notwendigsten waren. Ich legte meine Rasiermesser, einige Taschentücher und das
einzige Paket Schnupftabak, das mir verblieben war, in den Kasten sowie auch ein halbes Dutzend Weingläser, die sich später als äußerst nützlich erweisen sollten. Nachdem ich noch rasch einige Kleidungsstücke zusammengerafft hatte, führte man mich wieder auf Deck. Das Boot war schon auf das Meer hinabgelassen worden. Kapitän Bligh, Fryer, der Schiffer, William Cole, der Bootsmann, und viele andere befanden sich bereits darin. Ich war einer der letzten, die die Barkasse bestiegen. Nur Herr Samuel, der Schreiber des Kapitäns, und Robert Tinkler, ein Kadett, folgten mir noch. Das Boot war jetzt schon so tief im Wasser, daß Kapitän Bligh ersuchte, man möge niemanden mehr hinablassen, obgleich, wenn ich mich recht erinnere, noch zwei Kadetten und drei oder vier Matrosen mit uns gekommen wären, wenn Platz gewesen wäre. Zum Glück - für sie und für uns - erlaubte man es ihnen nicht. Es waren schon neunzehn Menschen in dem Boot, und jeder hatte sein Kleiderbündel und soviel Lebensmittel, als die Meuterer uns zugestanden hatten, bei sich, so daß die Barkasse auf gefährlichste Weise überlastet war. Im Augenblick aber war keine Zeit vorhanden, über die Gefährlichkeit unserer Lage nachzudenken. Auf dem Achterdeck der Bounty standen dichtgedrängt die Meuterer und überschütteten uns mit höhnischen Zurufen, die allerdings zumeist Herrn Bligh galten. Als ich zu den Leuten emporblickte, wunderte ich mich darüber, daß eine Meuterei, an der über die Hälfte der Mannschaft teilnahm, in solcher Heimlichkeit hatte geplant werden können. Wie groß der Haß der Leute gegen ihren Kapitän sein mußte! Gewiß, er ist ein Mann von aufbrausender Gemütsart, von unbeugsamer Strenge in der Ausführung dessen, was er für seine Pflicht hält. Aber da ich die
unbedingte Notwendigkeit der Manneszucht zur See kannte, waren mir die von Kapitän Bligh verhängten Strafen nur selten als zu streng erschienen. Jetzt erst merkte ich an den wilden Beschimpfungen, wie groß die Erbitterung gegen Bligh war. Allerdings waren es nur vier oder fünf Leute, die sich dabei hervortaten. Andere blickten schweigend und wie schreckerfüllt auf uns hinab, so als sei ihnen zu Bewußtsein gekommen, welchen Verbrechens sie sich schuldig gemacht hatten. Wir hatten dringend einige Musketen verlangt, um uns gegen die Wilden verteidigen zu können. Aber dieses Begehren wurde höhnisch abgelehnt, und nur vier Stutzsäbel wurden uns schließlich zugeworfen. Trotz allen Bittens erhielten wir nichts anderes. Das erboste Kapitän Bligh so, daß er zu den Schurken so redete, wie es ihnen gebührte. Zwei oder drei Matrosen richteten ihre Warfen auf ihn, und ich glaube, es war nur die überlegene Kraft seines Willens, die sie daran hinderte, ihn zu töten. In diesem Augenblick wurde das Boot losgemacht, und das Schiff entfernte sich langsam von uns. Das Gebrüll der Meuterer an Bord der Bounty wurde schwächer und endlich ganz unhörbar. Zwei Stunden später war das Schiff nur noch ganz ferne am Horizont sichtbar. Ich erinnere mich noch sehr wohl der Stille, die sich, auf unsere kleine Schar herniedersenkte, sobald wir abgetrieben worden waren - der Stille des offenen Meeres, die uns durch das schwache Knarren der Ruder nur noch stärker zum Bewußtsein kam. Unser sechs ruderten, aber das Boot war so schwer beladen, daß wir uns nur langsam der Insel Tofoa näherten, die etwa zehn Meilen von uns entfernt in nordöstlicher Richtung lag. Fryer saß am Steuer, Kapitän Bligh, Elphinstone, Herr Nelson und Peckover, der Konstabler, saßen achtern. Wir
anderen befanden uns dort, wo uns der Zufall hingeführt hatte, als wir das Boot bestiegen. Bligh saß mit finsterem Gesichtsausdruck auf seinem Platz und starrte auf das ferne Schiff. Nicht einen Augenblick lang wandte er seinen Blick von der Bounty ab. Er schien uns alle vergessen zu haben, und keiner von uns dachte daran, ihn durch Sprechen an unsere Anwesenheit zu erinnern. Unsere Gedanken waren geradeso düster wie die seinen, und ebensowenig wie er waren wir geneigt, sie in Worte zu kleiden. Mein Mitgefühl in dieser bitteren Stunde wandte sich Herrn Bligh zu; ich konnte mir leicht vorstellen, wie schmerzlich ihm der Zusammenbruch all seiner Pläne sein mußte. Wir befanden uns auf der Rückfahrt, nachdem der Zweck unserer langen Reise - in Tahiti Brotfruchtpflanzen für Westindien zu sammeln vollkommen erreicht worden war. Diese Aufgabe, die ihm von der Regierung Seiner Majestät durch Vermittlung seines Freundes und Gönners Sir Joseph Banks anvertraut worden war, war ihm sehr ehrend erschienen, und er hatte das in ihn gesetzte Vertrauen vollauf gerechtfertigt. Nun waren alle seine Hoffnungen in einem einzigen Augenblick vernichtet worden. Sein Schiff hatte er verloren; die unschätzbaren Karten, die er von Küsten und Inseln angelegt hatte, gleichfalls. Nichts besaß er mehr, das Zeugnis hätte ablegen können von seiner mühevollen und gewissenhaften Arbeit. Mit achtzehn seiner Leute trieb er in einem Boot seines eigenen Schiffes auf dem Meere, und nichts anderes nannte er mehr sein eigen als einen Kompaß, einen Sextanten und sein Tagebuch. Der nächste Ort, an dem er hätte Hilfe finden können, war tausende Meilen entfernt.
Kein Wunder, daß sein Gemüt in dieser Stunde von tiefster Bitterkeit erfüllt war. Langsam bewegten wir uns auf Tofoa, die nordwestlichste der Freundschaftsinseln zu; diese Gruppe war von Kapitän Cook so getauft worden, aber unsere Erfahrungen mit ihren Bewohnern, wenige Tage vor der Meuterei, ließen uns vermuten, daß Cook diese Leute nur in einem Anfiug von Ironie »freundlich« genannt haben konnte. Es ist ein kräftiger Volksstamm, aber wir fanden ihn im höchsten Grade wild und heimtückisch, so verschieden wie nur möglich von den Indios auf Tahiti. Nur der Besitz von Feuerwaffen hatte uns vor Angriffen geschützt, während wir auf der Insel Namuka Holz und Wasser eingenommen hatten. Tofoa hatten wir nicht besucht, und als ich auf die zarte blaue Küstenlinie am Horizont blickte, versuchte ich - aber mit geringem Erfolg - mir vorzustellen, daß unsere Erfahrungen dort glücklicher sein würden. Mancher angstvolle Blick schweifte zu Kapitän Bligh hin, aber etwa eine Stunde lang blieb er in der gleichen Stellung sitzen, dem weit entfernten Schiff nachstarrend. Als er sich endlich abwandte, schien er die Bounty mit einem Male vergessen zu haben. Er übernahm sein neues Kommando mit einem Selbstvertrauen und einer ruhigen Festigkeit, die uns frischen Mut fassen ließ. Zunächst war sein Wille darauf gerichtet, eine gewisse Ordnung in das Boot zu bringen. Die Barkasse war, wie bereits bemerkt, auf furchtbare Weise überfüllt, aber nachdem wir unser Hab und Gut praktisch untergebracht hatten, fanden wir doch ein wenig Ellbogenfreiheit. Eine Prüfung der Vorräte ergab, daß wir sechzehn Stück Schweinefleisch von je zwei Pfund, drei Säcke voll Brot im Gewicht von je fünfzig Pfund, sechs Quartflaschen Rum, sechs
Flaschen Wein und in drei Fässern achtundzwanzig Gallonen Wasser hatten. Ferner vier leere Fäßchen mit einem Fassungsraum von je acht Gallonen. Dem Zimmermann Purcell war es gelungen, eine seiner Werkzeugkisten mitzunehmen. Unsere übrigen Hilfsmittel bestanden, außer unseren persönlichen Habseligkeiten, aus meiner Arzneikiste, den beiden Lugsegeln, zwei oder drei Ersatzsegeln, ein paar Tauen und einem Kupfertopf. Glücklicherweise war die See ruhig; auch die Wetteraussichten waren so günstig, daß wir hoffen durften, Tofoa glücklich zu erreichen. Jede Stunde wurden die Ruderer ausgewechselt, an jeden von uns kam die Reihe. Allmählich wurden die Umrisse der Insel deutlicher, und um die Mitte des Nachmittags hatten wir etwa die halbe Entfernung zurückgelegt. Um diese Zeit frischte der Wind auf, Kapitän Bligh setzte sich ans Steuer, und wir nahmen Kurs auf die Nordseite der Insel. Kaum achtzehn Stunden früher hatte ich - wie ich damals geglaubt hatte - einen letzten Blick auf die mondbeschienene Insel geworfen, und ich hätte es mir wahrlich nicht träumen lassen, daß sich unser Schicksal so völlig ändern sollte, ehe die Sonne ein zweites Mal unterging. Ich versuchte zu ergründen, welchen Plan Kapitän Bligh gefaßt hatte. Unsere einzige Hoffnung, Hilfe zu finden, lag in den holländischen Besitzungen in Ostindien, aber die waren so weit entfernt, daß die Aussicht, sie zu erreichen, einem phantastischen Märchen glich. Unterdessen setzten wir unsere Fahrt fort, unter einem Himmel, der mit seinem Blau die verzweifelte Lage der Menschen in dem winzigen Boot, das unter ihm dahinkroch, zu verspotten schien. Die Sonne tauchte
hinter uns ins Meer, und im Abendlicht hob sich die Insel nunmehr in klaren Linien vom Horizont ab. Die höchste Spitze des Gebirges, einen Vulkan, schätzten wir auf etwa zweitausend Fuß Höhe. Eine zarte Rauchwolke schwebte darüber, gelb schimmernd in den letzten Strahlen der Sonne. Beim Einbruch der Dunkelheit waren wir noch zu weit von der Küste entfernt, um die Feuer der Eingeborenen zu sehen, falls die Insel bewohnt wäre, woran der Kapitän zweifelte. Als wir eine Meile vom Land entfernt waren, erstarb der Wind, und wieder wurden die Ruder zu Hilfe genommen. Wir näherten uns dem felsigen Ufer, bis das Donnern der Brandung an unser Ohr drang, aber in der Dunkelheit konnten wir keine Stelle ausfindig machen, an der eine Landung möglich gewesen wäre. Überall stürzten die Klippen beinahe senkrecht ins Meer ab. Erst nachdem wir längere Zeit vor der Insel gekreuzt hatten, fanden wir eine Stelle, an der wir ohne allzu große Gefahr die Nacht verbringen konnten. Die Brandung war hier sehr schwach, und ihr Rauschen ließ uns die Stille der Nacht nur noch stärker empfinden. Unsere Stimmen klangen seltsam entfernt in dieser Stille. Obgleich wir seit dem vorangegangenen Abend keine Nahrung zu uns genommen hatten, dachte keiner von uns ans Essen. Hingegen ließ Bligh jedem von uns eine Ration Grog zuteilen, und ich begriff zum ersten Male, wie gut es gewesen war, die Weingläser mitgenommen zu haben. Der Grog stimmte uns ein wenig fröhlicher, wohl deshalb, weil dieser abendliche Trunk eine gewohnte Sache war, die uns, zumindest einen Augenblick lang, unsere hoffnungslose Lage vergessen ließ. Zwei Leute blieben während der Nacht an den Rudern, während wir übrigen es uns so bequem machten,
als es uns in dieser beengten Lage möglich war. Bald verstummte das leise Gespräch, und das Schweigen, das folgte, war das einer Schar von Männern, die durch den Gedanken an die bevorstehenden gemeinsamen Gefahren brüderlich geeint waren.
2
Während der Nacht wurde das Boot dicht beim Ufer gehalten. Mir zunächst saßen Elphinstone, der Waffenmeistersmaat, und Robert Tinkler, der jüngste Kadett der Bounty, ein Junge von fünfzehn Jahren. Tinkler, der immer gut aufgelegt war, teilte die bösen Vorahnungen, die uns Ältere bedrückten, nicht im mindesten. Er machte sich gar keine rechte Vorstellung von unserer Lage, und es spricht sicherlich für ihn, daß er, auch als ihm die Gefahren, die uns umgaben, zum Bewußtsein kamen, den Mut nicht verlor. Noch ehe der Morgen graute, waren wir alle wach, und sobald es hell genug war, setzten wir unsere Fahrt längs der Küste fort. So steil war diese Küste, daß wir nirgendwo eine Landung versuchen konnten, ohne das Boot in höchste Gefahr zu bringen. Gegen neun Uhr kamen wir zu einer engen, felsigen Bucht, und da wir vor dem Sturm, der sich inzwischen erhoben hatte, keinen anderen Schutz finden konnten, fuhren wir in diese Bucht ein und warfen etwa fünfzehn Meter vom Ufer entfernt Anker. Das Ufer war steil und steinig und machte einen so öden Eindruck, daß wir nicht hoffen konnten, dort Nahrung irgendwelcher Art zu finden. Auf allen Seiten war der Strand von steilen Felsen eingesäumt, und außer dem Seeweg schien es keine Zugangsmöglichkeit zu dieser Bucht zu geben. Kapitän Bligh stand auf und untersuchte die Gegend sorgfältig, während wir anderen seinen Entschluß erwarteten. Mit einem säuerlichen Lächeln wandte er sich Herrn Nelson zu.
»Bei Gott, Sir«, sagte er, »wenn Sie hier auch nur eine einzige eßbare Beere finden können, trete ich Ihnen heute meinen Abendgrog ab.« »Ich fürchte, dabei riskieren Sie nicht viel«, meinte Herr Nelson. »Trotzdem werde ich es gerne versuchen.« »Das wollen wir jedenfalls«, nickte Bligh; dann gab er dem Schiffer die Weisung: »Sie werden mit sechs Mann im Boot bleiben, Herr Fryer.« Das Boot wurde so nahe wie möglich an das Land herangerudert, und wir wateten durch das seichte Wasser ans Ufer. Der Strand war mit runden, glatten Steinen übersät, und es war nicht leicht, festen Halt zu finden, solange wir im Wasser waren. Das Land, das wir nun betraten, war steiniger, mit dürftigem Gras, niedrigem Gestrüpp und vereinzelten Bäumen bedeckter Boden. Der ebene Strand erstreckte sich nur ein kleines Stück weit bis zum Fuß der mit Schlingpflanzen und Farnkräutern bedeckten, fast senkrechten Felsen. Herr Bligh bestimmte seinen Schreiber Samuel, Norton, Purcell, Lenkletter und Lebogue dazu, eine Ersteigung der Felsen zu versuchen. Purcell nahm einen der Säbel mit sich, während die anderen derbe Stöcke zur Hand nahmen. Solcherart bewaffnet, machten sie sich auf den Weg und waren bald unseren Blicken entschwunden. Sie führten den kupfernen Kessel und ein von Eingeborenen gefertigtes Gefäß mit sich, das wir nahe dem Strande, an einem Baum hängend, gefunden hatten. Wir anderen trennten uns; die einen gingen auf die Suche nach Krabben, während die anderen den Strand näher erforschen wollten. Nelson und ich hielten uns auf der linken Seite der Bucht, wo wir ein schmales Tal fanden; aber bald versperrte uns eine glatte Felswand den Weg. Wir konnten keinen
Tropfen Wasser finden, und aus dem kargen Pflanzenwuchs ging nur zu klar hervor, daß, zumindest auf dieser Seite der Insel, Regen eine seltene Erscheinung war. Als wir uns niedersetzten, um uns einen Augenblick auszuruhen, schüttelte Nelson mit einem schwachen Lächeln den Kopf. »Herr Bligh konnte mir gut und gerne seinen Grog anbieten«, bemerkte er. »Wir werden hier nichts finden, weder Nahrung noch Wasser.« »Wie denken Sie über unsere Aussichten?« fragte ich. »Ich habe noch nicht so recht darüber nachgedacht«, antwortete er. »Wasser werden wir wohl auf der anderen Seite der Insel finden und vielleicht auch genug Nahrungsmittel, um uns eine gewisse Zeit am Leben zu erhalten. Darüber hinaus ...« Er ließ den Satz unbeendet. Nach einer Weile fuhr er fort: »Unsere Lage ist nicht hoffnungslos. Mehr können wir heute nicht sagen.« »Jedenfalls ist Bligh für eine solche Lage der rechte Mann«, meinte ich. »Das gebe ich zu. Aber was kann er tun, Ledward? Wohin, um Himmels willen, können wir uns wenden? Wir wissen nur zu gut, welch heimtückische Wilde diese sogenannten Freundschaftsinsulaner sind. Ich spreche zu Ihnen ganz offen. Die anderen werde ich, so gut es geht, zu ermutigen versuchen, aber unter uns brauchen wir doch keine Komödie zu spielen.« Nelson sprach in einem ruhigen, gleichmäßigen Ton, der seine Worte nur um so eindrucksvoller machte. »Ich glaube, daß Bligh uns zurück nach Namuka führen wird oder aber nach Tongataboo.«
»Es scheint keine andere Möglichkeit zu geben«, antwortete ich, »es sei denn, daß wir uns hier niederlassen können.« »Glaube ich nicht. Früher oder später werden wir die Freundschaft dieser Insel auf solche Art zu spüren bekommen, daß wir uns ihrer nicht lange bei lebendigem Leibe zu erfreuen haben werden ... Ledward, Ledward!« Wieder lächelte er bitter. »Denken Sie bloß an unsere glückliche Lage vor vierundzwanzig Stunden, als wir, behaglich auf der Bounty sitzend, von der Heimat sprachen! Und denken Sie nur an meinen schönen Brotfruchtgarten! Was mögen die Halunken nur mit meinen jungen Bäumen gemacht haben?« »Ohne Zweifel haben sie sie über Bord geworfen«, antwortete ich. »Ich fürchte, daß Sie recht haben. Sie haben uns dem Untergang preisgegeben; es ist nicht anzunehmen, daß sie die Pflanzen zärtlicher behandelt haben. Und ich liebte die Pflanzen, als wären es meine eigenen Kinder!« Wir kehrten zum Strand zurück und erfuhren, daß die anderen nicht erfolgreicher gewesen waren als wir. Kapitän Bligh hatte eine Höhle gefunden, die offenbar früher häufig benutzt worden war. Sie war vollkommen trocken. Ein Fund, den wir in ihr machten, war keinesfalls beruhigend. Auf einem Felsvorsprung lagen nebeneinander sechs Schädel von Menschen, die, wie ich mich überzeugte, vor ein oder zwei Jahren noch gelebt hatten und keines natürlichen Todes gestorben waren. Diese Überbleibsel, die im Dämmerlicht der Grotte gespenstisch schimmerten, sprachen eine nur zu beredte Sprache. Um die Mittagsstunde kehrte die zur Durchforschung der weiteren Umgebung ausgesandte Expedition zurück,
völlig erschöpft, mit zerrissenen Kleidern und mit Schrammen und Hautabschürfungen an Armen und Beinen. Sie brachten ein wenig Wasser, das sie in Felslöchern gefunden hatten; aber sie hatten weder einen Fluß noch eine Quelle entdeckt und ebensowenig eine Spur von Bewohnern. Ihrer Ansicht nach war die Insel gegenwärtig unbewohnt. Als wir wieder in unserem Boot waren, nahmen wir die erste Mahlzeit seit dem Verlassen der Bounty ein. Jeder Mann erhielt ein winziges Stück Brot und ein Glas Wasser. Gleich darauf ruderten wir aus der Bucht. »Wir müssen versuchen, auf die Südseite zu gelangen«, sagte Bligh. »Ich glaube, dort werden wir Wasser finden. Ich habe bemerkt, daß dort die Pflanzen eine viel grünere Farbe haben.« Als wir uns von der schützenden Küste entfernt hatten, wurde der Wind zum Orkan, und die Wogen stürzten mit solcher Gewalt über das Boot, daß wir ohne Unterlaß das Wasser ausschöpfen mußten. Schwer beladen, wie sie war, geriet die Barkasse in ernste Gefahr, zu kentern, und selbst Herr Bligh fing an, besorgt dreinzuschauen. Einmal konnten wir uns nur dadurch retten, daß ein Teil der Besatzung ins Wasser sprang, um das auf den Wellen tanzende Fahrzeug leichter zu machen. Wir hielten uns nunmehr wieder nahe an der schützenden Küste, aber da wir trotz eifriger Ausschau weder einen anderen Landungsplatz noch eine Spur von Wasser fanden, hielt Kapitän Bligh es für das beste, wieder Zuflucht in der schmalen Bucht zu suchen. Wir erreichten unseren Ankerplatz etwa eine Stunde nach Eintritt der Dunkelheit, und jeder einzelne von uns war von wütendem Hunger geplagt. Doch wiederum mußten wir uns mit einer äußerst kärglichen Ration begnügen.
Am nächsten Morgen machten wir neuerlich einen Versuch, auf dem Seeweg zur Luvseite der Insel zu gelangen. Der Himmel war heiter, aber der Wind hatte nicht nachgelassen, und der erste erfolglose Versuch bewies uns, daß wir nicht darauf hoffen durften, in unserem schwerbeladenen Boote den Kampf mit dem stürmischen Meer aufzunehmen. Bligh war entschlossen, unseren dürftigen Nahrungs- und Wasservorräten nur das Allernotwendigste zu entnehmen, und obgleich die Aussicht, auf dieser Seite der Insel etwas Eßbares zu finden, sehr gering war, versuchten wir es aufs neue. Herr Bligh machte sich mit Nelson, Elphinstone, Cole und mir auf den Weg, und wir hatten das Glück, einen landseitigen Zugang zur Bucht zu finden, der offenbar von den Eingeborenen selbst dazu benutzt wurde. Durch eine enge Schlucht, deren Vorhandensein uns bisher entgangen war, erreichten wir in halsbrecherischer Kletterei die Höhe und befanden uns jetzt mindestens dreihundert Fuß über dem Meer. Von diesem Aussichtspunkte aus hatten wir freien Ausblick auf den Vulkan, der sich in der Mitte der Insel zu erheben schien. Durch ein zerklüftetes Gebiet von trostloser Öde wanderten wir auf den Berg zu. In einem etwas breiteren Tal hofften wir Wasser zu finden, aber wir fanden nur einige lauwarme Pfützen, und es war eine mühsame Arbeit, mit der Kokosnußschale, die wir als Schöpflöffel benutzten, unsere Gefäße zu füllen. Ein wenig weiter gelangten wir zu verlassenen Eingeborenenhütten und fanden einige Pisangbäume, deren Früchte wir, nach Eingeborenenart an einer Stange befestigt, mit uns nahmen. Immer öder wurde das Land, das stellenweise von Lavafeldern bedeckt war, und da keine Hoffnung bestand, unsere Ausbeute zu erhöhen,
kehrten wir um die Mittagszeit zu unserer Bucht zurück. Noch heute wundere ich mich darüber, daß es Elphinstone und Cole gelang, den Kessel mit dem Wasser über die steilen Felsen hinabzubringen. So geschickt aber führten sie ihre Aufgabe durch, daß sie kaum einen Tropfen verschütteten. Es war nur natürlich, daß der Gedanke an Nahrung zu dieser Zeit jeden anderen verdrängte. Bligh sah ein, daß es von höchster Wichtigkeit war, uns bei Kräften zu erhalten, und so gewährte er uns denn das üppigste Mahl, das wir bisher eingenommen hatten, bestehend aus zwei gekochten Pisangfrüchten, einem Stückchen Pökelfleisch und einem Weinglas Wasser für jeden Mann. Nach dem Essen machte sich unter Führung Fryers eine neue Expedition auf den Weg, um die einzige Richtung, in der wir noch nicht vorgestoßen waren, nach Nahrungsmitteln und Wasser zu durchsuchen. Der Trupp war volle zwölf Stunden unterwegs und kehrte gegen zehn Uhr abends mit leeren Händen zurück; Robert Tinkler fehlte. Er hatte sich, wie Fryer berichtete, kurz vor der Umkehr von den anderen getrennt. Bligh geriet über die Nachricht in heftigen Zorn. »Was, Sir«, brüllte er Fryer an, »Sie können also nicht einmal sieben Leute zusammenhalten? Hol' Sie der Teufel! Muß ich denn bei jedem Schritt dabeisein? Sofort kehrt ihr um und kommt nicht ohne ihn zurück!« Schweigend machten sich die Leute wieder auf den Weg, aber sie hatten noch nicht einmal den Fuß der Felsen erreicht, als von oben her ein Ruf ertönte. Bald darauf kam Tinkler mit einem Flaschenkürbis voll Wasser an, gefolgt von drei Eingeborenen, einer Frau und zwei
Männern. Die Männer trugen auf einer Stange eine Anzahl geschälter Kokosnüsse. Dieser Glücksfall ereignete sich in einem Augenblick, wo wir ihn dringend benötigten, und ich sah mit Freude, daß Bligh, der den Jungen während seiner Abwesenheit verwünscht hatte, ihn nun auf das herzlichste belobte. Tinkler war so froh darüber, wie es nur ein junger Mensch sein kann, der in einer Sache Erfolg hat, die ältere Leute vergeblich versucht haben. Er hatte die Eingeborenen in der Nähe einer Hütte in einem versteckten Tälchen entdeckt und ihnen verständlich gemacht, daß sie ihn, mit Nahrungsmitteln und Wasser versehen, begleiten sollten. Die Männer waren kräftig gebaute, beherzt aussehende Burschen, die gar nicht erstaunt darüber schienen, uns hier anzutreffen. Sie waren unbewaffnet und bis auf einen Lendenschurz aus Tapabast nackt. Die Frau war ein hübsches, etwa zwanzigjähriges Geschöpf und trug ein Kind an der Hüfte. Sie stellten ihre Last nieder und setzten sich in unserer Nähe hin, ohne die geringste Furcht zu zeigen. Wir wußten, daß die Sprache der Eingeborenen dieser Gegend zwar gewisse Ähnlichkeit mit der Sprache der Bewohner von Tahiti hatte, aber doch von dieser ziemlich verschieden war. Immerhin konnten wir uns mit den Leuten verständigen. Herr Nelson befragte die Männer insbesondere nach der Einwohnerzahl der Insel und den Möglichkeiten, Nahrung und Wasser zu finden. Vieles von dem, was einer der Wilden antwortete, war uns unverständlich, aber es wurde uns dennoch klar, daß es auf der Luvseite der Insel eine zahlreiche Bevölkerung gab und daß auf dieser Seite wenig zu finden war, das uns von Nutzen sein konnte.
Die Eingeborenen entfernten sich bald und gaben uns zu verstehen, daß sie mit anderen Bewohnern der Insel zurückkehren würden. Wir hatten nicht viel zu verschenken, aber Bligh gab ihnen zum Abschied immerhin einige Knöpfe von seinem Rock, die sie ohne besondere Dankesbezeigungen annahmen. Der Kapitän sammelte sodann von uns allen kleine Gegenstände ein, die für den Tauschhandel von Nutzen sein würden, und begann auch Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen. Fryer sollte mit fünf Leuten in der Barkasse zurückbleiben, um für alle Möglichkeiten gerüstet zu sein. Der Schiffer erhielt einen der Stutzsäbel; mit den anderen bewaffneten sich Bligh, Purcell und Cole. Wir übrigen schnitten uns von den Bäumen Keulen, die wir aber vorläufig versteckten. Wir waren unser dreizehn am Ufer, während sechs Leute sich in der Barkasse befanden, etwa hundert Meter vom Strand entfernt. So warteten wir denn mit Neugierde, die mit Angst gemischt war, auf unsere Besucher. Diese ließen auch nicht lange auf sich warten. Ich hatte auf Tahiti oft beobachtet, mit welch geheimnisvoller Geschwindigkeit sich Nachrichten unter den Indios verbreiten. So war es auch hier. Es war kaum eine Stunde vergangen, als schon gegen dreißig Mann die Felsen herabkletterten; andere kamen in Booten, und am Nachmittag waren etwa fünfzig Eingeborene in der Bucht. Es waren lauter kräftige Männer von ziemlich trotzigem Gehaben, aber zu unserer Erleichterung unbewaffnet. Übrigens schienen ihre Absichten durchaus friedlich zu sein. Sie hatten nur wenig Nahrungsmittel und Wasser, aber bis zum Abend hatten wir dennoch ein Dutzend Brotfrüchte und einige Gallonen Wasser eingehandelt.
Mit Blighs Vergrößerungsglas machten wir nahe dem Eingang zur Bucht Feuer, was die Wilden ziemlich komisch zu finden schienen. Sie gaben uns zu verstehen, daß einer ihrer Häuptlinge uns am folgenden Tag besuchen werde. Vor Einbruch der Dunkelheit entfernten sich die Eingeborenen. Das schien uns ein beruhigendes Anzeichen zu sein, denn wenn sie Böses im Schilde geführt hätten, so würden sie uns sicherlich bei Nacht angegriffen haben. Unser Abendessen bestand aus einem Viertel Brotfrucht pro Mann und einem Glas Wasser. Unsere Stimmung war die beste seit der Meuterei. Eine Wache wurde bei der Einfahrt zur Bucht aufgestellt, während wir anderen uns zur Ruhe legten, getröstet durch Blighs Zusicherung, der nächste Tag werde der letzte an dieser unwirtlichen Stelle sein.
3
Während der Nacht vermochte ich keine Ruhe zu finden, und endlich verließ ich die Höhle, um mich zu den Leuten zu gesellen, die vor dem Eingang Wache hielten. Es war eine wundervolle Nacht, und die Bucht, vom Mondlicht überströmt, sah wie verzaubert aus. Gegen Norden lag das offene Meer. Es war jetzt ganz ruhig, denn der Wind hatte sich bei Sonnenuntergang gelegt. Die Wellen rollten majestätisch heran und brachen sich zuerst an den beiden Seiten der Bucht. Dann kamen die beiden Wogen rasch aufeinander zu und trafen sich etwa in der Mitte des Strandes, wo der silberne Schaum hoch in die Luft geschleudert wurde. Beim Anblick dieser Landschaft wurde ich an manche Buchten gemahnt, die ich in solchen Nächten an der Küste von Cornwall gesehen hatte, und ich fand es schwer, mir zu vergegenwärtigen, daß ein gewaltiger Ozean uns von der Heimat trennte. Herr Cole hatte das Kommando über die Wachmannschaft. Ich hatte eine ehrliche Zuneigung zu dem Bootsmann gefaßt: fast vom ersten Tag der Reise der Bounty an waren wir Freunde gewesen; in der ganzen Besatzung gab es keinen tüchtigeren und zuverlässigeren Seemann. Er hatte ein kindliches Vertrauen zu Gottes Fügung, und kaum geringer war seine Zuversicht in Kapitän Bligh. Keinen Augenblick zweifelte er daran, daß es dem Kapitän gelingen werde, uns sicher durch alle Fährlichkeiten zu bringen. Es war mir eine wahre Seelenstärkung, mit ihm zu plaudern, und als ich in die Höhle zurückkehrte, befand ich mich in einer viel hoffnungsvolleren Stimmung.
Wir blickten der Ankunft der Eingeborenen beinahe mit Vergnügen entgegen, obgleich zumindest mir die heimtückische Art der Freundschaftsinsulaner großes Mißtrauen einflößte. Die Sonne war seit zwei Stunden aufgegangen, als die ersten Wilden die Felsen herabgeklettert kamen, und etwas später kamen zwei Kanus an, jedes mit etwa fünfzehn Leuten bemannt. Zu unserer Enttäuschung führten sie nur spärliche Lebensmittelvorräte mit sich; immerhin konnten wir wieder ein wenig Wasser und ein halbes Dutzend Brotfrüchte einhandeln. Die Insassen des einen Bootes behandelten uns auf recht unverschämte Weise. Sie hatten eine Anzahl mit Wasser gefüllter Trinkgefäße bei sich, aber obgleich sie sahen, daß wir Mangel an Wasser litten, weigerten sie sich, uns etwas von ihrem Vorrat zu geben. Sie verhöhnten uns noch, indem sie vor unseren Augen nach Herzenslust tranken. Glücklicherweise war es der ruhige Nelson, der mit diesen Leuten verhandelte; Bligh, der wenig von einem Diplomaten an sich hat, wäre sicherlich in Streit mit den frechen Gesellen geraten. Als wir zur Höhle zurückkehrten, fanden wir den Kapitän im Begriff, sich einer anderen Schar verständlich zu machen, die, geführt von einem ältlichen Häuptling, aus dem Inneren der Insel gekommen war. Der Häuptling war ein ernst dreinblickender Mann, dessen Gewand aus Tapastoff seine Würde verkündete. In einer Hand trug er einen hölzernen, mit aus Zähnen der Stachelechse gefertigten Widerhaken versehenen Speer. Bligh fühlte sich durch unsere Ankunft sehr erleichtert. »Sie sind gerade im rechten Augenblick gekommen, Nelson; versuchen Sie einmal, ob Sie die Sprache dieses Mannes verstehen können!«
Nelson redete den Häuptling in der Sprache von Tahiti an, während der größte Teil unserer Leute und etwa dreißig Eingeborene im Kreise herumstanden. Der Häuptling antwortete mit jener Eleganz und Redegewandtheit, die den Bewohnern der Südseeinseln eigen sind, aber der hinterlistige Ausdruck seiner Augen strafte sein äußerliches Benehmen Lügen. Ich verstand nur wenig von dem, was er sagte, aber Nelson schien sich mit ihm recht gut verständigen zu können. »Er hat uns entweder in Namuka gesehen oder von uns gehört«, erklärte er uns, »und er möchte wissen, auf welche Weise wir unser Schiff verloren.« Wir waren auf diese Frage vorbereitet. Daß das Schiff in der Nähe sei, konnten wir nicht sagen, denn die Eingeborenen hätten sich von der Unwahrheit dieser Behauptung leicht überzeugen können; so erklärte Nelson dem Häuptling denn, daß wir Schiffbruch gelitten und daß nur die hier Anwesenden sich gerettet hätten. Die nächste Frage übersetzte Nelson wie folgt: »Ich möchte das Ding sehen, das euch Feuer von der Sonne bringt.« Bligh zeigte nur widerstrebend sein Vergrößerungsglas, denn er wußte, daß die Wilden alles versuchen würden, um sich in den Besitz dieses wertvollen Instrumentes zu setzen. Aber er hielt es für richtig, den Häuptling bei guter Laune zu erhalten. Die umherstehenden Eingeborenen sahen mit höchster Verwunderung zu, wie Bligh einige trockene Blätter zu Pulver zerrieb, die Sonnenstrahlen auf den Zunder fallen ließ und eine kleine Flamme hervorzauberte. Als Kapitän Bligh das Verlangen des Häuptlings, dieses Wunderwerk zu erhalten, ablehnte, gab dieser seiner Enttäuschung und seinem Zorn nur zu deutlich Ausdruck. Auch seinen Wunsch, Nägel zu bekommen, mußten wir ablehnen,
denn von den wenigen Paketen, die wir besaßen, konnten wir uns nicht trennen. Während dieses Gespräch stattfand, trafen immer mehr Eingeborene ein, darunter ein Häuptling, der noch höher im Rang zu stehen schien als der Alte. Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren und ging sogleich auf Kapitän Bligh zu, unterließ es aber, zur Begrüßung seine Nase an der des Kapitäns zu reiben, wie der alte Häuptling es getan hatte. Keiner von uns konnte sich erinnern, einen dieser Häuptlinge in Namuka gesehen zu haben. Der Name des älteren Mannes war - wenn ich ihn richtig verstand - Maccaackavau, während der jüngere sich Eefau nannte. Beide kamen von der Insel Tongataboo und erboten sich, uns dorthin zu begleiten, sobald das Wetter es zuließe. Bligh lud sie in die Höhle ein, wo er jeden mit einem Hemd und einem Messer beschenkte. Nelson erhielt den Auftrag, die Häuptlinge nach den Fidschiinseln zu befragen, einer großen, den Europäern unbekannten Inselgruppe, von der Kapitän Cook bei seiner Reise zu den Freundschaftsinseln viel gehört hatte. Er erhielt die Auskunft, daß diese Gruppe aus vielen Inseln bestehe, von denen die nächstgelegene etwa zwei Tagereisen von Tofoa entfernt liege. Eefau zeigte gegen Westnordwest, was mit den Angaben Kapitän Cooks übereinstimmte. Wir glaubten nunmehr Grund zur Annahme zu haben, daß unsere Befürchtungen bezüglich der feindlichen Absichten der Eingeborenen grundlos gewesen seien. Mit Hilfe eines Mannes namens Nageete, den Bligh schon in Namuka gesehen hatte und der uns mit großer Freundlichkeit begrüßte, gelang es uns, eine hinreichende Menge Wasser einzuhandeln sowie auch eine Anzahl von Brotfrüchten und ein halbes Dutzend große Yamwurzeln.
Aber unser kärglicher Vorrat an Tauschobjekten war bald erschöpft, und ohne Bezahlung wollten uns die Leute nicht das geringste geben. Alle unsere Versuche, unseren Vorrat an Lebensmitteln und Wasser weiter zu vergrößern, scheiterten. Schließlich meinte Maccaackavau: »Ihr habt das Ding, mit welchem man Feuer machen kann. Gebt mir dieses Ding, und meine Leute werden euch alles überlassen, was sie bei sich haben.« Dieses Verlangen mußte Bligh ablehnen, denn das Vergrößerungsglas war unsere einzige Möglichkeit, Feuer zu machen. Eefau sagte mürrisch: »Nun, dann laßt uns sehen, was ihr in eurem Boot habt.« Auch dieser Vorschlag mußte abgelehnt werden, denn die wenigen Werkzeuge und die paar Pakete Nägel, die wir dort hatten, waren uns noch unentbehrlicher als Nahrungsmittel. Als wir um die Mittagszeit ein Mahl aus gekochten Brotfrüchten einnahmen, nahmen die Häuptlinge unsere Einladung, daran teilzunehmen, an, aber die Mahlzeit verlief höchst unbehaglich. Eine Änderung im Benehmen der Eingeborenen war unverkennbar. Die beiden Häuptlinge unterhielten sich in einer besonderen Sprache, von der wir kein Wort verstehen konnten. Fryer war mit drei Leuten im Boot geblieben, während die übrigen fünfzehn Mann sich an Land befanden. Die Zahl der uns umgebenden Wilden betrug mindestens zweihundert. Glücklicherweise waren nur die Häuptlinge und zwei oder drei Leute ihres unmittelbaren Gefolges bewaffnet. Nach der Mahlzeit verließen uns die Häuptlinge, und Bligh benutzte die Gelegenheit, um uns Weisungen über unser weiteres Verhalten zu geben. »Wir wissen noch nicht, was diese Burschen im Schilde führen. Auf jeden Fall aber heißt es, auf der Hut zu sein.
Sie, Herr Peckover, bringen mit drei Leuten die Vorräte zum Boot, aber ohne Hast und möglichst so, daß es den Indios nicht auffällt. Gegen Sonnenuntergang werden wir die Bucht verlassen, ob uns nun Eefau nach Tongataboo begleitet oder nicht.« Peckover entledigte sich seiner nicht eben leichten Aufgabe mit großer Geschicklichkeit. Bligh saß indessen am Ausgang der Höhle, beobachtete alles, was vorging, und schrieb gleichzeitig in seinem Tagebuch, so ruhig, als säße er in seiner Kabine auf der Bounty. Wir übrigen beschäftigten uns mit kleinen Arbeiten, um den Anschein zu erwecken, daß wir die Absicht hätten, die Nacht auf dem Lande zu verbringen. Nageete fragte uns, anscheinend so freundlich wie vorher, nach unseren Plänen, und wir antworteten, daß wir warteten, bis Eefau bereit sei, uns zu begleiten, daß wir aber hofften, im Falle günstigen Wetters am nächsten Tage abreisen zu können. Da sagte Nageete: »Eefau wird euch begleiten, wenn ihr ihm den Feuermacher gebt. Gebt ihn lieber ihm statt Maccaackavau, denn er ist der größere Häuptling.« Als die beiden Häuptlinge zurückkehrten, tat Bligh alles, um die Beziehungen zu ihnen so freundlich wie möglich zu gestalten. Vielleicht hätte der Kapitän ohne weiteren Aufschub den Befehl gegeben, zum Boot zu laufen und abzufahren, wenn Cole, der mit drei Leuten ausgesandt worden war, um Wasser zu suchen, bereits zurückgekehrt gewesen wäre. Es wurde uns immer klarer, daß die Eingeborenen die Absicht hatten, uns anzugreifen, und nur eine günstige Gelegenheit abwarteten. »Bleibt alle beisammen, Jungens«, sagte Bligh ruhig. »Sorgt dafür, daß keiner zurückbleibt.« Wir brauchten nicht mehr lange zu warten, um Gewißheit über die Absichten der Indios zu erlangen. Wilde kennen,
obgleich sie ihren Anführern stets blind gehorchen, keine Disziplin, und wenn erst einmal ein Plan festgelegt ist, warten sie mit Ungeduld darauf, ihn auszuführen. Nach kurzer Zeit hörten wir ein unheilverkündendes Geräusch: Steine wurden in gleichmäßigem Rhythmus gegeneinandergestoßen. Sogleich faßten wir dies als ein Zeichen des bevorstehenden Angriffs auf. Zuerst betätigten sich nur einige wenige auf diese Art, dann aber pflanzte sich die unheimliche Musik durch die ganze Bucht fort. Ohne Zweifel wollten die Wilden auf diese Weise den Anführern ihre Ungeduld kundtun. Der Eindruck auf uns läßt sich leicht vorstellen; wir rechneten damit, daß unsere letzte Stunde herannahte, aber jeder einzelne von uns war entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Spät am Nachmittag kehrten Cole und seine Leute mit einer kleinen Wassermenge zurück, die sie zwischen den Felsen gesammelt hatten. Nun, da keiner von uns mehr fehlte, warteten wir nur noch auf eine günstige Gelegenheit, um uns einzuschiffen. Unterdessen setzten die Wilden ihre eintönige Musik mit unverminderter Stärke fort. Nageete wurde immer unruhiger und suchte nur nach einer Ausrede, um sich aus dem Staube zu machen, aber Bligh ließ dies nicht zu. Wir waren alle vor dem Eingang der Höhle auf solche Art versammelt, daß uns die Wilden nicht in den Rücken fallen konnten. Die Eingeborenen standen in Gruppen von zwanzig bis dreißig Mann beisammen, und die Häuptlinge gingen unausgesetzt von einer Schar zur anderen. Als wir sie fragten, was das Aneinanderklopfen der Steine bedeute, antworteten sie mit harmloser Miene, das sei ein Spiel, mit dem man sich hierzulande die Zeit vertreibe. Bald darauf verstummte
die Musik der Steine plötzlich, und das darauffolgende Schweigen war beinahe noch unheimlicher. Unter den beiden Häuptlingen schien eine Meinungsverschiedenheit darüber ausgebrochen zu sein, ob der Angriff sogleich oder während der Nacht unternommen werden sollte. Sie unterhielten sich wieder in ihrem unverständlichen Kauderwelsch miteinander. Bligh sagte zu uns: »Seid bereit, Jungens! Beim ersten verdächtigen Zeichen töten wir sie beide und schlagen uns zum Boot durch.« Eefau wandte sich nun an Nelson. »Sage deinem Häuptling, daß wir die Nacht hier verbringen werden. Morgen werde ich euch nach Tongataboo begleiten.« Nelson übersetzte die Botschaft, und Bligh antwortete: »Dies ist gut.« Dann fragte Maccaackavau mit einem Gesichtsausdruck, den ich nie vergessen werde: »Und ihr werdet die Nacht nicht auf dem Lande verbringen?« »Sagen Sie ihm »nein««, rief Bligh Nelson zu, »und daß ihn der Teufel holen möge!« Nelson verdolmetschte die Antwort in etwas diplomatischerer Form. Wieder nahm der Häuptling das Wort und eilte dann schleunigst hinweg. »Was sagte er?« erkundigte sich Bligh. Nelson lächelte grimmig. »Te mo mate gimotoloo«, antwortete er. »Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind. Das bedeutet nämlich: Dann sollt ihr sterben.« Blighs Verhalten in diesem gefährlichen Augenblick war über alles Lob erhaben. Er blieb ruhig und kaltblütig. »Jetzt oder nie, Jungens«, sagte er. »Hall, gib jedem von uns einen ordentlichen Schluck Wasser.« Der Wasserbehälter ging rasch von Hand zu Hand. Wir hatten es aber auch nötig, einmal ordentlich unseren Durst zu
löschen, denn wir waren seit drei Tagen auf kurze Rationen gesetzt gewesen. Unterdessen hielt Bligh mit der linken Hand Nageetes Arm umklammert, während er in der rechten den Degen hielt. Wenn wir sterben mußten, so sollte Nageete unser Schicksal teilen! Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, ob der Mann nur Komödie spielte oder ob er uns wirklich freundlich gesinnt war. Schon vorher hatte uns der Kapitän genaue Weisungen darüber gegeben, wie wir uns auf dem Weg zum Strand zu verhalten hätten. Cole, der gleichfalls bewaffnet war, und Bligh nahmen Nageete zwischen sich. »Vorwärts!« kommandierte der Kapitän. Dann setzte sich der Trupp in Bewegung, schweigend und auf das Schlimmste gefaßt. Ich glaube, es war die Raschheit und Entschlossenheit unseres Vorgehens, die uns rettete. Hätten wir auch nur im geringsten gezögert, wären wir alle ermordet worden. Aber Bligh führte uns geradewegs auf eine Gruppe von Eingeborenen zu, die zwischen uns und dem Boot standen. Sie machten uns Platz, und ich wunderte mich darüber, noch am Leben zu sein, als wir an ihnen vorbei waren. Kein Wort wurde gesprochen, keine Hand erhob sich gegen uns, bis wir das Ufer erreicht hatten. Fryer hatte uns natürlich kommen sehen und die Barkasse ganz nahe ans Land gesteuert. »Rasch ins Boot!« brüllte Bligh. »Purcell und Norton, ihr bleibt hier bei mir!« Eine halbe Minute später waren wir im Boot alle, mit Ausnahme von Bligh und den beiden Männern, die mit ihm an Land geblieben waren. Nageete machte sich frei und lief davon. Der Kapitän und Purcell eilten zum Boot, klugerweise ohne zu versuchen, den Anker, der am Ufer geblieben war, zu holen. Norton hingegen lief zurück, um den Anker mitzunehmen. Im Nu hatten
ihn die Wilden umringt und schlugen ihm mit Steinen den Schädel ein. Inzwischen hatten wir das Boot klargemacht. Es war ein Glück für uns, daß die Eingeborenen weder Pfeile und Bogen hatten noch auch Speere, mit Ausnahme der Holzspeere der beiden Häuptlinge. Maccaackavau schleuderte den seinen in der Richtung auf das Boot. Der Speer sauste dicht an Peckovers Kopf vorbei und fiel einige Meter von uns entfernt ins Wasser. Aber wenn unsere Feinde auch keine von Menschenhand gefertigten Waffen hatten, so dienten ihnen doch die unzähligen Steine, die den Strand bedeckten, als Wurfgeschosse. Sie überschütteten uns mit einem solchen Steinhagel, daß so mancher von uns Nortons Geschick geteilt hätte, wenn wir nicht fünfundzwanzig Meter von ihnen entfernt gewesen wären. Purcell sank, von einem Stein am Kopf getroffen, bewußtlos zusammen, und auch einige andere von uns wurden verletzt. Wir entfernten uns immer weiter vom Ufer, aber noch immer waren wir diese hinterlistigen Halunken nicht los. Sie ließen eines ihrer Kanus ins Wasser und beluden es mit Steinen. Dann sprangen zumindest zwölf der Kerle hinein und schickten sich an, uns zu verfolgen. Wir ruderten aus Leibeskräften, aber unser Boot war so schwer beladen, daß uns die Wilden rasch näher kamen. Immerhin hatten wir inzwischen das offene Meer erreicht. Jetzt waren sie ganz dicht bei uns und bewarfen uns wiederum mit Steinen. So genau zielten sie, daß nur durch ein Wunder keiner von uns getötet wurde. In der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit von uns abzulenken, warf Bligh einige Kleidungsstücke ins Wasser, und zu unserer Freude hielten sie inne, um die Sachen aus dem Meer zu fischen. Allmählich wurde es dunkel, und da sie
offenbar nur noch wenige Steine in ihrem Kanu hatten, gaben sie den Angriff auf und ruderten zum Land zurück. Bald waren wir der Gefahr entronnen. Während der folgenden Stunden hatte ich alle Hände voll zu tun, um die Verwundeten zu pflegen. Purcell war am schwersten verletzt, aber es gelang mir, ihn aus seiner Bewußtlosigkeit zu erwecken; anscheinend hatte ihm der Steinwurf, der die meisten Menschen umgebracht hätte, nicht ernstlich geschadet. Glücklicherweise hatte er keinen Schädelbruch erlitten. Die Wunden der anderen waren leichter Natur. Man kann sich vorstellen, mit welchem Gefühl der Erleichterung wir die Insel Tofoa verschwinden sahen. Erst jetzt kam uns zum Bewußtsein, in welch schrecklicher Lage wir uns befunden hatten. Nortons Tod bedrückte uns sehr, aber wir vermieden es in jener Stunde, von ihm zu sprechen. Insbesondere Kapitän Bligh nahm sich den Tod des Mannes sehr zu Herzen. Er sagte uns später, daß er sich für den Fall verantwortlich fühle, weil er unterlassen habe, uns darauf aufmerksam zu machen, daß wir dem Anker keine Beachtung schenken sollten. In Wirklichkeit aber traf ihn kein Vorwurf. Der arme Norton hatte es gut gemeint und großen Heldenmut bewiesen, aber er war an seinem Tode selber schuld. Inzwischen hatten wir unsere gewohnten Plätze eingenommen. An Lebensmitteln besaßen wir jetzt unsere 150 Pfund Brot, 20 Pfund Pökelfleisch, 31 Kokosnüsse, 16 Brotfrüchte und 7 Yamwurzeln. Unser Wasservorrat bestand aus 28 Gallonen; hingegen hatten wir leider nur noch 3 Flaschen Wein und 5 Quartflaschen Rum.
Fryer bat den Kapitän, er möge die Absicht, aufs neue eine Freundschaftsinsel anzulaufen, aufgeben. »Ohne Waffen können wir uns gegen die Wilden nicht wehren, und bei einem zweiten Zusammentreffen mit ihnen werden wir vielleicht nicht so glücklich davonkommen.« Die anderen unterstützten den Wunsch des Schiffers; es war wohl keiner unter uns, der nicht die Gefahren des Meeres denen der Inseln vorgezogen hätte. Bligh schien geneigt zu sein, sich überzeugen zu lassen, aber er machte uns mit allem Ernst auf die Gefahren aufmerksam, die unser harrten. »Wissen Sie, Herr Fryer«, fragte er, »wie weit wir segeln müssen, um auf Hilfe rechnen zu dürfen?« »Nicht genau, Sir.« »Wir müssen bis Niederländisch-Ostindien«, fuhr Bligh fort; »die erste holländische Niederlassung befindet sich auf der Insel Timor, volle 1200 Seemeilen von hier entfernt.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Nicht einer war unter uns, der nicht bei sich gedacht hätte: 1200 Meilen! Gibt es da überhaupt Hoffnung für uns? »Aber selbst unter diesen Umständen«, sagte Bligh, als hätte er unsere Gedanken erraten, »ist unsere Lage keinesweg verzweifelt. Wenn mich jeder von euch mit aller Kraft unterstützt, werden wir Timor erreichen.« »Auf uns können Sie rechnen, Sir!« sagte Peckover. »Nicht wahr, Leute?« Wir alle stimmten herzlich zu. »Gut denn«, sprach Bligh. »Jetzt will ich euch kurz sagen, was uns erwartet. Zunächst einmal die für uns vorteilhaften Umstände: Wir befinden uns in der günstigsten Jahreszeit; wir können mit östlichen Winden rechnen. Der Nordwestmonsun beginnt nicht vor November, und wir werden lange vor dieser Zeit Timor
erreicht oder es nicht mehr notwendig haben, es zu erreichen. Die Barkasse ist ein tüchtiges Boot. Was sie leisten kann, seht ihr gerade jetzt am besten. Was die Gefahren betrifft ...« Er hielt inne, um nachzudenken. »Eigentlich brauche ich über die gar nicht zu sprechen. Ihr kennt sie geradeso gut wie ich. Nur eines möchte ich sagen: Wenn wir Timor erreichen wollen, müssen wir uns mit täglichen Nahrungs- und Wasserrationen begnügen, die gerade genügen, um uns das Leben zu erhalten. Vielleicht werden wir des öfteren Gelegenheit haben, unsere Vorräte zu ergänzen, aber damit können wir nicht rechnen. Herr Fryer, geben Sie mir Ihr feierliches Versprechen, sich meiner Entscheidung in diesen Dingen zu fügen?« »Jawohl, Sir«, antwortete Fryer, ohne zu zögern. Dann rief Bligh jeden einzelnen auf, und alle erklärten sich einverstanden. Eine Zeitlang ruderten wir schweigend weiter; dann sagte Cole: »Herr Bligh, wir möchten, daß Sie Gottes Segen auf unsere Fahrt herabflehen.« »Das will ich tun, Herr Cole«, nickte Bligh. Niemals, will mir scheinen, haben englische Seeleute Gottes Leitung dringender bedurft als die achtzehn Mann in der Barkasse der Bounty. Mit gesenktem Kopf warteten wir in der Dunkelheit auf die Worte des Kapitäns. »Allmächtiger Gott: Du siehst unsere Not. Gib, daß wir uns in den Prüfungen und Gefahren, die vor uns liegen, wie Männer halten! Wache über uns! Stärke unsere Herzen; laß uns in Deiner göttlichen Gnade den Hafen erreichen, dem wir zustreben! Amen.«
Die Wache für den ersten Teil der Nacht wurde bestimmt; wir anderen setzten uns zum Schlaf bereit, so gut wir konnten. Der Wind frischte auf, aber das Boot hielt sich gut. Das im Mondlicht schimmernde Meer rings um uns her schien ohne Ende zu sein.
4
Als wir uns unter dem sternenhellen Himmel immer weiter von Tofoa entfernten, hatte wohl jeder Mann im Boot ein leises Gefühl der Hoffnung, zum ersten Male, seit wir von den Meuterern der Bounty ausgesetzt worden waren. Ich war mir völlig bewußt, wie unendlich weit Niederländisch-Ostindien entfernt war und welche Schwierigkeiten und Gefahren wir zu überwinden hatten, wenn es uns beschieden wäre, diese fernen Inseln zu erreichen, aber Herrn Blighs zuversichtliches Wesen und die Kaltblütigkeit, mit der er unsere Flucht vor den Wilden bewerkstelligt hatte, machten mir Mut. Obgleich das Boot über Gebühr beladen und nur das gereffte Focksegel beigesetzt war, bewegte es sich sehr rasch in westlicher Richtung fort. Herr Bligh saß am Steuer, Peckover neben ihm, Fryer, Elphinstone, Nelson und ich auf den hinteren Bänken. Es wurde nur wenig gesprochen, obgleich fast alle Leute wach waren. Die im Denken Schwerfälligeren unter ihnen begriffen wohl erst jetzt so recht, was ihnen bevorstand. Ich hörte die Verwundeten häufig stöhnen, und auch meine eigene verletzte Schulter schmerzte mich so sehr, daß ich keinen Schlaf finden konnte. Das Meer war zwar ruhig, aber das Boot war dennoch so tief im Wasser, daß es immer wieder von den Wellen überspült wurde. Peckover wies zwei Leute - Lebogue und Simpson - an, das Wasser auszuschöpfen. Gegen Mitternacht, als der Wind stärker wurde, mußten sie mit aller Kraft arbeiten und wurden so müde, daß Peckover sie ablösen ließ. Bligh blickte zu den Sternen empor. »Sie haben noch keinen Schlaf gefunden, Herr Fryer?« fragte er.
»Nein, Sir.« »Übernehmen Sie das Steuer, ich werde versuchen zu ruhen und empfehle Ihnen, um vier Uhr das gleiche zu tun.« Sie wechselten die Plätze, und Bligh machte es sich so bequem wie möglich. Hayward und Hallet rieben sich die Augen, als sie geweckt wurden, weil die Reihe des Ausschöpfens an sie kam, zitternd zogen sie ihre Jacken enger um den Leib; unaufhörlich sprühte das Wasser über die Billen. Gegen Morgen sprang der Wind um, die Wogen gingen immer höher und brachen achtern häufig über den Bootsrand. Herr Bligh setzte sich wieder ans Steuer. Vier Leute mußten jetzt gleichzeitig Schöpfarbeit leisten. Im dämmernden Licht dieses Sonntagmorgens sahen wir recht jämmerlich aus. Hohläugig, bis auf die Haut naß von dem salzigen Meeresschaum und so steif, daß wir uns kaum bewegen konnten. Als eine Woge, die größer war als alle vorhergehenden, das Boot überschwemmte, hörte ich, gedämpft von dem Tosen des Meeres, Schreie und Flüche der Leute. Brausend schoß das Wasser in den Bootsraum. Während ich eilends eine Kokosnuß ergriff, um mich am Ausschöpfen des Wassers zu beteiligen, hörte ich Blighs Stimme das Brüllen der See übertönen: »Das Brot! Das Brot!« Unser Brotvorrat war in den Backen des Bootes untergebracht worden, die am wenigsten den Schaumspritzern der Wogen ausgesetzt waren. Er war in drei Säcke verpackt, die wiederum mit dem ErsatzGroßsegel bedeckt waren. Hall beugte sich nieder und hob rasch das Segel in die Höhe.
»Ein Sack ist naß, Sir«, schrie er. »Das Ganze wird unbenutzbar, wenn es hier bleibt.« »Purcell!« rief Bligh. »Leeren Sie Ihren Werkzeugkasten aus! Verstauen Sie die Sachen auf dem Boden!« Der Zimmermann nahm eilends die Geräte aus dem Kasten. »So, Jungens!« brüllte Bligh, als alles bereit war. »Wartet, bis ich euch das Zeichen gebe. Einen Sack nach dem anderen! Sie, Hayward, öffnen den Kasten, wenn es an der Zeit ist! Sie, Purcell, zerschneiden die Hülle und stopfen das Brot lose hinein! Rasch arbeiten! Sonst wird unser Magen leer bleiben!« Alle mit Ausnahme jener, die schöpften, warteten angespannt, bis der Bug der Barkasse emporschnellte und das Fahrzeug gleich darauf in ein Wellental geschleudert wurde. »Jetzt!« schrie Bligh. Blitzschnell wurde das Segel entfernt, blitzschnell ging der Sack von Hand zu Hand. Ein Schnitt - schon war das Brot im Werkzeugkasten. Hayward ließ den Deckel zuschnappen. Das Segel lag schon wieder schützend über den beiden anderen Säcken, ehe wir von der nächsten Woge emporgehoben wurden. Auf die gleiche Art wurde zwischen zwei Wellen der Inhalt dieser beiden Säcke in Sicherheit gebracht. Jeder Mann im Boot muß erleichtert aufgeatmet haben. So klein der Brotvorrat auch war, so war er doch alles, was zwischen uns und dem sicheren Hungertod stand. Keinen Augenblick zu früh war er im Werkzeugkasten untergebracht worden. Immer höher gingen die Wogen. Die Barkasse schoß wie trunken dahin; das Segel, so klein es war, drohte den schwachen Mast zu brechen. Herr Bligh kauerte mit
unbeweglicher Miene am Steuer. Ein einziger falscher Handgriff hätte das Boot unweigerlich zum Kentern gebracht. Die ganze Besatzung war fieberhaft bemüht, das Fahrzeug von den ununterbrochen hereinströmenden Wassermengen frei zu schöpfen. Aber der Sturm wurde stärker. »Wir müssen das Boot leichter machen, Herr Fryer«, übertönte Blighs Stimme das Geheul des Sturmes. »Jeder Mann soll zwei Anzüge behalten, alles andere muß über Bord! Auch das zweite Focksegel und alle Taue bis auf eins!« Seine Befehle wurden mit einem Eifer befolgt, der bewies, daß jeder einzelne an Bord die Unmittelbarkeit der Gefahr begriff. Obgleich das Gewicht der Sachen, die wir ins Meer warfen, kaum das eines einzigen Mannes überstieg, kam das Boot jetzt besser vorwärts. Um zwölf Uhr zog Herr Bligh seinen Sextanten hervor, und während zwei Leute ihn stützten, gelang es ihm, den Stand der Sonne festzustellen. Dann nahm er die Navigationstabellen zur Hand und berechnete unseren Standort. »Wir können zufrieden sein«, sagte er. Eine schwere See hob uns mit furchtbarem Getöse hoch empor. Als wir wieder in ein Wellental geglitten waren, fuhr der Kapitän fort: »Seht ihr, wie gut sich das Boot hält, Jungens! Es wird uns durchbringen, wenn wir das Unsere dazu tun! Bei Gott, das wird es! Nach meiner Berechnung haben wir achtundsechzig Meilen zurückgelegt, seit wir Tofoa verlassen haben.« Der Sturm war aber nicht nur unser Feind, sondern auch unser Helfer. Kapitän Blighs Dankbarkeit gegenüber der Barkasse wurde von uns allen geteilt, wir begannen sie
zu lieben, jetzt, da wir ihre Fähigkeiten kennengelernt hatten. »Wir brauchen ein Lot«, setzte Bligh hinzu. »Herr Fryer, ich rechne auf Sie. Gemeinsam mit dem Bootsmann und Herrn Purcell werden Sie bestimmt imstande sein, eine brauchbare Lotleine zu fabrizieren.« Die drei tüchtigen Männer machten sich sogleich an die Arbeit, und wirklich gelang es ihnen trotz der Dürftigkeit des Materials, das ihnen zur Verfügung stand, bis zum Abend das Lot fertigzustellen. »Viereinhalb Faden«, meldete Peckover, als er beim ersten Versuch die Leine aus dem Wasser zog. »Gut! Von jetzt an soll der Maat der Wachmannschaft jede Stunde das Lot auswerfen.« Als ich schaudernd und vollkommen durchnäßt auf einer der hinteren Bänke saß, streifte mich Herrn Nelsons Blick. Sicherlich weilten die Gedanken des Botanikers ebenso wie die meinen bei der Veränderung, die mit dem Kapitän vorgegangen war. Bligh war vor allem ein Mann der Tat. Wirklich wohl schien er sich nur in Lagen zu befinden, in denen er seine wahrhaft außerordentlichen Fähigkeiten - Mut, Umsicht und Tüchtigkeit - erweisen konnte. Er war dazu geboren, Menschen in der Schlacht oder Gefahr zu leiten, und nun, in diesem Boot, im ständigen Kampf mit dem Meer, beladen mit der Verantwortung für das Leben seiner Leute, zeigte er sich von seiner besten Seite. Er war so heiter, freundlich und rücksichtsvoll, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Das schwere Wetter dauerte während des Nachmittags und der folgenden Nacht unverändert an. Kapitän Bligh blieb achtzehn Stunden ohne Unterbrechung am Steuer; während der ganzen Nacht saß er schweigend an seinem Platz. Seine Aufgabe war zu schwer, als daß sie ihm
Gespräche erlaubt hätte. Er mußte schwerer zu leiden haben als irgendeiner von uns, denn die Bewegung des Steuerns war zu gering, um ihn zu erwärmen. Der Mond schien ihm voll ins Antlitz; sein Gesichtsausdruck war ruhig und wachsam, obgleich er ein schweres Erschauern nicht unterdrücken konnte. Endlich ging der Mond unter. Die Sterne leuchteten mit dem kalten Licht eines Herbstabends in der Heimat. Die Wogen brachen wie bleiche Flammen in das Boot, so daß ich in dem gespenstigen Lichtschein die Gesichter meiner Gefährten unterscheiden konnte. »Wie wacker sich das Boot hält!« bemerkte Nelson einmal mit klappernden Zähnen. »Ich habe den Bau dieses Fahrzeuges beaufsichtigt«, sagte Bligh stolz. »Jedes Brett und jeden Balken, der verwendet wurde, habe ich persönlich geprüft! Ein besseres Boot hat es nie gegeben!« Als wieder die Reihe des Schöpfens an uns kam, waren meine Beine so starr, daß ich Mühe hatte, nach vorne zu kommen, und dem Botaniker mußte man beim Aufstehen behilflich sein. Der Morgen graute bereits, als wir abgelöst wurden. Der Kapitän ließ jedem von uns einen Teelöffel Rum reichen. Das belebte uns auf wunderbare Weise; zum Frühstück aßen wir ein Stück gekochte Yamwurzel. Das Meer war ruhiger geworden, obgleich es einer Landratte sicher noch Schrecken genug eingeflößt hätte, und die ersten Sonnenstrahlen erwärmten uns so weit, daß wir unsere steif gewordenen Gliedmaßen wieder gebrauchen konnten. Gegen acht Uhr wehte nur mehr eine frische Brise, und wir konnten unsere Kleider trocknen. Kapitän Bligh warf einen Blick auf den Kompaß und meinte: »Wenn die Indios uns nicht belogen haben,
müssen wir bald Land sichten! Wir haben eine böse Nacht hinter uns, Jungens! In diesen Breitengraden ist es möglich, daß wir auf dem ganzen Weg nach Timor nichts so Schlimmes mehr durchzumachen haben. Ihr habt euch gut gehalten, und auf die Barkasse können wir uns auch verlassen. Darauf gebe ich euch mein Wort! Wenn wir, wie vereinbart, mit unseren Vorräten haushalten, werden wir die Heimat wiedersehen!« »Keine Angst, Sir«, sagte Cole. »Wir stehen zu Ihnen, Mann für Mann. Wir danken Gott dafür, daß Kapitän Bligh uns führt, was, Kameraden?« Allgemeine Zustimmung wurde laut: »Jawohl!« - »Gut gesprochen!« - »Darauf können Sie sich verlassen!« Als die Sonne höher stieg, beobachteten wir mehrere Vogelschwärme, ein sicheres Zeichen dafür, daß wir uns einer Küste näherten. Kurz vor Mittag sichteten wir im Südwesten, etwa vier Meilen entfernt, eine kleine, flache Insel. »Die Fidschiinseln!« rief Herr Bligh, den der Ruf »Land!« aus erfrischendem Schlummer geweckt hatte. »Wir sind die ersten Weißen, die sie zu Gesicht bekommen!« »Können wir hier nicht landen, Sir?« fragte der Zimmermann. »Gesprochen wie ein Narr!« antwortete Bligh. »Sie haben ein kurzes Gedächtnis, wenn Sie Tofoa schon vergessen haben. Kapitän Cook hat diese Inseln zwar nicht gesehen, aber als ich Schiffer der Resolution war, Anno 1777, hörten wir von den Freundschaftsinsulanern allerlei über die Einwohner dieses Archipels. Sie sind wild und hinterlistig und zudem Menschenfresser. Nein, bei Gott! Wir werden uns wohl hüten, diesen Burschen in die Nähe zu kommen!«
5
Gegen Abend bekamen wir drei kleine Inseln in nordwestlicher Richtung zu Gesicht. Wären die Umstände glücklicher gewesen, so hätte mich das erregende Gefühl, ein unbekanntes Meer zu durchsegeln, Inseln zu erblicken, die noch kein Europäer gesehen hatte, sicherlich froher gemacht. Nelson war mit einer ungemein wertvollen Eigenschaft begabt: einem nach Wissen und philosophischer Erkenntnis durstenden Gemüt. Selbst in dieser Lage, da eins gegen tausend zu wetten war, daß wir England nicht wiedersehen würden, vermochte er aus der Betrachtung des Meeres und des Himmels bei Tag und der Sterne bei Nacht Genuß zu ziehen. Er beobachtete jede Insel, an der wir vorbeikamen, mit größter Genauigkeit und suchte zu ergründen, ob sie aus vulkanischem oder Korallengestein bestehe, ob sie bewohnt sei und welcher Pflanzenwuchs ihrem Boden wohl entsprießen mochte. Wenn wir Züge von Fischen zu Gesicht bekamen, nannte er ihren Namen, ebenso wie den der Vögel, die über uns ihre Schwingen ausbreiteten. Und die geringen Kenntnisse der Astronomie, die ich habe, verdanke ich den Gesprächen mit Nelson in den langen Nächten auf der Barkasse der Bounty. Während der Nacht frischte der Wind zwar wieder auf, aber das Meer war nicht eigentlich stürmisch, und wir vermochten ein wenig Schlaf zu finden. Die eine Hälfte der Mannschaft hielt Wache, während die andere sich auf dem Boden des Bootes ausstreckte. Trotz der Kälte empfand ich es als einen großen Genuß, wieder einmal meine Beine strecken zu können, und nachdem ich
beinahe drei Stunden geschlummert hatte, erwachte ich neu gestärkt. Während der frühen Morgenstunden ließ die Windstärke abermals nach, und wir fanden Muße, den Zustand des Brotvorrates genau zu untersuchen. Wir trockneten das naß gewordene Brot und trennten das verdorbene sorgsam von dem guten. Das beschädigte Brot sollte zuerst gegessen werden. Wir hatten so viel erlitten, seit wir die Bounty verlassen hatten, daß ich dem, was ich zu essen bekam, bisher kaum einen Gedanken geschenkt hatte. Als ich nun darüber nachdachte, kam es mir erst zum Bewußtsein, daß ich während der sieben Tage im ganzen nicht mehr zu mir genommen hatte, als ein hungriger Mensch während einer einzigen Mahlzeit hätte verzehren können. Die schmalen Rationen hatten auch schon ihre Wirkung geübt. Unsere Wangen waren eingefallen und unsere Augen unnatürlich hohl und glänzend. Uns allen wässerte der Mund, als eine gewaltige Schildkröte gemächlich an uns vorbeisegelte. Lebogue, der behauptete, sich auf den Fang dieser Tiere zu verstehen, war nahe daran, sie mit den Händen aus dem Wasser zu ziehen, aber das gewaltige Gewicht der Schildkröte zog ihn über Bord. Er plumpste ins Meer, und wenn Herr Bligh nicht mit äußerster Anstrengung ihn am Kragen wieder ins Boot gezogen hätte, hätte die Schildkrötenjagd für den alten Seemann übel ausgehen können. Kurz vor Sonnenuntergang zerrissen die Wolken, und wir sahen Land vor uns — zwei gebirgige Inseln in einer Entfernung von sechs bis acht Meilen. Obgleich das Licht zu sehr blendete, um Einzelheiten zu erkennen, schien mir die südliche Insel von bedeutender
Ausdehnung, fruchtbar und schön bewaldet zu sein. Gegen zehn Uhr waren wir der Insel ganz nahe gekommen, und die vielen Feuer am Strande bewiesen uns, daß sie bewohnt war. Wir fühlten uns erleichtert, als wir uns gegen Mitternacht ein gutes Stück von ihr entfernt hatten. Zu Mittag des nächsten Tages befanden wir uns gerade in der Mitte zwischen zwei großen Inseln. Der Wind war zu einer leichten östlichen Brise geworden, und das Meer lag so ruhig da wie innerhalb der Korallenriffe von Tahiti. Nelson konnte seinen Blick nicht von der südlich gelegenen Insel abwenden, der größten, die wir bisher gesichtet hatten. »Ich würde fünf Jahre meines Lebens geben«, sagte er voll Bedauern, »wenn wir jetzt ein bewaffnetes Schiff und Muße für die Erforschung dieses Archipels hätten!« »Auch ich!« bemerkte der Kapitän. »Die Insel dort ist sicherlich zehnmal so groß wie Tahiti! Fünf Jahre? Zehn Jahre würde ich für ein Schiff geben! Noch keine Gruppe wie diese wurde in diesen Meeren entdeckt!« Vor Sonnenuntergang fuhren wir zu unserer Überraschung über eine Korallenbank, die vom Wasser kaum einen Faden tief bedeckt war. Die Barkasse glitt langsam durch das Wasser, das klar wie Luft war. Der Meeresboden, der eben wie ein Tisch und mit toten Korallen bestreut war, schien sich rechts und links von uns je eine Meile weit auszubreiten. Als das Zwielicht in Dunkelheit überging, gerieten wir wieder in tiefes Wasser, und zwar ganz plötzlich, wie es beinahe bei allen Korallenbänken der Südsee der Fall ist. Während der Nacht durchnäßte uns ein Regenguß bis auf die Haut, und bei Tagesanbruch waren unsere Gliedmaßen so verkrampft, daß einige Leute sich kaum
bewegen konnten. Herr Bligh ließ jedem Mann wiederum einen Teelöffel Rum geben. Als die winzigen Stückchen beschädigten Brotes ausgeteilt wurden, begannen einige Leute zu murren. »Können wir nicht noch einen Bissen haben, Sir?« wandte sich Lamb in bittendem Ton an Fryer. »Ich komme um vor Hunger!« »Mir geht's auch so!« nickte Simpson. »Es wäre mir beinahe geradeso lieb, von einem Wilden einen Schlag auf den Kopf zu bekommen, als auf solche Art langsam zu krepieren.« Den scharfen Ohren Blighs entgingen diese Worte nicht. »Wer beklagt sich da vorne?« rief er. »Er soll sich an mich wenden, wenn er etwas zu sagen hat.« Sogleich trat Schweigen ein. »Ich wünsche solche Redereien nicht mehr zu hören«, fuhr Bligh fort. »Jeder von uns erhält das gleiche in diesem Boot; keinem soll es besser gehen als dem anderen. Laßt euch das alle gesagt sein.« Wir hatten eine ruhige Fahrt an jenem Tag. Der Wind schwellte unsere Segel, so daß wir rasch vorwärts kamen. Ich tauschte den Platz mit einem der Leute im Vorderboot, um die fliegenden Fische beobachten zu können, die vor dem Brustholz der Barkasse aus dem Meer emporschossen. Es gab ungezählte Mengen dieser Fische in der See rings um die Fidschiinseln. Das Vergnügen, diese Tiere zu beobachten, ließ mich meinen Hunger und unsere fast hoffnungslose Lage vergessen. Die große, einsam lebende Art interessierte mich am meisten, denn diese Fische pflegten erst die Flucht zu ergreifen, wenn das Boot schon ganz dicht bei ihnen war. Mit ein paar kräftigen Schwanzstößen erhoben sie sich bis an die Oberfläche des Meeres und schossen mit
großer Schnelligkeit dahin, wobei ihr Körper nach oben gerichtet war und sich nur der lange untere Schwanzlappen im Wasser befand. Wenn sie eine genügende Geschwindigkeit erreicht hatten, tauchte auch der Schwanz aus dem Wasser hervor, und der Fisch durchschnitt, nach Belieben hin und her steuernd, die Luft. Ich wollte mich gerade wieder auf meinen gewohnten Platz zurückbegeben, als ein fliegender Fisch, offenbar auf der Flucht vor einem Verfolger, wie toll in die Höhe schoß. Ein breiter Fischschwanz tauchte einen Augenblick lang aus dem Wasser empor. »Ein Delphin!« rief der Bootsmann. Wir waren inmitten eines kleinen Zuges dieser Tiere; wie blitzende blaugoldene Pfeile schossen sie durch das Wasser. »Ich werde einen neuen Fetzen an der Angelleine befestigen!« verkündete Cole aufgeregt. Er zog die Leine ein, und als der Angelhaken an Bord kam, öffnete er sein Taschenmesser und schnitt das Stückchen roten Tuches ab, das, wie wir seit langem vergeblich gehofft hatten, einen Fisch anlocken sollte. »Versuchen Sie's mit dem da!« schlug der Kapitän vor und zog ein Schnupftuch aus feinem Leinen aus der Tasche. Wir sahen mit höchster Spannung zu, wie der Bootsmann das Taschentuch in Streifen schnitt und sie derart am Schaft des Angelhakens befestigte, daß die Enden, einer kleinen Barbe gleich, hinterherschleppten. Als der Köder fertig war, warf er die Leine aus und ließ den Haken hin und her tanzen, um die Aufmerksamkeit der Fische zu erregen.
In nächster Nähe des Köders kräuselte sich das Wasser. Die lange Rückenflosse eines Delphins zuckte wie ein Blitz hin und her. Die Leine straffte sich. »Ich hab' ihn!« brüllte Cole inmitten allgemeiner Aufregung. Der Fisch sprang gleich einem Lachs hin und her, aber Coles muskulöse Arme zogen ihn empor. »Achtung!« schrie Bligh. »Er macht sich los!« Cole zog den Delphin mit gewaltigem Schwung an Bord. Während der Fisch durch die Luft schwebte, sah ich, wie der Angelhaken sich löste; im nächsten Augenblick schlug der Delphin auf dem Boden des Bootes auf. Während Hallet, der am nächsten saß, sich mit ausgestreckten Armen auf ihn stürzte, krümmte er sich wie ein Bogen und flog mit einem kraftvollen Schwanzschlag über den Bootsrand ins Meer. In Hallets Augen traten Tränen. Trotz meiner eigenen jämmerlichen Enttäuschung konnte ich kaum ein Lächeln zurückhalten, als ich Coles Gesichtsausdruck sah. Er versuchte es noch einige Male, aber kein Fisch wollte mehr anbeißen. Am frühen Nachmittag lenkten wir das Boot einer langen, gebirgigen Insel im Westen zu. Wir waren genötigt, uns der Insel mehr zu nähern, als uns lieb war, um einen Kanal durchfahren zu können, der sie von einem kleinen nordöstlich gelegenen Inselchen trennte. Als wir in der Mitte dieses Kanals waren, sahen wir zu unserem Schrecken zwei große Kanus mit großer Geschwindigkeit dem Ufer entlangsegeln, offenbar um uns zu verfolgen. Sie näherten sich uns sehr schnell, als sich plötzlich der Wind legte, so daß wir zu den Rudern greifen mußten. Die Wilden hatten offenbar das gleiche getan, denn sie kamen uns immer näher. Dann drang mit einem Male eine schwere Regenbö auf uns ein. Man kann sich von den Wassermengen, die während dieses Regengusses
fielen, eine Vorstellung machen, wenn ich sage, daß wir in kaum zehn Minuten mit Hilfe der armseligen Auffangvorrichtungen, die uns zur Verfügung standen, alles, was wir seit Beginn unserer Fahrt getrunken hatten, ersetzen und sämtliche Gefäße füllen konnten. Die Bö ging vorüber und machte einer frischen Brise Platz. Wir beeilten uns, die Segel beizusetzen, denn als der Regen nachgelassen hatte, bemerkten wir eines der Kanus kaum zwei Meilen weit von uns entfernt. Es hatte einen Mast und ein langes, schmales lateinisches Segel. Wäre das Meer bewegt gewesen, hätten uns unsere Verfolger in ein bis zwei Stunden eingeholt. Nach allem, was ich gehört hatte, würden uns die Indios vermutlich gemästet und geschlachtet haben wie Gänse. Während des Nachmittags verringerte sich die Entfernung zwischen unserem Boot und dem der Wilden immer mehr. Die meisten von uns blickten von Zeit zu Zeit angsterfüllt auf das uns verfolgende Kanu, aber Bligh, der am Steuer saß, blieb völlig ruhig. »Vielleicht wollen sie nur Handel mit uns treiben«, sagte er leichthin, »immerhin ist es besser, es nicht darauf ankommen zu lassen. Wenn der Wind anhält, wird es dunkel werden, ehe sie uns erreichen können.« Nelson wandte kaum ein Auge von dem Boot, aber aus Interesse, nicht aus Furcht. Das Fahrzeug war jetzt höchstens noch eine Meile entfernt. »Ein Doppelkanu«, bemerkte er, »genauso wie jene, die die Freundschaftsinsulaner bauen. Ich habe einen Tag auf einem solchen Fahrzeug zugebracht, als ich mit Kapitän Cook dieses Meer befuhr. Ich schätze, daß es mit dreißig oder vierzig Leuten bemannt ist.«
Kurz vor Sonnenuntergang, als das Kanu bis auf etwa zwei Taulängen an uns herangekommen war, trat plötzlich völlige Windstille ein. Wir waren kaum eine Meile von dem Riff entfernt, das der großen Insel vorgelagert war. »Herunter mit den Segeln, Jungens!« kommandierte Bligh. »An die Ruder!« Er brauchte das nicht zweimal zu sagen. Die stärksten Leute unter uns begannen aus Leibeskräften zu rudern. Die Indios verloren keine Zeit. Statt zu paddeln, bewegten sie, wie ich nun bemerkte, ihr Fahrzeug auf seltsame Art vorwärts. Aufrecht stehend, bedienten sie sich langer, schmaler Ruder, die den unseren nicht unähnlich waren und durch Löcher im Boden des Kanus hindurchzugehen schienen. Nur vier ihrer Leute wurden dazu benutzt, aber diese wurden häufig abgelöst, und das Kanu kam genauso rasch vorwärts wie unsere von sechs Mann geruderte Barkasse. Auf dem Kanu erhob sich jetzt großes Geschrei. Ein Mann, der größer war als die anderen und einen gewaltigen Haarschopf trug, drohte uns, brüllend und wild umhertanzend, mit einer riesigen Keule. Seine Gesten und der Klang seiner Stimme ließen keinen Zweifel an seinen Absichten zu. Unsere Ruderer verdoppelten ihre Anstrengungen, denn jeder von uns war sich nur zu gut bewußt, daß es um Tod oder Leben ging. Dann versank die Sonne. Die kurze Dämmerung der Tropen setzte ein. Immer näher kamen uns die Feinde. Als sie bis auf eine Taulänge an uns herangekommen waren, ließ der riesenhafte Wilde, den ich für ihren Häuptling hielt, die Keule fallen und nahm Pfeil und Bogen zur Hand. Etwa zehn Minuten lang beschoß er uns. Einige der Pfeile sanken in ungemütlicher Nähe unseres Bootes auf den
Meeresspiegel nieder. Sie waren fast vier Fuß lang, aus hartem Rohr gefertigt und mit vier oder fünf scheußlichen Widerhaken versehen. Als ich auf einen dieser Pfeile, der unmittelbar neben uns im Wasser schwamm und im Dämmerlicht kaum sichtbar war, hinabblickte, ließ mich ein Ausruf Nelsons auffahren. Ich wandte den Kopf. Der Vollmond ging gerade hinter dem Boot der Fidschiinsulaner auf. Die Wilden, vom Mond hell beleuchtet, sprangen, soweit sie nicht ruderten, wie Wahnsinnige auf dem Deck ihres Bootes umher und brüllten gleich einer Schar Teufel. Dann rief der Anführer seinen Leuten plötzlich unverständliche Kommandoworte zu. Den Grund dafür konnten wir nicht erkennen, es sei denn, daß er in einem Aberglauben, der mit dem Mond in Zusammenhang stand, begründet war. Jedenfalls machte das Kanu einen großen Bogen und wurde sodann zum Lande zurückgelenkt. Zehn Minuten später waren wir allein inmitten des weiten, leeren, mondbeschienenen Ozeans.
6
Am Morgen des 8. Mai sah ich, als ich aus meinem Halbschlummer erwachte, die Sonne am wolkenlosen Himmel aufgehen. Einen erfreulicheren Anblick hätte ich mir gar nicht vorstellen können, denn während der ganzen Nacht hatte uns der Regen bis auf die Haut durchnäßt. Nelson, der neben mir saß, war bereits wach und gebot mir Schweigen, wobei er auf Kapitän Bligh deutete, der sich auf dem Boden der Barkasse zum Schlaf ausgestreckt hatte. Fryer war am Steuer; neben sich hatte er Peckover. Cole und Lenkletter saßen vorne beim Mast. Alle anderen schliefen. Eine sanfte Brise wehte; das Boot glitt ruhig über das Meer, das so ruhig dalag, als hätte es niemals einen Sturm kennengelernt. Kein Wort wurde gesprochen. Wir erfreuten uns der köstlichen Wärme, und selbst die Schlafenden schienen ihre belebenden Strahlen zu spüren. Kapitän Bligh hatte zum ersten Male ungestörten Schlummer gefunden, seit wir Tofoa verlassen hatten. Seine Kleidung war so beschmutzt wie unsere eigene, und seine Wangen waren von einem zehn Tage alten Bart bedeckt; aber obgleich sein Gesicht blaß und eingefallen war, hatte es nicht jenen Ausdruck des Elends, der auf den Gesichtern der anderen zu erkennen war. Nelson flüsterte mir zu: »Ledward, wenn ich ihn ansehe, glaube ich fest daran, daß wir Timor erreichen werden.« Wären wir auf einem Floß mit ihm gewesen, so hätten wir noch daran geglaubt, mit ihm nach Timor zu gelangen! Als Bligh erwachte, benutzte er das gute Wetter dazu, sich mit einer Waage zu versehen, um unsere Lebensmittel abzumessen. Bis jetzt waren die Rationen nach dem Augenschein bestimmt worden, aber eine
genauere Methode war notwendig, um jenen, die immer glaubten, weniger zu erhalten als ihre Kameraden, das Brummen abzugewöhnen, und auch, um uns die Sicherheit zu geben, daß unser Nahrungsvorrat ausreichen werde. Im Boot waren einige Pistolenkugeln gefunden worden, von denen etwa fünfundzwanzig auf ein Pfund gingen. Bligh bestimmte, daß die Brotmenge, die jeder Mann pro Mahlzeit erhielt, das Gewicht einer jener Kugeln haben sollte. Als Waagschalen wurden zwei halbe Kokosnußschalen benutzt, die an den Enden eines dünnen Holzstäbchens aufgehängt wurden. Die winzige Menge Brot, die nötig war, um das Gegengewicht zu einer der Kugeln zu bilden, bot immer wieder aufs neue einen gar jämmerlichen Anblick für uns. Solange wir noch Kokosnüsse hatten, wurden diese an Stelle des Brotes verwendet und die Kokosmilch statt des kostbaren Wassers. Der Rest des Pökelfleisches wurde für Fälle aufgespart, in denen wir eine ausgiebigere Mahlzeit nötig haben würden. Es war seltsam, zu beobachten, auf welche Art die verschiedenen Leute ihre Nahrung verspeisten. Bei den meisten war das Mahl in einem einzigen Augenblick beendet. Zu diesen gehörte Purcell. So elend ich mich auch fühlen mochte, immer stimmte es mich wieder heiter, ihm zuzusehen. Jedesmal legte er das winzige Stückchen auf die flache Hand, betrachtete es mit dem Ausdruck gekränkten Staunens, so als sei er nicht ganz gewiß, ob es auch wirklich da sei, steckte es gleichsam unter Protest in den Mund und rollte die Augen, als wollte er den Himmel als Zeugen dafür anrufen, daß er nicht die ihm gebührende Menge erhalten habe. Andere wieder folgten Blighs Beispiel, der den Brocken in seine
Wasserration tunkte und ihn ganz langsam aß, wodurch er sich die Täuschung verschaffte, eine wirkliche Mahlzeit einzunehmen. Cole wiederum versäumte nie, ein Tischgebet zu verrichten, ehe er sein Stückchen Brot verschluckte, ganz so, als säße er vor einem mit den köstlichsten Speisen bedeckten Tisch. Seit Tofoa hatten wir jetzt fünfhundert Meilen zurückgelegt, ungefähr den siebenten Teil der Entfernung bis Timor. Diese Meilenanzahl ermutigte uns, immer wieder erwähnten wir sie in unseren Gesprächen. Aber wir hüteten uns wohl, von den dreitausend Meilen zu sprechen, die noch vor uns lagen. An diesem Tag vollbrachte Herr Bligh eine Heldentat, indem er sich von Smith, seinem Diener, rasieren ließ. Es gab weder Wasser noch Seife, um den Bart zu erweichen. Smith ließ sein Rasiermesser durch die trockenen Haare fahren und hielt jeden Augenblick inne, um das Messer zu schleifen. Die Prozedur dauerte fast eine Stunde, und keiner von uns verspürte Lust, dem Beispiel des Kapitäns zu folgen. »Bei Gott, Smith«, stöhnte er, als die Prüfung beendet war, »lieber würde ich zwischen allen Wilden der Südsee Spießruten laufen, als das noch einmal durchzumachen. Sind Sie je von einem Indio rasiert worden, Herr Nelson?« »Ein einziges Mal«, erwiderte der Botaniker. »Auf der Insel Leefoga. Der Eingeborene benutzte zwei Muscheln, zwischen die er die Barthaare nahm. Es war eine langwierige Geschichte, aber nicht so schmerzhaft, wie ich es mir vorgestellt hatte.« »Sie sind sehr geschickt, diese Indios«, meinte Peckover, »aber ich ziehe unsere heimische Methode doch vor. Ich würde froh darüber sein, in diesem Augenblick auf dem
Stuhl des schlechtesten Barbiers in Portsmouth zu sitzen. Ich würde mich im Himmel fühlen, und wenn er mir mit einer Raspel den Bart schabte!« »Sie werden Portsmouth wiedersehen, Herr Peckover; zweifeln Sie nicht daran!« sagte Bligh ruhig. Tiefe Stille folgte diesen Worten. Alle sahen den Kapitän mit schmerzlicher Sehnsucht an. Jeder wünschte, es glauben zu können, und doch schienen unsere Aussichten, das Ziel zu erreichen, so unendlich gering! »Und noch etwas anderes werden Sie erleben«, fuhr Bligh fort. »Sie werden Fletcher Christian am Mast eines Schiffes Seiner Majestät hängen sehen, und alle verfluchten Piraten, die ihm folgten, neben ihm!« »Es wird lange dauern, bis wir diese Befriedigung haben werden, Herr Bligh«, erwiderte Peckover, »wenn es überhaupt dazu kommt.« »Glauben Sie?« rief Bligh. »Die Macht Seiner Majestät reicht weit, merken Sie sich das! Mögen sie sich verstecken, wo immer sie mögen, der Arm der Gerechtigkeit wird sie erreichen, und sie werden baumeln! Wohin, glauben Sie, haben die Meuterer sich gewendet, Herr Nelson?« »Ich glaube, das kann ich Ihnen sagen, Herr Bligh. Zurück nach Tahiti.« »Dieser Ansicht bin ich auch«, stimmte der Kapitän zu. »Gebe Gott, daß sie dumm genug sind, dorthin zu fahren!« »Als unser Boot sich von der Bounty entfernte, hörte ich, wie einige von den Meuterern riefen: »Auf nach Tahiti««, warf Elphinstone ein. »Es herrschte zwar ein furchtbarer Lärm, aber dennoch habe ich mich bestimmt nicht getäuscht.«
»Was immer sie auch tun mögen«, sagte Nelson, »einer ist unter ihnen, der zu klug ist, um lange in Tahiti zu bleiben: Herr Christian.« Bligh fuhr auf, als habe er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Mit unterdrücktem Grimm funkelte er Nelson an. »Herr Nelson«, zischte er, »geben Sie diesem Schurken niemals den Ehrentitel »Herr«!« »Ich bitte um Entschuldigung«, sprach Nelson ruhig. »Wir wollen nicht mehr von dem Fehler, den Sie machten, reden. Im übrigen stimme ich mit Ihnen überein. Der Schurke ist zu schlau, um an einem Ort zu bleiben, wo man ihn suchen wird. Aber Sie werden sehen: die anderen werden ihm nicht folgen, und wir werden sie erreichen, so!« Er öffnete die Hand und schloß sie dann wieder, langsam und fest, als hätte er die Meuterer bereits bei der Gurgel. »Jawohl«, sagte Purcell bitter, »ihr Rädelsführer aber wird frei ausgehen. Er wird nie gefunden werden.« »Glauben Sie?« rief Bligh mit einem heiseren Lachen. »Sie sollten mich besser kennen, Herr Purcell. Ich flehe zu Gott, daß ich auf die Suche nach ihm gesandt werde. Es gibt keine Insel in der Südsee, auf der er mir entgehen könnte, ob sie nun auf einer Karte eingezeichnet ist oder nicht! Nein, bei Gott! Und das weiß er auch!« »Wohin, glauben Sie, hat er sich gewendet, Sir?« fragte Fryer. »Wir wollen von dieser Sache nicht mehr sprechen, Herr Fryer«, antwortete Bligh, und auf lange Zeit hinaus war von den Meuterern nicht mehr die Rede. Der Schimpf, seines Schiffes beraubt worden zu sein, ging ihm sehr zu Herzen, und wenn er auch die Bounty selten erwähnte, so wußten wir doch, daß er immer an sie dachte.
Wir fuhren jetzt mit beiden Segeln. Das Meer war so ruhig, daß wir kein Wasser ins Boot bekamen. Die Sonne ging unter, wie sie aufgegangen war, an einem wolkenlosen Himmel, und die Dunkelheit kam rasch. Nun ging der Mond auf und überflutete das einsame Meer mit einem Glanz, der unser kleines Boot und alle, die darin waren, verklärte. Purcell saß beim Mast in der Mitte des Schiffes, schmutzige Lumpen um seinen verletzten Kopf gewunden. In diesem Licht hatte seine Gestalt etwas Heldenhaftes. Am Tag der Meuterei, als wir von der Bounty wegruderten, hatte ich mich gefragt, wie lange Zeit in einem kleinen Boot gleich dem unseren zwei Männer wie Kapitän Bligh und der Zimmermann zubringen konnten, ohne einander an die Gurgel zu fahren. Seit langem hatte es auf dem Schiff eine Fehde zwischen ihnen gegeben. Purcell hatte eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten und hielt sich für einen Herrscher in seinem kleinen Reich. Er war so hartköpfig wie Bligh selbst. Heimlich, das wußte ich, empfand er Genugtuung darüber, daß Bligh sein Schiff verloren hatte, und hielt es für eine gerechte Strafe für sein tyrannisches Benehmen. Und dennoch war keiner von uns unserem Kapitän treuer ergeben als er! Nicht einen Augenblick hatte er am Tage der Meuterei gezögert, seiner Pflicht zu folgen. Sie haßten einander, die beiden, aber von Purcells Seite zumindest war der Haß durch Achtung gemildert. Wie verschieden doch die Haltung des Zimmermanns gegenüber dem jungen Tinkler war, der neben ihm saß! Er liebte diesen jungen Burschen ebensosehr, wie er Bligh haßte, und als alter Seemann betrachtete er ihn um seines Ranges als Kadett willen mit gebührendem Respekt. Nie unterließ er es, ihn als Herr Tinkler anzureden. Tinkler war aber auch seiner Zuneigung und
seines Respektes würdig. Er war ein tapferer Junge. Nicht ein einziges Mal, mochte unsere Lage auch noch so verzweifelt sein, daß er nicht seine Pflicht getan hätte wie ein ganzer Mann! Dies war die erste Nacht, seit wir Tofoa verlassen hatten, die wir in einiger Bequemlichkeit verbrachten. Unsere verkrampfte Stellung war zwar nicht angenehmer als vorher, aber das Boot ebenso wie unsere Kleidung waren trocken, und wir konnten einige Stunden erfrischenden Schlafes genießen. Der neunte Mai glich dem achten vollkommen. Die See war ruhig, und eine leichte Brise wehte. Den ganzen Tag über sahen wir weder Fische noch Seevögel. Am Nachmittag brach Nelson das Schweigen, das stundenlang gedauert zu haben schien. »Ich habe das Bedürfnis, zu sprechen, Herr Bligh«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Das Meer ist so weit und so still, daß ich beinahe daran zweifle, ob es Wirklichkeit ist oder ob ich träume.« »Das Meer ist wirklich genug, Herr Nelson«, entgegnete Bligh, »ich glaube, wir werden uns bald davon überzeugen.«
7
Am Abend des gleichen Tages gerieten wir plötzlich in eine heftige Regenbö. Während der Nacht mußten vier Mann ohne Unterlaß Wasser aus dem Boot schöpfen, und zu manchen Zeiten legten wir alle - mit Ausnahme von Bligh - mit Hand an. Der Himmel war hinter tiefen grauen Wolken verborgen. Bis zum Mittag des 12. Mai blieb das Wetter so. Dann ließ der Wind nach, aber der Himmel sah noch immer gleich bedrohlich aus. Wie eine schwere Decke hingen die Wolken über uns, so tief, daß man beinahe glaubte, sie mit der Hand greifen zu können. Aber es hatte aufgehört zu regnen. »Ich brauche noch zwei Mann an den Rudern«, sagte Bligh. »Einer davon möchte ich sein«, rief Lenkletter, und ein Dutzend andere machten sich gleichzeitig erbötig. Alle lechzten danach, ihre steif gewordenen Gliedmaßen ein wenig rühren zu können. Noch nie war mir das Boot so klein erschienen wie eben jetzt. Die Seen rollten auf uns zu, in großen, gleichmäßigen Reihen, mit einer Feierlichkeit, einer Majestät, die das Herz mit Furcht erfüllte; kalt und elend, wie wir uns fühlten, empfanden wir doch eine Art Freude, ihnen dabei zuzusehen, wie sie unser kleines Fahrzeug auf ihrem mächtigen Rücken hoch emporhoben, um es gleich darauf in ein breites Wellental hinabgleiten zu lassen. Der Kapitän hatte jedem von uns zwei Teelöffel voll Rum verabreichen lassen, und zum Mittagessen erhielten wir außer dem Brot ein kleines Stückchen Pökelfleisch. Dadurch wurde unsere Mahlzeit zu einem richtigen Festgelage, und der Rum erwärmte uns ein wenig. Die
Kälte fürchteten wir um diese Zeit zumindest ebensosehr wie das Meer, denn der Wind, der durch die regennasse Kleidung blies, war so bitter kalt, als käme er geradewegs von Schneefeldern her. Die nächsten zwei Stunden waren erträglich. Jeder einzelne von uns wartete sehnsüchtig auf ein Zeichen, das besseres Wetter ankündigte; aber die einzige Änderung bestand darin, daß das trübe Licht nur noch trüber wurde, als der Tag sich seinem Ende zuneigte. Die Stille legte sich schwer auf unsere Nerven. Unsere Ohren waren an das Brüllen des Sturmes und das Zischen der Wogen, die sich an unserem Boot brachen, gewohnt, und wenn wir auch, weiß Gott, keine Sehnsucht nach solchem Wetter hatten, so hätten wir doch gerne genug Wind gehabt, um weiterzukommen. Die großen Wellen glitten geräuschlos unter unserem Boot hinweg, die einzigen Geräusche, die wir vernahmen, waren die schwachen menschlichen Laute in der Barkasse; ein geflüstertes Wort, ein Hüsteln; ein müder Seufzer, wenn jemand seine Stellung änderte. Es war gegen vier Uhr nachmittags, als sich ein unendlich leiser, kaum wahrnehmbarer Laut mit dem drückenden Schweigen mischte. Alle Köpfe wandten sich gegen Osten. Dort, eine halbe Meile entfernt, sahen wir ihn wieder ... und dann kam er immer näher, unser erbarmungsloser Feind, der Regen. Er kam in Gestalt einer schwarzen Wand, schwach beleuchtet von gräulichem Licht. Und dann, ganz plötzlich, so als hätte unser Feind bis zum letztmöglichen Augenblick gewartet, um uns anzuspringen, waren wir mitten darin, durchnäßt, halb ertrunken, nach Atem ringend - in einer Sintflut, wie wir sie noch nie erlebt hatten.
In einem einzigen Augenblick verlor ich die Leute im vorderen Teil des Bootes aus den Augen. Man wird dies kaum für möglich halten, und dennoch war es so; die Barkasse verschwand vor meinem Blick, mit Ausnahme der Bank, auf der ich saß. Selbst die Leute unmittelbar vor mir glichen Schatten, wie verwischt durch die in unvorstellbarer Dichte herabprasselnden Regenmassen. Kapitän Blighs Kommandoworte drangen durch das Tosen des Regengusses undeutlich an mein Ohr. Was er sprach, blieb unverständlich, aber wir wußten dennoch, was wir zu tun hatten. Wir schöpften mit der verzweifelten Entschlossenheit von Menschen, die spüren, wie das Wasser ihre Füße bedeckt und dann langsam zu ihren Knien ansteigt. Es war das süße Wasser der Wolken, das Seeleute, die inmitten der Meereswüste dahintreiben, oft mit schwärzlichen Lippen und angeschwollener Zunge herbeiflehten, und wir schleuderten es von uns, mit Schöpfkellen, mit Kokosnußschalen, mit dem Kupferkessel, mit unseren Hüten, mit unseren nackten Händen, auf daß dieses kostbare Naß, das uns der Kapitän mit äußerster Sparsamkeit zumaß, uns nicht den Tod bringe. Beinahe nächtliches Dunkel umgab uns, bis ich auf einmal wieder die Umrisse des Bootes erkennen konnte und die Formen meiner Kameraden. Und ich wußte, daß das Schlimmste vorüber war. Unsere kleine Schar bot einen bejammernswerten Anblick; das Wasser strömte von den Kleidern, die an unseren Körpern klebten; auch von unseren Haaren und Bärten strömte es herab, und wir waren wieder durchfroren bis ins innerste Mark. Dann setzten wir die Segel bei und warteten auf den Wind. Und er kam. Die winzigen Segel, die schwer und dunkel geworden waren vor Regen, füllten sich. Immer
stärker blies der Wind, während das letzte Licht des Tages schwand. Wir bestimmten keine Wachen für die Nacht. Wir wußten wohl, daß es mehr als genug Arbeit für uns alle geben werde. An die folgenden sechsunddreißig Stunden kann ich noch heute kaum zurückdenken, ohne etwas von dem Entsetzen zu verspüren, das ich damals empfand. Sturm und Regen, Regen und Sturm, unter einem Himmel, der keine Aussicht auf Erlösung gewährte. Die Stunden des Tageslichtes waren arg genug, aber noch schlimmer war es nachts. Niemals, glaube ich, ist das Morgengrauen so freudig begrüßt worden wie von uns am 14. Mai, und so als hätte er Mitleid mit unseren Leiden, legte sich der Sturm kurz darauf. Sogar ein wässeriger Lichtschein wurde sichtbar, als die Sonne aufging, doch unsere Hoffnung auf blauen Himmel wurde nicht erfüllt. Aber die Wolken standen höher und sahen nicht mehr so bedrohlich aus wie an den vergangenen Tagen. Als ich in die Gesichter rings um mich her blickte, bekam ich einen Begriff davon, wie entsetzlich mein eigenes ausgesehen haben muß. George Simpson, der Quartiermeistersmaat, und Lamb, der Metzger, schienen dem Tode nahe zu sein. Sie lagen völlig hilflos auf dem Boden des Bootes. Auch Nelson bot einen bejammernswerten Anblick. Er war von Natur schwächlich, und nun hatten ihn die Entbehrungen und Leiden, denen wir ausgesetzt waren, völlig entkräftet, aber der Geist in seinem schwachen Körper war so stark wie der des Kapitäns selber. Kein Stöhnen, kein Klagelaut kam aus seinem Munde. Kapitän Bligh und der Schiffer, die während dieses Ringens mit den Elementen gleichsam in der ersten Kampflinie standen, waren abgemagert und hohläugig, aber Bligh schien aus
unendlichen Kraftvorräten zu schöpfen. Es sei nicht verschwiegen, daß sich während dieser Tage und Nächte mehr als einmal Furcht und Mutlosigkeit in mein Herz schlichen, und den übrigen wird es nicht anders ergangen sein. Es gab Stunden in diesen Nächten, in denen keiner von uns - nicht einmal Kapitän Bligh selber - glauben konnte, daß wir noch einmal das Licht des Tages sehen würden. Nun aber gab uns die Tatsache, daß wir diese Nächte überlebt hatten, neuen Mut. Wir wußten jetzt, was unser Boot zu leisten imstande war. Wir steuerten in nordwestlicher Richtung. Tinkler behauptete plötzlich, blaue Berge zu erblicken, die hoch in der Luft zu schweben schienen. Zuerst wollte ihm niemand glauben, aber als ein wenig später der dichte Nebel sich langsam hob, erkannten wir, daß er sich nicht getäuscht hatte. Die blauen Umrisse eines hohen Gebirges hoben sich nun, für jedermann deutlich sichtbar, von dem grauen Himmel ab. Zuerst glaubten wir, es handle sich um ein einziges Eiland, aber als wir näher kamen, sahen wir, daß es vier verschiedene Inseln waren, die in einer Entfernung von etwa sechs Meilen vor uns lagen. Wir änderten unseren Kurs, um östlich von der nördlichsten der Inseln vorbeizufahren. Bligh war der Ansicht, daß sie zu den Neuen Hebriden gehörten, die Kapitän Cook so benannt und während seiner zweiten Expedition in die Südsee im Jahre 1774 durchforscht hatte. Der Wind wehte jetzt wieder lebhafter, und wir änderten unseren Kurs aufs neue, um noch näher an die Inseln heranzugelangen. Wir sahen den Rauch vieler Feuer am Ufer aufsteigen; der Gedanke an die Wärme, die sie verbreiten mußten, ließ uns die Kälte und damit unser Elend nur noch deutlicher empfinden.
Das Land war hufeisenförmig. Eine hohe Bergkette, steil zur See abfallend, umschloß eine große Bucht. Wir fuhren kaum zwei Meilen von der Einfahrt der Bucht vorbei. Eine halbe Stunde später hatten wir das nördliche Kap umsegelt. Kein Wort war während dieser Zeit gesprochen worden. Wir warteten begierig auf Blighs Beschluß. »Braßt die Segel!« befahl er endlich. Wir näherten uns bis auf eine Viertelmeile einer kleinen Bucht, die jener in Tofoa ähnlich war, mit der einen Ausnahme, daß der Strand hier nicht felsig, sondern sandig war und daß grüner Pflanzenwuchs die Küste bedeckte. Unseren seemüden Augen erschien die Insel wie ein Paradies. »So, Herr Purcell«, sagte Bligh, »wir wollen uns daranmachen, die Segel auszubessern. Eilt euch, denn ich wünsche hier nicht mehr Zeit zu verlieren als notwendig.« Tiefes Schweigen folgte diesem Befehl. Purcell blieb, wo er war. Endlich hob er trotzig den Kopf. »Herr Bligh«, sagte er, »wenn Sie die Absicht haben, weiterzufahren, ohne uns Gelegenheit zu geben, uns ein wenig zu erholen, so bin ich dagegen, und es gibt noch manche unter uns, die ebenso denken.« Trotz der Steifheit seiner Beine sprang Bligh im Nu auf. Seine Lippen hatten sich zu einem dünnen Strich zusammengezogen, und seine Augen blitzten vor Wut. Als er jedoch die armseligen Gestalten vor sich sah, milderte sich der grimmige Ausdruck seines Gesichtes, und er hielt sich zurück. »So, es gibt manche?« sprach er ruhig. »Wo sind sie? Sie mögen sich melden!«
»Ich bin einer davon, Herr Bligh«, antwortete Elphinstone mit hohler Stimme, »und glauben Sie mir, ich spreche auch für meine Kameraden.« »Wir sind in einem furchtbaren Zustand, Herr Bligh«, warf Fryer ein. »Eine Nacht an Land würde vielleicht so manchem unter uns das Leben retten. Auf einer so fruchtbaren Insel müssen Nahrungsmittel zu finden sein.« »Kokosnüsse, Sir«, rief Lenkletter. »Sehen Sie doch nur dort drüben am Abhang!« Bligh schaute zum Land hinüber und dann auf uns; er schüttelte den Kopf. »Wir dürfen es nicht wagen, Jungens«, sagte er. »Ihr werdet nicht glauben, daß ich kein Gefühl für eure Leiden habe, denn ich teile sie ja mit euch. Aber die Gefahr ist zu groß!« »Hier gibt es keine Indios, Sir«, sagte Purcell, »das sieht man deutlich.« Bligh beherrschte sich mühsam. »Augenblicklich nicht«, entgegnete er, »aber wir haben den Rauch vieler Feuer gesehen, und die Leute haben uns bestimmt erblickt. Die Wilden der Neuen Hebriden sind Kannibalen schlimmster Art, das weiß ich von Kapitän Cook.« »Ich fürchte sie nicht«, brummte Purcell, »wie immer es damit bei Ihnen bestellt sein mag.« Bligh warf den Kopf zurück, als habe er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Purcell hatte, obgleich er immer ein bissiger alter Bursche gewesen war, noch nie gewagt, so zum Kapitän zu sprechen. Bligh bewies eine Geduld, deren ich ihn nicht für fähig gehalten hätte. Auf der Bounty hatte ich ihn häufig um nichtiger Anlässe willen in besinnungslose Wut geraten sehen. Nun, da er wirklichen Anlaß hatte, zornig zu sein, hatte er sich völlig in der Hand. Offenbar begriff er, wie bitter es für uns in diesem Zustand völliger Erschöpfung sein mußte,
uns auf einer Insel, die wie der Garten Eden selbst erschien, nicht ausruhen zu dürfen. Nach kurzem Schweigen sagte Bligh: »Gehen Sie an Ihre Arbeit, Herr Purcell. Wenn nicht, so werden Sie an Land gehen - mit mir, mit mir allein, das schwöre ich Ihnen.« Der Zimmermann, der einsah, daß er im Unrecht war, gehorchte sogleich. Mit einem Male rief Lebogue: »Es stimmt, Sir, daß wir gesehen worden sind! Sehen Sie nur - dort drüben!« Ein halbes Dutzend Wilde kamen aus dem dichten Gebüsch hervor, liefen zum Ufer und starrten uns an. Sie waren bis auf einen schmalen Lendenschurz nackt und mit Speeren, Pfeilen und Bogen bewaffnet. Bald war das ganze Ufer mit Eingeborenen bevölkert. Wir konnten sogar ihre Schreie hören, als sie nun erregt hin und her liefen. Purcell, der noch vor kurzem so mutig gewesen war, bildete mit sichtlicher Angst auf die nackten Gesellen, deren immer mehr wurden. »Ihre Freunde am Ufer warten auf Sie«, sagte Bligh. Gleich darauf bemerkte der scharfäugige Tinkler, daß einige Indios den Hügel emporklommen, offenbar um die Wilden auf der anderen Seite der Insel zu verständigen. »Ohne Zweifel haben die Leute drüben in der großen Bucht Kanus und beabsichtigen, auf dem Seeweg heranzukommen«, bemerkte Fryer beunruhigt. »Scheint so zu sein«, nickte Bligh ruhig. »Immerhin haben wir Zeit, die Segel auszubessern.« Nie, glaube ich, hat Purcell rascher gearbeitet als damals. Kaum war er fertig, als ein großes Kanu, mit vierzig bis fünfzig Eingeborenen bemannt, um das nördliche Vorgebirge herumkam, etwa eine Meile von uns entfernt.
Es hatte keine Segel, näherte sich uns aber mit großer Geschwindigkeit. »Nun, Herr Purcell«, meinte Bligh, »wünschen Sie, daß wir die Wilden an uns herankommen lassen? Sie hätten keine Angst vor ihnen, sagten Sie!« Es war beinahe unmöglich für den Zimmermann, ein Unrecht zuzugeben, aber so schwer es ihm auch fiel, entschloß er sich doch zu einem hastigen »Nein, Sir«. »Nun gut denn! Machen Sie das Boot segelfertig, Herr Cole«, befahl der Kapitän. Einen Augenblick später entfernten wir uns von der Küste. Wir vergaßen unseren Hunger, unsere nassen Kleider - alles, in der Erregung der wilden Jagd. Zuerst kamen uns die Wilden immer näher, und es war klar zu erkennen, daß ihre Absichten keineswegs freundliche waren. Sie schwenkten ihre Waffen und beschossen uns mit Pfeilen. Dann bekamen wir guten Wind, und die Entfernung zwischen uns und dem Kanu der Eingeborenen wurde immer größer. Endlich gaben sie die Verfolgung auf, und wir setzten den früheren Kurs fort. Niemals während der ganzen Reise, glaube ich, waren wir so mutlos wie an diesem Nachmittag. Grau und einsam dehnte sich der Ozean vor uns aus, und wir wagten nicht, an die ungeheure Entfernung zu denken, die wir zu überwinden hatten, ehe wir den Fuß auf festen Boden setzen durften. Die meisten unter uns wußten, daß wir noch lange nicht den halben Weg bis Neu-Holland zurückgelegt hatten. Frühestens in einem halben Monat konnten wir dort eintreffen. In der Nacht zum 14. Mai hatte ich geglaubt, das Maß unserer Leiden sei voll. Noch eine Nacht wie diese ... dachte ich. Und dann folgten neun weitere Nächte und
Tage, während deren wir ohne Unterlaß naß waren und vor Kälte beinahe umkamen. Am 23. Mai war unsere Lage so ähnlich der vom 12., daß es schien, als stünde die Zeit still. Wir befuhren die gleiche stürmische See unter den gleichen lastenden Wolken. Einige unter uns waren so schwach, daß sie sich kaum erheben konnten, aber immer wieder vermochten wir irgendwie, herumzukriechen und - da wir wußten, daß unser Leben davon abhing — Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Nie zuvor hatte ich gewußt, welche Qual der Körper werden kann. Aber ich hatte auch noch nie erkannt, welchen Heldenmutes der Mensch unter solchen Umständen fähig ist. Immer, wenn man mir in Zukunft Schlechtes über den Charakter des Menschen sagen wird, werde ich an meine Kameraden in der Barkasse der Bounty denken und davon überzeugt sein, daß die meisten Menschen in den dunkelsten Stunden ihres Lebens, in Lagen, die bis an die äußerste Grenze des Erträglichen gehen, über sich selbst hinauswachsen. Der Zyniker mag darüber lächeln. Das gilt mir gleich. Ich weiß, wovon ich spreche. Den Beweis für meinen Glauben haben mir siebzehn Männer gegeben, die mit Ausnahme von Kapitän Bligh und Herrn Nelson einfache Seeleute waren, wie man sie in jeder Hafenstadt finden kann. Ich will nicht behaupten, daß es keine Klagen, kein Jammern nach ein wenig mehr Nahrung gab. Ja, die gab es. Ich kann jetzt besser als damals verstehen, welche Stärke Bligh benötigte, um dem Flehen von Männern zu widerstehen, die nahe am Verhungern waren. Den Schwächsten unter ihnen gab er einige Tropfen Wein, aber jede Forderung nach einer Erhöhung der
Nahrungsrationen wurde abgelehnt, mit Ausnahme der seltenen Gelegenheit, wenn unserem Bissen Brot ein winziges Stückchen Pökelfleisch hinzugefügt wurde. Etwa drei Stunden nach Sonnenuntergang war ich in Halbschlaf verfallen, und einen Augenblick später - so schien es mir wenigstens - wurde ich durch ein tiefes Summen des Windes und das Zischen der über uns zusammenschlagenden Wogen geweckt. Niemals waren wir der Gefahr des Kenterns so nahe gewesen wie damals, einige Sekunden lang glaubte ich, wir seien verloren. Bligh brüllte: »Schöpft auf Tod und Leben!« Und das taten wir. Keiner war unter uns, der nicht begriffen hätte, daß wir dem Untergang ganz nahe waren. Ich will nicht versuchen, das Grauen dieser Stunden zu beschreiben. Immerhin hatten sie auch ihr Gutes: Sie rissen selbst die Schwächsten unter uns aus dem Zustand der Teilnahmslosigkeit heraus und gaben uns Kräfte, die wir selblt nie in uns vermutet hätten. Eine Bö folgte der anderen, begleitet von schweren Gewittern. Nie werde ich das Bild vergessen, das sich mir bot, wenn der Blitz das Dunkel zerriß: Bligh, wie er mit einer Hand das Steuer umklammerte, sich mit der anderen festhielt, um nicht über Bord geschleudert zu werden, indes hinter ihm die Wogen, die uns zu verschlingen drohten, sich emportürmten und ihn mit sprühendem Schaum überschütteten. Und auch seine Stimme kann ich noch hören. Wie ermutigend sie durch die Finsternis drang! »Wir machen volle sechs Knoten, Jungens! Der Gedanke soll euch erwärmen, wenn das Schöpfen es nicht imstande ist aber hört deshalb nicht auf zu schöpfen!« Einmal, während einer kurzen Pause zwischen zwei Böen, schlug Fryer vor, man möge ein Gebet zum Himmel
emporsenden. »Nein, Herr Fryer«, entgegnete der Kapitän. »Beten Sie, wenn Sie wollen, aber was mich betrifft, so glaube ich, daß Gott jetzt von uns mehr erwartet als ein Gebet.« Diese Ruhepausen waren stets von kurzer Dauer. Immer wenn wir glaubten, das Schlimmste sei überstanden, kam noch Ärgeres nach. In diesen Stunden, glaube ich, erreichte Bligh den Höhepunkt seiner Seemannslaufbahn. Einmal schoß ein blendender Blitzstrahl herab, unmittelbar gefolgt von einem Donnerschlag, der das Meer in seinen Tiefen zu erschüttern schien. In diesem Augenblick schleuderte eine gewaltige Woge das Boot in eine beinahe senkrechte Stellung empor. Und auf seinem Platz am Steuer saß Bligh wie auf einem Thron, hoch über uns alle emporgehoben in mehr als dem körperlichen Sinn. »Schöpft, Jungens!« brüllte er. »Bei Gott! Wir besiegen das Meer selbst!«
8
Während der nächsten Nacht ließ die Heftigkeit des Unwetters nach. Ich vermochte zwei oder drei Stunden lang zu schlafen. Als ich erwachte, lag ich eine Zeit regungslos da, in einer Art Betäubung über den Anblick, den meine Kameraden boten. Nelson lag ganz nahe bei mir. Seine Augen waren halb geschlossen, seine geöffneten Lippen sahen im Morgenlicht ganz blau aus, seine Wangen waren hohl, seine Schläfen eingefallen. Einen Augenblick lang glaubte ich, er sei während der Nacht gestorben. Dann hörte ich ihn leise atmen. Kapitän Bligh sah in den halb verfaulten Lumpen, in die er gehüllt war, wie eine Vogelscheuche aus; ebenso wie wir alle bestand er nur noch aus Haut und Knochen. Aber er trug den Kopf hoch, und der Ausdruck seiner Augen war der gleiche wie sonst. »Kommen Sie hierher in die Sonne, Herr Ledward«, sagte er, »Sie werden sich wie neugeboren fühlen!« Ich bemühte mich aufzustehen, aber es gelang mir nicht. Herr Bligh half mir, mich auf die Bank neben ihn zu setzen. Dann gab er Hayward und Tinkler ein Zeichen, Nelson aufzuhelfen. Der Botaniker begrüßte mich mit einem geisterhaften Lächeln, das fröhlich erscheinen sollte. »Ich fühle mich schon besser«, sagte er mit schwacher Stimme. Der Kapitän wandte sich nun an die ganze Mannschaft. »Wir haben Glück«, sprach er, »wir haben das schlechte Wetter hinter uns gelassen. Herunter mit unseren Kleidern, ehe die Sonne zu hoch steht. Benutzt die Gelegenheit, um eure Sachen einmal ordentlich zu trocknen. Die Sonne auf unserer nackten Haut wird uns
so gut tun wie ein Glas Grog. Jeder Mann erhält einen Löffel Rum, Herr Samuel!« Er warf den Leuten einen belobenden Blick zu und fügte dann hinzu: »Wir wollen das gute Wetter feiern, Jungens! Ein Stück Pökelfleisch mit unserem Brot und Wasser!« Unsere Kleider, die durch den unaufhörlichen Regen und das Auswringen in Salzwasser zu wahren Lumpen geworden waren, wurden zum Trocknen aufgehängt. Wir boten nun ein seltsames und jämmerliches Schauspiel. Unsere Haut, die so lange vom Regen durchweicht worden war, sah totenweiß aus; sie hatte die gleiche Farbe wie die Bäuche von Fischen. Einige der Leute waren so entkräftet, daß ich kaum begriff, wie sie sich aufrechterhalten konnten. Nichts war erstaunlicher als die gute Laune, mit der sie ihre Heimsuchungen ertrugen. Die warme Sonne, die noch nicht hoch genug stand, um unsere Haut zu verbrennen, erschien uns wie ein Geschenk des Himmels, und unser Frühstück, bereichert um ein winziges Stückchen Pökelfleisch, war ein fröhliches Mahl. Der Morgen war einer der schönsten, die ich je auf See gesehen habe. Das Meer war so dunkelblau, wie man es nur in den Tropen sehen kann, eine gute Brise füllte unsere Segel, und bis auf ein paar Schönwetterwölkchen am Horizont war der Himmel vollkommen klar. Herr Fryer griff ins Wasser und zog ein Stück Kokosnußschale heraus. Er übergab sie dem Kapitän, der sie sorgsam prüfte. »Diese Schale ist von Menschenhand von der Frucht entfernt worden«, bemerkte er. »Sehen Sie nur! Sie war nicht allzulange im Wasser! Nur wenig Tang befindet sich daran. Wir sind in der Nähe von Neu-Holland, ohne jeden Zweifel!«
»Der schlimmste Teil unserer Reise ist vorüber«, fuhr er nach einer Pause fort. »Wir werden innerhalb der Riffe sein, ehe das Wetter umschlägt. Ihr habt euch bisher wie echte englische Seeleute gehalten; nun muß ich weitere Proben der Seelenstärke und der Ausdauer von euch verlangen. Ich weiß nicht sicher, ob es auf Timor eine europäische Niederlassung gibt. Sollte es keine geben, so wäre es unklug, uns unter die dortigen Eingeborenen zu wagen. Aus diesem Grunde, glaube ich, werdet ihr alle meine Ansicht teilen, daß wir unsere Rationen noch weiter herabsetzen müssen, um im Notfalle Java erreichen zu können. Um unseres Erfolges sicher zu sein, müssen wir von jetzt an ohne die Abendration Brot auskommen.« Ich blickte verstohlen auf die Leute, denn ich wußte, daß diese Maßnahme des Kapitäns einigen von ihnen beinahe wie ein Todesurteil erscheinen mußte. Ich war deshalb überrascht und erfreut, zu sehen, mit welch fröhlicher Zustimmung Blighs Worte aufgenommen wurden. Sogar der alte Purcell rief mit grimmigem Humor: »Einverstanden! Die Menge Brot, die wir jetzt bekommen, oder gar keines, das ist ohnehin ein und dasselbe! Ich glaube, ich würde auch ganz ohne Brot nach Java kommen!« »Bei Gott, das glaube ich auch!« nickte Bligh mit einem kurzen, rauhen Lachen. »Wenn wir erst einmal innerhalb der Riffe sind«, erklärte Nelson, »werden wir kaum mehr Brot brauchen. Es wird Krebse dort geben, und ohne Zweifei werden wir auf den Inselchen auch verschiedene Früchte und Beeren finden.« Tinkler schmunzelte. Offenbar lief ihm bei diesem Gedanken das Wasser im Munde zusammen. Ebenso wie
die anderen Kadetten hatte er die Entbehrungen besser ertragen als die völlig erwachsenen Leute. Tinkler war es auch, der gegen Ende dieses Abends mittels einer aus dem Meer aufgefischten Bambusstange, wie sie die Eingeborenen zum Fischfang benutzen, einen Seestorch erlegte. Das Blut des großen Vogels wurde zwischen Nelson, Lamb und Simpson, die am schwächsten waren, aufgeteilt. Und als das Fleisch, die Eingeweide und die Knochen des Tieres unter uns verteilt wurden, kam es uns vor, als setzten wir uns zu einem Gastmahl nieder. Im Magen des Storches wurden drei fliegende Fische gefunden; sie waren frisch, und ich war hoch erfreut, als einer davon mir zufiel. Ich hatte schon in Tahiti von den Indios zubereiteten rohen Fisch gegessen und fand auch diesen hier genießbar. Ich schuppte ihn gierig mit einem Taschenmesser ab und schnitt ihn dann in kleine Stückchen, die ich in Salzwasser tauchte. Nicht ein einziges Bröckchen blieb übrig. Am Dienstag sahen wir neuerdings Kokosnußschalen im Meer schwimmen, ebenso Treibholz, das nicht länger als eine Woche im Wasser gewesen zu sein schien. Wir hatten auch das Glück, drei weitere Seestörche zu fangen. Ohne deren Blut und rohes Fleisch wären zwei oder drei unter uns an diesem Tage gestorben, dessen bin ich gewiß. Am Mittwoch war kein Zweifel mehr daran möglich, daß Land in der Nähe sein mußte. Unzählige Seevögel umflogen unser Boot. Da wir sehr unter der Sonnenhitze litten, riet uns Bligh, aus überflüssigen Stofffetzen Turbane zu machen, sie um den Kopf zu schlingen und sie häufig ins Wasser zu tauchen. Und in der Tat boten uns diese Kopfbedeckungen nicht nur
Schutz vor der Sonne, sondern gaben uns auch Erfrischung. »Ich glaube, daß wir morgen die Riffe sichten werden«, verkündete der Kapitän. »Eine Einfahrt werden wir schon finden.« Gegen neun Uhr abends legte sich Herr Bligh neben mir zum Schlafe nieder. »Halten Sie scharf Ausschau, Herr Cole«, sagte er, »vielleicht sind wir den Riffen näher, als wir glauben.« Ich lag mehrere Stunden in unruhigem Halbschlaf da und lauschte Blighs ruhigen Atemzügen. Endlich sank ich in Schlummer. Es muß kurz nach Mitternacht gewesen sein, als die Stimme des Bootsmannes mich aufweckte. »Herr Bligh, Brandung!« Schon war der Kapitän auf den Beinen. Ich hörte ein entferntes, langgezogenes Brausen. Und dazwischen Blighs Kommandorufe. Schon waren einige Leute zum Dienst bereit. Es war Neumond, aber die Brandung war im Licht der Sterne deutlich sichtbar, als wir näher kamen. Manche von uns, die wir auf dem Boden des Bootes lagen, waren zu schwach oder zu teilnahmslos, um auch nur den Kopf zu heben. Bligh bemerkte, daß ich mich bewegte. »Die Riffe von Neu-Holland, Herr Ledward! Wir werden bald in ruhigem Wasser segeln und unsere Beine an Land ausstrecken! Sie werden morgen Krebse schmausen, mein Wort darauf!« Am Morgen waren die meisten Leute, obgleich die Nacht warm und ruhig gewesen war, entsetzlich schwach. Die Vögel, deren Fleisch wir gegessen hatten, hatten uns zwar am Leben erhalten, aber uns keine wirkliche Kraft gegeben. Zwei Teelöffel Rum wurden ausgegeben, ehe
wir unser Wasser tranken und unseren Brocken Brot aßen. Ermutigt durch den Branntwein und die Aussicht auf eine glatte See und Nahrung ersuchte ich Peckover, mir beim Aufrichten behilflich zu sein. Nelson war unfähig, eine sitzende Stellung einzunehmen. Herr Bligh hatte ihm ein paar Tropfen Rum eingeflößt, aber er hatte nur schwach den Kopf geschüttelt, als man ihm Brot reichte. Ich sah, daß der Botaniker trotz all seinem Mut am Ende seiner Kräfte war. Wenn wir keine frische Nahrung für ihn fänden, würde er den nächsten oder übernächsten Tag nicht überleben. Lamb und Simpson waren gleichfalls in einem höchst elenden Zustand, und einigen anderen ging es nicht viel besser. Gegen neun Uhr erstreckte sich gegen Norden und Süden, so weit unser Auge reichte, eine wirbelnde, schneeweiße Linie. Die gleichmäßig heranrollenden Wogen des Stillen Ozeans brachen sich donnernd und zischend an dem Hindernis des Korallenriffs. Es war ein seltsamer und ermutigender Anblick für Menschen in unserer Lage, unmittelbar jenseits des Walles der wütenden Brandung die friedlichen Gewässer einer riesigen Lagune zu erblicken, kaum gekräuselt durch eine sanfte südöstliche Brise. Und mir schien, als erblickte ich in der Ferne, blau und nebelhaft, die Umrisse des Landes. Wir kreuzten längere Zeit in nordwestlicher Richtung, ohne einen Durchlaß durch das Riff zu finden. Der Ostwind, der sich erhoben hatte, trieb uns an die Klippen heran. »Wer hat Kraft genug, um zu rudern?« fragte Bligh. Lenkletter, Lebogue und Elphinstone versuchten sich zu erheben, sanken aber zurück, beschämt ob ihrer Schwäche. Fryer, Purcell, Cole und Peckover setzten sich
an die Ruder. Aber trotz ihrer heldenhaften Anstrengungen gelang es ihnen nicht, das Boot von den gefährlichen Riffen wegzubringen. »Nun denn«, rief Bligh, »es bleibt uns nichts übrig, als durch die Brandung durchzukommen!« Der Gedanke, unsere schwerbeladene Nußschale heil durch diesen schäumenden, gleich einem gewaltigen Wasserfall donnernden Strudel zu bringen, war genug, um selbst dem tapfersten Seemann das Herz im Leibe zittern zu lassen. Da plötzlich rief Tinkler, der wahre Luchsaugen hatte: »Herr Bligh! Sehen Sie nur! Dort drüben ist ein Durchlaß im Riff!« Bligh stand sogleich auf. Nach einem kurzen Blick auf die Stelle, auf die der Kadett deutete, wandte er sich an die Mannschaft. »Hört auf zu rudern, Leute!« sagte er. »Die Vorsehung hat es gut mit uns gemeint. Dort drüben liegt ein Kanal, vielleicht der, den Kapitän Cook benutzt hat. Wir kommen mit den Segeln durch!«
9
Der Kanal war kaum eine Meile von uns entfernt; in einer Viertelstunde hatten wir ihn erreicht. Er erwies sich als breit genug, um uns bequem Durchlaß zu gewähren. Sobald wir das Riff hinter uns gelassen hatten, hörte das Rollen des Meeres auf. Die Barkasse glitt in schneller Fahrt über eine Wasserfläche, die so glatt war wie ein See. Zwei Inseln, von denen eine gebirgig und bewaldet war, wurden in einer Entfernung von etwa vier oder fünf Seemeilen sichtbar; unmittelbar dahinter erblickte ich das Festland von Neu-Holland selbst - Berge und Täler, zum Teil mit dichtem Wald bedeckt. Am späten Nachmittag erreichten wir die erste der beiden Inseln, die kaum mehr als ein Steinhaufen war. Das größere Eiland mochte etwa einen Umfang von drei Meilen haben und wies im Nordwesten eine geschützte sandige Bucht auf. Von dieser Bucht war das Festland höchstens vierhundert Meter entfernt. Da keine Spur von Eingeborenen zu sehen war, landeten wir sogleich. Seit sechsundzwanzig Tagen hatten wir keinen festen Boden unter den Füßen gehabt. Herr Bligh war der erste, der die Insel betrat; er wankte ein wenig vor Schwäche und wohl auch wegen des ungewohnten Gefühls, festen Grund unter sich zu spüren. Fryer, Purcell, Peckover, Cole und die Kadetten folgten. Alle diese konnten gehen, wenn es ihnen auch schwerfiel. Hall, Smith, Lebogue und Samuel brachten es gleichfalls fertig, aus eigener Kraft das Boot zu verlassen. Sie stolperten oder krochen zu einer Stelle, die mit weichem Sand bedeckt und von niedrigen Bäumen beschattet war. Wir anderen befanden uns in einem solchen Zustand, daß
wir der Hilfe unserer stärkeren Kameraden bedurften, um das Ufer zu erreichen. Dann entblößte Herr Bligh sein Haupt, während jene, die es vermochten, rund um ihn her niederknieten. Wenn jemals Menschen Gott für ihre Errettung vor den Gefahren des Meeres aus tiefstem Herzensgrunde dankten, so waren wir es in dieser Stunde. Nach kurzem Schweigen räusperte sich Bligh und wandte sich an den Schiffer. »Herr Fryer«, sagte er, »nehmen Sie die Leute, die sich stark genug fühlen, und gehen Sie auf die Suche nach Krabben! Auf den Klippen dort drüben muß es auch Austern und Muscheln geben. Sie, Herr Peckover, werden mit mir die Insel durchforschen. Herr Cole, Sie halten Wache beim Boot. Sorgen Sie dafür, daß heute abend kein Feuer angezündet wird!« Der Kapitän flößte Nelson und mir einen Schluck Wein ein. Das sowie auch die Aussicht auf Speise und die Freude, wieder einmal an Land zu sein, gab uns neue Kraft. Wir lagen Seite an Seite. Der Strand war wohlig warm; Zwergpalmen gaben angenehmen Schatten. Wir sprachen nur wenig. Wir brauchten Zeit, um uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß wir noch am Leben waren; und ausgestreckt im trockenen Sand zu liegen erschien uns wie eine unermeßliche Gunst des Schicksals. »Können Sie sich vorstellen, lieber Ledward, daß unsere Heimsuchungen vorüber sind?« fragte Nelson endlich. »Kapitän Cook hat mir oft von den Gewässern innerhalb der Riffe von Neu-Holland erzählt. Auf diesen Inseln werden wir Nahrungsmittel finden. Auf den größeren dürfte es auch Wasser geben.« »Es ist seltsam«, sagte ich, »gegenwärtig verspüre ich nicht das geringste Verlangen nach Nahrung. Die Ruhe,
die wir jetzt genießen dürfen, würde ich nicht gegen das köstlichste Mahl eintauschen.« »Mir geht es genauso«, stimmte er zu. »Ruhe brauchen wir jetzt mehr als alles andere.« Wir versanken wieder in Schweigen, und lange lagen wir so im Sande. Ein Schwarm großer Vögel, eine Art Papageien, flog mit heiserem Krächzen über uns hinweg und verschwand in der Richtung des Festlandes. Dann ging die Sonne unter; von weitem sahen wir die auf die Suche nach Lebensmitteln ausgegangenen Kameraden zurückkehren. Ich wußte, wie müde sie sein mußten, und schämte mich meines Mangels an Kraft. »Wir sind zu nichts gut, wir beide, Nelson«, seufzte ich. »Warum besitzen wir keinen widerstandsfähigeren Körper?« »Keine Angst«, antwortete er. »Bald werden wir unseren Anteil an der Arbeit übernehmen können. Ich fühle mich bereits viel frischer.« Der Kapitän und Peckover hatten ihre Hüte zum Teil mit Früchten gefüllt. »Werfen Sie einen Blick darauf, Herr Nelson«, ersuchte Bligh, »wir haben, weiß Gott, wenig genug gefunden. Ich bemerkte, daß die Vögel diese Beeren fressen. Können auch wir sie verzehren?« »Sie sehen gut und nahrhaft aus. Ich erkenne die Familien, denen sie angehören, wenn ich auch die Arten nicht genau feststellen kann. Könnten nicht einige Leute das Mark dieser Palmen herausschneiden? Ich glaube, wir werden es sehr wohlschmeckend finden.« »Verflucht«, rief Bligh, »daran habe ich nicht gedacht. Was wieder einmal beweist, daß man auf jedem Schiff einen Botaniker haben sollte. Wir sind meilenweit gewandert, um ein paar Beeren zu ergattern, und Herr
Nelson findet ein paar Schritte vom Boot entfernt Nahrung für uns!« »Jawohl«, nickte Peckover, »ich wollte, ich hätte auch so viele Kenntnisse und gute Gedanken in meinem Kopf wie Herr Nelson. Wir haben gutes Wasser gefunden, Herr Ledward. Wir können uns ordentlich satt trinken, solange wir auf dieser Insel sind.« Fryer kam mit seinen Leuten den Strand entlang zurück. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie mit reichen Schätzen beladen waren. »Heute abend werden wir nach Herzenslust schmausen«, rief er uns zu. »Wir haben eine Menge Austern gefunden! Sie sind größer und schmecken besser als die in der Heimat!« »Kommt, Jungens«, sagte Bligh, »wir wollen uns darüber hermachen, ohne Zeit zu verlieren!« Ich bin den Freuden der Tafel niemals abgeneigt gewesen und habe an manchem trefflichen Mahl teilgenommen, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals mit größerem Vergnügen zu Abend gegessen zu haben als an jenem Tage. Unser großer kupferner Topf war über die Hälfte mit Austern von ungewöhnlicher Größe gefüllt. Die Früchte waren vortrefflich, besonders eine Art, die Stachelbeeren ähnelte, aber süßer war; das Mark der Palmen war zart wie junger Kohl. Ich empfahl Nelson, Lamb und Simpson, an diesem Abend nichts anderes als Austern zu essen - eine Diät, die ihrem schwachen Zustand angemessen war; auch ich selbst nahm nichts anderes zu mir. Die Nacht war warm und klar. Als wir die Mahlzeit beendet hatten und uns an dem kühlen, frischen Wasser satt getrunken hatten, legte ich mich im Sand zur Ruhe nieder. Der feste Boden unter mir schien noch zu schaukeln, sich zu heben und zu senken. Aber es war köstlich, die Beine
ihrer ganzen Länge nach ausstrecken zu können, in dem warmen Sand zu liegen und zu den Sternen emporzublicken. Ich bedauerte die Kameraden, die Befehl erhalten hatten, im Boot, das im seichten Wasser vor Anker lag, zu schlafen. Herr Bligh hielt es nicht für unwahrscheinlich, daß sich Eingeborene in der Nähe befänden. Ich schloß die Augen, dankte meinem Schöpfer in einem kurzen Gebet dafür, daß er uns in seiner Güte vor dem Untergang bewahrt hatte, und fiel nach wenigen Augenblicken in traumlosen Schlummer. Das laute Geplapper der Papageien, die vom Innern unserer Insel dem Festland zuflogen, weckte mich. Schwarm auf Schwarm folgte einander unter großem Lärm; der letzte Vogel war verschwunden, ehe die Sonne aufging. Meine Kameraden schliefen noch, nur den Bootsmann sah ich vom Boot durch das seichte Wasser zum Strande waten. Er legte sein Hemd und seine zerfetzte Hose ab und tauchte ins Wasser. Ich sehnte mich danach, seinem Beispiel zu folgen, und bemerkte zu meiner Freude, daß ich gehen konnte. Cole, der noch immer im Meer umherplätscherte, begrüßte mich. »Ich brauche nicht zu fragen, wie Sie geschlafen haben, Herr Ledward! Sie sehen wie neugeboren aus!« Und so fühlte ich mich auch, als ich in dem kühlen Seewasser gebadet und meine zerrissenen Kleider wieder angelegt hatte, die ein Londoner Lumpensammler nicht angerührt hätte. Inzwischen hatten sich auch die anderen erhoben und bewegten sich mit dem unsicheren Gang kleiner Kinder umher. Nelson gelang es beim zweiten Versuch, zu stehen, aber er sank sogleich wieder nieder, gepeinigt von einem scharfen Schmerz in der Magengegend. »Bei Gott«, sagte
er mit einem sauren Lächeln, »ich hätte gute Lust, ein Abführmittel von Ihnen zu verlangen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das würde bei unserem Schwächezustand unratsam sein. Die Schmerzen und der Stuhlzwang, den wir verspüren, werden von der Leere unserer Eingeweide verursacht.« Fryer wurde mit ein paar Mann ausgesandt, um Austern zu holen, zwei andere Leute wurden ins Innere der Insel beordert, um auf die Suche nach Früchten zu gehen. Cole und Purcell machten sich daran, das Boot gründlich in Ordnung zu bringen, für den Fall, daß wir auf Wilde stießen. Ich war unter denen, die der Kapitän anwies, während des Vormittags zu ruhen. Kurz vor zwölf Uhr kehrten die Austernsammler mit reicher Beute heim. Nelson und ich hatten aus Steinen einen Herd gefertigt, und wir hatten uns auch kräftig genug gefühlt, um Brennholz zu sammeln. Bligh machte mit Hilfe seines Vergrößerungsglases Feuer und überwachte die Zubereitung des ersten warmen Mahles, seit wir vor beinahe einem Monat Tofoa verlassen hatten. Aus Austern, Brot und einem Pfund feingeschnittenen fetten Pökelfleisches wurde ein wunderbares Gericht gekocht. Schon als wir es im Kessel prasseln hörten und köstliche Düfte daraus aufstiegen, lief uns das Wasser im Mund zusammen. »Verflucht«, rief Bligh, nachdem er die Speise gekostet hatte, »ich habe öfter als einmal auf den Schiffen Seiner Majestät schlechter gegessen.« »Und manches bessere Essen hat Ihnen nicht so gut gemundet, nehme ich an«, bemerkte Nelson. »Ich habe auf Schiffen gedient, wo wir oft sechs Monate lang nichts so Gutes bekommen haben«, meinte Fryer.
»Hunger ist der beste Koch«, fügte der Kapitän hinzu, »es war beinahe der Mühe wert, einen Monat lang zu hungern, damit einem jetzt das Essen so gut schmeckt!« Nach der Mahlzeit fühlte ich mich so frisch, daß ich mich mit Nelson zu einem Spaziergang ins Innere der Insel aufmachte, den wir allerdings ein wenig schwankend absolvierten. Das Land war felsig und ziemlich unfruchtbar; nur verkrüppelte Bäume kamen hier vor. An der höchsten Stelle der Insel waren Papageien und Wildtauben damit beschäftigt, Beeren zu picken, die es hier im Überfluß gab. Obwohl wir versuchten, einige Vögel mit Steinwürfen herunterzuholen, gelang es uns nicht, einen zu erbeuten. Als wir in östlicher Richtung weiterwanderten, trafen wir auf zwei eingestürzte Eingeborenenhütten. Sie waren primitiver als irgendwelche Behausungen, die wir bisher in der Südsee sahen. Im Sand unweit der Hütten bemerkte ich die Spuren eines großen Tieres, die mit denen keines anderen, das ich kannte, Ähnlichkeit hatten. Nelson untersuchte sie sorgfältig. »Ich glaube, ich kann Ihnen den Namen des Tieres sagen«, erklärte er. »Herr Gove, Kapitän Cooks Leutnant, schoß eines davon. Es war so groß wie ein Mensch, mausfarben und bewegte sich auf den Hinterbeinen hüpfend vorwärts. Die Indios nannten es Känguruh.« »Ist das Fleisch eßbar?« »Cook fand es ebenso gut wie bestes Hammelfleisch. Die Tiere sollen sehr scheu sein und schneller laufen als ein Pferd.« Auf dem Heimweg, währenddessen wir mehrere Male haltmachten, um uns auszuruhen, ließen wir es uns nicht nehmen, durch das Einsammeln von Austern und
Muscheln zur Abendmahlzeit beizutragen. Auch an diesem Abend war das Essen nicht minder vortrefflich als tags zuvor. Gegen Sonnenuntergang bemerkten wir auf dem Festlande, in einer Entfernung von etwa zwei oder drei Meilen, Rauchsäulen aufsteigen. Bligh wies wiederum einige Leute an, in der Barkasse zu übernachten. Auch am Ufer wurde eine Wache ausgestellt. »Wir müssen auf der Hut sein«, sagte Bligh, »obgleich meiner Ansicht nach während der Nacht kaum zu fürchten ist, daß die Eingeborenen uns besuchen werden. Unser Feuer verursachte keinen Rauch, und das Boot können sie nicht gesehen haben.« Wir begaben uns auf unsere Schlafplätze. Nelson war beinahe sofort eingeschlafen; mich hingegen hielt die wiedergekehrte Lebenskraft noch wach, und lange lag ich da, zu dem mit Sternen übersäten Himmel emporblickend. Purcell und der Schiffer lagen in meiner Nähe und unterhielten sich leise. Vielleicht glaubten sie mich schlafend; jedenfalls konnte ich es nicht vermeiden, ihr Gespräch mit anzuhören. Ich vernahm, wie sich ihre Unterhaltung der Meuterei zuwandte. »Undankbar?« sagte der Zimmermann. »Den Teufel noch einmal! Wofür sollten sie ihm denn dankbar sein? Fletcher Christian wurde vom Kapitän schlechter behandelt als ein Hund. Nicht, daß ich die Meuterer in Schutz nehmen will. Ich würde mich freuen, jeden einzelnen von ihnen baumeln zu sehen; aber das eine sage ich: Wenn je ein Kapitän es verdiente, sein Schiff zu verlieren, so war es Bligh.« »Wenn Sie dieser Ansicht sind, weshalb schlossen Sie sich dann nicht Christian an?« fragte Fryer.
»Die Liebe für Kapitän Bligh war es bestimmt nicht, die mich davon abhielt, darauf können Sie sich verlassen«, entgegnete Purcell. »Er hat sich die Meuterei selbst zuzuschreiben, und das werde ich auch nicht verschweigen, falls wir in die Heimat kommen.« »Bligh hat seine Fehler«, gab Fryer zu. »Er traut es keinem seiner Offiziere zu, seine Pflichten selbständig zu erfüllen; bei allem muß er persönlich anwesend sein. Er ist auch nicht wählerisch in seinen Ausdrücken. Aber welcher Kapitän ist das? Die Marine ist kein Platz für empfindliche Naturen. Wo wären wir heute ohne ihn? Wollen Sie mir das vielleicht sagen? Wen möchten Sie an seiner Stelle in der Barkasse wissen?« »Ich leugne nicht, daß er seine guten Seiten hat«, mußte der Zimmermann widerwillig zugeben. Als ich endlich einschlief, dauerte ihr Gemurmel noch fort. Beim Erwachen fühlte ich mich so wohl wie seit langem nicht. Nelson war schon auf. Einige Leute waren gerade im Begriff, auf die Suche nach Austern zu gehen. Nach dem Mittagessen sagte der Kapitän: »Ungefähr zwei Stunden vor Sonnenuntergang werden wir abfahren. Wir können der Gefahr, von den Kanus der Eingeborenen überrascht zu werden, am besten dadurch entgehen, daß wir soviel wie möglich bei Nacht fahren. Herr Nelson und ich werden das Boot bewachen, alle anderen werden Austern einsammeln gehen als Vorrat für die Fahrt.« Der Schiffer hatte sich gerade zu einem Mittagsschläfchen hingelegt; jetzt setzte er sich mit trübem Gesichtsausdruck auf. »Könnten wir uns nicht heute nachmittag ausruhen, Sir? Wir sind alle noch nicht recht bei Kräften, und sicherlich werden wir an jedem Landungsplatz Austern finden!«
»So ist es«, brummte Purcell. »Sie versprachen uns, daß wir in diesen Gewässern viele Inseln anlaufen würden!« »Das tat ich«, nickte der Kapitän, »aber wer gibt uns die Gewähr, daß wir dort Austern finden werden? Daß es hier genug davon gibt, wissen wir. Im übrigen habe ich eure verfluchten Klagen und Beschwerden bald satt!« Mit zorngerötetem Gesicht erhob er sich und ging weg, so als fürchte er, sich nicht länger beherrschen zu können. Gegen vier Uhr nachmittags kehrten wir, mit Austern beladen, zurück und waren bald abfahrtbereit. Wir nahmen unsere Plätze in der Barkasse ein, der Anker wurde gerade gelichtet und die Segel gesetzt, als wir auf dem uns gegenüberliegenden Ufer des Festlandes einige Eingeborene sahen, die laut zu uns herüberbrüllten. Auf den dahinterliegenden Hügeln wurde eine größere Anzahl dieser Menschen sichtbar, aber zu unserer großen Befriedigung schienen sie nicht über Kanus zu verfügen. Infolge dieses erfreulichen Umstandes konnten wir ziemlich nahe an ihnen vorbeifahren. Sie trugen Lanzen in der linken Hand, während sie in der rechten eine Waffe oder ein Werkzeug trugen, das eine ovale Form hatte und etwa zwei Fuß lang war. Diese Wilden waren keinen ähnlich, die wir bisher in der Südsee gesehen hatten, sie waren kohlschwarz, groß und äußerst mager, mit langen, knochigen Beinen. Sie schienen uns genauso häßlich und abstoßend wie die Eingeborenen von VanDiemens-Land. Der Wind frischte auf, und unser Boot kam rasch in nördlicher Richtung vorwärts, indes das Geschrei der Wilden schwächer und schwächer wurde und endlich verhallte. Die drei Tage der Ruhe und die ausreichende Ernährung hatten uns auf so wunderbare Art gekräftigt, daß wir der
uns umgebenden Landschaft einige Aufmerksamkeit schenken konnten. Wir fuhren längs der Küste eines gewaltigen Erdteils, durch Gewässer und zwischen Inseln, die weißen Menschen so gut wie unbekannt geblieben waren. Meines Wissens hatte Kapitän Cook als einziger diesen Weg genommen. Zu unserer Linken erstreckte sich das Festland, hunderte oder tausende Meilen weit, in ein Schweigen gehüllt, das ungebrochen war seit dem Beginn der Zeiten, eine tiefe, allumfassende Stille gleich jener, die an einem ruhigen Tage über dem unendlichen Ozean liegt. Nicht einer war unter uns, glaube ich, der diese Stille nicht im Innersten gespürt hätte. Die Küste war flach, öde und einsam, unbewohnt und scheinbar unbewohnbar; und doch wußten wir seit dem Vortage, daß zumindest vereinzelte Banden von Eingeborenen ihren Unterhalt dort fanden. Nordöstlich erblickten wir eine Anzahl von kleinen Inseln. Kapitän Bligh steuerte unser Boot zwischen ihnen und dem Festland hindurch. Die Meerenge war höchstens eine Meile breit, und als wir sie durchführen, kamen einige Wilde gleich denen, die wir tags zuvor gesehen hatten, ganz nahe an das Ufer des Meeres und betrachteten uns. »Ich möchte mir diese Burschen etwas näher ansehen«, sagte Bligh. Demgemäß steuerten wir die Barkasse so nahe, wie es mit Rücksicht auf die Klippen ratsam schien, an das Ufer heran. Als die Wilden unsere Absicht erkannten, liefen sie landeinwärts ein Stückweit davon. Bligh brüllte: »Heda, kommt an Bord!« und schwenkte ein Hemd als Signal, aber die Wilden waren nicht zu bewegen, näher zu kommen. Sie waren vollkommen
nackt, und ihre Körper hoben sich im hellen Morgenlicht schwarz wie Tinte von dem Sand und den nackten Felsen ab. Ihre Scheu war für uns, die wir unbewaffnet und von Entbehrungen geschwächt waren, eine Ermutigung - wir fühlten, daß wir von kleineren Gruppen dieser Leute nichts zu fürchten hätten. »Sie werden nicht kommen«, erklärte Nelson, nachdem wir den Eingeborenen längere Zeit hindurch Zeichen gegeben hatten. »Das ist schade, denn sie sehen recht harmlos aus, und sie müssen Mittel kennen, sich Nahrung zu verschaffen, die uns wohl zustatten kämen, wenn wir sie kennenlernten.« »Sie fürchten sich. Wir können ruhig unseren Weg fortsetzen«, nickte Bligh. »Sir Joseph Banks ist sehr begierig darauf, eine Beschreibung der Wilden von NeuHolland zu erhalten. Er wird sich mit dem wenigen begnügen müssen, das ich ihm über ihr Aussehen im allgemeinen werde sagen können.« Wir hißten aufs neue die Segel und steuerten auf eine Insel zu, die unmittelbar vor uns lag und etwa vier Meilen vom Festland entfernt war. Etwa eine Stunde später erreichten wir sie. Obgleich sie felsig war, konnten wir ohne Schwierigkeiten landen. Wir brachten alles, was wir hatten, an Land, auf daß das Boot einmal gründlich gereinigt und getrocknet werde. Unsere Wassergefäße und unseren kostbaren Brotvorrat legten wir an eine geschützte Stelle unter einen überhängenden Felsen. Als das Boot ausgeschrubbt war, bildete Herr Bligh zwei Gruppen, die auf die Suche nach Krabben gehen sollten. Die eine Gruppe wurde Purcell unterstellt. Die Leute warteten auf den Zimmermann, der sich mit dem Gehaben eines Mannes, der die Absicht hat, dort den Tag zu verbringen, am Strande niedergelassen hatte. Die
andere Schar, unter Führung Peckovers, hatte sich bereits längs des Ufers in südlicher Richtung entfernt. »Los, Herr Purcell«, sagte Bligh schroff, »machen Sie sich sogleich mit Ihren Leuten auf den Weg. Wir haben hier keine Zeit zu verlieren.« Der Zimmermann blieb sitzen. »Ich habe schon mehr Arbeit geleistet, als mir zukam«, sagte er in säuerlichem Ton. »Sie können jemand anderen mit diesen Leuten aussenden.« Bligh funkelte auf ihn nieder. »Hören Sie mich nicht?« rief er. »Machen Sie sich auf die Beine, und zwar schleunigst!« Der Zimmermann machte keine Miene, zu gehorchen. »Ich bin genauso gut wie Sie selbst«, brummte er, »und ich bleibe, wo ich bin.« Ich hatte seit langem etwas dieser Art erwartet und mich eigentlich gewundert, daß der offene Bruch zwischen dem Kapitän und dem Zimmermann nicht schon früher erfolgt war. Sie waren einander zu gleich im Wesen, um etwas anderes als Feinde zu sein. Bligh schritt zu der Stelle, wo auf der Werkzeugkiste des Zimmermanns zwei Stutzsäbel lagen. Er ergriff die Waffen, kehrte zu Purcell zurück und gab ihm eine davon in die Hand. »Nun denn«, sagte er, »stehen Sie auf und verteidigen Sie sich! Wenn Sie geradeso gut sind wie ich, so sollen Sie es beweisen, hier auf der Stelle!« Es war kein Zweifel daran möglich, daß Bligh es vollkommen ernst meinte. So ernst die Situation war, so war sie, wenn ich jetzt daran zurückdenke, doch zugleich auch ein wenig komisch. Ich habe die Szene noch genau vor Augen: das sandige Stück Strand zwischen nackten
Felsen, die kleine Gruppe der Zuschauer, angetan mit Kleidungsstücken, die in Fetzen an ihren ausgemergelten Körpern herunterhingen, die beiden Gegner, die trotz übermenschlicher Entbehrungen noch Kampfgeist in sich hatten. So glaubte ich wenigstens anfangs; aber der Zimmermann ließ bald erkennen, daß seine Lust auf eine Auseinandersetzung dieser Art äußerst gering war. Er erhob sich, hielt den Säbel so, als ließe er ihn am liebsten fallen, und starrte Bligh mit erschrockenem Gesichtsausdruck an. »Zurücktreten, ihr anderen«, rief Bligh. »Wehren Sie sich, Sie rebellischer Schurke! Ich werde bald beweisen, ob Sie ein Mann sind oder nicht!« Mit entschlossener Miene ging er auf den Zimmermann los, der ängstlich zurückwich. »Wehren Sie sich, verflucht noch einmal!« brüllte Bligh. »Wehren Sie sich, sage ich, oder ich werde Sie umbringen wie einen Hund!« Purcell war größer als Bligh, aber dessen innere Kraft fehlte ihm vollkommen. Bligh war außer sich, und hätte der Zimmermann es darauf ankommen lassen, so wäre einer von ihnen - dessen bin ich gewiß - auf dem Platze geblieben. Wem das Schicksal beschieden gewesen wäre, darüber hegte ich gleichfalls kaum einen Zweifel. Aber Purcell machte schleunigst kehrt und ergriff vor seinem Verfolger die Flucht. »Kommen Sie zurück, Herr Purcell«, rief Bligh. »Bei Gott, Sie sind noch feiger, als ich vermutet habe. Kommen Sie her ... Nun denn, nehmen Sie zurück, was Sie gesagt haben?« »Ja, Sir«, antwortete Purcell.
»Gut«, sagte Bligh. »Und daß mir in Zukunft solche Frechheiten nicht mehr vorkommen. Jetzt gehen Sie an Ihre Arbeit!« Es gereicht Bligh zur Ehre, daß er später auf diesen Zwischenfall nie zurückkam. Und der Zimmermann verspürte sicherlich wenig Lust, sich seiner zu erinnern. Von dieser Zeit an war das Verhältnis zwischen den beiden Männern ein besseres. Während die anderen auf die Suche nach Nahrung gegangen waren, bestiegen Herr Bligh, Nelson und ich den höchsten Punkt der Insel, aber wir konnten von dort aus nur wenig mehr vom Festlande sehen als vom Ufer aus. Im Schatten eines großen Felsens ruhten wir uns aus. Die Lagunen, die sich nach allen Seiten ausstreckten, waren im klaren Morgenlicht wahre Wunder an Farbenpracht. Fast unmittelbar unter uns war die Barkasse zu sehen, die von dieser Höhe aus wie ein Kinderspielzeug aussah. »Dort liegt sie«, sprach Bligh, das kleine Fahrzeug liebevoll anblickend. »Jedes Brett, jeder Nagel in ihr ist mir ans Herz gewachsen. Hätten Sie es für möglich gehalten, Herr Nelson, daß sie achtzehn Menschen diesen weiten Weg tragen würde? Und Sie, Herr Ledward?« »Gerade jetzt dachte ich daran«, antwortete Nelson. »Gott hat uns geleitet. Anders ist es nicht möglich.« »So ist es«, nickte Bligh ernst, »aber Gott erwartete von uns, daß auch wir unseren Teil tun würden. Sonst hätte er uns nicht geholfen.« »Welche Entfernung haben wir bis jetzt im ganzen zurückgelegt?« fragte ich. »Ich habe es heute morgen ausgerechnet«, entgegnete Bligh. »Ich denke, wir haben von Tofoa bis hierher eine Entfernung von 2390 Meilen hinter uns gebracht.«
»Gott sei gedankt, daß wir einen so großen Teil der Reise hinter uns haben«, sagte Nelson. »Nun haben wir wohl noch gegen 1000 Meilen vor uns, nicht wahr?« »Wohl etwas mehr«, antwortete Bligh. »150 bis 200 Meilen müssen wir wohl noch längs der Küste von NeuHolland fahren. Dann werden wir wieder das offene Meer erreichen.« »Ich für mein Teil gedenke die Reise zu überleben«, meinte Nelson mit einem schwachen Lächeln, »und wäre es nur, um die Absichten der Schurken, die uns zu diesem Elend verurteilt haben, zunichte zu machen.« »Gesprochen wie ein Mann, Herr Nelson«, sagte Bligh. Ein harter Zug kam um seine Lippen. »Bei Gott: Ich würde mit dem Boot bis England fahren, wenn es nötig wäre, mit nichts anderem als Wasser im Magen, um des Vergnügens willen, die Meuterer der Gerechtigkeit auszuliefern!« »Wollen Sie selbst versuchen, sie zu finden?« erkundigte sich Nelson. »Versuchen? Bei Gott, ich werde mehr tun als es versuchen! Ich werde Tag und Nacht auf den Stufen der Admiralität sitzen, bis man mir das Kommando über ein Schiff überträgt, das sie ausforscht und dem Galgen überliefert. Ich werde nicht ruhen und rasten, bis ich wieder unterwegs und den Kerlen auf den Fersen bin. Kommen Sie, meine Herren! Wir wollen hinabsteigen. Um jeden Augenblick, den wir auf dem Weg zu unserem Ziel verlieren, tut es mir leid!« Als wir wieder zum Strande zurückgekehrt waren, entdeckten wir ein altes Kanu, das mit dem Boden nach oben halb im Sand vergraben lag. Obgleich wir unsere Kräfte vereinten, gelang es uns nicht, es von der Stelle zu rücken, geschweige denn, es umzudrehen. Es war etwa
dreißig Fuß lang und hatte einen scharf vorstehenden Bug, der auf primitive Art in Form eines Fischkopfes geschnitzt war. Wir schätzten, daß das Fahrzeug etwa zwanzig Mann fassen könne. »Hier haben wir den besten Beweis«, bemerkte Bligh, »daß die Neu-Holländer nicht ausschließlich Landratten sind. Um so mehr ist mir daran gelegen, möglichst rasch vom Festland wegzukommen. Wir müssen scharf Ausschau nach diesen Gesellen halten. In unserem geschwächten Zustand wären wir eine leichte Beute für sie.« Bald darauf gesellte sich Purcell mit seinen Leuten zu uns. Sie trugen auf einer Stange den kupfernen Kessel, der über die Hälfte mit fetten Austern und Muscheln gefüllt war. Bligh empfing den Zimmermann, der ein wenig verlegen schien, auf gewohnte Art. »Sie haben ja prächtige Beute gemacht, Herr Purcell«, sagte er. »Heute werden wir uns einmal alle ordentlich den Bauch füllen können.« Peckovers Gruppe hatte kaum weniger Glück gehabt und in Felshöhlungen auch hinreichend Wasser gefunden. Wir tafelten auf das köstlichste; zu meiner Freude bemerkte ich, daß ich ein gesundes Hungergefühl empfand. Nach dem Essen ruhten wir uns eine Stunde lang im Schatten der Felsen aus. Ich war gerade in einen erfrischenden Schlaf gefallen, als Herr Bligh mich aufrüttelte. »Bedaure, Sie zu stören, Herr Ledward«, sagte er, »aber wir müssen weiter. Wir sind hier zu nahe am Festland, und ich verspüre keine Sehnsucht nach einem nächtlichen Besuch der Wilden.« Es war inzwischen Nachmittag geworden. Von einer leichten Brise getrieben, nahmen wir Kurs auf eine
Gruppe sandiger Inselchen, die etwa fünf Meilen von der Küste des Festlandes entfernt waren. Es war dunkel geworden, ehe wir sie erreichten, und da wir keinen geeigneten Landungsplatz fanden, warfen wir Anker und blieben bis zum Morgengrauen in der Barkasse. Während der ganzen Nacht hörten wir das Geschrei unzähliger Seevögel, und bei Tageslicht sahen wir, daß eines der Inselchen der Sammelplatz dieser Tiere war. Wir befanden uns westlich von vier kleinen Inseln, die von einem felsigen Riff umgeben und untereinander durch Sandbänke verbunden waren, die nur während der Ebbe über das Wasser hinausragten. Innerhalb des Riffs breitete sich spiegelglatt eine Lagune aus, zu der eine kleine Durchfahrt führte. Wir lenkten die Barkasse sogleich hindurch. Kapitän Bligh nannte die Gruppe Laguneninseln und erfreute uns durch die Mitteilung, daß wir den Tag und die folgende Nacht hier verbringen würden. Leider bestanden die Inseln nur aus Sand und Felsen, die mit dürrem Gras und einigen verkrüppelten Bäumchen bestanden waren. Immerhin gaben die Bäume ein wenig Schatten. Cole, Samuel, Tinkler, Lamb und ich wurden ausgesandt, um auf der Insel, auf der die Seevögel nisteten, auf Beute auszugehen. Unser Weg führte uns über einen schmalen natürlichen Damm, der aus gehärtetem Sand über einer Unterlage von Korallen bestand. Tinkler und Lamb waren uns bald voraus, während wir die Klippen nach Austern absuchten. Wenn Herr Bligh anwesend war, vermieden wir es stets, von der Meuterei zu sprechen. Ein einziges Mal hatte der junge Tinkler es gewagt, zwei Kadetten zu verteidigen, die auf der Bounty zurückgeblieben waren, aber Bligh hatte ihn so zornig angeherrscht, er möge schweigen, daß
sich keiner von uns je wieder versucht fühlte, das Thema in Anwesenheit des Kapitäns zu berühren. Nun aber hatten wir das Bedürfnis, unsere Meinungen über die Meuterei und die Gründe, die dazu geführt hatten, auszutauschen. »Worüber ich mir immer wieder den Kopf zerbreche«, sagte Cole, »ist, wie Herr Christian seinen Plan schmieden konnte, ohne daß einer von uns Wind davon bekam.« »Es war ein plötzlicher Entschluß von ihm, dessen bin ich sicher«, sagte ich. »Diese Meinung teile ich nicht«, widersprach Samuel. »Ohne Zweifel hatte sich der Schurke alles reiflich zurechtgelegt und nur einen günstigen Augenblick abgewartet.« Cole nickte. »Ja, so muß es gewesen sein. Was kann ihn nur zu solch einer Wahnsinnstat veranlaßt haben?« Er schüttelte den Kopf. »Im Grunde genommen konnte ich Herrn Christian immer gut leiden. Er war aufbrausend und jähzornig, aber ich hielt ihn immer für einen wahren Gentleman und einen treuen Offizier.« »Seine Majestät kann »treue Offiziere« dieser Art wohl entbehren«, antwortete ich. »Sie sind zu mild in Ihrem Urteil, Herr Cole. Er muß gewußt haben, daß er uns alle so gut wie sicher dem Tode auslieferte.« »Entschuldigen Sie, Herr Ledward, aber das glaube ich nicht. Sicher wußte er damals nicht, was er tat. Er kann nicht bei Sinnen gewesen sein. Eines aber ist sicher: Nie wieder wird er Frieden finden. Unser Schicksal wird sein Gewissen bedrücken bis an das Ende seiner Tage.« »Er wird baumeln«, rief Samuel zuversichtlich. »Wo immer er sich auch verstecken mag, Kapitän Bligh wird
ihn finden und ihn seiner wohlverdienten Strafe zuführen.« »Glauben Sie, daß Gott ihm vergeben kann, Herr Cole?« fragte ich. Ich kannte den Bootsmann als einen wahrhaft frommen Menschen. »Das kann er, Herr Ledward. Es gibt kein Verbrechen, so verrucht, daß Gott es nicht vergeben könnte, wenn der Schuldige in Wahrheit bereut.« »Haben Sie ihm vergeben?« fragte ich weiter. »Nein«, antwortete Cole nach kurzem Schweigen. »Nie werde ich ihm das Unrecht verzeihen, das er Kapitän Bligh und uns angetan hat.« Wir waren nun nahe bei dem Vogel-Eiland. Tinkler allein erwartete uns dort; Lamb hatte sich vor wenigen Minuten entfernt. Solange wir auch warteten, der Mann kehrte nicht zurück. Es war dunkel geworden. Der Mond, der beinahe voll war, stieg am Himmel auf, und unter seinem Schein verblaßten alle Sterne mit Ausnahme der hellsten. Die Vögel mußten die Anwesenheit von Feinden gespürt haben. Sie kreisten zu Tausenden mit lautem Geschrei um unsere Häupter und ließen sich nicht zur Ruhe nieder. So ungeheuer war ihre Anzahl, daß sie sogar das Licht des Mondes verdunkelten. Wir trennten uns, um nach Lamb zu suchen. Es gelang mir, zwei Vögel mit dem für diesen Zweck vorbereiteten Stock zu erschlagen. Durch diese Anstrengung war ich so erschöpft, daß ich ermattet niedersank. Kurz darauf verspürte ich heftigen Stuhlzwang. Dies ist ein Thema, von dem zu sprechen man im allgemeinen vermeidet, aber zumindest die Mitglieder meines Standes werden verstehen, mit welchem Interesse ich das Wiedererwachen einer
Körperfunktion wahrnahm, die seit dreiunddreißig Tagen ausgeblieben war. Die Beschaffenheit der Ausscheidung bestätigte meine Anschauung, daß die geringe Nahrung, die wir während dieser langen Zeit zu uns genommen hatten, bis auf einen ganz geringfügigen Teil vom Körper vollkommen aufgesaugt worden war. Mit meiner wertvollen Jagdbeute ging ich langsam meinen Kameraden nach und traf sie um den Körper des auf der Erde liegenden Lamb versammelt. Der Bootsmann hatte den Mann mit einem Faustschlag zu Boden geworfen, und wie ich bald sah, hatte er guten Grund zu dieser Züchtigung gehabt. Lambs Gesicht und Hände waren mit Blut beschmiert. Rings um ihn her lagen die abgenagten Skelette von neun Vögeln, die der Narr in seiner Gier gefangen und verschlungen hatte. Kaum mehr als die Federn, die Knochen und die Eingeweide waren von ihnen übriggeblieben. Nicht einen Augenblick hatte Lamb an seine hungernden Kameraden gedacht. Die Vögel waren nun einmal aufgescheucht und ließen sich nicht mehr zur Ruhe nieder. Obgleich wir zwei volle Stunden warteten, konnten wir im ganzen nur zwölf der Tiere fangen; während wir einen ganzen Korb voll hätten heimbringen können, wenn der Narr in seiner Gier nicht unseren ganzen Jagdplan zunichte gemacht hätte. Müde und niedergeschlagen machten wir uns auf den Heimweg. Cole trieb den jammernden und Entschuldigungen hervorstoßenden Verbrecher vor sich her. Kapitän Bligh war selbstverständlich aufs höchste erzürnt. Er nahm Lamb seinen Stock aus der Hand und gab ihm eine reichliche und wahrlich wohlverdiente Tracht Prügel.
Das Abendessen war ein trauriges Mahl. Ein Feuer war vorbereitet worden, auf dem die Vögel gebraten werden sollten. Jeder Mann hätte zumindest zwei Vögel erhalten sollen. Nun aber, als der Kapitän das magere Ergebnis unserer Expedition sah, bestimmte er, daß die zwölf Vögel gebraten, aber für spätere Verwendung sorgfältig verpackt werden sollten. An diesem Abend mußten wir uns mit Wasser, einer Handvoll Seeschnecken und einigen Austern begnügen. Mir war es, als hätte ich soeben erst die Augen geschlossen, als ich erwachte und die Insel in flackerndes Licht gehüllt sah. Die Nacht war kalt, und der Schiffer hatte in einiger Entfernung von uns ein Feuer angezündet. Das trockene Gras, das die Insel bedeckte, hatte sich entzündet, und mit außerordentlicher Geschwindigkeit breitete sich das Feuer aus. Wir machten einen vergeblichen Versuch, es zu löschen. Als die Flammen endlich von selbst erloschen, hielt der Kapitän der Mannschaft und Herrn Fryer im besonderen eine Strafpredigt, die beinahe eine Viertelstunde dauerte. »Sie, Herr«, brüllte er den Schiffer an, »der Sie allen anderen mit gutem Beispiel vorangehen sollten, sind eine Schande für unseren Beruf. Sie sind der untüchtigste Schurke der ganzen Bande! Die Wilden werden über uns kommen, das wird die Folge Ihrer Narrheit sein! Und es wird euch recht geschehen! Was seid ihr denn wert, alle miteinander? Das unverwendbarste Halunkengesindel, das ich je befehligt habe! Ich sende euch aus, um Vögel zu fangen, auf einer Insel, wo sie zu Tausenden zusammenkommen. Wie die kleinen Kinder verscheucht ihr sie und bringt keine zurück. Und doch erwartet ihr von mir, daß ich euch füttere. Und wenn ich einen
Augenblick die Augen schließe, habt ihr schon wieder etwas angestellt, das uns alle ins Verderben bringen kann. Und doch erwartet ihr, daß ich euch sicher nach Timor bringe! Bei Gott, wenn es mir gelingt, so habe ich sicher keinem von euch dafür zu danken!« Endlich beruhigte er sich. »Geht schlafen«, sagte er barsch. »Dies ist vielleicht unsere letzte Nacht an Land bis zum Ende unserer Fahrt, also nützt sie aus!« Ich lag eine Zeitlang wach. Nie war ich sicherer gewesen, daß wir heil nach Timor kämen. Es war eine Ungerechtigkeit gegen den Kapitän gewesen, je daran zu zweifeln. Welch ein Mann! Ich danke Gott dafür, daß er und kein anderer das Kommando über die Barkasse der Bounty geführt hat!
10
Vor Anbruch des Tages waren wir munter, erfrischt durch sechs oder sieben Stunden Schlaf. Es war ein schöner Morgen mit wolkenlosem Himmel und einer frischen ostsüdöstlichen Brise. Herr Bligh erwachte in bester Laune, und wir hatten die Absicht, uns sogleich einzuschiffen. Unsere Abfahrt wurde jedoch durch Lamb verzögert. Der Mann, der sich tags zuvor so maßlos überfressen hatte, litt an heftigen Magenkrämpfen. Nach einer halben Stunde hatte ich ihn jedoch soweit, daß wir ihn ins Boot schaffen konnten. Herr Fryer nahm am Steuer Platz. Kapitän Bligh setzte sich neben ihn, sein Tagebuch offen vor sich auf den Knien. Wie gewöhnlich beschäftigte er sich damit, eine Karte der Küste anzulegen. Häufig blickte er auf den Kompaß, um die Lage von Vorgebirgen und sonstigen markanten Punkten festzuhalten. Während der ganzen Zeit, die wir innerhalb der Riffe von Neu-Holland segelten, war Bligh in diese Arbeit vertieft. Er war ein geborener Forschungsreisender, aber er interessierte sich weniger für fremde Völkerschaften und naturgeschichtliche Besonderheiten als für die kartographische Festlegung unbekannter Küsten. Ich bin überzeugt davon, daß er während dieser langen Stunden völlig vergaß, daß er sein Schiff verloren hatte und sich in einem kleinen, unbewaffneten Boot, von wilden Stämmen bedroht, Hunderte von Meilen von der nächsten europäischen Niederlassung entfernt, befand. Der Ausdruck der Freude in seinen Zügen war solcher Art, daß es ein Vergnügen war, ihm bei seiner Arbeit zuzusehen.
Wir erreichten eine kleine Insel, wo wir die Nacht zu verbringen beabsichtigten. Sie war nicht viel mehr als ein mit niedrigen Sträuchern bewachsener Steinhaufen, der nur eine einzige Landungsmöglichkeit bot. Ein Haifisch von riesiger Größe schwamm während einiger Zeit neben dem Boot her, während wir uns dem Lande näherten, und als wir ein Kap umschifften, sahen einige Leute ein großes Tier, das einem Krokodil ähnelte, unter dem Boot herschwimmen. »Größer als die Barkasse war es«, sagte Cole, als der Kapitän ihn befragte, »mit vier Beinen und einem langen Schwanz. Ein Krokodil, darauf möchte ich schwören, Sir.« Der Kapitän bestimmte, daß ein Teil der Besatzung im Boot verbleiben solle, denn die Nacht war stürmisch, und er fürchtete, daß die Barkasse abgetrieben werden könne. Die Schwächeren unter uns erhielten Erlaubnis, an Land zu gehen. Im glühendroten Licht des Sonnenuntergangs hatte die Insel etwas Unheimliches. Als der Morgen graute, ging ich mit Nelson auf die Suche nach Austern und Krabben, aber unsere Mühe war vergeblich. Plötzlich hörte ich, wie Nelson, der vorausgegangen war, mir etwas zuschrie. Rasch drehte ich mich um und sah, wie er versuchte, eine Schildkröte von ungeheurer Größe umzudrehen, die gerade aus dem Gebüsch hervorgekommen war und nun auf dem Wege zum Rande des Meeres war. »Ledward!« rief er wiederum in höchster Erregung. Einen Augenblick später war ich an seiner Seite, aber unsere vereinten Kräfte reichten nicht aus, um eine Seite der Schildkröte aus dem Sand zu heben. Während wir uns bemühten, sie auf den Rücken zu legen, bewegte sie verzweifelt ihre Schwimmbeine, einen Schauer von Sand
über uns ausschüttend, und kam dabei mit großer Geschwindigkeit dem Meere näher, das nur wenige Meter entfernt war. Ihre Kraft war gewaltig; sie wog sicherlich nicht weniger als vierhundert Pfund. Da wir die Unmöglichkeit, sie umzudrehen, erkannten, gaben wir es auf, und jeder von uns packte mit aller Kraft eines der Hinterbeine. Auf diese Art versuchten wir, sie zurückzuhalten, aber sie hatte bereits den feuchten Sand erreicht, wo sie besseren Halt finden konnte. Trotz unserer Bemühungen zog sie uns allmählich ins Wasser. Solange dieses seicht war, hielten wir das Tier noch fest; als es das tiefe Meer erreicht hatte, mußten wir es loslassen. Schwer atmend, naß von Kopf bis Fuß, hatten wir kaum genug Kraft, um an das Ufer zurückzugelangen. Dort sanken wir nebeneinander nieder. Nach einem langen Schweigen blickte mich Nelson mit einem sauren Lächeln an. »Bei Gott«, sagte er traurig, »das war eine Tragödie! Das Ungeheuer hätte uns zwei Wochen lang mit Nahrung versorgt, Ledward!« Wieder schwiegen wir. Endlich sagte der Botaniker: »Wollen den anderen lieber nichts davon sagen, was, Ledward?« Langsam gingen wir zu unseren Kameraden zurück. Bligh erwartete uns bereits. Da sich nichts Eßbares auf der Insel gefunden hatte, bestiegen wir das Boot und hißten die Segel. Gegen zwei Uhr war im Norden, Süden und Westen kein Land mehr zu erblicken. Dreihundert Seemeilen weiten, einsamen Ozeans lagen nun zwischen uns und Timor. Während der sechs Tage, die wir innerhalb der Riffe von Neu-Holland geweilt hatten, hatten wir des Nachts in verhältnismäßiger
Bequemlichkeit schlafen können und mit dem wenigen, das die Inseln uns boten, unsere Kost aufbessern. Vor allem aber hatten uns die Korallenwälle vor den Angriffen unseres alten Feindes, des Meeres, geschützt. Aber das Meer hatte uns nicht vergessen und wartete nur darauf, uns mit schweren östlichen Stürmen und wahren Sintfluten furchtbar niederprasselnden Regens zu empfangen. Ohne Unterlaß tobte das Unwetter. Über das Elend dieser Woche will ich mich kurz fassen. Am 10. Juni lag ich zusammengekrümmt im hinteren Teil des Bootes. Die Stärkung, die uns der Aufenthalt auf den Inseln gebracht hatte, war wieder völlig geschwunden; ich war schwächer denn je. Der Zustand Lambs, Simpsons und Nelsons war ebenso schlecht wie der meine, und Lebogue, der Segelmacher der Bounty, früher der kräftigste und ausdauerndste alte Seemann, den man sich nur vorstellen konnte, lag mit geschlossenen Augen da; seine Beine waren auf gräßliche Art geschwollen. Als an diesem Tage ein Delphin gefangen wurde, konnte ich, von würgendem Widerwillen gepackt, nicht einmal das kleinste Stückchen von dem rohen Fleisch des Fisches verzehren. Die Nacht zum 11. Juni erschien mir, obgleich ich keinen Hunger und kaum mehr Schmerzen verspürte, unerträglich. Gegen zehn Uhr ging der Mond auf und schien mir voll ins Gesicht. Ich schlief ein wenig, erwachte, versuchte, meine verkrampften Beine auszustrecken, und fiel wieder in unruhigen Schlummer. Zuweilen hörte ich Nelson im Schlaf unverständliche Worte vor sich hinmurmeln. Während der frühen Nachtstunden fand auch der Kapitän ein wenig Schlaf; zwei Stunden nachdem der Mond aufgegangen war, löste er Fryer am Steuer ab. Gegen vier Uhr morgens - nach
dem Stande des Mondes - weckte Bligh Elphinstone und legte sich wieder zur Ruhe nieder. Ich hatte niemandem etwas von meinen Befürchtungen gesagt, aber seit ein oder zwei Tagen hatte ich Grund zur Annahme, daß Elphinstones Geisteszustand unter den Anstrengungen gelitten habe. Körperlich war er weniger mitgenommen als irgendein anderer Mann in der Barkasse, aber sein leerer Blick, seine mangelnde Anteilnahme an dem, was um ihn herum vorging, und die Art, wie er von Zeit zu Zeit mit sich selbst sprach, waren Anzeichen einer beginnenden geistigen Erkrankung. Als Bligh ihn rüttelte, um ihn zu wecken, sagte er mit dumpfer Stimme: »Ja, Sir!« und ergriff mechanisch das Steuer. Es war Peckovers Wache; wenn ich den Kopf wandte, konnte ich ihn mit einigen anderen im vorderen Teil des Bootes sitzen sehen. Seine Schultern waren gebeugt, und von Zeit zu Zeit nickte er ein, um dann einen heldenhaften Versuch zu machen, sich wach zu erhalten. Ununterbrochenes leises Stöhnen und Murmeln der auf dem Boden liegenden Männer drang an mein Ohr; traumloser Schlaf war uns seit vielen Tagen versagt geblieben. In sich zusammengekauert, bewegungslos, saß Elphinstone am Steuer, mit abwesendem Gesichtsausdruck vor sich hinstarrend. Ich konnte sehen, wie seine Lippen sich bewegten, aber ich hörte keinen Laut. Darm fiel ich in unruhigen Halbschlaf. Es war noch Nacht, als ich erwachte, aber die Dämmerung konnte nicht mehr fern sein. Der Maat schien sich kaum gerührt zu haben, seit ich das letztemal einen Blick auf ihn geworfen hatte. Dann bemerkte ich am Stand des Kreuzes des Südens, daß wir unseren Kurs
geändert hatten und in südwestlicher Richtung fuhren.
Elphinstone beugte sich zu mir nieder.
»Das Land!« flüsterte er erregt. »Dort drüben, gerade vor
uns! Geben Sie acht! Wecken Sie Herrn Bligh nicht!«
Mühsam richtete ich mich auf. Vor mir lag nichts als der
weite, vom Mond beschienene Ozean.
»Timor«, wisperte Elphinstone triumphierend. »Gott ist
mit uns, Herr Ledward! Sie sehen das Land, nicht wahr?
Die Gebirge und die grünen Täler ... Eine schöne Insel,
auf der wir alles finden werden, was wir brauchen!«
Er sprach mit solcher Überzeugung, daß ich nochmals ins
Weite blickte, weil ich meinen eigenen Augen zu
mißtrauen begann, aber wieder sah ich nichts als Wellen
und abermals Wellen, bis zum fernen Horizont.
»Was ist da los, Herr Elphinstone?« erklang plötzlich
Blighs barsche Stimme. »Wer gab Ihnen den Befehl, den
Kurs zu ändern?«
»Das Land, Kapitän Bligh! Dort vor uns! Ich steuerte
darauf zu, als ich vor einer Stunde das Gebirge sichtete.«
Bligh fuhr herum und starrte aufs Meer hinaus. »Land?«
sagte er, als zweifle er an der Klarheit seiner Sinne.
»Wo?«
»Gerade vor uns, Sir. Sehen Sie denn das große Tal dort
nicht und den hohen Berg darüber? So schön scheint
diese Insel zu sein wie Tahiti!«
Bligh warf mir einen raschen Blick zu. »Gehen Sie nach
vorne, Herr Elphinstone«, gebot er. »Legen Sie sich hin
und versuchen Sie zu schlafen.«
Der Maat sprach kein Wort mehr über das Land, sondern
überließ Bligh das Steuer und wankte zu den schlafenden
Männern. Sein Gesicht hatte den sanften, leeren
Ausdruck eines Schlafwandlers.
»Herr Peckover!« rief Bligh streng.
»Hier, Sir!« Peckover fuhr aus dem Schlaf. »Lassen Sie sich nicht mehr dabei erwischen, daß Sie während Ihrer Wache schlafen! Sie hätten uns alle ins Verderben stürzen können!« Jetzt regten sich auch die anderen Leute der Wache. Bligh gab seine Befehle. Gleich darauf hatte das Boot seinen Kurs geändert und segelte gegen Westen. Dieser Tag - der 11. Juni — erschien mir wie der längste Tag meines Lebens. Bei Sonnenaufgang wurden einige Schluck Wasser und unsere übliche Brotmenge ausgeteilt. Der Kapitän schnitt wider Willen eine Grimasse, als er den Bissen Brot hinunterwürgte. Der Bootsmann hatte Lebogue einen Löffel Wein verabreicht und kam nun zu Nelson und mir, um uns die gleiche Stärkung zuteil werden zu lassen. Als er Bligh ins Gesicht blickte, trat der Ausdruck des Entsetzens in seine Augen. »Sir«, sagte er besorgt, »Sie sehen ärger aus als irgendeiner von uns. Sie sollten auch einen Tropfen von dem da nehmen!« Bligh lächelte über die Einfalt des alten Seemanns und antwortete: »Ich will Ihnen ein hübscheres Kompliment machen, Herr Cole: Sie haben mehr ausgehalten als mancher von den jungen Leuten. Nein - keinen Wein für mich. Andere brauchen ihn notwendiger.« Cole salutierte und wandte sich kopfschüttelnd ab, um mir einen Löffel Wein zu geben. Ich lag da und döste vor mich hin, indes die Sonne unsagbar langsam zum Zenit emporkroch. Mein ganzes Leben bis zu dem Zeitpunkt, in dem wir Tofoa verlassen hatten, erschien mir wie ein einziger Augenblick, verglichen mit der Ewigkeit, die ich in dem Boot verbracht hatte, und an diesem Tage, spürte ich, war die Zeit, sich immer mehr verlangsamend, endlich
vollkommen zum Stillstand gelangt. Seit Anbeginn der Zeiten fuhr ich, so wie jetzt, unter der unbeweglich am Himmel stehenden Sonne gen Westen, ewig würde ich so weiterfahren, immer und ewig, auf einer unendlichen blauen, bewegten Fläche, unbegrenzt von Land. Und Herr Bligh würde ewig das Steuer führen: eine Vogelscheuche, in groteske Lumpen gehüllt, einen aus einer alten Hose gefertigten Turban auf dem Kopf. Als ich gegen Sonnenuntergang aus meinem Halbschlummer erwachte, sah ich unzählige Seevögel das Boot umflattern. Tang und frische Kokosnußschalen trieben im Wasser. Es wurde dunkel, und noch immer wehte der Wind gleichmäßig und frisch. Jeder, der es vermochte, hatte sich aufgesetzt und starrte auf das beim Licht der Sterne undeutlich sichtbare, wogende Meer hinaus. Gleich einem lebenden Wesen schien die Barkasse, als spürte sie, daß das Ende ihrer langen Reise nahe war, sich selbst zu übertreffen. Sie raste förmlich dem Westen zu; so wenig Wasser kam in das Boot, daß es kaum nötig war, zu schöpfen. Zuweilen schwiegen die Männer um mich her; zuweilen hörte ich sie leise miteinander sprechen. Ich spürte eine Welle neuen Mutes, neuen Vertrauens, tiefer Befriedigung darüber, daß unsere Prüfungen nun bald zu Ende sein mußten. Nicht ein einziges Mal während der langen Fahrt war das Vertrauen der Leute in Kapitän Bligh geschwunden; er hatte erklärt, daß wir gegen Morgen Land sichten würden, und das war genug. Es muß gegen elf Uhr gewesen sein, als der Mond aufging, ein heller Halbmond, der ruhig durch den wolkenlosen Himmel segelte. Stunde um Stunde stieg der Mond höher empor. Und immer weiter raste das Boot gen Westen.
Sogar der alte Lebogue erholte sich um diese Zeit ein wenig. Keiner von uns hatte größere Leiden zu erdulden gehabt, und dennoch hatte er seinen Anteil an der Arbeit auf sich genommen, wenn andere, die nicht schwächer waren als er, hilflos dalagen. Um Mitternacht hatte sich Bligh ans Steuer gesetzt; gegen drei Uhr morgens war Tinkler auf den hinteren erhöhten Balken des Bootes gestiegen, um Ausschau zu halten. Einige Minuten stand er dort, schwankend infolge der Bewegungen des Bootes, die Augen mit den Händen schützend. Dann sprang er hinab. »Land, Sir!« rief er mit zitternder Stimme. Bligh winkte Fryer, das Steuer zu übernehmen, und erhob sich. Im Vorderboot hörte ich ein Gewirr von Stimmen: »Nur eine Wolke! Nein! Nein! Land ... Berge!« Dann, als das Boot von einer Woge hoch emporgetragen wurde, sahen wir die schattenhaften Umrisse des Landes, das vor uns lag: blaß, hoch, unkörperlich im Schein des Mondes, eine große Insel, noch viele Meilen weit entfernt. Der Kapitän hielt lange und ernst Ausschau, ehe er sprach. »Timor, Jungens!« sagte er.
11
Noch immer gab es einige unter uns, die nicht glauben konnten, daß das Ziel unserer Fahrt wirklich in Sicht war. Trotz aller ruhigen Zuversicht des Kapitäns wagten sie es nicht zu glauben. Der Morgen wird kommen, dachten sie, und die dämmrigen Umrisse werden zerrinnen, zu fernen Wolken werden. Schleier um Schleier, gewoben aus mondbeglänzter Dunkelheit, wurde beiseite geschoben, und endlich lag die Insel im klaren Licht des frühen Morgens vor uns: wie das Paradies selbst erschien sie uns mit den Silhouetten der gen Himmel ragenden Berge. Vorgebirge um Vorgebirge glänzte, von den goldenen Pfeilen der Sonne getroffen, auf. Wir erblickten weite Täler, erfüllt von purpurnen Schatten, und hoch über der Küste wurden Wälder sichtbar, unterbrochen von Lichtungen und Wiesen, die wohl der Aufenthaltsort der ersten Menschen, einherwandernd in der jungen, unschuldigen Welt, hätten sein können. Unsere Freude und Dankbarkeit waren unbeschreiblich. Herr Bligh war, glaube ich, so nahe daran, zu weinen wie nur je in seinem Leben, aber er beherrschte sich. Andere ließen ihrer Bewegung freien Lauf; helle Tränen rannen ihnen über die Wangen; wir waren ja auch so schwach, daß uns die Tränen leicht kamen. Nur der arme Elphinstone war von der Seligkeit dieses nie zu vergessenden Augenblickes ausgeschlossen. Sosehr wir uns auch bemühten, ihn davon zu überzeugen, daß das Land ganz nahe vor uns lag, so blickte er doch nur mit einem Ausdruck erstaunter Hoffnungslosigkeit vor sich hin.
Kurz nach Sonnenaufgang waren wir nur noch zwei Meilen von der Küste entfernt. Ein grüneres und schöneres Land hat wohl noch nie das Auge seemüder Schiffer erfreut; keiner war unter uns, der sich nicht danach gesehnt hätte, sogleich an Land zu gehen. Das Ufer war flach, aber an den darüberhängenden höheren Stellen sahen wir bebaute Flächen. Nahe einer der Pflanzungen waren mehrere Hütten, aber kein menschliches Wesen war zu sehen. Purcell und der Schiffer schlugen Herrn Bligh vor, zu landen, um Auskunft über die Lage der holländischen Niederlassungen einzuholen. »Ich verstehe Ihre Ungeduld«, erwiderte Bligh, »aber wir wollen keine unnötigen Wagnisse eingehen. Timor dürfte eine Ausdehnung von zumindest hundert Meilen haben. Ich bin keineswegs sicher, daß die Holländer eine ständige Niederlassung hier haben. Aber selbst dann haben sie vielleicht nur einen kleinen Teil der Insel unterworfen. Die Bewohner sind Malaien, eine als hinterlistig bekannte Rasse. Nur im äußersten Notfall dürfen wir uns in ihre Gewalt begeben.« Die Klugheit dieser Entscheidung war nicht anzuzweifeln. Wir fuhren in südwestlicher Richtung weiter, nahe genug an der Küste, um keine Bucht zu übersehen, aber während des ganzen Vormittags wurde weder ein Golf noch eine geeignete Landungsstelle sichtbar. Die heftige Brandung hätte eine Landung so gut wie unmöglich gemacht. Wir kamen zu immer neuen Vorgebirgen, die uns die Sicht auf das, was hinter ihnen lag, verbargen, und jedesmal, wenn wir eines von ihnen umschifft hatten, gab es die Aussicht auf ein weiteres Kap frei. Bei Sonnenuntergang warfen wir in seichtem Wasser Anker, denn wir wagten es nicht, unsere Fahrt während
der Nacht fortzusetzen, aus Angst, an der holländischen Niederlassung vorbeizufahren, ohne sie zu sehen. Wir lagen zusammengekauert in der Barkasse, die meisten von uns waren zu entkräftet, um auch nur zu sprechen. Ich selbst befand mich, sosehr ich bedauere, es einzugestehen, in einem elenderen Zustand als alle anderen, mit Ausnahme von Lebogue. Zudem hatte ich ein großes Geschwür am Bein, das mich unsäglich quälte. Übrigens waren wir alle mit Wunden bedeckt, hervorgerufen durch das ununterbrochene Scheuern unserer entkräfteten Körper gegen die Bretter des Bootes, und infolge der Wirkung des Salzwassers blieben diese Wunden offen und konnten nicht heilen. Nelson überraschte mich um diese Zeit; er glich einem Sterbenden, aber der bloße Anblick der Insel Timor schien ihm Kräfte verliehen zu haben, die er gewissermaßen seinen Leidensgefährten mitzuteilen wußte. Gemeinsam mit Bligh bemühte er sich um die Kranken, und niemals werde ich die tröstenden, ermutigenden Worte der beiden Männer vergessen, als sie von einem zum anderen wankten, hier einem armen Teufel zu einer bequemeren Lage verhalfen, dort einem anderen ein paar Tropfen Rum oder Wein aus unserem letzten kostbaren Vorrat einflößten. In jener Nacht waren wir enger miteinander verbunden als je zuvor. Wir hatten gemeinsam so viel gelitten, daß wir in Wahrheit ein Leib und eine Seele geworden zu sein schienen. Abneigungen, ob nun gering oder groß, wie sie sich aus dem Zusammenleben so verschiedener Charaktere im engsten Raum ergeben mußten, schwanden; ein warmer Strom von Gemeinschaftsgefühl und Kameradschaft floß durch unsere einsame kleine
Schar und machte uns, zumindest für diese eine Nacht, zu Brüdern. Als es Tag wurde und wir längs der Küste keine Spur von Bewohnern sahen, fuhren wir in westlicher Richtung weiter. Wir hatten gegen starken Strom zu kämpfen und waren aufs neue zu der ermüdenden Arbeit des Schöpfens genötigt. Daran beteiligten sich hauptsächlich Fryer, Cole, Peckover und zwei der Kadetten, Tinkler und Hayward; andere versuchten zu helfen, soweit ihre schwachen Kräfte es erlaubten. Um diese Zeit hatte jeder einzelne von uns, vielleicht mit Ausnahme des Kapitäns, dem Meer gegenüber ein aus Furcht und Haß gemischtes Gefühl, so als wäre es keine blinde Kraft, sondern eine bewußte, die es darauf abgesehen hatte, uns zu vernichten, und deren Wut ins Maßlose gesteigert war, weil wir ihre grausamen Angriffe überlebt hatten und im Begriffe waren, zu entkommen. Selbst die endlose Küste erschien meiner kranken Phantasie wie ein feindliches Lebewesen, das uns mit falschen Hoffnungen lockte, um uns sodann um so bitterer zu. enttäuschen. Später am Tage hörte ich auf, mir dessen bewußt zu sein, was um mich her vorging. Die Sonne war sehr heiß gewesen, und wir hatten keinen Schutz vor ihren Strahlen. Es mag sein, daß ich einen leichten Hitzschlag erlitt, der, zusammen mit den anderen Heimsuchungen, zuviel für mich war. Jedenfalls fiel ich in eine Art Betäubung, während ich nichts anderes empfand als ein unbestimmtes Gefühl des Elends. Hier und da hörte ich wie von fern her dumpfes Gemurmel, einmal hatte ich einen entsetzlichen Traum, in dem ich zu ertrinken glaubte. Dann folgte eine Zeit vollkommener Bewußtlosigkeit, während der ich nichts anderes war als eine regungslose Masse von Haut und Knochen.
Meine nächste Erinnerung war, daß jemand wiederholt meinen Namen rief. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte mich nicht genügend aufraffen, um zu antworten. Ich hörte Blighs Stimme: »Geben Sie ihm das Ganze, Herr Nelson. Er wird zu sich kommen.« Und ich kam zu mir. Ich spüre noch heute die Kraft und das Feuer des Rums, der durch meine Gurgel floß, mein Hirn klar machte und mir ein köstliches Gefühl des Wohlbefindens gab. Noch viel köstlicher aber war der Klang von Nelsons Worten: »Ledward! Ledward! Wir sind am Ziel, alter Junge!« Es war tiefe Nacht. Der wolkenlose Himmel war mit Sternen übersät. Man hatte mich auf eine Bank achtern gesetzt. Nelson kniete neben mir, während Cole mich stützte. Ich empfand ein Gefühl der Beschämung darüber, daß ich, der Arzt der Bounty, mich in solch einem hilflosen Zustande befand, eine Last für andere statt eine Hilfe. »Was ist los, Nelson?« stammelte ich. »Verflucht! Habe ich geschlafen?« »Sprechen Sie nicht, Ledward«, antwortete er. »Blicken Sie lieber dort hinüber! Drehen Sie ihn ein bißchen um, Herr Cole!« Der Bootsmann hob mich sanft empor. Vor mir sah ich eine weite Bucht, so ruhig, daß das zitternde Spiegelbild des Mondes auf der Wasserfläche ruhte. Kaum eine Meile entfernt lagen zwei europäische Schiffe vor Anker, und hinter ihnen erhob sich auf einem hohen Küstenvorsprung ein Fort, dessen Mauern in dem milden Licht schwach aufglänzten. Ich konnte nicht sprechen. Ich zögerte, es zu gestehen, aber ich konnte nicht. Ich war schwach wie ein sechs Monate altes Kind, und nun zum ersten Male rannen
Tränen aus meinen Augen. Es waren keine Tränen der Erleichterung, der Freude, der Erlösung. Nein. Solche Tränen hätte ich meistern können. Aber als ich auf Herrn Bligh blickte, wie er in seiner gewohnten Haltung am Steuer saß, da quoll in mir ein Gefühl empor, das die Scheidewände hinwegriß, die wir Engländer so gerne zwischen uns und unseren Mitmenschen aufrichten. Ich sah ihn damals in dem Licht, in dem er verdient gesehen zu werden, in einem Licht, das ihn verwandelte. Genug. Es ist nicht leicht, von seinen tiefsten Gefühlen zu sprechen. Das Schweigen des Landes schien auf uns herabzufließen, unsere müden Herzen zu heilen, uns mit einer tiefen Befriedigung zu erfüllen, die alle Worte überflüssig machte. Es war etwa drei Uhr morgens. Näher und näher kamen wir der kleinen schlafenden Stadt; nicht einmal ein Hund war wach, um den Mond anzubellen. In der Nähe der beiden Schiffe sahen wir eine freie Stelle am Strand, die offenbar als Anlegeplatz für Boote diente. Langsam glitten wir in seichteres Wasser. Im Mondlicht konnten wir nun das geisterhafte Leuchten von Dächern und Mauern erblicken, eingebettet in Bäume und blühende Sträucher, deren Duft mit der kühlen, feuchten Luft, die aus den Tälern des Innern herniederfloß, zu uns herübergetragen wurde. »Platz genug«, sagte Bligh, und dann: »Werfen Sie den Anker aus, Herr Cole!« Die Ruder wurden eingezogen; es klatschte leise, als der Anker über die Bootswand hinabglitt. Unsere Reise war zu Ende.
Nur acht von uns waren kräftig genug, um aufrecht auf den Bänken zu sitzen; die anderen kauerten oder lagen auf dem Boden des Bootes. »Laßt uns beten, Jungens«, sagte Bligh. Wir neigten den Kopf, während er ein Dankgebet zum Herrgott emporschickte. Wir lagen nur fünfundzwanzig Meter vom Strand entfernt. Am Ufer war alles still. Nicht einmal ein Lichtschein war in der ganzen Niederlassung zu sehen. Kapitän Bligh rief das Fort wiederholt an, aber vergeblich. Auch Purcell und der Bootsmann hatten nicht mehr Glück. »Bei Gott«, sagte Bligh, »wenn wir mit den Holländern Krieg führten, so schwöre ich, daß wir den Platz einnehmen könnten, schwach wie wir sind, mit nichts anderem als vier rostigen Säbeln. Nicht einmal eine Wache haben sie auf den Wällen.« »Endlich haben wir jemanden aufgeweckt«, rief Nelson. »Sehen Sie nur dort!« Ein seltsam aussehender Mann tauchte aus dem Schatten der Bäume auf. Er war nur in Hemd und Hose gekleidet und hatte eine weiße Nachtmütze auf dem Kopf. Er war ungemein dick und watschelte mehr, als er ging. »Können Sie englisch sprechen, guter Mann?« rief Bligh. Er kam näher, wie um uns besser zu sehen, antwortete aber nicht. »Heda, Sie! Verstehen Sie Englisch?« Ob aus Staunen, Furcht oder beidem, weiß ich nicht, jedenfalls machte der dicke Mann kehrt und watschelte auf seinen kurzen Beinen mit überraschender Geschwindigkeit davon. »Ahoi! Laufen Sie nicht weg! Warten Sie!« brüllte ihm Bligh nach. Der Mann wandte sich um, rief mit
mächtiger Stimme etwas, das wir nicht verstanden, und
verschwand.
»War das holländisch, Nelson?« fragte Bligh.
»Zweifellos, aber mehr kann ich nicht sagen. Jedenfalls
dürfte es uns hier nicht schlecht ergehen.«
Bligh lachte. »Wenn der Kerl ein durchschnittliches
Exemplar der hiesigen Bevölkerung ist, bestimmt nicht!«
Nach kurzer Zeit kam der Holländer mit einem anderen
Mann zurück, der Seemannskleidung trug.
»Ahoi! Was ist das für ein Boot?« rief der Matrose.
»Sind Sie ein Engländer?« fragte Bligh zurück.
»Jawohl, Sir.«
»Ist ein englisches Schiff hier?«
»Nein, Sir, ich bin Quartiermeistersmaat auf dem
holländischen Schiff dort drüben. Kapitän Spikerman.«
»Sagen Sie Kapitän Spikerman, daß Kapitän Bligh, von
Seiner Majestät bewaffnetem Transportschiff Bounty, ihn
so rasch wie möglich zu sprechen wünscht. Haben Sie
verstanden?«
»Zu Befehl, Sir!«
»Fürchten Sie sich nicht, ihn zu wecken. Er wird Ihnen
dankbar sein.«
»Jawohl, Sir. Er schläft an Land. Ich gehe gleich.«
Es dauerte drei Viertelstunden, bis Kapitän Spikerman,
der außerhalb der eigentlichen Niederlassung wohnte,
kam. Es dämmerte bereits, als wir den Kapitän mit
zweien seiner Offiziere heraneilen sahen. Kapitän Bligh
stand im hinteren Teil der Barkasse. Seine Kleidung
bestand aus Fetzen, die seinen furchtbar abgemagerten
Körper nur zum Teil bedeckten; sein hageres, knochiges
Gesicht war mit einem viele Wochen alten Bart bedeckt,
aber er hielt sich so stramm, als stünde er auf dem
Kommandodeck der Bounty.
»Kapitän Spikerman?« fragte er. Einige Sekunden lang starrte die kleine Gruppe am Strand uns schweigend an. Kapitän Spikerman trat vor. »Zu Ihren Diensten, Sir«, entgegnete er. »Kapitän Bligh. Wir benötigen Beistand, Sir. Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn Sie uns die Landungserlaubnis verschaffen würden.« »Sie können sofort an Land kommen, Kapitän Bligh. Ich stehe für die Bewilligung des Gouverneurs ein.« »Herauf mit dem Anker, Herr Cole! Zwei Mann an die Ruder!« Und nun legte das Boot die letzten 25 Meter einer Fahrt von über 3600 Meilen zurück. Kapitän Spikerman und seine Offiziere sprangen ins seichte Wasser, um das Boot an Land zu ziehen. »Gott im Himmel, Kapitän Bligh! Was ist das? Von wo kommen Sie?« rief Herr Spikerman aus. »Das werden Sie alles bald erfahren, Sir«, sagte Bligh, »aber zuerst muß ich für meine Leute sorgen. Einige von ihnen sind dem Hungertode nahe. Gibt es einen Platz in der Stadt, wo sie Pflege erhalten können?« »Sie können sie sogleich in mein Haus bringen lassen, Sir.« Spikerman gab einem seiner Offiziere einen Befehl in holländischer Sprache; der junge Mann eilte davon. Inzwischen hatte sich eine Gruppe von Stadtbewohnern um uns versammelt, die sich von Sekunde zu Sekunde vermehrte. Sie gehörten den verschiedensten Völkern an; Holländer, Malaien, Chinesen starrten uns mit einem Gemisch von Schrecken und Mitleid an. Inzwischen hatten jene, die gehen konnten, das Boot verlassen, aber über die Hälfte von uns mußte an Land getragen werden. Man breitete Matten aus, auf denen wir die Ankunft eines Beförderungsmittels abwarteten.
Bald darauf kehrte Herrn Spikermans Leutnant mit Sänften und malaiischen Trägern zurück. Man trug uns in die Stadt, während Herr Bligh und die kräftigeren Leute der Mannschaft zu Fuß folgten. Ich habe nur eine schattenhafte Erinnerung an den Weg, der uns an Kaufläden und Lagerschuppen vorbei zu dem erhöht gelegenen, hübschen Haus des Kapitäns führte, der, wie seine Offiziere, die Güte und Hilfsbereitschaft selbst war. Nachdem wir mit warmem Wasser gewaschen worden waren, verband Herr Max, der Arzt der Stadt, unsere Wunden. Dann wurden wir zu Bett gebracht und erhielten ein wenig warme Suppe oder Tee; das war alles, was unser Magen aufnehmen konnte. Ich spreche hier von mir und jenen Kameraden, die so krank und schwach waren wie ich. Herr Bligh begleitete, nachdem er gebadet, einige Stunden geschlafen und sich durch Nahrung gestärkt hatte, Kapitän Spikerman zum Hause des Herrn Wanjon, des Sekretärs des Gouverneurs, Herrn van Este, der schwerkrank daniederlag. An diesem Tag hatte ich den süßesten Schlaf, den ich je in meinem Leben genossen habe. Die kühlende Salbe auf meinen Wunden, das weiche Bett, das alles lullte mich bald in Schlummer. Gegen Abend wurde ich geweckt und erhielt ein wenig Suppe und Brot, aber gleich darauf schlief ich wieder ein und erwachte erst am nächsten Vormittag um zehn Uhr. Nach viertägiger Ruhe hatten wir uns wunderbar erholt, und mit Ausnahme von Lebogue konnten wir alle aufstehen und ein wenig in Herrn Spikermans Garten Spazierengehen. Die Fürsorge, die er uns angedeihen ließ, war unendlich, und niemals werden wir ihm für alles, was er für uns tat, gebührend danken können, aber wir
wünschten natürlich nicht, ihm länger zur Last zu fallen als notwendig. Infolgedessen übersiedelten wir am fünften Tage unseres Aufenthaltes in Coupang - so hieß die holländische Niederlassung auf Timor - in ein neues Quartier, das dank dem Entgegenkommen der holländischen Behörden aufs bequemste für uns eingerichtet wurde. Herr van Este, der Gouverneur, sprach den Wunsch aus, Kapitän Bligh und einige seiner Offiziere kennenzulernen. Als wir — Bligh, Nelson und ich - ihn in Begleitung von Herrn Wanjon und Kapitän Spikerman besuchten, fanden wir den Gouverneur im Bette sitzend, von seiner Krankheit so geschwächt, daß er dem Tode nahe zu sein schien und auch in der Tat war. Seine Stimme war äußerst schwach, aber seine Augen drückten höchste Anteilnahme an unserem Schicksal aus. Kapitän Spikerman betätigte sich als Dolmetscher. Herr van Este kannte die Lage von Tofoa und den Freundschaftsinseln nicht und wußte wohl auch kaum von ihrer Existenz. Als man ihm berichtet hatte, daß wir in einem offenen Boot eine Reise von 3600 Meilen gemacht hatten, hob er seine magere, weiße Hand und sprach nur ein einziges Wort. Kapitän Spikerman wandte sich an Herrn Bligh. »Herr van Este sagt »unmöglich«, Kapitän Bligh. Natürlich ist das nur eine Redewendung, mit der er sein Erstaunen zum Ausdruck bringen will. Er zweifelt nicht an Ihren Worten.« Bligh lächelte kaum merkbar. »Bitte sagen Sie dem Herrn Gouverneur, daß er recht hat; es war unmöglich; dennoch brachten wir es zustande.« Sodann ließ er durch Herrn Spikerman dem Gouverneur den Ausdruck unserer Dankbarkeit für die gütige und
gastfreundliche Aufnahme übermitteln, und wir verabschiedeten uns. Dieser Tag - der 19. Juni - ist mir auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil an ihm die strengen Diätvorschriften für die Mannschaft von Herrn Max und mir aufgehoben werden konnten. Dieses Ereignis wurde durch ein solennes Mahl gefeiert, und es war ein herzerfreuender Anblick, die halbverhungerten Seeleute so wacker schmausen und zechen zu sehen. »Besseres Essen hab ich mein Lebtag nicht gekostet«, meinte Cole, »ich hoffe, Sie finden nicht, daß wir uns über Gebühr vollstopfen, Herr Ledward!« »Eßt nur, soviel ihr wollt«, nickte ich. »Ihr habt es euch wahrhaftig redlich verdient, jeder einzelne von euch!« Nur Purcell nörgelte: »Ein ordentlicher Teller Speck mit Eiern wäre mir lieber als all dies Reiszeugs - man weiß ja gar nicht, was man ißt.« »Verlaßt euch darauf, daß der alte Brummbär immer etwas auszusetzen findet«, lachte Hayward. »Hier, Purcell, nehmen Sie etwas Brot, wenn Ihnen das holländische Essen nicht schmeckt«, sagte Hallet, »Reich es ihm hinüber, Tinkler.« Tinkler brachte eine Platte herbei, auf der sich etwas befand, das nichts anderem auf der Welt ähnelte als dem, was es war: dem Brot der Barkasse der Bounty. »Halt!« rief Hayward. »Keiner bekommt seine Ration, ohne daß sie vorher abgewogen ist. Wo ist Kapitän Blighs Waage?« Es wurde mir warm ums Herz, als ich meine Kameraden in so fröhlicher Stimmung sah. »Ist das alles, was übriggeblieben ist, Tinkler?« erkundigte sich Nelson. »Jawohl, Sir.«
»Was Sie da auf der Platte sehen, Herr Nelson, hätte für uns achtzehn Leute noch elf Tage gereicht, wenn wir nicht das Pech gehabt hätten, Coupang zu finden«, meinte Hayward. »Kapitän Bligh hätte uns mit diesem fürstlichen Lebensmittelvorrat bis nach England gebracht, wenn es hätte sein müssen, darauf könnt ihr euch verlassen, Jungens«, sagte Cole ganz ernst. »Aber schlagen Sie ihm das um Gottes willen nicht vor, Bootsmann«, flüsterte ihm Hayward ins Ohr. »Er ist imstande und versucht es!« Nelson und ich begaben uns nunmehr an den Tisch des Kapitäns, an dem unsere holländischen Freunde Platz genommen hatten. Hier ging es ruhiger zu, aber dem vortrefflichen Essen wurde nicht minder herzlich zugesprochen. Die Holländer aßen und tranken mit solchem Appetit, als hätten sie die Reise von Tofoa bis hierher mit uns gemacht. Unsere Gäste waren natürlich begierig, Näheres über die Meuterei zu hören, aber Kapitän Bligh zog es vor, diesen schmerzlichen Gegenstand nicht weiter zu berühren. »Sie haben unsere beschworenen Aussagen, Herr Wanjon«, erklärte er. »Darin sind die Tatsachen niedergelegt, bestätigt von jedem einzelnen meiner Leute. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Halunken hierherkommen, aber wenn es der Fall wäre, ergreifen Sie sie und halten Sie sie fest! Lassen Sie nicht einen von ihnen entkommen!« »Sie können hierüber vollkommen beruhigt sein«, antwortete Herr Wanjon, und damit war das Thema der Meuterei erledigt. »Ich möchte die Heimreise antreten, sobald alle meine Leute reisefähig sind«, bemerkte Bligh. Er lachte kurz
auf. »Wir sind eine Gesellschaft von Bettlern, meine Herren. Wir alle miteinander besitzen keinen Shilling, ja nicht einmal einen Penny!« »Machen Sie sich darüber keine Sorge, Kapitän Bligh. Herr van Este hat mich beauftragt, Ihnen jeden Betrag zur Verfügung zu stellen, den Sie benötigen.« »Sehr liebenswürdig! Ich werde Wechsel auf die Regierung Seiner Majestät ausstellen. Gibt es ein kleines Fahrzeug hier, das uns nach Batavia bringen könnte?« »Jawohl, ein kleiner Schoner liegt in einer Bucht in der Nähe der Stadt. Er ist für tausend Dollar zu verkaufen.« »Nicht billig, aber das macht nichts«, nickte Bligh. »Ich werde das Fahrzeug gleich morgen besichtigen.« Nelson war in prächtiger Laune. Er hatte Erlaubnis erhalten, nach Herzenslust zu botanisieren. Herr Wanjon stellte ihm alle Hilfsmittel dazu zur Verfügung. Ich trat dem Plan auf das schärfste entgegen, denn Nelsons Gesundheitszustand war keineswegs solchen Anstrengungen gewachsen, aber er ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. Während der nächsten zehn Tage war er fast ständig abwesend und kehrte nur zurück, um seine Pflanzen in die Stadt zu bringen. Zuerst schien er sich bei dieser Arbeit sehr wohl zu befinden, aber anfangs Juli wurde er von einer Lungenentzündung ergriffen, die ihn zwang, das Bett zu hüten. Trotz der sorgfältigen Pflege, die Herr Max und ich ihm zuteil werden ließen, hielt sein geschwächter Organismus die Krankheit nicht aus, und am 20. Juli verschied er. Ich brauche nicht zu sagen, wie schmerzlich wir alle diesen Verlust empfanden. Was mich betraf, so waren wir vom ersten Tag an Freunde gewesen, und ich hatte gehofft, mich dieser Freundschaft noch viele Jahre lang erfreuen zu dürfen.
Wir begruben ihn am folgenden Tag. Zwölf Soldaten, schwarz gekleidet, trugen den Sarg. Außer den Leuten von der Bounty nahmen auch alle Herren der Stadt und die Offiziere der im Hafen liegenden Schiffe an dem Begräbnis teil. Kapitän Bligh hielt die Leichenrede und hatte Mühe, seiner Rührung Herr zu werden. Ich erinnere mich mit wenig Vergnügen unseres weiteren Aufenthaltes in Coupang. Herr Bligh und die Seeleute waren ständig mit den Vorbereitungen für unsere Abfahrt beschäftigt, während ich selbst so unnütz war wie beinahe während der ganzen Fahrt im Boote. Mein Geschwür wollte nicht heilen, und ich war gezwungen, müßig in unserem Garten zu sitzen, an Nelson zu denken und daran, wie gerne er wohl mit uns in die Heimat zurückgekehrt wäre. Der Schoner, ein gutes kleines Schiff, wurde von Herrn Bligh Resource genannt, und da die Meere um Java von Piratenschiffen wimmelten, bewaffnete er das Fahrzeug mit vier kleinen Geschützen und zwölf Gewehren. Am 20. August schifften wir uns ein. Am Nachmittag waren unsere bisherigen, über alle Maßen liebenswürdigen Gastgeber unsere Gäste an Bord des Schoners. Kapitän Bligh war wieder ganz er selbst. Er war jetzt gekleidet, wie es seinem Rang entsprach, sein Haar war wohlfrisiert und gepudert. Als er mit Kapitän Spikerman und Herrn Wanjon auf dem Hinterdeck stand, konnte ich ein leichtes Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Es mag ein seltsamer Gedanke sein, aber er war mir lieber, wie ich ihn im Boot der Bounty gesehen hatte, die magere Gestalt in Lumpen gehüllt, die Hand am Steuer, umsprüht von gewaltigen Wogen. Dort war er einzig - der eine unter Tausenden. Hier, auf dem Kommandodedk der Resource, erschien er mir nur wie
irgendeiner der unzähligen Kapitäne der Flotte Seiner Majestät. Aber im Herzen kannte ich die Eigenschaften des Mannes, der dort stand. Einundvierzig Tage im offenen Boot hatten mich sie schätzen gelehrt. Die letzten Gäste kehrten ans Ufer zurück. Der Strand war voll Menschen, die mit Hüten und Schnupftüchern winkten, und als wir die Segel lichteten, zitterte der Abschiedssalut des Forts durch die Luft. Unsere Geschütze erwiderten kräftig die holländischen Grüße. Die Barkasse der Bounty hatten wir ins Schlepptau genommen. Tinkler saß an ihrem Steuer, stolz über diese ehrenvolle Aufgabe. Peckover und ich standen an der Reling und blickten schweigend auf das tapfere Boot nieder. Wir liebten es, jeder einzelne von uns, als wäre es ein lebendes Wesen. Dann wandte sich Peckover zu mir. »Wie brav sie uns folgt«, sagte er. »Sie scheint gerne mit uns zu kommen. Ich glaube, auch wenn sie nicht festgemacht wäre, würde sie Kapitän Bligh folgen.« »Bei Gott, Peckover«, rief ich, »ich glaube, das würde sie!«
12
Am 1. Oktober warfen wir vor Batavia Anker. Der Kapitän ging sogleich an Land und erhielt für uns die Erlaubnis, in einem Gasthof zu wohnen, dem einzigen Ort in der Stadt, wo Ausländer absteigen durften. Das Klima von Batavia ist eines der ungesündesten der Welt. Geschwächt durch unsere Entbehrungen, wurden einige von uns sogleich vom Fieber ergriffen, das Lenkletter, Elphinstone und Hall später das Leben kosten sollte. Der Gasthof, in dem ich mit den anderen Offizieren wohnte, war, obgleich er in einem verhältnismäßig gesunden Viertel der Stadt gelegen war, so unerträglich heiß, daß selbst ein Mann in voller Gesundheit es kaum hätte ertragen können. Nach einer Nacht in diesem Hause wurde Herr Bligh von einem Fieber befallen, das mich das Schlimmste befürchten ließ. Ich konnte ihn nicht behandeln, da ich selber mit Fieber und dem Beingeschwür daniederlag. Herrn Aansorp, dem tüchtigen Arzt des Stadthospitals, gelang es, Herrn Blighs Zustand so weit zu bessern, daß er bereits am nächsten Tage wieder seinen wichtigsten Geschäften nachgehen konnte. Wir waren vier Tage in dem Gasthof gewesen, als Herr Sparling, der Oberarzt von Java, die Güte hatte, Herrn Bligh und mich als seine Gäste in das Seemannsspital zu bitten, das sich auf einer Insel, etwa drei Meilen außerhalb der Stadt, befindet. An einem Spätnachmittage saß ich auf der schattigen Veranda meines Kollegen. Er rauchte eine lange, schwarze Zigarre; ich lag, das bandagierte Bein vor mich hingestreckt, auf meinem Sessel. Wir unterhielten uns über unsere Fahrt vom medizinischen Standpunkt. Er
drückte sein Erstaunen darüber aus, daß alle Leute die Reise überlebt hatten. »Sie sagen, daß drei Mann einundvierzig Tage ohne Stuhlentleerung waren?« fragte er. »Das ist beinahe unglaublich!« »Es ist so außergewöhnlich«, stimmte ich zu, »daß ich die Absicht habe, einen Bericht darüber in der Londoner Gesellschaft der Wundärzte zu verlesen. Das wenige, das wir zu uns nahmen, scheint vollständig von unserem Körper absorbiert worden zu sein.« »Es ist ein Wunder, daß ihr am Leben seid. Das hiesige Klima ist jedenfalls für euren Zustand im höchsten Grade gefährlich. Ich habe Angst um Herrn Bligh ... sollte er lange hierbleiben ...« Er zuckte die Achseln, schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich habe niemals einen Mann von größerer Willenskraft gesehen! Trotz seinem Fieber erfüllt er seine Pflichten. Ich habe mit dem Gouverneur gesprochen. Herr Bligh wird Erlaubnis erhalten, mit zweien seiner Leute das Paketboot zu benützen, das am Sechzehnten abgeht.« Wenige Minuten später führte ein malaiischer Diener Kapitän Bligh herein. »Ich werde Ihnen ein Glas Wein verschreiben«, bemerkte Sparling. »Es gibt kein besseres Stärkungsmittel für Leute in Ihrem Zustand.« »Ihr Wohl, Sir, und das unserer liebenswürdigen Hausfrau«, sagte Bligh, als der Wein gebracht worden war. »Ich habe einen schweren Tag hinter mir. Ihr Haus ist ein wahrer Hafen für einen müden Mann.« Sein Gesicht war ausgezehrt und gerötet, und seine Augen glänzten fiebrig. Ein wenig später sagte er: »Ledward, ich mußte mich von der Barkasse trennen!« »Sie haben sie verkauft, Sir?«
»Ja, und den Schoner auch, aber der bedeutete mir wenig. Für die Barkasse aber hätte ich, obgleich ich ein armer Mann bin, gerne fünfhundert Pfund gegeben, wenn ich sie hätte mit in die Heimat nehmen können!« »War das unmöglich?« »Es ist kein Platz für sie vorhanden - leider!« Sparling nickte. »In der Oktoberflotte sind nie genug Schiffe vorhanden. Nur durch den Einfluß des Gouverneurs konnte ich Ihnen und Ihren beiden Leuten die Fahrt sichern.« »Ich hatte gehofft, die Barkasse mitnehmen zu können«, sagte Bligh im Tone tiefen Bedauerns. »Sie hätte ihren Platz im Museum der Admiralität gefunden. Ein besseres Boot wurde niemals gebaut!« Am Morgen des 16. Oktober wurde ich lange vor Sonnenaufgang durch Geräusche in Herrn Blighs Zimmer, das neben dem meinen lag, geweckt. Bald darauf klopfte der Kapitän an meine Tür und betrat im grauen Morgenlicht den Raum. »Wach, Ledward?« fragte er. Ich versuchte mich zu erheben, aber er gab mir ein Zeichen, ich möge liegenbleiben. »Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden.« »Erlauben Sie mir, Ihnen von ganzem Herzen gute Reise zu wünschen, Sir.« Im gleichen Augenblick rief Herr Sparling aus dem Garten herauf: »Ihr Boot wartet, Kapitän Bligh.« Bligh nahm meine Hand und drückte sie warm. »Leben Sie wohl, Ledward. Ich wünsche Ihnen baldige Genesung. Und wenn Sie nach London kommen, unterlassen Sie nicht, meine Frau zu besuchen.« »Ich hoffe auch Sie dort zu treffen, Sir.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist unwahrscheinlich. Wenn es nach meinem Willen geht, werde ich nach Tahiti reisen, um von dort aus auf die Suche nach den Meuterern zu gehen, ehe Sie England erreichen.« Und damit ging er - der beste Seemann, unter dem zu dienen ich jemals das Glück gehabt hatte.
DRITTES BUCH
FLETCHER CHRISTIAN
der Anführer der Meuterer von der Bounty, gründet mit
denen, die ihm folgten, eine neue Gemeinschaft auf der
Insel Pitcairn
1
Tausend Meilen weit erstreckt sich von der peruanischen Küste gen Westen die blaue Einöde des Stillen Ozeans. Kein Segel belebt die ungeheure Fläche, kein Land unterbricht sie, bis auf die sturmumrauschte Osterinsel, auf deren Klippen die Bildsäulen der alten Könige von Rapa Nui ewige Wacht halten. Und wieder leere, grenzenlose See, bis endlich ein einsamer Felsen aus dem Meer aufsteigt, steil, zerklüftet, von schäumender Brandung umrauscht, von zahllosen Seevögeln umschwirrt. Ein Boot könnte das winzige Eiland in kaum zwei Stunden umfahren, aber die Wipfel der Kokospalmen ragen über den üppigen Pflanzenwuchs der Täler und der oberen Abhänge empor, und an einer Stelle stürzt ein schlanker Wasserfall zum Meer hinab. Friede, Schönheit, äußerste Einsamkeit beherrschen diese kleine Welt inmitten des unendlichen Ozeans. Die braunen Menschen, die einstmals hier lebten, sind längst verschwunden. Moos überwuchert die rohen Quadern ihrer Tempel, und die Bildsäulen ihrer Götter waren Brutstätten der Vögel geworden. Der junge Tag, es war ein später Dezembertag des Jahres 1789, glich Millionen Morgen, die vergangen waren, aber an diesem Morgen näherte sich der Insel von Osten her ein Schiff - das einzige Schiff in diesem ganzen ungeheuren Gebiet. Die Bounty war ein kleines Schiff von etwa zweihundert Tonnen, wohl aufgetakelt, aus englischem Eichenholz gezimmert. Ihre Segel waren geflickt, von Wind und Wetter mitgenommen; die Farbe ihrer Flanken, einst glänzend schwarz, war jetzt ein schmutziges Braun. Nur neun der Meuterer waren noch an Bord, darunter Fletcher
Christian, ihr Anführer, und der Kadett Edward Young. Mit den sechs Polynesiern und den zwölf Frauen, die von ihnen überredet worden waren, sie zu begleiten, suchten sie einen dauernden Zufluchtsort: eine Insel, so unbekannt, so entlegen, daß selbst der lange Arm der britischen Admiralität sie niemals erreichen könnte. Ziegen meckerten, Schweine grunzten unzufrieden in ihren Verschlägen. Hähne krähten, Hühner gackerten in ihren Steigen. Die beiden Kutter waren bis an den Rand mit Yamwurzeln gefüllt, die bis zu fünfzig Pfund wogen. Anmutige junge Frauen saßen in einer Gruppe beisammen, plauderten in ihrer musikalischen Sprache und brachen von Zeit zu Zeit in leises Lachen aus. Matthew Quintal, der Mann am Steuer, war groß und von gewaltiger Stärke, mit abfallenden Schultern und langen, mit Tätowierungen und rötlichen Haaren bedeckten Armen. Er war bis zu den Hüften nackt, und sein Hals war so breit, daß es schien, als führe eine ungebrochene Linie von den Schultern bis zum Scheitel. Christian kam die Treppe herauf. Er war frisch rasiert und trug einen einfachen blauen Rock. Die Tropensonne hatte sein Antlitz noch brauner gebrannt als das der eingeborenen Frauen. Der Schnitt seines Gesichtes und seine Haltung ließen einen Mann erkennen, der entschlossen und tatkräftig war. Seine glänzenden, tiefliegenden Augen waren auf Edward Young, den Zweitkommandierenden, gerichtet, der auf dem Quarterdeck stand, einen Mann von vierundzwanzig Jahren, mit frischer, rötlicher Gesichtsfarbe, dessen empfindsame Züge nur durch das Fehlen mehrerer Vorderzähne entstellt waren. Young lächelte ein wenig bitter. »Ich fange allmählich an, an dem Vorhandensein dieser Insel Pitcairn zu zweifeln.
Ich glaube, der gute Carteret hat geträumt, als er behauptete, sie entdeckt zu haben. Wann war das eigentlich?« »Im Jahre 1767«, antwortete Christian. »Er sichtete die Insel in einer Entfernung von fünfzehn Meilen und beschrieb sie als einen großen Felsen von nicht mehr als fünf Meilen Umfang. Sie ist dicht bewaldet, sagt er in seinem Reisebericht.« »Landete er dort?« »Nein, die Brandung war zu stark. Nach meinen Berechnungen muß die Insel hier in der Nähe sein. Ich habe vor, sie so lange zu suchen, bis ich sie finde.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Beklagen sich die Leute?« »Einige von ihnen fangen an, unruhig zu werden.« Christians Gesicht verdüsterte sich. »Laß sie nur murren. Sie werden dennoch tun, was ich befehle.« Young hatte das Deck verlassen. Christian stand am Geländer und blickte mit einem Ausdruck auf die leere See hinaus, der strenger und finsterer war, als es seinen Jahren zukam. In Gegenwart der anderen waren seine Züge gelassen, aber wenn er allein war, versank er häufig in schmerzliches Sinnen über die Vergangenheit und die Zukunft. Eine hochgewachsene junge Frau kam die Treppe herauf, näherte sich ihm mit leichten Schritten und legte eine Hand auf seine Schulter. Maimiti war um jene Zeit nicht älter als achtzehn Jahre. Von edler Abstammung, hatte sie Tahiti, ihr Heim und ihre Familie verlassen, um das Ungewisse Geschick des Mannes, den sie liebte, zu teilen. Durch die Zierlichkeit ihrer Hände und ihrer kleinen nackten Füße, ihre helle Hautfarbe und ihr edel geformtes Antlitz unterschied sie sich von den anderen Frauen auf
dem Schiff. Als sie Christians Schulter berührte, hellte sich seine Miene auf. »Werden wir heute das Land finden?« fragte sie. »Ich hoffe es; es kann nicht weit von hier sein.« Maimiti, an Christians Seite über die Reling gebeugt, schwieg. Ihre Stimmung in diesem Augenblick war die angespannter Erwartung. In ihren Adern floß das Blut ihrer Ahnen, die Seefahrer gewesen waren, und diese Entdeckungsreise auf fernen Meeren, die ihrem Volke nur durch sagenhafte Berichte bekannt waren, bedeutete für sie ein Abenteuer, das ganz ihrem Geschmack entsprach. Auf dem Verdeck saßen in einem verborgenen Winkel zwei Männer, in ein ernstes Gespräch vertieft. McCoy war ein Schotte, der einen irischen Namen trug; ein dünner, knochiger Mensch mit dichtem, rötlichem Haar und einem langen Hals, auf dem der Adamsapfel hervortrat. Sein Begleiter, der Amerikaner Isaac Martin, war ein dunkelhaariger, brutal aussehender Mann von etwa dreißig Jahren. »Wir haben ihm jetzt genug Zeit gegeben, Will«, sagte er mit saurem Gesicht. »Wenn du mich fragst, so gibt es diese verdammte Insel gar nicht. Und wenn es sie doch gibt, dann nicht hier in der Gegend.« »Du hast recht, wir fahren ganz einfach ins Blaue hinein.« »Na, dann sollten wir es ihm endlich einmal sagen, daß wir keine Lust mehr haben, immer im Kreis herumzusegeln! Mills und Quintal sind auch der Ansicht. Brown wird tun, was wir ihm sagen. Alex freilich können wir nicht zu uns herüberziehen; Christian ist für ihn der liebe Gott! Jack wird genug haben, nehme ich an,
genauso wie wir. Da wären wir sechs gegen drei. Wie heißt doch die Insel im Westen, die wir gesichtet haben?« »Rarotonga nannten die Indios sie.« »Stimmt, die meine ich! Und manch schönes Mädel gibt's dort, darauf möchte ich schwören. Wenn wir diese Insel Pitcairn wirklich finden sollten, so ist sie sicher nichts anderes als ein langweiliger Felsen ohne Frauen, außer denen, die wir mitbringen. Zwölf Weiber für fünfzehn Männer! Wahrhaftig, wir müssen Christian zwingen, uns nach Rarotonga zu bringen!« »Zwingen! Bei Gott, du traust dich zu reden, wenn niemand zuhört.« Martin hielt plötzlich inne, als er Smith herankommen sah. Smith war ein kräftiger Bursche, nicht viel über zwanzig, kaum mittelgroß; er hatte ein leicht blatternarbiges Gesicht. Nichtsdestoweniger wirkte er mit seiner offenen, ehrlichen Miene, seiner Adlernase, seinem kräftig geformten Mund und dem schalkhaften, dabei selbstbewußten Blick sympathisch. Martin warf ihm einen schiefen Blick zu. »Wir sprachen, gerade davon«, brummte er, »daß wir allmählich genug davon haben, noch länger kreuz und quer herumzufahren. Wenn du dich auf unsere Seite stellen würdest, so könnten wir Christian zwingen, endlich einmal Schluß zu machen.« »Hör ihm nur zu, Will«, wandte sich Smith an McCoy. »Er weiß natürlich am besten, was zu geschehen hat. Was meinst du, sollen wir ihn zum Kapitän machen?« »Eines mußt du zugeben, Alex«, meinte McCoy gleichsam entschuldigend. »Jetzt sind wir schon drei Monate von Tahiti weg, und heute werden es drei Wochen, daß wir diese Insel Pitcairn suchen! Woher weiß er überhaupt, daß es so etwas gibt?«
»Die Pest über dich! Glaubst du, Herr Christian sei
dumm genug, um einen Ort zu suchen, den es nicht gibt?
Ich wette, daß er die Insel finden wird, ehe eine Woche
vergangen ist.«
»Und wenn nicht, was dann?« warf Martin ein.
»Frag ihn nur selber, Isaac. Du kannst damit rechnen, daß
er dir die richtige Antwort geben wird.«
Das Gespräch wurde durch einen Ruf des Mannes
unterbrochen, der auf den Kreuzhölzern der
Vorbramstenge stand, um Ausschau zu halten.
»Heda, Junge, was siehst du?« brüllte Smith hinauf.
»Vögel. Eine ganze Menge, gerade vor uns.«
Smith löste den Mann auf den Kreuzhölzern ab, und kurz
darauf tönte sein Ruf über das Deck: »Land ahoi!«
Eilends kletterte Christian zu Smith hinauf und bemerkte,
daß der Horizont unmittelbar vor ihnen von einem
dunklen, unendlich kleinen Dreieck unterbrochen wurde.
Mit einem Arm den Mast umklammernd, blickte
Christian lange durch das Fernrohr.
»Bei Gott, Smith«, rief er, »du hast ein Paar Augen!«
Der junge Seemann lächelte. »Ob es wohl Pitcairn ist,
Sir?«
»Ich glaube es«, antwortete Christian.
Während die Insel allmählich höher und höher vor dem
Schiff emporstieg, saß Fletcher Christian in seiner Kajüte
im Unterdeck. Bei ihm waren zwei der Polynesier, die er
zu sich gerufen hatte.
Minarii, ein Bewohner von Tahiti, war von mächtigem
Körperbau, mit der würdevollen Sicherheit eines Mannes
von Rang. Seine Stimme war tief und kräftig, sein Körper
mit kunstvollen Tätowierungen bedeckt; sein dichtes,
eisengraues Haar verbarg ein Turban aus weißem
Rindenstoff. Sein Begleiter Tetahiti war ein junger
Häuptling aus Tupuai, der seine Heimatinsel aus Freundschaft zu Christian verlassen hatte und weil er wußte, daß diese Freundschaft ihm nach Abfahrt des Schiffes das Leben gekostet hätte. Die Bewohner von Tupuai waren den Weißen feindlich gesinnt; die Meuterer hatten Glück gehabt, die Insel ohne Verluste zu verlassen. Tetahiti war gleichfalls ein kraftvoll gebauter Mann, doch seine Gesichtszüge waren sanfter als die Minariis. Beiden hatte man gesagt, daß die Bounty eine Insel suche, auf der man sich niederlassen könne; nun erklärte ihnen Christian den wahren Sachverhalt. »Minarii, Tetahiti«, begann er, »ich habe euch eine Mitteilung zu machen. Wir sind Schiffskameraden; wenn das Land, das vor uns liegt, sich als gastfreundlich erweist, werden wir bald Nachbarn sein. Bisher habe ich es nicht für richtig gehalten, euch die ganze Wahrheit zu sagen. Viel Gerede an Bord eines Schiffes tut nicht gut. Ihr versteht?« Sie nickten und warteten darauf, daß er fortfahre. »Bligh log, als er den Leuten von Tahiti sagte, er sei Kapitän Cooks Sohn. Er war kein Häuptling in seinem Heimatland, auch hatte er nicht die Würde und Gerechtigkeitsliebe eines Gebieters. Als er es zu hohem Rang brachte, wurde er hochmutig und grausam. Du, Minarii, mußt in Tahiti davon gehört haben, daß er seine Leute peitschen ließ, bis ihnen das Blut über den Rücken rann. Sein Verhalten allen gegenüber wurde unerträglich. Er pflegte seine Untergebenen inmitten der Fülle hungern zu lassen und seine Offiziere in Gegenwart der Mannschaft zu beschimpfen.« Minarii lächelte grimmig. »Ich verstehe«, sagte er. »Du hast ihn getötet und dich des Schiffes bemächtigt.«
»Nein. Ich faßte den Entschluß, das Schiff in meine Gewalt zu bekommen, ihn in Ketten zu legen und unseren König zum Richter zwischen uns aufzurufen. Aber die Leute hatten zuviel von Blighs Hand erlitten. Sechzehn Monate hatte er sie behandelt, wie keiner von euch seinen Hund behandeln würde, und ihr Blut war in Wallung. Um Blighs Leben zu retten, setzte ich ihn in dem großen Boote aus, mit einer Anzahl von Männern, die ihn zu begleiten wünschten. Wir gaben ihnen Lebensmittel und Wasser, und zumindest seinen Begleitern wünsche ich, daß sie England erreichen. Wir aber stehen nun außerhalb des Gesetzes, und wenn unser König von unserer Tat erfährt, wird er ein Schiff aussenden und dieses Meer nach uns durchsuchen lassen. Ihr und die anderen wußtet bereits, daß wir Ausschau nach einer einsamen und wenig bekannten Insel hielten, um uns dort niederzulassen; jetzt kennt ihr den Grund. Wir haben die Insel gefunden. Minarii, bist du es zufrieden, hier zu bleiben? Wenn der Ort geeignet ist, fahren wir nicht weiter.« Der Häuptling neigte leicht das Haupt. »Ich bin es zufrieden«, sprach er. »Und du, Tetahiti?« »Ich kann niemals in mein Heimatland zurückkehren«, entgegnete dieser. »Wohin du mich führst, dorthin folge ich dir.« Die Dunkelheit brach bereits herein, als die Bounty sich dem Lande näherte. In einer Entfernung von etwa einer Meile erhob sich ein hoher Gebirgskamm, am rechten und linken Ende von Gipfeln gekrönt. Die südliche Spitze schien mindestens tausend Fuß hoch zu sein und senkte sich sanft zum Meer hinab; der nördliche Gipfel hingegen stürzte fast senkrecht ab; an seinem Fuß
brachen sich schäumend die Wellen. Zwei Wasserläufe ergossen sich inmitten üppigen Pflanzenwuchses in die See, und in der Mitte zwischen den beiden Bergspitzen schäumte ein Wasserfall über die Klippen. Überall, mit Ausnahme der Abstürze, an denen die Seevögel ihre Nester gebaut hatten, war die Insel von üppigem Grün bedeckt. Die See war ruhig. Ehe eine Stunde vergangen war, wurden die Segel eingezogen, und die Bounty warf Anker vor einer Bucht, in der dem Augenschein nach ein Boot landen konnte. Die Nacht senkte sich herab.
2
Als der nächste Morgen heraufdämmerte, standen Christian und Young auf dem Kommandodeck. Mit seinem Fernrohr suchte Christian sorgfältig die Küste ab. Dann wandte er sich an seinen Gefährten. »Ich werde den größten Teil des Tages an Land verbringen«, sagte er. »Während dieser Zeit übertrage ich dir das Kommando über das Schiff. Veranlasse bitte, daß eines der Eingeborenenkanus ins Wasser gelassen wird.« Einige Minuten später war Christian bereits im Boot, begleitet von Minarii, Alexander Smith, Brown, dem Gärtner, und zwei der Frauen, Maimiti und Moetua. Rasch näherte sich das Fahrzeug, an dessen Steuer Minarii saß, dem Ufer. Die Bucht war mit riesigen, aus dem Meer emporragenden Klippen übersät, gegen die die Brandung mit großer Heftigkeit anstürmte. Rechts und links fiel das die Bucht umgebende Ufer jäh zum Meer ab, aber in der Mitte befand sich ein Streifen sanft geneigten Strandes, die einzige Stelle, an der ein Boot ohne Gefahr landen konnte. Mit großer Geschicklichkeit lenkte Minarii das Kanu dieser Stelle zu. Sie warteten, bis die Wogen sich gebrochen hatten, dann benutzten sie eine günstige Gelegenheit, ließen sich von einer großen Welle tragen, und einen Augenblick später stieß das Boot auf Grund. Sie sprangen heraus und zogen das Boot vollends an Land. Unmittelbar vor sich sahen sie einen steilen, dichtbewaldeten Abhang. Kasuarinabäume, zum Teil von gewaltiger Größe, wuchsen dort inmitten von schlank emporstrebenden Kokospalmen und vielen Arten von Farnen. Einen Augenblick lang blickte sich die kleine Schar schweigend um, dann eilte Maimiti mit einem
Ausruf der Freude auf einen Busch zu, der in einer Spalte zwischen den Felsen wuchs. Sie kehrte mit einem Zweig zurück, der mit glänzenden Blättern und kleinen, weißen, wachsartigen Blüten bedeckt war. Sie drückte die Blüten an ihr Gesicht und atmete ihren zarten Duft ein. »Es ist die Tefeno«, wandte sie sich an Christian. Moetua war gleichfalls entzückt, und die beiden Frauen setzten sich sogleich nieder, um aus den Blüten Kränze für ihr Haar zu winden. »Wir werden auf dieser Insel glücklich sein«, sagte Moetua. »Seht nur! Es gibt Pandanusbäume, und überall wächst Aito und Purau. Dieses Land ist beinahe wie Tahiti selbst!« Christian blickte auf die grüne, pflanzenbedeckte Wand, die steil über ihnen emporragte. »Wir werden mehr als genug Arbeit haben, um dieses Land für unsere Pflanzungen urbar zu machen«, meinte er. »Das jagt mir wahrhaftig keinen Schrecken ein«, rief Smith beinahe begeistert. »Es tut mir ordentlich wohl, wieder einmal Land zu riechen. Brown und ich, wir sind zwei, die sich mächtig freuen würden, wenn Sie diese Absicht haben, Herr Christian. Was, Will?« Der Gärtner nickte. »Werden wir uns hier ansiedeln, Sir?« fragte er. »Glauben Sie, daß dies die Insel Pitcairn ist?« »Ich bin überzeugt davon«, antwortete Christian. »Sie liegt weit von der Stelle, an der Kapitän Carteret sie in seine Karte eingezeichnet hat, aber es muß die Insel sein, die er gesichtet hat. Ob wir hier bleiben, müssen wir erst sehen.« Die Frauen hatten inzwischen die Kränze fertiggestellt. Sie drückten sie auf das üppige dunkle Haar, das ihnen offen über die Schultern hinabhing. Christian blickte sie
bewundernd an; ihm war, als habe er nie etwas Schöneres gesehen als diese beiden jungen Frauen in ihren Röcken aus Tapastoff, die Gesichter und die schlanken braunen Körper gesprenkelt vom Sonnenlicht und dem Schatten der Blätter, die sich sanft im Winde bewegten. Maimiti erhob sich rasch. »Wir wollen weitergehen«, sagte sie, »ich bin begierig, zu sehen, was jenseits des Berghanges liegt.« Geführt von Minarii klommen sie die steile Anhöhe hinan; bald waren die Eingeborenen, Smith mitten unter ihnen, weit voraus. Christian und Brown folgten ihnen gemächlicher; hier und da blieben sie stehen, um die Bäume und Pflanzen zu untersuchen. Der Anstieg war recht mühsam, und an manchen Stellen fanden sie es notwendig, sich an den Wurzeln der Bäume und Sträucher emporzuziehen. Nachdem sie zweihundert Fuß gestiegen waren, befanden sie sich auf einem sanfteren Abhang. Hier wurden sie von den anderen erwartet. Vor ihnen erstreckte sich dichtbewaldetes Land, das ihnen, verglichen mit dem steilen Weg, den sie soeben zurückgelegt hatten, beinahe eben erschien. Tief unter ihnen leuchtete das Meer in tiefstem Blau unter dem wolkenlosen Himmel. In südlicher Richtung stieg das Land auf weite Strecken allmählich an, dann, als es sich der Bergspitze näherte, die die Aussicht begrenzte, wurde es steiler. Im Nordwesten wurde eine zweite Bergkette sichtbar, rechts und links von Gipfeln begrenzt, die bis zur Spitze übergrünt waren. Die gegen Norden gelegene Spitze stürzte jedoch auf der Meerseite in einer nackten Felswand ab. Als sie ein kleines Stück weitergegangen waren, senkte sich die Hochfläche zu einem Tälchen hinab, das von so riesigen Bäumen beschattet war, daß kaum ein einziger
Sonnenstrahl hindurchdrang. Hier fanden sie einen Bach, dessen Wasser klar und frisch war, und sie machten halt, um sich ein wenig zu erfrischen. Dann teilte sich die Expedition. »Minarii, halte dich mit Moetua links und besteige die Hauptkette dort drüben«, sagte Christian. »Smith und Brown, ihr wandert nach Westen; wir müssen wissen, was jenseits der Anhöhe liegt. Ich will längs des Nordrandes der Insel weitergehen. Pitcairn ist so klein, daß wir uns kaum verirren können.« Christian machte sich, begleitet von Maimiti, auf den Weg und achtete sorgfältig darauf, das Meer nicht aus den Augen zu verlieren. Bis auf das Donnern der Brandung tief unten schien die Stille dieses Ortes seit dem Anbeginn der Zeiten nicht gebrochen worden zu sein; als sie sich jedoch ein wenig später auf dem Stamm eines gefallenen Baumes ausruhten, hörten sie den schwachen Ruf eines Vogels, oft wiederholt, der von weit her zu kommen schien. Sie waren überrascht, den Vogel selbst, ein kleines, staubfarbenes Tierchen mit weißlicher Brust, ganz in der Nähe zu finden. Er schoß, seinen eintönigen Ruf ausstoßend, durch das Gebüsch. Andere Landvögel sahen sie nicht, überhaupt kein lebendes Wesen außer einer kleinen braunen Ratte und einer winzigen, schimmernden Eidechse. Sie gingen weiter, aber plötzlich blieb Maimiti stehen. »Es sind schon vor uns Menschen hier gewesen«, sagte sie. »Hier? Unsinn, Maimiti! Was bringt dich auf diesen Gedanken?«
»Ich fühle es«, antwortete sie ernst. »Es muß vor langer
Zeit gewesen sein, aber es gab einmal einen Weg, wo wir
jetzt gehen.«
Christian lächelte ungläubig. »Ich kann es nicht glauben«,
sagte er.
»Weil du nicht unseres Stammes bist«, entgegnete
Maimiti. »Ich aber spürte es schon, als wir vom
Landungsplatz heraufstiegen. Nun bin ich sicher.
Menschen meines Blutes haben einstmals hier gelebt.«
»Und wohin sind sie gegangen?«
»Wer weiß es? Vielleicht ist es kein glücklicher Ort.«
»Nicht glücklich? Eine so schöne und reiche Insel?«
»Die Bewohner mögen altes Unglück mit sich gebracht
haben. Selten trägt das Land die Schuld; meist sind es die
Menschen.«
»Du kannst nicht recht haben«, sagte Christian nach
einem Augenblick des Schweigens. »Was sollte diese
Menschen aus einem anderen Land so weit, bis hierher,
geführt haben?«
»Nicht nur ihr weißen Leute mit euren großen Schiffen
macht weite Reisen«, antwortete sie. »Es gibt kein Land
in diesem ganzen großen Meer, das Menschen meines
Blutes nicht vor euch entdeckt hätten. Selbst hierher sind
sie gekommen.«
»Vielleicht, vielleicht. Glaubst du nicht, daß wir hier
glücklich sein werden?« fragte er sinnend. »Du bedauerst
es nicht, mit mir gekommen zu sein?«
»Nein ...« Sie zögerte. »Aber es ist so weit weg ...
Werden wir nie nach Tahiti zurückkehren?«
Christian schüttelte den Kopf. »Nie. Ich sagte dir das, ehe
wir abreisten«, fügte er sanft hinzu.
»Ich weiß es ...« Als sie zu ihm aufblickte, glänzten Tränen in ihren Augen. »Du darfst mir nicht böse sein, wenn ich zuweilen an Tahiti denke.« »Böse? Natürlich werde ich dir nicht böse sein ...! Aber wir werden hier glücklich sein, Maimiti. Ich bin dessen gewiß. Noch ist das Land uns fremd; aber bald werden wir unser Haus gebaut haben, und wenn unsere Kinder kommen, wird diese Insel uns Heimat sein. Dann wirst du nie mehr traurig sein.« Die Beziehung zwischen Christian und dieser Tochter polynesischer Edelleute war nicht zufällig oder oberflächlich. Sie hatte kurz nach der ersten Ankunft der Bounty in Tahiti begonnen und sich von Tag zu Tag vertieft. Während des langen Aufenthaltes hatte Christian sich ernsthaft bemüht, die Sprache der Eingeborenen zu erlernen, mit solchem Erfolg, daß er sie nun fließend sprechen konnte. Nachdem diese Schwierigkeit aus dem Wege geräumt war, hatte er entdeckt, daß Maimiti weit mehr war als das schlichte, gedankenlose Kind der Natur, das er zuerst in ihr vermutet hatte; aber erst als sie sich vor den Entschluß gestellt sah, zwischen ihm und allem, was ihr bisher teuer gewesen war, zu wählen, hatte er die Tiefe ihrer Neigung so recht begriffen. Nicht einen Augenblick lang hatte sie gezögert. Maimiti ergriff Christians Hand, so als suche sie Schutz vor der Fremdartigkeit und der Stille dieses neuen Landes, und sie gingen weiter. Eine parkartige Fläche lag bald vor ihnen, beschattet von uralten Bäumen. Zu ihrer Rechten erhob sich ein gewaltiger Banyanbaum, dessen Wurzeln sich weithin über den Erdboden breiteten. Sie stiegen einen sanften Abhang hinab und gelangten zu einem Hügel, an dessen Rand das Land steil zum Meere abfiel. Es war ein bezaubernder Fleck, erfüllt vom Duft
blühender Bäume und Sträucher, vom kühlenden Hauch der Seebrise durchweht. Gegen Norden führte ein enges Tal zu dem Gebirge, das den Blick nach jener Richtung hin begrenzte. Christian wandte sich seiner Begleiterin zu. »Maimiti, dies ist die Stelle, die ich für unser Heim wählen möchte.« Sie nickte. »Ich hatte gewünscht, dies von dir zu hören! Es ist der rechte Platz!« »Alle unsere Häuser können auf dem nördlichen Abhang dort errichtet werden«, fügte er hinzu, »wir können mit Sicherheit darauf rechnen, in einem der Tälchen Wasser zu finden.« Maimiti war jetzt wieder froh und unbekümmert wie ein Kind. Sie setzten sich auf eine begraste Erhöhung und plauderten von ihren Zukunftsplänen, von der Stelle, an der sich ihr Haus erheben sollte, von den Wegen, die sie durch diese Wälder bahnen wollten, von den Gärten, die anzulegen wären. Endlich erhoben sie sich und wanderten zu einem Brotfruchtbaum, der den ihn umgebenden Wald hoch überragte. Seine unteren Äste waren mit Früchten beladen. Maimiti klomm empor, pflückte etwa ein Dutzend der großen grünen Kugeln und warf sie zu Christian hinab. »Wir werden heute ein köstliches Mahl haben«, rief sie hinunter. »Hast du deinen Feuermacher mitgebracht?« Christian sammelte Zweige, Blätter und trockene Äste, und als das Feuer lustig brannte, legte er die Früchte zum Rösten hinein. Sie machten sich wieder auf den Weg, um das umliegende Land zu durchforschen. Als sie zurückkehrten, sahen sie Minarii und Moetua beim Feuer sitzen und Vogeleier braten, die sie in den Klippen jenseits des südlichen Berghanges gefunden hatten.
Minarii hatte auch grüne Kokosnüsse und eine Anzahl Pisangfrüchte mitgebracht, die er in den Tälern gefunden hatte. »Wir werden köstlich schmausen«, sagte er. »Es ist ein reiches Land, das wir gefunden haben. Wir brauchen nicht weiterzusuchen.« »Dieser Ansicht bin ich auch«, stimmte Christian zu. »Habt ihr die südlichen Berge erstiegen?« »Ja. Jenseits derselben liegt gutes Land, sogar besseres als in diesem Tal. Dennoch sollten wir uns hier niederlassen.« »Habt ihr auch Flüsse gefunden?« »Einen. Er ist klein, aber das Wasser ist gut.« »Wir werden keinen Mangel an Eiern der Seevögel haben«, berichtete Moetua. »Alle Klippen im Süden sind voll mit Nestern. Diese hier habe ich in kurzer Zeit gefunden, aber es ist eine gefährliche Arbeit. Mir schwindelte, als ich hinabblickte.« Die Mahlzeit war bereits fertig, als Smith und Brown auftauchten. Beide waren begeistert von dem, was sie entdeckt hatten. »Dies Land ist der prächtigste Ort, den ich je gesehen habe, Herr Christian«, rief Smith. »Wir erstiegen die Bergspitze dort drüben. Es gibt da eine Menge Kokosnußpalmen, Sandelholz und Zitronenholz, auch Miro, ein Holz, das sich besonders gut zum Hausbau eignet.« »Vortrefflich! Konntet ihr die ganze Insel vom Gipfel des Berges aus übersehen?« »Jawohl«, entgegnete Smith. »Für wie groß hältst du sie ungefähr?« »Sie kann nicht viel über zwei Meilen lang sein und ungefähr halb so breit. Was meinst du, Will?«
»Das kann stimmen«, antwortete der Gärtner.
»Habt ihr Anzeichen dafür gefunden, daß vor uns
Menschen hier gewesen sind?«
»Meinen Sie Weiße, Herr Christian?«
»Nein, wir sind die ersten, die je hier landeten, dessen bin
ich gewiß; aber Maimiti glaubt, daß Polynesier die Insel
früher bewohnt haben.«
»Wir haben nichts dergleichen gesehen.«
Christian wandte sich in der Sprache von Tahiti an
Minarii.
»Glaubst du, daß jemals Maoris dieses Land besucht
haben?«
»Ja«, antwortete Minarii ruhig. »An der Stelle, an der wir
uns jetzt befinden, war einmal eine Ansiedlung. Der
große Banyanbaum dort ist von Menschenhand gepflanzt
worden. Die Brotfruchtbäume ebenso.«
»Habe ich es dir nicht gesagt?« rief Maimiti.
Christian lächelte ungläubig. »Ich habe große Achtung
vor deinem Urteil, Minarii, aber diesmal irrst du dich.
Vor uns haben nur Seevögel dieses Land bewohnt.«
Minarii griff in seinen Lendenschurz und zog eine kleine,
kunstvoll gearbeitete Steinaxt hervor. »Dann haben also
die Seevögel dieses Ding hier gemacht?« fragte er mit
leisem Lächeln.
Es war schon später Nachmittag, als die Gesellschaft zum
Schiff zurückkehrte. Smith und Brown wurden sogleich
von ihren Kameraden umringt und mit Fragen bestürmt.
Christian zog sich in seine Kajüte zurück und nahm dort
allein das Abendessen ein. Gegen Sonnenuntergang
gesellte er sich auf Deck zu Young. Eine Zeitlang ging er
schweigend auf und ab; dann sagte er zu seinem
Gefährten, der an der Reling stand und die hohen Berge
betrachtete, die jetzt vom Schein der untergehenden Sonne golden gefärbt wurden: »Wir wollen diese Stelle »Bountybucht« nennen, alter Freund, und von jetzt an soll es keinen Rangunterschied mehr zwischen uns geben. Ich brauche deine Hilfe, und es mag sein, daß du die meine benötigen wirst. Wir wollen zusammenhalten, was immer auch geschehen möge.« »Das wollen wir«, rief Young. »Hier meine Hand darauf!« Christian ergriff sie und drückte sie herzlich. »Wir haben es mit rauhen Männern zu tun«, fuhr er fort. »Es war zu erwarten, daß die unruhigeren Elemente unter den Leuten der Bounty mit mir kommen würden. Sag mir offen, warum du gekommen bist! Es bestand keine Notwendigkeit für dich. Du hast an der Meuterei nicht teilgenommen; du hättest in Tahiti auf ein Schiff warten können, das dich in die Heimat gebracht hätte. Das Kriegsgericht würde dich ohne Zweifel freigesprochen haben.« »Ich habe meinen Entschluß niemals bereut.« »Und dennoch ... wenn ich bedenke, was du aufgegeben hast, um mein Schicksal zu teilen ...» »Denkst du noch an Van-Diemens-Land?« fragte Young. »Wo Bligh mich an ein Geschütz binden und mich auspeitschen ließ?« »Ich werde das kaum je vergessen«, antwortete Christian. »Von jenem Tage an war ich im Herzen ein Rebell! Wie du weißt, verschlief ich die ganze Meuterei, und als ich auf Deck kam, war schon alles vorüber. Bligh war in der Barkasse ausgesetzt worden und bereits weit weg. Hätte ich im voraus gewußt, was du zu tun beabsichtigtest ...« Er hielt inne. »Ich will nicht sagen, Christian, daß ich
mich an deine Seite gestellt hätte. Vielleicht hätte mir der Mut gefehlt...« »Sprechen wir nicht mehr davon«, unterbrach ihn Christian. »Du bist hier. Du weißt nicht, wie mich dieses Bewußtsein tröstet ... Ich dachte vorhin daran, welches Paradies Pitcairn sein könnte, hätten wir die Freiheit gehabt, unsere Gefährten zu wählen. Wir haben eine Möglichkeit, wie sie selten Menschen zuteil wird, eine neue kleine Welt zu schaffen, fern von der übrigen Menschheit, unsere Kinder in völliger Unkenntnis des Lebens da draußen aufzuziehen.« Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Wir werden bald einen Entschluß fassen müssen. Es handelt sich um das Schiff.« »Du beabsichtigst, es zu zerstören?« »So ist es. Bist du einverstanden?« »Vollkommen.« »Wir müssen alle Brücken hinter uns abbrechen. Es gibt wohl kaum einen einsameren Ort in der Südsee, und dennoch müssen wir immer mit der Möglichkeit rechnen, daß die Insel besucht wird. Ein Schiff kann man nicht verbergen, aber wenn wir uns der Bounty entledigt haben, können wir unsere Ansiedlung so anlegen, daß sie vom Meer aus nicht sichtbar ist. Die Landung ist gefährlich, und kein Schiff wird sie unternehmen, wenn die Insel unbewohnt erscheint. Wir werden wenig zu befürchten haben.« »Die Leute warten mit Ungeduld darauf, deine Absichten zu erfahren. Wäre es nicht gut, sie noch heute abend zusammenzurufen?« Christian dachte einen Augenblick nach. »Einverstanden. Willst du das Nötige veranlassen?« Kurz darauf hatten sich sowohl die weißen als auch die braunen Männer in einem Halbkreis um den Besanmast
versammelt. Hinter ihnen stellten sich die Frauen auf und tuschelten leise miteinander. Es war eine seltsame Schiffsmannschaft, die sich auf dem Deck der Bounty versammelte, um den Worten ihres Anführers zu lauschen. »Bevor wir Weiteres unternehmen«, begann Christian, »will ich mich davon überzeugen, daß ihr alle damit einverstanden seid, diese Insel als Heimstätte zu wählen. Ihr werdet von euren Kameraden, die mich an Land begleiteten, erfahren haben, was sie uns zu bieten vermag. Doch merkt euch wohl, wenn wir hier landen, so bleiben wir hier. Falls jemand etwas dagegen einzuwenden hat, so ist jetzt die Zeit dafür.« Stimmengemurmel wurde laut. »Ich bin für hierbleiben, Herr Christian. Es ist ein feines Plätzchen. Ein besseres könnten wir uns nicht wünschen, Sir.« Mills war einer von denen, die nicht einverstanden waren. »Mir gefällt diese Insel nicht. Ich bin dafür, daß wir nach Tahiti zurückkehren.« Christian blickte ihn einen Augenblick schweigend an. Dann sagte er: »Hör mich an, Mills. Und ihr anderen auch. Zum letzten Male will ich wiederholen, was ich ja schon oft gesagt habe. Wir sind keine freien englischen Seeleute mehr, die tun und lassen können, was ihnen beliebt. Wir sind Flüchtlinge, die als Meuterer und Piraten verfolgt werden. Daß man uns suchen wird, sobald die Meuterei bekanntgeworden ist, steht außer Zweifel ...« »Sie glauben doch nicht ernstlich, daß Bligh jemals England erreichen wird?« unterbrach ihn Martin. »Ich wollte, er würde es erreichen«, sagte Christian mit einem finsteren Blick auf den Sprecher, »um der
unschuldigen Männer willen, die ihn begleiteten. Wie die Sache liegt, ist nicht damit zu rechnen, daß man je wieder etwas von ihnen hören wird. Nichtsdestoweniger wird Seine Majestät es nicht ruhig hinnehmen, daß eines seiner Schiffe einfach verschwindet. Jede Insel in der Südsee, die man für eine mögliche Zufluchtsstätte hält, wird aufgesucht werden. Sollte man uns finden, so wird jeder von uns, den man fängt, gehenkt werden. Ich zumindest habe nicht vor, mich fangen zu lassen ...« »Ich auch nicht, Sir!« rief Smith. Die anderen stimmten zu. »Nun gut denn«, fuhr Christian fort. »Es scheint, daß keiner von euch Lust hat, zu baumeln. Also müssen wir eine Insel suchen, die voraussichtlich nicht gefunden wird, solange wir leben. Dort vor euch liegt eine solche Insel. Sie liegt weitab von der Route der Schiffe, die den Stillen Ozean, sei es in dieser oder in jener Richtung, befahren werden. Die Insel ist fruchtbar, und es gibt keine Bewohner hier, die uns stören können. So, jetzt überlegt es euch sorgfältig. Sollen wir hier unser neues Heim gründen oder nicht?« Er wartete, von einem zum anderen blickend. Mills stand mit gekreuzten Armen da und wich seinem Blick aus. Martin schaute auf Quintal und stieß ihn mit seinem nackten Fuß, so als wollte er ihn auffordern, zu sprechen. Doch keine Einwendung erhob sich. »Gut denn. Die, welche für Pitcairn sind, mögen die Hand erheben.« Fünf Hände reckten sich zugleich empor. McCoy gesellte sich nach einem Augenblick des Zögerns zu denen, die dafür waren. Martin folgte. »Nun, Mills?« fragte Christian mit scharfer Stimme.
Der alte Seemann hob die Hand, aber es schien ihm schwerzufallen. »Ich sehe ein, daß es das beste ist, Herr Christian, aber es erscheint einem doch hart, sein Leben lang auf so einem Felsen von allem abgeschnitten zu sein.« »Du würdest es noch härter finden, vom Galgen abgeschnitten zu werden«, sagte Christian grimmig. »Was soll mit dem Schiff geschehen?« fragte Martin. »Ich sage, wir müssen es verbrennen«, rief Smith. Christian nickte. »Ihr seid Seeleute genug, um zu wissen, daß wir das Schiff hier nicht behalten können«, sagte er ruhig. »Was sollten wir mit ihm beginnen?« Die Frage wurde ausführlich besprochen, aber schließlich stimmten doch alle dafür, die Bounty zu zerstören. »Nur eines habe ich noch hinzuzufügen«, fuhr Christian fort. »Von heute an hat jeder in wichtigen Dingen, die uns alle angehen, seine Stimme. Die Majorität entscheidet. Seid ihr damit einverstanden ...? Dann erhebt eure Hände.« Alle waren dafür, und Christian erklärte die Versammlung für beendet. Als die Leute sich zerstreut hatten, wandte sich Young an Christian. »Du bist zu großzügig gewesen.« »Indem ich jedem eine Stimme im Rat zubilligte, meinst du?« »So ist es. Ich meine, die letzte Entscheidung sollte bei dir liegen.« »Ich verkenne die Gefahr nicht«, entgegnete Christian, »aber es gibt keine andere Möglichkeit. Ich allein trage die Schuld daran, daß die Leute hier sind. Hätte ich sie nicht zur Meuterei verleitet, so würde die Bounty sich jetzt England nähern.«
Er brach ab und blickte düster auf das Land. »Sicher
kommt ihnen dieser Gedanke oft. Es ist ein Gebot der
Gerechtigkeit, daß ich sie mitbestimmen lasse ... obgleich
ich weiß, daß es zu ihrem eigenen Schaden sein wird.
Aber wir beide werden sie schon dazu führen können,
kluge Entscheidungen zu treffen.«
Die Sonne war untergegangen, und die Stille des Landes
schien herüberzuströmen, um sich mit der Stille des
Meeres zu vereinen. Lange blickte Christian auf die
dämmernde Insel.
»Es ist ein friedlicher Ort, Edward«, sagte er. »Gott gebe,
daß er friedlich bleibe!«
3
Beim ersten Licht des Tages waren die Leute von der Bounty bereits auf den Beinen, und sogleich wurden Vorbereitungen für die Landung der Vorräte getroffen. Mit Ausnahme von Brown, dem Gärtner, sollten die Meuterer unter Youngs Leitung an Bord bleiben, um das Schiff abzutakeln. Die Eingeborenen wurden damit betraut, in den Kuttern des Schiffes und in den beiden Kanus alles Verwendbare an Land zu bringen. Gleichzeitig wurde ein Weg angelegt, der von der Bucht zum vorläufigen Siedlungsplatz emporführte. Obgleich die Vorräte der Bounty mit den in Tahiti verbliebenen Meuterern geteilt worden waren, waren sie immer noch sehr reichlich: Fässer mit Rum, gepökeltes Rind- und Schweinefleisch, getrocknete Erbsen und Bohnen, eine Fülle von Kleidungsstücken, Pulverfässer, Eisen und Nägel für die Schmiedearbeit, Blei für Musketenkugeln und vieles andere. Vierzehn Musketen und eine Anzahl Pistolen waren vorhanden. Dazu kamen zahlreiche Hühner, zwanzig Mutterschweine, fünf Eber und drei Ziegen. Da die Insel klein war, hatte man beschlossen, die Tiere frei umherlaufen zu lassen, bis die Häuser fertig sein würden. Das Wetter war so günstig wie nur möglich; der Himmel war wolkenlos; eine leichte südwestliche Brise wehte. So blieb es fünf Tage. Nach Ablauf dieser Zeit waren die wertvollen Lasten an Land gebracht, und aus den Ersatzsegeln der Bounty hatte man an einer Stelle oberhalb der Bucht Zelte errichtet. Am Morgen des fünften Tages schlug der Wind gegen Nordosten um und wehte kräftig in die Bucht. Man war übereingekommen, daß das Schiff seine letzte kurze
Reise antreten sollte, sobald der Wind es erlaubte. Die hierfür gewählte Stelle lag unter einem steil aufragenden Felsvorsprung auf der linken Seite der Bucht, den man später Schiffslandungskap nannte. Christian überließ Young das Steuer und ging nach vorne, um dem Schiff seine Richtung zu geben. Es war ein Augenblick höchster Spannung für die gesamte Schiffsgesellschaft; Männer und Frauen stellten sich an der Reling auf und starrten auf den immer schmäler werdenden Wasserstreifen, der sie vom Lande trennte, hinaus. Martin schüttelte finster den Kopf. »Denkt daran, was ich euch jetzt sage, Kameraden! Oft genug werden wir den heutigen Tag noch verfluchen!« Quintal gab ihm einen Stoß in den Rücken. »Ins Wasser mit dir, Isaac, und schwimm nach Tahiti zurück, wenn dir der Sinn danach steht!« Von der Strömung immer stärker getrieben, näherte sich das Schiff zwei Klippen, die kaum vier Klafter voneinander entfernt waren. Einen Augenblick später trug eine Woge den Bug der Bounty hoch empor; hart stieß sie auf Grund. Die Klippen, an denen sie festlag, waren etwa dreißig Meter vom Ufer entfernt. Zwei Halsen wurden vom Bug an den Strand gebracht und an den Bäumen befestigt. Als Christian sich davon überzeugte, daß die Bounty so gut wie möglich gesichert war, machten sich die Leute sogleich daran, sie abzutakeln. Während der nächsten Woche gab es für niemanden eine Ruhepause. Die Mäste wurden in geeignete Stücke geschnitten, um als Bauholz verwendet zu werden. Die meisten Männer waren an Bord beschäftigt, und die
Frauen, ausgezeichnete Schwimmerinnen, halfen mit, die Balken durch die Brandung an Land zu schaffen. Endlich war auch das Holz der Kajüten und Vorratskammern ebenso wie die Deckplanken an Land gebracht worden. Als die Arbeit so ziemlich beendet war, wurde ein Ruhetag bewilligt, und zum ersten Male, seitdem die Bounty England verlassen hatte, befand sich niemand an Bord des Fahrzeuges. Fische wurden während des Morgens in Menge gefangen, und aus diesen, frischer Brotfrucht, Pisang und wilden Yamwurzeln wurde das leckerste und nahrhafteste Mahl bereitet, das die Leute von der Bounty seit ihrer Abfahrt von Tahiti eingenommen hatten. Zum ersten Male aßen alle gemeinsam, was nicht ohne ein Gefühl der Peinlichkeit vonstatten ging. Christian und Young hießen die Matrosen, sich so ungezwungen zu benehmen, als ob sie untereinander wären, aber dennoch wurde während der Mahlzeit kaum ein Wort gesprochen. Die Frauen warteten nach polynesischer Sitte, bis die Männer gesättigt waren; erst dann aßen auch sie. Nachdem ihr Hunger gestillt war, legten sich die Männer im Schatten der Bäume zur Ruhe nieder. Am frühen Nachmittag machten sich Martin, Mills und McCoy, die bisher nur wenig von der Insel gesehen hatten, von Alexander Smith geführt, zu einem Ausflug durch ihre neue Heimat auf. Als sie den Abhang emporgeklettert waren und die Hochfläche erreicht hatten, blickten sie sich neugierig um. »Das also ist das Land, in das uns Christian geführt hat«, sagte Mills. »Was wir da vor uns sehen, scheint alles zu sein, mehr gibt es nicht.« »Platz genug für uns«, sagte McCoy.
»Platz? Du bist leicht zufriedengestellt«, warf Martin verdrießlich ein. »Und hier sollen wir bis zu unserem seligen Ende bleiben!« brummte Mills. »Habt ihr darüber schon einmal nachgedacht, Kameraden? Der Teufel soll uns dafür holen, daß wir Christian gefolgt sind.« »Daran ist nun einmal nichts zu ändern«, sagte McCoy. »Wir müssen hier bleiben, und damit Schluß.« »Und Christian soll wohl immer weiterbefehlen, und wir müssen tun, was er sagt, wie?« fragte Martin. »In der Hölle soll ich braten, wenn wir ihm das erlauben!« rief Mills. »Wir sind keine Teerjacken mehr, Kameraden! Vergeßt das nicht! Hier haben wir geradesoviel zu sagen wie er. Das hat er uns versprochen.« »Reg dich bloß nicht auf!« sagte McCoy. »Du hast doch eben selbst gesagt, daß Christian uns das versprochen hat. Und was er verspricht, das hält er auch.« »Wer sagt, daß er es nicht tun wird? Aber da ist nun zum Beispiel die Sache mit dem Rum. Er hat uns unseren Grog versprochen, solange der reicht, und jetzt haben wir schon zwei Tage keinen bekommen.« »Du bist ein Esel, John. Wir wollen doch, daß der Rum für zwei Jahre reicht, und wenn wir das wollen, können wir nicht gleichzeitig Seemannsmaß verlangen.« »Wir sind doch nur acht, um ihn zu trinken. Will Brown rührt keinen Branntwein an.« »So ist es«, nickte McCoy vergnügt, »Gott sei bedankt für Brown und die Indios! Und wenn die auch Grog trinken möchten ...« »Ob sie möchten oder nicht, jedenfalls bekommen sie keinen. Dafür werden wir schon sorgen«, meinte Mills.
»Hört einmal, Jungens, muß es denn unbedingt Rum sein?« fragte Martin mit einem verschmitzten Lächeln. »Kognak würdet ihr wohl gar nicht anschauen? Nicht einmal feinen, alten Kognak, he?« »Wo willst du damit hinaus, Mann?« rief Mills. »Das will ich euch sagen«, erklärte Martin. »Vor ein paar Tagen, während wir die Kajüten auseinandersägten, habe ich unter der Bettstatt des alten Doktors, der in Tahiti ins Gras gebissen hat, acht volle Flaschen Kognak gefunden. Die hat er sich wohl für seinen eigenen Gebrauch zurückgelegt. Ich habe unbemerkt einen Spaziergang gemacht und sie an einer geeigneten Stelle verborgen. Wir können sie irgendwo in Ruhe aussaufen; die anderen brauchen gar nichts davon zu wissen. Was meinst du, Alex?« Smith erhob sich. »Meiner Ansicht nach gehören die Vorräte allen und nicht euch allein. Tut, was ihr wollt; ich will jedenfalls nichts damit zu schaffen haben.« Als er gegangen war, folgten ihm die anderen einen Augenblick lang mit den Blicken; dann rief ihm Martin nach: »Wenn man nach uns fragt, Alex, sag ihnen, daß wir uns ein bißchen auf der Insel umgucken und im Freien übernachten werden.« Smith wandte sich um und winkte mit der Hand. Gleich darauf war er im Wald verschwunden. Die anderen machten sich auf den Weg. Kaum hatten sie die freie Stelle verlassen, als sie keinen Wind mehr spürten. Der Schweiß strömte an ihren halbnackten Körpern herab, während sie sich durch die hohen Farnkräuter einen Weg bahnten. Schließlich erreichten sie den Talgrund, wo die Luft feucht und kühl war. Martin wies ihnen den Weg und blieb endlich bei einem breitwipfligen Hibiskusbaum stehen, dessen mit
zitronenfarbenen Früchten behangene Äste den Flußlauf beschatteten. Martin kniete neben dem Baumstamm nieder und zog unter der verschlungenen Wurzel nacheinander acht Flaschen hervor. Triumphierend schaute er seine Kameraden an. »Das hast du fein gemacht, Isaac«, rief McCoy beseligt. An einem kleinen, von dem Fluß gebildeten Teich ließen sie sich nieder. Martin hieb einer der Flaschen den Hals ab. Die anderen folgten seinem Beispiel. In schweigender Verzückung tranken sie. »Gut, daß Matt Quintal nicht dabei ist«, sagte Mills schließlich. »Stimmt!« bestätigte Martin. »Er ist ein guter Seemann, wenn er nüchtern ist, aber Gott behüte mich vor ihm, wenn er einen Tropfen zuviel in sich hat!« McCoy nickte. »Kein Satan kann ärger sein. Erinnert ihr euch noch daran, wie er, acht Tage ehe wir von Portsmouth wegfuhren, in den »Drei Turteltauben« alles kurz und klein schlug? Unser fünf konnten ihn kaum bändigen!« »Ich trage noch heute ein Erinnerungszeichen daran am Leibe«, sagte Mills. »Gott stehe mir bei! Was ist denn das?« Ein winziger Strauß aus Blumen und Farnkräutern baumelte, an einem Faden aus Rinde befestigt, aus dem Laubwerk des Baumes, unter dem sie saßen, herab. Nachdem das Sträußchen einen Augenblick lang vor Mills' Nase herumgetanzt hatte, wurde es wieder hinaufgezogen. Silberhelles Lachen ertönte, und als die Männer emporblickten, sahen sie ein Gesicht gleich dem einer Elfe durch die grünen Blätter gucken. »Dein Mädel ist es, Mills! Verdammt soll ich sein, wenn sie's nicht ist!« rief Martin.
Mills' grimmige Züge wurden mit einem Male weich. »Wahrhaftig! Komm herunter da, du kleine Hexe! Was treibst du da oben?« Das Mädchen kletterte zum untersten Ast herab und wiegte sich dort, zu den Seeleuten hinablächelnd. »Spring herunter, du kleiner Kobold!« sagte Mills zärtlich. Er öffnete seine Arme. Das Mädchen sprang herab, und er fing sie auf. Sie war mit einem Rock aus Rindenstoff bekleidet, der ihr bis zum Knie reichte; ihr üppiges Haar fiel ihr lockig über die nackte Brust und die Schultern. Mills blickte sie bewundernd an, »Du hast wahr gesprochen, John«, sagte Martin. »Sie ist eine richtige kleine Hexe.« »Jawohl«, warf McCoy ein. »Du hast die Hübscheste von allen. Möchte bloß wissen, warum sie ihre Familie verlassen hat, um mit einem alten Brummbären mitzukommen, wie du einer bist.« Mills streichelte ihr Haar mit seiner großen rauhen Hand. »Eins mußt du zugeben, Will, sie weint sich nicht die Augen nach Tahiti aus wie manche von den anderen Weibern.« »Wie verständigst du dich eigentlich mit ihr, John?« fragte Martin. »Keiner von uns hat sich so dumm angestellt wie du, als es galt, das Kauderwelsch der Indios zu lernen. Gebraucht ihr vielleicht die Zeichensprache?« »Darüber zerbrich dir bloß nicht den Kopf«, gab Mills grob zurück. »Ich brauche das heidnische Gewäsch nicht zu lernen. Prudence lernt Englisch, wie die Taube ein Korn aufpickt. Willst du nicht auch einen Schluck kosten, Herzchen?« wandte er sich dann an Prudence, ihr die Flasche hinhaltend. Sie schüttelte den Kopf.
»Was! Ein Mädel, das nicht mit seinem Schatz trinkt?«
rief Martin. »Das ist nicht Seemannsbrauch. Gib ihr
einen Tropfen!«
»Ja, du hast recht, Isaac«, antwortete Mills. »Komm,
Kleine, einen Schluck wenigstens.«
Er legte den Arm um ihre Schulter, zog sie an sich und
setzte ihr die Flasche an die Lippen. Das Mädchen schloß
die Augen und schluckte ein wenig von dem starken
Getränk. Dann stieß sie hustend die Flasche weg und
enteilte zum nahen Fluß. Die drei Männer lachten laut.
»Stellt euch nur vor, ein Püppchen bei uns zu Hause
würde über solch einen Kognak so ein Gesicht
schneiden«, sagte Martin.
»Meine Alte konnte ein großes Glas austrinken, ohne mit
der Wimper zu zucken«, lachte McCoy. »Eigentlich eine
merkwürdige Sache. Ich weiß nicht, ob ich während der
letzten zwölf Monate zweimal an sie gedacht habe. Na,
sie wird sich wohl schon getröstet haben. Das ist
Seemannslos. Jedenfalls soll sie leben, wo immer sie
auch vor Anker gegangen sein mag.«
Prudence war inzwischen zurückgekehrt und setzte sich
wieder an Mills' Seite.
»Na, wie steht's mit dir, Kleine?«
Sie lachte und zeigte auf die Flasche. »Noch«, antwortete
sie.
»So lasse ich es mir gefallen«, sagte Mills. »Da,
Liebchen, trink, solange es dir schmeckt!«
»Ahoi, Kameraden!«
Die drei Männer blickten rasch auf und sahen Quintal
hinter sich stehen.
»Gott beschütze uns! Es ist Matt!« bemerkte McCoy mit
saurem Gesicht.
»Komm an Bord, Matt«, rief Martin, mit einem Versuch,
herzlich zu erscheinen.
»Nicht schön von euch, Kameraden, daß ihr mich nicht
eingeladen habt.« Quintal schielte vorwurfsvoll auf die
Flasche. »Wo habt ihr denn das her?«
»Zerbrich dir darüber nur nicht den Kopf, Matt. Willst du
auch einen Schluck?«
Quintal blickte verlangend auf die Flasche. »Ihr wißt ja,
daß ich möchte, verflucht noch mal. Aber ich laß das
Zeug besser sein.«
»Vernünftig von dir, Junge«, nickte McCoy. »Du kennst
deine Schwäche. Wir denken nicht schlechter von dir,
wenn du es sein läßt.«
Quintal setzte sich seufzend nieder. »Na, hör mal, Mills«,
rief er plötzlich, »hat die Kleine dort am Ende einen
Schwips?«
»Sie hat zum erstenmal Branntwein getrunken«,
entgegnete Mills. »Hat sich ganz leicht daran gewöhnt.
Wo ist eigentlich John Williams?«
»Ich habe ihn seit zwei Stunden nicht gesehen.«
»Jedenfalls ist er nicht allein, möchte ich wetten. Und
sicher ist es nicht Fasto, die mit ihm ist.«
»Kann stimmen, er ist ja ganz verrückt nach dieser ... wie
heißt sie nur gleich? Hutia!«
»Warum kann er nicht bei seiner eigenen bleiben?«
brummte Mills.
»Das möchte ich auch gerne wissen«, sagte McCoy.
»Wenn es erst einmal Krach zwischen uns und den Indios
gibt, dann ist die Hölle los. Wir können hier so friedlich
leben, wie wir nur wollen. Aber nur, wenn wir keine
Dummheiten machen.«
»Und wie lange werden die Indios friedlich bleiben, glaubst du?« fragte Martin. »Drei von ihnen haben keine Weiber. Sie werden bald genug unseren nachlaufen.« »Meine werden sie in Ruhe lassen«, meinte Mills, »das verspreche ich euch!« Prudence hatte inzwischen Mills die Flasche aus der Hand genommen und von neuem getrunken. Quintal blickte sie wie bezaubert an. Bei den anderen zeigten sich bereits die ersten Anzeichen eines Rausches. »Hör zu, Quintal«, rief Martin, »ich kann keinen Mann mit trockener Kehle bei uns sitzen sehen. Komm, trink auch einen Schluck.« Er reichte Quintal die Flasche, die dieser zögernd nahm. »Danke, Isaac. Ich werde nur kosten, mehr nicht.« Seine Kostprobe fiel recht ausgiebig aus und machte Durst auf mehr. Ein paar Minuten später griff er nach einer halbgeleerten Flasche, die neben McCoy stand. »Matt«, warnte ihn McCoy, »weiß Gott, daß ich dir das Trinken gönne, aber paß auf, daß du dich nicht besäufst.« Es war inzwischen Spätnachmittag geworden, und das Tälchen lag schon im Schatten. Die Männer tranken nach Herzenslust. Als sie Prudence aufforderten, ihnen etwas vorzutanzen, ließ sie sich nicht lange bitten. Plötzlich packte Quintal sie beim Arm, zog sie an sich und gab ihr einen derben Kuß auf die Lippen. Mills sprang auf. »Laß sie los, verfluchter Kerl! Laß sie los, sag' ich dir!« brüllte er. Das Mädchen, plötzlich ein wenig ernüchtert, versuchte, sich frei zu machen, aber Quintal hielt sie fest. Mit einem trunkenen Lallen wandte er sich Mills zu. »Sie weiß, wer der beste Mann ist, was Puppe?« Er küßte sie wieder und wieder, aber als Mills auf ihn zukam, sprang er auf. Gleich darauf traf ihn Mills' kräftige Faust mitten ins
Gesicht. Blut floß aus seiner Nase; er wankte, stand aber gleich wieder auf den Beinen. In seine eng beieinander liegenden blauen Augen trat ein irres Leuchten. Er stieß das Mädchen beiseite und ballte seine riesigen Hände zur Faust. »Du verdammter Schweinehund! Dafür werde ich dich umbringen!« Wie ein wildes Tier stürzte er sich auf Mills, schlug ihn zu Boden, setzte ihm ein Knie auf die Brust und umklammerte seinen Hals. Mills' Augen traten aus den Höhlen. »Er ermordet ihn, Isaac! Rasch!« brüllte McCoy. Die beiden Männer versuchten, den Rasenden zu bändigen. Auch Mills hatte sich inzwischen erholt, aber ihre vereinten Kräfte genügten nicht, um Quintal zu überwältigen. »Gott sei bedankt! Da ist Alex«, keuchte McCoy. »Hierher, Kamerad, beeile dich!« Ehe Quintal Zeit hatte, den Kopf zu wenden, hatte sich Smith, der über gewaltige Körperkräfte verfügte, auf ihn gestürzt. Der Betrunkene kämpfte wie ein Teufel, aber gegen vier konnte er nicht aufkommen. Gleich darauf lag er hilflos, schwer atmend, auf dem Boden; Schweiß und Blut strömten über sein Gesicht; seine Augen waren die eines Wahnsinnigen, Die vier banden ihm mit Baumrinde, die Prudence rasch herbeibrachte, Hände und Füße. Seine Augen schlossen sich, und er fiel in tiefen Schlaf. »Gut, daß du gekommen bist, Alex«, sagte McCoy mit schwacher Stimme. »Er hätte uns alle drei kaltgemacht.« »Ich wurde ausgesandt, um euch zu suchen«, berichtete Smith. »Herr Christian hat beschlossen, das Schiff zu verbrennen. Ihr könnt hierbleiben oder zusehen, wie es in Brand gesteckt wird, ganz, wie es euch beliebt; aber er wollte, daß ihr es wißt.«
»Er soll den Kasten verbrennen, und Schluß damit«, brummte Mills.
Martin hielt Smith eine Flasche hin. Der blickte unentschlossen von einem zum anderen. Dann plötzlich warf er sich neben die Kameraden auf den Boden. »Ja, ich will auch eins trinken«, sagte er und griff nach der Flasche.
Die Dämmerung wurde zur Dunkelheit. Quintal
schnarchte laut, und Martin hatte jenen Grad der
Trunkenheit erreicht, in dem man beginnt, weinerlich zu
werden. Seine Gedanken wandten sich der Heimat zu; er
brummte halb verständliche Worte vor sich hin,
verfluchte Christian und das grausame Schicksal, das ihn
für immer auf einen Felsen mitten im Ozean verbannt
hatte. Mills trank schweigend, Prudence schlief, den
Kopf in seinem Schoß.
»Christian ist mit Young und John Williams an Bord der
Bounty«, sagte Smith endlich. »Bald wird es losgehen
mit dem Brand.«
Und wirklich wurde kurze Zeit später im Osten ein
rötlicher Schein sichtbar. Von Minute zu Minute wurde
er stärker.
Mills stand auf. »Wir sollten das Ende des alten Kastens
doch mit ansehen, Will. Ich werde Matt losschneiden;
jetzt ist er ganz harmlos. Was tust du, John? Bleibst du
hier oder gehst du mit?«
Mills erhob sich gleichfalls und nahm das schlafende
Mädchen auf den Arm. »Gehen wir an den Zelten
vorbei«, sagte er, »ich will sie dort lassen.«
Sie machten sich auf den Weg, während Quintal und
Martin, der inzwischen gleichfalls eingeschlafen war,
zurückblieben. Bei den Zelten fanden sie niemanden.
Mills ließ Prudence dort zurück; dann klommen sie zu dem Aussichtspunkt oberhalb der Bucht empor. Das Schiff stand in hellen Flammen; Funken sprühten zum Himmel empor. In dem rötlichen Schein konnten sie deutlich die anderen Mitglieder der Mannschaft sehen, die auf den Klippen am Strande saßen. »Wie sie brennt, die Bounty«, sagte McCoy mit einem trüben Lächeln. »Ja«, murmelte Smith. »Lichterloh!« Dann schwiegen sie.
4
Von diesem Tage an kam den Bewohnern von Pitcairn ihre Verlassenheit tiefer als bisher zum Bewußtsein. Der leere Ozean schloß sie ein wie eine Mauer; das Wrack, soweit es über das Wasser hervorragte, legte beredtes Zeugnis von der Unabänderlichkeit ihres Schicksals ab. Zuweilen erstiegen sie des Abends einzeln oder in Gruppen den Aussichtspunkt oberhalb der Bucht und blickten stumm auf die letzten Reste der Bounty hinab. Von allen Meuterern schien keiner so tief und schmerzlich betroffen wie Brown. Er war ein kleiner, schüchterner Mensch von dreißig Jahren, und seine sanfte Art stand in deutlichem Gegensatz zum Wesen der meisten seiner Gefährten. Als Gehilfe des Botanikers der Expedition war er auf die Bounty gekommen und hatte auf Tahiti mit dem Studium der Inselflora und der Pflege der jungen Brotfruchtbäume fünf glückliche Monate verbracht. Am Morgen der Meuterei war er von Martin aus dem Schlaf gerüttelt worden; dieser hatte ihm eine Muskete in die Hand gedrückt und ihm befohlen, auf Deck zu gehen. Dort stand er während des ganzen Aufruhrs mit seiner Waffe, betäubt von dem, was da vor sich ging, völlig unfähig, zu handeln, bis es zu spät war. Christian war nicht nur überrascht, sondern auch bestürzt, als er später die Anwesenheit Browns unter den Meuterern bemerkte; es ergab sich von selbst, daß der Gärtner nun bei Christian den Schutz und die Leitung suchte, die ihm früher sein Vorgesetzter, Herr Nelson, zuteil werden ließ. Er verstand nichts von Schiff oder Meer, aber ungemein viel von der Erde und ihren Pflanzen, und seine Liebe zur Natur entschädigte ihn bis
zu einem gewissen Grade für das bittere Heimweh, das ihn oftmals überwältigte. Aber selbst Brown litt nicht mehr als manche der Frauen. Sie sehnten sich nach ihren Angehörigen und Freunden, nun, da sie keine Aussicht mehr hatten, sie jemals wiederzusehen; nach Kinderstimmen; nach den alten Bräuchen, denen sie stets Untertan gewesen waren. Die Verhältnisse auf diesem gebirgigen, felsumgürteten Eiland waren ebenso fremd für sie wie die Art ihrer weißen Herren und Gebieter; die Stille und die Einsamkeit beunruhigten und ängstigten sie. Nur zwei unter ihnen entgingen zum Teil dem allgemeinen Gefühl der Verlassenheit: das junge Mädchen, das Mills gewählt und Prudence genannt hatte, und Jenny, die Gefährtin Browns. Jenny war eine schlanke, tatkräftige, unerschrockene Frau, etwa im gleichen Alter wie er. Sie entstammte der Unterklasse von Tahiti und legte Maimiti und Taurua, den Frauen Christians und Youngs, gegenüber den fast unterwürfigen Respekt an den Tag, der ihnen ihrer Abstammung nach gebührte. Nach und nach machte jedoch das Gefühl der Einsamkeit, das im Anfang allen gemeinsam war, einer fröhlicheren Stimmung Platz; sowohl die Männer als auch die Frauen machten sich entschlossen an die Arbeit. Die Gegend, die für die ständige Ansiedlung gewählt wurde, lag am Fuße eines Berges, den sie den Ziegenberg nannten, weil auf ihm der Ziegenstall gebaut worden war. Nur Brown und Jenny, die näher der Mitte der Insel zu wohnen wollten, hatten einen Grund am Abhang der Hauptgebirgskette gewählt. Christians Haus wurde unter dem riesigen Banyanbaum errichtet, bei dem er und Maimiti am Tage ihres ersten Landausfluges gerastet hatten. Der zweite Haushalt war der von Young und Alexander Smith mit
ihren Frauen Taurua und Balhadi. Mills, Martin und Williams bildeten den dritten, mit Prudence, Susannah und Fasto. Quintal und McCoy, Sarah und Mary taten sich zum vierten zusammen, und die eingeborenen Männer zum fünften. Dies war der größte Haushalt, er bestand aus neun Mitgliedern: Minarii, Tetahiti, Tararu, Te Moa, Nihau und Hu, mit den Frauen der drei ersteren, Moetua, Nanai und Hutia. Te Moa, Nihau und Hu waren die drei Männer, die keine Frau hatten. Die weißen Männer, mit Ausnahme von Brown, bauten hölzerne Häuser, die zum Teil aus Material von der Bounty und zum Teil aus Holz von der Insel bestanden; die Dächer wurden mit Pandanusblättern gedeckt. Das Wohnhaus der Eingeborenen war an einer freien Stelle gelegen, die etwa eine Viertelmeile von der Bountybucht entfernt war. Quintal und McCoy wohnten dem Landungsplatz am nächsten. Die Häuser der anderen Meuterer lagen näher beieinander, waren aber durch den Wald, der das Tal bedeckte, vor den Blicken der Nachbarn geschützt. Die Eingeborenen, unterstützt von den kräftigeren Frauen, beschäftigten sich damit, die Vorräte zu der Ansiedlung zu schaffen, während die Weißen einen Lagerschuppen bauten, der diese Vorräte aufnehmen sollte. Christian trug die Schlüssel zu diesem Schuppen stets bei sich, was ihm einige der Leute ein wenig übelnahmen. Er verwaltete die kleine Kolonie mit strengster Gerechtigkeit; er ließ den weißen wie den braunen Männern völlige Freiheit in ihren persönlichen Angelegenheiten, solange diese den Frieden der Gemeinschaft nicht bedrohten. Die Arbeit wurde nach einem genauen Plan eingeteilt. Williams beschäftigte sich
mit seiner Schmiede; der Eingeborene Hu war ihm als Gehilfe beigegeben. Mills und Alexander Smith wurde die Sägegrube zugeteilt; Quintal und McCoy hatten für das Vieh zu sorgen; Brown wiederum wurde zum Herrn über die Gärten und Anpflanzungen gemacht. Die Eingeborenen beschäftigten sich während der ersten Monate hauptsächlich mit Fischfang und mit dem Einsammeln von Pflanzen und Kräutern. Christian und Young hatten die Oberaufsicht und gingen den anderen mit gutem Beispiel voran, indem sie mit ganz kurzen Pausen von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung arbeiteten. Auch für die Frauen gab es Beschäftigung in Hülle und Fülle. Von Anfang an hatte Christian den Sonntag zum Ruhetag bestimmt, soweit die gemeinsamen Arbeiten in Frage kamen. Weder er noch Young waren religiöse Naturen, die anderen weißen Männer noch weniger. Infolgedessen wurde kein Gottesdienst abgehalten. Jeder konnte den Ruhetag verbringen, wie es ihm gefiel. Am späten Nachmittag eines Sonntags gegen Ende Februar hatten Christian und Young den schmalen Grat erstiegen, der die beiden höchsten Gipfel der Insel miteinander verband. Er bot eine weite und eindrucksvolle Aussicht über die Insel und die endlose Wasserfläche ringsumher. Christian setzte sich auf einen überhängenden Felsblock; Young machte es sich an seiner Seite im Farnkraut bequem. Seevögel begannen von ihrem täglichen Raubzug auf Fische heimzukehren. Während sich die Schatten immer tiefer auf das Land senkten, wurden ihrer immer mehr, bis sie schließlich zu Tausenden die Klippen umkreisten. Lange schwiegen die beiden Freunde und lauschten dem schwach heraufdringenden
Schrei der Vögel und dem Tosen der Brandung, die sich fast tausend Fuß unter ihnen an den Felsbastionen brach. Endlich begann Christian zu sprechen: »Seit langem wollte ich dich etwas fragen ... laß mich deine Meinung ganz offen wissen ... Hältst du es für möglich, daß Bligh und seine Begleiter noch am Leben sind?« Young warf ihm einen raschen Blick zu. »Ich habe lange auf diese Frage gewartet, sie sogar erhofft. Nun denn, ich glaube, es liegt Grund zur Annahme vor, daß sie in Sicherheit sind.« Christian fuhr jäh auf. »Sag es noch einmal, Ned! Oberzeuge mich davon. Doch nein; wie kann ich nur fragen! Können neunzehn Menschen, unbewaffnet, kaum mit Nahrung und Wasser versehen, in einem bis zum Kentern überlasteten Boot eine Fahrt von vollen zwölf hundert Seemeilen machen? Zwischen Inselgruppen, bevölkert mit Wilden, die nur darauf warten, sie zu ermorden? Unmöglich!« »Es ist durchaus nicht unmöglich, wenn du den Charakter des Mannes, der sie führt, in Betracht ziehst«, entgegnete Young ruhig. »Denke an seine unheimliche Geschicklichkeit als Navigator. Wie immer man sonst über ihn denken mag, als Seemann ist Bligh über jedes Lob erhaben.« »Das ist er; ich gebe es zu ... Bei Gott! Du magst recht haben! Bligh vermag es ... nur er!« Young antwortete ernst: »Ich bitte dich darum, Christian, nicht länger über diese Sache nachzugrübeln. Du darfst an diese Leute nicht wie an Tote denken.« Christian bedeckte seine Augen mit den Handflächen: »Genug davon, Ned!« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ist es nicht ein seltsamer Gedanke, daß wir vielleicht noch als alte Männer hier leben werden, umgeben von
Kindern und Enkeln. Man wird uns niemals finden, dessen bin ich so gut wie sicher ... Doch komm, Ned, kehren wir heim. Es wird bald dunkel werden!« Sie kletterten über die steilen Felsen hinab, kamen dann zu den darunter gelegenen sanfteren Abhängen, kreuzten Haine, in denen das verschlungene Laubwerk hoch über ihnen das schwache Licht des Abends abhielt, so daß beinahe nächtliches Dunkel herrschte. In einem dieser Haine hatten zwei andere der neuen Bewohner der Insel den Nachmittag verbracht. Kaum hatten Christian und Young ihn verlassen, als ein Vorhang aus dichten Farnen geteilt wurde und Hutia den sich entfernenden Gestalten nachblickte. Sie war eine hübsche junge Frau, deren üppige dunkle Haarflechten bis zu den Knien reichten. Wie ein fluchtbereites Reh stand sie da, fast unsichtbar im Abenddämmer; dann wandte sie sich ihrem Begleiter zu. »Christian war es!« rief sie mit Angst in der Stimme. Williams lag lang ausgestreckt im Farnkraut, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Macht nichts!« brummte er. »Komm, setz dich zu mir her!« Er zog sie an den Händen zu sich herab. Die Frau wich leise lachend zurück. »Nein, John, du verlangst zuviel ... nicht so schnell. Ich gehe jetzt. Tararu spricht: »Wo Hutia?«, und Fasto spricht: »Wo mein Mann?«« Williams hielt sie fest. »Mach dir keine Sorgen wegen Fasto, Schätzchen! Wen hast du lieber, Tararu oder mich?« Hutia lächelte ihn an. »Dich«, antwortete sie. Plötzlich machte sie sich los und verschwand in der Dunkelheit.
5
Ein Weg, von Tag zu Tag deutlicher ausgetreten, führte in Windungen von der Bountybucht über den dem Meer zugewandten Abhang zu Christians Haus empor, das am westlichen Ende der Ansiedlung stand. Kurz vorher zweigte ein Pfad ab, der zu einem winzigen, von frischen Quellen gespeisten Flüßchen führte, das in einer Reihenfolge von kleinen Wasserfällen und teichartigen Ausbuchtungen im Schatten großer Bäume dahinplätscherte. Der oberste Teich war zu einer Zisterne ausgebaut worden, die das Trinkwasser für die Siedler lieferte. Eine tiefer gelegene große Wasserfläche wurde zum Baden benutzt und war während des Spätnachmittags den Frauen vorbehalten. Dies war für sie die glücklichste Stunde des Tages. Bei diesem Badeteich legten sie mit dem fremdartigen Namen, die einige von ihnen von ihren Männern erhalten hatten, das Gefühl des Zwanges ab, das sie in Gegenwart der weißen Männer nie ganz verloren. Eines Nachmittags sonnten sich einige Frauen auf einem großen Felsblock, der unmittelbar am Ufer des Teiches stand. Das Bad war vorüber; sie kämmten und trockneten ihr Haar, während andere Kränze aus Farnkräutern und Blumen wanden. Moetua hatte gerade von der Tiare Maohi, der süß duftenden Gardenia von Tahiti, gesprochen. »Sprich nicht mehr davon«, rief Sarah; Tränen schimmerten in ihren Augen. »Wir wissen, daß wir diese Blume nie wieder sehen werden. Wenn ich die Augen schließe, glaube ich ihren Duft zu spüren!«
»Sag mir, Moetua, wenn man dich nochmals vor die Wahl stellte, würdest du Tahiti noch einmal verlassen?« fragte Susannall. »Ja. Minarii ist hier, und bin ich nicht seine Frau? Dies ist ein gutes Land, er liebt es, so muß auch ich zufrieden sein. Ich denke schon seltener an Tahiti als früher. Geht's euch nicht ebenso?« »Mir nicht«, antwortete Susannah bitter. »Nie mehr würde ich die Heimat verlassen. Nie mehr!« »Aber man sagte uns, daß das Schiff nicht zurückkehren werde«, bemerkte Balhadi ruhig. »Christian verschwieg es keiner von uns«. »Doch wer hätte es wirklich geglaubt!« sagte Sarah. »Mills und die anderen machten uns glauben, es sei nicht wahr ... Erinnert ihr euch, wie wir nach der Abfahrt ganz dicht an der Küste von Eimeo vorbeikamen?« »Gewiß erinnere ich mich!« warf Susannah ein. »Martin hielt mich fest. Er wußte, daß ich ins Meer gesprungen und ans Ufer geschwommen wäre, wenn ich Gelegenheit dazu gehabt hätte.« »Quintal hielt meine beiden Hände fest«, berichtete Sarah, »sonst hätte ich das gleiche getan.« »Warum fuhr das Schiff so plötzlich ab?« fragte Nanai. »Sie fürchteten, daß ihr im letzten Augenblick eure Absicht ändern würdet«, entgegnete Moetua. »Wißt ihr, wie ich überlistet wurde?« fragte Prudence. »Mills ging zu meinem Onkel, die Taschen mit großen Nägeln gefüllt. Mein Onkel bekam gierige Augen, als er sie sah. »Du wirst die Nacht bei dem weißen Mann auf dem Schiff verbringen«, gebot er mir. Er erhielt die Nägel, und ich ging mit Mills. Als ich bei Tagesanbruch erwachte, war das Schiff schon auf hoher See.« »Und magst du ihn jetzt, deinen Mann?« fragte Hutia.
Prudence zuckte die Achseln. »Er ist gut zu mir - das muß ich sagen. Wie ein Gatte und ein Vater zugleich. Ich kann mit ihm machen, was ich will.« »Was mich anbetrifft«, bemerkte Moetua, »so möchte ich mit keiner von euch tauschen. Ich ziehe einen Mann meines Stammes vor. Diese weißen Männer sind seltsam; ihre Gedanken sind nicht wie die unseren. Wir können sie niemals verstehen.« »Das finde ich nicht«, widersprach Balhadi. »Smith, mein Mann, könnte geradesogut einer der Unseren sein; ich kann seine Gedanken lesen, selbst wenn seine Worte mir nicht klar sind. Weiße Männer sind nicht sehr verschieden von denen unseres Blutes.« »Maimiti sagt dasselbe«, meinte Moetua zweifelnd. »Sie scheint mit Christian glücklich zu sein.« »Mit Maimiti ist es etwas anderes«, warf Sarah ein, »Christian spricht unsere Sprache so gut wie wir selber. Die anderen lernen sie langsamer.« »Wie unglücklich die Männer sein müssen, die keine Frauen haben«, rief Hutia lachend. »Wer wird sie trösten?« »Ich nicht«, bemerkte Balhadi. »Ich bin zufrieden mit meinem Mann und werde nichts tun, das ihn traurig macht.« »Warum sollte ihn eine so unbedeutende Sache traurig machen?« fragte Nanai. »Du weißt nichts von weißen Männern«, belehrte sie Prudence. »Sie halten es für ein schändliches Unterfangen, wenn die Frau eines Mannes mit einem anderen zärtlich ist. Trotzdem will ich gut zu den Männern sein, die kein Weib haben.«
»Ich auch!« rief Susannah. »Ich fürchte Martin ebensosehr, wie ich ihn hasse. Ihn zum Narren zu halten wird mir ein Trost sein.« »Du solltest jetzt gleich zu Christian gehen und ihm berichten, wie übel Martin dich behandelt. Martin ist wie ein Tier.« »Schlimmer als ein Tier«, nickte Susannah verdrossen. »Laßt uns von etwas Angenehmerem sprechen. Ich versuche, Martin zu vergessen, wenn ich bei euch bin.« Alle diese Frauen waren jung und hatten die glückliche und sorglose Art der Menschen ihrer Rasse. Einen Augenblick später schwatzten und lachten sie so vergnügt, als hätten sie gar keine Sorgen. Die Anpflanzungen entwickelten sich vortrefflich. Der rote, vulkanische Boden war außerordentlich fruchtbar, und die Beete, auf denen Yam, süße Kartoffeln und Taro gepflanzt worden waren, versprachen eine frühe und reichliche Ernte. Die blaßgrünen Schößlinge des Zuckerrohrs kamen schon zum Vorschein, und die jungen Sprosse der Bananen öffneten sich bereits in der Sonne. Im Haupttal hatte man riesige alte Brotfruchtbäume im Überfluß gefunden. Ebenso wie die Pflanzen gediehen auch die Tiere prächtig. Die Schweine mästeten sich an den Knollen der wilden Yampflanzen; die Hühner vermehrten sich rasch, und das fröhliche Krähen der Hähne unterbrach die Stille der Insel, die im Anfang auf alle so bedrückend gewirkt hatte, auf willkommene Weise. Auf der anderen Seite des westlich gelegenen Berggipfels hatte man einen Stall und eine Hürde für die Ziegen errichtet, die jeden Tag gefüttert und getränkt wurden.
Brown hatte sich im südlichen Teil der Insel, und zwar auf dem fruchtbaren Abhang, der sich von der Hauptgebirgskette sanft zu den Klippen oberhalb des Meeres hinabsenkte, angesiedelt, abseits von den anderen; sein Häuschen stand in einer sonnigen Lichtung, nahe einem kleinen Wasserlauf. Gemeinsam mit Jenny hatte er einen Pfad angelegt, der durch das Dickicht und über den Berg zur Ansiedlung führte. Jenny, Browns Frau, hatte, so klein und zierlich sie war, alle Entschlußkraft, die dem Gärtner fehlte. Ihr Gefühl für ihn war das einer Mutter und Beschützerin. Eines Abends breitete Jenny eine Matte vor die Schwelle des Hauses und setzte sich nieder, um die Schönheit der Nacht zu genießen. Brown streckte sich neben ihr aus, den Kopf an ihre Knie gelehnt. Die Nacht war windstill, und das Mondlicht lag wie Silber auf der kleinen Lichtung. Browns Haar streichelnd, erzählte ihm Jenny allerlei Klatsch, den sie in der Ansiedlung gehört hatte. »Ich habe mit Moetua geplaudert«, berichtete sie. »Schlimme Dinge stehen bevor, und Williams ist die Ursache. Weißt du, warum er Fasto heute mit den Eingeborenen auf Eiersuche ausgesandt hat?« »Wahrscheinlich gelüstet es ihn nach Eiern«, murmelte der Gärtner schläfrig. »Mag sein, aber noch mehr gelüstet es ihn nach Hutia. Er trifft sie im Walde, sooft er Fasto vom Hause fernhalten kann. Tararu ist ein eifersüchtiger Gatte, wenn auch ein Dummkopf. Und dabei stellt er Mills' Frau nach!« »Prudence? Diesem Kind?« »Ein Kind nennst du siel« Jenny blickte, verwundert den Kopf schüttelnd, auf ihn nieder. »Du selbst bist ein Kind! Du verstehst etwas von deinen Pflanzen und Bäumen, aber sonst von nichts!«
John Williams arbeitete allein in seinem Haus, während Martin und Mills von der Bountybucht Bretter herauftrugen. Der Rohbau des zweistöckigen Hauses war nun fertig, und Williams sägte die Dachsparren zurecht. Es war nahe der Mittagsstunde, und die Sonne schien heiß auf die Lichtung hinab. Er legte die Säge beiseite und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Fasto!« rief er. Eine dunkle Frau von gedrungenem Körperbau trat aus dem Häuschen, in dem sie ihre Mahlzeiten zubereitete. Sie war von niederer Abkunft, schweigsam, fleißig und gehorsam. »Ist das Mittagessen fertig?« fragte er. »Bring mir einen Bottich voll Wasser.« Sie goß das Wasser über seinen Kopf und seine Schultern, während er sich das Gesicht reinigte. Dann trug sie das Essen auf, nachdem sie große grüne Blätter als Tischtuch neben ihn auf den Boden gebreitet hatte. Es gab geröstete Brotfrucht, Yarawurzeln und ein Dutzend Seevogeleier. »Sind noch mehr Eier da? Nein?« fragte er, nachdem er gegessen hatte. Da er die Sprache von Tahiti, für die er nur Verachtung empfand, nicht beherrschte, hatte Williams die Frau dazu gebracht, einige Worte Englisch zu lernen. Tränen traten in ihre Augen, denn sie hatte das Gefühl, ihre hausfraulichen Pflichten nachlässig erfüllt zu haben. Im Bemühen, ihrem Gefühl Ausdruck zu geben, murmelte sie: »Mehr Eier Abendessen.« »Gut, du bist ein braves Weib. Ordentlich arbeiten und ordentlich essen, das ist Jack Williams' Wahlspruch.« Er erhob sich, gab ihr einen Kuß und tätschelte ihren Rücken. Fasto lächelte vor Freude, als sie in das Kochhaus zurückging.
Einige Stunden später ruhte Williams sich ein wenig von seiner schweren Arbeit aus. Fasto hatte bereits eine Stunde früher das Haus verlassen, um in den Klippen auf der Südseite der Insel nach Eiern zu suchen. Williams verschwand im nahen Gebüsch. Etwa eine Viertelmeile von der Ansiedlung entfernt, breitete mitten im dichten Wald ein alter Pandanusbaum seine Äste aus. Hutia kletterte behutsam den Baumstamm hinab. Der Boden ringsum war mit Blättern bedeckt, die sie gepflückt hatte und die zum Decken der Dächer dienen sollten. Leichtfüßig sprang sie vom untersten Ast des Baumes zur Erde hinab und begann, die Blätter in Bündeln zu ordnen. Plötzlich tauchte Williams zwischen den Bäumen auf. Im nächsten Augenblick lag die Frau in seinen Armen. »Wo ist Fasto?« fragte sie ängstlich. »Mach dir darüber keine Sorgen; vor Sonnenuntergang wird sie nicht zurück sein.« Während Williams mit Hutia im Walde verweilte und seine Kameraden mit der letzten Ladung Bretter zur Niederlassung emporklommen, saß Prudence vor dem Hause und säuberte einen Haufen Pandanusblätter von Dornen. Sie war kaum sechzehn Jahre alt, klein und anmutig und hatte eine golden schimmernde Haut und kupferrotes Haar. Sie wandte den Kopf, als sie Schritte hörte. Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich davon, daß es Tararu war, tat aber, als sähe sie ihn nicht. »Wo sind die anderen?« fragte er. »Aué! Du hast mich erschreckt!« Tararu setzte sich lächelnd an ihre Seite. »Erschreckt? Eines Tages, wenn Mills nicht in der Nähe ist, muß ich es
dir abgewöhnen, Angst vor mir zu haben ... Wo sind die
anderen Frauen?«
»Sie sammeln Blätter ein.«
Den Blick auf ihre Arbeit gerichtet, begann sie leise eine
eintönige Melodie vor sich hin zu summen, wie sie in
Tahiti die fahrenden Schauspieler singen. Still in sich
hineinlächelnd, hörte Tararu zu. Als sie mit ihrer weichen,
kindlichen Stimme den zweiten Vers zu singen begann,
blickte der Mann sie voll Begierde an.
»Ein Vöglein erklettert die Klippen,
Beraubt die Nester der anderen Vögel,
Sucht Eier, um sein Männchen zu füttern,
Aber das Männchen baut kein Nest. Nein!
Es weilt im Walde mit einem anderen Vöglein.«
Prudence sang so, als wäre sie sich gar nicht bewußt,
einen Lauscher zu haben. Nach einem vergeblichen
Versuch, einen Blick von ihr zu erhaschen, erhob sich
Tararu und schlenderte hinweg. Er ging auf die Suche
nach Hutia. Gleich vielen anderen, die stets bereit sind,
um eine fremde Frau zu werben, war er ängstlich um die
Treue seines eigenen Weibes besorgt.
Eines Abends zu Anfang des Monats März machte sich
Hutia auf den Weg zum Badeteich. Sie hatte Streit mit
Tararu gehabt, der sie geschlagen hatte, weil er zwei
andere eingeborene Männer bei ihr stehen sah. Sie wollte
mit ihrem Zorn und Kummer allein sein und schob ihr
Bad bis zu einer Stunde auf, in der die übrigen Frauen
gewöhnlich bereits zur Ansiedlung zurückgekehrt waren.
Der Badeplatz war denn auch verlassen, bis auf Prudence, die im Zwielicht der Dämmerung, bis zur Hälfte in ihr offenes Haar gehüllt, im Wasser stand. »Beeile dich!« rief Hutia scharf. »Ich wünsche zu baden.« Prudence warf ihr einen kalten Blick zu. »Wer bist du? Die Königin dieser Insel? Bin ich deine Dienerin, ich, die ich einen weißen Mann zum Gatten habe?« »Und meinen Gatten möchtest du wohl noch dazu haben, wie?« rief Hutia erbost. »Nimm dich in acht! Ich habe gesehen, wie du ihn schmachtend angeblickt hast!« »So halte ihn doch fest!« sagte Prudence spöttisch. »Halte ihn fest, wenn du kannst!« »Was meinst du damit?« »Was ich sage!« Prudence kicherte leise. »Aber du wirst ihn nicht halten können. Ein schwarzhaariges, untreues Weib wie du!« Sie gehörte zu den hellhaarigen Maoris; ihre Worte versetzten Hutia in höchste Wut. »Rote Hündin!« Hutia stürzte sich wütend auf die kleinere Frau, zerrte sie an den Haaren und drückte sie nach einem kurzen Kampf unter die Oberfläche des Wassers. So lange hielt sie den Kopf der Feindin fest, bis Prudence halb ertrunken war. Endlich war sie befriedigt. Sie wandte der anderen den Rücken und schickte sich an, zu baden. Prudence stieg aus dem Teich, legte mit zitternden Händen ihren Rock und ihr Schultertuch an und verschwand im Gebüsch. Ehe sie die Ansiedlung erreichte, ordnete sie ihr Haar und ging dann geradewegs in das Kochhaus, in dem sie Fasto bei der Arbeit wußte. »Ich habe dir etwas zu sagen«, raunte sie ihr zu. »Du bist immer gut zu mir gewesen. Ich bin jung, und du warst
wie eine Mutter zu mir. Nun will ich es dir sagen, ehe die anderen beginnen, dich zu verspotten.« »Was ist es, Kind?« fragte Fasto. Die arglose, arbeitsame Frau hatte ein weiches Herz, und Prudences Jugend erregte ein mütterliches Gefühl in ihr. Sie ergriff ihre Hand und streichelte sie. »Was ist es, Kind?« wiederholte sie. Prudence zögerte, ehe sie sprach. »Es ist schwer, es dir zu sagen, aber es ist am besten, wenn du es von einer hörst, die dich gern hat. Halte deine Augen offen! Williams ist ein guter Mann und liebt dich, aber alle Männer sind schwach, wenn es sich um Frauen handelt. Hutia stellt ihm seit langem nach. Jetzt treffen sie einander jeden Tag im Walde; du und Tararu aber, ihr seid blind ... Du glaubst mir nicht? Dann geh und überzeuge dich selbst. Verbirg dich in der Nähe des großen Pandanusbaumes zur Stunde, wenn Williams das Haus verläßt, um baden zu gehen, wie er sagt. Dein Mann wird kommen, und Hutia wird durch den Wald schleichen, um ihn zu treffen.« Fasto saß lange schweigend da, mit gesenktem Kopf, mit Augen, die sich mit Tränen füllten, während sie fortfuhr, die Hand des Mädchens zu streicheln. Endlich sagte sie mit leiser Stimme: »Ich kann es nicht glauben, Kind, aber ich will tun, wie du mir sagst ... Sollte ich meinen Mann bei jener Frau finden ...« Ihre Stimme erstarb. Am Abend des nächsten Tages fand man am Fuße der Felsen, die jäh zum Meeresstrande abstürzen, Fastos zerschmetterte Leiche.
6
Einige Tage nachdem die Bounty in Flammen aufgegangen war, hatte Minarii eine Stelle ausgewählt, an der er mit den anderen Eingeborenen den Tempel errichten wollte. Ein heimatloser Wanderer mag die Götter anbeten, indem er in der Brandung des Meeres kniet, die alles reinigt und die Quelle alles Heiligen ist, aber Menschen, die eine Wohnstätte haben, müssen einen Tempel errichten. Die sechs eingeborenen Männer verehrten den gleichen Gott, Ta'aroa, und ihm war das Heiligtum gewidmet. Zuweilen allein, zuweilen in Gesellschaft Tetahitis, hatte Minarii jene Teile der Insel durchstreift, die kaum von den Weißen betreten wurden, und endlich hatte er auf dem dichtbewaldeten Abhang westlich von dem Grat, der die beiden Bergspitzen miteinander verband, die Stelle gefunden, die er suchte. In der darunter liegenden Schlucht gab es Felsblöcke, die zum Bau des Tempels geeignet waren, in Hülle und Fülle. Wann immer die sechs Polynesier eine freie Stunde hatten, arbeiteten sie an der Errichtung des Heiligtums. Allmählich gewann der Tempel Ta'aroas Form; er bestand aus einer felsigen Plattform, mit riesigen Steinen bedeckt, auf denen man Gott kniend verehrte; darüber erhob sich eine drei Meter hohe Pyramide, die durch zwei von dem uralten Tempel in Tahiti hierhergebrachte Steine geheiligt wurde. Die Lichtung war von gewaltigen Bäumen überragt. Die Kultstätte war von einem Zaun umgeben, um den sich wiederum eine Hecke aus blühenden Sträuchern schloß. An einem frühen Morgen im April waren Minarii und seine Gefährten damit beschäftigt, die Plattform
auszukehren und den Grund ringsumher zu säubern, denn
die Zeremonie der Erweckung des Gottes stand bevor.
Die Schultern aller sechs Männer waren zum Zeichen der
Ehrfurcht entblößt.
Und dann, während die anderen schweigend warteten,
trat Minarii beiseite, um die heiligen Gewänder seines
Amtes anzulegen. Im Osten rötete die
Morgendämmerung den Himmel, als er, in ein wallendes
Gewand aus schwarz gefärbtem Rindenstoff gekleidet,
zurückkehrte. Seine Begleiter knieten nieder, ein jeder
auf seinem Stein, während der Priester sich der noch
verborgenen Sonne zuwandte und, die Hände
emporhebend, sang:
»Die Wolken säumen den Himmel, die Wolken sind
erwacht!
Die steigenden Wolken, die sich am Morgen erheben,
sie schweben empor zu Ehren des Herrn des Ozeans,
um als Weg zu dienen der Sonne.
Die Wolken steigen, teilen sich, vereinigen sich wieder
zu einem rosenfarbenen Triumphbogen für die Sonne.«
Mit gesenktem Haupt wartete er, in Schweigen
versunken, bis die Sonne begann, die Berge mit
goldenem Licht zu überglänzen.
Dann trat Tetahiti hinter die kleine Pyramide und kehrte
mit einem seltsam geschnitzten Kästchen zurück. Dieses
war die Wohnstätte des Gottes, dessen Gegenwart nun
alle verspürten. Minarii richtete im feierlichen Tone die
folgenden Worte an ihn:
»Höre uns, Ta'aroa!
Erfülle unsere Bitten!
Behüte die Menschen dieses Landes!
Behüte uns, laß uns leben durch dich!
Behüte uns! Wir sind Menschen. Du bist unser Gott!«
Ein Augenblick tiefster Stille folgte, dann schloß der
Priester mit den Worten:
»O Ta'aroa, wir haben dich geweckt. Nun schlafe!«
Die Zeremonie war beendet. Das Kästchen hatte seinen
Platz in der Nische am Fuß der Pyramide gefunden, und
Minarii war zu der nahe gelegenen Hütte zurückgekehrt,
um wieder seine gewohnte Kleidung anzulegen, als
Stimmen hörbar wurden.
Einen Augenblick später traten Mills und McCoy aus
dem Dickicht.
Sie traten an den Zaun heran. McCoy blickte verwundert
auf das Heiligtum.
»Ein schönes Stück Arbeit«, bemerkte er anerkennend.
»Ihr sechs habt das gebaut, Tetahiti?«
Der Eingeborene sah ihn ernst an. »Dies ist unser Marae«,
erklärte er, »wo wir unseren Gott anbeten.«
»Was hat er gesagt?« fragte Mills verächtlich.
Ohne eine Antwort abzuwarten, durchschritt er die Pforte.
Als er die steinerne Plattform betreten wollte, legte ihm
Minarii, der inzwischen zurückgekehrt war, die Hand auf
den Arm.
»Deine Schultern! Entblöße deine Schultern, ehe du den
Fuß hierhersetzest!«
Mills, der nur wenige Worte der Eingeborenensprache
verstand, schüttelte ihn ab und wollte weitergehen, als
McCoy rief: »Bist du verrückt, John? Entblöße deine
Schultern! Es ist ihre Kirche, Mann! Würdest du eine Kirche mit dem Hut auf dem Kopf betreten?« Mills stieß ein heiseres Lachen aus. »Kirche nennst du das? Es ist ein verdammter heidnischer Tempel! Fällt mir nicht ein, wegen eines Indios mein Hemd zu zerreißen!« Ehe er drei Stufen hinangestiegen war, packte ihn Minarii beim Arm und schleuderte ihn mit solcher Kraft zu Boden, daß er halbbetäubt liegenblieb. Der Häuptling stand drohend über dem Engländer; seine Augen funkelten vor Zorn. In den Mienen der anderen Eingeborenen war deutlich der Schrecken über diese Entweihung zu lesen. »Beruhige dich, Minarii«, legte sich McCoy rasch ins Mittel. »Du bist im Recht, aber dieser Mann meinte es nicht böse. Er ist unwissend, das ist alles.« »Führe ihn hinweg!« gebot Minarii. »Betretet diesen Platz nie mehr. Er ist uns heilig.« Mills erhob sich mühsam und stand, wuterfüllt und verwirrt, mit geballten Fäusten da. Aber Minariis grimmiges Gesicht und gewaltige Gestalt flößten ihm Angst ein. Er wandte sich ab und ließ sich von McCoy wegführen. Die Eingeborenen blickten ihnen schweigend nach, als sie auf dem Pfad, der zur Ansiedlung führte, verschwanden. »Geht, ihr anderen«, gebot Minarii, »und vergaßt, was ihr gesehen habt. McCoy hat recht - er ist unwissend.« Tetahiti blieb zurück; mit tiefer Befriedigung blickten die beiden Männer auf ihr Werk. »Nun sind die Steine heilig geworden«, sagte Minarii nach langem Schweigen. Tetahiti nickte. »Hast du nicht gespürt, wie der Gott während unserer Arbeit die schweren Steine leicht machte?«
»Wir spürten sie kaum in unseren Händen. Ta'aroa ist zufrieden mit seiner Wohnstätte. Jetzt sagt mir mein Herz, daß dies in Wahrheit mein Land ist - unser Land.« Minarii schwieg aufs neue, dann fragte er: »Du kennst diese weißen Männer besser als ich. Haben sie keinen Gott?« »Christian hat nie mit mir darüber gesprochen, aber mir will es scheinen, als beteten sie zu keinem Gott.« »Es ist seltsam, daß sie gottlos zu sein scheinen. Kapitän Cook und seine Leute waren vom gleichen Stamm wie diese, aber an jedem siebenten Tag beteten sie zu ihrem Gott. Unsere weißen Männer tun nichts dergleichen. Wenig Gutes kann von Menschen ohne Gott kommen. Es wäre besser, wenn wir mit unseren Frauen allein auf unserer Insel wären. Das Wesen dieser Weißen ist uns ebenso fremd, wie ihnen das unsere ist.« »Es gibt gute Männer unter ihnen«, sagte Tetahiti. »Aber nicht alle sind gut«, bemerkte Minarii ernst. »Te Moa und Hu erwarten von uns, daß wir sie beschützen, und doch behandeln Quintal, Williams und Mills sie schon jetzt kaum besser als Sklaven. Wir wünschen keinen Streit. Wir müssen geduldig sein, aber ein Tag mag kommen ...« Er hielt inne und blickte finster vor sich hin. »Christian weiß nichts von alldem«, sagte Tetahiti. »Soll ich ihm die Augen öffnen?« »Er muß diese Dinge selbst bemerken. Wir wollen warten und schweigen.« Nach dem Begräbnis Fastos war Williams etwa einen Monat lang nicht mit Hutia zusammengekommen. Sosehr er sich auch bemühte, so konnte der Schmied sich dennoch nicht von dem Gedanken befreien, daß Fasto
von seiner Beziehung zu Hutia Kenntnis erhalten hatte und sich aus Kummer die Klippen hinabgestürzt hatte. Obgleich er rauh und ungeschlacht war, war er keineswegs ein schlechter Mensch. Eine Zeitlang ging er still seiner Arbeit nach, ohne einen Blick auf Hutia zu werfen, wenn sie vorbeiging, aber allmählich schliefen seine Gewissensbisse ein, und die frühere Begierde nach ihr überwältigte ihn. Aufs neue trafen sie einander im Walde. Eines Nachmittags, als er mit Mills in der Schmiede arbeitete, legte er mit einem Male seinen Hammer nieder. »Komm einmal her, John«, sagte er. Mills streckte sich brummend. »Was ist los?« »Es kann so nicht weitergehen. Jeder hat seine Frau. Nur ich nicht.« »Meine bekommst du nicht«, knurrte Mills. »Nimm den Indios eine weg.« »Hutia wäre die richtige.« Mills lachte. »Du mußt das wissen! Ein hübsches Ding, aber durchtrieben, meinte Prudence.« »Möcht' bloß wissen, was Christian sagen würde; und Minarii ...« »Ach was, die Indios soll der Teufel holen! Laß darüber abstimmen. Du hast ein Recht darauf. Wo wären wir ohne John Williams und seine Schmiede?« Christians zweistöckiges Haus stand am westlichen Ende der Niederlassung. Ein Gürtel von Bäumen und Sträuchern trennte es von dem Rande der Hochfläche, die steil zum Meer abfiel. Das obere Stockwerk bestand aus einem einzigen, luftigen Schlafraum, während das Erdgeschoß in zwei Stuben geteilt war. Am nächsten Mittag, als Christian mit Maimiti auf der Bank vor dem Hause saß, sah er Williams herankommen.
Der Schmied salutierte und sagte dann: »Könnte ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Herr Christian?« »Gewiß. Was gibt es, Williams? Willst du mich allein sprechen?« »Ja.« Williams zögerte eine Weile, als Maimiti sich entfernt hatte. Dann begann er: »Vielleicht werden Sie schlecht von mir denken, wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe, aber heraus muß es. Die Menschen sind verschieden: manche heiß, manche kalt, manche gescheit, manche dumm. Ich glaube, Sie werden zugeben, daß ich kein Faulpelz bin und mein Handwerk verstehe, aber ich habe eine Schwäche für die Weiber ... Es ist so, Herr Christian. Ich habe meine Frau verloren und muß eine andere haben.« Christian dachte eine Zeitlang nach, dann sagte er: »Ich habe das vorausgesehen. Ich tadle dich nicht, Williams; dein Wunsch ist begreiflich. Aber sicherlich wirst du verstehen, daß keiner um deinetwillen seine Frau aufgibt. Was ich vorschlage, würde daheim abscheulich erscheinen, aber im Altertum erlaubten es die guten Sitten. Hast du keinen Freund, der seine Frau mit dir teilen würde?« Williams schüttelte den Kopf: »Das wäre nicht das Richtige, Herr Christian. Ich muß eine für mich allein haben.« »Welche wünschest du dir?« »Hutia.« »Tararus Weib? Und was soll mit Tararu geschehen?« »Der ist nur ein Indio und soll das Feld räumen.« »Er ist ein Mann wie wir. Bedenke, was du empfinden würdest, wenn es umgekehrt wäre.«
»Alles recht schön und gut«, entgegnete Williams eigensinnig, »aber ich muß sie haben!« Er ballte die Fäuste. »Der Teufel soll das Weib holen! Ich glaube, sie hat mich verhext!« »Wenn du dich der Frau eines anderen Mannes bemächtigtest, so könnte das die schwersten Folgen für uns alle haben.« »Das weiß ich, Herr Christian, aber es hilft mir nicht.« »Willst du damit sagen, daß du dich über alles, was du mit einer solchen Tat anrichten würdest, hinwegsetzen würdest? Nein, Williams! Das kann nicht dein Ernst sein!« »Ich kann es nicht ändern, Herr Christian. Aber ich bin damit einverstanden, daß wir darüber abstimmen. Wenn die Mehrheit sagt, daß ich sie nicht haben soll, so will ich mich damit zufriedengeben.« »Du hast kein Recht, darüber eine Abstimmung zu verlangen«, erklärte Christian ernst. Er hielt inne, um nachzudenken. »Und doch ... dies ist eine Frage, die uns alle angeht. Ich will deinen Willen erfüllen. Gleich heute abend soll es geschehen. Hole die anderen herbei, wenn ihr zu Abend gegessen habt.« Einige Stunden später versammelten sich die Meuterer unter dem Sternenhimmel vor Christians Haus. »Hast du den anderen gesagt, warum wir hier versammelt sind, Williams?« fragte Christian. »Nein, Herr Christian; ich dachte mir, das würden am besten Sie besorgen.« Christian nickte. »Es handelt sich um eine Frage, die jeden Mann und jedes Weib auf der Insel angeht. Williams hat seine Frau verloren. Er sagt, daß er eine andere haben muß.« Er hielt inne; eine Stimme aus dem
Halbdunkel ließ sich vernehmen: »Eine von unseren bekommt er nicht!« »Er will Hutia«, erklärte Christian. »Er möchte, daß sie ihren Mann verläßt und als sein Weib zu ihm zieht, und er verlangt von mir, ich möge über die Frage abstimmen lassen. Streitigkeiten um Frauen sind immer gefährlich; in einem kleinen Gemeinwesen wie dem unseren können sie verhängnisvolle Folgen haben. Hutias Gatte ist ein Neffe Minariis, den ihr als stolzen Mann und Häuptling kennt. Ist anzunehmen, daß er ruhig zusieht, wie man Tararu seine Frau wegnimmt? Und Tararu selbst? Die Gesetze der Gerechtigkeit sind überall die gleichen; der Indio ahndet eine Ungerechtigkeit ebenso wie der Engländer. Haß und Streit zwischen den Eingeborenen und uns würde unser aller Untergang bedeuten.« Ein Gemurmel erhob sich unter den Männern. Die Ansichten schienen geteilt zu sein. »Seid ihr zur Abstimmung bereit?« fragte Christian. »Bedenket, daß wir die Sache ein für allemal erledigen müssen. Wir haben beschlossen, uns der Entscheidung der Mehrheit zu fügen. Jene, die dafür sind, daß Williams Tararu sein Weib nimmt, heben die Hände.« Nur Mills und Martin hoben die Hände. »Sechs sind gegen, zwei für dich, Williams«, erklärte Christian. »Eines Tages wirst du froh über dieses Ergebnis sein.« »Ich füge mich der Abstimmung, Herr Christian«, sprach der Schmied mit dumpfer Stimme. Der Mai ging vorüber, und mit dem Juni begann der Winter der Südsee, der kalte westliche Winde und stürmische See brachte.
Williams wich Hutia aus. Er hatte sein Wort gegeben, und er wußte, daß die Zusammenkünfte aufhören mußten, wenn er sein Wort halten sollte. Nur in schwerer, erschöpfender Arbeit fand er ein wenig Frieden. In der Dämmerung eines Morgens spät im Juni erhob sich Mills und fand, daß Williams schon weggegangen war. Er war erstaunt, denn der Schmied grübelte des Nachts so lange über sein Schicksal nach, daß er selten erwachte, solange es noch dunkel war. Gegen neun Uhr war Mills so beunruhigt, daß er seine Arbeit - er rodete Bäume in der Nähe des Hauses - unterbrach und seine Axt niederlegte. Martin hinkte gerade aus dem Haus. Einen Augenblick lang vergaß Mills den Schmied. »Der Teufel soll dich holen!« rief er. »Du bist jetzt auf der faulen Haut gelegen, möchte ich wetten!« »Soll ich mich vielleicht zu Tode rackern?« sagte Martin. »Mit einer alten Musketenkugel im Bein, jetzt, wo die Nächte so kalt sind! Die Indios sollen arbeiten! Dazu haben wir sie mitgenommen.« »Wo ist John? Hast du ihn nicht gesehen?« »Nein. Der große Kutter ist weg. Alex, der vor einer Stunde von der Bucht heraufkam, berichtete es. Jetzt ist er mit Christian auf dem Berg drüben, um Ausschau zu halten. Kein Zweifel. John hat das Boot genommen und ist davongefahren.« Kurze Zeit später war beinahe die ganze Bevölkerung der Insel am Landungsplatz versammelt. Alle sahen schweigend zu, wie Christian das größere der beiden Kanus zum Rande des Wassers zog. Mit Minarii am Steuer schoß das Boot durch die Brandung. Christian paddelte mit aller Kraft in nordöstlicher Richtung. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Ehe eine Stunde
vergangen war, zeigte er in die Ferne. Das Lugsegel des Kutters wurde am Horizont als winziger Punkt sichtbar. Williams saß achtern im Kutter, das Kinn in die Hand gestützt. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und blickte zum Land zurück. Er fürchtete Verfolgung, hoffte aber, daß der Wind, der ihn vom Land abgetrieben hatte, bald wiederkehren werde. Es wäre nutzlos gewesen, zu rudern; das schwere Boot würde sich kaum bewegt haben. Einer der Kompasse der Bounty lag vor ihm auf einer Bank, daneben die Muskete, Lebensmittelvorräte und mehrere mit Wasser gefüllte Gefäße. Der Schmied hatte eine ungefähre Vorstellung von der Richtung, in der Tahiti lag. Nur ein Gedanke beherrschte ihn - von Pitcairn wegzukommen; jede andere Insel war ihm als Ziel recht. Vielleicht würde er Tahiti erreichen oder eine der Koralleninseln, an denen die Bounty vorübergekommen war. Es kümmerte ihn wenig, ob er das Ziel erreichte oder unterwegs verdurstete oder ertrank. Mit einem Male erblickte er, kaum eine Meile entfernt, das Kanu. Er griff nach seiner Muskete, füllte sie mit Pulver und einer Kugel. Das Kanu näherte sich rasch. Der Schmied erhob sich und brachte die Waffe in Anschlag. »Bleibt, wo ihr seid!« schrie er mit heiserer Stimme. Christian erhob sich und gab den Paddlern ein Zeichen, weiterzufahren. »Williams!« rief er streng. »Leg deine Muskete weg!« Langsam, wie in einer Betäubung, gehorchte der schwarzbärtige Mann im Kutter und sank in sich zusammen. Nun lag das Kanu neben dem großen Boot. Christian sprang an Bord des Kutters.
»Bist du wahnsinnig?« rief er, und alle Strenge war aus
seiner Stimme gewichen. »Wohin gedachtest du zu
gelangen?«
»Wirklich, John«, brüllte Mills vom Kanu herüber, »du
mußt rein den Verstand verloren haben!«
»Ich kann nicht so weiterleben, Herr Christian«,
murmelte Williams. »Wo ich hinkomme, ist meine
Sache.«
Christian setzte sich neben ihn. »Denk doch einmal nach,
Williams«, sagte er gütig. »Dieses Boot gehört allen. Und
wie könnten wir denn ohne einen Schmied auskommen?
Tahiti liegt dreihundert Seemeilen von hier entfernt. Du
würdest in den sicheren Tod gehen. Raff dich doch ein
bißchen auf, Mann!«
Williams starrte lange auf seine nackten Füße hinab, ehe
er sprach.
»Gut, Herr Christian, ich will zurückkommen«, sagte er
widerstrebend, ohne den Kopf zu heben. »Ich habe getan,
was ich für das Beste hielt. Wenn Böses daraus entsteht,
soll mich keiner verantwortlich machen.«
7
Nun, da die Bauarbeit zu Ende war, gab es wenig Beschäftigung für Williams, der den größten Teil des Tages fern von der Ansiedlung verbrachte. Auf einer einsamen bewaldeten Hochfläche auf der Westseite der Insel hatte er begonnen, ein Stück Land zu roden und seine Hütte zu erbauen. Während der kalten Monate Juli, August und September verließ er das Haus jeden Morgen, ehe die anderen wach waren, und kehrte erst bei Sonnenuntergang zurück. Mills hatte Verständnis für den Kummer des Mannes, und auch Martin hörte auf, nachdem er einige Male derb zurückgewiesen worden war, Fragen an ihn zu richten. Zu Beginn des Monats Oktober kündigte Williams an, daß er sein neues Heim beziehen werde, und brachte mit Mills' Hilfe seine Habseligkeiten über den Bergrücken zu der weit entfernten Lichtung, wo seine Hütte stand. Mills, der die Stelle zum ersten Male sah, blickte das mit Fleiß und Sorgfalt gezimmerte Häuschen bewundernd an. »Du hast ja einen feinen kleinen Hafen hier«, sagte er, nachdem er seine Last niedergestellt hatte. »So willst du also ganz allein hier leben?« »Ja.« Mills zuckte die Achseln. »Ich will mich nicht hineinmischen, aber wenn du Hutia noch immer im Kopf hast, warum holst du sie dir nicht, ohne dich um die Indios zu kümmern?« »Ich will nicht, daß meinetwegen Streit entsteht. Christian hat sich gegen uns benommen, wie es sich gehört. Da will ich nicht hinter ihm zurückstehen. Ich will versuchen, hier zu leben, wo ich sie nicht sehe, aber wie das enden wird, das weiß ich nicht. Schönen Dank
für deinen Beistand, John. Sag den Jungens, sie sollen mich nur holen, wenn es Arbeit in der Schmiede gibt.« Mills drückte dem Schmied die Hand und ging langsam zur Ansiedlung zurück. Eines Nachts erhob sich ein Sturm, begleitet von Blitz und Donner; brüllend brachen sich tief unten die Wogen an dem felsigen Gestade, und in manchen Augenblicken schien es, als könnte nur ein Wunder die Häuser davor retten, weggerissen zu werden. Endlich kam der Morgen. Gegen sieben Uhr stieg Smith zu Christians Haus empor. Der Sturm hatte ein wenig nachgelassen, aber noch immer zerrte er wild an den Ästen der Kokosnußpalmen, deren Wedel wie Fahnen im Winde flatterten. Von Zeit zu Zeit blickte Smith besorgt zu den Wipfeln der Bäume empor, denn er hatte Angst davor, eine der schweren Nüsse auf den Kopf zu bekommen. An einer Stelle, an der der Pfad dem Sturm voll ausgesetzt war, wurde er beinahe weggeweht und mußte sich zur Seite neigen, um nicht den Grund unter den Füßen zu verlieren. Endlich aber erreichte er dennoch Christians Haus. Er fand Christian in einer der beiden Stuben zu ebener Erde, in der er zu arbeiten pflegte und die mit einigen roh gezimmerten Stühlen und einem Tisch ausgestattet war, auf dem die silberbeschlagene Bibel und der Kompaß der Bounty lagen. Smith fand Christian in Gesellschaft Jennys und Tauruas. Im ersten Stockwerk lag Maimiti in Wehen. »Balhadi ist bei ihr«, sagte Christian. Er mußte sehr laut sprechen, um sich in dem Sturm vernehmbar zu machen. »Maimitis schwere Stunde steht nahe bevor. Hast du nach den Booten gesehen?«
»Sie sind alle weg bis auf den großen Kutter«, antwortete Smith voll Bedauern. »Die See geht höher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Bis vor einer Stunde war alles in Ordnung. Dann kam eine gewaltige Welle und riß die beiden Kanus und den kleinen Kutter mit sich. Und als wir uns umsahen, bemerkten wir, daß alles, was von der Bounty übrig war, verschwunden ist!« Christian ging erregt im Zimmer auf und ab; von Zeit zu Zeit hielt er inne, um zu lauschen, dann blieb er plötzlich stehen und sagte zu Taurua und Jenny: »Geht zu ihr hinein; sagt ihr, daß ich zum Landungsplatz hinuntergehe und bald zurück sein werde.« Er wandte sich zu Smith: »Komm, hier kann ich in solcher Stunde nicht helfen.« Unten angelangt, fanden sie Young und eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich bückten, um dem mit voller Kraft blasenden Sturm auszuweichen, und gleichzeitig auf die berghohen Wogen blickten, die in die Bountybucht stürzten. Es war unmöglich, zu sprechen, aber Young ergriff Christians Arm und wies auf die Stelle, wo der geschwärzte Rumpf des Schiffes zwischen den Felsen eingekeilt gewesen war. Keine Spur von ihm war mehr zu sehen. Die Bucht war mit entwurzelten Bäumen übersät; wahre Erdlawinen waren von der Höhe zum Strand niedergegangen. Der Sturm war im Nachlassen begriffen, als die drei Männer sich auf den Rückweg zu Christians Haus machten. Bei der Tür hörten sie zwischen Windstößen deutlich das Weinen eines neugeborenen Kindes. Jenny und Taurua kamen aus dem Haus, mit dem Lächeln von Frauen, die bei einem freudigen Ereignis Beistand geleistet haben. Balhadi erschien hinter ihnen. Sie rief Christian zu: »E Tamaroa!« Ein Knabe! Als Christian die Tür zur Schlafstube öffnete, sah er Maimiti auf einem
Lager ruhen, das mit Decken aus Tapastoff belegt war; dicht neben ihr, bis zu den Augen in den gleichen Rindenstoff gehüllt, war ein Kindchen, das von Zeit zu Zeit zappelte und schrie. Balhadi hob die Hülle vom Gesicht des Kindes. »Sieh nur!« sagte sie stolz. »Hat es je einen schöneren Knaben gegeben? Und er ist in glücklicher Stunde geboren! Du kennst unseren Ausspruch: »Ein Kind, das während des Orkans zur Welt kommt, wird in Frieden leben.«« Young lächelte, als Christian zurückkam. »Es ist ganz in Ordnung, daß dein Junge unser Erstgeborener ist«, bemerkte er, ihm die Hand drückend. »Wie wirst du ihn nennen?« »Sein Name soll mich nicht an England erinnern!« entgegnete Christian. »Balhadi hat sich als wahre Freundin erwiesen, deshalb sollst du des Kindes Pate sein, Smith. Gib ihm einen Namen!« Der Matrose grinste und kratzte sich verlegen den Kopf. »Nichts, was Sie an England erinnert ...? Ich hab's, Sir, Sie könnten ihn nach dem Tag nennen, an dem er auf die Welt kam, falls Sie wissen, welcher Tag heute ist.« Mit einem leisen Lächeln zog der Vater den selbstgefertigten Kalender zu Rate. »Ein guter Vorschlag, Smith. Der Tag ist Donnerstag und der Monat Oktober. Donnerstag Oktober Christian soll er heißen!« Er blickte zur Tür hinaus. »Da kommen die anderen, stellt die Bänke hinaus.« Die übrigen Meuterer und ihre Frauen näherten sich dem Haus. Der Reihe nach drückten sie Christian die Hand, während die Frauen sich neben Maimitis Lager auf den Boden setzten. Als die Bänke besetzt waren, erhob Christian seine Stimme, um das Brüllen des Sturmes zu
übertönen: »Es gibt eine Frage, über die wir abstimmen müssen. Sollen wir heute eine Extraration Grog austeilen und auf der Stelle trinken?« Alle hoben die Hände, aber McCoy fragte besorgt: »Wieviel ist noch übrig, Sir?« Christian zog ein abgegriffenes Büchlein aus der Tasche und blätterte darin. »Dreiundfünfzig Gallonen.« McCoy schüttelte trübselig den Kopf. »Das reicht kaum noch für vier Monate!« Als die Gläser gefüllt waren, stießen die Männer auf die Gesundheit des Neugeborenen an: »Lang soll er leben, Sir! Möge er ein ebenso guter Mann werden wie sein Vater!« McCoy trank zuletzt. Er sog mit Wohlbehagen den Duft des Getränkes ein; dann hielt er das Glas in die Höhe und rief: »Auf unseren Erstgeborenen! Aber Sie sind mir nur mit einer Nasenlänge voran, Sir. Meine Mary wird in einer Woche auch soweit sein!«
8
Als im November der warme Frühlingsregen kam, begann man, das urbar gemachte Land zu bebauen. Smith, Young und Christian hatten sich zusammengetan, um im Auté-Tal ein großes Feld zu bearbeiten. Die vulkanische Erde, fett und rot, lag bereit, um die Yamernte zu ernähren. An einem Morgen um die Monatsmitte machten sich die drei Männer vor Sonnenaufgang auf den Weg. Sie schlugen den Weg ein, der in südlicher Richtung zu dem ausgedehnten Bergabhang und dann zum Kamm emporführte. Kein Lüftchen regte sich, leichter Nebel schwebte über den Wipfeln der Bäume, und das frische Grün des Frühlings war von Tautropfen überglänzt. Auf dem Bergrücken, der eine weite Aussicht über die Insel und das Meer bot, hielten sie, wie es ihre Gewohnheit war, kurze Rast. Der obere Rand der Sonne berührte den Horizont und vergoldete die Schönwetterwölkchen. Vom Meer bis zu den Graten hinauf bedeckte der Urwald das Land. Das silbrige Laub der Zitronenholzbäume hob sich von dem dunklen Grün der Wälder ab; hier und dort überragte der breite Wipfel einer Kokosnußpalme den Boden um fünfzig oder sechzig Fuß. Unten im Tal erblickte man die Frauen, die mit dem Walken des Rindenstoffes beschäftigt waren, als winzige Figürchen. Nach einer Weile erhoben sich die Männer wieder und stiegen in das Auté-Tal, zu der Lichtung, auf der Browns Häuschen stand, hinab. Eine dünne Rauchsäule stieg aus Jennys Kochhaus empor. Der Gärtner kniete gerade auf dem Boden, um einen jungen Brotfruchtschößling, den er soeben vom Mutterbaum abgeschnitten hatte, in einen Topf zu pflanzen. Christian näherte sich ihm so leise, daß Brown beim Klang seiner
Stimme auffuhr. Er erhob sich, die Erde von den Händen abputzend. »Morgen, Sir.« Er lächelte Young zu und begrüßte Smith mit einem freundschaftlichen Kopfnicken. Das Feld war noch ein gutes Stück vom Hause des Gärtners entfernt. Schon an den vorhergehenden Tagen waren, etwa einen Meter voneinander entfernt, kleine Erdhügel aufgeworfen und mit einer hölzernen Stange versehen worden. Nun gruben Christian und Smith rings um jede Stange ein Loch und füllten es mit weicher Humuserde. Young ging hinter ihnen her und versenkte sprießende Stückchen von Yamwurzeln hinein, die er sorgfältig mit Erde bedeckte. Sie arbeiteten unermüdlich; ihre Hemden hatten sie abgelegt, der Schweiß strömte ihnen von Schultern und Rücken. Die Sonne stand schon hoch, als Christian sich mit dem Arm über das Gesicht fuhr und rief: »Ich glaube, wir haben ein bißchen Ruhe verdient.« »Ich habe auch schon genug, Sir«, seufzte Smith. An einer schattigen Stelle legten sie sich zur Rast nieder und verzehrten den mitgebrachten Imbiß. Nachdem sie eine Zeitlang schweigend dagelegen waren, sagte Smith mit einem Male: »Ich habe schon lange etwas auf dem Herzen, Herr Christian; ich glaube, es ist Zeit, daß ich es Ihnen sage. Ich segle hier unter falscher Flagge. Eigentlich heiße ich nicht Smith; mein wirklicher Name ist John Adams; die Jungens nannten mich den wilden John. Ich habe ein paar kleine Dummheiten gemacht und hielt es für das beste, mich als Alexander Smith anwerben zu lassen.« Christian lächelte und sagte nach einer kurzen Pause: »Zur Kenntnis genommen, Junge. Für uns wirst du weiter
Alexander Smith sein; wenn es dir recht ist. Sag einmal, Smith, bist du zufrieden mit dem Leben hier?« »Das bin ich, Sir! Alle meine Vorfahren und auch meine Eltern waren Bauern, bis mein Vater die Dummheit beging, sein Glück in London zu versuchen. Das Land liegt mir im Blut. Selbst wenn ihr alle fortginget, wäre ich wohl zufrieden, mit meiner Balhadi hierzubleiben und meine Tage in Frieden zu beenden.« Als der Spätnachmittag Kühlung brachte, gingen die drei Männer aufs neue an die Arbeit. Es war schon später Abend, als sie sich auf den Heimweg machten. Der Sommer war warm und regnerisch, und die Yams gediehen gut. Als der Herbst den Boden ausgetrocknet hatte, waren die Felder zur Ernte bereit; im Juni begann der Winter des Jahres 1791. Man war gerade zur Erntefeier versammelt, als Minarii herbeikam und Christian beiseite winkte. »Was gibt es, Minarii?« fragte dieser. »Ich bin auf dem Grat gewesen. Als ich gegen Westen blickte, bemerkte ich, daß etwas die Linie, in der das Meer und der Himmel einander begegnen, unterbrach. Es glänzte weiß in der Sonne. Ein Segel, Christian!« Christians Gesicht blieb unbewegt. »Bist du dessen sicher?« fragte er. Minarii nickte. »Es ist ein Schiff des weißen Mannes. Unsere Segel sind braun.« »Steuert das Schiff auf Pitcairn zu?« »Das konnte ich nicht wahrnehmen.« Gleich darauf machte sich Christian in Begleitung Smiths auf den Weg zu der Bergspitze, auf der der Ziegenstall stand. Unterwegs machte er dem Matrosen Mitteilung von Minariis Entdeckung. So rasch klommen sie empor,
daß sie keuchend oben ankamen. Der weiße Fleck am Horizont war deutlich sichtbar. Christian reichte Smith das Fernrohr; dieser betrachtete das weit entfernte Schiff lange und sorgfältig. »Es steuert geradewegs hierher, Sir«, sagte er endlich. »Ich sehe ganz deutlich das Focksegel.« Christian überzeugte sich bald davon, daß Smith richtig gesehen hatte, und sie traten den Rückweg an. »Wir haben Westwind, Sir. Das Schiff wird bald hier sein«, bemerkte Smith unterwegs. »Ja, um die Mittagszeit wird es ganz nahe sein«, sagte Christian ernst. Es wurde kein Wort mehr gesprochen, ehe sie die Ansiedlung wieder erreichten. Christian rief sämtliche Bewohner der Insel zusammen, unterrichtete sie von dem Herannahen des Schiffes und fuhr dann fort: »Wenn der Wind anhält, wird es in wenigen Stunden hier sein. Der Form der Segel nach zu schließen, ist es eine kleine englische Fregatte. Sie kann nicht ausgesandt worden sein, um uns zu suchen, aber es ist möglich, daß sie Tahiti berührt hat. Dort haben sie vielleicht von der Meuterei erfahren. Was wir zu tun haben, steht fest. Wenn sie vorbeisegeln, ohne zu landen, brauchen sie nicht zu erfahren, daß die Insel bewohnt ist. Falls sie landen, müssen wir uns in Wäldern verstecken und alles mit uns nehmen, was verraten könnte, daß Weiße hier wohnen.« Er hielt inne; unter den Männern erhob sich erregtes Gemurmel. »Williams und Mills, euch überlasse ich die Schmiede. Sorgt dafür, daß der Hammer, der Amboß und die Blasebälge sorgfältig verborgen und jede Spur von Williams' Arbeit weggewischt wird. Young, dir obliegt es, den Weg von der Bountybucht zu zerstören und unkenntlich zu machen. Damit fällt dir die
allerwichtigste Aufgabe zu. Die Männer von Tahiti mögen dir helfen. Wälze Steine auf den Weg, als ob sie von Natur aus dort lägen, und stecke Sträucher in den Erdboden; ihr Laub wird ein paar Tage frisch bleiben. McCoy, kümmere dich um die Häuser und sorge dafür, daß nichts darin bleibt, was uns verraten könnte. Smith, du wirst unausgesetzt Ausschau halten und sofort melden, falls das Schiff seinen Kurs ändern sollte. Und wohlgemerkt, kein Feuer! Wenn sie landen, werden wir uns sogleich in die Wälder oberhalb des Tempels der Eingeborenen zurückziehen. Dort werden sie uns niemals finden!« Mills umklammerte seine Muskete fester. »Ob sie uns nun finden oder nicht«, knurrte er, »ich habe nicht vor, mich fangen zu lassen. Wenigstens nicht, solange ich Pulver und Blei habe!« »Bist du toll geworden?« rief McCoy. »Ein Schuß kann uns alle verderben!« »McCoy hat recht!« sagte Christian ernst. Die Leute zerstreuten sich, um ihre Pflichten zu erfüllen; Christian begann, in seinem eigenen Haus das Notwendige vorzukehren. Am frühen Nachmittag waren alle Befehle ausgeführt worden, und die Leute versammelten sich unweit von McCoys Haus. Der Weg, der von der Bucht zur Ansiedlung emporführte, war so geschickt maskiert, daß keine Spur von ihm mehr sichtbar war. Das Schiff war jetzt ganz nahe; Smith hatte auf einem erhöhten Aussichtspunkt Aufstellung genommen, um den anderen ein Zeichen zu geben, wenn es das nördliche Kap umsegelt haben würde. Christian sprach zu den übrigen Männern und Frauen. »Es ist ein Kriegsschiff, und bald werden viele Fernrohre
auf das Ufer gerichtet sein. Wenn es in Sicht kommt, müssen die Frauen hierbleiben. Du wirst dafür Sorge tragen, Maimiti! Die Männer gehen mit mir; wir müssen uns davor hüten, gesehen zu werden.« Das Schiff hatte inzwischen das Vorgebirge umsegelt und befand sich nur mehr eine Meile von der Bountybucht entfernt. Auf ein Zeichen Christians folgten ihm die Männer zu dem Aussichtspunkt, auf dem sich Smith befand. Die Stelle war durch Gebüsch wohl verborgen und etwa dreihundert Fuß über dem Ufer. Alle bemühten sich, durch das Blätterwerk zu lugen. Stimmen wurden vernehmbar: »Ein englisches Schiff, ohne Zweifel!« »Eine feine Fregatte, was, Jungens?« Während der nächsten Stunde kreuzte das Fahrzeug längs der Küste. Die Meuterer konnten deutlich die roten Röcke der Marinesoldaten unterscheiden. Ein Boot wurde ins Wasser gelassen; mit zwei Offizieren achtern und vielen Ruderern näherte es sich der Bucht, während die Fregatte vor Anker gegangen war. Obwohl nur eine leichte westliche Brise wehte, war die Brandung sehr stark. Einer der Offiziere im Boot stand auf; er gab ein Zeichen; die Matrosen hörten auf zu rudern. Die Wellen hoben den Kutter hoch empor. »Sie werden es nicht wagen!« murmelte Young. Christian nickte, ohne den Blick vom Boot abzuwenden. »Sie sind in Tahiti gewesen, darauf könnt ihr Gift nehmen!« brummte Mills. »Gott sei für die Brandung gedankt!« Der größere der Offiziere, ein Leutnant seiner Uniform nach, hob sein Fernrohr, um den Rand der Hochfläche abzusuchen. Lange bewegte sich das Teleskop hin und
her. Endlich ließ der Offizier es sinken und gab den Ruderern ein Zeichen, zum Schiff zurückzufahren. Durch sein Fernrohr beobachtete Christian, wie das Boot an der Schiffswand emporgezogen wurde. Gleich darauf entfernte sich die Fregatte in östlicher Richtung.
9
Gegen Ende des Jahres hatten die Schweine sich in solchem Maße vermehrt, daß es sich als notwendig erwies, alle Gärten und Anpflanzungen einzuzäunen, um sie vor Schaden zu behüten. Die Hühner waren wild geworden und gewannen wieder die Fähigkeit, zu fliegen, die sie verloren hatten, als sie Haustiere waren. Die Frauen fingen so viele von ihnen, wie sie benötigten, in Fallen, in die Kokosnüsse als Köder gelegt worden waren; wenn ein Mann Schweinefleisch zu essen wünschte, brauchte er nur eine halbe Stunde mit einer Muskete im Busch umherzustreifen, um einen fetten Eber als Beute heimzubringen. Während der Brotfruchtzeit, von November bis Mai, trugen die von den früheren Bewohnern der Insel gepflanzten Bäume mehr, als zur Ernährung der gesamten Bevölkerung erforderlich war. Die langen, schlanken wilden Yampflanzen wuchsen in allen Tälern, und in den natürlichen Lichtungen, in denen die Sonne den fruchtbaren Boden erwärmte, wuchsen Tipflanzen, deren große Wurzeln gebacken vortrefflich schmeckten. Die Kokosnüsse hätten für eine zehnmal größere Bevölkerung gereicht. Die Klippen boten Überfluß an Eiern, und die jungen Seevögel selbst hatten fettes, zartes, durchaus nicht traniges Fleisch. An der Steilküste konnte man, wenn das Wetter ruhig war, Krabben fangen, und das Meer wimmelte von Fischen. Als die Häuser erbaut und das Land urbar gemacht war, konnten die Meuterer ohne viel Arbeit leben. Christian hatte jetzt zwei Söhne - Donnerstag Oktober und einen kleinen Charles; McCoy war Vater eines Knaben und eines Mädchens, und Sarah hatte Quintal vor
kurzem gleichfalls einen Sohn geschenkt. Die erwachsene Bevölkerung zählte jetzt sechsundzwanzig Köpfe, und die Insel hätte bequem noch fünfhundert Menschen ernähren können. Während der beiden vergangenen Jahre hatte es wenig Reibereien gegeben, denn die schwere Arbeit Seite an Seite und das Gefühl, eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen, hatten ein gutes Verhältnis zwischen Weißen und Polynesiern geschaffen. Nun, als der zweite Jahrestag der Niederlassung auf der Insel herannahte, begannen alle, das Leben leichter zu nehmen. Minarii und Tetahiti verbrachten viel Zeit auf dem Meer; sie fuhren im Kutter zum Fischfang hinaus; einige der weißen Männer gewöhnten sich daran, müßig im Schatten zu liegen, während sie die Geringeren unter den Eingeborenen dazu zwangen, jene Arbeiten zu verrichten, die für die Frauen zu schwer waren. Williams ließ sich nur selten in der Ansiedlung blicken, und McCoy, einst der Geselligste von allen, war häufig von seinem Hause abwesend. Niemand wußte, wo er so viele Stunden des Tages zubrachte. Mit der Heimlichkeit, die den Schotten eigen ist, machte McCoy in einer engen Schlucht auf der kaum je besuchten Westseite der Insel gewisse Versuche, von denen keiner etwas wußte. In seiner Jugend war er Lehrling in einer Whiskybrennerei gewesen, und damals hatte er nicht nur eine oberflächliche Kenntnis dieser Kunst erworben, sondern auch eine unbesiegbare Liebe zum Alkohol. Er trank niemals unmäßig; was er liebte, war die Gewißheit, stets ein paar Gläschen haben zu können. Als der Rest des Rums, mit Ausnahme eines kleinen Vorrats für Krankheitsfälle, aufgebraucht war, hatte McCoy seine gute Laune verloren; er war schweigsam und griesgrämig geworden. Dann war ihm plötzlich, als er eines
Nachmittags allein in Williams' Schmiede arbeitete, der große Gedanke gekommen. Er suchte nach einem Stückchen Draht, aus dem er einen Widerhaken für seine Angel verfertigen wollte, und fand ein röhrenartig geformtes Stück Kupfer. Er verbarg es sorgsam und ging, tief in Gedanken versunken, nach Hause. Es konnte keine Hexerei sein, eine kleine einfache Brennerei zu errichten! Dazu bedurfte er zunächst eines Kessels. Er besaß deren zwei, die sich an Bord der Bounty befunden hatten und als Tauschobjekt für die Eingeborenen dienen sollten. Sie waren nicht groß, aber einer davon mußte zur Herstellung eines täglichen stärkenden Trunkes genügen. Er beschloß, die Sache für sich zu behalten, denn Christian hätte sicher die Gefahr erkannt und Einspruch erhoben. Zuckerrohr gab es zuwenig auf der Insel, aber die Wurzeln der Tipflanze würden den gleichen Zweck erfüllen; er mußte sie nur rösten, in Wasser weichen und dann der Gärung überlassen. Nach langem Suchen fand er eine geeignete Stelle, die nur von den umherstreifenden Ziegen aufgesucht wurde. Über eine kleine Felswand sickerte ein wenig Wasser hinab. Nach und nach brachte er unbemerkt das notwendige Handwerkszeug dorthin, einen Kessel, die Röhre, eine genügende Menge Ti, einen steinernen Stößel, wie ihn die Eingeborenen verwendeten, und ein Fäßchen, in dem die Maische später gären sollte. Dann schaffte er auch noch einige Säcke Kokosnußschalen in die Schlucht, mit denen man ein fast rauchloses Feuer machen konnte. Es war Januar und so heiß, daß die Gärung nicht lange auf sich warten ließ. Als McCoy den Deckel des Fäßchens nach 36 Stunden hob, schäumte die Maische
bereits. Er rührte sie um, deckte sie wieder zu und machte sich auf den Heimweg. Er war so besessen von seinen Plänen, so begierig, das Ergebnis seiner Versuche zu sehen und zu kosten, daß er während der Nacht kaum ein Auge schloß. Lange ehe die anderen erwachten, nahm er seine Muskete, so als ginge er auf die Schweinejagd, und schlich an der friedlich mit ihren beiden Kindern schlafenden Mary vorbei hinaus; hell glänzten die Sterne am Himmel, der Tag versprach schön zu werden. Die Maische brodelte kräftig. Stunde um Stunde arbeitete er mit der Geschicklichkeit eines erfahrenen Schnapsbrenners. Endlich war es soweit, daß sich am Ende der Röhre Tröpfchen bildeten. Und dann kam der erregende Augenblick, wo der Boden des Kessels mit Flüssigkeit bedeckt war. Er konnte sich nicht länger zurückhalten, roch mit Kennermiene an dem Gebräu und machte den ersten Probeschluck. Er schnitt eine Grimasse und hustete heftig. »Uff! Stark genug ist es! Kein Whisky in ganz Schottland ist so stark«, murmelte er vor sich hin. Er nahm einen etwas größeren Schluck und stand auf. »Ein bißchen Zeit braucht das Zeug noch. Uff! Ein Glas von dem da würde Freund Quintal glatt umschmeißen!« Mit Wasser gemischt, mundete das Getränk schon bedeutend besser. Während des ganzen Vormittags ließ er das Feuer nicht ausgehen und trank den rohen Schnaps, so rasch er sich im Kessel bildete. Die Sonne stand schon hoch, als er sich mit gerötetem Gesicht im Schatten zur Ruhe ausstreckte. Bald begann er laut und unregelmäßig zu schnarchen. Es war Nacht, als er sein Haus wieder erreichte.
Eines Morgens, etwa vierzehn Tage später, fischte Tararu von den Felsen aus, die sich unterhalb Christians Haus zum Meer hinabsenkten. Tararu war der Neffe Minariis und von edlem Geblüt, aber weder im Aussehen noch im Charakter glich er den Angehörigen der Oberklasse Tahitis. Er war klein und schwächlich, und seine Züge drückten mehr Hinterlist als Entschlossenheit aus. Ein fauler Bursche, der die Gesellschaft der Frauen jener der Männer vorzog; er verbrachte einen großen Teil seiner Zeit damit, am Meeresstrand allein zu angeln. Das gab ihm eine Ausrede, wenn schwere Arbeiten getan werden mußten. Er hockte auf einem Felsvorsprung, so regungslos, als schliefe er, aber wenn ein Fisch anbiß, kam sogleich Leben in ihn. Gegen Mittag, als der seichte, mit Meereswasser gefüllte Tümpel, neben dem er saß, bereits reichlich mit Fischen gefüllt war, zog er sein Messer heraus, um es mit einem flachen Stein zu schärfen. Plötzlich hörte er eine Stimme rufen: »Tararu! Tararu!« Einer seiner Landsleute kletterte über die Felsen zu ihm hinab. Tararu begrüßte ihn mit einem Heben der Augenbrauen und hielt ihm sein Messer hin. »Sieh«, sagte er, auf die Fische deutend, »ich habe Glück gehabt! Schuppe sie ab, während ich mich ausruhe!« Hu war ein unansehnlicher, dunkelhäutiger Mann von demütigem Gehaben, dessen Vorfahren durch viele Generationen Diener der Familie Minariis gewesen waren. Er ächzte vor Schmerzen und preßte eine Hand gegen die Rippen, als er sich über den Tümpel beugte. »Hast du dich verletzt?« fragte Tararu. »Bist du gefallen?«
»Nein, nicht gefallen«, antwortete Hu, während er begann, den ersten Fisch zu reinigen, »wieder Martin!« »Hat er dich geschlagen?« »Ja ... mit einer Keule.« »Was hast du angestellt?« Hu schüttelte den Kopf. »Angestellt? Wie kann ich das sagen! Nichts, was ich tue, stellt ihn zufrieden. Wir gingen miteinander auf das Yamfeld. Er setzte sich in den Schatten und ließ mich arbeiten. Die Löcher, die ich grub, waren nicht tief genug, oder sie waren zu tief. Ich legte zu viele Blätter hinein, wenn ich sie füllte, oder zuwenig; ich schnitt die Yamwurzeln für die Saat zu fein! Ich bin dein Diener und der deines Onkels, nicht Martins Sklave. Das sagte ich ihm, da schlug er mich.« Seine Hände zitterten während der Arbeit, und ergrimmt zischte er: »Was soll ich tun? Wollt ihr mich nicht schützen - du und Minarii?« Tararu dachte eine Weile mit zu Boden geschlagenen Augen nach. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte er endlich. »Minarii will ich nicht zu sehr in Erregung versetzen, denn wenn es zu Händeln kommt, werden die Weißen uns alle mit ihren Musketen niederschießen. Töte Martin! Töte ihn auf eine Art, die niemandem verdächtig erscheint!« Hu blickte mit funkelnden Augen auf. »Wie aber soll dies geschehen?« Tararu griff in den Tümpel und zog ein seltsames Geschöpf heraus, das etwa einen Fuß lang war, ein kleines Maul und einen beinahe viereckigen, schwarz und weiß gefleckten Körper hatte. »Mit diesem Fisch«, sagte er. »Ich habe gehört, daß er giftig ist«, nickte Hu.
»Sein Fleisch ist vortrefflich und unschädlich, wenn die Gallenblase entfernt ist. Die Galle ist farblos und hat keinen Geruch! Dennoch genügen vier Tropfen, um einen Menschen zu töten. Presse die Galle aus und träufle sie in eine Speise. Martin wird tot sein, ehe die Sonne untergeht.« Hu schüttelte den Kopf. »Überlasse das Vergiften den Zauberern und den alten Weibern! Nicht einmal Martin könnte ich auf eine solche Art töten!« Tararu zuckte die Achseln. Hu fuhr fort: »Aber vielleicht ginge es auf den Klippen. Er hat mir befohlen, heute nachmittag mit ihm hinaufzusteigen. Die Vögel beginnen zu legen.« Als die Fische gereinigt und abgeschuppt waren, schulterte Hu die schwere Last und stieg mit Tararu über die steilen Felsen empor. Einige Stunden später schlenderten Martin und Smith den Weg zum Hause der Eingeborenen entlang. Sie trugen Körbe für die Eier und Seile mit sich und fanden Hu bereits auf sie wartend. Bald standen sie am oberen Rand der steil ins Meer abstürzenden Klippen. Hier oben brauste der Sturm mit voller Kraft; von unten tönte schwach das Donnern der Brandung herauf. Seevögel umflogen zu Tausenden die jähe Felswand. Smith blickte über den Rand des Abgrundes hinab und befestigte ein Ende des Seiles am Stamm eines mächtigen Pandanusbaumes; dann schleuderte er das Ende über die Wand hinab und hängte sich den Korb um den Hals. Martin hatte inzwischen sein Seil an einer etwa dreißig Meter entfernten Stelle festgemacht. Er pflegte stets einen der Eingeborenen bei diesen Expeditionen mitzunehmen, denn er war zu ängstlich und zuwenig schwindelfrei, um sich selbst hinabzuwagen. Smith
umklammerte das Seil mit beiden Händen, kletterte über den Felsrand, die Sohlen seiner nackten Füße gegen das Gestein drückend. Vorsichtig ließ er sich bis zu einem fünfzig Fuß tiefer gelegenen Vorsprung hinab, der ihm bequemen Halt bot und in dessen Nähe er zwei mit Eiern gefüllte Nester erblickt hatte. Er hatte die Eier gerade in seinen Korb gelegt, als er den Lärm eines Handgemenges und zorniges Geschrei vernahm. Einen Augenblick lang lauschte Smith angespannt, dann kletterte er, so rasch er es vermochte, an der steilen Felswand empor. Oben angelangt, stellte er seinen Korb nieder und lief in die Richtung, aus der Martins wütende Stimme erklang. »So, umbringen wolltest du mich? Da, nimm das, du verdammter Schurke! Und das da, du Hund!« Martin stand über den regungslosen, blutenden Hu gebeugt und schlug bei jedem Ausruf wild auf ihn ein. Er warf sich herum, als er Smiths Hand auf seiner Schulter spürte, und brüllte: »Der Schweinehund! Über die Felsen wollte er mich hinunterstoßen, ja, das wollte er!« Er war im Begriff, dem Eingeborenen einen neuerlichen Schlag zu versetzen, aber Smiths kräftiger Griff hielt ihn zurück. »Weg da, Isaac«, gebot Smith; dann fragte er den auf dem Boden liegenden Mann: »Ist das wahr?« »Ja«, stöhnte Hu, der kaum sprechen konnte, »es ist wahr!« Martin riß sich los und wollte sich wieder auf Hu stürzen. Smith riß ihn derb zurück. »Ich sehe nicht zu, wie du den Mann weiter mißhandelst!« rief er. »Die Pest über dich, Alex!« schrie Martin zornbebend. »Ich sage dir doch, daß er versucht hat, mich in den Abgrund zu stoßen!«
»Glaubst du, ich bin blind, Mann? Du hast ihm Grund dazu gegeben, mehr als genug Grund!« Die grenzenlose Wut verdrängte Martins gewohnte Vorsicht. Smith hatte ihn losgelassen und stand nun zwischen ihm und dem Eingeborenen, der sich mit einem Schmerzensschrei erhob. Martin ballte die Fäuste. »Dich geht das nichts an! Mach, daß du fortkommst, sonst kriegst du meine Faust aufs Kinn!« Im nächsten Augenblick sprang er, indes seine Augen von irrsinniger Wut blitzten, auf Smith zu und schlug ihm mitten ins Gesicht. Der hielt den Hieb aus, ohne mit der Wimper zu zucken, und ging mit geballten Fäusten und gesenktem Kopf auf Martin los. In zwei Minuten war der Kampf vorbei; Martin lag, von einem genau gezielten Kinnhaken getroffen, auf der Erde und atmete mühsam durch die Nase. Als er sich endlich, noch immer halb betäubt, aufrichten konnte, sagte Smith ganz ruhig: »Wir wollen von der Sache nicht mehr sprechen, das ist das beste. Paß wohl auf, was ich dir sage, Isaac; es wird dir schlecht ergehen, wenn ich dich noch einmal dabei treffe, wie du diesen Mann mißhandelst. Und du, Hu, merk es dir gleichfalls - daß du so etwas nicht noch einmal versuchst!« Er legte die Hand an die Lippen. »Also - schweigen! Versteht ihr?«
10
Es war eine kalte Nacht im Februar 1792; der Himmel wolkenlos, und der aufgehende Mond stand niedrig über dem Meer. Die Eingeborenen hatten ihre Abendmahlzeit eingenommen und lagen vor ihrem Hause im Gras, mit gedämpfter Stimme plaudernd. Zuweilen erklang leises Lachen der Frauen. Minarii lag schweigend da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Tararu stand abseits, den mondhellen Pfad entlangspähend. Obgleich sie in leichtem Ton von anderen Dingen sprachen, beherrschte alle ein einziger Gedanke, denn Hutia war nicht zurückgekehrt. Gleich den anderen hatte Tararu seit langem gewußt, wo die Frau viele Stunden des Tages zubrachte, aber bisher war sie ängstlich darauf bedacht gewesen, die Würde ihres Gatten äußerlich nicht zu verletzen. Nun aber hatten Williams' Überredungskünste sich stärker erwiesen als ihre Angst vor dem Zorn ihres Mannes. Als Minarii ein wenig den Kopf wandte, bemerkte er, daß Tararu verschwunden war. Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Tararu in der Nähe von Williams' einsamem Häuschen aus dem Dickicht huschte. Er blieb einen Augenblick lauschend stehen, ehe er in das Haus blickte. Seine Frau schlief auf einer Matte nahe dem Eingang, den Kopf auf den nervigen Arm des Schmiedes gelehnt. Eine Sekunde lang schien Tararus Leidenschaft über seine Furcht vor Williams siegen zu wollen; hätte er eine Waffe bei sich gehabt, so würde er ihn getötet haben. Hutias kleiner nackter Fuß berührte beinah die Tür. Tararu streckte die Hand aus, um sie aufzurütteln. Zuerst murmelte sie nur einige schlaftrunkene Worte, dann, als
er sie beinahe von der Matte gezerrt hatte, öffnete sie die Augen. »Komm heraus!« wisperte er wuterfüllt. Williams fuhr auf. »Was suchst du hier?« knurrte er. »Mein Weib!« rief Tararu. »Mein Weib, du weißer Hund!« Der Schmied sprang auf. Seine Fäuste ballten sich; sein kurzer schwarzer Bart sträubte sich dicht an Tararus Kinn. »Sie ist jetzt mein Weib! Hinaus mit dir!« Williams sah so furchterregend aus, daß der Eingeborene die Augen niederschlug, aber sein Gefühl der Würde verbot es ihm, sich so rasch abzuwenden, wie der Schmied es gewünscht hätte. Als er sich endlich, zitternd vor Zorn und Erniedrigung, zum Gehen wandte, warf ihn ein mit aller Kraft geführter Hieb des Weißen zu Boden. Mühsam erhob er sich. »Nun, wirst du machen, daß du hinauskommst?« rief Williams drohend. Tararu biß die Zähne zusammen und hinkte über den vom Mond beschienenen Hang hinweg. Während sich die anderen bereits zur Ruhe begeben hatten, lag Minarii noch immer völlig wach vor dem Haus der Eingeborenen, als Tararu zurückkehrte. Unbewegt lauschte er dem hastig geflüsterten verworrenen Wortschwall des anderen. »Du nennst dich einen Mann«, sagte er verachtungsvoll nach einer kurzen Pause, »und sprichst diese Worte zu mir, die einem alten Weibe ziemten! Wenn du die Frau zurückhaben willst, so nimm sie dir und bringe sie heim!« Tararu zögerte. »Ich versuchte es«, gab er zu, »aber Williams erwachte ... und schlug mich zu Boden!« »Wärst du nicht der Sohn meiner Schwester ...«, ließ sich Minariis tiefe Stimme vernehmen. Unmutig erhob sich
der Häuptling. »Ich soll mich in solche Händel mischen ...! Doch warte hier; vielleicht werden kluge Worte dem Übel abhelfen. Wenn nicht...« Er zuckte die Achseln und ging. Die Nacht war warm, und Alexander Smith arbeitete im Garten vor seinem Hause. Der Mond schien so hell, daß Smith seine Pflanzen begoß und Unkraut ausjätete, als wäre es Tag. Plötzlich wandte er den Kopf, denn er hörte Schritte. Es war Minarii, gefolgt von der schluchzenden Hutia. Als er Smith erblickte, blieb er stehen. »Es ist gut, daß du wach bist, Alex«, sagte er. »Unfriede ist entstanden, Unfriede, der zu schlimmeren Dingen führen kann.« Und er berichtete von den Vorgängen der Nacht. »Wo ist Williams?« fragte Smith. »Er liegt auf dem Boden seines Hauses«, entgegnete Minarii grimmig. »Er kämpfte wie ein Mann ... sieh nur!« Er wies auf eine große Schramme an seinem Kinn. Smith dachte einen Augenblick nach, ehe er sprach. »Wir müssen rasch handeln. Nur Christian kann das in Ordnung bringen. Bleibe hier, während ich ihn wecke.« Als er gegangen war, setzte sich Minarii mit dem Rücken gegen einen Hibiskusbaum; Hutia kauerte neben ihm. Mit einem Male packte er sie so hart an der Schulter, daß sie zusammenzuckte. Im Schatten des großen Baumes verborgen, sahen sie, wie der Schmied den Weg entlangging, der zu Mills' Haus führte. Williams war nicht in der Laune, halbe Maßnahmen zu treffen. Er hinkte, und von Zeit zu Zeit blieb er stehen und spuckte Blut. Als er Mills geweckt hatte, gingen sie gemeinsam zum Haus McCoys.
»Verflucht, ich konnte ihn nicht unterkriegen!« sagte der Schmied mit dumpfer Stimme. »Wärst du dagewesen oder Matt, so hätten wir ihn umgebracht!« Mills brummte teilnehmend vor sich hin. »Da sind wir«, bemerkte er dann. »Ich will hineingehen und ihn holen.« Einen Augenblick später kam er mit McCoy und Martin zurück, die sich den Schlaf aus den Augen rieben. Angespannt lauschten sie der Erzählung des Schmiedes. »Wo sind sie jetzt?« fragte Quintal. »Im Hause der Indios, nehme ich an.« McCoy lächelte säuerlich. »Da wird nichts Gutes herauskommen. Die Pest über dich, John! Du hast das Weib, sooft du willst. Und jetzt bringst du die ganze Insel in Aufregung, weil sie nachts nicht bei dir schläft?« Williams wandte sich ärgerlich ab. »Bleib, wo du bist, wenn du willst! Komm, Mills! Wir gehen die Flinten holen!« »Ärgere dich nur nicht gleich!« besänftigte ihn McCoy. »Natürlich helfen wir dir, aber es ist eine böse Geschichte, so viel steht fest.« »Am besten erledigen wir es gleich«, sagte Mills. »Wir müssen diese verdammten Indios Mores lehren... Wer kommt denn da?« Christian stieg rasch den Weg hinan, gefolgt von Smith und Minarii. Hutia machte den Beschluß. Am liebsten wäre sie ins Gebüsch entwischt, aber sie wagte es nicht. Williams wollte wütend vorspringen, als er Minariis ansichtig wurde, aber der Gedanke an Christian hielt ihn zurück. »Was bedeutet das alles?« fragte Christian streng, als er beim Haus angelangt war. »Ich habe gestern abend einen Entschluß gefaßt, Herr Christian«, antwortete Williams, zwischen Respekt und
Trotz schwankend. »Ich habe der Frau gesagt, sie solle zu mir ziehen und dem Indio ein für allemal den Laufpaß geben. Er kam, um sie zurückzuholen, während ich schlief. Ich erwachte und schmiß ihn hinaus. Dann kam Minarii.« Er holte tief Atem und spuckte wiederum Blut. »Gegen den konnte ich nicht aufkommen. Was blieb mir übrig, als rasch hierherzulaufen und die anderen um Beistand zu bitten?« »Soll der Friede des Landes gebrochen werden wegen eines leichtfertigen Weibes und zweier Männer, die vergessen, daß sie Männer sind?« fragte Christian. »Wohl gesprochen!« nickte Minarii. »Darüber sind wir einig. Aber ich kann nicht ruhig zusehen, wie der Sohn meiner Schwester vor allen gedemütigt und von einem Mann gewöhnlicher Herkunft geschlagen wird, auch wenn er weiß ist.« »Dann hole Tararu!« Als Minarii zum Haus der Eingeborenen gegangen war, wandte sich Christian an die vier Meuterer. »Ich will diese Sache hier auf der Stelle regeln«, sagte er. »Wir haben schon mehr als genug davon. Die Frau soll den Mann wählen, mit dem sie zu leben wünscht, und nachher wird es kein Murren mehr geben. Merkt euch das!« »Das ist recht, Herr Christian!« rief McCoy. »Ja«, murmelte Quintal, »so ist die Sache aus der Welt zu schaffen.« Als Minarii zurückkehrte, gefolgt von seinem Neffen, nahm Christian wieder das Wort. »Tararu«, sagte er, »höre! Das Weib soll zwischen euch wählen. Und der Mann, der zurückstehen muß, möge Frieden halten!« Minarii sprach in barschem Ton zu Hutia. Mit niedergeschlagenen Augen und ohne einen Augenblick
zu zögern, ging sie auf den Schmied zu und ergriff seinen Arm. Der August kam und brachte heftige westliche Winde und leichten, aber oft mehrere Tage anhaltenden Regen. Anfang April wurde es so kalt, daß die Leute den größten Teil der Zeit in den Häusern zubrachten. Eines Nachmittags schritt Prudence mit dem leichten Schritt der Jugend auf jenem Wege, der an Smiths und Christians Haus vorbei, dann über den Ziegenberg zu Williams' Hütte führte. Sie hatte einen Mantel aus Tapastoff über die Schultern gebreitet und trug ihr Kind, sorgsam eingehüllt, auf dem Arm. In der Reife ihrer jungen Mutterschaft gehörte sie zu den hübschesten Frauen der Insel. Mills war ihr auf seine rauhe Art wirklich zugetan, und seit der Geburt ihres Kindes lebte sie glücklich mit dem brummigen alten Seemann. Nach einer halben Stunde war sie am Ziel. Ein paar Schritte vor der Hütte blieb sie stehen und ließ den melodischen Ruf ertönen, mit dem polynesische Besucher den Insassen eines Hauses ihre Anwesenheit ankündigen. Hutia erschien auf der Schwelle und empfing die Besucherin ohne ein Lächeln. »Wo ist dein Mann?« fragte Prudence. »Er arbeitet im Wald.« »Hutia«, sagte die Jüngere ernst, nahe an ihre alte Feindin Herantretend, »wir sind einander nicht gut gesinnt gewesen, aber wenn Williams etwas zustoßen sollte, so würde mein Mann niemals aufhören zu trauern, denn die beiden sind wie Brüder.« »Komm ins Haus«, forderte Hutia sie auf, »der Wind ist zu kalt für das Kind.«
Sie nahm Prudence den Säugling vom Arm und bedeckte das Gesichtdien mit Küssen, ehe sie die Türe des Hauses schloß. »So«, fuhr sie dann, weit freundlicher als zu Beginn, fort; »nun erzähle mir, was du auf dem Herzen hast.« »So höre«, berichtete Prudence. »Heute, als ich im Schatten eines Baumes vor der Schmiede saß und an einem Hut für Mills arbeitete, kam Tararu des Weges, eine Axt auf der Schulter. Er ging zum Schleifstein und begann, die Axt etwa eine Stunde lang auf das sorgfältigste zu schleifen. Das fiel mir auf, denn du weißt, daß Tararu nicht gerne arbeitet. »Niemals habe ich eine so scharfgeschliffene Axt gesehen«, sagte ich, »wozu brauchst du sie?« Er zögerte einen Augenblick und erwiderte dann: »Gestern sah ich einen Puraubaum, hoch und dick. Morgen werde ich ihn fällen, um ein Kanu zu bauen.« Nun weißt du, daß Tararu von dieser Kunst, in der Minarii ein Meister ist, sowenig versteht wie mein Kind hier. Sage mir, warum er mich belog?« Hutia schwieg eine Weile, dann fragte sie: »Du glaubst, daß er gegen Williams etwas im Schilde führt?« »Ich bin dessen gewiß.« »Du kannst recht haben. Tararu ist ein Feigling, und wenn er kommt, so kommt er bei Nacht.« »Das glaube auch ich«, nickte Prudence. »Es mag sein, daß ich mich täusche, aber es wäre gut, wenn du deinen Mann warntest.« »Lieber will ich ihn behüten«, sagte Hutia. »Er würde mir nicht glauben und mich als ängstliches Weib verspotten. Würde es mir aber dennoch gelingen, ihn zu überzeugen, so würde er Tararu nachstellen, und es gäbe neuen Streit mit Minarii. Wir haben zwei Musketen hier. Ich kann so gut schießen wie ein Mann.«
Nach einer Weile nahm Prudence ihr Kind wieder auf den Arm. »Ich muß heim, um den Herd anzuzünden«, sagte sie. »Von nun an wollen wir Freundinnen sein«, schlug Hutia vor. »Es ist kein Grund dafür vorhanden, daß in diesem kleinen Land Feindschaften bestehen.« Nachdem die junge Mutter fortgegangen war, ging Hutia wieder ihren häuslichen Pflichten nach. Als Williams zurückkehrte, begrüßte sie ihn auf gewohnte Art. Aber als er am Abend gegessen und sich müde zur Ruhe gelegt hatte, wartete sie nur so lange, bis er schlief. Dann lud sie sorgsam die beiden Musketen. Sie löschte das Licht und schlich, in jedem Arm eine der beiden schweren Flinten, in die sternklare Nacht hinaus. Die Hütte hatte nur eine Tür. Leise erschauernd, denn es wehte ein kühler Wind, verbarg sie sich in einem nahen Gebüsch. Selbst in dem unbestimmten Sternenschein konnte niemand das Häuschen unbemerkt betreten, und zwei Stunden später, das wußte Hutia, konnte sie auf das Licht des Mondes rechnen. Lange Zeit verging, während die Frau regungslos Wache hielt, die eine Muskete über die Knie gelegt, die andere dicht neben sich. Endlich ging der Mond über den bewaldeten Bergen auf. Die Umrisse des Mondes traten schärfer hervor; die Lichtung war von kaltem, silbrigem Licht überflutet. Es war beinahe Mitternacht, als Hutia jäh den Kopf wandte. Blaß und wie unwirklich bewegte sich die schattenhafte Gestalt eines Mannes über die Lichtung. Die Frau erhob sich und brachte die eine Muskete in Anschlag. Langsam, leise näherte sich Tararu dem Haus. Als er nur noch einige Schritte davon entfernt war, sprang Hutia hervor.
»Halt!« befahl sie mit leiser, aber fester Stimme. Der Mann fuhr erschrocken auf und versuchte, die Axt hinter seinem Rücken zu verbergen. »Keinen Schritt weiter!« fuhr sie fort. »Mach kein Geräusch! Wenn du Williams weckst, bist du des Todes. Ich weiß, warum du hier bist!« Tararu begann flüsternd seine Unschuld zu beteuern, aber voll Verachtung unterbrach sie ihn. »Verliere keine Worte! Ich hätte Lust, dich sogleich zu erschießen.« Hutias Hände zitterten ein wenig vor Ärger. Ihr früherer Gatte, der wohl wußte, daß sie im Zorn zu allem fähig sei, sprang zur Seite und lief, so rasch er konnte, über die Lichtung hinweg, die Axt in der Hand. Sie hob die Flinte und zielte zwischen seine Schulterblätter. Sekundenlang stand sie so da, dann aber ließ sie die Muskete sinken. Sie hatte sich nicht entschließen können zu feuern. Als Williams am nächsten Morgen erwachte, war Hutia, wie gewöhnlich, bereits aufgestanden und damit beschäftigt, das Frühstück zu bereiten. »Du siehst müde aus, Mädel«, bemerkte er. »Schlecht geschlafen?« »Ja - ich hatte schwere Träume.« Sie blickte von ihrer Arbeit auf. »Die See ist ruhig geworden ... Ich werde heute morgen fischen gehen.« Der Schmied nickte. »Viel Glück! Gegen ein paar gute Fische habe ich gar nichts einzuwenden!« Gegen Mittag des gleichen Tages arbeitete Tararu in einer Waldlichtung des Auté-Tales. Keiner der Inselbewohner, nicht einmal Martin, hatte eine größere Abneigung gegen die Arbeit als er. Der Hauptgrund, weshalb er die Stelle rodete, war der, daß er allein sein wollte. Er begann das Haus der Eingeborenen zu hassen und brachte sowenig Zeit wie möglich dort zu. Die polynesische Höflichkeit stand dem offenen Ausdruck
der Verachtung seitens seiner Hausgenossen im Wege, aber Minarii ließ ihn dennoch erkennen, wie er von ihm dachte, und das konnte Tararu nicht ertragen. Ein Korb, der die Mittagsmahlzeit enthielt, hing am Ast eines Puraubaumes am Rand des gerodeten Waldstückes; Tararu arbeitete in einiger Entfernung davon, und er hatte keine Ahnung, daß er nicht allein war. Durch das dichte Blätterwerk lugend, hatte Hutia die Lichtung ausgekundschaftet, nun kam sie lautlos näher. Der Mann kehrte ihr den Rücken zu. Rasch griff sie in den Korb, zog einen großen gebackenen Fisch hervor, der in Blätter gehüllt war. Sie zog die Hülle hinweg, sah sich nochmals vorsichtig um, träufelte etwas, das einigen Tropfen Wassers glich, in das Innere des Fisches, wickelte ihn wieder ein, legte ihn in den Korb zurück und verschwand so geräuschlos, wie sie gekommen war. Zehn Minuten später blickte Tararu zur Sonne auf und ließ seine Axt fallen. Als er gemächlich zu der Stelle hinüberschlenderte, an der der Korb aufgehängt war, hörte er einen fröhlichen Gruß und sah Hu. »Du hast noch nicht gegessen?« erkundigte sich Hu. »Das ist gut. Ich habe ein paar gebackene Pisangfrüchte gebracht; die Frauen sagten mir, du hättest keine mitgenommen.« »Komm, teile mein Mahl!« Der Diener war der einzige seiner Landsleute, dessen Verhalten Tararu gegenüber sich nicht geändert hatte. Sie aßen mit gutem Appetit, schwatzten über dieses und jenes, und als der letzte Bissen verzehrt war, legten sich beide zum Schlaf nieder.
11
Eines Nachmittags stieg Christian den steilen Weg empor, der zum Ziegenberg führte. Nachdem er den Gipfel erreicht hatte, wandte er sich dem gegen Süden führenden Grat zu. Der Pfad wurde hier so schmal, daß er kaum Halt für den Fuß bot, und der Anblick über die fast senkrechten Felsen war schwindelerregend. Christian ging auf zwei verkrüppelte Eisenholzbäume zu, die auf diesem schmalen Bergkamm seit einem Jahrhundert den Stürmen getrotzt hatten. Als er die Bäume erreicht hatte, ließ er sich zwischen den Wurzeln zu einem tiefer gelegenen Felsvorsprung hinab und betrat eine Höhle, deren Eingang von zwei niederhängenden Kasuarinaästen verdeckt war; sie war etwa zehn Fuß lang und gerade hoch genug, daß ein Mann darin stehen konnte. Etwa ein halbes Dutzend Musketen, wohl gereinigt und gebrauchsfähig, lehnten an einer der Wände; auch ein Pulverfäßchen, Kugeln und zwei große Wasserbehälter befanden sich in der Höhle, die geradezu eine kleine Festung war, von der aus ein entschlossener Mann eine ganze Armee in Schach halten konnte, solange er Pulver und Blei hatte. Hier pflegte Christian manche Stunde zu verbringen, wenn er den Wunsch hatte, allein zu sein. Dann saß er am Eingang, blickte auf das weite Meer hinaus und lauschte, in trübe Gedanken versunken, dem Donnern der Brandung, die tief unten, gegen den Fuß der Felswand schäumte. Er fühlte sich zutiefst verantwortlich für das Schicksal der Meuterer und der eingeborenen Männer und Frauen, die sie begleitet hatten, und seit der Vorbeifahrt der Fregatte erkannte er, daß ihr Zufluchtsort früher oder später entdeckt werden mußte. Er war entschlossen, nicht
lebend in die Hände seiner Verfolger zu fallen, wenn der Tag käme. Christian ergriff eine der Flinten nach der anderen und verbarg sie samt der Munition unter den Wurzeln der Eisenholzbäume. Als nichts außer den Wasserbehältern mehr in der Höhle war, machte er sich auf den Heimweg. Zu Hause angelangt, fand er Mainiiti mit ihrem Säugling Charles auf einer Matte im Schatten eines wilden Hibiskusbaumes sitzend. Nanai, Tetahitis Frau, war bei ihr. Donnerstag Oktober Christian, nun ein kräftiger, zwei Jahre alter Knabe, war zu Youngs Haus gelaufen, wo er manche Stunde mit Balhadi und Taurua verbrachte, kinderlosen Frauen, die den kleinen Jungen zärtlich liebten. »Komm mit mir«, sagte Christian zu seiner Frau, »ich will dir etwas zeigen. Du wirst auf das Kind aufpassen, nicht wahr, Nanai?« »Werden wir lange fortbleiben?« fragte Maimiti. »Vielleicht bis Sonnenuntergang.« Sie folgte ihrem Mann über den Gipfel des Ziegenberges und den schmalen Grat zu den Eisenholzbäumen. Als er sich zu dem Felsvorsprung beim Eingang der Höhle hinabließ und ihr die Hand reichte, um ihr den Abstieg zu erleichtern, stieß sie einen Ausruf des Erstaunens aus. »Oh! Niemand kennt diesen Ort.« »Und niemand soll ihn kennenlernen, außer dir!« Er setzte sich auf den Vorsprung, während Maimiti die Höhle voll gespannter Aufmerksamkeit untersuchte. Dann nahm sie neben ihm Platz, und eine Zeitlang schwiegen sie, wie verzaubert von der Schönheit und Einsamkeit dieser Stelle. Seevögel umkreisten die steilen Klippen; ihre Schwingen glitzerten in der Sonne, und ihr Schrei übertönte zuweilen die Brandung.
Endlich brach Christian das Schweigen. »Maimiti, ich
habe dich hierhergeführt, damit du weißt, wo ich in der
Stunde der Gefahr zu finden bin. Ich liebe diesen Ort.
Zuweilen scheint es mir in dieser Stille und Einsamkeit,
als wäre ich meinen Lieben in England ganz nahe.«
»Wo ist England?« fragte sie.
Er zeigte nach Nordosten. »Dort! Zwei große Meere
liegen zwischen mir und meiner Heimat und eine große
Insel, bevölkert mit wilden Menschen.«
»Und meine Insel - Tahiti, wo liegt sie?«
»Dort!« antwortete Christian, mit dem Finger gegen
Nordwesten weisend. »Hast du kein Heimweh mehr?
Bist du glücklich hier?«
»Wo du bist, ist meine Heimat, und ich bin glücklich.
Dies ist ein gutes Land.«
»Ja, du hast recht.« Er blickte zärtlich auf sie nieder.
»Das kühle Wetter tut dir gut. Deine Wangen röten sich
wie die eines englischen Mädchens.«
»Nie habe ich Kinder gesehen, die kräftiger und schöner
waren als unsere Knaben.«
»Und seit wir auf Pitcairn sind, ist kein Mann und keine
Frau krank gewesen. Gäbe es nicht einige giftige Fische
hier, so wäre die Insel gleich euerem Rohutu Naonoa ein Paradies.«
Maimiti sah zu ihm auf. »Glaubst du, daß Hu und Tararu
starben, weil sie Fisch aßen?«
»Warum fragst du das? Gewiß starben sie an einer
Vergiftung; sie haben einen Fisch gegessen, den man in
Tahiti als giftig kennt.«
»Hier ist der Faaroa harmlos; ich habe oft davon
gegessen.«
»Was willst du damit sagen?« fragte er erstaunt.
Sie zögerte, dann antwortete sie: »Es wurde mir zugeraunt von jemandem, der es wissen sollte. Die anderen ahnen nichts. Wie nun, wenn Tararu Williams stärker gehaßt hätte, als wir vermuteten? Wenn er eine Axt geschliffen hätte, um ihn bei Nacht zu ermorden, und Hutia mit einer geladenen Flinte vor ihrer Tür gefunden hätte? Ich glaube, sie vergiftete Tararus Essen, und Hu aß zufällig von der gleichen Speise.« Christian wußte, daß unberechtigtes Mißtrauen Maimiti fremd war. Auch der Ernst, mit dem sie sprach, verfehlte seinen Eindruck auf ihn nicht. »Kennt dein Volk denn Gifte, die so unauffällig sind und dennoch tödlich wirken?« »Ja, es gibt deren viele, obgleich nicht alle darum wissen. Hutias Vater war ein Zauberer, ein böser Mann, dessen sich die Häuptlinge oft bedienten, um ihren Feinden den Tod zu geben.« Christian verharrte in Schweigen. Nach einer Weile fuhr Maimiti fort: »Die anderen hegen keinen Verdacht, wie ich dir bereits sagte.« Er seufzte und hob den Kopf, so als wolle er unangenehme Gedanken verscheuchen. »Nie hätte ich so etwas vermutet«, sagte er, »doch wie dem auch sei, es ist nun einmal geschehen! Wir wollen nicht mehr davon sprechen!« Drei Jahre waren verstrichen, seit die Bounty Pitcairn erreicht hatte, und die kleine Niederlassung bot den Anblick eines geordneten und friedlichen Gemeinwesens. Das Leben der Meuterer war leicht geworden, leichter, als einigen von ihnen guttat. Quintal, Martin und Mills hatten sich daran gewöhnt, den größten Teil des Tages müßig zu verbringen; die Arbeit überließen sie, soweit es
möglich war, Te Moa und Nihau. Williams, der nun mit der Frau, die ihm in der Vergangenheit so viele Sorgen bereitet hatte, glücklich lebte, kam nur selten mit seinen Freunden zusammen. Smith, Young und Brown fuhren fort, fleißig zu arbeiten, Land urbar zu machen und zu bebauen und auf den Fischfang zu gehen, vor allem deshalb, weil es ihnen Vergnügen bereitete. Christian war häufig von der Ansiedlung abwesend, und auch McCoy war nur selten dort zu finden. Über ein Jahr lang hatte der Schotte jetzt schon das Geheimnis seiner Schnapsbrennerei gehütet. Er hatte an den Tipflanzen, die auf der Insel nur an gewissen Stellen und in geringen Mengen zu finden waren, Raubbau getrieben und fand ihrer jetzt so wenig, daß er nur zweioder dreimal in der Woche in seiner Destillerie arbeiten konnte. Wenn er keinen Alkohol hatte, war er verdrießlich und reizbar, aber ein einziges Gläschen Branntwein machte ihn zum gemütlichsten Menschen. Mary war erstaunt und entzückt über die Veränderung, die mit ihrem Mann vorgegangen war. Er scherzte und lachte mit ihr, tollte mit der zweijährigen Sarah umher und schaukelte, strahlend vor Freude, den kleinen Dan auf den Knien. Er dachte daran, Ti anzupflanzen, aber die Gefahr, daß sein Geheimnis auf diese Art entdeckt werden könnte, erschien ihm doch zu groß. So streifte er denn tagelang auf der Insel umher, um die für ihn so wertvollen Pflanzen zu sammeln. Infolgedessen hielt er, obgleich er von Natur gutmütig und geneigt war, auf seine Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, Te Moa mit der gleichen Strenge wie Quintal dazu an, die Arbeiten im Hause und in den Plantagen zu verrichten. So sank der unglückliche Te Moa, der nicht nur Quintais Schläge,
sondern auch McCoys Flüche zu erdulden hatte, rasch zum Sklaven hinab. Nach Hus Tod hatte sich Martin auf gleiche Art Nihau dienstbar gemacht, und Mills, der sah, welch leichtes Leben seine Nachbarn führten, folgte ihrem Beispiel. Die Eingeborenen empfanden über diesen beschämenden Zustand tiefe Erbitterung, aber bisher war es noch nicht zu offenen Streitigkeiten gekommen. Gegen Abend eines Tages im Spätsommer kehrte McCoy nach Hause zurück und traf Quintal auf der Schwelle sitzend an, den Kopf in die Hände gestützt. Er schien verdrießlich und war offenbar mit Nachdenken beschäftigt, eine Arbeit, die ihm stets schwere Mühe machte. »Was ist los?« fragte McCoy. »Diese Indios soll der Teufel holen!« »Was haben sie dir getan?« »Dieser Minarii ...! Ich spazierte zu der Stelle hinaus, die ich von Te Moa bearbeiten lassen möchte, du weißt, welche ich meine ... Dort traf ich Minarii, der Bäume fällte. »Hacke so viele Bäume um, wie du willst«, sagte ich zu ihm, »aber vergiß nicht, dieses Tal gehört mir!« Er sah mich so frech an wie ein Feldwebel. »Dir«, rief er, »dir? Das Land gehört uns allen!«« »Bist du ihm übers Maul gefahren, wie sich's gehört?« Quintal schüttelte den Kopf. »Dann hätte es Blutvergießen gegeben.« McCoy nickte. »Du hast recht. Mit dem Burschen ist nicht gut Kirschen essen. Wir werden erst Ruhe haben, wenn wir das Land aufgeteilt haben.« »Ja, wie sollen wir das aber machen?«
»Wir haben das Recht, abzustimmen; ich werde mit
Williams, Martin und Mills sprechen; wir werden fünf
gegen vier sein. Dann gehen wir zu Christian.«
Quintal schlug sich mit seiner mächtigen Tatze aufs Knie,
daß es klatschte.
»Du hast Grütze im Kopf! Jawohl, jeder von uns
Engländern soll sein Stück Land haben; die anderen soll
der Teufel holen.«
»Stimmt! Das Hemd ist einem näher als der Rock!« sagte
McCoy mit einem pfiffigen Lächeln.
Am nächsten Abend, als Tetahiti, mit reicher Beute
beladen, vom Fischfang zurückkehrte und unterwegs ein
wenig rastete, hörte er plötzlich Schritte. Er blickte auf
und sah Te Moa eilends auf sich zukommen.
»Ich wollte dir helfen die Fische tragen«, sagte Te Moa.
»Bleibe ein wenig hier, während ich mich ausruhe«,
meinte Tetahiti, »dann kannst du die Fische zum Hause
tragen. Es ist genug für alle.«
»Ich muß sprechen!« sagte Te Moa nach kurzem
Schweigen. »Ich halte es nicht länger aus!«
»Mißhandeln dich die weißen Männer wieder?«
»Sie behandeln mich wie einen Hund! Quintal sitzt den
ganzen Tag in seinem Haus wie ein großer Häuptling.
McCoy ist immer in den Wäldern; ich glaube, er hat
heimliche Zusammenkünfte mit einer Frau. Im Anfang
konnte ich die Männer gut leiden; aber sie haben sich
verändert. Ich bin nichts anderes mehr als ihr Sklave.
Hast du Quintais Blick gesehen? Ich habe Angst vor ihm.
Ich glaube, er wird wahnsinnig.«
»Ja, ich sah ihn, wie er auf der Schwelle saß und mit sich
selber sprach.«
»Sag, was kann ich tun? Wenn ich ein Wort spreche, so schlagen sie mich, er und McCoy.« Zornesröte trat in Tetahitis Wangen. »Sie sind Hunde, der Verachtung eines Häuptlings würdig! Sie sollen selber arbeiten. Gehe nicht mehr in ihr Haus!« »Ich fürchte Quintal. Er wird mich holen kommen.« »Er soll es versuchen!« rief Tetahiti drohend. »Ich werde ihn empfangen. Wir sind geduldig gewesen, in der Hoffnung, Blutvergießen zu verhindern. Wenn er dich vor den anderen demütigt, wird Christian all dem ein Ende machen.« Er erhob sich und half Te Moa, die schwere Last der Fische auf die Schultern zu heben.» Als Te Moa eine halbe Stunde später in Quintais Haus erschien, um Sarah ein Stück Fisch zu bringen, fand er die Frau allein. »Sie sind zu Christian gegangen«, erklärte Mary, »um eine Sache zu beraten, die sie alle angeht. Warte bis morgen, ehe du deine Fische verteilst.« Die Sonne war untergegangen, und im Zwielicht saßen die Meuterer auf dem Rasen vor Christians Haus. Christian selbst saß mit Young auf einer Bank den Leuten gegenüber. Williams erschien zuletzt. Das Stimmengewirr verhallte, als McCoy aufstand. »Herr Christian«, sagte er, »da ist eine Sache, die nicht leichtzunehmen ist. Sie haben Kinder, Herr Christian, geradeso wie ich und John Mills und Matt Quintal dort. An die müssen wir denken und an die Zukunft. Man arbeitet am besten auf seinem eigenen Land. Die Zeit ist gekommen, meine ich, wo wir die Insel aufteilen sollten.« Christian nickte. »Ganz recht, McCoy!« sagte er. »Young und ich sprachen erst vor einigen Tagen davon. In der Tat
arbeitet man mit mehr Freude, wenn es auf eigenem Grund und Boden geschieht, und auf diese Art wird es keinen Grund zu Streitigkeiten geben, wenn wir einmal tot sind. Die Insel kann so geteilt werden, daß jeder erhält, was ihm gebührt. Es wird kaum notwendig sein, darüber abzustimmen. Oder ist einer da, der etwas dagegen hat?« »Ich nicht, Herr Christian!« rief Smith, und die anderen stimmten ein: »Wir auch nicht! Wir auch nicht!« »Dann brauchen wir nur die Insel sorgfältig zu begehen und dafür zu sorgen, daß keiner benachteiligt wird. Ich will es auf mich nehmen, die Grenzen festzusetzen und zur Gutheißung vorzulegen. Heute in vierzehn Tagen könnten wir wieder zusammenkommen.« »Sie haben keine schwere Arbeit, Herr Christian«, bemerkte McCoy. »Die Insel teilt sich beinahe von selbst in neun Teile.« »Neun?« rief Christian. »Vierzehn willst du sagen!« »Sie rechnen doch nicht am Ende die Indios mit, Herr Christian?« »Wollt ihr sie vielleicht auslassen?« »Wir denken nicht daran, mit ihnen zu teilen!« Christian unterdrückte mühsam seinen Zorn. »Und das hältst du für gerecht, McCoy?« fragte er ruhig. Alexander Smith nahm das Wort. »Denk an Minarii, Will! Und an Tetahiti! Was würden die sagen, wenn wir es so machten, wie du es vorschlägst? Es ist mehr als genug Land da für fünfmal mehr Leute, als wir sind. Wir würden Narren sein, wenn wir uns die Indios zu Feinden machten!« »Wir müssen an uns selber denken«, wandte McCoy eigensinnig ein; »an uns und unsere Kinder. Die Indios können das Land bearbeiten und sollen einen Anteil an dem, was wir ernten, bekommen.«
»Der Ansicht bin ich auch!« stimmte Martin zu. »Ich bin auf eurer Seite, Jungens!« rief Quintal, und Mills sagte: »Ja! Wohl gesprochen!« »Hört mich an!« gebot Christian rasch. »Denkt an die Folgen einer solchen Maßnahme. Ihr versteht alle ein wenig die Sprache der Eingeborenen. Sie haben ein Wort, Oere, der stärkste Ausdruck der Verachtung. Es bedeutet einen Mann ohne Land. Zwei der vier Indios waren Häuptlinge und große Grundbesitzer in ihrem eigenen Land. Wollt ihr hier Oere aus ihnen machen? Sklaven, die auf eure Almosen angewiesen sind? Wir haben mehr als genug Land, wie Smith ganz richtig bemerkte. Die Eingeborenen auszuschließen wäre Wahnsinn! Wollt ihr sie euch zu Feinden machen, die Rache brüten und euch von Tag zu Tag mehr hassen? Irrt euch nicht! Ich würde genauso empfinden, wenn ich so behandelt würde, wie ihr diese Leute behandeln wollt, die eure Freunde gewesen sind!« McCoy schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht einsehen, Herr Christian. Wir müssen an uns selber denken, und wir haben das Recht, eine Abstimmung zu verlangen das haben Sie uns versprochen!« »Christian hat recht!« sagte Young. »Was ihr vorhabt, ist Tollheit. Es würde Blutvergießen zur Folge haben, dessen bin ich gewiß!« Brown wagte zu sagen: »Gut gesprochen, Herr Young!«, aber als er Martins bösen Blick auf sich gerichtet sah, zuckte er zusammen. »Wir verlangen eine Abstimmung, Sir«, knurrte Mills, »und zwar sogleich!« »Ihr habt dieses Recht«, sagte Christian sehr ernst. »Paßt auf, daß ihr es nicht mißbraucht! McCoys Vorschlag ist Wahnsinn, gefährlicher Wahnsinn! Aber es sei ... Sollen
wir die Insel in neun Teile teilen und die Indios ausschließen?« McCoy erhob die Hand. Quintal, Mills, Williams und Martin taten das gleiche. Sie waren fünf gegen die vier anderen. »Auf folgendem bestehe ich«, sagte Christian nach kurzem Schweigen. »Die Entscheidung ist so wichtig, sie kann so verhängnisvolle Folgen haben, daß ihr es euch noch einmal gründlich überlegen müßt. In einem Monat werden wir nochmals zusammenkommen. Ich hoffe, daß der eine oder der andere von euch seine Ansicht nach reiflichem Nachdenken ändert. Ich wiederhole - der Schritt würde die Vernichtung unserer Gemeinschaft bedeuten! Also überlegt es euch gut, und ehe ihr geht, soll mir jeder von euch versprechen, daß er den Indios gegenüber kein Wort darüber verliert.« Young und Christian blieben sitzen, als die anderen sich entfernt hatten. Keiner von ihnen sprach. Der Abend war warm, der Himmel voller Sterne. Erst nach langem Schweigen sagte Young: »Die Leute behandeln die Eingeborenen von Tag zu Tag schlechter. Wenn du nicht wärst, hätten sie sie längst zu Sklaven gemacht.« Christian lächelte bitter. »Minarii zum Sklaven machen? Oder Tetahiti? Um ihrer selbst willen hoffe ich, daß die Leute das nicht versuchen werden!« »Sie sind nicht besser und nicht schlechter als andere englische Seeleute, aber ein Leben, wie wir es führen, bringt ihre schlechten Eigenschaften zum Vorschein. Die strenge Disziplin des Meeres ist besser für sie.« »Die werden sie bald zu spüren bekommen, wenn sie auf dieser Tollheit beharren! McCoy steckt hinter der ganzen Sache! Wenn er bis zur nächsten Versammlung seine
Ansicht nicht geändert hat, werde ich gezwungen sein, strenge vorzugehen - zu seinem eigenen Besten!« »Ich fürchte, es war ein Fehler, ihnen das Stimmrecht zu geben. Du mußt wieder einmal den Kapitän spielen, um die Leute vor ihrer eigenen Dummheit zu bewahren!« Young verabschiedete sich. Als er gegangen war, betrat Christian das Haus und machte in seiner Stube Licht. Die silberbeschlagene Bibel der Bounty lag auf dem Tisch; er nahm sie zur Hand und begann zu lesen. Aber selbst die Bibel vermochte Christian in dieser Nacht keinen Trost zu geben. Rächte Gott nicht die Sünden der Väter an den Kindern und Kindeskindern ...? Christian schloß das Buch und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Lange verweilte er so, den Kopf auf die Ellbogen gestützt. Das Licht brannte nieder und erlosch. Der Raum war in Dunkel gehüllt bis auf den schwachen Schein der Sterne, der sich durch das Fenster stahl. Obgleich das Benehmen der fünf Unheilstifter von Tag zu Tag anmaßender wurde - zweifelten sie doch nicht daran, daß das Land bald ihnen gehören und die Eingeborenen ihre Knechte sein würden -, so verstrichen die nächsten drei Wochen dennoch ohne offene Feindseligkeiten. Minarii und Moetua bauten ein Haus in dem kleinen Tal, das Quintal als sein Eigentum betrachtete. Der Häuptling hatte Quintais Warnung, daß er hier als Eindringling zu betrachten sei, mit Verachtung aufgenommen. Das Haus war klein, da er allein mit Moetua darin wohnen wollte, aber hübsch und stark gebaut, mit gelben Pandanusblättern gedeckt und einem sauber mit Sand belegten Boden aus flachen Steinen versehen.
Eines Nachmittags erwachte Tetahiti aus seinem Mittagsschläfchen, zu dem er sich auf einer Matte unterhalb eines Puraubaumes in der Nähe seines Hauses ausgestreckt hatte. Als er den Schritt seiner Frau hörte, richtete er sich gähnend auf. Nanai war ein anmutiges junges Weib von heller Hautfarbe, still und zurückhaltend in Gesellschaft Fremder, eine Feindin von Klatsch und müßigem Geschwätz. »Tetahiti«, sagte sie ernst, »ich muß dir etwas sagen, solange wir allein sind. Du mußt es erfahren, obgleich ich nicht glauben kann, daß es wahr ist ...« Er nickte ihr aufmunternd zu, und sie fuhr fort: »Susannah erzählte es mir, doch mußte ich ihr schwören, es für mich zu behalten. Sie hat es von Martin, sagte sie mir. Wenn du weißt, um was es sich handelt, wirst du verstehen, warum ich mein Versprechen nicht halte!« »So sprich denn!« forderte Tetahiti sie ein wenig ungeduldig auf. »Susannah sagt, daß die Weißen ohne unser Wissen eine Versammlung abgehalten und beschlossen haben, die Insel aufzuteilen und die Grenzen zwischen dem Besitz der einzelnen Männer durch Steine zu bezeichnen ...« »Das kannst du nicht glauben?« unterbrach er sie. »Warum nicht? Von alters her besteht dieser Brauch in unserer Heimat. Auf diese Art könnte viel Streit vermieden und ein friedliches Zusammenleben gesichert werden.« »Laß mich zu Ende sprechen. Sie sagt, daß ihr braunen Männer von dieser Teilung ausgeschlossen werden sollt, daß ihr von nun an Oere sein werdet, Sklaven, die das Land der anderen bebauen müssen.«
Tetahiti lachte verächtlich. »Weibergeschwätz! Du
kennst Christian schlecht, wenn du annimmst, daß er
soldies gestatten würde.«
»Ich sagte dir ja bereits, daß ich es nicht glaube!«
bemerkte Nanai.
Sie ging, ein wenig ärgerlich. Der Mann legte sich
wiederum nieder und kreuzte die Hände hinter dem Kopf.
Obgleich er Susannahs Erzählung keinen Glauben
schenkte, ging ihm die Sache doch nicht aus dem Kopf,
und allmählich, als ihm gewisse Dinge einfielen, denen
er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte, begann
Verdacht in seinem Herzen aufzusteigen. Er erhob sich
und machte sich auf den Weg zu Martins Haus. Dort fand
er Susannah allein.
»Ist die Geschichte, die du Nanai erzählt hast, wahr?«
»Sie hat es dir gesagt?«
»Ja. Das war ihre Pflicht. Hast du all dies erfunden?«
»Ich sagte ihr nur, was ich von Martin hörte ...«
Plötzlich erschien Martin, der in der Nähe geschlafen
hatte. Er hinkte auf Tetahiti zu. »Was willst du hier?«
fragte er unfreundlich.
Tetahiti blickte geringschätzig auf den Seemann nieder.
»Die Wahrheit will ich erfahren. Ich glaube, daß das, was
du dieser Frau berichtetest, Lüge ist.«
»Was meinst du?« fragte Martin, außerstande, den Blick
des anderen auszuhalten.
»Daß ihr Weißen das Land zwischen euch aufgeteilt
habt!«
Martin stand mit niedergeschlagenen Augen da. »Sie
muß das erfunden haben«, murmelte er.
Mit einem Satz war der Eingeborene bei ihm, packte ihn
am Hals und schüttelte ihn voll Grimm. »Du lügst!
Sprich die Wahrheit, sonst erwürge ich dich!« Dann ließ
er Martin los, der sich mit zitternden Knien duckte.
»Habt ihr einen solchen Beschluß gefaßt?«
Nur widerwillig blickte der Seemann in die zornigen
Augen des Eingeborenen.
»Ja«, antwortete er mürrisch.
»Und wir sollen leer ausgehen?«
Martin nickte stumm. Noch wütender fragte Tetahiti:
»Christian hat seine Zustimmung gegeben?«
»Ja.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sich Tetahiti um und
ging raschen Schrittes auf Christians Haus zu. Bleich und
verängstigt sah ihm Martin nach. Dann stürzte er sich auf
Susannah, zerrte sie an den Haaren und begann, roh auf
sie einzuschlagen.
Nie noch hatte Tetahiti ein Haus, sei es nun das eines
Häuptlings oder eines Mannes von niederem Stande,
betreten, ohne vorher durch einen Gruß seine
Anwesenheit kundzutun und auf die Einladung zu warten,
daß er eintreten möge. Dies zu unterlassen galt unter
Polynesiern als unverzeihliche Verletzung der
Höflichkeitsregeln. Nun aber durchschritt er, ohne
stehenzubleiben, Christians Garten und trat durch die
offene Tür.
Er traf Christian auf seiner Lagerstatt ruhend an. Ehe
Christian ein Wort sprechen konnte, beugte sich Tetahiti
über ihn und zischte ihn an: »Ist es wahr, daß ihr Weißen
es gewagt habt, das Land zwischen euch aufzuteilen und
uns zu Sklaven zu machen?«
»Wer sagt dir das?«
»Das tut nichts zur Sache! Ist es wahr?«
»Ja ... nein ...«, stammelte Christian, durch die
Plötzlichkeit der Frage verwirrt. »Laß dir erklären ...«
»Erklären! Es gibt nichts zu erklären. Ich schäme mich, dich für meinen Freund gehalten zu haben! Ein Häuptling willst du sein? Du bist nicht besser als Quintal! Nicht besser als Martin, dieser niedriggeborene Hund!« Der Weiße sprang auf und blickte den anderen so streng an, daß dieser unwillkürlich zurückwich. Dann sagte er, seinen Zorn zügelnd: »Setze dich! Du mußt wissen ...« Der Eingeborene unterbrach ihn, außer sich vor Grimm. »Genug!« Er stürzte aus dem Hause. »Warte!« rief ihm Christian voll schmerzlicher Bestürzung nach. Aber Tetahiti wandte sich nicht um. Es war später Nachmittag geworden. Die Bäume im unteren Teil von Quintais Tal erschimmerten im zarten Grün des jungen Laubes. Schon als Tetahiti noch ziemlich weit von Minariis neuem Haus entfernt war, verspürte er einen leichten Brandgeruch; als er aufblickte, bemerkte er, daß eine Rauchsäule über den Wipfeln der Bäume emporstieg. Als er den Rand der Lichtung betrat, stieß er einen Schrei des Erstaunens aus. Nur ein Haufen rauchende Asche bezeichnete die Stelle, wo das neuerrichtete Haus sich erhoben hatte. Ganz in der Nähe stand, starr und unbeweglich, in tiefes Sinnen versunken, der Häuptling. Minarii wandte das Haupt, als Tetahiti sich näherte. »Was hat sich ereignet?« »Ich sah nicht, wie es geschah. Aber es ist Quintais Werk!« Eine Weile schwiegen die beiden Männer, die rauchende Asche mit finsterem Blick betrachtend. Endlich sagte Tetahiti: »Wir wollen uns niedersetzen, Minarii. Ich habe dir Wichtiges zu berichten.«
12
Das Haus Quintais und McCoys lag seit langem im Dunkeln. Die Schlafräume befanden sich im oberen Stockwerk, durch Matten voneinander getrennt. Das Grundgeschoß wurde als gemeinsame Wohnstube benutzt. Kurz nach Mitternacht stahl sich Minarii vorsichtig aus dem Haus; sein nächstes Ziel war Christians Heim. Ein Licht brannte, denn Maimiti lag in Wehen mit ihrem dritten Kind, und einige der Frauen waren versammelt, um Balhadi, der geschicktesten Hebamme von allen, zu helfen. Minarii näherte sich mit größter Vorsicht. Am Rande der Lichtung kauerte er eine Weile nieder, lauschend und Ausschau haltend. Es war eine klare, mondhelle Nacht, und er konnte die Gestalten Christians und Youngs erkennen, die auf dem Rasen nördlich vom Hause auf und ab gingen. So heimlich, wie er gekommen war, zog sich Minarii zurück. Er überschritt den Bergkamm, wanderte jenseits den Abhang hinab und dann wieder zu der Schlucht empor, die von den Weißen Tempeltal genannt wurde, weil sie von Christian für die Ausübung der religiösen Bräuche der Eingeborenen bestimmt worden war. Der Pfad, der zu dieser Schlucht führte, war steil und wand sich zwischen Felsblöcken und den Wurzeln riesiger Bäume dahin, aber Minarii kannte hier jeden Schritt und kam trotz der Dunkelheit rasch an sein Ziel, einen Felsen, der den Weg fast versperrte. Hier blieb er stehen. »Tetahiti?« rief er mit leiser Stimme. »Hier bin ich«, ertönte die Antwort dicht neben ihm.
Kaum ein Schimmer des Sternenlichtes drang durch das
Laubwerk der hohen Bäume. Minarii setzte sich mit dem
Rücken zu dem Felsblock.
»Die anderen sind gekommen?« fragte er.
»Wir sind hier«, antwortete eine Stimme.
»Wer spricht? Nihau?«
»Ja.«
»Höret gut zu!« sagte Minarii. »Im Hause Quintais und
McCoys waren, wie ihr wißt, zwei Musketen. Ich habe
sie weggenommen, mit dem Pulver und den Kugeln, die
dazugehören. Du hast getan, was wir vereinbart haben,
Tetahiti?«
»Ich habe die Flinten aus Youngs Haus, und Nihau hat
die von Mills und Martin. Auch Pulver und Blei genug,
um sie zwanzigmal zu laden.«
»Werden denn die Waffen nicht vermißt werden?« fragte
Nihau.
»Mit dieser Gefahr müssen wir rechnen«, sagte Minarii,
»sie läßt sich nicht vermeiden. Du hast deine Axt, Te
Moa?«
»Ja, und mein Dolchmesser.«
»Ich habe meine Eisenholzkeule«, sagte Nihau. »Es gilt
mir wenig, ob ich eine Flinte habe oder nicht.«
»Du sprichst töricht«, wies Minarii ihn zurecht. »Wir
haben es nicht mit Leuten unseres Stammes zu tun.
Unsere Absicht ist, sie zu töten, und zwar rasch. Auch ich
habe meine Keule, aber ich nehme auch eine Muskete,
und du sollst das gleiche tun.«
»Es muß nun beschlossen werden, ob das Leben eines
von ihnen geschont werden soll.«
»Sprecht zuerst«, sprach Minarii.
»Ich denke an Christian«, sagte Tetahiti.
»Warte! Sprechen wir zuerst von den anderen. Fünf kann ich freudigen Herzens töten - Quintal, Williams, Martin, Mills und McCoy.« »Wir verschwenden unnütze Worte, indem wir von diesen sprechen«, warf Tetahiti ein. Nun sprach Te Moa. »Laß Williams unter meiner Axt sterben, Minarii!« »Bist du deiner so sicher, Te Moa? Williams ist stark. Du wirst uns folgen und tun, wie dir geheißen wird. Auf welche Art diese Männer getötet werden, werden wir wissen, wenn wir ihnen begegnen. Vier bleiben übrig. Tetahiti, sprich nun von Christian.« »Du verlangst Schweres, Minarii. Er ist ein tapferer und guter Mann und unser Freund.« »Unser Freund?« Verachtung war in Minariis Stimme. »Beleidigt ein Freund seine Freunde? Er ist ein Häuptling in seinem Lande. Er weiß, daß wir - du und ich Häuptlinge in dem unseren sind. Und dennoch hat er sich damit einverstanden erklärt, daß das Land zwischen seinen eigenen Leuten geteilt wird, so daß nichts für uns übrigbleibt, geradeso als wären wir Sklaven. Hätte er uns ins Gesicht gespien, die Beschimpfung könnte nicht schwerer sein.« »Dein Zorn ist begründet«, stimmte Tetahiti zu, »aber was er getan hat, tat er nicht in der Absicht, uns zu beleidigen, dessen bin ich gewiß.« »Woher weißt du das?« »Dieses hat er mir gesagt: Seine Leute haben eine Stimme im Rat, die soviel gilt wie seine eigene. Der Wille jener, die in der Mehrzahl sind, geschieht, auch wenn es ihr Häuptling anders wünscht.« »Das ist eine Lüge!« rief Minarii hitzig. »Nur eines von zwei Dingen ist möglich; entweder er ist nicht ihr
Häuptling, wie wir immer geglaubt haben, oder er will uns erniedrigen. Das erstere kann ich nicht glauben. Würde er sich wohl von solchen Hunden wie Quintal, Mills und Martin beherrschen lassen? Würde er sich in einer solch wichtigen Frage ihrem Willen beugen, wenn er uns nicht übelwollte?« »Ich habe nichts zu antworten«, sagte Tetahiti. »Ich vermag dies sowenig zu verstehen wie du. Und dennoch Christian ist mein Freund gewesen, und ich will nicht, daß er stirbt.« »Christian und Young müssen beide getötet werden«, entgegnete Minarii ruhig. »Laß sie von meiner Hand sterben. Auch wenn es so wäre, wie du sagst, begreifst du nicht, daß sie nicht leben dürfen? Das Blut ihrer Landsleute würde um Rache gegen uns schreien. Christian und Young sind Männer. Sie würden gerechte Rache an uns üben.« »Es ist wahr«, gab Tetahiti nach langem Schweigen zu. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Doch merke dir dies: Wer Christian mordet, kann nicht länger mein Freund sein.« »Sei dem, wie ihm sei«, sagte Minarii grimmig. »Die Insel ist groß genug. Du kannst mit deinen Frauen die eine Seite bewohnen, ich mit den meinen die andere.« »Brown ist dein Freund«, sprach Tetahiti. »Soll er verschont werden?« Es dauerte geraume Zeit, ehe Minarii antwortete. »Er ist wie mein Bruder, mein jüngerer Bruder. Nichts als Gutes ist in seinem Herzen. Er wird uns kommen sehen und kein Mißtrauen hegen. Wie könnten wir ihn töten!« »Wenn Christian nicht verschont werden soll, so muß auch Brown sterben«, sagte Tetahiti.
»Ich sehe ein, daß es notwendig ist«, sprach Minarii. »Du
sollst meinen Freund töten, Tetahiti, wie ich den deinen.
Aber tue es rasch, du Mann von Tupuai!«
»Meine Hand wird ruhig sein wie deine eigene. So
schnell werde ich ihn töten, wie du Christian den Tod
gibst.«
»Ich frage mich, ob dieses Land so groß sein wird, wie
ich glaubte, wenn die weißen Männer nicht mehr sind«,
murmelte Minarii bitter.
»Es mag zu klein sein, um uns beide zu fassen.«
Als Tetahiti antwortete, war der Grimm aus seiner
Stimme geschwunden.
»Genug, Minarii. Es soll keine zornigen Worte zwischen
uns geben. Ich sehe ein, daß mein Freund sterben muß.
Kannst du der Notwendigkeit gegenüber, daß den deinen
das gleiche Schicksal treffen muß, blind sein? Lebte er
als einziger unter den Mördern seiner Landsleute, würde
ihm dies nicht schlimmer erscheinen als der Tod?
Begreifst du das nicht?«
»Ich begreife es«, entgegnete Minarii kalt. »Laßt uns
nicht mehr von ihm sprechen.«
»Einer bleibt noch übrig - Smith.«
»Ein guter Mann, der keinem von uns je etwas zuleide
getan hat«, warf Nihau ein. »Übel ist die Notwendigkeit,
ihn zu töten.«
»Es gibt keine andere Möglichkeit«, sagte Minarii. »So
wie Nihau sagt, muß es sein.«
Eine Zeitlang schwiegen sie; dann nahm Minarii aufs
neue das Wort. »Ich spreche zu euch, Nihau und Te Moa.
Wir vier haben neun Männer zu töten. Wir dürfen keinen
Fehler begehen, und ihr müßt genau nach unseren
Vorschriften handeln.«
»So soll es geschehen«, versprach Nihau.
»Die Führung muß in deiner Hand liegen«, sagte Tetahiti. »Sie fällt dir zu als dem Älteren.« »Ich bin es zufrieden«, entgegnete Minarii; »doch dann müßt ihr mir gehorchen, wie ihr einem Häuptling im Kriege gehorchen würdet.« »So soll es sein«, sprach Tetahiti. »Wohl ist dies kein Krieg, und es wird eine ewige Schmach für uns sein, daß wir Menschen abschlachten wie Tiere. Aber es muß sein!« Und lange noch blieben die vier Männer beisammen, um die Einzelheiten des Planes zu besprechen. Erst gegen Morgen trennten sie sich, um die blutige Aufgabe zu erfüllen, die ihnen bestimmt war. Nahe der Bergspitze, die einen freien Ausblick auf den Kamm und die dort stehende Bank gewährte, warteten Minarii und Nihau, so wohl verborgen, daß niemand ihre Anwesenheit hätte ahnen können. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, als auf dem Weg, der zum Kamm emporführte, Stimmen hörbar wurden. Gleich darauf erschien Mills, gefolgt von Martin. Ihr Oberkörper war unbekleidet, und sie trugen oft geflickte, beim Knie abgeschnittene Matrosenhosen. Als sie die Höhe erreicht hatten, blieben sie stehen. Martin ging zur Bank und setzte sich. »Tu du, was du willst, John, ich will mich ein bißchen ausschnaufen.« »Du würdest dich den ganzen Tag ausruhen, wenn es nach dir ginge.« »Warum sollen wir uns beeilen? Wir werden noch genug schwitzen, ehe der Tag vorüber ist.« Mills setzte sich neben Martin auf die Bank. »Hast du Christian heute morgen schon gesehen?« fragte Martin nach einer Weile.
Mills schüttelte den Kopf. »Meine Alte war die halbe Nacht drüben. Diesmal ist's ein Mädel, sagt sie ...« »He, war das nicht ein Schuß?« »Ja. Wird wohl Williams gewesen sein. Er ist wieder einmal auf der Schweinejagd, nehme ich an. Aber komm jetzt, wir haben genug Arbeit vor uns.« »Sei verflucht, John! Kannst du dich nicht einmal eine halbe Stunde ausruhen? Es ist noch früh am Tage.« »Faulenze weiter, wenn du willst, du arbeitsscheuer Geselle! Ich gehe.« »Komme gleich nach«, sagte Martin. Mills machte sich auf den Weg und war jenseits des Kammes bald den Blicken des anderen entschwunden. Nihau wandte sich leise um und wollte mit einem Blick auf Minarii seine Flinte in Anschlag bringen. Der Häuptling aber hielt ihn zurück. In der Stille des frühen Morgens war kaum ein anderer Laut zu hören als das gelegentliche Krähen eines Hahnes. Martin saß, nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, auf der Bank und blickte gedankenlos auf den Erdboden zwischen seinen nackten Füßen hinab. Tetahiti und Te Moa näherten sich ihm, halb verborgen von dem hohen Farnkraut. Als sie bei ihm waren, nickte ihnen Martin herablassend zu. »So, also ihr seid auf der Schweinejagd?« sagte er spöttisch. »Und wo ist das Schwein? Erfreut sich der besten Gesundheit, was? Welcher von euch hat gefehlt? Ich habe nur einen Schuß gehört.« Die beiden Eingeborenen standen vor ihm, ohne ein Wort zu sprechen. Martin stand gemächlich auf. »Gib mir die Flinte«, sagte er zu Te Moa. »Ich werde dir zeigen, wie man mit einer Muskete umgeht; da kannst du was lernen!«
Mit katzenartiger Schnelligkeit hatte ihn Tetahiti beim Handgelenk gepackt. Im gleichen Augenblick tauchten Minarii und Nihau aus dem Gebüsch auf. Seine Flinte Te Moa übergebend, trat Nihau vor und ergriff Martins anderen Arm. Ehe der Weiße Widerstand leisten konnte, sah er sich schon in die Richtung zum Auté-Tal gezerrt. Vergeblich suchte er sich loszureißen. »Was ist los?« schrie er heiser. »Laßt mich gehen, ihr braunen Hunde! Laßt mich los, sage ich euch ...! John! John!« Als sie ihn ein Stück weitergeschleppt hatten, stiegen sie auf einen Wink Minariis einen teilweise gerodeten Abhang hinab. Martins Augen waren glasig vor Angst. Der Reihe nach starrte er auf die vier Männer. »Was wollt ihr von mir?« schrie er mit bebender Stimme. Te Moa ...! Nihau ...! Um Gottes willen, könnt ihr denn nicht sprechen?« Plötzlich versagten ihm die Beine, und er sank in die Knie. »Tragt ihn!« gebot Minarii. Endlich kamen sie zu einer Stelle, wo eine große Menge Reisig als Brennmaterial aufgestapelt war. Auf ein Zeichen des Häuptlings nahm Te Moa das dolchartige Messer, das an seinem Gürtel hing, und trat einen Schritt zurück. »O mein Gott ... nicht ... nicht ... bringt mich nicht um ...!« Dann entrang sich ein markerschütternder Schrei Martins Kehle, aber schon hatte sich Te Moa auf ihn gestürzt. Mit einem einzigen, mit aller Kraft geführten Hieb trennte er sein Haupt vom Rumpf. Kaum war der Todesschrei des Ermordeten verhallt, als Mills am Rande der Lichtung erschien, die Axt in der Hand. Plötzlich sprang Nihau zwischen den Bäumen hervor und schlug dem Nichtsahnenden, ehe dieser auch
nur daran denken konnte, sich zu wehren, mit seiner Keule den Schädel ein. Sie schleppten die beiden Leichen ins Dickicht, wo Nihau auch Mills Kopf vom Rumpf trennte. Er schnitt einen kleinen Zweig von einem Eisenholzbaum, spitzte ihn am Ende gleich einer Nadel zu und spießte den Kopf des Erschlagenen auf und befestigte ihn an seinem Gürtel aus Haifischzähnen, Te Moa tat das gleiche mit dem Kopf Martins. Auf einem von hohen Bäumen beschatteten Hügel am westlichen Abhang des Bergkammes erhob sich der Schuppen, in dem die gemeinschaftlichen Vorräte und Werkzeuge aufbewahrt wurden und zu dem Christian den Schlüssel hatte. Unweit dieses Schuppens verbarg sich Minarii im hohen Farnkraut. Nach langem Warten sah er Christian herannahen, eine Axt in der Hand. Minarii prüfte sorgsam die Ladung seiner Flinte; er wartete, bis er das gleichmäßige Geräusch der Axthiebe hörte. Leise schlich Minarii näher. Nun war er nur noch zehn Schritte entfernt. »Christian!« rief er ruhig. Christian wandte den Kopf. Als er sah, wer es war, lehnte er die Axt gegen den Baum. »Oh, Minarii.« Er streckte sich und ging auf den Häuptling zu. Plötzlich schwand das Lächeln aus seinen Zügen. »Was gibt es, Minarii?« Einen Augenblick lang blickten die beiden Männer einander ins Auge. Minarii griff mit beiden Händen nach seiner Flinte. Ein Ausdruck des Erstaunens, der Ungläubigkeit trat in Christians Augen, gefolgt von der Erkenntnis höchster Gefahr. Rasch trat er zurück, griff nach der Axt. Blitzschnell erhob Minarii die Waffe und
feuerte. Christian wankte, sank in die Knie. Dann fiel er vornüber und regte sich nicht mehr.
13
Alexander Smiths Taro-Garten lag auf sumpfigem Boden
etwa fünf Minuten von der Ansiedlung entfernt. Smith
jätete, knietief in der nassen Erde, Unkraut aus. Plötzlich
hörte er seinen Namen rufen.
Jenny tauchte aus einem Gebüsch auf und rannte
schnurstracks auf ihn zu.
»Was ist los, Jenny?« Smith unterbrach seine Arbeit.
»Komm rasch!« rief sie mit einer Stimme, die heiser war
vor Entsetzen. Sie lief ihm voran, bis sie den schützenden
Wald erreicht hatten. Keuchend, unfähig zu sprechen,
blieb sie stehen, streckte ihre mit Blut beschmierten
Hände aus. Dann brach es aus ihr hervor: »Es ist Browns
Blut, nicht meines, das du hier siehst! Tetahiti hat ihn
ermordet! Sie sind alle beisammen, Tetahiti, Minarii,
Nihau, Te Moa. Sie haben Musketen, Keulen, Messer.
Drei der Weißen sind schon tot. Wo ist Christian?«
»Im Auté-Tal...«
»Dann muß auch er tot sein! Komm rasch! Bewaffne
dich!«
»Warte, Jenny! Du sagst...«
»Wirst du endlich kommen!« Sie rang die Hände.
»Mills" Kopf habe ich gesehen! Er hängt an Nihaus
Gürtel! Jetzt suchen sie dich!«
Von Osten her ertönte ein Schuß.
»Da! Glaubst du mir jetzt? Sie jagen keine Schweine,
sondern Menschen!« Sie wandte sich um und eilte den
Abhang zu den Häusern hinab. Smith lief hinter ihr her
und packte sie bei der Hand. »Tu, was ich dir sage, Jenny.
Young schläft in seinem Haus. Geh und warne ihn. Sag
ihm, daß ich zu ihm kommen werde. Ich muß Christians
Flinte holen.«
Die Frau nickte, verschwand.
Alles war still in Christians Haus. Die Tür stand offen.
Smith schlich vorsichtig hinein. Balhadi lag schlafend
auf dem Boden nahe der Tür, die zu Maimitis Zimmer
führte. Smith berührte sanft ihre Schulter. Sie fuhr auf
und rieb sich die Augen. »Aué! Oh, du bist es, Alex. Pst!
Wir dürfen Maimiti nicht stören. Sie schläft!«
»Wo ist Christians Flinte, Balhadi?«
»Seine Flinte? Warte ... Ja, sie hängt an der Wand im
anderen Zimmer.«
»Hol sie, auch Pulver und Kugeln!«
Balhadi brachte das Verlangte. »Was gibt es, Alex?«
fragte sie leise. Smith flüsterte ihr zu, sie möge ihm in
das Nebenhaus folgen, das als Vorratshaus diente.
»Höre, Balhadi; was du gefürchtet hast, ist geschehen.
Die Maoris töten die weißen Männer ...«
»Aué!«
»Drei sind schon tot«, flüsterte Jenny. »Wo ist Young?«
»In seinem Haus, glaube ich. Geh rasch, Alex!«
»Du mußt bei Maimiti bleiben. Sag ihr nichts ...«
»Nein, nein. Geh! Beeil dich!«
Smith lief, den gebahnten Weg vorsichtig vermeidend, zu
Youngs Haus. Jenny, Prudence und Taurua standen auf
der Schwelle.
»Ned ist nicht hier«, berichtete Taurua mit zitternder
Stimme. »Ich kam vor kurzem von Maimiti. Ned ist
nirgends zu finden!«
»Du mußt ihn finden!«
»Wir fürchten uns, seinen Namen zu rufen. Zwei Schüsse
haben wir gehört ...«
»Hole meine Muskete. Rasch!«
Sie ging, brachte aber nur einen Stutzsäbel. »Die Flinten sind verschwunden, deine und die von Ned. In der Nacht müssen sie sie geholt haben.« »Dann nimm diese ... für Young.« Er gab ihr die Waffe. »Gib mir den Säbel!« »Was soll ich tun?« »Ich muß Christian finden, wenn er am Leben ist. Ihr geht auf die Suche nach Young, alle drei. Wenn ich erfahre, daß die anderen tot sind, verberge ich mich nahe dem Ziegenstall. Young soll dort zu mir stoßen.« Einen Augenblick später war er im Wald verschwunden. Taurua verbarg die Muskete, dann machten sich die drei Frauen in verschiedenen Richtungen auf die Suche. Taurua fand Young auf einem begrasten Abhang schlafend auf. Sie rüttelte ihn wach, umschlang ihn in tiefster Bewegung und unterrichtete ihn rasch von dem Vorgefallenen. Schweigend starrte er sie an. »Ned! Bist du wach?« schrie sie. »Verstehst du, was ich dir gesagt habe?« »Nur zu gut. Alex gab dir eine Muskete für mich? Warum erlaubtest du ihm das?« »Er ist stärker als du. Er kann sich auch mit einem Säbel verteidigen.« Young erhob sich. »Ich muß sogleich zu ihm. Wo ist die Muskete?« Der Weg zum Haus war nicht weit. Prudence und Jenny waren schon zurückgekehrt. Von den Fenstern im ersten Stockwerk aus hielten sie Ausschau. Taurua holte die Flinte. Young hatte sich gerade niedergesetzt, um sie zu laden, als Prudence leise die Warnung ausstieß: »Verbirg dich, Ned ...! Minarii!« Taurua packte Youngs Arm und zog ihn ins Nebenzimmer. Zwei große Schränke standen dort. Young
kauerte sich zwischen ihnen nieder; Taurua warf ein
großes Stück Tapa über ihn. Jenny verbarg sich hinter
den Vorhängen der Bettstatt. Prudence blieb beim
Fenster. Leise sang sie ihrem Kind ein Lied vor. Taurua
eilte in die Wohnstube zurück und setzte die Arbeit fort,
in der sie früher gestört worden war.
Minarii erschien auf der Schwelle. Er trug jetzt nur eine
Muskete bei sich. Taurua blickte auf, mit einem Versuch,
zu lächeln. Zu sprechen wagte sie nicht, aus Angst, der
Klang ihrer Stimme könnte sie verraten.
»Wohin gehst du, Minarii?« fragte Prudence statt ihrer.
»Warst du es, der heute morgen Schweine jagte?«
»Ja«, entgegnete er, »Williams und ich. Wo ist Young
hingegangen, Taurua?«
»Er fischt drunten in der Bucht. Schon am frühen
Morgen ging er fort.«
Der Häuptling blickte sich in der Stube um, dann nickte
er den beiden Frauen zu und ging.
Prudence blieb am Fenster. »Wir haben ihn irregeführt,
Taurua. Er glaubt, daß wir nichts wissen ... Er ist schon
außer Sicht.«
Einen Augenblick später rannte Young aus dem Haus
und verschwand im Wald.
Die drei Frauen saßen auf der Bank vor der Haustür und
sprachen leise miteinander.
»Tetahiti ermordete meinen Mann!« berichtete Jenny mit
blitzenden Augen. »Das Tier! Der elende Hund! Aué!
Aué! Dann fesselte er mich, aber ich konnte mich
befreien.«
Sie barg ihr Gesicht in den Händen, von Grauen
geschüttelt. Aber sie weinte nicht. Noch war die Zeit für
Tränen nicht gekommen.
Sie sprachen mit leiser Stimme, warteten, lauschten. Aber sie hörten nichts als das Krähen der Hähne im Wald und das Rauschen des Windes in den Ästen. Prudences Kind erwachte und begann zu weinen. Sie nahm es auf den Arm, beruhigte es. Taurua legte eine Hand auf Jennys Arm. »Horch!« Dann tauchten Mary und Sarah aus dem Walde auf, die Kinder auf dem Arm. Taurua und Jenny liefen ihnen entgegen. Mary schluchzte hemmungslos. »Du weißt es, Taurua? Sind sie hier gewesen?« stieß sie mühsam hervor. »Sagt uns rasch ... sind eure Männer tot?« »Sie müssen tot sein!« flüsterte Sarah. »McCoy hat nur sein Messer. Quintal hat gar keine Waffe. Wie könnten sie entkommen? Aué! Prudence! Weißt du, daß dein Mann tot ist?« Mary war sogleich, nachdem sie das Haus betreten hatte, zu Boden gesunken und dort liegengeblieben. Taurua bemühte sich um das Kind der halb Ohnmächtigen. Sarah hatte sich nun soweit gefaßt, daß sie Auskunft geben konnte. »Ich brachte meinem Mann eine Axt, die ich für ihn geschliffen hatte. Da kamen Minarii und Te Moa und nahmen sie mir ab. Im gleichen Augenblick trat mein Mann aus dem Wald, ein Bündel Bretter auf der Schulter. Ich warnte ihn ... schrie. Minarii und Te Moa schossen auf ihn, aber sie müssen ihn verfehlt haben, denn er rannte in den Wald zurück.« »Und McCoy?« »Er war noch im Haus. Ich lief hin, um ihn zu warnen, und ehe sie kamen, um zu suchen, konnte er flüchten.« Ihr weiteres leises Gespräch wurde ohne Unterlaß durch Marys hemmungsloses Weinen unterbrochen. Vergeblich suchten sie die Frau zu beruhigen. Sie klammerte sich mit aller Kraft an Taurua an. Sarah war selbst nahe daran,
ihre Fassung zu verlieren, beherrschte sich jedoch. Plötzlich hob Mary den Kopf. Unbeschreibliches Grauen war in ihren Augen. »Kommt!« keuchte sie. »Wir müssen uns verbergen! Auch uns werden sie morden! Ja ... uns alle werden sie töten! Pst...! Habt ihr nichts gehört?« Sie sprang auf, sah mit wildem Blick zur Tür, Taurua sprach sanft auf sie ein. »Beruhige dich, Mary! Du bist nicht in Gefahr. Keiner von uns wird ein Leid geschehen ...« »Doch, doch! Ihr habt sie nicht gesehen! Sie sind wie Haifische ... mit Blut bespritzt...!« Endlich gelang es, die dem Wahnsinn Nahe in das andere Zimmer zu bringen. Ihr Schluchzen wurde ruhiger. Dann verstummte es. »Sie wird schlafen, die Arme«, sagte Jenny. Sie hielt Marys zweijähriges Söhnchen auf dem Schoß »Was wird aus ihrem Sohn werden, wenn er seiner Mutter nachgerät?« Taurua blickte auf den Weg hinaus. »Ich muß zu Maimiti zurückkehren. Balhadi sitzt allein bei ihr. Bleibt hier, ihr drei!« »Und ich soll untätig zusehen, wie alle unsere Männer ermordet werden?« rief Jenny. »Nein, das tue ich nicht!« »Wie kannst du helfen?« »Eines zumindest kann ich tun. Mein Mann liegt vor unserem Haus auf der Erde, eine Beute der Ameisen. Seine Leiche soll nicht länger dort liegen. Kommst du mit mir, Prudence?« »Nein, nein, Prudence! Bleibe bei mir!« bat Sarah. »Laßt mich nicht allein mit Mary!« »Hier kann dir nichts geschehen«, sagte Taurua. »Wenn sie die Absicht gehabt hätten, uns zu töten, hätten sie es
dann nicht schon längst getan? Jenny hat recht. Es muß etwas geschehen, um unseren Männern zu helfen. Geh, Jenny, suche Hutia. Sie wird dich begleiten. Wenn du die Leiche deines Mannes geborgen hast, trachte zu erforschen, wer noch am Leben ist. Suche Alex und Young; laß sie wissen, daß wir glauben, McCoy und Quintal seien noch am Leben.« »Ich gehe«, sagte Jenny. Es war am späten Nachmittag. Prudence saß allein auf der Bank vor Youngs Haus. Sarah und Mary waren drinnen und wisperten miteinander. Mary war ruhig geworden. Drei Stunden waren vergangen, und nichts war während dieser Zeit zu hören, nichts zu sehen gewesen. Dann kam Taurua wieder. »Jenny ist noch nicht zurückgekehrt?« fragte sie. Prudence schüttelte den Kopf. »Wir haben niemanden gesehen, seit du weggingst.« Taurua ging in das Küchenhaus und brachte Speisen, die sie auf den Tisch stellte. »Ihr solltet essen, Prudence und Mary, um eurer Kinder willen.« Die größeren Kinder stürzten sich gierig auf das Essen, aber die Frauen wiesen jede Speise zurück. Nun, da Taurua wieder da war, wagten sich Mary und Sarah zur Bank vor dem Haus. Dort saßen die Frauen, sprachen kaum, blickten von Zeit zu Zeit angstvoll auf den Weg. »Maimiti weiß noch von nichts?« fragte Prudence nach langem Schweigen. »Sie war gerade erwacht, als ich zurückkam«, entgegnete Taurua. »Sie ist so glücklich mit ihrer kleinen Tochter. Sie sagte zu mir: »Nun habe ich alles, was ich mir wünschte.« Immer wieder schickte sie mich oder Balhadi
zur Tür, um nachzusehen, ob Christian noch nicht komme. Wie konnten wir es ihr sagen? Wie? Wer hätte es tun können?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aué, Maimiti, 'ti e!« Und alle Frauen begannen, um die Mutter des neugeborenen Kindes zu weinen. »Was wird sie tun, wenn sie es erfährt?« fragte Sarah endlich. »Daran dürfen wir jetzt nicht denken«, antwortete Taurua, ihre Augen trocknend. »Auch wissen wir nicht, ob Christian tot ist. Laßt uns hoffen, solange wir können.« Die Sonne verschwand bereits hinter dem westlichen Bergkamm, als Jenny zurückkehrte. Hutia und Susannah begleiteten sie. Ihre Taparöcke waren zerrissen und schmutzig und ihre Arme und Beine mit Schrammen bedeckt. »Nun, Jenny?« fragte Taurua begierig. Die Frauen atmeten mühsam. »Gib uns Wasser«, sagte Jenny, »unsere Kehlen sind trocken.« Sie tranken gierig. »Wir haben Minarii und Nihau gesehen, sonst niemanden. Sie kamen ganz dicht an der Stelle vorbei, an der wir verborgen lagen. Hätten wir Flinten gehabt, wir hätten sie erschießen können.« »Dort, wo Christian in den letzten Tagen zu arbeiten pflegte«, setzte Hutia hinzu, »sahen wir eine Axt an einen halb durchgesägten Baum gelehnt. In der Nähe waren Blutspuren, aber was geschehen ist, konnten wir nicht ergründen. Wir suchten überall, doch wir fanden ihn nicht.« »Wir wollen hoffen, daß alle, die noch leben, jetzt beieinander sind«, sagte Taurua. »Aber was können sie tun, da sie keine Waffen haben?« »Ned hat eine Muskete, Smith einen Säbel. Quintal ist geradeso stark wie Minarii. Er hat sich sicherlich im
Walde eine Keule abgeschnitten. Wir haben noch Grund, zu hoffen, sage ich euch!« »Glaubst du, daß Minarii rasten wird, ehe alle tot sind? Niemals! Er weiß wohl, daß er selbst seines Lebens nicht sicher ist, solange noch einer der Weißen lebt!« »Du hast recht!« nickte Susannah bekümmert. »Wir werden keinen Frieden haben, solange nicht die einen oder die anderen vollkommen vernichtet sind.« »Wer will Frieden, solange die vier Mörder am Leben sind!« rief Jenny leidenschaftlich. »Ich sah Tetahiti meinen wehrlosen Mann kalten Blutes niederschießen. Glaubst du, daß ich ruhen werde, ehe er selbst tot ist?« »Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte Taurua traurig. »Es ist schon genug Blut vergossen worden.« Sie brach ab. Ein Flintenschuß ertönte ganz in der Nähe. Mary lief ins Haus, die Hände gegen die Ohren gepreßt. Die anderen Frauen erhoben sich rasch und blickten einander an. »Wir wollen hineingehen und das Haus bereitmachen«, sagte Taurua. »Vielleicht sind einige der weißen Männer auf dem Weg hierher, um sich zu verteidigen.« »Und einer von ihnen liegt vielleicht tot - hier in der Nähe«, rief Jenny aus. »Ich muß wissen, was geschehen ist ...« Und ohne ein weiteres Wort lief sie in den Wald hinein. Sie folgte der Richtung, aus der der Schuß gekommen war. Jenseits des Waldes war bebauter Grund. Niemand war zu sehen. Schon wollte sie ihren Weg an den Pflanzungen vorbei fortsetzen, als sie, halb von Pisangsträuchern verborgen, einen Säbel auf der Erde liegen sah. In der Nähe war das Gras von frischem Blut rot gefärbt; Fußspuren zeigten sich im feuchten Erdreich.
Und dann stieß sie auf Alexander Smith, der, mit dem Gesicht nach unten, leise stöhnend auf dem Boden lag. Sie kniete neben ihm nieder und richtete ihn auf. Sein Kopf lehnte an ihrer Schulter. Dann öffnete er wie schlaftrunken seine Augen. »Jenny?« flüsterte er. Die Kugel war in seine Schulter gedrungen und beim Hals herausgekommen. Atemlos rannte Jenny zum Haus zurück und kehrte gleich darauf mit Taurua und Hutia zurück. Mühsam hoben sie ihn auf. Eine Viertelstunde später war er auf Youngs Lagerstatt gebettet. Rasch arbeiteten die Frauen und schweigend. Susannah brachte Wasser herbei, während Taurua und Jenny das Blut stillten und die Wunde verbanden. Smith war jetzt bewußtlos und sein Gesicht geisterhaft bleich. Hutia hielt bei der Türe Wache, Prudence beim Fenster. Die Sonne war untergegangen; immer dunkler wurde es im Raum. »Sie haben ihn für tot gehalten«, sagte Jenny. »Wir müssen bereit sein, wenn sie kommen. Ich hole jetzt Balhadi. Wenn ihr einen von ihnen kommen seht, bedeckt Alex sogleich mit einem Tapamantel, so als ob er tot wäre, und kniet alle an seinem Bett nieder, unter Jammern und Wehklagen. Dann werden sie euch glauben und euch nicht behelligen. Balhadi soll sich mit einem Pachino die Haut aufritzen. Wenn sie das Blut über ihr Gesicht strömen sehen, werden sie glauben, daß ihr Mann tot ist.« »Wir wollen so tun, wie du sagst«, stimmte Jenny zu. »Eile dich, Taurua. Balhadi soll keine Zeit verlieren.« Auf dem Weg zu Christians Haus traf Taurua Nanai. »Du magst mich hassen, wenn du willst, Taurua«, sagte Nanai, »um dessentwillen, was mein Mann heute getan hat, doch glaube mir: Ich habe nichts von ihren Plänen gewußt, und Moetua ist so unschuldig wie ich selbst.«
»Ja, ich will dir glauben«, entgegnete Taurua, »aber das wird den Ermordeten das Leben nicht wiedergeben. Sprich rasch, wenn du mir noch mehr zu sagen hast, ich habe Eile.« »Dein Mann lebt...« Taurua griff hart nach Nanais Arm. »Weißt du das sicher? Wo ist er?« »Auf dem Ziegenberg, an einer Stelle verborgen, wo sie ihn nie finden werden. Ich habe ihm die Stelle gezeigt und ihn hingeführt.« Taurua sah sie forschend an. »Wir sind seit langem Freundinnen. Nein, du betrügst mich nicht.« Nanais Augen füllten sich mit Tränen. »Du bist immer wie eine Schwester zu mir gewesen, Taurua, und Ned wie ein Bruder. Frage dein Herz, ob ich niedrig gegen dich handeln könnte. Doch eines verlange ich von dir. Wenn Ned gerettet wird, so muß er Rache brüten. Besänftige ihn. Tetahiti ist mein Gatte!« »Ich will tun, was ich kann, Nanai.« »Minarii ist schrecklich in seinem Zorn, aber seine Mordlust hat nur kurzes Leben. Ned braucht nur verborgen zu bleiben, und alles wird gut werden.« »Alex ist schwerverwundet. Wir haben ihn in unser Haus gebracht. Über Christians Schicksal wissen wir nichts.« »Höre, Taurua, Moetua ist in der Nähe. Wir werden auf die Suche nach Christian gehen. Vielleicht können wir ihm helfen, wenn er noch lebt. Tu, was du kannst, um den Zorn der anderen gegen uns zu besänftigen. Was unsere Männer getan haben, ist getan. Es kann nicht vergeben werden, aber laß sie wissen, daß Moetua und ich keinen Anteil daran haben.«
»Das will ich tun, aber haltet euch vorläufig fern von ihnen, inbesondere von Jenny, Hutia und Prudence. Ihre Männer sind von den euren ermordet worden.« »Wir werden uns vor ihnen verbergen«, sagte Nanai. Sie umarmte Taurua und verschwand dann im Dämmer des Waldes. Balhadi hatte Taurua kommen sehen. Auf der Schwelle flüsterten die beiden Frauen miteinander. »Er wird leben, Balhadi«, schloß Taurua ihren hastigen Bericht. »Aber tue, wie ich dir gesagt habe, wenn Minarii und die anderen kommen. Bedecke Alex, wie man eine Leiche bedeckt, und wehklage, wie man um einen Toten wehklagt.« Balhadi ging. Kurz darauf hörte Taurua Maimitis Stimme. Rasch ihre Augen trocknend, betrat sie den Raum, in dem die junge Mutter lag. »Balhadi ist nach Hause gegangen, Maimiti.« »Oh, du bist es, Taurua! Christian ist noch nicht zurückgekehrt?« »Nein, noch nicht. Soll ich eine Kerze anzünden?« »Es ist nicht nötig, ich liebe das Dämmerlicht des Abends. So gut habe ich geschlafen! Sieh nur, Taurua, wie sie saugt! Wo kann Christian nur sein? Er sagte mir, daß er am frühen Nachmittag zurückkommen werde, und nun ist die Sonne schon untergegangen!« »Bald wird er hier sein.« »Gehe ihm entgegen, du Gute! Er muß sicherlich bald kommen. Was für ein merkwürdiger Vater er ist! Man sollte glauben, jeden Tag werde ihm ein Töchterchen geboren. Geh rasch, Taurua! Sage ihm, er möge sich eilen!« Taurua nickte und wandte sich rasch ab. Einen Augenblick lang stand sie vor der Tür und blickte den
Weg entlang, der im schwachen Abendlicht kaum mehr zu erkennen war. Dann setzte sie sich auf die Bank vor dem Hause und barg ihr Gesicht in den Händen.
14
Arn Spätnachmittag desselben Tages sandte Minarii Te Moa, mit dem er auf der Suche nach neuen Opfern die Insel durchstreift hatte, zu dem vereinbarten Platz, wo Tetahiti und Nihau auf Nachricht warteten. Er selbst legte sich an einer Stelle oberhalb der steil ins Meer abfallenden Klippen, von der aus man nicht nur mehrere Wege, sondern auch den Strand überblicken konnte, auf die Lauer. Stunde um Stunde lag er unbeweglich im Gesträuch versteckt. Endlich, gegen Abend, hörte er in der Nähe Schritte. Er griff nach seiner Flinte und spähte durch das Blätterwerk. Zwanzig Meter von ihm entfernt teilte sich das Gestrüpp, und Matthew Quintal trat heraus, sich vorsichtig umsehend. Seine Augen blickten verstört, seine riesigen Arme waren mit Wunden und Schrammen bedeckt. Er blieb stehen, duckte sich und hielt, die Augen mit der Hand schützend, Ausschau. Feuerwaffen - ja sogar Pfeil und Bogen - galten bei den Männern der Südseeinseln als eines wahren Kriegers unwürdig, und Minarii haßte Quintal so grimmig, daß ihn danach verlangte, ihn mit den bloßen Händen zu töten. Er legte die Muskete behutsam neben seine Keule auf die Erde und trat ins Freie, düstere Freude im Blick. Dann straffte er die riesigen Muskeln seines linken Armes und schlug mit der Rechten darauf. Dies Zeichen zum Kampf klang wie ein Pistolenschuß. Quintal wandte sich jählings um und stürzte mit einem tierischen Gebrüll auf Minarii los. Der Häuptling holte aus und traf das Kinn des Weißen mit einem furchtbaren Hieb. Nur sein mächtiger
Stiernacken rettete Quintal; er blinzelte, wankte, warf sich auf seinen Gegner, packte ihn unter den Armen, umklammerte ihn mit stählernem Griff. Minarii stöhnte auf, aber schon im nächsten Augenblick bohrte er seine Daumen tief in den Hals des Weißen. Quintal traten die Augen aus den Höhlen, aber mit übermenschlicher Anstrengung hob er ein Knie und stieß es dem anderen in den Leib. Stöhnend vor Schmerz ließ Minarii los, und schon hatte ihn Quintal zu Boden gebracht. Doch auch er selbst fiel in der Gewalt des Sturzes nieder. Lange rangen sie so. In der Erregung des Kampfes hatte keiner der beiden Männer bemerkt, daß sie sich immer mehr dem Rande des steilen Absturzes näherten. Plötzlich gab ein Felsblock unter Minarii nach; er suchte sich mit der linken Hand festzuhalten, aber Quintal versetzte ihm einen Stoß; er sauste kopfüber in die Tiefe. Schwer atmend blickte Quintal, der sich im letzten Augenblick frei gemacht hatte, über den Felsrand hinab und sah gerade noch, wie der Körper seines Feindes von einem hundert Meter tiefer gelegenen Vorsprung abprallte ... stürzte ... immer tiefer - und endlich am Fuße der Wand regungslos liegenblieb. Quintal konnte kaum stehen. Seine Augen schwollen rasch an, er war über und über mit Kratzwunden bedeckt, sein Hals trug die Spuren der Finger des Toten. Er schluckte mühsam, spie Blut aus; dann hinkte er über den Grat dem westlich gelegenen Tal zu. Einen Augenblick später lag der Kampfplatz so ruhig da wie zuvor. Prudence und Hutia saßen in Mills` Haus. Die Jüngere streichelte von Zeit zu Zeit den Kopf ihres schlafenden Kindes, das sie auf den Knien hielt. Leise öffnete sich die Tür. Hutia fragte erbebend: »Wer ist da?«
»Ich bin es, Jenny!«
Sie schloß die Tür und tastete sich durch den dunklen
Raum.
»Höre!« wisperte sie hastig. »Unsere Gelegenheit ist
gekommen! Habt ihr den Mut, sie zu ergreifen?«
»Was meinst du? Sprich!« sagte Prudence.
»Seid ihr bereit, die Mörder unserer Männer zu töten?«
Prudence erhob sich, legte ihr Kind auf eine Lagerstatt
und trat dich an Jenny heran.
»Was hast du vor?«
»Ich habe Tetahiti, Nihau und Te Moa schlafend
aufgefunden. Te Moa liegt, gegen einen Baum gelehnt,
ein wenig von den anderen entfernt. Seine Flinte hat er
zwischen den Knien. Er sollte Wache halten, aber der
Schlaf hat ihn übermannt. Wir haben eine Axt und zwei
Säbel. Sind eure Herzen stark? Werden eure Arme nicht
zittern?«
»Die meinen nicht«, sprach Hutia grimmig.
»Laßt mich Nihau den Tod geben«, sagte Prudence mit
ihrer sanften Stimme.
»Und mir gehört Tetahiti!« fügte Jenny hinzu.
»Ich werde das Meine tun«, nahm Hutia wieder das Wort.
»Eita e peapea ... Alle drei sollen sterben! Aber Minarii,
wo ist er?«
»Vielleicht ist er auf dem Weg hierher«, entgegnete
Jenny. »Wir müssen uns beeilen. Der Mond wird bald
untergehen. Nehmt die Säbel und überlaßt mir die Axt.«
Sie standen auf und nahmen die Waffen zur Hand.
Prudence beugte sich einen Augenblick lang über ihr
schlafendes Kind, ehe sie das Haus verließ.
Eine Stunde verging, und der Mond stand tief über dem
westlichen Bergrücken. Quintal war auf dem Weg zur
Ansiedlung. Langsam und vorsichtig hinkte er durch das Gebüsch. Plötzlich hielt er mit angehaltenem Atem inne und bückte sich mit einem Fluch. Als er sich wieder erhob, hielt er Te Moas vom Körper abgetrennten Kopf in der Hand. Er sah sich um, ging zu einem wenige Meter entfernten Baum und blieb jählings stehen, als er die Leichen Tetahitis und Nihaus auf dem Boden liegen sah. »Alle tot!« murmelte er. »Wer kann das getan haben?« Mit drei Musketen unter dem Arm setzte Quintal seinen Weg zu den Häusern fort. Licht brannte in Mills Haus, aber die Fenster und Türen waren verrammelt. Quintal pfiff leise, gleich darauf rief Jenny mit unsicherer Stimme: »Wer ist da?« Er gab sich zu erkennen. Die Tür wurde geöffnet, er trat ein. Prudence saß auf dem Boden und säugte ihr Kind. Hutia sprang erregt auf, als sie seiner ansichtig wurde. »Wo ist Minarii?« fragte Jenny, während sie die Tür verriegelte. »Tot. Ich habe ihn umgebracht. Wer von den Unseren ist ermordet worden?« Nachdem Jenny ihm kurz Auskunft gegeben hatte, fragte er: »Wo ist Will McCoy?« Sie schüttelte den Kopf. »Wer hat die Männer getötet, die ich dort drüben im Gebüsch gefunden habe?« fuhr er fort. Die drei Frauen blickten einander an. Endlich sprach Jenny: »Wenn ich es dir sage - wirst du darüber schweigen?« »Ja, das werde ich!« »Sie waren die Mörder unserer Männer. Wir töteten sie, während sie schliefen.« »Verflucht! Weiberwerk war das also?«
»Höre! Es war unser Recht und unsere Pflicht, sie zu
töten. Aber ihre Frauen mögen anderer Ansicht sein. Sie
dürfen die Wahrheit nicht erfahren. Genug Unglück ist
diesem Lande schon widerfahren. Willst du den anderen
sagen, daß die drei von deiner Hand fielen?«
»Ja, wenn du willst; warum nicht?«
»Nicht einmal Sarah wird die Wahrheit erfahren?«
»Nein; wo ist sie?«
»In Youngs Haus.«
Quintal hinkte zu Mills' Bett und legte sich nieder.
Stunden vergingen; die Frauen wisperten erregt
miteinander und zündeten immer wieder frische Kerzen
an. Endlich verblaßten die Sterne; der Morgen dämmerte
herauf.
Als Hutia hinausgegangen war, um die Hühner zu füttern,
näherten sich Mary und Sarah dem Hause mit McCoys
Kindern und Quintais Söhnen. Sarah fragte: »Wo ist er?«
»Er schläft noch.«
Während die Frau ins Haus eilte, fragte Mary mit vom
Weinen geröteten Augen: »Hat Matt meinen Mann
gesehen?«
Prudence zuckte die Achseln. Sie fühlte nur Verachtung
für dieses hilflose, schwache Weib.
Sarah kniete neben Quintais Bett. Er öffnete die Augen.
Sein zweijähriges Söhnchen versuchte, am Bettrand
emporzuklettern. Die Augen seines Vaters erhellten sich,
und er lächelte.
»Komm, Matty!« Er hob den Knaben zu sich herauf.
»Ein feiner Junge! He, Alte!«
»Wo ist McCoy?« fragte sie.
»Tot, glaube ich. Wir müssen ihn suchen.«
Er stand auf, hinkte zur Tür hinaus, ging zur Regentonne
und goß sich Wasser über den Kopf. Sein verletztes Bein
war während der Nacht angeschwollen; er konnte nur mit großer Mühe gehen. Sarah breitete nahe der Tür eine Matte für ihn aus und bereitete ihm ein Frühstück. Jetzt erst kam ihm die Katastrophe richtig zum Bewußtsein. Will McCoy tot - wie konnte es anders sein? - und Christian auch. Und John Williams ... und der alte Mills. Hunde, Mörder, diese Indios ... Verflucht, warum konnten sie nicht Frieden halten? Alex Smith würde wohl auch sterben, nach dem, was die Weiber sagten. Quintal stieß einen tiefen Seufzer aus und hob den Kopf. »Sarah«, sagte er zu der neben ihm sitzenden Frau, »geh mit Mary Will McCoy suchen. Die Kinder können bei mir bleiben. Am Ende lebt er noch; ruft nach ihm von Zeit zu Zeit.« Sarah nickte und machte sich bereit, aber Mary wollte nur, wenn Jenny sie begleitete, einen anderen Teil der Insel durchsuchen. Sarah wandte sich nach Osten, während die beiden anderen durch das Haupttal dem Berggrat zustrebten. Die Sonne war schon seit einer Stunde aufgegangen, der Morgen kühl und wolkenlos. Sarah blickte sich angstvoll nach allen Seiten um. Immer wieder rief sie: »Will! Will McCoy!« Aber ihre Rufe verhallten lange ungehört. Dann endlich hörte sie ein Rascheln im Gebüsch, und eine heisere Stimme rief: »Sarah? Bist du allein?« »Ja.« McCoy tauchte aus dem Gebüsch auf. Sein Gesicht war eingefallen, mit drei Tage alten Bartstoppeln bedeckt. Er starrte sie verstört an. »Wo ist Matt?« fragte er leise. »Im Haus. Komm mit mir. Sie sind alle tot.« »Wer?«
»Die Maoris ... die Männer, meine ich.«
»Und die Weißen?«
»Komm mit! Quintal wird dir alles sagen.«
»Sprichst du die Wahrheit?«
»Ja!«
Eine Ratte oder Eidechse raschelte im Laub. McCoy fuhr
zusammen und sah sich zu Tode erschrocken um.
Mißtrauisch sah er die Frau an.
»Hole Matt! Wenn er es bestätigt, will ich dir glauben.«
Sarah zuckte müde die Achseln. »Du brauchst nichts zu
fürchten. Aber ich will Matt holen.«
Während McCoy auf die Ankunft seines Freundes
wartete, wanderte Taurua längs des westlichen Randes
der Hochfläche, in der Richtung auf Christians
Yamplantage. Von Zeit zu Zeit rief sie leise: »Moetua!
Nanai!« Endlich fand sie in einem Dickicht nahe dem
Wege, der zum Grat führte, die Gesuchten.
Die beiden Frauen saßen neben einer primitiven
Tragbahre, auf der Christian lag, totenbleich, mit
geschlossenen Augen.
Nur sein mühsames, schwaches Atmen ließ erkennen,
daß er lebte.
Moetua und Nanai kühlten seine Stirn mit in Wasser
getauchtem Rindenstoff.
»Was hast du uns zu berichten?« fragte Moetua mit
zitternder Stimme, als sie Tauruas ansichtig wurde.
Taurua schlug die Augen nieder und holte tief Atem.
»Ich bringe schlimme Botschaft!«
»Sprich!«
»Eure Männer ... sie sind tot ... beide. Auch Te Moa und
Nihau.«
Moetua erbleichte. Nach langem Schweigen sagte sie:
»Die Götter haben uns vergessen. Es liegt ein Fluch auf
diesem Lande.«
Nanai stand stumm, mit gesenktem Haupte da.
Wieder sprach Moetua: »Wer tötete Minarii?«
»Quintal hat sie alle getötet.«
»Young hatte dabei nicht die Hand im Spiel?«
»Nein.«
Moetuas Augen standen voll Tränen, als sie Taurua
gerade ins Gesicht blickte. »Bist du dessen sicher?«
»Ich schwöre es dir.«
Taurua wandte sich ab und kniete neben Christian nieder.
»Das Fieber verzehrt ihn. Er muß in Youngs Haus
gebracht werden.«
»Geh zurück zu Maimiti. Wir werden ihn
hinunterschaffen.«
Als Taurua gegangen war, saßen die beiden Frauen einen
Augenblick lang schweigend, mit gesenktem Kopf und
starren Augen da.
Dann faßten sie die beiden Enden der Tragbahre und
machten sich auf den Weg.
Young und Balhadi saßen neben dem Bett, in dem Smith,
bewußtlos, mit geschlossenen Augen, lag.
Ohne ein Wort des Grußes traten die beiden Frauen ein
und stellten die Tragbahre neben dem anderen Bett
nieder. Sie hoben Christian auf das mit frischem Tapa
überzogene Lager. Young wollte sprechen, aber als er
einen Blick in Moetuas Gesicht geworfen hatte, schwieg
er. Noch immer schweigend, wandte sie sich ab und
winkte Nanai, ihr zu folgen.
Schon kniete Young neben Christian. Er lauschte den
Atemzügen des Verwundeten, öffnete behutsam das
Hemd, entfernte den Verband und blickte ernst auf die
Wunde.
»Wird er am Leben bleiben?« fragte Balhadi angstvoll.
»Er muß!« antwortete Young sehr leise. »Er muß und er
wird leben.«
15
Das amerikanische Segelschiff Topaz steuerte im Februar des Jahres 1808 mit vollen Segeln gen Osten. Sein Kapitän, Mayhew Folger, war einer jener Seeleute, die um jene Zeit begannen, das Kap Hoorn zu umschiffen und sich in die noch kaum bekannte Südsee hinauszuwagen, um Seehundfelle und Tran heimzubringen und mit den Inselbewohnern Tauschhandel zu treiben. Die Topaz war ein kleines, aber gutes Schiff, wohl imstande, jedem Sturm zu trotzen. Die Küste von Peru lag nun bereits über tausend Seemeilen hinter ihr. Der Kapitän ging gegen Mittag in die Kajüte hinunter, um seine Berechnungen anzustellen und das Mittagessen einzunehmen. Vorher gab er dem Maat die Weisung: »Behalten Sie den Kurs bei, Herr Webber.« Der Maat war ein Engländer, etwa dreißig Jahre alt, ein Mann, dessen Züge Ernst, Festigkeit und Zurückhaltung ausdrückten. Es war Hochsommer auf der südlichen Halbkugel, der Himmel war wolkenlos; gemächlich glitt das Schiff, von einem sanften Nordostwind getrieben, dahin. Es schlug zwei Glasen; gleich darauf verkündete der Mann im Mastkorb, daß er in einer Entfernung von etwa 35 Meilen Land gesichtet habe. Gleich darauf erschien der Kapitän auf Deck, ein altmodisches Fernglas in der Hand, das er dem Maat reichte. »Steigen Sie hinauf, Herr Webber, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.« »Eine gebirgige Insel, Sir, soviel ich erkennen konnte«, berichtete Webber, als er wieder herabgestiegen war.
»Hm, da könnte es Seehunde geben. Steuern wir jedenfalls einmal darauf zu.« Ais Webber die notwendigen Befehle gegeben hatte, fuhr der Kapitän fort: »Eine Entdeckung, so wahr ich ein Yankee bin! Hierherum ist nichts eingezeichnet als die Insel Pitcairn, und die soll Carteret zufolge 150 Meilen westlicher liegen.« Nur langsam näherte sich das Schiff dem Land, denn der Wind hatte sich gelegt. Gegen Tagesanbruch war man jedoch bis auf zwei Meilen Entfernung an die Insel herangekommen. Kapitän Folger kam im Morgengrauen auf Deck. Als er gerade im Begriff stand, sein Teleskop einzustellen, rief der Maat voll Erstaunen: »Rauch, Sir! Dort oberhalb der Felsen!« Der Kapitän blickte einen Augenblick lang durch das Fernrohr. »Ja, so ist es! Die Insel ist bewohnt. Na, da können wir unsere Hoffnungen auf Seehunde begraben ... Und unsere Wasserfässer sind halb leer! Die Bewohner sind wahrscheinlich Wilde, die uns feindlich entgegentreten werden.« »Außerdem könnte auch kein Boot auf dieser Seite landen, Sir. Sehen Sie nur die Steilküste und die Brandung!« Folger, der wieder durch sein Glas sah, nickte. »Keine Spur von einer Landemöglichkeit ... Aber, hallo, was ist das? Da kommt ja ein Kanu! Mit drei Leuten drin!« Eine Viertelstunde später war das Boot, ein langes, schmales Fahrzeug, ganz nahe herangekommen. Die Insassen blickten auf die Topaz mit Bewunderung, die mit Angst gemischt zu sein schien. Trotz wiederholter Aufforderung, an Bord zu kommen, rührten sich die Leute im Kanu nicht. Es waren junge Burschen, von
denen der älteste höchstens achtzehn Jahre alt sein
konnte.
Wenn es Eingeborene waren, so waren sie jedenfalls von
hellerer Hautfarbe als alle, die die Seeleute bis jetzt zu
Gesicht bekommen hatten.
Endlich rief einer der Paddler: »Ist das ein englisches
Schiff?«
»Was bedeutet das, zum Teufel!« murmelte Folger; dann
rief er zurück: »Nein. Ein Amerikaner.«
Die drei jungen Leute blickten einander an und schienen
zu beraten.
»Wer seid ihr?« fragte Folger.
»Oh, wir sind Engländer.«
»Wo seid ihr geboren?«
»Auf der Insel dort.«
»Wieso seid ihr Engländer?«
»Unser Vater ist ein Engländer«, klang es ruhig zurück.
»Wer ist euer Vater?«
»Alex.«
»Wer ist Alex?«
»Was, Sie kennen Alex nicht?«
»Woher sollte ich ihn kennen?«
Der junge Mann im Kanu sah den Kapitän ernst an, dann
beriet er aufs neue mit seinen Gefährten. Endlich rief er:
»Unser Vater würde sich freuen, wenn Sie an Land
kämen, Sir!«
»Kommt zuerst an Bord, Jungens. Ihr habt nichts von uns
zu befürchten«, antwortete Folger freundlich.
Nach kurzem Zögern tauchten sie ihre Paddel ins Wasser
und kamen ganz nahe heran. Ein Tau wurde ihnen
zugeworfen, und sie kletterten mit großer
Geschicklichkeit an Bord. Der Kapitän begrüßte sie, ein
Lächeln auf dem guten, von Wind und Wetter gebräunten
Gesicht. »Ich bin Kapitän Folger«, sagte er, dem größten Burschen die Hand reichend. »Und das ist Herr Webber, der Maat.« »Ich heiße Donnerstag Oktober, Sir. Das ist mein Bruder Charles, und der da heißt James.« Der Wortführer der Kanumannschaft war trotz seinem jugendlichen Aussehen volle sechs Fuß groß und von prächtig ebenmäßiger Gestalt. Seine Gesichtszüge waren edel und regelmäßig. Alle waren barfuß, auch ihr Oberkörper war unbedeckt; eine Art Rock aus Rindenstoff reichte ihnen bis zum Knie. Sie hatten jetzt alle Schüchternheit abgelegt und blickten sich mit großen Augen um. »Was für ein riesiges Schiff, Sir!« bemerkte Donnerstag Oktober voll Staunen. »Wir haben von unserem Vater gehört, daß es so etwas gibt, aber wir haben selbst nie eines gesehen.« Inzwischen hatte sich die ganze Besatzung der Topaz um die seltsamen Gäste versammelt. »Ich werde euch gleich umherführen lassen«, sagte der Kapitän, »aber zuerst müßt ihr mir etwas von eurer Insel erzählen. Gibt es auf der anderen Seite einen Landungsplatz?« »Nur einen, und der ist gefährlich. Wir landen immer in der Bucht dort.« »Unsere Boote würden das nicht wagen. Habt ihr genug frisches Wasser auf der Insel?« »Ja, Sir.« »Wir haben eine Menge Fässer wie das dort drüben. Könnte man die an Land schaffen?« »Ganz leicht, Sir«, antwortete Donnerstag Oktober ruhig. »Wir könnten sie schwimmend hinüberbefördern, eines nach dem anderen.« »Und an Land könnten sie gefüllt werden?«
»Ja, Sir. Aber das Wasser müßten wir in Kürbissen hinunterbefördern.« »Wie lange würde das dauern?« Der junge Mann dachte einen Augenblick nach. »Wenn wir alle daran arbeiten, zwei bis drei Tage.« »Und wärt ihr dazu bereit?« »Das will ich meinen, Sir!« sagte Donnerstag Oktober lächelnd. »Gut! Ihr werdet reichlich dafür belohnt werden. Jetzt wird der Bootsmann euch auf dem Schiff umherführen. Macht die Augen auf und wählt, was ihr am besten brauchen könnt. Wenn irgend möglich, soll es euch gehören als Vergütung für eure Hilfe.« Als die drei Jünglinge sich mit dem Bootsmann entfernt hatten, sagte der Kapitän: »Das Wetter scheint zu halten, Herr Webber; aber ich möchte es doch nicht riskieren, das Schiff zu verlassen. Wollen Sie an Land gehen und dafür sorgen, daß die Fässer so rasch wie möglich gefüllt werden?« Webbers Freude darüber war auf seinem Gesicht so klar zu lesen, daß Folger fortfuhr: »Ich beneide Sie, bei Gott, Herr Webber! Wer können die Leute nur sein? Dahinter steckt ein Geheimnis; Sie müssen es lösen! Sie bleiben am besten so lange an Land, bis die Arbeit vollbracht ist. Sagen Sie Herrn Alex, wer immer das sein mag, daß die Arbeit gegen Mittag beginnen kann.« Die jungen Inselbewohner gaben nur zögernd ihre Wünsche bekannt. Auf das Drängen des Kapitäns sagten sie schließlich, daß ein paar Messer, eine Axt und ein Kupferkessel reichliches Entgelt für ihre Arbeit seien. Folger, der die jungen Leute bereits liebgewonnen hatte, gab ihnen sogleich den Kessel und drängte ihnen eine Anzahl Äxte und Messer auf.
»Was für ein Mann ist dieser Herr Alex?« erkundigte er sich. »Ist er groß oder klein?« »So wie Sie selbst, Sir, nicht groß, aber kräftig.« Folger holte einen Anzug aus kräftigem blauem Tuch herauf. »Bringt das Herrn Alex mit meinen Grüßen.« Donnerstag Oktobers Augen leuchteten. »Gott wird Sie für Ihre Güte belohnen, Sir! Wir haben keine so warmen Kleider. Unser Vater ist nicht mehr jung, und im Winter ist ihm oft kalt.« Die drei drückten Folger und dem Bootsmann warm die Hand, winkten den anderen zu und sprangen, von dem Maat gefolgt, ins Boot hinab. Kapitän Folger, der ihnen nachsah und das Spiel der Muskeln auf Donnerstag Oktobers Rücken und Schultern bewunderte, war es, als habe er noch nie einen prächtiger aussehenden jungen Menschen gesehen. Dieser hatte, als er nun den Kopf wandte, den offenen, unerschrockenen Blick eines jungen Engländers; seine dunklen Augen und das dichte, in Locken über die Schulter hinabfallende Haar standen in seltsamem Gegensatz dazu. Webber, der im Kanu saß, bewunderte aufs höchste die außerordentliche Geschicklichkeit, mit der die Burschen das kleine Fahrzeug sicher durch die von stürmischer Brandung umtobten Klippen brachten. Ein halbes Dutzend kräftiger junger Leute zogen das Boot an Land. Zu seinem Erstaunen sah Webber nicht einen einzigen erwachsenen Menschen am Strand. Wo waren die Eltern all dieser Knaben und Mädchen? Das junge Volk erschien ihm scheu, beinahe ängstlich. Keiner kam heran, um ihn zu begrüßen. Sie standen in kleinen Gruppen beisammen, flüsterten miteinander und sahen ihn mit verwunderten Blicken an. Die Knaben waren alle wie die drei Insassen des Bootes gekleidet, während die Mädchen
saubere, leichte Gewänder aus dem gleichen Stoff trugen; viele unter ihnen hatten Kränze aus süß duftenden Blumen auf dem Kopf. Sie sprachen in einer merkwürdigen Sprache miteinander, die der Maat nicht verstand. Donnerstag Oktober berührte Webbers Arm. »Bitte, folgen Sie mir, Sir«, forderte er ihn auf. Das Emporklimmen zur Höhe machte dem Maat ziemliche Mühe, während die jungen Leute leichtfüßig und ohne jede Anstrengung hinaufstiegen. Endlich langten sie am Rande der Hochfläche und wenig später bei einer Art kleinem Dorf an, das aus fünf weit voneinander entfernten Häusern bestand. Aus den Fenstern guckten dunkle, zigeunerartig aussehende Frauengesichter hervor, verschwanden aber sogleich, als Webber einen Blick auf sie warf. Dann kamen sie zu einem riesigen Banyanbaum, dem gegenüber ein Wohnhaus stand, ebenso freundlich und sauber wie die anderen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren stand auf der Schwelle. Seine Kleidung war gleichfalls aus Rindenstoff gefertigt, der aber zu einem Anzug verarbeitet war, wie ihn früher einmal die englischen Matrosen getragen hatten. Sein dünnes, angegrautes Haar fiel ihm über die Schultern; seine Züge und sein Blick zeugten von Kraft und Gutmütigkeit. »Willkommen, Sir«, sagte er und streckte dem Gast die Hand entgegen. »Mein Name ist Webber. Ich bin der Maat des Schiffes dort drüben.« Der Mann führte Webber ins Haus. »Dinah! Rachel! Wo seid ihr, Mädels?« rief er.
Zwei kleine Mädchen erschienen auf der Schwelle und sahen den Fremden mit großen, erstaunten Augen an. »Holt Kokosnüsse für den Herrn«, fuhr ihr Vater fort, »und Früchte.« Die Kinder liefen davon. »Setzen Sie sich, Sir, ruhen Sie sich aus und lassen Sie sich schmecken, was diese Insel Ihnen bieten kann. Sie sind wohl schon lange unterwegs?« sagte der Mann. »Über drei Monate«, gab der Maat Auskunft. »Wir hätten nicht erwartet, hier Land zu finden. Wie heißt denn Ihre Insel?« »Pitcairn, Sir. Sie brauchen Wasser, sagten mir die Jungens. Wir haben genug hier, aber es wird wohl an die drei Tage dauern, es zum Strand hinunterzubringen. Haben Sie soviel Zeit?« »Wir müssen sie haben. Seit wir die Küste von Peru verließen, haben wir kaum einen Tropfen Regen gehabt. Gibt es Seehunde hier?« Der Inselbewohner schüttelte den Kopf. »Da haben Sie kein Glück, Sir. Seit zehn Jahren habe ich keinen mehr gesehen.« Der Mann saß jetzt schweigend da, die Ellbogen auf den rohgezimmerten Tisch gestützt. Webber hatte den ein wenig peinlichen Eindruck, daß er gleichsam geprüft und abgeschätzt werde. »Sie sind Engländer, Sir?« fragte der Mann endlich. »Ja. Aber das Schiff ist ein Amerikaner. Es kommt aus Boston in Neu-England.« Der Mann schwieg einen Augenblick, ehe er sprach. »Ich bin jetzt seit beinahe zwanzig Jahren hier, Herr Webber. Sie sind der erste Fremde, der in all der Zeit die Insel betreten hat.«
Webber blickte erstaunt auf. »Zwanzig Jahre!« rief er aus. »Dann wissen Sie ja gar nichts von alldem, was seither in der Welt geschehen ist, von der Revolution in Frankreich und dem Kaiser Napoleon und dem übrigen!« Die Kinder waren inzwischen zurückgekehrt und brachten große, gelbe Pisangfrüchte und allerlei anderes Obst, das Webber fremd war. Er griff mit dem Vergnügen eines Seemannes zu, der lange nicht mehr an Land gewesen ist, und begann in kurzen Worten die Ereignisse der stürmischen Jahre um das Ende des achtzehnten und den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zu berichten. Den politischen Geschehnissen schien der Zuhörer nicht viel Interesse zuzuwenden, aber als der Erzähler von englischen Seesiegen berichtete, begannen seine Augen zu leuchten. Und doch schien ihn währenddessen eine seltsame Zurückhaltung, ein Widerstreben, von sich selbst zu sprechen, keinen Augenblick zu verlassen. Die Sonne stand hoch am Himmel, als Donnerstag Oktober zurückkehrte, um den Besucher zum Strand hinunterzubegleiten. »Sie würden mir eine Freude machen, Sir«, sagte der Hausherr, »wenn Sie während der Zeit, die die Verproviantierung des Schiffes mit Wasser beansprucht, mein Gast wären. Kommt Ihr Kapitän an Land?« »Er wird sich wohl ein bißchen Bewegung machen wollen, ehe wir absegeln«, entgegnete Webber, »aber bis dahin wird er an Bord bleiben. Ist es wirklich keine Belästigung, wenn ich Ihre Einladung annehme?« »Belästigung? Gott segne Sie, Sir, nicht im geringsten! Sie sind willkommen, herzlich willkommen!« Der Nachmittag verging mit den notwendigen Arbeiten, an denen sich alle Knaben und Jünglinge der Insel mit
größtem Eifer und erstaunlicher Geschicklichkeit beteiligten. Später machte Webber einen Spaziergang über die Hochfläche, geführt von einigen der kleineren Kinder. Sie führten ihn zu einem Teich und zogen sich zurück, als Webber ein erfrischendes Bad nahm. Fröhlichere Begleiter auf diesem Spaziergang hätte er sich nicht wünschen können, nun, da die anfängliche Scheu von den Kleinen gewichen war. Sie brachten ihm Früchte und Blumen und plauderten eifrig von den Bäumen und Pflanzen der Insel, von den wilden Schweinen, den Ziegen und dem Hühnervolk. Und dennoch war sich Webber bewußt, daß etwas von der seltsamen Zurückhaltung, die der Mann, den sie Vater nannten, gezeigt hatte, in ihnen war, wenn es sich darum handelte, von sich selbst zu erzählen. Als sie um Sonnenuntergang zum Hause zurückkehrten, sah Webber den Mann auf einer Bank vor der Türe sitzen, während ein halbes Dutzend der kleineren Kinder um ihn her im Grase saßen. Er lehrte sie aus der alten zerlesenen Bibel, die er vor sich liegen hatte, rechtschreiben. Er las langsam, stets nur einen Satz auf einmal, während die Kinder eifrig mitschrieben. Ihre Patschhändchen hielten aus Knochen des Seeigels gefertigte Griffel umklammert; als Tafeln benutzten sie dünne, geglättete Platten aus Felsgestein. »So, für heute genug, Kinder!« sagte der Mann, als er seinen Gast bemerkte. »Lauf, Rachel, und sag Mutter, daß sie das Essen auftragen kann. Kommen Sie herein, Herr Webber. Ich hoffe, Sie haben guten Appetit mitgebracht.« Als sie Platz genommen hatten, brachte eine etwa vierzigjährige Frau eine große Platte mit gebratenem
Schweinefleisch, süßen Kartoffeln, Yam und Pisangfrüchten herein. Sie hatte angenehme, gutmütige Züge; der Maat bemerkte, daß sie keine Weiße war. Der Hausherr sprach ein kurzes Tischgebet. Webber war tief berührt von der schlichten, von Herzen kommenden Frömmigkeit, mit der sein Gastgeber Gott für Speise und Trank dankte. Nach dem Essen geleitete der Mann Webber hinaus. Alle Bewohner der Insel schienen sich inzwischen versammelt zu haben. Sie saßen in Gruppen im Gras, leise miteinander sprechend. Die Kinder, Jünglinge und jungen Mädchen sahen alle froh und gesund aus; als der Maat sie zählte, fand er, daß ihrer vierundzwanzig waren, während acht oder neun Frauen mittleren Alters, offenbar ihre Mütter, anwesend waren. Wo aber waren ihre Väter? Auf ein Zeichen des Mannes traten die Frauen hinzu, um den Gast zu begrüßen. Die erste, die seine Hand ergriff, war eine hochgewachsene, schlanke Frau von etwa vierzig Jahren; dem Engländer war es, als habe er nie ein so ernstes und in seiner fraulichen Reife schönes Gesicht gesehen. »Herr Webber«, sagte der Hausherr, »ich möchte Sie mit Maimiti bekannt machen, Donnerstag Oktobers Mutter.« Sie sprach mit leiser, sanfter Stimme einige Worte der Begrüßung in englischer, nur leicht fremdartig gefärbter Sprache. Ihr folgte eine Frau, die ihm als Moetua vorgestellt wurde und deren edle Haltung und stolzer Blick ihm auffielen. Sie war zumindest einen Kopf größer als er selbst. Dann kamen vier Frauen mit englischen Namen: Mary, Susannah, Jenny und Prudence; die letztere hatte sehr schöne Züge und rötliches Haar. Und endlich drei Frauen mit seltsamen Namen, die er sich nicht merken konnte. Alle ließen ihn
durch die schlichte, ungekünstelte Freundlichkeit ihrer Begrüßung fühlen, daß er ein wirklich willkommener Gast war. »Dies ist die Stunde unseres Abendgottesdienstes«, sagte der Hausherr. »Wir würden uns freuen, wenn Sie daran teilnähmen, Sir.« Er las aus der Bibel vor, indes seine Finger langsam den Zeilen folgten. Die kleine Gemeinde hörte mit tiefster Andacht zu. Dann knieten alle nieder und wiederholten gemeinsam das Gebet des Herrn, und als der Gast den Stimmen der Jünglinge und Mädchen lauschte, die sich mit den klaren, einfältigen Stimmen der kleineren Kinder mischten, empfand er, daß im Herzen dieser einfachen Menschen in Wahrheit tiefe Frömmigkeit, bedenkenloses Vertrauen in Gottes gnadenreiche Güte lebten. Ihm war, als sei der Herr selber unter ihnen. Als der Gottesdienst vorüber war, wünschte alt und jung dem Gast eine gute Nacht, ehe sie sich in ihre verschiedenen Häuser zerstreuten. Als sie gegangen waren, schien es Webber, als ob der Mann von der Insel ihn noch freundlicher und mit geringerer Zurückhaltung als früher anblickte. »Man sieht, daß Sie Kinder liebhaben, Herr Webber«, sagte er. »Sie haben wohl selbst welche?« »Ja, die hab' ich. Drei Stück, das älteste ungefähr so alt wie der Junge, den ich eben auf den Knien hatte.« »Hätten Sie wohl noch Lust auf einen kleinen Spaziergang?« Der Mann führte den Maat zu einer Bank, die unmittelbar am Rand der steil ins Meer abstürzenden Felsen stand. »Hier sitze ich oft des Abends, Herr Webber«, erklärte er, als sie Platz genommen hatten, »und manchmal ist es mir, als hörte ich in der Brandung dort unten die Stimme des
Herrn selber, manchmal tröstend, manchmal - an stürmischen Tagen - zornig. Aber sehen Sie nur, da ist der Mond!« Der Mond ging über dem einsamen Horizont auf, ließ die weißen Kämme der Brandung aufschimmern und übergoß die reglosen Wedel der Palmen mit silbernem Licht. Der Inselbewohner zögerte ein wenig, dann sagte er: »Sie haben sich sicher darüber gewundert, daß ich meinen Namen noch nicht genannt habe. Ich heiße Alexander Smith.« Er sah den Gast prüfend an, so als wollte er sehen, welchen Eindruck die Nennung dieses Namens auf ihn mache. »Sie müssen sich auch über manches andere gewundert haben«, fuhr er nach einer langen Pause fort, »wer wir sind, wie wir auf dieses Stückchen Land, so weit fort von allen anderen Menschen, kamen.« Der Maat lächelte. »Ich wäre kein Mensch, wenn meine Neugierde nicht geweckt worden wäre.« Sein Begleiter lehnte sich vor und blickte auf das mondbeglänzte Meer hinaus. »Sie sind ein ehrlicher Mann, das ist gewiß«, sagte er dann, »und ein guter Mann ... sicherlich wünschen Sie mir und den Meinen nichts Böses?« »Böses? Da sei Gott vor! Ich würde Ihrer kleinen Herde so wenig Böses tun können wie meinen eigenen Kindern.« »Was geschah, Herr Webber, geschah vor langer Zeit ...« Plötzlich sah er dem Gast ins Gesicht. »Haben Sie je von einem Schiff namens Bounty gehört?« Die Worte trafen Webber wie ein Blitzstrahl, der tiefes Dunkel erhellt. Natürlich hatte er von der berüchtigten
Meuterei auf der Bounty gehört. Er erinnerte sich genau
der wichtigsten Begebenheiten, die in Zusammenhang
mit der unglückseligen Fahrt dieses Schiffes nach Tahiti
standen. Das Schicksal der Bounty war bis heute ein
ungelöstes Rätsel des Meeres geblieben.
Ergriffen fragte er: »Dann sind Sie also ...«
»Ja«, unterbrach ihn Smith ruhig. »Einer von Fletcher
Christians Leuten, Herr Webber.«
Der Maat hätte am liebsten hundert Fragen zugleich
gestellt, aber Smith fuhr, Angst in der Stimme, fort:
»Was wissen Sie über Kapitän Blighs Schicksal? Hat
man je wieder etwas von ihm gehört?«
»Gewiß! Er kehrte mit den meisten seiner Leute heim,
nach der bewundernswertesten Fahrt im offenen Boot,
die die Geschichte des Meeres kennt!«
Smith schlug sich laut auf die Knie. »Gott sei bedankt
dafür! Nun werde ich des Nachts besser schlafen! Und
was ist aus meinen Kameraden geworden, die in Tahiti
blieben?«
Webber gab Auskunft, soweit er es vermochte.
»An die Namen derer, die gehenkt wurden, erinnern Sie
sich nicht, Sir?« fragte Smith.
Webber schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nur des
Kapitäns Bligh und Fletcher Christians.«
»Christians Sohn, Donnerstag Oktober, war es, der Sie
ans Land brachte.«
»Und wo ist Christian, wo sind die anderen, die mit ihm
gingen?«
»Es ist keiner mehr von ihnen da, Sir.«
»Sie wollen also damit sagen, daß sie diese Insel
verlassen haben?«
»Nein, Sir, sie sind tot. Alle tot.«
Nach langem Schweigen fuhr Smith fort: »Sind Sie ein geduldiger Mann, Herr Webber? Möchten Sie eine Geschichte hören, zu der ich ein paar Abende brauchen würde?« »Nichts wäre mir lieber! Wissen Sie, daß es Tausende in England gibt, die hundert Meilen reisen würden, um diese Geschichte von Ihren Lippen zu hören?« »Es wird mein Herz erleichtern, Sir. Ich bin kein gebildeter Mann, das werden Sie bemerkt haben. Aber ich habe nichts vergessen. Sie werden die Wahrheit hören, Herr Webber. Nun denn, dann will ich Ihnen alles von Anfang an erzählen ...« Während der Maat der Topaz lauschte, versank die Gegenwart für ihn. An Stelle des väterlichen, ein wenig beleibten Mannes mittleren Alters, der da neben ihm saß, sah er den rauhen jungen Matrosen vor sich, inmitten einer Mannschaft, wie sie seltsamer nie auf einem englischen Schiff ausgefahren ist. Er spürte, wie das Deck der Bounty sich unter seinen Füßen hob und senkte. Er hörte die Stimmen von Menschen, die längst tot waren - Stimmen, die beinahe zwanzig Jahre früher das Schweigen des einsamen Ozeans und dieser noch einsameren Insel gebrochen hatten.
16
Smith fuhr am nächsten Abend fort: Wo war ich stehengeblieben, Sir? Ja, ich erinnere mich, Herr Christian und ich, wir lagen verwundet im Haus. Über die nächsten Tage kann ich Ihnen natürlich nur berichten, was man mir später erzählt hat. Sie können sich vorstellen, in was für einem Zustand die Frauen waren. Moetua und Nanai zogen sich wieder in den Wald zurück, nachdem sie Herrn Christian gebracht hatten. Jenny und Taurua blieben bei Frau Christian, die ununterbrochen nach ihrem Mann fragte und sich nicht erklären konnte, wo er blieb. Sie werden sich erinnern, daß sie gerade im Kindbett lag, als das Morden begann. Herr Christian hatte so viel Blut verloren, daß er wie ein Toter dalag. Ich hatte hohes Fieber; drei Tage lang schwatzte ich dummes Zeug und fluchte und tobte, hat man mir später gesagt. Die übrigen Frauen mit McCoys Kindern und dem kleinen Matt Quintal und Eliza Mills hatten sich in Mills' Haus versammelt. Den ganzen Tag lang saßen sie zusammengekauert auf dem Boden und sprachen kaum ein Wort, und manche weinten leise mit verhülltem Gesicht, so wie die Eingeborenen es tun. Die Tage waren schlimm genug; aber die Nächte fürchteten sie am meisten. Die Indios haben merkwürdige Ideen, ganz andere als wir. Sie glauben, daß die Geister der kürzlich Verstorbenen, ganz gleich, ob sie im Leben gute Freunde waren, böse, blutdürstige Wesen sind. Da verrammelten die Frauen denn des Nachts die Fenster und Türen. Quintal blieb allein in seinem Haus; meistens saß er auf der Schwelle, den Kopf in die Hand gestützt. Er sprach mit niemandem. Was in seinem Kopf vorging, weiß ich
nicht. Mag sein, daß es das böse Gewissen war, das ihn plagte. Am Tag, nachdem die Indios umgebracht worden waren, kam Taurua, um mit meinem Weib zu sprechen. Sie könnte Frau Christian nicht mehr im Bett halten, sagte sie. Da wurde es uns klar, daß wir es ihr nicht länger verschweigen konnten. Später einmal sagte mir Herr Young, er würde sich lieber hängen lassen als den Morgen noch einmal mitmachen. Sie versuchten, es ihr schonend beizubringen, aber Frau Christian hatte bald heraus, daß man ihr nicht alles sagte. Sie stand auf, nahm ihr Neugeborenes und ging aus dem Haus, ohne ein Wort zu sprechen. Als sie in Mills' Haus kam, ging sie geradezu zu dem Bett, wo Herr Christian lag. Seine Augen waren geschlossen, und er fieberte stark. Sie wissen, wie so was eine Frau mitnimmt. Am Abend waren ihre Brüste ausgetrocknet. Als das Kindchen anfing zu weinen, fütterte Balhadi es mit etwas, das die Indios Ouo nennen, dem süßen Mark, das sie aus jungen Kokosnüssen herauspressen. Und das Kind gedieh prächtig; ein Jahr lang bekam es nichts anderes. Die ganze Nacht und den nächsten Tag und noch eine Nacht lagen wir da, Herr Christian und ich, und die Frauen und Herr Young pflegten uns. Es muß am Morgen des dritten Tages gewesen sein, als das Fieber von mir wich und ich die Augen öffnete. In dem anderen Bett sah ich jemanden liegen, aber ich wußte damals nicht, wer es war. Frau Christian saß daneben auf dem Boden, mit dem Rücken zu mir, und ich konnte ihr Gesicht nicht sehen und das von dem Mann im Bett auch nicht. Er bewegte sich gar nicht, und ich dachte, er sei tot. Herr Young stand daneben, und ich rief seinen Namen. Balhadi sprang zu mir herüber, mitsamt dem Kind, und
Herr Young kam auch. »Pst, Alex!« flüsterte er. »Gott sei Dank geht's dir besser.« »Wer ist da drüben?« fragte ich. »Herr Christian.« »Lebt er?« »Ja.« Frau Christian kam herüber und sprach freundliche Worte zu mir. Als sie wieder zu Herrn Christian hinübergegangen war, sah ich einen Moment lang sein Gesicht. Ein Blick genügte. Einen Sterbenden erkennt man gleich. »Ned«, flüsterte ich Herrn Young zu, »sag mir rasch, was geschehen ist, sonst erwischt das Fieber mich wieder.« Als er das getan hatte, lag ich da und dachte nach und fragte mich, was nun aus allem werden würde. Nach Gottes Willen hätte aus der Insel ein kleiner Garten Eden werden sollen, und wir hatten eine Hölle daraus gemacht. Die Indios waren nicht schuld daran. Sie wollten nur als Menschen behandelt werden, sonst nichts; sie wären unsere besten Freunde gewesen, wenn wir auch ein bißchen was dazu getan hätten. Und die Frauen - na, da hätten Sie weit reisen müssen, um so feine Kerle zu finden. Richtig helfen taten sie einem, und keine Arbeit war ihnen zuviel. Wir waren schuld daran und sonst keiner. Erstens einmal hätten wir dafür sorgen müssen, daß jeder Mann seine Frau hatte. Dann wäre Williams vielleicht nicht auf dumme Gedanken gekommen. Aber Frauen oder keine Frauen, der Streit mußte kommen. Da waren ein paar unter uns, die glaubten, man könne die Eingeborenen behandeln wie die Hunde. So war die Sache und nicht anders. Ich schlief fast den ganzen Morgen. Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich viel wohler und war dankbar
dafür, daß ich überhaupt lebte. Maimiti lag noch immer
neben Herrn Christians Bett, und wenn man sie ansah,
brach einem beinahe das Herz im Leibe. Plötzlich sah ich,
wie ihre Augen zu glänzen anfingen. Er war zu
Bewußtsein gekommen.
Er sah sie an, ganz erstaunt zuerst. »Was ist das,
Maimiti?« fragte er. »Wo sind wir?«
»In Neds Haus.«
Sie brachte ihm Wasser, und er trank ein bißchen, und
dann sprach er eine Zeitlang nichts mehr. Und dann
fragte er: »Ist Ned hier?«
Herr Young trat an sein Bett.
Er traute sich nicht zu sprechen.
»Was ist geschehen, Ned?«
»Mach dir keine Sorgen und sprich jetzt lieber nicht«,
sagte Herr Young.
»Wo ist Minarii?«
»Er ist tot.«
»Und die anderen Indios?«
»Alle tot.«
Herr Christian drehte ganz langsam den Kopf auf dem
Kissen herum und sah mich an.
»Bist du verletzt, Alex?«
»Ja, Sir, aber es ist nicht schlimm«, antwortete ich.
Seine Stimme war lauter, als er dann sagte: »Du mußt
mir alles berichten, Ned.«
Da war nun nichts zu machen. Herr Young erzählte ihm
alles, rasch und kurz. Was er auch empfunden haben mag,
Herr Christian sprach kein Wort. Er lag nur so da und
starrte zur Decke hinauf. Dann schloß er wieder die
Augen.
Der Nachmittag verging. Herr Christian kam gegen
Abend wieder zu Bewußtsein, aber er sprach nicht mehr
als ein paar Worte. Er wußte, daß er sterben mußte, glaube ich, und war vielleicht froh darüber. Alles, was er angerührt hatte, hatte ein böses Ende genommen, daran dachte er wohl. Die Fahrt der Bounty, die Männer, die mit Kapitän Bligh in der Barkasse ausgesetzt worden waren, die, die in Tahiti geblieben waren, und jetzt unsere kleine Ansiedlung, von der er so viel erhofft hatte. Ja ... ich glaube, nie hat ein Mensch seinem Ende mit trüberen Gedanken entgegengesehen als Herr Christian. Mein Herz blutete, wenn ich daran dachte. Einen schöneren, stilleren Abend als den hab' ich nie erlebt. Es war Frühling, erinnere ich mich, und das Zwielicht kam ganz langsam. Frau Christian gab ihm einen Schluck Wasser, er legte seine Hand auf ihre und sah zu ihr auf, und dabei lächelte er, aber ganz schwach. Dann ließ er den Kopf sinken. »Alex«, sagte er. »Sir?« Als er dann nach einer langen Pause sprach, kam es ganz überraschend für mich, und so bin ich nicht ganz sicher, was er sagte. Entweder: »Noch ist Hoffnung«, oder: »Jetzt ist wieder Hoffnung.« Er schien keine Antwort zu erwarten, so gab ich ihm auch keine, sondern lag nur da und versuchte darüber nachzudenken, was er wohl gemeint hatte. Dann, viel später, hörte ich seine Stimme wieder: »Die Kinder dürfen es nie erfahren!«, und das waren die letzten Worte, die ich ihn sprechen hörte. Ich muß dann eingeschlafen sein, und als ich die Augen wieder öffnete, war es dunkel im Zimmer. Frau Christians leises, verzweifeltes Weinen war es, das mich aufgeweckt hatte. Sehen konnte ich sie nicht, auch Herrn Christian nicht, aber ich wußte, daß es aus war.
17
Der Monat, der folgte, war eine böse Zeit, so totenstill, und wir dachten auch immer an den Tod. Zuerst hatte ich Angst, Frau Christian würde den Verstand verlieren. Tränen hätten ihr geholfen, aber sie hatte keine. Das Herz tat mir weh, wenn ich sie im Haus umhergehen sah, mit einem verstörten, leblosen Ausdruck im Gesicht, als ob sie die Wahrheit noch gar nicht begriffen hätte. Und man konnte ihr auch nicht helfen. Sie mußte allein damit fertig werden. Ich werde nie vergessen, wie einsam es damals war. So viele waren nicht mehr da. Einen gab es Martin -, um den es mir nicht leid war. Wir waren einer Meinung darüber - es war besser, daß er tot war. Aber die anderen, Weiße und Indios, vermißten wir bitter, und am meisten natürlich Herrn Christian. Jetzt sahen wir so recht ein, was für ein Mensch er gewesen war und wie nötig wir ihn gehabt hatten. Es war keiner da, der seinen Platz einnehmen konnte. Wir waren wie Schafe ohne einen Hirten. Keiner war so schwer getroffen wie Herr Young, will mich bedünken; Sie können sich die Änderung gar nicht vorstellen, die mit ihm vorging. Oft saß er stundenlang auf den Klippen und blickte aufs Meer hinaus, oder er ging durch die Ansiedlung wie ein Schlafwandler. Ich habe ihn nie mehr lachen gehört. Frau Christian aber raffte sich auf. Daß sie für die Kinder sorgen und die anderen Frauen trösten mußte, war eine wahre Wohltat des Himmels für sie. Allmählich wurde sie wieder beinahe so, wie sie früher war, und auf ihre stille Art gab sie den anderen Mut. Ich weiß nicht, was manche von ihnen ohne Maimiti angefangen hätten.
Eines Tages sprach sie von Moetua und Nanai. Sie erinnern sich wohl, das waren die Frauen von Minarii und Tetahiti. Seit sie Herrn Christian hergetragen hatten, ließen sie sich nicht mehr in der Nähe der Ansiedlung blicken, sondern lebten in John Williams' altem Haus auf der anderen Seite der Insel. Manche meinten, sie müßten davon gewußt haben, daß ihre Männer alle Weißen umbringen wollten, und es hätte Mord und Totschlag unter den Weibern gegeben, wenn Maimiti und Taurua nicht gewesen wären; die wußten wohl, daß Moetua und Nanai mit der Sache nichts zu tun gehabt hatten. Also, kurz und gut, Frau Christian bat Herrn Young, zu ihnen zu gehen und zu versuchen, sie zu uns zu bringen. Eine Stunde später war er zurück und brachte sie mit. Er kam zuerst herein, und die beiden blieben bei der Tür stehen. Sie haben Moetua gesehen, Sir; Sie können sich vorstellen, wie sie in ihrer Jugend war. Ich habe Tausende Frauen der Indios gesehen, als ich auf der Bounty fuhr, aber keine, die es mit ihr hätte aufnehmen können an Schönheit und Kraft. Nicht weil sie Angst hatte vor Prudence oder Hutia, war sie so lange von der Ansiedlung weggeblieben. Sie hätte es allein mit dem ganzen Weibervolk aufgenommen. Aber sie wußte, daß Quintal ihren Mann umgebracht hatte, und sie fürchtete, daß sie dem Wunsch, sich an ihm zu rächen, nicht widerstehen könnte. Nanai war ein sanfteres Ding. Sie brauchte jemanden, an den sie sich klammern konnte, und es war ein Segen für sie, daß sie Moetua hatte. Also, wie gesagt, sie standen bei der Tür und warteten. Gleich als Maimiti sie sah, ging sie auf sie zu, nahm sie bei der Hand und führte sie herein. »Moetua«, sagte sie, »was unsere Männer getan haben, ist geschehen. Sie sind beide
tot. Nanai - Christian und Tetahiti waren Freunde. Wir sind früher wie Schwestern gewesen. Ich habe nichts als Liebe für euch im Herzen. Wollt ihr hier mit mir leben?« Ich kann Ihnen berichten, was sie sagte, aber nicht, wie sie es sagte. Nie hat eine Frau gelebt, die sanfter und gütiger gewesen wäre als Frau Christian. Moetua schloß sie in ihre Arme und hielt sie lange fest. Dann weinten die drei. Es war das erstemal, daß Frau Christian Tränen vergoß. Sobald ich wieder laufen konnte, fragte sie mich, ob ich ihr mein Haus abtreten und in ihres ziehen möchte. Ich weiß, wie es mit ihr war: sie konnte das Haus nicht betreten, in dem sie mit Herrn Christian gelebt hatte. So zogen wir denn hinunter: meine Alte und Hutia und Prudence. Herr Young nahm Mills' Haus, mit Taurua und Jenny. Quintal und McCoy blieben, wo sie waren, mit ihren Frauen und Susannah. Meine Wunde heilte langsam. Ende Oktober konnte ich wieder gehen, aber erst zu Weihnachten konnte ich meinen linken Arm wieder gebrauchen. Ich war wenig nütze um die Zeit und mußte zu Hause bleiben. Quintal und McCoy hielten sich fern von mir, und ich war froh darüber, denn ich war erbittert gegen beide. Ich wußte wohl, daß sie die Hauptschuld an dem Streit mit den Indios hatten. Nun würden Sie sicher glauben, Sir, daß Gott uns diese Zeit geschickt hat, damit wir unsere früheren Fehler einsehen und in uns gehen und für die Zukunft den rechten Weg suchen sollten. Aber ein paar von uns waren zu unwissend, um Nutzen daraus zu ziehen, und die anderen zu schwach oder zu eigensinnig. Von McCoys Schnapsbrennerei habe ich schon gesprochen. Sogar vor Quintal, seinem besten Freund,
hatte er sie geheimzuhalten gewußt. Das zeigt am besten, was für ein schlauer, verschlagener Mensch Will McCoy war. Die Tage, die er in den Wäldern zugebracht hatte, die Indios immer hinter ihm her, hatten ihn arg mitgenommen. Ein paarmal hatten sie ihn beinahe erwischt; sie waren ganz dicht an seinem Versteck vorbeigegangen, und er hatte Mills' und Martins blutige Köpfe an ihren Gürteln hängen sehen. Ja er war beinahe übergeschnappt vor Angst. Glaubte er doch nicht einmal Mary, seiner eigenen Frau, und erst als Quintal ihm die Leichen der Indios zeigte, beruhigte er sich. Dann verschwand er, niemand wußte wohin. Quintal war auch halb verrückt, aber wieder auf andere Art. Er war immer ein bißchen sonderbar gewesen. Schon auf der Bounty hatte er hie und da etwas gesagt oder getan, das bewies, daß der Mann nicht ganz richtig im Kopf war. Nach der Metzelei wurde es immer schlimmer mit ihm. Er saß auf seiner Schwelle, sprach mit sich selber und benahm sich so merkwürdig, daß die Frauen Angst vor ihm bekamen. Plötzlich kam es ihm in den Sinn, daß McCoy das Haus verlassen hatte. Langsam und gründlich begann er ihn zu suchen, und endlich fand er ihn in einer Schlucht auf der Westseite der Insel. Eine ganz gemütliche Hütte mit einem Lager aus Farnkraut hatte McCoy sich da gebaut. Die Brennerei war dicht dabei. Da merkte McCoy, daß er mit der Wahrheit herausrücken mußte. »Setz dich her, Matt«, sagte er und zog eine Flasche und einen Becher hervor, »versuch das einmal.« Quintal roch erst an dem Schnaps, und dann nahm er einen ordentlichen Schluck. »Nicht schlecht«, schmunzelte er, »aber wie machst du das Zeug, Will?« Da erzählte ihm McCoy, wie er den Schnaps aus Tipflanzen brannte. Er brauchte Quintal
nicht erst lange zu bitten, mitzutun. Sie nahmen den großen Kupferkessel von der Bounty und legten eine neue Brennerei an. So fing das Unheil an. Zuerst tranken sie ganz still miteinander und sagten niemandem etwas davon. Aber nach ein paar Wochen begannen sie, ihren Grog - denn so etwas Ähnliches war es - nach Hause zu bringen, und lehrten ihre Frauen und Susannah, mit ihnen zu trinken. Es dauerte nicht lange, bis sich Prudence und Hutia daran gewöhnten, abends hinüberzugehen, und zuweilen sogar Jenny. So erfuhr ich es. Eines will ich zu meinen Gunsten sagen, Sir, und es ist das einzig Anständige, was ich in der Zeit tat: Ich versuchte Hutia und Prudence zurückzuhalten. Aber sie hatten bald heraus, daß der Grog einen seine Sorgen vergessen ließ. Von da an gab es kein Halten mehr für sie. Aber die Frauen, die ich nannte, waren die einzigen, die das Zeug je anrührten. Die anderen wollten nichts damit zu tun haben. Eines Abends, ehe ich noch so recht umherlaufen konnte, kam Herr Young zu mir. Er war ganz verändert, und es war leicht zu erraten, wo er gewesen war. »Alex«, sagte er, »ich habe dir was mitgebracht, das dir guttun wird.« »Was ist es?« fragte ich, aber ich wußte es wohl, denn er trug eine Flasche unter dem Arm, die er jetzt auf den Tisch stellte. »McCoy schickt dir das«, sagte er; »es ist ein großartiges Getränk, Alex.« »Du hast ja schon einen ordentlichen Schluck getan, Ned«, sagte ich, »das sieht man.«
»Ja, das habe ich«, gab er zu. »Wir führen ein trauriges, einsames Leben hier. Ein kleines Vergnügen kann uns nicht schaden.« »Ned«, sagte ich, »du hast Quintal nicht gesehen, wenn er betrunken ist. Ich habe ihn gesehen. Er ist der leibhaftige Teufel.« »Ist mir egal«, meinte er, und seine Stimme war ein bißchen heiser. »Seit Monaten habe ich mich nicht so wohl gefühlt, Junge.« Ich sagte nichts. Auf einmal blickte er mich an, als ob er plötzlich ganz nüchtern geworden wäre, und stand auf. »Gott vergebe mir, Alex!« rief er. »Wenn du enthaltsam bleiben willst, so möchte ich mir lieber die rechte Hand abhacken, als dich zum Trinken zu verleiten!« Er nahm die Flasche und wollte gerade gehen, aber, Narr, der ich war, bat ich ihn, sie wieder hinzustellen. Also, Herr Webber, um die Sache kurz zu machen, wir tranken zu zweit die ganze Flasche aus. Und Herr Young hatte recht: es tat mir gut. Ich war mutlos genug gewesen, aber nach ein paar Gläsern schien mir alles schön und strahlend. Sobald ich wieder richtig gehen konnte, gewöhnte ich mich daran, zu den andern in McCoys Haus zu gehen. Nie hatten wir in den alten Tagen so schwer gearbeitet wie jetzt, um Land für Tipflanzungen urbar zu machen. Die übrige Zeit suchten wir die ganze Insel nach wilden Tiwurzeln ab, bis die angepflanzten soweit wären. Die übrige Arbeit überließen wir ganz den Frauen. Sie können sich vorstellen, wie es weiterging, Sir. Wir waren rauhe junge Matrosen, alle, außer Herrn Young. Wir tranken so viel, wie in uns hineinging, und die fünf Weiber mit uns.
Es dauerte nicht lang, bis Frau Christian sah, was vorging. Sie kam zu Herrn Young und mir und bat uns, um der Kinder willen, wenn schon aus keinem anderen Grund, von dem Trinken abzulassen. Wir schämten uns mächtig und versprachen, uns zu bessern, aber ein paar Tage später gingen wir wieder hin, und alles war wie früher. Es kam so weit, daß Frau Christian und die anderen ordentlichen Frauen nichts mehr mit uns zu tun haben wollten. Sie holte die Kinder aus McCoys Haus und verriegelte ihr Haus, denn sie wußte wohl, was für ein gefährlicher Mensch Quintal war, wenn er zuviel getrunken hatte. Eines Nachts, als wir anderen schon so weit waren, daß wir ihn nicht zurückhalten konnten, schlug er Sarah beinahe tot. So trieben wir es drei Monate lang; dann geschah etwas, das sogar solche Tiere, wie wir damals waren, zur Vernunft brachte. Unser vier waren wir in McCoys Haus, betrunken wie immer. Mary und Sarah hatte Frau Christian in ihr Haus genommen. Quintal hatte sie zuerst zurückholen wollen, aber wir anderen hatten ihm das ausgeredet. McCoy hatte nichts dagegen, daß Mary dort war, denn er hatte noch ein bißchen Anstand im Leib und wußte, daß die Kinder besser aus dem Hause seien. Gegen Mitternacht wankte ich nach Hause, und Balhadi brachte mich zu Bett. Sie hatte mich die ganze Zeit über nicht verlassen, und Taurua hatte an Herrn Young geradeso gehandelt. Aber jetzt waren sie so ziemlich mit ihrer Geduld zu Ende. Plötzlich rüttelte mich Balhadi wach. »Rasch, Alex!« sagte sie. »Weck die anderen auf und komm! Quintal ist
gerade zu Maimitis Haus gegangen! Er hat Übles im Sinn!« Ich lief zu McCoys Haus und weckte ihn und Herrn Young. Schon auf dem halben Weg hörten wir, wie Quintal gegen die Tür von Frau Christians Haus hämmerte. Das machte uns nüchtern. Sie können mir das glauben, Sir! Quintal trug einen Pfahl in der Hand und hatte die Tür schon beinahe eingeschlagen, als wir hinkamen. Drinnen hörten wir die Kinder schreien und dann Frau Christians Stimme, ganz ruhig. »Ich habe eine Flinte hier«, sagte sie. »Ich erschieße ihn, wenn er den Fuß hier hereinsetzt. Macht, daß ihr wegkommt, ihr anderen!« McCoy war der einzige, der sonst bei Quintal etwas ausrichten konnte. Er lief zu ihm hin und packte ihn beim Arm. »Matt, bist du verrückt?« rief er. Quintal drehte sich um und gab ihm einen Stoß, daß er umflog. »Ich will Moetua!« brüllte er. Wir versuchten, ihn zurückzuzerren, aber sogar zu dritt konnten wir es nicht mit ihm aufnehmen. Dann wurde das, was von der Tür übrig war, niedergerissen, und Moetua kam heraus. Mit dem Haß gegen Quintal, den sie in sich hatte, nahm sie es sogar mit ihm auf. Sie grub ihm die Finger in den Hals und hätte ihn umgebracht, wenn Maimiti nicht gewesen wäre. Wir banden ihn und schleppten ihn halbtot in McCoys Haus. Am nächsten Morgen ging Balhadi zu Frau Christian; sie kam erst am Nachmittag zurück und sah mich ganz sonderbar, halb angstvoll und halb mitleidig, an. Das merkte ich, obgleich ich von der Sauferei am Vorabend noch ganz schläfrig war. Ich bat sie, mir etwas zu essen zu bringen, und das tat sie auch. Dann schlief ich wieder
ein und wachte erst am nächsten Tag auf, als es schon hell war. Balhadi war nirgends zu sehen. Ich ging zum Rand des Plateaus, wie ich es jeden Morgen tat, um einen Blick auf den Himmel und die See zu tun. Ein Regenguß kam, so plötzlich, daß ich unter den Bäumen Schutz suchen mußte. Als er vorbei war, sah ich draußen auf dem Meer, vielleicht eine Meile vom Ufer, etwas schwimmen. Es sah aus wie ein gekentertes Boot. Ich rieb mir die Augen und blickte wieder hin, und jetzt kam es mir vor, als sähe ich auf dem Kiel und ringsherum im Wasser Menschen. Sie können sich vorstellen, Sir, was für einen Stoß mir das gab! Ich suchte den Horizont ab, aber nirgends sah ich das Schiff, zu dem das Boot gehören konnte. Ich weckte, so rasch ich konnte, Herrn Young und McCoy auf, und von dem Aussichtspunkt über der Bucht aus sahen wir ganz deutlich, daß es unser Kutter war, umgekippt im Wasser, und alle unsere Weiber drum herum. Manche schwammen, manche klammerten sich an das Boot, so gut es ging, und hielten ihre Kleinen fest, die sie auf den Kiel des Kutters gesetzt hatten. Wir gingen Quintal holen. Aber er schnarchte so laut, daß beinahe das Haus umgefallen wäre. »Sieh zu, daß du ihn aufweckst, McCoy«, rief ich, »sag ihm, daß sein kleiner Matt ertrinkt!« Wir beiden anderen rannten zur Bucht hinunter. Im Nu hatten wir das größte Kanu im Wasser. Gott sei Dank war die Brandung nicht stark, wir waren bald drüber. Immer näher kamen wir dem gekenterten Kutter. Wären es Frauen aus der Heimat gewesen, mehr als eines der Kinder wäre an dem Tag ertrunken; die aber wußten, was man in so einer Lage zu tun hat. Prudence und Mary schwammen uns entgegen und reichten uns die Kinder
herein, ehe sie selbst an Bord kletterten. In der nächsten Minute lagen wir neben dem Kutter und nahmen Frau Christian die kleine Mary ab. Dann reichte man uns die älteren, die auf dem Kiel saßen, herüber. McCoy und Quintal waren in dem anderen Kanu unterwegs. Quintal saß achtern. Weiß Gott, er konnte rudern, Matt Quintal! »Ist Matt in Sicherheit?« brüllte er, als er noch eine Viertelmeile entfernt war. »Ja!« schrie ich zurück. »Alle anderen auch!« Dann hatten wir endlich auch alle Frauen in den Booten. Manche weinten, aber kein Wort wurde gesprochen. Frau Christian saß da, die kleine Mary auf dem Arm. Sie sah so hoffnungslos und verzweifelt drein, daß ich's bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen werde. Werden Sie es glauben, Herr Webber? Sie wollten mit den Kindern in der Nußschale von einem Kutter wegfahren! Frau Christian kannte den Kompaß, und sie wollten zu einer Insel, die sie auf dem Weg von Tahiti hierher gesehen hatten. Ihnen ekelte bis ins Innerste vor uns Männern, und sie waren so weit gekommen, daß sie die Insel haßten, auf der soviel Elend und Blutvergießen gewesen war. Wir hatten sie so weit getrieben, daß sie lieber ertrinken oder verhungern oder verdursten wollten, als mit uns zu leben und ihre Kinder von solchen Vätern, wie wir es waren, aufziehen zu lassen. An dem Abend kamen wir vier zusammen, aber nicht, um zu saufen. »Herr Young«, sagte McCoy, »ich bin fertig damit! Ich weiß, daß mich die Schuld trifft. Ich will nicht noch mehr auf mein Gewissen laden. Wir haben Kinder und gute Frauen hier. Ich bin für ein nüchternes, anständiges Leben von jetzt an.«
»Dafür bin ich auch«, rief ich, »da habt ihr meine Hand!« Wir waren alle einer Meinung; Quintal meinte es so ernst wie nur einer von uns. Kein Schnaps sollte mehr gebrannt werden, das schworen wir uns zu, und wir gingen, zum ersten Male seit vielen Monaten, mit Ruhe und Frieden im Gemüt zu Bett.
18
Jetzt will ich über drei Jahre hinweggehen, Sir. Es war eine Zeit, an die ich nicht gerne denke. Es ist auch eigentlich nicht viel über die drei Jahre zu sagen, außer, daß es immer schlimmer mit uns wurde. Unsere feierlichen Versprechungen brachen wir schon ein paar Tage später. Maimiti hatte die Ansiedlung schon lange vorher verlassen mit ihren drei Kindern, und Moetua und Nanai waren mit ihr gegangen. Es dauerte nicht lange, und Taurua, Youngs Frau, und Jenny zogen auch weg, und nach und nach brachten sie alle Kinder in das Auté-Tal hinüber, wo sie jetzt lebten. Wir sagten nichts dagegen. Es war uns sogar lieb, daß uns die Kleinen nicht mehr im Wege waren. Die Ansiedlung war kein Ort für Kinder, das stand einmal fest. Balhadi hatte die ganze Zeit über bei mir ausgehalten; immer noch hoffte sie, ich würde zur Vernunft kommen, und Mary blieb bei McCoy, aber wir beachteten sie kaum. Vier der Frauen, Hutia, Prudence, Sarah und Susannah, machten gemeinsame Sache mit uns, und wir lebten miteinander auf eine Art, daß ich mich heute noch schäme, wenn ich daran denke. Herr Young gehörte nach wie vor zu uns. Sie werden sich sicher darüber wundern, Sir. Er war ein feiner Herr von Geburt. Wie konnte er sich nur so weit erniedrigen, der Kumpan von Leuten wie Quintal, McCoy und mir zu werden? Ich glaube, daß Herr Young nach Herrn Christians Tod alle Hoffnung verlor. Er war nie ein Mann, der andere leiten konnte. Aber eins muß ich sagen, nie habe ich ein traurigeres Gesicht gesehen als das von Herrn Young in diesen Tagen. Es war ein schwerer Schlag für ihn, als Taurua zu
Maimiti zog, aber er änderte sich nicht. Er trank noch mehr als früher, so als ob er sich zu Tode trinken wolle. So ging es weiter bis zum Herbst 1797. Ich erinnere mich wohl an ein Saufgelage, das wir damals abhielten. Wir vier und die Frauen, von denen ich sprach. Es geschah, daß Jenny und Moetua an dem Tag in die Ansiedlung kamen. Wir hatten einen Rausch wie noch nie zuvor, glaube ich. McCoy hatte ausgerechnet, daß es gerade vier Jahre her war, seit die Indios ermordet worden waren. Er log den Frauen vor, wir hätten das Gelage als Gedenkfeier veranstaltet. Und dann rühmte sich Quintal vor Moetua, daß er Minarii, ihren Mann, über die Klippen hinabgeschleudert hatte. Ich hatte auch genug Branntwein in mich hineingegossen, und sicher tat ich das Meinige dazu, daß die Frauen uns seit jenem Tag noch mehr haßten als vorher. Ich erinnere mich kaum mehr an das, was nachher geschah, aber ich weiß, daß die Frauen entsetzt über unser brutales Benehmen waren. Dann gab es Streit zwischen Quintal und McCoy. Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag Young schlafend im anderen Bett. Unten lagen Quintal und McCoy auf der Erde, und, weiß der Himmel, schön sahen sie nicht aus - zerkratzt, blutend, mit zerrissenen Kleidern. Die Tische und Bänke waren umgeschmissen, und der ganze Boden war mit zerbrochenem Glas bestreut. Am nächsten Tag und am übernächsten zechten wir weiter. Dann stieg mir plötzlich der Verdacht auf, daß mit den Frauen etwas nicht in Ordnung sei. Nicht eine war uns in die Nähe gekommen, und wir hatten kaum mehr etwas zu essen im Haus. Ich suchte in allen Häusern, aber nirgends war eine Spur von ihnen zu finden.
Da machte ich mich auf den Weg ins Auté-Tal. Seit drei Monaten war keiner von uns richtig nüchtern gewesen, und keiner hatte einen Fuß ins Auté-Tal gesetzt. Als ich von dem Bergrücken ins Tal hinunterstieg, blieb ich wie erstarrt stehen. Alle Bäume waren gerodet, das ganze Land urbar gemacht worden. Überall waren Plantagen und Gärten; Hühnerställe und Schweinekoben gab es auch. Die Frauen waren fleißig an der Arbeit. Aber was mich am meisten in Erstaunen setzte, war eine Art Barrikade, die bis zu den Klippen auf der Südseite reichte. Sie war aus Baumstämmen gemacht, die tief im Boden staken, und mindestens zwölf Fuß hoch. Es war eine richtige kleine Festung, so stark, wie Menschen sie nur erbauen können. Ich war so verblüfft, daß ich mich zuerst gar nicht rühren konnte; dann ging ich langsam darauf zu, bis ein paar Frauen mich erblickten; vier von ihnen kamen mir entgegen. Frau Christian ging voran. Moetua, Prudence und Hutia waren bei ihr, und jede trug eine Flinte in der Hand. Als ich so ungefähr auf zehn Meter herangekommen war, rief Maimiti: »Bleib stehen, Alex! Was willst du?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, so überrascht war ich, und ich schämte mich, Maimiti ins Auge zu sehen, denn ich konnte mir vorstellen, was sie sich von einem unnützen Trunkenbold denken mußte, wie ich einer geworden war. Nun wissen Sie aber, Sir, wenn man seine Selbstachtung verloren hat, dann tut man doppelt groß. »Wo ist Balhadi?« fragte ich. »Ich verlange, daß sie nach Hause kommt.« Frau Christian sah mich ruhig an. Dann sagte sie: »Balhadi will nichts mehr mit dir zu tun haben.«
»Das soll sie mir selbst sagen«, schrie ich. Maimiti winkte Balhadi heran und fragte, ob sie zu mir zurückkehren wolle, und sie sagte: »Nein.« Und dann sprach Maimiti wieder zu mir. »So, jetzt geh zurück, Alex, und merk dir wohl: Ihr habt auf der anderen Seite der Insel zu bleiben. Dort könnt ihr machen, was ihr wollt; aber wenn ihr das Auté-Tal betretet, so tut ihr das von heute an auf eigene Gefahr. Wir haben alle Musketen hier und alles Pulver und Blei.« Es war ihr Ernst damit; das sah ich gleich. Und innerlich war ich stolz auf sie und wußte wohl, daß das Recht auf ihrer Seite war. Ich machte mich also auf den Heimweg, und die Frauen sahen mir nach, bis ich im Walde verschwunden war. In der Ansiedlung angelangt, durchsuchte ich alle Häuser. Die Frauen hatten alle Flinten und Pistolen mitgenommen, und die ganze Munition war aus dem Vorratshaus verschwunden. Auch ihre eigenen Sachen hatten sie weggebracht, aber nichts von den unseren, außer den Waffen. Quintal und McCoy waren noch sternhagelvoll betrunken. Herrn Young traf ich draußen im Freien. Als ich ihm alles erzählt hatte, lächelte er bitter. »Wir haben nichts anderes verdient«, sagte er. »Was soll jetzt geschehen?« fragte ich. »Gar nichts, Alex. Ich bin dafür, daß wir sie in Ruhe lassen. Übrigens könnt ihr ja tun, was ihr wollt.« Er ging nach Hause; ich wäre gerne bei ihm geblieben, aber ich sah, daß er allein sein wollte. Am Nachmittag, als McCoy und Quintal aus ihrem Rausch erwachten, erzählte ich ihnen, was die Frauen mir gesagt hatten. McCoy war auch dafür, sich nicht um sie zu kümmern. »Besser hätten wir es uns gar nicht
wünschen können«, meinte er. »Lassen wir sie ihrer Wege gehen, und wir gehen unserer Wege.« Aber Quintal hatte wieder einmal seinen bösen Tag. »Fällt mir nicht ein, mir das gefallen zu lassen«, sagte er. »Mit mir sollen sie sich solche Scherze nicht erlauben. Ich gehe und hole mir ein paar von ihnen herüber.« »Das wirst du bleibenlassen, Matt«, sagte McCoy. »Sei kein Narr. Sie haben alle Musketen, und die meisten von ihnen können geradeso gut schießen wie du. Augenblicklich ist nicht gut Kirschen mit ihnen essen; aber wenn wir ruhig hier sitzenbleiben, so kommen sie schon von selbst wieder zurück.« »Du kannst hier sitzenbleiben, wenn du willst«, sagte Quintal. »Ich gehe.« Und er stand auf und ging weg, ohne ein weiteres Wort zu reden. »Was meinst du, Alex?« fragte McCoy. »Werden sie ihm was tun? Am besten sehen wir uns selbst an, was geschieht. Ich bin neugierig, wie die Festung aussieht, die sie gebaut haben.« Wir sahen keine Spur von Quintal, bis wir oberhalb des Auté-Tales waren. Er stand am Waldrand und starrte auf die Festung hinunter. »Gott soll mich behüten«, rief McCoy, als er sich die Sache angesehen hatte. Und dann sagte er zu Matt, den wir inzwischen erreicht hatten: »Wenn du nicht verrückt bist, so kommst du mit Alex und mir zurück. Du machst es nur noch schlimmer, wenn du sie reizt. Komm, Mann, und laß sie in Ruhe.« Aber Quintal konnte man nicht überreden, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Bleibt hier stehen und seht zu«, sagte er. »Eure Hilfe brauch' ich nicht, wenn ihr davor Angst habt.« Quintal hatte sich seit Tagen nicht gewaschen, und er hatte einen großen, buschigen Bart, der ihm bis über die
Brust hinunterhing. Er hatte nichts an als ein bißchen schmutzigen Birkenstoff um die Lenden, und mit seiner Keule in der Hand sah er ärger aus als irgendein nackter Wilder. Sogleich als Quintal aus dem Wald heraustrat, sahen ihn die Frauen, die im Garten arbeiteten, und statt in die Festung zurückzulaufen, wie wir es erwartet hätten, stellten sie sich in einer Reihe auf und ließen Quintal herankommen. Moetua und Prudence sah ich in der Mitte. Sie hatten Gewehre in der Hand. Neben ihnen standen auf der einen Seite Frau Christian und Hutia, auf der anderen Balhadi und Taurua. Sie brauchten keine zwanzig Sekunden, um sich bereit zu machen. Als Quintal noch ungefähr fünfzig Meter entfernt war, blieb er stehen; dann ging er weiter, langsam und gleichmäßig, der einfältige Dickschädel! Er hatte noch keine drei Schritte gemacht, als Maimiti schon losknallte; Quintal schwankte einen Augenblick und fiel zu Boden. Mit einem Gebrüll sprang er auf, und jetzt feuerte Prudence. Quintal schien genug zu haben. Er rannte den Abhang hinauf, so rasch er konnte, die Weiber hinter ihm her. Er stürzte in das Dickicht und hinunter in das Haupttal. Wir folgten ihm; wir hatten keine Lust, zu sehen, was die Frauen weiter vorhatten. Als wir zu Hause ankamen, saß Quintal auf der Bank bei der Tür, hielt sich die linke Schulter; über sein Gesicht strömte das Blut hinab. Maimitis Schuß hatte seine Schulter gestreift, aber Prudence hatte es auf sein Leben abgesehen, und Quintal konnte froh sein, daß er so davongekommen war. Die Kugel hatte ihm ein Ohr zur Hälfte abgerissen. Eine Stunde lang hatten wir damit zu tun, ihn zu verbinden. Von diesem Tag an wurde er immer sonderbarer. Er sprach mit sich selbst, sogar wenn
wir dabei waren, und meistens verstand man gar nichts von dem Zeugs, das er da vor sich hin redete. Eine Zeitlang ging es ziemlich ruhig bei uns her. McCoy und Quintal arbeiteten in der Brennerei, und bald waren sie soweit, daß nicht nur alle Flaschen, die wir hatten, sondern auch ein paar Fäßchen mit Branntwein gefüllt waren. Ich fing wieder an, ein bißchen auf den Plantagen zu arbeiten; damit und mit Fischen brachte ich den größten Teil des Tages zu. Aber wenn der Abend kam, setzte ich mich hin, soff mit ihnen, und dabei schämte ich mich vor mir selbst. Herrn Young sahen wir selten; er kam nie mehr in McCoys Haus. Und bis zu seinem letzten Tag rührte er keinen Tropfen mehr an. Ich machte mir Sorge um seine Gesundheit. Im Jahr vorher hatte es ihn gepackt, es sah ganz aus wie Asthma. Und jetzt wurde es immer schlimmer mit ihm. Als Quintais Wunden geheilt waren, fand er und McCoy auch, daß sie lange genug gewartet hatten. »Was hast du vor?« fragte ich Will. »Willst du Mary zurückholen?« »Mary? Ich möchte sie nicht haben, und wenn sie auf den Knien zu mir gekrochen käme. Es sind ja genug andere da, und eine von ihnen hole ich mir.« Am nächsten Morgen, als ich nicht zu Hause war, machten sie sich auf den Weg. Sie waren betrunken wie gewöhnlich, aber nicht so sehr, daß sie nicht auf sich aufpassen konnten; sie hatten Verstand genug, daran zu denken, daß die Frauen schießen konnten. Am nächsten Tag erfuhr ich, was sich damals abgespielt hat. Als sie auf der Anhöhe angekommen waren, versteckten sie sich so, daß sie über die Anpflanzungen hinweg die Barrikade sehen konnten. Gute zwei Stunden
warteten sie, dann sahen sie Jenny und Nanai herauskommen. Sie hatten Körbe auf dem Arm, aber keine Waffen. Auf der Südseite des Berges geht ein kleines Tal zum Meer hinunter. Sie warteten, bis sie sicher waren, daß Jenny und Nanai dorthin gingen, dann versteckten sie sich ganz dicht bei dem Pfade, der durch die Schlucht führt. »Ich nehme Jenny und du kannst Nanai haben«, sagte McCoy. Bald darauf sahen sie Nanai zwischen den Bäumen heraufkommen. Sie war Tetahitis Frau gewesen, wie Sie sich erinnern werden. Keine hatte größere Angst vor Quintal wie sie. Als sie die Höhe erreicht hatten, stellten sie ihren Korb nieder, um sich auszuruhen. Quintal sprang aus dem Gebüsch und packte sie. Sie war vor Schreck so erstarrt, daß sie sich gar nicht wehrte, und sie banden ihr Hände und Füße, dann knebelten sie sie, damit sie nicht schreien konnte. Jenny war nicht weit zurück, und die hatten sie auch, ehe sie wußte, wie ihr geschah. Sie war klein, aber geschmeidig wie eine Katze, und sie wehrte sich auch wie eine Katze, mit Zähnen und Krallen. Quintal hatte schwere Mühe, sie festzuhalten, während McCoy ihr einen Knebel in den Mund stopfte. Sie biß ihm dabei die Handfläche durch. Als sie sie gebunden hatten, nahm McCoy sie auf die Schulter, und Quintal kam mit Nanai hinterher. Sie trugen die Frauen in das Haus; Nanai machten sie los, aber Jenny ließen sie noch gefesselt. McCoy begann Jenny schönzutun, aber sie wollte nichts davon wissen. »Trau dich, mich anzurühren, und ich bringe dich um«, schrie sie ihn an. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was weiter geschah. Zuerst versuchten sie, die Frauen betrunken zu
machen, und als das nicht ging, vergingen sie sich an ihnen in schändlicher Weise. In der Nacht, als Quintal und McCoy schliefen, flüchteten die beiden Frauen. Als ich am nächsten Morgen hinkam, bemerkte ich gleich, daß es in der Nacht was gegeben hatte. McCoy hatte die Hand verbunden. Aber an dem Tag sprachen sie kein Wort von dem, was geschehen war. Sie waren ein paar sonderbare Käuze, Quintal und McCoy. Bei Gott, das waren sie!
19
Am nächsten Tag kam Herr Young zu uns. Er hatte wieder einmal einen bösen Asthmaanfall und konnte kaum sprechen. Als wir ihm einen Stuhl gebracht hatten, packte ihn der Husten so stark, daß er fast erstickte. »Ich habe euch eine Nachricht von den Frauen zu bringen«, sagte er, als er sich erholt hatte. »Maimiti sagt, daß ihr drei die Insel verlassen müßt. Ihr könnt euch den Kutter nehmen und alles, was ihr braucht, aber ihr müßt weg.« »Weg?« rief ich. »Wohin?« »Nach Tahiti, meint sie vermutlich. Wohin ihr wollt, wenn ihr nur die Insel verlaßt. Drei Tage geben sie euch Zeit.« »Und glaubst du wirklich, wir werden so dumm sein, das zu tun?« fragte McCoy. »Maimiti verlangt es«, antwortete er flüsternd. Bei jedem Wort, das er sprach, mußte er um Atem ringen. »Es ist am besten, ihr tut es. Ich fahre mit euch.« »Nein, das wirst du nicht, Ned! Glaubst du, daß wir dir das in deinem Zustand erlauben würden?« Er sagte müde: »Ich will weg ... weg von hier. Wir könnten vielleicht eine von den Inseln im Westen erreichen, an denen wir auf der Fahrt hierher vorbeikamen.« »Und wenn wir nicht gehen? Was dann?« rief McCoy.
»Maimiti ist es Ernst damit. Sie wird etwas gegen euch
unternehmen, wenn ihr hierbleibt.«
Quintal lachte. »Sie sollen es nur versuchen.«
Ich wußte nicht, wie ich mich in der Sache verhalten
sollte. Sie werden es merkwürdig finden, Sir, aber ich
hatte für McCoy und Quintal immer noch etwas übrig.
Wir waren so lange Schiffskameraden gewesen, und ich wollte sie nicht verlassen, komme, was da wolle. Und hatte ich nicht eigentlich geradesoviel Schuld wie sie oder beinahe geradesoviel? Ich dachte lange nach, und das Ende davon war, daß ich gar nichts tat, sondern abwartete, was da kommen würde. Drei Tage gingen vorüber, ohne daß sich die Frauen zeigten. Nachdem wir zu Mittag gegessen hatten, schliefen wir wie gewöhnlich. Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als wir aufwachten. Ich sah die Sonnenstrahlen durch die geschlossenen Fensterladen dringen. Das Haus hatte vier Fenster, zwei auf jeder Seite. Ich stand auf, um die Fensterladen zu öffnen. Als ich gerade beim ersten war, wurde am Waldrand eine Flinte abgeschossen; die Kugel sauste ganz dicht an meinem Kopf vorbei. Ich duckte mich und schlug den Fensterladen zu. McCoy schlief auf dem Fußboden. Er hob den Kopf und fragte: »Was ist los?« Kaum hatte er gesprochen, als eine zweite Kugel das Holz des Fensterladens, den ich gerade geschlossen hatte, durchschlug. Das weckte sogar Quintal auf; er richtete sich auf und glotzte uns an. Ich gab ihm ein Zeichen, er solle sich ruhig verhalten, und kroch zu einem Astloch in der Wand. Das erste, was ich sah, war ein Musketenlauf, der aus dem Gebüsch herausragte und auf die Tür gerichtet war, und ein Stück weiter wieder einer. Eine Sekunde sah ich Hutia hinter einem Baum. Indessen hatte Quintal die Tür eine Ritze weit aufgemacht. Zwei Schüsse wurden auf ihn abgegeben, einer streifte seine Hüfte. Jetzt wußten wir, daß das Haus umzingelt war und daß die Frauen uns umbringen würden, wenn sie könnten. Wir konnten nichts anderes tun als uns verborgen halten. Von Zeit zu
Zeit kam ein Schuß durch das Fenster oder die Tür; wir mußten uns flach auf den Boden legen. Und dann kamen ein paar von den Weibern ganz dicht an das Haus heran, mit Fackeln aus trockenen Palmwedeln in der Hand, und steckten es in Brand. Ein paar Minuten später stand das ganze Gebäude in Flammen. Wir hatten gerade noch Zeit, ins Freie zu flüchten, und das war gefährlich genug. Mit einem Satz war ich beim Kochhaus, da schoß eine von ihnen auf mich, die hinter einem Felsen versteckt war. Aber ehe die anderen einen Schuß abgeben konnten, hatte ich den Wald erreicht. Ich stieg zum Westgrat empor. Um die Zeit war es schon beinahe dunkel; das Haus brannte noch immer lichterloh, aber bald war es ausgebrannt. Ich hörte auch keine Schüsse mehr: alles war so ruhig, als wäre ich der einzige Mensch auf der Insel. Ich wartete, bis der Mond aufging, dann ging ich zu Herrn Youngs Haus. Ich vergewisserte mich, daß niemand in der Nähe war, und schlüpfte hinein. Herr Young war verschwunden. Später erfuhr ich, daß die Frauen ihn tags zuvor auf einer Tragbahre in ihre neue Ansiedlung gebracht hatten, um ihn zu pflegen. Plötzlich lief es mir eiskalt über den Rücken; etwas hatte mein Bein gestreift, aber es war nur eine von den alten Katzen, die an Bord der Bounty während der Fahrt geboren worden waren. Ein wenig später hörte ich, wie McCoy Neds Namen rief. Er hatte sich unter einem Banyanbaum in der Nähe des Hauses versteckt. Am Bein hatte er eine Fleischwunde; eine Menge Blut hatte er verloren. Ich reinigte die Wunde und verband sie. Am nächsten Morgen, ehe es hell wurde, verließen wir das Haus. McCoy war zu lahm, um weit zu gehen, aber ich versteckte ihn in einem Dickicht, wo sie ihn nie
finden konnten. Zehn Tage lang hielten wir uns von der Ansiedlung fern. Dann zogen wir in Herrn Youngs Haus. Nach drei Wochen waren wir sicher, daß die Weiber uns in Ruhe lassen würden, wenn wir sie nicht belästigten. McCoy mußte lange liegen; ich verbrachte den größten Teil des Tages damit, Quintais Leiche zu suchen. Denn daran, daß er tot war, zweifelten wir nicht. Im März 1797 war es, daß die Frauen das Haus niederbrannten. Von da an tranken McCoy und ich nicht mehr so viel wie früher. Wir nahmen hie und da einen Schluck, aber wir schwemmten das Zeug nicht mehr so in uns hinein, wie wir es gewohnt gewesen waren. Immer wieder machte ich mich auf die Suche nach Quintal. Es gab keinen Fleck in der ganzen Umgebung, den ich nicht durchsucht hätte. Eines Morgens - McCoy war jetzt wieder so weit, daß er mithalten konnte kletterten wir zum Ziegenberg hinauf. Und dort, nah beim Gipfel, wo die Felsen senkrecht ins Meer abstürzten, fanden wir, gegen einen Felsblock gelehnt, den Griff einer Axt. Es war eine von denen, die in McCoys Haus gewesen waren, als es niederbrannte. Es ging uns durch und durch, als wir das Ding sahen, denn wir wußten, daß Matt selbst es hierhergetragen haben mußte. Es war mit getrocknetem Blut befleckt, und es schien uns, als sei auch auf dem Felsen selbst Blut. Eine gefährliche Stelle, dieser Gipfel! Selbst für einen gesunden Mann ist es nicht leicht, dort festen Fuß zu fassen, und der Axtgriff war keine drei Fuß vom Rand der Felswand entfernt. McCoy kroch bis an den Rand und blickte hinunter, aber nichts war zu sehen als die Brandung, die gegen die Klippen schlug. Wir suchten noch weiter. Wir wußten zwar nicht, warum Matt hierhergekommen war, aber daß
er hergekommen war, das wußten wir, und auch, daß wir die Leiche nie finden würden. Ohne ein Wort zu sprechen, stiegen wir wieder hinunter. Er war ein rauher, harter Mensch gewesen, unser Kamerad Quintal. Nach dem, was ich Ihnen von ihm erzählt habe, Sir, werden Sie vielleicht glauben, daß er nichts anderes war als ein brutales Vieh und daß wir froh darüber sein mußten, daß er tot war. Ja, er war schlimm und gefährlich, wenn er betrunken war, aber er hatte auch eine andere Seite, und die habe ich Ihnen wohl nicht richtig geschildert. Es gab keinen, der den Matt Quintal, wie er war, als wir nach Pitcairn kamen, nicht gern gehabt hätte, und an den mußte ich denken, als wir zur Ansiedlung hinabstiegen. McCoy traf es vielleicht noch schwerer als mich, denn sie waren immer Freunde und Kumpane gewesen, seit die Bounty England verlassen hatte, und auch auf der Insel hatten sie immer beisammen gewohnt. In dieser Nacht fing es an zu regnen, und der Sturm blies schwer von Osten her. So blieb es drei Tage. Wir konnten nichts anderes tun, als zu Hause zu bleiben, und wir fingen wieder an zu trinken wie früher. McCoy hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß er an all unserem Elend schuld sei, und die ganze Zeit über sprach er davon. »Ja, das ist die reine Wahrheit, Alex«, sagte er. »Ich war der erste, der das Land aufgeteilt sehen wollte, und die anderen hab' ich gegen Christian aufgehetzt. So fing das Morden an. Keiner von den Toten, Indios oder Weiße, dessen Tod ich nicht verschuldet hätte!« Und so ging es weiter, die ganze Nacht durch, bis ich halb verrückt davon war, immer und immer wieder das gleiche zu hören. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.
»Du gehst besser zu Bett, Will«, sagte ich und ging aus dem Haus. Die Nacht hätte nicht wilder oder dunkler sein können. Ich verirrte mich und fiel ein dutzendmal nieder, ehe ich Herrn Christians Haus erreichte. Naß und mit Kot bespritzt, wie ich war, fiel ich auf seine alte Bettstatt und schlief gleich ein. Als ich am nächsten Tag gegen Mittag aufwachte, regnete es stärker als je. Ich wusch mich, kochte mir mein Frühstück und brachte auch McCoy etwas zu essen. Er saß am Tisch, ganz wach, geradeso, wie ich ihn verlassen hatte. Die ganze Flasche hatte er ausgeleert, aber er sprach so nüchtern zu mir, als hätte er nichts als Wasser getrunken. Ich wollte ihn überreden, ein bißchen zu essen, aber er rührte nichts an. »Laß mich in Ruh'«, sagte er. »Ich brauche keine Gesellschaft.« »Ich komme auch ohne deine aus«, sagte ich und ging. Es ärgerte mich, daß er so zu mir sprach, wo ich mir doch die Mühe gemacht hatte, ihm sein Frühstück zu bringen. Zwei Tage lang blieb ich von McCoy weg. Dann fing ich an, mir Sorgen um ihn zu machen; ich ging nach dem Abendessen hinüber, um zu sehen, ob er meine Gesellschaft haben wolle oder nicht. McCoy hatte alle Türen und Fenster geschlossen. Ich rief seinen Namen, aber es kam keine Antwort, so stieß ich denn die Tür auf und ging hinein. Es war so dunkel drinnen, daß ich zuerst gar nichts sehen konnte. »Will! Wo steckst du?« sagte ich. Da hörte ich plötzlich seine Stimme aus einer Ecke des Zimmers. »Bist du es, Alex? Rasch, rasch! Schließe die Tür!« Ich suchte eine Kerze und zündete sie an. Das dauerte lange. McCoy hockte in einer Ecke, vor ihm war ein umgeworfener Tisch, hinter dem er sich versteckte.
Er sah schrecklich aus; er zitterte am ganzen Leib und blickte mich an wie ein Wahnsinniger. »Was hat das zu bedeuten, Will?« fragte ich, so harmlos wie ich nur konnte. »Was spielst du denn da für ein Spiel mit mir?« Er starrte auf die Tür mit einem Blick, den ich nie vergessen werde. Dann sprang er auf; in drei Sätzen war er neben mir auf der Bank und umklammerte meinen Arm mit beiden Händen. Noch tags darauf waren die Spuren seiner Nägel auf meiner Haut zu sehen. »Er soll mich nicht anfassen!« rief er mit einer Stimme, die mir durch und durch ging. Dann verkroch er sich unter dem Tisch und hielt mich bei den Beinen fest. »Was ist denn los mit dir?« fragte ich. »Vor wem hast du denn Angst?« »Minarii«, wisperte er. »Dort bei der Tür!« »Du bist wohl verrückt, Will! Es ist kein Minarii da. Meinst du, ich würde ihn nicht auch sehen, wenn er da wäre? Komm, sieh dich doch selber um!« Er drehte sich um, bis er die Tür sehen konnte. »Glaubst du mir jetzt?« fragte ich. »Es ist keiner hier, nur wir beide.« »Ja, er ist weg«, sagte er mit zitternder Stimme. »Du hast ihn vertrieben.« »Er ist nie hier gewesen«, sagte ich. »Du bildest dir das bloß ein.« Ich wollte aufstehen, aber er hielt mich fest. »Verlaß mich nicht, Alex!« Als die Nacht kam, wurde es immer schlimmer mit ihm. Er schwätzte wildes Zeug durcheinander, von dem ich nur die Hälfte verstand; aber so viel begriff ich, daß er Minarii sah, und an dessen Gürtel hingen die Köpfe aller ermordeten Weißen, der von Herrn Christian mitten darunter.
So ging es bis lange nach Mitternacht. Ich zündete eine Kerze an der anderen an, aber endlich war keine mehr da. Sie können sich vorstellen, wie es war, als es dunkel geworden war im Zimmer. Er sah Minarii, wie er mit einem großen Messer in der Hand auf ihn zukroch. Ich war viel stärker als McCoy, aber ich hatte die größte Mühe, ihn festzuhalten, wenn das Grauen über ihn kam, und die Schreie, die er ausstieß, hatten nichts Menschliches. Es fing gerade an, hell zu werden, als ich merkte, daß er eingeschlafen war. Ich war total erschöpft, das können Sie mir glauben. Kaum daß ich mich bis zum Tisch schleppen konnte. Ich legte meinen Kopf auf meinen Arm und wußte von nichts mehr, bis ich von einem Schrei geweckt wurde, und ehe ich noch meine fünf Sinne beieinander hatte, war McCoy schon zur Tür draußen. Ich lief ihm nach, aber der Weg war in dem Regen so rutschig, daß ich immer wieder hinfiel. Als ich bei den Felsen nahe bei Herrn Christians Haus war und hinunterblickte, war McCoy schon halb unten. Ob er gesprungen oder gefallen war, wußte ich nicht. Dann schlug sein Körper tief unten auf den Felsen auf, gerade als eine gewaltige Woge kam und ihn brüllend mit sich riß. Eine halbe Stunde lang stand ich dort oben und blickte hinunter, aber ich sah ihn nicht mehr.
20
Am nächsten Nachmittag wurde seine Leiche angeschwemmt. Sie werden sich denken können, was in mir vorging, als ich McCoy begrub. Dann, Sir, ging ich geradewegs zu der Stelle, wo wir unsere Branntweinvorräte aufbewahrten, zu einem Loch in den Felsen auf der Seeseite von McCoys altem Haus. Und ich schlug die beiden Fäßchen kaputt, daß der Schnaps herausfloß, und die Flaschen zerschlug ich an den Felsen. Dann holte ich die Kupferröhre, die uns zur Herstellung des Branntweins gedient hatte, lief wieder zum Felsrand zurück und warf sie hinunter. Als ich sie im Meer versinken sah, sagte ich zu mir selbst: »Gott sei bedankt, jetzt ist Schluß damit!« Ich fühlte mich so zerschlagen, daß ich mich eine ganze Woche hätte schlafen legen können, aber ich brachte es nicht über mich, in Herrn Christians Haus zurückzugehen oder in eines von den anderen, in denen meine Kameraden gelebt hatten. Ich ging zu dem Haus, das von den Indios bewohnt worden war. Wie viele Abende hatte ich dort verbracht, damals, ehe der Streit zwischen uns ausgebrochen war. Ich hatte die braunen Männer sehr gerne, ganz besonders Minarii und Tetahiti. Sie könnten lange suchen, ehe Sie zwei bessere Menschen fänden, ob braun oder weiß. Hie und da zerbrach ich mir den Kopf darüber, warum sie uns alle umbringen wollten. Daß sie ein paar von uns haßten, wußte ich, aber daß sie alle von uns tot sehen wollten, das hätte ich nie geglaubt. Doch wenn man richtig darüber nachdenkt, so ist es ja wohl zu begreifen, daß sie keinen von uns am Leben lassen wollten, nachdem das Morden einmal angefangen hatte. Sie oder wir, mußte es damals heißen.
Seit Monaten war ich nicht mehr bei ihrem Haus gewesen, und jetzt sah es recht traurig aus. Der Weg war mit Gestrüpp überwuchert und das Haus schon ziemlich verfallen. Aber ich ging doch hinein und legte mich hin; und nach fünf Minuten war ich eingeschlafen. Ich schlief bis zum nächsten Morgen, und mein erster Gedanke, als ich erwachte, war, daß ich jetzt einen guten steifen Grog haben möchte. Ich versuchte mit aller Kraft, die Idee aus dem Kopf zu bekommen, aber je mehr ich es versuchte, desto schlimmer wurde es, und das Ende davon war, daß ich zu der Stelle lief, wo wir den Branntwein aufbewahrt hatten, um mich zu überzeugen, ob ich nicht tags zuvor eine Flasche übersehen hätte. Aber nein, es war keine übriggeblieben, und so saß ich denn da und schaute auf die glänzenden Glasstücke hinab, die unten zwischen den Felsen lagen. Und ich hieß mich einen Narren. Wenn Sie je in Ihrem Leben getrunken und plötzlich aufgehört haben, so werden Sie verstehen, in welchem Zustand ich war. Es war so weit mit mir gekommen, daß mir der Schnaps wichtiger war als Essen oder Schlafen oder sonst irgend etwas. Da fiel mir ein, daß McCoy einmal aus Tiwurzeln eine Art Bier gebraut hatte. Es war ein bitteres Zeug gewesen, das einen in der Kehle würgte, aber stark. Kaum war mir der Gedanke gekommen, als ich mit einem Sack über der Schulter zu McCoys Tipflanzungen ging. Aber ehe ich hinkam, blieb ich plötzlich stehen. Ich könnte Ihnen die Stelle zeigen, Sir, und den Felsblock, auf den ich mich damals gesetzt habe und wo ich den Kampf mit mir selbst ausgefochten habe. Ich dachte an all das Elend, das wir in den letzten Jahren über das Weibervolk und über uns selbst gebracht hatten. Ich dachte an die Kinder. Ich wußte, wenn ich die Tiwurzeln ausgrub, so war ich
verloren. Dann würde ich enden wie McCoy. »Nie und nimmer«, sagte ich laut vor mich hin. »Zurück mit dir, Alex Smith, und mach ein Ende, ein für allemal!« Und das tat ich, wenn ich auch vierzehn Tage lang Entsetzliches durchmachte. Ich konnte nicht schlafen; ich konnte nicht essen; ich hatte Angst, daß mich dasselbe Grausen packen würde wie McCoy, ehe ich am Ziel war. Aber ich ließ nicht locker. Allmählich ging es leichter. Ich fand bei Nacht wieder Ruhe; ich ging nicht mehr auf und ab, bis ich so zerschlagen war, daß ich kaum mehr stehen konnte. Es war eine feine Sache, meine Selbstachtung wiederzufinden. Ich wachte des Morgens mit einem Gefühl des Friedens im Herzen auf, und kein Tag war lang genug für all die Arbeit, die ich zu verrichten hatte. Ich rasierte mich regelmäßig wie früher und hielt mich rein und ordentlich. Ich zog wieder in mein altes Haus, wo ich mit Herrn Young gelebt hatte, und machte alles so sauber, daß es glänzte. Dann brachte ich auch die anderen Häuser in Ordnung, aber warum ich es tat, das hätte ich nicht sagen können. Vielleicht dachte ich ganz heimlich, daß die Frauen eines Tages zurückkämen. Aber ich ging nicht zu ihnen hinüber, denn ich hatte meinen Stolz. Nein, den ersten Schritt würde ich wahrhaftig nicht tun. Tagsüber hatte ich mehr als genug Arbeit, aber die Abende waren einsam und traurig. Da konnte ich nicht viel anderes tun als mich hinsetzen und denken. Als ich in den Häusern stöberte, fand ich die alte Bibel der Bounty. Ich habe nicht viel gelernt, als ich jung war. Nur gerade meinen Namen konnte ich schreiben, aber so weit war ich doch gekommen, daß ich Gedrucktes lesen konnte. Ich dachte, daß mir mit Hilfe der Bibel das, was ich als Junge gelernt hatte, wieder ins Gedächtnis
zurückkommen würde, aber ich mußte es aufgeben. Es war alles wie aus meinem Kopf fortgeblasen. Eines Tages - ungefähr einen Monat nachdem ich McCoy begraben hatte - jätete ich gerade in meinem Garten Unkraut. Da hörte ich im Gebüsch hinter mir etwas rascheln. Ich drehte mich um, da war es mein Weib. Nicht ein Wort haben wir gesprochen. Mit drei Schritten war sie bei mir und dann auf den Knien neben mir. Sie legte ihre Arme um mich herum und ihren Kopf an meine Schulter und fing an zu weinen, ganz leise, so wie es die Frauen bei den Indios tun. Ich hatte ein ganz sonderbares Gefühl im Herzen, aber ich saß nur da und sah vor mich hin. Nach einer Weile, als ich sicher war, daß ich mich in der Hand hatte, sagte ich: »Wo ist deine Flinte, Balhadi? Hast du keine Angst, ohne die umherzulaufen? Ich könnte dir etwas antun.« Sie sagte nichts, sondern hielt mich nur ein bißchen fester. Ich ergriff ihre Hand, und so blieben wir gute zehn Minuten. Es war wie in den alten Tagen, ehe das Unglück begonnen hatte. Ich erzählte ihr von McCoy, und sie weinte darüber, denn sie war nicht die Frau, die jemandem immer und ewig böse sein konnte, und Will war ein guter Mensch, den alle gern hatten, wenn er nüchtern war. Dann weinte sie wieder, aber aus Freude, als ich ihr sagte, daß ich die Brennerei und den Schnaps vernichtet hatte. Ein bißchen verletzt war ich darüber, daß Herr Young sich nie hatte blicken lassen, aber Balhadi sagte mir, er sei zu krank dazu. »Ich würde ihn gerne wiedersehen«, sagte ich. »Dann komm, Alex«, sagte sie. »Kein Tag ist vergangen, an dem er nicht von dir gesprochen hätte. Alle werden
dich willkommen heißen, das kann ich dir versprechen, und niemand wird froher sein, dich zu sehen, als Maimiti.« So ging ich denn mit ihr, aber ehe wir zehn Meter weiter waren, blieb ich stehen. »Nein, Balhadi«, sagte ich. »Ich will hierbleiben. Du kannst Maimiti und den anderen sagen, wie es jetzt mit mir steht. Wenn sie mich sehen wollen, so wissen sie, wo sie mich finden können.« So ging sie denn allein weg. Das war am Morgen, und drei Stunden später kamen sie, das ganze Weibervolk; manche trugen ihre Kinder oder führten sie an der Hand, manche kamen mit Körben und Bündeln - alles, was sie auf einmal mitnehmen konnten -, Maimiti voran, und Moetua, die Ned Young huckepack trug, als wäre er ein Kind. Manche von den Kleinen hatte ich noch nie gesehen. Achtzehn Kinder waren es im ganzen. Wie ich die kleine Herde sah, so hübsche, gesunde Kinder, wie sie sich ein Mensch nur wünschen kann, da tat mir das Herz so weh, daß ich es nicht beschreiben kann, denn ich dachte an die Väter, alle tot und begraben. War es denn möglich, daß wir vier nach der Metzelei solch tolle Bestien sein konnten, trotz all der Kleinen, die wir hätten liebhaben und für die wir hätten sorgen können? Wir müssen ganz und gar verrückt gewesen sein, anders ist es nicht möglich. Die Mütter kamen auf mich zu, eine nach der anderen, und begrüßten mich freundlich. Kein Wort wurde gesprochen von dem, was vergangen war. Ich sah gleich, was für eine Veränderung mit den Frauen vorgegangen war. Prudence und Hutia zum Beispiel waren wilde junge Dinger gewesen, als die Bounty zur Insel kam, voll Mutwillen, immer zu schlimmen Streichen aufgelegt.
Jetzt aber waren sie richtige Frauen geworden und ihren Kindern gute Mütter. Wir teilten uns wieder in Haushalte wie früher. Frau Christian mit ihren Kindern und Sarah und Mary mit den ihren zogen in das Haus, in dem Herr Young und ich gewohnt hatten. Moetua, Nanai, Susannah und Jenny lebten in Herrn Christians Haus. Herr Young lebte mit Taurua und Prudence und ihren Kindern dort, wo früher Mills und Martin gehaust hatten; und Balhadi, Hutia und ich zogen in das frühere Heim der Indios. In ein paar Tagen war alles vom Auté-Tal herübergeschafft. Es tat meinem Herzen wohl, die Häuser, die so lange leergestanden waren, mit Frauen und Kindern angefüllt zu sehen. Herr Young war ein neuer Mensch geworden. Ich sah ihn nie lachen oder scherzen, aber er hatte wieder Frieden gefunden. Seine Kräfte kehrten langsam zurück; er pflegte vor seinem Haus zu sitzen und zuzusehen, wie die Kinder kamen und gingen, und das, glaube ich, stärkte und tröstete ihn. Donnerstag Oktober war ein Junge geworden, auf den jeder Vater hätte stolz sein können; ein geschickter Junge, wie ich kaum je einen zweiten gesehen habe, klug und vernünftig über seine Jahre hinaus. Keines der Kinder wußte, was geschehen war, als sie noch klein waren, und wir alle waren dafür, daß sie es nie erfahren sollten. Eines Tages machte ich mich mit den fünf größten Kindern auf, um ihnen die Westseite der Insel zu zeigen. Das ist eine wilde Gegend, voll mit steil ansteigenden Felsen und Schluchten. Seit Monaten hatte ich sie nicht mehr betreten, auch keine von den Frauen. Die Kinder waren überhaupt noch nicht dort gewesen.
Es war ein heller, kühler Morgen, so recht friedlich. Als wir den steilen Weg zum westlichen Bergrücken emporstiegen, da kam es mir so richtig zum Bewußtsein, daß diese Insel meine zweite Heimat geworden war. Im Anfang hatte sie mir ja auch gefallen, aber später kamen dann Zeiten, da träumte ich davon, ein Schiff würde kommen, kein englisches, sondern ein spanisches oder aus den amerikanischen Kolonien, und ich würde meinen Namen ändern und schließlich wieder nach England gelangen. Aber jetzt waren alle diese dummen Gedanken verschwunden. Das zeigt Ihnen am besten, wie ich mich verändert hatte, und das hatten die Kinder fertiggebracht. Als wir auf der Höhe angekommen waren, setzte ich mich hin, um mich auszuruhen, und ließ die Kinder umherstreifen, soviel sie wollten. Ich wußte, daß sie gut auf sich selber aufpassen konnten; sie konnten klettern und schwimmen, daß es ein Vergnügen war, zuzuschauen. Der kleine Matt Quintal vergnügte sich damit, in dem Gebüsch tief unter mir den wilden Hühnern nachzujagen, aber plötzlich hörte ich ihn einen Schrei ausstoßen, der mir durch Mark und Bein ging. Ich kletterte, so rasch ich konnte, zu ihm hinab. Er war so erschrocken, daß er zuerst gar nicht sprechen konnte. Ich nahm ihn auf den Schoß, und er umschlang meinen Hals, als ob er mich nie wieder loslassen wollte. »Was ist denn, Matty?« fragte ich, und da sagte er mir zitternd, er habe ein Varua Ino gesehen. So nennen die Indios einen bösen Geist. Des Abends erzählen die Mütter den Kindern Gespenstergeschichten, und oft habe ich ihnen gesagt, sie sollten den Kleinen keine solchen Dummheiten in den Kopf setzen, aber vergebens.
Der Junge war halbtot vor Angst. Endlich brachte ich ihn so weit, daß er mir erzählte, er habe einen großen, großen Mann gesehen und der sei auf einem Felsen gesessen. »Ich will dir sagen, was du gesehen hast, mein Junge«, versuchte ich ihn zu beruhigen, »dort unten gibt es steinerne Bildsäulen, häßliche Dinger, viel größer als ein Mann, die haben die Leute gemacht, die früher einmal hier gewohnt haben. Sie sehen aus wie Menschen, aber sie können einem nicht mehr tun als der Felsen, auf dem wir hier sitzen.« »Er hat sich aber bewegt«, sagte er. »Das bildest du dir nur ein, Matty«, erklärte ich ihm. »Nein, nein! Ich habe es ganz deutlich gesehen. Er hat sich bewegt!« Ich stieg mit ihm zum Kamm hinauf, und auch die anderen Kinder waren wieder zurückgekommen. Sie alle glaubten, daß Matty einen bösen Geist gesehen habe. So waren sie nun einmal erzogen. Da sagte ich: »Dann bleibt schön ruhig hier sitzen, Kinder, ich gehe und schmeiße den Geist ins Meer, und dann werdet ihr ihn nie mehr sehen!« Ganz ruhig wie Mäuschen saßen sie da, denn sie glaubten, daß Vater Alex alles tun könne, was er wollte, und daß sogar die Gespenster Angst vor ihm hätten. Ich hatte vor, ein bißchen wegzugehen, so daß die Kinder mich nicht mehr sehen konnten, und dann zurückzukommen und ihnen zu sagen, daß ich den bösen Geist ein für allemal vertrieben hätte. Aber da bemerkte ich plötzlich etwas, was auch mir Schreck einjagte. In dem weichen Erdboden sah ich die Spuren von zwei nackten Füßen, um die Hälfte größer als meine eigenen. Ganz leise ging ich ein Stück weiter, bis zu einer kleinen Höhle, in der ich mich in früheren Tagen hier und da vor
dem Regen geschützt hatte. Ich schob die Sträucher, die den Eingang verdeckten, beiseite und schaute hinein. Da saß, mit dem Rücken zu mir, Matt Quintal. Er hatte nichts am Leibe außer ein paar alten Seemannshosen. Unter dem Felsen hatte er sich aus Farnkraut und trockenem Gras ein Lager gemacht und hockte nach Art der Indios nahe davor, klopfte Seevogeleier auf und trank sie aus. Neben ihm lag der Kadaver eines wilden Schweines, und überall in der Höhle lagen Knochen wilder Schweine umher. Wenn ich meine fünf Sinne beieinander gehabt hätte, wäre ich, ohne ein Wort zu sprechen, hinausgeschlichen, aber statt dessen rief ich: »Matt!« Langsam wandte er den Kopf, und dann erblickte er mich. Als ich sein Gesicht sah, lief es mir eiskalt über den Rücken. Noch nie habe ich solche Augen gesehen, außer einmal in einem Tollhaus; und sein Bart reichte ihm jetzt bis zur Hüfte und war so breit, daß er seine ganze Brust bedeckte. Ich versuchte leichthin und natürlich zu sprechen. »Matt, du Halunke«, sagte ich, »wo hast du dich die ganze Zeit über versteckt gehalten? Wahrhaftig, wir glaubten, du seist tot!« Kaum hatte ich das herausgebracht, als er eine Keule ergriff, dick wie mein Arm, und mit einem Gebrüll auf mich losging, wie ich es noch nie gehört habe, weder von einem Tier noch von einem Menschen. Ich lief, was ich laufen konnte, und versteckte mich in einem Gebüsch, bis er wieder in seine Höhle zurückgekehrt war. Als ich mich ein bißchen gefaßt hatte, eilte ich wieder zu den Kindern zurück. Sie hatten Quintais Gebrüll gehört, uns aber nicht gesehen, und ich hielt es für das beste, zu
sagen, ich hätte diesen Lärm gemacht, um das Gespenst zu verscheuchen. »Hast du das Gespenst gesehen, Alex?« fragte Donnerstag Oktober. »Nein, Kinder«, antwortete ich, »aber ich möchte, daß ihr trotzdem nicht mehr in diese Gegend kommt, denn in der Höhle dort unten habe ich einen großen wilden Eber gesehen, der könnte euch etwas zuleide tun.« Ich berichtete Herrn Young, was ich gesehen hatte. Ohne Zweifel glaubte Quintal in seinem Wahn, außer ihm sei niemand auf der Insel. »Es ist nicht wahrscheinlich, daß er, seitdem er dort unten lebt, je auf dieser Seite der Insel gewesen ist, aber jetzt, wo er dich gesehen hat, kann man nicht wissen, was er tun wird.« Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Ich hatte geglaubt, die schlimmsten Tage lägen hinter uns«, sagte er, »aber es muß ein Fluch auf uns ruhen.« Wir beschlossen, die Frauen einzuweihen. Wir riefen sie zusammen, und ich erzählte ihnen die volle Wahrheit. Sie waren ganz starr vor Schreck, besonders Sarah, die Quintais Frau gewesen war. Trotzdem wollte sie nichts davon hören, daß jemand die Hand gegen ihn erhebe. Jenny hingegen riet uns, ihn sogleich zu erschießen, und Prudence und Hutia stimmten ihr zu, aber Frau Christian und die übrigen waren dagegen. »Die Zeit wird kommen, Alex«, meinte Jenny, »wo ihr es bereuen werdet, meinen Rat nicht befolgt zu haben.« Sie kam früher, als wir geglaubt hatten. Zwei Tage später hörte ich Schreie in der Gegend des Hauses, in dem Frau Christian wohnte. Gleich darauf vernahm ich drei Gewehrschüsse. So rasch ich konnte, lief ich hin und fand die Frauen in einem schrecklichen Zustand. Die
kleine Sarah McCoy war zur Quelle gegangen, um Wasser zu holen, und hatte Quintal gesehen, wie er vom Grat herunterstieg. Sobald er sie erblickt hatte, war er hinter ihr hergejagt. Frau Christian hatte die Angstschreie des Kindes gehört und war mit einer Muskete hinausgelaufen. Quintal hatte das Kind schon beinahe erreicht, als Maimiti über seinen Kopf hinwegschoß. Da machte er kehrt und lief in den Wald. Von dem Augenblick an wagten wir es nicht mehr, so verstreut zu wohnen wie bisher. Die Hälfte der Frauen und Kinder zog in Herrn Youngs Haus, die anderen zu mir. Jeden Tag stieg ich mit einer Flinte und dem Fernglas zum Grat hinauf, um Wache zu halten, und meistens sah ich ihn. Einmal konnte ich ihn fast eine halbe Stunde lang beobachten. Splitternackt saß er auf einem Felsblock. Er sprach mit sich selbst und benahm sich so merkwürdig, wie Verrückte es eben zu tun pflegen. Eines Nachmittags konnte ich ihn nicht erblicken. Als ich gegen Abend zur Ansiedlung zurückging, kamen mir einige der Frauen in höchster Erregung entgegen. Quintal war in unserer Nähe gesehen worden, aber das war noch nicht das Schlimmste. Er war aus dem Wald herausgestürzt und Sarah, seiner Frau, und Mary McCoy nachgerannt. Sie waren keine hundert Meter vom Haus entfernt gewesen. Mary berichtete, was geschehen war. Quintal hatte sie überholt und Sarah verfolgt. Die arme Frau war so entsetzt, daß sie gar nicht versuchte, das Haus zu erreichen, sondern in die entgegengesetzte Richtung lief. Sie rannte auf den Rand der Hochfläche zu, Quintal immer dicht hinter ihr her.
Als sie sah, daß ihr kein anderer Ausweg blieb, stürzte sie sich über die Felswand hinab. Herr Young hatte inzwischen alle Frauen und Kinder in meinem Haus zusammengerufen. Nur drei von ihnen waren ans Ufer hinabgestiegen, um Sarah zu suchen. Bald darauf kamen sie zurück. Moetua trug Sarah auf den Armen. Sie atmete noch, aber eine halbe Stunde später war sie tot. Inzwischen war es dunkel geworden. Die Frauen knieten rings um die Leiche, weinend und wehklagend. Herr Young hielt auf der einen Seite des Hauses Wache, ich auf der anderen. Es muß eine Stunde später gewesen sein, als Susannah vermißt wurde. Wir wußten, daß sie, nach dem, was geschehen war, nicht weit gegangen sein konnte. Dann sagte eines der Kinder, daß es jemanden in die Küche habe gehen sehen, die ungefähr zwanzig Meter vom Haus entfernt war. Zuerst glaubten wir, er habe sie in eins der anderen Häuser gebracht; so machte ich mich denn in der Dunkelheit auf die Suche und war froh, als ich damit fertig war. Solange es dunkel war, konnten wir nichts mehr unternehmen. Sie können sich vorstellen, was für eine Nacht wir verbrachten; nie ist mir eine länger vorgekommen. Als es am nächsten Morgen hell wurde, machte ich mich mit Herrn Young auf den Weg. Jeder von uns hatte eine Flinte bei sich, und außerdem hatte ich für den Notfall ein Beil in meinen Gürtel gesteckt. Wir wußten, daß wir Quintal töten mußten, würde es uns auch noch so schwerfallen. Oben auf dem Grat mußte sich Herr Young ausruhen, so müde war er. Weiß Gott, es war ein Wunder, daß er überhaupt die Kraft aufbrachte, mit mir zu gehen!
Als wir ganz nahe bei der Höhle waren, sagte ich Herrn Young, er solle draußen Wache halten. Ich selbst kroch durch das Gebüsch und paßte höllisch auf, kein Geräusch zu machen. Vorsichtig blickte ich hinein. Drinnen lag Susannah auf dem Rücken, an Füßen und Armen gebunden. Quintal war nirgends zu sehen. In fünf Sekunden hatte ich sie losgebunden. Sie war in einem schrecklichen Zustand, zerkratzt und voll Schrammen, aber, Gott sei Dank - sie lebte! Ich trug sie zu Herrn Young hinaus. Wie er sie in seinem schwachen Zustand nach Haus brachte, ist mir bis heute ein Rätsel. Quintal lag schlafend hinter einem Busch, keine zehn Schritt entfernt. Gleich als ich ihn sah, hob ich meine Flinte. Aber ich konnte nicht losdrücken. Ärgeres hab' ich nie erlebt als diese Minute. Ich stand da und dachte an Matt Quintal, wie ich ihn auf der Bounty gekannt hatte. Dann fielen mir die Kinder ein, und Sarah, die drüben in der Ansiedlung lag - tot. Da wußte ich, daß ich es tun mußte. Ich hob die Axt und ließ sie mit aller Kraft auf seinen Schädel niedersausen.
21
Es war ein rascher Tod, Sir, ein barmherziger Tod. Ich mußte mich einen Augenblick hinsetzen, so erschüttert war ich. Dann grub ich ihm ein Grab, mit der Axt, mit der ich ihn getötet hatte. Es war ein hartes Stück Arbeit, Herr Webber, das können Sie mir glauben. Ich legte ihn hinein, ebnete die Erde drüber, bedeckte das Grab mit Blättern und Moos, so daß niemand erkennen konnte, wo es war. Dann ging ich zum Meer hinunter und wusch mich. Und dann ging ich heim. Sarah begruben wir am selben Tag. Und nun bin ich endlich beim Ende der schlimmen Zeit angekommen, Sir. Von dem Tag an war Friede hier, und mit Gottes Hilfe soll es so bleiben. Quintal mußte sterben - soviel ist gewiß. Aber das war nur ein geringer Trost für mich, damals, als ich an seinem Grab stand. Ja, auf der Insel war jetzt Frieden, aber in meinem Herzen nicht. Herr Young hatte die geringen Kräfte, die ihm noch geblieben waren, an diesem Tag verbraucht. Vierzehn Tage mußte er im Bett liegen. Dann ging es wieder ein wenig besser mit ihm. Er sah, wie es mit mir stand, wenn ich auch Quintais Namen nie aussprach und so tat, als wäre mir wohl zumute. Ihm habe ich es zu danken und den Kindern, daß ich über die Zeit hinwegkam. Was für ein Segen die Kinder für uns waren, das kann ich nicht mit Worten sagen, Sir. Durch sie wurde unser Leben so verschieden von dem alten wie der Tag von der Nacht. Einundzwanzig waren es damals, von den neunjährigen bis hinunter zu den ganz kleinen. Von manchen, die denselben Namen trugen, wußten wir freilich nicht ganz genau, ob sie auch denselben Vater hatten.
Sie wissen ja, was für ein wildes Leben wir geführt hatten; und dann waren ja auch in den letzten sechs Jahren doppelt soviel Frauen da wie Männer. Sie werden es seltsam finden, Sir, aber nun, da Frieden herrschte, da wollten Balhadi und Taurua, unsere eigenen Frauen, es so, daß jede Frau, die sich nach Kindern sehnte, sie bekäme. Und wenn ich bedenke, wie nötig wir die Kinder hatten und welchen Segen sie uns brachten, und wie wir gleich einer einzigen, glücklichen Familie lebten, so kann ich nicht glauben, daß wir unrecht handelten. Und sie heilten unsere Herzen, die Kinder, und machten diese kleine Insel schließlich zu einem Himmel auf Erden. Das mag ein großes Wort sein, aber es war so. Kaum eine Stelle gab es, die mich nicht an etwas Trauriges oder Beschämendes erinnerte, und eine Zeitlang hatte ich einen Abscheu davor, umherzuwandern. Aber die Kinder machten die Erde wieder gut und rein, wie sie früher gewesen war. Und allmählich verblaßten die alten Erinnerungen. Nun muß ich Ihnen von etwas erzählen, das bald nach Quintais Tod geschah, denn es war der größte Segen für all die späteren Jahre, wenn ich es auch damals nicht wußte. Ich hatte die Gewohnheit, am Abend noch ein bißchen zu Herrn Young; hinüberzugehen. Eines Abends kam ich erst spät hin, die Frauen und Kinder schliefen schon, und Herr Young saß an seinem Tisch und schrieb in einem der alten Logbücher von der Bounty. Als ich ihm neugierig zusah, fragte er mich: »Hast du eigentlich nie lesen und schreiben gelernt, Alex?« »Ein bißchen schon, als ich noch ganz klein war«, antwortete ich, »aber ich habe alles wieder vergessen.«
»Möchtest du nicht wieder damit anfangen?« fragte er. »Ich würde dir helfen.« »Natürlich möchte ich«, sagte ich, »aber du würdest bald genug davon haben, Ned, denn ich bin ein arger Nichtswisser. Du würdest schwere Arbeit haben, mir Gelehrsamkeit in den Kopf zu trichtern.« »Darauf mödite ich es ankommen lassen«, meinte er, »und wenn du willst, fangen wir gleich morgen an.« Im Anfang ging es recht langsam. Aber Herr Young hatte unendlich viel Geduld, und eines muß ich von mir sagen: Ich wollte lernen. Und wenn ich einmal etwas wußte, dann gehörte es mir. Ich vergaß es nicht mehr. Er fing auch an, mir aus der Bibel vorzulesen. Mit dem Buch Genesis begannen wir. Jeden Abend, wenn der Unterricht zu Ende war, las er mir ein paar Kapitel vor, und darüber dachte ich dann bis zum nächsten Abend nach. Den ganzen Tag über arbeiteten wir, die Frauen nicht weniger fleißig als wir selber. Und am meisten freute ich mich darüber, daß sie allmählich wieder anfingen, während der Arbeit Lieder aus ihrer Heimat zu singen. Nach Quintais Tod hatte man lange kein Lachen und Singen gehört, und die Veränderung, die jetzt mit dem Weibervolk vorging, tat meinem Herzen wohl. Ihr Heimweh nach Tahiti war endlich verstummt. Sie sprachen natürlich noch davon, aber nicht mehr, wie früher, mit Tränen in den Augen. Pitcairn war ihnen allen eine Heimat geworden. Gegen Abend hatte ich meinen Unterricht bei Herrn Young. Neun Monate lang ging es so; langsam, aber sicher lernte ich lesen. Ich kann gar nicht sagen, wie froh und stolz ich war, als ich es endlich heraus hatte; und
schreiben lernte ich auch. Freilich war es eine saure Arbeit. Dann wurde es wieder schlechter mit Herrn Youngs Gesundheit. Die Frauen versuchten alle ihre heidnischen Kräuter und Arzneien, aber Asthma war etwas, das sie nicht kannten, und dagegen fanden sie kein Mittel. Wenn Sie je gesehen haben, wie ein Mensch ertrinkt, und nicht helfen konnten, Sir, so wissen Sie, wie es damals mit uns war. Wir versuchten alles, um es ihm wenigstens ein bißchen leichter zu machen. Eines Nachmittags saß er, in Kissen gelehnt, auf einem Lehnstuhl, den ich für ihn gezimmert hatte. Ich brauchte ihm nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß er dem Tode nahe war. Er sprach nicht viel, er saß nur da mit den Händen im Schoß und blickte durch die Bäume auf das Meer hinaus. Wir waren allein. Dann auf einmal wandte er den Kopf. »Alex«, sagte er, »ich muß über ein paar Sachen mit dir sprechen.« Mir tat das Herz weh, als er das sagte. Er hätte so gern noch gelebt. »Wenn je ein Schiff kommt«, sagte er, »und früher oder später muß ja eins kommen, so sagst du ihnen am besten, wer wir sind. Wenn ein guter Mensch an Bord ist, einer, dem du trauen kannst, dann sage ihm alles, Alex, was hier geschehen ist.« »Das will ich, Ned«, sagte ich. »Du bist als einziger von uns übriggeblieben, um die Kinder aufzuziehen. Das ist eine große Aufgabe und eine heilige. Erfülle sie gut. Ich weiß, daß du das tun wirst.« Er nahm meine Hand und hielt sie lange fest. »Das ist alles«, sagte er. »Ich wäre gern noch bei euch geblieben, Junge, aber es hat nicht sein sollen.« Ich konnte nicht sprechen, Sir; alles was ich tun konnte, war, seine Hand festzuhalten, und dabei liefen mir die
Tränen über das Gesicht. Dann kamen Frau Christian und Taurua herein. Ich konnte es nicht länger aushalten. Ich ging aus dem Zimmer. In derselben Nacht starb er; wir drei waren bei ihm. Am nächsten Tag begruben wir ihn. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich ihn vermißte. Er war wie mein eigener Bruder gewesen. Ja, es war eine düstere, einsame Zeit, die dann folgte. Aber einsam ist nicht das richtige Wort. Für mich war es schlimmer. Jetzt war von allen, die mit mir England auf der Bounty verlassen hatten und auf diese Insel gekommen waren, keiner mehr am Leben. Ich wanderte auf der Insel umher mit einem Herzen, das schwer war wie Blei. Ich dachte an die Meuterei, wie ich geholfen hatte, Kapitän Bligh und achtzehn unschuldige Männer mitten auf dem Ozean auszusetzen. Wenn ich nachts im Bett lag, sah ich das Boot auf den Wellen dahintreiben und die Männer darin verdurstet oder verhungert. Ich dachte an das Blut, das hier vergossen worden war, und immer wieder sah ich Quintais Gesicht vor mir; bei Tag und Nacht sah ich ihn, bis ich beinahe verrückt war. Auch die Kinder waren mir damals kein Trost mehr. Angst packte mich, wenn ich sie sah, denn ich dachte daran, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie erwachsen wären. Mir fiel ein, was Herr Young mir einmal vorgelesen hatte, daß die Sünden der Väter an den Kindern und Kindeskindern gerächt werden. Ich versuchte, zu Gott zu beten, aber ich wußte nicht, wie ich das machen sollte, und vergessen Sie nicht, ich kannte ihn nur als einen Gott des Hasses und der Rache. Von dem Gott der Barmherzigkeit und der Liebe hatte ich kaum etwas gehört und nichts gelesen.
Als Herr Young so krank geworden war, hatte ich mein Lesen und Schreiben aufgegeben. Jetzt fing ich wieder damit an. Ich nahm mir die Bibel vor und fuhr dort fort, wo Herr Young aufgehört hatte, mir vorzulesen. Wenn ich gewußt hätte, was ich heute weiß, so wäre ich gleich zum Neuen Testament übergegangen, aber vielleicht war es am besten, daß ich mich hineingrub, langsam und geduldig wie ein Maulwurf unter die Erde. Drei Jahre lang tat ich das. Ich habe von Leuten gehört, die plötzlich, in einem Tag oder einer Woche, zu Gott kamen. Mit mir war das nicht so. Ganz allmählich wurde ich zu ihm geführt, aber als ich zum Leben Jesu kam, öffnete sich mein Herz, als ob die Tore auf einmal weit auseinandergegangen wären. Und als ich einmal sicher war, daß Gott ein liebender und barmherziger Vater der reuigen Sünder ist, da schien es mir, als ob er selbst gegenwärtig wäre, Sir. Und endlich wußte ich, daß ich auf den Weg des Lebens gekommen war - den einzigen Weg. Ich will nicht mehr darüber sagen, denn das ist etwas Heiliges, aber ich wußte, daß ich Gott gefunden hatte, weil Friede in mir war. Aber um die Kinder machte ich mir Sorgen. Sie hatten das Blut ihrer Väter in den Adern. Wie konnte ich wissen, ob nicht einmal etwas geschehen würde, das sie auf die Wege ihrer Väter lenkte? Da war mir mit einem Male, als hörte ich die Stimme des Heilands: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Und das tat ich, Sir. Ich führte sie zu ihm und ihre Mütter mit ihnen. Sie werden sich darüber wundern, daß ein unwissender Seemann das konnte. Allein hätte ich es auch nicht zuwege gebracht, aber Gott zeigte mir den Weg. Mit den Müttern begann ich. Ich rief sie eines Abends zusammen und erzählte ihnen Geschichten aus der Bibel. Es war
eine Freude, zu sehen, wie eifrig sie zuhörten. Im Anfang taten sie es wohl nur, weil es eben schöne Geschichten waren, aber bald spürten sie, daß doch noch mehr darin war. Wenn es schon eine solche Freude für mich war, die Mütter zu lehren, so können Sie sich vorstellen, Sir, wie es war, als ich mit den Kindern begann. Ihre kleinen Herzen waren so offen und so bereit, die Lehre aufzunehmen, daß ich manchmal fürchtete zu sprechen, um Gottes Wort nicht falsch auszulegen. Sie glaubten mir, ohne zu fragen oder zu zweifeln. Ich sprach nicht von der Sünde, denn sie wußten nicht, was das war. Ich lehrte sie, einander zu lieben, die Wahrheit zu sprechen und nach ihr zu handeln und ihre Mütter zu ehren. All das geschah in der Sprache der Indios, die ich so gut konnte wie sie selbst, aber dann erkannte ich, daß ich noch mehr tun mußte. Ich dachte an die späteren Jahre, wenn ich nicht mehr da wäre, und daß sie dann zurückbleiben würden, ohne das Wort Gottes selber lesen zu können. Ich mußte sie die Buchstaben lehren. Zuerst hielt ich des Abends Schule für die größeren Kinder. Das war eine schwere Sache, denn wie Sie wissen, kennen die Indios nur das gesprochene Wort. Eigentlich hätte ein besserer Kopf als meiner dazu gehört. Manchmal glaubte ich, ich müßte es aufgeben. Aber schließlich lernten sie es doch, und von da an wären Sie erstaunt gewesen, wenn Sie gesehen hätten, welche Fortschritte sie machten. Die Kinder waren auf die Schule geradeso stolz wie ich. Ich brauchte sie nicht hereinzulocken. Wahrhaftig nicht! Alle wollten sie lernen. Als die kleinen größer wurden, kamen die auch in die Schule, und die älteren halfen mir. Und was für Fragen sie stellten, als sie ein bißchen lesen
gelernt hatten! Mein alter Kopf schwindelte mir manchmal. Und nun bin ich bald am Ende meiner Erzählung angelangt. Ich könnte noch die ganze Nacht weitererzählen oder noch viele Nächte, aber ich will Ihre Geduld nicht zu sehr auf die Probe stellen. Unser Leben vergeht so ruhig wie ein Sommertag. Seit Quintais Tod hat es nie den geringsten Streit zwischen uns gegeben. Wir leben für die Kinder. Ihre Mütter und ich, wir haben nur den einen Gedanken, ihr Leben ebenso glücklich zu machen, wie das unsere in den alten Tagen unglücklich war. Sie sind gute Mütter, wenn sie auch früher Heiden waren und es in manchem jetzt noch sind. Aber die Heiden haben manches, Sir, von dem wir Weißen lernen könnten. Hin und wieder, wenn ich fischen gehe, komme ich an der Stelle vorbei, wo das Wrack der Bounty lag. Dann blicke ich manchmal hinunter und denke an die Zeit, als ich noch ihr Deck unter den Füßen hatte. Ich denke an den Tag, an dem wir aus dem Hafen von Portsmouth ausfuhren, alle voll Begierde, die fremden Inseln kennenzulernen. Wir hatten wahrlich keine Ahnung davon, was uns bevorstand und welches Ende manche von uns nehmen würden. Wir haben ein großes Unrecht begangen, als wir Kapitän Bligh mit all seinen unschuldigen Begleitern aussetzten. Er war ein harter Mann und ein ungerechter Mann. Aber soviel wir auch von ihm zu erdulden hatten, wir hätten uns des Schiffes nicht bemächtigen dürfen; niemand wußte das besser als Herr Christian, als es schon zu spät war. Von der Zeit an bis zum Tage seines Todes hat er keine Freude und keinen Frieden mehr gekannt. Wir wurden für unsere Tat bestraft, wie wir es verdienten,
doch mehr will ich nicht darüber sagen; das ist jetzt alles längst vorbei. Sie glauben gar nicht, welche Freude Sie mir machten, als Sie mir sagten, daß Kapitän Bligh und seine Leute sich durchgekämpft haben. Jetzt erst kann ich meinen Frieden finden. So, jetzt habe ich getan, was Herr Young wünschte. Ich habe Ihnen die Geschichte von Anfang bis zum Ende erzählt und Ihnen nichts verschwiegen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie mir dieses Gewicht von der Seele nahmen. Aber, bei Gott, es ist spät geworden. Sie müssen todmüde sein. Gute Nacht, Herr Webber, schlafen Sie wohl! Morgen werde ich rechtzeitig wach sein, um Kapitän Folger zu begrüßen.
22
Als am nächsten Tag die Sonne unterging, saß Alexander
Smith mit einigen der Kinder auf dem Aussichtspunkt
oberhalb der Bountybucht. Tiefer unten, auf den Klippen
und am Strand, waren die anderen Bewohner von Pitcairn,
und alle blickten gegen Osten aufs Meer hinaus. Die
Topaz entfernte sich, von einer frischen westlichen Brise
getrieben, rasch vom Lande und hob sich jetzt von der
unendlichen blauen Fläche wie ein Kinderspielzeug ab.
Smith wandte sich zu einem kleinen Mädchen an seiner
Seite, das leise schluchzte.
»Na, Mädel! Beruhige dich, sonst fangen wir anderen am
Ende auch noch zu weinen an.«
Sie hob den Kopf und versuchte unter Tränen zu lächeln.
»Es ist traurig, daß sie so rasch fort mußten«, sagte sie.
»Kommen sie nie zurück?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Liebling. Aber wer weiß!
Vielleicht kommen sie zurück.«
»Wohin fahren sie, Alex?« fragte einer der Knaben.
»In ihre Heimat ... die ist weit weg ... viele tausend
Meilen von hier.«
»Dann werden wir sie sicher nie wiedersehen!«
»Jetzt fang nur nicht wieder an zu weinen, Kachel! Willst
du nicht, daß Kapitän Folger seine Lieben wiedersieht?
Und auch an Herrn Webber mußt du denken, der hat drei
Kinder, die warten zu Hause auf ihn; das größte ist so alt
wie du. Denk nur, wie die sich freuen werden, wenn er
heimkommt!«
»Ja, er soll heimkommen. Aber er soll wieder
zurückkommen. Es ist so weit... Wo ist seine Heimat?«
»Dort drüben.«
»Sieht es dort so aus wie bei uns?«
»Nun ja, so ähnlich; aber doch auch wieder anders. Es ist ein großes Land, in dem er lebt. Du könntest Hunderte von Ländern wie das hier zusammensetzen ... Tausende ... und es wäre noch immer nicht so groß wie seines. Und im Winter ist es kalt dort. So kalt, daß die Bäche und Flüsse zufrieren.« »Was ist das, zufrieren?« »Ja, Kind, so genau kann ich dir das nicht erklären. Es wird kälter und immer kälter, und am Ende wird das Wasser ganz hart wie ein Felsen, und du kannst darauf Spazierengehen.« »Wirklich, Alex? Ich könnte darüber gehen wie der Herr Jesus?« »Nein, Robbie, das ist etwas anderes. Jesus ging auf solchem Wasser, wie wir es hier haben.« »Warum hast du uns nie von den anderen Ländern erzählt?« »Es ist so lange her, daß ich dort gewesen bin! Ich habe beinahe vergessen, daß es so etwas gibt.« »Aber jetzt wirst du uns davon erzählen, nicht wahr?« Alle wandten einen Augenblick lang ihren Blick von dem fernen Schiff ab und schauten Alexander Smith begierig an. »Erzähl uns von den fremden Ländern, Alex ... erzähl uns!« »Ruhig, ruhig, Kinder, vielleicht werde ich euch ...« »Versprich es uns, Alex!« »Ja, ich verspreche es euch. Aber nicht heute. Nächstens einmal, wenn ihr es dann noch hören wollt. So, jetzt lauft voraus. Ich komme gleich nach.« Die Sonne war untergegangen. Im Osten schimmerten die ersten Sterne. Das Schiff war jetzt am fernen Horizont nur noch als Punkt zu sehen. Reglos, das Kinn in die Hände gestützt, blickte der alte Seemann ihm nach,
bis es im zunehmenden Dunkel des Abends verschwand. Endlich stand er auf und ging langsam den Pfad hinab, der zu den Häusern führte.
SCHLUSSWORT
Im Jahre 1808 entdeckte Mayhew Folger, Kapitän des amerikanischen Segelschiffes Topaz, Pitcairn, den Zufluchtsort der Meuterer von der Bounty. Sein Bericht, ebenso wie die Mitteilungen von Staines und Pipon (1814), Kapitän Beechey (1825), ]. A. Moerenhout (Voyages aux Iles du Grand Ocean, 1829), und die späteren Berichte von Walter Brodie und Rosalind Young wurden von den Autoren des vorliegenden Buches benutzt und dort, wo sie voneinander abweichen, auf Grund eigener, während eines langen Aufenthaltes auf der Insel durchgeführter Untersuchungen sorgfältig geprüft und miteinander in Einklang gebracht. Wenn sich in diesen Blättern an manchen Stellen Grauen auf Grauen häuft, wenn das Blut in Strömen fließt, so tragen die Verfasser nicht die Schuld daran. Als getreue Chronisten erzählen sie nur nach, was ihnen die Geschichte der Insel Pitcairn vorerzählte. Doch der Gedanke ist tröstlich, daß auf erschütterndes Geschehen, welches sich mit der Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie abspielte, wirklicher Friede folgte. Alle, die das Glück hatten, Pitcairn in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts zu besuchen, stimmten darin überein, daß die kleine Gemeinschaft wahrhaft ein Bild des Goldenen Zeitalters darbot. Auch heute noch leben die Nachkommen Fletcher Christians und der übrigen Meuterer von der Bounty auf ihrem einsamen Eiland, unberührt von den Stürmen, die die Welt durchtoben, ein Leben der Arbeit und einträchtigen Zufriedenheit.
Charles Bernhard Nordhoff, Reise und Abenteuerschriftsteller, wurde am 1. Februar 1887 in London geboren. Seine Eltern waren Amerikaner. Mit drei Jahren kam er nach Amerika. Mit sechzehn Jahren veröffentlichte er bereits kleine Artikel in Zeitschriften. Er studierte an der Stanford-Universität und in Harvard, arbeitete auf einer Zuckerfarm in Mexiko und in einer Ziegelfabrik in Kalifornien. Im Ersten Weltkrieg war er Flieger, lernte in dieser Zeit Norman Hall kennen und schrieb nach dem Krieg mit ihm zusammen ein Kriegsbuch. Beide wanderten später nach Tahiti aus, ließen sich dort nieder und verfaßten gemeinsam zehn Romane. 1947 starb Nordhoff. James Norman Hall, geboren am 22. April 1887 in Colfax, Iowa, war nach Abschluß seiner Studien zunächst in der Sozialarbeit tätig. Im Jahre 1914 trat er in die Freiwilligen-Armee Lord Kitcheners ein, kämpfte in Frankreich, wurde 1916 Flieger, 1918 abgeschossen und befand sich die letzten sechs Monate des Ersten Weltkrieges in deutscher Gefangenschaft. 1919 aus der Armee entlassen, ging er für mehrere Monate nach USA, um, 1920 für kurze Zeit, später für immer, nach Tahiti überzusiedeln. Hier heiratete er 1925. Hall wurde als »die andere Hälfte seines Kriegskameraden Nordhoff« bezeichnet. Neben den zehn Romanen, die er mit ihm zusammen schrieb, und von denen Hurrikan, Meer ohne Grenzen, Schiff ohne Hafen, Am dunklen Fluß am bekanntesten wurden, veröffentlichten beide zahlreiche eigene Bücher. Sie stellen einen ebenso seltenen wie produktiven Fall schriftstellerischer Gemeinschaftsarbeit dar.