RICHARD KADREY
METROPHAGE Roman � Mit einem Vorwort von � RUDY RUCKER � Aus dem Amerikanischen übersetzt von � KURT BR...
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RICHARD KADREY
METROPHAGE Roman � Mit einem Vorwort von � RUDY RUCKER � Aus dem Amerikanischen übersetzt von � KURT BRACHARZ � Deutsche Erstausgabe � Science Fiction �
WILHELM HEYNE VERLAG � MÜNCHEN �
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4758
Titel der amerikanischen Originalausgabe METROPHAGE Deutsche Übersetzung von Kurt Bracharz Das Umschlagbild ist von Michael Hasted
Redaktion: Wolfgang Jeschke � Copyright © 1988 by Richard Kadrey � Copyright © 1988 des Vorworts by Rudy Rucker � Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung � by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München � Printed in Germany 1990 � Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München � Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin Scanned by RedStarBurner ISBN 3-453-04472-X
Inhalt DANKSAGUNG................................................................................................. 5 � VORWORT VON RUDY RUCKER................................................................ 6 � I Die versteinerte Stadt.................................................................................... 9 � II Geschichte, Ausgleichund eine � unglückliche Vereinigung im Bauch der Bestie........................................ 27 � III Der Flug einer nicht-euklidischen Fliege............................................... 44 � IV Vorahnung des Bürgerkriegs.................................................................... 59 � V Sumimasens Rettung.................................................................................. 76 � VI Der köstliche Leichnam............................................................................. 97 � VII Das Maschinengewehr im Zustand der Gnade..................................113 � VIII Der bedrohte Mörder............................................................................ 136 � IX Der Verrat der Bilder............................................................................... 156 � X Zweiter Blick: Ein Abenteuer in Optik...................................................187 � XI Zur Zerstörung bestimmtes Objekt...................................................... 201 � XII Tod und Offenbarung in einer dunklen Bar � in einer üblen Nacht am Ende der Welt..................................................... 216 � XIII Die Fünfzig-Cent-Tour durchs Universum....................................... 231 � Epilog: DieUnbewußtheit der Landschaft � wird vollständig.............................................................................................. 249 � CYBERPUNK — DIE POESIE DES VERFALLS....................................253 �
DANKSAGUNG � Ich möchte folgenden Personen für die Hilfe danken, die sie mir ab sichtlich oder unabsichtlich bei der Abfassung dieses Romans geleistet haben: Pat Murphy, Terry Carr, Raymond Embrack, Lisa Goldstein, Rolf Hamburger, Mikey Roessner-Herman, Gustav Hasford, Marc Laid law, Kristi Diesen, Ruth Ramos, Avon Swofford, Cherie Wilkerson, Pamela Wirifrey, den Lehrern und Studenten von Clarion '78, allen gegenwärtigen und vergangenen Bewohnern von Moulton Alamo, sowie meiner Mutter Jimi Kadrey. Dem Arzt und Schriftsteller Michael Blumlein verdanke ich medizinische und wissenschaftliche Informa tionen für dieses Buch. Etwaige Fehler auf diesen Gebieten liegen aus schließlich in meiner Verantwortung. Robert Fripp, Brian Eno, Throbbing Gristle und Tangerine Dream möchte ich für ihren Soundtrack danken.
Dieses Buch ist in Liebe Pat gewidmet
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VORWORT VON RUDY RUCKER � Wie alle Bücher in der New Ace Science Fiction Special-Serie ist auch ein Romanerstling, der stark und seltsam beeindruckt. Richard Kadrey, 1957 geboren, liebt den Surrealismus. Er hat schon eine Anzahl von Kurzgeschichten veröffentlicht, ist aber auch bekannt für seine dadaistischen Collagen-Illustrationen. Metrophage hat den Aufbau einer schnell voranschreitenden Action-Story, aber das Buch ist außerdem eine Art Collage von Literatur, Kunstgeschichte und Kadreys ganz besonderen Vorstellungen von wundervollen Drogen und schönen Waffen. Die Handlung spielt in einer bastardisierten Stadtlandschaft der na hen Zukunft, sehr ähnlich dem Los Angeles, wie man es in der Max Headroom Show sehen kann. Diese lockere, gewalttätige, drogenge schwängerte, multinationale Szene ist ein Standardhintergrund für die zeitgenössische Science Fiction, wie es das Raumflottenschiff in den fünfziger Jahren war. Aber Kadrey legt Schicht um Schicht scharf gese hener Bilder übereinander, und das Ergebnis ist etwas gänzlich Neues. »Plattgedrückte Krillbüchsen, die Rückwände auseinandergenom mener Computerterminals und Isolierröhren von L5-Shuttles füllten die Lücken… um Gehsteige zu formen…« Die Wände sind so lasiert, daß die Gangs Schwefelsäure benützten, um ihre Graffiti in sie zu ätzen. Ein junger Mann, ein Zombie-Analytiker, hat seine Haut fürs Vi deo verdrahtet; er wird angeschossen und alle Bilder aus seiner Softwa re quellen auf einmal hoch: »Der Arm, den Skid hochhielt, flackerte stroboskopisch irre: der Arm einer Frau, eines Reptils, eines Indus trieroboters; karmesinrote Spinnen überzogen ihn mit Fäden; gelbe Zahlen scrollten über sein verzerrtes Gesicht; Brando, Lee, Bowie, Vega; sein System brach zusammen, die Gesichter flackerten schneller und schneller und verschmolzen in ein Metaphantasie-Gesicht, farblos oder in allen Farben, die sofort verblaßten, als es entstanden war.« Das ist ernsthaft und leidenschaftlich halluziniert; Tristan Tzara hätte es zu schätzen gewußt. Tristan wer? Ein Surrealist, wie Luis Bunuel, Salvador Dali, Max. Ernst, Marcel Duchamps, William Burroughs, Mark Pauline − alle, die Kadrey glücklich in seine Traummaschine Metrophage eingespeist hat. Es tut gut, einen Autor zu lesen, der sich der Wurzeln von Science Fiction in Anarchismus und Surrealismus bewußt ist. Ein anarchis tischer Schlüssel innerhalb der Machinationen von Metrophage ist der Begriff des ›Spektakels‹ »…das Spektakel ist das Mittel, mit dem die
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Regierung Kontrolle ausübt. Es schafft diese geheimnisvollen und komplexen Systeme … es schafft … Bilder des Bösen. Auf diese Weise hält es uns isoliert und macht uns glauben, wir hätten keine Kontrolle über unser eigenes Leben.« Heute und hier gehören zum Spektakel der Atomkrieg, arabische Terroristen, Hilfe für die Contras und AIDS. Das Spektakel in Metrophage ist so ziemlich dasselbe. Es ist eine vertraute Tatsache, daß Sci-Fi-Zukünften auf einem be stimmten Niveau immer von jener Gegenwart handeln, in der sie ge schrieben werden. Orwells 1984 war tatsächlich 1948. Asimovs Founda tion zeigt ein 1950er Amerika auf Milchstraßengröße aufgeblasen. Es ist auch oft so, daß die Hauptfigur eines SF-Romans ein Stellvertreter des Autors ist. Nun, Jonny, der Held von Metrophage ist … na ja, ziemlich abge fackt − ganz anders als der zivilisierte, künstlerische Richard Kadrey, mit dem meine Frau und ich in San Francisco hin und wieder essen ge hen. Vielleicht ist Jonny ein Stadium aus Richards früherem Leben. Ich hoffe, daß es in seinem nächsten Buch nicht so viele Leichen gibt. Ri chards offizielle Biographie spielt auf den Horror an, als Schwarzer in Texas aufwachsen zu müssen, mit illegalen Substanzen zu tun zu haben und kurze Zeit mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der spä ter einer der Witzeschreiber für Ronald Reagan wurde. Wenn wir gerade von Witzen sprechen, mein Lieblingswitz in Me trophage kommt schon auf den ersten Seiten: »›Sie haben gerade in Kansas eine A-Bombe gezündet. Die Jordanische Wiedervereinigungs armee, eine neue Palästinenser-Splittergruppe. Sagten, Houston sei als nächstes dran.‹ Der Barmann schüttelte den Kopf. ›Diese Jungs müssen wirklich etwas gegen Kühe haben‹« Hier ist nun also Me trophage, ein sprühendes Feuerrad von einem Buch, das auf jeder Seite Pointen ausspuckt. Leser, die über Science Fiction Bescheid wissen, werden sich vielleicht wundern, wieso ich dieses Vorwort schreibe, statt Terry Carr, der beide Reihen der Ace Science Fiction Specials sowohl in den 60er Jahren als auch in den 50ern herausgegeben hat. Terry starb über raschend im Frühjahr 1987, nachdem er Metrophage lektoriert hatte, aber nicht mehr dazugekommen war, das Vorwort zu verfassen. Er tat eine Menge dafür, die Science Fiction am Leben zu halten, und er wird uns allen fehlen. Möge er in Frieden ruhen. RUDY Los Gatos, California, Juni 1987
RUCKER
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Now I lay me down to sleep I hear the sirens in the street All my dreams are made of chrome I have no way to get back home Tom Waits
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Die versteinerte Stadt
Ein Krüppel namens Easy Money betrieb die HoloHuren an einem Ort namens Carnaby's Pit. Zumindest hatte er das noch getan, als Jonny Qabbala, Drogendealer, Ex-Gesundheitsdienst-Kopfgeldjäger und ein gestandener Verlierer, ihm zum letzten Mal einen Besuch abgestattet hatte. Jonny hoffte, daß Easy immer noch im Pit arbeitete. Er hatte ein Geschenk für ihn, ein Geschenk von einem toten Freund. Die häßliche und allzufrühe Ermordung Raquins, des Chemikers, hatte ein Gefühl von Leere in Jonnys Magengrube hinterlassen. Nicht nur, weil Raquin Jonnys Connection gewesen war (denn es war eine einfache Sache für Jonny, sein Dope direkt von Raquins Boss, dem Schmugglerlord Conover zu bekommen), sondern weil während der Zeit ihrer Bekanntschaft, die ungefähr ein Jahr gedauert hatte, Raquin so etwas Ähnliches wie ein Freund für Jonny geworden war. »So etwas Ähnliches wie ein Freund« war das Intimste, was Jonny sich selbst erlaubte. Es war mehr eine Verlustangst als ein Mangel an Gefühlen, der Jonny auf Distanz hielt von den anderen Verlierern und Tage dieben, die Los Angeles bevölkerten. Der Mond stand tief im Osten, eine knochenweiße Sichel. Jonny fragte sich flüchtig, ob die Alpha-Ratten Los Angeles in dieser Nacht beobachteten. Was würden sich die Außerirdischen denken, über eine Viertelmillion Meilen leeren Raumes hinweg, wenn sie ihm dabei zusa hen, wie er Easy Money eine Kugel durch den Kopf schoß? Jonny sah Carnaby's Pit schon aus einigen Blocks Entfernung, weil Quarzprismen erbeutete Grausamkeitenvideos aus den Mondgrenz kriegen projizierten. Auf einer flachen Erhebung aus der Wand über dem Clubeingang zerschmetterte ein Soldat der Neuen Palästinenser in einem Raumanzug die Gesichtsplatte eines Mishima-Wachmannes. Das Blut des Wachmannes quoll aus seinem Helm und die Tropfen ge rannen zu harten schwarzen Juwelen, während im Hintergrund der So undtrack eines alten MGM-Musicals erklang: »I want to be loved by you, just you, and nobody else but you…« Über der Szene leuchteten rhythmisch die Wörter CARNABY'S PIT in Kanz- und-Roman-Buch staben auf. Jonny drängte sich durch eine Gruppe von Pemex-U.S.-Arbeitern, die auf dem Wochenendmarkt, der die Straße bis zur Fountain Avenue hin bedeckte, Reiswein billig zu ergattern versuchten. Die Luft war zum Schneiden dick von tierischen Ausdünstungen, Schweiß, ge bratenem Fleisch und Haschisch. Hühner schlugen ihre Flügel gegen
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Käfigstangen, während beinlose tankgezüchtete Schafe fügsam in den Metzgerboxen lagen und darauf warteten, auf die Bratspieße gesteckt zu werden. Alte Frauen in Wickelröcken winkten Jonny zu, hielten grelle Stoffbahnen hoch, zeigten gefälschte ROM-Chips und glänzende Schmetterlingsmesser. Jonny schüttelte den Kopf. »No, gracias… Ima ju naku… No…« Sechs gutaussehende junge Deutsche, alle in Aalhaut-Cowboys tiefeln und seidenen Overalls (bedruckt mit dem Logo irgendeines europäischen Fernsehstudios) trugen portable Holorecorder zwischen den Marktständen umher und machten eine weitere Sendung ihrer endlosen Serie von World Link-Dokumentationen über den Tod der Straßenkultur. Diese schnell zusammengehauenen Dokumentationen und das endlose TV-Gequassel über die Alpha-Ratten (wer sie waren, welche Absichten sie hatten, wie sie die westliche Wirtschaft beeinfluß ten) schienen das Hauptkontingent des Fernsehprogramms der letzten Zeit auszumachen. Jonny schwor sich, daß er persönlich fünfzig Kilo C 4-Plastiksprengstoff unter die lokale Link-Station legen würde, wenn er noch einmal einen dieser gescheiten Experten cool über die Logik von Drogen- und Essensrationierungen schwätzen hören mußte. Das würde sein Beitrag zur Straßenkultur sein: die Schaffung einiger freier Qua dratmeter erstklassiger Stadtlandschaft. An einem Stand am Ende des Platzes verkaufte eine alte Curandera ihre Mittel gegen den bösen Blick und eine Kollektion von defekten Ro botwachen: kybernetische Bussarde, Rottweiler und Pumas, primitive Such-und-töte-Geräte, die von einem Mikrowellensender-Tischgerät gesteuert wurden. Die Dinger waren gegen Ende des letzten Jahr hunderts bei den Neureichen sehr populär gewesen, aber die Elektronik dieser Tiere hatte sich als bemerkenswert unzuverlässig erwiesen. Möglicherweise stammten sie wie viele der Waren auf diesem Markt aus den umliegenden Bergen und durchquerten die starren so zialen Schichten von L.A., bis sie auf dieser Straße landeten, ihrem letz ten Aufenthalt vor dem Schrottplatz. Bei diesen zuckenden, knurrenden Tieren stellte die Filmcrew ihre Lampen auf. Jonny stand ein wenig herum und sah ihnen beim Filmen zu. Diese Leute brachten ihn in Wut, aber auf ihre Weise hatten sie na türlich auch recht, wie er sehr wohl wußte. Der Markt lag im Sterben. Als Jonny noch ein Junge gewesen war, hatte sich der Markt über ein Dutzend Blocks erstreckt. Jetzt reichte er kaum noch zwei Blocks weit. Und der größte Teil der Ware war Abfall. Chromfarbe blätterte von den elektrischen Komponenten und entblößte rostige veraltete Bestandteile. Die hydroponisch gezüchteten
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Früchte und Gemüse wurden ständig kleiner und waren jedes Jahr noch geschmackloser. Was den Markt noch am Leben hielt, war eine genossenschaftlich betriebene Batterie leckender Solarzellen. Während der häufigen Stromausfälle hielt sie allein die Tortillaöfen warm, die Werbeschriften leuchtend und die Videos am Laufen. »Solltet ihr Kinder nicht schon im Bett sein?« fragte Jonny und trat einem blonden Kameramann auf die Zehen. »Do you speak Parasite?« In den Eingängen der Clubs und unter den Arkaden waren Gruppen von Fingerabdruckveränderern, Nervengewebshändler und Gehirn zellendiebe und betrachteten aus hohlen Augen die Menge, als ob sie ständig ihre Kaufkraft abschätzten. Die Gangs waren in dieser heißen Nacht auch unterwegs: die Lizard Imperiais (Schlangenlederstiefel und chirurgisch gespaltete Zungen), die Zombie-Analytiker (subkutane Pi xel, die flackernde Fleischbilder von toten Video- und Rockstars zeig ten), die Croaker (anarchistische Mediziner), die Yakuza Rebels und die Gypsy Titans. Sogar die Naginata Schwestern waren da, ließen Klingen blitzen und tranken an der Ecke vor der Eisernen Orchidee. Als Jonny über den Sunset ging, winkten ihm ein paar Schwestern zu. Als er zurückwinkte, schlug ein Windstoß seine Tunika auf und ent hüllte seine Futukoro Automatic. Die Schwestern johlten und lachten angesichts der Waffe und taten so, als fürchteten sie sich. Eine große Schwester mit Maori-Schmucknarben im Gesicht machte ihren Finger krumm und begann, mit einem imaginären Gewehr auf ihn zu schießen. Von der anderen Seite her kam ein Ring großer Niku Yaro Meat Boys auf Jonny zu − gleichmäßig häßliche Riesenwüchsige, jeder leicht drei Meter groß. Im Zentrum dieses Schutzringes starrte ein alter Ya kuza Oyabun die Leute offen an und wies mit dem Finger auf sie. Es kam so selten vor, daß sich ein reinblütiger Japaner in dieser Gegend sehen ließ, daß die Menschen stehenblieben und zurückstarrten, bis die Meat Boys sie wegstießen. Jonny fiel ein Wort ein: Gaijin. Fremder. Fremdartiger. Das bin ich. Ich bin ein gaijin, dachte sich Jonny. Seine Vertrautheit mit diesen Straßen machte ihm wenig Lust. Es war ihm klar, daß er, als er seinen Wunsch, Easy Money zu töten, eingestand, jeden anderen von sich weggeschoben hatte. Er ging langsamer. Zweimal wäre er beinahe umgekehrt. Ein winziges Nisei-Mädchen versuchte, ihm eine besondere lokale Variante von Sushi zu verkaufen − gebackene Bohnen und roher Thunfisch, eingewickelt in eine Maisschote − allgemein bekannt als Salmonellenrolle. Jonny lehnte ab und verschwand in eine Nebenstra
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ße. Dort schluckte er zwei Desoxyn-Tabletten, die er aus einem Waren lager des Gesundheitsdienstes geklaut hatte. Es war guter Stoff. Sehr schnell begann ein Kribbeln in seinen Fingern und kroch seine Arme hinauf, wobei es ihn mit einer angenehmen Spannung und nahezu sexueller Energie erfüllte. Schweiß brach ihm in den Handflächen und auf dem Gesicht aus und rann seine Brust hinunter. Er dachte an Sumi. »Vielleicht bin ich abends noch nicht zurück«, hatte er ihr gesagt, bevor er die gemeinsame Wohnung verließ. »Uno tareja. Ich muß ein paar Lieferungen erledigen«, log er. »Routineangelegenheiten.« »Und warum nimmst du dann die Spritze mit?« fragte Sumi und deutete auf die Futukoro-Pistole. Jonny ignorierte ihre Frage und tat so, als sei er sehr damit beschäf tigt, seine mit Stahlkappen versehenen Stiefel zu verschnüren. Sumi wurde zum Problem. Manchmal, in seinen herzloseren Augenblicken, betrachtete er sie als einen Irrtum, ein letztes Sich-Gehen-lassen, was emotionelle Bindungen betraf. Wenn er sich gelegentlich stark fühlte, gestand er sich ein, daß er sie liebte. »Ich muß heute abend durch die Territorien eines Dutzend Gangs, und wenn ich dabei Glück habe, lande ich anschließend in Carnaby's Pit. Deshalb die Knarre. Ich sollte ein Bataillon des Gesundheitsdiens tes mitnehmen.« »Ich glaube, sie hätten Angst, wenn du sie anrufst.« »Darauf würde ich wetten.« Die mandeläugige Sumi strich ihm mit sanften Händen zart übers Haar. Er hatte sie im Zendo einer alten buddhistischen Nonne kennengelernt. Vom Zenstudium war nichts hängengeblieben, wohl aber Sumi. Ihr vollständiger Name Sumimasen bedeutete ›Danke‹, ›Tut mir leid‹ oder auch ›Das hört niemals auf‹. Sie war fast so lange allein gewesen wie Jonny. Während dieser Zeit hatte sie genug Elektronik kenntnisse aufgeschnappt, um als Wattzapferin zu arbeiten: gegen Ge bühr drang sie in die unterirdischen Stromleitungen der Regierung ein und zapfte Energie für ihre Kunden ab. Jonny stand auf. Sumi legte ihre Arme um ihn und drückte ihren Bauch an die Pistole in seinem Gürtel. »Ist das deine Pistole oder freust du dich nur, mich zu sehen?« Sumi brachte eine komplette kleine Vorstellung, rollte ihre Augen und schnurrte mit ihrer besten Vamp-Stimme. Aber ihre Nervosität blieb doch offensichtlich.
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Jonny beugte sich vor und küßte ihren Nacken. Er hielt sie lange genug fest, um sie zu beruhigen, und noch länger. Er fühlte, wie sich ihr Körper unter seinen Händen spannte. »Ich komme schon wieder zurück«, sagte er. Während der letzten paar Monate hatte Jonny begonnen, sich Sorgen zu machen, wenn er Sumi alleinließ. Offiziell gab es die Strom leitungen der Regierung überhaupt nicht. Der Staat war um so mehr bemüht, Wattzapfer wegzuputzen. Technisch gesehen waren alle Gangs Gesetzlose. Die Elemente der Gleichung waren simpel: ihre Bestandteile waren der Preis des Überlebens dividiert durch die Risiken die das Überleben mit sich brachte. In einer Zeit der Ra tionierung und absichtlicher Versorgungsmängel bedeutete ›Über leben‹ den Schwarzmarkt. Die Gangs produzierten alles, was die Schmugglerlords nicht hereinbringen konnten. Und die Pusher ver kauften es auf den Straßen. Jonny hatte seine eigene Überlebensform gewählt, als er den Gesundheitsdienst verlassen und sich den Pushern angeschlossen hatte. Es war eine einfache Frage des Karmas. Jetzt arbeitete er auf dem Schwarzmarkt, verkaufte alle Drogen, die die Schmugglerlords liefern konnten − Antibiotika, LSD-Analogien, Beta-Endorphine, MDMA − und strich in einem rasiermesserscharfen High aus Adrenalin und Paranoia durch die Straßen. In seinen philosophischeren Augenblicken kam es Jonny vor, als sei en sie alle in nichts anderes als einen ziemlich merkwürdigen Krieg der Symbole verwickelt. Was die Schmugglerlords und die Gangs verkauf ten − Essen, Energie und Drogen − war zu den äußersten Symbolen der Kontrolle in ihrer Welt geworden. Die Bundesbehörden konnten sich nicht aufraffen, ihre Rationierungen von medizinischer Behand lung, des Zugangs zu öffentlichen Einrichtungen und der Nahrungs mittelverteilung aufzuheben. Sie hatten vor langer Zeit gelernt, wie einfach es war, eine große Anzahl Menschen dadurch zu kontrollieren und zu unterwerfen, indem man sie zwang, eine ganze Menge für den nackten Lebensunterhalt tun zu müssen. Los Angeles als solches hatte eigentlich aufgehört zu existieren. L.A. allerdings − das metaphorische Herz und die Seele der Stadt − war springlebendig. Ein L.A. des Geistes, Spielplatz für Handel und Wandel: die Stadt der Nacht. Im lokalen Dialekt als Last ASS, Lonesome Angels oder Laughing Adder benannt, existierte Los Ange les in der besonderen Art vieler Hafenstädte, in denen ein ständiger Strom von Daten, Devisen, Dope und Waffen aus der ganzen Welt zu sammenfloß und sich auf den Kontinent ergoß. Es war die am schlech
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testen geheimgehaltene Tatsache auf den Straßen, daß die Hälfte der Bundesbehörden ihre Finger tief in diesem Kuchen des Schwarzmarkts vergraben hatten. Wie eine anfällige seltene Orchideenart existierte die Stadt nur so lange, wie sie die Rückendeckung der Politicos hatte. Ohne sie wäre der Gesundheitsdienst wie ein tollwütiger Hund über sie hergefallen. Aber im Moment gab es diese Balance noch. Waren und Gelder strömten als Atem und Blut der Stadt. Jonny verstand das alles und akzeptierte seine Seiltänzerexistenz. Er wußte, daß eines Tages alles zusammenkrachen würde. Das war ihr kollektives Karma. Früher oder später würde irgendein Politico allzu gierig werden, eine der Gangs hereinlegen wollen oder sie einfach für Stimmen verkaufen. Dann würde der Gesundheitsdienst zuschlagen. Jonny wußte, daß sein Bewußtsein einen Unterschied machen sollte, aber das war nicht der Fall. Der Speed überflutete ihn wie ein alter Freund, ein elektrisches Summen auf und ab in seinem Rückenmark. Plötzlich schien alles möglich. Das nervöse Flimmern des Neonlichts und der Halogenstra ßenlampen tauchte den Sunset in einen pulsierenden Farbnebel. Jonny trat aus der Seitenstraße heraus und fühlte dabei kaum die Stiefel auf dem Asphalt. Easy Money war so gut wie tot. Fünf oder sechs Leporöse hingen um den Eingang von Carnaby's Pit herum, bettelten um Al mosen und zeigten ihre Verstümmelungen denen, die für einen Blick darauf zahlen wollten. Ein umgedrehter Stetson am Boden enthielt eine Anzahl Münzen, zusammengeknüllte Dollar- und Pesonoten und grellfarbene Pillen. Seit die Anzahl der Leprakranken zu sehr ange stiegen war, um sie noch ignorieren zu können, hatten sich seltsame Gerüchte verbreitet. Viele Leute waren bereit zu schwören, daß der Gesundheitsdienst etwas ins Wasser getan hatte, während andere die Araber verdächtigten. Manche schoben es auf die Alpha-Ratten und beschuldigten sie, die Erde mit ›Leprastrahlen‹ vom Mond aus zu verseuchen. Nach Jonnys Meinung waren die meisten Leute komplette Idioten. Ein Leprakranker in einer zerrissenen Raumuniform rezitierte mit tiefer Whiskystimme: »The streets breathe, ebb and flow like the seas beneath a sodden twilight eye. The sky appears from a maw of rooftops. Dusk streets, dry fountains coax the cemetery stars.« Jonny nahm ein paar Dapsone- und THC-Kapseln aus seiner Tasche und warf sie in den Stetson. Der Leporöse mit dick bandagiertem Gesicht, der gesungen hatte, öffnete sein Jacket.
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»Dank dir, mein Freund«, sagte er durch zerstörte Lippen und zeigte seine jüngsten Wunden. Jonny nickte höflich und ging ins Pit hinunter. Die Skyline fiel zusammen, kippte nach unten, richtete sich wieder auf und wurde zu einem vertikalen verwischten Bild spiegelnder Fens ter, Wolkenkratzer, die zu einem holographischen Sternenfeld wiesen. Jonny war im Spielsalon des Pits, der von der Bar durch einen schmut zigen Lotus-bedruckten Vorhang abgetrennt wurde. An den Wänden piepsten und quiekten alte Flipperkasten prosaisch, während die Luft im Zentum des Raumes vom Phantomlicht der Holo-Spiele glühte. Während er den Raum durchquerte, geriet Jonny in einen Schauer blauer Laserattacken der Sub-Orbital-Commandos inmitten von Frag menten winziger Galaxien, die aus Vishnus und Shivas Hand ent sprangen. Rattengroße Nuditäten umtanzten seinen Kopf, jagten einander zum Spaß in der Schwerelosigkeit. Ein wütender Flipperspieler warf ein Glas, das an der Wand zer schellte. Jonny trat einen Schritt zurück, als zwei Mitglieder der Pit-eigenen Meat Boys von entgegengesetzten Enden des Raumes auf den schreienden Mann zuglitten. »Verfluchter Scheißdreck, diese Maschine hat gerade meinen letzten Dollar gefressen!« schrie der Flipperspieler. Er kreischte noch immer, als die zwei fleischigen Monster ihn an den Armen packten und durch die Fronttüre hinausbeförderten. Sie kamen allein zurück. Jonny erwartete halb, sie mit den ausgerissenen Armen des Mannes zurückkommen zu sehen. »Frieden! Können wir nicht ein bißchen Frieden hier drin haben?« murmelte ein schwitzender Mann, der soeben Jaqueline Kennedy im Visier einer Fiberglas-Reproduktion eines Mannlicher-Carano-Gewehrs anpeilte. Es war Smokefinger, der Taschendieb, fett und nervös, in das ›Triff-dein-Schicksal‹-Spiel eingestöpselt mit einem bleistiftdünnen Kabel, das aus der Spielkonsole zu einer 24er-Buchse in seiner Schädelbasis führte. Die meisten der anderen Spieler im Raum waren mit ähnlichen Kabeln mit ihren Spielgeräten verbunden. Jonnys Magen flatterte bei diesem Anblick. Vor Jahren hatte er sich entschieden: er würde sich keine kleinen Platinelektroden chirurgisch in den Schädel pflanzen lassen, nein danke. Er konnte sich World Link auf einem Monitor ansehen, und was die Spiele betraf, die wirkten auch ohne Schädel Stecker realistisch genug. Smokefinger verfolgte das geisterhafte Hologramm der Präsidentenlimousine, während karmesin rote Zahlen im metallblauen Himmel über Dallas flackerten, die seine
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Trefferzahl anzeigten. Jonny lehnte sich nahe an den Taschendieb und sagte in sein Ohr: »Wie geht's, Smoke?« Smokefinger ignorierte ihn und bewegte weiterhin das Gewehr mit ständiger, insektenhafter Kon zentration. »Hey Smoke«, sagte Jonny und wedelte mit den Fingern vor Smoke fingers Augen, gerade als der Dicke den Abzug drückte. Kein Treffer. »Scheiße«, murmelte der Taschendieb und ignorierte Jonny weiter. Er hatte den Chauffeur getroffen. Das war kein Spaß mehr, dachte Jonny. Er zog den Kontaktknopf aus dem Anschluß in Smokefingers Kopf. Der Draht wurde von einer Spiralfeder in der Gerätkonsole automatisch eingezogen. »Was, zum Teufel…?« schrie Smokefinger und griff nach seinem Genick. Er sah Jonny verständnislos an, bis seine Augen refokussierten. Dann sagte er: »Hey Jonny, que pasa?« »Nicht viel«, erwiderte Jonny. »Ich kann kaum glauben, daß du immer noch dieses Spiel da betreibst. Hast du nicht mittlerweile je dermann in Dallas umgebracht?« Smokefinger zuckte die Achseln. »Ich leg sie um, aber sie kommen immer wieder zurück.« Schweiß staute sich hinter den Brillengläsern des dicken Mannes, wo sie seine Wangen berührten. Jonny lächelte und sah sich im Spielsalon um in der Hoffnung, es sei jemand anderer da, von dem er Informationen kriegen könnte. Aber in dem gedämpften Licht der Meteorschauer und Laserfeuer sah niemand bekannt aus. »Hast du Easy Money irgendwo gesehen?« fragte er Smokefinger. »Ich muß ihm etwas sagen.« »Klar, etwas sagen. Du und jeder andere auch.« Smokefinger blickte in die leere Hologrammkammer und fluchte. »Ich hätte meinen eigenen Rekord gebrochen, weißt du.« Er sah Jonny anklagend an. »Nein, ich habe Easy nicht gesehen. Random ist heute abend hinter der Bar. Vielleicht solltest du mit ihm reden. Um die Wahrheit zu sagen, du machst mich nervös.« Smokefinger hatte die ganze Zeit nicht den Finger von dem Glasfibergewehr genommen. Johnny nahm ein paar Yen-Münzen aus seiner Tasche und steckte sie in die Maschine. »Vielen Dank für deine Hilfe, Killer«, sagte er, aber Smokefinger hörte ihm nicht zu, hatte sich schon wieder eingestöpselt. Jonny verließ ihn, wünschte sich, er könnte ebenso leicht seinen Frieden finden, und schlug sich zur Bar durch. Jonny fand es immer ein wenig enttäuschend, daß der Hauptraum sich niemals zu verändern schien. Er kam ihm vor, als sei er in der Zeit eingefroren, so wie eine Platte mit einem Kratzer immer und immer wieder dieselbe Textstelle wiederholt. Die übliche Wochenendgesell
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schaft von kleinen Schmugglern, B-Film-Schauspielern und gelangweil ten Prostituierten starrten in den blauen Rauchvorhang um die Bar. Derselbe müde Pornostreifen lief auf dem großen Schirm zum Nutzen jener Unglücklichen, die nicht mit Schädelbuchsen ausgestattet waren. Sogar die Band, ›Erstürmung des Tigerbergs‹, brachte dieselben alten Riffs und hörte in der Mitte ihrer Nummer ›Guernica Rising‹ auf, weil sie von der Menge ausgebuht wurde. Sie fingen dann zusammenhang los ›Brown Sugar‹ zu spielen an, ein Lied, das schon längst vor der Ge burt eines Anwesenden heute abend im Club alt gewesen war. Tänzer wanden sich unter den Stroboskopen und Infraschall-Stimmungsver stärkern, während Projektoren grausame Szenen vom Mond auf ihre Körper warfen. Tatsächlich war der einzige Unterschied zu vorigen Besuchen, den Jonny sehen konnte, die Dunkelheit in den Boxen der Holohuren. Jon ny drängte sich durch die dichtgepackte Menge und rüttelte an der Tür zu Easys Kontrollraum. Sie war abgeschlossen, und die Bar war zu angefüllt mit Leuten, als daß er sie hätte aufbrechen können. Er würde warten müssen. Jonny fühlte Erleichterung und ein Schuldgefühl wegen dieser Erleichterung. Er ging an die Bar, um etwas zu trinken und ein paar Fragen zu stellen. Random, der Barkeeper, trocknete Gläser hinter der Bar, die aus al ten Autoarmaturenbrettern zusammenmontiert war. Random war groß und hager und hatte ei ne Haut, die gerunzelt war wie verwelkte Blätter. Er sah Jonny mit jenem halben Lächeln an, mit dem er alle seine Kunden bedachte. Jon ny bestellte ein dunkles Asahi und Gin, wofür er einen Zwanziger hin legte. Random stellte das Bier hin und steckte mit einer fließenden Be wegung den Geldschein in seine Tasche. Der Barmann neigte leicht den Kopf in Richtung Tanzfläche. »Nekrophile«, sagte er durch den Lärm der Band, »sie ertragen keine neue Musik. Als sei sie tödlich für sie oder sowas. Ein Haufen Arschlö cher.« Random zuckte die Achseln. Dann blickte er mit unfokussierten Augen irgendwohin, wie ein Blinder. »Sie haben gerade in Kansas eine A-Bombe gezündet. Die Jordanische Wiedervereinigungsarmee, eine neue palästinensische Splittergruppe. Sie haben die lokale World Link Station angerufen. Sagten, Huston sei als nächstes dran.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Burschen müssen wirklich etwas gegen Kühe haben.« Random hatte eine Leidenschaft für morbide Neuigkeiten und war ständig in die Nachrichtensendungen des Link eingestöpselt, wobei er die interessantesten Sachen an seine Kunden weitergab. Jonny hielt das für eine seiner angenehmsten Eigenschaften.
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Er sah wieder Jonny an und gab Antworten, bevor der noch gefragt hatte. »Easy ist weg. Ist schon vor ein paar Tagen gegangen. Ziemlich überstürzt. Hat nicht mal sein Holo-Zeugs mitgenommen.« »Ich nehme an, du hast keinen Schimmer, wo er hin ist«, sagte Jon ny. »Ich fürchte, er hat es versäumt, eine Nachsendeadresse zu hin terlassen. Wirklich schade, so knapp vor Thanksgiving, und über haupt.« Die Band wurde plötzlich noch lauter, als sie von dem Song zu einem intensiven, rhythmischen Jamming überging. Saint Peter, der Gitarrist, stand am Bühnenrand zwischen dröhnenden flüssigkeitsge kühlten Krupp-Verwandlungsinhalt-Lautsprechern. Die Augen zu sammengepreßt, die Schultern locker, stand Saint Peter da und pumpte ganze Lärmwände aus sich heraus. Seine myoelektrische Linke raste wie eine verrückte Silberspinne über die Gitarrensaiten. Während des Spiels blitzte ein Lichtmuster auf der Chromhand und markierte ihre Bewegungen in der Luft. Auf dem Höhepunkt des Jams fiel der Ton aus, der Porno verblaßte und die Lichter wurden dunkler. »Strom ausfall«, sagte Random. Er legte einen Schalter unter der Bar um, und das Licht kam zurück. »Danke an Sumi für die Watt.« Jonny nickte. »Hast du was davon gehört, daß Easy wieder eine Strahlerparty veranstaltet hat?« »Nein? Wer hat sich dabei verbrannt?« »Raquin.« Random hob eine Augenbraue, um seine Sympathie zu zeigen. »Tut mir echt leid, Mann. Obwohl ich eingestehen muß, daß ich nicht gänz lich überrascht bin, zu erfahren, daß er was am Laufen hatte.« Er nahm einen langen Zug aus der Wasserpfeife neben der Kasse. »Die Suche nach Easy Money scheint derzeit das beliebteste Spiel in der Stadt zu sein. Gestern abend kamen so viele, daß ich sie Schlange stehen lassen und ihnen Nummern hätte geben sollen. Natürlich ist Easy nicht der einzige, der die Gedanken des Publikums auf sich zieht.« Er lächelte Jonny an. »Du scheinst selbst auch allmählich so etwas wie eine Be rühmtheit zu werden.« »Ich?« fragte Jonny vorsichtig. »Wer hat nach mir gefragt?« Random zuckte die Achseln. »Niemand, den ich kenne.« Der Barkeeper zwinkerte verschwörerisch. »Komm schon, Junge! Wem bist du auf die Zehen getreten?« »Ich bin geradezu klinisch sauber«, sagte Jonny. »Erzähl mir was darüber. Alles, woran du dich erinnerst.«
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Random steckte zwei nikotingelbe Finger in seine Hemdtasche und zog ein durchsichtiges Briefchen mit weißem Pulver heraus. »Rein wie Mutter Maria, und doppelt so gut«, sagte er und drückte einen Kuß auf den Umschlag. »Interessante Burschen. Sie haben gar nicht erst ver sucht, mit ordinärem Geld zu zahlen.« Er steckte das Briefchen zurück. »Schmuggler?« »Vielleicht, aber warum sollte ein Schmugglerlord hinter einem kleinen Scheißer wie Easy Money her sein? Oder hinter dir, was das be trifft?« »Wer weiß«, sagte Jonny. Er nahm einen Schluck von seinem Bier. »Vielleicht hat er beschlossen, daß Easy im falschen Geschäft ist.« »Zum Teufel«, sagte der Barkeeper, »in Last ASS ist jedermann im falschen Geschäft.« Random stellte das Glas hin, das er eben gereinigt hatte und sagte: »Wetter.« Er drehte die Augen nach oben. »Junior Senator vom Wettermanagementkomitee verzapfte gerade, daß sie die Schwierigkei ten, die aus den Wetterkriegen entstanden sind, bereinigen werden. Sagte, sie sollten imstande sein, stabile Wetterverhältnisse über dem größten Teil Nordamerikas in drei bis fünf Jahren zu schaffen.« »Haben die nicht genau dasselbe vor drei bis fünf Jahren verzapft?« »Natürlich.« Damit schenkte Random Jonny die andere Hälfte sei nes Lächelns und ging zu einem anderen Kunden. Jonny drehte sein Bierglas in der Hand und betrachtete die lärmende Menschenmenge in der Bar. Er suchte auf den Köpfen nach einem Hinweis auf Ziegenhörner über einem schmalen Gesicht mit schnellen, mißtrauischen Augen. Oder Arme voll tätowierter Schlangen, wie die Stigmata eines Junk-Gottes. Easy Money stach aus jeder Menge heraus − was wohl auch seine Absicht war. Wenn Easy da war, sollte er unschwer zu entdecken sein. Jonny hatte Easy kennengelernt, als sie beide für den Schmugglerl ord Conover gearbeitet hatten. Das war gewesen, kurz nachdem Easy sich mit seiner ersten Strahlerparty einen Namen gemacht hatte. Diese Party war unter den Pushern nahezu legendär geworden. Sie war ungefähr so vor sich gegangen: Easy Money, ein menschlicher Para sit mit einer unfehlbaren Fähigkeit, den weichsten, verwundbarsten Teil seiner Beute auszuspähen, hatte einen Kontrakt bekommen, den Führer der Los Santos Atomicos Gang zu töten. Zum erstenmal kam ihm da ein Gedanke, der später zu seinem Markenzeichen wurde (wie das Stundenglas auf dem Körper einer Spinne), daß nämlich ange sichts der Reaktionen der Gang auf die Ermordung ihres Führers es
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wohl einfacher wäre, gleich die ganze Gang auszurotten, als bloß ein einzelnes Mitglied. Für Leute wie Easy, die, metaphorisch gesprochen, immer ein Ohr auf dem Boden hatten, war es ein offenes Geheimnis, daß die Los San tos Atomicos Gang mit Freebase-Kokain handelte. Easy fand durch den Hinweis einer rivalisierenden Gruppe ihr Safehouse und fand her aus, daß die Los Santos Atomicos große Mengen von Äther kauften, um das Kokain zu bearbeiten. Große Tanks mit dem Zeug lagen im Keller des Hauses. Und − wie er gerne zu sagen pflegte − von da an war die Sache easy money − leicht verdientes Geld. Wie ein bekiffter Prometheus legte Easy Feuer an die Los Santos Atomicos, indem er eine rote Navy-Signalrakete vom Dach einer katho lischen Mission aus über die Straße in ihr Labor feuerte. Die Explosion riß buchstäblich das Dach des äthergefüllten Gebäudes ab. Der Feuer ball erreichte auch viele der angrenzenden Häuser und steckte sie ebenfalls in Brand. Außer den Los Santos Atomicos starb mindestens ein Dutzend anderer Menschen, hauptsächlich Junkies und Huren, die von dem Feuer eingeschlossen wurden. Easy Money stieg in der Hierarchie der Macher und Täter dieser kleinen Welt eine Stufe auf. Im Rückblick war Jonny damals nichts an der Sache wichtig vorge kommen. Als er von den Toten hörte, war das irgendwie normal für ihn, nichts anderes als ein weiterer sinnloser Akt in der langen Reihe von sinnlosen Akten, aus denen ihr ganzes Leben bestand. Aber Raquins Tod hatte die Dinge von einer abstrakten Ebene auf eine persönliche gehoben. Er hatte Raquin gekannt. Und er wußte, daß Easy ihn getötet hatte. Jonny würde ein Ende mit Easy Money machen, weil niemand sonst es tun würde und der kleine Wichser es verdiente. Jonny verlangsamte seine Atmung, zählte jedes Einatmen und kon zentrierte sich, wie sein Roshi ihn das gelehrt hatte. Visionen des ge hörten, tätowierten Easy tauchten vor ihm auf, während er jenen wilden Persönlichkeitsanteil in sich suchte, den er jedesmal aktivierte, wenn er töten mußte. Aber die Leidenschaft war dahin und kam ihm jetzt irgendwie sinn los vor. Der Speed war mit irgend etwas Ungutem verschnitten ge wesen. Er ließ schon in der Wirkung nach und Jonny fühlte sich benom men und stumpfsinnig. Er schüttete den Rest seines Biers hinunter und versuchte, sich betrunken zu fühlen. Er fragte sich, ob er die Dinge vielleicht falsch gesehen hatte. Wenn die Schmugglerlords wirklich hinter Easy her waren, wurde er vielleicht
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gar nicht gebraucht. Es gab immer etwas anderes zu tun, Geld zu verdienen. Aber da war noch etwas, das Jonny störte. Er konnte sich nicht vorstellen, wer außer dem Gesundheitsdienst nach ihm suchen könnte. War er in den letzten Tagen, als er nach Easy suchte, je mandem auf die Zehen getreten? Er konnte sich nicht erinnern. Die Bar schien sich etwas zu leeren, als Jonny sein zweites Asahi mit Gin trank. Als er mit der Hand über die Stirn fuhr, war sie schweißnaß und kühl. Er verließ die Bar, wobei er durch einen dichten Knoten von nervösen Teenagern aus dem Valley mußte, die sich aufgemacht hatten, als trügen sie Trans- und Implantate. Neben dem Klo blitzte eine Zombie-Analytikerin Jonny in schneller Folge an: Marilyn Monroe, Jim Morrison, Aoki Vega. Er ignorierte sie. In der Toilette ließ Jonny rostiges Wasser über sein Gesicht laufen. Hier stank es nach Fäkalien. Der Papierhandtuchspender war leer. Auf dem Boden lag die Hälfte einer Ausgabe von Nietzsches ›Götzendäm merung‹. Das Klo war voller Nietzsche. Jonny trocknete seine Hände an ein paar Seiten ab. Das kalte Wasser hatte ihn ein wenig erfrischt. Aber das Herunterkommen vom Speed ließ ihn nervös und fickrig zurück. Als Jonny aus der Toilette gehen wollte, fühlte er eine Hand auf sei nem Arm. »Jonny, wie geht's?« fragte ein kleiner Mann, den Jonny nicht kann te. Der Kleine lächelte breit und zeigte alle Zähne, um den Einduck zu vermitteln, er sei ein sehr gefährlicher Bursche. Er trug eine Sonnen brille, deren Linsen dichromatische Hologramme waren, die eine Art Höhle zeigten. Wo seine Augen sein sollten, waren zwei bodenlose Brunnen. »Das ist ein guter Weg, ein Ohr oder ein paar Zähne loszuwerden«, sagte Jonny beiläufig. Das Lächeln des kleinen wurde nur geringfügig schmaler. Er verminderte seinen Druck auf Jonnys Arm, ließ aber nicht ganz los. »Sorry, Jonny. He, kann ich dich auf einen Drink einladen oder so was?« »Nein.« Jonny schüttelte die Hand des kleinen Mannes ab und ging zurück in die Bar, um sich zu betrinken. Aber gleich darauf spürte er die starken Finger wieder. »Warum hast du es so eilig?« fragte der kleine Mann. »Reden wir miteinander. Ich habe einen Deal für dich.« Jonny rammte dem Kleinen seinen Ellbogen in den Magen, drehte sich und preßte den Lauf der Futukoro gegen den Hals des Mannes.
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»Wenn du mich noch mal anfaßt, leg ich dich um. Verstanden?« flüsterte er. Der Kleine ließ Jonnys Arm los und trat zurück, die Arme erhoben, die Handflächen in Brusthöhe nach vorn ausgestreckt. »Ruhig«, sagte der kleine Mann ohne erkennbare Erregung, »ganz ruhig.« Jonny stieß den Mann grob weg und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Er schwitzte schon wieder. An der Bar trank er einen billigen und nach Fisch schmeckenden japanischen Wodka, dachte sich dabei, wie mies das Zeug war und wünschte, sich etwas Besseres leisten zu können. Den kleinen Mann verdrängte er aus seinem Denken. Jonny fragte sich, ob er Sumi anrufen sollte, aber das schien ihm keine gute Idee zu sein. Sie würde Fragen stellen, die er nicht beantworten wollte. Schließlich drifteten seine Gedanken wieder zu Raquin. Jonny fragte sich, wie es war, zu Tode geröstet zu werden. Er erinnerte sich daran, daß ihm jemand einmal erzählt hatte, daß man dabei nichts spürte, daß das Feuer allen Sauerstoff verbrauchte und man erstickte, bevor man die Flammen spürte. Das klang nach bescheidenem Trost. Um wieviel besser war es, zu ersticken statt zu verbrennen? Jonny trank weiter große Schlucke von seinem fischigen Wodka, bis er den Geschmack überhaupt nicht mehr wahrnahm. Aus sechs Schnapsgläschen baute er eine kleine Pyramide, aber Random räumte die Gläser ab und Jonny ging das Geld aus. Während er in seiner Ta sche nach Dope suchte, zupfte ihn etwas am Arm. Noch bevor er zu rückschaute, wußte Jonny schon, daß der kleine Mann dort stehen würde. Er hatte die Brille abgenommen und hielt die Arme, als müsse er einen Schlag abwehren. »Waffenstillstand, okay? Ich hab dich nicht angefaßt, nur mal auf die Schulter getippt.« Jonny nickte. »Na schön, du hast es cool gemacht. Was willst du eigentlich?« Der Mann lehnte sich gierig vor. »Schau, Jonny, ich wollte es dir vorhin nicht sagen − ich arbeite für Mister Conover. Er hat mich zu dir geschickt. Wenn du nicht mit mir zurückkommst, reißt er mir den Arsch auf.« »Tut mir leid, das zu hören. Sag Mister Conover, ich nehme Kontakt mit ihm auf, sobald ich mit der Sache fertig bin, an der ich jetzt arbei te.« »Das kann ich nicht tun. Er will dich jetzt«, sagte der kleine Mann, und fügte hoffnungsvoll hinzu: »Du weißt doch, woran auch immer du gerade arbeitest, Mister Conover zahlt dir soviel, daß du es ruhig bleiben lassen kannst.«
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Jonny schüttelte den Kopf. »Nein danke. Es ist eine persönliche Sache.« Der Kleine lehnte sich weiter vor. »Du bist nicht etwa auf der Suche nach Easy Money, oder?« »Und wenn doch?« »Na, das ist großartig«, sagte der kleine Mann. »Das ist der Job − Easy Money hat etwas, das Mister Conover gehört. Und Mister Conover will, daß du ihm hilfst, es zurückzubekommen.« Jonny nickte, nahm ein Stückchen Eis aus dem leeren Glas eines Fremden und rieb es über seine Stirn. »Freundchen, mein Problem ist, daß ich Mister Conover recht gut kenne und weiß, daß er ein Profi ist«, sagte Jonny. »Soll keine Beleidigung sein: aber warum schickt er einen harten Burschen wie dich, um mich zu holen?« Der kleine Mann blickte umher, um sich zu vergewissern, daß ihn niemand belauschte. »Das ist eigentlich nicht mein Job«, flüsterte er. Jonny lächelte. »Tatsächlich?« »Ich bin eher eine Art Buchhalter. Es ist nur so, daß Mr. Conover alle seine Muskelmänner ausgeschickt hat, um sich nach Easy Money um zusehen.« Er blickte Jonny ernst an. »Du weißt ja, wie es ist.« »Ja, ich weiß, wie es ist«, sagte Jonny amüsiert. »Er sagte mir, daß du immer in Carnaby's Pit herumhängst«, fuhr der kleine Mann fort. Er zog ein Gesicht, als nehme er einen üblen Ge ruch wahr. »Um die Wahrheit zu sagen, für mich ist das hier fast ein bißchen zuviel.« Jonny lachte. »Manchmal auch für mich.« Der kleine Mann lächelte − diesmal richtig. »Dann kommst du mit mir?« Jonny zuckte die Achseln. »Diese Sache, daß du sagst, es gehe dar um, Easy zu suchen, da wolltest du nicht bloß nett zu mir sein?« »Nein, ehrlich.« »Gut.« »Dann kommst du?« »Bin mir nicht sicher. Ich möchte nicht zu sehr darauf herumreiten, aber woher weiß ich, daß du wirklich für Mister Conover arbeitest?« »Ach ja«, sagte der kleine Mann mit strahlendem Lächeln und griff in seine Rocktasche. »Mister Conover sagte, ich solle dir das geben.« Er überreichte Jonny einen Plastiksack, der zwei gelatinöse blaue Kapseln enthielt. Die Herstellermarke war schweizerisch, die Kapseln waren für die NATO bestimmt und von einem orangefarbenen Warn streifen umgeben, der anzeigte, daß es sich um Muskelgifte handelte. Jonny hatte solches Zeug beim Gesundheitsdienst gesehen. Frosty, der
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Schneemann. Es war ein Nekrotikum, eine synthetische Variante von Grubenviperngift, das tötete, indem es die Kollagenfibern zusammen brechen ließ und Haut- und Muskelgewebe auflöste. Die NATO-Vari ante war so konstruiert, daß sie ›offene‹ Segmente in ihrer DNA-Kette enthielt, so daß das Gift sich mit Polypeptiden im Kollagen des Opfers verband und sich dort vermehrte. Gerüchteweise hieß es, daß Frosty die Haut und die Muskeln eines siebzig Kilo schweren Mannes in weniger als vierzehn Stunden auflöste. Es war nicht die Art Droge, zu der jedermann Zugang hatte. Jonny stopfte den Sack in seine Tasche. »So, das hat mich überzeugt«, sagte er. »Dann kommst du mit?« »Warum auch nicht. Ich komme hier sowieso nicht weiter.« Der kleine Mann strahlte ihn an. Jonny dachte sich, es sei vielleicht Liebe. »Nebenbei, hast du auch einen Namen?« »Cyrano. Cyrano Bender, wie der Bursche in dem alten Buch, weißt du. Aber ich hab nicht so eine Nase.« Cyrano lachte über den Witz. Jonny wußte nicht, wovon, zum Teufel, Cyrano eigentlich sprach, aber er lächelte, um die Gefühle des Kleinen nicht zu verletzen. Als Cy rano die Hand ausstreckte, schüttelte Jonny sie. »Nett, dich kennenzulernen, Cyrano. Gehen wir!« Als sie zu dem schmutzigen Vorhang kamen, drehte sich Jonny um und warf einen letzten Blick auf die Band. Sie dröhnte durch eine von Saint Peters besten Nummern, ›Street Prince‹. Die Menge ignorierte sie vollständig. Random hat recht, dachte sich Jonny. Ein Haufen Arschlöcher. Draußen hatte sich die heiße Nacht ein wenig abgekühlt. Das bedeu tete normalerweise, daß Sunset Boulevard bis zur Morgendämmerung von einer Menge Leute belebt sein würde, aber im Moment hatte sich eine unsichere Stille über die Straße gesenkt. Ein Papierfetzen, der vom Wind herumgewirbelt wurde, drehte eine Pirouette, bevor er wei tergetragen wurde. Eine Anzahl Leute stand auf der anderen Straßen seite und beobachtete den Club. Jonny trat einen Schritt zurück. Cyra no war schon ein paar Stufen weiter, bevor er bemerkte, daß Jonny nicht länger bei ihm war. »Was ist los?« Jonny war knapp sechs Jahre alt gewesen, als die erste der Protein revolten stattgefunden hatte. Das war, als die Bürger von Los Angeles dem Beispiel anderer Städte gefolgt waren und auf der Suche nach frischem Fleisch über den Griffith Park Zoo hergefallen waren. Die Auf stände wurden schließlich unterdrückt, aber zehn Tage Straßen
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schlachten hatten eine offene Wunde in der Stadt hinterlassen. Der offizielle Body-Count ergab ungefähr 10000 zivile und militärische Tote. Die Behörden waren nicht vollkommen unvorbereitet gewesen. Viele der Mächtigen hatten so etwas kommen sehen. Sie beschleunigten ihre Vorhaben, machten Pläne und die wenigen auserwählten Reichen, die sich den Zugang entweder erkaufen oder durch Macht erzwingen konn ten, begannen ihre verschwiegene Pilgerschaft in die Wüste zu re gierungsgesteuerten Refugien wie New Hope. Der Rest der Bürger war zurückgeblieben mit dem Rest der politischen Lösung. Der Rest der politischen Lösung war im vorliegenden Fall eine paramilitärische Organisation, die − ohne offene Ironie − Komitee für Gesundheits dienst hieß. Und verschiedene bewaffnete Mitglieder dieser Organisati on erwarteten Jonny, als er Carnaby's Pit verließ. Scheinwerfer erfaßten Jonny und Cyrano von jenseits der Straße. Eine jugendliche, durch ein Megaphon verstärkte Stimme rief: »Keine Bewegung. Ihr seid beide verhaftet.« Jonny warf sich zu Boden und zog seine Pistole. Cyrano zerrte eine mexikanische Barretta aus seinem Gürtel und gab einen Schuß ab, be vor eine Futuroko-Garbe ihn in die Brust traf. Der kleine Mann fiel auf Jonny, blutete stark und sah entsetzt aus. Er krallte seine Hand in die Wunde, als könne er verhindern, daß sein Leben aus ihr entwich, wenn er sie zusammenpreßte. Jonny blickte auf und sah den Leporösen im Raumanzug, der ihn von der Seite her beobachtete. Automatische Waffen feuerten in die Front des Pits, als der Gesund heitsdienst die Schießerei so richtig begann. Glasscherben und Be tonsplitter regneten auf Jonny, der sich platt auf dem Boden aus streckte. Hinten öffnete sich die Tür zur Bar und eine Phalanx von Meat Boys des Pit's quollen heraus, bis an die Zähne bewaffnet. Jonny wünschte, er könnte verschwinden. Am Sunset waren die Passanten in Hauseingänge und Fenster verschwunden und beobachteten von dort aus die Schießerei. Ge legentlich rannten ein oder zwei Kids in Gangfarben über den Sunset, winkten und schrien, wenn sie die andere Seite erreichten. Ein junger, dicker Gypsy Titan rannte hinter seinem flinkeren Freund. Es sah aus, als hätte der Dicke es geschafft, als ein Schuß ihn herumriß. Er zerrte an dem langen Schal, den er um seinen Hals geschlungen hatte, bevor er zwischen zwei geparkten Autos zusammenbrach. Jonny hörte, wie irgendwo im Dunkeln Befehle gebrüllt wurden und das Geräusch von Stiefeln. Die Meat Boys schwärmten aus und deck ten den Eingang des Pits. Da gab es keinen Fluchtweg. Warum, zum Teufel, kämpften die Meat Boys gegen den Gesundheitsdienst? fragte
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sich Jonny. Die glaubten offenbar, es sei irgendeine feindliche Gang, die sie angriff. Jonny preßte sich zur Deckung an die Wand. Donnernde Geräusche, brechendes Glas und splitterndes Holz umgaben ihn. Er versuchte, hin ter die Meat Boys zu gelangen, aber die bewegten sich alle auf die Stra ße zu. Neben der Bar sah Jonny wieder den Leprakranken, der ihm mit einer verstümmelten Hand den Finger wies. In diesem Moment erkann te ihn Jonny. Selbst mit den Bandagen und der Uniform war es ganz of fensichtlich Easy Money. Jonny schoß auf ihn, aber Easy verschwand hinter dem Gebäude. Neuerlich öffnete sich die Tür zu Carnaby's Pit und Smokefinger rannte heraus. Er schrie so laut er konnte, etwas, das wie ›verdammte Arschficker‹ klang. Sein rechter Arm war eine blutige Fleischmasse. Als er auf die Straße rannte, wurde er vom Gesundheitsdienst in Fetzen ge schossen. Jonny brach zu der Seitenstraße neben dem Pit durch. Er rannte schnell und geduckt und schaffte es um die Ecke. Er war beinahe in Sicherheit, als er einen schrecklichen Schlag gegen die Schulter bekam. Seine Muskeln wurden sofort völlig schlapp. Eine Zeit später, wie lange, wußte er nicht, erwachte Jonny in der Seitenstraße. Er hatte keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war. Man hörte immer noch gelegentliches Feuern von automatischen Waffen. Als er aufzustehen versuchte, spürte Jonny, daß sein ganzer rechter Arm betäubt war. Mit dem linken packte er den Rand eines übervollen Abfallkübels und zog sich auf die Füße. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sein Gleichgewicht gefunden hatte, dann stolperte er los zum entfernten Ende der Straße. Irgendwo unterwegs traf ihn ein Stiefel aus dem Dunkeln, und er fiel aufs Gesicht. O Scheiße, dachte sich Jonny. Diesmal kam er nicht wieder hoch.
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II � Geschichte, Ausgleichund eine unglückliche Vereinigung im Bauch der Bestie. Das Greater Southern California Gefängnisgelände: ein Ameisen haufen; ein Friedhof; eine Fabrik, wo Seelen verarbeitet, verpackt und an etwas abgeliefert werden, das man lächerlicherweise Gerechtigkeit nennt. Zumindest hatten manche von denen da drinnen (Insassen wie Wächter) so etwas als Gerücht gehört. Gerüchte über die Suche nach Gerechtigkeit. Memos zirkulierten über dieses Thema. Petitionen wurden dafür unterschrieben. Statuen griechischer Göttinnen, die Waagen trugen, wurden deshalb errichtet. Aber nur wenige hatten bis her ein wirkliches Anzeichen davon gesehen. Das Gefängnis lag nichtssagend und riesengroß neben dem Hafen, in den Überresten des alten Lagerhausbezirks. Auf den Ruinen einer alten Flüssiggasförderstation erbaut, hätte es eigentlich in den späten Neunzigern des letzten Jahrhunderts der Ort für das Flaggschiff der Laboratorien des berüchtigten Genkriegprogramms des Pentagon werden sollen. Die Bauten waren unbenutzt geblieben, als die Kriegs pläne der Regierung gleichzeitig den politischen Dampf und die fi nanzielle Unterstützung verloren. Knapp achtzehn Monate später wurden ein paar Milliarden Yen dafür aufgewendet, die halbfertigen Labors wieder abzureißen und die alten Speicherhallen aufzuteilen und zu Gefängnisblocks auszubauen. Der größte Teil des Gefängnisbaus lag unter der Oberfläche, abgesunken in die alten Roheisen-Abfallgruben. Flechtenüberzogene große Platten aus zerbrochenem Beton ragten in verschiedenen Winkeln auf zu einem Flachdach, an dem die Röhren der Klimaanlage entlangliefen und Tellerantennen befestigt waren. Die feuchte Ozeanbrise sorgte dafür, daß die Wände des Gefängnisses stän dig vor Nässe glänzten und der Beton nach tausend Dockgerüchen stank: die Ozonreste synthetischer Treibstoffe, überreife Früchte, ros tende Maschinen, tote Fische. Ein verbreiteter Witz besagte, daß der Durchschnittsgefangene fünf bis zehn Jahre absaß, die Wächter zwischen fünf bis neun. Wie die Gefangenen versuchten sie einfach, die Zeit durchzustehen. Sie waren meist junge Männer, in Jonnys Alter oder noch jünger. Ursprünglich Rekruten des Gesundheitsdienstes, wurden die Burschen mit zwanzig als zu alt für den Straßendienst eingeschätzt, weil sie ausgebrannt waren von der ständigen Diät aus Speed und Anabolika, die ihnen der Gesundheitsdienst verpaßte.
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Vor zwei Jahren war Jonny aus Motiven, die für ihn selbst gleich ge heimnisvoll waren wie für jeden anderen, dem Komitee des Gesund heitsdienstes beigetreten. Gleichgültigkeit und Langeweile waren vielleicht Gründe dafür. Einige Jahre als kleiner Dieb und Kurier der Schmuggler hatten dazu geführt, daß er schnell auf den Beinen und im Umgang mit Messer und Pistole war. Er war aber naiv genug geblieben, um überrascht zu sein, daß es genau diese kriminellen Qualitäten waren, die ihm halfen, einen hochbezahlten Job beim Komitee zu finden. Nach seinem Training war Jonny der ›Perimeterkontrolle‹ zugeteilt worden. Seine Tätigkeiten in diesem Job waren nicht sehr verschieden von dem, was er sein ganzes Leben lang getan hatte − sich mit Dieben zu treffen, Warenlager voll gestohlener Drogen und Nahrungsmittel zu knacken. Das Komitee hatte wenig Interesse an Gefangenen; sie zahl ten Jonny eine Prämie für jeden Schmuggler, den er über seine Quote hinaus tötete. Rekruten wurden zu Vergleichswettkämpfen aufge fordert. In den Hauptquartieren wurden Bodycounts durchgeführt, und es gab Preise und einen Bonus am Ende jeden Monats. Jonny hatte das Beste daraus zu machen versucht, indem er sich einredete, wieviel besser es sei, von den Straßen weg und zur Abwechs lung auf der Seite der Macht zu sein. Aber das Töten für das Komitee machte nicht mehr Sinn als das Töten für die Schmuggler. Wenn er half, nach einer Razzia die Leichen in Transporter zu verladen, sah Jon ny manchmal ein Gesicht, das er wiedererkannte: einen Junky vom Strip, einen Bettler oder Straßenmusikanten. Mehr als einmal glaubte er im halluzinatorischen Rausch der Treibstoffgase und der Halogen lampen sein eigenes Gesicht unter den Toten zu erkennen. Und er wurde immer mehr vom Speed abhängig. Er konnte einfach nicht mehr aufhören; das Herunterkommen war zu entsetzlich. Ohne Speed würde er wieder selbst zu denken anfangen. Jonny hatte nie zuvor so etwas wie Ekel vor sich selbst gekannt, jetzt aber schon. Er hatte plötzliche Schwindelanfälle, Geschwüre im Mund, Krämpfe in der Abzugshand. Er bemerkte, daß er immer mehr mit der Sache der Schmuggler sympathisierte; zumindest verstand er ihre Motive. Zuletzt wurde es einfach zu schlimm, und der Selbstbetrug zu offensichtlich, um ihn aufrecht zu erhalten. Die Art, wie Jonny desertierte, war eher kompliziert. Es wurde allgemein bekannt, daß er seine Uniform gebügelt und sauber abgegeben und seine letzten Prämi en abgeholt hatte. Aber seine Pistole gab er nicht ab. Das wurde später als bedeutungsvoll erkannt, als sein unmittelbarer Vorgesetzter, ein
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einäugiger Brutalo namens Cawfly, mit einem Einschußloch in seinem guten Auge aufgefunden wurde. Und Jonny, kaum einundzwanzig Jahre alt, war auf seiner unver meidlichen Suche nach dem Punkt des geringsten Widerstands auf die Straßen zurückgekehrt. Ohne dem Strom der Ereignisse Widerstand entgegenzusetzen oder vorzutäuschen, einen Kurs in ihm zu steuern, verließ sich Jonny auf sein Glück. So war es zumindest bis jetzt gewesen; jetzt sah es so aus, als habe es ihn verlassen. Er erwachte durch ein lautes Geräusch in einem Gestank nach Erbrochenem und Antiseptika in einer feuchten grauen Arrestzelle. Als das Geräusch verklungen war, wälzte sich Jonny auf die Seite und stellte zu seiner Verwirrung fest, daß das Erbrochene, das er gerochen hatte, sein eigenes war. Seine linke Hand lag in einer Pfütze davon. Sein Mund brannte vor Galle. Er lag auf einer nackten Aluminiumpritsche. Sein Kopf drehte sich, und er fragte sich, wo er eigentlich war. Schließlich gelang es ihm, sei nen Blick auf die Wand zu fokussieren. GAMMA LIEBT RAMON und DEZ waren da eingekratzt, und DER KÖSTLICHE LEICHNAM TRINKT DEN JUNGEN WEIN. Viele Graffiti waren japanisch oder spanisch. Er war zu müde, um zu übersetzen, aber das war auch nicht nötig. Er wußte schon, was da stand. ›Fick dich!‹ oder ›Ich war's nicht‹ oder ›Laßt mich raus!‹ Die internationale Sprache der Entrechteten. Er grinste; es war beinahe angenehm. Jonny wußte jetzt, wo er war. Als er versuchte, sich aufzusetzen, mußte er feststellen, daß seine rechte Schulter von einem Verband und einem thermoplastischen Panzer umhüllt war. Einen schrecklichen Moment lang geriet er in Panik, aber er entspannte sich wieder, als er unter dem Panzer das be ruhigende Gefühl der Muskulatur seines Arms spürte. Während er seinen verwundeten Arm rieb, versuchte Jonny her auszubekommen, wer ihn hier eingeliefert hatte. Es war natürlich kein Zufall gewesen, daß der Gesundheitsdienst ihn vor Carnaby's Pit erwartet hatte. Möglicherweise war es eine Routinerazzia auf alle Pu sher gewesen, aber das schien ihm nicht sehr wahrscheinlich. »Große Scheiße«, sagte er zu der leeren Zelle. »Ganz große Scheiße.« Er war beinahe wieder eingeschlafen, als das polarisierte Glas in der Zellentür erst durchsichtig wurde und sich dann verdunkelte. Jonny lag still auf der Aluminiumpritsche, als die Zellentür aufging. Er hörte Flüstern − drei oder vier verschiedene Stimmen. Zorn und Nervosität. Er hielt die Augen geschlossen. Die Tür öffnete sich weiter, dann schloß
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sie sich schnell. Die Stimmen schwiegen. Jonny spürte, wie sich jemand über ihn beugte. »Ist er das?« fragte eine tiefe, aber jugendliche Stimme. »Ja, ich glaub schon«, sagte ein anderer. »Das ist ein dünner Mutterficker. Sieht aus wie mi peguena herma na«, meinte eine dritte, heisere Stimme. »Bringt dich das auf eine Idee, Mann?« »Ja − ich werde ihn aufschlitzen.« »Hey, tu nichts, was…« Jonny hörte das metallische Klicken, mit dem sich ein Springmesser öffnete. Er bewegte sich nicht. »Rühr ihn an, und wir sind tot. Er ist was Besonderes, Mann.« »Sieht aber nicht besonders aus.« »Ich hab seine Akte gesehen. Interrogacion especial.« »Mann, ich werde ihn ja nicht töten«, kam wieder die heisere Stimme. »Schneid mir nur einen Knöchel ab oder ein Stück Ohr.« »Nein!« »Wer will mich abhalten?« Jonny schwang seinen Stiefel mit der Stahlkappe in den Unterleib eines blonden Jungen, der zu Boden ging, schrie wie ein Verrückter und ließ sich von der Bewegung mittragen, rollte über die Pritsche, kam auf die Füße und stürzte Richtung Tür. Die anderen beiden Jungen prall ten zurück, ohne daß er sie berührt hätte, zu überrascht, um ihn aufzu halten. Er war schon an der Tür, als sie sich wieder faßten und ihn packten. Aber er schlug um sich, biß in Finger, trat gegen Schienbeine und erlaubte ihnen nicht, ihn richtig zu fassen. Schließlich erwischte ihn ein Junge mit Narben an den Händen und im Genick mit einem glatten Uppercut am Kinn. Jonny fiel auf das Gesicht. Der Junge mit den Narben drehte ihn um und setzte sich auf seine Brust. Er hielt Jonny das Messer an die Kehle. Die anderen Jungen stellten sich hinter ihn, knurrten und rieben ihre Hände und Beine, wo Jonny sie erwischt hatte. Jonny bemerkte, daß die Hände des Jungen, der das Messer hielt, mit Narben bedeckt waren, die Leprawunden sehr ähnlich sahen. »Mächtig lustig, Mann, was?« sagte der Bursche mit dem Messer. »Worum geht's denn?« »Fick dich, la chinga«, sagte Jonny. Der Bursche schnitt ihm in die Wange. »Du bist tot, Mann. Mir ist scheißegal, wer du bist.« »Dafür fehlen dir die Eier.«
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»Jetzt mußt du ihn allemachen, sonst quatscht er«, sagte der Blon de. Jonny drehte sich und traf den Blonden neuerlich. Der Bursche auf seiner Brust schlug ihm nun gegen die Kehle. »Was macht ihr da?« ertönte eine fremde Stimme. Die Jungen drehten sich abrupt um und schauten mit schuldbewuß ten Gesichtern zur Tür. Der Bursche mit dem Messer stand auf und sah erst seine nervösen Komplicen an, dann blickte auch er zur Tür. Alles, was Jonny vom Boden aus sehen konnte, war ein Paar hoher, glänzender Stiefel und ein Ärmel mit den Streifen eines Leutnants. »Ich habe gefragt, was ihr hier tut«, sagte der Leutnant. Der Junge mit den Narben zeigte auf Jonny. »Er wollte abhauen. Wir haben ihn aufgehalten.« Der Leutnant nickte. »Was tut ihr in dieser Zelle?« Der Junge sah seine Freunde mit der Bitte um Unterstützung an. Sie blickten ihn nicht an. »Ich habe es doch schon gesagt, Mann. Er versuchte, abzuhauen.« »Lüg mich nicht an!« Die beiden anderen, der Blonde und ein großer Mestize mit schlech ten Zähnen starrten den Fußboden an. Jonny schätzte, daß sie unge fähr sechzehn waren. Der Bursche mit dem Messer sah ein oder zwei Jahre älter aus. Die Abzeichen auf seiner Komitee-Uniform zeigten, daß er Korporal war. Das erklärte alles. Es hatte sich um harmlosen Humor gehandelt. Ein älterer Junge, der seinen jungen Freunden zeig te, wie man sich mit ein bißchen Spaß die Zeit vertreibt. Der Leutnant machte eine barsche Geste mit der Hand. »Stellt ihn auf die Beine!« Die beiden jüngeren Burschen bewegten sich schnell. Sie legten ihre Arme unter Jonny und hoben ihn sanft hoch, ohne ihre steroid-verdick ten Muskeln überhaupt anstrengen zu müssen. Sie setzten ihn auf die Pritsche und stellten sich wieder an die Wand und bemühten sich, mit dem Hintergrund aus abblätterndem Anstrich zu verschmelzen. Der ältere Bursche hielt immer noch das Messer und bewegte es un sicher zwischen seinen Händen hin und her. Der Leutnant sah ihn an. »Ihr erscheint alle zum Rapport. Und jetzt zurück zu eurem Dienst!« »Ich sag Ihnen doch, dieser Mann versuchte zu entfliehen«, wieder holte der Ältere. »Ich hab's verstanden«, sagte der Leutnant, ein flachnasiger Schwarzer, der − wie Jonny jetzt sehen konnte − nicht wesentlich älter war als der Junge mit den Narben. So war das eben im Gesundheits dienst. Sie arbeiteten hauptsächlich mit Teenagern. Gib ihnen die
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richtigen Stimulantien und Knarren, und sie gehen überall hin und riskieren alles. Jungen mit höheren Graden hielten sie unterm Dau men, während alte Männer an Schreibtischen für den Rest der Show sorgten. Das war billig und effizient. Das Komitee brauchte nicht viel Pensionen auszuzahlen. »Raus hier!« sagte der Leutnant. »Aber...« »Noch ein Wort, und ihr könnt alles dem Colonel erklären.« Das ließ den Burschen schweigsam werden. Widerwillig klappte er das Messer zu und steckte es in seinen Stiefel. Während er seine Uni form zurechtzupfte, warf er Jonny einen schnellen anklagenden Blick zu und ging hinter seinen Freunden aus der Zelle. »Bis dann, Burschen«, rief Jonny, »laßt mal von euch hören.« Er lach te und nickte dem Leutnant zu. Auf dessen Identitätsschildchen stand TAUSSIG. »Danke für die Hilfe. Ich dachte schon, ich würde zu Hunde futter verar…« »Steh auf, Pusher!« sagte Leutnant Taussig. Jonny holte tief Atem und lehnte sich gegen die Wand. »Was dagegen, wenn ich erstmal durchatme?« Der Leutnant packte Jonny am Kinn und drehte sein Gesicht erst in die eine, dann in die andere Richtung. Er sah nicht erfreut aus. »Wenn jemand fragt, dann sag, das Betäubungsmittel habe noch nicht ganz nachgelassen und du seist über die Stiege gefallen.« »Warum? Was kümmerst du dich um diese Clowns?« »Tu, was ich sage!« Jonny lächelte. »Ah, ich hab's kapiert. Du fürchtest, daß jemand her auskriegt, daß du deine Truppe nicht im Griff hast.« Taussig zerrte an Jonnys gesundem Arm. »Gehen wir!« Der Leutnant führte Jonny hinauf auf eine rostige Ladebrücke, durch ein Labyrinth aus dünnen Röhren und kaputten Ventilen auf den Hauptgang der alten Fabrik und des jetzigen Gefängnisses. Plötzliche Windstöße und Konvektionsströmungen wirbelten Papierfetzen auf und raschelten mit ihnen an den Pfeilern von fünfzig Fuß hohen Kryo gentanks. Der Boden senkte sich, die Luft wurde kühler. Sie betraten einen verbeulten hydraulischen Servicelift, dessen zerkratzte Wände das grelle Neonlicht verzerrt widerspiegelten. Während sie abwärts fuhren, bemerkte Jonny, daß Taussig einen Knopf für den Gelben Sektor ge drückt hatte. Er war beeindruckt. Er hatte niemals die Bewilligung für den Zugang zu den verbotenen Arealen erhalten.
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Als sich die Lifttüren öffneten, stieß Taussig Jonny vorwärts zu einem seltsam geformten Schreibtisch (er bestand aus einer horizon talen Panzerplatte, die quer auf zwei riesige Stoßdämpferspiralen mon tiert war) und übergab eine Anzahl Dokumente an einen blassen Jungen, dessen Augen überhaupt keine Pupillen zu haben schienen. Der Junge veranlaßte ein Paar vorpubertärer Wachsoldaten, ihnen zu folgen, und ging Jonny und dem Leutnant einen kurzen Gang entlang voran. Am Ende des Gangs öffnete er ihnen eine abgenutzte gelbe Tür. Dahinter war eine andere Welt. Das Licht kam aus Glühbirnen und war gedämpft im Verhältnis zum Neon hier draußen. Sie standen in einem kleinen Vorraum, dessen Wände nach Jonnys Meinung richtiges Holz statt Plastik bedeckten. Zwischen zwei geschlossenen Türen an der gegenüberliegenden Wand stand ein niedriger Tisch im Kamakura-Stil. Auf dem Tisch eine nied rige Schale mit einem Bonsai. Jonny hustete ein paarmal in seine Hand. Der Hall klang flach und wurde von den Wänden verschluckt wie Wasser von Sand. Schalldicht, dachte er. Taussig ging zu der Tür rechts von dem Tisch und lehnte sich über den Augentester eines tragbaren Haag-Streit-Iris-Scanners. Einen Augenblick später ertönte ein Summer. Der Leutnant griff nach dem verzierten Messinggriff öffnete die Tür und winkte Jonny hinein. Taus sig selbst trat jedoch nicht ein. Als sich Jonny nach ihm umwandte, machte er ihm die Tür vor der Nase zu. »Was, zum Teufel, ist mit dir los?« hörte er eine familiäre, onkelhafte Stimme. Jonny sah sich in dem Raum um und erblickte lediglich ein Compu terterminal auf der anderen Seite eines Mahagoni-Tisches, an dem vier dazu passende Stühle standen. Drachen aus hellerfarbenem Holz kämpften oder spielten auf der Tischplatte als Einlegearbeit. In dem gedämpften Licht konnte Jonny das Gesicht des Mannes auf der anderen Tischseite nicht sehen. Aber diese Stimme! Jonny fühlte ein bißchen Übelkeit aufsteigen. »Ich dachte, Sie hätten dich im Krankenhaus zusammengeflickt«, sagte der Mann. Jonny konnte nur seine Silhouette erkennen. Sie winkte, daß Jonny sich setzen solle. »Ich bin auf der Stiege gefallen«, sagte Jonny, »das… äh… Anästhe tikum wirkte noch.« Er setzte sich wie befohlen. Jetzt konnte er das Gesicht sehen. Es lächelte ihn an. Das kurzgeschnittene Haar war weißer als er es in Erinnerung hatte. »Was ist los, Gordon? Nicht einmal ein ›Hallo‹ für deinen alten Vorgesetzten?« Der Offizier, Colonel Brigidio Zamora, legte einen
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kleinen Haufen zusammengeknüllter Geldscheine neben eine Anzahl Tabletten und Jonnys abgegriffene Futukoro. »Captain Zamora…«, begann Jonny. »Colonel.« »Gratuliere«, sagte Jonny. Er rieb reflexmäßig seine verwundete Schulter. »Schauen Sie, Colonel, Sie sind zu spät dran. Ich weiß, daß dieses Zimmer und die Fahrt hier herunter mich hirnficken sollten, aber Sie haben es verschenkt. Drei von Ihren Bürschchen sind vorhin in meine Zelle eingebrochen und haben versucht, mich aufzuschlitzen. Ich bin total erschöpft und meine Schulter tut höllisch weh.« Jonny stützte den Ellbogen seines unverletzten Arms auf den Tisch. »Also, Colonel, was für einen Deal wollen Sie mir vorschlagen?« Einen Augenblick lang rührte sich Zamora nicht, und Jonny fragte sich, ob er die falsche Taktik gewählt hatte. Der Colonel hatte es man chmal gerne gemütlich. Aber einen Augenblick später entspannte sich Zamora und stieß kleine Eruptionen von Luft aus seiner Kehle. Seine Art zu lachen. »Ich sag's dir, Gordon, du machst mich fertig«, sagte er gutgelaunt. »Du bittest ja förmlich darum, das machst du wirklich. Du bittest die Leute, dir eines reinzuhauen. Kein Wunder, daß dein Leben so be schissen ist.« »Was stimmt nicht mit meinem Leben?« »Na, sieh dir mal als erstes Beispiel an, wo du dich befindest.« Dagegen konnte Jonny nicht viel sagen. Der Colonel hatte ziemlich zugenommen. Seine Uniformjacke spannte jetzt über dem Magen. Die Falten um seinen Mund und seine Augen hatten die Tiefe einer billigen Schnitzerei. Colonel Zamora schi en weniger zu altern als vielmehr gleich zum Fossil zu werden. Seine Gegenwart hatte Jonny immer an Reptilien erinnert − langsame, schwere Biester aus dem Erdaltertum, ganz aus Muskeln und Zähnen bestehend. »Bin ich deshalb hier? Sind Sie jetzt Sozialarbeiter? Helfen mir mit meinem Leben?« Zamora schüttelte den Kopf. »Nein, Gordon; du wirst mir mit meinem helfen.« »Was soll das heißen?« »Du hast wirklich keinen Plan, nicht wahr?« Zamora sprach so lang sam, als wende er sich an einen geistig Minderbemittelten. »Versuch mal, folgendes zu begreifen: du hast Captain Cawfly umgelegt − einen meiner Offiziere − und bist dann einfach abgehauen. Weißt du, wie ich danach ausgesehen habe? Dann hast du dich diesen Schmugglern
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angeschlossen, ihre Drogen verkauft, Geheimnisse des Gesundheits dienstes verraten, für Terroristen gearbeitet. Gordon, was meinst du, soll ich diese ganze Scheiße einfach so wegstecken?« Jonny wollte etwas sagen, sah dann aber Zamoras müde graue Augen. Dünnes Eis. »So wie ich das sehe, schuldest du mir einen großen Gefallen«, sagte Zamora. »Ich schulde Ihnen gar nichts«, erwiderte Jonny schnell. Das schien Zamora zu amüsieren. »Schau doch, du machst es schon wieder.« Jonny sah sich ungeduldig im Zimmer um. »Schauen Sie, Colonel, ich hatte genug von diesem Mist, als ich beim Gesundheitsdienst war. Deswegen bin ich ja abgehauen.« »Ach, das war der Grund?« Der Colonel hob eine Augenbraue. »So zusagen ein Fall von unruhiger Jugend, könnte man sagen. Weiter war nichts dran, kein ausgestreckter Mittelfinger für mich und den Dienst?« »Sowas kam mir überhaupt nicht in den Sinn.« »Hätte dir aber sollen.« »Scheiß drauf und auf Ihre Gnade«, schrie Jonny, »wenn Sie einen Deal wollen, schön. Wenn nicht, klagen Sie mich irgendwie an und ge ben Sie mir meinen Anwalt.« Jetzt hatte Jonny den Colonel zum zweitenmal zum Lachen ge bracht. »Du glaubst, ich komm dir irgendwie mit dem Gericht? Ich bin nicht so subtil wie du, Gordon. Du spielst mein Spielchen mit oder du gehst drauf. So sieht mein Vorschlag für dich aus.« »Bueno«, sagte Jonny. Er hätte gar keinen Rechtsanwalt gekannt, aber wenigstens wußte er jetzt, wo er stand. Seine Kehle war trocken und rauh. »Kann ich ein bißchen Wasser haben?« »Später«, sagte der Colonel. »Zuerst wirst du mir ein paar Informa tionen beschaffen.« »Was könnte ich Ihnen sagen, das Sie nicht schon von Ihren Agenten wissen? Raquin war meine Connection, und er ist tot.« »Ich weiß alles über Raquin. Er hat für den Gesundheitsdienst ge arbeitet.« Jonny starrte den Colonel an. Er ködert mich, dachte er. Aber es funktioniert. »Das ist doch Scheiße«, sagte er. Zamora grinste. »Es ist ein Käufermarkt, Gordon.« »Sie haben ihm einen Deal wie mir angeboten? Friß oder stirb?«
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»Nein«, sagte der Colonel mit sichtlicher Befriedigung, »er ist zu uns gekommen.« »Lügner!« »Du solltest erwachsen werden, Gordon. Diese Stadt ist voll von Troglodyten, die deinen Arsch schneller an einen Organhändler verhö kern, als du dich draufsetzen kannst. Das ist der Ort, an den du zurück gekehrt bist.« »Ich glaube Ihnen nicht.« Zamora zuckte die Achseln. »Du kannst glauben, was du willst, das ändert deine Situation nicht im geringsten. Was ich von dir will, sind Informationen über den Schmugglerlord Conover.« Zamora tippte et was auf dem Computerterminal und aktivierte ihn. »Ich will, daß du mir etwas über Conover und seine Verbindung zu den Alpha-Ratten sagst.« Einen Moment lang durchlief eine Woge von Erleichterung Jonny. Er zeigte auf den Tablettenhaufen und sagte: »Hatten Sie die Finger im Honigtopf, Colonel? Ein paar Proben mitgenommen?« Zamora warf Jonny einen angewiderten Blick zu. »Was bist du eigentlich, ein Tier? Ich gebe dir eine Überlebenschance.« »Wie soll ich eine solche Frage ernstnehmen? Ich weiß nichts über Conover und ganz sicher noch weniger über Raumpiraten.« »Du lügst, Gordon. Denk mal nach. Dein Freund Raquin arbeitete für mich. Ich habe Videos von dir zusammen mit allen möglichen üblen Typen, einschließlich Conover.« Jonny wandte seinen Blick von dem Colonel ab und fragte sich, wie lange er wohl schon in dem Gefängnis sein mochte. Sumi würde sich mittlerweile Sorgen machen. Alles, was sie gehört haben würde, war, daß er erschossen und vom Gesundheitsdienst mitgenommen worden war. Sumi würde, auf sich allein gestellt, nicht lange überleben, fürch tete er. Sie schützte sich nicht genug, war zu offen, zu vertrauensselig und würde verwundet werden. Es war diese innere Ruhe, die Jonny ursprünglich zu ihr hingezogen hatte. In diesem Augenblick aber jagte sie ihm einen Schauer über den Rücken. »Also schön, ich kenne Conover«, sagte Jonny. »Ich verschiebe Waren für ihn. Ich helfe ihm, seine Laster durch die Kontrollstellen des Komitees zu schleusen, aber das ist auch schon alles. Was diese Alpha Ratten-Geschichte betrifft, das ist komplett außerhalb meiner Reich weite.« »Tatsächlich? Das glaub ich nicht.« »Ich kann nicht geben, was ich nicht habe.« »Nein, aber du kannst es für mich kriegen.« »Was wollen Sie?«
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»Conover.« »Oh, Mann«, sagte Jonny, »warum fragen Sie mich nicht auch noch, ob ich nicht die Alpha-Ratten selbst hier herunterbringen kann? Da ist meine Chance gleich groß.« »Du kannst dich diesmal nicht so einfach davonschleichen, Gordon. Diese Verbindung zwischen Conover und den Alpha-Ratten ist eine zu große Sache.« Jonny schlug mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie mit diesem ›Gordon, Gordon‹ auf! Kein Mensch nennt mich mehr so!« »Sag mir nicht, was ich zu tun habe, Junge. Du gehörst mir.« Jonny lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Was ist zwischen Ihnen und diesen Raumwesen?« Colonel Zamora legte den Kopf zurück und betrachtete Jonny prü fend. Jonnys Finger fuhren das Drachenmuster auf der Tischplatte nach. Tatsächlich wünschte er, er hätte etwas, das er Zamora geben könnte. Ein paar harmlose Informationen oder Gerüchte, die ihn zufrieden stellen würden. Aber Jonnys Kopf war leer. Er konnte sich nicht einmal eine gute Lüge ausdenken. Schließlich nickte der Colonel. Er tippte etwas in den Computer und schaltete das Tonband ab. »Na schön, vielleicht bist du wirklich so un wissend. Versuchen wir es anders. Erzähl mir alles, was du über die Al pha-Ratten weißt.« Jonny holte tief Luft und atmete langsam aus. Sein Geist war noch immer träge von den Drogen, die sie ihm in der Klinik gegeben hatten. Er fand es schwer, sich auf etwas anderes als auf seine Wut, die er gerne zeigte, zu konzentrieren, und auf seine Angst, die er nicht zeigen wollte. Jonny begriff, daß er sich vor Zamora fürchtete und immer schon ge fürchtet hatte − und daß diese Angst vor Zamora einer der Gründe ge wesen war, vom Gesundheitsdienst zu desertieren. Und daß anderer seits diese Konfrontation hier vorbestimmt gewesen war. Mit seinem Davonlaufen hatte er Zamora irgendwie betrogen. Wie, war Jonny nicht klar, aber er verstand, daß Zamora jetzt daran war, sich einen Aus gleich zu verschaffen. »Nun?« sagte der Colonel. »Die Alpha-Ratten«, sagte Jonny. »Naja, ich habe die Zeitungen ge lesen. Große Schiffe aus der Tiefe des Alls. Sie landeten auf dem Mond und zerstörten alle Basen, unsere und die der Neuen Palästinenser. Machten alles platt. Zerstörten die ganze Technik.« »Und hast du eine Ahnung davon, was damals da oben lief?«
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Jonny versuchte, sich zu erinnern. Es war schon lange her. »Irgend welche Ingenieursarbeit. Hauptsächlich Minen und genetische Sachen, stimmt's?« Der Colonel schien beeindruckt. »Richtig, aber da oben lief noch mehr, etwas Wichtigeres nämlich. Ein Krieg. Ein Wirtschaftskrieg zwi schen der Neuen Palästinensischen Föderation und der Tokio-Allianz. Die Araber hatten immer das Öl, die Mineralien, die schweren Ma schinen. Sie haben den Asteroidengürtel jahrzehntelang mit ihren großen Schiffen ausgebeutet. Aber denk mal nach! − was hat die Tokio-Allianz? Wir haben Soft ware und Hardware, sicher, aber es geht um die wirklich interessanten Sachen: Datenspeicherung mittels Proteinmolekülen, genetische Techniken, Mikroelektronik. Dort liegt unsere Stärke, Gordon. Und von ihr haben wir eine Menge verloren. Du verdankst es den Alpha-Ratten, daß du wieder im Geschäft bist. Eine Menge Drogen, die ihr Leute illegal verkauft, wurden auf dem Mond oder in den Laboratorien in Mondumlaufbahnen hergestellt. Man braucht diese Umgebung, Sterilität, die man auf der Erde nicht herstellen kann, und Schwerelosigkeit − oder etwas, das ihr nahe kommt −, um diese Sachen zu erzeugen. Die Araber kontrollieren mehr als die Hälfte der Landmasse der Erde. Afrika allein kann ihnen jahrhundertelang Rohstoffe liefern. Ver stehst du, worauf ich hinauswill?« »Klar, der Tokio-Allianz sind die Eier abgeschnitten worden, als die Alphas auf den Mond kamen. Aber ich sehe eigentlich nicht, was das alles mit mir zu tun hat.« Jonny riß die Augen auf. »Ehrlich, Colonel, ich war noch nie auch nur in der Nähe des Mondes.« Zamora ignorierte ihn und tippte etwas in den Computer ein. Ein in den Tisch eingelassenes gläsernes Rechteck begann zu glühen. Aus der Projektionsplatte erhob sich ein dreidimensionales Chaos von fraktalen Punkten und eisblauen Verbindungslinien, die wie ein kristallines Gefäßsystem leuchteten. Die Winkel des Hologramms füllten sich mit Farben − zuerst Primär–, dann Sekundärfarben. Jonny glaubte, das Bild einer Wüste zu erkennen. »Sieh dir das an«, sagte Zamora. Jonny lehnte sich vor und betrachtete genau die Miniaturlandschaft. »Was ist das? Sieht aus wie eine verbrannte Frühlingsrolle.« »Das ist ein Shuttle«, sagte Zamora. »Die Mondbasen verwenden sie, um Proben zurückzusenden an die Laboratorien der Konzerne auf der Erde. Wir haben dieses hier in der Wüste nahe Anza Borego gefunden. Bis vor ein paar Monaten schickten die Alpha-Ratten einen ständigen
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Signalstrahl in den Weltraum. Ein paar französische Techniker der Uni in Tokio glauben, sie schickten ihn zum Sternbild Pegasus. Dort gibt es ein Doppelsystem namens Alpheratz. Daher haben sie ihren Namen.« Jonny nickte. »Ich furcht' mich richtig«, spöttelte er. »Wie auch immer, vor ein paar Monaten änderten sich die Signale. Die Alphas begannen, zur Erde zu senden. Im Ernst. In die Wüste süd östlich von hier. Und weißt du was?« Zamora klang richtig fröhlich. »Je mand sendete zurück. Ist das nicht toll? Nun, wir haben einiges von der besten Datendechiffrierungssoftware, die es überhaupt gibt. Wir haben nur ein paar Bits und Informationsstückchen entziffern können, aber was wir haben, ist toll, Gordon, richtig toll.« »Schön, ich bin ganz heiß, es zu erfahren. Was war es denn?« Zamora sah erfreut aus. »Ein Deal. Ein Deal zwischen deinem Freund Conover und den Alpha-Ratten. Aber hör nur weiter zu, denn es kommt noch besser. Wie es aussieht, bist auch du in die Sache verwickelt.« »Meine Güte«, sagte Jonny, »das ist echt zuviel.« Er stand auf und ging im Zimmer umher. Zamora schien nicht sehr besorgt, er lächelte weiterhin. Die Tür hatte ein Magnetschloß, wie Jonny sah, eine Vorrich tung, die das Komitee gerne verwendete. Man konnte die ganze Wand wegblasen und das Schloß würde sich nicht öffnen. Jonny blieb trotz dem in der Nähe der Tür und genoß die kleine Distanz, die er zwischen sich und den Colonel dadurch gebracht hatte. »Beruhige dich, Gordon. Ich sagte, du seist involviert. Ich sagte nicht, daß du ein wirklicher Nutznießer warst.« »Wo ist der Unterschied?« »Die Absicht«, sagte Zamora. »Ich sag dir was, Junge, wenn ich an einem Deal dieser Größenordnung arbeiten würde, dann ließe ich dich Bleistifte spitzen. Verdammt, vielleicht würde ich dich sogar als Kurier verwenden, aber ich würde dich ganz sicher nicht in die Nähe von ir gend etwas Wichtigem kommen lassen. Deshalb bin ich bereit zu glau ben, daß du kein bewußter Nutznießer dieser ganzen Sache warst.« »Danke.« »Aber du hast etwas, das ich haben will: Zugang zu Conover. Wenn er eine Verbindung zu den Alpha-Ratten hat, kann alles nur mit einem Nutzen für die Araber enden, unabhängig davon, welcher Art der Deal ist.« Jonny lehnte sich gegen die Wand und fuhr gedankenlos mit dem Fingernagel in die Ritze zwischen zwei Furnierstreifen. »Komisch, ich hab Sie nie für einen patriotischen Flaggenschwenker gehalten, Co lonel.«
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»Bin ich auch nicht. Das ist ganz einfache Wirtschaftstheorie. Wir wollen, was sie bekommen haben. Als wir dieses Shuttle fanden, war sein Frachtraum geleert. Wie auch immer der Deal läuft, er ist schon im Gange.« Jonny lächelte ihn an. »Sie wissen, daß ich kein Wort von alldem glaube.« Colonel Zamora schaute auf seine Uhr. »Nun, glaub mir das: du hast von jetzt ab achtundvierzig Stunden Zeit, mir Conover zu liefern. Wenn du das machst, sind wir zwei quitt. Wenn du mich hereinlegst, geb ich dich vielleicht diesen Kindern da oben. Manche von denen haben eine sehr lebhafte Phantasie. Ich schätze, sie würden mit deinen Augen be ginnen.« Jonny ging zum Tisch zurück und kämpfte gegen den Krampf in sei nen Beinen an. Seine Hände zitterten, deshalb steckte er die Linke in die Tasche. »Wenn ich mitmache, wie bald komme ich dann hier her aus?« »Sofort«, sagte Zamora. »Akezeptierst du meine Bedingungen?« Jonny lächelte. »Colonel, ich bin ein glückliches Kind der Flagge der aufgehenden Sonne. Kein Kameltreiber wird mich herumstoßen.« Za mora bekam schmale Augen. »Du solltest die Sache ernster nehmen.« »Wenn ich sie noch ernster nehme, falle ich tot um.« »Gut. Merk dir das als deinen neuen Koan, Gordon.« Zamora erhob sich, nahm einen Ledersack und zog Jonny mit sich zur Tür. »Meditier darüber. Zumindest die nächsten achtundvierzig Stunden.« Colonel Zamora zog ein flaches metallisches Achteck aus der Tasche und preßte es sodann auf das Magnetschloß. Die Tür öffnete sich, und Jonny folgte ihm hinaus. Jonny und Colonel Zamora warteten in der Lobby des Gelben Sek tors auf den Lift. Am anderen Ende des Gangs war ein Rekrut mit pola risierten Hornhaut-Implantaten an ein Konstruktionszeichenbrett angeschlossen und steuerte eine Bank von Plasmafackeln. Obwohl er unter starken alkaloiden Stimulantien stand, schaffte er es, ein Dutzend fackeltragende Schneidbrenner in einer sanften gezeiten haften Bewegung zu halten, wie eine mechanische Seeanemone, und si multan die vier Seiten eines ausgeschlachteten Fissions-Brennofens damit zu bestreichen. »Ein hübscher Trick«, sagte Jonny. Zamora nickte. »Wir müssen einiges von diesem alten Zeugs fortschmeißen. Wir brauchen Platz für neue Einrichtung.«
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»Kommen Sie, Colonel, jetzt hört uns keiner zu«, sagte Jonny. »Der Quatsch, den Sie mir vorhin erzählt haben − Sie glauben doch diese ganze Raumpiratenscheiße selber nicht, oder?« Colonel Zamora seufzte. »Es deprimiert mich, dich zu treffen, Gordon. Du erinnerst mich zu sehr an den traurigen Zustand der Welt. Paranoia. Selbstbezogenheit. Alle Symptome eines Informationsüber angebots. Der World Link ist der wirkliche Feind. Vor dreißig Jahren hatten wir keinen Link und keine Buchsen im Kopf. Wir mußten uns auf Videos und Zeitungen verlassen. Die Araber waren der Feind, und wir hatten noch eine Chance, Japan und Mexiko in ihre industriellen Eier zu treten. Jetzt haben wir den Mond, und die Alpha-Ratten hängen wie ein Damoklesschwert über uns. Der Link hätte diese Ge schichte niemals ausplaudern sollen. Ich sage dir, diese Stadt und dieses ganze Land sähen anders aus, wenn sie die Schnauze gehalten hätten. Es ist zu fremdartig, um es zu verstehen. Zu befremdlich. Diese Art Information führt zu Verfolgungswahn und zerstört jedes Ver trauen.« »Es ist hart, Vertrauen zu haben, Colonel, wenn so etwas wie das Komitee einem ständig seinen Atem ins Genick bläst.« »Scheißdreck. In einer gesunden Welt würde unsere Anwesenheit überhaupt nicht das geringste Problem darstellen. Als Nation haben wir es so weit gebracht, daß wir wie ein Tier in der Falle den eigenen Fuß amputieren, um freizukommen.« »Sie versuchen nicht, mich auf Ihre Seite zu ziehen, indem Sie mir erzählen, daß es sich um eine Art Kreuzzug handelt, nicht wahr?« »Natürlich nicht«, sagte Zamora, »das wäre zuviel von dir erwartet.« Der Colonel drückte neuerlich auf den Liftknopf. Der Bursche, der die Schneidbrenner bediente, führte sie an die Basis des Ofens und be strich diese mit langen, fließenden Bewegungen, die Jonny an KendoSchläge erinnerten. »Wir sind an einem Kreuzweg«, sagte Zamora. »Weißt du das? Die nächsten paar Jahre werden die Geschichte ent scheiden. Ob wir enden als eine weitere postkoloniale Sackgasse wie England oder Frankreich, oder ob wir die Vorherrschaft zurückge winnen, die wir allzu leicht aufgegeben haben. Um das zu schaffen, müssen wir die Alpha-Ratten loswerden. Bevor sie weg sind, können wir uns nicht einmal den Arabern zuwenden.« Der Colonel lächelte. »Es läuft alles auf die Wirtschaft hinaus, wie immer.« Einige Meter entfernt läutete eine Glocke, und Lifttüren öffneten sich. Nimble Virtue, eine Fleischhändlerin und einer der am wenigstens vertrauenswürdigen Lords der Stadt, trat heraus. Sie stützte sich schwer auf den Arm eines ihrer gutaussehenden jungen ›Neffen‹. Als sie
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Jonny sah, machte sie eine winzige Nickbewegung mit dem Kopf, um zu zeigen, daß sie keine Zeit zu einem Gespräch hatte. Dann gingen sie und der junge Mann den Gang hinunter, umgeben von den Echos des insektenhaften Klickgeräuschs, das das Exoskelett unter Nimble Virtu es Kimono von sich gab. Am Ende des Gangs öffnete sich zischend eine Tür, und die beiden verschwanden. Einen Augenblick später wurde Jonny in den Lift gedrängt, den Nimble Virtue eben verlassen hatte. Zamora und er fuhren schweigend nach oben. Jonny fühlte eine bösartige Befriedigung dabei, den Colonel mit heruntergelassener Hose erwischt zu haben. Ein Blick auf Nimble Virtues Gesicht hatte ihm alles gesagt. Sie hatte Jonny verkauft. »Na, das kann ich begreifen«, sagte Jonny, »Nimble Virtue würde die Eiserne Lunge ihrer Großmutter verscherbeln, wenn sie glaubt, die alte Dame würde nichts davon erzählen.« »Mach dir darüber keine Gedanken.« Jonny schnüffelte angewidert. »Hat den Platz ganz schön verstun ken, nicht wahr?« Zamora schlug ihm gegen die verwundete Schulter. Etwas Heißes und Blaues explodierte in Jonnys Augen, von dem Fragmente in eine bodenlose Höhle sanken. Er rutschte der Wand entlang zu Boden. »Denk nicht einmal im Traum daran, Nimble Virtue etwas anzutun. Du hast dafür keine Zeit«, sagte Zamora. Der Lift kam schüttelnd zum Stehen, die Türen öffneten sich. Taus sig wartete schon und grinste, als er Jonny auf den Knien sah. »Hilf ihm auf!« befahl Zamora und ging. Der Leutnant zog Jonny auf die Beine und führte ihn aus dem Lift. Als sie Zamora eingeholt hatten, wandte sich der Colonel an Taussig und sagte: »Wir sprechen später darüber, was in der Zelle dieses Mannes vorgefallen ist.« Jonny sah befriedigt, wie der junge Leutnant blaß wurde. Zamora führte Jonny zu einem Seitenausgang und ließ ihn mit wei chen Knien in einer Öllache stehen. Der Colonel nahm eine Futuroko aus seinem Sack und warf sie hinter Jonny. »Nimm das mit! Ich möchte nicht, daß du überfallen wirst, jetzt, wo du wieder im Dienst bist. Ich werde die nächsten achtundvierzig Stunden für dich erreichbar sein, Gordon. Danach ist unser Deal zu Ende. Ich werde dich finden.« Die Tür schloß sich mit einem ruhigen Zischen hinter ihm. Jonny stand allein in einer Seitenstraße. Er stolperte ein paar unsichere Schritte nach vorn und trat wild gegen die genietete Tür und schlug mit seiner gesunden Hand dagegen.
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»Du Arsch, du Scheißer!« schrie er. »Das kannst du mit mir nicht machen!« Eine schwindelerregende Sekunde lang war er richtig ver rückt, lief im Kreis und verdreckte seine ruinierten Jeans noch mehr. Schließlich ging er keuchend von der unnachgiebigen Tür weg und fühlte den Zorn darüber, seine Kraft so vergeudet zu haben. Er sollte schon auf dem Weg aus dieser Stadt hinaus sein. Er blickte die feuchten Wände entlang zu dem dünnen Nebel am Ende der Straße. Er blieb unsicher stehen, griff nach seiner schmerzenden Schulter und zog die Futuroko. Er ging zu dem InfrarotScanner, der diese Straße überwachte, zielte und schoß ihn aus seiner Verankerung heraus. Irgendwo meldete sich eine Alarmanlage. Jonny machte, daß er weiterkam.
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III Der Flug einer nicht-euklidischen Fliege »Scheiße«, sagte Jonny, als er im Gang des verlassenen Hotels in etwas Weiches und Klebriges trat. Dann murmelte er nochmals »Scheiße«, als er sah, wie recht er mit seinem Ausruf gehabt hatte. Jonny war außer Atem. Er befand sich in der Nähe des Exposition Boulevards, ein paar Blocks von den alten Lockheed-Raketenbunkern entfernt. Alte Service maschinen und zerbröckelnde Raketenköpfe enthüllten ihr brüchiges Innenleben hinter Stacheldraht gekrönten Zäunen. Sorgfältig kratzte Jonny mit dem beschmutzten Schuh gegen eine zertrümmerte Steinstufe und blickte aus dem Eingang hinaus. Wer auch immer es war, den Zamora hinter ihm hergeschickt hatte, er war sehr vorsichtig. Jonny hatte seinen Verfolger immer noch nicht erblickt, aber er wußte, daß der Mann da draußen sein mußte. Zamora würde ihn nicht einfach so davonkommen lassen. Jonny war erschöpft vom Rennen; er war davongelaufen und er war auch aus Lust an der Bewe gung gerannt, wegen des momentanen Gefühls von Freiheit, das er dabei hatte. Aber es störte ihn, daß es ihm bisher nicht gelungen war, seinen Beschatter zu entdecken. Auch jetzt, als er aus der Nische blick te, war auf der Straße keine Bewegung zu sehen, abgesehen von ein paar auf dem Gehsteig liegenden Pennern, die sich in ihren chemischen Träumen hin– und herwarfen. Die heiße Nacht war heiß geblieben und würde bald einem ebenso heißen Tag weichen. Jonnys Tunika klebte an ihm wie eine zweite Haut. Er entspannte sich und versuchte, seine Kräfte wieder zu sammeln. Seine Schulter hatte ein paar Minuten, nachdem er das Ge fängnis verlassen hatte, zu pulsieren begonnen. Er hätte wahnsinnig gerne irgend etwas gehabt, einen Drink, eine Nasevoll, einen Rauch ― irgend etwas, das ihn von dem Schmerz ablenken könnte, von den Obsessionen des Colonels, von der altbekannten Umgebung, in der er sich jetzt versteckte. Auf den Wänden der alten Häuser hatten Leute ihre Botschaften mit Schwelfesäuresprays eingebrannt, und die Inschriften in den Mau ern sahen aus wie grimmige Orakel. Im Laufe der Jahre hatten die Fronten der verlassenen Hotels und Geschäfte die Textur und den Ein druck alten Kerzenwachses angenommen. Jonny ließ seine Finger über ein paar abblätternde Buchstaben im Gang des Hotels laufen. LAUF UND DUCK DICH! und ALPHA-RATTEN FÜRCHTEN KATZEN. Aus einem Impuls heraus drückte Jonny gegen die Hoteltür. Sie öffnete sich kratzend auf einen aufgeworfenen Holzbodengang und blieb dann ste
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cken, wobei sie ein düsteres Interieur zeigte. Jonny tat einen vor sichtigen Schritt vorwärts. Es sah aus, als sei in der Lobby eine Bombe hochgegangen. Das Plastikfleisch und die Holzknochen der Einrichtung waren sichtbar, und Wandteile waren zusammengebrochen oder weggerissen worden. Ein altmodischer schmiedeeiserner Lift lag in Trümmern zwischen Lockheed-Schwanzflossen und nutzlosem Fahrgestell. Aber mochte der Anblick des alten Hotels auch deprimierend sein, es war eigentlich der Geruch, der Jonny beinahe schaffte. Der tödliche Gestank (Ammoniak, alter Käse, Moder) brachte Tränen in seine Augen. Aber er hielt den Atem an und schloß die Tür zur Lobby wieder. Er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt hatten; dann machte er sich müde und mit bleiernen Füßen, mit den Schultern ständig gegen Dinge prallend, auf den Weg über die Stiege zum Dach hinauf. Von dort aus würde er auch alles erblicken können, und er konnte annehmen, daß er auf dem Weg über die Dächer loswürde, was hinter ihm her war. Aber er hatte nicht mit dem Gestank gerechnet. Im ersten Stock werk tränten ihm die Augen; im zweiten hatte er schon echte Atem beschwerden. Im dritten endete die Stiege ganz plötzlich. Die Tür mit der Aufschrift DACH bewegte sich nicht − sie war überkrustet von Alter und Schmutz. Jonny schlug mit dem Stiefel dagegen, aber das ließ nur eine Menge Dreck von der durchhängenden Decke herunter rieseln. Hinaus, dachte er sich, und die Feuerleiter hinauf. Er betrat eines der Gästezimmer, das vom Korridor abzweigte, und ging zum Fenster. Das Zimmer war groß. Da die Möbel entfernt worden waren, hallten seine Schritte wider. Ein düsteres Rechteck aus Licht von der Straße her ließ die Innereien eines alten Telefon-Comsat-Links erkennen. Das mußte einmal ein teures Zimmer gewesen sein, wenn man solche In stallationen gehabt hatte. Mitten auf dem Fußboden lag wie eine Schale eine Radkappe, in der jemand etwas gekocht haben mußte. Jonny war vielleicht ein Dutzend Schritte in das Zimmer hineinge gangen, als ihm der Geruch in die Nase stieg. Es war eine körperliche Präsenz, die sich in seine Lunge schraubte wie ein gequältes Tier. Die Nase rann; er hustete. Er hielt die Arme vors Gesicht und atmete durch den Mund. Wenn das Komitee dieses Zeug hatte, konnten sie die ganze Stadt damit vernichten, dachte er sich. Als Jonny das Fenster erreichte, fand er es durch die feuchte Mee resluft so verquollen, daß es sich nicht bewegen ließ. Da er wußte, daß Zamoras Schatten ihn hören würde, wenn er das Glas zerbrach, mach
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te er sich auf die Suche nach einem Brecheisen oder einem Brett − ir gend etwas, mit dem er das Fenster aufstemmen konnte. Ein Knistern von Stoff in einer entfernten Ecke des Zimmers. Das Funkeln von etwas Kleinem, Metallischem. Jonny tat einen Schritt vorwärts − und stürzte, weil ihm die Füße weggerissen worden waren. Er rollte sich ein, so gut es noch ging, und es gelang ihm, nicht direkt auf die verletzte Schulter zu fallen. »Verflucht!« schrie er, als Schatten aus den düsteren Ecken des Zimmers auftauchten. »Nehmt seine Kleider!« hörte man eine Stimme, trocken und flüsternd wie der Wind. »Nehmt seine Schuhe!« sagte eine andere Stimme. »Packt ihn!« Eine kleine Figur in Lupen riß an Jonnys Tunika. Er schrie laut auf wegen des plötzlichen Drucks auf seine blutende Schulter und schlug mit seinem gesunden Arm um sich. Schmerz explodierte in seinem Handgelenk, als etwas Scharfes, Nasses sich hineingrub. Jonny trat im Dunkeln wild um sich und hörte mit Befriedigung ein Stöhnen, als sein Stiefel auf Widerstand traf. Er rollte sich zusammen und trat dann mit beiden Beinen kraftvoll in den Magen desjenigen, der an seiner Tunika zerrte. Die Figur stolperte zurück, scheußlichen Atem ausstoßend. Jonny stürzte nach vorn, in Richtung Fenster. Aber jemand sprang gegen ihn und schlug ihn zurück. »Er will abhauen…« »Kleines Monster…« »Paßt auf seine Stiefel auf…« Am Fenster wurde er zurückgezogen von einer Anzahl trockener, reptilienhafter Finger. Er schrie. Dinge wie Zwingen und Messer, Pin zetten und zerbrochenes Glas schnitten in seinen Rücken und seine Arme. Jesus, die beißen mich ja, dachte er. Jonny schaffte es, sein Bein hinter das eines seiner Angreifer zu bringen. Dann, als er es mit aller Kraft zurückzog, hörte er ein Fenster klirrend zerbrechen. Plötzlich waren er und einer der beiden anderen draußen auf der Feuerleiter. Daß ihn die Hände plötzlich losließen und ihm frische Luft ins Gesicht schlug, verwirrte ihn für einen Moment, aber ein animalischer Teil seines Gehirns bewegte seine Arme und Beine und ließ ihn fliehen. Niemand verfolgte ihn. Zwei Stockwerke höher auf der Feuerleiter blieb Jonny stehen, um einen Blick auf seine Angreifer zu werfen. Sie kauerten sich unten zu sammen und jammerten über ihre Verletzten. Obwohl es im Freien
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kühler war, kochte die Hitze doch immer noch in den Straßen und buk die alten Gebäude; die ganze Nachbarschaft wellte sich hinter flimmernder heißer Luft. Trotzdem war der Mob da unten in mehrere Schichten übereinander angezogener Mäntel gehüllt, in zerschlissene Laborkittel und Raumanzüge. Ein fetter Mann in einem zerrissenen Testpilotenanzug kletterte auf die Stiege und blickte auf die Straße hinunter. Seine Kleidung hing ihm in Fetzen vom Arm, alles war wild zusammengenäht oder verdrahtet. Die Vielzahl von Lumpen auf sei nem dicken Körper gab ihm das widerliche Aussehen eines Bären, aber seine Augen brannten vor kalter Wut. Jonny war schon ein paar Stufen weiter, als der Fette ihn entdeckte. Ein Schrei erhob sich aus der Kehle des Mannes, er fletschte seine gelben Zähne. Keine richtigen Zähne, wie Jonny wußte, sondern Poly karbon-Implantate, die sorgfältig messerspitz gefeilt worden waren. Im unwirklichen Düsterlicht der Straßenlampen glommen die Zähne des fetten Mannes wie eine Stahlfalle. Piranhas, dachte Jonny. Eine ganze Gang Piranhas. Es war ein dum mer Fehler gewesen, das alte Hotel zu betreten. Das war nur passiert, weil er so übermüdet war. Die verlassenen Hotels und Apartments des Warenhausviertels waren für die meisten Gangs nutzlos, weil sie dem Hauptquartier des Komitees direkt vor der Nase lagen. Deshalb besetzten sie die Pi ranhas, hauptsächlich Siebzigjährige, zumindest war keiner von ihnen unter sechzig. Sie wurden von den jüngeren Gangs zu Zielübungen mißbraucht und waren von der Regierung praktisch verkauft und ver raten worden. Also schlossen sich die alten Ausgestoßenen und Kran ken zu Banden zusammen, um wenigstens ein kleines Territorium für sich verteidigen zu können. Sie benützten die paar Waffen, die sie auf treiben konnten, hauptsächlich die von der Regierung gezahlten künst lichen Zähne, die spitz zugefeilt fest in ihren zornigen, brüchigen Kiefern saßen, und sie wurden toleriert, weil sie nichts verbrauchten als die Überreste der anderen. Außerdem wäre selbst in Los Angeles das Abschlachten alter Leute auf der Straße mit Mißfallen registriert worden. Jonny sah, daß mehr Piranhas aus dem Hotel gekrochen kamen. Der Fette begann, die Feuerleiter zu erklimmen. Er trug ein zugespitztes Rohr in der Hand. Jonny kletterte weiter. Er rollte mühsam über die niedrige Mauer auf dem Dach und fiel auf den Bauch. Kies schnitt in seine Wange. Als Jonny sich aufrichtete, sah er ein dünnes, aber munter fließendes Blutbächlein unter seinem Ver
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band herausrinnen. Der Fette war nur noch ein paar Meter entfernt. Jonny mußte wieder rennen. Hinter dem Dicken erschienen noch mehr Piranhas wie eine zerlumpte Armee von Toten. Sie schwenkten wild ihre Rohre und zerbrochenen Flaschen − es sah aus, als versuchten sie mehr, sich selbst zu beweisen, daß sie noch am Leben waren, als daß sie Jonny be drohten. Als er die andere Seite des Daches erreicht hatte, sah sich Jonny verzweifelt nach einem Weg nach unten um. Was er sah, verblüffte ihn. Ein ganzes Netzwerk von selbstgemachten Brücken und Katzen stegen überzog wie ein verrücktes Modell der Nervenwege eines Pi ranha-Gehirns die Dächer und verband alle Gebäude innerhalb eines Dutzend Blocks. Kaputte Rohrleitungen, alte Antennen, die verroste ten Schächte jahrzehntealter Jet-Turbinen waren irgendwie an den Dächern befestigt. Mit ihnen verbunden von den Docks gestohlene, mürbe gewordene Seile. Flache Krilldosen, Rückenplatten zerstörter Computerterminals und Isolationsröhren von L5-Shuttles füllten die Lücken zwischen rohen Brettern und formten Gehsteige, dreißig Meter über den Straßen. Die Brücken sahen nicht besonders sicher aus, aber die Piranhas kamen näher. Jonny trat auf den nächstgelegenen Gehsteig und beeilte sich. Die Stützseile streckten und verkürzten sich, während das Materi al unter seinen Füßen knackte und sich bewegte. Er sprang auf das nächste Dach. Die Brücke hinter ihm spannte sich unter dem Gewicht der Gang. Der Fette war immer an der Spitze und schwenkte sein Rohr. Jonny bewegte sich in Kreisen auf dem Dach auf der verzweifelten Suche nach etwas, das er werfen könnte. Er wußte, wenn er seine Kanone verwendete, würde Zamoras Mann ihn finden und alle bisherige Anstrengung war umsonst gewesen. Aber dann entschied er sich, daß keine Zeit für Subtilitäten blieb. Er suchte in den Falten sei ner Tunika und zog die schweißnasse Futuroko hervor. Er wedelte da mit vor dem Gesicht des Dicken, der angesichts der Pistole zurück prallte. Die Piranhas drängten sich schweigend hinter ihm. »Das war's!« schrie Jonny. »Keine Spielchen mehr. Der erste, der sich bewegt, ist Futter für die anderen.« Das war Mist, und er wußte es auch, aber irgendwie funktionierte es, zumindest sah es im Moment so aus. Die Piranhas einschließlich des Fetten blieben, wo sie waren. Sie starrten Jonny mit leeren, wilden Augen an. Gefühl war schon immer Jonnys Unglück gewesen. Im Innersten waren alle Cops romantische Tölpel, und bei den Ex-Cops war es noch
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schlimmer. Eine schreckliche Welle von Mitgefühl überspülte seine Angst, als er sich von der traurigen Gruppe entfernte. Das waren Ausgestoßene, ähnlich den Verlierern und Tagedieben, zu denen auch er gehörte, wie er wußte. Jonny ließ seinen Blick über die Gesichter in der Menge schweifen und fragte sich, ob nicht eines der falsch funktionierenden Gene in denen auch in seinem Blut kreiste. Er betrachtete sie mit einer gewissen Scheu. Hinter ihm fiel ein Ziegel zu Boden und zerbrach mit einem hohlen Geräusch. Jonny drehte sich schnell um, die Waffe weiter auf den di cken Mann gerichtet. Dutzende Piranhas waren auf den anderen Dä chern erschienen und hielten Rohre und Eisenstangen in den Händen. Manche grinsten und zeigten dabei ihre scharfen, fleckigen Zähne. Jon ny war umzingelt. Er zog sich in eine Ecke des Daches zurück, indem er sich langsam im Kreis drehte und versuchte, sich in allen Richtungen abzusichern. Als er die Feuerleiter erreicht hatte, waren alle Brücken mit Piranhas bedeckt. Als er auf die Leiter stieg, kamen die ersten über das Dach nä her. Als er rittlings auf der Mauer saß, warf der Dicke mit lautem Brül len sein Rohr nach ihm. Jonny wich dem Rohr aus und ließ sich über die Mauerkante kippen. Er schlug auf der obersten Plattform der Feuertreppe auf. Er rollte sich auf den Rücken und zog seine Futukoro. Zu spät. Die Piranhas waren schon über ihm und warfen mit Rohren und Steinen nach ihm. Aber selbst unter diesem Hagel von Geschossen konnte Jonny sich nicht entschließen, einen von ihnen zu töten. Er überstrich drei Seiten seiner Umgebung mit Kugeln. Die Piranhas prallten zurück, ohne Jonnys gute Absichten zu begreifen. Die Pistole im Anschlag gab Jonny noch ein paar Salven ab und polterte über die Stufen hinunter. Als er den Boden erreichte, blieb er im Schatten, preßte sich dicht an das Gebäude und wartete auf die Geräusche der Verfolger. Aber er hörte keine. Jonny atmete durch den Mund in tiefen Zügen die heiße, feuchte Luft ein. Er war in einer Sackgasse; am anderen Ende lag ein verlassener Hof mit zertrümmerten Schaufensterpuppen und Stacheldrahtrollen. Jon ny drückte sich an die Wand, damit er wenigstens im Rücken eine De ckung hatte. Er überprüfte, wieviel Munition er noch hatte und beweg te sich dann vorsichtig die Wand entlang zum Ausgang der Seitenstra ße. Er hatte keine Chance. Von oben gellte ein freudiger Schrei herab. Jonny blickte gerade rechtzeitig auf, um den Mist herabregnen zu sehen: Rohre, Flaschen,
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Jetabdeckungen und elektronische Bauteile − den ganzen technischen Dreck der Stadt. Er sprang und rollte ab, wegen des scharfen Schmerzes in seiner Schulter aufstöhnend. Die erste Dreckwelle schlug hinter ihm zu Boden. Die zweite erwischte ihn im Freien ohne jede Deckungsmöglich keit. Sein Mitleid verschwand. Er kauerte sich hinter eine Schaufens terpuppe und eröffnete das Feuer auf das Dach. Seine Kugeln putzten den Kopf eines geschlechtslosen Steincherubs weg. Seine Gefährten sagten nichts und die Piranhas, die klug genug waren, nicht an der Brüstung stehen zu bleiben, lachten nur. Jonny blieb liegen und verfluchte sich dafür, daß er nicht ein paar von ihnen umgelegt hatte, als die Möglichkeit dazu vorhanden gewesen war. »KEINE BEWEGUNG, JEDER BLEIBT, WO ER IST!« befahl eine unpersönliche, technische Stimme. Der Hovercar des Komitees dröhnte plötzlich vorüber wie eine wü tende Wespe aus Metall, glatt und tödlich. Aus seinem Bauch tasteten bösartige Lichtfinger über die leeren Häuser. Schatten glitten über verlassene Fassaden wie ein Heer von Alpträumen. Staub und Schmutz fielen von den Dächern in die Straße und füllten sie mit rauchigen Gespenstern. Jonny versuchte, seine Kehle freizuhusten. Auf dem Dach erhob sich neues Geschrei, als die Piranhas ihre Wut gegen den Hovercar richteten und begannen, ihn mit Gegenständen zu bewerfen. Jonny benützte die Gelegenheit, auf der Straße voranzukom men. Sein Schatten umtanzte ihn wie eine nervöse Katze und erschien an einem Dutzend Orten gleichzeitig − dünn und diffus. An einer erloschenen Straßenlampe vorbeikriechend, fand Jonny einen Kanaldeckel und rüttelte an ihm. Indem er ihn vor und zurückbe wegte, öffnete er ihn schließlich. Als er hinunterspähte, um zu sehen, ob hier ein Fluchtweg frei war, kippte ein plötzlicher Schwindelanfall die Straße gegen das dunkle Loch. Jonny klammerte sich an den Lampen mast, um sein Gleichgewicht zu halten, und drehte sich zum Hotel um. Am Himmel hing der Hovercar wie ein altertümlicher Raubvogel, der auf eine Beute wartete. Plötzlich füllte ein mechanisches Winseln die Luft. Jonny preßte die Lider zusammen und bedeckte seine Ohren mit den Händen, als die Friedenslichter eingesetzt wurden. Der Kampf auf dem Dach erstarb, als die Piranhas viel zu spät begriffen, was vor ging. Sie standen da und starrten gelähmt und hilflos in die wirbelnden Lichtmuster. Jonny entschied, daß es Zeit war, die Croaker zu finden. Er glitt laut los in den Kanal und zog den Deckel hinter sich zu.
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Die Kanäle waren flechtenbedeckte Relikte aus einer anderen Zeit, als Versteck so alt wie die Revolution selbst. Die Croaker hatten sie übernommen, nachdem die ›Schießen-ohne-Anruf‹-Befehle offizielle Taktik des Komitees geworden waren. Die Croaker waren Gesetzlose, hauptsächlich anarchistische Ärzte, die Krankheiten behandelten, die es offiziell gar nicht gab oder ohne die Genehmigung der lokalen Gesundheitsbehörden nicht diagnostiziert werden durften. Ihre Wurzeln reichten zurück in die frühen Tage des Jahrhunderts, als die ersten Ärzte in den Untergrund gegangen waren, die Aufzeichnungen über Patienten mit AIDS oder einer neuen Form von Hepatitis vernich tet und diese Patienten (die neue Kaste der Unberührbaren) in schwarzen Kliniken behandelt hatten, die mit allem eingerichtet waren, was diese Rebellen auf ihrer eiligen Flucht mit sich tragen hatten können. Andere Ärzte, meist junge, die von den Mondgrenzkriegen zurück kamen und von der undurchdringlichen Bürokratie und den Re gierungsmaßnahmen für ihre Patientenkarteien frustriert waren, gesell ten sich zu ihnen. Es brauchte nur ein paar Jahre, bis die Ärzteschaft in zwei sehr unterschiedliche Lager gespalten war: die Ärzte, die an der Oberfläche blieben und mit der politischen Macht zusammenarbeite ten, und jene, die sich von alldem entfernten und wie die anderen Gangs in Los Angeles ihre eigene kleine Gesellschaft außerhalb der Be grenzungen des Gesetzes bildeten. Jonny war ein Lieferant und gelegentlicher Kurier für die Croaker gewesen und mochte sie trotz ihrer revolutionären Missioniererei ganz gerne. Es zog ihm den Magen zusammen, wenn einer von ihnen ihn ›Bruder‹ nannte, aber er fühlte einen seltsamen Stolz, daß er mit ihnen in Zusammenhang gebracht wurde. Er blieb aber immer mißtrauisch ihnen gegenüber. Andernfalls hätte er eine Antwort geben müssen, für die er nicht vorbereitet war. Sie hätte gewisse Bindungen, ein gemein sames Erbe enthalten, und das machte ihn nervös. Die Kanäle im Untergrund der Stadt waren wie die korrodierten Venen eines Süchtigen, heruntergekommen durch Alter und Miß brauch. Was sich in ihnen bewegte, war fremdartig und suchte einen Ausweg. Jonny stand am Fuße einer Leiter, die aus in die Mauer einge lassenen Stahlringen bestand, knietief im schwarzen Wasser, das an seinen Beinen saugte. Die Luft war dick und abgestanden; verfault und voller Moskitos. Sie berührten sein Gesicht und bedeckten seine Hände. Sie stachen ihn, bis er in den Vorhang aus Tieren blind hineinschlug, ein überwäl tigendes Gefühl seines bevorstehenden Todes bekämpfend. Aber es
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war eigentlich nicht der Tod. Es war eher ein formloses Gefühl großer Besorgnis, ein Gefühl, als hätte er einen schrecklichen Irrtum begangen und alles wäre in Ordnung, wenn er sich nur erinnern könnte, worum es ging, und es dann richtig machen würde. Jonny wußte ein wenig Bescheid über die Geographie des Kanalsys tems, aber er wußte nicht, wo sich die geheimen Tunnel der Croaker befanden. Da im Dunkeln alle Richtungen gleich aussahen, begann er, sich geradeaus zu bewegen, hinein in eine leichte, klebrige Brise. Sehr bald bemerkte er, daß er sich nicht mehr in absoluter Dunkelheit befand. Er konnte die Mücken jetzt sehen. Sie schienen sich vor einem fla chen, zweidimensionalen Hintergrund zu bewegen − eine Täuschung durch das seltsame Licht, das den Tunnel zu füllen schien. Die Flech ten an den Wänden leuchteten blaßgrün. Wenn er mit den Fingern über die nassen Steinwände fuhr, hinterließ er eine schwarze Spur, wo er die Flechten abschälte. Seine Finger glühten von den kleinen Pflanzen. Jonny ging weiter, die Beine wacklig in dem saugenden Dreck des Bodens. Aber er hatte immer noch kein bestimmtes Ziel. Benommen verlor er jede Richtung in den endlosen Verzweigungen der Tunnel. Das Wasser stieg ihm selten über die Knie, aber ein paarmal mußte er in Tunneln umdrehen, wenn das Wasser seine Brust erreichte und drohte, noch tiefer zu werden. Den ganzen Weg entlang kratzte Jonny Botschaften in die Wände. Rohe Schlangen, bereit zum Zuschlagen; er schrieb seinen Namen in große Blockbuchstaben und ein paar Obszönitäten, die sich auf die Verhältnisse zwischen den Burschen vom Komitee und ihren Müttern bezogen. Er hinterließ den Umriß seiner Hände und geflügelte Augen. Als sich die Müdigkeit in seinen Muskeln und Gelenken ausbreitete, stolperte er öfters. Eine Zeitlang tappte er mit geschlossenen Augen dahin, die Finger mechanisch an der Wand, um seinen Weg zu finden. Dauerte das Minuten oder Stunden? Als Jonny seine Augen wieder öff nete, prallte er zurück und fiel beinahe hin. »Jesus Christus!« sagte er. Slogans, Namen und Zeichnungen waren über jeden Qua dratzentimeter der Wände und der runden Tunneldecke geschmiert. Sie strahlten Jonny aus allen Richtungen an, in schimmerndem Schwarz auf grünleuchtendem Grund. Es sah aus wie die letzte Bot schaft eines Stammes oder einer Gruppe, die sich selbst vollständig in die Wände gesprengt hatte. Die Wörter schienen im leeren Raum um ihn herum zu hängen.
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LEBEN OHNE PAUSE DIE GESELLSCHAFT IST EINE FLEISCHFRESSENDE PFLANZE ICH BIN IM NAMEN DES VOLKES HIER UND WERDE NICHT WEGGEHEN, BEVOR ICH MEINEN REGENMANTEL ZU RÜCKBEKOMMEN HABE DIE SCHÖNHEIT WIRD KONSULSIVISCH SEIN ODER SIE WIRD NICHT SEIN SKID THE KID WAS HERE! SURREALISMUS IM DIENSTE DER REVOLUTION
Bucklige Schatten glitten den Röhren an der Decke entlang: riesige, gefährliche Ratten. Jonny zog seine Waffe und feuerte auf sie. Ratten hatten ihm eine Nacht lang genug Ärger gemacht. Er sah, wie ein paar von ihnen zu einer einige Meter entfernten Wand liefen und sich in eine kleine Öffnung in Bodennähe zwängten. Wenn eine Ratte dort verschwand, war ihr Fell einen Augenblick lang weiß beleuchtet. Jonny trat auf die Wand zu, kniete nieder und preßte sein Gesicht gegen den Spalt. Ein leichter Strom kühlerer Luft. Während er seine Hand über die Kanten des Lochs gleiten ließ, wurde ihm klar, daß die Wand nicht aus Stein war, sondern aus einer Art Kunstharz. Jonny grub seine Fersen in den Boden und zerrte an der Öffnung. Die Wand glitt ein paar Zentimeter zurück, blieb stecken, öffnete sich dann wei ter, widerwillig Fäden ziehend. Licht flutete in den Kanal. Das grelle weiße Licht blendete Jonnys Augen. Aber das war ihm gleich. Das Licht war wundervoll. Er blinzelte und versuchte, die Licht quelle zu erkennen, aber er mußte sich schließlich abwenden, weil er das Gefühl hatte, er würde blind. Es dauerte einige Minuten, bis er ohne Zwinkern in die hell erleuchtete Höhle blicken konnte. Als es ihm gelang, wußte er, daß er in Sicherheit war. Es war ein merkwürdiger Anblick im Dreck des Kanals. Die durch sichtige Plastikblase − sauber und hell erleuchtet − glühte wie ein Traumobjekt und füllte den Tunnel vor ihm aus. Durch einen Schleier von Kondenswasser konnte Jonny die hydroponischen Regale sehen, die sich die Wände auf beiden Tunnelseiten entlangzogen. Yageranken
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wanden sich bis zum Boden, Aloe Vera, Psilocybe mexicana und andere Drogenpflanzen wuchsen da im Überfluß. Indem er sein Gesicht an die dicke Plastikmembran preßte, konnte Jonny das andere Ende des Tunnels sehen, wo das Plastik sauber um eine verwitterte Zutritts schleuse gespannt war. Jonny stampfte mit seinem rechten Fuß in einem bestimmten Win kel scharf gegen den Boden, worauf der Absatz seines Stiefels mit einem Klicken zurückschnappte. Gegen die Plastikwand gelehnt, von der er sich nicht mehr entfernen wollte, betastete Jonny die Sohle sei nes Stiefels, bis er den Griff des dort verborgenen Messers fand. Er zog die breite, glänzende Klinge aus seinem Schuh und rammte sie in die Blasenwand. Er zog sie herab und machte damit einen sauberen Schnitt in die Membran. Dann schlüpfte er durch diesen Spalt hinein in eine warme, dufterfüllte Kammer, die im Rhythmus einer Pumpe pulsierte. Er steckte das Messer zurück und ließ seinen Absatz wieder zuschnappen. In der Blase roch es nach Leben und Ordnung, und das wirkte be lebend auf Jonny. Als er die Zugangsschleuse erreichte, griff er nach dem großen Metallgriff und drehte ihn; er wurde von einem für ihn sehr angenehm klingenden Geräusch belohnt, als sich innerhalb der Wände Bolzen bewegten. Danach ließ sich die Tür ohne jede Anstrengung öff nen. Jonny trat in einen verdunkelten Raum und tastete an den Wänden nach einer Tür. Er sah sich plötzlich im Schnittpunkt einer Menge kegelförmiger Lichter, die geisterhafte Nachbilder auf seinen Netzhäu ten auslösten. Jemand griff nach seinem Ärmel und zog ihn vorwärts. Jonny konnte gerade die Umrisse von Futukoros und Armbrüsten, die auf ihn zielten, außerhalb des Lichtkreises erkennen. Er wollte etwas sagen, aber die Luft im Raum, die ihm einen Moment zuvor noch so angenehm vorgekommen war, roch plötzlich übel. Der Raum taumelte vor und zurück und wabbelte, als der Schwindelanfall wiederkehrte. Dann lag Jonny mit dem Gesicht auf dem Boden. »Das war's also wieder«, sagte er sich. Vor Jonnys Nase bewegte sich etwas. Eine Burnett-Armbrustpistole senkte sich und eine Frau − klein, aber muskulös, mit einem glatten, wie aus schwarzem Marmor gehauenem Gesicht − trat einen Schritt auf ihn zu. Der Name dieser Frau war Ice. Sie kniete vor Jonny nieder und betrachtete ihn blinzelnd. Binnen eines Augenblicks verwandelte sich ihr zorniger Gesichtsausdruck in einen des erfreuten Wiederer kennens. Sie streckte die Hand aus und berührte sein schmutziges Gesicht.
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»Jonny? O mein Gott«, sagte sie ruhig. »Wir hörten, sie hätten dich erschossen.« Er lächelte daraufhin, teils vor Freude, teils vor Überraschung. Er küßte ihre kühle Hand. »Kein Grund zur Sorge«, erwiderte er. »Der Schmerz ließ bald nach, als ich gestorben war.« Die nächsten paar Stunden existierten nur in Bruchstücken und Körpergefühlen. Später erinnerte sich Jonny daran, daß er auf dem Boden gelegen und sich, irgendwie weit entfernt, gefragt hatte, ob er krank würde. Er erinnerte sich an Hände auf seinem Körper. Objekte hatten eine zerbrechliche, kristalline Eigenschaft angenommen. Durch schimmernde Röhren floß etwas in seinen Körper. Ice geriet gelegent lich in seinen Aufmerksamkeitsbereich und versuchte mit ihm zu spre chen. Aber Jonny trieb irgendwo dahin, wo es keinen Schmerz gab und man nicht davonlaufen mußte. Dann war da nur noch die Dunkelheit. Jonny erwachte auf einem Futon, nackt, die Arme in sauberen Ver bänden. Er bewegte die Hände, aber erst, nachdem er seinen Willen be trächtlich angestrengt hatte. Sie glitten unter den kühlen Laken her vor, als würden sie von irgendwo weit entfernt gesteuert. Er fühlte sich benommen und dumpf, aber irgendwie friedvoll. Er befand sich in einem kleinen Raum voll milchig aussehender zerdrückter Schachteln und Schaumstoffverpackungsteilen. Es sah überhaupt nicht wie ein Teil einer Klinik aus. »Es ist keine. Ich hab das Zimmer nur geliehen bekommen«, sagte Ice und legte einen dunklen Arm um Jonnys Brust, um ihn näher an sich zu ziehen. Jonny erinnerte sich an Ices unglaubliches Geschick, seine unausgesprochenen Gedanken zu verbalisieren. »Ice«, sagte er und wandte ihr sein Gesicht zu. »Für einen Ex-Cop hast du ungeschickt große Füße, du hast jeden Alarm hier ausgelöst.« Ice, Jonny und Sumi: Die drei hatten in der sich allmählich auflö senden Stadt einmal eine solide Einheit gebildet. Dann war Ice plötz lich verschwunden und hatte nur einen kurzen, nichtssagenden Zettel hinterlassen. Jonny erinnerte sich an die schrecklichen ersten Tage nach ihrem Verschwinden. Sumi und er waren wie auf Rasierklingen herumgelaufen. Jeder hielt sich ständig vor Augen, daß keinem von beiden die Schuld an Ice' Verschwinden zuzuschreiben war, aber insge heim hielt jeder sich selbst für den wirklich Schuldigen. Es dauerte Tage, bis Jonny in der Lage war, Sumi wenigstens kurzfristig zu verlassen. Die Angst des Alleinseins überwältigte ihn. Sumi ging es nicht anders. Sie verfolgten einander von Zimmer zu Zimmer wie ab
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surde Marionetten, mit einem nur ungefähren Bewußtsein von dem, was sie taten. Als Jonny Ice jetzt neben sich sah und bei ihr lag, ließ er seine Hände über die Konturen ihres Körpers gleiten. Sie hatte sich unauffäl lig verändert. Ihre Hüften und Beine waren auf eine angenehme Art stark geworden. Ihre Arme waren dicker und stärker, was ihr sicher ge fiel. Ihr Grinsen hatte noch immer jene Offenheit, die einen Wider spruch zu ihrem normalerweise gleichgültigen Gesichtsausdruck bilde te. Seine Finger strichen über die alte Operationswunde, wo sie eine Schwarzmarktleber erhalten hatte. »Ich habe dich nicht erkannt, als du heute nacht in den Lagerraum eingedrungen bist. Und als ich dann deine Stimme hörte, konnte ich nicht glauben, daß du es warst«, sagte sie. Jonnys Kehle war trocken, als er zu sprechen versuchte. »Ich wußte nicht, daß du hier sein würdest. Daß du bei den Croakern bist.« Ice nickte. »Ich bin jetzt seit ein paar Monaten hier.« Sie zuckte die Achseln. »Manchmal frage ich mich selbst, warum ich da bin. Groucho hat mich rekrutiert. Kennst du ihn? Er ist großartig. Er plant die Un ternehmen und hält die Gruppe zusammen. Ich werde dich ihm morgen vorstellen. Er hilft, die Gespenster fernzuhalten.« Die Gespenster hatten Ice begleitet, solange Jonny sie kannte. Sie waren ein Symbol, mit dem sie spielte, aber er wußte, daß für sie die Gespenster der Erinnerung Realität besaßen. Ice hatte als Prostituierte in der Zone Deluxe gearbeitet, als Sumi sie mit ihm bekanntgemacht hatte. Davor hatte Ice ihren Körper an die Boys von Tanger verkauft und ihnen erlaubt, ihn mit verschiedenen Vi ren zu infizieren. Die Gang verwendete dann ihr infiziertes Blut, um verschiedene Immunotoxine daraus zu gewinnen. Die verkauften sie dann auf der Straße oder an die Schmugglerlords. Als sie mit einem mutierten Stamm von Hepatitiserregern infiziert war, setzte Ices Leber aus. Die Boys von Tanger gaben ihr eine neue, aber als sie dafür das Geld verlangten, mußte Ice zugeben, daß sie plei te war. Die Boys verkauften sie an die Besitzer der Zone Deluxe, ein Paar von Albinozwillingen, die sich die Tundra Brothers nannten. Jonny erinnerte sich an einen Schmuggler, der ihm einen Gefallen schuldete und auf den Diebstahl von Firmendaten spezialisiert war. Er kaufte den Trundra Brothers Ice gegen Zugangscodes zur Börse von Tokio ab. Es war ein rundherum hübscher Deal. Jonny wußte, daß die Tundrabrüder nicht besonders schlau waren. Durch Verwendung dieser Codes wurden die Brüder binnen einer Woche reich. Sie verfielen in eine Art Verrücktheit, verhielten sich wie ein Bandgerät, in dem das
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Band hängen geblieben ist, brachten immer wieder denselben Trick und manipulierten die Aktienkurse. Am Ende der zweiten Woche er reichten die Bankkonten der Brüder die Höhe derjenigen der großen Firmenvermögen der ältesten Familien von Tokio. Es brauchte eine weitere Woche, bis die Yakuza sie fanden. Danach gehörten die Tundrabrüder und Zone Deluxe zu jenem besonderen Zweig urbaner Mythologie, der alles vom bloß Verrückten bis zum wirklich Psycho tischen umfaßt. Aber da war Ice schon aus der ganzen Sache heraus. »Warum bist du damals gegangen?« fragte Jonny. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Ice schnell, als hätte sie die Frage erwartet. Sie schloß die Augen. »Wirklich nicht.« »Zu viele Gespenster«, sagte Jonny. Ice streckte sich auf dem Futon aus und legte ihren Kopf auf Jonnys Brust. Sie öffnete die Augen, sah ihn aber nicht an. »Es geht mir hier besser«, sagte sie. »Ich weiß, wer ich bin. Es gibt eine Realitätsstruk tur.« Sie zog an ihrem kurzen, krausen Haar. »Die Dinge bleiben meis tens im Fokus.« »Verstehe«, sagte Jonny. Er sah sich in dem Zimmer um und kaute nervös an der Innenseite seiner Wange. In dem Verpackungsmaterial lagen, bunt durchein andergeworfen, Kleidungsstücke und Bücher. Ice und Jonny waren in ihrer menage-a-trois die beiden Schlamper gewesen. Sumi war jene, die für die Sauberkeit des Hauses gesorgt hatte. Er war froh, zu sehen, daß sich wenigstens in dieser Hinsicht nichts geändert hatte. »Wir alle können ein bißchen Struktur gebrauchen.« Er sah wieder Ice an, die sich schläfrig die Augen rieb. Bei solchen Gelegenheiten fiel Jonny wieder auf, wie klein sie war, wieviel Stärke sie brauchte, um die Leere um sie herum jeden Tag zurückzudrängen. »Wenn du willst, gehe ich. Ich kann im Asyl schlafen«, sagte er. »Nein«, sagte Ice mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Bleib bitte. Wie geht es Sumi?« »Weiß ich nicht. Das ist ein Teil der Sache, warum ich hier bin. Ich muß Los Angeles verlassen. Zamora ist hinter mir her. Wir müssen Sumi holen, bevor er das Haus in Silber Lake findet.« »Das werden wir tun«, sagte Ice, »aber nicht jetzt. Morgen, wenn Groucho zurück ist.« Jonny nickte träge und legte seinen Kopf auf das Kissen. Ice lehnte sich herüber und küßte ihn. Sie öffnete ihre Lippen und lud seine Zunge ein, die Wärme ihres Mundes zu erforschen. Seine Hände fuhren über ihren Körper, fanden unter ihr Hemd und glitten hinauf, um ihre kleinen Brüste zu umfassen. Sie bewegten sich zusammen, bis Jonny,
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plötzlich erschöpft, fühlte, wie sein Kopf sich wieder zu drehen begann. Aber sie gaben ihre Umarmung nicht auf, als könnte einer von ihnen je den Moment weggespült werden. »Du hättest nicht einfach so davonlaufen sollen«, sagte Jonny. � »Ich weiß«, wisperte sie. »Schlaf jetzt.« � Er drehte sich müde zu ihr hin. »Wir müssen Sumi holen.« � »Das tun wir schon, mach dir keine Sorgen.« � Jonny drehte sich zur Seite. Er spürte, wie ihr Arm ihn umschlang. � »Zu viele Gespenster«, sagte er. � Er fühlte, wie sie nickte. � »Zu viele verdammte Gespenster.« �
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IV Vorahnung des Bürgerkriegs Während der letzten paar Stunden der Nacht verwickelte sich Jonny in eine Reihe von gewalttätigen, fieberhaften Träumen, in denen er von Dingen, die er nicht erkennen konnte, verfolgt wurde. Jeder Traum endete gleich: er stolperte, oder seine Beine fühlten sich wie endgültig eingerostete Maschinenglieder an, so daß er hilflos liegenblieb. Dann faßte etwas nach ihm, und er wurde von einem phosphorfarbenen Blitz durchzuckt, daß er die Augen aufriß. Dann lag er in einem dunklen Raum, starrte an die Decke und fühlte vage Schmerzen in den Augen höhlen. Nach ein paar Minuten glitt er in den Schlaf zurück. Eine Zeit lang trieb er friedvoll in einer unendlich weiten, leeren See dahin, dann begannen die Träume von neuem. Da gab es eine Frau, ganz in Weiß, die den Hollywood Boulevard hin unterrannte, die Haare und Kleider in Flammen. Lange Reihen von Chrom-Käfern bewegten sich über feuchtes Ziegelwerk. Ein Mann im Sitz einer Rikscha. Verspiegelte Sonnenbrille, billiger Plastikponcho. Aus der Rikscha deutete er mit einer Waffe auf Jonny. Es war alles deli riös langsam. Es gab kein Geräusch, nur das Mündungsfeuer und die Hitze des Treffers. »Jonny, wach auf, verdammt noch mal!« schrie Ice. »Du wirst dir noch die Nähte aufreißen!« Jonny erwachte durch den Klang ihrer Stimme. Ihr Gesicht war di rekt über ihm, dünne Spannungslinien strahlten von ihren Augenwin keln aus. »Jesus, war das schlimm«, sagte er mit schlafheiserer Stimme, »wie lange war ich weggetreten?« »Fast zwanzig Stunden«, sagte Ice. Sie setzte sich neben ihn auf den Futon. Sie trug sackförmige Arbeitshosen und ein Panzer Jäckchen mit dem verblichenen Bild eines japanischen Popsängers. »Ich begann all mählich, mir Sorgen zu machen. Die ganze Zeit hast du dich kaum ein mal bewegt, und plötzlich fängst du an, zu stöhnen und dich herumzu werfen, als müßtest du einen Meatboy im Kampf erwürgen.« »Sah es aus, als schaffte ich es?« Ice lächelte. »Du gingst im Massaker unter.« »Typisch.« Sie waren in einem sehr kleinen Zimmer. Als Jonny das sah, fiel ihm die vergangene Nacht wieder ein. Er dachte an die Piranhas, seinen Marsch durch die Kanalisation, Zamoras Drohungen. Seine Arme waren noch immer bandagiert, und seine rechte Schulter juckte schmerzhaft in einem Induktionskasten aus durchsichtigem Plastik,
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der mit seinem elektrischen Feld zu seiner Heilung beitragen sollte. Als er sich umblickte, sah Jonny nackte Wände, grauen Kalkstein, stellen weise überklebt mit vergilbten Plakaten alter U-Bahn-Schemata und Anti-Araber-Propaganda. An zwei Wänden stapelten sich sechseckige radioluminiszente Behälter für medizinische Mittel und elektronische Geräte. »Keine Fenster«, sagte Jonny. »Wir sind immer noch unter der Erd oberfläche.« »Gebt diesem Mann eine Zigarre«, erwiderte Ice. Sie nahm ein Sty rofoam-Tablett von einem Verschlag voller Drogenampullen. Der Ge ruch von Frijoles und Reis sprang Jonny in die Nase. »Frühstück, mein Lieber, Quieres?« Er stöhnte und zog sich die Decke über das Gesicht. »Tu es weg! Ich werde nie wieder etwas essen.« »Komm schon, du mußt wieder groß und stark werden.« »Vergiß es. Du mußt mich mittels Tropf füttern. Ich glaube, irgend etwas hat in meinem Mund geschlafen.« Ice stellte das Tablett ab, Jonny faßte zu, ergriff ihren Arm und zog sie über sich. Sie achtete auf seine Bandagen, griff unter seinen Schultern durch und preßte ihr Becken an seines. Der Geruch ihres Körpers ließ seine Gedanken wandern; sie waren zu Hause, auf ihrem eigenen Bett in Hollywood. Er konnte Sumis Gegenwart in der Nähe spüren. Eine Sekunde später war die Halluzination vorüber. Während er Ice küßte, verspürte Jonny ein dringendes Verlangen, sie in die Zunge zu beißen. »Du weißt, daß ich immer noch wütend auf dich bin«, sagte er. »Ich weiß.« »Und ich nehme dir diese Ich-weiß-nicht-warum-ich-gegangen-binScheiße nicht ab.« »Aber ich weiß es wirklich nicht. In meinem Kopf ist das alles ein Durcheinander.« Ice setzte sich auf und strich sich ein paar durch Perlen gezogene Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich wußte nur, daß ich gehen mußte. Weggehen.« »Weggehen wovon?« »Von allem. Von meinem Leben. Und das bedeutete, von dir und Su mi.« »Das klingt toll.« »Zum Teil war es das Leben in dieser Stadt. Hier ist nichts real. Das machte mich fertig. Dich übrigens auch.« Jonny legte eine Hand an Ices Wange und drehte ihren Kopf, so daß sie ihn ansehen mußte. »Was meinst du damit?«
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»Wir starben beinahe«, sagte sie leise, fast flüsternd. »Ich sah, wie du jede Nacht aus dem Fenster starrtest, als müßtest du ein Rätsel lösen, indem du es in deinem Kopf zusammensetztest. Sumi machte mit ih ren Computern herum. Wir waren zwar physisch beisammen, hätten aber ebensogut auf verschiedenen Kontinenten sein können.« Jonny zuckte die Achseln. »Sehen wir der Sache ins Gesicht, in un serem Job müssen wir schon ein bißchen unabhängig sein, um nicht verrückt zu werden. Manchmal schwappt das über. Aber das kriegen wir immer wieder hin.« »Aber es geht um mehr als das«, sagte Ice. »Hast du jemals den Be griff ›das Spektakel‹ gehört?« »Nein.« »Es ist eine politische Theorie. Groucho spricht darüber. Er ist hier so etwas wie unser Führer. Er sagt, das Spektakel sei die Art, in der die Regierung Kontrolle ausübt. Es produziert unverständliche und kom plexe Systeme wie beispielsweise die Einschränkungen des medi zinischen Services; es verwandelt die Araber und die Alpha-Ratten in gut verwendbare Feindbilder. Auf diese Art hält es uns isoliert und läßt den Eindruck in uns entstehen, wir hätten selbst keinerlei Kontrolle über unser Leben.« »Und du denkst, wir drei seien vom Spektakel allmählich geschafft worden?« »Genau«, sagte Ice. »Verstehst du auch, was ich meine?« Als Jonny sich aufsetzte, rollte Ice von ihm herunter und legte sich neben ihn. »Ich verstehe, daß es sehr einfach ist, sich über all das ab strakt herumzustreiten. Über Politik zu sprechen, ist ein gutes Mittel, um Themen zu vermeiden, die wirklich weh tun.« Ice betrachtete ihre Hände, während die Spannungsfältchen um ihre Augen tiefer wurden. »Ich war krank«, sagte sie. »Ich liebte dich nicht. Ich liebte Sumi nicht. Ich war hohl und tot, und es gab nichts in mir als Staub und gebleichte Knochen. Ich glaube nicht, daß du mich zu verstehen versuchst.« »Das ist nicht wahr.« Jonny faßte unter ihr Hemd und streichelte ih ren Rücken. »Wir sind wieder zusammen; darauf kommt es an. Wir werden Sumi holen und auch alles andere erledigen.« »Mir tut leid, was geschehen ist.« »Mir auch. Ich wünschte, ich hätte gesehen, daß du damals Hilfe brauchtest.« Ice lächelte zurückhaltend und ließ ihre Hand auf seinem Magen liegen. Jonny wurde unter ihren Fingern der beständige Rhythmus sei nes eigenen Atems bewußt. Er suchte nach ein paar Sätzen, die die
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Spannung lösen würden, aber er fand sie nicht. »Wir haben deine blöden Samba-Bänder aufbewahrt«, brachte er schließlich heraus. Dar über mußte sie lachen. Jonny platzte ebenfalls heraus, und sie lagen auf dem Futon und kicherten wie Idioten, bis sie ihn an sich zog. Er beugte sich über ihre Brüste, zog ihr das Hemd über den Kopf und fand mit der Zunge ihre pennyfarbenen Brustwarzen. Ice krümmte ihren Rücken, zog ihre Hosen aus, warf sie beiseite und legte dann ihre Hände um seine Hoden. Sie drehte Jonny auf den Rücken und rieb ih ren Körper gegen den Schaft seines erigierten Penis. Als sie sich auf ihn setzte, erstarrte er einen Moment, von einem dejà-vu getroffen, so daß er sich ihrer realen Anwesenheit und ihres Fleisches, das ihn umfing, vergewissern mußte. Sie stöhnte ein wenig, als er in sie eindrang. Auf ihrem Gesicht verschwand die Spannung zum erstenmal, seit er erwacht war. Sie bewegten sich erst langsam, jeden Stoß sorgfältig durchführend und die Bewegung im Augenblick größter Anspannung beendend, dann fingen sie wieder von vorn an. Er kam schnell, unerwartet, und sie einen Augenblick später. Sie lagen da, umklammerten einander, unwillig und unfähig, etwas anderes zu tun. Jonny fuhr die Umrißlinie ihrer Schulterblätter mit dem Finger nach. Sie hatte die Augen geschlossen, er spürte ihren fe derleichten Atem kühl auf seiner Brust. Später fragte er: »Und was tun wir jetzt, um Sumi zu holen?« Ice setzte sich auf und wischte Schweiß aus den Augen. »Wir spre chen mit Groucho und schauen, ob er eine Idee hat.« »Du sagtest, er sei euer Führer? Ich dachte, Anarchisten hätten keine Führer.« »Jede Gruppe hat Führer«, sagte Ice beiläufig. »Was die Croaker vermeiden, sind Leute, die Regeln aufstellen.« »Jesus, du gehörst wirklich zu ihnen, stimmt's?« »Ich gehöre zu ihnen«, sagte sie ein wenig ärgerlich. »Was würde deine arme alte Mama darüber denken?« »Meine Mama war eine Hollywoodhure, und deine ebenfalls.« Ice sprang vom Bett auf die Füße und klatschte in die Hände. »Komm jetzt, du mußt dich ein bißchen bewegen, sonst wirst du ganz steif.« Als Jonny aufstand, sah er sein Spiegelbild im Aluminiumgehäuse eines tragbaren CT-Scanners. »Ich sehe aus wie eine gottverdammte Mumie«, sagte er. »Du siehst gut aus. Schauen wir mal, wie du laufen kannst.« Die Kombination von langem Schlaf und Drogen hatte Jonny einen Teil seines Gleichgewichtsvermögens gekostet, mußte er feststellen, als
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er stand. Den Arm um Ices Schultern gelegt, ging er ein paarmal im Zimmer auf und ab, wobei sich bei jedem Rundgang seine Beine ein wenig mehr erholten. Aber er bemerkte, daß er immer noch nicht ganz klar denken konnte. Es gab etwas, das er tun mußte. Zwanzig Stunden Schlaf war eine lange Zeit. Wie lange war er in der Kanalisation unter wegs gewesen? »Wie spät ist es?« fragte er. »Vier Uhr nachmittags«, sagte Ice nach einem Blick auf ihre Uhr. »Welcher Tag?« »Mittwoch?« Jonny konzentrierte sich und versuchte, den Nebel aus seinem Ge hirn zu verdrängen. Er zählte rückwärts; die Zahlen stolperten vorüber. Schließlich fand er die Antwort mit zumindest annähernder Genauig keit. »Sechs Stunden«, sagte er. »Was für sechs Stunden?« »In sechs Stunden eröffnet Colonel Zamora die Jagdsaison auf mich.« Ice gab ihm einen grünen Nylonoverall mit dem Pe-Mex-Logo auf dem Rücken. Unter der Brusttasche befand sich ein kleines Loch, das von einem suggestiven rostfarbenen Fleck umgeben war. »Willkommen im Club«, sagte Ice. Ice führte ihn drei Etagen absoluter Dunkelheit hinunter, durch feuchte Röhren, in denen man kriechen mußte, über stehende Rolltreppen und zu einem Lift, wo sie auf einem Stück Drahtgitter standen, das kaum einen halben Quadratmeter groß war und wo sie langsam von einem alten elektrischen Speisenaufzug nach oben ge tragen wurden. Am Ende des Liftschachtes war Jonny von Sternen um geben. Ein dreihundertsechzig-Grad-Panorama des offenen Himmels umgab ihn und beleuchtete die gefliesten Wände mit Sonnenflecken und Sternenfeuer. »Sehe ich richtig?« sagte er, »oder habe ich einen Hirnschaden oder sowas?« »Mach dir keine Sorgen«, sagte Ice. »Ein Verrückter hat einen ZeissProjektor vom Planetarium hergeschleppt und hier installiert. Wir haben ihn mit einer Satellitenantenne draußen verbunden. Holt die Si gnale einer alten NASA-Sonde herunter. Weißt du, Jonny…« Ice nahm seine Hand und führte ihn an den Rand eines U-Bahnsteigs, dann hin unter auf die Schienen, »… hier unten läuft es manchmal ein bißchen merkwürdig. Ich meine, wir sind alle dezidierte Anarchisten, aber wir sind auch Künstler. Manche von uns mehr als die anderen.« »Bist du auch Künstlerin?«
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Ice zuckte die Achseln. Jonny konnte ihr Gesicht nur erkennen, wenn gerade ein Stern darauf projiziert war, sonst verschwammen ihre dunklen Züge mit der Schwärze des Raums. »Ich bin keine Malerin oder Bildhauerin, wenn es das ist, was du meinst. Kunst bedeutet hier mehr als das. Es ist eine Art, die Welt zu betrachten, ein Geisteszu stand. Ich möchte nicht, daß du vorschnell ein Urteil über diese Leute hier fällst.« »Hast du Angst, ich könnte etwas gegen eure Revolution haben?« »Du arbeitest sehr hart an deinem Zynismus, das weiß ich. Aber was wir hier tun, hat seine Bedeutung. Wir sind nicht nur hinter einer Revo lution her. Wir betreiben hier politische Alchemie.« »Was bedeutet das?« »Wir wollen die Welt verändern.« Jonny kratzte seine verwundete Schulter. »Klingt großartig«, sagte er, »hoffentlich habe ich die richtigen Schuhe, um mit euch zu gehen.« Als sie aus dem Sternenfeld heraustraten, verschluckte sie die Dun kelheit. Ice zog Jonny auf die andere Seite der Schienen und sagte: »Steig nicht auf irgendeinen der Drähte. Manche von ihnen sind Attrappen. Kabel, die einen Alarm auslösen.« Jonny war von der Si cherheit, mit der sich Ice in der Dunkelheit des Tunnels bewegte, be eindruckt. Was auch immer sie mit den Croakern während der letzten Monate getan hatte, es hatte sie ins Leben zurückgeholt. Jonny dachte zurück an die letzten Monate, da er und Ice und Sumi zusammengelebt hatten. Es war genau so gewesen, wie Ice es beschrieben hatte. Stasis. Der langsame, lange Niedergang von Gefühlen zu Gewohnheiten. Jetzt könnte alles anders sein, dachte er. Er griff in der Dunkelheit nach ihrer Schulter und fühlte, wie sich ihre Hand um die seine legte. Weiter vorn fiel Licht auf die Schienen. »Das ist es«, sagte Ice mit flacher Stimme, aber Jonny bemerkte, daß sie bemüht war, ihre Erregung zu verbergen. »Es wird dir gefallen. Wir sind am Rande der Klinik.« Stimmen drangen hinter der Kurve des Tunnels hervor und vermischten sich zu einer einzigen Stimme, die in einer Sprache, die Jonny nicht verstehen konnte, flüsterte. Als sie dem Licht näherkamen, wurde der Klang deutlicher. Zu ihm gesellte sich der durchdringende Geruch von Desinfektionsmitteln. Jonny ging hinter Ice einige Stufen hinauf zu einer weiteren U-Bahn-Plattform. Einige Croaker, ihrem Aus sehen nach zu schließen Techniker, saßen auf einigen Stapeln von Alu miniumverpackungen, rauchten und plauderten. Zwei Frauen winkten Ice von ihrer Hühnersteige aus zu.
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»Kennst du diesen Ort? Es ist die alte Metro-Linie zum Finanzdis trikt«, sagte Ice. »Ich hab Fotos davon gesehen. Aber ich dachte, das Komitee hätte während der Protein-Rebellion alle diese Tunnel mit Dynamit gesprengt?« »Sie haben die Ausgänge und eine Menge Servicetunnels gesprengt, aber die Besetzer leben nun schon seit sechs Jahren hier unten.« Jonny folgte Ice durch ein Labyrinth von Kojen voll ruinierter Ver kaufsmaschinen und Rhomben aus graffitibeschmiertem Fiberglas. Croaker-Techniker beugten sich über Bündel von optischen Fasern und Schaltbrettern in einem Gewirr zerlegter Diagnosegeräte (Haag Streit-Elektronenmikroskope, Magnetische Resonanzwandler, einen Videomikrographen), nickten einander zu und riefen polyglotte Anwei sungen. Ice führte ihn auch durch eine Werkstätte, wo rostige M-16 und Ak-47 aufpoliert und mit computerunterstützten Sichtgeräten ausge stattet wurden. Es gab einen Operationsraum, in dem kaltes Licht auf feinen Instrumenten blitzte. Schweigende Kinder standen auf den Sei ten eines Operationstisches und studierten den offenen Unterleib eines Mannes durch eine riesige Fresnel-Linse. Eine beinlose Chirurgin, die in einer Mischung aus Harnisch und Spinnengewebe von der Decke hing, beschrieb in maschinengewehrschnellem Spanisch die Abbindung einer Arterie. Ältere Kinder übersetzten für die jüngeren ins Englische und Japanische. »Wir sind auch eine Uni-Klinik«, sagte Ice. Sie nickte zu den Kindern hin. »Wenn unsere Pläne nicht verwirklicht werden können, wird das die nächste Croaker-Generation sein.« Jonny lehnte sich gegen eine Wand, die mit stilisierten biomorphen Landschaftsdarstellungen von L.A. in wäßrigen Braun− und Grautönen bedeckt war. »Das ist wirklich − beeindruckend«, sagte er. Jemand hatte das Capital Records-Gebäude so gemalt, daß es aussah wie das ausgebleichte Skelett eines prähistorischen Wals. Daneben das HOL LYWOOD-Zeichen, aus Treibholz und Quallen. Er schüttelte benom men den Kopf. »Im Moment ist es eher ruhig«, sagte Ice. »Es geht das Gerücht um, daß sich das Komitee auf einen großen Schlag vorbereitet. Wir haben beinahe doppelt so viele Patienten wie sonst.« »Wie bringt ihr sie hier herunter?« »Auf demselben Weg, auf dem du gekommen bist: durch die Kanali sation. Die meisten Leute schaffen es allerdings auf weniger spektaku läre Weise.« »Hoffentlich.« Jonny rieb seine wunde Schulter und fragte sich, ob er ein paar Endomorphine bekommen könnte. »Sag mal, habt ihr viele Le
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pra-Fälle hier unten? Ich kann Dapsone und Rifampin so leicht be schaffen wie Zuckerwatte im Zirkus.« Ice bedeutete Jonny mit dem Finger, ihr zu folgen, und führte ihn durch einen Bogen aus Gußbeton, der mit Vakuumröhren und Kinder spielzeug aus Plastik übersät war. Am Ende eines kurzen Korridors be traten sie ein Labor. Ice tippte eine Zahlenfolge in einen chinesischen Zijin-Pc, der mit einer Monitorenbank verbunden war. Drei Schirme leuchteten in vielfarbenem Schneegestöber auf, das einigermaßen zu rückging, als Ice dem Monitorengehäuse seitlich einen Schlag verpaßte. Auf einem Schirm nahm ein Paar Croaker in Raumanzügen einer Frau Blut aus dem Arm ab. Indem er den Joystick des PC bewegte, zoomte Jonny auf das Gesicht der Frau. Es zeigte Wunden, randlose und ver färbte leporöse Läsionen. Ein anderer Bildschirm zeigte denselben Raum aus einem anderen Winkel. Es war noch ein Dutzend anderer Menschen darin, die auf Feldbetten lagen und rauchten. Alle hatten ähnliche Flecken wie die Frau. Jonny stieß seinen Atem aus. »Wie sieht es mit Quarantäne aus?« Ice tippte einen anderen Code in den Zijin ein, woraufhin mehr Monito ren aufleuchteten. »Das war die gute Idee dabei. Die meisten Le prakranken, die wir zu Gesicht bekommen, sind mit einer merk würdigen neuen Variante dieser Krankheit behaftet. Sie scheint durch ein Virus ausgelöst zu sein.« Jonny blinzelte, während er die Monitoren betrachtete. Auf einem Schirm sah er einen Croaker, der von einem Feldbett zum nächsten ging und mit einem Skalpell Gewebeproben von den Armen der Kran ken kratzte, während ein zweiter Croaker die Muster sammelte und in eine Plastikschachtel mit einem orangefarbenen Kleeblattzeichen zur Warnung vor biologischen Gefahren steckte. »Viröse Lepra? Nie gehört davon«, sagte Jonny. »Wir auch nicht«, erwiderte Ice. Sie zeigte auf einen Monitor, auf dem gelbe alphanumerische Zahlen scrollten. »Wir haben alle unsere Prüfungsergebnisse mit der Merck-Software verglichen und nichts her ausgebracht. Die Symptome entsprechen allen bekannten Anzeichen von Lepra − Hautschäden, epidermale Tumore, Läsionen peripherer Nerven, Verlust von Gefühlen in den Gliedern − aber der kleine Ba stard, der das verursacht, ist eine Art durch Mutanten-Voodoo ent standenes Flickwerk. Er tötet auch Menschen.« »Wie?« »Sekundäre Infektion. In späteren Stadien bekommen die Patienten hohes Fieber und Hirnschäden. Die Pathologie entspricht der von Meningitis. Hier, sieh mal!« Ice zeigte auf einen Schirm oben rechts.
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Jonny schaute hin. Der Monitor zeigte eine Zeitraffer-Mikrographie des Lepra-Virus, umgeben von Zahlen und graphischen Darstellungen. Während er zusah, brachte das Virus sein genetisches Material in einen Zellkern ein. Binnen Sekunden klonte sich das Virus und füllte die Zelle mit geisterhaften Larven, bis die Wände barsten und die Parasiten in den Blutstrom geschwemmt wurden. Die Struktur des Virus, der viele ckige Kopf, die zylindrische Hülle und die Fasern, die ihn an der Zell wand festhielten, erinnerten Jonny an Bilder, die er von Mondsonden aus dem zwanzigsten Jahrhundert gesehen hatte. Aber die Pro portionen dieser Sonde hier waren alle falsch. »Jesus, hat das Ding einen großen Kopf«, sagte er. »Aber es ist ein Bakteriophage. Warum attackiert es Blutzellen statt Bakterien?« »Das fragt sich jeder«, sagte eine fremde Stimme. Jonny drehte sich um und sah einen Jungen, der einen Vakuumschutzanzug trug. In der einen Hand hielt er den Helm des Anzugs, in der anderen einen kleinen Koffer mit dem Biogefahr-Zeichen. »Ice, ärgerst du schon wieder Gäs te?« Das Gesicht des Jungen war leuchtend weiß, sein Kopf haarlos und glatt. Jonny erkannte das Äußere: das war ein Zombie-Analytiker. Als der Zombie seinen Anzug abstreifte und in einem grauen me tallenen Packkoffer verstaute, ging Ice zu ihm hin und küßte ihn sanft auf die Lippen. Sie sah sich um und sagte: »Jonny, das ist Skid the Kid.« Der Kid streckte eine dünne, weiße Hand aus und Jonny schüttelte sie. Jonny bemerkte jetzt aus der Nähe, daß der Junge nicht älter als sechzehn und dünn bis zur Anorexie war. Er trug ein enges durch sichtiges Hemd und eine schwarze Hose. Der archetypische Zombie, dachte sich Jonny. Allerdings sah er dunkle Flecken auf dem Skalp und den Händen des Jungen, wo die subkutanen Pixel ausgebrannt oder sonstwie zerstört worden waren. Offensichtlich war seine Ausstattung seit Monaten nicht mehr überholt worden. »Übrigens, wir haben uns schon einmal gesehen«, sagte Skid. »Ich war bei der Gruppe, die dich im Treibhaus fand.« »Ja? Dann müssen das auf meinem Hinterkopf deine Sohlenab drücke sein.« Skid lachte. »Würde mich nicht überraschen.« Er ließ das schweiß nasse und zerschlagene Gesicht eines Boxers über seine Züge flackern. »Croakers Gesetz! Friß die Toten! Alles Scheiße!« Eine Sekunde später war sein eigenes Gesicht wieder da. »Ich habe aber auch geholfen, dich zur Klinik zu bringen, das gleicht sich vielleicht aus, stimmt's?« Jonny lächelte. »Klar. Falls ich dich mal verprügeln muß, bring ich dich nachher zur Apotheke. Null Problemo.« Er fühlte sich von dem
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Kid angewidert. Es war eine nahezu biologische Sache. Die meisten Zombie-Analytiker, die Jonny kannte, arbeiteten hart daran, liebens würdig zu wirken, weil sie gut verkaufen wollten. Ohne Zweifel war das ein Überbleibsel aus ihren frühen Tagen im Fleischhandel. Und es änderte sich auch nichts dadurch, daß jeder Zombie ein kleines Vermö gen in die Instandhaltung seiner Elektronik stecken mußte. Selbst wenn er die Zeit und die Kosten bedachte, die sie in die Häutung und das Unterlegen mit Pixelstreifen steckten, fand Jonny es schwierig, viel Sympathie für sie aufzubringen. Aber Skid the Kid lächelte immer noch. »Ice sagte mir, daß du ein Cop warst.« »Nein«, sagte Jonny, »ich war im Gesundheitskomitee. Eine völlig andere Organisation.« »Wo liegt der Unterschied?« »Das Komitee weiß, was es tut. Und die Bullen können einen Luftan griff veranlassen.« Skid the Kid lachte wieder und klatschte vor Vergnügen in die Hände. »Warum arbeitet ein Zombie mit den Croakern zusammen? Hast du zwei Jobs zur selben Zeit oder was?« fragte Jonny. »Hier unten gibt es eine Menge Zombies«, warf Ice ein. »Wir haben Naginata Sisters in der Sicherheitstruppe und die Bosozukos helfen beim Fuhrpark. Die Funky Gurus kümmern sich praktisch allein um das Arsenal. Wir sind eine Bastardgruppe. Jeder ist willkommen.« Jonny nickte höflich. Er spürte eine Falle. »Klingt großartig. Ich glaube, ich werde jetzt gehen.« »Wir versuchen nicht, dich zu rekrutieren«, sagte Ice schnell. Aber sie zog dabei eine Grimasse, die Jonny zeigte, daß sie log. Und vielleicht sehr enttäuscht war. In der Hoffnung, wieder auf neutralen Grund zurück zu gelangen, sagte er: »Erzähl mir mehr über dieses Virus.« Ice seufzte. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir wissen weder, was es ist, noch woher es kommt. Wenn wir die Infektion in einem Früh stadium entdecken, können wir sie mit Interferon oder Interlukin IV verlangsamen. Aber das Virus mutiert binnen weniger Tage, und wir sind wieder dort, wo wir angefangen haben.« Sie öffnete und schloß ihre Hände vor Frustration. »Wir sind nur eine Klinik, verstehst du? Wir sammeln Leute ein und schicken sie wieder nach Hause. Wir sind kein gottverdammtes Forschungszentrum.« Skid lehnte sich an eine Computerkonsole und suchte in seiner Brusttasche herum." Er zog ein zerknülltes Päckchen Beedees heraus,
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brach von einer den Filter ab und zündete sie an. Der nach verbrann tem Strick riechende billige indische Tabak füllte den Raum. »Wir haben Kundschafter draußen, die ein Auge darauf werfen, wie das Mili tär vorgeht. Wir beobachten auch den Verkehr rund um New Hope. Schätze, diese Arschlöcher haben Zugang zu jedem neuen Impfstoff, bevor er auf die Straße kommt.« »Klingt vernünftig«, sagte Jonny. Er betrachtete die Monitoren über Skids Schulter. Sie spulten ein Überwachungsprogramm ab, ein Bild nach dem anderen in einer Serie statisch verregneter Ansichten des un terirdischen Croaker-Lagers. Das Treibhaus mit seiner mittlerweile geflickten Blase. Maschinenräume. Eine junge Mestizin, die eine Gruppe Patienten an die Oberfläche führte. Der Operationssaal. Die Kinder. »Hör mal, tut mir leid, wenn ich ein bißchen patzig war«, sagte Jon ny. »Tatsächlich tut mir alles weh, und ich bin nervös und vielleicht noch immer ein bißchen groggy. Ihr Burschen − und die ganze Umge bung − das ist ein bißchen viel auf einmal, weißt du?« »Du hast ein Talent dafür, Leute anzumotzen«, sagte Ice. Es war nur ein harmloser Tadel, schmollend und nachsichtig. »Aber es wird schon werden.« »Ganz sicher wird es noch was. Ich spüre Starqualitäten«, sagte Skid, zog an seinem Beedee und grinste. »Willst du Groucho sehen?« »Ja, ist er denn schon zurück?« fragte Ice. »Seit ungefähr einer Stunde.« »Bestens«, sagte Ice. Sie legte einen Arm um Jonnys Schultern. »Sieht so aus, als bekämst du eine Audienz beim meistgesuchten Mann Kaliforniens.« »Klingt nach Spaß.« »Du wirst sehen.« Skid the Kid hob die Augenbrauen. »Ja, wie das Rätsel der Sphinx.« Jonny folgte Ice und Skid durch leere unterirdische Ladenfronten. Jedes verlassene Schaufenster zeigte ihm ein anderes, immer bizarre res Tableau. Er erinnerte sich daran, daß Ice gesagt hatte, sie seien hier unten alle Künstler. Er nahm an, daß die seltsamen Fenster damit et was zu tun hatten. Hinter einem zeigten in einem beweglichen Holo gramm, einer Art Mandala oder gedruckter Schaltung, Männer und Frauen alle achtundfünfzig Versionen des tantrischen Lebens nach dem Tode. Ein anderes schien eine Schießbude zu sein. Ein Mannequin in einem Schutzanzug war auf ein bewegliches Glücksrad montiert; von Armen und Hals baumelten tierische und technische Fetische. Jonnys Beine zitterten im Infraschallgeräusch des Verkehrs über ihren Köpfen.
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Er dachte an Geisterzüge, die endlos durch die Metrotunnel fuhren. In ihnen zerfielen die Passagiere zu Staub, während sie sich an die Halte schlaufen klammerten. Sein Spiegelbild in einem Schaufenster irri tierte ihn, und er beeilte sich, die anderen einzuholen. »Nette Architektur habt ihr hier unten«, sagte er, »ich mag diesen Stil. Früher Nervenzusammenbruch, stimmt's?« Sie gingen durch eine leere Lobby hinter einer halbkreisförmigen Glaswand in den Sicherheitskomplex der alten Metrolinie. Ice klopfte an eine mit billigem Eichenfurnier verkleidete Tür und ließ dann Jonny eintreten. Ein starker Geruch von Sandelholzräucherstäbchen schlug ihm entgegen. Der Raum (eigentlich zwei; Jonny konnte sehen, wo man die ursprünglich trennende Felswand durchbrochen hatte, weil ein zer rissener weißer Rand zurückgeblieben war) war groß und fast leer. Er enthielt eine elektronische Wandkarte des U-Bahn-Systems, einen kleinen lackierten Schrein zu Ehren Shakyamunis, ein paar billige Re produktionen surrealistischer Kunstwerke und einen schlanken, dun kelhäutigen Mann mit der geschmeidigen Muskulatur eines Tänzers. Ein Schimmer von grauem Metall zerschnitt die Luft über dem Kopf des Mannes. Als er seine Hand öffnete, flog das Kettenende eines Ku sairagama schlangengleich durch die Luft und um einen einzeln stehenden Pfeiler. Dann glitt der Mann mit fließender, wilder Bewe gung vorwärts, sich drehend, mit dem Fuß stoßend, fintierend, bis er den Sichelteil der Waffe in Augenhöhe in den Pfeiler stieß. Er trat zu rück und atmete einmal tief aus. Dann drehte er sich um und grinste, um Jonny und die anderen zu begrüßen. »Ich sehe, daß unser Gast von den Toten zurückgekehrt ist«, sagte er, während er die Kette von dem zerkratzten Pfeiler abwickelte. Jonny sah, daß weitere Pfeiler ähnliche Spuren zeigten. »Du siehst gut aus in Croaker-Banderas, Jonny. Natürlich ist es besser, du läßt dich bei der Einwanderungsbehörde nicht in solchen Kleidern sehen, sonst schaufeln sie deinen Arsch über die Grenze und drücken dich in eine Tijuana-Zwangsarbeitsmannschaft, bevor du noch ›Grüne Karte‹ sagen kannst.« Er legte den Kusairagama beiseite und durchquerte den Raum mit derselben fließenden Eleganz, die er während des Angriffs schon ge zeigt hatte. Seine Augen waren klein und dunkel, aber schnell, und sa hen alles. Er trug sein Haar im Chollo-Stil zurückgekämmt und hatte Tätowierungen von den Schultern bis zu den Handgelenken, das Zei chen einer besonderen Iban-Kriegerpriester-Klasse. Von seinem linken Ohrläppchen baumelte ein goldener Ohrring in Form eines Äskulap stabes. »Ich heiße Groucho, nebenbei. Tretet näher!«
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Der Anarchist ging zu einem Schaumstoffmatratzenlager in einer Ecke des Raumes und zog ein schwarzes Netzhemd an. Auf einem bil ligen Plastikklapptisch lag ein zerlesenes Exemplar von Rimbauds Wer ken. Daneben stand ein altmodisches Metronom mit dem Foto eines menschlichen Auges, das an das Pendel geheftet war. Jonny fragte sich, ob das eine Art Witz sein sollte. »Gefällt dir unsere Klinik?« fragte Groucho. »Ich bin sicher, die beiden haben dich in Trab gehalten. Das ist gut. Langeweile und Sinn losigkeit sind die Hauptprobleme unserer Zeit. Bist du nicht auch dieser Meinung, Jonny?« Jonny, der noch immer versuchte, den Metronom-Witz zu verstehen, war abgelenkt. »Was? O ja, sicher. Langeweile und Kopfschüsse.« Grou cho brachte einige Klappstühle und setzte sich. Er lächelte auf eine Art, die Jonny unangenehm fand. Der Anarchist verfügte über eine ge wisse entspannte Grazie, eine unaffektierte Art, die fesselnd wirkte. Es war fast unmöglich, die Augen von ihm abzuwenden. »Aber wir haben uns für die Gewalt entschieden, nicht wahr?« sagte Groucho. »Wir haben die Unsicherheit akzeptiert, unser Leben kreist um sie. Als Croaker töten wir nicht, weil wir das wollen. Für mich als Buddhisten ginge es auch wider alle Grundsätze. Aber unser Widerstand gegen das Komitee bringt den Tod mit sich. Deshalb be treiben wir diese Kliniken. Es ist teilweise Revolte, aber, offen gesagt, teilweise auch Buße. Wenn man Leben nimmt, ist man auch verpflich tet, seine Rettung zu versuchen.« Er zuckte die Achseln. »Und wenn wir gerade von Verantwortung reden, nimm bitte meinen Dank für das Wegpusten dieses Schweins Leutnant Cawfly entgegen.« Beim letzten Satz hörte man Haß in Grouchos Stimme. »Hat jemand das allgemein plakatiert oder sowas?« fragte Jonny. Er schüttelte den Kopf. »Ich war damals sehr viel jünger. Ich weiß nicht einmal, ob ich es jetzt noch tun würde. Aber ich kann dir sagen, daß es zu niemandes anderen Befreiung diente als zu meiner eigenen.« »Unabhängiges Denken und dazu freie Aktion sind essentiell für einen guten Anarchisten«, sagte Groucho. Jonny schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nenn mich nicht so! Ich bin kein Anarquista und ich wäre nicht hierhergekommen, wenn ich ge wußt hätte, daß hier Wahlreden gehalten werden!« Jonny sah Ice an, in der Hoffnung, daß sie ihn unterstützen würde, aber sie las über Skids Schulter in dem Rimbaud-Band. Sie wirft mich dem Löwen dar, dachte Jonny. Groucho beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf Jonny. »Kein Affe ist Soldat, alle Affen sind boshaft, also gibt es boshafte
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Kreaturen, die keine Soldaten sind«, sagte er. »Jonny, du bist ein Dea ler − du hilfst mit, ein korruptes System zu untergraben. Du zerrüttest es, und das ist die Basisfunktion eines Revolutionärs.« Das Grinsen des Anarchisten wurde breiter, und er hob die Hände, um zu zeigen, daß er wußte, er war zu weit gegangen. Er stand von sei nem Stuhl auf und ging zu einem alten Schreibtisch, wo er eine Flasche Rotwein aus einem Aktenfach nahm. Jonny stöhnte beim Anblick des Alkohols. Der Gedanke kam ihm, daß er die ganze Flasche für sich allein haben, diese Leute und ihre komische Kunst und ihr Gerede über Kunst und Tod verlassen und im süßen Nebel alkoholischer Benebelt heit verloren gehen wollte. Andererseits verwandelte sich sein Mageninhalt in einen Säurebrei, wenn er an Alk dachte. Während er herauszubekommen versuchte, wel ches von den beiden Gefühlen das stärkere war, seine psychischen Wünsche oder seine körperlichen Bedürfnisse, starrte er die Kunstre produktionen über seinem Kopf an. Groucho sagte, vom Schreibtisch zurückkommend: »Magst du die Surrealisten? Sie sind eine bemerkenswerte Bewegung in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Die ersten Künstler, die die moderne Zeit wirklich verstanden haben. Sie wandten sowohl Psychologie als auch Physik auf ihre Kunst an und versuchten, das Bewußte und das Unbewußte in einer einzigen Geste zu vereinen. Aber mehr als das, sie waren wirkliche Revolutionäre, die alles in Frage stellten, was man wußte oder wissen konnte.« Für Jonny hätten die Ernsts und Dalis Schnappschüsse aus einem nur geringfügig verzerrten Stadtführer durch Los Angeles sein können. Die leere Architektur, von der Groucho sagte, sie sei für de Chirico üb lich gewesen, erinnerte ihn an die zerbröselnden Autobahnübergänge und Parkflächen von Hollywood in den Stunden nach Sonnenun tergang, bevor die Gangs sie für die Nacht übernahmen. Die TanguyReproduktionen ließen ihn an die Wandmalereien in den U-Bahnsta tionen denken. Jemand hatte diesen Stil sehr genau übernommen. Groucho reichte dunkle, flötenförmige Champagnergläser herum, öffnete die Flasche und schenkte allen ein. Der Anarchist hob sein Glas wie zu einem Trinkspruch, trank aber nicht. Statt dessen ging er mit abwesendem Blick zu seinem Stuhl zurück. Jonny fühlte sich erleich tert, als Ice sich neben ihn auf die dünne Schaumstoffmatte setzte. »Entschuldige, wenn ich die Dinge voranzutreiben versuche«, sagte Groucho. »Ich weiß über deine Begegnung mit Zamora Bescheid. Tat sächlich weiß ich vielleicht mehr über die Motive von Vater Ubu als du. Wie bist du ihm entkommen?«
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»Überhaupt nicht. Zamora ließ mich gehen«, erwiderte Jonny und roch an dem herben Wein. Sein Magen gewann die Schlacht gegen das Gehirn. Er stellte das Glas neben seinen Fuß auf den Boden. »Ja, das macht Sinn, wenn man es im Licht meiner Informationen betrachtet«, nickte Groucho, immer noch abwesend wirkend. »Im Licht wovon?« Der Anarchist runzelte die Stirn und drehte das Kristallglas zwi schen seinen Handflächen. »Die Dinge sind in Bewegung, Jonny. Ich weiß noch nichts wirklich Genaues. Es gibt Schichten, die mir immer noch verborgen sind. Wußtest du, daß wir versucht haben, dich zu kon taktieren, es aber nicht tun konnten, weil du die letzten paar Wochen beschattet wurdest?« »Ich hatte keine Ahnung.« »Das dachte ich mir. Dann fängt dich der alte Ubu ein und läßt dich ein paar Stunden später frei. Nimble Virtue hat dich reingebracht, nebenbei erwähnt.« »Ich weiß. Ich sah sie im Verhörzentrum.« Ice kicherte. »Ich hoffe, du schüttelst die miese Nutte auf. Sie arbei tet für Zamora und kriecht dem alten Bastard in den Arsch. Und sie hat Easy Money dazu gebracht, für sie zu arbeiten.« »Der Schleim gesellt sich zum Schleim«, sagte Jonny. »Genau«, meinte Groucho. Über die Schulter des Anarchisten sand te Skid ein Bild von Nimble Virtues verwüstetem Gesicht. Er steckte sich einen Finger in die Nase und schien ganz außer sich über das, was er dort fand. Er zog an seinen Ohren und rollte mit den Augen. Ziem lich unzombiehaft. Jonny mußte wider Willen lachen. »Ich denke, daß Easy Moneys klebrige Finger ihn mit Conover übers Kreuz gebracht haben«, sagte Groucho. »Hast du gehört, daß der Colonel von Sa cramento eine Menge Ärger wegen der Schmuggler-Lords kriegt? Ich glaube, er rüstet zu einem großen Schlag gegen sie. Es heißt auch, daß die Armee versuchen will, den Mond von den Alpha-Ratten zurückzu erobern. Und irgendwo in das Zentrum von alledem paßt du hinein, Jonny. Überall in der Stadt hört man deinen Namen. Jemand hat sogar die Araber erwähnt.« Jonny rieb seine verletzte Schulter und sagte zu Groucho: »Schau, wenn das ein billiger Trick ist, um mich in deine Armee zu bringen, ver giß es. Der Colonel hat mich eingesammelt, um irgendeinen komischen Deal mit Conover zu machen.« Groucho nippte an seinem Wein. Er starrte auf den Boden. »Ich bezweifle das. Wenn überhaupt, dann versucht Zamora irgendwie eine günstige Position im Spiel zu erlangen. Das ist der Grund, warum sein
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Schlag gegen die Lords so wichtig ist. Das würde nicht nur die Politiker zufriedenstellen, sondern auch die Lords zwingen, mit ihm direkt zu verhandeln − wenn es funktioniert. Und das ist es, worauf wir warten − wenn Zamora seinen ersten Zug macht, tun wir den unseren. Eine uni versale Attacke gegen das Komitee.« Jonny nickte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er begriff, daß der Anarchist völlig offen die Wahrheit sprach. Jonny lächelte und schauderte zur selben Zeit. Er dachte an Krieg. »Warum genau bist du denn hierhergekommen?« fragte Groucho. »Ich muß aus der Stadt hinaus«, sagte Jonny. »Du hast gerade ge sagt, daß ich beobachtet werde. Das heißt, ich kann keinen meiner übli chen Kontakte verwenden. Ich hörte, die Croaker hätten ein paar Schmugglerrouten, auf denen ich in die Wüste hinausgelangen könnte.« Groucho hob lächelnd die Hände. »Ich würde dir gerne helfen, Jon ny. Du bist auf der Mittelbühne von Ubus Karneval. Was immer wir tun können, um ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen, ist für mich okay.« »Da ist eine Sache«, sagte Jonny, »ich muß Sumi holen, die Frau, mit der ich zusammenlebe. Ich werde die Stadt nicht ohne sie verlassen.« »Das könnte schwierig werden«, sagte Groucho. Er ließ einen Finger über den Rand seines Glases streifen, was einen hohen, klingenden Ton erzeugte. »Das Komitee muß mittlerweile Bescheid wissen, wo du wohnst.« »Ich glaube nicht. Wenn sie es wüßten, warum sollten sie dann Nim ble Virtue dafür Geld geben, daß sie ihnen verrät, wann ich im Pit bin? Wäre es nicht besser gewesen, mich daheim zu überraschen?« »Nicht unbedingt«, sagte Ice. »Sie haben vielleicht angenommen, daß du die Wohnung irgendwie gesichert hast, so daß es einfacher sein würde, dich auf der Straße zu schnappen.« Jonny sah Groucho an. »Hast du dich entschlossen?« fragte der An archist. »Ich werde nicht ohne sie gehen.« »Deine Loyalität ist lobenswert. Ice, was denkst du?« »Sumi bedeutet auch mir eine Menge, Groucho«, sagte Ice. »Mir ge fällt die Idee nicht, sie allein da draußen zu lassen. Sie ist nicht dafür ausgerüstet, mit dieser Art Verrücktheit fertigzuwerden.« Ice saß mit angezogenen Beinen da. Jonny legte einen Arm um eines ihrer Knie. Es war wie in der alten Zeit. Sie beide, die sich um Sumi kümmerten. Das bedeutete allerdings, daß Sumi noch okay war. Daß sie bisher noch niemand erwischt hatte. »Was sagst du also?« fragte Jonny.
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Groucho lehnte sich in seinem Klappstuhl zurück und zeigte auf die Wand über Jonny. »Siehst du diese Fotos, Jonny?« fragte er ruhig. »Das eine rechts ist vom Aufstand in Paris 1968. Das andere stammt aus dem Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten, '37. Und hier sind wir, mehr als hundert Jahre später, in einer verrückten Stadt, in einer kran ken Zeit, und kämpfen genau dieselben Kämpfe wie die damals. Iso liert, entfremdet, gelangweilt und unter Drogen. Wir sind die dressierten Hunde des Spektakels. Zamora pfeift, und wir springen durch seine Reifen. Das Komitee ist das endgültige Werkzeug des Spektakels. Es frißt unser Leben, unsere Kunst, unsere Würde. Aber die Existenz hängt nicht von den Launen der Politiker ab.« Der An archist nahm einen Schluck Wein. »Vor hundertfünfzig Jahren haben die Surrealisten die Revolte des Geistes ausgerufen. Der Funken im Wind auf der Suche nach der Lunte am Pulverfaß.« Der Anarchist nick te befriedigt. »Also werden wir deine Freundin holen und dich aus der Stadt bringen und, mit einigem Glück, den fetten König Ubu im Verlaufe der ganzen Sache ordentlich demütigen. Wie klingt das alles?« Jonny lächelte den Anarchisten an; er konnte sich nicht zurückhal ten. »Ja, aber was ist, wenn wir geschnappt werden?« Ice begann zu re zitieren, und Skid fiel ein: Daß man doch dieses Grab mir miete, � kalkgetüncht, mit Relieflinien aus Zement, � sehr weit unter der Erde. �
Jonny runzelte die Stirn und wies auf das vergammelte Buch. »Rim baud, stimmt's? Schrecklich. – Übrigens, wo ist der ganze Wein hinge kommen?«
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V Sumimasens Rettung Saurer Regen, die Sünde der Väter, prasselte hart und kalt herab und ätzte obskure Botschaften in die Fassaden der reizlosen alten Gebäu de. Ein paar Blocks in Richtung Süden, unter dem fünfzigstöckigen To rus des Lockheed-Bürogebäudes, brannten Kohlelichtbögen grellweiße Wolken in den dicken, bedrohlichen Qualm. Pemex-US war da irgend wo draußen, wußte Jonny, Esso und Krupp International. Und Sony – eine schwarze Silikonscheibe, nachts fast unsichtbar, wie ein Loch, das man in den Himmel gestanzt hat. Wilshire Boulevard. Die abendliche Menge strömte vorbei. Geschäftsleute, anonym in ih ren Schlangenlederatemmasken. Gruppen von kichernden Teenagern in ihren Schuluniform-Ponchos. Ein Junge, völlig stoned, die nackte Brust leuchtend von bioluminiszenten Tätowierungen, erzeugte mit seinem Skateboard Wasserfontänen. Als Ice an Jonnys Seite aufholte, drehte sich der Junge auf seinem Brett, zeigte ihnen den ausgestreck ten Finger und verzog sich. Ice lachte. »Sag's nicht«, knurrte Jonny. Sie lachte wieder. »Ich muß ja gar nichts sagen. Es ist klar wie der helle Tag. Das war deine magere und hungrige Jugend, die da gerade vorbeigeskatet ist.« Jonny schüttelte den Kopf. »So mager war ich nie.« Ein großer Spannungsknoten entfaltete sich in seiner Brust. Er trat gegen ein paar Grasbüschel, die durch einen Riß in der Straßendecke wuchsen. Wieder im Freien, auf der Straße, in einem kalten Wind, der stinkenden schwef ligen Regen vor sich her peitschte. Irgendwo, weit entfernt, verklang eine Sirene. Er war zu Hause. Großartig. »Wohin?« fragte er. Ice wies mit einem Nicken die Straße hinauf und ging dann voraus, Jonny hinterher. Er konnte Groucho und Skid ein paar Meter vor ihnen sehen. Sie hatten den alten U-Bahnhof vor etwa zwanzig Minuten verlassen. Jonny war überrascht gewesen, wie einfach sie die Oberflä che erreicht hatten. Sie waren durch Kanäle und verlassene unter irdische Shopping-Mails voll verrottender Schallisolierungen und zer stückelter Schaufensterpuppen marschiert. Sie waren im Rücken eines Lagers für Panzerfahrzeuge herausgekommen, umgeben vom Geruch leckender Toluol-Kanister. Jonny war der erste gewesen, der hinaus ging. Hinaus in den Regen. Ice hatte ihm einen Armeeregenmantel mit Gürtel gegeben, bevor sie die Klinik verlassen hatten. Während er jetzt neben ihr ging, benützte er die eine Hand, um den Kragen des Mantels zusammenzuhalten; die andere Hand hatte er in der Tasche, um den
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gerillten Plastikgriff der Futukoro gelegt. Drei Extra-Magazine klickten in der anderen Tasche gegeneinander. Vor einem Lagerhof voller PVC-Rohren standen Groucho und Skid in lebhafter Unterhaltung mit einem Albino. Jonny folgte Ice über die überflutete Straße hinüber zu den drei Männern. Der Albino saß in der Fahrerkabine eines gepanzerten Mercedes-Lastwagens, einer viere ckigen, doppelachsigen Monstrosität mit dickem Drahtgeflecht über den Fenstern und klumpigen Schichten einer Titanlegierung über der Karosserie. Jonny dachte, das Fahrzeug sähe aus wie der schimärische Abkömmling eines Halftracks mit einem Rhinozeros. Er bewunderte seine außergewöhnliche und einzigartige Häßlichkeit, als Groucho ihm zurief, näher zu kommen. »Jonny, ich möchte, daß du unseren Fahrer Man Ray kennenlernst. Er gehört zu den Funky Gurus.« Man Ray, der Albino, nickte Jonny fast unmerklich zu und Jonny er widerte den Gruß ähnlich knapp. Dann fügte er eine schnelle Aufwärts bewegung mit zwei Fingern seiner Rechten hinzu, zog die Finger hori zontal über seine Lippen und führte eine schnelle Folge weiterer, ähnli cher Bewegungen durch – eine verkürzte Straßendestillation von Amerslan und Gang-Erkennungscode. Offensichtlich überrascht, gab ihm Man Ray die Antwortgesten. Jonny kannte die Gurus gut. Sie waren alle verrückt, hatte er schon vor Jahren erkannt, aber auf angenehme Art. Sie bezeichneten sich selbst als Combat-Künstler und bestanden darauf, mit Waffen ihrer eigenen Erfindung zu kämpfen. Ihr größtes Vergnügen waren absurde und blutige Überfälle auf rivalisierende Gangs. Es gab dabei immer ein Thema; manchmal waren es Eßutensilien, manchmal Licht- oder Farbmuster. Für die Gurus zählte Stil immer mehr als der angerichtete Schaden, der aber auch meistens beträchtlich war. Man Ray trug etwas, das wie ein hausgemachter Polypyrrole-Kör perpanzer im Kendo-Stil aussah, und rote hochhackige Schuhe. Ein goldener Obi um seine Hüfte war mit Wurfpfeilen, Shurikens und anderen kleinen glänzenden Dingen gespickt, die Jonny nicht kannte. Wie viele von den Gurus, war Man Ray kein richtiger Albino; seine Züge waren negroid, aber seine Gesichtsfarbe war zu einem äußerst blassen Rosa verbrannt, das hinter seinen Ohren ins Gelbe spielte. Traditionell wurden die Gurus aus Arbeitern der Daimyo Corporation rekrutiert, die in den höllischen Gießereien in der Schwerelosigkeit der Mond umlaufbahn arbeiteten. Sie waren einer ständigen Strahlung von geringer Intensität ausgesetzt, die die melaninproduzierenden Zellen ihrer Haut zerstörte.
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»Danke für die Maschine«, sagte Jonny, »dafür bin ich dir was schul dig.« Man Ray lächelte. Er hatte keine Zähne, sondern fleckige Porzellan implantate wie Zwillingsmauern in Unter- und Oberkiefer. »Du schuldest mir nichts. Blut ist mein Vergnügen. Fleisch ist meine Leinwand. Ich möchte keine Gelegenheit versäumen.« Er sah Jonny an und grinste schlau. »Groucho hier hat mir erzählt, daß du ein großer Kunstliebhaber und ein wahrer Freund des Schönen bist. Hier…«, sag te er und pflückte etwas von seinem Gürtel, »das ist neu.« Jonny nahm das Objekt und drehte es in seiner Hand. Es war eine perfekte silberne Rose, etwa halb so groß wie eine echte, die Säume der Blütenblätter von den Natriumstraßenlampen golden beleuchtet. Man Ray zeigte auf den Lagerplatz. »Über den Zaun«, sagte er. Jonny sah erst ihn und dann Ice an. Er zuckte die Achseln und warf die Rose über den zusammensackenden Drahtzaun, der die Röhren umgab. Zuerst Stille, dann ein Rauschen; die Straße wurde von einer Explosion erleuchtet, deren weiße Flamme zehn Meter hoch in die Luft fuhr. Binnen Sekunden fiel der Schaft aus grellweißem Licht zusammen in eine zischende Masse aus Flammen und geschmolzenen Röhren. Jonny sah Man Ray an, der sagte: »Les fleurs du mal.« »Scheiße«, sagte Jonny, »das war eine Phosphorgranate.« »Jedermann ist heute ein Kritiker«, sagte Man Ray zu Groucho. Der Croaker stieg in den Beifahrersitz des Lastwagens, Skid saß hinter ihm. Jonny kletterte in den rückwärtigen Teil und kauerte sich neben Ice auf die Ladefläche. Man Ray warf den großen methanolbetriebenen Motor an und wandte sich in Richtung La Cienega nach Hollywood. Der Funky Guru schaltete einen Kurzwellenscanner ein, suchte die Frequenzen des Komitees und schaltete einen Soundchip ein. Die me tallischen Stimmen der Komitee-Leute waren überlagert mit Musik − ›Erstürmung des Tigerbergs‹ spielten eine beschleunigte Version von ›Saint James Infirmary‹. Saint Peter war Leadsänger.
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I went down to Saint James Infirmary. AU was still as night. My gal was on the table, stretched out so pale, so white. l went to Saint James Infirmary…
Während der Lastwagen über den Beverly Boulevard rumpelte, be merkte Jonny plötzlich, wie kalt ihm war. Er preßte sich schaudernd gegen die aus geliertem Glycerin bestehende Polsterung der Innen wände und biß die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Seine rechte Schulter war fast taub; vor Verlassen der Klinik hatte Ice noch ein Xylocain-Pflaster unter der Induktionsschiene angebracht. Die letz te Serie von Razzien des Komitees hatte zu einer Verknappung bei Endorphinen geführt, hatte Ice erklärt. Jetzt blinzelte sie aus einem der gepanzerten Fenster des Wagens und runzelte die Stirn. »Dein Optimismus ist ansteckend«, sagte Jonny. Ice lächelte schwach und fragte: »Was wirst du tun, wenn wir Sumi geholt haben?« »Ich dachte, du hättest mich verstanden«, erwiderte er. »So schnell wie möglich von hier abhauen. Groucho sagte, er würde seine Kontakte im Süden einsetzen. Vielleicht gehen wir geradewegs nach Mexiko. Warum?« Ice wischte einen kleinen Nebelfleck weg, den ihr Atem auf der Scheibe gebildet hatte. Sie fuhren an einem Truck vorbei, aus dem ge rade eine Fracht Schwarzmarktfleisch ausgeladen wurde. Mehrere knochenlose Schweinsschädel hingen schlaff herab, wie Masken eines schrecklichen Theaters. »Was, wenn Sumi nicht gehen will?« »Das ist ihre Entscheidung«, sagte Jonny. »Sie kann tun, was sie will.« Seine Stimme klang härter, als er beabsichtigt hatte. Die Möglichkeit, daß Sumi sich zum Hierbleiben entscheiden könnte, war ihm noch nicht in den Sinn gekommen. Er wollte nicht mit Ice um Su mis Loyalität kämpfen. Schließlich war er bei ihr geblieben, als Ice abgehauen war. Aber Ice und Sumi waren schon zusammengewesen, bevor Jonny auch nur eine von ihnen beiden gekannt hatte. Ein beun ruhigender Gedanke. »Du willst nicht bleiben?« fragte Ice. »Ich kann nicht.« »Warum nicht?« »Weil der Colonel sich aus meinem Sack einen Tabaksbeutel ma chen will«, erwiderte Jonny. »Weil Easy Money weiß, daß ich hinter ihm
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her bin, und das bedeutet, daß er mich vorher zu finden versucht. Und weil ich diesen ganzen anarchistischen nassen Traum für einen Scheiß dreck halte. Nichts ändert sich –niemals. Ein Klüngel verliert die Macht, ein anderer bekommt sie. − Na und? Dann gibt es neue Vi sagen, die man hassen kann, und neue Gewehre, vor denen man davon laufen muß. Aber nichts Entscheidendes ändert sich jemals.« »Vielleicht können wir das ändern.« »Wir reden vom Komitee. Die reißen euch den Arsch ab. Sobald wir Sumi herausgeholt haben, haue ich ab.« »Ich wünschte, du würdest das nicht tun.« »Was willst du von mir?« Ice fixierte Jonny mit einem Blick, den er nicht ganz begriff. Ärger, Frustration, Angst waren darin zu sehen. »Was willst du?« wiederholte er. »Du kannst es einem nie leicht machen, nicht wahr? Vielleicht will ich bloß, daß wir drei wieder zusammen sind. Wir drei.« Warum muß sie jetzt damit anfangen, fragte sich Jonny. Er hatte sich die ganze Zeit schon etwas Ähnliches überlegt: sie drei wieder zu sammen. Aber mit Zamora und Easy Money auf den Fersen schien es unmöglich. Ice würde das nicht so sehen, das wußte er. Ihre Liebe bestand aus großen Emotionen, großen Leidenschaften, großen Gesten. Deshalb war sie ein guter Croaker. Deswegen war sie davongelaufen. »Ich will dasselbe wie du«, flüsterte er. »Aber nicht hier.« »Ich kann nicht weggehen.« »Ich kann nicht bleiben.« Jetzt waren sie auf dem Sunset und fuhren an den Menschenmengen vorbei, die vor den Bars und Theatern standen. Da war ein Restaurant in der Form von Kukulcans Pyramide in Chichen Itza, die Konturen ganz in Neon. Jonnys Gesicht glühte rot. »Sag mir nicht, ich solle mich prüfen, okay? Ich bin nicht derjenige, der abgehauen ist!« Fast lautlos ging Ice in den vorderen Teil des Wagens und setzte sich hinter Groucho auf den Boden. Jonny versuchte, aus dem Fenster zu sehen, bemerkte aber, daß er Ices Spiegelbild betrachtete, wie es mit der Bewegung des Autos sanft mitging. Er fühlte sich allein und kaum noch menschlich − er hätte auch ein Insekt sein können, das die Croaker und den einsamen Guru von der Decke aus betrachtete. Jonny wollte etwas sagen, als Ice irgendwohin zeigte und rief: »Fahr da hin über!« Man Ray nahm eine Seitenstraße nahe der World Link U-Bahnstati on und stellte das Auto so ab, daß es gegen den Sunset hin von einer
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Reihe großer Dattelpalmen verdeckt wurde. Er stellte den Motor ab und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Groucho drehte sich zu Jonny um. Sein Gesicht leuchtete im Däm merlicht sanft und geisterhaft. »Machen wir's schnell«, sagte er. Jonny nickte. »Wir nehmen den rückwärtigen Ausgang.« Man Ray lief geduckt vor Jonny zum hinteren Ende des Wagens und löste eine der Seitenverkleidungen. Das gelierte Glycerin bewegte sich in langsamen Wellen. Er nahm eine Medusa heraus (eine Art elektrifi zierter neunschwänziger Katze) und kleineres Gerät, Pistolen und Bo los, die er den Croakers gab. Jonny sah über der Schulter des Gurus eine ganze Reihe von farbigen und merkwürdig geformten Waffen hängen. »Siehst du etwas, das dir gefällt?« fragte Man Ray. »Ich hab, was ich brauch.« Man Ray sah enttäuscht aus. »Du hast eine prosaische Ader, weißt du das?« Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind trieb Nebelschwaden vor sich her. Ice trottete ihnen voran, Skid an ihrer Seite. Jonny ver suchte nicht aufzuholen, weil er es vorzog, sie mit ihren Gespenstern in ihrer eigenen Weise kämpfen zu lassen. Heftiger Wind verdrehte den Nebel auf der Leeseite einer mächtigen zeltartigen Konstruktion zu winzigen Wirbeln. Hundert Meter hoch und beinahe sechs Blocks lang war dieses perverse Relikt, der einzige übriggebliebene Pavillon der Los Angeles-Tokio-Ausstellung, der zur Feier vom hundertsten Geburtstag des Transistors aufgestellt worden war. Eigentlich war es eine Serie von Zeltkonstruktionen, zweihundert achtzig davon, jede ein halber Morgen, teflonüberzogenes Fiberglas, alle beschädigt und leckend. Unter den Zeltdächern waren drei aus Thermoplast und Beton erbaute lebensgroße Rekonstruktionen des ›Golden-Age-of-Hollywood‹-Pavillons: Robin Hoods Schloß, das eine sich mittlerweile pellende metallische Karikatur von jemandem zeigte, der vielleicht einmal Errol Flynn geähnelt hatte; die Smaragdstadt aus ›The Wizard of Oz‹, und der Babylonische Tempel aus D.W. Griffiths ›Intolerance‹. Jonny lebte in diesem dritten Bau, zusammen mit zwei tausend anderen Menschen. Bei einer Tür am unteren Ende eines Stützpfeilers fand Jonny eine Konsole mit zehn Tasten, die mit seiner Wohnung verbunden war. Sumi hatte sie dort untergebracht und mit einem gummiartigen braunen Klebstoff befestigt, nachdem sie ihm gezeigt hatte, wie er den Verschlußmechanismus bedienen mußte. Mit einem dumpfen Geräusch öffnete sich die Tür, und die fünf traten hinein und stiegen schnell eine Wendeltreppe hinauf, die zu einer schleimigen Plattform führte. Jonny
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nahm eine zweite Konsole und ein paar Sekunden später waren sie auf der durchsichtigen Oberfläche des Zeltdaches. Jonny gab mit einer Geste zu verstehen, daß sie in Abständen gehen sollten, damit das Zeltgewebe nicht unter ihrem Gewicht zusammen brach. Über ihren Köpfen warteten in Schlingen und Plastikblasen die verschollenen Stämme von Los Angeles. Jede permanente oder halbpermanente Baulichkeit der City war eine Einladung an Besetzer. In den Jahren seit seiner Erbauung hatte der Hollywood Pavillon Tausenden als Heim gedient, Tausenden von lokalen Pennern, Illegalen aus Mexiko und Jamaica, Vertragsarbeitern aus Thailand und der Ukraine. Einige von diesen Mittellosen, die jenigen, die dieses Leben zu begrenzt oder zu verzweifelt gefunden hatten, waren in die offenen Räume über den Zeltdächern ausgewichen und wanderten wie Nomaden über die fließenden Fiberglasdünen. Jah re später hatten sich ganze Gesellschaften mit eigenen Riten und eigener Sprache gebildet. Jonny sah, wie Man Ray und Skid das alles aufnahmen, wie sie die Wohnsitze mit einer Mischung aus Faszination und Nervosität betrach teten. Groucho winkte den schattenhaften Figuren, die sie über die Kabel begleiteten, glücklich zu. An den tropfenden Drähten hingen Stammesflaggen, grobschlächtige katholische Altäre, Gebetsfahnen mit kuriosen Symbolen der Maya oder aus Nepal, und Teile von sche matischen Diagrammen, kabbalistische Hilferufe an einen Gott oder Götter, die vielleicht zuhörten. Jonny fühlte sich hier am richtigen Ort. Eine seltsame Mischung aus Spannung und Stolz durchdrang ihn. Sein Geist raste. Jonny beobach tete den Mond, der hinter einer Wolkenbank hervorkam. Er dachte an die Alpha-Ratten. Wieder einmal fragte er sich, ob sie irgendwo auf der atmosphärelosen Oberfläche sitzend alles beobachteten und es für ir gendeine zukünftige Aktion notierten. Er verspürte das plötzliche dringende Bedürfnis, sie zu treffen und ihnen irgendwie zu erklären, was vorging. Im selben Moment dachte er an Sumi hier unten, die nichts von seiner und Ices Gegenwart wußte. Seine Sinne dehnten sich aus, bis sie die ganze sattelförmige Landschaft umfaßten. Das ist richtig so, dachte er bei sich, es ist gut, sich wieder in Bewegung zu be finden. Er fühlte sich, als habe er einen verlorenen Teil seines Selbst zu rückgewonnen. Er verließ die Reihe und kletterte auf den Grat einer Düne. Der Gipfel war eine kreisförmige Verankerung mit einer Öffnung nach un ten. Mit schnellen Bewegungen knöpfte er ein paar Nylonseile von dem Betonanker los und ließ sie nach unten baumeln. Ice kam und ließ wei
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tere Seile hinab. Sie sah ihn nicht an, aber Jonny wußte, daß sie Ähnli ches fühlte wie er. Obwohl er mit seinem Verband nur ungeschickt klettern konnte, ließ er sich über den Rand hinunter und erreichte zu sammen mit Ice einen Sims neben einer babylonischen Elefantengöt tin, deren Drahtinnenskelett in dem zerbröckelnden Beton gut sicht bar geworden war. Die anderen kamen einen Moment später hinterher. Ein heftiges Stimmengewirr von unten machte eine Verständigung un ter ihnen unmöglich; Jonny winkte ihnen, ihm nach innen zu folgen. Sie gingen durch eine Anzahl vollgepackter düsterer Räume, staubige Lager für die Kojen, die den Pavillon während der Expo gefüllt hatten. Dann kamen sie in einen größeren freien Raum, der umgeben war von halbleeren Kisten mit zerrissenen taiwanesischen Waffenkata logen und Reihen von deckenhohen Stellagen mit kleinen Cowboy- und Samurai-Figuren, die noch in ihrer Originalplastikverpackung steckten. Skid nahm im Vorbeigehen ein paar Souvenirs mit: Hollywood Boule vard in einer Schneekugel; wenn er sie schüttelte, fiel der Schnee auf die Gebäude; Papierjacken mit dem Bild der aufgehenden Sonne auf dem Rücken; Zucker in Form von Siliconchips. Abgesehen von dem sie bedeckenden Staub schienen sich die meisten Waren während dieser ganzen Jahre kaum verändert zu haben. Wandgroße Hologramme von Uncle Sam und Disney-Figuren, Traumgestalten einer ausgelöschten Kultur, waren sorgfältig in Klarsichthüllen verpackt und warteten dar auf, daß ihre Besitzer von ihren Besorgungen zurückkehrten. Sie kamen an eine Treppenflucht. Jonny führte sie ein paar Stockwerke hinunter, dann eines hinauf und bemühte sich dabei sorgfältig, im verlassenen Teil des Gebiets zu bleiben. Sie sahen gelbe Schilder in einem Dutzend Sprachen, die ihn verboten, zu rauchen, auf Notaus gänge hinwiesen und lange und detaillierte Beschreibungen lokaler Hy gienevorschriften abgaben. Von unten herauf drang der Geruch eng zusammengedrängter Kör per, von Kochfeuern, Schimmelpilzen und irgend etwas Fremdem – der fast metallische Geruch nervöser Aktion. Seltsame Insektengerüche von Handel, Schwarzhandel und geheimen Versammlungen. Sie kamen an einem jungen Mädchen vorbei, das mit einem Hachimaka im Gang kniete und im blauen Licht eines altertümlichen tragbaren Fernsehers badete. Als sie sie erblickte, verzog sie sich und ließ das Gerät zurück, auf dem langsam der Schnee eines nicht mehr vorhandenen Kanals fiel. An einer Kreuzung von Gängen zeigte Ice Jonny, daß er den rück wärtigen Eingang des Apartments übernehmen sollte, während sie Skid und Groucho anwies, den vorderen zu überprüfen. Jonny gab ihr ein zustimmendes Zeichen und ging mit Man Ray den Gang zu seiner
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rechten hinunter. Etwa in der Hälfte betraten sie einen Raum mit riesigen, asbestgepanzerten Standrohren. »Hilf mir, das aufzumachen«, flüsterte Jonny und zeigte auf eine Me tallplatte im Boden. »Wir sind genau über dem Apartment.« Die beiden bückten sich, gruben ihre Finger unter den Plattenrand und hoben sie hoch. Jonny glitt mit den Beinen voraus in das Loch und trat das Plastik kühlgitter eines falschen Ventilationsschachtes heraus, dann sprang er auf den Boden der Wohnung herab. Einen Augenblick später hörte er Man Ray hinter sich. Das Zimmer war dunkel, die Luft tot und heiß; sie sprang Jonny mit dem bitteren Geruch verbrannten Synthetiks in die Nase. Ein Haufen zerbrochenen Mobiliars lag auf dem Boden verstreut, zerrissene Polstersitze und Sperrholzbeine von Tischen formten das Skelett eines unbekannten gehäuteten Tieres. Kleine Geräte schienen auf einen Haufen geworfen und methodisch zertrümmert worden zu sein. Es fiel Jonny schwer, individuelle Dinge zu unterscheiden – er konnte eine Kaffeemühle und einen kleinen Mikrowellenherd erkennen; der Rest war bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden. Jemand hatte Klebeband über das einzige Fenster des Zimmers gezogen, vermutlich um zu ver bergen, was hier geschehen war. Das Band schälte sich jetzt wieder ab, und das Licht aus dem Pavillon zerschnitt die gegenüberliegende Wand in ein Muster aus diagonalen Streifen mit alternierenden Bändern von Helligkeit und Dunkelheit. Pillen und Disketten knirschten unter ihren Schritten und gaben einen sauren Geruch nach verdorbenen Hormon extrakten ab; ein indianischer Überwurf war vollgesogen und gummi artig von ausgeronnenen Kapseln mit Vasopressin und Prolactin. Es schien nicht viel in diesem Zimmer zu geben, das nicht verbrannt oder zerbrochen war. Sie folgten einer Spur aus Büchern und Sumis ausgeweidetem elektronischen Gerät (geschmolzene Schaltkreise glühten wie rohe Opale) durch die Diele in das Schlafzimmer. In dem kleinen Raum war der Brandgeruch noch stärker. Man Ray drückte auf ein kleines piezo elektrisches Licht an seinem Obi. Das Bett war angezündet worden. Zerrissene Bettücher lagen auf dem Boden umher und Freon tropfte aus einem offenstehenden Gefrierfach, das Jonny getarnt gehabt hatte, um darin verderbliche Drogen und eine gelegentliche Schwarzmarkt leber oder Lunge für einen Kunden aufzubewahren. Ein kratzendes Geräusch aus dem Wohnzimmer. Beide Männer hatten ihre Waffen im Anschlag, Jonny spähte vor sichtig in den Gang hinauf, bereit, auf alles zu schießen, was sich be
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wegte. Im anderen Raum standen Ice und die anderen in der Tür und betrachteten schweigend die Trümmer auf dem Gangboden. »Kommt hierher!« sagte Jonny. Sie kamen und drängten sich in der Tür. Ice ging wie in Zeitlupe oder in Trance durch das Schlafzimmer und blieb ein paarmal stehen, um ein Stückchen Kleidung, einen Schaltkreis oder eine Pillendose auf zuheben. Man Rays Licht warf plötzlich einen farbigen Kegel auf sie. Sie drehte sich zu Jonny. »Ihr Gerätegürtel ist nicht da«, sagte Ice. »Das ist gut«, sagte Groucho voll Hoffnung, »dann gibt es eine Chan ce, daß Sumi rechtzeitig abgehauen ist.« Jonny lehnte sich gegen die Wand und ließ sich an ihr herabrut schen, bis er zusammengekauert saß. »Vielleicht haben sie ihn auch nur als Beweismittel mitgenommen. Er beweist, daß sie ein Wattfänger ist.« Aus dem Augenwinkel sah Jonny, wie Skid sein Gewicht nervös von einem Bein auf das andere verlagerte. »Vielleicht sollten wir nicht hier blieben«, sagte der Kid ruhig. Ice stand auf. Sie hielt eine kleine Gebetsmühle in der Hand. Der halbgeschmolzene Kupferkopf quietschte, als sie sie drehte. »Wie auch immer, Sumi ist schon lange weg. Mach das verdammte Licht aus.« Man Ray steckte das Kristallicht in seinen Gürtel zurück. Jonny kauerte weiter auf seinen Absätzen; Ice trat über die Kleider und ge schmolzenen Plastikklumpen auf ihn zu und stieß ihn mit der Stiefel spitze an. »Sieht so aus, als seien nur noch du und ich übrig, Cowboy«, sagte sie. Jonny sah zu ihr auf. »Ich werde jemanden für das hier umbringen, weißt du«, sagte er. Ice nickte lächelnd. »Vergiß nicht, mir auch einen übrig zu lassen«, sagte sie. »Das ist Zamoras Art, mir etwas heimzuzahlen«, sagte Jonny. Groucho räusperte sich. »Ich glaube, Skid hatte recht mit dem, was er vorhin sagte. Vielleicht sollten wir gehen. Wenn Pere Ubu in die Sa che verwickelt ist, hat er vielleicht Wachen zurückgelassen.« Jonny stand auf, sah sich noch mal im Zimmer um und prägte sich das Bild ein, falls er seine Wut noch einmal brauchen würde. »Okay«, sagte er, »wir sind hinten hereingekommen und gehen vorne hinaus. Da haben wir eine Menge Leute als Deckung.« Sie verließen das Apartment. Skid zog seinen Mantel aus und ging als Zombie: ein unschuldiger Jäger auf der Suche nach den Vergnü gungen der Nacht. Sie trafen keine Jungs vom Komitee auf ihrem Weg nach draußen.
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Der Haupthof des Babylonischen Tempels war stickig unter der überheizten Beleuchtung der lagenweise übereinandergeschichteten Jupiterlampen. Dutzende von geschminkten und kostümierten Kom parsen, hauptsächlich Valley Kids, wuselten durcheinander und spra chen in gedämpftem Tonfall miteinander. Die Szenerie erinnerte Jonny an etwas – einen riesigen Operationstisch, auf dem das grelle Licht den Menschen und Objekten einen Schein von Präzision und Sterilität gab. »Okay Leute, Miss Vega wird in einer Minute kommen«, ertönte eine flache, nasale Männerstimme über Lautsprecher. »Was wir dann brau chen, ist eine Menge Applaus und Hochrufe. Aber kein Pfeifen. Wenn ihr pfeifen wollt, geht zum Kickboxen!« Darauf gab es schrille Wellen von Pfiffen der Tempelbesetzer, die von einem Polizeikordon vom Set abgedrängt worden waren. Die Kom parsen waren in saubere Hollywood-Versionen der Besetzerklamotten gekleidet und sahen darin viel zu sauber und wohlgenähert aus, wie Jonny bemerkte. »Sehr lustig. Geht auf eure Plätze, Leute!« Jonny und die anderen mischten sich unter die Menge und suchten sich einen Weg zur Rückseite des Schauplatzes, indem sie einer Reihe von Tänzern folgten, die in parodistische Vakuumanzüge gekleidet waren. Jonny war von der Anwesenheit der Filmcrew nicht besonders überrascht; es war nicht das erstemal, daß er und andere Besetzer von einer lokalen Produktionsgesellschaft aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren. Aoki Vega war einer der populärsten Musical-PornoStars des Links. Jonny dachte, die Ironie der Situation bestände darin, daß der Link die Aufzeichnung von Vegas Performance genau jenen Besetzern verkaufen wollte, die er zuvor ausgesiedelt hatte, um ihnen so ein teures und glamouröses Souvenir ihrer Machtlosigkeit zu geben. Die Tänzer, denen Jonny und die anderen folgten, schienen sich zu einem abgesperrten Gelände am entfernten Ende des Pavillons in der Nähe eines Halbkreises aus Generatoren und Müllwagen zu bewegen. Skid lief auf den Zehenspitzen, um über die Reihen der Komparsen hinweg den Star sehen zu können. Eine Bank von Großformatvideopro jektoren zeigte Bilder des Sets aus verschiedenen Winkeln. Während er sich durch die Statisten drängte, bemerkte Jonny eine Art merkwürdiger Gleichartigkeit an ihnen, als stammten sie alle aus demselben kleinen Genpool. Kaukasische Gesichter waren ein wenig orientalisiert; Nisei-Kids schnippten mit den Fingern zu unhörbaren Popsongs; ihr Haar war gebleicht und ihre Haut mit biologischen Mit teln nachgedunkelt, um einem bizarren Ideal kalifornisch-südlichen
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Chics nahezukommen. Sie konnten von überall und nirgends herstammen. Eine Witzpostkarte über Sex-Appeal und Strände. »Ich kenne Sie. Sie sind der Produzent, stimmt's?« sagte jemand in nächster Nähe. Jonny drehte sich zu ihr um. Sie trug eine lose Jacke aus Alumini umgewebe mit Goldeinlagen. Ihr Gesicht zeigte dieselben Fließband züge wie die Gesichter der anderen. Nur ihre Augen waren bemerkens wert. Sie trug Diffraktions-Kontaktlinsen; ihre Augen sahen aus wie sich spiralenförmig drehende Regenbogen. »Wir haben uns auf Martys Party im Laurel Canyon getroffen«, sagte sie strahlend. »Sie sind Mister Radoslav, nicht wahr?« Für Jonny war es klar, daß die Frau stoned war. Sie hätte ihn ebensogut für den Papst halten können. Jonny, immer noch in Bewegung, warf einen Blick auf die Kette der Polizisten, dann zeigte er der Frau das freundlichste Lä cheln, das er zustandebrachte. »Bitte sprechen Sie leiser, keiner muß wissen, daß ich hier bin.« Er legte seinen Arm um Skid. »Das ist mein Mitarbeiter, Mr. Kidd.« »Freut mich«, sagte die Frau und streckte eine bronzefarbene Hand aus. Während er sie schüttelte, murmelte der Kid unzusammen hängende Höflichkeitsfloskeln. »Sagen Sie, können wir irgendwo hingehen und uns unterhalten, Miss… ah…?« fragte Jonny. »Viebecke. Aber jedermann nennt mich Becky.« »Becky, klar. Können wir uns irgendwo privat unterhalten, Becky? Vielleicht über Probeaufnahmen sprechen?« »Natürlich, Der Komparsenwagen ist jetzt vielleicht leer.« Der Blick, den sie Jonny zuwarf, enthielt soviel Lust und Gier, daß er einen Moment lang überlegte, ob er es nicht gleich bleiben lassen und sich lieber mit den Polizisten anlegen sollte. Etwas glitt vorüber. Jonny blickte auf. Ein langer, gegliederter Arm, der eine deutsche Videokamera trug, schwebte ein paar Meter über ih nen; ein halbes Dutzend Linsen rotierte daran und fokussierte auf sie. Sein und Skids Gesicht wischten über das Dutzend Großbildschirme. »Komparsenwagen klingt gut«, sagte er. Ice und die anderen warteten neben einem zweistöckigen Filmkran, der ihn an eine orangefarbene Gottesanbeterin erinnerte. Er stellte Becky den anderen vor. Sie hängte sich an seinen Arm und betrachtete enttäuscht Ice. Dann lächelte sie, als ihr Hollywoodoptimismus wieder Oberhand gewann. »O wow, seid ihr Burschen auch Schauspieler?« flötete sie. »Wie hast du das erraten?« Ice ließ ihre Zähne blitzen.
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»Wir besetzen gerade für eine neues Feature«, sagte Jonny, »suchen frische, interessante Gesichter.« Becky kicherte und führte sie zu einer Gruppe von Wohnwagen hin ter einem Müllauto. Die chemischen Gerüche von verdorbenen Fischund Fleisch-Analoga lagen schwer in der Luft. Becky ging voraus und zeigte ihnen mit einer Handbewegung, daß sie warten sollten. Hinter der Tür hörte man laute Stimmen. Jonny sah Ice an. Sie schüttelte den Kopf. Einen Augenblick später stürmte eine junge Frau aus dem Wohn wagen. Sie sah Becky so ähnlich, daß Jonny einen Moment lang glaub te, sie sei es und habe sich nur umgezogen. Aber diese Frau starrte sie bloß an und stolzierte dann weg. »Ihr könnt jetzt hereinkommen«, sag te Becky unter der Tür. Sie stiegen in den Wagen. Der Wohnwagen war lang und schmal und roch dezent nach Parfüm und Schweiß. Auf der einen Seite liefen beleuchtete Spiegel die Wand entlang, auf der anderen waren Bänke und Haken voller Kleider. Tageslichtlampen und Videomonitoren waren an den beiden Enden des Raumes angebracht. Jonny und die anderen begannen sofort, die Kleider durchzusehen. Becky saß an einem Tisch auf der Spiegelwand seite und hielt ihren Kopf starr, um ihnen ihre Schokoladenseite zu demonstrieren. »Was tut ihr da eigentlich?« erkundigte sie sich nach einer Weile. »Wir sehen uns die Kostüme an«, sagte Jonny, »wir müssen doch wissen, was bei der Incrowd derzeit ›in‹ ist, oder?« Becky zündete einen Joint an, zog daran und stand von ihrem Stuhl auf, immer noch bemüht, eine fröhliche Miene zu zeigen. Man Ray fand einen Hundezahn-Mantel, der zu seinem Körperpanzer paßte; Ice zog ein weißes Torerojäckchen mit Goldstickerei an. Als Becky eine Hand auf Jonnys Arm legte, versprühte sie förmlich Nervosität, aber auf ih rem Gesicht lag immer noch ein maskenhaftes Lächeln. Als Jonny sie betrachtete, fühlte er eine obskure Sorge: Er fragte sich, ob sie unter all diesen professionellen Gesichtsausdrücken überhaupt noch irgendwo einen eigenen hatte. »War da nicht etwas, das du mich fragen wolltest?« schnurrte sie. »Ja − gibt es viele Sicherheitsleute an diesem Ende des Sets?« Beckys Blick wurde plötzlich völlig klar; sie sah aus wie ein ent täuschtes Hündchen. Sie schrie: »He! Du bist gar kein Produzent!« »Wir sind Kriminelle«, sagte Jonny. »Verzweifelte, bewaffnete Kriminelle.«
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Becky taumelte betrunken zurück und kauerte sich in der entfern ten Ecke des Wohnwagens zusammen, wimmernd und »O wow« murmelnd, als handele es sich um ein Mantra. In ein paar Sekunden hatten sie ihre neuen Kleider angezogen − Groucho wählte ein mexikanisches Luftwaffenjäckchen mit Medaillen, Skid einen schwarzen Lederanzug und eine Mao-Kappe − und waren fertig, hinauszugehen. Jonny trat vor Becky hin, um sich kurz zu ent schuldigen. Sie war immer noch in ihrer Ecke, halb benommen vor Angst und Drogen, und als sie einen Stuhl gegen ihn richtete, wußte er nicht, ob sie ihn ihm geben oder mit ihm zuschlagen wollte. Er ging langsam rückwärts und sagte: »Tut mir leid, Becky. Aber es geht um unseren Arsch.« Draußen brüllte der Lautsprecher: »Okay Kids, laßt es richtig laut dröhnen.« Sie gingen am äußersten Ende des Sets entlang, lächelten den Technikern zu und taten so, als seien sie eine weitere Gruppe Kom parsen, die auf ihren Aufruf wartete, und drängten sich eben zwischen zwei laufenden Generatoren durch, als sie hörten, wie die Wohnwagen tür aufflog und eine schrille, hysterische Stimme schrie: »Das ist kein Produzent! Das ist nichts als ein gottverdammter Dieb!« Die Sicherheitsleute rannten zu der schreienden Schauspielerin. Auf dem Babylon-Set setzte die Musik ein und übertönte Beckys Stimme. Jemand schrie hinter Jonny und den andern her, sie sollten stehen bleiben. Aber da rannten sie schon aus dem Pavillon und über die nasse Straße. Bei ihrem Wagen warf Jonny einen Blick über die Schulter zurück und sah zwei übergewichtige Mietbullen der Filmgesellschaft, die sie verfolgten. Er hätte beinahe lachen müssen. Er drehte sich auf den Fußballen und hob seine Futukoro in Brusthöhe der Mietbullen. Der vordere sah ihn, verlor seine Balance und fiel hin wie ein berstender Sack. Sein Partner führte einen kleinen Steptanz mit über den Kopf gerissenen Armen vor und rannte dann zurück zu den hellen Lichtern des Pavillons. Jonny lief in Richtung Wagen und sah dann gerade, wie Skid unter einem großen Burschen in schwarzer Uniform zusammensackte. Dann warf sich Ice über die beiden, ihr Messer blitzte auf und dann standen sie und Skid auf. Groucho verwendete seinen Bolo wie eine Garotte und fesselte den erhobenen Arm eines anderen Uniformierten an dessen Kehle, bevor er ihn mit einem Tritt in den Solarplexus erledigte. Merkwürdig für Mietbullen, dachte sich Jonny. Eine Garbe Futukoro
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Geschosse prasselte gegen die gepanzerte Seite des Autos. Verdammt komisch. Einer der Uniformierten kroch näher und wurde vom flackernden grünen Licht einer Straßenlampe beleuchtet. »O Scheiße«, sagte Jonny. Er duckte sich und rannte, in der Hoffnung, die Jungs vom Komitee hätten ihn nicht erkannt. Man Ray war schon hinter dem Steuerrad des Lastautos und hatte den Motor angeworfen. Ice und Groucho hatten ihre Waffen gezogen und gaben Jonny Deckung. Die drei sprangen hinten auf. Nur Skid war noch draußen, weil er wie ein Ver rückter hinter dem Komitee-Boy her war, der ihn attackiert hatte. Man Ray warf die Gänge hinein und fuhr hinter Skid her. Jonny hielt einen Arm Grouchos, als der Croaker sich hinauslehnte. Er schnappte sich den Kid und zog ihn an seinen Ärmeln einen Block oder so mit, bis Ice ihn am Kragen zu fassen kriegte und hereinhievte. Ein Hovercar kam über dem Lastwagen herunter und erzeugte helle Lichter und heftig sich bewegende Schatten; die heißen Auspuffgase zwangen sie, von der hinteren Tür zurückzuweichen. Man Ray wechselte die Gänge. Er schleuderte um zwei Ecken, wobei der Wagen beinahe die eine gestreift hätte, aber der Hovercar war immer noch über ihnen. Dann zog er plötzlich nach links. Einen Moment lang sah es so aus, als ob sie ihn losgeworden wären, aber dann senkte er sich einige Meter vor ihnen auf die Straße, ganz knapp über den Pfützen schwebend. Man Ray stand auf den Bremsen, der Wagen schleuderte über die Straße wie ein gespeerter Fisch. Als er die Kontrolle über das Steuer wieder erlangt hatte, fuhr der Guru über einen Parkplatz von der Vine herunter und Richtung Melrose. Jonny und die anderen klammerten sich an den Türrahmen und schossen auf die Turbinenflügel an der Unterseite des Hovercars, wobei sie Man Rays Bordgeschütze verwendeten. Rosarote und silberne Kugeln schlugen in die Polykarbonat-Oberfläche; blaue Feuerwerks drachen griffen mit flammenden Pfoten nach dem Unterteil des Hover cars, bevor sie eingesogen wurden. Skid warf einige von Man Rays Rosen auf Messerwerferart nach dem niedrig fliegenden Gegner. Sie explodierten hinter dem Lastwagen und zerfetzten Asphalt und Pal men. »Es werde Licht!« brüllte Man Ray. Er kurbelte den Kurz wellenscanner an und suchte an seiner Empfangseinheit herum. »Hört euch dieses Arschloch an«, sagte er, »glaubt, er kann uns einsacken. Ich werd ihn so hart nehmen, daß er nicht mehr weiß, an welches Ende er sich das Mikro halten soll.«
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Der Hovercar hämmerte aus automatischen Waffen Salven auf das Dach des Wagens wie phosphoreszierende Lawinen. Blaue Funken tanzten um die Türkanten. Jonny und die anderen zogen sich ins Inne re zurück. Man Ray fuhr Richtung Wilshire Boulevard und drängte langsamere Fahrer und Rikschas zur Seite. Jonny beugte sich zum Fahrersitz vor. »Wie weit sind wir von der Klinik entfernt?« »Gleich dort«, erwiderte Man Ray. Er hatte sich einen hochgewölb ten Sturzhelm aufgesetzt. »Halten wir die Beschießung so lange durch?« Der Guru grinste durch das schußsichere Plastik. »Beleidige mich nicht.« Der Glaskringel auf dem Lockheed-Bürogebäude war nur noch ein paar Blocks entfernt. Der Guru fuhr den Wagen in eine Seitenstraße und versuchte, die Verfolger abzuhängen, bevor sie die Klinik an steuerten. Der Hovercar hing unerbittlich über ihnen. »Verdammter Mist«, sagte Man Ray. »Jetzt gibt's keine größeren Sei tenstraßen mehr und die Klinik ist genau vor uns. Hat jemand einen Vorschlag?« »Ich hab einen«, sagte Ice. Sie nahm eine der Croaker-Kalaschnikovs mit einem M-79-Granatwerfer am Lauf aus dem Waffenlager. Der Wagen raste jetzt eine Seitenstraße zwischen langen Reihen verfallener alter geodätischer Treibhäuser hinunter, die von einem längst vergessenen Experiment urbaner Selbstversorgung übriggeblieben waren. Der Fahrtwind zerrte an ihrer Jacke, als Ice den Hovercar ins Visier nahm. Sie zielte auf die massive Unterseite der Maschine, die sich so eben auf eine neue Attacke einrichtete. Als sie nicht gleich feuerte, war Jonny versucht, sie von der Tür wegzuziehen. Gerade, als er nach ihr griff, zog sie den Abzug durch und schickte den brennenden M-79 Bolzen zum Hinterteil des Hovercars. Die Explosion beim Auftreffen blies die Fenster aus einer alten Treibhauskuppel und überschüttete den Lastwagen mit toten Pflanzen und Glassplittern. Schwarzer Rauch und flackerndes Licht war über ihnen. Der Hover car versuchte aufzusteigen, aber die übriggebliebene Düse prallte gegen einen Transformatorenturm, worauf das Gefährt umkippte. Einen Moment hing es so in der Luft, als wisse es nicht, was es jetzt tun solle. Schließlich, in einer Bewegung, die aussah, als versuche es noch mal, sich aufzurichten, krachte es durch ein Glashausdach, und das Heck begann zu brennen.
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»Festhalten!« schrie Man Ray. Er riß das Steuerrad nach links. Der Lastwagen schleuderte breitseits gegen den Hovercar, der direkt vor ihm auf die Straße prallte. Das erste, was Jonny ins Bewußtsein trat, war der ständige Ton einer Hupe; dann kamen die Schatten, flackerten in gefrorenen Mi krosekunden-Silhouetten über seine Augenlider; dann eine dicke Nässe auf seinem Gesicht, seiner Brust und seinen Armen. Er öffnete die Augen. Glyzerin. Es war überall, dicke Puddingpfützen auf dem Boden und aus den aufgerissenen Wandverkleidungen quellend. Er koch zur offenen Tür und fiel über einen unerwartet hohen Abstand auf den Gehsteig. Das Fahrzeug hatte einen merkwürdigen Winkel, die Hinter räder drehten sich in der Luft. Jonnys Beine schienen einem Fremden zu gehören; sie verweigerten die Zusammenarbeit. An der Seite des Lastwagens fand er den zerquetschten Hovercar, eine skelettartige Masse aus zerdrücktem Metall und verbranntem Plastik. Zwei schwa che rote Lichter rotierten asynchron; der Rumpf hatte sich mit dem Fahrgestell des Wagens zusammengewunden und war teilweise mit ihm verschmolzen. Symbiotischer Schrott. Etwas fuhr über sein Gesicht und ein elektrischer Schock zwang Jonny auf die Knie. Man Ray tanzte hinter ihm, die Medusa über seinen Kopf schwingend. Die geladenen Peitschenriemen sprühten Funken, wo sie auftrafen, schmückten die Luft um den Kopf des Gurus mit sich drehenden Galaxien, geisterhaften Landschaften explodierender Ster ne, Spielkarten, kometenhafter Schmetterlinge. Er hielt problemlos drei Komitee-Boys in Schach. Ein breites Grinsen voll geflecktem Porzellan lag über seinem Gesicht. Obwohl er so erledigt war, konnte Jonny sehen, was es bedeutete: totale Erfüllung. Man Ray war in sei nem Element, schrieb Sonette mit seiner Waffe; das Bild des Künstlers an seiner Arbeit. Der Guru gefror in seiner Bewegung und streckte seine Arme aus. Kristallene Geckos fielen aus seinen Ärmeln. Leichtfüßig und schnell züngig rannten sie über den Boden hin zu den Füßen der Leute vom Komitee und explodierten in wogende, lavendelblaue Wolken von Tränengas. Jonny fiel gegen die Wagenwand zurück, hustete mit tränengefüllten Augen und sah einen Moment später Man Ray aus der Wolke heraustreten. Der Guru hatte irgendwann eine Atemmaske un ter seinen Kendohelm gesteckt. Ein Bursche vom Komitee faßte nach ihm und wurde von der elektrischen Kraft der Peitschenwaffe zurück geschlagen. Dann zog jemand Jonny weg, hinter die Rückseite des ruinierten Autos. Es war Skid, die weiße Perfektion seiner Zähne blutig, die
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Lippen verschmiert. Die Hand, mit der er Jonny hielt, glühte, die Pixel zuckten nervös, zeigten aber kein Bild. Er schrie etwas. »Wir sind ange schissen! Sie haben es gestürmt! Wir sind ganz auf uns gestellt, Mann!« Der Kid wollte ihn wieder mit sich ziehen, aber Jonny hielt ihn mit Einsatz seines ganzen Gewichts zurück. »Wovon redest du überhaupt? Und wo ist Ice?« Der Kid deutete mit dem Gewehr. »Unter Beschuß, zusammen mit Groucho. Sie sind festgenagelt. Es ist das Komitee, Mann! Sie haben die Klinik gestürmt!« Jonny stieß Skid beiseite und rannte zwischen den Reihen von Glashäusern entlang. Einen Block weiter sah er ein Dutzend Wagen des Komitees eine bewaffnete Blockade um das Warenhaus bilden, das er und die anderen früher an diesem Abend verlassen hatten. Männer führten ein paar Croaker in Handschellen zu den Polizeiwagen. Tote, Komiteeleute und Croaker, lagen auf einem Parkplatz im Flutlicht. Ice und Groucho waren auch dort, einige Meter entfernt rechts in einer Seitenstraße, unfähig, den Schutz der Glashäuser zu erreichen. »Siehst du! Wir sind angeschissen!« kreischte Skid. »Sie haben die Klinik gefunden!« Jonny sah, wie Ice und Groucho auszubrechen und einander Feuer schutz zu geben versuchten. Die Jungs vom Komitee lachten sie vom Dach herunter aus, spielten Katz und Maus mit ihnen, ließen sie ein paar Meter weit kommen und zwangen sie dann wieder mit einem Ge schoßhagel hinter das Lagerhaus zurück. »Wenn wir unsererseits ein bißchen Feuer auf das Dach legen, könn ten sie es schaffen«, sagte Jonny zu Skid. »Beobachte sie. Ich brauche eine Waffe.« Er kroch ein Stück, dann rannte er zum Auto. Waffen und Munition lagen hinter der offenen rückwärtigen Tür des Wagens auf dem Boden verstreut. Ein paar von Man Rays me chanischen Spielzeugen waren aktiviert worden; sie krochen bewußtlos irgendwo ins Dunkel, wo sie platzten und verglühten. Der Guru war nir gendwo zu sehen. Jonny griff sich eine Futukoro und hielt einen Moment lang inne, um ein paar tiefe, regelmäßige Atemzüge zu nehmen, während er im Glyzerin nach einem Magazin fischte. Seine Hände zitterten. Er schloß die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Nichts als Fehlschläge, dachte er sich. Ice unter Feuer zu sehen, hatte etwas in ihm ausgerastet. Er dachte an Sumi. Er konnte sie nicht beide in einer Nacht verlieren. Ein hoher animalischer Schrei. Jonny rannte zurück zum Lagerhaus, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Skid im Zickzack loslief, seine Pi xel wild leuchtend, eine schlanke Gestalt voll geometrischer Muster
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und schnappender Totenköpfe. Während Skid rannte, schoß er wild auf das Dach des Lagerhauses und zwang die Komitee-Jungs zum Rück zug. Jonny sah, daß Ice zwischen den Gebäuden in der Falle gesteckt und dem Feuer nicht hatte entkommen können. Jetzt, unter Skids Feuerschutz, schaffte sie es bis zum einem Gewächshaus auf der anderen Seite, Groucho dicht auf ihren Fersen. Sie drehten sich, um jetzt Skid ihrerseits Feuerschutz zu geben, aber er schien verwirrt; da er nicht wie zuvor sie an die Wand des Lagerhauses genagelt werden wollte, sprintete er zurück zu Jonny. Er hatte etwa zehn Meter geschafft, als ihn ein Schuß von hinten erwischte und ein großes Loch in seiner Brust erschien, aus dem Blut sprühte. Der Kid drehte sich steif um und feuerte sein letztes Magazin auf das Lagerhaus ab. »Skid!« schrie Ice. Skid lag jetzt auf dem Rücken, halb bewußtlos, von Schlangen und Phosphorblitzen überzo gen. Die Speicher brachen zusammen, begriff Jonny. Alle Bilder in Skids Software quollen auf einmal hoch und gerieten außer Kontrolle. Der Arm, den Skid hochhielt, flackerte stroboskopisch irre: der Arm einer Frau, eines Reptils, eines Industrieroboters; karmesinrote Spinnen überzogen ihn mit Fäden; gelbe Zahlen scrollten über sein verzerrtes Gesicht; Brando, Lee, Bowie, Vega; sein System brach zu sammen, die Gesichter flackerten schneller und schneller und verschmolzen in ein Metaphantasie-Gesicht, farblos oder in allen Farben, die sofort verblaßten, nachdem es entstanden war. Skid setzte sich auf, blickte wild um sich und lachte. Ein einziges klares Aufleuch ten des Bewußtseins, dann fiel er zurück. Der Kid lag still und dunkel da. Seine Brust glänzte feucht. Bei den Komiteewagen wurde ein Lautsprecher eingeschaltet: »MEIN GOTT, BIST DU DAS, GORDON? NETT, DICH ZU SEHEN, ARSCHLOCH. WAS IST AUS UNSEREM DEAL GEWORDEN?« er tönte Zamoras Stimme. »DU HAST MICH HEREINGELEGT, GORDON, ABER ICH GLAUBTE NICHT, DASS DU SO DUMM BIST. ICH LASS DICH FREI UND DU RENNST AUGENBLICKLICH GE NAU IN DIE ARME VON TERRORISTEN, MEINE GÜTE!« Jonny wußte, daß das ein Spielchen war. Konnte der Colonel ihn ver rückt genug machen, daß er etwas Dummes tat? Jonny versuchte, den Klang von Colonel Zamoras Stimme aus seinem Gehirn zu wischen; er beschwor Visionen, wie er dem Mann mit eigener Hand die Augen aus riß, aber er blieb im Dunkeln, zitternd, sich selbst hassend, und auf sei ne Lippen beißend, bis er Blut spürte. »ICH WERDE DIR DEN ARSCH RÖSTEN, MEIN JUNGE. EINE DEINER NUTTEN GEHÖRT MIR OHNEHIN SCHON. IM WAFFEN
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LABOR MÖGEN SIE FRISCHE PUSSY, DAS WEISST DU JA. SIE WERDEN IHR SPIRALWÜRMER EINSETZEN. SCHON MAL GESE HEN? SIE FRESSEN NUR NERVENGEWEBE UND HÖREN NICHT AUF, BEVOR SIE DAMIT FERTIG SIND…« Bevor Jonny wußte, was er tat, lag er flach auf seinem Bauch, kreischte und feuerte die Futukoro ab. Er füllte die Luft zwischen den Polizeiwagen mit Drachen, brennenden Kometen, jaulenden Harpyen. Mit der ersten Garbe zerstörte er den Lautsprecher, dann einige der Scheinwerfer. Dann fiel ihm etwas ein, er stand auf und stolperte zu rück zum Auto. Ein paar von Man Rays Spielzeugen mußten noch da sein. Was für eine nette Überraschung für den Colonel mußten sie doch sein. Aber er schaffte es nicht. Zwei dunkel gekleidete Männer packten ihn, als er in das Fahrzeug kletterte. Instinktiv trat Jonny dem einen gegen den Arm und lähmte ihn. Aber das reichte ihm nicht. Sein ganzes System summte und schrie nach Blut. Jonny erwischte eine Handvoll vom Gesicht des einen Mannes und schlug ihn gegen den zweiten. Beide fielen um und Jonny warf sich auf sie, zielte mit den Absätzen seiner Stiefel auf ihre Kehlen. Er verfehlte den einen, zielte beim zweiten genauer und schlug ihm ein paar Zähne aus. Aber dann war der Spaß für ihn vorbei, ein Arm um klammerte seinen Kopf und etwas Kaltes, Scharfes berührte seine Kehle. Als sein Körper schlaff wurde, bemerkte ein neutraler Teil seines Gehirns, daß er mit einem Nervenscrambler verbunden worden war. Der Effekt war merkwürdig, weil Jonnys Geist perfekt weiter funktionierte, aber sein Körper war durch die Ausschaltung der Pyra midenzellen in seinem Gehirn zu einem Haufen nutzlosen Fleisches de gradiert worden. Er war sich der beiden Männer bewußt, die ihn eine Strecke weit trugen. Er hoffte, sie würden ihn nicht seine Zunge schlu cken lassen. Als sie den Scrambler entfernten, fand sich Jonny auf dem dreckigen Boden einer unterirdischen Garage wieder. Ein Stretch-Cadillac mit monströsen Schwanzflossen am Heck parkte hier. Jonnys Zunge schien in Ordnung. Die Autotür schwang auf und ein vertrauter Geruch von nelkenölaromatisierten Zigaretten drang heraus. Der häßlichste Mann, den Jonny jemals gesehen hatte, lächelte ihn an. »Sei mir nicht böse, Jonny. Deine Freunde sind auf und davon. Ein paar von ihren Mitkämpfern haben sie vor ein paar Minuten mitgenom men«, sagte Mister Conover, der Schmugglerlord. »Abgesehen davon ist es eine meiner traurigsten Erfahrungen, daß Leute, die bereit sind, für eine Sache zu sterben, das auch meistens
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tun.« Er grinste entschuldigend und zeigte dabei seine schrecklichen gelben Zähne. »Da draußen sind viel zu viele, als daß dir das gut tun könnte, weißt du. Du würdest nur umgebracht werden.« »Umgebracht?« sagte Jonny mit einem Lachen. »Wär das nicht ein toller Witz für jedermann?«
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VI Der köstliche Leichnam Mr. Conover, entspannt und lächelnd, trug einen Anzug modernsten Stils aus Mailand. (Hoch angesetzte Hosen, Schulterpolster im Jackett, alles aus russischer Seide. Auf jedem Goldknopf ein kyrillischer Buch stabe. Insgesamt verstieß der Anzug gegen ein Dutzend US-Embargos gegen pro-arabische Länder.) Er war der mächtigste Schmugglerlord von Los Angeles und kontrollierte ganz allein den größten Teil des Dro genverkehrs nach und aus Südkalifornien. Viele der anderen Lords betrieben kleine heimliche Deals auf eigene Gefahr, Deals, die ihren Cash-flow und ihre Selbsteinschätzung anhoben, und er kümmerte sich nicht darum, obwohl sie, technisch gesehen, auf seinem Gebiet operierten. Wenn er den anderen Lords ihre kleinen Geschäfte ließ, waren sie glücklich und blieben auf dem Teppich. Und diese Art Macht konnte sich Conover nicht kaufen und auch nicht ohne sie auskommen. Das wußte er. Gerüchte besagten, daß Mr. Conovers Einfluß weit über die Grenzen von Los Angeles hinausreichte und sich bis zum Gouverneurspalast und in die Büros der Multis in Osaka und Mexiko City erstreckte. Ein Teil dieser Gerüchte kam daher, daß er einige Dekaden früher mit einer Anzahl pharmazeutischer Firmen ein kompliziertes Schema ausge arbeitet hatte, das sich um die Versenkung von KI-gesteuerten Fracht luftschiffen und Tankern handelte, so daß die Gesellschaften auf der einen Seite bei den Versicherungen kassieren und andererseits die Fahrzeuge unter neuen Namen und Computerbezeichnungen weiter verkaufen konnten, während er die Frachten behielt. Wie auch immer es mit alldem lag, ein Teil seines Einflusses war sicher seinem Alter zu zuschreiben. Er war im vergangenen Jahrhundert geboren worden, wo durch er älter war als die meisten Gesellschaften und Politiker, mit denen er zu tun hatte. Durch all die Jahre war er ein Verbindungsglied zu dem Goldenen Zeitalter geworden, in dem die Basis für die gegen wärtigen Machtstrukturen gelegt worden war. Er war eine Art Ikone für Handel und Stabilität. Mr. Conover war auch ein Greenies-Süchtiger. Greenies waren in den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als eine Langle bigkeitsdroge vermarktet worden; später fand man heraus, daß sie eine ganze Reihe von bizarren Nebeneffekten hatten. Allerdings zeigten sich diese Effekte erst nach jahrzehntelangem Gebrauch, woraufhin es übli cherweise zu spät war – die Droge hatte sich schon mit umfangreichen Segmenten der DNA des Süchtigen verbunden und sie umgeschrieben.
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Das Absetzen der Droge hätte Conover umgebracht. Der Straßenname des Stoffs kam von seiner merkwürdigen Eigenschaft, die Oxidation des Blutes im Kreislauf des Users zu verlangsamen, was der Haut des Süchtigen eine spröde, grün-blaue Färbung gab. Die endgültige Ironie bestand darin, daß sich Greenies als wirklich effektive Lebensverlängerer erwiesen. Der Benutzer konnte auf Deka den (Jahrhunderte?) der Sucht und des langsamen physischen Verfalls vorausblicken. Niemand wußte wirklich, wie alt Mr. Conover tat sächlich war, aber es war offensichtlich für alle, wozu er sich entwickelt hatte. Conovers schmaler graugrüner Schädel saß zwischen schmächtigen Schultern auf einem massigen Oberkörper. Seine Nase war nicht viel mehr als eine Masse von fransigem Narbengewebe, das von nässenden Trauben roter Tumore umgeben war. Er paffte ständig goldfiltrige par fümierte Sherman-Zigaretten, die er in eine lange Perlmutterspitze ge steckt hatte. Wie seine Kleidung war auch dieses Verhalten ein Sym ptom seines Zwanges, seine Häßlichkeit herauszustreichen. Wenn er lä chelte − was er häufig tat − zogen sich seine dünnen Lippen vor einem fleckigen Gewirr von Zähnen zurück. Seine Erscheinung gab Jonny immer das Gefühl, sich mit einem gut gekleideten Kadaver zu un terhalten. Der Cadillac glitt schnell ein fast völlig verlassenes Autobahnstück dahin. In der Wüste wurde Sand aufgewirbelt und auf den Rücken der Santa Ana-Winde in die Stadt getragen. Kohlenstofflichtbögen, die auf dem Dach montiert waren, tauchten den zersprungenen Asphalt in ein starke Schatten werfendes Licht und ließen den Sand aussehen wie Statik auf einem Videoschirm. Jonny blickte aus den doppelverglasten Fenstern, aber es gab nicht viel zu se hen. Sie fuhren durch die Hügel nordwestlich der Stadt, am Rande des deutschen Industriesektors, einer düsteren toten Zone voll Minenappa raturen und den halbfertigen Bunkern, die zum experimentellen To kamak-Reaktor der Krupp Corporation gehörten. Die ausgepowerten Hügel deprimierten Jonny und erinnerten ihn an ein Gemälde von Max Ernst, das Groucho ihm gezeigt hatte: Europa nach dem Regen. Die Landschaft brachte auch unerfreuliche Erinnerungen an die Schützentreffen des Komitees und der jungen Schock-Truppen von Krupp mit sich. Die Deutschen hatten keine Meat Boys; ihre jungen Rekruten zeigten ihren Machismo statt dessen, indem sie ihre Glied maßen durch fühllose myoelektrische Prothesen ersetzten. Jonny hatte eine von Alkohol und Zeit durchlöcherte Erinnerung an einen la chenden Jungen, der ein Feuerzeug an seine Fingerspitzen hielt, bis sie
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schmolzen und heruntertropften, wobei sie Silikonsensoren und schwarze Metallknochen enthüllten. Jonny entspannte sich auf dem weichen hinteren Ledersitz der Li mousine. Conover zog neben ihm ein verziertes silbernes Etui heraus und bot ihm eine Zigarette an. Jonny nahm sie, zündete sie an, zog den harschen, süßen Nelkenrauch tief in seine Lungen und ließ ihn dann langsam durch die Nase wieder heraus. Es war Monate her, daß er zum letztenmal eine Zigarette geraucht hatte (Sumi hatte ihm Schuldgefühle eingeredet, als ein Croaker, der im Hinterzimmer einer Taqueria arbeitete, einen Schatten auf seiner Lunge festgestellt hatte), aber seine Vergangenheit schien ihn in einem Tempo einzuholen, daß Jonny genausogut weitermachen konnte wie früher. Er hustete hart, als der Rauch in seine Kehle drang. Mit dem Kopf auf dem Rückenpolster sah er träge dem Vorüberfließen der Landschaft zu. Conovers Chauffeur, ein schwergewichtiger Ex-Natio nalgardist, war mit einem direkten Draht im Schädel mit einer Radar Navigations-Einheit im Armaturenbrett verbunden und folgte einer Spur militärischer Sensoren unter der Asphaltdecke. Conover war einer der wenigen Männer in der Stadt, denen Jonny vertraute, und auf jeden Fall der einzige Lord. Im Moment fühlte sich Jonny sicher. Conover beugte sich herüber und sprach leise mit ihm. »Du scheinst dir den Zorn der Götter zugezogen zu haben, mein alter Sohn. Oder zumindest hast du Zamorra angepißt, was auf dasselbe herauskommt. Was, in aller Welt, magst du nur getan haben?« Jonny fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte er. »Vielleicht hätte ich dann das Gefühl, all diese besondere Aufmerksamkeit zu verdienen.« »Wie fast alles, was er tut, unternimmt der Colonel keine Razzien nur zum Vergnügen. Er muß schon einen Grund haben, daß er ausge rechnet dich fangen will.« Conover legte eine Hand auf Jonnys Arm. »Soll keine Beleidigung sein, du bist ein reizender Junge, aber…« »Der Mann ist verrückt. Er denkt, Sie und ich füßeln mit den AlphaRatten«, sagte Jonny. »Ich denke, das setzt voraus, daß sie überhaupt Füße haben. Ich weiß das nicht. Diese ganze Sache wird jede Minute merkwürdiger.« »Die Alpha-Ratten«, sagte Conover halb als Frage, halb als Antwort. Er zog an seiner Sherman und lächelte dann mild. »Der Colonel schafft es immer wieder, mich in Erstaunen zu versetzen. Hat er zufällig erwähnt, was wir beide, du und ich, mit den Alpha-Ratten zu tun haben?«
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»Nein. Er sagte nur, daß wir Kontakte hätten und eine Art Deal vor bereiteten«, erklärte Jonny. Er richtete sich auf und drückte die Ziga rette in einem Aschenbecher aus, der aus einem Kristallklumpen von Amazonasquarz geformt war. Seine Kehle brannte. »Und das ist alles, was er gesagt hat?« fragte Conover. »Ja.« Jonny zögerte, bevor er davon anfing, daß Zamora gewollt hatte, daß er Conover auslieferte. Schon die Wiederholung dieser Worte kam ihm wie eine Art Verrat vor. Aber wie würde es aussehen, wenn er es verschwieg, und Conover fand es anderweitig heraus?« Zamora ist wirklich scharf auf Sie«, sagte er schließlich. »Er hat mich freigelassen und gesagt, daß ich Sie in achtundvierzig Stunden einliefern soll oder…« »…oder es kommt zu einer kleinen Szene wie der beim Lagerhaus. Sag mir mal, ist Easy Money irgendwie im Gespräch gewesen?« »Ich glaube nicht.« »Laß dir Zeit. Ich möchte ganz sicher sein. Hat Colonel Zamora ir gendwie Easy Money erwähnt?« »Nein, nie.« »Du warst noch vor einem Augenblick nicht so sicher.« »Ja, da war ich es nicht; aber jetzt bin ich's.« Jonny sah dem Schmugglerlord ins Gesicht. »Gut«, sagte Conover und nickte befriedigt. »Entschuldige, wenn ich so herumbohre, aber es ist wichtig, daß ich Easy Money schnappe, be vor ihn das Komitee kriegt. Er ist mit etwas abgehauen, das mir gehört, und ich möchte nicht, daß Zamora mir mit seinen Razzien irgendwie in die Quere kommt.« »Ich weiß nicht, ob's stimmt, aber der Croaker Groucho sagte, Easy arbeite für Nimble Virtue.« Conover griff nach vorn und nahm eine Flasche Tequila aus einer wohlbestückten Reisebar, die in die Sitze vor ihnen eingelassen war. Neben der Bar gab es eine Anordnung von mattschwarzen japanischen elektronischen Geräten. Jonny erkannte einen Sony Compound Analy zer, ein tragbares Videophon und einen stimmaktivierten PC. Conover goß ein Glas Tequila ein und gab es Jonny. »Ich habe von Nimble Virtue gehört«, sagte Conover. »Tatsächlich habe ich mich mit ihr zu treffen versucht, aber das Biest ist auf der Flucht. Paranoid, das ist sie. Meine Quellen sagen, daß sie eine Ab steige in Little Tokyo hat, aber das wird sich erst noch erweisen.« Jon ny trank seinen Tequila aus, und Conover füllte das Glas nach.
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»Aber jetzt entspann dich doch und erzähl mir von Anfang an, wie das lief mit dir und Zamora. Laß dir Zeit, wir haben eine längere Fahrt vor uns.« Jonny nahm noch einen Schluck von seinem Schnaps und genoß dessen Mischung von Kühle und Hitze. Er war von dem Gedanken, alles auszuplaudern, nicht sehr angetan, aber er wußte, daß es dazu kommen würde, seit der Schmugglerlord ihn mitgenommen hatte. Co nover benützte gerade einen winzigen Löffel, um weißes Pulver aus einem Glasfläschchen zu entnehmen, das er aus der Bar geholt hatte. Anschließend zog er das Häufchen mit einer goldenen Rasierklinge, die nur eine geschärfte Kante hatte, in mehrere saubere Linien aus. Als der Lord ein paar Linien hochgezogen hatte, begann Jonny zu erzählen und berichtete Conover alles, woran er sich erinnern konnte, von dem Moment an, da Zamora ihn geschnappt hatte, bis zu dem, da er sich konfus und zornig hinter dem Gefängnis auf der Straße wieder gefunden hatte. Es war schmerzvoll; all das war über ihn ganz unvor hersehbar hereingebrochen. Ice war nicht mehr da. Sumi war nicht mehr da. Skid war tot. Er fand sogar Grouchos Abwesenheit verstö rend. Als er fertig war, ließ Conover ihn nochmals Teile der Erzählung wiederholen und interessierte sich insbesondere für Zamoras Theorien bezüglich ihrer Verbindung zu den Alpha-Ratten. Nachdem er alles ein zweitesmal durchgegangen war, fühlte Jonny sich ausgetrocknet. Conover tätschelte seinen Arm und nickte. »Gut gemacht, Jonny. Danke. Du siehst aus, als könntest du eine Pause brauchen.« »Ich könnte ein neues Leben brauchen. Was ist nun mit Zamora und den Alpha-Ratten?« Conover gab Jonny das Röhrchen, durch das er das Kokain gesnifft hatte. »Das klingt alles faszinierend. Ich hätte nie gedacht, daß der Co lonel soviel Phantasie hat. Es war mir beinahe recht, wenn es stimmen würde. Wenn ich dich nicht aus dem Feuer holen würde, Jonny, wäre mein Leben untragbar langweilig. Laß dir bloß niemals die Unsterblich keit andrehen. Es gibt einfach nicht genug Interessantes, um sie er träglich zu machen. Sitz deine Zeit ab und laß es damit gut sein, das ist das beste. Es ist nicht höflich, als letzter von einer Party zu gehen.« Jonny zog die weißen Linien hoch und fragte: »Es ist also nichts dran an diesem ganzen Weltraumquatsch?« Conover schüttelte den Kopf, die Augen irgendwo auf Unendlich ge stellt. »Nein, gar nichts«, sagte er, und dann noch etwas, das Jonny nicht verstand, es klang wie ›leer‹.
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Jonny fühlte eine Art merkwürdiger Sympathie für den Schmugglerlord. Bei all seiner Macht hatte Conover sich selbst in dem zerfallenden Körper eines Junkies gefangen eines einzigen Fehlers wegen − seines Lebenswillens. Andererseits war Mr. Conover kein Narr. War es wirklich ein Irrtum gewesen? fragte sich Jonny. Oder war es nur ein Teilstück eines anderen, unendlich komplexeren und subtileren Plans, den Jonny und die anderen, verdammt zu einer lausigen Hand voll Lebensjahre, nicht erkennen konnten? Wenn der Schmuggler tat sächlich in eine Sache verwickelt war, hoffte Jonny, daß es sich um ein großes Ding handelte. Der Preis dafür schien ja sehr hoch zu sein. Conover steckte sich schon wieder eine Zigarette an. Als er das Streichholz aus dem Fenster warf, drang heiße staubige Luft herein. Conovers Laune schien sich gebessert zu haben. »Ich hoffe, daß dir das nichts ausmacht, aber ich muß noch einen kleinen Abstecher machen, bevor wir nach Hause können. Nur ein kleines Geschäft, du verstehst. Es kommt ein Boot vom Süden rein mit ein paar Waren an Bord: Gehirnanhangdrüsenextrakt, gefrorene Augenlinsen, ein paar Kilo Koks. Wir wollen nicht zu spät kommen und unseren Nachbarn den Eindruck vermitteln, daß wir schlampig seien, nicht wahr?« Er lachte, von seiner eigenen Untertreibung amüsiert. »Außerdem glaube ich, daß diese Jungs versuchen wollen, mich zu be scheißen. Und das würde ich um nichts auf der Welt versäumen wollen.« »Ja? Um nichts auf der Welt?« fragte Jonny, der sich dank des Ko kains angenehm benommen und gleichgültig fühlte. Das Innere des Autos strahlte in einem warmen Glühen. »Was war Ihnen die Welt wert?« Conover sah ihn amüsiert an. »Nur ein Verrückter würde sie zur Gänze schmeißen woilen. Ich bin damit zufrieden, meinen kleinen Garten zu bestellen und es damit gut sein zu lassen. L.A. war eine sehr gute Investition für mich, sowohl was die Zeit als auch, was das Geld betrifft.« »Ich habe mich immer gewundert, warum Sie nicht an einen Ort wie beispielsweise New Hope übersiedelt sind. Ich glaube, die Leute dort haben eine Menge teure Angewohnheiten.« Conover hob seine ruinierten Augenbrauen. »Mehr als du glaubst«, sagte er. »Aber New Hope ist eine Geisterstadt. Die Korruption dort ist ein geschlossenes System. Dieselben Familien verkaufen seit Genera tionen Drogen und Daten. Alte, sehr mächtige Familien. Wir sprechen jetzt über die Yakuza und die Panteras de Aureo. Die Familien, die zu den Multis gehören, haben ihre eigenen internen Organisationen, um
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ihre Leute froh und glücklich zu halten. In dieser Szene gibt es keine Freiheit. Wenig Platz für Wachstum.« Er drückte seine Zigarette aus und steckte eine andere in die Perlmuttspitze. »Abgesehen davon geht es mir wie Luzifer im Gedicht: ich ziehe es vor, in der Hölle zu regieren, statt im Himmel zu dienen.« Jonny grinste ihn an. »Ich dachte, Sie sagten, Sie würden diesen Laden nicht schmeißen wollen.« »Das ist alles eine Frage der Semantik. Man kann auch den Himmel nicht kaufen.« Draußen sah man jetzt weniger Sand. Am Horizont war Wetter leuchten. Im Cadillac war eine Gesprächspause entstanden, einer jener Augenblicke, wo ein Gespräch von selbst erstarb, weil alle Worte plötz lich gefährlich oder banal wurden. Jonny fühlte eine gewisse Andacht in diesem Schweigen. Alle Dinge waren zur Ruhe gekommen. Es war wie ein Ritual aus der Kinderzeit, kein Unterschied zum alten Spiel, nicht auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu treten, um die Mutter nicht zu verletzen. Er wußte, daß das alles keine wirkliche Bedeutung hatte, aber wenn es vorbei war, vermißte er es, und während er es zu rückzurufen versuchte, kam statt dessen das Zwillingsbild von Ice und Sumi ins Bewußtsein. »Hey, Mr. Conover, hat irgend etwas von dem, was wir hier machen, mit dem neuen Auftreten der Lepra zu tun?« »Nein. Wieso fragst du das?« »Ich dachte, Sie sehen sich vielleicht nach sowas um. In manchen Gegenden ist die Krankheit schon ziemlich schlimm.« »Hast du diese sogenannte Epidemie mit eigenen Augen gesehen?« fragte Conover. »Du weißt, wie man diese Dinge übertreiben kann. AIDS und Hepatitis E haben die Leute dazu gebracht, jedes Gerücht über eine neue Seuche zu glauben. Dann bemächtigt sich der Link der Sache und bläst es den Leuten mittels Fernsehen direkt ins Hirn, ver stärkt ihren Glauben an ihre eigenen Täuschungen. Könnte diese Seu che nicht eine Massenhysterie sein?« »Ja, ich hab sie selbst gesehen. Die Croaker hatten eine Menge Le pröse in Quarantäne. Sie sagen, dieser neue Erreger sei viral und töd lich. Wir reden nicht über ein paar hysterische Hypochonder. Die ganze Stadt ist in Aufregung.« »Beruhige dich, mein Sohn«, sagte Mister Conover und legte eine Hand auf Jonnys Arm. »Erinnere mich in Zukunft daran, daß ich dir keine Stimulantien gebe.« Er lächelte. »Tatsächlich weiß ich, daß diese neue Krankheit wirklich existiert. Der Erreger sieht nach einer Freß zelle aus, attackiert aber die falsche Art Zellen, nicht wahr? Ich wollte
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nur eine unbeeinflußte Meinung hören. Wie ich schon sagte, ich höre alle Gerüchte. Beispielsweise haben sie in Ost-L.A. angefangen, ihre Toten zu verbrennen. Die Viertel schließen sich gegeneinander ab. Die sozialen Effekte der Krankheit sind sicher real genug. Sag mal, haben die Croaker irgendeinen Erfolg dabei gehabt, die reverse Transcriptase der Virusmuster zu isolieren?« »Sie glauben, daß es sich um ein Retro-Virus handelt?« »Wie AIDS. Dieser kleine Bursche ließ damals die wissenschaftliche Gemeinschaft zum Oujia-Brett greifen, bevor sie irgendeinen Erfolg er zielen konnten.« »Wie war's, wenn man einen generellen Viruskiller wie Ribovirin oder Amantadine einsetzte?« wollte Jonny wissen. Der Schmugglerlord schüttelte den Kopf. »Man hat's versucht. Amantadine scheint ein paar präventive Möglichkeiten zu bieten, aber sobald man infiziert ist, wirkt es nicht mehr.« »Sie kennen sich aus mit dieser neuen Krankheit, nicht wahr, Mr. Conover?« »Das ist mein Beruf.« »Sie scheinen nicht sehr besorgt zu sein.« »Persönlich? Nein. Die Greenis erledigen das alles. Ich glaube nicht, daß mein Blut den kleinen Bastarden gut schmecken würde.« Ein in neres Lachen schüttelte ihn. »Ich hatte seit vierzig Jahren keinen Schnupfen mehr.« »Kennen Sie dann nicht eine Behandlungsmethode, die man der Seuche entgegensetzen könnte?« »Man weiß nicht einmal, wie sie übertragen wird«, sagte Conover. »Und ohne diesen Übertragungsvektor kann man vielleicht ein paar In dividuen heilen, aber nicht die Epidemie stoppen.« Neben dem Fahrersitz vorne im Wagen saß ein hakennasiger Mann mit öliger Frisur, der sich jetzt umdrehte. Er hatte ein blaues Auge und eine stark aufgeschwollene Unterlippe, die ihm einen kindischen, schmollenden Gesichtsausdruck verlieh. Jonny erkannte den Mann als jenen, dem er etwas früher an diesem Abend mit dem Stiefel ein paar Zähne gelockert hatte. Der Mann schien immer noch verlegen. Er wollte Jonny nicht ansehen. »Entschuldigen Sie, Mr. Conover, aber ich stelle einen transmissor en la auto fest.« »Jonny, mein Junge, du wirst doch nicht verdrahtet sein, oder?« fragte der Schmugglerlord. Jonny sah ihn an. »Hey, Sie kennen mich, Mr. Conover. «
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Conover nickte und wandte sich wieder nach vorn. »Was meinst du, Ricos? Gibt dein kleines Spielzeug die richtigen Daten?« »Si, no question. Der Maricón ist das einzige neue Ding hier drin. Ich hab nichts abgelesen, bevor er reingekommen ist.« »Es würde mich wundern, wenn du überhaupt lesen könntest, Sportsfreund«, sagte Jonny. Ricos wollte nach Jonny greifen, aber Conover stieß den Mann in sei nen Sitz zurück. »Es reicht, Kinder. Jonny, könnte dir jemand etwas eingepflanzt haben?« »Nein«, sagte Jonny. »Die Jungs vom Komitee sind mir nie nahe genug gekommen, und die Kleider kommen von den Croakern. Die haben keinen Grund, mich so zu markieren, daß man ihr Versteck finden kann.« Er sah Rico an und deutete auf seinen Kopf. »Tu tene un tornillo flojo.« Conover paffte nachdenklich an seiner Zigarette, beugte sich vor und tippte dem Fahrer auf die Schulter. »Fahr an den Rand«, sagte er. »Ricos, nimm dein Gerät! Komm, Jonny!« Der Wagen hielt bei einem Ladeplatz, der zu einer Mine gehörte, die die umgebenden Hügel eingeebnet hatte. Conover setzte einen weißen Panama auf, während er mit Jonny ausstieg und zur Rückseite des Ca dillacs ging. Baumwollartige Gaswölkchen hingen an gummiweichen, bitter riechenden Teerlachen. Der Schmugglerlord zeigte mit seiner Zigarettenspitze auf Jonny. »Such«, sagte er zu Ricos. Ricos trat sehr nahe an Jonny heran und fuhr mit einem kleinen elektromagnetischen Gerät über Jonnys Kleidung, den ganzen Körper entlang. Jonny sah Conover an und fragte sich, was im Kopf des Schmugglers vorging, konnte aber dessen Miene nicht interpretieren. Also konzentrierte er sich darauf, selbst betont desinteressiert dreinzu sehen, während Rico mit dem Gerät eifrig um seinen Schritt herum fuhr. »Ai!« schrie Ricos. Er hielt den Sensor an Jonnys bandagierte Schulter. »Haben wir dich, maricón!« Jonny sah den Mund und das Gerät in seiner Hand an. »Jesus«, sag te er elend, »verdammter Scheißdreck…« »Jonny?« sagte Conover. Er fiel gegen den Kofferraum, Ricos entzückt über ihm. Er brauchte ein paar Sekunden, um das Bild zusammenzusetzen, was ihn daran er innerte, wie man Bilder mittels Schädelbuchse formte: eine verteilte Masse von Phosphenen, die sich langsam, wie ein verkehrter Tornado um eine zentrale Achse bewegte. Tatsächlich wollte er nicht verstehen,
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aber indem er das einräumte, gab er dem Gedanken Form und schreck liche Substanz. »Das war Zamora«, sagte Jonny. Das Bild war klar. Das Gefängniss pital hatte ihn hübsch zusammengeflickt, und alle Doktoren dort waren Rekruten des Komitees: blut- und gesichtslose Männer der Company. Es war offensichtlich. Er hatte das Komitee zu den Croakern geführt. Direkt zu Ices Zimmer. Jetzt brachte er sie zu Conover. »Oh, verfluchter Mist…« »Was ist los, Jonny?« fragte Conover. Jonny legte unwillkürlich seine Hand auf den Verband. »Ich bin angeschossen worden. Ich wurde angeschossen, und Zamora hat mich verdrahten lassen. Es ist in meiner verdammten Schulter.« Conover trat näher an ihn heran und schüttelte mitfühlend den Kopf. »Tut mir wirklich leid, Sohn. Eine schreckliche Angelegenheit. Wir müssen das Ding natürlich herausschneiden. Du kannst nicht den Rest deines Lebens piepsend herumlaufen.« Jonny lachte, als er darüber nachdachte. Zamora konnte ihn nicht so leicht laufen lassen. Das hätte ihm die ganze Zeit klar sein sollen. Er hätte es nur erkennen müssen. In dem Trick lag sogar eine Art verdreh ter Eleganz, wie Jonny einräumen mußte. Conover rief den Fahrer zu sich und sprach mit ihm ein paar Worte Spanisch. Der Fahrer öffnete den Kofferraum und entrollte ein Bündel chirurgischer Instrumente. Er half Jonny aus seinem Mantel und zog den Oberteil des Pemex-Anzugs zurück. Als er Jonnys Verband und das Xylocain-Pflaster entfernte, tat er es mit solcher Sicherheit, daß Jonny klar wurde, daß der Mann irgendwann mal Mediziner gewesen sein mußte. Jonny fühlte einen kühlen Stoß komprimierter Luft auf seinem Arm, als der Fahrer ihm etwas mit einer Hochdruckspritze injizierte. Ein paar Sekunden später hob Jonny ab. Der Fahrer setzte ihn auf die hin tere Stoßstange und hängte ein kleines Arbeitslicht an die Innenseite des Kofferraumdeckels. Bevor Conover in das Wageninnere zurück kletterte, hörte Jonny ihn sagen: »Bringt es mir, wenn ihr es gefunden habt.« Der Fahrer hatte ein kleines Gerät, das wie eine altmodische Täto wiernadel aussah, das Jonny aber als Akasaka Laserskalpell erkannte. Der Fahrer riet Jonny auf spanisch, sich auf das hängende Licht zu konzentrieren. Jonny spürte nicht das geringste. Als später der Wagen wieder fuhr und Jonny auf dem Rücksitz zu sammengesackt war, immer noch high von dem Zeug, das sie ihm ver
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paßt hatten, hörte er Stimmen mitten in einem Gespräch. Seine Schulter schmerzte bei jedem Herzschlag. Aber es kam ihm vor, als täte seine Schulter ohnehin immer weh, nicht wahr? Schließlich er kannte er Conovers Stimme. »Wir alle tun unsere Arbeit natürlich so gut wie möglich. Zamora ist ein lasterhafter gieriger Drecksack, aber ein erprobter Mannschaftsfüh rer. Ich hab ihn seinerzeit eine Menge erstaunlicher Dinge tun sehen. Allerdings wußte ich nie, daß er eine gewisse Portion Humor besitzt.« Er warf einen Blick auf Jonny. »Hast du das gewußt?« Jonny drehte sich nur um und schlief ein. »Ich würde jetzt gerne heimgehen«, sagte er, aber niemand hörte ihn. Ein dunkler, säuerlich stinkender Hafen mit glänzenden öligen Regenbögen auf schlappen Wellen. In einiger Entfernung stehen Männer in einem Kreis zusammen und sprechen miteinander, ein Ring von Abfall um ihre Füße. Wieder fällt ihm ein Bild ein, diesmal von Tanguy. Haie − die ausgebleichten Skelette von toten Haien, das Fleisch von Vögeln weggefressen, die Kiefer von Souvenirjägern ent fernt, über den Sand verstreut wie ein halluzinatorisches Gut, reif zur Ernte. Weiter unten am Strand ein dachloses Karussell, halb zu sammengebrochen, ein paar beschädigte Holzpferde verschwinden im dreckigen Wasser. Weit entfernt die Flammen abgefackelter Gase. Jonny rieb sich die Augen und versuchte, den Kreis von Männern auf dem Strand scharf zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er oder sie schon da waren. Er war sehr durstig. Soweit Jonny das sehen konnte, sprachen nur zwei von den Männern. Der eine war Conover, wie man leicht erkennen konnte; er überragte die anderen und zog mit dem glühenden Punkt seiner Ziga rette erratische Muster in die Luft. Hinter Conover stand Ricos und spähte in den Wind vom Meer, während seine langen Haare um seinen Kopf flatterten. Der Mann, mit dem Conover sprach, war erheblich kleiner, aber sehr breit. Er trug die weiße Uniform eines mexikanischen Flottenoffiziers. Ein Düsenboot, auf dessen Bug der Name Corpus Christi gemalt war, dümpelte einige Meter draußen im Wasser des Hafens, zwei kleine Zo diacs lagen daneben, das eine mit versiegelten Metallcontainern ange füllt. Die Identifikationsnummer auf der Corpus Christi zeigte, daß das Schiff zur Regierungsflotte in San Diego gehörte, aber sie hatte keine Lichter, und die Flagge auf dem Mast war die Venezuelas, nicht die me xikanische. Als der Mond durch die dichten dunklen Wolken brach, konnte Jonny die Crew gut sehen, die in einem Halbkreis um die Zodia cs stand. Ungefähr die Hälfte trug Marineuniform, die anderen waren in
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Jeans und Leder gekleidet und teils bleiche Gringos, teils Schwarze mit Dreadlocks. Das ist es also, dachte Jonny. Piraten. Er nahm sich die Tequilaflasche aus Conovers Bordbar und schenkte sich einen Drink ein. Der Kapitän der Piraten deutete zu sei nem Schiff zurück und schrie etwas. Vom Tequila angewärmt, fluteten Jonnys Gedanken zurück zu seiner Zeit als Dealer. Es hatte Jonny immer erregt, etwas zu tun, was vom Rest seines Lebens völlig unterschiedlich war. Zum Teil war es der Thrill, den er als Ex-Komitee-Boy fühlte, als er zur ›anderen Seite‹ überlief. Es hatte auch etwas zu tun mit dem vagen Gefühl, die Welt zu verändern, aber das rechnete er seiner jugendlichen Verrücktheit zu oder betrachtete es als eine Konsequenz der Tatsache, daß er zu lange nüchtern ge wesen war. Grouchos beiläufige Bemerkung, die Jonnys Dealen mit re volutionärer Politik gleichgesetzt hatte, irritierte ihn. Das hätte ihm eine Verantwortung aufgehalst, die er nicht haben wollte. Die Welt (oder zumindest Los Angeles, das alles war, was er von der Welt kann te), wie Jonny sie verstand, war nicht viel mehr als der natürliche Kampf konkurrierender Organismen, Organismen wie das Virus, das er auf dem Mikrographen in der Croaker-Klinik gesehen hatte. Jede virale Einheit war unvollständig, bis sie eine lebende Zelle übernahm und diesen Organismus zur Selbstreplikation benützte, und die kleinen Gangster der City verhielten sich wie Viren. Ihre Trägheit zwang sie zu einem dauernden Kampf, der von den endlosen Rhythmen des Kom merzes bestimmt war; die meisten kannten gar nichts anderes. Wie es in der Natur der Sache lag, fraßen die stärkeren Viren die schwächeren auf. Die stärksten Viren waren das Komitee, die Lords und die Multis, Kräfte, die für Jonny überwältigend und im Grund unverständlich waren. Glaubten die Croakers wirklich, daß sie eine Welt ändern konnten, die von Leuten wie Zamora oder Nimble Virtue beherrscht wurde? Selbst Conover war nur ein Geschäftsmann, der seine eigenen Gründe hatte, hier zu sein. Und Groucho war wirklich zu klein, um Atlas spielen zu können. Jonny fragte sich, wo Ice wohl in diesem Moment sein mochte. Er spürte, daß es ihr gut ging; sie schien ein Talent zum Überleben zu haben. Sumi hingegen war für ihn eins geworden mit dem zerstörten Apartment. Wenn Zamora sie wirklich in seiner Gewalt hatte, war sie verloren. Jonny liebte sie beide, aber er fühlte, daß er ihnen mehr als das schuldete.
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Die Autotür auf der anderen Seite öffnete sich und Conover lehnte sich ins Wageninnere. Salzkristalle glitzerten auf den Schultern und dem breiten Hutrand des Schmugglers. Er lächelte Jonny an. »Wie fühlst du dich?« fragte er. »Wir werden in ein paar Minuten fertig sein. Diese Jungs spielen in der Unterliga. Gib mir die Schachtel dort bei dir am Boden, bitte.« Jonny schaute auf den Boden des Cadillacs und sah eine kleine, schwarzlackierte Schachtel mit einer Messingverzierung in Form von Lotosblättern. Sein Kopf drehte sich, als er die Schachtel aufhob. Co nover lächelte, als er sie nahm. »Danke, mein Sohn. Sitz ruhig. Trink et was!« Während er zusah, wie der Schmugglerlord über den farblosen Sand schritt, überkam Jonny ein plötzliches und überwältigendes Verlustge fühl, als treibe er in einem form- und endlosen Ozean, ohne irgendwo Land sehen zu können. Er hatte das dringende Bedürfnis, augenblick lich abzuhauen, von dem Auto wegzurennen und zu rennen und zu rennen. Aber er blieb sitzen. Wenn er lange genug dahintrieb, würde Land in Sicht geraten, dachte er sich. Außerdem war er blödsinnig stoned. Wohin sollte ich gehen, wenn ich davonlaufe? fragte er sich. Am Strand rauchten die Piraten und reichten eine Flasche herum. Jonny hob seinen Tequila, prostete ihnen zu und beschloß, im Auto zu bleiben. Sich treiben zu lassen war das, was er am besten konnte. Das wußte er. Der Piratenkapitän nickte, als Conover ihm zeremoniell die kleine Schachtel übergab. Der Pirat öffnete sie für einen Moment und winkte heftig ein paar Männern, die bei den Zodiacs standen. Sie kamen mit einigen Containern her und legten sie ein paar Meter vor Conover und Ricos auf den Sand. Dann zogen sie sich schnell wieder zurück von dem Schmugglerlord. Jonny sah die heftige Bewegung einer Piratenhand: Der Mann hatte sich auf katholische Art bekreuzigt. Ricos öffnete ein Schmetterlingsmesser und zerschnitt die Metall bänder, die den Deckel eines Containers festhielten. Er griff hinein und zog einen weißen Ziegel in dickem Plastik heraus, den er Conover gab. Jonny fragte sich, wo Conovers Chauffeur eigentlich war. Als er wieder den Strand beobachtete, zogen sich die Piraten zurück und stießen ihre Zodiacs in die Wellen. Der Mond beleuchtete kurz die Gummiflöße, die die Maschinen flankierten, wie Zwillingstorpedos, die von Haut überzogen waren. Ricos trug die Metallcontainer zum Cadillac und sta pelte sie hinter dem Auto, während Conover einstieg. Jonny wies mit dem Kopf auf den Ziegel. »Reines Kokain?« »Theoretisch.«
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»Eine riesige Menge.« »Das glaubst du, nicht wahr?« Der Schmugglerlord räumte ein paar Flaschen beiseite und legte den Ziegel auf die Bar. Mit dem Daumen nagel bohrte er ein Loch in das Plastik. Er tippte mit dem Finger auf seine Zunge und grunzte. Dann wies er mit einer Geste Jonny an, ebenfalls zu probieren. Jonny näßte das Ende seines Mittelfingers und steckte ihn in das Koks. »Was stimmt nicht damit?« fragte er, während er den Finger zur Zunge führte. »Das sagst du mir«, erwiderte Conover, während er eine kleine Porti on des Materials in ein Reagenzglas löffelte, das zur Hälfte mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Er mixte die beiden Bestandteile durch Drehen und befestigte dann das Reagenzglas an einem Metallhalter des Compound-Analyzers. Er legte einen Schalter um und ein Strahl weißen Laserlichts erleuchtete die Probe von innen. Jonny fand den Geschmack des Puders merkwürdig: alkaloide Bitterkeit mit einem süßlichen Nachgeschmack. Da waren eine Dicke und Körnigkeit, die nicht stimmten. »Spürst du was?« fragte Conover. »Nichts«, sagte Jonny, »die haben das total verschnitten.« Conover sagte ›zeigen‹ zum PC, und der Bildschirm leuchtete auf und zeigte den Regenbogenbalken, der das spektrographische Ergeb nis der Untersuchung der Probe war. Eine Liste von Chemikalien und Prozentsätzen bis auf fünf Dezimalstellen wurde auf der einen Seite des Bildschirms gezeigt. Der Schmugglerlord schnaubte und warf den Ziegel um, der weiße Körner auf die Sitze verstreute. »Guter Gott«, sagte Conover, »Milchpulver, Zucker und vielleicht noch Backpulver. Jesus, man könnte einen Kuchen aus dem Zeug ma chen. Es ist verschnitten worden, dann nochmals verschnitten und nochmals. Diese Burschen haben wahrscheinlich meine Drogen die ganze Küste entlang an Freelancer verkauft und das Gewicht mit allem, was gerade zur Hand war, wieder aufgefüllt.« Er schüttelte ziem lich traurig den Kopf. »Diese Leute glauben, weil sie ein Militärboot haben, seien sie schon immun.« Er legte den Ziegel auf die Bar zurück. In diesem Moment wurde Jonny etwas klar. »Sie haben ihn ihnen gegeben, nicht wahr?« sagte er. »Was gegeben, mein Junge?« »Den Sender. Sie haben ihn in die Schachtel mit dem Geld getan, oder?«
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Conover lächelte, nahm eine Zigarette aus seinem Etui und zündete sie an. Nachdem er die beiden letzten Container ins Auto gebracht hatte, stieg Ricos ein. »Ich halte das für einen fairen Tausch. Geladenes Geld für ge ladenen Koks«, sagte er grinsend. »Die Hormone und die Retinas?« fragte er. Ricos schüttelte den Kopf. »Paralizados. Sieht aus, als hätten sie aufgebrochen und alles durch wühlt. Is' alles verdorben.« Der Schmugglerlord nickte. »Laß dir das eine Lehre sein, Jonny: man hat immer mit Arschlöchern zu tun. Wohin immer du gehst, was auch immer du tust, du mußt auf der Hut sein. Wenn nicht, ziehen dich die Dummköpfe und Erbsenhirne dieser Welt mit sich in die Senk gruben.« Jonny lehnte sich zurück und bemerkte endlich ein leichtes Benom menheitsgefühl an der Zungenspitze. Sehr stark war es aber nicht. »Glauben Sie, daß Zamora sie verfolgt?« »Warum nicht? Es war ein nettes kleines Hardwareding, das wir da aus deiner Schulter gepolkt haben. Hitachi, für militärischen Ge brauch. VHP für Kurzwellenmonitoring und Neutrinoaufzeichnung für weite Entfernungen. Der Colonel kann nicht wissen, ob du nicht in ternationale Verbindungen hast. Er glaubt, du kaufst Dope von den Mondmenschen, nicht wahr?« Jonny zog ein Gesicht. »Das alles war sehr… sehr professionell von Ihnen.« Conover sah ihn neugierig an, während er mit der einen Hand an der Öffnung des Ziegels herumspielte. »Du findest meine Methoden ungeschlacht? Vielleicht wärst du glücklicher, wenn der Colonel uns bis zu meinem Haus verfolgen könn te. Das würde die ganze Party hübsch schnell beenden, nicht wahr?« »Sagen wir, ich sei ein bißchen desillusioniert, wie wäre es damit? Ich meine, ich habe bisher geglaubt, die Leute, die mit Dope handeln, seien auf unserer Seite.« Jonny biß auf seine Zungenspitze, um zu se hen, ob sie immer noch taub war. Sie war es nicht mehr. »Ganz schön doof, nicht wahr? Sie müssen es mir nicht erklären. Ich weiß, wie das Lied geht: Alles dreht sich ums Geld. Wie immer.« Der Schmugglerlord hob den Ziegel auf und hielt ihn Jonny hin. »Werde reich, wenn's geht, mit Eleganz; wenn nicht, werd reich, wie du es schaffst. − Alexander Pope. Das ist die Algebra der Sucht, mein Sohn. So lange die Sucht existiert, wird jemand sie versorgen und dar aus seinen Nutzen ziehen, wie diese Gentlemen von der Corpus Christi. Sie haben kapiert, zumindest so lange, bis sie zu gierig wurden. Es ist
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Muttermilch − oder Konsumerismus − die Große Titte. Der Ärger mit dir, Jonny, kommt daher, daß du im Geschäft bist, aber kein Geschäfts mann.« Conover öffnete seine Tür und schüttete den Inhalt des weißen Ziegels in den Sand. »Im Geschäft muß man manchmal einen Verlust hinnehmen, um später wieder einen Gewinn erzielen zu können.« »Ich werde versuchen, daran zu denken.« »Das würde dir guttun.« Ricos schauderte im Vordersitz. Conover nahm eine Flasche Aguardiente und goß ihm ein Glas ein. Dann kam der Fahrer zurück, der einen sandfarbenen Anorak und eine Nachtsichtbrille trug. Über der Schulter hatte er ein arabisches Kleingewehr, dessen zwölf massive Läufe von kondensierter Nebelnässe tropften. Conover bemerkte bei läufig, daß der Mann sich in einiger Distanz in den Dünen versteckt ge habt hatte, bis das Boot wieder ausgelaufen war. Nachdem der Fahrer das Gewehr im Kofferraum verstaut hatte (wobei er die kaputten Hor mone und Retinas für die Möwen auf den Strand warf), gab Conover ihm einen Drink und sagte ihm, er solle sie heimfahren.
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VII Gnade
Das Maschinengewehr im Zustand der
Sie fuhren schweigend. Jonny döste auf dem Rücksitz, wachte aber alle paar Minuten auf, wenn der Cadillac über den gesprungenen Beton hol perte, was den Wagen zu heftigem Schütteln veranlaßte. Dann sah Jon ny aus dem Fenster und erblickte mit grellbuntem Gewebe bedeckte Hügel oder eine Gruppe von Chrom-Palmen, die aus gestohlenen JetDüsen und Pipeline-Röhren zusammengebaut waren. Ein Geschenk der Croaker, dachte er sich, während er der Welt den Mittelfinger zeig te. Als sie der Stadt näherkamen, sah er Besetzerlager, lange Wände von verrostendem Blech und zerstörten Reklametafeln. Da konnte er ein Wort lesen, dort ein Gesicht sehen. Die Augen einer Frau. FLIEG. ISS. Die Kurve einer Hüfte. LIEBE. Außerhalb Hollywoods verließen sie die ruinierte Autobahn und fuh ren durch ein altes Vorstadtviertel, bevor sie den Anstieg in die Hügel hochkletterten. Der Fahrer schaltete die Kohlenstoffbögen am Dach ab und stöp selte einen Infrarot-Sucher in seinen Kopf ein, dessen Sensoren in der Gegend der Scheinwerfer untergebracht waren. Das einzige Licht, das Jonny sehen konnte, war das blaßgrüne Quecksilberglimmen der Vor städte und das nervöse Glühwürmchen von Conovers Zigarette. Sie fuhren durch Tunnel aus zerbröselndem Zement, in denen Pilze die Wände bedeckten. Obwohl die Klimaanlage mit voller Kraft lief, roch man den starken Geruch der verrottenden Vegetation. Auf dem Bankett zog sich eine Reihe ausgebrannter Autos hin, die von Gras überwachsen waren. Als sie Höhe gewannen, wurde die Straße enger und gefährlicher. Sie kamen an den Ruinen des letzten Bauwidmungs landes von Hollywood vorbei, einem New Hope seiner Zeit. Die reichen Eigentümer hatten versucht, sich von allem abzukapseln, aber das hatte nicht funktioniert. Sie waren mit all ihrer Verrücktheit hier her auf in die Hügel übersiedelt. Und als alles rund um sie zusammenfiel, war niemand überrascht. Das Verrotten hatte schon begonnen, bevor man mit dem Bauen angefangen hatte. Der Wagen wurde endlich langsamer und kam zum Stehen. Als Jon ny aus dem Fenster sah, konnte er nichts erkennen als steinige Hügel und das Band der mit Blättern bedeckten Straße, die sich in der Dun kelheit verlor. Der Fahrer tippte einen Code in eine Tastatur auf dem Armaturenbrett (paranoide Reflexe führten dazu, daß Jonny sich vor
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lehnte und aus den Augenwinkeln die Kombination verfolgte, um sie sich einzuprägen). Dann begannen sich Teile der Hügellandschaft, ex akte Rechtecke aus Steinen und Gras, zu bewegen. Jonny wurde klar, daß er ein Hologramm gesehen hatte. Nachdem etwa ein Dutzend sol cher Teile verschwunden war, sah Jonny einen betonierten Fahrweg, der von der Hauptstraße abbog. Der Wagen fuhr auf diese neue Straße und die holographischen Hügel rückten hinter ihm wieder an ihren Platz. Eine große Katze, ein Puma oder Jaguar (»Wachroboter«, sagte Conover) lief am Auto vorbei, während sie an einem dichten Gebüsch aus Madrones und schäbiger Manzanita vorüberfuhren. Jonny sah Männer patrouillieren und bemerkte das Glänzen eines Gewehrs, das um eine gut getarnte Schulter hing. »Unsere Sicherheitsvorkehrungen hier sind ziemlich dicht«, sagte Conover. »Der ganze Hügel ist verdrahtet. Bewegungsdetektoren, In frarot und Restlichtverstärker. Wir haben sofortwirkende NeurotoxinMikrokapseln auf der blinden Seite des Hügels installiert. Die Bur schen, die du gesehen hast, tragen schultergestützte Railguns. So kleine Modelle sind etwas ganz Neues. Sehr teuer. Sie können einhundert Gramm schwere Polykarbon-Projektile auf tausend Stundenkilometer beschleunigen. Das ist, als schmeiße man einen kleinen Berg auf dich.« Er zündete sich eine neue Zigarette an und nahm eine schwarze Silikonkarte aus seiner Jackeninnentasche. Auf der Oberfläche der Karte formten goldene Filamente einen Strichcode. »Du brauchst auch das hier. Wir haben ein magnetisches Scanning für jedes Fahrzeug, das hier durchkommt. Wenn das System nicht den richtigen Code liest, löst es alle möglichen Alarmvorrichtungen aus.« »Erwarten Sie die Armee?« fragte Jonny. »Ich erwarte gar nichts«, sagte Conover. »Ich bin auf alles vorberei tet.« Sie fuhren um einen wenig passend erscheinenden Bambushain her um und hielten vor Conovers Landsitz. Durch die Hologrammkuppel sah man undeutlich die Sterne. Jonny glaubte zuerst, daß das Haupt gebäude von kleineren Bungalows umgeben sei. Als sie näherkamen, erkannte er, daß es sich um eine einzige, massive Zusammenballung von Gebäuden handelte, die sich wie ein geometrisches Melanom über dem Hügel erhob. Der anscheinend älteste Teil des Landsitzes war in eindeutig viktorianischem Stil erbaut, während die anderen nach Pseu do-Hacienda aussahen; die neuesten Hinzufügungen wirkten traditionell japanisch. Sorgfältig geschwungene Pagodendächer grenz ten in merkwürdigen Winkeln an Spanische Bögen, vielfenstrige Man sarden überragten vergoldete Tempelhunde.
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»Ich habe von diesem Ort schon gehört. Es ist das alte Stone Mansi on, nicht wahr?« fragte Jonny. Conover nickte. Der Cadillac stoppte vor einem Teich voll fetter, gefleckter Karpfen. Conover stieg aus. Jonny folgte ihm, wobei er fest stellte, daß die Schmerzen in seiner Schulter wieder zu wühlen be gannen. »Ja, das ist Stone Mansion. Ich bin überrascht, daß sich noch jemand daran erinnert. Der alte Mister Stone machte ein Vermögen da mit, verdorbene Babynahrung in Afrika und auf dem asiatischen Sub kontinent zu verkaufen, wobei man den Müttern einredete, es sei besser, das Stillen aufzugeben und seinen Mist zu verfüttern. Als er starb, setzte sich Mrs. Stone in den Kopf, daß die Geister all dieser kleinen Kinder hinter ihr her seien. Sie baute ständig an, um dreißig Jahre lang jede Nacht in einem anderen Raum schlafen zu können. Die Architekten hatten freie Hand, so zu bauen, wie es jeweils gerade Mode war. Dies ist das Ergebnis.« Er machte eine Handbewegung zu dem Bau hin. »Was glaubst du? Ist es eine Vision des Wahnsinns, aller Welt sichtbar gemacht, oder nur die Laune einer meschuggenen alten Kuh mit zuviel Geld? Es spielt ja keine Rolle. Das Ganze ist sehr kom fortabel. Die alte Verrückte ließ nur die besten Materialien verwenden.« »Eine tolle Umgebung«, sagte Jonny. »Sie müssen hier einen ge waltigen Energieaufwand treiben. Haben Sie keine Angst, daß man das bis zu Ihnen zurückverfolgen kann?« »Wir haben Solarzellen und Darius-Windmühlen auf den um liegenden Hügeln«, sagte Conover lächelnd. »Und für den Rest haben mir die Wattfänger eine Leitung ins Polizeinetz gelegt.« Jonny lachte und tätschelte die Kühlerhaube des Wagens. »Ich liebe das!« Er fühlte sich weich und heiß und hätte sich gerne hingesetzt. Aus den Madrones hörte man eine Serie langer hysterischer Schreie, die anstiegen, bis sie einen Gipfelpunkt erreichten, abfielen und neuer lich anstiegen. Antwortrufe kamen von weiter hinten. »Was, zum Teufel, ist das?« fragte Jonny. Conover wies auf die Hügel. »Samangs. Affen. Wir sind direkt unter Griffith Park. Als der Zoo während der Proteinrebellion zerstört wurde, entflohen einige der Tiere und siedelten sich hier an. Es ist nicht rat sam, nachts allein durch diese Hügel zu gehen. Die Affen würden einen nicht belästigen, aber es gibt auch Tiger.« Jonny nickte und sah zu, wie die Zweige der Madrones sich in einer sanften Brise wiegten. »Ziemlich kühl hier draußen, oder?« »Vielleicht möchtest du das Innere des Hauses sehen? Ich habe ein oder zwei Kleinigkeiten aus lokalen Museen, die du vielleicht inter essant finden wirst.«
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»Kunst ist mein ganzes Leben«, sagte Jonny, während er hinter dem Schmuggler ins Haus ging. Der japanische Flügel war nahezu leer; Jonny war sich nicht sicher, ob das zum Stil gehörte oder ob etwas fehlte, aber es roch hier gut nach lackiertem Holz, Räucherstäbchen und Tatamimatten. Viele der Zimmer, an denen sie vorübergingen, waren von Reispapierschiebetü ren verschlossen, auf die Aquarelle von Kranichen und königlichen Pagoden gemalt waren. Conover nahm ihn mit in den vollgestopften viktorianischen Flügel, wo künstliches Tageslicht durch Butzen scheiben voller Heiliger und lateinischer Inschriften fiel. Teppichbe deckte Wendeltreppen erschienen plötzlich, wenn man um eine Ecke bog, es gab urnenförmige Vasen voller Lilien und Töpfe mit dicken Zwergweiden und Korridore, die auf unmögliche Weise in sich selbst zurückzuführen schienen. Jonnys Zimmer hatte eine Blümchentapete, tausende winziger purpurner Blumensträuße, und war mit bezaubern den alten französischen Antiquitäten ausstaffiert: einem Walnuß schrank, kleinen Glasmalereien von idealisierten Porträts, weißen handgeschnitzten Stühlen mit gestickten Polstern und einem Himmelbett voller Spitzen und goldener Blätter. Er lächelte Conover an, obwohl er sich von dem Zimmer abgestoßen fühlte. Es war, als wohne man in der Unterwäscheschublade einer Luxusnutte. Als Cono ver gegangen war, setzte sich Jonny auf die Bettkante und schloß die Augen. Er fühlte sich erschöpft, sowohl geistig als auch körperlich, und konnte sich nicht entspannen. Der lange Weg bis in dieses Zimmer und Conovers Erzählungen über seine Sicherheitsvorkehrungen und die wilden Tiere in den Hügeln waren natürlich Warnungen gewesen. Jonny durfte das Grundstück nicht verlassen. Dieser Gedanke machte ihn un sicher. Er fürchtete sich, die Antiquitäten zu berühren und hatte keine Anzeichen von Video- oder Hologrammüberwachung bemerkt. Nur diese verdammten Bilder hingen überall. Sie bedeckten alle Wände im viktorianischen Flügel, eingelassen in geschnitzte Holzrahmen und be leuchtet von kleinen Halogen-Spotlights, die in die Decke eingefügt waren. Conover war auch ein Kunstfreak, dachte Jonny, genau wie Groucho. Aber die Kunst des Anarchisten hatte ihn auf andere Art be eindruckt. Sie hatte den Prozeß des Künstlergeistes gezeigt und vollen Gebrauch von seinen oder ihren Obsessionen gemacht, wodurch sie einen Reichtum an persönlichen Symbolen enthüllte, die eine Land schaft des Traums darstellten. Conovers Gemälde erinnerten Jonny an grimmige Familienschnappschüsse. Grouchos Kunst (also jene, die nicht er oder die anderen Croaker selbst geschaffen hatten) hatte auch nur aus Kopien bestanden, billigen Reproduktionen, die sie aus Bü
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chern geschnitten hatten. Jonny betrachtete das Porträt eines Mannes über dem Schreibtisch. Seine Augen waren sorgenvoll, der Körper mit Pfeilen gespickt. Auf einem kleinen Schild unter dem Gemälde stand: El Greco. Der Name sagte Jonny nichts. Er ging hinaus in den Gang und berührte jedes Gemälde, an dem er vorüberkam, ließ seine Finger über die jahrhundertealten Leinwände streichen. Sie waren alle gleich. Arme Schlucker, die von Adeligen bezahlt wurden, um deren Visagen zu verewigen. Alte Meister nannte man sie. Die meisten Bilder Cono vers schienen Porträts zu sein, obwohl es auch ein paar Landschaften gab, die Jonny aber nichts bedeuteten. Bilder von Männern zu Pferd, die rote Jacken trugen und etwas jagten, das für Jonny wie eine große Ratte aussah. Namen: Goya. Rembrandt. Die Gesichter auf den Bildern hatten alle dieselbe lederartige Textur alter Ölgemälde. »Eines Tages kauf ich mir Aoki Vega oder Jimmy Gagarin«, sagte er zu einer Renaissance-Madonna mit Kind. An der Wand über einem schweren gotischen Ebenholztisch hing ein Bild, das Jonny kannte: ›Blauer Knabe‹, von Thomas Gainsborough. Er erinnerte sich daran, daß er eine Postkarte dieses Gemäldes gesehen hatte, die im Schweiß auf dem nackten Hinterteil einer jungen Frau ge klebt hatte, mit der er in den Ruinen der Huntington Art Gallery ge wesen war. Jonny ließ seine Finger über den mit einer Feder gesch mückten Hut des Jungen laufen. Fein gerilltes Plastik. Jonny berührte das Gemälde nochmals. Als er das Gesicht des Jungen in Blau aus der Nähe betrachtete, sah er, daß die Textur des Gemäldes eine Illusion war. »Ein Hologramm«, sagte er sehr über rascht. Also blufft auch Conover, dachte er. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich daraufhin viel besser. Jonny berührte das Plastikgesicht noch einmal, um sich zu vergewissern, dann ging er in sein Zimmer zurück. Er kleidete sich aus und schaltete die Dusche ein. Bevor er unter den Strahl trat, nahm er zwei Dilaudid-Analogien, die Conover ihm gegen den Schmerz in seiner Schulter gegeben hatte. Er trat in die Dusch kabine und stand lange Zeit unter der Brause, die aus einem gold farbenen schmiedeeisernen Fisch bestand, wobei er das Wasser so stark aufgedreht hatte, daß es seinen Rücken mit einem Strom heißer, stechender Nadeln massierte. In sein Zimmer zurückgekehrt fand er eine für ihn auf dem Bett aus gebreitete Seidenrobe vor, außerdem ein Silbertablett mit Eis, Gin und einer Flasche Tonic. Die Analogie überkam ihn plötzlich: während er am Schreibtisch stand, umgeben von Antiquitäten und dem Geruch sauberer Wäsche, sah er die Welt in einer Vision als einen Ort von Ord
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nung und Frieden. Seine Zähne verschmolzen sanft mit seinem Schädel. Er goß sich einen Schluck Gin ein und kippte ihn. Seine Schulter schmerzte, als er sich auf das Bett legte, aber der Schmerz kam von irgendwo tief drinnen, tief vergraben unter verfloch tenem Wurzelwerk. Er schlief ein und träumte von Ice und Sumi. Er fand sie am oberen Ende einer verzierten spiralförmigen Wendeltreppe, aber als er sie berühren wollte, waren sie nur Plastikholos. In Schweiß gebadet, wachte er Stunden später auf. Jemand hatte das Licht abgedreht. Er stolperte in dem dunklen Zimmer herum, bis er den Gin fand. Er nahm die Flasche mit und stellte sie auf den Fuß boden neben das Bett. Jonny verlor das Gefühl für das Verstreichen der Tage. Er schlief die meiste Zeit. Conover hatte einen privaten Medi zinerstab, hauptsächlich Japaner von geradezu schmerzhafter Höflich keit. Unter vielen Entschuldigungen steckte eine junge Schwester namens Yukiko Nadeln in ihn – Antibiotika für die Wunde in seiner Schulter, Proteinersatz und Mega-Vitamine gegen seine leichte Unter ernährung. In einem winzigen Labor im japanischen Flügel übertrugen sie frisches Nervengewebe in den beschädigten Teil seiner Schulter. Sie schlossen ihn an ein Muskelstimulationsgerät an, das leichte Elektro schocks verwendete, um die Muskeln zu spannen und wieder zu ent spannen, damit er die Kraft in Schultern und Arm zurückgewänne. Yukiko sprach nicht Englisch, lächelte aber ständig. Jonny lächelte zu rück. Am Morgen versuchte er T'ai Chi zu betreiben, aber die Bewegungen fühlten sich merkwürdig und ungewohnt an, so als habe er sie in einem anderen Körper erlernt. Er nahm die spitzengesäumten Kissen vom Bett und saß mit verschränkten Beinen auf ihnen in einer Ekce des Raumes und starrte an die Stelle, wo die gegenüberliegenden geblüm ten Wände sich trafen, und bemühte sich, zu meditieren. Obwohl er sol che Sitzungen in den letzten Jahren nur sehr unregelmäßig vorgenom men hatte, glaubte er immer noch an die Kraft der Meditation. Früher hatte er einen Meister gehabt, eine sehr alte Zen-Nonne mit oliv farbener Haut mit so vielen Runzeln, daß sie wie ein alter Scheu erlappen aussah, und billigen, aus zweiter Hand gekauften piezo elektrischen Augen, die nur Schwarz-Weiß unterscheiden konnten. »Die Farben sind hier«, pflegte sie zu sagen, wobei sie auf ihren Kopf wies. »All das ist Illusion.« Sie zeigte um sich. »Aber wichtig zu wissen: auch das ist Illusion.« Sie zeigte wieder auf ihren Kopf und lachte vergnügt. Aber dieser Zustand der Leere entzog sich Jonny, die Leere füllte sich, wenn das Selbst verlorenging. Er erinnerte sich an alle diese Zen
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sprüche und Theorien. Er saß auf den alten französischen Kissen, Schmerzempfindungen wie glühende Drähte in den Knien, und sang die Sutras, wobei er versuchte, sich selbst als einen Vogel zu sehen. In der Vergangenheit hatte das manchmal funktioniert. Verlaß dein Selbst, werde ein Vogel, verlaß den Vogel, werde Nichts. Aber seine Konzentration war dahin, an ihre Stelle war ein wühlender Selbstzweifel getreten, der von Angst, Drogen und Schuldgefühlen ge nährt wurde. Er dachte oft an Ice und Sumi. Die Tage kamen und gingen ohne jede Information über die Croaker. Sie schienen massen haft untergetaucht zu sein. Conover fand heraus, daß eine zweite Gruppe von Croakern die Komitee-Boys vor dem Lagerhaus attackiert hatte. Auf beiden Seiten hatte es schwere Verluste gegeben. Aber Co nover hatte keine Informationen über den Croaker-Führer oder über Ice. Jonny entdeckte, daß er durch eine Drehbewegung gegen den Uhr zeigersinn an einem stilisierten Cloisonne-Elefanten an seinem Schreibtisch eine Wand verschieben und einen großen LCD-Video schirm freilegen konnte. Da entschied er, daß sein Bett sein Karma sei, das Hauptthema seiner Inkarnation in einer Welt aus Fleisch, Schmerz und Illusion. Er nahm Dilaudid-Analoga und sah sich Link-Sendungen an. Gelehrte Fachleute quatschten nach wie vor auf allen Kanälen über die Alpha-Ratten; Jonny flippte durch die Kanäle und landete jeden Tag bei einer pakistanischen Station auf einem an sich gesperrten Ka nal, den Conovers Satellitenverbindung irgendwie anzapfen konnte. Es machte ihm Spaß, zu hören, daß der schlanke Moslem als Spre cher in derselben schnellen und ironischen Weise sprach wie die westli chen Moderatoren. Obwohl Jonny kein Wort Pakistanisch verstand, sa hen die Commercials doch vertraut aus und die Musik hatte dieselbe universale Jingle-Qualität wie die eigene. Die Werbespots schienen sich hauptsächlich mit der Fusionsenergie zu beschäftigen und mit Kriegs invaliden. Jonnys Lieblingsteil der Sendung war der Schluß. Da kam immer die rituelle Flaggenverbrennung. Manchmal fackelten sie die ame rikanische Flagge ab, manchmal die japanische. Jonny prostete den un iformierten jungen Haschischins zu (jeder hatte einen grauen Metall schlüssel um seinen Hals hängen, der der Schlüssel zum Paradies war), bis ihm einfiel, daß Moslems nicht tranken. Dann hob er nur noch das Glas und trommelte aufs Bett und sang betrunken mit, während die schrillen Schlachtgesänge des Heiligen Kriegs ertönten. Die Nachrichten brachten oft Bilder vom Mond, fusselige Satelliten bilder, die ruinierte geodätische Kuppeln und die Kristallhügel der Al
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pha-Ratten-Schiffe auf der sterilen Mondoberfläche zeigten. Einmal sah Jonny in einer Sendung eine Straße, die ihm bekannt vorkam. Es war eine ziemlich verwackelte Fahrt, so als sei sie aus dem Fenster eines fahrenden Autos aufgenommen. Vielfarbige Marquisen und fla ckerndes Neon. Hollywood Boulevard. Das Gesicht des Sprechers wurde ernst, als er zum Thema kam. Bilder von Leprakranken in den Straßen − sie schienen jetzt überall zu sein; kurze Blicke auf Gangs (er erkannte sofort die Imperial Lizards), Huren und Gangster aus dem Valley. Leichenfeuer an den Betonufern des Los Angeles River. Ein schneller Schwenk über Menschen, die in einen der Fleischwagen des Komitees geladen wurden. Die Sendung endete damit, daß der Sprecher den Kopf senkte und eine Karikatur von Uncle Sam und einem Samurai auf dem Bildschirm erschien. Beide Figuren schrien »Banzaii, der Samurai schwang ein langes Schwert und machte einen langen Schnitt in eine Karte des Mittleren Ostens. Jonnys Hände zitterten, als er den Apparat ab schaltete. Manchmal aß Jonny mit Conover in einem Saal am äußeren Ende des Hacienda-Flügels. Eine freitragende Stucco-Decke mit Holzbalken, die so alt waren, daß es sich vielleicht noch um richtiges Holz handelte, zog sich in Kreuzmustern zwei Stockwerke über dem Bereich hin, in dem die beiden dinierten, einer leuchtenden Insel aus Silber und Kris tall in einem Meer gestohlener Kunst. Alte Meister, Badeszenen und Jagden, Orgien und Kreuzigungen, manche einige Meter lang, Waren in Dreierreihen an die Wände gelehnt oder auf Aluminiumstaffeleien pla ziert, die zwischen romanischen Würgengeln aus dem 16. Jahrhundert und Henry-Moore-Bronzen standen. Buddha und Ganesha teilten sich den Platz auf dem Mantel eines eingemauerten Kamins mit Porzellan uhren. Jonny kam in einem von Conovers schwarzen Seidenhemden und einer leichten Baumwollhose zum Dinner. Er war betrunken, hatte aber kein Dilaudid genommen. Obwohl das Analogen technisch gesehen nicht süchtig machte, schwitzte er doch und bekam Krämpfe, wenn er es nicht regelmäßig nahm. Um diesen Symptomen entgegenzuwirken, hatte er sich selbst tägliche Dexedrin-Dosen verschrieben. Trotz aller Drogen war er sich darüber im klaren, daß Conovers Mediziner ihn ganz ordentlich zusammengeflickt hatten. Er fühlte sich gesünder und kräftiger als jemals in der ganzen Zeit, seit er das Komitee verlassen hatte. Conover schien allein zu essen, wenn Jonny ihm nicht Gesellschaft leistete.
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Das Essen wurde ihnen vom sehr tüchtigen und äußerst schweig samen Personal, Afrikanern mit rituellen Schmucknarben, serviert. Es war französisch und japanisch – Zuckererbsen oder glasierte Karotten, die mit chirurgischer Präzision um dünne und zumindest für Jonny na hezu geschmacklose Fleischscheiben arrangiert waren. Als er darüber eine Bemerkung zu Conover machte, erklärte ihm der Schmuggler, das Fleisch käme von kanadischen Herden, die immer noch Getreide fraßen und in offenem Gelände weideten, und nicht von den genetisch veränderten Tieren, die bein- und augenlos in den Tijuana-Prote infabriken an Riemen hingen. »Was dir hier fehlt, mein Sohn, ist der Geschmack all dieser Chemi kalien, der Planktonnährlösungen und Wachstumshormone.« Jonny zuckte die Achseln. »Bin eben nur ein einfacher Bursche.« Conover lachte. Er saß Jonny gegenüber in einem Stuhl aus zusammenge schweißten Aluminiumröhren am Tisch. Drähte führten von seiner Brust, den Ohren und dem Skalp (blasse Flecken spärlichen weißen Haars) zu einem Körpersignal-Monitor an seiner Linken. Einer seiner Ärmel war hochgerollt und ein Schlauch führte von einer rotierenden Plasmapumpe, die an der Seite seines Stuhls angebracht war, unter einen Streifen chirurgischen Pflasters in seinen Arm. »Zweimal in der Woche muß ich das durchstehen«, erklärte Conover. »Blutaustausch und Cyclosporin-Behandlung. Mein Körper stößt sich selbst ab. Die meisten meiner Organe sind jetzt mit Greenies gesättigt. Jene, die es noch nicht sind, erkennt mein Körper nicht mehr und versucht, sie zu zerstören. Das Cyclosporin verlangsamt diesen Prozeß.« Er nahm einen Schluck Wein aus seinem gerieften Kristallglas. »Ich klone meine eigenen Organe. Hab ein- oder zweimal im Jahr Transplantationen. Herz, Lunge, Leber, Pankreas, den ganzen Krempel. Im Keller hab ich alles, was ich zum Überleben brauche. Dieses Nervengewebe in deiner Schulter? Wir lassen das hier wachsen, im Rückenmark von Neun augen.« Er nahm einen Mundvoll Fleisch und Wildreis und kaute nach denklich. »Ich hab alle Arten Blödsinn mitgemacht, um meinen Aufent halt auf diesem Scheißplaneten zu verlängern. Ich bin mal nach Osaka geflogen, wo ein Quacksalber meine Hirnanhangdrüse entfernt und durch eine Thyroxinpumpe in meinem Unterleib ersetzt hat. Man sagte mir, ich solle Antioxidantien schlucken, butyliertes Hydroxytoluen und Mercaptoäthylamin. Ich hab katatoxische Präparate genommen, um die Funktionen meines Immunsystems zu verstärken, und jetzt nehme ich Cyclosporin, um sie zu schwächen. Ich kriege noch immer täglich Injektionen von Dopamin, weil die Produktion gewisser Neurotrans
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mitter mit dem Alter abnimmt.« Er schüttelte den Kopf. »Meine Leute könnten mich natürlich komplett von der Greenies-Sucht heilen, klar. Ein bißchen Bastelei an meiner DNA, das war alles. Das Problem dabei ist nur, daß sie mich praktisch einkochen und einen völlig neuen Kör per für mich schaffen müßten. Dazu würde ich in einer Art Protein bottich untergebracht und die anderen Lords und das Komitee würden sich derweil ein bißchen um mein Territorium kümmern. Kommt es dir nicht merkwürdig vor, daß wir so viel Energie darauf verschwenden, an einem Ort zu bleiben, der uns gar nicht so gut gefällt?« Jonny spießte ein Stückchen Spargel auf. »Ich glaube, ich könnte Ih ren Leuten helfen, die Croakers aufzuspüren. Ich habe einige Erfahrung darin, wie Sie wissen.« Conover kaute. »Du bist betrunken«, sagte er dann. »Das hat damit aber nichts zu tun.« »Und was wirst du dem Colonel erzählen, wenn er dich einfängt?« »Sie glauben, er erwischt mich noch mal?« »Das ist doch keine Frage. Du bist ein Wertgegenstand für ihn. Außerdem ist dein Gesicht allgemein bekannt. Er oder einer seiner In formanten wird dich finden.« Jonny grunzte. Er schob mit der Gabel das geschmacklose Fleisch auf seinem Teller umher, bis er es nicht mehr ansehen konnte. »Dann soll ich also einfach hierbleiben, ist das der Plan? Nun, vergessen Sie das. Ich kann mich um mich selber kümmern. Abgesehen davon − was, wenn ich geschnappt werde? Warum glauben Sie, daß ich Zamora et was erzählen würde?« Conover legte seine Gabel hin und sah den Monitor an. »Jonny, ich verstehe deine Sorgen, glaub mir das. Du vermißt deine Freunde und du hast eine Menge getrunken. Was ich eigentlich sagen will, ist, daß es verrückt wäre, wenn du hier weggingst. Der Colonel ist hinter dir her, weil er mich haben will, und er geht mit Gefangenen nicht sehr sorg sam um. Wenn er dich mit Ecstasy vollpumpt und dir dann die Finger spitzen ankokelt, wirst du ihm alles erzählen, was er wissen will.« Jonny nahm eine Kristallkaraffe und goß sich Wein nach. Conover rückte sein Glas nach vorn, aber Jonny ignorierte ihn, so daß der Schmugglerlord sich selbst nachschenken mußte. »Jedenfalls hältst du dich besser von den Croakern fern«, sagte Co nover. »Was soll das heißen?« »Nur das, was ich sage.« »Die Croaker sind in Ordnung. Sie versuchen nur, den Menschen zu helfen.«
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Conover läutete mit einer Silberglocke neben seinem Teller. Junge Afrikaner in weißen Jacken begannen den Tisch abzuräumen. »Warum bestehen Amerikaner immer darauf, aus allem ein Cowboyund Indianerspiel zu machen? Nur weil ihr eine Gruppe als bad guys einstuft, nehmt ihr augenblicklich an, daß jede weitere Gruppe, mit der sie einen Konflikt hat, den good guys zuzurechnen sei. Die Welt ist nicht so einfach, mein Sohn.« »Glauben Sie, die Croaker seien die bad guys?« »Das habe ich nicht gesagt. Sie destabilisieren Südkalifornien allerdings weitaus effektiver, als die Alpha-Ratten oder die Araber auch nur hoffen können, es jemals fertigzubringen.« Jonny stützte die Ellbogen auf den Tisch. Das Essen und der Alko hol vermischten sich merklich in seinem Magen. »Die Croaker sind die einzige wirkliche Kraft gegen das Komitee.« Conover winkte einem der Kellner, und das Dessert wurde serviert: eine Himbeertorte, die wie eine lackierte Skulptur aussah. »Das Komi tee ist ein Faktum des Lebens. Was wir beide tun, du und ich und alle anderen Dealer und Schmuggler, ist Poesie. Haiku. Eine Form, die von ihren Beschränkungen bestimmt ist. Je schneller du lernst, innerhalb dieser Grenzen zu arbeiten, desto besser für dich.« Jonny warf seine Gabel auf den Teller und stand auf. Schwindelge fühle rotierten in seinem Kopf. »Danke für das Essen. Jetzt leg ich mich ein bißchen hin.« Als Jonny den Speisesaal verließ, rief ihm Conover nach: »Du weißt, daß ich alles tue, was ich kann!« »Ich weiß«, sagte Jonny, ohne sich umzudrehen. »Und du glaubst mir, wenn ich dir sage, daß ich versuche, deine Freunde ausfindig zu machen.« »Ja, ich glaube es.« »Und du mußt wissen, daß ich recht habe, was den Colonel betrifft.« »Ich weiß das«, sagte Jonny ruhig, »ich weiß bloß nicht, ob mich das alles überhaupt interessiert.« Er trank aus der Ginflasche, die er aus seinem Zimmer mitgenom men hatte. Jonny stand in einem dunklen Lagerraum, dem dritten, den er diese Nacht durchsuchte, nachdem sein letzter Versuch zur Medita tion wieder fehlgeschlagen war. Der Raum war ganz still, die Luft modrig. Licht tanzte auf einer kreisförmigen Estrade am anderen Ende. Eine Camera obscura, wie er schließlich sah. An der Wand befand sich ein rostiges Metallrad. Als er es drehte, wischte ein gleißendes Panorama von Los Angeles über die Estrade, wie ein Video im Schnellvorlauf. Er fokussierte das Bild auf
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Hollywood, drehte das Rad, bis das leuchtende Zelt, in dem er gewohnt hatte, erschien, strahlend zwischen Neon und Palmen. Eine Weile lang fand er dieses Bild angenehm, bis er Gewissensbisse bekam, als er sich selbst als Peeping Tom sah, der vom Spannen seine Kicks bekam. Ist dies die Art, in der wir die Alpha-Ratten betrachten? fragte sich Jonny. Gefütterte Zero-G-Kisten mit fünf Jahre alten Verschiffungscodes irgendeiner lunaren Technikeinrichtung waren an der anderen Wand gestapelt. Jonny nahm einen weiteren Schluck Gin, nahm eine der Kis ten, legte sie auf den Boden und öffnete sie. In ihr befand sich ein Dutzend kleinerer Kisten, deren jede eine Menge Blasenpackungen Kapseln enthielt, zwei Kapseln pro Blase. Der Erzeuger-Code zeigte, daß die roten Kapseln eine zum Inhalieren geeignete Form von Atropin enthielten. Die purpurfarbenen Kapseln waren unmarkiert, aber Jonny hatte sie früher schon gesehen. Sein Magen zog sich zusammen. Es war eine in manchen Kreisen populäre Kombination: Atropin und Kobra giftnitrit. Große Scheiße, dachte er. Was hat eine technische Einrichtung auf dem Mond mit Mad Love zu tun? Er riß eine der Packungen auf, wobei er Gin auf dem Boden vergoß, und zerbrach eine Purpurkapsel unter seiner Nase. Das Kobratoxin kam wie ein langsam ausbrechender Vulkan, brannte sich auf der Ober fläche seines Gehirns ein − nicht genug, um ihn zu töten oder bleibenden Schaden anzurichten, aber genug, um die mörderische Eu phorie des Schlangengiftes mitzukriegen. Sein Körper bestand aus ge schmolzenem Glas und Sirup. Kein Fleisch, keine Knochen, nur eine brodelnde Plasmamasse, gebratene Augen und schmelzende Genitali en. Dreißig Sekunden später zerbrach er das modifizierte Atropin (dessen Strukturformel spiegelbildlich der des Kobratoxins glich), und die Innenseite seines Schädels vereiste. Der Raum explodierte in sein Negativ, als weißes Gletscherlicht hinter Jonnys Augen aufblitzte und seine Wirbelsäule hinunterschoß. Seine Nerven (er konnte jeden einzel nen vibrieren fühlen in einer Harmonie, wie eine Art zellulärer Chor) waren aus geschnittenem Kristall und aus Gold. »A las maravillas«, sagte er. Das war es. Zen. Einssein. Wie konnte er das nur vergessen haben? Zorn, Gier und Verrücktheit waren verschwunden und ersetzt durch ein höheres Bewußtsein, das dem entsprach, was er immer für die Erleuchtung gehalten hatte. Dann war dieses Gefühl vorbei. Als er sich wieder bewegen konnte, nahm er zwei weitere Kapseln und wiederholte den Vorgang. Vor einigen Jahren war Mad Love ein
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großes Problem für Jonny gewesen. Er hatte das Zeug seit damals vermieden, hatte weder damit gehandelt, noch es selbst genommen. In gewisser Hinsicht war das einfach gewesen, Mad Love war auf der Stra ße kaum aufzutreiben, gleichgültig wieviel man dafür bot, seit die Al pha-Ratten den Mond übernommen hatten. Und jetzt war er hier mit hunderten Hits im selben Raum. Er fühlte sich innerlich ausgedehnt, mit Liebe für seinen Nächsten erfüllt, er wollte nichts dringlicher, als diesen Reichtum mit der Welt teilen. Jonny lachte. Es war die Droge, die aus ihm sprach, das wußte er. Er wollte dies alles mit niemandem teilen. Er rappelte sich mühsam auf (das Atropin veranlaßte seine Muskeln, unkontrolliert zu zucken) und nahm weitere Kisten vom Stapel, um eine kurze Inventur dieses Verstecks vorzunehmen. Die ersten drei Kisten waren leer, aber die vierte enthielt eine weitere Bonanza: noch einmal zwölf Schachteln Mad Love. Er griff nach weiteren Kisten, als er an der Wand etwas schimmern sah. Vergoldetes Holz. Er schob die Kisten beiseite und konnte den geschnitzten Rahmen sehen. Na also − ›Blue Boy‹. Das Ori ginal. Er ließ seine Finger über die alte schuppige Textur des Bildes laufen, von dem Hut mit der Feder bis zum Blattgoldrahmen. In der Ecke blieb sein Finger hängen. Er drückte und das Bild schwang mit einem feinen Klicken von der Wand weg. Hinter ihm war ein Regal mit dicht gepackten Büchern und ein praller Briefumschlag. Jonny nahm den Umschlag, ging zur Camera obscura und leerte den Inhalt aus. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, was er da sah. Er nahm die vergilbte Sozialversicherungskarte, die schon ganz brüchig war. Dann wandte er im bleichen Licht der Los-Angeles-Landschaft auf der Estrade die Seiten um, versunken ins Lesen einer Collage-Version des Lebens von Soren Conover. Ein Führerschein aus Texas, 2010. Entlassungspapiere der US-Army, 1975. Pässe: britisch, belgisch, ägyp tisch, alle auf verschiedene Namen lautend. Uralte Zeitungsaus schnitte, die Drogenkriege in Mittelamerika betrafen und den Zu sammenbruch des staatlich-militärischen Genetik-Programms. Fotos auf einigen der älteren Dokumente zeigten einen gutaussehenden Mann mit ovalem Gesicht in seinen Dreißigern, mit intelligenten Augen und einer Nase, die mehr als einmal gebrochen war. Jonny verglich einige datierte Dokumente miteinander, um das älteste herauszu finden. Soweit er es bis jetzt überblickte, mußte Conover hundertfünf zig, hundertsechzig Jahre alt sein. Es gab Fotokopien von OSS-Dokumenten, ebenfalls altersbrüchig. Conover war offensichtlich in ein Unternehmen verwickelt gewesen, bei dem der russische Staatschef in den frühen fünfziger Jahren des
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zwanzigsten Jahrhunderts getötet werden sollte. Der amerikanische Präsident hatte die Aktion gestoppt und Conover pensioniert. Aus den Sechzigern und Siebzigern gab es keine Unterlagen, aber einige Briefe aus den Achtzigern auf CIA-Briefpapier zeigten Conovers Unterschrift sowie den Vermerk ›vertraulich‹. Der Report trug kein Datum, be schrieb aber die Aktivitäten einer in Honduras stationierten CIA-Dro genoperation, die zur Finanzierung rechtsextremer Gruppen in Mit telamerika diente. Es gab ein Schwarzweißfoto von Männern in Dschungeltarnanzügen, die hinter Granatwerfern und M-60-MGs standen. Ein großer Mann hielt eine Zigarette in einer kurzen schwarzen Spitze. Das handgeschriebene Datum auf der Rückseite der Fotografie lautete 1988. Jonny wurde klar, daß Conover seit hundert Jahren im Drogengeschäft war, wenn diese Dokumente echt waren. Das ist eine lange Zeit für dieselbe Sache, dachte sich Jonny. Er ging weiter im Licht der schweigsamen Stadt über ihm die Papiere durch und fragte sich, wie der Schmuggler sein Leben verbracht hatte. Wie er diese CIA-Drogenkontakte in sein privates Geschäft umgewandelt hatte. Jonny holte die Ginflasche von den Mad-Love-Schachteln, nahm einen Schluck und lachte. Conover und er hatten etwas Gemeinsames, das wußte er jetzt. Conover war zwar ein Schmugglerlord, aber einst war er wie Jonny gewesen, ein Agent, der sich selbständig gemacht hatte. L.A. glomm auf der Estrade, gänzlich außer Reichweite. Das Atropin rührte sich immer noch in Jonnys Kopf. Er nahm einige Handvoll Mad Love-Schachteln und stopfte sie in seine Taschen, ging dann zur Estrade zurück, steckte alle Dokumente in den Umschlag zurück und legte sie hinter das Gemälde. Er stapelte die Kisten wieder auf und drehte das Rad, das die Linsen der Camera obscura justierte, auf den ursprünglichen Stand zurück. Die Stadt rollte auf der Estrade vorüber, die Lichter als langgezogene Linien. Das Bild kam auf dem japanischen Flügel zum Stehen. Ein Schneeleopard schlich graziös den Zufahrtsweg hinunter. Conover wird es verstehen, dachte sich Jonny und zerbrach eine neue Atropin-Kapsel. Er ging durch die Küche hinaus. Die Afrikaner hatten einen Musik chip auf volle Lautstärke gedreht, es war irgendeine brasilianische Capoeira-Band. Eine übermütige junge Frau, die tanzend WedgewoodTeller in einen Schrank einräumte, blieb stehen und starrte Jonny an. Er ging schnell durch den Gang und vermied die Blicke der Afrikaner. Kupfertöpfe warfen bronzene Sonnenreflexe auf die Wand über seinem Kopf.
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»Dad bringt mich um, wenn ich nicht den Müll rausbringe«, sagte er zu den unbeweglichen Gesichtern des Personals. Er fand Ricos allein in der Garage, von den Einzelteilen eines zerleg ten Robotrottweilers auf einer hölzernen Werkbank umgeben. Jonny legte ihm einen Arm ums Genick und schlug mit dem Knöchel gegen seine Halsschlagader, um den Blutstrom zu seinem Gehirn zu un terbrechen. Als Ricos bewußtlos war, durchsuchte Jonny seine Taschen und fand die Identifikationskarte aus Silicon. Er stieg in Conovers Wagen, ließ den Motor an und fuhr aus der Garage. Er steuerte den Ca dillac vorsichtig den Zufahrtsweg entlang, die Augen geradeaus, ohne einen Blick auf die Männer zwischen den Madrones zu werfen. Am Ende des Weges tippte er nervös den zehnzahligen Code ins Arma turenbrett, den er sich Wochen zuvor gemerkt hatte. Er war überrascht und fühlte sich sehr erleichtert, als er sah, daß Teile des Hologramms verschwanden. Als die Straße frei war, schaltete er die Dachlichter ab und fuhr langsam die Hügel hinunter. Die Nacht war klar und heiß. Jonny fuhr den Cadillac die kurvenrei che Straße hinunter, eine Serie von Braunkohlenhalden entlang in die Vorstädte hinein, vorüber an zerbrochenen Sonnenkollektoren, Astro turf auf den Rasenflächen und einer verlassenen Shopping Mall, die am Jahrhundertbeginn eine Zeitlang als Auffanglager für das Moslem-Um siedlungsprogramm gedient hatte. Der Stacheldraht war immer noch da auf den doppelten Drahtzäunen, eine böse Erinnerung an einen Krieg, der niemals ganz aufgehört hatte. Jonny zerbrach eine weitere Atropinkapsel und fuhr ziemlich high nach Hollywood hinein, zuversichtlich, daß er sich auf jeden einzelnen Muskelstrang in seinem Körper ganz verlassen konnte. Er ließ den Wagen hinter einer Babyface-Boutique für kosmetische Chirurgie stehen und ging zu Fuß durch den stockenden Verkehr in der Nähe des Carnaby Pit, wobei er einen Abstecher über den Wochenendmarkt machte. Der Geruch von Essen und Schweiß begrüßte ihn, kratzende Salsaplatten, all die vertrauten Eindrücke. Die Menge war durchsetzt von Komitee-Leuten. Jonny hielt den Kopf gesenkt, während alte Frauen an seinen Ärmeln zupften und Kinder hinter ihm herrannten mit zerbrochenem elektronischen Gerät, einem künstlichen Herz aus leitungsdurchzogenem weißen Plastik und altertümlichen Floppy-DiscLaufwerken. Jonny sah keine Dokumentarfilmer des Links und nahm das als gutes Omen, aber er hielt ständig irgendwelche Frauen in der Menge fälschlich für Ice oder Sumi. Es gab eine Menge Leporöse auf dem Markt. Man erkannte sie problemlos − es waren jene, die Hand schuhe oder Halstücher oder langärmelige Hemden aus radiosensi
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tivem Material trugen, die neugierige Augen von ihren Läsionen auf die zufälligen Link-Videos ziehen sollten, die über ihre Kleidung flackerten. Es waren noch mehr Aussätzige in der Spielhalle des Pits. Sie schmorten in ihren Kostümen. Die Klimaanlage war zusammengebro chen und die Luft saunaheiß und -feucht. Jonny kam es vor, als sei er in einen Ofen getreten. Die Halstücher und Handschuhe der Leporösen konnten geradezu als eine neue Mode betrachtet werden, dachte Jon ny. Unter anderen Umständen wären sie das auch gewesen. Eine Blon dine, die in Fun-in-Zero-G eingestöpselt war, trug einen Gesichtsschlei er und ein langes Tschador-artiges Gewand, das mit Dutzenden Logos geschmückt war, aber der wallende Stoff konnte die Marmorierung der Haut ihrer Hände nicht verdecken. Das viele Atropin hatte Jonny entsetzlich durstig gemacht. Er drängte sich zur Bar durch und bestellte ein Corona. Porno lief auf dem Videoschirm, alle Farben leicht verfälscht. (Wie mag das erst mit Di rekt-Einstöpselung wirken? fragte sich Jonny.) ›Die Erstürmung des Tigerbergs‹ spielte momentan nicht, die Musik war eine computergene rierte Aufnahme im Stil zahlloser japanischer Kaugummi-Bands. Der Club war nur zur Hälfte gefüllt. Die Menge schien gereizt, die Stimmen klangen lauter als normal. Random kam mit seinem üblichen halbsei tigen Lächeln herüber und stellte Jonnys Corona hin. »Hab dich eine Weile nicht gesehen«, sagte der Barmann. »Du siehst außergewöhnlich gut und gesund aus im Moment.« »Danke«, sagte Jonny, »ich war ein bißchen auf dem Land, zur Erho lung. Vergnügungsfarm in den Hügeln. Ölwechsel, Abschmierung und so weiter.« Der Barmann nickte. »Ferien, hm? Und du bist zurückgekommen? Du mußt ja ganz scharf sein auf Bestrafung.« Auch Random trug ein Halstuch, das er krawattenartig im Ausschnitt seines schweißfleckigen Hemds gefaltet hatte, und mit dem er etwas verbarg. Er polierte geis tesabwesend vor seiner schmutzigen Schürze ein Glas. »Heut sind nicht so viele Leute da wie üblich«, sagte Jonny. Random nickte. »Verschissene Sache. Dafür muß man sich beim Komitee bedanken. Sie haben einen Erlaß rausgegeben, der die zuge lassene Höchstzahl hier drin halbiert hat. Soll gegen die Lepra nützen.« »Während es in Wirklichkeit ihnen nützt«, erwiderte Jonny. »Wenn es illegal ist, sich zu versammeln, kann das Komitee gegen jedes GangTreffen vorgehen, von dem es Wind bekommt.« »Exactamente«, sagte der Barmann. Er stellte das Glas hin, das er poliert hatte. Mittels einer Methode, die Jonny niemals hatte verstehen können, gelang es dem Barmann, die ganze Nacht Gläser zu polieren,
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ohne daß deswegen eines jemals sauberer ausgesehen hätte. »Hast du die kleine Frozzelei gehört, die heut über den Link gekommen ist? Es sieht so aus, als hätte irgend jemand eine kleine Atombombe ein paar Kilometer über Damaskus gezündet.« »Jesus«, sagte Jonny. »Waren wir das?« »Nöh. Die Explosion fand ziemlich hoch oben statt. Verursachte praktisch keine Schäden an Einrichtungen, aber der elektromagne tische Impuls hat die ganzen Kommunikationseinrichtungen, Compu ter und so weiter für ein paar Stunden zusammengehauen. Es scheint, daß das Objekt, seiner Flugbahn nach zu schließen, nicht von der Erde gekommen ist.« »Was, die glauben, daß die Alpha-Ratten Bomben auf Menschen werfen?« Jonny nahm einen langen Zug von seinem Corona. Random zuckte die Achseln und legte die Ellbogen auf die Bar. »Buddha sagte: Leben ist Leiden. »Dann muß das das Leben sein«, erwiderte Jonny und hob seine lee re Corona-Flasche hoch. Random brachte ihm eine andere. Als der Bar mann sie hinstellte, sagte Jonny: »Was hast du über die Croaker ge hört?« Der Barmann schüttelte den Kopf. Jonny konnte beinahe hören, wie er in einen anderen Gang schaltete. Geschäftsmiene. »Weiß ich nicht, falls ich überhaupt schon mal das Vergnügen hatte.« Jonny gab dem Barmann ein Päckchen mit sechs Mad-Love-Hits, wobei er es in seiner Handfläche verborgen hielt. Als Random klarge worden war, was er bekommen hatte, starrte er Jonny wirklich über rascht an. Jonny war erfreut; er hatte schon geglaubt, daß der Bar mann unfähig sei zu irgendwelchen Gefühlen außer einer gewissen traurigen Ironie. »Wenn du hübschere Beine hättest, würde ich dich auf der Stelle heiraten«, sagte Random und versorgte das Päckchen unter der Bar. »Du bist dir darüber im klaren, daß ich mein eigenes Lokal aufmachen könnte, wenn ich die Absicht hätte, zu verkaufen, was du mir gerade gegeben hast?« »Wenn du die Absicht hättest.« »Wenn es so wäre.« Random beugte sich vor und ließ ein schmut ziges graues Handtuch über die alten Armaturenbretter gleiten, die die Oberfläche der Bar formten. »Es heißt, Zamora hätte ihnen die Eier abgeschnitten. Sie sind hinüber, Mann. Der Laden ist dicht. Adios. Aller mögliche Mist wird über sie erzählt. Wie zum Beispiel, daß sie Waffen für diese Jungs von den Neuen Palästinensern kaufen oder daß sie ein Shuttle zu klauen versuchen, um zum Mond abzuhauen.
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Vielleicht sind sie diejenigen, die Damaskus bombardiert haben.« Random lachte herzlich. »Wie ich schon sagte, alles Geschwafel.« »Ist das alles?« »Nein, zum Teufel. Das sind die Gerüchte. Leute, die noch ein paar funktionierende Synapsen haben, sagen, daß sie sich irgendwo an der Küste hinter Topanga Beach versteckt haben. Das Komitee ist derzeit hinter allen Gangs her.« »Das hab ich mitgekriegt«, sagte Jonny und trank sein Bier halb leer. Er sah sich die angespannten Gesichter an der Bar an. »Zorn, Gier und Wahn.« »Vielleicht hast du es getroffen. Vielleicht ist das Komitee nichts anderes als ein Instrument des Karmas.« »Eher eine Leiter zum Himmel. Wenn man ein ambitioniertes Arsch loch ist.« »Que es?« sagte der Barmann. »Du glaubst, der Colonel möchte ger ne als ›Herr Präsident‹ angesprochen werden?« Jonny zuckte die Achseln. »Da war er nicht der erste.« »Wie geht der alte Witz? ›Wähl nicht, das ermutigt sie nur.‹« Random zuckte ebenfalls die Achseln. »Vielleicht ist das gar nicht komisch. Wie auch immer, wenn ich du wäre, würde ich mir sehr über legen, ob ich mich auf der Straße sehen lasse. Zwischen den Bullen und den Leppies ist Last ASS im Moment kein guter Ort.« Er ging die Bar entlang, um eine Gruppe gutgekleideter Filmproduzenten samt ihren Schnepfen zu bedienen. Sie waren betrunken und sonnengebräunt und strahlten den forcierten Humor ihrer teuer bezahlten Jugendlichkeit aus. Ihre harten, schlanken Körper waren chirurgisch umgeformt worden zu etwas so Funktionalem und Anonymen wie die Jets des nächsten Jahres. »Jesus«, sagte Jonny, »das macht einen verrückt.« Als er später sein drittes Corona trank, blieb Random vor ihm stehen. »Hast du über das nachgedacht, was ich gesagt habe?« »Übers Abhauen? Nee. Ich bin ein Geschäftsmann. Muß Deals ma chen. Grande Deals. Enorme Deals.« »In diesem Fall will sich jemand mit dir unterhalten, glaube ich. Da drüben.« Jonny drehte sich um und sah Nimble Virtue, die FreibankfleischHändlerin, die ihm von einem Ecktisch aus zuwinkte. »Danke«, sagte er zu dem Barmann. »Das ist dein Film, Mann«, sagte Random. »Paß auf dich auf!« Jonny drängte sich durch die Menge zu dem Ecktisch, wo Nimble Virtue ganz allein saß. Sie trug einen lose sitzenden Kimono, der mit
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Wasserlilien und hübschen Rankenmustern in Gold und Türkis gesch mückt war. Als sich Jonny in einen Stuhl gegenüber der Schmugglerin fallen ließ, hatte er einen perfekten Blick auf einige ihrer Männer, zwei Tische entfernt, die geeisten Wodka mit einigen Typen von der lokalen Yakuza tranken. Jonny lächelte und winkte ihnen zu. Einer der Yakuzas lachte und machte eine kreisförmige Bewegung mit seinem Finger, um zu zeigen, daß er Jonny für verrückt hielt. »Lieber Jonny-san«, begann Nimble Virtue. »Erlaube mir zuerst, mich für die unangenehmen Umstände zu entschuldigen, unter denen wir uns letztesmal getroffen haben. Wenn ich auch nur die geringste Vorstellung von Colonel Zamoras wahren Absichten gehabt hätte, hät te er niemals auch nur eine einzige Silbe von mir oder einem meiner Leute an Informationen zu hören bekommen, das kann ich dir versi chern.« Nimble Virtue war klein und skeletthaft dünn, eine Frau mittleren Alters mit flacher Nase und bleicher Haut, durch die man die blauen Venen um ihren Schädel sehen konnte. Was Jonny über sie gehört hatte, war die Story, daß sie in einem der den Mond umkreisenden Sandakans aufgewachsen war, die der Prostitution dienten und den Erzhandel mit dem Mond als Haupteinnahmequelle hatten; sie hatte ihren Fuß nicht auf die Erde gesetzt, bevor die Invasion der AlphaRatten das lunare Minengeschäft ruiniert hatte. Dann war sie die Mä tresse eines mächtigen Yakuza-Oyabuns geworden und somit dem Sandakan entkommen. Da sie den größten Teil ihres bisherigen Lebens bei Schwerelosigkeit oder doch in Umgebungen mit reduzierter Schwerkraft verbracht hatte, war Nimble Virtue auf der Erde gezwungen, ein Exoskelett aus Titanlegierung zu tragen. Dies half ihr, sich fortzubewegen, und ein geriefter, gürtelähnlicher Mechanismus übernahm ihre Atmung, da ihre Brusthöhle zu klein geraten war, als daß ihre Lungen die dichte Erdluft problemlos ertragen hätten. Es ging auch das Gerücht, daß sie nirgend wohin ging ohne einen samtausgeschlagenen Koffer mit den Föten ih rer beiden totgeborenen Söhne. »Du bist eine Lügnerin«, sagte Jonny. »Du würdest deine Großmut ter als Würstchen verkaufen, wenn du ihre Runzeln verstecken könn test. Das einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum dir noch nie je mand eine Kugel in dein Pfannengesicht gejagt hat.« Nimble Virtue bedeckte ihren Mund mit blassen, metallgerahmten Fingern und kicherte. »Manche haben es versucht, Jonny-san, aber keiner hat Erfolg gehabt, wie du ja sehen kannst. Manche Leute finden
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es angenehmer, für mich als gegen mich zu arbeiten. Könntest du das nicht auch finden?« Nimble Virtue hob ihr leeres Weinglas hoch und winkte zu dem Tisch, an dem ihre Männer saßen. Einer von ihnen stand auf und ging zur Bar. »Nimm einen Drink. Sie haben hier Tej für mich. Schon mal probiert? Ein äthiopischer Honigwein. Wundervoll.« »Ich trinke nicht mit Leuten, die meinen Arsch verkaufen wollen«, sagte Jonny. »Aber nachdem du mich schon an deinen Tisch gebracht hast, kannst du mir wenigstens erzählen, warum du mich Zamora ans Messer geliefert hast.« Nimble Virtue fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand ihres Glases und leckte dann die Weinspur vom Finger. In der stillen Sekunde zwi schen zwei Plattennummern konnte Jonny das insektenhafte Summen ihres Exoskeletts hören. »Ich habe dich ihm als Geste des guten Willens gegeben. Ich dachte, der Colonel und ich hätten einen Deal, aber die Dinge sind anders gelaufen.« Sie sah nach ihrem Mann an der Bar. »Ein kostenloser guter Rat, Jonny. Entwickle keinen Hang zur Gourman dise. Das ist ein viel zu teures Laster in einer Stadt wie dieser.« »Was war das für ein guter Willen und was für ein Geschäft, von dem du da sprichst?« »Ich hätte gedacht, du seist der Fachmann dafür.« »Komm mir nicht blöd«, sagte Jonny. »Ich kann dir dein dünnes Genick einfach abbrechen, bevor einer deiner Bubis seine Kanone auch nur gezogen hat.« Nimble Virtue lächelte ihn an. »Und dann wären wir beide dahin, wäre das nicht wirklich schade? Nein, es wäre viel besser, du hörst mich bis zum Ende an. Ich habe einen geschäftlichen Vorschlag für dich. Es ist sehr einfach: Ich will, daß du den Colonel vergißt. Komm und arbeite für mich.« Jonny lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Was könnte ich dir ge ben, das du dir nicht ohnehin kaufen kannst?« »Ich weiß, daß Zamora dich aufgelesen hat, weil er Informationen über Conover will. Ich weiß auch, daß der Colonel eine massive Attacke gegen alle Schmugglerlords plant. Es ist ganz klar, daß ihr beide einen Deal gemacht habt. Deshalb hat er dich wieder gehen lassen. Stimmt's, Jonny-san?« Sie machte eine Pause und holte mehrmals tief Atem. Das Sprechen schien bei ihr die Synchronisation mit dem Atemapparat verloren zu haben. »Du bist ein Dealer und kannst dich unter den Lords frei bewegen. Du sammelst für den Colonel Informationen über uns, unsere Stärke und unsere Taktik. Ich kann dir etwas für deine Dienste bieten. Ich möchte, daß du für mich arbeitest. Alles was ich brauche, sind Datum und Zeit der Razzien. Für diese Informationen
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gebe ich dir zunächst vollen Schutz und außerdem einen fixen Posten in meiner Organisation, sobald wir den Colonel fertiggemacht haben.« »Ich weiß über die Razzien nicht mehr als du«, sagte Jonny, »und ich arbeite nicht für Zamora, und wenn, dann würde ich dir sicher keine In formationen geben.« Einer von Nimble Virtues Männern kam mit einer schweren grünen Flasche, aus der er eine klare goldene Flüssigkeit eingoß. Der Mann stellte ein zweites Glas auf den Tisch und goß Jonny Tej ein, bevor er zu dem anderen Tisch zurückging. »Dank dir, mein Lieber«, rief Nimble Virtue hinter ihm her. Sie nipp te an der sirupartigen Flüssigkeit und sah Jonny an. »Wirklich, Jonny-san, diese Drohungen, die du ausstößt, und was du sonst noch sagst, machen mir nichts aus, aber beleidige nicht meine In telligenz. Ich weiß, daß du die letzten Wochen in Conovers Landsitz in den Hügeln verbracht hast. Beweise, wie? Ich weiß alles über Conovers Hologrammkuppel, und ich spüre es in meinen Knochen, daß du für Colonel Zamora arbeitest.« Sie hielt wieder inne, um zu Atem zu kom men. »Tatsächlich finde ich die subtile Art, wie du dem Colonel die Croaker ausgeliefert hast, bewundernswert. Groucho ist kein Dumm kopf. Man muß dir dazu gratulieren, daß du ihn so schnell zur Strecke gebracht hast.« »Hör auf zu quatschen! Du schaufelst dir dein eigenes Grab«, sagte Jonny. Nimble Virtue kreuzte ihre Hände im Schoß und sah ihn mit einem nachsichtigen, mütterlichen Blick an. »Kennst du den Ausdruck ›Kleiner Tiger‹, Jonny-san?« »Hab ihn schon mal gehört.« »Du bist der Kleine Tiger. Du brüllst laut, aber du bist nicht stark und nicht schlau. Ich mag dich, weil du mich zum Lachen bringst. Aber die Umstände zwingen mich dazu, meine Zeit für jedes einzelne Unter nehmen zu beschränken.« »Laß dich von mir nicht aufhalten.« Sie wartete einen Augenblick lang. »Dann bist du also dem Colonel verpflichtet?« »Ich mache es mit Zamora auf meine eigene Art ab«, sagte er. »Ich arbeite nicht für ihn und ich arbeite nicht für dich.« Jonny wollte auf stehen, aber Nimble Virtue legte ihre Hand sanft auf seinen Arm. »Ich würde es mir sicher zweimal überlegen, hier wegzugehen, wenn ich du wäre«, sagte die Fleischhändlerin. »Nachdem du die Croaker hereingelegt hast, sind nur noch sehr wenige Leute in L.A. deine Freunde. Ich kann alles für dich noch viel unangenehmer machen…«
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Jonny wischte mit dem Arm über den Tisch, so daß die Gläser, Fla schen und der Wein zu Boden fielen. »Du verkaufst mich wie dein gott verdammtes Fleisch, und dann willst du einen Deal mit mir machen? Fick dich ins Knie, Alte!« Nimble Virtue machte eine flatternde Geste mit ihrer Hand. Jonny drehte sich um und sah drei ihrer Männer, die russische CO2-Pistolen auf ihn gerichtet hatten, die mörderische Variante für Explosivge schosse. Die Männer waren jung und kräftig und trugen enge schwarze Jeans und ärmellose T-Shirts mit zusammengerollten Drachen auf der Brust. Sie wirkten cool und ausdruckslos, recht mechanisch in Bewe gung wie Ruhe. Aber sie waren keine Ninjas. Wären sie welche, so wäre Jonny tot. Das wußte er. Nimble Virtue stand auf und winkte ihren Leuten, die Kanonen weg zustecken. Dann drehte sie sich um und verneigte sich knapp vor Jon ny. Ihr Gesicht war gerötet, sie atmete schwer. »Ich werde jetzt gehen. Ich wünsche dir Glück, und genügend Zeit, weise zu werden, Jonny san. Es wäre das beste, wenn du mir aus dem Weg gingst.« Er sah ihnen zu, wie sie gingen. Die ›Erstürmung des Tigerbergs‹ er schien auf der Bühne. Desinteressierter Applaus. Als Saint Peter mit der ersten Nummer anfing, verließ Jonny das Pit durch die schwere Feuertür am hinteren Ende. Wenn er seinen Rücken gegen die Häuserwand preßte, konnte Jonny den Sunset Boulevard und den Eingang zu Carnaby's Pit gut im Auge behalten. Die Reparaturarbeiten an der Fassade der Bar waren schlampig ausgeführt worden. Harztropfen und billiger Füllschaum be deckten die Einschußlöcher. Der Platz hatte eindeutig an Charme verloren. Heißer Wind trug den Geruch von Frijoles und brennend heißen Carnitas vom Markt herüber. Ein Kratzen. Das Wispern eines Kadavers: »Herr, du kannst mich rein machen, wenn du es willst.« Jonny setzte sich in Bewegung. Metall biß kalt und scharf in sein Genick. »Na, na«, sagte Easy Money. »Lang nicht gesehen, Jonny, alter Kumpel.« Easy drehte Jonny herum. Satyrhörner, tätowierte Knöchel um den Messergriff. »Weißt du, was ich gehört habe? Ich habe gehört, du seist hinter mir her.« Jonny lehnte sich zurück, auf die Hände, die ihn gefaßt hielten, ge stützt, und trat mit der Stahlspitze seines Stiefels in Easys Eier. Später, nachdem sie ihn zusammengeschlagen hatten und er auf dem Boden des Autos lag, ihre Füße auf seinem Rücken und eine Ka puze über dem Kopf, gewann er ein wenig Freude aus der Erinnerung
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an die Szene, wie Easy Money in Fötushaltung auf dem dreckigen Geh steig herumgerollt war.
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VIII
Der bedrohte Mörder
Du bist ein sehr dummer Junge, Jonny-san.«
Wasser klatschte auf ihn herab und jemand riß ihm die Kapuze herun ter. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem genieteten Stahlboden eines Schlachthauses. Sein Hemd war weg; das eisige Wasser schnitt wie Messer in seine Haut. »Wieviel hast du von diesem Zeug mitgehen lassen?« Er rappelte sich auf. Nimble Virtue warf ihm ein Päckchen Mad Love vor die Füße. Es blieb neben seiner Stiefelspitze liegen, wo das Wasser über einem abblätternden Fleck getrockneten Bluts gefror. Schweißnähte wie dünne Narben aus Schlacke. Das Schlachthaus war aus einer Anzahl alter Seefrachtcontainer zusammengesetzt worden. Eine Kältepumpe summte in einiger Entfernung und pumpte mit einem Herzschlagge räusch flüssigen Sauerstoff durch ein Netzwerk von Röhren, das Wände und Boden durchzog. Von der Decke hing an stumpfen Stahlhaken fliegengesprenkeltes Freibankfleisch, graue und formlose Hälften alter Ware. Jonny sah Nimble Virtue an. »Wir haben deine Taschen mit dem Zeug vollgestopft gefunden. Nach der Größe deiner Pupillen zu schließen, schätze ich, daß du ein kleines Vermögen aufgeschnieft hast.« Sie trug jetzt einen dicken, bis zum Boden reichenden Mantel aus einem schillernden meergrünen Pelz. Achselzuckend wandte sie sich von ihm ab, eine mechanische, starre Geste. Ihr Exoskelett purrte. »Wir hätten die Information auch schmerzlos aus dir herausholen können, mittels Drogen. Aber das scheint jetzt unmöglich zu sein. Wer weiß, was passiert, wenn sich die Erinnerungsdrogen mit dem Gift vermischen, das du dir verpaßt hast. Wir müssen es also anders machen. Aber denk daran, daß du dich selbst in diese Lage gebracht hast.« (Er hörte Zamoras ›Du bittest ja darum, Gordon‹ über ihre Stimme gelegt.) Easy Money und ein stiernackiger Cowboy, den Jonny als Billy Bump kannte, traten in sein Gesichtsfeld. Easy trug eine ärmellose Daunenjacke, Billy einen Surplus-Armee-Parka. Jeder hielt eine Medu sa in der Hand. Easy ließ das Peitschenende vor sich in einem trägen Bogen kreisen. Heißer, nahezu leuchtender Zorn stand in seinen Augen. »Wann ist es so weit, Arschloch?« fragte er. »Wann ist was so weit?«
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»Wann ist die Razzia?« schnappte der Cowboy. Er sprach mit einem dicken texanischen Akzent, der das Resultat eines in sein Sprech zentrum implantierten Quarzchips war. Er spuckte einen rostfarbigen Tabakstrahl auf den Boden. Billy Bump hatte seinen Spitznamen als Teenager bekommen, als er Leute wegen ihres Kleingelds vor fahrende Autos stieß. »Ich kann dich nicht hören«, sagte Easy in einem boshaften Sings ang-Ton. »Was macht das schon? Du würdest ohnehin nichts glauben, was ich sage«, erwiderte Jonny. »Jonny, sag mir bitte, wann Zamora etwas gegen uns unternehmen wird«, sagte Nimble Virtue. »Ich weiß es nicht«, sagte Jonny. Easy Money schlug zu. Die geladenen Kupferenden seiner Medusa bissen in Jonnys Brust und blendeten ihn mit ihren elektrischen Ent ladungen. Das Wasser leitete den Schock in seine Arme und hinunter in den Schritt. Jonny klappte zusammen. Als er wieder völlig bei Bewußt sein war, stellte er fest, daß er sich in eine der grauen Fleischhälften ge krallt hatte, um sich aufrechtzuhalten. Er konnte kaum atmen. »Wann sind die Razzien?« fragte Nimble Virtue. »Ich weiß es nicht.« »Arschloch«, sagte Easy. Jonny stieß sich von dem Fleisch ab und taumelte zwischen den stinkenden Reihen der Hälften davon, aber Billy erwartete ihn. Der Cowboy trat Jonny mit dem Stiefel in den Magen und schlug ihm die Medusa über den Rücken. Jonny fiel zu Boden. Nimble Virtues Gesicht erschien über ihm. In seiner Verzweiflung und seinem Schmerz schien sie ihm gleich grau und leblos wie ihr Frei bankfleisch. Harte Knochen unter totem Fleisch. Vielleicht ist das ihr Geheimnis, dachte Jonny in einem traumähnlichen Zustand. Keine Schwänze mehr; sie hat einen anderen Weg gefunden, sich zu ver kaufen. Easy Money trat ihm in die Rippen und schüttelte die Enden seiner Medusa über ihm, daß ihm die Funken in die Augen stoben. Jonny hörte Billy und Easy lachen. »Es geht eine Träne auf Reisen«, sagte Bil ly. »Weißt du, wo du bist, Jonny-san?« erkundigte sich Nimble Virtue. Jonny nickte. »Fleischgefrierhaus«, sagte er und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Richtig. Und da draußen ist ein Lager, voll mit meinen Leuten. Es gibt hier keinen Weg heraus, außer ich gestatte es.«
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»Kein Entkommen«, bekräftigte Easy Money. »Ich kann diesen jungen Männern befehlen, daß sie dich eine ganze Woche lang schlagen. Verstehst du, was ich sage?« Jonny setzte sich auf. In seinem Gesichtsfeld taugen alle Konturen merkwürdige Glanzlichter. »Ja.« »Gut«, sagte die Fleischhändlerin. »Warum bist du dann nicht ver nünftig? Wann sind die Razzien?« »Dienstags«, sagte er. Und dann: »Ach Scheiße, ich hab dir's doch gesagt: ich weiß es einfach nicht.« Easy und Billy schlugen ihm die Riemen ihrer Medusas gleichzeitig über Rücken und Magen. Der Schmerz und der verrückte Funkenflug überwältigten ihn und vermischten sich mit den Sinnesdaten seines Nervensystems, bis er nicht mehr sagen konnte, wo die Agonie endete und sein Körper begann. Als sie aufhörten, zuckten seine Muskeln wei ter. »Wann sind die Razzien?« fragte Nimble Virtue. »Ich weiß es nicht. Zamora hat mit mir nicht über Razzien gespro chen.« »Worüber dann?« »Ich kann mich nicht erinnern.« Jonny richtete sich auf Hände und Knie auf. Trotz der Kälte floß ihm der Schweiß von Armen und Brust. »Über mein Leben.« »Was?« Nimble Virtue wartete, bis er sich in kniender Position befand und schlug ihm dann hart ins Gesicht. Jonny fühlte, wie das Metall um ihre Finger seine Haut aufriß. »Conover«, sagte Jonny. »Zamora will, daß ich Conover ausliefere.« Auf ein Zeichen von Nimble Virtue hin schlug Billy Jonny von hinten. Während er gelähmt war, legte Easy Handschellen aus weißem Plastik um Jonnys Handgelenke. Dann hoben Easy und Billy ihn vom Boden auf. Easy hob Jonnys Arme über seinen Kopf und als sie ihn losließen, hing er an seinen Handgelenken an einem der schweren Stahlhaken. Es tat augenblicklich unglaublich weh. Er schrie auf. Nimble Virtue nahm die Medusa auf, die Easy auf den Boden gelegt hatte, und trat an Jonny heran. »Antworte mir schnell und klar«, sagte sie. Sie faßte die Riemen der Medusa zusammen und preßte die ge ladenen Enden in Jonnys Seite. Er zog sich konvulsivisch zusammen und wurde dann schlapp. »Wie heißt du?« »Jonny Qabbala.« »Dein richtiger Name?« Er brauchte einen Augenblick zur Erinnerung. »Gordon Joao Acker.«
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»Wo geboren?« »In der Hollywood Greyhound Station.« Easy und Billy lachten. Es hallte. Jonny blickte in die Höhe. Eingerahmt vom rostigen Schott eines Lüftungsschachtes sah er seine Hände und blutigen Arme. »Was ist dein Beruf?« »Dealer.« »Was hat dir Colonel Zamora gesagt, wann die Razzien sind?« »Nichts.« »Lügner!« schrie Nimble Virtue. Sie preßte die Enden der Medusa in Jonnys Magen und hielt sie dort fest. »Du Dummkopf, ich kann dich wochenlang am Leben halten! Ich kann dir jeden Tag ein Stückchen Fleisch abschneiden und es auf dem Markt verkaufen!« Als Jonny wieder zu sich kam, wurde ihm klar, daß er kurze Zeit völ lig bewußtlos gewesen sein mußte. Nimble Virtue murmelte Ja panisches und gab unangenehme Schmatztöne von sich, die aus der Atmungsunterstützung ihres Exoskeletts stammten. Jonnys Arme und Schultern waren völlig taub. Ihm schien, als könne er aus dem angren zenden Raum Musik hören. Als Nimble Virtue ihn ansah, sagte er: »Ich kann dir nicht etwas sagen, das ich nicht weiß. Zamora wollte nur über die Alpha-Ratten reden.« Jonny sah etwas in ihrer Miene aufflackern. »Laßt ihn herunter«, sagte sie. Easy und Billy traten neben ihn, hoben Jonny vom Haken und legten ihn auf den Fußboden. Nimble Virtue trat näher heran und legte ihm eine Hand auf sein Bein. Ihr Pelzmantel kitzelte seinen Magen. »Sag es noch mal. Sag es, oder sie hängen dich wieder auf.« Jonny sah ihr in die Augen. Angst oder Erleichterung, fragte er sich. Sein Kopf schwamm. Er fragte sich, wann dieser Traum vorüber sein und er zwischen Ice und Sumi erwachen würde. »Es gibt, einen Deal«, sagte er, während sein Kopf zurückfiel. »Leg ihm etwas um«, befahl Nimble Virtue einem der Männer. »Aber laß seine Hände gefesselt.« Jonny lag auf dem kalten Stahlboden und hoffte, daß sein kleiner Trick gelungen war. Er hatte immer noch Angst, war aber befriedigt, daß sie ihm seine Ohnmacht glaubten. Ein wenig erleichtert war er jetzt. Er hörte das Geräusch von Nimble Virtues Exoskelett, als sie in dem Schlachthausraum umherlief. »Hol den Araber zurück, sag ihm, der Deal kommt zustande.« Jonny horchte auf die Schritte; Billys schwerer plattfüßiger Gang mit den Cowboystiefeln, die klangen, als klatsche man mit der Hand auf den Boden; Nimble Virtues Gang war schnell und leicht, mit Insek tengeräuschen, Summen und Klicken. Easy Money bewegte sich in has
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tigen Ausbrüchen, den Klumpfuß hinterherziehend. Jonny wußte, daß er warten mußte, bis mindestens Billy oder Easy den Raum verlassen hatten, bevor er einen Ausbruchsversuch wagen konnte. Er zwang sich, ganz still liegen zu bleiben und die Zeit dazu zu nützen, sich ein wenig zu erholen. Der Schweiß auf seinem rechten Arm fror am Schlachthaus boden an. Gerade als er begann, sich Sorgen um Erfrierungen zu ma chen, fühlte er, wie Billy (er bekam einen Hauch Kautabak mit) eine rauhe Wolldecke um seine Schultern legte. »Du sollst uns nicht gerade jetzt abkratzen«, hörte er den Cowboy sagen. Es gab ein lautes Summen am anderen Ende des Raumes. Jonny hielt die Augen geschlossen und atmete flach. Bewegungen, ma schinenhafte und andere. »Was ist los?« fragte Nimble Virtue. Statik. Zuerst konnte Jonny die Stimme nicht verstehen. Dann stotterte das Intercom: »…Beobachter meldet Polizeiautos in dieser Richtung. Sieht nach einer Razzia aus.« Nimble Virtue fluchte auf japanisch. »Nicht jetzt. Ich bin nicht fertig.« Jonny hörte Easy Money: »Es sind nur die Cops, nicht das Komitee. Kein Problem.« »Vielleicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang nun wieder kalt, hart und effizient. »Bleib bei ihm! Du kommst mit mir!« Eine Konfusion von Schritten, weil sich alle drei zur selben Zeit in Bewegung setzten. Die Schlachthaustür öffnete und schloß sich wieder. Dann völlige Stille. Jonny hielt es nicht länger aus. Er öffnete die Augen. Am anderen Ende des Raums lehnte Easy Money an der Kältepum pe und grinste ihn an. »Ochs am Berg«, sagte Easy. Er lachte und seine Atemwolke umgab seine geringelten Satyrhörner. »Dir zusehen ist so wie Porno angucken. Ich meine, du bist so verdammt banal, aber ich kann mir nicht helfen: du regst mich doch auf. Verdreht, hm?« Jonny richtete sich von dem eisigen Fußboden auf und zog die De cke dicht um seine Schultern. »Wirst du der Lehrerin erzählen, daß ich böse bin, wenn sie nicht im Zimmer ist?« Easy schüttelte den Kopf. »Scheiße, nein«, sagte er, »glaubst du, die Fotze kümmert mich das Geringste? Ich seh nur zu, wie die Parade vorüberzieht. Nebenbei« − er schlenderte zu Jonny herüber − »ich weiß, was du wirklich willst. Du willst den Stoff, den ich Raquin abge nommen habe. Es ist Conovers Dope, nicht wahr? Was ist es eigentlich? Nein, erzähl es mir nicht, du würdest nur lügen, und ich würde mich ärgern. Aber wie auch immer, wenn wir das hier hinter uns
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haben, du und ich, können wir vielleicht auch einen Deal machen. Triff mich im Wald der Kunstlichtblüte in Little Tokyo.« Easy machte eine Kopfbewegung zu der Tür, durch die Nimble Virtue hinausgegangen war. »Das ist einer von Yokohama Mama's Clubs.« »Der Wald der Kunstlichtblüte. Klar«, sagte Jonny. »Ich schätze, du hast Kontakt mit Conover und kannst mir einen fairen Preis machen.« »Kein Problem.« Easy kam ein bißchen näher. Er sprach sanft mit Jonny. »Sag mir die Wahrheit, du wolltest mich in jener Nacht im Pit ausblasen, stimmt's?« »Wer, ich? Ich bin nur stehengeblieben, um mir die Filmstars anzu sehen.« »Lügner«, sagte Easy Money lächlend. »Wir müssen das alles noch klären.« »Wie du meinst.« »Aber später«, sagte Easy. Durch die Wände des Schlachthauses drang gedämpfter Lärm automatischer Waffen. Die Lichter im Schlachthaus gingen aus. Ein paar Sekunden später schaltete sich die Notbeleuchtung über den Türen an und tauchte den Raum in eine Art arktischen Lichts. »Sie werden gleich zurück sein. Du legst dich besser wieder auf den Boden.« Jonny legte sich widerwillig hin. Easy beugte sich über ihn. »Noch etwas, ich helfe dir nicht, versteh mich recht, aber wenn ich du wäre, würde ich wirklich etwas unternehmen, um hier rauszukommen. Du willst doch nicht mit den arabischen Freunden der Fotze verhandeln.« Jonny nickte. »Danke.« Der Kühlraumboden zitterte. Nimble Virtue und Billy kamen durch die Tür gestürzt. »Bring ihn weg!« schrie Nimble Virtue. »Es ist die Polizei, aber ich will nicht, daß er gefunden wird.« Jonny roch wieder Kautabak. Er machte sich schlaff, als Billy ihn um die Brust faßte und ihn zur Tür schleifte. Als er die warme Luft außerhalb des Kühlraums spürte, zog er die Beine an und stieß seinen Ellbogen heftig in Billys Magen. Der Cowboy stöhnte und fiel gegen einen Stapel gelber Fiberglaskisten. Jonny sprang hoch, trat mit dem Stiefel gegen Billys Kinn (mehr zum Privatvergnügen als aus Notwen digkeit) und rannte davon, Nimble Virtues schrilles Geschrei hinter sich. Er bog um eine Ecke und verbarg sich zwischen einem Haufen Lagerkisten und einem winkligen Stahlträger. Männer mit Futukoros rannten an ihm vorbei. Jonny warf einen Blick auf seine Hände. Sie waren blau und geschwollen. Dann rannte er wieder und sah Polizisten,
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die Atemmasken trugen, zwischen den Kistenstapeln vorgehen. Er rannte einen Gang entlang und schnappte nach Luft und stolperte, weil er knietief in Kohlendioxidschaum stand. Er versuchte, ihm über eine Kistenwand zu entkommen, aber der Sauerstoffmangel machte ihn schlapp. Schwarze Wesen mit Glasaugen und Rüsseln statt Mündern faßten nach ihm. Er schwang schwächlich seine gebundenen Hände, traf aber nichts. Seine Füße spürten keinen Boden mehr unter sich. Und dann verschluckte ihn der Schaum. Es schien ihm, als würde er ständig in merkwürdigen Umgebungen zu sich kommen. Als sei sein ganzes Leben eine Serie dumpfer, in Schrecken versetzender Entdeckungen − er versuchte einen Be zugspunkt zu finden, fand ihn und im nächsten Moment wurde alles wieder weggespült. Dieses Gefühl erschreckte ihn und brachte ihn in Wut, aber er hegte und pflegte es auch, weil er glaubte, wenn er jemals diesen Schrecken und diese Wut verlor, würde er sich selbst verlieren, aufflackern und verschwinden wie ein Bild auf einem Videoschirm. Jonny erwachte aufgrund eines heißen Schmerzgefühls, das sich von seinen Schultern über seinen Rücken und bis in seine Hände ausdehn te. Als er seine Finger bewegte, war es, als stächen ihn Nadeln. Der vertraute Geruch von Gefängnis (menschliche Ausscheidungen und Desinfektionsmittel) drehte ihm den Magen um. »Jesus«, sagte er und öffnete die Augen. »Kennen die wirklich keine andere Farbe als Grün?« Die Tür seiner Zelle schwang auf und ein kahl werdender, wachsge sichtiger junger Mann betrachtete ihn vom Gang aus. Offensichtlich hatte er schon einige Zeit gewartet, und Jonnys Stimme hatte ihn ak tiviert. Jonny war erleichtert, als er sah, daß der Mann die blaue Uni form des Police Departments trug statt dem Schwarz des Komitees. »Hallo?« sagte der Cop. Jonny schwang seine Füße von der Pritsche und setzte sich auf. Der Cop versuchte, seine Überraschung zu verbergen, aber Jonny sah, wie er den Kopf einzog. »Ich hab nur was über die Einrichtung gesagt«, be merkte Jonny. »Sie geht einem auf den Geist.« Der Schmerz in seiner Körpermitte war wie ein dickes Seil. Der Polizist runzelte die Stirn und schloß die Tür. Jonny hörte zu, wie seine Schritte im Korridor verhallten. Wieder ganz allein, zog er das Gefängnishemd, das aus steifem grauen Papier zu bestehen schien, hoch und prüfte mit den Fingerspitzen den Zustand seiner Rippen. Blutergüsse und schmerzempfindliche Stellen; es schien aber nichts gebrochen zu sein.
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Jonny sah sich in der Zelle um. Er fühlte sich erleichtert und emp fand fast so etwas wie Freude. Er wußte aus Erfahrung, daß es kein Problem sein würde, mit der Polizei zu Rande zu kommen. Sie mußte ständig Fehlschläge einstecken und wurde sogar von der Stadtver waltung, der sie unterstand, lächerlich gemacht. Auf den Straßen schätzte man die Bullen als Autoritätsfiguren einen Grad niedriger als die Parkometerhostessen ein. Die meisten Departments waren mit Jungs besetzt, die es nicht geschafft hatten, vom Komitee aufgenom men zu werden, weil sie ihre Chancen verschenkt hatten mangels Intel ligenz oder Nerven oder der Unfähigkeit, Vorteil aus jener leichten Form des Wahnsinns zu ziehen, die für Komitee-Arbeit unbedingte Voraussetzung war. Auf ihre eigene merkwürdige Art war die Polizei schlimmer als das Komitee, sozusagen eine brutale heruntergekom mene Version ihrer Schwesteragentur. Ihre Machtlosigkeit und die dar aus folgende Mickrigkeit ihrer Zuständigkeitsbereiche war im Lauf der Jahre zu einer Art Stärke der Bullen geworden, eine Lizenz, jede erdenkliche Art von Grausamkeit zu begehen, die ihnen zur Beendi gung ihres jeweiligen Jobs nützlich vorkam. Und diese Jobs nahmen viele Gestalten an: hauptsächlich hatten sie es aber doch mit kleinen Schmugglern, Dealern und Prostituierten zu tun, die sie vor den Gangs schützten. Es waren oft dieselben Leute, die eine oder zwei Gangs zum Schutz gegen die Polizei bezahlten. Jonny dachte sich, der Cop, der in seine Zelle geschaut hatte, sei ty pisch für das Department gewesen: älter als die meisten Jungs vom Komitee und ohne jene Aura jugendlicher Überzeugung, der Tod werde, falls er sich blicken ließe, jemanden anderen holen. Jonny beschloß, den Polizisten auszutricksen, wenn er zurückkam. Er würde genau herausfinden, was für eine Story der Bulle hören wollte, würde dann eine Ausrede finden und einem der städtischen Meliorationspro jekte zugeteilt werden. Wenn er erst mal draußen war, würde er abhau en. Mit ein bißchen Glück konnte er in einer Woche wieder auf der Stra ße sein. Es war nach seiner Schätzung eine halbe Stunde vergangen, als er wieder Schritte hörte. Zwei Leute, zielstrebig. Die Zellentür schwang auf und der Cop, den er schon gesehen hatte, kam herein, gefolgt von einem älteren Mann, der einen abgewetzten blauen Nadelstreifen trug, der an den Gelenken mit Fadengelee verstärkt war − einem billigen Polymer, das bei Kontakt mit Luft hart wurde. Die Krawatte des Äl teren war eine Spur zu hell, um zu seinem Anzug zu passen und so schmal, daß sie mindestens zwei Moden zurücklag. Jonny hielt ihn für einen Bürohengst, einen Pflichtverteidiger oder vielleicht einen Sozial
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arbeiter. Er würde derjenige sein, der bearbeitet werden mußte. Sprich über deine üble Kindheit, die Gewalt in den Straßen… »Officer Acker«, sagte der Ältere. Seine Augen waren rot und be kümmert. Seine Schuhe bestanden aus gepreßtem Polyvinyl und stammten wohl aus einem Verkaufsautomaten. »Ich bin Detective Sergeant Russo, und das ist Officer Heckert.« Jonny lächelte und schüttelte die Hand, die Russo ihm hinstreckte, aber sein Gehirn lief auf Hochtouren. Neuer Kurs! Der Mann hatte ihn mit ›Officer‹ angesprochen! »Ich wollte Ihnen persönlich mitteilen, daß wir die Situation jetzt völlig durchblicken«, sagte Detective Russo und setzte sich lächelnd neben Jonny auf die Plastikpritsche. »Sehen Sie, nachdem Sie mit diesen Leuten im Lagerhaus geschnappt worden waren, hat Officer He ckert mittels Retina-Scanner jeden auf alte und ausländische Haft befehle überprüft − etwas, das wir normalerweise erst nach Anklage erhebung tun, aber angesichts der Menge von Gütern im Lagerhaus… Dann sahen wir Colonel Zamoras Notiz in Ihrer Akte, wir überprüften Ihren Retina-Abdruck und fanden heraus, daß Sie zum Komitee gehö ren.« Das ist es also, dachte Jonny. Diese Narren denken, ich sei noch im Komitee. Ich kann einfach hier hinausspazieren. »Gute Arbeit, Officer«, sagte Jonny und nickte Heckert zu. Der Cop nickte zurück, offensicht lich froh über seinen neuen Status. »Warum haben Sie das Lagerhaus gerade zu diesem Zeitpunkt durchsucht?« »Ein anonymer Tip«, sagte Heckert. »Eine weibliche Stimme, per Synthesizer zu einer männlichen verzerrt. Wir haben sie durch den Analysator laufen lassen und jetzt einen guten Stimmabdruck, aber ich fürchte, sie hat noch keine Akte.« Der Cop lächelte. (Spielt den harten Burschen, dachte Jonny. Das ist der Typ, der den Eintritt ins Komitee nicht schafft und deshalb Bulle wird und jeden Tag einen Eid schwört, er hätte nie etwas anderes werden wollen, vor allem kein KomiteeBoy.) »Möglicherweise nur irgendeine Schnepfe, die ihren Ex-Freund hereinlegen wollte.« »Wie auch immer«, sagte Detective Russo und warf Heckert einen mißbilligenden Blick zu, »wir haben Colonel Zamora angerufen und er wird gleich da sein, um Sie abzuholen.« »Was haben Sie getan?« schrie Jonny. Er sprang auf und fühlte sich, als wäre seinem Magen gerade der Boden herausgefallen. »Wissen Sie nicht, daß das Komitee auf diese Art kompromittiert wird?« Er wußte, daß er ihnen jetzt eine Story liefern mußte. Er erfand sie, während er sie erzählte. »Maulwürfe der Neuen Palästina Föderation haben das Komi
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tee schon vor Monaten infiltriert! Ich bin Undercover-Agent und unter suche arabische Terroristenzellen, die in Südkalifornien operieren. Das sind ganz heimtückische Burschen. Sie schmeißen Pilzgifte ins Trink wasser und lassen pestinfizierte Ratten in den Vorstädten frei. Das sind natürlich strengst geheime Informationen. Höchster Geheimhaltungs grad! Washington und Tokio sind involviert, Sergeant Russo. Nichts, was ich Ihnen eben gesagt habe, darf über die Wände dieser Zelle hin ausdringen!« Russos Blick irrte von Heckert zu Jonny und wieder zurück. Er run zelte die Stirn, und Jonny sah, daß er unsicher war bezüglich seiner Verantwortlichkeit, Mitschuld, und ob er gefrozzelt wurde oder nicht. »Aber sicher können Sie nicht glauben, daß Colonel Zamora selbst…«, begann Russo. »Woher wissen Sie, daß es Zamora war, mit dem Sie gesprochen haben?« brüllte Jonny. Er bewegte sich unauffällig ein bißchen in Rich tung Tür. Er sah, daß sie ihm den Unsinn zu glauben begannen, er sah es in den Augen und in ihrem farblosen Bürokratenblut, das Blasen zu treiben begann. Er wußte, daß sie ihn gehen lassen würden, weil sie glaubten, er sei genauso wie sie: ein weiteres Glied in der Kette aus Befehlen, die sie band und festlegte. Aber ihre Gangschaltungen funktionierten ziemlich langsam, und Jonny war klar, daß er sie vor wärtsstoßen mußte. »Hören Sie, Kollege, Sie haben mich wahrschein lich enttarnt, aber was soll's«, sagte er. »Wenn die Araber davon Wind kriegen, daß ich hier bin, mit all den Informationen, die ich gesammelt habe, können wir alle einpacken, denn die machen diesen Bau hier eher dem Erdboden gleich, als daß sie mich entkommen ließen.« »Na, dann ist es besser, wenn du an einen sicheren Platz verfrachtet wirst«, sagte eine zynische Stimme von der Tür her. Jonny drehte sich um. Er hatte Zamora nicht einmal kommen gehört, und jetzt war es zu spät, noch etwas zu unternehmen. Er wandte sich wieder den Cops zu. »Augenblick noch, ich habe gelogen. Ich bin nicht wirklich ein Beamter, ich bin ein Croaker! Ein Anarquista! Sperrt mich ein, und ich erzähle euch alles! Namen und Daten!« Detective Russo stand von der Pritsche auf und sah Zamora an. In seinem sich rötenden Gesicht zuckte ein Muskel. »Colonel Zamora, ich hoffe, Sie können erklären, was hier vorgeht. Ist das nun einer von Ih ren Männern oder nicht?« »Aber natürlich, Detective Sergeant Russo«, sagte Zamora, »klar ist er einer von uns.« Der Colonel lächelte ihn an und Jonny fühlte Übel keit. »Haben Sie meine Notiz in seiner Akte nicht gesehen? Acker hat jetzt schon lange Zeit als verdeckter Agent gearbeitet. Nachdem er so
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lange unter Terroristen war, flippt er einigermaßen aus. Er ist mitt lerweile überzeugt, selbst einer zu sein. Das kommt manchmal vor in diesen Undercover-Fällen. Aber wir geben ihm alle Hilfe, die er braucht.« Russo grunzte. »Dieser Mann hat unsere Zeit vergeudet, Colonel, und dieses Department in eine ärgerliche Situation gebracht. Ich hoffe, Sie können ihm bald die notwendige Hilfe leisten.« Er schüttelte den Kopf, rammte die Fäuste in die Hosentaschen und ging aus der Zelle. »Colonel Zamora«, sagte er mit müder Stimme, »wenn Sie nächstesmal Ärger mit Ihren Leuten haben, würde ich es schätzen, wenn Sie das De partment benachrichtigen könnten. Ich weiß, daß die Polizei nicht ganz dasselbe Ansehen wie das Komitee genießt, aber trotzdem…« »Sie haben absolut recht, Detective«, sagte Zamora. »Kommunikation, das ist es, worum sich alles dreht.« Russo und Heckert gingen aus der Zelle (wobei der jüngere Mann Jonny mit einem Blick absoluten Widerwillens bedachte) und den Gang entlang, während Zamora und ein Paar schwer bewaffneter Komitee-Boys Jonny in die andere Richtung abführten. In einem Wartezimmer, das in zwei Farben abblätternden Grüns gestrichen war, griff sich Zamora Jonny, wobei er das billige Gefängnishemd zerriß, drehte ihn herum und schlug ihn in den Magen. »Das ist für deine Klug scheißerei«, sagte der Colonel. Zamora stieß den noch immer zusammengekrümmten Jonny in einen Lift. Jemand drückte auf den Knopf, und der Lift setzte sich in Bewegung. Jonny sah sein Spiegelbild in der durchsichtigen Liftwand, geisterhaft vor zurückweichenden Dächern und Kumuluswolken. Der bewölkte Himmel schimmerte trüb durch den eingefressenen Schmutz und das spiegelglänzende Lexan, das die Liftkabine umgab. Jonny rich tete sich auf und betrachtete die beiden Komitee-Jungs, die links und rechts von ihm standen. Sie schienen ungefähr vierzehn Jahre alt zu sein und strahlten Wellen von Amphetamin-Spannung ab. Beide waren eingestöpselt in Multiplexer-Geräte, die ihre Futukoros mit den SonyZielmatrizen koordinierten, die Brust und Rücken mit ihrem dichten Gewebe überzogen. Jeder Boy hatte eine Batterie um seine Hüften und einen Datapatch, der ebenfalls mit dem Gerät verbunden war, vor einem Auge. »Unsere Besten«, sagte Zamora, auf die beiden weisend. »Siehst du, was für Probleme ich deinetwegen habe?« Er lächelte einfühlsam. »Schau mich an, Gordon. Ich bin eine Lawine. Und ich werde diesmal hart über dich kommen. Du hättest unseren Deal nicht verraten sollen.«
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»Was für einen Deal?« Jonny rieb seine schmerzenden Rippen. »Wir hatten niemals einen. Sie haben mir eine Kanone an den Kopf gehalten und mir einen Befehl gegeben. Ein Scheißdreck war das.« Zamora zuckte die Achseln. »Nenn es, wie du willst. Tatsache ist je denfalls, daß du mich beschissen hast und jetzt dafür den Preis zahlen mußt.« Er schaute weg und Jonny folgte seinem Blick, der über die Docks schweifte. Weiße Rollkräne luden silberne Güterwagen aus Con tainerschiffen und glitten dabei auf ihren Schienen hin und her wie die Skelette riesiger Giraffen. Eine alte und vertraute Wut stieg in Jonny hoch und umklammerte wie eine Faust seine Brust. Er schnappte nach Luft; es erinnerte ihn an die Wirkungen von Speed, an den brutalen und ungerichteten Ärger beim Herunterkommen. Er schaute auf den Boden und versuchte, einen klaren Kopf zu be kommen. Plastikumhüllte Drähte hingen in Strähnen winklig von der kaputten Servicetafel hinter dem Liftknopf herab. Jonny gewann ein wenig seine Fassung wieder, indem er sich sagte, daß er Zamora um das gebracht hatte, was der am liebsten haben wollte − Conover. Aber jetzt hat er mich gekriegt, fiel ihm dann ein. Und er wußte, daß Zamora wahrscheinlich irgendwann auch Conover kriegen würde. Damit kam die Wut zurück, stärker noch als zuvor. »Ich durchschaue Sie jetzt völlig, Colonel«, sagte er. Zamora hob amüsiert eine Augenbraue. »Ach ja, tatsächlich?« »Verdammt genau. Alles wurde mir klar, während ich eine Weile in den Hügeln war. Ich habe nicht alle Details herausgearbeitet, aber ich weiß, daß Sie mit den Arabern das Bett teilen. Ich habe Sendungen über L.A. auf einem verbotenen arabischen Link-Kanal gesehen. Es ist offensichtlich: wenn Araber in dieser Stadt arbeiten, wissen Sie dar über Bescheid. Und wenn Sie darüber Bescheid wissen, dann bedeutet das, daß Sie von ihnen bezahlt werden.« »Und was, wenn ich dir sage, daß das eine totale Schnapsidee von dir ist?« »Dann lügen Sie. Es ist nämlich Ihre arabische Connection, die Sie so nervös wegen Conover macht. Er hat CIA-Verbindungen, die Deka den zurückreichen. Sie haben Angst, daß er hinter Ihnen her ist, daß er einen Deal mit den Bundesbehörden macht und Sie in einem sterilen Raum irgendwo enden, mit Drähten in Ihrem Kopf, die jeden Ge danken herausholen, den Sie mal gedacht haben.« »Und was macht dich glauben, daß ich nicht vorbereitet sei und nicht Conover an seinem dünnen Genick packen werde?«
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»Weil Sie keinen Krieg wollen. Conover ist nicht blöd. Offensichtlich wissen Sie, wo er ist. Diese Hologramm-Kuppel ist nur ein Zirkustrick, um die Einheimischen und die anderen Lords zu beeindrucken, aber er hat dieses alte Spukhaus ganz gut eingerichtet, um sich gegen jeden Anschlag schützen zu können. Sie müßten schon den ganzen Hügel einebnen, um ihn zu kriegen. Aber wenn Sie das tun, werden die Leute anfangen, Fragen zu stellen und dann sitzen Sie wieder in der Scheiße. Deshalb haben Sie mir dieses Märchen über die Alpha-Ratten erzählt. Sie dachten, ich würde sehr beeindruckt sein und mächtig Angst haben angesichts Ihrer Verbindungen zu den wirklich Mächtigen, und deshalb würde ich Conover aus seinem Hügel herausholen und dann zu Ihnen gekrochen kommen, um zu sehen, was für Brosamen von Ihrem Tisch fallen.« Colonel Zamora schüttelte den Kopf und sagte mit seinem heiseren Echsenlachen: »Junge, du bist wirklich völlig hinüber. Vielleicht sollten wir dich tatsächlich in eine Klinik bringen, wenn alles vorüber ist. Na türlich gibt es Araber, die in Last ASS operieren. Verdammt, Washing ton und Tokio haben einige der einflußreichsten Mullahs in Ghom und Bagdad auf ihren Lohnlisten. Das ist der Lauf der Welt. Wirtschafts interessen, begreifst du? Aber diese Kameltreiber in L.A. sind nur eine Propagandazelle. Bürokratenwürstchen, die nicht mal mein Essensgeld aufbringen könnten.« Der Lift fuhr immer noch aufwärts. Jonny war klar, daß es zum Ho vercraft-Landeplatz auf dem Dach ging. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß Sie mich in jener Nacht beim Lagerhaus angelogen haben. Sie haben Suni gar nicht. Wenn Sie sie hätten, würden Sie sie schon angeschleppt haben, um mich zu erpressen oder sowas.« Zamora lächelte. Der Lift verlangsamte seine Fahrt. »Bist du dir da ganz sicher, Gordon?« Der Colonel streckte seine Hand aus und fingerte an dem Riß in Jonnys Gefängnishemd herum. »Würdest du dein Leben darauf wetten?« »Habe ich denn irgend etwas zu verlieren?« Zamora lachte wieder. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Der Lift zitterte, als magnetische Bolzen ihn auf seinem Platz unter dem Hovercraft-Landeplatz fixierten. Sie waren noch zwei Stockwerke vom Dach entfernt. Wie die meisten mit solchen Landeplätzen ausgestatteten Gebäude in L.A. hatte auch dieses einen zweiten Lift mit gesperrtem Zugang, den sie benützen mußten, um die Fahrzeuge zu erreichen. »Achtung!« sagte Zamora zu den Komitee-Boys. Keiner der beiden bestätigte den Befehl, aber beide bewegten sich, stellten die Datapatches ein und rollten die Schultern, um die Zielgewebe zu glätten. Jonny wußte, daß diese Jungs auf einer
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anderen Ebene lebten, in dem ausgedehnten Wahrnehmungsfeld der Zielmatrix, und dabei eine digitale Annäherung an eine Bewußtseins erweiterung erfuhren. Einen Moment lang beneidete er sie darum. Er schüttelte den Kopf über diese Absurdität. Es war nichts mehr zu ver lieren für ihn. Die Lifttüren öffneten sich mit einem leisen Geräusch und Jonny wurde in einen Gang gestoßen. Zamora war hinter ihm, die Boys an sei nen Seiten. Der Colonel ging schnell zu dem anderen Lift, steckte seine Identifikationskarte in einen Schlitz unter dem Bedienungsbrett und drückte auf einen der Knöpfe. Ein paar Meter entfernt benützte ein Ge fängnisarbeiter eine Abdichtungspistole, um ein durchsichtiges Sili konsiegel um die KanTen eines Beobachtungfensters zu spritzen. Der Gang war ruhig und gesichtslos mit beigefarbenen Wänden und braunem Spannteppich; Jonny war froh, daß der üble Gefängnisgeruch hier oben nicht mehr zu riechen war. Der Zeitablauf schien sich verlangsamt zu haben. Jonny fühlte sich, als bewege er sich in einem schweren flüssigen Medium, er bemerkte seine Umwelt mit besonderer Schärfe; sie schien mit den erregten Sinnen eines zum Tode Verurteilten wahrgenommen zu werden. Die Objekte strahlten eine geradezu heiligmäßige Bedeutsamkeit ab. Die Topfpalmen an den Fenstern. Die verchromten Neonröhren. Der blaue Overall des Gefängnisarbeiters, seine gefleckte Haut, rosa und schwarz. Etwas in seiner Hand: ein Silberpfeil auf einer Armbrustpistole. Der Name kam ganz unwillkürlich. »Man Ray«, sagte Jonny. Aber da war es schon vorbei. Der Komitee-Junge rechts war tot, ein Metallpfeil war in seine Brust gefahren und glänzte dort wie eine blutige Spinne, das Gewebe zerrissen, die freien Enden der Sensoren herabhängend und den Jungen in seinem eigenen Datenfluß ersäufend. Der andere Boy feuerte in den Gang und spickte die Wände mit Ge schossen. Jonny drehte sich und trat ihm in die Niere. Ein Arm um klammerte Jonnys Kehle und zerrte ihn zurück. »Nein!« brüllte Zamo ra. Der Komitee-Boy war zu ihnen herumgefahren und preßte völlig stoned und rotgesichtig vor Wut seine Waffe gegen Jonnys Kiefer. Ein leises Zischen und der Junge fiel um, einen Bolzen in der Kehle. Die Lifttür öffnete sich und Zamora zerrte Jonny hinein. Die Augen des toten Jungen sahen aus wie die eines verwunderten Kindes. Jonny fühlte mit ihm, aber dann wurde sein Kopf wild zurückgerissen und Za mora preßte die Mündung seiner Futukoro daran. »So einfach geht das nicht!« schrie der Colonel. Er schwenkte seine Waffe zu Man Ray und schoß durch die sich schließenden Türen. Der Krach donnerte in Jon nys Kopf. Man Ray sprang über die Leichen der beiden Komitee-Boys
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und wich den Schüssen aus. Die Lifttüren schlossen sich mit einem leisen Wupp und die Kabine setzte sich in Bewegung. »Nichts, gar nichts«, flüsterte Zamora in Jonnys Ohr. »Keine Bewe gung, kein Atemzug, kein Piepser.« Der Arm um Jonnys Kehle straffte sich und hob ihn auf die Zehenspitzen. »Du denkst, deine Companeros seien schlau? Sie sind Arschlöcher. Zeigen nur billige Kartentricks.« »Vielleicht«, erwiderte Jonny, »aber Ihre Jungs sind trotzdem tot.« Die Kabine kam zum Stehen, die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf die Lichtgerüste des Hovercraft-Hafens frei. Zamoras Futuko ro an seine Schläfe gepreßt, ging Jonny über das Rollfeld, der Colonel gebückt hinter ihm. Der Himmel war blutfarben vom Smog, die sin kende Sonne glomm schwach durch die abgasgeschwängerten Nebel. »Aufgepaßt, Kinder!« brüllte Zamora. »Es sind Croaker im Gebäude!« Jungs bewegten sich durch das düstere Wüstenlicht. Ein Dutzend großer Kreise war auf dem Dach ausgelegt. Sie sahen aus wie beleuchtete Einstiegslöcher in die Kanalisation. Die Lande plätze für die Hovercars waren hauptsächlich waffelförmige Scheiben aus Stahl, in die Landelichter eingesetzt waren, und die auf einem Bett aus Stoßdämpfern standen. Im Moment war nur ein Fahrzeug auf dem Dach, auf einem Landeplatz am entfernten Ende; Zamora stieß Jonny in diese Richtung, während ein Dutzend Komitee-Jungs und Cops hin ter ihnen ausschwärmten und sich verteilten, um das Dach mit De ckungsfeuer bestreichen zu können. Links von Jonny war ein junger Cop, der Blitze auf beide Seiten seines rasierten Schädels tätowiert hatte, damit beschäftigt, den Lift wieder hinunterzuschicken, um das Dach vom Rest des Gebäudes abzuschirmen. Sirenen ertönten und rote Warnlichter drehten sich. Die Landeplattform senkte sich um zwei Meter und stoppte dann. Auf dem Dach gingen alle Lichter aus. »Der Strom ist weg!« schrie jemand. Zamora stieß Jonny vorwärts, in die Arme eines Paars Meat-Boys. Der größere der beiden, ein aknenarbiger Chollo, groß sogar nach den Maßstäben des Komitees, sagte: »Wo sind Rick und Pepe?« »Schnauze«, erwiderte der Colonel, »die sind hinüber. Ein Fehler, den dieses Arschloch hier gemacht hat. Bringt ihn zum Wagen.« In dem Moment, als die Meat Boys ihre Finger brutal in Jonnys Schultern krampften, erschütterte etwas die Luft. Die Mitsui Pacific Bank, eben noch dunkel, erglühte in einem bleichen, schneeartigen Grau, das Schwarz-Weiß-Hologramm eines Frauengesichts erschien auf der Fassade, von Fenstern und glänzenden Robotwaschanlagen unterlegt. Das Bild schrumpfte zusammen, bis nur noch ein Auge übrigblieb. Das Profil eines Mannes mit einem Rasiermesser in der Hand erschien. Das
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graue Auge bedeckte zehn Stockwerke im oberen Teil der Bank, wäh rend das Rasiermesser durch den Augapfel schnitt und das Auge in zwei Teile trennte. Auf jeder Seite des Daches sah man jetzt Phos phene in ganzen Wellen über die Gebäude im Hintergrund streifen. Bleiche Bilder von Pornofleisch. Das nasse Rot eines Autopsie-Filmes. Collagierte Werbung, zu schnell, um ihr zu folgen: Schuhe, Autos, neue Augen, geklonte Haustiere. Von irgendwo ertönte blechern ein Lautsprecher: »Wir sind die Re volte des menschlichen Geistes, der von euren Werken gedemütigt worden ist. Wir sind der Funken im Wind − der Funken auf der Suche nach der Lunte des Pulvermagazins!« »Bringt ihn weg!« sagte Zamora, als die erste Erschütterung durch das Gebäude lief. Als Jonny sie erblickte, waren die Croaker noch so hoch über dem Hovercraft-Flugplatz, daß man die Rotoren ihrer Rucksackfluggeräte nicht hören konnte. Er nahm an, daß sie von den naheliegenden Ge bäuden gestartet waren, während die Hologramme zur Ablenkung ge dient hatten. Sie kreisten jetzt, warfen Kränze von Rosen, Spielkarten und ganze Scharen mechanischer Tauben ab, die von Konvektions winden aufs Dach getrieben wurden, wo sie explodierten, Stahl und Landebahnbelag unter den Füßen der Komitee-Boys aufrissen und er stickende Wolken von CS-Gas freigaben. »Was habe ich dir gesagt?« fragte Zamora. »Es sind Vollidioten. Wir werden sie abknallen wie Truthähne.« Aber da kam der Strom wieder, die Kohlenstoffbögen auf den Licht gerüsten erstrahlten und die geflügelten Figuren verschwanden gegen den dunklen Nachthimmel. »Scheiße!« schrie Zamora und rannte über das Dach. »Bringt ihn ins Gefängnis«, rief er den Meat Boys zu, »wenn er euch abhanden kommt, reiße ich euch eigenhändig den Arsch auf!« Der kleinere Meat Boy, ein blonder WASP mit schlechten Zähnen, nickte und stieß Jonny in Richtung Hovercar. »Ich heiße Stearn, und das ist Julio«, sagte er und wies mit dem Daumen auf den Größeren. »Wir brechen dir das Kreuz, wenn du lästig wirst.« Stearn war ungefähr sechzehn und nahezu einen Meter größer als Jonny. Seine Stimme klang unnatürlich tief und ziemlich verwischt wegen seines überdimensionierten Unterkiefers. Als sie den Hovercar erreichten, geriet Jonny in Panik, weil er wußte, was ihn erwartete, wenn sie das Hauptquartier des Komitees erreich ten. Er wand sich in Stearns Griff, das Papierhemd zerriß an den Schultern, Jonny sprang hoch und rollte über den Hovercar ab. Dabei bekam er einen Eindruck vom Piloten, einen gelben Totenkopf im
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Schimmer der Navigationskonsole. Auf der anderen Seite des Gefährts sprang Jonny von der Plattform und rannte zur Dachkante, wedelte mit seinen Armen und schrie den Croakern zu: »Hier! Hier bin ich!« Eine Faust in der Größe von Jonnys Kopf traf ihn zwischen die Schulterblätter und streckte ihn flach zu Boden. Einen Augenblick später wurde er auf die Füße gezerrt. Die Meat Boys schleiften ihn hin über zum Hovercar. Am anderen Ende des Dachs landeten Croakers mit ihren Rucksackhubschraubern und wurden inmitten von Tränengaswolken und Futukoro-Feuer momentan gestoppt. »Alles in Ordnung!« schrie Jonny. »Sie werden deine Eier als Brief beschwerer nehmen, König Ubu!« Stearn ließ ihn los und Julio stieß Jonny rücklings durch den Kabineneinstieg des Fahrzeugs. Jonny fiel und starrte dann den riesigen Stiefel an, der erst über seinem Gesicht drohte und dann über ihn wegschritt, als Julio sich auf den rechten Sitz setzte. Der Meat Boy zerrte Jonny hoch, als Stearn einstieg und sich links neben Jonny setz te, so daß die beiden ihn flankierten. Draußen fuhr die Lautsprecherstimme fort: »Ich bin hier nach dem Willen des Volkes und ich gehe nicht, bevor ich meinen Regenmantel zurückbekommen habe!« Stearn schloß den Kabineneinstieg, tippte dem Piloten auf die Schulter und schrie: »Vorwärts!« Der Pilot schaltete die Maschinen ein. Infraschall rumpelte in Jonnys Eingeweiden, als die vier Pratt-und Whitney-Maschinen des Hovercars warmliefen. Croaker landeten wenige Meter neben dem Fahrzeug und kamen darauf zugelaufen. »Go! Vamonos!« brüllte Stearn. Jonny riß den Fuß zwischen den Vordersitzen hoch und trat dem Pi loten seitlich gegen den Kopf. »Ganz ruhig«, murmelte Stearn und stieß seinen Ellbogen gegen Jonnys Kehle. Der Hovercar erhob sich im Tränengasnebel ungefähr zwei Meter über die Plattform. Dann krachte er wieder herunter. Etwas Silbernes blitzte über die Frontscheibe. Der Pilot gab den Maschinen mehr Gas, und das Fahrzeug stieß nach vorne. Dann erhob es sich allmählich und glitt über die Straße hinaus. Jonny sah Zamora auf dem Dach unter ih nen frenetisch winken. Einer der Meat Boys fluchte, und Jonny blickte auf. Das Sichelende eines Kusairigama war um die Scheinwerfer des Ho vercars gewickelt. Ein Gesicht wurde flüchtig am Fenster sichtbar. Lärm auf dem Dach. Jonny jauchzte angesichts dieser Entwicklung auf. Drei Croaker hatten sich an das Dach gefesselt, während der Hovercar unruhig zwanzig Stockwerke über dem Asphalt der Stadt dahinflog.
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»Ich kann sie nicht ruhig halten«, sagte der Pilot, »da stimmt irgend etwas nicht.« Julio lehnte sich vor. »Schau mal hinauf, du Trottel!« Der Pilot streckte gerade schildkrötenartig seinen Kopf aus, als eine Axt die Windschutzscheibe vor ihm zertrümmerte. Er riß heftig am Steuerknüppel, worauf der Hovercar zu schlingern begann. Von oben hörte man Metall und zerbrechendes Plastik. Die Croaker hielten sich am Dach angeklammert und rissen methodisch das Verdeck ab. Stearn zog seine Waffe und zielte auf den Unterleib eines Croakers, der auf dem Verdeck über ihm kniete. Der Pilot kämpfte mit dem Steuerknüppel. Das Fahrzeug ruckte heftig nach links wie ein bo ckendes Tier, und Stearn verlor sein Ziel aus dem Auge. »Halt still, sonst kann ich nicht schießen!« schrie er. »Nein!« kreischte der Pilot. »Du könntest die Stabilisatoren treffen! Es ist so schon schwer genug zu kontrollieren.« »Dann schüttle sie ab!« »Gut. Haltet euch fest!« Der Pilot zog den Steuerknüppel scharf nach links, der Hovercar machte einen Satz. Jonny verlor den Boden unter den Füßen. Er griff nach der Decke und hing in seinem Sicherheitsgurt ein paar Zentime ter über dem Sitz. Die Croaker waren immer noch da, mit ihren Ketten sicher am Fahrzeug befestigt. »Ich kann nicht mehr tun«, sagte der Pilot, »wir sind zu überladen.« »Dann bleib auf Kurs!« befahl Stearn. Er zielte auf den Croaker an seinem Fenster. Jonny preßte seinen Rücken gegen das Dach und schlug den Meat Boy mit beiden gefesselten Fäusten mit dem Gesicht gegen das Glas. Die Futukoro ging los und zertrümmerte das Fenster. Die Scherben kamen wie tausend fliegende Messer hereingefegt. Windesjaulen und das Geräusch überdrehter Turbinen. Der Pilot hielt geraden Kurs. Die Croaker kletterten wieder auf das Dach und machten weiter mit ihrer Zerstörung des Hovercars. Stearn drehte sich um und starrte Jonny an. Glassplitter steckten um seine Augen und den Mund im Gesicht und glitzerten wie wilde Juwelen. Stearn legte Jonny die Finger um die Kehle und drückte zu. Jonny schlug nach seinen Augen, verfehlte sie aber, fühlte, wie die Muskeln in seinem Genick sich zusammenknoteten, wie ihm der Atem ausging und die Welt sich zu verdunkeln begann. »Hör auf!« schrie Julio gegen den Wind an. »Wir müssen ihn ins Ge fängnis bringen! Er gehört nicht dir!«
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Aber Stearn drückte weiter zu. Jonny hörte eine gedämpfte Explosi on und fühlte, wie die Finger an seinem Hals schlaff wurden. Er tau melte zurück. Stearn hatte sich aufgerichtet. Seine Schultern zuckten konvulsivisch. Dann fiel er nach vorn. Er hatte ein großes nasses Loch im Rücken. »Weg da!« schrie die Croaker-Frau mit der Waffe. Sie hing verkehrt im Fensterrahmen und versuchte, den anderen Meat Boy zu treffen. Jonny warf sich über Stearns Leiche und spürte Mündungshitze in seinem Rücken. Als er wieder aufzusehen wagte, hing die Frau als leb lose Puppe im Fenster, eine Kette baumelte von ihrem Handgelenk, sie war schon tot, als sie endgültig vom Fahrzeug herunterfiel. Julio grunzte eine spanische Obszönität. Jonny sah zu, wie er sich ein Taschentuch in das Loch in seiner Schulter stopfte. Der Meat Boy grinste. »Ich werde dich nicht umbringen«, sagte er und preßte den Lauf sei ner Futukoro gegen Jonnys Unterleib, »aber du wirst dir wünschen, daß du tot wärest!« »Wir sind ganz nahe am Hauptquartier!« rief der Pilot. »Ich lande hier irgendwo.« »Aber schnell!« sagte Julio. Er preßte seinen Rücken gegen das of fene Fenster und glitt ein Stückchen hinaus. Jonny fühlte, wie seine Haut prickelte, wenn er daran dachte, ins Hauptquartier zurückzukehren. Der Hovercar flog über Dächer von ausgebrannten Wolkenkratzern. Sie näherten sich Union Bank Plaza mit seinen vertrockneten Brunnen und toten, brüchigen Bäumen. Jon ny sah die Autobahn. Wenn er es schaffte, daß der Pilot den Hovercar hier landete, konnten die Croaker und er einen Wagen schnappen und abhauen. Jonny warf einen Blick auf Julio und sah, daß der Junge mit einem Croaker beschäftigt war, der nicht stillhalten und sich er schießen lassen wollte. Mit Stearns Leiche als Deckung zog Jonny sein Messer aus dem Stiefel. Er lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorn und berührte mit der Messerklinge die Kehle des Piloten, wobei er gerade so zudrückte, daß ein bißchen Blut austrat. Der Kopf des Piloten schnappte zurück. »Lande bei dem Brunnen«, flüsterte Jonny. »Yes, Sir«, sagte der Pilot und flog niedrig die Plaza an. Jonny hörte eine Stimme: »Was, zum Teufel, tut ihr da?« Er fuhr herum. Julio zog gerade seinen Kopf wieder zum Fenster herein und Jonny erwischte ihn mit dem Stiefel am Kinn. Zwei leder umhüllte Arme griffen hinter dem Meat Boy durchs Fenster herein und rissen ihn an den Haaren zurück. Julio geriet daraufhin in Panik, er we
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delte mit seiner Futukoro in der ganzen Kabine herum, richtete sie ein mal auf den Croaker, der ihn von hinten hielt, dann wieder auf Jonny. Als der Croaker aus dem Fenster verschwand, drückte Julio ab. Der Kopf des Piloten explodierte und der Hovercar kippte nach vorne weg und trudelte auf den Asphalt zu. Jonny griff unter den Körper des toten Piloten nach dem Steuer knüppel. Schräg hinter und über sich hörte er, wie Julio immer noch mit den Croakern kämpfte. Ein Schuß ging durch das Dach. Jonny zog hart an dem Knüppel, um den Aufprall zu verhindern. Der Hovercar richtete sich steil auf und prallte bäuchlings in die toten Bäume auf der Union Bank Plaza. Auf der anderen Straßenseite stand inmitten eines Dschungels aus verrottendem Patio-Meublement das verspiegelte Bonaventure Hotel. Jonny blickte gerade noch rechtzeitig auf, um das Spiegelbild des Auf pralls in der Fassade des Gebäudes gegenüber sehen zu können.
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IX Der Verrat der Bilder Eine leichte Salzkruste auf seinen Lippen. Der Geruch nach feuchtem Beton und Fisch. Los Angeles lag über ihm wie ein Vogelflügel, verzerrt wie das Bild eines Diamanten in der gebogenen Oberfläche eines Hohlspiegels. Die Stadt blähte sich auf und zerplatzte, das Bild konnte keinen Bestand haben. All die strahlenden Wolkenkratzer und Gefängnisse, die Autos und Gewehre, die Junkies und die Dealer, die Toten und die Sterbenden regneten aus einem verwundeten Himmel auf ihn herab. Und jedermann schien seinen Namen zu kennen, außer ihm selbst. Es schien Jonny, daß er für jemanden, der eigentlich nur alleinge lassen werden wollte, eine Menge Zeit damit verbrachte, in Bandagen aufzuwachen. Daß er immer noch am Leben war, schien ihm weniger eine Überra schung als eine Bürde zu sein. Er fragte sich, ob es einen tieferen Grund dafür gab, irgendeinen anderen Zweck als nur den, alle anderen Leute zu amüsieren. Sein Hinterkopf fühlte sich an, als sei er mit einem Büchsenöffner geöffnet und dann mit Trockeneis angefüllt worden. Er lachte über irgend etwas − ohne sich im klaren zu sein, worüber − stieß mit der Hand gegen die Bettkante und setzte sich auf. Der Fischgeruch war jetzt stärker. Aus einiger Entfernung hörte er Gezwitscher wie von Delphinen. Aber nach wie vor kein Licht. Er spür te die Verbände auf seinem Gesicht, vielfache Lagen von Gaze und chirurgischem Band. Wunden auf seinen Wangen. Er war operiert worden. Unter der Kante des Verbands betastete er seine Lippen. Sie waren geschwollen, die Vorderzähne wackelten. Seine Nase war vielleicht auch gebrochen. Allerdings hätte alles noch schlimmer sein können. Seine Augen schmerzten. Seine Augen. Irgendwo in seinem Hinterkopf begann eine Stimme loszukreischen. Es war seine eigene Stimme: wie das Röhren von Turbinen, wie Metall, das auf Metall knirscht. Augen. Die Welt brach zusammen unter der Macht eines einzigen Wortes. »Blind«, sagte er vor sich hin, nahm es aber kaum wahr. Er fand her aus, daß er das Wort zurückhalten konnte, wenn er sich bemühte, daß er es aus einiger Entfernung beobachten konnte, seine Konturen und Windungen nachfahren, während er ihm nicht gestattete, bewußte Gestalt anzunehmen. Aber das Gewicht war zu groß, als daß er es
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beliebig lang hätte halten können; es fiel, und seine Erinnerung brach auf ihn nieder wie das berstende Fenster des Hovercars. Er war blind. Ich bin blind. »Jonny?« Die Stimme eines Mannes. Über ein Gerät. »Bleib dort. Steh nicht auf.« Unter seinen bloßen Füßen war der Boden kalt. Er spürte nassen Beton, Seetangfäden und, ein paar Schritte weiter, das rostzerfressene Gitter eines Abflusses. Er konnte den Ozean in nächster Nähe hören. Etwas kitzelte seinen Fuß − eine winzige Krabbe. Er fühlte, wie andere jedesmal auswichen, wenn er seinen Fuß niedersetzte. Eine Wand. Er brauchte eine Wand, etwas Substantielles, an das er sich halten konn te. Er ging dorthin zurück, wo er das Bett vermutete, und blieb dann unsicher stehen. Er ging im Kreis, schreiend, den Kopf zurückgeworfen, mit den zu Klauen gebogenen Händen an der Gaze zerrend. Als er sie vollständig herabgerissen hatte, stand er keuchend da. Nach wie vor kein Lichtschimmer. »Jonny, beweg dich nicht!« Er wandte sich nach der Stimme um, tat einen Schritt vorwärts − und fiel. Eine Hand packte seine Schulter und seinen rechten Arm und zog ihn zurück. Er lag auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht, die Nässe kroch durch seine Hosenbeine. »Ich sagte dir, du sollst stehenbleiben. Du wärst beinahe zehn Meter abgestürzt.« Die Stimme klang vertraut. »Hey, Groucho«, sagte Jonny. »Rate mal, was los ist. Ich bin blind.« »Ich wußte es schon. Du hättest mich nicht auf diese Art auf die Probe stellen müssen.« Der Anarchist half ihm auf die Beine und führte ihn zurück zum Bett, das nach Jonnys Schätzung nicht mehr als fünf zehn Meter entfernt gewesen war. »Verflucht, ich bin bloß noch Gemüse«, sagte Jonny. »Red keinen Scheiß!« sagte der Anarchist. Jonny fühlte die Vertei lung des Gewichts auf dem Bett, als Groucho sich neben ihn setzte. »Du hast deine Hände, du hast deinen Verstand. Wir haben versiegelt, was von deinen Sehnerven übriggeblieben ist. Viel mehr konnten wir nicht tun.« »Großartig«, sagte Jonny, »wie sieht's mit Implantationen aus?« »Ich weiß es nicht. Wir könnten vielleicht etwas installieren, das dir ein bißchen Sicht zurückgibt. Möglicherweise. Ein paar Nervenzellen von irgendwo aus deinem Körper in deine Sehnerven spleißen und schauen, ob wir es schaffen, daß wir sie zum Wachsen bringen. Da bin ich mir nicht sicher. Das Problem ist, wir sind sehr beschränkt mit dem, was wir hier im Hinterland durchführen können. Wir haben eine
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Menge Ausrüstung verloren, als das Komitee über uns hergefallen ist.« Jonny fühlte an seiner Bewegung, daß er eine Geste machte. »Tut mir leid, Mann.« Jonny nickte. »Ja. Wo sind wir denn?« »Auf einer Fischfarm. Sie ist allerdings seit Jahren verlassen. Das war's, wo du beinahe reingefallen wärst: einer der trockengelegten Fut tertanks. Bevor das hier eine Fischfarm war, wurde der Ort von der Ma rine als Delphinausbildungszentrum verwendet. Es gibt draußen Mo len, wo die Delphine immer noch kommen, um nach Futter zu sehen. Ich fürchte, wir haben sie dazu ermutigt, sie sind so schöne Tiere.« »Verdammt, erzähl mir doch alles«, sagte Jonny. Er holte tief Luft und schluckte. »Hör zu, ich muß es wissen. Bin ich… ich meine, was ist mit meinem…« »Dein Gesicht ist in Ordnung«, sagte Groucho. »Man könnte sogar von einer Verbesserung sprechen. Obwohl du genug Plastik und Metall im Schädel hast, daß man ihn für eine Maschine halten könnte.« Jonny schüttelte den Kopf. Er versuchte, das Bild Grouchos herauf zubeschwören, wie er neben ihm auf dem Bett saß. Das Bett selbst war leicht vorzustellen. Indem er die Finger an der Kante entlanglaufen ließ, spürte er nacktes Metall und weiche Gummiteile und unten blo ckierte Räder. Ein Musterkarren, dachte er sich, bedeckt mit einer Schaumstoffmatratze. Aber Grouchos Gesicht entschlüpfte seinem Ge dächtnis. Jonny hatte sich nie an Gesichter erinnern können, außer er sah sie direkt an. Er versuchte, sich den Raum vorzustellen. Nackter Beton, vernickelte Tanks mit verchromten Leitern, die in die Becken hinunterführten, Abflüsse im Boden… Vergiß es. Das war eine Einkaufsliste, kein Bild. Er konnte sich vorstellen, wie er selbst aussah (auch gesichtslos), ebenso Groucho und das Bett, aber außerhalb all dessen war Leere, terra incognita. Nichts existierte, das weiter weg war als das Ende seines Arms. »Gewöhn dich daran, Arschloch«, murmelte er. »Was?« »Was geschieht jetzt also?« »Wir greifen auf den ersten Plan zurück«, sagte Groucho. »Die Croa ker haben Freunde in Mexiko. Wir sollten in der Lage sein, dich in nerhalb einiger Tage nach Ensanada zu bringen, und dann hinüber aufs Festland. Es wird eine Weile dauern, bevor wir etwas für deine Augen tun können.« »Halt mich nicht zum Narren, okay?« sagte Jonny. »Wenn meine Sehnerven so hin sind, wie du sagst, ist es reine Scheiße, was wir über
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Nervenspleißen quatschen. Realistisch gesehen können wir über eine Verbindung vom Hirn zu einem Digitizer und einer Art Mikro-videoein richtung reden. Hast du oder einer deiner Leute die dafür nötigen Ge räte?« »Nein. Du mußt nach New Hope oder sonst in eine Regierungsklinik für diese Art Arbeit.« »Na, da haben wir's«, sagte Jonny tonlos. Das Bett bewegte sich, als Groucho aufstand. Jonny horchte auf die Schritte des Anarchisten, während dieser herumging, und zählte die Anzahl der Herzschläge zwi schen jedem Geräusch der Absätze, wobei er sich vorstellte, das könnte ihm einen Eindruck von Größe und Art des Raumes vermitteln. Das tat es aber nicht. Es gab andere Geräusche: das weiße Rauschen der Brandung, Delphine, das Klicken von Krabben auf dem Fußboden, alle gleich entfernt und irreal, als erzeuge das Gehirn in Abwesenheit optischer Reize eifrig selbst Sinnesempfindungen. »Maya, Mann. Manchmal denke ich, das alles ist nur Rauch und Spiegelungen.« »Ich dachte, das sei ohnehin klar«, sagte Groucho. Die Stimme des Anarchisten kam irgendwo von links. »Es machte mich meistens verrückt«, sagte Jonny. »Die Roshis sag ten mir, daß alles eine Illusion sei. Hör mal, Mann, wenn das alles eine Illusion ist, dann muß es die von jemand anderem sein, denn ich würde so eine Scheiße nicht erfinden.« Man hörte kratzende Geräusche auf dem Beton und Papiergeraschel. Jonny dachte sich, daß Groucho vielleicht Schachteln verschob. »Das heißt nur, der Sache aus dem Weg gehen«, erwiderte Groucho. »Es klingt auch wie eine sorgfältig ausgearbeitete Entschuldigung für Selbstmord. Willst du sterben?« »Ich weiß nicht.« Jonny zuckte die Achseln. »Manchmal. Ja.« »Es ist hart. Wir sind so betäubt von der ständigen Gegenwart des Todes, daß wir mit ihm spielen, ihn als Droge benützen, ihn in unserem Geist als die große Bedrohung aufbauen. Der Irrtum dabei ist, daß auch der Tod nur eine Illusion ist.« »Du bist wie ein Zirkus mit drei Arenen, Mann«, sagte Jonny. »Aber das sind alles nur Wörter. Die Katholiken haben die halbe Stadt unter den Daumen gekriegt mit ein paar billigen Lichteffekten und bemaltem Glas, die Moslems erzählen ihren Haschischins, daß das Sterben für Allah eine Eintrittskarte ins Paradies bedeutet, und Buddha sagt, Leben bedeute Leiden, was heißt, ich sollte niemandem damit auf die Nerven gehen, daß ich ständig herausstreiche, wie beschissen es ist, blind zu sein.«
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»Verstehst du nicht, daß es das ist, was mit ›Illusion‹ bezeichnet wird? Du bist blind, sagst du? Ich sage dir, niemand sieht etwas, und es gibt auch nichts zu sehen. Wie kannst du etwas vermissen, das nie exis tiert hat?« »Das ist totaler Scheißdreck.« »Ice hat mir erzählt, du hättest einmal einen Roshi gehabt und Sitz übungen gemacht. Was geschah damals?« Grouchos Stimme erklang jetzt aus der Nähe. Er drückte Jonny etwas in die Hände. »Deine Stiefel. Tut mir leid, jemand hat sie poliert. Jetzt sind sie wieder schwarz.« Jonny lehnte sich über die Bettkante und zog seinen rechten Stiefel an. Er sagte: »Ja, ich hab Sitzmeditation gemacht. Ich war jung, und es war in Mode. Teenybop-per-Zen. Wie Schlangenhautjacketts oder grü ne Augen.« »Du scheinst mir nicht der Typ für solche Spielchen zu sein.« »Sicher bin ich das.« »Nein, du glaubst gern, daß du es bist, weil es leicht ist und weil es zu deinem Selbstbild paßt. Aber ich glaube nicht, daß du auch nur an nähernd der Zyniker oder der Narr bist, den du so gerne spielst.« Während Jonny seinen anderen Stiefel anzog, sagte er: »Das wart ihr, die den Cops den Tip mit Nimble Virtues Lagerhaus gegeben habt, nicht wahr?« Groucho seufzte. »Es wäre ein Kinderspiel gewesen, dich den Cops wegzunehmen. Wir hätten uns nie träumen lassen, daß die Idioten das Komitee anrufen würden. Ice war es, die telefonierte. Sie ist in Si cherheit, weißt du.« Jonny lächelte. »Danke.« »Sumi übrigens auch.« »Jesus«, sagte er, »ist sie hier?« »Ja. Sie hat praktisch die ganze Stromversorgung hier draußen in stalliert. Sie holt den Saft aus den Fernleitungen der Regierung.« »Das sieht ihr ähnlich«, sagte Jonny. »Wo ist sie? Bring mich zu ihr.« Er stand auf, aber Groucho drückte ihn auf das Bett zurück. »Du bleibst hier. Sie und Ice arbeiten mit einem Reinigungsteam auf einer der alten Öl-Bohrplattformen in der Nähe. Wenn sie zurückkommen, sage ich ihnen, daß du wieder bei Bewußtsein bist.« »Danke, Mann«, sagte Jonny. Er berührte die saubere Reihe winziger Plastikknoten, die man zum Verschließen der Einstiche in seinem Gesicht verwendet hatte. Meridiane des Schmerzes. Er fühlte sich sehr müde.
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»Der Optimismus der Verrückten. Ich könnte mein Leben damit ver bringen, ihn zu provozieren. Nimm das!« Jonny spürte, wie ein kleiner Zylinder aus weichem Plastik in seine Hand gedrückt wurde. »Auto injektor«, sagte Groucho. »Endorphine. Wenn der Schmerz zu stark wird, nimm die Kapsel ab, um die Spritze freizulegen, und injizier in eine Vene.« Als der Anarchist gegangen war, öffnete Jonny die Spitze des Injek tors mit dem Daumen und preßte die Nadel in seine linke Armbeuge. Ein Federmechanismus pumpte ihm die Droge ins Blut. Der Schmerz verschwand augenblicklich und wurde durch eine sanfte, unkörperliche Wärme ersetzt, als ob sein Blut mit warmem Sirup vertauscht worden sei. Er legte sich auf das Bett, fühlte, wie sich seine Muskeln entspann ten, und ließ die Droge und die tiefere Dunkelheit des Schlafs über sich wegspülen. Er lauschte auf den Ozean und die Delphine, leckte sich das Salz von den Lippen und hoffte, daß er nichts träumen würde. Der Schlaf hielt nicht lange an. Die Droge tat ihre Arbeit gut und hielt den Schmerz eine Armlänge entfernt, aber in seinem Gehirn blieben zu viele Areale auf ›Arbeit‹ geschaltet. Er war gerade wach genug, um die Geister wahrzunehmen, die hoch über seinem Bett da hinglitten. Heißes Rot und elektrisches Blau in schneller Bewegung, wie fallender Regen oder Statik auf einem Videomonitor. Er schlug mit der offenen Hand danach, verfehlte sie aber. Sie waren nicht da. Sie waren in ihm. In seinem Kopf. Ein postoperativer Trick, dachte er sich. Zufallssignale von den abgetrennten Nerven an das Sehzentrum in sei nem Gehirn. Feuerwerk, dachte er sich. Großartiges Timing. Verfickten Dank auch! Als er wieder einschlief, träumte er von Maschinen, von einer unter irdischen Raffinerie wie einer versunkenen Stadt. Kühltürme und Dampf und Wolken von synthetischem Benzin. Er war wieder von der Schule davongelaufen. Jonny, zehn Jahre alt, dick und atemlos, der auf zitternden Beinen davonlief und sich hinter den sanften Hügeln aus kühlender Schlacke verbarg. Ein Mann war hinter ihm her. Er trug einen billigen Plastikponcho und ein Gewehr. Leise wie der Tod selbst; das halbe Gesicht von einer Spiegelbrille verborgen. Als der Mann ihn aufspürte, konnte Jonny nichts tun, als seine blasenbedeckten Hände über die Ohren legen. Im letzten Moment sah er sein verbranntes Gesicht sich in der Brille des Mannes spiegeln. Die Raffinierte dröhnte und spuckte Dampf aus. Er schrie in der Hoffnung, den Schuß nicht hö ren zu müssen.
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»Wach auf, Dornröschen! He, Jonny, komm schon, beweg deinen Arsch! Jemand hat kleine Eisenbahnschienen über dein ganzes hüb sches Gesicht gezogen.« Er fuhr aus dem Schlaf hoch. Er konnte die Geister noch immer se hen, aber jetzt waren es weniger als zuvor. Sein Schädel war mit Baum wollflocken gefüllt. »Ice?« »Wer sonst, Bubi?« Er setzte sich auf dem Bett auf, streckte die Hand aus und berührte nasses Leder, das kühl war und nach dem Meer roch. »Hiya, Baby«, sagte sie und küßte ihn mit salzigen Lippen. »Ich habe ein Geschenk für dich mitgebracht.« Sie führte seine Hand nach rechts, bis er etwas berührte. Angenehme Haut und hohe Backenknochen, darunter ein starkes Kinn, ein Mund. In seiner Brust geschah etwas, eine Bewegung wie ein Schmerz, aber in Wirklichkeit tiefe Freude. Spä ter dachte er, daß er vielleicht wie ein Idiot in Schluchzen ausgebro chen wäre, wenn er hätte sehen können. »Sumi.« »Man kann dich nicht reinlegen«, erwiderte sie. Er hielt sie, hielt sich an ihr, um nicht zu fallen. Wenn er sie losließ, würde sich der Fußboden öffnen und ihn verschlucken. Aber er fühlte Ice' Arm, der über seinen Rücken nach Sumi griff. So standen die drei eine Weile, zusammengedrängt, Jonnys Kopf an Sumis Schulter. Sein vernebeltes Gehirn wurde mit dem Input kaum fertig. Es quirlte Emo tionen und Erinnerungen nach dem Zufallsprinzip hoch. Angst. Liebe. Ein geschmolzener Schaltkreis. Begehren. Spiegelbrillen. Ein Gewehr. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« fragte er schließlich. Sie ent spannten sich und setzten sich auf das Bett, berührten sich aber immer noch. »Kennst du Vyctor Vector?« »Klar. Sie ist el patron der Naginata Sisters.« »Nun, ich war dabei, dort Installationen vorzunehmen; sie hat ihr Lager in einer alten Polizeistation in Echo Park. Die Schwestern verwenden es als Clubhaus. Eingebautes Sicherheitssystem, Gym, funktionierende Telefone, verstehst du? Wie auch immer, als ich dort fertig bin und heimgehe, finde ich alles voll mit Komitee-Boys. Ich glaubte, einer von ihnen hätte mich gesehen, also wetzte ich sofort da von durch so eine Art Filmgesellschaft unten, und zurück zu Vyctor. Die Schwestern waren cool. Sie versteckten mich eine Weile, brachten mich dann in Kontakt mit ein paar Schmugglern, die für sie als Muskel arbeiten, und die brachten mich zu den Croakern. Und hier bin ich.«
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»Hier bist du«, wiederholte Jonny. »Jesus, wir haben dich doch ein paar Stunden lang vermißt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du seist tot.« »Und wir dachten, du seist tot«, sagte Ice. »Natürlich, vorher dachte Sumi, daß ich tot sei, und ich dachte… o Scheiße…« Sie lachte. »Sehen wir der Sache ins Auge, jeder hatte jeden schon abgeschrieben in diesen letzten Wochen. Aber wir haben es geschafft. Wir haben sie übertölpelt.« »Wir hatten Glück«, sagte Jonny. »Vielleicht kommt das auf ganz dasselbe raus«, meinte Sumi. »Vielleicht spielt es auch gar keine Rolle«, sagte Ice. »Ich bin so völlig weg vom Fenster«, bemerkte Jonny, »was ist auf der Straße los? Macht das Komitee immer noch Druck?« »Ja. Wir dachten, sie würden es vergessen angesichts von so vielen Kranken und abhauen, aber keine Rede davon. Sie pumpen ihre Boys nach wie vor mit Amantadine voll und senden sie auf Search-and-De stroy-Trips. Das Virus verwenden sie als Entschuldigung, um über je den herzufallen, der je einen schiefen Blick auf das Komitee geworfen hat.« »Deshalb sind die Naginatas in Bewegung«, sagte Sumi, »Vyctor. sagte, das Komitee hat die Iron Orchid geschlossen, wo sie üblicher weise herumhingen.« »Versammlungsgesetze heißt das jetzt.« Ice spie das Wort aus. »Keine Versammlungen von mehr als einer bestimmten Anzahl Leute innerhalb von ganz Los Angeles plus einem Kilometer Randzone. Der Colonel muß übergeschnappt sein. Er wird richtig mittelalterlich.« »Hat schon jemand eine Idee, wie sich das Virus ausbreitet?« »Auf molekularer Ebene ist das Ding nur ein lausiges Schnupfenvi rus. Ein Rhinovirus, um genau zu sein«, sagte Ice. »Was ich in dem Mikrographen in der Klinik gesehen habe, sah nicht wie ein gewöhnliches Virus aus.« »Stimmt. Es ist wie eines dieser chinesischen Puzzles. Du weißt schon, mach eine Schachtel auf, und es ist eine kleinere darin; mach die auf, und du findest wieder eine kleinere, und so weiter und so weiter. Auf einer Ebene sieht das Ding wie ein Phage aus, auf der nächsten ist es ein Schnupfenvirus. Aber die Ebenen setzen sich fort. Die Moleku larstruktur ist außergewöhnlich kompliziert. Wir wissen allerdings et was, oder sind uns zumindest doch ziemlich sicher.« »Und was wißt ihr?« »Daß es von Menschen erzeugt ist.«
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»Wie wollt ihr das wissen?« Jonny wünschte, er könnte Ice' Gesicht beim Sprechen sehen. Normalerweise hatte er aus ihrer Miene gleich viel entnommen wie aus ihren Worten. »Zum Teil ist es nur eine Ahnung.« (Dabei runzelte sie sicher die Stirn.) »Aber natürliche Erreger sehen nicht so aus wie dieser Dreck. Es ist, als habe jemand versucht, zehn Kilo Häßlichkeit in eine Schachtel für acht Kilo zu pressen.« »Erzähl ihm von dem Krieg«, sagte Sumi. »Was für ein Krieg?« »Ich komme schon dazu«, sagte Ice. »Es sieht so aus, als sei das, was wir hier haben, ein ultrakomplexes Retrovirus, etwas, das man in den neunziger Jahren ein Schachtelvirus genannt hat. Ein primärer Erreger attackiert das System − in unserem Fall ist das das virale Analogen zur Lepra. Es richtet soviel Schaden wie möglich an, aber schließlich bringt das Immunsystem es zur Strecke. Jetzt kommt der trickreiche Teil der Sache…« »Es gibt noch ein anderes Virus«, sagte Jonny. »Du hast es, Junge!« sagte Ice. »An einem bestimmten Punkt, wann, wissen wir nicht, wird ein zweites Virus aktiviert. Es benützt die Schäden, die das erste angerichtet hat, um das ohnehin schon lädierte System anzugreifen. In unserem Fall benützt das zweite Virus die Ner venschäden, die die Lepra erzeugt hat, um auf dem Substrat der Ner venzellen ins Hirn zu wandern. Es ist fast genau eine Umkehrung des Weges der Neuroblasten. Wir glauben, daß es nach diesem Modell ge macht ist.« »Und die Pathologie des zweiten Virus?« fragte Jonny nach. Schweigen. »Syphilis«, sagte Sumi. »Jesus!« »Parenchymatische Neurosyphilis, um genau zu sein«, fuhr Ice fort. »Eine aufgemotzte Version. Die normalerweise in Jahren entstehenden Nervenschäden komprimiert auf ein paar Tage. Der Tod tritt eine oder zwei Wochen nach der ersten Manifestation der Symptome auf.« Sie holte Atem. »Eine ganz miese Sache. Körperlicher, mentaler und persönlichkeitsmäßiger Zusammen bruch, epileptische Attacken, entsetzliche Schmerzen, Krämpfe; volles Rohr. Die Pupillen der Patienten werden klein und irregulär.« »Argyll-Robertson-Pupillen«, sagte Jonny. »Ja. Sieht aus, als sei man verrückt geworden.« Ices Stimme brach; dann wurde sie wieder laut, voll Zorn. »Und die Syph ist natürlich auch modifiziert. Unsere Standardtherapie nützt einen Dreck. Persönlich möchte ich diese Krankheit nicht haben…«
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»Wer möchte schon?« »Ich meine, ich möchte nicht auf diese Art sterben. Wenn ich heraus fände, daß ich infiziert bin, würde ich mich umbringen, bevor ich all das durchmachte.« »Ja«, flüsterte Sumi. Er fühlte, wie sie sich bewegte und an Ice lehn te, um sie zu beruhigen. Jonny dachte, daß es draußen vielleicht Nacht war. Selbst in der re lativen Abendruhe vermittelten die Gerüche und Geräusche des Ozeans ein bestimmtes Gefühl von Leben auf der alten Fischfarm. Jon ny wußte das zu schätzen. Genügend Sinnesdaten, um sich nicht völlig von der Welt abgetrennt zu fühlen, kamen mit den Brisen vom Ozean herüber, mit Klängen und dem Geruch, und änderten sich während des Tages ständig. Jetzt hörte man das Zwitschern der Delphine nicht mehr, nur das ruhige Geräusch der Wellen am Strand und das Kratzen von Krabben in den leeren Behältern. Weiter weg waren menschliche Geräusche. Gelegentliches Hämmern, Stimmen, das kurzdauernde Dröhnen eines Automotors. Es wäre nicht unangenehm, den Rest des Lebens hier zu verbringen, dachte sich Jonny. »Erzähl mir vom Krieg!« sagte er. »Wir haben unten am Hafen Waffen und Treibstoffe aus einem Lagerhaus geholt und dabei kam diese Sache heraus. Wir fanden ein paar Floppy-Discs voll mit geheimen militärischen Dokumenten. Es war dieser Krieg zwischen Arabern und Japanern in den Neunzigern«, erzählte Ice. »Es sieht so aus, als habe eine Biowaffensektion der NATO an einem Ding gearbeitet, das diesem Schachtelvirus, mit dem wir es jetzt zu tun haben, sehr ähnlich sah. Operation Sisyphus. Das Problem war damals, daß sie das Virus nicht immer gezielt verwenden konnten, und wenn sie es taten, gelang es ihnen nicht jedesmal, die eigenen Truppen wirklich zu schützen. Ziemlich viele Leute starben. Offenbar gibt es immer noch eine Zone in Nordfrankreich, die bis heute für Zi vilisten gesperrt ist. Nach alldem bekam das Projekt einen schlechten Ruf; man betrachtete die Forschungen als zu teuer und zu gefährlich, und als der Krieg zu Ende ging, ließ man das Projekt sterben. Und die Techniker gingen wieder daran, die Welt mittels konventioneller Waffen sicherer zu machen.« »Du glaubst, unser Virus könnte dasselbe sein wie jenes, an dem die damals arbeiteten?« fragte Jonny. »Eine sehr viel verfeinertere Version, ja. Ich wäre wirklich über rascht, wenn in den letzten fünfzig oder sechzig Jahren nicht ein paar Informationen von Zeit zu Zeit ausgestreut worden wären. Ich meine, wir haben ja nie danach gesucht.«
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Jonny nickte und streifte mit dem Kinn Sumis Hand, die auf seiner Schulter lag. »Das paßt irgendwie alles zusammen«, sagte er. »Eine Zelle der Neuen Palästinenser operiert in der Stadt. Sie haben ihren Leuten zu Hause Videos von den Leporösen geschickt. Zamora sagte mir, sie seien nur eine Propagandaeinheit, aber vielleicht log er.« »Verdammt, es könnte auch Aoki Vega sein oder die Alpha-Ratten, das macht alles keinen Unterschied«, sagte Ice. »Da hat sie recht«, meinte Sumi. »Wenn es sich wirklich um eine ehe malige B-Waffe handelt, werden wir möelicherweise nie ein Mittel dagegen finden können.« »Verflucht − wenn die Araber diese Stadt haben wollen, können sie sie sich doch nehmen«, sagte Jonny. »Groucho hat mit mir von Mexiko gesprochen. Er sagte, wir könnten in ein paar Tagen unten sein.« »Ich gehe nicht«, sagte Ice. »Sumi wird dich mitnehmen, und ich komme später nach.« »Spielst du immer noch die künstlerisch begabte Anarchistin?« frag te Jonny. »Fick dich!« fuhr Ice ihn an. »Ich habe hier Verpflichtungen. Ich bin ein Croaker, und das heißt, ich bin ein Teil dieser Revolution, ganz gleich, was du davon hältst.« Jonny wandte sich dorthin, woher ihre Stimme kam. »Entschuldige, aber warst nicht du diejenige, die mir vor einer kleinen Weile erst er zählt hat, wie sehr sie möchte, daß wir drei wieder zusammen sind? Nun, hier sind wir.« Er wartete darauf, daß sie etwas erwiderte, und als nichts kam, fügte er hinzu: »Was ist los? Langweilst du dich jetzt schon?« Er spürte, wie sie aufstand und von dem Bett wegging; eine Leere dehnte sich in ihm aus, das Gefühl eines Verlusts, das tiefer war als nur das simple Fehlen ihrer körperlichen Anwesenheit. Er streckte den Arm aus, aber sie war nicht da und er konnte sie nicht finden. Ice' Schritte waren leicht und fast lautlos nach diesen Monaten der Gueril latätigkeit und des Straßenkampfes. Ihre plötzliche Anwesenheit er innerte ihn an seine Hilflosigkeit. »Ice?« »Ich mache, was ich gesagt habe.« Ihre Stimme war fest und leise, der Ton, in dem sie immer sprach, wenn sie Sicherheit vortäuschen wollte, aber Angst hatte, ihre Stimme könnte umkippen. »Du kannst mir helfen oder es bleiben lassen, es hart oder leicht machen, aber ich bleibe.« »Warum bist du nur so ein Scheißkerl, Jonny?« fragte Sumi. Sie schüttelte seinen Ärmel. »Was ist denn los?«
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»Ich habe Angst«, erwiderte er, »Angst um sie und um dich. Und ich habe Angst um mich. Ich möchte nicht allein übrigbleiben.« »Du wirst nicht allein sein«, sagte Sumi. »Ich gehe mit dir. Ice wird nachkommen.« »Er hat Angst, daß ich nochmals abhaue«, hörte Jonny Ices Stimme. »Brauche ich die nicht zu haben?« »Nein.« Er atmete tief. Seine Finger zupften sinnlos an einer Blase im Lack auf dem Metallgriff des Betts. »Ich hasse die Politik. Es ist die niedrigs te Stufe, auf die ein menschliches Wesen sinken kann.« »Ja«, sagte Ice, das Wort auf einen ganzen Atemzug ausdehnend. »Warum kommst du nicht wieder her?« fragte Jonny. Sie kam zum Bett zurück, und er küßte sie lange. Dann lehnte er sich zurück und küßte Sumi, als er sich vorbeugte, fand er sich zwi schen zwei warme Körper eingeklemmt, während sich die Münder der Frauen hinter seinem Rücken trafen. Das Ausziehen war eine ziemlich regellose Sache. Jonny riß sich die Stiefel von den Beinen, die er gerade erst angezogen hatte, und ver suchte, den beiden Frauen aus den Kleidern zu helfen. Ohne seine Augen gelang es ihm nur, sie in ihre Hemden zu verwickeln. Sumi drückte ihn aufs Bett nieder und hielt ihn dort fest, erinnerte ihn dar an, daß ein paar Tage keine lange Zeit waren, und daß er vielleicht auf hören sollte, ihnen helfen zu wollen. Schließlich kamen sie in einem dreifachen Kuß zusammen. Hände bewegten sich streichelnd und kratzend über Jonnys Körper. Die Frauen drückten ihn aufs Bett und umarmten sich über ihm, erregten sich gegenseitig, während sie sich auf ihm wanden. Gelegentlich änderte sich ihr Rhythmus, und er fühlte eine Zunge oder Hand, die über seinen Bauch oder Schenkel strich. Er bemerkte, daß sie ihn ein bißchen neckten und so seine Blindheit zu einem Bestandteil des Liebesspiels machten. Das gefiel ihm. Die Frauen vertauschten ihre Plätze und bewegten sich auf ihm hin und her, bis er sie nicht mehr recht unterscheiden konnte. Eine beugte sich über seinen Penis, und er lehnte sich zurück und ein angenehmer Schauder überlief ihn, während er sich an die Brüste der anderen schmiegte. Der Geruch ihrer Körper überwältigte ihn. Während die eine sich mit seinem Schwanz beschäftigte, legte er seinen Kopf zurück und suchte nach den süßsauren Falten zwischen den Beinen der anderen. Er und die, die er leckte (er nahm an, daß es Sumi war) kamen im selben Augenblick − in diesem Moment fühlte er sein Leben in die beiden hinüberfließen, wie ihres in seinen Körper floß.
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Die eine lutschte und leckte geduldig seinen Schwanz, bis er wieder hart war, dann schwang sie sich drüber, ließ ihn hineingleiten und ritt ihn. Die andere bewegte sich zwischen ihnen beiden, biß, kratzte und streichelte sie beide, während sie sich zusammen bewegten. Dann tauschten die Frauen die Plätze und eine neue Wärme hüllte seinen Schwanz ein. Er spürte, wie die, die ihn ritt − jetzt war es Sumi, da war er sicher −, sich gegen seine Brust lehnte und ihren Mund gegen die Schamlippen der anderen preßte. Ice kam zitternd zum Höhepunkt, als er sie küßte, und wieder floß der Energiestrom zwischen den dreien. Die Gerüche von Beton und Rost, Schweiß und Sex vermischten sich mit seinem eigenen Orgasmus und erleuchteten einen Blitzschlag lang sei ne Dunkelheit in einem Akt der Bindung. Dann war das Licht wieder dahin, und er neuerlich blind, aber jetzt fühlte er sich nicht mehr so allein. »Große Probleme.« Das war Grouchos Stimme. Jonny setzte sich im Bett auf und fummelte nach einem Licht schalter, bis ihm einfiel, wo er war. Er spürte, wie Ice und Sumi sich an seinen Seiten bewegten. »Was läuft schief?« »Zamora. Er hat die Stadt abgeriegelt. Verdammte Bullenwagen pa trouillieren keine hundert Meter von hier. Straßensperren auf Autobahnen und Landstraßen. Luftüberwachung über der Wüste. Nie mand kann irgendwohin.« »Woher weißt du das alles?« fragte Ice. Beide Frauen standen auf. Stoff raschelte leise, als sie sich anzogen. Jonny wartete darauf, daß ihm jemand seine Kleider gab. »Ein Rettungsteam hat gerade eine Fahrerin aus dem Norden mit gebracht«, sagte der Anarchist mit müder, heiserer Stimme. »Sie sollte eine Kamelkarawane treffen, die sich von San Francisco die Küste entlangbewegte und Antibiotika und Amantadine mitbrachte. Es sieht so aus, als sei alles problemlos gelaufen, bis sie Ventura erreichten. Einige Jungs von Vater Ubu paßten sie ab, und die Hölle brach los.« »Wird sie es überleben?« fragte Jonny. Jemand warf ihm seine Kleider in den Schoß, und er begann sich anzuziehen. »Ich bezweifle es«, erwiderte Groucho. »Sie ist ziemlich schlecht bei sammen. Gato hat ihr gerade unsere letzten Endorphine gegeben. Ich habe mir die ganze Nacht den Funk angehört. Ubu hat die Stadt dicht gemacht.« »Denkst du, er wird gegen die Lords vorgehen?« fragte Ice. »Keine Frage«, sagte Groucho. »Die Fahrerin erzählte, sie wären nach New Hope gefahren in der Hoffnung, ein Lagerhaus plündern zu können, aber alles sei verlassen gewesen.«
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»Dann sind wir im Arsch«, meinte Jonny. »Sie haben das Geld weg geschafft, um es vor dem Krieg zu schützen.« »Wir sind hier draußen aber sicher, oder?« fragte Sumi. »Nicht mehr«, erwiderte Jonny, an seinen Stiefeln zerrend. »Es ist ein Standardtrick der Komitees, bei jeder Razzia ein paar Leute ent kommen zu lassen, nur um zu sehen, wohin sie laufen. Möglicherweise haben sie die Fahrerin den ganzen Weg bis hierher verfolgt.« »Das ist auch der Grund, warum wir zurückgehen in die Stadt«, sag te Groucho. »Die Leute packen schon alles, was wir brauchen können. Der Rest wird versenkt. Wir haben auch noch ein paar Kilo C-4 an allen tragenden Punkten dieses Gebäudes angebracht. Wenn Ubus Jungs hier erscheinen, fällt ihnen die Decke auf den Kopf.« »Was geschieht mit Jonny?« wollte Sumi wissen. »Komisch, das wollte ich auch gerade fragen«, sagte Jonny. Groucho seufzte. »Was kann ich euch sagen? Wir sind ganz gut mit Waffen ausgerüstet, aber wir müssen uns mit den anderen Gangs ko ordinieren, bevor wir gegen das Komitee losschlagen können. Wir können irgend etwas für dich zu tun finden, wenn wir ein neues Quartier haben.« »Zum Beispiel Verbände rollen und mich unter dem Bett verstecken, wenn die Schießerei losgeht? Nein, danke. Ich habe andere Pläne.« »Nämlich?« »Nun, ich kann dir sagen, Mister Conover dürfte ziemlich geschockt gewesen sein, als ich von seinem Landhaus abhaute. Er wird froh sein, mich wiederzusehen.« »Bist du sicher, daß du ihm vertrauen kannst?« »Absolutamente«, sagte Jonny. »Er hat sich mir gegenüber immer korrekt verhalten und nebenbei, wenn es Wege gibt, Stoff aus der Stadt hinauszubringen, kennt er sie.« Er stand vom Bett auf und zog sein Hemd an. Die Geräusche des Aufbruchs, Werkzeuglärm und Schritte, Dinge, die über den Beton geschleift wurden, hallten durch den Kom plex; Jonny hörte eine Anspannung in den Stimmen, die er als Vorzei chen des kommenden Kampfes erkannte. In diesem Augenblick hatte er keine Lust mehr, länger auf der Fischfarm zu bleiben und dachte sich: der Colonel nimmt mir auch das noch. »Ich werde einen Fahrer brauchen«, sagte er. »Das mach ich«, sagte Sumi. Jonny griff dorthin, woher ihre Stimme kam und fühlte eine Hand sich über der seinen schließen. »Du solltest mit ihnen gehen«, sagte er, »sie können deine Hilfe brauchen. Wenn Conover mich nicht weg
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bringen kann, könnte es sein, daß wir lange Zeit auf unseren Ärschen sitzenbleiben müssen.« »Wir haben einen Deal gemacht«, sagte Sumi ruhig. »Ich kann nicht sehen, was sich jetzt ändert außer dem Aufenthaltsort. Ich gehe jetzt mit dir, und Ice kommt später nach.« »Wo das Mädchen recht hat, hat es recht«, sagte Ice. »Bist du sicher?« fragte Jonny. »Völlig sicher. Wie steht es mit einem Auto?« »Kein Problem.« Grouchos Stimme kam jetzt von weiter weg, näher dem Lärm, der von der Tür kam. »Seid in einer halben Stunde fertig.« Als der Anarchist gegangen war, meinte Jonny: »Das sagt er, als ob wir etwas packen müßten oder so.« »Er will uns nur Zeit zum Auf-Wiedersehen-Sagen geben«, meinte Ice. Jonny lachte. »He! Da glaube ich aber nicht, daß eine halbe Stunde ausreicht.« Sumi nahm seine Hand und zog Jonny durch lange und kurvenrei che Korridore, die vom Staccato heftiger Stimmwechsel widerhallten (es waren zu viele Sprachen auf einmal, um irgend etwas verstehen zu können) und vom Geräusch eilender Füße. Ein Geruch nach Schweiß und Nervosität hing in der Luft, eine Unterströmung wie statische Elektrizität. Draußen läppte ihm eine kühle salzige Brise übers Gesicht. Die Sonne wärmte ihn. Sumi führte ihn über zwei Kurven abwärts und dann hinaus auf harten Sand, der unter ihren Füßen wie zerbrochenes Glas knirschte. Es war ein Klang aus sei ner Kindheit. Geschmolzenes Silikon. Er wußte jetzt, wo sie waren und konnte sich die Szenerie in seinem Kopf ausmalen. Benzingeruch kam irgendwo von rechts, zusammen mit dem Geräusch primitiver Ver brennungsmotoren. Die Sonne ging gerade unter. Ja, er konnte sich alles vorstellen. Die Fahrzeuge, die unter den Pylonen der Fischfarm verborgen gewesen waren, wurden auf den schwarzen Strand hinausge rollt und hinterließen Spinnengewebe von Einbrüchen im toten Glas des Pazifik-Strandes. Jonny hatte diesen Strand schon früher besucht. Im Sommer nach seinem zwölften Geburtstag hauten er und ein Junge namens Paolo über die Mauer der Junipero Serra State School ab. In Santa Monica stahlen sie ein kleines Boot. Paolo steuerte es nach Pazific Palisades hinaus, und sie warfen in Sichtweite eines abge wrackten venezolanischen Frachters Anker.
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Flüssiggasexplosion, sagte Paolo. Radierte die ganze Stadt aus. Jim my nickte und versuchte, cool auszusehen, aber es kam ihm beinahe das Essen hoch. Von dem Frachter war über der Wasseroberfläche auch nicht viel übriggeblieben. Mit nicht ganz dichten Taucheranzügen und Atemge räten, die sie im Boot fanden, schwammen sie in den Maschinenraum des Wracks. Er lag, herausgerissen, aber beinahe intakt, auf einem auf ragenden Felsen ein paar Meter unter dem Wasserspiegel. Die großen Kessel waren mit breiten Schichten von Korallen und Unterseege wächsen überzogen und sahen aus wie ein verrücktes Eisschloß. Auf dem Weg zurück zur Oberfläche sah Jonny etwas, einen seltsamen Schatten zwischen den muschelüberzogenen Dampfröhren. Er schwamm näher. Ein Skelett, von See und Zeit geschwärzt. Die Schädelrückseite und die Rippen waren geschmolzen, als das Schiff brannte, und hatten sich dem Muster der Schotts eingefügt. Einsied lerkrebse und Entenmuscheln besiedelten den Schädel. Als Jonny jetzt am Strand stand, fragte er sich, ob der Seemann noch immer da draußen war und von der Strömung des Pazifik gewiegt wurde. Er war der erste Tote gewesen, den Jonny je gesehen hatte. Sumi nahm seine Hand und legte sie auf das warme Metalldach eines Autos. Jonny tastete sich an dem glatten Blech entlang bis er an einen Saum kam, wo das Dach und die Tür sich trafen. Er zog die Tür auf − sie öffnete sich nach oben, nicht nach außen − als sich ein Arm um seine Mitte schlang. »Paß auf dich auf, Killer«, wisperte Ice. Sie küßte ihn unter das Ohr. Jonny nickte. »Du aber auch.« Im Sonnenschein juckten die Narben auf seinem Gesicht. Er hörte, wie die Frauen zu den Frontlichtern gingen und dort gedämpft miteinander sprachen. Ein Rascheln von Stoff, als sie sich umarmten. Schritte, als entferne sich jemand schnell über den knirschenden Sand. Eine Hand, die seinen Arm berührte. »Du mußt einen großen Schritt machen, um einzusteigen«, sagte Sumi, sehr darum bemüht, daß ihre Stimme nicht brach. Jonny hob ein Bein und setzte es vorsichtig in den niedrigen Wagen, dann ließ er sich auf die verrottete Lederpolsterung fallen. Als er das Armaturenbrett berührte, fühlte er verwittertes Holz. Seine Finger ro chen ein wenig nach Firnis und Moder. Während Sumi einstieg, tastete er über Ganghebel und Instrumentenbrett und spürte ein eingeprägtes Logo. Das erinnerte ihn an ein anderes Auto, das er einmal gehabt hatte. Ein italienisches. Lamborghini? »Rechts von dir ist ein Schulterpanzer«, sagte Sumi ruhig. Jonny zog ihn an und sagte: »Sie wird es schon schaffen.«
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»Klar.« Jemand kam zum Auto gerannt. »Hier, nimm das mit.« Es war Ice, völlig außer Atem. Sie gab Jonny etwas in die Hand. Einen halben Me ter lang und schwer, nach Kordit und Maschinenöl riechend, hatte das Ding zwei gekürzte Zylinder, die aus einem kurzen Holzstück ragten. Eine abgesägte Schrotflinte. »Ich schätze, eine Pistole kannst du jetzt nicht verwenden, aber wenn dir jemand nahe genug kommt, wird dir das hier ganz nützlich sein.« Jonny wog das Gewehr in seinen Händen. »Ich liebe dich«, sagte er. »Brauchst du etwas Amantadine?« »Nein, Conover wird welches haben.« »Stimmt.« Ice berührte seine Schulter. »Ich muß jetzt gehen.« Und sie rannte wieder davon, dorthin, wo er die anderen Autos ihre Motoren aufwärmen hören konnte. Sumi warf den Lamborghini an und legte den Gang ein. »Sie wird nicht zurückkommen«, sagte Sumi. »Fahr los!« erwiderte Jonny. Als sie in die Stadt kamen, begann es zu regnen. Sie fuhren den Wilshire Boulevard entlang, mitten durch das vertrocknete Herz des Fi nanzdistrikts. Jonny stellte sich vor, er könnte die Hitze der Lichter spüren, als sie an Lockheeds erleuchtetem Torus vorbeikamen und an der flachen schwarzen Scheibe von Sony International. Sumi versuch te, den alten Lamborghini in den zögernden Strom des Ruhshour-Ver kehrs hineinzuzwängen. Gruppen von Croakern waren ihnen vor ausgefahren, die den Strand in Richtung Norden und Süden verließen, in der Hoffnung, Überwachungsteams, die dem Kameltransport gefolgt waren, zu verwirren. Regen nadelte auf den Asphalt, als sie durch Beverly Hills fuhren. Für Jonny klang es wie bratende Spiegeleier. Die letzte halbe Stunde hatte eine Feder in der Polsterung sich ihren Weg durch den kaputten Sitz und in Jonnys Rücken gesucht. Er lauschte auf fernes Donner rollen, ein Geräusch wie ein zusammenbrechender Berg, das allmählich leiser wurde und schließlich irgendwo im Süden vollständig unterging. Als sie in Hollywood waren, sagte Jonny zu Sumi, sie solle in die Hügel hinauffahren. »Wo genau fahren wir eigentlich hin?« fragte sie. »Hoch hinauf. Wir wollen an Conovers Käfigstäben rütteln, damit seine Sicherheitsleute kommen und uns checken.« »Großartig. Und woher weißt du, daß sie nicht zuerst schießen und nachher Fragen stellen?« »Das werden sie nicht tun.«
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»Woher weißt du das?« »Ich weiß es.« »Woher?« »Tatsächlich weiß ich es nicht genau. Aber ich habe ja noch immer dies hier.« Aus seinem Stiefel zog er die schwarze Karte mit dem goldenen Strichcode. »Die Cops haben mich nicht durchsucht, als sie zum Schluß kamen, ich gehöre zum Komitee. Die Karte enthält einen Identifikationscode. Sie werden uns ganz bestimmt nicht umbringen, wenn sie uns zur Identifikation Scannern.« »Wenn Sie uns Scannern.« »Ja, wenn.« Er sagte ihr, sie solle das Auto in der Zufahrt zu einem der verlassenen Häuser in dem Baugelände Hollywoodland parken. Da warteten sie nun im Regen. Jonny öffnete die Tür auf seiner Seite ein bißchen, um die Brise hereinzulassen, die von den Hügeln herun terstrich. Die Luft roch nach Salbei und Manzanita. Die Narben in sei nem Gesicht juckten und schmerzten abwechselnd. Er dachte an die Endorphine, die Groucho ihm auf der Fischfarm gegeben hatte, und wünschte, er hätte jetzt welche bei sich. Er beruhigte sich mit dem Ge danken, daß Conover alle Drogen haben würde, die er brauchte, um sich besser zu fühlen. Noch viel besser als bloß einfach besser, dachte Jonny, als ihm der Vorrat an Mad Love einfiel. Ein gemischtes Gefühl allerdings. Es würde vielleicht nicht gut sein, so auszuflippen, während Ice Probleme hatte und Zamora so nahe war. Möglicherweise mußten sie sekundenschnell reagieren. Und er wußte, daß Sumi es hassen würde, ihn so ausgeflippt zu sehen. Das würde beiden schlimme Er innerungen zurückbringen. Das Komitee. Ice, die davonlief. Sumi braucht diese Scheiße nicht noch mal, dachte er, nicht in diesem Moment. »Wie fühlst du dich?« »Müde«, sagte Sumi. »Ich habe Kopfweh. Der Magen schmerzt mich auch. Ich wünschte, wir hätten heute etwas essen können.« Er wollte ihr von Mad Love erzählen und sie bitten, ihm zu helfen, clean zu bleiben. »Conover hat großartige Köche«, sagte er statt dessen. »Die haben wirklich was drauf. Du wirst dich besser fühlen, sobald du etwas gegessen hast.« Er war drauf und dran, über die Dro gen zu sprechen. Seine Lippen bewegten sich, aber die Wörter wollten nicht kommen. Wahn, dachte er. Gier und Wahn. Eine Stunde verging. Kein Kontakt mit Conover oder seinen Leuten. Jonny hörte Sumi gähnen. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, weiches Haar an seiner Wange. Er fragte sich, ob es schon Nacht war. Die Ge
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räusche aus den Hügeln waren ihm unvertraut. Jeder Windstoß, jedes Zweigeknacken ließ ihn auffahren. Ein Teil von ihm wünschte, sein Ge hör wäre mit seinem Gesichtssinn verloren gegangen. Eine halbe Sache war nichts für Jonny. Sumis Kopf fuhr hoch. »Was ist los?« fragte Jonny. »Pst! Da bewegt sich etwas.« »Conovers Leute?« »Nein, ein Tier.« »Was für eine Art…« Sumi kreischte los, und etwas krachte wie ein Laster auf den Vorder teil des Lamborghinis. Dann war es auf dem Dach, kratzte und schlug gegen das Verdeck und versuchte, durch Jonnys halb offene Tür her einzukommen. Er packte den Griff und hielt zu. »Was, zum Teufel, ist das?« schrie er. »Ein Tiger!« kreischte Sumi. Sie hämmerte gegen das Glas. »Hau ab, du Biest! Demasu! Demasu!« Die Katze knurrte wie rollender Donner. Jonnys Tür bewegte sich um ein paar Zentimeter und etwas glitt herein. Er fühlte eine Bewe gung vor seinem Gesicht und hörte Klauen über das Armaturenbrett kratzen. »Schieß!« schrie er. Etwas fuhr vor ihm durch die Luft. Vor dem geistigen Auge sah er blitzende Messer, gebogene Silberklingen, die nach Moschus und Schweiß rochen und vor seinem narbigen Gesicht fuchtelten. »Erschieß es, verdammt noch mal!« Er zog heftiger an der Tür, konnte sie aber nicht schließen. »Wo ist das Gewehr?« schrie Sumi. Jonny drehte sich in seinem Sitz und versuchte, seine Schulter vor den hangelnden Klauen zu retten. Das Gewehr lag zwischen seinem Sitz und der Außenwand. Er tastete dem verrotteten Leder entlang und griff in Spinnweben und Staub. Dann stieß er auf einen polierten Holzkeil. Etwas Scharfes riß an seiner Schulter und kratzte ihn bis auf den Knochen. Er fluchte und fiel in seinen Sitz zurück, hob das Gewehr und feuerte beide Läufe durch das Fenster ab. Zuerst nahm er gar nichts wahr. Als das Dröhnen in seinen Ohren nachließ, hörte er ein leises, aber dauerndes Zischen unter dem lauteren Geräusch des Regens. Es roch merkwürdig chemisch. Fast metallisch. »Jesus«, sagte Sumi, »das ist ein Roboter!« Jonny hörte, wie sie das Schloß entriegelte und ihre Tür öffnete. Das Stöhnen der Federung, als sie in ihrem Sitz aufstand. »Sieht aus, als hättest du es im Genick erwi scht. Hat ihm sauber den Kopf abgetrennt. Mann, du solltest es sehen
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können. Dampf, Glasfasern und Schaltungen rundum verstreut. Eine Art supergekühlter Flüssigkeit. Sie frißt glatt den Lack vom Auto.« »Steig wieder ein!« sagte Jonny, »jetzt werden sie gleich kommen.« »Ich glaube, sie sind schon da«, sagte Sumi. Jonny hörte, wie sie in ihren Sitz zurückglitt. Schritte auf dem Kies links. Sie kamen bis zum Auto, es klang nach drei Männern, die keinen Versuch unternahmen, ihre Annäherung zu tarnen. Sie müssen bewaffnet sein. Und nervös, wenn sie die kaputte Katze sahen. Conovers Railguns konnten den Lamborghini in Se kundenschnelle in Schlacke verwandeln. Ein Mann bellte harsches Spanisch vor der Kühlerhaube des Autos. »Fuera! Fuera! Vamanos!« Jonny hob die Hände. »Ricos! Bist du es, Mann?« Jemand kam um das Auto herum und hob die zertrümmerte Tür über Jonnys Kopf. Ein tiefes Lachen. »Hey, maricoin. Ich wollte dir eigentlich in den Arsch treten, aber jetzt sehe ich, daß es jemand anderer für mich getan hat, stimmt's? Da hast du Glück gehabt.« »Ja, ich muß einer der glücklichsten Burschen in Last ASS sein«, er widerte Jonny. »Mister Conover es muy enojado, daß du abgehauen bist«, sagte Ri cos. »Er wird glücklich sein, dich wiederzusehen.« Der Mann kam nä her. »Quien es?« »Das ist Sumi. Eine Wattfängerin. Eine Freundin von mir.« »Nicht übel, maricón«, sagte Ricos. »Wenn du weiter so glotzt, Arschloch-Auge, wirst du bald heraus finden, wie übel ich bin«, sagte Sumi. Jonny lächelte. Ricos tippte Jonny auf die Schulter. »Komm jetzt!« Und dann: »Hey maricón, du blutest ja.« Jonny schwang seine Beine aus dem Auto und stellte sie auf den Boden. Sumi kam um den Wagen herum und nahm seinen Arm. »Das geht mir ständig so«, sagte er. »Wir flicken dich wieder richtig zusammen«, sagte Ricos und stieß Jonny in Richtung der Bäume. »Paß auf, wo du hintrittst!« »Sehr witzig«, sagte Jonny. »Eine miserable Arbeit, mein Sohn«, sagte Mister Conover und dreh te Jonnys Gesicht in seinen Händen. »Du wirst niemals lernen, auf dich selbst aufzupassen, stimmt's? Die plastische Chirurgie sieht ja erst klassig aus, aber sonst… Sag mir, in welchem Zustand sind deine Sehnerven?« »Im Eimer«, sagte Jonny. Sumi saß neben ihm auf dem Plüschsofa im viktorianisehen Flügel von Conovers Landhaus. Die Luft im Zimmer
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war warm und roch nach altem Holz und Patschuli. Der Schmugglerl ord hatte ihnen Earl Grey mit Napoleon Brandy servieren lassen. Jonny trank schon seine dritte Tasse und bewegte sich auf einen angenehmen Zustand von Betrunkensein zu. Er fühlte sich, allen Umständen zum Trotz, eigentlich ganz gut. Conovers Blut wurde gerade ausgetauscht, wie immer zweimal pro Woche. Jonny konnte die Medizintechniker sich leise im Zimmer bewegen hören, sie murmelten miteinander und stell ten Kompressoren und Röhren richtig ein. »Die Sehnerven sind ver siegelt, aber reichlich nutzlos.« »Interessant«, sagte der Schmugglerlord. »Tut mir leid, daß mein Tiger dich heute nacht verletzt hat.« »Das geht schon in Ordnung«, sagte Jonny. Er bewegte seine Schulter und fühlte das dichte Gaze-Gewebe, wo die Techniker sich mit seiner Wunde beschäftigt hatten. »Mir tut's leid, daß ich ihm den Kopf wegblasen mußte.« »Unter den gegebenen Umständen ist das völlig verständlich«, sagte Conover. »In einem weiteren Sinn tut es mir leid, daß all das überhaupt geschehen mußte. Alles wäre vermeidbar gewesen, wenn du einfach hier geblieben wärst. Aber du bist ja noch jung und manchmal hast du mehr Energie als Verstand. Wenn ich mir überlege, was du durchge macht hast, scheint mir, ich kann all das ›Ich-hab's-dir-doch-gleich-ge sagt‹-Gerede weglassen.« »Das wüßte ich zu schätzen.« Der Blutaustausch dauerte eine weitere Stunde an. Dann sagte Co nover, er gehe jetzt ins Bett. Beim Hinausgehen blieb er neben dem Sofa stehen und sagte: »Schön, dich wieder hier zu haben, Sohn, und vielen Dank dafür, daß du Ricos in jener Nacht in der Garage nicht ernsthaft verletzt hast.« Jonny lächelte dorthin, wo Conovers Stimme herkam. »Ich wollte nur das Auto. Haben Sie es zurückbekommen?« »Natürlich«, sagte Conover. »Ich habe die Tatsache, daß du Ricos keinen ernsthaften Schaden zugefügt hast, als Zeichen deines guten Willens betrachtet. Daß du jedenfalls kein Mann Zamoras bist. Aber bitte…« »Ich weiß…« »Lauf doch nicht neuerlich weg.« Conovers Ton war freundlich, aber es gab einen Unterton, bei dem es Jonny ein wenig kalt wurde. Er nick te. »Kein Problem«, sagte er. »Gut«, sagte Conover. »Fela wird euch in euer Zimmer bringen, wenn ihr so weit seid. Ich habe dir dasselbe gegeben, das du letztesmal
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hattest, Jonny. Nachdem du mit der Einrichtung schon einigermaßen vertraut bist, dachte ich mir, du würdest dir dort mit allem leichter tun als anderswo.« »Ja, danke.« »Gute Nacht dann.« »Gute Nacht«, sagte Sumi. Nachdem Conover gegangen war, tranken sie ihren Tee schweigend. Um drei schlugen Dutzende Uhren aus Porzellan und Holz, Kuckucks uhren, musikboxgroße Geräte und Standuhren, sie schlugen, läuteten und riefen die Stunde, manche leicht asynchron, so daß ihr Schlagen wie ein musikalischer Wasserfall klang. Als das Geräusch erstarb, bat Jonny Fela, ein Mitglied des afrikanischen Hauspersonals, sie zu ihrem Zimmer zu bringen. Zu seiner Überraschung fand Jonny heraus, daß das Haus ihm ohne seine Augen weniger trickreich und verwirrend vorkam als bei seinem letzten Besuch. Er erfuhr es nun durch Betasten, Riechen und Klänge statt durch das Sehen, so daß die falschen Türen und von hinten er leuchteten Fenster, die merkwürdigen Winkel der Gänge und Wände ihn nicht verblüffen konnten. Er prägte sich so viel wie möglich bei ih rem Gang durch das Haus ein und verglich im Geiste, was er berührte, mit dem, was er in Erinnerung hatte. Er wußte es, als sie den Korridor erreichten, an dem ihr Zimmer lag. Drinnen fühlte er den vertrauten Eindruck der filigranen Schnitzereien an den antiken französischen Möbeln. Er war in gehobener Stimmung, spürte eine kindische Art Stolz, die völlig außer Relation zu dem war, was er zustandegebracht hatte. Er lächelte, und seine Narben taten ihm weh. Fela verließ sie so schweigend wie immer, und Jonny ging mit Sumi nochmals in den Gang und den Gemälden entlang, wobei er ihr jedes beschrieb, an das er sich erinnern konnte. »Das ist ein Goya, das Bild einer nackten Frau, die auf einer Couch liegt. Und dies hier ist ein Rem brandt, richtig? Dunkles Porträt eines alten Mannes ohne Zähne. Auf diesem Tisch steht eine Skulptur. Ich habe vergessen, wer sie geschaf fen hat. Die Bronze einer Ballerina.« Sumi machte zustimmende Geräusche zu seinem Kommentar. Jon ny hätte nicht sagen können, ob sie die Kunst bewunderte oder sein Gedächtnis oder keines von beiden. Das kümmerte ihn allerdings auch nicht. Er hatte eine Überraschung für sie auf Lager. Als Jonny die Kante eines schweren gotischen Tisches fühlte, blieb er stehen und zeigte auf die Wand über dem Tisch. »Was siehst du da?«
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»Das Bild eines Jungen ganz in Blau. Er hält einen großen Hut mit Federn in der Hand«, sagte Sumi. »Soll mir dieser Bursche gefallen oder was? Er ist nicht gerade mein Typ.« »Das ist der ›Blaue Junge‹ von Thomas Gainsborough. Und es ist eine Fälschung. Die einzige im ganzen Gang.« Er machte eine Kopfbe wegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Berühr ihn mal. Die Textur ist nur ein holographischer Trick.« Er wartete einen Moment lang. »Und?« »Und was? Was soll passieren?« »Es ist Plastik. Hast du es nicht be merkt?« Sie grunzte. »Ich glaube kaum, daß das Plastik ist.« »Natürlich ist es Plastik«, insistierte Jonny. »Ich fand das echte Bild im Lager raum…« Seine Finger berührten wurmstichiges Holz, und wo er dünnes, gerilltes optisches Plastik erwartet hatte, spürte er fleischige Krater von Ölfarbe. »Ist das das richtige Gemälde?« »Ein blau gekleideter Knabe«, sagte Sumi. Jonny steckte beide Hände in die Hosentaschen. Er drehte sich verwirrt um die eigene Achse, plötzlich verunsichert, wo das Zimmer war. Er berührte noch mal das Bild. Sumi nahm seinen Arm und führte ihn ins Zimmer zurück. Er brütete den Rest der Nacht vor sich hin über der Frage, wer wohl warum das Gemälde ausgetauscht hatte. Sumi warf sich im Schlaf her um. Der Brandy hatte ihrem Magen nicht gut getan und sie schwitzte, weil sie leichtes Fieber hatte. Im Morgengrauen − Jonny erkannte, daß die Sonne aufgegangen war, weil Wärme durch die Spitzenvorhänge zu strömen begann − war das Fieber vergangen. Er legte sich neben sie auf die feuchten Laken und schlief ein. Er träumte, aber es gab keine Bilder in diesen Träumen, nur Dunkelheit. Endlose Nacht ohne irgend ein Licht. »Das war alles in den Neunzigern«, sagte Conover zu Jonny und Su mi. Schweigende Kellner brachten Schalen mit etwas, das wie Misosuppe roch, und stellte sie auf den niederen, lackierten Tisch. Sie waren im japanischen Flügel. Conover hatte für dieses dritte gemein same Dinner einiges aufgewendet. Seidenkimonos waren in Jonnys und Sumis Zimmer an diesem Abend abgegeben worden, zusammen mit ja panischen Socken und hölzernen Sandalen. Der Geruch nach Sandel holz füllte das Haus, und Koto-Musik, fragile, altertümlich klingende Vierteltonmelodien, ertönten in den Gängen und Zimmern aus ver borgenen Lautsprechern in den Wänden. Die drei saßen mit gekreuzten Beinen auf ihren Tatami-Matten, feste, kürbisgroße Kissen im Rücken. »Es war eine aufregende Zeit. Natürlich lag auch ein Blutgeruch in der Luft«, fuhr der Schmugglerlord fort. Jonny schien, daß Conover ein
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wenig betrunken klang. Er hatte zuvor allein den Abschluß eines Ge schäfts gefeiert. Es verblüffte Jonny, wie Conover mitten in einem Zu stand, der ihm als der absolute Wahnsinn vorkam, mit seinem Geschäft wie üblich ruhig weitermachte. Er hatte früher an diesem Abend eine diesbezügliche Bemerkung Conover gegenüber gemacht und der Schmugglerlord hatte erwidert, das liege hauptsächlich an seinem Alter. »Nichts überrascht mich mehr sonderlich. Oder macht mir Angst, was das betrifft. Das sind alles Wiederholungen. Bin's seit Jah ren gewöhnt.« Jetzt sagte Conover: »1996 war das Jahr, über das man nachdenken sollte. Wie gut bist du in Geschichte, Jonny?« »Etwa so gut wie in Mathematik«, erwiderte Jonny zwischen zwei Schlucken heißer Sojabohnensuppe. »Und wie ist es mit dir, meine Liebe«, fragte Conover Sumi. »'96? Das war das Jahr der Saudi-Revolution. Als das Öl ausging, richtig?« Conover lachte und schlug leicht auf den Tisch. »Eine gebildete junge Frau, was für ein Vergnügen. Ja, tatsächlich, '96 ging das Öl aus. Für uns, für den Westen. Es war natürlich immer noch da − im Boden − aber es war so wenig übrig, daß die Neuen Palästinenser alle Exporte einstellen wollten. Das hat das Haus der Saudis erledigt. Sie widersetzten sich dem Embargo und brachen zusammen wie ein Kartenhaus.« »So war das?« fragte Jonny. Jemand nahm seine leere Suppenschale weg und stellte einen Teller vor ihn hin. Er schnupperte. Eingemachter Lattich. »Darum ging es bei diesem ganzen stupiden Nicht-Krieg? Die wollten uns ihr Öl nicht verscherbeln?« »Nein, nein, nein«, sagte Conover. »Das war natürlich ein Aspekt der Sache. Aber die Wurzeln reichen tiefer, viele Jahre zurück. Wenn du Geschichtsschreibung über diese Zeit liest, wirst du erfahren, daß alles losging, als jemand den Malaga-Fusionsreaktor in Südspanien hochge hen ließ. Die CIA behauptete, die Araber seien das gewesen, mit einer Boden-Boden-Rakete aus Tanger. Die Araber ihrerseits behaupteten, radikale Mitglieder der Grünen oder sonst eine militante Umwelt gruppe hätte es getan, ohne zu wissen, auf welches Ziel die Rakete gerichtet war.« »Haben sie wirklich den Reaktor zerdeppert?« fragte Sumi. »Aber ja. Er ist explodiert. Hundert Quadratkilometer spanische Landschaft sind dabei einfach weggeputzt worden. Aber wenn das der Kriegsbeginn gewesen sein soll − das ist so, wie wenn man sagte, die
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Ermordung von Erzherzog Ferdinand hätte den Ersten Weltkrieg aus gelöst. Auf gewisse Weise stimmt das ja, der Zeitpunkt ist genau richtig, aber das Ereignis ist bedeutungslos, wenn man den ganzen Kontext betrachtet.« »Wer ist der Erzherzog Ferdinand?« fragte Jonny. »Es war der Islam, den wir erledigen mußten«, sagte Conover. Jonny hörte, wie der Schmuggler seinen Tee schlürfte. Er aß etwas von sei nem marinierten Lattich, während er nun darauf wartete, daß Conover weitersprach. Selbst betrunken war dieser Mann noch sehr interessant. »Das geht zurück auf die siebziger Jahre und die frühen Ölembargos. Als die Araber die Welt zum erstenmal wissen ließen, daß sie sich ihrer Macht bewußt worden waren. Ihr müßt begreifen, daß die weltweite Kommunikation zu jener Zeit auf einem ziemlich primitiven Stand war. Es gab keinen World Link, keine Schädelbuchsen. Der Durchschnitts westler wußte nichts über den mittleren Osten. Die Moslems versetz ten Amerika in Angst und Schrecken. Das meiste, was die Leute damals über den Islam wußten, stammte aus den alten TV-Nachrich ten. Videos von Geiselnahmen, Flaggenverbrennungen und jungen Männern, die Lastwagen voller Sprengstoff gegen Gebäude fuhren. Äußerst befremdliche Bilder. Die amerikanische Macht beruhte auf Angst, aber wie konnte man solche Leute einschüchtern? Wir konnten es nicht. Da standen wir, die mächtigste Nation auf Erden und waren völlig machtlos gegenüber einer Handvoll Extremisten. ›Fanatiker‹ nannten wir sie, oder ›Moslem-Extremisten‹.« »Terroristen«, sagte Jonny. »Ja. Ein sehr flexibles Wort. Üblicherweise verwendet, um jemanden zu beschreiben, den die Regierung nicht mag. Aber die Araber − nach dem wir jahrelang all diesen Leuten auf die Köpfe geschissen hatten, fingen die doch tatsächlich an, zurückzuscheißen − und das war inak zeptabel. Es war schlecht für die Moral und − viel wichtiger − es war schlecht fürs Geschäft. Wir mußten sie in die Enge treiben. Es war nochmals wie vorher in Zentralamerika. Bumm!« schrie Conover. »Flach wie ein Pfannkuchen.« Jonny legte seine Stäbchen hin und leckte seine Fingerspitzen ab, weil er keine Serviette fand. Er hatte die Gewohnheit angenommen, einen oder zwei Finger immer im Teller zu lassen, weil das der einzige Weg war, wie er sein Essen finden konnte. »Glauben Sie wirklich, daß dieser alte Mist wieder hochkommt?«
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»Ich habe metaphorisch gesprochen«, erklärte Cono-ver. »Ich wollte nur eine Analogie zwischen diesem alten Krieg und unserer gegen wärtigen Situation in L.A. herstellen.« »Wer sind die Araber und wer die Amerikaner?« »Ich glaube, das finden wir heraus, sobald wir sehen, wer gewonnen hat.« »Der Krieg '96 war in ein paar Tagen vorbei, nicht wahr?« fragte Su mi. »Niemand wollte wirklich einen Dritten Weltkrieg beginnen.« »Die Kriegspläne starben, ja, aber es dauerte länger als ein paar Jah re. Vergeßt nicht, daß unsere Ökonomie auf all den schwarzen Löchern dieser Ölfelder aufbaute, die nicht uns gehörten. In dem Moment, als sie den Reykjavik-Vertrag unterzeichneten, waren wir im Eimer. Alle diese boomenden Kriegsindustrien brachen über Nacht zusammen. Und als die Depression am schlimmsten war, landeten die AlphaRatten auf dem Mond, schnitten uns von den Minen und Forschungsla bors ab, und gaben uns den Gnadenstoß. Wir sind wahrscheinlich das erste Land, das jemals öffentlich den Konkurs eröffnet hat. Die Japaner haben uns für einen Pappenstiel gekauft.« Der Schmugglerlord dachte einen Augenblick lang schweigend nach. »Manche Leute glauben, es handele sich um akkumuliertes schlechtes Karma. Meine Liebe…«, sag te Conover ganz plötzlich, »bist du in Ordnung?« Jonny griff nach Sumis Hand. Sie war heiß und schweißnaß. »Es geht mir gut«, sagte Sumi irritiert und entwand sich seinem Griff. »Das Essen hier ist einfach zu reichlich für mich. Ich kann es kaum unten be halten.« »Sie hat schon seit einigen Tagen immer wieder mal Fieberanfälle«, sagte Jonny und berührte ihr Gesicht. Es brannte. »Tu das nicht«, sagte sie. Jonny hörte Conover aufstehen und auf ihre Tischseite herüberkom men. »Bitte«, sagte der Schmugglerlord ruhig. Er schwieg einen Moment lang. Jonny wußte, daß er Sumis Augen ansah. Hepatitis war in der Stadt allgemein verbreitet, und die D-Variante verlief tödlich. »Warum habt ihr mir nicht schon früher etwas von dem Fieber gesagt?« Jonny zuckte die Achseln. »Wir waren da draußen auf dieser Fischfarm. Es war feucht. Ich dachte, sie hätte sich vielleicht erkältet. Es schien einfach nicht wichtig zu sein«, sagte er und wußte, daß er log. Er und Sumi hatten die ganze Zeit dieselbe Befürchtung gehegt, als sie krank geworden war, und in solchen Momenten des Stresses war es leicht, in alte Gewohnheiten zurückzufallen. Ein Jahr früher hatten sie es vermieden, offen über Ices Verschwinden zu sprechen, und das tägli che Wissen darum hatte sie fertiggemacht. Jetzt konnten sie nicht über
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Sumis Krankheit sprechen, konnten nicht die simpelsten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung ergreifen, denn ihre Behandlung würde voraus setzen, daß man sie zugab, und das war unmöglich. Sumi konnte nicht krank sein, nicht angesichts dessen, was in der Stadt vor sich ging, wie sie beide wußten. »Ich werde dich durch meine Techniker untersuchen lassen, Sumi.« Conovers schwere Schritte patschten über die Strohmatten. Eine leich te Tür, die verschoben wurde. »Bitte nicht − Mr. Conover? Bitte − Jonny, halt ihn auf. Ich will nicht − wissen, ob…« Jonny zog sie an sich und legte seine Arme um ihren Hals. Das Fieber schüttelte sie, sie weinte leise. Jonny merkte, wie sie schwerer und schwerer wurde in seinen Armen.« Schnell!« schrie er. Es war, als erwache er nochmals und sei blind. Sein Geist arbeitete rasend, wie eine überhitzte Maschine, aber es kam nichts dabei heraus. Die Information, die Möglichkeit, daß Sumi ernsthaft krank sein könn te, war gänzlich inakzeptabel. Böse Träume, falsche Daten. »Es ist alles in Ordnung, Baby«, flüsterte er. »Alles kommt wieder in Ordnung.« Die Techniker kamen den Gang entlang, von einem Geruch nach Antiseptika angekündigt. Etwas folgte ihnen, Jonny hörte, wie es gegen die Reispapierwände streifte; es war ein Ding, das sich auf einem Magnetpolster bewegte. Die Techniker stellten es ab und ließen es, leise vor sich hin summend, stehen. Er spürte, wie Sumi sanft aus sei nen Armen genommen wurde. Sie verschwand in einen Raum aus leisen, beruhigenden Stimmen und dem Geruch von geschrubbter Haut und Betadine. »Jonny?« Er hörte sie, als sie sie auf das legten, was sie mitgebracht hatten, was auch immer es war. »Laß sie mich nicht wegbringen, Jonny? Sie tragen Masken. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen.« Da saß er am Tisch, während sie sie wegbrachten. »Jonny? Ich habe Angst. Jonny?« Schritte. Die Geräusche des Magnetpolsters. Er verbarg sein Gesicht in den Händen. »Verfluchter Mist!« Er holte tief Atem und preßte die Fäuste gegen die Schläfen. Und schlug sich gegen den Kopf. Und noch mal. Und noch mal. »Hör auf damit!« Conover hielt Jonnys Fäuste fest. »Du hilfst ihr da mit nicht. Wir müssen auf die Laborergebnisse warten.« »Sie wissen, was die besagen werden.« »Nein, ich weiß es nicht. Und du auch nicht, außer du hast einen besonderen Sinn entwickelt, von dem du mir bisher nichts erzählt hast.«
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»Es ist das Virus. Sie hat diese verfluchte Lepra.« »Das ist ein sehr gutes Medizinerteam. Russen. Ich liefere sie an eine Privatklinik in Tokio. Jetzt können sie sich ihren Aufenthalt verdienen.« »Sie war in der ganzen Stadt unterwegs«, sagte Jonny. »Das ist ihr Job. Wattfänger gehen überall hin, wo Leute Energie brauchen. Sie war überall. Dem Zeug vielleicht hundertmal ausgesetzt.« Conover setzte sich neben ihn. »Wir werden es bald genug wissen.« Jonny streckte die Beine auf der Tatami-Matte aus und fuhr sich mit den Fingern über seine Gesichtsnarben. Er dachte an die Mikro graphie des Virus, die er in der illegalen Croaker-Klinik gesehen hatte: den zerstörten Kopf der Pseudophage, die dünnen Insektenbeine, die sie hielten, während sie ihr genetisches Material ausstieß. Dann das Klonen dieser Pest. Die explodierende Zelle. Gift im Blutkreislauf. »Mister Conover«, begann Jonny ruhig, »wenn ich Ihnen ein paar persönliche Fragen stelle, würden Sie sie geradeheraus beantworten?« »Wenn ich kann.« Die Stimme des Schmugglerlords war tief, be herrscht und kam aus den Tiefen seines Körpers. »Ich kann mir nicht helfen − ich glaube, Sie wissen mehr über dieses Lepra-Analogon, als Sie zugeben. Ich möchte Sie fragen − hatte das Zeug, das Easy Money Ihnen gestohlen hat, etwas mit dem Virus zu tun? Vielleicht war es ein Muster?« Zuerst dachte Jonny, der Lord würde überhaupt nicht antworten, aber während er sich eine andere Frage zurechtlegte, hörte er: »Ja.« »Ich habe selbst schon mal einige Krankheitserregerkulturen und in fizierte Organe verschoben, an Gangs, die Forschungsarbeit leisteten. Aber dieses Virus ist etwas anderes. Es ist etwas, mit dem vielleicht ein Regierungslabor oder ein Multi arbeiten würde.« »Ich verschiebe nur Waren«, erwiderte Conover. »Ich habe keine Ahnung, wer der ursprüngliche Besitzer war. Der Deal wurde durch eine dritte Partei vorgenommen.« »Könnte es sein, daß die wirklichen Besitzer die Araber sind?« »Keine Ahnung.« »Wissen Sie, ob Easy Money Verbindungen zu den Arabern hat?« »Meines Wissens nicht.« »Aber es könnte sein.« »Easy Money würde für Colonel Zamora arbeiten, für die Araber, selbst für Mutter Gans, wenn sie Bargeld hätte.« »Stimmt. Und wenn Easy für die Araber arbeitet, was gäbe es für ihn dann für einen besseren Trick als die Arbeit mit Ihnen, unter Be nützung Ihrer Verbindungen und Ihres Schutzes. Wenn er von dieser
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Virusfracht wußte und darauf wartete, konnte er von einem Vermittler den Tip erhalten, daß Sie sie bekommen hatten, sie schnappen und da mit abhauen.« Conover bewegte etwas auf dem Tisch. Eine Flüssigkeit wurde ein geschenkt. Jonny fühlte, wie eine kleine Tasse in seine Hand gepreßt wurde. Er schnupperte daran. Sake. Er schluckte ihn hinunter. »Easy sagt, er habe eine zweite Ampulle aus derselben Lieferung, und er sei bereit, sie zu verkaufen. Ist es unwahrscheinlich, anzunehmen, daß bei den zwei involvierten Ampullen die eine das Virus und die andere vielleicht ein Gegenmittel enthielt?« »Nein, das ist gar nicht unwahrscheinlich«, sagte Conover. »Weißt du, wo Easy ist?« »Vielleicht. Was ich allerdings nicht verstehe: wenn Easy für die Araber arbeitet, warum will er dann uns die zweite Ampulle verkaufen?« »Easy ist gierig«, sagte Conover. »Warum sollte er nur einen einzel nen Profit erzielen, wenn er sein Geld verdoppeln kann, indem er die Ampullen getrennt verkauft?« »Ja. Das ist genau die Art, wie er es anfangen würde.« »Also, was unternehmen wir nun dagegen? Offensichtlich weißt du, wo sich Easy versteckt, aber du willst es mir nicht sagen.« »Ich habe nicht gesagt, daß ich es Ihnen nicht sagen werde. Ich möchte nur erst einen Deal mit Ihnen machen.« Conover lachte. »Warum habe ich das nicht kommen sehen?« Jonny hörte, wie er wieder Sake eingoß. Eine Tasse landete in seiner Hand. »Deine Bedingungen?« »Wenn Sumi die Lepra hat und ich diesen Stoff von Easy bekomme, kriegt sie die erste Injektion.« »Kein Problem.« »Es kommt noch mehr.« »Oh, du entwickelst dich schnell, Sohn. Du beginnst endlich, wie ein Geschäftsmann zu denken.« »Die zweite Forderung ist, daß ich bei der Übernahme dabei bin. Ich will selbst dort sein, wenn der Deal zustande kommt. Ich will die Ampulle in meiner Hand halten und wissen, daß alles klappt.« »Du solltest selbst am besten wissen, wie unsinnig diese Forderung ist«, sagte Conover. »Als du letztesmal hier weggingst, warst du gesund. Nun hast du ein Gesicht, das halb aus Plastik besteht, und überhaupt keine Augen mehr.« »Das ist ein Vorschlag, auf den man nur Ja oder Nein antworten kann. Ja oder Nein.«
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Jonny spürte, wie der Schmugglerlord nachdachte. Er schlürfte sei nen Sake und wartete voll Zuversicht auf die Antwort des anderen. Er fühlte eine merkwürdige Belustigung bei der Vorstellung, Conover in einem Deal zu übertrumpfen. Unter ihnen, hinter verstärkten Beton wänden, Stahl wänden und einem EMP-Schutz, lag Conovers Un tergrundklinik. Jonny wußte, daß die Techniker unten Sumis Blut un tersuchten, ihr Schläuche in den Arm und die Kehle steckten, Gewe bsproben nahmen und sie auf Videomonitoren in getrennten Räumen beobachteten, mit ferngesteuerten Diagnosegeräten an ihr herum manipulierten und sie nach Anzeichen der Infektion untersuchten, sich ihr aber fernhielten. In seinem Magen lag eine brennende Säurekugel. »Ich werde den Deal akzeptieren«, sagte Conover schließlich. »Aber bevor wir weitermachen, habe ich selbst auch einen Deal vorzu schlagen, den du akzeptieren mußt.« »Worum geht es?« »Es ist ganz einfach und nicht schrecklich unangenehm. Ich möchte nur dein Wort, daß du und Sumi, wenn sie wieder gesund ist, als meine Gäste hierbleibt, mit freier Benützung von allem hier, so lange ich es für nötig halte.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« Man hörte Schritte auf dem Gang. Jonny zupfte an einem losen Ta tami-Ende, als Conover zur Schiebetür ging. Leise Stimmen. »Danke«, sagte Conover und setzte sich neben Jonny. »Das waren die Testresultate.« »Ich will sie nicht hören. Wenn es gute Nachrichten gewesen wären, hätten Sie sie schon von der Tür herübergerufen. Scheiße! Leute wie ich verbringen ihr Leben damit, über die eigenen Füße zu stolpern. Aber Sumi hat das nicht verdient.« Er versuchte, ihr Gesicht in seiner Vorstellung zu beschwören, aber er konnte es nicht finden. Sein Kopf fühlte sich völlig hohl an, als hätte jemand sein Gehirn herausgenom men und die Schädelinnenseiten verchromt. »Wir gehen auf den Deal ein«, sagte er. »Sehr gut«, erwiderte Connover. Er goß beiden Sake ein. »Einen Drink auf den Deal, und dann gehst du ins Bett. Du mußt morgen stark sein.« »Ja, ein Deal mit Easy ist eine harte Sache.« »Du wirst morgen überhaupt keine Deals vornehmen können, fürch te ich. Morgen kommst du erstmal unters Messer.« »Wie meinen Sie das?«
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»Ich meine«, sagte der Schmugglerlord, trank seine Tasse aus und schmatzte befriedigt mit den Lippen, »daß du morgen um diese Zeit in der Chirurgie sein wirst. Wenn du wirklich zurückgehen willst in dieses große Narrenhaus, scheint mir der beste Weg, dich den Rückweg finden zu lassen, der zu sein, daß du ein neues Paar Augen kriegst.«
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X Zweiter Blick: Ein Abenteuer in Optik Er konnte nicht schlafen. Die Nacht brachte er damit zu, dem World Link-Gerät in seinem Zimmer zuzuhören, wobei er alle paar Sekunden die Kanäle wechselte, von Programm zu Programm sprang (verdamm te Alpha-Ratten-Dokumentationen, dachte er sich), von Sprache zu Sprache. Das alte Haus ächzte, während es auf seinen jahrhunderteal ten Fundamenten tiefer ins Erdreich sank. Jonny versuchte, nicht an Sumi und Ice zu denken und seinen Geist abzustumpfen. Einmal taste te er sich in den Gang hinaus, fand den ›Blauen Jungen‹ und ließ seine Finger über die Farbschichten gleiten. Er wußte, daß er sich vielleicht im Blickfeld einer Überwachungskamera befand, aber er kümmerte sich nicht darum. Jonny fragte sich, was geschehen würde, wenn er sei ne Faust durch das verdammte Bild stieß. Später, als in seinem Zimmer die kleine Emailuhr siebenmal schlug, kamen sie ihn holen. Sie gaben ihm eine Injektion und er fühlte, wie er sich gegen seinen Willen entspannte. Er wurde auf einem gepolsterten Stuhl, der mittels Magnetpolster ein paar Zentimeter über dem Parkettboden schwebte, durch die Gänge transportiert und fragte sich, ob es derselbe Stuhl war, den sie verwendet hatten, um Sumi wegzubringen. Conover ging, nach seinen Nelkenölzigaretten riechend, hinter ihm. »Du hast ein gutes Timing, Sohn«, sagte der Schmugglerlord. »Nächste Woche wären diese Techniker schon weg. Nach Japan. Mein eigenes Personal ist gut, aber diese Leute hier sind Spezialisten. Und teuer sind sie auch. Ich hole einen ganz netten Profit aus ihrer Vermitt lung heraus. Das sind Russen, habe ich dir das schon gesagt? Ich habe sie von einem Sharaska bei Leningrad geholt. Du glaubst nicht, in was für einem Zustand die hier eingetroffen sind. Mitleiderregend. Die Russen hatten Nervenscrambler in ihre Köpfe gesteckt. Hundert Meter außerhalb der Gefängnismauern gerieten ihre Gehirne in einen Zu stand totaler Blockierung. Du weißt, es ist nicht einfach, einen Nerven scrambler aus einem Gehirn zu entfernen, ohne es in eine Art Fleischpastete zu verwandeln. Die Japs haben eine solche Technik entwickelt. Mein Personal hat die Operationen durchgeführt. Wir haben zwei verloren, aber der Rest hat es tadellos geschafft.« Jonny wurde in einen Lift gebracht. Er hörte die Türen sich zischend schließen und bemerkte den leichten Schwindel beim schnellen Auf steigen. Dann öffneten sich die Türen und man brachte ihn in einen Raum, wo ihn der Geruch nach Antiseptika wie ein Schlag ins Gesicht
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traf. »Dr. Ludovico ist der Preis, der Grund, daß die Japaner die Opera tion finanzieren. Die anderen sind sein Personal. Ludovico ist ein Spe zialist für Fremdtransplantationen. Er wird dich operieren.« Die Techniker hoben den Stuhl um einen halben Meter an und ließen die Lehne herab, worauf sie Jonny mit einer einzigen, gut geüb ten Bewegung auf einen flachen Tisch hinübergleiten ließen. Jemand begann, ihn mit kleinen Stücken sterilem Tuch abzudecken, den ganzen Körper bis zur Kehle, der Kopf blieb frei. Finger berührten seine Stirn und zogen seine Lider von den leeren Augenhöhlen zurück. Jonny schnappte nach Luft. »Entspann dich«, sagte Conover. »Das ist Ludovico. Er will nur einen Blick darauf werfen, womit er arbeiten muß.« Ludovico sprach nicht Englisch und roch nach teuren Zigarren und billigem Kölnischwasser. Jonny mochte den Mann nicht, mochte auch nicht, daß fremde Finger an seinem Kopf herummachten, ihm mißfiel die Idee, daß ein Haufen möglicherweise hirngeschädigter Ex-Sträflinge ihn aufschnitt, und er war gerade daran, etwas in dieser Richtung zu sagen, als eine Nadel in seinen Arm stach und eine Narkosemaske über seine Nase gelegt wurde. »Ich seh dich nachher«, sagte Conover, »und mit ein bißchen Glück wirst du mich auch sehen.« »Es tut weh«, sagte Jonny. Nach zwei Tagen wuchs sein Haar wieder nach. Die Russen hatten die Nähte aus seinem Gesicht entfernt und die Narben mit Proteinleim bestrichen. In Jonnys Kopf lief eine Lightshow ab. Keine Bilder, nur lautloses Feuerwerk. Seit der Operati on hatte er keinerlei Kontakt mit Sumi gehabt. Sie war in Quarantäne und aus den undeutlichen Antworten, die Conover gab, schloß Jonny, daß sie in der Intensivstation war. Mehr oder weniger bewußt vertraute Jonny auf die alte Weisheit, daß man einfach weitermachen mußte. Man mußte jeden Augenblick als eine eigene Entität akzeptieren, den Beobachter und das Beobachtete verschmelzen lassen und so die Panik und den Horror davon abhalten, einen zu überwältigen. Im End effekt hatten die Buddhisten recht, dachte Jonny. Er fand heraus, daß er wieder in der Lage war, wenigstens kurze Zeit zu meditieren, was ihm zu helfen schien. Jetzt kitzelte etwas seine Augen; Ameisen krabbelten seine Sehner ven entlang, marschierten durch den Schädel in das Hirn und legten winzige Eier, die in Supernovae explodierten und Farben versprühten, die er nicht hätte benennen können. Er war jetzt wieder unten, in einem anderen Raum als bei der Ope ration, und diesmal sitzend. Ludovico war da, sprach murmelnd mit
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seinen Assistenten und bediente einen Cray-Minicomputer, der die elektrischen Frequenzen von Jonnys neuen Augen kalibrieren sollte. Jemand hatte die Augen als Exterozeptoren bezeichnet. Jonnys Stirn fühlte sich monströs an, die neue Hardware schien sich vorzu wölben. Die Techniker hatten ihm versichert, daß dieses Gefühl binnen weniger Tage verschwinden würde, aber Jonny zweifelte daran. Er war überzeugt, daß er den Rest seines Lebens wie ein glotzäugiges Monster aussehen würde. »Er hat eine Brücke gebaut«, sagte Conover. »Das ist der Schlüssel zur ganzen Prozedur. Ludovico hat einen kompletten Bypass um deine Sehnerven gemacht und Silikonsensoren in deine Sehzentren ge pflanzt. Die Chips kriegen ihre Daten von einer Sendeeinheit hinten an den Exterozeptoren. Deine Retinas sind modifizierte LangenscheidtCCDs. Irgendwelche Schmerzen und ungewöhnliche Lichtmuster sind Effekte des elektrischen Felds um die Transplantate, die die Reste deiner Sehnerven stimulieren.« Jonny lachte. »Die Leute haben mir schon seit Jahren gesagt, ich solle mir endlich Schädelbuchsen machen lassen.« »Jetzt hast du etwas viel Besseres. Einen ganzen digitalisierten Sinn.« »Ich weiß nicht«, sagte Jonny und wand sich auf dem Untersu chungsstuhl auf der Suche nach einer bequemen Haltung. »Ich hatte immer ein bißchen Angst vor Implantaten und Transplantaten, wissen Sie? Vielleicht weiß ich irgendwann nicht mehr, wo die Maschine auf hört und ich anfange.« Conover atmete tief mit einem Geräusch, das wie ein Seufzer klang. »Alles ist ein Spiel«, sagte er, »jeder Moment, den man lebt. Wärst du lieber blind?« »Sicher nicht«, sagte Jonny und schüttelte den Kopf. »Es gab keine andere Wahl.« Ludovico sagte etwas, und eine Frau mit schwerem japanischen Ak zent übersetzte. »Der Doktor startet jetzt die Exterozeptoren. Er will, daß Sie ihm alles beschreiben, was Sie sehen.« Tonny setzte sich im Stuhl auf und bemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren. Brennendes Violett umrahmte sein Gesichtsfeld. »Öffnen Sie Ihre Augen«, sagte jemand. Ein Angstanfall. Etwas bewegte sich in seiner Kehle. Gib mir irgend etwas, dachte er. Nur ein bißchen Licht. Ein kleines Lichtchen. Er dachte es immer wieder und wieder, bis die Wörter alle Bedeutung verloren und sich in ein Mantra verwandelten…
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Dann floß es über ihn weg, löschte alles aus, eine Flut von Sinnesda ten, das ganze Farbspektrum mit vagen Objekten darin. Er drehte den Kopf und ließ die Farben über sein Gesichtsfeld wischen. Sein Gesichtsfeld. Er sah etwas wie Kinderspielklötze, ein regenbogenfarbe nes Schachbrett − nein, ein Gitter wie feiner Maschendraht. Jeder ein zelne Abschnitt aus flackerndem Neon. Dann Schatten. Ein Mann saß vor ihm. Seine rechte Hand schien in Flammen zu stehen. »Eine Menge Farben fließen durch ein Gitter«, sagte Jonny. »Sieht aus wie eine Art Pixel-Anzeige. Jemand ist da. Seine Hand − sie sieht aus, als brenne sie.« Die Frau übersetzte ins Russische. Der schatten hafte Mann tippte etwas in den Cray und die Farben verloren plötzlich an Intensität. Sie wurden ersetzt durch schärfere Konturen. Die brennende Hand stand nicht länger in Flammen, glühte aber immer noch nach, Farbflecken bedeckten Finger und Handgelenk wie auf einer alten Landkarte, wo verschiedene Farben verschiedene Höhen bezeichnen. Die Hand gehörte zu einem dicken Mann, wie Jonny jetzt erkannte, und was er für Flammen gehalten hatte, war auf eine kugel schreibergroße Taschenlampe zurückzuführen, mit der der Dicke in seine Augen geleuchtet hatte. Die Pixel führten dazu, daß zwischen Jonny und dem, was er sah, eine Distanz vorhanden war. Es kam ihm vor, als sehe er den Raum in einem Video-Monitor, dessen Kamera durch Tausende von gläsernen Facetten aufnahm. Rechts von ihm glühte etwas auf. Jonny drehte sich um und sah Co nover. Der Schmugglerlord zündete sich eine Zigarette an, die Flamme seines Feuerzeugs leuchtete rot und war irgendwie komisch groß. »Diese Augen haben thermographische Raster«, sagt« Jonny, »eine Art computerverstärkten Infrarot-Scanner.« »Ein Bonus«, erwiderte Conover. Sein Schädel war bunt mit toten Hautflecken, die wie Löcher in seinem Gesicht aussahen. »Es sind noch ein paar andere Subprogramme eingebaut. Du wirst ihre Technik her ausfinden und lernen, die Pixel-Einstellung zu kontrollieren.« »Ich kann jetzt schon die Konturen ziemlich scharf erkennen. Werden die Farben so bleiben, wie sie jetzt sind?« »Nein, du nimmst bloß deswegen Infrarot wahr, weil die Lichter aus geschaltet sind.« »Nun, schaltet sie mal ein. Diese Wärmewahrnehmung ist reichlich merkwürdig.« »Geht das in Ordnung, Doktor?« fragte Conover. Eine Frau sprach mit Ludovico; er war der Dicke. Der Russe nickte, daß seine Extrakinne über dem Kragen wackelten. »Da«, sagte er, und jemand schaltete die
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Lichter an. Das normale Farbspektrum verdrängte das Infrarot. Jonny betrachtete den Raum, die Menschen, die blinkenden Lichter auf den Diagnosegeräten. Die Farben waren um einen Grad greller als normal. »Verdammt schön«, sagte Jonny. Er mußte lachen. Das war alles, was er tun konnte. Conover legte ihm die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, oder?« »Es ist unglaublich, Mann«, sagte Jonny. »Wann kann ich Easy treffen?« »Bald. Vielleicht heute abend schon, es hängt davon ab, wie du dich fühlst. Aber bevor du gehst, ist da noch etwas, über das wir sprechen müssen.« »Ja, ich weiß. Sie wollen, daß einer Ihrer Leute mich begleitet.« »Das stimmt. Ricos. Aber das ist nicht das, worüber ich sprechen will.« Conover warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Mit den Gesichtern der Techniker stimmte etwas nicht. Sie sahen ihn nicht so an, wie man jemanden anblickt, den man gerade geheilt hat. Eher wie jemanden, den man vor der Meningitis gerettet hat, nur um festzu stellen, daß er Krebs hat. Jonny erkannte in der Frau in einer Ecke Yukiko, ein Mitglied von Conovers privatem medizinischen Personal. Sie war zu ihm freundlich gewesen bei ihren früheren Zu sammentreffen, aber jetzt wollte sie ihn nicht ansehen. »Was ist eigent lich los?« fragte Jonny. »Weißt du«, erwiderte Conover freundlich, »wir, die wir hier draußen an den Rändern leben, sind manchmal gezwungen, auf Einfallsreich tum und Erfindungsgabe zurückzugreifen.« Er nahm eine Pinzette von einem Metalltablett auf und spielte damit herum. »Wir lernen zu im provisieren.« »Was habt ihr improvisiert?« »Du siehst auf jeden Fall wieder.« »Was stimmt nicht mit mir?« Er sah sich wieder in der Runde um. »Habe ich das Virus?« »Nichts dergleichen«, erwiderte Conover. »Ich möchte nur, daß du den Kontext der Operation richtig verstehst.« Da war Jonny schon aufgesprungen, stieß die Russen beiseite und sah sich um. Über einem Waschbecken hing ein verchromter Schrank. Auf das weiß-gold-fleckige Becken gelehnt, hielt Jonny sein Gesicht dicht vor das spiegelnde Metall. Und stieß einen Fluch aus. Schlug mit der Faust gegen die Seite des Schranks, daß diese einbeulte. »Was habt ihr denn mit mir gemacht?« schrie er. »Wir haben dir etwas zurückgegeben, das du verloren hattest.«
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Jonny schaute auf das verbeulte Metall, suchte sein Gesicht, fand es aber nicht. Die Augenhöhlen schwarz und rot von unterbrochenen Blutgefäßen. Etwas Fremdes starrte ihn an. Gelbäugig, mit Pupillen, die vertikal von Oberlid zu Unterlid liefen. In gewissen Winkeln blitzten grüne und metallische Lichter. Tieraugen. »Der Tiger, den ich ausgeblasen habe«, flüsterte Jonny und spürte die merkwürdige Maschinerie in seinem Kopf, »ihr habt mir seine Augen gegeben.« »Wir hatten keine andere Wahl«, sagte Conover. Jonny wandte sich ihm zu. »Großartiger Handel, Mann. Ein kleiner Schritt: vom Krüppel zum Freak.« »Du bist nicht mehr ein Freak als ich es bin«, sagte Conover. Sein Gesicht zog sich zusammen, Rauch quoll aus der Narbe, die er statt einer Nase hatte. »Glaubst du, ich hätte immer so ausgesehen? Du wirst lernen, damit zu leben.« Jonny starrte ihn an. »Schaut mich an. Ich gehöre auf einen ver dammten Karnevalszug.« Conover kam zu ihm herüber. »Du wolltest Augen, jetzt hast du wel che.« Jonny ging benommen zurück zu dem Untersuchungsstuhl, ließ sich darauf fallen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »O Mann…« »Es war das Beste, was wir tun konnten«, sagte der Schmugglerlord lächelnd. »Und du mußt einräumen − in dieser Stadt bietest du wirklich nicht so einen befremdlichen Anblick. In ein paar Wochen sind deine Augen alte Freunde.« »O Jesus!« Jonny betrachtete seine Hände. »Glauben Sie bloß nicht, die Operation täte mir leid.« Der Raster war immer noch sichtbar, machte seine Fingerspitzen ein wenig zu gerade. Er sah Conover an. »Ich bin froh, daß ich wieder sehen kann, wirklich. Es war nur eine Art Schock.« Conover nickte. »Verstehe.« Er sah auf seine Uhr. »Hör mal, ich muß zu einer Geschäftsbesprechung. Du solltest in dein Zimmer gehen und dich ein bißchen ausruhen. Ich schicke dir später Ricos. Du kannst ihm dann sagen, ob du gleich heute nacht gehen willst oder lieber noch wartest.« »Gut«, sagte Jonny. Als Conover hinausgehen wollte, rief er: »Mister Conover…« Der Schmugglerlord blieb unter der Tür stehen. »Ja?« Jonny zuckte die Achseln. »Danke.« »Gern geschehen.« »Glauben Sie, daß Sie mir noch einen Gefallen tun könnten?«
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»Welchen?« »Könnte jemand die Spiegel aus meinem Zimmer entfernen?« Conover lächelte. »Wird gleich gemacht.« Er ging. Jonny lehnte an dem Waschbecken, ließ seinen nahezu kahlen Kopf gegen die laminierte Schranktür zurückfallen und starrte die Russen an, die ihn anstarrten. Yukiko brachte ihm in einer weißen StyrofoamTasse Tee. Mit einer gewissen Willensanstrengung sah sie ihn an und lächelte ihm zu. »Danke«, sagte Jonny. Der Weg zurück in sein Zimmer war ein Alptraum. Er hielt den Kopf gesenkt, aber die merkwürdige Einrichtung des Hauses zwang ihn, ge legentlich aufzusehen, und immer schien sein Spiegelbild irgendwo da zu sein und auf ihn zu warten: im Glanz einer Mingvase, in der Vergla sung eines antiken chinesischen Schrankes, im polierten Chrom eines Seismometers. Goldäugiges Monster. Er hatte den Transportstuhl abgelehnt. Ein paar russische Techniker folgten ihm in einem Respektsabstand nach. Als er in sein Zimmer kam, machte er ihnen die Tür vor der Nase zu. Drinnen blieb er an der Tür stehen und sah sich im Zimmer um, ob es hier reflektierende Oberflächen gab. Als er keine sah, ging er zum Bett und streckte sich darauf aus. Die durchsichtige Lahmheit von Conovers Geschichte war so of fensichtlich, daß Jonny wußte, er sollte darüber nachdenken. Das be deutete, daß es bis zu einem gewissen Grad ein völlig durchkalkulierter Zug gewesen war, ihm diese verrückten Augen zu geben. Der Schmugglerlord hatte offensichtlich geplant, sein Mißfallen über Jonny auf irgendeine Weise zu zeigen, und Jonnys Blindheit gab ihm eine günstige Möglichkeit. Die Augen waren eine Strafe und eine Warnung. Strafe für den Diebstahl des Wagens und das Davonlaufen, und eine Warnung, daß er das besser nicht noch einmal tun sollte. Wie ein Ya kuza-Ritual, dachte Jonny. Mach einen Fehler, dann verlierst du ein Fingerglied. Schau dir die Jungs ohne Finger an, die sind wirklich im Arsch. Wozu macht mich das? fragte er sich. Es überraschte ihn, daß er keinen wirklichen Ärger über Conover und das, was er ihm angetan hatte, fühlte. Jonny wußte, daß Conover schlimmer hätte reagieren können. Und der Schmugglerlord hatte ins gesamt recht gehabt. Von dem Moment an, wo Jonny die Hügel verlassen hatte, war er auf einem Kurs gewesen, der genau in Zamoras Hände geführt hatte. Das Leben mit komischen Augen würde um vieles angenehmer sein als das Leben mit dem, was Zamora für ihn vorgese hen hatte.
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»Hey, maricón.« Jonny setzte sich im Bett auf. Er konnte sich nicht erinnern, daß er eingeschlafen und aufgeweckt worden war. Der Kontrollverlust, der ihm dadurch klar wurde, machte ihm Angst. Jonny sah Ricos an und bemerkte, daß er nicht der einzige Verblüffte war. »Joder, Mann«, flüsterte Ricos. Er trug eine rote Motorradjacke und gestreifte Lederhosen. »Was hast du dir da antun lassen?« Ricos starrte Jonny an, als sähe er eine offene Wunde oder einen schlimmen Auto unfall. Er versuchte gar nicht erst, seinen Ekel zu verbergen. Dafür war ihm Jonny dankbar. »Ich hatte nicht viel Auswahl«, sagte Jonny, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. »Carajo. Ich würde jeden umlegen, der sowas mit mir macht.« »Deinen Boss eingeschlossen?« »Jeden.« Jonny lächelte den Mann an. »Du bist wirklich ein Scheißkerl, weißt du das?« Er ging zum Schrank, fand ein paar schwarze Hosen, die ihm passen würden, und zog sie an. »Wir werden einen Identitätsausweis brauchen. Etwas von einem Multi.« »Kein Problem«, sagte Ricos. Oben im Schrank hatte jemand ein Dutzend Sonnenbrillen ausge legt, in drei sauberen Querreihen. Ihre eleganten Designs, so völlig fehl am Platz vor dem blassen Holz der französischen Möbel, erinnerten Jonny an eine der merkwürdigen Croaker-Skulpturen. Ohne nachzu denken, nahm er eine verspiegelte Fliegerbrille und steckte sie in die Brusttasche der grauen Tweed-Jacke, die er aus dem Schrank genom men hatte. »Gut so«, sagte Jonny, »wir holen die ID, nehmen ein paar bessere Klamotten für dich und ziehen los.« »Was ist nicht in Ordnung mit meinen Klamotten?« fragte Ricos be leidigt. »Es wäre alles in Ordnung, wenn wir in Carnaby's Pit gingen, Mann.« Er ging zur Tür, Ricos ein paar Schritte hinter ihm. »Wohin gehen wir denn dann, maricón?« Jonny fuhr herum und piekste dem Mann den Finger in den Magen. »Little Tokyo«, sagte er. »Wo sie Leute wie dich und mich ohne Anruf abknallen.« Das Auto war ein altes alkoholbetriebenes brasilianisches Coupe im Design eines Jahrhundertwendemercedes. Ricos fuhr; er trug jetzt einen pulverblauen italienischen Anzug und zerrte ständig an dem
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Kragen seines perlgrauen Hemds. Jonny und er hatten die IDs von ver storbenen Männern. Sie ließen den Wagen in der Nähe der Union Station stehen, einem Art-Deco-Monster mit zerbrochenen Ziegeln und offen sichtbaren TTrägern wie freigelegten Rippen. Kaputte Kräne und Generatoren standen herum, Haufen von ferrokeramischem Material, das sich schwarz färbte unter dem Mond, unter dem Blick der Alpha-Ratten, und auf den Zug wartete, der nie mehr kommen würde. Ein Lüftungsschacht unter den zertrümmerten Transformatoren einer ehemaligen Pacific Gas and Electric Substation endete in einer Röhre, durch die man kriechend in jenes Lüftungssystem gelangte, das das ganze Little-Tokyo-Areal versorgte. Jonny entfernte das lose Gitter von dem Schacht und kroch mit Ricos hinein, vorsichtig, um die neuen Kleider nicht schmutzig zu machen. Die Dimensionen des Schachtes waren so, daß sie im Entengang ihren Weg zu einer Lüftungsklappe su chen konnten, die sie schließlich fanden − hundert Meter entfernt von ihrem Einstieg. Es war die ganze Zeit, als liefe man gegen einen Torna do an. Jonny manipulierte von innen den Verschluß, öffnete die Klappe, und die beiden befanden sich im Innern der Belüftungsmaschinerie. Hier war alles vollautomatisiert, und die menschliche Besatzung mach te höchstens einen oder zwei Kontrollgänge pro Nacht. Jonny konnte Ricos hinter sich hören, dessen Atem lauter war als die Luftzirkulato ren. Der Mann war gespannt und sehr nervös, fuhr bei jedem Grunzen und Zischen der Maschinen zusammen. Jonny führte ihn in einen Gang, der sich spiralförmig zur Oberfläche schraubte. Wände aus Schlackenziegeln zeigten die Ente und die Orange der Hundert-Dynas tien-Corporation in Schwarz und Rot. Sie fanden die Leiter, die Jonny gesucht hatte, hinter einer Wand von Zweihundertfünfzig-Liter-Fässern auf einem Regal, entfernten ein Gitter und kamen hinter einer französischen Disco namens La Poupee heraus. Im pastellfarbenen Dämmerlicht, das von den skelettartigen Auf bauten mit Neongraphik und Holoprojektoren auf den Dächern kam, sah sich Jonny noch einmal die IDs der toten Männer an. Jonny war Christian van Noorden, ein in Holland geborener Systemanalytiker für Pemex-U.S.; Ricos Chip identifizierte ihn als Eduardo Florentino, einen Sicherheitkoordinator für Krupp Bio-Elektronik. Jonny setzte seine Spiegelbrille auf und ging Richtung Boulevard, Ricos folgte ihm auf den Fersen, und die beiden mischten sich unbemerkt in den Touristen strom, die Creme der Multi-Angestellten.
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Direkt vor Jonny und Ricos war eine Gruppe junger schwedischer Weltraumtechniker. Sie waren blond und schlank, auffallend attraktiv, jeder hatte das gleiche schmale Kinn und zarte, langfingrige Hände. Jonny fragte sich, ob sie wohl geklont waren. Sie gingen ohne Hemden und zeigten die harten Muskeln ihrer Oberkörper unter durchsichtigen Bodysheats aus Kunststoff. Ihre Muskeln waren in verschiedenen Ab stufungen eingefärbt, um das Muskelspiel zu akzentuieren. Sie sahen aus wie lebende Abbildungen aus einem Anatomieatlas, fand Jonny. Über der Straße erschienen hoch in der Luft die sich teilenden Lippen einer Hologramm-Vagina − eine rosafarbene, idealisierte Orchidee, ein zahnloser Mund, der zu einem Fleischtunnel für Rollschuhfahrer wurde, die glitzernden nassen Wände flirrten vorüber. Jonny mußte an der Ecke stehen bleiben. Er tat so, als studiere er das Menü-Display eines Burmesischen Restaurants. Da wurden die Mahlzeiten in verschiedenen Sprachen erklärt, je nachdem, wo man stand, aber Jonny bemerkte es kaum. Seine Hände zitterten. Es war ein unmöglicher psychischer Sprung. Er war wieder ein Kind, sah Little Tokyo zum erstenmal, festgenagelt vom Licht, der Luft, dem unglaubli chen Reichtum und der Schönheit dieses Ortes, der aufdringlichen und absichtlichen Verschwendung von Energie. Little Tokyo war ein trans kulturelles Phänomen, dessen Name längst seine Bedeutung verloren hatte; er zeigte zwar einen Sektor der Stadt an und gab einen Hinweis auf die Entstehung, aber das war es auch schon. Es war japanischer und europäischer Chic, gefiltert durch amerikanische Trägheit. Gene rationenlange Fernsehübertragungen, Videos und Linkbilder, Visionen von Hollywood und Las Vegas, die billigen Gangsterträume vom Guten Leben hatten diesen Himmel und Spielplatz für die privilegierten Angestellten der Multis geschaffen. Little Tokyo war laut und kostete die Multis eine Menge, aber sie liebten es und brauchten es schließlich auch. Was einst ihr Spielzeug gewesen war, definierte sie nun. Da gab es Clubs, die alle Variationen sexueller Begegnung offe rierten. Todesfetisch-Clubs, wo kontrollierte Dosen von Euphorie her vorrufenden Giften die konventionellen Drogen ersetzt hatten. In einem dieser Clubs hatte er mit siebzehn zum erstenmal Mad Love pro biert. Jetzt noch wäre er bereit, für einen Hit davon zu töten, dachte er. Da waren Computersimulationsclubs, die für Leute mit Schädel buchsen Begegnungen mit Gewalt, Wahnsinn und Tod anboten. Einen Block weiter lag das Onnogata, wo die Mitglieder verschiedener Kartelle in Regenerationstanks auf die Vergnügungen der nächsten Jahre warteten.
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Andere Clubs boten ähnliche Unterhaltung an, und jedermann konnte sich amüsieren. Wer beim Spiel verlor, konnte Teile seines Kör pers auf dem ganzen Boulevard verkaufen. Organentfernung und -In stallation gehörten zum Standardservice jeden Hotels. Wer schlimm genug verlor, landete in einer Intensivstation und spielte manchmal noch weiter und verlor auch das noch, bevor ihn der Company-Jet nach Hause holen konnte. Aber in Little Tokyo war seit einem Jahrhundert noch niemand gestorben. Ricos starrte Jonny an. »Willst du etwas essen?« Jonny sah den Mann an, dann wieder das Menü, das soeben in über akzentuiertem Französisch ein Huhn-Fleisch-Reisgericht beschrieb. »Nein«, sagte er, »ich denke nur nach.« Er ging weiter, die breite, saubere Straße entlang. Er wollte ein Ge fühl für den Ort bekommen, bevor sie zum Geschäft kamen. Er war seit Jahren nicht mehr in Little Tokyo gewesen. Eine warme Brise trug den sanften Geruch von Orangenblüten heran, eine ganz raffinierte Emp findung. Jonny hatte Fässer mit diesem Geschmacksstoff hinten in den Lüftungsräumen gesehen. Bezüglich seiner Augen hatte Conover recht gehabt, bemerkte Jonny. Er begann, mit ihnen herumzuspielen, veränderte den Fokus zuerst versehentlich, dann, indem er einen Feh ler so lange wiederholte, bis er den Vorgang beherrschte. Er drehte sich zu Ricos um, der von Little Tokyo nicht beeindruckt schien. Am Rande seines Gesichtsfeldes gab es verwischte farbige Streifen, wenn er den Kopf schnell drehte. »Siehst du es?« »Que es, maricón?« »Keiner ist krank hier. Keiner alt.« Sie gingen an einem künstlichen See entlang. Roboter-Luftkissenfahrzeuge für ein oder zwei Personen glitten über die glasige Oberfläche des Wassers zwischen dem Strand und einer fünfstöckigen Pagode auf einer kleinen Insel nahe der See mitte hin und her. Hinter den kleinen diskusförmigen Fahrzeugen sprühten Wellen von Schaum, der wie Juwelen funkelte. Die Bootsin sassen trugen Frack oder Abendkleid. »Kein einziger Leporöser, nicht einmal ein Leberfleck.« »Si«, sagte Ricos und sah einem jungen Paar zu, das seinen Freunden die neugekauften Genitalien zeigte. Zwischen ihren Schen keln blitzte Chrom. »Estos carajos, die kommen als Bausätze. Com prende? Schneid sie, und sie bluten nicht.« Der Eingang zum japanischen Club war von zwei mannsgroßen Tempelhunden flankiert, die aus einem dunklen, fleischigen Holz ge schnitzt waren. Ricos ging daran vorbei, aber Jonny blieb stehen, von irgend etwas irritiert − vielleicht von dem seltsamen Winkel, in dem
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einer der beiden Hundeköpfe geschnitzt war. Im Moment, als er stehenblieb, wurde ihm klar, daß die Hunde keine Statuen, sondern tatsächlich lebendig waren. Die Hunde, reinrassige Tosas, saßen auf ih ren Hinterhacken und betrachteten die vorbeiflutende Menge mit der Bewegungslosigkeit sich sonnender Eidechsen. Nur hin und wieder er schien das Rosa ihrer Zunge zwischen den Lefzen und leckte über die massiven Kiefer. Ihre Nacken und Rücken waren mit dicken Muskel strängen überzogen − das Endprodukt genau kontrollierter Züchtung und genetischer Manipulation. Während Jonny die Tiere ansah, erschi en ein stehendes Bild der Schweden in den Bodysheats vor ihm, die Straße bei der Disco La Poupee ganz klar im Hintergrund. Dann war es vorbei. Jonny zwinkerte und spannte die Muskeln um seine Augen an. Das Bild der Schweden kehrte zurück. Diesmal hielt er es konstant, ließ es vorwärts und rückwärts in Zeitlupe ablaufen. Es war durchaus sinnvoll, daß die Augen einen Speicherchip hatten, dachte er. Vor ein paar Tagen waren sie noch Teil eines Sicherheitssystems gewesen und hatten gegebenenfalls Bilder von Eindringlingen aufgenommen. Er ließ das Bild verschwinden und sagte zu Ricos: »Hier hinein.« Der uniformierte japanische Türsteher verbeugte sich und hielt ih nen die Tür auf, als sie hineingingen. Er hielt eine Hand gegen seine rechte Schläfe. Jonny wußte, daß sie auf Waffen gescannert wurden. Er fluchte leise und fragte sich, ob man sie schon erkannt hatte. Im Club war es sehr dunkel. Die Architektur war traditionell: Tata mi-Matten, niedrige Tische, auf denen bemalte Laternen ihr but tergelbes Licht verbreiteten, weißgesichtige Geishas, die dem vor wiegend männlichen, vorwiegend aus Japanern und Amerikanern des mittleren Managements bestehenden Publikum heißen Sake ser vierten. Aus einem Raum hinter der Bar kam eine Menge Lärm. Jonny griff sich ins Kreuz, als zöge er seine Hose hoch und berührte den Kolben einer kleinen SIG-Sauer-Pistole. Die Waffe bestand aus einem Flüssigkristallpolymer, das Metalldetektoren angeblich nicht erkennen konnten. Die Geschosse waren Gobernacion-Standard, bekannter un ter der Bezeichnung Rock Shot. Jede Kugel hatte eine synthetische Quarz-Spitze. Schlug sie auf, wurde sie zusammengepreßt und die dabei entstehende elektrische Entladung des Quarzes zündete Spreng stoff, der C-4-Plastikpartikel verstreute. Ricos trug eine ähnliche Waffe in seiner Jacke. Jonny bestellte Sake und wies die Geisha an, ihnen den Reiswein in den nächsten Raum zu bringen. Sie verbeugte sich. Er lächelte sie un behaglich an, unsicher, ob er sich ebenfalls verneigen sollte oder nicht.
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Er tat es, und die Geisha kicherte über seine Gajin-Steifheit. »Schau dich nach Easy Money um«, sagte er zu Ricos. Im nächsten Raum trennten sie sich und erkletterten verschiedene Seiten einer flachen Pyramidenkonstruktion von Sitzreihen aus po liertem Mahagoni. Ein Geruch nach Blut und Schweiß lag schwer in der Luft, von Alkoholdunst und Zigarettenrauch. Jonny war geschockt, als er in der obersten Reihe ankam, sich durch die Leute drängelte und sah, was sich in der Arena zu seinen Füßen tat. Der Siegerhund bekam gerade seinen Preis − ein kleines Band aus purpurfarbenem Satin mit einem aufgestickten goldenen Lotus − von einem bleichen, teiggesichtigen Mann in Hemdsärmeln. Eine der Pfo ten des Hundes war verdreht und böse zerquetscht. Jonny sah, wie der Körper des Hundes, der verloren hatte, hinausgezerrt wurde, wobei sein gedemütigter Besitzer und dessen Assistent sich bemühten, Blut flecken auf ihren weißen Hemden zu vermeiden. Einen Augenblick spä ter begann alles von vorne. Der teiggesichtige Mann machte in Schnell feuerjapanisch eine Ankündigung und warf segnend Salz in jede Ecke der Arena. Dann wurden zwei weitere Hunde, enorme Tosas wiederum, größer als das vorige Paar, jeder hundertfünfzig Kilo schwer, am Ende von massiven Stahlketten von verschiedenen Seiten hereingeführt. Die Geldchips waren offenbar schon ausgegangen, Jonny sah Kreditkarten mit goldenen Phönixen blitzen, als die Menge die Buchmacher des Hauses umdrängte. Sie berührten mit ihren Karten die kleinen Multi plexer, die diese trugen, in der Hoffnung, ihre Wetten noch abgeben zu können, bevor die Hunde losgelassen wurden und die Quoten sanken. Jonny sah sich nach einem Ausgang um und sah einen, unten am anderen Ende der Arena. Er machte sich gerade auf den Weg, als er die Hunde zusammenprallen hörte, das dumpfe Geräusch von Fleisch auf Fleisch, tief aus der Kehle kommende animalische Geräusche, tödliche Signale. Er sah sich nach Ricos um, nickte, als er den Mann auf der anderen Seite der Arena entdeckte, der mit aufgerissenen Augen zu sah, wie sich die Tiere zerfleischten. Jonny lächelte. Es war einfacher gewesen, Ricos abzulenken, als er gedacht hatte. Während er die Reihen zu dem Ausgang hinunterging, hörte Jonny einen der Hunde fürchterlich aufjaulen. Der Klang wurde im Lautspre chersystem des Clubs verstärkt. Jonny war beinahe unten, als er sich umdrehte und zurück in die Menge drängte. Innerhalb der wenigen Se kunden, in denen er sich nach Ricos umgesehen hatte und die Stufen hinuntergegangen war, hatte sich ein Meat Boy neben den Ausgang ge stellt. Jonny drängte sich durch die schreiende Menge, den Weg zurück, den er gekommen war, den Blick auf die Gesichter der Spieler gerich
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tet. Er vermied es den Hundekampf anzusehen. Tierisches Gebrüll und menschliche Rufe. Er sah einen weiteren Meat Boy am Ausgang zur Bar. Der Riese sprach mit jemandem. Dem Türsteher. Jonny sah sich um in der Hoffnung, noch irgendwo einen Ausgang zu entdecken, aber er fand keinen, und als er sich umdrehte, sah er den Türsteher, der ge nau auf ihn zeigte. Jonny verschwand in der Menge, bewegte sich die Reihe entlang, während sich der Meat Boy wie ein pockennarbiger Eis brecher durch die Leute zu drängen begann. Dann legte Jonny ein Bein über den Rand der Arena. Einen Moment lang erstarrte die Menge in Schweigen. Er zog die Waffe heraus und jetzt kam der Lärm schrill und laut wieder. Er feuerte zweimal, aber die Stampede hatte schon begonnen, und als die Kugeln trafen und das eine Ende der Arena wegpusteten, hauten die verängstigten Tosas ab, ganz Zähne und Klauen stürzten sie auf den plötzlich erschienenen Ausgang los. Der Meat Boy, der ihn verfolgt hatte, war trotz seiner Grö ße vollkommen hilflos, er wurde von den vorwärtspreschenden Körpern zurückgedrängt. Jonny sah auch Ricos, der ebenfalls von einer Men schenmenge weggespült wurde. Er hatte die Waffe gezogen und sah wütend mit aufgerissenen Augen um sich. Jonny blieb nicht stehen, um zu sehen, was weiter geschah. Er rannte zur Rückseite des Clubs, die beinahe vollkommen verlassen war und schaffte es durch den Hinterausgang, dann die Sei tenstraße hinunter, den ganzen Block entlang. Als er wieder auf die Hauptstraße kam, sah er die Menge, die den Club anstarrte. Dunkelge kleidete Männer quollen aus dem Eingang. Die Tosas rannten den Geh steig entlang. Von dort hörte man schreiende Fußgänger und kreischende Fahrzeugbremsen. Jonny nahm den langen Weg um den ganzen Block, um sicherzuge hen, daß er niemandem aus dem Hundekampfclub begegnete. Schließ lich kam er wieder an den künstlichen See. Die Luftkissenfahrzeuge kreuzten noch immer. Die Pagode glitzerte auf ihrer kleinen Insel. An ihrer Spitze befand sich ein großes Stück geschnitzter Rosenquarz, zwanzig Meter hoch. Um ihre Basis gab es einen Hain aus Kristallbäu men, ein verwirrendes Dickicht von Prismen. Der Wald der Kunstlicht blüte. Kein Unsinn mehr. Es war Zeit, Easy Money zu finden.
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XI Zur Zerstörung bestimmtes Objekt Guten Abend«, sagte der kleine Hovercraft, als Jonny an Bord sprang. »Zu Ihrer Sicherheit und für Ihren Komfort halten Sie sich bitte am da für vorgesehenen Geländer fest. Die Fahrt wird zwei Minuten dauern.« »Leck mich«, sagte er zu der Maschine. »Sehr gut, Sir«, erwiderte sie. Die rutschfeste Gummimatte vibrierte sanft unter seinen Schuhsohlen, als der Motor seine Leistung erhöhte und ihn und das Fahrzeug über das Wasser hob. Ein dünner Nebel aus warmem Gischt wurde von den Seiten des Bootes hochgeblasen und schlug sich auf Jonnys Haut nieder. Die Gedanken an Sumis fiebernden Körper und Grouchos Theorien über Kunst und Revolution kamen ihm wieder in den Sinn, während er Kurs auf die leuchtende Pagode hielt. Karpfen und dicke Garnelen blitzten da und dort unter der Wasseroberfläche auf. Seine Erinnerungen an Sumi verstörten ihn. Die Bilder kreisten um Plastikschläuche und Pumpen, stupide Maschinen, die sie niemals erkennen oder verstehen konnten, die in ihrer Ignoranz einen Fehler machen konnten − ihren Wert nicht einzuschätzen wuß ten, ihre absolute Notwendigkeit für ihn, daß er sie zum Leben brauch te. Wenn er hingegen an die Revolution dachte: für ihn war sie ein Phantomschmerz, nicht mehr. Wie seine Augen. Er fühlte, wie sie juck ten, aber er wußte, daß sie aus Plastik und also unwirklich waren, ergo konnten sie nicht jucken. Aber sein Bedürfnis, sie zu reiben, hielt an. Mit der Revolution war es dasselbe. Eine Illusion, ein Opiumtraum, der behauptete, er könne die Lider über den Augen schließen, sie reiben und das Jucken würde aufhören, das Fleisch würde sein wie zuvor. Bevor er an die Croaker geraten war, hatte Jonny schon eine Menge Revolutionäre gekannt. Bombenwerfer und Pamphletisten, GraffitiKünstler und Mörder. Manche von ihnen hatten gewußt, was sie taten, andere waren Moderevoluzzer oder handelten aus Konventionen her aus. Im Endeffekt waren sie alle gescheitert. Jonny hatte schon ein Dutzend altbekannter Gesichter in der Menge der Multi-Angestellten in Little Tokyo erkannt. Vielleicht waren das die Schlauen: jene, die überliefen. Vielleicht waren sie auch die, die schon von Anfang an inner lich tot gewesen waren. Da konnte er sich nicht entscheiden. Die Kristallbäume am Fuße der Pagode nahmen an Details und Komplexität zu, als das Luftkissenfahrzeug näherkam. Sie sahen aus wie Licht aus geschmolzenem Glas mit funkelnden Diamanten. Eine Anzahl Wärter mit weißen Handschuhen formte die Bäume, schnitt Äste und Zweige aus einem Grundmaterial von modifizierten Alumini
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umsulfatkristallen. Easy Money war irgendwo darunter im Innern des Gebäudes, wie Jonny wußte. Er würde die zweite Ampulle von Easy be kommen und diesen umbringen, falls er eine Chance dazu hatte (weil er Raquins Ermordung noch nicht vergessen hatte). Das war die ganze Revolution, die er erwarten konnte. Was das andere betraf, die Träume des Anarchisten Groucho, für sie gab es nicht die geringste Chance. Das Beste, was er überhaupt erhoffen konnte, dachte Jonny, war eine Besserung von Sumis Zustand und die Rückkehr von Ice; und sich nicht seinen Illusionen zu opfern, seinen alten Träumen. Im Wald der Kunstlichtblüte ging er geradewegs zur Bar. Sie war niedrig, hufeisenförmig und ein Versuch in Art Deco mit vergoldeten Spiegeln hinter den Flaschen und gerillten Kacheln, die in der sanften indirekten Beleuchtung glühten. Die beiden Barkeeper waren ein Asia te und eine blonde Weiße, beide keinen Meter groß, aber perfekt pro portioniert. Hinter der Bar hatten alle Dinge, die Flaschen und Korken, Schwämme und Mixutensilien, das für die beiden passende Format. Alles außer den Gläsern, in denen sie die Drinks servierten; die waren für jemanden von Jonnys Größe gedacht und sahen in den Kinderhänden der Barbediensteten absurd groß aus. Jonny bestellte Gin und Tonic und sah zu, wie der kleine Mann eine hundert Jahre alte Flasche Bombay-Gin öffnete, die irgendwann in ih rer Vergangenheit mit blauem Wachs versiegelt worden war. Jonny nippte an seinem Drink und gab dem Mann seinen ID-Chip. Es funktionierte nicht, als der Barkeeper zum erstenmal das Konto aufzu rufen versuchte, und als es auch beim zweitenmal nicht ging, wurde Jonny nervös. Aber beim dritten Versuch klappte die Transaktion, und der Computer zog den Betrag für den Drink und ein ordentliches Trinkgeld vom Konto des toten Multi-Mannes ab. Jonny ließ den küh len, antiseptisch schmeckenden Gin in seinem Mund kreisen und schluckte eine von Conovers Endorphin-Tabletten. Seine neuen Augen schmerzten, ein ständiger schneidender Schmerz in seinem Kopf bis zur Schädelhinterwand. In dem vergoldeten Spiegel hinter der Bar sah er Bewegungen. Er drehte sich um zu der verdunkelten Lounge, die den größten Teil des Untergeschosses der Pagode einnahm. Alte Oyabuns spielten endlose Go-Partien und bewegten sich dabei mit der altmodischen und befrei ten Eleganz von Gottesanbeterinnen; jüngere Männer unterhielten sich ernsthaft und prosteten einander zu; sie waren in tragbare Über setzungsgeräte eingestöpselt. Hauptsächlich japanische Gesichter, aber auch ein paar Amerikaner und Mexikaner. Jonny kannte einige wenige, andere hatte er in Zeitungen gesehen.
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Vielen Japanern fehlten Fingerglieder. Yakuzas. Hier mußte ein Erholungsort für sie sein. Neutraler Grund. Mafia, die Panteras de Au reo, Triadenfamilien − sie waren alle da, Kriminelle einer Kategorie weit über allem, was Jonny bisher je gesehen hatte. Sie waren wie er, aber ihr immenser Reichtum isolierte sie, ermöglichte es ihnen, weit weg vom Alltag zu leben, so daß sie fast mythologische Figuren waren und den Kurs der Nationen mit ihrem Geld bestimmten. Über den Köpfen der Gangster lief kaleidoskopisch ein kristallines holographisches Bild in der Luft ab, das aussah wie eine künstlich ge formte Wolke. Es schien sich mit der Stimmung im Raum zu verändern, die Farben wurden strahlender, wenn der Tonpegel stieg und verdunkelten sich, wenn er sank. Ein Mann neben Jonny wandte sich auf Portugiesisch an den Barmann. Er trug eine Irezumijacke − gegerbte Haut eines völlig tätowierten Menschen, im Bomberjackenstil geschnitten, mit Pelz um den Kragen. Eines der teuersten Kleidungs stücke der Welt. Er war nicht der einzige im Raum, der so ein Ding trug. Vielleicht waren sie im Endeffekt doch nicht ganz so wie er, dachte sich Jonny. Wo, zum Teufel, war jetzt aber Easy? Er drehte sich um und erblickte sie im selben Moment wie sie ihn. Schnelle, nachtfarbene Augen. »Hey, Gaijin-Boy, suchst du 'ne Begleiterin?« »Verdammt noch mal, was machst du hier?« Ice lächelte, hakte sich bei ihm unter und zog ihn von der Bar weg. Sie trug ein enges braunes Nadelstreifkleid, das im Oberteil wie ein Männerjackett geschnitten war und unten in einen gerade über ihr Knie fallenden Faltenrock aus lief. Sie trug keine Strümpfe, aber herabgerollte weiße Socken und Rie menschuhe. »Jesus, arbeitest du hier für die Revolution?« »Ganz ruhig«, sagte Ice, weiterhin lächelnd. Sie zog ihn in eine Ecke der Bar unter eine spiralförmige Wendeltreppe mit ineinander ver schlungenen Drachen aus Mahagoni als Geländer. Sanfte Viertelton melodien ertönten aus einem an der Wand montierten Kliepsch-Laut sprecher über ihren Köpfen. Offensichtlich beruhigt, daß niemand sie hören konnte, sagte sie: »Lächeln, Baby! Ich arbeite hier nur für mich selbst. Siehst du?« Sie zeigte ihm das korkausgekleidete Tablett, das sie trug. »Ich serviere nur Drinks. Diese Yakuzas haben gerne GajinGirls um sich. Insbesondere dunkle exotische Typen wie mich.« »Aber…« »Aber das bedeutet nicht, daß sie uns haben können.«
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»Scheiße.« Er wußte nicht genau, worüber er sich eigentlich so ärgerte − über den Club, über Ice oder über sich selbst. »Also was tust du hier wirklich?« »Ich wollte dich eben dasselbe fragen. Wo ist Sumi?« Er berührte ihre Schulter und lächelte zum erstenmal. »Es geht ihr gut«, log er. »Ich habe sie bein Conover gelassen. Ich soll hier Easy Money treffen.« »Por que?« »Ein Deal zwischen Conover und mir. Ich muß eine Ware für ihn zu rückholen.« Ice sah ihn an und ihr Lächeln begann zu wackeln. »Bist du okay?« »Klar.« »Etwas stimmt aber nicht. Liegt es an Sumi?« »Es geht ihr gut.« Er brach den Satz abrupt genug ab, daß ihm klar war, daß Ice wußte, daß er log. »Du solltest nicht hier sein.« Sie zuckte die Achseln. »Ich arbeite undercover. Es sind auch noch andere Croaker und Naginatas da. Wir überwachen diesen Ort hier seit Monaten. Zamora kommt manchmal her.« »Zamora?« »Ja. Hier haben wir zum erstenmal von den Razzien gehört. Ich schätze, wenn er das nächstemal hereinkommt« − sie drückte ihm zwei Finger in die Rippen − »Bumm! Buenos noches, Colonel.« Sie zog ein Bündel Geldscheine aus ihrer Tasche. »Übrigens gibt es gute Trink gelder.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ich bin froh, daß ich dich ge troffen habe.« »Ditto, Baby.« »Ich weiß, daß das krankhaft ist, aber du machst mich unglaublich geil.« »Das liegt am Club. Subliminale Botschaften in diesem Holo-Bild. Sie pumpen auch eine Art Sex-Pheromon-Analoga durch die Klima anlage.« Ihre Hände waren an seiner Sonnenbrille, bevor er sie zurück halten konnte. Später, wenn er wieder allein war, würde er sich das Bild ihres Gesichts noch einmal ansehen und die Emotionen studieren, die sie zeigte, als sie seine neuen Augen sah: Angst, Befremden, Sorge. »O Baby«, sagte sie. Jonny fühlte ihre Hand auf seiner Wange. Er drehte den Kopf und fing ein flüchtiges Spiegelbild seines Gesichts in den Linsen der Sonnenbrille ein. Gelbe Augen. Vertikale Pupillen, die gelbgrün glitzerten. Er hatte sie ganz vergessen und die Lichtempfind lichkeit der Exterozeptoren so eingestellt, daß die Spiegelgläser ausge glichen wurden. Er nahm ihr die Brille weg und wollte sie wieder auf
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setzen, aber sie hielt seine Hand fest. »O Baby«, wiederholte sie. Dann abrupt: »Was ist nicht in Ordnung mit Sumi?« Sie blickt einfach durch mich hindurch, dachte Jonny. Er holte Atem. Da er nicht lügen wollte, schwieg er. Sie würde seine Hände nicht loslassen. »Ich muß Easy Money treffen«, sagte er schließlich. »Sag mir, was mit Sumi los ist.« »Bitte«, erwiderte er. »Sie kommt schon wieder in Ordnung.« Jetzt veränderte sich Ice' Gesicht und wurde starr. Er wußte, daß sie begrif fen hatte. »Easy hat das Heilmittel.« »Es gibt ein Heilmittel?« »Das war es, was Easy mitgehen ließ, als er Raquin umbrachte. Co nover wußte nicht, worum es sich handelte. Er verschob es für eine dritte Partei.« Sie schüttelte den Kopf und ließ seine Hände los. »Manchmal fällt es schwer, sich zu konzentrieren«, sagte sie. »Man fragt sich, was man hier eigentlich tut.« Sein Auge blieb an einem Gesicht in der Menge hängen. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er. Sie nickte, mahlte schweigend mit dem Kiefer, versuchte Zorn und Frustration zurückzuhalten. Jonny hatte das oft genug getan, um es er kennen zu können. »Ja.« Dann: »Ich mochte deine Augen. Wirklich. Deine Augen und Sumis Hände. Sie hat Schwielen. Das gibt ihr Charakter. Ich mochte das.« »Ich auch«, sagte Jonny. Er blickte an ihr vorbei. Der Kopf bewegte sich. Der mit den Hörnern. »Er ist da drüben.« »Dann geh«, sagte sie und küßte ihn, lang, biß ihn in die Unterlippe, bevor sie sich lösten. »Das ist gegen die Clubregeln, weißt du, aber was soll's? − Das ist vielleicht meine letzte Nacht hier, nicht wahr?« Sie lä chelte ihn an. »Ich treffe dich, wenn ich zurückkomme.« »Gut so.« Er verließ sie, fühlte sich lausig dabei, sie mit diesen halbverdauten, halbverstandenen Informationen zurückzulassen, aber er mußte sich auf den Mann konzentrieren, der sich vor ihm durch die Leute bewegte. Easy sah merkwürdig aus in einem Anzug. Die Frackjacke paßte ihm seiner dürren Schultern wegen schlecht. Jonny holte ihn ein und tippte ihm auf die Schulter. »Wir haben ein Geschäft miteinander«, sagte er. Easy drehte sich beim Klang seiner Stimme um und kräuselte seine Lippen in einer entfernten Annäherung an ein Lächeln. »Toll, die neue Hardware, Jonny. Ich hätte nicht gedacht, daß du sowas trägst. Wir hätten vielleicht einen Job für dich da oben.«
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Jonny blickte an sich hinab und sah, daß er die Sonnenbrille immer noch in der Hand hielt. Er setzte sie auf und folgte Easy auf die Wendeltreppe. Oben waren Prostituierte. Der ›Wasserhandel‹, japanische Tradition seit Jahrhunderten, hatte für ihre Anwesenheit gesorgt. Sie waren ein Teil des Dekors, wie die Bonsai und Strohmatten; ein akzeptierter Lebensstil, Teil der fließenden Welt‹. So wie die Tanzmädchen ihre eigene Zeit in den vergangenen Jahrhunderten repräsentiert hatten, reflektierten die Prostituierten im Wald der Kunstlichtblüte das ihre. Sie saßen oder lagen auf Bänken, die mit dicken Brokaten bedeckt waren, auf denen Szenen aus dem alten Kaiserreich dargestellt waren oder Gärten, deren Blumen intrikate Muster aus doppelten und dreifa chen Wendeln formten. Sie warteten in Nischen oder am Geländer der vielen Treppen. Manche von ihnen trugen Kimonos, die meisten waren teilweise nackt und zeigten ihre Tätowierungen und Transplanta tionen. Ein paar trugen überhaupt nichts am Körper und das waren jene, die Jonny am meisten irritierten. »Versuch nicht, ihr Geschlecht zu erraten«, sagte Easy, »die Hälfte von denen kann sich selbst nicht er innern, als was sie einmal angefangen haben.« Zuerst begriff Jonny nicht, was er an diesen Prostituierten so merk würdig fand, aber dann kam ihm langsam zu Bewußtsein, daß er nicht darauf vorbereitet war, sie zu begreifen. Münder wie Vaginas, Vaginas und Anusse wie Münder. Hände, die in Silikon-Elastomer-Penisse statt in Finger ausliefen. Jede von den Prostituierten schien noch mindes tens einen Extrasatz Genitalien zu besitzen, die meisten hatten of fensichtlich ihre eigenen durch etwas anderes ersetzt oder sie zu mindest verlagert. Easy streichelte kichernd da eine Brust, dort einen Hodensack, während er Jonny voranging. Einmal sniffte er etwas aus einem Inhaliergerät. Jonny warf einen Blick auf das Etikett: es war ein billiger, massenproduzierter Interferon-Nasenspray, Oki Kenko − Gute Gesundheit −, ein verbreitetes Anti-Schnupfenmittel. Laut schniefend sagte Easy: »Nun, was war das für ein Deal, über den wir da gesprochen haben?« Sie waren im oberen Stock der Pagode angelangt. »Die zweite Ampulle, die du Raquin abgenommen hast. Conover hat mich beauftragt, dir dafür Bargeld zu geben.« »O ja. Das also.« Jonny fragte sich, ob Easy stoned war. Der Gehörn te machte eine vage Geste mit der Hand und lachte träg. Am anderen Ende des Gangs standen zwei Männer in fremdartig geschnittenen An zügen. »Verdammt komische Sache, Mann«, sagte Easy. »Erinnerst du dich daran, wie wir in dem Kühlhaus zum erstenmal darüber gespro chen haben? Nun, die Alte hatte den Platz verdrahtet. Ist das nicht
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eine Scheiße? Sie hörte jedes Wort von uns. Die Fotze ist schlauer, als ich dachte.« Jonny war stehengeblieben und Easy richtete eine Futukoro auf ihn. »Ich kann dich auseinandernehmen, Mann.« Easy griff an Jonnys Rücken und nahm seine Waffe, dann stieß er ihn den Gang entlang. »Nimble Virtue hat den Stoff jetzt. Ich mußte ihn ihr geben, klar? Muß te mit ihr marschieren. Ich kann nicht einfach wieder zurück zu Cono ver.« Die beiden Männer vorn waren in Wirklichkeit Jungen, sah Jonny jetzt. In anderen Kleidern hätten sie problemlos Komitee-Rekruten sein können − Jonny erkannte aber den Schnitt ihrer Anzüge. Wie der Pakistani-Ansager auf dem verbotenen Link-Kanal trugen sie fast knie lange Jacken und sackförmige, weit geschnittene Hosen. Neo-Zoot, ein gängiger arabischer Schnitt. »Wie auch immer, du mußt jetzt mit ihr verhandeln«, sagte Easy. Die Araber ließen ihre Augen nicht von Jonny. Der jüngere, ein hübscher Bursche, vielleicht fünfzehn Jahre alt, mit schwarzen Augen und schwarzem Haar, grinste ihn breit und wild an und öffnete die Tür vor ihm. »Muchas gracias, Jungs«, sagte Easy und stieß Jonny hinein. Nimble Virtue blickte auf, eine winzige glasierte Teetasse vor den Lippen. »Meine Güte«, sagte sie, während ihr Atemgerät die Worte zu rückzusaugen schien, »wir haben einen Besucher.« Sie saß hinter einem übergroßen Schreibtisch, einer Konstruktion aus opakem schwarzen Glas in Fassungen aus goldenen Zylindern. Ihr gegenüber saß ein äl terer Mann mit Salz-und-Pfeffer-Haar, trank ebenfalls Tee und be trachtete Jonny skeptisch, als überlege er den Preis eines Gebraucht wagens. »Ist das der Mann?« fragte der Grauhaarige Nimble Virtue. Er sah ir gendwie ganz gut aus, mit harten, winkligen Gesichtszügen, langen, eleganten Fingern, und den angenehmen Manieren von jemandem, der gewohnt war, daß man ihm zuhörte. Sein Anzug war aus besserem Ma terial als die der Jungs auf dem Gang, aber er hatte dieselben ruhe losen dunklen Augen wie der mit dem wölfischen Grinsen. Sein ganzes Äußeres war eindeutig arabisch. »Ja«, sagte Nimble Virtue und goß sich mehr Tee ein, wobei ihr Exoskelett bei der Armbewegung unter ihrem Kimono leise purrte. Easy legte Jonnys Pistole auf das dunkle Glas vor sie und lehnte sich an das komplizierte Luftreinigungssystem: Ionisatoren, Holzkohlefilter, Luftbefeuchter. Es war sehr kalt im Zimmer. Jonny dachte an Nimble Virtue im Schlachthaus, im Sandakan in seiner Umlaufbahn, und daß sie unbewußt ihre Kindheit in ihrem Büro wiederholte, indem sie eine
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Annäherung in verkleinertem Maßstab an das kalte Vakuum des Raumes herstellte. »Und wessen Marionette bist du?« fragte Jonny den Araber. »Jonny!« zischte Nimble Virtue. Der Araber lächelte, wandte sich ihr zu und lachte. »Sie hatten recht. Sein Mund ist schneller als sein Verstand. Aber das ist kein Pro blem. Wir brauchen bloß seine Anwesenheit, nicht seinen Intellekt.« »Was du nicht sagst. Wer ist dieser Klugscheißer?« fragte Jonny Nimble Virtue. »Jonny, bitte!« sagte sie. »Scheich al-Qawi ist ein Gast meines Hauses. Mehr noch als das, er und ich haben gewisse Geschäftsbezie hungen begonnen, die die Neue Palästinensische Föderation betreffen, deren Gebietsvertreter er ist.« Die Worte kamen klar, aber in einer Art Singsang. Ein Schauspiel für das neue Geld, dachte sich Jonny: Kinder prostitution, hilfloses Geisha-Mädchen. »Als ich hereinkam, habe ich mir schon gedacht, daß es hier komisch riecht. Dieser typische politische Aas-Geruch.« Er sah Nimble Virtue an. »Du hast also jetzt deinen Platz gefunden. Du, Zamora und dieser Clown hier − ich hoffe, ihr werdet glücklich miteinander.« Nimble Virtue legte ihre Hand auf einen flachen lackierten Kasten, der offen an einer Ecke ihres Schreibtisches stand. »Das ist überhaupt nicht politisch. Ganz im Gegenteil.« Der Kasten enthielt zwei von dun kelrotem Samt umgebene Glasbehälter, in denen mumifizierte Objekte schwammen. Die Föten. »Scheich al-Qawi machte mir ein sehr gutes Angebot für die Beibringung von… ja, was? − sagen wir, einem Artefakt. Einer Kleinigkeit. Ich bin in dieser Sache hauptsächlich als seine Agentin tätig.« »Klar. Und sag mir jetzt noch, diese Jungs da im Gang seien keine Haschischins. Diese Leute würden noch das Scheißhaus als einen poli tischen Ort betrachten.« »Es ist komisch, daß gerade Sie die Frage politischer Philosophie aufs Tapet bringen«, sagte al-Qawi, »nachdem ihre eigene eher vage zu sein scheint.« »Das liegt daran, daß ich keine habe.« Jonny warf einen Blick auf sei ne Uhr. Das Verstreichen der Zeit begann auf ihm zu lasten. Sumi war in der Klinik. Er dachte an das zweite Virus in ihrem Blut, das wie eine Zeitbombe tickte. »Ihr wißt, wie ihr Typen mich ankotzt. Multis. Politi cos. Wenn ich dir eine Kugel in deine fette Fresse jagen würde, wärst du binnen zehn Minuten in einem Überlebenstank. Sie würden dich drin behalten, bis sie dich klonen oder einen neuen Körper für dich konstru
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ieren können. Das ist der Unterschied zwischen euch und uns. Wir kriegen keine zweite Chance. Wir sind bloß einfach tot.« Der Scheich lächelte strahlend. »Dann sind Sie doch politisch inter essiert! Das sind nicht die Gefühle eines amoralischen Menschen. Ihre Manieren und die Gesellschaft, die Sie sich gewählt haben, verraten eine starke Entschlußkraft, wenn Sie auch nicht sagen, worauf sie gerichtet ist.« »Schau, Sportsfreund, ich bin nur hier, um ein bißchen Dope zu ho len…« »Aber Sie müssen doch sicher zugeben, daß den imperialistischen Kräften, die in Tokio und Washington am Werk sind, gezeigt werden muß, daß ihre Verschwörung gegen die anderen souveränen Nationen nicht toleriert werden kann.« »Willst du jetzt den Deal machen oder nicht?« fragte Jonny Nimble Virtue. Sie verdrehte ihre Augen, immer noch die Kleine-MädchenNummer. »Nicht jetzt.« »Dann geh ich wieder.« Jonny setzte sich zur Tür in Bewegung. Easy hielt ihm die Waffe an den Hinterkopf, bevor er zwei Schritte gemacht hatte. »War ja nur ein Scherz. Natürlich bleibe ich.« Al-Qawi stand auf und schlug mit der Faust auf Nimble Virtues Schreibtisch. Ihre Hand griff reflexhaft nach dem Kasten mit ihren beiden Söhnen und hielt ihn fest. »Ich kann nicht glauben, daß sich je mand so aufführt«, schrie der Scheich. »Sie können nicht solche Witze machen angesichts der Verschwörung, in die Ihre Regierung verwickelt ist. Und von der Sie ein Teil sind.« »Jonny-san«, schnurrte Nimble Virtue, »der Scheich bezieht sich auf die diabolischen Pläne gewisser Kriegshetzer in Tokio und Washington, eine Attacke auf die Vereinten Arabischen Nationen durchzuführen und einen schrecklichen dritten Weltkrieg zu beginnen.« Jonny sah die beiden an. Er lächelte beinahe, weil er sicher war, daß er hinters Licht geführt werden sollte. Nimble Virtue würde sich nicht genieren, ein solches Spielchen zu spielen, um ihn zu verwirren und den Preis für Conovers Stoff in die Höhe zu treiben. Andererseits war etwas in al-Qawis Verhalten, ein Zorn um seine Augen, das entweder sehr gute Schauspielerei war oder wirkliche Wut. »Hast du überhaupt das Zeug?« fragte Jonny. »Ja, hier«, erwiderte Nimble Virtue und zeigte auf eine Stelle an der Wand, vor der ein Schirm mit eingelegten Perlmutterkranichen stand. »Laß mich sehen.« »Nein!« schrie al-Qawi. »Kein Drogengefasel mehr. Als ein Mann Gottes kann ich das nicht tolerieren.« Er fuchtelte mit seinen langen
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Händen in der Luft herum. »Dank der guten Arbeit von Madame Nim ble Virtue war meine Reise in diese krankmachende Stadt kurz und fruchtbar. Wie Sie wahrscheinlich begriffen haben, Sir, sind Sie das Artefakt, das zu finden ich hergekommen bin.« Er zeigte mit dem Finger auf Jonnys Gesicht. »Mister Qabbala, es ist meine Pflicht und mir auch eine Ehre, Sie im Namen der Neuen Palästinensischen Föde ration und aller unterdrückten Völker der Welt festzunehmen.« »Großartig. Toll.« Zu Nimble Virtue sagte Jonny: »Hast du diesem Kuttenfurzer mein Dope verkauft?« »Spielen Sie nicht den Narren vor mir!« schrie al-Qawi. »Sicher können nicht einmal Sie etwas gutheißen, das so verrückt ist wie die Allianz Ihrer Regierung mit den Außerirdischen!« Jonny betrachtete den Scheich, blinzelte und schaltete dabei unab sichtlich das Pixel-Display des Exterozeptors ein. Als das Gesicht des Scheichs nochmals kam, war es auf eine bewegliche Matrix von schwarzen und sandfarbenen Quadraten reduziert. Easy Money schnüffelte an seinem Interferon-Inhalationsgerät. »Ich sage dir genau dasselbe, was ich schon dem letzten Verrückten gesagt habe, der ver sucht hat, mich mit den Alpha-Ratten in Verbindung zu bringen: ich weiß überhaupt nicht, wovon du Armleuchter eigentlich quatschst!« »Das glaube ich Ihnen nicht. Ich habe schließlich Ihre Akten stu diert. Sie leben in der drogenerzeugten Ignoranz eines Mannes, der an einer schweren Bürde trägt«, erwiderte al-Qawi. »Es wird Sie vielleicht interessieren zu erfahren, daß die Neue Palästinensische Förderation eine Anzahl von Kommuniques zwischen Fernsehstationen in Südkali fornien und dem Mond aufgefangen hat. Wir wissen jetzt, daß Ihre östli chen Meister eine Verbindung mit den von Ihnen so genannten AlphaRatten planen, bei der Sie als Mittler dienen, und die arabischen Terri torien gleichzeitig von der Erde und vom Mond aus angreifen wollen.« »Horch, ich hab diesen Quatsch vom Mann im Mond schon früher gehört«, sagte Jonny widerwillig. »Letztes Mal war dabei von Dope die Rede. Jetzt geht es um Krieg. Warum einigt ihr Leute euch nicht auf eine Story?« Er schüttelte den Kopf und stellte das Pixel-Display wieder richtig ein. Easy Money stand hinter ihm, schnüffelte und lachte vor sich hin. Jonny sagte zu ihm: »Was meinst du? Entwickelst du auch plötzlich ein politisches Bewußtsein?« Easy zuckte die Achseln, die Hand immer auf seiner Waffe. »Frag mich nicht. Du bist derjenige, der mit Anarchisten herumhängt.« »Ich bin bevollmächtigt, Ihnen einen Deal vorzuschlagen, Mr. Qab bala«, sagte al-Qawi. »Einen Deal?«
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»Ja. Verhandeln Sie mit den Extraterrestrischen zugunsten der Neu en Palästinensischen Föderation. Überzeugen Sie sie, daß sie ihre Waffen gegen Ihre Drahtzieher im Osten richten sollen. Die Föderation garantiert Ihnen dafür volle Straffreiheit wegen Ihrer Verbrechen gegen das arabische Volk und…« − er lächelte Jonny an − »einen ordentlichen Lohn für Ihre Dienste.« »Du bist noch verrückter als Zamora«, sagte Jonny. »Er hat mich nur beschuldigt, Handlanger eines Schmugglerlords zu sein. Und du glaubst, ich hätte wirklich etwas mit den Alpha-Ratten selbst zu tun.« »Ist das nicht der Fall?« »Nein!« Der Scheich schüttelte den Kopf. »Diese Welt ist ein unfreundlicher Ort, Mister Qabbala. Ich versuche, Ihnen die Hand der Freundschaft entgegenzustrecken.« »Wozu? Damit ihr Leute diesen stumpfsinnigen Krieg beenden könnt? Versteh mich nicht falsch − ich glaube nicht, daß dieser Ort hier unter arabischer Herrschaft noch schlechter verwaltet sein könnte, als er ohnehin schon ist, aber bei allen kleinen dreckigen Kriegen, die ihr Burschen anzettelt, sind es immer die einfachen Leute auf den Stra ßen, die dabei eins draufkriegen.« Jonny zeigte aus dem Fenster. »Meine Leute, nicht deine, du Bastard.« Al-Qawi nickte gravitätisch, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »In diesem Falle, Mr. Qabbala, sind Sie mein Gefangener. Sie haben offensichtlich Ihrer Regierung den Rücken gekehrt, um für Terroristen und Anarchisten zu arbeiten. Wie auch immer, um Ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Neuen Palästinensischen Föderation werden Sie sich nicht drücken können.« Jonny, der wußte, daß Easy ihn beobachtete, trat mit dem Stiefel gegen Nimble Virtues Schreibtisch. Die Futukoro feuerte an eine Stelle, an der sich Jonny nicht mehr befand. Er rollte über die Schulter ab, weg von dem Schreibtisch, und erwischte seine herabgefallene Waffe. Er hielt sie niedrig und schickte eine Handvoll Kugeln zu Easy hinüber. Eine Flamme schoß bis zur Decke empor, als eine Kugel in der Sau erstoff überladenen Luft explodierte. Easy flog brennend quer durch den Raum in das Luftaufbereitungsgerät hinein. Jonny rannte zur Tür und zog an den Sicherheitsbolzen. Dann hielt er die Waffe auf Nimble Virtue gerichtet: »Gib mir das Dope, verdammt noch mal!« »Was hast du getan?« schrie sie. Zitternd stand Nimble Virtue auf und ging hinüber, wo al-Qawi lag, die Beine verdreht, das Genick in einem merkwürdigen Winkel. Ihr Atemgerät klickte heftig unter ihrem Kimono, Jonny konnte hören, wie die Luft schwer in ihre beschädigten
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Lungen gepreßt wurde. »Er wollte mich mitnehmen!« schrie sie. Dann sagte sie ruhiger: »Er hätte mich mitgenommen. Das war ein Teil des Deals.« Jonny ging zu dem Wandsafe hinüber. »Gib mir das Dope.« Jemand hämmerte frenetisch an die Bürotür. Nimble Virtue ignorierte ihn und berührte mit schnellen, vogel artigen Bewegungen den Körper des Scheichs. »Ich hätte weggehen können«, sagte sie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Diesmal war es keine Schauspielerei, das wußte Jonny. »Hör zu«, sagte er. »Eine Freundin von mir ist krank. Sie braucht dieses Zeug dringend.« Nimble Virtue wandte sich um und sah ihn an. »Gut!« sagte sie. »Ich hoffe, sie krepiert. Verrottet und verreckt wie ich − wenn ich hier bleiben muß, in dieser Stadt.« Sie stand auf und ging zur anderen Seite des Tisches, wobei sie ihre geröteten Augen rieb. »Zamora wird mich umbringen.« »Bitte, gib mir den Stoff.« »Nein.« Das Hämmern an der Tür wurde lauter. Jonny nahm einen der beiden Glasbehälter vom Tisch und hielt ihn über seinen Kopf. Der kleine Fötus trieb in seiner Flüssigkeit gegen die Glaswand. »Gib es mir!« »Geh zur Hölle!« Sein Arm schwang herum, und Nimble Virtue schrie. Aber es gab kein Splittergeräusch. Jonny hielt ihr seine Hand hin und zeigte ihr den unzerstörten Glasbehälter. »Also gut«, sagte sie und ging unsicher zu ihm hin, um vor ihm auf die Knie zu fallen. Das Exoskelett ächzte unter der ungewohnten Bewegung. Jonny hielt die Waffe auf sie gerichtet, während sie ein Segment des polierten Holzes in der Wand entfernte und einen Code auf einer Tasta tur eingab. Dann hörte man das sanfte Zischen pneumatischer Bolzen. Als Nimble Virtue in den Safe greifen wollte, stoppte Jonny sie. Er griff über ihre Hand hinein und fand die alte Pistole, die oben im Safe lag. Ein mattierter Derringer mit zwei untereinander angeordneten Läufen und einem vergilbten Elfenbeingriff. Er war mit .38er Hohlspitzge schossen geladen. Er steckte die Waffe ein und griff nochmals in den Safe, worauf er diesmal einen Halliburton Reisekoffer aus gebürstetem Aluminium herauszog. In ihm befand sich eine kleine schwarze Vaku umflasche. Er nahm sie, trat vom Safe zurück und blieb gegen die Wand gelehnt stehen. Nimble Virtue stand wieder über al-Qawi und starrte auf den Scheich hinunter, die Augen flach und blank wie Video
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Monitoren ohne Programm. Easy stöhnte auf dem Luftreiniger. Die Flammen waren erloschen, seine Kleider halb verkohlt. Ein Schuß, dann noch zwei, aus dem Gang. Das Holz und Metall der Bürotür splitterten. Jonny stellte sich breitbeinig hin und feuerte zweimal. Was von der Tür noch übriggewesen war, explodierte und übersäte den Raum mit Splittern von brennendem Holz und Metall. Jonny hörte Nimble Virtue scharf Luft holen. Vor dem Safe lag der samtgefütterte Kasten auf dem Fußboden, die beiden kleinen Flaschen waren unter dem zusammengebrochenen Schreibtisch begraben, und der Geruch von altem Alkohol füllte den Raum. Nimble Virtues Mund stand offen, einen Moment später begann sie zu schreien − eine einzige Note, hoch und schrill. Als Jonny die Stufen hinunterrannte, konnte er sie immer noch hören. Gieß Benzin auf einen Ameisenhaufen und zünde es an. Sieh zu, wie die Insekten aus dem Hügel quellen und ganz verrückt durchein anderlaufen. So ging es zu im Hauptkorridor des Waldes der Kunst lichtblüte. Nach dem Geräusch des ersten Schusses hatten paranoide Gangsterreflexe zu funktionieren begonnen. Die Hälfte der Leute im Club stürzte zu den Türen in der Annahme, die Bullen oder das Komi tee − auf jeden Fall jemand in Uniform − mache eine Razzia. Erschreckte alte Männer warfen Geld und Drogen nach jedem, der ih nen zu nahe kam. Die andere Hälfte war stur sitzengeblieben, überzeugt, daß sie in eine Falle geraten war. Yakuzas und Panteras lagen blutend und sterbend zwischen Go-Brettern und Teekesseln, wo sie sich gegenseitig in sinnloser Wut niedergeschossen hatten. Prostituierte irrten auf den Treppen umher, ihre Körperöffnungen zuckten in stillen, konvulsiven Krämpfen. Jonny benützte sie als De ckung und kam hinter einem Vorhang aus manipuliertem Fleisch in den Hauptkorridor. Ice war neben der Bar und signalisierte jemandem etwas in einer Kurzschrift-Variante von Amerslan, Finger auf Lippen, schnelle Bewe gungen des Handrückens. Sie sah ihn, als er winkte, und kam herüber gerannt. Sie kauerten sich unter der Wendeltreppe zusammen. »Hast du das Zeug?« Er hielt die Vakuumflasche hoch. »Hier.« »Großartig. Zamora hat sich nicht sehen lassen. Wir müssen uns mit den anderen treffen.« Sie blickte über seine Schulter, schrie »Nein!« und stieß ihn zu Boden, als eine Waffe losging. Ein rauchendes Loch mitten in Ice' Brust, aber kein Blut − die Futu koro-Kugel kauterisierte die Wunde ebenso schnell, wie sie sie schlug.
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»Gib mir das Dope, Jonny.« Er hätte schwören können, die Stimme sei nur in seinem Kopf erk lungen. Er sah Ice an, einen Moment lang völlig verrückt, und wußte, daß er sie getötet hatte. Ein schwarzer metallischer Wind fuhr ihm durch die Knochen und er hörte die Stimme wieder. »Gib's mir jetzt endlich her, Mann!« Diesmal kam sie von außerhalb. Easy Money. Er stand über ihm auf der Stiege, das eine Satyrhorn am Skalp abgebrochen, rußgeschwärzt, der linke Ellbogen steif, Blut am Arm, das Hemd halb weggebrannt. »Ich brauche den Stoff, Mann.« Er kam eine Stufe herunter. »Die Alte ist übergeschnappt. Ich brauche Conovers Saft, um meinen eigenen Arsch zu retten. Comprende?« Diesmal zielte Jonny nicht auf seine Füße, sondern auf Easys Kopf. Aber er verfehlte ihn. Die Explosi on zerstörte einen Teil der Wendeltreppe, und Easy rettete sich mit einem Sprung auf die andere Seite. Jonny trat gegen den Wirrwarr aus geschnitztem Holz, zersplitterten Drachen und verstärkenden Eisenstücken, die jetzt wie gebrochene Rippen vorstanden. Er kniete neben Ice, die auf das Loch in ihrer Brust hinabstarrte und die geschwärzte Haut um seinen Rand berührte. »Ich habe mich immer gefragt, wie es sein würde«, sagte sie mit einer Art betrunkener Verwunderung. Er nahm ihren Kopf in seinen Schoß. Die Gangster und anderen Besucher drängten sich immer noch vor den Türen und kämpften mit Zähnen und Klauen Mann gegen Mann. Ice sah Jonny an. Ein Schauder lief durch ihren Körper. »Du bist jetzt ein großer Junge, Jonny, ob du das willst oder nicht. Sumi kann dir nicht deinen Arsch retten, wie ich es konnte.« Blut begann aus ihrer Wunde zu quellen, aus kleinen Rissen, die aussahen wie winzige Lavaströme. »Wirst du uns helfen, Jonny? Du bist ein Croaker. Warst immer schon einer. Du läufst zwar weg, Jonny, aber du bist trotzdem einer. Und sie werden uns weiterhin so behandeln wie bisher.« Sie sah ihre Wunde an und hielt dann ihre blutige Hand gegen seine Wange. »Lieber Jonny. Du und Sumi… meine Ba-bies…« Er ließ ihren Kopf aus seinem Schoß gleiten und stand auf. Er zitterte und weinte. Seine neuen Augen gestatteten keine Tränen, son dern lieferten ihm gespeicherte Bilder der letzten Stunden. Die toten Föten. Massive, geängstigte Hunde, die einander zerfleischten. Die Uhrwerksbewegungen vielfarbiger Muskeln. Das wilde Grinsen der Ha schischins. Illusion, dachte er. Wahn. Maya. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Jonny, wie er so zitternd und greinend im Club dastand, ein klares Bild davon, wie die Alpha-Ratten
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wirklich aussahen. Sie sahen aus wie al-Qawi, wie Zamora und Nimble Virtue, die Zuhälter, die Politiker, die großen Macher. Die AlphaRatten? waren die perfekte Entschuldigung für alles. So war es schon seit tausend Jahren, soviel wußte Jonny über Geschichte. Die Mächtigen brauchten Feinde ebenso dringend wie Verbündete, und sie konnten nicht ohne Vogelscheuchen leben, die ihre Propagandama schine am Laufen hielten. In den vorigen Jahrhunderten waren es die Juden gewesen, die Schwarzen, die Schwulen. Aber das geschlossene ökonomische System der Welt hatte altmodische Bigotterie nicht mehr praktikabel erscheinen lassen. Technologie, Handel und Reisen: die große Lüge hatte sich ausgebreitet, um den Rest der Galaxis einzusa cken. Und warum auch nicht? fragte sich Jonny. Es liegt immer noch in unserem Blut. Er blickte auf seine Hand und sah zu seinem Schrecken, daß die Vakuumflasche nicht mehr da war. Irgendwann, nachdem Ice getroffen worden war, hatte er sie losgelassen. Er kroch verzweifelt auf allen vieren zwischen den rennenden Gangstern herum. Und sah sie dann drüben am Boden liegen − unter einem Link-Schirm, der Aoki Vega in einer Kabuki-Porno-Version von ›Casablanca‹ zeigte. Jonny stürzte sich auf die Flasche, tauchte hinein zwischen die Schatten und die vorübertrampelnden Beine, die kreischenden Stimmen und zerbrechendes Glas, und fühlte, wie sich seine Hand dar um schloß. Dann war alles vorbei. Die Flasche zersplitterte in seiner Hand und eine klare klebrige Flüssigkeit tropfte auf seinen Schoß. Graue Glassplitter lagen überall um ihn her verstreut. In den Hügeln ratterten die Maschinen. Sumi zuckte. Jonny blickte auf und sah Easy und dessen rauchende Waffe, während der Mann mit dem einen Horn sagte »Jetzt hat es keiner mehr« und durch die Tür hinausschlüpfte. Jonny folgte ihm, rempelte seinen Weg durch die dünner werdende Menschenmasse. Er hielt die deutsche Pistole im Anschlag. Easy verschwand gerade am entfernten Ende der Pagode um die Ecke. Die Sicherheitskräfte des Waldes waren unterwegs. Zwei Männer kamen durch die Menge auf Jonny zugerannt. Er wartete, bis sie nur noch einige Meter entfernt waren, und schoß sie kaltblütig in Stücke. Am Seeufer nahm er ein Hovercraft und fuhr zum Ufer hinüber, rannte dann, bis ihn die Seiten stachen, schmutzig und rotäugig, zur Disco La Poupée. In der Klimaanlage brach er zwischen zwei enormen Filterzy lindern zusammen und kotzte. Draußen fand er ein Motorrad auf dem Parkplatz für Angestellte der Disco, eine BMW, die mit Lithiumbatteri en fuhr. Der Besitzer hatte einen Kompressor an den Exhauster ange schlossen, das Motorrad dröhnte und stotterte wie ein altmodisches Motocross-Modell. Jonny startete und fuhr los.
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XII Tod und Offenbarung in einer dunklen Bar in einer üblen Nacht am Ende der Welt Sand wurde von der Wüste hereingeblasen, schmirgelte die Farbe von den geparkten Autos und füllte die Böden trockener Swimmingpools. Die Straßen gehörten dem Tod. Zwei Uhr früh, zweiter November, die ersten zwei Stunden des Tages des Todes waren vorüber. Dia de los Muertos. Prozessionen füllten die Hauptverkehrsadern von Hollywood wie ein Friedhofs-Mardi-Gras. Leporöse tanzten zusammen mit Papp mache-Totenschädeln hinter weißgekleideten Bischöfen, die enorme Metallkruzifixe trugen, auf denen die holographischen Korpusse ein paar Zentimeter über dem Kreuz schwebten und sich in Agonie für die Sünden aller wanden. Hinter den Hügeln brannte der Himmel orangefarben durch die Abfackelungen der deutschen Raffinerien im Norden. Jonny leckte sich den Sand von den Lippen. Er hatte noch nie so viele Leute auf einmal versammelt gesehen. Zombie-Analytiker zeig ten der Menge ihre Bilder toter Popstars, indem sie die berühmten Gesichter auf ihren eigenen Körpern erscheinen ließen. Sogar Piranhas waren da, bislang unberührt von der Seuche, jetzt aber von den Si cherheitskräften aus ihrem Exil in den Docks vertrieben und zu den einladenderen Lichtern der Boulevards geflüchtet. Als er den hinter der Parade herumlungernden Tod zum erstenmal sah, den Schädel aus al ten Zeitungen geformt und eine grobe Sichel aus geschmiedetem Stahl in der Hand, fuhr Jonny die BMW an den Straßenrand und lud durch. Aber es kam zu keiner Bewegung. Niemand tötete den Tod. Er wich immer aus und Jonny mußte das Motorrad in letzter Minute wenden, wenn er menschliche Stimmen aus dem Innern der Papierschädel schreien hörte. Und jedesmal, wenn er wieder ein Stück gefahren war, fühlte er sich verzweifelter und wütender, weil er wußte, daß der Tod ihn einmal mehr genarrt hatte. Irgendwie geriet er vor Carnaby's Pit. Die Parade bewegte sich schnell den Boulevard hinunter. Jonny stand allein vor dem mit Ketten versperrten Eingang und las eine Notiz in sechs Sprachen, die an dem rostigen, pockennarbig aussehenden Metall angebracht war:
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WARNUNG Versammlungen von drei oder mehr Personen sind in öffentlich zugänglichen Gebäuden, sofern diese nicht ausdrücklich zu religiösen Zwecken bestimmt sind, verboten. Dringender Erlaß # 9354 A. Das Komitee für Gesundheitswesen
Die Parade war nun schon einige Blocks entfernt und der Klang der Musik und der Stimmen wurde leiser. Alles starb. Jonny sah sich nach dem Mercado um. (Diese Leute würden eine Nacht wie diese nicht ver säumen.) Aber alles, was er finden konnte, waren Kratzer im Asphalt, wo die Grillbuden gestanden hatten, und ein noch älteres Kratzmuster, das zeigte, wo man früher Zeltpfähle angebracht hatte. Jonny zog die SIG Sauer aus seiner Jackentasche und schoß die Türen von Carnaby's Pit aus den Angeln. Der Pistolenverschluß blieb diesmal offen, was be deutete, daß inm die Munition ausgegangen war. Er warf die Waffe weg. Wolken von metallischgrünen Fliegen quollen laut summend durch die ruinierten Türen ins Freie. Der Raum mit den Spielautomaten war vollkommen still, all die verstaubten Apparate, dreckig und mit Fingerabdrücken übersät, wurden von der Straße her beleuchtet. Jonny hatte den Club noch nie in diesem Zustand gesehen. Im schwachen Quecksilberlicht und ohne die Geräusche und die Farben der Spiele zur Zerstreuung sah der Ort klein und irgendwie armselig aus. Ausgefranste Kupferdrähte zogen sich bündelweise über die Wände und endeten an der Decke in einem wasserfleckigen Gitter hinter dem toten Holo-Projektor. Im Hauptraum war ein Stapel von St. Peters Krupp-Verwandlungs inhalt-Verstärkern umgefallen. Für Jonnys Exterorezeptoren bildete das aus den Lautsprechern leckende Freon türkisfarbenes Lachen. Die Luft war feucht und abgestanden und umgab ihn drückend. Jonny schauderte, blickte zurück, von wo er gekommen war und sah, wie Sand zur offenen Tür hereinrieselte. Der Tod war mit ihm im Club. Jon ny fühlte seine Anwesenheit. Er zog Nimble Virtues Derringer aus der Tasche und ging in die Hocke. Er verfolgte den Tod durch den Dschungel von umgefallenen Stühlen und zerbrochenen Gläsern und entdeckte ihn schließlich hinter der Bar. Jonny erkannte den Tod aus seinen Träumen. Die Spiegelbrille verriet ihn. Als er den kleinen Derringer abfeuerte, brach ihm der Rückstoß beinahe das Handgelenk, aber der Tod war weg. Das Geräusch des durch das Hohlmantelgeschoß zertrümmerten Spiegels überraschte
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ihn in seinem gedankenlosen Zustand. Als er hinter die Bar kroch und begriff, was er getan hatte, schauderte er wieder, und ihm wurde klar, daß er das schon seit langer Zeit hatte tun wollen. Wenn der Tod eine Illusion war, wie die Roshis ihm gesagt hatten, dann mußte Jonny nur die Lüge seiner Existenz auf die Probe stellen. Er stieß mit der Stiefelspitze an die Spiegelscherben und dachte sich, er brauche einen Drink, um die Entdeckung seiner wahren Natur zu fei ern. Die Regale hinter ihm enthielten alle Arten von Alkohol: einheimischen, importierten und schwarzgebrannten. Jonny wählte eine verschlossene Flasche burmesischen Tequila und trank in tiefen Zügen. Gin wäre ihm im Moment besser bekommen, aber der Gesch mack war ihm jetzt zuwider. Er lachte über die Idee ›Geschmack‹. Was ist Geschmack, wenn man gar nicht existiert? »Sieh mal, da kommt dieser alte Mann zu einem buddhistischen Priester, verstehst du?« sagte Jonny zu dem leeren Raum. »Es stellt sich heraus, daß er der Geist eines anderen buddhistischen Priesters ist, der schon fünfhundertmal als Fuchs reinkarniert worden ist.« Er nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. »Sein Leben lang hatte er erklärt, daß die Kausalgesetze für die Erleuchteten nicht zutreffen. Da ist er nun, das arme Arschloch, fünfhundertmal als Fuchs − pißt in den Wald, friert im Winter und frißt rohes Eichhörnchen. Und der andere Priester sagt: ›Du Schmock, natürlich gelten die Kausalgesetze für Er leuchtete genauso!‹. Und der Geist verschwindet, plötzlich erleuchtet. Er braucht kein Fuchs mehr zu sein.« Jonny ging zur Vorderseite der Bar, setzte sich auf einen Hocker und nahm die Flasche zwischen die Knie. Der Tequila war zur Hälfte ausge trunken. »Ich habe jede erdenkliche Art von Scheiße geschluckt«, sagte Jon ny. Drüben, nahe dem umgestürzten Stapel Verstärker, bewegte sich ein Fliegenschwarm über dem Kadaver irgendeines toten Tieres. So in der dunklen Bar zusammengeballt, sah der Fliegenschwarm für Jonny aus wie die Wellen am Rande eines merkwürdigen watteartigen Ozeans. Er kicherte und stand auf, stolperte betrunken durch den Club, stieß an Stühle und Tische beim Gehen. Er kam zu dem Kadaver. Von der Bar aus hatte er für eine Ratte deutlich zu groß ausgesehen, aber daß es ein Mensch sein könnte, auf diese Idee war Jonny nicht gekommen, bis er davorstand. Nach den Fliegen schlagend, die sein Gesicht umsurrten, ging Jonny um die Lei che herum, betrachtete die verfärbten Tumore auf den Armen, das lö
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wenhaft aufgeschwollene Gesicht, all die offensichtlichen Symptome der falschen Lepra des Virus. Die Glieder der Leiche waren verdreht, so verzerrt, daß der Körper beinahe gänzlich zusammengekrümmt war, die Finger gespreizt, die Hände in den Gelenken im typischen Krampf der fortgeschrittenen Neurosyphilis zurückgebogen. Jonny zwang sich, näher hinzugehen und in den halb geöffneten Mund zu blicken. Als er sich wieder aufrichtete, berührte er für einen Moment den Rand der schmutzigen Schürze. Er dachte sich, der Körper sähe gar nicht mehr wie der Randoms aus. Jonny drehte sich nicht um, als er die Schritte hörte. Er erwartete, daß es sich um Zamora oder um einen der Komitee-Jungs handelte, die ihn mitnehmen würden. Als die Schritte in einigen Metern Entfernung verstummten, drehte er sich doch um und sah Groucho, der Sand von seiner englischen Schuljungenjacke bürstete. »Er ist an seiner Zunge erstickt«, sagte er zu dem Anarchisten. »Tut mir leid«, erwiderte Groucho. »Ich habe eine Menge von ihnen in diesen letzten paar Wochen gesehen. Es werden noch sehr viel mehr werden.« »Suchst du mich?« Groucho nickte. »Ja. Ich glaube, ich habe ein berechtigtes Interesse an dir.« Jonny nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Woher wußtest du, daß ich hier bin?« »Ist das nicht das Lokal, wo du zuletzt jedesmal hingehst?« »Ja, ich glaube auch.« Jonny zuckte die Achseln. »Ziemlich schäbiger Ort, um sich zu verstecken, nicht wahr?« Er nahm noch einen Drink und warf die leere Flasche gegen die Bar. Sie zerbrach. »Ice ist tot«, sagte Jonny schnell. »Ich hab's gehört. Tut mir leid«, sagte Groucho. »Und was wirst du jetzt tun?« »Ich weiß es nicht«, murmelte Jonny und hockte sich neben Randoms Leiche hin. »Es sind noch eine Menge Flaschen da, die ge trunken sein wollen«, sagte er mit einer Geste zur Bar. »Ja, immer der klare Denker. Ich wußte, daß wir auf dich zählen können.« »Spar dir diesen Scheiß für deine eigenen Leute, ja?« Groucho bückte sich und hob eine kleine silberne Glocke unter einem Tisch vom Fußboden auf. Er läutete sanft mit ihr, während er sprach. »Was hast du heute nacht im Wald der Kunstlichtblüte ge macht?«
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»Es gibt ein Mittel gegen das Virus. Ich hätte es holen sollen, aber Easy Money hat den Behälter zerschossen, in dem es war, und jetzt ist es dahin«, sagte Jonny. Er berührte einen von Randoms Armen und störte die Fliegen, die sich summend in die Luft erhoben. »Sumi ist infi ziert, weißt du. Sie wird sterben, genau wie Random. Ein ganz schön surrealer Abgang, ha?« Er drehte sich und schwang betrunken eine Faust gegen Groucho, aber der Anarchist wich mit einer tänzerischen Bewegung aus. »Was würdet ihr verfickten Surrealisten dazu sagen?« schrie Jonny. »Du läßt sie also einfach so sterben?« fragte Groucho. Er bückte sich wieder und hatte dann ein Spielzeugrasiermesser in der Größe seines Daumens in der Hand. »Wovon sprichst du eigentlich?« »Ich sagte, wenn du sie liebst, dann mußt du auch Verantwortung übernehmen.« Groucho öffnete und schloß mit seinen langen Fingern das Rasiermesser schnell hintereinander mehrmals. »Seit wir die Fischfarm verlassen haben, denke ich ständig nach, wie alle diese kleinen Details, wie der ganze Mist, der dich umgibt, möglicherweise zusammenhängen. Ich habe von einigen Leuten gehört, daß es Conover war, der dieses Schachtelvirus verschoben hat, das freigekommen ist. Dann quasselt Zamora, nachdem er dich geschnappt hat, von Raum wesen, und will, daß du Conover für ihn hereinlegst. Und die ganze Zeit plant er Razzien gegen die Lords und die Gangs gleichzeitig. All das ge schieht zur selben Zeit, da es in der Stadt wegen des Aussatzes rund geht.« »Du glaubst, Zamora habe all das geplant?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte der Anarchist. »Es klingt eigentlich nicht nach ihm, dazu ist es zu subtil.« Jonny stand auf und wischte ein paar Fliegen weg, die sich auf seine Brille gesetzt hatten. »Da war dieser Araber heute nacht im Kunstlichtwald, er quatschte über die Alpha-Ratten. Sagte etwas von einem Krieg.« »Nun, Mann, wir haben unseren eigenen Krieg, hier und jetzt«, sagte Groucho. Nun hielt er einen Schlüsselring mit einem Plastik-Ganesha in der Hand; rote Glasperlen glitzerten in den Augenhöhlen des Elefantengottes. Er steckte Schlüsselring und Rasiermesser in seine Jackentasche. »Ich wollte dir eines sagen − Zamora schlägt heute nacht gegen die Lords los. Ich denke, er glaubt, daß an einem solchen Wochenende die halbe Stadt weggetreten ist. Wir schlagen allerdings auch zu. Alle Gangs.« »Jesus«, sagte Jonny, »seid ihr denn bereit?« »Vyctor Vector wartet draußen mit Man Ray im Wagen, also haben wir die Naginata Sisters
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und die Funky Gurus, también. Wir sind stärker, als Zamora glaubt.« Groucho lächelte. »Nebenbei, der Amantadine-Nachschub tröpfelt nur noch. Wenn das Komitee einen nicht kriegt, dann eben das Virus. Nie mand hat hier mehr viel zu verlieren.« »Wie steht es mit den Lords, bieten sie keine Hilfe?« »Die Lords? Bist du wirklich so naiv? Die Lords schützen sich selbst. Punkt. Sie sind um keinen Deut besser als Zamora.« »Wovon sprichst du? Nicht alle Lords sind Halsabschneider wie Nimble Virtue.« »Aber natürlich sind sie das. Das ist big business, du Simpel. The big fix. Die Algebra der Sucht.« Der Anarchist gestikulierte mit beiden Händen, während er sprach. »Ich meine, wenn du in der Wüste lebst, verkaufst du den Eingeborenen Eiswasser, stimmt's?« »Nimble Virtue, Conover und der Rest haben hier einen Sklaven markt, und das gefällt ihnen sehr gut. Dieser Untergrundmarkt treibt die Preise ihrer Waren durch das Dach hinaus. Die Lords sind keine Dealer, sie sind Vampire. Sie leben vom Schmerz. Und du willst tat sächlich zu ihnen gehören.« Jonny zog die Brauen zusammen. »Ich habe Medizin verkauft. Die Leute brauchten mich.« »Du willst der Sache bloß nicht ins Auge sehen«, erwiderte Groucho. »Wenn du Conovers Scheiß verkaufst, bist du nur ein weiterer Teil des Rauschgifthandels. Die Leute brauchen dich nicht. Was sie brauchen, ist die Freiheit, die Freiheit von diesem lächerlichen Zirkel aus Drogen und Schmerz. Freiheit vom Komitee und von den Lords, weil sie die beiden Seiten derselben Münze sind. Die einen können ohne die anderen nicht existieren. Diese ganze Stadt ist auf Knochen gebaut. Und du hast dabei mitgeholfen, Jonny. Das ist es, was ich meinte, als ich von Verantwortung sprach.« Jonny ging zurück zur Bar und sah die Flaschen durch. Hinten im untersten Regal fand er eine halbleere Flasche Mescal und stellte sie auf die Bar. Der kleine halluzinogene Wurm in der Flüssigkeit erschien einen Moment an der Oberfläche. Tote Föten. Er sah Nimble Virtues Kinder im Alkohol treiben. Jonny stieß die Flasche beiseite und fragte Groucho: »Wenn ich so ein Kotzbrocken bin, wozu, zum Teufel, bist du dann hier?« »Im Grunde deshalb, weil ich nicht glaube, daß du zu denen gehörst«, sagte Groucho. Er kam zur Bar, immer noch das Glöckchen in der linken Hand. »Du bist das, was diese alten Krieger einen Dra chenkopf-Schlangen-Jungen nannten. Du bist intelligent, du hast Courage und Integrität, aber du sabotierst dich selbst durch Angst und
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Stupidität.« Der Anarchist nahm ein Objekt in der Größe einer Spiel karte von der Bar. Als er es berührte, zeigte die Karte eine Serie von beweglichen Bildern von japanischen Casinos und Ferienorten und gab dazu mit einer winzigen weiblichen Stimme einen akustischen Kom mentar, der ein Verkaufsgespräch war. »Also ich glaubte, du könntest unserer Revolution helfen. Ice mochte dich, und ich wollte, daß sie glücklich war. Zamora war ebenso wie Conover an dir interessiert. Ich dachte, irgendwann könnten wir irgend etwas davon gebrauchen.« Er sah Jonny an. »Die Revolution ist eine harte Nuß. Siehst du, was mit uns passiert? Ich glaube, ich habe auch versucht, dich zu benützen.« »Wenn ich zu Conover zurückgehe, kommst du dann mit mir?« Groucho schüttelte den Kopf. »Die Zeit reicht nicht. Wir haben eine Menge vorzubereiten, wenn wir es heute nacht mit dem Komitee auf nehmen wollen.« »Tut mir leid. War eine blöde Frage.« »Ich weiß, wo Conover wohnt. Ich treffe dich später dort, wenn ich kann.« Jonny nickte. Er nahm die Mescalflasche und stellte sie an ihren Platz in dem Regal zurück. Er nahm seine Spiegelbrille ab und wandte sich Groucho zu, wobei er dafür sorgte, daß der einen guten Blick auf seine neuen Augen werfen konnte. Der Anarchist hob die Augenbrauen um den Bruchteil eines Zentimeters, aber das war auch schon alles. »Diese Exterozeptoren sind komisch«, sagte Jonny, »es ist, als sähe man sich einen Film an oder so. Eine Art abgehobenes Gefühl. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Groucho gab ihm die kleine Silberglocke. »Hier, als Glücksbringer. Und denk daran: der Gedanke ist eine Illusion.« Er griff sich an die Brust. »Das ist eine Illusion. Angst, Verzweiflung, Furcht – die schlimmsten Bestandteile deines Lebens können ebenso zur Erleuch tung führen wie die besten. Wenn es Zeit wird zu handeln, wirst du das Richtige tun.« Die Silhouette einer großgewachsenen Frau erschien im Türrahmen. Sie trug enge Lederjeans und Stiefel und ein Oberteil aus gekreuzten Lederstreifen; in der Hand hielt sie einen Stock, der beinahe ebenso groß war wie sie. Ihre Haut leuchtete im Straßenlicht silbern, da ein schweres auf Metallbasis beruhendes Make-up ihre freiliegende Haut bedeckte, von einem Streifen über ihren Augen abgesehen. NaginataKriegsbemalung. »Groucho, wir müssen weg«, sagte die Frau. »Hey, Jonny.« »Wie geht's, Vyctor?«
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Die Frau zuckte die Achseln. »Bin bereit zu sterben. Habe von Ice gehört. Beileid, Mann. Ich kann dir sagen, ich war ganz schön eifer süchtig, als sie zu dir und Sumi zog. Ich stand wirklich auf sie.« »Du hast einen guten Geschmack, Vyctor.« »Du weißt es. Groucho, ich seh dich draußen.« Sie ging hinaus über die kleinen Sandhaufen, die sich um die zerbrochenen Türen gebildet hatten. Jonny ließ die Spiegelbrille auf der Bar liegen und folgte Groucho aus dem Club. Im Spieleraum sagte er zu dem Anarchisten: »Und was ist jetzt mit dir? Bist du wirklich ein Anarchist oder bloß ein loco mit einem Bodhisattva-Komplex?« Sie traten unter der Markise heraus durch den fallenden Sand zu dem Wagen, der auf der anderen Straßenseite parkte. Schließlich grins te Groucho. »Um dir die Wahrheit zu sagen, ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, andere zu bemuttern.« Man Ray nickte, als Jonny herüberkam. Der neue Wagen des Funky Gurus war so groß wie der alte und ebenso häßlich-schön. Etwas wie eine mechanische Klaue kam aus der einen Seite heraus, mit hydrau lischen Vorrichtungen dicht an der Karosserie. Groucho zeigte auf Jon nys Motorrad. »Hast du Treibstoff?« Jonny nickte, ging zu dem Motor rad hinüber und stieg auf. »Paß auf dich auf, Jonny«, rief Vyctor. Jonny winkte und startete. Dann fuhren er und das Auto in verschiedene Richtungen davon. Der Wind blies immer stärker aus der Wüste; der mitgetragene Sand biß Jonny in die Handrücken und knirschte zwischen seinen Zähnen. Die Hitze der Nacht und der Tequila machten ihm allmählich schwer zu schaffen. Jonny kam sich vor, als bewege er sich durch eine Traum zeit, er mißtraute allem, was er sah, und glaubte an nichts mehr. Als er Hollywood in Richtung Norden verließ, sah er Junkie-Banden herum streifen, die Massen von Zuckertotenköpfen aßen, die sie den Händlern geklaut hatten. Mönche, die ihre Tumore hinter fechtmaskenähnlichen Dingern verbargen, nahmen Leprakranken in Griffith Park die Beichte ab, während ganz in der Nähe immer wieder gräßliche Schreie gellten, wenn Neo-Mayas gefangenen Komitee-Jungs das Herz bei lebendigem Leib herausschnitten und es Göttern offerierten, deren Namen sie vergessen hatten, die sie aber um Vergebung und um ein Ende der Pest anflehten. Die Sprüher waren auch wieder fleißig gewesen mit ihren Kanistern voll komprimierter Säure, die Wände außerhalb des Parks glichen jedenfalls ziemlich deutlich den Schädelmauern von Chichen Itza. Die Botschaften lauteten:
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BOMBARDIERT TOKIO! BOMBARDIERT L.A.! BOMBARDIERT ALLES!
Jonny wich einem Tier auf der Straße aus und wäre beinahe gestürzt, bevor ihm klar wurde, daß da in Wirklichkeit gar nichts gewesen war. Immer noch blitzten Aufnahmen von Ice' Gesicht in seinem Sehappa rat auf: der Augenblick, in dem sie seine Katzenaugen sah, als sie ihn im Wald küßte, wie sie starb. Er hatte noch nicht akzeptiert, daß sie wirklich tot war, und er wußte, daß das gut war. So wie er jetzt funktionierte, wußte er selbst, daß sich ein primitiver tierischer Über lebensinstinkt in den letzten paar Stunden in seinem Gehirn einge schaltet hatte und ihn vollpumpte mit besonderen Nervenhemmern, die verhinderten, daß ihm die wahre Natur seines Verlustes jetzt völlig klar wurde. Er wußte, daß es ihn gab. Diesen Verlust. Er stellte sich vor, er könne ihn fühlen, daß er wie ein Sack voll Gift irgendwo hinten in sei nem Schädel lag und explodieren würde, wenn alles andere vorüber war. Er bremste das Motorrad ab und schlitterte über ein Stück Asphalt, das sich winklig von der ebenen Fahrbahn abhob. Die Kompressoren des Motors übertönten jedes andere Geräusch, aber das thermo graphische Display in Jonnys Exterozeptoren zerlegte den Park in eine Anzahl Landschaftsbilder, die aussahen wie Landschaften von Dali. Als er die Hügelkuppe erreichte, begann Jonny sich allmählich mit dem Gedanken an Rache zu beschäftigen. Ihm schien, wenn er eine Verantwortung übernehmen sollte, vor der er sich bislang die ganze Zeit gedrückt hatte, dann mußten das auch andere tun. Jemanden traf alle Schuld. Aber wen? Ice war tot, und Skid und Raquin waren vor ihr gestorben. Bald würde auch Sumi tot sein. Weil er versäumt hatte, ihr das Heilmittel zu beschaffen? Weil Easy Money Conovers Virus gestoh len hatte? Oder weil er Sumi so lange allein gelassen hatte, während er vor Zamora davongelaufen war? Ja, das waren viele Fragen. Aber war das überhaupt genug? Jonny fühlte, daß alles tiefer ging als nur bis zu dieser Oberfläche, aber wenn er versuchte, die Kette von Verantwortlichkeit und Schuld bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, schien sie endlos und sich weit über alle ihre Lebensspannen hinaus zu erstrecken. Wie viele werden heute nacht sterben? fragte er sich. Wie viele sind bereits gestorben?
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Jonny versuchte, die Leichen zu zählen, die Freunde und Bekann ten, die die ganzen Jahre hindurch gestorben oder verschwunden waren. Er konnte sich nicht alle in Erinnerung rufen. Wieder eine Kette − ein Gesicht führte zu einem anderen. Bei einigen konnte er sich nicht an die Namen erinnern, nur an eine Handbewegung, ein Neigen des Kopfes oder eine Schulter mit einem auftätowierten Panther. Jonny dachte an Ice, in mancher Hinsicht auch nur eine Verliererin wie er selbst, die dasselbe närrische Leben führte wie sie alle und dann denselben sinnlosen Tod starb. Dabei war sie sich nie dessen bewußt gewesen, daß ihr alles vorbestimmt war. Wie ein Schiffskurs errechnet und dann ausgeführt wird, hatte sie in demselben merkwürdigen Pro zeß gelebt, der sie alle am Ende getötet hatte, Random, Skid und den Rest. Sie waren Tote, die auf den Straßen des Dia de los Muertes wanderten. Wurden ihr Leben lang durch die Stadt getrieben und leb ten nach Regeln, die sie nicht wirklich verstanden. Die Cops waren auch ein Teil davon. Das Komitee. Und natürlich, dachte sich Jonny, auch die Dealer. Er war ebenso ein Teil davon gewesen wie jeder ande re, lieferte Medizin und Dope, die die Leute gefügig machten. Grouchos Stadt aus Menschenknochen wurde jedesmal realer und begreiflicher, wenn er darüber nachdachte. Lichter auf dem Hügel irritierten ihn. Jonny lenkte die BMW auf die Zufahrt, die zu Conovers Landhaus führte und fragte sich, warum das Hologramm zusammengebrochen war. Sand flüsterte in den Bäumen. Er ließ das Motorrad in der Auffahrt stehen und ging zu Fuß durch den Bambushain zum Haus, wobei er hoffte, daß der Sandsturm dicht genug war, um die Überwachungsvorrichtungen des Schmugglers zu täuschen. Das Tor zum japanischen Flügel war offen. Auf dem Weg lag mit ausgestreckten Gliedern, mit dem Gesicht nach unten, einer der Medi zintechniker des Schmugglerlords. In seinem Rücken hatte er ein Loch, das nach der Wirkung eines Futukoro-Geschosses aussah. Im Haus waren noch mehr Leichen, Techniker und Sicherheitsleute, manche in Gruppen, manche einige Meter entfernt, wo sie offensichtlich im Da vonlaufen niedergeschossen worden waren. In dem mit Kunstwerken überladenen Speiseraum des viktorianischen Flügels kam leise elisabe thanische Musik aus den verborgenen Lautsprechern; der Platten spieler zeigte an: ›William Williams: Sonata in Imitation of Birds‹. John ny fand das afrikanische Personal als Leichen in Küche und Gang verstreut. Als er durch das Haus zurückging, sah Jonny den Lift, mit dem er an dem Tag, als sie ihm die neuen Augen gegeben hatten, gefahren war.
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Ohne genau zu wissen, wohin er wollte, gab er den Code für die un terste Ebene ein. Er zog den Derringer aus seiner Tasche, wog ihn nachdenklich in der Hand und steckte ihn dann wieder ein. Gegen eine Futukoro würde er nicht viel nützen. Im Klinikbereich lagen noch mehr tote Techniker umher. Der Gang war übersät mit zerrissenen Drogenkartons, Pyrex-Kulturschalen und leckenden Drogenbehältern. Jonny sah Yukikos Leiche und erkannte zwei Russen, die bei seiner Augenoperation assistiert hatten. Ein Si cherheitsmann lag tot auf dem Rücken, der größte Teil einer Schulter und sein Unterkiefer waren weggerissen. Er hielt eine kleine Kartei in den Händen. Um seinen Kopf lagen wie ein Heiligenschein aus Plastik Dutzende Interferon-Inhalatoren wie jener, den Easy benützt hatte. Jonny kniete neben der Leiche nieder und nahm ihr die Futukoro weg. Der Mann hatte nicht einmal Zeit gehabt, sie aus dem Holster zu zie hen. Jonny brauchte nicht lange, um Sumis Zimmer zu finden. An der Kurve des mit Müll angefüllten Korridors war eine Tür, auf der diamantenförmige Warnzeichen angebracht waren: orange für Bio risiken und andersfarbige für leicht entzündliche Flüssigkeiten und Kälteschutz. Die Tür war verschlossen, und als es ihm nicht gelang, sie zu öffnen, schoß Jonny das Schloß heraus. Drinnen mußte er durch eine kurze Luftschleuse. Er ignorierte die sauberen Stapel steriler Papierkittel und -kappen und drang in den staub- und erregerfreien Raum dahinter ein. In dieser Kammer hallten die Geräusche nicht mehr funktionierender Intensivpflegeeinheiten und das Gurgeln von Protein tanks. Neben diesen Tanks lagen vier nackte männliche Körper auf Dingern, die aussahen wie Autopsietische aus rostfreiem Stahl. Aus dem Geruch des Ganzen schloß Jonny, daß die lebenserhaltenden Sys teme mindestens seit vierundzwanzig Stunden außer Betrieb waren. Als er in die Proteintanks sah, erblickte Jonny etwas, das er zu nächst für einige tote Aale hielt, die in der Flüssigkeit träge dahin trieben wie Seetangstreifen. Die Tiere waren genau der Länge nach auseinandergeschnitten worden und zeigten die ganze Länge ihrer Wir belsäule. Als er die feinen Toshiba-Mikromanipulatoren über jedem dieser offengelegten Rücken sah, begriff Jonny, daß es sich bei den Tieren um Neunaugen handelte. Er erinnerte sich daran, wie Conover ihm gesagt hatte, daß das Nervengewebe, das die Techniker in Jonnys lädierte Schulter eingesetzt hatten, aus einer speziell gezüchteten Art dieser Tiere stammte. Wenn er sie jetzt so sah, war Jonny froh, daß die armen Viecher tot waren. Er berührte einen der Manipulatoren und ließ
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seine Finger über die Reihe von mikroskopischen Lasern laufen, die das intakte Gewebe aus den Rücken der Neunaugen herausschnitten. Ein Bündel haarfeiner Drähte lief aus der Basis jeden Manipulators und war an Knotenpunkten entlang der freigelegten Wirbelsäulen befestigt. Er berührte eines dieser Bündel. Ein Schwanz zuckte. Ein kieferloser Mund öffnete sich. »Scheiße«, sagte Jonny und ließ den Manipulator los, weil er begriff (was ihm den Magen beinahe umdrehte), daß diese Tiere immer noch lebten und auf ihre geistesabwesende Art gegen den Proteinstrom schwammen, während in ihrem Rückenmark fremde Ge webe wuchsen. In diesem Moment fand er Conover, die Brust sauber mit dem Laser geöffnet, auf einem der Autopsietische liegend. Jonny hatte sich voll Ekel von dem Neunaugentank abgewandt und erstarrte in der Bewe gung. Er starrte auf die Leiche des Schmugglerlords hinunter, die mit zehn Zentimetern klarer Flüssigkeit bedeckt war. Aber es war nicht der Conover, den Jonny kannte. Es war der Conover, den er auf den Fotos in jenem Lagerraum damals gesehen hatte. Der Conover aus Zentral amerika in den neunziger Jahren: gesund, bevor die Greenies-Sucht eingesetzt hatte. Jonny überprüfte die anderen Tische und fand Cono vers auf jedem von ihnen, in derselben Flüssigkeit, die Torsi vom Un terleib bis zum Kinn aufgeschlitzt. Alle Körper waren mit einem kom plexen System von die Lebensfunktionen erhaltenden Geräten ver drahtet. Allen fehlten bestimmte Organe − Lebern, Mägen, Herzen und Bauchspeicheldrüsen. Jonny wußte, daß das, was er da betrachtete, im Grunde eine Art Farm war. Conover war zum Parasiten geworden, ernährte sich von sich selbst. Irgendwo in seinem von Drogen ruinierten Körper mußten seine Techniker Zellen gefunden haben, die die Greenies noch nicht besetzt hatten. Sie hatte sie benützt, um aus ihnen Klons des Schmugglerlords für Flickarbeiten herzustellen. Die Flüssigkeit, in der sie lagen, mußte eine Art Perfluorkohlenstoff sein, schätzte Jonny, um die Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Er konnte nur hinstarren. Es war verrückt: Selbstmord und Mord, alles zusammen in einem Paket. In seiner Kehle spürte er einen starken Geschmack nach Tequila und Galle. Jonny floh durch eine Tür jenseits der Tische, weg von den ausgeweideten jungen Männern. Der Raum, in den er da kam, war still und kalt. Die thermo graphischen Anzeigen in seinen Augen zeigten ihm eine nahezu völlig blaue Fläche, die nur hier und da von einem neonroten Flecken wärme ren elektronischen Equipments unterbrochen wurde. Dampf leckte aus der Röhren der kryogenen Apparatur und trieb in weißen Schwaden
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über den Fußboden. Ein Dutzend grauer Tanks mit Kühlrippen − Jon ny dachte an Särge oder an versiegelte Musterkoffer − stand an den Wänden. Jonny sah Sumi in dem einzigen gefüllten Tank auf der anderen Seite des Raums. Als er versuchte, mit der Hand eine Frost schicht von der Lexan-Gesichtsplatte zu wischen, froren seine Finger augenblicklich fest. Er riß die Hand zurück und schrie auf, als er einen Teil seiner Haut zurückließ. Indem er seinen Jackenärmel benützte, rieb er an dem Glas, bis er Sumis Gesicht klar sehen konnte. Sie schien in dem Kältetank zu schlafen. Ein VDT-Anzeiger in Brusthöhe in dem grauen Tankmetall zeigte ihre Lebensäußerungen als eine Serie von langsamen horizontalen Linien mit Hügeln und Tä lern an; das waren ihre autonomen Körperfunktionen. Oben auf dem Schirm sah man ein 3-D-Bild eines wachsenden Kristalls. Aus irgend einem Grund erinnerte dieses Bild Jonny an einen Kokon; er erwartete, irgendeine neue Form pflanzlichen oder tierischen Lebens plötzlich aus dieser dünnen Eierschale brechen zu sehen, die der Kristall in seinem Innern zu bilden schien. Jemand hatte »L VIRUS« auf ein Stück chirur gisches Band geschrieben und es unter den VDT-Anzeiger gesteckt. Jonny nickte, als er begriff, daß die Darstellung des Kristalls eine Wachstumsfunktion anzeigte. Er hatte eine ganz klare Vorstellung da von, was die Programmierer modelliert hatten, als sie dieses Bild schufen. Die Läsionen um Sumis Mund bestätigten das. Jonny trat von dem Zylinder zurück, drehte sich um und trat wild gegen die Tür. Sein Gesicht war heiß und rot vor Zorn. Alle diese halb bewußten Illusionen über eine mögliche Rettung, die er noch gehabt hatte, als er sich dem Hügel näherte, starben jetzt in Sekunden schnelle. Er ging in dem Raum umher, fluchte, nahm einen Sony-Moni tor und schmetterte ihn gegen die Wand, daß der Schirm implodierte. Eine Minute später stand er vor dem Tank, in dem Sumi schlief. »Sie haben uns nie gesagt, wie alles läuft, kein Wunder, daß alles in den Arsch gegangen ist.« Auch eine tolle Entschuldigung. Die Salve aus der Futukoro zertrümmerte die Lexan-Platte über Sumis Gesicht. Dampf von der supergekühlten Flüssigkeit im Innern strömte durch das zerbrochene Plastik und kondensierte in der Luft als kleiner Wir belsturm aus Eisnadeln. Jonny hielt weiter drauf, pumpte eine Serie Schüsse nach der anderen in die Wände des Zylinders, bis der Raum voll von gefrierendem weißen Dampf und die Lebensfunktionsanzeigen auf dem Tank nur noch eine Serie von geraden, unbewegten Linien waren. Als sich ein wenig von dem Dampf niedergeschlagen hatte und Jon ny wieder etwas erkennen konnte, blickte er durch das zerbrochene
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Lexan und sah, daß Sumis Gesicht unverändert geblieben war. Ohne daß sich der Gedanke sprachlos formte, wurde ihm klar, daß er von jetzt an völlig einsam sein würde. Aber er fand einen gewissen Trost in Sumis Gesicht, den Linien ihrer Wangenknochen, der Form ihrer Lippen. Es gab keinen Hinweis auf Schmerz oder Betrug in ihren glatten Zügen. Jonny trat zurück. Ruhig und dankbar nahm er den Lauf der Futukoro zwischen die Zähne und zielte auf seinen Hinter kopf. Er schloß die Augen, fühlte sich von einem merkwürdig eupho rischen Gefühl erfüllt und dachte sich: Von jetzt an machen wir unsere eigenen Regeln. Er zog ab. Die Waffe gab nur ein Klicken von sich. Jonny brüllte und warf das Ding quer durch den Raum. Hinter ihm öffnete sich die Tür und Conover kam herein. Keiner von den hübschen Jungs auf den Autopsietischen, sondern der rotäugige Totenkopf, den er kannte. Er war sicher, daß der Schmugglerlord ihm zugesehen hatte. »Hör mal, Sohn…«, begann Conover. »Sie Schwein!« schrie Jonny, »wie konnten Sie ihr das antun? Sie wie ein Stück Fleisch zu behandeln!« »Ich hatte nie die Absicht, dich das sehen zu lassen«, sagte Conover. Er öffnete seine Hände mit einer Geste der Sympathie. »Wirklich, wir hatten keine andere Wahl. Sie hätte hier jedermann infizieren können.« Jonny sah Sumi im Kältetank an. Der größte Teil der Flüssigkeit war verdunstet. Ein paar dünne Dampfströme quollen noch aus den Lö chern, wo die Futukoro-Kugeln die Tankwand durchschlagen hatten. »Haben Sie alle diese Leute da oben umgebracht?« fragte Jonny. »Ich fürchte, ja.« Conover setzte sich auf die Kante eines nicht einge steckten Hitachi CT-Scanners. Jonny bemerkte, daß der Schmugglerl ord eine Futukoro scheinbar absichtslos an seiner Seite hielt. »In einem gewissen Sinn waren sie ohnehin schon tot. Zwischen dem Virus einer seits und Zamora andererseits wären sie ohnehin bald hinüberge gangen, wenn sie nicht jetzt schon gestorben wären.« Er zuckte die Achseln. »Nebenbei, ich gehe weg. Das Leben hier ist zu Ende. L.A. ist kein Platz mehr für mich.« »Wovon sprechen Sie? Sie verlassen Last ASS?« Conover zündete sich eine seiner grellfarbigen Shermans an und nickte. »Ja, mein Fahrzeug sollte in ein paar Stunden hier sein. Bist du daran interessiert, mitzukommen?« »Wohin gehen Sie?« Conover lächelte. »New Hope.« »Was?«
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»Ich glaube, du solltest mitkommen. Tatsächlich bestehe ich sogar darauf.« Connover hatte die Futukoro jetzt so angehoben, daß sie über seinen Knien lag und scheinbar zufällig auf Jonnys Unterleib zeigte. Jonny fühlte sich, als gefriere ihm das Gehirn, als sei er in Schlaf verfallen und liege in einem Kasten neben dem von Sumi. »Mister Co nover, was geht hier eigentlich vor?« »Es ist das Ende der Welt, mein Sohn.« »Großartig. Glauben Sie, jemandem wird das auffallen?« Jonny warf einen Blick zu Sumi und schüttelte den Kopf, weil er sich dachte, daß er sie ein weiteres Mal verfehlt hatte. Conover stand auf, legte onkelhaft einen Arm um Jonnys Schultern und sagte: »Laß dir keine grauen Haare wachsen, Sohn. Wir haben große Pläne mit dir.« Er führte Jonny aus dem ehemals sterilen Raum hinaus, die Treppe hinauf und durch den viktorianischen Flügel zum Dach. »Es gibt so viel zu besprechen, bevor wir von hier wegkönnen, aber wenn wir uns beeilen, müßte die Zeit meines Erachtens noch rei chen, um dir die Fünfzig-Cent-Tour durchs Universum zu ermögli chen.«
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XIII sum
Die Fünfzig-Cent-Tour durchs Univer
»Ja, das Ende der Welt, Sohn, kannst du es nicht riechen? Kein besserer Moment, um am Leben zu sein.« Conover lachte glucksend, während er Jonny eine dunkle und enge Behelfstreppe hinaufdrängte und ihn überflüssigerweise mit dem Lauf der Futukoro in den Rücken stieß. »Es ist Krieg, nicht wahr?« fragte Jonny. »Die Tokio-Allianz gegen die Neuen Palästinenser. Sie werden nun wirklich losschlagen.« Conover nickte schläfrig. »Was sonst?« antwortete er, wobei ihn ein Schauer überlief. Er murmelte: »Brauche einen Schuß.« Dann, lauter: »Ja, Krieg. Schau nicht so überrascht, Sohn. Historisch gesehen ist er längst überfällig.« Jonny schüttelte den Kopf. »Jesus, dann hat der Araber also die Wahrheit gesagt.« »Was für ein Araber?« »Da war dieser Araber im Wald der Kunstlichtblüte. Er sagte, daß Tokio und Washington sich zu einem Überfall auf Neupalästina rüsten. Als er behauptete, die Alpha-Ratten seien involviert, dachte ich, er fa sele nur ebenso gern von diesem Raumquatsch wie Zamora.« Conover lachte darüber herzlich. »Oh, das ist köstlich; sie müssen eine der Transmissionen partiell decodiert haben. Die armen Arschlö cher haben keine Ahnung.« »Wovon?« »Daß wir die Alpha-Ratten sind«, sagte der Schmugglerlord. Jonny drehte sich zu Conover um, der seine Waffe auf Jonnys Kopf richtete. Jonny ignorierte das. »Ich wußte es«, sagte er zu dem Lord. »Es ist alles ein Bluff, nicht wahr? Es hat nie irgendwelche Außer irdischen gegeben. Es war die ganze Zeit die Regierung, die die AlphaRatten als Entschuldigung für die Rationierungsprogramme und die verdammten Kriegsvorbereitungen verwendet hat.« »Bravo!« schrie Conover und schlug mit der linken Hand gegen die andere, die die Futukoro hielt. »Sehr gut, Jonny. Was für bemerkens werte Deduktionsfähigkeiten.« Er lächelte entschuldigend. »Natürlich liegst du größtenteilsch falsch. Aber es war ein guter Versuch. Bleib in Bewegung, und ich helfe dir auf die Sprünge.« Bevor sie weiterredeten, zündete sich Conover eine weitere Sherman an, wobei die Flamme sei nes Feuerzeugs kurz sein zerstörtes Gesicht beleuchtete. In der kaput
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ten Haut unter dem einen Auge hatte sich ein leichter Tic entwickelt. Seine Lippen waren feucht und schlaff. Sie werden immer dünner, dachte Jonny, während der Schmuggler ihn wieder die Stufen hinauf stieß. »Natürlich gibt es die Alpha-Ratten. Glaubst du wirklich, die TokioAllianz hätte sich selbst absichtlich in eine so gefährliche ökonomische Position gebracht? Das Schiff der Extraterrestier prallte vor fünfzehn Jahren auf dem Mond auf. Ja, es prallte auf. Sie sind tot, verstehst du. All diese Alpha-Ratten an Bord. Es war ein Pestschiff, Sohn, vom Auto piloten gesteuert, voll toter Alpha-Ratten. Denk darüber nach, Jonny! Die Chancen schwanken. Die AlphaRatten trieben weißgottwielang durch den Raum, gerieten in die Mondgravitation und krachten auf die Oberfläche. Ich nehme an, daß es nicht allzu kompliziert gedacht ist, wenn man annimmt, daß sie aus gesandt wurden, damit wir sie finden sollten. Wir hatten das Glück, daß ein kanadisches Team sie zuerst entdeckte. Wenn die Araber das Rennen gemacht hätten, hätten sie entdeckt, was auf diese Art wir fanden. Unter Umständen hätten sie es analysiert und herausgefunden, wie es funktioniert.« »Das Schachtelvirus«, sagte Jonny. Er stolperte über ein loses Teppichstück und fühlte Conovers Futukorolauf im Rücken, bevor er noch sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Verstehst du? Deine Geschichte ist nicht so schlecht«, fuhr Cono ver fort. »Natürlich, was die Alpha-Ratten umgebracht hatte, wies nur wenig Ähnlichkeit mit dem Schachtelvirus der NATO auf, aber wäh rend der frühen Forschungen an den Kadavern der Alpha-Ratten fanden wir bei der Untersuchung der genetischen Strukturen ihrer Pest heraus, wie wir schließlich unser Ding zum Funktionieren bringen konnten.« »Komisch«, sagte Jonny. »Eine Zeitlang dachte ich tatsächlich, daß Sie vielleicht irgendein besonderes Supervirus von jemand bekommen und in Los Angeles freigelassen hatten, um dann das Heilmittel über uns Dealer abzusetzen.« »Du denkst in zu kleinen Maßstäben, Jonny. Ich sage es dir noch mal: du bist im Geschäft, aber du bist kein Geschäftsmann. Das ist Re gierungsarbeit, mein Junge. Multinationale Dollars.« »Aber all die Rationierungen in diesen Jahren waren nur ein Trick, um das Pentagon fett und glücklich zu machen, oder?« »Ja und nein. Nachdem das Alpha-Schiff dermaßen geladen war, konnten wir nicht zulassen, daß Leute überall auf dem Mond herum trampelten. Die lokalen Militärbehörden nützten die Gelegenheit, um
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die arabischen Basen und Minen auszulöschen. Natürlich mußten wir auch ein paar von unseren eigenen erledigen, um es gut aussehen zu lassen, aber die Labors im Orbit funktionieren nach wie vor. Das hast du nicht gewußt, nicht wahr? Ja, dort wurde das Alpha-Virus synthe tisiert. Wir haben nur ein paar überflüssige Raumstationen weggepus tet und die anderen ein bißchen mit Schrott getarnt.« »Also hat die Regierung ihr Virus und ihren Krieg bekommen. Und was haben Sie von alldem?« »Freiheit«, sagte Conover. »Und zwar davon.« Er tippte sich an die Brust. »Sie werden mir einen neuen Körper geben, Jonny. Mit dem Geld der Regierung kann ich hier weg und muß mir keine Sorgen mehr machen um Territorialstreitigkeiten und verwässerte Drogen oder die tollwütigen Hunde, die diese Stadt regieren und mir ihren stinkenden Atem ins Genick blasen.« »Sie müssen Ihnen ein ganz schönes Bündel dafür gegeben haben, daß Sie das Virus freisetzten.« »Überhaupt nicht. Wie der Colonel dir ohne Zweifel gesagt haben wird, hat Raquin für das Komitee gearbeitet. Er hat mir das Virus gestohlen, um es dem Colonel zu übergeben, aber bevor er eine Chance dazu hatte, stahl Easy es von Raquin. Nein, Sohn, ich fürchte, wofür Washington mich bezahlt, ist nicht die Freisetzung des Virus. Ich werde dafür bezahlt, dich abzuliefern.« Conover seufzte. »Ich hoffte, du würdest diesen Teil der Geschichte selbst herausfinden. Deshalb habe ich das kleine Spielchen mit dem ›Blauen Jungen‹ und den Schachteln voll Mad Love inszeniert. Ich dachte mir, wenn du weißt, wer ich bin, würdest du vielleicht einiges von dem, was geschehen würde, kommen sehen. Vielleicht werde ich auf meine alten Tage exzentrisch. Spiele zu viele Spielchen. Nach einem Jahrhunden oder so vergißt man leicht, wie normale Menschen denken. Und vielleicht war es auch zuviel von dir verlangt angesichts von alldem, was du in der letzten Zeit sonst im Kopf hattest.« Sie kamen um eine scharfe Kurve, hinter der eine neue Treppenflucht begann. Der Wand entlang verlief ein Glasfenster, das Männer zeigte, die christliche Fahnen in eine Schlacht trugen. Warum tat man so etwas in einen Gang ohne Licht? fragte sich Jonny. »Werden Sie mir erzählen, was die Bundesbehörden von mir wollen, oder handelt es sich nur um das Phänomen meiner magnetischen Persönlichkeit?« fragte Jonny den Schmugglerlord. »Tatsächlich hätten sie lieber deine Großmutter, aber die ist schon vor Jahren verschwunden. Dann, als deine Mutter in Mexico City abhanden kam, bliebst nur noch du als Thronerbe übrig. Schau, deine Großmutter war ein Straßenkind, genau wie du und deine Freunde. Sie
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verkaufte Blut, atmete für ein paar Dollar in Universitätsexperimenten vergiftete Luft ein, du weißt ja, wie das geht. Dann unterzog sie sich 1995 als Freiwillige einer Serie von Injektionen an der UCLA. Natürlich wußte sie nicht, daß es sich dabei um eines der Genkriegsprojekte des Verteidigungsministeriums handelte. Die Uni sagte ihr, es gehe um den Test eines neuen Hepatitis-Impfstoffs. Tokio und Washington dachten damals noch strikt in den Begriffen der atomaren Kriegsführung. Irgendein oberschlauer Pentagon-Junge hatte die Idee, man könnte durch Bioengineering die Toleranz der Be völkerung gegen radioaktive Strahlung erhöhen. Wie dem Rest der Pentagon-Programme ging auch diesem schließlich das Geld aus, aber nicht bevor deine Großmutter und ein paar andere Freiwillige ihr expe rimentelles Retrovirus verpaßt bekommen hatten. Die endgültige Synthese des Dings erfolgte in einem Marinelabor auf den Philippinen. Im Prinzip ist das Virus eine primitive Kette von einfa chen Molekularassemblern, mikroskopisch kleinen Fabriken sozu sagen. Das Retrovirus marschierte ins Knochenmark deiner Großmut ter wie ein Kind in die Speisekammer voller Süßigkeiten und verstreute die Nano-Assembler. Im Endeffekt produzierten sie dort einen strah lungssicheren Antikörper, der fest mit ihren roten Blutkörperchen ver bunden war. Aber, wie ich schon sagte, das Projekt scheiterte. Die Leu te wurden ausbezahlt mit dem Geld, das übriggeblieben war, und verschwanden. Sie waren von den Straßen geholt worden und dort gingen sie wieder hin. Die Regierung hatte keine Möglichkeit, ihre Spur zu verfolgen.« »Und nun glauben die Bundesbehörden, weil meine abuela das Zeug in ihren Venen hatte, soll jetzt mein Blut die Kur für das Schachtelvirus enthalten?« fragte Jonny. »Offensichtlich.« »Aber wenn es gar kein Heilmittel gab, warum, zum Teufel, haben Sie mich dann in Little Tokyo hinter Easy Money herjagen lassen?« schrie Jonny. »Wofür wurde ich da benutzt?« »Ach ja, Easy«, sagte Conover. Er sah müde aus, das tote Fleisch um seine Augen war faltig und brüchig. »Nun, ich konnte Nimble Virtue keine Chance lassen, herauszufinden, was sie tatsächlich in der Hand hatte. Es war natürlich eine zweite Kultur des Virus. Ricos hatte den Befehl, sie und Easy umzulegen, sobald sie es ausgeliefert hatte.« »Toll! Verdammt toll!« murmelte Jonny. »Dann bin ich also das einzige, was Heilung verspricht. Ich meine, bei allen Möglichkeiten, über die die Regierung verfügt, finden die keine einzige andere Person, die mit diesen Tests zu tun hatte?«
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»Es ist lange her, Jonny; Akten gehen verloren, Discs werden ge löscht. Als du als Junge von der Schule abhautest, waren sie sich schon sicher, daß sie jeden Kontakt mit dem Programm verloren hatten. Dann tauchtest du im Komitee auf. Vor denen konntest du dein Blut nicht lang verstecken.« Jonny lachte freudlos. »Geschieht mir recht.« Am Ende der Treppe kamen sie in einem riesigen geodätischen So larium heraus. Jonny sah durch das kugelsichere Glas das kaputte Ende des HOLLYWOOD-Zeichens; unter ihnen bewegten sich die Ne onlichter des Filmviertels. Oben war der Mond verdeckt von treibenden Sandwolken, die aussahen, als zögen Heuschrecken schwärme über den Himmel. »Wissen Sie, Mr. Conover, Sie kotzen mich wirklich an«, sagte Jonny. »Ich meine, ich erwarte ein so beschissenes Verhalten von jemandem wie Nimble Virtue, aber ich dachte immer, Sie seien mein Freund.« »Ich bin dein Freund, Jonny. Versteh mich richtig, da ist nichts Persönliches in dieser ganzen Sache.« »Richtig, ich versteh das gut. Das brauchen Sie mir nicht zu erzäh len. Es ist ein Geschäft. Ökonomie − wie immer.« »Du suchst wieder jemanden, dem du die Schuld zuschieben kannst«, sagte Conover. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: das Leben ist komplizierter als Cowboy-und-Indianer-Filme. Glaubst du, die Araber würden das Virus nicht einsetzen, wenn Sie die Möglichkeit hätten? Oder deine Freunde, die Croaker? Was, wenn Groucho eine Waffe wie diese hätte?« »Wissen Sie, was komisch ist? Es ist wirklich komisch, daß ich die ganze Zeit glaube, ich verstehe vielleicht alles falsch, was Sie mir da er zählen. Ich denke mir weiterhin: ›Vielleicht ist Mister Conover verse hentlich in diesen Deal hineingeraten, wie alle anderen auch.‹ Aber das entspricht nicht ganz den Tatsachen, nicht wahr?« Außerhalb des Sola riums lag ein Skulpturgarten. Jonny konnte glatten griechischen Mar mor und indische Bronzen ausmachen, die in der strengen Geometrie viktorianischer Blumenbeete umherstanden. »Als wir nach Santa Monica hinausfuhren, um Ihr Dope von diesen Gobernaciõn-Jungs zu übernehmen, fragte ich Sie nach dieser neuen Lepra. Sie haben nur ge lacht und mir gesagt, sie hätten seit vierzig Jahren keinen Schnupfen mehr gehabt. Erst vor ein paar Tagen fanden die Croaker heraus, daß das Schachtelvirus mit einem Schnupfenvirus verbunden war. Das heißt, Sie wußten die ganze Zeit sehr genau, was das für ein Virus war. Das bedeutet, Sie haben mich belogen, seit diese ganze Scheiße hier begonnen hat. Oder war das auch nur einer der Hinweise in Ihrem
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Spiel? Soll ich geschmeichelt sein, daß Sie mich die ganze Zeit ins Hirn gefickt haben?« Jonnys Stimme wurde schrill; er trat einen Schritt auf den Lord zu. Conover machte eine Kopfbewegung zu den Statuen hin. »Komm mit hinaus! Ich möchte dir den Garten zeigen, bevor wir gehen.« »Fick dich selber, du alter Sack.« Conover hob beiläufig die Futukoro ein paar Zentimeter. »Jonny, be denk mal, daß es von meinem Standpunkt aus das einfachste wäre, dich zu erschießen und deinen Körper auf Eis zu legen, bis mein Fahr zeug kommt. Aber ich gebe dir eine Chance, am Leben zu bleiben. Diese Leute wollen dich nicht verletzen, sie brauchen nur dein Blut.« »Wie wollen Sie uns in die Wüste bringen, Mann? Die Straßen von hier bis New Hope sind voller Komitee-Leute und Gangs. Darüber fliegen können Sie auch nicht; ein Hovercar schafft es nicht so weit.« »Es gibt keinen Grund, in die Wüste zu wollen«, sagte Conover müde. »Da draußen ist nämlich nichts. New Hope ist auf dem Mond, absolut sicher und weit vom Schuß. Das Zeug da draußen in der Wüste ist nicht viel mehr als eine Filmkulisse. Das ist Hollywood, mein Junge. Eine Crew von CineMex hat es für uns hingestellt. Es hätte das Image der Alpha-Ratten in der Öffentlichkeit völlig zerstört, wenn sie erfahren hätte, daß das alte Geld eine Tür weiter wohnt.« Jonny holte tief Atem. Nach dem Tequila und den verbalen Bomben, die Conover ständig auf ihn abwarf, hatte er kaum noch Durchblick. »Seit mich Zamora aufgefordert hat, Sie auszuliefern, habe ich her auszufinden versucht, wer mich anlog und wer die Wahrheit sagte. Jetzt finde ich heraus, daß Sie der einzige waren, der immer gelogen hat. Jeder andere, einschließlich Nimble Virtue und diesem Scheich, sagte mir jenen Teil der Wahrheit, den er kannte. Das hätte ich bisher nie auch nur im entferntesten geglaubt.« »Sei nicht so ein Dummi, Gordon«, sagte eine grabestiefe Stimme aus dem Garten. »Komm heraus und nimm einen Drink.« Jonny sah Conover an. »Das macht den Abend perfekt.« Der Schmugglerlord zuckte die Achseln. »Ich konnte realistischerweise den Colonel nicht völlig aus dem Spiel draußen halten«, sagte Conover entschuldigend. »Natürlich konnte er das nicht«, sagte Colonel Zamora vom Eingang zum Skulpturengarten. »Ich habe auch Kontakt zu Regierungskreisen, weißt du. Ich habe genug Fakten zusammengesetzt, um herauszube kommen, worauf er aus war.« Jonny folgte Zamora in den Garten hinaus, Conover kam hinterher. Ein leichter Baumwollstoff auf einem Netzwerk von Pfählen, die in ein
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lichtabsorbierendes Material eingehüllt waren, hielt den wehenden Sand zum größten Teil ab; der Stoff flatterte im Sturm wie die Flügel am Boden festgehaltener Vögel. »Sie sind ein Arschloch, Colonel«, sag te Jonny. »Und du hast komische Augen, Junge.« Zamora stellte seinen Drink hin. Jonny spannte seine Muskeln an, um bereit zu sein für den Schlag, den ihm der Colonel gleich versetzen würde. Aber der lächelte nur. »Du solltest nett zu mir sein, Gordon. Wir sind jetzt Partner.« »Hat man Ihnen das Gehirn amputiert oder so was ähnliches?« frag te Jonny. »Wissen Sie nicht, daß dieser Bursche hier von Krieg spricht?« »Glaubst du, ich wüßte über den Krieg nicht Bescheid, Gordon?« Der Colonel trat zu einer transportablen Bar aus Teakholz, goß eine gelbe Flüssigkeit in ein Glas und gab sie Jonny. »Nach der heutigen Nacht, wenn Conover geht und die Gangs zerquetscht werden, bin ich der Herr dieser Stadt. Wirf einmal einen Blick da hinunter«, sagte der Colonel und führte Jonny an den Rand des Daches. Die Hollywood-Hügel fielen unter Conovers Landhaus steil ab und formten einen schwarzen See, dessen Ufer von einer Million brennender Lichter gebildet wurden. Genau geradeaus waren Hollywood und das leuchtende Zelt, in dem Jonny einst gewohnt hatte. Rechts davon lag das Geschäftsviertel mit Lockheeds glühendem Zylinder und der bein ahe unsichtbaren Scheibe von Sony International. Jonny blickte zu Co nover zurück und sah, wie der sich soeben mit einem Stück grünem Chirurgieband den Arm abschnürte und in der anderen zittrigen Hand eine volle Spritze hielt. »Hör mal!« sagte Colonel Zamora. Jonny wandte sich wieder den Lichtern zu. Zuerst hörte er nichts im allgemeinen Rauschen des fallenden Sandes, aber dann bemerkte er so etwas wie ein Echo. Den feinen Widerhall einer Explosion da unten. Als seine Ohren sich daran gewöhnt hatten, konnte er weitere Explosionen erkennen und den Klang von Lautsprecherstimmen, die in verschie denen Sprachen Warnungen ausstießen. Zamora lehnte mit seinen Ellbogen auf der niedrigen Gartenmauer. »Glaubst du, ich wüßte nicht Bescheid über den Krieg? Ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht. Ich esse, trinke, schlafe und scheiße Krieg.« Jonny sah den Mann an und hätte gelacht, wäre er sich nicht absolut sicher gewesen, daß der ernst meinte, was er sagte. Jonny ging zu der Bar und stellte seinen Drink unberührt ab. Cono ver lehnte am Sockel einer Bronze, die Shiva darstellte (sein Gesicht unerkennbar im Schatten des Zerstörergottes), das grüne Band bau
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melte von der einen Hand herunter, die Futukoro hielt er lose in der anderen. Er atmete tief, als die Greenies einfuhren. Etwas bewegte sich auf der anderen Seite des Daches an einer zerrissenen Stelle des Stoffsegels. Jonny ging zurück zu der Gartenmauer, weil er nicht unge deckt herumstehen wollte, falls es sich um einen von Conovers Überwa chungsrobotern handelte. »Das ist das Ende deiner kleinen Welt hier, Gordon.« »Das hat mir Conover auch schon gesagt.« »Versteh mich nicht falsch, die Gangs sind knallharte Burschen, besonders die Croaker. Aber sie sind auch ein Haufen romantischer Idioten. Junkies mit Steinschleudern und Steinen können nichts aus richten gegen eine gut organisierte Kampfeinheit wie das Komitee.« »Also wirklich, König Ubu, wenn du solches Zeug erzählst, muß ich dich für einen Idioten halten, und wieviel Spaß macht es schon, einen Idioten fertigzumachen?« Man hörte Futukoro-Feuer von unten, dann fiel vom Stoffsegel herab ein Kristallgecko und zerplatzte in einer Flammenfontäne, die einen Strom von Fischen, Blumen, Vögeln und allen fünf platonischen Körpern ausspie. Teile des Stoffnetzes brann ten, wo die Fontäne sie berührt hatte, worauf der Wind und der in ihm treibende Sand in den Garten eindrangen. »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, daß deine Jungs heute nacht den kürzeren ziehen?« Die Stimme kam von irgendwo hinter ih nen, über die Gartenmauer hinweg. Dort kauerte Groucho, völlig schwarz gekleidet, die Futukoro in der Hand, und grinste Jonny kurz zu. »Hab dir ja gesagt, daß ich komme. Nebenbei, ich hielt es für möglich, daß du wieder abhauen würdest. Ich bin froh, daß du's nicht getan hast.« »Ich auch«, sagte Jonny. Zamora drehte sich nach Groucho um und betrachtete den An archisten gutgelaunt. »Ein hübscher Stunt, mein Junge, aber ihr werdet diese ganze Angelegenheit nicht mit Kartentricks gewinnen.« »Ich mache mir im Moment keine Sorgen um das Komitee, Ubu«, sagte Groucho und sprang leichtfüßig von der Mauer. »Ich bin deinet wegen hier.« »Verstehe. Ist das der Teil, wo ich zusammenbreche und einsehe, daß ich mein Leben in Irrtum verbracht und verschwendet habe?« Za mora lachte. »Komm schon, Junge, werde schlau. Morgen früh beherr sche ich diese Stadt. Willst du einen Deal machen?« »Ihr Burschen seid knallvoll angefüllt mit Deals, stimmt's?« er widerte Groucho.
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»Komm schon, Groucho, denk mal nach! Jeder tut, was er tun muß. Was willst du nun? Einen Teil der Stadt für die Croaker? Einen Teil des Drogengewinns? Kannst du alles haben.« »Das genügt mir nicht«, sagte der Anarchist. »Wir sind die Revolte des Geistes, der von euch gedemütigt worden ist. Wir leben in unseren Träumen. Wir können uns nicht mit weniger als allem zufriedengeben.« Zamora zuckte die Achseln und lehnte sich an die Gartenmauer. »Dann seid ihr tot.« »Gib's zu, Colonel: Das Spiel ist aus.« »Boy, es ist niemals aus.« Zamoras altes Echsenfleisch war immer noch sehr schnell. Er sprang nach rechts, schlug mit der Faust gegen den Kopf und mit dem hoch gerissenen Knie gegen den Leib des Anarchisten. Groucho war allerdings noch schneller. Er entschlüpfte Zamoras Tritt und packte seinen Fuß, worauf der Colonel auf den Rücken fiel. Jonny sah Conover aus Shiwas Dunkel heraustreten. »Runter!« schrie er, aber der An archist fiel schon. Conovers Futukoro rauchte, als er ins volle Licht trat. Als Jonny hinlief, war Zamora auf den Beinen und rieb eine seiner uniformierten Schultern. Grouchos Augen waren weit offen, mit seinem Atmen bildeten sich Blasen in der Einschußwunde in seiner Brust. Groucho griff nach Zamoras Hosenbein, ohne den Mann noch zu er kennen. »Ich bin hier durch den Willen des Volkes«, sagte er, »und werde nicht gehen, bevor ich nicht meinen Regenmantel zurückbekom men habe.« Die Blasen auf seiner Brust wurden kleiner und kleiner und verschwanden gänzlich. Er bewegte sich nicht mehr. Zamora bückte sich und pflückte die Hand des Anarchisten von seinem Bein. »Kleines blödes Arschloch«, murmelte er. »Hattest überhaupt keine Ahnung.« Zamora ging zur Bar. Jonny nahm kaltblütig den Derringer Nimble Virtues aus seiner Tasche und schoß dem Colonel den Hinterkopf weg. Zamora versteifte sich, als ihn das Hohlmantelgeschoß traf. Dann brach er zusammen, ein reptilienhafter Wasserfall aus Fleisch, dessen Gelenke alle gleichzeitig nachgaben. Conover hielt Jonny in Schach, bevor dieser noch eine Chance zu einem zweiten Schuß hatte. »Das war's, Sohn. Jetzt ist es vorbei.« Seine Futukoro berührte Jonnys Rückenmark. »Zeit zum Gehen.« Conover zog ihn von den Leichen weg und dirigierte ihn zur anderen Seite des Daches, wo eine Anzahl schmiedeeiserner Treppen den Hügel hinun terführte. Oben auf der Stiege sah Jonny sich nochmals um. Der Stoff schirm brannte jetzt nicht mehr, aber der Sand wehte ungehindert
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durch die großen schwarzgeränderten Löcher. Er bildete im Garten Dünen, die schon die Leichen des Anarchisten und Zamoras zu bede cken begannen. Jonny stieg die Metallstufen hinunter und ging durch das bleiche harte Gras, Conover dicht hinter ihm. Sie hatten den Sturm im Rücken. Links von ihnen brannte ein Teil der Stadt. Jonnys Ohren gewöhnten sich schnell an das ständige Rattern fer nen Gewehrfeuers. Die Explosionen schienen einen eigenen Rhythmus zu haben, einen Gegentakt zum Geräusch seiner Schritte. Schwarzer Rauch von brennenden Gebäuden wurde von den Santa Ana Winden weitergepeitscht, vermischte sich mit dem fliegenden Sand und sah wie eine solide Masse aus, die sich über die Stadt wälzte. Jonny kam es vor, als sehe er die Lichter durch die Wände eines schmutzigen Terrariums. Wie glühende Wespen kreuzten Luftkissenfahrzeuge durch den Rauch. Eine Weile gingen sie dahin, ohne zu sprechen. Dann sagte Conover: »Den Hügel da hinunter.« Sie kletterten durch Nesseln und über abge brochene Zweige, dann kamen sie an einen Abhang, und Jonny sah das rostige Skelett einer Kuppel mit zerstörten weißen Wänden. Er wußte jetzt, daß das Griffith Observatorium ihr Ziel war. Als Jahre zuvor ein Erdbeben der Stärke Sieben den größten Teil von Malibu unter den Meeresspiegel gedrückt hatte, war die korro dierte Kuppel in sich zusammengefallen wie eine zerbrochene Eier schale. Seit damals hatten verschiedene religiöse Gruppen den Ort für sich beansprucht und bei Vollmond geheime Riten in der Hülse des al ten Gebäudes praktiziert. Im Hof des alten Observatoriums waren in grob konzentrischen Kreisen Schreine der toten Technologie errichtet, sinnlose Denkmäler des kollektiven Unterbewußtseins der Stadt. Der Kupplungskasten eines alten benzinbetriebenen Fahrzeugs; ein deutscher Lebensmittel prozessor; ein Nautilus-Trainingsgerät; Röntgenfotos von den Becken partien vergessener Filmstars; Stöße von pornographischen Video kassetten, Ankleidepuppen und primitiven japanischen Fernsehgerä ten. Jonny wich von Conovers Seite und berührte die gelben Tasten eines alten Flügels. Er hatte so lange hier draußen gestanden, daß der Lack in großen Bändern abzublättern begann und das verwitterte und durch Feuchtigkeit völlig verquollene Holz darunter sich zeigte. Jonny schlug einen Akkord an. Zu seiner Überraschung funktionierte das Ding noch. Er spielte mit einem Finger eine Melodie und sang lautlos zu den schrägen Noten des völlig verstimmten Pianos.
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»I went down to Saint James Infirmary � Saw my sweetheart there, � Stretched out on a long white table, � so pale, so cold, so fair. � I went down to Saint James Infirmary...« �
»Komm schon«, sagte Conover, »schauen wir, daß wir aus dem Sturm herauskommen!« Er zeigte mit der Futukoro auf die offenen Türen des Observatoriums. Ein paar Schritte hinein in den Innenraum, und Jonny wurde von absoluter Dunkelheit verschluckt. Es war, als laufe man in dem enor men Verdauungssystem eines Riesentieres herum, dachte er. Er atmete die heiße Luft ein, die nach oxydierendem Metall roch, und entspannte sich in seiner plötzlichen Blindheit. Seit er Sumi verlassen hatte, war Jonny nicht mehr gewillt gewesen, seine Exterozeptoren in einer anderen Weise zu verwenden als es der Sicht normaler Augen ent sprach. Er hatte ein angenehmes Gefühl in der Dunkelheit des Obser vatoriums, weil er sie erwartet hatte, oder zumindest etwas Ähnliches. So etwas hatte er nicht mehr gefühlt, seit die Waffe in der Klinik ver sagt hatte. Er begriff, daß er immer noch auf die Kugel wartete, die ihn dort nicht erreicht hatte. Immer wenn er sich umdrehte, erwartete er, Conover die Futukoro in Schußposition heben zu sehen. Aber das ge schah nicht. Von der Decke des Observatoriums hingen Dinge herab. Sie gaben einen leisen Glockenklang von sich, wie ein kleines Glockenspiel oder eine Windharfe. Manchmal sah er auch einen winzigen Lichtblitz. Et was Kühles berührte Jonnys Gesicht. Er befühlte es mit seinem Handrücken, und es schwang in der Dunkelheit weg. Ein paar Schritte weiter stieß er gegen ein schmales Geländer, das einen tieferliegenden Teil des Gangs umgab, und wartete dort auf Conover. Der Schmugglerlord kam in das Observatorium, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er auf etwas. Zum erstenmal kam Jonny der Ge danke, der Mann könnte vielleicht verrückt sein. Welchen Beweis hatte ihm der Lord dafür geliefert, daß die Reichen auf dem Mond herumsa ßen oder daß es tote Extraterrestrier gab? Nur ein paar Ammenmär chen über das Blut seiner Großmutter. Daß er gegen das Schachtelvi rus immun schien, besagte gar nichts. Glück oder natürliche Abwehr kräfte konnten das bewirken, sagte sich Jonny. Es gab immer noch eine Menge Leute in der Stadt, die nicht infiziert waren.
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Wenn Conover tatsächlich verrückt war, würde er darauf bestehen, daß sie die ganze Nacht in dem Observatorium mit dem Warten auf das Raumschiff zubrachten. Es kam Jonny ziemlich wahrscheinlich vor, daß ein Gebäude dieser Größe das Feuer von unten auf sich ziehen würde. Und falls Conover verrückt ist, was wird er dann tun, wenn das Raumschiff nicht kommt? Draußen flaute der Sandsturm ab. Durch Lücken im zerrissenen Me talldach konnte Jonny die bleiche Scheibe des Mondes sehen. Er dach te an die Festlichkeiten in der Stadt, die durch Gewehrfeuer beendet worden waren. Der Tag der Toten. Im blassen Mondlicht sah Jonny nun auch den Raum, in dem sie standen und dachte sich, falls Conover nicht verrückt war, war es auf jeden Fall der Mann, der das Observato rium zum Teil neu aufgebaut hatte. Eine Bank ultrasensitiver Fotozellen umgab die Decke über einem Parabolspiegel, der auf einem Gewirr aus Stahlträgern ruhte; diese Struktur lag unter einer Sektion der Kuppel, die gegen den Himmel of fen war. Wenn das Mondlicht durch die kaputten Tragebalken herein fiel, begannen die Wände zu flackern; im Untergrund bewegten sich Schaltungen und ein Dutzend verwischter Abbilder des Mondes umgab plötzlich den Raum. Drei Meter hohe Videobilder; ein alter NASA-Fuß stapfen, an den sich Jonny aus seiner Kindheit erinnerte. Autor ückspiegel, die an Nylonseilen von der Decke hingen, nahmen die blassen Bilder auf und warfen sie an die Wände, wo sie wie Sterne aus sahen. Schmale Reihen von Niedervoltlampen leuchteten durch Pris men und Splitter und tauchten die höchsten Teile des Raumes in Regenbogenlichter. »Es ist wunderbar, nicht wahr?« sagte Conover, »der absolute Wahnsinn.« Eine hell beleuchtete Jungfrau Maria, halb Pariser Pflastermalerei und halb altertümliche Elektronik, erschien auf einer Drehscheibe − eine technokratische Mondgöttin. »Sie sind schon früher hiergewesen?« fragte Jonny. »Oft. Ich komme hierher, um nachzudenken.« In dem grauen Video licht kam es Jonny vor, als sehe Conover aus wie einer der maskierten Tänzer von der Prozession unten. Der Schmugglerlord zeigte auf einen Fleck im unteren Teil eines der Videomonde. »Falls dich das inter essiert: das ist unser Ziel. Eine japanische Station ein paar Meilen westlich von Tycho.« Jonny ließ sich gegen das Geländer zurückfallen. »Mister Conover, heute nacht wird hier kein Raumschiff herkommen.« »Aber natürlich kommt es. Wir fliegen zur Seven Rose Basis.«
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»Quatsch. Alles, was geschehen wird, ist, daß wir hier herumhängen, bis sich jemand entschließt, das Gebäude in Schutt und Asche zu legen.« Conover schüttelte den Kopf und lächelte Jonny nachsichtig an. »Glaub nicht, daß ich übergeschnappt bin, mein lieber Junge. Tat sächlich habe ich dir noch nicht alle Fakten erzählt, warum ich tat sächlich zum Mond will.« Jonny riß in gespielter Überraschung die Augen auf. »Oh, meine Güte, dann waren Sie nicht absolut ehrlich mir gegenüber? Da bin ich wirklich verletzt, Mr. Conover.« »Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir erzähle, daß wir direkten Kontakt mit den Alpha-Ratten hatten?« »Ich dachte, sie sagten, die seien tot.« »Die im Schiff, ja. Aber ich meine andere.« »Andere Alpha-Ratten? Wo?« »Ach, jetzt bist du doch interessiert.« Der Schmugglerlord ging rund um die Kammer, an allen zwölf Mondlandschaften vorüber. Der Erd schatten folgte ihm und verdeckte jedes der Videobilder, während er vorbeiging. »Sie haben mit uns gesprochen, Jonny. Von einem Schiff aus, vielleicht von einer im Orbit befindlichen Fernsehstation aus. Zwei Wörter, so klar wie der Tag. Zwei Wörter, dreimal wiederholt. Auf Englisch, auf Japanisch und auf Arabisch.« »Warten Sie, ich glaube, ich kenne den Witz schon. Sie sagten: ›Sendet mehr Chuck Berry.‹ Stimmt's?« Conover blieb vor einem der Schirme stehen, worauf hinter ihm eine Mondfinsternis stattfand. »Sie sagten: Wir kommen.« Jonny betrachtete seine Hände und sah getrocknetes Blut auf den Knöcheln. Sein Magen flatterte. Er rieb die Knöchel an den Jeans. »Ist das alles?« »Ist das nicht genug?« Jonny zuckte die Achseln. »Nun, ich möchte Ihnen ja nicht Ihre tolle Parade verregnen oder sowas. Aber schön: die kommen also. Was nützt das Ihnen?« »Das ist eine Chance«, sagte Conover. »Eine letzte Chance für etwas ganz Neues. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, auf der Basis des reinen Reflexes zu leben, halbbewußt, nur zu funktionieren. Dann stößt dich etwas einen Moment ins volle Bewußtsein, und du begreifst, daß wieder fünf Jahre vergangen sind, was überhaupt nichts bedeutet, weil die nächsten fünf genau so sein werden wie die gerade vergangenen.« Jonny nickte. »Sie ficken also praktisch jedermann, weil Sie so ge langweilt sind.«
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Der Schmugglerlord grinste. »Nun, wenn du es so sehen willst…« »Das will ich«, sagte Jonny. »Tut mir leid, das hören zu müssen.« Conover trat von den Videos weg. »Allerdings kann man da nicht viel dagegen unternehmen.« »Klar kann man«, sagte Jonny und sprang über das Geländer zu dem tiefer gelegenen Teil des Observatoriumbodens. »Bringen Sie mich jetzt um.« »Red keinen Blödsinn.« Jonny ging zu der sich langsam drehenden Jungfrau Maria, nahm et was von ihren Füßen weg und hielt dann eine etwa einen Meter lange Metallröhre aus schwerem verchromten Material in der Hand. Er hielt sie vor sich, probierte, wie sie in der Hand lag, und wandte sich an Co nover. »Komm her, Arschloch! Bring mich um!« Der Schmuggler hielt die Futukoro schußbereit, aber nicht direkt auf Jonny gerichtet. »Du bist wirklich ein Vollidiot.« Jonny schwang das Rohr wie einen Baseballschläger und umkreiste den Lord langsam in der Düsternis. »Erschießen Sie mich! Erschießen Sie mich, oder ich schlage Ihnen den Schädel ein!« »Vielleicht tu ich das jetzt gleich, Jonny.« »Fangen Sie schon an!« Er schwang heftig das Rohr, so daß der Schmugglerlord zur Seite springen mußte. »Hör sofort damit auf!« sagte Conover. Jonny schwang neuerlich sei ne Waffe. Conover mußte einen Schritt zurückweichen. »Ich wußte es doch!« schrie Jonny. »Tot bin ich für Sie einen Dreck wert, nicht wahr? Die wollen mich nicht als Leiche haben. Der ganze Quatsch, daß Sie mir eine Chance geben wollen, am Leben zu bleiben, war nur eine weitere Lüge. Wenn ich tot bin, haben Sie nichts, was Sie bei Ihrem Handel um eine neue Haut anbieten könnten!« Er schlug mit dem Rohr nach Conovers Kopf. »Du benimmst dich wie ein Kind…« »Dann erschießen Sie mich doch!« »Nein!« Diesmal erwischte ihn Jonny, als er seine Handgelenke heftig nach unten riß, und das Ende des Rohrs schlug gegen Conovers Schulter. Der Schmugglerlord schnappte nach Luft und fiel auf die Knie. Jonny warf das Rohr weg, rollte unter dem kreisförmigen Geländer durch und rannte zur Tür. Hinter ihm dröhnten Futukoro-Schüsse, Spiegelscher ben und Marmorstücke flogen um seinen Kopf. Er warf sich nach links, die Schüsse folgten ihm und schnitten ihm den Weg zur Tür ab. Conover hatte sich wieder hochgerappelt und kletterte über das Ge länder. Er bestrich weiter den Raum aus der Futukoro, während er hin
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ter seinem Rücken die Observatoriumstüren schloß, die über den her einwehenden Sand kratzten. »Wohin wirst du jetzt gehen, Jonny?« schrie Conover. »Deine Freunde sind alle dahin. Da draußen kann es sehr unangenehm werden, wenn man allein ist.« Jonny warf sich völlig außer Atem hinter einen zerstörten Ausstel lungsschrank und sah zu, wie der Schmugglerlord in das Zentrum des Raumes zurückkehrte, die Waffe nach wie vor in der Hand. »Komm jetzt herein, Sohn! Das ist doch Wahnsinn. Wir werden auf diese Weise noch beide verlieren.« Jonny schnitt sich in den Finger, als er einen Scherben des kaputten Schranks aufhob. Er richtete sich auf, wartete, bis der Lord in der genau richtigen Position war, und warf dann das Glasstück quer durch den Raum, während er zur Tür losrannte. Er wußte nach den ersten drei Schritten, daß es nicht funktionieren würde. Das Getrampel seiner schweren Stiefel verriet ihn. Conover wandte nur einen Moment lang den Kopf, als das Glas auftraf, aber er zielte schon wieder richtig, als Jonny losrannte. Jonny hörte ihn zweimal feuern. »Bedenke, daß ich dich nicht umbringen muß, Sohn. Ein Schuß durch jedes Knie wird dich stillegen, bis das Raumschiff da ist.« Jonny lag im Dunkeln, auf dem dreckigen Boden, die Hände um vorstehende Fliesen gekrampft. Eine Gesichtsseite brannte und war naß, weil ihn etwas an der Wange getroffen hatte, eine Kugel, ein Stück Marmor oder Holz aus der Tür. Sein Geist war leer. Er sah zu, wie Co nover sich auf der Suche nach einer Möglichkeit, Licht zu machen, um herbewegte. Für einen Moment kam sein Bewußtsein zurück, und er fühlte seinen Willen schwinden. Er konnte nicht verstehen, warum er sich so sehr bemühte, dem Tod zu entkommen, wenn der Tod doch ge nau das war, was er schon seit so langer Zeit suchte. Er preßte seinen Rücken gegen die Wand. Anklammern ist inakzeptabel, erinnerte er sich selbst. Sich an ir gend etwas klammern, an das Leben (oder an den Tod), war das Zei chen eines schwachen Geistes. Eine der Fliesen gab nach und blieb ihm in der Hand. Zorn, Gier, Wahn. Als er diese Wörter in seinem Kopf hörte, mußte er beinahe lachen. Sie waren die Ecksteine seiner Existenz, zusammen mit der Illusion. Bevor er sie verließ, hatte Jonnys Roshi-Nonne ihm ge sagt, er solle sich im Bild eines Mannes sehen, der einen Fluß über quert, dabei von einem schlüpfrigen Felsen zum nächsten springt und weiß, daß ihn jeder Schritt in die Stromschnellen werfen kann.
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Während er sich von Illusion zu Illusion bewegte, hatte er gemeint, er habe sich selbst gefunden. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so si cher. Vielleicht hatte er auch nur noch mehr Illusionen gefunden. Conover bewegte sich langsam in einem Kreis vor den Video schirmen. Jonny blieb bewegungslos, wo er war und beobachtete, wie der Schmugglerlord den Raum durchkämmte. Als Conovers Blick über ihn weggestrichen war, setzte sich Jonny auf, warf die Fliese in die Höhe und zersplitterte den Parabolspiegel in der Kuppel. Der Lord be deckte seinen Kopf mit den Armen als das Glas herunterkam, und schoß wild um sich, die Decke und die Wände des Raumes bestrei chend. Die Blitze des Mündungsfeuers der Futukoro blitzten wie ein kaputtes Stroboskop, während die Mondlandschaften hinter ihm erlo schen. Als Conover zu schießen aufhörte, war der Raum ruhig und sehr dunkel. Jonny konnte in seinem auf den Boden gepreßten Bauch füh len, wie die Schaltungen im Untergrund ihre Tätigkeit einstellten. Er blinzelte einmal. Die Umrisse im Raum wurden klar. Dann sprang er auf, mit einem Fuß auf das runde Geländer, den anderen schwang er darüber, der ganze Körper einen Moment völlig ungedeckt in der Luft, ungeschütztes Fleisch, Haus der Illusionen, der Angst und des Hasses. Conover war unter ihm, bewegte sich langsam, und Jonnys Exterozeptoren zeigten ihm den Mann als eine leuchtende Neon-Vogelscheuche mit Löchern im Gesicht. Dann schlug er Conover hart zu Boden. Jonny packte ihn, hielt das Gelenk der Hand, in der der Lord die Futukoro hielt; er war so nahe an seinem Gegner, daß er bemerkte, wie dieser einen Moment lang nicht atmen konnte. Dann geschah etwas. Sand rieselte durch das Loch im Dach herein, und der Mond erschi en hinter einer Wolkenbank. Conover blickte auf. In dem milchigen Licht des Mondes wurde sein Gesicht schlaff und hing wie schmelzender Kitt an den Wangenknochen. Die vogelknochendünnen Arme fielen zur Seite, und als der Schmugglerlord ihn ansah, erkannte Jonny zum erstenmal das wahre Gesicht dieses Mannes. Es hatte ihn seine Augen gekostet, das zu sehen. Groucho hatte eine Ahnung davon gehabt, war aber gestorben, ohne es zu sehen; Ice und Sumi war es erspart geblieben; kein Junkie oder Aussätziger hätte es je vermutet. Zamora hatte seine Essenz augenblicklich begriffen, war davon angezo gen worden, hatte es aber möglicherweise niemals wirklich gesehen. Nur Jonny, mit seinen Second-Hand-Augen, die man aus dem Spielzeug eines reichen Mannes gestohlen hatte, würde das wahre Gesicht des Schmugglerlords kennen.
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Leere. Ohne jeden Ausdruck. Ein Halloween-Gespenst; ein Zuckertotenschädel, tot wie die Hügel, über die die Buschfeuer krochen; tot wie der Seemann in dem Heiz raum des gesunkenen Schiffes, den Hinterkopf mit dem Metall verschmolzen. Es gab nichts anderes, was er nun hätte tun können, als das, was er tat. Er bewegte die Hand mit der Waffe unter Conovers Kinn. Der Schmuggler ließ die Waffe nicht los und versuchte gar nicht zu kämpfen. Sand fiel auf ihre Schultern. Als Jonny dem Mann in die Augen sah und darin seine eigenen widergespiegelt sah, begriff er ihr gemeinsames Begehren. Er beschloß, Conover ein Geschenk zu machen. Und zog ab. Jonny hatte nicht bemerkt, daß er den Atem angehalten hatte. Der Rückstoß der Waffe führte zu einem Krampf in seiner Lunge, und er holte verzweifelt Atem, roch Ozon und seinen eigenen Schweiß. Conovers Körper sank zusammen und schien jedes Gewicht zu verlieren, als ob der Schmugglerlord in diesen paar letzten Sekunden seines Lebens alles aufbrauchte, was er je gewesen war. Jonny zitterte am ganzen Körper. Er war mit Dreck und Blut beschmiert. Er krabbelte unter dem Geländer durch und öffnete die Türen. Er trat hinaus und stand ein paar Minuten im fallenden Sand, verrieb ihn auf seinem Gesicht und den Armen, um den Gestank des Todes und der Illusionen wegzu reiben. Später, als er um die kreisförmig angeordneten Schreine im Hof des Observatoriums herumging, sah Jonny etwas schnell und niedrig über die Hügel geflogen kommen. Zuerst dachte er, es sei ein Luftkissenfahr zeug ohne Positionslichter, aber als es näher kam, erkannte er, daß es dafür viel zu groß war. Soweit Jonny seine Umrisse wahrnehmen konn te, schien es den kantigen Rumpf und die stumpfen Flügel eines Dai myo-Shuttles zu haben. In Jonnys Wirbelsäule prickelte es. Da oben würde irgendwo ein größeres Schiff sein, irgendwo hinter einem Wolkenschleier… Das Shuttle ging über dem Observatorium tiefer, blieb in dieser Höhe und umkreiste die Ruine wie ein mattschwarzer Aasgeier. Aus seinem Bauch drangen blaue Lichtstrahlen, sensible Finger, die das tote Gebäude untersuchten. Jonny kauerte sich hinter den Stapel Sony-Fernseher und horchte, wie der Antrieb des Schiffs in der über hitzten Luft jaulte. Es wartete auf etwas. Auf ein Signal? Aber der Mann, der das Signal hätte geben können, lag fünfzig Meter entfernt tot auf dem Rücken.
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Nach mehr als einem Dutzend Umkreisungen stieg das Geräusch des Antriebs plötzlich um eine Oktave an, die Lichtfinger verschwanden einer nach dem anderen und ließen das Observatorium im Dunkeln zurück. Das Schiff kletterte ein Stück hinauf, wandte sich scharf nach links und entfernte sich dann sehr schnell in die Richtung, aus der es gekommen war. Jonny blickte hinter dem Stapel Fernseher hervor, um die Düsen des Gefährts zu beobachten: es waren Zwillings düsen. Ein paar Luftkissenfahrzeuge erschienen im Formationsflug über Hollywood und beleuchteten die Hügel hinter dem größeren Schiff, als sie ihre Raketen mit Hitzesuchköpfen abfeuerten. Das Shuttle verschwand hinter den Hügeln. Die Blitze der Explosionen bleichten den knochenweißen Himmel, bevor der Schall Jonny erreichte. Er rollte wie entfernter Donner von den Hügeln zur Stadt hin. Die Luftkissenfahrzeuge wendeten und flogen zurück nach Hollywood, wo sie in die Lichtermasse eintauchten, die Los Angeles war. Unten brannte die Stadt. Der Wind hatte seine Riechtung geändert. Der Sand kam jetzt wieder härter herunter, aber es gab auch Hinweise auf Regen. Jonny fragte sich, ob das Wetter sich jemals wieder stabilisieren würde. Er hob den Deckel des alten Flügels auf und kroch hinein. Auf dem Sunset Boulevard explodierte etwas. Zischendes Feu erwerk und ein Chor von holografischen Engeln, riesige lavendelfarbige Eidechsen, Totenschädel, Damenschuhe, Würfel und Spielkarten erhoben sich aus den Flammen, glühten verrückt und schön, spiralten, dröhnten, fuhren in die Gebäude und erloschen schließlich. Die Stadt brannte die ganze Nacht.
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Epilog: DieUnbewußtheit der Landschaft wird vollständig Die Stadt war in ihm, ihre winddurchblasenen Straßen und Neben straßen waren ebensogut ein Teil von ihm wie die Luft, die er atmete, und das Blut in seinen Adern. Seine Wurzeln waren tief in den harten Boden eingesunken. Die Stadt formte die Wände und Grundmauern seiner Seele, eines Dings, von dem er wenig Kenntnis besessen hatte, das er aber allmählich zu begreifen begann. Er würde diese Stadt nie mals hinter sich lassen. Los Angeles lag weiß und still unter der Sonne. Die Winde, die den Sand hereingetragen hatten, bliesen nun den Rauch der qualmenden Gebäude hinaus auf die See, während der Himmel eine beinahe makel lose azurne Kuppel war. Watts und Silver Lake schienen immer noch zu brennen. Aber eine kristalline Klarheit war über die Stadt gekom men. Das war, als die Sonne aufging und den Sand beleuchtete, der zentimeterhoch jede ebene Fläche bedeckte. Ihr Licht gab Los Angeles das reine, harte Aussehen einer neu geprägten Münze oder eines chir urgischen Instruments. Jonny erblickte die ersten Flüchtlinge noch vor Tagesanbruch. Eine kleine Gruppe war auf dem Marsch über die nahen Hügel, auf dem Weg zum Ventura Freeway und nach Norden. Später sah er hunderte Leute, die auf den Highways aus Hollywood hin ausdrängten. Zuerst fragte er sich, wohin die wohl alle wollten, aber als er sich die Frage klarmachte, war auch die Antwort offensichtlich. Irgendwo andershin. Die Revolution war vorüber. Eine junge Zombie-Analytikerin sagte ihm, die Croaker hätten gewonnen. In gewisser Hinsicht. »Sie kon trollieren die Stadt zwar nicht, aber das Komitee auch nicht mehr, also schätze ich, die Croaker haben gewonnen. Sie gewinnen oder verlieren auf eine Art, daß das Komitee nicht mehr gewinnen kann. Such dir's aus.« Bis zum Mittag waren die Hügel voller Flüchtlinge, die in krummen Linien um das Observatorium und das HOLLYWOOD-Zeichen empor stiegen. Viele Leute trugen noch ihre Kostüme aus der vorigen Nacht. Im hellen Sonnenlicht sahen Zeitungspapierskelette kaum bedrohli cher aus als die plattfüßigen Meat-Boys, Huren und Händler, die ihnen folgten. Kein Kampf mehr, dachte Jonny. Überlaßt es ihnen. Laßt sie über eine leere Stadt herrschen.
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»Was ist so komisch, Jonny?« Er hatte nicht bemerkt, daß er laut lachte. Easy Money stand ein paar Meter entfernt innerhalb des Ringes der Schreine. Er war bleich und schmutzig und schützte seine Augen mit der Hand vor der Sonne. Der im Wald der Kunstlichtblüte verwundete Arm war in zerrissene Lagen dreckiger Gaze eingehüllt. »Das wird sich infizieren«, sagte Jonny. »Ich hab in Little Tokyo noch eine Menge Ampicillin getankt«, er widerte Easy. Die Haut des Arms, mit dem er die Augen schützte, zeig te eine leichte Verfärbung, eine Verbrennung oder Marmorierung. Das konnte irgend etwas sein. Jonny schaute nach anderen Symptomen des Virus, aber unter all dem Dreck war nicht viel auszumachen. »Wie ich schon fragte: Was ist so komisch?« »Alles«, sagte Jonny. »Mann, es ist vorbei. Sie haben uns umge bracht. Wir sind tot, und sie können uns nichts mehr anhaben.« »Du weißt, daß das Komitee noch Teile der Stadt hält? Sie haben nach der Armee gerufen.« »Laß sie doch. Gespenster können sie nicht erschießen, und sonst gibt es hier nichts mehr.« Easy Money senkte seine Hand, und Jonny sah tiefe Wunden auf der Stirn des Mannes, wo eines seiner Hörner abgebrochen war. »Gehst du zurück?« Jonny schüttelte den Kopf. »Überlassen wir es den Ratten. Und du?« »Wohin sollte ich gehen?« »Es gibt eine Menge Möglichkeiten.« Easy blickte über seine Schulter auf den Rauch und den Sand zu rück und sagte: »Nein.« Ein Dutzend mexikanischer Teenager kam vorüber, sie trugen Ny lonsporttaschen voller farbiger Multi-Ab-ziehbilder und Rucksäcke voller Kleidung und Nahrungsmitteln. Sie sangen zusammen ein altes Lied, tief und ruhig wie eine Hymne. Sie bewegten sich gegen den allge meinen Strom, in Richtung Süden, nach Hause, dachte Jonny. Als sie außer Hörweite waren, vermißte er ihren Gesang. Easy zeigte auf etwas. »Planst du, das zu gebrauchen, oder was?« Jonny sah dem Finger nach und entdeckte Conovers Futukoro. Er hatte eine unklare Erinnerung daran, daß er nachts nochmals ins Observatorium gegangen war und das Ding geholt hatte, aber er konn te sich jetzt nicht mehr erinnern, warum. Jonny sah Easy an. »Es kommt nicht mehr darauf an, oder?« Er zuckte die Achseln. »Außerdem könnte ich deinen Kopf verfehlen und irgend etwas Wichtiges treffen.«
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Easy lächelte. »Du bist wirklich ein Klassiker, weißt du das? Ich hät te dich ohne Anruf erschossen.« »Vielleicht ist das der Unterschied zwischen uns. Ich muß dich nicht töten; du erledigst das ganz von allein.« »Aber ich will nicht wie ein Arschloch sterben.« »Ich weiß nicht, ob einer von uns beiden in dieser Hinsicht viele Möglichkeiten hat.« Jonny lachte. »Weißt du, worüber nachzudenken ich nicht aufhören kann? Über diese armen ignoranten Idioten auf dem Mond. Die sitzen dort und denken darüber nach, wie sicher sie vor diesem kleinen Krieg hier sind, den sie uns an den Hals gehetzt haben, und wissen nichts von den kleinen grünen Männern, die sie besuchen kommen. Ich meine, das reicht aus, um einen glauben zu lassen, daß es einen Gott gibt und daß der vielleicht sogar einen Sinn für Humor hat.« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du eigentlich sprichst«, sagte Easy Money, »aber es ist okay. Nachdem ich sehe, in was für einer guten Stimmung du bist − du hast nicht zufällig irgend etwas zum Ein werfen?« »Hast du Schmerzen?« »Ich glaube, ich hab mir beim Hinfallen ein paar Rippen gebrochen.« »Das ist schlimm.« Jonny drehte eine seiner Hosentaschen um. »Sieht ganz so aus, als hätte ich alles verloren.« Easy nickte nur. »Du kannst dir Conovers Haus ansehen. Seine Si cherheitsleute sind tot, und es gibt einen Raum, in dem Mad Love bis in Augenhöhe aufgeschichtet liegt.« Easy bedeckte neuerlich seine Augen und sah Jonny unter dem Arm stirnrunzelnd an. »Warum erzählst du mir das?« »Weil ich ein ehrlicher Bursche bin«, sagte Jonny. »Weil ich der Dra chenkopf-Schlangen-Junge bin und weiß, daß jeder Gedanke nur Illusi on ist, daß alle Geschehnisse in unserem Leben, die schlimmsten und die besten, uns zur Erleuchtung führen können. Also, mir ist das alles scheißegal.« »Du treibst im Weltraum dahin, Mann.« Easy schüttelte den Kopf. »Sie werden dich mit Netzen und Spritzen jagen.« »Mach's gut, Easy.« »Adios, Arschloch.« Easy humpelte mühsam hügelaufwärts, den Klumpfuß nachziehend. Er ging zu Conovers Haus. Jonny sah ihm zu, wie er dem Weg folgte, auf dem Conover ihn letzte Nacht heruntergeführt hatte. Die Sonne blitzte auf Easys übriggebliebenem Horn, dann verschwand er hinter einer Gruppe zerschlissener Madrones.
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Jonny stieg von dem Flügel herunter und wog die Fu-tukoro in der Hand. Vor nicht allzulanger Zeit hätte er alles dafür gegeben, Easy und eine geladene Waffe im selben Moment zur Hand zu haben. Das Gefühl war verschwunden, nur noch ein fernes Echo. Er mußte jetzt losziehen. Wohin, wußte er nicht ganz genau. Jonny zog sein Jackett aus und wi ckelte die Futukoro darin ein. Als er dieses Bündel in den Flügel warf, fiel etwas aus einer der Taschen. Er hob es auf und läutete sanft damit. Groucho hatte ihm diese kleine Glocke als Glücksbringer in dem verlassenen Club gegeben. Jon ny dachte an die Erwähnung der Erleuchtung. Jeder, um den er sich gesorgt hatte, war tot. Ice und Sumi, Random, Groucho, alle tot. Und doch fühlte er sich noch stark in seinem Innern. Es war ein sentimentales Gefühl, in der Art, wie man es auf einer Glückwunschkarte liest, und er hätte es abgelehnt, wenn es nicht so stark und ursprünglich gewesen wäre. Erleuchtung. Jonny wußte immer noch nicht, was das wirklich bedeuten sollte, aber er war sicher, daß es nicht das war, was er momentan fühlte. Alles, was er mit Sicherheit wußte, war, daß er sich zwar nicht gut fühlte, aber doch verdammt viel besser als zuvor. Er hielt die Glocke in der Linken und läutete damit beim Gehen. Der Weg nach Ensanada würde lang werden, also sang er, während er durch die Stadt ging »I went down to Saint James Infirmary, � saw my sweetheart there, � Stretched out on a long white table, � so pale, so cold, so fair. � I went down to Saint James Infirmary…« �
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CYBERPUNK — DIE POESIE DES VERFALLS Los Angeles zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Last ASS - Letzter Arsch nennen es seine Bewohner. Mit Recht. Eine politische Macht gibt es nicht mehr, die Industrie- und Gangsterbosse - die Unterschiede sind fließend - haben sich ihre Interessengebiete abgesteckt, vorwiegend im Drogen- und Organhandel. L. A. ist die Welt von Jonny. Er ist Dealer. Er klaut und verkauft Designerdrogen, die das Fleisch anheizen und den Geis eisklar werden lassen. Während L. A. um ihn herum zerfällt, die Menschen verhungern und den Straßengangs oder der Polizei - die Unterschiede sind fließend zum Opfer fallen, geht Jonny seiner Hauptbeschäftigung nach: Über leben. Es gelingt ihm leidlich, denn alle und jeder scheinen plötzlich hinter ihm her zu sein. Eine neue Seuche grassiert, eine Art rasch um sich greifende Lepra, die durch ein perfekt getarntes Virus übertragen wird. Seine Spur läßt sich in ein B-Waffenlabor zurückverfolgen. Ein Gegenmittel erweist sich als Legende. Als seine Freundin infiziert wird, dreht Jonny durch. Er hat keine Ahnung, weshalb plötzlich alle hinter ihm her sind und ihn einsacken wollen, ausgerechnet ihn. Doch die Interessenten haben einen triftigen Grund.
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