Christian Montillon & Susanne Wiemer
Merlins Stern Professor Zamorra Hardcover Band 14
ZAUBERMOND VERLAG
Dr. Arcaro...
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Christian Montillon & Susanne Wiemer
Merlins Stern Professor Zamorra Hardcover Band 14
ZAUBERMOND VERLAG
Dr. Arcaro Ramondo hat die Spur aufgenommen, die ihn zu Château Montagne führt. Dort angekommen, hat er nur ein Ziel: die Feuerdämonen zu befreien, die seit Jahrhunderten in den unterirdischen Gewölben gebannt sind. Mit ihrer Hilfe hofft er an das magische Amulett zu kommen, das sich im Innern des Schlosses befindet. Dabei ist ihm jedoch noch jemand anderes im Weg – der französische Parapsychologe Professor Zamorra, seines Zeichens Erbe der Montagne-Ländereien, der in diesen Tagen zum ersten Mal seinen Fuß in das Château Montagne setzt. Doch schon am Tag seiner Ankunft geschehen merkwürdige Dinge, die den Professor überzeugen, dass es in diesem Schloss nicht mit rechten Dingen zugeht. Die Feuerdämonen und der habgierige Dr. Ramondo sind nicht die einzigen Gegner, die Zamorra nach dem Leben trachten. Auch Karinjo, der Herr der Feuerdämonen, der eine lange Wanderung durch die Hölle hinter sich hat, versucht, Zamorra auszuschalten, um an das Amulett zu kommen … In diesem außergewöhnlichen Roman verbindet Christian Montillon die bekannten Geschehnisse aus Band 1 der Professor Zamorra-Heftserie, »Das Schloss der Dämonen«, mit einer völlig neuen Geschichte, die das erste Abenteuer des Meisters des Übersinnlichen in einem gänzlich anderen Licht erscheinen lässt …
Vorwort Willkommen zum 14. Band der Professor Zamorra-Hardcover-Serie, der eigentlich den ersten Band einer neuen Serie hätte markieren sollen: nämlich des Professor Zamorra Director's Cut. Da dieses interessante Konzept kurzfristig leider doch nicht realisiert wurde, erscheint der vorliegende Roman »Merlins Stern« also im Rahmen der »normalen« Zamorra-Buchserie. Dabei ist es eigentlich gar kein Roman im Wortsinne – sondern zwei! »Merlins Stern« setzt sich nämlich aus Zamorras erstem Abenteuer auf Château Montagne, wie es in Band 1 der Heftserie, »Das Schloss der Dämonen«, geschildert ist sowie einem vollständig neuen Roman aus meiner Feder zusammen, den ich um die Ereignisse aus dem obigen Heft herum verfasst habe und der diese in einem vollständig neuen Licht erscheinen lässt. Der neue Text umfasst dabei die Länge eines üblichen ZamorraHardcovers, so dass es auch für diejenigen von euch, die »Das Schloss der Dämonen« zu Hause eingerahmt hinter bruchsicherem Glas in der Vitrine stehen haben, in diesem Buch viel Neues zu entdecken gibt. Wie kam es nun zu diesem Projekt, das ursprünglich als Auftakt der Director's Cut-Serie erscheinen sollte? Dafür muss ich ein wenig weiter ausholen: Professor Zamorra ist der (oder einer der) Held(en) der gleichnamigen Bastei-Heftromanserie, die seit nunmehr weit über 1.600 Wochen kontinuierlich und ununterbrochen läuft – und läuft, und läuft … In diesen über 30 Jahren hat er weit über 800 Abenteuer in Heftromanform bestanden und mittlerweile, den vorliegenden Band eingeschlossen, 14 unglaubliche Hardcover-Ausgaben er- und überlebt. Bestand die Heftserie in ihren ersten 100 Nummern aus einer Abfolge »wilder«, ungeordneter und unkoordinierter Fälle für den
Meister des Übersinnlichen, so änderte sich dies mit dem Einstieg des Autors Werner Kurt Giesa in die Serie. Sein erster Zamorra-Roman erschien unter der Schnapsnummer 111. Werner Kurt Giesa lenkte in zunehmendem Maße und zunächst über lange Jahre anonym unter dem Sammelpseudonym Robert Lamont die Geschicke der Serie. Und er führte sie über Hunderte von Romanen in immer komplexere Zusammenhänge. Werner K. Giesa eröffnete mit seiner überschäumenden Fantasie Handlungsstrang um Handlungsstrang, und viele Themen, die er aufgriff, erwiesen sich als so tief gehend und facettenreich, dass sie viele Jahre lang die Herzen und Spekulationen der Leser bewegten und immer noch bewegen. Wer erinnert sich etwa nicht an die Meeghs, an Magnus Friedensreich Eysenbeiß, an die DYNASTIE DER EWIGEN, das Gespräch hinter der Flammenwand, an Asmodis alias Sid Amos etc.? Diese Handlungsstränge zu ordnen, von Füllhandlungen zu befreien und in einer Art Kompaktausgabe zu veröffentlichen, war die Idee des DIRECTOR'S CUT, und den Auftakt sollte eben der vorliegende Band machen, in dem die besonderen Hintergründe um Zamorras erstes Abenteuer erläutert werden, von denen der Leser bis dato nie etwas erfahren hat. Nichts ist nämlich so, wie wir es bislang dachten. Eine dunkle Bedrohung liegt über den Anfängen … Der Roman von Susanne Wiemer erscheint in zwei Teilen; aus gutem Grund habe ich den Abdruck gesplittet und dem kompletten Buch einen Prolog vorangestellt. So ist alles in allem eine Trilogie entstanden – eine Vor-, eine Zwischen- und eine Nachgeschichte zum ursprünglichen ersten ZAMORRA-Heft. Zamorra selbst hat in deren erstem Teil naturgemäß nur wenig Raum, obwohl er einiges erlebt, das zeitlich nach dem ersten Hardcover »Zeit der Teufel« spielt, dessen Handlung wiederum chronologisch vor dem ersten Heftroman einzuordnen ist (klingt ein bisschen kompliziert, aber Zamorra-Lesen macht bekanntlich süchtig, und die Eingeweihten unter euch werden deshalb wissen, was ich meine). Ich habe darüber hinaus der prominenten und äußerst beliebten Figur Asmodis einen angemesseneren Einstieg verschafft, als das in den ursprünglichen Heftromanen der Fall war, wo der Fürst der
Finsternis zum Beispiel in den frühen Heften 3, 25, 60 und 112 ein doch eher farbloser, beliebig austauschbarer Charakter war – eben dem »ungeordneten Chaos« der Serienfrühzeit entsprechend, in dem die verschiedenen Autoren ohne Absprache Einzelromane schrieben, deren einziger innerer Zusammenhalt in den Figuren Zamorra, Nicole und Bill Fleming sowie dem (allerdings recht unbestimmten) Amulett lag. Ein Widerspruch zur Heftserie wird dadurch keinesfalls aufgetan – wir erleben Asmodis lediglich etwas früher, als es vorher der Fall war. So ist in den beiden neuen Romanen eine Mischung aus Leckerbissen für den Fan der aktuellen Serie und Einzelabenteuer im alten Flair entstanden. Dem Gegner aus Heft 1, Dr. Ramondo, und vor allem seinem stummen Diener Acharat habe ich ein Leben und einen Charakter gegeben … Christian Montillon, Sibuyan, Februar 2005
Prolog Es schmerzt. Es schmerzt … – als Louis de Montagne die Ausweglosigkeit seiner Situation erkennt. Er hält das Amulett in den Händen, dieses wunderbare, rätselhafte, mysteriöse – dieses todbringende Amulett. Er hat in seinen Träumen immer wieder gesehen, was vergangen ist und was kommen wird. Vorausgesetzt, es waren wirklich Träume. Louis de Montagne bezweifelt es von Tag zu Tag mehr. Eher scheint es eine Art Vision zu sein, eine Schau, ein prophetischer, visionärer Blick. Er sieht es: Es gibt keinen Ausweg. Sein Tod steht unausweichlich bevor, und letzten Endes ist das Amulett daran schuld. Die verfluchte, die herrliche, die schreckliche Waffe. Es ist groß wie sein Handteller, eigentlich unscheinbar, und doch trägt es die Macht in sich, nicht nur Louis de Montagnes Existenz völlig aus der Bahn zu werfen, sondern die eines ganzen Dorfes, eines kompletten Landes, eines Kontinents, ja, der ganzen Welt. Und noch weit darüber hinaus. Worte geistern durch Louis de Montagnes Traumvisionen, ihm unverständliche Begriffe. Kraft einer entarteten Sonne. Haupt des Siebengestirns. Myrddhin Emrys, der ungleiche Bruder, der der Hölle den Rücken zukehrt, der Herr und Diener zugleich ist: Merlinus Ambrosius. Und gleichzeitig mit diesen Worten – oder sind es nichts als Wörter? – sieht er etwas vor sich. Etwas Gewaltiges, Unbegreifliches, im eigentlichen Sinne Welterschütterndes. Jemand (oder etwas – Louis bezweifelt, dass es sich um einen Mensch handelt) greift in die Kräfte und Mechanismen des Kosmos ein und holt einen Stern vom Himmel … Louis de Montagne zittert, bebt in seinem Innersten, möchte schreien, als er erkennt, dass er ein Rädchen ist in einem ihn weit
überragenden Getriebe. Ein Rädchen, das seine Funktion zu erfüllen hat. Diese Funktion ist untrennbar verbunden mit dem Amulett – denn Louis muss es weitergeben, weitervererben … Stets gipfelt der Traum oder die Vision oder die Prophetie im Bild seines Neffen, und Louis schreit dessen Namen. Dumpf hallten nur die letzten Silben in dem Steingewölbe wider: Zamorra – Zamorra – morra – orra …
Es schmerzt … – als der, der das Amulett geschaffen hat, erkennt, wie nahe alles daran steht, endgültig und unwiederbringlich zu scheitern. Auch er hat Wege, die Zukunft zu sehen. Eine verschleierte, nicht wirklich festgelegte Zukunft, und auch die Wege dorthin sind in Wirklichkeit verschlungene Pfade. Und doch gibt es ein Element in so vielen Versionen dessen, was kommen wird, dass diese Konstante zur Realität werden muss, um den Fortbestand der Erde (oder des Universums?) zu sichern. Dieses Unveränderliche hat einen Namen, denn es ist ein Mensch. Ein aus gutem Grund jugendlich gebliebener Mann, der seit kurzem hohe universitäre Ehren empfangen hat und der doch noch völlig ahnungslos ist. Professor Zamorra. Der Schöpfer des Amuletts, Herr so vieler Möglichkeiten und Diener des Wächters der Schicksalswaage, zittert, als die Dinge ihren Lauf nehmen.
Es schmerzt … – als Francois Tilogue in seinem Bett liegt und im Licht einer kleinen Nachttischlampe an die Decke starrt. Oh, wie sehr er sie vermisst, seine Frau, sein Herz, seine Liebe. Sie ist weit weg, und obwohl er genau weiß (zumindest hofft er es), dass er richtig gehandelt hat, schimpft er sich einen Narren.
Es schmerzt … – als Dr. Ramondo einen Teil seines eigenen Blutes vergießt, den Mächten des Bösen und der Dunkelheit zum Opfer. Er hat große Ziele, und er will hoch hinaus, und er ist bereit, alles zu
geben. Doch letztlich wird er etwas wecken, das nicht hätte geweckt werden dürfen. Flammen lodern empor, weit entfernt, an einem verborgenen Ort der Gefangenschaft. Tiefes, dunkles Höllenfeuer, gebildet aus Bewusstseinen. Sie wissen, dass ihre Zeit kommen wird. Und deshalb warten sie – die Feuerdämonen.
Und es schmerzt … – als Professor Zamorra sieht, wie seine Sekretärin Nicole Duval schwungvoll das Blatt Papier aus der Schreibmaschine reißt und sich dabei verdammt schmerzhaft in den Finger schneidet.
1. Die Vision des Louis de Montagne Macht euch doch das eine klar: Wenn ein Hausherr im Voraus wüsste, zu welcher Nachtstunde der Dieb kommt, würde er aufbleiben und den Einbruch verhindern. Darum seid jederzeit bereit. Die Bibel: Matthäus 24, 43
Er wanderte unruhig in den ausgedehnten Kellergewölben seines Châteaus umher. Louis de Montagne genoss diesen Moment des Friedens. Augenblicke solcher innerer Ruhe waren in der letzten Zeit immer seltener geworden. Und allein dieser Gedanke brachte die Angst wieder zurück. »Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun?«, murmelte er immer wieder. Niemand hörte seine Worte – natürlich nicht, denn er war völlig allein. Raffael Bois, sein in die Jahre gekommener Diener, kam nie hier herunter. Nur Louis selbst gönnte sich an manchen besonderen Tagen die Freude, die gewaltigen Gewölbe unter Château Montagne wenigstens teilweise zu erforschen. Er hatte hier die erstaunlichsten Dinge entdeckt – wundersame und nahezu unerklärliche Dinge. Und doch war er sicher, dass noch tausend weitere Überraschungen auf ihn warteten. Oder besser: auf ihn gewartet hätten. Wenn da nicht die Gewissheit des nahenden Todes gewesen wäre. Er hatte nie zuvor Zukunftsvisionen erlebt, und deshalb erschreckte ihn umso mehr, was seit einigen Tagen mit ihm vorging. Wieder überflutete die Verzweiflung sein Herz. »Wieso ausgerechnet ich?«, stellte er die Frage in den Raum, die seit jeher Tausende
und Abertausende von Menschen bewegt. Nicht alle davon sind sich bewusst, dass sie mit ihrem Leben und ihren Umständen hadern, anstatt sie anzugehen und sie zu verändern, so weit es ihnen möglich ist. Louis de Montagne hingegen gelang es, seine Situation genau zu durchschauen. Doch ihm war es nicht möglich, etwas zu ändern. Er konnte sich höchstens damit abfinden und sich mit dem arrangieren, was kommen würde. Aber das wiederum gelang ihm nicht. Noch nicht. Louis de Montagne ging zurück in das eigentliche Château, die oberirdischen Räumlichkeiten. Er hatte das Bedürfnis zu reden, mit einem wirklichen, realen Gegenüber, und nicht nur mit sich selbst, wie er es in den letzten Wochen zu seinem eigenen Erschrecken in zunehmendem Maße getan hatte. Und wer bot sich besser als Gesprächspartner an als Raffael Bois, der ihn seit Jahren treu begleitete und längst mehr für ihn geworden war als ein bloßer Diener? Louis musste nicht lange suchen. Er fragte sich immer wieder, wie es Raffael gelang, stets genau dann zur Stelle zu sein, wenn man ihn brauchte. Der alte Mann war in seiner Aufgabe nahezu perfekt, und Louis war überzeugt davon, dass nach Raffaels Tod nichts mehr so reibungslos laufen würde wie vorher. Louis wählte den Tod des Dieners als diesen imaginären Wendepunkt, denn zu Lebzeiten würde Raffael Bois niemals von seinen Pflichten zurücktreten. Ganz sicher nicht. Vielleicht würde er Château Montagne noch in ein Spukschloss verwandeln, weil er selbst nach seinem Tod noch als »guter Geist des Hauses« nach dem Rechten sehen wollte. Der Gedanke erheiterte den Schlossherren. »Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, es ist mir eine Freude, Sie in besserer Laune zu erleben. Sie hinterließen seit einiger Zeit einen niedergeschlagenen Eindruck, Monsieur.« Raffael räusperte sich, ehe er wiederholte: »Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.« »Das tue ich, und das wissen Sie genau.« Louis bemerkte, wie die Bedrückung immer mehr von ihm wich. So war er, der gute alte Raffael – stets mehr als nur korrekt und auf professionelle Distanz bedacht. Ob er wirklich nicht wusste, wie sehr er Louis längst zu einem Freund geworden war? Sie sprachen nie über solche Dinge – in Raffaels Augen schickte es sich nicht. Das Verhältnis zwischen Die-
ner und Herrschaft war für ihn unantastbar. Darum schüttete Louis ihm auch nicht wirklich sein Herz aus, berichtete nichts von den Träumen. »Und Sie haben Recht, Raffael. Es gibt etwas, das mich bedrückt.« Der Diener wand sich unbehaglich. Offenbar befürchtete er, das Gespräch könne in allzu private Themenbereiche gleiten, und das auch noch auf Grund seiner eigenen Nachfrage. »Ich werde mein Möglichstes tun, Ihnen jede Unannehmlichkeit abzunehmen, Monsieur.« »Davon bin ich überzeugt, Raffael, und allein dieses Wissen spendet mir Trost.« »Monsieur?« Fragend zog Raffael die Augenbrauen in die Höhe. »Was halten Sie von Träumen?«, fragte Louis zu seiner eigenen Überraschung. »Träume?« »Glauben Sie, sie können uns unter Umständen Einblicke in die Zukunft geben?« Raffael Bois wirkte unsicher. »Wenn Sie mich um meine private Meinung fragen …« Der Diener brach an dieser Stelle ab, wohl in der Hoffnung, dass er sich in seiner Einschätzung doch getäuscht hatte. »Sie haben es erfasst, Raffael.« »Ich vermag mir keine Umstände vorzustellen, die ein Phänomen wie das von Ihnen geäußerte zu erklären vermöchten«, antwortete der alte Mann umständlich. Louis war längst an die Ausdrucksweise seines Dieners gewohnt. Die gewisse Kompliziertheit gehörte ebenso zu ihm wie sein stets superkorrektes Auftreten. »Und wenn nun jemand das Gegenteil behaupten würde?« »Jemand?« »Irgendjemand«, antwortete Louis ausweichend, jetzt leicht ungeduldig. »Es kommt darauf an, wer dieser Jemand wäre.« Louis las in den Augen des alten Dieners die Worte, die dieser nicht mehr aussprach. Auch wenn es in Wirklichkeit keinerlei Zweifel an
dessen Identität gibt. Natürlich hatte Raffael ihn längst durchschaut. Der Schlossbesitzer schwankte einen Moment zwischen seinen beiden Entscheidungsmöglichkeiten. Dann schloss er kurz die Augen, atmete tief durch und sagte: »Irgendjemand, von dem Sie in der Zeitung lesen. Ein Guru, ein Psychologiedozent, ein praktizierender Parapsychologe, eine Professorin der Philosophie … Suchen Sie sich etwas aus.« Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sich Louis in diesem Moment anders entschieden und einfach nur die nackte Wahrheit gesagt hätte: ich. So aber ging dieser Augenblick vorüber, wie so viele bedeutende Momente vergehen, ohne dass sie von denen, deren Schicksal sie bestimmen, auch nur wahrgenommen werden. »Diesem hypothetischen Jemand würde ich sagen, dass Träume womöglich über die Vergangenheit Aufschluss geben oder über die gegenwärtige Seelenlage des Schlafenden, aber nicht mehr. Ganz gewiss nicht über die Zukunft.« Louis nickte. »Genau so habe ich es auch immer gesehen.« Bis meine eigenen Träume … Visionen begannen … Das Läuten des Telefons unterbrach das Gespräch. »Sie entschuldigen mich, Monsieur«, bat Raffael und ging, um den Anruf entgegenzunehmen. Wahrscheinlich war er erleichtert, diesem Gespräch auf elegante Art und Weise zu entfliehen. »Vertrösten Sie den Anrufer, um wen immer es sich auch handelt, auf später!«, rief Louis de Montagne ihm nach. »Ich bin nicht zu sprechen!« Er wusste, dass er sich in dieser Hinsicht auf Raffael verlassen konnte. Genauso wie in jeder anderen Hinsicht. Nachdenklich ging er zu dem hohen Fenster des Raumes. Regen rann an der Fensterscheibe herab. Draußen herrschte trübes Wetter, und der Anblick schlug Louis aufs Gemüt. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er Raffael gegenüber nicht offener gewesen war. Aber zugleich wusste er, dass er auch in Zukunft nicht darüber reden würde. Denn, so sagte er sich, wenn die Träume tatsächlich Zukunftsvisionen waren, würde er ohnehin nichts ändern können. Bald kam der Diener zurück. »Wie Sie es wünschten, Monsieur, habe ich den Anrufer vertröstet. Jemand möchte aus Forschungsin-
teresse das Château besuchen. Er wird sich morgen wieder melden, um mit Ihnen einen Termin zu vereinbaren, wenn Sie es gestatten.« Louis de Montagne überlief bei diesen Worten ein kalter Schauer, ohne dass er sich erklären konnte, wieso. »Nannte er seinen Namen?« »Ramondo. Dr. Arcaro Ramondo.«
Karinjo lächelte. Selten geschah etwas derartig Widersinniges. Ein Lächeln – Ausdruck der Freude, der Güte, vielleicht der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft anderen gegenüber. Karinjo – ein Wesen, geschaffen aus der Urglut des Bösen, das existierte, um Hass und Elend zu verbreiten, um zu zerstören und zu verderben. Und dennoch lächelte Karinjo. Es war ein grimmiges, Ekel erregendes, durch und durch hässliches Lächeln. Der Dämon wanderte durch die Hölle, verließ den Bezirk, in dem er seit vielen Jahren geruht und der seitdem mannigfaltig seine Struktur und sein Aussehen geändert hatte. Karinjo interessierte sich plötzlich wieder für all das, was er seit einer halben Ewigkeit links liegen gelassen hatte. Die Machtkämpfe, die Intrigen, die unablässigen Feindseligkeiten seiner höllischen Geschwister. Der Neid, die mörderische Ich-Bezogenheit, der Wille, an die Spitze zu gelangen. Karinjo traf bald auf ein unförmiges Monstrum, das seine sechs Extremitäten ausbreitete und glucksende Geräusche von sich gab. Es war nicht in der Lage, sich verbal zu artikulieren, doch in Karinjos Kopf gellten von einer Sekunde auf die andere Worte auf. – WELCH WUNDER! –, höhnte das Monstrum. – KARINJO, DER EINSTIGE VERLIERER, ZEIGT SICH WIEDER. WIE VIELE JAHRE SIND VERGANGEN, SEITDEM DU DICH VERKROCHEN HAST? – Den Angesprochenen durchflutete Zorn ob dieser unverschämten Anrede. »Ich pflege nicht in den jämmerlichen Zeitbegriffen der Sterblichen zu rechnen.«
Gleichzeitig versuchte Karinjo, sich an den Namen seines Gegenübers zu erinnern. Er hatte einmal mit ihm zu tun gehabt, das wusste er. »Aber selbst an meine Ruhestätte ist es vorgedrungen, dass sich an der einen oder anderen Stelle der Höllenhierarchie eine gewisse Dekadenz und Nachlässigkeit breit macht.« – DER EINE NENNT ES RUHESTÄTTE, DER ANDERE EINEN PLATZ, UM WUNDEN ZU LECKEN. – Danach sandte das Monster das Äquivalent eines dröhnenden Lachens in Karinjos Schädel. Blasen wallten auf der schleimigen Oberfläche der Kreatur und zerplatzten. Zähe Tropfen wurden dabei in alle Richtungen geschleudert, doch sobald sie auf den Boden oder an die zerklüfteten blauen Felswände trafen, flossen sie auf dem schnellsten Weg zurück und vereinten sich wieder mit der Körpersubstanz des Schleimdämons. »Nenne es, wie du willst«, konterte Karinjo ungerührt. Dann durchschoss ihn die Erinnerung wie ein Blitz, und er fügte hinzu: »Ssalrogk.« – ICH DACHTE SCHON, DU HÄTTEST MEINEN NAMEN VERGESSEN –, blubberte das Monstrum, merklich weniger Feindseligkeit verströmend als noch vor Sekunden. Wahrscheinlich fühlt er sich geschmeichelt, dachte Karinjo. »Ebenso wenig wie du den meinen.« – DER DEINE VERBREITETE SICH NACH DEINER NIEDERLAGE ÜBERALL IN DER HÖLLE. ALS DEINE DIENERKREATUREN …– »Ich weiß, worauf du hinauswillst«, unterbrach Karinjo. Er verspürte nicht die geringste Lust, an die Vergangenheit erinnert zu werden. Sie war ihm lange Zeit im Kopf herumgespukt. Jahrhundertelang. – SO SAG MIR, WARUM DU DEINE RUHESTÄTTE VERLASSEN HAST. – Karinjo entging nicht, welchen Begriff Ssalrogk verwendet hatte. »Es zeichnen sich Entwicklungen ab, die es als nötig erscheinen ließen«, antwortete er vage. Ssalrogks Körper zuckte, als plötzlich aus der Luft eine niedere vogelartige Kreatur herabstürzte und mit einer ihrer Schnäbel einen Tropfen aus Ssalrogks Körpermasse aufnahm, ehe dieser zu dem
Schleimdämon zurückgelangen konnte. Eine der Extremitäten Ssalrogks dehnte sich auf mehr als die doppelte Länge aus und ergriff das Vogelwesen. Das Ende dieses schleimigen Armes verflüssigte sich, legte sich um den Beutekörper, umschloss ihn komplett und zog sich dann zusammen. Ein gedämpftes jämmerliches Krächzen erklang, dann ein Bersten. Etwas Schwarzes floss durch die halb transparente Extremität, die sich danach wieder zurückbildete. Einige zermalmte Knochen kamen zum Vorschein und fielen zu Boden. Weder Karinjo noch Ssalrogk kommentierten den Vorgang. – ICH KÖNNTE MIR NUR EINE ENTWICKLUNG DENKEN, DIE DICH WIEDER IN DAS AKTUELLE HÖLLENGESCHEHEN ZURÜCKRUFT –, griff der Schleimdämon die unterbrochene Diskussion wieder auf. »Deine Fantasie lässt zu wünschen übrig«, sagte Karinjo, und die Flammen, die stets seinen Körper umloderten, flackerten kurzzeitig heftiger auf und wechselten dabei die Farbe vom gleichmütigen Blau zum emotional aufgewühlten hellen Gelb. Denn Ssalrogk hatte im Grunde natürlich vollkommen Recht. – AUFFALLEND –, kicherte Ssalrogk, – DASS DEIN FEUER DENNOCH EINE DEUTLICHE SPRACHE SPRICHT. – Karinjo gefiel es gar nicht, dass sein Gegenüber offensichtlich in der Lage war, seine Körpersprache zu deuten – in all den Jahren der Isolation hatte er es verlernt, sie unter Kontrolle zu halten und anderen damit den Einblick in sein Innenleben zu verwehren. »Weißt du, ich bedauere sehr, dass ich nicht mehr Zeit habe, weiter mit dir zu plaudern, verehrter Ssalrogk, aber ich muss weiterziehen.« – HÄTTE ICH ES GEAHNT, NICHT WENIGER VEREHRTER KARINJO, WÄRE ICH FRÜHER ZU DIR GEKOMMEN, UM MICH IN RUHE MIT DIR AUSZUTAUSCHEN. – Karinjo hatte das heuchlerische Gerede satt. »Es wird eine Zeit dafür geben.« Vielleicht in weiteren tausend Jahren. Der Kontakt mit Ssalrogk widerte ihn mittlerweile an. Der Schleimdämon erinnerte ihn an einen Ghoul. Natürlich war Ssalrogk viel weiter entwickelt und von älterem und edlerem Geblüt als die parasitären Leichenfresser, aber da war etwas … irgendetwas in seinem Äußeren wie auch in seiner Ausstrahlung, das diesen Eindruck unwillkürlich weckte.
Während sich Ssalrogk entfernte, eine Schleimspur hinterlassend, die in fieberhafter Eile versuchte, zu ihm aufzuholen, ging Karinjo weiter. Er hatte es in der Tat eilig. Es würde nicht einfach werden, sein Ziel zu erreichen. Asmodis, der Höllenfürst, gewährte nicht jedem die Gnade einer raschen Audienz.
Louis de Montagne fiel es schwer, zur Ruhe zu kommen. Seit etlichen Minuten starrte er dieselbe Seite des Buches an, las zum sicherlich zehnten Mal dieselben aus alter Frakturschrift gebildeten Zeilen. Er hatte beschlossen, sich ein weiteres Mal mit der Geschichte des Amuletts zu befassen, obwohl er sie in- und auswendig kannte, zumindest soweit sie überliefert war. Für ein solches Studium gab es wohl kaum einen geeigneteren Ort als die Bibliothek in Château Montagne. In den dort gesammelten Folianten war allerhand darüber zu finden, doch auch hier verlor sich alles im Dunkel der Geschichte. Die Spur führte in die Vergangenheit des Montagne-Geschlechtes, vor allem zu jenem einen, dessen Schicksal so untrennbar mit dem Amulett verbunden war, dass es bis heute seinen Namen trug. Leonardo de Montagne … Louis hatte viel über seinen Urahn in Erfahrung gebracht, mehr als ihm eigentlich lieb sein konnte. Ihn überlief ein Schauer, als er an die abenteuerlichen Umstände dachte, die ihm damals die Vergangenheit aufgeschlossen hatten. Auch jetzt, in der Einsamkeit der Bibliothek, begannen seine Lippen zu zittern, als die Erinnerung daran in ihm hochstieg. Er hatte niemals darüber geredet, und er hatte nichts davon niedergeschrieben. Es war besser so. Niemand sollte jemals davon erfahren, die Vergangenheit sollte ruhen bis ans Ende der Welt. Und doch – das Amulett des Leonardo de Montagne lies ihn nicht mehr los. Es schien untrennbar mit seinem, Louis', Schicksal verbunden. Seine Träume handelten letzten Endes von ihm. Von diesem handtellergroßen Stück aus unbekanntem Metall. Davon, dass die zweifelhafte, allzu unsichere Ruhe, die das Amulett gefunden hatte, sich dem Ende neigte. Es konnte nicht anders sein, denn früher oder
später musste es wieder ans Licht kommen. Ein Gegenstand wie dieser konnte nicht für immer verschollen bleiben, musste förmlich aus der Vergessenheit seines Verstecks im Château gerissen werden. Davon kündete der Traum. Die Vision. Die Prophetie des Schreckens, die Louis de Montagne den Schlaf, den Frieden – und vielleicht schon bald das Leben rauben würde. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Monsieur?«, riss die Stimme seines Dieners Raffael Bois ihn aus seinen grüblerischen Gedanken. Louis zuckte zusammen und schlug in einer reflexartigen Bewegung das Buch zu. Der Einband aus hart gewordenem Schweinsleder knarrte protestierend gegen die unsanfte Behandlung. »Raffael!«, entfuhr es dem Schlossherrn erschrocken, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Entschuldigen Sie, aber Sie reagierten nicht auf meine Rufe von außerhalb der Bibliothek.« »Ich war in Gedanken«, murmelte Louis. »Das war – wenn Sie mir die Bemerkung gestatten – nicht zu übersehen.« »Sagte ich es heute nicht schon? Ich gestatte die Bemerkung, Raffael.« Warum ließ der Diener nicht einfach diese nichts sagende Floskel? Einige Sekunden des Schweigens folgten. »Und, Monsieur? Gibt es heute noch etwas?«, fragte Raffael Bois danach erneut. »Nichts, danke.« Louis de Montagne stand auf und stellte das Buch zurück ins Regal an seinen Platz. Als sich Raffael zurückzog, nahm die Unruhe in Louis de Montagne zu. Draußen herrschte Dämmerung, und in wenigen Minuten würde es völlig dunkel werden. Zu dieser Jahreszeit dauerte die Übergangsphase oft nur kurz an. Montagnes Herz begann heftiger zu schlagen. Er erschrak, als er bemerkte, dass seine Finger leicht zitterten. »Unsinn!«, zischte er wütend über sich selbst. Ja, es war dunkel, und ja, er würde bald schlafen gehen – was nichts anderes bedeutete, als dass er wieder träumen würde. Es führte kein Weg daran vorbei. Ob er sich jetzt schon verrückt machte oder nicht, spielte keine
wirkliche Rolle, veränderte nichts. Überhaupt nichts. Aber die Angst fraß in seinem Inneren. Montagne schloss die Tür der Bibliothek hinter sich und ging in Richtung seines Schlafzimmers. Außer Raffael Bois hielt sich nachts niemand im Château auf. Alle Bediensteten arbeiteten nur tagsüber hier, gingen abends ins Dorf, um dort die Nacht in ihren eigenen Wohnungen zu verbringen, bei ihren Familien. So begegnete Louis niemandem. So schlimm wie heute war es noch nie gewesen. »Ich werde noch verrückt«, murmelte der Schlossbesitzer vor sich hin. Das durfte doch nicht wahr sein! Er sah in den dunklen, nicht erleuchteten Ecken und Gängen des Châteaus schon Bewegungen … Bewegungen, die nicht Wirklichkeit sein konnten. Oder? Wer wusste, wann seine Vision Realität wurde? Oder ob sie schon dabei war, sich zu erfüllen …? Unsinn! Unmöglich! Es konnte nicht so sein! Keines der Vorzeichen hatte sich erfüllt. Keines?, fragte eine leise Stimme in ihm. Wirklich keines? Er schüttelte den Gedanken ab. Warum hegte er überhaupt solche Gedanken? Wenn es wirklich so kommen sollte, wenn die Feuerdämonen wirklich befreit werden würden – Louis würde sie mit dem Amulett unter seine Gewalt bringen können! Er wusste, wo sich das Amulett befand, er konnte es zu seinem Schutz einsetzen! Die Feuerdämonen vermochten ihm nicht zu widerstehen, wenn er die Macht des Amuletts einsetzte. Keinerlei beruhigendes Gefühl stellte sich bei diesen Überlegungen ein. Denn etwas widersprach ihnen. So scharf und unzweifelhaft, dass Louis einfach keinen Frieden finden konnte. Die Vision sprach eine deutliche Sprache. Louis de Montagne würde sterben. Und nicht die Feuerdämonen würden ihn töten. Jemand anderes – oder etwas anderes? Etwas Düsteres, Drohendes, dessen Tödlichkeit alles andere übertraf. Louis wusste keinen Namen, doch er sah stets ein düsteres, grinsendes Totengesicht vor sich, bevor er schweißgebadet aus seinem Schlaf aufschreckte, mit klopfendem Herzen, von Panik übermannt. »Morgen werde ich es endlich erledigen«, flüsterte er. Morgen
würde er sein Testament ändern. Und einen Brief schreiben, der Zamorra das Nötigste erklären würde. Sein Neffe musste in Kenntnis gesetzt werden.
Karinjos Augen zogen sich verärgert zusammen. Er stand vor einem nahezu unüberwindlichen Hindernis. Direkt vor seinen Füßen gähnte ein Abgrund, endlos tief und Hunderte von Metern breit. Zornig kickte Karinjo einen Stein über die Kante und verfolgte seinen Weg. Für einen scheinbar ewigen Moment behielt der Stein seine Größe, schien sich nicht vom Auge des Betrachters zu entfernen, obwohl er doch fiel und fiel. Karinjo wunderte sich nicht darüber. Es war für ihn selbstverständlich. Früher hatte er lange Zeit in den Welten der Sterblichen zugebracht, wo deren Naturgesetze galten und alle Dinge und Existenzen – fast alle Existenzen – den Unabänderlichkeiten Tribut zollen mussten. Doch hier, in der Hölle, galten diese jämmerlichen Festlegungen nicht. Was heute so war, konnte morgen völlig anders sein. Diese Schlucht etwa hatte hier nie zuvor existiert, und die Hölle scherte sich nicht um die von den Sterblichen so genannten Gesetze der Physik. Karinjo spuckte verärgert aus, und es zischte, als der Speichel in dem ihn umlodernden Feuer vollständig verdampfte und als grünliche Wolke emporstieg, bis ein leichter Wind aus der Tiefe der Schlucht sie ergriff und zerfaserte. Warum nur hatte dieser widerliche Ssalrogk ihn nicht gewarnt? Der Schleimdämon musste doch gewusst haben, was hier auf ihn wartete, denn er war aus dieser Richtung gekommen. Ssalrogk war nichts als eine … – ICH WUSSTE JA NICHT, WOHIN DU ZU GEHEN BEABSICHTIGTEST –, gellte die Stimme in ihm auf. »Wie kommst du hierher?«, zischte Karinjo und wirbelte herum. Doch niemand war zu sehen. – ICH BIN NICHT BEI DIR –, höhnte Ssalrogk, – DU HAST DOCH
GESEHEN, DASS ICH IN DIE ENTGEGENGESETZTE RICHTUNG GEGANGEN BIN. DEINE GEDANKEN BESCHÄFTIGTEN SICH JEDOCH MIT MIR, UND ICH HABE DAS GESPÜRT. NUR DAS HAT MEINE AUFMERKSAMKEIT GEWECKT. – »Schnüffel nicht in meinen Gedanken!«, schrie Karinjo, und er wusste, dass alles, was er sprach – und auch die Art, wie er sprach – per Gedankenübertragung zu dem Schleimdämon gelangte. – DU DACHTEST AN MICH, UND WAS ICH HÖRTE, WAR NICHT BESONDERS ERFREULICH. – Ssalrogk sandte diese Gedanken kühl und emotionslos. – SEI FROH, WENN ICH ES NICHT GEGEN DICH VERWENDE. – Karinjo stieß spöttisch die Luft aus. »Lass uns nicht länger darüber reden.« Gleichzeitig legte er einen Wall um seine Gedanken, schottete sich damit vor dem anderen ab, damit dieser nicht länger in seinen Gedanken herumschnüffeln konnte. – SO SAG MIR, WO DEIN ZIEL LIEGT, UND ICH KANN DIR DEN WEG DORTHIN WEISEN. – Was ging in dem Schleimdämon vor? Welche Absicht verfolgte er mit seiner scheinbaren Hilfsbereitschaft? »Jenseits dieser Schlucht«, bestimmte Karinjo vage seine Absicht. – ACH NEIN? –, höhnte Ssalrogk. – DAS HÄTTE ICH NICHT GEDACHT. UNTER DIESEN UMSTÄNDEN, BEI SOLCH MANGELHAFTER KOOPERATION, BLEIBT MIR NUR, DIR VIEL ERFOLG ZU WÜNSCHEN. – »Halt!«, forderte Karinjo. – ICH HABE MICH WOHL VERHÖRT? – »Halt«, wiederholte Karinjo, merklich milder gestimmt. – DU STRAPAZIERST MEINE GEDULD. – »Weise mir den Weg an der Schlucht vorbei, und es soll dein Schaden nicht sein.« – WAS KÖNNTEST DU MIR ZU BIETEN HABEN? – »Die Zeit wird es weisen.« – ZEIT, DIE DU REGLOS IN EINEM ASYL VERBRINGST? – »Die Phase der Ruhe ist vorbei! Ich war lange genug zurückgezogen!«
– SO? –, fragte Ssalrogk lauernd. Karinjo peilte den anderen magisch an und erkannte, dass sich der Schleimdämon nicht weit von seinem eigenen Standort entfernt befand. »Wir sollten uns erneut persönlich treffen, ehe wir Weiteres besprechen.« Wenige Augenblicke später stand Karinjo erneut dem Dämon gegenüber, der ihn so sehr an einen Ghoul erinnerte. Es drehte ihm beinahe den Magen um, dass er gezwungen war, mit dieser Kreatur zusammenzuarbeiten. Doch sonst fühlte er weit und breit keine Präsenz eines anderen Dämons, der ihm hätte helfen können. – ICH BIN BEREIT, DIR ZU HELFEN, WENN DU MEINE NEUGIERDE STILLST. – »Es gibt jemanden, der sich aufmacht, in den Dunstkreis meiner gefangenen Diener zu gelangen«, formulierte Karinjo umständlich und unbestimmt. – EIN MENSCH? – »Einer, der von Macht zerfressen ist – oder besser gesagt: vom Wunsch nach Macht. Ein verkommenes Individuum, dem die Herrschsucht den Verstand raubt. Wie sie eben sind, die Sterblichen.« – NICHT ALLE, LEIDER –, stieß Ssalrogk hervor. – DOCH KOMMEN WIR ZURÜCK ZU DIESEM MENSCHEN. NENNE MIR SEINEN NAMEN. – Die Wissbegierde seines Gegenübers weckte immer stärkeres Misstrauen in Karinjo. »Ich kenne ihn nicht«, log der Dämon deswegen. »Ich spürte nur seine magische Präsenz. Er experimentiert und forscht, um mit den Höllenmächten immer stärker in Kontakt zu treten. Und er hat die Spur aufgenommen, die letztlich zu meinen Dienern führen wird.« – UND WAS GEDENKST DU NUN ZU UNTERNEHMEN? – »Ich werde dem Menschen einen Besuch abstatten.« – ES SCHMERZT MICH, DASS DU MICH SO DREIST BELÜGST! HÄLTST DU MICH FÜR DUMM? WENN DAS DIE WAHRHEIT WÄRE, BRÄUCHTEST DU NICHT DURCH DIE HÖLLE ZU IR-
REN, SONDERN KÖNNTEST DIREKT IN DIE DIMENSION DER STERBLICHEN ÜBERWECHSELN. – »Ich sagte nicht, dass ich direkt dorthin will!«, widersprach Karinjo. »Zuvor …« Er unterbrach sich, und das Feuer um ihn herum loderte einen winzigen Augenblick lang grellgelb auf, ehe er es bewusst unterdrückte. – ZUVOR? – »Zuvor werde ich mit Asmodis sprechen. Ich muss ihn über die Entwicklungen in Kenntnis setzen, da sie der Anfang von etwas sein könnten, das in der weiteren Entwicklung auch unmittelbar ihn selbst betrifft!« – DU HAST ZWEIFELLOS RECHT … – Ssalrogk schwieg einen Moment. – UNSER FÜRST ASMODIS WIRD DIR DANKBAR SEIN. – Und dann, lauernd, fügte er hinzu: – UMSO LIEBER HELFE ICH DIR. ERWÄHNE MEINEN NAMEN BEI IHM. – Das gedachte Karinjo ganz sicher nicht zu tun. »Wir werden sehen.« – DA DU DIE ART DES REISENS, WIE UNSER FÜRST ES BEVORZUGT, NICHT BEHERRSCHST, MUSST DU IN DER TAT DIE SCHLUCHT UMGEHEN. ELEGANTER WÄRE ES FREILICH, WIE ASMODIS SELBST DIREKT IN SEINEN THRONSAAL ZU TELEPORTIEREN. – Der Fürst der Finsternis drehte sich dazu drei Mal um die eigene Achse, stieß mit dem Fuß auf und hinterließ beim Verschwinden und Auftauchen an seinem Zielort einen penetranten Schwefelgeruch. In abgewandelter Form hatte dieser Vorgang sogar in die Mythen der Menschen Eingang gefunden. »Langsam frage ich mich, ob ich mir den richtigen Helfer ausgesucht habe«, beschwerte sich Karinjo skeptisch. »Jeder Dämon, der unaufgefordert in den Thronsaal des Herrschers teleportiert, würde ohne Umschweife von Asmodis vernichtet werden.« – JA, JA –, erwiderte der Schleimdämon betont locker, – ICH HABE ES NICHT WÖRTLICH GEMEINT. EIN BILD, VERSTEHST DU? ODER BIST DU NICHT IN DER LAGE, EIN KLEIN WENIG UM DIE ECKE ZU DENKEN? – Karinjo antwortete darauf nicht, sondern drängte darauf, endlich die entsprechende Wegweisung zu bekommen. Er versprach, Ssal-
rogks Namen wohlwollend Asmodis gegenüber zu erwähnen. Er erhielt die notwendigen Hinweise und war endlich in der Lage, sich auf den Weg zu machen. Er würde fast einen kompletten Tag benötigen, um wieder dichter bevölkerte Bereiche der Hölle zu erreichen. Seine Ruhestätte hatte bereits damals in einem Randbezirk gelegen, doch offenbar war sie durch die ständigen Veränderungen im Laufe der Zeit noch weiter in die Peripherie gerückt worden. Ein weiter Weg lag vor ihm. – ES WAR PURES GLÜCK, DASS DU MICH GETROFFEN HAST –, versicherte Ssalrogk zum Abschied. Das bezweifelte Karinjo zwar, zog jedoch kommentarlos weiter. Dass kurz danach eine Gestalt neben dem Schleimdämon erschien und penetranten Schwefelgeruch verströmte, bekam Karinjo bereits nicht mehr mit.
Louis de Montagne schläft. Die Augäpfel unter seinen geschlossenen Lidern huschen hektisch hin und her. Er befindet sich in tiefem REM-Schlaf und er sieht wilde, verworrene Traumbilder. Noch nicht die Vision, nein – Träume, die seinem gequälten, geknechteten Unterbewusstsein entspringen und die die schlimmsten Spannungen abbauen, sodass er am Tage wieder leben kann, ohne vor Angst und Todesgewissheit zu vergehen. Träume, in denen sich Realität, Ängste und völlig unsinnige Fiktionen zu einem vom Wahnsinn geprägten Einheitsbrei vermischen. Geifernde Dämonen bedrängen ihn, mittelalterliche Heere erstürmen Château Montagne. Fell sprießt aus Montagnes Armen, der plötzlich kein Mensch mehr ist, sondern ein Wolf. Dann starrt er in den Spiegel, wieder ein Mann geworden, dessen Züge verschwimmen, bis er zu seinem Vorfahren geworden ist, zu dem teuflischen, schrecklichen, wundervollen Leonardo. Danach wechselt die Szenerie, und Louis sieht einen Thron aus Knochen, auf dem der Herr der Hölle sitzt, der seinem eigenen Geschlecht entspringt; doch der Thron wird bald von jemand anderem besetzt sein, einer Frau, einer teuflisch schönen Frau mit makellosem Körper, und dann gibt es wieder einen psychedelischen Farbenrausch … Louis de Montagnes Körper findet schließlich Ruhe. Das Zucken seiner
Gliedmaßen endet, seine Atmung beruhigt sich, wird flacher. Die huschenden Bewegungen seiner Augäpfel enden. Die Träume sind beendet. Die Vision beginnt. Montagne atmet ruhig. Sein Körper ist entspannt, doch das Laken, auf dem er ruht, ist von den vergangenen Minuten bereits zerknautscht, die Zudecke ist bis zu seinen Unterschenkeln hinuntergerutscht. Er sieht die Tür. Die Tür mit dem Wappen der Montagnes, irgendwo in den ausgedehnten Kellergewölben des Châteaus. Die Tür, die das Grauen bändigt. Er sieht die Kassette. Die Kassette in der Bibliothek, in der sich das Amulett befindet, das silberne Amulett des Leonardo de Montagne, das als Einziges das Grauen wirklich bändigen kann. Er sieht seinen Neffen. Seinen Neffen, der vor wenigen Wochen die Professorenwürde empfangen hat, und der, so sagt es die Vision, das Amulett erhalten muss. Er sieht die Bedrohung. Die düstere Bedrohung, die sich auf den Weg hierher befindet, namenlos, entsetzlich, skrupellos, um das Amulett selbst in ihre Gewalt zu bringen. Er sieht sich selbst. Louis de Montagne, tot, gemartert – und aus dem Hintergrund schält sich das Totengesicht, die hageren, ausgekehrten Züge. Wie beinahe jeden Morgen wacht Louis de Montagne schreiend auf, und er weiß, was er zu tun hat. Zamorra. Zamorra. Zamorra …
2. Sekretärinnen- und anderer Zorn Kind in meinen Armen: Das, was man denken kann, das kann auch sein. Robert Feldhoff: »Zeuge der Zeit«, Perry Rhodan Band 2250
Nicole Duvals Gedanken zerfaserten, als das Telefon sein schrilles Klingeln verlauten ließ. »Merde!«, zischte sie, denn schon hatte sie wieder vergessen, was sie tippen wollte. Dabei hatte sie lange über die passende Formulierung nachgedacht, und gerade hatte sie mit Ring- und Mittelfinger die beiden ersten Buchstaben des Briefes auf der Schreibmaschine getippt. Sie versuchte sich zu erinnern, aber das andauernde Läuten raubte ihr jede Konzentration. Also hob sie den Hörer ab, presste ihn verärgert ans Ohr und sagte, unter mühsamer Aufbringung aller unter diesen Umständen nur irgendwie möglichen Höflichkeit: »Harvard, Lehrstuhl für Parapsychologie, Büro Professor Zamorra. Sie sprechen mit Nicole Duval.« Sie hatte sich diese Begrüßung angewöhnt, wenn sie auch nicht wirklich die ernüchternden Tatsachen widerspiegelte – es klang doch allzu sehr danach, als sei ihr Chef einer von -zig Professoren für Parapsychologie, die diese noble Universität zu bieten hatte. In Wirklichkeit war Zamorra der einzige; Kollegen konnten sich hin und wieder die Bemerkung nicht verkneifen, er sei der einzige, ein ganz und gar unmöglicher Superlativ, wie Zamorra dann stets konterte. Womit er sich zweifellos im Recht befand. Es rauschte in der Leitung, und Nicole glaubte, eine dumpfe Männerstimme zwischen all den Störgeräuschen zu hören.
»Hallo?«, rief sie. Statisches Knacken antwortete. »Ich kann Sie nicht verstehen! Versuchen Sie es noch einmal, oder schicken Sie ein Fax!« Die Sekretärin wartete noch einen ihr ausreichend erscheinenden Moment ab, in der sie eine Kakophonie aus Knistern und Knacken in ihrem rechten Ohr ertrug, dann beförderte sie den Hörer zurück auf die Gabel. Ihre braunen Augen, mit winzigen goldenen Tüpfelchen in der Iris, die sich wegen ihres Ärgers minimal ausweiteten, funkelten. Ihr überschäumendes Temperament drohte mit ihr durchzugehen. Dafür war sie also aus der Konzentration gerissen worden. Dabei war sie endlich mit der angedachten Formulierung zufrieden gewesen. Sie hasste es, langweilige Dienstbriefe zu schreiben. Sehr geehrter Herr Professor Dr. Dr. X, danke für Ihre Anfrage … Nein, Monsieur Y, Professor Zamorra liest nicht aus Handlinien; die Parapsychologie ist eine ernst zu nehmende Wissenschaft. Wenden Sie sich vertrauensvoll an die nächste Jahrmarktshexe … Lieber Herr Student, Ihre Seminararbeit ist unter aller Würde … Mit freundlichen Grüßen, Professor Zamorra, i. A. Nicole Duval, Tippse. Dann, gleichsam als räuspere sich die Schreibmaschine, um sich zu verbessern, ratterte das Korrekturband und änderte die letzten Zeilen in: Nicole Duval, Sekretärin. Wenigstens setzte ihr Chef Vertrauen in sie und legte nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Sie präsentierte ihm die fertigen Briefe, und wenn er nach einem langen Arbeitstag zu der täglichen Besprechung kam, unterschrieb er meist ungeprüft. Ihre Freundin April Hedgeson hatte ihr schon nahe gelegt, Zamorra doch einmal einen Wisch vorzulegen, der Nicole eine saftige Gehaltserhöhung zusicherte. Sie hatten sich über die Vorstellung köstlich amüsiert, doch Nicole dachte keine Sekunde daran, dieses schändliche Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie war mehr als nur zufrieden mit ihrer Stelle. Zumal sie das Glück gehabt hatte, als Französin in den USA einen Job bei einem Franzosen zu finden. Nicole studierte neben Psychologie, Soziologie und Geschichte auch Amerikanistik und absolvierte gerade ein Auslandsstudium in den Staaten. Sie hatte sich als Sekretärin etwas hinzuverdienen wollen. Und Zamorra, der französische Parapsycholo-
ge, lehrte zurzeit sowohl in Harvard, Boston, als auch an der Columbia University in New York und musste daher viel pendeln. Aus diesem Grund brauchte er eine Sekretärin, die ihm ein wenig von der anfallenden Bürokratie abnahm. Als Zamorra die junge hübsche Nicole Duval vor einigen Monaten im Warteraum der Jobvermittlungsagentur Meyer, Mayer, Meir & Sons entdeckte, hatte er sie vom Fleck weg unter Umgehung aller Formalitäten engagiert, und seitdem arbeitete Nicole für ihn, in den Semesterferien auch hin und wieder ganztags. Von ihrem ersten regelmäßigen Gehalt konnte sie sich sogar ein eigenes kleines Apartment leisten. Zuvor hatte sie als Studentin in einer kleinen Wohngemeinschaft gelebt, mit April Hedgeson und Betty-Ann Marlowe, die sie inzwischen völlig aus den Augen verloren hatte. April hingegen traf sie weiterhin, sooft es ihre Zeit zuließ. Nicole seufzte. Hat ja alles keinen Zweck, dachte sie und riss das Papier aus der Schreibmaschine. Die Walze ratschte, und Nicole fluchte, als sie sich mit dem Bogen Papier in den linken Zeigefinger schnitt. Sofort quoll Blut aus der Wunde, und sie steckte den Finger in den Mund. »Ich dachte, Sie halten alles Übersinnliche für Hokuspokus«, ertönte in dieser Sekunde eine wohlklingende Stimme. Nicole Duval drehte sich herum und blickte ihren Chef an, der unbemerkt eingetreten war. Er war hoch gewachsen, ein sportlicher Typ mit dunkelblonden Haaren und grauen Augen, der Nicole sehr an den JamesBond-Darsteller Roger Moore erinnerte. Wie meist trug er einen weißen Anzug mit dunkelrotem Hemd, und seine durchtrainierte Gestalt imponierte ihr ebenso wie seine grauen Augen. Doch Dienst war Dienst, und Schnaps war Schnaps, was nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als dass Zamorra, was Romanzen oder gar – Nicoles Magen flatterte bei dem Gedanken ein wenig – Sex anbetraf, so tabu war wie der Papst oder ein hundertzwanzigjähriger indischer Eremit. »Ja und?«, fragte sie skeptisch, aus der linken Mundhälfte nuschelnd, denn ihre Zunge war nach wie vor mit ihrem Zeigefinger beschäftigt. »Also müsste Ihnen doch auch der Vampirismus fremd sein, Ma-
demoiselle Duval.« Zamorra lachte und deutete auf ihren Mund. Nicole seufzte, nahm den immer noch blutenden Finger aus dem Mund und wickelte ihn in ein Taschentuch. »Sie mögen an das glauben, was Sie lehren, Chef, ich jedoch nicht.« Während das Taschentuch ihr Blut aufsaugte, fügte sie rasch hinzu: »Was mich nicht daran hindert, eine gute Sekretärin zu sein.« »Die beste«, bestätigte Zamorra, »sonst hätte ich Ihren unverschämten Vertragswünschen niemals zugestimmt.« »Was Sie damals allerdings noch nicht wissen konnten, als Sie den Vertrag unterschrieben«, antwortete Nicole spitz. »Ich wusste damals so einiges. Nennen Sie es Intuition.« »Oder Hellseherei?« »Hm«, brummte Zamorra. »Vielleicht war es auch der Umstand, dass Sie ebenso wie ich aus Frankreich stammen.« »Lag es wirklich nur daran?« Er räusperte sich und wechselte unvermittelt das Thema. »Ich habe nicht viel Zeit, ehe ich in die nächste Vorlesung muss. Was gibt es Neues?« »Das ist sogar in der kurzen Zeit zu bewältigen, Chef: nichts.« »Nichts außer der Tatsache, dass meine Sekretärin zum blutsaugenden Vampir geworden ist?« »So ein blöder Anruf hat mich …« Nicole unterbrach sich und begann von Neuem: »Das Läuten des Telefons riss mich aus der Konzentration. Ich benötigte ein neues Blatt für die Schreibmaschine und zog deshalb das alte möglicherweise ein wenig zu impulsiv heraus.« »Wer hat angerufen?« »Es war nichts zu verstehen. Nur Knacken in der Leitung.« »Faszinierend«, murmelte Zamorra halblaut. »Was ist daran faszinierend?«, wunderte sich Nicole. »Es war eben eine schlechte Verbindung.« Wer weiß, ergänzte sie in Gedanken, vielleicht wollte irgendein Busch-Schamane etwas von seinem Kollegen, der zu universitären Ehren gelangt ist. Sie sagte es nicht laut, auch wenn Zamorra sie sicherlich richtig verstanden und über diesen Spruch geschmunzelt hätte.
»Nicht das Telefonat«, widersprach Zamorra und wirkte auf einmal leicht abwesend. »Die Tupfer in Ihren Augen weiten sich, wenn Sie zornig sind.« Das verschlug Nicole die Sprache. Unangenehm berührt besah sie sich die Wunde an ihrem Finger, die endlich aufgehört hatte zu bluten. »Nun ja …«, sagte sie zaghaft. »Wenn er wieder anruft, versuchen Sie herauszufinden, um wen es sich handelt«, bat Zamorra. »Ich glaube kaum, dass wir noch einmal etwas davon hören werden, Chef. Wird sicher falsch verbunden gewesen sein.« Mit beiden Vermutungen lag sie so falsch, wie sie nur falsch liegen konnte. Das nicht stattgefundene Telefonat war der Auftakt zu einem tödlichen Abenteuer, das auch ihr eigenes Leben völlig auf den Kopf stellen sollte. Das Grauen warf seine Schatten voraus …
Karinjo wartete in Höllentiefen. In ihm gärte der Zorn. Zorn über sich selbst. Denn kaum hatte er zum ersten Mal seit einer schieren Ewigkeit seinen Ruheort verlassen, war er auf die Hilfe einer widerlichen Kreatur wie Ssalrogk angewiesen. Das war kein gutes Omen für die vor ihm liegende Zeit. Andererseits wollte ihn Asmodis empfangen, und dieser Triumph besänftigte seinen Zorn. Der Fürst habe zwar noch zu tun, war ihm ausgerichtet worden, doch er habe ihn bereits erwartet und ließe ihm mitteilen, dass er warten sollte. Auf Karinjos drängende Fragen hatte der Botschafterdämon nicht geantwortet, sondern sich kommentarlos zurückgezogen. Deswegen gärte nicht nur Zorn in Karinjo, sondern auch die Ungewissheit und die große Frage nach dem Warum. Wie hatte Asmodis ihn bereits erwarten können? Um Karinjo war es so lange still gewesen, dass er glaubte, alle müssten ihn schon längst vergessen haben … Doch offenbar hatte der Fürst der Finsternis seine Augen und Ohren überall. Sogar in Karinjos stillem Exil. Und an genau dem Platz auf der Erde, der zur Ursache dafür ge-
worden war, dass Karinjo wieder aktiv wurde. Der Dämon, der als Botschafter Asmodis' fungierte, trat wieder vor Karinjo. Ob es endlich so weit war? Ob der Fürst ihn jetzt empfing? Doch die mit Stacheln bewehrte massige Kreatur schenkte Karinjo keinerlei Aufmerksamkeit, sondern zog auf ihren vier säulenartigen Beinen in raschem Lauf an ihm vorbei. Die Hornplatten, die den kompletten Körper überzogen, gaben dabei knarrende Geräusche von sich. »Warte!«, schrie Karinjo aufgebracht. Das Monstrum blieb stehen und drehte den halslosen Kopf um 180 Grad. »Was willst du? Ich habe dir alles gesagt, das du wissen musst!« Bei jedem der Worte rannen Speichelfäden aus dem zähnestarrenden Maul. »Und dafür danke ich dir«, lenkte Karinjo diplomatisch ein. »Doch mich wundert, warum der Fürst mich bereits erwartet hat. Wer hat ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass ich zu kommen beabsichtige? Ich habe mit niemandem darüber geredet, und …« »Hüte deine Zunge!«, ereiferte sich die hornschuppige Kreatur. »Der Fürst ist allwissend und benötigt niemanden, der ihn über einen Winzling wie dich unterrichtet!« Zwei dicke Panzerschuppen, die übereinander geschoben wurden, verursachten ein hohes Kreischen, als der Dämon eine seiner Extremitäten hob und drohend an seinen Leib heranzog. Karinjo spürte, dass er sich auf dünnes Eis begeben hatte, und das bei den hier herrschenden Temperaturen, umgeben von ewig lodernden Flammen – die Karinjo allerdings das Gefühl von Heimat und Geborgenheit gaben. »Niemals würde ich die Fähigkeiten unseres Herren anzweifeln!«, beeilte er sich zu versichern. »Das wäre dir auch nicht zu raten.« Der Kopf des Dämons drehte sich wieder. »Und nun solltest du dich der Weisheit des Fürsten beugen und warten, wie er es dir befohlen hat.« »Obwohl du Recht hast, wage ich dennoch zu fragen …« »Sprich rasch und vergeude nicht meine Zeit! Asmodis hat mich mit mehr Aufgaben betraut, als du in deinen jämmerlichen Feuer-
schädel hineinbekommen könntest!« Alles in Karinjo wallte auf, drängte danach, die Energien, die er während seiner Ruhephase gesammelt hatte, gegen diese überhebliche Kreatur zu werfen. Er wusste, er hätte gesiegt, denn er war stärker als je zuvor. Doch die Situation gebot ihm, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. »Ich danke dir für deine Hinweise und deine Hilfe«, presste Karinjo deshalb hervor. »Da du ja über die Aktivitäten unseres Fürsten bestens informiert bist, weißt du sicher, wann er in seinen Thronsaal zurückkehren und mich empfangen wird.« »Das weiß ich in der Tat«, antwortete der Stachelbewehrte. »Dann, wenn er es für richtig erachtet.« Seine vier Beine setzten sich wieder in Bewegung. Karinjo sah keinen Sinn darin, ihn noch weiter aufzuhalten. Er war nichts weiter als ein aufgeblasener Wichtigtuer, davon war Karinjo überzeugt. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er zu wissen vorgab. Also wartete Karinjo, während das schleifende Geräusch des sich entfernenden Hornschuppigen leiser wurde und schließlich völlig verebbte. Er wartete und überlegte, warum der Fürst der Finsternis so gut über ihn Bescheid wusste. Karinjo freute sich bereits darauf, auf die Erde zurückzukehren. Sein Blutdurst war groß, und er wollte Menschen töten, um ihre Energien im Moment ihres Todes in sich aufzunehmen. Danach hatte er ein klares Ziel. Es verband sich mit dem Mann, der sich aufgemacht hatte, Karinjos Schicksal zu ändern, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, was er in Bewegung gesetzt hatte. Dr. Arcaro Ramondo.
»Die Frage ist doch«, resümierte die langhaarige blonde Studentin, deren Ausschnitt tiefer ging als ihre fachspezifischen Kenntnisse, »glauben wir an die quasiprophetische Funktion von Träumen oder nicht?« Sie schob auf ebenso provozierende wie tumb wirkende Weise ihre Unterlippe nach vorn. »Was meinen die anderen Teilnehmer dieses Seminars zu dieser
…«, Professor Zamorra stockte, »… Auffassung?« Wie hieß diese Blondine doch gleich? Simmons? Simonis? Irgendetwas in der Art … »Nun«, rief Charles Flones, ein Student im tausendsten Semester, der – wie er Zamorra glaubhaft versichert hatte – die Parapsychologie als ein zukunftsweisendes Fach ansah, obwohl er eigentlich Biologie studierte und nur Gasthörer in Zamorras Vorlesungen war. »Nun«, wiederholte er, während er sich bedächtig erhob, »Glauben ist wohl noch nicht einmal für die Theologie relevant.« »Ich vermute«, warf die Blondine ein, kam jedoch nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu führen. »Vermutungen sind ebenso irrelevant!« Charles Flones klang belustigt. »Schließlich sind wir Wissenschaftler und keine Vermutungsschaftler.« Diese wenig geistreiche Bemerkung brachte ihm den einen oder anderen verhaltenen Lacher ein. »Es tut mir Leid«, unterbrach Zamorra, »auch wenn wir an einem interessanten Punkt angelangt sind, ist dennoch unsere Zeit vorüber. Wir werden heute in einer Woche an diesem Punkt wieder einsteigen. Merken Sie sich ihre Kommentare, meine Damen und Herren.« Während er noch einige Fragen beantwortete und dann möglichst rasch den Saal verließ, fragte er sich, ob es jemals anders werden würde. Die Situation eben war absolut typisch gewesen. Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Professor Zamorra!« In den beiden Worten lag ein Timbre, das so manchem männlichen Kollegen die Nackenhaare hätte in die Höhe schnellen lassen – und vielleicht noch etwas anderes. Er jedoch war, was diese Frau anging, kuriert. Es war die Blonde – Sim-irgendwas. »Bitte?«, fragte er höflich, während er stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. »Ich hoffe, Sie nehmen mir nicht übel, was ich gerade gesagt habe«, hauchte sie und zupfte ihr Top zurecht, womit sie den V-förmigen Ausschnitt noch einige Zentimeter in Richtung Bauchnabel zwang. »Ganz und gar nicht. Allerdings ist die Parapsychologie handfester,
als Sie vielleicht glauben möchten.« Zamorra betrachtete die Angelegenheit damit als erledigt. Er verspürte nicht die geringste Lust, über Sinn und Unsinn seines Fachs zu diskutieren. Nicht jetzt noch. Eine kurze Stippvisite in seinem Büro, nachsehen, ob Nicole Duval noch einige Papiere zum Unterschreiben hatte, und dann ab nach Hause. »Muss es wohl, wenn sogar hier in Havard eine eigene Professur eingerichtet wurde«, kommentierte die Studentin. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte Zamorra müde. »Ich … nun ja …« »Tun Sie sich keinen Zwang an«, forderte er sie auf. »Ich frage mich, ob das Fach für mich das Richtige ist«, rückte Simmons-Simonis mit der Sprache heraus. »Kommen Sie doch am Donnerstag in meine Sprechstunde. Dann können wir in aller Ruhe über Ihre Gedanken und Ihre Situation reflektieren.« Damit gab sie sich zufrieden, und sie verabschiedeten sich. Kurz darauf betrat Zamorra sein Büro und fand dort eine nun glänzend gelaunte Nicole Duval vor. »Alles erledigt, Chef«, sagte sie zufrieden. »Wenn Sie Ihre Unterschrift unter diese fünf Briefe leisten, können sie ab in die Post.« »Und wir beide ab in den Feierabend.« »Klingt famos!« Zamorra unterschrieb, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Schriftstücke zu werfen. »Eines Tages überschreibe ich Ihnen auf diese Art und Weise noch mein ganzes Vermögen.« Nicole grinste. »Prinzipiell keine schlechte Idee. Ich habe auch schon darüber nachgedacht.« »Dann können Sie den Job hier schmeißen und den Rest Ihrer Tage auf einem hübschen kleinen, luxuriösen Schloss verbringen.« »Haben Sie etwa eins im Angebot?« Professor Zamorra schmunzelte. »Meine Vorfahren besaßen ein Château im Loire-Tal in Frankreich. Es ist immer noch in Familienbesitz.« »Klingt romantisch«, schwärmte Nicole. »Schätze, das würde mir
gefallen. Bei Ihrer Profession gibt es dort wohl allerdings das eine oder andere Gespenst, das einem den Aufenthalt vermiesen kann. – Etwas anderes, Chef: Der mysteriöse Anrufer hat sich noch zwei Mal gemeldet.« »Und?« »Kein verständliches Wort.« »Seltsam«, meinte Zamorra, ohne sich allerdings weitere Gedanken darüber zu machen. Hätte er es nur getan. Vielleicht wäre für seinen Onkel Louis de Montagne dann alles anders gelaufen. Vielleicht …
Karinjo stand seinem Fürsten gegenüber. Doch nicht nur diesem, denn neben Asmodis und ihm selbst befand sich ein weiterer Dämon im Thronsaal. Es hatte Karinjo äußerste Mühe gekostet, diesem keine Feuerlohe entgegenzuschicken, als er ihn hier erblickte. Ssalrogk, der Schleimige … Karinjo tat, als habe er ihn nicht bemerkt. Er gönnte ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit, sondern sah abwartend und in gezwungen demutsvoller Haltung den Herrn der Hölle an. Asmodis, der Schrecken erregende Herrscher in den dunklen Schwefelklüften, unangefochtener Führer aller Dämonen, dem jeder Rechenschaft schuldete. Jeder, außer den beiden, die über ihm standen: Der Ministerpräsident Lucifuge Rofocale, und LUZIFER, der KAISER selbst, der hinter der undurchdringlichen Flammenwand thronte. Karinjo schwindelte, als er diese beiden Namen auch nur dachte. Sie waren das Synonym der absoluten, ewigen, unerschütterlichen Macht. Schon Asmodis war unantastbar, und nur er und der Ministerpräsident konnten überhaupt durch die Flammenwand treten, um mit dem KAISER zu sprechen, ohne sofort ein schreckliches Ende zu erleiden. Einen ewigen, nie endenden Tod, wie die Gerüchte sagten. »Du hast also den Weg zu mir gefunden und dein jämmerliches Krankenbett verlassen«, donnerte Asmodis' Stimme durch den
Thronsaal. Karinjo ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn diese Worte trafen. Dem Fürsten zu widersprechen, wäre leichtsinnige und selbstzerstörerische Torheit gewesen. Also nahm er die entwürdigende Bezeichnung Krankenbett hin. »Ich danke tausend Mal, dass ich eine Audienz in solch kurzer Zeit …« »Ja!«, unterbrach der Herr der Hölle. »Den Dank schuldest du mir, und ich werde ihn zu gegebener Zeit einfordern!« »Jederzeit, wann immer Ihr es wünscht, Meister.« Karinjo katzbuckelte, und die Flammen um seinen Körper loderten höher, wie sie ohnehin in Gegenwart Asmodis' stärker waren als sonst. Die schiere Präsenz eines solch starken Dämons schien ihnen Nahrung zu geben. »Trage dein Anliegen vor!«, rief Asmodis ungeduldig. »Du bist nicht der einzige meiner Diener, um den ich mich zu kümmern habe!« »Wenn mir vorher eine Frage gestattet ist«, begann Karinjo vorsichtig und wies dann mit ausgestrecktem Arm auf Ssalrogk. »Was macht er hier?« Seine Stimme barst bei den letzten Worten vor Aggressivität. »Wenn ich möchte, dass er sich hier aufhält, was kümmert es dich?«, fragte Asmodis lapidar, schien sich dann jedoch eines anderen zu besinnen und fügte hinzu: »Als ich erkannte, dass du dein … Asyl bald verlassen würdest, schickte ich ihn dir entgegen, damit er mir berichten kann, wie es um dich bestellt ist.« Ein hässliches, abgrundtief böses Lachen folgte. »Ich sorge mich eben um meine Diener!« Ssalrogk war also nichts weiter als ein Spion gewesen! Und er hatte kein Wort darüber verloren, von Asmodis ausgesandt zu sein, hatte den Unwissenden gespielt, Karinjo getäuscht und ihm damit seine Pläne zu entlocken versucht. – DU BIST ALSO VOLLER ZORN AUF MICH, WEIL ICH MEINEM MEISTER GEHORCHTE, WIE ES MEINE SCHULDIGKEIT WAR UND IMMER SEIN WIRD? –, drang Ssalrogks Stimme lauernd in Karinjos Gedanken. Zweifellos hörte Asmodis sie ebenso. »Wie kommst du darauf?«
– DEIN ZORN UMLODERT DICH EBENSO SICHTBAR, ALS WÄRST DU IN RASEREI AUSGEBROCHEN. – »Schluss jetzt!«, unterbrach Asmodis barsch. »Ssalrogk, geh mir aus den Augen und kümmere dich um deine Geschäfte! Und du, Karinjo, tobe deinen Zorn auf der Erde unter den Sterblichen aus, sobald ich unsere Unterredung als beendet ansehe!« Ssalrogk wandte sich ab und wollte den Saal verlassen. Asmodis legte seine Hände aneinander, dass beide Zeigefinger und Daumen einen geöffneten Kreis bildeten. In ihnen formierte sich ein grünes Wabern, das plötzlich zu zucken begann und dann auf Ssalrogk zujagte. Der Dämon stieß ein erbärmliches Wimmern aus, als sich das grüne Etwas in seinen Rücken bohrte. – IHR … IHR HÄTTET MICH UM EIN HAAR VERNICHTET. – »Mit etwas Schwund muss man immer rechnen«, erwiderte Asmodis jovial. »Du hast vergessen, mir deinen Tribut zu zollen«, zischte er dann. – ICH DANKE EUCH FÜR DAS IN MICH GESETZTE VERTRAUEN, MEISTER, UND STEHE JEDERZEIT WIEDER ZUR VERFÜGUNG – schleimte der Schleimige, verneigte sich und floss aus dem Saal. – VERZEIHT MEINE NACHLÄSSIGKEIT. – »Mein Großmut steht der Fülle meiner Macht in nichts nach«, murmelte Asmodis selbstverliebt, ehe er sich Karinjo zuwandte. »Hast du geglaubt, du wärst der Einzige, der das Schicksal deiner Diener, der auf Schloss Montagne gefangenen Feuerdämonen, beobachtet?« Asmodis legte seine Hände auf die Seitenlehnen seines Throns. »Auch mir ist es nicht entgangen, dass der Mensch Arcaro Ramondo sich aufgemacht hat, das Amulett des Leonardo de Montagne zu finden. Zweifellos wird er in den Sog der Feuerdämonen geraten.« »Er wird sie aus ihrem Gefängnis befreien und …« »Abwarten«, sagte Asmodis kühl. »Es ist durchaus möglich, doch es kann auch anders kommen. Wenn deine Diener von ihrem Bann befreit werden sollten, wirst auch du in meinen Augen wiederhergestellt werden. Deine Ehre und dein Status werden nicht länger anrü-
chig sein. Du solltest Ramondos Treiben genau beobachten und auch ein Auge auf den Besitzer von Château Montagne werfen!« »Genau das gedenke ich zu tun!« Karinjo schalt sich einen Narren, dass er nicht daran gedacht hatte, dass Asmodis selbstverständlich über alles genau Bescheid wusste. Wie hatte er nur an seiner Allwissenheit zweifeln können? »Dann tu es, und tu es schnell! Louis de Montagne trifft Vorbereitungen, denn er hat Visionen von der Befreiung der Feuerdämonen. Auch darüber hinausgehende Visionen …« Die letzten Worte sprach der Herr der Hölle nachdenklich. »Woher kommen die Visionen?«, wollte Karinjo wissen. »Es liegt in der Natur der Dinge«, antwortete Asmodis. »Magie ist im Spiel, wird wirksam, und auch Louis de Montagne wird davon berührt.« »Was unternimmt Louis de Montagne diesbezüglich?« »Er wollte mehrfach Kontakt zu seinem Neffen aufnehmen – Zamorra.« Die letzten Silben verhallten. Es schien, als lausche Asmodis dem Namen nach. »Zamorra?«, fragte Karinjo. »Wer ist das?« Auf diese Frage wollte Asmodis offenbar keine Antwort geben. »Ich habe den telefonischen Kontakt persönlich unterbunden, doch ich werde mich mit derlei Kinkerlitzchen nicht mehr abgeben! Es ist deine Aufgabe! Geh auf die Erde, hole dir Kraft und nimm deine Angelegenheiten selbst in die Hand!« Karinjo verneigte sich. »Ich danke Euch, dass Ihr mir die Weisung gegeben habt, die ich mir von Euch erhoffte.« »Erledige alles zu meiner Zufriedenheit!«, forderte Asmodis. Der Herr der Feuerdämonen vollführte eine Geste der Zustimmung. Er hätte alles getan, was Asmodis forderte, doch in diesem Fall deckten sich ihre Interessen vollkommen. Geh auf die Erde und hole dir Kraft … Karinjo würde die Lebensenergie einiger Menschen in sich aufnehmen. Seit Hunderten und Aberhunderten von Jahren freute er sich darauf! Immer wieder hatte er es sich ausgemalt, und endlich, endlich wurde es Realität.
Louis de Montagne spürte genau, dass die Zeit knapp wurde, ebenso wie die Visionen immer drängender wurden, als rücke die Zeit, in der sie zur Realität wurden, immer näher. Mehr noch: als stehe das schreckliche Ereignis unmittelbar bevor. Als Louis heute Morgen erwachte, konnte er in der Einsamkeit seines Bettes die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weinte um all das, was er in seinem Leben verpasst hatte. Eine Frau, der er seine Liebe schenken konnte und von der er geliebt wurde. Kinder, die Château Montagne mit Leben erfüllten … Louis war selbst erstaunt, wie schwer die Last dessen, was er nicht erlebt hatte, wog. Dann schlug er entschlossen die Decke zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und trat vor den Spiegel; er hing neben der Badezimmertür. Ein müdes Gesicht starrte ihm entgegen, unter dessen Augen dicke Ringe lagen. »Heute wird es funktionieren«, murmelte er halblaut, um sich selbst Mut zu machen. Er hatte gestern mehrfach versucht, seinen Neffen Professor Zamorra zu erreichen. Was er ihm sagen sollte, darüber war er sich selbst nicht ganz klar. Sicher, sein Neffe hatte den sehr ungewöhnlichen Beruf des Parapsychologen eingeschlagen – aber was sollte Louis ihm sagen? »Hallo, lieber Neffe, ich rufe an, weil ich Visionen habe. Weißt du, ich sterbe in diesen Visionen, und außerdem spielt das Amulett unseres Vorfahren Leonardo darin eine wichtige Rolle. Du erinnerst dich doch an Leonardo, den Schandfleck der Familiengeschichte? Und – ach ja, ehe ich es vergesse: Du tauchst auch in diesen Visionen auf. Das Amulett ist bei dir wohl am besten aufgehoben, denke ich. Oder denkt der, der mir die Vision schickt. Oder wer oder was auch immer. Übrigens: Hast du gut geschlafen?« Lächerlich! Dennoch wollte Louis es unbedingt noch mal versuchen, mit seinem Neffen in Kontakt zu treten. Die richtigen Worte würden schon kommen, wenn doch nur die Verbindung zustande kam. Es war wie verhext – Frankreich und Amerika lagen doch nicht in unzivilisierten Kontinenten, die …
Seine Überlegungen stockten. Verhext? Konnte das sein? War es im Bereich des Möglichen, dass …? Inzwischen war Louis ins Badezimmer getreten, drehte den Wasserhahn auf und beugte sich über das Waschbecken. Mit den Händen warf er sich eiskaltes Wasser ins Gesicht und prustete. Louis de Montagne absolvierte eine rasche Katzenwäsche und schlüpfte in seine bereitliegende Kleidung. Noch vor dem Frühstück würde er etwas erledigen, das in seinen Augen keinen weiteren Aufschub duldete. Er hatte es sich gestern Abend überlegt. Er musste sein Testament erweitern, Zamorra einen Brief hinterlassen. Denn sein Neffe durfte nicht unwissend in sein Verderben rennen! Louis eilte in die Bibliothek, wo er in einem antiken Sekretär sein Briefpapier mit dem Wappen der Familie als Wasserstempel aufbewahrte. Er legte einen Bogen vor sich und griff nach seinem vergoldeten Füllfederhalter. Dann schrieb er: Mein lieber Neffe! Wenn du dies liest, werde ich bereits begraben sein. Er stockte. Wie sollte er fortfahren? Gestern hatte er sich entschlossen, nichts von den Visionen zu erwähnen. Das war ein Thema für das persönliche Gespräch. Doch jetzt geriet er ins Zweifeln und wog die Alternativen wieder und wieder gegeneinander ab. Schließlich schloss er die Augen, stieß laut die Luft aus und beschloss, nach seiner gestrigen Entscheidung zu handeln. Wie immer und wann immer ich auch gestorben bin, mach dir keinen Kummer darüber, denn ich habe lange genug gelebt und ich bin glücklich gewesen. Louis starrte die letzten Worte an, als seien sie blanker Hohn. Ja, er war glücklich gewesen – bis vor einigen Wochen. Doch dann schrieb er fieberhaft weiter, in seiner energischen Handschrift. Er hatte Zamorra noch einiges mitzuteilen und musste ihn vor allem warnen. Ich habe dir Château Montagne vererbt, weil …
»Mit freundlichen Grüßen, Ihr Professor Zamorra, Harvard University«, tippte Nicole Duval. Dann zog sie das Papier aus der Schreibmaschine. Der Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits nach drei Uhr
nachts war. Sie war hundemüde, und sie ärgerte sich darüber, dass sie wieder einmal Arbeit mit nach Hause genommen hatte. Nicht genug Arbeit, um bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt zu sein, so ehrlich war sie zu sich selbst – aber ein kleines Schwätzchen mit April Hedgeson war ihr dazwischen gekommen. Das nahm stets einige Zeit in Anspruch, zumal wenn sich die beiden jungen Frauen über Mode und Autos unterhielten. Jetzt war sie völlig am Ende und löschte das Licht in ihrem kleinen Apartment, das sie vor wenigen Wochen bezogen hatte. Sie schlüpfte sofort unter die Decke auf ihrem kleinen, aber bequemen Bett. Das Läuten des Telefons riss sie aus den Kissen, und sie sah mit klopfendem Herzen auf die Anzeige ihres Weckers. 3 Uhr 49. Offenbar war sie inzwischen bereits schon eingeschlafen. Das nervtötende Geräusch wollte und wollte kein Ende nehmen, und schließlich quälte sich Nicole aus dem Bett. Wer konnte das sein um diese Uhrzeit? Jemand aus ihrer Familie? April? Oder sogar – Zamorra? Sie hob ab und meldete sich mit ihrem Namen: »Duval!« »Unglaublich!«, hörte sie eine aufgeregte Stimme. »Endlich erwische ich Sie! Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss dringend mit Ihrem Chef sprechen! Meine Güte, wie spät ist es bei Ihnen überhaupt? Mitten in der Nacht sicherlich … ich …« Der Wortschwall brach ab, es knackte und rauschte, dann war die Leitung sekundenlang tot, bevor ein rasch aufeinander folgendes Tüten erklang. »Na prima«, ächzte Nicole. Da kam endlich eine Verbindung zustande, und der mysteriöse Anrufer nannte nicht einmal seinen Namen. Und dafür opferte sie ihren ohnehin viel zu knappen Schönheitsschlaf. Sie würde der- oder demjenigen an der Uni, der dem Anrufer ihre Privatnummer gegeben hatte, gehörig die Leviten lesen. Sie hätte es halten sollen wie Zamorra, der seine Privatnummer erst gar nicht hinterlegt hatte. Doch morgen würden sie Boston erst einmal wieder hinter sich lassen. Ein Trip nach New York an die Columbia-Universität stand an, denn Zamorra lehrte nicht nur in Harvard, sondern auch dort. Das verursachte einen straffen Zeitplan und eine Menge Reisen – Stress, der allerdings auch etwas Gutes hatte. Denn Harvard war
zwar das Nonplusultra aller Universitäten, doch die Einkaufsmeilen in New York waren nicht zu verachten. Und so blieb das Geheimnis des unbekannten Anrufers ungelöst …
Charlene kicherte albern, als sie die immer zudringlicher werdende Hand des Typen neben ihr von ihrem Knie schob. Wie hieß er doch gleich? Verdammt noch eins, sie hatte doch glatt seinen Namen vergessen. Egal. »Hab dich nicht so«, säuselte er mit grässlichem Pseudo-Französisch-Akzent und schob seine andere Hand diesmal sogar unter den Saum ihres Minirocks. Da dieser knalleng anlag, blieb ihm nichts anderes übrig, als dabei an der Innenseite ihres Schenkels nach oben zu wandern. Das ging Charlene dann doch zu weit. Sie fasste zu, gerade in dem Moment, als sein Zeigefinger in ihr Höschen glitt, schob diese zweite Hand entrüstet von sich und drückte sie dem Kerl in dessen eigenen Schritt. »Reagier dich am besten erst mal an dir selbst ab!«, riet sie ihm und stand auf, winkte dem Barmann – jeder Zuruf wäre in dem dröhnenden Bass der Musik chancenlos untergegangen –, drückte ihm einen Zehner in die Hand und ließ die erhitzte Atmosphäre der Disco hinter sich. Im Freien atmete sie erst einmal tief durch. Der Typ war ihr am Anfang durchaus sympathisch gewesen, und wer weiß, was noch gekommen wäre – aber nicht auf diese Art! Der hatte doch einen an der Krone, sie hier vor Hunderten anderen derart zu begrapschen. Arschloch! Ein Bus hielt direkt vor ihr, doch sie stieg nicht ein. Sie wohnte nur etwa fünfzehn Gehminuten entfernt in einer kleinen Bude, die so ziemlich das Schäbigste war, das sie bisher auch nur gesehen hatte. Aber was sollte sie machen? Wer als junger Mensch aus der Provinz hierher nach Paris kam, um sein Glück zu versuchen, der musste nehmen, was immer ihm angeboten wurde. Inklusive eines Jobs als Hausmädchen eines versnobten piekfeinen Ehepaars. Doch der Job war überdurchschnittlich gut bezahlt und hatte geregelte Arbeitszei-
ten – was nichts anderes als freie Abende bedeutete, in denen man das Geld, das man am Tage verdient hatte, gleich wieder verschleudern konnte. Dafür nahm sie die Demütigung, eine Art moderne Sklavin zu sein, gerne hin. Immerhin waren ihre Herrschaften akzeptable Charaktere – ihr Chef etwa hatte noch nie Anstalten gemacht, sie in Abwesenheit seiner Ehefrau ins Bett zu zerren. Er war ein derart vornehmer Mensch, dass so etwas in seiner Vorstellung wohl noch nicht einmal existierte. Sein Glück ebenso wie das von Charlene, denn alles andere wäre ihm schlecht bekommen. Als sie das dachte, bedauerte sie gleichzeitig, dass sie dem zudringlichen Kerl in der Disco eben keine schmerzhaftere Lektion erteilt hatte. Sie hätte selbst einmal kräftig zupacken sollen; seine Geilheit wäre ihm dann nachhaltig vergangen. Kaum dachte sie an den Typen, tauchte er wie aus dem Nichts neben ihr auf. »He, Herzchen! Das war aber nicht die feine französische Art!« Charlene zuckte zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören. »Lass mich in Ruhe! Und sprich nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast!« Gleichzeitig sah sie sich unauffällig um. Sie waren inzwischen bereits wenigstens dreihundert Meter von der Disco entfernt, und kein Mensch befand sich in der Nähe. Scheiße! Ihr Herz begann heftiger zu schlagen, und sie konnte nicht verhindern, dass die Angst ihre Stimme dünner klingen ließ. »Ach, Charlene-Herzchen!«, gurrte der Kerl. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Ich kann auch ganz anders.« Dabei hob er entwaffnend die Hände. Charlene traute dem Frieden nicht. »Schön«, erwiderte sie, »dann kannst du mich das nächste Mal, wenn wir uns hier treffen, davon überzeugen.« »Warum das nächste Mal? Lassen wir das Heute nicht ungenutzt verstreichen!« »Ich muss nach Hause«, entgegnete Charlene. Die Abfuhr war in ihren Augen mehr als deutlich, doch er schien es nicht verstehen zu wollen. »Es wäre bestimmt schön mit uns.«
»Komm, hau ab! Such dir eine andere!« Damit gab sich ihr Gegenüber nicht zufrieden. »Ich bin aber spitz auf dich!« Er fasste plötzlich nach ihren Brüsten. Die Berührung widerte Charlene an. Sie stieß ihn gegen die Schultern, er taumelte zurück, Charlene riss das Knie hoch und traf genau die Stelle, die seinen Verstand offenbar schon vor Stunden ausgeschaltet hatte. Dann rannte Charlene los. Wenn er sie in die Finger bekam, würde er ihr Gewalt antun, daran zweifelte sie keine Sekunde mehr. Sie hörte schwere, hastige Schritte hinter sich. »Machs dir doch nicht so schwer! Wehr dich nicht, dann …« Er verstummte, und Charlene warf einen Blick über die Schulter zurück. War ihr jemand zu Hilfe gekommen? Sie zuckte zusammen! Feuerschein loderte auf. Neben diesem Schwein stand eine brennende Gestalt! Doch der in Flammen stehende Mann – Charlene glaubte aus irgendeinem Grund unwillkürlich, es müsse sich um einen Mann handeln – schrie nicht. Er schien keine Schmerzen zu empfinden. Ganz im Gegenteil zu dem Mistkerl, der sie hatte vergewaltigen wollen. Denn das Feuer griff auf ihn über! Gellende Schreie trafen Charlenes Ohren. Und ein hämisches, böses Lachen. Charlene blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Magen drehte sich um. Düstere Faszination zwang sie dazu, das unfassbare Geschehen zu beobachten. Das Feuer um den Kopf des unbekannten Ankömmlings erlosch von einer Sekunde auf die andere, und ein scheußliches Monstrum kam zum Vorschein. Charlene glaubte ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Es erinnerte an einen Menschen – oder besser: an einen schon lange Zeit Toten. Graue Leichenhaut, skelettartig ausgezehrte Züge, rot glühende, böse Augen und – Hörner! Außerdem spitze lange Zähne! Das Ungeheuer stürzte sich auf das Opfer, das immer noch brannte – brannte und schrie, während es sich auf dem Boden wälzte.
Charlene stand starr, bis die Schreie endeten. Sie blieben nicht ungehört. Von der Disco her rannte ein Mensch herbei, um Hilfe zu leisten … Doch der Retter eilte nur in sein eigenes Verderben. Er fiel Karinjo ebenso zum Opfer wie der Kerl, der heute beinahe zum vierten Mal zum Vergewaltiger geworden wäre, und wie die Frau, die nur der Tod vor der schlimmsten Demütigung ihres Lebens bewahrte …
Karinjo war durchaus zufrieden. Statt der beiden Opfer, die er sich ausgesucht hatte, war ihm noch ein drittes förmlich in die Klauen gerannt. Nun musste er sich aber beeilen und zurück zu seinem Beobachtungsposten bei Château Montagne eilen. Als er vor wenigen Stunden seine ersten Opfer gefunden hatte, hatte er sich zu lange an ihnen gelabt, und dieser Louis de Montagne hatte in dieser Zeit für einige Sekunden ungestört telefonieren können. Hastig hatte Karinjo die Verbindung magisch unterbrochen. Zum Glück hatte Montagne weder seinen Namen genannt, noch mit seinem Neffen direkt gesprochen, sondern nur mit dessen Gehilfin. Gleichzeitig beobachtete Karinjo das Treiben des Menschen namens Dr. Arcaro Ramondo, hatte auch schon Kontakt mit ihm aufgenommen. Ramondo befand sich bereits ganz in der Nähe, hatte wie ein Bluthund die Spur des Amuletts aufgenommen und für heute Abend ganz offiziell einen Besuch in Château Montagne angekündigt. Karinjo würde ihm einflüstern, rabiater und schneller vorzugehen. Die Dinge mussten endlich ihren Lauf nehmen … Seine Diener, die Feuerdämonen, mussten endlich befreit werden … Karinjo brauchte dann nur noch zu beobachten. Eingreifen wollte er nicht mehr – sollte Ramondo die Arbeit tun. Die Weichen waren gestellt!
3. Das Schloss der Dämonen (1) Fackelschein geisterte über die Wände. Feuchte, modrige Kälte hing in der Luft, der Geruch nach Leder, rostigem Eisen und nassem Gestein. Dicht vor dem Gesicht des Mannes loderte eine Pechfackel, beleuchtete seine schweißnasse Stirn, die zuckenden Lippen, die verzerrten Züge. Der Mann lag ausgestreckt auf einer Holzpritsche, die Arme über den Kopf gehoben. Breite Lederriemen fesselten seine Hand- und Fußgelenke, ein dickes Tau lief von den Fesseln über eine altmodische Winde, und das Seil war straff gespannt. Der Mann keuchte. Den breitschultrigen, muskulösen Hünen, der die Winde bediente, konnte er nicht sehen. Aber er hatte das Schaben gehört, das nervenzerfetzende Quietschen, und in seinem gemarterten Schädel schien sich das Geräusch fortzupflanzen, bis es sich wie ein glühender Nagel in sein Gehirn bohrte. »Nein«, stöhnte er. »Nein, nein … Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich …« Der Mann mit der Fackel lächelte. Seine dünnen, grausamen Lippen krümmten sich, in dem schmalen Totenkopfgesicht glühten die Augen. »Ich spreche von dem Amulett«, sagte er mit tödlicher Sanftheit. »Sie sind Louis de Montagne. Sie sind Leonardo de Montagnes letzter direkter Nachkomme, und Sie kennen das Geheimnis.« Er richtete sich auf, hob die flackernde Pechfackel ein Stück höher. Ein fanatisches Brennen trat in seine jettschwarzen Augen. »Ich werde das Amulett besitzen«, flüsterte er. »Ich werde herrschen, Montagne. Ich werde die Macht besitzen. Ich – Dr. Arcaro Ramondo!« Louis de Montagne schloss zitternd die Augen. »Nein«, ächzte er. »Nein, nein …« Ramondo hob die Hand zu einer knappen Geste. Die Winde quietschte. Wieder straffte sich das Seil, zerrte erbarmungslos an den Gliedern des Opfers. Ein markerschütternder Schrei brach über
die Lippen des Gemarterten. Erneut hob Ramondo die Hand. Der Hüne mit dem mächtigen, vollkommen kahlen Schädel und den leeren Augen hörte auf, an der Winde zu drehen. Scheinbar mühelos hielt er den Hebel in seiner Stellung, und der Schrei, der von den Wänden widerhallte, erstarb in einem qualvollen Wimmern. Der Mann mit dem Totengesicht hielt die Fackel dicht vor die Augen seines Opfers. »Sie sind ein Narr, Montagne«, sagte er leise. »Sie müssten diese Folterkammer doch am besten kennen. Sie gehört zu Ihrem Schloss – also wissen Sie, was man mit den hübschen Geräten anstellen kann. Soll ich Ihnen alle zehn Finger mit Daumenschrauben zerquetschen? Soll ich Sie in der Eisernen Jungfrau durchbohren lassen? Soll Acharat Ihnen mit glühenden Zangen die Haut vom Leib reißen oder …« »Sie Satan!«, keuchte Montagne. »Sie verdammte, teuflische Bestie! Sie …!« »Acharat«, kam Ramondos leise, ausdruckslose Stimme. Die Winde quietschte. Diesmal klangen die Schreie des Opfers so grauenvoll, dass selbst in den leeren Augen des Hünen etwas wie eine Regung erschien. Der Körper des Gemarterten zuckte, versuchte sich aufzubäumen. Montagnes Gesicht verzerrte sich zur Grimasse, verfärbte sich, die Augen traten aus den Höhlen, und er hörte nicht auf zu schreien, als das misstönende Quietschen verstummte. »Lass ab, Acharat!«, sagte Ramondo nach einigen Sekunden. Der Hüne ließ den Hebel los. Rasselnd drehte sich die Winde zurück. Aber es dauerte Minuten, bis die grässlichen Schreie erstarben. »Nun?«, fragte Ramondo eisig. »Ist Ihnen eingefallen, wo Sie das Amulett versteckt haben?« Louis de Montagne schloss die Augen. Sein Gehirn schien nur noch aus einer feurigen Lohe zu bestehen, sein Körper aus Schmerzen. Er hatte das Gefühl, als habe man ihm mit einem Beil Arme und Beine abgehackt. Keuchend lag er da, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, und nur noch der eine verzweifelte Gedanke hatte Platz in ihm: dass er diese Tortur nicht noch einmal ertragen konnte.
Doch sollte er reden? Dieser Bestie in Menschengestalt geben, wonach sie verlangte? Das war sein sicherer Tod, das wusste er genau. Aber er wusste auch, dass er keine andere Wahl hatte. Dass es besser war zu sterben, als noch einmal die Wirkung dieses grauenvollen Streckbettes zu spüren oder … Seine Gedanken stockten. Ganz tief in seinem gemarterten Hirn schien es etwas wie eine winzige Explosion zu geben. Der Ausweg! Louis de Montagne wusste plötzlich, was er zu tun hatte, und es war so einfach, dass er sich fragte, warum er nicht eher darauf gekommen war. Dr. Ramondo wollte über die Dämonen herrschen. Sollte er es doch versuchen und den Dämonen begegnen … »Nun?«, drang Ramondos Stimme in sein Bewusstsein. »Wollen Sie die Daumenschrauben ausprobieren? Oder mit der Eisernen Jungfrau Bekanntschaft schließen?« »Nein«, stöhnte Montagne. »Nein! Ich – ich werde reden …« »Dann beeilen Sie sich! Ich warte nicht lange.« Montagne fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, spürte den salzig-bitteren Geschmack seines Schweißes. Seine Stimme gehorchte ihm kaum, und jedes Wort kostete ihn Mühe. »Die Tür mit dem Wappen«, flüsterte er. »Am Ende des Ganges … gibt es eine Treppe. – Zwölf Stufen. – Sie führen zu der Tür mit dem Wappen der Montagnes. Dahinter …« Ramondo nickte. »Weiter!«, drängte er. »Eine Truhe«, stöhnte Montagne. »Das Amulett … ist in einer Truhe. Sie trägt ebenfalls das Wappen …« Dr. Ramondo richtete sich auf. Seine hohe, hagere Gestalt straffte sich. Das Totengesicht mit den vorstehenden Wangenknochen, der gelblichen Pergamenthaut und den dünnen Lippen wirkte steinern. Nur in den Tiefen seiner schwarzen Augen begann der Triumph zu glühen wie ein Feuer …
Professor Zamorra atmete tief durch und ließ die Schultern sinken.
Mit einer knappen Geste griff er nach dem Wasserglas auf dem Schreibtisch, trank einen Schluck und wandte sich Nicole Duval zu. »Das war's für heute«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass noch allzu viele Korrekturen nötig sind.« Nicole ließ den Stenoblock sinken. Über ihrer kleinen, energischen Nase stand eine winzige Falte in Form eines V. »Himmel«, seufzte sie. »Müssen Sie sich denn wirklich immer mit diesen Gespenstergeschichten befassen, Chef?« Zamorra lächelte. Er hatte sich inzwischen an Nicoles Eigenarten gewöhnt, nur nicht an den Blick ihrer verteufelt hübschen Augen. »Das ist keine Gespenstergeschichte, sondern eine wissenschaftliche Abhandlung über Telepathie«, erklärte Zamorra geduldig. »Und sie ist für eine höchst seriöse Zeitung bestimmt.« »Telepathie«, wiederholte Nicole in einem Tonfall, als habe ihr jemand ernsthaft den Vorschlag gemacht, sie mit dem legendären Mann im Mond bekannt zu machen. Zamorra seufzte. »Sie glauben doch zum Beispiel an Liebe auf den ersten Blick, nicht wahr?« Nicole lachte auf und grinste schelmisch. »Ich bin schließlich Pariserin!« »Na, sehen Sie! Also glauben auch Sie, dass es Beziehungen zwischen Menschen gibt, die sich nicht rational begründen lassen. Ausstrahlungen, Astralfelder, die …« »Aber Chef«, unterbrach ihn Nicole vorwurfsvoll, »was hat das denn mit Liebe zu tun? Liebe auf den ersten Blick ist …« »Ja?« »Also, Liebe auf den ersten Blick, das ist – das ist, wenn …« Sie verstummte. Ihre Augen versprühten das Feuer von Brillanten. »Wenn ich das hier noch schreiben soll, muss ich mich jetzt beeilen«, erklärte sie kategorisch, schob ihren Stuhl zurück und verließ das Zimmer. Zamorra blickte ihr nach. Ein amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen. Nicole hielt sich für eine Realistin. Sie glaubte nicht an Übersinnliches. Aber wenn sie irgendwann einmal einen Ort kennen lernen würde wie zum Beispiel Château Montagne, das Schloss sei-
ner Vorfahren … Er stockte. Tief in seinem Gehirn schien etwas einzurasten. Der Gedanke an das Schloss, an seinen Onkel Louis de Montagne, war aus der Tiefe des Unbewussten an die Oberfläche gewirbelt worden, war plötzlich da, und er wusste selbst nicht, wieso ihn dieser Gedanke beunruhigte. Verbindungen zwischen Menschen, die sich nicht rational erklären lassen. Strahlenfelder. Wissen, das da war wie aus dem Nichts … Er wusste, dass diese Phänomene existierten. Aber er hatte nie so deutlich empfunden wie jetzt, dass dieser Bereich trotz aller strengen Wissenschaftlichkeit etwas Unheimliches hatte. Mit zwei Schritten stand er am Fenster, öffnete es und atmete tief die klare warme Luft ein. Irgendwo geschah etwas. Etwas, das ihn betraf. Er wusste nicht, was es war – aber er spürte dennoch, wie ihm ein kühles Prickeln vom Nacken her über den Rücken lief …
Dr. Ramondo ging voran. Er hielt die Fackel in der Rechten. Acharat, sein stummer Diener, kam dicht hinter ihm. In den Augen des Hünen lag wieder der seltsam leere, erstarrte Ausdruck. Irgendwann hatten diese Augen gelebt. Damals war der Mann auch nicht stumm gewesen. Bis er eines Tages Dr. Ramondo begegnet und seinem teuflischen Einfluss erlegen war … Wie immer blieb er zwei Schritte hinter seinem Herrn. Der Widerschein der Fackel geisterte über die Wände. Sie durchschritten einen schmalen, gewölbten Gang, errichtet aus riesigen Bruchsteinquader, an denen feuchte Rinnsale herabrieselten. Château Montagne war viele Jahrhunderte alt. Leonardo de Montagne hatte es einst erbaut, Leonardo de Montagne, den sie Le Terrible genannt hatten, den Schrecklichen. Die Sage sprach davon, dass es Gänge und Gewölbe im Schloss gab, die nie ein Nachfahre des Schrecklichen entdeckt hatte. Und die Sage wollte auch wissen, dass über Château Montagne ein Unstern stand, dass die alten Gemäuer
von gebannten Dämonen bewohnt wurden, von Ausgeburten der Finsternis, die … Ruckartig blieb Dr. Ramondo stehen. Vor sich erkannte er eine schwere dunkle Tür mit rostigen Eisenbeschlägen. Und ein uraltes Wappen, tief in das Holz geschnitzt. Das Wappen der Montagnes, mit dem Adler und den drei Lilien. Ramondo presste die Lippen zusammen. Etwas schien ihn zu berühren, schien ihn anzuwehen durch das massive Holz dieser Tür. Etwas Unheimliches – wie ein tödlicher, gefährlicher Pesthauch. Für Sekunden schnürte selbst ihm das Gefühl der Drohung die Kehle zu, spürte er ganz deutlich, dass etwas unvorstellbar Grauenhaftes hinter dieser Tür lauerte, doch dann riss er sich mit Gewalt zusammen. Das Amulett! Er musste das Amulett haben. Es würde ihm Macht verleihen, mehr Macht, als er sich je erträumt hatte. Es würde ihn unbesiegbar machen. Er wandte sich um. Seine schwarzen Augen glitzerten. »Öffne, Acharat!«, sagte er leise. Der Hüne glitt an ihm vorbei. Er zögerte nicht eine Sekunde. Mühelos, scheinbar spielerisch, hob er den schweren rostigen Riegel, und mit einem dumpfen Knarren schwang die Tür zurück. Die Fackel flackerte. Ein eiskalter Luftzug ließ die Flamme tanzen, brachte dumpfen Modergeruch mit – Grabgeruch. Der geisterhafte Lichtschein riss nur eine helle Insel aus der Finsternis, erfasste uralten Staub auf dem Boden, ein paar düstere gemauerte Pfeiler, aber Dr. Ramondo spürte instinktiv, dass der Raum hinter der Tür die Ausmaße einer Halle hatte. Er ging weiter. Langsam, die Fackel erhoben. Zwei Schritte, drei, vier, fünf … Ruckartig blieb er stehen. Täuschte er sich, oder war da ein Geräusch gewesen? Seine Sinne spannten sich. Für eine endlose Sekunde lauschte er atemlos in die Dunkelheit – und dann hörte er es ganz deutlich. Ein dünnes, hohes Singen.
Leise und unwirklich – so, als werde in unendlicher Ferne die überspannte Saite einer Gitarre angeschlagen. Es kam von rechts, irgendwo aus der Tiefe des Raumes, und als sich Ramondo umwandte, glaubte er einen schwachen Lichtschimmer zu sehen. Eine zweite Fackel? Hatte Montagne gelogen? Hielt sich noch jemand hier unten auf, oder … Die Gedankenkette zerklirrte. Mit einem heftigen Atemzug wich Ramondo zurück. Er starrte dorthin, wo sich der Lichtschimmer von Sekunde zu Sekunde verstärkte, wo plötzlich eine Wolke winziger glühender Punkte in der Luft zu tanzen schien. Hinter ihm stieß sein Diener einen seltsamen, ächzenden Laut aus. Er wandte den Kopf – und sah einen zweiten, helleren Lichtschein, der förmlich aus dem Boden gewachsen war, gestaltlos und doch deutlich sichtbar, und sich aufwärts wand wie eine Schlange beim Klang einer indischen Fakirflöte. Ramondo hielt den Atem an. Er vermochte sich nicht zu rühren. Wie gebannt stand er da, mit aufgerissenen Augen, und ein unbewusstes Stöhnen entrang sich seiner Brust, als sich die tanzenden Funken mehr und mehr zu gleißenden, bläulich zuckenden Flammen verdichteten. »Nein«, flüsterte er. »Nein, das …« Gelächter gellte auf, ein grelles, teuflisches Gelächter, das von überall gleichzeitig zu kommen schien. Irgendwo weiter rechts, in der Tiefe des Raumes, wurden neue Flammen lebendig, schossen wie Feuersäulen aus dem Boden, tanzten, wanden sich, fuhren auf und nieder und vereinigten sich mit den anderen zu einem unheimlichen, makabren Reigen. Ramondo hörte, wie sich der Hüne hinter ihm herumwarf. Acharat floh, versuchte mit langen Schritten, die Tür zu erreichen. Wieder gellte das teuflische Gelächter, und als hätte die jähe Bewegung als Signal gewirkt, begannen sich die tanzenden Flammen erneut zu verwandeln. Gestalten schälten sich heraus. Knochengestalten. Gerippe. Blauer, gleißender Feuerschein umgab die grinsenden Totenschä-
del, schien die bleichen Knochen wie durchsichtige Gewänder einzuhüllen. Skelette drehten sich im grotesken Totentanz, kamen näher und näher. Schon glaubte Ramondo, die Hitze des Feuers zu spüren – aber er war sich nicht sicher, ob es wirklich Hitze war oder die eisige, unvorstellbare Kälte des Todes. Eines der Gerippe hob den Arm, streckte die weiße, von Feuer umflossene Totenhand aus, als wolle sie ihn berühren. Ramondo fuhr zurück. Er keuchte. Tief in ihm schien eine unsichtbare Barriere zu zerbrechen. Angst sprang ihn an. Eine kalte, würgende, alles erstickende Panik, die gleich einer dunklen Flutwelle sein Bewusstsein überschwemmte. Er warf sich herum. Blindlings wollte er fliehen, diesen unheimlichen Raum verlassen – aber schon nach zwei Schritten prallte er zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Eine Feuersäule wuchs zwischen ihm und der Tür empor. Sie verdichtete, veränderte sich, wurde binnen Sekunden ebenfalls zu einem grinsenden Gerippe. Es gab kein Entkommen! Er war von Toten, von Dämonen, die er selbst befreit hatte, eingekreist. Louis de Montagne hatte das Geheimnis gekannt und sich an Ramondo gerächt. Er hatte eine Falle gestellt und … Die Knochenhand des Dämons schoss vor. Ramondo wollte ausweichen, aber er schaffte es nicht. Wie Eisenklammern schlossen sich die dürren Finger um seinen Arm. Er glaubt, Kälte zu spüren, eisige Kälte – doch es war eine Kälte, die ihn verbrannte, den Stoff der Jacke und die Haut versengte und glutheißen Schmerz durch seinen Körper schickte. Ramondo schrie wie ein Tier, panisch, sich überschlagend. Vielstimmiges Gelächter gellte in seinen Ohren – und irgendetwas, irgendein Unterton in diesem grässlichen, satanischen Gelächter brachte ihn wieder zu sich und weckte seinen Selbsterhaltungstrieb. Mit einer wilden Bewegung riss er sich los, fegte die Knochenhand von seiner Schulter. Für eine Sekunde verschwand das Gerippe, schien im gestaltlosen Feuerschein zu ertrinken. Und als es erneut auftauchte, war das Höllengelächter verstummt.
Ramondo straffte sich. Seine Augen glühten wie Kohlen in dem ausgemergelten Gesicht. Blitzschnell hob er die Hände. »Brenne!«, flüsterte er leise, fast unhörbar. »Brenne, Feuer! Glühe, Flamme! Glühe ewig, wie der Geist, der dich erschaffen hat! Brenne in der Glut, der du gehörst! – Flamme zu Flamme! – Feuer zu Feuer! – Brenne für mich – brenne für mich …« Stöhnen erfüllte die Luft. Wie von einem Bannstrahl getroffen, wichen die Gerippe zurück, verschwammen, wurden wieder zu Feuer. Die Flammen tanzten, loderten, bewegten sich in gespenstischem Reigen – aber eine unsichtbare Wand schien sie zurückzuhalten. Langsam wich Ramondo zurück. Schritt für Schritt. Seine Augen hingen an den Feuersäulen. Sahen, wie sie verblassten, wie sie wieder zu Wolken von tanzenden Funken wurden. Immer noch sprach er, murmelte leise monotone Beschwörungsformeln – und dann, als er die Tür erreicht hatte, warf er sich mit einer blitzartigen Bewegung herum. Hinter ihm zischten Flammen, und etwas wie ein wilder, fauchender Wutschrei erfüllte die Luft. Ramondo wusste, dass er die Geister nicht bannen konnte. Dass er sie nur verwirrt hatte, für einen winzigen Moment getäuscht durch sein Wissen, das nichts war ohne die magische Kraft des Amuletts. Er wusste es – und die panische, alles verschlingende Angst trieb ihn vorwärts wie eine gnadenlose Peitsche. Er floh blindlings, rannte taumelnd, stolpernd, verzweifelt durch die langen, endlosen Gänge von Château Montagne. Und erst als er das Schloss verlassen hatte, als er die klare, kühle Nachtluft spürte, erlosch die Panik, und er konnte wieder einen vernünftigen Gedanken fassen.
Louis de Montagne war in Schweiß gebadet. Mit einer verzweifelten Anstrengung hatte er es geschafft, sich von den Lederriemen an seinen Handgelenken zu befreien und die Fesseln abzustreifen. Wie ihm das gelungen war, wusste er nicht wirklich zu sagen. Die Todesangst musste ihm übermenschliche Kraft gegeben haben.
Er zitterte. Immer noch wühlte der Schmerz in ihm, schienen Tonnengewichte an seinen Gliedern zu zerren – aber in seinen Augen stand ein Funkeln des Triumphs. Er hatte es geschafft! Dr. Ramondo würde für seine Verbrechen bezahlen. Wenn er die Tür mit dem Wappen der Montagnes öffnete, war er verloren. Niemand konnte den Feuerdämonen entkommen, niemand sie bannen. Niemand, der nicht das Amulett besaß. Ramondo wollte es haben, war besessen von diesem Gedanken, schreckte nicht vor Folter und Mord zurück, um sein Ziel zu erreichen – und jetzt würde ihn seine Machtgier das Leben kosten. Montagne richtete sich auf. Er wusste, dass er Zeit hatte. Die Dämonen töteten langsam, qualvoll. Er unterdrückte ein Stöhnen, als er von dem teuflischen Streckbett herunterglitt, hielt sich einen Moment lang an der hölzernen Kante fest und setzte sich dann langsam und verkrümmt in Bewegung. Er schwankte, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Aber das würde vergehen. Er musste es bis in die Bibliothek schaffen, musste das Amulett aus seinem Versteck holen, um die entfesselten Geister wieder zu bannen. Und dann … Seine Gedanken stockten. Er hatte ein Geräusch gehört. Eilige, stolpernde Schritte. Sie entfernten sich, eine Tür schlug zu, und dann war es wieder so still wie vorher. Louis de Montagne runzelte die Stirn. Sein Mund wurde trocken. Wenn seine Peiniger entkamen, wenn sich die Dämonen um ihre Opfer betrogen sahen … Für einen Moment verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Die Schwäche erfasste jede Faser seines Körpers. Weit entfernt glaubte er Gelächter zu hören – jenes teuflische Gelächter, an das er sich noch deutlich erinnerte –, und auch diesmal lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er tastete nach der rostigen Türklinke. Die Angeln quietschten. Montagne trat auf den Gang hinaus, wandte sich nach links und quälte sich mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Fast hatte er die enge, gewundene Wendeltreppe erreicht – da blieb er stehen, als
sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Das grässliche Gelächter war verstummt. Stattdessen drang ein unmenschlicher, fauchender Wutschrei zu ihm herüber, dessen Bedeutung er nur zu genau kannte. Sein Herz krampfte sich zusammen. Von einer Sekunde zur anderen lag ein eiserner Ring von Furcht um seine Brust, drohte ihm die Luft abzuschnüren. Er schluckte krampfhaft, lauschte. Immer noch war dieses wütende, hasserfüllte Fauchen zu hören, lauter jetzt, näher, und Louis de Montagne spürte die Panik in sich aufsteigen wie ein schleichendes Gift. Die Dämonen hatten ihr Opfer verloren. Irgendwie mussten Dr. Ramondo und sein Diener trotz allem entkommen sein. Vielleicht hatten sie die Pforte erreicht, die in den ausgetrockneten Schlossgraben mündete. Vielleicht war es ihnen gelungen, irgendwo im Gewirr der Gänge und Gewölbe einen der Räume zu finden, die Leonardo de Montagne der Sage nach mit dem Bann des silbernen Amuletts belegt hatte. Vielleicht … Das alles war jetzt unwichtig. Das Fauchen der entfesselten Dämonen kam näher. Sie suchten ein Opfer, wollten morden, vernichten. Und Louis de Montagne wusste verzweifelt genau, dass er in tödlicher Gefahr war. Es war wie in den schrecklichen Visionen, die ihn in den letzten Tagen immer wieder heimgesucht hatten. Die Visionen, die ihm seinen nahen Tod angekündigt hatten. Jetzt erfüllten sie sich! Er warf sich herum, rannte. Er versuchte es wenigstens. Der Schmerz wühlte wie mit glühenden Messern in seinem Körper, immer wieder stolperte er, musste sich an der Wand abstützen. Halb bewusstlos erreichte er den Fuß der Treppe, schaffte zwei Stufen, verlor das Gleichgewicht und fiel. Sekundenlang wurde es dunkel um ihn. Keuchend stemmte er sich hoch, kämpfte verbissen gegen die schwarzen Wogen der Ohnmacht, die nach ihm griffen. Stöhnend drehte er den Kopf, blickte in den dunklen Gang – und zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen.
Die Luft schien zu flimmern. Winzige helle Punkte, die tanzten, flirrten, sich verdichteten. Schon flossen sie ineinander, nahmen die Gestalt von Flammen an, von züngelnden Feuersäulen – und der Raum war erfüllt von einem seltsam hohen, unwirklichen singenden Ton. Montagne stöhnte auf. Seine Träume – seine schrecklichen Visionen – sein nahender Tod … All dies erfüllte sich nun! Er wusste, dass er verloren war, dass es keine Rettung mehr gab. Aber sein Bewusstsein wehrte sich gegen diese Erkenntnis. Erneut warf er sich herum, taumelte weiter und folgte keuchend den Windungen der Wendeltreppe. Gelächter gellte auf, höhnisch, triumphierend. Montagnes Kopf flog herum – und er sah dicht hinter sich das feuerumflossene Gerippe. Der Totenschädel grinste ihn an. Bleiche Knochenhände streckten sich aus, kamen näher, immer näher. »Nein!«, brüllte Montagne – aber das grässliche Geschöpf kannte keine Gnade. Wie Stahlklammern schlossen sich die Totenhände um den Arm des Opfers. Montagne schrie auf, spürte den glühenden Schmerz, den Geruch verbrannten Fleisches. Mit einem brutalen Ruck wurde er zurückgerissen. Seine Füße verloren den Halt, er stürzte die Treppe hinunter und blieb halb betäubt auf dem steinernen Boden liegen. Das Gelächter schwoll an, steigerte sich zu einem grellen unmenschlichen Heulen. Montagne wälzte sich herum. Feuerschein erfüllte die Luft. Vier, fünf Knochengestalten drehten sich in einem grotesken Reigen. Ihre Finger griffen zu, packten das Opfer, rissen es hoch, schleiften es über den Boden. Glühende Hände brannten sich tief in Montagnes Körper. Schmerz hüllte ihn ein. Er wollte schreien, um sich schlagen, sich wehren – aber er brachte nur noch ein dünnes, kraftloses Wimmern zustande. Für Sekunden umfing ihn die gnädige Schwärze der Bewusstlosigkeit.
Als er wieder zu sich kam, spürte er die Bruchsteinquader der Wand im Rücken. Das kalte blaue Feuer blendete ihn. Stöhnend hob er den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen. Dicht vor ihm bewegte sich eins der Skelette, in Feuer gehüllt wie in einen Mantel. Montagne sah die bleiche Hand vor seinem Gesicht – und dann … Dann durchbohrten dürre ausgestreckte Knochenfinger seine Augen, rissen sie ihm aus den Höhlen! Louis de Montagne schrie, schrie und schrie …
»Barbarisch«, sagte Zamorra kopfschüttelnd. Bill Fleming, sein Freund und Universitätskollege, hob die linke Augenbraue. Fleming war Amerikaner durch und durch, mit allen guten und schlechten amerikanischen Gewohnheiten behaftet – und dazu gehörte, dass er auch den besten Whisky aus Prinzip mit Eis wässerte. »Geschmack ist eine Sache, über die man sich nicht streiten soll«, sagte er trocken. »Geschmack ist eine Sache, die man entweder hat oder nicht«, verbesserte Zamorra. »Wenn du das Eis im Kühlschrank ließest, wo es hingehört, würdest du feststellen, dass dieser Bourbon ein sehr diffiziles, in fünfundzwanzig Jahren Lagerzeit in alten Sherryfässern gereiftes Aroma hat. Ganz davon abgesehen, dass ich ohnehin nicht verstehe, wie man Whisky trinken kann, solange irgendwo auf der Welt noch Kognak hergestellt wird.« Bill Fleming ließ ungerührt die Eiswürfel klirren. »Kognak mag der Anfang der Kultur sein«, sagte er. »Aber Bourbon ist auf jeden Fall der Anfang des Genusses. Ich glaube …« Er stockte. Sein Gesicht hellte sich auf. Mit sichtlichem Wohlgefallen sah er Nicole Duval entgegen, die quer durch das Lokal zum Tisch zurückkam und sofort die Blicke sämtlicher männlicher Gäste auf sich zog. Sie trug ein knielanges, modisch-altmodisches Flatterkleid, das weich ihre grazile Figur umspielte. Nicole war es gewöhnt, sämtliche männliche Wesen in ihrer Umgebung zu verwir-
ren. Schwungvoll ließ sie sich auf den Stuhl fallen und griff nach ihrem Glas, das weder Kognak noch Whisky, sondern polnischen Bison Brand enthielt. Sie nippte daran, setzte es ab und lehnte sich seufzend zurück. »In dieses Restaurant gehe ich nie wieder, Chef«, erklärte sie kategorisch. »Es ist ein einziges Attentat auf die schlanke Linie. Himmel, diese Sauce zu den Artischocken …« »… besteht vorwiegend aus Butter«, gab Zamorra zu. »Schaumig gerührt, mit etwas Knoblauch und Zitronensaft gewürzt und …« »Hören Sie auf! Sie wissen ganz genau, dass ich nicht widerstehen kann!« »Dann geben Sie es doch auf! Wie wäre es mit Crêpe Suzette zum Nachtisch? Oder vielleicht ein paar flambierte Himbeeren mit …« Er unterbrach sich, da der Ober an den Tisch trat. Ein kleiner schlanker Mann mit Menjoubärtchen, genauso wie der Küchenchef direkt aus Paris importiert. Er beugte sich vor. »Telefon für Sie, Monsieur«, sagte er leise und mit einem Akzent, der verriet, dass er erst seit wenigen Jahren in den Staaten lebte. Nicole murmelte: »Vielleicht wieder dieser unbekannte Anrufer, der mich sogar in meinem Bostoner Apartment aus dem Bett geklingelt hat.« Sie hatte Zamorra davon erzählt. »Na, vielleicht kriege ich dann endlich heraus, wie der Kerl heißt und was er von mir will«, murrte Zamorra, nickte dem Ober zu und stand auf. Handelte es sich bei dem Anrufer tatsächlich um jenen mysteriösen Unbekannten, der schon mehrfach Nicole Duval belästigt hatte? Eigentlich kaum denkbar, aber Zamorra spürte ein leises Prickeln im Nacken. Ein anderer Mann hätte nicht darauf geachtet, aber Zamorra registrierte dieses Gefühl der Vorahnung nur zu genau. Er kannte diese besondere Form der Sensibilität, diese Empfänglichkeit für Stimmungen, Gedanken und Ereignisse, die auch über große Entfernungen wirksam war. Erfahrungen dieser Art waren es
nicht zuletzt gewesen, die ihn dazu gebracht hatten, sich mit dem Bereich der Parapsychologie zu beschäftigen. Er war bei seinen Forschungen auf Ergebnisse gestoßen, die manch anderem einen Schauer über den Rücken gejagt hätten. Als er die Telefonzelle im Foyer des Restaurants betrat, lagen seine Lippen hart aufeinander. Er griff zum Hörer und meldete sich. Nicht der Unbekannte, sondern Zamorras New Yorker Haushälterin war am anderen Ende der Leitung. Lucy Hillman, eine höchst resolute, energische alte Dame. Aber jetzt klang ihre Stimme aufgeregt. »Da war ein Anruf für Sie, Sir«, berichtete sie. Sofort war Zamorra hellhörig. Handelte es sich vielleicht doch um den geheimnisvollen Anrufer, der schon mehrmals versucht hatte, mit ihm in Kontakt zu treten, als er noch in Boston gewesen war? Hatte er jetzt seine New Yorker Telefonnummer in Erfahrung gebracht und Lucy Hillman erwischt? »Woher kam der Anruf?«, frage Zamorra schnell. »Direkt aus Frankreich. Ein – ein gewisser Monsieur Aubert …« Zamorra runzelte die Stirn. Er kannte den Namen. Einen Moment lang musste er überlegen, dann fiel es ihm ein: Jean Aubert war seit Jahren als Familienanwalt der Montagnes tätig. »Ja?«, fragte er gespannt. Mrs. Hillman schluckte. »Ihr Onkel ist gestorben, Sir. Es – es scheint so, als ob er ermordet worden wäre …« »Ermordet? Wo?« Zamorra wusste selbst nicht, warum er die Frage stellte. Er wusste nur, dass es genau diese Frage war, die ihm auf Anhieb wichtig erschien. »Ich weiß nicht, Sir«, kam die Antwort. »Danach habe ich nicht gefragt. Mister … äh, Monsieur Aubert sagte etwas von einer Testamentseröffnung. Er will in einer Stunde noch einmal anrufen.« »Danke, Mrs. Hillman. Ich werde kommen.« Zamorra hängte den Hörer ein. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. Für einen Moment blieb er in der Telefonzelle stehen und überlegte. Louis de Montagne war tot. Er, Zamorra, würde zum ersten Mal seit langen Jahren auf das Schloss seiner Vorfahren zurück-
kehren. Und er ahnte bereits, dass dieser Besuch mehr werden würde als irgendein bedeutungsloses Zwischenspiel …
Eine knappe Stunde später sprach Zamorra tatsächlich mit dem Anwalt Jean Aubert. Die Verbindung war schlecht. Zamorra redete laut, um verstanden zu werden. »Stimmt es, dass mein Onkel ermordet wurde, Maitre Aubert?«, war seine erste Frage. Der Anwalt zögerte mit der Antwort. »Ja. – Ja, Monsieur, das stimmt.« »Wann? Wo? Und warum?« »Es … ist alles ein wenig merkwürdig, Monsieur Zamorra. Um nicht zu sagen – unerklärlich. Rätselhaft … wenn Sie wissen, was ich meine.« »Woher soll ich das wissen, wenn Sie es nicht erklären, Maitre«, sagte Zamorra trocken. »Wie bitte? O ja, natürlich. Sie haben Recht. Aber es wird am besten sein, wenn Sie sich selbst ein Bild machen, Monsieur. Ich darf Sie doch zur Testamentseröffnung erwarten?« »Wann?«, fragte Zamorra sachlich. »Am kommenden Montag. Sie haben also Zeit genug, die Reise vorzubereiten, Monsieur.« Zamorra lag die Bemerkung auf der Zunge, dass Frankreich schließlich nicht auf dem Mond liege. Aber er erinnerte sich dunkel, dass Aubert schon immer ein zwar umständlicher, jedoch zuverlässiger und gutmütiger Typ gewesen war, und er verschluckte die Bemerkung. »Wer wird noch kommen?«, fragte er stattdessen. »Das dürften nicht viele sein, Monsieur. Lediglich Ihre Tante, Anabel de Montagne, und ihr Vetter Charles Vareck. Außerdem ist noch Raffael da, der Diener Ihres Onkels.« »Na, prächtig«, sagte Zamorra trocken. »Wie meinen Sie, Monsieur?« Zamorra lächelte belustigt. Er hatte an die unvermeidliche Begegnung zwischen seiner überaus moralischen alten Tante und Charles,
dem schwarzen Schaf der Familie, gedacht. Jetzt rief er sich innerlich zur Ordnung. »Ich meine, dass es mich freut, nach so langer Zeit meine Verwandten wieder zu sehen«, behauptete er. »Allerdings wäre es mir unter anderen Umständen lieber gewesen.« Die letzte Bemerkung war sogar durchaus ernst gemeint – denn zwischen Professor Zamorra und Louis de Montagne hatte immer eine herzliche Beziehung bestanden, obwohl ihre letzte Begegnung schon Jahre zurücklag. »Ich kann also mit Ihrem Erscheinen rechnen, Monsieur?«, vergewisserte sich der Anwalt. »Das können Sie, Maitre Aubert. Vielen Dank für Ihren Anruf.« Sie verabschiedeten sich. Nachdenklich legte Zamorra den Hörer auf. »Chef?«, fragte Nicole, die ihn in seine New Yorker Wohnung begleitet hatte. »Wir werden nach Frankreich reisen, Nicole«, erklärte Zamorra. »Morgen.« Nicole musterte ihn. »Frankreich?«, wiederholte sie. »Gleich morgen? Und Sie möchten, dass ich Sie begleite?« Zamorra hob den Kopf, schaute sie an. »Entschuldigen Sie, Nicole. Sie arbeiten ja nur halbtags für mich und studieren noch zwischendurch. Das vergaß ich. Hätten Sie Lust und Zeit, mich zu begleiten? Es würde mich sehr freuen.« Sie schmunzelte. »Wo geht es denn genau hin, Chef?« »Ins Loire-Tal«, erklärte er. »Ich erzählte Ihnen doch von Château Montagne, dem Schloss meiner Familie.« »Ja, ich erinnere mich«, sagte Nicole und seufzte schwärmerisch. »Das romantische Schloss an der Loire.« Er wusste, dass sie ihm etwas vorspielte. Sie war alles andere als der verträumte Typ Frau. »Romantisch – ja«, erwiderte Zamorra und grinste schief. »Alte Gemäuer, geheimnisvolle Verließe und eine Menge Legenden und Sagen. Ich glaube, Sie werden einige Ihrer Ansichten ändern, wenn Sie Château Montagne erst einmal kennen gelernt haben, Nicole …«
Der rote Fiat Dino rollte vor dem Polizeipräsidium der Stadt Feurs aus. Das Dorf selbst, über das sich Château Montagne erhob, hatte keine Polizeistation; die Beamten in Feurs waren dafür – und damit auch für das Château – zuständig. Zamorra reckte sich. Die Fahrt in dem gemieteten Wagen hatte ihn angestrengt. Nicole Duval dagegen wirkte frisch wie der junge Morgen, und eine große Sonnenbrille saß auf ihrer frechen Stupsnase. Zamorra nahm seine Sonnenbrille ab. »Kommen Sie mit, oder möchten Sie lieber in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken?«, fragte er. »Ich komme mit«, entschied Nicole. Im Polizeipräsidium nannte Zamorra seinen Namen. Er fügte hinzu, dass er ein Verwandter Louis de Montagnes sei, und zwei Minuten später führte ein Beamter die beiden Besucher in das Büro von Kommissar Pierre Malice, der an einen gutmütigen Seehund erinnerte. Zamorra widmete er nur einen kurzen Blick. Nicole dagegen erregte sein Interesse in weit stärkerem Maße. Seine Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck. »Es handelt sich um meinen Onkel«, kam Zamorra zur Sache. »Angeblich wurde er ermordet. Bevor ich nach Château Montagne fahre, möchte ich gern Näheres wissen.« Pierre Malice räusperte sich. Der verzückte Ausdruck verschwand aus seinen Augen und machte Unbehagen Platz. Er lehnte sich zurück und griff nach einer Packung Gitanes. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Die Sache ist … nun ja, ziemlich rätselhaft.« »Dann erzählen Sie doch einfach das wenige, Kommissar«, schlug Zamorra vor. Malice zuckte die Schultern. »An dem Tag, an dem es passierte, hatte Raffael Ausgang. Raffael Bois ist der Diener Ihres Onkels. Als er zurückkam, fand er das Schloss leer. Lediglich in einem Teil des Kellers, der sonst nie betreten wird, brannten ein paar Fackeln. Raffael ging hinunter und entdeckte die Leiche Ihres Onkels.« Zamorra runzelte die Stirn. »Und woran ist er gestorben?« »Er ist verbrannt, Monsieur. Jedenfalls starb er an schweren
Brandverletzungen. Obwohl …« »Obwohl was?« Wieder dieses unbehagliche Schulterzucken. »Das ist ja das Rätsel, Monsieur. Im ganzen Schloss gab es nicht den geringsten Hinweis auf einen Brand. Nicht einmal in den Kaminen brannte Feuer, da ausgesprochen warme Witterung herrschte. Sie können mir glauben, dass meine Leute gründlich vorgegangen sind. Wir haben sogar Experten aus Paris hinzugezogen, da wir zu keinem Ergebnis kamen. Aber die Spezialisten haben genauso wenig herausgefunden wie wir.« »Das ist in der Tat rätselhaft.« Zamorra zögerte einen Moment und überlegte mit gerunzelter Stirn. »Aber irgendetwas muss sich doch über die Todesursache sagen lassen. Zum Beispiel, welcher Art diese Brandwunden waren, woher sie stammten …« »Der Polizeiarzt ist der Meinung, dass die Wunden durch glühende Metallgegenstände verursacht wurden. Und das heißt, dass irgendjemand – so unglaublich das klingt – Ihren Onkel mit glühenden Eisenstangen oder ähnlichem traktiert hat. Deshalb ist die Sache ja von vornherein nicht als Unfall, sondern als Mord behandelt worden!« »Und gibt es schon irgendwelche Ermittlungsergebnisse?« »Bisher nicht. Ihr Onkel lebte sehr zurückgezogen, Monsieur. Welches Motiv sollte der Mörder gehabt haben?« Malice unterbrach sich und machte eine vage Geste. »Es sei denn, man will auf das Geschwätz der alten Weiber aus dem Dorf hören.« Zamorra horchte auf. »Geschwätz?« »Geistergeschichten«, sagte Malice wegwerfend. »Das übliche Altweibergewäsch, mit dem man den Kindern Angst macht. Der Fluch von Château Montagne! Dämonen, die zurückgekehrt sind! Es ist lächerlich – aber es gibt genug Leute hier, die daran glauben.« Zamorra nickte nur. Er machte sich seine eigenen Gedanken, verzichtete jedoch darauf, mit dem Polizisten darüber zu diskutieren. Er stellte noch ein paar Fragen, ließ sich die wenigen Einzelheiten geben, die bekannt waren, und schließlich brachte Kommissar Malice die beiden Besucher zur Tür.
Auf Nicoles Stirn stand eine kleine unmutige Falte, als sie wieder in den Wagen kletterte. »Dämonen!«, wiederholte sie abfällig. »Der Fluch von Château Montagne! Alles Quatsch.« Zamorra gab keine Antwort.
Sie hatten inzwischen die Hauptstraße verlassen und folgten den lang gezogenen Serpentinen, die zum Schloss hinaufführten. Für amerikanische Begriffe hatte die schmale, mit Schlaglöchern übersäte und durch zahlreiche Reparaturen scheckige Piste den Namen Straße nicht verdient. Europäer nahmen, wie Zamorra wusste, solche Strecken mit Gelassenheit hin. Hohe, dunkle Kastanien säumten die Fahrbahn. Links und rechts wurde der lichte Mischwald immer wieder von sattgrünen Weiden unterbrochen, verstreute Gehöfte duckten sich in Bodensenken, und ab und zu konnte man auf halber Höhe des Hanges bereits die Zinnen von Château Montagne erkennen. »Es ist schön«, sagte Nicole überzeugt. »Überhaupt nicht wie ein Spukschloss! Es wirkt einladend, freundlich …« Zamorra antwortete nicht. Er kannte Château Montagne von einigen Besuchen her. Deutlich erinnerte er sich, dass er sich nie der romantisch-versponnenen, aber auch seltsam bedrohlichen Atmosphäre hatte entziehen können. Und er wusste, dass es Nicole genauso gehen würde. »Das liebliche Loire-Tal«, zitierte er aus dem Reiseführer. Sie warf ihm einen Blick zu. »Freundlich, einladend und romantisch. Jedenfalls überhaupt nicht dämonisch. Schließlich leben wir ja auch nicht im Mittelalter, oder?« Zehn Minuten später fuhren sie auf den Innenhof von Château Montagne. Zamorra stellte den Motor ab, atmete tief durch und sah sich um. Fast sieben Jahre hatte er das Schloss nicht mehr gesehen. Sieben Jahre, in denen sich so gut wie nichts verändert hatte. Immer noch war der ausgetrocknete Graben ein ungestörtes Revier für Unkraut
und Gestrüpp, immer noch schien die Zugbrücke mit den schweren rostigen Ketten zu funktionieren, und immer noch wirkten die Spitzen des eisernen Fallgitters wie eine stumme Bedrohung. Ein alter Ziehbrunnen bildete die Mitte des gepflasterten Hofes. Die Türme ragten schwarz und schweigend in den karmesinroten Abendhimmel. Hinter den Fenstern des Westtraktes brannten Lampen, der Widerschein mischte sich mit dem Ungewissen Licht der Dämmerung, und der ganze Komplex schien von tiefen, rätselhaften Schatten erfüllt zu sein. »Gibt's hier wenigstens ein Verließ und eine richtige Folterkammer?«, fragte Nicole forsch. »Es gibt«, bestätigte Zamorra. »Aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen.« »Wieso beunruhigen?« Er ging nicht auf ihre Frage ein. »Kommen Sie!« Er half ihr aus dem Wagen. Als sie den Schlosshof überquerten, öffnete sich eine der Türen. Eine breite Lichtbahn fiel heraus, und Zamorra erkannte die unverwechselbar steife, würdige Gestalt von Raffael Bois, dem Diener. Hinter ihm tauchte die silbergraue Löwenmähne Jean Auberts auf. Das zerfurchte Gesicht des Anwalts wirkte übermüdet. Er begrüßte Zamorra – und seine Augen wurden sofort lebhaft, als er Nicole Duval entdeckte. »Ich bin entzückt, Mademoiselle!« Die Geste, mit der er sich über ihre Hand neigte, spiegelte die ganze Bewunderung des Franzosen für das weibliche Geschlecht wider. »Ich wünschte, ich könnte Sie in einer heitereren Umgebung und aus einem angenehmeren Anlass empfangen. Aber ich hoffe, Château Montagne wird sich Ihnen von seiner besten Seite zeigen und …« »Wer ist da, Maitre?«, ließ sich eine scharfe Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. Zamorra atmete tief ein und wappnete sich. Er griff nach Nicoles Arm, führte sie in die große düstere Halle. Trotz der warmen Witterung brannte ein Feuer im Kamin. Schwere Vorhänge und Gobelins bedeckten die Wände, tiefe Teppiche den
Boden. Nur wenige massive Schränke und Sessel bildeten das Mobiliar – und aus einem dieser Sessel erhob sich jetzt eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt, die erst auf den zweiten Blick als weiblich zu erkennen war. Scharfe Adleraugen musterten die Neuankömmlinge. Das schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Streng wirkte auch das graue hochgeschlossene Kleid, der weiße Kragen, die dunkle Hornbrille. Ein florettscharfer Blick erfasste Nicole, den hautengen Schnitt ihres Hosenanzugs, die provozierend gute Figur; und das Urteil über diese Geschlechtsgenossin war deutlich in dem scharf geschnittenen Gesicht zu lesen – vernichtend. Zamorra übernahm die Vorstellung. »Mademoiselle Nicole Duval – Madame Anabel de Montagne. Tante Anabel, ich freue mich, dich zu …« »Hör auf!«, schnitt ihm Anabel de Montagne das Wort ab. »Niemand in dieser verlotterten Familie hat sich je gefreut, mich zu sehen. Was übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit beruht, mon ami.« Sie legte den Kopf schief, und die kühlen grauen Augen stellten sich wie Sonden auf Zamorra ein. »Du siehst elegant aus, mein Junge. Ich dachte, selbst in Amerika würde der Professorentitel zu einer gewissen … sagen wir, Solidität verpflichten.« Zamorra unterdrückte ein Lächeln. »Die Ansichten über Solidität haben sich geändert, Tantchen. Allerdings sollte jeder bei seinem eigenen Stil bleiben. Ich würde an meinem Weltbild zweifeln, wenn du dich jemals ändertest. Die Familie de Montagne ohne Tugendwächter – nicht auszudenken!« Zamorra kannte sie gut, um den Nerv ihres verborgenen, durchaus selbstkritischen Humors zu treffen – und tatsächlich zuckte ein ironisches Lächeln um ihre Lippen. »Rustre«, sagte sie trocken. »Du warst immer schon ein charmanter Flegel. Was wirst du mit dem Schloss anfangen, das du zweifellos erbst?« Zamorra hob die Brauen. »Was macht dich da sicher, chere Tante? Ich bin mir nicht bewusst, mich besonderen Familiensinns schuldig gemacht zu haben.«
»Aber du warst Louis' Lieblingsneffe. Mich konnte er nie ausstehen. Und Charles …« »Kommt er ebenfalls?« Anabel de Montagne hob die Schultern. Viel sagend, aber stumm. Es war nicht üblich, von Charles Vareck, dem schwarzen Schaf der Familie, zu sprechen. Maitre Aubert übernahm die Antwort. »Er kommt!«, sagte er. »Jedenfalls hat er zugesagt. Wir erwarten Monsieur Vareck noch heute Abend …« Charles Vareck war fünfunddreißig Jahre alt und hatte den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, sein väterliches Erbe zu verschleudern. Da er in dieser Hinsicht über erstaunliche Talente verfügte, war er bereits mit dreißig Jahren pleite gewesen. Seitdem suchte er nach Mitteln und Wegen, möglichst schnell das Geld zu verdienen, das er für seinen aufwändigen Lebensstil brauchte. Da er es verstand, stets hart am Rande der Legalität zu balancieren, war er bisher noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Aber seit einigen Monaten war er so bankrott, wie ein Mensch nur sein kann. Dass er trotzdem einen großen, komfortablen Citroën fuhr, wunderte allenfalls jemanden, der ihn nicht kannte.
Als er kurz vor Marigny sur Colline den verbeulten Wagen am Straßenrand sah, trat er sofort auf die Bremse. Er wusste selbst nicht genau, warum er es tat. Er hatte es eilig, konnte keinen Aufenthalt gebrauchen. Aber als ihm das einfiel, hatte er den Citroën bereits nach rechts gezogen und ließ ihn hinter dem unansehnlichen grauen Deux Cheveaux ausrollen. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er den beschädigten Wagen, dem ein ziemlich dünnes Birkenstämmchen die Motorhaube lädiert hatte. Nach Varecks Meinung konnte es nicht schwer sein, den Schlitten wieder flott zu bekommen. Der Fahrer hatte die Haube aufgeklappt und beugte sich über die Maschine – aber offensichtlich hatte er keine blasse Ahnung vom Innenleben eines Autos.
Der Eindruck verstärkte sich, als er sich jetzt aufrichtete und dem Helfer entgegensah. Vareck schätzte den Burschen auf sechzig. Schwarzes Haar klebte dicht an dem schmalen Schädel, die schwarzen Augen glänzten so intensiv, dass sie beinahe jugendlich wirkten. Aber ein einziger Blick in das knochige, fast fleischlose Gesicht mit der zerknitterten Pergamenthaut hob diese Wirkung wieder auf und verriet das wahre Alter des Mannes. Charles Vareck spürte einen Anflug von Unbehagen, als er auf den Mann zuging. Quatsch, dachte er. Schließlich kann der Knabe nichts dafür, dass er wie der leibhaftige Tod aussieht. Irgendein alter Knacker, der seinen Führerschein auf dem Tretauto gemacht hat. »Hallo, Monsieur«, sagte er laut. »Will der Schlitten nicht mehr? Kann ich Ihnen helfen?« Der Alte lächelte, aber die dünnen, bluüeeren Lippen ließen das Lächeln wie eine Grimasse aussehen. »O ja, Sie können mir helfen, junger Mann. Sie können mir sogar eine ganze Menge helfen.« Irgendein Unterton schwang in den Worten mit, der Charles Vareck nicht gefiel. Er runzelte die Stirn und kämpfte das unangenehme Gefühl nieder, das seine Magenmuskeln zusammenzog und das er sich beim besten Willen nicht erklären konnte. »Wo fehlt's denn?«, erkundigte er sich gewollt lässig. »Brauchen Sie vielleicht ein paar Liter Benzin, oder …?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, junger Freund. Ich brauche kein Benzin. Ich brauche etwas anderes.« »Und das wäre?« »Das Amulett«, sagte der Alte. »Das silberne Amulett Leonardo de Montagnes. Ich brauche es – und du wirst es mir beschaffen!« Charles Vareck hatte plötzlich das Gefühl, der Kragen würde ihm zu eng. Er verstand kein Wort. Aber er hörte den drohenden Unterton in der Stimme des Alten, und mit dem Instinkt, den er sich im Laufe seines abenteuerlichen Lebens angeeignet hatte, spürte er fast körperlich die jähe tödliche Gefahr. Er schluckte. »He«, krächzte er. »Was soll das, Opa? Wenn du mich verulken willst …« »Acharat«, sagte der Mann mit dem gelben Totengesicht sanft.
Charles Vareck spürte die Bewegung hinter sich. Er fuhr herum. Blitzschnell, wie von einer Natter gebissen. Geduckt blieb er stehen, mit gespannten Muskeln, und starrte den hünenhaften Mann an, der wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm aufgetaucht war. Der Bursche maß fast zwei Meter, hatte ein breitflächiges Gesicht, einen vollkommen kahlen Schädel und eisenharte Muskeln, die sich deutlich unter dem Stoff des weißen, über der Brust offen stehenden Hemdes abzeichneten. Helle Augen starrten Vareck an. Augen wie Glas, leblos, starr und … Ein Überfall!, dachte Charles Vareck. Seine Gedanken klammerten sich förmlich an diese Idee. Ein Überfall – das war etwas Reales, fast Alltägliches, etwas, mit dem er fertig werden konnte. Verbissen versuchte er, das Gefühl der Drohung abzuschütteln. Er war nicht irgendein hilfloser Durchschnittsbürger. Er konnte sich durchaus verteidigen. Er konnte … Der Hüne machte einen Schritt auf ihn zu. Er bewegte sich langsam, bedächtig, seltsam mechanisch – wie ein Roboter, der von einem fremden Willen gesteuert wird. Vareck schluckte. Sein Blick streifte die mächtigen Fäuste seines Gegners, glitt höher, bohrte sich in die seltsamen Augen. Sprungbereit und gespannt stand er da und wartete darauf, dass ein Aufflackern, irgendeine Regung in diesen Augen den Angriff verraten würde. Das Zeichen blieb aus. Nichts veränderte sich in dem starren Gesicht des Hünen. Ganz plötzlich, ohne jede Warnung, schossen seine Fäuste vor. Charles Vareck sah die Bewegung, er zuckte zurück, wollte ausweichen – doch da war es längst zu spät. Er hatte das Gefühl, als würde ihm eine glühende Eisenstange in den Magen gerammt. Ein ächzender Laut kam über seine Lippen. Verzweifelt rang er nach Luft, wollte schreien und schaffte es nicht. Wie ein Taschenmesser krümmte er sich zusammen, und ehe er ganz begriffen hatte, was ihm geschah, erwischte ihn ein zweiter, ebenso mörderischer Hieb an der rechten Schulter, riss ihn wieder hoch und warf ihn gegen den alten Wagen zurück. Er keuchte. Blutrote Schleier tanzten vor seinen Augen. Durch den
wabernden Nebel sah er die Gestalt des Hünen, sah das breite ausdruckslose Gesicht und die wulstigen Lippen, die sich jetzt von den Zähnen zurückzogen. Das Grinsen wirkte grimassenhaft, ohne jeden Ausdruck. Mit vorgeschobenem Kopf und pendelnden Armen kam der Bursche wieder heran, kam näher wie eine Maschine, die alles niederwalzte, und Charles Vareck begriff, dass er in der nächsten Sekunde etwas unternehmen musste, wenn er dem Verhängnis noch entgehen wollte. Schon riss sein Gegner die Faust hoch. Vareck straffte sich. Mit verzweifelter Kraft stieß er sich ab, wollte mit einem Sprung zur Seite schnellen – aber er war einfach nicht mehr schnell genug. Der Hüne reagierte ohne erkennbares Zögern. Wie eine angreifende Klapperschlange schoss sein Arm vor. Seine riesige Pranke schloss sich gleich einer Stahlklammer um den Oberarm seines Opfers. Vareck wurde zurückgerissen. Er brüllte vor Schmerz. Für Sekunden hatte er das Gefühl, sein Schultergelenk würde ausgekugelt, und mit einem kraftlosen Wimmern brach er in die Knie. Den Handkantenschlag, mit dem der stumme Hüne sein Genick traf, spürte er schon nicht mehr. Etwa fünf Minuten später kam er wieder zu sich. Der Schmerz weckte ihn, schien ihn einzuhüllen wie ein Mantel. Seine grauen Zellen kamen nur zögernd in Gang. Er registrierte, dass er auf dem Boden eines fahrenden Wagens lag. Undeutlich sah er das Totengesicht des Unbekannten, der ihn überfallen hatte, und im nächsten Moment spürte er bereits den feinen Stich, mit dem die Kanüle einer Injektionsspritze seine Haut durchdrang. Erneut griffen die schwarzen Wogen der Ohnmacht nach ihm, rissen ihn mit, schwemmten ihn über die Schwelle des Bewusstseins in eine Welt, in der es keine Angst gab, keinen Schrecken und keine Schmerzen … Diesmal dauerte die Bewusstlosigkeit länger. Minuten, Stunden, die ganze Nacht – Charles Vareck wusste später nicht mehr, wie lange er geschlafen hatte. Das Erwachen war wie das Emportauchen aus einem schwarzen, bodenlosen Schacht.
Er atmete mühsam. Schmerzen spürte er nicht. Aber da war eine seltsame Leere in seinem Gehirn. Ein Nebel, der ihn daran hinderte, vernünftig zu überlegen, sich zu erinnern, einen klaren Gedanken zu fassen … »Vareck«, drang eine ferne, seltsam monotone Stimme in sein Bewusstsein. »Charles Vareck!« Er öffnete die Augen. Licht traf ihn. Er blinzelte heftig, und erst nach ein paar Sekunden konnte er etwas erkennen. Das Totengesicht! Das Gesicht war dicht vor ihm, eine Fratze wie aus einem Albtraum – aber seltsamerweise empfand Charles Vareck weder Furcht noch Panik, noch versuchte er auch nur, seine Lage zu durchschauen und zu verstehen, was geschehen war. Sein Blick hing an der kleinen funkelnden Glaskugel, die vor seinen Augen hin- und herschwang. Sie war an einem dünnen Faden befestigt, den der Mann mit dem Totengesicht in der Hand hielt. Er ließ die Kugel pendeln, langsam, schwingend, monoton; sie glitzerte und gleißte, und Charles Vareck fragte sich, woher das Licht kam, das sich in dem geschliffenen Glas brach. »Schau die Kugel an«, hörte er die ferne Stimme. »Schau sie an, Vareck! – Du siehst nichts anderes mehr. Nur die Kugel. Siehst du sie? Spürst du, wie sie schwingt? Hin … und her – hin … und …« Schweiß trat auf Varecks Stirn. Wie ein glühender Nagel schien sich das Licht in sein Gehirn zu bohren. Er keuchte, krampfte die Finger um die Sessellehne, und irgendwo tief in seinem Innern erwachte wie ein ferner Widerhall das Bewusstsein der Gefahr. »Nein!«, stöhnte er. »Ich will nicht! Ich …« »Schau die Kugel an!« Die Stimme klang zwingend, schlug ihn in ihren Bann. »Sieh her! – Folge ihr mit den Augen! – So! – So! – Und so …« Charles Vareck gehorchte. Er konnte nicht anders. Die pendelnde Kugel zog seinen Blick ma-
gisch an, und er folgte gebannt ihren gleichmäßigen Schwingungen mit den Augen. Wie das Feuer eines Diamanten sprühten die Reflexe. Glas. Gleißendes Glas. Licht, das in ihn eindrang, sich tief in sein Gehirn bohrte. Müdigkeit, schläfrige Schwere krochen in seine Glieder. Wie tot kauerte er in den Polstern des tiefen Sessels, vermochte sich nicht zu rühren. Nur noch seine Augen lebten. Sie bewegten sich, folgten der gläsernen Kugel, die sich vor ihm ausdehnte, die auseinander zu fließen schien wie glühendes Metall und die ganze Welt mit ihrem gleißenden Licht ausfüllte. Wie Glockenschläge dröhnten Ramondos Worte in seinem Schädel wider. »Du gehörst mir, Charles Vareck! – Du bist mein Geschöpf! – Du wirst vergessen, wer du einmal warst. Du wirst nur mir dienen …«
Das Abendessen wurde nicht an der langen Tafel im Speisesaal von Château Montagne serviert, sondern in dem kleinen, behaglichen Kaminzimmer, in dem auch Louis de Montagne seine Mahlzeiten eingenommen hatte. Zamorra genoss das Menü. Diese zarten, saftigen Hirschkalbsteaks mit den Preiselbeeren, den Mandelkroketten und dem frischen Salat waren gut. Nicht einmal die missvergnügten Blicke seiner Tante, die aus Diätgründen irgendwelche Kekse knabberte, konnten ihn davon abhalten, für eine Stunde völlig abzuschalten und sich ganz dem lukullischen Vergnügen zu widmen. Nach dem Essen verabschiedete sich Jean Aubert. Auch das Personal verließ das Schloss. Um das Anwesen in Ordnung zu halten, bedurfte es zwar eines ganzen Stabes von Angestellten, aber sie alle zogen es vor, im Dorf zu wohnen. Das war schon seit Jahren so, und Zamorra hatte nie herausgefunden, ob die Einsiedlernatur seines Onkels dafür verantwortlich gewesen war oder die abergläubische Furcht der Dorfbewohner vor Geistern und Dämonen. Nur der alte Raffael Bois blieb über Nacht auf dem Schloss … Anabel de Montagne sprang über ihren eigenen Schatten und bot
Nicole an, ihr das Schloss zu zeigen. Zamorra zog sich in die Bibliothek zurück. Er wollte sich ein wenig mit den alten Büchern befassen, nach Chroniken und Berichten über die Familiengeschichte suchen. Zum einen interessierte er sich selbst dafür – und zum anderen hatte er es Bill Fleming versprochen, der neben seinen anderen Qualitäten auch ein ausgezeichneter Historiker war. Die Bibliothek lag im Westturm und war durch den Wehrgang des ehemaligen Vorratshauses zu erreichen. Bleiches Mondlicht floss durch die Schießscharten, die irgendwann einmal in normale Fenster verwandelt worden waren. Holzvertäfelungen bedeckten die Wände, Dielenbretter den Fußboden – aber alle Bemühungen um Modernisierung hatten es nicht vermocht, den ursprünglichen Charakter der Wehranlage zu zerstören. Eine schwere Eichentür führte in das hohe kreisrunde Turmzimmer. Auf einen Schalterdruck flammte die Deckenbeleuchtung auf, erfüllte den Raum mit warmer, behaglicher Helligkeit. Ringsum zogen sich Regale an den Wänden entlang, gedrängt voll mit Chroniken, kostbaren alten Folianten, Büchern mit dunklen, abgegriffenen Rücken und verblichener Goldprägung. Der dicke Teppich dämpfte die Schritte zur Lautlosigkeit. Schwere Samtvorhänge verdeckten die Fenster, und in der Mitte des Raumes lud eine Gruppe tiefer brauner Ledersessel zum Verweilen ein. Zamorra trat an das Regal, ließ den Blick über die Bücher gleiten. Ein paar nahm er heraus, blätterte darin, las ein paar Absätze, stellte sie zurück. Schließlich zog er sich mit einem verstaubten, in rotes Leder gebundenen Band in den Sessel zurück, schlug ihn auf und begann ein Kapitel zu lesen, das sich mit der Geschichte derer von Montagne im elften und zwölften Jahrhundert beschäftigte. Er kannte die alten Chroniken recht genau. Der erste Montagne, von Heinrich II. von Anjou in Amt und Würden gesetzt, diverse Erbstreitigkeiten, Berichte über Auseinandersetzungen mit den Kapetingern – das alles interessierte ihn nur am Rande. Vor Jahren hatte er zum letzten Mal in den Büchern und Urkunden gestöbert. Er suchte einen bestimmten Absatz, eine Stelle, die aus irgendwelchen Gründen schon damals in seinem Gedächtnis haften geblieben war – und nach einer Viertelstunde hatte er sie tatsächlich gefunden.
Es ging um Teilhart de Montagne, den Vater Leonardos. Aus irgendeinem Grund – nach einem fürchterlichen Besäufnis vermutlich, das schamhaft verschwiegen wurde – war der Burgherr vom Söller in den Hof gestürzt. Zwei Tage rang er mit dem Tode, dann starb er, und der Rest war kurz und lapidar: Abends, am 3. Jänner Anno Domini 1022, ging die Seele des ersten Teilhart, Comte de Montagne, ein in die Ewigkeit. Er führte ein gottgefälliges Leben. Sein Sohn Leonardo folgte ihm nach. Leonardo de Montagne aber herrschte über die Mächte der Finsternis. Das war alles. Nur dieser eine Satz. Der nächste Abschnitt befasste sich bereits mit Leonardos Sohn Chlodwig, der nach Ansicht des Chronisten wiederum ein gottgefälliges Leben geführt hatte. Zamorra runzelte die Stirn. Leonardo de Montagne aber herrschte über die Mächte der Finsternis, wiederholte er in Gedanken. Was mochte dahinter stecken? War es Leonoardo de Montagne, auf den heute noch der Aberglaube zurückging, die Legende der Dämonen? Das Buch sagte nichts darüber. Aber es gab noch andere Chroniken, ganze Regale waren voll davon – und wenn Leonardo tatsächlich in dem Ruf gestanden hatte, mit den Mächten der Finsternis im Bunde zu stehen, dann musste sich irgendwo Näheres darüber finden. Zamorra stand auf, stellte das Buch an seinen Platz zurück. Nachdenklich betrachtete er die vielen verstaubten Lederrücken. Die meisten trugen Jahreszahlen, also konnte es nicht schwer sein, das richtige herauszufinden. Ein Geräusch unterbrach ihn. Unten im Burghof schnitt das Hupen eines Autos durch die Stille. Zamorra trat an eine der jetzt verglasten Schießscharten und blickte hinaus. Zwischen Ziehbrunnen und Hauptturm war ein Wagen vorgefahren. Ein großer silbergrauer Citroën. Bei dem Fahrer handelte es sich vermutlich um Charles Vareck, das schwarze Schaf der Familie. Zamorra lächelte leicht, verließ die Bibliothek und ging durch den ehemaligen Wehrgang zurück, um den Neuankömmling zu begrüßen. Zwei Minuten später betrat er die Halle. Anabel und Nicole waren
bereits da, und der alte Raffael öffnete eben die Tür, um den Gast einzulassen. Charles Vareck lächelte strahlend, als er hereinkam. Ein unechtes Lächeln – das fiel Zamorra als Erstes auf. Er hatte Vareck als Playboy in Erinnerung, als strahlenden Herzensbrecher, charmant, skrupellos und immer gut gelaunt. Jetzt allerdings wirkte er verändert. Jedenfalls hatte er nichts mehr von dem großen Jungen an sich, den Frauen so gern bemutterten, er wirkte härter, ernster. Er sah blass aus, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und der joviale Ausdruck seines Gesichts war nichts weiter als eine Maske. Zamorra übernahm es, ihn Nicole vorzustellen. Ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten verzichtete Vareck darauf, seinen Charme anzuknipsen. Er begrüßte Nicole höflich, Anabel de Montagne frostig, und schließlich schüttelte er seinem Vetter die Hand. »Lange nicht gesehen«, murmelte er. »Das letzte Mal war es in New York, nicht wahr?« Der Blick, mit dem er sich umsah, wirkte seltsam abwesend und zerfahren. Flüchtig nickte er Raffael zu, der seinen Koffer hereinbrachte. Für einen Moment sah es so aus, als reiße er sich mühsam zusammen, müsse sich konzentrieren, dann atmete er tief durch, und das unechte Lächeln erschien wieder auf seinen Lippen. »Wie ich höre, ist der gute alte Louis ermordet worden«, sagte er – ziemlich zusammenhanglos. »Merkwürdig – dabei hätte ich geschworen, er würde hundert werden und im Bett sterben. Für wann ist die Testamentseröffnung angesetzt?« »Für morgen früh«, sagte Anabel kalt. »Möchtest du noch etwas essen?« »Essen?« Er runzelte die Stirn, als habe er den Sinn der Frage nicht verstanden. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, danke. Ich habe keinen Hunger. Ich gehe sofort hinauf.« »Wie du willst. Raffael wird dich nach oben bringen.« Vareck nickte den Anwesenden zu, immer noch mit diesem abwesenden, eigentümlich gleichgültigen Blick, dann schwang er abrupt herum und folgte dem alten Diener zur Treppe.
Die anderen sahen ihm nach, verwundert, ein wenig befremdet. »Typisch«, behauptete Anabel de Montagne nach einem kurzen Schweigen. Aber Zamorra fand, dass diese Verhaltensweise durchaus nicht typisch für Vareck war. Er glaubte immer noch, Charles Varecks abwesende Augen vor sich zu sehen. Und irgendwo tief in seinem Innern begann sich eine Unruhe zu regen, die er sich nicht erklären konnte …
Die Standuhr in der Halle schlug zwölf Mal. Mitternacht! Die Schläge waren dumpf und leise – aber Zamorra hörte sie trotzdem. Er konnte nicht schlafen. Ausgestreckt, noch völlig angezogen, lag er auf dem Bett, lauschte auf die geheimnisvollen Geräusche des alten Hauses und dachte nach. Morgen früh wollte Maitre Aubert das Testament Louis de Montagnes verlesen. Zamorra war ziemlich sicher, dass sein Onkel ihm das Schloss vermacht hatte. Und er überlegte, was er damit anfangen sollte. Er hatte Château Montagne immer geliebt, obwohl er nicht hier aufgewachsen war. Der Gedanke widerstrebte ihm, es zu verkaufen oder unter der Obhut Fremder verfallen zu lassen. Aber welche Möglichkeiten gab es sonst? Hier leben? Sich tatsächlich in die Einsamkeit, die versponnene Abgeschiedenheit dieser mittelalterlichen Welt zurückzuziehen und … Warum eigendich nicht? Der Gedanke faszinierte ihn plötzlich. Hier, in der Dunkelheit, umgeben von dem seltsamen, knisternden und atmenden Leben des alten Gemäuers, erschienen ihm der Lärm und die Hetze New Yorks unendlich weit entfernt. Er würde die Wohnung in den Staaten natürlich behalten müssen – schon aus beruflichen Gründen. Aber seine Forschungen auf dem Gebiet von Psychologie und Parapsychologie ließen sich nicht durch Anspannung, Arbeit und Stress bewältigen, sondern erforderten Ruhe, Besinnung, Konzentration. Eine Konzentration, für die Château Montagne im Grunde ideale Voraussetzungen bot.
Er rieb sich über die Stirn, als wolle er den Gedanken wegwischen. Es war sinnlos, schon jetzt darüber nachzugrübeln. Er beschloss, noch einmal in die Bibliothek zu gehen. Normalerweise saß er um diese Stunde oft noch in seinem Arbeitszimmer. Nachts kamen ihm die besten Ideen. Die Stille, die unbegrenzte, durch keinen Tagesrhythmus verplante Zeit – das alles wirkte inspirierend auf ihn, und der Gedanke, in aller Ruhe bei einem Kognak in den alten Chroniken zu blättern, erschien ihm plötzlich äußerst verlockend. Er verließ das Zimmer. Um niemanden zu wecken, schaltete er kein Licht ein, sondern benutzte seine Taschenlampe. Wie ein Geisterfinger strich der helle Strahl über die Wände. Die Dielenbretter des Wehrgangs knarrten leise. Zamorra schlenderte an den schmalen, verglasten Schießscharten vorbei, ließ den Blick müßig über den dunklen Burghof gleiten – und blieb ein paar Sekunden später stehen. In der Bibliothek brannte Licht. Ein heller Streifen fiel durch die Bodenritze unter der Tür. Kein Laut war zu hören – aber offensichtlich interessierte sich noch jemand anders für die alten Bücher. Es war Instinkt, der Zamorra darauf verzichten ließ, wie ein normaler Mensch an die Tür zu klopfen. Er schaltete die Taschenlampe aus. Seine Hand fand die Klinke. Behutsam drückte er sie nieder, und die schwere Tür schwang langsam zurück. Nur die wuchtige, mit Pergament bespannte Stehlampe verbreitete ihren warmen Schein in der Bibliothek. Charles Vareck saß in einem der Sessel. Er saß gespannt da, leicht vorgeneigt, ein in Leder gebundenes Buch lag auf seinen Knien und … Die Angeln quietschten. Schrill, misstönend zerschnitt das Geräusch die Stille. Vareck fuhr zusammen. Das Buch polterte zu Boden, der Mann riss den Kopf herum, und seine aufgerissenen Augen starrten zur Tür. Augen, in denen Angst flackerte. Nackte, panische Angst, die in keinem Verhältnis zur Situation stand.
Zamorra lächelte leicht. »Hallo«, sagte er. »Ich sehe …« Vareck bückte sich nach dem Buch. Etwas Verkrampftes, Lauerndes lag in seiner Bewegung. Und dann reagierte er so schnell und so völlig unsinnig, dass Zamorra für einen Moment überrascht wurde. Das Buch wirbelte durch die Luft. Zamorra konnte nicht ausweichen. Im letzten Moment riss er den Kopf zur Seite, doch eine Kante des schweren Bandes streifte seine Schläfe. Er taumelte zurück, landete mit dem Rücken an der Türzarge, und für einen Moment drohte es dunkel um ihn zu werden. Er riss die Augen auf. Dicht vor sich sah er Varecks verzerrtes Gesicht. Ein Faustschlag erwischte ihn am Kinnwinkel, ein zweiter Hieb schlug in seinen Magen ein. Er krümmte sich, und Vareck fing ihn mit einem scharf gezogenen Uppercut ab, der ihn erneut gegen die Tür zurückwarf. Vor Zamorras Augen flimmerten bunte Funken. Er spürte den Gegner mehr, als dass er ihn sah, fühlte sich reichlich schwach auf den Beinen. Aber er pflegte sich durch ständiges sportliches Training fit zu halten, er beherrschte außer Boxen und Karate noch ein halbes Dutzend anderer Kampfarten, und so leicht war er nicht auf die Bretter zu schicken. Charles Vareck merkte das schon im nächsten Augenblick. Zamorra stieß sich von der Tür ab. Er war angeschlagen, immer noch unsicher, aber seine Reflexe funktionierten wieder. Worum es ging, war ihm immer noch schleierhaft. Er konnte sich nichts vorstellen, wobei er Vareck möglicherweise ertappt hatte, und er verstand dessen Reaktion nicht. Er begriff überhaupt nichts – außer, dass er angegriffen wurde, hart, rücksichtslos und brutal. Und dass er genauso hart und kompromisslos zurückschlagen musste. Den nächsten Hieb unterlief er. Vareck wurde vom eigenen Schwung nach vorn gerissen. Er rannte förmlich in den Konter hinein. Zamorra hatte blindlings zugeschlagen, nur mit dem Ziel, sich etwas Luft zu verschaffen, und als Vareck zurücktaumelte, tänzelte er zur Seite, nahm die Deckung hoch und schüttelte den Kopf, um das wattige Gefühl loszuwerden. Sein Gegner keuchte. Drei, vier Schritte wurde er in den Raum zu-
rückgetrieben, dann fing er sich wieder. Seine Augen waren weit aufgerissen, seltsam starr. Aber es war nicht die glasige Starre des angeschlagenen Boxers, sondern etwas anderes, Fremdes; etwas, das sich Zamorra nicht erklären konnte. Er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Erneut stürzte sich Vareck auf ihn – und er griff an mit einer Wildheit, einer Rücksichtslosigkeit und selbstzerstörerischen Besessenheit, die nicht mehr normal sein konnte. Zwei, drei präzise Konterschläge nahm er, ohne Wirkung zu zeigen. Wie ein Rammbock prallte er auf seinen Gegner, trieb ihn auf den Gang hinaus. Zamorra wich zurück, suchte die Distanz, um sich nicht rein zufällig einen Heumacher einzuhandeln – aber auf diese Art war Charles Vareck nicht mehr zu bremsen. Er hatte sich in einen Roboter verwandelt, eine Kampfmaschine ohne Rücksicht auf andere oder sich selbst. Sein Gesicht war bleich und verzerrt, die Augen glühten, sein Atem ging pfeifend und stoßweise. Zamorra spürte fast erschrocken den nackten, mörderischen Vernichtungswillen, der ihm entgegenschlug. Warum?, dachte er verzweifelt. Warum, zum Teufel, spielt dieser Mann verrückt? Weil ich die Bibliothek betreten habe? Weil er irgendetwas in den alten Büchern sucht? Etwas, das … Varecks Fäuste schossen vor. Zamorra wich aus, steppte zur Seite. Mechanisch blockte er einen linken Haken ab, ging auf Halbdistanz, schlug eine Serie von schnellen, gestochenen Geraden, und Vareck wurde Meter um Meter durch den schmalen Wehrgang zurückgetrieben. Einmal verlor er das Gleichgewicht. Sein Fuß verhakte sich irgendwo, er geriet ins Stolpern. Instinktiv warf er sich zurück und verlängerte den Sturz zu einer Rolle. Er kam wieder auf die Beine, klammerte sich an der Fensterbank fest – aber die Sekunde der Unsicherheit ließ ihn begreifen, dass er auf der Verliererstraße war. Tief auf dem Grund seiner Pupillenschächte schien etwas zu zerbrechen. Panik flackerte in Varecks Augen auf. Mit einem keuchenden, halberstickten Laut stieß er sich von der Fensterbank ab, wirbelte um die eigene Achse und rannte blindlings durch den schma-
len Gang davon. Zamorra holte tief Luft. »Charles!«, rief er. »Sei vernünftig! Bleib stehen!« Vareck hörte nicht. Panik peitschte ihn vorwärts. Er erreichte das Ende des Wehrgangs, aber er machte keinen Versuch, die ehemalige Kemenate zu betreten, sondern riss die Tür auf, die zu der schmalen, steilen Außentreppe führte. Zamorra setzte ihm nach. Wäre er gefragt worden, er hätte nicht zu sagen gewusst, warum er das tat. Es war Instinkt. Oder Ahnung. Eine dunkle, unerklärliche Vorahnung, die ihm sagte, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, mit Charles Vareck zu sprechen, und dass er ihn jetzt einholen musste, wenn er das Rätsel dieses sonderbaren Zwischenfalls lösen wollte. Vareck war bereits draußen auf dem Treppenabsatz. Er hastete die Stufen hinunter. Das letzte Stück sprang er, landete federnd auf dem Kopfsteinpflaster und rannte wie von Furien gehetzt über den dunklen Burghof. Zamorra folgte ihm. Er riskierte lieber nicht, sich die Knochen zu brechen, aber als er die Treppe hinter sich hatte, mobilisierte er seine Reserven. Varecks Vorsprung schmolz. Er warf den Kopf herum, sah, dass der Verfolger aufholte, und zuckte so heftig zusammen, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Er jagte auf das Tor zu. Die Zugbrücke war heruntergelassen, das Fallgitter hochgezogen – auf Château Montagne rechnete man selbstverständlich nicht mehr mit feindlichen Angriffen, und als Schutz gegen Einbrecher genügten Türschlösser und vergitterte Fenster. Varecks Absätze klapperten auf den Brückenbohlen. Er stolperte, fing sich wieder, und mit ein paar Schritten erreichte er die gepflasterte Zufahrtsstraße. Zamorra war nur zehn, zwölf Meter hinter ihm. Er trug Kreppsohlen, seine Schritte waren fast lautlos. Für einen Moment verlor er den Flüchtenden aus den Augen. Wie ein graues Band schimmerte die Straße im Mondlicht, Büsche und Bäume warfen schwarze Schlagschatten. Zamorra blieb stehen und blickte sich um.
Stille! Keine Schritte, kein Geräusch, nichts! Vareck war in Deckung gegangen, war irgendwo in der Schwärze der Nacht untergetaucht, und vermutlich erwartete er jetzt, dass der Verfolger aufgeben würde. Zamorra dachte nicht daran. Er wollte die Wahrheit wissen. Er spürte, dass mehr hinter diesem Zwischenfall steckte als eine verrückte Laune seines Vetters, und er wollte wissen, womit er es zu tun hatte. Er lauschte und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, die Dunkelheit zu durchdringen. Ein Geräusch in seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Zweige knackten, Zamorra glaubte, menschliche Atemzüge zu hören. Er presste die Lippen zusammen und kämpfte den Impuls nieder, blindlings und heftig herumzuwirbeln. Langsam wandte er sich um – und sah sich einer Gestalt gegenüber, die wie aus dem Boden gewachsen zwischen den Büschen am Straßenrand aufgetaucht war. Nicht Vareck, das wusste er sofort. Ein Fremder! Ein großer, hagerer Mann. Knochig, beinahe lächerlich dürr, der reglos dastand wie eine Statue. Zamorra atmete aus. Eine eigentümlich zwingende Ruhe lag in der Haltung des anderen. Er stand da mit völliger Selbstverständlichkeit. Sein Gesicht lag im Dunkeln, und nur die Umrisse der Gestalt zeichneten sich vor dem helleren Hintergrund ab. Erst nach ein paar Sekunden machte er einen Schritt nach vorn, und das Mondlicht fiel auf seine Züge. Ein Totengesicht! Zamorra hielt den Atem an. Wie einen Eishauch spürte er die Drohung. Da war etwas! Etwas zwischen ihm und diesen Augen! Sie schienen sich zu vergrößern, weiter zu werden, tiefer. Schwarze, unauslotbare Brunnenschächte, auf deren Grund ein seltsames, gleißendes Feuer brannte … »Kommen Sie«, sagte der Fremde leise. »Kommen Sie …« Zamorra presste die Zähne aufeinander. Wie eine körperliche Berührung spürte er den Blick. Eine unsicht-
bare Kraft, die gegen die Schranken seines Bewusstseins flutete. Die diese Schranken aufbrechen wollte, in ihn eindringen, ihn in ihren Bann ziehen. Tief in ihm begann eine unsichtbare Saite zu schwingen. Sein Atem keuchte, und seine Gedanken verwirrten sich. »Kommen Sie«, hörte er die Stimme. »Sie werden kommen! Zu mir – zu mir …« Zamorra schüttelte den Kopf. Unendlich mühsam. Schweiß stand auf seiner Stirn. »Nein«, krächzte er. »Nein …« Der Fremde lächelte. »Sie werden kommen. Glauben Sie es mir. Warum wehren Sie sich? Sie sind müde – sehr müde! Schauen Sie mich an!« Zamorra hob die Lider, bohrte den Blick in diese fremden lavaschwarzen Augen. Er zitterte. Etwas wie ein Bann, eine todesähnliche Starre schien ihn zu überfallen. Sein Herz hämmerte in dumpfen Schlägen gegen die Rippen. Mit verzweifelter Kraft grub er die Zähne in die Unterlippe, spürte den salzig-bitteren Geschmack seines eigenen Blutes im Mund – und der jähe, scharfe Schmerz schnitt wie ein Messer durch sein Bewusstsein. Der Bann zerbrach. Es war, als sei ein tonnenschwerer Druck von ihm genommen. Er atmete tief durch, und er wusste glasklar, welcher teuflischen Falle er knapp entronnen war. Hypnose! Dieser Bursche mit dem Totengesicht hatte versucht, ihn zu hypnotisieren, ihn unter seinen Willen zu zwingen. Er hatte es vergeblich versucht – denn Zamorra wusste um diese geheimnisvolle Kraft, und deshalb waren die Barrieren seines Willens stark genug gewesen. »Wer sind Sie?«, stieß er hervor – jetzt wieder völlig Herr seiner selbst. Der Fremde sah ihn prüfend und ungläubig an. Einen Moment lang blieb er reglos stehen, leicht vorgeneigt, mit gerunzelter Stirn – und dann wandte er sich mit einer geschmeidigen Bewegung um und verschwand genauso blitzartig und unvermutet zwischen den Büschen, wie er aufgetaucht war. Zamorra zog die Taschenlampe aus dem Gürtel.
Er ließ den Lichtkegel wandern, leuchtete die Straße ab, drang in das Buschwerk ein, lauschte immer wieder – doch den Mann mit dem Totengesicht schien der Erdboden verschluckt zu haben. Düster und völlig ausgestorben lag die Landschaft im Mondlicht. Charles Vareck und der Fremde waren verschwunden wie ein Spuk.
Zamorra war sehr nachdenklich, als er den Schlosshof überquerte und in die Bibliothek zurückging. Niemand hatte etwas von dem nächtlichen Zwischenfall mitbekommen. Nirgends war Licht aufgeflammt, das Schloss schlief friedlich wie zuvor. Zamorra hob das Buch auf, das Vareck nach ihm geschleudert hatte, und drückte die schwere Eichentür hinter sich ins Schloss. Die Ecken des kostbaren Lederbandes waren eingedrückt, ein paar Kratzer zeichneten sich auf dem dunklen Karmesinrot des Einbandes ab. Zamorra zog sich in einen der Sessel zurück und musterte den Buchrücken. Vier Ziffern. Eine Jahreszahl in verblichener Goldprägung. 1099. Sonst nichts. Mit gerunzelter Stirn schlug Zamorra das Buch auf, blätterte es flüchtig durch und stieß auf eine Seite, deren obere Ecke umgeknickt worden war. Eine Zeichnung! Das kleine, aber detaillierte Abbild eines Amuletts. Ein Drudenfuß in der Mitte. Kreisförmig darum geordnet die zwölf Tierkreiszeichen. Und als äußerer Ring ein schmales Silberband mit Zeichen und Hieroglyphen, die Zamorra nicht entziffern konnte. Seine Augen verengten sich. Er blätterte weiter, ließ den Blick über die eng beschriebenen Seiten gleiten – und dann hatte er die Geschichte des Amuletts gefunden: Anno Domini 1099 war es Leonardo de Montagne dank göttlicher Gnade vergönnt, mit den edlen Kreuzfahrern Jerusalem einzunehmen und die heiligen Stätten den Ungläubigen zu entreißen. Dort gründeten sie ein Reich, auf dass die Heiligtümer der Christenheit auf immer erhalten blieben. Der
zweite Sohn des Kalifen Achman jedoch hatte eine Frau, die rein war wie ein leuchtender Stern am Firmament und schöner als die aufgehende Sonne des Morgenlandes. Leonardo gefiel es, sie als Geisel mit sich zu nehmen, damit der Friede gesichert sei. Sie war so schön, dass er sie nicht zurückgeben wollte, nicht um den Preis von Gold und nicht um den Preis eines Königreichs. Der Kalif aber änderte seinen Sinn und machtt ihm ein Amulett zum Geschenk, auf dass er herrsche über die Mächte der Finsternis, über Dämonen und Geister. Zamorra ließ das Buch sinken. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn, und für einen Moment ging sein Blick ins Leere. »… auf dass er herrsche über die Mächte der Finsternis«, wiederholte er murmelnd, »über Dämonen und Geister.« War das die Lösung? Der uralte Fluch, der über dem Geschlecht derer de Montagne stehen sollte? Existierte es tatsächlich – dieses Amulett, das seinem Besitzer Macht über die Kräfte des Übersinnlichen verlieh? Noch einmal betrachtete er die Abbildung, so wie sie auch Charles Vareck vor wenigen Minuten betrachtet haben musste. Und dabei versuchte er, sich die Ereignisse der vergangenen Stunden genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Vareck war müde gewesen, abgespannt. Zu müde jedenfalls, um mit seinen Verwandten, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, mehr als nur ein paar Worte zu wechseln. Und dann war er in die Bibliothek gegangen, hatte in einem der alten Bücher gelesen, hatte mit einem blindwütigen, völlig sinnlosen Angriff reagiert, als er überrascht wurde – und draußen war dieser seltsame Fremde aufgetaucht. Hatte er dort auf Vareck gewartet? Steckten die beiden unter einer Decke? Um irgendetwas zu stehlen oder … herauszufinden? Irgendetwas vielleicht, das mit dem Tod Louis de Montagnes zusammenhing? Zamorra schob mit einem tiefen Atemzug den Sessel zurück. Er wusste nicht, was hier gespielt wurde, wusste nicht einmal, ob er es mit normalen Gegnern zu tun hatte oder mit Dingen, die den Horizont des Verstandes, der Naturgesetze überschritten. Aber er war
entschlossen, dem Rätsel auf den Grund zu gehen …
Der alte Raffael bemerkte am nächsten Morgen als Erster, dass Charles Vareck verschwunden war. Er wirkte reichlich ratlos, als er die anderen davon in Kenntnis setzte. »Monsieur Vareck hat nicht in seinem Zimmer übernachtet«, sagte er. »Auch sein Wagen fehlt. Hätte er nicht seinen Koffer zurückgelassen, müsste man annehmen, er sei wieder abgereist.« Anabel de Montagne zog verächtlich die Mundwinkel herab. »Er wird schon kommen«, meinte sie. »Schließlich geht es um Geld. Das lässt sich mein lieber Neffe nicht entgehen.« Zamorra bezweifelte, dass sie Recht behalten würde. Noch hatte er es nicht für nötig befunden, über den nächtlichen Zwischenfall zu sprechen. Aber zumindest Nicole Duval schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Sie saß neben ihm am Frühstückstisch. Vermutlich mit Rücksicht auf die altehrwürdige Umgebung trug sie ein zugeknöpftes wadenlanges Kleid, dessen altmodischer Mottenkisten-Charme höchst reizvoll zur strahlenden Jugend der Trägerin kontrastierte. Nachdenklich rührte sie in ihrer Kaffeetasse herum und warf Zamorra einen Seitenblick zu. »Merkwürdig«, sagte sie so leise, dass niemand anders es verstehen konnte. »Er war schon gestern Abend so seltsam. Leidet er vielleicht unter Bewusstseinsstörungen oder etwas Ähnlichem?« Zamorra zuckte die Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Er wird schon seine Gründe haben, nehme ich an.« »Mir soll es recht sein. Aber – ich habe ein eigenartiges Gefühl, Chef.« »Ein Gefühl? Doch nicht etwa eine Vorahnung?« Nicole warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Zamorra lächelte amüsiert. Aber er wurde sofort wieder ernst – denn auch er musste gegen dieses seltsame Vorgefühl ankämpfen, und im Gegensatz zu Nicole wusste er genau, dass es so etwas gab. Charles Vareck kam nicht.
Er erschien weder zum Frühstück noch später. Und als gegen elf Uhr Maitre Aubert erschien, um in der großen Halle Louis de Montagnes Testament zu verlesen, war Charles Vareck immer noch verschwunden. Jean Aubert machte es feierlich. Er brauchte eine halbe Stunde – aber was er langsam und jedes Wort skandierend vorlas, war im Grunde für keinen der Anwesenden eine Überraschung. Anabel de Montagne erbte den Erlös aus diversen Landverkäufen – 100.000 Franc in Aktien und Wertpapieren. Charles Vareck waren verschiedene Beteiligungen zugedacht. In weiser Einsicht in den Charakter seines Neffen hatte Louis de Montagne verfügt, dass das Geld nicht aus den betreffenden Firmen herausgezogen, sondern nur ein bestimmter monatlicher Betrag ausgezahlt werden dürfe. Château Montagne mitsamt den umliegenden Besitzungen fiel an Zamorra. Für ihn waren keinerlei Bedingungen an die Erbschaft geknüpft. Und was in dem verschlossenen Brief stand, den ihm sein Onkel außerdem hinterlassen hatte, entzog sich auch Maitre Auberts Kenntnis. Zamorra betrachtete ihn nachdenklich, dann schob er ihn in die Innentasche seines Jacketts, weil er instinktiv fühlte, dass es besser war, ihn erst später in aller Ruhe zu lesen. Jean Aubert verstaute seine Unterlagen wieder in der Aktenmappe. Die Einladung zum Mittagessen musste er ablehnen. Er stand auf, wollte sich verabschieden – und im gleichen Moment schlug das Telefon an. Raffael hob ab. Nach einer Weile kam er herein, wandte sich an Zamorra, den er bereits als neuen Schlossherrn akzeptiert hatte, und verbeugte sich steif. »Für Sie, Monsieur. Die Polizei, glaube ich.« Zamorra fühlte ein kühles Prickeln im Nacken. Schweigend ging er in den Vorraum, griff nach dem Hörer und meldete sich. Kommissar Malice war am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme klang rau, seltsam gepresst. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Monsieur. Es ist wichtig. Gehe ich recht in der Annahme, dass im Moment ein gewisser Charles Vareck auf Château Montagne wohnt?«
Zamorras Finger schlossen sich fester um den Hörer. »Ja«, sagte er. »Was ist mit ihm?« »Er ist tot, Monsieur. Seine Leiche wurde in der Nähe des Dorfes gefunden. Sie werden ihn identifizieren müssen …« Zwanzig Minuten später ließ Zamorra den Fiat Dino auf einem einsamen Parkplatz am Straßenrand ausrollen. Es hatte zu regnen begonnen. Der Lack der Streifenwagen und Zivilfahrzeuge glänzte nass. Ein halbes Dutzend uniformierter Beamter lief in ihren wasserdichten blauen Pelerinen herum, ein spindeldürrer Fotograf versuchte, seine Kamera mit einem geblümten Damenschirm zu schützen, und Pierre Malice löste sich aus einer Gruppe von Zivilisten, um Zamorra zu begrüßen. »Der Tote wurde von einem Durchreisenden gefunden«, berichtete er, »einem Handelsvertreter aus Paris. Wenn der Bursche nicht ausgerechnet hier hätte austreten müssen, wäre die Leiche vielleicht noch Wochen unentdeckt geblieben.« Zamorra nickte nur. »Wo ist er?« Malice wies auf den Saum des Gebüsches. Zamorra folgte ihm schweigend. Dornen verfingen sich in seiner Jacke, von dem nassen Laub rieselten Tropfen auf ihn herab – und dann stand er vor der Gestalt, die ausgestreckt auf dem Rücken lag, reglos und starr, mit ausgebreiteten Armen und aufgerissenen Augen dem Regen preisgegeben. Es war Charles Vareck. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Die grässliche Wunde klaffte fast von einem Ohr bis zum anderen …
Nicole sah blass aus. Die winzigen Sommersprossen auf ihrer kleinen, energischen Nase traten deutlicher hervor. »Aber warum?«, fragte sie. »Was steckt dahinter, Chef? Erst dieser völlig unerklärliche Mord an Ihrem Onkel – und jetzt das! Ich verstehe das alles nicht.« Zamorra hob die Schultern. »Ich kann es mir auch nicht erklären. Und die Polizei steht ebenfalls vor einem Rätsel. Es gibt keine Spu-
ren, keinen Hinweis auf den Täter, kein …« Er unterbrach sich, da seine Tante den Raum betrat. Anabel de Montagne war reisefertig. Sie hatte mit eisiger Empörung reagiert – als sei es ein moralisches Vergehen, ermordet zu werden. Und sie war fest entschlossen, keine Nacht länger unter diesem Dach zu verbringen. Nicole hatte sich bereit erklärt, sie zum Bahnhof zu fahren. Der Abschied war kurz, stand unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse. Die beiden Frauen verließen das Schloss, und Zamorra wartete, bis er den Motor des Dino aufheulen hörte. Sein Gesicht war sehr nachdenklich, als er einen der schweren Gobelinsessel an den Kamin rückte und nach dem Brief griff, der immer noch in seiner Tasche steckte. Der Umschlag war nicht beschriftet. Zamorra brach das Siegel und nahm vorsichtig den Brief heraus. Er bestand nur aus einem einzigen Blatt, eng beschrieben mit der steilen, energischen Handschrift seines Onkels. Mein lieber Neffe! Wenn du dies liest, werde ich bereits begraben sein. Wie immer und wann immer ich auch gestorben bin, mach dir keinen Kummer darüber, denn ich habe lange genug gelebt, und ich bin glücklich gewesen. Ich habe dir Château Montagne vererbt, weil du der Einzige unter all meinen Verwandten warst, der diesen Ort geliebt hat und der sich empfänglich für seinen Zauber zeigte. Ich hoffe, dass du das Schloss unserer Väter genau wie ich erhalten wissen willst. Mach Château Montagne zu deiner Heimat! Werde glücklich hier! Aber – und das ist der Sinn meines Briefes an dich – versuche niemals, allzu tief in die Geheimnisse dieses Ortes einzudringen. Im Keller der Burg gibt es eine bestimmte Tür, die das Wappen der Montagnes trägt. Respektiere ihr Geheimnis! Was immer du aus dem Schloss machst, diese Tür öffne niemals und unter keinen Umständen. Es wäre dein Tod. Und es würde nicht nur für dich, sondern auch für viele andere Menschen Tod und Verderben bedeuten. Ich bitte dich inständig, nicht zu versuchen, das Rätsei zu lösen, den Sinn meiner Warnung zu enthüllen. Beherzige sie – dann kann Château Montagne ein Paradies sein.
Lebe wohl, lieber Neffe, und auf Wiedersehen in einer anderen Welt. Dein Onkel Louis de Montagne Zamorra ließ den Brief sinken. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. Er starrte das vergilbte Papier an, er las noch einmal den Text, langsamer diesmal, und er hatte das Gefühl, als ob von irgendwoher ein eiskalter Hauch seinen Rücken streifte.
Nicole war erleichtert, als der Zug den Bahnhof verließ. Diese Tante konnte einem Menschen schon auf den Wecker fallen. Der Fiat Dino wartete auf dem Parkplatz. Nicole erreichte den Wagen, wollte einsteigen – und prallte zurück, als sei sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Ein Mann saß auf dem Beifahrersitz. Ein großer knochiger Mann, schmalschultrig, mit einem dürren faltigen Hals und schütteren, dicht an den Schädel gekämmten Haaren. Er saß ruhig da, mit völliger Selbstverständlichkeit, und er schien die Schritte Nicoles nicht zu hören. Nicole holte tief Luft. »He!«, rief sie. »Können Sie mir vielleicht verraten, was Sie in meinem Wagen …« Der Mann drehte sich rasch um, ruckartig – und der Anblick seines Gesichtes ließ Nicole verstummen. Seine ausgemergelten Züge erinnerten an einen Totenschädel. Wangenknochen, über denen sich die gelbe Haut spannte, schwarze, tief liegende Augen, dünne Lippen. Nichts in diesem Gesicht schien zu leben, nur tief auf dem Grund der Pupillenschächte brannte ein seltsames Feuer, und es war dieser kalte, gleißende Glanz, der Nicole vom ersten Moment an in seinen Bann schlug. Sie schluckte. »Was tun Sie in meinem Wagen, Monsieur?«, wiederholte sie wesentlich leiser. Der Fremde zog die Lippen von den Zähnen. Vermutlich sollte das ein Lächeln sein. Auf Nicole wirkte es wie eine Grimasse. »Steigen Sie ein«, sagte er nur. Nicole runzelte die Stirn. Sie starrte den Fremden an. Der Bursche
war unverschämt, und sie holte tief Luft, wartete auf den Zorn, die Empörung – aber seltsamerweise empfand sie nichts, was der Situation angemessen gewesen wäre. Nichts – außer einer eigentümlichen Leere. Einem Gefühl der Gleichgültigkeit, das sich in ihr auszubreiten schien und … »Steigen Sie ein«, wiederholte der Fremde. »Sie werden einsteigen. Jetzt! Sofort!« Nicole schluckte. Der Blick dieser dunklen Augen traf sie wie eine Berührung, drang tief in sie ein, bis in das Zentrum des Willens. »Sie sind wohl verrückt geworden!«, sagte sie. Das heißt – sie wollte es sagen. Stattdessen streckte sie die Hand aus. Ohne es zu wollen, ohne es auch nur wirklich zu wissen, zog sie die Tür des Wagens auf, glitt hinter das Steuer und schloss die Tür hinter sich. Der Fremde nickte zufrieden. »Gut«, sagte er mit seiner dunklen, seltsam eintönigen Stimme. »Fahren Sie! Ich werde Ihnen sagen, wohin Sie den Wagen lenken.« »Nein«, murmelte Nicole. »Nein, ich …« »Sie werden fahren. Sie wissen doch genau, dass Sie fahren werden, nicht wahr?« Nicole nickte mechanisch. Ihr Mund war trocken. Das Herz hämmerte in schweren Schlägen gegen ihre Rippen, und tief in ihrem Innern spürte sie mit einem Anflug von Schrecken, wie ihr von Sekunde zu Sekunde mehr die Wirklichkeit entglitt. Ihre Finger drehten den Zündschlüssel. Der Motor kam, blubberte einige Male, lief dann rund. Die reinrassige Ferrari-Maschine brummte wie eine zornige Hornisse. Nicole legte den Gang ein, wandte mühsam den Kopf und lieferte sich erneut dem düsteren, zwingenden Blick des Fremden aus. »Wohin?«, fragte sie heiser. »Richtung Château Montagne. Ich sage Ihnen rechtzeitig, wenn Sie abbiegen müssen.« Nicole fuhr an. Gehorsam, wie eine Aufziehpuppe, wendete sie den Wagen, verließ den Bahnhofsvorplatz und nahm die schmale, gewundene Straße in Richtung Château Montagne …
Zamorras Lippen lagen hart aufeinander, als er den Raum verließ. Raffael hatte sich bereits in sein Zimmer zurückgezogen. Nicole würde frühestens in einer halben Stunde vom Bahnhof zurückkehren. Zamorra war allein, ungestört – und was er wichtiger fand: Er würde in das, was er vorhatte, niemanden mit hineinziehen. In seiner Tasche knisterte immer noch der Brief mit der Warnung, eine bestimmte Tür im Keller nicht zu öffnen. Zamorra spürte ein leises Kribbeln in der Magengegend. Er war weit davon entfernt, die Warnung einfach in den Wind zu schlagen, sie als Unsinn abzutun – aber er musste Gewissheit haben. Die schwere, eichene Kellertür quietschte in den Angeln, als er sie öffnete. Graue ausgetretene Steinstufen führten nach unten. Zamorra tastete nach dem Lichtschalter, ließ die trübe, aber immerhin ausreichende Beleuchtung aufflammen und stieg die Treppe hinunter. Soweit er sich erinnerte, wurde nur der Keller unter der ehemaligen Kemenate benutzt. Er kannte diesen Trakt, unterzog ihn nur einer flüchtigen Musterung. Verschiedene Räume waren mit alten Möbeln und ausgedientem Hausrat voll gestopft; es gab Regale, in denen sich Konservendosen und andere Vorräte stapelten. In einem tiefen, modrigkühlen Gewölbe war der Weinkeller untergebracht. Zamorra betrachtete die Sammlung verstaubter Flaschen nur flüchtig. Sie waren eine wahre Fundgrube für einen Kenner und Liebhaber edler Tropfen – aber im Augenblick hatte er anderes zu tun. Die Tür, die in den ungenutzten Teil des Kellers führte, fand er erst nach einigem Suchen. Modrige Kühle schlug ihm entgegen, als er sie öffnete. Hier gab es kein elektrisches Licht mehr. Zamorra sah sich um, nahm eine der Pechfackeln aus der metallenen Halterung und entzündete sie mit seinem Feuerzeug. Unruhig, geisterhaft huschte der Widerschein der Flammen über die dicken Mauern. Die Bruchsteinquader schimmerten feucht. Etwa vier, fünf Meter verlief der Gang geradeaus, dann endete er vor einer weiteren Treppe, die nach unten führte und deren Stufen sich in der Dunkelheit verloren. Zamorra ging weiter.
Er wusste, dass der Keller der Burg nicht aus einem einzigen Geschoss bestand, sondern aus verschachtelten Gewölben und Verließen in verschiedenen Ebenen. Ein paar Mal kam er an winzigen Mauerluken vorbei, die nur zur Belüftung von Kerkerzellen dienten, deren Eingänge weiter oben lagen. Rostige Ketten stapelten sich auf dem Boden, in die Mauern waren eiserne Ringe eingelassen. Zamorra durchquerte einen Raum mit einem schweren Tisch und zwei Eichenbänken, den vor unendlich langer Zeit einmal Wächter oder Folterknechte benutzt haben mochten, wandte sich nach rechts, wo ein weiterer Gang abzweigte, und drang immer tiefer in das unterirdische Labyrinth ein. Nach etwa zehn Minuten hatte er die Folterkammer erreicht. Er biss die Zähne zusammen. Dass dieser grässliche Ort irgendwann im finsteren Mittelalter zuletzt benutzt worden war, nahm ihm nichts von seinem Schrecken. Zamorra ließ den Blick über die teuflischen Geräte gleiten, über das Streckbett, die Eiserne Jungfrau, das Kohlenbecken, die Zangen, Peitschen und Ketten, dann wandte er sich rasch ab und ging wieder zur Tür. Bis hierher hatte er noch in etwa Bescheid gewusst – bei einem seiner ersten Besuche auf Château Montagne war er fast noch ein Kind gewesen und in einem Alter, in dem ihn Burgverlies und Folterkammer ungemein fasziniert hatten. Aber weiter war er nie gekommen – und jetzt, da er darüber nachdachte, erinnerte er sich auch deutlich, dass sein Onkel alle Fragen nach dem restlichen Teil des Kellers immer energisch abgewehrt hatte. Weil die Tür mit dem Wappen in der Nähe lag! Und weil es dahinter keine normalen Kellerräume mehr gab, sondern uralte Gewölbe, die ein Geheimnis bargen? Zamorra zögerte kurz, dann folgte er weiter dem Gang, der an der Folterkammer vorbeiführte. Seine Kopfhaut kribbelte. Er war sich bewusst, dass er Angst empfand. Adrenalin, dachte der Wissenschaftler in ihm. Erhöhte Hormonproduktion. Flucht- oder Kampfbereitschaft im Augenblick der Gefahr und … Da war die Tür. Schwere Eichenbohlen, ein geschnitztes Wappen. Drei stilisierte Lilien und ein Adler – das Wappen der Montagnes.
Zamorra nahm die Fackel in die Linke. Er zögerte. Seine Natur, seine Forschungen, seine Erkenntnis – das alles hatte ihn wachsam gemacht, empfänglich für Stimmungen und Ausstrahlungen, die andere nicht wahrnahmen. Und diese besondere Sensibilität ließ ihn jetzt die Gefahr spüren. Hinter dieser Tür befand sich etwas. Etwas Unheimliches, Drohendes. Er wusste es, er fühlte förmlich, wie es ihn anwehte, und er glaubte, die Warnung in Louis de Montagnes steiler, energischer Schrift wieder ganz deutlich vor sich zu sehen. Aber er war nicht hierher gekommen, um jetzt aufzugeben. Mit fest zusammengepressten Lippen streckte er die Hand aus. Der Riegel ließ sich überraschend leicht abheben. Zamorra drückte die rostige Klinke herunter, gab der Tür einen Stoß, und mit einem misstönenden Knarren schwang sie zurück. Dunkelheit. Eine Dunkelheit, gegen die auch die Pechfackel nichts ausrichtete. Zwei, drei Sekunden vergingen. Sekunden in völliger Stille. Und dann, während plötzlich ein seltsamer singender Ton in der Luft hing, erlebte Zamorra das Erwachen der Dämonen. Er sah die tanzenden glimmenden Funken, die sich zu Wolken verdichteten. Er sah, wie die Funken zu Flammen wurden. Sah, wie sich aus den wabernden, tanzenden Feuergestalten die bleichen Gerippe materialisierten – und erst als zum ersten Mal das gellende, teuflische Gelächter laut wurde, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er wich zurück. Langsam, Schritt für Schritt. Angst erfüllte ihn. Nackte, panische Angst, die an den Schranken der Beherrschung rüttelte. Aber er wusste, dass nichts tödlicher sein würde, als jetzt den Kopf zu verlieren, und er behielt unter Aufbietung aller Kraft seine Nerven unter Kontrolle. Er erreichte die Tür. Er wusste, dass er sie schließen musste, ehe etwas Schreckliches geschah. Seine Zähne pressten sich aufeinander, seine Muskeln spannten sich – und … Ehe er ausweichen konnte, packte eine bleiche Knochenhand zu. Ein glühender Reif schien sich um seinen Arm zu schließen. Wie eine Stichflamme schoss der Schmerz durch seinen Körper. Wider
Willen schrie er auf, warf sich zurück, und mit einer verzweifelten, reflexartigen Bewegung gelang es ihm, sich loszureißen. Schweiß trat auf seine Stirn. Vor sich sah er die tanzenden lodernden Feuergestalten. Wabernde Lichtpunkte, grinsende Gerippe – Dämonen in allen Stadien der Materialisation. Düsterer Flammenschein erfüllte das alte Gemäuer. Die Horrorgestalten kamen heran, und das gellende teuflische Gelächter hallte von den Wänden wider. Zamorra taumelte zurück, über die Schwelle, warf sich herum – und schlug die Tür zu! Mit einem dumpfen Laut fiel sie ins Schloss. Noch durch die dicken Eichenbohlen war das Heulen der Dämonen zu hören. Zamorra hielt den Atem an, blieb reglos und wie versteinert stehen, erwartete jeden Moment, dass sich irgendwo einer der Geister materialisieren würde – und er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er es geschafft hatte. Langsam, fast schwindlig vor Erleichterung, stieß er die Luft aus. Die Gefahr war gebannt! Für dieses Mal …
Ein feiner, nadelscharfer Schmerz drang in Nicole Duvals Bewusstsein. Ein Schmerz an ihrem Arm. Mühsam drehte sie den Kopf, hob die Lider, sah an sich herunter. Ihr Blick erfasste die Kanüle der Injektionsspritze, die die Haut in ihrer Ellenbogenbeuge durchstoßen hatte. Eine wasserhelle Flüssigkeit füllte den Kolben. Nicole sah die schmale nervige Hand, die die Spritze hielt, sah ein dürres Gelenk, um das der Ärmel des weißen Kittels schlotterte, und versuchte vergeblich, sich zu erinnern, was geschehen war. Eine seltsame Wärme erfüllte sie, rann durch ihre Adern und betäubte den Anflug von Unruhe. Nicole spürte etwas in ihr Hirn eindringen wie ein schleichendes Gift, doch sie hatte nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Ihr Blick glitt höher, erfasste die dürre, knochige Gestalt und das Totengesicht mit der gelben Haut und den schwarzen Augen. »Dr. Ramondo«, flüsterte sie.
Die dünnen Lippen zogen sich von den Zähnen zurück, das Gesicht lächelte. »Sieh mich an«, hörte sie die leise, monotone Stimme Ramondos. »Sieh mich an … Sieh mir in die Augen!« Sie tat, wie ihr geheißen. Schwarze, unergründliche Augen von hypnotischer Kraft. Augen, auf deren Grund ein unsichtbares Feuer zu brennen schien und deren Blick alles ausfüllte. »Du gehörst mir«, flüsterte Ramondo. »Hörst du? Du gehörst mir! Du wirst tun, was ich befehle!« Nicole war sich nicht bewusst, dass sie antwortete. Ihre Stimme klang wie ein fernes Echo: »Ja, ich gehöre dir … Ich werde gehorchen …«
In der Bibliothek brannte Licht. Zamorra hatte sich einen doppelten Kognak eingeschenkt. Das sanfte Feuer des Alkohols beruhigte seine aufgepeitschten Nerven. Er nahm einen weiteren Schluck, streifte sein Jackett ab, schob den Ärmel des auberginefarbenen Hemdes nach oben und betrachtete die Brandwunde an seinem Arm. Der Abdruck von fünf Fingern zeichnete sich dort ab! Knochenfinger … Tiefe glutrote Feuermale, die wie die Hölle brannten. Zamorra streifte den Ärmel wieder zurück, dessen Stoff an den entsprechenden Stellen genauso verkohlt war wie der des Jacketts, biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Die Bibliothek sah aus wie eh und je. Nichts wies darauf hin, dass es hier eine Geheimtür gab. Aber irgendwo musste eine Vorrichtung zu finden sein: ein Knopf, ein Hebel oder etwas Ähnliches, um den Mechanismus auszulösen, der das Regal von seinem Platz bewegte und den Durchschlupf zu der getarnten Wendeltreppe freigab. Zamorra musterte die Reihe der Bücher. Alte, dunkle Lederbände. Irgendein Geschichtswerk. Jahreszahlen kennzeichneten die einzelnen Bände, in Silber geprägt und … Zamorra stutzte. Sein Blick sog sich an einem der Bücher fest, an den verblichenen Ziffern. Anno Domini … Er stutzte, rieb sich über die Augen!
Dort stand ein Jahr geschrieben, das es nicht gab! Das noch in der Zukunft lag, im Dunkel künftiger Zeiten. Der Band sah genauso aus wie die anderen, konnte niemandem auffallen, der nicht sehr genau hinsah – und dennoch gehörte er nicht dazu. Mit zwei Schritten trat Zamorra an das Regal heran, griff nach dem Buch und nahm es von seinem Platz. Seine Augen hatten sich verengt. Er erwartete, Widerstand zu spüren, das Knarren zu hören, mit dem die Geheimtür zurückschwang. Aber nichts dergleichen geschah. Mühelos ließ sich das Buch aus dem Regal nehmen und … Buch? Das war überhaupt kein Buch, wie er jetzt erkannte. Er hielt eine flache Kassette in der Hand, täuschend echt als Lederband getarnt. Sie sah genauso aus, war genauso groß, hatte vermutlich das gleiche Gewicht wie die anderen Bücher. Aber der eigentümliche, charakteristische Geruch nach ausgetrocknetem, alten Papier fehlte, der Goldschnitt glänzte etwas zu hell, und als Zamorra prüfend mit dem Fingerknöchel gegen den Einband klopfte, hörte er an dem hohlen Geräusch, dass es sich um einen Metallbehälter handelte. Zamorra kniff die Augen zusammen, betrachtete die Kassette. Vermutlich ließ sie sich öffnen, so wie sich ein Buch aufschlagen ließ. Prüfend tastete er mit dem Finger über den Rand des Einbands, fühlte die winzige Erhöhung – und zögerte. Ein Schauer überlief ihn. Von der Kassette schien eine seltsame Kraft auszugehen, etwas wie eine unsichtbare Schwingung, die die Atmosphäre veränderte. Zamorra spürte die Bedeutung des Augenblicks mit jeder Faser. Er presste die Zähne zusammen, drückte mit einem entschlossenen Ruck auf den Knopf oder Hebel, oder was immer es war, und öffnete die Kassette. Dunkelroter Samt. Ein weißes, seidig schimmerndes Tuch, das den Inhalt verdeckte. Zamorra zog es zur Seite – und hielt den Atem an. Das Amulett! Das silberne Amulett Leonardo de Montagnes! Er erkannte es ganz deutlich. Den Drudenfuß in der Mitte. Den Ring mit den Tierkreiszeichen, den zweiten, äußeren Ring mit den
geheimnisvollen Hieroglyphen. Und eine dünne silberne Kette, mit deren Hilfe der Besitzer den Talisman um den Hals tragen konnte. Zamorra atmete tief. Er streckte die Hand aus, fischte das Amulett aus der Kassette. Es war kalt, aber es nahm überraschend schnell die Wärme seiner Haut an, begann silbrig zu schimmern und … Das Hupen eines Wagens unterbrach seine Gedanken. Unten im Hof fuhr der rote Dino vor. Das Motorengeräusch verstummte, und Zamorra hörte das Klappen des Wagenschlags. In einem raschen Entschluss ließ er das Amulett in die Tasche gleiten, stellte die Kassette wieder an ihren Platz zwischen den anderen Büchern und verließ die Bibliothek. Als er die Halle betrat, schloss Nicole gerade die Tür hinter sich. Erst jetzt kam Zamorra zu Bewusstsein, dass sie eigentlich längst hätte zurück sein müssen. Sie lächelte, aber ihr Gesicht wirkte blass und ziemlich abgespannt. »Ich hatte eine Panne, Chef«, berichtete sie. »Deshalb hat es so lange gedauert.« Zamorra runzelte die Stirn. »Was war's denn? Schlimm?« Sie schüttelte den Kopf. »Reifenpanne. Ich glaube, da lagen Glasscherben auf der Straße.« »Und Sie haben tatsächlich selbst das Rad gewechselt?« »Wie? – Ja, natürlich.« Ihr Blick kam von irgendwoher zurück, sie atmete tief und lächelte. »Schließlich bin ich nicht von gestern, Chef. Und ein männliches Wesen war leider nicht in der Nähe. – Puh, bin ich müde! Ich glaube, ich kippe um, wenn ich nicht sofort zu Bett gehe.« Damit schwang sie herum, gähnte noch einmal ausgiebig – und war ohne ein weiteres Wort über die Treppe nach oben verschwunden. Zamorra sah ihr kopfschüttelnd nach. Einen Moment lang lauschte er noch auf ihre Schritte, dann zuckte er die Schultern, wandte sich ebenfalls um und ging in die Bibliothek zurück. Er musste mehr über das Amulett erfahren. Irgendwo in den alten Büchern waren mit Sicherheit noch weitere Informationen zu finden, die er ausgraben würde, und wenn es die ganze Nacht kostete.
Nicole Duval wusste nicht genau, was sie geweckt hatte. Sie lag auf dem Baldachinbett in ihrem Zimmer. Und sie tauchte nicht allmählich ins Bewusstsein, wie gewöhnlich, wenn ein ungewohntes Geräusch sie gestört hatte, sondern war von einer Sekunde zur anderen hellwach, als habe sie überhaupt nicht geschlafen. Verwundert stellte sie fest, dass sie vollkommen angekleidet war. Sogar die Schuhe spürte sie an ihren Füßen, als sie sich bewegte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, tastete neben sich und knipste die Nachttischlampe an. Fast Mitternacht, sagte ihr ein Blick auf die Uhr. Sie erinnerte sich, dass sie früh zu Bett gegangen war. Aber ohne sich auszuziehen? War sie denn so müde gewesen? Hatte sie etwas getrunken, oder …? Nein, nichts dergleichen! Die Autopanne fiel ihr ein – obwohl sie sich nur noch seltsam verschwommen daran erinnern konnte. Und ein Grund, völlig angezogen wie eine Tote ins Bett zu fallen, war das ja auch nicht. Nicole biss sich auf die Lippen und überlegte, ob sie aufstehen und etwas lesen sollte. Weiterschlafen konnte sie nicht, das spürte sie. Eine eigentümliche Unruhe hatte sie erfasst. Ein Gefühl, als habe sie irgendetwas ungeheuer Wichtiges zu erledigen vergessen. Sie runzelte die Stirn, versuchte, sich zu konzentrieren – aber es fiel ihr beim besten Willen nicht ein, was das sein konnte. »Quatsch«, murmelte sie vor sich hin. Sie war überreizt – kein Wunder nach allem, was passiert war. Mit einer entschlossenen Geste griff sie nach dem Glas auf dem Nachttisch, setzte es an die Lippen und nahm einen Schluck von dem lauwarmen Orangensaft. Im Haus begann eine Uhr zu schlagen. Mitternacht! Nicole zählte mit. Eins, zwei, drei, vier … Etwas klirrte. Nicole fuhr zusammen. Irgendwo tief in ihrem Gehirn gab es einen feinen Stich. Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, starrte die Orangensaftlache auf dem Boden an, die Scherben
dazwischen, und überlegte krampfhaft, warum sie das Glas hatte fallen lassen. Ihr Blick tastete weiter, erfasste die Uhr – und ihre Augen wurden weit und starr. Fünf nach zwölf! Das gab es doch nicht! Eben hatte der Zeiger noch auf Zwölf gestanden. In der Zwischenzeit konnten unmöglich fünf Minuten vergangen sein. Sie hatte einen Schluck getrunken, sie hatte auf die Schläge der Standuhr gehorcht und … Da war es wieder! Dieses seltsame Gefühl, etwas vergessen zu haben, unbedingt etwas erledigen zu müssen! Es war wie ein Sog, der sie erfasste. Ein unheimlicher, unwiderstehlicher Sog, der ihr Herz hämmern ließ und Schweißperlen auf ihre Stirn trieb. Sie musste es tun! Sie konnte nicht anders. Sie musste … Aber was? Was? Nicole versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war trocken wie Zunder. Rasch stand sie auf, ging zum Fenster hinüber. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Riegel hochschob. Mit einem Ruck drückte sie die Holzläden zurück, schloss die Augen und atmete tief die kühle Nachtluft ein. Es nützte nichts. Das Gefühl blieb, wurde noch stärker als vorher. Etwas stimmte nicht. Sie hatte etwas vergessen. Etwas Wichtiges, das sie erledigen musste … Dann wusste sie es plötzlich. Der Fremde. Dr. Arcaro Ramondo. Er würde sicher kommen. Sie musste ihn einlassen! Nein, dachte sie, das ist doch Unsinn! Ich kenne niemanden, der Ramondo heißt. Also kann ich auch niemanden mit diesem Namen erwarten – und erst recht werde ich ihn nicht ins Schloss lassen! Aber warum um alles in der Welt war ihr dann der Name eingefallen? Nicole biss sich auf die Lippen. Sie kämpfte gegen das unheimliche Gefühl an, gegen den Sog, den sie nicht begriff. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie sich etwas einbildete, dass ihre überreizten Nerven sie narrten, dass alles in Ordnung sei. Aber diese Gedanken waren seltsam blass, schienen sich nur an der Oberfläche ihres Bewusstseins abzuspielen, während tief in ihr eine unsichtbare Kraft
wuchs, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Sie würde Schlaftabletten nehmen und sich wieder hinlegen. Sie würde … Da war die Tür! Dunkel wurde Nicole bewusst, dass sie das Fenster geschlossen und das Zimmer durchquert hatte, ohne es zu wissen. Aber der Gedanke verschwamm sofort wieder, löste sich auf in dem Zwang, die Hand zu heben und die Klinke herunterzudrücken. Nicole öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und ging mit kurzen, seltsam mechanischen Schritten den Flur hinunter. Als die Kellertür hinter ihr zufiel, als die dunkle, modrige Kälte sie einhüllte und sich wie Gummi über ihre Haut legte, kam sie noch einmal zu sich. Panischer Schrecken durchzuckte sie. Sie warf den Kopf herum, tastete nach den Wänden. Wo war sie? Was tat sie hier? Der Keller! Sie musste durch den Keller gehen und die Pforte öffnen, die in den ausgetrockneten Schlossgraben führte. Die Dunkelheit vor ihr war wie ein magischer Sog, der sie mitriss, dem sie nicht entgehen konnte. Der Schrecken wich, wurde gegenstandslos, und nur noch der unentrinnbare Befehl aus dem Dunkel zählte. Nicole brauchte kein Licht, als sie weiterging, die Treppe hinabstieg und mit traumwandlerischer Sicherheit das Gewirr der Gänge und Gewölbe durchquerte. Fünf Minuten später hatte sie das winzige Verlies erreicht, von dem aus ein Weg nach draußen führte. Der Riegel war verrostet. Nicole musste sich anstrengen, um ihn zurückzuziehen. Sie nahm den schweren Schlüssel von dem Haken an der Wand, entsperrte das Schloss und drückte die Klinke hinunter. Die Tür schwang auf. Holz knarrte, die Angeln quietschten gedämpft. Frische, kühle Nachtluft wehte herein, und das Mondlicht lag über dem ausgetrockneten, von Unkraut überwucherten Schlossgraben wie ein silbriger Schleier. Nicole sah sich um. Sie wartete. Wartete auf den Meister. Sie wusste, dass er kommen würde …
Mit einer langsamen Bewegung streifte sich Zamorra die silberne Kette um den Hals. Das Amulett ließ er hinter den geöffneten Hemdkragen gleiten. Er spürte das kühle Metall auf der Haut – und stutzte. Der Schmerz war verschwunden. Schlagartig – als hätte es ihn nie gegeben. Rasch streifte Zamorra den Ärmel hoch und starrte auf die Stelle, wo sich noch vor Sekunden die hässliche Brandwunde abgezeichnet hatte. Nichts war zu sehen. Nichts außer sonnengebräunter Haut. Der Abdruck der Knochenhand, die tiefen brandroten Feuermale waren wie ein Spuk verschwunden. Zamorra streifte den Ärmel wieder hinunter. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. Immerhin – er wusste jetzt, dass das Amulett wirkte, dass es ihn gegen den Zugriff der Dämonen schützen würde. Und wenn die Behauptungen der alten Bücher in diesem Punkt stimmten, dann stimmten vielleicht auch die anderen Berichte und Legenden. Er hatte nichts gefunden, das sich direkt mit dem silbernen Amulett beschäftigte. Aber es gab genügend Berichte, die entsprechende Rückschlüsse zuließen. Einige dieser Passagen hatten sich unauslöschlich in Zamorras Gedächtnis geprägt: In dieser Zeit aber geschah es, dass Leonardo de Montagne der Hexerei bezichtigt wurde. Er gehe durch Feuer, ohne zu verbrennen. Er berühre die Türen der Häuser, und fortan könne kein Geist oder Dämon mehr eindringen. Auch gebiete er über Sturm und Hagel, auf dass sie seine Ernte nicht zerstörten. Von den Feuerdämonen wurde in all den Erzählungen nur in Andeutungen gesprochen, hinter denen man deutlich den angstvollen Schauer spüren konnte, der die Chronisten bei diesem Thema überfallen haben musste. Leonardo de Montagne hatte über diese Dämonen geherrscht, hatte sie in die Gewölbe von Château Montagne gebannt. Aber er hatte sie nicht vernichtet. Ob er es nicht gekonnt hatte oder nicht gewollt, ob das Amulett nicht stark genug gewesen war, oder ob sich Leonardo der Hilfe der Geister gegen seine Feinde versichern wollte – das
ging aus den alten Büchern nicht klar hervor. Zamorra aber wusste, dass er es herausfinden würde. Er war entschlossen, die Probe aufs Exempel zu machen. Heute noch. In dieser Nacht! Er zog sein Jackett wieder an. Ruhig löschte er das Licht in der Bibliothek, verließ das Zimmer und ging – zum wievielten Mal eigentlich? – in die Halle hinunter. Die Kellertür war nur angelehnt. Zamorra stutzte. Hatte er vergessen, sie zu schließen? Er überlegte, sah sich um – dann zuckte er die Schultern und stieg im Schein der trüben Glühbirnen die Treppen hinunter. Schließlich gab es nicht nur Folterkammern und Kerker dort unten, sondern auch ganz normale Vorratsräume. Vielleicht hatte Raffael eine Flasche Wein oder irgendwelche Konserven geholt. Vielleicht … Seine Gedanken stockten. Von einer Sekunde zur anderen hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Er runzelte die Stirn. Einen Moment lang lauschte er, konzentrierte sich ganz auf die Geräusche seiner Umgebung, dann ging er mit gespannten Sinnen weiter und näherte sich einer Gabelung des Ganges. Er wusste, dass jemand dort stand. Er spürte es, nahm die Anwesenheit des anderen mit jeder Faser seiner Nerven wahr. Langsam, sprungbereit bog er um die Ecke – und atmete im nächsten Moment erleichtert auf. »Nicole«, sagte er. »Was um alles in der Welt machen Sie denn hier?« Nicole lächelte. Ihre Augen waren groß, weit, seltsam starr. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen – aber Zamorra bekam die Antwort nicht mehr mit. Etwas bewegte sich neben ihm. Wie aus dem Boden gewachsen, tauchte eine Gestalt aus dem Dunkel einer Nische auf. Zamorra wirbelte herum. Dicht vor sich sah er etwas Großes, Dunkles, das auf ihn zusauste. Er wollte ausweichen – aber er schaffte es nicht mehr. Der Hieb mit der mittelalterlichen Keule traf seinen Schädel mit furchtbarer
Gewalt und löschte sein Bewusstsein aus …
Das Erwachen war eine langwierige, scheußliche Prozedur. Zamorra hatte das Gefühl, sein Schädel sei gespalten. Was er empfand, ähnelte den dröhnenden Schlägen einer gigantischen Pauke. Sekunden, Minuten, eine Stunde – er wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis es ihm gelang, wieder einen halbwegs vernünftigen Gedanken zu fassen. Sein Erinnerungsvermögen setzte ein. Das Amulett … Er hatte versuchen wollen, seine Wirkung zu erproben … Er war in den Keller gegangen und … Nicole! Was hatte Nicole mit der Sache zu tun? Was suchte sie hier unten? Der eigentümlich starre Ausdruck ihrer Augen fiel ihm wieder ein – und gleichzeitig die Explosion, die er in seinem Schädel gespürt und die sein Bewusstsein ausgelöscht hatte. Er schluckte krampfhaft. Ein pelziger, widerlich süßer Geschmack füllte seinen Mund. Er blinzelte, versuchte die Augen zu öffnen – aber es gelang ihm erst nach ein paar Sekunden, weil getrocknetes Blut seine Lider verklebte. Das flackernde Licht einer Fackel blendete ihn. Undeutlich sah er Gestalten, Gegenstände, feuchte Bruchsteinmauern. Die erste Bewegung zeigte ihm, dass er an Händen und Füßen gefesselt war, dass er auf einem Hocker oder einem ähnlichen Möbelstück saß – und im nächsten Moment wurde ihm auch die Berührung von kühlem Metall an seinem Hals bewusst. Er zuckte zusammen. Das war doch … Für Sekunden hatte er das Gefühl, als habe ein mörderischer Schwinger seine Magengrube getroffen. Er hielt den Atem an. Ein hölzerner Sitz registrierte sein Gehirn. Ein Holzpfeiler im Rücken, ein eiserner Halsring. Er kannte die Bedeutung, er wusste, was mit ihm geschehen würde – aber ein Teil seines Verstandes weigerte sich einfach, es zu glauben. Er versuchte, den Kopf zu drehen. Es ging nicht.
Das Halseisen lag eng um seine Kehle, verurteilte ihn zur Bewegungslosigkeit – und das Gefühl des Erstickens, das ihn bei der leisesten Regung überfiel, überzeugte ihn endgültig, dass dies hier Wirklichkeit war und kein makabrer Alptraum. Eine spanische Garrotte! Eines jener teuflischen Instrumente, mit denen zum Tode Verurteilte hingerichtet worden waren. Die unglücklichen Delinquenten wurden mit dem Halseisen erwürgt, langsam und qualvoll. Zamorra erinnerte sich an Beschreibungen dieses barbarischen Verfahrens, an Bilder, die er gesehen hatte, und fühlte, wie ihm ein eiskaltes Prickeln vom Nacken her über das Rückgrat rann. Er biss sich auf die Lippen. Mühsam versuchte er, den Blick zu wenden, irgendetwas zu erkennen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an den flackernden Fackelschein, er unterschied Umrisse, Gestalten, und die kalte Angst in seinem Innern verstärkte sich. Er befand sich in der Folterkammer von Château Montagne – das war ihm schon vorher klar gewesen. Ein breitschultriger und kahlköpfiger Hüne hielt die Fackel. Dicht neben ihm hatte sich ein dürrer, knochiger alter Mann aufgebaut, dessen schmaler Schädel an einen Totenkopf erinnerte. Derselbe Mann, den Zamorra schon einmal getroffen hatte, bei der Verfolgung Charles Varecks! Zamorra erkannte ihn sofort. Die schwarzen Augen funkelten, der fast lippenlose Mund lächelte teuflisch, und hinter ihm … Zamorra hielt den Atem an. Nein, dachte er. Nein, das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein! Aber das Bild vor seinen Augen blieb, veränderte sich nicht. Es war Nicole. Nicole Duval, die hinter den beiden Männern stand, frei, ungefesselt, die Arme unter der Brust verschränkt und die Szene mit gleichgültigen Augen beobachtend. Sie war nicht sie selbst. Zamorra spürte es, obwohl sie nicht sprach und sich nicht rührte. Ein einziges Mal nur streifte ihn ihr starrer, unendlich ferner Blick – und das genügte ihm, um zu begreifen. Er starrte den Hageren an. »Wer sind Sie?«, fragte er heiser. »Was
haben Sie mit Nicole gemacht?« Der Mann mit dem Totengesicht lächelte. »Nichts weiter«, sagte er zynisch. »Nur ein wenig Hypnose. Ihre Freundin hatte die Freundlichkeit, mich einzulassen. Ich bin Dr. Arcaro Ramondo.« Zamorra presste die Lippen zusammen. Er kannte den Namen nicht. Aber vor seinem inneren Auge lief eine rasche Folge von Bildern ab. Er dachte an den Tod seines Onkels. An das rätselhafte Benehmen seines Vetters, an Charles Varecks Leichnam. Die Schlüsse, die sein wissenschaftlich geschulter Verstand daraus zog, kamen der Wahrheit ziemlich nahe. »Was wollen Sie?«, fragte er so ruhig und beherrscht wie möglich. Der Mann mit dem Totengesicht kam einen Schritt näher. Ein seltsamer, fremder Glanz lag in seinen Augen. Der fiebrige Glanz des Wahnsinns. Sein Gesicht verzerrte sich zur Grimasse. »Das Amulett«, flüsterte er. »Das silberne Amulett Leonardo de Montagnes! Ich werde es bekommen …« Zamorra schloss kurz die Augen. »Ich weiß von keinem Amulett«, sagte er ruhig. Ramondos Augen verengten sich. »Du weißt es!«, zischte er. »Du bist Louis de Montagnes Erbe, du musst das Geheimnis kennen. Ich gebe dir eine Minute Zeit. Eine Minute, verstehst du? Überleg es dir gut!« Zamorras Gedanken überschlugen sich. Er hatte das Amulett bei sich, trug es unter seiner Kleidung um den Hals. Aber wenn er es auslieferte, würde dieser Teufel ihn töten. Ihn und Nicole! Genauso, wie er Charles Vareck getötet hatte. »Nun?«, drang Ramondos Stimme in sein Bewusstsein. Zamorra schluckte mühsam. »Ich weiß von keinem Amulett«, wiederholte er. »Mein Onkel hat mir das Schloss und auch den dazugehörenden Grundbesitz vererbt, nichts weiter. Ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie sprechen.« »Acharat!«, zischte Ramondo mit vor Wut bebender Stimme. Der Hüne hob den Kopf. Stumm reichte er seinem Herrn die Fackel, dann setzte er sich in Bewegung und trat hinter den Holzpfahl, an den Zamorra gefesselt war.
Nicole sah zu. Sie rührte sich nicht, stand einfach da, und Zamorra entdeckte nicht den geringsten Ausdruck in ihren starren Augen. Seine Muskeln verkrampften sich. Ein knirschendes Geräusch ertönte. Das Halseisen verengte sich, zog sich gnadenlos zusammen. Zamorra keuchte. Die Luft wurde ihm knapp. Blutrote Schleier tanzten vor seinen Augen, für Sekunden hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen, und er brauchte seine ganze Willenskraft, um die Panik niederzukämpfen. »Halt!«, rief Ramondo, und das Knirschen verstummte. Zamorra rang nach Luft, atmete in schnellen, flachen Stößen. Seine Kehle schmerzte. Wie ein Orkan rauschte das Blut in seinen Ohren, sein Schädel dröhnte, und er spürte, dass sich seine Gedanken zu verwirren drohten. »Nun?«, fragte Ramondo mit einem grausamen Lächeln. Zamorra starrte ihn an. Sein Herz hämmerte. Alles hing jetzt davon ab, dass er seine Rolle gut spielte, dass er diese Bestie zu überzeugen vermochte. Er musste es schaffen, er musste … »Ich … weiß nichts«, ächzte er. »Ich habe nie von diesem verdammten Amulett gehört! Ich habe nur den Brief. – Sie müssen mir glauben, ich weiß …« »Brief?«, fuhr Ramondo dazwischen. Zamorra stöhnte. Er brachte nur ein unverständliches Krächzen hervor, und er brauchte nicht einmal besondere schauspielerische Talente, um seinen Peiniger zu überzeugen, dass er nicht weitersprechen konnte. Dr. Ramondos Gesicht verzerrte sich vor Ungeduld. »Lass los, Acharat!«, stieß er durch die Zähne. Der Hüne gehorchte. Der erbarmungslose Druck des Halseisens lockerte sich, und das Opfer konnte wieder freier atmen. »Was ist mit dem Brief?«, fragte Ramondo mit vor Erregung zitternder Stimme. Zamorra fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Schmerz in seiner Kehle ebbte nur langsam ab, und er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Er wusste, dass er hoch spielte, gefährlich hoch – aber er wusste auch, dass er keine andere Chance hatte.
»Das Vermächtnis meines Onkels«, flüsterte er. »Louis de Montagne hat mir einen Brief hinterlassen. Einen ziemlich rätselhaften Brief. Er – er steckt in meiner linken Jackentasche …« Der Brief steckte tatsächlich dort. Und diesmal verzichtete Ramondo sogar auf Acharats Dienst, sondern setzte sich selbst in Bewegung. Wie ein zustoßender Geier stürzte er sich auf sein Opfer. Zamorra spürte sekundenlang die knochigen Hände an seiner Hüfte – und dann zerrte Ramondo mit fieberhafter Eile den Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Seine Lippen bewegten sich. Die jettschwarzen Augen wieselten hin und her, und die letzten Zeilen las er halblaut: »… gibt es eine Tür, die das Wappen der Montagnes trägt. Respektiere ihr Geheimnis! Was immer du aus dem Schloss machst – diese Tür öffne niemals und unter keinen Umständen. Es wäre Dein Tod. Und es würde …« Ramondo stockte. Ruckartig hob er den Kopf. Seine Augen verengten sich zu schmalen glitzernden Sicheln. »Also doch«, flüsterte er. »Die Tür! Die Tür mit dem Wappen der Montagnes! Sie birgt das Geheimnis. – Natürlich! Das Amulett bannt die Dämonen! Es muss unter dem Wappen versteckt sein!« Und dann, als ob er aus einem Traum erwachte, straffte sich seine Gestalt. Achtlos ließ er den Brief zu Boden flattern. Seine Lippen pressten sich hart aufeinander, bildeten einen dünnen Strich, und sein Gesicht war erstarrt zu einer fahlen Totenmaske. »Komm, Acharat!«, befahl er. »Diesmal werden wir es schaffen …«
4. Schmerzen der Liebe und des Hasses Nichts ist gefährlicher und beklemmender als die beständige Beschäftigung mit dem eigenen Wesen und Ergehen, der eigenen Unzufriedenheit und Schwäche. Hermann Hesse: Der Weltverbesserer
Etwas an der Art, wie die Frau vor sich hinstarrt, berührt einen tief in meiner Seele verborgenen Bereich. Ja, ich habe eine Seele. Acharat hat eine Seele. Auch der Mann, hilflos und gefesselt auf diesem … diesem … Ding – er erinnert mich an etwas, das ich einmal erlebt habe. Ich … als ich noch Ich war. Als ich noch nicht Acharat war. Der Mann – Tsa … Tsamorra – und die Frau: Nikoll. Sie sind so, wie auch Acharat es einmal war. Oder? War ich so? War Acharat so? So wie der Mann? Und war da nicht eine Frau? Ich glaube – ich erinnere mich … Ja, Acharat erinnert sich. Und der Meister – Ramondo … er hat Acharat alles von sich selbst erzählt. Acharat weiß es, Acharat hat es in sich drin aufbewahrt. Acharat weiß es, und es passt so gut hierher. Acharat würde es dem Mann so gern erzählen, auch Nikoll, aber es ist keine Zeit dafür. Außerdem kann sie meine Gedanken ohnehin nicht hören, und reden kann der arme Acharat ja nicht mehr. Hat ja keine Zunge mehr. Armer Acharat. Also erzähle ich es mir selbst. Also erzählt Acharat es sich selbst. In seinen Gedanken:
STATION:
Es war ein Uhr mittags, die Sonne stand hoch an einem strahlenden Sonnenhimmel, ein angenehmer Wind vertrieb die Hitze. Kilara gefiel das überhaupt nicht. Ihr Baby sollte nicht in solch einem angenehmen Umfeld das Licht der Welt erblicken! Doch die Wehen waren stark, so stark … das Leben in ihr drängte aus ihr heraus, mit aller Gewalt, zu der es fähig war. »Nein!«, presste Kilara hervor, während sie zugleich mühsam einen Schmerzensschrei unterdrückte. Sie krümmte sich zusammen, stemmte beide Handflächen auf den Tisch. Das alte, morsche Holz knarrte. »Was ist?«, rief Hernando überrascht. Ihm gehörte das Haus, in dem die junge Mischlingsfrau zu Gast war. Er war damals so höflich gewesen, Kilara aufzunehmen und ihr Unterkunft zu bieten, als sie zerlumpt, heimatlos und schwach hier angekommen war, eine Frau, weder schwarz noch weiß, weder Südländerin noch sonst irgendetwas – kurz, ein wertloses Weib. »Das – Kind …«, stöhnte Kilara. Was sollte sonst wohl sein? Hernando war großmütig, und er besaß ein komfortables Haus, aber er war nicht mit besonderem Verstand gesegnet. Wahrlich nicht. »Ich rufe die Hebamme!«, rief er aufgeregt. »Du sollst alle Hilfe bekommen, die nur denkbar ist. Du …« »Noch nicht!«, unterbrach sie ihn hart. Nicht, solange die Nacht nicht angebrochen ist, denn das Kind wird ein Geschöpf der Dunkelheit werden. »Soll das heißen, du willst …?« »Die Kräuter!«, forderte Kilara knapp. »Wie wir es besprochen haben.« Hernando sah sie einen Moment lang verzweifelt an, und Kilara las Sorge in seinen Augen. Sorge … und Zuneigung. Dieser Narr empfand mehr für sie, als es gut für ihn war. Und was beinahe noch schlimmer war. Er liebte das ungeborene Kind. Als ob er ahnte, dass er der Vater war. Was jedoch unmöglich war. Er konnte es einfach nicht wissen. Als sie ihn in jener ersten Nacht genommen hatte, hatte sie ihn zuvor unter einen hypnotischen Bann gelegt, eine Mischung aus Magie und alter überlieferter Kräuterhexerei. Er hatte ihr seinen Samen gegeben, ohne am nächsten Tag etwas davon zu wissen, und sie hatte ihm später erzählt, sie sei auf dem Weg hierher von Ju-
gendlichen überfallen und vergewaltigt worden. Dennoch liebte Hernando das Kind, wie er sie selbst liebte. Narr! Sie brauchte ihn nicht, und das Ungeborene, das Balg, durfte keine Liebe erfahren. Sie würde es den Mächten der Dunkelheit weihen, damit es ein großer Magier wurde, vielleicht gar ein Dämon, der die Welt dafür strafen würde, was sie seiner Mutter angetan hatte. Denn Kilara war eine Ausgestoßene, von allen verachtet. Von allen, außer von Hernando, dem Gutmütigen, dem liebestollen Narren. Sie stöhnte und spreizte unwillkürlich die Beine, als eine neue Wehe ihren Körper durchlief. »Hernando!«, schrie sie und stieß die Luft aus, sich wieder über dem Tisch zusammenkrümmend. Sie glaubte, ihr Unterleib würde zerreißen, und brach unter den Schmerzen beinahe zu Boden. Sie biss die Zähne zusammen, dass der Kiefer schmerzte. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er endlich kam, die erlösenden Kräuter in der Hand. Sie kaute sie, und ihr Körper beruhigte sich, das Balg in ihr kam zur Ruhe. Zehn oder zwölf Stunden lang würde jetzt nichts geschehen. Und so wurde Arcaro Ramondo in der Nacht geboren, während seine Mutter schrie und ein Schwall Blut aus ihrem Leib schoss, bis sie zuckend zusammenbrach, die Kontrolle über ihren Körper verlierend. Auch Arcaro Ramondo schrie, jämmerlich frierend und schrecklich allein, doch seine Mutter hatte seinen Vater schon vor Stunden weggeschickt. Und die Hebamme ebenso. Niemand kümmerte sich um das Baby, das zappelnd an der Nabelschnur seiner langsam verblutenden Mutter hing.
STATION: Hernando wusste, dass er es jetzt sagen musste: »Ich bin nicht dein Vater, Arcaro.« Der Junge mit den lavaschwarzen Augen verzog keine Miene. »Ich wusste es, Hernando.« Wie selbstverständlich der Name über seine Lippen kam. Viel leichter als das schon immer verhasste »Vater«.
»Aber ich fühle mich, als wäre ich es, Arcaro. Ich liebe dich.« »Ich brauche deine Liebe nicht.« Die Lippen des Abgewiesenen zuckten, und für einen kaum wahrnehmbaren Moment drang ein Laut der tief empfundenen Schmerzen zwischen ihnen hervor. »Als deine Mutter zu mir kam, war sie bereits schwanger, und ich habe zu ihr gestanden, als wäre ich dein Vater. Und …« »Wieso hast du dann nicht verhindert, dass sie gestorben ist?«, spie Arcaro aus, während seine Augen unstillbaren Zorn in die Welt schossen. »Sag mir, wo warst du in diesem Moment, Vater?« Verachtung lag in diesem letzten Wort. »Sie hat mich weggeschickt, Arcaro«, antwortete Hernando kraftlos. »Seitdem habe ich tausend Mal bereut, dass ich ihr damals gehorchte.« Der zehnjährige Arcaro starrte ihn an, der Blick des Jungen durchbohrte sein Innerstes. »So, hast du das?« Die Worte schwebten im Raum, und sie zerstörten endgültig jede Basis zwischen Vater und Sohn, die nicht wussten, dass sie Vater und Sohn waren. Erst Jahre später erfuhr Arcaro durch ein schwarzmagisches Orakel die Wahrheit. »Was hat deine Reue Mutter genutzt?« Hernando stand mit langsamen, schweren Bewegungen auf und ging zum Fenster. Er starrte nach draußen, sah die Spiegelung seines Gesichts. Seines reglosen, schwachen, müden Gesichts. »Nichts«, flüsterte er dann, und die Scheibe beschlug von seinem Atem. »Es hat ihr nichts genutzt, denn sie war tot.« Dann drehte er sich um, langsam, kraftlos. »Du hingst an ihrem toten Leib, als ich dich fand. Deine Lippen waren blau, dein Leib verschrumpelt. Du schriest nicht mehr, du jammertest nur, als ich die verschlossene Tür zertrat und das Bild sah, das ich niemals wieder vergessen sollte.« Tränen rannen über seine Wangen, und er schämte sich ihrer nicht. Was Arcaro darüber dachte, war ihm gleichgültig. Der Junge weinte nie, wie er auch niemals lachte, als habe damals nur sein Leib überlebt, als seien all seine Emotionen zusammen mit seiner Mutter gestorben, als sei der Tod durch die Nabelschnur zu ihm gekrochen und habe seine Seele verpestet. Vielleicht, dachte Hernando, ist es genau so gewesen. Und nichts, was
er in all den Jahren seitdem versucht hatte, hatte den Jungen innerlich wieder zum Leben erwecken können. Wie könnte er auch? War es nicht Blasphemie, so etwas auch nur zu denken? Leben aus dem Tod zu schaffen, stand keinem Menschen zu. »Du hast mich am Leben gehalten, und deshalb töte ich dich nicht, Hernando.« Mit diesen kalten, schrecklichen endgültigen Worten wandte sich Arcaro ab und verließ das Haus. Hernando blieb zurück, und er fragte sich, warum der Tod an ihm vorübergegangen war, damals. Warum er leben musste.
STATION: Arcaro war sechzehn, als er in der Zigeunersippe, die ihn, ohne Fragen zu stellen, aufgenommen hatte, zum ersten Mal in Kontakt mit schwarzer Magie kam. Es war einer der Alten, der ihn in das Geheimnis einführte, während sie an einem flackernden Lagerfeuer saßen. »Das Böse ist da, und es ist mächtig, und du kannst dir seine Kraft zunutze machen.« Die Schatten und der dunkelrote Widerschein der Flammen tanzten über das ausgezehrte, abgemagerte Gesicht. Beinahe, dachte Arcaro, als sei er schon tot. Er sieht aus wie ein Totenschädel, der mit dürrer, vertrockneter Haut überzogen ist. »Das Böse?«, fragte er, denn sein messerscharfer Verstand war wissbegierig. »Hat es einen Namen?« »Du denkst weit, Arcaro. Ich sehe daran, dass du kein Kind mehr bist. Den Namen nenne ich dir nicht, noch nicht. Nenne ihn den Bösen.« »Den Namen! Nenne mir den Namen!« Arcaro spürte eine nie erlebte Neugierde und ein dunkles rumorendes Gefühl in seinem Inneren. Sein Magen tanzte unruhig, und seine Finger krallten sich zusammen, umschlossen den dürren Oberarm des Alten. »Ich werde dich lehren, wie du selbst in Kontakt mit ihm treten kannst. Den Namen erfährt man nicht durch andere. Man erarbeitet ihn sich.« So viel Wissen lag in diesen Worten, eine Erfahrung wie aus Jahr-
tausenden, dass Arcaro nicht weiter zu widersprechen vermochte. »Dann lehre mich!«
STATION: »Sieh die Schneide des Messers.« »Ich sehe sie.« »Fühle den Stahl auf deiner Haut.« »Ich fühle ihn.« »Spüre ihn in deinem Fleisch.« »Ich … spüre ihn.« »Sieh das Blut, das du vergießt, um Kontakt zu finden.« »Ich … ich sehe es.« »Spüre wieder den Stahl.« »Ich spüre … spüre ihn.« »Sieh mehr Blut, das dich weiht.« »Ich sehe … es.« »Weihe dich, indem du von deiner Lebenszeit gibst den zehnten Teil!« »Ich ge-gebe …« »Empfange die Aufgabe.« »Ich empfange – nichts.« »Dann spüre den Stahl! Opfere dein Blut!« »Ich opfere – ich …« »Empfange die Aufgabe!« »Nichts … Ich empfange – nichts. Nichts!« »Opfere mehr von dir!« »Ich … Nein, spüre du den Stahl, denn ich opfere – dich!« »Du … nein! Nein! NEIN!« »Und ich empfange! Ich sehe den Weg!« »Verdammt … seist … du …« »Jetzt sehe ich den Weg!«
STATION:
Arcaro Ramondos Karriere ging von jenem Tag an steil bergauf – wenn man das, was mit und in seinem Leben geschah, Karriere nennen will. Er bekam Kontakt mit den verderbtesten Zirkeln der schwarzen Magie, die es auf dem europäischen Kontinent gab. Er wurde von Großmeistern der Hexerei in die gesamte Welt geschickt, ging bei den schrecklichsten Alchimisten und Magiern in die Lehre, lernte gezielte Opfer darzubringen, die die Dämonen besänftigten und ihm das Wohlgefallen der Hölle einbrachten. Er erfuhr, wie man nicht nur Tiere, sondern auch Menschen opferte, und er setzte dieses Wissen zu drei ausgewählten Gelegenheiten seines Lebens ein. Dem Tag, als er sich mit einer Hexe verband, in deren Adern angeblich zu einem Achtel das Blut des Teufels floss. Dem Tag, als er sie als Heuchlerin entlarvte und sie für immer zur Hölle schickte. Und dem Tag, als er endlich Zutritt zu einer der geheimsten Bibliotheken des gesamten Weltkreises fand. Und dort, umgeben von alten Folianten, von Büchern, die den Wahnsinn in sich trugen, war ihm, als führe ihn zum ersten Mal die Hand eines Dämons. Ja, er fühlte, wie eine geheime Macht zu ihm sprach, ihn zu einem der Tausenden von Büchern führte. Der Ledereinband war vergilbt und brüchig, und als er das Buch aus dem Regal zog, wirbelte eine dicke Staubschicht auf. Staub, der sich seit Jahren und Jahrzehnten dort angesammelt hatte. Oder hatte gar seit Jahrhunderten keines Menschen Hand diese Seiten erblickt? Arcaro schlug die erste leere Seite um. Der Einband gab ächzende Geräusche von sich, als sei er lebendig, und ein Geruch nach Fäulnis und Moder drang in die Nase des Schwarzmagiers. Kleine Lederbröckchen rieselten auf die Oberfläche des Tisches, und Ramondo wischte sie mit einer beiläufigen Bewegung zur Seite. Ein dünner braunschwarzer Staubfilm blieb auf seiner Handkante zurück, doch Ramondo widmete seine Aufmerksamkeit anderen Dingen. Auf der Rückseite des Blattes war eine Initiale vermerkt. LdM Ob es sich dabei um den Besitzer des Buches handelte, den Schreiber oder gar um etwas völlig anderes, konnte Arcaro Ramondo nicht
sagen. Er konnte mit dieser Buchstabenfolge nichts anfangen. Noch nicht. Auf der gegenüberliegenden Seite fand sich eine Zeichnung. Alt, vergilbt, undeutlich. Und doch von einer bösen, ihn in einen schieren Sog der Faszination reißenden Eindringlichkeit. Während er das Bild betrachtete, löste es sich vor seinen Augen auf. Später wusste er nicht zu sagen, ob es tatsächlich da gewesen war, oder ob es seiner Einbildung entsprungen war. Hatte er das Amulett wirklich gesehen? Oder nicht? Er konnte kein einziges Detail mehr fassen. War da ein Drudenfuß gewesen – und bewegliche Zeichen, die Tierkreiszeichen? Beweglich? Wie wollte er das auf einer Zeichnung erkannt haben? Ramondo las die Seiten des Folianten, und sie sollten ihn nie wieder loslassen. Er erfuhr, dass das Buch von demjenigen handelte, dessen Initialen er gelesen hatte. Womöglich hatte er das Buch persönlich besessen, bevor es hierher, in die geheimste Bibliothek der schwarzen Magie gelangt war, tief in den Eingeweiden der ewigen Felsmassive Indiens und nur für wenige zugänglich. L d M – Leonardo de Montagne, der mehr im Reich der Dämonen erreicht hatte als je ein Mensch vor ihm. Und dessen Weg nach den Worten des Buches noch nicht an seinem Ende angelangt war. Das Bild, das Arcaro Ramondo – vielleicht – gesehen hatte, zeigte das Amulett, das dieser Mensch – wirklich ein Mensch? – besessen hatte und dessen Ursprung doch weitaus rätselhafter war. Das Amulett des Leonardo de Montagne, das von jenem stammen sollte, der über das Schicksal vieler Welten wachte und der zu seiner Erschaffung einen Stern vom Himmel holte. Das Amulett – Merlins Stern. Ramondo beschloss, dass niemand außer ihm je an dieses Wissen gelangen sollte. Also zerstörte er das uralte Buch, und als der Priester der schwarzen Magie herbeieilte, um ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen, starb dieser im Würgegriff Ramondos. Ramondo stieß den toten Priester achtlos zu Boden, und es schien ihm, als sauge das Buch die verströmende Lebensenergie auf, um sich wieder zu regenerieren … Als Arcaro Ramondo die Bibliothek verließ, hatte er ein Ziel. Das
Amulett des Leonardo de Montagne, das ihm die Macht über die Mächte der Finsternis verleihen würde. Er musste es finden.
Ja, der Meister hat Acharat davon erzählt. Hatte keine schöne Kindheit, der arme Meister. Aber irgendwie … irgendwie glaube ich … irgendwie glaubt Acharat … ich weiß nicht genau, traue mich kaum, es zu sagen … ich glaube, er hat es nicht besser verdient. Au! Böser Acharat! Vielleicht erzähle ich mir besser etwas anderes. Denn wenn ich den Mann sehe – Tsamorra –, dann denke ich daran, wie es mir selbst gegangen ist. Denn Acharat – oh, weh! – war ja nicht immer Acharat. Und … Was ist das? Meine Augen, sie sind feucht … Ich – ich glaube, es ist, weil ich an die Frau denke, Nikoll. Da ist etwas. Da ist etwas … eine Frau, so wie sie … Nikoll. Nikoll und Acharat. Nein! Nein, nein! Isabelle. Isabelle und Acharat. Nein! Isabelle, ja, Isabelle – aber nicht Acharat, sondern:
Francois Tilogue kam nicht zur Ruhe. Sicher, die Trennung würde ihnen gut tun, ganz klar, man muss ja schließlich nicht aufeinander kleben wie die Kletten, nur weil man verheiratet ist. Und wenn man eine Zeit lang getrennt ist, ist es umso schöner, sich wieder zu sehen. Als würde man sich wieder neu ineinander verlieben. Ein ganz eigener Zauber. So sagten es alle, die Verständnis für ihre Entscheidung hatten. Für diese war es selbstverständlich, ja, sogar im gewissen Sinn bewundernswert und ganz einfach richtig. Die anderen sahen verwundert drein, erfüllt von völligem Unverständnis, wenn sie es auch nicht äußerten. Aber es war, als liefe auf
ihrer Stirn eine kleine Anzeigetafel ab, so ein schwarzes Ding mit roten Leuchtpunkten, die Buchstaben ergaben, wie die Geschäftstüchtigen es jetzt überall zu Werbezwecken benutzten, das Neueste vom Neuen: Ihr spinnt doch – wie könnt ihr das nur machen – eure Beziehung ist wohl gescheitert, was? – Hast du denn keine Angst, dass sie sich einen anderen sucht? Und dann wieder von vorne: Ihr SPINNT DOCH – WIE KÖNNT … Nun, jetzt war es ohnehin nicht mehr zu ändern. Isabelle befand sich geschätzte 13.000 bis 15.000 Kilometer weit entfernt, briet in der Südsee-Sonne und hatte den ganzen Berufsstress hinter sich gelassen. Zumindest fast vollständig. Einige Artikel wollte sie dort schreiben, Reiseberichte und solches Zeugs für die Zeitschriften, die ihre Brötchengeber waren – Francois kümmerte sich nicht wirklich darum, denn für ihn waren das alles böhmische Dörfer. Oder wie hießen diese Bauten, die aus einer Fassade und abgestütztem Nichts bestanden, mit denen die Leute getäuscht worden waren? Irgend so etwas war das doch gewesen – ein Eigenname, wahrscheinlich von dem, der diese verrückte Idee in die Tat umgesetzt hatte. Potemkin'sche Dörfer? Es gab ja für alles Namen. Pawlow'scher Hund – dieser seltsame Sabberreflex. Möbius'sche Schleife – dieses Dingens, das in sich selbst gedreht war und die Struktur des Universums spiegelte, oder so ähnlich. Freud'scher Mutterkomplex – weil doch letztlich alle irgendwo eine Klatsche weghatten … Egal. Das, was zählte, war ganz einfach: Isabelle war 15.000 Kilometer – oder wie weit auch immer, jedenfalls unerreichbar – weit weg, und er war hier, weil es schlicht und einfach nicht möglich war, dass er sie begleitete. Er konnte nicht so einfach vier Wochen von zu Hause weg. Und das Zweite, das wichtig war, war genauso einfach: Es schmerzte, tief in ihm. Er vermisste sie, auch weil er einfach nicht genau wusste, ob es ihr gut ging. Sie war so weitab von dem, was man Zivilisation nannte, dass es dorthin keine Telefonverbindung gab … Schon seltsam. Vielleicht war sie längst tot, Hitzeschlag, ertrunken, Kreislaufkollaps, von irgendwelchen Verbrecherbanden entführt und gemeuchelt … So irrsinnig und unwahrscheinlich dieser Gedanke auch war, so
beunruhigend war er auch. Weil er Isabelle liebte und sie nicht aus dem Kopf bekam. Vom ersten Tag an, als sie weggeflogen war, freute er sich darauf, sie wieder zu sehen, auch wenn er ihr die Auszeit von Herzen gönnte. Von Herzen … genau da, wo es schmerzte … Wütend über sich selbst schleuderte Francois Tilogue die Decke weg, sprang aus dem Bett und beschloss, sich noch einmal in das pulsierende Leben der Stadt zu stürzen. Ein wenig Ablenkung konnte nicht schaden. Nur weil er »von Herzen« dachte, stürzte er in eine Depression – so ein Quatsch! So weit war es mit ihm also schon gekommen. Er verhielt sich wie ein Psychokrüppel. Er warf sich ein wenig Wasser ins Gesicht, gurgelte mit einem Mundwasser, fuhr sich durch die störrischen braunen Haare, schlüpfte in Jeans und Pullover, schnappte sich Schlüssel, Geld und Jacke und verließ seine Wohnung. Der Hausflur war menschenleer. Wer sollte sich nachts um zwei Uhr auch groß hier aufhalten? Seine Nachbarn in dem großen Mietshaus schliefen den Schlaf des Gerechten, mancher möglicherweise auch den des Ungerechten. Genau wie er selbst hätte schlafen sollen, weil in – er seufzte bei diesem Gedanken – viereinhalb Stunden der Wecker klingeln würde. Bei der Alternative, viereinhalb Stunden schlaflose Grüblerei oder noch eine Stunde Ablenkung und danach möglicherweise drei Stunden Schlaf, fiel die Entscheidung trotzdem nicht schwer. Hätte er allerdings gewusst, dass seine Entscheidung in Wirklichkeit Begegnung mit einem der tödlichsten Schwarzmagiern bedeutete, hätte er sich vielleicht vor die Glotze gehockt. Da ihre Wohnung mitten in Paris vor allem billig sein musste, hatten sie auf eine exklusive Wohnlage keinen Wert legen können. Deshalb waren die ersten fünf Menschen, denen Francois begegnete, nicht gerade das, was er jetzt brauchte. Ihre Gesichter waren verbraucht, ihre Röcke kurz, ihre Absätze hoch und ihre Haltung abstoßend. Prostituierte, die ihn mit langen Blicken bedachten und ihn sezierten, ob er wohl genug Geld hatte. Francois hatte sich bereits daran gewöhnt, also beachtete er sie nicht. Eine der Bordsteinschwalben rief ihm irgendetwas nach, das
er noch nicht einmal wahrnahm. Im Laufe der Monate hatte er gelernt, einen effektiven Mechanismus zu entwickeln: Für ihn existierten sie überhaupt nicht. »Sie legen wohl keinen großen Wert auf billige und rasche Befriedigung?« Francois zuckte zusammen. Wieso sprach dieser seltsame Kauz ihn an? »Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber Sie haben Recht«, sagte er zu dem ausgezehrt wirkenden Mann mit dem schwarzen Mantel und dem Hut, den der Fremde tief in die Stirn gezogen hatte. Er sah aus wie die Karikatur eines Zuhältertyps, obwohl sein Gesicht nicht zu erkennen war. Wahrscheinlich, dachte Francois, blitzte ein Goldzahn anstelle eines der Schneidezähne, umschlang ein Goldkettchen seinen Hals und trug er ein feines Seidenhemd, dessen obere drei Knöpfe unter dem Mantel offen standen. »Sehen Sie, ich täusche mich selten in Menschen«, behauptete der Fremde. »Ich kann Ihnen etwas bieten, das tiefer geht.« Francois winkte ab. »Lassen Sie mich in Ruhe. An Ihren perversen Angeboten habe ich nicht das geringste Interesse.« Er wandte sich ab und lief mit raschen Schritten weiter. »Sie verstehen mich völlig falsch«, ließ der Fremde nicht locker. »Mit Perversitäten hat das, was ich Ihnen anbiete, nicht das Geringste zu tun.« Francois überlegte, ob er den anderen einfach ignorieren und weitergehen sollte, ganz nach dem Schema, das Isabelle und ihm das Überleben in dieser schmierigen Gegend ermöglichte. Doch er blieb stehen, drehte den Kopf und erwiderte: »Ich habe meine eigenen Probleme, verstehen Sie?« »Das habe ich Ihnen angesehen. Ich kann Ihnen helfen.« Die Stimme des Mannes war rau, und es lag etwas Lauerndes in ihr. Nicht gerade die vertrauenerweckendste aller zwielichtigen Gestalten. »Mir kann keiner helfen. Und«, er gab sich jovial, »ehrlich gesagt, so schlimm sind meine Probleme auch wieder nicht.« Schlimm genug … Unwillkürlich tauchte Isabelles Gesicht vor seinem geistigen Auge auf, und er hörte sie lachen, so wie nur sie lachen konnte. »Offenbaren Sie sich mir, junger Mann! Es wird Ihnen gut tun!« Wie käme ich dazu?, dachte Francois – und sagte zu seiner eigenen
Überraschung: »Es – es sind eher psychische Schwierigkeiten, wissen Sie?« »So?«, fragte der andere mit krächzender Stimme. Dieser Gestalt willst du dein Innenleben offenbaren? Lass doch den Verrückten! Aber da war etwas in der Stimme dieses eigenartigen Kauzes, etwas Zwingendes. »Meine Frau …«, begann Francois zögerlich. »Sie bereitet Ihnen Sorgen, ja? Ein anderer Mann? Sie biedert sich an, während …« »Nein, nein!«, widersprach Francois heftig. Alleine der Gedanke war lächerlich und Isabelles Wesen völlig fremd. Irgendwie tat es gut, dem schwarz Gekleideten zu widersprechen. Es war, als würde Francois' Geist dadurch wieder freigespült. Als könne er innerlich endlich wieder durchatmen. Doch dann zog der andere seinen Hut, und im Licht der Straßenlaterne sah Francois in totenkopfähnliche Züge, die den ausgezehrten Eindruck der ganzen Gestalt mehr als nur bestätigten. Eine scharfe, harte Nase und schwarze Augen … Die Augen … »Erzählen Sie mir alles. Doch nicht hier … Folgen Sie mir, mein Wagen steht ganz in der Nähe!« Francois spürte, wie sein Widerstand unter diesem Blick und diesen Worten endgültig schmolz. »Ja«, sagte er monoton, »ich folge.« »Ich werde dir helfen, und du wirst deine Frau vergessen. Keine Schmerzen mehr«, knarrte die Stimme. »Ja«, freute sich Francois. »Keine Schmerzen mehr.« Er schloss seinen Mund nach der letzten Silbe nicht, und er tappte dem anderen – dem Meister! – wie ein Hündchen hinterher. Er setzte sich kurz danach in den Wagen, ins Heck, und wunderte sich nicht, dass es vom Fahrerbereich mit einer Scheibe abgetrennt war. Wieso sollte er sich wundern? Es gab nur noch den Meister. Kurz danach roch es eigenartig. Und Francois schlief ein.
Als Francois wieder zu sich kam, waren seine Gedanken klar und frei – ganz anders als sein Körper. Es gelang ihm nur mit äußerster
Mühe, sich zu bewegen, seine Glieder waren taub und schmerzten in den Gelenken. Und – Francois erschrak, sein Herz zog sich krampfhaft zusammen – als er an sich herabsah, erkannte er, dass er gefesselt war. Er lag auf einer Art Tisch oder Bank, und seine Arme und Beine waren mit breiten Lederriemen festgeschnallt. »Du spürst vermutlich eine Art tauben Schmerz«, ertönte eine Stimme; Francois hatte sie schon einmal gehört. »Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist eine Nachwirkung des Gases, das du eingeatmet hast, vereinfacht gesagt. Es wird keine bleibenden Schäden hinterlassen.« »Was – was soll das heißen?«, entfuhr es Francois. Seine Kehle war trocken, und er musste husten. Sein Kopf schmerzte. »Ich werde dir alles erklären. Du brauchst deinem Schicksal nicht wie ein einfältiges Tier entgegenzugehen.« Ein tiefes Kichern folgte, meckernd und hämisch. »Du hast Besseres verdient.« Francois erinnerte sich plötzlich an die letzten Ereignisse. Er wusste mit einem Mal wieder, wie er seine Wohnung verlassen hatte, getrieben von der Unruhe und der Sehnsucht nach Isabelle. Wie er dem unheimlichen Fremden begegnet war, in dessen schwarze Augen gesehen hatte – dann nichts mehr. »Was haben Sie mit mir angestellt?« »Eine einfache Hypnose, mit leichter Magie unterlegt«, erwiderte sein Entführer im beiläufigen Tonfall, als sei es das Normalste der Welt. Magie? Was sollte der Unsinn? »Lassen Sie mich sofort frei!«, forderte Francois. »Aber, aber … warum sollte ich mir die ganze Mühe machen, wenn ich dich dann wieder laufen lasse?« Der Fremde ballte sein Hände zu Fäusten, und ein Schauer überlief Francois. »Was wollen Sie von mir? Geld? Ich …« »Geld ist irrelevant. Ich brauche zwei Dinge. Das Amulett des Leonardo de Montagne – und einen Diener.« »Amulett? Welches Amulett?« »Schweig! Du verstehst nichts davon, also rede auch nicht darüber!«
Francois' Blick huschte in dem Raum hin und her. Er wurde durch eine matte Glühbirne in der Decke schwach erleuchtet. Neben dem Tisch, auf dem er festgebunden war, stand ein großer Schrank mit mehreren Schubladen, die allerdings alle geschlossen waren. Sonst war der Raum nicht möbliert – es wirkte wie eine Art Keller oder Lagerraum. »Zunächst ein Diener. Ja, ich benötige einen Diener.« Francois überlief ein eiskalter Schauer. Er war in die Klauen eines Wahnsinnigen geraten. Dieser Irrsinnige hielt ihn möglicherweise hier fest, bis er verdurstete, falls er ihn vorher nicht umbrachte. Was sollte das Gerede von einem Diener? »Ich … möglicherweise kann ich Ihnen helfen«, sagte Francois möglichst ruhig. Vielleicht gelang es ihm, den anderen in Sicherheit zu wiegen. Ihn durch Reden davon zu überzeugen, wieder Vernunft anzunehmen und Francois freizulassen. »Du kannst mir sogar ganz sicher helfen.« Das ausgezehrte Totengesicht des Mannes beugte sich zu Francois herab. Der Unheimliche verzog seine Lippen zu der Karikatur eines Lächelns und entblößte dabei seine Zähne. Fauliger Atem schlug dem Gefesselten entgegen. »Denn wie ich schon sagte: Ich benötige einen Diener.« Für einen kurzen Moment herrschte eisiges Schweigen. Dann holte Francois tief Luft und erwiderte: »Gut. Ich – ich bin sicher, dass ich Ihnen zu Diensten sein kann.« »Wie ist dein Name?« »Francois. Francois Tilogue.« Der Name war heraus, ehe er darüber nachgedacht hatte. In Zukunft musste er vorsichtiger sein, besser aufpassen, was er sagte. Francois war immer mehr davon überzeugt, dass seine einzige Chance darin lag, seinen Entführer in Sicherheit zu wiegen. Wenn er nur erst einmal losgebunden wäre … Den knochigen Kerl konnte der muskulöse Francois doch sicherlich überwinden. »Wir werden einen passenderen Namen für dich finden. Meinen Namen aber solltest du dir genau merken. Arcaro Ramondo. Dr. Arcaro Ramondo. Ich bin dein Meister.« Dein Meister … Francois war in einen Albtraum geraten. Wie in einem dieser Filme mit Vincent Price – der Verrückte vor ihm hielt
sich vielleicht für einen begnadeten Magier oder einen Chirurgen, der Leichenteile zusammenflicken konnte wie Baron von Frankenstein. Nicht umsonst nannte er sich wohl »Doktor«, genau wie es in derlei Filmen üblich war, in denen der Bösewicht sich immer verdient oder unverdient mit akademischen Würden schmückte. Und wer wusste, welche Instrumente sich in den Schubladen des Schrankes befanden. »Dr. Ramondo«, wiederholte Francois tonlos und schluckte hart. »Ich muss dich kurz allein lassen. Doch keine Angst, ich komme bald zurück. Ich benötige lediglich einen speziellen Dolch, den ich in einem besonderen Raum aufbewahre.« Francois presste die Lippen aufeinander. Sein Herz raste plötzlich in seiner Brust. Ich benötige lediglich einen speziellen Dolch … Wieder schoss ihm der Gedanke an Frankenstein durch den Kopf, und klarer als je zuvor stand ihm vor Augen, dass er sich in tödlicher Gefahr befand. Der Kerl würde ihn aufschneiden oder ihm das Gehirn rausoperieren oder sonst irgendetwas … Das nackte Grauen hielt Francois Tilogue in seinen Klauen. Ihm brach der Schweiß aus, während er sich in seinen Fesseln aufbäumte. Er riss und zerrte seine Arme hin und her. Obwohl er ein kräftiger Bursche war, blieben seine Bemühungen erfolglos. So würde er nicht freikommen. Francois dachte plötzlich an Isabelle und daran, dass er sie nun wohl tatsächlich niemals wieder sehen würde. Das war für ihn schlimmer als die Gewissheit seines nahen Todes. Wenn er starb, würde es vorbei sein – letztlich hatte er davor keine Angst. Aber Isabelle zurückzulassen, zu wissen, dass sie trauern und ihn vermissen, dass sie leiden würde – das stimmte ihn zornig. Er spannte die Muskeln seiner Oberschenkel und riss die Beine hoch, aufgeputscht von diesem Zorn und von dem Adrenalin, das in seinen Adern peitschte. Die Fesseln an seinen Fußgelenken rissen. Francois wollte es zuerst gar nicht glauben. Und doch war es Realität. Er war schon halb befreit! Aber solange er noch an den Händen gefesselt war, war er nach
wie vor hilflos diesem Verrückten, der sich Dr. Arcaro Ramondo nannte, ausgeliefert. Das musste sich ändern! Francois schwang die Beine seitlich von der Bank und kippte mit ihr um. Es schmerzte, als er auf dem Boden aufprallte, ohne sich mit den Armen schützen zu können. Zugleich hallte der Lärm durch den Raum. Er wusste, dass er sich nun beeilen musste. Ramondo würde den Krach gehört haben, und er würde herbeieilen, um seinen Gefangenen an seinem Ausbruchsversuch zu hindern. Die Fessel an seiner linken Hand war lockerer geworden. In seiner momentanen Haltung lag sie direkt neben seiner Schulter, und als Francois den Kopf drehte, sah er den Lederriemen nur etwa zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Er versuchte, seine Hand so schmal wie möglich zu machen, legte die Finger zusammen und wollte aus der Fesselung schlüpfen. Vergeblich. Also stieß Francois mit dem Kopf nach vorne und schlug die Zähne in den Lederriemen. Ihn durchzubeißen, war völlig utopisch – aber er konnte den Spielraum ein wenig weiten. Auf diese Weise kam nach seinen Füßen auch seine linke Hand frei! Jetzt handelte es sich nur noch um eine Frage von Sekunden! Schritte erklangen – dumpfe, schwere Schritte, die sich der Tür zu dem Raum näherten. Ramondo kehrte zurück! Francois löste mit zitternden Fingern die Fessel um seine rechte Hand. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen, und in der Hektik war er so ungeschickt, dass er wertvolle Sekunden verlor. Danach sprang er sofort auf, hetzte zu dem Schrank und riss dessen oberste Schublade auf. Er brauchte eine Waffe, um sich gegen seinen Entführer zur Wehr zu setzen. Die Tür schwang knarrend auf, ein Geräusch, das Francois' Nerven zerfetzte. In der Schublade befanden sich Tücher aus weißem Baumwollstoff. Merde! Francois stieß die Schublade wieder zu, um die darunter liegende öffnen zu können. Gleichzeitig warf er einen Blick über
die Schulter. Sein unheimlicher Gegner stand bereits im Türrahmen … »Aber, aber!«, rief Ramondo, und er klang nicht im Geringsten beunruhigt. »Was soll diese unnötige Aufregung?« Dir wird deine Überheblichkeit noch vergehen! Dir gebe ich es!, durchzuckte es Francois wütend. Gerade wollte er sich waffenlos auf seinen Entführer stürzen, getrieben von Wut, Angst und unbändiger Aggression, als er in der zweiten Schublade etwas sah … Eine Schere! Die Schneide war mehr als handspannenlang. Ohne zu überlegen, griff Francois zu. Die Schere zum Stoß erhoben, rannte er nach vorn, auf den Mistkerl zu, der beinahe sein Leben zerstört hatte. Francois war unvermittelt von einer irritierenden Ruhe erfüllt. Er hatte keinerlei Gewissensbisse bei dem Gedanken, die Schere in den Brustkorb dieses Mannes zu rammen. Er oder ich! Er stürzte auf Dr. Arcaro Ramondo zu – und …
Francois war aber verloren, ohne dass er es wusste. Ich glaube, Acharat glaubt, dass Francois eigentlich schon tot gewesen ist. Er ist genau in dem Moment gestorben, als er den Meister das erste Mal gesehen hat. Ja, ja, Acharat ist davon überzeugt. Aber wie traurig ist das alles … An Francois zu denken, ist genauso traurig, wie an den Meister zu denken, als er noch ein armes Kind war. Wahrscheinlich ist die ganze Welt so traurig. Acharat muss immer weinen, wenn er an Isabelle denkt. Deshalb vergesse ich sie auch immer wieder. Ist besser für mich, besser für Acharat. Ich will sie auch jetzt wieder vergessen. Gleich. Nur noch ein bisschen. Acharat ist bald fertig mit seiner Erzählung. Jedenfalls hat Francois – habe ich – hat Acharat die böse Schere fallen lassen, als der Meister ihn angesehen und es ihm befohlen hat. Die Augen des Meisters … diese Lavaseen, sie haben jeden Willen in Francois geschmolzen. So, wie es sein muss. Denn was soll Acharat mit einem eigenen Willen? Acharat ist der Diener des Meisters. Acharat braucht keinen eigenen Willen.
Aber komisch, dass Acharat eigene Gedanken hat. Das weiß der Meister gar nicht. Ja, Acharat hat eine Seele, und die ist manchmal ganz traurig, wenn er an das alles denkt, was er sich gerade erzählt hat. Vor allem tut es ihm weh, wenn er an Isabelle denkt. Die Frau. Acharat … Francois hat sie so sehr lieb gehabt. Ob sie Acharat auch jetzt noch lieb hätte, wenn sie ihn so sehen würde? Ohne Zunge? So plump, wie er geworden ist? So … dumm? Acharat tut alles weh, es ist noch schlimmer als je zuvor! Ach, warum habe ich nur eine Seele, die mir so wehtun kann? Wäre doch viel schöner, wenn ich nicht mehr denken könnte! Nein! Dummer Acharat! Es ist gut, dass ich an Isabelle denken kann! Es ist schön, denn wir waren … glücklich! Und das weiß der Meister nicht. Ha! Acharat weiß etwas, was der Meister nicht weiß! Acharat kann gar nicht so dumm sein. Aber damals … damals war es auch schlimm. Francois hat die Schere angeguckt, die vor seinen Füßen gelegen hat, und der Meister ist gekommen, hat diesen Dolch in den Händen gehalten und hat Francois gesagt, er soll den Mund aufmachen … Dann – dann hat es so wehgetan, so weh, und der Meister hat ein blutiges Ding in der Hand gehalten und... Und als Francois gestorben ist, mit dem Dolch im Herzen, da ist Acharat geboren worden. Zuerst hat Acharat sich gewundert, warum er noch lebt, wo er doch tot ist, aber dann ist ihm klar geworden, warum das so ist. Natürlich, ist doch keine Frage. Wenn der Meister es will, dann kann auch das leben, was tot ist. Der Meister, er ist … er ist eben der Meister. Guter Meister! Darum ist Acharat ihm auch dankbar. Irgendwo. Irgendwie. Und trotzdem gefällt es mir, gefällt es Acharat, dass er etwas weiß, das der Meister nicht weiß. Ha! Acharat war mal glücklich, anders als heute, wo er einfach lebt und dient. Außer … außer wenn … ich muss vorsichtig sein, dass der Meister meine Gedanken nicht liest, er braucht es nicht zu wissen … außer wenn Acharat an Isabelle denkt! Dann lebt Acharat nicht nur, dann freut er sich, auch wenn es ganz arg weh tut! So, still jetzt! Still jetzt, Acharat! Da ist noch etwas, an das ich mich erinnere. An die Worte des Meisters.
»Acharat«, hat er gesagt, »es ist gelungen! Du bist Leben aus dem Tod, und du gehörst mir!« Komisch, das alles. Acharat hat es nicht verstanden. Auch das andere Wort nicht, das der Meister benutzt hat. Komisches Wort. Klingt seltsam, klingt unheimlich. Hat einen düsteren, erschreckenden Klang. Untot.
5. Der Beobachter Ich hatte einen Traum, Prinz Ramses, und darin sah ich unzählige Pfeile wie Schwärme daherfliegen und die Leiber junger Männer durchbohren. Der Krieg rückt näher, ein Krieg, den Ihr nicht werdet aufhalten können. Christian Jacq: »Ramses. Band 1: Der Sohn des Lichts«
So, jetzt muss Acharat sich selbst aber noch schnell etwas anderes erzählen. Denn die Geschichte ist ja nie zu Ende, immer geht sie noch ein Stück weiter, immer passiert noch etwas Neues, das vorher nicht da war. Acharat hat keine Ahnung, wie viel Zeit seitdem vergangen ist, irgendwie spüre ich die Zeit nicht mehr. Schlafe nachts nicht mehr, werde auch nicht mehr älter. Ha, guter Meister. Auf jeden Fall gibt es Neues zu berichten. Acharat hat sie sich noch nie erzählt. Ist ganz schön spannend, ja, Acharat ist gespannt, was er sich erzählt. Zum ersten Mal hörte Acharat irgendwann vom Meister wieder diese Worte, die er auch schon zu Francois gesagt hat: »Das Amulett des Leonardo de Montagne! Ich habe die Spur gefunden, Acharat, und es ist so klar, so verdammt eindeutig! Ich war mit Blindheit geschlagen!« Arcaro Ramondo lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. Acharat starrte seinen Meister an. »Wie konnte ich in all den Jahren so blind sein?« Ramondo schlug mit der Faust gegen die Wand, und er zeigte keinerlei Reaktion, als ein kleines Rinnsal Blut über seinen Handballen lief. Dann hob er das dicke, modrig riechende Papyrus auf, auf dem er
gerade gelesen hatte, und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. »Château Montagne!«, presste er heraus. »Ich war ein Narr! All die Jahre lag es offen vor mir, und ich habe die Lösung nicht gesehen! Leonardo versteckte es in seinem eigenen Heim, und er hat es niemals wirklich an die Dämonen verloren, wie die Legende es besagt. Acharat, wir müssen sofort nach Frankreich! Im Loire-Tal wartet die Erfüllung …« Ein fanatisches Glitzern lag in Dr. Ramondos Augen. Sein stummer Diener zeigte noch immer keinerlei Reaktion. Solange er keine Befehle erhielt, die er ausführen konnte, stand er wie eine reglose Marionette, die abwartete, bis man an ihren Fäden zog. »Wenn ich erst das Amulett besitze, Acharat, werde ich mir einen neuen Sklaven erschaffen. Keine stumpfsinnige Kreatur wie dich, sondern ein zu eigenem Handeln fähiges Wesen! Die Dämonen der Hölle werden mir die Kraft dazu geben, denn ich kann sie zwingen!« Einst hatte Ramondo es als großen Erfolg gefeiert, als Triumph seiner bösen Kräfte über die Naturgesetze, dass er aus einem denkenden Menschen einen Zombie gemacht hatte. Der rituelle, in Schwarzafrika mit einem geheimen Voodoo-Zauber aufgeladene Dolch hatte das Leben dieses Menschen namens Francois Tilogue beendet und zugleich untotes Leben in den absterbenden Leib gegeben, ehe die Nervenbahnen für immer erlöschen konnten. Welchen Triumph hatte er, Dr. Arcaro Ramondo, erlebt, als er zum ersten Mal den Tod besiegte – und wie klein war das Opfer, das die afrikanischen Götter dafür verlangten. Die Zunge des Menschen, auf dass sie selbst irgendwann in tausend Sprachen sprechen konnten. Das Amulett, dem er seit so vielen Jahren nachjagte – er würde es bald besitzen! Es befand sich im Château Montagne … Dr. Arcaro Ramondo verließ das Haus, in dem er seine Studien betrieb. Es lag einsam in den Bergen Indiens, weitab aller neugierigen Augen. Umso mehr erstaunte es ihn, als er flackernden Feuerschein wahrnahm. Verärgert lief er los, der Quelle der Störung entgegen. Offenbar hatte ein Bergsteiger ein Lagerfeuer entzündet. Er sollte sein blaues Wunder erleben. Es kam Ramondo gerade recht, an diesem Wendepunkt seines Lebens den Dämonen ein Menschenopfer bringen zu
können. Asmodis, der Herr der Finsternis, würde ihm Gelingen schenken, wenn Ramondo ihm nun Blut darbrachte, um ihm zu schmeicheln. »He!«, rief er, als er freie Sicht auf das Lagerfeuer hatte. Irgendetwas daran kam ihm eigenartig vor, aber er war noch zu weit entfernt, um es klar wahrnehmen zu können. Seine Stimme jedoch wurde hier oben in der bereits recht dünnen Luft weit getragen. In diesem Zusammenhang erschien es Ramondo eigenartig, wie hoch das Feuer brannte. »Was führt dich hierher? Du hast Glück, gerade diesen Platz gewählt zu haben, denn …« Die weiteren Worte blieben ihm im Hals stecken. Jetzt sah er, was sich dort vorne abspielte … Eine Gestalt erhob sich. Sie war einem Menschen ähnlich – aber sie stand in Flammen! Es brannte nicht etwa ein Lagerfeuer – die Gestalt selbst war von Feuer umflossen. Ramondos Herz zog sich zusammen, als ihn eine widersinnige Sekunde lang Panik übermannte. Ein Dämon! Er stand einem leibhaftigen Dämon gegenüber! Vielleicht dem schrecklichen Astaroth persönlich, von dem es an einer Stelle der Überlieferung hieß, er stehe stets in Flammen, wenn er sich in die Niederungen der Sterblichen begab. Doch dann zwang sich Ramondo zur Ruhe. Sein ganzes Leben lang hatte er danach gestrebt, dass die Dämonen sich ihm auch körperlich zeigten – warum also sollte er jetzt nicht die Nerven behalten und so agieren können, wie der Finstere es sicher von ihm erwartete? »Ich erweise dir meine Demut und bitte für meine unüberlegten Worte um Verzeihung«, rief Ramondo rasch, ehe er sich tief verneigte. Welch eine Gnade widerfuhr ihm! »Du suchst das Amulett!«, antwortete der grauenhafte Feuerdämon. »Das Amulett des Leonardo de Montagne«, entgegnete Ramondo. »Und die Tatsache, dass du dich mir zeigst, offenbart mir, dass ich auf dem rechten Weg bin, um es zu finden.« »Zeige mir deine Fähigkeiten und beweise mir, dass du würdig bist!«, grollte die von Feuer umloderte Gestalt.
Ramondo durchfuhr ein eisiger Schreck. Was hatte er schon vorzuweisen? All die Jahre, in denen er die finstere Magie studiert hatte – all die Lebenszeit, die er selbst der Hölle dargebracht hatte, auf Geheiß des närrischen alten Zigeuners hin, damals, als zehn Jahre seines Lebens in einer einzigen Sekunde verpufft waren – all die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte: Es war, als wäre all das nie geschehen. Ramondo fühlte sich schwach und hilflos angesichts dieser dämonischen Präsenz … Dann durchzuckte ihn die Idee. »Ich habe mir einen untoten Diener geschaffen, etwas, das die wenigsten Magier bisher vermochten.« »Zeige ihn mir!« Ramondo rief laut nach Acharat. Wenige Sekunden später näherte sich der Hüne mit raschen Schritten. Der Dämon besah sich Ramondos Diener genau. »So sollst du nun erfahren, was du zu tun hast«, sagte er danach, mit keinem Wort auf den Zombie eingehend. »Ich höre und gehorche«, intonierte Ramondo eine uralte Formel. »Ich gebe dir einen Auftrag, doch ich werde dir die Erinnerung an unsere Begegnung wieder nehmen. Du sollst zum Château Montagne gehen, ohne von mir zu wissen. Handele, als seiest du ein freier Mensch. Denn wisse, dass auf dem Château meine Diener lauern, hilflos gebannt durch die Macht des Amuletts von Leonardo de Montagne selbst!« »Ich werde sie befreien, wenn Ihr es wünscht«, katzbuckelte Ramondo. »Die Feuerdämonen warten schon lange! Sie warten auf mich, auf Karinjo! Ich wurde in dem Moment vor einigen Tagen auf dich, Mensch Ramondo, aufmerksam, als du das Papyrus aus der Bibliothek entferntest, das dich auf die Spur von Château Montagne brachte!« »Ich brauchte lange, um es zu übersetzen«, rechtfertigte sich Ramondo, und nach einem unmerklichen Moment des Zögerns fügte er noch ein entscheidendes Wort hinzu: »Herr.« »Du bist der Erste, der die Spur entdeckte, und du bist ein würdi-
ger Diener. Geh zum Château Montagne, nimm das Amulett und befreie meine Diener! Geh rasch und rabiat vor! Und nun vergiss, dass du mich gesehen hast, aber vergiss nicht meinen Auftrag!«
Der brennende Mann namens Karinjo ist dann weggegangen, und der Meister hat ihn vergessen. Weil der brennende es ihm so gesagt hat. Hat der Meister also doch auch einen eigenen Meister gefunden. Das hat Acharat gefallen. Der Meister-Meister hat Acharat keine Beachtung geschenkt. Er hat mich, er hat Acharat vielleicht für zu dumm gehalten. Da hat er ja vielleicht auch Recht. Aber trotzdem hat Acharat schon wieder ein neues Geheimnis. Der Meister weiß nicht, dass Acharat einmal glücklich war, mit Isabelle. Und der Meister weiß nichts von dem Brennenden. Aber Acharat weiß es! Er weiß auch, dass der Brennende alles beobachtet! Er tauchte immer wieder einmal auf, während wir den weiten Weg nach Frankreich antraten, und drängte den Meister zur Eile. Acharat beachtete er nicht. Und als der Meister den Mann namens Louis de Montagne angerufen hat, kam Karinjo wieder und hat gesagt, der Meister soll doch rascher handeln. Nicht reden, sondern auf das Schloss gehen und endlich aktiv werden. Als der Beobachter dann wieder verschwand, war der Boden mit Blut verschmiert, wo er gestanden hatte. Der Meister hat es nicht gesehen, obwohl er genau darauf gestarrt hat. Er hat alles wieder vergessen. Armer Meister. Nicht so mächtig wie der Meister-Meister. Aber Acharat hat genau geguckt: Es war Menschenblut, das da auf den Boden getropft war. Und es roch so, als ob es frisch sei. Komisch – früher hat Acharat das nicht unterscheiden können. Acharat glaubt, der brennende ist böse. Aber jetzt hat Acharat keine Zeit mehr. Die Geschichte hat er sich ganz erzählt. Jetzt muss er zum Meister zurück. Zu dem Mann zurück: Tsamorra. Und zu der Frau: Nikoll. Sind beide dort unten gefangen. Wie Francois auch gefangen war. Tsamorra wie Francois. Und Nikoll – ach! – wie Isabelle. Stopp, Acharat! Weine nicht!
Nicht jetzt! Der Meister darf es nicht sehen. Ach, Isabelle! Liebst du deinen Acharat, wenn du ihn einmal wieder sehen wirst?
6. Das Schloss der Dämonen (2) Die Tür fiel ins Schloss, und Professor Zamorra war mit Nicole allein in der Folterkammer. Zamorra atmete tief durch. Einen Moment lang lauschte er auf die sich entfernenden Schritte, dann wandte er mühsam den Kopf. »Nicole!«, befahl er halblaut. Sie sah ihn an. Oder besser – sie sah durch ihn hindurch. Ihr Blick war starr, leer, erloschen, und sie schien die Worte nicht zu hören. »Nicole!«, wiederholte Zamorra eindringlicher. Und dann schrie er: »Nicole! Wachen Sie auf! Reißen Sie sich zusammen!« Ganz langsam konzentrierte sich ihr Blick auf ihn, erwachte zu einem kühlen, seltsam unpersönlichen Interesse. »Ja?«, fragte sie monoton. »Sie müssen mir helfen, Nicole! Nehmen Sie irgendein Messer, schneiden Sie die Stricke durch und …« »Nein«, sagte sie, als rezitiere sie etwas, das sie auswendig gelernt hatte. »Der Meister hat es verboten. Der Meister ist auf der Suche nach dem silbernen Amulett. Er wird es bekommen …« »Das wird er nicht! Er wird von diesen verdammten Dämonen umgebracht werden. Und wir auch, wenn Sie nichts tun!« Seine Worte erreichten sie nicht. Ihr Blick zerfaserte, ging ins Leere. Ein eigentümliches, verlorenes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Der Meister ist groß«, flüsterte sie. »Der Meister wird das Amulett besitzen. Er wird mächtig sein. Er wird herrschen …« Sie verstummte. Das letzte Wort war nur noch ein verwehender Hauch. Ihr Gesicht war abwesend, verklärt – als lausche sie auf eine Melodie, die nur sie hören konnte. Zamorra stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, was mit Nicole los war. Dieser Teufel in Menschengestalt hatte sie hypnotisiert, genau wie er offensichtlich Charles Vareck hypnotisiert hatte. Und Zamorra wusste, dass es nur ein Mittel dagegen gab – eine Art Ge-
genhypnose, Schritt für Schritt die Suggestionen aufhebend. Oder neue, andere Suggestionen setzen. Zamorra beherrschte die Technik, sie war im Grunde einfach, für fast jeden Menschen lernbar. Aber er kannte auch die Schwierigkeiten – und er war sich bewusst, dass die Chance nur eins zu tausend stand. »Nicole«, flüsterte er beschwörend. »Sehen Sie mich an, Nicole!« Sie reagierte nicht. Seine Worte schienen an ihr abzuprallen. Sie befand sich in einem Zustand tiefer Trance, war darauf programmiert, Ramondo bei der Jagd nach dem Amulett zu helfen … Das Amulett! Das war es! Der Gedanke schoss Zamorra wie ein Blitz durch den Kopf, und er wusste sofort, dass er die einzige Möglichkeit gefunden hatte, das Blatt noch zu wenden. Er atmete tief durch. »Ich habe das Amulett, Nicole«, sagte er laut und deutlich. Sie zuckte zusammen. Mechanisch, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, wandte sie den Kopf. Ihr Gesicht spiegelte äußerste Konzentration wider. »Was?«, fragte sie leise und ungläubig. »Ich habe das Amulett«, wiederholte er. »Ich habe es bei mir, Nicole. Es hängt an einer Kette um meinen Hals. Sie können es haben …« Nicoles Augen wurden so weit, als wolle sie alles Licht der Welt auf einmal in sich aufnehmen. »Das Amulett«, flüsterte sie. »Das silberne Amulett …« Zamorra starrte sie an. »Ich habe es, Nicole. Sie können es nehmen. Jetzt gleich!« Sie nickte. Langsam kam sie auf ihn zu. Ihre ausgestreckten Hände bebten. Mit einem Ruck riss sie das Hemd über seiner Brust auf, er spürte die flüchtige, seltsam kühle Berührung – und dann schlossen sich ihre Finger um das silberne Amulett. Zamorra wagte sich nicht zu rühren. »Wach auf, Nicole«, flüsterte er. »Wach auf! Du bist frei! Nichts zwingt dich mehr. Der Bann ist gebrochen.« Nicole schien zu versteinern. Sie hielt den Atem an. Immer noch
umschloss ihre Rechte das Amulett. Sekunden vertickten, dehnten sich zu Ewigkeiten. Und dann, nach einer Zeit, die Zamorra endlos vorkam, zuckte Nicole zurück und ließ das Amulett los, als habe sie sich die Finger daran verbrannt. Ihre Augen flackerten. Augen, in denen sich die unnatürliche Starre gelöst hatte, die wieder lebten und sich in panischem Schrecken weiteten. Ihre Stimme bebte, war hoch und hell vor Furcht. »Wo … bin ich? Was ist passiert?« »Ruhig, Nicole! Ganz ruhig!« Zamorras Stimme klang beschwörend. Nicole zitterte. Hilfe suchend sog sich ihr Blick an ihm fest – und da erst schien sie richtig aufzunehmen, in welcher Lage er sich befand. Sie wich einen Schritt zurück. »Dies ist die Folterkammer von Château Montagne«, erklärte er ihr, »und Sie sind lediglich hypnotisiert worden. Ich werde Ihnen das alles später erklären. Jetzt müssen Sie die Nerven behalten, verstanden?« Nicole atmete laut aus – und dann bewies sie einmal mehr, dass sie tatsächlich bessere Nerven besaß als die meisten anderen Menschen. »Heiliger Bimbam!«, flüsterte sie. »Chef, das – das ist ja ein Albtraum! Wie kommen Sie hierher? Ich habe doch geschlafen …« »Hauptsache, Sie schlafen jetzt nicht«, witzelte er und lächelte ihr Mut machend zu. Nicole blickte sich um, und dann ging sie ganz von selbst zu dem niedrigen wurmstichigen Holztisch hinüber, auf dem neben Zangen, zugespitzten Eisenstiften und anderen Folterwerkzeugen auch einige Messer lagen. Minuten später fielen Zamorras Fesseln. Die Garotte löste er selbst von seinem Hals. Er atmete tief auf, als er das Mordwerkzeug endlich los war. Einen Moment lang blieb er stehen, kämpfte gegen das Gefühl der Erleichterung, das ihn wie ein Taumel ergriffen hatte, dann riss er sich zusammen. »Sie bleiben hier, Nicole«, sagte er eindringlich. »Sie rühren sich nicht von der Stelle!« »Und Sie, Chef?« »Die Kerle sind nur zu zweit. Versprechen Sie mir, dass Sie nichts
auf eigene Faust unternehmen?« Nicole nickte schwach. »Okay, Chef. Ich verspreche es …« Zamorra lächelte ihr aufmunternd zu, dann verließ er die Folterkammer, schloss die schwere Bohlentür hinter sich und blieb auf dem Gang stehen. Seine Lippen lagen hart aufeinander. Wenn er abschloss, konnte er Nicole vielleicht vor Dr. Ramondo und seinem Diener schützen, aber nicht vor den Dämonen. Einen Moment lang überlegte er, dann griff er nach dem Amulett und streifte sich die Kette über den Kopf. Er berührte die Tür mit dem silbernen Anhänger. Langsam führte er das Amulett über das Holz, formte das Zeichen des Kreuzes und ließ die Kette wieder um seinen Hals gleiten. Er wusste nicht, ob es helfen würde, konnte es nur hoffen. Aber er hatte keine andere Wahl. Irgendwo in den Tiefen des Kellergewölbes bahnte sich zu diesem Zeitpunkt eine Katastrophe an, würde ein grausamer Kampf entbrennen – und er musste sich beeilen, wenn er noch etwas verhindern wollte. Ein zitternder, lang gezogener Schrei gellte, der Schrei eines Sterbenden. Zamorra hörte ihn, und er spürte, wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken rieselte. Er sah die Tür. Die Tür mit dem Wappen der Montagnes! Sie stand halb offen, bewegte sich knarrend in dem scharfen, kühlen Luftzug hin und her, und dahinter lagerte roter dunstiger Widerschein, wie von einer Feuersbrunst. Das Wappen war aus seiner Verankerung gerissen worden und lag am Boden. Ramondo hatte das Amulett dahinter vermutet und das Wappen entfernt – und damit auch die Sperre, die die Dämonen bannte. Die Feuerskelette mussten die Tür aufgestoßen und Ramondo ergriffen haben. Erneut schnitt dieser furchtbare Schrei durch die Stille. Grelles, teuflisches Gelächter mischte sich in das unmenschliche Heulen. Der Schrei wurde leiser, erstarb zu einem kraftlosen Wimmern, und das Fauchen der Dämonen drang immer lauter und triumphierender durch die Kellergänge. Mit drei Schritten erreichte Zamorra die Tür. Er trat dagegen, stieß sie vollends auf – und verharrte wie gelähmt auf der Schwelle.
Zwei Meter vor ihm lag der verkrümmte, verbrannte Leichnam des stummen Acharat. Und ein Stück weiter rechts, inmitten der Meute tanzender, kreischender entfesselter Dämonen, wand sich Dr. Ramondo in konvulsivischen Zuckungen, bäumte sich noch einmal auf, mit einem gurgelnden Laut, fiel auf den Boden zurück und rührte sich nicht mehr. Er sah furchtbar aus, ähnelte kaum mehr einem Menschen. Aber die Dämonen hatten immer noch nicht genug, schienen nicht wahrhaben zu wollen, dass alles vorbei war. Wieder und wieder stürzten sie sich auf den Toten, schlugen nach ihm, brachten ihm immer neue Brandwunden bei. Und dass er reglos blieb, nicht reagierte, quittierten sie mit einem wütenden, zum Geheul anschwellenden Fauchen. Zamorra kämpfte gegen das Grauen, das ihn zu überwältigen drohte. Er wusste, dass er den beiden Opfern nicht mehr helfen konnte. Seine Mundhöhle war so trocken wie das Innere eines Backofens. Starr, wie gebannt, blickte er auf die Toten, und erst nach ein paar Sekunden wurde ihm bewusst, dass das wütende Fauchen aufgehört hatte. Er riss den Kopf hoch. Dicht vor ihm schwebte eines der tanzenden Gerippe. Kaltes blaues Feuer umfloss die Gestalt. Der Totenschädel grinste, höhnisch und triumphierend, und die leeren Augenhöhlen schienen ihn anzustarren. Ein irres Kichern schnitt durch die jähe Stille. Bleiche Skelettarme zuckten vor, die Knochenfinger krümmten sich, Zamorra spürte den eisigen Hauch, und er wusste, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Er taumelte einen Schritt zurück. Instinktiv riss er die Arme hoch, um sich zu schützen. Seine Hand wurde gepackt. Er spürte den eisernen Griff, er wartete auf den Schmerz, das teuflische Brennen – aber stattdessen geschah etwas völlig anderes. Der Dämon erstarrte. Mitten in der Bewegung schien er sich förmlich in Stein zu verwandeln. Die langen Zähne klafften auseinander, öffneten sich wie zu einem stummen Schrei – und das Fauchen der anderen Geister verstummte wie abgeschnitten. Zamorra hielt den Atem an.
Immer noch spürte er den Griff der Knochenhand. Aber der gleißende Feuerschein, der die Gestalt eben noch eingehüllt hatte, war erloschen. Wie eine Wolke löste der unheimliche Glanz sich auf, wurde zu tanzendem Staub, der in alle Richtungen davonflog, und als der letzte dieser hellen Punkte verblasste, lief es wie ein Krampf durch die Knochengestalt des Dämons. Ein grauenhaftes Stöhnen entrang sich seinem Kiefer. Er begann zu zucken, sich zu winden, ächzende Wehlaute ausstoßend. Aber er konnte sich nicht losreißen, nicht wieder zu Feuer werden, nicht zurückkehren in sein ureigenes Element. Und als sei mit der gleißenden Lichthülle der letzte, unerklärliche Lebensfunke aus diesem längst toten Körper gewichen, veränderte sich das Skelett von Sekunde zu Sekunde. Die Knochen verfärbten sich, wurden dunkler, als setze der Prozess der Fäulnis ein. Der Schädel schrumpfte. Wie eine Flamme, die erlischt, sank das Gerippe in sich zusammen, leblose Knochen polterten auf den Steinboden, und Sekunden später war die Gestalt zu Staub zerfallen, Stille senkte sich herab, eine tiefe, unheimliche, lastende Stille. Zamorra hob den Kopf. Seine Zähne hatten sich in die Unterlippe gegraben, doch er spürte den Schmerz nicht. Entsetzen schüttelte ihn, drohte übermächtig zu werden – aber er wusste, dass es noch nicht das Ende war. Die Stille dauerte nur Sekunden. Das Wutgeheul, das sie beendete, war ohrenbetäubend, ging wie ein Messer unter die Haut. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich das Gewölbe in einen dröhnenden Hexenkessel, und Zamorra brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um dem verzweifelten Impuls zur Flucht nicht nachzugeben. Die Dämonen gerieten in Raserei. Wie eine wabernde Feuerwoge stürzten sie sich auf ihren Gegner. Zamorra spürte den Anprall knöcherner Leiber, spürte dürre Hände, die nach ihm schlugen, ihn zu packen suchten. Flammen zuckten, gleißende Helligkeit blendete ihn. Er wehrte sich. Alles verschwamm vor seinen Augen, sein Schädel dröhnte, und das unmenschliche Kreischen drohte ihm die Trom-
melfelle zu sprengen. Aus!, dachte er. Aus! Sie sind stärker. Sie sind … Da war wieder das Stöhnen. Dumpfe Wehlaute mischten sich in das wütende Geheul. Immer noch spürte Zamorra den Griff von Knochenhänden, aber das Gleißen um ihn wurde schwächer. Es gelang ihm, zwei, drei Gegner abzuschütteln. Sie stürzten. Aus den Augenwinkeln sah er die zuckenden, sich krümmenden Gerippe am Boden, sah, wie sie binnen Sekunden zu Staub zerfielen, und mit einem heftigen Ruck schaffte er es, sich vollends loszureißen. Asche und Staub bedeckten den Boden. Ein einziges bleiches Gerippe war noch da. Stöhnend wich es zurück, streckte abwehrend die Arme aus. Flammen umzüngelten die Gestalt, hüllten die Knochen ein, ließen sie verschwinden. Die wabernde Feuersäule zog sich tiefer in den Raum zurück. Sie wurde blasser, fast durchsichtig, verwandelte sich in eine Wolke tanzender Funken – und einen Herzschlag später war auch das vorbei. Zamorra stand keuchend in der Finsternis. Sein Herz raste. Er spürte, dass er zitterte, dass ihn immer noch das Entsetzen schüttelte, und er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Gefahr vorbei war. Fast vorbei! Denn einer der Dämonen hatte sich in sein unsichtbares Reich geflüchtet. Aber er, Zamorra, hatte gesiegt. Das silberne Amulett hatte ihm die Macht gegeben, die Dämonen zu vernichten. Und mit seiner Hilfe würde er es auch schaffen, endgültig ein Ende zu machen. Mechanisch griff er nach der Taschenlampe an seinem Gürtel, ließ sie aufflammen. Der Lichtkegel stach wie ein Finger in die Finsternis, geisterte in die Runde, und Zamorra begann, systematisch den Raum abzuleuchten. Kahle Mauern, nackter Steinfußboden. Es gab keinen weiteren Ausgang, keine Türen, kein Mobiliar – nichts. Staub bedeckte den Boden, die uralten Bruchsteinquader glänzten feucht. Zamorra hatte das Gefühl, sich in einer gigantischen Grabkammer zu befinden.
In einer Grabkammer, die seit Jahrhunderten den Feuerdämonen als Behausung gedient hatte. Zamorra schauerte. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn, dann tasteten seine Finger nach dem kühlen Silber des Amuletts auf seiner Brust. Er spürte, dass der Kampf noch nicht zu Ende war. Er musste auch noch den letzten der Dämonen vernichten, wenn er Château Montagne endgültig von dem uralten Fluch befreien wollte. Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich auf. Er wusste nicht, ob er es richtig anfing. Er kannte nicht die uralten magischen Formeln, nicht die Worte, die vielleicht nötig waren. Aber in ihm brannte ein Wille, der stärker war als alle Zweifel, stärker als die Unsicherheit, und er folgte seinem Instinkt. »Zeige dich!«, rief er. »Erscheine! Ich befehle dir, dich zu zeigen! Ich bin mächtiger als du. Du musst gehorchen …!« Seine Stimme hallte dumpf durch den großen Raum. Dann senkte sich wieder die Stille herab. Zamorra hielt den Atem an, lauschte und wartete mit gespannten Sinnen. Ein Herzschlag, eine Ewigkeit – er wusste später nicht mehr, wie lange es dauerte, bis das Schweigen brach. Ein hoher singender Ton schien in der Luft zu schwingen. Funken begannen zu tanzen. Lodernde Flammen entwickelten sich daraus. Ein hohles, schauriges Stöhnen begleitete das Aufwabern des Feuers, die Flammengestalt zuckte wie unter entsetzlichen Qualen, und Sekunden später hatte sich der letzte der Dämonen materialisiert. Zamorra beherrschte sich nur mit Mühe. Ruhig ging er auf den Dämon zu, der langsam vor ihm zurückwich. Und dann, seltsam körperlos, aus allen Richtungen gleichzeitig kommend, war da plötzlich die Stimme. »Halte ein, Meister! Ich bin dein Diener! Nimm meine Unterwerfung an!« »Bleib stehen!«, befahl Zamorra schneidend. Der Dämon erstarrte. Ein Zittern durchlief die von Flammen umhüllte Gestalt. Zamorra hob die Hand – und das Gerippe begann sich wie in Krämpfen zu winden.
»Gnade!«, ächzte die Stimme. »Gnade, Meister! Wir werden dir dienen! Wir werden dich reich machen, mächtig! Du kannst die Welt beherrschen mit unserer Hilfe. Du kannst …« Zamorras Hand berührte die Brust des Dämons. Die Stimme erstickte. Ein grässlicher Schrei zitterte durch die Luft. Wie eine Wolke, die sich auflöst, verschwand der blaue Feuerschleier ins Nichts, aus dem aufgerissenen Kiefer des Gerippes drangen grässliche, jaulende Laute, und die bleichen Knochen begannen sich aufzulösen. Sekunden später war auch der letzte der Dämonen zu Staub und Asche zerfallen. Zamorra war allein. Allein mit zwei furchtbar zugerichteten Toten – und mit der Gewissheit, dass diese beiden Männer die letzten Opfer waren, die die Dämonen von Château Montagne gefordert hatten. Aber er konnte keinen Triumph empfinden. Er wusste, dass es nur ein vorläufiger Sieg war, den er errungen hatte. Ein winziger Erfolg im Kampf gegen die Mächte der Finsternis, die überall gegenwärtig waren, ihren Tribut forderten – und immer wieder Menschen ins Verderben zogen. Menschen, die ihnen hilflos ausgeliefert waren, weil sie nicht das Mittel kannten, um sich zu wehren. Er, Zamorra, besaß dieses Mittel. Das Amulett … Das silberne Amulett Leonardo de Montagnes. Es hing immer noch um seinen Hals. Er spürte das kühle Metall auf der Haut wie eine sanfte Berührung. Er hatte die Kraft des Amuletts kennen gelernt, er wusste jetzt um seinen Wert – und er wusste zugleich auch, dass dieser Wert eine Verpflichtung mitbrachte, der er sich nicht würde entziehen können. Tief aufatmend wandte er sich ab, öffnete die Tür und suchte den Weg zurück durch das Labyrinth des Kellers.
Zamorra war zurück nach New York gereist. Er hatte seine Aussagen bei der französischen Polizei gemacht,
und er hatte alle Formalitäten erledigt. Nach allem, was geschehen war, hatte er zunächst einmal das Bedürfnis verspürt, etwas anderes zu sehen. Jetzt saß er mit Nicole Duval und seinem Freund Bill Fleming in einem Lokal an der 8th Avenue, trank alten Kognak und registrierte mit einem Gefühl der Erleichterung, dass Bill seinen Whisky immer noch mit Eiswürfeln verdarb und dass die Welt demnach noch im Lot war. Er hatte erzählt, was auf Château Montagne geschehen war – er konnte das jetzt mit einem gewissen Abstand. Bill hörte ruhig zu. Zum Schluss zog er unbehaglich die Schultern hoch. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du im Allgemeinen weißt, was du sagst. Außerdem bist du Wissenschaftler und lässt dir nichts vormachen.« Er machte eine Pause und nagte an der Unterlippe. »Aber jeden anderen würde ich vermutlich für verrückt erklären«, fügte er hinzu. »Das kann ich sogar verstehen. Wenn ich das alles nicht selbst gesehen hätte …« Nicole holte tief Luft. »Chef«, sagte sie sanft. »Sie haben mir doch selbst erklärt, dass bei der ganzen Geschichte Hypnose im Spiel war. Und jeder weiß, dass man im Zustand der Hypnose alles Mögliche sieht. Vergessen Sie diese Geschichte doch endlich!« Zamorra seufzte leicht. Er kannte inzwischen die Version der Ereignisse, die sich Nicole zurechtgelegt hatte. Eine Version, in der übernatürliche Kräfte nicht vorkamen. Und er wusste, dass gegen die einmal gefassten Überzeugungen seiner Sekretärin vermutlich selbst die Dämonen von Château Montagne vergeblich gekämpft hätten. »Ihr Wunsch ist mir Befehl«, sagte er lächelnd. »Also, versuchen wir, das Ganze zu vergessen.« Sie wechselten das Thema, sprachen von etwas anderem. Zamorra genoss den Abend. Er tanzte mit Nicole, er sah der Show zu, er unterhielt sich mit Bill Fleming über seine Arbeit an der Universität. Zwischendurch trank er ein paar weitere Kognaks, und zum ersten Mal seit Wochen glitt er wieder in den Zustand völliger Entspannung. Aber in einem Winkel seines Gehirns wusste er dennoch genau,
dass er die Ereignisse auf Château Montagne nicht vergessen würde – und dass er das auch gar nicht wollte.
7. Der Tote lebt Jesus, über dem Friede sei, hat gesagt: Die Welt ist wie eine Brücke. Geht über sie hinüber – aber lasst euch nicht auf ihr nieder! Text um 1600, Moschee von Fathpur, Sikri v. Großmogul Akbar (1542-1605)
Er war der Herr der Feuerdämonen gewesen, aber seine Diener waren vernichtet worden. Alle, ohne Ausnahme! Und das nach all den Jahren der Tatenlosigkeit, des lauernden Abwartens. Karinjo tobte vor Zorn. Zorn auf die beiden Menschen, die an seinem Elend schuld waren. Dr. Arcaro Ramondo, der Magier, der als erster Mensch seit einer schieren Ewigkeit die Spur des Amuletts aufgenommen hatte, mit dessen Hilfe Leonardo de Montagne die Feuerdämonen gebannt hatte. Karinjo hatte auf Ramondo große Hoffnungen gesetzt, er war ihm als das ideale Werkzeug erschienen, um seine Diener zu befreien. Doch er hatte versagt. Er war kläglich an seiner Aufgabe gescheitert. Hätte er nicht den Tod gefunden, wäre es Karinjo eine große Genugtuung gewesen, ihm mit seinem Feuer und seinen Zähnen ein langsames, unbarmherziges Ende zu bereiten. Doch Ramondo war nur der eine, und er bot keine Zielscheibe mehr für Karinjos Zorn. So fokussierte der Dämon seinen Trieb nach Rache auf denjenigen, der noch schuldiger war: Denn ein widerlicher, erbärmlicher Mensch hatte es gewagt, die Feuerdämonen aktiv zu vernichten. Darauf gab es nur eine Antwort: Tod! Tod für Professor Zamorra!
Nun weiß ich endgültig nicht mehr, wer ich bin. Aber jetzt, nach vielen Tagen, erinnere ich mich zumindest wieder an die Vergangenheit. Ich hatte zwei Namen, denn ich habe bereits zwei Mal gelebt. Beide Existenzen sind nun beendet. Ich bin nicht mehr Francois Tilogue. Ich bin auch nicht mehr Acharat. Tilogues Leben scheint so lange zurückzuliegen, dass ich mich kaum noch an irgendwelche Details erinnern kann. Nur ein Gedanke, eine Bezeichnung ragt aus dieser Vergangenheit zu mir herüber. Ich werde diesen Gedanken nicht los, und ich weiß, dass ich das dahinter stehende Geheimnis lösen muss: Isabelle. An meine Zeit als Acharat erinnere ich mich genau. Es ist ein eigenartiges Leben gewesen: dumpf, beinahe unbewusst. Ohne wirklich eigenes Leben. Wenn ich an Acharat denke, steht mir unwillkürlich das Bild eines kleinen Kindes vor Augen, obwohl Acharat äußerlich alles andere als das gewesen ist. Doch innerlich war Acharat stumpfsinnig, kindhaft, infantil. Fast schäme ich mich, an ihn zu denken. Und doch bin ich Acharat gewesen, ganz unter dem Einfluss eines anderen stehend. Eines bösen Mannes namens Arcaro Ramondo, der Tilogues Existenz beendete und Acharat schuf. Ramondo ist ebenso tot wie Acharat, und mit Ramondo ist auch der unheilvolle Einfluss gestorben. Wie aus Acharat ICH wurde, weiß ich nicht. Daran kann ich mich nicht erinnern. Meine letzte Erinnerung sind brennende Gestalten, zu Skeletten gerinnendes Feuer. Acharat hat sie angesehen, und als sie ihm den Tod brachten, hat er sich nicht einmal gewehrt. Vielleicht wollte er sterben. Danach: Dunkelheit. Bis ich mir vor kurzem meiner Selbst bewusst geworden bin. Wer ich nun bin, weiß ich nicht, und deshalb nenne ich mich ICH. Einfach nur ICH. Ich habe keinen Körper. Acharats Körper wollte ich nicht, denn der war verbrannt, tot und hässlich. Ich kann auch ohne Körper gut leben. Dennoch ist das wohl kein optimaler Zustand, auf Dauer gesehen, denn ich kann in dieser Existenzform nichts unternehmen. Und ich habe doch ein
Rätsel zu lösen. Oder genau genommen, zwei Rätsel zu lösen. Erstens: Wie wurde ich von Acharat zu ICH? Ein ganz ungewöhnlicher, spektakulärer Vorgang … Etwas Ähnliches habe ich schon einmal durchgemacht, der Moment nämlich, als ich von Francois Tilogue zu Acharat geworden bin. Daran erinnere ich mich: Francois Tilogue starb unter dem Dolchstoß Dr. Arcaro Ramondos, und weil dieser den Tod besiegte, wurde Tilogue zu Acharat. Auch Acharat ist schließlich gestorben – oder eben auch nicht, denn Acharat war ja bereits tot. Genauer gesagt: untot! Und so einfach stirbt ein Untoter nicht, zumindest nicht in den Klauen von Feuerdämonen, die in letzter Sekunde erkennen, dass sie drauf und dran sind, etwas zu vernichten, das ihnen ähnlich ist. Acharats Körper hatten sie da bereits vernichtet – aber wieso hat sein Bewusstsein, seine Seele … habe ICH überlebt? Und zweitens: Ein altes Rätsel harrt der Auflösung. Beinahe komme ich mir vor wie ein Archäologe, der an den Geheimnissen der tiefen Vergangenheit rührt. Denn dieses Rätsel betrifft meine Existenz als Francois Tilogue. Wer ist Isabelle?
»Die Fahrt in dieser elenden Mistkarre wird wohl nie enden, oder was?«, schnauzte Anthony seinen Freund Sam an. Freund? Ha – ob er ihn noch lange so nennen würde, wusste er nicht. Er hatte die Nase gestrichen voll. »Du hast die schlechte Laune wohl heute Morgen löffelweise in deinen Kaffee gekippt und dann gleich vier Tassen davon getrunken, wie?«, brummte Sam missmutig. »Schön wär's! Genau umgekehrt! Ich hab gleich literweise gute Laune zu mir genommen. Allerdings habe ich sie dann aus diesem Fenster hier«, Anthony deutete neben sich und streckte die Hand dann ins Freie, in den Fahrtwind, »in hohem Bogen hinausgekotzt!« »Schlagendes Argument, Partner.« Sam nickte und wurde selbst ein wenig bleich, als er sich an den unangenehmen Vorfall erinnerte. »War eine hässliche Angelegenheit.« Dann fluchte er leise, als das rechte Vorderrad wieder einmal in ein besonders tiefes Schlagloch donnerte und die beiden Abenteurer kräftig durchgeschüttelt wur-
den. Sam, der einige Zentimeter größer als sein Freund war, stieß mit dem Kopf gegen die Decke des Jeeps und rieb sich über die schmerzende Stelle. Das würde bestimmt eine dicke Beule werden. Anthony quittierte diesen Vorgang mit einem zischenden Laut. »Pass doch verdammt noch mal besser auf!« »Leicht gesagt, mein Freund, aber vielleicht wäre es besser, wenn du stattdessen nach vorne sehen und deine Guckerchen mal ganz weit aufmachen würdest … Wie du unschwer erkennen kannst, ist die Straße nicht gerade eine eben betonierte Autobahn.« »Ich habe mir den Weg nicht ausgesucht!«, rief Anthony und schob sich mit einer beiläufigen Bewegung seine rahmenlose Brille auf der scharf geschnittenen Nase nach oben. »Wenn wir da ankommen, wo wir ankommen wollen – und das wollen wir doch, oder täusche ich mich da? –, dann bleibt uns keine andere Wahl, als diesen netten Weg noch«, er warf einen raschen Blick auf seinen Kilometerzähler, »zirka dreißig Kilometer lang zu nehmen.« Daraufhin schwiegen die beiden Männer eine Weile, während Sam immer wieder ein wenig beschleunigte und dann abbremste, um den schlimmsten Unebenheiten und herumliegenden Steinen zu entgehen. Dabei senkte er seine Durchschnittsgeschwindigkeit aus Rücksicht auf den angeschlagenen Gesundheitszustand seines Begleiters noch einmal ein wenig. Für die genannten dreißig Kilometer würden sie auf diese Weise wenigstens noch neunzig Minuten benötigen. Es war aber auch wirklich ein einziges Elend. Kein Wunder, dass ihnen seit Stunden, wenn er sich richtig entsann, nur zwei Autos entgegengekommen waren, und das waren beides wesentlich robuster wirkende Jeeps gewesen. »Dass es hier mitten in Europa so verdammt schlechte Straßen überhaupt gibt!«, begann Anthony seine Litanei erneut. »Wir sind doch nicht im Dschungel, oder?« »Hast du in Spanien schon mal Dschungel gesehen?«, konterte Sam und schüttelte den Kopf, dass seine schulterlangen braunen Haare flogen. »Nein, aber Straßen sehr wohl!«
»Wenn du wirklich in die abgelegenen Dörfer kommen willst, nützen Straßen eben nichts! Denn die Gleichung ist doch ganz einfach.« Sam atmete tief ein und fügte dann auf Spanisch hinzu, einer Sprache, die sie beide nur sehr bruchstückhaft sprachen, obwohl sie sich bereits seit einem Monat hier aufhielten: »Wo Straße, da keine Einsamkeit!« »Wo Einsamkeit, da kein Krankenhaus«, jammerte sein Begleiter und deutete auf seinen Magen. »He, wenn du dich wieder übergeben willst, dann sag diesmal rechtzeitig Bescheid. War ganz schön knapp das letzte Mal!« »Werde ich schon, keine Sorge.« In der nächsten Sekunde flogen die beiden in ihre Gurte, als Sam hart auf die Bremse trat. »Verflucht noch mal!«, fluchte Anthony, als der Gegenschub ihn zurück in den Sitz schleuderte und er mit dem Kopf gegen die Stütze schlug. »Da stand einer!« »Quatsch nicht! Ich habe nichts gesehen!« »Da war so ein Kerl, ich bin doch nicht bescheuert! Stand von einer Sekunde auf die andere mitten auf dem Weg.« »Das hast du dir eingebildet!« »Scheiße, hab ich nicht! Der war überdeutlich zu sehen. War von der Sonne angeschienen, hatte sie genau im Rücken, und …« Sam brach mitten im Satz ab, als ihm die Unsinnigkeit seiner Worte bewusst wurde. Die Sonne im Rücken? Unmöglich – sie stand erstens hoch am Himmel, und zweitens durchfuhren Sam und Anthony gerade einen dichten Wald, durch den der mickrige Weg keinerlei Sonnenschneise zog … »Steig aus, Mann, ich fahre weiter.« »Wird vielleicht wirklich besser sein«, sagte Sam verwirrt. Was war nur mit ihm los? Er öffnete die Fahrertür – und das Grauen schlug zu. Nichts ahnend schwang Sam seine Beine aus dem Wagen, stützte sich mit der linken Hand an seinem Sitz ab und verließ das Auto … … um plötzlich gepackt zu werden. Ein grauenvoller Schmerz
durchfuhr seine Schulter, und dann wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Aber der unheimliche, aus dem Nichts aufgetauchte Fremde war nicht von einem Lichtkranz umflossen – sondern von Flammen! Sam, der Karinjos Opfer wurde, schrie gellend, als das Höllenfeuer auf seinen Leib übergriff und der Dämon ihn tötete. Sein Begleiter beobachtete entsetzt, was mit seinem Freund geschah. Dann überwand er seine Lähmung, um Sam zu Hilfe zu eilen. Er stieß die Tür auf und sprang ins Freie. »Sam!«, rief er hilflos. Jeder Zwist, der ihm bis eben noch so bedeutungsvoll erschienen war, war vergessen. Was spielten solche Kleinlichkeiten schon für eine Rolle? Dann wurde Anthony klar, dass er keine Ahnung hatte, was er tun sollte. Die Situation überforderte ihn völlig. Verdammt noch mal, zwei Meter von ihm entfernt stand ein brennendes Irgendetwas und tötete Sam. Das gab es doch gar nicht! Kein Mensch konnte … »Und jetzt zu dir«, ertönte plötzlich eine Stimme aus den lodernden Flammen. Gleichzeitig stürzte der hellauf brennende reglose Körper seines Freundes zu Boden und überschlug sich mehrfach. »Was – was habe ich dir getan? Lass mich in Ruhe!«, stieß Anthony hervor, und dann, als ihm klar wurde, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugehen konnte: »Weiche von mir!« Ein dröhnendes Lachen antwortete ihm. Dann kam die Feuergestalt näher. Und näher. Die Zeit schien stillzustehen. In einem Winkel seines Verstandes sah Anthony, dass der Wagen schon seit langem zu brennen begonnen hatte. Feuer leckte von innen über das Metall, flackerte aus der offen stehenden Fahrertür. Dicker schwarzer Qualm wölkte auf. Da drehte sich Anthony um und begann zu rennen. Er musste weg von hier! Weg von dem … Dämon! Weg von der Zeitbombe, zu der der Wagen geworden war. Die Angst verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Nur Sekunden später explodierte das Auto. Die Druckwelle erfasste Anthony und traf ihn wie ein gewaltiger Schlag im Rücken. Er verlor den Boden unter den Füßen, knallte hart gegen den Stamm eines Baumes und sackte dann zu Boden.
Unter unendlichen Qualen drehte er den Kopf und sah zurück. Überall lagen brennende Wrackteile. Inmitten des Chaos stand der unheimliche Fremde und lachte. Anthonys Blick saugte sich an ihm fest. Das Feuer loderte meterhoch, erfasste die Krone eines der umstehenden Bäume. Überall brannte es. Und der Dämon lief auf Anthony zu. Aber noch ehe er ihn erreichte, fegte etwas Anthonys Verstand hinweg.
Ich will mich aufmachen, das erste Rätsei zu lösen. Sicher ist es besser, sich zuerst um das Naheliegendere zu kümmern: Wie wurde aus Acharat ICH? Die Spur kann ich wohl am besten dort aufnehmen, wo sich das Mysterium ereignete. Mittlerweile habe ich gelernt, wieder einen Sinn für das Räumliche zu entwickeln, für das Dreidimensionale. Die Fähigkeit, Räume und Orte, Entfernungen und Verhältnisse zueinander zu erkennen und zu verstehen, war mir zunächst völlig abhanden gekommen. Francois Tilogue hatte diese Fähigkeit intuitiv und selbstverständlich, und auch Acharat verfügte auf seine eigene, seine … beschränkte Weise darüber. Aber ICH musste es erst lernen. Denn ich bin kein in diesen drei Dimensionen verhaftetes Wesen. Vielleicht nicht mehr, oder noch nicht – auch mit diesen Begriffen zu hantieren, fällt mir mehr als nur schwer. Denn was ist schon Zeit? Eine eigenartige Fixierung. Ich passe mich der hier wohl im Allgemeinen herrschenden zeitlichen Kontinuität an, doch ich könnte auch zurück zu dem gehen, was für die Sterblichen zum Unveränderlichen geworden ist. Sie sind seltsame, beschränkte Wesen, doch ich erinnere mich an diesen Zustand. Als ich noch Francois Tilogue war, war ich selbst so. Schon Acharat war auf seine Weise freier als sie. Weiter als sie. Auch wenn er eine bemitleidenswerte Kreatur war, im Grunde genommen. Denn auf vielen Gebieten war er beschränkter als sie. Es ist schwer zu verstehen für mich. War Acharat Evolution – oder Devolution? Ich kann es nicht sagen … Stand er über den Sterblichen oder unter ihnen? Und, eine ganz und gar erschreckende Frage: Wie ist es mit mir? Bin ich
degeneriert, oder habe ich die Begrenzungen einfach nur hinter mir gelassen? Darüber muss ich nachdenken. Am besten, ich gehe weg, weg von allen Eindrücken, die mich ablenken und daran hindern, über diese Frage zu sinnieren. Weg, weg … hoch in die Lüfte … … weiter … … hier bin ich noch nie gewesen – kein Sterblicher könnte hier existieren … die Luft ist dünn, schwach, und (woher weiß ich das nur? Ich habe keinen Körper, dessen Sinne es fühlen könnten) es ist kalt. So erbärmlich kalt, dass … Egal, ich lasse auch das hinter mir und breche durch die letzten Sphären, die an diese durch das All treibende Kugel gebunden sind. Was sind schon Atome, Moleküle, Sauerstoff, Stickstoff, Edelgase? Höher, höher – alles treibt dazu, zu tanzen, sich zu verlieren in einem ewigen Reigen schwingender Atome, eins zu werden mit den Molekülen, die durch das treiben, was die Menschen ewige Leere nennen, als sei das Weltall leer und tot. Sie sind so beschränkt, beschränkt! Wissen nichts vom Tanz der Sonnenwinde, von der Freiheit, den Kosmos zu durchstreifen, von den Farben jenseits des erbärmlichen Spektrums, das sie wahrzunehmen in der Lage sind … Kleiner und kleiner wird diese blaue Kugel, die doch für mich so wichtig ist. Ist sie das wirklich? Oder war sie das nur für Tilogue, für Acharat? Bin ich nicht freier als diese beiden? Ja, ich bin weiter entwickelt als sie. Jeder Zweifel daran verschwindet, als ich die Sonne dieses Systems passiere, dann jedoch wende und sie durchquere, mich nähre von den Energien, die keineswegs zerstörerisch, sondern geordnet sind, die … Es ist nicht wichtig. Ich stoße in den Leerraum zwischen den Sonnensystemen, und ich weiß, dass selbst die Fragen, die ich mir stellte, bedeutungslos sind. Warum wurde aus Acharat ICH? – Welche Rolle spielt das schon? Wer ist Isabelle? – Unwichtig … Ich schaue den Tanz der Systeme, sehe, wie die Sonnen sich in einem Walzertakt bewegen, wie sie schwingen, sich zu Galaxien vereinigen. Wie Schiffe die Leerräume durchqueren, angetrieben von natürlicher wie übernatürlicher Energie, von Antimaterie wie von Sternenkristallen. Wie Ster-
nenreiche entstehen und entstanden und entstehen werden. Und angesichts dieses allumfassenden Tanzes scheint dennoch alles zu gerinnen. Gestalt zu werden. Ein Gesicht anzunehmen. Sonnen und Sternbilder fixieren sich zu menschlichen Zügen. Weiblichen Zügen. Die schlängelnde Bahn eines Kometen wird zu einer Träne, die an der Wange herabrinnt. Und alles kippt, auf eine Art, die mich hemmwirbeln lässt. Denn was ist die Galaxie, was ist das Universum angesichts der Liebe? Ich muss sie finden! Isabelle … Und der Weg zu ihr führt über Acharat, denn erst wenn ich Acharat völlig verstehe, kann ich einen Schritt weiter zurückgehen. Zu Francois Tilogue. Und damit zu ihr. Isabelle! Ja, der Weg geht über Acharat, und damit über die Erde, über Frankreich, über Château Montagne! Und über – ich entnehme es den Erinnerungen Acharats – über einen, der alles beobachtet hat. Über den Herrn der Feuerdämonen. Über einen brennenden Dämon. Ich stürze zurück in die Milchstraße, in das System, das die Erde beheimatet, vorbei an Jupiter, an all den Planeten, am Mars … hinein in die Atmosphäre, mit einem dumpfen, süßen Schmerz der Erinnerung das All hinter mir zurücklassend. Vielleicht kehre ich einmal Zurück. Wer weiß. Kontinente nehmen Form an. Eurasien. Europa. Frankreich. Halt! Da ist etwas, nicht weit davon entfernt, ein anderes Land. Die Menschen nennen es Spanien. Wo war die eigenartige Präsenz? Nicht in den Städten, dem wimmelnden Leben. Nein … abseits … hier … dieser Wald … etwas zwingt mich förmlich dorthin. Ich sehe (sehe? Das ist es nicht wirklich, aber Tilogue und Acharat hätten es so genannt) Feuer. Eben wallt es gewaltig auf, eine Eruption von Energie. Die Flammen werden durch die Luft geschleudert, und … Es trifft mich wie ein eigener Schmerz. Eine Kreatur haucht soeben ihr Leben aus. Ein Mensch. Ich spüre den Widerhall seiner sterbenden Seele:
Sam Higgins. Und dann erkenne ich inmitten des Chaos, was mich hierher gebogen hat. Der brennende Dämon. Der Beobachter. Vielleicht weiß er, was mit Acharat geschehen ist. Ich muss mit ihm in Kontakt treten. Nur wie? Er wird mich nicht wahrnehmen können, denn ich besitze keinen Körper. Ich muss mir einen Körper besorgen. Rasch. Ehe die Gelegenheit vorbeigeht. Da ist jemand. Ein anderer Mensch. Der Brennende läuft auf ihn zu. Er will den Menschen töten. Ich muss schneller sein. Ich husche auf den Körper zu – in den Körper hinein … Da ist etwas. Ein anderes Bewusstsein. Das Bewusstsein, das diesen Körper bewohnt. Anthony. »Habe keine Angst. Ich benötige deinen Körper.« »Nein! Was geschieht mit mir? Ich verliere den Verstand! Sam! Sam!« »Habe keine Angst. Ich werde dir keinen Schaden zufügen. Aber ich muss dich verdrängen für eine gewisse Zeit.« »Nein! Hilfe! Ich – was ist das?« »Noch einmal: Fürchte dich nicht! Dir wird kein Schaden zugefügt.« »Neeeeeeeiiiiin!« All das spielt sich im Bruchteil einer Sekunde ab. Unsere Gedanken kommunizieren miteinander, während der Brennende sich in Zeitlupe nähert. Es bleibt keine Zeit! Ich muss radikal vorgehen! Der Mensch namens Anthony muss weichen, und so Leid es mir tut, ich kann es ihm nicht erklären. Also verschmelzen unsere Bewusstseine miteinander: »Ich muss es tun. Dir geschieht nichts.« – »Nein! Weiche, weiche von mir!« – »Ich nehme dich jetzt in Besitz« – »Nein …« – »Habe keine Nein Angst Hilfe Ich lenke Weiche deinen Körper.« Und dann sind wir eins: »IchneinbinneinAnthonyneinduichwireinswirwir.« Unsere Bewusstseine schlagen jetzt im selben Takt. Danach endlich unterdrücke ich Anthony und bin ICH, im Körper Anthonys, während sein Bewusstsein irgendwo ruht, ohne noch irgendetwas aktiv tun zu können. Und so lenke ich den Körper, lasse ihn aufstehen und trete dem Brennenden gegenüber.
8. Archäologische Feinarbeit Wer sucht, suche weiter, bis er findet. Und wenn er findet, wird er verwirrt werden, und wenn er verwirrt wird, wird er staunen, und er wird herrschen über das All. Apokryphes, nichtbiblisches Thomasevangelium
Professor Zamorra überkam ein seltsames Gefühl, als er die Eingangstür hinter sich schloss. Vor ihm stand Raffael Bois – sein Diener. Er selbst befand sich in Château Montagne – seinem Schloss. Zum ersten Mal war Zamorra … nach Hause gekommen, als er den Weg zum Château Montagne angetreten hatte. Zwar war er bei weitem nicht das erste Mal hier, aber heute war es etwas ganz anderes. Als Kind und bis vor einigen Monaten war er hier Gast gewesen, auf dem Stammsitz seiner Familie, derer von Montagne. Jetzt gehörte ihm das Schloss … Zamorra hatte lange gerätselt, wie all die Ereignisse zusammenhingen, die sich hier ereignet hatten, und auf welche Art und Weise sie zum Tod seines Onkels Louis geführt hatten. Wahrscheinlich würde er es nie herausfinden, denn alle, die darüber näheren Aufschluss hätten geben können, waren gestorben. Nach den Vorkommnissen hatte er Château Montagne verlassen, um seinen Pflichten in Harvard und auf der Columbia University in New York nachzugehen. Und auch heute war er nicht zu seinem Vergnügen zum Château Montagne zurückgekehrt. Raffael Bois hatte ihn hergebeten, weil etwas Ungewöhnliches vorgefallen sei. Dieser Anlass, nach Frankreich ins Loire-Tal zu reisen, war Zamorra gerade
recht gekommen. Denn als Schlossbesitzer musste er auch hier seinen Pflichten nachkommen. Er seufzte. Weitere Pflichten – ob das auf Dauer gut gehen konnte? Harvard, Columbia – und nun auch noch Château Montagne. Es war bereits ein Spagat, an zwei Universitäten, die nicht gerade einen Katzensprung voneinander entfernt lagen, zu lehren … Ein Spagat allerdings, den Zamorra bislang bestens gemeistert hatte, wenn er seinen jeweiligen Dekanen diesbezüglich auch manche Extrabehandlung hatte abtrotzen müssen. Nicole Duval, seine Teilzeit-Sekretärin, hatte sich dabei als echter Glückstreffer erwiesen. Es gelang ihr wesentlich besser als ihm selbst, seinen Terminkalender zu managen und im Rahmen des Möglichen zu halten. Egal. Die Zeit würde weisen, was für die Zukunft das Beste war. Zunächst war etwas anderes wichtig: Wegen welcher Ungewöhnlichkeit hatte Raffael Bois ihn hierher gebeten? »Raffael«, wandte er sich an den Diener, »kommen wir doch gleich zur Sache.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Raffael verstand die implizite Aufforderung. »Ich bekam Nachricht aus Feurs, vom dortigen Polizeiposten. Er ist für Château Montagne zuständig, wie Sie ja wissen«, begann er umständlich. »Die Ereignisse vor einigen Wochen ziehen offenbar weitere Schatten hinter sich her.« »Sehr blumig gesagt, Raffael, aber geht es möglicherweise ein wenig konkreter?« »Sie erinnern sich an Acharat, Sir?« »Den Diener Dr. Ramondos«, bestätigte Zamorra. »Seine Leiche – sie … na ja …« Raffael räusperte sich. »Entschuldigen Sie bitte. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden.« »Das werden Sie schon schaffen, Raffael«, erwiderte Zamorra leicht ungeduldig. »Man sagte mir, etwas stimme mit der Leiche nicht. Sie zeige Anzeichen von Leben.« »Leben?«, wiederholte Zamorra wie elektrisiert. »Was soll das heißen?« »Das, Sir, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Man bat mich lediglich,
Sie herzubitten.« »Und nun?« »Kommissar Pierre Malice bat mich, ihn sofort davon in Kenntnis zu setzen, wenn Sie hier eintreffen.« »Warum so umständlich? Ich hätte den Kommissar direkt aufsuchen können!« Zamorra erinnerte sich an den Kommissar, der an einen gutmütigen Seehund erinnerte. Er hatte damals den Tod seines Onkels untersucht. »Ich vermute einmal, dass – wenn Sie mir die Bemerkung gestatten – Kommissar Malice hin und wieder gerne das Château aufsucht.« Zamorra glaubte, in der dienstbeflissen nüchternen Mimik seines Dieners ein leichtes Grinsen wahrzunehmen. »Die Bemerkung gestatte ich Ihnen, auch wenn Sie mir gar keine Zeit ließen, Sie Ihnen nicht zu gestatten.« Raffael Bois war einen Augenblick lang sprachlos. »Es handelte sich wohl, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, um eine Floskel. Ich habe Sie auch Ihrem geschätzten Herrn Onkel gegenüber immer verwendet. Er …« Der Diener verstummte. »Sie vermissen ihn, nicht wahr?«, fragte Zamorra. »Ich – ich möchte Sie damit nicht belasten. Es spielt keine Rolle.« »Sie belasten mich nicht, Raffael. Und es spielt sehr wohl eine Rolle.« »Danke, Sir«, antwortete Raffael, bevor er sich mit den Worten »Ich werde Kommissar Malice informieren« umwandte. »Tun Sie das«, rief Zamorra ihm hinterher. »Richten Sie ihm aus, dass ich ihn erwarte. Je eher, je besser. Und Raffael – Sie finden mich in der Bibliothek.« Jetzt erst fiel Zamorra auf, dass er noch gar nicht richtig angekommen war. Er suchte zuerst einmal das Badezimmer auf und erfrischte sich ein wenig. Wie er es angekündigt hatte, ging er danach in die Bibliothek.
Ich/Anthony sah, wie die brennende Gestalt immer näher kam. So-
lange ich in diesem Körper steckte, beschloss ich, seinen Namen anzunehmen. Was bedeuteten schon Namen? Ich wechselte ihn lediglich ein weiteres Mal. »Wir müssen reden«, rief Anthony. Ich beherrschte den fremden Körper nahezu perfekt, stemmte die Fäuste seitlich in die Hüften und bot ein Bild des Trotzes. »Reden?«, schrie der Dämon mir entgegen. »Du musst sterben, sonst nichts!« Weiterhin umloderte uns das Chaos aus zahlreichen kleinen Bränden, die sich in der trockenen Hitze weiter ausbreiteten. »Du weißt nicht, wen du vor dir hast«, antwortete ich kühl. Mir konnte nichts geschehen, ich konnte diesen Körper jederzeit verlassen, wenn mir der Sinn danach stand. Allerdings wollte ich Anthony auch nicht dem Tod ausliefern. Sicher, er wäre ohnehin gestorben, wenn ich nicht hierher gekommen wäre – aber ich war nun einmal hier, und deshalb fühlte ich mich für diesen Menschen, dessen Körper ich als Asyl gewählt hatte, verantwortlich. »Und du, erbärmlicher Wicht, hast Karinjo vor dir! Deinen Henker!« »Und ich bin ein Wesen, das nicht mehr an diese Existenzebene gebunden ist!« Ein dröhnendes Lachen antwortete mir. »Warum opfere ich Zeit, um mit dir zu reden? Selten habe ich einen derartigen Unsinn gehört! Allerdings imponiert mir die Kühnheit, die aus deinen Worten spricht. Wenigstens stirbst du nicht als jämmerlich wimmernde Kreatur. Sei stolz darauf, es ist der letzte Triumph deines Lebens.« Es wurde Zeit, Karinjo zu beweisen, dass ich die Wahrheit sprach. »Du redest reichlich kühn für jemanden, der vor kurzem alle seine Diener verloren hat.« Das Feuer um den Dämon veränderte plötzlich seine Farbe, loderte in grellem Grün auf. »Wovon sprichst du?«, fragte er lauernd. »Du wirst die Feuerdämonen doch nicht vergessen haben? Château Montagne? Dr. Arcaro Ramondo?« Jedes meiner Worte traf wie ein Pfeil genau ins Schwarze. Karinjo trat näher an mich heran. Er war nur noch etwa einen Meter entfernt. Hitze schlug mir entgegen, und Anthonys Gesichtshaut
färbte sich rötlich, seine Haare schmorten. Ein brennender Arm streckte sich mir entgegen. »Woher weißt du davon?«, fragte Karinjo lauernd. Jetzt, da er mir so nahe stand, sah ich, wie er hinter dem Flammenvorhang seine Hand zu einer Faust ballte. »Ich war dabei«, antwortete ich kühl, als sei es eine völlig unwichtige Episode gewesen. »Einer deiner Diener«, ich stockte einen Moment und beschloss, eine vereinfachte Version der Tatsachen zu präsentieren, »tötete meinen früheren Gastkörper.« »Lüge!«, schrie Karinjo erbost. »Ich habe alles beobachtet! Es ist unmöglich, dass …« »Ich weiß, dass du beobachtet hast. Beobachtet und ebenso vorbereitet. Du hast Dr. Arcaro Ramondo unter einen hypnotischen Bann gestellt und ihn …« Ein Zischen des Dämons unterbrach mich, und der weiterhin grün brennende Arm schlug zu. Anthonys Körper wurde an der Brust getroffen und zur Seite geschleudert. Seine Kleidung begann zu brennen, und entsetzliche Schmerzen durchzuckten meinen Gastkörper. Ich wälzte mich auf dem Boden hin und her, um die Flammen zu ersticken. »Wenn du diesen Körper vernichtest«, presste ich hervor, »ist dir nicht geholfen. Du wirst das Rätsel niemals lösen!« »Warum sollte ich das geringste Interesse an dir haben?«, gellte mir die hassverzerrte Stimme entgegen. Doch sofort anschließend widersprach sich der Dämon selbst und zeigte sein wahres Inneres. »Wer bist du? Woher weißt du von all dem?« »Du hast mich begutachtet wie ein Stück Vieh«, sagte ich eiskalt, und ich genoss den innerlichen Triumph über den Dämon. Ich bemerkte, wie sehr es ihn traf, dass ich nicht die geringste Angst vor ihm zeigte. »Damals, in den Bergen Indiens, als ich in einem schwachen Körper gefangen war! Doch du hast mich völlig falsch eingeschätzt!« »Ramondos Zombie-Kreatur!«, entfuhr es Karinjo. »Acharat, der im Château Montagne starb«, stimmte ich zu. »Und der doch überlebt hat, wie du unzweifelhaft siehst.« »Es ist unmöglich! Wieso sollte ein Wesen wie Acharat überleben?«
»Sag du es mir!«, forderte ich. »Genau das begehre ich von dir zu wissen! Es muss mit deinen vernichteten Dienern zusammenhängen! Sie haben Acharats Körper vernichtet, aber sein Bewusstsein, sein Ich – MICH – haben sie am Leben gelassen.« Ich ließ Anthonys Körper sich erheben. »Unsinn! Das ist keine Erklärung! Meine Diener waren niedere Dämonen und nicht dazu fähig, solche Entscheidungen zu treffen, geschweige denn die Essenz eines Wesens am Leben zu lassen! Das, wovon du sprichst, ist ein hochkomplexer, ein schwieriger magischer Vorgang!« »Warst du daran beteiligt?«, stellte ich die entscheidende Frage, obwohl ich nicht mehr daran glaubte. Karinjo schien völlig ahnungslos zu sein. Der Dämon gab mir keine Antwort, sondern stellte eine Gegenfrage. »Hat dein Meister ebenfalls überlebt?« »Ich habe keinen Meister. Nur Acharat lebte … existierte in dem Glauben, einen Meister zu besitzen, nichts als ein Sklave zu sein.« »Hat Ramondo ebenfalls überlebt?« Das Feuer um Karinjo hatte längst wieder die gewohnte rotgelbe Farbe angenommen. »Ramondo ist tot«, antwortete ich voller Überzeugung. »Die Gewalten, die er entfesselt hat, vernichteten ihn. Er wurde ein Opfer seiner eigenen Machtgier.« »Doch sein einfältiger, untoter Diener hat überlebt«, erwiderte der Brennende, und ich hörte Überraschung, ja, beinahe Entsetzen über diesen ungeheuerlichen Vorgang in seiner Stimme. »Und um dieses Rätsel zu lösen, habe ich Kontakt mit dir aufgenommen.« »Ich werde es nicht lösen. Es soll in der Vergangenheit ruhen. Doch ich werde es aus der Welt schaffen, denn ich habe damit nichts zu tun.« Die letzten Worte spie Karinjo voller Aggression aus. »Die Stunden des schwachen Menschenleibs, in dem du steckst, sind gezählt. Und ich rate dir, nie wieder Kontakt mit mir aufzunehmen!« Unvermittelt zuckten aus den auf mich gerichteten Armen des Dämons Feuersäulen auf mich zu. Ich sprang zur Seite, und eine der Feuerlanzen stieß ins Leere, doch die andere traf Anthonys Körper
in die Brust.
»Willkommen, Kommissar Malice.« Zamorra streckte seine Hand aus, doch der Kommissar ignorierte sie sekundenlang. Dann erst ergriff er sie und drückte sie hart – vielleicht hielt er es für besonders freundlich und wollte auf diese Art seinen kleinen Lapsus ausgleichen. »Leider ist der Grund für meinen Besuch … nun ja, sagen wir: ungewöhnlich.« »Raffael deutete es bereits an, und Ihr leicht verzweifeltes Lächeln zeigt mir deutlich, dass seine Worte nur die Spitze des Eisbergs sind.« In der Tat war der Gesichtsausdruck des Kommissars einen Schnappschuss wert. Malices maliziöses Lächeln, dachte Zamorra. Die Beschreibung gefiel ihm. »Was genau sagte Ihr Diener?« »Wohl genau das, was Sie am Telefon weitergaben, um mich herzulocken.« Zamorra grinste den Polizist viel sagend an. »Herzulocken«, wiederholte Malice nachdenklich. »Da will ich Ihnen nicht widersprechen. Sie haben ins Schwarze getroffen. Mir gefällt es, wenn wir von Anfang an offen und ehrlich miteinander umgehen. Alles andere ist letztendlich sinnlos und verzögert nur das weitere Vorankommen.« Malice fuhr sich durch seine schwarzen Haare und blickte auffordernd an Zamorra vorbei in den Raum. »Entschuldigen Sie«, reagierte Zamorra augenblicklich, »ich bin an meine Pflichten als Schlossbesitzer noch nicht richtig gewöhnt. Treten Sie doch ein und setzen Sie sich.« »Gerne … Es ist doch ungewöhnlich heiß heute. Ich bin auf dem Weg hierher stark ins Schwitzen gekommen.« »Raffael wird uns sicher gleich etwas zu trinken bringen.« Pierre Malice nickte dankbar. »Lassen Sie mich meine Frage noch einmal wiederholen, Professor Zamorra: Was genau sagte Ihr Diener?« »Dass in der … Leiche des hier auf dem Château getöteten Acharat Anzeichen von Leben festgestellt wurden. Sehr verwirrend, so viele
Tage, nachdem er gestorben ist.« Malice presste die Lippen so eng aufeinander, dass sie einen schmalen Strich bildeten. »Verwirrend scheint mir ein zu harmloses Wort zu sein. Genauso wie die Umschreibung, die ich an Raffael Bois weitergab und die die Tatsachen ebenfalls ein wenig harmloser darstellt. Wie Sie sich denken können, wäre Acharat längst begraben worden.« »Genau über diesen Punkt habe ich mir schon einige Gedanken gemacht«, stimmte Zamorra zu. »Und ich freue mich, nun jemandem gegenüberzusitzen, der Licht in dieses Mysterium bringen kann.« In diesem Moment klopfte es kurz, dann wurde die Tür geöffnet, und Raffael trat ein. Er trug ein Tablett mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern. Dienstbeflissen stellte er es auf dem Tisch zwischen Zamorra und Malice ab, öffnete die Flasche und goss ein. Der Kommissar schwieg, bis der Diener den Raum wieder verlassen hatte. Er murmelte lediglich etwas, das mit einiger Phantasie als »Danke« zu interpretieren war, und trank sein Glas in einem Zug leer. Danach sah er Zamorra ernst an. »Sie ahnen es wohl schon, Professor. Acharat wurde nicht begraben. Der tote Körper sorgte für einige Aufregung.«
Tage vorher »Nun sieh dir das an, Willy, die Menschheit hat doch einen Knacks weg. Hier oben!« Während der letzten Worte tippte sich Wolfgang an die Stirn. »Verrückt, ausgerastet, idiotisch, plemplem, eine Schnalle vorm Koffer!« Der Angesprochene schnappte sich in aller Ruhe das kleine Aufnahmegerät, trat an die Bahre heran und sagte in die Mikrofonöffnung: »Zeitpunkt der Einlieferung zweier männlicher Leichen: 13 Uhr 58. Beginn der Untersuchung: 14 Uhr 4.« Dann drückte er den
Knopf, der den Aufnahmemodus beendete. »Ganz schön flott, Wolfgang, was? Sechs Minuten nach Einlieferung gehen wir schon an die Arbeit. Das soll uns erst mal jemand nachmachen.« Wolfgang grinste, hob jovial die Hände und sah seinem Partner direkt in die Augen. »Preußischer Fleiß, nicht wahr?« Die beiden lachten, weniger als einen Meter von zwei schrecklich zugerichteten Leichen entfernt. So war das Leben – der Umgang mit dem Tod war für die beiden Deutschen längst zum Alltag geworden. Vor mehr als zehn Jahren hatte es die beiden Pathologen nach Frankreich verschlagen. Schon in Deutschland waren sie unzertrennlich gewesen, doch das gemeinsame Leben »im Feindesland«, wie sie es nannten, hatte sie zu einer absoluten Einheit zusammengeschweißt. Alle um sie herum hielten sie längst für schwul – doch sie waren einfach nur die besten Kumpel. »Jetzt schau dir das doch mal an«, brachte Willy das Gespräch auf das Dienstliche zurück. »Die Kerle sind nicht einfach nur verbrannt oder so. Die wurden regelrecht zerstückelt. Arschlöcher, die das getan haben. Kranke! Verrückte!« »Ist ja schon gut, Willy! Reg dich nicht auf. Ist schlecht für den Blutdruck.« »Die haben den beiden glühende Zangen oder so etwas in den Leib gerammt und …« Willy unterbrach sich selbst, stieß hörbar die Luft aus und schüttelte den Kopf. »Weißt du, Wolfgang, jemanden umbringen ist eine Sache …« »Könntest du auch manchmal, oder?« »Ha, ha. Du hast schon einen eigenartigen Humor.« »Du vielleicht nicht?« »Egal. Ich sage es dir noch einmal: Jemanden umbringen ist eine Sache, aber jemanden derart bestialisch zu martern eine andere.« Wieder tippte sich Willy an die Stirn. »Ist nicht unsere Sache. Ist dir übrigens aufgefallen, wie unkonkret alle weiteren Angaben waren? Die Schuldigen sind zur Rechenschaft gezogen worden, hat er gesagt, der Chef. Hmm – das klingt mir fast nach einer Volksberuhigung … als würde das gar nicht stimmen.«
»Du und deine Verschwörer-Theorien. Hör zu, es gibt keine Aliens, die von der amerikanischen Regierung geheim gehalten werden, und unser Staatspräsident ist auch keine Marionette der gelben Gefahr, die …« »Das hat doch damit nichts zu tun! Streng doch mal deine grauen Zellen an, oder ist da unten der Leichenmief so stark, dass du nicht mehr denken kannst?« Wolfgang, ein über zwei Meter großer schlanker Kerl, der seinen dicklichen Freund um mehr als einen Kopf überragte, legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. Das hatte etwas Intellektuelles, fand er. »Vor einigen Wochen haben wir doch schon mal so eine Leiche auf dem Tisch gehabt. Dieser Schlossbesitzer!« »Ja, ja. Ich erinnere mich. War ebenfalls verbrannt und bestialisch verstümmelt worden. Es war der Besitzer vom Château Montagne, richtig?« »Richtig. Und jetzt sag ich dir was: Da läuft ein irrer Killer durch die Gegend und hinterlässt eine Spur aus zerstückelten Leichen … die Polizei tappt im Dunkeln, und sie lässt die Leichen auf diese Art und Weise elegant verschwinden, damit im Volk keine Panik ausbricht. Ist doch sonnenklar, der Fall!« »Du solltest Krimis schreiben. Hast wohl deinen Beruf verfehlt. Leider stellst du das jetzt erst fest. Bist mit deinen sechzig Jahren doch wohl zu alt, um noch einmal neu anzufangen.« »Quatsch – aber unser Job kann die Fantasie schon anregen. Ich schreibe schon seit Jahren heimlich an einem Krimi, weißt du, und …« »Wolfgang!«, zischte Willy plötzlich entsetzt. »Ja, gut, ich hab dir nie davon erzählt, aber derart zu erschrecken brauchst du auch nicht. Bist ja käseweiß geworden …« »Wolfgang …« Willys Stimme war nur noch ein Hauch. »Ist ja gut, nun beruhige dich doch mal und …« Willy packte die Schulter des Freundes. »Sieh mich an und sag mir, dass ich verrückt bin.« »Was ist denn los?« In Wolfgangs Stimme lag plötzlich Sorge. So aufgewühlt hatte er den Partner noch nie gesehen.
»Die – die eine Leiche … sie hat sich bewegt!« Wolfgang zuckte zusammen. »Na, wer von uns beiden hat jetzt eine überbordende Fantasie? Hast wohl nicht richtig zugehört, was? Ich schreibe einen Krimi, keinen Horrorroman.« »Das ist verdammt noch mal kein Scherz!« Willy deutete auf das weitgehend unverbrannte Gesicht des rechts von ihnen liegenden Toten. »Die – die Augen waren doch eben geschlossen, das weiß ich genau.« Wolfgang legte seine Stirn in Falten. »Komisch … hätte ich auch gesagt. Kann aber nicht sein. Der Kerl ist so tot, wie man nur sein kann. Der ist verbrannt, zerrissen und zehn andere Todesursachen noch dazu.« »Seine Finger«, hauchte Willy, und ihm lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. »Eben waren sie leicht gekrümmt, und jetzt sind sie lang ausgestreckt.« »Das … das kann nicht sein!« Unwillkürlich trat Wolfgang einen Schritt zurück. »Der ist in einem so schlimmen Zustand, der kann einfach nicht scheintot sein … Das gibt es doch nicht!« »Ein … ein Zombie …« Willy packte das Stilett, das unter normalen Umständen dazu diente, aus gerichtsmedizinischen oder sonstigen Gründen eine Leiche zu sezieren. Jetzt verlieh ihm die Klinge ein gewisses Gefühl von Sicherheit. »Quatsch! Wir müssen nüchtern an die Sache rangehen … Unsere Nerven sind überreizt. Wir haben zu viel gearbeitet. Wir …« Jedes weitere Wort war sinnlos, als die beiden Pathologen mit eigenen Augen sahen, wie sich das Bein der Leiche, das im Knie in einem grotesken Winkel abgeknickt war, streckte …
»Der Bericht der beiden deutschen Pathologen wurde an mich weitergereicht, Professor Zamorra«, schloss Kommissar Pierre Malice diesen Teil seiner Ausführungen. »Sie können sich vorstellen, dass ich die beiden für … nun ja …« »Verrückt hielt?«, half Zamorra aus. »Ein drastisches Wort, aber es trifft den Kern der Sache.« Malice
schüttelte den Kopf und deutete auf die Wasserflasche. »Ich darf doch?« Zamorra nickte. »Wie ging es weiter?«, fragte er gespannt. Der Kommissar schenkte sich das Glas voll und fuhr mit dem Zeigefinger in Gedanken versunken über den oberen Rand. »Ich konnte es nicht einfach völlig ignorieren, obwohl ich nichts lieber getan hätte. Also machte ich mich widerstrebend auf den Weg …«
Tage vorher »Meine Herren«, begrüßte Kommissar Malice die beiden Pathologen. »Eins vorweg: Wenn ich Sie nicht seit Jahren kennen würde und Sie sich in all der Zeit nicht als vernunftbegabte Wesen erwiesen hätten, wäre ich nicht gekommen.« »Glauben Sie etwa, uns fiel es leicht, die Vorgänge weiterzumelden?«, antwortete Wolfgang hart. »Wir trauten doch selbst unseren Augen nicht. Aber es gibt schlicht und einfach keinen Zweifel!« »Sie behaupten also, eine der beiden Leichen sei nicht tot?« Malice schloss die Augen und ärgerte sich über die Widersinnigkeit seiner eigenen Aussage. »Es handelt sich um denjenigen, der nach den Zeugenaussagen den eigenartigen Namen Acharat trug. Aber – tot ist er, das steht hundertprozentig fest.« »Jemand, der solche Verletzungen und Verbrennungen davonträgt, der muss einfach tot sein«, fügte Willy hinzu. »Ja was nun, Willy?«, fragte Malice. Er hatte die Marotte der beiden Deutschen, sich nur mit dem Vornamen anreden zu lassen, längst akzeptiert. Ihre Nachnamen hatte er schon lange vergessen. »Wie wir in dem Bericht bereits meldeten, handelt es sich um ein Phänomen, das …«, Willy räusperte sich, »in entsprechenden Filmen und Romanen wohl als … Zombie bezeichnet wird.« Sekundenlang entstand Schweigen, ehe der Kommissar antwortete. »Also ein Untoter«, stellte er fest. »Er läuft hier herum und er-
mordet Menschen, ja?« »Nein«, warf Wolfgang energisch ein. »Nicht so wie in den Filmen. Die Leiche Acharats hat sich lediglich … bewegt.« »Sie legen mir hier harten Tobak vor, meine Herren.« Malice sezierte die Deutschen beinahe mit seinen Blicken, als wolle er ihnen auf den Grund ihrer Seelen schauen, um herauszufinden, ob sie es ernst meinten oder ob sie einen völlig unverständlichen Scherz gestartet hatten. »Überzeugen Sie sich doch selbst«, schlug Willy vor. Der Kommissar nickte. »Deshalb bin ich hier.« »Folgen Sie uns.« »Ich kenne den Weg. Leider.« Im Laufe seiner Tätigkeit hatte er ihn einige Male gehen müssen, auch wenn sein Job hier doch wesentlich ruhiger war als in den großen Städten oder gar Paris selbst, wo Morde an der Tagesordnung waren. Die beschaulichere Zeit schien allerdings fürs Erste zu Ende zu sein seit den schrecklichen Ereignissen auf Château Montagne. Die Tür zum eigentlichen Arbeitsraum der beiden Pathologen öffnete sich mit einem durchdringenden Quietschen. »Wie stimmungsvoll«, kommentierte Kommissar Malice sarkastisch. »Wir wollten die Angeln schon lange einmal ölen, aber irgendwie kommt einem dauernd etwas dazwischen, weil man …« Willy blieben die letzten Worte im Hals stecken. Er sprang zurück und schlug die Tür wieder zu, ehe Wolfgang oder Malice auch nur einen Blick in den Raum dahinter hatten werfen können. Der Pathologe drehte sich langsam um, kreidebleich im Gesicht. »Was denn?«, fragte Malice, doch er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme leicht brüchig klang. »Ein Gespenst gesehen, oder was?« »Der … der – der Tote. Die – die Leiche«, stammelte Willy. »Was ist mit Acharat?«, drängte Pierre Malice. »Er steht mitten im Raum …«
Professor Zamorra beugte sich interessiert nach vorne. »Haben Sie
es mit eigenen Augen gesehen?« »Das ließ ich mir nicht nehmen!«, sagte der Kommissar, aber bei der Erinnerung an die Vorgänge wurde er ein wenig bleich. »Die beiden deutschen Pathologen wollten mich gar nicht durchlassen, aber ich stieß sie zur Seite und riss die Tür auf.« »Was genau haben Sie gesehen?« »Sie … Wissen Sie, Zamorra, es klingt reichlich unwahrscheinlich, aber …« »Nun reden Sie schon, Kommissar. Ich weiß, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als …« »… als unsere Schulweisheit sich träumen lässt – ja, ja«, murmelte Malice. »Ich bin Professor für Parapsychologie, das wissen Sie«, sagte Zamorra. »Deshalb habe ich Sie auch kommen lassen, Professor. Und außerdem – in Ihrem Château ist dieser Acharat umgekommen. Sie erzählten mir damals was von Hypnose. Verdammt noch mal, ich weiß selbst nicht mehr, was ich sagen soll. So etwas ist mir noch nie untergekommen.« »Sagen wir es einmal so: mir bis vor kurzem in dieser Intensität auch nicht. Theorie und Praxis sind doch zwei ganz verschiedene Sachen.« Zamorra trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Aber nun reden Sie endlich! Was ist in dem Raum geschehen?«
Tage vorher Kommissar Malice stand der Mund offen. Bis vor wenigen Sekunden war es immerhin möglich gewesen, dass Willy und Wolfgang irgendeinen absurden Scherz mit ihm trieben. Doch jetzt konnte es nicht mehr den geringsten Zweifel geben. Die verbrannte, verstümmelte Leiche Acharats – stand! Etwa einen Meter neben der Liege, auf der sie hätte ruhen müssen … Unwillkürlich fuhr Malices rechte Hand zu seiner Dienstwaffe
und riss sie aus dem Holster. Zu langsam!, durchzuckte es ihn. Viel zu langsam! Wenn dieses … Ding mich angegriffen hätte, wäre ich längst tot! Und gleichzeitig schossen ihm alle Horrorfilme und -romane, die er jemals gesehen beziehungsweise gelesen hatte, durch den Kopf. Es waren nicht viele gewesen. Vielleicht viel zu wenige – denn er konnte sich nicht mehr erinnern, wie man Zombies ausschalten konnte. Er wusste nur noch, dass sie nicht zu töten waren, weil sie eben schon tot waren! Malices Knie fingen an zu zittern. Er glaubte in diesen Sekunden den Verstand zu verlieren. Und dann, endlich, erkannte er die Lösung. Es war ein Trick! Ein geschmackloser, verrückter, Ekel erregender Trick der beiden Deutschen. Wer wusste, mit welchen Mitteln sie die Leiche in diese aufrechte Position gebracht hatten und aufrecht hielten. Aber den beiden würde das Lachen vergehen! Malice würde ihnen so gehörig die Suppe versalzen, dass … Acharats Leiche drehte sich um. Langsam, ganz langsam, bis sie dem Eindringling direkt ins Gesicht sah. Sie öffnete den Mund, doch kein Ton drang daraus hervor. Wie in Zeitlupe hob sich der rechte Arm, dann ertönte ein leises Stöhnen – das unheimlichste Geräusch, das Malice je gehört hatte –, und schließlich fiel Acharat in sich zusammen. Er stürzte, als hätten seine Muskeln plötzlich keinerlei Kraft mehr. Und – verdammt noch mal – das konnten sie ja auch nicht haben! Malice drehte sich um, sein Magen revoltierte. »Was sollen wir nun tun?«, hauchte Willy. »Diese Nummer ist einige Nummern zu groß für uns«, antwortete Wolfgang. »Immer noch Sinn für Humor?«, warf Malice ein, und dann vergaß er vollständig, dass er dienstlich hier war und sich gefälligst zusammenzureißen hatte: »Scheiße!« Zamorra ärgerte es angesichts dieses Berichtes tatsächlich, dass der Kommissar nicht früher mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Die unheimlichen Geschehnisse auf Château Montagne, die zum Tod Arcaro Ramondos und seines Dieners ebenso geführt hatten wie zu dem von Louis de Montagne und Charles Vareck und zur Vernichtung der Feuerdämonen, hatten offenbar weitreichendere
Konsequenzen, als er angenommen hatte. »Nachdem der Leichnam also in sich zusammengefallen war, bat ich die beiden Pathologen rasch aus dem Raum«, fuhr Malice fort, und Zamorra fragte sich, ob der Kommissar an dieser Stelle nicht eine zu große Selbstsicherheit zur Schau stellte und seine Rolle ein wenig beschönigte. Die Körpersprache Malices hatte sich ein wenig geändert, was sehr dafür sprach. »Zeigte sich danach noch … Aktivität in dem Körper?« »Nicht in den nächsten achtundvierzig Stunden. Wolfgang und Willy ließen die Leiche keine Sekunde aus den Augen, aber es tat sich nichts.« »Und?«, drängte Zamorra, als der Kommissar sich zu lange in Schweigen hüllte. »Ich nahm in der Zwischenzeit Kontakt mit meinem unmittelbaren Vorgesetzten auf.« »Der sie vermutlich für verrückt hielt.« »Ich kann es ihm nicht verübeln. Letzten Endes wussten also vier Personen von den Vorgängen: die beiden Pathologen, mein Vorgesetzter und ich selbst.« Pierre Malice schenkte sich schon wieder nach, leerte diesmal die Flasche restlos. Zamorra war es gleichgültig. Er wollte nur eins: erfahren, was weiterhin geschehen war!
Tage vorher »Meine Herren, wir müssen eine Entscheidung fallen«, resümierte Kommissar Malice. »Seit zwei Tagen verhält sich die Leiche genau so, wie sie es soll und ist einfach nur tot«, murmelte Wolfgang. »Vielleicht waren wir alle nur ein bisschen … bekloppt.« »Quatsch! Was ich gesehen habe, dass habe ich gesehen!«, widersprach Willy. »Das habe ich ja auch immer gedacht, aber sei doch mal ehrlich: Kommt es dir nicht auch von Tag zu Tag unwirklicher vor? Wir ha-
ben doch noch tausend Untersuchungen vorgenommen, und das Ergebnis war immer dasselbe: Der Typ ist tot!« »Mein Vorgesetzter hat mir völlige Freiheit gegeben«, warf Pierre Malice ein. »Natürlich glaubte er mir nicht, und er sagte mir ganz klar, dass er am liebsten nie wieder irgendetwas davon hören würde – aber ich kenne ihn ziemlich gut, und deswegen habe ich einen gewissen Vertrauensbonus. Er hat es mir überlassen, ob ich irgendwelche Schritte unternehme oder nicht.« »Wir werden uns der Lächerlichkeit preisgeben«, wagte Wolfgang eine düstere Prophezeiung. »Die schicken uns doch in die Klapsmühle!« »Also werden wir die Leiche verscharren und so tun, als sei nichts geschehen? Alles einfach vergessen?« »Vergessen?«, stöhnte Malice. »Ich werde das niemals vergessen. Ich träume jede Nacht davon. Meine Frau sieht mich schon seltsam an, weil ich mich im Bett herumwälze.« »Sie haben ihr nichts davon erzählt?« »Natürlich nicht!«, gab sich der Kommissar entrüstet. »Je weniger Leute davon wissen, umso besser! Zumindest, falls wir das Ganze nun endgültig zu den Akten legen.« »Tja, Jungs, es war eine schöne Zeit«, spottete Wolfgang. »Wir drei passen gut zusammen, aber es hat halt sollen nicht sein!« »Wir haben geträumt … oder halluziniert … oder waren unter Hypnose … oder sonst etwas«, sagte Malice. »Nicht, dass ich das wirklich glaube, aber es ist das Beste so.« Er erhob sich, klopfte auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. »Schluss, aus, fertig! Leiten Sie die Beerdigung ein, meine Herren!«
»Nur zwei Stunden später riefen mich die Pathologen an«, sagte Pierre Malice. »Die Leiche hatte sich wieder bewegt.« Zamorra schauerte unwillkürlich. Trotz seiner Erlebnisse mit den Feuerdämonen ging ihn der Bericht des Kommissars hart an. Er hatte dieses Kapitel seines Lebens als abgeschlossen betrachtet, als er Frankreich verließ. »Was genau haben Sie unternommen?«
»Einer der beiden Deutschen – ich weiß nicht mehr, ob Wolfgang oder Willy – hat es so gesagt: Diese Nummer ist eine Nummer zu groß für uns. Genau nach diesem Motto habe ich entschieden. Glauben Sie mir, Zamorra, es hat mich einige Nerven und Überredungskunst gekostet, die zuständigen Behörden …« Malice unterbrach sich und lachte bitter auf. »Genau genommen gibt es ja niemanden, der für so etwas zuständig ist«, murmelte er dann beiläufig. »Jedenfalls hielt man mich für durchgedreht, aber dann rückten einige hochrangige Wissenschaftler hier an, Biologen und auch Todesforscher oder so etwas.« »Sie haben die Leiche mit sich genommen?« »Glauben Sie mir, Zamorra, ich schlug drei Kreuze, als sie weg war.« Obwohl Zamorra von derlei abergläubischem Getue nichts hielt, nickte er. »Das kann ich verstehen. Aber danach muss doch noch etwas vorgefallen sein, sonst hätten Sie keinen Kontakt mit mir aufgenommen.« »Acharats Leiche liegt in Paris«, fuhr der Kommissar zögerlich fort. »Und nun halten Sie sich gut fest, Professor.« Nun ist es also endlich so weit, dachte Zamorra. Jetzt wird die Katze endgültig aus dem Sack gelassen. »Nur zu, Monsieur!« »Ich bekam einen Anruf der Wissenschaftler. Zwei Dinge sind wohl mehr als bemerkenswert. Zum einen verwest die Leiche nicht. Man hat das bis auf die zellulare Ebene nachgewiesen. Nun ja, ich habe von derlei Untersuchungsmethoden keine Ahnung, wenn Sie mehr darüber wissen wollen, müssen Sie in Paris nachfragen.« »Das werde ich ganz sicher tun.« »Und zum zweiten … hat die Leiche etwas gesagt. Und hier kommen Sie ins Spiel.« Unwillkürlich spannten sich Zamorras Hände um die Armlehnen des Stuhls. Die Spannung im Raum knisterte förmlich. »Nun reden Sie schon!« »Leonardo de Montagne.«
Die Feuerlanze, die Karinjo auf Anthonys Körper abgeschossen hatte, traf mitten ins Ziel. Sie explodierte förmlich an der Brust des Menschen, der MIR als Gastkörper diente. In Sekundenbruchteilen begann dessen Kleidung zu brennen. Anthonys Bewusstsein drängte nach oben, schrie markerschütternd und loderte in wilder Panik auf. Ich unterdrückte es jedoch mühelos – es war besser so. Warum sollte Anthony leiden und sein Ende bewusst miterleben? Doch dann erkannte ich, wozu ich fähig war. Francois Tilogue wäre hilflos gewesen. Acharat ohnehin. Aber ich konnte handeln. Ich wusste nicht, was ich tat, aber das Feuer erlosch von einer Sekunde auf die andere, noch ehe Anthony ernsthafte Verletzungen davongetragen hatte. Im selben Moment erstickte ich auch die ganzen Brände um uns herum. Mehrere Bäume hatten hellauf in Flammen gestanden – jetzt rauchten die kahl gefressenen Äste. Auch das Autowrack glühte nur noch einige Momente. »Du bist in der Tat ein erstaunliches Wesen«, kommentierte Karinjo das Geschehen. »Ich bin nicht hier, um mit dir zu kämpfen«, erwiderte ich aus dem Mund Anthonys. »Und ich bin nicht hier, um unentwegt zu reden. Ich habe Besseres zu tun.« »Wahllos irgendwelche Menschen zu töten, nennst du also etwas Besseres?«, spottete ich. Im Innersten war ich über die Taten des Dämons absolut entsetzt, zeigte das jedoch nicht, weil ich Karinjo diesen Triumph nicht gönnte. Deshalb strafte ich ihn mit Sarkasmus. »Wenn du Acharat bist … warst, dann weißt du, was auf Château Montagne geschehen ist! Dann weißt du, dass dort alle meine Diener durch die Hand eines Menschen starben.« »Zamorra de Montagne«, bestätigte ich. »Dieser erbärmliche Emporkömmling hat sich der Macht des Amuletts seines Vorfahren bedient, ohne die geringste Ahnung zu haben, um was es sich dabei wirklich handelt! Dass er Erfolg hatte, ist nicht akzeptabel!« Die Stimme des Dämons bebte vor Wut und vor mühsam unterdrücktem Hass.
»Du willst ihn dafür zur Rechenschaft ziehen«, vermutete ich. Es gab keinerlei Grund, an dieser Überlegung zu zweifeln. »Ich werde ihn töten!« »Lass uns zusammenarbeiten«, schlug ich vor. »Unser beider Ziel ist Château Montagne. Du willst diesen Menschen töten, ich will erfahren, wie ich zu dem wurde, was ich bin.« »Warum sollte ich mit dir zusammenarbeiten? Ich brauche dich nicht.« »Wir werden sehen«, erwiderte ich. »Wenn dieser Zamorra deine Diener vernichtete, kann er auch dir gefährlich werden.« Karinjo lachte. »Mir?« »Wenn du so von dir überzeugt bist, dann geh«, sagte ich knallhart. Doch Karinjo ging nicht. Da wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Denn ich wollte Karinjo in der Tat begleiten. Nicht etwa, um ihm zu helfen – ganz im Gegenteil! Ich würde Zamorra vor der Willkür des Dämons schützen – und außerdem brauchte ich diesen Menschen. Zamorra stellte eine mögliche Informationsquelle für mich dar, denn er war damals dabei gewesen. Zamorra musste leben!
Karinjo tat so, als stimme er dem Bündnis mit der seltsamen Kreatur zu. So hatte er sie unter Beobachtung … Was immer damals im Château Montagne geschehen war, es hatte ein Wesen hervorgebracht, das über bemerkenswerte Macht verfügte. Es war Karinjo lieber, er bekam aus erster Hand mit, was dieser »Acharat-Nachfolger« tat. Wahrscheinlich würde er versuchen, Professor Zamorra zu schützen. Karinjo ließ ihn in dem Glauben, er sei ahnungslos. Hier hieß es, klug zu sein wie die Schlange. Der ehemalige Herr der Feuerdämonen würde den richtigen Moment abpassen und Zamorra töten. Vielleicht ergab sich sogar die Möglichkeit, am Ort der damaligen Ereignisse tatsächlich herauszufinden, wie aus Acharat jene Kreatur geworden war – und dann hatte Karinjo den Schlüssel in der Hand, die Kreatur, die sich einen armseligen Menschen als Gastkörper erwählt hatte, ebenfalls zu ver-
nichten. Und sich ihre Macht einzuverleiben. Karinjo sah deswegen äußerst frohgemut in die Zukunft.
9. Geheimnisse der Vergangenheit und der Gegenwart Eine fremde Welt tat sich vor ihnen auf. Die Welt des Jenseits, das Land der Toten … [ …] Einsamkeit. Verlorenheit. Unendliche Stille. Dan Shocker »Skorokka – Strom ins Totenland« Macabros 115
»Harvard University, Lehrstuhl für Parapsychologie, Büro Professor Zamorra, Sie sprechen mit Nicole Duval.« Zamorra atmete erleichtert aus. Er war froh, Nicole noch erwischt zu haben. »Zamorra hier«, rief er knapp in den Telefonhörer. »Chef, was kann ich für Sie tun? Sie können froh sein, dass Sie mich noch erwischt haben, ich wollte gerade aufbrechen. Ich muss mich auf die Socken machen, sonst werde ich nicht rechtzeitig am Flughafen ankommen, um …« »Immer mit der Ruhe«, wiegelte Zamorra ab. »Wir treffen uns nicht im Château Montagne.« »Sie kommen zurück?« »Ganz im Gegenteil. Sie finden mich lediglich an einem leichter erreichbaren Ziel.« »Nun machen Sie es nicht ganz so geheimnisvoll.« »Paris.« Nicole pfiff leise durch die Zähne. »Klingt gut.« »Ich habe dort etwas Wichtiges zu erledigen. Je nachdem, wie es sich entwickelt, werden wir weitersehen.«
»Das klingt ja mysteriös.« »Ist es auch. Warten Sie nur ab. Sie erinnern sich doch an den stummen Diener Dr. Ramondos. Acharat. Seine Leiche befindet sich im medizinischen Institut der Universität in Paris, und – Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Nicole – dort geht Geheimnisvolles vor!« Sie vereinbarten, sich in einem Hotel zu treffen, in dem Zamorra zwei Zimmer zu buchen versprach, dann beendete er das Telefonat. Er freute sich darauf, Nicole wieder zu sehen. Und er erinnerte sich an ihr Angebot, das sie ihm gemacht hatte, kurz bevor er wieder nach Frankreich abgereist war. Sie überlegte, ihr Studium erst einmal ruhen zu lassen, um sich gänzlich der Arbeit als Professor Zamorras Sekretärin zu widmen. Grund dafür war, dass Zamorra überlegte, ins Château Montagne zu ziehen – Nicole hätte ihn dann gerne begleitet. Der Job als seine Sekretärin machte ihr offenbar großen Spaß. Wahrscheinlich kam auch ein wenig Heimweh hinzu, und sie sehnte sich zurück nach Frankreich. Er jedenfalls würde sich freuen, Nicole Duval dann jeden Tag an seiner Seite zu haben. Sie war eine ausgezeichnete Sekretärin, und außerdem … Zamorra räusperte sich und verbat sich jeden weiteren Gedanken! Kommissar Pierre Malice war vorübergehend zu seiner Dienststelle zurückgekehrt. In einer Stunde würde Zamorra ihn dort treffen, und sie würden sich gemeinsam auf den Weg nach Paris machen, um die Leiche Acharats näher in Augenschein zu nehmen. Bevor er das Château verließ, sprach er noch einmal mit seinem Diener Raffael Bois. »Ich überlasse das Château nun wieder Ihren fähigen Händen, Raffael.« »Sie können sich ganz auf mich verlassen, Sir.« »Das weiß ich. Ich habe es im Gefühl, dass wir uns noch sehr lange zusammen hier tummeln werden«, antwortete Zamorra. »Ich werde bald zurück sein.« Neunzig Minuten später saß er mit Pierre Malice in dessen Dienstwagen und rollte Paris entgegen. Der Kommissar fuhr einen heißen Reifen, sodass sogar Zamorra, der einiges gewohnt war, ein wenig mulmig zu Mute wurde.
Als Malice wieder einmal scharf bremsen musste, warf er Zamorra einen um Entschuldigung heischenden Blick zu. »Mir gefällt Geschwindigkeit«, sagte er dabei so schelmisch grinsend, dass er wie ein großer Junge wirkte. »Sie hätten wohl besser Pilot werden sollen«, kommentierte Zamorra. »Wollte ich, wollte ich!« Der Kommissar nickte hastig. »Ich war den körperlichen Anforderungen nicht gewachsen. Mein Rücken hat nicht mitgespielt, wissen Sie?« Die Kilometer schwanden, während Paris immer näher rückte. Einmal nickte Zamorra unter dem monotonen Fahrgeräusch ein und schreckte erst auf, als sein Kopf nach vorn fiel. In Paris steuerte Malice zielstrebig die Universität an, zeigte dort eine Sondergenehmigung des medizinischen Instituts, die ihm in sein Büro gefaxt worden war, und passierte das Häuschen der Wachmannschaft, die mit Argusaugen aufpasste, dass kein PKW ohne Genehmigung den inneren Bereich befuhr. Schließlich hielt der Kommissar vor einem Gebäude, das in einer einsamen Ecke des Campus untergebracht war. Kein Mensch begegnete ihnen. »Das ist kein Bereich, der für den normalen Studienbetrieb relevant ist. Ein reines Forschungsgebäude.« »Mir brauchen Sie den universitären Alltag nicht zu erklären«, sagte Zamorra grinsend, der sich wunderte, wie gut Malice sich hier auskannte. »Waren Sie schon öfter hier?« »Ach, ich habe ein bewegtes Leben hinter mir. Pilot war nichts – deshalb beschloss ich, Medizin zu studieren.« »Also ist dieser Trip eine Rückkehr in die Vergangenheit?« »In dieser Gegend habe ich vier Semester verbracht, ehe ich das Studium an den Nagel hängte.« »Ein Wunder, dass trotzdem noch etwas aus Ihnen geworden ist.« Malice läutete an einer unauffällig angebrachten Klingel, und nur wenige Sekunden später ertönte ein Summen. Sie traten ein, und noch ehe sie den kurzen, hell erleuchteten Gang durchquert hatten, öffnete sich eine der abzweigenden Türen, und ein schlanker, glatzköpfiger Mann trat heraus.
Er trug eine ockerfarbene Kordhose und ein nur halb zugeknöpftes mausgraues Hemd, dessen Ärmel zweimal hochgekrempelt waren. »Ich bin Kommissar Pierre Malice, und mein Begleiter ist Professor Zamorra.« »Willkommen«, rief der Mann eine Spur zu laut. »Professor Doktor Jacques. Ich freue mich, dass Sie hier sind. Ich bin zurzeit allein hier, aber meine Kollegen werden bald zurückkommen. Folgen Sie mir. Ich führe Sie direkt zu der … Leiche.« »Sie können mit Zamorra offen sprechen. Er ist über alles informiert.« »Ich nehme an, Kommissar Malice hat Sie darüber in Kenntnis gesetzt, weshalb ich hier bin«, erwiderte Zamorra. »Zamorra de Montagne«, antwortete Dr. Jacques nachdenklich. »Ein Nachfahre des Leonardo de Montagne. Ein Name, den ich bis vor Tagen noch nie gehört habe und der mir doch nicht mehr aus dem Kopf geht.« »Nicht alle Tage redet eine Leiche«, meinte Zamorra betont locker, obwohl ihm ganz anders zu Mute war. »Darüber hinaus bin ich übrigens Professor für Parapsychologie und damit gewissermaßen ein Fachmann.« »Malice hätte diese verfluchte Leiche gleich zu Ihnen schicken sollen und nicht zu uns Medizinern.« »Ab sofort werden wir eben interdisziplinär zusammenarbeiten.« Jacques führte sie über ein Treppenhaus in das Kellergeschoss des Gebäudes. Dort befand sich ein spezieller Kühlraum. An der hinteren Wand befand sich eine Bahre, darauf lag zugedeckt eine Leiche. Es konnte sich nur um Acharat handeln. Jacques zog das Tuch beiseite. »Kein angenehmer Anblick«, warnte er. »Ich war dabei, als Acharat getötet wurde«, erklärte Zamorra. »Ich weiß also, was mich erwartet.« Acharat lag regungslos. Zamorra zog das Amulett des Leonardo de Montagne, das er an einem Silberkettchen vor der Brust trug, unter seinem Hemd herror. Da das Amulett über geheimnisvolle Kräfte verfügte, wollte er die Leiche einem Test unterziehen. Möglicher-
weise zeigte sich eine Reaktion, wenn er Acharats Körper damit berührte. »Was haben Sie denn da für einen Fetisch?«, fragte der Medizinprofessor skeptisch. Zamorra kümmerte sich nicht um die völlig falsche Bezeichnung. Erstaunt spürte er, dass sich das Amulett erwärmt hatte. Das Silber strahlte in seiner Hand eine angenehme Wärme aus. Zamorras Herzschlag beschleunigte sich, und als er mit dem Amulett die Stirn der Leiche berührte, geschah etwas Unerwartetes! Acharat schrie! Die Haut seiner Stirn verschmorte, und der Arm der Leiche zuckte hoch, stieß Zamorra gegen die Brust, dass er zurücktaumelte und zu Boden stürzte. Das Amulett fiel zu Boden. Die Leiche stieß jetzt ein schaurig klingendes Wimmern aus und erhob sich von der Bahre. Mit stampfenden Schritten wankte Acharat auf den fassungslosen Kommissar und den Medizinprofessor zu. Beide standen schreckensstarr, auch dann noch, als der Zombie die verbrannten Hände um den Hals Jacques' legte und erbarmungslos zudrückte.
Karinjo funkelte seinen Begleiter bösartig an. »Was hast du?« »Ich – ich weiß nicht genau«, antwortete die Kreatur, die den menschlichen Körper Anthonys in Besitz genommen hatte. »Da war etwas – irgendetwas, das mich … getroffen hat.« »Getroffen?«, wiederholte Karinjo. »Was soll das heißen?« »Ich finde kein besseres Wort. Ich erkenne die Natur des Vorgangs nicht.« »Unwichtig«, winkte der Dämon ab. »Wir sollten uns nicht aufhalten lassen. Château Montagne wartet auf uns!« Karinjo beschloss, nicht weiter auf den Zwischenfall einzugehen. Schon begann er die Partnerschaft, die er mit seinem Begleiter eingegangen war, zu bereuen. Er wusste, warum er stets ein Einzelgänger gewesen war, auch vor seinem erzwungenen Exil. Genau darum. Partner hinderten nur durch ihre eigenen jämmerlichen Probleme und Schwierigkeiten.
»Warte!«, rief Anthony. Karinjo antwortete mit einem aus tiefster Kehle kommenden Grollen. Am liebsten hätte er seinen Partner zerquetscht wie eine schleimige Höllenwanze. Nur die Aussicht darauf, sich irgendwann dessen geheimnisvolle Kräfte aneignen zu können, hielt ihn davon ab. »Ich weiß jetzt, was mich berührte«, fuhr sein »Partner« ungerührt fort. »Ich dachte, es hätte dich getroffen«, höhnte Karinjo. »Es war eher eine Art Rückkopplung aus einer meiner früheren Existenzen.« Die Worte weckten das Interesse des brennenden Dämons. Er hoffte in den nächsten Momenten näheren Aufschluss über die Art der Existenz seines Gegenübers zu erhalten. Es war ein magisches Geschöpf, und je mehr Karinjo sich über die Wirkungsweise der ihm eigenen Magie erfuhr, umso eher würde er in der Lage sein, sie sich zu Nutze zu machen. »Rede weiter«, forderte er lauernd. »Du weißt, dass ich Acharat war. Mein alter Körper ist mit einer zerstörerischen Magie in Berührung gekommen.« »Was genau ist geschehen?«, zischte Karinjo. »Ich – ich weiß es nicht, aber es hängt damit zusammen, wie ich zu meiner Existenz fand!« »Wer könnte sich nach all der vergangenen Zeit mit den Überresten Acharats auseinander setzen? Sie müssten längst verscharrt sein und verwesen, vielleicht einem Ghoul als Mahlzeit dienen.« Karinjo dachte an die höchst unerfreuliche Episode mit Ssalrogk zurück – auch so eine Erfahrung mit einer so genannten Partnerschaft! Der Schleimige hatte ihn hintergangen, war in Wirklichkeit eine Marionette Asmodis' gewesen. Schon Menschen auf der Erde konnten sich selten auf ihre Partner verlassen, umso weniger konnte es in der Hölle Partnerschaften geben. »Wer immer sich an Acharats Körper zu schaffen macht, es ist wichtig für mich!« Die Stimme seines Begleiters klang in höchstem Maße aufgeregt. Auch Karinjo spürte zunehmende Unruhe und Erregung. Er kombinierte, brachte die bekannten Fakten in Verbindung. Das alles
konnte nur eins bedeuten: Jenes Amulett, das seine Diener vernichtet hatte, war wieder in Aktion getreten. Dann hielt sich aller Wahrscheinlichkeit nach Zamorra bei dem Kadaver Acharats auf, denn er würde das Amulett kaum aus der Hand gegeben haben. »Wo ist das geschehen? Wir müssen uns sofort darum kümmern!« »In – in Paris«, hauchte sein Begleiter.
»In – in Paris«, hauchte ich. Paris – warum entsetzte mich diese Bezeichnung so sehr? Francois Tilogue – er lebte in Paris. Mit Isabelle! Sie, die Eine, die Einzige – sie lebte in Paris. Isabelle Tilogue. Ich musste sie finden! Doch ich durfte auch Karinjo nicht aus den Augen lassen. Immer eins nach dem anderen. Ich versuchte mich selbst zu beruhigen. Und doch klopfte das Herz meines Gastkörpers plötzlich schneller. Eine eigenartige Reaktion, mit der ich nicht gerechnet hatte. Offenbar verbanden wir uns immer stärker miteinander. Es war durchaus möglich, dass ich den Körper Anthonys bald verlassen musste, ehe eine Trennung nicht mehr durchführbar war. Ich verfügte über keinerlei diesbezügliche Erfahrungen. »Wir werden zuerst dorthin gehen, ehe wir uns Château Montagne zuwenden. Wenn das dann überhaupt noch notwendig ist«, hörte ich Karinjo sagen. »Einverstanden«, sagte ich tonlos, immer noch unter dem Eindruck der Erkenntnisse stehend. Es sah ganz danach aus, als würde ich den Weg zu den beiden grundlegenden Fragen, die meine Existenz betrafen, jetzt antreten: Wie wurde aus Acharat ICH? Wer ist Isabelle?
Panik spiegelte sich in Professor Dr. Jacques' Augen. Der Wissenschaftler riss den Mund auf, doch nur ein leises Röcheln drang daraus hervor. Seine Hände schossen nach oben, um den gnadenlosen
Würgegriff der lebenden Leiche zu sprengen. Ebenso gut hätte er versuchen können, mit bloßen Händen eine massive Steinmauer zum Einsturz zu bringen. Wie Schraubzwingen lagen die Hände um seinen Hals. Jacques' Augen wurden größer und größer, quollen immer weiter aus den Höhlen. Endlich löste sich die Erstarrung von Kommissar Pierre Malice. Er zog seine Dienstwaffe, richtete sie auf den Zombie und schoss. Acharat zeigte keine Reaktion. »Helfen … mir«, stöhnte Professor Jacques. Eine zweite Kugel traf die Schulter des Zombies. Ein seelenloser Schrei drang daraufhin aus dessen Kehle – kein Schmerzenslaut, sondern Ausdruck unbändiger Wut. Doch er artikulierte sich nicht mit verständlichen Worten. Zamorra, der inzwischen ebenfalls wieder auf den Füßen war, bezweifelte, dass die Kreatur dazu fähig war. Der Parapsychologe war nach dem plötzlichen Angriff der Leiche mit dem Kopf gegen einen kleinen Schubwagen geknallt und für Sekunden außer Gefecht gesetzt. Jetzt hob er in Ermangelung einer besseren Möglichkeit den ganzen Schubwagen an und stürmte mit ihm auf Acharat und den sich verzweifelt windenden Jacques zu. Zamorra hielt den Wagen an zwei der metallenen Beine und ließ die hölzerne Ablageplatte mit voller Wucht gegen den Schädel des Zombies prallen. Die Attacke riss den wandelnden Leichnam von seinem Opfer weg. Jacques sank zu Boden, und Zamorra durchfuhr ein eisiger Schreck. War sein Eingreifen zu spät erfolgt? Ihm blieb keinerlei Zeit, sich um diese Frage zu kümmern. Denn sein Gegner war keineswegs außer Gefecht gesetzt! Acharat prallte mit den Schultern gegen einen Hängeschrank. Was immer sich darin befand, klirrte, doch die Türen blieben geschlossen. Sofort wankte der Leichnam auf Zamorra zu. »Schießen Sie auf den Kopf!«, schrie der Parapsychologe Kommissar Pierre Malice zu. Allen Berichten nach würde das die Kreatur vernichten. Malice zeigte keinerlei Reaktion, offenbar überforderte ihn die Si-
tuation oder auch die Brutalität, die in Zamorras Anweisung lag. »Verdammt, schießen Sie dem Ding in den Kopf!«, wiederholte Zamorra, bewusst betonend, dass es sich bei ihrem Gegner keinesfalls noch um einen Menschen handelte. Über die Hintergründe dieses Geschehens konnten sie sich später immer noch Gedanken machen. Wenn sie das hier überlebten … Der Zombie sprang mit einem animalischen Grunzen auf Zamorra zu, der zur Seite auswich, was ihm einigermaßen mühelos gelang. Dann fiel es Zamorra plötzlich wie Schuppen von den Augen, und er fragte sich, warum er bislang nicht daran gedacht hatte. Das Amulett! Es hatte den Leichnam zu seinem gespenstischen Leben erweckt – oder besser: das Leben in ihm in gewaltigem Maße intensiviert. Also war es sicherlich auch der Schlüssel dazu, die Vorgänge wieder zu beenden! Wenn Zamorra nur gewusst hätte, was er zu tun hatte, um dieses Ziel zu erreichen. In diesen Sekunden begann er zu ahnen, dass das Amulett seines Vorfahren Leonardo de Montagne noch für einige Überraschungen gut sein würde … Gerade hob der Zombie seinen rechten Arm und ließ ihn mit Urgewalt auf Zamorra zusausen. Der Parapsychologe duckte sich, der Hieb schoss über seinem Kopf hinweg. Zamorra nutzte den Schwung seiner eigenen Bewegung und führte sie in einer eleganten Rolle rückwärts fort. So brachte er sich aus der Reichweite seines Gegners – und in die Nähe des Amuletts! Zamorras Blick huschte hin und her. Gleichzeitig ertönte ein weiterer Schuss, gefolgt von einem zweiten. Zamorra kümmerte sich nicht darum, denn soeben hatte er das Amulett gefunden. Rasch hob er es auf, dann wandte er sich wieder dem Geschehen zu. Der Zombie hatte auch die beiden Geschosse geschluckt, ohne Schaden zu nehmen. Kommissar Malice stand leichenblass und zitternd gegen die Wand des Raumes gepresst. Soeben senkte er seine Waffenhand, und die Pistole entfiel seinen kraftlos gewordenen Fingern. Der Kommissar schlug die Hände vors Gesicht. Seine psychische Kraft war am Ende. Er wäre ein willenloses Opfer des Zombies geworden … Doch Zamorra sprang heran, das Amulett in seiner rechten Hand
haltend. Wieder – oder immer noch? – war es erwärmt. Als es in Kontakt mit der lebenden Leiche kam, ging plötzlich ein silbernes Leuchten von ihm aus. Es war, als stünde der Körper Acharats unter Strom! Er zuckte, sein Kopf schlug unkontrolliert hin und her. Diesmal gelang es ihm nicht, den Kontakt zu dem Amulett zu beenden oder Zamorra abzuschütteln. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann brach der Zombie in sich zusammen und blieb reglos am Boden liegen. Diesmal für immer, davon war Zamorra überzeugt. Das Amulett hatte den unheimlichen Gegner vernichtet – wie es bereits den Feuerdämonen ein Ende bereitet hatte. »Wir müssen uns sofort um Professor Jacques kümmern!«, rief der Parapsychologe. Lebte der Mediziner noch? Oder hatte der Zombie in ihm ein Opfer gefunden, das nicht mehr zu retten war? Beides war möglich. Ein Ruck ging durch die Gestalt des Kommissars. »Ent-entschuldigen Sie mein Versagen«, stammelte er. »Vergessen«, rief Zamorra. Es gab jetzt Wichtigeres. Gleichzeitig erreichten sie den reglosen Mediziner. Zamorra fühlte seinen Puls, und ein schmerzhafter Stich fuhr durch seinen Magen. Nichts. Das sah böse aus. Weitere rasch durchgeführte Tests ließen keinen Zweifel – Jacques war tot. Zamorra blickte sich um und sah auf die seelenlose Kreatur, die er vernichtet hatte. »Da bleibt wohl nur eine einzige positive Sache zu vermelden«, sagte er leise. »Diesmal, Kommissar, ist Acharat endgültig tot. Dieser Körper wird sich nie wieder bewegen.« Doch damit täuschte sich der Parapsychologe! Denn kaum war die letzte Silbe verhallt, erhob sich Acharat …
Zamorra glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Der vernichtet geglaubte Zombie bewegte sich rasch, keineswegs träge oder langsam und auch nicht so abgehackt und unsicher, wie
Zamorra es bis vor wenigen Augenblicken noch erlebt hatte. Im Gegenteil wirkte der erneut auferstandene Acharat auf eine undefinierbare Weise lebendiger als zuvor. »Scheiße!«, schrie der Kommissar. Seine Stimme überschlug sich, und die Panik, die den verzweifelten Mann überwältigte, war unüberhörbar. »Behalten Sie die Nerven!«, zischte Zamorra. »Nein!« Malice griff nach seiner Pistole und schoss. Schuss um Schuss schlug in den ohnehin malträtierten Körper des Wiedergängers ein, ohne dass dadurch auch nur die geringste Wirkung erzielt wurde, abgesehen davon, dass Acharat durch die physikalische Wucht der Einschläge wieder zu Boden geschleudert wurde. Dabei brüllte der Kommissar seine Angst und sein Grauen heraus. Zamorra erkannte beängstigt ein irres Flackern in den Augen seines Begleiters. »Hören Sie auf zu schießen!«, rief er, sprang auf den Kommissar zu und rüttelte ihn an der Schulter. Dann endlich war das Magazin der Pistole leer geschossen. Malice schleuderte sie zitternd nach seinem Gegner. Sie prallte gegen die verbrannte und durchlöcherte Brust des Zombies und fiel zu Boden. Acharat erhob sich. »Ich bin nicht Ihr Feind«, kam es aus seiner Kehle. Kommissar Pierre Malice hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schien die Worte nicht gehört zu haben. Zamorra hingegen stockte. Ich bin nicht Ihr Feind? So unwahrscheinlich und überraschend diese Aussage auch war – der Parapsychologe stolperte über etwas anderes. Nämlich über die Tatsache, dass Acharat überhaupt in klaren Worten sprach, offenbar vernünftig und der Situation angemessen! »Du hast eben Professor Jacques ermordet! Das nenne ich sehr wohl Feind!« Was tue ich hier?, fragte sich Zamorra. Mit einer Zombie-Kreatur – diskutieren? Die toten Augen des lebenden Leichnams huschten in ihren Höhlen hin und her. Sie waren stumpf und glanzlos – zweifellos ohne Leben – und nahmen doch etwas wahr. Der Blick der Kreatur blieb an dem toten Wissenschaftler hängen. »Ich bedauere seinen Tod.
Doch ich war es nicht, der ihn tötete.« Zamorras Gedanken rasten. Fieberhaft überlegte er, was hier vor sich ging. Narrten ihn seine Sinne? Wurde er von einer geheimnisvollen Macht getäuscht? Oder war das, was er sah und hörte, tatsächlich Wirklichkeit? Eine wirre, verrückte, rauschhafte Realität? »Ich habe gesehen, wie du …« »Dein wahrer Feind wird in wenigen Sekunden hier eintreffen. Du musst vorsichtig sein. Ich werde dir helfen.« Helfen? »Vertraue mir«, fügte der Zombie hinzu. Noch ehe Zamorra etwas erwidern konnte, explodierte die Tür des Raumes. So schien es jedenfalls. Ein gewaltiges Krachen ertönte, und Zamorra wirbelte herum. Er sah gerade noch, wie die metallene Struktur der Tür, von glühenden Rissen durchzogen, barst, als würde eine gewaltige Ladung Sprengstoff sie in Stücke reißen. Kommissar Malice schrie auf, als er von einem Bruchstück in den Rücken getroffen und nach vorn geschleudert wurde. Mit hastigen Schritten versuchte er sich aufzufangen, stolperte jedoch über den toten Professor Jacques. Malice stürzte zu Boden, konnte sich in letzter Sekunde mit den Händen abfangen. Er blutete aus einer Wunde am Rücken, wo das Fragment der Tür ihn getroffen hatte. Zamorra blieb keine Zeit, dem Kommissar Hilfe zu leisten, denn in dem rauchenden Türrahmen stand eine brennende Gestalt. Ein Dämon. Zamorra fühlte sich auf fatale Weise an die Feuerdämonen im Château Montagne erinnert, obwohl es sich hier zweifellos um eine anders geartete Kreatur handelte. »Karinjo!«, stieß in diesem Moment der Acharat-Zombie hervor. »Ich bin …« »Du bist zurück in deinen jämmerlichen Körper gefahren?«, grollte der Dämon und trat in den Raum. »Vorübergehend. Ich wollte …« »Du wolltest schneller hier sein als ich.« Etwas Lauerndes lag im Tonfall des Dämons. Zamorra beobachtete staunend, was sich um ihn herum abspielte. Zwei Kreaturen der Finsternis, die offenbar nicht gut aufeinander zu
sprechen waren? Gab es Streitigkeiten der Dämonen untereinander? »Ja, das wollte ich«, bestätigte der Zombie die Worte des Brennenden, den er Karinjo genannt hatte. »Deswegen ließ ich Anthonys Körper zurück und eilte hierher. Mein alter Körper hat mich förmlich angezogen, wie ein Magnet. Es war einfach, hierher zu finden.« »So wirst du mir nun helfen, Zamorra zu vernichten!«, forderte Karinjo. Der soeben beiläufig mit dem Tod bedrohte Parapsychologe spannte sich an. Hier ging es um sein Leben. Zamorra war augenblicklich klar, dass er, was immer auch geschehen mochte, unbedingt das Amulett benötigte, um sich zu schützen. Er hatte es in der Hosentasche verschwinden lassen und zog es nun mit einer langsamen Bewegung wieder hervor. »Das werde ich nicht«, widersprach Acharat. »Denn ich spüre, dass dieser Mensch mir helfen kann, das Geheimnis meiner Existenz zu lösen.« »Ich wusste es von Anfang an«, grollte der Feuerdämon – und sprang auf Acharat zu! Der Kampf der Kreaturen der Finsternis entbrannte …
Nicole Duval atmete tief ein und stieß dann geräuschvoll die Luft aus der Nase aus. Gleichzeitig straffte sie ihren Rücken und drückte den Hinterkopf fest an die Kopfstütze. Was war nur mit ihr los? Normalerweise hatte sie keinerlei Schwierigkeiten mit dem Fliegen – im Gegenteil, sie genoss vor allem gerade die Landungen, denn sie liebte es, Städte von oben zu sehen und zu beobachten, wie die Häuser langsam aber sicher größer wurden. Doch jetzt war ihr übel. Speiübel … Das Flugzeug zog in eine weitere Kurve, und nur mit äußerster Mühe behielt Duval ihren Mageninhalt bei sich. Umso mehr freute sie sich, als ein harter Ruck und ein scharfer Bremsvorgang verkündeten, dass die Maschine gelandet war. Na endlich … Sie quälte sich durch Passkontrollen und alle anderen Notwendigkeiten. Am Gepäckband ging sie grinsend vorbei, denn sie kam mit
ihrem Handgepäck aus. So ersparte sie sich die Warterei; und außerdem war sie der Meinung, in Paris könne man schließlich alles kaufen, was man benötigte. Der Job bei Professor Zamorra brachte ihr das nötige Kleingeld. Gut gelaunt verließ sie das Flughafengebäude und machte sich auf den Weg in das Hotel, in dem ihr Chef zwei Zimmer gebucht hatte, wie er ihr am Telefon mitgeteilt hatte. Das Taxi schob sich unendlich langsam und mit einer ebenso unendlichen Anzahl an Hupvorgängen durch den Verkehr auf einer der pulsierenden Adern der Stadt, ehe es in weniger belebte Seitenstraßen einbog. Zehn Minuten später hielt der Fahrer, sprang aus dem Wagen, kaum dass dieser stand, und öffnete Nicole von außen die Tür. »Mademoiselle«, gurrte er dabei mit weicher, beinahe untertäniger Stimme. Nicole lächelte ihm galant zu, ehe sie sich aus dem Taxi schwang. Erstaunt registrierte sie, dass sich der Fahrer sogar ein wenig verneigte. Fast war sie ein bisschen geschmeichelt – doch dann erkannte sie, dass er den Kopf wohl hauptsächlich deshalb senkte, um besser in ihren gewagten Ausschnitt stieren zu können. Sie gönnte ihm den Spaß, zahlte und bat ihn: »Bitte warten Sie einen Moment!« Vielleicht war Zamorra ja noch gar nicht im Hotel angekommen und befand sich nach wie vor in diesem obskuren medizinischen Forschungsinstitut, von dem er am Telefon geredet hatte. In der Tat versicherte ihr der Angestellte hinter dem Empfangstresen, Monsieur Zamorra sei leider noch nicht eingetroffen. Also ging Nicole rasch zurück zu dem wartenden Taxifahrer und nannte ihm ihr neues Ziel. Zamorra hatte zwar gesagt, sie solle im Hotel auf ihn warten, falls er noch in dem medizinischen Institut der Universität zu arbeiten habe, doch sie entschied sich spontan, ihn dort aufzusuchen. Seine geheimnisvollen Andeutungen bezüglich der Leiche dieses stummen Acharat reizten sie, mehr herauszufinden. Ein Schauer überlief sie, als sie an die Ereignisse zurückdachte, die zum Tod des Stummen geführt hatten. Ihr grauste, wenn sie sich daran erinnerte, wie sie unter Hypnose gestanden hatte – willenloses Werkzeug eines skrupellosen Verbrechers. Eines Verbrechers,
den ihr Chef Magier nannte … »So jung, so schön und doch so ernst?«, säuselte der Taxifahrer, der Nicole offensichtlich im Rückspiegel genau beobachtete. Seine weibische Stimme passte nicht zu seinem männlich-markanten Äußeren. Er war ein muskulöser, gut aussehender Mittvierziger mit vollem schwarzen Haar, einem kantigen Kinn und einer Narbe am rechten Nasenflügel, die ihn besonders interessant machte. »Für die ersten beide Attribute ein herzliches Dankeschön«, antwortete Nicole, »und für das dritte eine Abfuhr: Das geht Sie nun wirklich gar nichts an.« Dabei lächelte sie so hinreißend, dass kein Mann auf der ganzen Welt ihr den Korb hätte übel nehmen können. »Und witzig sind Sie auch noch. Wenn Sie nicht verliebt wären, Mademoiselle, würde ich Ihnen Tag und Nacht den Hof machen. Sie müssten mich singen hören unter Ihrem Balkon, mit meiner Mandoline …« »Verliebt? Wie kommen Sie darauf?«, unterbrach sie. Und wie komme ich darauf, auf die plumpe Anmache dieses Kerls auch noch hereinzufallen? »Man sieht es Ihnen an.« »Hm«, brummte Nicole. Wenig später erreichten Sie das Gelände der Universität. »Sie haben Glück«, versicherte der Taxifahrer. »Ich kenne den menschlichen Wachhund, der mit Argusaugen darüber wacht, dass kein Fahrzeug ungerechtfertigt auf den Campus einfährt.« Das zumindest schien zu stimmen, denn nach einem Blickkontakt und flüchtigem Händeschütteln durch die heruntergelassene Scheibe passierte das Taxi die Schranke. »Wo genau wollen Sie hin?« »Medizinisches Institut.« Mehr wusste sie nicht. »Das ist groß.« »Genaueres kann ich nicht sagen.« »Ich bringe Sie an den Eingang ins Hauptgebäude der Ärzteausbildung.« Er grinste. »So nenne ich den Laden dort. Ich habe dort einige Jahre als Student verbracht, ehe ich es an den Nagel hängte. Ich fahre lieber Taxi. Man trifft die interessantesten Menschen, wissen Sie? Und die Hübschesten, nebenbei gesagt. Von dort aus müssen
Sie sich selbst durchfragen.« Nicole bedankte sich mit einem großzügigen Trinkgeld, das sie ihrem Chef auf die Spesenrechnung setzen würde, und trat durch die große Schwingtür an einen Informationstresen heran. »Bitte?«, fragte gelangweilt eine Grauhaarige, die nach Nicoles Einschätzung stark auf die neunzig zuging. »Ich suche meinen Chef, Professor Zamorra.« »Zamorra? Nie gehört. Der arbeitet hier nicht«, sagte sie, als sei das eine bahnbrechende Neuigkeit. »Das weiß ich«, antwortete Nicole bemüht höflich. »Er ist hier zu Besuch bei Kollegen. Es geht um eine Leiche, die hier untersucht wird. Der Name des Toten ist Acharat.« Die Matrone gab einen brummenden Laut von sich. »Sagen Sie das doch gleich. Natürlich bin ich über diesen Fall informiert.« »Natürlich«, wiederholte Nicole rasch und schmeichelnd. Natürlich wissen Sie, o Erhabene, über alle wichtigen Vorgänge auf dieser Universität Bescheid. Wie könnte etwas geschehen, ohne dass man Sie informiert? Informationen gehen zuerst an den Präsidenten der Universität, und er schickt unmittelbar eine Kopie an Sie. Nicole erhielt einen Lageplan der Gebäude des Instituts, der mit zwei Kreuzen versehen war. Eines, das anzeigte, wo sie sich befand, und eines, das ihr Ziel markierte. »Es liegt ziemlich abseits. Sie werden niemanden nach dem Weg fragen können«, kommentierte die Matrone. Nicole bedankte sich. Nachdem sie ihr Ziel schließlich erreicht hatte, begrub sie den Klingenknopf unter ihrem Daumen. Keine Reaktion erfolgte. Sie drückte an die Tür und bemerkte erstaunt, dass sie aufschwang. Also trat sie in den Korridor – und mitten hinein in die Hölle.
Feuer schoss aus dem Körper Karinjos und auf Acharat zu. Mit einer unmöglichen Bewegung sprang die lebende Leiche gedankenschnell in die Höhe, überschlug sich dort und entging so der Attacke. Die Feuerlohe zischte unter Acharat hindurch und verpuffte an der
Wand, wo unterhalb des Milchglasfensters ein verschmorter Fleck zurückblieb. Noch ehe der Zombie wieder auf dem Boden aufgekommen war, wirbelte der brennende Dämon herum und sprang auf Zamorra zu. »Stirb!«, schrie Karinjo dabei mit überwältigendem Hass. Zamorra glaubte, sein Ende sei gekommen, als ein weiterer Feuerstrahl sich aus dem ausgestreckten Arm Karinjos löste und auf ihn zuschoss. In einer reinen Reflexbewegung hob der Parapsychologe die Hand, in der er das Amulett hielt. Ohne dass Zamorra irgendetwas tat, lösten sich flirrende silberne Blitze und huschten auf das magische Feuer zu, das nur noch wenige Zentimeter von Zamorra entfernt war. Die Wirkung war verblüffend. Die von dem Amulett – auf welche Art auch immer – erzeugten Blitze löschten das magische Angriffsfeuer des Dämons. Kraft und Gegenkraft trafen sich und hoben sich gegenseitig auf. Dennoch musste Zamorra zur Seite springen, denn der Dämon selbst landete dicht vor ihm und schlug zu. Der brennende Arm verfehlte den Parapsychologen nur um Haaresbreite. Die glühende Hitze streifte jedoch noch seinen rechten Arm, und mit einem Aufschrei öffnete Zamorra im Reflex seine Finger. Das Amulett des Leonardo de Montagne, dessen geheimnisvolle Kräfte ihn eben noch gerettet hatten, fiel mit einem dumpfen Klirren zu Boden. Zamorra entging einer weiteren Attacke Karinjos nur durch eine gewandte Rolle rückwärts. Als er wieder auf die Beine kam, bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Kommissar Pierre Malice stand in Flammen. Der derartig Gepeinigte schrie schmerzerfüllt auf und wälzte sich Augenblicke später am Boden. Ohne auf den Dämon zu achten, hastete Zamorra zu Malice und zog noch im Laufen sein Jackett aus. Damit erstickte er das Feuer. Malice stöhnte, doch auf Grund Zamorras rascher Reaktion hatte Malice keine schlimmeren Brandwunden davongetragen.
In der Zwischenzeit – es waren nur wenige Sekunden vergangen – war Acharat nicht tatenlos geblieben. Er stand mit ausgebreiteten Armen vor seinem Gegner. Offenbar kämpfte er auf einer geistigpsychischen Ebene mit dem Dämon. Karinjo stand bewegungslos, und das ihn umlodernde Feuer wurde schwächer. Schließlich hob der Dämon die Arme und stieß sie ruckartig nach vorn. Er traf den Zombie nicht, doch Acharat taumelte rückwärts und stieß ein tiefes Stöhnen aus. »Wir sehen uns wieder!«, schrie Karinjo und verließ den Raum durch die zerstörte Tür. Er flieht, erkannte Zamorra. Er flieht vor Acharat … Die Worte Ich bin nicht Ihr Feind gingen Zamorra wieder durch den Kopf. Doch wie passte dieses Verhalten dazu, dass die lebende Leiche kurz zuvor den Mediziner auf grausame Weise getötet hatte? Ich bedauere seinen Tod. Doch ich war es nicht, der ihn tötete, erinnerte sich Zamorra an die Worte Acharats. Was ging hier vor sich? Es würde eine Menge zu bereden geben. Doch ein Schrei lenkte ihn ab. Ein Schrei, der von draußen ertönte, und den Zamorra sofort erkannte. Der Schrei stammte von seiner Sekretärin. Nicole Duval befand sich hier! Und sie war in tödlicher Gefahr!
Nicole Duval schrie, als sie den brennenden Mann auf sich zurennen sah. Sie musste diesem Menschen helfen! Für eine Sekunde hatte nur dieser Gedanke Platz in ihr. Dann wurde ihr klar, dass etwas nicht … richtig war. Der Brennende schrie nicht, er schien keinerlei Schmerzen zu empfinden. Und nicht nur das – er war derartig gleichmäßig von Feuer umlodert, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Niemand konnte das überleben und auch noch auf den Beinen bleiben. Sie dachte blitzartig an die Geschehnisse im Château Montagne. Ein Schauer überlief sie. Sollte die Erzählung ihres Chefs am Ende
doch der Wahrheit entsprechen? Hatte es sich damals um finstere Mächte, um Dämonen gehandelt? Der Gedanke zog eine harte Konsequenz nach sich: Wenn ja, dann war der brennende Mensch vor ihr … eben kein Mensch! Dann hatte sie einen leibhaftigen Dämon vor sich. Dann war sie in Gefahr! Die Gedankenkette nahm nahezu keine Zeit in Anspruch. Der Fremde – Nicole Duval bezeichnete ihn in Gedanken auf diese neutrale Art – kam näher. »Nicole!«, drang die Stimme Zamorras aus dem Raum hinter der zerstörten Tür zu ihr. »Gefahr!« Diese Warnung sprach eine deutliche Sprache. Nicole wandte sich zur Flucht. Als sie herumwirbelte, sah sie noch, wie im Türrahmen die Gestalt Zamorras auftauchte. Dann hetzte sie aus dem Gebäude. Als sie gerade die Tür aufdrückte, spürte sie einen heißen Feuerhauch in ihrem Rücken. Der Fremde war nahe. Gefährlich nahe! Sie sprang ins Freie und empfand plötzlich einen durchdringenden Schmerz. In der nächsten Sekunde brannte die Kleidung an ihrer Schulter. Erschrocken schlug sie mit der bloßen Hand auf die Flammen und biss die Zähne zusammen, als ihre Handinnenfläche Brandwunden davontrug. Aber es gelang ihr, das Feuer zu löschen. Ihre Wange, ihre Schulter und ihre Hand schmerzten höllisch. Ein Blick zurück zeigte ihr, warum ihr unheimlicher Verfolger sie trotz seiner ersten gelungenen Attacke noch nicht erreicht hatte. Der Fremde kämpfte. Ein Schock zuckte durch Nicoles Körper, als sie sah, dass zwei Körper in Flammen standen. »Zamorra!«, schrie sie erschrocken auf. Er kämpfte mit dem Fremden, um ihr Leben zu retten – und er bezahlte einen bitteren Preis. So wie er mittlerweile von Feuer umlodert war, gab es keinen Zweifel, dass ihr Chef dem Tod nahe war und in wenigen Sekunden sterben würde. Kein Mensch konnte das überleben …
Etwa einhundert Kilometer von Paris entfernt stand ein Mann, ohne zu wissen, wo er sich befand. Wie, um alles in der Welt, war er hierher gekommen? Er dachte einen Moment lang, er sei verrückt geworden, doch er erinnerte sich ganz genau, was zuletzt geschehen war. Oder – doch nicht? Hatte er sich das alles nur eingebildet? War Sam etwa doch nicht gestorben? War das Auto nicht explodiert? War dieser unheimliche Fremde nie aufgetaucht? Aber – verdammt noch mal, wo war er hier?
10. Das Opfer In dem Moment, in dem ein Mann in seine Höhle geht, sollte er seiner Frau ein paar beruhigende Worte sagen. John Gray: »Männer sind anders. Frauen auch.«
Isabelle Tilogue schaltete den Fernseher aus. Sie hasste es, auch nach der ganzen Zeit, die vergangen war. Immer wieder gab es diese Tage. Diese Tage, an denen die Depression über sie hereinbrach. Wie oft hatte sie das alles verflucht, hatte sie voller Angst und Verzweiflung über sich selbst gebetet, dass alles rückgängig gemacht werden würde. Ein völlig unsinniges Gebet … denn was geschehen war, war nun einmal geschehen, daran gab es nichts zu rütteln. Sie dachte an ihren geliebten Francois, der verschwunden war, während sie Urlaub gemacht hatte. Er galt als vermisst, und sie musste das Schlimmste befürchten. So lange war das schon her, aber sie hatte es noch immer nicht überwunden. Tränen rannen an Isabelles Wangen herab. Die Unklarheit darüber, was mit ihm geschehen war, ließ ihr noch immer, nach all den Monaten, keine Ruhe. Einmal hatte sie geglaubt, Aufschluss über das Schicksal ihres Mannes erlangen zu können, doch die Spur hatte sich im Nichts verloren. Einer der beiden Privatdetektive, denen sie den Auftrag gegeben hatte, Francois ausfindig zu machen, nachdem die Polizei die Ermittlungen zu den Akten gelegt hatte, war damals mit nachdenklichem Gesicht zu ihr gekommen. »Es gibt Neuigkeiten«, hatte er gesagt. »Ihr Mann wurde am Dienstagabend noch einmal gesehen, von einer der hier … ansässigen Huren.« Offenbar war es dem Detektiv peinlich gewesen, doch Isabelle hatte alle Bedenken rasch ausge-
räumt, zumal Francois offensichtlich nicht mit der Bordsteinschwalbe verkehrt hatte. »Er hatte sie gerade schroff abgewiesen, als sie bemerkte, wie er von einem Fremden angesprochen wurde. Die Hure kannte den Kerl. Ein hagerer, ausgezehrter Alter, der die Nacht vorher für einige Stunden in ihrem Bett gewesen war. Sein Name ist Ramondo. Arcaro Ramondo.« Isabelle hatte die Nutte danach persönlich aufgesucht und ihr einen dicken Geldschein in die Hände gedrückt. Immer wieder hatte sie sich berichten lassen, was geschehen war. »Ihr Ehemann«, hatte die Hure gesagt und dabei schräg gegrinst, als verabscheue sie die prüde Bürgerlichkeit, die in diesem einen Wort steckte, zutiefst, »er hat einige Minuten mit dem alten Schwein geredet, bevor er ihm gefolgt ist. Nein, ich habe keine Ahnung, worüber sie geredet haben. Glauben Sie mir eins, Mademoiselle, nachdem der alte Bock einmal in meinem Bett war, habe ich nicht das geringste Interesse, ihn jemals wieder zu sehen. Ich hab das alles auch nur deswegen mit angesehen, weil ich gerade nichts Besseres zu tun hatte.« Dann hatte sie gelacht, als sei ihr ein besonders guter Scherz gelungen. So war Isabelle Tilogue nichts weiter geblieben als ein Name. Arcaro Ramondo. Doktor Arcaro Ramondo, wie sie später herausgefunden hatte. Es kursierten jede Menge Gerüchte über diesen Mann. Er sei ein Hexer gewesen, ein Magier – ein Mitglied eines geheimen Bundes wollte ihn sogar in den Wäldern Russlands herumstreifen gesehen haben, als Werwolf … eine ganz und gar lächerliche Aussage, die wohl aus dem geheimnisvollen Nimbus entstanden war, der diesen Menschen in gewissen Kreisen umgab. In den Kreisen der Teufelssekten und der Anhänger der schwarzen Magie … Isabelle hatte mit ihren Nachforschungen in ein Wespennest gestochen und sich erst zurückgezogen, als ihr eine makabre Todesdrohung ins Haus geschickt worden war: ein Hahn, dem die Gurgel durchschnitten worden war und in dessen aufgeschlitztem Bauch ein Messer steckte, in das ihr Name eingraviert war. Seitdem ließ sie regelmäßig jeden Monat einen anderen Privatdetektiv nach Arcaro Ramondo forschen. Sie wollte die Spur dieses
Mannes finden, um jeden Preis … Doch alles war bislang umsonst gewesen, jeder hatte ihr früher oder später zähneknirschend gestanden, dass der Teufelsanbeter nicht aufzufinden sei. Das Telefon läutete und riss Isabelle aus ihren Gedanken. »Tilogue«, murmelte sie abwesend. »Lemonde«, antwortete eine tiefe Bassstimme. Isabelle warf einen raschen Blick auf die Uhr. 23:15 Uhr. Was trieb den Privatdetektiv, den sie aktuell auf die Spur Ramondos gesetzt hatte, um diese Zeit dazu, sie anzurufen? »Bitte?« »Sie sagten, ich solle jederzeit anrufen, wenn ich etwas herausfinde.« Isabelles Herz begann rascher zu schlagen. »Natürlich.« »Sie haben mich da auf einen ganz heißen Fall angesetzt, das ist Ihnen ja hoffentlich klar?«, rief André Lemonde aufgeregt. »Fragen Sie mich nicht, welche Kanäle ich angezapft habe, aber Ramondo ist in irgendeine verdammt unangenehme und ebenso verdammt geheime Sache verwickelt.« »Reden Sie, Lemonde!«, forderte Isabelle aufgeregt. »Sie haben die Erfolgsprämie nicht vergessen?«, fragte der Detektiv lauernd. »Sie erhalten die Summe in voller Höhe, wenn Sie Ramondo ausfindig machen und mir seinen genauen Standort mitteilen!« »Gut.« Eine kleine Pause folgte. »Ich sagte eben, Ramondo sei in eine geheime Angelegenheit verwickelt. Das ist nicht ganz korrekt. Genau gesagt, war er in eine geheime Sache verwickelt.« »Was soll das heißen?« »Er ist tot. Und zwar ist er unter äußerst mysteriösen Umständen gestorben. Das Ganze ist so etwas von geheim, dass buchstäblich niemand davon weiß. Oder wissen will, ganz wie man es sieht.« »Aber Sie schon?« »Ich habe weitreichende Verbindungen, und die habe ich angezapft. Ramondo ist hier in Frankreich gestorben.« Mit diesen Worten zerpulverte gleichzeitig Isabelles Hoffnung, jemals etwas über das Schicksal ihres Mannes herauszufinden. Ra-
mondo war wohl der Einzige, der darüber Bescheid wusste. Isabelle schloss die Augen. »Erzählen Sie mir mehr.« »Eins sage ich Ihnen, damit das völlig klar ist: Von mir haben Sie diese Information nicht. Die Geschehnisse werden unter Verschluss gehalten, als handele es sich um streng geheime Staatsinformationen. Was immer Sie mit dem anfangen werden, was ich sage – nennen Sie nirgends meinen Namen.« »Keine Angst, Monsieur Lemonde!« Isabelle verknotete nervös die Telefonschnur mit ihren Fingern. »Ramondo und sein Diener, ein stummer Kerl mit dem eigenartigen Namen Acharat, suchten ein Schloss an der Loire auf. Château Montagne, ich habe nie zuvor davon gehört. Die beiden starben dort, und es heißt, der Fall sei geklärt, obwohl nie ein Schuldiger genannt wurde.« Lemonde lachte hart auf. »Natürlich nicht, denn offiziell gibt es weder einen Fall noch die beiden Toten.« »Wo genau finde ich dieses Schloss?« Der Privatdetektiv erklärte es ihr. Isabelle hatte ein neues Ziel. Château Montagne.
Professor Zamorra stürzte aus dem Raum, dem flüchtenden Dämon hinterher. »Nicole!«, schrie er dabei. »Gefahr!« Für nähere Anweisungen blieb keine Zeit. Er hoffte, dass seine Sekretärin auf seinen knappen Zuruf hin augenblicklich reagierte. Was mochte sie wohl denken, wenn sie sich der brennenden Kreatur gegenübersah? Sekunden später rannte er durch die zerstörte Tür. Er sah Nicole Duval, der Dämon war ihr dicht auf den Fersen. Zamorras Herz drohte auszusetzen, als er sah, wie nahe der Unheimliche war. Nicole musste die höllische Hitze des Feuers bereits spüren. Der Parapsychologe hatte keine Ahnung, wie er den Dämon stoppen sollte, aber er konnte nicht tatenlos zusehen, wie Nicole getötet wurde. Zamorra fluchte, als ihm bewusst wurde, dass er die einzige Waffe, die im Kampf Erfolg versprach, schlicht vergessen hatte … das Amulett Leonardo de Montagnes lag nach wie vor irgendwo auf dem Boden im Raum, in dem die Auseinandersetzung stattgefun-
den hatte. Doch jetzt kannte Professor Zamorra nur ein einziges Ziel: irgendwie Nicole Duval beizustehen, koste es, was es wolle! Plötzlich spürte er, wie ihn jemand an der Schulter fasste und brutal zur Seite stieß. Da er mit einer Attacke von hinten nicht gerechnet hatte, taumelte er haltlos zur Seite und prallte gegen die Wand. Er sah, wie der furchtbar anzusehende Acharat das Gebäude verließ. Der Zombie wollte seinen höllischen Gegner nicht entkommen lassen. Sollte das etwa die Rettung Nicole Duvals bedeuten? Zamorra wollte sofort hinterher, doch als er den ersten Schritt machte, taumelte er benommen. Sein Aufprall an der Wand war härter gewesen, als er im ersten Moment vermutet hatte. »Reiß dich zusammen!«, flüsterte er sich selbst zu. Er durfte jetzt nicht versagen! Für einen kurzen Moment presste er beide Handinnenflächen gegen seine Schläfen. Als er sie wieder senkte, war seine linke Hand blutverschmiert. Er hatte sich eine Platzwunde zugezogen. Wenige Sekunden später erreichte er endlich die Tür und konnte ins Freie sehen. Acharat hatte sich auf Karinjo gestürzt. Beide standen mittlerweile in hellen Flammen. Nicole Duval sah in diesem Moment über die Schulter zurück. »Zamorra!«, rief sie, und dieser hörte die Panik in ihrer Stimme. Sie schätzte die Situation falsch ein – dachte, dass nicht Acharats untoter Körper ein Opfer der Höllenflammen wurde, sondern Zamorra. »Ich bin hier!«, rief er ihr rasch zu, um sie zu beruhigen. »Bringen Sie sich in Sicherheit! Weg von hier!« Ohne zu überprüfen, ob sie seiner Aufforderung nachkam, eilte er zurück in das Gebäude, um das Amulett zu suchen. Es hatte die Kraft in sich, Karinjo eine vernichtende Niederlage beizubringen, das spürte der Parapsychologe. Der Raum bot ein einziges Bild der Verwüstung. Zersplitterte Einrichtungsgegenstände, zerbrochene Möbel, Brandflecken überall, die Leiche Professor Jacques' – und mitten in dem Chaos lehnte Kommissar Malice gegen die Wand und starrte teilnahmslos vor sich hin. »Reißen Sie sich zusammen, Malice!«, forderte Zamorra scharf.
»Wir müssen mein Amulett finden, rasch! Haben Sie es gesehen?« Verdammt, wohin war es nach der Attacke des Dämons nur gefallen? Er hatte sich dort, unter dem Hängeschrank, befunden. Ganz in der Nähe musste es also liegen. Aber er konnte es nirgends entdecken. »Malice!«, wiederholte er, während er sich bückte und Trümmerstücke der Tür aufhob und zur Seite schleuderte. Nichts. »Es – es ist nach dort hinten gerutscht«, antwortete der Kommissar tonlos. Sofort eilte der Parapsychologe in die Richtung, die Malice wies. »Wo genau?« »Unter dem Schränkchen.« Zamorra bückte sich und sah unter das Möbelstück, das auf kleinen Füßen stand. Tatsächlich! Dort lag das Amulett! Er zog es heraus und sprang sofort auf. »Bleiben Sie hier!«, befahl er Malice. Dann achtete er nicht weiter auf den Kommissar und eilte ins Freie. Acharat lag auf dem Boden, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Doch auf irgendeine Weise hatte der Zombie Karinjo hart zugesetzt. Der Dämon war sichtlich angeschlagen, das ihn umlodernde Feuer erloschen. Seine Haut glühte lediglich noch in unheilvoller blauer Glut. Als Karinjo sah, dass sich Zamorra mit dem Amulett in der Hand näherte, flüchtete er erneut und verschwand nach wenigen Augenblicken, als sei er nie hier gewesen.
»Was – was war das?«, stotterte Nicole Duval fassungslos. »Ein Dämon«, antwortete Zamorra lapidar, bevor er sich Nicoles Schulter ansah. »Sie sind verletzt.« »Ich konnte die Flammen schnell ersticken.« Sie hob bei diesen Worten ihre Hand und sah sie an. Die Innenfläche wies einige Brandblasen auf. Erst jetzt, als Nicole es mit eigenen Augen sah, kam der Schmerz. Sie presste die Lippen zusammen und sog dann scharf die Luft ein. »Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir hier im medizinischen Institut der Universität Paris niemanden finden können, der
Sie ordentlich zu verarzten vermag«, murmelte Zamorra. »Dazu nur zwei Anmerkungen«, erwiderte Nicole. »Erstens: Der Spruch mit dem Teufel will mir gar nicht gefallen, erst recht nicht nach dem, was hier gerade geschehen ist. Zweitens …« Doch was sie noch hinzufügen wollte, blieb für immer ein Geheimnis. Denn in diesem Moment trat jemand an die beiden heran. Kommissar Malice. »Karinjo ist verschwunden«, sagte er, und es klang wie eine Mischung aus grimmiger Befriedigung und bitterer Enttäuschung. »Messerscharf beobachtet«, kommentierte Zamorra. »Sie sind wohl wieder bei sich«, konnte er sich danach die Bemerkung nicht verkneifen – nicht, weil er dem Kommissar wirklich böse war. Das konnte er nicht, denn seine Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse war nur allzu verständlich gewesen. Zwar hatte Malice die Nerven verloren und sich wimmernd in sich selbst zurückgezogen, sodass er keine sonderlich große Hilfe gewesen war, aber das wäre wohl den meisten Menschen so gegangen, die beobachten mussten, wie sich ein Toter erhob, vernichtet wurde und wieder erhob, ehe er mit einem leibhaftigen Dämon kämpfte, was die gesamte Umgebung in Schutt und Asche legte. »Kommissar Malice ist … verhindert«, antwortete Kommissar Malice. »Bitte?«, fragte Zamorra und hob zweifelnd eine Augenbraue. Offensichtlich hatte er die Situation gründlich falsch eingeschätzt. Malice schien eben gerade nicht wieder zu sich gekommen zu sein; im Gegenteil. Zamorra befürchtete, der Kommissar habe stattdessen gänzlich den Verstand verloren. Duval hingegen war deutlich verwirrt – sie kannte ja nicht einmal Malice, geschweige denn, dass sie wusste, was in dem Gebäude des Instituts vor sich gegangen war. »Ich bin nicht Kommissar Malice«, stellte Zamorras Gegenüber klar. »Zumindest – nicht nur. Ich habe das Bewusstsein des Kommissars unterdrückt und bediene mich seiner als Gastkörper.« Professor Zamorra wechselte einen raschen Blick mit seiner Sekretärin und hob leicht die Hand, um jeden abfälligen Kommentar von ihrer Seite zu unterbinden. »Erzählen Sie mir Näheres«, forderte er. »Ich bin derjenige, den Sie wohl Acharat nennen würden. Aller-
dings ist das eine ziemliche Vereinfachung der Tatsachen.« Malice – Malice? – hob den rechten Mundwinkel zu einem Lächeln, das wohl entschuldigend wirken sollte, aber auf Zamorra eher spöttisch wirkte. »Acharat?«, fragte der Parapsychologe skeptisch. Er war inzwischen bereit, einiges zu akzeptieren – aber das ging zu weit. »Der hat doch 'ne Meise!«, warf Nicole ein. »Ich kann verstehen, dass Sie verwirrt sind«, antwortete … wer auch immer. »Aber ich denke, ich habe mir einen Vertrauensbonus verdient. Immerhin habe ich sie vor dem Zorn und der Rache des Dämons gerettet. Ohne mich wären Sie jetzt beide tot.« »Das ist ein schlagendes Argument«, brummte Zamorra. »Ich denke, wir haben einiges zu bereden.« Doch bevor es dazu kam, rückten endlich einige selbst ernannte Retter an – die Schreie und der infernalische Lärm, den der Kampf und die Explosion der Tür verursacht hatten, waren nicht ungehört geblieben. Bald darauf trafen auch Polizei und Feuerwehr ein, und nur der Intervention »Kommissar Malices«, der sich plötzlich wieder sehr wie ein französischer Polizist verhielt, war es zu verdanken, dass Zamorra und Nicole angesichts der Leiche Professor Jacques' und der Zerstörungen ungeschoren das Gelände der Universität wieder verlassen konnten. Sie zogen sich zu dritt in das Hotel zurück, in dem Zamorra zwei Zimmer gebucht und das Nicole Duval bereits kurz besucht hatte. Die Zimmer waren zum Glück großzügig ausgestattet, sodass sie alle an einem Tisch Platz nehmen konnten. »Ich denke, es ist Zeit für einige Erklärungen«, meinte Zamorra, der inzwischen nicht mehr glaubte, dass Malice – wie Nicole es ausgedrückt hatte – eine Meise hatte. Dazu hatte er sich in den Gesprächen mit der Polizei viel zu vernünftig verhalten. »Fangen wir vorn an«, antwortete der Kommissar. »Gute Idee, allerdings frage ich mich, wo vorne ist.« »Wir müssen weit in die Vergangenheit. Einige Monate. Weg von dem Mann, den Sie hier vor sich sehen.« »Hin zu Acharat«, vermutete der Parapsychologe. »Der Sie be-
haupten zu sein.« »Doch ich sagte auch, dass das eine ziemliche Vereinfachung sei. Sie haben vermudich noch nie von einem Mann namens Francois Tilogue gehört?« Eine Stunde und etliche unerhörte Begebenheiten später rauchte Zamorra der Kopf. Er hatte hin und wieder eine Zwischenfrage gestellt, während Nicole Duval von Minute zu Minute schweigsamer geworden war. Ihre Hände spielten abwechselnd mit der Tischkante und mit dem Glas, das vor ihr stand. »Also wurde aus Tilogue Acharat, als Ramondo diesem den magischen Dolch ins Herz stieß und ihn tötete?« »Exakt«, bestätigte der andere. »Acharat war ein Zombie, ein Untoter. Allerdings ein besonderer, denn tief in dem toten, von höllischem Leben erweckten Körper steckte ein Teil von Francois Tilogue, der überlebte. Ein Splitter seines Bewusstseins, die Erinnerung an sein früheres Leben, vor allem an die Liebe, die er zu seiner Frau empfand.« »Ein Zombie, eine Dienerkreatur«, Zamorra lächelte entschuldigend, denn er hatte letztendlich niemand anderen als den so Bezeichneten vor sich, »die sich aber Individualität bewahrt hatte.« Ihm schwirrte der Kopf; er redete von diesen Dingen, als seien sie Alltagserfahrungen. Château Montagne und das Amulett Leonardos hatten sein Leben weitaus mehr auf den Kopf gestellt als die Berufungen auf zwei Professorenstellen – und diese berufliche Umwälzung und Erfahrung war bereits mehr, als die meisten Menschen je erlebten. »Ganz tief verborgen. Dr. Ramondo ahnte nie etwas davon. Als die Feuerdämonen dann Acharat töteten, geschahen zwei Dinge. Zum einen wurde das, was Francois Tilogue ausmachte, freigesetzt. Ich existierte plötzlich als reiner Geist, als pure Energie – ich weiß immer noch nicht, was genau. Bald entdeckte ich, dass ich in jeden beliebigen Körper schlüpfen konnte. Zuerst wählte ich denjenigen eines Mannes namens Anthony – der gerade von Karinjo angegriffen wurde. Ich wurde auf ihn und seine Situation aufmerksam, weil ich das Geheimnis meiner Existenz zu lösen beabsichtigte und Karinjo in dieses Rätsel verwoben ist.«
Zamorra nickte. »Sie gingen eine Art Allianz mit dem Dämon ein …« »Zum Schein«, erklärte Malice/Acharat/Tilogue. »Ich wollte ihn beobachten und zugleich verhindern, dass er seine Rache vollziehen konnte. Also schützte ich Sie, Zamorra, indem ich Anthonys Körper verließ und …« »… und wieder Acharats toten Körper beseelte.« »Dessen schwarzes Leben nie völlig ausgelöscht wurde«, bestätigte Francois Tilogue. »Die Feuerdämonen ließen in letzter Sekunde von dem armen Acharat ab, als sie erkannten, dass sie ein untotes Wesen vor sich hatten, einen Verbündeten sozusagen, so dass sich ein winziges Quäntchen untoten Lebens erhalten konnte. Diese Zusammenhänge wurden mir schlagartig klar, als ich wieder in meinen … alten Körper einzog. Ebenso wie alle anderen Details aus dem Leben Francois Tilogues. Das schwarze Leben war in Acharat nicht völlig ausgelöscht worden.« »Und zeigte sich wiederum in den wenigen Bewegungen, die die beiden deutschen Pathologen so in Aufregung versetzten und letztlich dazu führten, dass ich die so genannte Leiche aufsuchte. Nur, warum erfüllte Acharats Körper dann plötzlich so deutlich Leben, als Kommissar Malice und ich anwesend waren?« »Eine sehr unglückliche Verkettung von Umständen. Es muss die Wirkung Ihres Amuletts gewesen sein, Zamorra. Es griff an und hätte den Zombie sicherlich vernichtet – aber er wehrte sich und schlug es Ihnen aus der Hand. Es konnte seinen Angriff nicht vollenden.« »Das kostete Professor Jacques das Leben«, sagte Zamorra bitter. »Wenn ich mir das Amulett also nicht hätte aus der Hand schlagen lassen, würde der Professor noch unter uns weilen.« Zamorras Lippen bilden einen dünnen Strich in seinem ernsten Gesicht. »Mit dieser Analyse haben Sie wohl Recht«, stimmte Tilogue zu. »Aber Sie dürfen sich keinesfalls die Schuld an seinem Tod geben. Die Verantwortung trägt ganz allein die Hölle – oder vielleicht Dr. Ramondo, der die Zombiekreatur erschaffen hat.« »Schöne Worte«, murmelte Zamorra. »Mehr als das«, widersprach sein Gegenüber. »Wenn Sie sich die Schuld geben, könnte ich mir sie genauso zuschreiben. Aber ich,
Acharat, bin unschuldig. Etwas anderes lenkte meinen Körper.« Schweigen trat ein, und Zamorra musterte Nicole, die bislang schweigend zugehört hatte. »Mir ist das alles zu hoch, Chef«, fühlte sie sich herausgefordert, ihren Standpunkt deutlich zu machen. »Diese ganze Vorstellungswelt von Dämonen und … losgelösten Geistern, die von einem Körper zum anderen springen …« Sie schüttelte den Kopf. »Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, als es zu akzeptieren.« Sie stieß die Luft geräuschvoll aus. »Das – oder zu kündigen.« »Das meinen Sie doch nicht ernst?« »Wie könnte ich, Chef? Ich brauche das Geld …« »Außerdem können Sie gegen das Schicksal nicht aufbegehren«, grinste Zamorra. »Schicksal? Na ja …« »Glauben Sie etwa an einen Zufall, der uns bei der Jobvermittlung Meyer, Mayer, Meir & Sons zusammenführte?« Die Antwort bestand aus einem hinreißenden Lächeln, doch in ihren Augen, deren goldene Tupfen sich wieder einmal weiteten, las Zamorra die Frage, ob er das tatsächlich ernst meine. »Acharat« fuhr fort: »Um zum Ende zu kommen: Als ich in meinem alten, ursprünglichen Körper mit dem Dämon kämpfte, der gerade Sie, Mademoiselle Duval, töten wollte, gelang es mir zwar, diesen zu schwächen, aber Karinjo behielt die Oberhand. Der Körper Francois Tilogues – oder Acharats – wurde unter den Flammen des Dämons endgültig vernichtet. Nun existiere ich nur noch als … nun ja, sagen wir, als Geist. Als solcher wechselte ich in den Körper Kommissar Malices über, dessen Bewusstsein noch unbeschadet lebt, aber momentan unterdrückt ist. Genauso wie es dasjenige Anthonys war, der sich im Übrigen gewundert haben dürfte, wie er in die Nähe von Paris gekommen ist, wo ich seinen Körper verlassen habe. Vermutlich verfügt er über keinerlei Erinnerungen an die Zeit, in der ich ihn benutzte.« »Ein nicht unerhebliches Problem«, erwiderte Zamorra nachdenklich. »Sie können nicht dauerhaft irgendeinem Menschen den Körper streitig machen.«
»Das habe ich nicht vor. Ich kann sehr gut ohne Körper existieren. Aber ich habe noch zwei Dinge zu erledigen, bevor ich diese Welt verlasse.« »Und die wären?«, fragte Nicole Duval. »Zum einen existiert Karinjo nach wie vor, und ich betrachte ihn als meinen Feind. Und zum anderen war der Mensch Francois Tilogue, der ich wohl eigentlich bin, verheiratet. Ich werde seine Frau, Isabelle, suchen. Sie muss wissen, was mit mir geschehen ist.« »Sie lieben sie nach wie vor«, stellte Nicole fest. »Natürlich«, antwortete Acharat/Tilogue, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Zamorra schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wir sollten hier unsere Zelte abbrechen und dorthin gehen, wo alles begann. Château Montagne wartet auf uns.« Und dort wiederum wartete eine Überraschung auf die drei.
»Sie kennen unseren Gast, Raffael.« Professor Zamorra wies auf den Mann, den sie der Einfachheit halber, und weil das wohl am ehesten der Realität entsprach, Francois Tilogue nannten, obwohl er in einem anderen Körper lebte. »Kommissar Malice wird auf absehbare Zeit hier im Château bleiben.« »Selbstverständlich, Sir.« Raffael Bois nickte. »Wenn Sie Wünsche haben, Kommissar, wenden Sie sich an mich.« »Vielen Dank.« Als Bois sich zurückgezogen hatte, fuhr sich Tilogue nachdenklich durch die Haare. »Es gibt Konsequenzen aus meiner Erfahrung, die ich noch bei weitem nicht verarbeitet habe. Nehmen Sie nur Ihren Diener, Professor.« »Was ist mit ihm?« »Er ist ein … Diener.« Zamorra begann zu ahnen, worauf der andere hinauswollte. »Sie fühlen sich an Dr. Ramondo und an Ihr Schicksal als Acharat erinnert.« »Ich weiß, dass es eine völlig andere Situation ist, aber – ja, Sie haben Recht, ich komme nicht umhin, Parallelen zu ziehen.«
Sekunden später klopfte es, und Raffael Bois trat erneut ein. »Verzeihen Sie, aber ich habe etwas vergessen … Eine Dame wünschte Sie zu sprechen.« »Um wen handelte es sich?«, fragte Zamorra. »Eine gewisse Isabelle Tilogue.« Der Name wirkte wie ein elektrischer Stromstoß auf Zamorra, und er sah, wie Tilogue/Malice zusammenzuckte. »Wann war das?« »Sie rief gestern an.« »Hat Sie hinterlassen, wo sie zu erreichen ist?«, fragte Francois Tilogue. Raffael räusperte sich. »Das hat sie in der Tat, Kommissar. Eine Telefonnummer.« »Hält sie sich hier in der Nähe auf?« »Zwanzig Autominuten von hier«, erklärte Raffael. »Sie wirken sehr aufgeregt, Kommissar, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.« Ehe dieser darauf antworten konnte, sagte Zamorra: »Bitte bringen Sie mir die Nummer. Ich werde Madame Tilogue sofort davon in Kenntnis setzen, dass ich auf das Château zurückgekommen bin.« »Selbstverständlich, Sir.« Raffael verließ den Raum. »Wie hat Ihre Frau den Weg hierher gefunden?«, fragte Zamorra erstaunt. »Sie muss all die Zeit nach mir gesucht haben«, flüsterte Tilogue. »Sie muss davon erfahren haben, dass ich – dass Acharat hier gestorben ist.« »Wie sollte sie? Und woher sollte sie überhaupt wissen, dass Acharat etwas mit Ihnen zu tun hat? Es ist unmöglich«, meinte Nicole. »Eben nicht – was die Tatsache, dass sie hierher gekommen ist, beweist. Wir können es uns nur nicht erklären.« Tilogues Stimme bebte vor Nervosität. »Es wird eine vernünftige Antwort geben«, vermutete Nicole. Und damit behielt sie Recht. An Isabelles Nachforschungen war nichts Übersinnliches beteiligt … … wie sie selbst berichtete, als sie wenige Stunden später im Château Montagne eintraf. Zamorra hatte mit Tilogue vereinbart, dass er sich erst einmal
nicht zu erkennen geben sollte, um Isabelle nicht zu schockieren. Man musste ihr die Wahrheit schonend beibringen. »Und so führte mich der Name des Entführers meines Mannes hierher zu Ihnen«, schloss Isabelle ihren knappen Bericht. »Ramondo«, fügte sie hasserfüllt hinzu. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, erklärte Zamorra. »So?«, wunderte sich Isabelle Tilogue. »Hier scheint einiges vorzugehen, das ich mir nicht erklären kann. Sie freuen sich über meinen … Besuch, ohne dass es einen Grund für Ihre Freude geben kann, und kaum bin ich hier, erwartet mich bereits ein Polizeikommissar.« Sie deutete auf Malice, nicht ahnend, wen sie eigentlich vor sich hatte. Zamorra fühlte einen schmerzhaften Stich im Herz, als er an das Groteske dieser Situation dachte. Da haben sich die beiden Liebenden endlich gefunden, und Isabelle ahnt nicht, dass ihre Suche beendet ist … Wie sie die Wahrheit wohl aufnehmen würde? Konnte sie sie überhaupt akzeptieren, oder musste der Verstand eines Menschen nicht daran scheitern? »Ich – ich bin nicht zufällig hier«, antwortete Tilogue leise. »Im Grunde genommen bin ich nicht der, für den du mich hältst.« »Ich wusste nicht, dass wir uns duzen«, erwiderte Isabelle scharf. »Ich kann alles erklären«, versicherte Tilogue, doch dazu kam er nicht mehr. Das hohe Fenster des Raumes explodierte, als eine Gestalt von außen hindurchsprang. Scherben schossen durch den Raum, prasselten zu Boden. Ein Splitter verletzte Zamorra an der rechten Wange, und ein dünner Blutfaden rann an ihr herab. Als der Lärm endete, stieg die Hitze. Im Nu brannte der Teppich. »Jetzt wird abgerechnet!«, geiferte Karinjo.
Isabelle schrie. Für sie war der Anblick des brennenden Dämons am schlimmsten, denn sie hatte ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen. Genau genommen hatte sie nie zuvor irgendeinen Dämon gesehen.
Die anderen waren von der plötzlichen Attacke wie gelähmt. Ehe sie zu irgendeiner Reaktion fähig waren, stürmte Karinjo heran und kam neben dem Menschen zur Ruhe, der ihm nach seinem gewaltsamen Eindringen am nächsten stand. Isabelle. Von einem Moment auf den anderen erlosch das Feuer um die Arme des Dämons. Seine rechte Hand schoss vor und legte sich um die Kehle der nach wie vor schreienden Frau. »Still!«, zischte er. Isabelles Augen weiteten sich vor Panik. Sie öffnete den Mund und versuchte verzweifelt, Luft zu holen. »Eine Bewegung von irgendeinem von euch – und die Frau ist tot!«, stellte Karinjo unmissverständlich klar. »Wenn du sie tötest, werde ich dich vernichten!«, erklärte Francois Tilogue kalt. Zamorra glaubte, die unterdrückte Angst in seiner Stimme zu hören. »Wir sollten verhandeln«, sagte er. Gleichzeitig stellte er sich die dringende Frage, was in aller Welt er hier tat! Verdammt noch mal, ein Dämon war in sein Château eingedrungen und war nahe daran, einen Menschen zu töten – und er bot Verhandlungen an! Langsam wurde ihm das alles zu viel. Sollte das etwa sein neuer Alltag werden – Dämonen, die ihm das Leben schwer machten und versuchten, ihn zu töten? Hätte er das gewusst, hätte er den Weg hierher niemals angetreten, als es darum ging, das Erbe seines Onkels Louis de Montagne anzutreten … »So spricht ein sterblicher Narr!«, geiferte Karinjo, während sich hinter ihm das Feuer ausweitete. »Ihr werdet sterben, sonst nichts!« »Wenn du dir so sicher bist, warum dann dieser umständliche und feige Weg?« Tilogues Stimme klirrte wie Eis. Zamorra bewunderte seine Kühnheit. Er warf einen raschen Blick auf Isabelle. Offenbar schnürte der Dämon ihr nicht die Luftzufuhr ab. In ihren Augen loderte zwar die Angst, aber sie schien keine Schmerzen zu leiden. Tilogue schloss kurz die Augen, und eine Sekunde später war das
Feuer im Raum erloschen. »Wen willst du mit diesem Kunststück beeindrucken?«, höhnte Karinjo. »Du hast es mir bereits in Spanien gezeigt.« »Beeindrucken? Nichts liegt mir ferner. Was du denkst, Karinjo, ist mir völlig gleichgültig. Ich will verhindern, dass das Schloss abbrennt.« Karinjo lachte. »Wenn ich das gewollt hätte, wärt ihr alle längst tot. Nein, Tilogue – du sollst leiden! Du bist mir in den Rücken gefallen, und nun zahle den Preis dafür! Sieh dir ganz genau dein Weibchen an!« Mit diesen Worten drückte er zu. Isabelle stieß ein Gurgeln aus … Und Karinjos Arme begannen wieder zu brennen.
Die Ereignisse überschlugen sich. Isabelle war in höchster Lebensgefahr. Nicht nur, dass sie binnen kürzester Zeit an Sauerstoffmangel sterben würde – falls Karinjo ihr nicht schon vorher den Kehlkopf zerdrückte –, ihre Kleidung hatte bereits Feuer gefangen. Ihre Arme zuckten hilflos, und es versetzte Zamorra einen Stich zu sehen, wie sie in ihrer Verzweiflung ihre Fäuste gegen den Körper ihres Peinigers rammte – mitten in den Flammenvorhang hinein. Der Parapsychologe trug das Amulett bei sich, von dem er wusste, dass es eine wirksame Waffe gegen den Dämon war. Doch er kam nicht mehr dazu, es einzusetzen. Denn gleichzeitig krümmte sich Karinjo zusammen und stieß einen wütenden und schmerzerfüllten Schrei aus. Er löste sich von Isabelle, die zu Boden sackte, ohne eine Reaktion zu zeigen. Zamorras Herz setzte einen Schlag aus. Hatte der brennende Dämon die Frau in den wenigen Sekunden getötet? Karinjo taumelte rückwärts und stieß gegen ein Bücherregal. Das Feuer um seinen Körper war erloschen, und seine Ekel erregende Gestalt kam zum Vorschein. Sein Körper war von einer graugrünen schuppigen Haut überzogen; er schien über kein Gramm Fett oder Muskulatur zu verfügen, denn die Haut spannte sich eng um seine
Knochen. Er war von menschlicher Gestalt, doch aus seiner Stirn wuchsen zwei Teufelshörner, und in seinem breiten Maul reihten sich spitze Haifischzähne. Sowohl die Arme als auch die Beine des Monstrums verfügten über jeweils zwei Kniebeziehungsweise Ellenbogengelenke. Jetzt wand sich der Dämon vor Schmerzen. Francois Tilogue stürmte im Körper Kommissar Malices auf Karinjo zu. Sein Gesicht war vor Hass verzerrt. »An Isabelle hättest du dich nicht vergreifen dürfen«, presste er hervor. »Du hast eine Grenze überschritten, die dich in den tiefsten Höllenpfuhl bringen wird, das schwöre ich dir!« Zamorra konnte den unsichtbaren Strom aus – ja, woraus? Aus Magie? Aus Energie? – fühlen, der von Tilogue ausging und in den Körper des Dämons schlug, der gerade wieder einen Schritt nach vorne gegangen war. Es war, als explodiere eine Granate direkt vor Karinjo. Er wurde zurückgeschleudert und prallte erneut gegen das Bücherregal. Die Wucht riss es um, und der Dämon stürzte in einem Wust aus Büchern und zersplitterndem Holz auf den Boden. Das Feuer um Karinjo loderte wieder auf. Feuerlohen leckten über das trockene Holz. »Genug!«, brüllte er. Er schoss in die Höhe, überschlug sich in der Luft und landete hinter seinem Gegner. Tilogue wirbelte herum, um sich dem Angriff zu stellen, doch ihn erwischte bereits die Handkante des Dämons seitlich am Hals. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden, verwandelte den Sturz in eine Rolle und stand eine Sekunde später wieder auf den Füßen. Wo der Dämon seine Haut berührt hatte, war sie stark gerötet, und Brandblasen bildeten sich. Auch Zamorra war inzwischen nicht tatenlos geblieben. Er stürmte mit gezücktem Amulett auf den Dämon zu. Dieser sah sich in die Enge gedrängt – und handelte seinerseits. Er erwählte sich ein neues Opfer. Nicole Duval. Sie versuchte inzwischen, sich um Isabelle Tilogue zu kümmern, die nach wie vor regungslos dalag. Sie hatte die wenigen Flammen, die noch auf ihrer Kleidung gelodert hatten, gelöscht …
… und jetzt wurde sie von Karinjo gepackt. Ehe sie auch nur einen Versuch starten konnte, sich zu wehren, oder ehe einer der Männer eingreifen konnte, umfasste der Dämon sie und sprang mit ihr aus dem Fenster, das er erst vor weniger als eine Minute bei seinem Angriff zerstört hatte. Die Flucht gelang ihm. Niemand vermochte ihn zu hindern. »Verdammt!«, schrie Tilogue und wollte ebenfalls aus dem Fenster springen, seinem Gegner hinterher. Zamorra hielt ihn in letzter Sekunde davon ab, indem er ihn hart an der Schulter packte. »Wir sind im Obergeschoss!«, stieß er hervor. Ein Sprung aus dem Fenster hätte bestenfalls für einige gebrochene Knochen gesorgt, im schlimmsten Fall wäre Kommissar Malices Körper zerschmettert worden. Professor Zamorra stieß Tilogue/Malice zur Seite, hetzte ans Fenster und sah, wie sich Karinjo mit seiner Geisel durch die Luft hinwegbewegte. Die Gesetze der Schwerkraft galten offenbar nicht für den Dämon, der, wie Zamorra erleichtert zur Kenntnis nahm, die Flammen um seinen Körper wieder gelöscht hatte, sodass Nicole Duval nicht verbrannte. Ihm zu folgen, war völlig unmöglich. Wütend schlug der Parapsychologe mit der Faust gegen den Fensterrahmen. Als er sich frustriert umdrehte, sah er, dass sich Tilogue über Isabelle gebeugt hatte. »Sie lebt noch!« »Ich werde sofort einen Arzt rufen!«, erklärte Zamorra, doch in Gedanken war er bei Nicole. Der Dämon hatte sie in seiner Gewalt – da er sie nicht sofort getötet hatte, würde er sie als Geisel benutzen. Ihre Chancen im Kampf gegen Karinjo waren sprunghaft gesunken, denn sie waren erpressbar geworden.
Der rasch eingetroffene Arzt stellte fest, dass Isabelle Tilogue keine ernsteren Verletzungen davongetragen hatte. Die Würgestellen am Hals beäugte er misstrauisch, da er Kommissar Malice jedoch gut kannte, glaubte er den Versicherungen, die Tilogue aus dessen Mund routiniert vorbrachte. Ja, es sei ein Verbrechen geschehen,
doch man habe alles unter Kontrolle. Der Arzt injizierte Isabelle ein beruhigendes Mittel und verließ das Château danach bald wieder. »Wir sind Ihnen einige Erklärungen schuldig«, sagte Zamorra zu der Verletzten. »Das können Sie laut sagen«, krächzte Isabelle. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich denke, Sie sollten ihr alles erzählen«, sagte der Parapsychologe an Tilogue gewandt. »Ich werde Sie am besten allein lassen.« Tilogue nickte. »Ich werde es kurz machen, den Umständen entsprechend. Danach kümmern wir uns um Nicole Duval.« »Uns sind die Hände gebunden«, murrte Zamorra. »Nicht ganz«, meinte Tilogue. »Doch ich bitte Sie, mich wirklich mit … Madame Tilogue allein zu lassen.« Zamorra zog sich zurück und ging zum Telefon. Er wählte eine Nummer, die er in- und auswendig kannte. Ungeduldig wartete er. Als er schon nahe daran war, aufzulegen, wurde endlich am anderen Ende des Drahtes abgehoben. »Fleming«, nuschelte eine verschlafene Stimme. »Bill, ich bin's.« Mehr zu sagen, war nicht nötig. »Zamorra! Auch wenn ich immer froh bin, deine Stimme zu hören, so kommt es mir gerade ein bisschen … ungelegen.« »Hier ist die Hölle los«, erwiderte Zamorra knapp, und seine Stimme war offenbar drängend und ernst genug. »Wo brennt's denn?«, fragte Bill Fleming, Zamorras alter Freund, schon deutlich wacher. »Du triffst den Nagel auf den Kopf. Es brannte so gut wie überall, wo ich in letzter Zeit war. Zuletzt im Château Montagne, nachdem ein Dämon durchs Fenster gebrochen ist, der dummerweise von Flammen umgeben war.« Eine Sekunde Schweigen am anderen Ende – dann: »Du machst keine Scherze?« »Nichts liegt mir ferner. Du weißt über die Feuerdämonen Bescheid, die im Château ihr Unwesen trieben.« Ein bestätigendes Brummen antwortete; es war ohnehin keine Fra-
ge, sondern eine Feststellung gewesen. »Sie sind alle vernichtet, doch es gibt jemanden, der ihr Herr war.« »Eine Hierarchie in der Hölle?« Zamorra nickte, obwohl das am Telefon eine unsinnige Geste war. »Man muss wohl davon ausgehen. Der Name des Dämons ist Karinjo, und er hat Nicole Duval in seiner Gewalt.« »Shit!«, fluchte Bill. »Und das sind bei weitem nicht alle Neuigkeiten. Ich habe einen sehr ungewöhnlichen Gast hier im Château …« Sie redeten noch einige Minuten, dann versprach Bill Fleming, so rasch wie möglich zum Château Montagne zu kommen. Zamorra hatte genau das beabsichtigt, denn Fleming konnte ihm bei der notwendigen Befreiungsaktion für Nicole eine wertvolle Hilfe sein. Denn wen konnte er schon groß um Hilfe bitten bei einem Kampf gegen einen Dämon? Nachdenklich legte Zamorra den Hörer auf und kehrte zurück ins Zimmer, in dem er seine Gäste zurückgelassen hatte. Isabelles Augen schwammen in Tränen, und sie hielt ein Taschentuch in den Händen. Sie sah Zamorra mit großen Augen an. »Er – er hat mir alles erzählt.« Zamorra atmete tief durch. »Zweifeln Sie?« »Bevor dieses Etwas auftauchte und mich beinahe tötete, hätte ich Sie beide für verrückt erklärt, aber jetzt … Ich denke, das Auftauchen eines Dämons ist Bestätigung genug. Außerdem weiß dieser Mann hier … weiß er so viel aus meiner Vergangenheit, dass er einfach Francois sein muss.« Sie schloss die Augen und schluckte hart, doch sie konnte nicht verhindern, dass eine Träne über ihre Wange rann. »Es ist für uns alle nicht einfach«, fasste Francois Tilogue zusammen. »Doch bevor wir darüber nachdenken, was aus … mir und Kommissar Malice werden wird, müssen wir Nicole Duval befreien und Karinjo vernichten.« »Sie deuteten an, Sie hätten eine Idee.« Zamorra setzte sich. »Ich verfüge über eine Art Affinität zu Karinjo, da ich ihn mehrfach getroffen habe. Es wird mir nicht die geringsten Schwierigkei-
ten bereiten, ihn ausfindig zu machen, egal wo er sich aufhält.« »Aber er hat Nicole in seiner Gewalt!«, rief Zamorra. »Genau das ist das Problem. Er darf keine Gelegenheit bekommen, ihr zu schaden.«
Sie entwarfen Ideen, verwarfen sie wieder und versuchten, neue Möglichkeiten zu finden. Nach wenigen Minuten zuckte Isabelle zusammen, entschuldigte sich und griff nach ihrem Wasserglas. Zamorra bemerkte, dass es ihr schwer fiel, sich zu konzentrieren und überhaupt wach zu bleiben. »Der Arzt hat dir ein Beruhigungsmittel injiziert«, wandte er sich an sie. Sie waren inzwischen zum vertrauten Umgangston übergegangen. »Du solltest dich hinlegen und ein wenig schlafen.« »Schlafen?«, fragte sie mit schriller Stimme. »Angesichts dessen, was geschehen ist und was sich nach allem, was hier geredet wurde, abspielen wird, soll ich schlafen?« »Es nützt niemandem etwas, wenn du bis über die Grenze deiner Leistungsfähigkeit gehst. Dem Körper verlangt sein Recht.« Francois erhob sich mit seinem fremden Körper und nahm ihre Hand. »Zamorra hat dir ein Gästezimmer richten lassen. Ich werde dich hinbringen.« »Ich …«, begann sie schwach. »Keine Widerrede«, sagte Francois und ließ Malice lächeln. Dann wandte er sich an Zamorra. »Du entschuldigst uns. Ich komme in … zehn Minuten zurück.« »Ich würde euch alle Zeit der Welt gönnen … aber …« »Du brauchst nichts zu erklären«, unterbrach ihn Isabelle. »Die Zeit drängt. Zehn Minuten sind eigentlich schon zu viel.« Als Zamorra allein im Raum war, schleppten sich die Sekunden träge dahin. Er zog das Amulett aus der Tasche, das er nun stets bei sich trug. Die letzten Stunden hatten schmerzlich gezeigt, dass Karinjo jederzeit überraschend zuschlagen konnte. Er musterte es aufmerksam, wog es nachdenklich in der Hand. Was all die Hieroglyphen wohl bedeuten mochten? Hatten sie überhaupt für sich ge-
nommen eine Bedeutung, oder bewirkten sie die erstaunlichen Kräfte des Amuletts erst im Zusammenspiel miteinander? Er war sich sicher, dass dieses geheimnisvolle Stück Metall einige Geheimnisse barg. Wer zum Beispiel hatte es erschaffen? Es trug als Beinamen den Namen seines Vorfahren Leonardo – doch nur, weil dieser der erste bekannte Besitzer gewesen war. War es überhaupt ein Mensch gewesen, der dieses Amulett gefertigt hatte? Konnte ein Mensch zu so etwas fähig sein? Aber wenn nicht, wer dann? Ein Höllenwesen? Unsinn, ein lächerlicher Gedanke. Vielleicht einer der legendären Magier, die in den alten Mythen der Menschheit immer wieder auftauchten? Überrascht wandte Zamorra den Kopf, als er hörte, wie sich die Tür öffnete. »Schon zurück?«, fragte er abwesend, noch in Gedanken versunken. »Falls das ironisch gemeint ist, entschuldige ich mich dafür, dass ich statt zehn Minuten dreizehn gebraucht habe«, antwortete Tilogue trocken. »Dreizehn?«, murmelte Zamorra überrascht. »Ich dachte …« Er schüttelte den Kopf. »Zuerst vergingen die Sekunden wie zäher Brei, aber dann habe ich die Zeit vergessen. Ich habe das Amulett betrachtet und darüber nachgedacht.« »Ich habe mit Isabelle gesprochen«, wechselte Tilogue das Thema. »Wir sollten jetzt daran gehen, Nicole Duval zu befreien und Karinjo dorthin zu schicken, wo er hingehört – in die Hölle!« »Wir gehen vor wie besprochen?«, fragte Zamorra. »Exakt. Ich werde Malices Körper verlassen und Karinjo ausfindig machen. Du solltest dem guten Kommissar erklären, was mit ihm geschehen ist und dann mit deinem Auto schon einmal hinunter ins Dorf fahren. Ich werde dich dort finden.« Zamorra nickte. »Ich wünsche dir viel Erfolg.« »Ich dir auch«, sagte Tilogue und lachte, das erste echte Lachen, das Zamorra je von ihm gehört hatte. »Ich verschwinde jetzt.« Eine Sekunde später trat ein verwirrter Ausdruck in die Augen Kommissar Malices.
Ich war wieder frei, und das war schön. Wunderschön. Ich fühlte, wie mein Bezug zu diesem … irdischen Dasein von Sekunde zu Sekunde schwächer wurde. Es war eine derartige Befreiung, nicht mehr den Zwängen eines Körpers unterworfen zu sein, dass ich am liebsten alles hinter mir gelassen hätte. Frei, losgelöst, einfach nur leben, existieren, alles hinter mir lassen … Keine Dämonen mehr, keine Nicole Duval mehr, keine Rachepläne und kein Professor Zamorra mehr – einerseits eine verlockende Aussicht. Aber andererseits gab es für mich keinen Zweifel, was ich zu tun hatte. Ich verfügte über keinerlei Alternative. Nicht nur wegen Isabelle. Nicht nur, weil ich es Zamorra versprochen hatte und weil Nicole Duval Hilfe benötigte. Sondern vor allem, weil Karinjo sterben musste. Er war ein widerliches Monstrum, dessen Existenzberechtigung schon vor langem abgelaufen war. Er war das letzte Glied in der Kette, die mich mit dem Namen Dr. Arcaro Ramondo verband – des Mannes, der mich getötet und von Isabelle weggerissen hatte. Also erhob ich mich in die Lüfte, weit über Château Montagne, und ging auf die Suche. Ich spürte Hunderte, Tausende, bald Abertausende von Menschen. Es dauerte nur Sekunden, bis ich auch die Gegenwart meines Gegners spürte. Er hauste, in den Maßstäben der Menschen gemessen, nur etwa zwanzig Kilometer vom Château Montagne entfernt. Mitten im Wald hatte er sich einen Platz gesucht, abseits aller Wege, wo ihn nach seiner Meinung niemand finden und stören konnte. Es dauerte nur einen Gedanken lang, bis ich dort war. Unsichtbar, unfühlbar, unbemerkbar. Auch Karinjo konnte mich mit seinen dämonischen Sinnen nicht wahrnehmen. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste ich, was vor sich ging. Das, was ich sah, gefiel mir gar nicht.
Nicole Duval zitterte, denn sie hatte Angst. Verdammte Angst. Sie kauerte gegen einen Baum gelehnt, und sie wusste, dass jeder
Gedanke an Flucht lächerlich war. Nicht nur, weil Karinjo mit Argusaugen über sie wachte, sondern vor allem, weil sie keinen Finger rühren konnte. Sie wusste nicht, was ihr unheimlicher Gegner mit ihr gemacht hatte – aber sie litt unter einer vollständigen Lähmung. Nur ihr Gesicht – und offenbar alle vegetativen Bewegungsabläufe wie etwa ihre Atmung – waren davon ausgenommen. »Was stelle ich nur mit dir an?«, fragte Karinjo in diesem Moment. »Warum fresse ich nicht einfach dein Herz und bin dich so für immer auf elegante Art und Weise los?« Nicoles Herz blieb vor Entsetzen stehen, doch dann siegte ihre Vernunft. »Wenn du das vorhast, warum hast du mich dann erst hierher geschleppt?«, fragte sie und wunderte sich selbst über ihre Kühnheit. »Du brauchst mich doch, du verdammter Mistkerl!« Sie spuckte dem Dämon vor die Füße. Dieser schien sich über Nicoles Wutausbruch köstlich zu amüsieren. »Menschen!«, sagte er spöttisch. »Wie sie gegen ihr Schicksal aufbegehren, wenn man ihnen ihre Freiheit nimmt. Nichts hat sich geändert in all den Jahren, gar nichts!« Nicole beschloss, keine weitere Reaktion zu zeigen. Da auch der Dämon schwieg, kehrten automatisch die grüblerischen Gedanken zurück. Trotz ihrer trotzigen Worte – wie sie es auch drehte und wendete, es sah verdammt schlecht aus. Natürlich würde sie Karinjo als Geisel dienen, damit dieser Zamorra und wohl auch Tilogue in eine Falle locken konnte. Und natürlich würden beide jedes Risiko eingehen, um sie zu befreien. Der Dämon jedoch würde auf keinen Fall fair spielen – wenn ihr Chef und Tilogue jede Bedingung erfüllt hatten, würde er Nicole ohne mit der Wimper zu zucken töten, ehe er daran ging, seine eigentlichen Gegner zu vernichten. Die Zukunft sah überhaupt nicht rosig aus … Plötzlich spürte sie, wie etwas in sie eindrang und ihren Geist überflutete. Ein tiefer Schrecken durchzuckte sie, und sie dachte zuerst an eine weitere Attacke des Dämons. Deshalb versuchte sie sich irgendwie innerlich dagegen zu wehren, wollte ihre innerste Intimsphäre
schützen. Doch schon bald wurde ihr die Wahrheit bewusst. Nicht Karinjo meldete sich auf diese Art bei ihr, sondern Francois Tilogue … Wir kommen, um dich zu retten, Nicole. Habe keine Angst, wir haben einen Plan … Sie hörte die Stimme in ihren Gedanken wispern. Was soll ich tun?, dachte sie zurück. Warte ab … Ich komme zurück, und dann wird Zamorra bei mir sein. Du musst versuchen, den Dämon dazu zu bringen, auf jeden Fall hier zu warten. Ihr dürft diesen Platz nicht verlassen, hörst du? Nicole dachte einen bestätigenden Impuls und spürte, wie sich Tilogue aus ihr zurückzog.
Professor Zamorra fiel es schwer, den Wagen mit angemessener Geschwindigkeit hinunter ins Dorf zu fahren. Es juckte ihn, schneller zu fahren, als es eigentlich angemessen war. Dabei gab es nicht einmal einen Grund für seine Eile – Tilogue konnte in wenigen Sekunden zurückkehren, es konnte aber ebenso noch stundenlang dauern; es gab keine Erfahrungswerte. Möglicherweise musste Zamorra im Dorf also noch lange warten. Kommissar Malice, der jetzt wieder er selbst war, hatte nach einigen Erklärungen von Seiten Zamorras darum gebeten, eine Flasche Wein und ein Bett zur Verfügung gestellt zu bekommen; Zamorra hatte keinen Grund gesehen, ihm das zu verweigern. Malice sollte auf die Weise mit den Ereignissen, die auch sein Leben auf den Kopf gestellt hatten, umgehen können, wie es ihm gefiel. Zamorra fuhr ins Dorf hinein, und er hielt den Wagen im Zentrum auf dem kleinen Parkplatz einer Kneipe, der mit gewaltigen Pfützen übersät war. Wenn man das überhaupt noch Pfützen nennen kann, dachte Zamorra. Das sind ja schon Seen. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Wenn ihn jemand durch das Fenster der Kneipe beobachtete, musste derjenige sich stark wundern. Da hielt ein Fremder – wahrscheinlich hatte es sich im Dorf schon längst herumgesprochen, dass er der neue Besitzer von Château Montagne war – vor der Kneipe an
und hatte nichts Besseres zu tun, als sitzen zu bleiben. Zamorra überlegte, auszusteigen, der Wirtschaft einen ersten Besuch abzustatten und sich dort auch offiziell vorzustellen. Er plante, nicht der fremde und unnahbare Schlossbesitzer zu sein, den die Bewohner nach dem Tod des zwar einsiedlerischen, aber umgänglichen Louis de Montagne möglicherweise erwarteten. Andererseits konnte Francois Tilogue in seiner jetzigen Erscheinungsform jederzeit zurückkehren, und dann war Eile geboten. Wenn Zamorra also abfahrbereit blieb, konnten sie wertvolle Sekunden gewinnen. Darüber hinaus verspürte der Parapsychologe angesichts des Ungewissen Schicksals von Nicole Duval wenig Lust, gemütlich ein Bierchen zu trinken. Dann war es so weit. Tilogue kehrte zurück … Wie sie es vereinbart hatten, stellte Zamorra sich für das Geistwesen als Gastkörper zur Verfügung, allerdings so, dass sie beide voll handlungsfähig blieben. Zamorras Bewusstsein wurde nicht unterdrückt, und Tilogue fand einen Anker und eine Möglichkeit, zu handeln und sich mitzuteilen. Ich habe sie gefunden. Wo ist sie? Nicht weit von hier, in einem unzugänglichen Waldstück. Wir werden den Wagen etwa einen Kilometer davon entfernt abstellen und uns dann einen Weg quer durch das Unterholzz bahnen müssen. Ich bin bereit. Welche Richtung? Das Zwiegespräch lief gedankenschnell ab und nahm keine messbare Zeitspanne in Anspruch. Ebenso erhielt Zamorra sofort nach seiner Frage das Wissen um den Standort des Dämons und seiner Geisel. Er drehte den Zündschlüssel, trat die Kupplung und gab Gas. Als er eine der Pfützen durchquerte, trug das bis dahin saubere Auto eine ordentliche Portion Schlamm davon, doch das war dem Parapsychologen, der zum Dämonenjäger geworden war, völlig gleichgültig. Er jagte den Wagen über die Straße, bog bald darauf in einen Waldweg ab und strapazierte die Stoßdämpfer bis zum Äußersten.
Während der etwa fünfzehnminütigen Fahrt besprach – oder bedachte – er mit Tilogue das weitere Vorgehen. Die Ungeduld brannte unter seinen Nägeln. Dann stellte er endlich den Wagen ab und sprang ins Freie. Den Zündschlüssel ließ er stecken; es war nicht zu erwarten, dass irgendjemand gerade jetzt hier vorbeikam und auch noch zu allem Überfluss das Auto stahl. Andererseits konnte es sehr wohl sein, dass Zamorra und Nicole rasch fliehen mussten – und da war es wenig hilfreich, erst noch mit fahrigen Fingern den Wagenschlüssel suchen zu müssen, einen mordlüsternen Dämon im Rücken. Der Parapsychologe betrat den Wald. Er kam rasch voran. Einige Male musste er zwar über Wurzeln und Unterholz springen, aber seine grimmige Entschlossenheit trieb ihn voran. Wir sind gleich da. Weniger als fünfzig Meter. Ich weiß. Wir müssen leise sein. Natürlich. Es wird Zeit. Ich verlasse dich jetzt. Im selben Moment fühlte sich Zamorra auf eigenartige Weise einsam und unendlich allein. Tilogue hatte sich aus ihm zurückgezogen und hinterließ eine seltsame Leere. Doch der Moment ging vorüber. Zamorra nahm das Amulett in die Hand. Sein Herz klopfte rasch, doch nicht von dem schnellen unwegsamen Lauf durch den Wald. Dann sah er Karinjo. Er brannte nicht – natürlich nicht, sonst wäre der Wald um ihn herum längst eine Flammenhölle, in der auch seine Geisel gestorben wäre. Zamorra verbarg sich hinter einem breiten Baum. Gleich – jeden Moment musste es so weit sein. Die Spannung in dem Parapsychologen stieg auf ein fast unerträgliches Maß an. Seine Hand verkrampfte sich um das Amulett. Dann hörte er die Stimme Nicoles und wusste, dass Tilogue die Regie über ihren Körper übernommen hatte. »Karinjo, du solltest mich freilassen!«, rief sie, was ein dröhnendes Lachen zur Folge hatte. »Und warum, Weib? Ist es dir unbequem geworden?«, spottete der Dämon. »Halte nur noch ein wenig aus, dann werde ich meine
Feinde in eine Falle locken und ihnen als Begrüßung deinen hübschen Kopf präsentieren. Was meinst du, wo sollte ich ihn am besten platzieren? Hier vorne?« »Deine Henker sind hier«, antwortete Tilogue ungerührt durch Nicoles Mund. Dann ließ er ihren Körper sich erheben. »Du – du bist frei? Du hast den Bann abgeschüttelt?«, stieß Karinjo hervor. Mit einem Fluch wirbelte er herum. In dieser Sekunde musste er die Wahrheit ahnen. Die Schlinge um seinen Hals zog sich zu … Zamorra sprang hinter seiner Deckung hervor. Er spürte, dass das Amulett sich erwärmt hatte. Die Flammen um Karinjo loderten von einer Sekunde auf die nächste hoch auf, höher, als Zamorra es je gesehen hatte. Sofort entstanden kleinere Brände um ihn herum. Gleichzeitig sprang er auf Nicole Duval zu und umarmte sie mit einer tödlichen Flammenhölle. Doch das Feuer wurde erstickt, als Tilogue zum Gegenangriff überging. Nicole Duval trug keine Schäden davon. Dann war der Dämon umzingelt. Tilogue setzte ihm auf geistiger Ebene hart zu, und Zamorra presste das Amulett auf seinen Rücken. Karinjo brüllte vor Schmerzen und Wut, bog seinen Körper und seine Gliedmaßen, versuchte, seine spitzen Zähne in den Leib Nicole Duvals zu schlagen. »Dein Ende ist gekommen«, sagte Nicole/Tilogue voller Triumph. »Deines auch …«, stöhnte Karinjo. In diesem Moment schrie Nicole unmenschlich auf, und etwas löste sich aus ihrem Körper. Eine zerfasernde schwammige Nebelgestalt. Es musste die Essenz Francois Tilogues sein, die sichtbar wurde … Das Etwas verfügte über grob menschliche Gestalt, doch es zerfloss immer wieder, ehe es wirklich feste Konturen annehmen konnte. Eine Aura unendlichen Schmerzes legte sich drückend auf Zamorras Bewusstsein. Er empfand in diesen schrecklichen Sekunden alles, was auch Francois Tilogue empfand. Da wusste er, was vor seinen Augen geschah. Der Dämon starb, doch er riss Tilogue mit sich ins Verderben. Karinjo wandte eine zerstörerische Magie an, die Ti-
logues Geist vernichtete. Er schoss die Energien, die durch seinen eigenen Tod freigesetzt wurden, auf seinen Gegner ab. »Du kannst … nicht entkommen«, spuckte Karinjo mit letzter Kraft aus. »Mein Tod ist auch … der deine …« Im gleichen Maße, in dem Karinjos Körper schwächer und schwächer wurde, bis er schließlich durchscheinend geworden war, verdichtete sich die Gestalt Tilogues. Sie wandte sich um und stieß wimmernde Laute aus. Zamorra war gezwungen, völlig hilflos zuzusehen. Nicole Duval rollte sich weg und gelangte so aus der unmittelbaren Nähe des unheimlichen Geschehens. »Und dich, Zamorra, verfluche ich«, stöhnte der Dämon. »Jemand anderes wird dein Henker sein. Irgendeiner meiner dämonischen Brüder … wird dich vernichten …« Dann hörte Karinjo auf zu existieren. Das, was von seinem Körper noch übrig war, zerpulverte in der Dauer eines Wimpernschlags zu feinem mehligen Staub, der zu Boden rieselte. Doch Zamorra konnte keinen Triumph empfinden. Weder über den Tod des Dämons, noch über die gelungene Befreiung Nicole Duvals. Denn gleichzeitig starb auch Francois Tilogue. Seine halb manifeste Gestalt war plötzlich von Rissen durchzogen. Vor den geweiteten Augen Zamorras und Duvals zerbröckelte Tilogue – das, was seit Karinjos Rückschlag Tilogues Körper ausmachte, schrumpfte in sich zusammen, und gleichzeitig verwehte auch sein Bewusstsein, verlor sich in den endlosen Weiten des Nichts. Jetzt – endlich …. tönte es in Zamorras Kopf auf, voll unendlichem Schmerz, Trauer und Sehnsucht.
11. Nachwehen [ …] Ausschüttung des Wehenhormons Oxytozin. Dieses führt zu Kontraktionen der Gebärmutter, die als Nachwehen spürbar sind und eine Verkleinerung des Uterus zur Folge haben, ein Vorgang, der die Abheilung der großen Wundfläche in der Gebärmutter erleichtert. Dieter Lüders »Lehrbuch für Kinderkrankenschwestern, Band II«
Professor Zamorra und Nicole Duval kehrten unversehrt ins Château zurück. Raffael berichtete ihnen, dass Kommissar Malice die Flasche Wein geleert und sich in sein Gästezimmer zurückgezogen hatte. »Er sagte, er werde sich melden, sowie er wieder bei Bewusstsein ist«, gab der Diener mit hochgezogenen Augenbrauen weiter. Sein Unverständnis über diese Handlungsweise stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. »Der Schlaf sei ihm von Herzen gegönnt«, erwiderte Zamorra. »Madame Tilogue hingegen ist wach und wartet in der Bibliothek auf Sie. Ich habe mir erlaubt, sie mit allem zu versorgen, worum sie bat.« »Wenn es nicht gerade eine Urkunde ist, die ihr das Château überschreibt, bin ich damit völlig einverstanden«, meinte Zamorra, was ihm einen verwunderten Blick Raffaels einbrachte. Der Diener würde sich noch an die lockere Art seines neuen Herren gewöhnen müssen … Als Raffael Bois sich zurückgezogen hatte, warf Zamorra einen Blick zu Nicole. »Wir werden Isabelle eine schlimme Nachricht überbringen müs-
sen«, seufzte er. Dabei dachte er an Bill Fleming, den er nun völlig umsonst aus Amerika hierher beordert hatte. Der Freund würde wieder einmal eine unglaubliche Geschichte zu hören bekommen. Isabelle Tilogue, die Frau, die nun endgültig Witwe geworden war, nahm Zamorras Bericht mit Fassung auf. »Als … Francois zuletzt mit mir sprach, allein, da hat er mir genau das angekündigt. Er meinte, er werde sich wahrscheinlich opfern müssen.« Sie atmete schwer ein. »Er sagte auch, es sei wohl das Beste so. Weißt du, Zamorra, Francois ist schon vor langer Zeit gestorben. Sein Mörder ist nicht Karinjo, sondern Dr. Arcaro Ramondo.« »In diesem Zusammenhang«, erwiderte Zamorra leise, »erhalten die letzten Worte Francois' eine völlig neue Bedeutung. Jetzt, endlich, hat er gesagt. Offenbar sehnte er seinen eigenen Tod herbei.« Die Worte durchdrangen die Stille, die nach Isabelles Äußerung entstanden war. Doch wirklich zu trösten vermochten sie nicht.
Ich bin frei. Endlich und endgültig. Karinjo ist vernichtet, und ich habe mit Isabelle mein Schicksal geklärt. Sie wird trauern, so wie ich auch trauere, nur wird meine Trauer ewig währen, während ihre vergehen wird. Ich wünsche ihr Glück, alles Glück. Ich lasse die Erde wieder hinter mir, wie schon einmal, doch diesmal werde ich nie wieder zurückkehren. Ich werfe einen letzten Blick auf die blaue Kugel, die den Menschen namens Francois Tilogue hervorgebracht hat, die seinen Tod und seine Auferstehung als Acharat erlebt hat, die die vielen Tode erlebte, die Acharat starb … … und auf der ich über meinen Feind Karinjo triumphierte. Er wollte mich töten, mit in seinen eigenen Tod reißen. Lächerlich.
Epilog Es wurde ernst in der Hölle, das spürten alle, die dort lebten. A. F. Morland: »Die Hölle stirbt«, Tony Ballard 200
Nachdem die Ereignisse um die Feuerdämonen und ihren Herren Karinjo auf diese Weise tatsächlich ihr Ende gefunden hatten, begann für Professor Zamorra und seine Sekretärin Nicole Duval eine turbulente Zeit. Er nahm seinen festen Wohnsitz auf dem Château, und sie folgte ihm als seine Privatsekretärin. Platz genug bot das Schloss seiner Vorfahren allemal. Ob im Dorf der versteinerten Monster oder in der Teufelsklause, ob im Totenreich des Ghouls oder in den Klauen der Mumie – überall trafen sie auf Dämonen und die Mächte der Finsternis. Sie kämpften gegen den Scharfrichter, gegen den Werwolf … erlebten die Nacht der mordenden Leichen, schlugen sich mit dem Hexenmeister ebenso herum wie mit einem würgenden Skelett, es verschlug sie in das Todesschloss, in die Knochengrube, sie trafen den Dämonenknecht und den Schreckenskult … Und sie siegten! Immer wieder fand Zamorra den Weg, seine finsteren Feinde auszuschalten, nicht zuletzt mit der Hilfe seines Freundes Bill Fleming. Und trotz allem, trotz der Tatsachen, die in Zamorras Augen absolut klar auf dem Tisch lagen, blieb Nicole Duval skeptisch, immer wieder geriet gerade sie in Gefahren, aus denen Zamorra sie erst in letzter Sekunde retten konnte. Doch er erkannte ein tief in ihr verborgenes Potential und war nahezu überzeugt davon, dass sie dereinst selbst eine aktive Kämpferin gegen das Böse werden würde. Bald brach ein neues Jahr an, und neue Feinde tauchten auf. Der
Morddämon. Die Hexenschwestern. Die Bestien aus dem Schattenreich. Der Satansdiener. Das Ungeheuer aus dem Eis. Der Höllenlord. Die Tiefsee-Monster. Der Schädeljäger – ja, sogar die Dämonengöttin und Draculas Erbe. Als sie auf den Zombie-Macher trafen, fühlte sich Zamorra unangenehm an Dr. Arcaro Ramondo und das tragische Schicksal seines Dieners Acharat erinnert … Menschen gerieten in die Klauen der Vampire, Zamorra erlebte die Wolfsnacht, betrat die Schreckenskammer, sah die Rache der Medusa und Satans eigene Schrift. Er fuhr auf dem Todesfluss und erkannte: Bei Vollmond kommt das Monster. Die Braut des Henkers tauchte auf, sie gerieten in die Grotte der Gerippe, stoppten die Invasion der Monster, zerstörten das Teufelsauge … Und lange beschäftigten sie sich mit dem Rätsel von Schloss Montagne, das ein dunkles Erbe seines Vorfahren Leonardo de Montagne darstellte, als dieser im Jahr 1103 vierzig Bettelmönche im Château lebendig einmauern ließ … Und der Kampf ging weiter, immer weiter. Neue Gegner kamen aus dem Schattenreich. Zamorra und Nicole gingen zum Turm der Verlorenen und vernichteten die Nebelgeister. Die Treppe ins Nichts stellte sie vor scheinbar unlösbare Rätsel. Und sie vernichteten Gegner um Gegner um Gegner: den Herrn der Wilden Wasser, den Flammenteufel, die Geisterfürstin, die Dämonen aus dem Eis, den blauen Tod, den Hexer aus der Todeszelle, den Dämon aus der Tiefe, den Hüter des Bösen, Hata, die Hexe aus dem Sumpf. Sie betraten unheimliche Orte wie das Haus der Verfluchten, die Schlucht der Vampire, die Teufelshöhle, den Höllenschlund, das Meer der mordenden Hände, den Hexenberg, die Mühle der Toten … Und dann spielte der Stein des Satans eine große Rolle – und wieder war es Zamorras Urahn Leonardo de Montagne, dessen geheimnisvolles Leben bis in die Gegenwart von höchster Bedeutung war. Aufgrund eines Hinweises in einer alten Familienchronik fanden sie eine geheime Kammer in Château Montagne und darin ein Bild, das Leonardo zeigte – und es wurde deutlich, dass Leonardos Leben weit mehr Geheimnisse barg, als bislang zu ahnen war. Zamorra dämmerte, dass sein Urahn noch einmal eine große Rolle spielen würde. Doch an das, was viel später geschehen sollte, reichte seine Fantasie bei weitem nicht heran.
Zum Nachdenken blieb kaum Zeit: Der Teufelsring machte von sich reden, und die Nacht der gelben Kutten, der tödliche Zauber und die Dämonenrache. Die drei Kämpfer Zamorra, Nicole und Bill vernichteten den Teufelskraken, den Söldner des Teufels, das Phantom der Insel, das Gespensterschiff, Zanos, des Teufels rechte Hand, die Hexe von Los Angeles, den Feuergötzen, den Guru aus dem Totenreich, Satans Doppelgänger … Sie erlebten die Geisternacht, das Gericht der Toten, die Panik in der Geisterhöhle, die Falle im Todesschloss, die Arena der Verdammten … sie hörten die Schreie in der Hexengruft … und viele andere Schlagworte brannten sich in ihre Erinnerung ein: Die Brücke ins Jenseits. Die Ruine des Hexers. Die Insel der Zyklopen. Das tödliche Tagebuch. Die Oase der Verfluchten. Das Floß der Verdammten. Die Ruine des Hexers. Luzifers Bücher. Das Höllentor. Die Hexennacht. Es verschlug sie ins Geisterreich der Wikinger, ins Schloss des teuflischen Zwerges, ins Labyrinth der grünen Henker … Sie erlebten es mit, als die Knochenreiter kamen. Sie erfuhren: Das Grauen lauert in Soho. Sie kämpften gegen Yama, den Totengott und die Seelenfänger. Doch dann … … dann änderte sich Einschneidendes. Sie entdeckten eine Funktion des Amuletts des Leonardo de Montagne, die ihnen bisher völlig unbekannt geblieben war. Das geschah in der Schule der Dämonen. Und als sie danach noch auf die Meeghs trafen, da wurde langsam, zunächst noch beinahe unmerklich, alles anders. Ganz anders. ENDE
Vorschau Der Weg zur Quelle von Christian Montillon Im Jahr 1220 spürt Arthur, dass seine Langlebigkeit zu Ende geht. Da naht Hilfe von fremder Seite – doch kann Arthur dem geheimnisvolle Rheged ap Llewellyn trauen, der ihm und seinem Freund Eckehardt von der Quelle des Lebens berichtet? Bald treten die beiden Dämonenjäger einen Weg an, der für sie beide zum Schicksal wird – denn die Dämonen treiben ihr eigenes Spiel und reißen die Kontrolle an sich … an einem Ort, den bisher nur wenige Auserwählte überhaupt zu Gesicht bekamen …