Das Buch Britannien im frühen Mittelalter. Der alte, an Halluzinationen leidende Zauberer Merlin führt ein unstetes Leb...
77 downloads
1157 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Buch Britannien im frühen Mittelalter. Der alte, an Halluzinationen leidende Zauberer Merlin führt ein unstetes Leben unter Bettlern und Wegelagern, bis ihn König Uther Pendragon zu sich rufen lässt. Uther ist der mächtigste Herrscher in dem von keltischen Kleinkönigen und Fürsten beherrschten Inselreich, das von einfallenden Sachsen und Angeln bedroht wird. Der König begehrt Igraine, die Frau eines verfeindeten Herzog, und Merlin soll ihm zum Erfolg verhelfen. Obwohl die erste Begegnung des verrückten Magiers mit dem König beinahe in Mord und Totschlag endet, ist es der Beginn einer langen Zusammenarbeit. Mit Hilfe des Zauberers gelingt es Uther, in die Gestalt seines Widersachers zu schlüpfen und mit Igraine einen Thronfolger zu zeugen - den späteren König Artus. Doch das Leben des jungen Prinzen ist am Königshof in Gefahr und so übergibt König Uther das Kind an Merlin, der die große Zukunft des Jungen in Visionen gesehen hat. Als Pflegesohn eines Herzogs wächst Arthus unerkannt auf, bis Merlin Jahre später mit ihm zum See Avalon zieht, wo Brigid, die Göttin des Nebels, das heilige Schwert Excalibur bewahrt. Hier, im sagenhaften Feenreich, entscheidet sich Artus' Schicksal, doch im Kampf um die Krone kann nur der mächtige Zauberer Merlin dem künftigen König zum Sieg verhelfen. Der Autor Der amerikanische Schriftsteller J. Robert King wurde bereits mit Romanen zu phantastischen Spieleserien bekannt, bevor er mit Merlins Fluch sein erstes großes Fantasy-Epos schrieb. Der Autor lebt und arbeitet in Burlington, Wisconsin.
J. R OBERT K ING
Merlins Fluch Roman
Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Band-Nr. 01/13870 Titel der amerikanischen Originalausgabe Deutsche Übersetzung von Walter Brumm Deutsche Erstausgabe 09/2003 Redaktion: Joern Rauser Copyright © 2000 by J. Robert King Die Originalausgabe erschien bei Tor Books, New York Copyright © 2003 der deutschsprachigen Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München Der Wilhelm Heyne Verlag ist ein Verlag der Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG. Printed in Germany 2003 Umschlagbild: Ciruelo/Agentur Schluck GmbH Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Gesetzt aus der AGaramond Druck und Bindung: Bercker, Kevelaer http://www.heyne.de
MAD MERLIN
ISBN: 3-453-87198-7
Erstes Buch
Wahnsinn
Für Elias, den kindlichen kleinen König, der mich rettete
Prolog
Jeder scheint mich zu kennen. Nach fünfzehnhundert Jahren erinnern sich die Menschen meiner. Jeder kennt Merlin. Natürlich freue ich mich darüber. Auch Sie lächeln im Wiedererkennen, nicht wahr? Es gab eine Zeit, da kannte ich nicht einmal mich selbst. Ich war wahnsinnig. Ich war verloren. Das Geheimnis meiner Herkunft war sogar mir verborgen. Dieses Geheimnis aufzudecken, beschritt ich einen mühsamen und gefahrvollen Weg. Ich würde diese Wanderung nicht überlebt haben, hätte ich nicht einen Freund zur Seite gehabt, einen jungen Mann, den auch jeder kennt. Dies ist die Geschichte darüber, wie wir entdeckten, wer wir waren. Dies ist die Geschichte von König Artus und dem verrückten Merlin ...
1. Der Heideweg
»Geh und hol den alten Merlin!«, schnaufte der schwitzende Ulfius verdrießlich vor sich hin. »Geh und hol den alten Merlin!« Erbost riss der Krieger sich die Panzerhandschuhe von den Fingern, als er auf dem sandigen Heideweg dahin stapfte. Dann kam der Topfhelm herunter. Schweißnasse schwarze Locken fielen bis auf die Schultern. Feine Tropfen bespritzten den Ringpanzer und glänzten in der Nachmittagssonne. Sein Überwurf mit dem Wappen der Pendragon wies unter den Schultern und auf Brust und Rücken dunkle Flecken auf, und aus der Halsöffnung schien Dampf zu steigen. Sogar der Stechginster am Wegrand sah freudlos aus. »Warum muss ich immer die miesen Aufträge übernehmen?« Tatsächlich gab es für die Krieger in Uther Pendragons Dienst keine angenehme Beschäftigung. In Friedenszeiten gehörte das Ausheben von Gräben zu den Tätigkeiten, die der König seinen Kriegern mit Vorliebe auftrug. Latrinengräben, Entwässerungsgräben und Straßengräben. Wann immer Uther mit etwas unzufrieden war, mussten die Verantwortlichen oder die, die er dafür hielt, mit Schaufeln und Spaten antreten. Zur Zeit war der König von Britannien sehr unzufrieden. Er begehrte Igraine, die Herzogin von Dumnonia. Zweihundert Meilen Straßengräben und die ausgedehntesten Latrinen Britanniens hatten sie nicht für ihn gewinnen können. Igraines Gemahl, Herzog Gorlois, blieb mit Hofhaltung und adligem Gefolge auf seinem Stammsitz Burg Terrabil, nicht eingeschüchtert durch all die Grabungen. Und so »Geh und hol den alten Merlin!« Ulfius blickte finster drein. Dunkle Brauen senkten sich über stahlgraue Augen. Er war zu alt für diesen Dienst. Mit zweiunddreißig war er ein erfahrener Krieger. Er hatte für Ambrosius ge 3
kämpft. Er hatte gegen Vortigern gekämpft. Und nun war er Uthers Mann. Diese drei waren die größten Herrscher, die Britannien seit den Zeiten der Römer gesehen hatte — wenn irgendein Herrscher seit der Römerzeit groß genannt werden konnte. Es hatte Constantine und Caesaren gegeben, gewiss, aber nur dem Namen nach. Selbst König Uther beherrschte nur das untere Drittel der Insel, und auch das nur nominell. Und wann immer er oder ein anderer selbst ernannter König von Britannien beunruhigt oder ratlos war, schickte er nach Merlin. Der verrückte alte Magier hauste angeblich auf dem Hügel, der sich weiter vorne über das wellige Heideland erhob. Der Hügel bot einen Furcht erregenden Anblick, da er an den Kopf eines Riesen gemahnte - eines piktischen Riesen mit rasierten Schläfen und einem wilden Haarschopf darüber. Obwohl Schafe das Gras an den Hängen des Hügels kurz hielten, mieden sie die Kuppe. Dort wuchs das Gras hüfthoch, und struppiges Heidekraut reichte einem bis an die Schultern. Da und dort reckten knorrige Eichen ihre krummen Äste zum Himmel. Es war dort nicht geheuer, und das spürten sogar die Schafe. Es war ein Ort wie viele andere in Britannien. Überall dort, wo eine der alten Römerstraßen außerhalb einer Stadt oder Befestigung durch unbebautes Ödland führte, zog sie Bettler und Kesselflicker und Landstreicher an. Dort hausten sie auf ihren unsteten Wanderungen zeitweilig in schlichten Hütten, unbehelligt von Obrigkeiten in einer zwanglosen Gesellschaft Verrückte, Briganten, Besessene und Geächtete. Sie warteten auf Einzelreisende, die zu schwach oder zu ungeschickt waren, um sich zu verteidigen, oder hofften auf die Fuhrwerke reicher Handelsleute, die vielleicht mildtätig genug waren, ihnen ein paar Münzen zuzuwerfen. Dort, dachte Ulfius, unter den Ausgestoßenen, würde Merlin zu finden sein. Es war ein ermüdender Aufstieg. Ulfius befestigte die Panzerhandschuhe am Gürtel seines Überwurfs, aber nun schlugen sie bei jedem Schritt gegen seinen linken Oberschenkel. Man hatte 4 ihm geraten, sein Pferd im Stall zu lassen. Pferde wirkten aufreizend auf das Gesindel. Er war der Überzeugung, ein Mann auf einem Pferd müsse reich sein. Diese Leute kämpften mit Knüppeln und scharfkantigen Steinen, und wenn sie verrückt genug waren, auch mit Nägeln und Zähnen. Aber was konnte ehrenhaft daran sein, Verrückte zu erschlagen? »Besser einen Verrückten erschlagen als selbst einer werden«, brummte Ulfius. Schweiß prickelte in seinem Nacken. Das dicke Wollhemd unter seinem Ringpanzer sog sich langsam voll. Die Handschuhe rutschten immer wieder aus dem Gürtel und fielen zu Boden. Endlich, als er schon glaubte, selbst verrückt zu werden, kam das Ziel in Sicht. »Ah, da sind sie, die Galgenvögel.« Wo der Weg die Hügelkuppe umrundete und auf der anderen Seite zur Römerstraße hinabführte, bot sich ein abstoßender Anblick. Auf einer roh herausgehackten Lichtung im Dickicht der Schlehen und Weißdornsträucher, wo der abfallende Hang in beiden Richtungen freie Sicht auf die Römerstraße gewährte, stand eine lockere Ansammlung elender Behausungen. Die Besten und Größten waren Rundhütten aus Stangen und einfachem Flechtwerk, abgedeckt mit Grassoden, wie es bei den keltischen Barbaren der Brauch war. Andere waren aus dem Holz zerbrochener Wagen, Überresten von Verschlagen, Fassdauben, Planen und anderem Gerümpel erbaut, das man Reisenden hatte abschwatzen können. Ein paar Behausungen waren nicht mehr als in den Hang gegrabene
Löcher, die mit Stücken von Eichenborke abgedeckt waren, um den Regen fern zu halten. Die armen Teufel, die dort lebten, hätten Uthers Latrinen geräumig und hell gefunden. Die schilfgedeckten Dächer der besseren Hütten waren schwarzgrau von Ruß, ein Hinweis darauf, dass im Inneren ein Herdfeuer brannte und ein Verstand am Werk war, der Feuer beherrschen konnte. Die Bewohner dieser Hütten mussten Briganten sein, die von Wegelagerei und Raub lebten, oder vielleicht Kesselflicker, umherziehende Gaukler und Taschendiebe, wie man sie auf Jahrmärkten antreffen konnte. Kaum hatten ein paar struppige Hun 5 de mit wildem Gebell den Ankömmling gemeldet, da steckten schon einige der Bewohner rote, wettergegerbte Gesichter aus ihren schmutzigen Löchern. Beim Anblick von Ulfius' Rüstung kam ein begehrlicher Glanz in ihre Augen. Bald kamen auch die übrigen Strauchdiebe und armen Schlucker zum Vorschein. Wer etwas zu verkaufen hatte, brachte es mit, als sie sich am Weg versammelten, Ulfius zu erwarten. Beschädigte Amphoren, fleckige Halstücher, abgenutztes Zaumzeug, zerrissene Satteldecken, Schweinsblasen, die angeblich geistige Getränke enthielten, verbotene Schriften - alles, was römische Münzen einbringen könnte. Die Ärmsten der elenden Gesellschaft hatten nichts zu verkaufen; es waren Verrückte, Besessene, Aussätzige und Geächtete. Bettler. Sie krochen aus ihren ungesunden Löchern und hielten je nach Temperament in hoffnungsloser Stumpfheit oder unruhig flackernder Gier die Hände auf. Ulfius zog es den Magen zusammen. Die nächsten Augenblicke würden knifflig sein. Merlin musste einer von diesen zerlumpten Verrückten sein, aber um ihn zu finden, würde Ulfius einen Briganten oder Jahrmarktsschwindler fragen müssen. Sie beherrschten die Heide — zumindest die Fähigeren und Rücksichtsloseren unter ihnen. Bei allem Schmutz, aller Armut und Krankheit hatte diese Versammlung eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Britannien als Ganzem. Tyrannei und Armut. Sie waren die einzigen Mittel, die übrig blieben, um das Volk zu einen. Ulfius hatte keine römischen Münzen bei sich. Sie waren das begehrteste Zahlungsmittel. Andere Münzen waren untergewichtig oder mit Eisen vermischt. Die von den Pendragon geschlagenen Münzen waren so minderwertig wie alle anderen, aber sie waren alles, was Ulfius besaß. Zwanzig Schillinge füllten einen Beutel unter seinem Überwurf. Er hatte das unbehagliche Vorgefühl, dass Schillinge und Überwurf bald dahin sein würden. Er ging zu einer alten Frau, die neben Reisigbündeln saß. Es war eine zahnlose Hexe. Ihre Haut war zu rissigen braunen 5 Furchen gebacken, ihre Augen boten Schlitze zwischen faltigen Lidern. »Brennholz«, krächzte sie, als Ulfius vor ihr stehen blieb. »Brennholz.« Er winkte ab. »Danke, nein. Ich brauche kein Brennholz —« »Jeder braucht Brennholz.« Die zerlumpte Kleidung der Frau roch nach Rauch und Alter. »Ich suche jemanden —« »Ich bin jemand —« »Einen Verrückten. Der Mann, den ich suche, ist ein verrückter Alter, und du bist gewiss nicht verrückt«, schmeichelte er ihr. »Auch bin ich kein Mann, aber das erwähntest du nicht«, erwiderte sie. Die Bettler drängten näher, die Hände wie Krallen ausgestreckt. Ein gemurmeltes Lamentieren hob an, rissige Lippen enthüllten lückenhafte schwarze Zähne. Einer versuchte seine Handschuhe wegzureißen.
Ulfius schlug ihm auf die Finger. »Zurück!« Die Bettler krümmten sich, wichen zurück. Sie waren wohlvertraut mit drohenden Worten und Gebärden. Die Wirkung dauerte nur einen Augenblick an, dann drängten sie wieder vorwärts, und ihr Wehklagen hob von neuem an. Ulfius beugte sich über die Frau. »Weißt du, wo ich Merlin finden kann?« »Ich verkaufe Brennholz«, erwiderte die alte Hexe. Ulfius zog den Geldbeutel und ließ die Münzen klimpern. »Wenn ich Brennholz kaufte, würdest du mir verraten, wo ich Merlin finden kann?« »Ich denke schon«, sagte die Alte. »Ein römisches Silberstück pro Bündel.« »Ein römisches Silber-« Ulfius überwand seine Empörung und lächelte. »Ich besitze keine römischen Münzen, aber ich habe Geld von Pendragon.« Er nahm einen Schilling mit Daumen und Zeigefinger aus dem Beutel und zeigte ihn ihr. 6 Sie spuckte aus. »Ich gebe kein gutes Brennholz für dein Pen-dragon-Geld. Und ich gebe Merlin nicht dafür her. Geh zurück zu deinen Palisaden.« Ulfius wedelte mit der Hand und bemerkte zu spät, dass sein rechter Panzerhandschuh verschwunden war. »Nein, du missverstehst mich. Ich will Merlin nicht gefangen nehmen. Ich möchte ihn mieten.« »Ich bin Merlin!«, meldete sich ein Mann, der Ulfius' linken Handschuh trug. Der Krieger nahm ihm seinen Handschuh ab und musterte den Dieb. Der war weißhaarig, in Lumpen gehüllt, abgezehrt, wild blickend, mit fahrigen Bewegungen. Ulfius hatte Merlin zuletzt vor zehn Jahren aus der Ferne gesehen, aber der Zauberer hatte nicht besser als dieser ausgesehen. »Du bist Merlin?« Ein anderer Verrückter, noch etwas zerlumpter und skrofulöser als der Erste, antwortete: »Nein, ich bin Merlin.« Der Ruf wurde von der Horde der schmierigen Bettler aufgenommen. »Nein, ich bin Merlin!« »Ich bin Merlin!« »Ich bin Merlin!« Plötzlich war jede dieser heruntergekommenen Jammergestalten der verrückte Magier. Sogar die Alte mit den Reisigbündeln meldete sich. Sie war eine der wenigen, die Ulfius sofort aussondern konnte. Doch die meisten der anderen konnten der Gesuchte sein. Sie umdrängten ihn, überschrien einander, bettelten, zogen an seinen Kleidern, versuchten ihm den Geldbeutel mit der Zugschnur zu entreißen. Jeder wirre Verstand wollte den Namen zu seinem oder ihrem Vorteil gebrauchen. »Genug!«, rief Ulfius, zog das Schwert und schwenkte es über ihren Köpfen. Zitternd wichen die Verrückten zurück. Das Geschrei erstarb auf ihren Lippen. »Das ist besser. Ihr mögt alle wie Merlin aussehen, wie er reden und sogar riechen, aber nur einer von euch kann es sein. Darum schlage ich einen Wettbewerb vor. Der Gewinner, der wahre Mer 6 lin, wird diesen Geldbeutel bekommen und mich zu Uther Pendragon begleiten, wo große Reichtümer auf ihn warten.« Frohe und glückliche Geräusche entstiegen der zerlumpten Bande. »Aber alle Verlierer — jeder, der zu Unrecht von sich behauptet, Merlin zu sein, und meine Zeit mit Lügen verschwendet, wird sofort nach Aufdeckung seiner Falschheit erschlagen. Nun, wer unter euch ist Merlin?«
Das brachte die Bande zum Schweigen — alle bis auf zwei Verrückte, dieselben, die zuerst ihre Ansprüche angemeldet hatten. Vielleicht war einer der Magier. Vielleicht keiner von beiden. Vielleicht waren beide zu verrückt, um die Folgen einer Lüge zu übersehen. Ulfius war bekümmert. Es widerstrebte ihm, einen dieser armen Verrückten zu töten. Er stieß sein Schwert in die Scheide und winkte die beiden zu einem ebenen freien Platz, wo das Gras niedergetreten war. »Verteilen wir uns ein wenig, damit mehr Platz ist. Beginnen wir also mit dem Wettstreit, und möge der beste Merlin gewinnen.« Ulfius blickte suchend umher, bis sein Blick auf einen geeigneten Stein fiel, der halb aus dem Gras ragte. »Gut. Merlin Eins — das ist dein offizieller Titel für den Wettstreit -, du musst deine magischen Kräfte beweisen, indem du den Stein dort nur durch Magie emporhebst.« Der Verrückte stapfte hinüber zu der Stelle, kauerte nieder und starrte die glatte Rundung des Steines an. Dann zog er die Brauen hoch. »Das wird eine Kraftleistung sein -« »Nicht zu schwer für den großen Merlin«, erklärte Ulfius. »Nein«, knurrte Merlin Eins. »Nein, in der Tat.« Er krümmte und streckte die Finger, dass die Gelenke knackten, spuckte in die Hände und begann einen schwerfälligen Tanz. Ulfius verschränkte die Arme vor der Brust — und bemerkte, dass seine Handschuhe beide verschwunden waren. Zornig musterte er die Umstehenden. Die fehlenden Handschuhe waren nir 7 gends zu sehen. Alle schauten unschuldig drein; die Bettler nutzten die Gelegenheit, ihm von neuem flehentlich die Hände entgegenzustrecken. Jemand in diesem Gedränge ungewaschener Körper hatte eine beachtliche Fingerfertigkeit. Nachdem Merlin Eins den Stein umtanzt hatte, gipfelte sein Anrufungszauber in einer Serie fruchtloser Gebärden mit beiden Händen. Dann gab er mit den Worten auf: »Der Stein ist zu groß. Er sitzt zu fest im Boden.« Ulfius seufzte. Was sollte er mit diesem armen Narren anfangen? »Du kannst nicht der echte Merlin sein.« Merlin Eins schnaubte. Mit erneuerter Kraft nahm er seinen kunstlosen Holzschuhtanz wieder auf. Merlin Zwei sah mit ungeduldiger Erheiterung zu. »Was erwartest du vom Sohn eines Inkubus?« Und dann geschah, was niemand erwartet hatte. Der Stein bewegte sich - und nicht nur das. Er schob sich aus der Umarmung von Erde und Gras aufwärts. Ulfius blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen. Der Stein stieg aus dem Boden. Obwohl auch er einen Augenblick starr vor Staunen stand, nahm Merlin Eins seinen Tanz wieder auf. Er betonte die stoßenden, schiebenden Armbewegungen, die dem Stein den ersten magischen Ruck gegeben hatten. Jetzt gab es kein Halten mehr. Dumpfes Rumpeln drang aus dem Inneren der Erde, die Grasnarbe um den Stein brach auf, und es schob sich ein Felsen empor, der anhaftende Erdbrocken abschüttelte und vier - acht - zwölf * Fuß hoch aus der Erde wuchs. Seine unteren Partien waren nass und schwarz. »Merlin?«, keuchte Ulfius ungläubig. Der Fels, dessen sichtbarer Teil mehr als doppelte Mannshöhe erreicht hatte und den größten Megalithblöcken der alten Heiligtümer gleichkam, schob sich allmählich ganz aus der Erde und hinterließ ein gähnendes Loch. Anhaftender Schlamm und Lehm löste sich vom Gestein und fiel in den brunnenähnlichen Schacht. 7
Merlin Eins stand auf einer Seite des Mammutfelsens und gestikulierte aufgeregt. »Siehst du? Ich bin Merlin. Ich bin Merlin!« Diese Folgerung schien ihn selbst genauso zu überraschen wie alle anderen. »Wohin, möchtest du, dass ich den Stein lege?« Ulfius stieß den angehaltenen Atem aus, zuckte die Achseln und murmelte: »Irgendwohin.« Ein verderblicher Einfall schoss dem Verrückten durch den Sinn. Er wandte sich zu Merlin Zwei und krümmte beide Zeigefinger in seine Richtung. Sofort neigte sich der massive Felsblock und wuchtete schwer auf den überraschten Betrüger nieder. Die Erde erzitterte, und eine dunkle Lache sickerte unter dem mächtigen Findling hervor. »Du sagtest, der falsche Merlin würde sogleich sterben«, sagte Merlin Eins. »Ich ... ich ... du hast ihn umgebracht!«, stammelte Ulfius. Der Felsblock kam erneut in Bewegung. Plötzlich schnellte er vom plattgeschlagenen Boden hoch, wo er gelandet war. In der leichten Mulde, die er hinterließ, setzten sich zerschmetterte Knochen, Fleisch und Blut neuerlich zusammen. Merlin Zwei nahm unter dem ragenden Stein Gestalt an. Körpersäfte und Blut durchströmten die zerrissenen und wieder zusammengefügten Gefäße, und aus dem neu gebildeten Gesicht funkelten zwei finster blickende Augen. Merlin Zwei war verärgert über das Ergebnis des Wettbewerbs. Er klatschte in die Hände. Ein Geräusch wie das schmetternde Krachen eines Blitzschlages ertönte, und der Findling spaltete sich in zwei Hälften wie zwei Hände, die im Begriff sind, zwischen ihren Flächen eine Fliege zu erschlagen. Merlin Eins war diese Fliege. Es kam ein zweiter blutiger Augenblick. Der erste Merlin spritzte zwischen den zusammenschlagenden Hälften des Felsens heraus und besprühte die Versammlung. »Du - du hast ihn getötet ... Du bist Merlin?« Die Tropfen blieben nur einen Augenblick auf den Gesichtern und Kleidern. Rote Flüssigkeit sammelte sich im Spalt, die Hälf 8 ten des Steines flogen auseinander. Merlin Eins bildete sich neu. Auch er war zornig und riss die Hände hoch. Die zwei Hälften des Felsblocks flogen in entgegengesetzte Richtungen. Ulfius duckte sich sofort, um nicht geköpft zu werden. Als er sich aufrichtete, sah er sich inmitten eines improvisierten Zauberwettstreites. Die Merline Eins und Zwei standen im Zentrum des Kampfes, aber alle anderen bis zum letzten Verrückten nahmen daran teil. Die Hände einer Frau schleuderten Blitze. Ein nach Fäulnis stinkender Wirbelsturm zog seine Bahn durch die Versammlung. Ein paar Idioten bekamen Krallen und lange Fangzähne, andere wurden in Zwitterwesen von Mensch und Tier verwandelt. »Sie können nicht alle Merlin sein!«
2. Von Baumstümpfen und Träumen
Er muss ein Krieger sein. Und er sucht mich. Wache Augen, ein scharf geschnittenes Gesicht, verschwitzt und ungeduldig. Er hat das Aussehen. Nun ändert es sich. Plötzlich scheint er ein Kind zu sein. Das Kind. Der Junge verfolgt mich in meinen Träumen. Sein Gesicht hat die Farbe des Mondes. Ein Geweih ragt aus seinem blonden Haar. Zwei Flüsse entspringen seinen Augen. Seine Zunge ist ein Schwert, das meilenweit herausragt. In einer Hand hält er einen goldenen Becher. Es verleiht ihm Ähnlichkeit mit dem Jungen Jesus,
aber er ist nicht Christus. In der anderen Hand hält er die Schlüssel zur Hölle. Er ist nicht Christus als Junge. Er verfolgt mich in meinen Träumen, und nun steht er hier und fragt nach mir. Weißhaarig und in zerrissenen Lumpen saß Merlin auf einem Eichenstumpf und überblickte die Heide. Er konnte nichts von dem hören, was passierte. Der Eichenstumpf befand sich auf der 9 Leeseite des Hügels, und Merlin hatte eine Familie von Feldmäusen ausgesandt, um für ihn zu spionieren. Sie hatten Freunde zusammengerufen, und bald zog eine lange Reihe der winzigen Geschöpfe durch das hohe Gras. Die Stimmen der Nager waren dünn und äußerst schrill, und ihre Botschaften hörten sich verwirrend an. Trotzdem konnte Merlin eine sichere Schlussfolgerung daraus ziehen. »Der Krieger ist wirklich auf der Suche nach mir.« »Verlass dich nie auf Feldmäuse«, sagte eine markige Stimme. Merlin erschrak nicht. Er war Lokis Possen gewohnt. Der listenreiche Helfer und Spaßmacher unter den Göttern besuchte ihn öfter. Niemals erschien er in seiner eigenen Gestalt; er sprach nur durch Vogelgesang oder das Knacken von dürren Zweigen unter dem Fuß. Jetzt sprach er durch den Baumstumpf, auf dem Merlin saß. Vielleicht war es ungehörig, auf einem Gesprächspartner zu sitzen, aber Merlin wusste, dass es Loki nichts ausmachen würde. Der Gott und der Verrückte verstanden sich. »Verlass dich nie auf Feldmäuse«, wiederholte der Stumpf. »Einmal ließ ich eine Mäusefamilie in mir wohnen. Sie hatten versprochen, nicht zu knabbern, aber dann taten sie es Tag und Nacht. Weißt du, wie es ist, wenn etwas Tag und Nacht in deinen Eingeweiden knabbert und nagt?« »Ja, Loki. Still jetzt«, sagte Merlin und klopfte sanft auf den Baumstumpf. Das richtete mehr Schaden an, als er beabsichtigt hatte, denn der alte Eichenstumpf war morsch. Merlin schob weiße Haarsträhnen vom Ohr zurück und hielt eine vom Alter knotige Hand an die Ohrmuschel. »Die Mäuse sagen, dass die Mondbrüder behaupten, ich zu sein. Sie sagen, dass alle verrückten Leute behaupten, ich zu sein, und der gepanzerte Krieger hat ihnen zum Beweis abverlangt, dass sie mit der Kraft des Zaubers einen Stein aus der Erde ziehen.« Merlin blinzelte, dann sperrte er die Augen auf. Sie waren hellblau unter buschigen Brauen. »Deshalb tanzt David jetzt. Er versucht den Stein herauszuziehen. Siehst du es?« 9 »Natürlich nicht«, sagte Loki. Dieser Stumpf hat keine Augen.« Draußen auf der Heide arbeitete sich ein Stein aus der Erde und schob sich in die Höhe. Sein Rumpeln erreichte das Ohr des alten Magiers. »Hebst du diesen Stein, Loki«, fragte Merlin, »oder bin ich es?« »Ich bin es«, erwiderte Loki. »Lass den Krieger denken, ein anderer sei Merlin. Krieger bedeuten immer Unheil.« »Aber er sieht dem Jungen so ähnlich«, sagte Merlin. »Dem in meinen Träumen, weißt du.« »Ah, dem Christus.« »Der Junge ist nicht Christus«, brummte Merlin. »Ach ja, der Nicht-Christus. Der Junge mit der Schwertzunge und dem Geweih. Selbst ein blinder Baumstumpf kann sehen, dass dieser Krieger keine Ähnlichkeit mit dem Jungen hat.« »Aber er könnte den Jungen kennen. Er könnte über die Schlüssel Bescheid wissen —«
»Die Schlüssel zu deinem Wahnsinn?«, erwiderte Loki. »Gib das auf, Merlin. Wer bist du, ohne deine Verrücktheit? Wer ist Merlin ohne Wahnsinn?« »Ja, wer ist Merlin«, seufzte der alte Mann bekümmert. Die Frage war nur zu berechtigt. Er konnte sich nicht an das erinnern, was er vor einer Stunde getan hatte, geschweige denn, wer er wirklich war. Er konnte sich nicht erinnern, wo er gewesen war und mit wem er gesprochen hatte. Er erinnerte sich der Geschichte, als ob sie sein eigenes Leben gewesen wäre, und vergaß sein eigenes Leben, als ob es Geschichte wäre. Götter und Sterbliche, Mythen und Wahrheiten waren in seinem Geist ununterscheidbar. Träume drangen in seine Tage ein. Träume und Albträume. Es war ein elender Zustand, aber der einzige Zustand, den er kannte. »Wer ist Merlin?« Er wedelte abwehrend mit der Hand. Die Geste war unbesonnen. Auf der Leeseite des Hügels stürzte der Monolith um und erschlug den Mondbruder Brynn. Merlin erschrak und umklammerte den Baumstumpf. Der er 10 schrak auch, hatte aber nichts zu umklammern. Ein winziges Angstgepiepse setzte sich durch die Reihe der Mäuse fort. Als es Merlins Ohren erreichte, winkte er wieder mit der Hand. Der Stein sprang auf wie ein Mann, dem es peinlich ist, gestürzt zu sein. Auch Brynn sprang auf. Zerschmetterte Rippen und zersplitterte Rückenwirbel fügten sich zusammen. Blutstropfen und Lachen flogen durch die Luft, um die wiederhergestellten Adern und Muskeln zu beleben. Im Nu war der zerschmetterte Verrückte wieder vollständig. Die Mäuse zwitscherten Staunen und Bewunderung. »Das war gut gemacht«, sagte Loki. »Wie konntest du wissen, was ich tat?«, fragte Merlin. »Du hast keine Augen.« »Die Mäuse sagten es mir.« »Du verlässt dich nicht auf Mäuse.« »Richtig, aber du tust es, und du träumst mich.« »Verdammt«, sagte Merlin. Dies geschah allzu oft. Merlin befand sich inmitten von etwas Wundervollem, und dann stellte sich heraus, dass alles ein Hirngespinst war. Selbst seine überzeugendsten und klarsten Augenblicke waren von Wahnvorstellungen getönt. Andererseits berührten seine delirantesten Träume tiefe Wirklichkeiten. Irgendwo in diesem Wust verrückter Konfusion lag sein Geheimnis, die Wahrheit seiner Vergangenheit. So sehr er es versuchte, nie konnte er es enträtseln. Chiffre lag über Chiffre in einem mächtigen Wall von Geheimnis, der ihn umgab. Mit jedem Tag wurde er höher. »Bist du sicher, dass du ein Traum bist, Loki?«, fragte Merlin enttäuscht. »Du und die Mäuse und die Mondbrüder und der gepanzerte Krieger?« »Oh, der Krieger ist wirklich. Aber was mich und die Mäuse betrifft — wir sind wahrscheinlich bloß Flöhe und Läuse.« »Du kamst mir schon manchmal lausig vor.« »Nun, Merlin. Willst du hier sitzen bleiben und mit mir reden, 10 obwohl du weißt, dass ich ein Traum bin, oder willst du hingehen und erfahren, was dieser gepanzerte Krieger von dir will?«
Statt einer Antwort sandte der Magier einen glutvollen Gedanken über die Heide und den Hügel hinweg, und der ferne Felsblock wurde gespalten und klappte um den anderen Mondbruder zusammen. »Wenn dies ein Traum ist, will ich mein Vergnügen daran haben.« Merlin stellte den in Lumpen gehüllten Verrückten wieder ganz her und begann Blitze aus seinen Fingerspitzen zu skizzieren. Rauch und Schreie erfüllten den Schauplatz des Geschehens zwischen den Hütten. Jammergeschrei ertönte. Energieentladungen schleuderten Körper in die Luft. Es war ein typischer Traum — all diese bläulichweiße, überspringende Energie. Bald langweilte es Merlin. Er warf ein paar Tiere in das Durcheinander. Feldmäuse waren nette Geschöpfe, selbst wenn sie nur geträumt waren. Kaninchen waren auch nett, und Hermeline - besonders wenn sie drei Stockwerke groß waren. Sie sprangen in lächerlichen Schaustellungen durch das Chaos der Magie. Verrückte, Wegelagerer und Kesselflicker flohen vor den riesenhaften Tieren, nur um zertrampelt zu werden. Merlins Traum gingen die Figuren aus. Aber nicht lange. Er vergrößerte ein Mädchen zu einer Riesin, angetan mit titanischen Kleidern und bewaffnet mit einer kolossalen Gerte. Damit peitschte sie die Menge. Wo die Gerte traf, veränderten sich die Verrückten. Zwei bekamen die Hinterquartiere von Pferden und sprangen wie zornige Centauren umher. Zwei andere wurden Ungeheuer mit Schlangenkörpern. Einer, der ins Gesicht getroffen wurde, entwickelte einen Elefantenrüssel, den er gebrauchte, um der Riesin die Gerte zu entreißen. Andere unterstützten den Angriff. Aus einem Dritten spann sich ein graues Spinnennetz, das die Riesin umwickelte, bis sie in einem Kokon gefangen war. 11 »Du weißt, wie es ist«, sagte Merlin mit einem zerstreuten Gähnen. »Wenn eine Einbildung angenehm ist, möchte man ihr Dauer verleihen.« »Ich weiß, wie es ist«, erwiderte Loki angesichts des wüsten Getümmels. »Darum sind wir so gute Freunde. Wir verstehen einander, und du sorgst für eine glänzende Aufführung.« »Ja.« Merlin erhob sich ächzend und reckte die Arme. »Nun, wie du sagst, da ist ein echter Krieger gekommen, der wie der Junge aussieht. Ich muss zu ihm. Lebewohl, Loki.« »Lebewohl, Merlin«, antwortete der Baumstumpf. »Ich hoffe, du wirst den Jungen mit den Schlüsseln finden, deinen zukünftigen König.« Merlin winkte ihm zum Abschied und ging über die Heide und um den Hügel zur Hüttensiedlung. Manchmal war es lustig, mit Magie zu spielen. Merlin konnte nahezu alles ausführen, was ihm in den Sinn kam. Und er hatte nahezu alles getan, was seine Fantasie sich ausmalte. Reichtum und Ruhm bedeuteten ihm nichts. Merlin zog es vor, Baumstümpfe zum Sprechen zu bringen, Grillen in der lydischen Tonart zirpen zu lassen, Katzen das Lächeln zu lehren ... Jeder kleine Zauber half eine feindliche Außenwelt mit seinem inneren Empfinden zu versöhnen. Bisweilen aber war die Bürde der Magie kaum zu ertragen. Sie schoss durch Fleisch und Knochen, Blut und Gehirn, und er hörte Baumstümpfe sprechen, nicht aber die Menschen. Es entnervte seinen Körper für Tage und Wochen, während die Magie Geist und Seele auf Furcht erregende innere Suchexpeditionen führte. Nur wenn er starb, erkannte er, dass dies Träume waren, denn im Gegensatz zu anderen können Verrückte in ihren Träumen sterben.
Und so verließ Merlin den Loki-Baumstumpf und wanderte hinüber zur Hüttensiedlung, wo der glänzende Krieger wartete. Als er in Sichtweite kam, ließ er seiner Fantasie freien Lauf. »Diese Frau dort - sie gleicht beinahe einer Diana.« Merlin be 12 wegte die Finger, und ein Bogen wuchs in ihrer Hand. Aus den Mauskundschaftern in ihrem Umkreis wurden springende Hirschkühe, die Begleiterinnen der Göttin. »Und wo es eine Diana gibt, muss es auch eine Venus geben.« Merlin wählte das älteste, dürrste und gebeugteste Weiblein in der Gruppe, um sie in die Gewänder der Liebesgöttin zu kleiden. Auch versah er sie mit den körperlichen und metaphysischen Vorzügen der Liebesgöttin. »Und dort, dieser rothaarige Kaledonier mit den muskulösen Armen ...« Ein beiläufiger Gedanke von Merlin gab ihm ein blitzendes, Funken sprühendes Schwert. »Und schließlich die Kinder der Götter. Dieser Bursche mit dem goldenen Haar soll einen feurigen Streitwagen besteigen.« Aus Stauden und Weidenbüschen bildeten sich Pferde, Zügel formten sich aus Lichtstrahlen. Der Streitwagen wurde zur Verkörperung der Sonne, der Jüngling zu niemandem anders als dem feurigen Phaeton. Merlin näherte sich dem Schauplatz des Geschehens. Wenn es dort vor seiner Zauberei chaotisch zugegangen war, schien es jetzt die pure Hölle zu sein. Die Riesin hatte sich in ihrem Netz verfangen und schlug blindlings um sich. Mehrere ihrer vormaligen Kameraden lagen bereits mit zerschmetterten Gliedern hingestreckt. Diana erlegte Männer durch Herzschüsse mit Pfeilen, die nichts von Amors liebenswürdigen Geschossen hatten. Der schwertbewehrte Mars hatte Venus rücklings gegen einen Felsen gedrängt. Über alledem trug Phaeton die zerstörerische Glut der feurigen Sonnenscheibe. Sie starben zu Dutzenden, aber was machte es aus? Es waren Träume. Ach ja, dachte Merlin, welche Walstatt würde vollständig sein ohne Walküre? Seit der Plünderung Roms durch die Westgoten unter Alarich hatten die mythischen Jungfrauen, die die gefallenen Helden nach Walhall geleiteten, sogar bei den Römern Fuß gefasst. Merlin nickte einer Gruppe verängstigter Bettelmädchen zu, die abseits des Geschehens kauerten. Die fünf Kinder standen auf. Ihre grauen Lumpen verwandelten sich in golddurchwirkte Prachtgewänder. Sie schrien vor Angst. Ihr Geschrei verwandelte 12 sich in den Gesang von Göttinnen. Gehörnte Helme erschienen auf ihren blondgezopften Köpfen. Speere wuchsen in ihren Händen. Spektrale Streitwagen und Pferde bildeten sich unter und vor ihnen. Sie rollten über das Feld der Gefallenen und zogen die Toten zu sich hinauf. Dabei schrien die Mädchen so jämmerlich in Schrecken und Verzweiflung, dass Merlins Herz für sie geblutet hätte, wären sie nur mehr gewesen als ein Traum. Ja, es war köstlich, verrückt zu sein. Wenigstens war es kaum langweilig. Merlin trat in die Mitte des wilden Gemetzels. Unberührt von dem wüsten Treiben ringsum ging er auf den finster blickenden Krieger zu und sprach: »Ich bin Merlin. Ich bin der Mann, den du suchst.« »Ich bin Merlin«, sagte der weißhaarige Alte zu Ulfius. »Ich bin der Mann, den du suchst.« Verblüfft starrte Ulfius den Neuankömmling an. Sein Blick ging unwillkürlich über das Chaos, das den Boden und die Luft vor ihm erfüllte. Gute drei Dutzend der Bewohner des armseligen Hüttendorfes lagen bereits tot durcheinander, mit gespaltenen Schädeln, durchschnittenen Kehlen, die Herzen oder Gedärme von Pfeilen oder Speeren durchbohrt. Ulfius war ein Veteran, der fünf Feldzüge mitgemacht hatte, aber niemals hatte er ein
derartiges Gemetzel gesehen. Sein Blick fand zurück zu dem struppigen weißen Haar des Mannes vor ihm. »Du bist der Urheber von alledem?« Der Alte nickte. »Es ist mein Traum.« Ohne zu überlegen holte Ulfius aus und schlug dem Mann ins Gesicht. Es klatschte laut, und die Wucht warf den Bettler zur Seite. »Dann hör auf damit, um Gottes willen!« Im Augenblick des Schlages hörte das irrsinnige Wüten der Greueltaten auf. Der alte Mann hielt sich taumelnd mit einer Hand die gerötete Wange, dann richtete er sich auf und starrte mit einem Ausdruck, der zugleich durchbohrend und zerstreut wirkte, in Ulfius Augen. »Es ist kein Traum?« 13 Ulfius zeigte auf die grausige Stätte. »Das Blut ist echt genug!« Bleiche Verzweiflung geisterte über das runzlige Gesicht des Alten. »Der Stumpf hatte gesagt, es sei ein Traum.« Er machte eine ausgreifende Gebärde. Die Geschöpfe der Luft stürzten krachend zu Boden. Riesengestalten schrumpften. Ungeheuer nahmen menschliche Gestalt an. Die Toten saugten auf, was sie an Blut oder Gehirn verloren hatten. Alle standen auf und starrten einander an. Pfeile lösten sich in ihren Leibern auf. Blut wich aus den zerlumpten Kleidern und fand zurück in die Adern. »Ich bin ein wenig verwirrt«, sagte Merlin traurig. Ja, Merlin, denn dies musste wirklich der verrückte Magier sein, den Uther suchte. »Wer ruft mich?« Wie er zuvor unüberlegt zugeschlagen hatte, ließ Ulfius sich jetzt auf ein Knie nieder. »Ich bin Ulfius, adliger Gefolgsmann König Uther Pendragons. Du wirst im Zelt des Königs gewünscht, um an einem Kriegsrat teilzunehmen.« Der alte Mann schien zu überlegen. »Wirklicher Krieg oder Traumkrieg?« »Was immer«, erwiderte Ulfius müde. Er stand auf. »Uther befiehlt es.« »Nun denn«, sagte Merlin, scheinbar erleichtert, aber zugleich ernüchtert. »Ich gehe.«
3. Des Königs Speisekammer
Kaum hatte Merlin die Worte gesprochen, da kratzte er sich unter dem Bart und verschwand. Ulfius stand da und traute seinen Augen nicht. Die Bettler gafften ihn an. Sie waren noch zerlumpter als zuvor - entnervt, erschöpft und verwirrt. Viele von ihnen waren getötet und wieder zum Leben erweckt worden, einschließlich der 13 zwei Verrückten, die behauptet hatten, Merlin zu sein, und gleich dreimal gestorben waren. Sie alle waren mit Hoffnungen, ihr Los zu verbessern, aus ihren schmutzigen Löchern und Verschlagen gekrochen, und würden nun verängstigt wieder hineinkriechen. »Ist jemand verletzt?«, fragte Ulfius. Die Leute schüttelten die Köpfe. Ihre Münder hingen verblüfft offen, Augen starrten verständnislos. »Gut«, sagte Ulfius. Er stieß das Schwert in die Scheide, dann erst fiel ihm ein, wohin der Zauberer gegangen sein musste. Er reckte den Kopf und spähte den Weg entlang. »Er hat ein Pferd genommen«, murmelte er zu sich selbst. Nun war Eile geboten. Ulfius verbeugte sich vor der abgerissenen Versammlung. »Seid bedankt für eure Hilfe.« Darauf machte er kehrt und eilte den Weg zurück, den er gekommen war, zu den Belagerern der Burg Terrabil. Schweiß troff ihm von Stirn und Kinn, seine Kleider klebten an der Haut. »Geh
und hol den alten Merlin ... Er hat ein Pferd genommen ... der Stumpf sagte mir, es sei ein Traum ...« Der Rückweg hatte den Vorteil, dass es bergab ging. Trotzdem war Ulfius in höchster Unruhe. Auf Schritt und Tritt bedrängten ihn Zwangsvorstellungen von dem Unheil und den Schrecken, die Merlin unten im Feldlager verbreiten würde: Uther als Rheintochter gekleidet, die Belagerungsgräben bis zum Überfließen angefüllt mit Hirsebrei, Burg Terrabil bevölkert von grässlichen Mischwesen, Herzog Gorlois in ein tollwütiges Schwein verwandelt ... Die Möglichkeiten waren endlos - und endlos schien ihm auch der meilenweite Weg zurück zum Belagerungsheer. War Britannien unter Uthers Herrschaft auch heruntergekommen, so hatte doch eine gewisse Ordnung bewahrt werden können. Wenn Merlin anfing, für Uther zu zaubern, würde bald der Wahnsinn regieren. Vielleicht konnte Ulfius es noch verhindern, wenn er schnell genug handelte. Vielleicht konnte er Merlin ablenken ... Nach einer langen Wegbiegung erreichte Ulfius ein Plateau 14 über der See. Weiter voraus war der Boden von Schaufeln und lehmbeschmierten Karren aufgewühlt. Zelte waren zu beiden Seiten des Weges halbkreisförmig angeordnet. Hinter ihnen lag der Versammlungsplatz. Kochfeuer schwelten und zwischen den Zelten und den Belagerungsgräben herrschte ein Kommen und Gehen. Ulfius schauderte beim Gedanken an die Gräben — Schlamm, zäher Lehm, verdrießliche, dreckbeschmierte Krieger, und nicht eine Frau im Umkreis von Meilen. Unweit vom Feldlager thronte die Burg Terrabil auf einem Vorgebirge über der See. Merlin konnte hier überall sein. Als Ulfius näher kam, gewahrte er die heftige Bewegung einer Zeltwand des königlichen Feldpavillons neben dem Küchenzelt. Etwas oder jemand schien dort um sich zu schlagen. Eine große Schar Neugieriger hatte sich eingefunden. Lehmbeschmierte Krieger und Trossknechte starrten in fassungslosem Schweigen. Gelegentlich wurde es von Ausrufen, Auflachen und Pfiffen unterbrochen. Zeltpfosten erzitterten unter ungesehenen Stößen, Zeltplanen schlugen hin und her. Ein Warnruf ertönte, dann krachte etwas Großes und Metallisches zu Boden. Die von den Grabungsarbeiten beschmutzten Männer sprangen zurück, um einer plötzlichen roten Flutwelle zu entgehen. »Uthers Weinfässer!«, murmelte Ulfius. Er setzte sich in Trab und rannte zum Zeltlager hinunter. Als er die Zuschauermenge erreichte, stieß er sich mit den Ellbogen durch das Gedränge. Dort, im Hintergrund des königlichen Feldpavillons, wo Kriegsrat gehalten wurde und die königliche Tafel stand, wühlte ein in Lumpen gehüllter Dachs geschäftig zwischen den Fässern in der königlichen Speisekammer. Merlin. Er schnaufte und pustete aufgeregt. Seine Hände schlugen auf ein Faß, Holz splitterte und eine weiße Mehlwolke staubte empor. Als wäre er unvertraut mit der Verwendung von Mehl, schöpfte Merlin eine Handvoll in den Mund, kaute prüfend und begann zu husten, dass es bis zu den Stühlen an der königlichen Tafel staubte. 14 »Nein, nein, nein!«, rief Ulfius. Er stieg über umgeworfene Stühle und Gegenstände, was die Zuschauer mit Heiterkeit quittierten. »Nein, Merlin, das darfst du nicht!« Der Magier blickte auf. Sein weißer Bart war mit Mehl bestäubt, wo er nicht von herabgetropftem Fett verfärbt war. Eine Hand hielt eine neu entdeckte Speckseite gepackt.
Zwei kräftige Bissen fehlten bereits. Der Verrückte stand kauend da und machte kreisförmige Handbewegungen, die andeuteten, dass er sprechen würde, sobald sein Mund leer wäre. »Da bist du ja. Uther ist nicht hier. Ich roch Essen.« Der abgezehrte, gebeugte alte Mann in den weingetränkten Lumpen war offensichtlich ausgehungert. Ulfius' zorniger Tadel blieb unausgesprochen. Er ging ruhig näher und entwand Merlin die Speckseite. »Nur langsam. Ruiniere nicht deinen Appetit. Ich bin sicher, dass der König dich festlich bewirten wird.« »Ach, ich kann immer essen«, sagte Merlin und tätschelte ihm begütigend den Arm. Eine Veränderung kam in seine Züge, und durch die Maske aus struppigem weißen Haar, wettergegerbter, faltiger Haut, Fett, Mehl und Wein leuchtete ein beglücktes Lächeln. »Du meinst, Uther wird froh sein, mich zu sehen?« Ulfius musterte den verrückten Alten skeptisch. Daran hatte er noch nicht gedacht. »Ja, gewiss. Er wird hocherfreut sein«, log er. »Schlag mich der Donner! Wer zum Henker hat meinen Pavillon geplündert?«, rief eine unverkennbare Stimme vom Zelteingang. »Für jede Unze, die von meinem privaten Vorrat fehlt, muss mir der Übeltäter ein Pfund Fleisch geben -« Obwohl Ulfius wusste, dass auch er nicht ungeschoren davonkommen würde, ermannte er sich, klopfte den Mehlstaub von den Lumpen seines Gefährten und drehte Merlin herum, dass er dem König gegenüberstand. »Erlaube mir, dass ich dich vorstelle.« Uther trat näher. Gesicht und Hals waren dunkel angelaufen, als suchte das Blut nach einem Ausweg. Fleischige Hände, dicke Arme, schwarzes Haar und Bart — Uther war ein einziger geballter 15 Muskel in einem schimmernden Ringpanzer. Er wandte sich zum Eingang und brüllte über die Schulter: »Zurück an die Arbeit, ihr Hurensöhne!« Darauf fuhr er mit gleicher Lautstärke fort: »Was hat diese Schweinerei zu bedeuten?« Ulfius gelang eine höfische Verbeugung. »König Uther von Britannien, darf ich Euch den mächtigen Zauberer Merlin vorstellen.« Der König unterdrückte einen Wutausbruch. Gotteslästerliche Flüche wirbelten in den roten Adern seiner Augen. Er funkelte den Eindringling an, sah die Lumpen und Essensreste, die unsteten wässerigen Augen in dem abgemagerten Gesicht und wandte sich zu Ulfius. »Bist du ganz sicher?« »Die Götter von Rom und Sachsen sind herabgestiegen und haben es mir gesagt«, erwiderte Ulfius. Erleichtert beobachtete er, wie der König sich abmühte, seinen verletzten Stolz zu bemeis-tern. »Darf ich hinzufügen, dass ich selbst gesehen habe, wie dieser Mann Menschen unter gewaltigen Steinblöcken zerschmetterte, lebendig verbrannte und dann bewirkte, dass sie einander erschlugen — nur um sie am Ende wieder zusammenzusetzen und lebendig zu machen?« Uther merkte auf. Zorn machte Achtung Platz, diese einer ungewissen Furcht. Die Furcht wurde zu Enttäuschung, als der König den am Boden vergossenen römischen Wein betrachtete. »Nun denn, Meister Merlin ... danke, dass Sie meinem Ruf gefolgt sind.« Merlin verneigte sich. Sein Rücken war mit Senf beschmiert. »Danke, dass Ihr mich bewirtet habt.« »Ja«, erwiderte der König. »Vielleicht sollten wir Sie säubern und dann mein privates Zelt aufsuchen.« Merlin sah entrüstet auf. »Ich bin noch nicht fertig mit dem Essen!«
Ulfius schaltete sich ein. »Angesichts des ausgehungerten Zustandes unseres bedeutenden Gastes würde ich vorschlagen, dass Ihr die Unterredung hier führt - weit entfernt von Eurem priva 16 ten Zelt und den dort vorhandenen Wertsachen. So kann der Magier seine Mahlzeit fortsetzen.« »Ganz recht«, sagte der König. Sein dunkelrotes Gesicht hatte inzwischen zu fiebrigem Rosa verfärbt. »Ja. Ulfius, bereite Plätze an einem der kleinen Tische.« Der Krieger beeilte sich, dem Befehl nachzukommen, stellte Stühle auf, verschob Tische und wischte sie ab. Er eilte zur Wäschetruhe, nahm ein zusammengelegtes Tischtuch aus rotem Samt heraus und legte es über einen Tisch. Dann drapierte er passende Sitzbezüge über die Stühle. Während er arbeitete, betrachteten der Magier und der König einander schweigend. Unbehagliches Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, erreichte aber nie ihre Augen. Ulfius beendete seine Vorbereitungen und bedeutete dem König mit einer Verbeugung, dass er sich setzen möge. Uther ließ sich würdevoll auf dem hölzernen Stuhl nieder, den seine bloße Gegenwart in einen Thron verwandelte. »So, da wären wir. Sie mögen sich zu mir setzen, Meister Merlin.« Der Zauberer nickte und lächelte mit den Augen. »Und Ihr mögt Euch zu mir setzen.« Uthers Miene verfinsterte sich und Merlin fugte rasch hinzu: »Königliche Hoheit.« Bevor er sich dem König gegenüber setzte, eilte er beiseite und rollte ein Rad Käse herbei. Als er sich auf seinen Platz niederließ, packten seine verwitterten Hände unfachmännisch den Käse und brachen große Stücke heraus. Seine bemerkenswert gesunden Zähne bissen durch Rinde und Käse. Ulfius hatte sich unterdessen außer Hörweite zurückgezogen. Sein früherer Umgang mit jedem der beiden Männer überzeugte ihn, dass es hier zu einer Begegnung kommen würde, die er am besten aus der Ferne beobachtete. »Ich weiß nicht, wie viel Ulfius Ihnen erzählt hat«, begann der König in ruhigem Ton. Merlin kaute herzhaft und machte ein erstauntes Gesicht, als er ein Stück der gewachsten Rinde schluckte. »Er war so freundlich, 16 mir zu sagen, dass ich die Schlacht beim Hüttendorf nicht träumte. Ich weiß Weitblick in solchen Angelegenheiten zu schätzen, da ich niemals ganz sicher sein kann, was wirklich ist. Sogar ein Traum kann sagen, er sei wirklich.« »Ja, ja«, erwiderte Uther verwirrt. »Nun, die Schlacht hier unten auf der Ebene ist kein Traum. Es handelt sich um einen Grenzkrieg. Herzog Gorlois wollte einem Ruf seines Königs nicht Folge leisten. Es ist Verrat.« Er beugte sich verschwörerisch über den Tisch. »Um die Wahrheit zu sagen, es ist ein Grenzkrieg, doch geht es nicht um Land, sondern um eine Frau! Igraine! Sie ist eine Frau, die das Blut zum Kochen bringen kann!« »Das Blut zum Kochen ...«, murmelte Merlin mit einem seltsamen Lächeln. Er schloss die Augen, und ein ekstatischer Ausdruck kam in seine Züge. »Ja.« Er nickte eifrig. »Ich verstehe.« Er machte eine Handbewegung zu Ulfius hin. »Wie wäre es mit einer oder zwei Flaschen Wein?« Ulfius blickte achselzuckend zum König und wartete auf die Erlaubnis. Uther nickte widerwillig.
Während der Krieger zwei Karaffen füllte und zum Tisch trug, bemühte sich Uther, den Faden seiner Erzählung wieder zu finden. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Igraine ... Ihr Gemahl ist ein Verräter, und wir belagern seine Burg, um ihn zur Übergabe zu zwingen. Sobald Herzog Gorlois geschlagen ist, kann Igraine mein sein.« »Ich kannte einst eine Frau, die das Blut zum Kochen bringen konnte«, sekundierte Merlin. Er hielt inne, um ein zerkautes Stück Wachs aus dem Mund zu ziehen. »Nun, eigentlich keine Frau. Sie war eine Kuh. Dann gab es eine andere Frau, die das Blut gefrieren lassen konnte - hässliche Physiognomie, wissen Sie.« »Ich brauche Ihre Hilfe, Meister Merlin«, drängte der König. »Britannien braucht Ihre Hilfe. Gorlois ist ein Verräter, aber gerissen und gut bewaffnet und verproviantiert. Ich brauche Sie, um seine Mauern zu durchbrechen. Bringen Sie ihn heraus zu mir. 17 Lebendig, natürlich, damit er ordnungsgemäß gehängt, zu Hackfleisch gemacht und den Hunden vorgeworfen werden kann.« »Sehr schön. Ich mag Hackfleisch.« Merlin lehnte sich zurück, als Ulfius ihm einen Becher und eine Karaffe mit schäumendem Rotwein aus Gallien vorsetzte. Mit käsebehafteten Fingern ergriff er Ulfius' Ärmel. »Hackfleisch, bitte.« »Roh oder gekocht?«, fragte Ulfius, als er dem König Becher und Weinkaraffe vorsetzte. »Ich lasse mich überraschen.« Merlin zog Karaffe und Becher des Königs zu sich herüber. »Wolltet Ihr keinen, König Uther?« Der König schlug auf den Tisch. »Genug. Kommen wir zur Sache. Werden Sie es tun, Meister Merlin? Werden Sie mir Gorlois übergeben?« »O ja«, sagte Merlin, »wenn Ihr es wünscht ... Natürlich werdet Ihr vernichtet.« Der König starrte den schmierigen Landstreicher an. Schließlich kam er zu sich. »Was?«, brüllte er. Merlin goss den Inhalt der Karaffe in sich hinein, ohne abzusetzen. Dann ergriff er die Nächste und schlürfte bedächtiger. »O ja, ich kann Euch den Mann bringen. Ich könnte durch die Luft dorthin gehen, wo sich Gorlois befindet, ihn ergreifen und hierher bringen, dass er verurteilt und hingerichtet werden kann. Aber er hat einen Geruch an sich - einen Stinktiergeruch. Wenn ich Gorlois heraushole und Euch vorführe, werdet am Ende Ihr stinken, und er wird als freier Mann davonlaufen. Ihr werdet Verbündete verlieren, er wird sie gewinnen. Er wird Euch in Eurer eigenen Burg belagern, und am Ende wird Ulfius hier Euch die Gedärme herausziehen.« Merlin blickte zum Zeltdach auf und ließ die Lider über die Augen sinken, bis nur das Weiße zu sehen war. »Ah, Gedärme. Habt Ihr etwa Blutwurst oder gefüllten Schafsmagen in Eurem Proviantlager?« Uther war zu erbost, um die Frage zu verstehen. Er stand auf und stieß den schweren hölzernen Lehnstuhl mit den Kniekehlen zurück. »Was? Was sagen Sie da?« 17 »Ich habe Visionen. Die Zukunft und die Vergangenheit sind mir viel klarer als die Gegenwart. Wenn Ihr mich ausschickt, dass ich Gorlois bringe, ist die Zukunft nicht angenehm.« Merlin wandte sich zur Seite, als er den nächsten Gang kommen sah. Ulfius brachte eine Platte mit rohem Hackfleisch und einen zusammenhängenden Strang kleiner Würste. Als er die Platte auf den Tisch stellte, führte Merlin lachend eine Pantomime des Ausweidens vor. König Uther beobachtete Ulfius mit finsterer Miene. Er war zugleich verletzt und zornig. »Du Verräter! Merlin hier sagt, du wirst mich umbringen!«
Ulfius wich zurück. »Sire, es hat nichts zu sagen, dieses Gefasel - es ist bloße Einbildung.« »Mir die Gedärme herauszulassen, das hat nichts zu sagen? Ist nur Einbildung?« Ulfius stolperte rückwärts gegen zwei Stühle. »Nein, Sire, ich -« »Und Sie!«, brüllte der König und zog sein Schwert. »Sie kommen hier herein und plündern meine persönliche Speisekammer und gießen meinen persönlichen Wein in sich hinein und haben die Dreistigkeit, meine Forderung, dass Sie Gorlois herbeischaffen, abzulehnen?« »Ich hab es nicht abgelehnt«, murmelte Merlin, der den Mund voll Brei aus Käse und Wein hatte, »es ist nur, dass Ulfius Euch töten würde, wenn ich es täte.« Der König stieß einen Wutschrei aus und riss das Schwert hoch. Es sauste in einem blitzenden Bogen herab, den mit vollen Backen kauenden Magier zu spalten. Die Klinge schlug abwärts und traf. Stahl klirrte auf Stahl. Ulfius' Schwert war in den Raum zwischen dem König und Merlin vorgestoßen. Die Schneiden der Klingen glitten kreischend aneinander entlang. Uther verstärkte seine Anstrengung, entschlossen, den alten Mann zu töten. Ulfius biss die Zähne zusammen und mühte sich mit aller Kraft, der Wut des Königs standzuhalten. 18 »Wie kannst du es wagen!«, stieß der König hervor. »Tötet ihn nicht, Sire«, bat Ulfius. Die Worte hörten sich in seinen eigenen Ohren lächerlich an. Noch vor einer Stunde hätte er Merlin an einen Abdecker und Seifensieder verkauft. Nun beging er Verrat, um dem Mann das Leben zu retten. Damit nicht genug Merlin saß da, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, in der er schwebte. Er stopfte sich rohes Hackfleisch in den Mund und fummelte mit dem Strang der Würste, um eine davon abzureißen. Als die Wursthaut plötzlich riss, flog etwas vom Inhalt steil in die Luft und fiel Uther auf den Kopf. »Königsmord! Elender Verschwörer! Du trachtest mir nach dem Leben!« »Nein, Sire. Er ist ... er ist nur ein ausgehungerter Verrückter.« »Er ist verrückt — und ich bin wütend!«, knirschte Uther. Er zog sein Schwert zurück und holte zu einem seitlichen Schlag nach dem Hals des alten Mannes aus. Wieder parierte Ulfius mit seiner Klinge. »Geben Sie ihm eine Chance, Sire. Ich habe Wunder gesehen, die er gewirkt hat. Und sein Herz ist gut.« »Sein Herz, wie?«, stieß der König hervor. Er schwenkte sein Schwert herum und stieß es auf Merlins Brust. Der Stahl bohrte sich tief in die angenagte Speckseite, die Merlin herangezogen hatte, um den weißen Fettrand abzuknabbern. »Vielleicht noch ein paar Schlucke vom Wacholdergeist«, murmelte der Zauberer vor sich hin. Er stand auf und wankte zurück zur Speisekammer. Die Speckseite blieb aufgespießt am Schwert Uther Pendragons. Der König riss die Klinge zornig heraus und die Speckseite fiel auf den Boden. Aus der Speisekammer drang ein plätscherndes Geräusch, und im Pavillonzelt verbreitete sich Metgeruch. Uther knirschte mit den Zähnen und setzte sich in Bewegung. In seinen Augen glühte ein mörderisches Licht. Ulfius sprang ihm in den Weg. »Bitte, Sire.« »Geh mir aus dem Weg!« 18 »Er hat überirdische Kräfte. Man sagt, er sei der Sohn eines Inkubus.« Das war nicht genug, und Ulfius begann zu improvisieren. »Gott hat ihn mit dem Kainszeichen verflucht - Ihr
könnt ihn nicht töten. Und erzürnt ihn nicht. Er kann Feuer und Schwefel vom Himmel holen, Blitz und Donner. Sein Blut ist Säure, sein Urin Feuer.« Der König war einem Schlaganfall nahe. »Ich will ihn töten!« »Nein, Sire«, sagte Ulfius. »Ich werde ihn von hier fortschaffen, weit weg, und Ihr werdet ihn nie wieder sehen.« Uther ließ das Schwert sinken und blinzelte nachdenklich. Er stieß den Atem aus. »Wenn man es so sieht —« Ulfius seufzte erleichtert. »Sire, ich bin so froh, dass Ihr -« Der König stieß ihn beiseite und stürmte vorwärts, entschlossen, die gebeugten Schultern des Mannes zu spalten, der ihm den Untergang prophezeit hatte.
4. Visionen des Pendragon
Merlin wühlte wie ein Hund mit beiden Händen in einem umgestürzten Fass mit eingelegten Gurken. Er wollte eine Große, und die Großen würden ganz unten liegen. Essig und Knoblauch waren genau das Richtige auf einen zu süßen Wein und einen zu faden Käse. Der Wacholdergeist hatte seine Erwartungen nicht erfüllt, und der König besaß nur drei Flaschen von dem Zeug. Der Saft aus dem Fass mit eingelegten Gurken hatte Ellbogen und Knie seines zerlumpten Gewandes durchnässt. Das bedeutete einen um ein paar Stunden verlängerten Genuss, sobald er hinausgeworfen wurde. Natürlich würden sie ihn hinauswerfen. Das taten sie immer. Zuerst würden sie versuchen, kurzen Prozess mit ihm zu machen, aber Merlin war nicht leicht umzubringen. Im Laufe seines langen Lebens war er gehängt, gevierteilt, verstümmelt, gekreuzigt, be 19 graben, ertränkt, erdrosselt, erstochen, erschlagen und einmal sogar von einer Belagerungsmaschine durch die Luft geschleudert worden. Und das waren nur die Taten Sterblicher gewesen. Er war auch vom Blitz getroffen, von einer Wasserhose in die Höhe gerissen und fortgetragen, von Haien gefressen und unter einer Lawine begraben worden. Mensch oder Tier oder Gott, niemand hatte ihm die ewige Ruhe gewähren können. Sicherlich konnte auch Uther Pendragon ihn nicht töten. Es sei denn, all diese Erinnerungen an todlose Tode waren nur eingebildet. Und, Einbildung oder nicht, getötet werden war schmerzhaft. »Ah, hier ist sie«, sagte er sich mit Befriedigung und hob ein prachtvolles Exemplar aus der dunklen Lake. »Ah, da ist er!«, grollte Uther Pendragon. Er schleuderte sein Schwert mit der Spitze voran auf den gebeugten Rücken des Zauberers. Merlin flog herum. Der Stahl klirrte. Die knollige Gurke war eisenhart geworden. Der Zauberer hielt sie nicht mit der Hand vor sich, sondern ließ sie an den Fäden der Magie vor sich schweben. Zitternde Finger entließen Ströme grüner Staubteilchen. Die Gurke schlug das Schwert des Königs zurück. Die beiden fochten erbittert. Es war ein orakelhafter Augenblick. Merlin sah an grüner Gurkenschale und Salzlake vorbei, hinaus über den König von Britannien und seinen lächerlichen Kampf. Er sah zu Herzog Gorlois in der Burg Terrabil hinüber und über ihn hinaus zur Herzogin Igraine von Tintagel. Der Geist des verrückten Magiers sah sogar über sie hinaus - durch sie hindurch — bis zu dem weißen kreisenden Himmel und dem dort besiegelten Geschick.
Eine Gestalt bewegt sich. Sie ist massiv wie ein Berg, aber weiß und schnell wie der Blitz. Sie segelt zwischen Wolken und taucht durch Seen schwarzen Wassers. Sie schießt schnell und glatt dahin, ein Weberschiffchen zwischen den Fasern Albions. Es ist ein Junge, ja — der 20 Junge, aber in der Gestalt des Pendragon. Uther? Rein und kristallin? Nein. Dieser Junge erhebt sich jenseits und durch Igraine, jenseits und durch zwei belagerte Burgen, vorbei an Gorlois und durch Uther. Der Junge ist Uthers Sohn. Der Junge muss geschaffen werden. Dieser quecksilbrige Junge mit seinem Schlüsselbund und seiner Schwertzunge und dem Geweih auf dem Kopf muss um jeden Preis Wirklichkeit werden. Er wird meine Wirklichkeit sein. Das Kind des Pendragon wird mich retten. Er hat die Schlüssel zu meinem Wahnsinn. Er wird mich und ganz Britannien retten. Der quecksilbrige Junge muss Wirklichkeit werden. Dann war der Traum zu Ende. Merlin kam zu sich. Er sperrte die Augen unter den buschigen Brauen auf und starrte vor sich hin. Sein Mund hing offen. Wie war dieser Traum zu verwirklichen? Wenn er Gorlois zu Uther brächte, würde der König von Ulfius getötet. Wenn er einen Zugang in die Burg Terrabil zauberte, würde Uther später durch Vergiftung im Garten der Burg sterben. Ob an vergiftetem Essen oder einem tödlichen Trank oder einem Blasrohr, blieb ungewiss, aber Merlin sah den Mann zusammenbrechen, die Fäuste in den Magen gedrückt, und unter Krämpfen sterben. Ein ähnliches Schicksal erwartete den König, wenn Merlin ihm Igraine durch Zauber in die Hände spielt. Aber wenn — »Königliche Hoheit«, murmelte Merlin mit einem diskreten Hüsteln in die vorgehaltene Hand. Der König blickte von der Gurke in seiner Hand auf. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Wut und Verzweiflung. »Was?« »Ich kann Euch Gorlois nicht bringen, aber -« »Wache! Führt diesen Mann hinaus und erschlagt ihn!« Krieger stürmten in den Zeltpavillon. Ihre Mienen wandelten sich von voyeurhaftem Vergnügen zu entschlossener Pflichterfüllung. Schwerter wurden gezückt. »Packt ihn! Hinaus mit dem Lumpenkerl!« 20 Die beiden ersten Wachsoldaten drangen auf Merlin ein und versanken in einem tiefen Trog voll Blutwurst, der zwischen ihnen und Merlin erschien. Bis über die Achseln in der breiigen Masse steckend, schlugen sie in Panik um sich. Die nächsten Wachsoldaten übersprangen den Trog und setzten den Angriff fort, während Uther von draußen Verstärkungen herbeirief. Bald gingen sie aus verschiedenen Richtungen gegen Merlin vor. Schwerter und Streitäxte blinkten. Doch als die Wachen die Stelle erreichten, wo der von Essig triefende Magier stand, war Merlin verschwunden. Die Krieger machten überrascht Halt, wichen zurück. Wo der verrückte Magier gewesen war, stand jetzt eine Maus in zerschlissenem Wams. Flehend hob sie die winzigen Hände und ihre dünne Stimme zirpte aufgeregt. Zwei Krieger schoben sich näher, um das winzige Geschöpf mit Schwertern zu spalten. Ehe sie noch die Waffen heben konnten, schwoll Merlin an und wuchs in alle Richtungen. Sein feines Maushaar verstärkte sich zu langen, borstigen Zotteln. Die Nase verlängerte sich, wurde zu einem grauen Rüssel. Aus den Schnurrhaaren der Maus wurden zwei gebogene Stoßzähne. Ein Mammut? Innerhalb von wenigen Augenblicken stießen seine
mächtigen Schultern die Wachen zurück. Die Stoßzähne zerrissen das Dach des Zeltpavillons. Während das Wesen wuchs und wuchs, nahm auch die Lautstärke seiner Stimme zu. »Brächte ich Euch den Herzog oder die Herzogin, würde Tod die Folge sein -, aber dennoch besteht eine Möglichkeit, dass Ihr die Herzogin bekommen könnt —« Ein Krieger in rostigem Panzerhemd sprang auf den Dickhäuter zu. Sein Schwert stieß tief in den Hals des Tieres. Blut spritzte hervor. Ohne auf die Gefahr zu achten, die ihm von Stoßzähnen und Tritten der säulenartigen Beine drohte, hielt der Mann am Schwert fest und rüttelte und drehte es, um die Wunde zu vergrößern. Die Stimme des Mammuts versagte. Seine Augen zeigten das Weiße. Er schlug nach der tödlichen Klinge. 21 Die anderen Krieger der Wache, ermutigt vom Beispiel ihres Kameraden, trieben dem armen Tier ihre Schwerter in die Weichen. Sie feuerten einander mit Rufen an. Wieder und wieder stießen ihre Schwerter wie durstige Zungen zu. Blut antwortete Stahl. Merlin wurde vielfach durchbohrt. Die Schwerter durchstießen seine Haut von beiden Seiten, fuhren in seinen Brustkorb und trafen sich in seinen Organen. Eingeweide, Fleisch und Adern waren zerschnitten. Schmerz bohrte seine Krallen in sein Herz. Natürlich würde er nicht sterben. Er konnte nicht sterben, außer in seinen eigenen Träumen, doch er fühlte den Schmerz wie jeder andere. Und der Schmerz brachte ihn um den Verstand. Die Bruchstücke von Geist und Körper gerieten in chaotische Verbindung, suchten sich eine neue Form. Und dort, in den Wappenröcken der Wachen mit dem purpurnen Drachen auf goldenem Grund, sah er seine Rettung. Ein Aufbäumen von Energie brandete durch seinen Körper. Das zottige Fell verwandelte sich in Schuppen, der Rüssel schrumpfte und verbreiterte sich zu einem zähnestarrenden Rachen. Die Augen wurden rot, die Ohren dünner und spitzer. Lederige Flügel entfalteten sich. Der Schwanz verdickte und verlängerte sich zu einer gefährlichen Waffe, deren Schlag Mauern brechen konnte. Der gekrümmte Hals des Drachen hob sich, der massige Kopf fetzte das zerrissene Dach des Zeltpavillons beiseite. Mit einem Feuer speienden Brüllen entfaltete der Drache seine Flügel und schleuderte die Krieger fort. Der Hals bog sich zurück, die kegelförmigen Zähne pflückten Schwerter aus den Flanken. Inzwischen räumte sein Schwanz hinter ihm Fässer und Säcke beiseite und machte Platz. Mit jeder Klinge, die er aus seinen Wunden riss, schlug der mächtige Drache mit dem Schwanz auf die Erde, bis Staubwolken aufstoben und das ganze Feldlager erzitterte. Die Krieger, die Merlin verwundet hatten, drängten rückwärts und prallten mit vorgehenden Verstärkungen zusammen. Einige 21 fielen auf die Knie und blickten in Hoffnung und Furcht zu dem Ungeheuer auf. »Der Pendragon!« »Der Erlöser!« »Er wird für uns kämpfen!« Merlin hörte diese Erwartungen. Der Pendragon würde für sie kämpfen, würde sie erlösen ... »Seht her, der Pendragon!«, rief Merlin. Ein wütendes Grollen beantwortete diese Behauptung, ein Grollen von Uther persönlich. »Ich bin Pendragon, nicht dieser ... diese aufgeblasene Kröte!«
»Aufgeblasene Kröte!« Ein Ausdruck zorniger Empörung kam in die Augen des Drachen. Er zog die letzten Schwerter aus seiner Haut, die sich sofort wieder schloss. Die letzte Waffe warf er klirrend in die ruinierten und zusammengeschobenen Reste der königlichen Speisekammer. »Aufgeblasene Kröte! Ich habe nicht übel Lust, euch alle zu erschlagen, beginnend mit dem König und seinen Rittern bis hin zum letzten Stallburschen! Aber ich bin nicht gekommen, Tod zu bringen, sondern Rettung. Und ohne den nächsten Pendragon wird Albion nicht gerettet!« Uther ließ den Schild sinken, den er beim Erscheinen des Drachen an sich gerafft hatte. »Also werden Sie mir Gorlois bringen, Meister Merlin?« »Nein. Ich werde Euch Gorlois nicht bringen«, antwortete Merlin. »Aber Ihr seid nicht hinter Gorlois her, sondern hinter Igraine.« »Sie werden sie zu mir bringen?« »Ich werde Euch zu ihr bringen«, sagte der Drache. Noch während er sprach, begann Merlin seine ursprüngliche Gestalt wieder anzunehmen. Schon verwandelte sich der schuppige Schädel des Drachen und schrumpfte zum eingefallenen Gesicht und dem zottigen Bart des verrückten Magiers. »Für einen Preis, versteht sich.« 22
5. Der Handstreich
Noch in der gleichen Nacht galoppierten drei Reiter unter einem sternklaren Himmel über die Ebenen Dumnonias. Aus den Sümpfen stieg weißer Nebel geisterhaft in die kalte Luft und breitete sich über dem Boden aus, so dass die Pferdebeine bis zu den Kniegelenken darin verschwanden. Vielleicht erhoben sich die Toten Dumnonias in Empörung. Vielleicht wehrte sich das Land selbst gegen ihre Unternehmung. Doch welche Warnungen sie auch flüsterten, sie gingen im raubgierigen Hämmern hart beschlagener Hufe unter. Ulfius folgte den beiden anderen Reitern. Anstelle seines Überrocks mit dem Wappen Pendragons trug er die Farben des Herzogs Gorlois. Er trug auch das Gesicht des herzoglichen Kammerherrn Jordanus. Der Mann hatte einen roten Haarschopf, einen breiten Bart und einen buschigen Schnurrbart. Er war mehr ein Abkömmling des barbarischen Dyfed als des zivilisierten Rom. Selbst Ulfius' Pferd, das eine grünrote Satteldecke trug, schien halbwild. Vor ihm ritt Merlin als Brastias, der klobige Kastellan der Burg Tintagel. Er hatte diese magischen Ähnlichkeiten und alle anderen Einzelheiten dieses verrückten Unternehmens ersonnen. Dann und wann grinste der Zauberer aufmunternd dem an seiner Seite reitenden Uther zu. Der König war deutlich beunruhigt. Obwohl er diesem Plan zugestimmt hatte, war der Kampf im Zeltpavillon noch allzu frisch in seiner Erinnerung. Merlin war mächtig, ja, aber auch widersetzlich. Es gab keine gefährlichere Verbindung als Macht und Widersetzlichkeit. Uther war nicht durch Dummheit auf den Thron gekommen, und nun befand sein Thron sich in den Händen eines Dummkopfes. Aber für Igraine würde er alles tun. Zurechtgemacht als der blonde Gorlois, saß Uther tief über den Hals seines galoppierenden Pferdes gebeugt. Er ritt wie ein Mann in einem Turnier, und hätte er eine Lanze, würde er sie waagerecht vor 22 sich eingelegt halten, den kleinen Turnierschild tief an der Schulter. Er war auf Eroberung aus.
Endlich richteten sich Ulfius' anklagende Gedanken gegen ihn selbst. Die Unbedachtheit seiner Gefährten mochte verzeihlich sein. Sie hatten beide ihren Wahnsinn. Ulfius hingegen war ein Mann von gesundem Menschenverstand und unbefleckter Ehre. Seine Komplizenschaft in alledem war kriminell, nicht zu rechtfertigen. Er schüttelte den Kopf. Während er zur Begleitmusik polternder Hufen durch die ziehenden Nebel jagte, wurde ihm plötzlich klar, dass er hier zwischen dem Bettler und dem König in eine Falle geraten würde, aus der es kein Entkommen gab, solange nicht der eine oder der andere sterben würde. »Oder ich«, murmelte Ulfius bitter. »Und das ist am wahrscheinlichsten.« Die drei Reiter galoppierten die kurvenreiche Zufahrt zum Torhaus von Tintagel hinauf. Hier war eine kleine Garnison stationiert. Jenseits des befestigten Tores mit seinem Fallgatter lag eine Zugbrücke, die den einzigen Zugang zur Halbinsel bot. Diese Zugbrücke überspannte einen fünfzig Ellen tiefen Halsgraben, und an ihrem anderen Ende stand ein weiteres befestigtes Torhaus in der Schildmauer der Burg. »Am ersten Torhaus werden zehn Mann sein«, rief Ulfius. »Bewaffnete. Wir dürfen uns keinen Ausrutscher erlauben und so wenig wie möglich reden. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir Herzog Gorlois, Kammerherr Jordanus und Kastellan Brastias sind -« »Ja, ja«, knurrte der König ungeduldig. »Nun halt den Mund.« Mit lautem Hufgetrappel ritten sie auf den gepflasterten Platz vor dem Brückentor. Ein Fallgatter aus schwarzen, eisenbeschlagenen Eichenbohlen sperrte den Zugang zur Brücke. In die Feldsteinmauern zu beiden Seiten des Torhauses waren Schießscharten eingebaut, die Mauerkronen mit einzementierten Schiefersplittern bewehrt. Für eine barbarische Burg, die immer außerhalb der Reichweite Roms und seiner Zivilisation geblieben war, 23 schien sie in ihrer massiven, dem Gelände angepassten Bauweise durchaus auf der Höhe der Zeit. Bis jetzt war sie auch außerhalb der Reichweite Uthers geblieben. Eine Gruppe dunkler Gestalten kam aus dem Torhaus. Schwerter und Lanzen blinkten matt im Sternenlicht. Sie trugen Helme und Kettenpanzer und nahmen vor dem Fallgatter Aufstellung. Der Hauptmann der Wache trat vor. Die grünroten Farben seines Wappenrockes schienen schwarz im schwachen Sternenlicht. Er nahm eine Laterne vom Haken, zündete sie an und musterte die Ankömmlinge mit finsterem Blick. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr?« Er sprach abgehackt, mit gedehnten Vokalen und verschluckten Konsonanten. Ulfius erkannte plötzlich, dass sein fremder Akzent ihn verdächtig machen würde. Der König befahl: »Macht den Weg frei! Es ist euer Herzog Gorlois. Wir haben Uther besiegt. Seine Krieger liegen erschlagen oder sind geflohen. Wir brachen durch. Kammerherr Brastias, Kastellan Jordanus und ich sind vorausgeritten, um die Nachricht zu bringen.« »Kammerherr Jordanus und Kastellan Brastias«, berichtigte Ulfius, bemüht, den örtlichen Dialekt nachzuahmen. »Wir sind müde vom Kampf und glücklich über den Sieg.« »Und ungeduldig, meine Gemahlin zu sehen.« Mit jeder Äußerung wuchs die Verwirrung des Hauptmanns der Wache. Er hob die Laterne und leuchtete damit in die Gesichter. »Euer Aussehen ist richtig, Ihr Herren, nicht aber Eure Stimmen. In Euren Stimmen schwappt die Themse.«
»Ach«, erwiderte Ulfius, »es ist die lange Zeit, die wir unter diesen mittelenglischen Dreckskerlen verbringen mussten. Sie versuchten unsere Ländereien zu rauben, und nun haben sie unsere Zungen gestohlen!« »Dreckskerle«, pflichtete ihm Uther bei. Ein grimmiges Lächeln zuckte um die Mundwinkel des Hauptmanns. »Was ist das Schicksal ihres Königs?« 24 »Ausweidung!«, ließ sich Merlin vernehmen. Uther warf ihm einen mörderischen Blick zu, aber der Verrückte fuhr fort: »Das war ein Anblick!« Der Hauptmann zuckte die Achseln, schnalzte. »Nun, wenigstens eine gute Nachricht. Willkommen daheim! Soll ich einen Boten vorausschicken, dass man ein Bad bereite? Die Kessel sollten gleich über das Feuer gehängt werden —« »Nein«, erwiderte Uther und setzte sein Pferd mit einem Kniedruck zum noch geschlossenen Tor in Bewegung. »Nein, ich möchte Igraine sehen!« »Sehr wohl«, sagte der Hauptmann. »Ah, es ist nur, dass Ihr in Eurem ungewaschenen - das heißt, in Eurer ... Rüstung ziemlich stark —« »Ich wünsche, stark zu sein!« »Zieht das Fallgatter hoch!«, rief Ulfius. Er fürchtete, dass eine weitere Wendung des Gesprächs sie alle an den Galgen bringen würde. »Zieht das Fallgatter hoch!« Der Hauptmann gab den Befehl weiter. Offenbar war auch er froh, dieses unbehagliche Gespräch zu beenden. Das schwere Fallgatter aus Holz und Eisen begann sich in seinen Schienen aufwärts zu bewegen. Von oben drang lautes Knarren und Rasseln herab, als die Ketten sich um die Winsch wickelten. Ulfius und Merlin setzten ihre Pferde in Bewegung. Uthers Reittier stand unmittelbar am Fallgatter, als wollte es das Eichenholz beknabbern. In dem Augenblick, als die scharfen, eisenbeschlagenen Spitzen seine Kopfhöhe passiert hatten, stieß er seinem Pferd die Absätze in die Weichen und donnerte hinaus über die Zugbrücke, dichtauf gefolgt von Merlin und Ulfius. Voraus wurden Rufe laut und verkündeten die Ankunft des vermeintlichen Herzogs. Laternen wurden angezündet und ließen Licht und Schatten über die mächtige Schildmauer tanzen. Das innere Tor stand offen. »Es ist noch nicht zu spät«, sagte Ulfius. »Wir könnten kehrt machen und das Weite suchen -« 24 Keiner der beiden anderen würdigte ihn einer Antwort. Sie sprengten über die Zugbrücke, als säße ihnen der Teufel selbst im Genick, und Ulfius blieb nichts übrig als ihnen zu folgen, wenn auch in gemäßigterem Tempo. Als er die Gefährten einholte, befanden sie sich bereits im Innenhof und saßen ab. Eine Schar hastig zusammengetrommelter und verschlafener Diener übernahm die Pferde und das Gepäck der Ankömmlinge. Einer der Diener, ein junger Mann mit fast schulterlangem Haar, bemühte sich, dem König die Lage zu erklären. »Um diese Stunde wird sie in Euren Gemächern sein, gnädiger Herr.« »Welche Richtung?«, fragte Uther begierig. »Welche Richtung?«, wunderte sich der Bursche. »Geh voraus«, schaltete sich Ulfius ein. »Unser gnädiger Herr braucht beim Ablegen der Rüstung Hilfe. Er braucht jemanden, der sie tragen kann.« »Ich kann sie auch reinigen«, erbot sich der Jüngling.
»Nein, lass sie einfach in den Gemächern des Herzogs.« »Also dann vorwärts, Junge«, sagte Uther und versetzte dem jungen Mann einen Klaps auf den Rücken. Als sie über den Burghof gingen, hörte Ulfius den alten Zauberer zu einem der Diener sagen: »Wer hat den Vorratskeller verwaltet, seit ich in den Krieg zog?« »Warum, Claudias. Er ist stellvertretender Kastellan -« »Überraschungsinspektion«, sagte Merlin. »Bring mich sofort zum Vorratskeller, ohne Claudias zu verständigen. Ich muss sehen, dass alles in Ordnung ist. Andernfalls wird dort mehr hängen als Rinderhälften und Speckseiten!« »Natürlich«, sagte der Diener. Er fingerte durch einen großen Schlüsselring an seinem Gürtel. »Gehen wir. Ja, ich habe den Schlüssel bei mir.« Merlin nickte erfreut. Bevor er dem Mann folgte, tätschelte er seinem Pferd die Kruppe. Es wieherte in einer Tonlage, die Ulfius an eine Frauenstimme erinnerte. Unwillkürlich blickte er zum Bergfried hinauf, wo Igraine vermutlich ihre Gemächer ha 25 ben würde. Kerzenschimmer war dort erwacht, und mit ihm eine Frau - eine schöne und tugendhafte Frau, das Ziel eines betrügerischen Wüstlings von einem König. Das arme Geschöpf. Während ihr Gemahl in den Krieg gegen den König von Britannien gezogen war, lebte sie hier in der Zurückgezogenheit Tintageis, um ihre Ehre zu bewahren. Nun sollte sie ihr ohne ihr Wissen gestohlen werden. Aufgeregt und froh über die unerwartete Rückkehr ihres Mannes, würde sie sich unter fröhlichen Scherzen von ihren Kammerzofen ankleiden und eilig frisieren lassen. Dann würde der schreckliche Augenblick der Wahrheit kommen, wenn der als ihr Gemahl verkleidete reißende Wolf über sie herfiele. Er würde die Tür aufstoßen und hineinstürmen, ihr die Kleider vom Leib reißen und sich in seiner ungewaschenen Brutalität über sie hermachen. Schreie gab es nicht, aber nur weil er es ihr verbieten würde - er, der ihr Ehemann und ihr Überwältiger und der verhasste Feind ihres Mannes war, alles in einem. »Ich kann es nicht zulassen«, gelobte sich Ulfius. Er überließ die Zügel seines Pferdes den Bediensteten und schritt auf den Gewölbegang zu, den Uther und sein Führer genommen hatten. »Bei allem, was heilig ist, ich kann es nicht zulassen.« Immer eine Stufe überspringend, eilte er die enge Stiege hinauf, hatte aber das zweite Geschoss noch nicht erreicht, als er abglitt und mit lautem Gepolter und Gerassel von Beinschienen und Schuppenpanzer die Stufen hinabpurzelte und auf dem Absatz des Obergeschosses landete. »Kammerherr!«, rief eine Mädchenstimme. Jemand rannte herbei, und eine kleine warme Hand ergriff die seine. »Seid ihr verletzt?« »Ich hoffe nicht«, ächzte Ulfius. Schnaufend setzte er sich aufrecht und rieb sich den Nacken, starrte die schmale steinerne Stiege hinauf. »Ist es wahr, Jordanus? Ist mein Vater zu Hause?«, fragte das Mädchen aufgeregt. Ulfius starrte sie an. Im flackernden Schein eines brennenden 25 Kienspans, der in seiner Wandhalterung Gang und Stiege beleuchtete, sah er langes schwarzes Haar und große Augen in einem blassen ovalen Gesicht. Schmale Schultern zitterten in ihrem Nachthemd. Zuerst dachte er, sie müsse frösteln, erkannte aber dann, dass es Erregung war. »Ist der Krieg zu Ende? Ist Vater heimgekommen?« »Ach, liebe kleine Morgause«, sagte Ulfius und strich dem Kind über die Wange.
»Ich bin Morgan«, sagte sie, wich ein wenig zurück und starrte ihn seltsam an. »Morgause weilt in Lothian. Was ist mit Euch, Jordanus?« Ulfius schüttelte den Kopf und lachte erschöpft. »Vergib mir, Morgan. Ich bin noch ganz durcheinander ...« Hoffnung vertrieb die Schatten aus ihrem Gesicht. »Er ist hier, nicht wahr?« »Liebes Kind, es ist zu spät für dich. Geh wieder zu Bett und schlaf. Träume süß -« »Er ist heimgekommen«, erklärte sie eifrig. Sie sauste an ihm vorbei und leichtfüßig die Stufen hinauf. »Warte!«, rief Ulfius ihr nach. Sein Einwand bewirkte nur ein fröhliches Kichern von dem fliehenden Mädchen. »Warte, Morgan. Komm zurück!« Er rappelte sich auf und folgte ihr. Die Tritte seiner eisenbeschlagenen Stiefel widerhallten von den Wänden. Was in diesen Minuten mit Igraine geschehen musste, war schlimm genug, aber Morgan sollte der Anblick erspart bleiben »Morgan, warte!«, keuchte Ulfius. In seiner Rüstung konnte er nicht Schritt halten. »Bitte, Morgan, warte!« Das Mädchen verschwand hinter der Krümmung der Wendeltreppe über ihm. Eine Hand an die Brust gepresst, keuchte er weiter hinauf. Wie hoch konnte dieser Turm sein? Er war nahe daran, aufzugeben. Wenn die Gemächer der Herzogin so schwer zugänglich waren, dann war für das, was geschah, Gott allein verantwortlich. 26 »Vater! Vater!«, rief Morgan mit heller Stimme. Sie stieß eine mit vergoldeter Schnitzerei verzierte Eichentür auf und lief in den Raum. »Warte!« Ulfius stolperte knapp hinter ihr hinein. Er bekam Morgan bei den Schultern zu fassen und versuchte sie zurückzuziehen. »Du solltest diese Gewalt nicht sehen«, flüsterte er außer Atem. Ein Kopf mit einer Frauenhaube erschien zwischen den Vorhängen des Himmelbettes und blickte freundlich zu Ulfius und Morgan. Igraine bot einen lieblichen Anblick. Ihre azurblauen Augen glänzten im Licht von hundert Kerzen. Ihr Mund war wie roter Samt, die Haut ihres Gesichts und der bloßen Schultern cremefarben und von seidiger Glätte. Und sie lächelte. Das war das große Wunder. Sie lächelte. »Welche Gewalt, lieber Jordanus?« Er zwinkerte einfältig. »Euer Gemahl. Er war unterwegs. Er -« »Er ist angekommen«, sagte sie. Eine schmale Hand griff nach rückwärts und zog einen lächelnden Gorlois — einen falschen Gorlois - in die Öffnung des zurückgeschlagenen Bettvorhangs. »Und die Gewalt, von der Sie sprachen?« »Nun, ah«, stammelte Ulfius, »ich - ich nahm an, dass bei dem Zustand des Königs — das heißt, des Herzogs ... ah, nun, eine gewisse ... Überstürzung in Erscheinung treten —« »Vater! Du bist wieder da!«, rief Morgan glücklich. Sie entzog sich Ulfius' kraftlosen Fingern und lief auf das Ebenbild ihres Vaters zu. »Hinaus!«, rief Uther und zeigte auf das Mädchen. »Ins Bett mit dir!« Morgan blieb stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ihr Atem stockte, sie schluckte. »Aber ich will dich sehen. Ich will dir einen Kuss geben.« »Das hat Zeit. Du hast mich gehört, Kind. Hinaus!« Morgans Lippen bebten. Ihre Augen wurden schmal; sie schien 26
hinter die äußere Erscheinung zu sehen. »Du ... du bist nicht mein Vater!«, fauchte sie. Schritt für Schritt zog sie sich zurück. »Du bist ein Teufel.« »Hinaus!« Morgan flog herum und rannte hinaus. Ihre bloßen Füße tappten traurig die Stufen hinunter. »Und du, treuer Diener«, sagte Uther grollend, »du wirst auch verschwinden.« Der nackte Mann stieg aus dem Bett und schritt auf Ulfius zu. Er packte den Überraschten bei den Schultern, drehte ihn herum und stieß ihn zur offenen Tür hinaus und dann mit Schwung die Wendeltreppe hinunter. Schneller als er gedacht hatte, war Ulfius wieder unten.
6. Fässer und Visionen
Tintagel war mit Vorräten wohl versehen. Wildbret, Schwein, Hammel, Ente, Gans, Wildschwein, Aal und sogar ein halber Delphin; Semmel aus Weizenmehl, Roggenbrot, Haferkeks; Meersalz, exotischer Zimt, Honig, Rosmarin, Basilikum, Süßklee, Schnittlauch, Distelblüten, Senfsamen; Kohl, Karotten, Lauch, rote Zwiebeln, getrocknete Erbsen und Bohnen, Hirse; Met, Bier, Wein und Spirituosen aus dem Hochland; sogar medizinische Kräuter und Tinkturen und pulverisierte Essenzen. Taxonomie war Merlin nicht wichtig. Es war alles köstlich. Er hatte eine große Schüssel und einen Stößel gefunden und saß nun darüber und tat einen Artikel nach dem anderen zur Zerkleinerung hinein. Ein gemischter Brei war das Ergebnis, abgeschmeckt mit Gewürzen und Giften. Gelegentliche Spritzer von Spirituosen sorgten dafür, dass der Brei nicht zu trocken wurde. Merlin kostete von seinem Werk, indem er einen Schöpflöffel hineintauchte, zum Mund führte und den dicken Brei einsaugte. Eine Verdünnung mit Weißwein schien ihm angezeigt, dann konnte er sich die Zuberei27 g durch die Kehle gießen. Ein guter Teil davon färbte Bart und als seiner Brastias-Identität. »Kastellan, ich würde Ihnen gern etwas zubereiten«, sagte ein erregter Koch. In einer Hand hielt er eine Laterne in die Höhe, ie einzige Beleuchtung in dem weitläufigen, feuchten Kellergewölbe. Mit der anderen Hand fuhr er sich durch das zu Berge stehende schwarze Haar. Merlin blickte auf. Dickflüssiger graubrauner Brei sickerte in seinen schwarzen Bart. »Kennen Sie dieses Rezept?« »Ob ich das Rezept kenne?«, brabbelte der Koch. »Ob ich das Rezept kenne? Natürlich nicht! Ich habe in London gelernt. Ich bin ein im römischen Weinbau ausgebildeter Winzer, habe die Bäckerei in Frankreich erlernt und das Metzgerhandwerk bei den Kelten.« Er hielt inne. Seine ganze Gestalt bebte vor Erregung. »Was Sie mit der Nahrung tun — das habe ich noch nie gesehen!« »Schauen Sie zu und lernen Sie«, erwiderte der Verrückte. »Mit dem, was Sie in dieser Schüssel haben, könnte ich ein halbes Dutzend Männer futtern.« »Sie können haben, was ich nicht aufesse.« Mit einem unterdrückten Aufschrei hilfloser Erbitterung wandte sich der Koch ab. Seine Hände zitterten, als er die Kellertreppe hinaufstampfte. Mit ihm entschwand der Lichtschein der Laterne. Merlin blinzelte ihm vergnügt nach. Der Brei würde im Dunkeln genauso schmackhaft sein. Nur wollte sich diese Dunkelheit nicht einstellen. Mit einer beiläufigen Bewegung nahm eine andere Gestalt dem Koch die Laterne aus der Hand. Eine unheilvolle Stimme sagte: »Er ist da unten?«
»Ja.« Die zweite Gestalt kam die Stufen herunter. War der Koch erregt und entnervt gewesen, so sah dieser Neuankömmling ausgesprochen derangiert aus. Die Wollstrümpfe waren unter den Beinschienen herausgerutscht und hingen um die Knöchel, die 28 Beinschienen selbst waren wie die Achseln verbeult wie von Keulenschlägen. Unter dem Panzerhemd hob und senkte sich die Brust des Mannes in angestrengtem Keuchen. Prellungen und eine Platzwunde verunzierten sein Gesicht, und sein rotes Haar, der Bart und der Schnurrbart wirkten wirr und verschwitzt. Er erreichte den Fuß der Kellertreppe, hob die Laterne und stieß ein Stöhnen aus. »Bist du's, Ulfius?«, fragte Merlin leichthin. »Ja«, antwortete der Mann mit der Laterne. »Ja, ich bin's.« Er seufzte tief. »Ich hätte dich kaum wiedererkannt. Du siehst einem wilden Barbaren gleich.« Merlin nahm einen weiteren Schluck von seiner Speise und hielt dem Kameraden einen Schöpflöffel voll hin. Der andere lehnte ab. Merlin zuckte die Achseln. »Mit wem hast du um diese Stunde gekämpft?« »Es war die Wendeltreppe«, antwortete Ulfius verdrießlich. Er bewegte sich mit schleppenden Schritten zu einer Reihe aufrecht stehender Fässer und setzte sich darauf. Die Laterne schien unendlich schwer. Als er sie neben sich abstellte, ließ er einen weiteren tiefen Seufzer vernehmen und stützte den Kopf in die Hände. »Was tun wir hier, Merlin?« »Essen«, erwiderte der Magier ohne innezuhalten. Trotz seiner schwarzbärtigen und verjüngten Erscheinung sah er mit seinem von Brei verklebten Bart und dem besudelten Wams eher wie sein wahres Selbst aus. Er zeigte mit einem Daumen zum Turm hinauf. »Essen und Beischlaf halten.« »Das erklärt, warum du hier bist - und Uther bei der Herzogin. Aber warum bin ich hier?« »Acht zu geben, dass wir nicht erschlagen werden.« Merlin lächelte und goss einen weiteren Schöpflöffel des dünnen Breies in den offenen Mund. Angenehme Empfindungen leuchteten wie Frühlingssonnenschein aus seinen Zügen. »Du musst wirklich von dieser Speise probieren.« »Danke, mir ist schon schlecht.« Ulfius beobachtete den Ver 28 rückten. »Warum zauberst du nicht einfach eine Mahlzeit? Warum verausgabst du deine zauberischen Kräfte damit, dass du dich in eine Maus oder einen Drachen verwandelst, wenn du dir einfach eine ausgezeichnete Mahlzeit herbeizaubern könntest?« Merlin schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Mit Nahrung ist es anders.« Ulfius betrachtete den Brei, der Bart und Brust des Verrückten schmückte. »Das sieht man dir an.« »Alle Arten von Nahrung sind schwierig zu beschwören«, sagte Merlin. »Sie sind kein Sein, sondern ein Werden. Sagen wir, du jagst einen Hirsch. Er ist ein Lebewesen. Du erlegst ihn mit einem Pfeil. Nun ist er Nahrung. Dann isst du ihn, und er wird ein Teil von dir - Teil eines Lebewesens.« Er schnaubte, erfreut von seiner Erklärung. »Nahrung ist wie Feuer der Prozess von etwas, das etwas anderes wird.« Er lächelte. »Darum ist es mit Nahrung anders und schwierig.« Ulfius blieb unbeeindruckt. »Was ist mit Feuer? Ich habe gesehen, wie du sehr gekonnt davon Gebrauch machst.«
»Feuer?« Merlin rollte die Augen, als suchte er einen Gedanken, den er in der Erwartung, er werde ihn nie benötigen, irgendwo verstaut hatte. »Feuer ist eine andere Sache.« Ulfius ächzte irritiert. Merlin hob den tropfenden Schöpflöffel. »Siehst du dieses Zeug? Es ist ursprünglich, voll von Leben, sprühend wie Feuer, herrlich wie das Chaos!« Ein faseriger Klumpen glitt vom Schöpflöffel und tropfte Merlin in den Schoß. Er bemerkte es kaum. »Ich könnte dies so wenig herbeizaubern wie ich das Kind herbeizaubern könnte, das Igraine jetzt von Uther empfängt«, erklärte er. Trübsinn, dick und grau wie Merlins Brei, sickerte in Ulfius' Gemüt. »Ein Kind. Ich hatte es fast vergessen. Ein grausames Geschick, aus all diesem Betrug und Unsinn ein Kind hervorzubringen.« 29 »Nicht grausam«, sagte Merlin. Zum ersten Mal legte er den Schöpflöffel aus der Hand. In seinen Augen lag ein ferner Glanz, als sähe er die sagenhaften Seen von PJieged. »Er wird ein besonderes Kind sein. Er wird geboren wie das Leben selbst. Er wird das Land einigen, Ulfius. Er wird uns alle einigen, sogar mich. Er wird uns retten. Ja, es ist ein abscheuliches Schlachthaus, aus dem er kommt, ein großes Chaos von Gewalt und Betrug, Lust, Teufelei, geheimen Absprachen, Täuschungen — aber alles das hat nichts zu bedeuten. Alles das ist Nahrung, ein Prozess, der ein Leben in ein anderes verwandelt. Und was für ein Leben!« Der Schöpflöffel war vergessen, und Merlin griff mit beiden Händen in die Schüssel und schaufelte den dünnen Brei heraus, um ihn daraus zu schlürfen. Der Brei beschmierte sein Gesicht bis zu den Wangen, so dass er einem der barbarischen Pikten ähnelte, die sich mit Lehm bemalten. Beim Schlucken schloss er mit beseligtem Lächeln genießerisch die Augen und hielt die tropfenden Hände wie in Vergötterung in die Höhe. Der Schauplatz verwandelt sich. Nicht graubrauner Brei beschmiert mich, sondern Blut. Es ist kein dunkles und feuchtes Kellergewölbe, wo ich knie, sondern ein von flackerndem Feuerschein erhelltes Schlachtfeld. Uber meinem Panzer trage ich noch die Farben Dumnonias, und ich verkörpere auch noch die Gestalt des Kastellans Brastias, aber ich bin anderswo. Ein Trupp dunkler Gestalten, die die Farben Pendragons tragen, stürmt die Böschung herauf. Ich lasse mich wie leblos hinsinken und vergrabe mein Gesicht in einem trockenen Grasbüschel neben einem toten Mann. Die Krieger kommen. Einer versetzt dem Toten einen Fußtritt in die Rippen. Der Mann stöhnt. Zwei Schwerter durchbohren seine Brust — und er stirbt endgültig mit einem Gurgeln. Ein Schwertstreich trennt den Kopf des Mannes von seinen Schultern. Ein anderer Krieger wendet sich mir zu. Er tritt mir in die Seite. Ich unterdrücke den Aufschrei. Zwar könnte der Mann mich nicht 29 töten — außer natürlich, dass dies ein Traum ist — aber er kann mich durchaus verwunden und mir die schlimmsten Schmerzen bereiten. Ich liege still und stumm. Ein zweiter Tritt folgt, und ein dritter. »Der ist hin«, sagt der Krieger. Er wendet sich um, tritt mit den Füßen nach. »Da drüben sind noch mehr. Sorgt dafür, dass Gorlois' Krieger alle tot sind, bevor ihr nach dem Herzog Ausschau haltet. Wir sind nicht auf einen lebenden Gefangenen aus, sondern auf einen toten Rebellen.« Von den Kriegern ringsum antwortete bloßes Lachen. »Sucht die Stauden und das hohe Gras da unten ab. Wahrscheinlich werdet ihr noch ein paar von diesen Schweinetreibern aufstöbern. Stecht alles ab, was sich bewegt.«
Schritte entfernen sich; die Hälfte der Gruppe zieht weiter. Drei Mann bleiben in der Nähe. Ein warmer Strahl bespritzt meinen Rücken. Die Schmach rinnt in den Ringpanzer und durchweicht mein wollenes Hemd. »Wenn ich gewusst hätte, dass Gorlois heute Abend einen Ausfall machen würde, hätte ich nicht so viel Bier getrunken.« Der Mann lacht. »Niemand konnte damit rechnen«, meint ein anderer. »Welche Art von Krieger würde seine sichere und mit allem reichlich versehene Burg verlassen, um uns am Abend in unseren Belagerungsgräben anzugreifen?« »Gorlois. Der ist dazu imstande«, sagt der Dritte. »Er muss gehört haben, dass Uther und Merlin gegen Tintagel ziehen. Das muss es sein, was ihn herauslockte.« »Uns kann es nur recht sein. Er wird den Morgen nicht erleben, wenn er nicht schon tot ist, und wir können alle nach Haus gehen, bevor die Regen kommen.« »Wenn du dich da nur nicht täuschst. Bis Samhain wird Uther hinter eines anderen Frau her sein und wir werden vor Imbolc wieder irgendwo draußen im Dreck liegen und Belagerungsgräben ausheben. « Ihr Anführer zeigt nach Osten. » Wir sind heute Nacht noch nicht 30 fertig hier. Wir müssen noch viele Dumnonier aufstöbern und einfangen. Wenn der König von seiner Nachtarbeit zurückkommt, werden wir ihm zeigen, dass wir auch nicht untätig waren.« Die drei entfernen sich. Noch eine Weile höre ich ihr Stimmengemurmel und die Geräusche ihrer Schwerter, mit denen sie in die Sträucher und Stauden schlagen. Nass und zitternd erhebe ich mich langsam aus der bergenden Umarmung der Gräser, wo ich gelegen hatte. Hände ergreifen mich, und ich fliege herum, kampfbereit. Niemand ist da, nur die sternfunkelnde Nacht. Aus ihrem kalten Herzen kommt eine vertraute Stimme. »Merlin! Merlin, bist du wohlauf« Ich sehe nur den Hang eines Hügels in Dumnonia - meilenlange Gräben und Tote zuhauf. Uthers Belagerungsmaschinen sind in Feuer gehüllt. Ein breiter Streifen toter Krieger führt vom nahen Schlachtfeld zum offenen Tor der Burg Terrabil. Die grauen Mauern bluten Ruß in den Himmel. Die Mondsichel zieht ihre Spitze durch die unruhige See. »Gorlois führte einen Angriff«, murmelte Merlin mit schwacher Stimme. Die Hände an seinen Schultern griffen fester zu. Ulfius schüttelte ihn. »Wach auf, Merlin. Es ist nur ein Traum.« »Gorlois führte einen Angriff. Seine Streitmacht ist verkürzt.« Eine Pause trat ein. »Woher weißt du das?« »Brastias«, sagte Merlin schwer atmend. »Ich kann durch seine Augen sehen.« Der Trupp Krieger in den Farben Pendragons sammelt sich am Fuß des Hügels. Einige der Männer stochern mit Lanzen und Schwertern in einem Gebüsch aus Stechpalmen und Hartriegel. Ein Aufschrei ertönt. Ein blutiger Krieger springt im Dickicht auf und versucht zu fliehen. Uthers Krieger stürzen sich auf ihn. Der Krieger empfängt die ersten zwei Wunden, bevor er auf ein Knie niedersinkt. Der nächste Hagel stählerner Schwertklingen bringt ihm das Ende. Er 30 fällt wenige Schritte von seinem Versteck, wälzt sich einmal in Todesqual und liegt still. »Unsere Streitkräfte haben das Feld behauptet?«, fragte Ulfius hoffnungsvoll. »Sie säubern es«, antwortete Merlin. »Sie erschlagen die Dumnonier bis zum letzten Mann.« Wieder kam eine Pause. »Warum ergeben sie sich nicht einfach?«
»Vielleicht haben sie es getan. Uther befahl seinen Kriegern, keine Gefangenen zu machen«, bemerkte Merlin mit hohler Stimme. »Er will Gorlois tot. Er will Igraine für sich selbst.« Die Stille, die darauf folgte, war düster. »Es wird schlimmer und schlimmer. Eines Mannes Lust bedeutet tausend Ermordete. Und was ist mit Gorlois? Lebt er?« Merlin entzog sich dem Griff von Ulfius' Händen und tauchte wieder ein in die Dunkelheit des Traumes. Seine Hände bewegten sich, als müsste er sich einen Weg durch hohes Gras bahnen. Er fand etwas, wendete es hin und her. »Gorlois ist tot.« Die Worte fielen schwer in die Stille. Das ausgedehnte nächtliche Schlachtfeld verlor sich aus seinem Blick. Die Toten, die Grausamkeiten, der Traum. Gras wurde zu Stein. Blut wurde zu Brei in einer Schüssel. Die wahre Gestalt des Kastellans Brastias machte seiner Nachahmung Platz. Merlin schwankte, einer Ohnmacht nahe. Sanfte Hände hielten ihn und verhinderten, dass er zusammensank. »Was du sahst ... bist du dessen sicher? Gorlois ist tot?«, fragte Ulfius. Merlin nickte nur. Er hob den Kopf und sah den Krieger mit einem gehetzten Ausdruck in den Augen an. »Schrecken und Grausamkeit.« Dann aber dämmerte ein schwaches, hoffnungsvolles Licht in seinen Augen. »Er wird bedeutend sein, Ulfius. Der Junge, der aus diesem Fleischwolf kommt - von ihm ist Großes zu erwarten!« 31
7. Geburt eines Königs
»Du gehst hin und überwachst die Geburt!«, murrte Ulfius verdrießlich. Er saß in einem Winkel des königlichen Schlafgemaches. »Die Geburt überwachen! Warum bekomme ich immer die miesen Aufträge?« Er wusste warum. Ein Blick zum verhängten Himmelbett, und er wusste warum. Uther war ein Feigling. Während des ganzen langen Tages hatte Königin Igraine sich dort gequält. Kammerzofen und Hebammen umdrängten das Bett mit ihren Zuwendungen wie eifrige Folterknechte die Streckbank. Es war qualvoll. Jedes Stöhnen, jeder Aufschrei fuhr Ulfius durch Mark und Bein. Bisher hatte er der Geschichte von Evas Verführung durch die Schlange und Gottes Strafe nie irgendeine Bedeutung beigemessen. Nun aber fielen ihm die Bibelworte wieder ein: »Vermehren will ich die Mühsal deiner Schwangerschaft, in Mühen sollst du Kinder gebären.« Und er glaubte. »Uther, Uther, du glattzüngiger Betrüger. Du verworfener Taugenichts!«, rief sie in einem ihrer lichten Augenblicke. Vielleicht hatte Uther an diesem Morgen den falschen Zeitpunkt gewählt, um Igraine von der Täuschung zu erzählen, die zur Empfängnis ihres Kindes geführt hatte. »Und du, Ulfius - du fressendes Krebsgeschwür!«, rief sie in seine Richtung. »Du abscheulicher Geier. Was für einen teuflischen Handel hast du gemacht, um Anspruch auf dieses Kind zu haben?« Es war wohl auch der falsche Zeitpunkt gewesen, ihr zu sagen, dass sie den Jungen nicht behalten konnte. Ulfius vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte seinen schimmernden Zeremonienpanzer angelegt, um den Vorgängen Würde und Schicklichkeit zu verleihen und um sich gegen körperliche Angriffe zu schützen. Aber der Panzer mit dem wollenen Unterzeug und der wattierten Schutzweste wurde in diesem vom Kaminfeuer stark
erwärmten Raum unangenehm heiß. Und jede Beleidigung, die die Königin in seine Richtung schleuderte, heizte ihm noch mehr ein. Man hatte ihr Unrecht getan, das war nicht zu leugnen. Ob 32 wohl König Uthers Lustgefühle für sie sich inzwischen zu Liebe vertieft hatten, entschuldigte dies nicht, was in jener Nacht vor neun Monaten geschehen war. Obwohl die Heirat des Königs mit der Herzogin das Kind legitim gemacht hatte, konnte es nicht die erschlichene Zeugung des Bastards rechtfertigen. Und selbst wenn Igraines Kind, falls Merlin Recht hatte, eines Tages das ganze Land einigen würde, gab es dem verrückten Magier nicht das Recht, der Mutter den Jungen wegzunehmen. Waren Uther und Merlin auch die Urheber der Schlechtigkeit, so war es immer Ulfius, der sie in ihrer Verderbtheit unterstützte und ihr schändliches Tun erleichterte. Schließlich, wer saß gerade jetzt wie ein Geier im Entbindungsraum? »Immer die miesen Aufträge ...« Dann geschah es. Endlich, nach stundenlangen Vorbereitungen und medizinischen Pflastern und Gebeten an die jungfräuliche Muttergottes und Anrufungen der Hausgeister, den Ratschlägen der Hebammen zu den einsetzenden Wehen, begann unter Stöhnen und Schreien die eigentliche Geburt. Die Hebammen riefen Anweisungen zur Unterstützung der Geburt durch Pressen, bewegten die Arme und Beine der armen Frau wie Pumpenschwengel und drückten auf den Bauch. Nach diesen Anwendungen gab eine der Dienerinnen der Königin einen Besenstil, an den sie sich klammern sollte. Igraine warf ihn von sich und packte statt dessen die gebeugten Köpfe zweier Helferinnen. Mit einer letzten mächtigen Anstrengung und einem keuchenden Aufschrei kam Wasser und etwas zum Vorschein, das wie ein bläulicher Fisch aussah. Der Einiger Britanniens. Hebammenhände ergriffen das purpurne Kind und schälten die plazentalen Gewänder ab. »Ein Junge!«, rief sie aufgeregt. »Ein Junge!« Sie legte den Neugeborenen mit der Brust über ihren Arm und klopfte sanft den schleimigen Stopfen in seiner Kehle heraus. Dann ließ sie sich eine gegerbte Schweinsblase geben und saugte dem Kind die Nase aus. Kräftiges Geschrei war die Antwort. 32
Ulfius setzte sich aufrecht. Zum ersten Mal an diesem Tag verspürte er Erregung, sogar Freude. In diesem quäkenden Geschrei lag etwas Ursprüngliches und Mächtiges. Dieses Kind würde eine Kraft sein. Dieses Kind würde die Sippen und Kleinkönige einigen und ein Zeitalter des Friedens begründen. Mit jedem Schrei leerte es seine winzigen Lungen, hielt nur einen Augenblick ein, um mehr Luft einzusaugen, und schrie wieder. Ulfius stand auf und verließ seinen Winkel mit dem Ledervorhang. Es war offenbar wieder der falsche Zeitpunkt. Hebammen und Zofen umschwärmten ihn in wespenhafter Aufregung. Das Neugeborene schrie aus vollem Halse. Die Nachgeburt verteilte sich über Bettlaken und Dielenbretter. Trotz allem fühlte sich Ulfius zu dem schreienden Säugling hingezogen. Das Bewusstsein, dass dieses Kind ein König sein würde, übte eine unwiderstehliche Faszination aus. Waren alle vorausgegangenen Stunden dieses Tages vom weiblichen Mysterium beherrscht gewesen, so war dieses Kind eine Inkarnation männlichen Mysteriums, und Ulfius erkannte, dass für ihn der Augenblick zu handeln gekommen war. Mit fünf raschen, leisen Schritten stand er bei der Hebamme. Igraine bat, das Kind, das fortzubringen Ulfius gekommen war in die Arme nehmen zu dürfen. »Gib mir das Kind«, sagte Ulfius. Seine Stimme klang gebieterisch, obwohl er es
nicht beabsichtigt hatte. Die Hebamme musterte ihn zornig, sah aber eine Entschlossenheit und eine leuchtende Hoffnung in seinen Zügen, die keine Verweigerung duldeten. Wortlos überließ sie ihm das Kind. Ulfius nahm es behutsam in Empfang. Der Junge schien groß und kräftig und gesund und schrie noch immer. Die Purpurfarbe seiner Haut war unter dem Einfluss von Luft und Licht verschwunden. Verstärkt wurden seine dünnen Schreie durch die Angst und Erbitterung der Mutter. Ulfius hörte nichts davon. Er konnte nur in diese graublauen Augen starren. »Willkommen in der Welt, Kind.« 33 Es war nicht väterliche Liebe, die ihn bewegte, sondern fromme Lehnstreue — die Regung einer ehrlichen und rechtschaffenen Seele in der Anwesenheit ihres Souveräns. »Lakaienseele! Made! Kinderräuber! Der Teufel soll dich zerreißen!« Statt sich aus dem Sturm mütterlichen Zornes zu entfernen, trat Ulfius auf Igraine zu. Ihre schwächliche Schimpfkanonade verstummte bei seiner Annäherung. Mit einer ehrerbietigen Bewegung ließ er das Neugeborene in ihre Arme gleiten. Zorn rötete noch immer ihre Wangen, aber Tränen der Erleichterung kühlten sie. Ein Lächeln erhellte ihre Züge. Sie wickelte den Kleinen in bereitliegende weiche Decken und hielt ihn neben sich in den Armen. Liebevolle Geräusche verdrängten die Schimpfworte von ihren Lippen. Mit zärtlichen Händen liebkoste sie das Kind. Nach einer Weile blickte sie mit nassen Augen zu Ulfius auf und bat: »Sie werden ihn nicht nehmen. Sie werden es nicht tun.« Der Krieger neigte den Kopf. »Es ist der Wille Eures Gemahls, Königliche Hoheit.« »Verdammt soll er sein!«, fauchte sie. »Er ist Euer und mein König«, erwiderte Ulfius. »Dieses Kind war mein, bevor Uther mein König war, bevor er mich heiratete und es legitimierte.« Ihre zornige Miene zerfloss wieder in flehender Beschwörung. »Ulfius, wenn Sie jemals Mut über Feigheit gestellt haben, tun Sie es jetzt. Nehmen Sie mir nicht mein Kind.« Ulfius verneigte sich wieder. Er hatte es satt, zwischen einem verrückten König und einem verrückten Magier lavieren zu müssen. Verrat aber war ein größeres Unrecht als Feigheit. »Ich muss, liebe Königliche Hoheit. Der König lässt sich nichts verweigern. Das Gleiche gilt für Merlin.« »Diese Ausgeburt des Satans. Er wurde von seinen Eltern gestohlen, und nun will er mir mein Kind stehlen«, jammerte sie. »Der Wechselbalg, der elende Dieb!« 33 »Königliche Hoheit, ich schwöre, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dafür zu sorgen, dass dieses Kind gut aufgezogen wird, in hoher Gesinnung und Liebe, dass er ausgebildet wird, wie es sich für einen König geziemt«, beteuerte Ulfius. Bevor er die Worte gesprochen hatte, war ihm nichts davon in den Sinn gekommen, aber er bedauerte es nicht. Sie sah ihn prüfend an, dann überließ sie ihm das Kind. »Solange Sie leben, werden Sie mein Kind behüten, meinen Artus?« »Solange ich lebe«, erwiderte Ulfius feierlich. Er nahm das Wickelkind an sich. Artus hatte aufgehört zu weinen und starrte seinem Beschützer in die Augen. »Willkommen, kleiner Artus.« Er zog die Decken fester um den Säugling, verbeugte sich vor der Königin, machte
kehrt und schritt zur Tür hinaus. Das rauhe Schluchzen der beraubten Mutter folgte ihm hinaus. Auch von den Gemächern der Königin in Burg Albion führte eine Wendeltreppe hinab, ähnlich jener, die sie in Tintagel gehabt hatte. Vorsichtig stieg Ulfius hinab. Bei jedem Schritt fragte er sich, wie er sein Versprechen erfüllen und gleichzeitig den vor ihm liegenden Auftrag ausführen könne. Er erreichte einen Treppenabsatz - und eine kleine Hand griff zu und hielt ihn zurück. Ulfius blickte hinab. Zwei große braune Augen erwiderten seinen Blick. Morgan. Das Mädchen schürzte die Lippen. »Ist dies mein Bruder?« Ulfius atmete schnaufend durch, brachte aber ein Lächeln zuwege. »Weshalb, ja, Morgan. Das ist Artus.« Ihre glatte Elfenbeinstirn bekam Falten. »Artus? Nach Uther benannt? Warum wird er nicht nach meinem Vater benannt?« Ulfius kauerte auf dem Treppenabsatz nieder und erlaubte dem Mädchen einen Blick in die Umwickelung der Windel und Decken. »Uther ist jetzt dein Vater, liebes Kind.« »Ist er nicht. Wird er nie sein«, entgegnete Morgan mit fester Stimme. Sie spähte in das kleine Gesicht, rümpfte die Nase und stieß hervor: »Aber Uther ist der Vater von diesem ... diesem Geschöpf.« 34 Ulfius stand auf und zupfte die Decke um Artus' Gesicht zurecht. »Nun denn ... ich muss mich auf den Weg machen ...« Morgan hatte seinen Ärmel noch nicht losgelassen. »Ich sah ihn damals in der Nacht, wissen Sie. Ich sah, dass Uther als mein Vater hergerichtet war. Ich sah es und niemand glaubte mir. Ich kann Dinge sehen, die andere nicht sehen können. Ich sah -« »Bitte, Morgan«, sagte Ulfius und entzog ihr seinen Arm. »Ich muss gehen.« Ihre Augen wurden schmal. Sie hob die Hand und zeigte anklagend auf ihn. »Auch Sie waren dort. Sie waren Jordanus, nicht?« Ulfius stieg halb zurückgewandt die Stufen hinab. Das Herz pochte ihm in den Schläfen. »Ich sehe! Ich sehe, was niemand sonst sieht! Uther ist nicht mein Vater. Artus ist nicht mein Bruder. Sie werden es nie sein!« Ihre laute, entschiedene Stimme klang Ulfius noch in den Ohren, als er den Fuß der Wendeltreppe erreichte. Die Tür des Turmes öffnete sich in den Garten der Königin. Mit eiligen Schritten folgte Ulfius einem Weg zwischen Rosen und Schwertlilien, erreichte eine Gartentreppe und stieg die Stufen hinab zu einer efeuüberwachsenen Pforte. Er sah sich um. Von dem armen jungen Mädchen war nichts zu sehen. Natürlich war Morgan mit Recht zornig. Sie sah, was andere nicht sahen. In einer Welt abscheulicher Grausamkeiten war Hellsehen kein Segen, sondern ein Fluch. Ulfius wandte sich der Pforte zu. Das schmiedeeiserne Gitterwerk vor ihm war uralt, die Stangen ebenso verrostet wie das Schloss. Als er daran rüttelte, gab sie kein Stückchen nach. Jenseits der Pforte wucherten wilde Glockenblumen. Natürlich war Merlin nirgendwo zu sehen. Der Krieger stand da und spähte hinaus zum Wald, der sich in geringer Entfernung den leicht abfallenden Hang hinabzog. Eine Brise trug ihm süßen Torfgeruch zu. Am Waldrand flatterte ein Vogel zwischen Espenstämmen. Immer wieder wurde er von schräg einfallenden Sonnenstrahlen getroffen, so dass sein grünes 34
und gelbes Gefieder aufleuchtete. Irgendwo in einem Wasserloch quarrten Frösche. Laub raschelte im Wind. Aber von Merlin fehlte jede Spur. Ulfius hob das inzwischen eingeschlafene Kind zur Pforte. »Merlin, komm jetzt und nimm das Kind, oder ich trage es zurück zu seiner Mutter.« Der Magier erschien. Es war kein Eintreffen, sondern er schien sich aus Sauerampfer, Seggen und Sumpfporst zu materialisieren. Die Lumpen und die schmalen Schultern, die ausgemergelte Gestalt, der zottige Haar- und Bartwuchs ... seine Augen traten zuletzt in Erscheinung, als wären sie verspätet von dort gekommen, wo immer er auch gewesen war. Ihr Ausdruck war begehrlich und erwartungsvoll, zugleich aber geistesabwesend, als sähe er seltsame Visionen. Als er diese Augen sah, wich Ulfius zurück und zog den Säugling aus Merlins Reichweite. »Was ist mit dir, Merlin? Ich dachte, du würdest nicht kommen.« Der zerlumpte alte Zauberer tat einen Schritt vorwärts. »Du willst sagen, dass du hofftest, ich würde nicht kommen.« Ulfius zog sich wieder zurück. »Was weißt du von der Pflege und Versorgung eines Neugeborenen?« Der begehrliche Glanz in Merlins Augen verstärkte sich, er streckte die Hände wie Krallen aus. »Ich bin gerade so ein Neugeborener. Ich sorge für mich selbst.« Kritisch musterte Ulfius die abgerissene Gestalt des alten Mannes. »Womit willst du ihn ernähren?« »Mit Nahrung«, erwiderte Merlin. Er zupfte an der Decke, die das Bündel einhüllte. »Wie ich mich selbst ernähre.« »Er braucht Milch - Muttermilch«, sagte Ulfius. »Ich werde welche zaubern.« »Das kannst du nicht. Du sagtest selbst, dass es mit Nahrung anders sei. Du sagtest, sie widerstehe der Magie.« »Reizvolle Idee.« Merlin bemühte sich, den Arm um das Bündel zu legen, aber Ulfius ließ nicht los. »Gib das Kind her. Es ist mein!« 35 Es lag genug verzweifelter Zorn in diesem Befehl, dass Ulfius das Bündel Merlins ungeschicktem Zugriff überließ. »Warum, Merlin? Warum willst du den Jungen? Du sagtest selbst, er werde das Land einigen, werde es retten. Warum dieses Wunderkind in Gefahr bringen?« »Weil er auch mich einigen wird!«, sagte Merlin in aufbegehrendem Ton. »Er wird mich einigen!« Der Magier wandte sich der schmiedeeisernen Pforte zu. Eine unauffällige Geste, und goldenes Feuer fuhr in das fest gerostete Schloss. Rostteilchen flogen von dem alten Eisen. Sie glühten in Funken auf und sprühten in alle Richtungen. Innerhalb weniger Augenblicke sah das Schloss wie neu aus. Einige der Funken formierten sich zu einem spektralen Schlüssel, der sich selbst in das Loch einführte und drehte. Das Schloss öffnete sich, die Klinke ging von selbst nieder, die Pforte schwang langsam auf. »Versuche nicht, uns zu folgen, Ulfius. Ich warne dich.« Der Ernst seiner Drohung funkelte durch das verrückte Flackern seiner Augen. »Versuchs nicht.« Ulfius öffnete den Mund zur Antwort und war überrascht, als er sagte: »Sein Name ist Artus.« »Was?«, fragte Merlin, als er wie ein Geizkragen mit einem Topf voll Gold davoneilte. »Das Kind. Sein Name ist Artus.«
Artus. Dein Name ist Artus. Deine Augen, Artus, sind zwei sprudelnde blaue Quellen. Nie hat es auf der ganzen Welt solche Augen gegeben. Nicht einmal die Augen des jungen Christus waren so. Und dein Haar, wie gesponnenes Gold. Hier sind die Beulen, wo dein Geweih wachsen wird. Es wird weit ausladend sein und den Himmel berühren. Und das blitzende Schwert, das aus deinem Mund zeigen wird— das durchbohrende Geräusch, das die Meilen durchschneidet, um die ganze Welt unter deine Herrschaft zu bringen —, es trennt Seele von Geist und Gelenke vom Mark ... Was ist das? Wo ist der Becher, den du in der rechten Hand tragen sollst? Becher wachsen nicht von Fingern, wie Geweihe von Köpfen. 36 Becher sind Dinge, die wahrgenommen und erfasst werden. Jetzt verstehe ich. Du hast den Becher nicht, aber du sollst ihn haben. Du weißt noch nicht, wo er ist, aber du wirst es wissen. Und wo sind die Schlüssel für deine linke Hand? Müssen auch sie beschafft werden? Du wirst wissen, wo die Schlüssel zu suchen sind. Du wirst sie für mich finden. Oh, lieber süßer Artus, wie seltsam du bist. Ein Kind verrückter Träume. Wie seltsam sind wir, du und ich. Merlin hatte sich noch nicht einen Steinwurf weit von der Pforte entfernt, als das Kind zu weinen begann. Sein dünnes Gewinsel erfüllte den dichten Wald. Die anderen Geschöpfe verstummten, um zu lauschen. Hasen flohen, Füchse spitzten die Ohren. Wölfe kamen aus ihren Schlupfwinkeln und liefen herbei, um zu sehen, welche armselige, elende Kreatur sich in den abendlichen Wald verirrt hatte. Merlin wanderte weiter. Kinder mögen Bewegung. Außerdem würde Ulfius folgen. Er war unfähig, nicht zu folgen. Er würde folgen, und Merlin würde entkommen müssen. Ein paar silbrige Augen, denen des Kindes verwandt, beobachteten ihn aus einem walddurchwachsenen Tal. Merlin ließ ein lang gezogenes Heulen hören, das die Waldbewohner in die Flucht schlug. Aber es verursachte nur ein lauteres, anhaltendes Klagegeschrei vom Kind. Merlin hob Artus von der Seite, wo er ihn wie ein Bündel Holz in einem Arm getragen hatte und hielt das Kind vor sich. Artus verblüffte mit seinen wölfischen Augen, so viel war sicher. Er wurde auch zu einer Plage. Seine Stirn, an der noch Spuren von getrocknetem Blut hafteten, wies zwischen den Augen eine zornige Falte auf. Sein Mund stieß klagendes Geschrei aus. Die winzigen Hände zitterten hilflos. »Na, na«, sagte Merlin. Ein dünner Fühler grüner Magie glitt zwischen seinen Zähnen hervor und aufwärts in eine alte Ulme. Der suchende Zauber 36 forschte in den Fussen der Borke, fand seine Beute und kehrte mit der schillernden Kreatur zurück. Der magische Fühler setzte eine große Heuschrecke auf die Wange des Kindes. Merlin lächelte befriedigt und nickte, befahl dem Insekt, zu singen. Es gehorchte. Obwohl das Zirpen laut und schnarrend war, nicht viel anders als Stahl auf einem Schleifstein, brachte es das Kind zur Ruhe. Befriedigt wanderte Merlin weiter den Pfad hinab. Bald führte er hinaus auf eine Weide. Merlin eilte auf die Lichtung. Die Nacht vertiefte sich, Wolken kauerten am Westhorizont. Der Himmel über ihm schien wie der Bauch einer Riesenschlange, schuppig und biegsam. Aus den Wäldern ringsum drangen raschelnde, schnüffelnde Geräusche. Sicherlich Wölfe, die das dünne Geschrei des Säuglings für die Stimme eines verwundeten Hasen hielten aber auch größere Tritte, bewusster und zugleich vorsichtiger. Es konnte kein anderer als Ulfius sein.
Der Geist des Magiers verbreitete sich im Nachtwind. Er suchte zwischen Grashalmen und Schafdung. Hier gab es Verbündete. Der Schafpferch, ein Geviert aus zusammengetragenen und aufgeschichteten Feldsteinen auf einer niedrigen Anhöhe, war mit einem offenen Schuppen als Unterstand versehen und wimmelte von kleinen Tieren. Sie gehorchten wie immer Merlins Ruf, beantworteten ihn mit feinen Stimmen, die zu schrill waren, um mehr als einen fühlbaren Sinn zu ergeben. Er bückte sich am Wegrand und sprach leise zu den vor ihm versammelten Tieren. »Ich weiß, ihr fürchtet Eulen, aber keine wird euch behelligen, wenn ihr an meinem Verfolger hinaufklettert. Ich möchte, dass ihr ihn nur leicht zwickt. Verletzt ihn nicht. Er ist ein guter Mann. Sorgt nur dafür, dass er umkehrt.« Die Antwort war zirpende Zustimmung. Nur ein Junges piepste kläglich. Die Bedeutung war Merlin klar. »Ah. Du bist mehr ein Sänger als ein Krieger«, sagte er. »Ich verstehe. Ein Feinsinniger unter Kämpfern.« Er hob die Maus aus den Kräutern und setzte sie Artus auf die Brust. 37 Es war eine gepflegte Waldmaus mit weißem Bauch, gelbbraunem Rücken und großen schwarzen Knopfaugen. Mit ihren zierlichen Pfötchen putzte sie sorgsam die Schnurrhaare. Zur Vorbereitung ihres eigenen Konzertes ergriff die Maus dann die Heuschrecke, biss ihr den Kopf ab und verzehrte den Rest mit erstaunlicher Schnelligkeit. Befriedigt sträubte sie ihr Fell und kratzte sich hinter dem Ohr. Artus, seines Wiegenliedes beraubt, winselte. Die Maus sang. Ihre Musik war umso süßer, als sie einen vollen Bauch hatte. Artus beruhigte sich wieder und Merlin ging weiter. Die Maus sang weiter, von dunklen Löchern und flatternden Motten, vollen Nestern und dem furchtbaren Geräusch großer, grabender Pfoten. Ihre Gefährten liefen unterdessen durch Gras und Kraut Ulfius entgegen, der eben als schwarzer Umriss aus dem dunklen Wald hervorkam. »Und er war besorgt, ich könnte für das Kind nicht sorgen«, murmelte Merlin, als er in die Nacht hinauswanderte.
8. Flucht mit dem Boot
Die Morgendämmerung nahte. Artus hatte seit Mitternacht unaufhörlich geweint. Nach der Waldmaus hatte Merlin von einer Strumpfbandnatter, drei Katzen, einem grauen Wolf und sogar einem Banditen, auf den er unglücklicherweise gestoßen war, Konzerte geben lassen. Nichts davon hatte den Säugling zur Ruhe bringen können. Kreischen und Winseln, Knurren und Schluchzen, Heulen und Jaulen -nichts hatte geholfen. Merlins Versuch, sich auf magische Weise mit der Ausstattung eines Kindermädchens zu versehen, hatte nur dazu geführt, dass ihm zwei Weinschläuche vom Hals hingen - nützlich für ihn, aber nicht für das Kind. Sein mitternächtlicher Besuch in einer armseligen Bauernkate, wo er nach einem 37 jungen Mädchen mit vollen Brüsten gefragt hatte, hätte beinahe mit einem von einem Axthieb gespaltenen Schädel ein Ende gefunden. Er war geflohen - und das jämmerliche Gewinsel dauerte an. »Und ich dachte, ich könnte für dieses Kind sorgen«, lamentierte Merlin. »Er ist verrückter als ich! Impulsiv, furchtlos, unbezähmbar, lautstark - völlig unempfindlich gegen
Überredung!« Artus war mehr als eine Handvoll. »Er ist nicht mal alt genug, um verrückt zu sein!«, grämte sich Merlin. »Und ich hoffte, er würde mich retten.« In der dunkelsten Stunde der Nacht hatte Merlin sich gefragt, ob er über die Natur dieses Kindes im Irrtum gewesen sei. Wie, wenn die Prophezeiungen über das Schicksal des Jungen nur weitere Selbsttäuschungen wären, nur Hirngespinste eines wirren und hoffnungslosen Geistes? Wie, wenn er sich selbst und das Kind ganz umsonst zugrunde richtete? In ratlosem Zorn stampfte er auf den Boden. Hinter den Hügeln wartete der Morgen; bald würde der Sonnenwagen zum Himmel auffahren und vieles mit sich bringen: den Tag mit groben Kerlen und keifenden Weibern und Krieger mit Schwertern. Es würde Menschenaufläufe und Kerker und den Galgen geben -wieder einmal. Vielleicht hätte Merlin in diesem Augenblick aufgegeben, wäre hinter ihm am Weg nicht ein Knacken von Zweigen und Rauschen von Blättern laut geworden, begleitet von einem unterdrückten Fluch. Er sah sich um und gewahrte im Gebüsch hinter einer Eiche eine ramponierte und gequälte Gestalt, die sich vergeblich zu verbergen suchte. Solange Ulfius hinter ihm her war, fiel ihm das Weitergehen leicht, schon um des Vergnügens willen. Mit einem kindischen Kichern machte Merlin kehrt und ging den Weg zurück. Bei jedem Schritt staubte die trockene Erde unter seinen Füßen. Er hatte die Geistesgegenwart, den Staub mit Magie zu erfüllen. Die kleinen Staubwolken stiegen höher, vereinten sich, wirbelten und zogen langsam auf Ulfius zu. 38 Ein Ächzen drang aus den Büschen hinter der Eiche. Die Staubwolke sammelte sich schmutzig grau um das Versteck. Dort begann das Pusten. In einem Anflug besonderer Bosheit blieb Merlin stehen und vollführte einen kleinen Tanz, um noch mehr Staub aufzuwirbeln und ihn als magische Wolke den anderen nachzuschicken. Niesend, hustend und spuckend konnte Ulfius seine Anwesenheit nicht länger verheimlichen. Er kroch aus seinem Versteck. »Zum Henker mit dir, verrückter Alter! Brut eines Inkubus! Du wirst an Unterkühlung sterben! Du wirst das Kind umbringen! Er braucht seine Mutter, er braucht Nahrung. Du brauchst seine Mutter. Verdammter Hexenmeister!« Sein zorniger Ausbruch wurde mehrfach von Husten und Niesen unterbrochen. Merlin gackerte. Er ließ den anderen stehen und eilte auf dem Weg weiter, um einen mit Klee bewachsenen Böschungsabsatz und in einen Hohlweg. An seinem Ende öffnete sich der Blick auf eine schöne Aussicht: einen schmalen, tiefen und langsam ziehenden Fluss. Weiden und Erlen säumten seine Ufer, Moose und Flechten bedeckten Stämme und Zweige. Die lehmigen Ufer waren von Löchern durchsetzt, aus denen winzige Augenpaare spähten. Das Beste aber war ein kleines Fischerboot, das neben einer kleinen Ausbuchtung kieloben im Gras lag. »Ein Fluss, der zum Ziel uns bringt, Ein Wind, der sein Lied uns singt, Ein Boot, das die Wellen bezwingt, Ein Morgen, da alles gelingt!« Das Kind fest an seine Weinschläuche gedrückt, stieg Merlin den Pfad zum Ufer hinab. »Wasser wird uns retten, Kind. Es rettete mich früher und wird uns jetzt retten.« Artus hörte einen Augenblick lang auf zu weinen und starrte in das verrückte Gesicht über ihm. 38
Merlin nahm dies als ein Zeichen. Er richtete das Boot auf, unter dem die Ruder, Netze und Hummerkörbe verstaut waren. Das Boot rollte in dem Uferschlamm. Merlin hielt das Kind in die Höhe, stieg über die Bordwand und setzte sich in den Bug des Bootes. Er legte Artus sorgsam ab, bevor er merkte, dass das Boot noch im Uferschlamm festsaß. Darauf kletterte er hinaus und schob das Fahrzeug ins Wasser. Es kam plötzlich frei und schwamm. Das Heck entzog sich Merlins Hand, das Boot glitt in tiefes Wasser. Verzweifelt warf er sich mit ausgestreckten Armen vorwärts, um das davontreibende Bootsheck zu fassen, platschte aber in eine Auskolkung im Flussbett und verlor den Boden unter den Füßen. Kaltes schwarzes Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Obwohl es von außen ruhig und still schien, zog das Wasser mit einer sanften, aber machtvollen Strömung dahin. Sie zog Merlin in saugende Dunkelheit hinab. Er hob den Kopf und konnte an der silbrigen Oberfläche den ovalen Rumpf des Fischerbootes ausmachen, das von der Strömung fortgetragen wurde. Genug war genug. Merlin ruderte mit beiden Händen durch das Wasser. Seine Finger hinterließen Blasenketten, die sich zu Schulen kleiner, hin und her schießender Fische verfestigten. Ein weiterer ausholender Zug seiner Arme verlängerte die Tiere zu Wasserschlangen und Aalen. Ein Dritter - und die wimmelnde Masse kalter Muskeln und silbriger Schuppen umhüllte den zerlumpten Magier und trug ihn aufwärts. Sein Kopf durchbrach die Oberfläche. Wasser trofF aus Haaren und Bart. Die Tiere, die er heraufbeschworen hatte, schlossen sich zusammen, hoben ihn aus dem Wasser und trugen ihn im ruhigen Kielwasser des Bootes dahin. Er erreichte das Heck und kletterte hinein. Es bereitete ihm keine größeren Schwierigkeiten, als wenn das Boot am Strand gelegen hätte. Er setzte sich. Die Wasserbewohner, soweit sie nicht von ihm abgelassen hatten, verbargen sich in der Bilge unter den Bodenbrettern oder um den schlafenden Säugling. Ein paar glücklose Helfer gerieten in die Hände des 39 Zauberers und endeten ihr kurzes Leben zwischen seinen kräftigen Zähnen. Zum ersten Mal seit Stunden sah die Reise viel versprechend aus. Die Euphorie hatte jedoch keinen Bestand. Der anbrechende Tag entwickelte sich ungünstig. Die Sonne brannte erbarmungslos in das kleine Boot. Zuerst schenkte sie dem durchnässten Zauberer willkommene Wärme. Seine Lumpen dampften. Aber sobald sie trockengebacken waren, begann die Haut darunter Schweißtropfen abzusondern. Neue Feuchtigkeit drang in das Gewebe ein. Merlin zog sich Haarsträhnen ins Gesicht, um das brennende Gefühl zu lindern. »Wohin fahren wir?«, überlegte er laut. Schläfrig blinzelte er zu den Bäumen hinüber, die sich an beiden Ufern über das Wasser beugten. In Wahrheit wusste er, was er floh - Uther und sein gewalttätiges Königreich, Hüttensiedlungen von Verrückten, Jahre der Bettelei, des Hungers und der Idiotie. Artus war der Goldschatz, der ihm den Weg aus Armut und Entbehrung freikaufen würde, und doch hortete Merlin dieses Gold, weil er keine Ahnung hatte, wie er dieses Vermögen in Glück und Behaglichkeit ummünzen sollte. Er lachte über seine eigene Verrücktheit. Der König von Theben und Herodes von Palästina suchten ihr Schicksal zu verändern, indem sie den prophezeiten Jungen zu erschlagen trachteten. Merlin suchte sein Schicksal zu wenden, indem er ihn adoptierte. »Du fragst, wohin wir gehen? Wir gehen unserem Schicksal entgegen?« Das war alles an Verstand, was ihm geblieben war. Erschöpft von Hitze, greller Sonne und prickelndem Schweiß, sank er in delirierenden Schlaf. Er wollte wach bleiben, Gewissheit
haben, dass Ulfius nicht folgen konnte, aber der Schlaf ließ sich nicht zurückweisen. Artus war endlich fest eingeschlafen und schnarchte leise. Süße Lethargie ging in Wellen von ihm aus. »Was kann es schaden, am Busen des Flusses eine Weile zu 40 schlafen?« Merlin ließ sich vom Hecksitz gleiten. Geteerte Planken wiegten ihn. Der Wind strich durch Schilfrohr und Weiden und sang ihn in den Schlaf. Oder wenn nicht in den Schlaf, dann wenigstens in die vertrauten Träume des Deliriums. Ungezählte Male war er auf diesem Weg geflohen. Es geschah so instinktiv wie das Atmen. Immer gab es eine klare Bedrohung, vor der er floh, ob es eine Rettung durch Flucht gab oder nicht. Heuwagen und Pferde, Schweineherden und Fischerboote - was immer er auf seinem Weg aus der Vernichtung fand, konnte Merlin weiterbefördern. Als er das letzte Mal mit einem Boot entkommen war, war es ein viel größeres Fahrzeug gewesen. Die Bordwände des kleinen Fischerbootes dehnten sich nach außen und aufwärts, um sich der Vision anzupassen. Unter Merlins krummem Rücken verlängerten und verbreiterten sich die Planken zu einem weiten Deck. Reihen von Ruderbänken sprossen aus Decksplanken und Spanten. Ketten waren in den Boden geschraubt, aus Löchern in der Bordwand wuchsen lange Ruder, die sich im Gleichtakt bewegten. Keine Hände umfassten diese Ruder, es sei denn die Hände der Magie, aber sie trieben das Schiff unermüdlich vorwärts. Der hoch gezogene Schiffsbug trug einen Drachenkopf. Salzige Wellen brachen sich gischtend am Bug und sandten Sprühwasser bis zum Heck, wo Merlin stand. Er schlug mit der Trommel den Takt. Jedes Mal, wenn die Schlägel das Trommelfell trafen, wurden die langen Ruder von unsichtbaren Händen vorwärts gestoßen. Von dem Augenblick an, da er an Bord gegangen war und die Haltetaue verbrannt hatte, hatte er diese Trommelschlägel fest in den Händen gehalten. Unsichtbare Ruderer hatten seitdem unermüdlich ihre Arbeit getan. Das Rahsegel hatte zuerst geholfen. Noch in Sichtweite der Küste des Landes, wo die Sachsen wohnten, hatte das Segel Eurus eingefangen, den Ostwind. Mit der Zeit hatte der unruhige Gott sich den Weg direkt durch das Segeltuch gebahnt. 40 Dennoch verfolgten ihn die Sachsen. Jemand verfolgte ihn immer. Merlin wandte sich und blickte über das Drachenschwanzheck hinaus. Die stürmische Nordsee lag dunkel unter der anbrechenden Nacht. Überall auf ihrer eisigen, von Schaumkronen aufgepeitschter Wellen gesprenkelten Weite waren sächsische Schiffe zu sehen. Ihre Ruder bewegten sich wie die Beine von Hundertfüßern. Ihre Segel trugen die Embleme fremder Götter. Obwohl sie meilenweit zurück lagen, war die Witterung ihres Hasses stark im Ostwind. Sie wollten Merlin. Sie wollten ihn tot. In Asgard hatten sie versucht, ihn zu töten. Vielleicht wäre es ihnen gelungen, hätte Merlin nicht das große Schwert am Gürtel getragen. Das Schwert war es, worauf die Sachsen es in Wirklichkeit abgesehen hatten. Ein Götter tötendes Schwert nannten sie es. Ohnegleichen. Merlin wandte sich nach vorn. Die Sonne verließ ihn. Der Mond würde den Sachsen helfen. So etwas war sonst nie geschehen. Jetzt bekämpften ihn sogar Wind und Wellen. Vom Wasser hätte er es erwarten können, aber von der Luft? »Genug, Eurus! Genug!«, rief Merlin erbost in den Oststurm. »Du hast mein Segel in Fetzen gerissen, und nun trägst du die Sachsen daher? Willst du mein Blut so sehr wie sie?«
Aus dem Osten kam eine Stimme, gewaltig und brüllend wie ein Wasserfall. »Wer könnte nicht dein Blut wollen?« Hinter dem Schiff bildete sich ein Gesicht aus grauen Wolken und schwarzer Nacht. Grimmig blickte es auf ihn nieder, bevor es verwehte. Merlin brummte vor sich hin: »Ich hatte vergessen, wie hässlich du bist.« »Was?«, heulte der Ostwind. Merlin lächelte in seinen Bart und rief: »Was ist mit alten Bündnissen? Mit alten Loyalitäten?« »Bündnisse? Loyalitäten?« Der Luftgott schleuderte eine Orkanbö aus der Dunkelheit herab. Sie fiel brutal über Merlins Schiff her. Die See schien seinen Kiel einzusaugen. Vor ihnen öffnete sich ein tiefes Wellental. Das Schiff 41 schoss hinein und wurde wie ein Korken wieder emporgetragen. Die zerfetzten Segel knatterten zornig, lose Leinen peitschten das Deck. Merlin musste seine Taktschläge auf der Trommel unterbrechen, um sich festzuhalten. Die Ruder sanken abwärts und wurden leblos durch schäumendes Wasser gezogen. Das Schiff wurde vom Wellental eingeholt, und als sich hinter dem Heck die nächste Woge erhob und drohend auftürmte, fragte sich Merlin einen schrecklichen Augenblick lang ob sie über das Schiff hereinbrechen und es in sonnenlose Tiefen drücken werde. Aber schon wurde das Schiff wieder angehoben. Merlin umklammerte die Heckbordwand, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Das Schiff schien am glasig glatten Rücken der Welle zu hängen. Unheilvoll dräute Eurus auf das Flüchtlingsschiff nieder. »Bündnisse? Loyalitäten? Du hast uns verraten! Jeden von uns! Du hast uns verlassen und dem Tode ausgeliefert!« Eine weitere Orkanbö aus dem Osten fuhr über das Schiff hin. Merlin bückte sich in den Schutz der Bordwand. Seine freie Hand umklammerte den Griff des langen, Götter tötenden Schwertes. Dann hob er den Kopf und rief in den Sturm: »Was soll das heißen? Wir waren Freunde. Verbündete.« »Freunde?«, antwortete der Wind. Seine Wut verdoppelte sich. »Verbündete? Wir waren viel mehr als das, oder erinnerst du dich nicht?« Das war es. Merlin konnte sich kaum eine Woche zurückerinnern. Wie konnte er sich erinnern, was vor Jahren, Jahrhunderten geschah? Alles lag in Bruchstücken, eine zerschlagene Urne. »Ich werde es wieder gut machen. Ich werde dich entschädigen!« Er wusste nicht, was er Schlechtes getan hatte, geschweige denn, wie er es wieder gut machen sollte, aber es war ein Vorrecht der Sterblichen, Götter zu beschwindeln. »Du kannst es nicht wieder gutmachen«, zischte der Wind. »Das weißt du so gut wie ich. Niemals kannst du etwas wieder gut machen.« Das zumindest hörte sich vertraut an. 41 Als das Schiff den nächsten Wellenkamm erreichte, erschien im Osten etwas Übles. Es schien eine Cobra zu sein, die über die aufgewühlte Meeresoberfläche glitt und sich in die Wolken erhob. Eine Wasserhose. Die schwarze, wirbelnde Säule aus Wasser zog über die Mitte des vordersten sächsischen Schiffes. Selbst aus der weiten Entfernung war der Anprall von Wasser und Wind auf den Rumpf ohrenbetäubend. Die Wasserhose zersplitterte Holz, verbog Metall, brach den Mast und schleuderte das Segel weit hinaus in die See. Das Schiff
wäre gekentert, wäre es lange genug an der Oberfläche geblieben. Stattdessen brach es in der Mitte auseinander, und Bug und Heck sanken getrennt voneinander. Mit bösartiger Absicht zog die Wasserhose auf Merlins Schiff zu. Eurus kräftigte sie mit seinem mörderischen Atem. Dies also war das Ende - Sterben in verzweifelter Flucht, in Verwirrung und Wahnsinn, erschlagen nicht von Sachsen, sondern von der See. Von der See ... »Wenn du mich töten willst, Eurus, tue es selbst!«, rief Merlin über das stampfende Heck. »Versteck dich nicht hinter der mächtigen See!« Die Herausforderung wirkte. Der Osthimmel verdüsterte sich in brodelndem Zorn. Tief hängende Wolken rasten über die tobende See. Eurus' Gesicht bildete sich, löste sich auf und bildete sich wieder. Sein Mund öffnete sich zu einem brüllenden Abgrund. Er würde das Schiff ganz verschlingen - das Schiff und den verrückten Magier und sein Götter tötendes Schwert. Als der unwiderstehliche Himmel sich in Schwärze über Merlin und seinem Schiff zusammenballte, stieß er die Klinge aufwärts in das Herz des Himmels. Ein qualvolles Brüllen stürzte wie in Kaskaden aus dem Sturm herab. Hagel und Blitz und Regen prasselten um ihn herab. Aufgespießt auf das Götter tötende Schwert, schlug Eurus in seinen Todeszuckungen um sich. Winde bliesen in verschiedene Richtungen, peitschten die Wellen zu Kreuzseen auf. Die Welt wurde zu brodelndem Nebel. 42 Die ganze Zeit über klammerte sich Merlin an die Bordwand. Er war überzeugt, dass er inmitten der entfesselten Naturgewalten umkommen würde. Es war eine Ironie, dass das Töten eines Gottes genauso tödlich war, wie von einem Gott getötet zu werden. In genau solch einem nächtlichen Sturm erwachte Merlin. Das große sächsische Drachenschiff war ersetzt durch ein kleines Fischerboot. Die Nordsee wurde zu diesem breiten Fluss, weit und tief. Seine Ufer verloren sich in Dunkelheit. Regen, Hagel, Wellen und Wind spielten dem kleinen Boot übel mit. Spritzwasser füllte die Bilge und hatte Bodenplanken überschwemmt. Am schlimmsten aber war, das Artus still und reglos im Bug lag. Merlin stieß ein ängstliches Krächzen aus. Er fuhr vom Bootsheck auf und kroch nach vorn zu dem bewegungslosen Bündel. Das Gesicht des Neugeborenen war nass und vom Schneeregen verklebt. Die kleinen Fäuste hingen kalt und starr an seinem kleinen Kinn. Merlin hob das Bündel. Die fiebrige Wärme, die er zuvor gefühlt hatte, war vollständig verschwunden. Das Kind war kalt wie eine ertrunkene Katze. Ein totes Gewicht beschwerte des alten Mannes Brust. Es fühlte sich an, als wäre sein Herz zu Stein geworden. Das Kind in seinen Armen war genauso zu Stein geworden. »Es macht nicht viel aus, dieses tote Ding«, murmelte Merlin vor sich hin. Er konnte einen Menschen aus Brei und Knochenmehl wieder zusammenfügen. Er konnte diesem Kind — genauso leicht wie er atmete — neues Leben einhauchen. Er beugte sich über Artus und ließ den warmen Atem ausströmen. Roter Schimmer lud die Luft auf. Winzige karmesinrote Partikel wirbelten durch den Nebel, sanken auf die Haut des leblosen Säuglings und drangen in sie ein. Gleich würden sich Artus' Augen öffnen, und die roten Partikel würden in die dunklen Pupillen dringen und auch sie aufleben lassen. In wenigen Augen 42
blicken ... Merlins Magie hatte nie versagt... Zumindest erinnerte er sich nicht an ein Versagen. Er konnte immer die Toten auferwecken ... Außer wenn ein Fluch darauf lag ... Der Leben spendende Atem löste sich in der Luft auf. Das Kind lag vollkommen still. Erneuertes Angstgeheul entrang sich Merlins Brust. Mit ungeschickt fummelnden Händen hob er Artus auf und drückte ihn an sich. »Lebe, Kind! Lebe. Wenn du stirbst, sterbe ich stirbt Albion.« Wieder quälten Gedanken an Herodes und den König von Theben, die das Schicksal abzuwenden suchten, indem sie Kinder erschlugen, seine Gedanken. Um sein persönliches Geschick zu sichern, hatte Merlin das einzige Gefäß zerschlagen, das ihm dazu verhelfen konnte. »Ich bin verrückt«, sagte er in Verzweiflung. »Ich bin und werde immer verrückt sein!« »Ja, du bist und wirst immer verrückt sein«, ertönte eine raschelnde Stimme. Sie schnaufte und zischte im rauschenden Regen. Merlin ächzte, den Kopf über das Kind gebeugt. »Loki, du hast mir dies angetan. Du hast das Kind verflucht.« »Nicht ich«, erwiderte der Gott. »Der Fluch kam von anderen Mächten dieses Landes. Ich erzählte ihnen von deinem schwertzüngigen jungen Christus.« »Er war nicht — ist nicht der junge Christus.« »Das Land ist anderer Meinung. Ein Erlöser mit einem Schwert als Zunge und einem Blutbecher und den Schlüsseln zur Hölle?« Loki umkreiste das Boot in einem Hagelschauer. »Er ist ein weiterer Christus, ein weiterer Eroberer, gekommen, die alten Götter weiter zurückzudrängen. Das Land wird ihn nicht willkommen heißen. Es hat ihn verflucht.« »Was ist mit dem Geweih? Was mit den Strömen, die von seinen Augen ausgehen? Sie kommen vom Land!«, sagte Merlin in bittendem Ton. »Gewiss, die Hälfte dieses Kindes ist vom 43 rücksichtslosen Uther, aber die andere Hälfte ist von der sanften Igraine —« Loki mahnte durch den plätschernden Regen. »Es ist nicht mein Urteil. Die Mächte des Landes lehnen deinen Artus ab. Sie verfluchen ihn.« Merlin sank über das leblose Kind. Heiße Tränen vermischten sich in Artus' Gesicht mit kaltem Regen. Der alte Mann ächzte. Seit Jahren hatte er von diesem Kind geträumt, aber nur wenige Augenblicke lang hatte er es halten dürfen. Und nun war Artus für immer verloren. Merlin suchte den Jungen in seinen Träumen. Sicherlich könnte er diesen Fluch abwenden, wenn er Artus dort sehen würde. Sicherlich ... In der Dunkelheit seiner Verzweiflung erschien ihm eine helle, leuchtende Vision. Sie ist stark und weise, dieses Kind. Ihre Füße stehen zwischen Eichenwurzeln. Efeu kleidet sie wie die Eva der alten Überlieferung. Ihr Gesicht ist hell und strahlend wie das Mondlicht, und ein Stechpalmenkranz schmückt ihren Kopf. So schön und mächtig und rein wie dieses Kind ist, hat es in Albion niemals eines gegeben. Ihr Herz umschließt alles Land von Eire bis Essex, von Dumnonia bis Kaledonien ... Sie ist Thuata. Keine Herrscherin, aber die Macht einer Herrscherin. Sie ist das Land. Sie wird die Schlüssel zu Artus' Herz halten. Und ihr Name wird Guinevere sein ... Es war ein hell strahlender Augenblick. Diese Vision war nicht Artus, sondern eine andere. Sie war diejenige, die den Fluch des Landes aufheben und Artus dem Leben zurückgeben konnte. Sie war noch nichts — ein heller Faden in einem sonst schwarzen Wandteppich. Sie ins Leben zu rufen, würde Artus retten, doch es würde schwierig sein und List erfordern ... Betrug - wie den in Tintagel.
»O Loki«, stöhnte Merlin kläglich, »sie haben uns beide übervorteilt!« 44 Der Sturm ließ vorübergehend nach, dann kam Lokis Stimme: »Uns — beide?« »Ja. Sie haben meinen Artus ebenso abgewiesen wie dein Angebot.« »Mein Angebot? Welches Angebot?« Merlin hob das Gesicht mit ungläubigem Ausdruck in den Regen. »Du bist der Gott des Handels, nicht wahr? Haben sie dieses Urteil gesprochen, ohne dich etwas herunterhandeln zu lassen?« Die prasselnden Regentropfen wurden heftig. »So ist es.« Merlin schüttelte den Kopf. »Dann haben sie uns beide übervorteilt.« Zischender Hagel antwortete. Jedes Hagelkorn zerplatzte zornig auf dem Wasser. »Es sei denn -« »Es sei denn —?« »Nein, es ist nur noch mehr Wahnsinn —« »Sprich!«, befahl der Sturm. Merlin zuckte die Achseln. »Das Geschick hat Artus zur Herrschaft bestimmt, doch er kann nicht ein Land beherrschen, das ihn zurückweist und verflucht. Ohne eine starke Hand endet alles in Blut. Britannien wird untergehen. Aber ...« »Sag an —« »Aber der Thron Britanniens ist breit genug für zwei — für den einen, den das Schicksal zur Herrschaft bestimmt hat, und sie, die das Land erwählt, ihn zu ermächtigen. Wie Artus von der Wiege eines Königs in die Wildnis getragen wird, so mögen die Götter der Wildnis eine der ihren in die Wiege eines Königs tragen.« »Einen Wechselbalg von einer Fee?« »Ja. Es gibt hier in der Nähe genug königliche Wiegen. Such eine mit einem neugeborenen Mädchen und vertausche sie. Es ist leicht getan.« »Eine Feenkönigin für Artus' Königreich?« »Ja. Sollte das Land bereit sein, Artus in dieser Nacht zu retten, wird er noch in dieser Stunde mit dem Kind Thuata verlobt. Sie und er werden gemeinsam herrschen. Das ist unser Handel.« 44 »Welchen Vorteil habe ich von diesem Geschäft?«, zischte Loki argwöhnisch. Merlin runzelte die Brauen. »Wer nicht König sein kann, würde gut daran tun, Königsmacher zu sein.« »Ja«, antwortete Loki aus dem rauschenden Regen. »Ja ...« Seine Abwesenheit dauerte nur einen Augenblick, aber ein Augenblick kann für einen Gott wie eine Lebenszeit sein. »Ich habe deine Botschaft übermittelt. Natürlich habe ich eigene Bedingungen hinzugefügt, um die Verbindung zu versüßen. Als Gott des Handels sind mir auch die schlechten Geschäfte anvertraut, und zu diesem schlechten Geschäft haben die Mächte des Landes ihre Zustimmung gegeben ...« An seinem Bauch fühlte Merlin plötzlich ein warmes Rieseln. Jeder andere Mann hätte das Kind in diesem Augenblick von sich gehalten, aber Merlin drückte ihn nur noch fester an sich. Ihm war das Gefühl willkommener als eine warme Mahlzeit. »Du lebst, Artus! Ich lebe! Albion lebt!« Ein kaltes Zittern durchlief den Körper des Säuglings. »Dank sei dir, o Land! Dank sei dir, Loki!« »Denk daran, wer diesen Handel vermittelte«, zischte Loki im rauschenden Regen. »Ich habe Artus geschaffen und kann ihn genauso leicht zunichte machen.« »Ja«, gelobte Merlin, »ja, ich werde daran denken.«
Dann war Loki fort. Der Regensturm hörte auf, aber der Fluss ließ noch immer seine kalten Muskeln spielen. Loki kam, wenn er Merlin erschien, stets im Gewand wilder Konfusion und verließ ihn genauso. Vielleicht kam und ging er überhaupt nicht, sondern hauste ständig in den chaotischen Winkeln von Merlins Geist. Der alte Mann wusste es nicht; es kümmerte ihn nicht. Nur eines war jetzt wichtig — »Artus, du lebst.« Er starrte in das bläuliche, zusammengekniffene Gesicht des Säuglings. »Aber für wie lang?« Der zerlumpte Verrückte drückte das komatöse Kind an seine Brust. Das Boot unter ihnen war halb voll Wasser geschlagen. 45 Ringsum gurgelte das Wasser. Merlin tat, was er nach seinem Dafürhalten tun konnte. Er sprang in den angeschwollenen Fluss und mühte sich, ans Ufer zu schwimmen.
9. Von Wölfen und Druiden
Für einen abenteuerlustigen jungen Mann waren die römischen Ruinen in Chertsey an der Themse selten enttäuschend. Umgestürzte Säulen, überwachsene Fundamente, gepflasterte Straßen, gesäumt von Wolfsmilch, Labkraut und Kletten, geisterhaft ziehenden Nebeln entlang dem Fluss, zerbrochenen Statuen, spukhaften Gewölben, bröckelnden Torbögen und verfallenen Kellern, wo Fledermäuse überwinterten ... Von dem verlassenen Ort ging ein spürbares Fluidum von Verzauberung und Gefahr aus. Letzte Woche erst hatte Kay zwischen den Säulen vergessener Tempel gegen ein Wolfsrudel gekämpft. Die Tiere mochten sogar die Nachkommen der Wölfin gewesen sein, die Romulus und Remus gesäugt hatte. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie waren keine wilden Wölfe, sondern verwilderte Hunde - die noch gefährlicher waren, weil sie den Menschen nicht fürchteten. Ein gutes Dutzend hatte Kay in schwere Bedrängnis gebracht, aber er hatte zehn mit seinem Schwert getötet, bevor die anderen geflohen waren. Hunde zu töten, klang allerdings nicht so edel. Außerdem hatte er sie nicht wirklich getötet, nur verwundet, und nicht mit einem Schwert, sondern mit einem armdicken Stück von einem Ast wie dem, das er jetzt in der Hand hielt. Und nicht zehn, sondern zwei. Aber es waren wilde Hunde gewesen, alle drei. Die Halsbänder hatten nichts zu sagen. Oft verwilderten auch Schoßhunde und schlossen sich zusammen, um Jagd auf Schafe zu machen. All dieses Schwanzgewedel war nur eine List gewesen. Es war ihre Methode, nahe genug heranzukommen, um anzugreifen. 45 »Mach dir nichts vor«, murmelte er zu sich selbst und versetzte dem Bruchstück eines Kranzgesimses einen Fußtritt, dass es mindestens zehn Schritte weit über das Pflaster des von Gras und Stauden überwucherten Platzes kollerte. Die jungen Schultern hingen resigniert unter einem Heuschober blonden Haares. Kay verzog sein hübsches Gesicht zu einer unschönen Grimasse finsteren Grolls. Vater sprach immer von sächsischen Eindringlingen im Osten, Krieg, heidnischen Aufständen, Kleinkönigen, die gegen Kleinkönige kämpften. Die einzigen Sachsen, die Kay bekannt waren, waren jedoch friedliche christliche Bauern. Gegen einen friedlichen christlichen Bauern kann man nicht kämpfen. Das galt als ebenso unedel wie das Töten freundlicher Hunde. »Was für einen Sinn hat es heutzutage noch, überhaupt ein Schwert zu tragen?«, grübelte Kay bitter. Vielleicht war das der Grund, warum er noch keins besaß.
Einen Augenblick später wünschte er inbrünstig, er hätte eins. Ein zischendes Winseln wie das einer Gorgone klang vom Ufer herüber. Kay erstarrte. Das war die Macht einer Gorgone — jeder, der ihr in die Augen sah, würde zu Stein. Perseus hatte die Medusa mit Hilfe eines Spiegels bekämpft, aber Kay besaß weder Spiegel noch Schwert. Doch er hatte Mut. Er hatte nicht hier an dieser Stelle zwanzig Wölfe mit bloßen Händen erschlagen, um jetzt vor einer einzigen Gorgone davonzulaufen. Mut würde seinen kräftigen Knüppel in ein Schwert verwandeln - nein, noch besser, in eines jener riesigen Breitschwerter, wie die Kaledonier sie trugen. Und der Glaube würde ihm ein Schild sein, eines dieser schulterhohen Schilde mit den großen roten Kreuzen und den Pfeilen, die darin steckten. Dann würde sein Leinenkittel natürlich zu einem Brustharnisch von Rechtschaffenheit werden, und seine Hosen zu Beinschienen, und seine Familienringe zu Panzerhandschuhen ... Indem er dem zischenden Geräusch den Rücken zukehrte, um nicht in Stein verwandelt zu werden, zog Kay vorsichtig rückwärtsgehend in den Kampf. Er hielt den Blick auf seine Sandalen 46 gerichtet, um nicht über die unebenen Steinplatten des alten römischen Marktplatzes zu stolpern. Halb geduckt stahl er sich von dort zum Ufer. Wo immer es möglich war, verbarg er sich hinter hohen Fingerhutstauden, überwachsenen Fundamenten oder Mauerresten. Um eine offene Fläche zu überqueren, riss er eine Handvoll Goldruten aus, hielt sie hinter seinen Rücken und bewegte sich sehr langsam. Das Geräusch wurde lauter. Es war ein bösartiges, pfeifendes Keuchen, berechnend und grausam. Die Gorgone stieß zischend den Atem aus, dann sog sie frische Luft in schleimige Lungen. In ihrer grässlichen Kehle würde es Giftbeutel geben. Und um den Hals würde sie an einer Schnur aufgereiht die Finger und Zehen ihrer letzten Opfer tragen. Kay umklammerte die Goldruten fester. Er konnte sich noch immer zurückziehen — oder vielmehr; vorwärtsgehen. Aber Vater war seiner Wolfsgeschichte bereits überdrüssig, und Kay brauchte eine andere. Im nächsten Augenblick wurde die Entscheidung für ihn getroffen. Er trat rückwärts auf eine ungesehene Stufe und purzelte eine Treppe hinunter. Hals über Kopf und Goldruten, landete Kay mit einem wenig heldenhaften Schmerzensund Schreckensschrei am Fuß der Treppe — Gleich neben der Gorgone! Das sägende Zischen war beinahe betäubend. Die kalten, durchnässten Gewänder des Ungeheuers lagen übelriechend an Kays Gesicht. Der Schlangenkörper lag zusammengerollt unter ihm. Eingehüllt in sein geschmeidiges Fleisch war das Skelett eines Mannes. Kay stieß sich fort von der abstoßenden Kreatur und kreischte. Er vergaß sich selbst, als sein Blick über das verhasste und groteske Gesicht wanderte. Das verwelkte Fleisch der grässlichen Frau war umgeben von einer Masse sich windender, wimmelnder Schlangen, weiß wie Maden. Ihre Haut war fahl wie aus dem Totenreich, ihre Augen glühten wie blutrote Sonnen. Eine gespaltene Zunge schoss zwischen den weiß behaarten Lippen hervor, als sie zischte — Kay riss die Arme hoch, um seine Augen zu beschirmen, aber 46 zu spät. Schon versteinert, verharrte er an Ort und Stelle, still wie eine Statue. Der Augenblick des Todes war gekommen — das Wissen, dass er Vater und Mutter und sein Heim niemals wiedersehen würde. Kalter Regen würde gegen seine steinerne Haut
klatschen, Schnee und Eis würden ihn aufsprengen. Und die Tauben würden ihn auf entehrende Weise mit ihrem Kot beschmutzen! Ein tief empfundenes Stöhnen löste sich ihm von den Lippen. Ein Stöhnen? Er konnte atmen. Nicht nur das, er konnte sich bewegen. Seine erste Regung war davonzulaufen, aber dann kehrte diese versteinernde Vision in sein Bewusstsein zurück. Das Medusenhaupt hatte tatsächlich ein bisschen menschenähnlich ausgesehen. Diese Schlangen waren vielleicht nur ein weißer Bart und strähniges nasses Haar gewesen. Hmm. Kay nahm seinen ganzen Mut zusammen und warf einen Blick auf das Ungeheuer Kein Ungeheuer, sondern ein alter, schniefender Mann. Und was war dieses Bündel in seinen Armen? Kay reckte den Hals, zupfte einen Deckenzipfel zurück und fand ein totes Kind. »Sie waren von Sachsen umringt, als ich sie fand. Ich tötete sechzehn von ihnen und vertrieb die anderen!«, erklärte Kay an diesem Abend seinem Vater. Ector wirkte wie ein großer breiter Schatten vor ihm auf der Kellertreppe. Der schnarchende oder röchelnde alte Mann hing quer über seiner Schulter; die schlaffen Arme und Beine streiften die feuchten Steinwände. Ector nahm zwei Stufen mit jedem Schritt. Seit Kay seinen Vater zu den Ruinen geführt hatte, war Ector grimmig ernst und schweigsam geworden. Er handelte entschlossen und zielbewusst. Kay kam er wie ein großer schwarzer Bär vor, der schnaufend unter seiner Last zur Krankenstube der Burg tappte. Blond und schmächtig, war Kay weit davon entfernt, seines Vaters Schatten zu sein, aber er blieb ihm so dicht auf den Fersen, als wäre er einer. Hin und wieder unterbrach Kay sein aufschneiderisches Geplapper, um nach dem Kind in seinen Armen zu sehen. 47 Der Säugling war doch nicht tot gewesen. Er atmete noch, aber Kay befürchtete, er könne jeden Augenblick sterben. »Woher werden sie gekommen sein, Vater? Glaubst du, sie sind noch aus der Zeit, als die Stadt nicht in Ruinen lag? Vielleicht saßen sie dort seit hunderten von Jahren gefangen.« Ector erreichte den Treppenabsatz und öffnete die Tür. Im Raum dahinter waren Laternen angezündet. Der Wundarzt der Burg, die Dorfhebamme, ein Priester vom Bistum Woking, ein Kindermädchen und Ectors Gemahlin Diana erwarteten sie. Sie hatten die mit Strohsäcken ausgestatteten Krankenbetten mit Leintüchern bezogen und den Boden mit Sägemehl und frischen grünen Binsen bestreut, um alle etwaigen Körpersäfte aufzusaugen, die in den bevorstehenden Anwendungen vergossen werden mochten. Sie hatten Schädelbohrer und Knochensägen und Blutegel bereitgelegt. Ein Krug mit Roggenwhisky zur Schmerzlinderung stand bereit, daneben Schwefel und Pech und Holzkohle, und für den Fall, dass Wunden genäht werden mussten, hatte Diana sogar ihre Nadeln mitgebracht. Jenseits der Bogenfenster war ein eben erst aufgegangener Mond hinter Wolkenbänken verschwunden. Diana, blond und blauäugig, eilte zur Tür. Sie besaß noch die Anmut ihrer Jugend, obwohl sie jetzt nahezu fünfunddreißig Jahre gesehen hatte. Als ihr Gemahl den alten Mann auf den bezogenen Strohsack eines Krankenlagers bettete, nahm Diana ihrem Sohn den Säugling ab und trug ihn in ein anderes Krankenlager, wo die Hebamme und Kinderschwester warteten. »Es lebt noch«, sagte Kay schnell. »Ich frage mich, ob es ein Feenkind ist.« »Schon gut, schon gut, Kay«, erwiderte Diana und machte damit deutlich, dass sie ihn gehört habe und dass er nun still sein solle.
Kay verstand die Hälfte der Botschaft. »Was, wenn es Sachsen sind? Wenn es Eindringlinge sind?« »Lass gut sein, Kay«, sagte seine Mutter. Sie wickelte den Säug 48 ling aus der Decke und den Tüchern, wrang ein sauberes weißes Tuch in einem dampfenden Wasserbecken aus und begann die Gliedmaßen des kleinen Wesens abzuwischen. »Er atmet kaum.« Sie legte dem Säugling eine Hand auf die Brust. »Und hat kaum einen Herzschlag.« Sie beugte sich über den Kleinen und küsste ihm die Stirn. »Fieber.« Kay drückte sich neben dem Lager herum. »Meinst du, dass er vergiftet worden ist?« Diana schüttelte verwundert und besorgt den Kopf. »Nein, nur ausgehungert und von der Sonne verbrannt und ausgetrocknet -schau nur, wie trocken seine Zunge ist.« »Ich habe gehört, dass die Kesselflicker das tun«, sagte Kay. »Kleine Kinder stehlen und sich dann mit ihnen hinlegen und warten, bis jemand sie rettet, so dass sie in das Haus hineinkommen und es ausrauben können.« »Wer hat dir das erzählt?«, fragte Diana. Kay zuckte mit der Schulter. »Niemand. Kommt mir aber wahrscheinlich vor.« Seine Mutter warf dem alten Mann, der jetzt nackt auf dem anderen Strohsack lag, einen Blick zu. »Er sieht nicht wie ein Zigeuner aus. Er sieht mehr wie ein - wie ein Verrückter aus.« Ector, der Priester und der Wundarzt starrten die regungslose Gestalt an. Der grau gewandete, ernst und verantwortungsbewusst dreinschauende Wundarzt nahm mit einer Zange Blutegel aus einem Krug und setzte sie dem alten Mann an. Er beugte sich über Merlin, bis er diesen mit seiner Hakennase fast berührte, als wollte er ihn beriechen, bevor er nach dem Herzschlag fühlte. Dann machte er ein bedenkliches Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durch das gelichtete Haar. Der Priester war sein körperliches Gegenstück — ein bereits älterer Mann von gewaltigem Leibesumfang und einer Masse grau melierten und schwarzen Haares. Mit Öl machte er das Kreuzzeichen auf den kahlen Kopf des alten Mannes. Darauf fasste er Merlins hagere Schulter mit seinen feisten Händen und bannte unter Anrufung Gottes und der ein 48 schlägigen Heiligen den Dämon, wer immer es sein mochte, der von dem zerlumpten Alten Besitz ergriffen hatte. Ector seinerseits hielt die Füße des Patienten und beugte und streckte ihm energisch die Beine. Haut zuckte unter langen schwarzen Blutegeln. Rippen zitterten unter Exorzismus. Beine schnellten vor und zurück wie bei einem umgedrehten Frosch. Der Patient sah elender aus als zum Zeitpunkt seiner Entdeckung durch Kay. »Ich habe gehört, dass Verrückte es auch tun«, sagte Kay. »Kleine Kinder stehlen, meine ich.« Die Hebamme und die Kinderschwester beugten sich über das Kind und machten zärtliche Geräusche. Unterdessen hatte Diana es gesäubert und mit neuen Windeln versehen. »Er muss genährt werden. Er braucht die Arme einer Frau.« Die Kinderschwester bückte sich, nahm den Kleinen behutsam in die Arme, schnurrte ihm etwas ins Ohr und hob ihn auf. Schon hatte es den Anschein, als regten sich die Lebensgeister des Jungen.
»Druiden tun das auch«, erweiterte Kay seine Theorie. »Kinder stehlen, meine ich, und auf einem Fluss treiben lassen. Oder vielleicht waren das Pharaonen. Glaubst du, dass er Moses ist? Oder, wenn er vom Fluss kam, ist er vielleicht ein Wassergeist.« Die Kinderschwester hatte die Falten ihres Gewandes diskret zur Seite geschoben und den Kopf des Kindes an die Brust gelegt. »Er brauchte nur eine Amme, die Fürsorge einer Frau.« »Er blutet nicht schnell genug«, sagte der Wundarzt im anderen Krankenlager. Er zog ein langes Messer aus einer Ledertasche, die das Werkzeug seines Berufsstandes enthielt. Oft half ihm dasselbe Werkzeug bei der Gewinnung von Geständnissen in den Kerkern von London. »Da ist zu viel schlechtes Blut. Einfach zu viel schlechtes Blut ...« Der Priester, die Hände nach wie vor auf den Schultern des Patienten, schüttelte bedenklich den Kopf und sagte: »Böses Blut. Nicht bloß schlechtes Blut, sondern böses Blut. Siehst du die 49 Hautfalten in seiner Stirn? Hier zwischen den Augen VI-VI-VI? Das ist das Zeichen des Tieres.« Diese Feststellung folgen laute Gebete und die Hervorbringung einer kleinen Ledergeißel aus dem Gürtel des Priesters. »Er kann von Glück sagen, dass ich einst ein Asket war. Ich kann Dämonen des Fleisches und der Seele bannen.« »Ihr seid beide verrückt«, rief Ector von den Füßen des Mannes. Die Härte seines gymnastischen Programmes hatte sich verdoppelt. Die Beine des alten Mannes schnellten jetzt abwechselnd hoch, so dass die Knie gegen seine Brust schlugen. »Er muss aufwachen. Er hat aufgehört, sich zu bewegen und kann nicht wieder anfangen. Er muss bloß aufwachen.« Der alte Mann wurde unter ihren nicht allzu sanften Hilfeleistungen hin und her und vor und zurück geschoben und gewalkt. Jenseits der Fenster wälzten sich dunkle Wolkenbänke heran und schienen den Boden zu berühren. Ein kalter Wind fegte über die Felder und blies durch die Fenster der Krankenstube. Es roch nach Regen, und fernes Donnergrollen begleitete das bewusstlosunfreiwillige Gestrampel des Greises. Ein heftiger Anfall überwältigte ihn. Seine Augen rollten in ihren Höhlen, seine Hände fuchtelten ziellos und bekamen den Kopf des Wundarztes zu fassen. Die mageren Arme erwiesen sich als unvermutet stark und zogen den Heiler auf das Durcheinander der Schnitte und Blutegel nieder. Ector versuchte den Wundarzt zu befreien, bezog aber einen Fersentritt gegen die Schläfe und ging wie ein Mehlsack zu Boden. Der Priester hob seine Geißel, um den Dämon zur Unterwerfung zu peitschen. Gerade als die eisenbesetzten Enden der Lederschnüre in der Bewegung des Ausholens ihren Scheitelpunkt über seinem Kopf erreichten, schlug ein Blitz ein. Mit schmetterndem Krachen fuhr ein greller bläulicher Energiestrahl zum Fenster herein in die Geißel, verkohlte die Lederschnüre und fuhr durch den Priester. Einen Augenblick stand er in göttliches Feuer ge 49 hüllt. Entladungen knisterten über seine Gestalt. Dann hatte sich der Blitz verausgabt. Der Priester stand schwelend da. Seine Gewänder hingen in versengten Fetzen. Mit weit aufgerissenen Augen und nach Luft schnappendem Mund machte er kurze keuchende Geräusche.
Draußen spalteten weitere Blitzschläge den Himmel. In ihrem fahlen Licht zeigten sich trübe, tief über den Feldern hängende Wolken. Dumpfes Gepolter anhaltender Donnerschläge rollte durch die Luft. Der Wind bog Baumwipfel. Der Boden erzitterte. Die ganze Welt schien die gleichen Qualen auszustehen wie der alte Mann. »Ich sagte dir, dass er ein Druide ist«, sagte Kay glücklich. Staunend betrachtete er den grauen Rauch, der aus den Gewändern des Priesters stieg. »Er ist irgendwie an das Land gebunden. Was man ihm antut, geschieht uns allen!« Er lächelte stolz auf seine Erkenntnis und sah sich Beifall heischend im Raum um. Ector konnte seinen Sohn nicht loben, denn er lag bäuchlings auf den Steinplatten. Noch war der Priester imstande, einen Kommentar zu geben. Betäubt stand er im Rauch seiner schwelenden Kleider. Auch der Wundarzt hatte Kay nicht gehört. Gerade erst war es ihm gelungen, sich von den Händen des Verrückten zu befreien; nun war er damit beschäftigt, Blutegel von seinem Gesicht zu zupfen. Das Kindermädchen und die Hebamme waren in ihrer Angst und Sorge um das Kind abgelenkt. Damit blieb nur Kays Mutter übrig, die mit einem Ausdruck langen Leidens in den Augen aufblickte. Der Verrückte zuckte mit Armen und Beinen und drückte einige Male das Kreuz durch, als wollte er von seinem Krankenlager hochschnellen. Gleichzeitig tobte der Wind durch die Baumwipfel und überschüttete die Burg mit Hagel. Der Junge starrte hinaus, dann stemmte er die Hände in die Hüften. »Siehst du, was ich meine?« »Schon gut, Kay!« Das erboste ihn. Endlich hatte er es mit einem wirklichen 50 Abenteuer zu tun, und niemand wollte es glauben. Hier gab es einen sterbenden Druiden und ein Feenkind. Ihre Stimmungen beherrschten die Natur ringsum, ihr Schmerz oder ihre Freude spiegelten sich in den Naturgewalten. Und alles, was die Erwachsenen ihm dazu sagen konnten, war >Schon gut<. »Er ist mein Druide«, sagte Kay in heftigem Ton. »Und der Kleine ist mein Kind. Ich fand sie. Ich habe darüber mitzureden, was mit ihnen geschieht —« »Kay«, unterbrach seine Mutter ihn streng. »Weck nicht das Kind.« Kay stürmte hinaus, schlug die Tür hinter sich zu und sprang die Wendeltreppe hinunter. Im Nu hatte er die Tür am unteren Ende erreicht und stieß sie weit auf. Draußen tobte ein wüster Sturm. Schneeregen und Hagelschauer prasselten in kurzen Anfällen stürmischer Wut herab, machten dann warmen Windstößen Platz, die ihrerseits von kalter Windstille und mehr Regen abgelöst wurden. Wolken rissen auf und schoben sich übereinander, Blitzschläge spalteten die Nacht drei- und viermal in der Sekunde. Donner krachte. Kay stürmte hinaus in den Burghof. Er hob die Fäuste zum Himmel und rief: »Ich habe Recht! Ich habe Recht!« Und dann sah er etwas, das ihn mehr erschreckte und ängstigte als Regen oder Hagel oder Blitze. Dort zwischen den jagenden Wolken bewegten sich Gestalten. Er sah ihre Umrisse in den jäh zuckenden Blitzentladungen - titanische Gestalten und kämpfende Götter. Sie kämpften gegeneinander in einem urzeitlichen Konflikt über der Welt. Dies war kein christliches Bild, keine Vision von Bethlehem oder Golgatha. Dies war eine heidnische Szene, voll von verbotener Größe, fehlerhaften Helden und vorsintflutlichen Göttern: Jupiter, Mars, Apollo, Diana, Athene, Saturn ...
»Ich habe Recht«, sagte er noch einmal, mit ruhiger Bestimmtheit. Er zog sich zur Tür zurück, schloss sie und schob den Riegel vor. »Ich habe Recht.« 51
10. Das Ungeheuer erwacht
Der Sturm dauerte sieben Tage, so lange wie das Koma des alten Mannes. Während die Wolken über den dunklen Himmel jagten, warf er sich im Delirium auf dem Strohsack seines Krankenlagers hin und her. Wann immer er nach seinen Wunden tastete, zuckten Blitzschläge aus den schwarzen Bäuchen der Wetterwolken. An jenem ersten Abend hatten die Erwachsenen endlich auf Kay gehört. Sie erkannten die Verbindung zwischen dem alten Mann und dem Sturm an. Hebamme, Kinderschwester und Diana nahmen die Plätze ihrer geschlagenen männlichen Vorgänger ein und pflegten den hinfälligen Alten. Sie ersetzten Geißeln und Blutegel durch zarte Finger und Verbände. Als Ector aus seiner Ohnmacht erwachte, sah er, wie seine Frau den Kopf und Oberkörper des alten Mannes in den Armen hielt — ebenso wie sie zuvor den Säugling gehalten hatte. Der Sturm draußen ließ vorübergehend nach. Priester und Wundarzt rieten beide, dass dieser Mann der Burg verwiesen, vielleicht sogar geächtet oder hingerichtet werden sollte. Er sei bestenfalls ein heidnisches Ungeheuer, schlimmstenfalls ein Dämon. Ector wies darauf hin, dass weitere Entbehrungen und Leiden den Sturm nur verschlimmern würden. Kay stellte die vernünftige Frage, wo sie jemanden finden würden, der dumm genug sei, den Mann fortzuschleppen. Schließlich hatte Diana der Diskussion ein Ende gemacht und erklärt, dass der Alte wahrscheinlich der Großvater des Säuglings sei. Von da an nannten sie den Mann Großvater. Den Säugling nannten sie Pryderi - nach dem göttlichen Kind, das nach der heidnischen Überlieferung im Alter von drei Tagen aus Rhiannon gestohlen worden war. Pryderi aß und wachte und schlief im Stundenzyklus Neugeborener. Großvater fühlte sich nicht so wohl. Seine Entbehrungen lagen tiefer. Seine Qualen - von den Händen des Wundarztes und des 51 Priesters — waren schlimmer gewesen. Oft hatte er im Delirium die Augen aufgerissen, und in ihnen zeigten sich klar die verrückten Wahnvorstellungen. Gelegentlich stieß er in der barbarischen Mundart der Sachsen Verwünschungen aus. Seine Fäuste fuchtelten rhythmisch in der Luft, als schlügen sie eine Trommel. Er knirschte mit den Zähnen, bis ihm Schaum vor dem Mund stand, und riss sein Bettzeug in Fetzen. Während die Familie ihr Herz an den winzigen Pryderi verlor, begann sie Großvater mehr und mehr zu furchten. Welche endlosen Stürme würden entfesselt, sollte er sterben? Welche weiteren Zerstörungen würden verursacht, sollte er für immer im Koma liegen? Welche Schrecken hätte sein Erwachen zur Folge? Nach sieben Tagen peitschenden Regens, Gewitterstürmen, Hagelschlägen und Schneetreiben, nachdem alle verfügbaren Bretter zum Vernageln von Fenstern und alle nicht benötigten Eimer und Töpfe zum Auffangen von durchtropfendem Regenwasser verwendet worden waren, hörte der Sturm mitten in einem Donnerschlag auf. Kay sah mit eigenen Augen, wie ein unaufhaltsamer Blitzschlag anhielt. Er knatterte halbwegs vom Himmel herab, hielt inne, als müsse er überlegen, warum er niederging, und zog sich dann langsam in die Wolken zurück. In den nächsten Augenblicken lösten sich die Wolken selbst auf. Blauer Himmel breitete sich aus. Die Sonne schien beinahe grausam hell und strahlend.
Kay wunderte sich. Der Hof unter seinem hastig mit Brettern verschlagenen Fenster wirkte ramponiert. Grasige Flecken standen unter kalten Wasserlachen, Wege waren zu Schlammrinnen geworden. Aus allen Fenstern lugten verdrießliche Gesichter. Erneutes Donnern ließ sie die Köpfe wieder einziehen. Der Lärm begann mit dem Bersten von Holz, gefolgt von einem Klirren und Klappern eiserner Töpfe und einer Lawine von Tongeschirr. Nach diesem Geräusch folgte das ominöse Plätschern von Wein aus einem eingeschlagenen Fass. Gieriges Brabbeln und Grunzen begleitete den Lärm. 52 Die Gesichter, die sich aus den Fenstern zurückgezogen hatten, kamen wieder zum Vorschein und spähten hinab zu den Kellergewölben der Burg. Es konnte kein anderer als Großvater sein, der aus dem Delirium erwacht war. Kays Augen weiteten sich aufgeregt. »Wer ist er? Wer ist das Kind? Welches Abenteuer steht bevor?« Er rieb sich die Hände und wandte sich zur Schatzkiste neben seinem Bett. Er öffnete sie und suchte nach einer Waffe. Schließlich könnte er Großvater töten müssen, wenn er sich als ein Teufel erwies. Kays Hand umfasste sein Übungsschwert, einen zugespitzten Stecken. »Wenn dieser Dämon mich tötet, wird Vater den Tag bereuen, als er mir eine echte Klinge verweigerte.« Fortgetragen auf den flinken Füßen der Jugend, erreichte Kay vor allen anderen den Keller. Er platschte durch Schlamm und zog angestrengt an den gequollenen hölzernen Lukendeckeln der Kellerfenster. Tageslicht strömte herein und fiel auf eine elende Gestalt. Großvater saß dort unten in einer Lache dunklen Weines, die den Boden um ihn bedeckte. Er hatte Räucherfische von der Eisenstange unter dem Gewölbe gerissen, wo sie in ordentlicher Reihe aufgehängt waren, und biss durch Schuppen, Fleisch und Gräten. Seine gelben Zähne zerkauten alles zu Mus. Er unterbrach sein hungriges Kauen, um mit der hohlen Hand Wein vom Boden zu schöpfen. Die rote Flüssigkeit troff von seiner Hand in den Bart, den Kays Mutter in den letzten Tagen weiß gewaschen hatte. Einen Augenblick später kam Diana herein. Sie stand schockiert hinter Kay. Ector, sein Knappe, der Kastellan und ein halbes Dutzend Bewaffneter trafen kurz nach ihr ein. Alle standen da und starrten den alten Mann in bestürztem Schweigen an. Großvater blickte zu ihnen auf und schien aus einer tief beglückenden Geistesabwesenheit zu erwachen. »Oh«, sagte er und blinzelte ins Licht. »Seien Sie gegrüßt, alle miteinander. Gutes Essen.« 52 Die Eigentümer all dieser Nahrung tauschten ungläubige Blicke aus. Kay erklärte: »Er ist ein Fomorianer! Wer sonst könnte so viel essen?« Ector schob sich in den Vordergrund der Gruppe. Er kauerte nieder und krümmte den Finger, als versuche er einen fremden Hund anzulocken. »Kommen Sie da heraus, Großvater.« »Nicht leicht«, kam die Antwort. Er schüttelte den Kopf, so dass sein weißer Bart Weintropfen verspritzte. »Es sind noch drei Räucherfische da, und getrocknete Pilze —« »Wir haben uns noch nicht miteinander bekannt gemacht«, sagte Ector. Großvater biss in einen großen Rettich. Der bittere Geschmack trieb ihm Tränen in die Augen, doch er sprach mit vollem Mund, und ohne sein Gegenüber deutlich zu sehen. »Ach ja. Mein Name ist Merlin.«
Ector nickte gedankenvoll. »Und ich bin Ector, Herzog von Chertsey. Dies ist meine Frau, Herzogin Diana, und mein Sohn Kay.« Er schob sich schwarzes Haar aus der Stirn. »Wie sind Sie nach Chertsey gekommen?« Merlin schien zu überlegen. Seine Hände sanken vom Mund und hielten einen abgenagten Fischschwanz. »Ja. Wie?« Ector legte Kay eine Hand auf die Schulter. »Mein Sohn fand Sie in den römischen Ruinen. Es sah so aus, als wären sie vom Fluss angespült worden.« »Das ist es«, erwiderte Merlin. Er hob bekräftigend einen Finger. »So ist es. Ich kam mit einem Boot. Ich floh vor den Sachsen.« »Den Sachsen!«, staunte Kay. »Den Sachsen?«, fragte Ector. »Den Sachsen«, bekräftigte Merlin. »Sie jagten mich über die Nordsee. Ich hatte eines ihrer Drachenschiffe gestohlen. Ungefähr fünfzig weitere nahmen die Verfolgung auf.« »Fünfzig Drachenschiffe!«, rief Kay. Er rieb sich die Hände. Merlin nickte bedächtig. Brotbrocken blähten ihm die Wan 53 gen, während er kaute. »Das Letzte, an was ich mich erinnere, war ein Sturm auf See. Ich hätte ihn nicht überlebt, wenn ich nicht den Windgott getötet hätte.« »Den Windgott getötet!« Kay konnte es kaum fassen. Er drückte sich mit beiden Händen die Schläfen. Zum ersten Mal ruhte Großvater Merlins Blick auf dem Jungen. Seine unsteten Augen wurden klar und richteten sich auf Kay. Er musterte den Jungen und nickte. Der Junge glaubte, Anerkennung in seinem Blick zu sehen. Als er seine Geschichte wieder aufnahm, sprach er mit nüchterner Überlegung. »Ich hatte ein Schwert. Ein großes Schwert, größer als diese römischen Kurzschwerter - ein langes, zweihändiges Schwert, wie man sie bei den Sachsen findet. Dieses Schwert tötete den Gott Eurus, den Herrn des Ostwindes. Dieses Schwert war der Grund dafür, dass die Sachsen mich verfolgten. Wotan wollte es.« »Wotan!«, rief Kay. »Ich war bei ihm zu Gast gewesen«, sagte Merlin. Er lehnte sich an einen weingetränkten Sack Getreide und fuhr in seiner Erzählung fort. »Er herrscht über das Königreich Asgard - ein herrliches Land, nichts, was Sie hier in Albion haben, kann sich damit messen —« »Britannien«, berichtigte Ector. »Ja, hier in Britannien. Asgard ist voll von Palästen, in denen es von Gold und Silber funkelt. Es liegt auf einem Gebirge in den Wolken. Von seinem Thron in Walhalla kann Wotan Himmel und Erde überblicken. Wunderschön. Um zu dieser Stadt zu gelangen, muss man eine Brücke von Licht mitten in der Luft überqueren. Sagte ich Ihnen, dass sie von Riesen erbaut wurde?« Kays Unterbrechung wurde ihrerseits von der Hand seiner Mutter unterbrochen, die ihm den Mund zuhielt. »Wotan traf mit ihnen eine Vereinbarung über den Bau der Brücke, und dann betrog er sie um den verlangten Preis. Seitdem sammelt er Krieger um sich, weil er fürchtet, die Riesen würden zurückkehren, um Vergeltung zu üben. Er schickt Jungfrauen zu 53 Pferde aus, um Krieger nach Asgard zu locken. Wenn sie dort eintreffen, sind sie nicht enttäuscht. Sie verbringen ihre Tage damit, einander Zweikämpfe zu liefern und sich in Stücke zu hauen, und wenn ein Tag zu Ende geht, werden sie wieder zusammengefugt. Jede
Nacht schmausen sie geröstetes Wildschwein und trinken Met, den eine magische Ziege spendet. Dann sitzen sie die ganze Nacht im Kreis und erzählen Wotan von ihren Taten.« Merlin seufzte, riss ein Stück Brot vom Laib und sagte: »Ach, es war ein wundervoller Ort.« Ector runzelte die Brauen. »Dieser König Wotan der Sachsen hört sich ... bekannt an ...« Kay entzog sich der mütterlichen Hand und fragte: »Warum verfolgten sie Sie? Es sind gefürchtete Krieger.« »Dieses Schwert«, sagte Merlin. Er aß wieder und sprach mit vollem Mund. »Dieses Götter tötende Schwert. Wotan wollte es und fürchtete es. Es würde ihm gegen die Riesen helfen, wenn sie zurückkehrten. Ich wollte es nicht hergeben. Es war mein. Ich hatte nicht viel, aber ich hatte dieses Schwert. Wotan verlangte es. Ich sagte ihm, er solle nur versuchen, es mir zu nehmen.« Merlin wedelte mit einer Hand in der Luft und stieß ein Lachen aus. »Aber all diese Krieger ... nutzlos gegen mich, wenn ich dieses Schwert hatte. Im ersten Kampf erschlug ich fünfzig von ihnen —« »Fünfzig!«, staunte Kay. »Und noch einmal fünfzig, als ich die Regenbogenbrücke hinunterfloh. Ich erschlug die Besatzung eines Drachenschiffes und segelte aus der Bucht und hinaus auf die Nordsee. Fünfzig Schiffe verfolgten mich.« »Fünfzig und fünfzig und fünfzig!«, rief Kay. »Und ich segelte hierher, nach Albion -« »Britannien.« »Ja. Und die sächsischen Schiffe landeten hinter mir. Und so kamen die Sachsen auf diese Insel«, beendete Merlin seine Geschichte. Er schob einen Brotbrocken in den Mund und schöpfte Wein hinterher, um das Brot einzuweichen. 54 Kays Begeisterung ließ nach. Während Großvater Merlin sprach, waren seine Gedanken voll von Götter tötenden Schwertern und Kämpfen in den Nordsee, Jungfrauen zu Pferde und magischen Ziegen, tödlichen Zweikämpfen und nächtlichen Schmausereien. Der alte Mann sprach mit solcher Gewissheit und Selbstverständlichkeit, dass Kay nicht umhin konnte, ihm zu glauben. Sogar die fünfzig in der großen Halle zu Asgard und die fünfzig auf der Regenbogenbrücke Erschlagenen und die fünfzig Schiffe auf der Nordsee schienen nicht unwahrscheinlich. Aber diese Sache mit dem Angriff der Sachsen! Das konnte nur eine Lüge gewesen sein. Diese eine Lüge machte die ganze Geschichte unglaubhaft. Kay fühlte sich getäuscht. »Warten Sie. Der Angriff der Sachsen?«, rief Kay aus. »Das war vor mehr als hundert Jahren!« Merlin zwinkerte nachdenklich. »Ja, seit jener Zeit habe ich mich mit ein paar anderen Dingen beschäftigt.« »Vater fragte, wie Sie nach Chertsey kamen. Sie können nicht mit einem Drachenschiff gekommen sein? Sie können nicht einmal mit einem Drachenschiff so weit den Fluss heraufgesegelt sein!« »Nun ja«, erwiderte Großvater Merlin gelassen, »ich kam mit einem Boot, irgendwie. Ich erinnere mich an einen Sturm. Das Ding schlug voll Wasser.« Er zuckte die Achseln. »Wenn Sie nicht älter als hundert Jahre sind, können Sie nicht dabei gewesen sein, als der Aufstand der Sachsen stattfand, und wenn Sie da gewesen sind, würden Sie wissen, dass es die Römer waren, die die Sachsen zuerst hierher brachten, als Legionäre, und dass sie rebellierten, nicht über das Meer kamen und eine Invasion machten. Und wenn Sie es auf
dieses Schwert abgesehen hatten, wo ist es? Warum hatten Sie kein Schwert, als ich Sie fand? Alles, was Sie sagen, ist gelogen!« »Nein -« sagte Merlin, »nein. Eine Täuschung vielleicht. Aber keine Lüge.« 55 »Ach, Sie sind verrückt!«, sagte Kay zornig. Er wandte sich von Merlin ab, bedauerte aber die Worte, sowie sie heraus waren. Wein schwappte um die Füße des Mannes. Das Licht hatte sich aus seinem Blick verloren. Auch die Schärfe seines Blickes war vergangen. Seine Augen befanden sich wie zwei Kaleidoskope in seinem Schädel. Er schien plötzlich klein und traurig. »Ja, verrückt.« Diana zog ihren Sohn aus dem Vordergrund der Gruppe zurück. »Vergeben Sie uns, Großvater. Wir wollen nur die Wahrheit erfahren. Wir wollen wissen, was Ihnen und dem Säugling geschah.« »Dem Säugling?«, fragte Merlin. Diana lächelte lieblich. »Ja, das Kind. Das Wickelkind, das Sie bei sich hatten.« Merlin schrak auf. Er erhob sich, triefend vom Wein. Seine Hände zitterten in plötzlicher Bestürzung. »Wo ist er? Ist er in Sicherheit? Wo ist er? Wo ist Artus?« »In Sicherheit«, erwiderte Diana beschwichtigend. »Er ist in Sicherheit.« Merlin tappte an der Gruppe vorbei und erstieg unbeholfen die Stufen. Triefend von einer trüben Flüssigkeit, die Blut ähnelte, bot er einen ungesunden Anblick. Seine zerlumpten Kleider, obschon während seines Komas von fleißigen Händen gewaschen und geflickt, so gut es ging, waren schon wieder fleckig und mit Speiseresten behaftet, die seinen Mund nicht erreicht hatten. Brotkrumen, Reste von Räucherfisch und Rettich hingen in seinem Bart. »Ich möchte ihn sehen. Bringen Sie mich zu Artus. Ich muss ihn sehen!« Ungeachtet der Verheerungen, die er im Keller angerichtet hatte, und seiner wenig einnehmenden Erscheinung nahm Diana den alten Mann freundlich am Arm und führte ihn hinaus. Inzwischen hatte sich auf dem Hof eine Menge von Stallknechten, Dienstmägden, Köchen und Hunden angesammelt. Sie wich zurück und machte ihrer Herrin Platz, als sie den seltsamen Alten über den Hof führte. 55 Unterwegs wirkt Merlins Benehmen beinahe entschuldigend. »Es ist so, müssen Sie wissen, dass er mir alles auf der Welt bedeutet.« Diana tätschelte ihm freundlich die Hand. »Ja, Großvater. Ich verstehe.«
11. Die unmögliche Welt
In den nächsten Wochen und Monaten wurde Merlin für alle, die in der Burg Chertsey lebten, Großvater. Der pragmatische Ector betrachtete Merlin und Artus lediglich als Besucher, die eine Unterkunft brauchten. Die alten Gesetze der Gastfreundschaft verlangten, dass er sie willkommen hieß, ihnen Unterkunft und Nahrung bot, sie kleidete und als geehrte Gäste behandelte. Und genau das tat er. Kay war das Gegenteil. Er gab den Gästen nichts und verlangte alles von ihnen. Von Artus verlangte er geduldige Aufmerksamkeit. Lange Stunden verbrachte er damit, dem Säugling von seinen großartigen Entdeckungen und Taten zu erzählen und mit seinem Stecken Fechtübungen vorzuführen. Von Merlin verlangte Kay weitere Geschichten - und er hatte dem alten Mann die Übertreibungen seiner ersten Erzählungen vergeben. Merlin konnte
Wahrheit nicht von Erfindung unterscheiden, und Unglaubwürdigkeit machte seine Geschichten nur reizvoll. »Mein Vater war ein Kannibale«, sagte Merlin eines Wintermorgens sechs Monate später. Er saß mit Herzog Ector, Herzogin Diana, Kay und Ectors fünf höchstrangigen Kriegern am Frühstückstisch. Alle Blicke hoben sich und starrten Merlin an. Mit den Fingern führte er Rührei zum Munde, wobei manch kleinerer Brocken sein Ziel verfehlte. Bei Tisch war er ein Ärgernis und eine Plage, aß Portionen, die für fünf kräftige Krieger ausgereicht hätten und ließ zur Freude der Hunde während seiner Mahlzeiten 56 weitere Portionen in dampfenden Brocken, breiigen Klumpen und Bröseln zu Boden fallen. »Er war ein kindermordender Kannibale«, bekräftigte Merlin mit augenzwinkerndem Lächeln. Ector blickte von seinem eigenen Holzteller mit dampfendem Rührei auf. Er runzelte die schwarzen Brauen und legte den Holzlöffel mit hörbarem Nachdruck neben den Teller. »Ich bin nicht sicher, dass dieses Gespräch für den Frühstückstisch geeignet ist —« »Oh, er aß sie nicht zum Frühstück. Er verspeiste sie zum Abendessen. Eines Abends, an einem Tisch wie diesem, packte er sie, biss ihnen die Köpfe ab und verschlang sie.« Diana nahm ihre leinene Serviette vom Schoß und hielt sie sich vor den Mund. Verehrungsvoll blickte Kay den alten Mann an. »Hat er Sie auch verschlungen?« »Nein«, sagte Merlin. »Ich war zu jung. Ich war der Jüngste. Noch kaum ein Mundvoll. Aber ich sah, was den anderen geschah und wollte es nicht selbst erleben, also achtete ich darauf, nicht zu viel zu essen. Vater pflegte mir die Nahrung aufzudrängen, wollte mich mästen, aber ich ließ es heimlich den Hunden zukommen.« Ector warf seinen wohlgenährten Hunden einen Blick zu. »Und da haben Sie das Kunststück gelernt, wie?« »Als ich alt genug war, traf ich eine Frau namens Metis, die eine furchtbare Köchin war. Was sie kochte - und so gut es zuerst auch schmeckte -, immer wurde einem davon speiübel. Nach ihr wurde später das Brechmittel Emetin benannt. Ich brachte sie dazu, für Vater zu kochen, und er spie meine Brüder und Schwestern wieder aus. Er wischte sich noch die Lippen, als wir ihn töteten und den Haushalt übernahmen.« Merlin zuckte mit der Achsel und steckte ein Stück Pökelfleisch in den Mund, das zwischen seinen Zähnen heraushing und wie lebendig zuckte und zappelte, während er weitersprach. »Hübsche Art und Weise, einen Besitz zu erben.« 56 Kay war begeistert. Diana zog sich zurück. Der unerschütterliche Ector zog den Teller seiner Frau zu sich herüber und machte sich über ihre Mahlzeit her. Er ließ sich von Merlins Geschichten nicht aus der Ruhe bringen, denn sie waren allesamt von dieser Art schaurig, amüsant und unmöglich, obwohl er sie im Brustton der Überzeugung vortrug. Er schien sie selbst zu glauben. Das Verwirrende an seinen Phantastereien war, dass sie eine Art Kontinuität aufwiesen. So lächerlich sie waren, die Geschichten fügten sich zusammen zu einer zwar unmöglichen, aber in sich schlüssigen Welt. Merlin erzählte, der Besitz seines Vaters sei auf ihn und zwei Brüder übergegangen. Es war eine verrückte Aufteilung Merlin bekam den Himmel über allem, ein Bruder bekam die See darum herum, und der Dritte bekam die unterirdischen Höhlen. Was das Land selbst betraf, so bewirtschafteten sie es gemeinsam. Als Kay fragte, wo Merlins Königreich liege, antwortete der, dass sie in
ihm stünden. Er sei König von allem, von den Inseln der Seligen bis zum Land der Äthiopier. »Dann waren Sie Kaiser von Rom?«, fragte Kay. Merlins Gesicht nahm einen feierlich-düsteren Ausdruck an. »Das war ich, nehme ich an.« Aber Kay lachte nur und klatschte sich auf die Schenkel. »Ach ja, Kaiser Merlin! Ich erinnere mich!« Es war, als hätten Herzog Ector und seine Gemahlin nun zwei plappernde, allem Phantastischen zugeneigten Kindsköpfe in der Familie. Artus entwickelte sich unterdessen prächtig und wuchs rasch. Als Kay im folgenden Jahr ein hölzernes Übungsschwert bekam, war Artus alt genug, mit einem Stecken in der Hand um ihn herumzutapsen und nach ihm zu stoßen. Es war eine ausgezeichnete Übung für Kay. Um seinen kleinen Bruder nicht zu verletzen, musste Kay Körperbeherrschung und Geschicklichkeit lernen. Das Ausweichen vor Artus' wackligen, auf unsicheren Füßen vorgetragenen Angriffen lehrte ihn Beweglichkeit und Beinarbeit. Als der Sommer kam und die Gärten von Insekten summten, war 57 Kay so geübt, dass er eine Schmeißfliege mit einem Schlag durchtrennen konnte. Als der Herbst kam, unternahmen die drei, der alte Mann, der Junge und das Kleinkind, häufig Ausflüge in die Umgebung der Burg. Im gelben Gras und raschelnden Laub stolzierte Kay mit seinem hölzernen Schwert großspurig voraus und ermahnte seine beiden Gefährten ständig zu leisem und verstohlenem Vorgehen. Gelegentlich stürmte er vorneweg, um Rehe, Hasen oder Fasanen zu überfallen, die im Gras schliefen, oder um auf besonders böse Baumstümpfe einzuschlagen. Merlin kümmerte sich niemals um Kays Aufrufe zum Leise sein; im Gegenteil, er ermahnte Kay, keine Tiere zu erschrecken und zu ängstigen, weil es die verwandelten und unglücklichen Seelen Verstorbener sein könnten, und nicht die morschen Baumstümpfe zu zerschlagen, die ohnedies ein elendes Leben gehabt hätten. Merlins Einwände lehrten Kay Umsicht und Rücksichtnahme bei der Auswahl von Zielen. Artus machte seine eigenen Beobachtungen und Bemerkungen, schwer verständliche Geräusche, die eine beunruhigende Nachahmung von Merlins eigener Redeweise waren. So plapperte sich Artus durch diesen und den nächsten Winter. Allmählich vergrößerte er seinen Wortschatz und seine Aussprüche gewannen mehr Sinn und Verständlichkeit. Mit drei Jahren erkannte sogar er den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und Großvaters Geschichten. Das hinderte ihn nicht am Zuhören, und oft saß er stundenlang auf Merlins Schoß. Großvater bewohnte eine Dachstube im Turm - mit einem schwarzlackierten Schaukelstuhl. In die Lehne war ein geheimnisvoller Kopf geschnitzt, den Merlin Boreas nannte, den Nordwind (>nicht der, den ich tötete<). Luftwirbel drangen ihm aus Mund und Nase. Kay nannte die Darstellung den heidnischen Pan. Artus nannte ihn nur >Ziegenmann<. In diesem seltsamen Schaukelstuhl pflegte Merlin mit Artus zu sitzen. Sie waren in Decken gewickelt, und ihr Atem stieg dampfend zu den niedrigen Deckenbalken auf. Kalter Wind klapperte mit dem kleinen Fenster. Zusammen mit 57 ihren Decken und Geschichten hatten die zwei nicht unter der Kälte zu leiden. »Du wurdest geboren, um mich zu retten, Artus«, sagte Merlin ernst. Der eisige Wind drang als kalter Lufthauch durch die Ritzen des schlecht eingepassten Fensterrahmens. »Du wurdest geboren, um mich und ganz Albion zu retten.«
»Britannien«, berichtigte ihn das Kind, wie er es von anderen ungezählte Male gehört hatte. Artus' goldenes Haar war zu braunen Locken nachgedunkelt, das zornige oder klägliche Geschrei seiner frühesten Kindheit war einer altklugen ruhigen Verständigkeit gewichen. Er hob eine kleine Hand zum weißen Bart des Großvaters. »Du bist sicher, Großvater. Ich werde dich beschützen.« Er schwenkte ein imaginäres Schwert. »Ich und Kay und Vater und Mutter werden dich beschützen.« »Ach, nicht mit dem Schwert wirst du mich retten, Artus«, sagte Merlin freundlich. »Du lässt mich meine Geschichten erzählen. Du und Kay, ihr hört mir zu. Alle anderen halten meine Geschichten für verrückte Phantasien, wirrköpfige Hirngespinste. Aber du nicht.« »Es sind deine Geschichten, Großvater«, sagte Artus. »Ja, es sind meine Geschichten«, bestätigte Merlin. »Und sie sind wahr. Irgendwie. Ich erfinde sie nicht einfach, Artus. Ich erinnere sie. Wenn ich nur genug von ihnen erinnern könnte, würde ich wissen, wer ich bin.« Artus drehte sich auf dem Schoß des Alten, um ihn anzusehen. Warme Luft stieg aus den Decken, die sie beide umhüllten. »Ich weiß, wer du bist. Du bist Großvater.« »Ja, ja«, sagte Merlin leise, »ich bin Großvater.« Artus wusste nicht mehr als das. Für ihn war Merlin sein Großvater, Ector sein Vater, Diana seine Mutter und Kay sein Bruder. Es hatte keinen Sinn, ihm den Rest zu erklären. Was das betraf, so kannte niemand, nicht einmal Merlin selbst, den ganzen Rest. Merlin hatte unbestimmte Erinnerungen an eine Schlacht an einem Hang, an eine eingelegte Gurke, mit der er einen Tyrannen 58 abgewehrt hatte, Krieger, die Belagerungsgräben und Latrinen um eine Burg ausgehoben hatten, an einen Freund, der das Gesicht eines Fremden hatte, und an eine Frau, die von einem Mann geschwängert worden war, der wie ihr Ehemann ausgesehen hatte, es aber nicht war. Alles das, besonders aber der letzte Teil, schien nicht bloß Unsinn zu sein, sondern gefährlicher Unsinn. Merlin vertraute Artus diese Erinnerungen nicht an, aber er glaubte, dass sie wahr waren. Es war das einzige Geheimnis, das er vor Artus hatte. Merlin bemühte sich sehr, seine magischen Talente vor seinen Gastgebern zu verbergen, nicht aber vor dem Kind. Artus war sein Vertrauter. Von den frühesten Tagen an hatte Merlin ihn auf unsichtbaren Händen durch den Raum fliegen lassen, Bilder in die Luft gemalt, um seine Geschichten zu illustrieren, in seiner Turmkammer Miniaturfeuerwerke veranstaltet, Mäuse sprechen und Spinnen singen gelehrt, hatte ungesehene Spielleute Musik machen lassen. Einer von Artus' bevorzugten Freunden war ein sprechender Hocker in den Stallungen. Wenn sie Versteck spielten, machte Merlin sich oft unsichtbar und ging hinter dem Jungen herum. Schließlich hörte Artus auf zu suchen, fuchtelte mit den Händen in der Luft, bis er Merlins luftigen Vorhang zu fassen bekam. »Komm heraus, Großvater. Ich weiß, dass du da bist!« Dann kam Merlin mit einem zärtlichen Lachen wieder zum Vorschein und umarmte seinen Enkel. »Du hast mich gefunden. Guter Junge.« Diese Zaubereien verbarg Merlin vor der Familie seines Gastgebers. Die Stürme, die seine allzu häufigen Albträume begleiteten, belasteten ihre Nerven schon genug. Wenn sie von Merlins wirklicher Macht wüssten, würden sie wahrscheinlich den Exorzisten zurückholen ... Andererseits würden sie vielleicht geneigter sein, seinen Erzählungen zu glauben.
»Ich sag dir, was deine Geschichten sind, Großvater Merlin«, bemerkte Kay eines Sommertages, als er im Burghof mit einer 59 Holzfigur fechten übte. »Es sind Perlen — innen ist ein Kern Wahrheit, ein störendes Sandkorn oder etwas, um das du dir jahrzehntelang Sorgen gemacht hast, bis sie eine schöne, glatte und schimmernde Oberfläche bekommen haben.« Merlin blickte von dem Buch auf, das er las — oder zu lesen schien, obwohl er es verkehrt herum hielt und die Seiten von hinten nach vorn wendete. »Perlen? Meine Geschichten? Ursprünge in Störungen ... ?« »Ja«, sagte Artus, »Perlen! Das sind sie. Vielleicht ist nur ein bisschen Wahrheit darin, aber sie sind besser als die Wahrheit. Schöner.« Artus tanzte auf der anderen Seite der Übungspuppe und hielt einen dünnen Stecken in der Hand, mit dem er Ausfälle gegen seinen Bruder machte. Artus war jetzt fünf, und er verehrte Kay. Dafür gab es gute Gründe. Mit sechzehn hatte Kay sich seit vier Jahren im Waffengebrauch geübt und war ein kräftiger, wagemutiger und ausdauernder Krieger. Sein blonder Haarschopf und seine herausgehobene Stellung als Sohn des Herzogs machten ihn zum Schwärm der Mädchen in und um Chertsey. An diesem Tag gab er sich mit wilder Energie den Fechtübungen hin. Hemdlos und schwitzend, übte er unermüdlich Ausfälle gegen die vielfach von seiner Klinge gekerbte Holzpuppe, wehrte imaginäre Angriffe ab, schlitzte Artus' Stecken auf und schlug so heftig auf die Puppe ein, dass seine Klinge steckenblieb. Er riss sie heraus, und ein Stück Holz flog beiseite. »Ja, Perlen. Das sind sie, Großvater«, sagte Kay schnaufend. Er stützte sich auf seine Klinge. »Du bist ein Dichter. Du nimmst etwas Kleines und Gewöhnliches und bewegst es jahrelang in deinem Sinn, bis es zu etwas Großem und Schönen geworden ist.« »Du solltest für Mutter eine Halskette aus deinen Geschichten anfertigen«, sagte Artus. »Lauter Perlen, mit einem großen Brillanten in der Mitte.« Merlin dachte darüber nach. Seine buschigen Augenbrauen leuchteten weiß im Sonnenschein. »Ja. Ich sollte es tun. Aber weißt 59 du, Artus, ich habe den Brillanten schon vor langer Zeit zersplittert. Daher kamen all die kleinen Sandkörner für die Perlen.« Kay stieß sein Schwert in die Scheide an seinem Gürtel und trat zum Brunnen. Auf dem Rand ruhten ein hölzerner Eimer und ein Schöpflöffel. Statt aus dem Schöpflöffel zu trinken, goss er sich den Inhalt des Eimers über den Kopf und genoss die Erfrischung des kühlen Wassers. »Schade. Für Dichter gibt es heutzutage nicht viel Arbeit. Für Krieger hingegen —« Er reckte die Arme. »Solange es die vielen Kleinkönige gibt und die Sachsen im Osten, werden Krieger viel gefragt sein.« »Großvater ist mehr als ein Dichter«, erwiderte Artus. »Er ist ein mächtiger Zauberer. Zeig es ihm, Großvater! Zeig es ihm!« Kays bellendes Gelächter ließ ihn innehalten. Mit dem kräftigen Körperbau und seiner Geschicklichkeit im Waffenhandwerk war Kay auch der Hochmut eines Kriegers zugewachsen. »Es erfordert mehr als Fingerfertigkeit, um ein Reich zu verteidigen und es aus kleinen Herzogtümern zu errichten. Es erfordert bewaffnete Macht.« »Großvater ist nicht bloß ein Zauberer. Er ist ein Orakel. Er kann die Zukunft weissagen!«, beharrte Artus. »Er kann dir sagen, was du heute Abend tun wirst.« Kay lachte wieder. Er zwinkerte dem weißhaarigen alten Mann zu. »Na, wie ist es damit?«
»Heute Abend?«, antwortete Merlin in unschuldigem Ton. »Du wirst eine Weile wach sein und dann schlafen. Am Ende des Schlafens wirst du aufwachen.« Kay zauste Artus das Haar und schlug Merlin auf den Rücken. »Nun, in diesem Fall irrst du dich. Heute Abend wird Vater vom Feldzug zurückkehren. Er wird den Kammerherrn des Königs mitbringen. Der Mann wird mich im Gebrauch der Waffen erproben, und wenn ich die Probe bestehe, wird er mich in den Kriegerstand aufnehmen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ich heute Nacht überhaupt schlafen werde — oder den Rest der Woche.« 60 »König Udlers Kammerherr ...« sagte Merlin geistesabwesend. »Dieser Titel klingt bekannt.« »Ich werde Schild, Schwert und Lanze tragen und das Recht haben, ein Pferd in die Schlacht zu reiten. Mein eigenes Pferd! Und sobald der König mir den Ritterschlag erteilt, werde ich einen Knappen bekommen. Das wirst du sein, Artus, sobald du einen Sattel auf ein Pferd heben kannst. Und wenn ich jemals einen Kesselflicker für Taschenspielertricks brauchen sollte, oder einen Dichter, der meine Taten preist —« »Einen, der kleine Taten zu großen Perlen macht —« ergänzte Artus. »Wie heißt der Kammerherr?«, fragte Merlin. »Er ist ein Veteran vieler Feldzüge«, sagte Kay beiläufig. »Kämpfte für Ambrosius und Uther. Heißt Affius oder Dufius oder Ulfius oder so ähnlich.« »Ulfius«, wunderte sich Merlin. »Ich habe das Gefühl, dass ich diesen Namen kennen sollte.« Er zuckte die Achseln. »Ich freue mich auf die Begegnung. Vielleicht weiß er etwas mehr über meine Vergangenheit.« »Der Koch bereitet ein besonderes Festmahl vor. Es wird eine Krönung meines Ruhmes sein!« Merlin stand auf, klopfte seine Gewänder ab und wanderte tief in Gedanken zur Küche. »Ich werde dafür sorgen, an der Tafel meinen Platz neben dem des Kammerherrn zu haben.« Ein Ausdruck von Erschrecken und Unsicherheit geriet in die Züge des jungen Kriegers, als er Merlin nachsah.
12. Aufnahme in den Kriegerstand
Ulfius war steif und gefühllos - sein Rücken von langen Stunden im Sattel, sein Kopf von Herzog Ectors unaufhörlichen Lobpreisungen seines Sohnes Kay 60 »- ja, richtig, und einmal war er entschlossen, über einen kleinen Bach in der Nähe unserer Burg zu springen. Er wollte es tun, als das Wasser nach starkem Regen angeschwollen war. Auf die Schneeschmelze waren über Nacht fünf Zoll Regen gefolgt, und am Morgen war das Wasser ein wilder Sturzbach. Zwei Schuh tief und zwölf Schuh breit. Das hielt Kay nicht zurück. Sie können sich keinen leichtsinni - ah, furchtloseren jungen Mann vorstellen. Als er noch jünger war, fand er einen alten Mann und einen Säugling in den römischen Ruinen unweit von unserer Burg. Beide waren am Verhungern —« Ulfius rieb sich die Schläfen. »Sagten Sie, dass Sie noch einen Sohn haben?« »O ja, aber er ist zu jung für das Waffenhandwerk. Trotzdem, er verehrt seinen älteren Bruder Kay —«
In einem Versuch, die Blutzirkulation zu gewissen Körperteilen wieder in Gang zu bringen, richtete sich Ulfius im Sattel auf. Ector nahm die straffere Haltung seines Begleiters für ein Zeichen vermehrten Interesses und verdoppelte den Umfang seiner Erzählungen. Nach drei Tagen auf der Straße wusste Ulfius, dass Ector nichts zurückhalten konnte, wenn er mit einer Geschichte erst einmal in Gang gekommen war — nicht einmal vierundfünfzig Pferdehufen auf einer hölzernen Brücke. Eben jetzt ritt der Trupp über die Zugbrücke der Burg Chertsey. Vor ihnen ragte das innere Tor. Jenseits des Fallgatters erblickte Ulfius eine liebliche Gestalt - wahrscheinlich die blonde Herzogin Diana. Sie hatte trotz ihrer Jahre eine beinahe jugendliche Anmut bewahrt. »- für den geistlichen Stand vorgesehen, aber ich sagte: >Nicht mein erstgeborener Sohn!«< »Entschuldigen Sie mich, Sire Ector«, sagte Ulfius und erhob sich in den Steigbügeln. »Aber ist dies die schöne Gemahlin, von der Sie mir so viel erzählt haben?« Mit einem erheiterten Lächeln erwiderte die Herzogin: »Ja, und Sie müssen Kammerherr Ulfius sein.«
61
Sie warteten, bis das Fallgatter langsam in seinen Schienen aufwärts gerattert war, dann saß er ab, ließ sich auf ein Knie nieder und nahm ihre Hand. Er öffnete den Mund, sie zu begrüßen -und sperrte ihn auf, als bekäme er keine Luft. »Merlin!«, keuchte Ulfius mit unterdrückter Stimme. Neben Diana stand der Verrückte, den Ulfius fünf Jahre lang gesucht hatte. In dieser Zeit war sein Igraine gegebenes Versprechen eine schwere Gewissenslast für ihn gewesen, zusätzlich erschwert durch die Missbilligung der Königin. Selbst Morgan schalt ihn fast jeden Tag. In einem Atemzug setzte sie Ulfius herab, weil er Artus verloren hatte, und im nächsten setzte sie Artus selbst herab. Und nun stand Merlin vor ihm - lebendig, gut gekleidet, offensichtlich bei einer bekannten und vornehmen Familie in einer ansehnlichen Burg zu Hause. Dieser äußere Rahmen gab Ulfius' Hoffnung, er werde den Prinzen hier wiederfinden, unverhofft mächtigen Auftrieb. Merlins Gesicht war der schönste und schrecklichste Anblick, den Ulfius seit Jahren gesehen hatte. Herzogin Diana blickte forschend auf Ulfius herab. Er hielt noch immer ihre Hand. »Vergeben Sie mir, edle Gebieterin«, sagte Ulfius. »Nachdem ich so viel gehört habe ... scheinen mir die Worte zu fehlen.« Diana zog ihn in die Höhe und sagte: »Ihre Sprachlosigkeit ehrt mich, Kammerherr. Es ist lange her, seit mein Gemahl sprachlos vor mir kniete.« Sie warf Ector einen schalkhaften Seitenblick zu, wandte sich wieder zu Ulfius und fuhr fort: »Willkommen in Chertsey. Heute Abend wird es ein Festmahl geben und, wie ich fürchte, einiges an Prahlerei.« Sie wandte sich um und führte den Gast durch das innere Tor über den Burghof. Ulfius nahm sein Pferd am Zügel und folgte. Nach wenigen Schritten hatte er den tapernden alten Zauberer eingeholt und war neben ihm. Er war froh, dass das Klappern der Hufschläge auf dem Steinpflaster ihre Worte für fremde Ohren übertönte. »Sei gegrüßt, Merlin«, sagte Ulfius und stieß den Zauberer an. 61 Der schrak ein wenig zusammen und richtete den Blick seiner fiebrigen Augen auf ihn. »Gegrüßt, ja — wer ...«
»Ich bin Ulfius«, sagte der Krieger. »Erinnerst du dich? Ich holte dich von diesem Gesindel im Hüttendorf zur Belagerung von Burg Terrabil.« Merlin nickte, zuckte die Achseln. »Wie steht es in der Burg?« »Wie es steht -?« Ulfius starrte ihn verblüfft an. »Kennst du mich nicht mehr? Erinnerst du dich nicht, wer ich bin?« »Oh, ich erinnere mich«, sagte Merlin. Gekränkt zog er eine Braue hoch. »Du bist Ulfius. Du bist gekommen, um Kay zu sehen.« Ulfius war sprachlos. Er starrte dem Verrückten ins Gesicht. Wirre Gedankengänge spiegelten sich in Merlins Zügen. Bruchstücke von Wiedererkennen leuchteten in seinen Augen auf, vermischt mit Zweifeln, Täuschung und Phantasie. Er war wieder ratlos, dieser so mächtige Magier. Wie viele Jahrzehnte, wie viele Jahrhunderte war dieser Mann durch die Welt gewandert? Die Geheimnisse der Zeitalter füllten seine Taschen, und doch konnten seine zittrigen Finger sie nicht erfassen. Er nahm den Verrückten beim Arm. »Merlin, hör zu - es ist mir gleich, ob du dich meiner erinnerst oder nicht, aber sag mir, dass du dich an Artus erinnerst. Sag mir, dass er in Sicherheit ist.« Beleidigt entzog Merlin ihm den Arm. »Natürlich ist er in Sicherheit. Natürlich erinnere ich mich an Artus. Wie könnte ich meinen eigenen Enkel vergessen?« Damit beschleunigte der alte Zauberer seine Schritte. Innerhalb von Augenblicken war er für Ulfius und sein langsam stampfendes Pferd außer Reichweite. Ulfius starrte ihm nach. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Es versprach ein seltsamer Besuch zu werden. Wer ist dieser Mann Ulfius? Er hat kein Gesicht. Wo Augen und Nase und Mund sein sollten, gibt es Fenster ... knochige Höhlen ... Ich kann ihn nicht sehen, nur durch ihn hindurch. 62 In seinen Augen wohnt der Geweih tragende Artus. Eine Krone ruht auf den Knospen des Gehörns. Dieser Mann sucht Artus, um ihn zum König z u machen. In seinem Mund wohnt ein anderes Geschöpf— eine junge Frau mit Haut wie Mondschein und schwarzem Haar und Augen wie Teiche, in denen schuppige Tiere schwärmen. Auch sie sucht Artus, aber nicht, u m ihn zu krönen, sondern nur u m ihn zu beerdigen. Und in seiner Nase — dem Organ, das unterscheidet, was gesund und was faul ist — ist kein Fenster, sondern ein Spiegel. Darin bin ich. Ich sehe mich selbst dort. Aber ich bin abgezehrt und zerlumpt und schmutzig. Ungesund. Verfault. Verrückt. Wer ist dieser Mann Ulfius? Trotz seiner wiederholten Versuche, Artus zu sehen, kam ihm, gewollt oder ungewollt, immer wieder Kay vor Augen. Ja, der junge Bursche war beeindruckend. Er war vielleicht zu fein gemeißelt und idealistisch für Uthers Fleischwolf-Legionen, aber sicherlich verdiente er die Aufnahme in die Rechte des Waffentragens. Ulfius war davon schon nach einer fünfminütigen Vorstellung von Kays Fähigkeiten als Schwertkämpfer und einer ebenso langen Vorführung mit Lanze und Schild überzeugt gewesen. Trotzdem folgte noch die obligatorische Vorführung der Reitkunst und seiner körperlichen Tüchtigkeit im Erklettern von Mauern und Bäumen, im Überspringen von Gräben, im Schleudern von Steinen und Balken, im Einfangen eines >Wildebers< (nur ein eingefettetes Ferkel), und aller anderen Aufgaben, die ein Krieger zu erfüllen hatte. Natürlich gehörte dazu auch das Anlegen eines Panzers, das Aufschlagen und Abbrechen von Zelten und ein mündlicher Vortrag über Belagerungstechnik. Um seine Kletterfertigkeit unter Beweis zu stellen, hatte
Kay sogar ein Küchenmädchen engagiert, das vorgab, in einem Turm gefangen zu sein, so dass er zu ihrer Befreiung hinaufklettern konnte. Er war erst halb oben, als Ulfius die innere Wendeltreppe hinaufgestiegen war, die unversperrte Tür geöffnet und das Mädchen >gerettet< hatte. 63 Während all dieser Erprobungen sah Ulfius weder Artus noch Merlin. Es war ein ziemlich erschöpfter Ulfius, der schließlich in den Palas der Burg gefuhrt wurde, um am Bankett zu Ehren von Kays Volljährigkeit und Aufnahme in den Kriegerstand teilzunehmen. Der Palas war eine eindrucksvolle Halle, deren Steinwände zwei Stockwerke hoch waren und eine Balkendecke aus schwarzer Eiche trugen, von der lange Banner herabhingen. Die Außenwand war durch eine Reihe stattlicher Bogenfenster gegliedert, zwei schmiedeeiserne Kronleuchter gössen Licht und gelegentlich Talg auf die langen Tafeln darunter. Diese waren gedeckt mit gebleichtem Leinen und Tischläufern in rotem Samt. Auf einer Anrichte zwischen den Tafeln lag ein gebratenes Wildschwein mit einem Apfel im Maul. Hölzerne Bierkrüge standen neben Tellern aus Steingut. Messer und silberne Gabeln lagen auf einer Seite der Gedecke, Servietten aus Flanell auf der anderen. Gäste und Familie versammelten sich, und Bedienstete geleiteten jeden zu dem Platz, der seiner oder ihrer Stellung angemessen war. Schneidebretter wurden ausgegeben, Dampf stieg vom frisch geschnittenen Brot. Zum Wildschweinbraten wurden gedämpfte Zwiebeln, Lauch, Karotten und Kohl auf die Teller gelöffelt. Eine kleine Gruppe von Spielleuten - dreisaitige Stockfiedel, Laute, Querpfeife und Zink — begann aufzuspielen. Ihre Musik verschmolz angenehm mit dem Geklapper der Bestecke, der fröhlichen Konversation und dem aufsteigenden Dampf, der die Wohlgerüche der Speisen im Raum verteilte. Ulfius ließ sich auf seinen Platz nieder und seufzte. Wenigstens die schmackhaften Speisen mochten eine Ruhepause vom allgegenwärtigen Krieger Kay bieten. Dann begann einer der Spielleute zu singen: »Einst lebte ein Jüngling so edel und treu, Kay war sein Name und stark war sein Arm —« 63 Diese Lobhudelei war mehr, als Ulfius ertragen konnte. Sein Geduldsfaden riss. »Hurra! Hurra!«, rief Ulfius und stand auf. Die Spielleute verstummten ebenso wie die Bediensteten und die Tischgespräche. Plötzliche Stille erfüllte die Halle. Ulfius blickte in die Runde, unerschrocken angesichts der verblüfften Aufmerksamkeit. »Gut! Nun, da ich alle Augen und Ohren habe, lassen Sie mich verkünden, dass ich Kay für völlig geeignet halte, den Legionen des Königs beizutreten. Ohne weiteres Aufhebens und ohne Zeremoniell übertrage ich dem jungen Mann die Ehre von Schwert und Pferd. So! Fertig! Kay ist großartig, er kann fechten, er kann reiten und noch manches andere mehr. Nun lassen Sie uns seine Volljährigkeit und Aufnahme in den Kriegerstand feiern! Schmausen wir vom wilden Schwein, trinken wir vom roten Wein und schwingen wir im Tanz das Bein!« Seine Stimme verhallte in Stille. Die Bediensteten wagten sich nicht zu bewegen, die Spielleute rührten keinen Finger. Ector schritt mit ernster Miene auf seinen Sohn zu, der an der Schmalseite der Halle vor den Stufen stand, die zum steinernen Thronsessel führten.
Die andauernde Stille ließ Ulfius' Schwung erlahmen. Seine Stimmung welkte dahin, und so kam sein abschließendes »Hurra« ziemlich kleinlaut heraus. Zum Glück ging es in Kays überschwänglichem Ausruf unter. »Ich hab's geschafft! Der Ruhm ist mein. Ich bin ein Krieger! Ein Gefolgsmann des Königs!« Freudige Rufe erhoben sich, und die peinliche Stille, die zuvor über der Tischgesellschaft gelegen hatte, zerbrach und wurde von warmer und lebhafter Bewegung abgelöst. Ector hob seinen Sohn in die Höhe und setzte ihn auf seine Schulter. Die Spielleute besannen sich auf ihre Pflichten, und zahlreiche Familienmitglieder und Gäste sprangen auf, um Kay zu beglückwünschen. Trotz aller glücklichen Tätigkeit wurde der unerforschliche Abgesandte des 64 Königs zur Zielscheibe unfreundlicher Blicke. Vielleicht hatte sein Verzicht auf alles feierliche Zeremoniell manche Leute enttäuscht. Ernüchtert ließ Ulfius sich auf seinen Stuhl zurücksinken. Er trank sein Bier aus und ließ sich von einem Bediensteten aus der Kanne nachschenken. Er beschloss viel zu essen und zu trinken und lange zu schlafen und bei den Stallknechten Anweisung zu hinterlassen, dass er sich aus dem Bett und in den Sattel wälzen und über die grünen Hügel von Winchester dahinfliegen und niemals zu diesem Tollhaus zurückkehren wollte — Dann kam Artus herein. In seinem weißen Leinennachthemd sah der Junge wie ein Engel aus. Es war unverkennbar Artus. In seinem kleinen Gesicht vereinte sich die feenhafte Schönheit Igraines mit den kräftigen Zügen Uthers. Und er war um so unverkennbarer, als der bärtige alte Mann hinter ihm erschien und versuchte, ihn beim Nachthemd zu fassen und in den Korridor zurückzuziehen. Ulfius stand so schnell auf, dass sein Stuhl hinter ihm umfiel. Er eilte durch die Halle, um den Jungen zu erreichen, bevor Merlin ihn für weitere fünf Jahre entführen konnte. »Artus! Warte! Ich möchte mit dir reden.« Seine Stimme ging im Lärm der Musik und dem Stimmengewirr der Gäste unter. Diener richteten Ulfius' Stuhl wieder auf. Überall, wo man auf ihn aufmerksam wurde, folgten dem wechselhaften Gesandten König Uthers geringschätzige Blicke. Ihm war es gleich. Er schritt so eilig zum Ausgang, wie die Würde seines Amtes es erlaubte. Der kleine Artus hatte sein Tauziehen mit dem alten Magier gewonnen und kam in die Halle. Sein einfaches weißes Nachthemd schimmerte im Licht der zahlreichen Kerzen, so dass er wie ein kindlicher Märtyrer aussah. Seine Augen waren groß und neugierig, sein Gesicht wirkte trotz einer gewissen Verlegenheit froh. Ulfius erreichte ihn und ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder. 64 Der Überschwang des Gefühls war ebenso groß wie damals, als er vor fünf Jahren das Kind zuerst in die Arme genommen hatte. Es war Majestät in diesem Jungen, ein unleugbares Vorgefühl künftiger Königreiche und Ruhmestaten — eines kometenhaft aufleuchtenden Lebens vor einem Zeitalter der Finsternis. Ulfius nahm die Hände des Jungen in die seinen und sagte: »Artus, ich bin so froh, dich zu sehen —« Beinahe hätte er gesagt >wieder zu sehen<, aber er konnte es noch vermeiden. Die hellen Augen des Jungen schimmerten im Widerschein der Kronleuchter. »Dann bist du Ulfius, vom Hof des Königs Uther?« »Ja, Artus.« »Ich möchte schon einmal die Königsburg sehen«, sagte der aufgeweckte Junge.
»Das wirst du, Artus«, versprach Ulfius. »Ganz sicher wirst du das.« Merlin schob sich dazwischen. Sein gebrechlicher Arm, statt in graue Lumpen nun in Leinen und Brokat gekleidet, legte sich um den Jungen. »Komm jetzt mit, Artus. Es ist schon über deine Schlafenszeit.« »Aber ich habe gerade den Kammerherrn Ulfius vom Hof des Königs getroffen«, wendete Artus mit leiser Stimme ein, als Merlin ihn zur Tür zurückzog. Ulfius fasste Merlin beim Ärmel und zog ihn herum. Er beugte sich zum Ohr des Alten, so dass der Junge ihn nicht hören konnte, und flüsterte Merlin ins Ohr: »Erinnerst du dich nicht, wer Artus ist? Er ist der Sohn des Königs und der Königin. Er ist der Prinz!« Merlin schrak auf und starrte Ulfius erschrocken und furchtsam in die Augen. Aber gleich darauf hatte er sich gefasst. »Das hat nichts zu sagen. Dies ist seine Familie. Dies ist sein Zuhause. Er wird nicht mit dir zurückreisen.« Ulfius ließ den alten Mann los. Merlin hatte Recht. Wenn Artus an den Hof gebracht würde, stand zu befürchten, dass er nicht bis zu seiner Königskrönung überleben würde. »Ja, dies ist seine Familie. Ich werde ihn nicht von hier und von dir wegfüh 65 ren ... Aber ich habe Königin Igraine geschworen, dass ich Artus bewachen und anleiten werde, wenn er heranwächst.« »Was flüstert ihr?«, fragte Artus. »Ich werde bleiben«, platzte Ulfius heraus. »Ich werde bleiben und Artus unterrichten Griechisch und Latein, Fechten, Reiten, Geschichte, Rechnen, Geometrie ... Ich werde ihn auf seine Rolle vorbereiten.« »Welche Rolle?«, fragte Artus. Merlins Blick hatte sich inneren Räumen zugewandt. Mehrere Atemzüge lang stand er in sich versunken, dann holte er tief Atem, als müsste er sein Inneres von Spinnweben befreien. »Ja. Ich werde es erlauben — wenn du geheim hältst, wer er ist.« »Selbstverständlich.« »Ich werde dich Ector empfehlen -« »Mir? Wen empfehlen?«, dröhnte eine Stimme. Ector war auf Ulfius, den fünfjährigen Jungen und den wackligen Alten zugetreten. Der finstere Ausdruck seines fleischigen Gesichts machte seine Stimmung offensichtlich. Er blickte von Merlin zu Ulfius und wieder zurück. »Wen empfehlen?« »Diesen Mann«, sagte Merlin. »Ulfius würde gern bleiben, um Artus zu unterrichten -« »Artus unterrichten?«, rief Ector aus. Seine Augen blitzten zornig. »Artus unterrichten? Sie, der keinen Augenblick erübrigen kann, um von meinem erstgeborenen Sohn Kay zu hören, der jeden nur denkbaren Beweis seiner Tugenden abgelegt hat? Schenken Sie dem wahren Krieger in diesem Haus irgendwelche Aufmerksamkeit? Sind Sie an seiner Tüchtigkeit im Kriegshandwerk und Waffengebrauch, der Kletterfertigkeit und dem glanzvollen Abschneiden dieses jungen Mannes in allen anderen Prüfungsfächern überhaupt interessiert? Ziehen Sie ihn auch nur einen Augenblick für höhere Aufgaben in Erwägung? Dann, nachdem Sie jeden seiner Versuche zu beeindrucken so passiv ignorierten, erklären Sie ihn ohne jedes ehrenvolle Zeremoniell für volljährig und berechtigt Waffen zu tragen und als berittener Krieger in den 65 Dienst des Königs zu treten, nur um ihm so bald wie möglich den Rücken zu kehren, hierher zu laufen und sich vor einem bloßen Kind zu verbeugen, das elf Jahre jünger ist als
Kay, und sich ihm als Lehrer anzudienen?« Der Herzog zitterte vor Erregung, zornrot im Gesicht. »Er wird es umsonst tun«, bemerkte Merlin wenig hilfreich. Ector und Ulfius starrten ihn beide aufgebracht an. Ulfius erholte sich rasch. »Im Gegenteil, edler Herzog. Ich war von Kays Schaustellungen seiner Fertigkeiten und Kenntnisse auf allen Gebieten so überwältigt, dass es mir vor Staunen die Sprache verschlug. Der glasige Ausdruck meiner Augen war nicht Zeichen von Langeweile und Überdruss, sondern von geistesabwesender Verblüffung. Ich kam mir vor wie die winzige Heuschrecke, die in der Basilika von Canterbury eingesperrt ist und göttliche Musik hört, die ihr eigenes Lied zu einem bloßen Gekratze mit den Beinen macht. Tatsächlich war ich schon nach wenigen Minuten überzeugt, dass der junge Mann reif für die Aufnahme in den Kriegerstand ist, ließ aber die Proben ihren Gang nehmen, weil ich zum einen begeistert und neugierig war, und zum anderen, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, ich würde ihn aufgrund seines Standes unbillig bevorzugen. So erklärte ich ihn in meiner Begeisterung auf der Stelle zum Krieger, um nicht den geringsten Zweifel an meiner Bereitwilligkeit aufkommen zu lassen.« Leicht besänftigt durch diese Rechtfertigungsrede, ließ Ector seine Gesichtsfarbe von Scharlachrot zu Rosa verblassen. »Wozu dann dieses Aufhebens hier?« »Ich dachte, edler Herzog«, fuhr Ulfius fort, »dass, wenn aus dieser Familie ein so prachtvoller Inbegriff männlicher Tugenden wachsen konnte, warum dann nicht auch ein Zweiter? Und sollte dieser zweite Sohn nicht jeden Vorteil der Gelehrsamkeit im Schreiben und Rechnen, in Geschichte und Gesetzeskunde genauso genießen wie die körperlichen Unterweisungen?« Mehr verlegene Röte als Zorn tönte jetzt Ectors Gesicht. Er 66 murmelte: »Um die Wahrheit zu sagen, Artus ist nicht von meinem Blut —« »Nicht so blutgierig wie Kay«, unterbrach Merlin den Herzog, »er sollte aber trotzdem das Zeug zu einem ordentlichen Krieger haben.« »Ganz recht«, sagte Ector. Er holte tief Atem und fasste Ulfius ins Auge. »Doch da Sie so viele Beweise von Kays Tüchtigkeit erwarteten, bevor Sie ihn in den Kriegerstand aufnahmen, werde ich auch von Ihnen eine Probe verlangen!« Damit zog Ector ein blitzendes Langschwert nordischen Typs mit verziertem Knauf, der in einem stilisierten Adlerkopf endete. Die Klinge verließ zischend ihre Scheide und glänzte im Kerzenlicht. Das Stimmengewirr in der Halle erstarb. Ulfius schluckte. Er fragte sich, ob es ihm gelingen würde, sich aus dieser Klemme herauszureden, aber die grimmige Befriedigung in Ectors Augen sagte ihm, dass der Versuch vergeblich wäre. So zog er sein eigenes Schwert, kein heidnisches Langschwert, sondern ein kurzes römisches Gladius. Diese Waffe war überlegen, wenn in der Formation neben gleich bewaffneten Kameraden gekämpft wurde. Doch in einem Zweikampf musste es sich schon wegen der geringeren Reichweite als unzulänglich erweisen. Das war zweifellos auch Ector bewusst. Ulfius presste die Lippen zusammen und schritt zu einer freien Fläche in der Halle. Er neigte einmal den Kopf und sagte: »Ich hoffe, edler Ector, dass ich Sie so beeindrucken kann wie Ihr Sohn mich beeindruckt.«
Mit hitzigem Vergnügen in den schwarzen Augen tat Ector ihm Bescheid, dann hob er das Langschwert, wirbelte es einmal um den Kopf durch die Luft und schlug mit aufholender Wucht zu. Die Klinge klirrte hart auf das Kurzschwert. Ulfius' Hand war so geprellt, dass sie für Augenblicke das Gefühl verlor. »Das hoffe ich auch«, sagte der Herr von Burg Chertsey. Wäh 67 rend Ulfius und Ector ihren martialischen Meinungsaustausch begannen, schlüpfte Merlin davon, um das üppige Bankett zu prüfen. Wildschwein und Apfel! Bier und Met in Krügen! Dampfende Schüsseln mit Mischgemüse! Ein Festschmaus, wie er sich in Asgard sehen lassen könnte! Merlin leerte Ulfius' Schneidebrett und beförderte fetttriefende Brotbrocken in seinen Schlund. Helles Schwertgeklirr erfüllte die Luft. Ector war ein Blitze schleudernder Bär, Ulfius ein Igel mit einem welken Löwenzahn als Waffe. Ach ja, in dieser Hinsicht schien Ulfius sehr vertraut. Mächtig holte Ector mit seinem Langschwert aus. Ulfius wich seitwärts aus, musste aber sein Kurzschwert hoch reißen, um den Schlag abzulenken. Ector schlug Ulfius' Parade beiseite. Um dem Nachstoß zu entgehen, ergriff Ulfius die Flucht. Er prallte rücklings auf den Tisch, wo der gebratene Eber lag; er und das Tier tauschten mitleidige Blicke. Ectors Triumphgebrüll machte dieser Gemeinschaft ein Ende. Ulfius zog sich weiter zurück, der Eber nicht. Ectors Schwert traf das Tier über der Keule und schnitt sie glatt vom Rumpf. Der meint es ernst, dachte Merlin bei sich. Als das Langschwert freikam, sandte Merlin subtile Magie aus, um die abgetrennte Keule vom Rest des Bratens zu entfernen. Er stimmte den Zauber mit der Bewegung von Ectors Schwert ab und erreichte so, dass die Keule durch die Luft flog und klatschend auf seinem Holzteller landete. Mit fettigen Fingern hob er das Ding und nahm einen großen Bissen. Brauner Saft und Fett und knusprige Schwarte troffen von seinem Bart. Es war ein köstlicher Braten. Vielleicht, dachte Merlin, konnte der Kammerherr Hilfe brauchen, und entschloss sich zum Eingreifen. Der Herzog trieb Ulfius mit wuchtigen Schwertstreichen vor sich her. Das römische Kurzschwert war zu schwach, um die massive Gewalt des Langschwerts zu parieren. Trotzdem musste er es 67 immer wieder versuchen. Ein Schwerthieb durchschlug seine Parade und beulte seinen linken Unterarm ein. Ulfius wankte zurück und mache eine verzweifelte Finte, um seinen Angreifer zurückzudrängen. Das Kurzschwert stieß zu, schien zu wachsen und sich zu verlängern, bis seine Spitze Ector traf, der in diesem Augenblick fast drei Schritte entfernt war. Der Herzog wich zurück. Ungläubig blickte er auf den kleinen roten Schnitt an seiner Hüfte. »Wie haben Sie das gemacht, Ulfius?« »Schwertarbeit«, schnaufte der Mann, und konnte wieder auf den Kampfplatz vorrücken. »Ich werde Artus ... den gleichen Kniff beibringen.« Der Junge beobachtete die Auseinandersetzung mit einer Mischung von Bewunderung und Sorge.
»Nun gut«, keuchte Ector. »Sie sagten ... Sie würden ihm mehr als das Waffenhandwerk beibringen ... Was ist mit Rechnen und Geometrie? Was ist die Kubikwurzel von zweiunddreißig addiert mit zweiunddreißig?« Es war ein schmutziger Trick, denn sofort folgte eine wilde Attacke. Im Augenblick der Berechnung überrascht, war Ulfius auf den Angriff nicht vorbereitet. Er riss die Klinge hoch und parierte den Angriff, verlor aber das Gleichgewicht und flog gegen ein Bierfass. Damit nicht genug, schlug sein Gladius den Zapfhahn vom Spundloch. Er glitt im Schwall des goldenen Nektars aus, stürzte und bekam einen sprudelnden Guss Bier über den Kopf. »Das darf nicht sein«, beschloss Merlin. Er ließ die Wildschweinkeule fallen und begab sich an Ort und Stelle. Dort angelangt, bückte er sich und half Ulfius auf die Beine. »Vier«, flüsterte er ihm zu, stieß ihn fort und kniete am Bierquell nieder. »Vier«, sagte Ulfius, als er sich wankend wieder zum Kampf stellte. Sein Schwert wehrte den nächsten Schlag ab. Funken sprühten. Ector grunzte beeindruckt. »Erzählen Sie mir vom Peloponnesischen Krieg.« 68 Wieder ein übler Kniff, dachte Merlin, während er schluckte. Dieser Krieg hatte vor achthundert Jahren und fünfhundert Meilen entfernt stattgefunden. Er zog den Mund vom Bierquell, verschloss das Spundloch mit einem Finger und sandte Ulfius einen Zauber zu. Als dieser einen weiteren pfeifenden Schwerthieb beiseite schlug, sprach er mit einer Altmännerstimme, die nach Gerstensaft roch: »Der Peloponnesische Krieg wurde zwischen Athen und Sparta und ihren Verbündeten ausgefochten. Perikles führte Athen zu frühen Siegen, bis er und viele seiner Mitbürger umkamen. Sparta gewann die Oberhand und zwang das erschöpfte Athen zur Unterwerfung. Das geschah ungefähr vierhundert Jahre, bevor der Nazarener geboren wurde.« Diese Antwort ergrimmte Ector nur noch mehr. Er trieb Ulfius mit wütenden Angriffen vor sich her, bis der Letztere mit dem Rücken an der Wand stand. Zwei weitere Streiche mit dem Langschwert, und Ulfius' Gladius flog ihm aus der Hand. Der Herzog setzte ihm die Schwertspitze unter das Kinn. »Ergeben Sie sich«, sagte Ector, in dessen Schläfen sichtbar der Pulsschlag ging. »Ich habe bewiesen, dass ich der bessere Krieger bin.« »Unsinn«, murmelte Merlin zum Bierfass. Er machte ein kleines Zeichen. Ulfius sprang aus dem Stand in die Luft und bekam das herabhängende Ende eines Banners zu fassen. An diesem schwang er sich zum Nächsten. Von seinen Lippen brach ein Schreckensschrei, der sich wie von selbst in einem Lied auflöste: »Mit Ector kämpfen mitternächtig überlass ich lieber Dianen. Sein Amtsschwert, das ist groß und mächtig, doch kurz das andre, will mir schwanen!« Ein entsetztes Keuchen folgte diesem frechen Reim, beginnend mit dem Mann, der ihn sang, gefolgt von denen, die ihn hörten. 68 Ector brüllte: »Sie werden gut daran tun, diesen Zweikampf zu gewinnen, Ulfius, oder sie werden den Morgen nicht mehr erleben!« Er stürmte dem am Banner schwingenden Mann nach, der inzwischen das Nächste zu fassen bekam. In hilflosem Zorn schwang der Herzog sein Schwert nach den Fersen des Spötters. Dabei grollte und knurrte er unverständliche Flüche und stolperte über Stuhl und Tisch, Gast und Hund.
Nach einem besonders unglücklichen Stolperer landete er auf einem Serviermädchen und verstrickte sich wie durch Magie in ihrem Gewand. Kreischend wand sie sich im Hemd aus einem Ende des Kleidungsstückes, als Ector zornig mit dem anderen Ende kämpfte. Ungleichmäßig bekleidet, kam er auf die Beine und stieß einen tierischen Wutschrei aus. In das Echo seiner Wut mischten sich belustigtes Gekicher und Gepruste von Seiten der Tischgäste. Ein Paar Fersen segelten verlockend vorüber, und Ector holte zu einem wilden Schlag aus. Der Schwung seines Langschwertes drehte ihn um die Achse, er verlor das Gleichgewicht und wurde in die untere Hälfte des gebratenen Ebers geschleudert. Ein Knie versank in einer Schüssel Karotten, eine Hand geriet in einen Metkrug, und als der Herzog wieder auf die Beine kam, trug er als Helm Rumpf und Kopf des Ebers. Merlin wandte sich einen Augenblick vom Bierschaum ab, um sein Werk zu bewundern. Ector ließ ein letztes Wutgebrüll hören. Es kam gedämpft und Mitleid erregend aus dem Inneren des Eberkopfes. Die Menge der um die Tafeln Versammelten konnte ihre Heiterkeit nicht länger zügeln. Ein schallendes Gelächter dröhnte durch die Halle. Die Spielleute begannen eine muntere Tanzweise zu spielen. Bedienstete tanzten mit Würdenträgern. Hunde schlabberten begierig die Bierlache. In ihrer Mitte saß ein betrunkener und sehr zufriedener alter Zauberer. 69
13. Kämpfe im Norden
»Setzt mich hier ab!«, befahl König Uther und zeigte auf die grasbewachsene Kuppe. »Hier!« Uther war gewohnt, zu Pferde in die Schlacht zu reiten, nicht auf einem Tragsessel. Seine Diener hatten ihn sogar darin angeschnallt. Gestern war der leidende König herausgefallen, als sie ihn eine steile Böschung hinaufgetragen hatten. An diesem Morgen wollten die Diener es nicht darauf ankommen lassen. »Ulfius hätte eine bessere Lösung gefunden«, grämte sich Uther, als sie ihn auf ebenen Grund trugen. Sein Kammerherr war jetzt seit zwei Jahren fort und wurde sehr vermisst. »Idioten! Setzt mich ab!« Die Diener taten es. Pagen und bewaffnete Gardisten umringten ihn. Andere Diener trugen medizinische Spirituosen, Polster, Decken — alles was geeignet schien, Uthers Schmerzen zu lindern. Aber nichts vermochte einen Kriegerkönig zu besänftigen, der nicht mehr in den Krieg ziehen konnte. »Dort unten sollte ich sein«, zischte Uther durch zusammengebissene Zähne. Seine Krieger fochten auf der Ebene vor dem Mündungstrichter des Humber. Zweitausend Pikeniere drangen in Schlachtordnung gegen das schimmernde Wasser vor. Ihre Piken, verbesserte Nachahmungen römischer Lanzen, glänzten silbrig im Morgenlicht. In ihrer geschlossenen Formation stießen sie Angeln zu Dutzenden nieder. Obwohl die viertausend Eindringlinge wie Berserker kämpften, hatten sie wenig Organisation und noch weniger taktisches Geschick. Vor einer Woche hatten Uthers Pikeniere einem Angriff von berittenen Angeln standgehalten und sie bis zum letzten Mann niedergemacht. Nun hatten seine Krieger das Fußvolk der Angeln gegen den Humber gedrängt und bereiteten ihm ein ähnliches Schicksal. »Warum bringen sie nicht ihre Schiffe herein?«, fragte sich Uther. Mehr als hundert Drachenschiffe lagen draußen vor An
70 ker, ohne Anstalten zu machen, ihre bedrängten Krieger aufzunehmen. »Warum ziehen sie sich nicht zu ihren Schiffen zurück?« »Angeln gehen nicht zurück«, sagte einer der Krieger. Der blonde Recke war selbst germanischer Abstammung, obwohl seine Familie vor zwei Jahrhunderten romanisiert worden war. »Sie kämpfen bis zum letzten Atemzug, weil ihre Ehre es verlangt. Wird einer in der Mitte gespalten, kämpft die Hälfte mit dem Herzen weiter. Wird einem der Kopf abgehauen, merkt er es nicht einmal. Einmal tötete ich einen Angel dreimal an einem Nachmittag.« »Ja, ja. Sei still jetzt«, befahl Uther ungeduldig. Der andere Leibwächter betrachtete dies als eine günstige Gelegenheit. »Wahrscheinlich befürchten sie, wir könnten durchbrechen und ihre Schiffe kapern. Bevor sie ihre Schiffe aufgeben, sterben sie lieber.« »Sei still!«, befahl Uther. »Ich kann nicht denken, wenn ihr die ganze Zeit eure Weisheiten verbreitet.« Er studierte den Fortgang der Schlacht zu seinen Füßen. Eine Phalanx seiner Krieger stieß in die Mitte der Angeln vor. Sie deckten sich nach vorn und zu den Seiten mit Langschilden, die sowohl Bogenschüssen als auch Schwerthieben standhalten konnten. In wenigen Augenblicken würde die lanzenstarrende Phalanx die Streitmacht der Angeln in zwei Teile spalten. »Warum gehen sie nicht zurück? Sie werden abgeschlachtet. Sie müssen etwas wissen, was wir nicht —« Ein warnender Ruf kam vom Lager der Briten hinter Uther. Die Krieger seiner Leibwache wandten die Köpfe, und Uther sah an ihren gerunzelten Brauen und der gespannten Haltung ihrer Körper, dass etwas nicht stimme. Nun ertönten Hörner und riefen die Reserve im Lager zu den Waffen. Zeltbahnen raschelten, Stiefel trampelten, Stimmen riefen durcheinander. Uther reckte den Hals, um besser zu sehen, aber die Gurte hielten ihn fest. »Was gibt es? Dreht mich zur Seite, verdammt!« Die Leibwächter sprangen ihm zu und hoben den Tragsessel des 70 leidenden Königs. »Ein neues Heer. Sie müssen die Krieger von Sussex und Essex geschlagen haben.« Endlich sah Uther, was geschah. Die Straße nach Süden und die Felder zu beiden Seiten wimmelten von Sachsen. Sie rückten wie eine schwarze Flutwelle vom Wald heran. Es mussten fünftausend sein. Vielleicht zehntausend. »Befehl zum Rückzug«, stieß Uther hervor. Seine Offiziere eilten davon, ein Kurier kritzelte hastig die Botschaft. »Wir brechen den Kampf ab und gehen auf Barrow zurück. In Barrow gibt es Gräben und Mauern. Wir gehen zurück und bereiten die Verteidigung der Stadt vor.« Der Kurier war bleich. Er verbeugte sich, sprang auf sein Pferd und galoppierte den Hügel hinab. Ein zweiter Kurier nahm den Platz des Ersten ein, und Uther sagte zu ihm: »Nimm ein Pferd, ein schnelles, bevor sie unsere Verbindung nach Süden unterbrechen. Reite zur Garnison in Caistor. Ich befehle, dass alle kampffähigen Krieger nach Barrow marschieren und sich dort mit uns vereinigen.« Er wandte sich zu seinem Feldhauptmann. »Schicken Sie einen Ruf zu den Waffen mit reitenden Boten in alle Teile des Landes. Setzen Sie den Text
selbst auf und machen Sie darin klar, dass alle kampffähigen Krieger kommen müssen, sonst droht ihnen die Hinrichtung. Siegeln Sie den Befehl mit diesem Ring. Ganz Britannien muss zu den Waffen greifen, oder Britannien hört auf zu bestehen.« Dann erlitt Uther einen Hustenanfall. Aus dem Süden rückte das Unheil heran. »Eine Falle. Sie lockten mich in eine Falle.« Ein grimmiges Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. »Nun, wenigstens werde ich wie ein Krieger sterben und nicht wie ein Würm.« »Können wir nicht in der großen Halle üben?«, fragte Artus, als er die schmale Latte schwang, die ihm als Schwert diente. Er war jetzt sieben und hatte zwei Jahre Kletterübungen und Gymnastik ertragen. Dieser sonnige Morgen war das erste Mal, dass er etwas 71 handhabte, das ungefähr einem Schwert glich. »Ich will einen gebratenen Eber zerschlagen und an den Bannern schwingen.« Ulfius lächelte geduldig. »Ich kann mir nicht denken, dass dein Vater es gern sehen würde, wenn ich dir diese Kniffe beibrächte.« »Er wird es nicht wissen«, sagte Artus. »Er ist fort und kämpft für den König.« »Ja, und da dein Vater und Bruder beide fort sind, bist du der Herr der Burg. Du solltest allen Unfug vermeiden.« Artus schlug eine äußerst mitgenommene Fechtpuppe. Die Latte prellte ihm die Finger, so dass er sie fallen ließ. »Au! Dieses verdammte Ding schlägt zurück.« »Verdammte Ding?«, fragte Ulfius erstaunt. »Wo hast du solche Ausdrücke gehört?« Lehrer und Schüler blickten gleichzeitig Merlin an, der im Burghof am Brunnen saß. Großvater war mit harmloser Magie beschäftigt. Er zog hölzerne Eimer mit Wasser aus dem Brunnen, verwandelte den Inhalt in Met und teilte Schöpflöffel davon mit den Hunden. »Hast du dem Jungen das Fluchen beigebracht?«, fragte Ulfius ärgerlich. Merlin blickte auf und zwinkerte unter buschigen Brauen. »Jemand muss es tun. Wie kann er ein Krieger sein und nicht fluchen? Am ersten Tag, als wir uns begegneten, hörte ich dich fluchen.« »Und ich habe seitdem nicht damit aufgehört«, sagte Ulfius. Wenigstens erinnerte Merlin sich jetzt an jene erste Begegnung. Er wusste nun, wer Artus war und wer er werden musste. »Nun, genug des Fluchens und Schwertschwingens. Zeit für die Geschichte des perikleischen Zeitalters —« Artus ließ die Schultern hängen. Seine Schritte wurden schwer. »Ach! Was hat der Perikles mit uns zu tun? Wer muss über Perikles Bescheid wissen, wenn er mitten im Kampf steht?« »Ulfius, zum Beispiel«, sagte Merlin. Ulfius ging nicht darauf ein und sagte: »Erzähl mir, was du über die römische Weltsicht weißt.« 71 »Oooh!« Artus warf die Hände hoch und vollführte einen unzufriedenen kleinen Tanz. »Sie dachten, Britannien sei das Land der elysischen Gefilde und dachten, jeder auf dieser Insel sei glücklich, und dass jemand, der in die Nordsee springt, bis zum Land der Äthiopier treiben würde. Aber was —« Die Ankunft eines Reiters vor dem Fallgatter des inneren Tores unterbrach seinen Vortrag. Der Mann hatte offensichtlich einen angestrengten Ritt hinter sich und das Pferd schäumte ums Maul. Es tänzelte unruhig und stieß ein Wiehern aus.
»Wer könnte das sein?«, begann Ulfius. Artus war bereits losgerannt, um als Erster am Tor zu sein. »Artus, komm zurück. Er könnte ein Sachse sein!« Merlin bildete den Schluss, begleitet von einem Rudel Hunde auf wackligen Beinen. Inzwischen hatte Artus das Tor erreicht und lief zum Fallgatter, ohne an die eigene Sicherheit zu denken. Der Reiter auf der anderen Seite rief bereits den Männern auf der Mauer zu, die ihn mit Bogen bedrohten. »Ach! Nehmt diese verdammten Dinger weg!«, schrie der Reiter. Er trug die purpurnen und goldenen Farben Uther Pendragons und hielt eine Pergamentrolle mit einem großen roten Wachssiegel in die Höhe. »Seht ihr nicht? Ich habe einen Brief mit dem Siegel des Königs.« »Lass mich sehen«, rief Artus. »Lass mich sehen!« Der Reiter hielt dem Jungen im Torbogen ungeduldig die Pergamentrolle hin, rief aber den Männern über ihm zu: »Dieser Brief verleiht mir die Befehlsgewalt über euch und jeden anderen kampffähigen Krieger in der Burg. Je mehr Ärger ihr mir jetzt bereitet, desto mehr Ärger werdet ihr später mit mir bekommen!« »Es ist das Siegel«, erklärte Artus. »Lasst ihn ein!« Ulfius kam hinzu und bestätigte Artus' Worte. »Es ist das Siegel, aber haltet das Fallgatter geschlossen, bis wir den Brief gelesen haben.« Er streckte die Hand durch die Balken des Fallgatters. Der Krieger gab ihm die Rolle mit einer zornigen Handbewe 72 gung. »Da. Erbrich das Siegel. Lies, was darin steht, wenn du lesen kannst. Und dann lasst dieses Gatter hoch!« Ulfius nahm das Pergament und erbrach das Siegel. Er entrollte das Pergament. Merlin und seine Hunde trafen ein. Der Magier, der Krieger und der Junge lasen die Botschaft: Von König Uther Pendragon, Erbe des Ambrosius, Herrscher von Britannien, Wahrer des Rechts, Beschützer der Briten, Geißel der Sachsen, et cetera. An alle, die in Burg Chertsey und den zugehörigen Ländern leben, insbesondere an alle Krieger, die der Familie Herzog Ectors Untertan oder lehnspflichtig sind. Seid gegrüßt. Euer König steht für euch in hartem Kampf gegen die Plage der Angeln und Sachsen und wird am Ufer des Humber in Barrow schwer bedrängt. Sein Sieg wird dem Land Sicherheit bringen, und seine Niederlage würde heidnische Brandschatzung und Zerstörung bedeuten. Darum befielt der König allen kampffähigen Kriegern, sich zusammenzuschließen und unverzüglich nach Barrow zu marschieren, um dort zu den Verteidigern Britanniens zu stoßen. Jeder, der diesem Aufruf nicht folgt, wird nach dem Ende des Krieges vor den König gebracht, um über seine Abwesenheit Rechenschaft abzulegen. Die Strafe für Ungehorsam wird umfassend sein. Uther von Pendragon, König von Britannien Ulfius ließ das Pergament sinken. Wenn er dem Aufruf Folge leistete, würde er über seine lange Abwesenheit Rechenschaft ablegen müssen, und Artus' Aufenthalt würde bekannt werden. Blieb er aber zurück, würde Uthers Abgesandter berechtigt sein, ihn ein 72 zukerkern, und Artus würde entdeckt. So oder so würde Ulfius den Prinzen nicht schützen können.
Artus ergriff die Botschaft und las langsam und laut jedes Wort, das dort geschrieben stand. In seinem Bemühen wurde er von den betrunkenen Hunden behindert, die ihn mit den Schnauzen anstießen und leckten. »Öffnet das Tor!«, verlangte der Reiter. »Wenn der König fällt, werden wir alle zu Sklaven der Sachsen.« Delirium kroch über Merlins Züge. Seine Augen rollten, die Lippen zuckten unter dem faserigen Schnurrbart. »Öffnet das Tor!«, rief Ulfius den Wachen zu. »Lasst diesen Mann ein. Öffnet das Tor!« Angst ist die schlimmste Leidenschaft — Angst und Furcht. Sie sind traurige Geschöpfe mit Taubenflügeln. Falken beobachten sie, und sie wissen, wie stark der Schnabel des Falken ist und wie schwach der Hals der Taube. Ein weißer Schwärm von Furcht und Angst umkreist mein Bett. Über ihnen sind die Falken, die Walküren. Sie sammeln die Seelen der Toten. Sie beugen sich über gefallene Krieger und heben sie auf und tragen sie fort zu Wotan. Sie kommen mich holen. Ich weiß, wie schwach mein Hals ist. Wotan wird über die Insel brausen, bis ich tot bin und das Götter tötende Schwert sein ist. Sachsen werden in einer blutigen Flutwelle über das Land stürmen. Die Götter der Sachsen werden Himmel und See, Flüsse und Wälder in Besitz nehmen. Sie werden ganz Albion — ganz Britannien den Tod bringen. Auch mir. Merlin wälzte sich auf seinem Strohsack. Er konnte nicht schlafen. Der Taubenschwarm war dicht zwischen ihm und den Deckenbalken. Ihre Daunen erfüllten die Luft und ihm blieb wenig zum Atmen. Ihr trauriges Gurren war wie Regen auf dem Dach. In diesen Stunden des Schreckens waren sie seine einzigen Gefährten. Oder beinahe. 73 Herabsinkende Federn skizzierten ein unfreundliches Gesicht in der dunklen Luft. Aus den leisen Stimmen der Vögel setzte sich eine andere, stärkere Stimme zusammen. »Es ist eine Weile her, seit wir zuletzt sprachen, Merlin. Es ist eine Weile her, seit du so in die Enge getrieben wurdest.« Merlin seufzte traurig. »Loki, alter Freund.« »Alter Freund? Du ehrst mich«, erwiderte Loki. Seine Stimme bebte vom Gurren der Tauben. »Aber wie können wir Freunde sein? Lange hattest du mich vergessen.« »Artus heilt mich«, erklärte Merlin. »Ich erinnere mich besser. Das Kind mit dem Geweih bringt die Schlüssel des Wahnsinns zur Strecke. Es öffnet ein Schloss nach dem anderen.« »Ja. Deine Visionen von Artus bewahrheiten sich. Und auch deine Visionen von Guinevere und Morgan —« »Guinevere und Morgan?«, fragte Merlin in echter Verwunderung. »Auch deine Visionen von Wotan werden eintreffen«, sagte Loki. Angst bebte in den Stimmen der Tauben. »Er wird über dieses Land ziehen. Tod und Chaos werden ihm folgen.« In den schwebenden Federn erschien ein Lächeln. »Ich freue mich darauf.« »Natürlich«, versetzte Merlin missmutig. »Wotan ist dein Gott.« »Ich bin mein eigener Gott!« Zum Geflatter aufgeschreckter Flügel gesellten sich Vogelrufe. Langsam kamen die Tauben zur Ruhe, und mit ihnen Lokis Stimmung. »Aber ich habe Freude am Chaos, und du hast in letzter Zeit wenig dazu getan. Verrücktheit passt viel besser zu dir als diese ... diese blökende Hoffnung.« Ein bitteres Lächeln umspielte die Lippen des Alten. »Der Wahnsinn wird früh genug zurückkehren. Schon höre ich Wotans Schwingen rauschen ...«
»Es gibt zwei Arten von Verrücktheit, Merlin«, sagte Loki in ruhigem Ton. »Die eine ist Wahnsinn, die andere ist Besessenheit, Raserei. Es ist Wahnsinn, hier unter untätigen Tauben zu brüten. 74 Du bist Merlin. Verwandle dich - nicht in eine einfache Taube, nicht in einen Falken oder Adler, sondern in einen Drachen, wie er im Schild der Pendragon gefuhrt wird! Entscheide dich für Raserei. Trage den Kampf zu Wotan, bevor er ihn zu dir bringt.« Merlin seufzte, stieß übel riechenden Atem aus. »Ja.« In plötzlichem Entschluss erhob er sich von seinem Lager. »Ja, Loki, du hast Recht. Wenn der Wahnsinn zurückkehrt, werde ich ihn ergreifen. Ich werde ihn ergreifen, bevor er mich ergreift. Deine Einsicht verändert mich, Loki.« »Hauptsache, du vergiltst es mir mit Chaos -« »Das werde ich tun«, versprach Merlin. Er stieß ein gewaltiges Brüllen aus — ein Geräusch, das eines Drachens würdig war. Die Tauben flatterten ängstlich auf. Ihre klatschenden weißen Flügel füllten die Luft und ihr Gurren wurde zu hellen Schrecklauten. Bald waren alle fort. Nur langsam herabsinkende Flaumfedern blieben zurück — und eine in Umwandlung begriffene Gestalt. Merlins Nachtmütze wuchs zu einem großen, zerknitterten Hut, dessen Krempe wie ein Mantel über seine Schultern hing. Sein leinenes Nachthemd verlängerte sich und nahm eine purpurne Farbe an, zugleich wurde er zu einem wollenen Umhang, der mit zahlreichen Taschen ausgestattet war. In diesen erschienen geheimnisvolle Substanzen - Messbecher mit Blut, Streifen von luftgetrocknetem Fleisch, pulverisierte Knochen, Falkenschädel, Mausgehirne, Giftstacheln ... und alles war beleuchtet von Merlins flammenden Augen. Er bückte sich und zog hinter seinem Lager einen gedrehten Wanderstab hervor, den Artus gefunden und ihm gegeben hatte. Merlin verwandelte ihn. Aus dem Holz sickerte dunkle Flüssigkeit - wie Blut - und färbte das Holz, durchdrang trockene Fasern und erfüllte sie mit Leben. Der knorrige gedrehte Stab streckte und verlängerte sich, piktische Runen schnitten sich in das dunkle Holz, Talismane aus den Federn von Tauben und Falken und Drachenleder bildeten sich und machten sich an dem Stab fest. Winzige Stäubchen roter Macht kreisten um Merlins Kopf. 74 Er nahm den Stab in eine Hand, stieß die Tür auf und ging die Wendeltreppe hinunter. Unten gab es eine weitere Tür, durch deren Ritzen Licht und Geräusche drangen. Merlin riss die Tür auf. Im herzoglichen Zeughaus auf der anderen Seite des Burghofes hatten sich an die zweihundert Krieger versammelt, die dem Aufruf des Königs gefolgt waren. Der weite Raum im Erdgeschoss war von Fackelschein erhellt. Schatten tanzten über die Wände. Die Krieger hatten sich ausgerüstet und waren bereit, bei Tagesanbruch zu marschieren. Die große, eisenbeschlagene Eichentür schlug gegen die Wand zurück. Merlin trat ein. Der Lärm verstummte und die Krieger wandten sich erstaunt dem Neuankömmling zu. Sogar der kleine Artus - der in einem viel zu großen Brustpanzer römischer Art mit angenieteten Lederstreifen und Beinschienen steckte - starrte den alten Mann verwundert an. Die meisten der versammelten Krieger hatten Merlin einfach für einen übergeschnappten alten Phantasten gehalten. Einige wenige hatten seine kleineren Zaubereien gesehen. Nur Ulfius konnte dies vorhergesehen haben.
»Ich gehe euch voraus«, verkündete Merlin feierlich. »Folgt mir, so schnell ihr könnt. Wotan darf nicht siegen. Wotan wird nicht siegen.« Damit verschwand der glutäugige Zauberer, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Als Merlin wieder erschien, geschah es an einem ganz anderen Ort. Es war ein großes und dämmeriges Zelt, nicht von zornigen Fackeln erhellt, sondern vom milden Licht der Talgkerzen. Die anwesenden Männer waren ernst und trugen weiche Gewänder — Priester anstelle von Kriegern. Der Raum war von Luxus geprägt. Weihrauch kräuselte in die Luft und weiche Teppiche bedeckten den Boden. Samtvorhänge trennten Raum von Raum. Gedämpftes Gemurmel bestimmte die Atmosphäre. Die gesenkten Köpfe 75 und Blicke neigten sich alle ernst zum seidenen Vorhang des königlichen Gemaches. Bis der verrückte Zauberer kam. Magische Lichtreflexe sprenkelten sein Gewand. Geisterhafte Wesen krochen über seinen zerknautschten Hut mit den breit herabhängenden Krempen. Leise wie ein Flüstern erschien er in der Mitte der Priester und Würdenträger. Nach einem ersten Augenblick des Erschreckens eilten Wachen herbei und umringten ihn. Merlin hob nur eine Hand — und eine unsichtbare Barriere umgab ihn und hielt die Bewaffneten zurück. »Ich bin Uthers Magier«, erklärte er. »Ich bin gekommen, Wotan zu töten.« Die Wachen waren verblüfft. Die Priester befingerten ihre Kreuze und murmelten Gebete zur Abwehr des Bösen. Merlin machte kehrt und schritt, den Stab in der Hand, in das Gemach König Uthers. Der König lag im Sterben. Er lag auf einem weichen Lager aus Kissen und Decken. Seine kräftige Gestalt war abgezehrt, das Gesicht bleich und hohlwangig, die Augen tief in die Höhlen gesunken. Trotz der Wärme des Sommerabends fröstelte es ihn unter den wollenen Decken. Ein weiterer Priester, dieser in schwarzen Gewändern und mit einer kleinen Kappe aus Hermelinpelz auf dem Kopf, kniete neben der Lagerstatt des Königs. In einer Hand hielt er einen angebrochenen Laib Brot, in der anderen einen Kelch. Bei Merlins Erscheinen blickte er auf und ein Ausdruck zornigen Argwohns geriet in die Augen unter den silbrigen Brauen. »Was hat dies zu bedeuten?« »Ich bin Uthers Zauberer«, sagte Merlin. »Uthers Zauberer?«, echote der Priester. »Wozu sollte ein christlicher König einen heidnischen Teufelsbeschwörer brauchen?« »Merlin!«, unterbrach ihn Uther. Seine Stimme war so schwer gezeichnet wie seine Züge. »Warum bist du gekommen?« »Um Sachsen zu töten. Um Wotan zu töten.« Seine Augen glühten. »Ich bin gekommen, Euch wieder auf den Thron zu helfen.« 75 Der Priester starrte ihn mit offenem Mund an. »Töten Sie Sachsen, wenn Sie wollen, aber für mich kommen Sie zu spät, Merlin«, seufzte der König. »Ich sterbe.« Merlin schritt an das Lager. Wie gebannt starrte er auf den König, als könnte er durch ihn hindurchsehen. »Ihr müsst aufstehen, Uther Pendragon. Ihr müsst König sein.«
Der Priester versuchte Merlin abzuwehren. »Er kann nicht aufstehen. Ich bin eben im Begriff, ihm die letzte Ölung zu verabreichen —« Merlin entriss ihm das Brot und biss kräftig hinein, spülte dann den Bissen mit dem Inhalt des Kelches hinunter. Durch eine breiige Masse von Brot und Wein befahl er mit undeutlicher Stimme: »Steht auf!« »Das ist der Leib und das Blut Christi!«, protestierte der Priester. »Steht auf! Mit Uther fällt die Nation, und Tod überwältigt uns alle. Steht auf!«, befahl Merlin wieder. Er bückte sich und zog Uther die Decken weg, nur um die kraftlos welken Beine des Mannes zu sehen. Der König war kaum mehr als ein Skelett. Die Haut hing wie nasses Papier an ihm. Darunter verzweigte sich ein Netz kalter blauer Adern. Wo einst Energie und gesunde Kraft das Bild bestimmt hatten, befand sich jetzt eine eingefallene Ruine. In seiner ausgezehrten Gestalt sah Merlin das Land. Umgehauene Bäume, verwüstete Felder, niedergebrannte Dörfer, zerfallene Mauern — das Gras kaum imstande, die zerschmetterten Gebeine der Toten zu bedecken. Ein toter König würde ein totes Land bedeuten, eine von Eroberern durchstreifte Einöde, über der die Geister der Erschlagenen in ruheloser Verlassenheit klagten. »Sehen Sie nicht?«, fragte der Priester. »Er kann nicht aufstehen. Er kann seine Männer nicht führen. Er kann nicht kämpfen!« »Sie kommen zu spät, Merlin«, sagte Uther. »Zu spät für mich und für Britannien.« »Tod«, stieß der Magier hervor. »Tod und Tod ...« 76 Uther holte röchelnd Atem. »Lebt mein Sohn?« Die Erwähnung Artus' trieb das flackernde Licht aus Merlins Augen. Er ging um die Lagerstatt und kniete nieder. Sein Gesicht war wie im Fieber errötet. »Artus ist wohlauf. Er ist ein schönes Kind - und klug. Er besitzt Eure Stärke und die Liebenswürdigkeit Eurer Gemahlin. Wenn er am Leben bleibt, wird er ein großer König sein.« »Wenn er am Leben bleibt?«, fragte Uther. »Ist er krank?« In die Augen des Zauberers kam ein abwesender Ausdruck. »Nein. Aber sein Land ist krank. Solltet Ihr jetzt sterben, Uther, wird Euer Sohn niemals König sein. Er wird den Monat nicht überleben.« In die Stille, die diesen Worten folgte, drang von ferne Kampfgetöse. Gebrüll, Klirren von Stahl, Pferdegewieher, Schreie Verwundeter und Sterbender. »Hören Sie das, Merlin?«, fragte der König und hob matt die Hand. »Welcher Irrsinn, im Fackelschein zu kämpfen.« Er ließ ein flüsterndes, hoffnungsloses Lachen hören. »Alles, was zwischen den Eindringlingen und der Nation steht, ist dieses zum Untergang verurteilte Heer und dieser sterbende König und sind Sie, Merlin.« Merlin nickte. Der Messwein des Priesters rann ihm in den weißen Bart. »Ich würde die Nation untergehen lassen - sie ist nichts als der zerlumpte Überrest Roms, das sie von den zerlumpten Überresten Albions stahl, das sie von den zerlumpten Überresten des Thuata De Danann stahl. Ich würde nicht viel dafür geben. Aber wenn wir — wenn Krieger und Könige und Zauberer alles sind, was zwischen dem Tod und Artus steht, dann sage ich, müssen wir stehen und standhaft bleiben.« Der Priester sagte: »Aber er kann nicht —« Merlin winkte zornig ab. »Hinaus mit dir, Pfaffe. Wo sind deine Wunder? Es ist Sache der Heiden, den König zu retten! Hinaus!« Seine Augen flammten wieder auf.
Der Priester verneigte sich vor dem König und zog sich zurück. 77 Merlin ergriff Uthers abgezehrten Arm mit weinfleckiger Hand. »Ich werde eine Tragbahre für Euch auftreiben, Euch für den Kampf kleiden, auf die Bahre legen und hinaustragen lassen, wo die Krieger Euren Mut sehen können, und dass Ihr den Tod nicht fürchtet. Wir können den Tod noch in seinem eigenen Spiel schlagen. Für Artus können wir es.« Uther blickte in die strahlenden Augen des Magiers und sagte: »Gut. Ja.«
14. Zauberei am Humber
Diese verdammten Angeln verstanden nicht zu schlafen. Noch begriffen sie, dass sie nicht gleichzeitig ein Bihänderschwert und eine Fackel schwingen konnten. Ector wusste es besser. Sein sächsisches Langschwert blieb in der Scheide, er hielt ein Kurzschwert in der Rechten und eine Fackel in der Linken. Er wollte die Krieger sehen, mit denen er kämpfte. Es lag etwas Tröstliches in dem Wissen, dass sie auch bloß Menschen waren, und nicht Dämonen der Finsternis. Hoch gewachsene, bärtige Männer mit harten, schmalen Gesichtern. Ector blendete einen Gegner mit geschwungener Fackel und trieb ihm die Klinge unter die lederne Halsberge aufwärts, so dass der Mann fast vom Boden gerissen wurde. Das Gesicht des Angeln kam ihm so nahe, dass er im Fackelschein den roten Regen sehen konnte, der dem anderen aus dem keuchenden Mund sprühte. Ector stieß ihn von sich, und der Mann fiel rücklings über einen angreifenden Kameraden. Ector trat einen Schritt zurück und hielt sich für die nächsten Angreifer bereit. Die Heiden brandeten aus der Dunkelheit der Bachniederung heraus und über den Erdwall der Verteidiger. Kay war dort oben. Er hatte sich freiwillig für den gefährlichs
77
ten Posten auf dem südlichen Verteidigungswall des halb zerstörten Barrow gemeldet. Dort hatten er und seine Abteilung einen Angriff der Sachsen nach dem anderen abgewehrt. Diese kamen mit schweren Langschwertern, die sie im Kampfgetümmel schlecht einsetzen konnten. Zudem waren sie außer Atem, nachdem sie sich in voller Rüstung mit Schwertern und Schilden den Hang heraufgekämpft hatten. Die Verteidiger standen Schulter an Schulter und wiesen die Angriffe bis nach Mitternacht ab. Nun war die vierte Wache angebrochen. Der bucklige Mond verließ sie. Die Fackeln waren heruntergebrannt und flackerten schwächer. Und noch immer griffen die Angeln und Sachsen an. Sie konnten ohne Licht kämpfen, ohne Strategie und ohne eiserne Rüstungen. Ihre Brustpanzer und Schulterspangen waren aus gefüttertem Leder, ihre lederbespannten Schilde aus Holz. Doch sie kämpften mit eisernem Willen und Todesverachtung. Nachdem er zwei Atemzüge lang verschnauft hatte, musste Ec-tor sich des nächsten Angreifers erwehren. Er parierte einen hastig geführten Schwertstreich und durchbohrte den Mann, der fast über ihn fiel, etwas in der Sprache der Angeln schrie und versuchte, Ector ein Ohr abzubeißen. Der Herzog stieß den Mann von sich und in den Schwertstreich eines nachdrängenden Gegners. Dessen herabsausende Klinge spaltete den Angeln beinahe in zwei Teile. In der blutigen Mitte des toten Kriegers begegneten sich Langschwert und Gladius. Ector musste das fest geklemmte Kurzschwert loslassen und rammte dem neuen Angreifer seine Fackel ins Gesicht. Bart und Haare flammten knisternd auf. Der Mann wankte
zurück, Ector drängte nach und stieg über den toten Angeln. Er ließ die Fackel fallen und zog das Langschwert. Die Nacht hüllte ihn ein. Er holte aus und die schwere Klinge durchschlug Lederpanzer und Schulter. Der Mann fiel auf seinen gespaltenen Kameraden. Ector brüllte in Wut und Trotz. Er schwang sein blutiges Langschwert. Seine Augen hatten sich der Dunkelheit angepasst, und von der Höhe des Walles konnte er die Masse des feindlichen 78 Heeres überblicken. Eine endlose schwarze Armee zog von der Flussebene heran und gegen die niedrigen Hügel. Es würde noch mehr Blut fließen, mehr Krieger würden fallen, mehr geisterhafte Erscheinungen dunkler Götter über dem nächtlichen Schlachtfeld, bevor dieses Gemetzel endete. Ector war entschlossen, bis zum Morgen weiterzukämpfen, wenn er so lange überlebte. Wenn Britannien so lange aushielt. Wie konnte es - ohne König oder Gott oder Zauberei? Auf seinen Stab gestützt, mühte sich Merlin neben dem Pferdewagen, auf dem des Königs Bahre lag, auf dem unebenen, von Radspuren zerfurchten Boden dahin. Ein Trupp von Kriegern begleitete sie, nicht nur zur Bewachung des Königs, sondern um die Fackeln hochzuhalten, deren Schein ihn seinen fechtenden Truppen zeigen sollten. Auf dem Weg zur Frontlinie auf dem Wall durchzogen sie zuerst das Feldlager am Rand der eingeschlossenen Ortschaft Barrow. Der Anblick sollte die Männer aufmuntern und ihnen Mut machen — Uther in voller Rüstung, ein Schwert in der Hand, bereit, noch auf dem Krankenbett zu kämpfen. Die Fackeln verliehen der Prozession freilich den ungewollten Anschein eines Trauerzuges. Auf seiner Bahre war der König mehr Schatten als Fleisch. Seine heiseren Rufe und matten Handbewegungen, mit denen er am SchwertgrifF rüttelte, waren das hilflose Gestammel eines senilen Greises. Merlin war nicht hilfreich. Er versuchte einen Schlachtgesang anzustimmen und die Herzen der Krieger durch ihr Einstimmen in Wallung zu bringen, aber die Einzigen, an die er sich erinnerte, waren lateinisch. Ein anderer fühlte sich inspiriert und fing mit einem zotigen Wirtshauslied an. Obwohl es die Stimmung hob, trug es nichts zur Würde des Königs bei. Wo immer die Prozession erschien, lockerten sich Finger an Schwertgriffen, die Erbitterung des Kampfes wich ungläubigem Staunen, und Uther wurde ungewollt vom leidenden König zum törichten Hanswurst gemacht. 78 Zwei Pfeile zischten aus der schwarzen Luft und schlugen zu beiden Seiten von Uthers Kopf in die Tragbahre. »Löscht die Fackeln«, befahl Merlin ärgerlich. Seine Augen brannten. Die Krieger steckten die Fackeln in eine nahe Pfütze. Der Zug kam zum Stillstand. »Es hilft nichts«, sagte Uther verzagt. »Mein Anblick kann meine Leute nur entmutigen und meine Feinde anfeuern.« Merlin blickte von der Anhöhe hinunter. Dort wogte die Schlacht in erbittertem Ringen. Beleuchtet vom Schein vereinzelter Fackeln und einem matten Mond, massakrierten Briten, Sachsen und Angeln einander. Zwölftausend Krieger fochten in dieser Nacht. Sie bedeckten die Hänge der Anhöhe und überfluteten die Wälle der Verteidiger wie ein riesenhaftes, amöbenhaftes Ungeheuer mit ungezählten Beinen - tintig schwarz und gewalttätig und unerbittlich. Die Streitäxte der Germanen schlugen in brutalem Rhythmus auf und nieder. Blinkende Schwerter hieben und stießen, Krieger schrien, die Lebenden stiegen über die Toten. Verwundete verbargen sich unter Leichen oder benutzten sie als
Schilde. Andere knieten über erschlagenen Gegnern, um sie wertvoller Rüstungsteile zu berauben. In der Dunkelheit waren sie alle Ungeheuer. Briten und Sachsen und Angeln, sie alle waren Ungeheuer. Es war keine Zeit, auf Verstärkungen zu warten. Diese Schlacht würde vor Morgengrauen entschieden sein. Merlin schob die purpurnen Ärmel seines Gewandes hoch und sagte: »Der König hat versagt und das Heer hat versagt. Lasst uns sehen, ob der Magier Erfolg haben kann.« Seine Finger tanzten in der dunklen Luft. Aus ihnen sprangen Leuchtspuren zauberischer Macht - blaue Blitze und rotes Feuer. Über den Helmen der Verteidiger brodelten Glutwolken und gingen zischend und knisternd auf die Eindringlinge nieder. Lederne Rüstungen qualmten, Körper verbrannten zu Knochen und Asche. 79 Merlin warf dem König ein Lächeln zu, unsichtbar in der Dunkelheit. »Das ist eine recht hübsche Idee, denke ich —« Seine Bemerkung wurde von einem niedergehenden Schwärm langer Pfeile unterbrochen, die mit dumpfen Geräuschen um ihn und den König in den Boden schlugen. Mehrere Krieger von Uthers Begleitmannschaft wurden getroffen, und der alte Mann schnaubte, als er sah, dass ein Pfeil seinen Fuß durchschlagen und ihn an den Boden geheftet hatte. Er bückte sich, brach den Pfeil ab und zog seinen Fuß aufwärts. »Besser wäre vielleicht etwas, was sich weniger leicht zurückverfolgen lässt.« Aus seinem Gewand brachte er ein Bruchstück von einem Wildschweinhauer zum Vorschein. Er rieb es zwischen den Fingern, sprach geheimnisvolle Worte und grunzte wie ein angriffslustiger Eber. Jede Wirkung schien auszubleiben - bis eine Lichtentladung eine Reihe britischer Krieger illuminierte, die sich in Wildschweine verwandelt hatten. Grunzend und schnaubend stürmten sie in den Kampf. Merlin grollte. Das war nicht die erwünschte Wirkung. Er streckte die Hand aus. Die Waffen der angreifenden Sachsen verwandelten sich in duftende Trüffel. Hungrig fielen die britischen Wildschweine über ihre sächsischen Gegner her, fraßen Schwerter und Streitäxte und Speere. Genießerisches Grunzen und zornige Flüche drangen von diesem Gefechtsabschnitt herauf. Der verrückte Zauberer war nicht zufrieden. Es musste vernichtendere Wirkungen geben. Merlin suchte in den chaotischen Tiefen seines Gedächtnisses wie ein Mann, der einen Sack voll Gerumpel durchwühlt. Die Finger seiner Gedanken fühlten Idole — harte, kalte, zornige, fast vergessene Idole. Unter ihnen gab es einen jungen Mann, der wie die Sonne schien, dessen Bewegungen von göttlicher Eleganz waren und dessen Blick die Zukunft durchdrang. Merlin zog das Bild hervor. Der Zauber entrollte sich wie ein Teppich und traf einen Britenkrieger. Der Mann war hager und 79 blutbeschmiert, narbig und stoppelbärtig. Magische Kraft ergriff ihn wie ein Unwetter. Rüstung und Kleider verschwanden in einem zerreißenden Blitz. Sein Schwert verwandelte sich in einen schlanken Langbogen mit Riesenpfeilen. Nackt inmitten zurückgehender Krieger, wurde er von Licht erfüllt, das seine Gestalt wie Marmor schimmern ließ. Bartstoppeln und Körperbehaarung wurden abgesengt und ließen nur die kurz geschnittenen Locken auf seinem Kopf unversehrt. Muskeln bildeten sich mächtig unter seiner Haut und im nächsten Augenblick schwoll sein ganzes Wesen an. Er wuchs. Vier
Ellen hoch, acht Ellen, zehn, zwölf, fünfzehn - seine Augen warfen Strahlen über das Schlachtfeld und verbrannten Sachsen, die von seinem Blick getroffen wurden. Phoebus Apollo, denn er war es, legte Pfeile auf und ließ sie fliegen. Wo immer sie den Boden trafen, sprühte zischende Energie, blendete und versengte die Krieger im Umkreis. Unerschrockene Sachsen antworteten mit Pfeilschüssen, doch die Pfeile prallten von seinem steinernen Fleisch harmlos ab. Aus seinem Mund kam ein griechischer Schlachtgesang. Die Erscheinung und ihr Wirken erschreckte die Sachsen. Auch die Briten wichen vor ihr zurück. Diese schimmernde Riesengestalt war ihnen unbekannt; Jahrhunderte trennten sie von der Antike und ihren Göttern. Der geisterhafte Bogenschütze war kein ihnen bekannter Gott, sondern eine Zauberei, die ihre Herzen überwand. In abergläubischer Furcht vor dem Übernatürlichen wichen sie zurück. Kay focht gegen zwei angreifende Angeln, als einer ihrer furchtbaren Götter auf dem Schlachtfeld erschien. Nackt und glorreich ragte die schimmernde Gestalt in ihrer Mitte auf. Sie hielt einen Riesenbogen, und die Augen brannten wie Höllenfeuer. »Wir halten!«, rief Kay aus. Sein Schwert biss in den Rand eines lederbezogenen Schildes. Er konnte es nicht herausreißen, und der Schildträger drang auf 80 ihn ein. Die Streitaxt des Angeln sauste wie Thors Donnerschlag herab. Kay scheute zurück, allerdings nicht schnell genug. Die Klinge biss mit furchtbarer Wucht in seinen Schildarm. Der Schulterschutz seines Ringpanzers zerbrach und flog unter dem Schlag davon, die Streitaxt fuhr durch das wattierte Unterfutter und in seinen Arm. Blut strömte. Kay wankte zurück, zog den Schild am schlaffen Arm nach. Der Angel setzte nicht nach. Die Augen unter seinen roten Brauen spiegelten das unheilige Bild des titanischen Bogenschützen. Kay nutzte das Erschrecken des Angeln, um sich davonzumachen. Der Schild entglitt seinen kraftlosen Fingern. Er bekam keine Luft. Und er konnte die zurückgehende Schlachtreihe der Verteidiger nicht erreichen ... Das sächsische Heer schien den Riesen für eine Gestalt ihres eigenen Götterhimmels zu halten und brandete mit erneuerter Energie vorwärts. Die Krieger in ihren dunklen Lederpanzern schwärmten um ihren Gott, bereit, den weichenden Gegner zu überrennen. Wie konnten die Briten standhalten? Wie konnten sie diesem heidnischen Kriegsgott widerstehen? Was vermochte der blutende Nazarener gegen Armeen von Männern mit Schwertern und Streitäxten und Lanzen? Sollten sie sich aufopfern, zu Märtyrern werden? Die Sachsen retten, indem sie ihr eigenes Blut vergossen? Verzweiflung und Schwäche überkamen Kay. Mit wankenden Knien floh er zurück zum niedergebrannten Barrow und den ermatteten Kriegern Britanniens. Merlin erkletterte den Bauernwagen, auf dem der sterbende König von Britannien lag. Bestürzt überblickte er die wilde Flucht, die er verursacht hatte. Obwohl der riesenhafte Phoebus Apollo Angeln und Sachsen zu Dutzenden erschlug, fochten die Barbaren weiter, als wären sie göttliche Gesellschaft gewohnt. Die Briten waren es, die die Flucht ergriffen. In ihren Hirnen gab es kein göttliches Wesen au 80 ßer Christus oder Satan, und dieses war mit Sicherheit nicht Christus. »Es wirkt nicht«, rief er in die Nacht hinaus. »Es wirkt nicht!«
Er stieg zwischen den Kissen, die den sterbenden König vor Stößen des Wagens schützen sollten, vom Fuhrwerk. Ohne es zu wissen, stieß er ein Kissen über Uthers Gesicht. Als er den Boden erreichte und sich umwandte, sah er einen scheinbar kopflosen König. »Wie haben Sie —? Wer hat —?«, rief Merlin, die Hände an die Schläfen gepresst. »Alles ist verloren! Der König ist tot!« »Noch nicht«, drang eine gedämpfte Stimme schwach unter dem Kissen hervor. »Aber bald genug.« Merlin stürzte hin und zog das Kissen weg. Sein Fransensaum war in das hoch geklappte Helmvisier des Königs geraten, und so wurde Uthers Helm seitwärts gezogen. Es kam zu einem vorübergehenden Tauziehen zwischen den Händen des Magiers und dem Hals des Königs. Endlich gaben die Hände nach. Merlin legte das Kissen beiseite, öffnete das heruntergefallene Visier und starrte in traurige, eingesunkene Augen. »Noch nicht tot«, sagte Uther, »aber bald.« Merlin betrachtete die bleiche Stirn, das welke, abgemagerte Gesicht, sah in die Augen, in denen keine Hoffnung war. »Sie brauchen keine Zauberei«, sagte er. »Sie brauchen nicht in Schweine und Götter verwandelt zu werden. Sie brauchen ihren König.« »Ihr König ist tot«, sagte Uther. »Ich werde mich nie mehr von diesem Lager erheben —« Merlin aber wusste bereits, was zu tun wäre. Er zog sich vom König zurück, reckte die Hände zum Himmel, und Macht strömte in seine Fingerspitzen. Von jedem der Sterne über ihm sickerten Strahlen von Quintessenz herab. Die spinnwebfeinen Lichtfäden drehten sich in Merlins Händen zusammen. Ein magisches Gewebe bildete sich, stark und weich wie Samt. Das Gewand von Licht wirbelte in der Luft und sank auf den liegenden König herab. Die Illumination durchdrang Panzer 81 und Stoff, und seine Gestalt streckte sich und leuchtete. Magische Energie überflutete sie, bis sein ganzes Wesen von ihr nachgezeichnet war. Dann sprang ein Mann aus Licht vom Mann aus Fleisch auf. Vor dem liegenden König stand sein leuchtendes Ebenbild, in die Luft projiziert. Dies war keine sechzehn Ellen hohe Marmorgestalt, sondern eine hundert Ellen hohe Lichtgestalt kein nackter Gott, sondern ein sterblicher König in Kriegerrüstung. Und auf dem Überwurf zeigte sich das unverkennbare Wappenbild des Pendragon. König Uther. Die geisterhafte Gestalt wirkte um so beeindruckender, als ein seltsamer, fransenbesetzter Gegenstand bedrohlich von seinem hoch geklappten Visier hing. Uther blickte zu dem gewaltigen Ebenbild auf, das an die Titanen mythischer Vergangenheit gemahnte. Er staunte. Seine zitternde Hand ging zu den Fransen, die sich in seinem Helm verfangen hatten, und er bemühte sich, das Kissen frei zu bekommen. Gleichzeitig hob der leuchtende Titan die Hand, um das Kissen wegzureißen. »Ja, das ist es: König Uther!«, murmelte Merlin befriedigt. »Wenn er sich bewegt, bewegt sich auch sein Ebenbild. Marschiert es, so wird er marschieren.« Uther und sein leuchtender Doppelgänger zogen das Kissen vom Helmvisier und warfen es beiseite. Das leuchtende Kissen segelte auf die Sachsen nieder und drückte viele unter seinem Gewicht zu Boden. Der König lachte. Der geisterhafte Riese lachte. Der König machte Gehbewegungen mit den Beinen. Der Koloss schritt auf die brandende See der Invasoren zu. Sie hielten inne, ungewiss, ob dieses Lichtwesen ihnen Schaden zufügen konnte oder nicht.
Der titanische Uther marschierte in ihre Mitte. Seine Füße traten auf zottige Köpfe und zermalmten sie wie Trauben im Becken eines Winzers. Der furchtbare Anblick löste Schreckensschreie aus. Die Sachsen drängten zurück, um nicht auch unter die Füße des Riesen zu geraten. 82 Ein vielstimmiges Aufstöhnen ging durch die Reihen der Angreifer. Es war, als breche eine eisige Flutwelle über sie hin. Kampfeslust kühlte ab, siedender Zorn erkaltete. Die Kampfmoral brach zusammen. Beim nächsten, von einem Donnerschlag begleiteten Schritt des leuchtenden Titanen wendeten sich die stolzen Krieger zur Flucht in die Dunkelheit, zurück zu ihren Schiffen und den nebligen Marschen ihrer Heimat. Kay war auf seinem Rückzug dreimal gefallen. Alles war verloren. Jetzt gab es einen weiteren Riesen. Gott hatte Britannien verlassen. Jemand fasste Kay bei der Schulter und hielt ihn an. Kay fuhr herum und stieß mit dem Kurzschwert nach dem Bauch des Kriegers. Eine sächsische Klinge schlug die Waffe beiseite, und der Krieger grollte in seltsam vertrauter Stimme: »Junge! Du verwechselst deinen Freund mit einem Feind!« »Vater!«, keuchte Kay. Er stieß sein blutiges Schwert in die Scheide, ließ den Schild fallen und verzog das Gesicht in Schmerzen. »Titanen ... Sie haben vom Festland Titanen mitgebracht.« Er zeigte mit dem gesunden Arm hinter sich. »Wie sollten wir gegen Götter kämpfen?« Ector lachte. Es war ein ermutigendes Geräusch. »Nein. Schau dir den Riesen genauer an er ist unser König, Uther! Auf seinem Überwurf zeigt er das Wappen des Pendragon!« Ector bückte sich, hob den Schild seines Sohnes auf und nahm Kays Verwundung in Augenschein. »Geh zurück ins Feldlager und lass dich dort verbinden. Ich muss weiter. Unser König will, dass wir die Eindringlinge zu ihren Schiffen zurücktreiben.« Von neuem Mut beseelt, richtete Kay sich auf. Er tat zwei kräftigende Atemzüge und grinste. »Dann gehe ich mit dir!« »Gut«, sagte Ector. »Lass uns gemeinsam den Gegenstoß an 82 führen.« Er reckte sein Schwert in die Höhe und rief den zurückweichenden oder zögernden Kriegern zu: »Vorwärts, für unseren König!« Seite an Seite nahmen sie die Verfolgung der zurückgehenden Sachsen auf. Hinter ihnen erhob sich vielstimmiges Kampfgeschrei. Die belagerten und bedrängten Krieger Britanniens sammelten sich zum Angriff.
15. Der Tod des Pendragon
Knapp nördlich von Peterborough sichteten Ulfius und seine Abteilung ein großes Heer am Horizont. Es näherte sich auf der von York nach London führenden Landstraße und musste Tausende von Kriegern stark sein. Helme glänzten im Sonnenschein, Banner malten schwarze Rechtecke in den hellen Himmel, die schimmernden Spitzen und Zacken von Stangenwaffen tanzten im Schrittmaß der Träger auf und nieder. Entlang den Flanken des Fußvolks ritten zwei Kolonnen Berittener. Das ganze Heer zog wie eine Riesenschlange in einer meilenlangen Staubfahne südwärts.
»Die Frage ist, ob sie Freund oder Feind sind«, sagte Ulfius zu Artus, der neben ihm ein Pony ritt. »Sind es unsere Krieger, die siegreich von Barrow zurückkehren? Oder sind es Angeln, die südwärts ziehen, uns zu vernichten? Das Problem ist, dass wir es erst wissen werden, wenn sie so nahe heran sind, dass ein sicherer Rückzug schwierig wird.« »Was macht es schon?«, fragte Artus mutig. Er schwang einen Stecken, als wäre es ein Schwert. »Wir werden ihnen so oder so begegnen. Wenn sie unsere Leute sind, werden wir den Sieg feiern. Sind sie unsere Feinde, so werden wir ihnen eine Niederlage beibringen.« »Nicht wenn es zweihundert gegen zweitausend steht«, sagte 83 Ulfius. Er spähte angestrengt in die Ferne. »Artus, wende dein Pony und reite zu der Baumgruppe dort —« »Seht!«, rief ein vorgeschobener Posten zurück, »Purpur und Gold - die Farben des Pendragon!« Ulfius beschirmte die Augen mit einer Hand und sagte: »Ja! Sie ziehen unter dem Banner Uthers. Dein Vat - dein König ist dort. Reite zu der Baumgruppe und warte auf mein Zeichen.« Er erhob sich in den Steigbügeln, winkte die Truppe vorwärts und setzte sich an die Spitze. Das Pferd trabte an und ging in einen Galopp über, dichtauf gefolgt von der Abteilung. Mit sieben Jahren war Artus bereits ein tüchtiger Reiter. Er gab seinem Pony die Fersen und trieb es an, bis es mit Ulfius' Schlachtross gleichauf lag. Die Abteilung wirbelte eine mächtige Staubwolke von der überwachsenen Römerstraße auf. Die Baumgruppe, bei der Artus warten sollte, lag schon querab und etwas zurück. Ulfius blickte hinüber und dann zu dem Jungen an seiner Seite. »Was tust du hier?«, rief er ihm zu. Artus blickte unbekümmert zu ihm auf. »Ich halte Schritt!« »Du solltest auf mein Zeichen warten!« Artus zeigte nach vorn. »Ich glaube, die warten auch auf dein Zeichen.« Die Heereskolonne vor ihnen hatte Halt gemacht und breitete sich in Erwartung eines Angriffs nach beiden Seiten aus. Die flankierende Reiterei schloss sich zusammen, übernahm die Spitze und galoppierte mit eingelegten Lanzen die Straße heran. Ulfius hob eine Hand und zügelte sein Pferd. Die zweihundert Reiter hinter ihm folgten seinem Beispiel, gerieten aber in Unordnung, weil die Reiter im hinteren Teil der Kolonne das Handzeichen im wirbelnden Staub nicht gesehen hatten und auf den vorderen Teil aufritten. Pferde wieherten, Reiter brüllten, viele Reittiere bäumten sich auf. Die Luft über der Abteilung war voll von Staub und schlagenden Hufen. Unterdessen machte Ulfius an der Spitze des Durcheinanders hastig die Handzeichen für 83 Verhandlungen. Die Lanzenreiter galoppierten unbeeindruckt näher. Ihre eingelegten Stangenwaffen blitzten unheilvoll im Sonnenlicht. Ulfius stand in den Steigbügeln und winkte mit beiden Händen über dem Kopf, um die Signale für alle sichtbar zu wiederholen. Die angreifende Reiterei machte keine Anstalten, ihre Attacke zu brechen. Ulfius befahl seiner Abteilung den Rückzug und wiederholte gleichzeitig das Zeichen für Verhandlungen. Niemand reagierte. Die Reiter aus Chertsey waren so in Staub gehüllt, dass sie kaum etwas sehen, geschweige denn im Hufgetrappel hören konnten - und die Reiterei Uthers ließ nicht vom Angriff ab. Das Gemetzel schien unvermeidlich.
»Vater!«, rief Artus mit heller Stimme. Er stand auf dem Sattel seines Ponys und winkte mit beiden Händen. »Hierher, Vater!« Der Krieger an der Spitze der Reiterei, ein Bär von einem Mann, hob plötzlich die Lanze, stieß das Helmvisier hoch und richtete sich im Sattel auf. Er winkte die anderen ab. Lanzen erhoben sich in die Luft, Pferdehufe schlugen Funken aus dem römischen Pflaster, als des Königs Reiterei nach und nach zum Stillstand kam. Kurz darauf lösten sich die Spitzenreiter aus der entstandenen Staubwolke und ritten langsam auf Ulfius und Artus zu. Sie banden ihre Helme los und nahmen sie ab, schüttelten die verschwitzten Haare — schwarze und blonde. »Vater! Bruder!«, rief Artus und winkte ihnen zu. Ulfius schnaufte erleichtert auf. Auch er lockerte seinen Helm und der Schweiß rann ihm von Stirn und Schläfen ins Gesicht. Er beugte sich über die Mähne seines Pferdes und atmete einige Male tief durch. Herzog Ector kam heran und ritt vor der durcheinander geratenen Abteilung auf und ab. »Was hat das zu bedeuten?«, bellte er. Ulfius richtete sich im Sattel auf, um eine geziemende Verbeu 84 gung zu machen. »Vergeben Sie uns, edler Ector. Wir waren so froh, als wir sahen, dass wir die Streitmacht des Königs vor uns hatten, dass ich vergaß, das Hornsignal zu geben —« »Nein«, unterbrach Ector, »ich meine, warum ist Artus bei Ihnen? Welchen Grund haben Sie, ein Kind in den Kampf zu fuhren?« Ulfius zog die Stirn in Falten. Tatsächlich hatte er nicht vorgehabt, Artus in einen Kampf zu fuhren. Der Junge war bei ihm, damit Ulfius ihn von Kämpfen fern halten konnte. In unsicheren Zeiten wie diesen war für Artus der Rücken eines schnellen Pferdes der sicherste Ort. Gleichwohl konnte er Ector nichts davon sagen. Statt einer Antwort lächelte Ulfius einfältig und zuckte die Achseln. »Bloß eine Fehleinschätzung.« Er beeilte sich, hinzuzufügen: »Aber das ist vor dem Hintergrund, dass Uther siegreich ist, jetzt unwichtig -« »Britannien ist siegreich«, antwortete Herzog Ector mit steinerner Miene, »doch unser König liegt todkrank auf einer Bahre. Er führte uns in Barrow zum Sieg, aber auf Kosten von Gesundheit und Leben. Er wird alle Mühe haben, London lebendig zu erreichen.« Das düstere Kopfschütteln deutete den Rest der Geschichte an. Ulfius entschied auf der Stelle sein weiteres Vorgehen. »Ich muss ihn sehen. Ich war einst sein Kammerherr. Es gibt Dinge, von denen er wissen muss.« Ulfius warf Artus einen schnellen Seitenblick zu. »Er wird nicht Aufenthalt nehmen«, sagte Ector. »Er ist entschlossen, nach London zu gehen.« »Herzog Ector«, sagte Ulfius, »Sie führen jetzt des Königs Reiterei, woraus ich schließe, dass Sie sich in Barrow bewährt haben. Sagen Sie dem König, Sie würden ihm gern Ihren Sohn Artus vorstellen. Wenn Sie ihm das sagen, wird er seine Reise unterbrechen.« Der finstere Krieger blickte von Ulfius zu Artus - und eine freundliche Gemütsbewegung hellte seine Miene auf. »Ich werde 84 es ihm sagen. Wenn er seine Reise unterbricht, können Sie ihn sehen. Sie und Artus.« In seinem hastig errichteten Pavillonzelt lag der König im Bett. Die Samtvorhänge waren noch ein wenig faltig und staubig, einige Kordeln der Zeltverspannung hingen schlaff,
andere waren übermäßig gespannt. Draußen wurden mit Schlegeln noch Holzpflöcke eingeschlagen. »Er ist hier«, sagte Ulfius mit gedämpfter Stimme zu Artus. Er wies auf den geschlossenen Samtvorhang zwischen den Wachtposten am Eingang zum Königsgemach. »Er erwartet uns.« Artus nickte feierlich. Der Junge war von den übergroßen Rüstungsteilen und der staubigen Reisekleidung befreit worden. Ulfius hatte ihn gewaschen und einen sauberen Kittel sowie einen Überwurf mit dem Wappen des Pendragon für ihn aufgetrieben. Der Kittel reichte dem Jungen bis zu den Knöcheln, und der Überwurf erinnerte an das Messgewand eines Priesters, so dass die Gesamtwirkung unvollkommen war. Dennoch schien Artus die absolute Bedeutung dieses Augenblicks zu verstehen. Er war im Begriff, einen sterbenden König zu sprechen und hatte auch ohne Ulfius' Zutun das Gefühl einer schicksalhaften Begegnung. So verzichtete er auf sein kindisches Gekicher und sogar auf seine Prahlerei und stellte eine ernste, aufmerksame und verständige Miene zur Schau. »Ich bin bereit«, sagte er und trat durch den Vorhang. Ulfius blickte zu Ector, der staubig und zerzaust vom langen Ritt mit ihnen gekommen war. Der Herzog hatte nicht daran gedacht, sich zu säubern, hatte aber den Helm abgenommen und fuhr sich mit schmutzigen Fingern durch das schweißverklebte Haar. Obwohl er ohne Zögern für Uther in den Kampf gegangen war, schien Ector jetzt zu zaudern, als hätte er Bedenken, das Zelt des Königs zu betreten. »Sie gehen zuerst.« Ulfius nickte und trat hinein. Ector holte tief Luft und folgte ihm. Im Inneren war es kühl 85 und dämmerig, obwohl das Zelt in heller Nachmittagssonne lag, deren Wärme durch die Zeltleinwand drang. Im Dämmerlicht an der Rückseite des Gemaches lag ein mit Kissen überhäufter Strohsack. Daneben stand eine gebeugte Gestalt in formlosen Gewändern. »Sei gegrüßt, Großvater«, sagte Artus. »Sei gegrüßt, Artus«, erwiderte Merlin. Er lächelte zärtlich, und Brotkrumen lösten sich aus seinem Schnurrbart. Er wandte sich der stillen Gestalt auf dem Strohsack zu und sagte mit leiser Stimme: »Hier ist er, Sire, der Junge, von dem wir gesprochen haben. Ihr habt ihn nie zuvor gesehen, aber ich denke, Ihr werdet ihn erkennen.« Artus trat näher. Seine Schritte blieben auf den ausgelegten Teppichen lautlos. Schultern und Haar schimmerten golden im diffusen Licht unter dem Zeltdach. Uther versuchte den Kopf zu heben und das Kind zu sehen. Er konnte nur einen flüchtigen Blick gewinnen, bevor er in die Kissen zurücksank. Sein Atem kam in kurzen, röchelnden Stößen, als hätte er gerade einen Steilhang erstiegen. Artus kniete zu Füßen des Königs nieder, wie Ulfius es ihm eingeschärft hatte, und sagte mit dünner Stimme: »Majestät.« Uther machte eine matte Handbewegung zu dem Jungen. »Steh auf und komm näher, damit ich dich sehen kann.« Als Artus aufstand und mit Merlin zur Seite des Lagers trat, erreichten Ulfius und Ector das Fußende und knieten nieder. Artus stand da und blickte auf einen welken, abgemagerten Mann nieder, der König von Britannien war. Unbefangen betrachtete der Junge die Sorgenfalten im Gesicht des Mannes, die Runzeln um Augen und Mund, die steile Falte zwischen den Augenbrauen.
Artus' Aufmerksamkeit war so ungeteilt, dass er die Geschichte der Nation zu lesen schien, die in Runen in Uthers Gesicht gegraben war. Der König seinerseits musterte prüfend den Jungen. Artus' noch kindliches Gesicht war unberührt von Jahren, nicht ein 86 Wort war darauf geschrieben. Stattdessen suchte Uther die Linien der Zukunft in diesen hellen, blaugrauen Augen aufzuspüren. »Sag mir, dass du ein guter Sohn bist.« »Oh, das ist er, Sire«, sagte Ector eifrig vom Fußende des Lagers. »Er wird ein zweiter Kay sein, wenn er heranwächst. Er ist klug und gehorsam und mutig -« »Ich frage ihn«, unterbrach ihn der König. Er nahm Artus' Hand. »Sag mir, Artus, dass du ein guter Sohn bist.« Artus nickte gehorsam. »Das bin ich, Majestät.« Das Licht eines frohen Lächelns eroberte die eingefallenen Augen des Königs. Die zerklüftete Wildnis seiner Züge schien einen Augenblick in Gefahr, in Rührung zu zerfließen. »Sag mir, dass du ein treuherziger Brite bist. Sag mir, dass du für unser Land und unser Volk gegen die Angeln und Sachsen kämpfen wirst.« »Oh, das werde ich tun, Sire«, versprach Artus. »Darum reite ich mit Ulfius nach Norden, um gegen die Sachsen zu kämpfen.« »Er ist voll Eifer, Sire«, warf Ector nervös ein, »wird aber zuerst in den Kriegerstand mit dem Recht auf Waffen und Pferd erhoben, bevor er in den Kampf zieht.« Der König ließ die Bemerkung unbeachtet und sagte in beinahe zärtlichem Ton: »Deine Mutter wird sehr stolz auf dich sein.« »Das ist sie schon«, sagte Artus ohne eine Spur von Prahlerei. »Und dein Vater«, ergänzte Uther. »Auch er ist stolz auf dich.« »Und mein Großvater«, sagte Artus. »Ich habe eine sehr gute Familie.« Die Tränen, die sich in Uthers Augen gesammelt hatten, quollen endlich über die Lider. Sie brachten Bewegung in die starren Falten seines Gesichts. Sein hinfälliger Körper erschauerte, und seine Hand umklammerte Artus' Hand umso fester - als suche er Halt an ihr. Der Junge schrak nicht zurück, versuchte auch nicht, seine Hand zurückzuziehen. Sein junges Gesicht zeigte Konzentration und Entschlossenheit. Augenblicke später war der Anfall vergan 86 gen und der König lag entkräftet und blass. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Ector räusperte sich unbehaglich. »Artus, wir sollten gehen und dem König seine Ruhe lassen. Wir haben ihn genug angestrengt —« »Ich habe auch einen Sohn«, murmelte Uther. »Er ist gerade in deinem Alter.« »Ich würde ihn gern kennen lernen, Sire«, sagte Artus. »Er ist ein guter Sohn, ein guter und treuherziger Brite. Er wird gegen die Angeln und Sachsen kämpfen, wenn ich nicht mehr bin. Er wird für unser Land kämpfen. Er wird große Schlachten schlagen, die meinen Sieg vor zwei Tagen gering erscheinen lassen werden. Er wird die Niederlage wettmachen, die ich heute erleide.« »Ich würde ihn sehr gern kennen lernen, Sire.« Uther schüttelte traurig den Kopf. »Ach, das kannst du nicht.« Er holte angestrengt Atem. »Am Tag seiner Geburt übergab ich diesen Sohn von mir zu treuen Händen meinem Hofmagier, damit er fern von den schädlichen Einflüssen des Hofes aufgezogen werde.
Seit damals ist er im Haus eines großen edlen Kriegers aufgewachsen und glaubt, er sei das Kind dieses Mannes.« Der König blickte zum Fuß seines Lagers, wo Ector kniete. Der Herzog starrte in weit entfernte Räume, und sein Mund öffnete sich langsam. »Und das Geheimnis ist jetzt wichtiger denn je. Bis mein Sohn alt genug ist, um Anspruch auf meinen Thron zu erheben, darf er anderwärts nicht bekannt sein, da er sonst von Kleinkönigen, die nach der Krone Britanniens greifen, getötet werden könnte.« Artus schaute traurig drein. »Trotzdem sollte er hier sein, wenn Ihr so krank seid. Er sollte hier sein und Euch pflegen und helfen, dass Ihr wieder gesund werdet.« Der König lächelte und tätschelte unbeholfen Artus' Hand. »Es ist ein schöner Gedanke, mein Kind, aber ich werde nicht mehr gesund. Ich fürchte, dass dieses Gespräch mit dir mein Letztes sein wird.« 87 Wie von diesen düsteren Worten ausgelöst, schüttelte ein Hustenanfall den König. Er keuchte hilflos in die Kissen seines Sterbebettes. Der Druck seiner Finger auf Artus' Hand wurde mit jeder krampfhaften Erschütterung schwächer. Der Junge hielt neben dem Sterbenden aus. Der heftige Anfall ätzte neue Worte in Uthers Gesicht - in tausend barbarischen Dialekten schrieben sie den Namen Tod. Als es vorbei war, erschlaffte Uther in den Kissen. Seine Haut war wächsern und fleckig von kaltem Schweiß. Flüssigkeit gurgelte in seinen Lungen. »Sire!«, sagte Ector und stand hastig auf. Er rang die Hände, und seine Gesichtsfarbe sah nicht besser aus als die des Königs. »Euer Sohn - er wird in guter Obhut sein. Ich verbürge mich dafür.« Artus blickte verwirrt zwischen seinem Vater und dem König hin und her. »Vater weiß, wo Euer Sohn wohnt, Sire?« Mit einer Stimme, die sich anhörte, als käme sie durch Schichten von in Wachs getränkten Leichentüchern, sagte Uther: »Ich glaube es.« Ein plötzlicher Entschluss festigte Artus' Züge. »Dann wird er mich zu ihm bringen.« Die letzten Worte, die Uther Pendragon in seinem Leben sprechen sollte, waren: »Ich glaube, das wird er eines Tages tun.«
16. Artus' erster Kampf
Drei Jahre nach König Uthers Tod kauerte Merlin mit Artus in den römischen Ruinen nahe Chertsey. Sie waren zum Zweck einer Geschichtslektion hierher gekommen. Schüler und Lehrer waren in einem alten Keller gewesen und hatten zwischen zerbrochenen Amphoren herum gesucht, als die Bewaffneten kamen. 87 Es waren schwarz gekleidete Anhänger von Andraeus, des selbst ernannten Herrschers der Mittleren Mark. Andraeus war einer von hundert Kleinkönigen, die ihre Privatarmeen benutzten, um das Land auszuplündern. Da er behauptete, Anwärter auf den Thron des römischen Kaisers zu sein, hatte der junge Rebell verständliches Interesse an diesen und allen anderen römischen Ruinen im Herzen des Landes. Der zehnjährige Artus ging in Deckung. Er spähte über die Fundamentmauer hinaus und rümpfte die Nase über die siebzig oder achtzig Krieger. »Schau sie nur an, die abgerissenen, schmutzigen Ratten. Sie bilden sich ein, sie könnten in meines Vaters Herzogtum eindringen. Sie denken, sie könnten meine Ruinen in Besitz nehmen.« Merlin zog ihn nieder. »Wenn sie dich sehen, werden sie dir auch den Kopf wegnehmen.«
Doch Artus ließ sich nur kurz herunterziehen, bevor er wieder den Wuschelkopf hob, um seine Feinde zu beobachten. »Ach, Großvater, wir können es mit diesen Hohlköpfen aufnehmen.« Damit hatte er nicht ganz Unrecht. Seit seiner Audienz beim sterbenden König hatte Artus sich pflichtbewusst seinen Studien gewidmet. Ector, Kay, Ulfius und Merlin hatten seine Erziehung und Ausbildung eifrig gefördert. Das Ergebnis war ein gewandter, körperlich gestählter Zehnjähriger, der es im Fechten mit jedem Vierzehnjährigen aufnehmen konnte. Auch war Artus in Geschichte, Mathematik, Latein, Alchemie und militärischer Strategie besser ausgebildet als die meisten Adligen, von denen viele nicht einmal schreiben und lesen konnten. Fügte man dem Merlins Zauberkraft hinzu, so hätten die beiden es mit einer viel größeren Abteilung als dieser aufnehmen können. Doch der alte Magier wünschte seine Macht — und die Wahrheit über seinen Enkel — vor der Außenwelt geheim zu halten. Sogar Artus wusste noch nicht, dass er ein königlicher Prinz war. »Ja«, erwiderte Merlin, »unsere Schädel sind mindestens so hohl wie ihre.« Er hoffte, der Sarkasmus werde ausreichen, um die 88 Aufmerksamkeit des Jungen abzulenken. »Lass uns einen Weg hier heraus finden, um deinen Vater zu warnen.« »Ich weiß einen Weg«, erklärte Artus und sprang aus der Deckung. Er hob einen großen Stein und schleuderte ihn von der Höhe des überwachsenen Trümmerhaufens in die Mitte der Bande. Der Steinbrocken traf Andraeus in die Magengrube und nahm ihm den Atem. Während er zurückwankte, ergriffen magische Finger den Steinbrocken. Angetrieben von Fühlern aus purpurnem Feuer, sprang der Brocken von einem Körper zum nächsten, prallte mit vermehrter Wucht von vier anderen ab, die zu Boden geworfen wurden, bevor er liegen blieb. »Verschwindet von hier, ihr lausigen Schweinetreiber!«, rief Artus ihnen zu, die Hände in die Hüften gestemmt. Obwohl sein Stein vier Krieger zu Boden geworfen hatte, die sich nun fluchend aufrappelten, gab es noch mehr als siebzig andere. Unter verschrammten schwarzen Lederhauben und Brustpanzern von gleicher Art, zeigten sie sich selbstbewusst und nicht im Mindesten eingeschüchtert. Andraeus stand in ihrer Mitte. Seine Haut war bleich wie Knochen unter einem unordentlichen Schopf schwarzen Haares. »Ich werd dich lehren, du kleiner Giftzwerg!« Er zog sein Kurzschwert und begann gegen den Jungen vorzugehen. Auch in der Schar seiner Anhänger zischte überall Stahl aus ledernen Scheiden, und die Krieger folgten ihrem Herrscher. Artus hob ein zerbrochenes Stück von einem Gesims auf und schwang es über dem Kopf. Die Briganten lachten. Sie hatten zwanzig Schritte des gepflasterten Platzes hinter sich gebracht und die Hälfte des Weges zu Artus zurückgelegt, bevor Merlin sich gleich einem gerupften Phoenix aus der Deckung erhob. Graue Gewänder hingen von seiner gebeugten, hageren Gestalt. Aus den dunklen Falten seiner Kapuze schwelten die Augen. Ein offener Gürtel aus goldgelber Kordel hing hinter ihm herab. Sein jähes Auftauchen brachte die Räuber zum Stehen. Ein un 88 behagliches Seufzen und Murmeln ging durch ihren ungeordneten Haufen. Merlin erstieg die Trümmer und nahm neben dem Jungen Aufstellung. Seine Gewänder wogten um ihn und seine Augen glommen unter der Kapuze hervor in die Nachmittagssonne.
Andraeus bemühte sich, seine höhnische Arroganz aufrecht zu erhalten, aber seine papierene Gesichtsfarbe schien einen Stich ins Grüne zu bekommen. »Und wer bist du, dass du dich dem Herrscher der Mittleren Mark entgegenstellst?« »Artus«, rief der Junge trotzig, »Sohn des Herzogs Ector von Chertsey —« »Nicht du«, unterbrach ihn Andraeus. Er stieß mit dem Schwert in Merlins Richtung. »Du bist gemeint, Alter.« »Er ist der uralte Zauberer Merlin. Er hat die Welt in allen vier Himmelsrichtungen begangen, neben Odysseus und Caesar gekämpft, mit einem Götter tötenden Schwert Wotan zurückgeschlagen, aus Ambrosius und Uther Könige gemacht und Britannien vor Eindringlingen aus Angeln und Sachsen gerettet«, prahlte Artus, der den Gesimsbrocken noch immer in die Höhe hielt. »Er hat seit Hunderten von Jahren gelebt und wird noch Hunderte von Jahren leben. Das ist der Mann, der es wagt, sich Euch entgegenzustellen.« »Merlin? Wo habe ich von diesem Merlin gehört?« Zweifel stahlen sich in Andraeus' Blick, doch er zog seinen unbekümmerten Mut wie einen Umhang um sich. »Ach ja. Uther hatte dich. Und Ambrosius. Und nun dieses kleine Schnattermaul. Immer der Königsmacher, aber niemals der König, wie, Merlin? Du bist wie der Jagdhund, der Beute aufstöbert, aber auf seinen Herrn wartet, dass der sie erlegt. Also hält dieses Kind heutzutage deine Leine, Merlin?« Andraeus trat vor. »Vielleicht könnte ich sie halten. Vielleicht hast du die Weisheit, einen wahren Herrscher zu erkennen, wenn du ihn siehst.« Bevor Merlin antworten konnte, schleuderte Artus seinen Steinbrocken. Er flog auf Andraeus Kopf zu, wäre aber wegen seines Gewichts zu kurz gefallen - doch Merlin half mit einem Zau 89 ber nach. Magische Finger fingen den Gesimsbrocken auf und hielten ihn über den Kopf des Briganten. Funkelnde Machtpartikel wimmelten über dem unregelmäßigen Steinbrocken und hielten ihn außer Reichweite. Andraeus sprang hoch, um ihn herunterzuholen. Er schlug mit dem Schwert danach. Aber der Steinbrocken wich anmutig aus, nur um zurückzukehren und wieder über dem Mann zu schweben. »Du bist kein Herrscher und kein König«, sagte Artus. »Merlin weiß, wer der Sohn Uthers ist. Er wartet, bis der Prinz volljährig wird. Dann wird Merlin -« »Genug!«, unterbrach ihn der Zauberer. »Macht euch davon, ihr Briganten. Ihr seid keine Krieger. Du bist kein Herrscher.« Andraeus hörte auf, mit dem Schwert nach dem Gesimsbrocken zu schlagen und starrte in plötzlichem Begreifen zu Merlin und Artus. »Ein Königsmacher und ein adliger Junge ... ich sehe. Aber es fordert mehr als das Blut Uthers, um einen wahren König zu machen.« Damit reckte er sein Schwert in die Höhe und rief: »Vorwärts!« Merlin streckte einen Arm aus und hob Artus auf. Der andere Arm zeigte steif nach unten. Unsichtbare Energie entströmte den ausgestreckten Fingern. Merlin und Artus erhoben sich in die Luft. Unter ihnen blieben Andraeus und seine Männer stehen und gafften hinauf. Ein paar von ihnen übersprangen den überwachsenen Schutthaufen und stolperten überstürzt die schuttbedeckte Kellertreppe hinunter, um zwischen den zerbrochenen Amphoren zu landen. Merlins Zauber schuf Kraftlinien, die den übrigen Kriegern Kleider und Lederpanzer zerrissen und sie zu Boden schlugen. Der Zauberer segelte hoch über ihnen. Artus wählte diesen Augenblick, um zwei weitere Steine fallen zu lassen. Sie fielen in die Säule wirbelnder Magie, zogen leuchtende Schleier
um sich und stürzten hinab, wo sie auf lederbehelmte Köpfe prallten. Jeder der beiden Steine sprang von einem zum anderen und warf nicht we 90 nige von jenen zu Boden, die nach der ersten Energieentladung auf den Beinen geblieben waren. Die Truppe des Herrschers der Mittleren Mark schrumpfte zu einer Versammlung zorniger schwarzer Ameisen. »Hurra, Großvater«, rief Artus begeistert. »Wir haben es ihnen gezeigt. Sie werden nicht mehr in Chertsey herumstolzieren.« Wind pfiff durch Merlins weiße Augenbrauen und ließ sein langes Haar flattern. »Ich furchte, du täuschst dich«, erwiderte er. »Sie wissen jetzt, wer ich bin.« Artus winkte ab und spuckte hinunter in die wirbelnde Magie. Zu seinem Vergnügen sah er die Spucke in Hunderte von winzigen Tropfen auseinander spritzen, die auf die Räuberbande niedergingen. »Sie wissen nicht, wer du bist. Wir wissen ja nicht einmal, wer du bist«. »Sie wissen, wer du bist«, sagte Merlin. »Ja, sie wissen, dass ich Ectors Sohn bin, und werden uns nicht zu nahe kommen.« »Nein. Sie wissen mehr über dich als das, und sie werden kommen und dich suchen. Wir können nicht erlauben, dass sie mit diesem Wissen von hier fortgehen. Unsere Arbeit ist noch nicht beendet.« Artus' Gesicht wurde ernst, als er zu den geplagten Feinden unter ihnen hinabspähte. »Ich finde, es ist nicht anständig, sie zu töten, Großvater.« »Oh, wir werden sie nicht töten«, sagte Merlin. Er hob die Hand zum Himmel und machte eine weitere Geste. Die geheimnisvolle Macht, die seinen Fingerspitzen entströmte, veränderte sich, bildete Schleier und wirbelte zu einem feinen Netz. Dieses weit aufgeblähte Netz aus magischer Macht füllte sich mit Luft und ließ sie langsam abwärts sinken. »Aber wir müssen sie überzeugen, dass sie uns nicht kennen, nicht wirklich.« Unten rotteten sich die von der Magie schwer mitgenommenen Krieger erneut zusammen. Andraeus rief Befehle, die im wirbelnden Wind verwehten, doch die Wut in seiner Stimme war nicht 90 zu überhören. Er gestikulierte zu dem herabsinkenden Paar herauf und schickte seine Krieger über die Ruinenstätte aus, um die beiden einzuschließen. Artus beobachtete alles mit heiterer Neugier. Er vertraute seinem Großvater unbegrenzt. Dieses tödliche Geschäft war ihm nicht mehr als ein Spiel. »Ich glaube, es kommt darauf an, lange genug am Leben zu bleiben, damit sie es sich anders überlegen.« »Du hast den Kern der Sache erfasst, Kind«, sagte Merlin freundlich. »Hast du Bogenschützen unter ihnen gesehen?« »Nein.« »Richtig. Bogenschützen wären ein Zeichen von Weitblick gewesen. Ich werde einen sicheren Platz schaffen, von dem alles Weitere in die Wege geleitet werden kann.« Sie segelten auf ein erhöhtes Tempelfundament zu, auf dem die Säulentrommeln des eingestürzten Tempels wirr durcheinander lagen. Da er beide Hände voll hatte, visierte Merlin einige der Säulentrommeln, deren Lage noch erkennen ließ, dass sie einmal zusammengehört hatten, über die Nase an. Leuchtende Energie badete den kannelierten Kalkstein der Säulentrommeln. Sie rollten träge in Stellung. Die erste und größte Trommel richtete sich schwerfällig auf, wurde magisch emporgehoben und auf den Sockel gesetzt,
auf dem sie in alten Zeiten gestanden hatte. Die nächste Säulentrommel rollte heran, hob sich und fand ihren Platz auf der Ersten. So ging es auch mit der Dritten und Vierten, bis ein korinthisches Kapitell die wieder errichtete Säule krönte. Zuletzt fügte sich aus Bruchstücken, die in den Trümmern des Tempels verstreut lagen, eine längst verlorene und vergessene Statue zusammen. Die Bruchstücke formten Beine eines Tieres, einen edlen Rumpf und einen Pferdekopf. Das Tier bäumte sich auf, und unter seinen Vorderhufen kauerte ein geducktes Untier, das niedergeritten wurde. Es gab auch einen Reiter, dessen Bruchstücke umherlagen, aber Merlins Magie hörte auf, bevor auch der Reiter wieder erstehen konnte. »Schließlich müssen wir irgendwo sitzen«, bemerkte Merlin. 91 Die beiden landeten nicht allzu anmutig rittlings auf dem steigenden Pferd und ergriffen seine marmornen Zügel, als ob sie Leder wären. Merlin ließ die freie Hand über dem Kopfkreisen und zerstreute die Schwebemagie, die sie in der Luft gehalten hatten. Er krümmte und streckte die schmerzenden Finger. »Du wirst schwer, Artus.« Der Junge spannte seinen Bizeps. »Muskeln sind schwerer als Fett.« Nicht lange, und Andraeus versammelte seine Truppe auf dem Forum vor der Tempelruine. Von drei Seiten kamen sie lärmend zusammen. Eisenbeschlagene Stiefel klirrten auf dem alten römischen Pflaster. Sie erreichten die Säulenbasis und schlugen mit den flachen Schwertklingen gegen den Kalkstein. »Kommt herunter, ihr Tauben, ihr Graugänse!«, rief Andraeus. »Kommt herunter und kämpft wie Männer.« Als die letzten Krieger auf den Platz des Forums hasteten, erhob sich Merlin auf dem steigenden Pferd zu voller Größe. Er hob eine Hand. Um sie her vereinigte sich magische Energie. Sie knisterte und spuckte wie ein Rad von Blitzentladungen. Die blauen Entladungen knisterten von Finger zu Finger, verstärkten sich und bildeten feine Verästelungen, die auf die Krieger niederstießen, ihre Stirnen berührten und ihnen das Haar zausten. »Beeindruckend«, bemerkte Artus altklug. »Sogar für dich, Großvater.« »Mehr für die da unten«, sagte Merlin. »Wenn es unter ihnen welche gibt, die sich mit Recht auf römische Abkunft berufen können, werden sie wissen, als wer ich hier erscheine.« Artus spähte an der schadhaften Mähne der Pferdestatue vorbei in die Tiefe. Die schwarze Menge der Krieger am Fuß der Säule wich zurück. Durch das Dröhnen und Knistern der Blitzentladungen konnte Artus ihre überraschten und verwirrten Ausrufe hören. »Es ist der Himmelsgott, Jupiter Belenus!«, rief einer. »Er herrscht über die Ruinen!« 91 »Wenn der Himmelsgott sich gegen Andraeus stellt, wie kann dieser Herrscher sein?« Andraeus meldete sich zu Wort. »Er ist kein Gott. Er ist ein Geisterbeschwörer. Er hat euch behext. Schaut nicht zu ihm auf; er verwirrt nur eure Gedanken!« Doch als er es sagte, blickte Andraeus selbst zu der Vision auf. Sein Magen verkrampfte sich. Er verlor den Rückhalt an seinen Leuten, und ohne sie musste sein Griff nach der Königsmacht scheitern. Und alles wegen eines alten Scharlatans und eines vorlauten Jungen. Umherblickend, erspähte Andraeus seine Rettung, einen starken Dachbalken - den Firstbalken eines eingestürzten Hauses. »Hier! Hier! Wenn Jupiter Belenus überhaupt hier
ist, dann in diesem Balken. Er hat ihn uns als Rammbock gegeben, um die Säule und den falschen Gott auf ihr zu stürzen. Packt mit an! Zieht ihn heraus! Hebt ihn gemeinsam!« Von oben beobachtete Merlin, wie starke Trupps sich von der Hauptmacht lösten und daran machten, den Balken freizubekommen. Wie Reihen von Ameisen zogen sie ihn aus den Trümmern und wuchteten ihn auf ihre Schultern. »Niemand hat noch Respekt vor den alten Göttern!«, sagte Merlin kläglich. »Nicht einmal falsche Herrscher. Nun, dann werde ich noch überzeugender sein müssen.« Er streckte die flache Hand aus, und die Entladungen magischer Energie formierten sich zu einer großen Glocke über den versammelten Kriegern. Tausend Blitzschläge gingen um die Außengrenze des abgedeckten Raumes nieder und fuhren krachend in den Boden. Wo sie trafen, schmolz Sand zu Glas, Staub flog auf und Steinplatten zersprangen. Die schwarz gekleideten Krieger, in der Mitte dieses Kreises eingeschlossen, verzagten. Viele blickten auf der Suche nach einem Ausweg in Panik umher. Die Träger des Rammbalkens hielten ein und schnüffelten die metallische Luft. »Er kann uns nach Belieben töten!« 92 »Warum hat er es dann nicht getan?« »Mehr fauler Zauber«, sagte Andraeus. »Mehr Illusion. Er hat keine wahre Macht, nur Hokuspokus und Täuschung! Stürzt die Säule!« Er und seine Krieger stürmten mit dem Rammbalken auf die Säule zu. Es gab einen dumpfen Aufprall. Kalksteinsplitter der Kannelierung spritzten davon. Die Säule schwankte. Mit Triumphgebrüll gingen die Krieger zum nächsten Rammstoß zurück. Zum ersten Mal sah Artus ängstlich aus. »Hast du keinen Zauber mehr, Großvater?« »Der Letzte ist noch nicht beendet«, antwortete Merlin. Aus allen rauchenden Löchern, die seine Blitze in den Boden geschlagen hatten, erhoben sich gespenstische Gestalten. Geister schwebten durch die Reste des zerstörten Tempels, wogten draußen über dem alten Forum. Von allen Seiten begannen sie Andraeus und seine Truppe einzuschließen. »Er gebietet über die Geister der Toten!« »Er ist wahrhaft Jupiter Belenus.« »Wie sonst könnte er neben Caesar gekämpft haben?« »Nein!«, rief Andraeus. Seine Männer ließen den Rammbalken los und er entglitt seinen Fingern. »Lasst euch nicht täuschen. Es sind bloß Trugbilder, mehr Lügen -« Die Geister antworteten mit einem unirdischen Heulen und Stöhnen. Es war genug. Die schwarzen Krieger der Mittleren Mark stoben auseinander und ergriffen die Flucht. Innerhalb von Augenblicken war der Platz vor den Tempelruinen leergefegt. Nur Andraeus hielt aus. Dann aber, nach einem letzten Blick zum oberen Ende der Säule, machte auch er mit einem Fluch kehrt und folgte im Laufschritt seinen Leuten. Artus lächelte erleichtert und befriedigt. »Ich wusste nicht, dass du Geister beschwören kannst«, sagte er. »Ich kann es nicht«, erwiderte Merlin. »Andraeus hatte Recht. Alles waren bloß Trugbilder und Täuschung.« 92
17. In den heiligen Teich
Drei Reiter auf kräftigen iberischen Pferden, ausgestattet mit leichtem Zaumzeug, Satteltaschen und Steigbügeln, zogen durch die Mittlere Mark. Artus, voller Neugier und jugendlicher Entdeckerfreude, ritt in der Mitte. Merlin flankierte ihn und plauderte zum gleichförmigen Rhythmus der Hufschläge. Auf der anderen Seite hielt Ulfius mit den beiden Schritt. Vor vierzehn Jahren hatten Ulfius und Merlin einen jeweils sehr verschiedenen Ritt mit Artus' Vater unternommen. Nun war Ut-her tot und Britannien hatte keinen König. Prinz Artus wusste noch immer nicht, dass er für den Thron bestimmt war, und er würde auf Jahre hinaus noch nicht bereit sein, das Land zu regieren. Damals hatten die Geister Dumnonias sie verfolgt; heute hatten die Geister Gestalt angenommen. Banditen, Strauchdiebe und Raubgrafen machten das Tal der Themse unsicher. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Prinzen so weit von der festen Burg Chertsey zu entfernen. Ulfius runzelte die Brauen und biss grimmig die Zähne zusammen. Die Reise war seine eigene Idee gewesen. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du die westlichen Landesteile kennen lernst«, hatte er eines Morgens beim Frühstück zu Artus gesagt. »Es war das Land König Uthers, ein wichtiger Teil Britanniens. Viel von unserer Geschichte hat sich dort abgespielt, viele Ereignisse, die für das Schicksal des Königreiches bestimmend waren. Ich habe von deinem Vater Erlaubnis bekommen, eine ausgedehnte Rundreise daraus zu machen ...« Artus hatte seinen heißen Pfefferminztee in sich hineingegossen, gefräßig den Rest seines Hirsebreis verschlungen, ein paar Stücke Speck nachgeschoben und war aufgestanden. Mit vollem Mund - unglücklicherweise hatte er seine Essgewohnheiten von Merlin übernommen - sagte er: »Ich kann in einer Stunde reisefertig sein.« »Warte, warte«, hatte Ulfius abgewehrt. »So etwas will geplant 93 sein. Ich werde Behältnisse für die Heilpflanzen vorbereiten, die wir unterwegs sammeln können — viele sind nützlich für Umschläge und Arzneien. Dann werde ich eine Route ausarbeiten, die uns zu historischen Schauplätzen führen wird - Befestigungen und Schlachtfeldern -« »Schlachtfeldern!«, hatte Artus sich begeistert. Und er war durch die Halle zu den Waffen gegangen, die über dem offenen Kamin angebracht waren. Dort begann er an einer verschrammten Lanze zu ziehen, die Ector in den Kämpfen um Barrow getragen hatte. »Nun setz dich wieder hin und lass dir Zeit mit dem Frühstück«, hatte Ulfius gesagt. »Ich werde meinen neuen Reiseumhang tragen«, hatte Merlin eingeworfen. »Dies wird eine Gelegenheit sein, Neues zu sehen und zu lernen -« »Abenteuer!« »Spaß!« Und das war das gewesen. Seit drei Tagen ritten sie durch das sommerliche Land und kampierten unter den Sternen. Ulfius hatte Artus jede Blume unter die Nase gehalten, die er finden konnte, hatte ihm Arzneipflanzen, Gewürze und Gifte gezeigt und erklärt. Den ganzen Abend hindurch hatte er sich abgemüht, Artus von der Wichtigkeit zu überzeugen, die Namen und Positionen von Sternen zu kennen, um bei Dunkelheit die Orientierung zu bewahren. Merlin war bei diesen Bemühungen keine Hilfe gewesen. Für jede Pflanze, die Ulfius erkannte, hatte Merlin irgendeine traurige und sinnlose Geschichte wie die von einem Liebespaar, das in Maulbeeren verwandelt worden war. Und für jedes Sternbild, das Ulfius dem Jungen gezeigt hatte, hatte Merlin mit einem erfundenen Drama von weinenden Jungfrauen und wachsamen Jägern aufgewartet.
Die ganze Zeit war Artus nur noch mehr durch Ideen und 94 Phantasien von Abenteuer, Mut, Heldentum und reiterlichem Können angesteckt worden. Er hatte die gefährliche Gewohnheit angenommen, nahe an Hecken und Walddickichten entlangzureiten, um mit seinem hölzernen Schwert auf die Sträucher zu schlagen, im Galopp über jede Brücke zu stürmen, die sich bot, und im Namen von Chertsey Besitz von ihr zu ergreifen, Schafherden zu ermahnen, sie sollten standhaft sein und für Britannien kämpfend In einem Land voller Wegelagerer und Gefahren konnten sich solch leichtfertige Beschäftigungen als tödlich erweisen. Heute, spürte Ulfius, würden all diese magischen Spinnereien und jugendlichen Phantasien sich verhängnisvoll zuspitzen. »Seht! Ein tobender Wasserfall! Ein Katarakt stürzt in einen Teich, der noch heimtückischer ist als Charybdis!«, verkündete Artus. Er zeigte voraus zu einem rasch fließenden Bach, der sich tief in einen Wiesenhang eingeschnitten hatte. Der Bachlauf überwand mit einem ansehnlichen Wasserfall eine Felsstufe. Am oberen Ende war der Bach ungefähr eine Lanzenlänge breit, der Wasserfall eine Lanzenlänge hoch. Das hinabstürzende Wasser hatte ein tiefes Becken ausgehöhlt, wo die Wasser aufgewühlt schäumten und feine Gischt wie Nebeltröpfchen versprühte. Nach diesen Turbulenzen strömte das abfließende Wasser aus dem Teich geruhsamer zwischen erlenbestandenen Ufern zum Tal hinaus. »Lass dein Pferd hinüberspringen, Großvater! Ich fordere dich heraus!« »Das kann nicht gut gehen«, murmelte Ulfius. Merlin zügelte sein Pferd neben dem Bach. Das Wasser strömte gurgelnd dem Wasserfall entgegen. Unten lagen schwärzliche Schatten zwischen moosigen Steinen. Der Teich selbst war weiß von schäumender Gischt. »Für mich ist es ein verwunschener, entrückter Ort.« »Verwunschen? Pah!«, sagte Ulfius. »Wie kannst du es erkennen?«, fragte Artus. »Solche Orte besitzen eine Frische«, sagte Merlin versonnen. »Sie sind lebendig. Voll von Energie.« 94 »Wusstest du«, warf Ulfius ein, »dass Süßwassermuscheln Wasser filtern? Eine durchschnittliche Muschel kann pro Tag eine halbe Amphore Wasser filtern. Ein Bach wie dieser, so klar und frisch, muss Muschelbänke aufweisen.« Artus blickte von einem zum anderen. In Merlins Augen wogten helle Geistergestalten in hypnotischem Tanz. In Ulfius' Augen sogen kleine Mollusken Wasser ein und stießen es durch groteske Organellen wieder aus. Artus schüttelte den Kopf. »Ich sagte, du sollst mit deinem Pferd hinüberspringen!« »Ich bin ein Freund der Feen und Geister, die an solchen Orten wohnen«, sagte Merlin, als hätte er den Jungen nicht gehört. »Wir werden bachaufwärts eine Furt finden müssen«, sagte Ulfius. »Vielleicht finden wir Gumpen mit Süßwasserkrebse -« »Ich sagte —« fing Artus an, dann gab er es auf, wendete sein Pferd und galoppierte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Ulfius sah dem Jungen nach. Entlang der Fährte, die sein Pferd durch das kniehohe Gras legte, stäubten Wolken von Pollen auf. »Du würdest gut daran tun, ihm dann und wann
etwas Reales beizubringen — etwas, das er brauchen kann, wenn er ohne Proviant ist und Nahrung nötig hat, oder wenn er verletzt ist und einen Verband braucht.« Auch Merlin beobachtete den jungen Prinzen. Artus erreichte eine Baumgruppe, die etwa hundert Schritte höher am sanft geneigten Hand stand, wendete wieder und trieb sein Pferd im Galopp die Wiese hinunter und auf den Bach zu. »Du würdest gut daran tun, ihm dann und wann etwas Unwirkliches beizubringen, Ulfius. Ein Mann, der zum König geboren ist, braucht sich nicht um Verbände und Flusskrebse zu sorgen. Er muss etwas über Könige und Götter erfahren, ihre Fehler und Irrtümer erkennen und lernen, sie zu vermeiden.« »Er will den Bach überspringen!«, rief Ulfius. »Er hat nicht das Pferd dafür«, meinte Merlin und schnalzte missbilligend, als Artus rasch näher kam. »Aber er hat den Willen!« Ulfius wendete sein Reittier, um 95 Artus den Weg zum Bach zu versperren. Er richtete sich in den Steigbügeln auf und rief: »Artus, lass diesen Unsinn!« Merlin stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken und ritt dem Jungen entgegen, um ihn vom Ufer abzudrängen. Artus lachte nur. Er trieb sein Pferd zu noch schnellerem Lauf. Merlin war zu langsam. Artus jagte an ihm vorbei. Das glänzende Fell des Braunen leuchtete in der Mittagssonne. In einem Sturm von Sehnen, Muskeln und Hufen galoppierte das Pferd mit dem Jungen weiter auf Ulfius zu. Dessen Pferd schnaubte nervös. Ulfius zog die Zügel an, um das Tier an Ort und Stelle zu halten. So versperrte er Artus unnachgiebig den Anlauf zum Überspringen des Baches. Artus hatte keine Wahl. Er bog bachabwärts, sein Pferd sprang — und verspätet erkannte Artus, dass er und sein Pferd zu weit abgekommen waren, das jenseitige Ufer verfehlten und über den Wasserfall hinausflogen. Einen Augenblick hing der junge Prinz über dem schäumenden Wasser des Auffangbeckens. Sein Brauner hing prachtvoll unter ihm. Dann stürzten Pferd und Reiter hinab in das gischtende Wasser. Der Pferdebauch prallte mit lautem Klatschen auf die Oberfläche und ging unter. Einen Augenblick saß Artus trocken inmitten zweier nach außen schwappenden Wellen, hervorgerufen durch die Verdrängung des Pferdekörpers. Dann schlug das Wasser über ihm zusammen, und Pferd und Reiter waren beide verschwunden. Hoch aufspritzende Gischt fiel in sich zusammen. »Artus!«, rief Ulfius verzweifelt. »Artus!« Merlin galoppierte heran, so schnell, dass er bereit schien, selbst über den Wasserfall hinabzuspringen, doch erkannte sein Pferd rechtzeitig die Gefahr und kam am Rand der Felsstufe zum Stehen. »Artus!« Die beiden Männer starrten hinab in den Teich. Inmitten weißer Schaumblasen und blauschwarzer Tiefen war nichts von ihm zu entdecken - kein blondes Haar, kein Zipfel seiner Kleidung.
95
Dennoch, etwas bewegte sich unter der unruhigen Oberfläche. Etwas Dunkles und Glattes. »Eine Wasserschlange, vielleicht«, sagte Merlin und stieg ab.
»Nein, Artus' Brauner!«, erwiderte Ulfius und zeigte hinab. Das Pferd tauchte empor, schwamm und bekam das schlammige Ufer des Teiches unter die Hufe. Es zog sich heraus. Sattel und Satteltaschen verströmten Wassergüsse. Der Reiter war nirgends zu sehen. »Könnte doch eine Schlange gewesen sein«, sagte Merlin. Er watete in den Bach oberhalb des Wasserfalls. Ulfius zog ein Seil aus seiner Packtasche. »Hier. Wirf ihm das hinunter.« Ohne auf das Seil zu warten, hielt Merlin sich mit zwei Fingern die Nase zu, watete bis zum glatten, schlüpfrigen Rand über dem Wasserfall und sprang. So riesig Pferd und Reiter in dem Augenblick auch ausgesehen hatten, als sie über die Felsstufe hinaussprangen, Merlin schien jetzt noch größer. Sein Umhang blähte sich im Wind, und unter dem weit geöffneten Umhang wirkten Merlins altes Gesicht und der weiße Bart und der hagere Körper klein und dünn. Dann verschwand alles im gischtenden Wasser. Ulfius stand in den Steigbügeln und sah die Gewänder des Magiers unter der Oberfläche wogen, als wäre dort ein grauer Krake aus der Tiefe gekommen. Dann war auch von ihm nichts mehr zu sehen. Ulfius' Pferd stampfte ungeduldig unter ihm. Er tätschelte ihm den Hals und beruhigte es. »Artus kann schwimmen. Wahrscheinlich will er uns nur einen Streich spielen. Oder er hat am Grund einen Schatz gefunden. Es wäre sein Glück, in den Teich unter den Wasserfall zu tauchen und einen Ort zu finden, wo die alten Kelten Weihegeschenke von Waffen und Schmuck und dergleichen darbrachten.« Das Pferd wieherte zweifelnd und starrte zum Wasser hinab. »Und selbst wenn er nicht schwimmen könnte, würde das Wasser ihn empor und zum Abfluss tragen, so dass er bald wieder 96 Boden unter den Füßen hätte«, murmelte er ohne rechte Überzeugung. Merlin hatte dies einen verwunschenen Ort genannt. Dieser Teich musste ein vertikaler Durchgang von der wahren Welt zu der Anderwelt der Geister sein. So unmöglich und unchristlich solch ein Glaube war, er schien Ulfius bald die einzige Erklärung für die lange Abwesenheit der beiden unter der Wasseroberfläche. Fluchend in seiner Angst um Artus und Merlin, und in Erbitterung über sein eigenes Pech, saß Ulfius ab, watete platschend hinaus zum Rand des Wasserfalls und sprang mit dem Kopf voran seinen Freunden nach. Im Augenblick vor dem Eintauchen bot sich seinen Augen ein besonders schöner Anblick, und ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er gern in diesem Zustand verweilen würde. Dann prallte er in das dunkle, blasige und kalte Wasser, das rauschend an seinen Ohren vorbeiströmte. Es war ein verwunschener Ort. Er fühlte es im vorbeiströmenden Wasser. Es war lebendig, wie Merlin gesagt hatte, voll von Energie. Blasen umschwärmten ihn. Sie prickelten in kleinen, seltsam hellen Tönen an seiner Haut. Und statt ihm Auftrieb zu verleihen, zog die Wasserströmung ihn tiefer hinab. Helle Blasen flohen nach oben, Wasserkobolde, die der Kälte unten entflohen. Andere Wesen umgaben ihn jetzt, schwarz und seidig, anmutig und schroff zugleich. Sie schlugen ihn, als er tiefer sank. Strömungen ergriffen Arme und Beine wie ungeduldige Hände und trugen ihn abwärts, dann, als seine Lunge zu platzen drohte und er zu verzweifeln begann, dass er jemals wieder frische Luft würde atmen können, stieß er auf zwei andere Körper. »Ah, da bist du ja«, sagte Merlin rätselhaft durch das schwarze Wasser hindurch. »Jetzt können wir uns aufmachen.«
Ulfius wollte antworten, doch heißer Atem strömte aus und kaltes Wasser ein. Es machte nichts. Dunkle Kreaturen umdrängten Ulfius. Er klammerte sich an sie, als sie aufstiegen. In wenigen Augenblicken holten sie die Wolke aufsteigender Blasen ein. Ge 97 tragen von der Macht der Wassergeister, glitten Ulfius, Merlin und Artus aufwärts, durchbrachen die Wasseroberfläche und wurden hinauskatapultiert wie springende Fische, um im Ufergras zu landen. Dort klammerten sich Artus und Ulfius in den Boden, spien Wasser und schnappten nach Luft. Merlin kam als Erster auf die Beine und blies Wasserstrahlen aus der Nase. Er streckte die Arme seitwärts aus und betrachtete niedergeschlagen seinen Umhang. »Er ist eingegangen. Wird nie wieder richtig passen.« Ulfius hatte mit sich selbst zu tun. Als er nach einer guten Weile wieder zu Atem gekommen war und die Kraft hatte, wälzte er sich herum und blinzelte in den Teich. Von ihren Rettern war nichts zu sehen, nur unruhiges Wasser und Schaum, der sich so rasch auflöste wie er sich im Wasserfall gebildet hatte. »Was waren das für Dinger?« »Das waren Taschen!«, jammerte Merlin. »Und Innenschlaufen zum Durchstecken der Arme!« Ulfius nieste. »Nein, ich meine, was waren das für Dinger, die uns retteten?« Merlin blickte zerstreut auf. »Ach, die. Du würdest sie Wassergeister nennen. Seevolk. Seehundgeister. Nicht allzu häufig in Süßwasser, aber wir hatten Glück, dass sie hier waren. Und ein Glück, dass sie keine Najaden waren. Najaden ertränken gern Menschen.« Ulfius schüttelte benommen den Kopf. Sobald Artus alles Wasser ausgehustet hatte und zur Ruhe gekommen war, lächelte er. Dann schrie er plötzlich »Juhu«, wälzte sich auf den Rücken und stieß die Füße in die Luft. »Ha, welch ein Abenteuer! Großvater Merlin, du hast solche Freunde!« Darauf schaute Merlin ein wenig verdrießlich drein. »Nun, sagen wir lieber, Bekannte. Sie retteten uns, ja, unter der Bedingung, dass wir einen kleinen Umweg machen.« »Umweg?«, sagte Ulfius aufgebracht. »Umweg? Dieser alberne 97 Streich hat uns einen halben Tag gekostet. Was wollen sie von uns? Wohin sollen wir gehen?« »Nicht weit. Zu einer alten Freundin von mir, Brigid, Herrin des Sees, ich möchte, dass wir ihr einen Besuch abstatten.« »Herrin von welchem See?«, fragte Ulfius. »Avalon.« Es war ein Glück für die drei durchnässten und schmutzigen Reisenden, dass die Stadt Frome nur einen halben Tagesritt entfernt lag. In nassen Kleidern und auf nervös scheuenden Pferden wäre es ein unerfreulicher Ritt geworden, doch die aufregende Erfahrung ihrer Rettung durch die Wassergeister im verwunschenen Teich entschädigte sie dafür. Merlin hatte darauf bestanden, dass der Teich in unmittelbarer Verbindung mit einem unterirdischen Bereich stehe, wo die Thuata De Danann herrschen, frühere Könige von Eire und dem westlichen Britannien. Artus, der immer begierig war, die Geschichten seines Großvaters zu hören, hatte ihn so lange gedrängt, bis er die Geschichte erzählt hatte. Ulfius hatte sich verpflichtet gefühlt, einige Male einzuwerfen, wie unmöglich all dieser
Unsinn sei, und fuhr mit seinen Einwänden fort, bis Artus geltend gemacht hatte, dass sie schließlich durch die Unmöglichkeit der Hilfe von Wassergeistern vor dem Ertrinken gerettet wurden. Das hatte Ulfius zum Schweigen gebracht. Die kleine ländliche Gemeinde Frome lag in einem flachen Tal der weiten Ebene von Sherborne. Die Lage war lieblich. Strohgedeckte Hütten waren umgeben von Feldern und Wiesen, alte Bäume breiteten ihre Aste schützend über die ärmlichen Behausungen der Menschen. Zwei Stadttore zeigten eine flüchtige Bekanntschaft mit römischer Architektur, während halbkugelförmige Rundhäuser aus geschichteten Schieferplatten von den uralten Baugewohnheiten der Kelten zeugten. Am angenehmsten aber war, dass es in der Mitte der Ortschaft eine zweistöckige Herberge gab. Dank ihrer Lage an der Landstraße von London nach Cadbury 98 stellte die Herberge mit Gastwirtschaft das Gewinn bringendste Unternehmen im Ort dar. Das Haus war aus roten Ziegeln und Balken aus den Wäldern im Westen in Fachwerktechnik erbaut. Es hatte ein Schieferdach, wie es sich sonst nur Adelshäuser leisten konnten, vier Giebel und sechs Kamine, die ihm seinen Namen gegeben hatten. Die Sechs Kamine hatten ein Zimmer frei und nahmen Silber von jeder Prägung. Und der Stallknecht hielt mehrere Bullenbeißer als Wächter in unsicheren Zeiten. Die Sicherheit, die diese Hunde boten, erhöhte jede andere Annehmlichkeit. Nachdem die Pferde in die Stallung gebracht, gebürstet, getränkt und gefuttert worden waren, und nachdem sie ihr Gepäck und die Kleider zum Trocknen aufgehängt hatten, gönnten sich die drei müden Reisenden den größten Luxus von allem: ein großes, mit Fliesen ausgelegtes Dampfbad. »Die Römer sind nicht die Einzigen, die zu baden verstehen«, sagte der fette Gastwirt, als die Männer einer nach dem anderen in das warme Wasserbecken stiegen. »Ich habe sogar eine archimedische Schraube, gegossen aus einem einzigen Stück Keramik, mit deren Hilfe ich den Kessel fülle, der das Wasser erhitzt. Zum gleichen Zweck baue ich eine erhöhte Regenwasserzisterne.« »Sehr gut«, erwiderte Merlin beiläufig. Er wedelte auffordernd mit der Hand zum Eingang. »Sehr gut. Danke.« Der fast kahlköpfige Gastwirt schien verärgert, bis er in seiner Hand ein paar Silbermünzen entdeckte, als wären sie durch Zauberei dorthin gekommen. Er verbeugte sich und verließ den kleinen, von Dampf erfüllten Raum. Merlin ächzte wohlig, als Wärme seine alten Gelenke durchdrang. Der Dampf zog ihm durch das wirre weiße Haar. »Ahhh, ich vermisse die Römer wirklich.« Ulfius ließ sich bis zum Hals in das viereckige Becken ihm gegenüber sinken. Sein Rücken ruhte an den Fliesen. »Ja, ich auch.« »Wusstest du, dass sie nicht zu Haus kochten?«, fragte Merlin. »Sie fürchteten das Feuer, also aßen sie auswärts, jedenfalls die Patrizier. Sie hatten ein Sprichwort: >Wenn der Tag dich gut behandelt 98 hat, bestell zwei Glaser Wein, eins für dich und eins für die Menschheit. Warte lange genug, und die Menschheit wird sich neben dir niedersetzen^« Auch Artus saß im warmen Wasser, die dritte Generation in dieser Dreieinigkeit. Der vom Wasser aufsteigende Dampf waberte geisterhaft vor seinen Augen. »Wie bist du der Herrin der Nebel begegnet, Großvater?« Merlin seufzte. Er holte tief Atem und lächelte. »Es war vor mehr als hundert Jahren —«
»Mehr als hundert Jahren!«, murmelte Ulfius. »Still«, sagte Artus. »Ich möchte es hören.« »Ich war auf der Flucht vor Wotan und seinen Horden. Sie kamen in Drachenschiffen wie denen bei Barrow am Humber. Sie wollten mich erschlagen und mein Götter tötendes Langschwert an sich bringen. Es waren Nordmänner - groß, kräftig, blond und zornig. Oben im Norden, wo sie wohnen, zerreißt ihnen das Eis die Gehirne. Eis und zu viel frische Luft. Und die getrockneten Fische, die sie essen. Da fahren sie zusammen mit den haarigen Sachsen in offenen Booten auf dieser eiskalten See, essen Dörrfisch und trinken ihr eigenes Urin — es ist kein Wunder, dass sie zu Berserkern werden, wenn sie irgendwo landen, und töten und plündern und vergewaltigen. Wenn nicht das sächsische Bier wäre, würden diese blauäugigen und rotgesichtigen Ungeheuer schon die ganze Welt überrannt haben, und wenn es nicht das sächsische Bier und die Schönheiten Asgards gäbe, könnten sie mir alle miteinander gestohlen bleiben ... Sie haben auch recht hübsche Mädchen -« Ulfius hob verzweifelnd die Hände und ließ sie klatschend ins Wasser zurückfallen. »Artus, du solltest wirkliche Geschichte lernen, nicht dieses Gefasel -« »Es ist kein Gefasel!«, erwiderte Artus aufgebracht. »Es ist wirkliche Geschichte. Es ist Großvaters Geschichte.« »Es ist Wahnsinn. Er müsste hundertfünfzig Jahre alt sein —« »Und warum nicht?«, fragte Artus. »Du hast seine Zauberei ge
99
sehen. Du hast gesehen, dass er fliegen und sich in einen Drachen verwandeln und Sachsen vertreiben und mit Baumstümpfen sprechen kann. Warum sollte er nicht hundertfunfzig Jahre alt sein können? Warum nicht fünfzehnhundert Jahre? Warum Wahnsinn? Warum nicht Geschichte?« Seine Augen blitzten Ulfius an. »Nun sei still.« Er wandte sich wieder Merlin zu. »Was geschah als Nächstes?« Merlin blickte geduldig von einem zum anderen, um sich zu vergewissern, dass sie fertig waren. Seufzend lehnte er sich in das warme Becken zurück und sagte: »Ich landete an der Ostküste Britanniens, knapp nördlich von der Stelle, wo heute Blythburg ist. Ich hatte einen halben Tag Vorsprung gegenüber meinen Verfolgern, weil ich den Gott des Ostwindes erschlagen hatte. Ich stieg das Ufer hinauf und arbeitete mich durch das Weidendickicht. Als ich die nächste kleine Stadt erreichte, fand ich dort mehr Sachsen, Germanen von der Elbe, die von den Römern angeworben worden waren, um die östlichen Bezirke Britanniens gegen ihre eigenen Landsleute zu verteidigen. Hundert Jahre vorher waren sie Sachsen gewesen, aber nun waren sie so römisch wie alle anderen. Ich warnte sie vor der bevorstehenden Eroberung. Sie schickten Läufer zur Küste, um nach Schiffen Ausschau zu halten, und tatsächlich war der Horizont schwarz von ihnen. Es wurde Alarm geschlagen, Signalfeuer wurden entzündet, Reiter trugen die Nachricht ins Land, um Krieger zusammenzurufen. Sachsen, die sich als Bauern angesiedelt hatten, legten ihre Hacken und Pflüge aus der Hand und zogen statt der Bauernkittel Legionärsrüstungen an und bewaffneten sich mit Schwertern und Spießen. Sie hielten mich fest, um mich zu verhören, was ich auch zuließ. Sie würden im Kampf Hilfe brauchen. Doch als sie mein Schwert nehmen wollten, schrumpfte ich mich und das Schwert aus ihren Händen und rannte davon. Die Sachsen landeten. Die romanisierten Germanen waren nicht mächtig genug, sie zurückzuschlagen. Wotan focht gegen sie. Der Tetragrammaton kämpf 99
te nicht für sie. Ich ging hinaus, um ihnen Beistand zu leisten, so gut ich konnte. Es war nicht genug.« Sein Blick richtete sich in die Ferne. »Ich weiß, du denkst, Krieg sei schön und ruhmreich, Artus, aber das ist er nicht. Es ist wenig Schönheit in gespaltenen Schädeln. Da gibt es keinen sauberen Schnitt durch den Hals, keinen Hammerschlag vor die Stirn, der sofort tötet, wie es in der Metzgerei gemacht wird, keine edlen und schönen Gefallenen. Im Augenblick des Todes verliert der Mensch die Herrschaft über seine Därme. Der Geruch des Schlachtfeldes ist der Geruch von Exkrementen - und dann von Verwesung. Und während und nach der Schlacht gibt es Mengen von Verwundeten, die halb tot und halb lebendig sind. Sie rufen jämmerlich um Hilfe, bitten um Hilfe oder um den Gnadenstoß, der sie von ihren Schmerzen erlöst. Wunden, die brandig werden und ganze Gliedmaßen und den Körper bei lebendigen Leib in Fäulnis zersetzen. Sterbende, unversehrt bis auf einen schmalen Stich in die Eingeweide, der genügt, um langsam aber sicher zu töten. Sie zu sehen, mit ihnen zu sprechen, ihnen Wasser zu bringen, ihnen die Hände zu drücken, ihnen mit Fackeln Wunden auszubrennen und zerschmetterte und brandige Gliedmaßen mit Äxten oder Sägen abzutrennen, wie unerfahrene Männer es nach bestem Vermögen tun, um die Ausbreitung des Todes zu verhindern, das ist Krieg. Dem Ruhm des Augenblicks folgen Jahrzehnte des Leidens und Bedauerns. Das ist Krieg.« Merlin starrte in das trübe Wasser des Beckens, wo die drei ruhten. »Dies, Artus«, sagte Ulfius leise, »dies ist Geschichte.« Der Junge war sichtlich ernüchtert. »Aber wie begegnetest du der Herrin?« Merlin wiegte den Kopf. »Nun, wir verloren. Wir verloren im Osten, und ich floh. Ich floh vor den Sachsen und den romanisierten Germanen und den Schrecken des Krieges. Es war eine schlimme Flucht. Allein, im Fieberwahn, verzweifelt, ausgehungert, wanderte ich durch Britannien. Ich kann dir nicht viel von 100 dieser Zeit erzählen. Düstere Träume quälten mich. Wenn ich aus ihnen erwachte, fand ich eine noch düsterere Wirklichkeit vor. Ich ging so weit ich konnte, bis der Schlachtenlärm nur noch in meinem Gedächtnis tobte, dort aber betäubend. Endlich, dünn und ausgetrocknet wie ein Zweig, welk und verloren im Grenzbereich zwischen Leben und Sterben, brach ich am Ufer eines Gewässers zusammen, wo ich mich gebückt hatte, um zu trinken. Ich erwachte. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war. Der See dampfte, wie dieses Becken, wo wir sitzen. Seine Wasser waren so klar, dass man dreißig Fuß tief sehen konnte, und dunkelgrün - herrlich. In der Mitte des Sees gab es eine Insel. Sie schien sich ständig zu verändern. Einmal war es ein Fels, auf dem ein römischer Tempel stand, dann ein sanfter Hügel, auf dem Apfelbäume in duftenden, verwilderten Gehölzen wuchsen. Ich war so gefallen, dass sich mein Mund im Wasser befand, und neben dem Mund meine Hände. In einer meiner Hände hielt ich den Griff des verdammten Schwertes, das all diesen Schaden angerichtet hatte. Und eine Frau stieg aus dem dampfenden See. Sie fragte nach meinem Namen und ich sagte ihn. Ich fragte sie nach ihrem Namen, und sie sagte, sie sei Brigid, göttliche Königin der Briten und Herrin der Nebel. Sie fragte mich, welches Unglück mich an ihr Ufer gebracht habe, und ich sagte ihr, dieses verfluchte, Götter tötende Schwert. Ich erzählte ihr von Wotan, und wie er die Klinge begehrte. Sie sagte: »Ja, er begehrt sie. Ursprünglich war es ein ganz gewöhnliches Schwert. Dann schmiedetest du es um, und es wurde
>Excalibur<, was in ihrer Sprache >Ohnegleichen< bedeutet. Sie sagte, Wotan wolle das Schwert, weil er wisse, dass es die Bestimmung dieses Schwertes sei, ihn zu töten. Es habe in der Vergangenheit viele Götter getötet und würde auch in der Zukunft viele töten. Ich sagte, ich wäre das verfluchte Ding gern los, wenn ich nur wüsste, wo ich es verstecken könne, damit Wotan es niemals fände. Sie sagte: >Obwohl diese Klinge nicht für immer vor Wotan verborgen bleiben kann, und obwohl es eines Tages so 101 gar mich erschlagen wird, werde ich es hier für dich verwahren. Ich werde es verwahren und vor Wotans Augen verbergen, bis derjenige kommt, der es tragen wird, um das Land zu einen.«< Also gab ich ihr das Schwert. Sie hob es«, erzählte Merlin und hob seinen tropfenden Arm über den Kopf, »dann entschwand sie rückwärts und abwärts, bis sie vom stillen Wasser des Sees verschluckt wurde. Nur das Schwert schaute noch hervor. Dann war es auch verschwunden.« Erstaunt und von der Erzählung völlig in den Bann geschlagen, sagte Artus: »Und dies ist die Frau, die wir besuchen werden? Diese göttliche Königin? Diese Göttin?« Merlin nickte freundlich. »Ja. Und Glastonbury liegt am Weg.« Ulfius schnaubte. »Gut, ja - ich bin einverstanden. Morgen werden wir nach Glastonbury reiten, wenn auch nur, um dir zu zeigen, dass es kein nebelverhangenes Avalon ist, sondern ein wirklicher Ort mit einem wirklichen Kloster. Es liegt nicht einmal auf einer Insel, sondern auf einer Halbinsel, und dieser liebliche See ist nicht mehr als ein seichter Sumpf.« Ulfius verschränkte die Arme auf der Brust. »Ja, Artus. Morgen wirst du es sehen. Morgen gehen wir nach Glastonbury.«
18. Die Tore der Geschichte
Gegen Mittag des nächsten Tages fühlte Ulfius sich in seiner Einschätzung bestätigt. Nachdem sie der Landstraße bis in die Nähe von Cadbury gefolgt waren, hatten die drei Reiter sie verlassen und waren auf einen schmalen, von den Mönchen aus Glastonbury angelegten und unterhaltenen Fahrweg nordwärts geritten. Die Strecke führte sie durch sanftes Hügelland, wo struppiger Niederwald mit Wacholderheide und mageren Schafweiden wechselte. Nach einiger Zeit machte das Hügelland dem weiten flachen Flusstal des Brue Platz. Der Fahrweg führte am Nordufer 101 des Flusses entlang, der in breiten, seichten Windungen seewärts zog. Schilf und Rohrkolben verstopften die Ufersäume, während das offene Wasser schwärzlich in der Mitte der sumpfigen Flussniederung dahinströmte. Nach ein paar Meilen mündete der Brue in einen verlandenden See, der größtenteils zu Sumpf geworden war und eine niedrige Anhöhe umschloss. Der Sumpf war von zahlreichen Wasserflächen durchsetzt, die von Teichrosen, Entengrütze und Froschbiss bedeckt waren. Die in den Sumpfsee hinausragende Halbinsel von Glastonbury sah wie ein zerknitterter Filzhut aus. Eine graue Abtei kauerte am Südwestrand der Anhöhe, und ein Pfad führte über einen schmalen, niedrigen Rücken, der die Halbinsel mit festem Boden verband. »Siehst du?«, fragte Ulfius. Sein Pferd schnaubte spöttisch. »Keine Insel. Und der liebliche See ist ein Sumpf, Brutstätte von Mückenschwärmen. Herrin des Schlammes ist kein so großartiger Titel.« Artus blickte in schüchterner Erwartung zu Merlin.
Der alte Mann saß auf seinem Pferd wie ein Sack Getreide. Er blickte düster nach vorn. »Bist du sicher, dass dies Glastonbury ist?« »Oh, ganz sicher«, erwiderte Ulfius. Sein Pferd stampfte unruhig im Halbkreis und kaute auf dem Gebiss. »Dieses kleine Bächlein heißt Ponter's Ball. Die Palisaden dort wurden von den Mönchen errichtet. Wenn wir zum Tor reiten wollten, würden ein paar von ihnen herauskommen und nach unserem Begehr fragen. Siehst du? Deine Herrin und dein Schwert und dein Krieg mit Wotan, das ist alles eine Illusion. Nichts davon geschah.« Merlin stieg ab. Die Zügel seines Reittiers fielen schlaff auf die Erde. Er tat ein paar wankende Schritte vom Fahrweg. Das gräserne Ufer sank rasch zum Sumpfland ab. »Aber vor hundert Jahren war es anders —« »Vor hundert Jahren warst du nicht am Leben, Merlin«, widersprach Ulfius. »Du hast das Ganze geträumt. Du hast dein ganzes Leben in Wahnvorstellungen und phantastischen Illusionen ver 102 bracht. Wenn du das erkennen könntest, wäre es dir möglich, all dies unmögliche Zeug abzustreifen und deine letzten Jahre in Frieden und Beschaulichkeit zu verbringen.« »Sei nicht so grausam«, sagte Artus, als er abstieg, um seinem Großvater zu folgen. »Ich bin nicht grausam«, erwiderte Ulfius. »Es ist grausam, auf ihn einzugehen und all seine lächerlichen Geschichten zu glauben - Zweikämpfe mit Göttern, Menschen, die in Maulbeeren verwandelt werden, Durchgänge zur Anderwelt, Jahrhunderte alte Verrückte mit Freundinnen in Sumpfseen und gigantischen Schwertern. Der Zweck dieser Reise ist, dich zu lehren, was du wissen musst, um im Leben zu bestehen und deinen späteren Aufgaben gewachsen zu sein. Da taugt es nicht, dir den Kopf mit leerem Unsinn vollzustopfen.« Merlin watete ins Wasser. Algen hingen an seinem nassen und schmutzigen Reitumhang. »Dies war anders. Das Wasser war tief und klar und dunkel, die Insel war mit Apfelbäumen bestanden. Die Hügel rings um den See waren höher, beschützender.« Zwei sanfte Hände legten sich an Merlins Arm. »Komm jetzt zurück, Großvater. Wir haben heute noch einen langen Ritt vor uns.« Der alte Mann richtete seinen trüben Blick auf Artus. »Es war hier, Junge. Du musst mir glauben.« Er wanderte tiefer in das sumpfige Wasser und zog Artus mit sich. »Du warst niemals hier, Merlin«, erklärte Ulfius. »Du warst niemals an Bord eines Drachenschiffes. Du kämpftest niemals gegen Wotan. Du besuchtest niemals Asgard. Du verwandeltest niemals eine alte Freundin in eine Kuh. Du kämpftest niemals gegen Titanen. Keine deiner Geschichten ist je geschehen.« »Genug, Ulfius«, rief Artus über die Schulter, als er sich mühte, Merlin daran zu hindern, noch tiefer hineinzuwaten. »Großvater versucht nur herauszufinden, wer er ist.« »Ich kann dir sagen, wer er ist«, erwiderte Ulfius. »Er ist ein Irrer! Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, wer du bist, Artus.« 102 Merlin blieb stehen. Er stand bis zum Gürtel in Röhricht. Artus hing an seinem Arm, als wollte er einen Mann stützten, der am Rand eines Abgrundes stand. Der alte Mann verweilte dort, atmete langsam und starrte in die öde Wirklichkeit, die unter seiner Phantasie lag. Er schloss die Augen und sagte leise: »Er hat Recht, Artus« »Was?«
»Er hat Recht«, wiederholte Merlin. Ernüchtert ließ er die Schultern hängen. »Wenn ich nicht hier stand, gab ich Brigid nicht das Götter tötende Schwert. Und wenn ich es ihr nicht gab, besaß ich vielleicht niemals solch eine Klinge. Vielleicht ist alles eine Lüge - eine ausgeklügelte, phantastische Lüge zur Verhüllung der Tatsache, dass ich in Wahrheit nur ein alter, verrückter Bettler bin.« »Nein«, sagte Artus, drückte ihm den Arm und schüttelte den Kopf. »Du bist kein Bettler. Du bist mein Großvater.« Merlin warf einen unglücklichen Blick zurück zu Ulfius, der auf seinem ungeduldigen Pferd saß. Ulfius' Züge erweichten sich. »Du bist nicht bloß ein Bettler. Du hast Macht, übernatürliche Kräfte, Merlin.« »Ich glaube immer noch die Geschichten«, sagte Artus. »Selbst wenn du es nicht tust, Großvater, ich glaube an sie. Ich glaube an die Herrin der Nebel und an Excalibur und an alles andere.« Ulfius schlug traurig den Blick nieder. »Ich glaube an deine Kämpfe mit Wotan und dass ein neuer König kommen wird, das Land zu einen.« Ulfius blickte auf und musterte den Jungen. Mit vierzehn war Artus noch nicht wirklich ein Mann, doch auf einmal erschien er in der Nachmittagssonne verklärt. Er glich einem jungen und glänzenden Apollo. Sein Haar war golden, sein Reitumhang strahlte. Sein Schuppenpanzer funkelte von Sonnenreflexen. Auch Merlin erschien verklärt. Nicht mehr der nasse und schmutzige Verrückte, wirkte er auf Ulfius plötzlich als der Weise, 103 der die Laterne des Wissens hoch hält, um die Finsternis der Unwissenheit zu erleuchten. Schilf und Rohrkolben um ihn schimmerten wie leuchtende Gewänder. Aber es war nicht das Röhricht, das wie Gold leuchtete; es war das Wasser selbst. Und Merlin und Artus standen nicht mehr im Wasser, sondern auf ihm! Sonnenlicht spielte über den tiefen See. Nur wo Nebel warm über dem Wasserspiegel schwebten, war die strahlende Sonne verdunkelt, und auch dann nur, um in fließende Vorhänge von Licht verwandelt zu werden. Diese leuchtenden Schleier wehten sanft über den See und verbargen halb die Insel in seiner Mitte. Kein zerknitterter Filzhut mehr, war die Anhöhe größer, höher und schien viel weiter entfernt. Auf ihren sanften Umrissen lag der Schnee weißer Apfelblüten, und ein kühler Lufthauch, der über den See strich, trug ihnen den süßen Duft der Apfelblüten zu. Apfelblüten und tiefes Wasser und Geheimnis ... Ulfius bemühte sich, eine Bemerkung zu plappern, doch seine Zunge konnte nur in ehrfürchtiger Scheu zwischen den Zähnen liegen. Dann erschien inmitten der dunstigen Schleier eine Gestalt. So strahlend wie Artus und Merlin in ihrer Verklärung auf Ulfius auch gewirkt hatten, diese Erscheinung war blendend, überwältigend in fließenden Gewändern. In einer erhobenen Hand hielt sie eine gewaltige Fackel - nein, keine Fackel. Es war ein Schwert. Es war das große, Götter tötende Schwert. Sie kam über das Wasser, schwebend, ohne zu gehen. Ihre Füße hingen dicht über der glatten Wasserfläche. Erst jetzt erkannte Ulfius, dass, was er irrtümlich für die Sonne gehalten hatte, tatsächlich sie war. Als die Frau näher kam, sanken Merlin und Artus auf die Knie und neigten ihre Gesichter über das Wasser. Das Licht wurde stärker. Die Insel war hinter ihm unsichtbar.
Bald waren auch Himmel und See überstrahlt und es gab nur noch die glanzvolle Gestalt der Frau. Ulfius barg das Gesicht in den Händen, geblendet von ihrem Licht. Durch die Finger sah er, was nun geschah. 104 Die Frau erreichte Merlin und Artus. Ruhig und gelassen senkte sie das große Schwert zu dem gebeugten Jungen. Sie hätte ihn mit dem Ding spalten können. Es ging nieder wie ein Blitz. »Caladwlch«, sagte sie. Die Luft vibrierte von ihrer warmen Stimme. »Excalibur.« Sie berührte Artus' Schultern nacheinander mit der Klinge, hob sie mit dem Griff nach oben und der Spitze auf Artus' Rücken und stieß das Schwert in eine von Juwelen überkrustete Scheide. »Rhiannon«, sagte sie. Dann kamen Schwert und Scheide, Excalibur und Rhiannon, blitzend herab. Es gab einen krachenden Donnerschlag, und die Erscheinung der Frau war fort. In plötzlicher Dunkelheit fiel Ulfius aus dem Sattel. Er drückte die Finger gegen die Augen, im Zweifel, ob er jemals wieder sehen würde. »Heiliger Paulus, bewahre mich«, murmelte er in das harte Borstengras. Von vorn drangen wässrige, platschende Geräusche an sein Ohr. Wie ein elender Wurm am Boden liegend, hob Ulfius den Blick. Dort, im rot flimmernden Nachglühen seiner Vision, sah er zwei dunkle Gestalten mühsam aus dem Sumpf an Land stapfen. Sie erreichten das Ufer und kamen auf ihn zu. Artus und Merlin. In ihren Stiefeln schmatzte das Wasser, ihre Kleider waren nass und schmutzig bis über die Mitte. Schwarze Samenkapseln — nein, Blutegel - hafteten an ihren Umhängen. »Fehlt dir was, Ulfius?«, fragte Artus, fasste ihn bei einer Schulter und wälzte ihn auf den Rücken. Ulfius ächzte. Er starrte hinaus zur Halbinsel. Alles wirkte so, wie es vorher gewesen war Schilf und Rohrkolben statt geheiligter Gewässer. Atemlos stammelte er: »Ich ... ich hatte gerade ... eine —« »Eine Sinnestäuschung?«, fragte Merlin ironisch. »Ja«, bestätigte Ulfius. Er stützte sich auf einen Ellbogen. »Es kam mir ganz wirklich vor, aber es war eine Sinnestäuschung. Ich 104 bin ein vernünftiger Mann, und was gerade zu geschehen schien, war ganz und gar nicht vernünftig. Sümpfe werden nicht in Minutenschnelle zu Seen. Sonnen werden nicht zu Frauen. Jungen empfangen ihren Ritterschlag nicht von den Händen schwerttragender Göttinnen —« Artus und Merlin tauschten verständnisinnige Blicke. Dann griff der Junge über die Schulter hinter seinen Nacken und zog angestrengt ein großes Langschwert aus der Scheide. Er hielt es in die Höhe und sagte einfach: »Excalibur!« Mehr sah Ulfius nicht. Ihm wurde schwarz vor Augen. Zwei Tage später führte Ulfius seine Gefährten auf einer schmalen, hoch gelegenen Straße zum westlichen Rand Britanniens. Ernst und feierlich ritt Artus zwischen Ulfius und Merlin. Auf dem Rücken trug er Excalibur in Rhiannon. Über dem Hufgeklapper lauschte er aufmerksam den Worten des Großvaters.
»Und die Scheide wird ihren Träger vor Blutungen bewahren, also behalte sie immer bei dir -« Merlins Manien hatten sich durch die Erscheinung von Excalibur und Rhiannon nur noch verstärkt. Er war von ihnen angezogen, betrachtete sie sehnsüchtig, berührte sie mit zitternder Hand. In eindringlichen Ansprachen gab er Artus über die Behandlung und den Gebrauch von Rhiannon und Excalibur Anweisungen. »Scheide und Schwert sind beide nicht bloß verzaubert, sondern heilig.« Artus nickte ernst. Seine jungen Schultern trugen mit Stolz das Gewicht der Klinge. »Excalibur ist das Schwert des Geistes genannt worden, und Rhiannon ist der Geist des Landes genannt worden. Das Schwert ist der männliche Teil, siehst du, zum Töten angefertigt. Die Scheide ist der weibliche Teil, zum Heilen gemacht. Schwert und Scheide sind wie der König und seine Gemahlin — er herrscht durch sie, die ermächtigt. Lass dir Schwert oder Scheide niemals nehmen, lass niemals zu, dass sie getrennt werden —« »Ich werde es nicht tun«, bekräftigte Artus. 105 »Schwert und Scheide werden weder rosten noch anlaufen. Dies ist Teil ihrer heiligen Zusammensetzung. Sie sind reines, massives Metall von einer Beschaffenheit, die unter den Sternen noch nie gesehen wurde. Sie sind immun gegen Zerfall und Verunreinigung. Nicht so ihr Träger. Obwohl sie für dich kämpfen und dich heilen werden, dir den Sieg bringen werden, liegt es an dir, den rechten Gebrauch von ihnen zu machen. Du musst sie für den guten Zweck einsetzen, für das Wohl des Landes -« Ein erstes Zeichen von Unsicherheit geriet in Artus' Züge. »Aber warum ausgerechnet ich? Warum bin ich derjenige, der dieses Schwert zu tragen hat?« »Die Antwort auf diese Frage liegt dort vor uns«, antwortete Ulfius. Er zeigte die Straße entlang zur Halbinsel vor ihnen. Die Hügel, die zu beiden Seiten der schmalen, ausgefahrenen Straße lagen, blieben mit ihren grünen Wiesen zurück und gaben den Blick frei auf die graublaue, weite See jenseits der felsigen Kliffs. Salziger Wind blies von der See herauf und kämmte die langen Gräser. Gerade vor ihnen fielen steile Kliffs zu beiden Seiten der Straße zur dumpf rauschenden Brandung ab. Die Straße führte hinaus zu einem felsigen Vorgebirge über den Ozean. Dort ragte eine Burg, prachtvoll und schwarz inmitten silberner Luft und aufgewühlter See. »Tintagel«, sagte Ulfius. »Die Antwort auf deine Frage, Artus, liegt dort.« Er trieb sein Pferd zum Galopp und beugte sich über die flatternde Mähne. Artus starrte ihm überrascht nach, blickte fragend zu Merlin. Der alte Magier neigte den Kopf. »Er hat Recht.« Damit trieb auch er sein Pferd an und folgte Ulfius. Artus zuckte die Achseln und ritt den beiden nach. Der von den Hufen aufgewirbelte Staub wurde vom Seewind in langen Fahnen davongetragen. Die felsige Halbinsel verengte sich, und bald waren sie auf einem schmalen natürlichen Damm, der von einem Torhaus gesperrt wurde - demselben Torhaus, wo Uther 105 und Merlin und Ulfius vor langer Zeit eingetroffen waren. Im Mittagslicht war es nicht das schwarze Bollwerk, das es in jener Mitternacht gewesen war. Vor dem Fallgatter zügelte Ulfius sein Pferd, dichtauf gefolgt von Merlin, und wenig später erreichte auch Artus die Gefährten.
»In diesen düsteren Zeiten hat solches Ungestüm nichts Gutes zu bedeuten«, rief ein Bogenschütze vom Turm herab. »Wer seid ihr, dass ihr mit solcher Eile zu unseren Toren reitet?« Ulfius holte tief Atem und rief mit durchdringender, froher Stimme: »Sag der Herzogin, dass es ihr früherer Kammerherr ist, Ulfius, und ihr früherer Magier, Merlin, und ein junger Mann, den sie vor vierzehn Jahren für wenige Augenblicke gesehen hat. Jemand, den zu sehen sie sich sehnt.« »Das ist genug, um sich heiser zu schreien«, sagte der Mann auf dem Turm. »Sag ihr, Ulfius ist zurückgekehrt, sein Gelöbnis zu erfüllen.« Während die Nachricht weitergegeben wurde, schob Artus sein Pferd neben Ulfius. Er beugte sich zu seinem Mentor und flüsterte: »Was hat das zu bedeuten? Ich kenne niemanden in Dumnonia. Ich habe nie von dieser Herzogin gehört.« Ulfius' Lächeln wirkte etwas kläglich. »Doch, du kennst sie, Artus. Du kennst sie in dem dunklen Teil des Geistes, wo tote Wahrheiten wohnen. Und obwohl du von der Herzogin von Dumnonia noch nicht gehört haben magst, kennst du sie sicherlich unter ihrem früheren Titel, Königin Igraine.« Die Worte waren ihm kaum von den Lippen gegangen, als die Ketten des Fallgatters sich rasselnd in Bewegung setzten. Die massive Sperre aus eisenbeschlagenen Eichenbalken glitt in ihren Schienen aufwärts. Dahinter begann die Zugbrücke zur Burg an ratternden Ketten niederzugehen. Sie löste sich langsam von der abweisenden Kurtine der Burg, senkte sich eindrucksvoll ausgreifend über den Halsgraben und kam auf ihrem Widerlager zur Ruhe. 106 Von der Burg her schritt eine Frau über die Brücke. In ihren reichen Gewändern schien sie eine sterbliche Version von Brigid zu sein. Ein kleines goldenes Diadem krönte ihr blondes, von Silberfäden durchzogenes Haar, und in ihren Augen lag die Vorsicht einer Frau, die viel verloren hatte — zwei Ehemänner, ein Kind und ein ganzes Land. So traurig war ihr Blick, so königlich ihre Erscheinung, dass Artus aus dem Sattel glitt und niederkniete. Ulfius und Merlin taten es ihm nach. Sie würden dieser Frau gegenübertreten, wie sie Brigid gegenübergetreten waren. Die Herzogin trat auf die knienden Männer zu. Sie brachte einen Duft mit sich, der warm und angenehm war, wie Brot aus einem Backofen. Doch ihre Worte klangen müde, vielleicht sogar reserviert. »Wie konntest du nach all dieser Zeit zurückkommen, Ulfius?« Den Kopf geneigt, sagte der Kammerherr: »Vergebt mir, edle Igraine. Es sind gefahrvolle Zeiten. Ich bin nur ausgeblieben, um mein Euch gegebenes Gelöbnis zu erfüllen.« Die Frau richtete ihren Blick auf Artus. Tränen glänzten in ihren Augen. »Und hast du dein Gelöbnis erfüllt?« »Ja«, sagte Ulfius. »Er ist der feinste Jüngling, den ich je gekannt habe, gut unterrichtet, vielseitig ausgebildet, von guten Manieren. Und er ist schön, wie Ihr sehen könnt.« Artus hob den Kopf, um zu der armen, gequälten Frau aufzublicken. Der fragende Ausdruck in seinen Augen schien den Fluss der Tränen nur zu verstärken. »Und kennt er mich? Weiß er, wer ich bin?« »Ja, gewiss«, sagte Artus eifrig. »Ihr wart einst Königin neben Uther.« Igraine schüttelte den Kopf. Sie betupfte ihre Augen. »Wie konntest du zurückkommen, Ulfius? Wie konntest du?«
Merlin nahm ihm die Antwort ab. Freude leuchtete aus seinen Augen. »Er wird wissen, wer Ihr seid und wer er ist, Igraine. Er wird Euch kennen lernen.« 107 Igraines Hand fasste Ulfius' Schulter und drückte sie, bevor sie zu Merlin weiterging und die Geste wiederholte. Und zuletzt trat sie zu Artus. Er kniete mit Excalibur und PJiiannon auf dem Rücken. Sie berührte weder das Schwert noch den Jungen. Lange blickte sie forschend in sein junges, offenes Gesicht. In seinem willensstarken Kinn und dem klaren, lebhaften Blick ähnelte er Uther, die anderen Züge des Jungen aber waren anmutiger, beinahe elfenhaft. »Willkommen in Tintagel, Artus«, sagte sie traurig. »Willkommen daheim, mein Sohn.«
19. Tintagel
Wie nicht anders zu erwarten, war Artus schockiert durch die Enthüllung seiner wahren Herkunft. Der Junge, der Merlins Erzählungen von seiner verrückten Vergangenheit begeistert vertraute, konnte seine eigene nicht glauben. Jedes Beweismittel wurde aufgeboten. Tagebücher, Stammbäume, Ähnlichkeiten, Uthers Dekrete, Igraines Erinnerungen ... trotzdem konnte Artus nicht glauben. Er gab vor, es zu tun, wenn auch nur zur Besänftigung der trauernden Herzogin. Ulfius durchschaute die Verstellung und verstärkte seine Anstrengungen. Der Nachmittag verlief qualvoll. Worte verwirrten sich in unaufhörlicher Disharmonie um Artus' Kopf. War dies etwa so, wie es in Merlins Geist aussah? Nichts ergab mehr einen Sinn. Artus war der nicht mehr, der er immer gewesen war. Noch war er der leuchtende Prinz, als den Ulfius ihn hinstellte. Artus war keiner von beiden. Er war nichts. Sein ganzes Leben war eine Lüge gewesen. Je lauter Ulfius wetterte, desto stärker wurde Artus' Gewissheit: Er war nichts. Als es Abend wurde, zog der Duft von gebratenen Enten aus 107 der Küche durch die Räume. Merlins Augen flackerten hungrig. Ulfius' Aufmerksamkeit wurde zum Esstisch gelenkt. Der Hagel von Beweisen versiegte. Igraine ging ihre Tochter suchen. Dies war Artus' Gelegenheit. Er entschuldigte sich mit der Bemerkung, austreten zu müssen. Es war der einzige Ort, wo sie ihn vielleicht allein lassen würden. Artus suchte einen Abtritt im Erdgeschoss auf, der ein Fenster zur Entlüftung hatte. Es war ein herrliches Gefühl, durch dieses Fenster zu klettern. Er fühlte sich wie sein altes Selbst. Als er sich glücklich durch den engen Fensterrahmen gezwängt hatte, gelangte er auf das Schieferdach eines Schuppens. Die Nacht holte ihn ein. Der Seewind führ ihm kalt ins Gesicht, salzig und erfrischend nach der Luft in Igraines Gemächern. Zum ersten Mal seit Stunden hatte Artus einen klaren Kopf. »Ich muss weg von hier. Ich muss weg von hier.« Der Burghof lag verlassen. Igraine hatte auf ihrem Witwensitz wenige Bedienstete behalten. Die Burg war heimgesucht von den Geistern ihrer vergangenen Größe und Pracht. Es würde ein Leichtes sein, die Burgmauer zu überklettern und irgendwohin zu gelangen, wo er außer Reichweite von all diesem — dieser Verrücktheit - sein würde. Amseln pickten Krumen vom Fenstersims der Küche. Über dem allgegenwärtigen dumpfen Tosen der Brandung hörte er Grillen im überwachsenen Burggarten zirpen. Aus der Richtung des Burgtors drang der helle Klang genagelter Stiefel, dort ging die Wache auf und ab. In den Stallungen wieherte ein Pferd. Die Stallungen. Dort glomm eine trübe Laterne.
Artus warf seine Gesellschaftskleidung ab und behielt nur Hemd und Hose an. Er zerzauste sein Haar und rieb sich ein wenig Staub und Sand vom Schuppendach ins Gesicht. »Jetzt werden sie mich nicht wiedererkennen«, murmelte er zufrieden vor sich hin. Barfuß und ohne feine Kleider sah er so gewöhnlich wie ein Stalljunge aus. Er legte seine Kleider als Bündel auf dem Schuppendach ab und 108 ließ sich in den Hof hinunter. Der gepflasterte Boden, einst belebt vom täglichen Hin und Her der Bediensteten, Reiter und Fuhrwerke, war jetzt von Gras überwachsen, das zwischen den Pflastersteinen wuchs. Entlang der Mauern hatten sich allerlei Kräuter, Stauden und sogar Sträucher angesiedelt. Auf Zehenspitzen überquerte Artus den Hof. In einigen Winkeln glich der Burghof einer kaledonischen Ebene, überwuchert von hohen Disteln. Barbarei. Alles sank zurück in einen Zustand allmählichen Verfalls. »Und Ulfius will mich glauben lassen, dies sei meine Burg?« Artus näherte sich den Stallungen. Zumindest sie schienen in gutem Zustand zu sein. Das Dach war erneuert und frisch mit Stroh gedeckt, die unverglasten Fenster mit Läden versehen, die im Winter und bei stürmischem Wetter geschlossen werden konnten. Schwacher Lichtschein drang aus dem Inneren. Als besonders angenehm empfand der barfüßige Junge, dass man den Eingang zu den Stallungen von Disteln freigehalten hatte. Er hinkte in den Laternenschein und machte Halt, um sich einen Dorn aus der Fußsohle zu ziehen. Im Inneren waren gleichmäßig wischende Geräusche — wie die Bürstenstriche an einem Pferderumpf - zu hören. Artus bewegte sich vorsichtig zum Eingang und spähte hinein. An Reihen von Pferdeboxen vorbei erblickte er eine schöne junge Frau. Ihr schwarzes Haar hing in zwei Zöpfen bis zur Mitte ihres Rückens herab. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Milch. Große braune Augen, eine feine Nase und volle Lippen — sie war das lieblichste Geschöpf, das Artus je gesehen hatte. Ihr von lehmigen Flecken beschmutztes Gewand aus grobem, ungefärbtem Wollstoff nahm sich in seinen Augen wie goldener Samt aus, so elegant waren ihre Bewegungen. Kräftig zog ihr Arm den Striegel über die Flanke des Tieres, doch die entspannte Sicherheit, mit der sie ihre Arbeit verrichtete, machte diese zu einem anmutigen Tanz. Artus fühlte sich zu ihr hingezogen. Bevor er sich darüber Rechenschaft ablegte, befand er sich im Stallgebäude und war unterwegs zu ihr. 108 Das Rascheln seiner Füße im Stroh der Einstreu machte sie aufmerksam. Sie richtete sich auf. Artus erstarrte, machte große Augen. Sie war so groß wie er, aber er war durch seine ständigen Übungen muskulöser. In ihren Augen lag eine reife Weisheit. Es waren faszinierende Augen, die seinen Blick magnetisch auf sich zogen. »Wer bist du?«, fragte sie. »Ich bin — ich, ah — ich bin neu«, stammelte Artus. Die junge Frau nahm ihre Pferdepflege wieder auf. »Neu? Seit wann gibt es Geld für neue Leute?« »Oh«, sagte Artus errötend, »ich werde nicht bezahlt —« »Nicht bezahlt? Bist du ein Sklave?« »Nein, nein, ich bin ein freier Mann«, improvisierte Artus. Er musste sich eine plausible Lüge einfallen lassen. »Ich — es ist bloß, dass, ah, mein Vater ein Bauer ist. Und ich will
kein Bauer sein, und so dachte ich - das heißt, die Herzogin sagte, wenn ich im Stall aushelfen würde, könnte ich mich zum Krieger ausbilden lassen.« »Zum Krieger«, murmelte die Frau. »Genau was wir brauchen. Noch einen Krieger.« Nach der erfolgreichen Lüge nahm Artus die Schultern zurück und trat näher. »Ja, das würde ich auch sagen. Die Garnison ist beinahe leer. Sie haben hier mehr Disteln als Krieger.« Er war ihr jetzt ganz nahe. Sie hatte einen süßen Duft, das Aroma von Salbei. »Die Burg wird wieder zur Wildnis.« »Was ist gegen die Wildnis einzuwenden?« »Was ist gegen Krieger einzuwenden?«, gab er zurück. Sie unterbrach ihre Arbeit. Erst in diesem Augenblick bemerkte Artus, dass es sein eigener Brauner war, den sie pflegte. Die junge Frau winkte ihn mit gekrümmtem Finger näher und sagte: »Komm näher, Krieger. Komm her und sieh dir das an.« Bereitwillig folgte Artus der Aufforderung. Sie hob den Schwanz der Stute. »Schau hin.« Artus errötete wieder. 109 »Du weißt nicht mal, was du siehst, wie?« »Ich kann es mir denken —« »Diese Stute ist trächtig.« Sie ließ den Pferdeschwanz wieder fallen. »Sie ist trächtig, und ein Krieger ritt sie die ganze Strecke von Chertsey hierher. Nahm sie hart heran. Er hatte keine Ahnung, oder es war ihm gleich. Das ist es, was gegen Krieger einzuwenden ist.« Artus' Röte vertiefte sich. »Nun, wenn ich erst ein Krieger bin, werde ich diesen Fehler nicht machen. Ich meine, nachdem Sie mir gezeigt haben, wonach ich sehen muss -« Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie heißt du?« »Äh, Art - ah - Artemis.« »Nun, Artemis, man sieht nicht bloß hin«, sagte sie. »Die Augen lassen sich leicht täuschen. Augen zeigen den Anschein, nicht das Wesen der Dinge. Du musst alle Sinne gebrauchen, darunter einige, von denen du nicht mal weißt, dass du sie hast. Kannst du dir vorstellen, dieses Tier hundert Meilen weit zu reiten und nie zu spüren, dass es trächtig ist? Ich kann die Stute gar nicht berühren, ohne die Macht des Lebens in ihr zu fühlen.« Die junge Frau ergriff Artus' Hand und legte sie an eine Stelle vor dem Ansatz der Hinterhand. »Fühlst du nicht diese fiebrige Hitze, dieses heilige Feuer?« Artus fühlte es, aber es kam nicht vom Pferd. »Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«, fragte er höflich. »Ich sagte es nicht«, antwortete sie, »aber ich heiße Morgan.« »Morgan«, wiederholte Artus und nickte. Der Name ging ihm angenehm über die Zunge. Morgan starrte auf seine Hand, und in ihre Augen kam ein leiser Verdacht. Sie ließ ihn los. »Wenn du hier bist, um zu helfen, kannst du dich gleich an die Arbeit machen.« Sie nickte in einen Winkel, wo eine Mistschaufel neben einem Eimer lehnte. Artus holte beides. »Wann ist sie fällig? Die Stute, meine ich.« »Es wird noch Monate dauern«, antwortete Morgan und mach 109 te sich wieder mit dem Striegel an die Arbeit. »Die Zeichen sind offensichtlich, aber niemand achtet mehr darauf. Fruchtbarkeit pflegte die Magie des Landes zu sein. Hebammen pflegten zu den Dorfältesten zu zählen. Diejenigen, die Leben zur Welt brachten, regierten einst die Welt. Jetzt sind es nur diejenigen, die Leben nehmen. Krieger.«
Artus füllte den Eimer mit Wasser und sagte: »Wo haben Sie das alles gelernt?« »Ich habe studiert«, antwortete sie sofort. »Hauptsächlich auf mich selbst gestellt, aber es gibt noch ein paar andere, die sich der alten Art erinnern, die es wagen, in diesem Zeitalter des Mordens daran festzuhalten.« »Hexerei«, sagte Artus in plötzlicher Erkenntnis. Morgan blickte auf. »Einst war dieses Wort kein Fluch. Auch klang Sexualität nicht schmutzig. Alles das hat sich geändert.« Artus ließ den vollen Eimer stehen und kam an ihre Seite. »Es muss sich nicht ändern.« Morgan starrte auf die Flanke des Pferdes. »Doch. Alles muss sich ändern. Aber das bedeutet nicht, dass wir es nicht noch einmal ändern können.« »Genau«, sagte Artus. Er streckte die Hand aus und strich ihr mit einem Finger den Kinnbacken entlang. Sie ließ den Striegel sinken. »Was soll das? Was willst du?« »Die Dinge zurück ändern.« Er beugte sich zu ihr. Seine Lippen berührten ihre. Sie wich nicht zurück. Der Kuss übertrug die gleiche fiebrige Vitalität, die er vorher gespürt hatte. Eine prickelnde Erregung durchlief ihn. Der Augenblick hätte länger gedauert, doch er wankte schwindlig und benommen davon. Morgan war ähnlich betroffen. »Was war das?« Artus lächelte errötend. »Hexerei. Fruchtbarkeit. Was war dieses schmutzige Wort Sexualität?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht richtig. Du bist so jung. Und du scheinst nicht zu erkennen, wer ich bin.« 110 Artus lachte verlegen. »Richtig. Ich habe nie von - ah - dir gehört. Aber ich bin genauso sicher, dass du nicht weißt, wer ich bin.« Morgan lächelte amüsiert. »Dann sag, wer bist du?« »Nun, du wirst es vielleicht nicht glauben — es fällt mir selbst schwer, es zu glauben -, aber diese heruntergekommene Burg ist tatsächlich meine Burg.« »Was redest du da?« »Ich bin Königin Igraines verlorener Sohn. Ich bin Prinz Artus.« Plötzlich brannte heißer Schmerz auf seiner Wange, und er taumelte zur Seite, bevor er begriff, dass er geschlagen worden war. »Du Bastard. Ein Leben lang habe ich dich gehasst - und nun habe ich einen weiteren Grund dazu.« Artus stand gekrümmt, eine Hand an der Wange, und sah erschrocken zu ihr auf. »Was? Was —?« Morgan streckte die Hand zu der Stute aus. »Dies ist dein Pferd, nicht wahr?« Artus zog die Stirn verwirrt in Falten. »Wer bist du?« »Ich bin Morgan! Ich bin Igraines Tochter! Ich bin deine Schwester!« Das letzte Wort traf ihn härter als der Schlag. Artus tappte wankend rückwärts zur Stalltür. »Dein Vater tötete meinen Vater und vergewaltigte meine Mutter«, fauchte Morgan, »und du hast alles von Uther in dir. Jetzt sehe ich es. Ich rieche Uther in dir.« Sie spuckte ins Stroh. »Du stehst für alles, was ich hasse. Du stehst für Tod und Unfruchtbarkeit. Du willst König werden, um dieses Land deinem Willen zu unterwerfen. Aber mich wirst du nicht
beherrschen, Artus. Ich werde nicht dir Untertan sein. Und solange ich lebe, wird der Tod Britannien nicht regieren -« Mehr hörte Artus nicht. Er floh hinaus in die Nacht. In seinem Kopf drehte sich alles. Disteln erhoben sich wie Krieger um ihn. Sie griffen nach ihm, kratzten ihn, warfen ihn zu Boden. Er fiel 111 auf die Seite und lag gekrümmt, die Knie angezogen. Seine Füße bluteten in das wuchernde Grün. In derselben Nacht verschwand Morgan aus der Burg Tintagel. Suchtrupps durchkämmten die Burg, ihre Nebengebäude und die felsige Halbinsel, auf der sie stand. Artus nahm mit eingesalbten und verbundenen Füßen an der Suche teil. Alle Krieger und Diener und Köche und Kammerzofen in der Burg suchten sie — sogar Herzogin Igraine. Sie ließen die Jagdhunde der Burg los - die verstärkten aber nur die Verwirrung mit ihrem sinnlosen Gebell. Merlins Zauber und seine Gabe des zweiten Gesichts - die beste Hoffnung, der jungen Frau auf die Fährte zu kommen — erwiesen sich als nutzlos. »Sie gebraucht eine Art von Magie, über die ich wenig weiß«, sagte Merlin düster. Der Morgen kam. Die Suche dehnte sich auf die Ländereien jenseits der Halbinsel aus und dauerte den ganzen Tag, bis es wieder dunkelte. Zuletzt befahl Igraine ihre Leute zurück nach Tintagel. »Wenn Morgan nicht gefunden werden will, wird sie auch nicht gefunden«, sagte die Herzogin. »An nur einem Tag habe ich einen Sohn gewonnen und eine Tochter verloren.« Sie flieht uns. Sie flieht die Hunde und die Menschen, die sie Hunde nennt. Fort von Mutter und Tintagel, vom ermordeten Vater und dem mörderischen Nicht-Vater. Die Aste der Eichen werden ihr Mutterarmesein, die zornigen Himmel ihres Vaters Auge. Sie verbirgt sich in den einen vor den anderen. Sie verbirgt sich und flieht. Rückwärts in die Zeit geht sie. Römische Straßen werden zu Karrenwegen, zu Fußpfaden, zu Wildwechseln. Kornfelder werden zu Wiesen, zu Rodungen, zu jungfräulichen Wäldern. Sie flieht zurück in eine Zeit vor Schild und Schwert, vor dem erobernden Christus und dem erobernden Caesar. Sie verbirgt sich in den keltischen Tiefen. Nein sie verbirgt sich nicht einfach. Sie zieht Kraft aus ihnen, sucht Macht.
111
Da ist sie — mondhäutig und strahlend, die Füße um die Eichenwurzeln gelegt, das Haar von Stechpalmenzweigen umkränzt. Sie sitzt, und im jungfräulichen Schoß hält sie die Füße eines Königs. Seine Füße sind um ihre Beine gelegt, wie ihre Füße um die Eichenwurzeln. Es ist ein altes Bild der Macht, sie das jungfräuliche und immer fruchtbare Land, und er der von diesem Land ermächtigte Gesetzgeber. Zusammen herrschen sie. Zwei Seelen, die verflochten sind, sich aber niemals berühren, verlangend, doch für immer keusch, gleich an Macht — Mann und Frau — aber für immer getrennt. Nein, dies ist nicht Morgan, die ich sehe. Dieses bekränzte und die Eichenwurzeln umschließende Wesen ist Thuata De Danann. Sie ist als Fee geboren und in eine menschliche Wiege gelegt. Sie ist aufgezogen, um die keusche Braut des Königs zu sein. Ihre Füße bleiben mit den Eichen nur in Verbindung, wenn sie eine reine Jungfrau bleibt — Thuata, unbefleckt vom Mann. Versprochen dem künftigen König Artus — ich erinnere mich jetzt jener erbärmlichen Nacht in der Sintflut — ihr Name ist Guinevere. Tief in der Macht des Landes ist Guinevere verwurzelt. Sie wird aus einem jungen Mann einen großen König machen. Gemeinsam werden sie in keuscher Freude regieren. Aber tiefer in der Macht des Landes befindet sich Morgan. Sie flieht weiter zurück als die Thuata De Danann. Sie flieht weiter zurück als das feenhafte Volk Albions, zu der tieferen Magie von Titanen und Göttern.
Da ist sie, elfenbeinhäutig und strahlend. Ihre Füße sind nicht um Wurzeln gelegt, sie selbst sind Wurzeln. Sechs Beine hat sie, und drei Körper, und drei Köpfe. Sie ist die unheimliche — Mädchen, Mutter, altes Weib — weibliche Trinität, die Himmel und Erde umfasst, alles Lebende und Sterbende. Sie empfangt den König, sie säugt den König an ihrer Brust, sie begräbt den König unter Rosen. Alter als die ebenbürtige Thuata De Danann, sucht Morgan nicht sterbliche Macht, sondern unsterbliche. Sie wird nicht Königin sein, sondern göttliche Gemahlin. Sie wird die Unheimliche sein - Mädchen des Königs, Mutter des Königs, Beweinerin des Königs. Lhre Macht liegt nicht in Keuschheit, sondern in Fruchtbarkeit. Und mit dieser Macht wird sie 112 meinen Artus niederschlagen. Sie wird ihren eigenen Bruder erschlagen. Ich habe sie gefunden, aber ich kann sie nicht erreichen. Sie verbirgt sich in den Armen der Eiche. O Morgan, du bist so weit geflohen. Am meisten furchte ich deine Rückkehr. Merlin saß zwischen zwei Zinnen auf der südlichen Umfassungsmauer der Burg. Er hatte sie selbst repariert und bröckelnden Mörtel in festen Granit umgewandelt. Es gefiel ihm, an der Erneuerung der Burg mitzuarbeiten. In den Monaten ihres Aufenthalts in Tintagel hatte Merlin die gesamte Kurtine repariert, das grau und faulig gewordene Stroh auf vielen Dächern erfrischt, neues Glas zur Ergänzung zerbrochener Butzenscheiben in den Fenstern des Palas wachsen lassen und sogar die Zugangswege durch einen Zauber gepflastert, der Kiesel in faustgroße Steine verwandelt hatte. Seine Hilfe war aber nicht ausschließlich handwerklicher Art gewesen. So hatte er die benachbarten Dörfer aufgesucht und unter den jungen Burschen Krieger zur Ausbildung für die Garnison angeworben. Er hatte die Bogenschützen zur Jagd begleitet, um durch Zauber ihre Pfeile treffsicherer zu machen und eine bessere Versorgung mit Wildbret zu erreichen. Er hatte sogar das Gebell und Geheul der Jagdhunde melodiöser gestimmt, um es für menschliche Ohren angenehmer zu machen. Ulfius hatte unterdessen ähnliche Verbesserungen eingeführt. Gegenwärtig waren seine Bauernjungen, wie er sie scherzhaft nannte, unter Merlins Anweisungen im Burghof mit Waffenübungen beschäftigt. Noch vor drei Monaten hatten sie nie etwas Tödlicheres als eine Sichel in den Händen gehalten. Die hatten sie anfänglich gebraucht, um die Hofränder von Disteln zu befreien, bevor sie anfangen konnten, mit hölzernen Stäben Fechtübungen zu machen. Unter Ulfius' erfahrener Anleitung hatten die mehr als dreißig Bauernsöhne bereits gute Fortschritte im Fechten gegen Strohpuppen gemacht. Nach einigen weiteren Monaten fleißigen 112 Übens mit Schwert und Spieß würden sie den Kern einer neuen Privatarmee für den jungen Prinzen sein. Schon jetzt zeigten sie sich recht geschickt im Zweikampf mit den hölzernen Stäben. Der junge Prinz andererseits ließ etwas zu wünschen übrig. Artus übte zu Füßen Merlins auf einer kleinen Fläche, die von Heuballen eingegrenzt war, um Verletzungen Dritter zu vermeiden. Obwohl der Junge mit einem gewöhnlichen Kurzschwert umzugehen wusste, war Excalibur eine ganz andere Sache. Sechs Fuß lang, beschwert, um wie ein Hammer zu fallen, behaftet mit einem Zauber, dass es Götter töten konnte, handelte es sich um eine ungefüge Waffe. Artus machte keine gute Figur, wenn er die schwere Waffe schwang. Umringt von den Heuballen, stand er mit bloßem, schweißglänzenden Oberkörper und hielt das Langschwert mit beiden Händen vor sich. Da er viel Kraft aufwenden musste, das
Gewicht auch nur zu halten, schwankte die Spitze hin und her, als müsste das Schwert jeden Augenblick in die eine oder die andere Richtung fallen. »Du sollst dich nicht davor fürchten, Artus«, sagte Ulfius. Der Kammerherr stand neben dem hünenhaften Kastellan Brastias. Zusammen beaufsichtigten die beiden die Neubelebung der Garnison, und Artus war ihr gemeinsames Projekt. Ulfius kratzte sich das ergrauende Haar. »Deine Feinde sollen sich vor deinem Schwert fürchten.« Entschlossen presste Artus die Lippen zusammen. Er holte aus, um die überstehenden Halme von der Oberseite eines Heuballens zu rasieren. Es gelang ihm nicht, die schwere Waffe präzise zu führen, und Excalibur führ in den Heuballen, durchschnitt den aus Gras gedrehten Strick, der ihn zusammenhielt, und wirbelte loses Heu herum. Ulfius warf enttäuscht die Hände hoch. »Das Schwert ist zu schwer, Artus. Vielleicht wird es was, wenn du fünfzehn bist, oder sechzehn —« »Oder sechsundzwanzig«, brummte Brastias wenig hilfreich. 113 »Nein!«, widersprach Artus. »Ich will jetzt mit Excalibur üben. Es ist mein Schwert, der Schlüssel zu meinem Schicksal. Ich muss lernen, es zu gebrauchen.« Oben auf der Mauer sagte Merlin bei sich: »Gut für dich, mein Junge. Gut so.« Auch Ulfius nickte, da er die Antwort erwartet hatte. »Dann musst du deinen Schwerpunkt niedriger halten. Denk dir dieses Schwert mehr als eine Lanze. Die Lanze erhält ihre Wucht von dem Gewicht, das sich hinter ihr befindet. Du musst eine Menge Gewicht hinter Excalibur haben, oder es fehlt ihm die Wucht. Versuchs noch einmal. Zeig mir eine Haltung mit niedrigem Schwerpunkt. Stell dir eine gerade Kraftlinie vor, die von den Knöcheln bis zu den Hüften geht, und von dort zu den Armen. Die Knie müssen dabei abgeknickt sein. Dann schlägst du von unten leicht aufwärts.« Artus tat es, und das schimmernde Langschwert sauste vor ihm in einem gleichmäßigen, schwungvollen Halbkreis. »Gut! Gut!«, rief Ulfius. »Besser als Heuballen spalten.« Merlin nickte zufrieden. »Wirklich besser.« Jemand kam auf dem Wehrgang auf ihn zu — Herzogin Igraine. Ein kühler Seewind, Vorbote der Herbststürme, blies in ihren Umhang, aber ihr Gesicht war ernst, wie es das seit Artus' Ankunft immer gewesen war. »Salve, Merlin.« Der Magier verbeugte sich. »Guten Morgen, Hoheit.« Sie wedelte mit einem gesiegelten Blatt Papyrus. »Der Bote ist eingetroffen. Es gibt wieder ein Paket für Artus. Eine Briefseite von Ector. Eine halbe Seite von Kay. Eine ganze paulinische Epistel von seiner Mutter ...« Ohne den Blick von Artus' Schwertübung abzuwenden, sagte Merlin beiläufig: »Artus' Episteln an sie sind genauso umfangreich.« Igraine ließ ein Seufzen wie das Gurren einer trauernden Taube hören. Merlin blickte zu ihr auf. Die Sorgenfalten in ihrem Gesicht hatten sich seit Artus' Ankunft nur vertieft. Die Frau hatte 113 viel Kummer gekannt. Trotzdem musste sie erst wieder Artus' Mutter werden. »Er hat Heimweh«, sagte sie und blickte zu Artus hinunter. Der stieß das Langschwert gerade unbeholfen in einen Heuballen. »Er liebt seine Mutter sehr.« Merlin lächelte. »Haben Sie bemerkt, dass er auch anfängt, Tintagel als seine Heimat und Sie als seine Mutter zu betrachten?«
Igraine schaute weg »Es ist unfreundlich, eine hoffnungsvolle Seele zu verspotten.« »Ja, ich weiß«, sagte Merlin. »Auch ich habe Hoffnungen gehabt, die zunichte gemacht wurden. Aber ich verspotte Sie nicht, Hoheit. Denken Sie an eines ihrer langen Gespräche mit Artus. Ich habe Sie stundenlang mit ihm am großen Kaminfeuer sitzen sehen, wo Sie von Uther und Gorlois sprachen. Stellen Sie sich eines dieser Gespräche niedergeschrieben vor. Würde das Bündel Papyrusblätter weniger dick sein als diese Nachricht von Diana?« Ein unsicheres Lächeln zitterte um ihre Mundwinkel. »Hier bin ich mit Artus in Tintagel eifersüchtig auf Worte auf einem Blatt. In Chertsey ist Diana — eifersüchtig auf Worte von Angesicht zu Angesicht. Ist es ein Segen oder ein Fluch für einen Jungen, zwei Mütter zu haben?« »Beides, denke ich«, antwortete Merlin. »Besonders für die Mütter.« Zu weiteren Spekulationen kam es nicht, weil Artus bei einem weit seitwärts ausholenden Schwertstreich vom Schwung der schweren Waffe aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, stolperte, das Schwert verlor und neben der klirrenden Klinge auf der Erde landete. Staub flog um ihn auf. Artus lag bewegungslos auf dem Gesicht. »Oh, ihr Götter! Ist er verletzt?«, stieß Igraine hervor. Sie ballte die Fäuste. »Nur sein Stolz.« Artus stand langsam auf. Staubige Erde haftete an seinem verschwitzten Oberkörper und dem Gesicht. Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hast du Recht, Ulfius. Vielleicht kann Excalibur war 114 ten, bis ich älter bin. Wer braucht schon ein Götter tötendes Schwert, um Menschen zu bekämpfen? Vielleicht hast du Recht, Ulfius.« Merlin stand auf und rief entrüstet: »Habe ich richtig gehört, was du gerade sagtest, Artus? Vielleicht hast du Recht, Ulfius« Artus blickte grinsend zu seinem Großvater auf. Merlin trat vom Wehrgang und segelte in einer geraden Linie hinab zum Übungsplatz. »Ulfius?« »Was ist daran falsch, dass du dich so aufregst?«, wollte Ulfius wissen. »Dies«, erwiderte Merlin, landete neben Artus und hob das Schwert auf. »Dies sagt mir, dass du nicht Recht hast.« Er hielt die schöne, blitzende Klinge vor sich. Sonnenlicht tanzte in spiegelnden Reflexen über das Schwert. »Excalibur ist alles. Es ist das Geschenk der Herrin der Nebel. Es ist das Schwert für den einen, der die Wotansleute aus dem Land treiben wird. Excalibur - wenn du dich erinnern willst, Ulfius — hat bewiesen, dass alles, was ich über Avalon und Asgard und Drachenschiffe sagte, wahr ist.« Ulfius starrte den Magier an. Seine Bauernburschen hatten nacheinander ihre Übungen eingestellt, um zu gaffen. »Was hat das alles damit zu tun, ob Artus mit Excalibur übt oder nicht?« »Natürlich muss er damit üben! Excalibur ist Artus' Zukunft, geradeso wie es meine Vergangenheit ist.« »Ja, Großvater«, sagte der junge Prinz. »Ich glaube alles das. Wenn wir nur mehr über seine Vergangenheit wüssten, vielleicht würden wir dann auch mehr über meine Zukunft wissen. Wer schmiedete dieses Schwert, und warum? Wer besaß es zuerst? Und wie bist du dazu gekommen?«
Merlin antwortete nicht gleich. Er stand da und hielt die Klinge, die in seinen alten Händen sonnenhell glänzte. Merlin schloss die Augen und atmete tief, wie ein Schwimmer, der im Begriff ist, in kaltes und tiefes Wasser einzutauchen. Artus sah ihn an und wartete. Auch Ulfius und Brastias warteten. Igraine stieg vorsichtig die Treppe vom Wehrgang herab. 115 Merlins Lippen bebten. Er befeuchtete sie. Seine ganze Gestalt zitterte. Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte er: »Hell ... blendend ... zu tief... zu tief.« »Großvater!«, rief Artus und sprang auf ihn zu. Er kam zu spät. Merlin fiel. Er sackte gegen die Heuballen, wo er wie von Sinnen mit den Armen um sich schlug. Excalibur schnitt in seine sich verkrampfenden Hände. Blut rann die Klinge entlang. Merlins Augen öffneten sich. Nur Weißes war unter den Lidern zu sehen. Es schüttelte ihn, er biss wie in einem epileptischen Anfall in seine eigene Zunge. Artus beugte sich über ihn, dem alten Mann zu helfen, aber Merlin war zu unruhig. Zwischen Krämpfen krächzte er: »Zu tief... zu tief...« Brastias öffnete ihm mit Gewalt den Mund und stopfte einen Lappen zwischen die klappernden Zähne. Er bemühte sich, Merlins Finger von Excalibur zu lösen, doch es half nicht. Der Griff des alten Mannes war unerbittlich. Blut strömte von seiner Hand und verkochte in rosa Dampf. Brastias wich zurück. Ulfius übergoss die zuckende Gestalt mit einem Eimer Wasser. Es verwandelte lediglich den Staub in Schlamm. Dann, so plötzlich die Krämpfe begonnen hatten, hörten sie auch wieder auf. Merlin kam zur Ruhe. Blutige Hände ließen die Klinge fahren, die zu Boden fiel. Artus kniete voller Furcht über dem Großvater und zog ihm den Lappen aus dem blutigen Mund. »Er atmet noch«, keuchte er aufgeregt. »Das ist gut.« »Ja«, krächzte Merlins Stimme. Er öffnete die blutunterlaufenen Augen, blickte müde um sich. »Das ist gut.« »Großvater!«, sagte Artus mit erleichtertem Lachen. »Was für eine neue Verrücktheit ist das?« Merlin schüttelte den Kopf. »Keine neue Verrücktheit, Artus. Eine alte. Eine sehr alte.« 115
20. Das Schwert im Amboss
Im Frühling waren die Landstraßen kaum befahrbar. Fuhrwerke blieben hoffnungslos stecken. Pferde waren von den Hufen bis zu den Sprunggelenken von Schlamm überzogen. Jeder, der auch nur absaß, um für ein paar Augenblicke im Gebüsch zu verschwinden, kam mit lehmverschmierten Füßen zurück. Ulfius' Stiefel klebten mit lehmigem Mörtel in den Steigbügeln. Merlins Reiseumhang war von mehreren Stürzen steif und lehmfarben. Die zwanzig Krieger von der Garnison in Tintagel jammerten unaufhörlich über den Schlamm. Sie hatten gehofft, erst im Frühsommer marschieren zu müssen. Auch Artus hatte gehofft, in Tintagel zu bleiben, aber schlechte Nachrichten waren aus Chertsey angelangt. Drei verschiedene Könige beanspruchten die Herrschaft über die Mittlere Mark, und jeder von ihnen verlangte von Ector die Gestellung eines Truppenkontingents. Der Herzog weigerte sich, sammelte Krieger und zog ins Feld, um seiner Weigerung Nachdruck zu verleihen. Es war knapp ausgegangen, aber nun gab es
einen Tyrann weniger in der Mittleren Mark. Obwohl er die Schlacht gewonnen hatte, benötigte Ector mehr Krieger, und Tintagel hatte sie. Er brauchte Artus und Merlin und Ulfius. Igraine zeigte Verständnis. Tintagel war jetzt eine der am besten verteidigten Burgen in Britannien. Bereitwillig schickte sie die Verstärkungen, nahm aber mit Trauer Abschied von ihrem Sohn. Auch Artus war traurig. Als er auf der Straße von London nach Cadbury gegen Chertsey ritt, sah Artus, dass Ector in seinen Schwierigkeiten nicht allein war. Ganz Britannien fiel auseinander. Dörfer errichteten Palisaden, Städte umgaben sich mit Mauergürteln, Burgen und Klöster suchten sich durch die Anlage von Wassergräben zu schützen ... Ortschaften, die sich nicht befestigten, endeten als schwelende Ruinen. Das lebendige, atmende Land, das die Römer zurückgelassen hatten, war erloschen. Britannien versank im Chaos — Chaos und Schlamm. 116 »Ich kann es kaum erwarten, in einem warmen Badezuber zu sitzen.« Seine Beine waren bis zu den Hüften mit Lehm bespritzt, seine Stute bis zu den Schultern. »Du wirst nicht mehr lange warten müssen«, sagte Ulfius und richtete sich in den Steigbügeln auf. »Chertsey liegt gleich hinter diesem Waldgelände.« Auch Artus erhob sich in den Steigbügeln, um nach vorn zu spähen. Das Herz hüpfte in seiner Brust. »Hat jemand Lust zu einem Schlammrennen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, gab er seinem Pferd die Fersen. Die Stute fiel in schwerfälligem Trab, musste bei jedem Schritt die Hufe aus dem saugenden Lehm der Straße ziehen. So kam nicht mehr als eine gleitende, wie betrunkene Gangart dabei heraus. Schlamm spritzte von ihren Hufen auf das neben ihr trottende Fohlen. Ein lehmiger Klumpen traf Ulfius auf die Wange. »Also jetzt reicht's«, knurrte er und setzte sein Pferd gleichfalls in Trab. Die von seinem Reittier ausgehenden Spritzer waren schlimmer als die von Artus' Braunem, und das meiste davon bekamen die Krieger mit ihrem angestauten Arger ab. Sie trieben ihre Pferde zum Galopp. Ein brauner Hagel folgte ihnen. Schmutzbedeckt stürmte die Truppe die Zufahrt zur Burg Chertsey hinauf. Ein Horn blies den Willkommensgruß von den Mauern. Artus hatte seit Jahren keine beglückenderen Töne gehört. Seine Stute gewann rutschend die Zugbrücke. Das Fohlen klapperte fröhlich über sauberes Holz. Eine Karawane von Pferden und Reitern folgte, als Artus vor dem aufwärts klirrenden Fallgatter hielt. Jenseits davon warteten Ector, Diana und Kay. Freude und Furcht, frohe Erwartung und Ungewissheit spiegelten sich in ihren Zügen. Der junge Prinz bekam die Füße frei von den verstopften Steigbügeln und saß ab. Nach ein paar schnaufenden Atemzügen stapfte er auf seine Stiefeltern zu. Ector grinste verlegen, Tränen in den Augen. Kay trug ein amü 116 siertes Lächeln zur Schau und hielt die muskulösen Arme vor der Brust gekreuzt. Aber Diana — sie, die ihrem Stiefsohn so viele lange und tief empfundene Briefe geschrieben hatte — Diana war in sich gekehrt. Die Augen unter ihrer eleganten Haube waren verschlossen. Sie trug ihre Prachtgewänder, als ob sie nicht einen Sohn, sondern einen König empfangen würde. Und dies bestätigte sich gleich darauf, als Diana vor dem schmutzbespritzten jungen Mann niederkniete und den Kopf beugte.
»O nein!«, lachte Artus. »So will ich dir nicht begegnen, Mutter.« Er ergriff ihre Hand, half ihr auf und zog sie in eine lehmige Umarmung. Nun flössen die Tränen ungehemmt, und Ector erdrückte seinen Sohn in einer kräftigen Umarmung. Artus überließ sich glücklich diesem tränenreichen Wiedersehen, und als die Umarmungen geendet hatten, sagte er: »Ich mag der Erbe Uther Pendragons sein, aber hier in Chertsey werde ich immer euer Sohn bleiben.« »Freut mich, das zu hören«, sagte Kay. Er trat unbeschwert auf Artus zu. »Und du wirst immer mein kleiner Bruder sein. Aber von mir wirst du keine Umarmung bekommen, bevor du ein Bad genommen hast.« Artus grinste entschuldigend. »Die Straßen sind in einem fürchterlichen Zustand.« »Das Land ist in einem fürchterlichen Zustand«, sagte Ector mit plötzlichem Ernst. Artus nickte. »Nun, Vater, wir werden sehen, was wir dagegen tun können.« »Ach ja«, sagte Kay mit einem Anflug von Eifersucht. »Der unbesiegbare Artus und sein unbesiegbares Schwert. Dies also ist Excalibur.« Er streckte die Hand aus, um die juwelenbesetzte Scheide zu berühren, dann zog er das Schwert heraus. Im grauen Licht glänzte es wie Silber. »Eindrucksvoll.« »Und was noch eindrucksvoller ist — ich habe gelernt, damit umzugehen.« 117 Kays bewundernder Blick strafte seinen beiläufigen Tonfall Lügen. »Hast du herausgebracht, woher es kommt?« Artus machte eine abwehrende Handbewegung und flüsterte seinem Bruder zu: »Das ist ein wunder Punkt. Jedes Mal, wenn er zur Sprache kommt, bekommt Merlin einen Anfall.« Kay stieß das Schwert in die Scheide zurück und lachte. »Das würde ich gern sehen.« »Nein, bestimmt nicht«, widersprach Artus. »Glaub mir.« »Wo ist der alte Knacker überhaupt?«, fragte Kay und überblickte die lehmbeschmierte Truppe. Artus reckte den Hals. »Er war knapp hinter uns.« Auch die Krieger auf der Brücke blickten zurück. Sie schienen Merlin zu erkennen, denn sie lenkten ihre Pferde beiseite, um ihn durchzulassen. Durch die sich öffnende Gasse kam schwerfällig stapfend etwas, was weniger wie ein Reiter auf einem Pferd aussah, sondern mehr wie ein schwankender und der Auflösung naher Klumpen Lehm. »Ah«, sagte Artus erfreut. »Da kommt er jetzt.« Endlich nahm Diana das Wort und sagte zu Kay: »Ich glaube, du solltest eine Eimerkette organisieren.« Es war halb im Scherz gesagt, aber Kay lief sofort davon, um den Gedanken in die Tat umzusetzen. Bald wimmelte der Burghof von Dienern und Kriegern und überschwappenden Holzeimern. Gelächter und Stimmengewirr widerhallten von den Burgmauern. Warme Bäder folgten, und danach ein Festmahl. Eingesalzenes Schweinefleisch, Lammbraten, Wildhühner, eingelegte Rüben, Brotlaibe von Winterweizen und ein Gerstensaft, der feiner war als alles, was in den Kellern von Tintagel lagerte. Besonders dieses letzte Angebot hatte es Merlin angetan, der es mit Ectors Roggenwhisky ergänzte. »Es gibt gewisse Entbehrungen, die barbarische Orte noch barbarischer machen«, bemerkte er zwischen durstigen Zügen. Auf dem Höhepunkt des Festmahles unterhielt Artus seine Fa
118 milie mit der Geschichte seines Abenteuers in Avalon. Mehrere Krüge Bier bewogen Ulfius und Merlin, auf die Tische der großen Halle zu steigen und ihre Rollen in Pantomimen darzustellen. Merlins Verkörperung eines Wassergeistes, der zwischen Ulfius' Beinen schwamm, wurde ein großer Lacherfolg. Nachdem der Lehm abgewaschen, die Bäuche gefüllt und die wundersame Geschichte vorgetragen war und die Feiernden ihre Betten aufgesucht hatten, war ohne jede Erörterung eines zur Gewissheit geworden: Artus war zu Haus, und hier würde er sich auf seine Bestimmung, König zu sein, vorbereiten. Das Kind mit dem Geweih ist königlich ausgestattet. Themse und Brue fließen aus seinen Augen, Ströme neben den Städten, die er prägen wird. Schloss um Schloss hat er die Kammern meines Geistes aufgesperrt. In jede ist sein Licht gedrungen. Schatten des Wahnsinns fliehen in tiefere, dunklere Winkel. Den letzten Schlüssel hält er jetzt, den größten, der ohnegleichen ist — Excalibur. Aber wenn ich diesen Schlüssel in die Hand nehme und in das Schloss stecke, das die letzte und tiefte, dunkelste Tür verschließt, kommt darunter eine sprudelnde Flut hervor. Ein weiterer Fluss. Lethe überschwemmt mich, zieht mich in die Tiefe und ertränkt mich. Artus war siebzehn, bevor er sich um den Thron bemühte. Siebzehn war ein Jahr älter als er für notwendig gehalten hatte, und ein Jahr jünger, als Ulfius passend fand. Die nahezu hoffnungslose Lage des Landes entschied für sie beide. Eine Anzahl legitimer Könige in den Grenzländern — Lot von Lothian, Fergus More von Dalriada in Schottland, Galem von den Nördlichen Pikten, König Carados von Carados und der Barbarenkönig Aelle von Sussex — stellten ein Heer auf, um das Land unter sich zu teilen. Wenn Artus jetzt nicht nach Canterbury ritt, um seinen Anspruch geltend zu machen, würde es kein Britannien mehr zu regieren geben. 118 Im Frühling des Jahres 504 brachen Artus, Merlin und Ulfius auf. Canterbury war ein lieblicher Ort. Die kleine, noch von römischen Bauten geprägte Stadt lag am Flüsschen Stour zwischen welligem Hügelland und den grünen Feldern südlich der Themsemündung. Unter den ersten römischen Eroberungen in England war Canterbury durch die Ansiedlung wohlhabenden Adels und die Stationierung ausgabefreudiger Söldner aufgeblüht. Für den Ausbau der römischen Stadt hatte man große Mengen Kalkstein und Marmor eingeführt. Säulenvorbauten, Arkaden, Treppen, Bäder, öffentliche Backöfen, Markthallen und ein Amphitheater entstanden entlang der gepflasterten Straßen und Plätze. Hier und dort konnte man noch die eingemeißelte Inschrift DUROVERNUM CANTIACORUM lesen, den römischen Namen für Canterbury. Ulfius, Artus und Merlin kamen auf der Hauptstraße von London in die Stadt. Schon am Stadtrand waren die Häuser statt der landesüblichen Bauweise mit lehmverputzten Flechtwänden aus Holz oder Ziegeln im römischen Stil erbaut und trugen Stuckverzierungen, die selbst bescheidene Bauten großartig erscheinen ließen. Ziegeldächer waren bei weitem zahlreicher als Stroheindeckungen. Die milde Meeresluft, warm in der Mittagssonne, erzeugte eine Atmosphäre südlicher Leichtigkeit und Lebensart. Die Briten auf den Straßen waren rasiert und trugen lange leinene Tuniken oder, wenn sie die neue Landestracht bevorzugten, Kittel mit Ledergürteln, Hosen und Stiefel mit Ledergamaschen. Sie betrachteten die bärtigen und in
derbe Wolle und Fell gekleideten Leute aus dem Landesinneren mit einem Unbehagen, das an Misstrauen grenzte. »Du musst daran denken«, sagte Ulfius, als er seinen Wetterumhang aus gegerbten Hirschfellen von den Schultern nahm und vor sich über den Sattel legte, »dass für diese Leute Barte und grobes Wollzeug und Felle gleichbedeutend mit Sachsen sind. Seit 119 hundert Jahren wehren sie die Eindringlinge ab. Ohne die hier stationierte Garnison wäre Canterbury schon gefallen.« Artus faltete seinen hermelinbesetzten Umhang zusammen. Verlegen kratzte er sich den weichen blonden Milchbart, der sein Kinn zierte, und überlegte, ob seine Erscheinung allzu barbarisch wirken mochte. Was Merlin betraf, so legte er weder seinen barbarischen Umhang ab, noch brachte ihn sein ungepflegter langer Vollbart in Verlegenheit. Er war aus anderen Gründen wachsam und, wie es schien, voller Unbehagen. Er schnüffelte die Luft, als hätte er eine schlechte Witterung aufgenommen. »Es ist nicht bloß die Garnison, die diesen Ort bewacht«, sagte er. Ein Schnaufen kam aus seinem silbrigen Bart. »Es ist Tetragrammaton. Seine Macht hier ist absolut, und er hält nichts von Gesellschaft.« »Tetragrammaton?«, fragte Artus. »Wer ist das?« Ulfius, der neben dem jungen Prinzen ritt, beugte sich verschwörerisch aus dem Sattel und sagte: »Tetragrammaton heißt der Vierbuchstabige - JHWH und steht für Jahwe, was der israelitische Name für Gott ist. Tetragrammaton wird von Leuten, die sich scheuen, den Namen Gottes auszuprechen, auch für den Gott der Christen gebraucht.« Er blickte zu Merlin und fügte hinzu: »Auch Heiden gebrauchen die Bezeichnung aus Furcht, den Namen Gott auszusprechen und ihn damit vielleicht anzurufen.« Merlin beachtete die Stichelei nicht. »Er hat hier einen Bischof. Es heißt, Wotan fürchte ihn, und vielleicht mit Recht. Tetragrammaton hat schon andere Götter getötet.« Ulfius nickte. »Militärische Macht, römische Geschichte, Bollwerk gegen die Barbaren und Sitz des Bischofs von Britannien -Canterbury ist der geeignete Ort, um deinen Anspruch auf den Thron geltend zu machen, Artus.« Der junge Mann nickte nervös. »Und die bischöfliche Basilika bietet den passenden Hintergrund. Sie liegt im Herzen von Canterbury, zwischen dem Marktplatz und der Garnison.« Ulfius klopfte mit der flachen Hand auf 119 die rechte Satteltasche, die mit Pergamentrollen vollgestopft war. »Auf den Stufen der Basilika werde ich eine Reihe von Ansprachen halten. Jeder, der zuhören kann, wird nicht imstande sein, an deiner Abstammung und deinem rechtmäßigen Anspruch auf den Thron zu zweifeln, Artus.« Endlich sprach der junge Prinz. Seine Stimme klang nachdenklich, seine Hände fassten die Zügel fester. »Ich glaube nicht, dass es so leicht sein wird, Ulfius. Dieser Thron wird nicht durch Worte gewonnen, sondern durch das Schwert.« »Ja«, sagte Merlin und nickte zu Excalibur hin, das in Rhiannon auf Artus' Rücken ruhte. »Durch das Schwert.« Ulfius winkte ab. »Ein Thron, der durch das Schwert gewonnen wird, kann nur durch das Schwert behauptet werden. Nein. Das Geburtsrecht begründet deinen Anspruch auf den Thron.«
Artus warf Merlin einen langen Blick zu. Der alte Magier schüttelte leise den Kopf. Ein Zwinkern unter den buschigen Brauen und ein Zucken seines Schnurrbarts verrieten Artus, dass Merlin einen eigenen Plan hatte. In freundschaftlicher Stille ritten die drei weiter in die Stadt. Holzzäune machten Gartenmauern aus Bruchstein Platz, diese wiederum Hausteinfassaden und verputzten Wänden mit verblassenden Fresken. Ebenerdige Häuser gingen über in solche mit zwei und drei Geschossen. Neben Bauernkarren und Eseln waren vereinzelt leichte vierrädrige Kutschen zu sehen. In die bäuerliche Bevölkerung des Landstädtchens mischten sich hier im Zentrum mehr Handwerker, Händler, Mönche und adlige Besitzer von Landgütern, deren Entstehung noch in die Zeit der römischen Herrschaft zurückreichte. Die Hauptstraße öffnete sich zum Marktplatz wie ein Fluss, der in einen See mündet. Kurz vor der Einmündung der Hauptstraße in den Marktplatz erhob sich zur Rechten das Säulenportal des Garnisonshauses, das einst germanische Söldnerlegionäre des Römischen Reiches beherbergt hatte. Jetzt waren dort die Krieger der Stadtwache von Canterbury untergebracht. Dieses Garnisonshaus, hinter dem 120 sich Übungsplätze und Stallungen befanden, würde das Ziel der Kontingente aus Chertsey und Tintagel sein, die bereits unterwegs nach Osten waren. Die drei Reiter passierten das Garnisonshaus und kamen auf den weiten Marktplatz. Bunte Zelte und gedeckte Marktstände leuchteten in der Mittagssonne. Es herrschte reges Leben; Käufer und Verkäufer eilten geschäftig hin und her, und das Stimmengewirr wurde von Eselsgeschrei, Pferdegewieher und den Rufen von Gauklern und Marktschreiern verstärkt. Aus offenen Höfen drang der süße Duft frischen Brotes, und an aufgebockten Fässern wurden Bier und Wein ausgeschenkt. Auf der anderen Seite stand der große Rundbau der Bischofskirche. Es war ein eindrucksvolles überkuppeltes Gebäude mit Kreuzarmen, die in die vier Himmelsrichtungen wiesen. Das westliche Seitenschiff öffnete sich in drei Torbogen für Vater, Sohn und Heiligen Geist zum Marktplatz, und über ihnen war ein kreuzförmiges Fenster in die Mauer aus grauen Hausteinen eingelassen. Der Kuppelbau selbst wurde von dicken grauen Säulen neben jedem Seitenschiff getragen. Das ganze Bauwerk erhob sich auf einer kleinen Anhöhe, zu der zwölf Stufen bis zum Portal führten. Ulfius blickte abschätzend zum offenen Säulenvorbau des Portals und nickte zu sich selbst. »Der geeignete Platz«, sagte er, lenkte sein Pferd zu einer Haltestange und saß ab. Als Artus und Merlin ihn erreichten, hatte er sein Pferd bereits angebunden und suchte seine Redemanuskripte aus den Satteltaschen. Merlin musterte ihn zweifelnd unter den weißen Brauen. »Meinst du nicht, dass du die Erlaubnis des Bischofs einholen solltest, bevor du sein Kirchenportal als Rednertribüne benutzt?« Der Krieger winkte ab. »Sobald er hört, was ich zu sagen habe, wird er außer Stande sein, mir das Rederecht zu verweigern.« Artus und Merlin seufzten, weniger irritiert als bekümmert. Artus schlug vor: »Bevor wir anfangen, Reden zu halten, sollten wir uns um eine Unterkunft bemühen.« 120 »Unterkunft?«, fragte Ulfius. »Ich denke mir, dass wir gebeten werden, in der königlichen Garnison Quartier zu nehmen, oder sogar im Haus des Bischofs.«
»Der Junge und ich werden auf den Markt gehen«, sagte Merlin. Seine Augen leuchteten auf. »Vielleicht finden wir dort etwas zu essen.« Er legte dem jungen Prinzen den Arm um die Schultern und führte ihn fort. Ulfius lächelte ihnen über seine Pergamente hinweg liebenswürdig zu und zwinkerte. »Ich werde nach euch schicken, wenn die Menge vor patriotischer Begeisterung mitgerissen ist.« Merlin nickte-ihm zu, und als sie sich umwandten, flüsterte er zu Artus: »Und er hält mich für verrückt.« Der junge Mann lächelte ungezwungen. »Armer Ulfius. Er ist zu vernünftig. Er erwartet, dass wir alle genauso besonnen sein müssten. Aber man kann mit Urkunden und einer Ansprache noch keinen König machen.« »So ist es«, bestätigte Merlin. »Politik hat wenig mit Logik zu tun.« Gemeinsam schlenderten sie über das Pflaster des Marktplatzes. Die Gerüche und Geräusche umwehten sie. In Safran gefärbte Tücher hingen zum Trocknen an Stangen. In einem benachbarten Marktstand leuchteten Saphire und Perlen aus Lapislázuli in flachen Holzkästen. Es gab Teppiche aus dem Land der Äthiopier und Gewürze aus Arabien. Orientalen verkauften Silberschmuck, Töpfer hielten Tongeschirr und Gerber Lederwaren feil. Artus war gefesselt. Seine Finger befühlten die Gegenstände, als könnten sie durch ihre Berührung die fernen Länder erspüren. Merlin nahm die Gerüche des Marktes in sich auf wie ein Mann, der das Parfüm seiner Geliebten wittert. Einmal fing seine Nase das Aroma von heißem Olivenöl ein, und er blieb stehen und sog es tief in die Lungen. Seine Füße schienen Wurzeln zu schlagen. Unterdessen entdeckte Artus ein paar Kesselflicker, die in beiden Enden eines vierrädrigen Planwagens arbeiteten, und einen 121 Marktstand, wo über einem kleinen Feuer Hühner gebraten, das Fleisch ausgelöst und auf Holztellern verkauft wurde. Ein anderer Händler verkaufte Reliquien von Heiligen. Er hatte alle achtundzwanzig Fingerknochen des heiligen Petrus, die halbstündlich ausverkauft waren. In der Ferne vernahm Artus eine wohlbekannte, laut über den Marktplatz schallende Stimme und wandte sich um. Ulfius hatte vor dem Kirchenportal seine Ansprache begonnen. Der Krieger sah sich offenbar als eine Art Perikles, stand mit einem vorgeschobenen Bein und begleitete seine Rede mit ausholenden Gesten. Niemand versammelte sich zu Füßen der Treppe. Zwei Bettler, die sich auf den Stufen niedergelassen hatten, verzogen sich an einen anderen Ort. Artus lächelte mitleidig. Armer Ulfius. Am Rand des Marktplatzes befand sich eine Schmiede. Sie nahm das Erdgeschoss eines massiven, zweigeschossigen Steinhauses ein und hatte zwei Schmiedeöfen nebeneinander sowie zwei schwere Ambosse. Einer davon stand unter einem schuppenartigen Vordach halb im Freien auf einer großen Felsplatte. Schmiedewerkzeug aller Art hing an den rußgeschwärzten Wänden. Der Schmied, der sie benutzte, war so kräftig, geschwärzt und narbig wie seine Werkzeuge. Gerade jetzt trug er in einer Hand eine große Zange, in der anderen eine Kohlenschaufel. Er mochte den Eindruck eines grobschlächtigen, schlichten Mannes erwecken, aber seine Arbeit zeigte, dass er ein Meister seines Faches, ein empfindsames Genie war. Eine ganze Seitenwand war behängt mit Schwertern und Dolchen, die einander an Glanz und Vollkommenheit überboten. Ihre Klingen waren gerade und solide, die Griffe und Parierstangen verziert, aber immer handlich. Kurzschwerter, Langschwerter, Entermesser, Breitschwerter, Stilette, Dolche ...
Merlin erschien neben Artus, der die Klingen bestaunte. »So viele Arten, zu Tode zu kommen —«, sagte der junge Mann. Merlin nickte. »Es gibt andere, bessere Verwendungen für Schwerter.« 122 Damit umfasste er den Griff Excaliburs auf Artus' Rücken und zog die lange, blitzende Klinge hervor. Das metallisch klirrende Geräusch ließ Vorübergehende aufmerken und stehenbleiben. Auch der Waffenschmied hielt inne. Er hängte die Zange auf eines der Ambosshörner, lehnte die Kohlenschaufel an eine Werkbank, wischte sich die rußigen Hände an einem Lappen der an seinem Gürtel hing, und kam heran. Merlin hielt die Klinge in die Höhe, so dass sie in der Sonne glänzte. Mehr Leute kamen näher, um dieses spektakuläre Schwert zu betrachten. Es schien in der Luft zu summen, seine Umrisse waren so brillant und traumhaft wie Sonnenreflexe auf Wasser. »Hast du jemals dergleichen gesehen?«, fragte Merlin den Waffenschmied. Er sprach laut genug, dass alle in der Nähe es hören konnten. »Eine verzauberte Klinge. Eine heilige Klinge.« Die Worte taten ihre Wirkung. Mehr Leute versammelten sich hinter Merlin. Artus warf ihm einen nervösen, flehentlichen Blick zu. Der Waffenschmied trat näher und streckte die schweren, harten Hände aus. Ruß zeichnete die Handlinien nach. »Darf ich?« Artus schüttelte den Kopf, aber Merlin übergab ihm das Schwert. Der Waffenschmied visierte die Schneiden der Klinge entlang, drehte es um, hielt es in einer Hand und führte einen Schlag aus. Das Schwert beschrieb einen schönen Bogen, sein Metall schien zu singen. Ein widerwilliges Lächeln zuckte in einem Mundwinkel des Schmiedes. Er prüfte die Balance, dann schwang er Excalibur wieder in einer Serie eindrucksvoller Paraden und Vorstöße, als hätte er es mit einem Schwärm von Gegnern zu tun. Das von der Klinge reflektierte Sonnenlicht blitzte über das Segeltuch von Zelten und Fuhrwerken und bis hinauf zur Bischofskirche. Die Zuschauermenge wuchs. Artus verfolgte das Geschehen, und Furcht krampfte ihm den Magen zusammen. 122 »Sehr schön«, sagte der Waffenschmied und kam zurück, Merlin die Waffe auszuhändigen. »Du hast Recht, alter Mann. Ich habe nie dergleichen gesehen. Dies ist eine unbezahlbare Klinge. Wer ist der Hersteller?« »Die Götter fertigten diese Klinge«, erwiderte Merlin einfach. »Sie ist nicht nur unbezahlbar, sie ist heilig. Diese Klinge wird Britannien retten.« Ein Murmeln ging durch die Menge. Der Waffenschmied legte den Kopf auf die Seite. »Ich weiß nichts über heilige Schwerter. Da würdest du den Bischof fragen müssen —« »Zerstöre es«, sagte Merlin ruhig. »Nein!«, protestierte Artus, aber Merlins sanfter Händedruck beruhigte ihn. Der Waffenschmied blickte von einem zum anderen. »Der Bursche hat Recht. Es würde eine Sünde sein, solch eine Klinge zu zerstören.« »Zerstöre es«, wiederholte Merlin. »Ich garantiere dir hundert Golddenare, wenn du es zerstören kannst.«
Ein Ausdruck misstrauischer Gereiztheit geriet in die Züge des Schmiedes. »Was hat das zu bedeuten? Warum bietest du mir ein Vermögen, wenn ich diese unbezahlbare Waffe zerstöre?« »Ich biete es dir, weil du das Schwert nicht zerstören kannst. Es ist mehr als unbezahlbar. Es ist heilig. Dieses Schwert wird Britannien retten. Du wirst es beweisen, indem du versuchst, es zu zerstören.« Der Schmied presste die Lippen in einer grimmigen Linie zusammen und warf einen letzten verlangenden Blick auf das Schwert. Dann ging er zu seiner Werkbank und zog eine Ahle mit Diamantspitze aus einer Schublade. Er kam zurück, nahm vor Merlin und Artus Aufstellung, hielt Excalibur in Augenhöhe und zog die Diamantenahle über die Breitseite der Klinge. Ein trauriger Ausdruck kam in seine Augen. »Da, sie ist zerkratzt.« »Sie ist es nicht«, verbesserte ihn Merlin. Der Schmied zwinkerte, sah genauer hin. Die Klinge glänzte 123 mit derselben Unversehrtheit wie zuvor. Die Diamantspitze der Ahle hatte keine Spur hinterlassen. Der Schmied wiederholte den Versuch. Noch immer erschien kein Kratzer. »Das ist nicht möglich. Ich verwende diese Ahle zur Markierung von Metall — jedem Metall —, aber hier ist keine Spur zurückgeblieben —« Der Schmied trug das Schwert zur Esse, stieß die Klinge bis zum Heft in die Glut und pumpte den Blasebalg. Die rot glühenden Kohlen leuchteten auf. Auch die Augen des Schmiedes leuchteten im Widerschein. Vor der Schmiede herrschte Stille, obwohl die Menge sich verdoppelt hatte. Die in den hinteren Reihen stehenden Neugierigen reckten die Hälse. Der Schmied zog das Schwert aus der Esse, legte es auf den Amboss und schlug kraftvoll mit einem Hammer zu. Der Hammerkopf vibrierte in seiner Hand. Die Schwertklinge ließ einen hellen Glockenton hören, schien aber weder verbogen noch gebrochen. Der Schmied schnaubte. »Was für ein verdammtes Metall -?« »Es ist nicht einmal heiß«, sagte Merlin, hob loses Stroh vom Boden auf und hielt es an die Klinge. »Du kannst die Klinge berühren, ohne dich zu verbrennen.« Eine Bewegung ging durch die Menge. Hinter ihr erschien eine Persönlichkeit, die es gewohnt war, im Mittelpunkt von Menschenmengen zu stehen: der Bischof von Canterbury. Er amüsierte sich über die Schaustellung. Nicht so der Mann, der neben ihm stand, ein gewisser Krieger, dessen Ansprache vom Geschehen in der Schmiede zunichte gemacht worden war. Vorsichtig berührte der Waffenschmied die Klinge. »Du hast Recht, alter Mann. Sie ist nicht heiß.« »Zerstöre sie«, wiederholte Merlin. »Zerstöre sie, kassiere hundert Golddenare und beweise, dass dieses Schwert eine gewöhnliche Klinge ist. Doch wenn du den Beweis nicht erbringen kannst, glaube mir, dass diese heilige Waffe Britannien und uns alle retten wird.« Die ganze Menge hörte seine Worte — Händler und Adlige, Sklaven und Diener, Krieger und Kleriker, der Bischof und 123 Ulfius. Sie alle hörten die Worte und reckten in aufgeregter Erwartung die Hälse, als der Schmied tat, was er konnte. Er klemmte die Schwertspitze in eine Schraubzwinge und zog mit aller Kraft am Griff. Die Klinge bog sich nicht einmal. Vergrößerte Anstrengung brach die Schraubzwinge aus ihrer Verankerung, so dass sie klappernd auf das Pflaster fiel. Als Nächstes bearbeitete der
Schmied dasselbe Pflaster mit Schwerthieben. Die Klinge bekam weder Scharten, noch verbog sie oder wurde stumpf. Jeder Schlag klang hell wie ein Glockenton und entnervte den schwitzenden Schmied. Als Nächstes legte er das Schwert mit Spitze und Griff über zwei Ziegelsteine, führte ein zum Beschlagen angebundenes Zugpferd herbei und brachte es dazu, mit beiden Vorderhufen auf die Schwertklinge zu treten. Das Pferd tat es und stampfte sogar einige Male. Die Verblüffung der Menge machte sich in Ausrufen Luft. Der Bischof selbst klatschte erregt in die Hände, als der Schmied ein unversehrtes Schwert in die Höhe hielt. Erschöpft beendete der stämmige Mann seine Versuche, indem er die Klinge gegen alles schlug, was im Umkreis zu sehen war. Er packte es beidhändig und hieb die Schneide mit aller Kraft auf den Amboss, alles ohne Erfolg. Mit jedem musikalischen Klingen wurden die Rufe aus der Menge lauter, und die Anstrengungen des Schmiedes wurden verzweifelter, erschöpfter. Endlich trat Merlin unter das Vordach der Schmiede und nahm dem ausgepumpten Schmied Excalibur aus den Händen. Er hielt das Schwert in die Höhe. »Seht, Leute von Canterbury, von Britannien. Dies ist Excalibur, eine Klinge aus alter Zeit, heilig und verzaubert. Sie wird unser Land retten. Sie wird unser Volk einen. Sie wird uns zu dem rechtmäßigen König der Briten führen.« Damit holte er aus und stieß die Klinge in den Amboss auf der Steinplatte. Excalibur sank durch das Eisen wie in Wasser und bohrte sich durch Metall und Gestein. »Wer immer dieses Schwert aus dem Amboss ziehen kann, wird König von Britannien sein!« 124
21. Artus der König
Merlin und Artus saßen auf einem sonnenbeschienenen Balkon. Auf einer Seite pulsierte das geschäftige Leben des Marktplatzes. Auf der anderen war ein Teil des Übungsplatzes der Garnison zu sehen, wo Reiter ein Turnier veranstalteten und Fußvolk Waffenübungen ausführte. Schräg vor ihnen ragte die Bischofskirche auf ihrer Anhöhe und bildete den Hintergrund zu Ulfius' Ansprache. Er glich einem kleinen Vogel, der mit den Flügeln schlägt und gegen ein Unwetter ansingt. Niemand beachtete seine hoffnungsvolle Botschaft. Auf dem Marktplatz warteten Tausende in langen Reihen, um die wahre Zukunftshoffnung zu ziehen — Excalibur. Merlin bewachte die Klinge. Sie besaß die Macht des Traumes. Sie fesselte das Auge, zog die Hand an sich, ergriff Besitz vom Herzen. Steckte es in der Scheide, war die Macht des Schwertes vollkommen und in sich ruhend. Vereint hielten Excalibur und Rhiannon ihre göttliche Macht in sich gefangen. Getrennt, sehnten sie sich nacheinander. Sie strahlten in die kalte Ferne und zogen alles Volk in ihren Strahlenglanz. Artus hielt Rhiannon an seine Brust gedrückt. Er starrte fiebernd vor Unruhe zu seinem Mentor. »Warum dies alles, Großvater?«, fragte er zum vierten Mal. »Warum?« »Britannien muss sehen. Die Menschen müssen zum Schwert und seinem Träger hingezogen werden.« Die Stimme des alten Mannes klang verträumt und traurig. »Sogar deine Familie und deine Kameraden wetteifern um die Klinge. Kay und Ector haben beide versucht, sie aus dem Amboss zu ziehen — und sind gescheitert. Aber sie haben Excaliburs Macht gespürt. Sie werden demjenigen Treue schwören, der die Klinge herauszieht.«
»Dann lass mich hingehen, Merlin. Lass mich die Klinge jetzt ziehen. Warum muss ich warten?« »Sie treffen noch immer ein, Artus. Deine Freunde aus Dumnonia sind noch nicht hier. Ohne sie könntest du das Königtum 125 nicht gewinnen. Und andere - Freunde und Feinde. Sie kommen zum Schwert. Sie alle müssen ihr Glück versuchen und scheitern, bevor du die Klinge herausziehst.« Artus lehnte sich auf dem Stuhl zurück und stieß mit den Füßen an das Balkongeländer. Seine Beine waren unruhig — vor nervöser Energie. »Ich weiß nicht, warum ich so ungeduldig bin. Es wird nicht leicht sein, zu herrschen. Es wird nicht leicht sein, den Thron zu besteigen und dort zu bleiben. Ich werde kämpfen müssen.« »Ja«, bestätigte Merlin. »Aber du wirst mich an der Seite haben, und deinen Stiefvater und Bruder, deine Mutter und Brigid, Rhiannon und Excalibur.« »Erzähl mir von dem Schwert, Merlin«, sagte Artus und ließ die Füße auf den Balkonboden fallen. »Erzähl mir alles. Wie kann ich damit kämpfen, wenn ich nichts über seine Ursprünge weiß?« Merlin seufzte. Dies waren tödliche Fragen. Er wusste es und Artus wusste es auch. Excaliburs Ursprünge waren verstrickt in Merlins eigene Ursprünge - ein Geheimnis mit giftigem Herzen. »Entschuldige, Großvater«, sagte der Jüngling. Er kratzte sich den weichen Bart und schnaufte. »Ich bin bloß so angespannt. Ich - dieses Warten macht mich verrückt —« »Nein, Artus. Du hast Recht.« Merlins Stimme zeugte von einem tiefen Ernst. »Du musst es wissen, um jeden Preis. Du musst alles über das Schwert wissen, und auch ich muss es wissen.« Der Magier kehrte seine Gedanken nach innen. Vor Merlin strömte ein schwarzer Fluss des Vergessens. Die Alten nannten ihn Lethe. Er trennte das Leben vom Tod. Am diesseitigen Ufer lagen die wuchernden Felder Albions -ein Furcht erregendes Wunderland von sprechenden Baumstümpfen und lorbeerbekränzten Mädchen und dem purpurnen Drachen Pendragons. 125 Am jenseitigen Ufer lag nichts, eine Ödnis von Gebeinen und Fäulnis. Alle tödlichen Dinge wohnten dort und erwarteten jene, die den Fluss Lethe zu überqueren wagten. Diesen dunklen Fluss zu überqueren, bedeutete zu sterben. Wer ihn befuhr, wurde hinab in die Tiefen getragen, wo das Treibgut vergangener Selbste sich sammelte. Merlin atmete bitteren Nebel. Er brannte in seiner Nase und prickelte im Gehirn, betäubte es wie Roggenwhisky. Er blickte stromauf. Der Fluss erstreckte sich in verworrene Ewigkeiten. Er blickte stromab. Dort verschwand der Fluss in tiefen schwarzen Höhlen. Dort unten lagen endlose Wasserfälle, kochende Felsenkessel, Ozeane, die an elfenbeinerne Ufer brandeten. Dort unten lagen die Geheimnisse von Excalibur. Am Ufer war ein kleines Boot angebunden. Es würde gerade ausreichen, Merlin zu tragen. Er stieg an Bord und nahm das Paddel. Damit stieß er sich vom Ufer ab und in die glatte Strömung. Sie trug ihn zu einer gähnenden Höhlenöffnung. Ihre Kehle brüllte vom stürzenden Wasser. Merlin und sein winziges Boot trieben in den steinernen Rachen. Eine gerippte Decke glitt vorüber. Das Licht versagte. Die Strömung wurde stärker.
Abwärts zog sie ihn, und weiter abwärts. »Es war vor langer Zeit, Artus«, sagte Merlin im Ton eines Orakels. »Bevor ich nach Sachsen oder Asgard kam. Bevor ich nach Britannien kam. Mehr als ein Jahrhundert ist seitdem vergangen. Damals war ich sehr jung. Nein, nicht jung. Neu. Ich war sehr neu. Sogar Christus war damals nicht ganz vierhundert Jahre alt.« Merlins Boot tanzte über die Wellen der rauschenden Strömung. Es lag eine wahnsinnige Vernunft in diesen verwirrenden Höhlengängen, wo es glatte Auskehlungen und Luftlöcher gab. In ragenden Wänden, mehr Schatten als Stein, sah er Gestalten: Römische Soldaten in einer Phalanx, die Speere schleuderten. Gebäude, die unter einer gewaltigen Explosion zusammenstürzten 126 und zu Schutt wurden. Flüchtende Schreiber, deren Gewänder in Flammen standen. Die Banner Constantins. »Ich war nahe der Hauptstadt des Reiches. In einer volkreichen Stadt mit vielen Soldaten.« Unter diesen wechselnden Bildern befand sich die Erscheinung eines Mannes, eines bärtigen Wahnsinnigen. Das Haar umstand seinen Kopf in wirrem Aufruhr. Schaum und Blut flogen von seinen zerbissenen Lippen. Seine Gestalt, einst groß und muskulös, war vom Alter gebeugt, von Entbehrungen ausgezehrt. Pockennarben verunstalteten sein Gesicht, die Haut spannte sich über die Knochen. Und keine Kleidung bedeckte sie; jedes Gewebe verglühte auf ihr zu Asche. »Damals war ich wirklich wahnsinnig.« In wütender Raserei zog der Mann durch die Straßen. Er rollte die Augen, und wohin sein Blick fiel, versteinerte er wie jener der Gorgo Medusa die Menschen zu tödlicher Erstarrung. Endlos wütete er, stieß unsinnige Beleidigungen aus, von denen jedes Wort zu einem mit Griechischem Feuer getränkten Lappen wurde, der alles in Brand setzte, was er berührte. Und wenn er schrie, ertaubte ein jeder, der ihn hörte. Ein mörderischer Gestank umhüllte ihn mit einer giftigen grünen Wolke. Vögel, die sie durchflogen, fielen tot zu Boden. Bettler, die seiner schwankenden Annäherung nicht entkommen konnten, sanken leblos vor ihm hin. Seine bloße Gegenwart ließ Öl sauer werden, Fleisch faulig und Wein zu Essig. Aber seine Berührung war am mächtigsten von allen. Alles, was ihm in die Hände kam, wurde von Substanz in Essenz umgewandelt. Seine bloßen Füße schmolzen Sand zu Glas und Kalkstein zu Marmor. Seine Hände verwandelten Kohle zu Diamanten, konnten Oliven zu ganzen Bäumen machen und die Toten zu schlurfendem Leben erwecken. 126 »Ich zog durch die Stadt wie ein lebender Wirbelsturm. Wohin ich ging, folgte mir der Tod auf den Fuß. Sie versuchten mich zu töten. Sie versuchten es, aber sie vermochten es nicht.« Eine ganze Kohorte umstellte ihn. Ihre Lanzen durchbohrten ihn. Die hölzernen Lanzenschäfte trieben Blätter und Wurzeln. Er riss sie aus seinem Leib und erschlug seine Angreifer mit dem Bösen Blick. Sie lockten ihn in eine Sackgasse, verschlossen den Zugang und warfen dann Krüge mit Griechischem Feuer auf ihn herab. Flammen erfüllten die Gasse, bis sie seine Haut berührten, dann von materiellem zu essentiellen Feuer umgewandelt, breitete sich der Brand nach außen weiter aus. In seiner Hitze zerbrachen Steine und Mörtel. Er verwandelte Fleisch in Asche. Eine List, die bezweckte, den Verrückten zu beseitigen, tötete statt seiner Hunderte von Bewohnern. »Ich wollte nicht gehen. Ich suchte etwas, zur Vergeltung. Ich suchte nach dem Götter tötenden Schwert —«
»Excalibur«, flüsterte Artus. Dieses einzige Wort brachte Merlin den jungen Prinzen und all die seither verstrichenen Jahrzehnte ins Bewusstsein zurück. Ihn schwindelte. Die Schatten an den Höhlenwänden verschmolzen in völliger Schwärze. Das winzige Boot wurde von den Stromschnellen Lethes hin und her geworfen. Wellen brandeten über die Bordwand, und die unerbittliche Strömung zog Boot und Insassen hinab in einen Strudel. Merlin wurde aus dem Boot geschleudert und schlug in den stürzenden Wassern hilflos um sich. Steinerne Wände prellten Kopf und Rippen und Hüften. Seine Halt suchenden Hände glitten am glatt gewaschenen Stein ab. Seine Lungen brannten. Endlich musste er die brennende, schreckliche Flut des Vergessens einatmen. Er war am Ertrinken. Die 127 letzte Luft wurde in blutigen Blasen aus seinen Lungen gepresst. Er schlug mit dem Kopf hin und her. Die Vision war verschwunden. Alles war verloren. Selbst sein Körper gehörte nicht mehr ihm. Er zog sich in unkontrollierbaren Krämpfen zusammen. Seine Schreie waren nur Gurgeln. Er schien dem Tode nahe. Aber durch das rauschende, dröhnende Chaos kam ein einziger silberner Faden. Merlin klammerte sich daran, zerschlagen und hoffnungslos. Der Faden zog ihn aufwärts, durch Tausende von Ellen schwarzen Wassers zu Licht und Luft. Der silberne Faden sprach zu ihm und sagte mit leiser Stimme wieder und wieder: »Es ist schon gut, Großvater. Es ist schon gut.« Monate später saß Merlin nervös im Garten der Heiligen. Es war ein kleiner Garten mit seltsamen Statuen. Das Unvermögen des britischen Bildhauers wurde barmherzig verhüllt von Efeu und den Schatten der Laubbäume. Der heilige Paulus war hier, wie er vom Pferd gefallen war, und ähnelte bei all dem Efeu, der ihn umrankt hatte, dem Laokoon. Der heilige Thomas war in der Nähe und stieß Christus mit gestrecktem Zeigefinger in die Seite — Zweifler in ihrem Augenblick größter Zweifel. Merlin konnte es nachempfinden. Er hätte sich in diesem überwachsenen, verwilderten kleinen Garten zu Hause fühlen können, wäre nicht auf einer Seite der hoch ragende Tempel Tetragrammatons gewesen. Merlin fürchtete die christliche Gottheit ebenso sehr, wie er Wotan fürchtete. Trotzdem saß er hier, keinen Steinwurf von der prunkvollen Tür entfernt, die in Tetragrammatons Tempel führte. Artus und Ulfius waren gerade durch diese Tür geschritten, unter einem Tympanon, unter dessen Bogen ein plumpes Relief den heiligen Hieronymus darstellte. Die beiden trafen mit dem Bischof zusammen, da sie Tetragrammatons Segen für Artus' Herrschaft brauchten. Merlin fühlte sich verraten. Seine Pläne waren gut vorange 127 kommen. Den ganzen Sommer über waren Adlige aus allen Teilen Britanniens nach Canterbury gekommen. Kleinkönige, Herzöge, Grafen, Ritter und Freie hatten die Reise auf sich genommen, um mit dem Herausziehen der sagenhaften Klinge aus dem Amboss ihr Glück zu machen. Keinem war es gelungen, aber alle hatten die Macht des Schwertes gefühlt, seine Anziehungskraft. Als Artus das Schwert schließlich herausgezogen hatte, waren sie bereit, ihm Treue zu schwören und ihn zum König zu machen. Es war nicht notwendig, die Billigung der Kirche zu gewinnen. Es gab keine Notwendigkeit, Tetragrammaton einzuladen, mit Artus den Thron zu teilen. »Das ist eine ernste Wendung«, flüsterte eine Stimme in Merlins Ohr. Sie klang wie das Rascheln von Laub in einer Brise. Wahrscheinlich war es das. Abgesehen von den Statuen war Merlin allein.
»Loki«, flüsterte er in plötzlicher Erkenntnis, legte die Hände an die Schläfen und beugte sich vorwärts. »Immer erscheinst du in meinen dunkelsten Stunden.« Die Andeutung eines Grinsens kam auf die Lippen des heiligen Constantin. »Wann sonst wirst du auf mich hören?«, raschelte die Stimme. »Was müssen wir tun? Tetragrammaton ist nicht unser Freund.« »Was wir tun sollen?«, fragte Merlin. »Artus' Thronbesteigung ist nicht deine Sorge.« Ein frostiger Ton schlich sich in Lokis Stimme, Reif auf grünen Blättern. »Du irrst dich, mein Freund. Dein zukünftiger König geht mich sehr wohl etwas an.« Merlin war nicht in der Stimmung für Spötteleien, schon gar nicht mit Phantomen. »Ich erträumte Artus, bevor er empfangen war. Ich bereitete seine Empfängnis vor. Ich brachte ihn in die Welt, zog ihn auf, unterrichtete ihn. Und ich werde ihn auf den Thron setzen, ohne Tetragrammaton und ohne dich.« »Du vergisst, mein Freund«, erwiderte Loki freundlich, »dass ich den Handel vermittelte, der den Fluch von Artus' Kopf nahm. 128 Ich rettete ihm das Leben und brachte Guinevere in die Welt. Sie wird die Macht seines Thrones sein. Ich inspirierte dich, für Ut-her zu kämpfen und das Land vor den Sachsen zu retten, damit Artus es regiere. Du und ich gemeinsam — wir machen Artus zum König.« »Es gibt kein wir, Loki«, sagte Merlin ärgerlich. Der Gott schien überall um ihn zu sein — verzog die Lippen des heiligen Stefan, vergiftete den Federkiel des heiligen Hieronymus und malte der heiligen Maria einen Schnurrbart — aber es war alles Sinnestäuschung. »Es gibt kein wir, weil du ein Hirngespinst meines verrückten Geistes bist. Du kommst nur in meinen dunkelsten Stunden, weil sich die Gitterstäbe der Vernunft nur dann genug biegen lassen, dass sie dich aus deinem Käfig befreien. Und ich weiß, warum du kamst. Nicht Artus' wegen, sondern weil ich die tiefste, dunkelste Tür meines Wahnsinns aufschließe den Ort, den du dein Heim nennst. Und wenn diese Tür sich weit öffnet und die Wahrheit wie das helle Morgenlicht eindringt, wirst du dich zusammen mit all den anderen Schattengestalten des Wahnsinns für immer auflösen. Du kommst nicht, weil du Tetragrammaton fürchtest, sondern weil du mich fürchtest.« Ein Lachen antwortete darauf, ein freudloses Lachen. Es raschelte durch Laub und Ranken und schien sich noch bis in die Wurzeln fortzusetzen. »Ach, wie sehr du dich irrst, Merlin.« »Tue ich das?« »Du glaubst wahrhaftig, du hättest Asgard besucht, gegen Wotan gekämpft und seiest mit deinem kostbaren Excalibur geflohen - aber du willst nicht glauben, dass Loki dir von jenen hohen Hallen folgte?« Dieser Gedanke sandte Merlin ein Frösteln über den Lippen. »Wenn du wirklich bist, warum erscheinst du nur mir? Warum ist noch kein anderer in Britannien mit dem großen Loki zusammengetroffen?« »Ich erscheine auch anderen, alter Mann«, erwiderte Loki, »und bald auch in fester Gestalt. Meine Macht wächst. Sie wächst mit 128 jedem Sachsen, der hier geboren wird, mit jedem Sachsen, der an diesen Küsten landet. Sie wächst mit Artus' Macht, wie Guineveres Macht wächst. Macht ist die Dividende, die dem Königsmacher gezahlt wird, und ich bin der Königsmacher. Denk daran, Merlin — ich erschaffe Artus, und ich kann ihn ruinieren. Für jede Guinevere gibt es eine Morgan ...«
Die Wahrheit von Lokis Worten kam Merlin plötzlich klar zu Bewusstsein. Zitternd stand er auf. »Drohe mir nicht, Loki. Drohe Artus nicht.« »Du denkst, du hättest dies alles eingerichtet? Du denkst, das Schwert im Amboss werde deinen Jungen zum König machen? Nun, Merlin, Jungen sind ungeduldig. Vielleicht könnte ich dir meine Wirklichkeit beweisen, indem ich Artus bewege, das Schwert zu früh zu ziehen ...« »Hinweg mit dir, Loki!«, brüllte Merlin. »Ich werde die Finsternis aufschließen, wo du haust, und sie mit flammender Wahrheit ausbrennen. Mach dich fort, für immer!« Der heilige Hieronymus lächelte spöttisch in seinem Tympanon. »Tue das, Merlin. Schließe deine tiefste Verrücktheit auf. Lass die flammende Wahrheit hineinscheinen. Sie wird mich nicht zerstören. Sie wird dich zerstören.« Kaum waren diese Worte gesprochen, da öffnete sich die Flügeltüre der Bischofskirche. Artus und Ulfius traten heraus. Beide strahlten froh und zufrieden. »Da bist du ja, Merlin«, sagte Ulfius. »Ich hoffe, deine Wartezeit war so angenehm wie unsere Zusammenkunft mit dem Bischof.« Merlin blickte mit glasigen Augen ins Leere; er konnte nur nicken. »Die Kirche unterstützt mich!«, sagte Artus, sprang die Stufen herunter zu seinem Großvater und umarmte ihn freudig. »Sie werden mich den Erwählten Gottes nennen.« In der kräftigen Umarmung des Jünglings fühlte sich Merlin schwach. 129 Ulfius rollte selbstzufrieden ein paar Pergamente zusammen. »Der Bischof war beeindruckt von Artus' Abstammung, seinen Kenntnissen der kirchlichen Lehre, seiner Tugendhaftigkeit —« »Und ich versprach, die Kirche nicht zu besteuern«, fugte Artus aufgeregt hinzu. »Ist das nicht großartig? Ich kann den Thron mit dir auf einer Seite und Gott auf der anderen besteigen!« Merlin nickte wie betäubt. »Großartig, ja. Großartig.« Während die besten und stärksten Männer des Landes versuchten, das Schwert aus Amboss und Stein zu ziehen, wurde es Herbst. Keinem von denen, die antraten, ihr Glück zu versuchen, war Erfolg beschieden. Noch immer erstreckte sich die Warteschlange der Männer halb um den Marktplatz. Viele waren sogar ein zweites oder gar ein drittes Mal erschienen, um die Aufgabe doch noch zu bewältigen. Nur Artus wurde die Chance verweigert, und allein wegen seines Großvaters. Der junge Prinz stand auf dem Balkon und raufte sich das Haar. »Ich halte es nicht mehr aus! Das Warten macht mich verrückt. Ich kann es nicht ertragen, zuzusehen, wie ein ungewaschener Idiot nach dem anderen an Excalibur zerrt!« Merlin versuchte ihn zu besänftigen. »Es ist noch nicht Zeit. Tue es nicht, Artus. Alle anderen, die sich für geeignet halten, müssen es zuerst versuchen, oder es wird Krieg geben. Überstürze diese Sache nicht, sonst wird es zu einem Blutvergießen kommen.« »Blutvergießen hört sich gut an«, stieß Artus hervor und schritt zur Tür. »Ziehe es nicht! Ich warne dich!« »Wer hat dich zu Gott gemacht?« Artus warf die Tür zu und stampfte die Treppe hinunter. Wahrscheinlich dachte Merlin, er wolle zur Schmiede gehen, sagte sich Artus. Sollte er doch! Sollte er sich einen Zauber ausdenken, der ihn aufhalten würde! Artus 129 verließ das Garnisonshaus zum Hinterausgang und trat hinaus auf den Turnierplatz.
Dort ertönten Hochrufe, aber nicht für ihn. Die Angehörigen des hohen und niederen Adels nutzten die Gelegenheit ihres gemeinsamen Aufenthaltes in Canterbury, um sich mit Turnieren zu Fuß und zu Pferde, mit Schmausereien und Verabredungen die Zeit zu vertreiben. Selbst diese Formen der Unterhaltung waren Artus verwehrt. Ector und Diana verboten ihm die Teilnahme an den Turnierspielen, um den zukünftigen König nicht der Gefahr eines Unfalls auszusetzen. »Sie werden es sich anders überlegen. Sie müssen!« Damit marschierte Artus auf den Zeltpavillon von Chertsey zu. Das blaue und weiße Familienwappen über dem Eingang streifte seinen Kopf, als er eintrat. Auf einer Seite lagen Strohsäcke aufgereiht, Nachtlager der Krieger des Hauses Chertsey. Einige von diesen, die bei den Turnieren Prellungen und leichte Blessuren davongetragen hatten, ruhten dort. Andere erholten sich schnarchend von ihren Anstrengungen. Auf der anderen Seite stand ein langer, roher Tisch auf Schrägen, wo die gesunden und weniger erschöpften Krieger aßen und tranken und sich mit Brettspielen unterhielten. Der rückwärtige Teil des Zeltpavillons war durch Vorhänge abgeteilt und enthielt die Privatgemächer der herzoglichen Familie. Ohne nach rechts und links zu blicken, schritt Artus auf den Vorhang zu, schlug ihn zurück und verkündete: »Ich will auch mein Vergnügen haben!« Die Worte waren ihm kaum von den Lippen gegangen, als er sah, dass sein Stiefvater im Bett lag und schlief. Diana schaute erschrocken hinter dem Vorhang ihres benachbarten Gemaches hervor. Ector erwachte grunzend und blinzelte missvergnügt. Dann kam Diana herein und begann über Artus' errötet - verwirrten Gesichtsausdruck zu lachen, in dem Überraschung, Verlegenheit und Empörung um die Vorherrschaft rangen. Artus war erbost. »Lach nicht! Dank Ulfius und Merlin la 130 chen alle über mich. Ich hab's satt! Ich will fechten. Ich will in die Turnierlisten aufgenommen werden! Schwertfechten, Gruppenkampf —« »Das sind bloß Spiele, Artus, gefährliche Spiele«, sagte Diana beunruhigt. »Du bist für Größeres bestimmt. Du sollst König sein. Du kannst nicht Leben und Gesundheit riskieren -« »Ich kann und ich werde es!«, widersprach Artus. »Ich bin in den Kriegerstand aufgenommen worden. Darin bin ich Kay ebenbürtig, und er beteiligt sich jeden Tag an den Turnieren. Er ist euer eigenes Fleisch und Blut, und ihr lasst ihn teilnehmen! Warum nicht mich?« »Junge, Junge«, sagte Ector, »du bist erst siebzehn. Die meisten dieser Turnierkämpfer sind Männer und wiegen doppelt so viel wie du. Die meisten von ihnen sind erfahrene Recken, die in wirklichen Schlachten gekämpft und wirkliche Feinde getötet haben —« »Das ist genau, was ich sagen will«, erwiderte Artus. »Ist es nicht besser für mich, im Turnier Scheingefechte auszutragen, bevor ich wirklichen Feinden entgegentreten muss? Wenn ich König sein soll, werde ich kämpfen müssen.« Diana sagte: »Ulfius und Merlin sind der Meinung, dass du als König nicht selbst zur Waffe wirst greifen müssen —« »Unsinn! Unsinn!«, wetterte Artus. »Diese Kleinkönige kümmert meine Abstammung nicht. Es kümmert sie auch nicht, wer von welchem Gott unterstützt wird. Sie werden sich nur jemandem unterwerfen, der sie schlagen kann. Ich muss kämpfen. Ich werde niemals König sein, wenn ich mich nicht meiner Haut wehren kann.«
Ein ernüchterter Ausdruck kam in ihre Augen. Artus sah ihnen an, dass es ein schwieriger Augenblick für sie war. Siebzehn Jahre lang hatten sie über ihn gewacht, hatten ihn an der Hand gehalten und geführt, und nun wollte er sich von ihnen losmachen. »Such dir ein Schwert«, sagte Ector schließlich. »Such dir ein Schwert, und ich werde dich auf die Listen setzen.« Freudestrahlend wandte Artus sich zum Gehen. Bevor er den 131 Vorhang zurückschlug, sagte er: »Danke, Vater. Danke Mutter. Ihr werdet es nicht bedauern. Nun wird mich keiner mehr auslachen.« Er stürzte hinaus und prallte mit einem Knappen zusammen. Beide fielen auf dem Zeltboden übereinander. Die Männer am Tisch und auf den Strohsäcken lachten. Das lauteste Lachen kam von einem Neuankömmling, der erschöpft auf einem Strohsack lag. »Wartet, wartet!«, rief Kay von seinem Lager. »Gebt den Strohsack meinem Bruder. Er ist schwerer verwundet als ich.« Neues Gelächter klang auf. Kay hatte den Schuppenpanzer abgelegt, lag im blutigen Hemd und wartete auf den Wundarzt. Ein Schwerthieb hatte die Schulterspangen seines Panzers durchschlagen und einen tiefen Schnitt durch Haut und Muskeln seiner linken Schulter hinterlassen. Eine gepresste Heiserkeit seiner Stimme verriet, dass er furchtbare Schmerzen hatte. Schweiß rann ihm vom Gesicht. »Sei froh, dass du es nur mit einem Knappen zu tun hattest.« Neues Gelächter erhob sich. Artus rappelte sich auf, trat zu seinem Bruder und sagte: »Was ist geschehen? Wer hat dich geschlagen?« »Mich geschlagen?«, keuchte Kay mit nervösem Lachen. »Ich habe gewonnen!« »Aber dein Arm —« sagte Artus und verzog das Gesicht, als Kays Knappe vorsichtig die verletzte Schulter freilegte und Gewebefasern vom wollenen Unterziehhemd aus der Wunde zog. »Mit dem Fechten wird es für dich auf Monate hinaus vorbei sein.« »Ah, aber was für ein Kampf es war, Artus. Glorreich!« Ein froher Glanz kam in Artus' Augen. »Ja. Und weil du in den nächsten Wochen nicht fechten wirst, kannst du mir dein Schwert leihen.« Zwischen Kays zugekniffenen Lidern quollen Tränen heraus, und er knirschte vor Schmerz mit den Zähnen, als Branntwein über seine Schulter gegossen wurde. Er krümmte sich auf dem La 131 ger, dann kam er zur Ruhe und seufzte: »Sicher, Artus. Nimm es. Nimm das Schwert.« Matt hob er die rechte Hand von seiner Klinge. Triumphierend zog Artus es an sich und hob es in die Höhe. »Seht, Artus von Chertsey!« Gelächter erfüllte das Zelt. Kay schlug mit der Faust auf den Strohsack. Artus blickte bestürzt auf und sah, dass die Klinge gebrochen war. Was er in der Hand hielt, war nicht viel mehr als ein langer Dolch mit einem eindrucksvollen Griff. Der Wundarzt kam, untersuchte Kays Verletzung und nickte dem Knappen zu. Gemeinsam wälzten sie Kay auf die Seite, um ihm einen Schulterverband anzulegen, während er sich vor Lachen krümmte. Alles brüllte vor Vergnügen. Artus warf das gebrochene Schwert auf den Boden und stolzierte beleidigt hinaus. Heiseres Gelächter folgte ihm. Er war wütend. Ihm war, als könnte er mit jedem zornigen Aufstampfen seiner Füße das Gras in Brand setzen. Der sonnige Morgen war wie von einem roten Dunst verschleiert. Nur undeutlich nahm Artus wahr, dass auf dem großen
Turnierplatz schwere Rappen mit gepanzerten Reitern zu beiden Seiten der Planke mit eingelegten Turnierlanzen gegeneinander galoppierten; dass Zuschauer in mehreren Reihen auf einer roh gesägten und zusammengenagelten Brettertribüne saßen und standen; dass Banner und Wimpel wehten und lange Turnierlanzen an der Mauer des Garnisonshauses lehnten. Dies alles bedeutete ihm nichts. Es gab keine andere Person auf dieser Welt. Es gab überhaupt nur eines — Excalibur. Such dir ein Schwert. . . »Ich weiß, wo ich ein Schwert zu suchen habe«, knurrte Artus in sich hinein. Seine Augen wurden schmal, er biss die Zähne zusammen. »Ich weiß, wo.« Auf der Turnierbahn fand ein neues Treffen statt. Ein schwarzer 132 Hengst und ein Brauner mit heller Mähne galoppierten zu beiden Seiten der Planke aufeinander zu. Die Lanzen der Reiter trafen Schilde, glitten ab und trafen Brustpanzer. Einer der Reiter wurde rückwärts aus dem Sattel gehoben, die andere Lanze splitterte und brach in Stücke, doch konnte sich der zweite Reiter im Sattel halten. Der Erste Reiter, von der Turnierlanze aus dem Sattel gehoben, fiel rücklings über die Kruppe seines Pferdes, blieb aber mit einem Fuß im Steigbügel hängen und wurde die Planke entlanggeschleift. Sein einseitiges Gewicht machte das Pferd nervös; es bäumte sich auf, preschte davon und schleuderte den Mann in einer Staubwolke gegen einen Begrenzungspfosten, wo sein Fuß endlich aus dem Steigbügel gerissen wurde. Er blieb wie leblos im Staub liegen, während die Menge dem Turniersieger zujubelte. Artus marschierte weiter, ohne sich um das Geschehen zu kümmern. »Denken, sie können mich vom Turnier fern halten -« Er verließ den Übungsplatz, umging das Garnisonshaus und kam auf den Marktplatz. »Denken, sie können mich zum Hofnarren machen statt zum König -« Beharrlich und unbeugsam in seinem Zorn, marschierte Artus gezielt auf die Schmiede und das Schwert im Amboss zu. Auf einer Seite hatte sich eine kleine Menschenmenge um den Bischof versammelt, der salbungsvoll über die Vorzüge sprach, einen von Gott gesegneten König zu haben. Ulfius trat zu ihm, zupfte am Ärmel seines Messgewandes und flüsterte etwas. Der Bischof spähte kurzsichtig unter seinem grauen Haarschopf hervor, dann rief er der Menge zu: »Dort! Dort ist der junge Prinz! Dort ist Artus, Sohn König Uthers, Thronerbe, außergewöhnlicher Krieger, Freund der Kirche, Erwählter Gottes! Seht! Dreht euch um und seht! Dieser Mann dort. Der zornig Blickende! Hoi, Prinz Artus! Seht sein edles Gesicht!« »Gibt mir ein zerbrochenes Schwert und findet es lustig«, murrte er vor sich hin. »Mein ganzer trostloser Zustand ist ihnen ein Witz - denken, es sei leicht, Sohn eines toten Königs und Enkel eines alten Verrückten zu sein — denken, sie können mein ganzes 132 Leben für mich planen, mir sagen, wo ich sitzen und stehen kann — denken, ich würde ein König sein, mit dem man machen kann, was man will - aber das bin ich nicht!« Er hob den Blick und rief: »Das bin ich nicht!« Die Menge um den Bischof schloss sich Artus an und Ulfius — und die Priester gingen mit ihr. Andere Marktbesucher und sogar Leute vom Turnierplatz strömten herbei. Artus schritt die Reihe der Männer entlang, die darauf warteten, einen Versuch mit dem Schwert zu machen. Sie starrten ihn an, diesen zornigen jungen Mann, von dem viel gesprochen, aber wenig geglaubt wurde. Seit Monaten hatte man ihn so angesehen. Jetzt
starrte er zurück. Jetzt wich sein Blick keinem Auge aus, er war gesammelt und durchbohrend. Einer nach dem anderen schlug den Blick nieder. »Zu früh«, erklang eine fiebernde alte Stimme neben ihm. Er wusste, dass es Merlin war, der sich beeilte, mit ihm Schritt zu halten. »Zu früh. Es wird Krieg geben. Du kannst das Königstum nicht zu früh an dich reißen. Loki hat dich dazu angestiftet, nicht wahr? Er war in Ectors Zelt, nicht wahr, gab sich als jemand anders aus? Zieh es nicht, Artus. Es wird Krieg geben.« Ohne den Kopf zu wenden und ihn anzusehen, sagte Artus: »Ja. Es wird Krieg geben, Großvater. Und ich werde dieses Schwert haben, ihn zu fuhren.« Der alte Mann seufzte. »Und du wirst mich an deiner Seite haben«, gelobte er mit leiser Stimme. Andere Stimmen meldeten sich zu Wort. Diejenigen, die seit Monaten gefragt hatten, warum er die Klinge nicht herausziehe, murmelten jetzt in gedämpfter Erregung: »Er wird die Klinge herausziehen. Er wird es schaffen!« Gerade zog ein muskelbepackter Kaledonier am Schwertgriff. Seine Stiefel waren auf die Steinplatte gepflanzt, sein mächtiger Rumpf mühte sich, das Ding mit aller Kraft himmelwärts zu ziehen. Doch der Herkules von den Hebriden konnte die Klinge nicht bewegen. Ein Brüllen brach von seinen verzerrten Lippen, dann ein zischendes Ausatmen. Als der Kaledonier sich aufrichtete, sah 133 er den jungen Artus zielbewusst auf die Schmiede zuschreiten. Der Mann wischte sich Schweiß vom Gesicht und trat beiseite. Das Schwert rief alle Männer, aber Artus antwortete es. Ihn wollte es. Er blieb vor dem Amboss stehen. Excalibur schimmerte vor ihm. Es schimmerte in Erwartung - hoffnungsvoll, verheißend, glanzvoll in der Gegenwart dessen, den es liebte. Artus streckte die Hand aus. Ein Prickeln überlief seinen Arm und den Körper. Finger glitten um den Griff und umfassten ihn entschlossen. Vielleicht hätte er in diesem Augenblick gebetet, hätte er nur gewusst, wen er anrufen sollte. Stattdessen holte Artus tief Atem. Die vielen Stimmen der Menge, der Lärm vom Marktplatz, schon vorher kaum wahrgenommen, waren nur noch wie aus weiter Ferne zu hören. »Excalibur!«, rief Artus und zog kraftvoll am Griff. Mit einem Blitz glitt das Schwert aus Stein und Amboss. Sprang in die Höhe. Die Stille der letzten Augenblicke vertiefte sich. Alle im Umkreis hörten Ulfius die letzten Worte seiner lange geplanten Ansprache rufen: »Britannien, siehe deinen König - Artus!« Alle knieten nieder. Zuerst der Herkules von den Hebriden, dann Merlin und die Reihe der wartenden Krieger. In einer großen Welle, die durch die Menge ging, berührten Hunderte von Knien das Kopfsteinpflaster. Alle knieten sie nieder — Ulfius und der Bischof, die Leute, die von den Marktständen herbeigeeilt waren ... Ector und Diana kamen aus ihrem Zelt, um in die unheimliche Stille zu starren. »Er hat ein Schwert gefunden«, sagte Ector spöttisch. Dianas Antwort ging in einer Woge von Zurufen unter. »König Artus! König Artus! König Artus!« Artus' Stiefeltern stimmten in den Ruf ein, und innerhalb von Augenblicken schwoll er zu einem machtvollen, tausendstimmigen Chor an. »König Artus! König Artus! König Artus!« 133
22. Krönung in Caerleon
Zum König ausgerufen in Canterbury im Osten Britanniens, sollte Artus in Caerleon im Westen gekrönt werden. Die alte Stadt lag am Rand der walisischen Landschaft Dyfed an einer tief eingeschnittenen Meeresbucht der Irischen See. Die Römer hatten die Stadt in ihrer Zeit Isca Silurum genannt, aber sie war lange vor ihnen gegründet worden. Die Kelten waren Jahrhunderte vor Caesar hierher vorgedrungen und hatten ihre Stadt auf einem Hügel gegründet, der als Sitz von Feen und anderen Naturgeistern galt. Es war ein schöner Ort. Der ansehnliche Hügel überblickte den breiten, klaren Fluss Leon. Am jenseitigen Ufer dehnten sich dichte Wälder, in denen es Hirsche und Wölfe gab. Das diesseitige Ufer wurde von weiten Ebenen eingenommen, die reich an Getreide waren. Tiefe Geschichte umgab Caerleon — und noch tiefere Legenden. Die Mythen berichteten, dass zehntausend Kelten im Kampf gegen die Thuata De Danann gefallen waren, die den Hügel beherrscht hatten. Als die Kämpfe beendet waren, beschlossen die Kelten, für immer in Caerleon zu bleiben. Sie errichteten eine Serie von Erdwällen um die Stadt, versahen sie mit Palisaden und umschlossen die Stadt später mit einer festen Mauer. Mit Felsbrocken schütteten sie Hafendämme in den Leon, um einen vor Stürmen und Überfällen sicheren Hafen für Schiffe zu schaffen, die bis aus Iberien kamen. Obwohl diese Befestigungen die Stadt gegen menschliche Eindringlinge schützten, waren die Thuata De Danann alles andere als menschlich. Tief im Inneren des Hügels blieben ihre Katakomben und Felsritzungen. Feenvolk kam aus der Erde herauf wie Wasser aus einem Quell. Sie ließen sich nicht aus ihrer angestammten Heimat vertreiben. Auch die menschlichen Eroberer vermochten es nicht. Mehr Kriege durchtobten die Stadt. Wieder starben Zehntausende. Endlich kam unerwartete Hoffnung. Die Überlieferungen berichteten, dass der keltische König Ricford eines Nachts in einen Brunnen fiel. Die Strömung zog ihn 134 hinab in den Hügel. Dort wurde die Prinzessin Rhia von den Thuata De Danann Zeugin seiner misslichen Lage und tauchte ins Wasser, um ihn in Sicherheit zu bringen. Sie pflegte ihn, bis seine Gesundheit wieder hergestellt war. Rhia wusste, dass die Ältesten des Feenvolkes ihn erschlagen würden, aber sie täuschte sie mit der Behauptung, der Mann habe sie vor der Gefangennahme bewahrt. Sie feierten den keltischen König und handelten mit ihm einen Frieden aus. Er schloss den Vertrag unter der Bedingung, dass Rhia als seine Königin mit ihm gehen würde. Von dieser Zeit an bis in die Gegenwart war Caerleon ein Ort, wo Könige gekrönt wurden. Für Artus sollte es nicht anders sein. Ulfius und Merlin hatten die Krönung für den Frühling vorbereitet. Die Nachricht ging hinaus zu jedem Kleinkönig und Adligen im Land und forderte sie auf, zur Ablegung des Treueides nach Caerleon zu kommen. Und nun waren sie endlich eingetroffen. Von seinen Gemächern im Turm der Burg Caerleon beobachtete Artus die Könige, ihr Gefolge und ihren persönlichen Anhang, als sie eintrafen. Die Ebenen waren bereits voll von Zeltlagern und Kochfeuern. So viel Holz wurde eingeschlagen, dass die Wälder ein wenig geschrumpft waren. Artus studierte die Zeltlager, beobachtete die Straße nach Norden. Von dort zogen weitere berittene Trupps heran. »Sie sehen wie Armeen aus, nicht wie adlige Lehnsträger«, sagte Artus.
»Sie sind beides«, sagte Ulfius. Der Krieger trug seinen besten Hofstaat. Ein Überrock mit dem Wappen der Pendragon bedeckte einen Brustpanzer aus Messing, und darüber trug er einen weißen offenen Umhang. Er kam an Artus' Seite. »Aber es sind jetzt deine Armeen oder sie werden es sein, sobald ihre Herren den Treueid geleistet haben. Es ist so, wie ich sagte — es war lediglich eine Frage der Vernunft und des Rechts, dass du diese Krone trägst. Hättest du versucht, all diese Leute mit Gewalt unter deine Herrschaft zu zwingen, so würden die Armeen gegen dich aufmarschiert sein, nicht für dich.« 135 »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, sagte Merlin. Anders als sein Gefährte zog Merlin es vor, im Hintergrund zu bleiben. Seit Canterbury war er verdrießlich und wortkarg, hatte angefangen, in seine alten Zustände zurückzufallen, verloren zwischen Traum und Wahrheit, lange Tage in zusammenhangloser Umnachtung zu verbringen. Unaufhörlich flüsterte er von Tetragrammaton und Loki und sagte, sie hätten sich gegen den König verschworen. Heute Abend bot seine Rede noch mehr davon. »Artus, du musst Excalibur immer in Rhiannon bei dir tragen. Deine Macht ist am größten, wenn sie beisammen sind. Ziehe das Schwert nur in der größten Not und trenne dich niemals von der Scheide. Ganz gleich, was sie sagen oder wie sie lächeln, es wird viele geben, die heute auf dein Blut aus sind. Ohne Rhiannon könnten sie es haben.« »Trübsinn und Untergang«, sagte Ulfius und winkte ab. »Merlin, du solltest diesen Tag nicht ruinieren. Warum die dunklen Gespenster deines Geistes auf die hellen Hoffnungen des Jungen loslassen?« »Des Königs«, berichtigte ihn Artus. »Ich bin jetzt achtzehn, Ulfius. Ich bin versiert in Latein und Griechisch, Gälisch und Sächsisch. Ich kenne meine Summen und Geometrien. Ich bin ein geschickter Reiter, ein im Nahkampf ausgebildeter Fußsoldat, Besitzer eines Götter tötenden Schwertes und einer menschenrettenden Scheide, und Erbe des Pendragon.« Er warf Ulfius ein schiefes Lächeln zu und machte eine ausholende Armbewegung zu der Ebene, wo die Zelte sich drängten. »Bitte nenne mich heute nicht Junges oder die versammelten Führer meiner Nation werden mich erschlagen.« Ulfius verneigte sich in ehrlichem Respekt. »Natürlich, mein König. Natürlich, König Artus.« »Durch göttliches Recht, durch die Abstammung des Blutes und die erwiesene Tüchtigkeit der Pendragon, durch den Anspruch auf das Schwert Excalibur, durch den freudigen Willen des Vol 135 kes, die Stärke des Landes und die Zustimmung des großen Magiers Merlin, durch die Sanktion der Kirche, vertreten durch den Bischof von ganz Britannien«, intonierte der Bischof am Abend des gleichen Tages im Thronsaal von Caerleon, »erhebe ich Euch, Artus Pendragon, hiermit zum König der Briten!« Der Bischof senkte eine goldene Krone, besetzt mit Edelsteinen jeder Farbe, auf den gebeugten Kopf des knienden Königs. Stille lag über der Versammlung der Kleinkönige und Prinzen, Herzöge und Grafen, Edelleute und Ritter, alle in prächtigen Gewändern. Sie füllten den überkuppelten Saal. Ihr Atem stieg in geisterhaften Schleiern in die kühle Luft des Frühlingsabends. Hermelin und Zobel, Kaschmir und Samt, Gold und Silber - der Adel glänzte im Schein der Kerzen und Fackeln.
Der junge König erhob sich. Er schien von der Krone emporgezogen zu werden. Sein Blick begegnete den klaren und freudigen Augen des Bischofs. Mit langsamen, ehrerbietigen Schritten ging der König zu seinem Thron. Es war ein ehrwürdiger Sitz aus schwarz gebeizter Eiche, mit hoher Lehne und bezogen mit rotem Samt. Verziert mit schön geschnitzten Ornamenten, hatte der Sitz einst dem Caesar als Thron gedient, und vor ihm den Helden von Dyfed, und vor diesen den sagenumwobenen Feenkönigen der Thuata De Danann. Zur Linken des Thrones stand Ulfius, der gerechte Krieger, der den jungen König ausgebildet hatte. Zur Rechten des Thrones stand Merlin, der wirrköpfige Magier, dessen bloße Gegenwart mögliche Rebellen einschüchterte. Zwischen ihnen betrat Artus die erhöhte Plattform, auf der sein Thron stand. Sein Umhang zog eine Schleppe nach, die ihn zu gemessenem Gang zwang und majestätisch über den Boden schleifte. Beim Thron angelangt, wandte er sich um und sank langsam auf den Sitz. Er konnte die große und erwartungsvolle Menge gut überblicken. Nun hätte es eine allgemeine Huldigung geben können, aber seine Macht war noch unvollständig. Eine neue Gestalt erschien, ein Mädchen in Weiß. Sie war ein 136 anmutiges Geschöpf, so jung und strahlend wie der König selbst. Eine Anhängerin und Auserwählte der heidnischen Mächte des Landes, trat sie vor den Thron. Artus hatte noch nie eine so schöne Frau gesehen. Nicht einmal seine Halbschwester Morgan konnte sich mit dieser vergleichen. Langes braunes Haar, leuchtende Haut, tiefbraune Augen ... obwohl niemand sonst in der Anwesenheit des Königs sitzen durfte, ließ sie sich vor dem Thron nieder. Sie war die Macht des Landes, die jungfräuliche Halterin des Fußes. Artus verlangsamte gewollt seine Atemzüge, als die Priesterin ihm den Schuh vom rechten Fuß zog. Sie hob ihn in die Hände und setzte den Fuß in ihren Schoß. Dies war kein Akt der Unterwerfung, sondern der Ermächtigung. Nur wenn sein Fuß im Schoß der Frau ruhte, gegründet in der Macht des Landes, war Artus wahrhaft ein König. Nun brach der versammelte Adel des Landes sofort in Hochrufe aus. »Lang lebe Artus! Lang lebe der König!« Merlin stand neben dem großen schwarzen Thronsessel. Seine Gegenwart im Schatten Artus' war so mächtig wie die Gegenwart Excaliburs auf dem Rücken des jungen Königs. Mit Schwert und Zauberer, Kirche und Land, schien Artus' Königtum unangefochten. Gleichwohl war Merlin nur im Körper anwesend. Sein Geist durchwanderte innere Räume. Traum und Delirium beherrschten diese Tage. Worte, die an ihn gerichtet wurden, schienen unsinnig und unverständlich von den Lippen der Sprecher zu kommen. Bilder halb erinnerter und unwirklicher Dinge gingen ihm durch den Sinn. Seit einem Jahr hatte Merlin hart am Ufer des Lethe gewohnt. Er starrte durch die Nebel der Vergessenheit zu den schemenhaften Gestalten am anderen Ufer. Oft hatte er sich in die Höhle der Erinnerung gewagt, wo die Wahrheit über Excalibur lag, die Wahrheit über ihn selbst. Und jedes Mal war er mit zerschlagenem Kopf und zerbissener Zunge herausgekommen. 136 Während die Menge Artus zujubelte, stützte Merlin sich in einer stehenden Ohnmacht. Die Luft um ihn pulsierte mit unheiligem Leben. Kalksteinwände atmeten langsam ein und aus. Banner schwangen an schwarzen Hammerbalken. Sogar der Teppich verwandelte sich in einen blutroten Fluss, der von Artus' Thron hinabströmte und sich unter den Adligen ausbreitete.
Merlin wusste, dass es eine Vorahnung war, eine Vision des kommenden Krieges, ausgelöst durch Loki und ausgehend vom Thron Artus'. Der junge König würde Merlin in jener Stunde, wann immer sie käme, am nötigsten brauchen. Als er am Ufer des trüben Lethe lag, halb betäubt und von Sinnen, fragte sich Merlin, ob er imstande sein würde, aufzustehen und diesen verzweifelten Kampf zu führen. Dann griff etwas aus den Felsen unter Burg Caerleon nach ihm, eine Gegenwart, die wirklicher war als jede der Kreaturen, die sich vor dem Thron zusammengefunden hatten. Durch die Nebel Lethes fühlte Merlin undeutlich ein Wesen mit vielen Händen und einem Geist, das seine Füße ergriff. Er war angewurzelt, ein alter Eichenbaum, lebendig aber unfähig sich zu bewegen. Eine Essenz wie Saft strömte in ihm auf. Starke Fühler schoben sich durch seine Muskeln. Sie umwickelten seine Beinknochen, Becken und Puppen. Er war fixiert auf ein Netzwerk von Linien, als ob die alten Grenzen des Landes sein Wesen überlagerten. Die Erscheinung sprach: Warum bist du hier, Merlin? Die Stimme war vielfältig, stieg aus tausend Kehlen. Sie war durchdringend wie die Sackpfeifen von Eire, fremdartig wie Druidengesang. Es waren die Feenleute. Es waren die verbannten Geister der alten Titanen und Feen und Götter, die einst hier gewohnt hatten und noch immer in den Tiefen des Landes wohnten. Warum bist du hier? Unsichtbare Macht kroch durch Merlin empor und um seinen beunruhigten Geist. Schlanke Finger glitten um die äußeren Ränder seiner Augäpfel. Er konnte die Antwort kaum formulieren. Sie war nur ein Wort, aber das reichte aus: »Artus-« 137 Etwas wie düsterer Humor lag in den verwirrten Fühlern, die ihn betasteten. Warum befasst du dich mit menschlichen Königen, Merlin? Die Antwort darauf war so schwierig wie die Erste es auch gewesen war. »Artus.« Aber du, Merlin, beharrte die Stimme, du bist einer von uns. Merlin ballte die Hände. Er spannte jeden Muskel seines Körpers, drängte das Netzwerk der Fühler aus sich heraus, zurück zum Boden. »Ich bin es nicht!« In diesem letzten Augenblick, bevor die Gegenwart ihn freigab, sprach sie mit einem Unterton von Ironie: Du wirst sehen. Du bist einer von uns oder Artus ist verloren. Dann war sie fort. Sie entfloh wie Blut aus einem abgetrennten Glied. Darauf fiel Merlin in eine wahre Ohnmacht. Er brach in die Knie, seine Hände griffen nach dem Thron des jungen Königs. Artus wandte den Kopf und sah ihn an. Merlins Augen, wässrig und verloren in düsteren Visionen, begegneten seinem Blick, und der alte Mann sagte einfach: »Artus —« Es war ein unvergleichlicher Augenblick. Inmitten der donnernden Hochrufe und des Jubels, im buchstäblich krönenden Augenblick von Artus' Aufstieg, sank der Mann, der Großvater und Mentor für ihn gewesen war, in Ehrerbietung auf die Knie. Die Zurufe und der Jubel verstummten, und alle Ohren strengten sich an, das Wort aus dem Mund des alten Mannes zu hören. Es war einfach ein Name, des Königs Name, ausgesprochen mit so viel ernstem Gefühl, dass es keinem in der Menge entgehen konnte. »Artus —« Ulfius trat von seinem Platz neben dem Thron vor. »Seht, Leute von Caerleon, Leute von Britannien! Seht, wie der große Zauberer seinen König verehrt. Kommt heran, verbeugt euch vor ihm und schwört ihm die Treue.« Damit ließ er sich selbst auf ein Knie nieder. In Nachahmung von Merlins Haltung umfasste er die Armlehne des Thronsessels, neigte den Kopf und sagte: »Artus —«
138 Als er den Blick hob, sah er, dass der König seine Geste nicht bemerkt hatte. Artus' Blick war auf Merlin gerichtet. Der alte Mann zitterte. Tränen traten ihm in die Augen. Er sank neben dem Thron in sich zusammen. »Großvater«, sagte Artus in plötzlicher Sorge. »Merlin!« Ulfius stand auf, Zorn durchdrang ihn. Dies sollte Artus' Augenblick sein. Dies diente der Sicherung seines Thrones. War es zu viel verlangt von dem alten Mann, dass er eine Stunde wach blieb? Ulfius umging das Podium mit dem Thron und sah, dass Merlins Zustand schlechter als gewöhnlich war. Das Gesicht hinter seiner Maske aus Bart und wirrem Haar wirkte aschfahl. Kein Atem regte seine Lunge. Kein Lied zuckte. Er lag jetzt in den Armen der jungen Priesterin, die des Königs Fuß hielt. Sie hatte schnell reagiert und den fallenden Zauberer aufgefangen. Die junge Frau, Tochter des Königs Lodegrance von Cameliard, strich silbriges Haar aus Merlins Gesicht. Sie ähnelte der jungfräulichen Mutter, die den leblosen, vom Kreuz genommenen Sohn in den Armen hielt. Ulfius starrte sie fragend an. Die Priesterin schüttelte den Kopf. Ulfius nickte. Artus blickte in ungläubigem Schrecken. Ulfius winkte den Kriegern der königlichen Leibwache, den Magier fortzutragen. Drei Mann legten die Arme sanft um die reglose Gestalt und hoben ihn auf. Das Mädchen aus Cameliard ging mit ihnen. Unterdessen wandte sich Ulfius an die murmelnde Menge. »Tretet näher. Tretet näher und huldigt eurem König und leistet ihm den Treueid.« Als eine wogende Bewegung durch die Menge ging und die ersten Adligen vortraten, zog der junge König Ulfius am Ärmel. »Was tust du da? Was ist mit Großvater? Wie kann ich jetzt die Huldigungen entgegennehmen?« »Du musst«, erwiderte Ulfius augenblicklich. »Du musst. Entweder wirst du jetzt König, oder du wirst niemals König sein —« »Aber ohne Merlin —« 138 »Ohne Merlin bist du trotzdem König. Ohne Merlin verfügst du noch immer über Excalibur und Rhiannon. Ohne ihn bist du noch immer der Sohn Uther Pendragons.« Artus' Augen waren nass. Er kniff die Lider ein wenig zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Ein unglücklicher Entschluss festigte sein Kinn. »Du wirst Boten zur Krankenstube schicken, um zu erfahren, was geschieht?« »Ja«, versprach Ulfius. »Ja, König Artus.« Er machte kehrt, schritt vom Podium hinab und begrüßte feierlich die Ersten, die sich eingefunden hatten, und fragte nach ihren Namen. Mit betonter Feierlichkeit wandte er sich zum König. »Majestät, darf ich Euch Herzog Antonius und Herzogin Isabelle von Dyfed vorstellen, die heute Abend unsere Gastgeber sein werden?« Sofort ließ sich der Herzog auf ein Knie nieder und neigte den grauen Kopf. »Mein König!« Die Herzogin — alt und spröde und von einer Erhabenheit, die ihre Huldigung doppelt ehrerbietig erscheinen ließ — bestieg das Podium und kniete an der Stelle nieder, wo die junge Frau gewesen war. Sie nahm Artus' Fuß in die Hände und sagte: »Mein König.« Ulfius nickte anerkennend und stellte dem König das nächste adlige Paar vor.
23. Die Geburt Excaliburs
Merlin durchwanderte die Labyrinthe eines Traumes. In verwinkelten Mauern hingen Fenster schwarz und leer. Er war nackt. Augen in fernen Räumen beobachteten ihn. Schwerter warteten in fernen Händen. Dann und wann ging ein Hagel schwarzer Pfeile auf die Straße nieder, wo er stand, nur um wie von einem Blitz zu Asche verzehrt zu werden. Der Geruch hing stark in der Luft, wie von Lagerfeuern 139 und Blitzen. Dieser Geruch verriet ihm mehr als alles andere, dass dies wahre Erinnerungen waren, keine Sinnestäuschungen. Buchstaben und Insignien spätrömischer Art waren in Ecksteine und Wände und Durchgänge geschnitten, aber dieser Ort war nicht Rom. Die Mosaiken in Kobaltblau und Silber und Safrangelb verrieten es. Die olivbraunen Menschen mit ihrem schwarzen Haar und den wachsamen braunen Augen bestätigten es. Aber sie waren zahlreich hier, die Römer — ihre Pfeile zischten in Schwärmen herab. Ihre Brustpanzer mit den anhängenden Lederstreifen, ihre Sandalen und Beinschienen, ihre Tuniken, ihre kurzen Schwerter, alles sprach von Rom, hier im Osten. Byzanz — oder wie wird es jetzt genannt, Konstantinopel? Nein, keine so große Stadt. Aber trotzdem groß, und östlich-orientalisch, und von Rom besetzt Merlin wankte die Straße hinauf. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Der Geist, der dies alles erinnerte, war nicht derselbe wie der Geist, der es erlebt hatte, das zersplitterte Bewusstsein. Damals war es nur ein Schritt vor den anderen gewesen, doch nun war es ein wankendes Gehen. Damals war es nur eine instinkthafte Suche gewesen, wie ein Hund auf einer Witterung. Es war eine Suche nach Vergeltung, eine Suche nach dem Zerstörer, dem Großen Feind. Merlin hatte tagelang die Straßen durchwandert, immer auf der Suche. Und an diesem Tag spürte er, dass seine Beute nahe war, nahe und gefährlich vor ihm. Er tappte eine stinkende Gasse hinauf. Am oberen Ende stand ein zweistöckiges Haus. Dachbalken ragten über eine Fassade von Hausteinen und Mörtel. Tief eingesetzte Fenster hielten die heiße Sommersonne zurück. Als Merlin sich näherte, gingen Vorhänge aus Sackleinwand in Flammen auf. Ihre brennenden Fetzen enthüllten einen spärlich möblierten Raum. Der Bewohner des Hauses erschien, starrte erschrocken. Er war von mittlerem Alter und bärtig. Seine Kleidung bestand aus Sackleinwand. Tinte schwärzte seine Finger. Sein Rücken war gebeugt, die Augen glasig und kurzsichtig. Als er den berühmten Verrück 139 ten kommen sah, machte er kehrt, als wollte er die Stiege hinaufstürzen und etwas holen, besann sich aber eines Besseren und floh aus einer Hintertür. Holz schlug gegen Steinwände, Schritte im knirschenden Kies eines Durchganges entfernten sich rasch. Es spielte keine Rolle. Merlin war nicht hinter dem Mann her. Er hasste ihn nicht, diesen armseligen Asketen, durch dessen Gehirn Mädchen tanzten, er hasste die Arbeit des Mannes. Merlin trat zur Haustür. Vor ihm wurde Holz zu Zunder. Schwarzer Rauch zog über die Decke. Er betrat den Raum. Der war sauber und ordentlich, die Wände bemalt, der Boden aus Stein, ein Krug aus grauem Ton, ein Paar Sandalen und ein Feldbett. Es ging in Flammen auf. Segeltuch blähte sich unter aufsteigender Hitze, platzte auseinander, Holzteile zerfielen in verkohlte Stücke. Auch die Sandalen brannten. Die Farbe an den
Wänden dunkelte, mehr Rauch verbreitete sich unter der Decke, suchte einen Abzug und fand ihn im Stiegenhaus. Merlin folgte. Was er wollte, lag dort oben. Was er hasste — die Gesamtheit des Feindes, die ihn zu einem Wahnsinnigen gemacht hatte. Er eilte die Stufen hinauf und erreichte den oberen Raum. Dort war es eng: ein Schreibtisch mit schräger Arbeitsplatte, ein Stuhl, ein Ständer für Tinten und Federn, Regale, die voll von zusammengerollten alten Pergamenten und Papyri waren, andere, die sich unter Lexika und gebundenen Büchern, Stapeln von leeren Papyrusblättern bogen. Jeder Luxus im Leben dieses Mannes wurde verschwenderisch für sein Gekritzel aufgewendet. Der Schreibtisch war umgeben von Schriftrollen. Verschiedene Tinten füllten kleine, befleckte Töpfe auf dem Fenstersims. Es gab Nadel und Faden zum Nähen von Doppelbogen für Bücher, Messer und Scheren zum Zuschneiden und saubere Stapel Pergament. Mehrere Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Sie und alles andere Brennbare im Raum gingen augenblicklich in Flammen und Rauch auf. Alles Brennbare bis auf ein Buch. In der Mitte des Schreibtisches lag ein dicker Pergamentband aufgeschlagen. Ob-schon in Flammen gehüllt, brannte das Buch nicht. Merlin trat 140 näher. Dies war es. Dies war das mörderische Buch, das ihn in Wahnsinn und Ruin gestoßen hatte. Und was das Schlimmste war, die monströse Botschaft seines Zerstörers war in seiner eigenen Muttersprache geschrieben. Es versengte seine Augen, als die feurige Gegenwart den Raum ringsum zerstörte: nam et si sunt qui dicantur dii sive in caelo sive in terra siquidem sunt dii multi nobis tarnen unus Deus Pater ex quo omnia et nos in illum et unus Dommus Jesus Christus per quem omnia et nos per ipsum Knurrend vor Wut ergriff Merlin die Ränder des dicken Bandes und schlug ihn zu. Es war ein Donnerschlag. Ein flammender Wind blies von den Seiten, schoss aufwärts durch das brennende Dach und ließ brennende und verkohlte Balken auf die Gasse krachen. Noch immer wollte das Buch nicht brennen. Merlin riss es an sich, drückte es an seine Brust. Sein Fleisch wurde rot glühend, ein Mann aus Glut statt aus Fleisch und Blut. Er brannte hell wie eine Sonne, eingehüllt in die alles verzehrende Glut. Aber das verfluchte Buch blieb ganz. Merlin hatte Titanen erschlagen. Er hatte Nymphen beigewohnt. Er hatte neben mythischen Heroen gekämpft. Er hatte Nektar getrunken und Ambrosia gegessen, hatte die höchsten Berge erstiegen und die Tiefen des Ozeans ausgelotet, nur um von diesem einzigen Buch zunichte gemacht zu werden. Und dann war es kein Buch mehr. Irgendwo im Feuersturm, in den verzweifelten und zitternden Händen, die den Band gehalten hatten, hatte er angefangen sich zu verwandeln. Die Seiten verschmolzen. Pergament wurde wieder lebendige Haut und nahm die frühere Form an. Aber statt Fleisch war es Silber - Quecksilber. Es verlängerte sich zu einem blitzenden Schaft. Es war eine feine Klinge, ein großartiges Schwert — wie jene, die von den Wandalen und Westgoten getragen wurden. Doch war es ihnen auch unähnlich. Niemals hatte es eine Klinge wie diese gegeben — 140 »Obwohl es ursprünglich ganz gewöhnlich war, wurde es umgeschmiedet, u m ohnegleichen zu sein.«
Die Worte kamen von einem anderen Ort und aus einer anderen Zeit, einem Ort in ferner Zukunft, doch sie klangen echt. Das lateinische Wort für ein gewöhnliches Buch war Vulgata. Das Wort der Thuata für ein Schwert ohnegleichen war Excalibur. »Excalibur ist das Schwert des Geistes genannt worden . . . und das Schwert des Geistes ist das Wort Gottes.« Merlin hob die Klinge über den Kopf und stieß einen furchtbaren Schrei aus. »Excalibur!« »Fürchte nichts, Zauberer Merlin«, sagte eine sanfte Stimme. »Excalibur ist beim König sicher.« Der Raum, der einst gebrannt hatte, schmolz davon. Das Bild verblasste. Merlin atmete die Luft Britanniens. Anstelle rußiger Ruinen lag er auf üppigen Kissen. Der Arbeitsraum des Schreibers machte einem geräumigen Vorzimmer Platz. Und statt in die kurzsichtigen, ängstlichen Augen des Hieronymus starrte er in das schöne Gesicht einer jungen Frau. »Was., was ist geschehen?«, keuchte er. Die Priesterin strich ihm mit zärtlichen Fingern über den Schnurrbart. »Du wurdest in deiner Schaustellung von Treue überwältigt, Zauberer Merlin.« Er blinzelte, versuchte seinen Geist von den wirren Bruchstücken zu befreien, die ihm wie Treibholz durch den Kopf wirbelten. »Du kennst mich«, sagte er schließlich, »aber ich habe nicht das Vergnügen gehabt —« »Ich bin die Fußhalterin des Königs. Ich bin die Tochter König Cameliards von Lodegrance«, sagte die junge Frau. »Mein Name ist Guinevere.« Der Mann, der als Nächster vor den Thron trat, war von ernstem, sogar Furcht erregendem Aussehen. Augen wie Obsidiansplitter glänzten finster unter graumelierten Brauen. Seine Nase war vor 141 springend und scharf wie der Schnabel eines Raubvogels, das Gesicht zerklüftet wie ein piktischer Menhir, und ein grau gepfefferter Bart lockte sich um sein breites Kinn. Der rote Umhang auf seinen Schultern war mit weißem Hermelin besetzt und mit Zobel gefüttert, und die Krone auf seinem Kopf erschien doppelt so groß und viermal so schwer wie diejenige Artus'. Aber statt einer Prunkrüstung trug er einen von früheren Kämpfen genarbten Brustpanzer, angeheftete Lederstreifen im römischen Stil und Panzerstrümpfe, wie sie zu Kettenhemden getragen wurden. Sein rechter Panzerhandschuh ruhte auf einem Schwert, das ein einfaches und brutales Ding war, von der Art, die Kaledonier gebrauchten, um beidhändig zu schlagen. Es war in Größe und Gewicht Excalibur gleich. Sein linker Panzerhandschuh hielt die Finger seiner Frau. In weiße Seidengewänder und Schleier gehüllt, das Haar aufgesteckt mit silbernen Kämmen und mit einer silbernen Fibel germanischen Stils als Gürtelschließe, war die Frau eine zauberhafte Erscheinung. »Wen darf ich ausrufen?«, fragte Ulfius den Mann, während er der Frau bedeutete, den frei gewordenen Platz der Fußhalterin einzunehmen. Der Mann zog seine Frau zurück und sagte: »Das werden Sie nicht. Ich werde uns ansagen.« Er schritt bis zum Fuß des Thrones und blieb dort mit finsterer Miene stehen. Hinter ihm nahmen zwei weitere Könige Aufstellung, diese ohne Frauen an ihren Armen. Ulfius erkannte sie als König Carados von Carados und König Fergus More von Dalriada in Kaledonien. Wie ihr Vorgänger trugen auch sie Panzer, als zögen sie in die Schlacht. Panzerhandschuhe umfassten die Griffe mächtiger Langschwerter. Ihnen folgte ein vierter Herrscher, der gigantische Sachsenkönig Aelle von Sussex. Sein Gürtel und Helm trugen
aufgenietete bronzene Ornamente verschlungener pflanzlicher und tierischer Formen, passend zu denen der Fibel und Gürtelschließe der Frau. »Eine Verschwörung«, murmelte Ulfius bei sich. »Ein Auf 142 stand.« Um Artus zu warnen, eilte er neben den Neuankömmlingen auf das Podium. Er kam zu spät. Der Mann im Hermelinumhang stand unbeugsam vor Artus und richtete in vulgärer Zwanglosigkeit das Wort an ihn. »Kennst du diese Frau, Artus?« Seine Hand hob sich kurz vom Schwertgriff und zeigte auf die Dame an seinem Arm. Artus ignorierte den Affront ihres Auftretens und betrachtete das Gesicht der Frau. Die elfenhafte Nase, die großen braunen Augen, das kleine Kinn, auch die anmutige Haltung von Kopf und Schultern kamen ihm vertraut vor. Trotzdem war er ganz sicher, dass er ihr Gesicht nie gesehen hatte. »Verehrte Dame, ich fürchte, dass ich Sie nicht kenne.« »Natürlich kennst du sie nicht«, sagte der Mann. Seine Stimme war laut und grob und scharf genug, dass der ganze Saal dem Wortwechsel zuhören musste. »Dies ist Morgause, meine Frau, Tochter von Königin Igraine. Natürlich kennst du sie nicht. Sie würde ja nur deine Schwester sein.« Artus runzelte nachdenklich die Stirn. Anstelle der Furcht, die der Mann zu erregen gehofft hatte, zeigte das Gesicht des jungen Königs freudige Überraschung. »Mutter erzählte mir von dir, Halbschwester. Ich habe Morgan kennen gelernt, aber nicht dich. Und sie erzählte mir von deinem Gemahl, dem ruhmreichen König Lot von Lothian. Willkommen zu meiner Krönung!« König Lot neigte den Kopf, bevor er merkte, was er getan hatte. »Wir schuldeten dem wahren Sohn von Uther und Königin Igraine Ehre und Treue — gäbe es einen wahren Sohn. Deine Mutter sprach zu dir von Morgause, aber warum sprach sie zu Morgause niemals von dir?« »Ich habe Beweise«, unterbrach ihn Ulfius, »ausführliche und vollkommen beglaubigte Beweise für die Abstammung dieses Mannes, die sich über Uther und Constantin bis zu Caesar selbst zurückverfolgen lässt!« Ein höhnisches Lachen war die Antwort. »Jeder in diesem 142 Raum und jedes Schwein in seinem Koben kann auf Caesar zurückgeführt werden. Es hat nichts zu sagen -« »Wie steht es mit Excalibur?«, entgegnete Ulfius. »Wie steht es mit dem Schwert des Geistes und dem Wettbewerb mit Amboss und Stein?« »Mir war niemals ein Versuch an dem Schwert erlaubt«, antwortete Lot. »Auch diesen Männern nicht, die bei mir stehen. Keiner der elf Könige der entlegenen Länder bekam Gelegenheit, das Schwert zu ziehen.« Artus erhob sich von seinem Thron. Sein Blick war fest auf Lot gerichtet, sein junges Gesicht grimmig verhärtet. Er griff über seine Schulter und zog Excalibur aus der Scheide gezogen. Die Klinge summte in einem jähen, gefährlichen Bogen und sauste herab. Lot brüllte wütend auf und zerrte Morgause zurück. Er riss sein eigenes Langschwert aus der Scheide. Der bronzierte Stahl war zu langsam. Lots Schwert war noch nicht ganz aus der Scheide, als Excalibur sein Ziel fand. Das heilige Schwert versprühte Funken und sank tief. Ein allgemeines Seufzen verlor sich in Stille. Die Menge sah -
Excaliburs Griff ragte aus dem Marmorboden. Er glühte mit einem verlockenden Licht, das Artus wie einen Heiligen der alten Zeit illuminierte. Auf die Panzer und Schwerter der vier Könige warf das Licht einen rötlichen Widerschein. Die Könige waren von der strahlenden Waffe zugleich abgestoßen und angezogen. Lot beobachtete sie mit besonderem Interesse. Er hielt Morgause schützend hinter sich. »Du magst jetzt deine Gelegenheit haben, Lot«, sagte Artus würdevoll. »Du und die Könige bei dir. Und ich werde dieses Schwert persönlich zu den entlegenen Königreichen all der anderen Könige tragen, um ihnen Gelegenheit zu geben, es zu ziehen. Ich und meine Heere, wir werden uns zu ihnen begeben, um ihnen den Versuch zu ermöglichen — und um ihren Treueid entgegenzunehmen, sollten sie versagen.« Lots Miene verfinsterte sich noch mehr. Er sah den König nicht 143 an, sondern war auf das Schwert konzentriert. »Ich werde mich nicht dieser Farce unterwerfen. Seit wann sind die Könige dieses Landes auf solche Weise bestimmt worden? Der Wettbewerb ist eine üble Schöpfung des schändlichen Magiers, den du in der Tasche hast. Ich werde das Schwert nicht berühren und dadurch dem Zauber zum Opfer fallen, der all diese anderen ihres Verstandes beraubt hat. Noch werde ich mich einem unreifen Usurpator beugen!« »Stellen Sie sich diesem Mann nicht entgegen, Lot«, grollte Ulfius. »Er ist der wahre König. Er trägt das wahre Schwert. Er wird vom größten Zauberer gefördert, der jemals lebte. Er hat Kirche und Nation hinter sich —« »Königtum wird nicht durch Steine und Ambosse bestimmt. Sondern durch Krieg. Und durch Krieg, wirst du, Artus, auf die Probe gestellt werden«, erklärte Lot. Er stieß sein Langschwert in die Scheide und machte auf dem Absatz kehrt. Der eiserne Rand seiner Stiefel kratzte einen Halbkreis in den Boden. An der Spitze der Rebellenkönige marschierte er durch die Halle zum Ausgang. Die Menge öffnete ihnen eine Gasse. Einer und dann noch einer der Adligen schlossen sich dem Auszug an. »Mach dich lustig über sie«, raunte Ulfius dem jungen König zu. »Zeige dich überlegen, oder du wirst alle hier verlieren!« Artus legte eine Hand an den Mund und rief: »Geh in Frieden und Gesundheit, Lot von Lothian. Und Gesundheit allen, die es wagen, mit dir zu marschieren!« Ohne sich umzuwenden, rief Lot heftig zurück: »Du würdest gut daran tun, dich auch um deine Gesundheit zu kümmern, Heuchler.« Zwei weitere Kleinkönige schlossen sich dem wachsenden Kontingent der Abtrünnigen an. Ein Stöhnen und Murmeln ging durch die Menge. Es war das Geräusch der Erkenntnis, dass es Krieg geben würde. Krieg erhob sich wie ein schwarz gepanzerter Feind fühlbar in ihrer Mitte. Der 143 silbrige Glanz hoffnungsvoller Zukunft in Einheit war getrübt durch die düsteren Vorzeichen von Blut und Zerstörung. Zwei weitere Könige folgten den Rebellen. Ein göttliches Licht flammte vor der Versammlung auf. Gesenkte Köpfe hoben sich, Metall löste sich mit scharfem Klang aus dem Stein - ein Ruf der Anderwelt zu den Waffen. Vor der Versammlung stand eine Vision: Artus, jung und schön in seiner königlichen Gewandung, kräftig und edel, mit blitzenden Augen, und über seinem Kopf — als wäre es
der Strahlenkranz Gottes -hing Excalibur. Die Behauptungen Lots schmolzen in diesem heiligen Licht dahin. Das Wort >Heuchler< klang jetzt wie Blech in den Ohren. Dies konnte kein falscher Herrscher sein. Dies konnte nur der wahre König sein. »Ich trage Excalibur. Ich bin Krieger des Volkes. Ich bin Erwählter der Kirche. Ich bin begünstigt vom Magier Merlin. Ich bin König Artus von Britannien.« Die Ovation, die ihm antwortete, war ohrenbetäubend. Die Reihe derer, die sich aufgestellt hatten, den Treueid zu leisten, die kurz zuvor am Rand der Auflösung gewesen waren, bildete sich von neuem. Jung und alt waren ermutigt vom Anblick ihres Königs und der Einigkeit ihrer Nation. Der Glanz der Waffen erneuerte sich, Augen verloren ihre Hoffnungslosigkeit und funkelten wieder. Das Gespenst des Krieges warf seinen düsteren Schein ab und kleidete sich in prachtvolle Rüstung.
24. Das düstere Geheimnis des Schwertes
Artus schritt entschlossen in die Krankenstube, wo Merlin lag. Der alte Zauberer war noch schwach, seine Augen rot gerändert, wässrig und von Visionen bedrängt. Er krallte sich in die Kissen um ihn, als ob er einen Sturz vom Federbett fürchtete. 144 Seine Kleider waren geradegezogen, sein weißes Haar und der Bart von der Priesterin, die ihn pflegte, sorgsam gekämmt. Als Artus am Bett niederkniete und Merlins Hand ergriff, konnte er nicht umhin, einen Teil seiner Aufmerksamkeit der Frau zuzuwenden. So lieblich ihre Züge und so sanft ihr Benehmen war, so mächtig wirkte ihre Ausstrahlung ... Sie schien eine lebendige Verkörperung des Landes zu sein. Artus riss seine Gedanken von ihr los und blickte besorgt in das erschöpfte Gesicht seines Mentors und Freundes. »Großvater — wie geht es dir?« Ein mattes Lächeln zog über das Antlitz des alten Mannes. »Gut genug, Artus.« Er hustete schwächlich. »Die Frage ist, wie es dir geht?« »Gut genug«, erwiderte Artus. »Fünfundzwanzig Kleinkönige und dreiundfünfzig Adelshäuser haben mir den Treueid geleistet. Ich bin König von Britannien.« »Was ist mit den anderen?«, fragte Merlin. »Was mit den elf aus den abgelegenen Gegenden?« Ein Schatten trübte Artus' heitere Miene. »Diese Angelegenheit muss ich gleich besprechen.« »Ein Kriegsrat, ja«, sagte Merlin. Wieder schüttelte ihn heftiger Husten. »Da hat Loki seine verdammte Hand im Spiel.« Die junge Frau sah beunruhigt aus. »Loki? Sorge dich nicht wegen Loki, Großvater. Das Recht ist auf unserer Seite«, sagte Artus, der seinen Blick nicht vom Antlitz der jungen Frau wenden konnte. »Das Recht und das Volk und die Kirche —« »Ja, die Kirche - mehr als du weißt«, grollte Merlin in plötzlicher Verärgerung. »Hol sie alle der und jener! Loki und Tetragrammaton und die Thuata De! Hat jeder Gott jedes Pantheons es auf dich abgesehen, Artus?« Die Priesterin errötete. Merlin drückte ihr die Hand. »Vergib mir, liebes Kind —« 144 »Wovon redest du, Großvater?«, fragte Artus.
Merlin mühte sich auf die Ellbogen und die junge Frau steckte ihm Kissen hinter den Rücken. »Es gibt ernste Nachrichten, Artus. Ich habe den Ursprung von Excalibur gesehen. Die Vision gab mir beinahe den Rest, aber ich kenne jetzt das dunkle Geheimnis des Schwertes.« Artus' Augen leuchteten auf. »Sag es mir, Großvater! Im Kriegsrat wird es vielleicht ausschlaggebend sein.« »Nein, du darfst es nicht dem Rat erzählen. Diese Frage muss im Dunkeln bleiben. Nur wir drei dürfen es wissen.« »Wir drei?«, fragte Artus erstaunt. Merlin drückte der jungen Priesterin die Hand. »Diese hier hat mich von der Schwelle des Todes zurückgezogen. Sie hat meine Hand gehalten und mich gerettet. Sie weiß es bereits, denn sie hörte mein irres Gerede. Und ich sehe voraus, dass sie deine größte und wichtigste Verbündete sein wird, Artus.« Er lächelte der Priesterin matt zu. »Weihgabe des Landes, Tochter von Lodegrance, Erbin der schlummernden Macht der Thuata De Danann — das alles ist Guinevere.« Die Frau beugte den Kopf in anmutiger Verneigung. »Guinevere«, flüsterte Artus ehrfürchtig. Auch er verbeugte sich vor ihr. »Du hast meinen Fuß gehalten —« »Ja«, sagte sie still. »Durch sie wird große Macht geleitet, Artus«, sagte Merlin ernst. »Ich wünschte, all deine Macht käme durch sie. Aber es gibt auch die verwünschte Klinge.« Seine Stimmung wurde verdrießlich. »Ach, warum legte ich dieses Götter tötende Ding in deine Hände!« »Sprich, Großvater! Erzähl mir, wie Excalibur geschmiedet wurde.« Merlin holte einige Male Luft, um zur Ruhe zu kommen. »Es gab eine Zeit, vor zwei Jahrhunderten, als die Anhänger des Nazareners im Krieg miteinander waren. Sie waren in verschiedene Gruppen aufgespalten, genauso wie Britannien. Die Gnostiker 145 bekämpften die Arianer, diese wiederum die Kopten, welche sich der Athanasianer erwehren mussten, und diese bekämpften die Manichäer, die Donatisten und alle anderen. Bischöfe führten Krieg gegen Bischöfe. In Alexandrien wurden Hunderte von Toten aus den Kirchen getragen. Päpste führten Krieg gegen Päpste. Sogar der erste Constantin konnte auf dem Konzil von Nicäa die Streitigkeiten nicht beenden, wie auch unser Constantin III. Britannien nicht einigen konnte. Sie schlugen sich um die Hand Gottes, und wenn sie nur ins Leere griffen, träumten sie sich die göttliche Hand in ihre eigene. Das ist das Schicksal von allen, die nach Offenbarung streben.« »Ich erinnere mich an diese Lektionen, Großvater«, erwiderte Artus. »Im Jahre 381 machte Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich und verbot die Verehrung der alten Götter.« Merlin verzog das Gesicht wie in Qualen. Er drückte den Rücken durch und wand sich auf seinem Lager. Guinevere ergriff eine seiner Hände, Artus die andere. Eine beruhigende Energie schien zwischen den beiden durch Merlin zu strömen. Seine Muskeln entspannten sich, und mit einem Ächzen sank er in die Kissen zurück. »Ja, ich lehrte dich gut. Aber selbst Theodosius und der Papst konnten den Kämpfen kein Ende bereiten. Die Hand Tetragrammatons reichte nicht zu ihnen herab. Stattdessen wurde die Offenbarung einem guten Mönch zuteil, der allein als Eremit lebte und hungerte und sich geißelte. Er war ein großer Liebhaber von Büchern und hatte lange
Zeit eine Leidenschaft für die alten heidnischen Geschichten von Homer und Ovid und Vergil wie auch für die hebräischen Schriften und die christlichen Evangelien. Er kam zu der Überzeugung, dass seine Vorliebe für die früheren Dinge und die alten Schriften schlecht und verwerflich sei, und er trennte sich von seiner großen Bibliothek, um sich allein den Worten Tetragrammatons zu widmen.« Bei dieser Wendung der Geschichte geriet ein bitterer Ausdruck in Merlins Züge. »Es war ein großer Verlust, ein großes 146 Opfer, und Hieronymus — denn das war sein Name - war geplagt von Gedanken an den ausschweifenden Jupiter und seine Abfolge von Liebesverhältnissen. Ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, die heidnischen Dinge aus seinem Bewusstsein zu verbannen, immer kehrten sie in der Gestalt tanzender Mädchen zu ihm zurück.« Merlin lachte traurig und Tränen traten ihm in die Augen. »Einem Mönch solch einen Streich zu spielen, war schon echt herzlos. Also beschloss Hieronymus hebräisch zu lernen — die mühsame .Aufgabe würde seinen Geist vollauf beschäftigen und dem eifersüchtigen Tetragrammaton wohlgefällig sein. Natürlich beherrschte Hieronymus bereits Latein und Griechisch. Und nachdem er Hebräisch gelernt hatte, erfand er eine weitere mühsame Arbeit - die Übersetzung aller hebräischen und christlichen heiligen Schriften ins Lateinische.« Ein ernster Schatten der Erinnerung wanderte über Merlins wässrige Augen. Plötzlich schwindelte ihn, als hätte ihn eine unsichtbare Faust vor den Kopf geschlagen. »Hieronymus machte sich an die Arbeit, sogar die Sprache Jupiters sollte Tetragrammaton dienen. Schon gehörte ihm Rom, und nun auch noch das Lateinische. Es war eine bittere, mörderische Sache ...« Artus schüttelte den Kopf, verwundert über Merlins Heftigkeit. »Hieronymus hatte gerade die erste Version seiner Übersetzung fertig gestellt, als ich ihn aufstöberte. Ich hasste dieses Buch, diese lateinische Bibel, die später unter der Bezeichnung Vulgata beginnt werden sollte. Ich hasste es und stöberte ihn auf und brach-: die Niederschrift an mich —« Artus starrte ihn ungläubig an. »Du ... du hieltest das Original 'er Vulgata in den Händen?« »Nicht nur das, Artus«, sagte Merlin in fiebriger Erregung. »In jenen Tagen berührte ich nicht einfach etwas. Meine bloße Gegenwart verbrannte alles, was brennen konnte. Mein Anblick erschlug Bettler und Könige. Nichts konnte vor mir bestehen, so 146 furchtbar war meine Macht. Ich berührte die Dinge nicht einfach. Aber die Vulgata wollte nicht brennen. Ich versuchte das Buch durch Willenskraft zu vernichten, doch es ließ sich nicht auslöschen. Also ergriff ich es, und in meinen Händen verwandelte es sich von Substanz zu Essenz. Die größte Waffe Tetragrammatons wurde zum größten Tötungswerkzeug, das ich je in den Händen hielt. In ihnen verwandelte sich die Vulgata vom Wort zum Schwert.« Artus war sprachlos vor Schrecken. »Auf deinem Rücken trägst du - wie das schwere Kreuz Christi selbst - das Schwert des Geistes. Du trägst Tetragrammatons Götter tötendes Wort.« Artus starrte ihn an. Er ließ die Hand des alten Mannes fahren und stand wankend auf. Dann griff er über die Schulter und umfasste den Griff des Schwertes und zog es aus der Scheide. Die Klinge leuchtete im Halbdunkel der Krankenstube. Ihr kaltes Licht ließ Guinevere wie eine Statue griechischer Schönheit erscheinen. Auf Merlin warf es einen Schein leichenhafter Blässe.
Artus starrte auf die Klinge. »Es ist das Schwert des Geistes, wie du es genannt hast, das Wort Gottes. Es ist die manifest gewordene Macht Gottes.« Er trat vom Lager zurück und schwang die Klinge in der Luft. »Kein Wunder, dass Wotan es begehrte. Kein Wunder, dass er es ein Götter tötendes Schwert nannte. Er kannte die Eifersucht des Gottes der Israeliten und des Christengottes. Er wusste, dass dieses Schwert ihn töten konnte, wenn es in die Hände eines anderen käme.« »Ja«, bestätigte Merlin. »Und Brigid wusste es auch. Sie sagte, es würde sie eines Tages töten. Eines Tages wird es alle Götter töten, die sich gegen Tetragrammaton stellen. Aber Brigid verwahrte es sicher, bis die Wotansleute an den Küsten Britanniens landeten und es bedrohten. Dann gab sie es dir, Artus — dem Mann, der Wotan erschlagen konnte.« Auf einmal fühlte sich Artus schwach. Seine Hände zitterten am Schwertgriff, seine Knie knickten unter ihm ein. Er konnte 147 och das Schwert in die Scheide stoßen, bevor er neben dem Bett niedersank. »Ist dies das Schicksal, das du für mich siehst, Großvater?«, sagte er schwer atmend. »Einen Gott zu töten?« Merlin nickte. »Ja, Artus. Aber es ist noch schlimmer. Du tötest einen Gott auf Verlangen eines anderen. Du erschlägst Wotan nur, damit Tetragrammaton dich besser am Gängelband halten kann.« Artus schloss die Augen und ließ sich über Merlins Knie sin-en. Der König war nur noch ein achtzehnjähriger Junge. Seine Schultern, so breit sie waren, konnten solch ein Gewicht nicht tragen. Merlin fuhr ihm mit zitternden Fingern durchs Haar. »Ich habe dich dazu gebracht, Artus. Mein Wahnsinn. Ich dachte, ich träumte dich. Ich dachte, ich würde dich erschaffen und formen, so dass du mich eines Tages retten könntest. Aber ich bin bloß ein verrückter alter Mann. Eine Schachfigur von Göttern. Tetragrammaton, Loki, sogar die Thuata De - ich bin ihre Schachfigur gewesen und habe dich zu ihrer Schachfigur gemacht.« Artus weinte still in die Decken. »Ich komme mir wie Judas vor, dem es von einem Gott bestimmt ist, einen anderen zu Tode zu bringen.« Artus hob sein nasses Gesicht. »Es ist zu viel, Großvater. Es ist zu viel. Ulfius und Ector haben mich gelehrt, gegen Männer zu kämpfen, aber niemand hat mich gelehrt, gegen Götter zu kämpfen!« Des alten Magiers Augen blickten in unbekannte Fernen. »Nun siehst du das zerstörerische Geheimnis im Herzen von Excalibur. Nun siehst du, auf welche Gefahr die Wahrheit ans Licht kommt.« »Wie werde ich sie ertragen können?« Die Antwort kam nicht von Merlin, sondern von Guinevere. Sie legte ihre Hand auf die seine. Ihre Berührung war warm, und die Kraft, die zuvor von ihr durch Merlin geströmt war, ging nun unmittelbar auf den jungen König über. 147 »Du brauchst keine Schachfigur zu sein, Artus«, sagte sie. »Ich werde dir beistehen. Wir werden die Stürme der Götter auf allen Seiten ertragen, werden von allen befähigt, aber keinem verpflichtet sein. Wir werden unseren eigenen Weg wählen, Artus. Wir werden ein Land schaffen, wo kein Gott als höchster Herrscher regiert und alle Götter leben können. Verwende Excalibur, um solch ein Königreich zu schaffen, und ich werde die schlafenden Kräfte des Landes hervorbringen, damit dieses Königreich gedeihe. Gemeinsam werden wir ein Land schaffen, wie es die gepeinigte Erde noch nie gesehen hat.« Artus hing an ihren Worten. Er sog sie ein. Mit ihnen kehrte der Mut zurück.
»Ja, Guinevere. Ich sehe es jetzt. Ich sehe dieses himmlische Land, wie es auf die Erde übertragen ist. Wir werden es erbauen, du und ich. Ja.« Entschlossen wandte er sich zu Merlin. »Ich werde es ertragen, Großvater. Ich werde diese unerträgliche Last auf mich nehmen.« Er richtete sich auf, ergriff Guineveres Hand. »Wir werden es ertragen.« Endlich kam ein Hoffnungsschimmer in Merlins trübe Augen. »Ja. Ihr habt die Kraft.« König Artus holte tief Luft. Die Ereignisse der letzten Stunden brachen über ihn herein. »Aber bevor ich gegen Götter kämpfe, muss ich gegen Menschen kämpfen. Vergebt mir, Großvater, Guinevere. Ich muss meinen Kriegsrat zusammenrufen. Komm und nimm an den Beratungen teil, Merlin, wenn du deine Kräfte wiedergewonnen hast.« Er blickte zu Guinevere, verneigte sich vor ihr und küsste ihr die Hand. »Und, schöne Priesterin, komm mit ihm. Ich brauche deine Kraft ebenso sehr wie er.« Damit ließ er ihre Finger los, wandte sich um und schritt hinaus. Merlin und Guinevere sahen ihm nach. Die Priesterin schüttelte den Kopf und sagte leise. »Er ist so schön und jung, so kostbar und so verwundbar. Aber er ist auch stark. Stärker sogar, als du 148 glaubst, Merlin. Er kann dieses Schwert tragen. Ich habe es gesehen.« »Wenn jemand dieses Schwert tragen kann, ist es Artus.« Unter Aufbietung seiner Willenskraft wälzte Merlin sich herum, um aufzusitzen. Er stöhnte unter der Anstrengung und stützte sich auf zitternde Arme. Guinevere kam an seine Seite. »Warte noch, du bist zu schwach für den Kriegsrat des Königs.« Merlin aber schob ihre hilfreiche Hand beiseite und mühte sich auf die Beine. Er umfasste den Stab, der neben seinem Krankenbett lehnte. »Wir gehen nicht zu seinem Kriegsrat, sondern zu einem anderen. Artus allein kann uns vielleicht retten, aber in dieser Stunde können du und ich allein Artus retten.« Mit diesen Worten legte Merlin seinen Umhang um Guinevere, er umfasste sie in seinen dunklen Falten und führte sie hinweg in die einbrechende Nacht. Die Ränder der Wirklichkeit verschwammen, Perspektiven verschoben sich und verschwanden. Nur Schwärze blieb. In dieser Schwärze hingen Merlin und Guinevere. Für einen Augenblick gab es nur die beiden. Dann zeichneten sich in der Nacht Gestalten ab - unbestimmte Umrisse im Widerschein eines Feuers. Hier nahmen sie die Gestalt eines Holzstoßes an, dort die von untergeschlagenen Beinen, matt glänzenden Brustpanzern. Ein Ring aufmerksamer Gesichter umgab Merlin und Guinevere - umgab nicht sie allein, sondern auch den Mann, der auf der anderen Seite des Lagerfeuers stand. Lot von Lothian. Der Rebellenkönig zeigte aufwärts zu den emporwirbelnden Funken und Aschenteilchen. Feuerschein glänzte in seinen zornigen Augen und verstärkte die Erregung seiner Worte. »Dieser Heuchler, dieser Bastard aus dem Tiefland, unerprobt im Kampf, unerprobt in den Regierungsgeschäften, ein bloßer Junge, der sich mit seinem Schwert brüstet, Staatsgewänder trägt und Zauberei lernt, wagt es, von uns den Treueid zu verlangen? Er, der noch nie 148 ein Heer geführt, eine Befestigung erobert oder auch nur einen Frieden ausgehandelt hat — er will diese ganze Insel auf Treu und Glauben an sich bringen? Kein erobernder Caesar, kein Constantin, nicht einmal ein Vortigern, geschweige denn ein Uther. Dieser Bursche -«
»Dieser Bursche —« unterbrach ihn Merlin, der nun neben dem Lagerfeuer Gestalt angenommen hatte, alle Blicke richteten sich in zornigem Erschrecken auf ihn. Der hinfällige alte Zauberer stützte sich schwer auf Guinevere und seinen Stab. »Dieser Bursche will diese Insel nicht so sehr, aber er muss sie nehmen. Er nimmt sie, um zu verhindern, dass sie in Scherben fällt. Niemand kann dem Hammer Wotans, der auf uns niedergeht, Einhalt gebieten. Niemand kann es, nur dieser Bursche - dieser Mann, dieser Krieger mit seinem heiligen Schwert und seinen Heeren und seiner Kirche und seiner Nation und seinem Magier - ja, seinem Magier. Er kann diesem Hammerschlag widerstehen! Er will diese Insel nicht, aber er muss sie nehmen. Und Sie müssen ihn nehmen oder vernichtet werden!« König Lot schritt um das Feuer auf Merlin zu. Sein zerklüftetes Gesicht, in dem der Feuerschein flackerte, glich einem Dämon. »Dem Hammerschlag widerstehen? Du kannst selbst nicht stehen, Meister Magier. Nur durch diese kleine Frau hier hältst du dich aufrecht. Wenn der mächtige Merlin nicht stehen kann, wie sollte es der Strohmann tun, den er aufgebaut hat? Und wenn Artus dem Schlag von Wotans Hammer widerstehen kann, warum furchtet er mich? Fürchtet mich so, dass er einen senilen Alten schickt, der für ihn um Frieden bitten soll?« Merlin setzte zu einer grollenden Erwiderung an, aber ein Hustenanfall hinderte ihn daran. Guinevere schlug den Umhang zurück und trat kühn vorwärts. »Artus bittet nicht um Frieden«, sagte sie. »Er bittet um nichts. Er fordert Sie zur Unterwerfung auf. Er verbietet Ihnen, sich zu verweigern. Er verheißt Ihnen Verdammnis, sollten Sie ablehnen. Schwören Sie Ihrem König die Treue — oder sterben Sie!« 149 Der Ring der Gesichter wurde zu einem Ring der Schwerter. Überall um Merlin und Guinevere glänzten spitze Stahlklingen. Lots Schwert war als Erstes aus der Scheide gefahren. Der Trotz in seinen Augen hatte sich zu Hass vertieft. Der König holte mit der Klinge aus und hieb auf Merlin ein. Die anderen Schwerter stießen von allen Seiten vor. Merlin hatte seinen Umhang wieder um Guinevere gelegt, und im letzten Augenblick, bevor der Stahl in den Stoff seines Umhangs biss, murmelte der Zauberer einen geheimnisvollen Befehl, und die Schwerter wurden zu einer Schule durcheinander schießender Forellen, die davonschwammen. Dunkelheit hüllte sie wieder ein. Sie kamen an einem entfernten Ort in einem ganz verschiedenen Kriegsrat wieder zum Vorschein. Kein kalter Nachthimmel über einem Lagerfeuer, keine Schwerter, über deren Klingen der Widerschein der Flammen spielte. Statt finsterer Krieger in narbigen Brustpanzern waren hier elegante Adlige in Staatsgewändern versammelt. An einer langen Tafel saßen Ulfius, Ector, Igraine, Kay und vierzig andere, die dem König die Treue geschworen hatten. Am Kopfende der Tafel stand Artus. Er hatte einen Fuß auf den Lehnstuhl gestellt, der für ihn bestimmt war, und beugte sich über eine auf dem Tisch ausgebreitete Karte. »Hier haben Lots Krieger ihr Lager aufgeschlagen, und dort die des Königs Carados, und da hinten die der anderen Rebellen.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über einen bewaldeten Rücken, der zwischen Burg Caerleon und den Kriegern der Rebellen lag. Der jenseitige Hang des Höhenrückens fiel steil ab und war nur begehbar, wo die Landstraße nach Dyfed einen schluchtartigen natürlichen Einschnitt überbrückte.
»Hier liegt ihr größter Vorteil. Dieser verdammte Einschnitt. Solange sie auf der anderen Seite bleiben und wir auf unserer, brauchen sie keine Burg, und uns nützen Befestigungen nicht.« 150 Alle Blicke richteten sich auf Merlin und Guinevere, die plötzlich neben Artus erschienen. Der Zauberer war schwach. Er stützte sich auf seinen Stab und Guineveres Arm, um sich aufrecht zu halten. »Nun, Artus. Du musst deine Streitkräfte aufbieten und jetzt angreifen, solange die Rebellen ihre Krieger noch nicht geordnet haben.« Artus wandte sich um. Er fasste Merlin unter die Achseln und half Guinevere, den alten Mann in den Lehnstuhl zu setzen. Die Hand des Königs berührte Guineveres, und wieder sprang zwischen ihnen diese seltsame Energie über. »Was ist mit dir geschehen? Ich sagte, du solltest erst kommen, wenn du dich besser fühlst —« Merlin schnappte nach Luft, unfähig zu antworten. Guinevere sprang für ihn ein. »Wir gingen, König Lot zu sprechen. Wir warnten ihn vor seinem verräterischen Tun. Er will sich nicht unterwerfen. Also entflammten wir seinen Zorn in der Hoffnung, dass Wut seine Pläne über den Haufen werfen würde. So kam es auch. Er versuchte uns zu töten. Im letzten Augenblick brachte Merlin uns in Sicherheit, aber diese Zaubersprüche — sie entziehen ihm die Lebenskraft.« »Jetzt musst du angreifen«, wiederholte Merlin, zusammengesunken in seinen Gewändern. »Ohne Verzug. Ich werde mich anschließen, wenn ich kann.« Einen Augenblick starrte Artus in das Gesicht des erschöpften Magiers. Dann flüsterte er: »Ruhe dich aus, Großvater. Ich werde zu dir kommen, sobald diese Schlacht geschlagen ist, und dann werden wir beide wohlauf sein.« Merlin fasste ihn am Ärmel. »Behalte Rhiannon immer bei dir. Mache von Excalibur nur in größter Bedrängnis Gebrauch. Bete zum Gott des Schwertes um Erfolg.« »Du wirst mein Erfolg sein«, versicherte ihm Artus. Der Alte schüttelte ernüchtert den Kopf. »Bete nicht zu mir, Artus. Meine Tage sind nun für immer gezählt.« 150
25. Im Lager der Verräter
Artus schwang sich in den Sattel seines Rappen. Wie eine Inkarnation der Nacht stampfte das schwere Schlachtross über das Kopfsteinpflaster des Burghofes. Um ihn her und außerhalb der Burg bestiegen tausend weitere Reiter ihre Tiere. Zweihundert Reiter aus Chertsey waren zur Krönung nach Caerleon gekommen, und zweihundert von Tintagel in Dumnonia. Caerleons eigene Garnison von dreihundertfünfzig Mann bildete den Kern der Streitkräfte unter Artus' unmittelbarem Befehl, während zehn Kleinkönige und Adlige die restlichen zweihundertfünfzig berittenen Krieger stellten. Vier große und sechs kleine Könige musterten in ihren Lagern die einsatzbereiten Krieger. Sie konnten weitere fünfhundert Reiter aufbieten. Hinzu kamen eintausend Mann Fußvolk aus dem Herrschaftsbereich der Burg Caerleon. Wegen ihrer unterschiedlichen Ausrüstungen trug jeder dem neuen König treu ergebene Krieger eine Armbinde aus goldgelber Seide, für die Artus seine besten Staatsgewänder geopfert hatte.
»Meine Macht, mein Recht und mein Wille reiten heute Nacht mit jedem Mann«, hatte Artus im Kriegsrat verkündet. Mit diesen Worten hatte er sein Gewand in der Mitte auseinander gerissen und in die Höhe gehalten. »Dies soll das Zeichen dafür sein. Wenn diese Schlacht gewonnen ist, wenn die Rebellenkönige zur Unterwerfung gezwungen wurden, soll jeder Krieger zum Thron Artus' zurückkehren und seine seidene Armbinde abgeben, damit aus den Streifen eines jeden Heldentums und selbstloser Hingabe ein neues, prächtiges Gewand genäht werde!« Und so wurde es gemacht. Die gesamte Reiterei von annähernd zweitausend Mann sollte aus drei Richtungen zugleich die Lager der Rebellenkönige angreifen. Artus, Ulfius, Ector und Kay ritten an der Spitze der Hauptmacht. Sie würden zuerst zuschlagen und den Gegenangriff auffangen. Dann würde Brastias mit der zweiten Abteilung der 151 Reiterei Lots Kriegern in die Flanke fallen. Eine dritte Abteilung hatte den Auftrag, die Rebellen in ganzer Breite, von rückwärts anzugreifen und ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. Trotz ihrer Stärke waren die drei Abteilungen von insgesamt zweitausend Reitern den Kriegern der Rebellen zahlenmäßig kaum überlegen. Artus' Streitmacht würde jeden Vorteil nutzen müssen. Artus ließ sich eine Fackel geben, hob den Feuerbrand in die Höhe und rief: »Briten, Freunde, Gefolgsleute! Seit meines Vaters Tod haben wir unaufhörlich und vergebens gekämpft, von allen Seiten bedrängt von einer Flut des Übels und unfähig, sie einzudämmen. Die Tapferkeit jedes einzelnen Mannes wurde auf die Tapferkeit jedes anderen verschwendet. Bruder kämpfte gegen Bruder, Nachbar gegen Nachbar. Heute Nacht aber schließen wir uns zusammen. Heute Nacht dämmen wir die Flut des Übels ein. Heute Nacht reiten wir aus der Dunkelheit hinaus, die Finsternis zu vertreiben, und die Sonne wird über einem neuen Britannien aufgehen. Aus dem furchtbaren Werk, das wir heute Nacht verrichten, wird ein hoffnungsvoller lichter Morgen hervorgehen. Kommt, Briten! Kämpft mit mir!« Die Krieger brachen in ein vielstimmiges Gebrüll aus, das, von den Mauern der Burg verstärkt zurückgeworfen, zum Himmel aufstieg. Artus schwenkte die Fackel, winkte Ulfius an seine rechte, Ec-tor an seine linke Seite und wies Kay den Platz hinter ihm zu. Jeder nahm eine eigene Fackel an sich. »Bleibt in meiner Nähe.« »Bleib du in unserer Nähe«, sagte Ector besorgt. »Ja, Bruder. Halte dich zwischen unseren Schwertern.« Artus lächelte. »Für euch mag ich Sohn und Bruder sein, aber für Britannien bin ich König. Ihr werdet in meiner Nähe bleiben. Der Schein unserer Fackeln wird die Abteilung fuhren — die Fackeln und der Mond. Vermeidet unnötigen Lärm. Lasst Lot glauben, das Hufgetrappel gehe nur einer kleinen Gruppe von Unterhändlern voraus, mit König und Gefolge an der Spitze. Wir werden aus der Waldstraße in das Herz des Lagers vorbrechen und 151 zu Hunderten unter ihnen sein, bevor jemand daran denkt, das Schwert zu ziehen.« Er gab das Zeichen zum Öffnen der Tore. Mit lautem Rasseln hob sich das Fallgatter. Ulfius musterte den König mit forschendem Blick. »Wozu trägst du diese neue Klinge? Warum ziehst du nicht Excalibur? Lass die Krieger seine Führung sehen.«
»Ich führe«, erwiderte Artus, »nicht mein Schwert. Excalibur wird in den Kampf eingreifen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Er gab seinem Rappen die Fersen, das massige Tier trabte an, und die Kolonne formierte sich hinter ihm. Donnernd ging es über die Zugbrücke und durch das äußere Burgtor ins Freie. Die brennenden Fackeln knatterten zornig über ihnen. Ector und Ulfius flankierten den König, Kay blieb unmittelbar hinter ihm. In Dreierreihen und dicht aufgeschlossen, galoppierte die lange Kolonne von Artus' Reiterei unter dem Sternhimmel dahin. Sie ritten die Landstraße nach Norden, die sich als ein helles, lehmiges Band mit den Rinnen von Wagenspuren durch die nächtlich dunklen Wiesen und Felder der Talebene zog. Schon bald zeigten sich erodierte Hügelausläufer, hinter denen der kalte schwarze Fluss außer Sicht kam. Vor ihnen überwand die Straße eine Anhöhe und tauchte in ursprünglichen Wald ein. Schwarz von der Nacht, lag er in einer dichten Decke über den Hügeln. Die Kolonne trabte die leichte Steigung hinauf. Fackelschein warf die Schatten der Pferde wie von einem Tausendfüßler um sie her. Ringpanzer und Brustpanzer blinkten im flackernden Licht. Umhänge wehten hinter den vier Reitern, goldgelbe Seidenstreifen flatterten von ihren Armbinden. »Dicht aufschließen!«, signalisierte Artus über die Schulter und ließ seinen Rappen in einen ausgreifenden Galopp übergehen. Die Anhöhe war überwunden und es ging weiter durch den ausgedehnten Wald. Gelber Fackelschein tanzte über die Stämme von Eichen und Ulmen. Als sie sich endlich dem Waldrand näherten, kam in der Ferne eine Laterne in Sicht. Sie schwankte, als der Träger das Licht in 152 die Höhe hielt, um zu sehen, wer oder was dort mit dumpf donnerndem Hufschlag von Süden herankam. Bald fiel die Laterne zu Boden und verlosch. Ihr Träger musste Hals über Kopf davonge-rannt sein. »Sie wissen, dass wir kommen«, rief Ulfius. »Ja, aber sie wissen nicht, wie schnell«, rief Artus zurück. Er trieb den Rappen zu schnellerem Lauf an. Die Flammen seiner Fackel wehten in Fetzen und drohten ganz abzureißen. Ulfius, Ector und Kay hielten mit. Auch die Kolonne war jetzt im vollen Galopp. Dies war der Augenblick größter Gefahr. Wenn nur ein einziges Pferd auf der ungepflasterten und ausgefahrenen Landstraße strauchelte und fiel, würden alle nachkommenden Reiter übereinander stürzen. Trotzdem riskierte Artus jetzt alles, um das Überraschungsmoment zu nutzen. Zu beiden Seiten der Straße schwirrten Bogensehnen und Pfeile zischten. Artus und seine Spitzengruppe kamen unverletzt davon, aber hinter ihnen ertönten Schreie, als Reiter und Pferde von den Geschossen getroffen wurden. »Eine Falle?«, rief Ulfius. »Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, erwiderte Artus. Ein Huf seines Pferdes traf die vom Posten zurückgelassene erloschene Laterne, die mit metallischem Geklapper davongeschleudert wurde. Sie brachen aus dem Wald hervor. Dort, in der Talsenke vor ihnen, lagerte eine große Streitmacht. Zelte und Lagerfeuer bedeckten den Talboden. Schon hatte der Posten den Rand des Zeltlagers erreicht. Krieger stolperten halb angekleidet aus ihren Zelten. Einige bemühten sich vergebens, Zaumzeug und Sättel zu
ihren Pferden zu tragen, bis sie sahen, dass ihnen keine Zeit blieb. Dann ließen sie das Lederzeug fallen und zogen die Schwerter. Artus' Rappe jagte den sanft geneigten Hang hinab auf das Lager und einen dieser Krieger zu. Er wurde in vollem Galopp niedergeritten. Artus hielt sich nur mit den Beinen auf dem Pferd, schwang mit der Rechten das Schwert und hielt mit der Linken 153 Fackel und Zügel. Der zweite Krieger, auf den er traf, wurde vom Schwert des Königs geköpft. Das Pferd stürmte durch ein Zelt, trampelte zwei weitere nieder. Zwei Krieger stellten sich ihm in den Weg. Indem er den Ersten mit wirbelnder Fackel in Schach hielt, parierte Artus den Schwerthieb des anderen. Klingen schlugen aufeinander. Artus trieb sein Pferd mit den Knien vorwärts und drängte den Mann gegen die Außenwand eines Zeltes. Ein Stoß von Artus' Klinge traf den aus dem Gleichgewicht geratenen Krieger in den Hals, und er fiel rücklings auf die Zeltbahn. Artus' Fackel wehrte das Schwert des anderen Mannes ab. Dabei geriet dessen Umhang in Brand, aber Artus' Fackel wurde vom Stoff aus seiner Hand gerissen. Von den Flammen erfasst, taumelte der Krieger auf das Zelt zu. Es wurde zum Scheiterhaufen für ihn und seinen Kameraden. Artus blickte über die Schulter. Jetzt erst sah er, dass seine Abteilung fünfzig Schritte hinter ihm im Kampf stand und nur noch langsam vorankam. Ulfius und Ector fochten aus den Sätteln gegen zwei Krieger. Kays Pferd, von einer Lanze getroffen, lag mit den Hufen um sich schlagend, während Kay zu Fuß weiterkämpfte. Ulfius und Ector hielten ihre Fackeln in die Höhe und spähten umher — so weit der Kampf es ihnen erlaubte — um ihren König zu finden. Vor dem Hintergrund des brennenden Zeltes winkte Artus ihnen, aber sie sahen ihn nicht. Er wendete sein Pferd und sah sich einem Trupp von Lots Fußvolk gegenüber, der mit blanken Schwertern in den Fäusten zwischen den Zelten hervorgestürmt kam. Vom feindlichen Fußvolk umringt, ritt Ulfius einen engen Kreis und hieb mit dem Schwert nieder, was ihm zu nahe kam. Obwohl ihm dabei zustatten kam, dass die Rebellenkrieger so, wie der Angriff sie im Schlaf überrascht hatte, ohne Rüstungen, halb bekleidet und nur mit hastig an sich gerafften Schwertern kämpften, 153 war ihre Übermacht zu groß, als dass er sich länger würde behaupten können. Zudem stürzten ständig weitere Krieger aus ihren Zelten. Unterdessen kam die Hauptmacht der königstreuen Reiterei nur noch langsam voran. »Wo ist der Rest?«, rief Ulfius. »Steckt in der Klemme«, rief Ector zurück. Er stand neben seinem gefallenen Pferd und erwehrte sich wie Ulfius einer Übermacht. Erschlagene Rebellen lagen zuhauf um ihn und zahlten Pfund für Pfund in Menschenfleisch für das Pferdefleisch, das sie getötet hatten. Ector hatte einem der Gefallenen das Schwert abgenommen und gebrauchte es gleichzeitig mit seinem eigenen römischen Schwert zur Abwehr und für Gegenstöße. »Jedes gefallene Pferd hält fünf weitere auf.« »Sie sind weiter im Kreuzfeuer der Bogenschützen«, rief Kay, der inzwischen auch zu Fuß focht. Er hatte seine Fackel weggeworfen, um sein Langschwert beidhändig zu führen. Endlich kam Bewegung in die Reiterei. Ein starker Trupp konnte den Riegel der Rebellen durchbrechen und brachte Entlastung. Ulfius schwang die Fackel und brüllte: »Zu mir!« Er kämpfte sich mit seinem Pferd näher zu Ector und Kay. »Sammelt noch ein paar pferdelose
Krieger, führt sie zurück zum Wald und hebt die Bogenschützen aus, damit wir vorankommen. Ich werde mit dem durchgebrochenen Trupp tiefer ins Lager vorstoßen.« Ector stieß einen weiteren Krieger nieder und nahm den Nächsten an. »Tiefer?«, schnaufte er. »Dafür ist der Trupp zu schwach. Die Rebellen werden euch einschließen und niedermachen.« »Erledigt die Bogenschützen, und wir können genug Reiterei nachziehen! Artus ist noch weiter vorn, irgendwo.« Bevor er sich vergewissern konnte, ob die beiden auf seine Anregung eingingen oder nicht, kam der durchgebrochene Reitertrupp heran. Ulfius setzte sich an die Spitze und sprengte, nach rechts und links Schwerthiebe austeilend, durch das andrängende Fußvolk. 154 Ulfius' Pferd war ein für den Krieg ausgebildetes Schlachtross id ein ebenso unerschrockener Kämpfer wie er. Seine Stirn trug eine Ledermaske mit Eisenstachel, Brust und Flanken waren durch steife Lederschürzen geschützt. Im Kampf verstand es, die Hufe und sogar den Stirnstachel mit Kopfstößen einzusetzen. Es stampfte Zelte nieder, schleuderte mit den Hufen die Glut schwelender Lagerfeuer in die Feinde und schlug schon mit seinem Anblick dämonischer Gewalt Krieger in die Flucht. Zwanzig Reiter kämpften sich durch die Flut der Rebellen. Unzureichend gepanzert, halb bekleidet, schlecht bewaffnet und zu Fuß — so konnte das Fußvolk Lots ihnen nicht standhalten. Aber was nützte alle Anstrengung, dachte Ulfius, als er besorgt und mit zusammengebissenen Zähnen Ausschau hielt, wenn der König, für den sie kämpften, tot war? Artus stand ramponiert und erschöpft inmitten der Rebellen, aber am Leben. Der erste Haufen Fußvolk hatte das Pferd unter ihm erstochen, so dass es ihn vom stürzenden Tier geworfen hatte. Schnell war er wieder auf die Beine gekommen und hatte sich im Schutz der Dunkelheit und der allgemeinen Verwirrung unter die Krieger gemischt. In verstohlener Arbeit mit dem Dolch hat er mehrere niedergemacht, bevor die anderen ihm auf die Schliche kamen. In der Dunkelheit und zwischen den schreienden, ziellos hin und her rennenden Kriegern konnten sie ihn nicht ergreifen. Er begriff, dass er sich leichtsinnig zu weit vorgewagt und die Gefährten den Anschluss verloren hatten. Nun kam es darauf an, sich möglichst unerkannt zu ihnen zurückzukämpfen. Dann aber kam der Augenblick, als er sich drei Kriegern gegenüber sah, die in ihm den Feind erkannten und ihn stellten. Sie umringten ihn, drei Klingen gegen eine, und kamen oft mit überraschenden, gefährlichen Angriffen durch. Dreimal schlugen ihre Schwerter bis auf den Knochen durch und hätten Artus zu Tode gebracht, wäre nicht Rhiannons stille Magie gewesen. Die 154 Scheide schloss alle Wunden, die ihm von den Angreifern geschlagen wurden. Triumphierende Ausrufe hatten die ersten schweren Treffer begleitet; nun fochten die Krieger mit misstrauischer Verbissenheit. Artus blieb ihnen keinen Hieb schuldig. Er zeigte weder Ermüdung noch Mutlosigkeit. Doch seine Gegner waren erfahrener als er, harte, kampferprobte Krieger, und sie waren zu dritt. Ein Langschwert hieb mit einem gewaltigen Streich Artus' Parade aus dem Weg, durchschlug Schulterspange, Muskeln und Sehnen des Schultergürtels und biss in den Knochen. Der Krieger riss die Klinge heraus, aber Artus stand noch. Es folgte kein Blutschwall, kein Wanken und Stöhnen.
Der Krieger zischte: »Was für eine Teufelei ...?« »Merlin«, antwortete Artus und lachte keuchend. »Er hat einen Zauber über uns gesprochen ... Wir werden niemals bluten ... niemals fallen.« Die drei starrten in Bestürzung und Furcht auf Artus' Schulter, wo die tiefe Wunde sich unter der entzwei geschlagenen Schulterspange scheinbar von selbst wieder schloss. Der Mann, gegen den sie kämpften, schien wirklich unverwundbar; schon die früheren schweren Treffer, die er empfangen hatte und die jeden anderen Krieger zu Boden gestreckt hätten, waren ohne Wirkung geblieben. Erneut drangen sie auf ihn ein, aber jetzt mit weniger Entschlossenheit. Artus lächelte grimmig, als er die Schläge abwehrte. »Und der Bischof hat uns gesegnet... jeder Rebell, der unbußfertig erschlagen wird ... soll aus dem Buch Gottes gestrichen ... und dem Teufel und seinen Engeln überantwortet werden.« »Lügen!«, rief einer der Krieger. Er sprang auf Artus zu, um ihn mit dem Schwert zu durchbohren. Artus hatte erwartet, dass einer von ihnen den Köder annehmen würde. Er wich seitwärts aus, der Mann verlor die Balance, und als er an Artus vorbeistürzte, zog dieser ihm das Schwert über den Kinnriemen des Helms, durchschnitt ihn und öffnete die 155 Kehle des Rebellen. »>Timete eum qui postquam ... occiderit habet potestatem ... mittere in gehennam!<«, rief Artus. »Er verzaubert uns!«, stieß einer der beiden anderen hervor. »Er ruft Satan an!«, bekräftigte der andere. Sie machten kehrt und flohen in die Nacht. Artus schnaufte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte umher. Uberall brannten Zelte, Männer rannten dahin und dorthin, Pferde bäumten sich auf und schrien. Lagerfeuer warfen ungewiss flackernden Schein über rennende Gestalten. Lots Krieger kämpften an vielen Stellen gleichzeitig gegen die mittlerweile ins Lager eingebrochene Masse der Reiterei. Im trügerischen Zwielicht waren es die Pferde und nicht Rüstungen und Farben, die bestimmten, wer auf welcher Seite stand. Der Umstand, dass Artus zu Fuß war, machte ihn unauffällig, nahezu unsichtbar. »Unsichtbar und unempfindlich gegen Schwerthiebe«, murmelte Artus. Zur Vorhut zurückzukehren, wäre jetzt sinnlos, weil er nicht wusste, wo sie kämpfte. Gelänge es ihm aber, das Feuer zu erreichen, wo die Verräter sich versammelt hatten, und Lot selbst zu stellen - vielleicht ließe sich der Krieg noch in dieser Nacht beenden. Artus spähte über das Lager hin. Der höchste Punkt lag im Norden, über einem kleinen Wasserlauf. Die Zelte dort waren größer und besser als die anderen unter ihnen. Seit dem Beginn des Angriffs hatte man dort frisches Brennholz in die Feuer geworfen. Das war der Ort, wo sich Lot befinden würde. »Achte auf deine eigene Gesundheit, König Lot von Lothian.« Obwohl das Ratsfeuer hell lodernd brannte, blieb Lot nicht im blendenden Feuerschein. Er stand auf der Schattenseite seines persönlichen Zeltpavillons und beobachtete mit scharfem Blick den Verlauf der Schlacht. Vom Überraschungsangriff aufgeschreckt, war sein Fußvolk in überstürzter Eile aus den Zelten gestürzt, notdürftig bewaffnet, oft nur halb bekleidet und meist 155
ohne Helme und Panzer. Nun hatten sie Mühe, sich gegen Artus' Reiterei zu behaupten, die sich von der Straße den Hang hinab ins Lager ergoss. Zwar strömten noch immer seine Krieger zusammen, um sich in den Kampf zu werfen und die Angreifer abzuwehren, doch waren inzwischen auch schlechte Nachrichten eingegangen. Ein Läufer hatte gemeldet, dass die Abteilung Bogenschützen, die den Auftrag hatte, die Straße zu sichern, bis auf den letzten Mann niedergemacht worden sei. Und eine Kolonne berittener Krieger reiche beinahe bis zur Burg zurück. Wenn diese Meldung zutraf, musste Artus an die tausend Reiter aufgeboten und jedem Stallknecht und Bauernjungen einen Spieß in die Hand gedrückt und ihn auf eine Mähre gesetzt haben. Lot hatte nicht mit einem so schnellen und heftigen Angriff Artus' gerechnet. Es war kühn und brillant; in diesem Jungen steckte mehr als ihm anzusehen war. Und das war nur die Reiterei. War es möglich, dass er in der kurzen Zeit auch Fußvolk aufgeboten hatte? »Mein König«, ertönte eine atemlose Stimme hinter ihm. Ein keuchender Bote trat näher und ließ sich vor dem König auf ein Knie nieder. »Ich habe Nachricht von den rückwärtigen Verbindungen.« »Sprich«, befahl Lot. »Fergus More von Dalriada, Galem von den Nördlichen Pikten und König Aelle von Sussex sind vom Angriff nicht betroffen. Ihre Verstärkungen werden jeden Augenblick eintreffen. Eure und Carados' Krieger können mit baldiger Unterstützung rechnen.« Lot spähte hinaus zum nördlichen Verlauf der Straße. »Ja. Ich sehe sie. Unsere Verbündeten sind im Anmarsch.« Dort im Nordosten marschierte ein neues Kontingent Fußvolk heran. Es bewegte sich in schnellem Marschtempo, ein gigantischer Tausendfüßler. Dann schwenkte die Kolonne ohne Aufenthalt von der Landstraße ab und strömte ins Lager. Die Krieger schlugen Zeltverspannungen durch und setzten Segeltuch in Brand. Schwerter blinkten in der Nacht. Einzelne Gruppen von 156 Lots Kriegern, die sich den Eindringlingen entgegenwarfen, wurden von der Übermacht zusammengehauen. »Verraten!«, keuchte der Melder. »Nein, nicht verraten«, fuhr Lot ihn an. »Das sind nicht unsere Verbündeten. Es ist Artus' Fußvolk. Geh zum Feldhauptmann und sag ihm: Befehl. Gegenangriff im Nordosten.« Der junge Mann sah ihn mit großen Augen an. »Werden wir die Oberhand gewinnen?« Lot versetzte ihm eine solche Ohrfeige, dass der Bote zu Boden fiel. »Allein in diesem Lager haben wir doppelt so viele Krieger wie der Feind. Wenn Carados und Aelle und Galem eintreffen, werden wir die dreifache Zahl aufbieten können. Nun geh!« Der Bote rappelte sich auf und rannte durch das umkämpfte Lager davon, und Lot schritt vom Schatten seines Zeltpavillons zum Stallzelt, wo sein Pferd eingestellt war. Es war bereits gesattelt, aufgezäumt und bereit für den Kampf. Es stampfte ungeduldig, bis der König die Zügel vom Posten band. Er saß auf und wendete den Schimmel. Er vermutete, dass sich Artus dort unten aufhielte, wo das Getümmel am dichtesten war. Er würde dort sein und seine Leute anfeuern, und mit ihm sein wundersames Schwert. Mit dieser Waffe würde er so auffällig sein wie ein Leuchtkäfer. Lot war überzeugt, dass es nur eines einzigen wohlgezielten Schwertstreiches bedurfte, um ihn auf seinem Pferd zu erschlagen und all diesem Unsinn ein Ende zu machen. Und das Schwert Excalibur in König Lots Hände zu bringen.
Als er seinen Schimmel zum Galopp antrieb, sagte Lot: »Der Tod kommt dich holen, junger Prinz!« Artus gelangte ohne Schwierigkeiten von der Mitte des Feldlagers zum Fuß der Anhöhe, wo Lots Zeltpavillon stand. Geschrei, Kampfgetümmel und Dunkelheit begleiteten ihn auf seinem Weg und verwischten seine Fährte. Der Zeltpavillon schien leer und unbewacht. Alle Krieger hatten sich in den Kampf gestürzt. Trotz 157 eines mächtig lodernden Feuers zwischen den großen Zelten lag das Gelände verlassen. Keine Menschenseele war zu sehen. Nicht einmal Lot. Artus fluchte in sich hinein. Immerhin, wenn dies der Pavillon des Königs war, dann würden sich Waffen und Rüstungen darin befinden, Dinge, die sich im Feuer gut ausnehmen würden. Und es würde Kartenzeichnungen und vielleicht Kriegspläne geben, Listen der Einheiten und ihrer Kommandeure, Neuigkeiten über Waffenlager und Lebensmitteldepots. Obwohl er gehofft hatte, an diesem Ort Lot gegenüberzutreten, würde der Gewinn solch wichtiger Information beinahe genauso vorteilhaft sein können. Artus legte seinen Wappenrock mit dem Pendragon ab und löste den Kinnriemen seines Helms, legte ihn beiseite und fuhr sich mit den Fingern durch das wirre, verschwitzte Haar. Der kürzeste und dunkelste Zugang lag unmittelbar vor ihm, eine niedrige, aber steile Böschung hinauf zum Zeltpflock einer Ecke des Pavillons. Ein schneller Messerschnitt durch das Segeltuch, und er würde drinnen sein. Artus ließ Helm und Wappenrock, wo er sie abgelegt hatte, erstieg die Böschung und erreichte das Zelt. Er zog seinen Dolch, stieß ihn in die Zeltwand und schnitt abwärts. Nach einem letzten Blick über die Schulter schlüpfte er in das dunkle Innere. Eine Person aber war im Pavillon geblieben ... Mit furchtbarer Wucht traf etwas Artus' Rücken. Er flog vornüber und landete bäuchlings inmitten von Kissen. Er versuchte herumzuschnellen, aber sein Angreifer war zu stark. Eine kraftvolle Hand packte seinen Arm beim Panzerhandschuh, drehte ihn auf den Rücken und stieß ihn aufwärts zwischen die Schulterblätter. Artus ächzte, konnte aber die Hand aus dem Panzerhandschuh ziehen. Einhändig stieß er sich vom Boden hoch. Ein Fuß traf ihn in den Rücken und warf ihn wieder aufs Gesicht. Dann kam ein stechender Schmerz wie von einer Verrenkung, und gleich darauf traf ihn etwas Rundes und Hölzernes am Kopf. Ihm wurde schwarz vor Augen. 157
26. Merlin und der Tod eines Gottes
Ulfius und sein Vortrupp hatten die Hauptkampfzone hinter sich und stießen zum Zentrum des Zeltlagers vor. Mit Hufen und Klingen bahnten sie sich den Weg. Immer wieder versuchten kleinere Abteilungen der Rebellen sie aufzuhalten, aber die Rebellenkrieger waren zu Fuß, ohne einheitliche Führung oder Befehle. Trotzdem kämpften sie verbissen, um zu verhindern, dass die Loyalisten zu König Lot durchbrachen. Ihr Opfermut war nicht nötig, denn König Lot kam zu ihnen. Er ritt einen Schimmel, der im Mondlicht weithin leuchtete. Unterwegs sammelte der König Krieger um sich. Lot übte auf seine Krieger eine Anziehungskraft aus, wie Excalibur auf andere. Er verstand es, ihnen eine Vision von Sinngebung und Siegeszuversicht zu vermitteln. Als Lot und seine
zusammengewürfelte Streitmacht den Vortrupp der Eindringlinge erreichte, waren die Rebellen zahlreicher als die Loyalisten. »Durchbrechen zum König!«, rief Ulfius und reckte das Schwert am gestreckten Arm über die Pferdeohren nach vorn. Als hätte es auf die Inspiration gewartet, bäumte sich das Pferd auf und schlug mit den Vorderhufen zwei Rebellen nieder. Dann sprang es vorwärts in die entstandene Lücke. Zwei Reiter schoben sich zu beiden Seiten heran, flankierten Ulfius' Pferd und hieben eine Gasse durch die Rebellenkrieger. Lot dachte nicht daran zu weichen. Er trieb sein kampfgewohntes Schlachtross gegen Ulfius vorwärts. Schwert klirrte auf Schwert — gegeneinander geführt vom wuchtigen Angriffsschwung der Schlachtrösser. Auch sie rammten einander und schrien und bissen, stießen sich mit den Stirnstacheln in die Ledermasken. Ihre Augen glühten rot im Licht der niederbrennenden Feuer. Auf ihren Rücken tauschten König und Krieger Hiebe. Ulfius' leichteres und beweglicher zu führendes Schwert schlug mit dem schweren und vernichtenden Langschwert zusammen. Lot riss die Klinge ausholend zu einem weiteren Hammerschlag 158 hoch. Ulfius parierte ihn mit der Schwertschneide und Funken sprühten von den aneinander entlangschrammenden Klingen. Erst am Schwertknauf konnte Ulfius die Wucht des Schlages auffangen. Dann nutzte er die Hebelwirkung, um das Langschwert aus der Bahn zu schlagen und zuzustoßen. Seine Schwertspitze schnitt Lots Wappenrock auf, wurde aber von der Halsberge darunter aufgefangen. »Du kämpfst gut, für einen so jungen König«, gab Lot zu. Ulfius lächelte unter seinem Helm. Sollte der andere ruhig denken, dies sei sein entscheidender Zweikampf mit Artus. Sollte er ruhig seine Kräfte erschöpfen, und dann konnte Artus kommen und ihm den Rest geben. Er hob seine Stimme ein wenig, um mehr wie der junge König zu klingen, und erwiderte: »Ihr seid erledigt, König Lot. In dieser Stunde marschieren Loyalisten von Nordosten und Nordwesten auf Euer Lager zu. Ergebt euch und rettet Euch und Eure Krieger.« »Niemals!«, rief Lot. Er unterstrich die Weigerung mit einem kraftvollen Schwerthieb von der Seite. Ulfius parierte, und sein Pferd rammte den Schimmelhengst. Ein Fluch ertönte, als die Schneide des Langschwertes auf die flache Klinge schlug. Die Bewegung der Pferde hatte Lots Klinge abgelenkt, die nun die ledergepanzerte Kruppe von Ulfius' Schlachtross traf. Dieses keilte daraufhin wie ein Maultier aus und verletzte die Keule des Schimmels. Lot knurrte, zog die Klinge für den nächsten Angriff zurück. Unterdessen nutzte Ulfius die Gelegenheit zu einem gefährlichen Hieb nach dem Kopf des Königs. Lot wich aus, aber drei Lederriemen seines Helms platzten auf. Ulfius stieß mit dem Schwert nach oben nach, und König Lots Helm flog ihm vom Kopf. Plötzlich sahen sie sich von einem Trupp berittener Rebellen eingekreist. Unter dem Druck andrängender Pferde und wütend geschwungener Stahlklingen wurde Ulfius zum Rückzug gezwungen. Lot reckte sein Langschwert in die Luft. »Ergib dich, Artus!«, 158 rief er seinem weichenden Feind nach. »Die Heere meiner Verbündeten sind eingetroffen. Und noch mehr kommen nach.«
Im Dickicht tanzender und klirrender Schwerter hatte Ulfius Mühe, den König zu hören. Lot rief: »Diese Reiter schlugen deine nordöstliche Abteilung. Auch deine nordwestliche wird sterben. Ergib dich, Artus! Rette dich selbst und deine Männer!« Kurz bevor der wütende Reiterkampf Ulfius aus der Hörweite trug, rief er zurück: »Ich bin nicht Artus! Und Artus wird sich niemals ergeben. Niemals.« Dann war keine Zeit mehr für Worte. Alles war Stahl. Ulfius' Reitertrupp von dreißig Mann war auf zwanzig geschrumpft, und sie wurden hart bedrängt von mehr als fünfzig Berittenen. Von allen Seiten eingeengt, zogen die Loyalisten sich fechtend und übel zugerichtet zum Hauptkampffeld zurück. Als sie sich über niedergebrochene Zelte und zertrampelte Lagerfeuer absetzten, blickte Ulfius zurück zu den Verfolgern und sah König Lot unbewegt auf seinem blutenden Schimmel sitzen. Leidenschaftslos überblickte er das Schlachtfeld und beobachtete den Verlauf der Kämpfe. Ein befriedigtes Lächeln umspielte die Lippen des Königs. Zwischen rückwärtsgewandten Schwerthieben, mit denen Ulfius versuchte, seine Verfolger auf Abstand zu halten, sah er den Grund. Der größte Teil von Artus' Reiterei hatte seine Pferde verloren. Die Reiter kämpften jetzt verzweifelt zu Fuß. Im Nordosten hatte Artus' Fußvolk kehrt gemacht, um sich einem Ansturm überlegener Kräfte entgegenzustellen, die sich von der Hauptstraße ergossen. Das Fußvolk zog sich fechtend zum Hauptkampffeld zurück und würde dort bald auf zwei Fronten kämpfen müssen. Die Abteilung im Nordwesten war ähnlich unter Druck geraten; schon waren ganze Abschnitte ihrer Gefechtsformation eingedrückt, und viele wandten sich zur Flucht. König Lot von Lothian saß auf seinem Schimmel, legte den Kopf in den Nacken und lachte.
281
Ulfius kämpfte sich mit seiner zusammengeschmolzenen Truppe weiter zurück. Wo ein Gegner ausfiel, nahmen zwei andere seinen Platz ein. Klingen stießen an seiner Abwehr vorbei. Sie bissen in Wappenrock und Ringpanzer und schlugen Kerben in seinen Helm, bis ihm der Kopf dröhnte. »Artus«, stieß er durch die Zähne hervor. »Artus, lebst du noch?« Ein blutiger und erschöpfter Kurier betrat das Vorzimmer, wo der Zauberer Merlin lag, die letzte Hoffnung Britanniens. Der verrückte Magier schmachtete in einem unruhigen Dämmerzustand. Die Decken, in die man ihn gehüllt hatte, waren zerwühlt und gerissen. Da und dort stiegen kleine Rauchfäden zur dunklen Gewölbedecke über ihm auf. Bestickte Kissen schwelten unter strähnigem weißen Haar. Längst wäre ein Feuer ausgebrochen, säße Guinevere nicht neben dem Lager und erstickte die Flammen mit einer Kanne Wasser, Bechern und einem Becken. Der Kurier erreichte nur Gürtelhöhe. Zwerg wurde er genannt, Feenbrut. Trotz seiner geringen Größe hatte Dagonet gelernt, ein gewöhnliches Pferd zu reiten und einen Dolch zu schwingen, als wäre er ein Schwert. Und er war mitten im dichtesten Kampfgetümmel gewesen, als Ulfius ihn beauftragt hatte, die Botschaft zu überbringen. Dagonet schritt zur Lagerstatt und fasste Merlins Gewänder. Er schüttelte den Mann. »Wach auf, Merlin«, befahl er. »Wach auf.« Guinevere beugte sich näher. Mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Er ist nicht aufgewacht, seit Artus in die Schlacht geritten war.«
Der Zwerg blickte auf. Er hatte ernste, aufmerksame Augen unter dichtem schwarzem Haar. »Ich bringe eilige Nachricht vom Schlachtfeld. Nachricht von Ulfius.« In Guineveres sorgenvollem Blick spiegelte sich eine Entscheidung. Sie beugte sich über Merlin, umfasste seine Schultern und flüsterte ihm ins Ohr: »Wach auf, Großvater. Es gibt Nachricht von Artus. Wach auf.« 160 Wie ein Schwimmer, der aus dunkler Tiefe emporsteigt, hielt Merlin den Atem an, drückte die Arme an seine Seite und krümmte den Nacken aufwärts. Sogar seine zerrissenen, schwelenden Gewänder schienen in der vorbeiströmenden Flut zu wehen. »Er kämpft gegen Albträume«, sagte Guinevere. Nach einer Weile entspannte sich Merlins starre Haltung. Er schnappte nach Luft und wehrte sich schwächlich gegen Guineveres Druck. Sie gab ihn nicht frei, sondern sprach besänftigend in sein Ohr. Trotz ihrer Anstrengungen sprangen von den Zehen seines linken Fußes fünf kleine blaue Flammen auf. Dagonet wich mit aufgerissenen Augen zurück. »Ja, Merlin, ja. Guinevere ist hier«, sagte sie still. »Atme ein wenig. Atme ganz ruhig. Alles wird in Ordnung kommen.« »Die Nachricht, die ich überbringe«, unterbrach sie der Zwerg, »zeigt das Gegenteil an.« Merlin gab sein Widerstreben auf. Das Feuer verließ seine Zehen. Er öffnete die Augen und zwinkerte Guinevere einen stummen Dank zu. Mit heiserer Stimme fragte er: »Was für Nachricht?« Der Zwerg räusperte sich. »Ulfius und seine Streitmacht ist hart bedrängt. Als ich ausgesandt wurde, musste er mit seiner Truppe zum Südrand des Lagers zurückweichen. Unsere Reiterei ist kleiner geworden, die Krieger kämpfen zu Fuß. Im Nordosten und Nordwesten sind die Heere unserer Verbündeten geschlagen worden. Und das Schlimmste ist, Artus wird vermisst.« Merlin setzte sich aufrecht. Obwohl die Flammen von seinen Füßen verschwunden waren, tanzte jetzt bläuliches Feuer zwischen seinen Augenwimpern. »Er ist gefangen worden!« Dagonet verneigte sich höflich. »Wir kennen sein Schicksal nicht.« »Ja, er ist gefangen worden«, wiederholte Merlin mit Gewissheit. Er zitterte, als könnte er den kalten Biss eiserner Fesseln an seinen eigenen Armen und Beinen fühlen. 160 »Wenn dies sein Geschick ist«, erwiderte Dagonet feierlich, »dann kennen wir auch unser Geschick.« Die Flammen in Merlins Blick wandelten sich von Kobaltblau zu einem blassen Grün. »Ja ... das Geschick von uns anderen.« Er starrte mit flehentlichem Ausdruck in Guineveres Augen. »Beinahe wäre unser Aufstieg gelungen, nicht wahr, mein Kind? Wir kamen aus dürftiger Heide nach Burg Caerleon. Meine Wahnvorstellungen wurden für einige Zeit Wirklichkeit. Aber nur eine Zeit lang. Das Kind Uthers, ein Kind von List und Täuschung, wurde für kurze Zeit zum wahren König Britanniens. Aber wenn er jetzt fort ist - wenn mein Enkel, mein Artus fort ist -« Er plapperte unverständliches Zeug. Seine Finger bewegten sich in manischen kleinen Zuckungen in seinem Schoß. »Artus ... mein Artus ...« »Er wird vermisst, Merlin«, sagte Guinevere mit ruhigem Nachdruck. »Vielleicht ist er gefangen. Aber bis wir Gewissheit haben, müssen wir für ihn kämpfen.«
Der alte Mann streckte flehentlich die Hände aus. Grüne Flammen sprangen von Finger zu Finger. »Ich kann nicht kämpfen ... ich kann nicht einmal wach bleiben ... zu schwach, um zu stehen ... aber in Träumen ...« Ein strenges Licht brannte in ihren Augen. »Dann kämpfe in Träumen, Merlin. Kämpfe in deinen Träumen. Dort fandest du Excalibur, und dort fandest du Artus. Kämpfe in deinen Träumen, Merlin, und finde dich selbst.« Er schüttelte den Kopf mit der Wut eines Terriers, der eine Ratte schüttelt. »Zu tief... zu dunkel ... es erschlug mich beinahe.« »Wenn du dich selbst nicht findest«, sagte Guinevere, »sind wir ohnehin alle tot.« Merlin tauchte zurück in die Tiefen. Es dauerte nur einen Augenblick. Es gab keine Reise durch schwarze Stromschnellen. Es gab keine Höhlenwand, über die Schatten tanzten. Jetzt gab es nur einen tiefen Schacht, der seiner Gestalt angepasst war. Er fiel hinab. Und dann schlug er am Grund auf. 161 Das Schwert der Heiligen Schrift. Ich halte es in den Händen, das Götter tötende Schwert, das Excalibur genannt werden soll. Ich halte es in meinen Händen, in diesem brennenden Zimmer, wo Hieronymus an seiner Übersetzung saß. Farbe schwelt auf Lehmwänden. Fenstersimse verströmen Rauch in die Luft. Der helle Himmel scheint durch ein zerfallendes Dach über mir. Ich mache kehrt. Die Klinge ist schön und weiß glühend. Sie ist die ruhmreiche Waffe von Gott dem Verfolger, von Jehova dem Mörder. Und nun ist sie mein. Mit diesem Schwert kann ich nie getötet werden. Mit ihm kann ich die Legionen erschlagen, die mich aus Rom verjagten, aus meinem eigenen Heim. Mit ihm kann ich ruhmreich zurückkehren, kann das Reich wieder in Besitz nehmen, das Königreich, das mir verloren ging. Constantin hatte es getan. Der Kaiser hatte die zerstrittenen Bischöfe nach Nicäa gerufen, und der nicäische Glaube wurde in Jehovas Hand zum Dolch eines Meuchelmörders. Mit ihm tötete Jehova die Götter, Diana und Athene, Apollo und Venus, Merkur und Mars. Mit ihm tötete Jehova das ganze Pantheon und warf ihre Leichen vom Olymp und übernahm ihn als sein Eigen. Er gewann die Legionen Roms, verwandelte die Teiche der Najaden in Taufbecken und die Bäume der Dryaden in Kreuze. Jehova bezog seine Residenz in den Herzen und Träumen und Gebeten der Menschen. Sie dachten nicht mehr an Götter, sondern an Engel. Sie aßen nicht mehr Ambrosia, sondern ungesäuertes Brot, tranken keinen Nektar, sondern das Blut Christi. Constantin war der weltliche Herrscher, der Jehova seinen himmlischen Thron verschaffte. Und dann festigte Kaiser Theodosius das neue Königreich. Er verbannte die früheren Götter. Niemand durfte ihnen noch dienen, niemand durfte ihnen huldigen oder Weihrauch darbringen. Der schwache orientalische Glaube war bloß ein Dolch gewesen. Die Gesetze des Theodosius hatten ein Schwert daraus gemacht. Aber Jehova war gierig. Er suchte eine noch größere Waffe, und Hieronymus fertigte sie für ihn. Sie war ein Buch, das aus einem hal 161 ben Hundert Schriften zusammengestellt und in die Sprache des Reiches übersetzt war: Latein. Der nicäische Glaube war nur ein Dolch gewesen, aber die Vulgata würde ein Langschwert sein. Und nun ist das Schwert mein. Geblendet von der schönen Klinge, halte ich sie vor mich. Ich steige die qualmende Stiege hinunter, Wände flammen auf. Ich fühle ihre zornige Hitze. Es ist ein reinigendes Feuer. Die Stufen fuhren hinab in einen geschwärzten Raum. Ich durchquere ihn unter nachgebenden Deckenbalken und zwischen einbrechenden Wänden. Ich erreiche den Ausgang und komme hinaus auf die gepflasterte Straße. Dort erwartet mich eine Legion. Mit erhobenen Speeren macht sie jedes Entkommen unmöglich. Sie halten ihre gerundeten Schilde in einer Wand vor sich, und in ihrer Mitte steht Hieronymus.
Dünn und zornig in den Gewändern eines asketischen Mönches ruft er: » Tötet ihn! Tötet diesen Dämon. Er hat das Wort Gottes zerstört! Tötet diesen Sohn Satans!« »Sohn Satans!«, brülle ich. »Sohn Satans? Ich bin nicht Satan! Du solltest mich besser kennen als alle anderen, Hieronymus — Lateingelehrter Hieronymus!« Der Mann starrt mit offenem Mund in völliger Verblüffung. Mit flehendem Blick betrachtet er mein bärtiges und glorreiches Gesicht, meine in Licht gekleidete Gestalt mit dem erhobenen Schwert. »Du bist derjenige, der mich endlich ermordet hat«, rufe ich. »Du und dein Buch!« »Jupiter!«, keucht Hieronymus in jähem Wiedererkennen. Er bricht vor mir auf die Knie, vor dem gefallenen Gott. »Jupiter!« Die Legionäre zittern. »Ja«, sage ich, »ich bin es, Jupiter!« Wie ich die Worte spreche, stürzt das brennende Haus hinter mir zusammen. Flammen und Asche und Funken stieben empor, verlieren sich in Rauch und Staub. Ja, ich bin es. Jupiter. Ich, der König der römischen Herzen und Geister war, der vom Hadrianswall zu den Hallen des Osiris, von den Ländern der Hindu bis zum fernen Atlantis geherrscht hatte, zu dem 162 ungezählte Generationen gebetet und von dem sie geträumt hatten. Und nun träumt keiner mehr von mir. Jupiter lebt nur noch in den Köpfen einiger Gelehrter weiter. Für alle anderen Menschen bin ich ein toter Gott. Für alle anderen bin ich aus der Göttlichkeit abgestürzt in verrückte Menschlichkeit, bin vom König der gesamten Schöpfung zu ihrer erbärmlichsten Kreatur geworden. Ich weiß jetzt, wer ich gewesen bin. Es ist ein einziger lichter Augenblick in einem Sturm von Wahnsinn, aber ich werde ihn gebrauchen, um alles zurückzugewinnen, was ich verloren habe. »Hieronymus, du kennst mich«, sage ich. »Du weißt, was ich war, was mir gestohlen worden ist.« Der Mönch wirft sich vor meiner strahlenden Gegenwart zu Boden. Die Legion gibt nicht nach, hält die Speere hoch erhoben, und die Augen über den viereckigen Schilden blicken wild. »Sag ihnen, sie sollen ihre Speere und Schilde senken. Sag ihrem Offizier, dass er mir gehorchen soll.« Hieronymus starrt zu mir auf. Statt der tanzenden Mädchen liegt Schrecken in seinen Augen. »Nur durch Constantin konnte Jehova siegen. Nur durch dein Werk kann der Sieg Jehovas vollständig sein. Aber durch dich kann ich einen Constantin haben. Ich kann in mein Reich zurückkehren. Kämpfe für mich, Hieronymus. Sag ihnen, sie sollen Speere und Schilde niederlegen.« Eine tiefe Traurigkeit überkommt Hieronymus. Ich kann es spüren. Aber die Traurigkeit ist nicht genug. Inmitten liebevoller Erinnerungen an Ovid und Vergil lauert eine neue Angst vor allem Heidnischen. Hieronymus liebt Jupiter und seine Kinder, liebt die Geschichten des Altertums, furchtet aber auch seinen Gott. Er furchtet Jehova. » Tötet ihn! Tötet diesen dämonischen Sohn Satans!« Speere erfüllen die Luft. Hunderte von ihnen fliegen auf mich zu. Der erste Ansturm schmilzt sofort; die Eisenspitzen fallen als weiß glühender Regen von den in Asche verwandelten Schäften. Der Zweite geht in Flammen auf. Aber der Dritte - die dritte Welle durchbricht die einäschernde Aura um mich. 162 Ich schwinge mein Langschwert in einem Bogen und schlage viele der Speere beiseite. Ein paar durchdringen meine Abwehr. Schmelzendes Metall bohrt sich in meinen Körper. Der Schmerz ist unerträglich. Er reißt durch mich hindurch. Alle Hoffnung auf eine Rückkehr meines Reiches schwindet. Der letzte Tropfen Vernunft geht mit ihr dahin. Der alte Wahnsinn quillt auf-der alte rabiate Wahnsinn. Ich kreische, als geschmolzenes Eisen aus klaffenden Löchern in meinem todlosen Fleisch tropft. Das Geräusch schlägt Hieronymus in wilde Flucht. Ich setze ihm nach. Die Legion versperrt mir den Weg. Mehr Speere fliegen, verfehlen ihr Ziel. Die zwanzig nächsten Männer in der Phalanx sterben in meiner Aura. Dreißig weitere fallen mit meinen Schritten. Und dann ist es nur ein ewiges Töten.
Der gestürzte Gott war fort — und nur der verrückte Magier blieb. Guinevere hielt Merlin fest in den Armen. Die Flammen, die aus Fingern und Zehen geschossen waren, eruptierten nun aus allen Poren. Sie erfüllten den Raum. Guinevere hielt ihn fest, selbst als die Flammen sie umschlossen. Nur ihr Thuata-Blut rettete sie. Dagonet war weniger glücklich. Die Explosion der Flammen schleuderte ihn gegen die Wand. Dort hing er, festgenagelt von Feuer. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, aber der Laut blieb ihm in der Kehle stecken. Unheilige Feuerzungen durchschossen ihn. Langsam rutschte er die Wand abwärts. Als er den Boden erreichte, wälzte sich der Zwerg in rasenden Schmerzen. Er schrie. Dann lachte er. Das Geräusch war das gleiche. Schreiend und lachend wälzte er sich in Qualen. Flammender Wahnsinn erfüllte ihn, göttliche Umnachtung. Der Mantelvön Verrücktheit, den Merlin all diese Jahre getragen hatte, war abgeworfen, um den glücklosen Zwerg einzuhüllen und zu ersticken. Er verwandelte ihn. Und Dagonet wand sich zuckend am Boden und kicherte in grausamer Qual. 163
27. Wenn Könige und Götter erwachen
Artus erwachte im Schein einer Kerzenflamme. Die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden. Das Kerzenlicht geisterte über ein Dach aus Segeltuch, das vom Nachtwind bewegt wurde. Trotz eines Kissens quälte ihn ein pulsierender Kopfschmerz. Er war von einem Geräusch wie ferner Schlachtenlärm begleitete, polternden Pferdehufen und den Schreien Verwundeter und Sterbender — Dann erinnerte er sich. Er versuchte sich aufzurichten, musste aber feststellen, dass er an das Lager gefesselt war. Wer ihn überwältigt hatte, schien gründlich gewesen zu sein. Aber seine Hände waren mit einem weichen Stoff gefesselt, der sich wie ein zusammengedrehtes Halstuch oder ein Schal anfühlte. Dies schien kaum die Art von Fessel zu sein, die ein Krieger gebrauchen würde Aus den Schatten kam Königin Morgause auf ihn zu. Ihr Gesicht war kalt und ernst. Sorgenfalten umgaben Mund und Augen. Ihre Wangen und Schläfen schienen eingesunken. Sie ließ sich neben seinem Lager nieder und blickte ihn an. Sie betrachtete seine elfenhaft feine Nase und die hellen Augen, die Linien seines Mundes, das zerzauste Haar. Dies waren nicht nur seine Züge, es waren auch ihre. »Schwester«, sagte er. Ihre Hand schien wie eine flatternde Taube, aber sie traf seine Wange wie ein Falke. Worte formten sich auf ihren Lippen, konnten sich aber nicht von ihnen befreien. Artus verzog das Gesicht, wandte den Blick aber nicht von der Frau. »Es ist wahr, Morgause. Ich bin dein Halbbruder. Deine Mutter ist meine Mutter.« Morgause stand auf und schritt hin und her. Stumme Wut lag in ihren Augen. »Und unsere Mutter wünscht, dass ich König werde.« Morgause rang die Hände. Unter ihrer weißen Haut zeichneten sich die Knöchel ab. 163 »Ihre Krieger kämpfen für mich, auch jetzt, in diesem Augenblick. Vernichte mich — und du vernichtest sie.« »Halbbruder.« Morgause spuckte aus. »Dein Vater ermordete meinen.«
»Ja. Wenn die Geschichten wahr sind, töteten die Krieger meines Vaters deinen Vater. Vielleicht war dieser Augenblick darin vorausgesagt. Vielleicht liegt auf Igraine der Fluch, dass jedes Mitglied der Familie jedes andere Mitglied tötet -« Diese Bemerkung ärgerte sie sichtlich. »Ich hätte dich schon töten können —« »Stattdessen aber überlässt du die Schmutzarbeit deinem Gemahl«, konterte Artus. Sie fuhr wild auf ihn los. »Was sonst kann ich tun? Du bist mein Feind -« »Ich bin dein Bruder - deiner Mutter Sohn.« »Du bist der Feind meines Mannes. Wenn ich dich freiließe, würdest du ihn nur umbringen.« »Wenn du mich freilässt, Schwester«, erwiderte Artus feierlich, »schwöre ich dir bei meiner Ehre, niemals deinen Mann zu erschlagen - und allen, die für mich kämpfen, das Gleiche zu befehlen.« Morgause hielt inne. Ihre Hände bewegten sich in innerer Erregung. Sie holte tief Atem und hob eine lange, gekrümmte Klinge auf. »Hör mich an, Morgause —« »Halt den Mund. Ich habe meinen Entschluss gefasst.« Sie hob den Krummdolch, und Artus fühlte, wie die Klinge zwischen Brust und Arm stieß und abwärts schnitt. Seidene Fesseln wurden durchschnitten, dann durchschnitt sie auch die Seidenschals, mit denen seine Füße angebunden waren. Er war frei. »Aber wisse dies, König Artus — du hast eine weitere Schwester, die jünger ist als ich und dich für das, was du bist und was du unserem Vater antatest, mit aller Kraft ihres Herzens hasst.« »Ja«, sagte Artus und setze sich aufrecht. »Ich bin Morgan begegnet.« 164 »Sie ist mächtig, Artus, und wird mit jedem Jahr mächtiger. Sie wird nicht dulden, dass du auf dem Thron dieses Landes sitzt. Gerätst du mit ihr in Streit, so wird alles zerstört, was du gewonnen hast und errichten wirst.« Der Traum war Wirklichkeit geworden. Wahnvorstellungen verwandelten sich in Wahrheit. Der verrückte Magier war durch etwas völlig anderes verklärt. Merlin erhob sich vom brennenden Bett. Er stieg auf wie das Abbild des Gottes, der ihn zerstört hatte. Seine Gestalt strömte Licht aus. Bart, Haar und Brauen waren weiß gebleicht wie Schnee. Seine Augen, wie blaue Ausschnitte vom Himmel, waren Fenster in eine unermessliche Seele. Seine zeschlissenen Gewänder brannten in seiner Ausstrahlung, bis sie darin aufgingen wie in einer Sonne. Und die ganze Zeit klammerte sich Guinevere an ihn. Ohne ihre Zähigkeit wäre sie durch den Raum geschleudert worden, wie es Dagonet ergangen war. Ihre zusammengepressten Lippen und geschlossenen Augenlider wehrten den göttlichen Strahlenglanz ab. Sie hielt an Merlin fest wie angesichts eines tobenden Sturmes eine Tochter an ihrem Vater. Aber nun hatte der Sturm sich verausgabt. Der blendende Lichtglanz mäßigte sich zu sanfter Glut. Merlin sank abwärts, bis seine Füße in der Asche des Bettes den Boden berührten. Behutsam löste er ihre Finger von sich. »Ich muss jetzt gehen, Kind. Ich muss für Arthur kämpfen, solange mir etwas von meiner Strahlung bleibt.« Er hob ihr Gesicht, das in seinem inneren Leuchten schön wirkte. »Wärest du nicht gewesen, würde ich mich niemals durch den Wahnsinn gekämpft haben, um die Wahrheit zu ergreifen. Hättest du nicht meine Hand gehalten, würde ich nicht den Mut gehabt haben, mich dieses zersplitterten Selbst zu erinnern.«
Guinevere umfasste seine Hand. »Dann nimm mich mit dir. Dies ist nicht Rom, großer Jupiter. Dies ist Britannien. Und hier 165 herrschen Männer nicht, es sei denn, das Land gewährt ihnen Macht. Ich bin Thuata De Danann. Ich habe Artus' Fuß gehalten und deine Hand und euch beiden Macht gegeben. Nun nimm mich mit dir.« Ein weises Lächeln schlich auf Merlins Lippen. Seine blauen Augen waren voll Heiterkeit. »Ja, dies ist nicht Rom. Und ich bin nicht der große Jupiter. Er ist tot und vergangen. Ich bin nur die fleischliche Hülle, die zurückblieb. Ich bin froh, dass du mit mir kommen wirst, denn ich werde deine Kraft brauchen. Um Artus zu retten, werde ich als der Gott erscheinen müssen, der ich einst war.« Er fasste sie um die Mitte, und sie klammerte sich wieder an ihn, aber nicht als ein Kind. Guinevere schien jetzt eine Athene, Göttin der Weisheit, schön in ihrem göttlichen Gewand und in ihrer ganzen Gestalt aus dem Geist Jupiters geboren. Sie stiegen empor. Hinter einem hohen Fenster stand schwarz die Nacht. Merlin und Guinevere schwebten unter die widerstreitenden Himmel hinaus. Hinter ihnen erhob sich ein schorfiger Zwerg aus der Asche. Er sprang wie toll im verwüsteten Raum umher. Auch Dagonet war verwandelt. Das Haar umstand seinen Kopf wie Distelwolle. Der Brustpanzer war zu phantastischen Schnörkeln umgebogen, der Überwurf in flatternde Streifen geschnitten. Es war das Kostüm eines Hofnarren. Seine Arme und Beine, schon immer kräftig, waren jetzt von außergewöhnlicher Stärke. Am verräterischsten aber wirkte, dass seine Augen im gleichen Himmelblau wie Merlins glänzten. Verrücktes Kichern sprudelte von seinen Lippen, als er Überschläge vorwärts und rückwärts machte. Mit einem einzigen Satz erreichte er das hohe Fenster, und sobald er dort Fuß gefasst hatte, sprang er wieder, eine menschliche Heuschrecke. Über der dunklen Burg sauste er durch die kühle Nachtluft und bekam Guineveres Gewandzipfel zu fassen. Dort baumelte er, und sein irres Lachen erscholl über den schwarzen Hügeln.
165
Artus verließ das Zelt durch denselben Schlitz, den er in die Wand geschnitten hatte. In seiner Eile fortzukommen, stolperte er über ein Spannseil und schlug ins Gras. Es hatte den wundervollen Geschmack von Freiheit. Morgause hatte ihm Freiheit und Leben geschenkt, hatte ihm sogar sein heiliges Schwert mit der Scheide zurückgegeben. »Liebe Schwester«, flüsterte Artus dankbar, als er sich wieder aufrappelte. Er wandte den Kopf und blickte von der Anhöhe über das Zeltlager hin. Das Kampfgeschehen war weit entfernt, wenigstens eine halbe Meile, und um seine Sache schien es nicht gut zu stehen. Im Feuerschein sah man überall Lots vordringende Krieger, während seine eigenen Männer im Rückzugskampf standen. Die dunklen Haufen der Toten zeugten von der Härte des Gefechts. »Ich brauche ein Pferd«, murmelte Artus zu sich selbst. »Ein Pferd, oder Britannien ist verloren.« Auf der anderen Seite von Lots Zeltpavillon stand ein gedeckter Stall, ebenfalls aus Zeltbahnen. Die schmerzende Beule am Kopf, die seine Schwester ihm verschafft hatte, erinnerte Artus an den Wert der Vorsicht. Er stahl sich die dunkle Zeltwand entlang, spähte über einen leeren Platz zu den Zelten von Lots engen Gefolgsleuten und schätzte die
Entfernung zum Stall. Als er keine verdächtigen Bewegungen ausmachen konnte, holte er tief Luft und rannte los. Wind blies ihm durchs Haar - er hatte keinen Helm, und auch seine goldgelbe Armbinde und der Wappenrock mit dem Pendragon waren fort. »Sie werden mich an meinem Schwert erkennen«, tröstete er sich. Der Stall war leer, aber neben ihm gab es einen eingezäunten Auslauf. Nirgendwo waren Wachen oder Pferdeknechte zu sehen; offenbar standen alle im Kampf. Fünf schöne Pferde trabten unruhig im Kreis. Zwei Braune, ein Fuchs, ein Schecke und ein majestätischer Schimmel. Artus war auf einem schwarzen Hengst in die Schlacht geritten, weil er ge 166 hofft hatte, es würde ihn in der Nacht unauffälliger machen. Jetzt wollte er gesehen werden. Es war keine Zeit, nach einem Sattel zu suchen. Diese Adligen aus dem Norden verwendeten ohnehin keine Steigbügel, und ihre Sättel taugten wenig für den berittenen Kampf. Artus fand ein Zaumzeug mit Zügeln, überstieg den Zaun und ging langsam über den mit Dung bestreuten Auslauf. Obwohl die anderen Pferde vor ihm scheuten, suchte er sofort den Blick des Schimmels und sprach in sanften, freundlichen Tönen zu ihm. »Ich bin König Artus, schönes Tier. Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche deine schnellen Hufe und dein leuchtendes Fell. Willst du mich in den Kampf tragen?« Der Schimmel blieb stehen. Mit einem Vorderhuf scharrte er Erde auf. Geduldig und langsam trat Artus auf das Tier zu, nahm seine Mähne in eine Hand und tätschelte ihm den Hals. »Wenn sie das edle Pferd sehen, das ich reite, müssen sie wissen, dass ich König bin.« Der Schimmel warf den Kopf zweimal auf, bevor er sich aufzäumen ließ. Artus schwang sich auf den Rücken. Das Pferd, kraftvoll und ungeduldig unter ihm, trabte im Kreis. Jetzt erst erkannte Artus, dass er vergessen hatte, das Gatter zu öffnen. Er wollte sich vom Rücken gleiten lassen, aber der Schimmel sprang in einem plötzlichen Galopp an. Artus hielt sich an den Zügeln fest und kauerte neben der flatternden Mähne über dem Pferdehals. Der Schimmel sprang und schien über das Gatter zu schweben. Dann setzte er jenseits davon elegant auf, schnaubte und wirbelte Staub auf. »Du willst mehr als ich König sein«, bemerkte Artus. Mit leichtem Kniedruck lenkte er den Schimmel auf die Straße, die ins Zeltlager führte. Zu beiden Seiten schlappten leere Zelte im schwarzen Nachtwind. Im vollen Galopp jagte Artus auf die Frontlinie zu. Er zog Excalibur. Es sprang wie in unbändiger Freude aus der 166 Scheide. Sein Glanz leuchtete wie der Morgenstern über dem finsteren Schlachtfeld. So wie Artus das Schwert gezogen hatte, zog es jetzt ihn. Wie die höchste Eiche in einem Gehölz, zog die erhobene Klinge Blitze herab. Kraft durchströmte seinen Arm — es war mehr als Kraft, es war das wilde Ungestüm des Kampfes. Er kauerte nicht mehr über die flatternde Mähne des Schimmels gebeugt; er reckte Excalibur stolz in die Höhe und stieß einen Kriegsschrei aus. Nicht weit vor ihm hielt ein entschlossen fechtender Haufen Loyalisten den Zugang zur Landstraße. Sie wussten, dass der Verlust dieses strategisch wichtigen Punktes die endgültige Niederlage der Loyalisten bedeuten würde, da er die Rückzugsstraße durch den Wald beherrschte. Schon hatten Lots Krieger die Gruppe umgangen und bedrängten sie
von allen Seiten. Diese zwanzig Mann fochten nicht nur um einen Flecken Land, sondern inzwischen auch um ihr nacktes Leben. Alle hatten ihre Pferde eingebüßt, einige hatten Schwerter zerschlagen und frische Klingen aus den Händen der Toten reißen müssen. Aber alle fochten mit grimmiger Entschlossenheit weiter. Auf diese Gruppe hielt Artus zu. Hier standen seine besten Krieger im Kampf - Ulfius und Ector, Kay und Brastias. Brüllend wie ein sächsischer Berserker brach er in den Einschließungsring der Rebellen ein. Excalibur spaltete einen berittenen Rebellen vom Kopf bis zur Mitte. Der Schimmel kämpfte sich durch Lots Reiterei. Artus hieb wütend auf die Krieger ein, die vom plötzlichen Angriff im Rücken überrascht waren und ihre Pferde im Gedränge nicht wenden konnten. Unter seinen wilden Hieben stürzten sie aus den Sätteln. Die anderen wichen seitwärts aus und öffneten eine Gasse in die Gruppe der Eingeschlossenen. Artus ritt durch die Mitte. Das Blut der Erschlagenen kochte von Excaliburs Klinge und ließ sie sauber. Stimmen erhoben sich über den Schlachtenlärm. »Es ist König Artus!« 167 »Das ist das heilige Schwert! Das ist Excalibur!« Innerhalb von Augenblicken war er unter den Seinen. Sein Pferd bäumte sich auf und er reckte das Schwert in die Höhe. »Gott steht ihm bei. Er kann nicht sterben!« »Sogar sein Pferd — ein weißer Blitz!« Artus tätschelte den Hals des Schimmels und rief: »Ergebt euch, alle miteinander! Erklärt mir eure Treue und verlasst das Schlachtfeld! Ich werde keinen erschlagen, der sich jetzt ergibt. Ich werde denen, die mir Treue schwören, keine Ländereien wegnehmen. Ergebt euch!« Dessen ungeachtet ging der Kampf weiter, doch bald darauf öffnete sich der Einschließungsring ein zweites Mal, und eine neue Gestalt kam an die Front, auch sie auf einem Schimmel. König Lot war von den Ellbogen bis zu den Hüften mit Blut bespritzt, sein Brustpanzer war zerschrammt, der Überwurf zerfetzt. Sein eingebeulter Helm hing lose an halb durchtrennten Kinnriemen. Sogar sein Pferd war verwundet, aber er kämpfte weiter. »Dieses Pferd, das Artus reitet — es gehört mir!«, rief Lot atemlos, als er nach vorn gekommen war und auf das Häuflein Loyalisten einschlug. »Er sitzt auf einem Tier, das nicht sein ist - und auf einem Thron, der nicht sein ist... Er ist kein König, sondern ein Pferdedieb!« Ulfius rief heiser durch die blutigen Zähne: »König Lot ist der Rebell! Das Recht ist nicht auf seiner Seite!« »Artus ist der rechtmäßige König!«, rief Ector in das Klirren der Schwerter hinein. »Ergebt euch!« Lot drängte sein Pferd vor Artus. Fußsoldaten wichen zurück, um nicht von den Pferden niedergetrampelt zu werden. Und die beiden Könige, jung und alt, starrten einander in die Augen. Excalibur glänzte kalt, zum Zuschlagen erhoben. Es ließ Artus wie eine Alabasterstatue erscheinen. »Ergebt Euch, König Lot.« Lot hatte sein Schwert über den Schoß gelegt. Sein Gesicht war vom Widerschein der Feuer gerötet, von Blut und Anstrengung. Unter den Falten seiner Stirn und den buschigen Brauen schwel
168 ten seine schwarzen Augen unversöhnlich. Er bewegte sein Pferd mit einem Kniedruck vorwärts, bis es Kopf an Kopf mit Artus' Schimmel stand. Die beiden waren Stallgefährten und beknabberten einander zärtlich. Ein höhnischen Lächeln auf den Lippen, sagte Lot: »Du bist der Verräter, nicht ich.« Sein Schwert stieß plötzlich aus der Hüfte vor und öffnete den Hals von Artus' Pferd. Rotes Leben sprudelte aus der durchtrennten Schlagader des Tieres. Es öffnete das Maul, hatte aber keinen Atem. In Mitleid erregendem Entsetzen rollte es die Augen, brach zusammen und warf den König ab. Blutbespritzt rappelte Artus sich auf. »Hier ist meine Treue!«, rief Lot und stieß sein Langschwert abwärts durch Artus' Hals. Die Klinge versank zur Hälfte, seine blutige Schneide zwang Artus' Kinn zurück. »Hier ist eine weitere Seele für Satan!« Der Kampf kam zum Stillstand. Artus wankte zurück und nahm das Schwert mit sich. Lot versuchte den Griff zu halten, wurde aber vom Sattel gezogen. Er landete auf dem erschlagenen Pferd und verlor den Schwertknauf aus der Hand. Beide Könige waren gestürzt ... Artus taumelte. Er hob die Rechte, umfasste den Griff des Schwertes, das ihn aufgespießt hatte, und zog es langsam heraus. Es verließ seinen Körper sauber; kein Blut quoll aus der Wunde. Es kratzte an seinem Schlüsselbein vorbei, Muskeln und Haut fügten sich hinter ihm zusammen. Endlich wieder standfest, hielt Artus Lots Klinge in die Höhe. »Ihr vergesst, dass Gott auf meiner Seite kämpft.« Er warf dem Rebellen das Schwert hin. »Ich werde Euch nicht töten, Lot. Ich habe einen Eid geleistet. Aber meine Männer werden Eure Männer töten. Ergebt Euch mir, oder sie werden sterben.« Uberall im Umkreis reckten Krieger die Hälse, um die nächsten Worte zu hören. »Besser, dass sie sterben!« Lot warf sich auf Artus. 168 Excalibur parierte Lots Klinge und schlug sie zurück. Artus folgte mit einem wirbelnden Streich, der die Luft an der Stelle durchschnitt, wo Lot noch vor einem Augenblick gestanden hatte. Der Rebellenkönig griff wieder an. Stahl klirrte auf Stahl. Mit der Wiederaufnahme des Zweikampfes griffen auch die Krieger erneut zu den Waffen. Ulfius, Ector und Kay kamen an Artus' Seite, seine Flanken zu schützen. Sie schlugen drein wie Holzfäller. Ein Wall von Schwertern umringte die zwanzig anderen. Gebadet im Glanz Excaliburs, fassten die Loyalisten neuen Mut und stemmten sich der überwältigenden Flut der Rebellen entgegen. Lot griff wieder an. Ihre Schwerter knirschten gegeneinander, kamen an den Parierstangen in Bindung, wo sie zitternd verharrten. »Wie viele deiner Freunde willst du für diesen Traum opfern, Junge?«, knurrte Lot ihm ins Gesicht. »Du kannst nicht mehr gewinnen ... Wir behaupten das Feld ... Deine Anhänger sind geschlagen, wenden sich schon zur Flucht. Und du wirst mich nicht töten, du halbe Portion.« Er sprang zurück, löste die Bindung und parierte, als Excalibur abwärts schlug. »Ergib dich mir, oder deine Freunde werden sterben.« Zwischen den Schwertstreichen sah Artus, dass Lot die Wahrheit sprach. Die eingeschlossene Gruppe seiner Anhänger war auf fünfzehn geschrumpft, der
Einschließungsring wurde enger. Und der Rest seiner Streitmacht befand sich bereits im Rückzug auf den Waldrand. Eine Serie von Finten und Ausfällen warf den Rebellenkönig zurück und Artus rief: »Beugt Euch dem Willen Gottes und dem Schwert des Königs —« Während er schnell parierte, grollte Lot: »Ich werde mich Excalibur nicht beugen, es sei denn, es beugt mich.« »Ihr könnt mich nicht töten, Lot - das habt Ihr gesehen. Auch ich kann Euch nicht töten. Aber unser Pat kostet unsere Nationen die besten Krieger —« 169 Lot machte einen plötzlichen Ausfall. Sein Schwert schnitt über Artus' Brustpanzer und durchtrennte die Gurte, die Rhiannon auf seinem Rücken hielten. Als die Scheide zu Boden klapperte, stieß Lot nach, und die Spitze seines Schwertes durchbohrte Brustpanzer und wattiertes Unterziehwams und drang tiefer ein. Artus wankte zurück, drückte sofort die Hand auf das herausquellende Blut. Er bückte sich, um Rhiannon aufzuheben. Lot nutzte die Gelegenheit und stieß abermals zu. Sein Schwert drang tief in Artus' Seite. Er drängte nach - und Artus taumelte rückwärts und fiel über den toten Schimmel. Lot bückte sich und hob die reich verzierte Scheide auf. Anerkennend betrachtete er sie im Widerschein der Feuer. »Das also ist das Geheimnis von Gottes Gunst? Diese verzauberte Scheide schützt dich? Und ohne sie? Was bist du ohne sie, Artus?« Er stieg über das tote Pferd und führte einen brutalen Hieb abwärts. Artus wälzte sich zur Seite. Die Klinge fuhr in den Rücken des Kadavers. »Du bist bloß ein Junge. Und mit ihr, was bin ich? Unbesiegbar! Mit dieser Scheide kann ich dich töten und Excalibur gewinnen, und dann werde ich König sein!« Er trat auf Artus zu, dessen Gesicht vom Blutverlust bleich war. Lot hob das Schwert für den Gnadenstoß. »Was wirst du dann sein, Artus? Du wirst nichts sein.« »Nein! Er wird König sein!«, kam ein gebieterischer Ruf mit dem Wind. Die Stimme brachte eine glorreiche und schreckliche Dämmerung mit sich. Die Sonne stieg über den Wald. Sie schien auf Loyalisten, die sich dort auf dem Rückzug befanden. Nun blieben sie stehen und fassten neuen Mut. Auch die vorweggehenden Rebellen machten Halt und blickten in Schrecken aufwärts. 169 Dies war keine natürliche Sonne. Es war eine sonderbare Kugel. In ihrer Mitte befand sich ein alter Mann, der der Allvater zu sein schien, das Licht des Neuen Jerusalem, das Licht der Welt. Oder vielleicht war er Lugh, der hell Scheinende, oder Belatucadrus aus dem Norden. Einige auf dem Schlachtfeld würden diese Gestalt sogar als den Jupiter der alten Zeiten beschrieben haben. Aber es war nicht wichtig, mit welchem Namen er gerufen wurde. Dies war die Manifestation eines Gottes. Und in seinen Armen lag eine Göttin — die heilige Jungfrau, die jungfräuliche Mutter, die in Eire verehrte Mebd. Gott und Göttin riefen beide Artus zum König aus. »Auf die Knie!«, riefen sie zornig vom Himmel herab. »Kniet nieder und huldigt eurem König!« In einem Rauschen und Rasseln von Kleidern und Rüstungen fielen die lebenden Krieger zwischen den toten auf die Knie. Selbst Männer, die Artus bereits Treue gelobt hatten, warfen sich vor der übernatürlichen Erscheinung zu Boden. Die Lebendigen und die Toten
waren nicht zu unterscheiden, alle warfen sich vor der göttlichen Gestalt nieder. Das Gemetzel schien vollständig. Lot aber beugte sich nicht. Ermutigt durch die heilige Scheide in der Hand, blieb er unbeugsam stehen. Artus lag sterbend zu seinen Füßen. Es war genug. Der Rebellenkönig stahl sich mit Rhiannon rückwärtsgehend davon. Hastig band er sich die Scheide um, dann ergriff er die Zügel seines nervösen Pferdes. Blutige Finger ergriffen die Zügel. Er saß auf und starrte einen letzten Augenblick zu den herannahenden Göttern auf. Dann wandte er das Pferd und gab ihm die Fersen. Der Schimmel sprang an und galoppierte über die gefallenen Krieger hinweg und gewann die Landstraße. Wenige Augenblicke später waren Pferd und Reiter jenseits der Hügel in Schatten, die vom Lichtschein der nahenden Götter geworfen wurden. Merlin war nahe daran, Lot zu verfolgen. Wäre er wirklich der Jupiter der alten Zeiten gewesen, hätte er den Rebellenkönig aus 170 dem Sattel pflücken, Rhiannon zurückbringen und ihn für alle Zeit verfluchen können. Aber Merlin war nur noch Merlin. Es hatte ihn all seine Kraft gekostet, den Wahnsinn seiner Seele auszubrennen, und nun schwand seine Macht. Die gewaltige, glanzvolle Lichterscheinung, die ihn und Guinevere umhüllte, bezog ihre wahre Kraft aus den Köpfen der Menschen. Sie hatte eine blutige Schlacht beendet, hatte Krieger zu Boden gezwungen und einen Rebellenkönig vertrieben. Aber der Versuch, jetzt Rhiannon zu retten, wäre gleichbedeutend mit Artus' Verlust. Merlin ließ Lot fliehen - ihn und alle anderen, die den Willen dazu hatten. Es würde eine andere Gelegenheit geben, sie zu bekämpfen. Stattdessen schwebte er nieder, ein verglühender Stern, und landete auf dem Schlachtfeld neben seinem sterbenden Enkel. Guinevere glitt aus Merlins Armen und kniete an der Seite des Königs nieder. Sie zog einen Zipfel von ihrem Gewand hoch, um den Blutfluss zu stillen. »Artus«, sagte Merlin still. »Artus, du hast gesiegt.« Totenbleich in Guineveres Armen, blickte der junge König zu Merlin auf. »Großvater ... was ist aus dir geworden?« »Ich erinnerte mich, wer ich war, Artus.« »Der allmächtige Gott?« Die leuchtende Gestalt lachte. »Nein. Nicht der Tetragrammaton. Ich bin kein lebender Gott, sondern ein schwaches Spiegelbild meines früheren Selbst - des alten Jupiter vergangener Zeiten.« Artus lächelte mit bebenden Lippen. »Das ist der verrückteste von all deinen Träumen, Großvater. Und er hat sich als die Wahrheit erwiesen.« Merlin nickte. »Verrückte Wahrheiten sind am schwierigsten zu begreifen.« »Ich bin ein König geworden, und du bist ein Gott geworden. Wir sind zusammen volljährig geworden, Großvater.« Artus' Haut besaß die Farbe von Elfenbein. Matt hob er eine Hand. »Aber ich fürchte, ich werde nur einen Tag König gewesen sein.« 170 Guinevere legte ihre Hände auf die furchtbare Wunde in seiner Seite. Ihre Berührung war warm, Lebenskraft strömte von ihren Fingern. »Du wirst leben, Artus. Rhiannons Kraft ist auch meine Kraft. Ein Land kann nicht leben, wenn es nicht heilen kann.« Langsam schloss sich die Wunde.
Artus legte seine blutigen Hände auf ihre. »Verausgabe nicht all deine Kräfte für mich, liebe Guinevere. Hier gibt es viele Männer, die ihrer bedürfen.« Überall auf dem Schlachtfeld war die Erde von Körpern übersät. Viele waren tot. Andere verharrten nur in ehrfürchtiger Anbetung. Eine einzige Gestalt in dieser Menge bewegte sich. Sie sprang energisch zwischen den Kriegern herum, tanzte und hüpfte. Der schorfige kleine Mann sprang von Rücken zu Rücken wie einer, der einen Fluss auf Trittsteinen überquert. Dabei sang er ein Lied. »Wenn Götter sich bergen in Lumpengestalt, Und Könige gehen als Jungen verkleidet, Wenn Lot revoltiert gegen des Königs Gewalt Und den Jüngling erschlägt, des Macht er nicht leidet, Wenn Wahrheit zur billigen Münze verdirbt Dann mag Zwerg Dagonet zum Orakel werden, Das jedem die Stunde weist, da er stirbt. So seid gut zu ihm, wollt ihr weilen auf Erden.« »Wer ist dieser Verrückte?«, fragte Artus. Merlin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es selbst nicht. Als er zuerst zu mir kam, war er ein Krieger und Bote. Ich fürchte jedoch, dass mein Wahnsinn auf ihn übergegangen ist.« Artus verdrehte nach dem hopsenden Zwerg müde die Augen. »Es ist gut zu wissen, dass es an meinem Hof nicht allzu vernünftig zugehen wird.« 171
Epilog
Und so habe ich erfahren, wer ich gewesen bin. Die Vergangenheit machte einen König aus Artus, und sie machte einen Gott aus mir. Dennoch ist es nicht genug, ein König zu sein. Man muss ein guter König sein. Und es ist nicht genug, ein Gott zu sein. Man muss ein guter Gott sein. Auf einer Tragbahre wurde König Artus inmitten seiner jubelnden Landsleute zurück zur Burg Caerleon getragen. Guinevere hielt ihm auf dem ganzen Weg die Hand. Sie hielt auch meine Hand. Ja, ich wusste, wer ich gewesen war, aber diese Offenbarung machte meine alten Beine nur wackliger. Sie war ein starkes und kluges Mädchen, und ich brauchte ihre Hand jetzt mehr denn je. Guinevere war diejenige, die aus Artus einen großen König machen würde, und ihr fester Glaube würde helfen, einen guten Gott aus mir zu machen. Der Wahnsinn war vergangen, Delirium und Träume hatten sich verflüchtigt. Sie ließen mich auf einer Furcht erregenden Schwelle zurück. Ich wusste jetzt, wer ich gewesen war, und fragte mich gespannt, wer ich werden sollte ... 171
Zweites Buch
Unsterblichkeit Für Aidan, mein rothaariges Feenkind
Prolog
Es war eine gefährliche Zeit, das wussten wir alle. Nur Stunden nach seiner Krönung hatte Artus in seine erste Schlacht ziehen müssen. In dieser Schlacht wäre er beinahe erschlagen
worden und büßte seine heilige Schwertscheide Rhiannon ein, die die Macht hatte, ihn zu heilen. Jetzt war Lot im Besitz der Scheide und floh mit ihr nach Norden, und Artus lag auf den Tod verwundet. Auch ich wäre beinahe zugrunde gegangen — nicht in der Schlacht, aber im Delirium. Ich hatte mich durch die Wälder meines Wahnsinns gekämpft, nur um in ihrem Innersten eine furchtbare Wahrheit zu entdecken. Dort hatte sie wie ein bösartiger alter Drache gelauert und überfiel mich nun mit mörderischer Gewalt. In Wirklichkeit war ich überhaupt kein verrückter Magier. Ich war ein gefallener Gott. Ich war vom Gott Excaliburs erschlagen worden, vom Wort des siegreichen Christengottes. Von den wolkenumzogenen Höhen des Olymp war ich zur Erde niedergestürzt. Der Sturz hatte mich um den Verstand gebracht. Wem wäre es anders ergangen, wenn er einst als der allmächtige Zeus der Griechen und Jupiter der Römer über Himmel und Erde geherrscht — und sich plötzlich als zerlumpter und erbärmlicher Bettler wiedergefunden hätte? Artus war erst seit wenigen Stunden König, da er seine erste Schlacht durchkämpft hatte. Ich war erst seit Augenblicken ein Gott, als ich meine durchkämpfte. Wäre nicht Guinevere gewesen, die Priesterin der Heilkunde und der Macht des Landes, wären Artus und ich beide in den nächsten Tagen umgekommen. Selbst mit Guineveres Hilfe hatten wir keine Gewissheit, dass wir die vor uns liegenden Kämpfe überleben würden. 172 Lot war geschlagen, aber nicht besiegt. Britannien lag in Trümmern und wartete schmerzlich auf eine Wiederherstellung seiner Größe und Einheit. Artus und ich hatten es gewagt, uns König Lot, seinen Verbündeten und ihren vereinigten Heeren entgegenzustellen. Wir wagten es sogar, von einem glanzvollen neuen Königreich zu träumen, in dessen Herzen die Stadt Camelot erstehen sollte. Gleichwohl war es gut möglich, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren von Rebellen und Angeln und Sachsen bezwungen würden, und wenn nicht von ihnen, dann von unseren eigenen Träumen. Es war wirklich eine gefährliche Zeit. Die Zukunft war für einen emporgestiegenen König und einen gefallenen Gott alles andere als sicher ... 172
1. Von Königen und Narren
König Artus Pendragon und sein Gefolge erstiegen die steile, grasbewachsene Böschung. Uber ihnen dehnte sich der Himmel vom schwarzen Osten zum leuchtenden Westen. Unten, auf der Straße nach Portabello, marschierte das Heer in schweigenden Kolonnen. Die Böschung war schwer zu ersteigen. Das taunasse Gras war so lang und strähnig wie das Haar einer alten Frau. Auf diesen Hügeln weidete kein Vieh; zu nahe waren die Schnitter von Annandale und Lothian. Die Stiefel und Gamaschen des Königs verfingen sich in den langen Grashalmen, die seinen Aufstieg hemmten, bis er die Anhöhe erreichte. Vor ihm lag welliges Tiefland, das von einer langen, aber niedrigen schwarzen Mauer durchzogen wurde. »Wir sind da«, sagte Artus müde. Er zog den zusammengeflickten Umhang aus golddurchwirktem Stoff um sich, den er zum Aufstieg zurückgeschlagen hatte. Das Kleidungsstück war aus den Armbinden, die Artus' Truppen in jener ersten Nacht des
Feldzugs getragen hatten, wieder zusammengestückt worden. »Der Hadrianswall. Endlich haben wir ihn erreicht.« »Ja.« Ulfius kam schnaufend neben ihm herauf. Der Krieger war jetzt fünfzig und befehligte seit einem Jahr Artus' zusammengewürfelte Armee. Es ermüdete ihn. »Ja, der Wall. Wir können sie nicht weiter nach Norden treiben ... nicht mit diesem Heer. Die Männer sind erschöpft, Artus. Wir sind nur so weit gekommen, weil Lot keinen Widerstand geleistet hat ... Aber jenseits dieses Walles liegt Lothian, und westlich davon das sächsische Bernicia. Lot hat in Traprian Law ein Jahr Zeit gehabt, für einen weiteren Schlag Truppen zu versammeln. Wir haben ihn aus Britannien vertrieben. Das muss einstweilen genügen.« 173 »Ja«, sagte Artus mit erschöpfter Stimme. »Ich habe mehr als genug vom Krieg. Die Männer auch.« Er legte eine Hand auf die Schulter seines Stiefbruders Kay. »Was sagst du, Bruder?« Blond und muskulös und unbekümmert wie immer, bewahrte Kay seine Kampfbegeisterung. Trotzdem zog er glänzende Turniere anstrengenden Nachtmärschen vor. »Ich würde bereit sein, durch ganz Kaledonien zu ziehen und zu den Orkney-Inseln und den Hebriden überzusetzen, wenn du es verlangtest.« Artus schnaubte erheitert. »Das sagt der Seneschall von ganz Britannien. Habe ich dir nicht schon genug Land gegeben, Bruder?« »Mehr als genug«, sagte Ulfius. »Nun haben wir die Aufgabe, es zu halten.« Er zeigte nach vorn. »Diese Geländestufe vor dem Steilabfall würde breit genug für ein Lager sein und bietet einen guten Ausblick über die Straße und das umliegende Land. Wir können dort befestigen und eine ständige Garnison einrichten.« »Ja«, sagte der König. »Ein guter Lagerplatz für die Nacht und eine gute Befestigung für die kommenden Monate. Aber wir werden mehr Männer brauchen, wenn wir sie länger in Schach halten wollen —« Des Königs Bemerkung wurde von einem plötzlichen Schimmern in der Luft unterbrochen. Aus dem Abendrot nahm eine grau gekleidete Erscheinung Gestalt an. Sie sprach, noch bevor ihre Umrisse sich verfestigt hatten. »Ban von Benwick und Bors von Gallien sind jenseits des Kanals in ähnlicher Bedrängnis -« »Merlin!«, sagte Artus in froher Erleichterung. »Und ein Bündnis mit ihnen könnte dir und den beiden eine Armee verschaffen, die groß genug sein würde«, schloss Merlin. Er schien noch immer halb Schatten, obwohl seine Augen wie Kerzen in der Dämmerung glommen. »Ein Bündnis. Das ist eine geistreiche Idee«, stimmte Ulfius ihm zu. »Und da wir von Bündnissen sprechen«, fuhr Merlin lächelnd fort, »ich habe deine wichtigste Verbündete mitgebracht.« Er 173 schlug seinen zerschlissenen Reiseumhang zurück und enthüllte Guinevere. Die Thuata-Priesterin war immer schön, ob im Hofgewand oder in den weißen Kleidern einer Heilerin auf dem Schlachtfeld. An diesem Abend, unter dunklen und ermüdeten Kriegern, strahlte sie einen besonderen Glanz aus. Artus streckte ihr die Hände hin. »Der Krieg ist mir verhasst, und wenn ich dich sehe, meine Liebe, erinnere ich mich, dass es viel mehr als Krieg gibt.« Er umfing sie in seinem goldenen Flickenumhang. Sie fühlte sich warm an und ihr Haar hatte den Duft von Wind in
trockenen Blättern. »Jedes Mal, wenn ich dich sehe, sehe ich das himmlische Königreich zur Erde niedersteigen -« »Das Neue Jerusalem?«, fragte Ulfius. »Eher wohl Asgard«, warf Kay ein. »Olymp würde noch besser passen«, flüsterte Merlin träumerisch. Guinevere lächelte in den Kreis ihrer Freunde. »Was ist mit dem glanzvollen Avalon?« »Ja, unsere Stadt wird dies alles in einem sein«, sagte Artus und schwenkte Guinevere auf dem dunkelnden Hügel zu einer gesummten Serenade im Tanz. Seine müden Füße waren plötzlich leicht, sein Umhang leuchtete auf der Anhöhe wie ein Signalfeuer. »Ein Ort, wo Sterbliche und Unsterbliche sich vermischen, wo kein Gott die Oberherrschaft haben und alle willkommen sein werden - Götter und Feen und Menschen -« »Camelot«, sagte Guinevere. Er nickte. »Camelot.« Ulfius wurde ungeduldig. »Gut, träume von deiner herrlichen Stadt, Artus, doch es gilt noch einen Krieg zu gewinnen -« »Sobald der Hadrianswall sicher in unserem Besitz ist, werde ich dich nach Benwick und Gallien schicken, um mehr Krieger für unseren Feldzug zu gewinnen«, sagte Artus, ohne in seinem höfischen Tanz innezuhalten. »Vielleicht«, schlug Merlin vor, »sollte ich nach Avalon gehen 174 und in Erfahrung bringen, welche göttlichen Streitkräfte uns helfen könnten.« »Eine ausgezeichnete Idee«, erwiderte Artus. Er blickte tief in Guineveres Feenaugen. »Und bitte sie um ihren Rat zum Bau von Camelot. Ach ja, und was für Neuigkeiten gibt es von Rhiannon, Merlin? Kannst du aufspüren, wo die Scheide aufbewahrt wird?« Der Kerzenschimmer in Merlins Augen erlosch. »Nein. Lot hat sie gut versteckt. Sie ist von alter Magie verhüllt, älter als der meinigen. Das ist das Werk von Lots Schwägerin, deiner Halbschwester - Morgan Le Fey, wie sie jetzt genannt wird.« Morgan Le Fey stand im dämmernden Garten von Traprian Law. Seit ihrer Ankunft in der Burg war der Garten prächtig gediehen. Verschwunden waren die geordneten und sterilen Beete, die einst mit Rosen und Lilien aus Rom bepflanzt gewesen waren. Es waren schöne Blumen, gewiss, aber auch Wahrzeichen der römischen Kaiser und des Christentums - und die sauren Torfböden und das kühle und regenreiche Klima Lothians hatte ihnen nicht zugesagt. Jetzt war der Garten völlig überwuchert von Wildblumen, unter denen sich die genügsame und vermehrungsfreudige Distel besonders hervortat. Purpurne Blüte, grüner Stängel, weißer Dorn - Schönheit, Fruchtbarkeit und Wahrhaftigkeit. Ja, der Garten hatte sich gut entwickelt. Sie fühlte sich darin zu Hause. Morgans Schritte führten sie zum Mittelpunkt des Gartens. Die weiße Marmorstatue der Heiligen Jungfrau trug jetzt neuen Schmuck. Eine dicke Ranke Giftsumach kroch mit ihren Verästelungen geduldig über Marias einst unberührte Gestalt. Morgan hatte einen Ableger des efeuähnlichen Kletterstrauches aus einem verwilderten heiligen Hain gebracht, der zu Römerzeiten der Unterweltgöttin Proserpina geweiht gewesen war, hatte ihn eingepflanzt und genährt und seine suchenden Triebe geführt. Die Pflanze war mit übernatürlichem Eifer gewachsen und hatte die Statue der Jungfrau mit ihren Verästelungen umklammert. Lot hatte natürlich Einwände gemacht und sich beklagt, dass sei 174
ne Schwägerin Maria in die von der Schlange verführte Eva verwandelt habe. Morgan hatte nur gelacht. Sollte der Mann denken, was er wollte. Diese Ranke vom Giftsumach war keine Schlange. Als die runzlige Alte war sie eine Ergänzung zu Maria, dem jungfräulichen Mädchen. Und eine weitere Anpflanzung hatte die unheimliche Dreieinigkeit vervollständigt: die Mistel als Symbol der fruchtbaren und parasitären Mutter. Dies war alte Magie, verwurzelt in den weiblichen Erdgottheiten, älter als die Thuata-Priesterinnen und die gefallenen römischen Götter. Ja, Morgan fühlte die Wahrheit von Merlins Vergangenheit. Sie war im Gebrauch der alten Mittel mächtig geworden. Ihr unheimlicher Garten war ein Stück Magie, das nicht einmal Merlin durchdringen konnte. In der Umarmung der Jungfrau ruhte Rhiannon, die heilige Scheide. Ihre Spitze war auf die steinerne Gewandfalte zwischen Marias Füßen gerichtet, der juwelenbesetzte Rand reichte ihr bis zur Schulter. Die Scheide war vom Giftsumach umrankt und fest eingehüllt, und die Mistel tat ein Übriges, um sie gegen jeden Blick abzuschirmen, der nicht wusste, wo er suchen musste. Noch wichtiger aber war, dass die alte Magie von der dreieinigen Göttin die Scheide sogar vor den Augen der Götter verbarg. Weit hinter Morgan betrat Lot den Garten. An diesem zauberischen Ort wirkte er schwerfällig und stumpf. Er schien die Disteln für Unkraut zu halten, und wäre nicht seine Beute gewesen, seine heilige Scheide, hätte er den Garten überhaupt nicht betreten. Dreimal täglich sah er unruhig nach, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Morgan wusste, dass der Kriegerkönig näher kam, er aber konnte ihre Anwesenheit dort in der Dunkelheit nicht ahnen. Nicht bis er vor ilir stand. »Morgan!«, rief er erschrocken aus, griff sich an die Brust und wartete einen Augenblick. Dann trat er grollend auf sie zu. »Es ist kein Wunder, dass ihr Hexen mit eurem nächtlichen Herumgeschleiche schlecht angeschrieben seid.« 175 Ein bitteres Lächeln ging über ihre Züge. »Du bist recht froh, aus den Kräften dieser Hexe Vorteile zu ziehen —« »Nur weil Artus einen Zauberer hat«, sagte Lot. Er stand vor der Statue und verschränkte die Arme auf der Brust. Seine dunklen Augen glänzten unter den buschigen grauen Brauen. »Bist du sicher, dass dies genügt, um sein spähendes Auge zu täuschen?« »Es ist mehr als genug«, erwiderte Morgan. »Wenn du daran zweifelst, kannst du natürlich die Scheide entfernen und sehen, wie lange Merlin braucht, sie zu finden —« »Nein, nein«, sagte Lot hastig. »Die Zeit ist noch nicht reif, das Heer noch nicht bereit. Ich habe Zehntausende von Aushebungen und Anwerbungen aus Deira und Bernicia und Sussex, aus den Ländern der Briten und Pikten. Sobald die Einheiten aufgestellt und kampfbereit sind, werden wir marschieren.« Er sah sie an. Seine harten Augen schienen die Züge nachzuzeichnen, die sie mit seiner Frau Morgause, ihrer Schwester, gemeinsam hatte. »Aber wenn es so weit ist, möchte ich dich dabei haben. Ich glaube wirklich an deine schwarze Kunst, Morgan, so sehr ich sie auch verabscheuen mag —« »Die Scheide Rhiannon ist aus dieser schwarzen Kunst hervorgegangen«, erinnerte ihn Morgan. »Sie bildete sich aus alten Opfergaben aus Stahl und Edelsteinen, formte sich um Excalibur, um die Welt vor dem mörderischen Ding zu schützen. Du kannst glauben, was du willst, Lot, aber du überlebst nur durch die Duldung der Göttinnen, die du verabscheust.« »Du missverstehst mich«, versicherte ihr Lot. »Ich bin dankbar für deine Hilfe -«
»Ich tue nichts davon für dich oder für meine Schwester. Ich tue dies gegen Artus. Du und er, ihr seid zu ähnlich, Lot. Wenn ich dächte, du könntest Artus tatsächlich besiegen und verdrängen, würde ich dir nicht helfen«, sagte Morgan. Lot war verblüfft. »Das Land braucht einen König!« »Nicht einen König wie dich. Nicht einen wie Artus.« 176 »Dann vielleicht einen meiner Söhne — Gavain oder Gaheris, Agravain, Gareth -« »Keinen von ihnen. Das Land braucht einen König wie in alten Zeiten - einen menschlichen Gemahl der Göttin. Du und deine Söhne, ihr seid unwürdig. Ihr sollt Artus nur beschäftigen, bis solch ein König geboren werden kann.« Lot schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du magst dich auf die Hexenkunst verstehen, Morgan, aber ich verstehe mich auf die Staatskunst. Und den Krieg. Könige werden gemacht, nicht geboren —« »Alles Leben wird geboren, Lot von Lothian«, erwiderte Morgan, »und der wahre König der Insel wird geboren werden - von mir.« Eingehüllt in Stechpalmen, die Füße in der Eiche verwurzelt - wie stark scheinst du, liebliche Guinevere. Dennoch sehe ich, wenn mein inneres Auge sich aus deiner Nähe zurückzieht, wie die Eiche, in der du verwurzelt bist, wie dieser großmächtige, knorrige alte Baum dich klein erscheinen lässt. Ich sehe, wie winzig und vergänglich du vor seinem mächtigen Stamm bist, wie du nicht mehr als ein schönes grünes Blatt sein magst, das verwelken und absterben wird, wenn die Herbstwinde wehen. Und schlimmer noch, wenn ich weiter zurücktrete und in diesem mächtigen alten Baum, wo deine Füße verwachsen sind, eine Ähnlichkeit sehe, dann ist es die der größeren Macht, von Morgan Le Fey. In vollem Galopp ritt Ulfius über das leicht gewellte Wiesenland von Gallien. Zu seiner Rechten ritt der erfahrene Krieger Brastias, wachsam und mit eingelegter Lanze. Dagonet war weniger gut vorbereitet. Er behauptete, Verwandte in Gallien zu haben, obwohl Ulfius daran zweifelte. Artus hatte den Hofnarren nur mitgeschickt, weil der Zwerg ihm in der Burg Caerleon auf die Nerven gegangen war. Gerade jetzt stand Dagonet auf dem Rücken seines galoppierenden Pferdes, hing mit einer Hand an den Zü 176 geln und winkte mit der anderen fröhlich den Bauern zu, die mit Sicheln Gras schnitten. »Setz dich hin, du Irrer!«, knurrte Ulfius. »Wir Irren müssen stehen, damit uns alle besser sehen können!«, erklärte der Narr und zog an seinem Hosenbund. Ulfius sah nicht hin. Stattdessen spähte er aufmerksam die Straße entlang nach vorn. Ungeachtet der Possen des verrückten Zwerges war dies eine ernste Mission, die tödlich enden konnte. Dieses wellige Land gehörte zum Reich des Königs Claudas, eines eingeschworenen Feindes von Bors und Ban. Die unerlaubte Durchquerung seines Landes war nicht zu vermeiden. Das Schiff aus Britannien war weiter nördlich in Quentovic gelandet und eine andere Route nach Benwick im Mittelland gab es nicht. Im Bewusstsein der Gefahr hatte Ulfius sich in den Wäldern an Wildwechsel gehalten, wo immer es möglich gewesen war, und im freien Gelände an Heide- und Wiesenland, Hecken und bewachsene Bachläufe. Der kleine Flusslauf westlich von ihnen drängte sie jedoch mehr und mehr zur Landstraße hin. Nun, da sie gezwungen waren, auf ihr weiterzureiten, führte Ulfius sie im Galopp. Dass seine Eile, diese Gefahrenstrecke hinter sich zu bringen, nicht unbegründet war, zeigte sich nur zu bald. Zwischen Walddickichten zu beiden Seiten der Straße kam eine
Abteilung von acht Reitern in Sicht. Ihre Helme trugen orangegelbe Federbüsche. Die Wappenröcke über ihren Panzern waren orangegelb und schwarz — die heraldischen Farben von Claudas. Sie sahen die drei galoppierenden Ausländer und trabten ihnen gemächlich entgegen. »Ich fürchtete, dass dieser Augenblick kommen würde«, murmelte Ulfius. Der Anführer der Abteilung ritt eine Pferdelänge vor den anderen. Er hielt einen schwarzen Panzerhandschuh in die Höhe und signalisierte Ulfius und seinen Gefährten, ihre Pferde zu zügeln. Offensichtlich war er es gewohnt, dass ihm gehorcht wurde. 177 »Lanzen einlegen! Wir greifen an!«, rief Ulfius seinem Gefährten zu. Mit der Linken zog er den Schild hoch. Brastias nickte. Er und Ulfius jagten mit eingelegten Lanzen auf Claudas' Abteilung zu. Dagonet stand auf dem Sattel und pfiff. Durch die gepfiffene Melodie und das Gepolter der Hufen drang ein mit Flüchen gewürzter Befehl des fränkischen Hauptmanns. Er legte die eigene Lanze ein, deckte die linke Brustseite mit dem Schild und trieb sein Pferd zum Angriff. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich. »Acht Lanzenreiter gegen drei!«, stieß Ulfius hervor. »Acht gegen zwei«, berichtigte Brastias. Dagonet flötete weiter seine Melodie. »Hör auf zu pfeifen!«, rief Brastias. »Bewaffne dich!«, befahl Ulfius. Dagonet tat weder das eine noch das andere. Ulfius und Brastias duckten sich hinter ihren Schilden. Die Pferde streckten die Hälse im Galopp. Zwischen ihnen und ein wenig dahinter stand der Narr auf dem Sattel. Seine mit Schellen besetzte Narrenkappe wehte im Wind. Der Sturm aus Hufen und Pferdeleibern lief zusammen. Blinkende Lanzen stießen wie Blitzentladungen aufeinander. Ulfius duckte sich im letzten Augenblick, und die Lanze des Anführers, die auf seinen Kopf gezielt hatte, stieß über die Schulter in leere Luft. Als der Hauptmann vorbeijagte, traf die Lanze eines zweiten Reiters auf Ulfius' Schild. Der Stoß schlug ihm den Schild beinahe aus der Hand. Die stählerne Spitze zerschnitt das aufgenietete Wappenzeichen des Pendragon und die Lanze kam wieder frei. Beinahe hätte sie Dagonets Mitte durchbohrt, aber der geschickte Zwerg sprang vom Sattel hoch, und die Waffe stieß unter ihm durch ins Leere. Endlich traf Ulfius' Lanze auf Widerstand. Sie durchbohrte Brustpanzer, Muskel und Eingeweide eines Kriegers in schwarzer
177
Rüstung, der mit heiserem Aufschrei vom Pferd gerissen wurde und die gesplitterte Lanze mit sich nahm. Einen Augenblick lang flog der Unglückliche aufgespießt durch die Luft, bevor er in den Straßenstaub schlug. Brastias' Lanze machte ähnlich kurzen Prozess mit einem weiteren Krieger. Sie traf den Schild des Gegners und riss ihn zusammen mit dem Mann aus dem Sattel. Die Lanze brach ab, und mit dem gesplitterten Stumpf stieß Brastias einen weiteren Reiter vom Pferd. Der Rest der Lanze flog ihm aus der Hand, und Brastias, nun wehrlos, beugte sich über die Mähne seines Pferdes und galoppierte weiter. Ulfius folgte seinem Beispiel.
Als seine Gefährten den Feind hinter sich ließen, befand sich Da-gonet noch auf dem Sattel stehend inmitten der Krieger. Eine grob aufwärts gestoßene Lanze beendete seine Vorstellung beinahe, doch er entging dem Stoß mit einem gekonnten Überschlag, worauf er sicher im Sattel landete, seine Narrenkappe zog und die Zunge herausstreckte. Das hätte er besser lassen sollen. Die nächste Lanze fasste seine emporgehobene Kappe. Statt loszulassen, hielt Dagonet daran fest und ließ die Zügel seines Pferdes fahren. Der nun folgende Flug war unvermeidlich. Für die Dauer eines faszinierenden Herzschlages segelte Dagonet über die Gruppe der Panzerreiter hinweg, dann schlug er mit betäubender Wucht am Straßenrand auf und blieb benommen liegen. Die fünf Krieger, die noch auf ihren Pferden saßen, umringten Dagonet, zückten die Schwerter und machten ihm klar, dass es wichtig war, still zu liegen. Dagonet war ohnehin kaum zu etwas anderem fähig. »Wer bist du?«, grollte der Hauptmann in der Landessprache von Gallien. Dagonet blinzelte durch Schmerzen und Staub empor. Dann antwortete er mit dem eindrucksvollsten Namen, der ihm einfiel. »Ich bin Artus, König von Britannien.« 178 Die Krieger lachten und betrachteten den zwergenhaften König. Ihr Hauptmann war weniger belustigt. »Die Briten werden von einem missgestalteten Scheißhaufen regiert?« »Ah, du hast von mir gehört!«, erwiderte Dagonet. Unter Schmerzen krabbelte er auf die Beine, klopfte sich den Staub aus Wams und Unterhose und erklärte: »Ja. Der bin ich, König Artus!« Mit dieser Erklärung reckte er einen vierzölligen Dolch in die Höhe. Das Gelächter verstummte, als die Krieger sich bereit machten, einer Hinterlist zu begegnen. »Was ist das?«, zischte der Hauptmann. »Excalibur!«, erklärte Dagonet. »Der Königsmacher. Die berühmte Klinge der Briten! Dieses Schwert hat ungezählte Schlachten gewonnen.« »Ungezählte Schlachten?«, lachte einer der Krieger. »Nur wenn du gegen Karotten gekämpft hast!« Dagonet runzelte die Brauen und betrachtete die Klinge. »Augenblick. Das ist nicht Excalibur.« Er fühlte an seinem Hosenbund entlang und zog ein noch kleineres Messer. »Haha! Excalibur! Göttertöter!« »Die Briten müssen sehr kleine Götter haben«, sagte ein anderer. »Die Briten müssen alles sehr klein haben«, fügte ein Dritter hinzu. Der Hauptmann schob sein stampfendes Pferd näher. »Ergebe dich, Betrüger, oder stirb.« »Excalibur!«, rief Dagonet und zog eine dritte und noch kleinere Klinge. Trotz der Gereiztheit ihres Hauptmannes lachten seine Krieger noch mehr. Dagonet lächelte und begann mit den drei Messern zu jonglieren. Kreisend funkelten sie in der Luft. Die Krieger beobachteten die Vorstellung interessiert. Einer pfiff durch die Zähne. Ein paar andere steckten sogar ihre Schwerter ein und applaudierten. Dagonet jonglierte schneller. 178 »Es gibt beim Jonglieren mit Messern nur einen Kniff«, sagte er belehrend. »Man muss die Spitzen im Auge behalten.« Wie in einem jähen Wirbel flogen die Messer nach außen und aufwärts. Drei Krieger schrien erschrocken auf und griffen an ihre Gesichter. Die blutigen Griffe der Klingen ragten aus Augenhöhlen. Im nächsten Augenblick sackten sie tot von ihren Pferden.
Der Hauptmann holte aus, um Dagonet zu erschlagen. Der Zwerg wich zurück und krümmte sich, konnte aber dem niedersausenden Schwert nicht entgehen. Stahl durchschlug Panzer, Fleisch und Knochen - und durchbohrte das Herz. Aber es war nicht Dagonets Herz, und nicht der Stahl des Hauptmanns. Es war Ulfius' Schwert, das den Rumpf des Hauptmanns von der Schulter abwärts zur Hälfte spaltete. Ulfius und Brastias hatten ihre Pferde gewendet und waren im vollen Galopp zurückgekehrt. Die Hufschläge ihrer Pferde waren im Applaus der Krieger untergegangen. Nun zogen beide mit grimmig verzerrten Gesichtern ihre Schwerter aus den toten Kriegern. Zornig starrten sie den Zwerg an. Dagonet strahlte sie an. »Ein herrlicher Nachmittag, nicht wahr?« »Was, du kleines —!« »Genie?«, ergänzte Dagonet. »Schaut her, ihr zwei! Ganz allein habe ich drei Krieger getötet, während jeder von euch nur zwei tötete. Und als ein Geschenk für Ban und Bors habe ich diese fünf Pferde beisammengehalten. Wenn ihr schnell seid, kann jeder von euch eineinhalb Pferde einfangen und zu den anderen treiben.« Er reckte die Arme, verzog schmerzlich das Gesicht und warf sich in die Brust. »Passt gut auf, ihr Burschen, dann zeige ich euch, wie man kämpft.« »Um Himmels willen!« »Ihr braucht euch nicht zu bedanken oder erkenntlich zu zeigen. Es ist mir lieber, wenn ihr in meiner Schuld steht.« 179
2. Merlin in Avalon
Merlin ritt nach Avalon. Er hätte fliegen können, hatte aber für Marotten keine Zeit mehr. Er hatte für Wahnsinn und Träume keine Zeit mehr. Es war eine atemberaubende Offenbarung gewesen. Sein Wahnsinn war nicht aus menschlicher, sondern göttlicher Schwachheit entstanden. Er war ein Gott gewesen. Er war ein toter Gott. Er war mit seinem Reich zugrunde gegangen, erschlagen zuerst von Westgoten und Wandalen, dann von Constantin und Constantinopel, und zuletzt vom Glauben und der Vulgata und einem Kaiser, der es wagte, sich Theodosius zu nennen Gottes Geschenk. Vielleicht Jehovas Geschenk, aber nicht Jupiters. Jupiter war gestorben, als sein früheres Volk aufgehört hatte, von ihm zu träumen und an ihn zu glauben. Er war gefallen, sterblich und wahnsinnig geworden. Nur seine eigenen Träume hatten ihn davor bewahrt, gänzlich zu verschwinden. Nun hatte er keine Zeit für Träume, nur für die Wirklichkeit. Der Wahnsinn, der seine früheren Tage unter den Menschen beherrscht hatte, war auf den Narren Dagonet übergegangen, und mit ihm alle kindliche Freude. Merlin blieb nur die ernste Erkenntnis dessen, was er gewesen war, des räuberischen Verhaltens der Götter untereinander und der Wahrscheinlichkeit, dass der Gott des Schwertes eines Tages jede Gottheit des alten Britannien erschlagen würde. So hatte er sich auf den Weg gemacht. Er trug seinen alten Reitumhang. Ein Hut mit breiter, herabhängender Krempe bedeckte sein langes, strähniges weißes Haar und den Bart. Im Lanzenfutteral vor dem Sattel steckte sein knorriger Wanderstab. Packtaschen beförderten die Fetische und Gerätschaften seiner Magie.
Er war unterwegs zur Anderwelt, wo die Zeit in unregelmäßigen Intervallen verstrich. Sterbliche, die sich dorthin wagten, strandeten oftmals in fernen Jahrhunderten oder verwandelten sich im Augenblick ihrer Rückkehr zu Asche. Die Anderwelt war 180 ein Ort von Göttern und Helden, Geistern und Toten. Merlin war nichts davon, sondern ein Fremdling in den Hallen der Zeit. Er lachte finster. »Und ich, der einst Kronos erschlug, den Bewahrer der Zeit, sollte mich jetzt furchten, das Labyrinth der Zeit zu betreten?« Ja, Kronos ... auch er hatte die Götter getötet, die vor ihm gewesen waren. Die göttliche Geschichte der Welt war genauso blutig und hoffnungslos wie die menschliche. Artus arbeitete daran, die menschliche Geschichte zu heilen, versuchte es mit seiner Herrschaft des Friedens und der erträumten vollkommenen Stadt. Vielleicht könnte Merlin mit der göttlichen Geschichte Ähnliches bewirken. Vielleicht konnte Artus' Stadt - wie nannte er sie noch, Camelot? - ein Zufluchtsort für Menschen und Götter werden. Die Straße führte aus einem lichten Buchenwald hinunter auf die Ebene von Glastonbury. Es war ein alter britischer Pfad, breit genug für einen primitiven Karren, aber nicht für ein römisches Fuhrwerk. Seine staubige Erde war gefurcht von Karrenrädern und geglättet von Tausenden bloßer Füße. Merlins trabendes Pferd wirbelte mit jedem Schritt kleine Staubwolken auf. Vor ihm lag der See von Avalon dampfend im Schein der Morgensonne. Dies war nicht der hässliche Sumpf, zu dem Ulfius sie vor fast einem Jahrzehnt geführt hatte. Dies war nicht der Hügel, auf dem das christliche Kloster stand. Diese Bilder begrüßten jeden Sterblichen, der das materielle Glastonbury aufsuchte. Aber Merlin suchte Avalon - und er fand es. Der See selbst war tief und dunkel. Geisterhafte Nebelschleier stiegen von seiner stillen Wasserfläche auf und verwehten in den Schatten der umliegenden Hügel. Die ziehenden Nebel trieben ihr Spiel mit dem Sonnenlicht und ließen den See bald grenzenlos und bald als einen trüben Tümpel erscheinen. Jenseits der dunstigen Ränder ragte Avalon. Die Insel war breit hingelagert und verzaubert. Blühende Apfelbäume ließen ihre Abhänge weiß leuchten. Trotz der herbstlichen 180 Kälte in der Luft trugen diese Bäume das Kleid des Frühlings. Im frostigen Januar mochten sogar Früchte daran wachsen. Geschichten erzählten von vielen hungrigen Wanderern, die diesen Anblick gewahrten und über das gefrorene Wasser hinausschritten, um den wundersamen Ort zu erreichen, nur um für immer zu verschwinden. Niemand gelangte ohne die Erlaubnis der Herrin der Nebel, Brigid, nach Avalon. Merlin suchte das Gespräch mit ihr. Der einfache Pfad wurde zu einer alten Landstraße. Ihr Pflaster aus rundgeschliffenem Flussgeröll lag begraben unter Generationen von Flechten und Moosen, die gewachsen und gestorben waren, und schließlich einem feinen, weichen Gras, auf dem man wie auf einem weichen Teppich ging. Das Pferd verlangsamte seine Gangart von selbst zu einem gemächlichen Schritt und schien seine Hufe nur zögernd auf die nachgiebige, federnde Pflanzendecke zu setzen. Wildblumen wucherten neben der Straße und reckten ihre Köpfe, um zu sehen, wer nach Avalon gekommen war. Merlin erkannte ihr Willkommen, holte tief Atem und seufzte dankbar. Die Blumen schienen auch seinen Geruch aufzunehmen. Merlin lächelte. Für Blumen roch schlechter Atem süß wie das Leben. Das war das Empfinden beim Einzug in
Avalon - man verließ eine Welt, wo alle Lebewesen einander bekämpften, und betrat eine andere, wo die Exhalationen eines Lebewesens die frohen Inhalationen eines anderen waren. Die überwachsene Straße führte am Ufer des Sees entlang. Grüne Böschungen begleiteten das dunkle Wasser, wo feine Nebelschleier langsam zogen. Merlin zügelte sein Pferd und stieg ab. Er schnallte das Zaumzeug auf, zog es dem Pferd vom Kopf und hängte es an den Sattel. Sofort senkte das Pferd den Kopf und begann den Klee der Uferböschung gierig abzuweiden. Unterdessen trat Merlin zur spiegelglatten Wasseroberfläche und atmete tief ein. Er reckte die Arme in die Höhe und hob die Stimme in einer Anrufung. 181 »Heilige Brigid, Herrin der Nebel, dein Diener Merlin ist gekommen und bittet um eine Audienz.« Seine Worte schallten über das Wasser hinaus. Sie wurden von den ziehenden Nebeln aufgenommen und fortgetragen. Von der dunklen und fernen Insel kam keine Antwort außer vielleicht einer Brise, die sich zwischen den Apfelbäumen verlor. »Ich bin es, der dir das Schwert Excalibur brachte. Ich bin es, der dir den jungen Artus brachte, der jetzt König ist -« »Du bist es —«, kam eine Stimme von nirgendwo und überall, die wohlklingende Stimme einer Frau, gelassen und mächtig. »- und du bist es nicht. Du hast dich verändert, bescheidener Merlin.« Das Achselzucken begann mit den weißen Augenbrauen des Magiers und wanderte zu seinen Schultern. »Wir alle verändern uns.« Ein leises Seufzen ging über das Wasser. »Nicht in dieser Weise. Ich nehme in dir keine äußerliche Veränderung wahr, nicht einmal in deinem Wesen, aber es gibt einen Unterschied -« »Endlich weiß ich, was ich bin«, sagte Merlin. »Der Wahnsinn ist vergangen, einstweilen.« Das Wasser teilte sich, und aus seiner schäumenden Mitte erhob sich eine herrliche Gestalt. Aus lebendigem Wasser geformt, wirkte die Göttin Brigid zugleich fest und flüssig. Ihre Augen waren schwarz wie der See, ihre Gewänder zarter Nebel. Ihre Gliedmaßen zeichneten sich im matten Schimmer ab. Hinter ihr schloss sich der See erneut. Sie kam über das Wasser auf ihn zu. Mit jedem Schritt verfestigte sich ihre Gestalt, nahm die Färbung und Beschaffenheit von Fleisch an. Der Nebel wob ihr ein seidenes Gewand. Von ihrer hohen, klaren Stirn strömte langes schwarzes Haar zurück und fiel ihr über die Schultern. Obwohl sie nahe der Mitte des großen Sees erschienen war, benötigte sie nur drei gleitende Schritte, um das Ufer zu erreichen. Und sobald sie neben Merlin stand, schien sie nur eine edle Dame in fließenden Gewändern zu sein. 181 »Einmal sah ich Venus so herankommen«, bemerkte Merlin. Ein Lächeln gespielter Schüchternheit tanzte über Brigids Gesicht. »Ich weiß. Ich dachte, es könnte dir Freude bereiten.« »Du weißt es?«, begann Merlin. »Ich spürte, wer du warst, als du zuerst hier erschienst, vor mehr als einem Jahrhundert«, sagte Brigid. »Und was dein Schwert war. Wotan konnte es zweifellos auch spüren. Nicht einmal der Wahnsinn konnte verhüllen, wer du warst, und nur Rhiannon konnte das Schwert verhüllen.«
Merlin schlug den Blick nieder. Er sah auf das Gras vor seinen Füßen. »Ich furchte, die Scheide ist in fremde Hände geraten.« »Auch das spürte ich«, sagte Brigid. »Solange sie und Excalibur getrennt sind, kann das Land nicht ganz sein, und Excalibur wird Wotan anziehen, wie es schon einmal geschah.« »Ja«, erwiderte Merlin. »Ja. Jetzt hat Artus Botschaften zu den Königen Ban und Bors in Benwick und Gallien gesandt und hofft, dass sie ihm Krieger zur Rückgewinnung der Scheide stellen werden.« Er hob den Kopf. »Aber Artus ist nicht nur ein König des Krieges. Er erstrebt die Herrschaft über ein friedliches Land. Er sucht deine Hilfe und die Hilfe aller sterblichen und unsterblichen Wesen. Ich bin hierher gekommen, weil ich hoffe, wir könnten eine Versammlung der Gottheiten Britanniens einberufen ...« Brigid musterte den Mann. Ihr Blick ging beinahe zärtlich über seine gealterte Gestalt. »Es ist recht, dass Jupiter ein Pantheon versammeln möchte.« Ein kläglicher Ausdruck geriet in Merlins Augen. »Aber die Zeiten, da ich als Zeus auf dem Olymp herrschte, sind vergangen, und ich fragte mich, ob ich deinen heiligen Berg leihweise gebrauchen könnte?« Brigid blickte zurück zu der Insel, die im vergoldeten Nebel der Morgensonne verschleiert war. »Wir bevorzugen die Bezeichnung Sidh. Du hast viel über uns gewusst, Zauberer Merlin, aber nun bist du einer von uns. Die Anderwelt, die du früher nur flüchtig 182 erblicktest, ist dein Heimatland geworden. Du bist in eine neue Welt geboren und musst lernen, dünnere Luft zu atmen.« Merlin ließ sich vor der Göttin auf ein Knie nieder und ergriff ihre Hände. »Ich bin nicht einer von euch, nicht mehr. Ich bin nur, was aus euch allen werden könnte, sollte Artus scheitern.« Ihr Lächeln wirkte blendend. »Du bist ein lieber Freund, Zauberer Merlin.« Und ihre Erscheinung verwandelte sich vor ihm. Zarte Seidengewänder wurden zu derber brauner Wolle, ihr Haar verwandelte sich in eine schützende Kapuze, und vom Hals hing ein hölzernes Kreuz. »Einige von uns haben gelernt, wie wir die umfassende Säuberung und Verfolgung der alten Götter überleben können. Ich zum Beispiel bin unter den Anhängern des Christus als die heilige Brigid bekannt.« Ihre asketische Erscheinung wurde wieder zu ihrer früheren göttlichen Gestalt und sie hob Merlin auf. »Und du brauchst nicht für alle Zeit ein toter Gott zu sein, Jupiter.« Merlin erhob sich, die Hände in ihre gelegt. »Lass uns zuerst diesen Krieg ausfechten und uns eine Stadt bauen, wo Götter und Sterbliche in Frieden zusammen leben können. Dann werden wir uns um mein Geschick sorgen.« »Ich erwartete nicht weniger«, erwiderte Brigid. Und sie setzten sich in Bewegung. Obwohl ihre Füße unbewegt blieben, schwebten sie über den nebligen See von Avalon. Die Nebelgeister hielten in ihrem langsamen Reigen inne, erstarrt in der Zeit. Das leise Seufzen des Windes in den Apfelbäumen hatte aufgehört. Sogar die Oberfläche des schwarzen Sees lag spiegelglatt. »Dies ist der leichteste Übergang«, sagte Brigid. »Die Ley-Brücke. Auf diesem Weg zu gehen bedeutet, das Gewebe der Zeit zu verlassen. Die Macht der Teile ist hier in der Macht des Ganzen zusammengefasst. Alle winzigen Partikel verlieren ihre Anziehungskraft gegeneinander, so dass Wände aus festem Stein durchlässig werden. Das Material unseres Wesens sickert durch das Material aller anderen Stoffe. Die Strahlungen von Hitze und Kälte werden auf diesem Weg lauwarm, so dass wir im Feuer stehen
183 können, ohne zu brennen, und im Eis, ohne zu erfrieren. Sogar der Sand im Stundenglas der Zeit hört auf zu rieseln. In der Zeit zwischen zwei Herzschlägen könnten wir von Dumnonia nach Orkney und zurück reisen.« Merlin hörte es mit Verwunderung. Seine Magie hatte nicht mit der Zeit gespielt, sondern nur mit Materie, mit Ähnlichkeiten und Gestalten. Dies war neu und wunderbar. Die beiden näherten sich einem Schwärm Wildgänse, die mitten im Flug über dem Wasser hingen. Ein Vogel glitt durch Merlins Brust, ohne dass er oder der Vogel etwas spürten. Als er sich umsah, befand sich der Vogel unverändert über dem spiegelnden Wasser. Sein eigenes Pferd stand mit einem angehobenen Vorderbein und zurückgebogenem Kopf, um nach einer Stechfliege zu schnappen. Dieses Tier, erstarrt in seiner zeitlichen Mühsal, hatte für Artus und sein Königreich symbolische Bedeutung - für alle Sterblichen, die in der Zeit gefangen waren. Merlins Aufmerksamkeit wurde auf das näher rückende Ufer Avalons gelenkt. Geradeso wie der See größer war, als es vom Ufer den Anschein gehabt hatte, war auch die Insel größer, ausgedehnter und heller. Taubengraue Kiesel und grünes Moos bildeten einen weiten, gebogenen Strand. Darüber zog sich bläulichgrau ein schilfiger Streifen hin, und jenseits davon standen auf leicht ansteigendem Boden die Apfelbäume in voller Blüte. Sie bestanden einen breiten Hang, der sich weit bis in die Ferne hinaufzog, wo das Klima für Bäume zu kühl wurde. Gestrüpp und Gras wuchsen dort bis zu den felsigen Höhen, die nichts von der sanften Rundung der übrigen Insel hatten. Der Gipfel des Berges war zerklüftet und geformt von Wind, Regen, Eis und den Händen von Titanen. »Es ist ein Olymp«, sagte Merlin, »obwohl es vom Ufer gesehen nur ein Hügel zu sein scheint.« »Avalon ist weiter entfernt, als es aussieht«, sagte Brigid. »Die meisten Sterblichen können es niemals sehen, und selbst jene, die die Gabe haben, sehen es aus weiter Ferne.« Dann gab es keine Entfernung mehr. Brigid und Merlin glitten 183 in das ansteigende Land. Kiesel und Humus boten nicht mehr Widerstand als der Gänseschwarm. Sie wateten in das Land, bis es ihre Schultern erreichte. Röhricht glitt durch ihre Köpfe. Ihre Augen berührten die Erdoberfläche, als wäre es eine Wasserlinie. Dann tauchten sie in tiefe Dunkelheit ein. Wäre nicht der Griff von Brigids warmer Hand an seiner gewesen, hätte Merlin das Gefühl gehabt, im Land zu ertrinken. Stein und Lehm, Sand und Erdreich flössen durch seinen Körper, als sie weiterglitten. »Aeneas hat eine ähnliche Reise durch die Unterwelt gemacht«, murmelte Merlin, um sich zu trösten. »Anderwelt«, sagte Brigid in freundlicher Berichtigung. »Dies ist das Reich der Thuata De Danann, der früheren Herrscher über diese Inseln. Sie scheinen beinahe menschlich — eure Guinevere ist eine gebürtige Thuata. Auch gibt es hier noch andere Feen, Geister der Luft und des Wassers, Elfen und Zwerge, Kobolde und sogar Titanen wie jene, die du einst erschlugst. Sogar in Avalon, wo sie frei umherstreifen, befindet sich ihre wahre Heimstatt unter dem Berg. Sie haben die unermesslichen Höhlen von Avalon zu einer Heimat gemacht, wie es einst die Oberfläche der Erde war.« »Es ist der Olymp, nur weiter entfernt von den Kriegen der Sterblichen«, meinte Merlin. »Sie werden dich nicht alle willkommen heißen, Merlin, doch als mein Gast bist du sicher. Noch werden sie von deiner Idee einer Versammlung begeistert sein. Sie wollen ihre Hallen
nicht mit den Helden teilen, die sie erschlugen und vom Angesicht der Erde vertrieben«, warnte Brigid. »Du hast dir da eine schwierige Aufgabe gestellt.« Merlin lachte. »Wenn sie von meinem Geschick hören - wer ich einst war und wer ich geworden bin —, werden sie mich wenigstens anhören. Und wenn sie von Artus' Camelot hören, wo sie wieder in der Welt der Sterblichen gehen können, werden sie mich vielleicht willkommen heißen.« Brigid lächelte. »Also möchte Artus eine Stadt erbauen, wo das ganze Jahr Samhain ist?« Sie lachte. »Vielleicht wirst du ihn davon 184 abbringen, nachdem du das Reich der Thuata De Danann unter Avalon gesehen hast.« Damit wurde es wieder hell, und Brigid und Merlin traten ein in die Welt unter dem Berg.
3. Die ewige Stadt
Ein grüner Berghang senkte sich unter den frei schwebenden Füßen von Merlin und Brigid. In mehreren Geländestufen fiel er hinab zu einer schönen See. Überall um das bewegte Wasser erhoben sich steile Felskippen zu blumenreichen Berghängen. Über diesen breiteten sich Wälder aus, und diese wiederum machten hohen, von Flechten überzogenen Felsen Platz. Dort im zerklüfteten Gestein bauten Adler ihre Nester. Andere Gestalten - einige vogelartig, andere menschlich oder echsenhaft, und wieder andere eine Mischung von allen dreien -belebten Himmel, Land und See. Die Wälder schienen von den Bewegungen der Dryaden zu tanzen. Wichtel pflegten Blüten, webten Ranken und sangen im Chor von Wind und Laub. Die Wiesenhänge waren kreuz und quer von Fußpfaden durchzogen, wo Elfen sich leichtfüßig zwischen Blumen bewegten. Laternenschein blinkte in Höhlen, die wabenartig Felswände durchsetzten. Im Wasser schwammen gigantische Lebewesen wie massige Leviathane und gestachelte Seeschlangen. Schulen kleinerer Fische blinkten silbrig unter den Wellen. Am verblüffendsten aber war ein breiter, silbriger Wasserfall, der an einem Ende der weiten See aus dem grenzenlosen Himmel herabstürzte. »Dies alles unter dem Hügel von Glastonbury?«, wunderte sich Merlin, als sie über die See hinausschwebten. »Dies alles durch den Hügel von Glastonbury«, erwiderte Brigid. »Dies alles und viel mehr.« Sie zeigte zur Mitte der See. Brodelnd aufsteigende Blasen zerplatzten dort an der Wasser 184 oberfläche. Als Merlin durch das Wasser hinabblickte, vorbei an aufsteigenden Blasenketten wie Säulen, erspähte er einen gewaltigen Riss am Boden des Beckens. Durch diesen strömte Seewasser in ungeheuren Kaskaden ab. »Wohin fließt es?« »Zur Welt der Tannen-Bolghs«, antwortete Brigid. »Dieses Land, das du siehst, ist das Reich der Thuata De Danann, die von Kelten und Briten vertrieben wurden. Darunter liegt das Land der Tannen-Bolghs, die von den Thuata De Danann vertrieben worden waren, und darunter das Reich der Fomorianer, die von den Tannen-Bolghs vertrieben wurden.« »Wie tief reicht diese Welt?« »So tief wie der Glaube geht. Weiter zurück als die Geschichte. Weiter zurück als die Überlieferung. Der Sidh erstreckt sich bis hinab zu den ersten Wesen, die von den frühesten Bewohnern dieser Inseln verehrt wurden. Und jede tiefere Ebene ist von denen bewohnt, die von den Bewohnern der nächst höheren vertrieben wurden. Alte Götter, die
von den neueren getötet wurden. Schon jetzt suchen die Druiden und Seher und die keltischen Hexen, die die Thuata De Danann vertrieben, Zuflucht in der Anderwelt bei uns.« »Schön«, sagte Merlin nachdenklich. »Endlos.« »Nicht endlos«, erwiderte Brigid traurig. »Als alle göttlichen Geschöpfe der Ebene von Glastonbury hierher getrieben wurden, schien es allen sehr klein und eng. Doch ein Zufluchtsort ist ein Zufluchtsort.« »Das ist es, was Artus und ich über der Erde erbauen wollen«, sagte Merlin. »Darum bin ich gekommen. Wo könnten wir uns am besten versammeln?« »In der Stadt Avalon.« Sie lächelte ihm zu, beschleunigte ihr Tempo und zog Merlin weiter durch die vorbeiströmende Luft. Sie umrundeten einen mächtigen felsigen Vorsprung und erblickten die goldene Stadt. Auf einer grauen Hochebene gelegen, schimmerte Avalon wie ei 185 ne Fata Morgana. Dünne hohe Türme besetzten die Ecken der Stadtmauer, die auf einer Seite mehr als hundert Klafter tief über die Felsen zur See abfiel. Innerhalb der Mauern lagen von Efeu überwachsene Türme und strohgedeckte Dächer im Sonnenschein. Rot geflügelte Vögel kreisten in Schwärmen über der Stadt. »Unsere Stadt Avalon ist zusammengesetzt aus all den Städten, die zerstört wurden, als die Briten ins Land einfielen - den Städten und unseren Träumen davon, wie diese Städte aussahen. Im Mittelpunkt der Länder der Tannen-Bolghs lag Dun Aonghusa, ihre letzte große Festung gegen die Thuata De Danann. Die Länder der Fomorianer haben eine geheiligte Höhle, wo Balor mit dem Bösen Blick haust. All diese Städte sind durch einen geheiligten Kreis miteinander verbunden. Dorthin werde ich dich jetzt fuhren.« Die beiden schwebten die hohen Felswände unter Avalon hinauf. Nereiden und andere Meeresnymphen bevölkerten die Brandung vor dem felsigen Ufer. Höhlengeister hausten unter Felssperlingen, Staren und Möwen. Luftgeister wirbelten im Tanz um sie her. Brigid und Merlin stiegen aus ihrer Mitte empor, bis sie die Höhe der Mauerkrone auf den Felsen erreichten. Elfenwächter auf den Mauerzinnen neigten ehrfürchtig die Köpfe vor Brigid. Sie führte ihren Gast über die Brustwehr und Merlin fühlte sich von einem dichten Vorhang magischer Macht umgeben. Sie zupfte an seinem Umhang, seiner Haut. Zauberei tastete über ihn, und er begriff, dass sie ihn in Stücke reißen konnte. Doch innerhalb von wenigen Augenblicken wurden die harten Krallen des Zaubers zu sanften Fingern, die sich von ihm zurückzogen. »Ein Zufluchtsort muss bewacht sein«, bemerkte Brigid. Sie flogen über die Dächer. Die meisten waren vom alten Stil -mit lebenden Grassoden gedeckte Stangengerüste. Die welken und wieder nachwachsenden Gräser bildeten eine dicke Deckschicht. Auf manchen dieser Dächer weideten Schafe und sprangen in weit verstreuten Herden von Dach zu Dach. Von oben sahen die Dächer wie ein Feld von grasigen Buckeln aus, mehr wie eine Weide 185 als eine Stadt. Wo es keine grünen Dächer gab, öffneten sich hängende Gärten dem goldenen Licht. Efeu und Moose bedeckten jede Wand. Es schien beinahe, als wäre diese große Stadt verlassen worden, um von der Natur zurückerobert zu werden Doch bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass die schmalen Gassen und Verbindungswege von Leuten wimmelten. Die Thuata De Danann wohnten hier. Sie alle besaßen Guineveres
geschmeidige Schönheit. Nicht ganz elfenhaft, nicht ganz menschlich, bewohnten sie in der Anderwelt Überreste ihres früheren Lebens. Barden sangen alte Lieder in Sprachen, die man in der Oberwelt nicht mehr gehört hatte, seit die britischen Eindringlinge das Land überrannt hatten. Kleinbauern zogen Karren durch die Gassen, angefüllt mit den Feldfrüchten, die sie in ihren letzten Stunden geerntet hatten. Auf den Mauern hielten Krieger Wache, Verkäufer boten Waren feil, Käufer warfen Geldbeutel auf Markttische, wo sie am nächsten Morgen an derselben Stelle wie an diesem Morgen erscheinen würden. »Für jedes sterbliche Geschöpf ist hier Traumzeit«, sagte Brigid traurig. »Als wir Götter uns zurückzogen, ließen wir die wenigen, die noch an uns glaubten, mit uns kommen. Sie helfen uns, wie du siehst - denn wir leben nur in den Träumen der Menschen. Aber Sterbliche können nicht gut in Träumen leben. Sie brauchen wirkliche Wände, keine eingebildeten Wände. Sie brauchen den unvermeidlichen und unausweichlichen Zugang zum Tode, um ihr Leben zukunftsgerichtet zu ordnen. Nimmt man ihnen das, sind sie in den Zyklen von Geist und Erinnerung und Besessenheit gefangen. Manche erleben bloße Augenblicke wieder und wieder. Andere sind imstande, Tage oder Wochen oder in wenigen Fällen sogar Monate hintereinander durchzuhalten, aber keiner von ihnen kann wirklich leben.« »Gefangene«, bemerkte Merlin. »Ja, ihrer eigenen Gedanken und unserer Bedürfnisse. Alles was wir hier haben, sind die imaginierten Überreste unseres vergangenen Ruhmes, und wenn die Sterblichen nicht wären, die 186 Thuata De Danann, würden wir nicht einmal das besitzen. Als Gegenleistung garantieren wir ihnen ewiges Leben und sorgen, so gut wir können dafür, dass sie zufrieden sind. Es ist ein Himmel und ein Zufluchtsort - jedenfalls das Beste, was wir für sie tun können.« Nachdenklich blickte Merlin hinab auf das geschäftige Treiben. Ein junger Mann lehnte an einem von Efeu überwachsenen Pfosten. Er richtete sich taumelnd auf, als eine junge Frau aus einer benachbarten Hütte kam. Der junge Bursche zog sein Gewand zurecht und streifte ein Blatt ab, bevor er sich vor der Frau verbeugte. Sie machte einen Bogen um ihn und versuchte ihr Gewand aus seiner Reichweite zu halten. Er folgte ihr für einige Augenblicke und redete erregt auf sie ein. Obwohl sie ihren Schritt beschleunigte, wurden seine flehentlichen Bitten lauter und hoffnungsvoller. Ein Schmetterling gaukelte eine grasbewachsene Dachtraufe entlang und kam herunter, um auf seiner Schulter zu landen. Der Mann hielt erschrocken inne, schüttelte das Tier ab. In einem Aufleuchten von Purpur und Grün flatterte der Schmetterling davon. Der junge Mann, verwirrt, verfolgte das Tier. Er gestikulierte ihm nicht weniger nachdrücklich und hoffnungsvoll nach, wie er es bei der Frau getan hatte. Sie war schon vergessen. »Ja, ich erinnere mich, dass ich in solchen Bewusstseinsbruchstücken lebte. Ich erinnere mich, dass das Leben zugleich absurd und bedeutungsvoll war.« »Hier ist der Ort, unmittelbar vor uns«, sagte Brigid. Unter ihnen, im Herzen der Stadt, lag ein großes Amphitheater. Errichtet aus konzentrischen Ringen granitener Hausteine, wirkte die Anlage aus der Höhe Schwindel erregend. Der zentrale Kreis war eine erhöhte Plattform, umgeben von zwanzig absteigenden Rängen. Unterhalb des zwanzigsten Ranges stand ein breiter, mit tiefblauem Wasser gefüllter Graben. Auf der anderen Seite dieses Grabens stiegen die Ränge nach außen hin wieder an. Der Vierzigste dieser ansteigenden Ränge befand sich auf der 186
Straßenebene. Die gesamte Anlage glich einer großen Schüssel mit einem erhöhten Opferaltar in der Mitte. »Das Amphitheater ist nach dem heiligen Kessel modelliert. Es sammelt und kanalisiert Kräfte. Es ist ein Ort des Opfers, der Punkt der Vereinigung zwischen den Welten der Menschen und der Götter.« Damit landete Brigid auf der zentralen Plattform. Ihre langen Gewänder kamen um sie her auf dem grauen Stein zur Ruhe. »Der Ort hat Macht genug, um die göttlichen Kräfte dieses Sidh und anderer im ganzen Land zu versammeln.« Merlin fühlte Boden unter den Füßen. Er ließ sich von den Zehen auf die Fußsohlen nieder und seufzte. Dann lachte er. »Seltsam, dass der Himmelsgott der Griechen und Römer so glücklich und erleichtert sein sollte, wieder auf festem Boden zu stehen.« Brigid antwortete mit einem ironischen Seitenblick: »Nicht unbedingt fest.« Sie klopfte mit einem Fuß auf den Stein unter ihr. Seine Beschaffenheit veränderte sich, und der Granit löste sich in sprühende Funken von Energie auf. Merlins Füße fühlten das gleiche vibrierende Pulsieren, das er beim Flug über die Stadtmauer wahrgenommen hatte. Schlimmer aber war der Anblick dieses schimmernden Raumes, wo eben noch fester Boden gewesen war. Chaotische Gestalten sprangen durch die Dunkelheit: Gesichter bildeten und verzerrten und lösten sich auf, Schlangen fraßen einander in zuckenden, verschlungenen Klumpen, Schattengestalten von Männern mit stachelbewehrten Keulen, Hauern und gesträubtem Nackenfell schlichen wie manifest gewordene Schrecken umher. »Was ist das?«, fragte Merlin. »Ein Traumbecken«, antwortete Brigid. »Träume sind flüssig, chaotisch, mächtig, flüchtig. Sie können jeden, der sich in sie hineinwagt, nähren, unterhalten, erfrischen und ertränken. Dieses Traumbecken steht in Verbindung mit allen alten Göttern hier innerhalb dieses Sidh, und allen Göttern in jedem Sidh auf den Inseln. Es steht in Verbindung mit den Ley-Linien, die das Land durchqueren. Wenn es vom Stein zum Chaos umgewan 187 delt wiid, erlaubt das Traumbecken diesen Göttern freien Zugang nach Avalon.« Merlin bewegte sich unruhig. »Wie, wenn einer durchkommt, während wir hier stehen?« Brigid lächelte. »Ich habe die Tür geöffnet, sie aber noch nicht herbeigerufen.« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn von der Plattform. Zusammen stiegen sie drei Ränge hinab und wandten sich um. Brigid hob die Arme in einer Anrufung und sprach ein einziges Wort. »Rhiannon.« »Rhiannon?«, wiederholte Merlin. »Es ist der Name der göttlichen Königin und ungerecht behandelten Mutter«, erwiderte Brigid. »Ihr Sohn Pryderi wurde ihr als Neugeborener gestohlen und sie wurde seines Verschwindens angeklagt. Sie gleicht sehr deiner Igraine. Rhiannon überlebte nicht das Aufkommen des Christentums, obwohl ihr Name noch immer ein Wort der Macht ist und eine Bezeichnung für mächtige Dinge.« Für weitere Erklärungen war keine Zeit. Ein gewaltiges Poltern und Rumoren drang aus der Mitte des Amphitheaters. Der Boden unter Brigids und Merlins Füßen erzitterte. Das Traumbecken kochte. Aus der brodelnden Oberfläche tauchte etwas Rotes und Gewaltiges empor. Die Gestalt wirkte gigantisch, eine gewaltige Säule von Muskeln. Sie war nur durch einen Umhang aus Dunkelheit undeutlich sichtbar. Schuppig und mit einem lederigen Kamm, richtete sich die gigantische Schlange zum Zustoßen auf. Ihr Rachen öffnete sich und
enthüllte Reihen von Dolchzähnen. Starre Augen fixierten Brigid und ein paar Hörner senkten sich in angriffslustiger Reizbarkeit abwärts. »Du riefst mich von der Jagd hierher, Brigid«, zischte die Schlange wütend. »Ich hoffe für dich, dass es wichtig ist.« »Wäre es nicht wichtig«, versicherte Brigid, »würde ich dich nicht nach Avalon eingeladen haben. Nun gib den Weg frei.« Mit einem letzten langen Zischen sprang die rote Schlange in 188 einem Schrecken erregenden Bogen aufwärts. Ihre dunkle Umhüllung ging mit ihr. Merlin zuckte unwillkürlich zurück, so gigantisch war das Ungeheuer. Brigid blieb gleichmütig stehen und wartete, bis der Riesenkörper vorbeigeglitten war. Die Schlange tauchte in den Wassergraben und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Mit einem letzten Schlagen ihres Schwanzes verwandelte sie sich in eine Frau, deren Haut und Umhang von roter Farbe war. Die tiefe Dunkelheit blieb um sie und verbarg sie vor neugierigen Blicken. »Was ist das für eine schwarze Aura, die sie einhüllt?«, fragte Merlin. »Es ist das Geheimnis - die Rüstung der Götter. Wenn dieses Amphitheater gefüllt ist, wird es dunkel wie in einer Höhle sein.« Weitere Gestalten kamen aus dem Traumbecken - und jede zog eine Wolke schwarzen Nebels mit sich. Da gab es hundsköpfige Krieger, ein paar krächzende Raben, eine leuchtende Gestalt, die dem wiedergeborenen Apollo ähnelte (»Das ist Lugh, der Leuchtende«, sagte Brigid) auf einem wunderschönen Schimmel, drei Frauen, die Brot und Äpfel in Körben trugen, eine rot gepanzerte Frau mit drei Rabenköpfen (»Badbh, die Göttin des Krieges und Todes«), ein Mann in Rot mit einem Stab, auf dem ein Schädel steckte, Schwärme von Kobolden, zwei Wölfe, zwei Männer in den braunen Kutten von Asketen (»das sind die heiligen Patrick und Germanus, die das Christentum zu uns brachten«), ein Krieger in spiegelnder Rüstung, eine Jägerin mit schimmerndem Bogen und Köcher, ein drachenartiges Wasserungeheuer, das sich kaum aus dem Portal ziehen konnte ... All diese und viele andere kamen, schenkten Brigid mehr oder weniger Beachtung - einige voll Hass, einige mit Zärtlichkeit, einige mit Verehrung. Ob zu Fuß oder mit Flossen oder Flügeln, sie kamen aus dem Traumbecken und nahmen Plätze auf den Rängen des Amphitheaters ein. Das weitläufige Rund füllte sich mit einer seltsamen und mächtigen Menagerie. Das Geheimnis warf tiefes Zwielicht über die Versammlung. 188 Dann entstieg dem Traumbecken ein Gast, Furcht erregender als alle anderen. In einem einfachen, gegürteten Gewand, bärtig und mit Augen wie Blitzen, konnte er niemand anders als Wotan sein.
4. Wenn Götter Krieg planen
Wotan, Himmelsgott der Sachsen und übrigen Germanen, erschien in einer Größe, die keiner von den anderen besessen hatte. Weißes Haar und Bart umrahmten seine grimmigen Züge. Ein graues Gewand verhüllte seine kraftvolle Gestalt. In einer Hand hielt er einen goldenen Stab. Seine Augen wurden schmal, als er über die Menge hinausblickte. Die beiden Raben, die bereits herausgekommen waren, stießen ein tiefes Krächzen aus und ruderten durch die Luft heran, um auf Wotans Schultern zu landen. Auch die zwei großen Wölfe sprangen herauf zu ihrem Meister.
»Ach ja, die Raben Hugin und Munin«, murmelte Merlin. »Ich erinnere mich an sie von meinem Aufenthalt in Asgard - und von ihren Spionagemissionen seit jener Zeit. Die Wölfe heißen Geri und Freki. Die alles Sehenden. Dies ist ein Gott, vor dem man sich hüten muss.« »Und doch ein Gott des Landes, der sächsischen Länder im Osten«, sagte Brigid. An Wotans Seite erschien eine umherspringende Gestalt in Schwarz, der das Haar wild um den Kopf stand und dessen Augen frenetisch zwinkerten. Zaundürr, trug er einen schwarzen Lederumhang und Beinlinge. Merlin war verblüfft. »Loki«, flüsterte er zu Brigid. »Ja, Loki. Früher dachte ich, er sei bloß ein Hirngespinst meiner Verrücktheit -« »Es war, was er wünschte. Du warst eine Kraft des Chaos und er nährte sich von deinem Geist.«
189
Loki schien ihre halblaut gesprochenen Worte zu hören. Er lächelte und deutete eine Verbeugung an. Merlin erwiderte sie mit einem steifen Kopfnicken. Der athletische Donnergott Thor erschien hinter Loki, einen gewaltigen Hammer auf der Schulter. Als Nächstes kam die Mutter der Götter, Frigga; der Kriegsgott Tyr; der große Fenriswolf; die Riesenbrüder Fafiner und Fasolt; die Zwergenhäuptlinge Alberich und Mime; Rheintöchter; Walküren - alle versammelten sich um Wotan wie eine Armee um ihren Heerführer. Der Himmelsgott der Germanen fasste Brigid ins Auge und sprach im Idiom seines Volkes. Die vibrierende Luft wandelte sterbliche Sprache in unsterblichen Gedanken um. »Du hast die falsche Tür geöffnet, Brigid.« Die Göttin zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber wie Pandora vor mir, habe ich die falsche Tür geöffnet, um Hoffnung in die Welt zu bringen.« Loki stieß einen dünnen Stab auf den Boden. Wo er auftraf, kam ein schmaler Regenbogen zum Vorschein. Er zog über den dunklen Wassergraben hinaus und verbreiterte sich zu einem vielfarbigen Pfad. Mit einer ironischen Verbeugung trat Loki zurück, um seinem Herrn den Vortritt über diese Miniaturnachahmung von Bifrost zu lassen, der Regenbogenbrücke, die die Welt der Sterblichen mit Asgard verband. Würdevoll bot Wotan seiner Gemahlin Frigga den Arm und gemeinsam betraten sie gemessenen Schrittes die Brücke. Ihnen folgte der bärtige, athletische Thor, Wotans Sohn, und der Rest des Gefolges. Merlin wandte sich zu Brigid und murmelte: »Man könnte meinen, sie regierten dieses Land.« Die Antwort kam von oben. Hugin segelte auf schwarzen Schwingen herab und krächzte: »Wir werden. Wir werden.« Merlin verzog das Gesicht und wandte sich ab. Er bemerkte, dass Wotan ihn aufmerksam beobachtete. Im Blick des Gottes lagen alte Animosität und neues Misstrauen. 189 Wotan hatte Merlin in seinem Palast in Asgard bewirtet und versucht, ihn mit einer List um sein Schwert zu bringen. Offensichtlich spielte Excalibur noch immer eine wichtige Rolle in Wotans Denken.
In diesem Augenblick offenbarte Loki mit den Germanengöttern und ihrem Gefolge beladene Regenbogenbrücke eine außergewöhnliche Eigenschaft. Ein gewaltiger Wind erhob sich von den Streifen des Regenbogens und blies die Gewänder der Götter aufwärts über ihre Köpfe. Als Wotan und Frigga und Thor mit ihren widerspenstigen Kleidern rangen, fiel Loki auf die mageren Knie und schlug vor Vergnügen mit beiden Fäusten auf den Boden. Er lachte so sehr, dass sein schwarzes Haar um den Kopf zu Berge stand und die Falten seines schwarzen Kittels in wogende Bewegung gerieten. Ein Blitzschlag von Thors Hammer traf den listenreichen Loki. Seine magere Gestalt wurde zu einer weiß glühenden Silhouette, dann zerfielen Kleidung und Fleisch zu Asche, die auf den Boden sank. Merlin schrak zurück. In seinen Augen glühte noch der vom Blitz getroffene Loki nach. Nun gab es nur noch eine zusammensinkende Aschenwolke. »Tot?«, keuchte er zu Brigid. Sie schüttelte ruhig den Kopf. Der Rest von Wotans Gefolge setzte seinen Weg zu den dunklen äußeren Rängen des Amphitheaters fort. »Nein, dies sind nur Abbilder der Götter selbst -, Darstellungen für die Öffentlichkeit, sozusagen. Diese Mächte befinden sich hier in der Gestalt, aber nicht im Wesen. Keine kann getötet werden.« »Keiner außer mir«, erwiderte Merlin. Brigid schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln und streckte die Hand zum Becken der Träume aus. Das brodelnde Durcheinander legte sich. Energie verfestigte sich zu Stein. »Jeder, der dich töten würde, müsste sich vor mir verantworten.« Merlin ergriff ihre Hand und drückte sie dankbar. Er erstieg die zentrale Plattform und blickte umher. Dunkelheit erfüllte das Am 190 phitheater. Aus dieser Dunkelheit blickten Augen - still und aufmerksam. Einige musterten ihn fragend, andere voller Abneigung. »Ich bin Merlin«, sagte er. Seine Augen funkelten unter den buschigen Brauen. Er zog den zerdrückten Schlapphut von seiner weißen Mähne. »Viele von euch haben von mir gehört, wie ich von ihnen gehört habe. Einige von euch kennen mich sogar in meiner wahren Gestalt.« Er drehte sich um seine Achse und hob die Ränder seines Umhangs wie Flügel. Seine Gestalt verschwamm zu einem weißen, rotierenden Kreisel. Feuer flammte auf, heller noch als der Blitz Thors. Der weiß glühende Wirbel erhob sich von der Plattform und breitete sich in einem blendenden Schauspiel nach allen Seiten hin aus. Dann bogen sich seine Ränder über das Wasser hinaus und verblassten. In der Mitte des sich auflösenden Wirbelsturms stand eine neue Gestalt - zweimal so groß wie Merlin, dreimal so kräftig, halb so alt und doch Jahrhunderte älter. Er war ein Mann auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Kräfte, so vollkommen wie eine Statue. Selbst sein weißes Gewand war mehr Alabaster als Stoff. Seine Augen blickten mit einer strahlenden Kraft umher, die kaum erträglich schien. »So erschien ich von alters her den Griechen und Römern, und so war ich, als man mich erschlug. Denn für mich gab es keine Anderwelt, in die ich mich zurückziehen konnte. Es gab keinen Rest von Gläubigen, die Zeus/Jupiter, dem Herrn der Götter, opferten und Weihrauch entzündeten. Ich fand nicht in einen Zustand halbwegs zwischen Göttlichkeit und Sterblichkeit. Ich fiel vollständig und wurde Mensch.«
Er schrumpfte einwärts, das Licht verblich. Muskeln wurden zu welkem Fleisch. Die kleine, hinfällige Gestalt Merlins kam wieder zum Vorschein. »Ihr alle wisst nur zu gut, wie die neuen Götter die alten erschlagen, wie alte Träume verblassen und vergehen. Die Schichten Avalons legen davon Zeugnis ab. Dieser Zufluchtsort, an dem ihr 191 wohnt, ist ebenso Gefängnis wie Paradies. Durch diese Gassen zu gehen und von gefangenen Seelen geträumt zu werden, ist nicht das wahre Leben. Schlimmer noch, ein neuer Gott erscheint, der euch nicht einmal diese Form des Fortlebens erlauben wird. Ich weiß es, denn er ist der Gott, der mich erschlug.« Ungläubiges und furchtsames Gemurmel ging durch das Amphitheater. »Ihr braucht es mir nicht zu glauben. Unter uns sind zwei Heilige dieses Gottes, zwei, die ihn zu diesen Inseln brachten — Patrick und Germanus.« Die trübe Dunkelheit lichtete sich und zeigte die beiden. Patrick war grauhaarig und hager, Germanus kräftig und untersetzt. Er trug eine Tonsur und war im Gegensatz zu Patrick, der königliche Gewänder trug, in eine einfache Kutte aus Sackleinwand gekleidet. Patrick trat vorwärts. Seine Stimme hatte die Klangfarbe seiner grünen Heimatinsel. »Merlin spricht die Wahrheit. Unser Gott eroberte Rom und das ganze Reich und Byzantium. Er nahm Eire und wird ganz Britannien unterwerfen. Schon ist ein Mann prophezeit worden, der Aidan genannt werden und für Britannien tun wird, was ich für Eire tat.« Für einige der Anwesenden war diese Feststellung eine Kriegserklärung. Unmut machte sich Luft. »Und wird er dulden, dass der Rest von uns bleibt?«, fragte Merlin. Patrick lächelte freundlich und schüttelte bedauernd den Kopf. »Nicht freiwillig. Er ist ein eifersüchtiger Gott. Er erschlägt alle Gottheiten, auf die er trifft.« Das Gesicht der Roten Frau hob sich aus dem stachligen Kamm ihrer Schlangengestalt. »Und was ist mit dir, Patrick? Wie kommt es, dass du lebst?« Patricks Miene wurde nachdenklich. »Wir werden nicht als separate Gottheiten betrachtet. Das Volk träumt von uns, betet zu uns, ruft uns an, sucht unsere Anleitung, aber wir sind nur 191 menschliche Seelen, die dem einen Gott dienen.« Er warf Brigid einen Blick zu. »Tatsächlich wird unsere Brigid auch auf sehr umsichtige Weise zu einer Heiligen gemacht, damit sie dem bevorstehenden Untergang entgehe.« Wieder schüttelte er bedauernd den Kopf. »Es ist aber eine Rettung, die nicht vielen offen steht. Wenn die Geschichte ihren Gang nimmt, werden die meisten von euch zu nichts werden, oder bestenfalls zu Dämonen. So ist es bereits Baal, Beelzebub und Pan ergangen, von vielen anderen wie Ischtar, Ellil und Dagan zu schweigen. Dieses Schicksal traf auch den ehrwürdigen Zeus, den Jupiter der Römer.« »Dieser Gott muss wirklich mächtig sein, dass er den großen Jupiter bezwingt«, sagten die drei krächzenden Rabenköpfe der Badbh. »Aber nicht so mächtig, dass er mich erschlagen könnte«, sagte eine neue Stimme. Der Sprecher erhob sich, ein Krieger in prächtiger roter Rüstung mit einem Schwert, von dessen Spitze ständig Blut tropfte, und Augen wie zwei Flammen. »Erinnerst du dich meiner, Jupiter?«
Merlin musterte den Sprecher. »Nein, ich kenne dich nicht.« »Ich bin Mars Smertius, der Gott des Krieges«, sagte der Krieger. »Der Mars, den ich kannte, hatte keinen zweiten Namen«, erwiderte Merlin. »Es ist so wenig eine Veränderung wie die Ernennung Brigids zur Heiligen«, sagte Mars. »Im Krieg habe ich mich vor einem neuen Volk bewährt und so überlebt.« Ein ironisches Lächeln geriet in Merlins Züge. »Hast du überlebt? Durchziehst du noch die Länder der Oberwelt? Marschierst du noch an der Spitze menschlicher Heere? Und wirst du überleben, wenn dieser neue Gott kommt? Er macht seine Eroberungen nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Glauben. Er verändert Träume. Er erschlägt Götter mit Worten.« Im Rund des Amphitheaters wurde zorniges Gemurmel laut. »Aber ich bringe euch Hoffnung. In Britannien gibt es einen neuen König. Er schwingt das Wort dieses neuen Gottes, umge 192 wandelt in ein rechtschaffenes Schwert, Excalibur. Er trägt auch die Scheide Rhiannon, gefertigt von den Mächten Avalons. Geradeso wie König Artus seine Macht von alten und neuen Göttern bezieht, wünscht er einen Ort für alle Götter, alle Helden zu schaffen. Er will eine glanzvolle Stadt erbauen, wo ihr und alle anderen wieder unter den Sterblichen gehen und die Luft atmen könnt.« Abermals drehte Merlin sich um seine Achse, schneller und schneller, bis sein Umhang sich nach außen blähte. Ein weiteres Licht erwachte im Mittelpunkt seines Wesens. Es erhob sich in die Luft weit über seinen Kopf. Funken sprühten im Kreis, bevor sie wieder in den Mittelpunkt des Lichts gezogen wurden. Rauch gerann zu einer ausgebreiteten Hügellandschaft. Auf ihr bildeten sich schimmernde Türme und Mauern. Lichtfunken zeichneten die Umrisse hoher, gewölbter Hallen, achteckiger Türme, Torbogen, Tempel, einer Kirche und sogar einer kreisförmigen Steinsetzung unter freiem Himmel. Die ätherische Vision der Stadt schimmerte prachtvoll in der Mitte des Amphitheaters, ihr Licht durchdrang sogar das Dunkel der Geheimnisse. Es erhellte die Gesichter von Göttern und Heroen. Merlin verlangsamte seine Umdrehungen und kam atemlos unter der spektralen Stadt zum Stillstand. »Diese Vision Artus' hat mich hierhergeführt.« »Wie will Artus diese Vision verwirklichen?«, fragte der unsterbliche Held Cu Chulainn. »Selbst mit der Hilfe des gestürzten Jupiter?« »Er kann es nicht mit meiner Hilfe allein«, erwiderte Merlin, »aber mit eurer Hilfe. Stellt euch hinter diesen sterblichen König, ich bitte euch, auf dass wir alle leben und gedeihen. Getrennt werden wir vom Gott Patricks und Germanus' vernichtet. Vereint können wir einen lebendigen Zufluchtsort für uns alle schaffen, Götter und Heroen und Sterbliche.« »Ich bin kein Baumeister«, sagte Cu Chulainn und reckte sein Schwert in die Höhe. »Ich bin ein Krieger.« 192 »Artus benötigt auch Krieger«, sagte Merlin. »Gerade jetzt versammelt König Lot von Lothian Krieger in den Ländern des Nordens, um den jungen König und seine Träume von Camelot zunichte zu machen. Ich bitte euch, seinem Heer zu helfen. Kämpft für ihn und für Camelot.« Wotan richtete sich trotzig auf. »Wer ist dieser König Artus mit seinem Götter tötenden Schwert? Wer ist dieser gefallene Gott, der ein neues Reich zu errichten wünscht? Welchen
Lohn wird er denen zahlen, die sich mit ihm verbünden, die an der Erbauung seiner glänzenden Stadt arbeiten?« Zorniges Erinnern kam in Merlins Antlitz. »Dein Asgard wurde von Riesen erbaut —« »Es ist eine Falle«, fuhr Wotan fort. Während er sprach, verblasste die Vision, die schimmernd über Merlins Kopf schwebte, zu treibendem Rauch. »Er ruft uns hierher, dass wir für ihn kämpfen und für ihn bauen, bis er uns alle in eine Falle locken kann, der nicht einmal wir entkommen können. Und dort wird er uns einen nach dem anderen in die Enge treiben und mit seinem Götter tötenden Schwert erschlagen!« »Nein!«, widersprach Brigid. »Jupiter/Merlin sagt die Wahrheit. Ich habe Artus gesehen. Ich habe ihm Excalibur übergeben, denn er ist der König, der das Land einen wird. Ich habe ihm Rhiannon überlassen. Das Land selbst hat ihn gewählt. Verbündet euch mit ihm und seid in Frieden willkommen. Bekämpft ihn und werdet von dem kommenden Gott vernichtet. Wenn ihr gegen Artus kämpft, kämpft ihr gegen das Schicksal selbst.« »Dann werde ich gegen ihn und das Schicksal kämpfen«, erklärte Wotan zornig. »Du, Brigid, Herrin der Nebel — du also warst es, die Excalibur all diese Jahrzehnte vor mir verbarg. Und du gabst die Götter tötende Klinge einem sterblichen Mann. Und natürlich verbündest du dich mit Merlin und Artus, mit Patrick und Germanus. Dein Platz im christlichen Pantheon ist bereits gesichert!« Die Raben Hugin und Munin umkreisten seinen Kopf mit rau 193 sehenden Flügelschlägen, und die Wölfe Geri und Freki umkreisten seine Füße. Seine Gewänder wurden von Grau zu Scharlachrot, und desgleichen seine Augen. Er stampfte mit dem Fuß auf und schuf eine neue Regenbogenbrücke von seinen Füßen hinüber zum Podium. »Wir werden uns dir nicht anschließen, Jupiter. Wir werden uns nicht auf deine hinterhältigen Kniffe einlassen. Wir werden dich und deinen König auf jedem Schlachtfeld dieses Landes bekämpfen. Ihr braucht den Gott des Schwertes nicht mehr zu furchten, denn bis dieser Aidan kommt, wird Britannien bereits mir gehören.« Damit nahm Wotan Friggas Arm und schritt kriegerisch auf die Regenbogenbrücke. Thor schulterte seinen Hammer und der Rest des germanischen Pantheons folgte. »Wisset, dass ihr die Feinde Britanniens seid«, rief Brigid ihnen zu, als sie über die Brücke schritten. »Wisset, dass ihr uns allen den Krieg erklärt habt.« »Nicht euch allen«, rief Wotan, ohne stehen zu bleiben. Er zeigte hinter sich. Dort erhoben sich viele der Götter und Heroen in der Dunkelheit und folgten ihm. Die Rote Frau und die hundsköpfigen Krieger waren die ersten unter ihnen. Auch die Banshees des Hochlandes und der ewige Heros der Orkneys ging. Ein Schwärm springender purpurner Kobolde füllte die Luft über Wotan, hielt sich aber aus der Reichweite der Schnäbel von Hugin und Munin. Die schöne Fee Lhiannan von der Insel Man schloss sich den Abtrünnigen an. Die rabenköpfige Badbh, Nixen und Najaden, Oger, Bodachane und viele andere strömten über die Brücke. Wotan erreichte die Plattform und stampfte mit dem Fuß auf. Der Stein wurde wieder zum Traumbecken, angefüllt von sich windenden Gestalten und verzerrten Gesichtern. Bevor er hineinstieg, sagte Wotan: »Du bist gekommen, uns zu versklaven, Zeus/Jupiter, um dir einen neuen Olymp zu schaffen, von dem aus du regieren könntest. Aber viele von uns sind deinem Zauber 193
entkommen. Du bist hier, um dir deinen Platz im Frieden zu sichern, aber es ist dir nur gelungen, einen Platz im Krieg zu finden.« Damit stieg Wotan ins Traumbecken und versank. Alle anderen folgten. Träume bildeten Wirbel um sie und lösten ihre Abbilder auf. Die Regenbogenbrücke hinter ihnen verblasste zu matten Farben und strömte hinab in den Wassergraben. Merlin und Brigid blieben inmitten eines halbvollen Amphitheaters zurück. Patrick und Germanus waren geblieben, auch Lugh, der >Glänzende< des Pantheons von Eire und sein Heros Cu Chulainn. Mars Smertius, die Thuata De Danann, die Feen von Kimouli, Luftgeister und Wichtel und hundert mehr hatten beschlossen, für Merlin zu kämpfen, für Artus. Der König der Thuata De Danann, eine stattliche Erscheinung in schimmernden Gewändern, sagte: »Ich kann nicht für die christlichen Heiligen oder die Götter oder die Heroen unter den Menschen sprechen. Aber ich spreche für alle Feen und das ganze Land. Wisse dies, Merlin. Wir schließen uns dir nicht deiner Worte wegen an, sondern derjenigen zuliebe, die Artus' Fuß hält.« Merlin lächelte. »Ja, die liebliche Guinevere.« »Ohne sie gibt es keinen König.« »Zusammen werden sie herrschen«, sagte Merlin leise. »Artus und Guinevere, Welt und Anderwelt. Sie herrschen gemeinsam.« Auf einem anderen Sidh werden wir kämpfen, einem Geisterhügel. Wir werden gegen Wotan und seinen Anhang kämpfen. Gegen schweren Zauber und wilde Ungeheuer und ragende Titanen. Ich sehe die Schlacht, die meine Letzte sein wird. Ich werde dort erschlagen liegen, auf jenem verzauberten Hügel. Meine Asche wirbelt im Wind. Wotan verbrennt mich zu nichts — Warum waren meine Visionen alle voll Hoffnung, ah ich verrückt war, und warum sind sie nun, da ich zur Vernunft gefunden habe, alle voll von Verzweiflung? 194
5. Seltsame Bettgenossen
Fluchend und ächzend erwachte Artus in der Nacht. Er konnte nicht entkommen. Eine gigantische Faust hielt ihn umklammert. Die Sehnen dieser Hand waren kalt und unerbittlich. Wie Eisenklammern pressten sie ihn zusammen — Muskeln härter als Knochen, und Knochen härter als Stahl. Artus zappelte, aber der Griff des Titanen wurde nur noch fester. Doch war es kein Riese, der ihn hielt. Es war ein Gott. Es war Wotan. Während der Sachsengott Artus wie einen zappelnden kleinen Fisch in der Faust hielt, durchwühlte er mit einer anderen Hand im Dunkeln ungeduldig den Raum — und mit einer weiteren Hand, und noch einer. Gigantisch und schattenhaft durchsuchte der Gott jeden Winkel des Raumes. Es war hier. Hier war es, und nun ist es fort. Ich fühlte es, doch es verschwand. Die Klinge war hier, während Jupiter fort war und sie nicht verstecken konnte . . . Dann erst wurde Artus klar, dass er über seinem Bett in der Burg Caerleon hing. Sein Bettzeug war wie Eisen gegen seinen Körper gepresst. Tische und Stühle im Raum waren durcheinander geworfen, Wandbehänge in Fetzen gerissen und zu Boden gefallen. Fensterläden waren abgerissen, Mörtel rieselte zwischen den Hausteinen der Wand hervor. Auf staubigen Dachsparren klapperten Schieferplatten. Wotan bewegte sich durch das königliche Gemach, unsichtbar aber unleugbar.
Am schlimmsten jedoch war, als Artus auf das zerrissene Bettzeug, den Berg von Federn und die zerfetzte Matratze niederblickte, dass Excalibur fort war. Die Götter tötende Klinge war hier. Ich fühlte ihre Schneide, fühlte die Gefahr, die von ihr ausging. Sie war hier, und nun ist sie fort. Obwohl Jupiter nicht da ist, sie zu retten, ist sie fort. Artus verbirgt sie. . . Im unerbittlichen Griff des Gottes um Atem ringend, keuchte 195 Artus: »Ja, Wotan, ja, ich verberge das Schwert. Und ich warte ... auf den richtigen Augenblick.« , Die unsichtbaren Hände hielten in ihrem Zerstörungswerk inne. »Ich warte auf den richtigen Augenblick, wenn du am verwundbarsten bist.« Es blieb still. »Ich warte, bis ich dir das Schwert ins Herz stoßen kann.« Der Druck um Artus nahm zu, bis er nicht mehr atmen konnte. Du wirst bald in meinen Ländern sein, Artus. Du wirst unter meinen Gläubigen sein. Dort kannst du die Klinge nicht vor mir verbergen. Dort wird Merlin sterben, und du gleich nach ihm. Plötzlich war der Druck verschwunden. Artus fiel aus der Höhe auf sein zerfetztes Bettzeug. Ein letzter zorniger Windstoß fuhr durch den Raum, vor dem östlichen Fenster wurden die Läden aus den Verankerungen gerissen, und Wotan hatte das königliche Schlafgemach verlassen. Erschöpft keuchend krabbelte Artus in der Verwüstung seines Bettes herum und kam auf die Knie. In seinem Kopf pochte dumpfer Schmerz, Schweiß klebte Bettfedern an Arme und Hände. Er zitterte. Ein Gott hatte ihn in der Hand gehalten und hätte ihn zerquetscht, wäre nicht das vermisste Schwert gewesen. Das fehlende Schwert ... Artus stand mühsam auf. Er konnte kaum Luft holen. Excalibur fort? Er verwahrte die Klinge immer bei sich, sogar in seinem Bett, damit es nicht gestohlen würde. Es war da gewesen, Wotan hatte es gefühlt, und dann war es verschwunden. Es war noch jemand im Raum, erkannte Artus plötzlich. Dort im Schatten hinter dem massiven Kopfbrett wartete und beobachtete jemand. Artus wich zurück. »Wer ist das?« »Ist es fort?«, fragte eine Frauenstimme. »Ist es fort, was es auch war?« 195 »Wer bist du?«, stieß Artus hervor. »Ich bin es, Guinevere«, sagte sie. Sie blieb, wo sie war. Artus zog die Brauen zusammen, spähte angestrengt in die Dunkelheit. »Guinevere? Warum bist du hier?« »Eine Stimme«, sagte sie zittrig. Sie schien verschreckt. »Eine Stimme sprach zu mir. Eine Stimme des Landes. Sie sagte mir, ich solle in das Schlafgemach gehen und Excalibur in meinem Gewand verbergen.« Sie zog den Überwurf zurück und Artus sah im Dunkel des Schlafgemaches ein kaltes Blinken. Sie hob das Schwert und hielt es ihm hin. »Sie sagte mir, ich solle das Schwert und das Land retten.« Erstaunt und zugleich erleichtert eilte er zu ihr. Er nahm die Klinge aus ihren Händen und hielt sie bewundernd vor sich. Sie glänzte matt in seinen befiederten Fingern. Dankbar küsste er die Klinge. »Ich dachte, du wärst fort.« Dann hob er den Blick vom Schwert zu der Frau, die es gerettet hatte, und er zog Guinevere in die Arme und küsste sie auf die Lippen.
»Ich danke dir, Guinevere. Ich danke dir. Wieder hast du dieses Land und sein Volk gerettet.« In ihrem Gesicht war ein warmes Licht, das den kalten Schimmer der Klinge zurückdrängte. Doch in ihren Augen lag Sorge. Noch als sie mit einer Hand an ihm hing, drückte sie die andere gegen seine Brust und schob ihn zurück. »Du weißt, was es bedeutet, eine Fußhalterin zu sein?« Artus schüttelte den Kopf und lachte. »Ich spreche nicht mit einer Fußhalterin. Ich spreche mit dir, Guinevere, einer Frau —« »Die Stimme, die ich hörte, konnte ich nur hören, weil ich eine Fußhalterin bin, weil ich an das Land gebunden bin«, fuhr sie fort. »Ja«, sagte Artus lächelnd. »Und ich könnte nicht glücklicher sein.« Er zog sie an sich und küsste sie wieder. Die Berührung ihrer Lippen war warm und verführerisch. Der Kuss weckte heißes Verlangen. Guinevere schob ihn wieder von sich. »Du verstehst nicht. 196 Wenn ich an einen Mann gebunden bin, kann ich nicht länger an das Land gebunden sein. Wenn ich an die Menschheit gebunden bin, höre ich auf, Thuata De Danann zu sein. Ich rettete Excalibur und das Land und meinen König, weil ich keusch bin.« Die dämmernde Erkenntnis brachte Traurigkeit in Artus' Augen. Guineveres Gesicht stand warm und hell vor ihm. Sie lächelte liebevoll. »Wenn ich dich wähle«, sagte sie, »verliere ich das Land. Wenn ich das Land wähle, verliere ich dich.« Artus seufzte. Er hob Excalibur und betrachtete anerkennend die schimmernde Vollkommenheit. »Ich danke dir, Guinevere, dass du Excalibur und das Königreich gerettet hast.« Mit einem letzten Druck ihres Ellbogens gab er sie frei und wandte sich ab. »Und dass du mich gerettet hast.« Müde ritt Ulfius mit Brastias, Dagonet und ein paar von Claudas' Pferden in das Tal unter der Burg Benwick. Sie waren die ganze Nacht geritten. Die Zählung der Toten auf der Landstraße hatte ergeben, dass einer fehlte. Statt den Überlebenden zu verfolgen und vielleicht auf weitere Krieger zu stoßen, hatte Ulfius sich für einen anstrengenden Nachtritt zur Burg Benwick entschlossen. Ihre Pferde waren erschöpft. Brastias saß gebeugt im Sattel. Nur Dagonet hatte nichts von seiner Lebendigkeit eingebüßt. Er stand auf seinem Sattel, wie er es zu tun pflegte, eine Hand an den Zügeln. Mit der anderen griff er sich ans Herz, als er sang: »Ich reite, ich reite nach Ben-a-wick und hab es gegeben den Feinden dick, und singe, bis meine Freunde spein Talum, talum, talai! Von Galle grün ihre Stiefel sein ... Talum, talum, talai!« Zum Speien, in der Tat. Der Zwerg war unerträglich. Sein Witz war scharf wie ein Fleischerbeil und er handhabte ihn mit der glei 196 chen lebhaften Energie. Ulfius hatte bereits das Gefühl, sein Schädel sei gespalten. »Genug! Genug! Genug!«, rief er aus und hielt sich die Ohren zu. »Wir sind auf dich eingegangen, haben dich geduldet, dich überhört, haben um Ruhe gebeten. Jetzt verlange ich es. Genug ist genug! Ruhe jetzt! Setz dich hin und sei still!« Endlich durchbrach er Dagonets unbekümmerte Zungenfertigkeit. Der Zwerg schloss den Mund, räusperte sich und ließ sich auf den Sattel nieder. Im Trab stieß das Pferd den kleinen Mann brutal auf und nieder. Ulfius fragte sich, ob dies der Grund sei, dass Dagonet
lieber im Stehen ritt. Der Zwerg schmollte jetzt. Verdrießlich starrte er auf die Pferdemähne und hielt sich am Sattelknopf. »Und singe, bis meine Freunde spein ...«, murmelte er bitter. »Von einer heimlichen Flucht kann kaum die Rede sein, wenn du aus voller Kehle singst«, sagte Ulfius. »Es ist, als wolltest du, dass wir gefangen werden. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, schneller zu reiten als die Nachricht von unserem Zusammenstoß mit den Kriegern. Andernfalls —« »Dort, Ulfius!«, unterbrach Brastias. »Ein Trupp Krieger - vielleicht vierzig Mann stark. Sie kommen in vollem Galopp von der Burg!« »Talum, Talum, Talai ...« Eine halbe Meile voraus kam ihnen auf dem braunen Band der Landstraße ein Trupp Reiter in geschlossener Formation entgegen. Hundertsechzig Hufe wühlten die Erde auf und wirbelten Staub in die Luft. Der Wind folgte dem Trupp auf den Fersen und hielt den Staub in der Luft, so dass aus der erstickenden Wolke eine lang gezogene Fahne wurde, die Burg Benwick bereits verhüllte. Ulfius stellte sich in die Steigbügel und beschirmte die Augen mit einer Hand. »Sie tragen die Farben von König Ban. Aber warum so viele, und warum ein Trupp Krieger?« »Vielleicht ist uns die Nachricht von den Taten unseres Ge 197 fährten vorausgeeilt«, sagte Brastias mit einem Seitenblick zu Dagonet. »Von Galle grün ihre Stiefel sein ...« Ulfius legte eine Hand an den Schwertgriff. »Mit unseren erschöpften Pferden können wir ihnen nicht entkommen, und selbst wenn wir es könnten, würden wir unsere eigene Sicherheit über Artus' Bündnis stellen. Nein, wir reiten ihnen entgegen.« »Talum, Talum, Talai ...« Die Erde erzitterte unter den dumpfen Erschütterungen der Pferdehufe. Lanzenspitzen, die in der Morgensonne geglänzt hätten, stachen grau aus der alles einhüllenden Staubwolke. Der Feldhauptmann gab mit dem Panzerhandschuh Zeichen und die Reiter schlossen zu einer Kolonne in Viererreihe auf. Als die Entfernung zwischen ihnen auf fünfhundert Schritte geschrumpft war, hob Ulfius die linke Hand und signalisierte Verhandlungsbereitschaft. Er zugehe sein Pferd und bedeutete seinen Gefährten anzuhalten. Ihre eigene Staubwolke hielt sich bescheiden an die Fesselgelenke der Pferde. Die Reiterei von Benwick näherte sich, ihre goldgelben Wappenröcke hingen sauber und glattgezogen über den Brustpanzern, und sie ritten mit Präzision — römisch ausgebildete Reiterei, nicht das undisziplinierte Gesindel Britanniens. Sie trugen einheitlich gestutzte Barte und kurzes Haar, das sich eng an die behelmten Stirnen schmiegte. Sogar die Pferdehufen schienen im Gleichschritt zu klopfen. Hinter ihnen ragte die Staubwolke auf, ein Luftberg, der seinen Schatten über Ulfius warf. »Wollen die das Handzeichen ignorieren?«, fragte sich Ulfius. »Haben sie überhaupt das gleiche Zeichen für Verhandlung?«, fragte Brastias. »Oder wollen sie uns einfach niederreiten, wo wir stehen?« Die Staubwolke der Reiterei erreichte sie. Ulfius, Brastias und Dagonet husteten, und sogar ihre Pferde niesten, bevor der Feldhauptmann von Benwick das Zeichen zum Halten gab. 197
Er zügelte sein Pferd in bequemer Reichweite eines Lanzenstoßes. Seine Truppe breitete sich zu beiden Seiten von ihm im Halbkreis aus. Sie nahmen ihre vorbestimmten Positionen wie Schachfiguren auf einem Spielbrett ein. Ihre Haltung war hochmütig und alle wirkten durch ihre Panzerhandschuhe und Lanzen bedrohlich. Auf ein weiteres Zeichen ihres Hauptmanns legten sie die Zügel über die Sattelknöpfe. »Ich bin Ulfius, Heermeister König Artus'«, rief Ulfius. Zu seinem Verdruss dämpfte der Staub seine Stimme und ließ sie unsicher klingen. »Ich überbringe eine Botschaft von meinem König an Ihren König.« Der Feldhauptmann saß ab, bevor Ulfius geendet hatte. Geduldig und etwas umständlich zog er die Panzerhandschuhe aus und legte sie auf den Sattel seines Pferdes. Dann nahm er den Helm von seinem kurz geschnittenen schwarzen Lockenhaar und musterte Ulfius. »Ich bin an Verhandlungen mit bloßen Boten nicht interessiert.« Er sprach in der Mundart von Galliern. Ulfius war verblüfft. »Bloßen Boten -?« »Die Nachricht von Ihrem Kommen hat uns schon erreicht«, sagte der Mann. Sein Gesicht war fleischig und rot, doch die Augen hatten das kühle Blau von Gletschereis. »Wir haben viele Spione an den Höfen anderer Könige, so auch am Hof von Claudas. Spione, die Brieftauben halten -« »Wer sind Sie, dass Sie den Heermeister von König Artus beleidigen?« »König Ban«, unterbrach der Mann ungeduldig und schritt auf die Gruppe zu. »Nein, ich bin Heermeister von König Artus —« »Und ich bin König Ban«, sagte der schwarzhaarige Mann. Er zeigte auf ein schmales goldenes Diadem, das er in der Art römischer Herrscher im Haar trug. Ulfius sperrte die Augen auf, dann stieg er hastig ab und ließ sich auf ein Knie nieder, den Kopf gebeugt. »Vergebt mir, König 198 Ban.« Er bedeutete Brastias und Dagonet, sich gleichfalls zu verneigen. Der Erstere war bereits Ulfius' Beispiel gefolgt. Der Letztere arbeitete an einem Reim auf >Ban<. »Verzeiht, ich — ich wusste es nicht«, sagte Ulfius. König Ban winkte ab. Seine Augen leuchteten blau. »Wie ich sagte, die Nachricht von Ihrer Ankunft hat uns schon erreicht. Sie erschlugen König Claudas' erstgeborenen Sohn —« »Das taten wir? Wirklich?« Ulfius staunte. »Ein wahrer Segen für uns. Sein Sohn Rorin war ein schlimmerer Kriegshetzer als Claudas selbst, und ein noch fähigerer Tyrann. Nun, König Claudas wird nicht aufgeben - er hat einen zweiten Sohn, Dorin, der nicht annähernd so fähig ist. Aber Sie haben ihn gelähmt, indem Sie seinen Erstgeborenen erschlugen.« König Ban schritt von Ulfius zu Brastias. Beide vergaßen alle Schicklichkeit und sperrten in ungläubigem Staunen Augen und Münder auf. Bans fleischige Lippen formten ein strenges Lächeln. »Überdies hat Claudas jetzt einen neuen Feind in König Artus.« »Nun, wir sind ... wir sind erfreut«, stammelte Ulfius, »wenn Ihr -« »Ich hätte es nie für möglich gehalten«, fuhr Ban fort und machte vor Dagonet Halt, der auf seinem Pferd sitzen geblieben war. »Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ein Zwerg ein so mächtiger Krieger sein kann.«
Dagonet öffnete seinen breiten Mund. Es war ein Gesichtsausdruck, der ansteckend wirkte. Viele von den Kriegern grinsten zu ihm zurück. »Drei auf einen Streich«, prahlte Dagonet. »Nun ja«, warf Ulfius ein und bedeutete Dagonet, vom Pferd zu steigen, »wir erschlugen sieben von den acht -« »Und welche Schwertarbeit«, führ Ban fort. »Der Überlebende meldete, das Langschwert Excalibur sei so sicher und geschickt geführt worden, dass es wie drei Klingen auf einmal schien.« »Tatsächlich, König Ban«, versuchte Ulfius zu erklären, »ist Excalibur in —« 199 »Wo ist die Klinge?«, fragte Ban den Zwerg. »Wo haben Sie das Schwert versteckt? In was?« Ein reißerischer Glanz geriet in Dagonets Augen. »Im Arsch meines Pferdes!« Bans Hand wanderte unwillkürlich zur Kruppe des Tieres, bevor er innehielt und den Zwerg mit gerunzelten Brauen anfunkelte. Dann brach er in lautes Gelächter aus und sagte: »Ja, ich bin wirklich ein Dummkopf, zu fragen, wo eine so wertvolle Waffe versteckt wird!« Er lachte wieder und seine Männer fielen mit ein. Ulfius schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und bemühte sich aufzustehen. Er musste diese Verwechslung aufklären. »Willkommen in Benwick, König Artus!«, sagte Ban, ergriff Dagonets Hand und schüttelte sie kräftig. Ulfius räusperte sich dringend. »Majestät, vergebt meine Anmaßung, aber dies —« »Ich fühle mich hoch geehrt, dass Sie selbst gekommen sind, das Bündnis mit mir zu suchen, Artus«, erklärte Ban. »Ich würde jedes andere Angebot ausgeschlagen haben.« Dagonets Grinsen verstärkte sich nur noch mehr. »Ich suche jeden persönlich auf«, sagte er mit großer Überzeugung und machte eine dramatisch ausholende Armbewegung. König Ban lachte herzlich. Dagonet und alle Reiter von Benwick fielen mit ein. Nur Brastias und Ulfius schwiegen. Das Blut wich aus ihren Köpfen und floh durch die Hälse abwärts. Ban wandte sich zu Ulfius, der vor Unschlüssigkeit wie versteinert dastand. »Ja, ja, Ulfius? Welche Anmaßung muss ich vergeben?« Ulfius glotzte in plötzlicher Furcht. Er überdachte seine Optionen. Wenn er enthüllte, dass dies nicht Artus sondern Artus' Hofnarr war, würde er Ban lächerlich machen. Wenn er Dagonet seinen Augenblick falschen Ruhmes erlaubte, konnte er das Bündnis vielleicht noch an diesem Abend abschließen. 199 Der ehrliche Weg führte in den sicheren Tod. Der unehrliche in einen unsicheren. »Vergebt mir meine Vermessenheit, Majestät«, sagte Ulfius mit einer steifen Verbeugung und zeigte zum Schwanz des Pferdes, »aber ich sehe dort kein Schwert.« Diesmal stimmte sogar Brastias mit in das Gelächter ein.
6. Neue Freunde
Merlin durchwanderte die Straßen von Avalon. Es war eine schöne Stadt - Mauern aus goldgelbem Sandstein, überwuchert von Rosen, Dächer wie Blumenwiesen, stattliche Einwohner, eine Luft, die nach Apfelblüten duftete, das Sterngefunkel von Feen und Luftgeistern ... annähernd ein Jahrhundert war vergangen, seit Merlin in Asgard gewesen
war, und beinahe zwei, seit er die heitere Wohnung auf dem Olymp verlassen hatte. Es war ein gutes Gefühl, wieder auf göttlichem Boden zu gehen. Merlin nahm alles in sich auf. Dennoch war er beunruhigt. Sein Blick fiel auf das Katzenkopfpflaster zu seinen Füßen, er legte die Hände auf dem Rücken ineinander. Die Ereignisse in der Götterversammlung belasteten ihn. Er war nach Avalon gekommen, um unsterbliche Verbündete zu finden, und hatte am Ende ebenso viele unsterbliche Feinde gewonnen. »Ich hörte, Ihr sucht Krieger«, erklang eine Stimme neben ihm. Der Mann sprach makelloses Latein und sein Akzent erinnerte an das heimatliche Rom. Merlin wandte sich um. Vor ihm auf der belebten Straße stand ein junger Mann von niedrigem Wuchs und olivenfarbener Haut. Er trug den bronzenen Brustpanzer und die Beinschienen eines römischen Zenturionen aus der Zeit Caesars. Statt des landesüblichen, aus Germanien eingeführten Spatha-Schwertes trug er ein 200 römisches Kurzschwert und einen runden Schild. Ausgerüstet für den Kampf in geschlossener Kohorte wäre der Mann in den barbarischen Kriegen, die Artus auszufechten hatte, massakriert worden. Er lebte hier nur, weil irgendein Gott Bedarf an seinem Glauben hatte. »Ich habe alle Krieger gefunden, die ich brauche«, erwiderte Merlin freundlich. Der Mann sah enttäuscht aus, nagte an der Unterlippe. »Ich werde beweisen, dass ich Sold und Verpflegung wert bin. Ich habe bereits in drei Feldzügen gekämpft. Ich weiß, dass ich jung aussehe, aber ich bin schon mit fünfzehn in die Legion des Nordens eingetreten. Irgendwo wurde ich verwundet und von meinen Kameraden getrennt. Wenn ich in eine andere Kohorte aufgenommen werden könnte, die in den Kampf zieht, würde ich meine Gefährten sicherlich wiederfinden.« Merlin legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid. Ihre Kohorte wird nicht dort sein, wo unsere Kämpfe stattfinden. Ich kann Ihnen nicht helfen.« Ein bekümmerter Ausdruck blieb unter der Oberfläche des ernsten Gesichts zurück. »Dann sei Euch gedankt. Möge Jupiter Euch zum Sieg führen.« Damit verbeugte er sich knapp und marschierte davon. Merlin sah ihm nach, und traurige Verwunderung griff ihm ans Herz. Männer wie dieser waren es, Gläubige Jupiters, die ihn all diese Jahre am Leben erhalten hatten. »Eure Legion ist auch nirgendwo in der Nähe, nicht wahr, großer Jupiter?«, sagte eine Frauenstimme. Wieder wandte Merlin sich um. Diesmal konnte er die Sprecherin nicht ausmachen. Er stand auf einem kleinen Hof. Passanten strömten an einem Ende herein und zum anderen hinaus. Die Häuser, die den Hof umgaben, waren aneinander gebaut, und ihre Dächer bildeten eine große, grasbewachsene Schüssel. In der Mitte des Platzes, eingeengt von bemoostem Ziegelpflaster, stand ein lieblicher Springbrunnen. Seine Wasser schimmerten im goldenen Licht. Und aus diesem Springbrunnen sprach wieder die Frauenstimme. »Deinen Hof gibt es nicht mehr, deine olympischen Freunde, 200 deinen Palast, deine Länder, deine Völker. Du hast weder Hera, die wegen deiner Affären herumnörgelt, noch deine Affären, die dir Abwechslung von Hera verschaffen.« »Wer spricht zu mir?«, fragte Merlin ungnädig. Statt einer Antwort teilte sich vorübergehend das Wasser des Springbrunnens. Es bildete verschiedene Stränge in der Luft, die sich teilten, wieder zusammenflössen und die
schlanke Gestalt einer jungen Frau bildeten. Arme und Beine, Rumpf und Kopf waren vom klaren Wasser überlaufen, das von dem schönen Haar troff. Mit schmaler Taille und breiten Hüften nahm sie vor ihm Gestalt an. Sie trug eine knöchellange Tunika, die in der Mitte von einem silbernen Gürtel zusammengefasst war, und hatte Sandalen an den Füßen. Ihr Lächeln war einladend. »Ich bin Nyneve«, sagte sie mit einem ruhigen Lächeln. Ihre Augen strahlten ihn freundlich an. »Ich bin eine Najade vom Hof Brigids.« »Eine junge Najade«, erwiderte Merlin. Sie schüttelte in sanftem Tadel den Kopf. »Wirklich nicht. Das Aussehen täuscht. Ich bin älter als du, Merlin, älter sogar als der Gott, der du einst warst.« »Warum dann die junge Gestalt?« Sie kam langsam auf ihn zu. »Es ist eine Gestalt, ja, aber keine Verkleidung, denn ich komme in meiner wahren Gestalt zu dir, als ein jugendliches Geschöpf, das deine Gesellschaft sucht.« Nyneve erreichte ihn und umkreiste ihn langsam, betrachtete ihn von allen Seiten. »Und ich würde dir eine ähnliche Frage stellen, Merlin: warum diese Verkleidung des Alters?« Der Magier runzelte nachdenklich die Stirn. »Dies ist keine Verkleidung. Dies ist meine wahre Gestalt.« Mit missbilligendem Schnalzen zog Nyneve ihre Finger durch Merlins weißen Bart. »Du täuscht dich, Merlin. Du bist so alterslos wie ich. Du hast die Macht, jede Gestalt anzunehmen, die du willst, geradeso wie ich. Warum diese geschlechtslose, hinfällige Gebrechlichkeit?« 201 »Weil ich geschlechtslos und hinfällig bin«, antwortete Merlin gereizt. »Geschlechtslos vielleicht«, meinte sie, »aber kaum hinfällig und gebrechlich. Vor einem Jahrzehnt, als du nach Avalon kamst, um das Schwert Excalibur zu empfangen, warst du nur ein unbesonnener Knabe, vom gleichen Alter wie der junge Artus. Ihr beide wart verträumte Kinder, eingesponnen in die Wünsche und Vorstellungen von einer halb imaginierten Welt. Seit jener Zeit seid ihr beide aufgewachsen. Du hast die Kindheitsphantasien abgelegt und die Wahrheit dessen gesehen, was du bist.« Merlin musterte sie mit strengem Blick und zog die Hand der Najade aus seinem Bart. »Ja, ich bin kein Kind mehr. Jetzt bin ich ein hinfälliger alter toter Gott.« Ihr Lächeln war blendend. »So geht es nicht, Merlin. Du kannst nicht von der Kindheit in die Gebrechlichkeit des Alters springen. Ob es dir gefällt oder nicht, du bist jetzt ein junger Mann, vom selben Alter wie Artus. Ob es dir gefällt oder nicht, du bist noch immer Jupiter mit den tausend Liebschaften.« Wieder streckte sie die Hand aus und berührte sein weißes Haar. Wo ihre Fingerspitzen darüber hinfuhren, wurden die ausgetrockneten, dünnen Strähnen gekräftigt und glatt. Ihre Farbe verwandelte sich von Weiß zu Kastanienbraun. Gleichzeitig schrumpften sie um seinen Kopf und bildeten eine anliegende Kappe von lockigem Haar. Auch sein Bart schmolz dahin. Das Netzwerk der Runzeln, Falten und Narben auf seinem Gesicht glättete sich und verschwand. Das ungesunde bleiche Grau machte gesunder, sommersprossiger Röte Platz. Die Sommersprossen verschmolzen zu einem immerwährenden Bronzebraun. Merlins Rücken wurde gerade und richtete sich auf, seine knotigen Hände streckten sich, und die zerfetzten, zerlumpten Gewänder verwandelten sich in eine saubere Tunika.
Erfreut betrachtete Nyneve seine veränderte Gestalt. »Hier ist dein wahres Aussehen, Merlin. So stark und jung und heiratsfähig wie ich.« 202 Als wollte er einen Mückenschwarm verscheuchen, zerstörte Merlin das Bild mit irritierten Handbewegungen und nahm seine alte Gestalt an. »Jetzt ist keine Zeit für Tändeleien. Hörtest du nicht Wotans Worte in der Versammlung? Dies ist eine Zeit des Krieges, des Krieges unter den Menschen und den Göttern -« »Genau«, sagte Nyneve und legte Merlin einen Arm um die Schulter. Ihre Berührung verwandelte ihn neuerlich zum jugendlichen Mann. »Krieg wird von heißblütigen jungen Männern geführt, die für die Ehre heißblütiger junger Frauen kämpfen.« »Zu viel steht auf dem Spiel«, wandte Merlin ein, obwohl er mit Wohlgefallen den reinen warmen Duft ihres Körpers atmete. »Die göttliche Allianz, das Bündnis mit Gallien, das Schicksal Britanniens, Artus' Königtum -« »Bündnis und Verbindung sind beinahe das Gleiche.« Ihre Finger umwickelten seine weißen Locken und gaben ihnen ihren brünetten Schimmer zurück. »Artus' Königtum besteht nur durch seine Verbindung mit Guinevere. Du weißt, dass ein Mann nicht über Britannien herrschen kann, wenn er nicht den Segen des Landes hat. Warum denkst du, du könntest den Himmel beherrschen, ohne den Segen der See zu suchen, Merlin?« »Ich will nicht über den Himmel herrschen«, sagte Merlin und machte sich endlich von ihr los. Seine Augenlider schlossen sich in schmerzlicher Entsagung. »Ich bin kein Gott mehr.« »Du könntest wieder ein Gott sein«, beharrte Nyneve. »Ich könnte dir helfen. Es ist einfach genug. Du bist kein gebrechlicher und geschlechtsloser Greis, Merlin. Du bist nur ein schüchterner Jüngling, der von sich stößt, was er in Wirklichkeit begehrt.« Er ergriff ihre Hände und sein altes Selbst kehrte zurück. Nur seine Finger waren jung und kräftig. Er blickte ihr in die Augen und sagte: »Nenne es, wie du willst, Nyneve, ich schiebe dich weg.« Sie zog ihre Hände zurück. Das spielerische Lächeln um ihre Lippen verblasste. Sie blinzelte ihn nüchtern an und legte den Kopf auf die Seite. »Und ich hatte gedacht, du erinnertest dich, wer du warst.« 202 Sie kehrte zum Springbrunnen zurück und stieg hinein. Ihre Hände legten sich sanft um die Statue in der Mitte. Schon verschmolzen ihre Finger mit dem Wasser. »Ich werde dir Zeit geben. Jeder wird schließlich einmal erwachsen, Merlin. Jeder.« An diesem Abend war der große Rittersaal der Burg Benwick ein lauter und lebhafter Ort. König Ban hatte das Beste auftischen lassen, was seine Jäger und Vorratskammern bieten konnten: Lachs und Aal; Fasan, Gans und Kranich; Lerche und Fink und Taube; Pasteten, Kuchen, getrocknete Äpfel, Datteln, Johannis- und Brombeeren, Met, Bier, Wein und Spirituosen. König Bors war inzwischen eingetroffen und hatte feine Gewürze mitgebracht: Ingwer, Kümmel, Anis, Koriander, Buchweizen und Süßholzwurzeln. Beide Könige hatten ihre vornehmsten Gefolgsleute bei sich, große und reiche Lehensträger und Krieger, und allesamt große Schlemmer und Trunkenbolde. Ulfius ermutigte das Trinken mit der Hoffnung, dass die Benebelung durch Alkohol helfen würde, die Tatsache zu verbergen, dass >König Artus< zm Zwerg und ein Hanswurst war. Dagonet saß zwischen den Königen Ban und Bors. Vor dem Zwerg standen zwei Teller, einer mit einem Berg abgenagter Lerchenknochen, der andere mit soeben servierten Aalen.
Brastias bemühte sich, Dagonet den Mund mit Delikatessen zu stopfen, damit keine unerwünschten Worte herauskämen. Unterdessen machte sich Ulfius zum Schankmeister. Er sorgte dafür, dass die Bierkrüge der echten Könige gefüllt waren und würzte das königliche Fass sogar mit Spirituosen. Hingegen hatte er versucht, Dagonets Bierkrug leer zu lassen. Als der Zwerg wütend geworden war, hatte Ulfius ein separates Fass herbeigeschafft, die Hälfte des Bieres in die Schweinetröge hinter der Küche entleert und den fehlenden Teil mit Wasser aus der Zisterne ergänzt. Dann hatte er die Tischdiener angewiesen, >König Artus< 203 nur Bier aus diesem Fass zu geben. Das Ergebnis sah vielleicht nicht so aus, wie Ulfius es beabsichtigt hatte — die gastgebenden Könige waren gesprächig und lustig, während Dagonet mit jedem wässrigen Bierkrug aufgeschwemmter und streitsüchtiger wurde. »Hört mal«, unterbrach Dagonet einen langen und beinahe zusammenhanglosen Bericht von Bors' Aufenthalt im Eisass, »was für ein Pisswasser serviert ihr mir?« König Bors brach ab und starrte ihn mit offenem Mund an. Er hatte das gleiche fleischige Gesicht wie sein Bruder, aber strohblondes Haar, das seinen Kopf wirr umstand. Ban zeigte die gleiche Verblüffung. Das Tischgespräch brach ab. Dagonet stieg auf seinen Stuhl und kam so in die gleiche Augenhöhe mit den anderen Männern. Anklagend zeigte er auf seinen schäumenden Bierkrug. »Pisswasser! Pisswasser!« Alles wurde still. Ulfius stolperte hinzu und plapperte eine verzweifelte Erklärung. »Ein hohes Lob! D-das ist hohes Lob! In Britannien kommt unser bestes Bier von einem Fluss namens Pizzwasser!« »Halts Maul«, sagte König Ban und funkelte Ulfius an. »Du wirst anmaßend, Diener.« Darauf richtete er seinen betrunkenen Blick auf Dagonet und sagte: »Schmeckt dir unser Bier nicht, Bruder?« »Pisswasser!«, erklärte Dagonet und wedelte mit dem Zeigefinger. »Schwächer als ein ertränktes Kätzchen!« König Ban pustete die Backen auf und setzte zu einer Erwiderung an, brachte aber kein Wort hervor und begnügte sich damit, den Mund mit Bier aus seinem eigenen Krug zu füllen. Tränen stiegen ihm in die Augen, als das Getränk in seiner Kehle brannte. »Mir kommt es eher löwenhaft vor.« Er blinzelte zu Bors, der gleichfalls einen Schluck nahm. Als Bors den Krug absetzte, schnappte er nach Luft und verzog das Gesicht. »Stark wie der Löwe von Juda!« Dagonet trank aus seinem Krug, dann spie er das Dünnbier in 203 hellem Strahl über den Tisch. »Ich könnte eher von Ammenmilch betrunken werden als von dieser Pisse!« Bors und Ban tauschten schlaue Blicke über die entrüstete Zwergengestalt des >Königs< aus. »Soll das eine — eine Herausforderung sein?«, lallte Ban. Dagonet schlug seinen Bierkrug auf den Tisch, rollte die Ärmel auf und umfasste die Arme der Könige in einem herzlichen Händeschütteln. »Nun her mit der Amme, und ich werde euch zeigen —« »Nein«, sagte Bors. »Ein Wettkampf mit uns. Ein Wettkampf im Trinken. Der König, der als Letzter auf den Beinen steht, befehligt als Erster die verbündeten Heere. Einverstanden?«
»Na, ich weiß nicht«, murmelte Dagonet halbherzig, »die Amme mit dem großen Busen wäre mir lieber -« »Einverstanden«, fiel Ulfius begeistert ein. »Ich selbst werde die Krüge füllen.« Die gallischen Könige grinsten einander wölfisch zu, rieben sich die Hände und lachten. Im Ungewissen darüber, was genau passiert war, ließ Dagonet sich vom Gelächter mitreißen. Sogar Ulfius lachte und füllte vergnügt die Krüge an zwei verschiedenen Fässern mit königlichem Bier.
7. Die Armeen der Hoffnung
Der Nachtwind heulte durch trockenes Gras und hinaus über die weißen Kliffs. Der Kanal schien kein Meer zu sein, sondern ein Abgrund, das Ende der Welt. Merlin stand am Rand der Kliffs. Die Nacht floss wie Tinte durch seine dunklen Gewänder. Vielleicht war dies das Ende der Welt. Lot rückte von Norden heran. Er und seine Verbündeten hatten vierzigtausend Krieger aufgeboten. Die Könige des Nordens 204 waren reich und konnten sich nicht nur verlockende Vorauszahlungen leisten, sondern versprachen auch Kriegsbeute und Landverleihungen im besiegten Britannien. Scheinbar unwiderstehlich stießen sie nach Süden vor und überwältigten jede Burg und Festung der Loyalisten, auf die sie stießen. Erst kürzlich war die Hügelfestung Bedgrayne der Flut der Angreifer erlegen. Artus hatte in der Zwischenzeit ein Heer von nur fünfzehntausend Mann versammeln können, und diese größtenteils ohne Sold. Seine Streitmacht war der des Gegners nicht gewachsen, und sein Götter tötendes Schwert schien nutzlos gegen einen Mann, der nicht bluten konnte. Rhiannon und Artus' Gelöbnis, Lot nicht zu töten, machten den Anführer des Rebellenheeres unbesiegbar. Keine Nachricht kam aus Gallien. Das Ende der Welt. Merlin spähte in die undurchdringliche Finsternis. Rauschend und endlos lag die See jenseits der weißen Steilküste. Endlich erspähte er etwas. Schwach und entfernt im schwarzen Bauch der See glomm ein Hoffnungsschimmer. Es schien, als wollte der Mond hervorkommen. Dünnes Licht fiel auf die Wellen, obwohl der Himmel schwarz blieb wie zuvor. »Segel! Schiffe!«, rief Merlin. Hunderte von Schiffen kamen nach und nach in Sicht, jedes beladen mit vielleicht fünfzig Kriegern. »Ulfius kehrt zurück. Er kommt mit einer Flotte. Mit einer Armee.« Merlin tanzte auf dem Rand des Kliffs. Seine weichen Stiefel sandten Schauer lockeren Kreidekalks hinab zum Ufer. Vielleicht war es nicht das Ende der Welt. »Aus der Verzweiflung schwarzem Herzen, Steigt zart und ungewiss die Hoffnung, Blickst du hinaus in heißem Sehnen, Das tausend Monde aufgehen lässt.« 204 »Ich hätte meinen Träumen glauben sollen. Ich hätte mich erinnern sollen, dass es Artus bestimmt ist, König zu sein.« Glücklich wanderte Merlin am Rand des Kliffs dahin. Er suchte einen Abstieg zum Ufer. Er hätte hinabschweben oder verschwinden und dort wieder erscheinen können, aber Ulfius würde einige Zeit benötigen, um die Schiffe an Land
zu bringen, und die Arbeit des Absteigens konnte Merlin Gelegenheit geben, eine Weile zu träumen. »Ich hätte meinen Träumen glauben sollen.« Dagonet stand im Bug des Schiffes, als es auf sandigen Grund lief. Die anlaufende Brandung hob das Heck des Schiffes und Dagonet purzelte über Bord in die schwarze und schäumende See. Als Ulfius sich nach einem zusammengerollten Tau bückte, überlegte er finster, ob er den falschen König ertrinken lassen sollte. Das Schiff mit Ban und Bors kam längsseits und lief auf Grund. Die echten Könige brachten es fertig, sich auf den Füßen zu halten. Ban legte die Hände an den Mund und rief durch das Brandungsrauschen: »Dein König ist gefallen! Rette den König!« Ulfius stampfte ärgerlich zum Bug, schwang seine Taurolle. »Ich weiß! Ich weiß!« »Spring ihm nach! Alles ist verloren, wenn Artus ertrinkt!« Ulfius nickte grollend. Sein eigenes Ertrinken würde ein angenehmer Ausgang der Affäre sein. Er hatte es satt, den Hofmeister eines Narren zu spielen und diesem verrückten Zwerg ständig vor allen Augen Ehrerbietung zu erweisen. Warum musste immer er die Suppe auslöffeln, die andere eingebrockt hatten? Er steckte einen Arm durch die Taurolle, schob sie auf die Schulter und sprang in die gischtende Brandung. Eine zurückweichende Welle zog das Schiff von der Sandbank, und Ulfius verlor das Gleichgewicht, bevor er springen konnte. Statt von der Bugreling freizukommen, landete er quer darüber. Mit einem Geräusch, das seinem eigenen Namen Ehre machte, trieb es ihm den 205 Atem aus der Lunge. Die Taurolle auf der Schulter brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er fiel kopfüber ins Wasser. Bevor er eintauchte, beschrieb er einen halben Überschlag vorwärts. In diesem Augenblick schössen ihm mehrere Überlegungen durch den Kopf. Wenn das Schiff auf Grund gelaufen und das Wasser über der Sandbank zurückgewichen war, mochte die See hier vielleicht einen Fuß tief sein. Dagonet konnte in fußtiefem Wasser kaum ertrinken. Und er, Ulfius, konnte hier nicht tauchen — Als er zu sich kam, lag Ulfius unter einem Kreis von Gesichtern, die sich schwach vom schwarzen Himmel abhoben. König Ban erläuterte den Unfall. »Der Diener König Artus' fiel über Bord und verletzte sich. Artus, der bereits von Bord gegangen war, kehrte um, ihn zu retten. Andernfalls wäre der Trottel noch im fußtiefen Wasser ertrunken —« Diener ... über Bord gefallen ... Artus ... an Land gegangen ... umgekehrt, den Trottel zu retten? »Artus von Bord gegangen?«, ertönte laut und schroff eine weitere vertraute Stimme. »Ja.« Dagonet hielt Ulfius' Arme bei den Handgelenken und pumpte sie zu seiner Wiederbelebung auf und nieder. »König Artus hier«, sagte Ban, »der dem unglückseligen Mann hier gerade eine heilsame Behandlung verabfolgt. Ulfius hat sich während seines Besuches als ein recht ungeschickter Tölpel erwiesen.« »König Artus?«, erwiderte der andere, und endlich erkannte Ulfius die Stimme.
»Merlin«, keuchte er erleichtert. Er wollte weitersprechen, aber die energischen Zuwendungen Dagonets verhinderten eine zusammenhängende Rede. »Ja, König Artus. Er ist fuuh - der hier an meinen Armen. Es ist schwierig - fuuh - im Dunkeln zu sehen —« 206 Merlin kauerte über ihm nieder. »Ulfius, du bist auf den Kopf gefallen —« Dagonet ließ die Handgelenke des armen Mannes los und begann seinen Schädel abzutasten. »Tut das weh?« »Ja!«, rief Ulfius und packte Dagonets Finger. »Du Dummkopf!«, sagte Merlin zu Dagonet. »Lass deine Finger von ihm!« »In der Tat! Er ist dein König!«, erklärte Ban und riss Ulfius Hände weg. »Diese Dreistigkeit!« »Tut das weh?«, fragte Dagonet. Ulfius setzte sich aufrecht, um den quälenden Händen zu entkommen. Der Schmerz in seinem Kopf verdoppelte sich, und er fiel in den weißen Sand zurück. »Ja, Merlin. Ban spricht von diesem kleinen Mann — unserem großen König, unserem König Artus hier. Er vollbrachte wundersame Heldentaten —« die nächsten Worte brachte er nur mit Widerwillen über die Lippen »— im Kampf gegen mehrere Gegner, und die Könige Ban und Bors waren so geehrt, den zwergenhaften König Britanniens persönlich an ihren Höfen begrüßen zu können, dass sie sofort ein Bündnis mit ihm schlossen.« Merlins Augen waren winzig funkelnde Glanzlichter in der Nacht. »Und ich dachte, ich sei verrückt ...« »Wir werden dieser kleinen Majestät folgen, wohin er uns auch führen mag«, erklärte Bors. Merlin hüstelte. »Ja, gut, heute Nacht führt er uns nach Norden. Das Heer des Rebellen Lot von Lothian hat die Hügelfestung Bedgrayne überrannt, und Artus ist ins Feld gezogen, um den Feind ein für allemal zurückzuschlagen.« »Artus ist ins Feld gezogen?«, fragten Bors und Ban gleichzeitig. »N-nun, ja«, stammelte Merlin, »das heißt — Artus der Geringere ist ins Feld gezogen. Artus der Geringere, Monarch weiter Teile des südlichen Landes und Lehnsmann von diesem hier —« »Artus dem Höheren«, erklärte Dagonet freudig. 206 »Artus dem Höheren«, wiederholten Merlin und Ulfius verdrießlich. »Dann marschieren wir also nordwärts, sogar heute Nacht?«, fragte Ban. »Wie sollen wir sehen? Kein Mond, keine Sterne stehen am Himmel, uns zu fuhren.« Ein Glanz kam in Merlins Augen. »Ich werde Euch eine Straße zeigen, die sich selbst erhellt. Älter noch als die Römerstraßen, und ebener. Sie wird von freundlichen Geistern gepflegt. Eure Männer werden noch heute Nacht in Bedgrayne Beistand und Ruhe finden.« Es war wie in einem Traum. Der Pfad war dünn wie eine Messerschneide, und doch marschierten die Heere von Ban und Bors in Kolonnen zu zwanzig Mann nebeneinander, und zu beiden Seiten blieb noch Raum. Sie hatten den Pfad der Ley-Linie in einem ringförmigen Eichenhain betreten, den Merlin einen Heiligen Hain nannte. Er murmelte ein paar Worte - und die mächtige Eiche an einem Rand des Haines spaltete sich. Ein roter Lichtstrahl ging durch ihren Kern und hinaus über die Landschaft. An zahlreichen Stellen zerteilte er andere Bäume, deren Hälften weit getrennt wurden. »Solche Zerstörung«, sagte Ulfius, Missbilligung sogar in seinem Staunen. Merlin schüttelte den Kopf. »Keine Zerstörung. Dies ist ein unendlich feiner Schnitt von der Anderwelt. Er führt durch Bäume und Hügel, Schafe und Menschen, ohne sie zu
verletzen. Sie alle sind in der Zeit erstarrt, da wir diesen Weg gehen. Wir werden ihn in der Nähe der Weißen Kliffs betreten und im selben Augenblick in Bedgrayne verlassen. Mit ironisch hochgezogener Braue wies Merlin zu den Truppen, die zwischen den Hälften der Eiche durchmarschierten. Ulfius ging voran und hielt Dagonet an seiner Seite. Sobald sie die rot leuchtende Bahn betraten, begann sie heilend auf sie einzuwirken. Kratzer und Verletzungen schlossen sich 207 sanft, die Erschöpfung wich langsam aus allen müden Muskelgeweben. Was blieb, war eine ungewöhnliche Klarheit von Geist und Auge. Ulfius sah Britannien wie niemals zuvor. Er sah nicht nur den Wald, sondern die Bäume, nicht nur die Bäume, sondern die Ringe, und nicht nur die Ringe, sondern die Jahre, die in diesen Ringen lebendig waren. Würmer gruben sich blindlings durch die Geschichte. Sie verzehrten die tausendjährigen Herzen der ältesten Bäume, aber neue Jahresringe lebten weiter. Ulfius erblickte das lichtlose Innere von durchtrennten Rindern, deren doppelte Mägen in Augenblicken ihrer Tätigkeit fixiert waren, durchtrennte Adern und Knochen gaben den Blick in die Kerne des Lebens frei. Er sah einen durchschnittenen Bauern auf seinem Strohsack in einer weit geöffneten Hütte schlafen. Schicht um Schicht, glich der Mann einem Baum mit seinen Ringen. Seine Art war im Augenblick seines ersten Atemzuges schon Hunderttausende von Jahren alt. Die Welt schien ein sehr verschiedener Ort, wenn man sie im rot gefärbten Licht der schwärmenden Feen sah. Ihre Magie war es, die den Pfad schuf. Die rettenden Heere von Ban und Bors wurden geheilt und erfrischt und in einem Fluss winziger Geschöpfe über das Land getragen. Dann verließen sie die Ley-Linie. Es ging ganz schnell. Plötzlich war die warme rote Umhüllung fort. Sie standen im taunassen Gras eines nächtlichen Feldes. Auf einer Seite ragte schwarz der Urwald von Bedgrayne. Auf der anderen gab es einen ähnlich Unheil verkündenden Anblick - das Nachtlager eines Heeres, in dem keine einzige Lampe brannte. Nur ein eben aufgestiegener Mond warf seinen matten Schein über den Schauplatz. Ein Reiter auf einem unruhig stampfenden Pferd hielt in der Mitte der dunklen Zeltstadt. Das Tier schien das einzige Lebewesen inmitten windbewegter Zeltbahnen zu sein. Es bäumte sich auf und wendete, galoppierte über die Wiesen und hielt geradewegs auf Ulfius, Brastias, Bors, Ban und die Armee aus Gallien zu. 207 Hinter dem Reiter entstanden Unruhe und Bewegung. Das ganze Lager erwachte zum Leben. Gepanzerte Krieger warfen sich auf ihre Pferde und stürmten dem einzelnen Reiter nach. Ulfius rief zurück: »Bereithalten zur Abwehr eines Angriffs. Fußvolk nach vorn und Piken setzen! Reiterei zur Unterstützung des Fußvolks!« Mehr Zeit für Befehle gab es nicht. Mit einem wilden Pfiff parierte der Reiter sein Pferd unmittelbar vor der lebenden Palisade von Fußsoldaten und Stangenwaffen. Das Pferd schien nicht übel Lust zu haben, sie niederzureiten, aber der Reiter zog fest an den Zügeln. Die nachfolgende Reiterei kam mit Hufgetrappel zum Stillstand. Aus der Höhe seines Sattels rief der Reiter mit lauter, herzlicher Stimme. »Willkommen in Britannien, Ban und Bors. Merlin hat mir von eurem Kommen berichtet, und gerade zur rechten Zeit!« »König Artus!«, rief Ulfius in glücklichem Wiedererkennen.
»König Artus?«, fragte Bors verwirrt. »König Artus der Geringere«, erläuterte Ban. Der Reiter lachte laut auf. »Ja, Merlin erzählte mir auch davon. Ich heiße auch König Artus den Höheren willkommen, der Artus Pendagonet genannt wird.« »Pendagonet!«, sagte Ban. »Ja, von diesem Namen habe ich gehört. Pendagonet!« Eine watschelnde Gestalt kam aus den Reihen der Gallier und näherte sich dem Hengst. Mit einem athletischen Sprung schwang sich Dagonet auf den Rücken des Pferdes und landete Artus zugewandt. »Ah, Artus!«, rief Dagonet freudig aus. »Gib uns einen Kuss!« Ulfius schlug sich vor die Stirn und erzeugte damit ein Geräusch, das nur etwas leiser war als das Schmatzen des Kusses. »Von wo kommst du, Artus der Geringere?«, fragte Bors. »Und wohin soll es gehen?« Aus dem Sattel seines unruhigen Pferdes sagte Artus: »Ich komme von der Armee des Königs, fünfzehntausend treuen und 208 standhaften Kriegern, die heute unter der Deckung verbündeter Feen hierher marschiert sind. Merlin hat die Hilfe der Waldgeister von Bedgrayne und der Wasserdryaden von Sherwood für uns gewonnen. Wir sind unter einem ständig wechselnden Schirm von Baumheide und Efeu vorgegangen, eingehüllt in die Nebel von Bächen und Flüssen. Die Äxte unserer Feinde sind gebrochen und verrostet und aus jeder Hand gefallen, die sie zur Gewinnung von Brennholz schwang. Es ist gut, Verbündete in den Wäldern zu haben! Das Totholz, das die Rebellen für ihre Lagerfeuer gesammelt haben, qualmt mächtig und verbreitet schädliche Dämpfe, so dass schon jetzt alle unter entzündeten Kehlen und Augen und Kopfschmerzen leiden.« »Und wo liegt der Feind?«, fragte Bors. »Ist ein Angriff geplant?« »Ja!«, antwortete Artus mit vor Erregung bebender Stimme. »Lots Hauptarmee ist nach Süden und Westen durch das Land vorgestoßen, mehr als vierzigtausend Mann stark.« »Vierzigtausend! Gegen fünfzehntausend?« »Ja, aber nun seid ihr mit weiteren zehntausend hier.« »Das ergibt noch immer vierzigtausend gegenüber fünfundzwanzigtausend —« »Und wir haben die verbündeten Feen, und die Gottheiten der Eiche —« »Das macht noch immer vierzigtausend gegenüber fünfundzwanzigtausend —« »Und ich bin König Artus!« »Der Geringere.« »Ja«, sagte Artus. »Ja, aber das ist mein Ziel. Ich werde in das Herz der Vierzigtausend vorstoßen. Ich habe eine Truppe von einhundert Kriegern ausgewählt, mich selbst und Merlin mit eingeschlossen, um einen nächtlichen Überraschungsangriff zu führen. Wir gehen mit verbündeten Feen, die uns verbergen können, als wären wir der Wind. Wir werden inmitten der Feinde sein, bevor sie aus ihren Zelten kriechen und von ihren schwelenden Feuern 208 auf die Beine kommen. Wie der Todesengel werden wir über sie kommen, und jeder von uns wird das Blut von zehn Männern an seinem Schwert kleben haben, bevor Alarm geschlagen werden kann. Wir werden wie der Dieb in der Nacht erscheinen und Lots beste Krieger und Feldhauptleute erschlagen und allen anderen einen Schrecken einjagen, dass sie vor der kommenden Schlacht zittern. Merlin wird sie gleichzeitig mit
Himmelserscheinungen ängstigen. Mit Mut und Geschick werden wir einen wichtigen Sieg erringen, bevor der Morgen anbricht.« »Einhundert gegen vierzigtausend?« »Natürlich werde ich mit meinem königlichen Gefolge zur Unterstützung eilen«, erklärte Dagonet und stellte sich mit dramatischer Gebärde auf dem Sattel in Positur. »Dann werde natürlich auch ich, König Ban von Benwick, mit von der Partie sein!« »Ich auch, und fünfzig von meinen Männern!«, erklärte König Bors. »Fünfzig von meinen!«, erwiderte Ban. »Und Ulfius von Chertsey, und Brastias von Tintagel«, rief Ulfius. »Gut«, erwiderte Artus. »Wir werden warten, während die Truppen hier auf der Wiese ihr Lager aufschlagen. Die Waldleute werden sie und das Lager verbergen. Dann bringt die Besten und Tüchtigsten hierher, und ich werde meinen Plan erläutern. Gemeinsam werden wir ins Herz des Feindes vorstoßen!«
8. Diebe in der Nacht
Zweihundert Mann stark, rückte Artus' Streitmacht langsam und still durch die Wälder von Bedgrayne vor. Hufeisen waren von den Hufen geschlagen worden — die Dryaden wollten keine eisenbeschlagenen Tiere, die über ihre Wurzeln stampften und sie be 209 schädigten -, und Wappenröcke und Sättel waren im Lager geblieben. Nur die Krieger waren bewaffnet und gepanzert. Ihre Pferde schienen bis auf Zaumzeug und Zügel im Naturzustand, so dass sie sich leise wie Hirsche bewegen konnten. Und wie ihre Geweih tragenden Vettern bewegten sie sich leichtfüßig und achtsam durch den nächtlichen Wald, wichen den Hexenringen matt leuchtender Pilze aus, dem dunkel Gefunkel heiliger Quellen und den im Mondlicht schimmernden Eichenhainen. Natürlich zertrampelten sie Unterholz, Kräuter und Moose, aber dafür hinterließen sie angenehm riechende Pferdeäpfel, die von den Kobolden und anderen Bewohnern des Waldes hoch geschätzt wurden. Als Tarnkleidung trugen die Krieger über ihren Brustpanzern die Tracht des Waldes — Flechten, Blätter, Ranken und Moos. Über diese natürliche Tarnung hatte das Feenvolk von Bedgrayne Zauber gelegt. Wichtel und Luftgeister verstanden sich auf die Kunst der Tarnung mit grauen und gelbbraunen Tönen, bescheidener Unauffälligkeit, die keine Aufmerksamkeit erregte. So bildeten sie beinahe eine Schar von Naturwesen, kaum unterscheidbar von Pflanzen, Wasser und Luft. Anders sah es bei den Streitkräften König Lots aus. Ihre Zelte standen bis zum Waldrand, weil sie nicht imstande gewesen waren, die hartnäckigen Bäume zu roden, die hart wie Eisen waren. Es gab nur wenige rußige Lagerfeuer zwischen den vielen dunklen Zelten. Der Schwelgeruch nassen, faulenden Holzes vermischte sich mit dem Gestank aus hastig ausgehobenen Latrinengräben. Artus ließ Halt machen. Der gewisperte Befehl wanderte wie eine unruhige Brise zurück unter die Bäume. Bors und Ban kamen an eine Seite, Ulfius und Brastias an die andere. Dagonet saß vor dem König. »Arroganz. Seht ihr, nicht einmal Wachtposten.« Bors lachte finster. »Wir können durch das ganze Lager gehen, Zelt für Zelt, und unbemerkt Kehlen durchschneiden.« »Darin liegt nicht viel Ehre«, sagte Artus. »Das sind Landsleute. Wir folgen dem Plan und greifen nur diejenigen an, die sich außerhalb der Zelte befinden. Lasst die Schlafenden ruhen.«
210 »Sie werden nicht lange schlafen«, sagte Ban. »Wir haben noch immer die Überraschung auf unserer Seite, und die Feen, und Merlin, und die Nacht«, erwiderte Artus. »Unehre würde uns nur Verderben bringen.« »Wie kommt es«, sagte Bors, mit neuem Respekt in der Stimme, »dass ein Mann von solchem Mut, solcher Ehrenhaftigkeit und Weisheit der Geringere genannt wird?« Artus rang mit einer Antwort und konnte keine finden. Er sagte einfach: »Steigen wir ab.« Das Signal ging zurück zur Truppe. »Wir werden unsere Pferde morgen im Feld brauchen. Heute Nacht lassen wir sie hier in der Obhut der Waldleute. Ban, Bors, Ulfius, Brastias, jeder geht zu seiner Abteilung. Wenn bis einhundert gezählt ist, dringen wir in das Lager ein und beginnen mit der nächtlichen Arbeit.« »Gott mit uns!«, sagte Ban, als er absaß. »Gott und die Götter«, erwiderte Artus. Als sie zu ihren Kriegern gingen, sagte Bors zu seinem Bruder: »Ich habe nie einen so verrückten Plan wie diesen gehört.« »O nein, Bruder«, erwiderte Ban. »Ich sehe seine Weisheit. Tatsächlich scheint dieser geringere König der Größere zu sein. Neben ihm nimmt sich Artus Pendagonet wie ein schwadronierender Dummkopf aus.« Flüsternde Lippen zählten bis hundert. Die fünf Männer suchten ihre jeweiligen Kompanien auf, und als bis fünfzig gezählt war, wurden die Schwerter gezogen. Bei fünfundsiebzig war die Luft erfüllt von gemurmelten Gebeten an alle Götter, die in den Mittelmarken verehrt wurden. Und bei einhundert setzten sie sich in Bewegung und schritten aus dem schützenden Wald hinaus zu den ersten flackernden Feuern inmitten der Zelte. Artus führte seine Abteilung auf leisen Sohlen. Behutsam umging er die Spannseile der Zelte, aus denen das ruhige Atmen und Schnarchen der Schläfer drang. Bald hatte er das erste Feuer erreicht. Männer saßen schläfrig auf Steinen neben dem schwelenden Brand. Andere lagen in trunkenem Schlaf neben ihren Zelten 210 oder halb im Inneren. Unter den Wachenden gingen träge Worte hin und her. Artus bedeutete seinen in Moos und Ranken gekleideten Männern, den Lagerplatz um das Feuer einzukreisen. Es kostete ihn erhöhte Aufmerksamkeit, seine eigenen Krieger zu erkennen. Lots Krieger ahnten nichts. Der schwache Widerschein des Feuers färbte ihre Gesichter orangerot. Innerhalb von Augenblicken hatte Artus sie umringt. »Wo seid ihr, Männer von Lot?«, fragte Artus mit einer Stimme — wie das verwunschene Flüstern der Nacht um sie. Um das Feuer wurden Köpfe gehoben, Augen blickten groß umher. Die zusammengesunkenen Krieger richteten sich auf, lauschten. »Wo seid ihr, Männer von Lot?«, wiederholte Artus. »Dies ist nicht euer Land. Es will euch nicht.« Ein hoch gewachsener Krieger stand auf und fuhr herum, spähte suchend in die Dunkelheit. Im Gegensatz zu den anderen Rebellen am Feuer hatte dieser ein Schwert an der Seite. »Wer spricht? Wer ist da?« »Ich bin es, König Artus. Ich bin es, und mein Schwert Excalibur, und mein Heer.« Der hoch gewachsene Krieger legte eine Hand an den Schwertgriff und blickte wieder in die Runde. »Wir können niemanden sehen. Welche Zauberei trägt diese Stimme hierher?«
»Keine Zauberei, sondern nur das Land. Das Land, das ihr zu Unrecht beansprucht.« Der andere zog sein Schwert. »Wie sollen wir gegen Euch kämpfen, König Artus?« »Ihr könnt nicht gegen das Land kämpfen«, sagte Artus. Er warf den Umhang von Moos und Ranken von den Schultern, zog Excalibur und trat zum qualmenden Feuer. »Ergebt euch oder sterbt.« »Er ist ein Geist!«, sagte einer der unbewaffneten Männer am Feuer. »Er hat eine Geisterarmee«, sagte ein anderer. 211 »Wie kämpfen wir gegen Geister?« Der große Krieger biss die Zähne zusammen und sagte: »So wie ich.« Wütend holte er zum Schlag aus. Blitzend sprang Excalibur zur Verteidigung seines Herren in die Höhe. Stahl traf auf Adamantin. Funken sprühten von den Klingen. Die beiden lösten sich voneinander. Der Krieger holte über den Kopf aus und schlug mit aller Kraft zu. Wieder wurde sein Schwert mit metallischem Klang pariert. Excalibur stieß vorwärts und durchbohrte den Leib des Kriegers. Der wankte zurück, fiel beinahe ins Feuer und brach ächzend in die Knie. Artus blickte traurig auf den keuchenden Mann nieder. »Wo seid ihr, Männer von Lot?« Der getroffene Krieger fiel zwischen Staub und Asche auf die Seite. Mit entsetzt aufgerissenen Augen hoben die anderen Männer hilflos die Hände. Es waren elf, alle unbewaffnet und verschreckt, die wie gelähmt um das Feuer saßen. Ein rotbärtiger Mann fasste sich und fragte: »Was soll mit uns geschehen? Wir haben nicht mal unsere Schwerter —« Artus legte den Kopf auf die Seite. »Ihr könnt in eure Zelte gehen und sie holen, wenn ihr wollt. Ihr könnt sogar eure Kameraden wecken, dass sie herauskommen und gegen uns kämpfen. Aber ich schwöre euch, dass jeder bewaffnete Mann, der aus seinem Zelt kommt, sterben wird. Ich schwöre auch, dass jeder, der in seinem Zelt bleibt, am Leben bleiben und den Morgen sehen wird. Wir werden nicht in eure Zelte eindringen.« Der rotbärtige Mann blinzelte ungewiss. »Ihr erlaubt uns, in unsere Zelte zu gehen, ohne erschlagen zu werden?« »Ja«, antwortete Artus. »Dort könnt ihr eure Schwerter holen und eure Gefährten wecken -« »Oder drinnen bleiben und leben?«, fragte der Mann. »Ja.« »Wir werden uns nicht ergeben«, grollte ein anderer. 211 »Ich verlange nicht, dass ihr euch ergebt«, sagte Artus. »Ich verlange nur Vernunft. Diejenigen, die heute Nacht gegen mich kämpfen, sind unverbesserliche Anhänger Lots und werden sterben. Diejenigen aber, die in ihre Zelte gehen und sich meiner Worte erinnern - sie mögen durchaus Männer Artus' sein, wenn diese Schlacht geschlagen ist. Nun, genug gesprochen. Geht in eure Zelte. Wer will, der kämpfe, und alle anderen mögen ruhig schlafen.« Starr vor Furcht standen die elf zögernd auf und wandten sich zum Gehen. Die Hände erhoben, bewegten sie sich zögernd zwischen die schattenhaften Gestalten, die sie umringten. Sie bemerkten trübe blinkende Klingen in verzaubertem Laub und Moos. Dieser unheimliche Feind erfüllte sie mit Schrecken, und langsam arbeiteten sie sich durch den Wald der Krieger zu ihren Zelten und einer nach den anderen verschwand darin.
Drinnen wurde geflüstert, und raschelnde Geräusche drangen heraus. Zwei Rebellen stürzten bewaffnet aus ihren Zelten. Ihre Kriegsschreie blieben in ihren Kehlen stecken, ihre Klingen waren erst halb erhoben, als sie niedergemacht wurden. Köpfe sprangen von Hälsen und kollerten neben den leblos hinschlagenden Körpern durch den Staub. In anderen Zelten dauerte das Geflüster an. »Möchte in dieser Nacht noch jemand gegen das Land und König Artus kämpfen?«, fragte der junge Herrscher. Keine Antwort. Die Zeltklappen hingen lose herab. »Dann bleibt drinnen und lebt, um uns morgen zu bekämpfen.« Artus legte wieder seinen Mantel aus Moos und Efeu an, verschmolz mit der Nacht. Er wählte zwei seiner Krieger aus und postierte sie als Wachen. »Wer herauskommt, wird sterben.« Dann winkte er den anderen und drang weiter ins Lager vor, zum nächsten Feuer. Die Schar der vom Zauber beschirmten Krieger folgte ihm. Die ganze Nacht zogen sie langsam durch das Lager von Lots Heer. 212 Es war eine stille Invasion. Artus' Streitmacht war mehr als unsichtbar. Sie wirkte ernst, beinahe priesterlich. Der Wald hatte sie nicht nur gekleidet, er hatte ihr etwas von seinem Ethos untergründiger und unausweichlicher Eroberung mitgeteilt. Die Krieger, die noch vor Stunden aufgeregt durcheinander gerufen hatten, waren jetzt schemenhafte, aber auch tödliche Diplomaten. Artus, Bors, Ban, Ulfius und Brastias waren alle von diesem feierlichen Geist beseelt. Gewiss, sie erschlugen Männer, manchmal einzelne, manchmal zehn und zwanzig, aber es war mehr ein Opfer als ein Gemetzel. Sie töteten rasch und leise und ließen diejenigen Krieger, die sich ergeben wollten, in die Zelte zurück. Die Erschlagenen waren Lots Helden und Vorkämpfer, tapfere Hauptleute, die ihren Männern ein Vorbild sein wollten. Am nächsten Tag würde Lots Heer ein demoralisierter Haufen sein. Sogar Merlin fühlte sich zu stiller Eroberung angeregt. Statt den Himmel mit Furcht einflößenden Schreckensvisionen zu erfüllen, beschränkte er sich darauf, die verborgenen Sternbilder zu beschwören, um den Feind zu verwirren und zu erschrecken. Das Sternbild des Drachen leuchtete übernatürlich brillant neben dem Polarstern, und die Konstellation schien verändert, sie ähnelte dem roten Drachen von Wales. Er verschob das Nordlicht, bis es über dem Sternbild des Drachen in leuchtenden Schleiern wallte, und dann ließ er Jupiter so hell erstrahlen, als wäre er ein zweiter Mond. Auch Dagonet hatte eine besondere Idee beigetragen. Statt durch das Lager zu springen und Lots Krieger zu blindem Zorn aufzureizen, stahl er eine Pferdedecke und ein paar schmutzige Gewänder von einer Leine, wo sie zum Trocknen aufgehängt waren. Er legte eine Tunika so an, dass sie dem Kleid einer Wäscherin ähnelte, und stopfte die anderen Stücke in die gebündelte Decke. Dann wanderte er vor den eindringenden Kriegern Artus' von Lagerfeuer zu Lagerfeuer und fragte mit der Stimme einer Frau: »Wo ist die Furt? Ich habe heute Nacht so viel Wäsche zu waschen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wanderte er dann zum nächs 212 ten Feuer. Hinter ihm schüttelten Männer die Köpfe und murmelten über das böse Omen. »Die kleine Wäscherin an der Furt!« »Die Bohnen-Nighe! Die Caoineg!« »Vorbotin des Todes!«
Bald kamen Artus' Krieger zu Lagerfeuern, wo niemand saß. Feen berichteten von vereinzelten Rebellengruppen, die nordwärts durch die Wälder flohen. Sie desertierten, weil ein Zwerg mit einem Bündel schmutziger Wäsche die alte keltische Vorbotin des Unheils wiederbelebt hatte. In der Dunkelheit schien keiner der Krieger Lots bemerkt zu haben, dass die kleine Wäscherin einen Stoppelbart hatte und ihr Atem einen Ochsen umwerfen konnte. Dagonet genoss sein stilles Wirken. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er lieber die geisterhafte Todesbotin oder König Artus von Britannien spielte. In dieser Nacht sind mir Vision und Wahrheit ununterscheidbar. Sind es Gestalten einer Halluzination, diese grünen Krieger in Moos und Efeu, die still und tödlich Köpfe ernten, als wären es Melonen? In ihrer Mitte huscht Artus wie eine Schimäre, bald schimmernder König, bald weniger als ein Schatten. Und obwohl Dagonet wahrhaftig der Geringere sein mag, erweist er sich als der Höhere. Aus banalen Decken und Gewändern macht er Geistererscheinungen. Und auch ich bin wie ein Verrückter beschäftigt. Ich ängstige mit unheilvollen Himmelszeichen. Ach, ich hätte wissen sollen, dass du hier sein würdest, Loki, in dieser Konstellation von Wahrheit und Trugbildern. Du erlaubst uns diese Nacht der Täuschung und des Tötens. Die blutige Absurdität bereitet dir Vergnügen. Doch in deinen zwinkernden Augen liegt mehr als Vergnügen, es ist stillschweigende Duldung. Du lässt uns die Eindringlinge erschlagen, weil du weißt, dass Artus größere Gefahr droht. Vielleicht in der morgigen Schlacht, vielleicht in einem Verrat jenseits des Schlachtfeldes . . . Ja, ich sehe sie in deinen Augen — ich sehe Morgan Le Fey. 213 Morgan schrak aus leichtem Schlummer auf. Sie fuhr von ihrem Lager hoch und lauschte in die Dunkelheit des Zeltes. Ein eigentümliches Geräusch ertönte in der Luft. Es kam nicht von außerhalb des Zeltes - sie war gegen die vulgären Geräusche der Krieger immun geworden —, sondern aus dem Inneren. Rhiannon sang. Raschelnd erhob sie sich von ihrem mit Schilf gefüllten Strohsack und blinzelte zur Scheide. Diese schwebte wie zuvor in der Mitte des Raumes. Die Geister der uralten Trinität, der dreifaltigen Göttin - Jungfrau, Mutter, altes Weib — hielten sie in die Höhe. Sie waren aus dem heiligen Kessel der Fülle gestiegen und tanzten freudig um Rhiannon, geisterhafte Verkörperungen der großen Göttin, die die Scheide vor Entdeckung und Schaden bewahrten. Aber warum sang Rhiannon? Morgan glitt auf bloßen Füßen durch das Zelt auf die Stelle zu. Sie hatte diese Magie selbst bewirkt; es war ein einfacher, aber mächtiger Abwehrzauber. Der heilige Kessel der Fülle war in diesem Fall Lots bester Helm, der für diese Aufgabe gesegnet worden war. So waren ihm nicht nur die großen weiblichen Kräfte des Kessels der Fülle eigen, sondern auch die großen männlichen Kräfte des Kopfes. Das Beste daran aber schien, dass sie, wenn sie in das Opferblut im Helm blickte, die Gedanken des Königs von Lothian lesen konnte. Das war der zweite Teil des Zaubers, Blut. Blut war Leben. Wenn eine kleine Opfergabe davon in den Kessel gegeben wurde, strömte daraus eine große Fülle. Der winzige Samen des Vaters wird dem Kessel der Mutter geopfert, um die Fülle des Kindes hervorzubringen. In diesem Fall war das Opfer etwas von ihrem eigenen Blut und es brachte die Fülle der immer wachsamen Geister. Lots Helm und Morgans Blut schlossen eine wirksame Verbindung und die Geister der weiblichen Trinität hüllten die Scheide sicher ein. Aber warum sang Rhiannon?
214 »Excalibur ist nahe«, flüsterte Morgan in angstvoller Erkenntnis. »Rhiannon singt zu Excalibur.« Mit Herzklopfen kniete Morgen vor dem Kessel nieder. Ihr schwarzes Haar hing bis auf den Zeltboden. Sie umfasste den Helm mit beiden Händen und betete. Die Kälte ihres Blutes war durch das zernarbte Metall zu fühlen. Sie begann einen Gesang. Die Töne gingen durch ihren Körper und wärmten den Kessel. Sie wärmten das Blut darin. Die Geister beschleunigten ihren spektralen Tanz. Die Dämpfe um die Scheide wurden undurchsichtig. Dennoch sang Rhiannon in Sehnsucht nach Excalibur. Das Schwert und sein Meister näherten sich. Morgan passte ihren Tonfall dem Gesang der Scheide an. Sie sang ein Gebet an die Göttinnen. Die heilige Scheide leuchtete. Ihre eingesetzten Edelsteine warfen farbige Lichtbrechungen über die Zeltwände. Die Geister der Trinität tanzten jetzt in einem Wirbel. Ihre Gestalten schienen beinahe greifbar, so verdichtet waren sie. Dennoch konnten sie das Licht von der Scheide nicht zurückhalten. Der Helm wurde in Morgans Händen heiß. Sie öffnete die Augen und sah, wie sich Blasen im Blut bildeten. Es kochte. Excalibur musste sich jetzt draußen vor dem Zelt befinden. Artus konnte jeden Augenblick in das Zelt eindringen. Morgan stand nicht auf. Sie blieb auf den Knien, vertraute der alten Art. Rhiannon zitterte. Ihr Gesang wurde durchdringend. Roter Dampf stieg vom kochenden Blut auf. Der Helm versengte Morgans Hände. Sie schloss die Augen gegen die sengende Hitze. Von draußen kam ein kurzes, hartes Geräusch. Vor dem Zelteingang fiel ein Körper schwer zu Boden. Halblaute Stimmen wurden hörbar. Der Helm begann zu schmelzen. Mit einem leisen Aufschrei zog Morgan die Hände zurück. Der Stahl sank in sich zusammen und Blut zischte auf dem Zeltboden. Die Geister der weiblichen Trinität lösten sich auf. Rhiannon, nicht mehr in der Luft gehal 214 ten, fiel zu Boden und lag still. Das vibrierende Summen des Gesangs verstummte. Morgan, noch immer auf den Knien, keuchte schmerzlich. Excalibur war fort. Artus war fort. Wären sie noch einen Augenblick länger geblieben, hätten Schwert und Scheide einander mit solcher Macht gerufen, dass nichts die beiden hätte auseinander halten können. Nun waren der junge König und sein Schwert fort. Auch um Morgans heiligen Kessel und ihr Blutopfer war es geschehen, und die Geister, die Rhiannon bewacht hatten, hatten sich ebenfalls entfernt. Nun brauchte sie einen anderen Kessel und mehr Blut - und zwar schnell. Morgan erhob sich und tappte zur Zeltklappe. Sie blickte hinaus. Der Wächter draußen war erschlagen. Er war ein großer, kräftiger und ehrlicher Mann gewesen. Lot hatte ihm den Schutz seines größten Schatzes anvertraut. Artus selbst musste ihn erschlagen haben. Welches andere Schwert als Excalibur hätte ihm mit einem Hieb die Schädeldecke abschlagen können? Artus musste die Absicht gehabt haben, ihn zu enthaupten, aber der Wächter hatte sich im letzten Augenblick geduckt, und so war die Klinge knapp über Ohr und Auge durch den Schädel gegangen. Die Hirnschale schien glatt vom Rest abgehauen.
Es war ein schrecklicher Anblick, zeigte ihr aber den rettenden Ausweg, als hätte die Göttin selbst ihr ein Zeichen gegeben. Die abgetrennte Hirnschale des Wächters lag in Reichweite und enthielt frisches Blut ... Unwissentlich hatte Artus ihr einen mächtigeren Kessel der Fülle geschenkt, ein mächtigeres Blutopfer. Ein Schädel war um vieles besser als ein Helm. Und das Blut eines Wächters war viel besser als das einer Hexe ... Durch diesen Kessel konnte Morgan nicht nur die Gedanken Lots lesen, sondern auch die seiner Krieger. Sie würde wissen, wie es um das Schlachtenglück bestellt war ... 215 »Dein eigenes Handeln wird dir zum Verhängnis, Artus.« Mit zuversichtlicher Ehrerbietung streckte Morgan Le Fey die Hände nach ihrem neuen Kessel aus.
9. Tod in Bedgrayne
Als der Morgen graute, war das Erschrecken groß. Die Albträume, unter denen viele der Rebellen in der Einsamkeit ihres Schlafes gelitten hatten, erwiesen sich als wahr. Die Toten lagen zu zweit oder zu dritt neben den niedergebrannten Lagerfeuern. Stets waren es die tapfersten Krieger, die besten Männer — dreihundertfünfundfünfzig von ihnen. In den meisten Fällen waren sie Adlige, die in der Reiterei kämpften, oder Feldhauptleute des Fußvolks. Auch die Pferde waren gestohlen, Zügel und Zaumzeug durchschnitten, sogar die Eisen von den Hufen geschlagen. Die Sättel lagen unberührt bei den Ausrüstungen. Diese adligen Lehnsleute und Offiziere waren nicht die einzigen Verluste dieser Nacht. Geleitet vom ungewöhnlich hellen Schein Jupiters und eines vom Nordlicht gekrönten Sternbilds Drache, zogen ganze Trupps von Deserteuren nordwärts durch den Wald. Für jeden Erschlagenen gab es zehn, die vor den unsichtbaren Todbringern flohen. Sie konnten das Land nicht niederkämpfen, also ergaben sie sich ihm und ließen sich zu ihren fernen Heimatorten zurückführen. Das Feenvolk, das Artus ins Lager gebracht hatte, erleichterte Lots Kriegern nun die Heimreise. Wichtel bogen Zweige zurück, um freien Weg zu schaffen, brachten Markierungen an und legten matt phosphoreszierendes Material wie faules Holz und Pilze aus, wo die Sterne nicht durch das Laubdach schienen. Und auf jeden Mann, der desertiert war, entfielen mehrere andere, die sich fragten, warum sie es nicht getan hatten. Es war ei 215 ne abergläubische Furcht. Der fast unsichtbare Feind hatte ihnen geraten, in den Zelten zu bleiben und zu überleben, und so waren sie geblieben und hatten überlebt - wenigstens diese Nacht. Es war eine schlimme Nacht gewesen, mit kaltem Schweiß und Beklommenheit und Selbstvorwürfen. Als der Morgen kam und zeigte, dass die Todesengel verschwunden waren, kamen die Krieger übernächtig und demoralisiert aus den Zelten. Nicht wenige unter ihnen hätten noch jetzt, in hellem Tageslicht, das Weite gesucht, wären nicht ihre eigenen Gewissensbisse angesichts der erschlagenen Kameraden und der Zorn ihrer Könige gewesen. Mit einer Wut, die jene der Angreifer bei weitem übertraf, ritten die Könige durch ihre Truppenabteilungen. Lot, Carados, Cradelment, Aelle von Sussex, Fergus More von Dalriada - alle elf Rebellenkönige ritten vor ihren angetretenen entmutigten Truppen auf und ab und hielten ihnen Ansprachen. Angetan mit ihren feinen Rüstungen und auf
gepanzerten Pferden sitzend, machten sie ihrem Zorn Luft und versuchten zugleich, die Moral ihrer Krieger zu heben. Vorher hatten die überlebenden Unterführer und Hauptleute die Männer herumgescheucht, Brennholz herbeischaffen und die Toten zusammentragen lassen. Zelte, deren Bewohner sich nicht gleich heraustrauten, wurden mit Fackeln angezündet. »Da habt ihr euer sicheres Zelt! Das ist für eure Feigheit! Wärmt euch am Feuer!« »Bewegt euch, ihr nichtsnutzigen Schweinetreiber!« »Ja, atmet tief ein, Leute. Das ist der Gestank des Todes. Das wird euer Gestank sein, wenn ihr heute nicht kämpft!« Als seine Krieger endlich alle versammelt waren, stand Lot in den Steigbügeln und rief: »Wir sind fünfunddreißigtausend! Aber sind wir Männer oder Würmer? Wenn wir Würmer sein wollen -fünfunddreißigtausend Würmer -, sind wir dazu verurteilt, uns in Flammen zu winden, bis unsere Häute knusprig sind und Artus uns einen nach dem anderen aufhebt und durchbeißt. Aber wenn wir Männer sind, Männer wie dieser Artus und besser als er, 216 werden wir die Schlacht heute zu unserem Feind tragen und ihn und alle erschlagen, die mit ihm sind. Wenn wir Männer sind, dann werden wir kämpfen und siegen, und dann wird Britannien noch heute unser sein!« Aus ungezählten rauhen Kehlen brachen in einem gewaltigen, hoffnungsvollen und zornigen Aufbranden Hochrufe und Kriegsgeschrei hervor. Das ferne Gebrüll - bedrohlich und blutdürstig - drang in Artus' Frühstück mit seinen verbündeten Königen ein. Alle merkten auf und hoben die Köpfe von dampfenden Schüsseln mit Hirsebrei, Körben mit gekochten Eiern und Brettern mit aufgeschnittenem Räucherschinken. Was sie hörten, ließ jedem von ihnen ein leises Grauen über die Haut ziehen. Artus blickte in die Runde seiner Verbündeten. Die Augen des jungen Königs waren an diesem Morgen sehr alt, die Lider beschwert von Müdigkeit und vom Töten. »Dies wird heute enden. Wir werden heute schlagen, damit wir morgen heilen können.« Er schob seinen Holzteller von sich. »Das Land hat schon zu viel Blut getrunken.« Bors beobachtete ihn kauend. Seine blondbärtigen Kinnbacken arbeiteten gleichmäßig. »Sie sind uns zahlenmäßig noch immer weit überlegen. Welchen Plan hast du, Bruder?« Ein düsteres Lächeln geriet in Artus' Züge. »Ich habe vor, ihre zahlenmäßige Überlegenheit von zehntausend auf zwanzigtausend zu erhöhen.« Er lachte grimmig. »Ich habe vor, eure Streitkräfte in Reserve zu halten.« »Was?«, stieß Ban hervor. Kleine Tropfen Eigelb sprenkelten den Tisch vor ihm. »Es gibt einen schmalen Wiesenstreifen, der den Wald von Bedgrayne durchzieht. Er wird gern gebraucht, um Schafe zu treiben. Das Gelände dort ist eben, mit Gras bewachsen und zu beiden Seiten von altem Wald gesäumt. An der schmälsten Stelle können nicht mehr als hundert Reiter nebeneinander vorankom 216 men. Wir werden unsere Streitmacht an einem Ende dieser langen Schneise aufstellen — nur fünfzehntausend Mann stark. Lot, der nach den Verlusten dieser Nacht zornig und erbittert sein muss, wird seine fünfunddreißigtausend in diese Schneise werfen. Wir werden uns dort aufstellen, wo das Gelände ihn daran hindert, uns zu umgehen oder seine gesamte Streitmacht gleichzeitig einzusetzen. Dort werden wir kämpfen, mit unseren Verbündeten, den Waldleuten.«
»Sie werden deine Streitmacht aufreiben, Bruder Artus«, sagte Bors. »Jeder deiner Krieger müsste drei Gegner erschlagen, um das zu verhindern.« Trotz des sonnenhellen Zeltpavillons, in dem sie saßen, schien sich ein dunkler Schatten auf Artus' Antlitz zu legen. »Sobald der Kampf begonnen hat, wird Merlin eure Truppen mit Hilfe der Ley-Linie, zehntausend Mann stark, in den unverteidigten Rücken des Feindes führen. Ihr werdet sie aufreiben und für jeden eurer Männer zehn erschlagen. Merlin wird euch dort helfen. Die Rebellen werden sich ergeben, hoffen wir, oder wir werden ihre Könige gefangen nehmen. Und denkt daran: Niemand darf Lot erschlagen. Das ist beschworen.« »Wie«, fragte Ban, »wenn sie sich nicht ergeben und wir ihre Könige nicht gefangen nehmen?« »Das wäre das Schlimmste, und es bekümmert mich, daran zu denken. Dann nämlich wird die Rebellenarmee den Boden düngen.« In glänzender Rüstung und mit dem purpurn und goldenen Wappenrock der Pendragon ritt Artus an der Spitze eines Heeres von fünfzehntausend Kriegern. Ulfius trabte an seiner Seite, die Königsstandarte mit dem roten Drachen von Wales in seinem Lanzenfutteral. Hinter ihnen ritten annähernd fünfhundert adlige Krieger aus ganz Britannien. Ector und Kay waren darunter und führten eine Abteilung von achtzig Reitern aus Chertsey. Brastias führte eine Gruppe von sechzig Reitern aus Tintagel. Gryfflet von 217 Dyfed und Lucas von Bath führten jeweils achtzig Mann ins Feld, und Caerleon hatte hundertzwanzig geschickt. Ihre verschiedenen Wappenröcke und Feldzeichen boten im Licht des sonnigen Morgens ein prachtvolles Schauspiel. Hinter der Reiterei marschierte das Fußvolk. Piken und Lanzen blitzten im Sonnenlicht, Brustpanzer und Schwerter warfen helle Lichtreflexe auf das dichte Laubwerk zu beiden Seiten der Straße. Unter ihnen marschierten fünfhundert Bogenschützen aus Dyfed und Gwynedd im Westen - die besten Bogenschützen der Insel. Artus' Heer war klein, verglichen mit den Streitkräften, die ihm gegenüberstanden, doch es war gut bewaffnet, ausgeruht und kampferfahren. »Da vorn«, sagte Artus zu Ulfius, als sie um eine Biegung kamen, »siehst du, wo die Schneise sich verengt? Dort werden wir sie erwarten.« »Und keinen Augenblick zu früh«, erwiderte Ulfius. Er streckte den Arm aus. »Denn dort hinten kommt schon die Vorhut von Lots Armee in Sicht.« Im Norden erschien zu beiden Seiten eines kleinen Wasserlaufes eine Abteilung Reiterei wie eine dunkle Flut. In stoischer Ruhe sah Artus sie kommen. Zuvor schon hatte er berittene Kundschafter am Rand des Waldes von Bedgrayne ausgemacht und von fünf Reitern vertreiben lassen. Sie waren mit knapper Not entkommen, und das musste der Meldung der Kundschafter zusätzliche Dringlichkeit verliehen haben. Die hitzige Verfolgung der Kundschafter war als eine zusätzliche Herausforderung gedacht, die Lot nicht ertragen konnte. Sie hatte Wirkung gezeigt und ihn in diese Falle gelockt. Nun marschierte er mit seiner Armee südwärts in eine Enge, wo er Reiterei und Fußvolk nicht entfalten konnte. Weniger als eine Meile trennte die beiden Heere. In der klaren, von Bienengesumm erfüllten Luft über der Wiesenschneise kam bald auch das Gros von Lots vorrückender Armee in Sicht. Über den behelmten Köpfen des lanzenbewehrten Fußvolks erschienen
218 die Standarte von Lothian und andere Banner — die mythischen Wölfe Geri und Freki für die Sachsen von Sussex, ein roter Eber auf grünem Feld für Carados, ein weißer Widderkopf für Dalriada ... Elf Könige und ihre Heere erstreckten sich bis zum bewaldeten Horizont. »Bogenschützen nach vorn«, befahl Artus einem berittenen Kurier. »Sie sollen den Waldvorsprung dort besetzen und den Feind auf fünfzig Schritte heranlassen, bevor sie schießen.« Der junge Mann nickte, warf sein Pferd herum und ritt am Rand der vorrückenden Krieger gegen den Strom zurück. Ein anderer Reiter nahm seinen Platz ein. Minuten später waren Bogenschützen aus Dyfed und Gwynedd zu erkennen, die in langer Reihe durch den Wald nach vorn liefen. »Es wäre besser, du würdest zurückfallen, Artus«, sagte Ulfius. »Siehst du, wo Lot reitet? In der Mitte seiner Männer.« Artus war abgelenkt; er beobachtete das rasche Vorgehen der Bogenschützen durch den Wald. »In diesem Krieg geht es um dich, Artus«, drängte Ulfius. »Sollte dir im ersten Ansturm etwas geschehen, dann -« »Dann werdet ihr anderen nicht sterben müssen«, erwiderte Artus. Die ersten Bogenschützen nahmen ihre Stellungen am Waldrand ein und legten Pfeile auf. Ulfius schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Du kannst dir Unüberlegtheiten nicht leisen.« »Ich kann mir Vorsicht nicht leisten«, versetzte Artus gereizt. »Diese Schlacht wird durch Tapferkeit und Draufgängertum gewonnen oder sie geht verloren. Ich habe nicht die Reserven, vorsichtig zu sein.« »So aber wird Lot kämpfen - umsichtig«, sagte Ulfius. »Nach den Traditionen der Kriegführung wird er vor der Eröffnung der Schlacht wahrscheinlich das Zeichen für Verhandlungen geben.« »Das bezweifle ich sehr«, erwiderte Artus. Er erhob sich in den Steigbügeln. »Da, er hat einen Angriff befohlen.« Eine Abteilung Reiterei, sicherlich fünfhundert Mann stark, ga 218 loppierte zu beiden Seiten des marschierenden Fußvolks nach vorn. Den größten Teil seiner Reiterei hielt Lot noch in Reserve zurück. Die erste Abteilung formierte sich in fünf Reihen hintereinander. Ihre Pferde stampften und schnaubten ungeduldig. Mit beinahe geistesabwesendem Ausdruck sagte Artus: »Sie würden zweieinhalbtausend Mann Reiterei haben, wenn wir letzte Nacht nicht so viele Pferde freigelassen hätten.« »Dies dürften fünfhundert sein, und es ist die erste Welle«, erwiderte Ulfius. »Hätten wir die Pferde gestohlen, statt sie freizulassen, könnten wir zweieinhalbtausend Mann Reiterei ins Feld führen. Wie die Dinge liegen, können wir mit unserer Reiterei nur einem Angriff begegnen. Danach wird unser Fußvolk der schweren Reiterei ausgesetzt sein.« In der Ferne gab Lot das Zeichen zum Angriff. Hacken stießen in Pferdebäuche, und mit Schnauben und Wiehern sprangen die Pferde an, streckten die Hälse und galoppierten los, dass die Erdbrocken flogen. Der Boden erzitterte unter zweitausend Pferdehufen, deren dumpfes Poltern an fernen Donner gemahnte. In einer unwiderstehlichen Flutwelle von Muskeln jagte die Reiterei auf Artus' Linien zu. »Die Lichtungen waren froh, die Pferde zu haben«, sagte Artus still.
»Gegenangriff?«, fragte Ulfius. »Befiehl einen Gegenangriff.« Artus schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Bogensehnen schwirrten an den Waldrändern. Weiß gefiederte Pfeile zischten aufleuchtend im Sonnenlicht durch die Luft und überschütteten die erste Angriffsreihe. Der helle Klang von Stahl auf Stahl ratterte durch die Luft. Pfeilschäfte zitterten in Fleisch. Reiter stürzten, Pferde schrien und galoppierten weiter, gefiederte Stäbe ragten aus Schultern und Flanken. In der ersten Reihe fielen vielleicht fünfundzwanzig von den hundert Reitern. Fünfundsiebzig setzten den Angriff fort. »Jetzt ein Gegenangriff«, sagte Ulfius. Mit geweiteten Augen beobachtete er die heranjagenden Reiter. »Jetzt!« 219 Artus schüttelte den Kopf. »Besonders dankbar für die Pferde war Epona. Sie sprach mit den Thuata De Danann, die mit den Rotmützen sprachen, die mit den Wildkaninchen sprachen -« »Wovon redest du?« Plötzlich, als wären sie von unsichtbaren Lanzen getroffen, kam die Hälfte der angreifenden Reiterei ins Straucheln. Pferde überschlugen sich, brachen zusammen, fielen auf ihre Reiter. Mehrere von diesen flogen aus den Sätteln und blieben verletzt vor der Angriffsreihe liegen. Die meisten aber gerieten zwischen und unter die stürzenden, um sich schlagenden und in Panik wieder aufspringenden Pferde. »Was ist das?«, keuchte Ulfius. »Unsichtbare Pikeniere aus der Anderwelt?« »Kaninchenbaue«, sagte Artus. »Sie haben die ganze Nacht gegraben.« In den nächsten Augenblicken stürzten ein paar weitere Reiter, und der Schwung des Angriffs war gebrochen. Die übrigen Reiter mussten das Tempo verlangsamen und ihren Pferden Gelegenheit geben, sich ihren Weg zwischen den Kaninchenbauen zu suchen. Unterdessen hagelten weitere Pfeile in ihre Mitte. Verstärkungen rückten nach, die Gefallenen zu ersetzen, und überwanden vorsichtig die unterwühlte Strecke, bevor sie sich erneut zur Schlachtreihe formierten. Gleichzeitig drang Fußvolk mit Schwertern und Lanzen in die Waldränder ein, um die Bogenschützen zu vertreiben. Hundert Berittene auf schweren Schlachtrossen sprengten auf Artus' Linien zu. »Was für eine Rettung diesmal?«, fragte Ulfius. »Giftspinnen? Riesenkrähen? Tollwütige Schweine?« »Wir greifen an! Vorwärts!«, rief Artus. Er riss den Arm mit der geballten Faust hoch, legte die Lanze ein und stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen. »Vorwärts!«, rief Ulfius und trieb sein Pferd an Artus' Seite. Mit ihm setzte sich die gesamte Reiterei in Bewegung. Zuerst nur eine ungeordnete, zusammengedrängte Herde, fächerten die Reiter ih
219
re Formation vor dem Feind zu einer langen, gebogenen Schlachtreihe, dichtauf gefolgt von zwei weiteren. So galoppierten sie durch die breite Schneise. Erdklumpen und Gras flogen hinter den Hufen auf, Schultern und Kniegelenke arbeiteten unter makellosen Schutzpanzern. Lanzen neigten sich wie blitzende Himmelssplitter vorwärts und zielten auf den anstürmenden Gegner. Die Schlachtreihen prallten zusammen. Der Boden war nicht mehr zu sehen, Pferde und Reiter ragten unmöglich groß hervor, dann gab es keinen Himmel, keinen Wald und keine Erde, nur den krachenden Zusammenprall von Stahl und Pferdeleibern.
Artus' Lanze durchstieß glatt die Mitte eines Mannes, hob ihn aus dem Sattel und warf ihn über die Pferdekruppe. Artus ließ die festsitzende Lanze los und zog Excalibur. Er holte weit aus und ließ die Klinge auf einen anderen Gegner niedersausen. Sie durchschlug den Brustharnisch des Mannes von der Schulter bis zum Herzen. Der Reiter sank hintenüber und Artus trieb sein Pferd an ihm vorbei und schlug das Schwert eines weiteren Angreifers zur Seite. Schwerterklingen hauten hell aufeinander. Es war, als ob sie einander zuriefen. Der Stoß eines Gegners kratzte an Excaliburs Parierstange vorbei und über Artus' Arm. Die Spitze traf ihn in die Halsberge und durchtrennte Glieder des Kettenpanzers, ohne ihn jedoch zu verletzen. Ein weiterer Vorstoß durchbohrte das bronzene Wappenschild auf Artus' Brustpanzer und blieb dort stecken. Er brüllte zornig auf, Excalibur schlug abwärts und brach das Schwert. Die Spitze blieb in Artus' Panzer stecken, das Heft in der zitternden Hand des Angreifers. Artus nahm sich keine Zeit für Betrachtungen. Er holte zum neuen Stoß aus und trieb die Götter tötende Klinge aufwärts unter das Kinn seines Gegners. Erst als dieser tödlich getroffen aus dem Sattel sank, nahm sich der junge König Zeit, die abgebrochene Schwertspitze aus seinem Brustpanzer zu reißen. Auch sie war blutig. »Rhiannon«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, als er seinen rot gefärbten Panzerhandschuh sah. »Ich brau 220 che Rhiannon.« Als er den Blick hob, sah er vor sich Ulfius' breiten Rücken, der ihn deckte, und jenseits davon die Standarte König Lots. Er fasste die Zügel fester und drängte sein Pferd durch das Getümmel vorwärts. Schlachtenlärm erfüllte die Luft. König Lot stand in den Steigbügeln und beschirmte seine schiefergrauen Augen gegen das Sonnenlicht. »Was geht vor — da vorn? Das Licht blendet meine Augen. Sag schon, was geht vor?« Sein Standartenträger, ein gedrungener, zwergenhafter Mann, untauglich als Krieger, sprang auf den Sattel seines Pferdes und spähte dramatisch nach vorn. »O je, Majestät. Es ist wie ein Blick in das falsche Ende eines Esels.« »Dummkopf! Sag mir Genaueres!« »Ja, also —« Der skrofulöse Zwerg hielt inne, um sich an einer Stelle zu kratzen, die für jemanden, der auf einem Pferd sitzt, gewöhnlich unzugänglich ist. »Da ist ein Pferd von uns gestürzt und schlägt mit den Beinen, und da ist einer unserer Reiter, der nach seinem rechten Arm sucht, der verloren gegangen ist -« »Nicht so genau, Trottel! Wie ist die Lage da vorn?« »Ich kann es schlecht sagen, Majestät, aber ich kann es singen: Artus verlangt nach dem Thron uns'rer Lande, Sammelt um sich eine Kriegerbande, Dieweil uns're Reiter im Bette liegen, Voller Angst, sie könnten Hiebe kriegen, Führt er ihre Pferde mit sich fort, Gott weiß zu welchem anderen Ort.« »Was, du Schmutzfleck?«, brüllte Lot und entriss dem Zwerg die Standartenstange. »Wer bist du überhaupt? Ein Spion?« Der Hanswurst wedelte hilflos mit einem kurzen Arm und sagte mit einem verrückten Grinsen: »Vergebt mir, Majestät, ich muss den falschen König gefunden haben.« Er ließ die Zügel auf 220
den Pferderücken klatschen und trieb es zum Galopp. Dabei blieb er wie ein Akrobat im Sattel stehen, mit einer Hand die Zügel haltend, die andere hinter sich gestreckt. Lot schickte dem Zwerg einen Fluch nach, dann stieß er seinem Pferd die Absätze in die Weichen. »Vorwärts!« »Weiter vorn ist der Boden unterwühlt«, rief ihm ein Feldhauptmann zu. »Viele Pferde sind gestürzt.« »Vorwärts, sagte ich! Der Feind muss geworfen werden! Drauf und drauf!« Merlin stand am Beginn der Ley-Linie. Er hatte die Arme hoch erhoben und hielt den magischen Weg offen. Durch eine messerscharfe Öffnung anderweltlicher Macht marschierten die Heere von Ban und Bors. In einem Atemzug hatten sie den Urwald von Bedgrayne durchquert, zehntausend Mann stark, davon achthundert beritten. Wie ein Hauch waren sie durch das Herz des tausendjährigen Waldes gezogen. Es hatte keinen heiligen Hain gegeben, der natürlichen Zugang zur Ley-Linie gewährte. Merlin hatte die Dryaden und Sylphiden des südlichen Bedgrayne bitten müssen, den Weg offen zu halten. Jetzt, acht Meilen weiter nördlich und auf dem jenseitigen Ufer des Sherwood-Flusses, wohnten ganz andere Waldgeister furchtsam und flüchtig. Nur indem er ihnen Schutz vor ihrer rachsüchtigen Herrin versprach, konnte Merlin die Wichtel und Kobolde dazu bringen, den Weg zu öffnen. König Bors ritt am Ende der Kolonne. Er zügelte sein Pferd und warf Merlin einen nachdenklichen Blick zu. Seine blonden Brauen knisterten von feenhaftem Feuer. Rote Staubpartikel puderten die Nüstern und Flanken seines Streitrosses. »Du bist ein Seltsamer, Merlin Magus!« Eine hochgezogene Augenbraue war alles, was Merlin statt einer Erwiderung gab. »Ein Heide, ein Hexer, ein mächtiger Magier, mit allen anderen Zaubern verdammt zur Gehenna - und doch bist du hier, Moses 221 am Ufer des Roten Meeres, und hältst den Weg frei für das Heer eines christlichen Königs. Du kämpfst für einen Gott, der dich verdammt.« »Ich kämpfe für keinen Gott«, erwiderte Merlin unwillig, »sondern für Artus, für meinen Enkel.« Damit schlug er die erhobenen Hände zusammen, und die Ley-Linie schloss sich und schnitt dem Pferd die Spitze vom Schweif ab. Der König machte große Augen. Er starrte zurück, wo er mit seinem Heer durch Hügel und Baumstämme und Sumpfland gezogen war. Jetzt lagen nur der lehmige Sherwood-Fluss und der unpassierbare Wald von Bedgrayne hinter ihnen. »Nun, was immer der Grund deines Kampfes sein mag, Merlin Magus, ich bin froh, dass du auf meiner Seite kämpfst.« Um einen weiteren Wortwechsel zu vermeiden, trieb Bors sein Pferd die Uferböschung hinauf zur versammelten Masse seiner Truppen. Merlin rieb sich die schmerzenden Arme und wollte ihm folgen — aber seine Füße konnten sich nicht bewegen. Sie waren so fest wie eine Eiche im Boden verwurzelt. Etwas unter der Erde hielt ihn fest. Es war Magie, so rot und unerbittlich machtvoll wie die Ley-Linie. Diese Macht aber war verschieden, nicht unpersönlich sondern absichtlich. Hinter dieser prickelnden, lähmenden Flut von Energie arbeitete ein Verstand. Er stieg durch Merlin aufwärts, nahm Beine und Rumpf und Arme in Besitz. Als er sein Gehirn erreichte, sprach er zu ihm. Also gaben die Waldgeister dir den Weg in mein Land frei? Merlin konnte sich nicht bewegen, aber er konnte denken. Kennen wir uns?
Ich kenne dich, Jupiter, sagte die geschmeidige Stimme. Ich kenne dich seit der Begegnung in Avalon. Aber du kennst mich nicht. Ich bin die Rote Schlange von Nottinghill. Hättest du mich gekannt, so wärst du nicht gekommen. Merlin versuchte sein Erschrecken zu verbergen und beiläufig zu klingen. Ah, eine Verbündete Wotans. 222 Ich bin mit niemandem verbündet. Dies ist nicht Wotans Land, sondern meines. Würde er hierherkommen, so wäre er schwach wie ein junges Kätzchen, geradeso wie du, Jupiter. Der Tonfall der Schlange wurde listig. In einer Weise bin ich dankbar für diesen kleinen Krieg, den du anzettelst. Er bringt mir Armeen von Menschen zum Schmausen. Armeen von Menschen und sogar ein paar Götter. . . Dann konnte er nicht einmal mehr denken. Alles war Qual. Die Rote Schlange von Nottinghill wand sich um seine Eingeweide und verzehrte ihn von innen nach außen.
10. Der furchtbare Druck
Artus' Pferd bäumte sich auf. Es war ein höllischer Kampf. Die Hauptmacht von Lots Armee war in die Schlachtreihen eingebrochen und drängte Artus' Heer zurück. Es war kein Raum mehr, mit dem Schwert auszuholen oder eine Lanze einzusetzen. Nicht einmal den Ellbogen konnte man zum Zustoßen zurückziehen, und außer dem Schlachtengetümmel von Kriegern und Stahl und Pferden war nichts zu sehen. Artus hatte sich etwas Luft verschafft, indem er Helme eingeschlagen hatte, aber immer sprang ein anderer Mann vorwärts, um den Kampf fortzuführen. Schwerter und Rüstungen blitzten und schimmerten wie schwärmende Libellen. Der Boden verschwand unter den Toten, die in drei Schichten übereinander lagen. Die Gefallenen boten den Füßen der Lebenden keinen Halt. Blut regnete herab und Seelen flohen aufwärts. »Ector, Ector!«, rief Artus, als sein Pferd sich wieder aufbäumte, dem furchtbaren Gedränge zu entgehen. Seine Vorderhufe schlugen wie tödliche Keulen und trafen den Schädel eines Mannes, der mit dem Schwert nach seinem Bauch stieß. »Ector!« Artus' Stiefvater war eben noch neben ihm gewesen, aber aus dem Sattel geschlagen worden. »Ector!« 222 Als das Pferd wieder auf alle viere kam, erspähte Artus Ectors Wappenrock. Er drängte sein Pferd auf ihn zu. Excalibur fuhr wie eine Sichel durch ein Feld von Männern. Die Klinge aus Adamantin durchschlug zwei Schwerter, die sich gegen sie reckten und spaltete die Schädel der Männer, die sie geschwungen hatten. Sie brachen zusammen, und Artus sah wieder das Stück vom Wappenrock. Es war nur eine Schabracke. König Cradelment ritt Ectors Pferd. Mit Wutgebrüll trieb Artus sein Pferd auf den Reiter zu. Excalibur sauste pfeifend nieder und durchschnitt Helm und Schädel, Hals und Rumpf, bis die Klinge sogar den Kopf des Pferdes spaltete. Krieger und Pferd brachen wie vom Blitz getroffen zusammen. Jenseits von ihnen stand ein verblüffter Ector. »Das war mein Pferd, Sohn!« Artus lachte erleichtert und kam neben den blutigen Kämpfer. Er ergriff die freie Hand seines Stiefvaters und zog ihn zu sich aufs Pferd, dann ließ er sich selbst aus dem Sattel gleiten. »Hier, nimm meins!«
In den Sattel gezogen, wollte Ector protestieren, aber dafür war keine Zeit. Das Kampfgetümmel schlug über ihnen zusammen, und Artus war im blutigen Handgemenge verschwunden. Ban und Bors ritten Seite an Seite in der Vorhut ihres Heeres. Wäre dies Gallien gewesen, würden sie den Angriff nicht angeführt haben. Wäre dies ein Tag früher gewesen, hätten sie es auch nicht getan. Aber das verstohlene nächtliche Eindringen in das Lager der Feinde, gekleidet in Efeuranken und Moos wie das Feenvolk -oder wie Götter! —, die Wahl zwischen Tod oder Schlaf, für die sie jeden gestellt hatten, der ihnen in die Quere gekommen war — alles das hatte sie inspiriert. Artus der so genannte Geringere besaß eine Aura, eine Ausstrahlung, die ihn als einen Auserwählten kennzeichnete. Oder vielleicht war es die Aura von Zauberei. 223 Während sie dahinritten, dachte Ban über diesen seltsamen Magier nach. Nachdem er das Heer über den Sherwood gebracht hatte, war er dort stehen geblieben. Ein sonderbarer Bursche, aber nützlich. »Da sind sie!«, rief Bors und zeigte mit dem ausgestreckten Arm nach vorn. Dort auf einer weiten Lichtung wartete die Reserve von König Lots riesiger Armee. Es waren vielleicht zehntausend Mann, und nicht ein einziges Pferd unter ihnen. Trotz des fernen Schlachtenlärms saßen sie auf Baumstümpfen oder lehnten an Felsen und schnitzten Stecken. Ein paar Feuer schickten träge kräuselnden Rauch in die sonnige Morgenluft. Zehntausend Mann, alle dicht beisammen. »Reiterei greift an! Voller Galopp!«, befahl Ban. Er selbst setzte sich an die Spitze. »Lanzen heraus!«, rief Bors. Überall um ihn her senkten sich die Lanzen über die trommelnden Hufe. Ein Zauberer war nützlich, gewiss, aber das ließ sich auch von einer festen Lanze sagen, einer Waffe, die einen nicht in Gefahr brachte, zum Ort der ewigen Qualen verdammt zu werden. Die ersten Rebellen blickten auf und erbleichten. Warnrufe wurden laut. Männer sprangen auf, warfen Proviant weg und griffen zu den Waffen. Diejenigen, die den Angreifern am nächsten waren, erkannten, dass sie nicht entkommen konnten. Sie rissen Schwerter und Schilde an sich und wichen unwillkürlich zurück auf ihre Kameraden. Viele von diesen, die weiter hinten gelagert hatten und keine Notwendigkeit sahen zurückzugehen, weil sie vom ersten Ansturm der Reiterei nicht betroffen waren, gingen gegen den Feind vor und drängten die Armeeabteilung weiter zusammen. Damit gerieten die Krieger in der Mitte von beiden Seiten unter Druck und erkannten, dass sie, ihrer Bewegungsfreiheit beraubt, wie eine Schafherde niedergemetzelt würden, wenn die ersten fünf Reihen dem Ansturm der schweren Reiterei erlegen wären. Rettung versprach allein der Waldrand, den zu erreichen sie hoffen konnten. Damit begann die Flucht. 223 Ban und Bors sahen, was geschah. Ihre fleischigen Gesichter verhärteten sich in grausamer Entschlossenheit. Dies würde keine Kriegführung sein, sondern ein Abschlachten. Ban visierte über die eingelegte Lanze sein erstes Ziel an, einen großen Kaledonier in einem barbarischen Rock, der sein stumpfes Schwert hoffnungslos vor sich hielt. Ban zielte mit der Lanze auf das Herz und fragte sich, wie er jemals habe vergessen können, dass Kriegführung und Gemetzel ein und dasselbe waren.
Als Ban und Bors mit ihrem Heer außer Sicht gekommen waren, brach Merlin zusammen. Er fiel neben den murmelnden Sherwood-Fluss. Eine Schlange aus der Anderwelt wand sich durch ihn. Sie umschlang sein Herz mit tödlich beengendem Druck. Zwar war die Leber das süßeste Organ des Körpers, doch war das Herz das süßeste der Seele. Das Herz und das Gehirn. Sie waren der Festschmaus von Kannibalen — und diese Schlange war eine Kannibalin von Göttern. Sie hielt den Gelähmten und zehrte von seiner Seele. Sie zog seine Kräfte in sich hinein. Er würde erst sterben, wenn der letzte Tropfen abgesaugt wäre. Merlin erinnerte sich jetzt an dieses Untier. Die glatten Windungen, die durch sein Gehirn glitten, waren vertraut. Der Kopf mit dem knochenartigen Stachelkamm ... es war die Rote Frau, die in Schlangenverkleidung nach Avalon gekommen war. Sie hatte Merlin damals zugehört und die Erfahrung gemacht, dass sie den toten Gott nicht nur hasste, sondern dass sie auch seine Macht begehrte. »Du bist wirklich ein Dummkopf«, sagte sie durch Merlins eigene Lippen, »einen christlichen König auf den Thron Britanniens zu bringen.« Merlin konnte nicht antworten, nicht einmal in Gedanken. »Ich weiß, du glaubst, Artus sei kein Christ, nur sein Schwert sei christlichen Ursprungs. Aber Männer haben es an sich, dass sie ihren Schwertern folgen. Und du warst so töricht, in mein Land zu kom 224 men, wo ich allein herrsche.« Sie ließ Merlins Hand von seiner Brust gleiten. Seine schlaffen Finger platschten in das flache Uferwasser des Sherwood. Jemand oder etwas ergriff diese Finger, eine andere Macht. Merlin fühlte es sogar in seiner betäubten Geistesabwesenheit. Die Rote Frau versuchte seine Hand fortzuziehen, aber der Griff, der sie hielt, war zu stark. Eine Stimme kam aus der Flut. »Und du bist ein Dummkopf, Rote Frau. Du betrittst jetzt unerlaubt mein Reich.« Mit unwiderstehlicher Gewalt wurde Merlin in den gurgelnden Fluss gesogen. Kaltes braunes Wasser umgab ihn. Er wurde ins Dunkel hinabgezogen. Die Rote Frau zappelte ängstlich in ihm. Seine Hände glitten über moosige Steine. Seine Füße stießen ihn ab. Sein Hals reckte sich zur Oberfläche, zur Luft. Die Macht im Fluss war stärker. Sie zog ihn tiefer, unmöglich tief. An diesem kalten Ort konnte sein warmer Atem nicht mehr bleiben. Er brach in roten Blasen aus seinen Lungen. In einem Schwall stiegen die Blasen auf und waren fort. Noch zu Fuß, schlug Artus sich durch den wütenden Feind. Er focht wie ein Löwe. Artus war der König von Caerleon, der Stadt des Löwen, und machte ihr Ehre. Schon war er Gryfflet zu Hilfe gekommen, auch er zu Fuß und im Kampf gegen vier Angreifer. Gryfflet wiederum hatte Lucas bewacht, der unter seinem toten Pferd lag und sich nicht befreien konnte. Excalibur spaltete den Pferdekadaver in zwei Teile, und Lucas kroch rot übergössen hervor. Seite an Seite kämpften die drei Männer sich durch die Schar der Rebellen, um an Lot heranzukommen. Ulfius, dessen Pferd trotz des ledernen Schutzpanzers unter ihm erstochen worden war, schloss sich ihnen an. Nicht viel später stießen sie auf Ector und Kay. Das Schlachtenglück hatte sich zu ihren Gunsten gewendet. 224
Artus war ermutigt, als er diese treuen Freunde um sich sah. Fünf furchtlose Männer und ein junger König mit einem göttlichen Schwert — es war das Zeug, aus dem Legenden entstehen. Trotz seiner Wunden von erneuerter Energie erfüllt, rief Artus: »Vorwärts, auf Lot!« Mit Artus an der Spitze bildeten sie einen Keil blitzender, tödlicher Schwerter. Kay stieß einem Krieger das Schwert durch die Kehle. Ein Stoß von Ulfius warf einen anderen zu Boden. Ector parierte einen Hieb mit solcher Gewalt, dass sein Gegner halb herumgerissen wurde und einen Kameraden mit sich zu Boden zog. Gryfflet konnte sich eines Angreifers nur erwehren, indem er ihm den Schildbuckel ins Gesicht stieß. Lucas, auch er seines Pferdes beraubt und an einem Ende der Keilformation, kämpfte wie ein Berserker gegen die von zwei Seiten andrängende Übermacht. Aus Artus' blutigen Zähnen drang ein Gebrüll, halb Wut und halb Furcht. Ein Mann konnte dem Gemetzel ein Ende machen — Lot von Lothian. Der König kämpfte auf einem schwarzen, gepanzerten Hengst, der mit Hufen und Stirnstachel selbst ein furchtloser und gefährlicher Krieger war. Sogar aus der Ferne blitzten Lots Augen wie Obsidian. Sein Bart war von Blut gesprenkelt, sein schwarzes Schlachtross desgleichen. Es trampelte und schlug alle nieder, die ihm im Weg standen. Plötzlich beugte sich Lot weit aus dem Sattel und zog einen skrofulösen Zwerg am Kragen zu sich herauf. »Ha, hab ich dich, du elende Ratte!« Obwohl sein Kittel, im Nacken von Lots Panzerhandschuh zusammengezogen, ihm die Luft abschnürte, ließ Dagonet nicht von seinen Spottliedern ab: »Keine Angst ... du armer Wicht, Ist Lot auch groß, Kraft hat er nicht. Artus kommt ... hilft in der Not, Wer fürchtet noch den finst'ren Lot?« 225 In einer zornigen Aufwallung packte Lot den Zwerg bei der Kehle, würgte ihn und schleuderte den Bewusstlosen zwischen die blutigen Leiber der Gefallenen. Wenige Augenblicke später durchschnitt ein von der Pferderüstung abgleitender Schwertstreich den Sattelgurt und Lot rutschte mit seinem Sattel vom Pferd. Der durchtrennte Ledergurt schlug ihm ins Gesicht, als er zu Boden ging. Im Nu war Lot wieder auf den Beinen und griff nach den Zügeln. Bevor er - ohne Sattel aufsitzen konnte, sah er sich einem blutigen und schwitzenden König Artus gegenüber. Der junge König war von oben bis unten blutig. Nur Excalibur schien frei vom Blut; die Klinge glänzte wie ein Stück vom blauen Himmel. Artus' Gefährten kämpften sich an den beiden vorbei und hielten Lots andrängende Krieger zurück. Der König aus dem Norden war von ihnen abgeschnitten. »Ach, Schwager«, sagte Artus mit einem kläglichen Lächeln. »Es ist gut, dass du Rhiannon hast, denn ich versprach meiner Schwester, dich nicht zu erschlagen.« Damit holte Artus aus und führte einen gewaltigen Hieb auf Lots Kopf. Der König wich aus und parierte. Adamantin traf auf Stahl. Lot ließ seine Klinge in Bindung mit Excalibur und wandte sich seitwärts, um das Schwert freizubekommen. Artus hielt seinen Druck aufrecht. Sie umkreisten einander einmal, dann lösten sie die Bindung und traten zurück. »Ich habe kein solches Versprechen gegeben!«, knirschte Lot. Er machte einen Ausfall. Excalibur parierte die Klinge - aber der Ausfall war eine Finte. Lot stieß durch die Deckung, und seine Schwertspitze bohrte sich in eine frühere Wunde an Artus' Hüfte und vertiefte sie. »Und du besitzt keine solche Scheide.« Das dunkle Flusswasser des Sherwood drang in Merlins Lungen ein. Mit ihm kam der Tod.
Als sie das spürte, löste sich die Schlange aus der Anderwelt von seinem Herzen. Sie zog sich zurück und schwamm fort. Es 226 war für einen Gott gefährlich, einen todgeweihten Sterblichen zu bewohnen. Merlin wusste nichts mehr. Als er zu sich kam, lag er auf dem Gesicht, halb aus dem Wasser ragend. Aus Mund und Nase rann ihm Wasser, aber die Sonne schien ihm warm auf den durchnässten Rücken. Der kalte Fluss hüllte noch Unterkörper und Beine ein. Die Strömung bewegte seine Füße. Er war nicht tot, und was noch besser war, die Schlange war fort. Eine andere Stimme sprach, sanft wie der Fluss, mild wie der Sonnenschein: »- musst lernen, Merlin, mit welchen Frauen du ringen kannst und mit welchen nicht. Es ist ein häufiger Irrtum unter heranwachsenden Jungen. Wie ich vorher schon sagte, das ist alles, was du jetzt bist —« »Nyneve«, keuchte Merlin. Ein Hustenanfall folgte dem Namen, begleitet von Bluttropfen, die er auf die Uferböschung spie. »Ich fühle mich geehrt, dass das erste Wort, das du nach deiner Rückkehr aus dem Reich der Toten sprichst, mein Name ist.« »Rückkehr ... Totenreich ...?« Merlin sah sich nach der Najade um, erblickte aber nur die glänzende Wasseroberfläche. »O ja, aus dem Totenreich. Ich musste dich ertränken, um diese Rote Frau zu vertreiben. Sie ist bösartig und mächtig. Glücklicherweise bin ich genauso mächtig und eher wohlgesinnt.« Endlich war er mit dem Würgen, Husten und Spucken fertig. Geschwächt setzte Merlin sich aufrecht und blickte trübe über das still ziehende Wasser hin. »Ich weiß nicht recht, was schlimmer ist... ihre Schuppen oder deine kalten Tiefen.« »Ich bin überzeugt, dass ihre Schuppen nur töten. Meine kalten Tiefen heilen. Aus ihnen kam die Scheide Rhiannon, musst du wissen. Sie wurde geschaffen aus den Juwelen und Schwertern, die man der Herrin der Nebel opferte, als Opfergaben in den See warf, geradeso wie man Excalibur als eine Opfergabe in ihren See warf. Durch die heilende Kraft der Tiefen bildete sich die Scheide Rhiannon um Excalibur. Sie heilt die Klinge und ihren Träger. Sie vervoll 226 kommnet sie. Und so haben die kalten Tiefen dieses Flusses deine Seele wiederhergestellt, die von der Roten Frau geraubt worden war.« Nyneve lachte in den Wassern. »Du musst wirklich lernen, mit welchen Frauen du ringen kannst und mit welchen nicht.« »Zeige dich, Nyneve«, sagte Merlin. »Ich möchte dich sehen.« Die glasige Wasseroberfläche wölbte sich wie in einer stehenden Welle. Dann nahm sie darin Gestalt an. Geschmeidige Beine, schimmernde Gewänder, ein silberner Flechtgürtel, ein mit Lapislázuli eingelegter Stirnreif und darunter ihr junges, strahlend schönes Gesicht. »Komm zu mir«, bat Merlin. Noch als seine Hand sie zu sich winkte, veränderte sich ihr Aussehen. Die lederige, faltige Haut wurde weich und glatt, die knotig vortretenden Knöchel wieder schlank und jung. Die Verwandlung ging durch seine Arme, verjüngte Knochen, Sehnen und Muskeln. Das weiße Haupthaar und der lange Bart verkürzten und färbten sich, Falten und Runzeln verschwanden, die eingesunkene Blässe des Alters erblühte in rosiger Gesundheit. Er war wieder jung.
»Siehst du?«, sagte Nyneve, die auf dem Wasser näher kam. »Du bist jetzt bloß ein heranwachsender Junge.« Er nahm sie bei der Hand, als sie das Ufer erreichte, und zog sie zu sich nieder. Dann küsste er sie dankbar und nicht ohne Verlangen. Lot war ein unvergleichlicher Schwertfechter. Er handhabte sein Langschwert mit unermüdlicher Schnelligkeit und Geschicklichkeit und kam immer wieder mit Treffern in Schulter, Hüfte und Flanke durch. Artus wankte. Er hatte viel Blut verloren. Zwar kämpfte sich seine Truppe vorwärts und drängte Lots Armee zurück, aber alles würde umsonst sein, wenn dieser Mann ihn tötete. Erschöpft, die Hand am Schwertgriff schlüpfrig vom eigenen Blut, führte Artus über den Kopf ausholend einen weiteren Schlag, der einen geringeren Gegner getötet hätte. 227 Lot war durch das weite Ausholen und den durch Artus' Erschöpfung verlangsamten Bewegungsablauf frühzeitig gewarnt und trat bloß beiseite. Als Excalibur sich in den Boden bohrte, rammte er sein Schwert in einem Aufwärtsstoß durch Artus' Panzerhemd und ihm in den Leib. Artus taumelte zurück, versuchte von Lots Schwert freizukommen, aber der Mann stieß es nur noch tiefer. »Du kannst nicht gewinnen, Artus«, grollte Lot. »Du bist schon fast tot.« Artus umklammerte die Schwertklinge seines Gegners mit dem Panzerhandschuh, um nicht vollständig durchbohrt zu werden. »Wenn ich nicht siege«, keuchte er, »wird das Land weiter ausbluten und zugrunde gehen — wie es ihm seit dem Tode meines Vaters ergeht ... wie es mir jetzt ergeht.« »Dann geht es zugrunde!«, sagte Lot. Er biss die Zähne zusammen und stieß brutal nach. Das Schwert bohrte sich tiefer in Artus' Leib. Die Augen weit aufgerissen und blutunterlaufen, brach Artus in die Knie. Sein Gesicht wurde weiß, und mit einem Ausdruck von Verblüffung starrte er seinen Gegner an. »Ich sollte nicht sterben ...« Ein mitleidiger Schimmer verdrängte den wütenden Hass in Lots Augen. »Wir alle müssen sterben, Artus. Das ist uns vom Schicksal so bestimmt.« »Nein!«, rief Artus in verzweifelter Auflehnung. Er ließ die blutige Klinge los, die ihn aufspießte, ergriff mit beiden Händen Excalibur und holte aus. Mehr durch sein Eigengewicht als die erlahmende Kraft, die es führte, sauste Excalibur herab. Lot wich einen Schritt zurück. Adamantin traf auf Stahl und durchschnitt Lots Schwert unmittelbar an der Parierstange, wie wenn es aus morschem Holz gewesen wäre. Lot wankte zurück. Wäre er nicht ausgewichen, hätte die Götter tötende Klinge ihm den rechten Arm abhauen können, doch stattdessen hatte sie nur sein Schwert durchschlagen. 227 Artus zog die blutige Klinge aus seinem Bauch. Ein frischer Blutschwall folgte ihr. Er ließ die Klinge fallen und biss sich auf die entfärbte Lippe. Dann erhob er sich — Sohn Uthers und König von Britannien — wankend aus der Lache seines eigenen entfliehenden Lebens. Lot starrte den geisterhaft fahlen jungen König an, der gegen alle Erwartung wieder auf die Beine gekommen war, und sagte: »Hast du nicht die Vernunft zu sterben? Excalibur kann dich nicht heilen.« »Ein Schwert ... kann nicht einen König machen«, flüsterte Artus und wankte auf Lot zu. »Auch kann ein Schwert nicht ... einen Mann töten ... der König ist.«
Unter Aufbietung letzter Kräfte wankte Artus mit erhobenem Schwert auf seinen Gegner zu. Lot wich zurück, stolperte über ein getötetes Pferd und fiel. Er hob abwehrend einen Arm. »Du würdest einen unbewaffneten Mann erschlagen?« »Gib mir Rhiannon«, stöhnte Artus. »Nein«, sagte Lot. »Du wirst gleich tot sein, und dann werde ich auch Excalibur haben.« »Gib mir Rhiannon ...« »Nein«, sagte Lot. »Das werde ich nicht tun. Und solange ich die Scheide besitze, kannst du mich nicht töten.« »Ob du sie hast oder nicht, ich kann dich nicht töten«, erwiderte Artus. »Ich habe es gelobt. Aber indem du mir Rhiannon vorenthältst, kannst du mich töten.« Lot lachte heiser auf. »Ich habe die Scheide nicht einmal bei mir, Artus. Ich wollte nicht riskieren, diesen Schatz im Kampfgetümmel zu verlieren. Sie ist natürlich in der Nähe, sollte ich sie benötigen, verborgen und bewacht von Kriegern und Magie. Irgendwer hätte mich im Kampf erschlagen können. Du könntest es jetzt tun.« Die glänzende Klinge Excaliburs schwankte haltlos vor König Lots Gesicht. Dann sackte Artus neben ihm zusammen. Eine 228 Schulter am Pferdekadaver, lag er gekrümmt und halb sitzend, das Schwert in den kraftlosen Fingern. Lot setzte sich aufrecht, auch er an den Pferdekadaver gelehnt, und starrte Artus zweifelnd an. »Also wolltest du mich wirklich nicht töten?« »Nein«, erwiderte Artus. Lot lachte wieder — bitter und düster. Der Schlachtenlärm entfernte sich allmählich. Artus' Streitmacht schien den Angriff zurückgeschlagen zu haben und vorzudringen. Lot sagte: »Ich habe dich geschlagen und du hast mein Heer geschlagen. Deine Streitkräfte leben ohne König weiter und ich lebe ohne Streitkräfte weiter.« Artus konnte die Augen nicht mehr offen halten. »Dann nimm sie, Schwager. Britannien muss einen König haben. Das Töten muss ein Ende finden. Das Land muss geheilt werden. Nimm mein Heer und sei König von Britannien.« Lot schüttelte den Kopf. »Was für ein Mann bist du, Artus?« Artus' Augen starrten unter herabgesunkenen Lidern ins Leere. »Ich war ein guter Mann. Denk daran, Lot. Ich war ein guter Mann. Nun sag, dass du mein Heer übernehmen willst.« Lot seufzte. »Ich würde es nehmen, aber die Männer würden mich nicht nehmen. Nicht einmal, wenn ich Excalibur besäße. Sie werden mich erschlagen, vierteilen und meinen Kopf auf eine Lanze setzen - das weißt du.« Artus schloss die Augen. »Dann ist alles verloren. Wenn ich sterbe, stirbst auch du. Und wenn wir sterben, stirbt Britannien.« »Und wenn du lebst, lebe ich?« »Ich habe es geschworen«, sagte Artus. Ein neuer Ausdruck blickte aus Lots Augen. Er stand auf und betrachtete Artus. Es war, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ein Krieger würde ein Dummkopf sein, wenn er sich nicht auf das Blutstillen und Verbinden von Wunden verstünde.« Er machte sich an die Arbeit und riss Stoffstreifen von seinem eigenen, sauberen Wappenrock. »Du warst ein guter Mann, Artus, ja, und wenn ich dich noch etwas länger am Leben erhalten kann, hast du 228
es verdient. Wer weiß, vielleicht kannst du überleben und wirst noch ein großer König.« »Guinevere«, murmelte Artus wie im Delirium. »Merlin wird sie bringen. Sie kann mich heilen.« »Noch besser, ich werde die Scheide bringen lassen. Ihr magischer Schutz ist an mich gebunden — mein Helm wurde zum Leben spendenden magischen Kessel der Fülle.« »O nein, Lot«, sagte Morgan und schüttelte ihr schwarzes Haar über der blutgefüllten Hirnschale, die ihr als Kessel diente. »Ich werde Rhiannon nicht bringen. Nicht, um Artus zu heilen oder sie ihm zu übergeben.« Sie stieß einen langen Seufzer aus, der die geisterhaften Gestalten der heiligen Trinität erreichte. Sie hielten Rhiannon in der Schwebe — Jungfrau, Mutter und altes Weib — und bewachten sie. Gespeist aus dem Kessel der Fülle - der abgetrennten Hirnschale und dem Blut des Wächters -, war ihre Macht groß. »Du hast unsere Vereinbarung nicht gehalten, Lot«, sagte Morgan. »Du solltest Artus bekämpfen, bis der wahre König empfangen werden kann. Nun werde ich deine Scheide nehmen und einen anderen Kriegerkönig suchen. Er wird Artus nicht nur zurückhalten, bis mein Sohn bereit ist, den Thron zu besteigen, sondern er wird den König von Britannien erschlagen, damit mein Kind die Thronfolge antrete.« Damit griff Morgan durch die wirbelnden Geister der Trinität und umfasste Rhiannon. Mit derselben Bewegung trat sie vorsichtig in die Hirnschale ihres Wächters. Aus dem Blutopfer verdoppelten die Geister ihren wirbelnden Tanz. Sie umschlossen die Frau und die Scheide und trugen sie empor. Innerhalb von Augenblicken waren Morgan Le Fey und Rhiannon verschwunden. Nur die im Wind klatschenden Zeltwände und die blutige Schale blieben zurück. 229
11. Die Fundamente der Welt
Das Blut von Bedgrayne wurde vom Erdboden aufgesogen und kam in rotbraunen Schößlingen wieder ans Licht. Die Zeit wusch es nicht fort. Die Erde vergaß nicht. Die Zeit sammelte das Blut der Einzelnen im großen Kessel des Landes und formte es zum Blut von Nationen. Die Erde löschte die Toten nicht aus, sondern bekleidete ihre Steinpyramiden und Stelen mit weichen Decken aus Moos. Die Männer von Dumnonia und Lothian lagen Seite an Seite unter Steinen und Grün, nicht mehr Feinde, sondern Brüder. Jene dunkle, verzweifelte Stunde wurde zu den Geburtswehen eines geeinten Britannien verklärt. Ein Jahr später und am anderen Ende des Landes war es offenkundig. Das Schlachtfeld von Bedgrayne ging ein in die Schatten der Erinnerung, überstrahlt von den sonnigen Gefilden Cadburys. Artus ritt an der Spitze der königlichen Prozession. Der rote Drache von Wales, Wappen der Pendragon, zierte seinen Überwurf. Standarten flankierten ihn zu beiden Seiten. Er war ausgestattet mit seinen Krönungsinsignien, einem Zepter, einem goldenen Halsring, einer Krone auf dem jugendlichen Kopf und natürlich Excalibur auf dem Rücken. Seide und weiche Wolle verbargen die Narben von Bedgrayne, und in seiner Haltung lag keine Andeutung von Schmerz oder Furcht. Für Artus war dies ein Ruhmestag. Guinevere ritt neben ihm. Sie verkörperte die wirkliche Macht seines Thrones. Sie hatte die tödlichen Wunden geheilt, die er in der Schlacht von Bedgrayne empfangen hatte, wie sie ihn und den Zauberer Merlin früher schon gerettet hatte. Artus liebte sie, so viel war klar, aber das Volk liebte Guinevere noch mehr. Es hatte Gerede von einer Feenhochzeit
gegeben, von zwielichtigen Geschäften zwischen Merlin und dem Germanengott Loki, doch weder von Guinevere noch von Artus gab es eine Bestätigung. Es wurde keine gebraucht. Ganz Britannien spürte, dass diese zwei gemeinsam regieren würden. 230 Hinter ihnen ritt das adlige Gefolge. Ulfius und Brastias trugen jeder eine Pendragon-Standarte. Ector und Kay flankierten sie und Gryfflet und Lucas ritten hinter ihnen. Sogar die Söhne Lots hatten sich dem königlichen Gefolge angeschlossen. Es waren Gath und Gaheris, Agravain und Gavain, tapfere Krieger und ehrliche Männer. In ihrer Mitte sprang der unermüdliche Hofnarr Dagonet herum: »Ein großer König, so wohlbekannt, Dass er aus jeder Stadt verbannt, Ritt auf den Berg und baute dort, Sich selber einen neuen Ort. Wer wird ihn nun von dort vertreiben? Denn wie es scheint, will er dort bleiben.« an und Bors, die hinter dem Narren ritten, hatten die Neuigkeit, ' 's sie sich mit dem falschen König Artus verbündet hatten, gut aufgenommen. Der echte König hatte die Versprechungen seines Vorgängers eingehalten, und nun herrschte zu beiden Seiten des als Friede. Nach Ban und Bors kam eine große Versammlung von Kleinkönigen und Adligen aus allen Teilen des Landes. Der Bedeutendste von allen war König Lot von Lothian. Sein Wappenrock it den rotweißschwarzen Farben trug jetzt über seinem eigenen rappen den Pendragon. Unter diesem Zeichen war das Land geeilt. Wenn das Blut von Bedgrayne die Erde bereichert hatte und e Toten zu Brüdern ihrer Feinde geworden waren, so war es die-r eine Mann, der allen demonstrierte, dass auch die Lebenden Frieden finden konnten. Er und die meisten seiner Verbündeten hatten Artus den Treueid geleistet - alle bis auf Aelle von Sussex, dem Sachsenkönig. Ehrenabteilungen der Armee Britanniens begleiteten die Prosion. Pikeniere und Reiterei flankierten den Zug und beschütz-n den König, seinen Hof und die Throninsignien. Andere
230
Krieger zu Pferde beschlossen den Zug und führten gleichzeitig die Reihe der nachfolgenden Lastfuhrwerke an, die mit Vierergespannen die großen Ecksteine von Artus' neuer Stadt Camelot beförderten. Solch eine Prozession, begleitet von Pfeifern und Trommlern und Dudelsackspielern, musste die in der Nähe des Weges lebenden Landbewohner anlocken. Eine große Menge lief zusammen, die Prozession zu sehen, und viele begleiteten sie ein Stück des Weges. Bauern, Frauen, Kinder, Kesselflicker, Landstreicher und Idioten - alle wollten sehen, welche prachtvolle Prozession den König von Britannien in diese einsame ländliche Gegend brachte. Viele in der Menge bemerkten die erstaunlich dünne rote Wand, die das hügelige Land durchschnitt und zur Straße hinabführte. Diejenigen im Zug, die auf der Ley-Linie durch den Wald von Bedgrayne gezogen waren, hatten den Anblick so wenig vergessen wie das übernatürliche Gefühl, das mit dem Beschreiten dieses Weges verbunden war. In der Erwartung sträubten sich ihre Nackenhaare.
Sogar durch die schimmernde Luft des sonnigen Morgens waren auf der roten Linie undeutliche Gestalten zu erkennen. Einige schienen menschlich und kamen wie in einer Parade marschiert, doch zu ihren Seiten und vor ihnen bewegten sich andere Lebewesen Wölfe, Marder, Hirsche, Hunde -, und über ihnen Dutzende von Falken und Raben. Und um sie her wirbelten Wolken von winzigen Geschöpfen, die in der Luft glitzerten. Es gab auch seltsamere Gestalten - wandernde Bäume, Oger mit gebeugten Schultern, gelbäugige Fuchsmenschen und ein Titan, neben dem sich sogar die marschierenden Eichen wie Sträucher ausnahmen. Die Fußsoldaten reckten die Hälse, um an den Reitern vorbeizuspähen. Jeder fragte sich, was geschehen würde, wenn der Prozessionszug der Sterblichen die Parade der Unsterblichen schnitt. Artus und Guinevere ritten ihre Pferde in den Vorhang roten Lichts. Plötzlich erschien Merlin neben ihnen, auf einem großen 231 weißen Hirsch sitzend. Artus zügelte sein Pferd nicht, und der Magier lenkte sein zauberisches Reittier neben ihn. So ritten sie in gemächlichem Trab Seite an Seite weiter. »Sei gegrüßt, Großvater.« »Sei gegrüßt, König Artus. Es ist ein schöner Morgen.« »Vollkommen für die Geburt unserer neuen Stadt.« Eine andere Stimme erklang hinter ihnen, weich und einschmeichelnd wie das Geräusch von Wasser. »Dies also sind die Freunde, von denen du mir erzählt hast, Merlin?« Merlin wandte den Kopf und nickte der Frau zu, die hinter ihm einen Hirsch ritt. Er zeigte hinter Artus. »Liebe Brigid, dies ist Ulfius, und dies Brastias. Hier sind Ector, Kay, Gryfflet, Lucas, Gavain, Gaheris, Agravain, Gareth, König Ban und König Bors ... Edle Herren, dies ist Brigid, Göttin von Avalon und Herrin der Nebel.« Gemurmelte Antwort kam aus den Reihen des verblüfften Gefolges. Nur Ban konnte sich zu einer Erwiderung ermannen. »Ihr gleicht sehr einer Heiligen, die ich in Iona dargestellt sah — und ihr Name war auch Brigid.« Ein wissendes Lächeln wanderte über das schimmernde Antlitz der Göttin. Sie hob eine Hand und zog einen Korallenkamm aus ihrem Haar. »Vielleicht eine Schwester -« Für weiteren Austausch war keine Zeit. Mehr Feenvolk kam von der roten Ley-Linie und gesellte sich zu der Prozession der Sterblichen. Das Feenvolk war da und auch wieder nicht - bei Tageslicht wirkten ihre Gestalten niemals ganz fest und schimmerten wie Luftspiegelungen. Es war leichter, die Feenleute aus den Augenwinkeln zu sehen. Schaute man sie gezielt an, waren sie nicht zu sehen. Nyneve war da, lieblich in einem Gewand aus Wasserlilien. Ein finsterer roter Krieger folgte ihr, und ein Wesen, das keinen wirklichen Körper besaß, sondern ein belebter und stets veränderlicher Schatten zu sein schien. Ein Rudel Seelie-Hunde kam, langbeinig und mit Fellen, die wie Quecksilber schimmerten. Ihnen 231 folgte ein sehr anderer Haufen - Kobolde. Nicht größer als Pilze und von blasser Hautfarbe, übersprangen sie einander in einem ständigen, massenhaften Spiel von Bocksprüngen. Obwohl dem winzigen Völkchen nahe verwandt, kam als nächstes Lebewesen ein gebeugter und schlurfender Berg von einem Ding, ein altes Riesenweib, halb versteckt unter einer fettigen, zotteligen Masse grauen Haares. Alle miteinander - die Pferde von Epona, die großen Schlangen, die blattgesichtigen grünen Männer, die ernsten
Blaukappen, streitende Rotmützen, die Wichtel, Elfen und Geister — schlossen sich der Prozession an. Jeder Neuankömmling bot Anlass zu einer weiteren Welle von Verblüffung oder Furcht. Die Könige waren damit beschäftigt, jeden aus ihrem Gefolge zurechtzuweisen, der es wagen würde, die Abgesandten der Anderwelt zu beleidigen. Aber sogar die Könige konnten ihr Staunen nicht verbergen, mussten sich angesichts der halb gesehenen, flüchtigen Erscheinungen die Augen reiben und zwinkern. Das Feenvolk war in großer Zahl zur Mittagszeit erschienen, und obendrein ein halbes Jahr vor Samhain, wenn sie, wie man wusste, in der Oberwelt der Sterblichen umgingen. »Sie sind Freunde unseres Königs«, flüsterten sich die Krieger nervös zu. »Sie sind unsere Verbündeten.« Selbst das war nicht sehr beruhigend, als der erste Titan erschien. Wie ein Berg, der sich aus dünner Luft herausschält, nahm die Riesengestalt plötzlich Form und Substanz an. Seine Füße waren so groß wie sächsische Drachenschiffe und in Ledersandalen gebunden, deren Material von einem unvorstellbar großen Tier stammen musste. Seine Beine waren dicker als die ältesten Eichen in Britannien, seine Lenden unzureichend in eine halbe Meile zerfetzter Wolle gekleidet. Rumpf und Rücken waren so hoch, dass sie im hellen Himmel zu verschwimmen schienen, und in den gigantischen Armen hielt er einen Felsblock von zwanzig Klaftern Höhe und zehn Klaftern Breite. Als er mit einem dieser ungeheuren Füße auftrat, erzitterte die Straße. Pferde scheuten, Männer wichen zurück. 232 »Freunde unseres Königs. Unsere Verbündeten.« Der Titan hielt inne und blickte herab auf die Sterblichen. Seine Augen waren von einem rauchigen Grau - und wirkten unendlich müde, unendlich traurig. Er wandte sich ab und stapfte weiter. »Er scheint ziemlich harmlos zu sein —« Und dann erschien ein weiterer Titan, und ein Dritter, ein Vierter. Jeder trug einen enormen Felsblock aus der Anderwelt herauf. Bevor die Menge der Sterblichen auseinander laufen und die Flucht ergreifen konnte, kam von vorn eine gebieterische Stimme, verstärkt durch Merlins Zauber. »Willkommen, meine Freunde! Kommt und versammelt euch hier neben der neu gegründeten Stadt Camelot.« Die Menge blickte auf und sah Artus von der Kuppe eines nahen Hügels absteigen. Guinevere war bei ihm. Sie hielt seine Hand in einer Geste, die zugleich zärtlich und ermächtigend wirkte. Das königliche Gefolge saß ab und ließ die Pferde weiden. Würdenträger erstiegen die Kuppe des Hügels und nahmen um den König und die Priesterin Aufstellung. Unter ihnen waren Naturgötter und Göttinnen, Heilige und Geister, Wölfe und Tauben. Wieder nahm Artus das Wort. »Kommt und versammelt euch. Alle sind willkommen, Christen und Heiden, Sterbliche und Unsterbliche, Briten und Pikten, Kaledonier und Juten, Könige, Adlige, Freie, Leibeigene und Sklaven. Dies ist eure Stadt - nicht die Stadt Artus', sondern die Britanniens.« Diese Worte schienen die Menschenmenge zu ermutigen. Für die Krieger waren sie Befehl, für das Gesindel das Versprechen von Privilegien. Doch unter dem Feenvolk erzeugten diese Worte nur Furcht. Jeder Sterbliche, der Herrschaft über die Anderwelt beanspruchen würde, war eine Gefahr ...
Brigid sprach zu ihnen. All jene, die zu ihr kamen, hörten sie in ihren eigenen Sprachen reden. »Ihr großen und alten Titanen aus 233 der Welt vor uns, kommt näher. Ihr habt Steine aus dieser Welt gebracht, aus den Fundamenten unserer eigenen Welt. Ich habe euch darum gebeten und ihr habt es getan. Artus hat euch darum gebeten. Große Steine sollen als Schwellen für die Tore dieser Stadt gelegt werden. Mit diesen Steinen werdet ihr immer in der Stadt Camelot willkommen sein. Dieses Stück Land hier zwischen den Hügeln von Cadbury soll eine Stadt zwischen der Welt und der Anderwelt sein. In ihren Mauern werden Sterbliche und Unsterbliche in Frieden miteinander leben.« Ermutigt durch ihre Ansprache, stampften die riesigen Titanen schwerfällig den Hang hinauf. Sobald sie das große Gipfelplateau erreichten, dirigierte Brigid sie zu den Ecken der Gipfelfläche. Dort hoben die Titanen ihre massiven Felsblöcke in die Höhe. So schrecklich die Titanen ausgesehen hatten, als sie unter dem Gewicht der Megalithen gebeugt waren, jetzt wirkten sie noch furchtbarer. Ihre Fingerknöchel schienen die Wolkenunterseiten zu berühren. Jeder der Felsblöcke, die sie in die Höhe stemmten, hätte die gesamte menschliche Versammlung zu ihren Füßen zerschmettern können. Und genau dies schien die Absicht der Riesen zu sein. Mit einem Geheul, das wie ein Orkan über die Erde hinfuhr, schleuderten die sieben Titanen ihre Felsblöcke zu Boden. Jeder traf den Boden mit einer mächtigen Erschütterung. Die Menschen schrien, wandten sich zur Flucht, fielen übereinander. Sieben mächtige Säulen aus Staub erhoben sich, hüllten die Titanen ein. Für mehrere Augenblicke blieben sie verborgen. Die Sterblichen lagen reglos hingestreckt oder kauerten im Gras, starrten auf zu den allmählich zerfließenden Staubwolken, als sähen sie den Weltuntergang. Aber dann zitterte die Erde nicht mehr, eine Brise wanderte unschuldig über das Gipfelplateau und zog die Staubwolken mit sich. Die Titanen wurden enthüllt. Sie glichen erhabenen Statuen. Staub hatte sich auf ihren Schultern, Köpfen und Augenbrauen niedergelassen und verlieh ihnen ein bedrohliches Aussehen. Die 233 Felsblöcke, die sie zu Boden geschleudert hatten, lagen fest eingebettet in der Erde zu ihren Füßen. Ihre leeren Hände schienen im Begriff, Sterbliche zusammenzukehren und wie Ungeziefer zu zerdrücken. Das war beinahe das Ende von Camelot. Ein Blick auf diese ungeheuren, finsteren Monster, die in der neuen Stadt zu jeder Stunde willkommen sein sollten, zerbrach beinahe den Willen der Menschen, dieses Vorhaben auszufuhren. Artus und Brigid fehlten die Worte. Selbst Merlin wusste nicht, was er sagen sollte. Einer der Titanen musste niesen. Der plötzliche Luftstoß blies in beinahe lächerlicher Weise den Staub von der ungeheuren Gestalt. Die massigen Schultern zuckten, die säulenartigen Beine schwankten ein wenig, und der Titan zog einen riesenhaften Arm unter der Nase durch. Er blinzelte durch den Staub. Artus lachte als Erster. Die Heiterkeit breitete sich von ihm auf sein Gefolge aus, zu Brigid und Nyneve und Merlin. Brastias prustete los, und Kay, Ector und Ulfius stimmten mit ein. Das fröhliche Geräusch verbreitete sich weiter unter den Menschen, die ängstlich am Hang kauerten oder ins Gras gekrallt lagen. Sie beruhigten sich und begannen ihrerseits zu
lachen, und binnen kurzem war die allgemeine erleichterte Heiterkeit lauter als das Angstgeschrei während des Erdbebens. Der Titan blickte hinaus über dieses seltsame Gebaren und wischte sich noch einmal die Nase. Er sagte etwas in der vorzeitlichen Sprache seiner Rasse. Vielleicht war es ein Fluch, vielleicht ein feierliches Gelübde. Es konnte alles gewesen sein, doch den kleinen Menschen unten schien es, als hätte er deutlich gesagt: »Du meine Güte.« Die Heiterkeit verstärkte sich. Artus hielt sich den Magen, Brastias wischte sich Tränen aus den Augen. Nur Dagonet lachte nicht. Der Zwerg starrte verdrießlich zu dem Riesen auf, der diesen unvergleichlichen Lacherfolg erzielt hatte. Er stemmte die Hände in die Hüften und stampfte mit dem Fuß auf, als könnte er der allgemeinen Heiterkeit damit ein Ende bereiten. 234
12. Von Städten und Tempeln
Von da an fiel es den Titanen schwer, die Sterblichen in Schach zu halten. Die Leute drängten nahe an sie heran, viele wollten sie berühren. Sie waren wie Menschen, die in einen Läuseschwarm geraten sind. Ein paar wagemutige Gaukler, Marktschreier und Taschenspieler erkletterten sogar die Füße der Titanen, um sich die Aufmerksamkeit der Menge zu sichern. Dagonet war einer von ihnen und tat sich mit einem improvisierten Lied hervor: »Auf des Titanen breitem Zeh Singe ich euch von Freud und Weh Artus' Schwert und seine Scheide, Brigid ihm schenkte alle beide. Doch ach, die Scheide ging verloren, Ein andrer hatte sie erkoren. Nun ist sie hin, kein Schutz ist mehr, Und Brigids Schatztruhe ist leer.« Artus und Brigid ließen die frechen Verse unbeachtet, doch der Ärger kam, als der Titan den Fuß bewegte, auf dem Dagonet tanzte. Sein Publikum rannte mit Schreckensgeschrei davon, er selbst fiel vom Zeh des Riesen und musste sich eilig in Sicherheit bringen. Brigid wäre über die Respektlosigkeit des Zwerges vielleicht ungehalten gewesen, sie hatte jedoch Wichtigeres zu tun. Anlässlich der Stadtgründung hatte sie einen schön gearbeiteten und mit Reliefs geschmückten Bronzekessel mitgebracht und in die Mitte der Grasfläche des Plateaus gestellt. Najaden hatten Krüge mit Wasser von Avalon herbeigeschafft und schütteten das Wasser jetzt in den Kessel. Ein kleines Loch im Boden des Kessels ließ dieses Wasser in die Erde sickern, wo es auf der Suche nach seinesgleichen tiefer sank. Durch Gräser und Humus, Sand, Lehm und Schiefergestein 234 fand das Wasser Anschluss an den Blutkreislauf der Erde. Mit der Zeit stieg Wasser, das so rein und heilig wie dasjenige Avalons war, wieder aufwärts und zurück in den Kessel. Er weitete sich und sank in den Boden, wuchs zu einem großen Springbrunnen, in dessen Mitte sich eine Gruppe von Bronzestatuen bildete, drei Frauen, die im Dreieck saßen, die Rücken aneinandergehalten. Eine hielt einen Säugling, die Zweite einen Laib Brot und die Dritte einen Korb, der von Früchten und Getreide überfloss. Das Wasser des Springbrunnens bildete im Zurückfallen eine Glocke aus Tropfen und Sprühnebel, die diese drei geheimnisvollen Gestalten einhüllte. »Dieser Springbrunnen bringt die Fülle Britanniens nach Camelot. Sein Wasser wird kalt und rein und reichlich fließen, solange am Hofe Artus' alles recht ist. Alle sind willkommen, hier zu trinken, zu baden, sich zu erfrischen.« Brigid stieg ins Becken und trat unter den Springbrunnen. Zwischen den Guten Feen, wie die Brunnenfiguren bereits genannt
wurden, sammelte die Göttin sechs Bronzebecher ein, einen neben jedem Fuß der drei Frauengestalten. Sie sammelte die Becher in einer Gewandfalte und trug sie aus dem Becken. Bevor der Tag zu Ende ging, wurde jeder dieser Becher zu einem weiteren, kleineren Springbrunnen, einem für jeden Bezirk der Stadt, wie sie und Merlin die Anlage geplant hatten. Bald begann Camelot wie eine Stadt auszusehen. Zelte für Arbeiter und Krieger entstanden in unmittelbarer Nachbarschaft. Schon wurden die massiven Ecksteine, die auf Fuhrwerken herangeschafft worden waren, auf die von den Titanen gelegten Fundamente gesetzt. Stündlich trafen weitere Blöcke ein. Arbeitstrupps hoben Gräben für die Fundamente der Stadtmauer aus. So begannen die Umfassungsmauern sichtbar Gestalt anzunehmen. Krieger und Arbeiter aus den benachbarten Zeltsiedlungen versorgten sich mit dem Wasser aus Brigids reichlich sprudelnden Springbrunnen. Manche sagten sogar, das Wasser zu ihren Mittagsmahlzeiten sei zu Milch geworden - und das Wasser für ihre Abendmahlzeiten zu Wein. 235 Der größte und belebteste Komplex von Zeltpavillons gehörte König Artus. Ein großes und buntes Zelt diente als Artus' Thronsaal. Es stand auf einem der von den Titanen abgeworfenen Felsblöcken und diente als Artus' Einladung an Abgesandte aus der Anderwelt. Sie wurden nicht nur durch die Stadttore zum Eintreten eingeladen, sondern durch dieses symbolische Zeichen auch in den Thronsaal des Königs. Auf der natürlichen Plattform, die der Felsblock geschaffen hatte, stand an einem Ende des Zeltes Artus' Thron. Es war ein eigens angefertigter, aus Stein gehauener Sitz, breit genug für zwei Personen. Die abendlichen Feierlichkeiten begannen mit einer von Artus und Guinevere angeführten Prozession in den Thronsaal. Tausende von Menschen drängten sich zu beiden Seiten des Zeltpavillons und den Wiesenflächen jenseits davon. Durch diese Menge zogen Artus und sein — sterbliches und unsterbliches - Gefolge. Der König war gekrönt, die Insignien seiner Herrschaft wurden ihm übergeben und ein Hermelinumhang um seine Schultern gelegt. Er ließ sich auf dem Thron nieder. Guinevere kam in einem weißen Gewand zu ihm. Das gedämpfte Gemurmel, das Artus' Thronbesteigung begleitet hatte, wurde bei Guineveres Erscheinen zu tiefer Stille. Ob gekrönt oder nicht, sie war bereits seine Königin. Auf ihren schmalen Schultern trug sie die Hoffnung und Liebe der Welt und der Anderwelt, verehrt von Menschen und Feen. Ihr Schritt war königlich. Erst als sie nach dem uralten Ritual seine Füße in den Schoß genommen hatte, endete die Stille in einer freudigen Ovation. Guinevere erhob sich und nahm neben dem König Platz. Nun erst nahmen in dem freigehaltenen Gang vor dem Thron die mythischen Götter und Heroen der Anderwelt Gestalt an. Der Vatergott Daghda, der Kriegsgott Oghma und Lugh, der Gott des Lichtes, führten die Abgesandten der Thuata De Danann. Sie und ihr Volk waren schlank, groß und von blassen Zügen. Als Geschenk brachten sie den missgestalteten, gigantischen 235 Kopf eines Fomorianers, von dem sie behaupteten, er gehöre dem Neffen Balors mit dem Bösen Blick.
Im singenden Tonfall seines Volkes sprach Daghda für sie alle: »Artus, sterblicher König der Briten, und Guinevere, Kind der Thuata De, wir geloben unser Bündnis mit euch, um in Frieden mit eurem Volk zu leben und im Krieg neben euch zu kämpfen. Die alten Mächte Eires und des westlichen Britannien sind Freunde des Thrones von Artus und Guinevere.« »Und wir und alle unsere Untertanen sind eure Freunde, großer Daghda«, gelobte Artus und verbeugte sich lächelnd auf seinem Thron. So wurden beiderseits Freundschaft und Verehrung gelobt. Die Heiligen Patrick und Germanus kamen und brachten Versprechungen von der Kirche und der Gemeinschaft der Heiligen. Mars Smertius und Cu Chulainn gelobten ihre Hilfe in allen kommenden Kämpfen. Araffen, Meister der Anderwelt, bot seine Hilfe bei der Suche nach Rhiannon an, desgleichen Pryderi, der wie Artus als Säugling von seinen Eltern getrennt worden war. Die Kimouli-Feen, Luftgeister und Dryaden, zogen in einer schönen, luftigen Promenade zum Thron. Während diese unirdische Gesellschaft das Pavillonzelt füllte, sagte Artus mit halblauter Stimme zu Guinevere: »Ich habe nachgedacht, meine Liebe.« Sie richtete ihren sanften Blick auf ihn und lächelte. »Ja, mein König?« »Nenne mich Artus. Ich möchte, dass wir einander in allen Dingen Gleiche seien.« Ein Hauch von Traurigkeit trübte das Lächeln in ihren Augen. »Ja, Artus.« »Du bist die Macht dieses Thrones. Ohne dich könnte ich nicht regieren. Ich würde es auch nicht wollen.« »Ja, Artus.« »Und doch geht es um mehr als Macht, Guinevere.« Höflich nickte er einem Bodachan zu, der einen Korb Aale gebracht und 236 zu den anderen Geschenken gelegt hatte. »Wenn ich meinen Fuß in deinen Schoß lege, erhalte ich nicht nur die Kraft des Landes, sondern auch deine. Ich möchte der tugendhafteste und gerechteste Mann sein, der ich überhaupt sein kann. Ich möchte deiner würdig sein.« Guinevere schlug den Blick nieder. »Wie kannst du daran denken, unwürdig zu sein?« »Ich würde lieber dein Gemahl und deiner würdig als König von Britannien sein«, sagte Artus. Guinevere stockte der Atem. Als eine Familie von Thuata auf den Thron zuschritt, hob sie den Blick. »Das kannst du nicht. Du musst Britannien regieren. Ohne dich wird es keinen Frieden geben.« »Frieden für jeden anderen«, sagte Artus, »aber ich werde ohne dich keinen Frieden haben.« Der König nickte allen Ankömmlingen freundlich zu, nahm die Huldigungen dankend an. Zu Guinevere sagte er: »Verstehst du nicht? Ich möchte, dass du mich heiratest.« Sie ließ sich mit der Antwort Zeit. »Wir sind einander versprochen, ich weiß. Es ist eine Vereinbarung, die schon bei meiner Geburt getroffen wurde. Doch ich kann nicht heiraten. Ich kann meine eigenen Wünsche nicht über die des Landes stellen.« Artus seufzte. »Es wird eine keusche Ehe sein. Du wirst Jungfrau bleiben. Ich werde dich nicht berühren. Nur — sei meine Frau.« Diesmal zögerte sie nicht mit ihrer Antwort. »Ich kann nicht.« Etwas plagte Artus. Merlin spürte es schon in dem Augenblick, als er sich vor dem jungen König verneigt hatte. »Jupiter-Merlin«, stellte er sich wie alle anderen vor, »jetzt und immer dein Diener.«
Artus starrte über die Köpfe hin zum Ausgang des Pavillonzeltes, wo die lange Schlange der Wartenden endete. Er hielt es kaum noch auf seinem Platz aus. Sein einziger Wunsch war, draußen in der kühlen tiefen Nacht zu sein und frei zu atmen. Sogar 237 Guinevere wirkte erschöpft. Sie hielt den Kopf gesenkt und schien kaum auf die Worte des alten Mannes zu achten. »Ein langer Weg hat zu diesem freudigen Augenblick geführt«, fuhr Merlin fort. »Danke, Merlin«, sagte Artus. Er entließ den alten Zauberer mit einer Handbewegung und winkte die nächsten Gratulanten näher. Merlin stand starr vor Verblüffung über diese Behandlung und vergaß den Weg zu öffnen. Zwei Baumdryaden schoben ihn zur Seite. »Du darfst die Schwestern des Waldes nicht verärgern«, sagte eine leise Stimme in Merlins Ohr. Nyneve. Ihr einschmeichelnder Ton war unverkennbar. Ihre Hände waren warm und seidig. »Und du musst mich nicht warten lassen.« »Mit Artus stimmt etwas nicht«, erwiderte Merlin. Die Frau zog ihn mit sanfter Gewalt herum und blickte ihm tief in die Augen. Merlin sagte: »Sieh ihn dir an. Er verhält sich, als wäre er besiegt und seine Stadt dem Erdboden gleichgemacht.« »In einer Weise ist es so«, sagte Nyneve. Sie wickelte Merlins Haar um ihren Finger. »Er hat sie gefragt, und sie hat nein gesagt.« »Sie gefragt?«, sagte Merlin. »Was gefragt?« »Komm mit«, sagte Nyneve. »Die Nacht ist kühl und tief und ich habe genug von öffentlichen Schaustellungen.« »Aber Artus —« »Artus wird morgen früh auch noch hier sein.« Nyneve legte dem alten Mann einen Arm um die Mitte und bugsierte ihn an der Reihe wartender Adliger vorbei zum Ausgang. Ein Rascheln von Zeltvorhängen — und sie standen draußen unter dem Sternhimmel. Nyneve zeigte zum hellsten Stern am mondlosen Himmel. »Artus wird hier sein, aber Jupiter nicht.« Merlin blickte zu dem hell strahlenden Planeten auf. Der Schauer einer süßen, traurigen Empfindung überlief ihn. In alter 237 Zeit schon hatte man diesen Planeten nach ihm benannt und so war er zum himmlischen Anker seiner Seele geworden. Inzwischen hatte er im Gefühl, wo der Planet zu jeder Stunde des Tages und der Nacht am Himmel stand. Und doch konnte er — wie jetzt, da er aus dem Zeltpavillon trat — immer wieder von seinem Anblick überrascht sein. »Wohin gehen wir?«, fragte er. »Irgendwo hin«, erwiderte Nyneve geheimnisvoll. Sie nahm ihn bei der Hand, und plötzlich flogen sie. Das Gefühl war anders als sonst. Merlin war oft geflogen, doch das Fliegen mittels eines Zaubers war Fortbewegung in einem prickelnden Kokon von Magie. Er war auch als Vogel geflogen, als Schwan mit mächtigen weißen Schwingen und langen, gleitenden Landungen. Flog man wie ein Vogel, so konnten die Windböen einen hart treffen, beinahe so, als bestünden sie aus festem Stoff. Dies war anders. Dies war wie schwebendes Dahintreiben. Die Nachtluft war kühl, aber sie zerrte nicht an ihm, noch versuchte die Schwerkraft ihn
hinabzuziehen. Nyneve und er bewegten sich mit der leichten Mühelosigkeit von Fischen im Wasser durch die Luft. Aus der Höhe glich das Land einem großen Bildteppich. Das Zeltlager von Camelot war bloß ein unregelmäßiger Fleck. Die Römerstraße war als eine schmale Linie zu erkennen, die unweit von Camelot gerade das Land durchzog. Sie stand mit kleinen, gewundenen Landstraßen in Verbindung und überquerte da und dort die mäandernden Flüsse und Bäche. Wiesen waren wie eingesetzte Flicken aus Stickerei, die alten Wälder undurchdringlicher Brokat. Weich, dunkel und tief, glitt Britannien unter ihnen vorbei. Nach wenigen Augenblicken verschwand Camelot hinter einem Höhenzug. »Was für eine Magie ist dies?«, fragte Merlin. »Wir treiben mit den Strömungen der Ley-Linie. Sie fließen wie Wasser, weißt du, und münden in Orte tiefer Magie.« »Darum fühlt sich alles so still an«, meinte er. 238 »Ja. Wir bewegen uns mit der magischen Strömung um uns — es ist wie das Dahintreiben im Wind.« »Und wohin führt diese magische Strömung?« »Hierher«, sagte Nyneve und zeigte abwärts. Der Ort war äußerlich wenig bemerkenswert. Er war ein sanfter Hang inmitten der Ebene von Salisbury. Die Hügel im Umkreis waren niedrige und unbedeutende Bodenwellen, die wenigen Waldstücke schmal und von Schafen und Ziegen verbissen. Landschaftlich konnte es nicht viel geben, was den Ort empfohlen hätte. Metaphysisch aber war es ein Ort, wo Kräfte zusammenflössen. In der dunklen Luft kreuzten sich hier nicht weniger als dreißig verschiedene Ley-Linien. Ihre dünnen Vorhänge trafen in der Mitte des Hanges aufeinander und bildeten einen roten, vielstrahligen Stern. Der Schein der Anderwelt konnte es sogar mit dem starren Auge Jupiters am Himmel aufnehmen. »Warum dieser Fleck? Was geschah hier, dass diese vielen Wege einander kreuzen?«, fragte Merlin. »Nur Geometrie. Es ist eine zufällige Kreuzung, denn sie liegt auf dem Weg von einem heiligen Ort zum anderen. Dies ist der Kreuzungspunkt von Energien, die von Kaledonien bis zur Bretagne und von Eire bis Essex reichen«, sagte Nyneve. »Würden wir hier den Göttern des Landes einen Tempel errichten, könnten wir sie zu diesem Ort ziehen und noch größere Kräfte zum Bau deiner Stadt entfalten.« Merlins Augen glommen im Widerschein des roten Lichts, als er zum Kreuzungspunkt der Ley-Linien hinabsank. Sein Haar sträubte sich. Sogar die Gräser am Hang waren nach den magischen Linien ausgerichtet. »Ein Pantheon«, sagte er. »Wir könnten den Göttern ein Pantheon bauen, wie das die Römer taten —« »Britische Gottheiten fürchten geschlossene Heiligtümer. Eichenhaine und heilige Steinkreise sind ihnen willkommener«, sagte Nyneve, als sie am Boden landeten. Merlin setzte seine Füße neben ihr auf. »Du kannst nicht einfach einen heiligen Hain pflanzen oder heilige Steine brechen —« 238 »Nein, aber in Eire kenne ich einen Ort, wo ein Henge ist, eine kreisförmige Steinsetzung umgestürzter Megalithen. Sie wurde vor Jahrtausenden von den Thuata De Danann angelegt und von den Kelten niedergerissen, als sie kamen. Sie liegt still, moosbedeckt, auf
gerade solch einer Ebene. Wenn wir die Steine hierher tragen, können wir das Henge wiedererrichten, und Artus kann seine Stadt bauen.« Das Licht von Merlins Augen hatte sein ganzes Wesen erfüllt. Die weißen Haarsträhnen des Alters zogen sich elastisch zu den kräftigen, gesunden Locken der Jugend zusammen. Magie glättete Runzeln zu jugendlich frischer Haut. Sogar sein Rücken wurde gerade und aufrecht. Er nahm Nyneves andere Hand und zog sie zu sich. »Du kennst die besten Flecken in den Wäldern, nicht wahr?« Der Lärm der Festlichkeiten drang von fern aus dem königlichen Zeltpavillon. Sogar hier, auf den Fundamenten der Stadtmauer, konnte Artus ihm nicht entgehen. Er bückte sich und warf Steinsplitter in das nächtliche Gras. »Sie will nicht«, grollte er und warf wieder einen Stein. »Sie sagte nein.« »Wer sagte nein?« Artus sprang erschrocken auf und wandte sich um. Vor ihm stand eine Frau. Ihre langen schwarzen Zöpfe waren über ihrem Mund miteinander verknotet. Sie war jung und schön. Ihre Haut wirkte bleich wie Knochen. Etwas unbestimmt Vertrautes war an ihr. Vielleicht hatte sie an der Huldigung teilgenommen. Er spürte, dass Magie am Werk war — irgendwie hatte die Frau die freien Flächen zwischen dem königlichen Zeltpavillon und dem Fundament der Stadtmauer überwunden, ohne seine Aufmerksamkeit zu wecken. Vielleicht war sie Thuata De Danann, wie seine eigene Guinevere. »Wer bist du?« »Ich bin eine Britin«, sagte die Frau mit leiser Stimme. »Und du 239 bist König von Britannien.« Sie bewegte sich geräuschlos auf Artus zu. »Ich wollte mit dir über dein Königreich sprechen.« Artus wandte sich wieder ab und setzte sich auf die Fundamentsteine. »Morgen. Morgen wird Zeit zum Sprechen sein.« Die Frau ließ sich neben ihm nieder. »Du denkst, du errichtest ein Königreich, wo alle Götter, alle Glaubensrichtungen willkommen sein werden. Ich weiß es. Aber du kannst ein solches Reich nicht mit einem Götter tötenden Schwert errichten.« Artus griff unwillkürlich nach Excalibur, fand das Schwert an seinem Platz auf dem Rücken. »Was weißt du von dem Schwert?« »Ich weiß, dass es das Instrument des Christengottes ist.« Sie erschauerte, ob vor Kälte oder Furcht, war ihm nicht klar. »Und der Christengott duldet keine anderen. Er wird alle Götter töten — sogar deinen geliebten Merlin, wenn Wotan ihn nicht vorher tötet.« »Ich bin derjenige, der das Schwert handhabt«, sagte Artus. »Ich bestimme, wen es erschlägt.« »Du verstehst nicht. Christus ist ein geistiger Caesar. Er erobert. Er macht die Bürger anderer Reiche zu seinen eigenen. Ihristus wurde in einem Land geboren, das Caesar seinem Volk genommen hatte, und nun hat Christus den Nachfolgern Caesars Rom genommen. Wohin er geht, geht er als Eroberer.« Artus winkte ab. »Ich bin nicht in der Stimmung, über Theologie zu diskutieren.« »Ich weiß«, sagte die Frau und legte ihm einen Arm um die Mitte. »Ich weiß. Du trauerst um deine Fußhalterin. Deine ... jungfräuliche Fußhalterin.« Sie lachte leise.
»Was?« Artus rückte von ihr ab, plötzlich zornig. Erst als er sich ihr zuwandte, sah er, wie wahrhaft schön die Frau war - elfenhaft und berückend. Ihre Lippen waren voll und rot, ihre Augen groß und tief wie die Nacht. »Was weißt du davon?« »Ich weiß«, antwortete sie, »dass es für einen König andere Mittel gibt, die Macht des Landes in seinen Dienst zu stellen. Es gibt andere Priesterinnen, die nicht von einem Keuschheitsgelübde betet sind.« Wieder glitt ihre kleine warme Hand um seine Mitte. 240 Artus entzog sich ihr nicht. Ihre Finger waren heiß. Zorn und Verlangen vermischten sich lähmend. »Ein König kann sich nicht leisten, sich irgendeiner Machtquelle zu verschließen«, sagte sie und legte auch den anderen Arm um ihn. »Irgendeiner Verbindung mit dem Land ...« Auch ihre Lippen waren heiß. Die Priesterin war bezaubernd. Ihr Körper strahlte Magie aus. Jede Berührung war erfüllt von magischer Kraft. Solche Wonnen konnten nicht falsch sein - oder konnten nur falsch sein. Artus' Ekstase hinderte ihn zu erkennen, welches ... Oder zu erkennen, wer ... In der Tiefe der Nacht schlich Morgan Le Fey fort von ihrem Bruder. Leben erwachte bereits in ihr - und Tod in Artus.
13. Der dreiköpfige Gott
Der nächste Morgen dämmerte hell und kalt. Ungewohnter Raureif deckte das Gras. Er lag in knisternden Matten auf den Zeltdächern und tropfte kalt von den Verspannungen, als die Sonne aufging. Das Wetter war für den Frühsommer sehr ungewöhnlich. Ein Schatten schien sich über die neue Stadt zu legen. Selbst der junge König war an diesem Morgen von düsterer Stimmung bedrückt. Er war mit der Sonne aufgestanden, wie es sich für den Monarchen einer aufsteigenden Nation geziemte, seine Lebensgeister aber waren im Bett geblieben. Die Hände auf dem Rücken, den Blick niedergeschlagen, so schritt er allein die Fundamente der Stadtmauern entlang. Wenn er einen der titanischen Blöcke erreichte, blieb er stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte hinaus über das sanfte Hügelland. Gräser, die in sommerlicher Fülle hoch gewachsen waren, beugten sich jetzt unter weißem Reif. Sie waren schön am frühen Morgen, 240 würden aber bald von nicht minder schönen Wassertropfen in der Sonne funkeln. Artus ging seinen Gefühlen nach. Er hatte das Schwert aus Amboss und Stein gezogen, hatte die eine Hälfte der Nation an sich gezogen und die andere Hälfte erobert. Er hatte diese neue Stadt geplant und gegründet und irdische und himmlische Herrscher empfangen. Um ihn her wurden seine Träume Wirklichkeit ... Aber ähnelten sie nicht dem zarten Gras, das zu grün und hoch gewachsen war, bevor die Verheißung des Sommers Wirklichkeit wurde? »Sie sagte nein«, murmelte er vor sich hin. Guinevere war der Fundamentstein. Sie war die Macht des Landes. All seine Träume waren nur luftige Visionen und Hirngespinste, solange sie nicht auf ihr ruhten. Aber sie war viel mehr als das, rein und mächtig, mutig, klug und schön ... Artus liebte sie. Er hätte Camelot und das Königreich und sogar Excalibur aufgegeben, wenn er sie hätte besitzen können. Aber nein. Er verfügte über die Insignien, die äußeren Zeichen der Majestät, aber ohne die innere Wahrheit.
Er setzte sich auf den Stein, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände. »Was soll ich tun?« »Es gibt viel zu tun«, sagte eine gütige Stimme neben ihm. Artus wandte den Kopf und sah Merlin in seinem zerlumpten Reiseumhang, das alte Gesicht in der Umrahmung des weißen Haares. »Der erste Wagenzug mit Holz wird noch am Vormittag eintreffen, und mit ihm die Zimmerleute. Und wenn sie eintreffen, können wir mit Protesten der Waldgeister und Dryaden rechnen. Ich habe eine Regelung ausgearbeitet, wonach wir das Fällen und den Abtransport von Bäumen unterlassen, wenn das Feenvolk des Waldes verspricht, die hölzernen Strukturen, die wir benötigen, an Ort und Stelle wachsen zu lassen.« Artus warf ihm ein Lächeln zu, dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Sie sagte nein, Großvater. Guinevere sagte nein.« 241 Ein wehmütiger Ausdruck trat in Merlins Züge. Er blickte hinaus über die reifbedeckten Wiesen. »Keuschheit ist die Wurzel ihrer Macht, Artus. Das musst du verstehen. Auch ich sagte letzte Nacht nein, und es kostete mich alle Willenskraft.« Er warf die Hände hoch. »Eine verdammt feine Frau.« »Ich bat sie, mich zu heiraten«, sagte Artus. »Eine keusche Ehe, sagte ich, damit ihr die Macht und die Kraft des Landes bleibe, aber wir könnten immer zusammen sein.« Wieder seufzte Merlin. »Dies alles ist mein und Lokis Werk -eine verrückte Regelung. Ihr wart einander von Geburt an versprochen, und die Ehe scheint unvermeidlich, aber es ist eine seltsame Art von Ehe, sich immer an eine Frau zu klammern, die du niemals haben kannst.« »Ja, seltsam, aber ich könnte zufrieden sein. Ich könnte mich damit zufrieden geben. Ich liebe sie, Merlin.« Artus stand auf und schritt zum Rand des Fundaments. »Unsere Keuschheit würde unsere Liebe nur reiner, höher machen.« »Keuschheit hat mehr als ein paar Mönche zerstört —« »Ich spreche von reiner Liebe, die nicht durch Lust erniedrigt ist!«, fuhr Artus mit Nachdruck fort. Es ist die Art von Liebe, die von allen bedeutenden Männern zu allen bedeutenden Frauen geübt werden sollte. Von allen Königen und edlen Kriegern -« »Das würde Krieger mit Sicherheit in eine mörderische Stimmung versetzen.« Ohne die Unterbrechung zu beachten, verfolgte Artus seinen Gedanken. »Die Krieger, die ich um mich habe, die Leute, die diese prächtige Stadt und das Königreich verteidigen werden, müssen einer höheren Ethik treu bleiben. Es sollte ein Ehrenkodex für berittene Krieger geben, keusch von ferne zu lieben, für Gerechtigkeit zu kämpfen, die Bedrückten zu retten, sich für die Schwachen einzusetzen, in Krieg und Liebe rein zu bleiben — das sollte der Ehrenkodex der Reiterei sein.« »Ritterlichkeit wäre ein besserer Begriff«, murmelte Merlin. Artus' Augen glänzten von seiner Vision. »Ja, Ritterlichkeit. Und 241 die Männer, die diesen hohen Grad der Ritterlichkeit erreichen, die diese keusche Liebe verkörpern, sollten einen besonderen Namen haben. Schließlich sind sie eine besondere Priesterschaft unter den Kriegern. Vielleicht sollte man sie Priester nennen —« »Wie wäre es stattdessen mit >Ritter«, sagte Merlin. »Es ist ein schon bekannter Begriff, aber er brauchte nur mit der Bedingung des Adels verknüpft zu werden. Als Adlige müssten Ritter ohnehin einen besonderen Ehrenkodex haben.«
»Ritter, ja«, sagte Artus ernst. Er nickte befriedigt. »Ritter der Ritterlichkeit.« Der junge König schüttelte den Kopf und machte eine fahrige Handbewegung, als wolle er quälende Gedanken vertreiben. »Was rede ich da! Mehr verrückte Phantasien, erhabener Wahn.« Er stampfte auf den Boden. »Es ist Guinevere, Merlin. Ohne sie werde ich mich verlieren. Es macht mich verrückt, von ihr getrennt zu sein. Es verleitet mich zu Torheiten.« Merlin lachte. Es klang beinahe wie ein Husten. »Was für Torheiten? Es macht, dass du am hellen Morgen an den Fundamenten entlangschleichst und über edle Ritter und Kriegerpriester schwafelst - ach ja, mein Junge, sehr töricht.« In Artus' Augen flammte es plötzlich auf. Der Rest seines Gesichts war der Sonne abgewandt und lag im Schatten. »Auch letzte Nacht schlich ich hier herum, nur war ich nicht allein. Da war eine heidnische Priesterin, nicht die Art, von der Guinevere ist — eine Priesterin der dunklen Mächte unter der Erde. Sie kam zu mir und bot mir eine andere Verbindung mit dem Land. Und ich nahm sie an.« Merlins Miene wurde ernst. »Du musst lernen, mit welchen Frauen du dich einlässt und mit welchen nicht —« Auf einmal verdrehte er die Augen, seine Knie knickten ein und er fiel in Ohnmacht. Artus fing ihn auf. »Was hast du, Großvater? Was ist passiert?« Merlin konnte nicht antworten. Er sank zusammen wie ein niedergelegtes Zelt. 242 O, Morgan, du bist auf der blutigen Flut zu einem weiten und fruchtbaren Land geschwommen. Jetzt steigst du auf. Blutiges Salzwasser rinnt von dir. Bald wirst du trocken sein und so reich tragen wie das Land, wo du wohnst. Du verwandelst dich. Der Same von Königen keimt in dir. Nicht länger Jungfrau, wirst du die Mutter. Warum hatte ich dies nicht vorausgesehen? Guinevere wird für immer die Jungfrau sein. Keuschheit ist ihre Macht. Aber du, du musst durch die dreieinige Göttin aufsteigen. Deine Macht umfasst Keuschheit und Fruchtbarkeit und Sterilität, alles. Du hast Artus zu einem sterblichen Gemahl der Göttlichkeit gemacht, hast die alte Magie von Königen und Göttinnen angerufen. Das Kind, das du trägst— er wird ein König der alten Art sein. Mordred wird sein Name lauten. Morgan, du bist auf der blutigen Flut zu einem weiten und fruchtbaren Land geschwommen. Dort trägst du einen König aus, der wieder auf dieser Flut segeln wird. . . der zurückkehren wird, u m seinen Vater zu erschlagen. »Großvater! Großvater! Wach auf.« Merlins Lider flatterten, er öffnete die Augen. In ihnen spiegelte sich der blaue Morgenhimmel. Tränen glänzten. »Ah, du bist zu dir gekommen.« Artus atmete erleichtert auf. »Du bist nicht mehr so zusammengebrochen, seit -« »Sie war deine Schwester, Artus —« »Wer war meine Schwester?« »Die Frau in der letzten Nacht. Sie war Morgan Le Fey. Sie war in Magie verkleidet, da du sie nicht erkennen solltest.« Artus erbleichte. »Nein. Es kann nicht sein —« »Du hast ein Übel gezeugt, das dich erschlagen könnte —« »Es kann nicht sein —« »Es kann nicht sein, und doch ist es!« Artus ließ trübe den Kopf hängen. »Dann werde ich umso mehr an dieser keuschen Liebe festhalten. Umso mehr werde ich Guinevere bitten, mich zu heiraten.« 242
»Ich habe mir deinen Vorschlag überlegt«, flüsterte Merlin in den Springbrunnen im Herzen von Camelot, »und meine Antwort ist ja.« Er zog den Kopf zurück aus der Glocke spielerisch plätschernden, sprühenden Wassers. Sein Bart tropfte ein wenig. Die Tropfen wurden verschluckt von der aufquellenden Flut, die aus den guten Feen hervorkam. Das Wasser sang leise, doch er hörte nicht die sinnliche Stimme, nach der er lauschte. »Komm jetzt, liebe Nyneve, ich weiß, dass du mich hörst. Ich weiß, dass du mich aus Flüssen und Seen und Teichen beobachtest, geradeso wie ich nach dir Ausschau halte. Ich weiß, dass du mich hörst«, sagte Merlin. Ringsum gingen Arbeiter hin und her und kümmerten sich wenig um den verrückten Alten am Springbrunnen. Er zog einen Finger über die glänzende Glocke des herabfallenden Wassers. Sein Bart geriet in die Strömung. »Ich sagte, meine Antwort ist ja.« Etwas zog am Ende seines Bartes. Eine beharrliche Hand ergriff ihn, sein Kopf tauchte ins Becken. Er fühlte einen Kuss, süß und leidenschaftlich, und hörte eine Stimme. »Dann wächst du heran und wirst vernünftig, Merlin«, sagte Nyneve. »Endlich kein Junge mehr, sondern ein Mann.« Die weit geöffneten Augen im sprudelnden Frühlingswasser, plapperte Merlin etwas. Blasen entströmten seinem Mund und der Nase. Die wässerige Hand gab ihn frei. Er zog den Kopf aus dem Wasser und starrte in den Springbrunnen. »Nicht diesen ... Vorschlag«, keuchte Merlin. Wasser schoss ihm aus der Nase, rann in Bächen über seinen zerfetzten Reiseumhang. Arbeiter blieben stehen, um das Schauspiel zu betrachten. Merlin stand triefend da und erkannte, dass er und Artus die gleichen Dummköpfe waren. Er beugte sich über den Beckenrand und senkte die Stimme. In der Wasseroberfläche bildete sich Nyneves Gesicht, schön und in steter Veränderung. 243 Kläglich sagte der alte Mann: »Ich meinte den Vorschlag, das Henge von Stein zu bauen, die Steinsetzung.« Eine wässerige Hand kam herauf und tätschelte ihm die Wange. »Du bist voll von Verzögerungen, Merlin. Ich fürchte, du wirst immer ein Kind bleiben.« Sie wickelte die Finger in seinen Bart und riss ihn in das Becken. Mit einem großen Aufklatschen wurde er vom Wasser verschlungen. Nyneve zog ihn hinab, unfassbar tief. »Dann ab nach Eire.« Zusammen wurden sie durch die kalten Adern der Erde geschwemmt. Diese Art der Fortbewegung war von einer buchstäblich mitreißenden Vitalität. Sie hatte nichts vom Dahintreiben in der warmen Strömung der Ley-Linie. In diesen unebenen, bald engeren und bald weiteren Passagen rauschte und tobte das Wasser und warf die Reisenden wie Treibholz hin und her. Viele Kanäle führten hinaus in Seen und Meere der Anderwelt, doch die Najade vermied sie und hielt den Kurs zur See von Eire. Dort, in den salzigen Tiefen, zog Nyneve ihren Begleiter vorbei an Pflanzen und Tieren des Meeresgrundes. Uber ihnen trieben phosphoreszierende Lebewesen - Meeresungeheuer und die Geister ertrunkener Seeleute. Sie erreichten Eire. Selbst unter der Erde wirkte das Land anders als Britannien - grüner und nasser. Die Wasseradern führten zu den Bereichen verkrüppelter Fomorianer und zu den unterirdischen Ufern der Thuata De Danann. Es war ein episches, uraltes Land. Bäche schmeckten nach Torf und dunklem Wasser, Felsen waren zu glasiger Glätte abgeschliffen.
Musik erfüllte sogar die Steine mit den Tönen und dem immerwährenden Gesang der Luftgeister. Merlin und Nyneve beendeten ihre Reise in einem grünen Wiesenbach unter einem weiten Moor. Zerlumpt, ramponiert und durchnässt stieg der alte Zauberer aus dem Bach. Fröstelnd stand er im Morgenlicht. Neben ihm nahm Nyneve Gestalt an. Eigentlich ein Geschöpf 244 des Wassers, wurde sie jetzt zu einer edlen Frauengestalt in einem langen grauen Gewand. Sie musterte ihn von oben bis unten. »Du kannst deine Erscheinung verändern, weißt du. Du könntest genauso gut trocken sein.« »Ich könnte auch jung sein«, sagte Merlin und wrang seine Ärmel aus, »wie du so oft vorgeschlagen hast. Aber ich bin so glücklicher.« Ein ausgedehntes Waldgebiet grenzte auf einer Seite das Moor ein. Auf der anderen erhob sich ein felsiger Rücken. Auf diesem flachen Rücken lagen die umgestürzten Megalithen, von denen Nyneve gesprochen hatte. Sie ähnelten den Gebeinen eines Riesen, dürftig gekleidet in Moos und vom Geist ferner Zeiten längst verlassen. »Dies ist das Henge, das unser Camelot bauen wird?«, fragte Merlin. »Umgestürzt, von Moos überzogen, vergessen?« »Steine wie diese werden durch die Zeit nur gestärkt«, sagte Nyneve. »Doch es gibt hier einen anderen Plünderer, mit dem wir rechnen müssen, wenn wir dieses Henge nehmen wollen.« Merlin hob den Kopf und seine Augen wurden schmal. »Ich spüre es auch - über der Erde ist ein anderer Geruch als darunter. Es ist ein neuer Geruch, von Metall und Menschen.« »Der Gott deines Schwertes hat dieses Land genommen, genauso wie Artus Britannien nahm. Es ist sein unduldsames Schwert, das du fuhrst. Seine Drohung ist noch neu in der Luft.« Nyneves Haltung wurde steif, als müsse sie gegen Furcht ankämpfen. »Der Christengott ist der Plünderer. Eines seiner Opfer hat zwischen diesen Steinen Wohnung genommen.« Merlin neigte den Kopf vor ihr, hob den Arm und zeigte zu dem niedrigen Felsrücken und den dort verstreuten Titanenknochen. »Geh voraus.« Sie stiegen weglos vom Bach zum Moor hinauf, und vom Moor zum felsigen Rücken. Als sie gingen, stieg die Sonne höher, und Merlins Kleider dampften auf Schultern und Rücken. Bald erreichten sie die Megalithen. Die Steine lagen durchei 244 nander und übereinander, bildeten teilweise dreieckige Höhlen. Aus einer dieser Höhlen drang unaufhörliches Geplapper — das Schwatzen eines im Wahnsinn verlorenen Mannes. »Das bringt Erinnerungen zurück«, sagte Merlin. »Er kann mächtig sein. Gefährlich.« Nyneve schüttelte ernst den Kopf. »Nein, weder mächtig noch gefährlich. Nur bemitleidenswert. Die Einheimischen meiden diesen Ort und Missionare betrachten ihn als eine Domäne des Teufels. Patrick selbst nannte ihn das Dolmentor zum Hades. Du siehst, das Geschöpf, das hier wohnt, ist ein dreiköpfiges Ding, wie Cerberus.« »Drei Köpfe, und jeder verrückt —«, sagte Merlin in trauriger Verblüffung. »Nein, tatsächlich ist jeder vernünftig. Nur zusammen ergeben sie einen Verrückten.« »Wie kamen sie zu solch einer qualvollen Existenz?«
»Vor dem Aufkommen des Christengottes waren diese drei Handwerkertitanen — einer ein Schmied, einer ein Schreiner und einer ein Steinschneider. Zusammen schufen sie phantastische Waffen. Der Schmiedetitan, Goibhniu, schmiedete eine große Speersitze, die ihr Ziel immer traf. Der Schreiner, Luchta, fertigte einen Lanzenschaft, der endlos fliegen würde, bis er sein Ziel erreichte. Der Steinschneider, Creidhne, schmückte die Waffe mit Einlegearbeiten in Gold und Silber und Diamanten, die die Waffe in die Hand ihres Eigentümers zurückbringen würden. Mit Waffen wie dieser trieben Lugh der Glänzende und die Thuata De Danann die Fomorianer hinab in die Anderwelt.« »Sie besiegten die niederen Dämonen nur, um selbst vom Christengott besiegt zu werden«, sagte Merlin. »Ja. Die Titanen waren damals eine Dreiheit, und diese Steine waren ihr Tempel, ihre geistige Werkstatt, mit Amboss, Werkbank, allem was sie brauchten. Ihr Tempel wurde zerstört, ihre Verehrer bekehrt, und sie stürzten, genauso wie du. Sie wurden sterblich. Goibhniu, Luchta und Creidhne teilen sich jetzt in ei 245 nen einzigen winzigen Körper, ein einziges Paar kleiner Hände. Sie streiten darüber, wer über den Körper verfügen sollte, aber keiner gibt den anderen nach. Infolgedessen verbringen sie die meisten ihrer Tage gelähmt und im Streit. Selbst wenn einer von ihnen die Herrschaft über den Körper erlangen kann, muss er sein Gewerbe ohne Werkzeug oder Materialien ausüben und dabei die ganze Zeit das Nörgeln und Schimpfen der anderen zwei hören. Sie können sich nicht einigen. Der Schmied will starke Hände, der Schreiner schwielige Hände, der Steinschneider feine Hände. Darin liegt der Wahnsinn.« Merlins Miene verdüsterte sich. »Je länger du sprichst, Nyneve, desto sicherer bin ich, dass dies ein Tor zum Hades ist.« »Komm«, sagte Nyneve. »Artus braucht gute Handwerker und Künstler für die Erbauung seiner Stadt.« Sie umgingen einen der mächtigen Findlinge und hatten die Quelle des Geplappers vor sich. Dort, hingekauert neben einem Haufen Laub, hockte ein winzig kleiner Mann. Auf seinen schmalen Schultern drängten sich drei Köpfe. Der Erste war schwarzhaarig und jung, das Gesicht glatt und mit kräftigen Zügen. Kleine weiße Narben zeigten, wo bei der Schmiedearbeit Funken seine Haut verbrannt hatten. Der mittlere Kopf war braunhaarig und von reiferen Jahren. Die Querfalten seiner Stirn erinnerten an Holzmaserung. Der Dritte war weißhaarig und schmal. Seine Augenwinkel waren vom angestrengten Blinzeln beim Schleifen von Edelsteinen zusammengekniffen. Die drei bemerkten die Neuankömmlinge nicht gleich, weil sie in ein Streitgespräch vertieft waren. »Wenn einer von euch die leiseste Vorstellung von Logik hätte«, sagte der weißhaarige Creidhne, »würdet ihr begreifen, dass wir kein Werkzeug kaufen können, wenn wir kein Geld haben —« »Du bist der Silberschmied«, grollte Goibhniu. »Mach etwas Geld!« »Ich kann kein Silber prägen, das ich nicht habe, und außerdem mache ich kein Geld, sondern Schmuck —« 245 »Aus diesem Grund«, warf Luchta ein, »sollte ich die Kontrolle über unseren Körper haben, bis wir Silber oder Eisen bekommen. Wir haben genug Holz. Wenn ich nur einen Tag hätte, könnte ich etwas anfertigen — einen Hocker oder einen kleinen Kasten, irgendetwas, das wir zum Markt tragen und verkaufen könnten.«
»Wenn du das geringste Feingefühl hättest, würdest du dich vielleicht erinnern, dass wir drei Köpfe haben und* dass Käufer misstrauisch gegen Hocker und Kästen sind, die von Männern mit drei Köpfen angefertigt werden —« »Ich werde über jeden von euch einen Beutel stülpen«, erklärte Goibhniu, »und von jedem, der schauen will, was darunter ist, eine Kupfermünze verlangen.« »Wenigstens kannst du ein Silberstück verlangen, weil ich dann etwas mit dem Silber anfangen könnte, obwohl wir nicht einmal einen Beutel haben, geschweige denn zwei -« Merlin trat näher. »Heil euch, gute Männer. Ich suche die Dienste eines Schmiedes und eines Schreiners und eines Juweliers. Bin ich zum rechten Ort gekommen?« »Ein Eindringling!«, grollte Goibhniu. »Ich werde ihm den Hals umdrehen!« »Und danach könntest du seine Taschen nach etwas Silber durchsuchen -« »Warte!«, platzte Luchta heraus. »Vielleicht braucht er einen Hocker oder einen Kasten.« Merlin stieg langsam über die liegenden Steine, dann schüttelte er bekümmert den Kopf. »Ich brauche nicht einen Hocker oder einen Kasten, sondern etwas in der Art eines großen, mit Juwelen geschmückten Palastes mit tausend eisernen Toren und handbehauenen Balkendecken. Jemand hat mir gesagt, dass die einzigen Künstler, die so etwas bauen können, hier zu finden wären.« »Jemand hat dich gut beraten!«, rief Goibhniu. »Es ist nicht wichtig, wie großartig der Auftrag ist, solange es für das Gold, das verarbeitet wird, auch Gold für die eigene Tasche gibt —« 246 »Wir haben Holz genug für Balkendecken und feine Möbel«, begeisterte sich Luchta. Merlin lächelte. »Ausgezeichnet. Und ich habe Gold genug, euch zu entlohnen.« Er schlug die Falten seines Reiseumhangs zurück und öffnete ihn nach außen wie ein Paar Flügel. Statt Gefieder schimmerte das Gewebe von Goldmünzen. Die Morgensonne glänzte auf dem Metall und warf ihren Widerschein in die Gesichter der drei vormaligen Titanen. Münder, die sich seit langem nur geöffnet hatten, um mit einem grausamen Schicksal zu hadern, klappten auf und blieben offen. Sogar ihre Mandeln leuchteten im goldenen Widerschein der Verheißung. Merlin schloss den Umhang wieder und sagte: »Natürlich werdet ihr zur Arbeitsstätte kommen müssen.« »Das taugt nicht«, erklärte Goibhniu. »Mein Amboss ist hier.« »Obgleich in schlechtem Zustand, ist auch meine Werkbank hier, und ohne sie kann ich nicht mit Gold oder Silber arbeiten -« »Ohne unseren Werkstattraum und unser Werkzeug würde es unmöglich sein.« Nyneve kam an Merlins Seite. »Ihr werdet alles erforderliche Werkzeug bekommen und wir können Amboss und Werkbank zur Arbeitsstätte schaffen. Wir werden sie reinigen und instand setzen und dort für euch aufstellen.« »Unmöglich«, erwiderte Goibhniu. »Ich kann mit diesen beiden nicht arbeiten.« »Ich muss zugeben, dass unsere begrenzte Zahl von Händen und die grenzenlose Zahl von Meinungsverschiedenheiten ein gutes Ergebnis unwahrscheinlich machen —« Luchta stimmte ihm zu: »Es ist sehr schwierig.« »Na«, sagte Merlin, »ich habe noch keinen Handwerksmeister gekannt, der jeden Tag mehr als acht Stunden arbeitete, und würde von euch auch nicht mehr verlangen. Wenn wir nach dem Rotationsprinzip vorgehen, kann jeder von euch Körper und Werkstatt acht Stunden lang für sich haben, während die anderen beiden ausruhen.«
247 »Und wenn zwei Hände euch nicht genügen, werden wir euch viele andere zur Verfügung stellen — Lehrlinge, wie sie jeder Handwerksmeister haben sollte«, fuhr Nyneve fort. »Jeder von euch wird hundert Hände anleiten können, darunter auch die Hände von Titanen.« Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert herrschte Stille zwischen den Steinen. Hoffnung und Furcht lagen auf den drei Gesichtern im Widerstreit. Ausnahmsweise hatten die drei gefallenen Titanen/Götter ihre Meinungsverschiedenheiten vergessen und ein Einvernehmen gefunden. Endlich brach Goibhniu das Schweigen und sprach für sie alle. »Ihr könnt diese Steine nicht bewegen.« »Sie wurden nie gehoben, außer von den Händen der Götter, und nur durch die Hände von Göttermördern wurden sie niedergerissen —« »Es scheint wirklich«, räumte Luchta ein, »dass wir ohne Flaschenzüge und eine Armee von Männern nichts bewirken können.« Nyneve lächelte wissend und machte eine sanft ausholende Handbewegung. Wassergeräusche drangen aus der dreieckigen Höhle, wo die drei ihren Unterschlupf hatten. Alle drei Köpfe wandten sich, und ihr gemeinsamer Körper wich misstrauisch von der Höhle zurück. Er tat es gerade zur rechten Zeit. Eine starke Quelle war unter einem der geneigten Megalithen entsprungen und schwemmte die Erde fort. Der gewaltige Findling knirschte massiv an den benachbarten Steinen und glitt abwärts. Dann fiel er mit dumpfem Schlag flach auf den Boden. Der dreiköpfige kleine Mann sprang zurück. »Wollt ihr uns umbringen?« »Eine einzige Frechheit, hierher zu kommen und unsere Unterkunft zu zerstören -« »Unsere Höhle! Du hast unser Haus zum Einsturz gebracht!« »Ich habe eure Unterkunft zerstört«, sagte Nyneve, »aber ich werde eure Werkstatt wiederherstellen.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als der gefallene Findling, 247 von einem Wasserschwall getragen, den Hang des felsigen Rückens hinabglitt, zum Moor und den Wasserlauf hinab. »Ich verlege Eure Werkstatt, Stein um Stein. Ihr könnt kommen und mit ihr wiederhergestellt werden, oder ihr könnt hier bleiben, wo ihr nicht einmal die Abfälle eures früheren Lebens habt, um darin zu hausen.« Anmutig bestieg sie einen weiteren umgestürzten Findling, der wie eine große Barke seinem Vorgänger hangabwärts folgte. Goibhniu, Luchta und Creidhne sahen mit bleichen, furchtsamen Gesichtern zu, wie ihnen das alte Leben des behaglichen Wahnsinns unwiederbringlich entglitt. Von Mitleid bewegt, trat Merlin auf die zitternde Gestalt zu und streckte die Hand aus. »Kommt mit uns. Kommt zurück ins Licht der Welt. Jupiter lädt euch ein. Nyneve lädt euch ein. Artus lädt euch ein.« Drei Augenpaare wandten sich von den Trümmern der alten Steinsetzung ab und Merlin zu. Dann, von drei verschiedenen Willen gemeinsam bewegt, streckte sich eine schmale Hand aus, um die Merlins zu ergreifen.
14. Die Schaffung einer Nation
Artus schritt die Fundamentgräben für seinen Palast ab. Viele Männer waren dort an der Arbeit, beugten die schwitzenden, mit brauner Erde gesprenkelten Rücken. Maultiergespanne fuhren das ausgehobene Erdreich in Fuhrwerken ab. Andere Gespanne brachten Fundamentsteine, die auf Holzrollen gezogen wurden. Am südlichen Ende des Fundamentgrabens trafen frische Arbeiter ein und machten sich ans Werk, während am Nordende andere ihre Zeit abgeleistet hatten und ihre Arbeitsplätze verließen. Ihre Schaufeln wurden von leichtfüßigen Jungen zurückgetragen und den Neuankömmlingen übergeben, so dass es kaum zu einer Unterbrechung der Arbeit kam. 248 Die abgelösten Arbeiter stiegen hinauf zum nahen Springbrunnen der guten Feen, um sich zu erfrischen und zu waschen. Das Wasser trug Erde und Schweiß davon. Der abgewaschene Lehm sickerte in die Erde und klares, reines Wasser sprudelte hervor und sorgte dafür, dass das Becken nicht verschlammte. Die Männer saßen um den Beckenrand, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und ruhten sich aus. Während sie saßen, richteten ihre Rücken sich allmählich auf, und ihre Augen schlossen wieder Bekanntschaft mit frischem Gras und blauem Himmel. Ihre Nasen witterten den Duft von Wildbret, das neben dem Küchenzelt an Spießen geröstet wurde. »Ganz anders als unter Uther«, murmelte Ulfius zu sich selbst. »Sogar die Knochenarbeit des Aushebens der Fundamentgräben hatte Artus menschenfreundlich organisiert. Es war ebenso Gemeinschaftsarbeit wie Ehrendienst.« Ulfius' Stimmung verdüsterte sich, als er auf das Blatt in seiner Hand sah - eine Liste von Artus' bevorzugten Kriegern. In dieser Liste hatte Artus' humane Organisation vielleicht die Ebene der Absurdität erreicht. >Kämpen<, die gelobten, nach einem Ehrenkodex von >Ritterlichkeit< zu leben ... Welcher Krieger würde seine Heimat verlassen, um in einer Burg zu sitzen und über Tugenden zu sprechen? Sicherlich nicht der Nächste auf der Liste. Ein blonder Haarschopf bewegte sich zwischen den Erdwällen. Muskulöse Schultern arbeiteten unter einem Überzug von Schweiß, Staub und Sonnenbräune, der die Erfrischung bringenden Wasserträgerinnen etwas häufiger zu ihm als zu den anderen führte. Ulfius stieg über Haufen lose aufgeworfener Erde. Als er neben Kay ankam, kauerte er nieder. »He, Kay.« Die Antwort war eine Schaufel voll Erde, die Ulfius' Wappenrock traf und über seine Liste prasselte. »O, Ulfius«, sagte Kay, richtete sich auf, stieß die Schaufel vor seinen Füßen in den Boden, stützte sich auf den Stiel und lächelte freundlich. »Was bringt einen wie dich zu den Gräben?« 248 »Artus schickt mich«, begann Ulfius. Kay schüttelte mit ironischem Lächeln den Kopf. »So bin ich auch hierher gekommen. Als ich einwilligte, Seneschall von Britannien zu sein, wusste ich nicht, dass das eigenhändiges Ausheben von Gräben bedeutet.« Ulfius hob eine von Blasen verunzierte Hand. »Ich habe meine Arbeit im Graben heute Morgen abgeleistet. Artus besitzt genug Voraussicht, um für die Frühschicht Leute einzuteilen, von denen nicht anzunehmen ist, dass sie verkatert sind.« Er zeigte in den Graben. »Mach nur weiter. Dein Hintermann holt auf.«
Kay warf einen Blick über die Schulter und bückte sich wieder über seine Schaufel. Während er arbeitete, sagte er: »Nun, was will Artus mir noch aufhalsen?« »Eine Verantwortung und eine Ehre«, sagte Ulfius. Er hob das Blatt und las davon ab. »>König Artus von Britannien< lädt dich, Kay von Chertsey, ein, an seinem Hof hier in Camelot zu leben und Mitglied seiner ständigen Garnison zu werden. Solltest du diese Einladung annehmen, wirst du zu einem ausgewählten Korps berittener Krieger gehören, die in Zukunft als Kämpen der Ritterlichkeit bekannt sein werden.« »Ritterlichkeit?«, fragte Kay. »Das stammt vom Wort >Reiter< ab. Es hat mit - ah - reiterlichem Können zu tun.« »Und Kämpen?«, fragte Kay. »Das ist ein neues Wort, ein sächsisches Wort. Es bedeutet »Streiten. Die Kämpen werden aus dem Kreis der besten berittenen Krieger ausgewählt, allesamt von Adel, um für Artus zu reiten. Jeder Kämpe wird einen Eid der Ritterlichkeit schwören, die Schwachen zu verteidigen, für Gerechtigkeit zu kämpfen, sich keuscher Liebe zu befleißigen —« »Was?«, fragte Kay und stieß seine Schaufel in die Erde. Ulfius runzelte die Brauen, blickte auf sein Pergament und las: »>... sich keuscher Liebe zu befleißigen, für Britannien und König Artus zu kämpfen —«< 249 Kay schüttelte heftig den Kopf. »Was heißt, »keuscher Liebe« Ulfius rollte das Pergament zusammen und sagte: »Ich weiß nicht genau, was damit gemeint ist. Vielleicht bedeutet es Zölibat, vielleicht bedeutet es, dass jeder Kämpe der Ritterlichkeit Frauen verehren und verteidigen wird, ohne von ihr die — ah — traditionellen Entschädigungen zu verlangen.« »Ich werde mich nicht Pferden verschreiben und Frauen abschwören —« »Nun«, sagte Ulfius und seufzte, »ich kenne nicht alle Einzelheiten. Ich habe dir die Einladung zugestellt, Mitglied der Kämpen der Ritterlichkeit zu werden. Wenn du andere Fragen hast, kannst du sie mit Artus erörtern.« »Ja.« Kay spuckte gereizt aus. »Wenn ich den Dreck unter den Nägeln herausbekomme und gebadet und schön bin, werde ich hingehen und mit meinem edlen und mächtigen Bruder sprechen —« »Du brauchst nicht zu warten«, erwiderte Ulfius und wies mit einer Kopfbewegung nach hinten. »Der König ist der Mann, der hinter dir gräbt.« Während Männer und Maultiere auf den Höhen von Cadbury arbeiteten, fand auf der Ebene von Salisbury ein Wunder statt. Merlin stand auf der nordsüdlich führenden Ley-Linie, die hier das Land durchzog. Neben ihm stand Nyneve auf der ostwestlichen Linie. Der Abendwind strich über hohe Gräser, bewegte ihre Gewänder und verflocht sie miteinander. Aus den verhedderten Stoffen drang ein Trio gedämpfter Proteste. Mit der äußersten Anstrengung zur Zusammenarbeit vereinte die Dreiheit der Götter/Titanen ihren Willen, hob eine Hand und schlug die Gewänder zurück. Weißes, braunes und schwarzes Haar schimmerte im Licht des Sonnenuntergangs. Die Dreiköpfe besetzten die Ley-Linien von Ostsüdost, Südosten und Südsüdost. »Dieses grasbewachsene Nichts?«, fragte Goibhniu. »Dies soll unser Tempel sein?« 249 »Eine wahrhaft abgelegene Örtlichkeit für etwas, was ein Tempel von großer Bedeutung für die Macht dieser Insel sein soll —«
»Ich sehe überhaupt kein Holz«, fugte Luchta hinzu. Eine weitere Brise, diesmal eine launenhafte Zauberei Merlins, schlug erneut die Gewänder um die Drei. Nyneve nickte ihm dankbar zu. Sie war mit ihrer eigenen Beschwörung zu sehr beschäftigt, um sich wegen des Windes zu sorgen. Als Goibhniu, Luchta und Creidhne wieder freikamen, war die Macht ihres Zaubers unleugbar. Ein tiefes Rumpeln erschütterte den Boden. Die Erde zitterte. Das Gras beugte sich nicht mehr mit dem Wind, sondern wurde vom Erdbeben geschüttelt. Die drei Köpfe stellten ihr Geplapper ein und gafften. Vor ihnen schwoll der Boden an. Erde und Gräser verschoben sich seitwärts, ein Hügel entstand. Er war lang und genau kreisförmig, so hob er sich in einem breiten Ring um Nyneve aus dem Boden. Hier und dort entstanden Risse auf der Oberfläche und den Seiten des Hügels. Wasser ergoss sich aus diesen Spalten und schoss in die Luft. Es spülte Erdbrocken fort und enthüllte gigantische Steinblöcke. »Nach weiterer Überlegung scheint es genau die richtige Lage für einen Tempel zu sein, der aus Rohmaterial eine materielle Kultur schaffen soll —« Die Dolmen ragten jetzt überall um sie her. Ihre massigen Gestalten erhoben sich ins letzte Tageslicht. Ein Hof schob sich Stein für Stein durch die Erde aufwärts. Lehm und Sand wurden von den mächtigen Blöcken gespült. Das unterirdische Rumpeln und Poltern hörte auf. Stille trat ein. Goibhniu murmelte ungläubig: »Sie haben es geschafft. Sie haben unsere Werkstatt wiederhergestellt.« »Erstaunlich, wieder von dem Tempel umgeben dazustehen, den wir einst bewohnten —« »Ja, das ist unser Tempel, unsere Werkstatt«, sagte Luchta. »Das ist das Stonehenge.« 250 Kay klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und starrte zur Decke des königlichen Zeltpavillons auf. »Wo ist Artus?« Es war lästig und verdrießlich genug gewesen, Stunden mit dem Waschen und Trocknen seines besten Wappenrocks zu verbringen, mit dem Polieren seines Prunkharnischs, mit dem Baden im Becken des kalten Springbrunnens, mit dem Reinigen der Fingernägel, mit Rasieren und Haarschneiden und Kämmen und Schnüren — alles ohne Hilfe eines Knappen. Schließlich war Kays einstiger Knappe König geworden. Aber nun inmitten von dreihundert anderen >Kämpen der Ritterlichkeit« zu stehen und eine Stunde auf diesen selben zum König aufgestiegenen kleinen Bruder zu warten — das war unerträglich. »Gleich gehe ich«, raunte Kay seinem Nebenmann zu. »Ach, nicht doch«, sagte der andere, Andronius von Canterbury. Er war dickbäuchig und fettig, mit einem Gesicht, das wie poliertes Metall glänzte. »Wahrscheinlich ist es eine Probe. Ein Kämpe der Ritterlichkeit muss geduldig und leidensfähig sein -all dieser Unsinn. Ich denke, dass unser König uns einfach auf die Probe stellt.« Kay hob den Blick über den dicken Nebenmann und hoffte seinen Vater oder Ulfius oder sogar einen der Söhne Lots zu erspähen. Beinahe jeder andere wäre eine angenehmere Gesellschaft als Andronius. »Ich werde ihm noch ein paar Minuten geben, dann gehe ich«, sagte Kay. »Sie haben es leicht. Sie sind sein Bruder. Er muss Sie einlassen. Leute wie ich müssen hervorragende Krieger und Reiter sein, kräftig gebaut, geduldig, leidensfähig — all dieser Unsinn.«
Wenn Andronius noch einmal das Wort >Unsinn< sagte, wollte Kay die Fertigkeit des Mannes im Faustkampf erproben. »Nichts als ein Haufen Unsinn —« Kay holte zum Schlag aus, als Ulfius in das Zelt gewankt kam. Der Kammerherr schien übel zugerichtet und blutete. Keuchend brach er in die Knie. 251 Das höfliche Gemurmel erstarb. In diese Stille keuchte Ulfius ein Wort, das bis zur Rückseite des Zeltpavillons trug. »Drachen!« Er fiel vornüber und blieb bewegungslos auf dem Gesicht liegen. »Drachen?«, stieß Andronius hervor. »Was für ein Unsinn —« Kay war schon losgerannt. Während die anderen noch dastanden und verblüffte Blicke tauschten, erreichte er Ulfius und wälzte ihn auf den Rücken. Drei tiefe Wunden klafften in Ulfius' Gesicht, wie von drei Krallen. In einer Schnittwunde zeigte sich weiß der Backenknochen des Mannes. »Ulfius! Nein!« Kay beugte sich über ihn und suchte den Atem. Er fand keinen. Dann zog er Ulfius' Halsberge zurück, um den Puls zu prüfen. Die Schlagader war verletzt und vertröpfelte ihr letztes Blut. »Nein, nein!« Kay hob den Toten mit beiden Armen auf und mühte sich in die Höhe. Ector stürzte hinzu, verzweifelte Sorge in den Augen. »Ist er —?« »Tot«, sagte Kay. Es war das bitterste Wort, das er je gesagt hatte. Rasch sammelte sich eine Menge um die beiden — Gryfflet und Lucas, Gareth, Agravain, Gavain ... Düster starrten sie auf den Toten. »Er sprach von Drachen?«, sagte Kay. »Wer weiß, wenn Wotan im Lande ist? Aber Drachen oder Sachsen — Ulfius muss gerächt werden«, erklärte Ector. Er zog sein Schwert. Es war nicht das Langschwert, mit dem er in die Schlacht zog, sondern nur ein halb so schweres Zeremonienschwert, doch er umfasste den Griff mit tödlichem Zorn. »Er muss gerächt werden!« Überall zischte der blanke Stahl aus den Schwertscheiden. Mit Flüchen auf den Lippen drängte alles zum Zeltausgang. Kay folgte ihnen wie betäubt. Er trug Ulfius in der Flut der adligen Krieger hinaus auf den nächtlichen Hügel. Es war ein mondloser Abend. Zuerst konnte Kay in der Finsternis nichts sehen. Nur das Auf und Ab behelmter Köpfe und der matte Schimmer blanker Waffen war sichtbar. Jenseits davon schien die Nacht wie Tinte. Was hatte es mit diesem Gerede von Drachen auf sich? 251 Plötzlich erhellte Feuerschein die ferne Dunkelheit. Flammen schössen aus einem gigantischen Rachen. Im Feuerschein waren die Umrisse einer übernatürlich riesigen Schlange zu erkennen. Der Drache war so groß wie ein Haus. Rote Kiefer und stachlige Barthaare glühten im Feuerschein. Das Brüllen der Bestie erschütterte die Erde. Flammen stießen hervor ... Sie prallten auf etwas — einen großen, gebogenen Schild von Magie, hinter dem Merlin stand, dessen Gestalt rot beleuchtet war. Neben ihm stand Artus. »Der König und sein Magier sind in Bedrängnis!«, rief Ector. Krieger fluchten tapfer und eilten davon, Artus und Merlin zu verteidigen. Kay folgte ihnen nicht; er hielt noch immer Ulfius' Leichnam in den Armen. Dies war nur ein Untier, und
Merlin war einem einzigen Drachen mühelos gewachsen. Aber es war von mehreren die Rede gewesen. Kay schritt zu seinem Vater und fragte: »Wo sind die anderen?« »Die anderen was?« »Die anderen Drachen —« Die Worte waren noch nicht heraus, als in der dunklen Ferne neue Flammen aufloderten. Ein zweiter Drache. Er spie blaues Feuer, heißer und mächtiger als das rote. Tödlicher Atem stieß aus einem Rachen, der doppelt so groß wie der des ersten Drachen schien. Der schuppige Leib dieser Schlange war so groß wie ein Wirtshaus. Azurblaue Augen starrten unheilvoll über die grässliche Schnauze des Drachen. Sein Gebrüll erzeugte bei den Kriegern Zähneklappern. Ein zweiter Ausbruch blauer Flammen schoss aus dem furchtbaren Rachen. Im Feuerschein erschienen die Umrisse eines Mädchens -Guinevere - ihre Silhouette hob sich deutlich von der Glut ab, bevor sie davon eingehüllt wurde und verschwand. »Nein!«, stieß Kay entsetzt hervor. »Die K-Königin!«, stammelte Ector. Die blauen Flammen sanken in sich zusammen und aus ihrer Mitte kam Guinevere. Sie stand unversehrt, geschützt von einer flimmernden Aura aus Thuata-Magie. 252 »Dank sei Gott!«, sagte Ector. »Dank sei Avalon!«, berichtigte ihn Kay. Weitere Krieger liefen hinaus, um ihr im Kampf gegen diese größere Bestie beizustehen. Kay bückte sich, um Ulfius abzulegen und sich den Kriegern anzuschließen. In der Ferne loderte ein dritter Feuerschein auf. Weiß glühend ergoss er sich aus dem größten Rachen von allen. Der Kopf dieser Schlange erreichte die Höhe eines Kirchturms. Flammen schössen an Zähnen vorbei, die lang wie Lanzen und dick wie ein kräftiger Mann waren. Lederige Flügel löschten die Sterne aus. Sein Brüllen warf Krieger auf die Knie. Die weißen Flammen verschlangen den Karren eines Kesselflickers. Holz verwandelte sich in Ruß, Töpfe und Pfannen zerfielen in Pfützen geschmolzenen Eisens. Ein alter Mann, gefangen zwischen Stein und Feuer, krallte in hoffnungsloser Verzweiflung an der Mauer, die ihn am Entkommen hinderte. »Dieser arme hilflose Mann!«, rief Ector. »Helfen wir ihm«, sagte Kay. Ector, Gavain, Agravain, Gareth und eine Anzahl anderer wandten sich diesem letzten und größten Ungeheuer zu. Kay kauerte nieder und legte Ulfius Leichnam behutsam auf eine ruhige Böschung. Er zog sein Schwert und blickte zum weißen Drachen. »Das ist der Kampf, den du gefochten hättest, Ulfius, mein Freund. Ich gehe dich rächen.« Damit sprang er auf und eilte den anderen nach. Er wusste, dass es aussichtslos war. Drachen? Er hatte die Bestien für bloße Legenden gehalten, aber wer wusste, welche Schrecken Merlin aus den Tiefen erweckt hatte? Die Luft flimmerte vor seinen Augen. Sein Vater, die Söhne Lots und zwei Dutzend andere verschwanden in einem brüllenden Sturm weißen Feuers. Nur ihre Schwerter blieben, ragten trotzig aus dem Leib des Ungeheuers. Durch die Hitze und die Tränen konnte Kay kaum sehen. Er 252 war entschlossen, den anderen nachzueifern, Ulfius und Vater und allen Übrigen, und seine Klinge in den Leib des Drachen zu stoßen, bevor er zu Asche verbrannte. Er würde Britannien bis zum Tode verteidigen.
Das Schwert in der erhobenen Faust, stürmte er den Hang hinunter. Er war nur drei Schritte von dieser Wand aus Schuppen entfernt, als das Feuer über ihn hinbrauste — Es war so heiß, dass er es nicht fühlen, so laut, dass er es nicht hören konnte. Und dann war er genauso plötzlich im Himmel unter ihnen: Vater und Lots Söhnen und vielen anderen. Sie schienen in fröhlicher Stimmung, hoben Bierkrüge und lachten. Vielleicht war es nicht der Himmel, sondern Asgard, wo die gefallenen Krieger feierten. Aber nein, es war nicht einmal Asgard. Es war ein Zelt - ein weiterer königlicher Pavillon, ganz genauso ausgestattet wie der Letzte — es war dasselbe Zelt, das er gerade verlassen hatte! Ulfius begrüßte ihn fröhlich und bot ihm einen schäumenden Bierkrug an. »Ulfius?«, fragte Kay, der den Krug wie betäubt in den Händen hielt. »Ich dachte, du seist tot! Ich dachte, ich sei tot. Was hat dies alles zu bedeuten? Was ist geschehen?« Der Kammerherr zuckte verlegen die Achseln. »Eine Probe. Artus erfand sie und Merlin verwirklichte sie. Ich half mit, ebenso Guinevere und dein eigener Vater.« »Eine Probe?«, wiederholte Kay. »Eine Illusion. Alles war eine Illusion. Artus wollte sehen, wie seine Krieger sich entscheiden würden.« »Entscheiden? Wofür?« »Ob sie gehen und gegen den roten Drachen kämpfen würden. Dies verriet einen Mangel an Urteilsvermögen und vielleicht ein Übermaß an Speichelleckerei. Der König brauchte gegen diesen kleinsten Drachen keinen größeren Verteidiger als Merlin. Diejenigen, die zu Hilfe eilten, fanden sich nur in der leeren Dunkelheit der Hügel.« 253 »Und was war mit Guinevere und dem blauen Drachen?« »Das war eine bessere Entscheidung, obwohl es klar schien, dass das Land Guinevere schützte. Wer ihr zu Hilfe eilte, gewann Artus' Dankbarkeit und wird eine Ehrenstellung in seinem Heer angeboten bekommen. Aber diese Krieger entschieden sich nicht für den besten Kampf —« »Das war der weiße Drache, wie?«, sagte Kay und lächelte unter einem Schnurrbart von Bierschaum. »Ja, es war die größte Bedrohung und das am schwersten bedrängte Opfer. Artus sucht Krieger, die bereit sind, sich für den niedrigsten Landsmann genauso einzusetzen wie für den König«, schloss Ulfius. Er prostete Kay zu und trank aus seinem Bierkrug. Der andere lachte und schüttelte den Kopf. »Artus sucht Vollidioten -« »Ha!«, beglückwünschte Ector seinen Sohn und schlug ihm auf die Schulter. »Du hast die Probe bestanden. Du wirst ein Ritter an König Artus' Hof sein!« Kay lächelte. »Und du auch!« Ector schüttelte lachend den Kopf. »Ach nein. Ich freue mich, dass ich eingeladen wurde und bei der Probe helfen durfte, aber ich werde in Chertsey gebraucht. Ich werde all diese Ritterlichkeit euch jungen Leuten überlassen.« »Und du, Ulfius?«, fragte Kay. »Nein, ich habe schon so genug zu tun.« Er zog die Brauen hoch. »Ich bin einer der ruhelosen Toten.« Kay nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das illusorische Blut von Ulfius' Wappenrock verschwunden war. »Übrigens, sei bedankt für deine freundlichen Worte und Taten, als du mich für einen Leichnam hieltest«, sagte Ulfius.
Mit einem ironischen Auflachen schlug Kay ihn auf den Rücken. »Wenn du nächstes Mal stirbst, werde ich es genauso machen.« 254
15. Die umworbene Guinevere
Artus beobachtete sie. Guinevere wanderte zwischen den Fundamenten des Königspalastes umher. Sie kannte die Pläne gut, hatte sich lange mit den Grundrissen und Einteilungen beschäftigt. Was sie hier sah, war ihr allerdings neu. Es war nicht in einem der früheren Pläne verzeichnet gewesen, und sie hätte es beinahe für eine Freiluftbühne gehalten, wenn nicht eine Wand es vom Rest des Geländes getrennt hätte. Vor ihren Augen wurde die Wand Ziegel um Ziegel aufgemauert. Guinevere näherte sich einem der Maurer. Artus folgte ihr, verbarg sich aber hinter einem Fuhrwerk. Guinevere erreichte den Maurer. Kittel und Hose des Mannes waren vom Mörtel steif und fleckig. Auf einer Seite lag ein Haufen geschnittener Ziegel, auf der anderen eine Maurerkelle und ein Eimer. »Entschuldigen Sie, aber was soll dies werden?« Er blickte zu ihr auf, zog eine formlose Kappe vom Kopf und sagte: »Nun, eine Mauer, gnädige Frau.« Sie lächelte freundlich und der Ausdruck brachte ein ähnliches Lächeln auf die Züge des Maurers. »Ja, ich weiß, dass es eine Mauer wird. Aber was soll sie umschließen?« Artus schob sich näher, um ihre Reaktion zu sehen. »Ein Garten, gnädige Frau. Eine Gartenterrasse. Mit Rosenspalieren und Lauben und sogar einem Balkon.« »Rosenspaliere?«, wunderte sie sich. »Was wollen Krieger mit Rosenspalieren?« »Ach, sie sind nicht für die Ritter gedacht. Sie sind zum Anschauen, zum Spazierengehen für die Königin.« Artus trat von hinten auf sie zu und legte ihr die Hände um die Taille. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Du bedeutest mir mehr als die Macht des Landes. Du bist auch die Schönheit des Landes, und seine Seele.« 254 Sie erschrak nicht, schmiegte sich aber auch nicht in seine Umarmung. »Nur weil wir vereint sein würden«, fuhr er fort, »bedeutet das nicht, dass du deine Macht verlieren würdest. Du würdest meine Frau sein und durch mich Macht haben.« Endlich wandte sie sich zu ihm um. Ihre Augen waren nass. »Wenn wir vereint wären, würde keiner von uns Macht haben. Ich bin nur so lange Königin, wie ich nicht Königin genannt werde.« »Was hältst du von einer keuschen Ehe?«, fragte Artus in Verzweiflung. »Wir werden einander treu bleiben, uns aber nie besitzen.« »Wie könnten wir in der Ehe keusch sein, wenn wir einander begehren? Nein. Du musst der König dieses Landes sein, und ich die Macht des Landes. Dafür wurden wir von Geburt an bestimmt - miteinander verbunden aber niemals vereint. Einen anderen Weg gibt es nicht.« Sie machte sich von ihm los. Seine Arme hatten ihren Willen verloren, sie festzuhalten. Guinevere entfloh zwischen Steinhaufen und Aufschüttungen.
Allein bringt sie ihr Kind zur Welt. Sie glaubt, glaubt wirklich, sie sei nicht allein, sondern eingebettet in den Wald um sie her und seine freundlichen — sichtbaren und unsichtbaren — Bewohner. Doch Morgan hat sich anderen niemals ganz anvertraut. Sie ist ihre eigene Hebamme, diese stolze und kluge Frau. Seit neun Monaten hat sie alles gesammelt, was sie brauchen wird, Flechten und Kräuter und weiche Tücher, auch das Messer und Nadel und Faden, die nicht benötigen zu müssen sie hofft. Und sollte das Schlimmste geschehen, so hat sie Rhiannon, die heilende Scheide. Aber dies ist keine leichte Geburt. Das Kind ist ein brutaler Bastard. Schon umklammert sie die heilende Scheide, die sie bereits dreimal zusammengeflickt hat. Er stößt gegen ihr Rückgrat, er krallt sich hinaus. Er reißt sie auf— Und wenn Mordred die Mutter, die er liebt, so behandelt, was wird er dem Vater tun, den er hasst? 255 Merlin achtete darauf, die Ley-Linie schon ein gutes Stück vor dem Stonehenge zu verlassen. Im Laufe des vergangenen Jahres war es chaotisch und gefährlich geworden — und äußerst fruchtbar. Am südlichen Rand der Anlage lag eine weitläufige Schmiede mit dreiundzwanzig Ambossen, sechzehn Essen und einem zwei Stockwerke hohen Kohlenbunker. Am östlichen Rand befand sich eine weitere, viel kleinere Schmiede, die sauber und hell und aufgeräumt und mit einer Steinschleiferei verbunden war. Am westlichen Rand lag eine Schreinerei mit Hobelbänken, Schraubstöcken, Sägen und anderem Werkzeug. Diese drei Arbeitsbereiche wimmelten Tag und Nacht von geschäftigen Lehrlingen, die von der dreiköpfigen Trinität der vormaligen Titanen/Götter ausgebildet und angeleitet wurden. Entlang der Nordseite wurde Rohmaterial angeliefert und die fertige Ware zur Abholung bereitgestellt. Als Merlin auf der grasbewachsenen Fläche Gestalt annahm, sah er an dieser Nordseite fünf Oger stehen, die mit brüllender Lautstärke ihrem Unmut Luft machten. Die dreiköpfige Handwerkergottheit stand auf dem Henge und schrie mit gleichem Zorn zurück. Vier der Oger trugen riesige nasse Säcke, die mit etwas gefüllt waren, das orangegelb durch das Gewebe auf die Erde sickerte. Der Fünfte trug einen großen Schlegel auf der Schulter. Alle waren durchnässt; regelrechte Wasserfälle kamen aus den verfilzten Massen ihres schwarzen Haares. Tief liegende Augen spähten unter vorspringenden Brauen in die Welt hinaus, vorbei an dicken Knollennasen, und fleischige Münder stießen unverständliche Drohungen aus. Goibhnius Antworten — denn er war der Meister vom Dienst — waren nicht erhellender und nicht weniger heftig. Dies war nur das jüngste der beinahe stündlichen Spektakel anderweltlicher Meinungsverschiedenheiten. Merlin war nicht gekommen, um vermittelnd einzugreifen, doch ein Hieb mit diesem Schlegel konnte der Dreiheit den Garaus machen und aufrecht stehende Findlinge der Steinsetzung wie Kegel umwerfen. Goibhnius Taktgefühl schien geeignet, diesen Ausgang herbeizuführen. 255 »Ihr bringt mir nasses Erz«, tobte Goibhniu, »und wollt nach Gewicht bezahlt werden? Ihr wollt, dass ich für Wasser bezahle?« In den dumpfen, schwermütigen Tönen ihrer Sprache erwiderte der Oger mit dem Schlegel: »Natürlich ist nass. Dies atlantisches Erz. Dies vom großen Kriegsraum von Atlantis. Natürlich ist nass. Du zahl mehr für Erz und Wasser.« »Erz ist Erz«, beharrte Goibhniu. »Und Wasser ist Wasser. Vielleicht zahle ich dir das Gewicht in nassen Münzen. Vielleicht werde ich auf jede Einzelne spucken. Du verkaufst trockenes Erz oder gar nichts.«
Merlin schüttelte in stiller Erheiterung den Kopf, denn er erinnerte sich einer Zeit, als er sich selbst den Luxus der Verrücktheit geleistet hatte. Er hatte mit Baumstümpfen gesprochen, den Liedern von Mäusen gelauscht, Schlammsuppe gegessen, dem traurig seufzenden Wind Mut zugesprochen - Merlin war überrascht zu erkennen, dass er jene schrecklichen Tage vermisste. Er schwebte in die Luft und sank zum Steinkreis abwärts. Unterwegs hielt er über dem massiven Schlegel inne, den der Oger schwang. »Ich gebe solides Eisen!«, grollte der Oger. Der Schlegel in seiner Hand zitterte vor Zorn. Merlin landete auf einem der Eisenringe, die beide Enden des Schlegels umschlossen, und erzeugte einen Zauber, der ihn selbst schwerer machte. Der Oger bemühte sich, mit dem Schlegel zuzuschlagen, doch Merlin war ein unbewegliches Ziel. »Aber, aber, ihr zwei«, sagte er. »Lasst uns vernünftig über diese Sache reden, oder ich rufe einen Blitz herab, um dieses Erz zu prüfen ... und diejenigen, die darüber streiten.« Die Ankunft des inzwischen weithin berühmten Magiers hatte die Münder der fünf Oger und der drei Köpfe geöffnet. Seine Drohung schloss sie wieder. »Ihr Oger sagt, ihr hättet dieses Eisenerz aus dem versunkenen Atlantis gesammelt, richtig?« Der Anführer der Oger verzog das Gesicht unter dem Gewicht 256 des Schlegels. »Hab drei Tage nicht geatmet — ein langer Weg. Harry wurde von einer Schlange gefressen.« Merlin nickte weise. »Zufällig bin ich mit Atlantis sehr vertraut. In einem früheren Leben war ich Zeus, müsst ihr wissen.« Die Oger schluckten alle gleichzeitig. Ihre Blicke wichen ihm unbehaglich aus. »Du sagst, dieses Erz sei aus dem Kriegsraum — meinst du damit das königliche Zeughaus, wo alle Schwerter und Speere, Schilde und Panzer aufbewahrt wurden?« »Ja. Dieser Kriegsraum«, sagte der Oger eifrig. »Ah, also musstet ihr die Gorgo besiegen, um Eingang zu finden?« »Ja. Harry wurde auch von ihm gefressen.« »Von ihr«, berichtigte ihn Merlin. Der unbehagliche Ausdruck in den Gesichtern der Oger wurde zu Furcht. Goibhniu verschränkte die Arme auf der Brust und nickte lächelnd. Merlin fuhr fort: »Sie ist wirklich eine Schönheit, diese Gorgo.« Das begeisterte Kopfnicken der Oger bekräftigte seine Worte. »Ich sehe«, sagte Merlin. »Nun, ihr seid Lügner. Es gibt keine Gorgo, die das Zeughaus von Atlantis bewacht, und wenn es so wäre, würde sie nicht schön sein und nicht Harry essen, sondern ihn und euch alle in Stein verwandeln.« Die Oger ließen ihre Säcke mit Erz fahren und zogen in Erwartung eines Blitzschlages die Köpfe ein. Merlin fuhr ruhig fort: »Dann nehme ich an, dass dieses Erz aus den verschiedenen heiligen Tümpeln geplündert wurde, die in letzter Zeit entweiht worden sind — Überreste von Waffen, die den einheimischen Göttern geopfert wurden. Ich nehme an, dass das Erz in diesen Säcken mit ein paar Süßwasserfischen vermischt sein wird, nicht mit Meeresfischen.« Die Oger neigten schuldbewusst die Köpfe. »Ich könnte euch jetzt töten. Stattdessen werde ich euer Leben verschonen, wenn ihr dieses Erz zu den Teichen zurückbringt, aus denen ihr es nahmt.« 256
Frohe Erleichterung malte sich in den derben Zügen der Oger. »Und da König Artus Bedarf an verzaubertem Eisen hat, werde ich als einzigen Preis für euren Schwindel diesen schönen Schlegel verlangen. Aus den Eisenringen sollten sich fünf feine Schwerter schmieden lassen, oder vielleicht eine Rüstung.« Ein wütendes Grollen brach aus dem Anführer der Oger hervor. Endlich überwand er das ungeheure Gewicht von Merlins Zauber und schwang den Schlegel in einem mächtigen Bogen ausholend über den Kopf. Dieser eine Schlag konnte Zauberer und Henge und die Trinität der Handwerker zerschmettern. Ein anderer Schlag kam ihm zuvor — ein weiß glühend herabzuckender Blitz aus heiterem Himmel. Er trat an Merlin vorbei, fuhr durch die Eisenringe am Kopf des Schlegels und in den Boden. Unterwegs verdampfte er alles Fleisch, das ihm in die Bahn geriet - die Hand, die den Stiel hielt, den Arm, der die Hand hielt, und so weiter. Durch die fleischigen Gliedmaßen des Ogers wurde in unheimlichem Aufleuchten sein Skelett sichtbar, und dann kam es ganz zum Vorschein, als Muskeln zu Asche wurden und herabfielen. Die Knochen folgten, und der Blitz verharrte noch einen Augenblick länger knisternd und zuckend, als wollte er sich vergewissern, dass vom Oger nicht mehr übrig blieb als ein verbrannter Fleck am Boden. Aus der Hand des Ogers gerissen, flog der massive Schlegel unterdessen in die Mitte des Henge. Goibhniu duckte sich. Seine Kameraden erwachten und duckten sich gleichfalls. Der riesige Schlegel fiel qualmend in der Mitte des Tempels zu Boden und kam dort zur Ruhe. Merlin schwebte zufrieden über allem. Er richtete den Blick seiner zornig leuchtenden Augen auf die verbliebenen vier Oger. »Also dann, verschwindet!« Ohne Widerspruch schulterten die vier Ungeheuer eilig ihre triefenden Säcke und eilten zur Ley-Linie, die sie hergeführt hatte. Mit mehrfachem nassen Zischen verschwanden die Oger einer nach dem anderen aus der Wirklichkeit. Noch einen Augenblick 257 lang blieb jeder von ihnen im roten Strom der Magie undeutlich sichtbar, dann verblassten sie ganz aus der Gegenwart. Merlin wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem riesigen Schlegel in der Mitte des Henge zu. »Da hast du, Goibhniu. Verzaubertes Eisen für die Waffenschmiede. Ich hoffe, es passt.« Der Schmied nickte nur. »Und du, Creidhne, wie kommst du mit dieser Ladung Silber und Gold zurecht, die du vor einer Woche von den Blaukappen bekommen hast?« Creidhne räusperte sich. »Ich habe schon eine Menge Schmuck daraus angefertigt, darunter Broschen mit Zellenschmelz und Halsringe mit eingelegtem Granat und ein paar weitere Stücke königlicher Insignien —« Merlin nickte froh. »Sehr gut. Und Luchta, du kannst das Mobiliar beiseite stellen, das du mit deinen Lehrlingen angefertigt hast. Ich habe einen neuen Auftrag für dich, geradewegs von Artus. Er will einen großen runden Tisch und fünfzig prachtvolle Lehnstühle dazu. Er möchte, dass die Tischplatte aus einem einzigen Stück verzauberten Holzes gefertigt wird, von einer Größe und Form, die für den Versammlungsort seiner Tafelrunde geeignet ist.« »Einen Tisch für fünfzig? Aus einem einzigen Stück Holz?«, fragte Luchta. Goibhniu tat ihm den Gefallen, das zerzauste braune Haar zu kratzen. »In ganz Britannien gibt es keinen Baum, der groß genug wäre.«
Merlin verblasste bereits, im Begriff, den Ogern zu folgen und sich zu vergewissern, dass sie Wiedergutmachung leisteten. »Such einen, Creidhne. Such einen.« Im Laufe von zweieinhalb Jahren wuchs Camelot erstaunlich. Selbst wenn man den Zustrom von Arbeitern und Handwerkern und die sonstige Unterstützung durch Zauberei und göttliche Wirkung in Rechnung stellte, war der Baufortschritt erstaunlich. Längst schon waren die Zelte ersetzt durch Fachwerkhäuser. Ein Zauber Merlins hatte Feldsteine aus dem Boden gezogen, bis 258 jede Straße auf der Karte der Planer mit Kopfsteinpflaster versehen war. Die zwanzig Fuß dicke Schildmauer war fertig gestellt, desgleichen die Wachttürme zu beiden Seiten der Einfahrt, die zinnengekrönte Umfassungsmauer und die Erkertürmchen an ihren Ecken. Auf drei verschiedenen Marktplätzen wurden Handelswaren aus aller Herren Länder feilgehalten. Auf dem Turnierhof übten Reiter und Fußvolk ihre Fertigkeiten im Zweikampf mit verschiedenen Waffen. Die Garnison war überfüllt von Kriegern, die ihre Erhebung in den Ritterstand anstrebten. Sie verbrachten ihre Tage mit Waffenübungen auf Plätzen, die von Ulfius und Merlin eigens dafür angelegt worden waren. Die Elite der Ritter verbrachte ihre Abende mit Artus, der ungeduldig auf die Fertigstellung des großen runden Tisches wartete. Der Palast selbst war halb fertig. Aus weißem Kalkstein und geädertem weißem Marmor erbaut, versprach er ein so prachtvolles Bauwerk zu werden, wie man es seit den Zeiten der römischen Kaiserpaläste nicht mehr gesehen hatte. Schon hatte man die vier großen Tore und zwei Nebeneingänge im Erdgeschoss fertig gestellt. Artus' Privatgemächer über der großen Halle waren erst halb vollendet. Er hatte die Arbeiter angewiesen, zuerst die Gemächer fertig zu stellen, die seinen eigenen gegenüber lagen. Die letzten Wandverkleidungen aus rotbraunem Walnussholz wurden gerade an diesem Nachmittag angebracht. Schreiner und Glaser arbeiteten an den Fenstern und einer großen Flügeltür mit Butzenscheiben, die sich auf einen breiten Balkon öffnete. Wachskerzen füllten Kandelaber und Wandleuchter. Wandteppiche aus dem fernen Äthiopien schmückten die Wände, und kaledonische Schaffelle bedeckten die Böden. Alles war bereit und Artus hielt den Schlüssel in der Hand. »Komm, meine Liebe«, sagte er. Er nahm Guinevere bei der Hand und führte sie die Treppe aus weißem Marmor hinauf. »Ich habe eine Überraschung für dich.« Ihre schmalen Finger lagen warm in der Hand des Königs. Ein erfreutes Lächeln lag strahlend auf ihren Zügen. In den letzten
258
Jahren war der junge König voller geworden, geradeso wie seine Stadt sich ausgedehnt hatte. Er war nicht mehr der jugendliche König, sondern ein Mann — kräftig und groß, anmutig und ritterlich. Sein dünner Bart war üppiger geworden, seine Schultern breit genug, so dass Excalibur, wenn er das Schwert auf dem Rücken trug, dort zu Hause schien. Von allen adligen Kriegern am Hof war Artus der Ansehnlichste. Guinevere fiel es in diesen Tagen schwer, nicht zu lächeln, wenn er sie bei der Hand nahm. »Was ist es?«, fragte sie. »Neue Pläne? Eine Sammlung von Überlieferungen? Eine Schatztruhe?« »Besser«, erwiderte Artus. Am oberen Ende der Treppe angelangt, zog er den großen Schlüssel aus seinem Wams. Er passte genau in das kunstvoll geschmiedete Schloss der Flügeltür. »Ich hoffe, es wird dir gefallen«, sagte er und öffnete die Flügeltüren.
Warme, helle Luft empfing sie. Das Gemach schien ein Raum des Himmels zu sein. Guinevere stockte der Atem. Lammfelle machten den Boden weiß und weich wie eine Wolke. Die Butzenscheiben der Fenster leuchteten im Licht eines verblassenden Sonnenuntergangs. Satyren und Centauren tummelten sich auf Wandteppichen. Rotbraune Walnusspaneele bildeten einen warm getönten Hintergrund für die Wandteppiche und ließen ihre Farben besonders lebhaft zur Geltung kommen. Die Einrichtung mit Tischen und Stühlen war aus dem gleichen Holz gefertigt. Das Bett war aus vier Schösslingen gemacht, deren Zweige sich über dem Bett zu einem Baldachin ineinander flochten. Der ganze Raum war beleuchtet von Kerzen in Wandhaltern. Als die Dunkelheit jenseits der Fenster zunahm, wurde der Kerzenschein einladender und anheimelnder. Guinevere zog die Füße aus ihren Sandalen und betrat die weichen Lammfelle, die den Boden bedeckten. Sie seufzte tief und schritt in den Raum. Artus zog seine Schuhe aus und folgte ihr. Auf einer Seite des Gemachs befand sich hinter einem Wandschirm ein weiterer kleiner Raum. Dort war ein gefliestes Bad ver 259 tieft in den Boden eingelassen. Dampfendes Wasser füllte das Becken. Guinevere näherte sich zögernd, staunte über den Anblick. »Merlin hat das Wasser verzaubert, so dass es immer warm und rein bleibt«, erläuterte Artus. »Und dort gibt es ein Becken mit zwei Kannen. Eine enthält heißes, die andere kaltes Wasser, und beide sind verzaubert, so dass sie immer voll bleiben. Öffnet man das Fenster vom Bad, so hat man einen Ausblick in den Rosengarten, genauso wie vom Schlafraum aus. Und nun komm —« Er führte sie zurück und durch die Flügeltür des Schlafgemaches auf den breiten Balkon hinaus, von dem Marmorstufen zur Gartenterrasse hinabführten. Sein ausgestreckter Arm machte eine alles umfassende Geste über die Gartenterrasse hin, die von Sträuchern roter Rosen völlig überwuchert war. Im vergehenden Tageslicht schienen die Blüten beinahe schwarz. »Es ist alles für dich, Guinevere. Alles.«
16. Den Spieß umdrehen
Nacht lag über Stonehenge, seinen Werkstätten und der Hüttenstadt, die sich im Umkreis angesiedelt hatte. Die Sägen waren still. Keine Schmiedehämmer schlugen auf Eisen, keine Schlegel trieben Holznägel in Möbelstücke. Die angelernten Schreiner, Schmiede, Edelsteinschleifer und Juweliere waren nach Salisbury und Camelot in die Wirtshäuser gegangen. Sie hatten einen Monat Urlaub, während ihre drei Meister an einem geheimen und heiligen Projekt arbeiteten. In dieser Nacht schliefen Goibhniu und Creidhne. Ihre Köpfe lehnten an dem besonderen Kissen, das Merlin für sie erfunden hatte. Es glich einer dünnen Hermelinstola, die unter dem Druck eines Kopfes dicker wurde. Ein Kopf, der in dieser weichen Einbettung ruhte, konnte bequem und selbst bei großem Lärm in Stille schlafen. Dieses sinnreiche Kissen, das jedem Kopf 259 die Möglichkeit gab, sich weich hineinzubetten und gegen die Außenwelt weitgehend abzuschließen, hatte viel dazu beigetragen, dass die Verrücktheit des gefallenen Gottes ein Ende gefunden hatte. Es erlaubte jedem Kopf reichlich Schlaf und gab dem jeweiligen Herrn des Körpers die Gelegenheit zu ungestörter Arbeit.
Gegenwärtig war Luchta der Meister. Er arbeitete fieberhaft im Mittelpunkt des Henge. Seine Schnitzmesser und Meißel schnitten, schabten und formten fein gemasertes Eschenholz — hier ein Akanthusblatt, dort einen Lorbeerzweig, ein Reh, das aus der Dickung eines Distelgestrüpps blickte, einen Krieger in Brustharnisch ... Seine Phantasie quoll über von Ideen. Jede neue Gestalt war eine Entdeckung, ihre Ausführung eine Freude, die nur von der Entdeckung der nächsten übertroffen wurde. Luchta hatte das Gefühl, dass er seine Gestalten nicht so sehr aus dem Holz schnitt und herausarbeitete, sondern sie vielmehr aus Gefangenschaft befreite. Am größten aber war seine Freude, wenn er zu der weiten Oberfläche des massiven Tisches aufblickte. Er war unvergleichlich. Dieser runde Tisch von dreißig Fuß Durchmesser und drei Fuß Höhe, bot tatsächlich den Querschnitt aus einem riesigen Baum. Viertausend eng gepackte Jahresringe umgaben konzentrisch einen unregelmäßig hohlen Kern. Die Oberfläche war so glatt gehobelt und mit Sand geschliffen, dass sie wie Glas glänzte. Aus dem Rand des Tisches hatte Luchta einundfünfzig Halbkreise herausgeschnitten, von denen jeder einen Sitz für einen Ritter markierte. Die obersten drei Zoll eines jeden dieser Halbkreise waren an Scharnieren befestigt und konnten so hochgeklappt werden, dass sie mit der Tischplatte bündig und nahtlos abschlossen. In die Tischplatte und die Stuhllehnen hatte Luchta feine Ornamente geschnitten, die Creidhne mit eingehämmertem Gold-und Silberdraht ausgefüllt und sorgfältig geglättet hatte. Der Sockel der Tischplatte war mit einem umlaufenden Fries schmiedeeiserner pflanzlicher Ornamente verziert, aus denen Fabeltiere 260 und menschliche Gestalten hervorspähten. In die geschnitzten Beine der lederbezogenen Lehnstühle waren verborgene eiserne Rollen eingelassen, die ein müheloses Verschieben der Sitzgelegenheiten ermöglichten. Als Gesamtkunstwerk betrachtet waren der Tisch und die Stühle das großartigste und vollkommenste Gemeinschaftswerk der Dreiheit. Luchta seufzte mit einer Zufriedenheit, die er seit Jahren nicht gekannt hatte. »Es ist prachtvoll, Luchta«, sagte eine Stimme aus der windigen Dunkelheit. Merlin. Man war es schon gewohnt, dass er geräuschlos und unerwartet erschien. Jedenfalls Luchta hatte sich daran gewöhnt. Er nickte zustimmend in dem Bewusstsein, dass es auf der ganzen Erde nichts Vergleichbares gab. Merlin schritt bewundernd um den Tisch. Sein Reiseumhang wehte in der Nachtbrise. »Die handwerkliche Arbeit ist unübertrefflich, die Materialien prachtvoll — solch eine schöne und alte Holzplatte! - und die Verarbeitung ... Augenblick! Was ist das? Einundfünfzig Plätze am Tisch? Ich bestellte fünfzig.« Luchta holte tief Luft und blickte dem Magier in die Augen. »Den zusätzlichen Platz verkaufte ich gegen den Querschnitt des Baumes.« Der weißhaarige Zauberer bekam schmale Augen. »Du verkauftest —« »Du sagtest, der Tisch müsse aus einem einzigen Stück verzauberten Holzes gebaut werden. Das habe ich getan. Es gibt in der ganzen Welt und der Anderwelt nur einen Baum, der groß genug war — Yggdrasil, die Weltesche.« Merlins Haut erbleichte zur Farbe seines Haares. »Die Weltesche? Der Weltenbaum der Germanen?« »Natürlich ist dies nur von einem Ast, aber es trägt die Macht der Zeitalter in sich. Und der Bursche, der mir die Platte verschaffte, sagte, ich solle einen Platz und einen Stuhl hinzufügen —«
»Du hast nicht etwa einen Handel mit Wotan abgeschlossen -?«, hauchte Merlin. 261 »Nicht mit Wotan«, sagte eine neue Stimme, schwarz und geschmeidig wie der Nachtwind. »Nicht mit deinem geschworenen Feind, sondern mit einem Feind deines Feindes. Und du kennst das Sprichwort über den Feind meines Feindes?« Merlin schloss resigniert die Augen. Er war einer Ohnmacht nahe und stützte sich auf den Tisch. »Loki«, ächzte er. Dann sagte er zu Luchta: »Du hast ein Geschäft mit dem Gott schlechter Geschäfte gemacht!« Loki lachte. Das Lachen hallte über den Tisch und die stehenden Findlinge. Er nahm keine feste Gestalt an, war nicht mehr als ein Trugbild aus Fackelschein und Mondlicht. Für Augenblicke erschien irgendwo ein Augenpaar, anderswo schimmerten grinsende Zähne. »Beruhige dich, Zeus/Jupiter, oder möchtest du heutzutage noch der verrückte Merlin genannt werden? Dieses Geschäft war kein schlechtes Geschäft.« »Für dich nicht«, erwiderte Merlin. Zwitscherndes Gelächter folgte. »Natürlich. Ich mache nie ein Geschäft, das schlecht für mich ist. Aber lass dir von Luchta die Bedingungen unseres Handels erzählen, dann kannst du selbst urteilen.« Merlin wandte sich zu Luchta um. »Es ist recht einfach«, sagte der. »Loki gab mir diesen Querschnitt aus der Weltesche — und er schwor, dass kein böser Zauber daraufliege - im Austausch für den zusätzlichen Platz. Dieser Sitz würde einem eigenen Zauber unterliegen, der garantiert, dass nur eine vollkommen reine Person darauf sitzen kann. Jeder andere würde hinausgeworfen. Das ist alles.« Merlin zog die Stirn in Falten und musterte das Augenpaar in der Dunkelheit. »Seit wann bist du so misstrauisch gegen Reinheit, Merlin?«, fragte Loki. »Seit wann vertraust du auf sie?«, erwiderte Merlin. Luchta sagte: »Nun, was gibt es an diesem Tauschhandel auszusetzen?« 261 »Ich weiß nicht«, sagte Merlin missvergnügt. »Aber es muss etwas dahinter stecken. Loki profitiert immer von seinen Geschäften. Mir scheint, er plant eine Belagerung unseres Königreiches, eine Belagerung, die in ihrer Hinterlist gefährlich ist.« »Eine gefährliche Belagerung!«, rief Loki. »was für ein köstlicher Name für den Sitz, den ich an Artus' Tisch in Auftrag gegeben habe. Mögen alle unreinen Geschöpfe gewarnt sein, dass sie sich nicht auf den gefährlichen Belagerungssitz niederlassen!« Luchta näherte sich Merlin. »Der Sitz unterscheidet sich nicht von den anderen. Du kannst auch die anderen mit einem Zauberbann belegen, dass sie nur die Krieger aufnehmen, für die sie vorgesehen sind. Dieser Sitz ist bloß wählerischer als die anderen.« »Ich werde es erlauben«, grollte Merlin. »Unter einer Bedingung.« »Nenne sie«, sprachen Luchta und Loki wie aus einem Munde. »Dass du, Loki, diesen Tempel und Camelot verlässt und niemals wieder hier oder dort erscheinst, es sei denn auf Einladung.« »Es sei denn auf Einladung«, wiederholte der Gott spöttisch. Als er in der gähnenden Dunkelheit verschwand, sagte er: »Einverstanden!« Es war ein kühler Abend. Artus stand auf dem Balkon, der zu seinen Privatgemächern gehörte. Es waren die größten und prächtigsten Räume im Palast, da sie nicht nur für den persönlichen Gebrauch, sondern auch für Staatsangelegenheiten bestimmt waren. Ulfius
hatte sogar lachend angeregt, dass Artus von seinem Bett aus Audienzen gewähren und Petitionen entgegennehmen könne, weil sein Schlafgemach es mit jedem Thronsaal aufnehmen könne. Der Raum wurde beherrscht von einem großen Himmelbett, dessen Pfosten aus weißem Marmor statt aus Holz bestanden. Der Baldachin war aus rotem Samt, die Vorhänge aus golddurchwirkter Seide, um im Winter die Kälte und im Sommer die Stechmücken fernzuhalten. Auch die übrige Einrichtung war aus Marmor — Schränke, Kommoden, Waschtisch, Frisiertoilet 262 te ... alles kostbar und wunderschön gearbeitet, wenn auch kalt. Jede Nacht schlief er zum Echo seines eigenen Atems ein. Nun, auf dem Balkon konnte er seinen Atem sehen. Es war der fünfte Herbst, seit er seine Hauptstadt gegründet hatte. Alles war gut vorwärts gegangen. Der Palast war nahezu fertig, ein Prachtbau, der aus zwanzig Meilen Entfernung zu sehen war. Seine weißen Mauern leuchteten im Sonnenlicht und schimmerten in der Nacht wie ein Stück vom Mond. Zwei große Hallen, drei Thronräume, die jüngst vollendete Halle des Runden Tisches, zwölf Speisekammern, vier Küchen, achtunddreißig Garderoben, vier Bäder, ein Krankenzimmer und ein Kerker - der Palast König Artus' war der großartigste seit den römischen Kaiserpalästen. So weitläufig die Anlage auch schien, stets war sie belebt von Abgesandten und fremden Königen mit ihrem Gefolge, die als Besucher bei König Artus weilten, von Rittern und Knappen, Damen und Zofen, Pagen, Kammerdienern und Knechten, Köchen und Mägden. »Trotzdem, es ist ein Gefühl von Leere«, murmelte Artus zu sich selbst. Trübe blickte er über die Stadt hin. Auch sie war gewachsen, ein ausgedehnter, geschäftiger Ort, der Tag für Tag wuchs. Eine Stadt von Freien, so wurde sie genannt. Alle hatten ihre Häuser, und noch immer trafen täglich Leute aus dem ganzen Land ein, die einen neuen Anfang suchten. Die meisten fanden ihn. »Und warum kann ich nicht mit ihnen einen neuen Anfang finden?«, fragte sich Artus. Er dachte an Moses, der sein Volk durch alle Widrigkeiten ins gelobte Land geführt hatte, nur um vor dem Erreichen des Ziels zu sterben. Alle versuchten einen Neuanfang, alle waren engagiert und zuversichtlich, nur er nicht. Selbst Merlin schien verjüngt. »Ich bin der alte junge König.« Als er sich umwandte, sah er sein dunkles Spiegelbild in den Butzenscheiben der Fenster zum Balkon. Zu seinen Füßen schimmerte Camelot mit tausend Lampen und Fackeln. Er war demgegenüber nur eine dunkle und kleine Gestalt, die nicht zum Palast 262 passte, diesem strahlenden Mittelpunkt der Stadt und des Landes. Mit einem müden Seufzer öffnete er die Flügeltür zum Balkon und betrat seine Wohnung. Im offenen Kamin brannte ein Feuer und verbreitete das einzige Licht im Raum. Sogar sein orangegelber Widerschein konnte die weißen Marmorsäulen nicht erwärmen, die den Baldachin des Bettes trugen. Müde schnallte Artus das Schwert ab und stellte es in seinen Ständer neben dem Bett. Er legte Wappenrock und Wams ab, legte sie ordentlich zusammen und tat sie in den Schrank. Dann war das Hemd an der Reihe und wurde in einen Korb für schmutzige Wäsche geworfen. Er zog die Stiefel von den Füßen und entledigte sich der Hosen und Beinlinge. Der Steinboden war kalt unter seinen Füßen. Er tappte zum Waschtisch, nahm einen Schwamm und tauchte ihn ins kalte Wasser, das er aus einer Kanne in die
Waschschüssel gegossen hatte. Er wusch sich, dann tappte er sauber und fröstelnd zurück zu seinem Himmelbett, zog den Vorhang zurück und kroch hinein. Er zog den Vorhang zu, legte sich nieder und zog die Decke über sich. Jetzt erst bemerkte er, dass es unter der Decke warm war und dass jemand neben ihm lag. Er schrak zusammen, fuhr im Bett auf. Ein Meuchelmörder? Aber nun kam ihm ein süßer, vertrauter Duft in die Nase. Guinevere. »Ich habe angefangen, dir zuzustimmen.« Ihre warme Hand fand die seine. Sie zitterte. »Welchen Sinn hat es, die Kraft des Landes zu tragen, wenn ich allein sein muss?« »Ach, Guinevere.« Artus wälzte sich zu ihr herum und legte die Hand auf ihre warme, seidige Seite. »Wie liebe ich dich.« »Ich liebe dich auch«, flüsterte sie. »Aber Artus, was werden wir tun, wenn das Land uns den Rücken kehrt?« Er lächelte in die Dunkelheit hinter dem Bettvorhang. »Ich weiß es nicht. Wir werden zusammen sein. Das ist alles, was ich weiß.« »Britannien wird wieder ein feindseliger Ort sein, Artus«, sagte 263 sie und streichelte seine Wange. »Briganten und Banditen und falsche Könige werden das Land unsicher machen.« »Wir werden zusammen sein«, sagte Artus. »Das ist alles, was ich weiß.« Er küsste sie. Sie flüsterte etwas, doch er legte ihr einen Finger an die Lippen. »Jemand ist eben in den Raum gekommen.« Ihre Augen wurden groß und ängstlich. Leise Schritte näherten sich von der Tür dem verhängten Bett. Artus zog Guinevere hinter sich und tastete nach seinem Schwert. Seine Finger berührten den marmornen Bettpfosten, doch Excalibur war fort. Im nächsten Augenblick fuhr die Klinge zischend aus der Scheide. Seidenvorhänge wurden glatt aufgeschlitzt, und Excalibur Klinge fuhr matt blinkend nieder und durchschlug mit einem wuchtigen Hieb Decke, Laken und Rosshaarmatratze und kerbte sogar den marmornen Rahmen. Artus ergriff den zerrissenen Bettvorhang, riss ihn zurück und sprang hinaus. Er landete auf einem stämmigen Krieger und warf den Mann rücklings zu Boden. Eine Hand im Panzerhandschuh hielt noch den Schwertgriff umfasst und riss die kratzende Klinge aus dem gesprungenen Marmor. Nackt und unbewaffnet, warf sich Artus auf den Mann und versetzte ihm einen wütenden Faustschlag zwischen die Augen. »Lass mein Schwert los und lebe.« Der Krieger brüllte auf und hieb unbeholfen nach Artus' Rücken. Das Schwert traf nur oberflächlich, da der liegende Mann nicht ausholen konnte und Artus ihm zu nahe war. Dünne Rinnsale warmen Blutes tröpfelten von Artus' Seiten. Er schlug noch zweimal zu, packte den Kopf des Mannes und schlug ihn gegen den Marmorboden. Aber der Krieger konnte ein Knie zwischen sich und Artus bringen und ihn abwerfen. Der Mann kam gleichzeitig mit Artus auf die Beine. Excalibur fuhr pfeifend durch die Luft. 263 Artus wich zurück. Es gab kein Entkommen. Der Krieger stand zwischen ihm und der Tür - und der Balkon hing vier Stockwerke über dem Boden. Und natürlich konnte er Guinevere nicht verlassen. Er würde zu Hilfe nehmen müssen, was gerade zur Hand war -
Wasserkanne und Schüreisen, Vasen und Statuen - und hoffen, dass sie in der Verwirrung entkäme. Um Zeit zu gewinnen, sagte Artus: »Sag mir wenigstens, wer du bist, wer dich geschickt hat.« Der keuchende Mann stieß ein hartes Lachen aus. Er bellte etwas zurück. Obwohl Artus nichts verstand, kamen ihm die Worte sächsisch vor, und das Letzte konnte nur >Wotan< gewesen sein. Der Krieger ging am Bett vorbei gegen Artus vor. Noch ein paar Schritte, und Guinevere konnte zur Tür fliehen. Artus wollte sichergehen, dass sie eine Chance haben würde. Er sprang zum Kaminfeuer und bewaffnete sich mit Aschenschaufel und Schürhaken. Dann warf er sich mit dem Ausruf »Für Guinevere!« auf den anderen und dem Tod entgegen. Excalibur blinkte im Halbdunkel und durchschnitt mit einem Hieb Aschenschaufel und Schürhaken, als wären sie Strohhalme. Dann holte der andere zum Stoß auf Artus' Brust aus. Auf einmal erhellte blendendes Licht den Raum. Es ging von einer sternförmig gespreizten Hand aus, einer Frauenhand. Energie knisterte über den Brustpanzer des Kriegers und warf ihn zurück. Er brüllte. Weiße Glut aus Guineveres Hand schmolz den Brustharnisch, verbrannte Fleisch und Knochen, und der Mann brach unweit vom Fußende des Bettes leblos zusammen. Ein sternförmiges Loch schwelte in seiner Brust. Excalibur klirrte auf dem Steinboden. Artus schwankte und fiel auf die Knie. Guineveres ganze Gestalt leuchtete. Sie stand nackt neben dem Bett, und ihre Augen waren wie zwei Schwerter, ihre Worte schnitten wie Stahl. »Wir können das Land nicht im Stich lassen, Artus. Nicht, wenn Menschen wie diese es unsicher ma 264 chen. Wir können Britanniens Glück nicht unserem eigenen opfern.« »Nein«, keuchte er, mit beiden Händen auf den Boden gestützt. »Nein. Wir können es nicht. Aber wenn ich König sein und aus Liebe zu dir leiden muss, dann sei meine keusche Königin und leide aus Liebe zu mir.« Jetzt erst verblasste ihre Gestalt. Draußen im Korridor ertönten Schritte. Guinevere sog die nach verbranntem Fleisch und Tod stinkende Luft ein und sagte: »Ja, Artus. Ich werde es tun.« Die ganze Tafelrunde war zur Hochzeit versammelt. Artus und Guinevere, beide in weißen Gewändern, schwebten zauberisch über dem hohlen Herzen des Tisches in der Luft. Der Erzbischof von Canterbury leitete die Trauungszeremonie. Kay, Gryfflet, Lucas, Gareth, Gavain, Agravain und Gaheris nahmen mit Ulfius, Herzog Ector und Artus' übrigen Rittern an der Trauung teil. Igraine war als stolze Trauzeugin zugegen, und auf der anderen Seite stand Guineveres Vater, König Lodegrance von Cameliard. Danach begann der festliche Teil, und Artus und Guinevere führten in der großen Halle den feierlichen Schreittanz an. Merlin hatte zur Unterhaltung des zahlreich erschienenen Adels Spielleute kommen lassen, Küche und Keller gaben ihr Bestes, und bald verbreitete sich eine fröhliche, ausgelassene Stimmung. Der alte Magier aber konnte nicht umhin zu bemerken, dass der König und die Königin inmitten der lauten Fröhlichkeit traurig und in sich gekehrt blieben.
17. Der Kriegsrat
»König Artus mag für euch alle eine Vaterfigur sein«, sagte Kay unbekümmert über seinen Bierkrug hinweg, »und für die meisten Ritter der Runde ist er ein Idol, aber für mich wird er immer mein 265 kleiner Bruder sein.« Das war eine respektlose und sogar skandalöse Feststellung, doch mit solch offenherzigen Reden hatte Kay viele Bewunderer gewonnen. Einer von diesen war ein junger Mann, der erst vor kurzem als Knappe in Gryfflets Dienst getreten war. Eine andere war eine ebenso junge Priesterin, die in die Geheimnisse von Guineveres Mysterien eingeweiht war. Auch Thuata De Danann waren unter den Anwesenden, Feenvolk, das die gleiche geschmeidige Schönheit und Eleganz wie die Königin besaß. Gelehrte und Maurer, Kaufleute und Mönche — die unterschiedlichsten Bewohner von Camelot fanden sich nach ihrem Tagewerk zu abendlicher Geselligkeit und Entspannung in den Wirtshäusern der Stadt ein. Gleich welchen Standes und welcher Herkunft, die Leute waren stets begierig, Geschichten zu hören, die der Stiefbruder König Artus' zu erzählen wusste. Kay leerte seinen Bierkrug, wischte sich den Schaum vom Schnurrbart und sagte: »Ich kämpfte für König Uther am Humber, bevor unser ruhmreicher König überhaupt wusste, dass er Uthers Sohn war.« Das war zu viel. Gryfflets Knappe protestierte. »Wie können Sie unseren König schlecht machen? Sehen Sie die Stadt an, die er in zehn Jahren erbaut hat! Nie hat es auf der Welt eine Stadt wie Camelot gegeben! Und nie wieder wird es solch eine Stadt geben!« Wie es die Art der Jungen ist, war jede Äußerung dieses Knappen ein Ausruf. »Ich mache Artus und seine Stadt nicht schlecht«, sagte Kay. »Ich anerkenne, was für eine wunderbare Stadt es ist. Eine Stadt freier Menschen. Eine Stadt, die ein Zufluchtsort ist, wo Sterbliche und Unsterbliche nebeneinander leben. Artus muss ein großer Mann sein, um solch eine Stadt zu bauen, aber ich stehe ihm zu nahe und kann es so nicht sehen. Erst gestern sagte er etwas so Dummes, dass ich ihm eine Kopfnuss geben musste.« »Er ist durch Königin Guinevere groß geworden«, sagte die junge Priesterin. »Sie verleiht ihm Macht. Sie verleiht auch mir 265 Macht, und wir Priesterinnen verleihen euch Rittern Macht.« Sie streckte ihre schmalen Hände zu den Thuata aus, die in verhüllenden Umhängen unter den Sterblichen saßen. »Guinevere hat sogar diesen Unsterblichen den Weg geebnet, so dass sie das Land wieder bewohnen können.« Das war nicht zu leugnen. Die verräucherten Gewölbe des Bierkellers lockten Feenvolk an, das noch exotischer wirkte als die Thuata - Bodachane, Sylphiden, Zwerge, Kobolde. Obwohl solche Geschöpfe das Sonnenlicht scheuten, drängten sie sich abends auf den dunklen Straßen. Man sagte, dass Camelot bei Tag ein Wirklichkeit gewordener Traum sei, und bei Nacht eine Traum gewordene Wirklichkeit. »Ja, ja«, sagte Kay und nickte mit dem blonden Haarschopf, als ihm der nächste Bierkrug serviert wurde. »König Artus ist euer aller Vater und Königin Guinevere eure Mutter vergessen wir, dass sie im Zölibat leben. Aber für mich sind sie bloß ein paar blauäugige Kinder.« »Er hat Recht«, meldete sich eine neue Stimme zu Wort. Die Zecher wandten die Köpfe und sahen ein schmales, spöttisches Gesicht. Der schwarz gewandete geheimnisvolle
Fremde schien denen, die sich um Kay versammelt hatten, irgendwie vertraut. »Er hat Recht. Artus und Guinevere sind gut, ja, aber nicht wirklich groß.« Kay wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Es war schwierig, sich über einen Mann zu ärgern, der ihm zustimmte, gleichzeitig aber hatte dieser Fremde seinen Bruder und seine Schwägerin herabgesetzt. »Diese Behauptung sollten Sie besser begründen, Freund.« Ihm antwortete ein Lächeln wie glänzende Rasiermesser. »Artus und Guinevere haben hier in Camelot feine Juwelen zusammengetragen und eine Schatzkammer daraus gemacht doch feine Juwelen locken Diebe an. Die Stadt wird ihnen bald weggenommen werden.« »Was?« Kay stemmte die Fäuste auf den Tisch und erhob sich. 266 »Bleiben Sie sitzen, bitte, guter Ritter«, sagte der Fremde. »Ich spreche nur von Aelle von Sussex, einem großen sächsischen Dieb, der bereits Artus' Scheide gestohlen hat und den es nach dieser Stadt gelüstet.« Kay lachte. Er winkte ab. »Aelle von Sussex — ein Barbar. Er vermag nichts gegen die Ritter der Runde, gegen Excalibur und Merlin —« »Oder gegen Guinevere und die Macht des Landes«, ergänzte die Priesterin. Jetzt lachte der Fremde. »Hat jemand von Ihnen einen wirklichen Gott gesehen? Ich meine nicht Najaden und Dryaden, unsterbliche Helden und dergleichen. Ich meine nicht einmal den Christengott, der Predigten höher schätzt als Schwerter. Hat jemand von Ihnen einen Gott gesehen, der den Himmel kochen und es Bimsstein regnen lässt? Hat jemand von Ihnen einen blutroten Titanen gesehen, der sich in tausend gigantische Kriegskäfer verwandeln kann? Hat jemand von Ihnen Götter gesehen, die mit Blitzschlägen kämpfen? Nun?« Die anderen am Tisch, Kay mit eingeschlossen, verharrten in verdrießlichem Schweigen. »Das ist es, was Sie sehen werden. Wotan kommt. Aelle und sein Volk bringen den germanischen Götterhimmel mit sich. Das sind wahre Götter, keine kleinen Baumgeister. Wenn ihr sie in der Höhe kommen seht, werdet ihr wissen, dass Artus und Guinevere gut sind, aber nicht groß. Wenn ihr Wotan und Thor und Baidur und Tyr seht, werdet ihr wissen, dass Britannien fallen muss.« Kay sprang auf und riss sein Schwert aus der Scheide. »Genug!«, brüllte er. »Halt dein Maul oder zieh dein Schwert!« Kay stand leicht schwankend über einem plötzlich leeren Stuhl. Der Fremde war fort. Loki, du bist hier. Du bist hier in Camelot. Wie? Unsere Abmachung verbannt dich aus dieser Stadt, solange du nicht eingeladen wirst. . . Wie hast du mich getäuscht, Loki? 266 Schlimmer noch, du hast Artus eigene Leute getäuscht. Deine Wirtshausgeschichten haben die Wirkung, dass sie an Wotan glauben und den kommenden Krieg fürchten . . . Ja. Es gibt Krieg. Wotan kommt. Ich habe es vorausgesehen. Wotan kommt und bringt Krieg — und ich werde erschlagen. Ich habe es vorausgesehen. Artus rief seine Tischrunde für einen Kriegsrat zusammen. Es war eine zahlreiche Gesellschaft. Artus und Merlin saßen im hohlen Kern in der Mitte des Tisches, um dessen äußeren Rand die Ritter versammelt waren — Brastias, Kay, Lucas, Gryfflet, Gavain, Gareth, Agravain, Gaheris, Bawdewyn von Bretagne, Kaynes und fünfmal so viele andere. Alle Plätze waren besetzt, außer natürlich der Gefährliche Sitz. Artus' reiner Ritter war
noch nicht gekommen. Was die übrigen fünfzig betraf, so waren sie vielleicht unrein, aber gleichwohl edle und mutige Männer. Diener gingen im Saal aus und ein, füllten Bierkrüge und räumten Schalen mit den Resten der geräucherten Heringe und Aale ab. Das Kratzen von Messern auf Holztellern wurde von noch weniger angenehmen Geräuschen begleitet. Dagonet zupfte eine Maultrommel und sang dazu. »Ohne Frrau und allein liegt Artus im Bett, Er hofft, ein paar Sachsen machen es wett. So sammelt euch um ihn, frustrierte Leute, Denn Krieg nur statt Frau gibt's für euch heute.« Ulfius als Kammerherr und Vorsteher des königlichen Hofstaates saß etwas abseits der Tafelrunde und ächzte in seinen Bierkrug. Er winkte Dagonet und bedeutete ihm, aufzuhören. Doch die Geste reizte den Zwerg nur zu einem weiteren Vers: »Herr Ulfius, stets der Schlimmste der Bande, Will weismachen uns, dass Lust nur bringt Schande. 267 Doch so edel und keusch kann gar keiner sein, Also tut er nur so als war er kein Schwein!« Ulfius funkelte erbost zu Dagonet hinüber. Es war unmöglich, sich auf die Sitzung zu konzentrieren, wenn dieser lästige Zwerg herumsprang und seine dreisten Verse krähte. Dagonet quittierte den Blick mit einem breiten Grinsen und einer Verbeugung. Ulfius öffnete den Mund, als wollte er eine Erwiderung vorbringen, besann sich eines Besseren und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem König zu. »Seit der Schlacht von Bedgrayne vor zehn Jahren ist es meine Absicht gewesen, Rhiannon zurückzugewinnen«, sagte Artus. »Excalibur ist ohne die Scheide unvollständig, und das gilt auch für mich und für Britannien. Wir haben ein hohes Lösegeld für die Scheide geboten, aber Aelle von Sussex hat es abgelehnt. Unsere Abgesandten sind erschlagen worden. Unsere Spione wurden tot aufgefunden. Sogar Merlin war nicht imstande, Rhiannon zurückzugewinnen. Der Grund dafür ist - zu meinem Bedauern muss ich es sagen -, dass Morgan Le Fey Aelle hilft. Während Camelot in die Höhe wuchs und unsere Kräfte und Mittel beanspruchte, habe ich mich mit diesen halbherzigen Versuchen zufrieden gegeben. Nun aber ist Camelot fertig gestellt, an meinem Hof leben fünfzig ausgewählte Krieger und fünfzig Priesterinnen, und man sollte meinen, dass wir uns des vollendeten Werkes erfreuen und weitere unerfreuliche Verwicklungen vermeiden können. Doch leider bringt mein Stiefvater schlechte Nachricht von Aelle aus dem Osten.« Ector meldete sich zu Wort. Er war dem Ruf des Königs gefolgt und in aller Eile von Chertsey an den Hof geritten. »Ja, es ist so, wie du sagst. Als mich die Nachricht von diesem Rat erreichte, den du einberufen hattest, mein Sohn, hörte ich Meldungen, wonach Aelle mit fünfzigtausend Mann gegen London marschiert sei. Es wird ihm sicherlich in die Hände fallen. Chertsey wird sein nächstes Opfer sein. Gegen eine Streitmacht von dieser Stärke 267 kann ich nicht bestehen. Aelle wird das Tal der Themse aufwärts marschieren, bis er Camelot belagern kann.« Artus' Miene war düster. »Können wir ihn vor Chertsey aufhalten?« Ector schüttelte bekümmert den Kopf. »Ein paar Tage vielleicht, aber nicht länger. Du kennst die Garnison dort, Artus. Die Burg kann nicht mehr als dreihundert Krieger aufnehmen, und wenn Aelles Heer mit Steinschleudermaschinen und Rammböcken anrückt, werden die Mauern nicht länger als einen Tag standhalten können.«
»Dann sollten vielleicht alle Männer und Waffen und Vorräte herausgebracht werden, so dass sie uns nützen können, wenn wir zur Entscheidungsschlacht antreten«, sagte Artus. »Diana beaufsichtigt bereits die Evakuierung«, sagte Ector. »Der Wagenzug wird die ausgebauten Fallgatter mitbringen, damit Aelles Streitkräfte die Burg nicht leicht gegen uns in den Verteidigungszustand setzen kann.« Artus nickte nachdenklich. »Ich hätte erkennen sollen, dass du Chertsey nicht verlassen würdest, es sei denn, diese Vorbereitungen waren bereits eingeleitet und in den Händen einer fähigen Person.« Ector lächelte ihm zu. »Du kennst meine Diana. Sie und unsere dreihundert Leute werden bis zum Umfallen arbeiten, um die Burg rechtzeitig zu räumen.« »Wir dürfen nicht vergessen«, warf Merlin ein, »dass diese fünfzigtausend Mann ein mächtiges ausländisches Pantheon mit sich bringen. Wotan hat seine Kräfte ebenso wie Aelle zusammengezogen. Er ist es, an den sie glauben und der sie vorwärts treibt. Wir müssen verstehen, dass die Armee, die gegen uns marschiert, Götter mit einschließt.« Artus nickte nüchtern. »Wenn Chertsey bald verloren geht, müssen wir einen anderen befestigten Ort auswählen, wo wir dieser Flut standhalten und sie zurückschlagen können. Es muss ein Ort sein, wo wir gute Befestigungen haben, eine große Garnison 268 und, wie mir scheint, einen wirkmächtigen heiligen Ort, der uns im Kampf gegen die fremden Götter verteidigen kann.« Lucas, Herzog von Gloucester, strich sich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das Volk meiner Ländereien ist von tiefer Frömmigkeit erfüllt. Es würde niemals diesem Wotan zufallen.« »Ich danke dir für deinen Glauben, Lucas, doch Gloucester liegt zu weit westlich. Wir brauchen einen Ort auf halbem Weg zwischen Gloucester und London, wo wir Aelles fünfzigtausend Krieger mit einer gleich starken Streitmacht entgegentreten können, und wo wir ein Zentrum des Glaubens an unsere Götter haben.« Zum ersten Mal in dieser Versammlung nahm Bedivere das Wort. Der einarmige Ritter konnte es mit jedem zweihändigen Mann an diesem Tisch aufnehmen. Bedivere war ein adliger Krieger aus einer alten und vornehmen Familie, der sich oftmals als ein standhafter und kluger Freund Artus' erwiesen hatte. »Unweit von meinem Heimatland gibt es eine große Höhenfestung auf einem Hügel, der als Mount Badon bekannt ist. Sie überwacht die Kreuzungen von fünf Römerstraßen, die dort von Bath, Cirencester, Silchester, Winchester und Sarum zusammentreffen. Der Burgherr ist Herzog Liddington, der dir in Caerleon die Treue geschworen hat, und deinem Vater vor dir. Es gibt dort auch ein Kloster, das dem heiligen Patrick geweiht ist, der dir ergeben ist. Was andere Geister betrifft, natürliche und noch andere, so geht dem Ort der Ruf voran, dass es dort spuken soll.« »Ich weiß von dieser großen Höhenfestung«, sagte Merlin. »Während der Jahre meines Wahnsinns wurde ich von Vortigern dorthin gerufen, der sich vergeblich bemühte, auf der Höhe eine neue Befestigung zu bauen. Er lockte mich dorthin, bat mich um meine Hilfe, versuchte dann aber, mich zu töten und den Mächten zu opfern, die seine Pläne durchkreuzten.« Ein ernster Ausdruck umdüsterte Merlins Stirn. »Ich erinnere mich nicht, wie ich überlebte, aber am Ende baute Vortigern seine Befestigung. Es ist ein Ort metaphysischer Macht.« 268 »Sollen wir uns dort zum Kampf stellen, Merlin?«, fragte Artus.
Merlin schlug den Blick nachdenklich nieder und strich sich über den Bart. »Vielleicht. Der Hügel selbst ist ein Kreuzungspunkt der Ley-Linien. Er ist ein alter Sidh. Ich kann mir denken, dass in seinem Inneren viele verstoßene Götter und Mächte wohnen. Mehrere große Palisadenwälle umgeben die Höhe in einer Stufenpyramide. In Glastonbury deutet solch eine Form auf mehrere Schichten der Anderwelt hin, wo jede Gruppe von Gottheiten einer anderen, darüber liegenden zum Opfer gefallen ist. Vielleicht verhält es sich am Mount Badon genauso. Vielleicht können wir diese früheren Gottheiten für uns gewinnen, indem wir ihnen jetzt einen Anteil an unserer Welt bieten und sie bewegen, mit uns für Britannien und gegen Aelle und Wotan zu kämpfen.« Artus holte tief Atem und blickte in den Kreis der Tafelrunde. »Nach dieser Darstellung scheint es der richtige Ort für unsere Landesverteidigung zu sein.« Er hob seinen von Merlin verzauberten Bierkrug, der stets voll blieb. »Was sagt ihr anderen?« Fünfzig Ritter hoben ihre Bierkrüge und riefen: »Zum Mount Badon!«
18. Unterirdische Reisen
In Stonehenge ging es so geschäftig zu wie in der Blütezeit von Camelots Erbauung. Tag und Nacht trieb die Dreiheit ihre Lehrlinge zur Arbeit an und erzeugte neue und erstaunliche Schöpfungen - eiserne Kessel, vergoldete Teller und Becher, kunstvolle Bettpfosten aus geschnitztem Holz, Geländer, silberne Kandelaber und Kronleuchter, Schränke und Tische mit Einlegearbeiten, Bänke aus Eisen ... Zu diesen natürlichen Erzeugnissen Goibhnius, Luchtas und 269 Creidhnes kamen andere Dinge, die sie nicht gemacht haben konnten - samtene Gewänder im orientalischen Stil, marmorne Tischplatten in Schwarz und Gold, kobaltblaue und safrangelbe Fliesen, Wollstoffe und seidene Wandteppiche ... Dann und wann gelangten Warensendungen aus weit entfernten Ländern wie dem Reich des Himmels auf den alten römischen Handelswegen bis hierher zum Stonehenge. Kaufleute schlugen ihre Lager auf und brachten Waren zum Verkauf, und so seltsam es scheinen mochte, sie fanden in dieser dünn besiedelten Gegend einen sehr interessierten und begeisterten Käufer. Gerade hatte Merlin solch eine Transaktion abgeschlossen und ein aus Elfenbein gefertigtes mechanisches Pferd gekauft, als Nyneve an seiner Seite erschien. »Verrate mir, welche Verwendung du für solch einen Mechanismus siehst?«, fragte sie. Merlin wandte sich ihr zu, und hinter seinem weißen Bart erröteten die faltigen Wangen. »Ein Zeitvertreib nur. Eine Belustigung.« Er nickte dem dunkelhäutigen Händler zu und entließ den Mann mit einer tiefen Verbeugung. Der Kaufmann erwiderte die Verbeugung. Die drei starken Männer, die das Pferd hergetragen hatten, hoben nun einen ebenso schweren Kasten mit Goldmünzen, die Merlins Zahlung ausmachten. Nyneve umschlang den alten Zauberer. »Ich weiß, für einen Magier deines Talents ist es eine Kleinigkeit, einen Kasten mit Kupfermünzen in Gold zu verwandeln. Aber ich muss trotzdem fragen, warum? Camelot ist fertig, am Horizont erhebt sich drohend Kriegsgefahr, und du betreibst Tag und Nacht diese Werkstatt. Warum? Warum handelst du, als müsstest du deinen eigenen Palast ausstatten?« Er ergriff ihre Hände. Ihre Berührung verwandelte ihn langsam. Jugend und Vitalität zogen wie in Wellen seine Arme aufwärts. Die zerfransten Ärmel seines alten Reiseumhangs
festigten sich wieder, und unter den Ärmeln wurden seine Arme erneut glatt und sehnig. Der weiße Bart wich von seinem Kinn, die 270 Brauen wurden dünner und dunkler. Tiefe Falten und Runzeln glätteten sich. Merlin war wieder jung. »Die vergangenen Götter dieses Landes haben ihre Wohnung in diesem und jenem Sidh. Es sind Zufluchtsorte in der Anderwelt, wo sie ihr Leben in der Art und Weise verbringen, die ihnen am besten geeignet erscheint. Aber ich besaß nie solch einen Ort. Seit der Zeit, als ich erschlagen wurde, habe ich meinen Wahnsinn immer in der Welt der Menschen ausgelebt. Ich habe es gründlich satt. Ich half Artus sein Paradies erbauen und dachte: Vielleicht sollte ich auch mir mein Paradies erbauen — uns.« Nyneve suchte in seinen Augen nach Anzeichen, die verraten würden, dass er scherzte. Aber es gab keine. Merlin führte sie zum Mittelpunkt der Steinsetzung, wo ein besonderer Findling lag. Er berührte ihn mit dem Zeh. »Ich fand den Sidh ein wenig auffällig und entschied, dass wir den Zugang zu unserem Heim in der Anderwelt dort verstecken sollten, wo niemand ihn vermutet, nämlich vor aller Augen.« Er zog Nyneve an sich und schlug den Umhang um sie. Mit einem silbrigen Aufblitzen löste sich das Gewebe und die Gestalten darin in Energie auf. Merlin sprach ein Zauberwort, und die Steinplatte unter seinen Füßen verwandelte sich in leeren Raum. Die Lichtgestalten Merlins und Nyneves tauchten hinab in die Tiefe. »Ein bemerkenswertes Eingangstor«, sagte sie, »das Stonehenge.« »Ja. Es ist auch bei Dunkelheit leicht zu finden und auf magischen wie weltlichen Straßen gut zu erreichen.« Sie sanken tiefer, vorbei an Schichten versteinerter Muscheln und drei verschiedenen Grundwasserspiegeln. Endlich trafen sie ein. Ihre Lichtgestalten wurden wieder zu Fleisch und Blut. Zusammen standen sie auf einem Kliff. Vor ihnen lag eine unberührte Landschaft von scheinbar grenzenloser Weite. »Hier ist es, mein Liebes«, sagte Merlin. »Die Paradieshöhle.« 270 Nyneve stockte der Atem angesichts der Schönheit um sie herum. Der Himmel über ihnen war von einem lichten Blau. Eine Sonne strahlte freundlich vom Firmament. Neben ihr glänzte ein einzelner heller Planet mit seinen vier Monden. »Das wird wohl Jupiter sein, nicht?«, fragte sie lachend. Merlin lächelte. »Es erinnert mich daran, was ich einst war. Die Sonne geht auf und geht unter; Wolken ziehen auf und lassen es regnen, doch wenn sie sich aufgelöst haben, bleibt immer Jupiter am Himmel, begleitet von seinen vier Töchtern.« Er machte eine ausgreifende Armbewegung über die Landschaft hin. »Und wo der Himmel endet, beginnt die Welt.« Zu beiden Seiten der ungeheuer weiten Höhle erhoben sich die eindrucksvollen Felswände aus Granit. Zwischen ihnen erstreckte sich ein weites, grünes Tal. Ein kleiner Fluss zog seine Schleifen, gesäumt von Bäumen, zwischen leuchtenden Wiesen dahin. Er mündete in einen tiefen blauen See, dessen Oberfläche die ragenden Felsen zu beiden Seiten spiegelten. »Es ist schön«, sagte Nyneve. »Die springenden Bäche, die Wälder, der See und seine Möwen —« »Es sind keine Möwen, sondern Reiher«, sagte Merlin.
Nyneve holte tief Atem. »Es ist eine wunderschöne Welt, die du geschaffen hast, Merlin. Aber was ist mit all dem Schmiedeeisen und dem Holz? Wo hast du all den Samt hingeschafft, die Teppiche und die Seide?« »Dorthin«, sagte Merlin. Seine ausgestreckte Hand zeigte zu einem schönen Palast, der auf einer Felsbank in halber Höhe der gestuften Granitwand aus hellem Laubwald ragte. Das Gebäude lag wie eine juwelenbesetzte Krone hoch über dem Tal, die Mauern waren überwachsen von blühenden Ranken. Bogengänge führten in prachtvolle Gärten. »O Merlin«, staunte Nyneve. »Lass uns Britannien und seine Kriege vergessen. Lass uns Wotan und Aelle von Sussex vergessen. Lass uns die Bande zu der Welt der Menschen lösen und uns für immer hierher zurückziehen.« 271 Ein Schatten von Traurigkeit streifte sein Gesicht. »Ja, Nyneve. Sobald Artus sicher ist, werden wir es tun. Sobald die Kriege beendet sind und Artus sicher ist, werden wir hierher gehen.« Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Merlin, du weißt, dass die Kriege niemals ein Ende nehmen werden. Du weißt, dass Artus niemals sicher sein wird. Du weißt, dass Wotan dich töten wird, bevor er dir erlaubt, dich in diese Paradieshöhle zurückzuziehen.« »Ich weiß es.« Artus klopfte leise an die Tür zu den Gemächern der Königin. »Die Ratsversammlung ist zu Ende. Ich weiß, es ist spät, und wenn du schon im Bett bist —« »Nein, ich bin nur im Bad«, kam Guineveres gedämpfte Antwort aus dem Inneren. Artus trat ein. Der warme Duft parfümierter Seife drang hinter dem Wandschirm hervor. »Ich sollte später wieder kommen.« »Ist es für einen Mann so schrecklich, seine seit fünf Jahren angetraute Ehefrau im Bad zu sehen?«, fragte Guinevere. Ihre Worte waren eine einfache Feststellung, aber auch eine Erinnerung an den Abstand zwischen ihnen. »Nein«, antwortete Artus. »Natürlich nicht.« Er schloss die Tür hinter sich und ging auf den Wandschirm zu. Die Luft im Raum duftete nach ihr. Für ihn hatte dieser Duft immer etwas Berauschendes, das ihm die Röte in die Wangen trieb und Herzklopfen verursachte. Der Lammfellteppich fühlte sich unter seinen eisenbeschlagenen Stiefeln tief und weich an. Artus bückte sich und zog die Stiefel aus, ließ sie mit den Strümpfen bei der Tür zurück. Die elfenbeinfarbene Wolle schmeichelte seinen Fußsohlen. »Es gibt Krieg«, sagte er, nicht zuletzt, um sich vom Anblick der zartrosa Haut hinter dem Wandschirm aus Walnussholz abzulenken. »Krieg mit den Sachsen. Krieg mit Wotan.« Wasser rieselte aus einem Schwamm über Guineveres Schulter. »Ich wusste, dass dieser Krieg kommen muss. Du schlägst Lot nie 271 der und Aelle steht auf. Du schlägst Aelle nieder, und wer wird als Nächster aufstehen?« Artus kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Bettpfosten. »Den Krieg werde ich ausfechten, wenn es soweit ist. Zuerst muss ich in diesen ziehen. Aelle hat London überrannt. Chertsey wird ihm bald in die Hände fallen. Wir haben beschlossen, ihm auf dem Mount Badon entgegenzutreten. Es ist der für die Verteidigung am besten geeignete Ort.« »Und du fragtest dich, wie bald ich meine Priesterinnen bewegen könnte, die in diesem Krieg verwundeten Männer zu heilen -«
»Wir kämpfen, um alles zu schützen, was wir erbaut haben«, sagte Artus. »Wir kämpfen, weil der Friede von Camelot Opfer verdient. Und ich kämpfe, um Rhiannon zurückzugewinnen. Allein ist Excalibur unvollständig, ebenso wie ich ohne dich unvollständig bin.« Eine weitere lange Stille folgte, unterbrochen nur von wässrigen Geräuschen. »Nun, sobald du Aelle geschlagen hast und Merlin den Wotan und Rhiannon zurückgewonnen und mit Excalibur vereint sein wird, kann unsere Welt vielleicht sicher genug sein, dass du und ich -« »Ich weiß, mich quält es auch. Nichts wäre mir lieber als hinter diesen Wandschirm zu treten. Es ist für andere, dass wir uns zurückhalten.« »Ja«, sagte sie still, »ich weiß.« »Als ich in Dumnonia war, erzählte mir meine Mutter Igraine eine Volkssage aus dem alten Gallien. Sie handelte von einem König, Raimondin de Lusignan war sein Name, der die Fee Melusine heiratete. Als Mitgift schenkte sie ihm grenzenlosen Reichtum und Sicherheit in seinem Königtum - unter der Bedingung, dass er sie niemals nackt sehen dürfe.« Artus seufzte und starrte zum Fenster hinaus. »Lange lebten sie in Liebe und Eintracht zusammen, der König und die Stammesgöttin, und ihr Land war reich und fruchtbar. Das Volk veranstaltete eine große Feier zu Ehren 272 des Königs und dankte ihm für den großen Wohlstand und das Glück - aber der König war nicht glücklich. Er sagte sich: >Was nützen mir Reichtum und Sicherheit, wenn ich sie immer für mich allein haben muss?< Und so ging Raimondin hinunter, wo seine Frau badete, die schöne Feengöttin Melusine. Doch als er sie sah, begann sie sich in einen großen Drachen zu verwandeln. In Angst und Sorge stürzte Raimondin zu ihr, sie zu umarmen, doch ihre Haut verwandelte sich in seinen Händen zu schlüpfrigen Schuppen, und sie flog davon. Sie wurde nie wieder gesehen, und von da an ging es mit seinem Reichtum abwärts - und Feinde bedrohten die Sicherheit seines Landes.« »Fürchtest du, dass unter meiner Haut ein Drache verborgen ist?«, fragte sie hinter dem Wandschirm. »Ich fürchte, dass ich deiner nicht mehr würdig sein werde, wenn Wotan und die Sachsen geschlagen und Rhiannon wiedergewonnen ist, und wenn ich Krone und Land aufgegeben habe, um mit dir zu sein ...« »Artus —« Aber Artus hatte schon seine Stiefel aufgehoben und leise ihr Gemach verlassen. Merlin und Nyneve traten aus dem funkelnden roten Licht einer Ley-Linie auf das Gras zu Füßen des Mount Badon. Es war eine düstere alte Hügelfestung. Fünf ansteigende Erdwälle, auf denen Palisaden errichtet waren, umgaben den Hügel. Auf seiner Höhe erhob sich eine ausgedehnte steinerne Festung, deren graue Mauern in einem Viereck die runde Hügelkuppe umgaben. Diese Burg war eine neue und anmaßende Ergänzung, einem enormen Korken gleich, der in den Hügel gestoßen war, um das, was darunter lag, am Hervorbrechen zu hindern. »Es ist ein unglücklicher Ort«, bemerkte Merlin mit halblauter Stimme. Nyneve kniete im Gras nieder. Sie trug einen grauen Umhang, der mit dem schwindenden Abendlicht verschmolz. Ihre ge 272 schmeidige Gestalt bewegte sich geräuschlos. Tau hatte sich auf Gras und Klee niedergeschlagen und sie berührte die Tropfen mit ihren schmalen Fingern. Die Tropfen
sammelten sich und bildeten ein Rinnsal, das sie mit dem Herzen des Sidh verband. Die Geister dort sprachen zu Nyneve — und sie sprach zu Merlin. »Dies ist von alters her ein geheiligter Ort für die Mächte des indes. Lange war es eine befestigte Wohnung derer, die aus der Zeit verjagt wurden. Siehst du die Sphären der Ley-Energie?« Sie zeigte zu den Erdwällen, die den Hügel umgaben. Als Merlin hinsah, konnte er große, eingebettete kugelförmige Gebilde funkelnder Energie erkennen. Auf jeden der fünf konzentrisch ansteigenden Erdwälle kam eine dieser kugelförmigen Energiekonzentrationen. »Es war Vortigern, der den Entschluss fasste, Palisaden auf die Erdwälle zu setzen, um die benachbarten Straßen zu überwachen, die göttlichen Geister des Ortes waren von diesem störenden eindringen nicht begeistert und plagten die Krieger, die hier stagniert wurden. Vortigern aber ließ sich von Geistern nicht beindrucken. Er erbaute die Burg auf dem Hügel. Es kostete ihn viel Zeit, denn die Türme der Burg stürzten immer wieder ein.« Ein Schimmer schmerzlicher Erinnerung kam Merlin in den Sinn. »Es war während der Zeit meines Wahnsinns. Ich erinnere sich. Er legte mich auf einen Dolmen und stieß mir ein Messer ins Herz. Dieses Messer wäre beinahe mein Ende gewesen; es war eine geweihte Klinge. Ich kann mich nicht entsinnen, wie ich entkam —« »Am Ende setzte Vortigern seinen Willen durch«, sagte Nyneve. »Diese düstere Festung, feindlich sogar dem Land, das sie trägt, ist in Erfolg. Das Land hasst sie. Vortigern richtete hier sogar ein Kloster ein, um die Burg vor den alten Mächten unter dem Hügel zu schützen.« Nyneve zog ihre Hand aus dem Gras und seufzte müde. »Ja, es ist, wie du sagst, ein unglücklicher Ort.« »Gibt es einen Weg hinein?« »Nicht ohne Einladung«, sagte Nyneve. »Du musst bedenken, 273 Merlin, dass dies nicht Avalon ist. Dies ist ein Ort der Toten, ein Ort des Zorns und des Wahnsinns.« »Vielleicht sollten wir die Geister hier nicht in das Reich der Lebenden einladen«, überlegte Merlin. Und vielleicht wird Badon sich nicht als der günstigste Schauplatz für diesen Krieg erweisen.« Nyneve hob den Kopf und witterte die Luft. »Wir werden sehen. In der Nähe hier gibt es eine Quelle, die aus dem Herzen des Sidh sprudelt. Dort werden wir hineingehen. Wo es Wasser gibt, habe ich eine Einladung.« Es war ein kurzer Weg zur Quelle. Das Zwielicht ging über in Nacht. Hier und dort erwachten Fackeln entlang der Palisaden. In der Burg schimmerte trübgelbes Licht aus Bogenfenstern. Es würde Artus' Aufgabe sein, sich mit den Herren der Burg zu verbünden, und Merlins, ein Einvernehmen mit denen darunter herzustellen. Die Quelle entsprang aus einem ausgewaschenen Riss im grauen Kalkstein, der hier unter der humusreichen Verwitterungsschicht des Hügels zum Vorschein kam. Am Fuß des Hügels bildete das Wasser einen sanft murmelnden kleinen Wiesenbach, der sich in den nahen Wäldern verlor. Das Wasser war kalt, aber von einer winterlichen Reinheit. Merlin nahm Nyneve bei der Hand, drückte sie und sagte: »Dann lass uns unseren Besuch machen.« Zusammen traten sie unter das eiskalt sprudelnde Wasser der Quelle. Es verband das warme menschliche Blut mit den kühlen Adern der Erde. Haut wurde zu durchscheinendem, fließenden Wasser, Muskeln schwanden in heißen Kanälen, Knochen wurden zu weißem Stein im Bett des Quellwassers. Und dann strömten Nyneve und Merlin aufwärts in das kalte schwarze Herz des Hügels.
Der Weg war eng und gewunden. Wasser fürchtet keine engen Räume und großen Drücke. Merlin und Nyneve waren jetzt Wasser. In ruhiger Zuversicht glitten sie an ausgewaschenen Felsbänken vorbei, durch alte Ablagerungen von Torf, entlang der schräg 274 einfallenden Schichten von splittrigem Schiefer und in das Land der Feen. Zuerst schienen die Lebewesen, auf die sie trafen -Steinriesen, die lebendig gefangen waren und unter gewaltigen Felsmassen träumten — mehr mineralisch als belebt. Nur die Wärme ihrer massigen Steinleiber verriet, dass sie lebten. Wasser zwängte sich an gebeugten Schultern, gekrümmten Rücken und zerquetschten Fingern vorbei. Jenseits der schlafenden Riesen lagen die Baue viel kleinerer Leute — hier wohnten Kobolde und Zwerge. So winzig sie waren, sie teilten offenbar die Lebensweise und das Schicksal ihrer gigantischen Verwandten. In seltsamer Unbeweglichkeit verharrten sie in ihren steinigen Bergwerksgängen, die gespreizten Finger an den glatten Steinwänden, als suchten sie die Eindringlinge durch Vibrationen im Gestein zu orten. Nyneve und Merlin flössen im Quellwasser an ihren Füßen vorbei. Die Zwerge murmelten in Sprachen, die so lichtlos und unverständlich waren wie die Welt, die sie bewohnten. Weiter oben und im Inneren des Hügels machten die feuchten und engen Gänge und Aushöhlungen weiteren Räumen Platz, wirklichen Höhlen. Hier hausten die in jüngerer Vergangenheit aus dem Land Verdrängten, die Geister toter Pikten. Wild und unergründlich, bewohnten die Geister Spalten und Höhlen in den Seiten tiefer Felsklüfte. Der Körper beraubt, die sie einst bemalt hatten, ätzten sie Gestalten in die Steinwände. Kein Quadratfuß war frei von ihren zwanghaften Anstrengungen. Augen glommen traurig aus Höhlenlöchern im überhängenden Fels. Nyneve und Merlin glitten den Wasserlauf aufwärts bis zu einer großen Höhle, die sich in der Mitte des Hügels öffnete, ungeheuer weit und hoch, zu groß, um in den Sidh zu passen. Eine Welt für sich, lag dieser weite Raum in ewiger schwarzer Nacht. Sein steinernes Gewölbe war so hoch, dass es nicht einmal Echos zurückwarf. Ein tintiger See füllte den Höhlenboden. Nyneve und Merlin schwammen in sein stilles schwarzes Wasser hinaus. »Jetzt erinnere ich mich, wohin ich ging, als ich vor all diesen 274 Jahren auf dem Mount Badon geopfert wurde«, sagte Merlin zu Nyneve. »Ich erinnere mich, wie mein Blut vom Dolmen hinab durch einen tiefen Riss floss, als Blutopfer für die uralten Wesen, die unten wohnten. Ich erinnere mich, was sie waren ...« Bevor Nyneve etwas erwidern konnte, sprach eine andere Stimme aus der Dunkelheit. Sie war gewaltig und alt, nicht menschlich. »Auch wir erinnern uns deiner, Merlin. Wir verhalfen dir zur Flucht. Wir verhalfen dir zum Leben. Und du versprachst uns, dass du eines Tages zurückkehren und uns helfen würdest, wieder zu leben.« »Ja«, sagte Merlin feierlich. »Dieser Tag ist nahe. König Artus wird zusammen mit den alten Mächten des Landes kämpfen. Mit der Hilfe von Drachen wird er den Mount Badon verteidigen und die Wotansleute zurückschlagen.« Er ragt bis in die Wolken auf. Breitbeinig steht er über den winzigen Erdwällen und Palisaden. Seine Gewänder sind genäht aus den wachsgetränkten Leichentüchern untergegangener Völker. Seine Augen sprühen Blitze. Sein Arm winkt die Seelen sammelnden Walküren aus den Wolken. Sie kommen mich holen.
Ich stehe alt und hilflos unter dem niederstampfenden Stiefel eines Gottes. Ich werde zermalmt und in die Erde gepresst. Ein zweites Mal werde ich auf dem Mount Badon getötet. Aber diesmal fließt mein Blut nicht hinab, Drachen zu wecken. Ich werde nur in den zarten Stängeln von Wildblumen wiederauferstehen.
19. Ihre Schwerter werden glänzen
London war gefallen, und auch Chertsey. Badon aber würde nicht fallen, dessen war sich Ulfius sicher. Er saß auf seinem Pferd auf der Zugbrücke der Burg und blickte hi 275 nab auf Artus' versammeltes Heer. Es nahm das ganze Wiesenland unterhalb der äußeren Palisade bis zu den Wäldern ein. Fünfzehn große Abteilungen. Die Armee von Camelot, Artus' eigene Streitmacht, war die größte Abteilung, fünfzehntausend Mann stark. Fünftausend waren aus Dumnonia gekommen, weitere fünf von Dyfed, Gwynedd und Powys. Die geschlagenen Krieger aus Canterbury, London und dem östlichen Landesteil, denen die Flucht zu Artus gelungen war, waren weitere dreitausend Mann stark. Lot hatte zweitausend geschickt, Ban und Bors ebenfalls zweitausend, und die Kleinkönige und Stammesherzöge Mittelenglands hatten an Streitkräften ins Feld geschickt, was sie erübrigen konnten. Insgesamt war Artus' Heer fünfunddreißigtausend Mann stark, gegenüber den angeblichen fünfzigtausend der Sachsen. Dazu aber verfügte Artus über eine starke Befestigung und das Bündnis mit den lokalen Gottheiten und Drachen. Er besaß das Vertrauen des Volkes, und vor allem wusste er Guinevere, die Macht des Landes und Merlin, die Macht des Himmels auf seiner Seite. Badon würde nicht fallen. Und wenn die Hügelfestung fiel, würde ganz Britannien fallen. »Ein außerordentlicher Anblick«, sagte Herzog Liddington, der neben Ulfius im Sattel saß. »Die geordnete und kampfbereite Macht eines Reiches.« Es war ein prachtvoller Anblick. Die Morgensonne glänzte auf Tausenden von Helmen, Brustharnischen und Schulterspangen. Banner von fünfzehn Herrscherhäusern flatterten im Wind. Auf Zelten und Standarten leuchteten die Wappen aller großen Familien der Briten. »Ja, mein Freund«, sagte Ulfius mit einem Blick zu seinem weißhaarigen Nebenmann. »Ein großartiger Anblick.« Herzog Liddington hatte von hier aus sein Herzogtum regiert, schon während Uthers Herrschaft, während der Zeiten der Gesetzlosigkeit nach Uther und der fünfzehn Jahre von Artus' Herrschaft. Der alte Krieger hatte trotz ständiger spukhafter Behelli 275 gungen ausgeharrt. Unheilvolle Geräusche kamen aus dem Untergrund des Hügels, grässliche Visionen erschienen am Himmel darüber. Jeder geringere Mann hätte den Ort den Geistern überlassen, denen er gehörte. Herzog Liddington aber war von seinem Wesen her unfähig zu resignieren. Sein hageres, wettergegerbtes Gesicht besaß die Festigkeit von Granit, seine Hände die ruhige Kraft von Eichenwurzeln. »Auf dem Schlachtfeld wird sich das Heer noch großartiger ausnehmen«, meinte Liddington. »Die Lanzen und Schwerter werden wie eine bewegte See im Sonnenlicht glänzen.« Ulfius legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. »Ich finde, dass Krieger in der Schlacht einen tragischen Anblick bieten, keinen glorreichen. Es zeigt, dass dann alle anderen Mittel erschöpft sind.«
Liddington richtete einen stahlharten Blick auf Ulfius. »Ja. Aber wenn alle anderen Mittel versagt haben und Männer doch kämpfen, sich in die Bresche werfen, erkenne ich darin den wahren Ruhm unserer Art. Wir lieben das Leben und sind bereit, zu seiner Verteidigung zu sterben.« Ulfius holte tief Atem, seufzte und ließ seinen Blick über das Feldlager des Heeres wandern. Ungezählte Feuer sandten blaugrauen Holzrauch in die Luft. »Am großartigsten wird es sein, wenn unsere Krieger aufgestellt werden, Seite an Seite mit Thuata und Dryaden und Drachen und denselben Geistern zu kämpfen, die Sie seit Jahrzehnten plagen.« Liddington schnaubte. »Ja. Dieser Anblick, sollte ich ihn jemals sehen, wird zumindest seltsam sein, wenn schon nicht großartig.« Er hob die Zügel seines Pferdes. »Einstweilen gibt es das Turnier. Wir haben uns bereits verspätet, die Festlichkeiten des Tages zu eröffnen.« Mit einem reumütigen Lächeln setzte Ulfius sein Pferd in Bewegung. »Ja. Reiten wir hinunter und eröffnen wir das zeremonielle Hauen und Stechen, bevor das unzeremonielle beginnt.« Die beiden Pferde klapperten weiter über die Zugbrücke und die Ser276 ;ntinen der Zufahrt hinab. Kleine Staubwolken wurden von den Hufen aufgewirbelt. im vergangenen Jahr war aus Merlin ein Geschöpf der dunklen Räume geworden. Er wohnte ebenso oft im Inneren des Sidh wie der Burg darüber. Er war seltener der Gast von Männern als von Drachen. Eine solche Schlange füllte die Höhle vor ihm aus. Insgesamt gab es nur fünf von ihnen, fünf Überbleibsel einer Spezies, die älter war als jede andere auf den Inseln. Einst hatten die enormen Reptilien die Träume der Völker beherrscht. Jetzt lebten sie wie alle anderen erschlagenen Götter nur noch in den unterirdischen Räumen, im kalten Unterbewusstsein vergesslicher Menschen. Der Älteste der fünf und Großvater der anderen war Calbhiorus. Er kauerte neben Merlin. In der Höhle war kaum Platz genug für die beiden und eine brennende Fackel. Calbhiorus, ein Schlangenähnlicher Drache von schiefergrauer Farbe, hatte die Größe eines der Burgtürme auf dem Hügel über ihnen. Der Graue Star hatte seine Augen mit einer zollstarken Schicht überzogen, durch die er nur geisterhafte Schatten sah. Seine Krallen waren seit langem nicht mehr kampftauglich. Die Jahrtausende hatten seine Gelenke verhärtet und knorrig gemacht. Sein Verstand aber war nicht umwölkt. Alt und weise, erinnerte sich Calbhiorus einer Zeit, als Menschen zu den großen Schlangendrachen gebetet, von ihnen gesungen, sie verehrt und gefürchtet hatten. Er wusste, dass es Menschen waren, die sie einst zum Leben erweckt hatten und ihnen vielleicht neues Leben geben würden. »Darum«, sagte Merlin zu dem uralten Drachen im Herzen des Sidh, »musst du dich ihnen vor dem Krieg zeigen. Sie müssen ich sehen, an deine Wirklichkeit glauben, dann werden sie für uns kämpfen. Ihr Glaube ist es, der deine Rückkehr bewirken wird.« Ein langes Zischen — teils Lachen, teils Seufzen — hallte durch 276 die Höhle. Calbhiorus beugte sich zu der flackernden Fackel. Seine silbrigen Schuppen und weißgrauen Augen näherten sich dem Feuer. Schwarze Lefzen entblößten spannenlange gelbe Zähne. Dicke, faltige Lider sanken fast ganz über die blinden Augen. Er sprach Worte wie in die Luft geschnittene Runen. »Verstehe denn, alter Zauberer - jene, die von mir
stammen, fürchten dich und deine Art. Ihr seid für sie das Mordvolk, das uns hierher vertrieb. Verstehe —« »Ich verstehe gut«, sagte Merlin besänftigend. »Aber auch du musst verstehen, großer Calbhiorus, dass ich nicht sterblich bin. Ich bin dir mehr verwandt als den Menschen. Durch ihren Glauben erwachte ich zum Leben, und durch ihren Unglauben wurde ich zu einem Schatten meiner selbst. Wenn du jemals wieder das Licht der Sonne sehen willst, wird es mit der Hilfe - und Duldung — der Sterblichen geschehen.« Calbhiorus blinzelte. »Du bist weise, und zwar in der Art der Sterblichen, du überlebst sie und steigst durch sie empor. Ich werde tun, wie du sagst.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Sage es nicht meinen Kindeskindern. Sie würden den Weg versperren.« »Natürlich würde ich es ihnen nicht sagen«, versprach Merlin und neigte den Kopf in einer Verbeugung. »Aber sobald du über Burg Badon erschienen bist, wird es nicht nötig sein, deinen Kindeskindern zu erzählen. Der Glaube der Sterblichen wird in sie einströmen wie Sonnenlicht durch ein Fenster. Sie werden es wissen.« Ein schlauer Glanz geriet in die weißen Augen des alten Drachen. »Dann ist zu hoffen, dass sie sich nicht fürchten werden, sondern an die Sterblichen glauben, die an sie glauben.« Damit verließ der Drache seinen Platz. Bruchstücke des Gesteins lösten sich unter seinen Krallen. Lederige Flügel breiteten sich raschelnd in der Dunkelheit aus. Der Fackelschein erhellte die Ränder dieser Flügel und leuchtete rot durch das Blut, das in ihren feinen Adern floss. Alte Muskeln spannten sich, alte 277 Knochen rieben aneinander. Der Drache stieß sich ab und schwang sich mit Flügelschlägen, deren Windstöße Merlin beinahe aus dem Gleichgewicht brachten, hinaus in die Luft der großen Höhle. Merlin sah ihm nach. Der Fackelschein ließ seine Umrisse noch eine Weile erkennen, und bewundernd sah der alte Zauberer, wie diese gewaltigen Hautflügel den mächtigen Körper durch die Luft trugen. Dann verschwand Calbhiorus in der Dunkelheit. Er würde einige Minuten fliegen müssen, bevor er die Nester der anderen Dachen erreichte, die Meilen entfernt hausten. Dann würden seine Enkel ihn untersuchen, den Geruch des Menschen an ihm finden und dem zittrigen alten Großvater Vorhaltungen machen. Wenn Merlin lange genug an dieser Stelle wartete, würde er von ferne ihre Proteste hören — »Zum Glück habe ich nicht die Zeit«, sagte er sich. Unten wartete Eoghruf, der Häuptling der Steinriesen. Merlin löschte die Fackel, holte tief Luft und trat aus der Höhlenöffnung ins dunkle Nichts. Die Luft beutelte ihn im Fallen. Tausend Fuß unter ihm lag ein tiefer und eisiger See. Dort wartete Nyneve. Zusammen würden sie dem Häuptling der Riesen einen Besuch abstatten. In freudiger Erregung verließ Kay den Zeltpavillon des Königs und schritt hinaus auf den Turnierplatz. Die Mittagssonne strahlte auf ein großes Fest. An einem Ende des breiten Turnierplatzes donnerten Ritter in kostbaren Turnierrüstungen mit Helmbüschen auf gepanzerten und geschmückten Pferden mit eingelegten Turnierlanzen aufeinander zu, getrennt nur durch die Planke, die beide Turnierbahnen voneinander trennte. Selbst die splitternden Enden der Lanzen, selbst die nicht ungefährlichen Stürze der aus ihren Sätteln gehobenen Krieger, denen eilfertige Knappen in bunten Wappenröcken wieder auf die Beine halfen — alles war hell und leuchtend und bunt. Am anderen Ende des Turnierplatzes wurde mit Schwertern, Streitkolben und Spießen zu Fuß 277
gefochten. Wappenröcke flatterten, aufgeschlitzt von scharfem Stahl, Schweiß troff von erhitzten Gesichtern. Und in der Mitte des Turnierplatzes gab es Wettkämpfe im Steinheben und Steinstoßen, im Gewichtziehen an Ketten, im Erklettern eingefetteter Stangen, im Ringen, Faustkampf und Armdrücken. Alles in allem ein mannhaftes Fest, dachte Kay anerkennend. Den Helm in der Hand, schritt er zwischen seinen Kameraden dahin. Die weiße Rose des gestrigen Tages, durch das Visier seines Helmes gezogen, schien jetzt verwelkt und gelblich. Die tugendhafte Frau, die ihn damit beschenkt hatte, war nicht mehr ganz so tugendhaft. Kay zog die verwelkte Rose heraus und ließ sie auf den Boden fallen. Er zog ein parfümiertes Seidentuch aus dem Ärmel, beschnüffelte es in süßer Erwartung und knüpfte es an die Helmspange. Heute würde er für eine neue tugendhafte Frau ins Turnier gehen und ihr am Abend vielleicht die Tugend abgewinnen. Er setzte sich den Helm auf die goldenen Locken und rückte ihn zurecht, als wäre er eine Krone, bevor er den Kinnriemen zuzog. Er lenkte seine Schritte zu den Schwertfechtern und zog seine polierte Klinge. Sein Ellbogenschutz stieß gegen etwas. Kay wandte sich um und spähte durch das dünne Seidentuch, das ihm in der schnellen Bewegung vor die Augen geweht war. Ein hünenhafter Krieger ragte vor ihm auf. Er trug eine prächtige schwarze Rüstung mit einem in silberner Treibarbeit gefertigten zweiköpfigen Wolf auf dem Brustpanzer. Ein hoher Federbusch spross stolz aus der Spitze seines dunklen Maskenhelms. Seine Panzerhandschuhe waren so groß wie anderer Männer Stiefel, und seine Stiefel waren so groß wie anderer Männer Brustharnische. Aus den ovalen Augenöffnungen seines Helms fiel ein unheilvoll finsterer Blick und etwas, was beinahe wie Dampf schien. Kay machte eine anmutige, wenn auch knappe Verbeugung. »Verzeiht, Sire. Meine Sicht ist beeinträchtigt durch das Tüchlein meines Lieblings -« 278 »Deine Sicht ist in der Tat beeinträchtigt, Bürschlein!« »Bürschlein?«, sagte Kay und reckte sich. »Ich bin Ritter der Tafelrunde. Ich bin der Stiefbruder des Königs. Nehmt Eure Beleidigung zurück oder kommt mit mir zum Fechtplatz.« Der Krieger zog ein gigantisches schwarzes Langschwert aus der Scheide an seiner Seite. Der Stahl machte ein scharfes, kratzendes Geräusch. »Ich werde nichts zurücknehmen und nicht zum Fechtplatz gehen, sondern deinesgleichen an Ort und Stelle abfertigen.« Der Fremde holte aus, und das Langschwert sauste wie ein schwarzer Blitz auf Kay nieder. Kay trat einen Schritt zurück, umfasste sein Schwert an Griff und Spitze und hob es hoch. Mit der Wucht eines Streithammers schlug die schwarze Waffe zu. Kay taumelte unter dem Schlag. Metallsplitter flogen von seinem Schwert, in dessen Schneide eine tiefe Scharte geschlagen war. Wieder wich er zurück, um dem nächsten Hieb auszuweichen, doch der Mann im schwarzen Panzer drängte nach. Kay strauchelte und warf sich zur Seite. Neben ihm schlug schwarzes Metall tief in den grasbewachsenen Boden. Der schwarze Ritter brüllte zornig und zog an seiner festsitzenden Waffe. Kay nutzte die Gelegenheit, sprang auf und führte einen Stoß in die Seite des monströsen Riesen. Seine Schwertspitze traf einen der harten Lederstreifen unter dem Brustharnisch. Er stieß nach, Metall knirschte auf Metall, dann glitt die Spitze in eine Lücke, und sein Schwert fuhr tief in die Seite des Kriegers. Es stach wie in eine Leere, obwohl es Fleisch und Sehnen und innere Organe durchschnitten haben musste, um so tief einzudringen.
Doch der Riese wankte nicht und schrie nicht auf. Kein Blut sprudelte aus der Wunde. Er brach nicht zusammen. Stattdessen riss er seine eigene Waffe aus der Erde, die umherspritzte und unheilvoll auf Kays gebeugten Rücken prasselte. Kay zog verzweifelt am Griff, doch sein Schwert stak fest. Wieder sauste die schwarze Klinge nieder, fuhr wie ein dunkler Blitz durch die Mittagssonne. 279 Kay ließ sein Schwert fahren, riss die Arme hoch und warf sich zur Seite. Etwas drang in seine Wade ein, brennend wie Feuer und kälter als Eis. Es durchschnitt Haut und Sehnen und Muskeln und Wadenbein und blieb erst im Schienbein stecken. Dort ließ die Klinge ihre kalte Magie in Blut und Nerven einströmen. Als Kay zu Boden fiel, fühlte er, wie die entnervenden Fühler der Nacht sich durch ihn ausbreiteten. »Ein Ritter der Tafelrunde?«, spottete der Riese. Er starrte befriedigt auf Kay herab, der sich unter der Klinge wand, die sein Bein festgenagelt hatte. »Ein edler Verteidiger von Camelot? Du kommst mir mehr wie ein blutender Wurm vor. Dann krieche. Krieche zurück zu den anderen Würmern und erzähle ihnen von dem Schicksal, das sie alle erwartet. Sage ihnen, sie sollen deiner Blutspur zu mir folgen und für ihren Hochmut auf die gleiche Art und Weise bedient werden.« Halb von Sinnen vor Schmerz, zog Kay das Bein vom schwarzen Schwert fort und entfernte sich auf dem Bauch kriechend von dem Mann im schwarzen Panzer. Die ganze sonnige und farbenfrohe Welt wurde um ihn herum grau.
20. Tödliche Spiele
Während die Turnierteilnehmer kämpften und sich blaue Flecken, Gehirnerschütterungen und auch blutige Verletzungen zuzogen, wanderte Loki fröhlich zwischen ihnen umher. Es war lohnend und er hatte seinen Spaß. Er war eine einzelne Honigbiene auf einer großen Blumenwiese. Diese glänzend herausgeputzten Hanswurste wirkten stolzgeschwellt bis an die verschwitzten Kragen, und Stolz ließ sich mit etwas Spucke in Nektar verwandeln. Loki stellte die Spucke zur Verfügung. »Aber, aber, Freunde, warum fechten?«, rief Loki. In der Tracht eines fahrenden Sängers blieb er knapp außer Reichweite ihrer 279 Schwerter bei zwei Turnierkämpfern stehen. Langsam umkreiste er die beiden und musterte ihre schweißbeperlten Gesichter. »Gab es bedauerliche Äußerungen? Machte dieser Kerl hier eine Bemerkung über deine Nase? Vielleicht, dass sie einer wurmzerfressenen Rübe ähnelt?« Der Kämpfer mit der Knollennase warf dem Spielmann einen Blick zu. Dieser Augenblick kostete ihn die warzige Nasenspitze. Die abrasierte Haut blieb am Schwert seines Gegners haften. »Denn er sollte besser nicht reden, mit dem Hintern. Wie zwei riesige Kohlköpfe. Faulige Kohlköpfe —« Der andere Mann grollte zornig. Sein Turniergegner versetzte einer dieser Hinterbacken einen Schwertstoß. »Überhaupt ist er so stinkig und skrofulös, dass man sich fragt, warum er deine Mutter so oft aufs Kreuz legen konnte, selbst wenn man bedenkt, wie scharf sie ist —«
Die Fechter tauschten unkonzentrierte Hiebe aus. Keiner der beiden focht besonders draufgängerisch oder bemühte sich um saubere Paraden. »Und es kommt einem besonders gemein vor, von einem Mann lächerlich gemacht zu werden, der vielleicht sogar dein eigener Vater ist —« »Halt's Maul!«, riefen die beiden Kämpfer in unerwartetem Einklang. Sie setzten ihren Zweikampf fort, aber nun wuchs Argwohn zwischen ihnen. Der mit der Knollennase knurrte: »Was kümmert es dich, was er sagt? Und was ist das über meine Mutter?« Irritiert erwiderte der andere: »Ja, was ist mit deiner Mutter?« »Ich wusste es!«, rief Knollennase. Er schwang sein Schwert in einer Serie wütender Abwärtshiebe. »Ich wusste es!« »Was wusstest du?«, fragte sein Gegner, der jeden Hieb parierte. »Dass du ein Saukerl bist? Ein rübennasiger Saukerl?« »Ich kann nicht glauben, dass du das gesagt hast!«, brüllte Knollennase zwischen zwei Vorstößen. »Du mit deinem Kürbisarsch ... beleidigst meine Nase ...« 280 »Woher ist sie denn immer so dunkel wie eine rote Rübe, he? Das macht der Gerstensaft!« »Jetzt bin ich auch noch ein Trunkenbold, wie? Komm nur her, dann mach ich Krautsalat aus deinem Arsch.« Worte und Schwerter flogen in unaufmerksamen, immer wieder unterbrochenen Angriffen hin und her. Loki war bereits weitergegangen. Es gab so viele Krieger, die man in Rage bringen, so viele Lügengeschichten und kleine Zaubereien, mit denen man die schönste Verwirrung stiften konnte. Loki feierte seinen Sieg. Mit Scherzen und Wirtshausparolen hatte er bewirkt, dass das Volk Britanniens ein Pantheon fürchtete, das es nie gekannt hatte. Wotan wurde in britischen Hirnen zu einer unbezwingbar mächtigen Göttergestalt. Lokis Einflüsterungen folgten der alten Erkenntnis, dass ein gutes Gerücht wirksamer war als ein gutes Schwert. Es hatte ein volles Jahr gekostet, aber heute würde Lokis Arbeit Früchte tragen. Er hatte Grund zum Feiern. Schon sah er ein neues Opfer, einen Mann, der gebratene Tauben verkaufte. Mit einem Fingerschnippen legte Loki den Pendragon-Wappenrock eines königlichen Beamten an und schritt würdevoll auf den Mann zu. »He, du, Fleischhändler, wo hast du dein Pferdefleisch? Ja, Pferdefleisch! Der König hat ein Edikt erlassen. Seine Ritter sollen mehr Pferdefleisch essen. Es ist kräftigender. Ja, zwei sind bereits eingekerkert und ein Dritter ist hingerichtet worden, weil sie seinen Rittern verbotenes und sogar verdorbenes Fleisch verkauft hatten. Ja. Woher? Oh, ich schlage vor, du hältst Ausschau nach einem Pferd, das sich im Turnier ein Bein oder den Hals bricht. Dann kaufst du es dem Besitzer ab und zerlegst es. Bringt dir übrigens viel mehr ein als diese mageren Vögel —« Welch ein herrliches Fest! Die Pasteten und Krebse und das Essiggemüse . . . eine einzige große Speisekammer. Auch der Wein —ganz vorzüglich, stark wie Roggenschnaps. Mir ist furchtbar schwindlig davon . . . schwindlig. . . 280 Ich habe . . . was ist? Irgendwas ist nicht in Ordnung. . . Mir ist so seltsam. Zusammenhanglos und. . . ich kann nicht denken. So fühlte ich mich früher immerzu . . . auf der Heide . . . Was geschieht mit mir? Oder — nicht mit mir. . . was geschieht mit dem Land?
Artus fand Guinevere im Spitalzelt. Priesterinnen und ein Wundarzt versorgten die verletzten Teilnehmer am Turnier, verbanden Wunden, legten Umschläge auf und verabreichten Einreibungen mit heilkräftigen Kräutern und Salben. Stimmengemurmel und gedämpftes Lachen erfüllten das Zelt, harmloses Geflirte zwischen blessierten Männern und den heilenden Priesterinnen. Doch im rückwärtigen Teil des Zeltes, wo Guinevere an einer Truhe mit Instrumenten saß und Bandagen faltete, herrschte Stille. Und die Luft schien zu prickeln. »Du hast nach mir geschickt?«, fragte Artus. Sie hob den Blick. Sorge lag in ihren Augen. »Etwas hat sich verändert, Artus. Etwas im Land hat sich verändert.« »Etwas im Land?« »Es ist, als wäre seine Seele verwirrt«, sagte Guinevere. Ihre Hände fummelten nervös mit dem Verbandmaterial. »Es ist, als würde das Land vergessen, was es ist.« »Wie kann das Land vergessen —« »Im Volk geht ein Geist der Verwirrung um. Es gibt seltsame Schatten, seltsame Visionen in den Köpfen der Menschen, seltsame Lieder in der Luft ...« Artus legte die Arme um sie. Ihre starren Schultern schienen in seiner Umarmung zu schmelzen. »Du hast nicht genug geschlafen. Du bist hier zu beschäftigt gewesen -« »Es geht nicht um mich«, beharrte Guinevere. »Es geht um das Land. Es ist krank. Es ist angesteckt. Die Eindringlinge schwächen es, weichen es auf, bevor sie kommen.« Artus schmunzelte, um sie zu ermutigen. »Wie könnten sie das Land schwächen? Du siehst Gespenster —« 281 »Loki«, erkannte Guinevere plötzlich. »Es muss Loki sein. Er verbreitet Chaos und Verwirrung vor der anrückenden Armee. Er singt in den Wirtshäusern und flüstert an den Kreuzungen und erscheint Hunden und Kindern. Er bringt die Leute um den Verstand, schwächt die Macht des Landes, die Macht unserer Verbündeten.« Artus erbleichte. Ohne Guinevere aus seiner Umarmung zu lassen, starrte er über sie hinweg ins Leere. »Loki bewegt sich unter uns?« »Ja«, sagte Guinevere. »Ich bin ganz sicher. Er kann jede Gestalt annehmen, kann Lügen mit den Zungen vertrauter Freunde verbreiten, kann deinen Feldhauptleuten falsche Befehle überbringen. Wenn wir ihn nicht finden und vertreiben, wird bald keiner von uns seinen eigenen Sinnen trauen.« Artus' Blick kehrte zurück zu Guinevere. »Ich werde es Merlin sagen«, beschloss er. »Er wird wissen, wie man diese Ratte aufscheuchen kann, wo immer sie erscheinen mag.« Er zog sie fester in seine Arme. »Danke, dass du es mir gesagt hast. Wir werden es Merlin weitersagen und er wird alles in Ordnung bringen.« Am Zelteingang wurde ein Ruf laut. Ein stämmiger Mann in schimmerndem Panzer schleifte einen verwundeten Krieger herein. »Ector!«, rief Artus, als er den kräftigen Mann erkannte. »Vater!« Seite an Seite eilten der König und die Königin zum Eingang des Zeltpavillons. »Was gibt es?« »Kay ist ernstlich verwundet«, keuchte Ector. Er schleifte seinen Sohn zu einem leeren Strohsack und bettete ihn darauf. »Ein Krieger in schwarzer Rüstung hat das getan. Ein Unbekannter. Er durchpflügt die Reihen der Tafelrunde wie der Schnitter selbst.«
Ulfius ritt in die Turnierbahn. Seine Finger prickelten. Er überblickte den von Hufen aufgewühlten Boden, wo Bruchstücke zersplitterter Lanzen herumlagen. »Nur ein Spiel«, sagte er sich. 282 Aber ein gefährliches Spiel. Er seufzte. In letzter Zeit fohlte er sich zu alt für aktive Kriegführung. Er hatte an drei längeren Feldzügen teilgenommen, bevor der König das Licht der Welt erblickt hatte. Nun war Artus selbst ein gestandener Mann - und Ulfius weit über ein halbes Jahrhundert alt. Er hatte das Recht, unnötige Kämpfe zu vermeiden. Für Artus war er wichtiger als Organisator, Vertrauensperson in allen Angelegenheiten des Hofes und des Heerwesens, als militärischer Taktiker und Stratege, nicht als stolzierender Schwertträger. Während der Erbauungszeit der Stadt Camelot und der Gründung der Ritterschaft war Ulfius mehr zu einem Verwaltungsbeamten geworden. Die gigantische Aufgabe, Artus' Streitkräfte am Mount Badon zu einen und zu formieren, war Ulfius' nicht zu unterschätzender militärischer Beitrag gewesen. Dennoch war er auch derjenige gewesen, der die Turniere organisiert hatte. Da ziemte es sich für ihn, auch selbst mit anzutreten. Er zog sachte an den Zügeln und lenkte sein Pferd in die Turnierbahn. Am anderen Ende hielt sich ein riesenhafter Krieger in schwarzem Panzer und mit einem Maskenhelm bereit. Auch sein Pferd war ein wahres Ungeheuer - ein Tier von der Größe und Kraft eines kaledonischen Ackerpferdes. Der schwarze Krieger legte die Lanze ein und gab ein Zeichen, dass er bereit sei. Ulfius war mulmig zumute. Er schluckte und fragte sich, ob er jemals bereit sein würde, gegen solch einen Hünen anzutreten. Aber es half nichts. Er gab seinerseits das Signal und trieb sein Pferd zu einem gemächlichen Handgalopp. Der riesige Hengst auf der anderen Seite der Mittelplanke sprang gewaltig an. Sein Reiter beugte sich über die flatternde Mähne und die dicke schwarze Turnierlanze mit der doppelten Spitze zielte jetzt auf Ulfius. Sie war wie ein Kreis, der sich sehr rasch weitete. Lanze, Reiter und Pferd strahlten eisernen Willen aus. Ulfius sah, dass ihm nichts anderes übrig blieb, und trieb sein 282 Pferd gleichfalls zu vollem Galopp an. Er legte die Lanze ein. Zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte er: »Ich bin entschieden zu alt für dies.« Der schwarze Reiter kam rasch näher. Der Boden erzitterte unter den Hufschlägen. Die Zuschauer am Rande der Turnierbahn wichen unwillkürlich zurück. Ulfius sah weder Pferd noch Reiter, sondern nur die schwarze Lanze. Sie traf mit dem Gewicht der ganzen Welt seinen Schild. Die Wucht des Ansturms war so gewaltig, dass die Lanze seinen Schild spaltete, abglitt und seinen Brustpanzer unmittelbar unter den Schulterspangen traf. Er platzte auf, und die Doppelspitzen der dicken Lanze bohrten sich tief in seine Schulter. Ulfius' Pferd galoppierte unter ihm hinaus. Er stürzte rücklings durch die Luft. Alles brüllte. Die Lanze zwischen dem schwarzen Panzerhandschuh und dem fallenden Reiter brach, Ulfius schlug hart am Boden auf und kollerte seitwärts. Das abgebrochene Ende der Lanze riss Grasbüschel in die Luft. Nach zwei weiteren Umdrehungen blieb er liegen, aufgespießt und erledigt.
Sie würden kommen und ihn fortschaffen, das wusste er. Sie würden ihn ins Spitalzelt tragen. Sie würden ihm helfen zu überleben, wenn er überleben würde, und ihm helfen, zu sterben, wenn er sterben würde. Endlich hörte das brüllende Geräusch auf. Alle Geräusche erstarben. Die Pferde waren still, alle Stimmen waren verstummt, die Schwerter hingen lose in den Händen der Krieger. Nicht einmal der Wind sprach in dieser furchtbaren Stille. Etwas Riesenhaftes und Schreckliches legte sich lähmend über den Turnierplatz. Ulfius versuchte den Kopf zu heben, doch es war nicht möglich. Er konnte kaum atmen. Aber er brauchte auch nicht zu sehen. Die Stimme, die aus dieser Stille dröhnte, konnte nur einem gehören — dem Krieger in der schwarzen Rüstung, der ihn fast umgebracht hatte. Dieser 283 Kieger stand in den Steigbügeln seines gewaltigen Pferdes. Bimsstein und Feuerschein brodelten in einer Wolke um ihn. »Siehe, Britannien! Deine Ritter der Runde werden zu Boden geworfen. Auch der Kammerherr. Ich habe sie niedergeworfen, jeden Einzelnen. Das war das ihnen bestimmte Geschick. Und genau dies wird das Geschick Britanniens sein.« Ulfius fragte sich, wer dies sein konnte. Wer konnte die Tafelnde zerstören? »Wisset, dass ein Diener Wotans heute unter euch gegangen ist. und Wotan selbst wird bei Tagesanbruch seine Armeen heran-ihren!« Dieser Name, Wotan, hatte die Bedeutung von allem angenommen, was Furcht und Entsetzen erregte. Eine andere Stimme sprach. Es war die unverkennbare Stimme eines gewissen, vormals verrückten Magiers. »Sag deinem Meister, wie schmerzhaft es ist zu sterben.« Selbst am Boden, wo sein Gesichtsfeld begrenzt war, konnte Ulfius den wild aufleuchtenden roten Feuerschein sehen, der aus Merlins ausgestreckten Händen schoss. Der schwarze Krieger wurde von diesem Ausbruch erfasst und hochgerissen. Er wand sich in seiner Rüstung, die aus allen Öffnungen schwarzen Ruß verströmte. Dann krachte der Ritter zu Boden. Sein Panzer, spröde wie Eierschalen, zerschellte. Er war leer gewesen. Ulfius schloss die Augen. Sein stummer Dank galt Merlin, dann, als Schritte näher kamen, überließ er sich dem Vergessen. Die Nacht war schwarz. Weder Mond noch Sterne waren jenseits er roten Kuppel von Ley-Magie zu sehen. Auch Jupiter war verborgen. Merlin schritt die Wehrgänge der Burg Badon ab. In den Burghöfen unter ihm versammelten sich Artus' Krieger Schulter an Schulter. Fackelschein spiegelte sich in ihren Augen. Das offene Auftreten von Wotans Kriegern auf dem Turnier 283 platz hatte den Festlichkeiten ein jähes Ende bereitet und für einen düsteren Abend gesorgt. Die Hälfte von Artus' Streitkräften war draußen entlang den Ley-Linien stationiert, um sich in den Wäldern des Nordens, Ostens und Südens zu verbergen. Dort sollten sie in Reserve bleiben, um den Sachsen in die Flanke zu stoßen. Die andere Hälfte hatte Zelte und Proviant in die Hügelfestung gebracht und dort Stellung bezogen. Viele Freiwillige hielten jeden der fünf Palisadenwälle besetzt. Alle übrigen zogen sich in die Festung selbst zurück. Unter ihnen waren Artus' Ritter vom Runden Tisch. Sie waren nach ihren Begegnungen mit dem schwarzen Krieger schwer verwundet. Alle wären an ihren Verletzungen
gestorben, wenn Guinevere und ihre Priesterinnen sie nicht gerettet hätten. Trotzdem waren die Ritter geschlagen und gedemütigt. Britannien schmachtete unter einem erbarmungslosen Himmel. Das Verhängnis marschierte auf sie zu. Fünfzigtausend Stiefel und hunderttausend Pferdehufe ließen die Horizonte erbeben. Als die Sachsen die Landnahme langsam vorantrieben, eroberten ihre Götter den Himmel. Merlin hatte für diese Nacht ein Wunder versprochen. Er hatte es den unten versammelten Männern versprochen - und dem König, der in seiner Nähe zwischen zwei Mauerzinnen saß. Die angekündigte nächtliche Unterhaltung würde allerdings viel mehr als bloße Zauberei sein müssen; sie sollte die Krieger inspirieren und ihnen Mut machen, die bevorstehende Schlacht zu gewinnen. »Genug!«, rief Merlin zu den Kriegern hinunter. »Genug von Dunkelheit und Verzweiflung. Genug von Schrecken. Heute Nacht will ich euch eine Vision unseres Sieges vorstellen. Zuvor aber möchte ich euch daran erinnern, dass ihr in der Vergangenheit schon viele Visionen hattet. Da ist Artus, er selbst ein Wunder, der verlorene und wiedergefundene Sohn Uther Pendragons. Da ist Guinevere, Feenkönigin und Macht des Landes. Da ist Excalibur, der Götter tötende Königsmacher. Da ist Rhiannon, 284 der Heiler. Da ist Merlin, einstmals Gott der ganzen bekannten Welt. Jedes dieser Zeichen sollte genügen, euch zu versichern, dass wir diese Schlacht gewinnen werden. Aber die Herzen der Sterblichen sind ungebärdige und störrische Wesen. Das ist der Grund, warum ich gefallen bin. Darum will ich jetzt eure tönernen Herzen in Stahl umschmieden —« Merlin streckte die Arme nach außen. Aus einem Brunnenschacht neben der Mauer kamen wässerige Geräusche. Etwas kochte dort. Etwas Massives. Schuppen schoben sich durch aufwallendes Wasser. Ein Schrei aus der Anderwelt drang aus dem Brunnen der Zisterne. Die versammelten Krieger drängten ängstlich rückwärts. Ihre Gesichter waren blass wie Mondschein. Das Wesen kam ganz heraus. Ein riesenhafter schwarzer Drache stieß sich mit gewaltigen Flügelschlägen ab und schwang sich in den Nachthimmel empor. Die ausladenden Hautflügel breiteten sich aus und zeigten die schwarzen Umrisse eines Lebewesens, das seit einem Jahrtausend die Luft der Welt nicht mehr geatmet hatte. Es sandte einen ohrenbetäubenden Schrei durch die Luft. »Seht, Krieger von Camelot! Seht den auferstandenen Drachen der Pendragon!« Artus' Krieger sahen mit eigenen Augen - und mit ihren Herzen glaubten sie.
21. Blitzschauer
Die nächtliche Vision war nichts, verglichen mit der Vision des folgenden Morgens. Die Dämmerung brachte zehn rote Riesen in den wolkenverhangenen Osten. Sie waren groß wie Ulmen und breit wie Eichen. Sie waren gepanzert mit scharlachroten Brust-und Rückenschilden. 284 Niemand auf dem Hügel von Badon hatte jemals dergleichen gesehen. Die Riesen rückten vor. Hinter ihnen kamen Sachsen. In zehn Divisionen drang die Armee König Aelles vor. Sie erschienen wie eine schwarze Flut. Auf dieser Flut bewegten sich Helme auf und nieder. Lanzen und Piken blinkten im Morgenlicht. Stiefel und Hufen
ließen den Boden erdröhnen. Felder und Wiesen verschwanden unter der Flut, Dickichte fielen unter Äxten. Bäche wurden zu aufgewühlten Schlammkanälen. Gehöfte gingen in Flammen auf, Bauern starben unter Pfeilen, ihre Frauen unter Kriegern. Schafe wurden fortgetrieben. Wohin die Flut kam, ertranken das Land und seine Bewohner. Die Riesen führten die Armee durch Wälder und Täler und gingen aus verschiedenen Richtungen gegen Badon vor. Wenn zwei Abteilungen sich zusammenschlossen, verschmolzen auch ihre übernatürlichen Führer. Die roten Schilde veränderten ihre Form, Muskeln und Knochen verschmolzen, aus vier Armen wurden zwei, doppelt so groß. Vier Beine wurden zu zweien, noch stärker. Und so kam es, dass diese Riesen sich verbanden und wuchsen und wieder verbanden, bis die wenigen, die übrig blieben, sechzig, achtzig Fuß hoch waren. Endlich überschwemmte die Armee der Sachsen das Feld zu Füßen des befestigten Hügels. Aus den zehn Riesen waren drei Titanen geworden. Und als es unter den sterblichen Kriegern keine Aufteilung mehr gab, bildeten die drei Titanen einen einzigen Gott. Rote Panzerschilde, Fleisch und Blut verschmolzen, und auf der Ebene stand ein hundert Fuß hoher Krieger. Die Armee Aelles ähnelte einem Schwärm schwarzer Mäuse zu seinen Füßen. Der Gott sprach. Die Sprache war nicht die der Briten oder der Sachsen, sondern die Ursprache von Göttern. Jeder Sterbliche, der diese Rede hörte, verstand sie - und war halb von Sinnen vor Furcht und Schrecken. »Ich bin Tyr. Ich bin der Kriegsgott einer kriegerischen Rasse. 285 bin gekommen, euch zu zerstören.« Die Stimme erfüllte die Welt. Sie hallte über Mount Badon hin und kehrte in sich selbst zurück, ein gewaltiger Wirbelsturm von Tönen. »Ich bin euer Zerstörer.« Der Gott atmete die Angst ein, die von Briten und Sachsen aufstieg, und wurde durch sie gestärkt. »Erkennt mich. Ich bin Tyr.« Auf einmal geriet die Gestalt in eine innere Bewegung. Die Schilde auf Brust und Rücken verwandelten sich in einen separaten Krieger — ein Geschöpf mit rotem Panzer und krabbelnden Beinen, Zangen und Knopfaugen. Ein paar Augenblicke noch bewahrte Tyr seine massive Form, dann löste er sich auf. Einer nach dem anderen nahmen die großen Kampfkäfer Gestalt an. Tyrs behelmter Kopf sank zusammen und wurde zu eiern krabbelnden Hügel von Panzern und Beinen. Käfer bildeten sich aus den zerfallenden Schultern. Der ganze Rumpf des Gottes sank in sich zusammen. Beine schrumpften zu dicken Säulen und verbreiterten sich auf dem Boden. Selbst die sächsischen Krieger wichen vor der Flutwelle der Kriegskäfer zurück. Tyr schmolz wie in wächserner Mann dahin und wurde zu einem sich immer weiter verbreiternden, bewegten Gewimmel. Die großen Käfer überliefen die Ebene, schwärmten auf den ersten Palisadenring zu. Sachsen folgten ihnen. Eine Wolke von Pfeilen verließ die Stellungen der Verteidiger und überschüttete die roten Panzerschilde. Sie prallten harmlos von ihnen ab. Augenblicke später erreichten Riesenkäfer die erste Palisade, ihre Zangen umfassten die zugespitzten Pfosten und rissen sie aus dem Boden. Mit gleicher Leichtigkeit rissen sie die als Schutz Gerichten kugelförmigen Energiekonzentrationen auseinander. Pfeile, die aus nächster Nähe abgeschossen wurden, prallten it hellem Klang von ihren Panzerschilden ab. Ein paar Käfer die Reiter die Rückenschilde getroffen wurden, fielen unter diesen Pfeilschüssen. Die übrigen Käfer rissen die Palisaden nieder, warfen sie beiseite, um Männer zu zerreißen.
286 Artus stand in der Reihe der Bogenschützen auf dem Wehrgang der Burgmauer und ließ einen Pfeil von der schwirrenden Bogensehne fliegen. Er hob sich mit ungezählten anderen in den grauen Mittagshimmel. Sie leuchteten rot auf, als sie Merlins schützende Schale durchbrachen, dann gingen sie auf die Angreifer nieder. Eisenspitzen prallten auf rote Rückenschilde. Die meisten schlugen Funken heraus und glitten ab. Andere bohrten sich in die Spalten zwischen Kopf und Rückenschild und sehr wenige durchbrachen die Schilde und sanken in die Körper darunter. Es war nicht genug. Die Kriegskäfer rissen die erste Palisade nieder, überwanden die schlummernde Macht des Sidh und zerrissen seine äußere Schutzhülle. Artus blickte auf und sah diese äußere Schale flackern und verblassen. Ein weiterer Sturm von Pfeilen ging auf die Angreifer nieder. Weitere zehn Kriegskäfer blieben in ihrem schwarzen Blut liegen. Tausend andere fraßen sich in die Verteidigungslinien vor. Artus befahl den Schützen, die Bogen abzusetzen. Unten befanden sich Schwerter im Nahkampf mit Zangen. Ein Krieger stieß sein Schwert in die offenen Mundwerkzeuge des Käfers, die sofort seinen Arm ergriffen, der dem Schwert folgte, worauf Kopf und Rumpf das gleiche Schicksal erlitten. Ein anderer Krieger, fast noch ein Junge, wurde von Zangen gepackt und zerrissen. Stacheln bohrten sich Kriegern in die Augen, Klauen rissen mit Widerhaken Hälse auf und trennten Beine ab. Auf jeden getöteten Kriegskäfer kamen zwanzig gefallene Krieger. Die Verteidiger Britanniens standen nur eine halbe Minute hinter dem Wall der äußeren Palisade. Dann war keiner mehr am Leben. Tyrs Käfer griffen die nächste Palisade an. Artus gab den Bogenschützen Befehl weiterzuschießen, bis die zweite Palisade fallen würde. Seine Augen glühten, als er dem Hauptmann der Bogenschützen seinen Bogen und Köcher übergab. »Wo ist Merlin?« Der Hauptmann zeigte zum Dach des Palastes. »Dort oben!« 286 In der Ferne kletterte Merlin über das Schieferdach, Brotlaibe unter den Armen. Er riss Stücke aus einem der Brote und warf sie über das Dach. Ein Schwärm Tauben und einige Krähen hatten ich um ihn versammelt. Artus starrte mit offenen Mund hinauf. »Nein, Großvater. Sucht jetzt.« Er rannte den Wehrgang entlang zum Hauptgebäude. Eine schmale Steintreppe, die über einen Strebepfeiler zum Dach führte, machte ihm den Aufstieg leicht. Merlins Vogelschwarm war auf Hunderte von Tauben und Krähen angewachsen. Er sprang zwischen ihnen herum und warf jedem Neuankömmling Brotbrocken zu. »Großvater! Großvater! Was tust du da?«, rief Artus verzweifelt, während er sich einen Weg durch die fleißig pickenden Tauben bahnte. Merlin fuhr erschrocken herum. Dann lachte er. Seine Augen waren hell, seine Finger krallten geschäftig Brotbrocken aus den Laiben. »Lass mich noch den Rest verteilen. Es ist nicht mehr viel übrig.« Artus packte den alten Mann bei den Schultern und schüttelte ihn. »Hat Loki dir den Verstand geraubt?« Merlin suchte sich vom Griff des Königs freizumachen und warf den Vögeln die letzten Brotbrocken hin. »Da! Jetzt sollte jeder genug haben.«
Artus starrte ihn ungläubig an. »Wenn ich dich verloren habe, hab ich auch den Krieg verloren.« »Mich verloren?«, fragte Merlin, plötzlich ernst. »Draußen wartet eine Armee von Kriegskäfern — Inkarnationen Tyrs —, die uns angreift.« »Ja«, sagte Merlin mit sanftem Lächeln. »Und Tauben und Krähen essen gern Käfer. Also dachte ich, wenn ich sie füttern würde —?« »Wenn du sie füttern würdest —?« »Wenn ich sie mit verzaubertem Brot füttern würde, und sie —«
287
»Sie wachsen!«, rief Artus, als eine Krähe von der Größe einer Gans an Excalibur pickte. »Ja«, sagte Merlin, »das verzauberte Brot lässt sie wachsen. Aber nun müssen wir sie vom Dach verscheuchen, bevor es zusammenbricht.« Als hätte er gänzlich den Verstand verloren, zog Merlin die Ränder seines Umhangs und schlug sie wie ein Paar zerfetzte Flügel auf und nieder. Dabei krähte und hüpfte er auf dem Dach herum. Die anschwellenden Tauben und Krähen, inzwischen größer als er und Artus, betrachteten verwundert den alten Mann, ohne sich von der Stelle zu rühren. Merlin verdoppelte seine Anstrengungen, stampfte und kreischte, aber die Vögel wollten nicht fliegen. Artus ächzte. Unten im Burghof waren alle Blicke auf sie gerichtet. Er zog Excalibur, schwang das Schwert über dem Kopf und rief: »Fort mit euch! Und kämpft für Britannien!« In einem aufgeschreckten Schwärm stoben Krähen und Tauben, die inzwischen Straußengröße erreicht hatten, in die Luft davon. Ihre Flügel rauschten wie eine einfallende Sturmbö. Die Krieger unten im Burghof und hinter den Palisaden duckten sich unwillkürlich vor den riesigen Vögeln. »Wie, wenn sie über unsere Krieger herfallen?«, fragte Artus. Merlin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie bevorzugen Käfer.« Der kreisende Schwärm erspähte die Käfer und stieß in Spiralen darauf nieder. Tauben und Krähen landeten auf und zwischen Tyrs rotschaligen Kriegskäfern. Ellenlange Schnäbel knackten Schalen, rissen schleimige Fetzen aus Käferleibern und verschlangen sie. Die kräftigen Kieferzangen und das Gift der Käfer vermochten nichts gegen die Krallen der Vögel und ihr dickes Federkleid. »Er war überheblich«, bemerkte Merlin ernst, als er sein Werk betrachtete. Er warf Artus, der noch auf dem Dach neben ihm stand, einen Seitenblick zu. »Tyr dachte, er könnte diesen Krieg gleichsam mit einer Hand gewinnen. Er dachte, seine Armee von Käfern könnte uns überrennen. Das war natürlich ein Irrtum.« »Wird er sterben?«, fragte Artus. 287 Merlin schüttelte den Kopf. »Nein. Götter sterben nicht auf diese Weise. Sie sterben nur, wenn die Menschen aufhören, an sie zu glauben. Aber Tyr wird nicht so bald wieder in diesen Kampf eingreifen ...« Die meisten Käfer lagen jetzt in leeren, zerbrochenen Schalen oder mit aufgemeißeltem Kopf und Vorderbrust und zuckten nur noch reflexhaft mit Beinen und Kieferzangen. Den wenigen Überlebenden stand das gleiche Schicksal unmittelbar bevor. »Aber meine Verteidiger werden auch bald nicht mehr sein -« Aus den nachrückenden Schlachtreihen der Sachsen erhoben sich Pfeile in glänzenden Schwärmen. Zu Dutzenden fuhren sie in die
Körper der Riesenvögel. Rotes Blut rann über taubengraue Federn. Hilflos mit den Flügeln schlagend, verendeten sie zwischen ihren Opfern. »Kannst du nichts tun?«, fragte Artus. »Irgendeinen Zauber wirken?« »Ich brauche jetzt all meine Zauber, Artus«, erwiderte Merlin grimmig. »Thor kommt.« Er zeigte nach Osten. Dort war der Himmel schwarz geworden. Gewitterwolken hatten den Horizont ausgelöscht. Mit erstaunlicher Schnelligkeit baute sich ein ambossförmiger Wolkenschirm auf, der bald von drohend sich auftürmenden Wolkengebirgen überragt wurde. Es war wie eine anlaufende Flutwelle, die zehn Meilen hoch in den Himmel ragte. In ihrer grauschwarzen Wand brodelte und polterte es. Totenköpfe erschienen und lösten sich auf. Die Wolken verzehrten Britannien. Wald und Tal, Wiese und Bach - das Land verschwand. Innerhalb von Augenblicken rückte die Wand vom fernen Bedgrayne bis zu den Höhen von Mount Badon und weiter vor, nach Bath und Camelot und Caerleon. Die Gewitterfront erreichte sie. Heulender Sturmwind drohte Merlin und Artus vom Dach zu fegen. Sie kauerten nieder, klammerten sich an einen Kamin. »Das ist kein natürlicher Gewittersturm«, rief Artus. »Der Arm Wotans zieht ihn vorwärts.«
288
»Der Arm Wotans und Thors Hammer«, rief Merlin zurück. Er zeigte zum Himmel. Inmitten der brodelnden Wolkenmassen bewegte sich etwas anderes. Es war massiv und zugleich von unheimlicher Beweglichkeit. Hier kam eine gespannte Schulter aus den Wolken zum Vorschein, dort hielten Knöchel einen grauen Schaft umspannt. In einem schwarzen Spalt glomm etwas wie ein riesiges Auge, aufmerksam und verderblich. Blendender Lichtschein erfüllte die Luft und blaue Funken markierten die Umrisse eines Riesenhammers. Blaue Blitzentladungen trafen zusammen und knatterten in Kaskaden an der Wolkenwand herab, in deren Innerem es unaufhörlich wetterleuchtete. Blitzschläge spalteten den Himmel in einer Lawine von Energie. Schmetternde Einschläge und dumpfes Poltern lösten einander ab. Die roten Halbkugeln schützender Energie, die Badon umschlossen, vermochten dem gigantischen Ansturm nicht standzuhalten. Die Blitze durchschlugen eine, zwei, drei und vier Abschirmungen. Einer schmetterte betäubend in das Dach des Hauptgebäudes, auf dem Artus und Merlin ausharrten. Auf einmal sah sich der König in Schwärze gehüllt. Er versuchte die Arme hochzureißen, doch hielt ihn etwas gefangen - zerrissenes Gewebe. Durch Merlins Zauber kaum gebremst, prallten er und Artus zusammen auf das Kopfsteinpflaster. Sie rollten auseinander, und als Artus wieder aufblickte, sah er einen weiteren Blitz in das Dach schlagen. Armdicke, blendende, bläulichweiße Energie schmetterte wie eine Riesenfaust auf das Dach. Zersplitterte Schieferplatten flogen in alle Richtungen. Knatternde Energie huschte über Giebel und Dachtraufen und sauste an den Ecken hinab in den Hof. Sie kochte Regenfässer, ließ eiserne Fenstergitter aufleuchten und schoss hinab in den Brunnen. Verästelungen trafen Krieger und verbrannten sie in ihren Rüstungen. 288 Blendender, betäubender Tod erfüllte den Burghof. Dann war die blaue Energie fort. Orangegelbes Feuer ersetzte sie. Überall loderten Flammen auf — im zerschlagenen Dach des Palas, in den Wirtschaftsgebäuden und sogar aus den Haufen wirr durcheinander liegender Krieger im Burghof.
»Löschmannschaft!«, rief Merlin, nachdem er mühsam aufgestanden war. Er eilte zum Brunnen und fand, dass Holzeimer und Seil verbrannt waren. Wütend riss er den Arm hoch. Ein gewaltiger Geysir brach aus dem Brunnen hervor und überschüttete den Burghof, die Halle und alles andere mit einem Wasserguss. Artus rappelte sich auf und wankte zu seinem Großvater. »Hättest du nicht einen besseren Zauber gebrauchen können, um uns vom Dach herunterzulassen?« Von der Mauer kam ein Ruf: »Sie stürmen die Palisaden! Die Sachsen stürmen die Palisaden!« »Konnte keinen besseren Zauber erübrigen«, murmelte Merlin. »Gib Acht! Da ist wieder einer.« Diesmal war es Artus, der Merlin packte und hinter einen Steinhaufen stieß. Weiß glühende Wut fuhr vom Himmel nieder. Blitz und Donner kamen im selben Augenblick an. Steine explodierten aus den Wänden des Palas. Ozongeruch erfüllte die Luft. Geblendet und betäubt vom schmetternden Krachen des Blitzeinschlags kauerten die beiden hinter dem Steinhaufen. Merlin krallte die Hände in den Schutt. »Wotan steht für Luft. Thor für Feuer. Unsere Verbündeten sind Erde und Wasser.« »Lass die Drachen heraus«, schlug Artus vor. »Nein«, widersprach Merlin. »Sie würden abgeschlachtet werden. Sie müssen gegen Männer kämpfen, nicht gegen Götter. Aber wie können Götter der Erde und des Wassers gegen Luft und Feuer kämpfen?« Er zog die Hände aus dem Schutt und sah seine Finger rot von Rost. Er ergriff den Steinbrocken. Adern von Eisenerz durchliefen den weißen Quarz. »Eisenerz —« »Ich muss zurück, die Krieger auf den Mauern führen«, unterbrach ihn Artus. Er stand auf. 289 »Ja, richtig«, sagte Merlin. »Ja! Gehen wir!« Seite an Seite liefen die beiden zur Umfassungsmauer. Im äußeren Burghof lagen nur Schutt und vom Blitz erschlagene, schwelende Leichen. »Vielleicht können die Zwerge Schächte unter den Sachsen öffnen. Vielleicht können die Steinriesen ihre Rückenmuskeln spannen und die Erde spalten. Vielleicht können die Thuata auf Geisterpferden einen Ausfall machen und die Angreifer in Angst und Schrecken versetzen —«, schlug Artus vor. »Ausgezeichnete Ideen!«, rief Merlin aus. »Ich werde es ihnen sagen, wenn ich sie sehe.« Damit machte er kehrt, lief über den äußeren Burghof zurück und stürzte sich mit flatterndem Reiseumhang kopfüber in den dortigen Brunnen. Artus machte gleichfalls Halt, sprang zurück und starrte hinunter in den Brunnenschacht. Aus der Tiefe drang ein lautes Aufklatschen herauf, wässeriges Geplätscher und Stimmen. Sie klangen beinahe fröhlich, als begrüßten sie ihn. Hinter Artus wurde eine weniger fröhliche Stimme laut - das unheilvolle Knistern eines niederfahrenden Blitzes kurz vor dem Einschlagen. Im nächsten Augenblick erschütterte wütendes Krachen die Burg. Der Blitz war in einen Turm eingeschlagen, seine blauen Finger rissen den Mörtel aus dem Gestein und sprühten ihn in alle Richtungen. Der Turm fiel mit mächtigem Gepolter von Stein und Schutt in sich zusammen. »Es gibt keine Hoffnung, wenn wir die Blitze nicht aufhalten können«, murmelte Artus vor sich hin. Es kostete ihn eine Willensanstrengung, die schmale Steintreppe zur Schildmauer hinaufzuspringen.
Die Krieger dort wurden belagert. Zwischen den betäubenden Blitzschlägen peitschten Hagel und Regengüsse in Schauern vom Himmel und trieben die Männer in die Wachtürme und gedeckten Teile des Wehrganges. Kaum hatte Artus die Mauerkrone erreicht, als ein weiterer Blitzschlag den gedeckten Abschnitt des Wehrgangs auseinander riss und die dort Zuflucht suchenden 290 Männer tötete. Einige starben plötzlich, andere langsam und qualvoll an Verbrennungen und Nervenlähmungen — alle aber starben. Artus nahm einem Gefallenen Bogen und Köcher ab, legte einen Pfeil auf und spähte zwischen zwei Zinnen hinab. »Bogenschützen zu mir!«, rief er durch das Toben der Elemente. Erst als andere seinem Befehl folgten und den Mauerabschnitt besetzten, konnte Artus seine Aufmerksamkeit der Lage bei den äußeren Verteidigungswällen zuwenden. Die schwarze Flut der Sachsen — irdische Verkörperung des himmlischen Sturmes - war gerade im Begriff, die zweite Palisade zu überwinden. Drei Breschen waren geschlagen und sächsische Krieger quollen durch die Lücken wie Wasser durch geöffnete Schleusentore. »Da und da und da! Schießt auf die Breschen!«, rief Artus. »Flickt die Palisade mit ihren Körpern!« Ein paar Dutzend Pfeile zischten hinaus und zu den Breschen hinunter, doch ehe sie ihre Ziele erreichten, wurde der Palisadenzaun an zwei weiteren Stellen durchbrochen. Der Ansturm war nicht aufzuhalten. »Sie sind durchgebrochen!«, kam der Alarmruf durch die Reihen der Verteidiger. »Durchgebrochen!« Artus reckte die Arme trotzig in den Sturm und rief: »Kommt nur, sächsische Scheißkerle! König Artus erwartet euch!« Verdammnis über Verdammnis. Ein weiterer Blitzschlag knisterte hoch über ihm. Artus fühlte, wie die Haare auf seinen Armen aufstanden. Das Prickeln winziger Funken tanzte über sein Rückgrat. Er blickte auf und sah Blendende Gewalt schoss aus dem dunklen Sturmhimmel herab. Die Energieentladung zerstörte die Reste der zweiten Abschirmung, durchschlug die Dritte, Vierte und Fünfte und fuhr auf den Helm des Königs nieder. Artus krümmte sich nicht vor dem sicheren Tod. Er stand und brüllte trotzig zum Himmel auf. Die Welt war in blendendweißes
290
Licht getaucht. Es krachte so sehr, dass die Schildmauer erzitterte, und es stank nach Schwefel und Ozon. Und dann war es fort. Artus blinzelte die flimmernden Punkte aus den Augen und starrte dem Blitz nach, der mitten in der Luft einen Haken zu schlagen schien. Aus der Hügelkuppe war eine rötliche Wassersäule aufwärts in den Himmel geschossen. Es sah aus, als hätte sie beinahe die Bäuche der Wolken berührt. Wie ein Riesenbaum hatte sie den Blitz angezogen, der für Artus bestimmt gewesen war. Artus lachte erleichtert. »Merlin und seine Zwerge, und eisenhaltiges Wasser.« Der Sturmwind erfasste die Gischt der Wassersäule und ließ sie auf die Sachsenkrieger niederprasseln. »Danke, Großvater«, flüsterte Artus.
Überall um den Mount Badon herum öffnete sich der Boden, und Wassersäulen schössen in einem Spektakel hoch hinausgeschleuderter rauschender Springbrunnen rings um den Mount Badon in die Höhe. Sie zogen alle Blitze auf sich. »Jetzt gilt es! Bogenschützen auf die Mauer!«, rief Artus und winkte seine Landsleute zur Verteidigung. Von neuer Hoffnung beseelt besetzten die noch kampffähigen Briten die Mauer, hoben ihre Bogen und ließen Pfeile fliegen.
22. Gleich und gleich gesellt sich gern
Herzog Liddington befehligte die Krieger am Tor des dritten Palisadenwalls. Unter seinem triefenden Helm wirkte das Gesicht des alten Mannes unbewegt wie Granit. Regenwasser hing in Tropfen von seinen buschigen Brauen. Mit jedem Aufleuchten von Blitzen ließ der Widerschein seine Augen wie Stahl schimmern. Er hatte sein Schwert noch nicht gezogen, hielt sich aber bereit und ließ 291 seinen Blick über den schlammigen Verteidigungsabschnitt hinter den lehmbespritzten Palisaden wandern, der von seinen Leuten gehalten wurde. Bisher war es ein seltsamer und unheiliger Kampf gewesen - rote Titanen, Kriegskäfer, Riesenvögel, Bimssteinregen, Unwetter, Sturm und Hagel ... All diese Hexerei bedeutete Liddington wenig, aber er konnte nicht gegen Gespenster kämpfen. Bei Licht besehen unterschieden sich diese Sachsengötter nicht von den Geistern aus dem Untergrund — man ignorierte oder ertrug sie, aber man konnte sie nicht bekämpfen. Das war Merlins Aufgabenbereich. Herzog Liddington hatte nur gelernt, gegen Männer zu kämpfen. Da passte es gut, dass eine Armee von ihnen gerade an den Palisaden vor ihm hackte. Einige Pfähle brannten widerwillig im strömenden Regen, nachdem die Angreifer sie mit Öl übergössen hatten, andere wurden von Rammen gebrochen oder von Äxten durchgehauen. Schon taten sich da und dort erste Breschen auf. »Bogenschützen zurück«, befahl Liddington mit eiserner Ruhe. »Schwertträger vor.« Als seine Befehle durch Zurufe weitergegeben wurden, wandte sich Liddington von einer Seite zur anderen, um die Ausführung zu überwachen. Von Regen und Hagel gepeitscht, zogen sich die Bogenschützen von den Palisaden hinter den dritten Wall zurück. Die Männer schüttelten ihre schmerzenden Arme aus. Jeder von ihnen hatte seinen Köcher in die vordringende Flut der Sachsen leergeschossen, aber die Eindringlinge brachen so oder so durch. An ihrer Stelle trat das Fußvolk, das in Bereitschaft gewartet hatte und von weiteren Kriegern aus der dritten Abwehrstellung verstärkt wurde. Die Umgruppierung vollzog sich still, mit ruhiger Resignation. Bogenschützen konnten die Stellung nicht länger halten. Wenn Schwerter und Spieße auch versagten, würden die Überlebenden auf die dritte Verteidigungslinie zurückfallen müssen. Die Krieger, die sich am Wall versammelten, waren durchnässt, 291 mit Schlamm beschmiert, und Regen strömte von ihren Helmen. Wenn die Palisaden fielen, würden nur sie die Flut aufhalten können. Tapfere Fußsoldaten. Liddington war unter ihnen. Hier wurden keine Pferde gebraucht, ohne Pferd war er bloß ein weiterer Fußsoldat. Es war ein gutes Gefühl, mit den Füßen in der Erde verwurzelt zu kämpfen. »Wir halten die Stellung!«, rief Liddington seinen Kriegern zu. »Seid standhaft!«
Der Ruf wurde durch die Reihen weitergegeben. Es waren gute, tapfere Burschen, grimmig und entschlossen. Sie wussten, dass sie heute sterben würden, und die Erkenntnis machte sie nur stärker. Auch Liddington wusste, dass er sterben würde. Er, der britische Geister überlebt hatte, würde die sächsischen nicht überleben. »Seid standhaft!« Das Prasseln des Hagels wurde plötzlich von einem Ruf aus Tausenden von Kehlen übertönt. Liddington hörte den Triumph heraus, bevor er etwas sah. Er zog das Schwert aus der Scheide und sah das Palisadentor vor ihm nachgeben und fallen. Dunkle Gestalten brachen über splitterndes Holz vor. Ihren Schlachtruf auf den Lippen, schwärmten sie in berserkerhafter Wut über das gefallene Tor. Liddingtons Wut war nicht geringer. Sein Schwert durchschlug den Eisenhelm des ersten Angreifers, als bestünde er aus Porzellan, und fuhr dem Zweiten durch die Kehle. Diese Eindringlinge wagten es, seine Burg anzugreifen, und dafür sollten sie sterben -so viele wie er töten konnte, bevor sie ihn töteten. Ein dritter Sachse brach vor seinen Füßen zusammen. Schlag für Schlag reparierte Liddington mit seinen Kriegern die Toröffnung, indem er sie mit toten Gegnern füllte. Er stieß sein Schwert einem Gegner aufwärts durch den Kiefer, dass die Spitze seine Zunge und den Gaumen durchstieß. Als der Mann fiel, riss Liddington sein Schwert zurück und parierte den Angriff eines weiteren. Blut vermischte sich mit dem peitschen 292 den Regen. Er stieß den Gefallenen zurück und stieg auf seinen Rücken. Stahl klirrte. Eine Streitaxt kerbte Liddingtons Klinge. Er be-jn seine Waffe frei und stieß die Spitze in das Auge des Axtträgers. Blut spritzte, doch der Sterbende schlug zurück. Als ihm die zum ausholen erhobene Streitaxt aus den Fingern fiel, spaltete sie Liddingtons Wange. Der alte Herzog taumelte. Kalter Regen vermischte sich mit eißem Blut, das ihm in den Kragen rann. Er wankte halb betäubt zurück. Als er die Zähne zusammenbiss, bemerkte er entnervt, dass seine Lippen sich nicht mehr über den Zähnen schlossen. Ein Blick durch die Reihen zeigte, dass der Rest seiner Fußsoldaten ähnlich bedrängt war. Die meisten von ihnen hatten mehr als einen Gegner erschlagen, bevor sie selbst ihre tödlichen Wunden erhielten. Helden allesamt - und bald tote Männer. Liddington brach in die Knie. Sachsen strömten an ihm vorbei, jetzt gab es kein Halten mehr. Der Herzog zischte einen im Blut gurgelnden Fluch aus seinem ruinierten Gesicht. Seine Finger krallten sich in den Schlamm. In der Mitte der ersten Angriffswelle ritt ein rotbärtiger Riese von einem Mann. Er schwang mit Siegeszuversicht einen Speer, während er Befehle erteilte, ein Reiter unter schlammbespritztem Fußvolk - Aelle von Sussex. Der alte Herzog sah nicht mehr. Er sank zu Boden. Einen Augenblick später flog ihm der Kopf von den Schultern. Blut vermischte sich mit Regen und Schlamm und nährte den Boden. Sachsen stiegen über seinen Rücken. Herzog Liddington gesellte sich zu den Geistern des Mount tdon. während Heldentum die Palisaden und die Schildmauer regierte, hielt Feigheit die Garnison im Griff. Krieger, die in die niedrigen Wirtschaftsgebäude und Stallungen geflohen waren, um dem 292 Sturm und den tödlichen Blitzschlägen zu entgehen, waren hinter festen Mauern und einem Dach aus dickem grünem Schilf sicher vor Sturm und Stress. Aber nicht vor Verrat.
»Diese Sachsen sind Kämpfer, Männer nach unserem Geschmack«, rief ein Aufwiegler von einem niedrigen Tisch. Er war ein schmalgesichtiger Mann mit scharfen kleinen Augen und einer ständigen steilen Stirnfalte, die seine Miene finster machte. Er trug den Wappenrock von Dalriada, und obwohl niemand ihn kannte, hatte seine Rede sie gefesselt. »Sie kämpfen nicht wie Artus. Nicht wie der friedliebende Palasterbauer Artus, der die Königin nicht anrühren darf. Die Sachsen sind Männer wie wir. Sie lieben den Kampf und das Plündern und die Frauen. Was werden sie mit uns tun, wenn sie uns hier finden? Ihr wisst die Antwort so gut wie ich. Sie werden uns niedermachen und ausplündern. Ist es das, was wir wollen?« »Nein!«, riefen alle miteinander. Annähernd zweihundert Mann waren in den beengten Räumlichkeiten versammelt. Ein paar weitere standen am Eingang unter der Traufe und hörten von dort aus zu. »Artus hat uns Krieger alle versammelt und hier eingesperrt, als ob wir Vestalinnen wären. Denkt er, er könne seine Armee einfach in ein Kloster sperren? Nun, Artus lässt uns vielleicht nicht kämpfen, aber Aelle wird es tun. Wir können rebellieren und die Burg für Aelle einnehmen. Das wird uns reiche Belohnung bringen. Seid ihr mit dabei?« Die versammelten Krieger reckten geballte Fäuste in die Luft. »Ja!« »Ja!«, rief auch eine andere Stimme. Dagonet sprang neben dem Redner auf den Tisch. Mit halblauter Stimme sagte er: »He, Loki. Ich bin ein großer Bewunderer - lass mich helfen!« Er zwinkerte, dann wandte er sich der Menge zu. »Artus ist nicht einen Pfifferling wert. Lasst uns für Aelle kämpfen! Der ist zwei Pfifferlinge wert!« 293 Loki musterte Dagonet mit finsterem Blick. »Lasst uns Helden sein, statt Tote! Lasst uns für Aelle kämpfen!« Die Krieger unterstützten die Aufforderung mit lauten Zurufen. »Ich werde für Aelle kämpfen!«, rief Dagonet begeistert. »Einen vollen Bierkrug für Aelle! Einen schäumenden Aelle für alle!« Einige schmunzelten. Loki setzte einen Fuß an Dagonets Schulter und stieß ihn rücklings auf den Tisch. »Ich sage, wir kämpfen!« »Ach so, du willst kämpfen, ja?«, fragte Dagonet. Er sprang auf wie von einer Feder geschnellt. Geschmeidig wie eine Katze, flog der Zwerg auf Loki zu, rannte an ihm hinauf, vollführte einen Überschlag rückwärts und landete vor ihm, die Fäuste erhoben. »Ich werde gegen dich kämpfen, wenn du beide Beine hinter den Rücken gebunden hast!« Die Krieger lachten und applaudierten. »Nur zu!« und »Fang schon an!«, riefen einige Stimmen. Loki hielt die offenen Hände vor sich. »Ich werde nicht mit einem Hanswurst kämpfen —« »Dann kämpfe lieber nicht gegen Aelle!«, rief Dagonet. Er ergriff Lokis Arm und bemühte sich, den anderen mit einem Schulterwurf zu Boden zu werfen. Das missglückte Manöver führte zu einer absurden, buckelnden Bewegung. Gelächter füllte den Raum. »Was, du kleiner Schwindler —« »Was, du großer Schwindler -« »Na los! Macht schon! Kämpft!« »Artus führt einen Ausfall an«, kam ein Ruf von draußen. »Wer unter euch will kämpfen?« »Ja, kämpfen!« Die Menge flutete zur Tür und hinaus. »Auf in den Kampf!«
Mit ungläubiger Miene sah Loki das Gesindel auf den Burghof hinausströmen. Dann fasste er Dagonet ins Auge. »Du bist ein gerissener kleiner Bursche — für einen Hofnarren. Aber du hast Artus 294 auf Kosten deines eigenen Lebens gerettet.« Er hob die Hände und kleine Funken sprühten von seinen Fingerspitzen. Dagonet sah ihn arglos an. »War es wirklich so gut? Ich hatte solche Angst. Schließlich, welche meiner Listen könnte deiner würdig sein?« Ein argwöhnischer Ausdruck geriet in Lokis Augen und verdrängte den Zorn. Er ließ die Hände sinken. »Woher weißt du von Loki?« Dagonet machte eine abwinkende Bewegung und sagte: »Jeder kennt Loki. Du bist berühmter als Christus. Kein anderer Gott ist dir vergleichbar. Es gibt nur einen Loki. Ich habe deinen Genius studiert, deine Triumphe —« »Wirklich?«, erwiderte Loki. »Dann erzähl mir einen.« »Zum Beispiel, wie du Thor überlistetest«, sagte Dagonet. »Ja«, sagte Loki und nickte in liebevollem Erinnern. »Und als du Wotan überlistetest. Und Tyr —« »Ich soll Tyr überlistet haben?« »Hast du es nicht getan?« »Nun«, überlegte Loki. »Natürlich —« »Aber was ich gern wissen möchte, ist, wie du Artus überlistetest. Wie bist du in seine Burg gekommen, in seine ganze Domäne?« Dagonet buckelte wie ein Speichellecker. »Das war dein größter Coup!« »Ach ja. Das war nicht ungeschickt«, meinte Loki. Er rieb sich die Hände, erfreut über die Gelegenheit, ein wenig zu prahlen. »Es ist der gefährliche Platz am Runden Tisch, wo nur ein reiner Mann sitzen kann. Das ist mein Platz, denn ich bin rein -« »Loki und rein?« Der Gott flüsterte: »Und ob! Reine Bosheit. Reine Willkür. Reines Vergnügen.« Dagonet kicherte erfreut. »Wundervoll! Solange es einen Runden Tisch gibt, hast du also einen Platz daran. Du bist willkommen im Herzen von Camelot. Du bist ein Ritter wie jeder andere!« 294 »Ja«, lachte Loki. »Brillante Idee, nicht?« Dagonet seufzte erfreut. »Was führst du noch im Schilde? Ich würde so gern vom Meister lernen!« Loki musterte den Zwerg mit ernstem Blick. »Warum nicht? Welchen Schaden kann ein Narr anrichten? Du bist verrückt wie ein Märzhase. Komm mit, ich werde dir zeigen, wo ich einen Zauber gewirkt habe, auf den hin die Schwerter der Briten nach einer Stunde Kampf schlaff werden.« »Oh, das würde ich gern sehen!« »Es gibt noch mehr. Viel mehr ... Weißt du, du erinnerst mich an einen gewissen Magier, der früher verrückt war. Wir sind Freunde gewesen, er und ich ...« Militärisch ergab es keinen Sinn. Welcher Heerführer, der von überlegenen Streitkräften belagert wird, würde einen Ausfall aus seiner Festung wagen? Kein Heerführer, sondern ein Spieler, der das Schachmatt seines Gegners voraussieht.
»Aelle steht in der vordersten Front, am vierten Palisadentor!«, rief Artus seinen berittenen Kriegern zu. Regen tickte auf Helmen und Schilden, klebte durchnässte Wappenröcke an Schuppenpanzer. »Er trägt meine Scheide. Solange er über sie verfügt, kann er nicht verwundet werden. Das hat ihn leichtsinnig gemacht.« Artus' Pferd stampfte im Halbkreis, und der König zog hart an den Zügeln, um es wieder unter Kontrolle zu bringen. »Wir sprengen hinaus, sobald das vierte Tor fällt, umringen Aelle, während er an der Spitze seiner Leute eindringt, und ziehen ihn zurück in die Burg.« Über ihnen wurde ein Warnruf laut. »Das Palisadentor gibt nach!« »Hoch mit den Fallgattern!«, rief Artus. Das Rasseln von Ketten und Quietschen von Winschen setzte ein. Zwei massive Fallgatter hoben sich in ihren Schienen. Artus gab seinem Pferd die Fersen. »Vorwärts!« 295 Vierhundert Hufe klapperten über das Kopfsteinpflaster. Die schweren Hufschläge wurden schneller, härter, dann drängte sich die Masse der Reiter durch die Tore unter den tropfenden Fallgattern. Artus ritt an der Spitze der Kolonne, flankiert von Ulfius auf der einen und Kay auf der anderen Seite. Brastias, Ector, Lucas, Gryfflet, Gavain, Agravain und die übrigen Ritter folgten in dicht geschlossener Formation. Im Tunnel unter dem Torhaus dröhnten die Hufschläge verdächtig laut, doch gleich dahinter gingen die Geräusche von Artus' Streitmacht in Wind und Regen und dem Kampfgetöse unter. Wo die Zufahrt zur Burg den Hang abwärts ins Tal führte, brandeten die Wellen der sächsischen Krieger gegen die Hügelfestung vor und brachen sich am vorletzten Palisadenwall, der jedoch am Zusammenfallen war. Ihre Augen glänzten im Fackelschein. Mit Schlamm und Blut bespritzt, trieben sie einen Rammbock mit Widderkopf im Sturmlauf gegen das Tor. Inmitten von schlammigem Lehm, Gefallenen und ihren Waffen, überschüttet von Regen und dem herabstürzenden Wasser der zauberischen Geysire aus dem Inneren des Hügels, übergössen vom unregelmäßig flackernden Schein fahler Blitzentladungen, glichen sie nicht Menschen, sondern Dämonen der Unterwelt. Die Zugbrücke hatte noch nicht aufgesetzt, als Artus und sein Gefolge auf ihren gepanzerten Pferden über die Holzbohlen polterten. Hufeisen fetzten Splitter aus dem Holz. Als die Zugbrücke sich auf das Widerlager senkte, waren Artus und seine Flügelmänner schon hinüber. Ihnen folgte der Strom der berittenen Krieger. Die abschüssige Zufahrt war unterhalb der Zugbrücke nicht mehr gepflastert, der lehmige Boden von den Regengüssen verschlammt. So mussten die Reiter ihren Pferden eine Gangart überlassen, die auf dem schlüpfrigen Untergrund Stürze vermeiden konnte. »Öffnet das Tor!«, rief Artus, als sie sich dem obersten, noch 295 nicht umkämpften Palisadentor näherten. Dort hatten die Verteidiger bereits einen Torflügel so weit geöffnet, dass Verwundete und zurückgehende Krieger von den überrannten unteren Wällen aus durchschlüpfen und sich in Sicherheit bringen konnten. Nun, als sie die Panzerreiter mit dem König an der Spitze kommen sahen und seinen Befehl vernahmen, beeilten sich die Verteidiger des Tores, die schweren Riegelbalken aus ihren Klammern zu heben und beide Torflügel weit zu öffnen. Jetzt wurde der Blick auf den nächsten, bereits hart umkämpften Palisadenwall frei. Die Sachsen hatten sich den Hang des Hügels weit heraufgekämpft, die drei unteren Palisadenwälle überwunden und waren in die vierte Verteidigungsstellung eingebrochen.
Die Palisaden wiesen mehrere Breschen auf und das Tor war mit dem Rammbock aufgesprengt worden. Die restlichen Verteidiger dort und hinter dem Wall kämpften auf verlorenem Posten und würden die nächsten Minuten nicht überstehen. König Aelle führte den Angriff seines Fußvolks an. Zu Pferde behielt er im Kampfgetümmel den Überblick und konnte seine Krieger zu den Brennpunkten dirigieren. Er war ein hünenhafter Kämpe, der sein langes rotblondes Haar hinter dem Ohr zu einem Knoten gebunden hatte und einen prachtvollen Braunen ritt. Rhiannon schimmerte auf seinem Rücken. Obwohl Aelle durch seine herausgehobene Stellung und den Umstand, dass ihn alle kannten, die Pfeile und Spieße der Verteidiger auf sich zog und sein Pferd bereits durch die Lederpanzerung blutete, war der König selbst im dichten Kampfgetümmel unversehrt geblieben. Pfeile prallten von ihm ab, Spieße und Schwerter drangen nicht durch. Als ein britischer Krieger Aelles ungeschützten Hals mit dem Spieß traf, floss kein Blut; der König durchschlug den hölzernen Schaft, dann spaltete er den Schädel des Angreifers bis zu den Schultern. Mit dem Ausruf: »Für Rhiannon!« riss Artus sein Schwert in die Höhe und sprengte ins Kampfgewühl. Excalibur sauste nie 296 der wie ein Blitz und hieb eine Bahn durch das andrängende Fußvolk. Ein Sachse wurde enthauptet, ein anderer von Excalibur aufgespießt. Sein Pferd stampfte unerschrocken vorwärts und warf den Kopf mit dem Eisenstachel auf dem ledernen Stirnschutz, als wäre ihm ein Horn gewachsen. Ein Schwertstoß traf Artus in die Seite und riss seine Hüfte auf. Blut quoll unter dem Harnisch hervor. Artus wandte sich dem Angreifer zu, einem Krieger mit braungelocktem Haar und Blut im Gesicht. Er stieß Excalibur hinein und machte es noch blutiger. Der Mann fiel in den Schlamm. Artus zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen, riss ein Stück Stoff von seinem Wappenrock und versuchte den Blutfluss zu stillen. Seine Hände fummelten noch mit rot durchnässtem Stoff, als er mit einer Streitaxt angegriffen wurde. Er wandte sich um, aber zu spät. Er hatte nicht einmal Zeit, der Waffe auszuweichen. Eine Stahlklinge blitzte. Die Axt geriet ins Wackeln und prallte mit der Breitseite auf Artus' Helm. Dann fiel sie zu Boden, ihr Stiel war entzweigeschlagen. Ulfius zog sein Schwert zurück und hieb seitwärts, um den Axtträger zu enthaupten, der Mann aber duckte sich vor dem Schlag. »Vorwärts, Artus. Zu Aelle!« Artus biss die Zähne zusammen und nickte. Es war blutige Arbeit, sich durch Aelles Gefolge zu schlagen, und ohne Pferde wäre es ihnen nicht gelungen. Die Sachsen waren ungestüme, furchtlose Kämpfer, und nur der Umstand, dass Artus' Ritter in geschlossener Formation diszipliniert kämpften, verhinderte, dass sie einzeln niedergemacht wurden. Zwischen den regellos im Schlamm verstreut liegenden Gefallenen hatten die Pferde es schwer, einen festen Stand zu finden. Excalibur erschlug drei weitere Krieger, bevor Artus den König erreichte. Artus und Aelle prallten aufeinander wie zwei Schafböcke in der Brunft. Hufe wühlten blutigen Schlamm auf. Die Pferde 296 rammten einander mit den Schultern, Excalibur fuhr blitzend nieder.
Aelles Schwert parierte den Hieb und stieß das Schwert zurück. Sofort konterte er mit einem seitwärts ausholenden Schlag. Artus wich, sich weit aus dem Sattel beugend, dem Schlag aus. Die Klinge traf seinen Ellbogenschutz und schlug einen Knick hinein. Artus warf sein Pferd herum und es rammte den Braunen. Excalibur nutzte den Bewegungsschwung und hieb seitwärts an der Parade des Sachsenkönigs vorbei. Die Klinge durchschlug Schuppenpanzer und Kettenhemd und schnitt tief in Aelles Flanke. Der lachte nur. Er ließ einen Panzerhandschuh auf Excalibur fallen und hielt die Klinge fest. Dann zischte er mit dem barbarischen Akzent seines Volkes: »Solange ich Rhiannon besitze, kannst du mich nicht töten. Und jetzt habe ich auch Excalibur.« Artus zerrte angestrengt an seinem Schwert, konnte es aber nicht aus Aelles Griff ziehen. Der Sachsenkönig holte mit der freien Hand aus und ließ seine Klinge auf Artus niedersausen. Der konnte nicht mehr ausweichen und wurde vom Schwertstreich wie von einem Hammerschlag getroffen. Der Stahl durchschnitt Halsberge und Schulterspangen, Gewebe und Knochen - und blieb erst unter dem Schlüsselbein stecken. Artus schwankte. Er konnte sich nicht aufrecht halten. Excalibur Griff wurde aus seinen Fingern gezogen. Er fiel rücklings über die Pferdekruppe. Regen peitschte sein Gesicht. Ihm wurde schwarz vor Augen, bevor er in den aufspritzenden Schlamm klatschte. Aelle hielt Excalibur triumphierend im blutigen Panzerhandschuh. Rhiannon glänzte auf seinem Rücken. Mit einem kurzen Ruck am Zügel lenkte Aelle sein Pferd über Artus, beugte sich seitwärts aus dem Sattel, holte mit dem erbeuteten Excalibur aus und führte einen vernichtenden Schlag auf den bewegungslos liegenden Artus. 297
23. Die Tiefen
Die Anderwelt war schwer gezeichnet. Merlin schwamm neben Nyneve durch die kalten Adern des Sidh. Wohin sie auch kamen, überall waren die Feenleute wie von einer Krankheit befallen. Die Geister der Thuata erhoben sich nicht, Zwerge und Kobolde lehnten wie Statuen an ihren kleinen Pickeln. Tote Götter waren kaum noch mehr als Schatten und Wispern. Sogar die Drachen schliefen, unempfindlich gegen Schmerz, Drohung, Verhängnis. Merlins Ermahnungen waren allesamt auf taube Ohren gestoßen. »Lokis Wirken hat verheerende Folgen gehabt«, sagte Merlin. »Er hat nur Zweifel verbreitet«, meinte Nyneve nachdenklich. »Du musst erkennen, dass die britischen Götter nur noch halb erinnerte Legenden waren, bevor dieser Krieg begann. Loki hat diese halben Erinnerungen lediglich zerstreut und vertrieben. Und Wotan besorgte den Rest. Wer kann noch an die Götter der Großväter glauben, wenn Thor seine Blitze vom Himmel schleudert?« »Die göttliche Armee, die ich Artus versprach, verwandelt sich in Stein«, sagte Merlin, als sie einen weiteren Brunnen in der Höhle erreichten. »Wären nicht deine Kräfte gewesen, so hätten wir nicht einmal die eisenhaltigen Geysire aufbieten können.« Sie waren in den Hallen der Thuata-Geister angelangt. Trübe Augen glommen aus Löchern in den Höhlenwänden. Nyneve nahm aus dem Wasser ihre schlanke Gestalt an und stieg ans Ufer. Wasser rann ihr sanft von den Schultern. »Welche Hoffnung hast du hier, Merlin?«
Der alte Mann nahm seinerseits Gestalt an, blieb unglücklich im flachen Wasser sitzen. »Wenig Hoffnung, aber vielleicht unsere einzige.« Er stand ächzend auf. Wasser rann aus seinem zerfransten Umhang. »Von allen Kreaturen dieses Sidh sind die Geister der Thuata noch am meisten mit der Außenwelt verbunden. Jeder ist am Ort seiner oder ihrer Geburt verankert, jeder ist ge 298 neigt, dort zu spuken. Wenn ich diese Geister der Vergessenheit entreißen kann, dann kann ich sie vielleicht durch das Land schicken, so dass sie die Menschen heimsuchen - auch die Eindringlinge — und sie an die wahren Mächte hier erinnern.« Sie beugte sich zu ihm. »Sehr gut. Du denkst immer nach. Was du über eine zu Stein gewordene Armee sagtest, hat mich auf eine Idee gebracht.« Sie küsste ihn. »Ich gehe, mit den Steinriesen zu sprechen.« Geschmeidig wie ein Fischotter glitt Nyneve zurück in das kalte Wasser. Ihr Gewand und der Schleier schimmerten wie Fischschuppen und verschwanden. Merlin blinzelte ihr nach. Eine seltsame Traurigkeit überkam ihn, ein unleugbares Bewusstsein von Verlust, als würde er sie nie wieder sehen. »Lebewohl, Nyneve.« Langsam wandte sich der alte Mann zu den Höhlen. Er hob die Arme und rief: »Erwacht, o ihr Thuatageister. Ich rufe euch. Erwacht —« »Wer ruft uns?«, fragte eine Stimme. Sie klang tief und unendlich müde. Sie kam aus alten Lufträumen, wo sich seit den Zeiten vor Caesar kein Hauch bewegt hatte. »Wer weckt uns?« Merlin lächelte und seufzte. »Nur ein Freund. Ein Freund mit einer Warnung.« »Kein Übel kann uns hier erreichen ...« »Du irrst dich. Ein ausländischer König überrollt das Land. Er bringt eine Flut von Vergesslichkeit mit sich. Die Menschen vergessen euch. Selbst die Orte, wo ihr gestorben seid, wo ihr getötet wurdet — selbst das Land vergisst«, warnte ihn Merlin. »Wenn dieser neue König siegt, werdet ihr für immer verschwunden sein.« Etwas Neues klang in der müden Stimme mit. Zorn. Der unversöhnliche Zorn des Ermordeten. Und nun erhoben sich andere Stimmen, die in Übereinstimmung mit der Ersten sprachen. Stille Erbitterung ergriff die Menge der Geister. »Wir werden nicht für immer verschwunden sein. Wir werden nicht vergessen sein.« »Ihr werdet. Beinahe seid ihr es schon.« 298 »Woher willst du dies alles wissen?« Der Zorn begann den Zauberbann Lokis zu lösen. »Ich weiß es, weil ich genauso bin wie ihr. Weil ich nichts mehr wünsche als mich in meine private Höhle zurückzuziehen, fern von der schrecklichen Oberwelt. Aber ich habe es nicht getan -ich habe neben meinem Enkel weitergefochten. Ich habe gelebt. Und ich werde erinnert.« Er seufzte. »Ihr, auf der anderen Seite -wer erinnert sich euer? Wer erinnert sich der ermordeten Thuata? Wer erinnert sich der verbannten Feen? Wer erinnert sich der Riesen alter Zeit? Niemand.« Alle Höhlen in der Felswand wurden lebendig. Gequälte Geister erwachten in ihnen. Sie waren wie unglückliche Meerestiere, die in Gezeitentümpeln gefangen sind und sich unter der heißen Sonne winden. »Wir könnten gehen und sie erinnern. Wir könnten die Orte heimsuchen, die uns zerstörten. Wir könnten ihre Verbrechen beklagen, sie an die alten Götter erinnern, aber ...«
Es war ein gefährlicher Augenblick. Ein letztes bisschen Zorn würde sie hinaustreiben, doch um welchen Preis? Und welches war der Preis, wenn sie hier unten blieben? Merlin beobachtete die Höhlen, in denen es unruhig geworden war. »Ich bin zu spät gekommen. Ihr seid bereits zerstört. Ihr wurdet vor langer Zeit einmal ermordet — und in dieser Stunde noch einmal.« Mit Gekreisch fluteten die Geister aus ihren Höhlen. Spektral und schauerlich rauschten sie an Merlin vorüber. Finger zupften an seinem durchnässten Gewand, zerrten an seinem triefenden Haar. Krallen bohrten tiefer und pflückten Stücke seiner Seele heraus. Ihm schwindelte. Der Sturmwind von Geistern peinigte ihn, lähmte seinen Willen, nahm ihm die Kraft. Es waren Myriaden. Um welchen Preis? Ermordete Thuata jagten an ihm vorüber und durch Risse im Fels aufwärts. Gequälte Geister suchten die Welt, seinen oder ih 299 ren Todesort, die Häuser und Paläste und Straßen, die einst gewesen waren. Merlin lag keuchend am Boden. Sie hatten ihn niedergestoßen. Die kalte Flut umspülte seine Beine. Beinahe hätten die Geister ihn erschlagen. Seit seinem Ringen mit der Roten Frau hatte er sich nicht so schwach gefühlt. Sogar das Atmen war ein Kampf. »Wie soll ich jemals Wotan besiegen?« Er schloss einen Moment lang die Augen ... Ich sehe mich selbst in Abschnitten, gespalten wie Fleisch unter einem Hackmesser. Wotan wird mich töten, wenn ich an die Oberwelt gehe. Das ist jetzt eine Gewissheit. Ich habe drei Tode von seiner Hand gesehen und ich werde sie alle erleiden und tot und vergessen sein. Ermordet wie die Geister der Thuata De. Im gleichen Augenblick, als Artus getroffen wurde, sprang Ulfius vom Pferd. Er war am Boden, als der König stürzte. Blutüberströmt fiel Artus in Ulfius' Arme. Eine klaffende Wunde hatte ihn von der Schulter bis zur Brust gespalten, breit wie ein geschlachtetes Schwein. »Er ist tot«, murmelte Ulfius wie im Fieber zu sich selbst. Regen mischte sich mit Blut und rann ihm übers Gesicht. »Der König ist tot.« Er hatte keine Zeit für Unglauben oder Trauer. Excalibur sauste zischend vom Himmel nieder. Ulfius taumelte zurück. Er konnte dieser Klinge nicht entgehen. Er drehte sich um seine Achse, suchte den König zu schützen. Selbst wenn Artus tot war, sollte er nicht von seinem eigenen Schwert, von Excalibur getroffen werden. Ulfius zog den Kopf ein und kauerte über Artus - bereit zu sterben. Durch die angewinkelte Armbeuge sah Ulfius, wie Artus' Pferd sich aufbäumte. Das edle Tier fing den Schwertstreich ab. Sein Blut ergoss sich in breitem Strom. Schon zu Tode getroffen, schlug das Tier ein letztes Mal mit den Vorderhufen zu und zerschmetterte König Aelles Pferd den Schädel. Beide Tiere brachen zusammen. 299 Aelle wurde aus dem Sattel unter sein eigenes Fußvolk geworfen. Der Wall seiner Krieger schloss sich vor Aelle und versperrte Artus' Rittern den Weg zu ihrem König. Sie gingen zur Verteidigung über, bildeten einen Kreis um Ulfius und wehrten die Sachsen ab. Schwerter sangen blutig unter dem stürmischen Himmel. »Excalibur«, keuchte der König.
»Du lebst!« Ulfius lachte und weinte, als er Artus aus dem Schlachtgetümmel zog. »Du lebst, Artus! Du lebst!« »Excalibur«, wiederholte Artus. Blasiges Blut rann ihm über die Lippen. »Das Schwert ist verloren«, sagte Ulfius. Er mühte sich über die verstreuten, halb im Schlamm versunkenen Körper gefallener Krieger. »Aber du lebst!« »Dann ... ist Aelle König«, röchelte Artus. Er erschlaffte in Ulfius' Armen. »Er hat Excalibur ... Rhiannon ... ist König ...« »Nein«, erwiderte Ulfius streng. »Du bist König, Artus. Du bist König.« Mit letzter Kraft erreichte er das Tor des obersten Palisadenwalls und blickte keuchend zurück zum Schlachtfeld. Es war hoffnungslos. Fünf Dutzend Ritter und Fußsoldaten bemühten sich, Tausende von Sachsen aufzuhalten. Sie fochten als Nachhut einen selbstmörderischen Kampf, während ihr auf den Tod verwundeter König aus der Schlacht gezogen wurde. Kay und Ector und alle Ritter der Tafelrunde würden in den nächsten Augenblicken sterben — und Artus in der nächsten Stunde. »Wie steht es ... für uns ... ?«, murmelte der König mit kraftloser Stimme. »Wir siegen.« Und tatsächlich war es keine barmherzige Lüge. Die Erde bebte. Ein tiefes Rumpeln und Poltern wurde hörbar, der Lehmboden brach auf. Köpfe und Schultern aus Stein schoben sich heraus. Nasse Erdbrocken fielen von gigantischen Blöcken. Sie stießen in einem 300 weiten Kreis um die Burg aufwärts, wo die Palisaden fielen. Es war, als bekäme die Erde Zähne, einen gewaltigen und alten Ring von Zähnen. »Avebury«, stammelte Ulfius staunend. »Eine steinerne Festung.« Schon zogen sich die belagerten Krieger und Ritter hinter den großen Kreis von Monolithen zurück. Nur waren es keine Monolithen. Es waren Gestalten, gebeugte Gestalten, die sich durch die Erde aufwärts stießen. »Steinriesen!«, flüsterte Ulfius. Auch die Krieger sahen sie, und die Sachsen. Gebeugte Nacken und Köpfe blickten drohend auf die Ebene hinab. Schlamm und Erde schälten sich von Schultern. Steinerne Rümpfe ragten im fahlen Licht der Blitze. Die Schlacht kam zum Stillstand. Ein spürbarer Schauer überlief die Kämpfer auf beiden Seiten. Als bezögen sie Energie aus diesem allgemeinen Entsetzen, begannen die Riesen sich zu bewegen. Lehmverkrustete Arme lösten sich von den Seiten der kauernden Gestalten. Köpfe richteten sich auf, blinzelten Sand und Erde aus uralten Augen. Wie Sicheln mähten die Riesenhände unerschrockene oder leichtsinnige Sachsen nieder, die sich nicht rechtzeitig zurückgezogen hatten. Mit den Menschen räumten die ausgreifenden Steinhände die zerstörten unteren Palisaden und die Leichen der Gefallenen fort, als wollten sie die Erde für neue Saat bereiten. Die Belagerer wichen in Schrecken zurück. Die Siegeszuversicht und der Kampfeswille erloschen, lösten sich auf. Das sächsische Heer ergriff die Flucht. Von den Mauern der Burg erklangen da und dort dünne, gespenstische Jubelrufe. Kaum noch bei Sinnen, murmelte Artus: »Wir ... siegen?«
»Ja«, sagte Ulfius und wandte sein Gesicht ab. »Ja«, keuchte er. »Wir siegen.« 301 Aus dem Brunnen in der Mitte des inneren Burghofes stieg eine nasse und schmutzige Gestalt. Merlin glich einer ertrunkenen Katze. Seine Kleider troffen von Wasser, als er aufwärts schwebte. Begeisterte Stimmung erfüllte den Burghof ringsum. Auf der Mauer jubelten die Krieger. Merlin fühlte sich ermutigt. Als er höher stieg und über die Mauer blicken konnte, sah er Steinriesen der abziehenden Armee Aelles folgen. Die Ritter der Tafelrunde kehrten siegreich durch die offenen Burgtore zurück. Nein - nicht siegreich. Eine schlaffe, von Blut und Schlamm bedeckte Gestalt lag in Ulfius' Armen. Merlin keuchte. »Artus!« Er ließ sich zum leblosen König niedergleiten. Die Menge stellte ihre Jubelrufe ein, als sie Artus sah, ohne Schwert und dem Tode nahe. Eine erstickte Stille breitete sich aus. Alle konnten Ulfius' verzweifelte Bitte hören: »Merlin, du musst ihn heilen. Er ist beinahe hinüber.« Der Zauberer beugte sich über den König und legte vorsichtig eine Hand in die klaffende Wunde. Sein Gesicht war aschfahl. »Aelle hat dies getan —« »Du musst ihn heilen —« »Ich kann nicht«, sagte Merlin. »Ich bin zu schwach. Guinevere wird ihn retten — oder niemand.« Der alte Magier öffnete seinen durchnässten Umhang und hüllte Ulfius und Artus damit ein. Zusammen erhoben die drei sich in die Luft. Merlin trug sie über den Hof und zum Fenster der königlichen Gemächer. Glas und Blei wurden weich wie Seifenblasen und erlaubten dem Magier und seinen Gefährten, ins Innere zu gleiten. Die Butzenscheiben erneuerten sich selbst, als die drei auf dem mit Binsen bestreuten Boden landeten. Merlin entließ die beiden aus seinem tropfenden Umhang und fiel schwer atmend auf die Knie. Ulfius trug Artus zum Bett und legte ihn auf weißes Leinen. Blut ergoss sich darüber. »Schnell, jemand muss Guinevere holen!« 301 Es war nicht nötig. Mit bleichem, angstverzerrtem Gesicht kam Guinevere geeilt. Hinter ihr erschienen sieben Priesterinnen, alle beladen mit den Gerätschaften und Arzneien der Heiler - dampfende Silberschüsseln mit heißem Wasser, Flaschen mit Spirituosen, Bandagen, Leintüchern, Wein, Salz und Schwefel. Das mächtigste Heilmittel von allen aber war Guinevere selbst. Sie kniete an der Seite ihres Gemahls nieder. Ihre Hände, wenngleich zittrig, arbeiteten schnell und geschickt. Zusammen mit einer Helferin öffnete sie Artus' zerschlagenen Brustpanzer und entfernte das wollene Unterziehhemd. Dann kamen Reinigungstücher und brennende Spirituosen, bis die klaffende Wunde gesäubert wurde und offen lag. Dann legte sie ohne zu zögern ihre Hände in die furchtbare Spalte, als könnte sie Knochen und Fleisch und Sehnen und Adern wieder zusammenfügen. Ihre weißen Finger wurden rot, während sie Gebete an das Land sprach. Merlin trat zum Kopfende von Artus' Bett und strich dem König sanft übers Haar.
Artus' Gesicht war in Schmerzen verkniffen, Augen und Lippen zusammengepresst. Das schien ein Zeichen dafür zu sein, dass er bei Bewusstsein war, doch sonst waren kaum Lebenszeichen zu erkennen. Merlin sprach trotzdem zu ihm. »Du bist wieder unter Freunden, Artus. Dein Großvater ist hier. Deine Gemahlin. Sie wird dich retten.« Artus zuckte. Guineveres Hände verließen die blutige Wunde. Priesterinnen hielten seine Arme und Beine nieder, um unkontrollierte Bewegungen zu verhindern. Doch er blieb ruhig. Die Königin nahm ihre Arbeit wieder auf. »Guinevere wird dich retten, wie Nyneve uns alle rettete«, fuhr Merlin besänftigend fort. »Sie erweckte die Steinriesen, nicht ich. Sie zwang sie empor ans Tageslicht und vor die Augen der Menschen, machte Briten und Sachsen in gleicher Weise sehen und glauben. Sie erweckte die Steinriesen in unserem Bewusstsein und dann in die Wirklichkeit. Sie wird auch bald hierher kommen.« 302 Der König knirschte leise mit den Zähnen. Seine Finger tasteten über Leintücher und Matratze. Er öffnete die Lider einen Spalt breit, aber es war in seinen Augen nur Weißes zu sehen. »Excalibur ...«, flüsterte er kaum hörbar. Ein grimmiger Ausdruck trat auf Merlins Gesicht. »Wir werden das Schwert zurückgewinnen. Sobald du wiederhergestellt bist, werden wir es zurückholen.« Das Leben schien den König zu fliehen. Ein Atem war kaum noch festzustellen. »Artus, Enkel«, sagte Merlin in drängendem Ton. »Du musst leben. Wenn du stirbst, stirbt Britannien.« Zuerst schien es, als hätte Artus ihn nicht mehr gehört. Doch nach einer Weile öffnete er zur allgemeinen Erleichterung matt die Augen zu seinem Großvater. Seine Mundwinkel zuckten. »Manchmal muss der König sterben ... damit das Reich ... leben kann.« Merlin trat zurück. Kaum hatte er den Platz bei Artus' Kopf verlassen, da eilten zwei Priesterinnen mit Schwämmen herbei, die sie in Wein getaucht hatten. »Er ist jetzt in Guineveres Händen«, sagte Ulfius leise. »Wir alle sind es«, flüsterte Merlin zurück.
24. Merlins Tod
Die Tür zu Artus' Krankenzimmer flog auf und Dagonet kam hereingesprungen. Der zwergenhafte Hofnarr machte ein paar Überschläge und krachte gegen einen Beistelltisch, so dass die darauf angeordneten Metallgeräte zu Boden klirrten. Er sprang auf und breitete die Arme aus. »Bald wird der Briten König sterben, Der Briten Zauberer verderben, 302 Das Reich der Briten fallen in Scherben, Denn Wotan kommt zu Besuch!« »Hinaus!«, rief Ulfius aufgebracht. »Dies ist nicht die Zeit für Alberei.« Dagonet grinste. »Es ist immer Zeit für Alberei.« Ulfius schlug nach ihm, doch der Zwerg war zu flink, und er bekam ihn nicht zu fassen. Der Hofnarr bewegte sich Rad schlagend durch den Raum und blieb neben Merlin stehen. »Ja, königlicher Magier! Das verstanden Sie einst besser als jeder andere.« Er sprang davon, hüpfte vom Bett auf den Stuhl und den Tisch.
Merlin sah verdrießlich zu, wie Ulfius den kleinen Akrobaten hoffnungslos verfolgte. »Denk an Artus. Denk an Guinevere. Denk an das Volk und das Land — an jemand anderen als dich selbst, Dagonet.« Auf einem Schrank kam Dagonet zum Stillstand und stemmte entrüstet die Hände in die Seiten. »An Artus denken? An das Volk denken? An wen sonst, meinst du, habe ich gedacht? Ganz allein habe ich eine Rebellion in der Burg abgewendet und dann den Anstifter Loki durch das Land verfolgt, um zu erfahren, was er getan hat. Wirtshausgeschichten und zweideutige Lieder - damit gewinnt er den Krieg. Mit Alberei! Er hat Gerüchte über Wotan ausgestreut, den Leuten von dessen Größe erzählt. Nun kommt Wotan und bewahrheitet die schlimmsten Befürchtungen. Alberei. Wotan gewinnt durch Alberei!« Dieser Bericht gab Merlin zu denken. »Und was hat er noch getan?« »Gut, ja, er hat die Brunnen mit Tropfen von Lethe versehen, und das Volk vergisst die alten Götter. Darum kannst du den Sidh nicht zum Kampf aufrütteln. Kindische Streiche, um einen Krieg zu gewinnen! Deine Verbündeten werden alle zu Stein.« Merlin nickte mit grimmiger Miene. »Ja. Nyneve musste die Steinriesen wieder ins Bewusstsein des Volkes zwingen ...« 303 »Ach ja, und Nyneve. Von ihr wirst du nicht mehr hören. Loki hat die Ley-Linien umgeleitet. An einigen Orten hat er Eremitenmönche ansässig gemacht — Verrückte, die den ganzen Tag sitzen und singen und beten und den Fluss der Ley-Kraft unterbrechen. Verrückte! An anderen Orten hat er mächtige Bewohner der Anderwelt erschlagen, um die Kanäle umzuleiten. Ich würde mich nicht wundern, wenn er sogar jetzt, während wir hier sprechen, die letzte Ley-Linie von uns wegleitet. Keine Feenleute von außerhalb werden bleiben können und keine von hier werden den Sidh verlassen können.« Merlin ballte die Fäuste unter seinem Reiseumhang, schritt zum Fenster und starrte stirnrunzelnd hinaus. Dagonet sprang neben ihn auf den Sims und drückte die Nase an eine Butzenscheibe. Unbekümmert redete er weiter. »So solltest du kämpfen, Merlin. Du kannst Wotans und Thors Blitzen und den Kriegskäfern nichts entgegensetzen. Du bist nicht mehr Jupiter. Du bist nicht so mächtig wie er, also musst du schlauer sein. Früher einmal warst du sehr schlau -« »Ich war auch verrückt«, antwortete Merlin. »Einst warst du ein verrückter Narr und überlebtest alle Widrigkeiten. Jetzt ist dir der Sinn für Humor abhanden gekommen und du wirst sterben. Bald wird der Britenkönig sterben, Der Britenzauberer verderben —« »Schluss jetzt, das reicht!«, erklärte Ulfius. Er war auf leisen Sohlen näher gekommen und packte den kleinen Mann am Kragen. Mit schnellen Schritten trug Ulfius den Zwerg zur Tür, warf ihn hinaus, schloss die Tür und sperrte sie ab. Merlin stand noch am Fenster. Er war wie betäubt. Nyneve war jetzt außer Reichweite Nyneve und die Paradieshöhle, die er für sie geschaffen hatte. Ulfius wischte seine Hände aneinander ab und schritt zu Mer 303 lin ans Fenster. »Wenigstens jetzt ist Aelle in die Flucht geschlagen.« Merlin schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der weiten Landschaft draußen zu wenden. »Es war nur ein vorübergehender Sieg. Aelle kann in die Flucht geschlagen werden, nicht
aber Wotan. Siehst du dort? Schon haben die Steinriesen den Fuß des Hügels erreicht und werden nicht weiter gehen. Sie können den Sidh nicht verlassen, wo sie wohnen. Und siehst du auch, dass die Sachsen nicht mehr fliehen?« Ulfius seufzte. »Jedenfalls haben wir eine Atempause gewonnen.« »Keine Atempause. Die Sachsen sind noch immer fünfundvier-zigtausend Mann stark und warten nur ab. Durch Belagerung können sie uns genauso leicht umbringen wie durch die Erstürmung der Burg.« Merlin holte bebend Atem. »Wotan hat die Mächte des Sidh vergiftet. Bald wird er uns vom Rest Britanniens abschneiden. Nicht einmal Nyneve kann uns helfen. Die Zeit arbeitet für die Wotansleute. Sie können warten, und wir werden sterben.« Auf einen endlosen Tag folgte eine unendliche Nacht. Die Steinriesen hielten sterbliche Feinde in Schach, aber Thor setzte sein Sperrfeuer von Blitz und Hagel fort. Nächtliche Stürme rissen brutal an der Burg. Zweifel rissen ebenso brutal an den Herzen der Verteidiger. Die größte ihrer Befürchtungen war, dass Artus sterben könnte. Konnte Guinevere ihn ohne die Macht des Landes heilen? Und war Artus ohne Schwert und Scheide und Land überhaupt noch König? Es war eine unendliche Nacht. Guinevere verbrachte sie mit dem Bemühen, Artus zu heilen, obwohl ihre Heilkräfte mit den Stunden nachließen. Auch Ulfius und Merlin blieben bei ihm. Es war wie eine Totenwache für Artus und für Britannien. Endlich dämmerte grau der neue Tag. Mit ihm kam eine weitere Bedrohung. 304 »Was ist das?«, fragte Ulfius und zeigte zum Fenster hinaus. Etwas ging von den Wolken nieder. Dies war kein Blitzschlag, kein zerfetzender Hagel. Es war eine herrliche Regenbogenbrücke. Sie kam von den Höhen herab wie ein roter Läufer vor einem König. Auf halber Höhe zum Sidh kam die leuchtende Brücke zum Stillstand und verfestigte sich. Aus dem Herzen des Sturmes trat eine majestätische Gestalt hervor. Sie war in Gewänder gekleidet, die weiß waren wie der Blitz, und gekrönt mit einem Diadem von Sternen. Es war Wotan/Odin, Hauptgott der Germanen, der über die Regenbogenbrücke herabstieg. Seine Augen glänzten silbrig unter frostigen Brauen. Der weiße Bart und das Haar wehten im Himmelswind. Er bewegte sich mehr gleitend als schreitend. Neben seinen Füßen liefen Geri und Freki, seine Wölfe. Seine Raben Hugin und Munin, deren Namen >Gedanke< und >Gedächtnis< bedeuteten, kreisten mit krächzenden Rufen über seinem Haupt. In einer Hand hielt er seinen Stab, von dessen Spitze das Banner eines Parlamentärs hing. »Er will verhandeln«, sagte Ulfius verblüfft. »Artus kann nicht mit ihm sprechen.« Merlin schüttelte den Kopf. »Wotan hatte es nie auf Artus abgesehen. Er will mit mir sprechen.« Der alte Mann blickte Ulfius fest ins Auge. »Bleib hier. Bewache Artus. Hilf Guinevere, wie du kannst. Der König muss leben.« Darauf stieg Merlin auf den Fenstersims. Er glitt durch Glas und Bleifassungen und trieb auf dunklen Winden hinaus. Aller Augen beobachteten Wotans prächtige Herabkunft. Es war wichtig, dass sie auch auf Merlin aufmerksam wurden. Er musste sie begeistern, den Briten Mut machen und den Sachsen Furcht einflößen. Ihr Glaube würde seine müde Seele kräftigen. »Dagonet hatte Recht. Ich muss der Mann sein, den die Menschen kennen«, sagte er sich, als er dahintrieb. »Nicht Zeus/Jupiter - nicht ein anderer ausländischer Gott. Ich muss der
abgerissene und unbeständige und etwas verrückte Zauberer sein. Es ist Zeit für Torheit. Ich muss Merlin sein.« 305 Also kleidete er sich nicht in Gewänder aus Licht. Er ließ sich keine Engelsflügel wachsen oder von einem Feuerwerk sprühender Funken aufwärts tragen. Stattdessen schwebte er über die Burgmauern empor, schwebte für einen Augenblick in scheinbarer Unschlüssigkeit und plumpste dann lächerlich zur Erde zurück. Sein zerschlissener grauer Reiseumhang flatterte um ihn und erzeugte bei der Landung eine Staubwolke. Verhaltenes Lachen kam von den Burgmauern und auch aus den Reihen des Sachsenheeres. Um den Fuß des Burghügels drang ein Rauschen wie von allgemeiner Heiterkeit. Merlin hustete heftig in der Staubwolke, und als sie sich verzog, klopfte er in scheinbarer Nervosität weiteren Staub aus seinem Umhang. Ein erbärmliches Niesen brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht. Die Krieger in Hörweite brachen in lautes Gelächter aus. Merlin war zufrieden. Der Kreis hatte sich geschlossen. Einst war er ein verrückter und unberechenbarer alter Zauberer gewesen, der in ganz Britannien wegen seiner launischen Anfälle gefürchtet worden war. Dann war er der gestürzte Jupiter geworden, Königsmacher und Architekt eines Staatsgebildes. Er hatte keine Zeit für Träume oder Torheiten gehabt. Und nun, am Ende, waren es nur Torheit und Träume, die ihn retten konnten. Wie der schäbige Bettler, als der er einst umhergezogen war, schlurfte Merlin den Hang hinab zum Ende der Regenbogenbrücke. An einer Stelle - und das geschah ohne irgendwelche Absicht oder Lust —, trat er in das Loch eines Kaninchenbaues und schlug lang hin. Das explosiv pustende Geräusch der aus seinen Lungen getriebenen Luft war auch nicht gespielt, doch verstärkte er es durch einen kleinen Zauber so, dass es über das Schlachtfeld trug. Unter den Leuten dort fand es fröhlichen Widerhall. »Dieser Kaninchenbau ist hilfreich«, sagte er sich und erkannte verspätet, wie verrückt das klang. Er rappelte sich auf, klopfte Lehm und Gras von seinem Umhang, nieste zweimal und spähte dann hinunter in das Loch. »Kommt nur heraus, ich tue euch 305 nicht weh«, lockte er und krümmte einen Zeigefinger, der einen weiteren Zauber in die Dunkelheit des Baues sandte. Augenblicke später erschienen zwei graubraune Köpfchen in der Öffnung. Dunkle Naschen schnupperten, glänzende dunkle Augen unter aufgestellten Ohren betrachteten ihn. »Ah, ihr schönen Kleinen«, sagte Merlin. »Ich hätte es gern, wenn ihr Britannien rettetet. Könntet ihr das tun?« Die Kaninchen schnupperten mit den Nasen und kamen ein klein wenig näher. »Gut. Und bei der Gelegenheit könnt ihr an ein paar alten Feinden Rache nehmen.« Mit einer einfachen Handbewegung und einem halblaut gesprochenen Wort vervollständigte Merlin den Zauber. »Nun lauft los. Den Regenbogen hinauf.« Die beiden Kaninchen schnupperten wieder, dann hoppelten sie aus ihrem Bau, machten Männchen und hielten Umschau, bevor sie zur Regenbogenbrücke sausten. Merlin richtete sich auf. Erst jetzt bemerkte er, dass er vergessen hatte, den Zauber, der seine Worte verstärkte, rückgängig zu machen. Alle Welt hatte sein Gespräch mit den
Kaninchen gehört und alle lachten schallend. Das Gelächter verschaffte seiner müden Seele Auftrieb. »Immer besser«, sagte er sich, als er langsam auf die Brücke zuging. »Immer besser.« Die rennenden Kaninchen erreichten die Regenbogenbrücke und sausten hinauf. Ihre braunen und weißen Beinchen arbeiteten angestrengt, als sie dem herabsteigenden Wotan entgegenrannten. Ohne innezuhalten, starrte der Gott auf den seltsamen Anblick. Geris und Frekis Wolfsaugen leuchteten auf. Ihr gemächlicher Trab beschleunigte sich. Bald jagten die beiden Wölfe in vollem Lauf auf ihre Beute zu. Statt kehrt zu machen und die Flucht zu ergreifen, sausten die Kaninchen nur noch schneller. Todesmutig rannten sie auf die Wölfe zu. Geifernde Kiefer schnappten zu und trafen ins Leere. Kaninchenrücken schlüpften unter Wolfsbäuchen durch, und 306 Merlins Abgesandte sausten mit angelegten Ohren geradewegs auf Wotan zu. Sie erreichten den majestätischen Gott und sprangen an seinen Gewändern hinauf, als wäre er ein Sack Karotten. Geri und Freki hatten sich herumgeworfen und trafen gleich darauf ein. Sie sprangen mit hungrig schnappenden Kiefern an ihrem Herrn hoch. Zähne bekamen Fleisch zu fassen, allerdings kein Kaninchenfleisch. Wotan wehrte die Wölfe ab, doch die Kaninchen hatten sich durch die Gewänder bis zu seiner Brust emporgearbeitet. Geri und Freki sprangen wieder hoch. Wotan griff mit flammenden Händen nach den Kaninchen. Die Flammen versengten nur seine Gewänder und die Schnauzen seiner Wölfe. Nun griffen auch die Raben ein und hackten nach den Kaninchen. Augenblicke später flatterten sie krächzend auf, als die Flammen um sich griffen. Merlins Kaninchen schienen jetzt nicht mehr so lächerlich. Wotan selbst, von den Kaninchen in Bedrängnis gebracht, sah sich seiner würdevollen Majestät beraubt. Die Krieger auf den Mauern der Burg spotteten und lachten, und selbst seine gläubigen Anhänger auf der Ebene vor dem Hügel schmunzelten über die Schaustellung. Es war ein köstliches Vergnügen, wie das Gelächter, das Camelot gegründet hatte, wie die verrückten Spaße, mit denen diese ganze Eskapade begonnen hatte. Die Heiterkeit stärkte Merlin und schwächte Wotan. Der Hauptgott der Sachsen grollte zornig. Mit einem Fingerschnippen leuchtete seine ganze Gestalt weiß glühend auf. Die Kaninchen purzelten herunter und flohen in Schrecken die Regenbogenbrücke entlang. Hugin und Munin zogen weitere Kreise um ihren Herrn. Geri und Freki wälzten sich auf den Rücken und zeigten unterwürfig ihre Bäuche. Merlin hatte das Ende der Regenbogenbrücke erreicht und stand dort mit einem friedlichen Lächeln. Er hatte vor ihrer Verhandlung genug mit Wotan gespielt und wagte ihn nicht weiter zu demütigen ... Wenigstens noch nicht ... Als wäre nichts geschehen, schwebte Wotan vom Regenbogen herab und betrat den Sidh. Er war wenigstens zwanzig Fuß groß, 306 zugleich alt und jung. Es gab keinen Zweifel, dass dies ein Gott war. Merlin neigte höflich den Kopf. »Du wünschtest zu verhandeln?« Seine Stimme hatte noch immer die magische Verstärkung.
Der Gott musterte ihn mit schmalen Augen. »Du hast mich angegriffen, während ich die Fahne des Parlamentärs trug.« Knochige alte Finger spreizten sich in gespielter Bestürzung über Merlins Brust. »Ich? Dich angegriffen? Mit Kaninchen? Du irrst dich. Ich sandte nur zwei Emissäre ab, dich zu empfangen. Deine Wölfe griffen sie an.« »Das ist immer unser Kampf gewesen, Merlin. Von Sachsen nach Britannien, seit mehr als einem Jahrhundert war es unser Kampf. Dein König liegt im Sterben. Wir verfügen über sein Schwert. Deinen Kriegern steht eine Übermacht von drei zu eins entgegen. Du bist von allen Göttern Britanniens abgeschnitten. Mir scheint, du hast diesen Krieg verloren. Artus und sein Volk sind zerschmettert.« »Du bist ein humorloser Gott, Wotan«, sagte Merlin tadelnd. »Als ich Jupiter war, brachte ich meinem Volk Unterhaltung und Heiterkeit. Und nun, als Merlin, mache ich es nicht anders. Wo noch gelacht wird, Wotan, wird niemand zerschmettert. Wir werden uns nicht ergeben.« Wotan schürzte die Lippen. »Dann bleibt nur eine Angelegenheit zu entscheiden.« »Und welche Angelegenheit ist das?«, fragte Merlin leichthin. »Wie du sterben wirst.« Mit einem einzigen Schritt ragte er vor Merlin auf. Der Magier wedelte abwehrend mit der Hand. »Ich traf unter einer Parlamentärsfahne mit dir zusammen.« Die Fahne flammte auf und wurde zu Asche, die auf Merlin niederrieselte. Im nächsten Augenblick kam Wotans Fuß herab. Er traf auf die Erde, so dass der ganze Hügel erschüttert wurde. Schlamm spritzte um Wotan auf. 307 Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Einst einer der Größten, und nun so leicht vernichtet.« Aber es waren keine Schlammspritzer. Die Tropfen schienen zu energiegeladen, zu farbig. Sie umschwärmten Wotan, flogen seine Ärmel hinauf und in seine Gewänder. Leuchtende Insekten stachen und bissen. Wotan kratzte sich. Er knurrte gereizt. Seine Füße verließen die Stelle, wo Merlins zermalmter Körper hätte liegen sollen. Nur ein übergroßer Fußabdruck war dort zu sehen. Auf den Burgmauern brach neuerlich Gelächter aus. Merlins Stimme erhob sich aus dem Summen ungezählter stechender Insekten. »Du magst über größere Macht verfügen als ich, Wotan, aber ich habe mehr Geist.« Wotan hörte auf, sich zu kratzen. Er ballte die Fäuste, schloss die Augen und ließ Energie aus jeder Pore strahlen. In Sekundenschnelle war seine Haut rot glühend, dann weiß. Merlin hatte das vorausgesehen. Die Insekten schwärmten rechtzeitig davon und verbanden sich miteinander, wurden länger und bekamen doppelte, schillernde Flügel. Sie wurden zu Libellen, die den leuchtenden Gott hin und her schießend umkreisten. Wotan stieß den Atem aus, der zu einer giftigen Wolke wurde. Die Libellen zogen sich wieder zurück und nahmen neue Gestalten an. Ihre schillernden Flügel wurden lederig, ihre Körper schuppig. Aus Libellen wurden Feuer speiende kleine Drachen, die mit ihrer Glut Wotans Giftwolke auflösten. Sie umflatterten ihn in einem wilden Tanz. Wotan glich einem von Fledermäusen gepeinigten Mann. Seine brennenden Hände ergriffen zwei der kleinen Drachen und zerquetschten sie. Blut und Fleisch spritzten zwischen seinen Fingern hervor.
Wenn er sich als Sieger fühlte, so war der Triumph verfrüht. Die zerquetschten Körper der kleinen Drachen verbanden sich mit denen der Lebenden und es bildete sich ein neues Tier, wurde zu einer großen, muskulösen Flugechse, die sogar Wotan überragte. 308 Augen wie Wagenräder, Zähne wie Palisadenpfosten, Klauen so groß wie Pferde, Flügel, die den halben Himmel zu umspannen schienen — »Seht, Leute von Mount Badon, den roten Drachen von Wales, den Pendragon!«, brüllte er. Sachsen und Briten schraken vor dem Ungeheuer zurück. Merlin öffnete den Rachen seines gehörnten Kopfes. Blaues Feuer schoss vor, hüllte Wotans Gestalt ein. Der Hauptgott der Sachsen stand ruhig inmitten des Angriffs, stoisch wie eine Statue. Als Merlins Feuer verausgabt war, bemerkte er: »Ich habe mehr Geist und besseren Atem.« Wotan stand nur da, als warte er ab. Merlin legte seinen Drachenkopf schief. »Also scheint es, dass wir eine ausgeglichene Partie haben. Vielleicht sollten wir doch verhandeln.« Die lederigen Flügel schrumpften und welkten zu zerschlissenen Kleidern, die Schuppen schmolzen zu Haut und die ganze Gestalt schrumpfte zusammen. Mit einem einfachen Gedanken hatte der alte Mann seine wahre Gestalt zurückgewonnen. Er streckte versöhnlich die Hand aus. »Nun lass uns vernünftig miteinander reden.« Ohne sich zu bewegen, war Wotan plötzlich neben ihm und der gewaltige Fuß des Gottes stampfte auf. Diesmal gab es keine Chance zu entkommen. Der Stiefel war erstaunlich schwer; hinter ihm wirkte das Gewicht von Bergen und Gletschern und Jahrhunderten. Merlins Schädel zerbarst. Sein Gehirn vermengte sich mit dem schlammigen Boden. Sein Rückgrat brach an vielen Stellen, Rippen knackten, Lunge, Leber und alle Eingeweide wurden zu Brei zerstampft, Muskeln und Knochen vollständig zermalmt. Wotan drehte den Fuß hin und her und presste Merlins Überreste tiefer in den Boden. Als er zurücktrat, war von Merlin außer blutigem Schlamm und verräterischen weißen Knochensplittern fast nichts mehr zu sehen. 308 Der Sachsengott wandte sich der Burg zu und rief mit dröhnender Stimme: »Jenen unter euch, die auf Merlin hofften, sei gesagt: Eure Hoffnung ist vergebens. Er kann euch jetzt nicht retten. Er konnte euch niemals retten. Merlin war nur ein sterblicher Magier. Ich aber bin ein Gott. Es ist in die Hände der Götter gegeben, dass sie sterbliches Leben gewähren und wiedererwecken. Seht!« Wotan streckte die Hand aus. Rote Energie strahlte von seinen Fingern über Merlins blutige Reste. Mit einer Macht, die jenseits aller geduldigen Arbeit von Guinevere lag, stellte Wotan seinen Gegner wieder her. Jede Gewebezelle, jede Nervenfaser und jeder Gedanke gewannen ihren früheren Platz zurück. Zuletzt wurden Knochen und Muskeln von Haut umhüllt, aus der weißes Haar spross. Merlin stand wieder da, unversehrt. Er blinzelte, und eine leichte Verwirrung zeigte sich in seinem Gesicht. Offenbar war ihm nicht bewusst, was gerade geschehen war. »Vielleicht sollte ich mein Argument nochmals anführen«, sagte Wotan. Flammenzungen magischen Feuers schössen aus den Fingern des Gottes und schnitten durch Merlin. Blut ergoss sich nach jedem Schnitt. Das Leben wich aus seinen Augen. Mit
einem grotesk schmatzenden Geräusch glitten die durchtrennten Abschnitte übereinander und klatschten auf den Boden. Auf den Mauern der Burg wurde es totenstill. Die Sachsen belustigten sich über sein unelegantes Ableben. Wotan lächelte. »Ich weiß, Briten, welche Hoffnungen ihr in diesen Narren gesetzt habt. Ich weiß, dass einige von euch ihn liebten. Es bekümmert mich, dass ihr ihn hier in Stücken am Boden liegen seht.« Er schnippte mit den Fingern. Die blutigen Fleischteile sprangen auf und setzten sich wieder zusammen. Blut kehrte zurück in die sich schließenden Wunden, und die Haut wuchs erneut zusammen. Merlin war ein weiteres Mal unter die Lebenden zurückge 309 kehrt. Er stand da und blinzelte unsicher, versuchte zu lächeln, obwohl Verwirrung sich in seinen Zügen spiegelte. »Es ist besser, dass nichts übrig bleibt, um das ihr euch grämen müsst«, schloss Wotan. Ein letztes Aufblitzen weiß glühender Energie erfasste Merlin. Jeder Tropfen Flüssigkeit seines Körpers verdampfte. Sein Fleisch verbrannte. Einen Augenblick war er noch als eine Feuersäule innerhalb der Glut zu sehen, dann waren nicht einmal Knochen übrig. Die Blitzentladung erlosch. Die Asche, die Merlin gewesen war, sank langsam auf die zerstampfte, verbrannte Erde nieder. Merlin war tot.
25. Offenkundiger Wahnsinn
Wotans flammender Blick überflog das Schlachtfeld, wo Aelles Sachsen warteten. Sie blickten mit Empfindungen von Furcht und Verehrung zu ihm auf, Empfindungen, die ihn durchströmten wie Blut die Muskeln eines Sterblichen. In diesen Augenblicken war er allmächtig, getragen von der Woge ihres Glaubens und ihrer Ehrfurcht. Was Wotan als Nächstes tat, sicherte ihm die Macht für alle Zeit. Er streckte die Hand über das Schlachtfeld aus und rief dienende Geister herbei. Als schemenhafte weiße Gestalten schienen sie aus seinen Gewändern oder gar aus ihm selbst hervorzugehen. Sie wuchsen und gewannen mehr Substanz. Mit einer Handbewegung sandte Wotan sie den Hang hinab und sie dehnten sich wie Spinnenfäden über den Köpfen der Sachsenkrieger. Sie kamen zu König Aelle, dem blonden Riesen in der Mitte seines Heeres. Die feinen Fäden glitten zwischen seine Finger und wickelten sich um den Griff Excaliburs. Sie zogen das Schwert aus Aelles Hand, hoben es und steckten es in Rhiannon hinein, die 309 auf seinen Rücken geschnallt war. Dann lösten sich Schwert und Scheide vom König und wurden von den Geistern zu ihrem Gott getragen. Wotan ergriff Schwert und Scheide mit einer gewaltigen Hand. Für seine Riesengestalt war es nicht mehr als ein kleiner Dolch. Trotzdem schien es schwer in seiner Hand zu wiegen. Wotan blickte auf das Götter tötende Schwert und die heilkräftige Scheide nieder. Ein unheiliges Licht ging von ihnen aus. In seinen Zügen lagen Verlangen und Abscheu im Widerstreit miteinander. »Excalibur und Rhiannon. Das Schwert und die Scheide von Königen. Ihr seid mein. Euer Gott ist gescheitert. Ich bin siegreich.«
Excalibur und Rhiannon gaben eine Hitze ab, die sich mit Wotans eigener messen konnte. Sie zitterten so stark, dass sie sich über seine Handfläche bewegten, als suchten sie zu entkommen. Wotan ließ es nicht zu. Er umklammerte Schwert und Scheide mit der Faust und reckte sie hoch in die Luft. »Ich bin Wotan, Gott der Germanen, des kalten Nordens und Britanniens. Bezwinger Jupiters. Träger von Tetragrammatons Schwert. Erbe der Welt. Beugt euch vor mir.« Alle Sachsen auf dem Schlachtfeld knieten nieder. Ein vieltausendfaches Rascheln und ein Klirren von Metall gingen durch die Luft, als neunzigtausend Knie auf die Erde niedersanken. Sogar Aelle, der sich seiner kostbaren Beute beraubt sah, verbeugte sich vor der Inkarnation des Gottes. Wotan blickte über seine Gefolgsleute hin. Excalibur und Rhiannon leuchteten und sprühten Funken in seiner Hand, suchten sich zu befreien. Ihn kümmerte es nicht. Glaube und Ehrfurcht seiner Anhänger stärkten seine Macht. Hinter seinem Rücken aber hielt sich noch Widerstand. Wotan wandte sich den grauen Mauern der Burg zu, die breit hingelagert auf der Kuppe des Hügels thronte. Krieger hielten die Wehrgänge besetzt, zahlreicher als die Zinnen. Nicht einer von ihnen beugte das Knie. 310 Wotan rief mit Donnerstimme: »Beugt euch vor mir, Briten. Euer Zauberer ist tot. Euer heiliges Schwert ist verloren. Euer König liegt im Sterben. Ihr könnt gegen diese Armee nicht eine Stunde bestehen. Beugt euch vor mir, Briten, oder sterbt!« Auf den Mauern stand ein Mann, ein Freund des toten Zauberers und des sterbenden Königs. Wenn jemand die Gefahr kennen sollte, die der Widerstand gegen Wotan mit sich brachte, dann war es dieser Mann. Sein Name war Ulfius — er war Kammerherr des Königs und Heermeister Britanniens. Er legte die Hände an den Mund und rief: »Wir werden uns dir beugen, Wotan, ja! Wir werden uns dir beugen - aber rückwärts!« Damit wandte er sich um, ließ die Hosen herunter und reckte sein Hinterteil zwischen zwei Zinnen über die Mauer. Mit Gelächter und Zurufen taten die anderen Krieger auf der Mauer es ihm nach. Wotan schlug zu, und diesmal nicht mit zartem Geistergewebe. Ein flammender Ausbruch fuhr mit brüllender Gewalt in breiter Bahn den Hang hinauf und verbrannte die letzte Palisadenstellung, als wären die Pfosten Strohhalme. Die roten schützenden Halbkugeln flammten auf und verschwanden unter dem Ansturm. Der explosive Ausbruch dauerte an und erreichte die graue Burgmauer, wo die Männer in Reihen standen. Gestein wurde zu Sand pulverisiert. Die Mauer sackte ein und zerfiel. Krieger stürzten mit den zerfallenden Zinnen in die Tiefe, die Hosen noch um die Knie. Britanniens Streiter purzelten wie Gliederpuppen inmitten der zusammenbrechenden Verteidigungsanlagen der Festung Badon. Viele wurden im Schutt begraben. Die anderen verschwanden in einer mächtigen Staubwolke. Der Hauptgott der Sachsen war noch nicht fertig. Er machte kehrt und schleuderte mehr zerstörerisches Feuer über den Hang. Eine rote Lawine glühender Energie raste über die Erdwälle und in die Rücken der Steinriesen. Sie zerfielen genauso, wie die Burgmauer über ihnen zerfallen war. Ihre sich auflösenden Kör 310
per verstreuten Trümmerschutt über den unteren Hang und pflasterten damit einen breiten Streifen schlammig aufgewühlter Erde, was den Angreifern die Ersteigung des Hügels erleichterte. Wotan winkte sein Heer vorwärts. »Steht auf, meine Getreuen. Steht auf und erstürmt diesen Hügel und nehmt ihn ein. Verschont nicht Mann noch Frau!« Er reckte die Faust in die Höhe. Sie flammte wie eine Riesenfackel. »Vorwärts!« Die Krieger erhoben sich, schlugen die Schwerter gegen die Schilde und stimmten den gefürchteten Barritus an, einen wortlosen Schlachtgesang, der leise mit tiefen Tönen begann und sich in Lautstärke und Tonhöhe allmählich zu berserkerhaftem Gebrüll steigerte, worauf der Sturm begann. Aelles Armee stürmte los und flutete über die pulverisierten Steinriesen den Hang hinauf zur niedergelegten Burgmauer. Wotan wandte sich ab. Seine Beute versprühte Funken in seiner Hand. Zufrieden stieg der Hauptgott seine ätherische Brücke hinauf. Hinter ihm löste sie sich auf und unterbrach die Verbindung mit der Erde, wo eine Schlachtreihe hinter der anderen den Hügel hinaufstürmte. Tausend Füße stampften achtlos über Asche, die einst der Zauberer Merlin gewesen war. Ich habe meinen Hintern einem Gott gezeigt. Das war alles, was Ulfius denken konnte, als er zwischen Steinen, Schutt und Staub den Hang hinabpurzelte, die Hosen über dem Knie. Und nun bezahle ich dafür. Es war etwas von der Art, das auch Merlin getan haben könnte, erkannte er. Genau die verrückte, impulsive und lächerliche Handlungsweise, die man von Merlin erwartet haben würde. Vielleicht hatte Ulfius es deshalb getan. Ein Gott, der Merlin erschlug, der Excalibur und Rhiannon raubte, der eine Armee schickte, Artus zu töten und Britannien zu zerstören - das war ein Gott, der Widerspruch erregte. Kein Wunder, dass er Merlin verhasst gewesen war.
311
Ulfius prallte mit der Schutt- und Staublawine hart auf. Er hatte das Glück gehabt, auf dem bloßen Hinterteil zu landen, doch das schmerzte noch mehr als der verletzte Stolz. Ringsum polterten und sprangen größere Steine zu Tal. Ächzend wälzte Ulfius sich zur Seite, um hinter einem alten Baumstumpf Deckung vor dem Steinhagel zu finden. Er zog die Hose hinauf und band den Gürtel um die Mitte. Als das Schlimmste vorüber war, stand er vorsichtig auf. Noch immer prallten kleinere Steine gegen Helm, Schulterspangen und Brustharnisch. Er beschirmte das Gesicht mit einem Arm. Durch den Staub sah er die grauen Umrisse anderer Gestalten aus dem Schutt krabbeln. Es war unmöglich zu sagen, wie viele unter diesen Trümmermassen tot lagen, aber einige hatten überlebt. Ulfius lebte. Er zog sein Schwert. »Zu mir, Artus' Getreue!« Da - dieser Bär von einem Mann musste Ector sein ... Und der junge Ritter, den er aus einem Gewirr von Schutt und zersplittertem Holz zog, war Kay. Jemand stieß ihn in den Rücken. Er wandte sich um und sah sich dem grinsenden Brastias gegenüber. Seine buschigen Brauen waren kalkweiß, Schmutz klebte an ihm, und wie die anderen war er von oben bis unten eingestaubt — seine Zähne aber grinsten weiß aus dem Schmutz. Der stämmige Mann band sich die Hose zu und sagte: »Was nun, Heermeister?«
»Wir kämpfen!«, sagte Ulfius. »Wir haben dir zuliebe die Hosen heruntergelassen, Ulfius«, sagte Brastias. »Das hat uns dies eingetragen. Nun werden wir auf Gedeih oder Verderb kämpfen müssen!« Die Notwendigkeit war nicht zu übersehen. Das Poltern kollernder Steine hatte aufgehört, doch ein anderes Geräusch hatte seinen Platz eingenommen. Es war der unheimliche, anschwellende Schlachtgesang der angreifenden Sachsen. »Zu mir!«, brüllte Ulfius und reckte sein Schwert in die Höhe. »Zu mir, wer noch kämpfen kann!« 312 Brastias stimmte in den Ruf mit ein. Bald waren Kay und Ector bei ihnen, und Lucas und Gryfflet. Fünfzehn weitere Ritter kamen hinzu, darunter Lots Söhne. Hunderte versprengter Krieger folgten. Sie wirkten mitgenommen und zerschlagen und viele hatten Verletzungen davongetragen, aber in ihren Augen brannte Wut, und ihre Gesichter waren gehärtet von der Entschlossenheit, in aussichtsloser Lage ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Das Schwert erhoben, stieg Ulfius über die Schutthalde, gefolgt von Rittern und Kriegern. Sie zogen Kameraden aus dem Geröll und weitere Versprengte ließen die Gruppe anschwellen. Um dem entnervenden Barritus der Sachsen etwas entgegenzusetzen, stimmten auch sie mit heiseren Kehlen ein Gebrüll an. Inzwischen hatte sich der Staub gelegt und durch den verbleibenden Dunst waren die ersten Sachsen zu erkennen. Ulfius reckte die Klinge und rief: »Angriff ist die beste Verteidigung! Wir stoßen hinein. Vorwärts!« Der Ruf wurde von Hunderten von Kehlen aufgenommen. Die Ritter der Tafelrunde und die übrigen Krieger bildeten einen Keil und stürmten, das Gefälle des Hanges nutzend, mit unwiderstehlichem Angriffsschwung in die Schlachtreihe der Sachsen. Ulfius enthauptete einen Gegner mit einem Streich, übersprang den Gefallenen und schwang sein Schwert wie eine Streitaxt. Reflexhaft parierte er Schwerthiebe und Stöße und nutzte jede Blöße zum Vorantreiben des Angriffs. Noch nie hatte er mit solcher Wut, solcher Erbitterung gekämpft. Mit Merlins Tod war etwas in ihm zerbrochen. Es gab keine Ritterlichkeit und keine Ehre mehr, nur Hass auf Wotan und seine Anhänger, die Wildheit eines Träumers, der in einem Albtraum gefangen ist, aus dem es kein Entrinnen gibt. Bald verlangsamte sich der Vorstoß des verlorenen Haufens im erbitterten Kampfgetümmel. Ulfius zählte nicht die Erschlagenen, die seinem Schwert zum Opfer fielen, aber es waren nicht wenige. Alle Ritter und Krieger fochten so erbittert wie er, und 312 wenn auch ihre Zahl zusammenschmolz, waren die Verluste unter Aelles Kriegern doch bedeutend höher. Wotans Zorn hatte eine ganze Seite der Burgmauer niedergelegt, zusammen mit ihren Wehr- und Erkertürmen und den in ihnen stationierten Kriegern. Am Rand dieser Vernichtungszone stand noch ein Turm. Sein Bauch war aufgerissen und das konische Dach hatte sich mit dem Rest des Turmes gefährlich über den Hang geneigt. Das Bauwerk war so sicher wie eine Lawine, die nur noch auf den Fuß wartet, der sie lostritt. Aber der Turm bot eine ausgezeichnete Sicht auf das Schlachtfeld. Für Loki war es der ideale Ausguck. Der listenreiche und wandlungsfähige Helfer und Betrüger unter den germanischen Göttern starrte wie gebannt auf das Kampfgetümmel. Mit jedem Atemzug, den er tat,
starben zehn Krieger. Die Luft war erfüllt von ihren fliehenden Seelen. Es war verständlich, dass diese Briten mit der Wut und dem Mut der Verzweiflung kämpften. Sie standen einer so überwältigenden Übermacht gegenüber, dass sie mit dem Leben abgeschlossen haben mussten. Zuerst hatte Loki angenommen, dass die Briten in kurzer Zeit niedergemacht sein würden, aber sie hatten sich nach dem Erlahmen ihres Angriffsschwunges eingeigelt und wehrten sich noch immer ihrer Haut. Inzwischen hatten sie erheblich mehr Sachsen erschlagen, als sie selbst an Verlusten hatten hinnehmen müssen. In seiner Nebenrolle als Unterwelts- und Todesdämon konnte dieses Gemetzel Loki nur recht sein. Er klatschte aufgeregt in die Hände. Aus den Wolken drang dumpfes Rumpeln. So unvermeidlich wie Aasvögel, erschienen die Kriegsjungfrauen, um als Dienerinnen der Götter die Seelen der Gefallenen zu sammeln und nach Walhalla zu bringen. Zuerst waren sie nur wie ein goldenes Aufleuchten zwischen den Wolkentürmen. Dann brach plötzlich ein leuchtender Huf durch die Wolken, dahinter ein goldenes Rad. 313 Und schließlich lösten sich Pferde und Wagen aus den Wolkentürmen und Nebelfetzen die Walküren. Singend begannen die Kriegs Jungfrauen die Seelen der tapferen Gefallenen zu sammeln. Bald durchkreuzten sieben große Wagen hinter feurigen, ätherischen Pferden die Luft. Sie kreisten wie goldene Drachen am Himmel. Der schaurig durch ihre Speichen singende Wind lenkte so manchen beklommenen Blick aufwärts. »Welche Freude!«, sagte Loki. »Die Sammlerinnen der Seelen fahren reiche Ernte heim!« Der Verlust dieser Männer machte Wotan wenig aus. Fielen in diesem Kampf auch tausend oder gar zweitausend Krieger, so gewann er sie für seine überirdische Armee. Schon jetzt versammelten sich die Krieger von Walhalla für den Kampf, sollte dieser Krieg eine ungünstige Wendung nehmen. Ihre Reihen schwollen an, als sich die Seelen der tapferen Gefallenen zu ihnen gesellten. »Was kommt als Nächstes?«, erklang eine vertraute Stimme hinter Loki. Der hagere, schwarz gekleidete Gott wandte sich um und sah Dagonet. Der Zwerg turnte über die schlüpfrigen Schieferplatten und prallte Hals über Kopf gegen Loki. Obschon selbst als betrügerischer Spaßmacher unter den Göttern bekannt, stieß Loki ein unwilliges Ächzen hervor. So begabt und unterhaltend dieser Hanswurst sein konnte, er war auch ein plumper Tölpel. Einem Gott stieß man nicht in den Rücken. »Gib Acht, Trottel!« »Alles verläuft prächtig«, begeisterte sich Dagonet, als er sich aus den Kleidern des Gottes befreit hatte. »Was kommt als Nächstes?« »Als Nächstes?« »Ja, natürlich!«, rief Dagonet arglos. »Du hast dich angestrengt bemüht, diesen Krieg vorzubereiten, hast die Saat des Chaos ausgesät, in Wirtshäusern gesungen - du hast ihn ganz allein für Wotan gewonnen. Und ich dachte, du müsstest einen Grund dafür haben. Wotan bekam Excalibur. Aelle bekam Britannien. Die Walküren bekamen viele Seelen. Was bekommst du?« 313 »Was ich bekomme?«, echote Loki. Dagonet nickte heftig. »Ja, was bekommst du? Sicherlich hast du diesen ganzen Krieg nicht bloß für Wotan gewonnen. Oder für Aelle. Was springt für dich dabei heraus?«
Loki runzelte die Brauen und blickte hinunter zum Schlachtfeld. »Nun, da ist dieses Gemetzel ...« Ein ungläubiger Blick war die Antwort. »Du meinst, du bekommst nichts? Wotan bekommt alles und du bekommst nichts?« Eine steile Zornesfalte kerbte Lokis Stirn. »Schließlich habe ich dies alles allein eingefädelt, und das war auch ein Vergnügen.« »Jedenfalls solltest du eine Entschädigung für den Verlust des Platzes an der Tafelrunde bekommen«, sagte der Zwerg. »Nachdem Artus und Merlin aus dem Spiel sind und die Ritter einer nach dem anderen ins Gras beißen, was nützt da noch der Runde Tisch und dein besonderer Sitz? Ich finde, du hast bedeutende Opfer gebracht, und was hast du dafür vorzuzeigen?« Lokis Miene verfinsterte sich noch mehr. »Abgesehen von den Unterhaltsamkeiten des Tages - nichts.« Der Zwerg schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend. »Das sieht Wotan ähnlich. Ich hörte, er habe dich vor aller Welt in Avalon zu Asche verbrannt. Er tötete dich genauso wie Merlin — und er hasste Merlin. Das muss dir doch zu denken geben ...« »Ja«, murmelte Loki. »Ja, das tut es.« »Und er sitzt da oben in seiner himmlischen Halle, spielt mit seinem heiligen Schwert, trinkt sein Met und isst sein Wildschwein und vergnügt sich mit seinen Rheintöchtern, als ob er die Schlacht gewonnen hätte.« Dagonet spuckte giftig aus. »Ich finde, es ist zum Kotzen.« »Ja!«, rief Loki. »Zum Kotzen!« Er sprang auf und spie einen Strahl grüne Galle aus, der ohne Unterbrechung von seinem Mund bis zum Erdboden drei Stockwerke tiefer reichte. Dort platschte das Erbrochene auf Steintrümmer und brannte ein Loch tief in die Erde. Loki spuckte die letzten Tropfen aus, wischte sich 314 den Mund am Ärmel, schüttelte die Faust zum Himmel und rief: »Du Scheißkerl! Immer nutzt du mich aus!« Dagonet kam von den Schieferplatten der Dachschräge gerutscht und klopfte Loki tröstend auf den Rücken. »Na, na. Ich hätte es nicht zur Sprache bringen sollen. Jetzt lässt sich ohnehin nichts mehr ändern.« Loki fuhr herum, packte den Zwerg am Handgelenk und zog ihn in die Höhe. Grüne Galle klebte noch gallertig an der Unterlippe des Gottes. Er starrte Dagonet in die Augen und sagte: »Etwas lässt sich machen. Und etwas wird geschehen. Komm!« Loki trat von der Dachkante des Turms in die Luft hinaus. Im selben Augenblick hatte sein Erbrochenes die Fundamente des Turmes zersetzt und er brach krachend und mit Gepolter in sich zusammen. Ohne den Einsturz zu beachten, schwebten Loki und der Hofnarr von Camelot aus der Staubwolke empor. Sie passierten Seelen sammelnde Walküren. »Wohin gehen wir?«, fragte Dagonet, der an einem Arm hing. »Wir lassen uns von einer der Walküren mitnehmen. Wir werden nach Walhalla fahren und die Dinge zurechtrücken.«
26. Der Kampf um Merlins Grab
Noch immer hielten sich Ulfius und die Ritter in ihrem wütenden Verzweiflungskampf. Auf allen Seiten vom andrängenden Feind umringt, schlugen sie sich wie Berserker, und sie taten es in dem Bewusstsein, dass sie alle in wenigen Augenblicken der Übermacht erlägen,
wenn sie es nicht täten. Ulfius hatte längst eingesehen, dass sein von unbesonnener Wut über Merlins Tod geleiteter Angriff gegen die erdrückende Übermacht der Sachsen ein Fehler gewesen war. Als Heermeister trug er allein die Verantwortung für alle, die ihm in gutem Glauben gefolgt waren, und diese 315 Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern. Aber sie zwang ihn nun auch, sein Äußerstes zu geben und wenn nicht sein Leben und das seiner Freunde und Krieger, so doch ihrer aller Ehre zu retten. Um den allmählich erlahmenden Widerstandswillen der ermüdeten Männer neu zu entfachen, rief er: »Zu Merlins Grab!« Die Ritter der Tafelrunde nahmen den Ruf auf und gaben ihn weiter. Gefolgt von blutigen Kriegern, bildeten sie abermals einen Keil und stießen weiter vor. Im Handgemenge voranzukommen, war härtere Arbeit, als eine Position zu halten, dafür aber motivierender, weil der Angriff ein Ziel bedeutete und Kräfte freisetzen konnte, die beim hoffnungslosen Ausharren auf verlorenem Posten ungenutzt blieben. Jeder erschlagene Feind war ein Schritt näher zu der Asche hin, wo das Undenkbare geschehen war. Der Gedanke und die Erinnerung an Merlin waren ihnen Antrieb. Auch wenn der Ort, wo er den Tod gefunden hatte, an sich nichts bedeutete, konnten sie sich damit seiner würdig und ihm Ehre erweisen. Die Schlachtreihen der Sachsen brachten ihren Vorstoß zum Stehen. Obwohl die Ritter den Namen Merlins anriefen, den die Feinde kannten und fürchteten, bewegten sich die Briten nicht zum Grab des Erzmagiers vor. Sächsische Schwerter stauten die Flut des Angriffskeils mit Ulfius und den Rittern. Stahl klirrte auf Stahl, Fleisch deckte sich hinter zerschroteten Schilden. Immer wieder sahen sich die vom Kampf erschöpften Ritter frischen Kriegern gegenüber, die ihr Handwerk verstanden. Ulfius schrie enttäuscht auf. Er und seine Angriffsspitze hatten zehn Gegner erschlagen und waren nur einen Schritt vorangekommen, den sie nun verbissen verteidigen mussten. Zwischen zwei Schwertstreichen und einer Parade grollte er: »Gibt es denn von hier bis zum Meer nichts als Sachsen?« Dann sah er etwas, was seinem Herzen neuen Mut einflößte. Eine weitere Armee hatte in die Schlacht eingegriffen, eine Armee, die Aelles Streitkräften in den Rücken fiel. Mit Freude und 315 Erleichterung erkannte Ulfius, mit wem die Sachsen es dort zu tun bekamen — mit einer Armee des Feenvolkes. Wotan konnte das Land nicht auf seine Seite ziehen, nicht wirklich. Das Bewusstsein der Sterblichen war nur vorübergehend geblendet und durch Furcht beeindruckt. Für Stunden oder Tage oder noch länger konnte das Volk sein Herkommen, seine Traditionen und den alten Glauben verlieren. Mit der Zeit aber kehrten sie, die Seuchen und Hungersnöte und Kriege überlebt hatten, wieder zurück und nahmen ihre alte Stellung ein. Aus uralten Zeiten überliefert und tief in der Volksseele verankert, brachte der wieder erstarkende Glaube Geister und Gespenster mit sich, Feenvolk, vergöttlichte Helden, Götter. Nyneve schwamm die Flüsse der Ebene um den Mount Badon hinauf. Sie hob nur Kopf und Schultern ihrer menschlichen Gestalt aus dem Wasser. Haar, Mantel und Gewand strömten hinter ihr im Wasser und verschmolzen damit.
In diesen strömenden Gewässern bewegten sich mehr Gestalten. In Blasen und Gischt kamen kleine Wassergeister, zwischen Fischottern und Najaden schimmerten die Schuppen gigantischer Wasserschlangen. Andere, dunklere Wesen hoben sich über die Oberfläche — Wasserpferde, die Reiter auf ihre Rücken lockten, um sie unter die Wellen zu tragen und zu ertränken. Wasserungeheuer regten sich in tiefen Auskolkungen der Flussschleifen. Nyneve schmeckte Blut im Wasser, kupferig und vermischt mit Sepsis. Es war ein Geschmack, der sie an das Gift von Lokis Lügen erinnerte, unverkennbar. Nicht weit voraus starben Menschen. Menschen und Götter. »Erhebt euch, Kinder der Gewässer, erhebt euch!« Sie führte sie an. In der Mitte der tiefen schwarzen Flut kam Nyneve zum Vorschein. Wasser strömte von ihrer Gestalt, troff von ihrer Stirn in die zornigen Augen. Sie streckte eine Hand aus. Eine Wasserhose hob sich aus dem dunklen Fluss. Sie wanderte langsam stromauf und wuchs zur
316
Höhe eines Mannes, dann eines Baumes und schließlich bis zu einer Höhe von dreißig Klaftern. Sie verließ das Flussufer und zog über die Ebene in die Streitkräfte der Sachsen. Schlamm und Körper und Stahl wurden vom Sog der rotierenden Wassersäule hochgerissen. Bald aber, des nachströmenden Wassers beraubt, löste sich die Wasserhose auf und fiel in sich zusammen. Fast ein Dutzend Krieger, die sie in die Höhe gerissen hatte, stürzten jetzt aus der Höhe herab in den Tod. Andere Sachsen wurden von Riesenwasserschlangen umwickelt und erdrückt, bevor ihre Kameraden die harten, schuppigen Körper durchschlagen und die Unglücklichen befreien konnten. Flussgeister schwärmten aus und verwirrten die Krieger mit wogenden Nebelschleiern, die ihnen die Sicht nahmen. Zur gleichen Zeit stießen Luftgeister aus der Höhe herab und erzeugten konzentrierte, peitschende Windböen, die Männer zu Boden warfen. Andere Luftgeister spien scharfe Hagelkörner auf das sächsische Heer nieder und überfielen es mit eisigem Frosthauch, der Rüstungen und Haare bereifte und Kältestarre erzeugte. Die phantastischen mythischen Lebewesen des alten Britannien fielen Aelles Armee nicht allein in den Rücken; neben ihnen griff ein weitaus profaneres Heer die linke Flanke der Eindringlinge an. Einfache Bauern, aus den umliegenden Dörfern zusammengerufen, warfen sich in ungeordneten Haufen gegen den Feind. Sie schwangen Heugabeln und Sicheln, Sauspieße und Keulen, Äxte und Dreschflegel, was immer sie zur Hand gehabt hatten. Obwohl sie weder Panzer trugen noch im Kampf ausgebildet waren, griffen sie unerschrocken an, denn sie brachten eine äußerst wirksame Waffe mit sich: den Glauben. Dieses einfache Volk war es, das die Wasserläufe mit Najaden, Wasserschlangen und Ungeheuern belebte und den Naturgeistern Macht und Kraft verlieh, die Eindringlinge zu bekämpfen. Für die kampferfahrenen sächsischen Krieger waren die Bauern naturgemäß keine ernstzunehmenden Gegner und fielen zu Dutzenden, aber sie verstärkten die Verwirrung und Orientierungs 316 losigkeit innerhalb des Heeres, das sich von so vielen Seiten bedrängt sah. Bogenschützen der Thuata schössen mit brennenden Pfeilen und Dryaden erschlugen Krieger mit herabfallenden Ästen und begruben sie unter plötzlich umstürzenden Bäumen. Ganz
Britannien schloss sich zusammen und focht Seite an Seite. Drei weitere Truppenteile griffen in den Kampf ein — die drei Reserveabteilungen, die Artus in den Wäldern bereitgestellt hatte. Sie hatten auf Nachricht von Merlin gewartet. Die Nachricht war endlich gekommen, aber nicht von dem verrückten Magier. Er war tot, doch sie wussten um den Ernst der Lage, und nichts konnte ihren zornigen Ansturm aufhalten. Nyneve führte sie an. Sie stieg aus dem Fluss und schritt den Kriegern voran, eine Verkörperung des Landes. Ihr Blick war auf den fernen Mount Badon gerichtet, auf eine Narbe von Asche und Ruß auf halber Höhe. Sie hatte sich in ihr eigenes Herz gebrannt. Sie würde voranschreiten und nicht stehen bleiben, bis sie auf die Knie fallen und Merlins Asche mit ihren Tränen benetzen könnte. »Merlin ist tot?«, keuchte Artus. Angestrengt versuchte er sich im Bett aufzusetzen. Guinevere drückte ihn sanft auf die blutigen Laken zurück. »Ja, aber du bist es nicht«, sagte sie. Ihre Hand strich über das vernarbte Fleisch der grässlichen Wunde, die seine Schulter bis zur Brust durchschlagen hatte. Geduldig hatte sie Knochen und Sehnen und Fleisch wieder zusammengefügt und die Wunde verheilt. »Lieg jetzt still. Deine Wunde ist geschlossen, aber du hast viel Blut verloren und bist sehr geschwächt.« Artus lag bleich auf den Kissen. Die Lider sanken ihm langsam über die Augen. »Ich habe mehr verloren als Blut.« Er schluckte mühsam. »Großvater ist tot ... ich kann es nicht glauben ...« Guinevere beugte sich über ihn. »Niemand kann es glauben.« »Ohne ihn bin ich nichts«, fuhr Artus fort. Er starrte zur De 317 cke auf. »Ohne ihn, ohne Excalibur und Rhiannon, bin ich nicht König.« »Du bist auch ohne dies alles König.« Guinevere stand auf und ging um das Bett. Entschlossenheit lag in ihren geschmeidigen Bewegungen. »Du kannst jetzt nicht aufgeben. Deine Ritter haben nicht aufgegeben. Dein Volk hat nicht aufgegeben. Das Land selbst kämpft für dich. Dein Mentor, dein Stiefvater und Bruder, deine Ritter und Krieger kämpfen gegen eine fünfhundertfache Übermacht. Sie dringen zum Grab deines Großvaters vor.« Der König setzte sich mühsam aufrecht und schob die Beine über die Bettkante. Sein Rücken wurde gerader, er hob den Kopf und stand vom blutgetränkten Bett auf. Sein Gesicht war schrecklich weiß, doch obwohl er wankte, wurde er nicht ohnmächtig. »Wo ist mein Brustharnisch?« »Dein Panzer ist ruiniert«, sagte Guinevere stirnrunzelnd. »Ach, ich brauche nur Halsberge und Helm«, erwiderte Artus. Er zog sich ein Hemd über den Kopf, dann ein wattiertes Wams. »Und ich werde ein Schwert brauchen - und ein Pferd. Irgendein Schwert. Irgendein Pferd. Wie du sagtest: Ich bin noch König.« »Du gehst hier nicht hinaus«, sagte Guinevere. »Du bist so schwach, dass du kaum ein Schwert halten kannst.« Artus schüttelte hartnäckig den Kopf. Er zog Beinlinge und Ledergamaschen und Stiefel an. Als hätte er sie nicht gehört, sagte er: »Ja, ich bin noch König. Mein Volk hat nicht aufgegeben, und auch ich werde nicht aufgeben. Der Kampf um Merlins Grab ist ein Kampf, den ich nicht missen möchte.« Dagonet und Loki kauerten jämmerlich auf dem Boden des Wagens. Die Walküre, die das Himmelsfahrzeug lenkte, schien Freude an ihrer Arbeit zu haben. Ihre Zöpfe wehten im
böigen Wind, sie sang aus voller Kehle unter dem gehörnten Spangenhelm. Mit jeder trostlos und ohne Orientierung umherirrenden Seele, die sie einfing und in ihrem Wagen barg, schien ihre Stimmung sich zu heben. Zusammen mit dem Heulen des Windes entpuppte sich 318 das Einfangen der Seelen als ein unerwartet lautes Geschäft. Wenn die Seelen nicht schon tot wären, dachte Dagonet boshaft, würden sie wahrscheinlich vom Vibrato des Gesanges erschlagen werden. »Vielleicht ist das das Problem«, sagte er Loki ins Ohr. »Was?«, fragte Loki, der sich offensichtlich elend fühlte und am Rand der Ladefläche festhielt. »Ihr Sachsen habt keine Musen, nicht wahr?« »Musen? Was sind Musen?« Dagonet nickte. »Keine Musen, keine Musik. Nur diesen Gesang?« »Was ist dagegen einzuwenden?«, fragte Loki verdrießlich. »Der Gesang hat den Zweck, die verirrten Seelen der erschlagenen Krieger anzulocken. Und überhaupt«, ereiferte er sich »willst du etwa behaupten, die Musen seien bei euren Dudelsäcken zu Hause?« Bald konnte Dagonet feststellen, dass auch die toten Seelen keine angenehme Gesellschaft waren. Sie trafen in dem Zustand auf dem goldenen Boden des Wagens ein, in dem ihre Körper auf dem Schlachtfeld ihr Ende gefunden hatten. Es gab viele Geköpfte darunter, die ihre Säfte ausbluteten. Andere waren von vorn bis hinten durchbohrt, oder die Eingeweide hingen heraus, oder sie trugen von Kopf bis Fuß Verbrennungen. So unerfreulich ihr Anblick bei der Ankunft war, so lästig wurden diese toten Sachsen, sobald sie sich zurechtgefunden hatten. Im Kampf gegen Briten gefallen zu sein, war natürlich enttäuschend und kein Ruhmesblatt. Umso aufregender war es, sich unterwegs nach Walhalla wiederzufinden. Einer nach dem anderen, kamen die Leute mit gespaltenen Schädeln, verstümmelten Gliedmaßen und durchbohrten Leibern auf die Beine. Die noch Münder hatten, öffneten sie und sangen, so weit der Zustand ihrer Kehlen und Lungen es zuließ. Es war ein heiserer, düsterer Gesang, halb Totenklage und halb Lobeshymne an die Götter. Verglichen mit diesem dumpfen, kehligen Gesang, fand Dagonet, hörten sich die Gesänge der Walküre beinahe gut an. 318 Nach langer und unbequemer Reise vom Mount Badon nach Asgard durchstieß der Wagen endlich eine dunkle Wolke. Die Welt wurde eine Zeit lang finster und nass. Die toten Seelen unterbrachen sogar ihren Gesang und beklagten sich über Nässe und Kälte und die unzureichende Unterbringung. Aber es war nur der Übergang von der materiellen zur immateriellen Welt. Wolken wurden Traumlandschaften. Der Wagen erreichte das Land der Götter. Vor ihnen schimmerte Asgard. Es war eine goldene Stadt, unvorstellbar luftig. Und in ihrer Mitte stand eine Halle von riesigen Ausmaßen. Walhalla. »Spring bei der ersten Gelegenheit ab«, knurrte Loki. »Nach dir«, erwiderte Dagonet und versetzte dem Gott einen Stoß. Wie das Glück - und Loki - wollte, purzelten sie direkt auf die gewaltige Halle hinunter. Dagonet, der sich im Fallen ständig überschlug, gewann eine kaleidoskopische Ansicht vom Palast. Wotans Halle war so groß wie ganz Camelot. Das steile Giebeldach glänzte golden. Es wurde von Dachbalken gigantischen Ausmaßes getragen. Schlanke Spitztürme umstanden die zentrale Halle. Sie waren erstaunlich hoch und zu schlank, um von den Händen Sterblicher oder aus irdischem Stein gebaut zu sein. Ihre Spitzen schienen die Sterne zu
kitzeln. Um Walhalla drängten sich kleinere Gebäude. Die Stadt der Götter erstreckte sich bis zu einer fernen Mauer. Jenseits davon türmten sich Wolken auf, und die Brücke Bifrost führte hinab zum Bereich der Sterblichen. Das war alles, was zu sehen Dagonet Zeit hatte. Er prallte auf das Dach von Walhalla und glitt die steile, glatte Goldoberfläche hinab. Die Dachneigung war steil genug, dass seine Hose sich erhitzte und nahe daran war, in Flammen aufzugehen. Glücklicherweise blieb er mit dem Fuß an einer Kante hängen und überschlug sich statt zu rutschen. So kam er zu einem kühleren, wenn auch holprigeren Abstieg. Irgendwann während dieser Purzelbäume bemerkte Dagonet, dass Loki ruhig neben ihm schwebte, und 319 ihm kam der Gedanke, dass der Gott auch seine Fortbewegung angenehmer gestalten könnte. Er war im Begriff, ihn darum zu bitten, als ein Gesims seinen Kopf traf und den Gedanken entfernte. Endlich erreichte er die Dachkante und schoss darüber hinaus. Unter ihm gähnte leerer Raum. Bis zum Boden waren es mit Leichtigkeit tausend Fuß. Der Absturz würde leicht, der Aufprall hart sein. Eine schmale und kalte Hand schloss sich um den Knöchel des Zwerges und beendete seinen Abstieg. Es war eine ruckartige Rettung, etwa von der Art, die eine Makrele am Ende eines Angelhakens erlebt. Entnervt und geschockt hing Dagonet kopfüber an einem Knöchel und starrte in den Abgrund unter sich. »Danke, gütiger Meister, dass du mich gerettet hast«, brachte er hervor. »Du darfst mich jederzeit zurückziehen.« »Zuerst«, erwiderte Loki von der Sicherheit der Dachkante aus, »habe ich eine Aufgabe für dich.« Dagonets Gesicht wirkte rot und aufgedunsen. »Eine Aufgabe?« »Du hängst jetzt beinahe vor Wotans Privatgemächern. Ich möchte, dass du zu den Fenstern hineinschaust und mir sagst, was du siehst.« »Du kannst fliegen, Meister«, erinnerte ihn Dagonet. »Warum schaust du nicht selbst?« »Weil Wotan, wenn er jemanden hier bemerkt, sicherlich mit einem Blitz zuschlagen wird. Blitz ist unangenehm. Die Aufgabe ist dein.« Dagonet holte tief Luft. Loki verlängerte seinen Arm, bis der Zwerg in Wotans Privatwohnung blickten konnte. Der Raum, den er sah, war feudal eingerichtet. Alles war entsprechend Wotans Größe riesig proportioniert. Die mythischen Figuren eines umlaufenden Frieses waren als Halbrelief so tief in die Marmorwände geschnitten, dass durchschnittlich gewachsene Männer sich in den Zwischenräumen verstecken konnten. Die Vorhangstoffe waren golddurchwirkt und fingerdick, das Mobi 319 liar massiv und in seinen Dimensionen den Ausmaßen des Raumes angepasst. Die Anfertigung der Möbel musste einen ganzen Wald erfordert haben. »Wotan kann jede Größe annehmen, die er will«, bemerkte Da-gonet. »Warum so groß?« »Es ist besser, groß zu sein. Alle sagen es. Nun, was siehst du? Ist Wotan da drinnen?« Erst jetzt erkannte Dagonet die riesenhafte Gestalt am Tisch. Er saß so still, und seine Züge waren so grau, dass er wie aus Stein gemacht schien. »Ja.« »Was tut er?« »Nichts.« »Wotan tut niemals nichts.«
»Er hat etwas in der Hand. Etwas Glänzendes. Er starrt darauf. Es ist das einzige kleine Ding im Raum.« Lokis Stimme klang wie zischender Dampf aus einem Kessel. »Excalibur ...« »In seiner Hand ist es wie ein Dorn«, sagte Dagonet. »Er hält es vorsichtig. Und wie er es anstarrt, könnte man meinen, er hätte Angst.« »Seit Merlin es zum ersten Mal hierher brachte, ist er von diesem Schwert besessen«, sagte Loki. »Er hat es gleichermaßen gewünscht und gefürchtet. Er weiß, dass es die Macht hat, ihn zu töten.« Dagonet strich sich nachdenklich den Bart. »Es hat die Macht, ja. Nun ist nur noch die Neigung nötig ...« »Neigung?«, fragte Loki. »Ein kleiner Fluch würde viel erreichen«, erwiderte Dagonet. »Zum Beispiel, dass Excalibur jede unsterbliche Hand schneidet, die das Schwert halten will.« »Du bist ein hinterlistiger kleiner Mann«, sagte Loki anerkennend. Ein bitterer Schleier von Magie entströmte den Fingern des Gottes, glitt über Dagonets Gestalt und durch das Fenster. Inner 320 halb weniger Augenblicke war er in das Schwert eingegangen. Nur einen Atemzug später erschien in Wotans Handfläche eine rote Linie. »Er bewegt sich jetzt«, berichtete Dagonet. »Er schüttelt das Schwert von der Hand. Er springt vom Tisch zurück. Seine Hand blutet. Er starrt verblüfft auf die Handfläche, und dann zu Excalibur, das in der Tischplatte steckt.« Loki konnte vor Schadenfreude kaum an sich halten. Ein Gedanke von Wotan schloss den Schnitt. Er schob sich näher, vorsichtig wie eine Katze, und pflückte das Schwert aus der Tischplatte. Plötzlich jaulte er auf. Einen Augenblick stak das Schwert zitternd in der Mitte von Wotans Handfläche. Er packte es mit dem Daumen und Zeigefinger der anderen Hand und zog es heraus, doch dabei schnitt ihm die verräterische Klinge in den Daumen. Excalibur fiel auf den Tisch zurück, und Wotan trat beiseite. Mit argwöhnischen Blicken musterte er das unheimliche Ding, rieb sich den Bart und trat wieder näher. Einen Augenblick später sog er zischend den Atem durch die Zähne und schüttelte blutige Finger. In seiner Heiterkeit ließ Loki seinen Spion beinahe fallen. »Wie lange, meinst du, werde ich hier hängen müssen?«, fragte Dagonet. »So lange er damit weitermacht«, antwortete Loki. »Wie lange, meinst du, wird das sein?« »Ungefähr eine Ewigkeit.« Und Wotan tanzte wieder von der Klinge zurück und fluchte. Ulfius' Herz drohte zu versagen. Seit bald einer Stunde focht er, selbst an vielen Stellen verletzt, in diesem Kessel von Blut und Tod. Der Wall erschlagener Gegner, der die zusammengeschmolzene Truppe um Ulfius einschloss, hatte Hüfthöhe erreicht und stellte eine fast unpassierbare Barriere zwischen ihnen und dem Grab Merlins dar. In dieser Zeit hatten Feenvolk und Bauern und Reserveabteilungen sich ein weites Stück in Aelles Streitmacht hi 320 neingefressen, waren dann aber nicht weiter vorangekommen. Es schien, dass keine der beiden Seiten eine entscheidende Wende herbeifuhren konnte. Selbst nach dem Eingreifen der Reserven, der Landleute und des Feenvolkes kamen noch drei Sachsen auf einen Briten.
»Wir werden diesen Kampf ... nie zu Ende bringen«, stieß Ulfius hervor, als er mit Mühe einen Schwerthieb parierte. »Wir werden nie ... zu Merlins Grab durchbrechen!« »Wir werden!«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Ein berittener Krieger hatte in einem wilden Ansturm den Einschließungsring um die Gruppe durchbrochen. Er besaß nur einen Helm mit Visier, eine rostige Halsberge, ein gewöhnliches Schwert und ein schweres Schlachtross mit einer Panzerung aus harten Lederschürzen. Im Durchbruch hatte er drei Sachsen niedergeritten und einen weiteren aus dem Sattel erschlagen. Hinter dem Tier war gerade eine schmale Gasse entstanden. Ulfius kämpfte sich hinein. Ector und Kay, blutig und zerschlagen, folgten ihm. Brastias, Lucas und Gryfflet schlossen sich den dreien an. Sie alle waren nach einstündigem Kampf dem Ende ihrer Kräfte nahe, aber jetzt fochten sie wie in alten Zeiten, als Artus und Merlin noch lebten. In wenigen Minuten hatten sie eine Stecke zurückgelegt, die sie zuvor hoffnungslos als unüberwindlich eingeschätzt hatten. Der Mann auf dem Schlachtross -sein Erscheinen hatte wieder etwas Bewegung in den verzweifelten Abwehrkampf gebracht. Eine Gruppe Sachsen hatte den Boden, wo Merlin gefallen war, besetzt und mit einem Wall von Piken umgeben. Furchtlos trieb der Reiter sein schweres Schlachtross in die Piken hinein, durchschlug zwei Stangenwaffen und durchbrach den Ring. Ulfius und Ector drängten sofort nach, erweiterten die Bresche, und Kay zersprengte mit dem Rest der Ritter die Pikeniere. Schwerter klirrten im dämmerigen Licht. Die Sachsen, von hinten unter Druck geraten, wichen seitwärts 321 aus. Eine Schar Briten aus der Reserve kämpfte sich die Anhöhe hinauf. Mit ihr kamen Kämpfer des Feenvolkes, angeführt von Nyneve. Genauso blutig und zerschlagen wie die überlebenden Ritter der Tafelrunde, war ihnen der Durchbruch zum Hügel gelungen. Gegenwärtig versuchte eine zusammengewürfelte Truppe aus Bauern, Waldbewohnern und Kriegern den Weg entlang der Durchbruchslinie freizuhalten. Nyneve trat auf den Aschenplatz, den zu erreichen sie alle so erbittert gerungen hatten. Sie fiel auf die Knie. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Neben ihr kniete auch der Reiter nieder, der ihnen den Durchbruch ermöglicht hatte. Er nahm den Helm vom Kopf. Artus' goldene Locken quollen darunter hervor, fleckig von angetrocknetem Blut.
27. Die Trauer Sterblicher und Unsterblicher
Der todesmutige Reiter, der sie in aussichtsloser Lage um sich gesammelt und mit neuer Zuversicht erfüllt hatte, war derselbe Mann, der sie von Anfang an um sich geschart hatte. Er war der König. Inmitten dieses vom Untergang bedrohten verlorenen Haufens kniete Artus in Merlins Asche. Großvater, Mentor, Hofmagier, Freund ... Seit Artus den Thron bestiegen hatte, waren sie wie Brüder gewesen, der eine König unter den Menschen, der andere König unter den Göttern. Sie hatten Seite an Seite gekämpft, um eine Stadt und eine Nation zu erbauen, hatten kindische Phantasien abgelegt und die Träume erwachsener Männer geträumt. Sie hatten Liebe gefunden und sich ihr hingegeben. Sie hatten nicht nur entdeckt, wer sie sein wollten, sondern auch wer zu sein ihnen bestimmt war.
322 »Unsere Bestimmung ...«, sagte Artus bitter. Er streckte eine blutige Hand aus - er hatte nicht einmal einen Panzerhandschuh angelegt, als er sich ins Kampfgetümmel stürzte — und griff in die lockere Asche. Graues Pulver stäubte auf. »Ist es unsere Bestimmung, so hoch aufzusteigen, nur um vernichtet zu werden?« Artus hob seinen Blick. Hier in diesen Gestalten, die in zögernden kleinen Gruppen um ihn versammelt waren, schlug das loyale Herz Britanniens. In Rittern der Tafelrunde, Kriegern, in Ranken und Disteln gekleideten Dryaden, in den Najaden mit ihren wässerigen Gewändern, den Thuata, deren angeborene grazile Geschmeidigkeit und blendende Schönheit sie beinahe unsichtbar machten, in den Kobolden und Zwergen, deren gelbliche und graue Schultern sie wie Steine erscheinen ließen, in den vergöttlichten Heroen der Legende mit ihren übermenschlichen Kräften, in den Fabelwesen der Anderwelt ... Auf jedes phantastische Geschöpf, jeden unirdischen Mitstreiter an Merlins Grab entfielen hundert gewöhnliche Briten — Halunken und Leibeigene und Sklaven, Bauern und Knechte und Handwerker. Artus liebte sie alle, dieses Volk von gleicher gewachsener Wesensart und Seelenverwandtschaft. Jenseits gebeugter Schultern fochten andere gegen die Krieger aus Sussex. Der Durchbruch zu Merlins Grab war verlustreich gewesen. Nach der Einnahme der Hügelbefestigungen mit der Burg durch die Sachsen waren die Überlebenden von dort, darunter auch Guinevere, zu der Kampfgruppe um Artus gestoßen. Inzwischen war auch die Verbindung zwischen den von Nyneve angeführten Verstärkungen mit ihren rückwärtigen Teilen wieder abgerissen; die Übermacht der Sachsen hatte den Verbindungsschlauch unterbrochen und damit diesen Rückzugsweg abgeschnitten. Die Truppe um Artus - Landleute, Krieger, Ritter und Feenvolk — war auf allen Seiten eingeschlossen. Wie konnten sie noch länger kämpfen? Was gab es noch, wofür zu kämpfen es sich lohn 322 te? Ihre einzige Befestigung war jetzt dieser Flecken Asche, den zu gewinnen sie alles geopfert hatten. »Wir glaubten an ihn«, sagte Artus trübe. »Auf ihn war mehr Verlass als auf jede Burg.« Er schüttelte den Kopf und starrte in den grauen Staub. »Ich kann nicht glauben, dass er für immer fort ist.« Eine Hand berührte Artus' Schulter. Er blickte auf und sah Nyneve, staubig und mit zerschlissenem Gewand, so weit von dem Wasser, das ihr Kraft verlieh. Sie blickte ihm tief in die Augen. Ihre eigenen Augen waren so groß und braun wie geheiligte Teiche im Moor. »Keiner von uns kann es glauben, Artus. Keiner von uns.« Loki hatte den Versuch, das Lachen zu unterdrücken, längst aufgegeben. Wotan erging es schlecht. »Er hat sich wieder am Schwert verletzt«, meldete Dagonet. »Das Schwert hat eine unheimliche Begabung, mit der Spitze nach oben am Boden zu landen. Au! Jetzt hat es ihn am Auge verletzt.« Besorgt blickte der Zwerg über die Schulter hinauf zu Loki. Der Gott lag zurückgelehnt auf dem Dach und wieherte vor Lachen. Mit jedem neuen Anfall ließ sein Griff an Dagonets Knöchel nach. »Wenn du mich fallen lässt, wirst du keine Meldungen mehr bekommen.« »Was ... was tut er jetzt?«
Dagonet seufzte irritiert. »Das Schwert ist ihm wieder aus der Hand gefallen. Er bückt sich —« Loki schlug mit der Faust aufs Dach. Er konnte es vor Lachen nicht mehr aushalten. Das Schwert hatte Wotan verrückt gemacht. Er hatte jedes Mittel versucht, um sich vor Excalibur zu schützen, und doch hatte die Klinge ihn immer wieder verletzt, war ihm unter einen Fingernagel gefahren, hatte sich in seine Handfläche gebohrt, sein Auge 323 verletzt, an der Kehle ... Wotan hatte Handschuhe und Panzerhandschuhe herbeigezaubert, sich selbst vergrößert, um weniger verwundbar zu sein, war dann wieder geschrumpft, um das Ding besser in den Griff zu bekommen, hatte versucht, es in Truhen und Schränken wegzuschließen, nur um von dem Verlangen verzehrt zu werden, es wieder in den Händen zu halten. Er hatte sogar versucht, es wegzuwerfen, war dazu aber nicht imstande gewesen. Seit endlosen Stunden dauerte dieses peinigende Spiel schon an, und die ganze Zeit hatte Loki den Zwerg vor dem Fenster hängen und berichten lassen, was in Wotans Wohnung vorging. Nun aber, von Lachkrämpfen geschüttelt, ließ Loki ihn los. Dagonet fiel. Nachdem er stundenlang kopfüber an einem Knöchel gehangen hatte, war es fast eine Erleichterung. Er überschlug sich in der Luft. Das Blut, das sich im Kopf angesammelt hatte, verteilte sich wieder durch seinen kurzen Körper und erreichte sogar den vernachlässigten Knöchel. Der Luftzug fühlte sich gut an. Und es war hübsch, die Welt wieder richtig herum zu sehen ... vorläufig. Seine Hand bekam etwas zu fassen - einen Zweig von einer alten Weinrebe, die an einem Spalier wuchs und die ganze Wand überwuchert hatte. Der Zweig gab zuerst nach, hielt ihn dann aber, und er wurde vom plötzlichen Ruck herumgeworfen und schoss wie ein kleiner Steinbrocken durch Wotans Fenster. Um ihn her wirbelten und klirrten die Scherben. »Das war knapp«, sagte er sich gelassen - bis er einen Blick hinunter warf und die Steinplatten tief unter sich erblickte. Da steckte ihm plötzlich ein Schrei in der Kehle. Eine große, verschwitzte und narbige Hand packte Dagonet und zog ihn aus dem Fenster. Die Hand war so groß, dass er im Dunklen zusammengepresst kauerte. War es besser, auf den Steinplatten zerschmettert oder von einem zornigen Gott gefangen zu sein? Wahrscheinlicher war der Tod durch Ersticken, wenn er noch länger in dieser Hand eingeschlossen blieb. 323 Die Faust öffnete sich. Dagonet blinzelte in helles Licht. Über ihm hing dräuend ein riesiges Gesicht mit zornig blickenden Augen und geblähten Nasenflügeln. Die Gesichtshaut des alten Gottes wirkte grobporig, fleckig und zornrot. Das wuschelige Haupthaar, die Augenbrauen und der Bart rahmten es wie mit dichtem Gestrüpp ein. Dagonet setzte sich auf der offenen Handfläche des Gottes aufrecht und blickte unerschrocken zu den zornfunkelnden Augen auf. »Und ich dachte, Merlin sei zottig.« Lippen wie glänzende Fischleiber öffneten sich und entließen Atem — einen metallisch riechenden Windstoß. »Wer bist du?« Die Worte dröhnten wie die Schläge von Fleischklopfern auf Dagonets Trommelfellen. Dagonet begriff, dass er sich einer göttlichen Aufforderung nicht entziehen konnte. Er stand auf, verbeugte sich tief und sagte: »Ich bin König Artus.« In Wotans Gesicht zog sich ein Gewitter zusammen. »Du bist nicht König Artus.«
»Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, ich sei Merlin der Verrückte?« Wotans Riesenfinger schlossen sich zu einem Käfig, der ihn zu zermalmen drohte. »Tatsächlich«, sagte Dagonet hastig, »bin ich nur der Hanswurst von Artus und Merlin. Ich bin die Verkörperung seiner verrückten Träume in Menschen — ah - Zwergengestalt.« Wotans Finger machten Halt, kurz bevor sie den kleinen Mann erdrückten. »Warum bist du hier?« Dagonet gab vor, sich recken und gähnen zu müssen. Dabei spähte er schnell über die Schulter, um zu sehen, ob von Loki Rettung zu erwarten war. Aber dieser unbeständige Gott blickte verdrießlich und wenig hilfsbereit aus dem Weinlaub neben dem Fenster. »Ich bin hier, um mich zu vergewissern, dass es mit dem Plan klappt«, improvisierte Dagonet. 324 »Von welchem Plan redest du?«, fragte Wotan argwöhnisch. »Du weißt schon«, wich Dagonet aus, »der Plaaan —« »Ich wusste es!«, brüllte Wotan und hob den Zwerg in die Höhe, als würde er ihn zu Boden schmettern. »Das Schwert ist verflucht!« »Das Schwert? Verflucht?«, schrie Dagonet, der sich an den Zeigefinger klammerte wie an einen Baumstamm. »Leugne es nicht! Merlin hat Excalibur verflucht! Er verfluchte es, damit es mich erschlagen sollte!« »Ah, dieses Schwert«, sagte Dagonet. Er sah einen Ausweg. »Ja, ja, Merlin verfluchte es. Er verfluchte es, damit es dich erschlagen sollte. Und ich muss sagen, der Plan geht gut voran. Du hast weniger als eine Stunde zu leben.« »Was?« Dagonet zuckte die Achseln. »Innerhalb einer Stunde wird das Schwert dich vollständig verrückt gemacht haben. Dann wirst du nicht mehr imstande sein, dich selbst von seinen Schnitten zu heilen. Bei Tagesanbruch wirst du tot sein.« Er hob beide Arme und führte sie vor seinem Gesicht mit den Fingerspitzen zusammen, um deutlich zu machen, was er meinte. Wotans Gesicht erbleichte. Die Hand, die seinen Gefangenen in die Höhe hielt, erschlaffte und sank abwärts. »Ich wusste es«, murmelte er zu sich selbst. »Dieser gerissene Lump! Brachte seinen eigenen Vater um, den alten Saturn. Und so was habe ich mal bewundert! Er vertrieb die Titanen vom Olymp. Er ist ein Gottesmörder, das ist er. Kommt als schmieriger alter Kerl daher und ist ein Gottesmörder!« » War ein Gottesmörder -« »Was?« Dagonet steckte den Kopf zwischen den Fingern des Gottes heraus. » War ein Gottesmörder. Du hast ihn eingeäschert. Erinnerst du dich?« Die Erinnerung zog wie eine kühle Brise über Wotans Gesicht. »Ja, richtig, ich erledigte ihn. Dreimal. Und vor seinem eigenen 324 Gesindel.« Er lächelte mit Zähnen wie marmorne Grabsteine. »Ja, ich tötete ihn.« »Zu dumm, dass der Fluch nicht mit ihm starb«, sagte Dagonet. »Dafür wurden keine Vorkehrungen getroffen.« Wotan hob den Zwerg wieder in Sicht. »Vorkehrungen?« Dagonet nickte. »Natürlich. Jeder Fluch hat Vorkehrungen, Begrenzungen. Das ist Teil des Wortlauts.«
»Und du kennst diesen Wortlaut?«, fragte Wotan mit unheilvoll sanfter Stimme. »Sag mir, wie er ist.« »Oh, das könnte ich nicht«, sagte Dagonet in gespielter Furcht. »Merlin würde mich umbringen.« »Merlin ist schon tot.« »Es ist bloß ein magisches Gemurmel —« »Sag es mir!«, brüllte Wotan. Sein Atem warf Dagonet auf den Rücken. Er brauchte seinen Schrecken nicht zu spielen. »Ja, nun ... Lass mich überlegen. Ich muss es richtig zusammenbringen. Ah ... gut. Ja, jetzt fällt es mir ein. Merlin sagte: >Durch die Macht des Olymp und Avalons und Sinais und Golgothas, die jetzt und für immer in Britannien verbündet sind, belege ich Excalibur mit diesem unauflöslichen und unendlichen Fluch, dass dieses Schwert den Hauptgott der Sachsen in den Wahnsinn treiben und erschlagen wird. Es soll an ihm haften, und wenn es in seine Hand gerät, soll es sie nicht verlassen, bis er getötet ist. Dieser Fluch kann nur aufgehoben werden, wenn das Schwert vom Magier Merlin nach Britannien zurückgetragen wird, oder ... von seinem -«< Dagonet verstummte stammelnd und brachte es fertig, zu erbleichen. »Was ist es? Sprich weiter!«, befahl Wotan. »Ah, hm«, murmelte Dagonet. »Ich habe den Faden verloren. Ich wollte sagen: »vom Magier Merlin, punktum.< Haha. Eine Ironie, nicht wahr, dass der einzige Mann, der dich hätte retten können, derjenige ist, den du getötet hast. Haha. Wirklich eine Ironie.« »Du sagtest: >oder seinem<. Wen meintest du damit? Oder seinem was?« 325 Dagonet schluckte. »>Oder seinem ... oder seinem Assistenten.«« »Wer würde das sein?« »Das würde ich sein«, gestand Dagonet. »Du? Du lächerliche Figur bist sein Assistent?« Wotan grinste. »Na, das passt zu ihm! Dann könntest du also das Schwert nach Britannien zurückbringen? Du könntest mich retten?« »Hör zu, ich will nicht zurück nach Britannien«, sagte Dagonet flehentlich. »Ich bin zum Verräter erklärt worden. Auf meinen Kopf ist ein Preis ausgesetzt. Menschen und Götter versuchen mich zu töten. Und nicht bloß zu töten. Sie werden mich foltern. Sie werden für das, was ich getan habe, für immer meine Seele quälen.« »Was hast du getan?«, fragte Wotan. »Ich verbündete mich mit Loki«, sagte Dagonet in gespielter Scham. »Ich half ihm das Land auf deine Invasion vorbereiten.« »Du verbündetest dich mit Loki?«, sagte Wotan belustigt. »Was für ein Narr würde -?« »Derselbe Narr, der dir das Leben retten könnte«, drang eine heitere Stimme vom Fenster herein. Loki schwang sich über die Fensterleibung, segelte herein und landete neben Dagonet auf Wotans Handfläche. »Könnte, wohlgemerkt, aber er muss nicht. Nun lass uns über die Bedingungen unserer Übereinkunft sprechen.« Wotans Augen flammten auf. Seine Finger krümmten sich. »Bedingungen? Ich werde euch beide zermalmen, wenn ihr euch weigert.« »Dann wird Excalibur dich töten«, sagte Loki. Er polierte seine Nägel am Ärmel. »Und nachdem du tot sein wirst, wird es einen anderen Hauptgott der Germanen geben, der von diesem Schwert getötet werden wird, und nach diesem einen weiteren. Dieses eine Schwert
wird dich und deine Anhänger vernichten ... Es sei denn, du bist bereit, einen Handel abzuschließen.« Wotan schüttelte den Kopf. »Einen Handel mit Loki abschlie 326 ßen? Ich müsste verrückt sein!« Er seufzte verzweifelt. »Also gut, was willst du?« Loki genoss den Augenblick und rieb sich die Hände, dass die Fingergelenke knackten. »Als Erstes brauchen wir eine Walküre mit ihrem Wagen.« »Was?« »Wir brauchen ein Fahrzeug für die Beförderung des Rheingolds, das du uns übertragen wirst«, erläuterte Loki. Er legte einen Arm um Dagonets Schultern und drückte sie freundschaftlich. »Und Juwelen und Waffen -« »Und ein Versprechen«, warf Dagonet ein, »uns nicht mehr zu töten.« »Richtig«, pflichtete ihm Loki bei. »Ich habe es satt, von dir getötet zu werden, Wotan. Du wirst schwören, mich und meinen Schützling nie wieder zu töten.« Wotan hob den Blick flehentlich zum Himmel und sagte: »Meinetwegen! Schafft mir nur das Schwert aus den Augen.« Er schlug sein Gewand zurück und zeigte, wo es steckte. »Ich will das verdammte Ding nicht wieder sehen!«
28. Merlins Auferstehung
Das Wunder nahm seinen Anfang nicht unter den Rittern oder Najaden, nicht einmal unter Briten, es nahm seinen Anfang unter den sächsischen Kriegern, die den Einschließungsring um die Briten immer mehr verengten. »Was tun die Schweinetreiber?«, rief ein ergrauter Sachse durch das Schwertergeklirr. Nur eine zwei Mann starke Verteidigungslinie der Briten stand den Angreifern zugekehrt und kämpfte. Die anderen standen in einer Gruppe zusammen und hatten der Front die Rücken zugewandt, als ob der Kampf sie nichts anginge. »Was gibt es da zu sehen?«
326
»Merlin«, antwortete ein anderer, als er einen Briten niederstieß. »Sie erwecken ihn von den Toten«, schrie jemand. »Grabeszauber!«, rief der erste Mann. »Merlin lebt?« »Ich wusste, dass er nicht umzubringen ist.« »Wenn er aufersteht, sind wir alle verloren!« »Es war eine Falle!«, sagte der Erste. »Sie lockten uns hierher, um uns mit Merlins Hilfe zu schlagen. Warum hätten sie sich sonst die Burg wegnehmen lassen?« »Merlin hat uns hierher gelockt, uns zu erledigen!« »Merlin lebt!« »Er lebt wirklich!«, rief ein junger Brite in der Sprache seiner Feinde. Triumphierend wiederholte er die Botschaft an seine Kameraden. »Merlin lebt!« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Botschaft durch die Reihen der Verteidiger und machte ihnen neuen Mut. Ihr Widerstand versteifte sich. »Für Merlin! Er lebt!« Der Ruf übertönte den Schlachtenlärm. Neue Kräfte durchpulsten die erlahmenden Arme, neue Hoffnung stärkte den versagenden Mut. Mit diesem Ruf drängten die Briten den Einschließungsring ihrer gefürchteten Feinde wieder ein wenig zurück: »Merlin lebt!« Auch in der mittleren Gruppe, die sich um Merlins Sterbeort versammelt hatte, fand der Ruf Widerhall. Bauern drängten nach innen, um die Rückkehr des Magiers zu sehen. Sie standen auf Zehenspitzen und drückten auf die Rücken ihrer Vordermänner. Sie reckten
die Hälse und drängten vorwärts. Alle waren plötzlich von hoffnungsvoller Freude ergriffen. »Er lebt. Er lebt!« »Ich wusste, dass er nicht tot sein konnte.« »Ich glaubte nie, dass er tot war!« »Merlin lebt! Merlin lebt!« Die Menge drängte sich dichter zusammen. Alle waren von dem Gedanken beseelt, bis zur Mitte vorzudringen und den Erretter zu sehen. Ihr Glaube verschmolz, 327 nahm feste Gestalt an, die in der Luft spürbar war. Ungezählte Stimmen sangen: »Merlin lebt! Merlin lebt! Merlin lebt!« In der Mitte der andrängenden Menge mussten Artus und Nyneve einander stützen, um nicht umgestoßen zu werden. Artus schüttelte bitter den Kopf. »Welch ein Wahnsinn!« Ein Stoß in den Rücken warf ihn so weit vorwärts, dass er sich mit beiden Händen in der Asche abstützen musste. »Dies ist Merlin!« In Nyneves Antlitz dämmerte ein beglücktes Lächeln. »Nein, Artus. Nicht einmal sein Körper war Merlin.« Sie stemmte sich rückwärts gegen die andrängende Menge. »Er war nur eine Annehmlichkeit, ein Ort für sein Wesen, ein Gefäß, das einen gefallenen Gott enthielt.« »Was hat das zu sagen?«, knurrte Artus. »Er ist tot. Er ist nicht mehr.« »Nein«, widersprach Nyneve. »Ein Gott stirbt nur, wenn er in den Träumen der Menschen stirbt. Aber Merlin lebt in ihren Träumen. Er lebt so sehr wie Jupiter jemals gelebt hat. Verstehst du nicht? Sie träumen ihn, Briten und Sachsen, Najaden und Feen, sie alle träumen ihn. Und es sind nur Träume nötig, um einen Gott zu erschaffen.« Artus fiel auf die Ellbogen. Die Asche seines Großvaters überstäubte Gesicht und Arme. »Zurück!«, rief er. »Ihr erdrückt mich!« »Glaub mir, Artus«, rief Nyneve beschwörend. »Das ist es, worauf er wartet. Er will, dass du glaubst. Dein Glaube rettete ihn aus dem Wahnsinn. Dein Glaube kann ihn aus dem Tod erwecken.« Der König hob ein von Asche bepudertes Gesicht. Er schloss die Augen. Auf einmal war er wieder ein Kind. Großvater Merlin spielte Verstecken. Er verbarg sich unsichtbar in der Luft. »Komm heraus, Großvater. Ich weiß, dass du da bist.« Artus streckte die Hände aus und tastete umher. Er berührte die Beinschienen eines Kriegers, den Gewandsaum einer Dryade, die 327 derben wollenen Beinlinge eines Dorfbewohners, den zerfaserten Reiseumhang eines alten Verrückten ... Er öffnete die Augen. Der Stoff entglitt seinen Fingern. Verrückte Hoffnung sprang in ihm auf. Merlin war nicht da — und doch war er da. Artus fuhr mit den Fingern durch die Luft. Sie berührten unsichtbaren Stoff. Dieses zerfranste Nichts ergriff er und hielt mit aller Kraft daran fest. »Komm heraus, Großvater. Ich weiß, dass du da bist!« Und er war da.
Dort, in der Mitte des Gedränges, stand Merlin. Er trug seinen alten, zerschlissenen und grauen Reiseumhang. In seinen Augen glänzte ein mutwilliges Licht. Jede Runzel war in seine Stirn zurückgekehrt, jedes Haar der Augenbrauen und des Bartes. Er war unzweifelhaft da, und Artus hielt den Saum seines Umhangs fest. »Da bist du ja!«, sagte Artus. Er stand auf, stieß die Nachdrängenden zurück und umarmte den alten Zauberer. Ja, es war Merlin in Fleisch und Blut — aber mehr als das. Er war nicht aus Asche wiedererstanden. Auch jetzt noch klebte sie auf Artus' Wangen und an seinen Armen. Merlin war aus den Träumen und Hoffnungen des Volkes wiedererstanden. Er lebte im Bewusstsein von Briten und Sachsen, Sklaven und Königen. Es war nicht mehr der verrückte Merlin. Es war der unsterbliche Merlin. Es leuchtete aus seinen Augen, seiner ganzen Erscheinung, die von einer sichtbaren Aura reiner Magie eingehüllt war. Es leuchtete aus seinem ruhigen Lächeln. »Du hast mich gefunden, Artus. Guter Junge«, sagte Merlin freundlich. Seine Umarmung wusch Blut und Schmutz vom König. Artus' gewöhnliche Kleidung verwandelte sich in die kostbare Rüstung des Pendragon. Merlin öffnete die Arme, ohne Artus freizugeben, um Nyneve in seine Umarmung zu ziehen. Sie umschlang ihn mit ebenso 328 kräftigen Armen und weinte glücklich an seiner Brust. Sie streichelte seine Wange. »Asche war nicht dein bestes Erscheinungsbild, Lieber. Dies ist viel besser.« Er berührte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen. Schmutz und Staub und Blut, die eben noch ihre Züge bedeckt hatten, verschwanden. Nyneves Haut schimmerte irisierend wie das Perlmutt einer Nautilusschale. Ihr zerrissenes Gewand wurde zu göttlichen Staatskleidern. Auf einmal schien sie eine Königin unter Göttern zu sein. »Niemand schaut mein Erscheinungsbild an, Nyneve«, sagte Merlin. »Ich schulde dir einen Tanz in unserer Paradieshöhle. Aber zuerst hat Britannien unsere Hilfe nötig.« »Ja.« Sie lächelte und küsste ihn. Dann stampfte sie mit einem Fuß auf und ließ eine kleine Quelle entspringen. »Ich werde die Kräfte der Erde und des Wassers wiederbeleben.« »Und ich die des Himmels und des Feuers«, sagte Merlin. »Und ich«, fügte Artus hinzu, »werde das Volk der Felder und Wälder, der Ebenen und Berge anführen.« »Wenn dies alles getan ist, werden wir wieder in Camelot zusammentreffen«, sagte Merlin. Er umarmte sie ein letztes Mal und gab Nyneve einen Abschiedskuss. Sie setzte ihren Zeh an die sprudelnde Quelle und glitt hinein. Merlin erhob sich in die Luft. Ein Stab wuchs in seinen Händen. Und veränderte sich. Feuriges Licht strahlte aus seinem Stab und hüllte seinen Umhang ein. Flammen verwandelten ihn von grauen Fetzen in goldene Gewänder. Zwei himmelblaue Strahlen gingen von seinen Augen aus und schlugen einen weiten Bogen um die zusammengeschmolzene Streitmacht der Briten. Die Sachsen zogen sich vor der Erscheinung zurück. Merlin sprach, und seine Stimme donnerte wie ein gewaltiger Wasserfall. »Erhebt euch, Briten! Treibt die Wotansleute zurück. Ihr Gott ist vom Wahnsinn befallen. Eure Götter leben und kämpfen für euch. Erhebt euch!« Tausende von Fäusten reckten sich in die Luft. Manche um
329 klammerten Schwerter, manche Dreschflegel, andere nichts als den nackten Glauben. Mit ihnen erhob sich ein ohrenbetäubendes Kriegsgeschrei, das sogar Merlins Stimme übertönte. Artus schwang sein gewöhnliches Schwert und rief: »Mir nach, wer kämpfen will!« Die Gruppe, die sich um Merlins Asche geschart hatte, wandte sich nun nach außen. »Ector, Kay, Ulfius zu mir!«, rief Artus. Seine Ritter stellten sich um ihn auf. »Wir werden die Burg zurückgewinnen!« Von frischem Mut und erneuerter Kraft beseelt drängten die Ritter der Tafelrunde dem weichenden Feind nach. Die tapfer fechtende sächsische Nachhut zog sich rückwärts gehend hang-aufwärts zurück. Manche stolperten über gefallene Briten, und wenn sie sich nicht fangen und die nachdrängenden Ritter abwehren konnten, wurden sie niedergemacht. Ihre Kameraden hatten in der Masse bereits die Burg erreicht. Nachdem ihre Umfassungsmauer auf einer Seite niedergelegt worden war, würde sie nicht viel Schutz bieten - dennoch aber waren Aelle und seine Feldhauptleute dort. Artus, seine Ritter und viele gewöhnliche Krieger arbeiteten sich kämpfend den Hang hinauf. Unter den Briten breitete sich Siegeszuversicht aus. Grimmige Scherzworte flogen hin und her. Artus blickte über die Schulter zurück, um zu sehen, wie der Kampf auf der Ebene verlief. Er lachte. Auch dort hatten die Sachsen den Rückzug angetreten. Bauernjungen schleuderten ihnen Steine nach. Wo die sächsische Nachhut sich festsetzte, wurde sie von unerschrockenen Bauern mit Dreschflegeln, Hacken, Heugabeln und Sauspießen angegriffen und wieder in Bewegung gebracht. »Dank dir, Großvater!«, murmelte Artus zu sich selbst. »Du hast erreicht, was uns nie gelungen wäre. Die Sachsen ziehen ab.« Die ungeübten Kämpfer aus Bauernkaten und Waldhütten hätten die Scharmützel mit den Nachhuten der abrückenden 329 Sachsen allein bestehen können, doch sie erhielten ungewöhnliche Hilfe. Königin Guinevere führte jetzt das Feenvolk. Ihr Ruhm und ihre Macht waren wiederhergestellt. Das Gras unter ihren Füßen trank das Blut und schluckte die verstreuten Abfälle der Schlacht. Der Hügel erwachte zum Leben. Schwärme von Kobolden zogen ihre feinen Fährten kreuz und quer durch das Gras, und hinter ihnen erblühten Wildblumen. Dryaden heilten niedergetrampelte und zerbrochene Halme und Zweige. Geister der Thuata wirbelten frohlockend um Königin Guinevere. Manche von ihnen kehrten zurück in den Hügel, um anderes Feenvolk zu rufen. Ständig drangen mehr an die Oberfläche. Steinmänner und grüne Männer, Wichtel und Zwerge, Blaukappen und schwarze Hunde, Eichenmänner und Luftgeister, Tannenbholgs und Thuata. Sie kamen aus der Anderwelt an die Oberfläche und fühlten wieder die warme Sonne. Während Männer kämpften und starben, tanzten sie. In verflochtenen, verschlungenen Reigen tanzten sie. Die grausigsten Tänzer nahmen am Fuß des Hügels Gestalt an. Aus Gesteinsschutt und Sand erstanden wieder Steinriesen. Felsbrocken fugten sich zusammen, Bruchlinien verschmolzen. Nyneves Zauberkraft sammelte die verstreuten Bruchstücke vom Boden, dass sie sich von neuem zusammenschlossen. Leben erfüllte die tappenden Gestalten. Noch während sie sich verfestigten, hoben die Steinriesen ihre Köpfe und blickten umher.
Sachsen, die sich noch im Umkreis des Hügels gehalten hatten, flohen beim Anblick dieser aus dem Boden wachsenden Giganten. Steinerne Säulenbeine stampften den Boden, Steinarme schwangen im Tanz hin und her. Die Erde erzitterte unter den schwerfälligen Füßen. Merlin erschütterte den Himmel. Er streckte die Hand aus und von seinen Fingerspitzen schössen rote Lichtstrahlen hinaus. Wo sie den Boden trafen, öffnete sich 330 ein Schacht tief in den Sidh. Sobald die Schächte erschienen, krochen schauerliche Wesen aus ihnen hervor. Große lederige Flügel, dicke Felle aus feuerrotem Haar, riesige, katzenähnliche Augen in den gehörnten Schädeln, ellenlange Krallen, mit Widerhaken besetzte, peitschende Schwänze ... Der alte Calbhiorus vom Mount Badon kam heraus, und mit ihm seine vier Enkel. Fünf Drachen stiegen mit knatternden Flügelschlägen empor und kreisten um ihren Befreier. »Seht, Sachsen!«, rief Merlin in ihrer Sprache. »Die fünf Drachen Artus'! Wisset, dass der rote Drache von Wales, der Pendragon über Britannien herrscht!« Und damit stießen die Drachen herab, um die fliehenden Sachsen zu bedrängen. Loki konnte nicht widerstehen, die ganze Ausstattung einer Walküre anzulegen, als er gigantisch am Bug des großen Wagens stand. Er ließ es sich nicht einmal nehmen, die schaurigen Gesänge der Kriegsjungfrauen zu parodieren. Der sterbliche Hanswurst saß winzig vor Loki auf dem Geländer des Wagens. Mit einer Hand klammerte er sich an einen Führungsring der Zügel, um nicht zu fallen. Mit der anderen hielt er das in Rhiannon steckende Zauberschwert an sich gedrückt. Obwohl der Boden des Wagens mit Rheingold beladen war, überstrahlte die Schönheit von Scheide und Schwert alles andere. Gold und Schätze und heilige Waffen sorgten für das einzige Licht. Rings umher war der Himmel erfüllt von dunklen Gewitterwolken. Dagonet fühlte sich völlig fehl am Platz. Sein Leben lang hatte er die Welt aus der Froschperspektive gesehen. Nun fuhr der zwergenhafte, sterbliche Brite im Himmelswagen eines Gottes, meilenweit über dem Erdboden. Wolkenfetzen jagten vorbei, dann gähnte plötzlich der leere Raum. Mondschein fiel über den goldenen Wagen. Tief unten breiteten sich die nachtschwarzen Hügel Britanniens von Horizont zu Horizont. 330 »Da sind wir schon!«, rief Loki. »Britannien! Es ist Zeit, Dagonet. Wirf das Schwert weg!« Dagonet sperrte die Augen auf. »Das Schwert soll ich fortwerfen?« »Das war unser Handel. Wir bringen es zurück nach Britannien. Tun wir es nicht, verlieren wir das Gold.« »Ja«, sagte Dagonet, »aber welch eine Verschwendung —« »Wir können nicht das Schwert und das Gold behalten.« »Natürlich nicht. Doch ich dachte, du seist der Gott der faulen Geschäfte.« Unter den buschigen schwarzen Brauen flammten Lokis Augen auf. »Der bin ich!« »Dann lass uns daraus einen faulen Handel machen. Wir erfüllen unsere Vereinbarung und lassen Wotan zahlen.« »Lass hören.« »Wir geben das Schwert Artus.«
Lokis Miene verfinsterte sich. »Was? Du hinterlistiges kleines Schnattermaul! Trägst auf beiden Schultern, wie?« »Natürlich nicht«, verteidigte sich Dagonet. »Aber überleg mal, Loki! Was würde Wotan mehr schrecken als zu wissen, dass sich das Schwert im Besitz des Königs von Britannien befindet?« »Nur wenn Merlin das Schwert bekäme, würde er sich mehr aufregen.« »Genau. Da Merlin tot ist, bleibt Artus die nächstbeste Wahl. Und wenn Artus sein Schwert hat, werden die Ritter der Tafelrunde unangefochten herrschen.« »Was kümmern mich die Ritter der Tafelrunde? Warum sollte ich diesen aufgeblasenen Schafsköpfen gefällig sein?« »Bist du nicht einer der Ritter der Tafelrunde? Sitzt du nicht auf dem Platz der Wahrheit oder wie er genannt wird?« Ein boshaftes Lächeln trat wie ein Riss in Lokis Gesicht, ein Riss, der sich entlang einer Eierschale ausbreitet. Er streckte die Hand aus. »Gib mir das Schwert und die Scheide.« Misstrauen zeigte sich auf Dagonets Zügen. »Warum?« 331 »Du bist ein schlaues Kerlchen, Dagonet«, sagte Loki. »Ich versuche nicht, dich hereinzulegen, Loki. Ein Schwindler kann einen anderen Schwindler nicht täuschen.« Loki schnippte mit den Fingern und das Lächeln wurde zum Zähneblecken. »Gib es her. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich sehe deine wahren Loyalitäten, Dagonet. Aber solange du Artus dienen kannst, während du mir gleichzeitig zum Rheingold verhilfst und meine Macht in Britannien unterstützt, werde ich nicht protestieren. Außerdem sollte ein Gott von meiner Bedeutung einen Schützling haben.« Dagonet verbeugte sich leicht. Er erwartete jeden Augenblick, dass ihm der Kopf wie eine reife Traube von den Schultern gepflückt würde. »Ich danke dir, Loki.« »Nun gib mir Schwert und Scheide, und ich werde Sorge tragen, dass Artus sie wieder trägt.« Widerwillig händigte Dagonet ihm die Klinge in der Scheide aus. Loki nickte. Er nahm das heilige Schwert, das in seinen Händen nicht mehr als ein Buttermesser war, holte weit aus und schleuderte es über Britannien hinaus in die grenzenlose Ferne. Dagonet starrte mit leerem Ausdruck der sich überschlagenden Waffe nach, bis sie außer Sicht war. »Du willst dafür sorgen, dass sie wieder in Artus' Besitz kommt?« Haifischzähne drängten sich im Mund des Gottes. »Du wirst mir vertrauen müssen.«
29. König Aelles Ende
Während die Masse des sächsischen Heeres angesichts Merlins übernatürlicher Machtentfaltung den Rückzug antrat, hielt Aelle mit seiner Leibgarde von hundert Kriegern noch die halb zerstörte Burg besetzt. 331 Im Schutz der Dunkelheit hatte Artus seine dreißig verbliebenen Ritter den Hügel hinauf geführt, unterstützt von einigen fünfzig Kriegern. Noch unterhalb der Burg wurden sie von aufmerksamen Feldwachen erkannt und von zwei Seiten aus nächster Nähe beschossen. Zehn Krieger, darunter zwei Ritter, fielen den Pfeilen zum Opfer, bevor die verschanzten Krieger der Feldwachen überwältigt werden konnten.
Das Ganze war ohne großen Lärm vor sich gegangen, und als Artus' Streitmacht in tiefer Dunkelheit die Schutthalde der zerstörten Burgmauer erstieg und über die Ruinen ins Innere vordrang, stieß sie auf keine Gegenwehr. Erst als die Krieger in die Gebäude eindrangen, kam es zum Kampf mit der überraschten Burgbesatzung. Raum für Raum wurde von Artus' Kriegern durchkämmt. Schon zu Beginn des Überfalls gelang ihnen ein entscheidender Erfolg, als sie einige siebzig Sachsen im Palas überrumpelten, wo sie unbewaffnet beim Essen saßen. Sobald die Kerkergewölbe durchsucht waren, wurden die Gefangenen ihrer Rüstungen beraubt und dort untergebracht. Darauf war es Artus' Streitmacht ein Leichtes, den vereinzelten, unorganisierten Widerstand zu brechen und die Burg zu säubern. In jedem der durchsuchten Räume wurde ein Wachslicht an die Wand geklebt. Schließlich blieb nur der baufällige Nordturm, der durch Wotans Angriff schwer beschädigt worden war. Er war eine von Mauerrissen durchzogene, aus dem Lot geratene Todesfalle. Die drei obersten Geschosse unter dem halb abgedeckten Dach zeigten eine gefährliche Seitenneigung. Ohne das stabilisierende Innengerüst der Balkendecken und Stützen wäre der Turm wahrscheinlich eingestürzt. Ulfius und Brastias gaben die vernünftige Anweisung aus, dass der Bereich um den Turm abgesperrt und ein Wachtposten aufgestellt werden solle. Artus erbot sich freiwillig, diesen Posten zu besetzen. »Die Männer haben lange und aufopfernd für mich gekämpft und ich möchte sie auf diese Weise ehren«, sagte er. 332 Es war eine durchsichtige Lüge, die Ulfius oder Brastias nicht getäuscht haben würde, wären sie nicht siegestrunken gewesen. Artus allein blieb nüchtern. Der Sieg war noch nicht sein. Er hatte persönlich alle Gefangenen und Gefallenen in der Burg überprüft und festgestellt, dass ein Mann nicht unter ihnen war: Aelle von Sussex. Der Sachsenkönig hatte ihm Excalibur und Rhiannon abgenommen und versucht, ihm Land und Leben zu nehmen. Wenn es Aelle nicht gelungen war, mit ein paar Getreuen rechtzeitig im Schutz der Dunkelheit auf der nicht angegriffenen Seite der Burg zu entkommen, war dieser Turm der letzte Zufluchtsort, an dem der Sachsenkönig sich verbergen konnte. Kaum waren Ulfius und Brastias gegangen, da zog Artus sein Schwert und drang in den dunklen Turm ein. Langsam und vorsichtig erstieg er die Stufen. Die hölzerne Stiege war durch die Bewegung des Mauerwerks verkantet und begleitet von Mauernischen und Zugangsöffnungen auf jedem Stockwerk. Die hölzernen Stufen knarrten verräterisch bei jedem Schritt. Sein Aufstieg konnte nicht unbemerkt bleiben. In der Sprache des Sachsen rief er die hölzerne Stiege hinauf: »Ergib dich, Aelle, oder ich werde dich töten.« Keine Antwort erklang — außer dem verräterischen Knarren von Planken über ihm. Artus stieg weiter. Auf halber Höhe des baufälligen Turmes waren mehrere Stufen herausgefallen. Zum Treppenabsatz darüber musste ein gefährlicher Sprung gewagt werden, aber Aelle hatte diesen Sprung gemeistert. Nichts würde so gefährlich sein wie ihn am Leben zu lassen. Artus warf sein Schwert auf den Treppenabsatz, spannte seine Muskeln und wagte den Sprung aufwärts. Er bekam die Planken des Treppenabsatzes zu fassen und zog den Oberkörper hinauf, doch seine Beine hingen bis zu den Hüften im Leeren.
Aus der Dunkelheit über ihm löste sich Aelles Riesengestalt und sprang auf ihn zu. Stahl schimmerte matt.
333
Artus warf sich zur Seite und zog die Beine nach. Das zustoßende Schwert traf auf Holz und stak fest. Artus krabbelte auf die Beine, hob seine Klinge auf und wandte sich dem Gegner zu. Aelle zog sein Schwert frei und holte aus. Metall schlug auf Metall. Es war wie das Parieren eines Hammerschlages; die Vibration lief prickelnd durch Artus' Arm bis in die Schulter. Er suchte Halt an einer gesplitterten Stütze. Bei Aelles nächstem Vorstoß drehte Artus seine Klinge um die des Gegners, und die Schwertspitze scharrte über den Brustpanzer und in eine Naht des Wappenrockes. Sie durchstieß eisenharten Muskel. Aelle wankte zurück und krachte gegen die Eckstütze des Treppenabsatzes. Sein Anprall brach die Wandverankerung los. Planken gaben unter den beiden Männern nach. Artus rettete sich mit einem Satz aufwärts und fand Halt an den weiterführenden Stufen. Aelle sprang ihm nach. Sein massives Gewicht ließ den Treppenabsatz ganz in sich zusammenbrechen. Trotzdem gelang es ihm, die unterste der nächsten Stufen zu fassen und sich hinaufzuschwingen. Mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines viel jüngeren und leichteren Mannes war Aelle wieder auf den Beinen. Wie ein angreifender Stier stieß er mit dem Schwert aufwärts. Holz knarrte und knackte - und unter dem Gewicht und den ungestümen Bewegungen der beiden Fechter sackte die Stiege langsam nach innen. Aelle arbeitete sich mit ungeduldigen kurzen Schwertstößen aufwärts. »Als wir zuletzt fochten«, keuchte der baumlange Sachse, »nahm ich dir Excalibur ... Jetzt werde ich dir das Leben nehmen.« Artus, der über dem anderen stand und abwärts kämpfte, was ein großer Vorteil für ihn war, parierte die Vorstöße zuversichtlich. Er kämpfte hinhaltend, um seine Kräfte zu schonen und Aelle zu zwingen, sich zu erschöpfen. »In unserem letzten Kampf besaßest du meine Scheide. Jetzt hast du sie nicht. Jetzt bist du verwundbar. Jetzt kannst du getötet werden.« 333 Wie um es zu demonstrieren, stieß Artus an Aelles Deckung vorbei. Sein Schwert traf den anderen zwischen Brustharnisch und den Rock aus zwei Reihen herabhängender Lederstreifen. Aelle brüllte zornig und zog sich von der Klinge frei. »Du bist kein König. Nicht ohne Excalibur. Du bist nichts als Merlins Handpuppe.« Seiner Bemerkung folgte ein wahrer Wirbel von Schwerthieben und Vorstößen. Artus zog sich weiter aufwärts zurück und parierte die Angriffe. »Du hast verloren, Aelle. Ich bin König. Ergib dich mir.« Aelle blickte an Artus vorbei in die Dunkelheit und grinste. »Du bist es, der sterben wird. Du kannst nicht weiter zurückgehen!« Die Stiege über ihnen war ein zusammengebrochenes Gewirr aus Balken und Planken. Als bedeuteten ihm seine Verletzungen nichts, trieb Aelle seinen Gegner weiter aufwärts unter das Balkengewirr. Gewandt wie eine Spinne, turnte Artus in das eingestürzte obere Stiegenhaus. Selbst dort konnte er Aelles Angriffe parieren und traf ihn im Gegenstoß in Schulter und Seite. Jeder Treffer brachte den Mann mehr in Wut. Wo er nicht weiterkam, hieb er wütend Kerben in Holzbalken, um Handgriffe zu gewinnen. Unerbittlich zog er sich weiter hinauf.
Artus kletterte noch höher. Er war jetzt unmittelbar unter dem Dach des Turmes. Durch eine offene Luke schien der Mond. »Dein Heer ist abgezogen, deine Götter haben deine Beute gestohlen, deine Leibgarde ist gefangen. Du hast alles verloren. Musst du auch dein Leben verlieren?« Statt einer Antwort sprang Aelle auf ihn los. Plötzlich brach die ganze Masse lockerer Balken und geborstener Planken zusammen. Artus wandte sich um und sprang aufwärts. Er ließ das Schwert fallen, um den Rand der Luke zu ergreifen und sich durch sie zu retten und vor dem Absturz zu bewahren. Trägerbalken, Verstrebungen und Klammern brachen heraus. Mit ungeheurer Willensanstrengung schwang sich Aelle über die 334 nachgebenden Balken hinauf und bekam mit einer Hand den Rand der Luke zu fassen. Mit einem grässlichen Knirschen, Splittern und Poltern brachen unter ihm die Reste der Holzkonstruktion in sich zusammen. Artus starrte in den dunklen Abgrund, aus dem die Geräusche empordrangen, und dann in die Augen seines Feindes. »Ergib dich und ich ziehe dich herauf.« Aelle grunzte verächtlich, stieß sein Schwert mit der freien Hand in die Scheide und gewann einen zweiten Handgriff an der Luke. Er zog sich mit einem schwungvollen Klimmzug hinauf, bekam ein Knie in die Lukenöffnung und stand auf der geneigten Plattform des Turmes unter den nackten Sparren der größtenteils von ihren Schieferplatten entblößten Dachkonstruktion. Die Bodenplanken der Plattform bogen sich unter seinem Gewicht. Artus wich zurück. Er griff nach seinem Schwert und erinnerte sich, dass er es fallen gelassen hatte. Das Mondlicht zeigte auf dem Boden um ihn her nur zerbrochene Schieferplatten und Gesteinsschutt. Bröckelnde Bruchsteinmauern der Außenwand umgaben die Plattform und durch die Sparren schaute der Sternhimmel herab. In diesen Sternhimmel ragte eine mächtige Gestalt. Aelle kam ihm wie ein Minotaurus vor. Schwer atmend kam der Sachsenkönig langsam auf Artus zu. Seine Klinge zischte aus der Scheide. »Du hast wieder ein Schwert verloren«, sagte er. »Nun ergib du dich mir.« »Ich werde mich dir niemals ergeben«, erwiderte Artus. »Dann lässt du mir keine Wahl.« Aelle holte mit dem Schwert aus. Artus hob den Arm, um den Hieb abzuwehren. Darauf, schneller als Aelles Schwert, sauste einer der Sterne vom Himmel herab und sprang unfassbar präzise und schnell in Artus' Hand. Aelles Schwert traf nicht den König von Britannien, sondern die juwelenbesetzte Scheide Rhiannon. 334 Nicht weniger verblüfft als sein Gegner, schlug Artus die Klinge beiseite und zog Excalibur. Mit einem heiseren Ausruf sprang er vorwärts und stieß zu. In seiner Verblüffung konnte der baumlange Sachsenkönig sein Schwert nicht rechtzeitig ins Spiel bringen. Excalibur rammte durch Brustharnisch und Kettenhemd und Fleisch und Knochen. Es suchte den starken heißen Muskel in der Brust des Riesen, fand ihn und spaltete ihn. Excalibur durchbohrte das Herz des Königs von Sussex. Einen Augenblick lang stand Aelle noch starr in ungläubiger Verblüffung. Seine Klinge baumelte in zitternder Hand. Excalibur wurde aus der Brust gezogen, gefolgt von einem
Blutschwall. Aelle brach in die Knie und schlug vornüber aufs Gesicht. Er schien noch etwas zu murmeln, aber vielleicht war es nur ein letztes Ausatmen. Artus wankte zurück. Es war alles so schnell geschehen. Dieses Schwert, das sich in seiner Hand zu vertraut anfühlte, diese Scheide — woher waren sie gekommen? Sie waren wie ein Komet aus dem Himmel erschienen. Artus hob den Blick zum Sternenhimmel und sah Jupiter hell herabstrahlen. Er lächelte. »Sei bedankt, Großvater. Sei bedankt, Merlin.« Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu, als das mit Fässern beladene Fuhrwerk vor dem Wirtshaus Zu den Sechs Kaminen hielt. Pferde stampften auf dem Kopfsteinpflaster. Der Brauer kletterte vom Kutschbock und machte die Seile los. Die meisten Männer seines Berufsstandes hatten dicke Bäuche und schmutzige Kittel, dieser Brauer in seinem schwarzen Wams aber war gertenschlank. Sein Helfer war noch mehr aus der Art der Brauerburschen geschlagen - ein manischer Zwerg in einfacher bäuerlicher Kleidung. Gleichwohl ging den beiden ein sehr guter Ruf voraus. Meister Lokis halbdunkle und helle obergärigen Biere wurden von London bis Caerleon getrunken. 335 Gemeinsam legten die beiden eine Planke an das Fuhrwerk, stiegen hinauf und warfen Seile um das erste Fass. Mit geübter Geschicklichkeit luden sie drei Fässer ab. Der Zwerg hielt die feste rot gestrichene Tür zum Wirtshaus auf, als Meister Loki das erste Fass hineinrollte. Jenseits der Tür lag ein von Laternen beleuchteter Schankraum, der gut besetzt war. Obwohl die Gäste - Reisende und einheimische Bauern - Speisen und Getränke vor sich auf den Tischen hatten, aß oder trank keiner von ihnen. Alle lauschten aufmerksam einem dunkelhaarigen Mann, der mit dem Rücken an der Theke lehnte. »Ich sage euch, es war der erstaunlichste Anblick, den ich jemals sah. Fünf Drachen, sie kamen aus dem Hügel heraus. Gleich vor mir —« Der Sprecher war ein narbengesichtiger Krieger, einer von vielen Veteranen der Schlacht am Mount Badon, der von Ort zu Ort reiste und im Austausch gegen Unterkunft und Verpflegung seine Abenteuer erzählte. Dieser Söldner hatte ein beträchtliches Publikum für seine Geschichte interessiert. »Merlin zog sie aus der Erde, die Drachen. Aus dem Feenhügel! Und das gleich nach den Steinriesen!« »Warum gibt es jetzt keine Drachen dort?«, fragte Meister Loki, als er das Fass über den mit Binsen bestreuten Boden rollte. Der feiste Wirt kam ihm entgegen und half, das Fass zu seinem richtigen Platz hinter der Theke zu lenken. »Warum gibt es dort keine Steinriesen?« »Warum es keine —« sagte der Mann, aus dem Konzept gebracht. »Woher weißt du, dass es keine gibt?« Meister Loki zuckte die Achseln, als er das Fass mit Hilfe des Wirtes über eine angelegte Planke auf den Bock rollte. »Ich habe dort vor drei Tagen Bier geliefert. Keine Drachen. Keine Steinriesen.« Die aufmerksamen Zuhörer um den Söldner waren irritiert. »Er irrt sich. Ich habe sie selbst gesehen!«, protestierte der Krieger. »Fragt jeden, der damals dabei war —« 335 »Ich war dort«, sagte der Zwerg beiläufig, als er einen Zapfhahn in das Spundloch schlug. »Keine Riesen. Keine Drachen. Nur ein Massenabschlachten.«
Der Mann war alarmiert. »Er lügt! Ich sah Riesen und Drachen. Feenvolk in hellem Tageslicht. Ich sage euch, ich sah Wotan und Thor aus den Wolken kämpfen! Ich sah einen Titanen, der aus riesengroßen Käfern zusammengesetzt war!« Meister Loki sah den Wirt an und schnalzte missbilligend: »Du solltest kein Bier an Verrückte verkaufen —« »Ich bin nicht verrückt! Ihr zwei seid diejenigen, die verrückt sind! Ihr könnt nicht dort gewesen sein!« Meister Loki hob die schmalen Hände vor sich und sagte: »Langsam, Freund, langsam! Entschuldige, wenn ich etwas Unpassendes sagte. Dafür biete ich dir den ersten Zug von diesem neuen Fass an.« Der Brauer nahm aus den Händen seines Helfers einen schäumenden Bierkrug entgegen und reichte ihn dem Krieger. Der Schaum auf dem Bier leuchtete im Laternenschein wie Schlagrahm. Der Krieger schnüffelte, nahm vorsichtig einen Schluck. Er nickte und trank tief. »Wie nennst du dieses Bier?« »Lethes Trankopfer«, sagte Meister Loki stolz. »Für diejenigen, die trinken, um zu vergessen.« Ein Schmunzeln ging durch die Reihen der Gäste. »Aber ich unterbrach deine Geschichte. Du erzähltest gerade -« Der Krieger starrte Meister Loki an. »Ich erzählte?« »Du erzähltest von der Schlacht am Mount Badon.« Der Soldat stellte den leeren Bierkrug neben sich auf die Theke und wischte sich den Schaum von den Lippen. »Ach, das war bloß ein großes Gemetzel. Nicht sehr interessant.« »Was war mit den Steinriesen? Mit den Kriegskäfern?« »Steinriesen? Kriegskäfer?«, wiederholte der Krieger. »Nie so etwas gesehen ... Lethes Trankopfer, wie? Schenk noch mal ein.« »Nicht auf Kosten des Hauses«, sagte der Wirt und nahm den Bierkrug an sich. Als zwischen dem Krieger und dem Wirt eine 336 Auseinandersetzung begann, wandte sich Meister Loki um, und sein Gesicht leuchtete im Wiedererkennen auf. »Ah! Morgan!« Er schritt durch den Schankraum zu einem Tisch, wo eine schwarzhaarige Frau und ihr hübscher junger Sohn saßen. Loki ergriff die blasse Hand der Frau und zog sie in die Höhe, umarmte sie glücklich. »Schwester, seit Ewigkeiten habe ich dich nicht gesehen!« Ein ironisches Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Sie flüsterte: »Nein, nicht seit heute früh.« »Und dies muss Mordred sein!«, erklärte Meister Loki. Er trat einen Schritt zurück und musterte den stattlichen Burschen. »Er ist dein Ebenbild und dein Geist. Aber es ist auch etwas von seinem Vater in ihm! Und wie er gewachsen ist!« »Ja«, erwiderte Morgan, als ein paar Einheimische den erbosten Krieger zur Tür hinausbeförderten. »Und wusstest du, dass er ein Knappe in Camelot werden soll? Eines Tages wird er ein Ritter sein.« Meister Loki wandte sich in gut gespielter Verwunderung an die Gäste im Schankraum. »Haben alle es gehört? Mein Neffe Mordred wird ein Ritter der Tafelrunde sein! Nun, das ist eine Geschichte, die ihr wirklich glauben könnt, weil sie wahr ist!«
Loki bringt Dämmerung über den Mount Badon. Steinriesen gähnen und sinken unter die Grasdecke. Drachen kriechen durch Felsspalten hinab zu den Brunnen des Vergessens. Geister verlassen das Land der Lebenden. Er kann sie nicht für immer vertreiben, doch er kann sie müde machen und zu ihren Ruhestätten schicken, wo sie ungestört träumen. Sie werden eine Zeit lang in träumender Erinnerung schlafen, und für Drachen und Steinriesen und Geister kann ein Schlummer ganze Zeitalter lang dauern. Aber wenn sie sich wieder nach der Welt sehnen, und die Welt sich nach ihnen sehnt — dann werden sie erwachen. 337
30. Die Paradieshöhle
Endlich waren Artus und Guinevere daheim. Der Mount Badon lag auf der anderen Seite Britanniens, in den Nebeln der Erinnerung. Einstweilen waren Tod und Zerstörung in den Hintergrund getreten. Götter hatten ihren Furcht erregenden Marsch über das Land beendet. In ihren Fußstapfen wuchsen Wildblumen und zartes Gras. Die Landleute, die in der Schlacht gekämpft hatten, erinnerten sich nicht an Wotan oder die Walküren - es war zu furchtbar, oder vielleicht zu unglaublich. An jenem Tag waren nur Sachsen auf dem Schlachtfeld gewesen, und natürlich der Zauberer Merlin ... und der König. Nun waren Artus und Guinevere daheim. Das helle, strahlende Camelot umgab sie. Wie ihre Ritter und ihre Priesterinnen erinnerten sie sich an alles, was geschehen war, aber sie hatten gelernt, nicht von jenen seltsamen Tagen zu sprechen, da die Götter über das Land gezogen waren. Sogar untereinander wurden Geschichten von Göttern im Flüsterton erzählt. Vielleicht nicht einmal das. Wenn Artus und Guinevere zusammen waren, sprachen sie überhaupt nicht von gefallenen Göttern und totem Feenvolk. Sie hatten viel glücklichere Gespräche in den Gegenden der Sterblichen. Sie sprachen von ihrer schönen Stadt, ihren fröhlichen Kameraden und Tischgenossen und voneinander. Selbst ihre Keuschheit war ihnen bequem geworden; ohne einander zu berühren, waren sie einander immer eng verbunden. Wie ein altes Paar, das nicht in Lust, aber in Liebe vereint ist, fand jeder von ihnen ein Heim im Herzen des anderen. Mehr als Götter und Ungeheuer suchen Sterbliche ein Zuhause. So gründeten Artus und Guinevere das Fest des Pendragon — eine Feier zu Ehren Camelots und Britanniens. Ihre Blicke, einst auf luftige Visionen gerichtet, wandten sich nun schönen Wirklichkeiten zu. 337 »Komm, mein Liebling«, sagte Artus zu seiner Königin und streckte ihr die Hand hin. »Lass uns in den großen Saal gehen und für den Tanz heute Abend üben.« Sie lächelte ihn liebevoll an. »Sie werden sich nicht darum kümmern, wie schlecht wir heute Abend tanzen. Sie werden dich anschauen und nur Vollkommenheit sehen.« »Vielleicht«, mit einem schiefen Lächeln, »aber ich werde Freude an der Übung haben, und an deinem Anblick ...« Merlin erreichte Camelot. Er hatte Römerstraßen und Ley-Linien gemieden, auf denen es von Volk aller Art wimmelte. Wie es schien, strömte ganz Britannien zum Fest des Pendragon nach Camelot. In diesen Tagen war sogar Feenvolk mit den Angelegenheiten von Irdischen verbunden - mit Festmählern und Turnieren, Bündnissen und Kümmernissen. Merlin hatte mit alledem nichts zu schaffen. Er kam heute nur, um Abschied zu nehmen.
Er betrat Camelot. Es war nicht so sehr ein Betreten — denn er war bereits da -, sondern das Annehmen einer festen Gestalt. Aus tausend in der Stadt schweifenden Partikeln setzte er sein Bewusstsein zusammen. Er wollte sich an jeden ihrer Winkel erinnern — an Reisende, die sich im Wasserbecken der guten Feen wuschen, an Seidenstoffe und Schwerter und an >Merlins Asche<, die auf dem Marktplatz verkauft wurde, an stattliche Ritter und Damen, die ihr Stelldichein unter den Turniertribünen hatten, an klösterliche Kollegien voller Bücher und Schriftrollen, an Wirtshausgespräche und die Lieder fahrender Sänger, an Taubenschwärme über tobenden Kindern, an die kühle Glätte der gepflasterten Wege, an die einladenden Kuchen in den Verkaufsläden der Bäcker, an den Duft der Gewürze aus fernen Ländern ... Ich werde diesen Ort vermissen, sagte sich Merlin, als er die verschiedenen Stränge seines Wesens bündelte. Er sprach nicht nur von Camelot und seinen Feldsteinmauern und strohgedeckten 338 Dächern, sondern auch und ganz besonders vom Palast. Weißer Kalkstein und goldgelb geäderter Marmor, kobaltblaue Fliesen und schmiedeeiserne Tore, Balkone und Spaliere und Gärten und Türme, Hallen und Küchen und Wandelgänge ... Ach ja, und am meisten werde ich die Speisekammer vermissen. In einem solchen Keller gleich neben der großen Küche fand er einen alten Freund. »Sei gegrüßt, Ulfius«, sagte er freundlich. »Du plünderst den Keller?« Ulfius erschrak und blickte auf. Seit der Schlacht am Mount Badon begann man ihm sein Alter anzusehen. Er ging auf die sechzig zu und konnte noch immer ein Schwert schwingen, aber am Morgen waren seine Schultern und Knie steif, und sein Bauch hatte längst angefangen, die Annehmlichkeiten des höfischen Lebens zu zeigen. »Ah, Merlin«, sagte er und blinzelte den Zauberer über eine staubige Weinflasche hinweg an. »Ich hörte dich nicht kommen. Und ich plündere nichts. Artus bat mich, die Weine für die Festlichkeiten dieses Abends auszuwählen.« »Wenn ich mich recht erinnere, pflegtest du zu sagen, dass du immer alle miesen Aufträge bekommst.« Ein behäbiges Lachen antwortete. »Ja, das pflegte ich zu sagen.« Ulfius seufzte in der Erinnerung. »Und so war es auch. Trotzdem ist daraus ein außergewöhnliches Leben geworden.« Merlin nickte nüchtern. »Ja, das kann man sagen.« Ulfius zeigte zu einem kleinen Tisch, wo ein Korkenzieher und ein paar Gläser warteten. »Ich muss jeden Jahrgang verkosten, bevor ich ihn empfehle. Würdest du dich zu mir setzen? Ich habe nie erlebt, dass der Zauberer Merlin einen Trunk ablehnt.« Merlin wedelte abwehrend mit der Hand. »Danke, nein. Ich habe eine lange Reise vor mir, und an ihrem Ende wird es Nektar geben. Du siehst, dass ich meinen Reiseumhang trage.« Er breitete die Arme aus und drehte sich um seine Achse. Der in zerschlissenen Fetzen hängende Umhang öffnete sich wie die Flügel eines vorjährigen Nachtfalters und streifte die staubigen Flaschen. »Ich 338 weiß, er ist zerlumpt. Ich weiß, er wurde von Wotan verbrannt. Aber er ist mir bequem und vertraut - die Kleidung eines Wanderers, der eine große Reise antritt.« Ulfius lächelte beinahe liebevoll und sagte: »Du bist immer auf einer großen Reise gewesen.«
Merlin nickte wieder. »Nun, ich habe hereingeschaut, um Lebewohl zu sagen. Ich gehöre nicht mehr hierher. Mein Herz ist anderswo. Götter sollten nicht zu oft unter die Leute gehen, sonst werden sie unvorsichtig und treten auf sie. Nein, ich bin nicht mehr der Zauberer Merlin. Auch bin ich nicht Jupiter. Ich bin etwas Neues, und so muss ich zurücklassen, was alt ist.« Traurigkeit und stille Sorge malten sich in Ulfius' Zügen. »Wir werden dich wiedersehen, nicht wahr, Merlin?« »In Träumen, ja«, sagte der alte Zauberer. »Dort lebe ich wahrhaft. In den Träumen der Menschen. Und von Zeit zu Zeit mag ich zu einem substanziellerem Besuch kommen, besonders, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Aber abgesehen davon muss ich mich zurückziehen. Es macht wenig aus. Camelot hat heutzutage genug mystische Einwohner.« »Ja, aber wir haben nur einen Merlin«, sagte Ulfius, stellte die Weinflasche weg, stand auf und umarmte ihn. Seine Arme waren noch kräftig. »Und nur einen Ulfius«, erwiderte Merlin. »Für Artus und mich bist du Freund und Vater gewesen.« Ulfius ließ ihn los. »Lebewohl, Merlin, auf all deinen Wegen.« Merlin lächelte die Traurigkeit fort und sagte: »Hast du Ector und Kay gesehen?« Ulfius rollte die Augen. »Oh, sie haben die Aufgabe, das Bier und die Spirituosen für heute Abend auszuwählen. Sie sind oben in der großen Halle - und ich denke, sie werden ein paar Helfer angelockt haben.« Merlin blickte zu den Steinstufen, die aus dem Keller hinaufführten. »Danke, Ulfius. Lebewohl.« Ohne einen Schritt zu tun, befand er sich in der großen Halle. 339 Und sie trug ihren Namen nicht zu Unrecht. Die Decke aus schwarzen Stichbalken war mit den Bannern von jedem Bezirk in Artus' Königreich behängt. Die marmornen Wände waren mit Reliefmedaillons verziert, die Wappen und Krönungsinsignien der Pendragon zeigten. Die langen Tische waren mit weißem Leinen gedeckt, und frische Binsen lagen auf dem eichenen Boden. Mehr als dreißig Fässer lagerten aufgereiht an einer Wand. Eine Gruppe von vier Männern, alle etwas unsicher auf den Beinen, Bierkrüge in einer Hand und Zapfhähne und Schlegel in der anderen, bewegte sich die Reihe entlang. Der Größte der Männer, ein grauhaariger Bär, kniete vor einem Fass, brachte einen Zapfhahn in Stellung und hämmerte ihn ins Spundloch. Schaumige Spritzer schössen heraus. Erst nach dem zweiten Schlag saß der Zapfhahn fest. Der Mann schenkte sichren Bierkrug halb voll. »Ector«, begrüßte ihn Merlin. »Weißt du, du brauchst von jedem Fass nur eine Probe zu nehmen ...« »Oh, richtig, Merlin«, sagte der Mann etwas schwerzüngig. »Aber es ist mehr nötig, um ein Bier zu be-beurteilen. Wenn du ein Bier kennen willst, musst du es vom Schaum bis zum Bodensatz kosten - Bouquet und Körper und Restaroma, weißt du.« »Es ist das Restaroma, was mir zu denken gibt«, sagte Merlin milde. Er zeigte auf die Reihe der Fässer. »Wie kannst du die Qualität des dreißigsten Fasses beurteilen, nachdem du von den neunundzwanzig vorhergehenden getrunken hast?« Kay, auch er war dabei, blickte benebelt unter seinem blonden Haarschopf hervor. Er bückte sich, um seinen Bierkrug nachzufüllen. »Wir haben die letzten paar Fässer höher eingestuft.«
»Vielleicht sollten wir uns etwas schneller durch die Reihe vor-arbeiten«, schlug Ector vor. Er reichte einem hageren Mann in Schwarz - Loki in seiner bevorzugten menschlichen Verkleidung — einen vollen Krug. »Danke«, sagte Loki, »aber ihr könnt euch darauf verlassen, 340 dass mein Bier nur von bester Qualität ist - vom ersten bis zum letzten Fass.« »Verlasst euch auf ihn — und ihr seid ver-verlassen«, krähte Dagonet mit einem Schluckauf. »Hauptsache, s' ist genug Bier da!« Der Zwerg hatte sich bereits einen kräftigen Rausch angetrunken; seine geringe Körpermasse beschleunigte die Wirkung des Alkohols. »Auf die Gesundheit!«, rief Ector und hob seinen Bierkrug. »Auf die Gesundheit!«, antworteten die anderen im Chor. Als sie die Bierkrüge ansetzten und die Köpfe in den Nacken legten, sagte Merlin freundlich: »Ich werde dies als einen Trinkspruch auf meine Abreise betrachten.« Plötzlich wirkte Ector traurig — so traurig wie ein gestandener Krieger nur wirken kann, wenn der Bierschaum seinen Schnurrbart verhüllt. »Artus sagte, du würdest uns bald verlassen -« »Trinken wir noch einen auf Merlin«, schlug Kay vor. »S' ist kein richtiger Trinkspruch, wenn der Geehrte nichts zu trinken hat. Gib ihm einen Krug!« »Ach, geben wir ihm ein ganzes Fass!«, meinte Loki. »Er sagt, er sei Jupiter, aber mir kommt er mehr wie Bacchus vor. Ich hörte, dass er Ströme von Wein als Schlaftrunk in sich hineingießt.« »Nicht mehr«, sagte Merlin freundlich. »Nein, wahrhaftig nicht«, rief Dagonet. »Mit seiner Verrücktheit vermachte er mir seine Schwäche für den Alkohol.« Merlin lächelte. »Die beiden gehören zusammen. Trinkt den Nächsten auf Dagonet. In den Wirtshäusern wird erzählt, dass dieser kleine Schlauberger dem König Schwert und Scheide zurückgewonnen hat —« »Das ist wahr«, warf Loki ein. »- nachdem er eigenhändig Wotan erschlagen hatte.« »Das stimmt nicht ganz«, sagte Loki. Er zog eine Braue hoch und sah seinen Helfer forschend an. »Jemand hat an der offiziellen Geschichte unerlaubte Veränderungen vorgenommen.« »Ich sage, wir trinken auf die Krieger!«, sagte Kay und warf sich 340 an die Brust. Ein kräftiger Rülpser beeinträchtigte seine Pose ein wenig. Er legte seinem Vater einen Arm um die Schulter. »Wir sind diejenigen, die die Sachsen zurück nach Sussex trieben. Wenn mein kleiner Bruder —« »Stiefbruder«, unterbrach ihn Ector. »König«, ergänzte Merlin. »Wenn Artus uns nicht zurückgerufen hätte, sogar aus Sachsen bis hinunter bis zum Schwarzen Meer!« »Merlin und seine Drachen halfen ein wenig«, räumte Ector ein. Loki streckte dem alten Magier einen schäumenden Bierkrug hin. »Und so sind wir wieder dabei, auf Merlin zu trinken.« Merlin betrachtete den Bierkrug, der in Lokis Hand verdächtig schäumte. »Dies ist nicht Lethes Trankopfer, wie?«
»Natürlich nicht!«, sagte Loki gekränktem Ton. »Kein Bier des Vergessens in Camelot.« »Gut.« Merlin wehrte den Bierkrug ab. »Trotzdem möchte ich nicht trinken.« Er wandte sich zu Ector. »Nun, Lebewohl, mein Freund. Weder der König noch ich würden überlebt haben, wärst nicht du mit deiner Familie gewesen.« Ector stellte den Bierkrug ab, ließ Zapfhähne fallen und umarmte Merlin. »Wir werden dich nicht vergessen.« Als er sich aus der Umarmung gelöst hatte, sagte Merlin: »Die schönsten Worte, die ein Gott hören kann.« »Was ist mit mir?«, schaltete sich Kay ein. »Ich bin derjenige, der euch zwei fand. Erinnerst du dich?« »Ja, Kay«, sagte Merlin und umarmte auch ihn. »Ich erinnere mich. Auch dir sei Dank.« Er wandte sich zu Loki und musterte den Gott des nördlichen Pantheons. »Und du benimm dich. Ich habe dir erlaubt, nach Camelot zu kommen, wenn du dich erinnern willst. Ich kann dich wieder hinauswerfen, wenn es nötig sein sollte.« Loki erwiderte den Blick verdrießlich. »Verstanden.« Er machte kleine wegscheuchende Handbewegungen. »Nun mach, dass du weiterkommst.« 341 »Nicht bevor ich diesem kleinen Kerl Lebewohl gesagt habe«, erwiderte Merlin. Er bückte sich in Dagonets Augenhöhe. Weise alte Augen, die eine Ewigkeit gesehen hatten, begegneten dem vom Bier benommenen Blick Dagonets. »Du und ich, wir wurden im gleichen Augenblick wiedergeschaffen, an jenem schrecklichen Abend in Caerleon.« Dagonet zwinkerte trübe. »War das, als ich so kurz wurde?« Mit einem leisen Lachen sagte Merlin: »Nein. Aber das war, als du verrückt wurdest. Es war meine Verrücktheit, die in dich überging - der Sturzbach meiner Träume.« »Seit Jahren hab ich nicht mehr gut ge-geschlafen«, klagte Dagonet. »Lange hatte ich keine Zeit für meine Träume, und ich ließ sie dich für mich tragen. Das war ungerecht. Doch jetzt habe ich wieder Zeit, Dagonet. Mit einer Berührung kann ich sie von dir zurücknehmen. Mit einer Berührung kann ich dich wieder zu dem machen, der du vorher warst«, sagte Merlin und streckte die Hand zum Zwerg aus. Jähe Ernüchterung sprang in die Augen des Hofnarren. Er wich einen Schritt zurück. »Nein, Merlin. Du kannst den Trunk ablehnen, der dir angeboten wurde, und ich kann den Trunk ablehnen, der mir angeboten wird. Ich weiß, was ich vorher war, und weiß, was ich jetzt bin.« Die Andeutung eines schalkhaften Lächelns umspielte seine Lippen. »Ich leide nicht an Verrücktheit. Ich habe meinen Spaß daran.« Merlin zog die Hand zurück. »Ich erinnere mich, wie das war, was für ein Gefühl. Als ich meine Verrücktheit verlor, verlor ich auch einige meiner besten Freunde - meistens Baumstümpfe und Pilze und ... Loki.« Dagonet grinste. »Und nun sagst du Baumstümpfen und Spaßmachern und Loki Lebewohl.« »Auf die Baumstümpfe und Spaßmacher und mich!«, rief Loki und hob seinen Bierkrug. 341 Ector und Kay taten es ihm so eifrig nach, dass sie sich das Bier beinahe in die Gesichter schütteten. Die Vier tranken. Loki hatte die Hälfte des Bieres getrunken, das er für Merlin eingeschenkt hatte, bevor er plötzlich spie. Das Bier schoss wie ein Springbrunnen über seinen zurückgelegten Kopf in
die Luft und ging in Flammen auf. Im Nu verbrannte es zu öligem Rauch, der zur Balkendecke aufstieg. Alle machten große Augen, starrten Loki erschrocken an. Dann hatte Ector sich gefasst. Er nickte bedächtig. »Dieses würde ich niedriger einstufen.« Kay nickte. »Die Restwürze ist ein wenig scharf.« Dagonet sagte: »Reservieren wir es für sächsische Würdenträger.« In dem Gelächter, das darauf folgte, löste Merlin sich auf. An einem ganz anderen Ort kam er wieder zum Vorschein - dem prächtigen Thronsaal des Palastes. Unter einer vergoldeten Decke und zwischen Säulen roten Marmors tanzten der König und die Königin von Britannien. Obwohl es keine Musik gab, bewegten sie sich in vollkommenem Einklang, als hörten nur sie eine Tanzweise. Gekleidet in die prächtigen Staatsgewänder, glitten Artus und Guinevere wie schwerelos über den Marmorboden. Durch die hohen Fenster schien die Sonne auf sie nieder. Sie waren überwältigend. Ihre halblauten Worte erreichten Merlins Ohren. »Ich glaube, wir haben es beinahe«, sagte Artus. »Und ich glaube, wir hatten es schon vor einer Stunde«, erwiderte Guinevere. »Ich möchte, dass dieser Abend vollkommen wird«, sagte Artus. Sie lachte. »Wie könnte es anders sein? Wir sind zusammen -« Merlin räusperte sich und trat hinter einer Säule hervor. »Vergebt mir die Unterbrechung, mein König, meine Königin. Es ist Zeit, dass ich mich auf den Weg mache.« Die beiden hörten auf zu tanzen und kamen auf den zerlumpten Magier zu. Sie streckten die Arme aus. »Merlin ...« 342 Er kam ihnen langsam entgegen, erreichte sie und ließ sich auf ein Knie nieder. Er beugte den Kopf. »Mit eurer Erlaubnis gehe ich.« Sie nahmen ihn bei den Händen und hoben ihn auf die Beine. »Du hast meine Erlaubnis, Merlin«, sagte Artus traurig. »Du hast meine Erlaubnis und meinen Segen zu tun, was immer du wünschst. Ich verstehe sogar, warum du gehen musst. Wenn meine Arbeit getan wäre, würde ich mich mit Guinevere ebenfalls in eine Paradieshöhle zurückziehen. Ich kann es verstehen, aber ich kann nicht froh darüber sein, Großvater.« »Ich bin mehr dein Bruder«, sagte Merlin. »Wir sind zusammen aufgewachsen. Du bist König geworden, wie es deiner Herkunft und deinem Geschick entspricht.« »Und du bist ein Gott geworden, wie es deiner Herkunft und deinem Geschick entspricht.« »Es ist nur recht, dass wir unsere verschiedenen Königreiche separat regieren«, sagte Merlin. »Sei bedankt, Artus. Du machtest mich zu dem, was ich bin.« Der König lächelte. »Und du mich.« »Allzu leicht können wir zunichte gemacht werden, mein Junge«, sagte Merlin warnend. »Lass dich von flüchtigen Annehmlichkeiten und Freundlichkeiten nicht gegen Gefahren blind machen. Durch Kurzsichtigkeit kann alles verlorengehen.« Artus warf seiner Königin einen glücklichen Blick zu. »Wir Sterblichen haben so wenig Zeit, Merlin. Wir müssen sehen, was um uns herumliegt, oder wir sehen nichts.« »Gib Acht auf deiner Schwester Sohn«, erwiderte Merlin. »Ich werde nicht hier sein, dich vor ihm zu schützen.« »Aber ich werde hier sein«, sagte Guinevere. »Und das wird reichen.« Sie lächelte bekümmert. »Wir werden dich hier vermissen, Merlin.«
»Vielleicht werde ich zurückkehren, von Zeit zu Zeit. Und durch Nyneve werde ich in Verbindung mit diesem Land bleiben, das mit euch verbunden ist.« Merlin schenkte ihnen ein letztes 343 tapferes Lächeln; Tränen standen ihm in den Augen. »Nun denn, lebt wohl, meine Lieben.« König und Königin umfingen den alten Magier in einer festen Umarmung. Die Drei klammerten sich aneinander, wollten nicht loslassen. »Ich verlasse euch nicht gänzlich. Ich werde bleiben, wenn auch nur in euren Träumen.« Und dann war er fort. Artus und Guinevere standen da und umarmten nur einander. Die Paradieshöhle war weniger als einen Schritt entfernt. Merlin brauchte nicht länger auf den Ley-Linien zu reisen. Er versetzte sich mit einem Gedanken. Und sein nächster Gedanke führte ihn tief unter das Stonehenge, wo eine vollkommene Welt wartete. Der Himmel war von einem strahlenden Blau und die Sonne schien hell wie damals, als die Welt noch jung war. Hügel und Bäume und Berge lagen üppig grün in ewigem Frühling. Lebhaft strömten die Wasser. Doch an diesem Ort erwartete ihn mehr als eine vollkommene Welt. Auch eine vollkommene Gefährtin erwartete ihn. Nyneve schloss Merlin in die Arme - nicht den weißhaarigen alten Magier von Camelot, sondern einen jungen Mann, der gerade erst die Jugendzeit hinter sich gelassen hatte. »Ich dachte, du würdest nie hierher kommen. Mir ist, als hätte ich mein ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet.« Merlin hielt sie fest in den Armen. »Wirklich? Mir ist, als hätte mein Leben erst angefangen.« In der großen Halle des Palastes von Camelot, umgeben von sterblichen Freunden und unsterblichem Glanz, tanzten der König und die Königin. Niemand dachte an die düstere Vergangenheit oder eine ungewisse Zukunft. Es gab nur die fröhliche Musik, den vollkommenen Tanz und Artus und Guinevere. Endlich waren sie heimgekommen. 343
Epilog
Jeder scheint mich zu kennen. Jeder kennt Merlin. Nach fünfzehnhundert Jahren erinnern sie sich meiner. Ich bin natürlich erfreut. 343