Mary Stewart Merlin – Band 03
Merlins Abschied
. HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/5336 Titel der englischen Originalausgabe THE HOLLOW 10. Auflage Printed in Germany 1985 ISBN 3-453-00713-1
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HEYNE-BUCH Nr. 01/6395 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der englischen Originalausgabe THE LAST ENCHANTMENT 2. Auflage Genehmigte, ungekürzte Taschenbuchausgabe Copyright © 1979 by Mary Stewart Copyright © der deutschen Obersetzung 1982 by Albrecht Knaus Verlag, Hamburg Printed in Germany 1984 Umschlagfoto: Harry Bennett, New York Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-01949-0 INHALT Erstes Buch DUNPELDYR Seite 9 Zweites Buch CAMELOT Seite 197 Drittes Buch APPLEGARTH Seite 311 Viertes Buch BRYN MYRDDIN Seite 441 Die Sage Seite 567 Anmerkung Seite 571 Für den, der tot war und wieder lebt, der verloren war 2
und gefunden wurde. DIE PERSONEN Merlin zeitweise auch Myrddin Emrys genannt Maximus, Römischer von den Walisern auch Macsen genannt Kaiser Ambrosius | Uther Könige von Britannien Pendragon l Ygraine Frau Gorlois', des Herzogs von Cornwall, danach König Uthers Artus Sohn Uthers und Ygraines Morgan Tochter Uthers und Ygraines Guenever Artus' erste Frau Guinevere Artus' zweite Frau Morgause Uthers Tochter Mordred Artus' Sohn mit dessen Halbschwester Morgause Coel König von Rheghed Urbgen Coels Sohn, Morgans Mann Lot König von Lothian, Morgauses Mann Garwain „, Söhne Lots und Morgauses Gehens Gareth Tydval Lots Nachfolger Caw König von Strathclyde Heuil l Gwarthegydd [ Caws Söhne Güdas Melwas König von Summer Country 3
Eosa König der Westsachsen Cerdic Eosas Sohn Cynewulf Anführer der Westsachsen Bedwyr Sohn des Königs von Benoic Ban, Artus' Freund und Kampfgefährte Cei Artus' Ziehbruder Cador Herzog von Cornwall Graf Ector Herr von wild Forestt von Galava Drusilla Ectors Frau Derwen Baumeister der Festung Camelot Master Blaise Merlins Freund, Chronist Cajus Valerius Merlins Gefährte, Offizier im Heer des Hochkönigs Nimue Merlins Geliebte Pelleas Nimues Geliebter Accolon Morgans Liebhaber Ulfin König Artus' Leibdiener, Oberster Kämmerer Lind Morgauses Zofe Macha Mordreds Pflegemutter Beltane Goldschmied Casso Beltanes Sklave Ninian Beltanes Diener und Lehrling Ralf Jugendgefährte Merlins Stilicho Diener und Vertrauter Merlins, Sizilianer Mai Stilichos Frau Mora Merlins Dienerin Varro Gärtner in Applegarth Perseus ein Kurier König Artus' Ferner Ritter, Knappen, Hirten, Fischer, 4
Gastwirte, Räuber und Wegelagerer
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ERSTES BUCH
DUNPELDYR l Nicht jeder König würde seine Regentschaft mit dem Massenmord an Kindern beginnen. Aber solche Gerüchte gibt es über Artus, auch wenn man ihn für das Vorbild eines edlen Herrschers und den Beschützer von Hoch und Niedrig hält. Es ist schwerer, ein Gerücht unschädlich zu machen als eine lauthals hinausgeschriene Verleumdung. Außerdem gilt Artus in der Vorstellung einfacher Menschen als für alles verantwortlich, was in seinem Reich geschieht, ob gut oder böse - vom strahlenden Sieg auf dem Schlachtfeld bis zum schweren Unwetter oder bis zur Unfruchtbarkeit ihrer Herden; denn für sie ist der Hochkönig unbeschränkter Herrscher über ihr Leben und über ihr Schicksal. Obwohl eine Hexe das Massaker plante und ein anderer König den Befehl dazu gab und obwohl ich selbst versuchte, die Schuld auf mich zu nehmen, hält sich noch immer das Gerücht, daß Artus, der Hochkönig, im ersten Jahr seiner Herrschaft durch seine Truppen eine Vielzahl Neugeborener ausfindig machen und töten ließ, weil er hoffte, durch diese Bluttat einen einzigen neugeborenen Knaben zu beseitigen, der aus der blutschänderischen Verbindung mit seiner Halbschwester Morgause hervorgegangen war. Ich habe das Wort «Verleumdung» gebraucht und würde gern öffentlich erklären, daß diese Geschichte eine Lüge ist. Aber ganz so ist es nicht. Es ist zwar eine Lüge, daß er das Gemetzel angeordnet habe; aber seine Sünde war der Anlaß dazu. Und wenn es ihm auch nie in den Sinn gekommen wäre, unschuldige Kinder umzubringen, so wünschte er dennoch den Tod seines eigenen Kindes herbei. Es ist also nur gerecht, daß er einen Teil der Schuld selber tragen muß; auch ist es gerecht, daß mir etwas davon anhaftet; denn ich, Merlin, der ich in dem Ruf stehe, ein Mann von Einfluß und Weitblick zu sein, hatte tatenlos zugesehen, während das gefährliche Kind gezeugt wurde und Friede und Freiheit, die Artus für sein Volk gewinnen konnte, jenen tragischen Anklang erhielten. Ich kann die 6
Schuld auf mich nehmen, denn ich bin jetzt dem Urteilsspruch der Menschen entzogen, aber Artus ist noch jung genug, um den Stachel der Geschichte zu spüren und von Bußgedanken gequält zu werden; und als es geschah, war er noch jünger und stand siegreich in der ersten Blüte seines Königtums - getragen von der Liebe der Menschen, dem Beifall der Soldaten und dem Geheimnis, welches das Heben des Schwerts aus dem Stein umgab. Das geschah so. König Uther Pendragon lag mit seiner Armee bei Luguvallium im nördlichen Königreich von Rhe-ged, wo er einen gewaltigen Angriff der Sachsen unter den Brüdern Colgrim und Badulf, den Enkeln von Hengist, erwartete. Der junge Artus, kaum dem Knabenalter entwachsen, wurde auf dieses, sein erstes Schlachtfeld, von seinem Pflegevater Graf Ector von Galava gebracht, der ihn dem König vorstellte. Man hatte Artus über seine königliche Geburt und Abstammung in Unkenntnis gelassen, und Uther hatte ihn, obwohl er sich über das Heranwachsen des Knaben und dessen Fortschritte ständig unterrichten ließ, seit dessen Geburt nicht mehr gesehen. Und zwar deshalb, weil in der wilden Liebesnacht, als Uther der Ygraine, der damaligen Frau von Gorlois, Herzog von Cornwall und Uthers getreuestem Truppenführer, beigelegen hatte, der alte Herzog selbst ums Leben gekommen war. Obwohl Uther keine Schuld an seinem Tod traf, lastete das Ereignis so schwer auf dem König, daß dieser schwor, niemals einen Anspruch auf sein eigenes Kind zu erheben, das aus der sündigen Liebe jener Nacht hervorgehen sollte. Zu gegebener Zeit wurde mir Artus zur Erziehung übergeben, und ich hatte ihn aufgezogen, weit entfernt von König und Königin. Aber beiden wurde kein neuer Sohn geboren, und schließlich fühlte sich König Uther gezwungen, der seit einiger Zeit kränkelte und die Gefahr kannte, die nach wie vor von den anstürmenden Sachsen ausging, den Knaben herbeiholen zu lassen, um ihn vor aller Welt als seinen Erben anzuerkennen und ihn den versammelten Rittern und Kleinkönigen vorzustellen. Aber bevor er dies tun konnte, griffen die Sachsen an. Obwohl Uther zu krank war, um hoch zu Roß an der Spitze seiner Truppen in den Kampf zu reiten, ließ er sich auf einer Tragbahre in die Schlacht 7
mitnehmen; Cador, Herzog von Cornwall, befehligte den rechten Flügel, und links standen König Coel von Rheged, Caw von Strathclyde und andere Führer aus dem Norden. Nur Lot, König von Lothian und Orkney, erschien nicht auf dem Kampfplatz. König Lot, ein mächtiger König, aber ein zweifelhafter Verbündeter, hielt seine Männer zurück in der Absicht, sie erst dann einzusetzen, wenn sich die Notwendigkeit ergeben sollte. Es wurde behauptet, daß er seine Mannen absichtlich und in der Hoffnung zurückgehalten habe, daß Uthers Heer vernichtet würde und er dann das Königreich übernehmen könnte. Wenn dies so gewesen sein sollte, schlugen seine Hoffnungen jedenfalls fehl. Als bei der Tragbahre des Königs im Zentrum des Schlachtfeldes in dem Getümmel das Schwert des jungen Artus in dessen Hand entzweibrach, warf ihm König Uther sein eigenes Königsschwert zu und übergab ihm damit (nach dem Verständnis der Männer) die Führung des Königreiches. Danach legte er sich auf seiner Bahre zurück und beobachtete den Knaben, der wie in einem wilden Siegestaumel eine Attacke anführte, die den Sachsen den Garaus machte. Später, beim Siegesmahl, stand Lot an der Spitze einer Gruppe aufsässiger Lords, die sich Uther in der Wahl des Erben widersetzten. Auf dem Höhepunkt des stürmischen Festmahls starb König Uther und ließ den Knaben zurück, der nur mich an seiner Seite hatte, um den anderen die Stirn zu bieten und sie für sich zu gewinnen. Was dann geschah, ist in vielen Gesängen beschrieben worden. Hier brauche ich nur zu sagen, daß sich Artus durch sein königliches Gebaren und das ihm vom Gott gesandte Zeichen als unangefochtener König erwies. Aber die Saat des Bösen war bereits gesät. Am Vortag, als er sich seiner wahren Abstammung noch nicht bewußt war, hatte Artus Morgause, die uneheliche Tochter Uthers und seine eigene Halbschwester, kennengelernt. Sie war liebreizend, und er war jung und von seinem ersten Sieg wie berauscht; deshalb ritt er, als sie ihre Zofe zu ihm schickte, in jener Nacht zu ihr und hatte keinen anderen Gedanken als die Freuden, die ihm eine solche Nacht bereiten 8
könnten, um sein heißes, junges Blut zu kühlen und den Verlust seiner Jungfernschaft herbeizuführen. Sie hatte - dessen möget Ihr sicher sein - die ihrige schon lange vorher verloren. Auch in anderer Hinsicht war sie kein Unschuldslamm. Sie wußte, wer Artus war, und sündigte bewußt mit ihm, weil sie nach Macht strebte. Auf eine Heirat konnte sie natürlich nicht hoffen, aber ein in Blutschande geborener Bastard konnte eine mächtige Waffe in ihrer Hand sein, wenn der alte König, ihr Vater, starb und der neue junge König den Thron bestieg. Als Artus merkte, was er getan hatte, hätte er sich ohne mein Dazwischentreten noch mehr versündigt, indem er sie hätte töten lassen. Ich verbannte sie vom Hof und brachte sie auf den Weg nach York, wo Uthers eheliche Tochter Morgan mit ihrem Gefolge wohnte und die Eheschließung mit dem König von Lothian erwartete. Morgause, die wie alle anderen in jenen Tagen Angst vor mir hatte, gehorchte mir und fuhr davon, um ihre weiblichen Reize anderenorts einzusetzen und ihren Bastard in der Verbannung zu erziehen. Solches tat sie, wie Ihr hören werdet, auf Kosten ihrer Schwester Morgan. Aber davon später. Jetzt ist es besser, zu dem Zeitpunkt zurückzukehren, als sich Morgause bereits auf dem Weg nach York befand und Artus Pendragon beim Anbruch eines neuen, vielverheißenden Tages in Luguvallium im Königreich Rheged saß, um die Huldigungen entgegenzunehmen. Die Sonne schien. Ich war nicht dort. Ich hatte ihm bereits in der Mondnacht vor Sonnenaufgang den Treueid geleistet, in dem Waldheiligtum, wo Artus das Schwert des Maximus vom Steinaltar gehoben hatte und sich durch diesen Akt zum rechtmäßigen König erklärt hatte. Danach, als er mit den anderen Prinzen und Rittern im Triumphzug davongeritten war, hatte ich mich dort noch eine Weile allein aufgehalten. Ich hatte vor den Göttern noch eine Schuld zu begleichen. Man nannte das Heiligtum jetzt Kapelle - die «gefahrbringende Kapelle», wie Artus sie nannte-, aber sie war schon ein heiliger Ort gewesen, lange bevor Menschen Stein auf Stein gelegt und den Altar erbaut hatten. Der Ort war zuerst den Göttern der Erde geweiht, den 9
kleineren Geistern, die Berg und Strom und Wald bevölkerten, zusammen mit den größeren Göttern der Luft, deren Macht die Wolken und den Frost und das Wehen des Windes durchdringt. Niemand wußte, für wen die Kapelle ursprünglich gebaut war. Mit den Römern war später Mithras, der Soldatengott, gekommen, und für ihn war im Innern ein Altar errichtet worden. Aber in dem Heiligtum lebte noch der uralte Glaube weiter; den älteren Göttern wurden weiterhin Opfer dargebracht, und die neunfachen Lampen brannten noch immer ungelöscht neben dem offenen Tor. Während all der Jahre, die Artus zu seiner eigenen Sicherheit bei Graf Ector im Wild Forest verbrachte, war ich in seiner Nähe geblieben. Man kannte mich nur als den Hüter des Schreins, als Einsiedler der Kapelle im Wald. Hier hatte ich schließlich das prachtvolle Schwert des Maximus (der von den Walisern Macsen genannt wurde) versteckt, bis der Knabe herangewachsen sein würde, um es ziehen und mit seiner Hilfe die Feinde des Königreiches vertreiben und vernichten zu können. Kaiser Maximus hatte dasselbe hundert Jahre zuvor getan, und in den Augen der Bevölkerung galt das Schwert jetzt als Talisman, als ein gottgesandtes Zauberschwert, das den Sieg brachte und nur von dem Mann geführt werden durfte, der das Recht dazu besaß. Ich, Merlinus Ambrosius, vom Stamme des Macsen, hatte es aus seinem Versteck in der Erde gehoben und für denjenigen, der kommen sollte und größer sein würde als ich, aufbewahrt. Ich verbarg es zunächst in einer überfluteten Höhle unterhalb des Waldsees und dann zuletzt auf dem Altar der Kapelle; ich ließ es wie ein Relief in den Stein ein und verhüllte es vor dem Blick und der Berührung durch das einfache Volk in dem kalten, weißen Feuer, das ich durch meine Kunst vom Himmel herabgerufen hatte. Aus dieser unterirdischen Glut hatte Artus zum ehrfürchtigen Staunen und Entsetzen aller Anwesenden das Schwert herausgehoben. Später, als der neue König und seine edlen Heerführer die Kapelle verlassen hatten, konnte man sehen, daß die unbändige Ausstrahlung des neuen Gottes den Ort von allem gereinigt hatte, das früher einmal 10
als geheiligt gegolten hatte; unberührt blieb nur der Altar, der für ihn allein von neuem geschmückt werden mußte. Ich hatte seit langem gewußt, daß dieser Gott keine Götter neben sich duldete. Er war nicht mein Gott, auch würde er (wie ich vermutete) niemals Artus' Gott sein, aber er zog durch alle Gegenden Britanniens, leerte die uralten Schreine und veränderte das Antlitz der Gottes Verehrung. Ich hatte mit Ehrfurcht, aber auch mit Betrübnis gesehen, wie sein Feuer die Zeichen einer älteren Art von Heiligung ausgelöscht hatte; aber er hatte die gefahrbringende Kapelle - und vielleicht auch das Schwert - unleugbar als sein Eigentum bezeichnet. So arbeitete ich jenen ganzen Tag hindurch, um den Schrein für seinen neuen Bewohner sauber und wohnlich zu machen; ich brauchte lange dazu; ich war noch steif von jüngst empfangenen Wunden und einer schlaflosen Nachtwache; außerdem gibt es Dinge, die mit Anstand und ordnungsgemäß erledigt werden müssen. Aber schließlich war alles getan, und als kurz vor Sonnenuntergang der Hüter des Heiligtums aus der Stadt zurückkehrte, bestieg ich das Pferd, das er mitgebracht hatte, und ritt durch die stillen Wälder hinab. *** Es war spät geworden, als ich vor dem Tor ankam; es stand offen, und niemand hielt mich auf, als1 ich hineinritt. Es herrschte noch immer ein wilder Festestrubel; der Himmel leuchtete im Widerschein der Freudenfeuer, die Luft war voller Gesang, und durch den Rauch hindurch konnte man das Bratenfleisch und den Duft des Weines riechen. Nicht einmal die Gegenwart des toten Königs, der dort in der Klosterkirche, von Wachen umgeben, lag, konnte die Zungen der Menschen zügeln. Die Zeiten waren zu voll von großen Ereignissen, die Stadt zu klein: nur die ganz Alten und die ganz Jungen fanden Schlaf in jener Nacht. Ich fand gewißlich keinen. Es war längst nach Mitternacht, als mein Diener hereinkam und nach ihm Ralf. Er zog unter dem Türstock den Kopf ein - denn er war ein hochgewachsener junger Mann - und wartete, bis die Tür wieder geschlossen war; er betrachtete mich mit einem Blick, als sei er 11
ebenso auf der Hut wie früher, als er mein Page gewesen war und meine übersinnlichen Kräfte gefürchtet hatte: «Ihr seid noch auf?» «Wie du siehst.» Ich saß auf dem Lehnstuhl neben dem Fenster. Der Diener hatte ein Kohlenbecken hereingebracht und die Glut gegen die Kühle der Septembernacht entfacht. Ich hatte gebadet und meine Verletzungen gepflegt. Dann hatte ich mir von dem Diener ein loses Bettgewand umlegen lassen, bevor ich ihn entließ und mich zur Ruhe begab. Nach all dem Feuer und den Schmerzen und der Glorie, die Artus auf den Königsthron gehoben hatten, spürte ich - der ich mein ganzes Leben nur auf diesen einen Augenblick gewartet hatte - das Bedürfnis, Alleinsein und Stille genießen zu können. An Schlaf war zwar noch nicht zu denken, aber ich konnte wenigstens gelassen und entspannt dasitzen und den Blick auf das sanfte Glühen des Kohlebeckens gerichtet halten. Ralf, der noch denselben Kriegsschmuck trug, den ich an ihm an jenem Vormittag an Artus' Seite in der Kapelle gesehen hatte, wirkte zwar müde und hohlwangig, aber er war noch jung, und der Höhepunkt dieser Nacht bedeutete für ihn einen neuen Anfang, kein Ende. Er sagte unvermittelt: «Ihr solltet ruhen. Ich nehme an, daß Ihr gestern abend auf dem Weg zur Kapelle überfallen wurdet. Wie schwer wurdet Ihr verletzt?» «Nicht lebensgefährlich, obwohl es sich schlimm genug anfühlt! Nein, nein, mach dir keine Sorgen, es waren eher Abschürfungen als Wunden, und ich habe sie behandelt. Aber ich fürchte, daß ich dein Pferd zum Lahmen gebracht habe. Das tut mir leid.» «Ich habe das Tier gesehen. Es ist keine schwere Verletzung. Es wird eine Woche dauern, nicht länger. Aber Ihr -Ihr seht erschöpft aus, Merlin. Man sollte Euch eine gewisse Zeit der Ruhe gewähren.» «Habe ich sie denn nicht?» Und als er zu zögern schien, sah ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Los, komm heraus damit. Was willst du mir nicht sagen?» Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, aber sein plötzlich förmlich gewordener Tonfall war völlig ausdruckslos. 12
Es war die Stimme eines Höflings, der nicht ganz sicher ist, wohin wie man sagt - der Hase laufen wird. «Prinz Merlin, der König hat geruht, Euch in seine Gemächer zu rufen. Er will Euch sehen, sobald es Euch genehm ist.» Während er sprach, ruhte sein Auge auf der Tür in der Wand gegenüber dem Fenster. Bis gestern abend hatte Artus in diesem Nebenraum meines Gemaches geschlafen und war auf einen Wink von mir gekommen und gegangen. Ralf traf meinen Blick, und das Lächeln wurde noch breiter. «Mit anderen Worten, unverzüglich», sagte er. «Ich be-daure, Merlin, aber so lautet die Botschaft, wie sie mir durch den Kammerherrn überbracht wurde. Man hätte bis morgen früh warten können. Ich nahm an, Ihr schliefet.» «Du bedauerst? Was denn? Könige müssen irgendwo beginnen. Hat er sich denn selbst schon ausgeruht?» «Keine Spur. Aber er ist wenigstens die vielen Menschen losgeworden, und man hat die Königsgemächer gereinigt, während wir oben bei dem Heiligtum waren. Dort ist er jetzt.» «Ist jemand bei ihm?» ( «NurBedwyr.» Dies bedeutete, wie ich wußte, daß außer seinem Freund Bedwyr noch eine große Zahl von Kämmerern und Dienern anwesend war und womöglich sogar noch ein paar Leute in den Vorzimmern auf ihn warteten. «Dann bitte ihn, mich noch einige Minuten zu entschuldigen. Ich werde da sein, sobald ich angekleidet bin. Willst du mir bitte Lleu herschicken?» Aber so wollte Ralf es nicht haben. Der Diener wurde mit der Botschaft entsandt, und dann half mir Ralf selbst, wie er es in der Vergangenheit stets getan hatte, als er noch ein Knabe gewesen war. Er nahm mir das Bettgewand ab, faltete es zusammen und half mir dann, besorgt um meine steifen Glieder, in die Tagesrobe; dann kniete er nieder, um mir die Sandalen anzulegen und diese zu verschnüren. «Ist der Tag gut verlaufen?» fragte ich ihn. 13
«Sehr gut. Kein Schatten hat ihn getrübt.» «Und Lot von Lothian?» Er blickte auf und verzog belustigt das Gesicht. «Er blieb auf dem ihm gebührenden Platz. Das Ereignis in der Kapelle hat seine Wirkung bei ihm nicht verfehlt... So wie bei uns allen.» Er flüsterte den letzten Satz mehr zu sich selbst, während er den Kopf neigte, um die zweite Sandale festzuschnallen. «Auch bei mir nicht, Ralf», sagte ich. «Ich bin auch nicht immun gegen das Feuer Gottes, wie du siehst. Wie geht es Artus?» «Er schwebt noch in den Wolken.» Diesmal hatte die Belustigung einen liebevollen Unterton. Er erhob sich wieder. «Trotzdem macht er sich, glaube ich, bereits auf stürmische Zeiten gefaßt. So, und jetzt Euren Gürtel. Ist dies der richtige?» «Das genügt schon. Vielen Dank. Stürmische Zeiten? So bald schon? Mag sein.» Ich nahm ihm den Gürtel ab und legte ihn mir an. «Willst du bei ihm bleiben, Ralf, und ihm helfen, die Stürme zu bestehen, oder hältst du deine Pflicht für erfüllt?» Ralf hatte die letzten neun Jahre in Galava im Königreich Rheged zugebracht, jenem entlegenen Winkel des Landes, wo Artus unerkannt als Mündel des Grafen Ector gelebt hatte. Dort hatte er ein Mädchen aus dem Norden geheiratet und eine Familie gegründet. «Offengestanden habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht», sagte er. «Zu viel ist geschehen und alles so rasch.» Er lachte. «Aber eines weiß ich: Falls ich bei ihm bleibe, werde ich mit Sehnsucht auf die friedlichen Tage zurückblicken, da ich nichts anderes zu tun hatte, als auf diese beiden jungen Teu- ich will sagen, auf Bedwyr und den König aufzupassen! Und Ihr? Ihr werdet doch sicherlich nicht als der Einsiedler der Waldkapelle hierbleiben? Werdet Ihr aus Eurer Festung heraustreten und mit ihm gehen?» «Ich muß. Ich habe es versprochen. Außerdem gehöre ich zu ihm. Es ist zwar nicht unbedingt aueh dein Platz, es sei denn, du hast den Wunsch. Wir beide haben ihn zum König gemacht, und damit ist das erste Kapitel abgeschlossen. Du mußt dich jetzt entscheiden. Aber mit deinem Entschluß kannst du dir viel Zeit lassen.» Er öffnete mir die 14
Tür und trat beiseite, um mich durchgehen zu lassen. Ich blieb einen Augenblick stehen. „Wir haben einen starken Wind heraufbeschworen, Ralf. Laß uns abwarten, wohin er uns wehen wird.» «Würdet Ihr Euch dreinfinden?» Ich lachte. «Mein zweites Ich sagt mir, daß mir vielleicht keine andere Wahl bleibt. Komm, fangen wir damit an, daß wir seinem j etzigen Rufe folgen.» *** Im Vorraum zu den Gemächern des Königs befanden sich noch einige Leute, aber es waren hauptsächlich Bedienstete, die damit beschäftigt waren, die Überreste eines Mahles, das der König offenbar gerade zu sich genommen hatte, wegzuräumen. Wachen standen mit ausdruckslosem Gesicht an der Tür, die zu den Innenräumen führte. Auf einer niedrigen Bank neben dem Fenster lag ein junger Page; er schlief fest. Ich erinnerte mich, ihn gesehen zu haben, als ich drei Tage zuvor an dieser Stelle vorbeigekommen war, um mit dem sterbenden Uther zu sprechen. Ulf in, Leibdiener und Oberster Kämmerer des Königs, war nicht zu sehen. Ich konnte mir denken, wo er sich befand. Er würde dem neuen König mit derselben Hingabe dienen, die er Uther entgegengebracht hatte, aber heute abend war er gewiß bei seinem alten Herrn in der Klosterkirche. Der Mann, der neben Artus' Tür wartete, war mir nicht bekannt, ebenso wie die Hälfte der Dienerschaft. Es waren Männer und Frauen, die gewöhnlich den König von Rheged in dessen Burg bedienten und jetzt wegen der zusätzlichen Arbeit und der Anwesenheit des Hochkönigs zur Aushilfe hier waren. Aber alle kannten mich. Als ich das Vorzimmer betrat, verstummte plötzlich jedes Gespräch, und alle Bewegungen erstarrten, als ob sich ein Zauberbann über den Raum gelegt hätte. Ein Diener, der auf dem Unterarm mehrere Tabletts balancierte, erschrak, als habe er ein Gorgonenhaupt erblickt, und die Gesichter der anderen, die sich mir zuwandten, waren ebenso erschrocken, bleich und offenen Mundes, ehrfürchtig schweigend. Ich traf Ralfs Blick; er sah mich spöttisch, aber liebevoll an. Seine Augenbrauen zuckten. Seht Ihr? schien er mir 15
sagen zu wollen, und ich verstand jetzt noch besser sein Zögern, als er mit der Botschaft des Königs mein Zimmer betreten hatte. Als mein Diener und Gefährte hatte er mir in der Vergangenheit nahegestanden und war häufig Zeuge meiner Zauberkräfte gewesen; aber die Kraft, die in der letzten Nacht durch die Kapelle wie eine Feuersbrunst gezogen war, hatte etwas ganz anderes an sich. Ich konnte mir die Geschichten vorstellen, die sich durch Luguvallium wie ein Lauffeuer verbreitet haben mußten. Das niedere Volk hatte bestimmt den ganzen Tag über von nichts anderem geredet. Und je weitere Kreise die Geschichte zog, desto mehr würde sie an Gewicht gewinnen. So standen sie da und starrten mich an. Und was die ehrfürchtige Scheu betrifft, die wie eine Eisschicht in der Luft lag ähnlich wie der kalte Lufthauch, der ein Gespenst ankündigt -, so war ich an sie gewöhnt. Ich schritt durch die regungslose Menge zur Tür des Königs, und die Wache trat wortlos zur Seite, aber bevor mich der Kämmerer einlassen konnte, wurde die Tür von innen geöffnet, und Bedwyr kam heraus. Bedwyr war ein stiller, dunkelhaariger junger Mann, ein oder zwei Monate jünger als Artus. Sein Vater war Ban, der König von Benoic und Vetter des Königs der Bretagne. Die beiden jungen Leute waren eng miteinander befreundet seit ihrer Kindheit, als Bedwyr nach Galava geschickt worden war, um von Ectors Waffenmeister das Kriegshandwerk zu lernen und an dem Unterricht teilzunehmen, den ich «Emrys» (wie Artus damals genannt wurde) am Schrein im Wild Forest erteilte. Er ließ schon damals in seinem Wesen jene seltsamen Widersprüche erkennen - er, ein geborener Kämpfer, der gleichzeitig auch Dichter ist, und sich als ein Mann der Tat in der Welt der Phantasie und Musik ebenso zu Hause fühlt. Ein echter Kelte, könnte man sagen, während Artus, wie mein Vater, der Hochkönig Ambrosius, römischer Abkunft war. Ich hatte eigentlich erwartet, auf Bed-wyrs Gesicht, ausgelöst durch die Ereignisse jener wundersamen Nacht, denselben Ausdruck ehrfürchtiger Scheu zu sehen wie auf den Gesichtern des hier versammelten niederen Volks, aber ich konnte nur den Ausklang der Freude, eine Art glücklicher Zufriedenheit und festes Vertrauen in die Zukunft entdecken. 16
Er trat beiseite, um mich vorbeigehen zu lassen, und sagte lächelnd: «Er ist jetzt allein.» «Wo wirst du schlafen?» «Mein Vater wohnt im Westturm.» «Dann gute Nacht, Bedwyr.» Aber als ich mich anschickte, an ihm vorbeizugehen, hielt er mich auf. Er beugte sich rasch hinab und ergriff meine Hand; dann riß er sie an sich und küßte sie. «Ich hätte wissen müssen, daß Ihr alles zu einem guten Ende bringen würdet. Einige Minuten fürchtete ich mich dort in der Halle, als Lot und seine Helfershelfer ihm in den Rücken zu fallen drohten -» «Pst», sagte ich. Er hatte zwar leise gesprochen, aber wir waren nicht allein. «Das ist vorläufig vorbei. Laß es gut sein und geh jetzt gleich zu deinem Vater in den Westturm. Hast du verstanden?» Die dunklen Augen funkelten. «König Lot bewohnt, wie ich höre, den Ostturm?» «So ist es.» «Seid unbesorgt. Ich habe bereits dieselbe Warnung von Emrys erhalten. Gute Nacht, Merlin.» «Gute Nacht. Und uns allen einen ruhigen Schlaf. Wir haben ihn nötig.» Er grinste, deutete halb eine Ehrenbezeigung an und ging. Ich nickte dem wartenden Bediensteten zu und trat ein. Die Tür wurde hinter mir wieder geschlossen. Aus den königlichen Gemächern waren alle Gerätschaften, die an das Siechtum erinnerten, entfernt und das große Bett von seinen roten Bezügen befreit worden. Die Bodenfliesen waren frisch geschrubbt und poliert, und über dem Bett lagen neue, ungebleichte Laken, sowie ein Teppich aus Wolfsfellen. Der Sessel mit dem roten Kissen und dem auf der Rückenlehne in Gold dargestellten Drachen war noch da, ebenso die Fußstütze und die hohe, dreifüßige Lampe daneben. Die Fenster standen offen, und die kühle Nachtluft brachte das Lampenfeuer zum Flackern, wodurch seltsame Schattenspiele an den bemalten Wänden entstanden. 17
Artus war allein. Er befand sich drüben bei einem Fenster, hatte das Knie auf einen dort stehenden Hocker gestützt und die Ellbogen auf das Fenstersims gelegt. Das Fenster ging nicht auf die Ortschaft, sondern auf den Teil des Gartens hinaus, der an den Fluß grenzt. Er schaute in die Dunkelheit hinaus, und mir war, als könnte ich ihn in tiefen Zügen die frische und bewegte Luft wie aus einem anderen Fluß trinken sehen. Seine Haare schienen feucht, als ob er sie gerade gewaschen hätte, aber er trug noch das Gewand, das er während der heutigen Feierlichkeiten angehabt hatte: Weiß und silber, mit einem Gürtel aus Waliser Gold, der mit Türkisen besetzt war und eine Schnalle aus Emaille besaß. Er hatte den Schwertgurt abgelegt, und das berühmte Schwert Caliburn hing in seiner Scheide an der Wand hinter dem Bett. Im Lampenlicht funkelte der mit Smaragden, Topasen und Saphiren besetzte Griff. Es blitzte auch der Ring an der Hand des jungen Mannes; es war Uthers Ring, in den das Drachenwappen eingeschnitten war. Er hörte mich und wandte sich um. Er wirkte geläutert und leicht, als ob die Winde des Tages durch ihn hindurchgeweht wären und ihn schwerelos gemacht hätten. Auf seiner Haut lag die gespannte Blässe der Erschöpfung, aber seine Augen strahlten und waren voller Leben. Ihn umgab bereits ganz unverkennbar jenes Geheimnisvolle, das sich wie ein Mantel um den König legt. Es zeigte sich in seinem hoheitsvollen Blick und dem Wenden des Kopfes. Nie wieder würde «Emrys» imstande sein, sich im Schatten zu verstecken. Ich fragte mich von neuem, wie es uns in all den Jahren der Verborgenheit gelungen war, seine Sicherheit zu gewährleisten und seine Existenz vor dem einfachen Volk geheimzuhalten. «Du hast mit mir sprechen wollen», sagte ich. «Ich habe dich den ganzen Tag vermißt. Du hast versprochen, in meiner Nähe zu sein, während ich all dies über mich ergehen lassen und in die Gestalt des Königs schlüpfen mußte. Wo warst du?» «Jederzeit erreichbar, sogar in Reichweite. Ich war am Schrein - in der Kapelle - bis kurz vor Sonnenuntergang. Ich dachte, du hättest viel zu tun.» 18
Er lachte kurz auf. «So nennst du das? Ich hatte das Gefühl, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. Oder vielleicht, geboren zu werden ... es war eine schwere Geburt. Ich sagte
, nicht wahr? Sich plötzlich als Prinz wiederzufinden, ist schon schwer genug, aber von der Königswürde unterscheidet es sich wie das Ei von einem Tagesküken.» «Mach wenigstens ein Adlerjunges daraus.» «Zu gegebener Zeit - vielleicht. Darin liegt ja gerade die Schwierigkeit. Zeit - alles ist zu schnell vergangen. Erst ein Niemand der nicht anerkannte Bastard von irgend jemandem-, und ich war noch froh, wenn ich die Gelegenheit erhielt, wenigstens auf Rufentfernung an ein Schlachtfeld heranzukommen und dabei vielleicht einen flüchtigen Blick des Königs zu erhäschen; im nächsten Augenblick nachdem ich nur ganz kurz als Prinz und Thronerbe gegolten hatte wurde ich selbst zum Hochkönig gemacht, und zwar mit einem solchen Pomp, wie er bestimmt noch keinem König vor mir zuteil geworden1 ist. Ich habe immer noch das Gefühl, als wäre ich aus der knieenden Stellung ganz unten auf dem Boden mit Fußtritten die Stufen zum Thron hinaufbefördert worden.» Ich lächelte. «Ich weiß, wie dir zumute ist, mehr oder weniger. Ich bin nie auch nur halbwegs so hoch hinaufgehoben worden, aber schließlich lag mein Ausgangspunkt auch viel tiefer. Kannst du dich jetzt wenigstens so weit beruhigen, um ein wenig zu schlafen? Der morgige Tag steht schon vor der Tür. Möchtest du einen Schlaftrunk haben?» «Nein, nein, habe ich je einen genommen? Ich werde einschlafen, sobald du gegangen bist, Merlin. Es tut mir leid, dich zu einer so späten Stunde noch zu mir gebeten zu haben, aber ich mußte mit dir sprechen, und bis jetzt gab es keine Gelegenheit dazu. Auch morgen wird es keine geben.» Er trat beim Sprechen vom Fenster zurück und ging zu einem Tisch, wo Papiere und Schreibtafeln lagen. Er nahm einen Griffel in die Hand und glättete mit dem stumpfen Ende das Wachs. Er tat es geistesabwesend; er hielt den Kopf dabei so geneigt, daß ihm die schwarzen Haare nach vorn ins Gesicht fielen, und der Lampenschein 19
glitt über seine Wange und berührte die schwarzen Wimpern, die die gesenkten Lider umrandeten. Mein Blick verschwamm. Die Zeit lief zurück. Es war Ambrosius, mein Vater, der dort stand, sich mit dem Griffel zu schaffen machte und zu mir sprach: «Hätte ein König dich an seiner Seite, könnte er die Welt beherrschen ...» Sein Traum hatte sich also schließlich erfüllt, und die Zeit war reif. Ich schob die Erinnerung beiseite und wartete auf die Worte, die der junge König mir sagen wollte. «Ich habe nachgedacht», erklärte dieser unvermittelt. «Die sächsische Armee ist nicht völlig vernichtet, und ich habe bis jetzt keine zuverlässigen Meldungen über Colgrim oder Badulf erhalten. Ich glaube, beide haben sich in Sicherheit bringen können. Vielleicht erfahren wir in den nächsten Tagen, daß sie sich eingeschifft haben und abgefahren sind, entweder nach Hause über das Meer oder zurück in das Land der Sachsen im Süden. Oder sie haben vielleicht Zuflucht in den unzugänglichen Gebieten nördlich des großen Walles gesucht und hoffen, neue Kräfte zu sammeln.» Er blickte auf. «Ich brauche dir nichts vorzumachen, Merlin. Ich bin kein erfahrener Kriegsmann, und ich kann nicht beurteilen, wie entscheidend diese Niederlage war oder welche Chancen die Sachsen haben, sich von ihrem Rückschlag zu erholen. Ich habe natürlich Rat gesucht. Ich habe bei Sonnenuntergang den Kronrat einberufen, als die anderen Geschäfte erledigt waren. Ich schickte nach . . . das heißt, ich hätte dich auch gerne dabeigehabt, aber du warst noch oben in der Kapelle. Auch Coel konnte nicht teilnehmen ... Du weißt sicher, daß er verwundet wurde; hast du ihn selbst gesehen? Wie stehen seine Chancen?» «Schlecht. Er ist ein alter Mann, und er ist schwer verwundet. Er hat zuviel Blut verloren, bevor ihm geholfen werden konnte.» «Das habe ich befürchtet. Ich wollte ihn aufsuchen, mir wurde aber gesagt, er sei ohne Bewußtsein, und man befürchte eine Lungenentzündung. . . Gut, Prinz Urbgen, sein Erbe, kam an seiner Statt, mit Cador und Caw von Strathcly-de. Auch Ector und Ban von Benoic waren da. Ich besprach die Sache mit ihnen, und alle sagten dasselbe: Jemand müsse Colgrim auf den Fersen bleiben. Caw muß so schnell wie möglich in den Norden zurückkehren; er muß seine eigene 20
Grenze bewachen. Urbgen muß hier in Rheged bei seinem Vater, dem König bleiben, da dieser dem Tode nahe ist. Deshalb kamen nur Lot oder Cador in Frage. Lot scheidet aus - du bist doch auch dieser Meinung? Trotz seines in der Kapelle geleisteten Treueids traue ich ihm noch nicht; vor allem nicht, wenn Colgrim in der Nähe ist.» «Ich stimme dir zu. Du wirst also Cador entsenden? Über ihn bist du gewiß nicht mehr im Zweifel?» Cador, Herzog von Cornwall, schien in der Tat der geeignete Mann. Er stand in der Blüte seiner Jahre, war ein erfahrener Krieger, und loyal. Ich hatte ihn einmal fälschlicherweise für Artus' Feind gehalten, und er hätte auch Grund dazu gehabt; aber Cador besaß gesunden Menschenverstand, er war klug, weitsichtig und war imstande, trotz seines Hasses auf Uther die Einigung Britanniens gegen die Überfälle der Sachsen klar vor sich zu sehen. Deshalb hatte er Artus unterstützt. Und Artus hatte in der Kapelle Cador und dessen Söhne zu Erben des Königsthrones erklärt. Deshalb sagte Artus bloß: «Wie könnte ich?» und brummte, den Griffel in der Hand, etwas vor sich hin. Dann ließ er den Stift auf den Tisch fallen und richtete sich auf. «Die Sache ist die: Da ich erst so kurze Zeit an der Spitze stehe ...» dann blickte er auf und sah mein Lächeln. Das Stirnrunzeln verschwand aus seinem Gesicht, und an seine Stelle trat jener Blick, den ich schon kannte: der unternehmungslustige, ungestüme Ausdruck eines Knaben, hinter dem aber der eiserne Wille eines Mannes stand, der sich gegenüber jedem Widerstand durchsetzen würde. Er sagte: «Ja, du hast recht, wie immer. Ich gehe selbst.» «Und Cador mit dir?» «Nein. Ich glaube, ich muß ohne ihn gehen. Nach allem, was geschehen ist, nach dem Tode meines Vaters und dann -» er hielt einen Augenblick inne - «nach den Geschehnissen dort oben in der Kapelle . . . Wenn es zu weiteren Kämpfen kommt, muß ich an Ort und Stelle sein und die Truppen anführen. Jeder muß sehen können, daß ich das einmal begonnene Werk vollende.» Er brach ab, als erwarte er Fragen oder Einwände, aber ich schwieg. 21
«Ich dachte, du würdest versuchen, mich davon abzuhalten.» «Nein. Warum auch? Ich bin ganz deiner Meinung. Du mußt dir beweisen, daß du über den bloßen Glückszufällen stehst.» «So ist es.» Er dachte einen Augenblick nach. «Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, aber ich hatte seit dem Tage, da du mich nach Luguvallium brachtest und dem König vorstelltest, das Gefühl - es war eigentlich keine Vorstellung wie im Traum - als ob ich, als ob wir alle, das Werkzeug irgendeiner Kraft wären ...» «Ja. Es weht ein starker Wind, und er trägt uns alle mit sich fort.» «Und jetzt hat sich der Wind gelegt», sagte er, wie ernüchtert. «Und wir können uns nur noch auf unsere eigene Kraft verlassen. Als ob ja, als ob nur Zauber und Wunder am Werke gewesen wären, und jetzt ist alles vergangen. Hast du gemerkt, Merlin, daß nicht einer von dem gesprochen hat, was droben am Schrein geschehen ist? Schon heute ist es so, als ob sich alles vor langer Zeit, in einem Lied oder einer Erzählung abgespielt hätte.» «Der Grund ist offenkundig. Der Zauber war Wirklichkeit, und er war für viele derjenigen, die ihn bezeugen können, zu stark, aber er hat sich in die Erinnerung aller Anwesenden und in das Gedächtnis der Menschen, von denen die Gesänge und Sagen stammen, unauslöschlich eingeprägt. Nun, das sind Zukunftsgedanken. Aber im Augenblick müssen wir uns um das Nächstliegende kümmern. Und es ist noch viel zu tun. Eines ist sicher: Nur du kannst es tun. Deshalb mußt du die Aufgaben anpacken und sie auf deine Weise lösen.» Das junge Gesicht entspannte sich. Seine Hände lagen jetzt flach auf dem Tisch, während er sich auf sie stützte. Zum ersten Mal konnte man sehen, wie müde er war und daß es für ihn eine Erleichterung bedeutete, sich von dem Schlafbedürfnis übermannen zu lassen. «Ich hätte wissen müssen, daß du mich verstehen würdest. Du siehst also, daß ich selbst ausziehen muß, ohne Cador. Ihm gefiel der Gedanke zunächst gar nicht, aber er sah die Notwendigkeit schließlich ein. Offengestanden hätte ich ihn gern bei mir gehabt . . . Aber dies ist etwas, das ich allein schaffen muß. Du magst vielleicht 22
sagen, daß dies ebenso meiner eigenen Beruhigung dient wie der des Volkes. Damit hättest du recht.» «Brauchst du eine solche Versicherung?» Er sagte mit einem Anflug von Lächeln: «Eigentlich nicht. Morgen früh werde ich wohl alles begreifen können, was auf dem Schlachtfeld geschah, aber jetzt, jetzt scheint mir alles noch wie ein Traum zu sein. Sag mir, Merlin, kann ich Cador beauftragen, gen Süden zu reiten, um Königin Ygraine, meine Mutter, aus Cornwall hierher zu geleiten?» «Nichts spricht dagegen. Er ist Herzog von Cornwall, deshalb fällt seit Uthers Tod ihr Sitz in Tintagel unter seinen Schutz. Wenn Cador es über sich brachte, seinen Haß auf Uther dem Gemeinwohl unterzuordnen, muß er Ygraine ihren Verrat an seinem Vater seit langem vergeben haben. Und jetzt hast du seine Söhne zu deinen Thronerben erklärt; damit seid ihr quitt. Ja, entsende Cador.» Er schien erleichtert zu sein. «Dann wird alles gut. Ich habe bereits einen Kurier zu ihr geschickt, der sie über alles unterrichtet. Cador dürfte sie unterwegs treffen. Sie werden in Amesbury sein, wenn der Leichnam meines Vaters dort zur Beisetzung eintrifft.» «Dann ist es wohl dein Wunsch, daß ich den Leichnam nach Amesbury begleite?» «Wenn du es willst. Ich kann unmöglich selbst gehen, obwohl es sich geziemte. Das Geleit sollte königlich sein. Es ist besser, daß du, der du ihn kanntest, mitgehst, als ich, der ich doch erst vor kurzem als König anerkannt worden bin. Wenn er neben Ambrosius im Reigen der Hängenden Steine liegen soll, solltest du dort sein, wenn der Königsstein gehoben und das Grab hergerichtet wird. Willst du das tun?» «Gewiß. Wir werden etwa neun Tage brauchen, wenn die Reise in der gebührenden Form durchgeführt wird.» «Bis dahin werde ich selbst dort sein.» Ein plötzliches Aufblitzen der Augen. «Das heißt, mit etwas Glück. Ich erwarte sehr bald Nachricht über Colgrim. Ich werde in ungefähr vier Stunden, sobald es hell geworden ist, seine Verfolgung aufnehmen. Bedwyr geht mit mir», fügte er hinzu, als ob dies ein beruhigende Trost sei. «Und was ist mit König Lot, denn ich nehme an, daß er dich nicht begleiten wird?» 23
Er antwortete im unverbindlichen, glatten Ton des Politikers: «Auch er reitet bei Tagesanbruch los. Nicht in sein eigenes Land. . . Jedenfalls so lange nicht, bis ich nicht weiß, wohin sich Colgrim gewandt hat. Nein, ich habe König Lot dringend ersucht, sich direkt nach York zu begeben. Ich glaube, daß sich Königin Ygraine nach der Bestattung dorthin begeben wird, und Lot kann sie dort empfangen. Sobald seine Vermählung mit meiner Schwester Morgan gefeiert wird, kann ich dann auf ihn als meinen Verbündeten zählen, ob es ihm gefällt oder nicht. Und die übrigen Kämpfe, was auch immer zwischen heute und Weihnachten geschehen mag, kann ich ohne ihn bestehen.» «Ich werde dich also in Amesbury wiedersehen. Und danach?» «Caerleon», sagte er ohne Zögern. «Wenn es der Krieg erlaubt, werde ich dorthin gehen. Ich habe den Ort noch nie gesehen, und nach dem, was mir Cador erzählt, muß Caerleon meine Residenz werden.» «Bis die Sachsen den Vertrag brechen und von Süden her anrücken.» «Was sie bestimmt tun werden. Hoffentlich bleibt uns einstweilen etwas Zeit zum Verschnaufen.» «Und zum Erbauen einer weiteren Festung.» Er hob schnell den Kopf. «Ja. Daran habe ich schon gedacht. Wirst du da sein, um das durchzuführen?» Dann plötzlich mit Nachdruck: «Merlin, schwörst du, immer da zu sein?» «Solange ich gebraucht werde. Obwohl mir scheint», fügte •ich leichthin hinzu, «daß das Adlerjunge schon im Begriff ist, flügge zu werden.» Dann sagte ich, weil ich wußte, was sich hinter der plötzlichen Unsicherheit verbarg: «Ich werde in Amesbury auf dich warten; und ich werde zur Stelle sein, um dich deiner Mutter vorzustellen.» 2 Amesbury war kaum mehr als ein Dorf, aber es hatte als Ambrosius' Geburtsstätte und wegen seiner Nähe zu dem großen Monument der Hängenden Steine, die auf der windigen Ebene von Sarum stehen, an Bedeutung gewonnen. Die Hängenden Steine sind ein geschlossenes Kreisrund riesiger Steinbrocken, ein gigantischer Reigen, der vor 24
undenklichen Zeiten errichtet wurde. Ich hatte (was nach Meinung des Volks als «magische Kunst» galt) den Reigen wiederaufgebaut und ihn zur Ruhmesstätte Britanniens und zum Bestattungsort seiner Könige gemacht. Hier sollte Uther neben seinem Bruder Ambrosius ruhen. Wir brachten den Leichnam ohne Zwischenfälle nach Amesbury und ließen ihn dort im Kloster; er war in duftende Gewänder gehüllt und lag in einem ausgehöhlten Eichenstamm, der als Sarg diente, unter einem purpurnen Leichentuch vor dem Altar der Kapelle. Die Leibgarde des Königs (die mit dem Toten nach Süden geritten war) hielt die Totenwache, und die Mönche und Nonnen von Amesbury beteten neben der Bahre. Da Königin Ygraine Christin war, sollte der tote König mit dem ganzen Zeremoniell der christlichen Kirche beigesetzt werden, obwohl er zu Lebzeiten nicht einmal ein Lippenbekenntnis vor dem Gott der Christen abgelegt hatte. Auch jetzt lag er da, mit schimmernden Goldmünzen auf seinen Augenlidern, um den Fährmann bezahlen zu können, der diese Abgabe schon Jahrhunderte vor dem Heiligen Petrus eingefordert hatte. Die Kapelle war offenbar auf den Resten eines römischen Heiligtums errichtet worden. Sie war kaum mehr als ein länglicher Bau aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk; Holzbalken trugen ein Schilfdach; aber die Kapelle hatte einen Fußboden aus schönem Mosaik, der sauber geschrubbt war und sich fast unversehrt erhalten hatte. Die hier dargestellten Wein- und Akan-thusranken konnten keine christliche Seele beleidigen, und ein gewebter Teppich lag in der Mitte, vermutlich um irgendwelche heidnischen Götter oder Göttinnen zu verdecken, die nackt zwischen den Trauben schwebten. Das Kloster spiegelte Amesburys neugewonnenen Wohlstand wider. Es bestand aus einer Ansammlung von Gebäuden, die sich um einen gepflasterten Innenhof drängten; sie befanden sich in gutem Zustand, und das Haus des Abtes, das für die Königin und ihr Gefolge geräumt worden war, war ein fester Steinbau, mit Fußböden aus Holz und einer großen Feuerstelle mit Rauchabzug in der einen Ecke. Auch der Ortsvorsteher besaß ein ansehnliches Haus, das er mir eilfertig als Unterkunft anbot; aber ich erklärte ihm, der König werde 25
mir bald folgen, überließ ihn einer Fülle zusätzlicher Vorbereitungen und begab mich mit meinen Dienern in das Gasthaus. Dieses war klein und bot nur wenig Bequemlichkeit, aber es war sauber, und zahlreiche Feuerstellen wurden gegen die Herbstkühle unterhalten. Der Gastwirt erinnerte sich meiner aus der Zeit, da ich dort während des Wiederaufbaus des Reigens gewohnt hatte; er begegnete mir noch immer mit jener ehrfürchtigen Scheu, die jenes Unterfangen in ihm wachgerufen hatte, und beeilte sich, mir das beste Zimmer zu geben und mir zum Abendessen frisches Geflügel und einen Hammelauflauf in Aussicht zu stellen. Er zeigte sich erleichtert, als ich ihm sagte, ich hätte zwei Diener mitgebracht, die mir in meinem Zimmer aufwarten würden, und schickte seine eigenen Hilfsköche, die mit offenem Munde zuhörten, wieder an ihre Arbeitsplätze in der Küche zurück. Die Diener, die ich mitgebracht hatte, gehörten zu Artus' Gefolge. In den letzten Jahren, als ich allein im Wild Forest gelebt hatte, hatte ich mich selbst versorgt und verfügte deshalb im Augenblick über keine eigenen Bediensteten. Der eine war ein kleiner, lebhafter Mann aus den Bergen von Gwynedd; der andere war Ulfin, der Uthers Leibdiener gewesen war. Der verstorbene König hatte ihn aus harter Knechtschaft befreit und ihn gut behandelt, was Ulfin ihm mit hingebungsvoller Treue entgalt. Er gehörte jetzt zwar Artus, aber es wäre grausam gewesen, Ulfin die Möglichkeit zu nehmen, den Sarg seines Herrn auf dessen letzter Fahrt zu begleiten; deshalb hatte ich ausdrücklich um ihn gebeten. Auf meine Anweisung hin war er mit der Totenbahre zur Kapelle gegangen, und ich glaubte nicht, daß ich ihn vor dem Ende der Beisetzung wieder zu Gesicht bekommen würde. Inzwischen packte Lleu, der Waliser, meine Kisten aus und bestellte heißes Wasser, und ich schickte den intelligenteren der Küchenjungen des Gastwirts zum Kloster mit einer Botschaft, die der Königin bei ihrer Ankunft übermittelt werden sollte. Darin hieß ich sie willkommen und bot ihr meine Dienste an, sobald sie sich ausgeruht habe, um mich zu sich zu rufen. Über alles, was sich in Luguvallium zugetragen hatte, war sie bereits unterrichtet; ich fügte deshalb nur noch hinzu, daß Artus noch nicht in Amesbury eingetroffen sei, aber zur Beisetzung erwartet werde. 26
Ich war nicht in Amesbury, als die Königin mit ihrem Gefolge eintraf; denn ich war zur Begräbnisstätte geritten, um mich zu vergewissern, daß alle Vorbereitungen für die Feierlichkeiten getroffen waren; bei meiner Rückkehr erfuhr ich, daß die Königin mit ihrer Begleitung kurz nach Mittag angekommen war. Ygraine wurde mit ihren Hofdamen im Hause des Abtes untergebracht. Sie rief mich zu sich, als der Nachmittag in den Abend überging. Die Sonne war hinter Wolken untergegangen, und als ich zu Fuß die kurze Strecke zum Kloster zurücklegte - eine Begleitung hatte ich abgelehnt-, war es schon fast dunkel. Der Nachthimmel, an dem keine Sterne standen, legte sich wie ein schwerer Mantel auf mich. Ich entsann mich des großen Königsterns, der bei Ambrosius' Tod hell geleuchtet hatte, und meine Gedanken wanderten wieder zu dem König, der drüben in der Kapelle lag, umgeben von Mönchen, die ihn beklagten, und den Wachen, die wie Statuen neben der Totenbahre standen. Und von Ulfin, der als einziger all jener, die ihn sterben sahen, dort um ihn weinte. Ein Kämmerer begrüßte mich am Klostertor. Nicht der Pförtner der Mönche; er war einer der Bediensteten der Königin, ein königlicher Kämmerer, den ich aus Cornwall kannte. Er wußte, wer ich war, und verneigte sich tief, aber ich konnte sehen, daß er sich an unsere letzte Begegnung nicht erinnerte. Es war derselbe Mann, der, inzwischen ergraut und gebeugter als vordem, mich drei Monate vor Artus' Geburt bei der Königin vorgelassen hatte. Ich hatte damals aus Furcht vor Uthers Feindschaft eine Verkleidung getragen, und es lag auf der Hand, daß der Kämmerer in dem hochgewachsenen Prinzen am Tor nicht den bescheidenen, bärtigen «Arzt» erkannte, der wegen einer Konsultation zur Königin gerufen worden war. Er führte mich über den von Unkraut überwucherten Hof zu dem großen, strohgedeckten Gebäude, wo die Königin Quartier bezogen hatte. Fackeln brannten vor der Tür und hier und da an der Außenmauer, so daß die Armseligkeit des Hauses deutlich erkennbar wurde. Nach dem feuchten Sommer war das Unkraut zwischen den Pflastersteinen reichlich gesprossen, und an den Ecken des Hofes wuchsen Brennesseln fast bis in Brusthöhe. Dazwischen standen, in 27
Sackleinen gehüllt, die Holzpflüge und Hacken der Mönche. Neben einem der Toreingänge stand ein Amboß, und an einem Nagel, der in den Türpfosten getrieben war, hingen mehrere Hufeisen. Eine Schar magerer, schwarzer Ferkel stob quiekend vor uns davon und wurde vom ängstlichen Grunzen einer Sau durch die halb zerbrochenen Bretter einer Tür gerufen. Die frommen Männer und Frauen von Amesbury waren einfache Leute. Ich war gespannt, wie es der Königin hier ergehen würde. Ich hätte mir um sie keine Sorgen zu machen brauchen. Ygraine war immer eine Frau gewesen, die genau wußte, was sie wollte, und seit ihrer Eheschließung mit Uther hatte sie ein durchaus königliches Gebaren an den Tag gelegt, wozu sie möglicherweise gerade durch die Absonderlichkeit dieser Heirat veranlaßt worden war. Ich kannte das Haus des Abtes als bescheidene Unterkunft, sauber und trocken, aber ohne jede Bequemlichkeit. Jetzt hatte das Gefolge der Königin innerhalb weniger Stunden dafür gesorgt, daß in den Zimmern ein gewisser Luxus herrschte. Die Wände aus nacktem Stein waren von roten, grünen und pfauenblauen Stoffen verhüllt worden; außerdem hing an der Wand ein schöner, orientalischer Teppich, den ich aus Byzanz für sie mitgebracht hatte. Der Dielenfußboden war sauber geschrubbt, und auf den Bänken entlang den Wänden lagen Berge von Pelzen und Kissen. Ein großes Feuer brannte im Kamin. Daneben stand ein hoher Stuhl aus vergoldetem Holz, mit besticktem Wollstoff bezogen, und eine Fußstütze mit goldenen Fransen. Gegenüber stand noch ein Stuhl mit hoher Rückenlehne; seine Armlehnen waren mit Drachenköpfen verziert. Die Lampe war ein fünfköpfiger Drache aus Bronze. Die Tür zum schlichten Schlaf gemach des Abtes stand offen, und ich konnte ein blau drapiertes Bett erkennen und das Schimmern eines silbernen Besatzes. Drei oder vier Frauen - von denen zwei kaum dem Kindesalter entwachsen schienen - machten sich in dem Schlafgemach zu schaffen, und der Tisch, der am anderen Ende des Raumes dem Feuer gegenüberstand, war für das Abendessen hergerichtet. Blau gekleidete Pagen liefen mit Schüsseln und Krügen hin und her. Drei weiße Windhunde lagen so dicht vor dem Feuer, wie sie sich an die Hitze heranwagten. 28
Als ich eintrat, herrschte plötzlich Stille. Aller Augen richteten sich auf die Tür. Ein Page mit einem Weinkrug in der Hand blieb dicht neben der Tür stehen, schwankte einen Augenblick und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Am Tisch ließ jemand ein Tranchierbrett fallen, und die Hunde stürzten sich auf die zu Boden gefallenen Kuchenstücke. Ihr Kratzen und Schmatzen waren die einzigen Geräusche, die bei dem knisternden Feuer zu hören waren. «Guten Abend», sagte ich freundlich. Ich erwiderte den ehrerbietigen Gruß der Frauen, sah mit ernstem Blick zu, wie ein Knabe das heruntergefallene Tranchierbrett aufhob und die Hunde verjagte und ließ mich dann von dem Kämmerer zum Kamin führen. «Die Königin -» hob er an, als sich die Augen der Anwesenden von mir auf die innere Tür richteten und die Windhunde schweifwedelnd auf die Frau zusprangen, die soeben hereinkam. Wenn die Hunde und die in tiefem Knicks zu Boden gesunkenen Frauen nicht gewesen wären, hätte ein Fremder glauben können, daß die Äbtissin gekommen sei, um mich zu begrüßen. Die Frau, die jetzt erschien, stand in demselben Gegensatz zu dem reich ausgestatteten Raum, wie dieser Raum seinerseits zu dem schäbigen Innenhof. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet; ein weißer Schleier bedeckte ihre Haare, seine Enden waren über die Schulter nach hinten gezogen und umrahmten ihr Gesicht wie eine Haube. Die Ärmel ihres Gewandes waren mit grauer Seide gefüttert, und auf der Brust trug sie als einziges Schmuckstück ein Kreuz aus Saphiren; sonst wurden das düstere Weiß und Schwarz ihrer Trauerkleidung durch keine andere Farbe unterbrochen. Es war lange her, seit ich Ygraine gesehen hatte, und ich hatte erwartet, sie verändert zu finden, aber trotzdem war ich über ihren Anblick erschüttert. Die Schönheit war noch da, in den Linien ihrer Gestalt, den großen, dunkelblauen Augen und ihrer königlichen Haltung; aber die Anmut war der Würde gewichen, und ihre Hände und Gelenke waren abgemagert, was mir nicht gefiel, und um ihre Augen lagen Schatten, die fast ebenso blau waren wie die Augen selbst. Dies war es, was mich entsetzte, nicht die Auswirkungen der 29
Zeit. Es gab genügend Anzeichen, die ein Arzt nur zu genau zu deuten wußte. Aber ich war hier als fürstlicher Abgesandter, nicht als Arzt. Ich erwiderte ihren lächelnden Gruß, beugte mich über ihre Hand und führte sie zu dem gepolsterten Stuhl. Auf ein Zeichen von ihr legten die Pagen die Hunde an die Leine und führten sie beiseite. Sie nahm Platz und strich sich den Rock glatt. Eines der Mädchen schob einen Fußschemel näher heran und blieb dann mit gesenkten Augenlidern und gefalteten Händen neben dem Stuhl seiner Herrin stehen. Die Königin hieß mich Platz nehmen, und ich gehorchte ihr. Jemand brachte Wein, und über die Becher hinweg tauschten wir allgemeine Redensarten aus. Ich fragte sie nach ihrem Ergehen, aber aus rein formeller Höflichkeit, und ich wußte, daß sie aus meinem Gesichtsausdruck nichts von meinem wirklichen Wissen herauslesen konnte. «Und der König?» fragte sie schließlich. Es schien, als müßte sie sich das Wort abringen. Es war ihr offenbar schmerzlich. «Artus hat versprochen, herzukommen. Ich erwarte ihn morgen. Aus dem Norden sind keine neuen Nachrichten eingetroffen, deshalb wissen wir nicht, ob es zu neuen Kämpfen gekommen ist. Der Mangel an Nachrichten braucht Euch nicht zu beunruhigen; es bedeuteet lediglich, daß er ebensoschnell hier sein wird wie ein Kurier, den er vielleicht entsandt hat.» Sie nickte, aber ohne jegliches Anzeichen von Besorgnis. Entweder konnte sie über den Verlust, den sie erlitten hatte, nicht hinausdenken, oder sie nahm meinen ruhigen Ton als Trost des Propheten. «Hat er mit neuen Kämpfen gerechnet?» «Sein Bleiben war nur eine Vorsichtsmaßnahme, sonst nichts. Die Niederlage der Truppen Colgrims war entscheidend, aber Colgrim selbst ist entkommen, wie ich Euch schrieb. Wir erhielten keine Meldung, wohin er sich gewandt hat. Artus hielt es für besser, ganz sicher zu sein, daß sich das zersplitterte sächsische Heer nicht neu gruppieren kann, jedenfalls so lange nicht, wie er zur Beisetzung seines Vaters im Süden weilt.» 30
«Er ist sehr jung», sagte sie, «für eine so schwere Aufgabe.» Ich lächelte. «Aber er ist auf sie vorbereitet und wird sie lösen. Glaubt mir, es war so, als sähe man einen jungen Falken aufsteigen oder einen Schwan ins Wasser gleiten. Als ich ihn verließ, hatte er zwei Nächte fast nicht geschlafen und war trotzdem in Hochstimmung und bei ausgezeichneter Gesundheit.» «Ich freue mich, dies zu hören.» Sie sprach förmlich und ohne besonderen Ausdruck, aber ich hielt es für besser, ihr meine Worte zu erläutern. «Der Tod seines Vaters traf ihn wie ein Schock und bereitete ihm Kummer, aber Ihr werdet verstehen, Ygraine, daß er ihm nicht sehr nahegehen konnte, und es war viel zu tun, was den Gram überdeckte.» «Mir war dies nicht vergönnt», sagte sie leise und blickte auf ihre Hände hinunter. Ich verstand sie und schwieg. Die Leidenschaft, die Uther und diese Frau zusammengeführt hatte, wobei ein Königreich auf dem Spiele stand, war in all den Jahren nicht ausgebrannt. Uther war ein" Mann gewesen, der Frauen brauchte, wie die meisten Männer essen und schlafen nötig haben, und wenn ihn seine königlichen Pflichten vom Bett der Königin fortgeführt hatten, war sein eigenes selten leer geblieben; aber wenn sie beisammen waren, hatte er sich nie für andere Frauen interessiert und ihr nie Grund zu Kummer gegeben. Sie hatten sich - der König und die Königin - auf eine Art und Weise geliebt, die Jugend und Gesundheit und die Wechselfälle von Kompromiß und Zweckmäßigkeit, die der Preis des Königstums sind, überdauerte. Ich war zu der Überzeugung gekommen, daß ihr Sohn Artus, der seines königlichen Status' beraubt war und unerkannt aufwuchs, bei seinen Pflegeeltern in Galava ein besseres Schicksal erlebte, als es ihm am Hofe seines Vaters beschieden gewesen wäre, wo er es in Anwesenheit des Königs und der Königin bei weitem nicht so gut gehabt hätte. Als sie schließlich wieder aufblickte, hatte ihr Gesicht den heitergelassenen Ausdruck zurückgewonnen. «Ich habe Euren Brief und den von Artus bekommen, aber es gibt noch so viel mehr, was ich 31
hören möchte. Erzählt mir, was in Luguvallium geschehen ist. Als er gen Norden gegen Colgrim auszog, wußte ich, daß er körperlich dazu nicht in der Verfassung war. Er schwor, er müsse ins Feld ziehen, und wenn man ihn auf einer Bahre tragen müßte. Was, wie ich höre, auch geschehen ist?» Für Ygraine war der «er» von Luguvallium gewiß nicht ihr Sohn. Was sie hören wollte, war ein Bericht über Uthers letzte Tage, nicht eine Erzählung, wie Artus sein Königtum erworben hatte. Ich erstattete ihr den Bericht. «Ja. Es war ein gewaltiger Kampf, und er focht großartig. Sie führten ihn in einem Tragsessel auf das Schlachtfeld, und während des ganzen Kampfes, auch im dichtesten Getüm-mel, trugen ihn seine Diener. Ich hatte auf seinen Befehl hin Artus aus Galava herbeibringen lassen, damit er öffentlich anerkannt werde; aber Colgrim griff plötzlich an, und der König mußte ausrücken, ohne die Proklamation vornehmen zu können. Er behielt Artus in seiner Nähe, und als er sah, daß das Schwert des Knaben im Kampf zerbrach, warf er ihm sein eigenes zu. Ich bin nicht sicher, ob Artus diese Geste in der Hitze des Gefechts richtig gedeutet hat, aber alle anderen in der näheren Umgebung haben sie verstanden. Es war eine große Geste von einem großen Mann.» Sie schwieg/ aber ihr Blick sagte mir, daß sie begriffen hatte. Ygraine wußte besser als jeder andere, daß Uther und ich uns nie geliebt haben. Lobende Worte von mir waren etwas ganz anderes als die Schmeichelreden des Hofes. «Und danach lehnte sich der König in seinem Sessel zurück und sah zu, wie sein Sohn den Kampf ins Zentrum des Gegners trug und trotz seiner Unerfahrenheit zur Niederlage der Sachsen beitrug. So war später, als er den Knaben schließlich den Edlen und Hauptleuten präsentierte, seine Arbeit schon halb getan. Sie hatten mitangesehen, wie das Königsschwert übergeben wurde, und sie hatten beobachtet, wie würdig es eingesetzt worden war. Aber es gab allerdings auch Opposition . . .» Ich stockte. Es war gerade diese Opposition gewesen, die Uther das Leben gekostet hatte; nur wenige Stunden, bevor er sein Werk 32
vollenden konnte. Und König Lot, der den Widerstand geführt hatte, sollte Ygraines Tochter Morgan heiraten. Ygraine sagte ruhig: «Ach ja. Der König von Lothian. Ich habe davon gehört. Erzählt mir mehr.» Ich hätte sie besser kennen müssen. Ich erzählte ihr den ganzen Vorgang und ließ nichts dabei aus. Die wilde Gegnerschaft, der Verrat, der plötzliche Tod des Königs, der alle zum Schweigen brachte. Ich erzählte ihr von Artus' schließlicher Akklamation durch die Anwesenden, obwohl ich dabei auch meine eigene Mitwirkung nicht verschwieg. («Wenn er in der Tat das Schwert des Macsen erhalten hat, bekam er es als Gabe Gottes, und wenn er Merlin neben sich hat, dann werde ich ihm folgen, welchem Gott er auch selbst folgen mag!») Ich verweilte auch nicht lange bei der Szene in der Kapelle, sondern berichtete lediglich von der Ablegung des Treueids, von Lots Unterwerfung und der Tatsache, daß Artus Gorlois' Sohn Cador zu seinem Erben erklärt hatte. An dieser Stelle leuchteten ihre Augen zum erstenmal auf, und sie lächelte. Ich konnte sehen, daß ihr dies neu war und irgendwie dazu beitrug, ihre eigene Schuld an Gorlois' Tod zu lindern. Offenbar hatte ihr Cador - entweder aus Feingefühl oder weil er und Ygraine noch immer Abstand voneinander wahrten - nichts davon erzählt. Sie streckte die Hand nach dem Wein aus und trank in kleinen Schlucken, während ich die Erzählung beendete; das Lächeln umspielte noch ihren Mund. Noch etwas anderes, etwas höchst Bedeutsames, wäre ebenfalls neu für sie gewesen; aber davon sagte ich nichts. Doch dieser unausgesprochene Teil der Geschichte beherrschte meine Gedanken so stark, daß ich, als Ygraine jetzt sprach, förmlich hochgeschreckt sein mußte. «Und Mor-gause?» «Madam?» «Ihr habt von ihr nicht gesprochen. Sie muß um ihren Vater getrauert haben. Es war gut, daß sie bei ihm sein konnte. Er und ich, wir hatten beide Grund, Gott für ihre Fertigkeiten zu danken.» Ich sagte nur: «Sie pflegte ihn hingebungsvoll. Ich bin überzeugt, daß sie ihn sehr vermissen wird.» 33
«Kommt sie mit Artus in den Süden?» «Nein. Sie ist nach York gereist, um bei ihrer Schwester Morgan zu sein.» Zu meiner Erleichterung stellte sie keine weiteren Fragen über Morgause, sondern wechselte das Thema und erkundigte sich, wo ich untergekommen sei. «Im Gasthaus», antwortete ich. «Ich kenne es von früher, als ich hier tätig war. Es ist ein einfaches Haus, aber man hat sich viel Mühe gegeben, es mir bequem zu machen. Ich werde nicht lange hierbleiben.» Ich warf einen Blick auf die sorgfältige Ausstattung des Raumes. «Und Ihr, Madam, beabsichtigt Ihr, lange zu bleiben?» «Nur einige Tage.» Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie meinen prüfenden Blick auf den sie umgebenden Aufwand erkannt hatte. Ich, der ich wenig Erfahrung mit Frauen besitze, erkannte plötzlich, daß die reiche Ausstattung und Schönheit des Raumes nicht Ygraine allein zuliebe geschaffen worden waren, sondern mit Vorbedacht als Kulisse für das erste Zusammentreffen mit ihrem Sohn dienen sollte. Das Rot und Gold, der Duft und die Wachskerzen - alles diente als Schild und Zauberwaffe dieser alternden Frau. «Sagt mir-» Sie sprach unvermittelt den Gedanken aus, der sie am meisten beschäftigte: «Gibt er mir die Schuld?» Es zeugte von meiner Hochachtung für Ygraine, daß ich ihr direkt antwortete und nicht so tat, als beschäftigte mich dieser Gedanke weniger als sie. «Ich glaube, daß Ihr Euch vor dieser Begegnung nicht zu fürchten braucht. Als er von seiner Herkunft und seinem Erbe erfuhr, fragte er sich verwundert, warum Ihr und der König es für geboten gehalten hattet, ihm dieses Erbrecht abzusprechen. Man kann ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er zunächst der Überzeugung war, ihm sei Unrecht geschehen. Er hatte bereits angefangen zu vermuten, daß er königlichen Geblüts sei, aber er nahm an, daß die königliche Abstammung - wie in meinem Fall - aus einem Fehltritt erwachsen war. . . Als er die Wahrheit erfuhr, kam mit der Freude zugleich auch das Erstaunen. Aber - und ich schwöre Euch, daß es die Wahr34
heit ist - er ließ keinen Anflug von Bitterkeit oder Zorn erkennen; er wollte nur den Grund wissen. Als ich ihm die Geschichte seiner Geburt und seiner Erziehung erzählte, sagte er - und ich gebe Euch seine genauen Worte wieder -: So wie du es erzählst, muß ich ihr recht geben; als Prinz muß man sich jederzeit den Notwendigkeiten beugen. Sie hat mich nicht ohne guten Grund aufgegeben.» ' Einen Augenblick trat Stille ein. Im Geiste hörte ich wie ein Echo wieder die Worte, mit denen er geendet hatte: «Im Wild Forest fühlte ich mich wohler; ich hielt mich für mutterlos und für dein uneheliches Kind, Merlin; es war mir lieber, als in der Burg meines Vaters Jahr für Jahr zu warten, ob die Königin ein Kind auf die Welt bringt, das mich verdrängt.» Ihr Gesicht entspannte sich, und ich hörte sie seufzen. Die weichen Unterlider ihrer Augen hatten leicht gebebt, aber sie kamen jetzt zur Ruhe, als hätte man einen Finger auf eine vibrierende Geigensaite gelegt. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und sie sah mich mit demselben Blick an wie damals, als sie mich inständig gebeten hatte, das Baby mitzunehmen und es vor Uthers Zorn zu verbergen. «Sagt mir. . . wie ist er?» Ich lächelte flüchtig. «Hat man es Euch nicht gesagt, als man Euch die Nachricht von der Schlacht überbrachte?» «Doch, man hat es mir gesagt. Er ist so groß wie eine Eiche und so stark wie Fionn, und er erschlug eigenhändig neunhundert Mann. Er ist wie der wiedererstandene Ambrosius oder Maximus persönlich, mit einem Schwert wie der Blitz; und der Strahlenkranz, der ihn in der Schlacht umgibt, erinnert an die Götterbilder beim Fall von Troja. Und er ist Merlins Schatten und Geist, und ein großer Hund folgt ihm überallhin, und er spricht zu ihm wie zu einem Vertrauten.» Ihre Augen tanzten. «Ihr werdet erraten, daß die Boten, die mir die Nachricht überbrachten, Leute aus Cornwall waren und zu Cadors Kriegern gehörten. Sie singen immer lieber ein Heldenlied, als daß sie Tatsachen berichten. Ich will Tatsachen hören.» So war sie immer gewesen. Genau wie sie, hatte auch 35
Artus schon als Kind mit Tatsachen umzugehen gewußt und Bedwyr die Dichtkunst überlassen. Ich sagte ihr, was sie hören wollte. «Der letzte Teil ist fast richtig, aber unser Verhältnis ist umgekehrt. Es ist Merlin, der Artus' Schatten und Geist ist, so wie der große Hund Cabal, den ihm sein Freund Bedwyr schenkte. Und sonst - was soll ich noch sagen? Ihr könnt Euch morgen selbst ein Bild machen ... Er ist hochgewachsen und eher Uther als Euch nachgeraten, obwohl er meines Vaters Gesichtsfarbe hat; seine Augen und Haare sind so schwarz wie die meinigen. Er ist kräftig und voll Mut und Ausdauer all das, was Euch die Leute aus Cornwall erzählt haben, nur auf ein natürliches Maß reduziert. Er hat das heiße Blut und das Ungestüm der Jugend, und er kann impulsiv oder arrogant sein, aber hinter allem stehen ein klarer Verstand und zunehmende Selbstbeherrschung, wie bei jedem guten Mann seines Alters. Und er hat etwas, was ich für eine große Tugend halte: Er ist bereit, auf mich zu hören.» Dies brachte mir ein weiteres Lächeln von ihr ein, aber mit echter Wärme darin. «Ihr beliebt zu scherzen, aber ich pflichte Euch bei: Es ist wirklich eine Tugend! Er kann sich glücklich schätzen, Euch bei sich zu haben. Als Christin ist es mir nicht gestattet, an Eure Magie zu glauben - das heißt, ich glaube an sie nicht in dem Maße, wie es das einfache Volk tut; aber was sie auch sein und woher sie auch stammen mag -ich habe Eure Macht wirken sehen, und ich weiß, daß sie gut ist und daß Ihr ein weiser Mann seid. Ich glaube, daß das, was aus Euch spricht und was Euch bewegt, das ist, was ich Gott nenne. Bleibt bei meinem Sohn.» «Ich werde bei ihm bleiben, solange er mich braucht.» Dann breitete sich Stille zwischen uns aus, und wir blickten beide ins Feuer. Ygraines Augen träumten unter ihren verschatteten Lidern, und ihre Gesichtszüge zeigten wieder die ruhige Gelassenheit; aber ich fühlte, es war die abwartende Stille, wie sie in der Tiefe des Waldes herrscht, wenn oben die Wipfel im Winde ächzen und die Bäume den Sturm bis in die Wurzeln hinab spüren. Ein Knabe kam auf Zehenspitzen herein, kniete neben dem Feuer nieder und legte neue Holzscheite nach. Flammen züngelten knisternd 36
und loderten hell auf. Ich sah ihnen zu. Auch für mich bedeutete die Pause nur eine Zeit des Wartens; die Flammen waren nur Flammen. Der Knabe ging leise wieder hinaus. Das Mädchen nahm der Königin den Kelch ab und streckte scheu die Hand nach dem meinigen aus. Sie war ein hübsches Ding, schlank wie eine Gerte, mit grauen Augen und hellbraunem Haar. Sie schien sich vor mir zu fürchten und achtete darauf, meine Hand nicht zu berühren, als ich ihr das Gefäß reichte. Sie ging mit den leeren Kelchen rasch hinaus. Ich sagte leise: „Ygraine, ist Euer Arzt mit Euch gekommen?» Ihre Augenlider flatterten ein wenig. Sie sah mich nicht an, als sie ebenso leise antwortete: «Ja, er begleitet mich immer, wenn ich auf Reisen bin.» «Wer ist es?» «Sein Name ist Melchior. Er sagt, er kenne Euch.» «Melchior? Der junge Mann, den ich in Pergamon kennenlernte, als ich dort Medizin studierte?» «Derselbe. Jetzt ist er nicht mehr so jung. Er war bei mir, als Morgan geboren wurde.» «Er ist ein guter Mann», sagte ich befriedigt. Sie sah mich von der Seite an. Das Mädchen war außer Hörweite und hielt sich bei den übrigen Frauen im hinteren Teil des Raumes auf. «Ich hätte wissen sollen, daß ich vor Euch nichts verbergen kann. Ihr werdet meinem Sohn nichts davon sagen?» Ich versprach es ihr. Daß sie todkrank war, hatte ich gewußt, sobald ich sie sah; aber Artus, der sie nicht kannte und von der Heilkunde nichts verstand, würde vielleicht nichts merken. Das hatte noch Zeit. Das Jetzt galt dem Anfang, nicht dem Ende. Das Mädchen kam und flüsterte der Königin etwas zu; diese nickte und stand auf. Ich erhob mich mit ihr. Der Kämmerer näherte sich in zeremonieller Haltung und verlieh dem nicht standesgemäßen Gemach zusätzlich königliche Würde. Die Königin wandte sich halb nach mir um und hob die Hand, um mich zu Tisch zu bitten, als die Szene plötzlich 37
unterbrochen wurde. Aus der Ferne ertönte ein Trompetenstoß, dann noch einer, diesmal schon näher, und dann hörte man plötzlich lebhaftes Pferdegetrappel außerhalb der Klostermauern. Ygraine hob den Kopf mit einer Gebärde, die an den früheren Auftrieb def Jugend erinnerte. Sie blieb ruhig stehen. «Der König?» Ihre Stimme war hell und atemlos. Wie ein Echo klang das Geraune und Gemurmel der Frauen im Raum. Das Mädchen neben der Königin war aufs äußerste angespannt, und ich sah, wie sie vor Aufregung bis in die Stirn errötete. «Er ist früh da», sagte ich. Meine Stimme klang sachlich, als stellte ich lediglich eine Tatsache fest. Je näher der Hufschlag herankam, desto rascher schlug mein Herz. Narr, sagte ich zu mir, Narr. Er verfolgt jetzt seine eigenen Pläne. Du hast ihn losgelassen und verloren; er ist ein Falke, der nie wieder eine Kappe tragen wird. Bleib im Hintergrund, Prophet des Königs; schaue deine Visionen und träume deine Träume. Überlaß das Leben ihm und warte, bis er dich braucht. Ein Klopfen an der Tür und die dringende Stimme eines Bediensteten. Der Kämmerer eilte geschäftig zur Tür, aber schon stürzte ein Page herein und überbrachte mit Worten, die aller höfischen Form entkleidet waren, die Nachricht: «Mit Erlaubnis der Königin . . . Der König ist hier und will mit Prinz Merlin sprechen. Jetzt sofort, sagt er.» Beim Hinausgehen hörte ich, wie hinter mir in dem stillen Raum ein großes Durcheinander losbrach. Pagen wurden entsandt, um eiligst den Tisch neu zu decken und frische Wachslichter und duftende Krauter und Wein herbeizuschaffen; und die Frauen, gluckend und glucksend wie ein Hof voller Hühner, folgten der Königin eilends in das Schlaf gemach. 3 «Sie ist hier, wie ich höre?» Ein Diener zog ihm die schmutzigen Stiefel aus; Artus behinderte ihn dabei mehr, als daß er ihm geholfen hätte. Ulf in war schließlich doch aus der Kapelle zurückgekehrt; ich konnte ihn im Nebenzimmer hören, wo er der Dienerschaft die nötigen Anweisungen gab, Artus' Gepäck, seine Kleider und sonstigen 38
Sachen auszupacken. Draußen schien die Stadt zu neuem Leben erwacht: der Lärm drang herüber, man sah Fackeln und hörte das Getrappel von Pferden und laute Befehle. Ab und zu konnte man über den Tumult hinweg das Gekreische eines Mädchens hören. Nicht alle in Amesbury waren in Trauer. Auch der König ließ nichts davon erkennen. Er befreite sich schließlich mit einem Fußtritt von seinen Stiefeln und ließ den schweren Mantel von den Schultern gleiten. Die Art, wie er mich ansah, war eine genaue Parodie von Ygraines Seitenblick. «Hast du mit ihr gesprochen?» «Ja. Ich komme direkt von ihr. Sie wollte mich gerade zum Abendessen einladen, aber jetzt, glaube ich, hat sie vor, statt dessen dich zu verpflegen. Sie ist heute erst angekommen, und du wirst feststellen, daß sie sehr abgespannt ist, aber sie hat sich etwas ausruhen können und wird später um so besser ruhen, wenn sie dich gesehen hat. Wir hatten dich nicht vor morgen früh erwartet.» « Er grinste, während er einen der Lieblingsausdrücke meines Vaters zitierte; ich hatte diesen in der Zeit, als ich sein Lehrer war, wahrscheinlich etwas überstrapaziert. «Selbstverständlich nur ich und eine Handvoll Männer. Wir sind vorausgeritten. Aber ich bin sicher, daß alle rechtzeitig zum Begräbnis hier sein werden.» «Wer wird kommen?» «Maelgon von Gwynedd und sein Sohn Maelgon. Urbgens Bruder aus Rheged - der dritte Sohn des alten Coel, er heißt, glaube ich, Morien. Caw konnte auch nicht kommen, deshalb entsandte er Rederch - nicht Heuil, Gott sei Dank. Ich konnte diesen üblen Prahlhans nie ausstehen. Sehen wir weiter - Ynyr und Gwilim, Bors . . . und wie mir berichtet wurde, ist Ceretic von Elmet auf dem Weg von Loidis hierher. Er nannte noch einige andere. Anscheinend hatten die meisten Könige aus dem Norden Söhne oder Ersatzleute gesandt, was verständlich war, denn der Rest der sächsischen Truppen machte den Norden noch immer unsicher; deshalb wollten sie an Ort und Stelle bleiben, um ihre Grenzen zu bewachen. Dies erzählte Artus, während 39
ihm der Diener Wasser eingoß, damit er sich waschen könne. «Auch Bedwyrs Vater ritt heim. Er gab dringende Geschäfte vor, aber ich glaube, daß er um meinetwillen ein Auge auf Lot von Lothian und dessen Unternehmungen halten wollte.» «Und Lot?» «Machte sich auf den Weg nach York. Vorsichtshalber lasse ich ihn beobachten. Er ist noch unterwegs. Ist Morgan noch dort, oder ist sie südwärts gereist, um die Königin zu treffen?» «Sie ist noch in York. Es gibt noch einen König, den du nicht erwähnt hast.» Der Diener gab ihm ein Handtuch, und Artus verschwand unter ihm. Er trocknete sich die nassen Haare. Seine Stimme klang gedämpft, als er fragte: «Wen?» «Colgrim», sagte ich leise. Er tauchte unvermittelt unter dem Handtuch wieder auf; seine Haut leuchtete, und die Augen strahlten. Er sah, fand ich, wie ein Zehnjähriger aus. «Mußt du da noch fragen?» Die Stimme war nicht zehn Jahre alt; sie gehörte einem Mann, dem man die spöttische Arroganz anmerkte, die sich hinter dem Scherz verbarg. Nun, ihr Götter, dachte ich, ihr habt ihn auf diesen Platz gestellt; ihr könnt ihm dies nicht als Hybris anrechnen. Aber ich ertappte mich, wie ich das Zeichen machte. «Nein, aber ich frage dich trotzdem.» Er wurde sofort ernst. «Es war härtere Arbeit, als wir erwartet hatten. Man könnte sagen, daß die zweite Hälfte der Schlacht noch zu schlagen war. Wir brachen ihre Stärke bei Luguvallium. Badulf starb an seinen Verwundungen, aber Colgrim blieb unverletzt und sammelte den Rest seiner Streitkräfte irgendwo weiter ostwärts. Es war nicht so, als hätte man fliehenden Truppen nur noch den Rest geben müssen; sie stellten eine erhebliche Streitmacht dar, die zu allem entschlossen war. Wenn wir ihnen mit unterlegenen Kräften entgegengetreten wären, hätten sie uns vielleicht sogar geschlagen. Ich glaube nicht, daß sie erneut angegriffen hätten - sie bewegten sich auf die Ostküste Richtung 40
Heimat zu, aber wir holten sie auf halbem Wege ein, und sie stellten sich am Glein-River zum Kampf. Kennst du diese Gegend?» «Nicht gut.» «Es ist ein unwirtliches Bergland mit dichtem Wald und Flußläufen, die sich vom Oberland nach Süden schlängeln. Für den Kampf ein ungünstiges Gelände, aber das richtete sich gegen sie ebenso wie gegen uns. Colgrim selbst kam wieder davon, aber er hat jetzt nicht mehr die Möglichkeit, eine nennenswerte Streitmacht im Norden zu versammeln. Er ritt nach Osten; das ist einer der Gründe dafür, daß Ban zurückblieb, obwohl er so freundlich war, Bedwyr mit mir in den Süden reiten zu lassen.» Er blieb stehen und ließ sich jetzt fügsam von seinem Diener neu ankleiden, einen frischen Mantel über die Schultern werfen und die Nadel vorn befestigen. «Ich bin froh darüber», schloß er. «Daß Bedwyr hier ist? Auch ich...» «Nein. Daß Colgrim wieder entkommen ist.» «Und?» «Er ist ein tapferer Mann.» «Dennoch wirst du ihn töten müssen.» «Das weiß ich. Nun ...» Der Diener trat zurück. Der König war jetzt fertig angezogen. Sie hatten ihn in dunkles Grau gekleidet, sein Umhang war mit dickem Pelz gefüttert. Ulfin kam aus dem Schlafgemach und hielt ein geschnitztes Kästchen in der Hand, das mit Samt ausgeschlagen war; darin lag Uthers Königsring. Die Rubine funkelten im Licht und reflektierten das Aufblitzen der Edelsteine an Artus' Schulter und Brust. Als ihm aber Ulfin das Kästchen hinhielt, schüttelte Artus den Kopf. «Noch nicht», sagte er lächelnd. Ulfin schloß das Kästchen und ging mit dem anderen Mann aus dem Raum. Die Tür fiel hinter ihnen zu. Artus zögerte, ähnlich wie vorher Ygraine, und sah mich an. «Soll dies heißen, daß sie mich jetzt erwartet?» «Ja.» Er fingerte an der Brosche an seiner Schulter herum, stach sich in den Finger und fluchte. Dann sagte er mit halbem Lächeln: «Für eine solche Situation gibt es, glaube ich, kein Verhaltensmuster. Wie tritt man einer Mutter gegenüber, die einen nach der Geburt weggegeben hat?» «Wie hast du deinen Vater begrüßt?» 41
«Das war etwas ganz anderes, und das weißt du auch.» «Gewiß. Willst du, daß ich dich vorstelle?» «Ich wollte dich gerade darum bitten . . . Gut, wir sollten die Sache lieber hinter uns bringen. Es gibt Situationen, die nicht besser werden, wenn man sie vor sich herschiebt . . . Sag mal, bist du sicher wegen des Abendessens? Ich habe seit Sonnenaufgang nichts zu mir genommen.» «Gewiß. Die Leute haben frisches Fleisch besorgt, als ich ging.» Er holte tief Luft, wie ein Schwimmer vor dem Sprung ins Wasser. «Gehen wir also?» *** Sie stand im Licht des Feuers wartend neben ihrem Stuhl. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und der Widerschein der Glut huschte über ihre Haut und färbte das weiße Brusttuch rosarot. Sie sah wunderschön aus; die Schatten um ihre Augen waren verschwunden, und die Jugend schien durch den Feuerschein und die Leuchtkraft ihrer Augen zurückgekehrt zu sein. Artus blieb auf der Schwelle stehen. Ich sah das blaue Saphirkreuz funkeln, als sich ihre Brust hob und senkte. Ihre Lippen öffneten sich, als ob sie sprechen wollte, aber sie schwieg. Artus trat langsam vor, so würdevoll und steif, daß er noch jünger wirkte, als er war. Ich begleitete ihn und wiederholte in Gedanken noch einmal die richtigen Worte, die ich zu sagen haben würde, aber schließlich war es nicht mehr notwendig, irgend etwas zu sagen. Ygraine, die Königin, die schlimmere Augenblicke in ihrem Leben überstanden hatte, nahm die Situation in die Hand. Sie blickte ihn einen Augenblick an, als wolle sie ihm bis in die Seele schauen, dann sank sie zu einem tiefen Hofknicks auf den Boden und sagte: «Mein Gebieter.» Er streckte rasch eine Hand aus, dann beide Hände, und hob sie auf. Er gab ihr den Begrüßungskuß, kurz und formell, und hielt ihre Hände etwas länger fest, bevor er sie losließ. Er sagte: «Mutter?» und schien dem Wort nachzusinnen. So hatte er immer Drusilla, Graf Ectors Frau, angeredet. Dann atmete er auf und sagte: «Madam? Es tut mir leid, 42
daß ich nicht hier in Amesbury sein konnte, um Euch willkommen zu heißen, aber im Norden herrschte noch Gefahr. Merlin wird Euch darüber berichtet haben. Aber ich kam, so schnell ich konnte.» «Ihr seid schneller gewesen, als wir hätten hoffen können. Ich nehme an, daß Ihr erfolgreich gewesen seid? Und daß die Gefahr von Colgrims Streitmacht gebannt ist?» «Vorläufig ja. Wir haben jetzt wenigstens Zeit, Atem zu holen . . . und zu tun, was hier in Amesbury getan werden muß. Ich bedauere Euren Gram und den Verlust, Madam. Ich . . .» Er hielt inne und sprach dann mit einer Schlichtheit weiter, die ihr Trost spendete und ihm neue Selbstsicherheit verlieh. «Ich kann vor Euch nicht so tun, als sei ich zu Tode betrübt. Ich habe ihn als Vater kaum gekannt, aber mein ganzes Leben hindurch habe ich in ihm den König gesehen, und einen großen Mann. Sein Volk wird um ihn trauern, und auch ich werde als einer seiner treuesten Untertanen um ihn trauern.» «Es liegt in Eurer Hand, das Volk zu schützen, so wie er es zu schützen versucht hat.» In der jetzt folgenden kurzen Pause maßen sie sich wieder mit prüfenden Blicken. Sie war von beiden die größere. Vielleicht kam ihr derselbe Gedanke; sie wies auf den Stuhl, wo ich gesessen hatte, und ließ sich selbst in die bestickten Kissen zurückfallen. Ein Page eilte mit Wein herbei, und es entstand eine allgemeine Bewegung im Raum. Die Königin begann, über die Feierlichkeiten des nächsten Tages zu sprechen; während er ihr antwortete, ließ seine Spannung nach, und bald unterhielten sie sich ungezwungener. Aber immer noch konnte man hinter den höfischen Worten all die Wirrsal spüren, die unausgesprochen zwischen ihnen lag. Die Luft war förmlich geladen und ihre Gedankengänge so miteinander verflochten, daß sie meine Anwesenheit so vollständig vergessen hatten, als sei ich einer der Bediensteten, die neben dem gedeckten Tisch warteten. Ich blickte um mich. Dann schaute ich zu den Frauen und Mädchen neben der Königin hinüber; aller Augen waren auf Artus gerichtet, sie schienen ihn zu verschlingen; bei den Männern war es Neugier und eine gewisse ehrfürchtige Scheu (sie hatten offenbar schon von den Geschichten gehört, die über ihn 43
verbreitet worden waren), bei den Frauen kam zu der Neugier noch etwas anderes hinzu, und die beiden Mädchen neben der Königin schienen sich fast in einem Trancezustand zu befinden. Der Kämmerer stand unschlüssig in der Tür. Unsere Blicke trafen sich, und er schien etwas fragen zu wollen. Ich nickte. Er trat zur Königin und murmelte etwas. Sie nickte erleichtert, wie es schien, und erhob sich, der König mit ihr. Ich bemerkte, daß der Tisch jetzt für drei gedeckt war, als aber der Kämmerer an meine Seite trat, schüttelte ich den Kopf. Nach dem Essen würde es ihnen leichter fallen, sich auszusprechen, und sie konnten die Diener dann fortschicken. Ich wollte die beiden allein lassen und verabschiedete mich, ohne Rücksicht auf Artus' fast flehentlichen Blick, und begab mich zurück in das Gasthaus, um herauszufinden, ob die anderen Gäste mir etwas von dem Abendessen übriggelassen hatten. *** Der nächste Tag war klar und sonnig; wenige Wolken standen niedrig über dem Horizont. Irgendwo sang eine Lerche, als wäre es Frühling. Ende September bringt ein klarer Tag oft Frost mit sich und einen scharfen Wind - und nirgends kann der Wind so ungehindert spürbar werden wie auf der Großen Ebene. Aber der Tag von Uthers Bestattung erinnerte an einen Frühlingstag; es wehte ein warmer Wind, und die Sonne schien und vergoldete den Reigen der Hängenden Steine. Das Zeremoniell am Grabe dauerte lange, und die riesigen Schatten der Steine wanderten mit der Sonne, bis der Lichtschein voll ins Zentrum fiel, und es war leichter, zu Boden und auf das Grab selbst zu blicken, auf den Schatten der Wolken, die sich in der Ferne zusammenballten und wie Heere über den Himmel zogen, als auf das Zentrum der Anlage, wo die Priester in ihren Roben standen und die Edlen in ihren weißen Trauerkleidern, an denen die Juwelen funkelten, daß man geblendet war. Für die Königin war ein Pavillon errichtet worden. Sie stand in seinem Schatten -gefaßt und bleich im Kreis ihrer Damen - und ließ nichts von Übermüdung oder Krankheit erkennen. Artus - und ich neben ihm - stand am Fußende des Grabes. 44
Schließlich war alles vorbei. Die Priester entfernten sich, und nach ihnen der König und seine Begleitung. Während wir über die Grasfläche auf die Pferde und Wagen zugingen, hörten wir bereits hinter uns den dumpfen Aufprall von Erdreich auf Holz. Dann kam von oben ein anderer Klang, der dieses Geräusch übertönte. Ich schaute empor. Hoch oben im Septemberhimmel war ein Schwärm schnell fliegender schwarzer kleiner Vögel zu erkennen, die auf dem Wege nach Süden schwatzten und kreischten. Der letzte Schwalbenschwarm, der den Sommer mit sich fortnahm. «Laß uns hoffen», sagte Artus dicht neben mir, «daß die Sachsen eine Lehre daraus ziehen. Ich könnte eine Winterruhe gut gebrauchen, sowohl für die Männer als auch für mich selbst, bevor die Kämpfe wieder beginnen. Außerdem ist da Caerleon. Ich wünschte, ich könnte noch heute dorthin reiten.» Aber natürlich mußte er, wie wir alle, solange dableiben, wie die Königin in Amesbury war. Nach dem Begräbnis kehrte sie unmittelbar ins Kloster zurück und erschien nicht mehr in der Öffentlichkeit, sondern nutzte die Zeit zum Ausruhen oder traf sich mit ihrem Sohn. Er war bei ihr, sooft es seine Geschäfte erlaubten, während ihr Gefolge die Vorbereitungen für die Reise nach York traf; sie wollte die Fahrt unternehmen, sobald sie sich dazu stark genug fühlte. Artus verbarg seine Ungeduld, hielt Übungen mit seinen Kriegern ab oder besprach sich stundenlang mit seinen Freunden und Hauptleuten. Mit jedem Tag schien ihn das, was ihm bevorstand, mehr in Anspruch zu nehmen. Ich selbst sah wenig von ihm oder von Ygraine; die meiste Zeit verbrachte ich draußen beim Reigen der Giganten und beaufsichtigte das Einlassen des Königssteines in das Erdreich über dem Königsgrab. Acht Tage nach Uthers Begräbnis reiste die Königin mit ihrem Gefolge schließlich in den Norden ab. Artus sah ihnen aus Höflichkeit nach, bis sie auf der Straße nach Cunetio außer Sichtweite waren, stieß dann einen Seufzer der Erleichterung aus und zog seine Truppe glatt und rasch aus Amesbury ab. Es war der fünfte Tag des Oktober, und es regnete, und wir wollten den Mündungsarm des Severn und die Fähre nach Caerleon, der Stadt der Legionen, erreichen. 45
4 An der Fährstelle ist der Mündungsarm des Severn breit; die Flut steigt rasch hinauf über dicken roten Schlick. Hirten müssen das Vieh Tag und Nacht im Auge behalten, denn eine ganze Herde kann im Schlick verlorengehen. Und wenn im Frühling und Herbst die Flut auf die Strömung des Flusses trifft, kann sich eine Flutwelle auftürmen, wie ich sie in Pergamon nach dem Erdbeben gesehen habe. An der Südseite wird die Flußmündung von Klippen begrenzt; im Norden liegt Sumpf gebiet, aber einen Bogenschuß von der Flutmarke entfernt gibt es kiesigen Grund, der sich sanft zu offenem Waldgebiet mit Eichen und Kastanien erhebt. Wir schlugen auf dem ansteigenden Boden im Windschatten des Waldes unser Lager auf. Während dies geschah, begab sich Artus mit Ynyr und Gwilim, den Königen von Guent und Dyfed, auf einen Erkundungsritt und empfing nach dem Abendessen in seinem Zelt die Ortsältesten der umliegenden Siedlungen. Viele Einheimische drängten sich, um den neuen jungen König zu sehen, sogar die Fischer erschienen, deren einzige Heimstatt die Höhlen in den Klippen und ihre mit Häuten überzogenen Boote waren. Er sprach mit ihnen allen und nahm gleichermaßen Ehrerbietung und Klagen entgegen. Nach etwa zwei Stunden bat ich ihn mit einem Blick, mich entfernen zu dürfen, und ging dann ins Freie. Es war lange her, seit ich den Duft der Berge in meinem eigenen Land in mich aufgenommen hatte, außerdem gab es in der Nähe einen Ort, den ich schon seit langem hatte besuchen wollen. Dies war das einstmals berühmte Heiligtum von Nodens, der Nuatha von der Silbernen Hand ist; in meiner Heimat kennt man ihn als Llud oder Bilis, König der Unterwelt, deren Eingangstore die Berghöhlen sind. Er war es, der das Schwert bewacht hatte, nachdem ich es aus seinem langjährigen Grab unterhalb des Bodens im Mithrastempel zu Segontium herausgehoben hatte. Ich hatte es in seiner Obhut in jener Seehöhle gelassen, die ihm geweiht war, bevor ich es schließlich zur Waldkapelle trug. Auch Llud war ich etwas schuldig. 46
Sein Schrein am Severn war viel älter als der Mithrastempel oder die Kapelle im Wald. Sein Ursprung verliert sich in dunkler Vergangenheit und wird weder in Liedern noch in den Erzählungen erwähnt. Zuerst war es eine Bergfestung mit einem Stein oder einer Quelle gewesen, die dem Gott geweiht war, der die Geister der Toten versorgte. Dann wurde Eisen gefunden, und während der römischen Zeit wurde ergiebiger Bergbau betrieben. Es mögen die Römer gewesen sein, die als erste dem Ort den Namen Berg der Zwerge gegeben haben, nach den kleinen, dunklen Männern aus dem Westen, die dort arbeiteten. Die Mine war seit langem geschlossen, aber der Name hatte sich erhalten, ebenso wie die Geschichten von den Alten, die in den Eichenwäldern lauerten oder in Sturmnächten oder bei Sternenlicht aus den Tiefen der Erde heraustraten, um sich dem Gefolge des dunklen Königs anzuschließen, wenn er mit seinem wilden Heer von Geistern und Zauberwesen aus seinen Berghöhlen herausritt. Ich erreichte die Anhöhe hinter dem Lager und stieg zwischen den vereinzelt stehenden Eichen zum Fluß im Talgrund hinab. Ein heller Herbstmond wies mir den Weg. Die Kastanienblätter fielen bereits hier und da still ins Gras, aber die Eichen hatten ihr Laub noch behalten, so daß die Luft von Rauschen erfüllt war, während die trockenen Äste sich regten und miteinander zu flüstern schienen. Nach dem Regen roch das Land nach fruchtbarer Erde; es war ein Wetter zum Pflügen und Nüsse-Sammeln, die Zeit der Eichhörnchen vor dem Beginn des Winters. Unter mir im Schatten des Berghanges regte sich etwas. Im Gras entstand ein Geraschel, ein Getrappel, und dann fegte mit dem Trommeln eines Hagelsturms ein Rudel Hirsche vorbei, so schnell wie Schwalben im Flug. Sie waren ganz nahe. Im Mondschein blitzten die hellen Flecken und die elfenbeinfarbigen Enden ihrer Geweihe auf. So nahe waren sie, daß ich sogar den feuchten Schimmer ihrer Lichter sehen konnte. Es waren gefleckte und weiße Tiere, deren silbrige Decken geisterhaft schimmerten; sie eilten so leicht wie ihre eigenen Schatten und so schnell wie ein plötzlich aufkommender Windstoß dahin. Sie flohen vor mir in die Talsenke 47
hinunter, zwischen den Vorsprüngen des Berghanges hindurch und wieder hinauf um ein Eichenwäldchen herum -und waren verschwunden. Man sagt, ein weißer Hirsch sei ein Zauberwesen. Ich glaube, daß dies die Wahrheit ist. Ich hatte in meinem Leben zwei solche Tiere gesehen, und jedes war der Vorbote eines wundersamen Ereignisses gewesen. Auch diese, die im Mondschein wie helle Wolken in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschwanden, erschienen mir wie Wesen aus einem Wunderland. Vielleicht bewohnten sie zusammen mit den Alten einen Berg, in dem noch immer ein Tor zur Unterwelt offenstand. Ich überquerte den Fluß, stieg den nächsten Hang hinauf und strebte den verfallenen Mauern zu, die wie Zinnen oben auf dem Gipfel aufragten, bahnte mir den Weg durch Gesteinsbrocken, die zu uralten Befestigungsanlagen gehört zu haben schienen, und stieg dann das letzte, steile Stück des Pfades hinauf. Da war ein Tor in einer hohen, von Kletterpflanzen überwucherten Mauer. Es stand offen. Ich ging hinein. Ich befand mich in dem heiligen Bezirk, einem weiten Innenhof, der die gesamte Breite der flachen Bergkuppe einnahm. Der Mondschein, der mit jedem Augenblick heller wurde, beleuchtete ein altes Steinpflaster, das stellenweise aufgebrochen und mit Unkraut pelzig durchsetzt war. Zwei Seiten des Bezirks waren von hohen Mauern mit halb verfallenen Kronen umgeben; auf den anderen beiden Seiten hatten einstmals größere Gebäude gestanden, von denen einige Teile noch überdacht waren. Bei dieser Beleuchtung wirkte der Ort noch immer eindrucksvoll; Dächer und Pfeiler wirkten im Mondlicht unversehrt. Nur eine Eule, die geräuschlos aus einem oberen Fenster strich, zeugte davon, daß der Ort seit langer Zeit verlassen war und allmählich mit dem Berg verschmolz. Da war noch ein anderes Bauwerk, das fast im Zentrum des Innenhofes stand. Der Giebel seines hohen Daches hob sich scharf gegen den Mond ab, aber das Mondlicht fiel durch leere Fensterhöhlen hinein. Dies mußte das Heiligtum gewesen sein. Die Häuser am Rande des Innenhofes stellten den Rest der 48
Gästeunterkünfte und Schlafsäle dar, wo Pilger und Bittsteller gewohnt hatten; es gab fensterlose, gemauerte Zellen, wie ich sie in Pergamon gesehen hatte, wo Menschen in der Hoffnung schliefen, dort heilende Träume oder prophetische Visionen zu haben. Ich ging leise über das schadhafte Pflaster. Ich wußte, was ich vorfinden würde: ein Heiligtum voller Staub und Kälte, im gleichen Zustand wie der aufgegebene Mithrastempel bei Segontium. Aber es war immerhin möglich, sagte ich mir, während ich die Stufen hinaufging und durch die noch immer mächtigen Türpfosten der innersten cella trat, daß die alten Götter, die wie die Eichen und das Gras und die Flußläufe hier entstanden waren -, daß diese Wesen, die aus der Luft und der Erde und dem Wasser unserer Heimat bestanden, schwerer zu vertreiben waren als die fremden Götter aus Rom. Solch eine Gottheit, hatte ich lange geglaubt, war die meinige. Vielleicht war sie noch immer hier, wo die Nachtluft durch das verlassene Heiligtum wehte und es mit dem Rauschen der Bäume erfüllte. Der Mondschein, der durch die oberen Fenster und die Löcher im Dach hereinfiel, tauchte den Ort in ein reines, kaltes Licht. Ein junger Baum, der oben im Mauerwerk Wurzeln geschlagen hatte, schwankte leise im Wind, so daß sich Licht und Schatten im Halbdunkel des Innern hin und her bewegten. Es war, als befände man sich auf dem Boden eines Brunnenschachtes; Luft, Schatten und Licht berührten die Haut wie Wasser, ebenso klar und kalt. Der Mosaikboden war wellig geworden, wo der Boden eingesunken war; er schimmerte wie Meeresgrund; seine seltsamen Meereswesen schwammen in dem unsicheren Licht. Von jenseits der halbverfallenen Mauern tönte - wie tosende Brandung - das Rauschen der Bäume. Ich blieb dort lange Zeit still und regungslos stehen. Lange genug, um die Eule auf lautlosen Schwingen zu ihrem Nest über dem Schlafsaal zurückkehren zu sehen. Der leise Wind war vollends erstorben, und die wasserähnlichen Schatten beruhigten sich. Ich stand dort so lange, bis der Mond hinter dem Giebel verschwand und die Delphine unter meinen Füßen sich in der Dunkelheit aufzulösen schienen. 49
Nichts rührte sich, niemand sprach. Kein Mensch war anwesend. In Demut sagte ich mir, daß dies nichts zu bedeuten habe. Ich, der einst so mächtige Zauberer und Prophet, war auf einer gewaltigen Woge an das Tor Gottes getragen worden und fiel jetzt mit der Ebbe an eine unfruchtbare Küste zurück. Wenn es hier Stimmen gäbe, würde ich sie nicht hören. Ich war so sterblich wie der geisterhafte Hirsch. Ich wandte mich ab, um den Ort zu verlassen. Da roch es plötzlich nach Rauch. Nicht nach Rauch vom Opferaltar; es war der gewöhnliche Rauch eines Holzfeuers, und über ihm lag ein schwacher Essensgeruch. Er kam von irgendwo jenseits des verfallenen Gästehauses an der Nordseite des heiligen Bezirks. Ich überquerte den Hof, trat durch die Reste eines dicken Torbogens und gelangte, vom Geruch und einem schwachen Feuerschein geleitet, in eine kleine Kammer, wo ein Hund, den ich aufweckte, zu bellen begann. Die beiden, die neben dem Feuer geschlafen hatten, schraken hoch. Es waren ein Mann und ein Knabe, Vater und Sohn, wie mir schien; arme Leute, nach ihrer abgetragenen und zerschlissenen Kleidung zu urteilen; aber sie hatten etwas an sich, das sie als ihre eigenen Herren auswies. In diesem Punkt irrte ich mich, wie sich herausstellte. Ihre Bewegungen waren, offenbar aus Angst, hastig. Der Hund - er war alt und steif, mit einer grauen Schnauze und einem weißen Auge griff mich nicht an, sondern behauptete knurrend seinen Platz. Der Mann war schneller auf den Füßen als der Hund; er hielt ein langes Messer in der Hand; es war blank geschliffen und sah wie ein Opfermesser aus. Der Knabe, der sich mit dem Mut des Zwölfjährigen dem Fremden entgegenstellte, hatte ein schweres Holzscheit gepackt. «Friede sei mit Euch», sagte ich und wiederholte dann die Worte in ihrer eigenen Sprache. «Ich bin gekommen, um ein Gebet zu sprechen, aber niemand antwortete mir, deshalb bin ich, als ich das Feuer roch, hergekommen, um nachzusehen, ob der Gott noch immer Diener hier unterhält.» Die Messerspitze senkte sich, aber er hielt den Griff noch fest, und der Hund knurrte. «Wer seid Ihr?» fragte der Mann. «Bloß ein Fremder, der hier vorbeigekommen ist. Ich hatte oft von Nodens' 50
berühmtem Heiligtum gehört und benutzte die Gelegenheit, ihm einen Besuch abzustatten. Seid Ihr sein Hüter?» «Der bin ich. Sucht Ihr eine Unterkunft für die Nacht?» «Das hatte ich nicht im Sinn. Warum? Könnt Ihr eine solche noch bieten?» «Manchmal.» Er war auf der Hut. Der Knabe, der vertrauensseliger war oder vielleicht erkannt hatte, daß ich keine Waffe bei mir trug, drehte sich um und legte das Holzscheit vorsichtig auf das Feuer. Der Hund knurrte nicht mehr, sondern kam langsam näher und berührte meine Hand mit seiner ergrauten Schnauze. Sein Schwanz bewegte sich leicht. »Er ist ein guter Hund, sehr scharf», sagte der Mann, «aber alt und taub.» Sein Gebaren war nicht mehr feindselig. Als ' sich der Hund mir näherte, war das Messer verschwunden. «Und klug», sagte ich. Ich kraulte den Kopf des Tieres. «Er gehört zu denen, die den Wind sehen können.» Der Knabe wandte sich um und riß die Augen auf. «Den Wind sehen?» fragte der Mann. «Habt Ihr noch nicht von dem Hund mit dem weißen Auge gehört? So alt und langsam er auch sein mag, er kann sehen, daß ich Euch nichts antun will. Mein Name ist Myrddin Emrys, und ich wohne westlich von hier, bei Maridunum in Dyfed. Ich war auf Reisen und bin jetzt auf dem Heimweg.»Ich nannte ihm meinen walisischen Namen; er hatte bestimmt schon von Merlin dem Zauberer gehört, und ehrfürchtige Scheu ist ein schlechter Freund am Kamin. «Darf ich eintreten und mich eine Weile an Eurem Feuer wärmen, und wollt Ihr mir etwas über den Schrein erzählen, den Ihr hütet?» Sie machten mir Platz, und der Knabe zog aus irgendeinem Winkel einen Hocker heran. Unter meinen Fragen löste sich schließlich die Spannung des Mannes, und er begann zu reden. Er heiße Mog; es sei eigentlich kein Name, denn das Wort bedeute bloß «Diener», aber es habe einmal einen König gegeben, der es nicht für unter seiner Würde gehalten habe, sich Mog Nuatha zu nennen, und der Knabe habe seinen Namen von einem Kaiser, was noch großartiger klinge. «Konstantin wird der Hüter nach mir sein», sagte Mog und fuhr fort, mit Stolz und voller Sehnsucht von den großen Zeiten des Heiligtums 51
zu erzählen, als der heidnische Kaiser es, nur ein halbes Jahrhundert, bevor die letzten römischen Legionen Britannien verließen, wieder aufgebaut und neu ausgestattet hatte. Lange vor jener Zeit, erzählte er, habe ein «Mog Nuatha» mit seiner ganzen Familie den Dienst am Heiligtum versehen. Aber augenblicklich sei er mit seinem Sohn allein, seine Frau sei heute früh zum Markt hinuntergegangen und werde die Nacht mit ihrer kränkelnden Schwester im Dorf verbringen. «Wenn noch Platz ist, bei allem, was dort jetzt herumliegt», brummte der Mann, «könnt Ihr den Fluß von der Mauer dort drüben sehen, und als wir die Boote herüberkommen sahen, schickte ich den Knaben, damit er sich umschaut. Es sei das Heer gewesen, meinte er, zusammen mit dem jungen König-» Er brach ab und betrachtete im Widerschein des Feuers mein schlichtes Gewand. «Ihr seid kein Soldat, nicht wahr? Gehört Ihr zu ihnen?» «Ja zur letzten, und nein zur ersten Frage. Wie Ihr sehen könnt, bin ich kein Krieger, aber ich gehöre zum Gefolge des Königs.» «Was seid Ihr dann? Ein Sekretär?» «Gewissermaßen.» Er nickte. Der Knabe, der gespannt zuhörte, saß mit untergeschlagenen Beinen neben dem Hund zu meinen Füßen. Sein Vater fragte: «Was ist er für ein Mensch, dieser Jüngling, dem, wie die Leute sagen, König Uther das Schwert in die Hand gegeben hat?» «Er ist jung, aber ein gestandener Mann und ein guter Soldat. Er versteht zu führen, und er ist vernünftig genug, auf die Älteren zu hören.» Wieder nickte er. Diese Menschen gingen die Erzählungen und Hoffnungen von Ruhm und Macht nichts an. Sie führten ihr Leben auf diesem abgeschiedenen Berg, und was jenseits des Eichenwaldes geschah, kümmerte sie wenig. Seit undenklichen Zeiten hatte niemand den heiligen Ort erstürmt. Er stellte die einzige Frage, die für sie beide eine Rolle spielte: «Ist er ein Christ, dieser junge Artus? Wird er im Namen dieses neuen Gottes den Tempel niederreißen, oder wird er achten, was vor ihm war?»
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Ich antwortete ihm ruhig und wahrheitsgemäß, so gut ich konnte: «Er wird von den christlichen Bischöfen gekrönt werden und das Knie vor dem Gott seiner Eltern beugen. Aber er ist ein Kind dieses Landes, und er kennt die Götter dieses Landes ebenso wie die Menschen, die diesen Göttern auf den Bergen und an den Quellen und Furten dienen.» Mein Blick war auf ein breites Regal gegenüber dem Feuer gefallen; dort befand sich, sorgfältig aufgebaut, eine Fülle von Gegenständen. Ich hatte ähnliche Dinge in Pergamon und anderen geheiligten Orten gesehen. Es waren Opfergaben an die Götter, modellierte Nachbildungen von Körperteilen oder geschnitzte Statuen von Säugetieren oder Fischen; sie alle bedeuteten irgendeine flehentliche Bitte oder sollten Dankbarkeit ausdrücken, «Ihr könnt sicher sein», sagte ich zu Mog, «daß seine Truppen durchziehen werden, ohne Euch ein Leid zuzufügen, und daß er, wenn er jemals herkommen sollte, zu diesem Gott beten und eine Opfergabe darbringen wird. Wie ich es tat, und wie ich es immer von neuem tun werde.» «Das ist eine gute Rede», sagte der Knabe plötzlich und entblößte die weißen Zähne zu einem breiten Lächeln. Ich warf ihm einen freundlichen Blick zu und ließ zwei Münzen in seine ausgestreckte Hand fallen. «Für das Heiligtum und für dessen Hüter.» Mog brummte etwas vor sich hin, und der Knabe Konstantin kam auf die Füße und ging zu einem Schrank, der in der Zimmerecke stand. Er kam mit einer Lederflasche und einem angeschlagenen Becher für mich zurück. Mog hob seinen eigenen Becher vom Boden auf, und der Knabe füllte die Becher. «Auf Eure Gesundheit», sagte Mog. Ich gab ihm Bescheid, und wir tranken. Es war Met, süß und stark. Mog nahm noch einen Schluck und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. «Ihr habt uns nach längst vergangenen Zeiten gefragt, und wir haben Euch geantwortet, so gut wie wir konnten. Jetzt erzählt Ihr uns, Sir, was sich dort oben im Norden abgespielt hat. Wir haben hier nur gehört, daß es Schlachten gab, und daß ein König gestorben 53
ist und ein anderer auf den Thron gehoben wurde. Ist es wahr, daß die Sachsen abgezogen sind? Ist es wahr, daß König Uther Pendragon diesen Prinzen die ganze Zeit verborgen hatte und ihn jetzt plötzlich wie mit einem Donnerschlag aus der Versenkung herausgeholt hat, dort auf dem Schlachtfeld, und daß dieser vierhundert Sachsen mit einem Zauberschwert, das sang und Blut trank, getötet hat?» Wieder einmal erzählte ich die Geschichte, während der Knabe still neue Holzscheite auf das Feuer legte und die Flammen emporzüngelten und die sorgfältig geputzten Opfergaben auf dem Regal beleuchteten. Der Hund war, mit dem Kopf auf meinem Fuß, wieder eingeschlafen, und das Feuer wärmte sein krauses Fell. Während ich sprach, wanderte die Flasche hin und her, und der Met darin wurde weniger, und schließlich fiel das Feuer in sich zusammen, und die Scheite wurden zu Asche. Ich beendete meine Erzählung mit Uthers Beisetzung und Artus' Absicht, Caerleon für die Feldzüge im nächsten Frühjahr in Bereitschaft zu versetzen. Mein Gastgeber stellte die Flasche auf den Kopf und schüttelte sie. «Sie ist leer. Und besser habe ich noch keine Nacht zugebracht. Ich danke Euch, Sir, für die Neuigkeiten. Wir leben hier oben nach unserer eigenen Art, aber Ihr werdet wissen, daß auch Dinge, die dort hinten in Britannien geschehen-» er sprach wie von einem fremden Land, das hundert Meilen von seiner stillen Zufluchtsstätte entfernt lag - «ihr Echo, zuweilen schmerzlich und beunruhigend, an einsamen und unbedeutenden Orten haben können. Wir beten zu Gott, daß Ihr Recht behalten mögt, was den neuen König betrifft. Ihr könnt ihm sagen, wenn Ihr ihm jemals so nahe kommen solltet, daß Ihr selbst mit ihm sprechen könnt, daß er, solange er der Heimat treu bleibt, hier zwei Menschen hat, auf die er sich verlassen kann.» «Ich werde es ihm sagen.» Ich erhob mich. «Vielen Dank für die Aufnahme und den Trunk. Es tut mir leid, daß ich Euch im Schlaf gestört habe. Ich werde jetzt gehen und Euch der Nachtruhe überlassen.» «Ihr wollt schon gehen? Der neue Tag bricht bald an. Man hat Euch mit Sicherheit aus Eurem Quartier ausgesperrt. Oder wart Ihr dort unten im Lager? Dann wird Euch ohne die Parole des Königs kein 54
Wachposten durchlassen. Ihr bleibt besser hier. Nein-» als ich protestieren wollte - «wir haben ein Zimmer bereit, so wie in den alten Tagen, als die Menschen von weit her kamen, um hier zu träumen. Das Bett ist gut, und der Raum ist trocken. In manch einem Gasthaus würdet Ihr es nicht besser haben. Tut uns den Gefallen und bleibt hier.» Ich zögerte. Der Knabe nickte mir zu, seine Augen leuchteten, und der Hund, der aufgestanden war, als ich mich erhob, wedelte mit dem Schweif und gähnte wohlig, während er die steif gewordenen Glieder streckte. «Ja. Bleibt hier», bat der Knabe. Ich merkte, daß es ihnen viel bedeutete, daß ich auf ihren Vorschlag einging. Hier zu bleiben hieße, etwas von der geheiligten Atmosphäre des Ortes zurückzuholen; ein Gast im Gästehaus, das so sorgfältig gereinigt und gelüftet wurde, damit es bereit war für Gäste, die nicht mehr kamen. «Ich werde es mit Freuden tun», sagte ich. Mit strahlendem Gesicht stieß Konstantin eine Fackel in die Asche und hielt sie dort, bis sie Feuer fing. «Dann folgt mir, bitte.» Als ich nachging, wickelte sich sein Vater wieder in die Decken neben dem Kamin und sprach die altehrwürdigen Worte des heiligen Ortes. «Schlaft ruhig, mein Freund, und möge der Gott Euch einen Traum senden.» *** Wer ihn auch gesandt haben mochte - der Traum kam, und er war wahr. Ich träumte von Morgause, die ich von Uthers Hof bei Luguvallium mit einer Eskorte über die hohen Penninen und dann südostwärts nach York geschickt hatte, wo ihre Halbschwester Morgan war. Der Traum kam sprunghaft und mit Unterbrechungen, so wie jene Ausblicke, die man von Berggipfeln an einem regnerischen Tag durch die Wolkenfetzen gewinnt. Auch im Traum war es ein solcher Tag. Zuerst sah ich die Reisegruppe am Abend eines feuchten und 55
windigen Tages, als feiner Regen, vom Wind getrieben, die Straße in einen rutschigen Lehmpfad verwandelte. Sie hatten an einem Flußufer Halt gemacht. Die Gegend war mir nicht bekannt. Der Weg führte hinunter in den Fluß hinein; doch was eine flache Furt hätte sein sollen, war jetzt zu reißenden Strudeln weißlicher Wassermassen geworden, die sich an der Insel schäumend brachen, die das Flutwasser teilte wie ein Schiff. Es war kein Haus in Sicht, nicht einmal eine Höhle. Jenseits der Furt wand sich der Weg gen Osten durch regennasse Bäume hindurch und dann ins Gebirge hinaus. Da die Dunkelheit schnell hereinbrach, schien es, als müsse die Gruppe hier die Nacht verbringen und darauf warten, daß sich das Hochwasser verlief. Der Offizier, der das Kommando führte, schien Morgause die Situation zu erklären; ich konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber er sah unwirsch aus, und sein Pferd blieb trotz seiner Ermüdung unruhig. Ich vermutete, daß nicht er diesen Weg gewählt hatte; der übliche Weg von Luguvallium führt über das Hochmoor, biegt bei Brocavum von der Ausfallstraße nach Westen ab und überquert die Berge bei Verterae. Diese gut instand gehaltene, befestigte Straße hätte der Reisegesellschaft Unterkünfte geboten und wäre für jeden Soldaten die bevorzugte Route gewesen. Statt dessen mußten sie die alte Bergstraße genommen haben, die in der Nähe des Lagers am River Lune nach Südosten abzweigt. Ich war nie dort gewesen. Es war keine Straße, die in Ordnung gehalten wurde. Sie führte das Tal des Dubglas hinauf und über das Hochmoor, dann über die Berge durch den Paß, der von den Flüssen Tribuit und Isara gebildet wird. Man nannte diesen Paß die Pennine-Scharte, und in vergangenen Zeiten hatten die Römer diesen Übergang befestigt und die Straßen instand gehalten und kontrolliert. Es ist ein unwirtliches Gebiet - und auch jetzt noch befinden sich unter den Gipfeln und Felswänden oberhalb der Baumgrenze mehrere Höhlen, wo die Alten leben. Wenn dies wirklich die Route war, die Morgause genommen hatte, so konnte ich mich nur verwundert nach dem Grund fragen. Wolken und Nebel; anhaltende graue Regenschauer; der angeschwollene Fluß, der seine weißen Wasserkronen gegen das Treibholz und die geneigten Weiden auf der Flußinsel trieb. Dann verbargen Dunkelheit und ein Zeitsprung die Szene vor mir. 56
Als ich die Reisegruppe das nächste Mal sah, hielten sie irgendwo hoch auf der Paßstraße; zur Rechten erhoben sich bewaldete Berghänge, und nach links fiel das Gelände in ein großes Waldgebiet ab, wo ein Fluß in zahlreichen Windungen durch das breite Tal floß, und jenseits erhoben sich weitere Berge. Sie hatten bei einem Meilenstein in der Nähe der Paßhöhe angehalten. Hier zweigte ein Pfad ab, der bergab zu einer Stelle führte, wo im Talgrund Lichter brannten. Morgause zeigte auf diese hin, und es sah so aus, als sei eine Auseinandersetzung im Gange. Noch immer konnte ich nichts hören, aber der Anlaß für den Disput war offenkundig. Der Offizier war vorgeprescht, um an Morgauses Seite zu gelangen, und beugte sich jetzt im Sattel nach vorn, gestikulierte wild und zeigte zuerst auf den Meilenstein und dann auf den vor ihnen liegenden Weg. Im Abendlicht trat der in den Stein gemeißelte Name OLICANA deutlich hervor. Ich konnte die Entfernungsangabe nicht erkennen, aber was der Offizier sagte, war klar: Daß es eine Torheit wäre, auf die sie in Olicana erwartenden Bequemlichkeiten zu verzichten und statt dessen das Risiko auf sich zu nehmen, ob die in der Ferne liegende Unterkunft (falls sie existierte) die gesamte Reisegruppe würde unterbringen können. Seine Männer, die sich herandrängten, unterstützten ihn ganz offen. Morgauses Frauen beobachteten sie angsterfüllt, man hätte sagen können: inständig flehend. Nach einer Weile gab Morgause mit einer resignierten Handbewegung nach. Die Eskorte formierte sich neu. Lächelnd schlössen sich die Frauen dicht hinter ihr an. Aber bevor die Gruppe auch nur zehn Schritte weitergezogen war, stieß eine der Frauen einen Schrei aus, und dann griff Morgause, die den Zügel ihres Pferdes fahren ließ, mit einer Hand in die Luft, als suche sie einen Halt, und schwankte im Sattel. Wieder schrie jemand. Die Frauen drängten sich heran, um sie zu stützen. Der Offizier wandte sich um, spornte sein Pferd an, um an ihre Seite zu gelangen, und streckte den Arm aus, um sie aufzufangen. Sie sank in sich zusammen und lag regungslos in seinen Armen. 57
Es blieb ihnen jetzt gar nichts anderes mehr übrig, als sich geschlagen zu geben. Binnen weniger Minuten rutschte und trappelte die Gruppe auf ihren Pferden den Pfad in Richtung auf das in der Ferne scheinende Licht im Tal hinab. Morgause, in ihren weiten Mantel eingehüllt, lag bewegungslos und ohne Bewußtsein in den Armen des Offiziers. Ich aber, der ich vor Hexen auf der Hut war, wußte, daß sie im Schutz ihrer pelzbesetzten Kapuze hellwach war und triumphierend vor sich hin lächelte, während Artus' Männer sie zu dem Haus trugen, wohin sie sie aus persönlichen Gründen geführt hatte, und wo sie zu bleiben gedachte. Als sich der Schleier meines Traumes das nächste Mal hob, sah ich ein schön ausgestattetes Schlafgemach, mit einem vergoldeten Bett und roten Bettdecken, sowie ein hellrot brennendes Feuerbecken, das seinen Lichtschein auf die Frau warf, die dort in den Kissen lag. Morgauses Frauen waren bei ihr, dieselben, die sie in Luguvallium bedient hatten; außerdem die junge Zofe mit Namen Lind, die Artus zum Bett ihrer Herrin geleitet hatte, und die alte Frau, die während der ganzen Nacht in betäubtem Schlummer gelegen hatte. Das Mädchen Lind sah bleich und müde aus; ich erinnerte mich, daß Morgause, in ihrer Wut auf mich, sie hatte peitschen lassen. Sie diente ihrer Herrin furchtsam, mit zusammengekniffenen Lippen und niedergeschlagenen Augen, während die Alte, noch steif von dem langen Ritt, bedächtig ihrer Arbeit nachging und dabei Unverständliches vor sich hin murmelte, aber sich mit Seitenblicken vergewisserte, daß sie ihrer Herrin nicht auffiel. Morgause selbst ließ keinerlei Anzeichen von Krankheit oder auch nur Übermüdung erkennen. Ich hatte derlei auch nicht erwartet. Sie hatte sich in die roten Polster zurückgelehnt und schien mit ihren schmalen, grünen Augen durch die Wände des Gemaches hindurch auf weit entfernte Freuden zu blicken; sie lächelte dasselbe Lächeln, das ich auf ihren Lippen gesehen hatte, als Artus schlafend neben ihr lag. Ich muß, durch Haß und Gram aus dem Traum aufgerüttelt, in diesem Augenblick aufgewacht sein, aber die Hand des Gottes lag noch auf mir, denn ich kehrte in den Schlaf und in dasselbe Gemach 58
zurück. Es mußte später gewesen sein, nach einer gewissen Zeitspanne, vielleicht nach Tagen; jedenfalls so lange, wie es Lot, den König von Lothian, gekostet hatte, das Ende der Feierlichkeiten in Luguvallium abzuwarten, dann seine Krieger zu versammeln und sich auf demselben Weg, erst in südlicher und dann in östlicher Richtung, nach York auf den Weg zu machen. Ohne Zweifel war seine Hauptmacht der direkten Route gefolgt, er aber hatte, begleitet von einer kleinen, mit schnellen Pferden ausgestatteten Gruppe, den Ort aufgesucht, wo er sich mit Morgause treffen wollte. Denn daß dieses Rendezvous vorbereitet war, schien mir jetzt klar zu sein. Sie mußte ihm, bevor sie selbst den Hof verließ, eine Nachricht haben zukommen lassen; dann hatte sie ihre Eskorte gezwungen, langsam zu reiten, um Zeit zu gewinnen, und hatte es dann schließlich durch die vorgetäuschte Erkrankung verstanden, Zuflucht in dem abgeschiedenen Hause eines Freundes zu suchen. Ich glaubte zu wissen, was sie vorhatte. Da es ihr nicht gelungen war, durch Artus' Verführung an die Macht zu gelangen, hatte sie Lot irgendwie zu diesem Stelldichein überredet und war jetzt entschlossen, alle ihre Ränke spielen zu lassen, um sich seiner Gunst zu vergewissern und eine Machtstellung am Hof ihrer Schwester, Lots künftiger Königin, zu erreichen. Im nächsten Augenblick, als sich der Traum verschob, erkannte ich, welche Ränke sie ins Spiel brachte. Irgendeine Art von Hexerei, vermute ich, aber eine Liste, derer sich jede Frau zu bedienen versteht. Da war wieder die Schlafkammer mit dem Feuerbecken, das seine Wärme verbreitete, und daneben, auf einem niedrigen Tisch, Essen und Wein in silbernem Geschirr. Morgause stand neben dem Feuer, dessen rötlicher Widerschein auf ihrem weißen Gewand und ihrer zarten Haut spielte und einen Schimmer auf ihre langen, glänzenden Haare legte, die ihr über die Schultern bis zur Taille herabfielen . . . Auch ich, der sie verabscheute, mußte zugeben, daß sie sehr reizvoll war. Die länglichen, grün-goldenen Augen, die von goldenen Wimpern dicht umrandet waren, beobachteten die Tür. Sie war allein. 59
Die Tür öffnete sich, und Lot kam herein. Der König von Lothian war ein großer, dunkelhaariger Mann mit kräftigen Schultern und sprühenden Augen. Er hatte eine Schwäche für Juwelen und war behängt mit Arm- und Fingerringen und einer Brustkette, die mit Topasen und Amethysten besetzt war. An seiner Schulter, wo die langen, schwarzen Haare seinen Mantel berührten, steckte eine herrliche Nadel aus Granaten und geschmiedetem Gold, nach sächsischer Art. Sicherlich ein Gastgeschenk von Colgrim persönlich, dachte ich grimmig. Haar und Mantel waren regennaß. Morgause sagte etwas. Ich konnte nichts hören. Es war nur eine Vision von Bewegung und Farbe. Sie machte keine Anstalten, ihn willkommen zu heißen, was er auch nicht erwartet zu haben schien. Er zeigte keine Überraschung, sie hier zu sehen. Er sprach einmal kurz, beugte sich dann zu dem Tisch hinab und goß Wein aus dem silbernen Krug mit solcher Hast und Unachtsamkeit in einen Becher, daß die rote Flüssigkeit über den Tisch und bis hinunter auf den Boden schwappte. Morgause lachte. Von Lot kam kein Lächeln als Erwiderung. Er trank den Wein aus, als ob er ihn unbedingt nötig hätte, warf dann den Becher zu Boden, ging an dem Feuerbecken vorbei und ergriff mit seinen großen Händen, denen man den Schmutz des Ritts noch ansah, ihr Gewand zu beiden Seiten des Halses; er riß den Stoff auseinander und entblößte ihren Körper bis zum Nabel. Dann packte er sie und preßte seinen Mund auf den ihren, als wolle er sie verschlingen. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, die Tür zu schließen. Ich sah, wie diese weiter aufging und das Mädchen Lind, zweifellos aufgeschreckt durch das Geräusch des heruntergefallenen Bechers, bleich vor Angst hereinschaute. Wie Lot schien sie nicht überrascht zu sein; aber vielleicht durch die Gewalttätigkeit des Mannes entsetzt, zögerte sie, als wolle sie ihrer Herrin zu Hilfe kommen. Aber dann sah sie, wie auch ich es gesehen hatte, den halbnackten Körper dahinschmelzen, sich an die Gestalt des Mannes klammern und beobachtete, wie die Hände der Frau in die schwarzen, nassen Haare fuhren. Das zerrissene Gewand rutschte zu Boden. Morgause sagte etwas und lachte. Der Griff des Mannes verschob sich. Lind schrak 60
zurück, und die Tür schloß sich. Lot nahm Morgause auf die Arme und trug sie vier lange Schritte bis zum Bett. Die Verführungskünste einer Hexe in der Tat. Auch für eine Vergewaltigung wäre alles sehr schnell vor sich gegangen - für eine Verführung jedoch stellte es einen Rekord dar. Man möge mich naiv oder dumm oder was auch immer nennen, aber zunächst konnte ich im Nebel meines Traums nur denken, daß irgendein Zauber am Werk gewesen sei. Ich dachte zunächst, daß dem Wein ein Zaubertrank beigemischt war, der Becher der Circe, der Männer zu Tieren macht. Erst etwas später, als der Mann eine Hand ausstreckte und den Docht der Lampe etwas heraufschraubte, und die Frau, schlaftrunken und vom Liebesspiel benommen, sich gegen die roten Kissen lächelnd aufsetzte und die Pelzdek-ken heranzog, um sich zu verhüllen, begann ich die Wahrheit zu ahnen. Er tappte über seine am Boden liegenden Kleider zum Tisch, goß sich noch einen Becher Wein ein, trank ihn aus, füllte ihn wieder und brachte ihn Morgause. Dann stieg er wieder ins Bett, lehnte sich gegen das Kopfende und begann zu sprechen. Sie, die halb aufrecht saß und sich an ihn lehnte, nickte und antwortete ihm ernsthaft und ausführlich. Während sie miteinander sprachen, streichelte er ihre Brüste; er tat es halb geistesabwesend, was für einen Mann wie Lot, der sich auf Frauen verstand, nur natürlich war. Aber Morgause, die Jungfer mit dem aufgelösten Haar und der schüchternen, leisen Stimme? Morgause bemerkte die Geste ebensowenig wie der Mann. Erst in diesem Augenblick erkannte ich plötzlich die Wahrheit. Sie waren schon früher hier gewesen. Sie waren Vertraute. Schon bevor sie mit Artus geschlafen hatte, hatte Lot sie besessen, und zwar viele Male. Sie waren einander so gewöhnt, daß sie nackt im Bett beieinander liegen und ernst miteinander reden konnten . . . Aber worüber? Verrat. Dies war natürlich mein erster Gedanke. Verrat am Hochkönig, den beide aus verschiedenen Gründen haßten. Morgause, weil sie seit langem eifersüchtig auf ihre Halbschwester war, die ihr gegenüber immer den Vorrang hatte. Sie hatte sich Lots bemächtigt und ihn in ihr Bett genommen. Es hatte vermutlich auch schon andere Liebhaber gegeben. Dann 61
versuchte Lot in Luguvallium, die Macht an sich zu reißen. Er scheiterte, und Morgause, die nicht ahnen konnte, daß Artus ihn aufgrund seiner eigenen Stärke und Nachsicht in den Kreis seiner Bundesgenossen aufnehmen würde, wandte sich in ihrem verzweifelten Machtstreben Artus zu. Und jetzt? Von ihr ging ein gewisser Zauber aus. Es war möglich, daß sie, ebenso wie ich, wußte, daß sie im Inzest jener Nacht mit Artus ein Kind empfangen hatte. Einen Gatten mußte sie haben, und wer war besser als Lot? Falls er sich überzeugen ließ, daß das Kind das seinige war, konnte sie die verhaßte jüngere Schwester um Ehe und Krone prellen und sich ein Nest bauen, wo der Kuckuck in Sicherheit zur Welt kommen konnte. Es sah aus, als würde sie Erfolg haben. Als ich wieder durch den Traumnebel hindurchsehen konnte, lachten die beiden zusammen; sie hatte ihren Körper von den Bettdek-ken befreit und saß auf den Pelzen, gegen die rote Bespannung des Kopfendes gelehnt; die goldenen Haare flössen ihr wie ein seidener Mantel den Rücken herab. Die Vorderseite ihres Leibes war nackt, und auf ihrem Kopf saß Lots königliches, weißgoldenes Diadem, auf dem die Zitrine und die milchig-blauen Perlen der Flüsse des Nordens schimmerten. Ihre schmalen Augen blitzten wie die einer schnurrenden Katze, und der Mann hob lachend den Becher und trank ihr zu. Dabei schwappte etwas Wein über den Rand des Bechers und rann ihr wie Blut über die Brüste. Sie lächelte und rührte sich nicht; der König beugte sich lachend vor und leckte ihr den Wein von der Haut. Der Rauch wurde dicker. Ich konnte ihn förmlich riechen, als ob ich selbst dort in dem Raum, dicht neben dem Feuerbecken wäre. Dann erwachte ich in der kühlen und stillen Nacht, aber der Alptraum rann mir noch wie Schweiß über die Haut. Auf jeden außer auf mich, der ich die beiden so gut kannte, hätte die Szene keinen anstößigen Eindruck gemacht. Das Fl Mädchen war liebreizend, und der Mann machte eine gute Figur und wenn sie ein Liebespaar waren, dann hatte sie das Recht, ein Auge auf seine Krone zu werfen. Szenen wie diese konnte man zu 62
Dutzenden an Sommerabenden unter dem Sternenhimmel in der freien Natur erleben. Aber um eine Krone, auch eine solche wie Lots, ist etwas Heiliges; sie ist ein Symbol jenes Geheimnisses: dem Bund zwischen Gott und König, König und Volk. Und die Krone auf diesem lüsternen Haupt zu sehen, während der König selbst die seiner Königswürde entkleidete Stirn senkt, hatte etwas Ruchloses an sich wie Speichel auf einem Altarstein. Ich erhob mich, tauchte den Kopf ins Wasser und wusch den Anblick hinweg. 5 Als wir Caerleon gegen Mittag des nächsten Tages erreichten, trocknete die Oktobersonne den Boden, und Rauhreif lag indigoblau im Schatten der Mauern und Gebäude. Die schwarzen Äste der Erlen am Flußufer waren wie mit goldenen Münzen behängt; vor dem Hintergrund des blassen Himmels wirkten sie wie Stickerei. Dürres Laub, von Reif überzuckert, knirschte und raschelte unter den Hufen unserer Pferde. Der Duft nach frischem Brot und gebratenem Fleisch zog von den Lagerküchen her durch die Luft und brachte mir den Besuch wieder in Erinnerung, den ich mit Tremorinus, dem Ingenieur, hier abgestattet hatte; er hatte das Lager für Ambrosius umgebaut und in seine Pläne auch die besten Küchen im Lande aufgenommen. Ich erzählte es meinem Begleiter - es war mein alter Freund Caius Valerius -, und er brummte anerkennend. «Laß uns hoffen, daß sich der König Zeit zum Essen nimmt, bevor er mit seiner Inspektion anfängt.» «Ich glaube, damit können wir rechnen.» «Ach, ja, er ist noch im Wachstum.» Die Worte wurden mit einer Art nachsichtigem Stolz ohne den geringsten Anflug von Herablassung ausgesprochen. Aus Valerius' Munde klangen sie gut; er war ein Veteran, der mit Ambrosius bei Kaerconan und dann für Uther gekämpft hatte; er war außerdem einer der Hauptleute, die mit Artus in dem Gefecht am Glein gestanden hatten. Wenn Männer seines Schlages den jungen König mit Respekt akzeptieren konnten und ihm als Führer vertrauten, dann war meine Aufgabe in der Tat erfüllt. Der Gedanke kam mir ohne irgendein Gefühl des Verlustes oder Abstiegs, 63
sondern eher mit einer Art von Erleichterung, die mir neu war. Ich werde alt, dachte ich. Mir wurde bewußt, daß mich Valerius etwas gefragt hatte. «Verzeihung, ich war mit meinen Gedanken woanders. Was hast du gesagt?» «Ich habe gefragt, ob du bis zur Krönung hier zu bleiben gedenkst?» «Ich glaube nicht. Vielleicht braucht er mich hier noch eine Weile, wenn er einen weiteren Ausbau vorhat. Ich hoffe, nach Weihnachten abreisen zu dürfen, aber zur Krönung werde ich zurückkommen.» «Falls uns die Sachsen Zeit lassen, diese abzuhalten.» «Du sagst es. Die Feier bis Pfingsten aufzuschieben, scheint mir etwas riskant zu sein, aber die Bischöfe haben diesen Zeitpunkt gewählt, und der König ist gut beraten, wenn er ihnen hierbei nicht dreinredet.» Valerius brummte: «Wenn sie sich dazu entschlossen haben und ernsthaft darum beten, wird Gott vielleicht die Frühjahrsoffensive ihnen zuliebe verschieben. Pfingsten, sagst du? Glaubst du, sie hoffen, daß wieder Feuer vom Himmel regnet. . . diesmal vielleicht für sie?» Er warf mir einen Seitenblick zu. «Was meinst du dazu?» Ich kannte zufällig die Legende, auf die er anspielte. Seit das weiße Feuer in die Gefahr bringende Kapelle gekommen war, hatten die Christen oft auf ihre Überlieferung Bezug genommen, daß nämlich einst, zu Pfingsten, das Feuer vom Himmel auf die auserwählten Diener ihres Gottes herabgefallen sei. Ich sah keinen Grund, über eine derartige Auslegung dessen, was in der Kapelle geschehen war, mit ihnen zu streiten: Es war notwendig, daß die Christen, deren Macht ständig wuchs, Artus als ihren von Gott ernannten Führer anerkannten. Außerdem hatten sie meines Erachtens recht. Valerius wartete noch auf meine Antwort. Ich lächelte. «Wenn sie wissen, aus wessen Hand das Feuer herabfällt, dann wissen sie mehr als ich.» «O ja, das ist anzunehmen.» Seine Stimme hatte einen spöttischen Unterton. Valerius war zum Garnisonsdienst in Luguvallium eingeteilt 64
gewesen, als Artus in jener Nacht das Schwert aus dem Feuer in der Kapelle hob, aber wie alle anderen hatte er die Erzählung gehört. Und wie alle anderen, die diese Geschichte nur vom Hörensagen kannten, schrak er vor den dortigen Geschehnissen zurück. «Du verläßt uns also nach Weihnachten? Darf man wissen, wohin du gehst?» «Ich kehre heim nach Maridunum. Es ist fünf- nein, sechs Jahre her, seit ich das letzte Mal dort war. Zu lange. Ich möchte nachsehen, ob dort alles in Ordnung ist.» «Dann richte es so ein, daß du wirklich zur Krönung wieder zurück bist. Zu Pfingsten werden hier große Dinge geschehen. Es wäre schade, sie sich entgehen zu lassen.» Bis dahin, dachte ich bei mir, würde ihre Zeit ungefähr gekommen sein. Laut sagte ich: «O ja. Mit oder ohne Sachsen werden wir zu Pfingsten große Dinge erleben.» Dann sprachen wir von anderen Ereignissen, bis unsere Quartiere erreicht waren und wir aufgefordert wurden, mit dem König und seinen Offizieren an der Fleischmahlzeit teilzunehmen. *** Caerleon, die alte römische Legionärsstadt, war von Ambrosius wieder aufgebaut worden und ist seither als Garnison in gutem Zustand erhalten geblieben. Artus ging jetzt daran, den Ort fast auf seine ursprüngliche Größe zu erweitern und ihn außerdem zur Residenz des Königs und zur Festung zu machen. Die alte Königsstadt Winchester lag nach seiner Meinung zu nahe an den Grenzen des von den Sachsen gehaltenen Territoriums; außerdem war sie zu verwundbar bei einer neuen Invasion, denn sie lag am Ufer des Itchen, wo Langboote schon früher gelandet waren. London wurde noch immer unangefochten von den Briten gehalten; auch hatten die Sachsen bisher noch nicht versucht, im Tal der Themse weiter vorzustoßen, doch waren zu Uthers Zeit die Langboote bis nach Vagniacae vorgedrungen, und Rutupiae und die Insel Thanet waren seit langem fest in sächsischer Hand. Von dort drohte Gefahr, und sie nahm mit jedem Jahr zu, und seit Uthers Thronbesteigung hatte London begon65
nen - zunächst kaum wahrnehmbar, aber dann immer deutlicher -, Verfallserscheinungen zu zeigen. Jetzt waren in der Stadt viele Gebäude eingestürzt, weil sie alt waren und vernachlässigt; Armut trat überall zu Tage, da die Märkte jetzt woanders abgehalten wurden und diejenigen, die es sich leisten konnten, an weniger gefährdete Orte zogen. Es hieß, London würde nie wieder eine Hauptstadt sein. Bis seine neue Festung so weit war, jeder massiven Invasion der Sachsen standzuhalten, plante Artus, Caerleon zu seinem Hauptquartier zu machen. Der Platz bot sich dazu förmlich an. Acht Meilen entfernt lag die Hauptstadt von Ynyrs Königreich Guent, und die Festung, die in einer Flußschleife oberhalb der Hochwassermarke lag, hatte Berge im Rücken und war im Osten, beim Zusammenfluß von Isca und dem kleinen Fluß Afon Lwyd, noch zusätzlich durch Sümpfe geschützt. Natürlich konnte Caerleon nur einen kleinen Teil des Gebietes, über das Artus seinen Schild hielt, verteidigen. Aber im Augenblick konnte es als Hauptquartier für seine Strategie der beweglichen Verteidigung dienen. Ich blieb während dieses ganzen ersten Winters bei ihm. Einmal fragte er mich, und zog dabei lächelnd die Augenbrauen in die Höhe, ob ich ihn nicht verlassen wolle, um mich in meine Höhle in den Bergen zurückzuziehen; aber ich sagte bloß: «Später», und ließ es dabei bewenden. Ich erzählte ihm nichts von dem Traum, den ich in jener Nacht an Nodens' Schrein gehabt hatte. Er hatte den Kopf mit anderen Dingen voll, und ich war nur zu dankbar, daß er die möglichen Folgen jener Nacht mit Morgause vergessen zu haben schien. Es war immer noch Zeit genug, mit ihm darüber zu sprechen, wenn die Nachricht von der Hochzeit aus York kam. Diese Nachricht traf rechtzeitig ein, um die Vorbereitungen des Hofstaats für die Reise nach Norden, wo man Weihnachten feiern wollte, abzubrechen. Zuerst kam ein langer Brief der Königin Ygraine an den König; ein weiterer traf mit demselben Kurier für mich ein und wurde mir übergeben, als ich am Flußufer spazierenging. Den ganzen Vormit66
tag über hatte ich zugesehen, wie dort eine Wasserleitung gebaut wurde. Aber im Augenblick ruhte die Arbeit, da sich die Männer um die Mittagszeit zu Brot und Wein entfernt hatten. Die Truppen, die in der Nähe des alten Amphitheaters exerziert hatten, waren abgerückt, und der Wintertag war still und sonnig - nur vereinzelt hing etwas Nebel über dem Gelände. Ich dankte dem Mann und wartete, den Brief in der Hand, bis er gegangen war. Dann erbrach ich das Siegel. Der Traum war in Erfüllung gegangen. Lot und Morgause hatten geheiratet. Bevor Königin Ygraine mit ihrem Gefolge York erreichte, war ihnen die Nachricht, daß die Liebenden den Ehe vertrag unterzeichnet hatten, überbracht worden. Morgause - ich las hier zwischen den Zeilen - war mit Lot in die Stadt eingeritten, triumphierend und mit seinen Juwelen geschmückt, und die Stadt, die sich auf eine königliche Hochzeit in Anwesenheit des Hochkönigs vorbereitete, machte aus der Not eine Tugend und hielt, mit der Sparsamkeit, wie sie den Menschen im Norden eigen ist, das Hochzeitsfest trotzdem ab wie geplant. Der König von Lothian, schrieb Ygraine, habe sich ihr gegenüber unterwürfig gezeigt und den Ältesten der Stadt Geschenke gemacht, so daß er nicht unfreundlich empfangen worden sei. Und Morgan -ich konnte die Erleichterung aus den einfachen Worten herauslesen -, Morgan habe weder Zorn noch Demütigung erkennen lassen; sie habe laut gelacht und dann geweint, als fühle sie sich erlöst. Sie sei in einem leuchtend roten Gewand zu dem Festmahl gegangen, und kein Mädchen sei ausgelassener gewesen, obwohl (schloß Ygraine mit einem Anflug ätzenden Spotts) Morgause ihre neue Krone vom Aufstehen bis zum Schlafengehen getragen habe ... Auch die Königin selbst schien meines Erachtens irgendwie erleichtert zu sein. Morgause hatte ihr verständlicherweise nie besonders nahegestanden, während Morgan das einzige Kind war, dessen Erziehung sie sich gewidmet hatte. Es war klar, daß sowohl sie als auch Morgan trotz ihrer Bereitschaft, König Uther zu gehorchen, die Ehe mit dem 67
schwarzen Wolf aus dem Norden verabscheut hatten. Ich fragte mich allerdings, ob Morgan mehr über ihn wußte, als sie ihrer Mutter erzählt hatte. Es war sogar möglich, daß sich Morgause in ihrer bekannten Art damit gebrüstet hatte, sie und Lot hätten bereits miteinander geschlafen. Ygraine zeigte keinerlei Argwohn in dieser Hinsicht, auch nicht bezüglich einer Schwangerschaft der Braut als eventuellen Grund für die übereilte Eheschließung. Man konnte nur hoffen, daß auch in dem Brief, den sie an Artus gerichtet hatte, keine Andeutung in dieser Richtung enthalten war. Er hatte jetzt zu viele andere Sachen im Kopf; für den Zorn und den Gram gab es später noch Zeit. Erst mußte er gekrönt werden und freie Hand haben für die schwere Aufgabe, einen Krieg zu führen, ohne sich dabei die Hände binden zu lassen durch Frauenangelegenheiten - die nur zu bald meine eigenen werden sollten. #** Artus warf den Brief zu Boden. Man sah ihm an, daß er sich ärgerte, aber er beherrschte sich. «Na? Ich nehme an, du weißt schon alles?» «Ja.» «Wie lange weißt du es schon?» «Die Königin, deine Mutter, hat mir geschrieben. Ich habe den Brief soeben gelesen. Ich vermute, daß er dieselben Neuigkeiten enthält, wie dein Brief.» «Danach habe ich dich nicht gefragt.» Ich sagte ruhig: «Wenn du mich fragst, ob ich gewußt habe, was geschehen wird, dann lautet meine Antwort-ja.» Der zornige Gesichtsausdruck verstärkte sich. «Du hast es gewußt? Warum hast du mir nichts davon gesagt?» «Aus zwei Gründen. Weil du mit anderen Dingen beschäftigt warst, die wichtiger sind, und weil ich mir nicht ganz sicher war.» «Du? Nicht sicher? Ach komm, Merlin! Das sieht dir nicht ähnlich!» 68
«Artus, alles, was ich in dieser Angelegenheit erfuhr oder ahnte, kam vor einigen Wochen in einem Traum zu mir. Es war nicht ein gewöhnlicher Traum oder eine göttliche Eingebung, sondern ein Alptraum, der durch zuviel Wein oder zu viele Gedanken über diese Hexe und ihre Werke und Taten heraufbeschworen wurde. Ich mußte an König Lot ebenso denken wie an sie. Ich träumte, ich sähe sie zusammen, und sie versuchte, sich seiner Krone zu bemächtigen. Glaubst du etwa, das hätte genügt, dir einen Bericht vorzulegen, der den Hof veranlaßt hätte, die Ohren zu spitzen und dich womöglich nach York in Marsch gesetzt hätte, um eine Auseinandersetzung mit ihm heraufzubeschwören?» «Es hätte genügt.» Er machte noch immer einen eigensinnigen und verärgerten Eindruck. Ich erkannte, daß sein Zorn der Befürchtung entsprang, er könne Lots Absichten zum falschen Zeitpunkt durchkreuzen. «Früher vielleicht, als ich noch der Prophet des Königs war. Nein», sagte ich, als er eine heftige Bewegung machte, «ich diene keinem anderen. Ich gehöre dir, wie immer. Aber ich bin kein Prophet mehr, Artus. Ich glaubte, du wüßtest es?» «Wie könnte ich es verstehen? Was meinst du damit?» «Ich will damit sagen, daß mir in jener Nacht zu Luguval-lium, als du das Schwert aufhobst, das ich für dich im Feuer verborgen hatte, die Kraft zum letzten Mal zuteil wurde. Du hast den Ort danach nicht mehr gesehen, als das Feuer verglüht und die Kapelle leer war. Es hatte den Stein, in dem das Schwert lag, zerbrochen und die heiligen Gegenstände vernichtet. Mir hat das Feuer nichts anhaben können, aber ich glaube, daß die Kraft aus mir herausgebrannt wurde, vielleicht für immer. Feuer werden zu Asche, Artus. Ich dachte, du hättest so etwas geahnt.» «Wie hätte ich es ahnen können?» wiederholte er, aber sein Tonfall hatte sich verändert. Er klang nicht mehr zornig und schroff, sondern bedächtig und nachdenklich. Wie ich nach den Ereignissen von Luguvallium das Gefühl gehabt hatte, alt zu werden, so war Artus 69
jetzt endgültig dem Knabenalter entwachsen. »Du warst so wie immer. Bei klarem Kopf und so selbstsicher, daß man das Gefühl hatte, ein Orakel zu befragen.» Ich lachte. «Meine Gedanken waren nicht immer so klar, keineswegs! Da brabbelten alte Frauen oder törichte Mädchen im Nebel. Wenn ich in diesen letzten Wochen meiner selbst sicher gewesen bin, so deshalb, weil der Rat, um den ich gebeten habe, nur meine eigenen Fähigkeiten betrifft -sonst nichts.» <«Sonst nichts?> Man sollte meinen, mehr könne ein König nicht erwarten, wenn dies alles wäre, was er jemals von dir erfahren hat. . . Doch ja, ich glaube, ich begreife jetzt. Es ist dasselbe für dich wie für mich; die Träume und Erscheinungen sind vergangen, und jetzt müssen wir ein Leben nach den Spielregeln der Menschen führen. Ich hätte dies verstehen sollen. Dir wurde es klar, als ich Colgrim auf den Fersen blieb.» Er trat hinüber zu dem Tisch, wo Ygraines Brief lag, und legte eine Faust auf die Marmorplatte. Er stützte sich auf seinen Arm, blickte stirnrunzelnd nach unten, schien aber nichts zu sehen. Dann schaute er auf. «Und was werden uns die nächsten Jahre bringen? Die Kämpfe werden verbissen sein und weder in diesem noch im nächsten Jahr zu einem Ende kommen. Willst du mir sagen, daß du mir nicht mehr helfen willst? Ich meine nicht deine Kriegsmaschinen oder deine ärztliche Kunst; ich frage dich, ob du mir jenen nicht geben wirst, von dem mir die Soldaten erzählerj - die Hilfe, die du Ambrosius und meinem Vater hast zuteil werden lassen?» Ich lächelte. «Doch, gewiß.» Er dachte sicher an die Wirkung meiner Prophezeiungen und manchmal auch meiner bloßen Anwesenheit auf die Kampftruppen. «Die Meinung der Soldaten über mich wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Und warum sollten weitere Prophezeiungen hinsichtlich der Kriege, die du führen willst, notwendig sein? Weder du noch deine Truppen müssen immer wieder daran erinnert werden. Sie wissen, was ich gesagt habe. Dort auf dem Schlachtfeld, das so groß ist wie Britannien, gibt es Ruhm für dich und für sie zu gewinnen. Du wirst Erfolge 70
haben, und immer neue Erfolge, und zu guter Letzt - ich weiß nicht, wann das sein wird - wirst du den Sieg erringen. Das ist es, was ich dir sagte, und es ist noch immer die Wahrheit. Es ist das Werk, auf dessen Vollendung du vorbereitet worden bist: geh hin und tu es, und überlasse mir, einen Weg zu finden, wie ich meine Aufgabe erfüllen kann.» «Welches ist deine Aufgabe, jetzt, da du dein Adlerjunges flügge gemacht hast, und selbst auf der Erde zurückbleibst? Auf den Sieg zu warten und mir dann zu helfen, alles neu aufzubauen?» «Zu gegebener Zeit.» Ich wies auf den zerknitterten Brief. «Aber im Augenblick muß ich mich mit diesen Dingen befassen. Nach Pfingsten werde ich, mit deiner Erlaubnis, gen Norden nach Lothian gehen.» Einen Augenblick trat Schweigen ein, und ich sah Erleichterung in seinem Gesicht. Er fragte mich nicht, was ich dort zu tun gedächte, sondern sagte bloß: «Ich bin froh darüber, das weißt du. Ich glaube, wir brauchen uns nicht darüber zu unterhalten, warum dies alles geschehen ist?» «Nein.» «Du hattest natürlich gleich zu Anfang recht. Wie immer. Was sie wollte, war Macht; und es kam ihr nicht darauf an, wo sie sich Macht verschaffen konnte. Auch die Mittel waren ihr einerlei. Ich sehe das jetzt klar vor mir. Ich kann mich nur freuen, von allen Ansprüchen, die sie mir gegenüber geltend machen könnte, befreit zu sein.» Mit einer kleinen Handbewegung schob er Morgause und ihre Intrigen beiseite. «Aber zweierlei bleibt noch übrig. Das Wichtigste ist, daß ich Lot vorläufig noch als Verbündeten brauche. Du hattest wieder einmal recht, als du mir von deinem Traum nichts gesagt hast. Ich hätte sicherlich einen Streit mit ihm begonnen. So wie die Lage jetzt ist.» Er hielt inne und zuckte mit den Schultern. Ich nickte. «So wie die Lage jetzt ist, kannst du Lots Heirat mit deiner Halbschwester hinnehmen und diese Verbindung als ausreichenden Grund für seine Bündnistreue ansehen. Königin Ygraine hat, so scheint es, klug gehandelt - auch Morgan, deine Schwester. Es ist schließlich die Verbindung, die König Uther 71
ursprünglich im Sinn gehabt hat. Wir brauchen uns jetzt über die Gründe nicht mehr zu unterhalten.» «Um so weniger», sagte er, «als Morgan offenbar durchaus einverstanden ist. Wenn sie sich hintergangen gefühlt hätte . . . Dies war das zweite Problem, von dem ich sprach. Aber es scheint jetzt keine Schwierigkeit mehr zu sein. Hat dir die Königin in ihrem Brief gesagt, daß Morgan nichts als Erleichterung empfunden hat?» «Ja. Ich habe den Kurier, der die Briefe aus York überbrachte, gefragt. Von ihm erfuhr ich, daß sich Urbgen von Rheged zur Hochzeit in York einfand und daß Morgan kaum das Auge von ihm wandte.» Urbgen war jetzt König in Rheged, seit König Coel bald nach der Schlacht von Luguvallium gestorben war. Der neue König war Ende Vierzig, ein hervorragender Krieger und ein kräftiger und gutaussehender Mann. Er war seit zwei oder drei Jahren verwitwet. Artus' Züge belebten sich. «Urbgen von Rheged? Das wäre eine großartige Verbindung! Sie wäre mir seit langem die liebste gewesen; als aber der Ehevertrag mit Lot geschlossen wurde, lebte Urbgens Gattin noch. Urbgen, ja ... Neben Maelgon von Gwynedd ist er der beste Kämpfer im Norden, und über seine Loyalität hat es nie einen Zweifel gegeben. Mit diesen beiden könnte ich den Norden fest in der Hand behalten. . .» Ich beendete den Satz für ihn: «Und Lot und seine Königin tun lassen, was ihnen beliebt?» «Genau. Glaubst du, daß Urbgen sie nehmen würde?» «Er wird sich glücklich schätzen. Und ich glaube, daß sie es bei ihm weit besser haben würde als bei dem ändern. Du kannst damit rechnen, daß du schon bald eine weitere Kuriernachricht erhalten wirst. Und dies ist mehr als nur eine bloße Prophezeiung.» «Merlin, macht es dir etwas aus?» Es war der König, der mir diese Frage stellte - ein Mann, der so alt und erfahren wie ich selbst war; ein Mann, der über seine eigenen vielfältigen Probleme hinausblicken konnte und ahnte, was es 72
für mich bedeutete, in toter Luft zu wandeln, wo die Welt einstmals ein von Gott erfüllter Garten gewesen war. Ich dachte einen Augenblick nach, bevor ich ihm antwortete. «Ich bin mir nicht sicher. Es hat auch schon früher solche Zeiten gegeben, passive Zeiten, Ebbe nach der Flut; aber niemals habe ich, als wir auf der Schwelle zu großen Ereignissen standen, ein Gefühl der Hilflosigkeit gehabt, und ich gestehe, daß es mir zuwider ist. Aber wenn ich etwas gelernt habe in den Jahren, als der Gott bei mir war, so dies: ihm zu vertrauen. Ich bin jetzt alt genug, um in Frieden meiner Wege zu gehen, und wenn ich dich ansehe, weiß ich, daß meine Lebensaufgabe erfüllt ist. Warum sollte ich mich grämen? Ich werde oben auf den Bergen sitzen und dir zusehen, wie du das Werk für mich verrichtest. Das ist der Lohn des Alters.» «Des Alters? Du redest, als ob du ein Graubart wärst! Wie alt bist du?» «Alt genug. Ich bin fast vierzig.» «Aber um Himmels Willen. . .» Und so gingen wir lachend zu einem neuen Thema über. Er zog mich zu dem Tisch neben dem Fenster, wo mein maßstabgerechtes Modell des neuen Caerleon stand, und wir vertieften uns in eine Diskussion. Er sprach nicht wieder von Morgause, und ich dachte: Ich sprach von Vertrauen, aber was für eine Art von Vertrauen ist denn dies? Wenn ich ihn enttäusche, dann werde ich in der Tat nur ein Schatten und ein Name sein, und meine Hand auf dem Schwert von Britannien war nur ein Hohn. Als ich ihn um Erlaubnis bat, nach der Zwölften Nacht nach Maridunum reiten zu dürfen, gab er mir diese halb geistesabwesend; in Gedanken war er bereits bei der nächsten Aufgabe, die er am Morgen zu lösen haben würde. *** Die Höhle, die ich von Galapas, dem Einsiedler, geerbt hatte, lag gute sechs Meilen östlich von Maridunum, der Stadt, die die Mündung des River Tywy beherrscht. Mein Großvater, der König von Dyfed, hatte dort gelebt. Und ich, der ich als wenig beachteter Bastard im 73
königlichen Haushalt aufwuchs, konnte dank eines nachsichtigen Erziehers meine eigenen Wege gehen. Ich hatte mit dem weisen alten Eremiten Freundschaft geschlossen, der in der Höhle auf dem Bryn Myrddin lebte, einem dem Himmelsgott Myrddin, dem Gott des Lichtes und der Winde, geweihten Berg. Galapas ist vor langer Zeit gestorben, aber mit der Zeit machte ich den Ort zu meiner Heimstatt, und die Leute kamen noch immer, um Myrddins Heilquelle aufzusuchen und von mir ärztliche Behandlung und Arzneien zu erhalten. Bald hielt man meine ärztlichen Fähigkeiten sogar für größer als die des Alten, und in gleichem Maße wuchs mein Ruf, ich besäße eine Kraft, die man Magie nennt; deshalb hieß der Ort jetzt bei allen nur noch Merlin's Hill. Ich glaube, daß das einfachere Volk sogar überzeugt war, ich sei Myrddin selbst, der Hüter der Quelle. Am Tywy liegt eine Mühle genau dort, wo der Weg nach Bryn Myrddin von der Hauptstraße abzweigt. Als ich dort ankam, stellte ich fest, daß gerade ein Schleppkahn stromaufwärts angekommen war und festgemacht hatte. Das Zugpferd graste am Ufer, wo es noch etwas Wintergrün finden konnte, während ein junger Mann Säcke entlud. Er war ganz allein bei der Arbeit; sein Schiffer war offenbar an Bord geblieben und stillte seinen Durst; aber für das Entladen der zehn Getreidesäcke, Wintervorrat, der zur Mühle gebracht wurde, genügte ein einzelner Mann. Ein etwa fünf Jahre altes Kind trippelte hin und her, behinderte die Arbeit und redete unaufhörlich in einem Kauderwelsch aus Walisisch und einer anderen Sprache, die mir zwar bekannt vorkam, von dem Kind - das außerdem noch lispelte - aber so undeutlich ausgesprochen wurde, daß ich die Worte nicht verstand. Dann antwortete der junge Mann in derselben Sprache. Ich erkannte sie - und zügelte mein Pferd. «Stüicho!» rief ich. Als er den Sack auf den Boden setzte! und sich umdrehte, fügte ich in seiner Sprache hinzu: «Ich] hätte es dich wissen lassen sollen, aber die Zeit war knapp, l und ich konnte nicht damit rechnen, so schnell hier zu sein, l Wie geht es dir?» «Herr!« Er blieb verdutzt einen Augenblick stehen und kam dann über den verunkrauteten Hof zum Straßenrand gelaufen; er wischte sich die Hände an den Hosen ab, ergriff l meine Hand und küßte sie. 74
Ich sah Tränen in seinen Augen J und war gerührt. Er war ein Sizilianer, der mir auf meinen! Reisen als Sklave gedient hatte. In Konstantinopel hatte ich l ihm die Freiheit gegeben, aber er hatte sich entschieden, bei l mir zu bleiben und mit mir nach Britannien zurückzukehren, f und er war mein Diener, als ich auf Bryn Myrddin gelebt i hatte. Als ich nach Norden ging, hatte er Mai, die Tochter des Müllers, geheiratet und war ins Tal gezogen, um in der Mühle zu leben. Er hieß mich herzlich willkommen und redete ebenso i aufgeregt und in derselben verstümmelten Sprache wie das ! Kind. Das Walisisch, das er einmal gelernt hatte, schien ihn heute im Stich zu lassen. Das Kind kam näher, steckte den ] Finger in den Mund und starrte mich an. «Deines?» fragte ich ihn. «Ein prächtiger Knabe.» «Mein Ältester», sagte er stolz. «Alle sind Knaben.» <«Alle>?» fragte ich und zog eine Augenbraue wie zweifelnd in die Höhe. «Nur drei», sagte er, und seine Augen strahlten so wie früher. «Das nächste ist schon unterwegs.» Ich lachte und gratulierte ihm - hoffentlich würde es l wieder ein kräftiger Knabe sein. Diese Sizilianer vermehren sich wie die Kaninchen, aber er würde wenigstens nicht, wie noch sein eigener Vater, gezwungen sein, Kinder in die Sklaverei zu verkaufen, um Essen für die anderen beschaffen zu können. Mai war die einzige Tochter des Müllers und konnte mit einer fetten Erbschaft rechnen. < Sie hatte das Erbe offenbar schon angetreten. Der Müller : war vor zwei Jahren gestorben; er hatte ein Steinleiden gehabt und hatte keinerlei Arzneien zu sich nehmen wollen. Jetzt war er tot, und Stilicho war Müller an seiner Statt. »Aber für Euer Heim ist gesorgt, Herr. Entweder ich oder der Bursche, der für mich arbeitet, reiten jeden Tag hinauf, um ganz sicher zu sein, daß alles in Ordnung ist. Ihr braucht nicht zu befürchten, daß es jemand wagen würde, Eure Behausung zu betreten; Ihr werdet alles wieder so vorfinden, wie Ihr es verlassen habt, und alles ist gelüftet 75
und sauber. .. Aber es sind natürlich keine Lebensmittel dort. Falls Ihr also gleich hinaufreiten wollt...» Er zögerte. Ich sah ihm an, daß er sich scheute, mit seinem Vorschlag herauszurücken. «Wollt Ihr uns nicht die Ehre geben, Herr, heute hier zu übernachten? Dort oben wird es kalt sein, und dazu auch noch feucht, obwohl wir während des Winters jede Woche das Kohlenbecken angezündet haben, wie Ihr es uns aufgetragen habt, um die Bücher trocken zu halten. Bleibt lieber hier, Herr, und der junge Bursche wird hinaufreiten, um das Kohlenbecken anzuzünden, und morgen früh können Mai und ich hinaufgehen...» «Das ist nett von dir», sagte ich, «aber ich werde die Kälte nicht spüren, und vielleicht kann ich das Feuer auch selbst in Gang setzen . . . schneller sogar, als dein junger Mann -glaubst du nicht auch?» Ich mußte über seinen Gesichtsausdruck lächeln; er hatte offenbar einige der Dinge in Erinnerung behalten, die er gesehen hatte, als er dem Zauberer diente. «Vielen Dank also, aber ich will Mai nicht zur Last fallen - außer vielleicht mit etwas Essen. Ich würde mich hier gern eine Weile ausruhen, mit dir sprechen und deine Familie kennenlernen; dann werde ich noch vor Einbruch der Dunkelheit hinaufreiten. Ich kann alles, was ich bis morgen brauchen werde, selbst mitnehmen.» «Natürlich, natürlich ... Ich sage Mai Bescheid. Sie wird sich geehrt fühlen. . . und entzückt sein . . .»Ich hatte bereits ein blasses Gesicht mit weit aufgerissenen Augen hinter einem Fenster flüchtig erkannt. Sie würde entzückt sein, das wußte ich, wenn der unheimliche Prinz Merlin wieder da-vongeritten war; aber ich war von dem langen Ritt ermüdet, und außerdem war mir der Duft von gedünstetem Fleisch inl die Nase gestiegen. Davon konnte sicher noch einer mehr| satt werden. Und Stilicho meinte unbefangen: «Wir habenj bereits ein fettes Huhn im Topf, es besteht also kein Grund i zur Sorge. Kommt mit herein und wärmt Euch etwas auf, | dann ruht bis zum Essen. Bran wird Euer Pferd versorgen, l während ich die letzten Säcke entlade und den Kahn inl die Stadt zurückschicke. Kommt herein, Herr, und Willkom-| men daheim in Bryn Myrddin.» 76
*** Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet an diesen Ritt zu meinem Heim auf dem Bryn Myrddin so genau erinnere;! ich hatte ihn schon vorher oft und oft unternommen. Er hatte! nichts Besonderes an sich; es war lediglich eine Heimkehr, 1 nicht mehr. Aber bis zu diesem so viel späteren Augenblick, da ich diese Zeilen schreibe, ist mir jede Einzelheit dieses Rittes noch lebhaft gegenwärtig. Der hohle Klang der Hufe des j Pferdes auf dem gefrorenen Boden; das Rascheln der Blätter und das Knistern trockenen Reisigs; das Geschwirr einer! Schnepfe und das Flattern einer aufgescheuchten Taube. Dann die Sonne, die langsam am Horizont versank und mit f ihren letzten Strahlen die herabgefallenen Eichenblätter auf-.! leuchten ließ. Das mit Reif überzogene Laub im Schatten j wirkte wie mit Diamanten bestäubt; die Stechpalmenzweige j knackten und hallten wider vom Geschrei der Vögel, die ich i beim Aufpicken der Beeren aufscheuchte; der Geruch nach i feuchtem Wacholder, während mein Pferd durch das Ge-1 strüpp stapfte; der Anblick einer einzigen Ginsterrispe, die { die Sonne vergoldete, während der Nachtfrost den Boden bereits verhärtete und die Luft dünn und rein wie klingendes Kristall zu machen schien. Ich brachte mein Pferd in dem Verschlag unterhalb der l Felswand unter und stieg den Pfad zu der kleinen Bergwiese vor der Höhle hinauf. Und dort sah ich den Eingang zur j Höhle, mit ihrer stillen Geborgenheit und den gewohnten Gerüchen, und dem leisen Lufthauch, wie Samt an Samt reibt, wo die Fledermäuse in den hohen Felsvorsprüngen meine vertrauten Schritte hörten und sich nicht von der Stelle rührten, auf die Dunkelheit wartend. Stilicho hatte mir die Wahrheit gesagt: Der Ort war gut gepflegt, er war trocken und frisch gelüftet, und obwohl es drinnen kühler schien als in der frostigen Außenluft, würde sich dies schnell ändern lassen. Das Feuerbecken war zum Anzünden bereit, und trockene Holzscheite lagen neben der offenen Herdstelle am Höhleneingang. Zunder und Feuersteine lagen an ihrem gewohnten Platz; früher hatte ich mir selten die Mühe genommen, sie zu benutzen, aber diesmal machte ich 77
mit ihnen Feuer. Mag sein, daß ich mich in Erinnerung an eine frühere, tragische Heimkehr beinahe fürchtete, in dieser ruhigen Abgeschiedenheit auch nur die geringste meiner Kräfte auf die Probe zu stellen; aber ich glaube, daß der Entschluß eher aus Vorbedacht denn aus Furcht zustande kam. Falls ich noch immer Zauberkräfte besaß, so wollte ich diese für wichtigere Gelegenheiten aufsparen, statt sie beim Entzünden eines wärmenden Feuers zu vergeuden. Es ist leichter, ein Gewitter bei heiterem Himmel heraufzubeschwören, als das Herz eines Menschen zu beeinflussen; und wenn mich mein Gefühl nicht trog, würde ich schon bald alle Kraft, die ich aufbieten konnte, nötig haben, um sie gegen eine Frau ins Feld zu führen; und dies ist schwieriger zu bewerkstelligen als alles, das die Männerwelt betrifft, weil Luft schwerer zu erkennen ist als ein Berg. Also entfachte ich das Feuerbecken in meiner Schlafkammer und entzündete die Holzscheite am Eingang; dann packte ich meine Satteltaschen aus und trat wieder ins Freie, um mit dem Schöpfeimer Wasser von der Quelle zu holen. Diese sickerte neben dem Höhleneingang aus einer farnüberwachsenen Felswand heraus und tropfte in ein steinernes Becken. Darüber stand - vermoost und von Eiskristallen gekrönt - das Bildnis des Gottes Myrddin, der den Weg der Gestirne lenkt. Ich brachte ihm ein Trankopfer dar und ging dann hinein, um mich nach meinen Büchern und Arzneien umzusehen. Nichts hatte gelitten. Sogar die Krüge mit Krautern, die verschnürt und versiegelt waren, wie ich es Stilicho gelehrt hatte, machten einen frischen und unverdorbenen Eindruck. Ich deckte die an der Rückwand der Höhle stehende große Harfe ab und trug sie in die Nähe des Feuers, um sie zu stimmen. Nachdem ich mir dann mein Bett hergerichtet hatte, bereitete ich mir einen Glühwein, trank ihn aus und setzte mich neben das prasselnde Holzfeuer. Schließlich wickelte ich die kleine Knieharfe aus, die mich auf allen meinen Reisen begleitet hatte, und trug sie an ihren Platz in der Kristallkammer zurück. Dies war eine kleine, innere Höhle, deren Öffnung hoch in die Rückwand der Haupthöhle eingelassen war; sie lag hinter einem vorspringenden Felsstück, und das Wechselspiel von Licht und Schatten entzog sie 78
dem menschlichen Blick. Als ich ein Knabe war, . hatte sie mir als Tor zur Erleuchtung gedient. Hier, in der tiefen Stille des Berges, tief eingebettet in Dunkelheit und Frieden, konnte nur das geistige Auge sehen; kein Ton drang von außen herein. Außer, wie jetzt, das Summen der Harfe, als ich sie absetzte. Diese Harfe hatte ich als Knabe selbst gebaut. Sie war so empfindlich, daß schon der leiseste Luftzug sie zum Wispern brachte. Die Töne waren unwirklich und manchmal wunderschön, aber sie entsprachen nicht der Musik, wie wir sie kennen, so wie das Lied der Robbe auf dem Felsen wunderschön klingt, aber doch nur den Wind und die Meereswogen wiedergibt. Die Harfe sang vor sich hin, als ich sie auf den Boden setzte; es war ein einschläferndes Summen, wie das wohlige Schnurren einer Katze vor dem heimischen Herd. «Beruhige dich», bedeutete ich der Harfe, und beim Klang meiner Stimme, die von den Wänden widerhallte, begann sie erneut zu tönen. Ich kehrte zu dem hell brennenden Feuer zurück. Draußen funkelten die Sterne am Himmel. Ich hob die große Harfe zu mir herüber und begann - erst stockend und dann immer gelöster Musik zu machen. Bläh ruhig hier, Zauberer, während das Licht verlischt. Der Ausblick schrumpft, und der ferne Himmelsrand vergeht mit der Sonne. Begnüg dich mit dem kleinen Funken Der Holzkohle, dem Duft Nach Speise und dem Odem Des Frostes jenseits der verschlossenen Tür. Hier ist deine Heimstatt. Hier sind deine vertrauten Dinge, Der Becher, die Holzschüssel, Die Wolldecke, das Gebet, Eine Gabe für den Gott, Und Schlaf. 79
Und Musik, sagt die Harfe, Und Musik. 6 Mit dem Herannahen des Frühlings stieg die Kriegsgefahr. Colgrim näherte sich wieder vorsichtig entlang der östlichen Küste. Er landete auf dem Gebiet der seit langem verbündeten Territorien und begann, eine neue Streitmacht aufzustellen, die das bei Luguvallium und am Glein geschlagene Heer ersetzen sollte. Ich war zu jener Zeit wieder in Caerleon und befaßte mich mit Artus' Plänen, ein leicht bewegliches Reiterheer aufzustellen. Der Gedanke, so überraschend er auch scheinen mochte, war indessen nicht neu. Da die sächsischen Föderierten in den südöstlichen Bezirken der Insel zu einer vertraglich abgesicherten Einrichtung geworden waren und die gesamte Ostküste ständig bedroht war, konnte man unmöglich eine feste Verteidigungslinie aufbauen und sichern. Es gab natürlich schon eine Anzahl von Schutzwällen, von denen der Ambrosiuswall der größte war. (Ich lasse den Hadrianswall hier aus; er war nie ein reines Verteidigungsbauwerk gewesen und war schon zu Zeiten des Kaisers Macsen nicht zu halten. Jetzt hatte er an mehreren Stellen Breschen; und abgesehen davon waren die Feinde nicht mehr jene Kelten aus dem wilden Norden; sie kamen übers Meer. Vielmehr hatten sie bereits, wie schon gesagt, im Südosten Britanniens Fuß gefaßt.) Die anderen Bollwerke wollte Artus ausbauen und erneuern, vornehmlich den Schwarzen Deich von Northumbria, der Rheged und Strathclyde schützt, und den älteren Wall, den die Römer ursprünglich südlich der Ebene von Sarum gezogen hatten. Der König beabsichtigte, diesen Wall nach Norden zu verlängern. Die ihn durchquerenden Straßen sollten zwar offenbleiben, aber sie konnten für den Fall, daß der Feind versuchen sollte, nach Westen durchzustoßen, jederzeit rasch geschlossen werden. Auch andere Verteidigungsanlagen waren vorgesehen; mit ihrem Bau sollte bald begonnen werden. Vorläufig konnte der König nur hoffen, gewisse Schlüsselstellungen zu befestigen und zu bemannen, Signalstationen zwischen diesen einzurichten und die Verbindungsstraßen offenzuhalten. Die Könige und Anführer der Briten waren für die 80
Sicherheit ihrer eigenen Territorien verantwortlich, während die Aufgabe des Hochkönigs darin bestand, eine Streitmacht zu unterhalten, die zur Hilfe bei dem einen oder anderen eingesetzt oder in die Bresche geworfen werden konnte, falls eine der Verteidigungslinien durchbrochen werden sollte. Es war der alte Plan, mit dem Rom vor dem Abzug der Legionen längere Zeit sein Herrschaftsgebiet verteidigt hatte; der Graf der Sachsenküste hatte eine solche bewegliche Streitmacht befehligt, und in neuerer Zeit hatte Ambrosius dasselbe getan. Aber Artus wollte noch einen Schritt weitergehen. «Caesarengeschwindigkeit» konnte nach seiner Ansicht auf das Zehnfache gesteigert werden, wenn die gesamte Streitmacht beritten war. Heutzutage, da man Kavallerieeinheiten täglich auf den Straßen und im Übungsgelände sieht, scheint dies nichts Ungewöhnliches mehr; aber damals, als er zum ersten Mal daran dachte und mit mir darüber sprach, schien alles ganz neuartig zu sein und dem Überraschungsmoment Rechnung zu tragen. Es würde natürlich eine gewisse Zeit dauern; die Anfänge würden notgedrungen bescheiden sein. Bis genügend Mannschaften für den Kampf zu Pferde ausgebildet waren, würde er nur eine kleine, ausgewählte Truppe zur Verfügung haben, die sich aus den Offizieren und seinen eigenen Freunden rekrutieren mußte. Der Plan war an sich durchführbar, aber er ließ sich nur mit den richtigen Pferden verwirklichen, und von diesen besaßen wir nur wenige. Die kleinen, gedrungenen, einheimischen Tiere waren zwar widerstandsfähig, aber nicht schnell genug und auch zu klein, um einen bewaffneten Krieger in den Kampf tragen zu können. Tage- und nächtelang erörterten wir das Problem bis in die kleinsten Einzelheiten, bevor Artus die Idee seinen Hauptleuten unterbreitete. Oft sind gerade die Besten jeder Neuerung abhold; und wenn nicht alle Gegenargumente entschärft werden können, schlagen sich die Zauderer meist auf die Seite der Neinsager. Artus und Cador erklärten die Situation mit Unterstützung von Gwilim von Dyfed und Ynyr von Caer Guent anhand der ausgebreiteten Karten. Ich konnte zum militärischen Teil wenig beitragen, aber es gelang mir, das Pferdeproblem zu lösen. 81
Es gibt eine Pferderasse, von der behauptet wird, sie sei die beste der Welt. Mit Sicherheit gehören diese Pferde zu den schönsten, die es gibt. Ich habe sie im Orient gesehen, wo sie bei den Wüstenbewohnern mehr gelten als Gold oder Frauen; aber ich wußte, daß man gar nicht so weit zu gehen brauchte. Die Römer hatten einige dieser Tiere aus Nordafrika nach Iberien gebracht, wo sie mit den kräftigeren Pferden aus Europa gekreuzt wurden. Das Ergebnis war ein herrliches Tier, schnell und ungestüm, dabei kraftvoll und wendig, und gehorsam, wie ein Kriegspferd sein sollte. Falls Artus jemanden entsenden würde, um eventuelle Kaufmöglichkeiten zu erkunden, dann könnte er schon im nächsten Sommer, sobald das Wetter einen sicheren Transport zuließ, über die Voraussetzungen für eine berittene Streitmacht verfügen. Als ich im Frühjahr nach Caerleon zurückkehrte, setzte ich den Bau neuer, großer Stallungen in Gang, während Bedwyr auf den Kontinent entsandt wurde, um den Pferdehandel abzuwickeln. Caerleon hatte sich bereits gewandelt. Die Arbeiten'an der eigentlichen Festung waren rasch vorangeschritten, und jetzt schössen daneben andere Gebäude aus dem Boden; sie waren stattlich und bequem, wie es einer zeitweiligen Hauptstadt zukam. Obwohl Artus das Kommandantenhaus innerhalb der Mauern als Hauptquartier verwendete, wurde außerhalb ein weiterer Bau (den das Volk «Palast» nannte) errichtet, und zwar in der landschaftlich reizvollen Biegung des Isca-Flusses neben der römischen Brücke. Nach seiner Fertigstellung würde dies ein großzügig angelegtes Bauwerk ergeben, mit mehreren Innenhöfen für Gäste und deren Dienerschaft. Es war aus Stein und Ziegeln solide gebaut und hatte geschnitzte Säulen an den Toren. Das Dach war vergoldet wie das der neuen christlichen Kirche, die an der Stelle des alten Mithrastempels stand. Zwischen diesen beiden Gebäuden und dem Exerzierplatz weiter westlich entstanden zahlreiche Häuser und Geschäfte, die aus dem kleinen Dorf eine richtiggehende Stadtanlage machten. Stolz auf Artus' Entschluß, Caerleon zu seinem Königssitz zu machen, nahm die Bevölkerung mit Hingabe und Entschlossenheit an den Arbeiten teil, 82
die notwendig waren, damit der Ort der neuen Regierung würdig werde, einem König, der den Frieden bringen wollte. Und er brachte Frieden noch vor Pfingsten - wenn es auch nur ein vorläufiger Friede war. Colgrim hatte mit seiner neuen Armee die Grenzen im Osten überschritten. Artus trat ihm zweimal entgegen einmal etwas südlich des Humber, das andere Mal näher an der sächsischen Grenze in den sumpfigen Feldern von Linnuis. In dem zweiten Gefecht kam Colgrim ums Leben. Während sich die Lage an der Sachsenküste allmählich wieder etwas beruhigte, kehrte Artus zu uns zurück, und zwar gerade rechtzeitig, um Bedwyr begrüßen zu können, der mit dem ersten Kontingent der in Aussicht gestellten Pferde an Land ging. Valerius, der bei der Entladung mitgeholfen hatte, war hell begeistert. «Sie haben einen Widerrist so hoch wie die Brust eines Mannes und sind sehr kräftig, dabei aber sanftmütig wie Jungfrauen. Wie gewisse Jungfrauen, muß ich hinzufügen. Und sie sind schnell wie Windhunde, behauptet man, obwohl ihre Glieder jetzt nach der Seereise noch steif sind; es wird einige Zeit dauern, bis sie,sich an Land die Beine vertreten haben. Und schön sind sie! Es gibt manch eine Maid, sanftmütig oder nicht, die Hekate ein Opfer bringen würde, um so große und dunkle Augen oder eine so seidige Haut zu bekommen ...» «Wie viele hat er mitgebracht? Auch Stuten? Als ich im Orient war, wurden dort nur Hengste verkauft.» «Auch Stuten. Zu diesem ersten Transport gehören hundert Hengste und dreißig Stuten. Ein besseres Verhältnis, als es die Armee während des Feldzugs erwarten kann, aber die Konkurrenz ist immer noch groß, nicht wahr?» «Du bist zu lange im Krieg gewesen», bedeutete ich ihm. Er grinste und ging davon. Ich rief meine Gehilfen zu mir und schritt durch die neuen Stallungen, um mich zu vergewissern, daß alles bereit war für die Ankunft der Pferde, und um noch einmal die neuen leichten Feldgeschirre, die in den Sattlereien hergestellt worden waren, zu überprüfen. 83
Plötzlich begannen die Glocken von den vergoldeten Türmen zu läuten. Der Hochkönig war angekommen, und die Vorbereitungen für die Krönung konnten beginnen. *** Seit ich Zeuge von Uthers Krönung gewesen war, hatte ich viele Auslandsreisen unternommen und in Rom, Antiochia und Byzanz viel Pomp und Glanz gesehen, neben dem, was] Britannien bieten konnte, wie ein Mummenschanz wirkte; aber die Feierlichkeiten in Caerleon umgab eine junge und frühlingshaft anmutende Pracht, wie sie orientalische Reichtümer nicht hervorbringen können. Die Bischöfe und Priester prangten in Scharlach, Purpur und Weiß, was! durch das Braun und Schwarz der Mönche und Nonnen, die ihnen zur Hand gingen, noch deutlicher hervorgehoben wurde. Die Könige, umgeben von ihrem adligen Gefolge und ihren Kriegern, schimmerten im Schmuck ihrer Juwelen und goldverzierten Waffen. Die Mauern der Festung, mit; Vorhängen verkleidet, auf denen sich viele Schaulustige drängten, hallten von Jubelrufen wider. Die Damen des Hofes sahen bunt wie Eisvögel aus; sogar Königin Ygraine hatte voll Stolz und Glück ihre Trauergewänder abgelegt und sich wie die übrigen herausgeputzt. Morgan neben ihr sah keineswegs wie eine verschmähte Braut aus; sie war lediglich ein klein wenig bescheidener als ihre Mutter gekleidet und zeigte dieselbe lächelnde königliche Haltung. Es fiel schwer, sich daran zu erinnern, wie jung sie noch war. Die beiden königlichen Damen behielten ihren Platz unter den Frauen bei und traten nicht an Artus' Seite. Ich hörte hierund da Gemurmel unter den Frauen, hauptsächlich unter den verheirateten Frauen, die den Blick auf die noch leere Seite des Thrones gerichtet hatten; aber für mich schien es durchaus angemessen zu sein, daß es noch niemanden gab, der seine Herrlichkeit mit ihm teilen konnte. Er stand allein im Zentrum der Kirche; das durch die hohen Fenster fallende Licht brachte die Rubine seines Schmuckes zum Glühen und legte den Widerschein von Gold und Saphiren auf das Weiß seiner Robe und auf den Pelz, mit dem der scharlachrote Mantel besetzt war. 84
Ich war gespannt gewesen, ob Lot kommen würde. Die Gerüchte hatten sich vorher bis zum Siedepunkt verdichtet, aber schließlich kam er doch. Vielleicht war er der Meinung, er würde durch sein Wegbleiben mehr verlieren, als wenn er dem König und der Königin und der von ihm verschmähten Prinzessin gegenüber träte, denn noch wenige Tage vor der Zeremonie hatte man seine Speere zusammen mit denen des Urien von Gore und Aguisel von Bremenium und Tydwal, der Dunpeldyr für ihn hielt, als Silhouette vor dem Himmel im Nordosten gesehen. Dieses Gefolge von Lords aus dem Norden lagerte gemeinsam ein wenig außerhalb der Ortschaft, aber sie kamen herein, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen, als ob in Luguvallium oder York niemals etwas Ungebührliches geschehen wäre. Lot persönlich zeigte ein, wie mir schien, übertriebenes Selbstvertrauen; vielleicht verließ er sich auf den Umstand, daß er mit Artus jetzt verschwägert war. Artus machte mir gegenüber eine entsprechende Bemerkung; vor aller Augen nahm er Lots feierliche Huldigung gleichmütig entgegen. Ich fragte mich besorgt, ob Lot annahm, daß ihm das ungeborene Kind des Königs auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sei. Wenigstens Morgause war nicht gekommen. So wie ich die Frau kannte, hatte ich gedacht, sie würde vielleicht doch erscheinen und mir entgegentreten, und wenn es nur deswegen gewesen wäre, um ihre Krone vor Ygraine und ihren geschwollenen Leib vor Artus und mir selbst zur Schau zu stellen. Aber ob nun aus Furcht vor mir oder weil Lot ihr im letzten Moment das Erscheinen verboten hatte - sie blieb der Feier fern und entschuldigte sich mit ihrer Schwangerschaft. Ich stand neben Artus, als Lot das Fernbleiben seiner Königin entschuldigte; hinter Artus' Gesichtsausdruck oder Stimme verbarg sich kein wissender Unterton, und wenn Lot gesehen hatte, wie Artus mich plötzlich ansah und leicht erbleichte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Dann hatte sich der König wieder in der Gewalt, und der Augenblick ging vorüber. So vergingen die prächtigen, ermüdenden Stunden dieses Tages. Die Bischöfe sparten nicht mit heiligem Zeremoniell, und für die anwesenden Heiden standen die Vorzeichen günstig. Ich hatte auf den 85
Straßen beim Vorüberziehen der Prozession gesehen, daß auch andere Zeichen als das des Kreuzes geschlagen wurden, und an den Straßenecken blühte ein schwunghafter Handel mit Weissagungen aller Art, während Hausierer zahlreiche Amulette und Glücksbringer verhökerten. Junge, schwarze Hähne waren bei Sonnenaufgang geschlachtet worden; sie wurden an der Furt und an den Kreuzwegen zum Opfer dargebracht, denn dort wartete der alte Hermes auf die Gaben der Reisenden. Außerhalb der Stadt, in den Bergen, Tälern und Wäldern, beobachtete das kleinwüchsige, dunkelhaarige Bergvolk seine Himmelszeichen und betete zu seinen Göttern. Aber im Stadtzentrum, auf dem Kirchturm wie auf dem Palast und der Festung, blitzte das Kreuz Christi in der Sonne. Artus ließ den langen Tag blaß und würdevoll über sich ergehen; gehüllt in steife Gewänder, die bestickt und mit Juwelen besetzt waren, war er in ein starres Zeremoniell gezwängt und den Priestern wie eine Marionette ausgeliefert. Wenn dies notwendig war, um auch in den Augen des Volkes seine Autorität zu verankern, dann warer bereit, sich dieser Mühe zu unterziehen. Aber ich, der ich ihn kannte und während dieses ganzen, schier endlosen Tages neben ihm stand, konnte in dieser seiner ruhigen Gelassenheit weder Hingabe noch stumme Gebete spüren. Wahrscheinlich plante er bereits den nächsten Feldzug gen Osten. In seinen Augen, ebenso wie für alle, die es gesehen hatten, war ihm das Königtum in die Hand gelegt worden, als er das große Schwert des Maximus aus langer Vergessenheit hob und vor den lauschenden Wäldern sein Gelübde ablegte. Die Krone von Caerleon besiegelte nur vor aller Öffentlichkeit, was er damals schon erhalten hatte und bis an das Ende seiner Tage besitzen würde. Dann, nach dem Zeremoniell, das Festmahl. Festmähler ähneln sich im allgemeinen, und dieses war bemerkenswert nur wegen der Tatsache, daß Artus, der gewöhnlich gern und viel aß, nur sehr wenig zu sich nahm, aber von Zeit zu Zeit den Blick in die Runde warf, als könne er das Ende der Veranstaltung kaum erwarten, um zu seinen Pflichten zurückkehren zu dürfen.
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Er hatte mir gesagt, er möchte noch an diesem Abend mit mir sprechen, aber er wurde bis spät in die Nacht aufgehalten, und viele Menschen umdrängten ihn; deshalb kam ich zunächst mit Ygraine ins Gespräch. Sie zog sich frühzeitig vom Festmahl zurück, und als ihr Page mit einer geflüsterten Botschaft zu mir kam, nickte mir Artus zu, und ich folgte dem Pagen. Ihre Gemächer lagen im Hause des Königs. Hier waren die Geräusche der Festlichkeiten nur schwach zu hören, auch die Feierlichkeiten in der Stadt klangen nur gedämpft herüber. Die Tür wurde mir von demselben Mädchen geöffnet, das schon in Amesbury bei ihr gewesen war, es war ein schlankes, in Grün gekleidetes Geschöpf mit Perlen in den hellbraunen Haaren und Augen, die ebenso grün wie ihr Gewand schimmerten; es war nicht das hexenhafte Funkeln, wie es Morgause an sich hatte, sondern ein klares Graugrün, das einen an den Sonnenschein auf einem Gebirgsbach erinnerte, in dem sich das junge Frühlingslaub spiegelt. Ihr Gesicht war vor Erregung gerötet, und sie lächelte mir zu; dabei zeigte sie ein Grübchen und strahlende Zähne, während sie mir mit einem Knicks den Weg zu ihrer Herrin, der Königin, freigab. Ygraine reichte mir die Hand. Sie wirkte müde, und das prachtvolle, purpurne Festgewand mit seinem Perlenschimmer unterstrich noch ihre Blässe und die Schatten um Mund und Augen. Aber ihre wie immer beherrschte und überlegene Haltung ließ keine Spur von Abspannung erkennen. Sie kam sofort auf den Kern der Sache zu sprechen. «Er hat sie also geschwängert.» Obwohl mir das Entsetzen in die Glieder fuhr, merkte ich, daß sie die Wahrheit nicht ahnte; sie meinte Lot und den ihrer Ansicht nach triftigen Grund dafür, daß Lot ihre Tochter Morgan zugunsten von Morgause zurückgewiesen hatte. «Es sieht so aus.» Ich war ebenso unverbindlich. «So kann Morgan wenigstens ihr Gesicht wahren, worum es uns allen letzten Endes geht.» 87
«Es ist das Beste, was hätte geschehen können», sagte Ygraine rundheraus. Sie lächelte schwach. «Mir ist diese Ehe nie willkommen gewesen. Ich unterstützte Uthers Gedanken, als er schon vor Jahren einer Ehe zwischen Morgause und Lot das Wort redete. Das hätte ihm genügt und sie geehrt. Aber Lot war von Ehrgeiz besessen, und er wollte sich mit nichts Geringerem als Morgan zufriedengeben. Deshalb stimmte Uther zu. Zum damaligen Zeitpunkt wäre er mit allem einverstanden gewesen, was die Nordreiche gegen die Sachsen gesichert hätte; aber trotz aller politischen, Notwendigkeiten habe ich meine Tochter zu gern, um sie an diesen habgierigen und unberechenbaren Verräter gefesselt zusehen.» Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. «Harte Worte, Madam.» «Leugnet Ihr die Tatsachen?» «Keineswegs. Ich war dort in Luguvallium.» «Dann werdet Ihr auch wissen, wie sehr sich Lot durch seine Verlobung mit Morgan an Artus gebunden fühlte und wie stark ihn eine Eheschließung gebunden hätte, falls ihn der persönliche Vorteil in eine andere Richtung gewiesen hätte.» «Ja. Ich pflichte Euch bei. Ich bin nur froh, daß auch Ihr die Sache so seht. Ich hatte gefürchtet, daß die Kränkung, die Morgan erlitten hat, Euch erzürnen und sie unglücklich machen würde.» «Sie war zornig anfangs, aber kaum unglücklich. Lot steht an führender Stelle unter den Kleinkönigen, und ob man ihn nun mag oder nicht, sie wäre Königin eines ausgedehnten Reiches gewesen, und ihre Kinder hätten ein bedeutendes Erbe erwarten können. Es konnte ihr nicht lieb sein, sich durch einen Bastard verdrängen zu lassen, und noch dazu durch einen, der ihr bis jetzt keinerlei Freundlichkeit erwiesen hat.» «Und als das Verlöbnis zum ersten Mal besprochen wurde, war Urbgen von Rheged noch verheiratet.» Sie hob die schweren Augenlider und prüfte aufmerksam mein Gesicht. «So ist es», war alles, was sie sagte. Es klang eher wie das Ende einer Diskussion und weniger wie deren Neubeginn. 88
Es war nicht überraschend, daß Ygraine etwa die gleichen Gedanken hegte wie Artus und ich. Wie sein Vater Coel hatte sich auch Urbgen als treuer Gefolgsmann des Hochkönigs erwiesen. «Rhegeds» Taten in der Vergangenheit und die jüngsten Ereignisse von Luguvallium waren gemeinsam mit den Leistungen von Ambrosius und Artus in der Geschichtsschreibung verzeichnet, so wie am Himmel das Licht der untergehenden und der aufgehenden Sonne sich wiederholt. Ygraine sagte nachdenklich: «Es wäre eine Erklärung. Es ist nicht notwendig, Urbgens Loyalität auf die Probe zu stellen. Aber für Morgan würde eine solche Verbindung jene Machtfülle mit sich bringen, der sie meines Erachtens gewachsen ist, und hinsichtlich ihrer Söhne ...» Sie hielt inne. «Gewiß, Urbgen hat bereits deren zwei; beide sind erwachsene junge Männer und Kämpfer wie ihr Vater. Wer will sagen, daß sie jemals seine Krone werden übernehmen können? Und der König eines Reiches, das so groß wie Rheged ist, kann nicht zu viele Söhne zeugen.» «Er hat seine besten Jahre hinter sich, und sie ist noch sehr jung.» Meine Worte klangen wie eine einfache Feststellung, aber sie antwortete sofort: «Na und? Ich war nicht viel älter als Morgan, als Gorlois von Cornwall mich heiratete.» Im Augenblick, schien mir, hatte sie vergessen, was diese Ehe bedeutet hatte: Ein junges Geschöpf, das die Flügel ausbreiten und davonfliegen wollte, war in einen Käfig gesperrt worden; König Uther hatte eine schicksalhafte Leidenschaft für Gorlois' liebreizende Gemahlin ergriffen; dann war der alte Herzog gestorben, und ein neues Leben hatte mit Liebe und Schmerzen begonnen. «Sie wird ihre Pflichten erfüllen», sagte Ygraine, und ich merkte, daß sie sich erinnerte, aber ihr Blick blieb fest. «Wenn sie bereit war, Lot zu nehmen, den sie fürchtete, wird sie bereitwillig Urbgen akzeptieren, falls Artus einen solchen Vorschlag machen sollte. Es ist schade, daß Cador zu nahe mit ihr verwandt ist. Es wäre mir lieb gewesen, sie in meiner Nähe in Cornwall zu wissen.» 89
«Sie sind nicht blutsverwandt.» Cador war der Sohn aus der ersten Ehe von Ygraines Gatten Gorlois. «Zu nahe», sagte Ygraine. «Man vergißt viele Dinge-zu schnell, und es würde ein Gerede über Blutschande entstehen. Schon die leiseste Andeutung eines solchen Verbrechens wäre entsetzlich.» «Das sehe ich ein.» Meine Stimme klang ungerührt und kühl. «Und außerdem soll sich Cador im kommenden Sommer verehelichen, wenn er nach Cornwall zurückkehrt. Der König ist einverstanden.» Sie bewegte eine Hand in ihrem Schoß und bewunderte offenbar das Glitzern ihrer Ringe. «Deshalb sollte man vielleicht mit dem König über Urbgen sprechen, sobald er Zeit hat, sich in Gedanken vielleicht wieder einmal mit seiner Schwester zu beschäftigen.» «Er hat sich bereits Gedanken über sie gemacht. Er hat das Thema mit mir besprochen. Ich glaube, er wird schon sehr bald einen Boten zu Urbgen entsenden.» «Aha! Und dann ...» Zum ersten Mal zeigte sich ein Anflug von Schadenfreude in ihrem Tonfall. «Und dann werden wir erleben, daß Morgan den ihr gebührenden Vortritt vor dieser rothaarigen Hexe bekommt, und möge Lot von Lothian in die Fallstricke geraten, die sie für ihn ausgelegt hat!» «Glaubt Ihr, daß sie ihm mit Vorbedacht eine Falle gestellt hat?» «Wie denn sonst? Ihr kennt sie. Sie hat ihn mit ihrem Zauber umgarnt.» «Kein ungewöhnliches Mittel», sagte ich trocken. «O ja. Aber Lot hat es an Frauen nie gemangelt, und niemand kann leugnen, daß Morgan die bessere Partie ist -und außerdem ist sie viel hübscher. Und trotz aller Künste, deren sich Morgause rühmt, ist Morgan besser geeignet, Königin eines großen Reiches zu sein. Dazu wurde sie erzogen, und der Bastard nicht.» Ich sah ihr neugierig zu. Neben ihrem Stuhl saß das dunkelhaarige Mädchen, halb schlafend, auf seinem Hocker. Ygraine schien es gleichgültig zu sein, ob ihre Worte mitgehört wurden. 90
«Ygraine, was hat Morgause Euch angetan, daß Ihr so viel Bitterkeit ihr gegenüber empfindet?» Die Röte stieg ihr ins Gesicht, und einen Augenblick dachte ich, sie wolle auf mich losgehen, aber wir waren beide nicht mehr jung, auch brauchten wir nicht mehr den Panzer der Eigenliebe. Sie sagte schlicht: «Wenn Ihr glaubt, daß ich nur sehr ungern ein hübsches junges Mädchen stets bei mir und Uther gehabt habe, und dazu noch ein Geschöpf, das mehr Rechte auf ihn gelten machen konnte als ich, so habt Ihr recht. Aber es war mehr als das. Schon als sie noch ein ganz junges Mädchen von höchstens zwölf oder dreizehn Jahren war, hielt ich sie für verderbt. Dies ist der eine Grund dafür, warum mir ihre Verbindung mit Lot gelegen kam. Ich wollte sie nicht mehr in der Nähe des Hofes haben.» Das war deutlicher, als ich erwartet hatte. «Verderbt?» fragte ich. Die Königin warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, das auf dem Hocker neben ihr saß. Es hatte die Augen geschlossen und schien leicht vor sich hin zu nicken. Ygraine senkte die Stimme, sprach aber klar und deutlich weiter. «Ich will damit nicht sagen, daß es in ihrem Verhältnis zum König irgend etwas Anstößiges gegeben hätte, obgleich sie sich ihm gegenüber nie wie eine Tochter benommen hat; auch liebte sie ihn nicht, wie es eine Tochter tun sollte; sie bettelte ihn um Gunstbezeigungen an - das war alles. Als ich sie verderbt nannte, meinte ich ihre Hexenkunst. Sie fühlte sich immer zur Hexerei hingezogen; sie suchte häufig weise Frauen und Scharlatane auf, und alles Gerede über Zauberei beschäftigte sie sehr, und sie versuchte, Einfluß auf Morgan zu gewinnen, als die Prinzessin noch ein Kind war. Das kann ich ihr nicht verzeihen. Ich habe für derlei Dinge keine Zeit, und in den Händen einer Person wie Morgause ...» Sie brach ab. Sie war so heftig geworden, daß sie immer lauter sprach, und ich sah, daß das Mädchen neben ihr die Augen weit aufgerissen hatte wie eine Eule. Ygraine faßte sich, neigte den Kopf, und eine leichte Röte überzog wieder ihr Gesicht. «Prinz Merlin, Ihr müßt mir verzeihen. Ich habe nichts Despektierliches gemeint.» 91
Ich lachte. Ich sah zu meiner Belustigung, daß auch das Mädchen mitgehört haben mußte; es lachte ebenfalls, aber lautlos, und blinzelte mich hinter der Schulter ihrer Herrin verstohlen an. Ich sagte: «Ich halte es für unter meiner Würde, mich selbst auf dieselbe Stufe mit Mädchen zu stellen, die mit Zaubersprüchen herumpfuschen. Es tut mir um Morgan leid. Es ist wahr, daß Morgause eine gewisse Kraft besitzt, und es ist ebenso wahr, daß solche Dinge gefährlich werden können. Jede Macht ist schwer im Zaum zu halten, und jeder Machtmißbrauch fällt auf den Täter zurück.» «Vielleicht werdet Ihr eines Tages, falls Ihr Gelegenheit dazu habt, auch Morgan dasselbe sagen.» Sie lächelte und versuchte, einen leichteren Ton anzuschlagen. «Auf Euch wird sie hören, während ich von ihr höchstens ein Achselzucken zu erwarten habe.» «Ich werde es gern tun.» Ich sprach absichtlich wie ein Großvater, der den Jungen eine Predigt halten soll. «Vielleicht wird sie aufhören, sich nach etwas anderem zu sehnen, wenn sie Königin mit echter Macht geworden ist.» Sie wechselte das Thema. «Jetzt, da Lot eine Tochter Uthers hat, wenn diese auch nur ein Bastard ist- wird er sich nun an Artus' Banner gebunden fühlen?» «Das kann ich Euch nicht sagen. Falls die Sachsen keine so großen Geländegewinne erzielen, daß es sich für Lot lohnen könnte, einen neuen Verrat zu versuchen, glaube ich, daß er sich mit dem, was er hat, begnügen und um sein eigenes Land kämpfen wird, wenn schon nicht für die Interessen des Hochkönigs. Ich sehe da keine Schwierigkeiten.» Ich fügte nicht hinzu: «Zumindest keine dieser Art.» Ich schloß nur mit den Worten: «Wenn Ihr nach Cornwall zurückkehrt, Madam, werde ich Euch Briefe schicken, falls es Euch gefällt.» «Ich wäre Euch dankbar. Eure Briefe waren schon früher, als mein Sohn in Galava war, für mich ein großer Trost.» Wir unterhielten uns noch eine Weile und sprachen hauptsächlich über die Ereignisse des Tages. Als ich mich nach ihrer Gesundheit erkundigte, schob sie die Frage mit einem Lächeln beiseite, das anzudeuten schien, daß sie ebensoviel wußte wie ich; deshalb ließ ich 92
es dabei bewenden und erkundigte mich statt dessen nach Herzog Cadors vorgesehener Heirat. «Artus hat nichts davon gesagt. Wer soll es sein?» «Die Tochter von Dinas. Kennt Ihr ihn? Sie heißt Mariona. Die Heirat wurde leider schon abgesprochen, als beide noch Kinder waren. Jetzt ist Mariona großjährig, und sie werden heiraten, wenn der Herzog wieder heimgekehrt ist.» «Ich habe ihren Vater gekannt. Warum sagtet ihr ?» Ygraine blickte mit liebevollem Lächeln auf das Mädchen neben ihrem Stuhl hinab. «Denn sonst wäre es nicht schwierig gewesen, eine Partie für meine kleine Guenever zu] finden.» «Ich bin überzeugt», sagte ich, «daß sich dies als höchst einfach erweisen wird.» «Aber solch eine Partie», sagte die Königin, und das Mädchen lächelte stumm und senkte die Lider. «Wenn ich mir in Eurer Gegenwart, Madam, eine Vorhersage erlauben darf», meinte ich lächelnd, «dann würde ich sagen, daß sich eine ebenso glänzende Verbindung schon sehr bald eröffnen wird.» Ich sprach leichthin und mit formeller Höflichkeit, und ich war überrascht, in meiner eigenen Stimme ein wenn auch schwaches und vergangenes Echo früherer Prophetien zu hören. Keine von beiden bemerkte es. Die Königin hielt mir die Hand hin und wünschte mir eine gute Nacht. Und das Mädchen Guenever hielt mir die Tür auf und sank, als ich vorbeiging, lächelnd in einen tiefen Knicks der Bescheidenheit und Anmut. 7 «Es ist mein Kind!» sagte Artus heftig. «Du brauchst nur nachzurechnen! Ich hörte die Männer auf der Wache darüber reden. Sie wußten nicht, daß ich so nahe war, um lauschen zu können. Sie sagten, sie sei bereits am Dreikönigstag schwanger gewesen und hätte noch Glück gehabt, Lot so frühzeitig einzufangen, daß man von einem Siebenmonatskind reden könne. Merlin, du weißt ebenso gut wie ich, daß er sich ihr bei Luguvallium nicht genähert hat! Vor dem Abend der Schlacht war er gar nicht dort, und jene Nacht -das war die Nacht 93
...» Er brach ab, als müsse er ersticken, und wandte sich ab, um mit wehendem Gewand auf und ab zu gehen. Es war lange nach Mitternacht. Die Geräusche der Lustbarkeiten drangen jetzt schwächer aus der Stadt herüber; sie schienen durch die Morgenkühle vor Sonnenaufgang gedämpft. Im Raum des Königs waren die Kerzen zu einem Klumpen von Honigwachs heruntergebrannt. Ihr Duft vermischte sich mit dem beißenden Rauch, der aus einer Lampe aufstieg, deren Docht beschnitten werden mußte. Artus drehte sich unvermittelt auf dem Absatz um, kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Er hatte die Krone und die juwelenbesetzte Kette abgelegt und das Schwert abgegürtet, aber er trug noch immer die prächtige Krönungsrobe. Der pelzbesetzte Umhang lag auf dem Tisch und schimmerte blutrot im Lampenlicht. Durch die offenstehende Tür des Schlafzimmers konnte ich sehen, daß die Decken auf dem großen Bett bereits zurückgeschlagen waren; aber trotz der späten Stunde ließ Artus kein Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Aus seinen Bewegungen sprach eine starke innere Erregung. Er beherrschte sich und sagte leise: «Merlin, als wir an jenem Abend über all das sprachen, was geschehen war...» Nach einer kurzen Atempause änderte er seinen Tonfall und fuhr mit unverblümter Direktheit fort: «Als ich in blutschänderischer Weise mit Morgause geschlafen hatte, fragte ich dich, was geschehen würde, falls sie ein Kind bekommen sollte. Ich weiß noch, was du sagtest. Ich kann mich genau daran erinnern. Du auch?» «Ja», sagte ich zögernd. «Ich erinnere mich.» «Du sagtest zu mir: » Ich sagte nichts. Er sah mich mit jenem geraden und kompromißlosen Blick an, den ich so gut an ihm kennenlernen sollte.
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«Sagtest du die Wahrheit, als du so zu mir sprachst? War es eine echte Prophezeiung oder wolltest du nur Worte des Trostes für mich finden, damit ich den künftigen Ereignissen ins Auge sehen konnte?» «Es war die Wahrheit.» «Du wolltest damit sagen, daß du, falls sie mein Kind gebären sollte, voraussehen konntest, daß er - sie? - mein Tod sein würde?» «Artus», sagte ich, «so weit reicht die Prophetie nicht. Ich wußte nicht - jedenfalls nicht in dem Sinne, wie die meisten Menschen von <wissen> reden-, daß Morgause ein Kind empfangen hatte, noch war ich überzeugt, daß dieses Kind eine tödliche Gefahr für dich darstellen würde. Ich wußte nur, während du mit der Frau zusammen warst, daß die Vögel des Todes auf meinen Schultern hockten, mich niederzudrücken drohten und einen Aasgeruch verbreiteten. Mein Herz war schwer von Furcht, und ich konnte den Tod, wie ich glaubte, sehen, der euch beide miteinander verknüpfte. Tod und Verrat. Aber wie, wußte ich nicht. Als ich es begriff, war schon alles geschehen, und ich konnte nur abwarten, was uns die Götter zu senden geruhten.» Er entfernte sich von mir und schritt auf die Tür des Schlafgemaches zu. Er lehnte sich dort mit der Schulter gegen den Türpfosten und hielt das Gesicht abgewandt; dann stieß er sich ab und drehte sich um. Er ging zu dem Sessel hinter dem großen Tisch, setzte sich nieder, stützte das Kinn auf die Faust und sah mich an. Er hatte sich, wie immer, vollkommen in der Gewalt, aber ich, der ihn kannte, spürte genau, was in ihm vorging. Er sprach auch jetzt noch leise: «Und jetzt wissen wir, daß die Aasgeier recht behalten haben. Sie hat tatsächlich empfangen. Du sagtest mir in jener Nacht noch etwas, als ich meinen Fehler eingestand. Du sagtest, ich hätte unwesentlich gesündigt und sei unschuldig. Soll Unschuld also bestraft werden?» «Das wäre nichts Ungewöhnliches.» «?» Ich erkannte in dem Ausdruck ein Zitat aus den Schriften der Christen. «Uthers Sünde», sagte ich, «ist über dich gekommen.» «Und die meinige jetzt auf das Kind?» 95
Ich sagte nichts. Mir mißfiel die Art, wie das Gespräch ablief. Es war das erste Mal, daß ich in einer Unterhaltung mit Artus offenbar außerstande war, die Gesprächsführung an mich zu reißen. Ich redete mir ein, ich sei ermüdet und meine Zeit werde bestimmt wieder kommen; in Wirklichkeit aber fühlte ich mich ein wenig wie der Fischer in dem orientalischen Märchen, der eine Flasche entkorkte und einen Geist herausließ, der um ein Vielfaches stärker war als er selbst. «Also gut», sagte der König. «Meine Sünde und die ihrige kommen auf das Kind. Es darf nicht am Leben bleiben. Du wirst nach Norden reisen und Morgause dies sagen. Oder wenn es dir lieber ist, werde ich dir einen Brief mitgeben, in dem ich es ihr selbst sage.» Ich holte Atem, aber er sprach weiter, ohne mir Zeit zu lassen, einen Einwand zu erheben. «Ganz abgesehen von deinen Vorahnungen - die zu mißachten ich, weiß Gott, ein ausgemachter Narr sein müßte -, kannst du nicht einsehen, wie gefährlich die Sache jetzt werden könnte, falls Lot dahinterkäme? Es liegt doch auf der Hand, was geschehen ist. Sie fürchtete, schwanger zu werden, und um ihre Schande zu verbergen, ging sie daran, sich einen Gemahl zu erschleichen. Wer war dazu besser geeignet als Lot? Sie war ihm schon früher angetragen worden: Soweit wir wissen, hatte sie ihn gewollt, und jetzt sah sie die Gelegenheit, ihrer Schwester das Nachsehen zu lassen und sich selbst eine Stellung und einen Namen zu verschaffen, den sie nach dem Tode ihres Vaters sonst hätte entbehren müssen.» Er kniff die Lippen zusammen. «Und wer weiß besser als ich, daß jedermann, auf den sie ein Auge wirft, nach ihrer Pfeife tanzen würde?» «Artus, du sprichtst von ihrer <Schande>. Du glaubst doch nicht etwa, daß du der erste warst, den sie mit in ihr Bett genommen hat?» Er sagte, vielleicht ein wenig zu rasch: «Das habe ich nie geglaubt.» «Woher willst du dann wissen, daß sie nicht vorher schon mit Lot geschlafen hat? Daß sie durch ihn nicht bereits schwanger war und dich nur genommen hat, um sich eine Machtstellung zu verschaffen? Sie wußte, daß Uther im Sterben lag; sie fürchtete, daß sich Lot durch 96
seine Handlungsweise bei Luguvallium die Gunst des Königs verscherzt hatte. Wenn sie dir Lots Kind unterschieben könnte ...» «Das sind reine Vermutungen. An jenem Abend hast du anders gesprochen.» «Gewiß. Aber denke einmal zurück. So etwas würde meiner Vorahnung durchaus entsprechen.» «Aber die Auswirkungen wären viel gefährlicher», sagte er scharf. «Wenn die Gefahr, die von diesem Kind ausgeht, tatsächlich besteht was spielt es dann schon für eine Rolle, wer es gezeugt hat? Vermutungen helfen uns nicht weiter.» «Es ist keine bloße Vermutung, wenn ich dir sage, daß sie und Lot bereits ein Liebesverhältnis unterhielten, bevor du zu ihrem Bett gingst. Ich habe dir doch erzählt, daß ich in jener Nacht am Schrein des Nodens einen Traum gehabt hatte. Ich sah, wie sie sich in einem Haus an einem wenig begangenen Weg trafen. Die Zusammenkunft mußte vorbereitet gewesen sein. Sie begegneten sich wie zwei Menschen, die seit längerer Zeit ein Liebesverhältnis miteinander unterhielten. Dieses Kind kann in der Tat Lots Kind und nicht das deinigesein.» «Und wir haben die Situation völlig mißverstanden? Ich war derjenige, den sie sich ergattert hat, um sie vor der Schande zu bewahren?» «Es ist möglich. Du warst so plötzlich auf der Bildfläche erschienen und stelltest Lot ebenso in den Schatten, wie du schon bald auch Uther in den Schatten stellen wirst. Sie versuchte, dir Lots Kind unterzuschieben, mußte dann aber ihr Vorhaben aufgeben - aus Furcht vor mir.» Er schwieg und dachte eine Weile nach. «Schön», meinte er schließlich, «die Zeit wird uns Aufschluß geben. Aber sollen wir so lange warten? Wessen Kind es auch sein mag -es ist eine Gefahr; und man braucht kein Prophet zu sein, um sich die Folgen auszumalen . . . und kein Gott, um die Konsequenzen zu ziehen. Wenn Lot je erfährt oder glaubt -, sein ältestes Kind sei von mir gezeugt worden, wie lange, schätzst du, wird er mir dann noch die Treue halten? Lothian 97
hat eine Schlüsselstellung, das weißt du ebenso gut wie ich. Ich brauche seine Loyalität; ich muß ihrer sicher sein können. Selbst wenn er meine leibliche Schwester Morgan geheiratet hätte, wäre ich nie frei von Zweifeln gewesen, aber jetzt ...» Er hielt mir die offene Hand hin. «Merlin, es geschieht jeden Tag, in jedem Dorf des Königreiches. Warum nicht auch im Haus des Königs? Reise für mich nach Norden und sprich mit Morgause.» «Glaubst du, sie würde mir Gehör schenken? Wenn sie das Kind nicht gewollt hätte, hätte sie sich seiner schon seit langem ohne Skrupel entledigt. Sie hat dich nicht aus Liebe genommen, Artus, und sie bezeigt dir keine Freundschaft, weil du sie vom Hof vertrieben hast. Und mir gegenüber» ich lächelte bitter - «empfindet sie aus gutem Grunde einen noch stärkeren Groll. Sie würde mir ins Gesicht lachen. Noch mehr als das: Sie würde mir zuhören und dann über die Macht lachen, die sie durch ihre Handlungsweise über uns gewonnen hat, und dann würde sie das tun, womit sie dich, ihrer Meinung nach, am schwersten treffen könnte.» Artus schwieg; sein Schweigen lastete auf uns beiden. Dann fragte er: «Bist du davon überzeugt?» «Ja.» Er machte eine Bewegung. «Dann habe ich immer noch recht. Sie darf das Kind nicht auf die Welt bringen.» «Was willst du dagegen tun? Willst du jemanden dingen, der ihr Mutterkorn ins Brot bäckt?» «Du wirst schon einen Weg finden. Du wirst hinfahren ...» Er schoß wie ein Bogen, dessen Sehne reißt, plötzlich in die Höhe. Seine Augen funkelten im Kerzenlicht. «Du hast mir gesagt, du seist mein Diener. Du hast mich, wie du sagtest, nach dem Willen des Gottes zum König gemacht. Jetzt bin ich König, und du wirst gehorchen.» Ich war größer als er, zwei Finger breit. Ich hatte schon vorher Königen die Stirn geboten, und er war noch sehr jung. Ich blickte ihm gerade lange genug in die Augen und sagte dann sanft: 98
«Ich bin dein Diener, Artus, aber zuerst diene ich dem Gott. Zwing mich nicht, zwischen euch zu wählen. Ich muß ihm seinen Willen lassen.» Er hielt meinen Blick noch einen Augenblick länger fest, dann holte er tief Atem und stieß die Luft aus, als befreie er sich von einer Last. «Um dies zu tun? Um womöglich gerade das Königreich zu zerstören, das zu errichten, wie du sagst, er mich geschickt hat?» «Wenn er dich geschickt hat, es zu errichten, dann wird es auch errichtet werden. Artus, ich will nicht behaupten, dies alles zu verstehen. Ich kann dir nur raten, auf die Zeit zu vertrauen, so wie ich es tue, und zu warten. Jetzt schieb die Sache beiseite, wie du es schon früher getan hast, und versuche, auf andere Gedanken zu kommen. Überlaß alles nur mir.» «Was willst du tun?» «Nach Norden gehen.» Nach kurzem Schweigen sagte er: «Nach Lothian? Aber du hast doch gesagt, du würdest nicht gehen.» «Nein. Ich habe gesagt, ich würde nichts tun, damit das Kind ums Leben gebracht wird. Aber ich kann Morgause beobachten und zu gegebener Zeit vielleicht besser beurteilen, was wir tun müssen. Ich werde dich durch einen Boten über die Geschehnisse unterrichten.» Wieder trat Stille ein. Dann schien die Spannung in ihm nachzulassen; er wandte sich ab und begann, die Spange an seinem Gürtel zu lösen. «Sehr gut.» Er wollte eine Frage stellen, schluckte sie herunter und lächelte mich an. Nachdem er die Peitsche gezeigt hatte, wollte er sich jetzt anscheinend auf die alte, vertrauensvolle Zuneigung zurückziehen. «Aber du wartest doch noch das Ende der Feiern ab? Falls es die Kämpfe erlauben, muß ich noch acht Tage hier bleiben, bevor ich wieder ins Feld rücken kann.» «Nein. Ich glaube, daß ich mich auf den Weg machen muß. Vielleicht gleich, solange Lot noch hier bei dir ist. Auf diese Weise kann ich im Lande untertauchen, bevor er zurück ist, und mir überlegen, welche Schritte ich ergreifen kann. Mit deiner Erlaubnis werde ich morgen früh aufbrechen.» 99
«Wer reitet mit dir?» «Niemand. Ich brauche keinen Begleiter.» «Du mußt jemanden mitnehmen. Es ist nicht so, als kehrtest du heim nach Maridunum. Außerdem brauchst du vielleicht einen Boten.» «Ich werde deine Kuriere einsetzen.» «Trotzdem ...» Er hatte den Gürtel gelöst und warf ihn über einen Stuhl. «Ulfin!» rief er dann. Ein Geräusch aus dem Nebenzimmer, dann leise Schritte. Ulfin, ein langes Bettgewand über den Arm, kam aus dem Schlafgemach herein. Er unterdrückte ein Gähnen. «Herr?» «Bist du die ganze Zeit dort drinnen gewesen?» fragte ich in scharfem Ton. Ulfin griff mit unbewegtem Gesicht nach den Schnallen an der Schulter des Königs. Er hielt den langen Umhang so, daß der König aus ihm heraustreten konnte. «Ich habe geschlafen, Herr.» Artus setzte sich hin und streckte einen Fuß vor. Ulfin kniete nieder, um ihm den Schuh auszuziehen. «Ulfin, mein Vetter Prinz Merlin reitet morgen nach Norden; es kann eine lange und höchst gefahrvolle Reise werden. Ich mag dich zwar nicht verlieren, aber ich will, daß du ihn begleitest.» Ulfin blickte auf, den Schuh in der Hand, und lächelte mir zu. «Ich bin jederzeit dazu bereit.» «Solltest du nicht beim König bleiben?» wandte ich ein. «Ausgerechnet in dieser Woche ...» «Ich tue, was er mir aufträgt», sagte Ulfin schlicht und bückte sich zu dem anderen Fuß hinunter. Was du auch schließlich tun wirst. Artus sprach die Worte zwar nicht laut aus, aber sie waren in dem raschen Seitenblick enthalten, den er mir zuwarf, als er aufstand und sich von Ulfin das Bettgewand umlegen ließ. 100
Ich gab auf. «Meinetwegen. Ich freue mich, dich bei mir zu haben. Wir reisen morgen ab, und ich mache dich darauf aufmerksam, daß wir ziemlich lange unterwegs sein werden.» Ich gab ihm noch einige Anweisungen und wandte mich dann wieder Artus zu. «Ich gehe jetzt besser. Wahrscheinlich werde ich dich nicht mehr sehen, bevor ich aufbreche. Ich lasse dir Bescheid zukommen, sobald ich kann. Ich werde mit Sicherheit wissen, wo du dich aufhältst.» «Zweifellos.» Plötzlich sprach er wieder sehr entschieden, ganz der militärische Führer. «Kannst du noch einen Augenblick erübrigen? Ich danke dir, Ulfin, du kannst jetzt gehen. Du wirst deine eigenen Vorbereitungen treffen müssen . . . Merlin, komm und sieh dir mein neues Spielzeug an.» «Ein neues?» «Ein neues? Ach, du denkst an die Kavallerie. Hast du die Pferde gesehen, die Bedwyr mitgebracht hat?» «Noch nicht. Valerius hat mir von ihnen erzählt.» Seine Augen leuchteten auf. «Sie sind großartig! Schnell, ungestüm und sanftmütig. Man sagt, sie könnten auch mit wenig Futter auskommen, wenn es nicht anders geht, und daß sie den ganzen Tag galoppieren können und dann bis zum Letzten mit dir in den Kampf gehen. Bedwyr hat auch Stallknechte mitgebracht. Wenn alles, was sie sagen, stimmt, dann werden wir eine Reiterei besitzen, mit der wir die Welt erobern können! Unter ihnen sind zwei ausgebildete Hengste - Schimmel - wunderschöne Tiere, mit denen sich sogar mein Canrith nicht messen kann. Bedwyr hat sie eigens für mich ausgesucht. Hier ...» Während er noch sprach, ging er quer durch den Raum auf einen Torbogen zu, der durch einen Vorhang verhängt war. «Ich habe noch keine Zeit gehabt, sie auszuprobieren, aber ich kann mich morgen sicherlich für ein oder zwei Stunden meiner Ketten entledigen.» Seine Stimme klang wie die eines ungeduldigen Knaben. Ich lachte. «Hoffentlich. Ich habe mehr Glück als der König: Ich werde mich auf den Weg machen.» «Auf deinem alten, schwarzen Wallach, nehme ich an.» «Nicht einmal das. Ich nehme ein Maultier.» «Ein Maultier? - Ach, natürlich. 101
Du reist in Verkleidung?» «Ich muß. Ich kann schwerlich als Prinz Merlin in die Hochburg von Lothian hineinreiten.» «Sei vorsichtig, Bist du sicher, daß du keine Eskorte willst, wenigstens auf dem ersten Teil der Strecke?» «Ganz sicher. Mir droht keine Gefahr. Was ist es, das du mir zeigen willst?» «Nur eine Karte. Hier.» Er zog den Vorhang zurück. Dahinter lag eine Art Vorzimmer; es war kaum mehr als eine breite Veranda, die auf einen kleinen, abgeschlossenen Innenhof hinausging. Das Licht der Fackeln spiegelte sich flackernd auf den Speeren der Wachposten, die dort standen, aber im übrigen war der Platz leer, es befand sich auch kein Möbelstück dort, außer einem riesigen roh gezimmerten Tisch aus Eichenholz. Es| war ein Kartentisch, aber statt der sonst üblichen, mit Sand gefüllten Wanne, enthielt er eine aus Ton geformte Karte, mit Bergen und Tälern, Meeresküsten und Flüssen, die von einem erfahrenen Bildhauer herausmodelliert waren; dort lag, deutlich sichtbar, ganz Britannien, eine Ansicht aus der Vogelperspektive. Artus freute sich offensichtlich über mein Lob. «Ich wußte, daß dich diese Arbeit interessieren würde! Sie ist erst gestern fertig geworden. Großartig, nicht wahr? Weißt du noch, daß du mir damals beibrachtest, Landkarten in den Staub zu zeichnen? Dies ist besser, als bloß den Sand auf dem Boden zu Bergen und Tälern zusammenzukratzen, denn die fallen auseinander, wenn man sie anbläst. Diese Karte kann natürlich ergänzt werden, wenn wir weitere Erkundungen durchführen. Was nördlich von Strathclyde liegt, kann man nur vermuten . . . Aber was nördlich von Strathclyde kommt, braucht mich, Gott sei Dank, nicht zu bekümmern. Jedenfalls noch nicht.» Er berührte einen Pflock, der wie ein Drache geschnitzt und rot gefärbt war und über «Caerleon» stand. «Nun, welchen Weg wirst du morgen einschlagen?» «Ich dachte, die westliche Route durch Deva und Bremet. Ich muß in Vindolanda einen Besuch abstatten.»
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Er folgte mit dem Finger dem Weg in nördlicher Richtung, bis er Bremetennacum (das man jetzt gemeinhin Bremet nennt) erreichte und hielt inne. «Würdest du etwas für mich tun?» «Gern.» «Nimm die Ostroute. Sie ist nicht viel länger, und die Straße ist auf dem größten Teil der Strecke besser. Hier, siehst du? Wenn du bei Bremet abzweigst, kannst du auf dieser Straße durch die Schlucht gelangen.» Er fuhr mit dem Finger die Strecke entlang: östlich von Bremetennacum auf der alten Straße den Tribuit-Fluß entlang, dann über den Paß und hinab durch Olicana in die Niederung von York. Dort verläuft die Dere Street, immer noch eine gute und bequeme Fernstraße, die durch Corstopitum und den Großen Wall führt und dann in Manau Guotodin einmündet, wo Lots Hautpstadt Dunpeldyr liegt. «Du mußt ein Stück zurückreiten, um nach Vindolanda zu gelangen», sagte Artus, «aber nicht weit. Du wirst keine Zeit verlieren, glaube ich. Ich möchte, daß du die Straße durch den Pennine Gap benutzt. Ich bin selbst noch nicht dort gewesen. Ich habe Berichte bekommen, daß die Straße durchaus annehmbar sein soll - du wirst kaum Schwierigkeiten haben, da ihr nur zu zweit seid - aber die Strecke soll stellenweise für Kavallerie zu schlecht sein. Ich werde Arbeitskommandos hinaufschicken, um die Straße instand zu setzen. Ich werde sie auch befestigen müssen . . . Bist du einverstanden? Da die Ostküste dem Feind teilweise ungeschützt ausgesetzt ist, wird er, falls er sich der Ebene im Osten bemächtigen kann, auf diesem Weg in unser britisches Hinterland im Westen vorstoßen. Es gibt dort bereits zwei Forts; wie mir gemeldet wurde, könnte man sie instand setzen. Sieh sie dir bitte für mich an. Vergeude damit aber nicht zu viel Zeit; ich kann mir detaillierte Berichte von den Landvermessern besorgen; aber wenn du diesen Weg benutzt, möchte ich gern wissen, was du von der Sache hältst.» «Ich werde dir meine Meinung sagen.» Als er sich von der Karte aufrichtete, krähte draußen ein Hahn. Der Innenhof war grau. Er sagte leise: «Wegen der anderen Angelegenheit, über die wir sprachen, bin ich in deiner Hand. Weiß 103
Gott, dafür sollte ich dankbar sein.» Er lächelte. «Und jetzt sollten wir lieber zu Bett gehen. Du hast eine Reise vor dir, und ich noch einen Tag voller Belustigungen. Ich beneide dich! Gute Nacht, und möge Gott dich begleiten.» 8 Ausgestattet mit Lebensmitteln für zwei Tage und drei guten Maultieren aus dem Troß, brachen Ulfin und ich am nächsten Tag zu unserer Reise gen Norden auf. Ich hatte schon früher ähnlich gefährliche Reisen unternommen, bei denen entdeckt zu werden großes Unheil, wenn nicht sogar den Tod bedeutet hätte. Ich hatte notgedrungen gelernt, wie ich mich am besten verkleiden konnte; dies hatte zu einer weiteren Legendenbildung über den «Zauberer» Anlaß gegeben: er könne sich jederzeit in Luft auflösen, um seinen Feinden zu entgehen. Ich hatte die Kunst, mich meiner Umgebung anzupassen, zur Vollkommenheit entwickelt; so führte ich meistens die Gerätschaften eines bestimmten Gewerbes mit und suchte hauptsächlich solche Orte auf, wo niemand einen Fürsten erwarten würde. Die Augen der Menschen richten sich auf die Talente des Reisenden und weniger auf seine Person, wenn er seine Kunstfertigkeit zur Schau stellt. Ich war als Sänger gereist, wenn mir am Zugang zu Fürstenhöfen ebenso gelegen war wie am Zutritt zu bescheidenen Gasthöfen; häufiger noch gab ich mich als reisender Arzt oder Augendoktor aus. Dies war die Verkleidung, die mir am besten gefiel. Sie erlaubte mir, meine Kenntnisse dort anzuwenden, wo sie am dringendsten benötigt wurden, unter den Armen, und sie ver- \ schaffte Zugang zu allen Häusern, ausgenommen denen der Edelsten. Dies war die Tarnung, die ich jetzt wählte. Ich nahm meine kleine Harfe mit, aber nur zum persönlichen Gebrauch; ich durfte nicht riskieren, wegen meiner Sangeskünste womöglich an Lots Hof gerufen zu werden. So hing die Harfe, stumm und unauffällig verpackt, am schäbigen Sattel des Tragtieres, während meine Kästchen mit den Salben und Instrumenten für alle deutlich zu sehen waren. 104
Den ersten Teil unserer Reise kannte ich gut, aber nachdem wir Bremetennacum erreicht und uns dem Pennine Gap zugewandt hatten, war mir die Gegend fremd. Der Einschnitt wird durch die Täler dreier großer Flüsse gebildet. Zwei von ihnen, der Wharfe und die Isara, entspringen den Kalkfelsen der Pennine-Gipfel und fließen in vielen Windungen gen Osten. Der andere, ein bedeutender Strom mit zahllosen kleineren Nebenflüssen, fließt nach Westen. Er wird Tribuit genannt. Wenn ein Feind erst einmal den Einschnitt passiert und das Tal des Tribuit erreicht hatte, lag der Weg zur Westküste und entferntesten Winkel Britanniens offen vor ihm. Artus hatte von zwei Forts gesprochen, die innerhalb des eigentlichen Gebirtseinschnitts liegen sollten. Ich hatte durch scheinbar belanglose Fragen, die ich im Gasthaus von Bremetennacum an Einheimische gestellt hatte, erfahren, daß es in vergangenen Zeiten noch ein drittes Fort gegeben habe, das den Westausgang des Passes gesichert hatte, wo sich das Tal des Tribuit in Richtung auf die Ebene und die Westküste erweitert. Es sei als Versorgungsstation von den Römern erbaut worden, deshalb sei der Holzbau zum größten Teil sicher schon halb verfallen; aber mir fiel ein, daß die Straße dorthin, falls sie sich noch in einem passablen Zustand befand, einem Reiterheer, das von Rheged zur Verteidigung des Passes herankam, eine gute Abkürzung bieten würde. Von Rheged nach Olicana und York. Der Weg, den Mor-gause genommen haben mußte, um Lot zu treffen. Damit war alles klar. Ich würde denselben Weg nehmenden Weg meines Traums vom Nodens-Schrein. Wenn der Traum der Wahrheit entsprochen hatte - und daran hatte ich keinerlei Zweifel -, gab es dort Dinge, die ich in Erfahrung bringen wollte. Wir verließen die Hauptstraße gleich hinter Bremetanna-cum und zogen auf dem Kies einer vernachlässigten Römerstraße das Tribuit-Tal hinauf. Ein Tagesritt brachte uns zu dem Versorgungslager. Wie ich erwartet hatte, war außer den Wällen und Gräben und etwas vermodertem Bauholz, wo einstmals die Tore gestanden hatten, nicht 105
viel übriggeblieben. Aber wie alle derartigen Lager war es geschickt placiert. Es lag am Rande eines Moorgebietes, über das man einen ungehinderten Weitblick über unbewohntes Land hatte; in seinem Rücken lag das Gebirge, an dessen Fuß ein kleiner Fluß verlief. Und im Süden floß der Tribuit durch die Ebenen zur Küste hin. Da sich das Lager so weit westlich befand, konnten wir hoffen, daß es für Verteidigungszwecke nicht benötigt werden würde; aber als Bereitstellungsraum für die Kavallerie oder als Ausgangspunkt für einen kurzen, überraschenden Vorstoß durch den Gebirgseinschnitt war es ideal gelegen. Ich konnte niemanden finden, der seinen Namen gekannt hätte. Als ich in jener Nacht meine Meldung an Artus niederschrieb, nannte ich den Platz einfach «Tribuit». Am nächsten Tag brachen wir zu dem ersten der Forts auf, von denen Artus gesprochen hatte. Es lag in der Gabelung eines versumpften Flusses am Eingang zur Paßstraße. Der Fluß verbreiterte sich beim Fort zu einem See, von dem der Ort seinen Namen erhalten hatte. Obwohl halb verfallen, konnte das Fort meiner Meinung nach verhältnismäßig rasch wieder instand gesetzt werden. In dem Talkessel gab es genügend Bauholz, sowie Steinquadern und Erdreich. Wir erreichten es am späten Nachmittag und schlugen dort unser Lager auf, da die Luft angenehm trocken war und die Mauern des Forts ausreichenden Schutz versprachen. Am nächsten Morgen begannen wir den Anstieg über den Grat in Richtung auf Olicana. Noch vor Mittag hatten wir die Baumgrenze hinter uns gelassen und das Heideland erreicht. Es war ein schöner Tag; der Nebel hob sich allmählich von dem feuchten Riedgras, und Wasser plätscherte aus den Felsspalten. Brachvögel tauchten mit hellem Ruf in schrägem Flug herab und strebten ihren Nestern im Grase zu. Wir sahen eine Wölfin, das Gesäuge schwer von Milch, vor uns über den Weg wechseln, einen Hasen im Maul. Sie warf uns einen kurzen, gleichgültigen Blick zu und tauchte dann in den Nebelschleier ein. Es war ein wilder Steig - ein Wolfsweg, so wie ihn die Alten lieben. Ich hielt den Blick auf die Felsen gerichtet, die den Geröllhang 106
krönten, konnte aber kein Anzeichen ihrer abgelegenen und kargen Wohnstätten erkennen. Ich hatte jedoch keinen Zweifel, daß jeder Schritt von uns beobachtet wurde. Es bestand auch kein Zweifel, daß der Wind die Nachricht in den Norden getragen hatte, daß Merlin, der Zauberer, heimlich unterwegs war. Es machte mir nichts aus. Man konnte vor den Alten nichts geheimhalten; sie wissen, was in Wald und Flur kommt und geht. Ich war mit ihnen schon vor langer Zeit zu einem Verständnis gelangt, und Artus besaß ihr Vertrauen. . Wir hielten oben im Hochmoor an. Ich schaute mich um. Der Nebel hatte sich gehoben und unter der allmählich stärker werdenden Sonne aufgelöst. Um uns erstreckte sich das Moor, nur hin und wieder von Felsbrocken und Adlerfarnen unterbrochen, während sich in der Ferne die noch in Nebel gehüllten Berggipfel auftürmten. Links vom Weg fiel das Gelände in das breite Isara-Tal ab, wo Wasser zwischen dicht stehenden Bäumen durchschimmerte. Der Anblick hätte der Vision vom Nodens-Schrein nicht unähnlicher sein können, aber da stand der Meilenstein mit der Aufschrift Olicana; und links davon war ein steiler Pfad, der zu den Bäumen im Tal führte, wo man - vom Laub halb verdeckt - die Mauern eines größeren Hauses erkennen konnte. Ulfin brachte sein Maultier an meine Seite und wies hinab. «Dort hätten wir vielleicht eine bessere Unterkunft gefunden.» Ich sagte langsam: «Das bezweifle ich. Ich glaube, unter freiem Himmel waren wir besser untergebracht.» Er warf mir einen neugierigen Blick zu. «Ich dachte, Ihr seid noch nie in dieser Gegend gewesen, Sir? Kennt Ihr das Haus?» «Sagen wir, ich habe davon gehört. Und möchte gern mehr darüber wissen. Wenn wir das nächste Mal durch ein Dorf kommen oder einen Schäfer auf den Berghängen sehen, versuch einmal festzustellen, wem dieses Haus gehört, ja?» Er warf mir noch einen Blick zu, sagte aber nichts mehr, und wir ritten weiter. 107
Olicana, das zweite von Artus' Forts, lag nur zehn Meilen weiter ostwärts. Zu meiner Überraschung befand sich die Straße, die steil hinabführte und dann ein großes Stück sumpfigen Moorlands durchquerte, in ausgezeichnetem Zustand. Gräben und Böschungen sahen aus, als seien sie erst vor kurzem ausgebessert worden. Es gab eine solide Holzbrücke über die Isara, und die Furt durch den nächstgelegenen Nebenfluß war von Schlamm geräumt und gepflastert. Wir kamen deshalb gut vorwärts und erreichten am späten Nachmittag bewohntes Gebiet. Bei Olicana befindet sich eine größere Ortschaft. Wir fanden Unterkunft in einem Gasthaus, das nahe den Festungswällen stand und von den Männern der Garnison frequentiert wurde. Nach dem, was ich von der Straße und der ordentlichen Anlage der Gassen und des Markplatzes der Ortschaff gesehen hatte, überraschte es mich nicht, daß sich die Festungsmauern in demselben guten Zustand befanden. Tore und Brücken wirkten fest und solide, und alle Eisenbeschläge sahen brandneu aus.Indem ich scheinbar belanglose Fragen stellte und dem Gerede lauschte, das zur Abendessenszeit im Gasthaus herrschte, brachte ich in Erfahrung, daß zu Uthers Zeit eine kleine Garnison hierher verlegt worden war, um die auf den Paß führende Straße zu beobachten und ein Auge auf die Signaltürme im Osten zu halten. Es war eine Notmaßnahme gewesen, die während der schlimmsten Jahre des Sachsenterrors ergriffen worden war; aber dieselben Männer waren noch immer da, sie hofften auf baldige Abberufung und langweilten sich zu Tode; ihre Einsatzbereitschaft wurde durch einen Garnisonskommandanten aufrechterhalten, der etwas Besseres als diesen öden Außenposten verdient gehabt hätte. Der einfachste Weg, an die von mir benötigten Informationen zu gelangen, war der, mich mit diesem Offizier bekannt zu machen; er konnte dann dafür sorgen, daß mein Bericht auf schnellstem Wege zurück zum König gelangte. Ich ließ also Ulfin im Gasthaus zurück und begab mich mit dem Paß, den mir Artus ausgestellt hatte, in die Wachstube. Aus der Geschwindigkeit, mit der ich weitergeleitet wurde, und aus der Tatsache, daß mein schäbiges Äußeres keinerlei Überraschung 108
auslöste und niemand daran Anstoß nahm, daß ich mich weigerte, meinen Namen und meinen Auftrag jemand anderem als dem Kommandanten persönlich zu nennen, konnte man schließen, daß Boten häufig hier durchkamen. Vor allem Geheimkuriere. Wenn dies tatsächlich ein vergessener Außenposten war (und weder ich noch die Berater des Königs hatten zugegebenermaßen etwas von ihm gewußt), dann konnte es sich bei den Meldegängern, die hier durchkamen, nur um Spione handeln. Um so mehr war ich auf mein Zusammentreffen mit dem Kommandanten gespannt. Ich wurde durchsucht, bevor man mich einließ. Ich hatte nichts anderes erwartet. Dann eskortierten mich zwei Wachposten durch das Fort zum Stabsgebäude. Ich warf einen Blick in die Runde. Alles war gut beleuchtet, und so weit ich sehen konnte, befanden sich Straßen, Höfe, Brunnen, Exerzierplätze, Werkstätten und Mannschaftsunterkünfte in ausgezeichnetem Zustand. Wir gingen an den Werkstätten der Schreiner, Sattler und Schmiede vorbei. Da die Tore der Kornkammern mit Vorhängeschlössern gesichert waren, konnte man annehmen, daß die Scheuern reichlich Vorräte hatten. Obwohl die ganze Anlage nicht groß war, schien sie mir nicht voll belegt zu sein. Hier war vorläufig noch Platz für Artus' Reitertruppe. Mein Ausweis öffnete mir die Tür zum Raum des Kommandanten, und die Wachposten zogen sich diskret zurück. Dies war offenbar der Eingang für die Spione, die wohl immer so spät am Tage erschienen. Der Kommandant empfing mich stehend - eine Ehrenbezeigung, die er nicht mir, sondern dem königlichen Siegel erwies. Was mir sofort auffiel, war sein jugendliches Alter. Er konnte höchstens zweiundzwanzig sein. Dann merkte ich, wie müde und abgespannt er war. Die dauernde Belastung hatte sein Gesicht gezeichnet: seine Jugend, das einsame Kommando hier oben, die Verantwortung für die Truppe, die ein eintöniges und entbehrungsreiches Leben führen mußte; die ständige Aufmerksamkeit angesichts der wechselvollen Invasionen, von denen die Ostküste heimgesucht wurde; und das alles, winters wie sommers, ohne Hilfe und ohne Rückhalt. Es schien verständlich, daß er, 109
nachdem ihn Uther vor vier Jahren - vor vier Jahren! - hierher geschickt hatte, den Kontakt zur Umwelt verloren hatte. «Ihr habt Neuigkeiten für mich?» Sein Tonfall ließ keinerlei Interesse erkennen; er schien seit langem völlig abgestumpft zu sein. «Ich kann Euch die neuesten Nachrichten mitteilen, sobald ich meinen Hauptauftrag erledigt habe. Ich bin nämlich entsandt worden, um Informationen von Euch einzuholen, falls Ihr bereit seid, sie mir zu liefern. Ich muß eine Meldung an den Hochkönig erstatten. Ich wäre froh, wenn ein Kurier sie befördern könnte, sobald ich sie fertiggestellt habe.» «Das läßt sich einrichten. Jetzt? Ein Kurier kann in einer halben Stunde marschbereit sein.» «Nein. Es ist nicht so eilig. Vielleicht könnten wir erst miteinander sprechen.» Er setzte sich und wies mit einer Handbewegung auf einen Stuhl für mich. Zum ersten Mal zeigte sich ein Funken Interesse bei ihm. «Meint Ihr, daß die Meldung Olicana betrifft? Darf ich erfahren, warum?» «Ich werde es Euch natürlich sagen. Der König hat mich beauftragt, Erkundigungen über diesen Außenposten einzuziehen, und außerdem über die an der Paßstraße gelegene, verfallene Festung, die allgemein Fort Lake genannt wird.» Er nickte. «Ich kenne sie. Sie ist seit fast zweihundert Jahren eine Ruine . . . Sie wurde während des Aufstandes der Brigantes zerstört und sich selbst überlassen. Diese j Festung erlitt dasselbe Schicksal, aber Ambrosius ließ sie wieder aufbauen. Er hatte ähnliche Pläne auch für Fort Lake, wie ich erfahren habe. Bei einem entsprechenden Auftrag hätte ich vielleicht. . .»Er unterbrach sich. «Na, schön. . .Ihr kamt von Bremet? Dann werdet Ihr wissen, daß sich etwa zwei Meilen nördlich der Straße noch ein Fort befindet - es ist nicht mehr viel übrig davon-, aber meiner Meinung nach wäre es für die Verteidigung der Paßstraße von ebenso entscheidender Bedeutung. Ambrosius hat es so gesehen, sagte man mir. Er erkannte, daß der Paß eine Schlüsselrolle in seinen 110
militärischen Überlegungen spielen konnte.» Er gab dem Wort «er» keine besondere Betonung, aber die Andeutung war unüberhörbar. Uther hatte die Existenz von Olicana und dessen Garnison nicht nur vergessen, sondern er hatte auch die Bedeutung der Paßstraße durch den Pennine Gap entweder übersehen oder falsch eingeschätzt. Ganz anders dieser junge Mann, der sich in hilfloser Isolation befand. Ich sagte rasch: «Und jetzt erkennt auch der neue König die Situation richtig. Er will die Paßstraße wieder befestigen, und zwar nicht nur in der Absicht, sie jederzeit gegen Angriffe aus dem Osten schließen und halten zu können, falls dies notwendig werden sollte, sondern auch zu dem Zweck, diese Straße für eigene Vorstöße verwenden zu können. Er hat mich beauftragt, festzustellen, was in dieser Hinsicht getan werden muß. Ihr könnt meines Erachtens die Baumeister erwarten, sobald meine Berichte geprüft worden sind. Diese Festung befindet sich in so gutem Zustand, wie ihn der König nicht erwartet hat. Er wird angenehm überrascht sein.» Ich erzählte ihm dann etwas über Artus' Pläne zur Aufstellung einer Reitertruppe. Er hörte aufmerksam zu, seine Langeweile schien vergessen, und die Fragen, die er stellte, ließen erkennen, daß er über die Lage an der Ostküste sehr gut orientiert war. Er ließ außerdem eine überraschend genaue Kenntnis sächsischer Truppenbewegungen und Absichten durchblicken. Ich schob dieses Thema für den Augenblick beiseite und begann, mich nach der Bevorratung und den Unterbringungsmöglichkeiten von Olicana zu erkundigen. Da stand er auf, trat zu einer Kiste, die auch mit einem großen Vorhängeschloß gesichert war, öffnete sie und nahm Tafeln und Schriftrollen heraus, auf denen in langen Aufstellungen alles verzeichnet war, was ich wissen wollte. Ich sah mir das Material einige Minuten lang an, bis ich merkte, daß er mich, mit anderen Listen in der Hand, wartend beobachtete. «Ich finde...», begann er und stockte dann. Kurz darauf entschloß er sich jedoch, fortzufahren. «Ich glaube nicht, daß König Uther in seinen letzten Lebensjahren ganz klar war, welche Bedeutung die Straße über den Paß in der bevorstehenden Auseinandersetzung gewinnen könnte. Als ich hierher entsandt wurde - damals wa^r ich 111
noch jung -, sah ich in diesem Ort lediglich einen Außenposten, der vielleicht der Ausbildung dienen könnte. Er sah damals besser als Fort Lake aus, aber nur geringfügig ... Es dauerte geraume Zeit, die ganze Anlage wieder instand zu setzen .. . Sie wissen, was dann geschah, Sir. Die Kriegshandlungen erstreckten sich nach Norden und Süden; könig Uther wurde krank, und das Land schien geteilt; uns hatte man offensichtlich vergessen. Ich schickte von Zeit zu Zeit Kuriere mit Nachrichten los, erhielt aber keine Bestätigung. Deshalb fing ich an, zur Ergänzung meines eigenen Wissens und, das muß ich zugeben, zu meinem Vergnügen, Männer zu entsenden-keine Soldaten, sondern hauptsächlich junge Leute aus der Ortschaft, die eine Vorliebe für Abenteuer besaßen - und sammelte Informationen. Ich weiß, ich habe vielleicht nicht richtig gehandelt, aber. . .» Er brach ab. «Ihr habt die Nachrichten für Euch behalten?» fragte ich ihn. «Nicht aus böser Absicht», meinte er eiligst. «Ich habe tatsächlich einmal einen Kurier mit Informationen losgeschickt, die ich als wertvoll beurteilte, habe aber weder von ihm noch von den Unterlagen, die er bei sich hatte, jemals wieder etwas gehört. Aus diesem Grunde wollte ich irgendwelchen Boten, die vielleicht vom König gar nicht empfangen wurden, nichts mehr anvertrauen.» «Ich kann Euch versichern, daß jede Botschaft, die ich an den König schicke, falls sie bei ihm eintrifft, sofort zu seiner Kenntnis gelangt.» Während wir sprachen, hatte er mich verstohlen beobachtet und offenbar mein schäbiges Äußeres mit dem Auftreten verglichen, das ich ihm gegenüber nicht zu verstellen versuchte. Er sagte bedächtig und blickte dabei auf die Papiere, die er in der Hand hielt: «Ich habe Ausweis und Siegel des Königs entgegengenommen, ich darf Euch also vertrauen. Darf ich auch Euren Namen wissen?» «Wenn Ihr es wollt. Aber es bleibt unter uns. Versprecht Ihr mir das?» «Selbstverständlich», sagteer, fast ein wenig ungeduldig. 112
«Ich bin also Myrddin Emrys, gemeinhin als Merlin bekannt. Wie Ihr Euch denken könnt, befinde ich mich auf einer privaten Reise: deshalb gebe ich mich als wandernder Arzt namens Emrys aus.» «Sir...» «Nein», sagte ich rasch, «setzt Euch wieder hin. Ich habe es Euch nur deshalb gesagt, damit Ihr sicher sein könnt, daß Eure Nachrichten das Ohr des Königs auf dem schnellsten Wege erreichen werden. Darf ich Eure Unterlagen jetzt sehen?» Er legte die Aufstellungen vor mir auf den Tisch. Ich sah sie mir genau an. Sie enthielten Unterlagen über befestigte Siedlungen, Truppenstärken und Bewaffnung, zeitlich genau registrierte Truppenbewegungen, Nachschub, Schiffe. . . Ich blickte erstaunt auf. «Aber dies ist eine Darstellung der sächsischen Lage?» Er nickte. «Und sie ist neuesten Datums, Sir. Im letzten Sommer hatte ich Glück. Ich kam in Verbindung - wie, spielt jetzt keine Rolle mit einem Sachsen, einem Föderierten der dritten Generation. Wie viele andere alte Föderierte will er die bestehende Ordnung aufrechterhalten. Diese Sachsen halten ihr gegebenes Wort heilig und außerdem», der Anflug eines Lächelns erschien auf seinen Lippen, «mißtrauen sie den Neuankömmlingen. Einigen dieser neuen Glücksritter geht es darum, die wohlhabenden Föderierten ebenso auszuschalten wie sie die Briten verjagen wollen.» «Und diese Informationen stammen von ihm. Haltet Ihr sie für glaubwürdig?» «Meines Erachtens, ja. Was ich überprüfen konnte, hat sich als wahr erwiesen. Ich weiß nicht, wie gut oder wie neu die Informationen des Königs selbst sind, aber ich glaube, Ihr solltet seine Aufmerksamkeit auf diesen Teil hier lenken -den Teil über Elesa und Cerdic Elesing. Das heißt...» «Elesas Sohn. Ja. Ist Elesa unser alter Freund Eosa?» «Allerdings, der Sohn des Horsa. Ihr wißt sicherlich, daß, nachdem er und sein Gefolgsmann Octa aus Uthers Kerker entkamen, Octa bei Rutupiae starb, Eosa aber nach Deutschland aufbrach und Octas 113
Söhne Colgrim und Badulf veran-laßte, den Angriff im Norden durchzuführen . . . Aber habt Ihr gewußt, daß Octa vor seinem Tod den Titel in Britannien für sich beanspruchte? Das bedeutete zwar kaum mehr als die Führerrolle, die er als Hengists Sohn schon vorher innegehabt hatte; weder Colgrim noch Badulf schienen viel davon gehalten zu haben; aber jetzt, da auch sie tot sind ...» «Erhebt Eosa denselben Anspruch. Ja. Mit größerem Erfolg?» «Es sieht so aus. König der Westsachsen nennt er sich, und sein junger Sohn Cerdic ist als der bekannt. Sie führen ihre Abstammung auf irgendeinen Heros oder Halbgott der Vorzeit zurück. Das ist natürlich nichts Ungewöhnliches, aber die Sache ist die: sein Volk glaubt daran. Wie Ihr sehen könnt, verleiht dieser Umstand den Invasionen der Sachsen einen neuen Anstrich.» «Damit könnten Eure Worte über die alteingesessenen Föderierten eine andere Bedeutung erlangen.» «Allerdings. Eosa und Cerdic genießen hohes Ansehen. ] Dieses Gerede von einem ... Er verspricht den alten Föderierten Stabilität - und Rechte - und den Neuankömmlingen einen raschen Tod. Und er ist aufrichtig. Ich will damit sagen, daß er mehr als ein schlauer Abenteurer zu sein scheint; er hat die Legende eines heldenhaften Königtums aufgestellt, er wird als Gesetzgeber anerkannt, und er verfügt über genügend Einfluß, neue Sitten und Gebräuche einzuführen. Er hat sogar das Bestattungszeremoniell geändert ... sie verbrennen jetzt ihre Toten nicht mehr, wie ich gehört habe; sie bestatten sie nicht einmal mehr mit ihren Waffen und Grabbeigaben, wie es früher üblich war. Laut Cerdic, dem Aetheling, sei dies Verschwendung.» Wieder jenes grimmige halbe Lächeln. «Sie lassen durch ihre Priester die Waffen des Toten rituell reinigen, und dann setzen sie sie wieder ein. Sie sind jetzt überzeugt, daß ein Speer, der einmal von einem guten Kämpfer benutzt wurde, seinen nächsten Besitzer zu einem ebenso guten, vielleicht sogar noch besseren Kämpfer machen wird . . ., und die Waffe, die einem geschlagenen Gegner abgenommen worden ist, wird um so härter kämpfen, weil sie eine zweite Chance erhalten hat. Ich sage Euch - ein gefährlicher Mann. Vielleicht überhaupt der gefährlichste seit Hengist selbst.» 114
Ich sagte ihm, daß seine Worte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hatten. «Der König wird dieses Material sehen, sobald ich es ihm übermitteln kann. Es wird ihm sofort vorgelegt werden, das kann ich Euch versprechen. Ihr wißt ja selbst, wie bedeutsam es ist. Wie schnell könnt Ihr Abschriften anfertigen lassen?» «Ich habe bereits Kopien. Diese können unverzüglich abgesandt werden.» «Gut. Wenn Ihr jetzt gestattet, werde ich Eurer Meldung noch ein paar Worte anfügen und meinen eigenen Bericht über Fort Lake damit verbinden.» Er brachte Schreibutensilien heran und legte sie vor mir auf den Tisch, dann begab er sich zur Tür. «Ich werde dafür sorgen, daß ein Kurier bereit steht.» «Ich danke Euch. Einen Augenblick, bitte. ..» Er blieb stehen. Wir hatten lateinisch miteinander gesprochen, aber sein Akzent sagte mir, daß er aus dem Westen stammen mußte. Ich sagte: «Man hat mir im Gasthaus gesagt, Euer Name sei Gerontius. Habe ich recht mit der Annahme, daß er früher einmal Gereint gelautet hat?» Er lächelte und sah auf einmal viele Jahre jünger aus. «So lautet er auch jetzt noch, Sir.» «Es ist ein Name, den Artus gern hören wird», sagte ich und wandte mich meiner Schreibarbeit zu. Er blieb einen Augenblick stehen, ging dann zur Tür, öffnete diese und sprach mit jemandem draußen. Er kam zurück, trat an einen Ecktisch, schenkte Wein ein und stellte einen Becher vor mir auf den Tisch. Er holte Luft, als ob er sprechen wollte, aber er sagte nichts. Schließlich war ich fertig. Er ging wieder zur Tür und kam dieses Mal mit einem drahtigen Burschen zurück, der so aussah, als sei er gerade aufgestanden, aber er war für die Reise gekleidet. Er trug eine Ledertasche mit einem starken Schloß bei sich. Er sei bereit, sich auf den Weg zu machen, erklärte er, und verstaute die Pakete, die Gereint ihm übergab; essen werde er unterwegs. 115
Gereint erteilte ihm knappe Instruktionen, aus denen erneut hervorging, wie gut er informiert war. «Du nimmst am besten den Weg über Lindum. Der König wird Caerleon inzwischen verlassen haben und sich auf dem Rückweg nach Linnius befinden. Sobald du in Lindum ankommst, wirst du erfahren, wo du ihn treffen kannst.» Der Mann nickte kurz und brach auf. So war also innerhalb weniger Stunden nach meinem Eintreffen in Olicana mein Bericht - und noch viel mehr - auf dem Weg zum König. Jetzt konnte ich mich in Gedanken ganz mit Dunpeldyr und dem, was ich dort vorfinden würde, beschäftigen. Zunächst aber mußte ich Gereint für seine Hilfe entlohnen. Er schenkte noch einmal Wein ein und setzte sich; mit einem Eifer, der ihm seit längerer Zeit fremd gewesen sein mußte, begann er, mir Fragen über Artus' Thronbesteigung in Luguvallium und die nachfolgenden Vorgänge in Caerleon zu stellen. Er hatte aufrichtige Antworten verdient, die ich ihm auch gab. Erst als die Mitternacht heranrückte und die Wachen ihre Runden machten, fand ich Gelegenheit, meine eigenen Fragen zu stellen. «Hat Lot von Lothian kurz nach Luguvallium diesen Weg benutzt?» «Ja, aber er ist nicht durch Olicana gekommen. Es gibt eine Straße sie ist jetzt kaum noch mehr als ein Trampelpfad -, die von der Hauptstraße abzweigt und in östlicher Richtung weiterführt. Es ist eine schlechte Strecke, die an gefährlichen Sumpfgebieten entlangführt; deshalb wird sie, obwohl sie die schnellste Verbindung mit dem Norden darstellt, nur sehr wenig benutzt.» «Aber Lot hat diesen Weg eingeschlagen, obwohl er in südlicher Richtung nach York unterwegs war? Glaubt Ihr, er habe vermeiden wollen, in Olicana gesehen zu werden?» «Auf diesen Gedanken kam ich erst später», sagte Gereint. «Er hat ein Haus an jener Straße. Er würde dort übernachten und nicht in die Ortschaft kommen.» «Ein eigenes Haus? Aha. Ich habe es vom Paß aus gesehen. Ein hübsches Anwesen, aber es liegt ganz einsam.» «Er benutzt es 116
deswegen nur sehr selten», meinte Gereint. «Aber Ihr erfuhrt, daß er dort war?» «Ich erfahre fast alles, was in dieser Gegend vor sich geht.» Er wies mit einer Handbewegung auf die mit einem Vorhängeschloß versehene Truhe. «Wie ein altes Weib an der Tür habe ich wenig anderes zu tun, als meine Nachbarn zu beobachten.» «Ich bin Euch dafür sehr dankbar. Dann werdet Ihr auch wissen, wen Lot in seinem Haus in den Bergen getroffen hat?» Volle zehn Sekunden sah er mich unverwandt an. Dann lächelte er. «Eine gewisse Dame königlichen Geblüts. Sie kamen getrennt an und verließen das Haus auch wieder getrennt, aber sie erreichten York zusammen.» Er zog die Augenbrauen in die Höhe. «Aber wieso wißt Ihr davon, Sir?» «Ich habe meine eigenen Kundschafter.» Er sagte bedächtig: «Das glaube ich Euch. Schön, jetzt ist alles vor Gott und den Menschen geregelt. Der König von Lothian ist mit Artus von Caerleon nach Linnius gereist, während seine neue Königin in Dunpeldyr die Geburt ihres Kindes abwartet. Ihr wißt natürlich über das Kind Bescheid?» «Ja...» «Sie haben sich hier schon früher getroffen», sagte Gereint und nickte, als wolle er hinzufügen: «Und jetzt sehen wir, welche Folgen diese Begegnungen gehabt haben.» «Haben sie sich tatsächlich getroffen? Oft? Und seit wann?» «Vielleicht drei oder vier Mal, seit ich hierher kam.» Sein Tonfall klang nicht so, als gäbe er Wirtshausgeschwätz weiter; im Gegenteil, er war nüchtern und sachlich. «Einmal waren sie einen ganzen Monat hier beisammen, aber sie traten öffentlich nicht in Erscheinung. Ich kann mich nur auf entsprechende Berichte verlassen; gesehen haben wir die beiden nicht.» Ich mußte an das Schlafgemach mit seinem königlichen Rot und Gold denken. Ich hatte recht behalten. Sie hatten in der Tat seit langer Zeit ein Liebesverhältnis. Wenn ich nur selbst glauben könnte, was ich Artus gegenüber angedeutet hatte - daß nämlich das Kind tatsächlich von Lot stammen könnte. Nach der neutralen Ausdrucksweise, deren 117
sich Gereint bedient hatte, mußte man zumindest annehmen, daß die meisten vorläufig davon ausgingen. «Und jetzt», sagte er, «hat sich die Liebe trotz der Politik durchgesetzt. Ist es aufdringlich von mir, zu fragen, ob der Hochkönig erzürnt ist?» Er hatte eine ehrliche Antwort verdient. «Er war natürlich über die Art und Weise, wie die Ehe geschlossen wurde, erzürnt, aber jetzt sieht er ein, daß diese Heirat der anderen in nichts nachsteht. Morgause ist seine Halbschwester, deshalb wird die Allianz mit König Lot weiterhin Bestand haben. Und Morgan ist nun frei für jede andere Heirat, die sich anbieten könnte.» «Rheged», sagte er sofort. «Vielleicht.» Er lächelte und wechselte das Thema. Wir unterhielten uns noch ein wenig; dann erhob ich mich, um zu gehen. «Sagt mir noch etwas», fragte ich ihn. «Lassen Eure Informationen einen Schluß auf Merlins Aufenthaltsort zu?» «Nein. Es wurde von zwei Reisenden berichtet, aber es gab keinen Anhaltspunkt, wer sie sein könnten.» «Oder welches ihr Reiseziel war?» «Nein, Sir.» Ich war befriedigt. «Muß ich noch besonders betonen, daß niemand erfahren darf, wer ich bin? Ihr werdet dieses Gespräch in Eure Meldung nicht mit aufnehmen.» «Selbstverständlich nicht. Sir. . .» «Was ist?» «Es geht um Euren Bericht über Tribuit und Fort Lake. Ihr sagtet, daß Landvermesser herkommen würden. Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich ihnen viel Zeit ersparen könnte, wenn ich sofort einige Arbeitskommandos hinaufschik-ken würde. Sie könnten bereits mit den Vorarbeiten beginnen - sie könnten Unterholz roden, Grasnarbe und Bauholz sammeln; Steine zusammentragen und die Gräben ausheben .. . Falls Ihr diesen Arbeitseinsatz genehmigen würdet?» «Ich? Ich besitze keine Entscheidungsbefugnis.» 118
«Keine Entscheidungsbefugnis?» wiederholte er verständnislos und begann dann zu lachen. «Ich verstehe. Ich kann mich kaum auf Merlins Autorität berufen, sonst fragen die Leute womöglich, wieso ich diese erhalten habe. Und sie könnten sich vielleicht eines gewissen, bescheidenen Reisenden erinnern, der Heilkräuter und Tinkturen verkaufte . . . Gut, da mir der nämliche Reisende einen Brief vom Hochkönig gebracht hat, wird meine eigene Autorität zweifellos genügen.» «Diese hat Euch schon seit langem genügt», pflichtete ich ihm bei und verabschiedete mich von ihm. Ich war sehr zufrieden. 9 So setzten wir die Reise nach Norden fort. Sobald wir auf die Hauptstraße nördlich von York, Dere Street genannt, stießen, kamen wir gut voran. Manchmal übernachteten wir in Gasthäusern, da aber trockenes und warmes Wetter herrschte, ritten wir meistens so lange weiter, wie es das Tageslicht erlaubte, und schlugen dann im Buschwerk neben dem Weg unser Nachtlager auf. Nach dem Abendessen spielte ich auf meiner kleinen Harfe, und Ulfin hörte zu; er hing seinen eigenen Träumen nach, während das Feuer zu weißer Asche herunterbrannte und die Sterne herauskamen. Er war ein angenehmer Gefährte. Wir kannten uns schon aus der Jugendzeit - ich war damals bei Ambrosius in der Bretagne, wo er das Heer aufstellte, mit dem er Vortigern eroberte und Britannien in Besitz nahm; Ulfin, damals noch Sklave, war Diener bei meinem Lehrer Belasius. Bei jenem merkwürdigen und gefühllosen Mann hatte er ein schweres Leben gehabt, aber nach Belasius' Tod hatte Uther den Knaben in seine eigenen Dienste übernommen, und dort erwarb sich Ulf in schon bald eine Vertrauensstellung. Er war jetzt etwa fünfunddreißig Jahre alt, hatte braune Haare und graue Augen; er war still und in sich selbst ruhend, wie es Menschen sind, die sich in ihrem Leben nur auf sich selbst verlassen können oder die als Begleiter anderer Menschen ihren Unterhalt verdienen. Die Jahre als Belasius' Buhlknabe hatten ihre Spuren hinterlassen. 119
Eines Abends erdachte ich ein Lied und sang es angesichts der Hügel nördlich von Vinovia, wo sich die eilig dahinfließenden Bäche tief in ihren bewaldeten Tälern dahinwinden, aber die feste Straße über das höher gelegene Land zieht, durch Meilen von Farn und Gestrüpp und über die von Heide bewachsenen Sumpfgebiete, wo als einzige Bäume nur Kiefern und Erlen und silbrige Birken gedeihen. Wir lagerten in einer solchen Baumgruppe, wo der Boden trocken war und die schlanken Birkenzweige still in der warmen Abendluft über uns hingen wie ein seidenes Zelt. Dies war das Lied. Ich nannte es das Lied der Fremde, und ich habe seither auch andere Fassungen gehört, die ein berühmter sächsischer Sänger verfaßt hat, aber der ursprüngliche Text stammte von mir: Wer keine Gefährten hat, Sucht oftmals die Barmherzigkeit, Die Gnade Des Schöpfers, seines Gottes. Trauer umgibt den Getreuen, Der seinen Herrn überlebt. Vor seinem Auge liegt die Wvlt wüst und leer, Wie eine Wand, über die der Wind streicht, Wie eine leere Burg, wo der Schnee Durch die Fensterrahmen treibt, Auf das zerbrochene Bett Und den geschwärzten Herdstein fällt. Dahin der fröhliche Becher! Dahin die Festmähler in der großen Halle! Dahin das Schwert, das Die Schafhürde und den Obstgarten Vor den Klauen des Wolfes bewahrt hat! Der Wolftöterist tot. 120
Der Gesetzgeber ist tot, Während statt dessen der Wolf, mit dem Adler und dem Raben Als Könige erscheinen. Ich verlor mich in der Musik, und als ich schließlich die Harfe niederlegte und aufblickte, sah ich mit Überraschung zweierlei: Ulfin, der auf der anderen Seite der Feuerstelle saß, hörte mir verzückt, mit Tränen in den Augen, zu; außerdem hatten wir Gesellschaft bekommen. Weder Ulf in noch ich hatten, ganz der Musik hingegeben, die beiden Reisenden bemerkt, die über den weichen Moosboden des Moorlandes zu uns gekommen waren. Ulfin sah sie im gleichen Augenblick wie ich und war sofort auf den Beinen, das Messer in der Hand. Aber es war offensichtlich, daß von den beiden keine Gefahr drohte, und das Messer steckte wieder in seinem Futteral, bevor ich sagen konnte: «Nur Ruhe» und der eine der beiden Neuankömmlinge lächelte und eine beruhigende Handbewegung machte. «Nur mit der Ruhe, meine Herren, nur mit der Ruhe. Ich habe mich immer für Musik erwärmt, und Ihr scheint eine große Begabung zu besitzen, das kann man wirklich sagen.» Ich dankte ihm, und als ob meine Worte wie eine Einladung geklungen hätten, trat er näher ans Feue'r und setzte sich hin, während der ihn begleitende Knabe dankbar die Lasten von seinen Schultern gleiten ließ und sich ebenfalls auf den Boden hockte. Er blieb im Hintergrund, in einiger Entfernung vom Feuer, obgleich mit der einbrechenden Dunkelheit eine kühle Bris eingesetzt hatte, die die Wärme der brennenden Holzscheite besonders einladend machte. Der Fremde war ein Mann von kleinem Wuchs, schon etwas älter, mit einem gepflegten Graubart und buschigen Augenbrauen über kurzsichtigen, braunen Augen. Seine Kleidung war abgetragen, aber sauber; sein Umhang bestand aus gutem Tuch, die Sandalen und der Gürtel aus weichem Leder. Überraschenderweise war seine Gürtelschnalle aus Gold - oder jedenfalls dick vergoldet - und kunstvoll gefertigt. Sein Umhang war mit einer ebenfalls vergoldeten schweren Brosche befestigt; ihr wunderschön ausgearbeitetes Muster 121
zeigte einen Dreischenkel, der innerhalb eines tief ziselierten Randes wie ein Filigran hergestellt worden war. Der Knabe, den ich zuerst für seinen Enkel gehalten hatte, war ähnlich gekleidet, doch trug er als einzigen Schmuck etwas, das wie ein Amulett aussah und an einer dünnen Kette um seinen Hals hing. Dann griff er nach vorn, um die Wolldecken für die Nacht auszubreiten, und als sein Ärmel zurückrutschte, sah ich auf seinem Unterarm die alte Narbe eines Brandmals. Also ein Sklave; und da er sich von dem wärmenden Feuer zurückhielt und stumm daran ging, die Bündel auszupacken, war er wohl auch noch ein solcher. Der Alte mußte ein Mann von Rang sein. «Ihr habt doch keine Bedenken?» fragte mich letzterer. Aufgrund unserer eigenen einfachen Kleidung, der Schlafrollen unter den Birken, des schlichten Geschirrs, der Trink-hörner und der abgenutzten Satteltaschen, die wir als Kopfkissen verwendeten, mußte er zu dem Schluß gekommen sein, daß wir einfache Reisende waren und vielleicht nicht einmal auf seiner Stufe standen. «Vor einigen Meilen haben wir den Weg verloren und waren dankbar, Euren Gesang zu hören und den Feuerschein zu sehen. Wir nahmen an, daß Ihr Euch nicht zu weit vom richtigen Weg befinden würdet, und jetzt sagt mir der Knabe, daß dieser gleich drüben auf der anderen Seite verläuft. Das Moor mag bei Tageslicht noch begehbar sein, aber nach Einbruch der Dunkelheit ist es tückisch, für Mensch und Tier . . .» Er sprach weiter, während Ulfin auf ein Kopfnicken meinerseits aufstand, um die Weinflasche zu holen und ihm einen Trunk anzubieten. Aber der Fremde verneinte etwas selbstgefällig. «Nein, nein. Vielen Dank, mein guter Herr, wir haben genug zu essen. Wir brauchen Euch nicht zur Last zu fallen -außer daß wir, falls Ihr gestattet, an der Wärme Eures Feuers für die Nacht teilnehmen. Mein Name ist Beltane, und mein Diener hier heißt Ninian.» «Wir sind Emrys und Ulfin. Wir heißen Euch willkommen. Wollt Ihr nicht etwas Wein trinken? Wir führen genug davon mit.» «Auch ich. Ich würde es sogar sehr bedauern, falls ich Euch nicht zu einem Becher einladen dürfte. Ein bemerkenswertes Gewächs, wie 122
Ihr hoffentlich erkennen werdet ...» Dann über die Schulter: «Essen, Junge, rasch, und biete diesen Herren den Wein an, den mir der Kommandant geschenkt hat.» «Kommt Ihr von weit her?» fragte ich ihn. Unterwegs verbietet es die gute Sitte, einen Mann direkt zu fragen, woher er kommt oder wohin er geht, aber es gehört ebenso zum guten Ton, daß dieser einem von selbst Aufschluß gibt, auch wenn er absichtlich die Unwahrheit sagen sollte. Beltane antwortete ohne zu zögern und ohne den Hühnerschenkel aus dem Mund zu nehmen, den ihm der Knabe gereicht hatte. «Aus York. Verbrachte dort den Winter. Bin meistens schon früher wieder unterwegs, habe aber dort gewartet. . . Die Stadt ist voller Menschen ...» Er kaute und schluckte und fügte dann deutlicher hinzu: «Es war eine günstige Zeit. Die Geschäfte liefen gut, deshalb blieb ich länger dort.» «Ihr seid über Catreath gereist?» Er hatte britisch gesprochen, deshalb erwähnte ich den Ort mit dessen altem Namen. Die Römer nannten ihn Cataracta. «Nein. Ich nahm den Weg östlich der Ebene. Ich kann ihn nicht empfehlen, Sir. Wir waren froh, in die Moorpfade einbiegen zu können, um Dere Street bei Vinovia zu erreichen. Aber dieser Narr-» er wies mit einer Schulterbewegung auf den Sklaven - «übersah den Meilenstein. Ich muß mich auf ihn verlassen; mein Augenlicht ist schlecht, außer wenn ich mir etwas so nahe wie dieses Stück Geflügel vor das Gesicht halten kann. Ninian zählte die Wolken, wie üblich, statt auf den Weg zu achten, und bei Einbruch der Dunkelheit hatten wir keine Ahnung, wo wir uns befanden oder ob wir die Stadt bereits\ passiert hatten. Sind wir schon an ihr vorbei? Ich fürchte, ja.» «Ja, so ist es. Wir sind am späten Nachmittag durchgekommen. Es tut mir leid. Hattet Ihr dort geschäftlich zu tun?» «Mein Geschäft liegt in jeder Stadt.» Er schien sich keine besonderen Gedanken darüber zu machen. Um des Knaben willen war mir das sehr lieb. Letzterer stand mit der 123
Weinflasche dicht neben mir und schenkte mir mit gespannter Aufmerksamkeit ein; Beltane konnte meiner Meinung nach sehr hart und unwirsch sein; Ninian zeigte keine Spur von Angst. Ich dankte ihm, und er blickte lächelnd auf. Ich merkte, daß ich Beltane Unrecht getan hatte; seine Strenge schien in der Tat berechtigt zu sein; es war deutlich zu sehen, daß sich der Knabe trotz seiner scheinbaren Konzentration auf seine Aufgaben in Gedanken mit etwas ganz anderem beschäftigte; das geistesabwesende Lächeln stammte von einem Traum, der ihn gefangen hielt. Seine Augen wirkten in dem Schattenspiel von Mondschein und Feuer hellgrau; sie waren wie von einem Rauchschleier umrahmt. Irgend etwas an ihnen und an der natürlichen Anmut seiner Bewegungen kam mir vertraut vor . . . Ich spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief, und die Haare in meinem Nacken sträubten sich wie das Fell einer bei Nacht streunenden Katze. Dann hatte er sich, ohne ein Wort zu sprechen, von mir abgewandt und hockte mit der Flasche neben Ulfin. «Probiert ihn einmal, Sir», forderte mich Beltane auf. «Es ist ein guter Tropfen, Ich bekam ihn von einem der Offiziere der Garnison in Ebor . . . Weiß der Himmel, von wo dieser ihn hatte, aber es ist besser, nicht zu viele Fragen zu stellen, nicht wahr?» Die Andeutung eines Augenblinzelns, dann kaute er weiter an seinem Hühnerschenkel. Der Wein war wirklich gut - kräftig, mild und dunkel, er konnte es sogar mit jeder Sorte aufnehmen, die ich in Gallien oder Italien gekostet hatte. Ich machte Beltane mein Kompliment und fragte mich insgeheim, für welchen Dienst er sich wohl eine solche Entlohnung eingehandelt haben mochte. «Aha!» sagte er mit derselben Selbstgefälligkeit. «Ihr wundert Euch, was ich wohl getan haben könnte, um dem Mann einen so guten Tropfen zu entlocken, nicht wahr?» «Hm, ja, so ist es», gab ich lächelnd zu. «Seid Ihr ein Magier, der Gedanken lesen kann?» Er lachte kurz. «Eigentlich nicht. Aber ich weiß jetzt, was Ihr denkt.» 124
«Nämlich?» «Ihr zerbrecht Euch den Kopf, ob ich der Zauberer des Königs bin und mich verkleidet habe - ich wette, daß ich recht habe! Ihr glaubt bestimmt, daß ich eines solchen Zaubers mächtig sein muß, um Vitruvius einen derartigen Tropfen zu entlocken . . . Und Merlin ist ebenso unterwegs wie ich; man könnte ihn für einen einfachen Handelsmann halten, sagen die Leute, vielleicht mit einem Sklaven zur Begleitung, vielleicht nicht einmal das. Habe ich recht?» «Hinsichtlich des Weines, ja, allerdings. Ich darf also annehmen, daß Ihr mehr als nur ein einfacher Handelsmann) seid?» «So könnte man es ausdrücken», meinte er mit einem Kopfnicken. «Aber reden wir über Merlin. Wie ich höre, hat er Caerleon verlassen. Niemand weiß, wohin er reisen wollte und welchen Auftrag er hatte, aber so ist es bei ihm immer. Man behauptete in York, daß der Hochkönig noch vor dem Mondwechsel wieder in Linnuis sein würde, aber Merlin sei am Tag nach der Krönung verschwunden.» Er schaute von mir zu Ulfin hinüber. «Habt Ihr irgendwelche Nachrichten erhalten, was sich im Lande zusammenbraut?» Seine Neugier wirkte bei einem reisenden Handelsmann nicht ungewöhnlich. Diese Leute sind überall gern gesehen, weil sie alle möglichen Neuigkeiten mitbringen - was ihren Geschäften zugute kommt. Ulfin schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war ausdruckslos. Der junge Ninian hörte nicht einmal zu. Er hatte das Gesicht dem duftenden Dunkel des Moores zugewandt. Ich konnte den letzten, gurgelnden Ruf eines Vogels hören, der sich in seinem Nest noch einmal regte. Auf dem Antlitz des Knaben erschien ein Ausdruck der Beseeligung und verschwand dann wieder; es war wie ein flüchtiges Aufleuchten, so wenig zu fassen wie das Sternenlicht auf dem Laub, das sich über unseren Köpfen leise bewegte. Ninian erholte sich anscheinend von seinem mürrischen Herrn und der Plackerei des abgelaufenen Tages. «Nun, wir kommen vom Westen, von Deva», sagte ich und gab Beltane die Auskunft, auf die er es abgesehen hatte. «Aber meine Neuigkeiten sind schon veraltet. Wir reisen 125
langsam. Ich bin Arzt und kann nie weit vorankommen, ohne aufgehalten zu werden.» «Ach so?» sagte Beltane und biß mit Genuß in einen Gerstenmehlkuchen. «Wir werden sicherlich mehr erfahren, wenn wir zur Cor-Brücke gelangen. Ihr schlagt auch diesen Weg ein? Gut, gut. Aber Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, mit mir zu reisen! Ich bin kein Zauberer, weder in Verkleidung noch sonstwie; und auch wenn mir die Männer der Königin Morgause Gold oder den Feuertod in Aussicht stellen würden, könnte ich dies jederzeit beweisen!» Ulfin blickte plötzlich auf, aber ich sagte bloß: «Wie denn?» «Durch meinen Beruf. Ich übe meinen eigenen Zauber aus. Und wenn man auch behauptet, daß Merlin in so vielen Dingen die Meisterschaft besitze, so verfüge ich über eine Fertigkeit, die man nicht zeigen kann, wenn man nicht die Ausbildung genossen hat. Und dazu -» mit derselben heiteren Selbstzufriedenheit - «gehört ein ganzes Leben.» «Dürfen wir erfahren, was Euer Beruf ist?» Die Frage war reine Höflichkeit. Er war offenbar durch die Gesprächsführung auf diesen Augenblick der Enthüllung zugesteuert. «Ich werde es Euch zeigen.» Er schluckte die letzte Krume des Gerbtenmehlkuchens herunter, wischte sich den Mund sorgfältig ab und trank noch einen Schluck des Weines. «Ninian! Ninian! Zum Träumen hast du bald genug Zeit! Bring die Tasche her und leg Holz nach. Wir brauchen mehr Licht.» Ulfin griff nach hinten und warf ein Bündel Reisig in das Feuer. Die Flammen loderten hell auf. Der Knabe holte eine dicke Rolle aus weichem Leder und kniete neben mir nieder. Er löste die Verschnürung und rollte das Bündel im Feuerschein auf dem Boden auseinander. Es blitzte und schimmerte. In dem Gold verfing sich der tanzende Feuerschein; wir sahen Emaillearbeiten in Schwarz und Scharlach, Perlmutter, Granat und Kobalt. In das Ziegenleder eingebettet oder aufgesteckt waren wunderschön hergestellte Schmuckstücke. Ich sah Broschen, Nadeln, Halsketten, Amulette, Schnallen für Sandalen oder Gürtel, 126
sowie ein kleines Nest entzückender silberner Eicheln für den Gürtel einer Dame. Die Broschen hatten meistens die runde Form, die er selbst trug, aber eine oder zwei zeigten die alte Bogenform, und ich sah auch einige Tiere, sowie ein sehr kunstvoll ausgearbeitetes, drachenähnliches Geschöpf, das mit großer Kunstfertigkeit mit Granaten besetzt und in Filigranarbeit ausgeführt war. Beim Aufblicken sah ich, daß Beltane mich gespannt beobachtete. Ich sagte, worauf er zu warten schien: «Dies sind hervorragende Arbeiten. Wunderschön. Etwas Besseres habe ich noch nicht gesehen.» Er strahlte vor Vergnügen. Ich hatte ihn jetzt irgendwie eingeordnet und konnte mich beruhigen. Er war ein Künstler, und Künstler leben vom Lob wie die Bienen vom Nektar. Auch kümmern sie sich selten um etwas anderes als ihre eigene Kunst. Beltane schien sich nur wenig für meinen Beruf zu interessieren. Seine Fragen wirkten harmlos; er war ein reisender Geschäftsmann, der jede Neuigkeit ergattern wollte, und da die Ereignisse von Luguvallium an jedem Lagerfeuer eine gute Geschichte abgaben, was konnte es für ihn Besseres geben, als irgendeinen Hinweis auf Merlin und dessen Aufenthaltsort? Es war klar, daß er keine Ahnung hatte, mit wem er sprach. Ich stellte ihm ein paar Fragen über seine Arbeit; dies tat ich aus ehrlichem Interesse, de'nn ich habe stets jede Gelegenheit ergriffen, von den Fähigkeiten anderer Menschen zu lernen. Aus seinen Antworten ging hervor, daß er den Schmuck selbst hergestellt hatte; dadurch erklärte sich auch der Dienst, für den er den Wein als Lohn erhalten hatte. «Euer Augenlicht», sagte ich. «Habt Ihr es Euch bei dieser Art von Arbeit verdorben?» «Nein, keineswegs. Ich sehe zwar nicht gut, aber für diese Arbeit genügt es. Als Künstler kam mir mein schlechtes Augenlicht sogar zustatten. Auch jetzt, da ich nicht mehr jung bin, kann ich kleine Details sehr gut erkennen; aber Euer Gesicht, mein guter Herr, ist für mich keineswegs klar; und was diese Bäume betrifft, die hier stehen, denn ich nehme an, daß es Bäume sind...» Er lächelte und zuckte mit den Achseln. «Aus diesem Grunde behalte ich diesen jungen Träumer bei 127
mir. Er ist mein Augenlicht. Ohne ihn könnte ich schwerlich herumreisen, wie ich es tue, und ich habe wirklich Glück gehabt, unangefochten bis hierher zu gelangen, sogar mit den Augen dieses Narren. In dieser Gegend sollte man die Straßen nicht verlassen und querfeldein übers Moor gehen.» Seine Schärfe war anscheinend eine seiner Gewohnheiten. Der junge Ninian ignorierte sie; er benutzte die Gelegenheit, in der Nähe des Feuers bleiben zu können, während er mir den Schmuck zeigte. «Und jetzt?» fragte ich den Goldschmied. «Ihr habt mir Arbeiten gezeigt, die eines Königshofes würdig wären. Für einen Marktplatz sind sie wohl zu gut. Wohin bringt Ihr sie?» «Bedarf es dazu einer Frage? Nach Dunpeldyr in Lothian. Da der König gerade geheiratet hat, und die Königin so lieblich wie eine Frühlingsblume ist, gibt es für einen Mann wie mich mit Sicherheit ein gutes Geschäft.» Ich wärmte meine Hände an dem Feuer. «Ach, ja», sagte ich. «Er hat schließlich Morgause geheiratet. War mit einer anderen Prinzessin versprochen und heiratete dann die nächste. Ich habe davon gehört. Wart Ihr dort?» «Allerdings. Und König Lot kann man kaum einen Vorwurf daraus machen, sagen alle. Die Prinzessin Morgan sieht zwar auch gut aus und ist die Tochter eines Königs, aber die andere - na, Ihr wißt schon, wie die Leute reden. Kein Mann, geschweige denn Lot von Lothian, könnte sich dieser Dame nähern, ohne den Wunsch zu verspüren, mit ihr ins Bett zu gehen.» «Dafür war Euer Augenlicht immerhin gut genug?» fragte ich ihn. Ich sah Ulfin lächeln. «Dazu waren keine Augen nötig.» Er lachte laut. «Ich habe Ohren, und ich höre, was die Leute sich erzählen, und einmal kam ich ihr so nahe, daß ich den Duft, den sie verwendet, riechen und die Farbe ihrer Haare in der Sonne erfassen und ihre hübsche Stimme hören konnte. Deshalb
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beauftragte ich meinen Knaben, mir zu sagen, wie sie aussehe, und ich machte diese Kette für sie. Glaubt Ihr, daß ihr Gebieter sie mir abkaufen wird?» Ich ließ das reizende Stück durch die Finger gleiten; es war aus Gold gemacht, jedes Glied schien so zart wie Flaum und war mit Perlen und Topasen in Filigranarbeit besetzt. «Er wäre dumm, wenn er das Stück nicht erwerben würde. Und wenn die Dame es zuerst sieht, kann er gar nicht anders.» «Damit rechne ich auch», meinte er lächelnd. «Bis ich nach Dunpeldyr komme, sollte sie wieder auf den Beinen sein und an ihren Putz denken. Das habt Ihr doch gewußt, nicht wahr? Vor vierzehn Tagen ist sie niedergekommen, bevor ihre Zeit da war.» Ulfin verhielt sich plötzlich ganz still, und seine stumme Aufmerksamkeit war deutlich zu spüren. Ninian blickte auf. Ich fühlte, wie meine Nerven gespannt wurden. Der Goldschmied freute sich offenbar über das Interesse, das er erregte, und fragte mit freundlichem Gesicht: «Hattet Ihr es noch nicht gehört?» «Nein. Hinter Isurium haben wir nicht mehr in Ortschaften übernachtet. Vor zwei Wochen? Ist dies sicher?» «Sicher, Sir. So sicher, daß einige Leute vielleicht unruhig werden könnten.» Er lachte. «Noch nie habe ich so viele Menschen die Tage an ihren Fingern abzählen sehen - und zwar Menschen, die nie zuvor gezählt hatten! Und was auch das Abzählen ergeben mag - beim besten Willen kommt für die Empfängnis des Kindes der September in Frage. Es wäre also in Luguvallium passiert, als König Uther starb.» «Das ist anzunehmen», sagte ich in gleichgültigem Tonfall. «Und König Lot? Das letzte, was ich hörte, war, daß er nach Linnuis gegangen war, um dort bei Artus zu sein.» «Gewiß, das tat er auch. Er wird die Nachricht wohl kaum schon bekommen haben. Wir erfuhren davon, als wir in Elfete, auf der nach Osten führenden Straße, übernachteten. Das war die Strecke, die ihr Kurier gewählt hatte. Er erzählte irgend etwas, er sei, um Schwierigkeiten zu vermeiden, auf diesem Weg gereist, aber ich bin überzeugt, daß er angewie129
sen worden war, sich Zeit zu lassen. Dann wird, wenn König Lot von der Geburt erfährt, eine passendere Zeitspanne seit dem Hochzeitstag verstrichen sein.» «Und das Kind?» fragte ich beiläufig. «Ein Knabe?» «Ja, aber er scheint nach allem, was ich hörte, zu kränkeln; so hat Lot, trotz all seiner Eile, vielleicht doch noch keinen Erben bekommen.» «Er hat ja Zeit», sagte ich und wechselte das Thema. «Fürchtet Ihr Euch eigentlich nicht, mit so vielen Wertsachen über Land zu reisen?» «Ich gestehe, daß ich zuerst Bedenken hatte», räumte er ein. «Ja, allerdings. Ihr müßt wissen, daß ich gewöhnlich, wenn ich meine Werkstatt schließe und zu meiner jährlichen Sommerreise aufbreche, nur solche Sachen mitführe, die von den Leuten auf den Märkten gekauft werden, oder bestenfalls noch Tand für die Kaufmannsfrauen. Aber ich hatte Pech und konnte diesen Schmuck nicht rechtzeitig fertigstellen, um ihn der Königin Morgause zu zeigen, bevor sie nach Norden abfuhr; deshalb muß ich ihr die Stücke nachbringen. Und jetzt habe ich das Glück, einen ehrlichen Mann wie Euch zu treffen; ich brauche kein Merlin zu sein, um so etwas sagen zu können ... Ich sehe es Euch an, daß Ihr ehrlich seid und ein Gentleman wie ich. Sagt mir, wird mir morgen das Glück hold sein? Dürfen wir Euch, mein lieber Herr, bis Cor Bridge Gesellschaft leisten?» Ich hatte mir darüber bereits meine eigenen Gedanken gemacht. «Ihr könnt mich bis Dunpeldyr begleiten, wenn Ihr wollt. Ich will auch dorthin. Und wenn Ihr unterwegs einen Aufenthalt einlegen wollt, um Eure Waren zu verkaufen, dann kommt auch dies mir gelegen. Ich habe kürzlich erfahren, daß ich mich, um dorthin zu gelangen, nicht zu beeilen brauche.» Er war hocherfreut und sah glücklicherweise nicht den überraschten Ausdruck auf Ulfins Gesicht. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß der Goldschmied für mich vielleicht noch nützlich sein könnte. Meiner Ansicht nach wäre er kaum während des Frühlings in York geblieben, um den wertvollen Schmuck herzustellen, den er mir gezeigt hatte, wenn er nicht aus irgendeinem Grunde die Gewißheit gehabt hätte, daß sich 130
Morgause den Schmuck wenigstens ansehen würde. Während er munter weiterredete, ohne daß ich ihn eigens hätte auffordern müssen, mir mehr über die Vorgänge in York zu erzählen, stellte ich fest, daß ich recht gehabt hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, das Interesse von Lind, der jungen Zofe von Morgause, zu erregen und sie als Gegenleistung für das eine oder andere hübsche Schmuckstück dazu zu bringen, über seine Juwelen mit der Königin zu sprechen. Beltane selbst war noch nicht an den Hof bestellt worden, aber Lind hatte ein oder zwei Stücke ihrer Herrin gezeigt und dem Goldschmied versichert, daß sich Morgause für seine Arbeiten interessiere. Er erzählte mir ausführlich davon. Eine Zeitlang ließ ich ihn reden und sagte dann beiläufig: «Ihr sagtet etwas über Morgause und Merlin. Gehe ich richtig in der Annahme, daß sie Soldaten ausgeschickt hat, um nach ihm Ausschau zu halten? Warum?» «Nein, Ihr habt mich mißverstanden. Ich sprach im Scherz. Als ich in York war und mir, wie üblich, das Gerede der Leute anhörte, meinte einer, Merlin und sie hätten sich in Luguval-lium gestritten und sie hege jetzt einen Haß gegen ihn, wogegen sie bisher nur mit Neid von seiner Kunst gesprochen habe. Und seit kurzem fragen sich natürliche alle, wohin er sich begeben habe. Königin oder nicht einem Mann wie diesem könnte sie kaum etwas anhaben!» Und Ihr, dachte ich bei mir, seid glücklicherweise kurzsichtig, sonst müßte ich vor einem so scharfsinnigen Mann auf der Hut sein. Unter den gegebenen Umständen war ich froh, ihm zufällig begegnet zu sein. Ich hing meinen Gedanken noch nach, als er schließlich erklärte, es sei jetzt Zeit, schlafen zu gehen, und wir ließen das Feuer herunterbrennen und rollten uns unter den Bäumen in unsere Decken. Seine Anwesenheit würde meiner Verkleidung zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen, und er konnte am Hof der Morgause, wenn schon nicht mit den Augen, so doch mit den Ohren für mich nützliche Informationen beschaffen. Und Ninian, der als seine «Augen» fungierte? Wieder lief mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, und meine Berechnungen zerrannen wie ein Schatten, wenn die Sonne untergeht. Was war es? Ein Vorherwissen, das Wiedererwachen einer schon halb vergessenen 131
Kraft? Aber auch dieser Gedankengang erlosch, als der Nachtwind durch die zarten Birkenzweige wehte und das letzte Reisig zu einem Aschenhaufen zusammensank. Die Nacht umfing uns. An das kränkelnde Kind in Dunpeldyr wollte ich nicht mehr denken, außer in der Hoffnung, daß es nicht gedeihen würde und mir dadurch keine Schwierigkeiten bereiten könnte. Aber ich wußte, daß dies eine eitle Hoffnung war. 1O Es sind kaum dreißig Meilen von Vinovia zur Ortschaft bei der Cor Bridge, aber wir brauchten für die Strecke sechs Tage. Wir hielten uns nicht an die Straßen, sondern benutzten Umgehungswege und gingen manchmal auch querfeldein; dabei besuchten wir jedes Dorf und jede Bauernsied-lung, so klein sie auch sein mochte, die zwischen uns und der Brücke lag. Da kein Grund zur Eile bestand, ging die Reise angenehm vonstatten. Beltane genoß offenbar unsere Gesellschaft, und Ninian freute sich darüber, daß er seine lästigen Gepäckstük-ke von unseren Maultieren tragen lassen konnte. Der Goldschmied blieb so gesprächig wie am ersten Abend, aber er war ein gutherziger Mann und darüber hinaus ein ehrlicher und peinlich genauer Handwerker, was man respektieren mußte. Wir kamen immer langsamer voran, denn er nahm sich viel Zeit, seiner Arbeit nachzugehen; in den ärmeren Gegenden reparierte er hauptsächlich Schmuckstücke; in den größeren Ortschaften und in Gasthäusern fand er natürlich viele Kunden. Auch der Knabe war ständig beschäftigt, doch auf dem Weg zwischen den einzelnen Siedlungen und an den Abenden neben dem Lagerfeuer schlössen wir miteinander eine eigenartige Freundschaft. Der Junge verhielt sich immer still und ruhig; als er aber merkte, daß ich mich in der Vogel- und Tierwelt auskannte und mit meiner ärztlichen Kunst ein detailliertes Wissen um die Welt der Heilpflanzen einherging, daß ich sogar des nachts die Sternenkarte zu lesen verstand, blieb er in meiner Nähe, wann immer er konnte, und überwand sogar seine Scheu und stellte mir Fragen. Er liebte Musik und besaß ein gutes Ohr; deshalb begann ich, 132
ihn das Harfespielen zu lehren. Er konnte weder lesen noch schreiben, zeigte aber, sobald sein Interesse geweckt war, gute geistige Anlagen, die sich entwickeln ließen, falls Zeit und ein guter Lehrer zur Verfügung standen. Als wir Cor Bridge erreichten, begann ich mich zu fragen, ob vielleicht ich selbst dieser Lehrer sein und Ninian - mit Erlaubnis seines Herrn - mein Diener werden könnte. Mit diesen Hintergedanken hielt ich die Augen offen, sobald wir an einem Steinbruch oder einem Bauernhaus vorbeikamen, denn vielleicht gab es dort irgendeinen Sklaven, den ich für Beltane kaufen und ihn überreden konnte, den Knaben für mich freizugeben. Von Zeit zu Zeit bedrückte mich noch immer ein Schatten, jene dunkle Vorahnung, die mich plagte und unruhig machte; irgendein Unheil schien auf der Lauer zu liegen. Nach einer Weile verzichtete ich auf alle Versuche, mir vorzustellen, in welcher Richtung dieser Schlag geführt werden würde. Ich war überzeugt, daß er Artus nicht betreffen konnte, und wenn es um Morgause gehen sollte, dann hatte ich noch genügend Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Auch in Dunpeldyr würde ich meines Erachtens in verhältnismäßiger Sicherheit leben können; Morgause würde sich um andere Dinge sorgen müssen, nicht zuletzt um die Rückkehr ihres Gebieters, der die Monate ebenso wie jeder andere Mann an den Fingern abzählen konnte. Und vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden; vielleicht würde es nur einen Tag lang Verdruß geben, der schnell wieder vergessen war. Wenn die Götter das Licht mit den Schatten der Vorahnung verschleiern, ist es schwer zu sagen, ob die Wolken ein Königreich auslöschen oder ein Kind im Schlaf zum Weinen bringen werden. Schließlich gelangten wir in der hügeligen Gegend südlich des Großen Walles nach Cor Bridge. In römischer Zeit hieß der Ort Corstopitum. Dort lag ein starkes Fort, und zwar genau an der Stelle, wo die Dere Street von Süden her die große Ostweststraße des Agricola kreuzte. An diesem begünstigten Punkt entstand bald darauf eine Siedlung, die 133
sich zu einer blühenden Ortschaft entwickelte; durch sie führte der gesamte zivile und militärische Verkehr aus allen Teilen Britanniens. Heute ist das Fort eine Ruine; ein großer Teil seiner Steine ist zur Errichtung neuer Gebäude verwendet worden. Aber westlich davon, auf ansteigendem Gelände, das vom Cor Burn begrenzt wird, liegt die neue Stadt; sie wächst und gedeiht, und mit ihren Häusern, Gasthöfen und Geschäften und einem vielbesuchten Marktplatz erinnert sie auf das lebhafteste an den Wohlstand vergangener römischer Zeiten. Die schöne römische Brücke, die dem Ort den Namen gegeben hat, steht auch jetzt noch; sie überspannt den Tyne an dem Punkt, wo der Cor Burn von Norden her in ihn einmündet. Dort liegt eine Mühle, und die Holzplanken der Brücke ächzen den ganzen Tag unter der Last der Getreidefuhren. Unterhalb der Mühle liegt ein Landeplatz, wo Kähne mit geringem Tiefgang festmachen können. Der Cor ist kaum mehr als ein größerer Bach, dessen starkes Gefalle das Mühlrad treibt, während der Tyne, ein bedeutender Strom, breit und schnell zwischen bewaldeten Ufern dahinfließt. Sein Tal ist weitläufig und fruchtbar, voller Obstbäume, die mitten in Kornfeldern stehen. Von diesem blühenden, hügeligen Landstrich steigt das Gelände gen Norden zu dem Hochmoor auf, wo unter einem wolkenzerzausten Himmel in der Sonne plötzlich Seen blau aufschimmern. Im Winter ist es ein unwirtliches Land, wo Wölfe und Räuber die Gegend unsicher machen und sich manchmal sehr nahe an die Gehöfte heranwagen. Aber im Sommer ist es wunderschön - in den Wäldern gibt es viel Wild, und Scharen von Schwänen schwimmen majestätisch auf den Gewässern. Die Luft über den Mooren hallt vom Gesang der Vögel wider, und die Täler werden belebt vom schnellen Flug der Schwalben und dem bunten Aufblitzen der Eisvögel. Entlang der Linie, wo das Basaltgestein aufhört, verläuft der Große Wall des Kaisers Hadrian, der mit den Felsen ansteigt und abfällt. Er beherrscht das Land von seiner Mauerkrone aus, so daß man sieht, wie nach Osten und Westen eine Hügelkette die andere ablöst, bis sich der Blick im Dunst der blauen Ferne verliert. 134
Es war eine Gegend, die ich noch nicht kannte. Wie ich Artus gesagt hatte, wollte ich diesen Weg einschlagen, weil ich einen Besuch zu machen hatte. Einer der Sekretäre meines Vaters, den ich zuerst in der Bretagne kennengelernt und danach in Winchester und Caerleon wiedergesehen hatte, war nach Ambrosius' Tod nach Norden gekommen, um sich hier in Northumbria zur Ruhe zu setzen. Mit dem Ruhegehalt, das ihm mein Vater ausgesetzt hatte, konnte er sich bei Vindolanda einen kleinen Besitz erwerben; dieser lag an einer geschützten Stelle neben der Agricola-Straße, und zwei kräftige Sklaven bebauten den Boden. Dort hatte er sich niedergelassen, zog seltene Pflanzen in seinem geliebten Garten und schrieb, wie mir berichtet worden war, eine Geschichte der Zeiten, die er durchlebt hatte. Sein Name war Blaise. Wir stiegen im alten Teil der Stadt in einer Herberge ab, die im ursprünglichen Festungsbezirk lag. Beltane hatte sich plötzlich und hartnäckig geweigert, den Brückenzoll zu zahlen; deshalb überquerten wir den Fluß einige hundert Meter weiter unten an einer Furt, folgten dann dem Ufer bis hinter die Schmiede und betraten die Stadt durch das alte Osttor. Die Nacht brach herein, als wir ankamen, deshalb nahmen wir die erste Herberge, die wir fanden. Es war ein ordentlicher Gasthof, der nicht weit vom Marktplatz gelegen war. Trotz der späten Stunde herrschte noch viel Betrieb. Die Dienerschaft plauderte an der Zisterne, während sie ihre Wasserkrüge füllte; ihr Gelächter wurde gelegentlich durch das Plätschern eines Brunnens übertönt; in einem nahegelegenen Haus sang eine Frau ein Lied am Spinnrad. Beltane freute sich auf die Geschäftsaussichten des nächsten Tages; er begann den Handel sogar schon am selben Abend, als sich die Herberge nach der Abendessenszeit mit Gästen zu füllen begann. Ich blieb nicht da, um Zeuge seiner Erfolge zu werden. Ulfin berichtete von einem Badehaus, das in der Nähe der alten Westmauer noch in Betrieb sei, deshalb verbrachte ich den Abend dort und ging dann erfrischt zu Bett.
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Am nächsten Morgen frühstückten Ulfin und ich zusammen im Schatten der großen Platane, die neben der Herberge stand. Es versprach ein heißer Tag zu werden. Obwohl wir früh auf den Beinen waren, hatten Beltane und der Knabe uns noch übertroffen. Der Goldschmied hatte seinen Verkaufsstand bereits an einem günstig gelegenen Punkt nahe der Zisterne eingerichtet; dies hieß lediglich, daß er - oder besser gesagt Ninian - Binsenmatten auf dem Boden ausgebreitet und auf ihnen billigen Schmuck und Tand zur Schau gestellt hatte, der den Augen und Geldbeuteln des einfachen Volkes zusagen könnte. Die besseren Stücke waren im Futter der Taschen sorgfältig versteckt. Beltane war in seinem Element; er redete unaufhörlich mit jedem Passanten, der auch nur einen Augenblick stehenblieb, um sich die Sachen anzusehen. Bei jedem Schmuckstück erteilte er gewissermaßen eine vollständige Lektion in Goldschmiedekunst. Der Knabe war, wie üblich, still. Geduldig ordnete er die verschiedenenStücke, die von den Leuten in die Hand genommen und dann achtlos wieder fallen gelassen worden waren, und er nahm das Geld entgegen, oder manchmal auch Tauschwaren wie Lebensmittel oder Tuch. Dazwischen hockte er mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und nähte an den ausgefransten Riemen seiner Sandalen, die ihm unterwegs viel Kummer gemacht hatten. «Oder dieses hier, Madam?» sagte Beltane gerade zu einer Frau mit rundem Gesicht, die einen Korb mit Gebäck auf dem Arm trug. «Wir nennen dies Zellarbeit - oder eingelegte Arbeit-, sehr hübsch, nicht wahr? Ich lernte die Kunst in Byzanz, und glaubt mir, sogar in Byzanz würdet Ihr nichts Schöneres finden . . . Und hier ist noch einmal dasselbe Muster; ich habe es in Gold ausgeführt gesehen. Es wurde von den schönsten Frauen im ganzen Lande getragen. Dieses hier? Aber Madam, es ist aus Kupfer - und der Preis ist auch entsprechend, aber es ist in jeder Hinsicht ebenso gut - es hat dieselbe Arbeit gekostet, wie Ihr sicher erkennen könnt . . . Seht Euch diese Farben an! Halt es ins Licht, Ninian. Wie leuchtend und klar sie sind, und schaut, wie die Kupferbänder glänzen und die Farben auseinanderhalten ... Ja, sehr feiner Kupferdraht; man muß ihn 136
zu einem bestimmten Muster formen und dann die Farben hineinrinnen lassen, und der Draht wirkt gewissermaßen wie eine Wand, die das Muster zusammenhält. Oh, nein, Madam, keine Edelsteine, bei diesem Preis unmöglich! Es ist Glas. Aber ich garantiere, Ihr habt noch nie Edelsteine mit prächtigeren Farben gesehen. Ich mache das Glas selbst, und dazu gehört große Geschicklichkeit; ich stelle es hier in meinem kleinen Schmelzofen her - aber Ihr habt heute früh keine Zeit, das merke ich, Madam. Zeig ihr das kleine Huhn, Ninian, oder vielleicht ist Euch das Pferd lieber. . .dort ist es, Ninian . . . Sind die Farben nicht wunderschön, Madam? Ich glaube nicht, daß Ihr im ganzen Land eine Arbeit finden werdet, die diesem Stück gleichwertig ist, und das Ganze für einen Kupferpenny. In der Brosche steckt fast soviel Kupfer, wie in dem Penny, den Ihr mir dafür gebt...» Dann erschien Ulfin mit den Maultieren. Es war vereinbart worden, daß ich mit ihm den kurzen Weg nach Vindolanda zurücklegen und am morgigen Tag zurückkehren sollte, während Beltane und der Knabe ihren Geschäften in der Stadt nachgingen. Ich zahlte für das Frühstück und ging dann hinüber, um mich von ihnen zu verabschieden. »Ihr brecht jetzt auf?« sagte Beltane, ohne die Augen von der Frau zu wenden, die eine Brosche in der Hand hin und her wendete. »Dann gute Reise, Master Emrys, und auf Wiedersehen bis morgen abend . . . Nein, nein, Madam, wir brauchen Euer Gebäck nicht, so köstlich es auch aussieht. Ein Kupferpenny ist heute der Preis. Ja, vielen Dank. Ihr werdet es nicht bereuen. Ninian, steck der Dame die Brosche an ... Ihr seht wie eine Königin aus, Madam, das versichere ich Euch. Wirklich, Königin Ygraine, die Höchste im Lande, könnte Euch beneiden. Ninian-» während sich die Frau entfernte, verfiel er wieder in den nörgelnden Tonfall, den er gegenüber dem Knaben meistens anschlug- «steh dort nicht herum und laß dir das Wasser im Munde zusammenlaufen! Nimm den Penny und kauf dir ein Paar neue Schuhe davon. Wenn wir weiterziehen, will ich nicht, daß du mit lose herabhängenden Sohlen dahinhumpelst und nicht nachkommst, wie du es auf der ganzen Strecke getan hast -» 137
«Nein!» Ich merkte erst, daß ich gesprochen hatte, als ich ihre staunenden Blicke sah. Nicht einmal dann wußte ich, was mich zwang, noch hinzuzufügen: «Laßt den Knaben sein Gebäck haben, Beltane. Die Sandalen gehen noch, und seht doch - er ist hungrig, und die Sonne scheint.» Die kurzsichtigen Augen des Goldschmieds zuckten, als er gegen das starke Licht zu mir aufsah. Zu meiner Überraschung nickte er schließlich und brummte den Knaben an: «Also gut, setz dich in Trab.» Ninian warf mir einen strahlenden Blick zu und rannte dann durch die Menschenmenge hinter der Marktfrau her. Ich dachte, Beltane würde mich zur Rede stellen, aber er tat es nicht. Er begann, seine Waren neu zu ordnen, und meinte bloß: «Ihr habt gewißlich recht. Jungen haben immer Hunger, und er ist ein braver Bursche. Er läuft auch barfuß, wenn es nicht anders geht, aber er soll sich wenigstens den Bauch vollschlagen können. Es kommt nur selten vor, daß wir etwas Süßes ergattern, und die Kuchenstücke haben köstlich geduftet.» Als wir in westlicher Richtung am Flußufer entlangritten, fragte Ulfin mit besorgtem Unterton in der Stimme: «Was ist los, Herr? Bedrückt Euch etwas?» Ich schüttelte den Kopf, und er schwieg, aber er mußte gemerkt haben, daß ich nicht die Wahrheit sprach, denn ich spürte selbst, wie mir im Sommerwind die Tränen kalt über die Wangen herabrannen. *** Master Blaise empfing uns in einem behaglich eingerichteten kleinen Haus aus sandfarbenem Stein, das um einen kleinen Hof gebaut worden war; Apfelbäume bildeten ein Spalier an den Mauern, und Kletterrosen verdeckten die modernen eckigen Pfeiler. Das Haus hatte vor langer Zeit einmal einem Müller gehört; ein Bach floß vorbei, sein steiler Fall wurde durch flache Stufen gebändigt; an seinen Ufern wuchsen Farnkräuter und Blumen. Einige hundert Schritte unterhalb des Hauses verschwand der Bach unter einem überhängenden Baldachin aus Buchen und Haselbüschen. 138
Oberhalb dieses bewaldeten Stücks lag am Steilhang hinter dem Haus, voll der Sonne ausgesetzt, der von einer Mauer umgebene Garten, der die Pflanzenschätze des Alten enthielt. Er erkannte mich sofort, obwohl viele Jahre vergangen waren, seit wir uns gesehen hatten. Er lebte allein, abgesehen von seinen beiden Gärtnern und einer Frau, die mit ihrer Tochter für das Haus sorgte und für ihn kochte. Sie erhielt den Auftrag, Betten herzurichten, und entfernte sich geschäftig, um über der Feuerstelle in der Küche jemanden lauthals auszuschelten. Ulfin ging weg, um dafür zu sorgen, daß unsere Maultiere in den Stallungen untergebracht wurden, so daß Blaise und ich uns ungestört unterhalten konnten. Im Norden bleibt es lange hell; so gingen wir nach dem Abendbrot hinaus auf die Terasse, die oberhalb des Baches lag. Von den Steinen stieg noch die Wärme des Tages auf, und die Abendluft duftete nach Zypressen und Rosmarin. Im Baumschatten schimmerte hier und da die bleiche Gestalt einer Statue. Irgendwo sang eine Drossel - das kräftigere Echo der Nachtigall. Neben mir sprach der Alte (magister artium, wie er sich jetzt gerne titulierte) von der Vergangenheit, und zwar in reinem römischen Latein, ohne die Spur eines Akzents. Es war wie ein Abend, der aus Italien entlehnt zu sein schien: Ich war wieder der junge Mann, der sich wie früher auf Reisen befand. Ich machte eine diesbezügliche Bemerkung, und er strahlte vor Freude. «Ich denke auch gerne an früher. Man versucht, sich an die Bildungswerte der Jugendzeit zu klammern. Ihr wußtet doch, daß ich als junger Mann dort studierte, bevor ich die Ehre empfing, in den Dienst Eures Vaters einzutreten? Jene Jahre, ach, jene waren die großen Jahre, aber wenn man älter wird, neigt man vielleicht viel zu sehr dazu, den Blick in die Vergangenheit zu richten.» Ich machte eine höfliche Bemerkung des Inhalts, dies könne für einen Historiker nur von Vorteil sein, und fragte, ob er mich mit einer Lesung aus seinem Werk ehren würde. Ich hatte die brennende Lampe bemerkt, die auf einem Steintisch neben den Zypressen stand, sowie die dort griffbereit liegenden Schriftrollen. 139
«Wollt Ihr wirklich etwas daraus hören?» Er ging bereitwillig auf meinen Vorschlag ein. «Einige Teile werden Euch gewiß sehr interessieren. Und vielleicht könnt Ihr auch einige Ergänzungen anfügen. Zufälligerweise habe ich gera- * de diese Rolle bei mir - ja, diese ist es ... Sollen wir uns hinsetzen? Der Stein ist trocken, und die Abendluft noch mild. Ich glaube, es wird uns nicht schaden, hier draußen bei den Rosen zu sitzen ...» Der Abschnitt, den er auswählte, war seine Darstellung der Ereignisse nach Ambrosius' Rückkehr nach Britannien; er war den größten Teil der Zeit in der Nähe meines Vaters gewesen, während ich andernorts zu tun hatte. Als er mit dem Vorlesen fertig war, stellte er seine Fragen, und ich war in der Lage, ihm Einzelheiten über die entscheidende Schlacht mit Hengist bei Kaerconan und der nachfolgenden Belagerung von York, sowie über die darauf beginnenden Wiederaufbauarbeiten zu liefern. Ich ergänzte auch seine Unterlagen über den Feldzug, den Uther gegen Gilloman in Irland geführt hatte. Ich hatte Uther begleitet, während Ambrosius in Winchester blieb; Blaise war dort bei ihm gewesen, und es war Blaise, der mir vom Tode meines Vaters berichtet hatte, der eingetreten war, als ich mich in Irland befand. Er erzählte mir wieder davon. «Ich sehe das alles noch vor mir - das große Schlafgemach in Winchester, die dort versammelten Ärzte und Edlen und Euren Vater, der dem Tode nahe in den Kissen lag; aber er war bei vollem Bewußtsein und sprach zu Euch, als wäret auch Ihr im Raum. Ich stand neben ihm, um alles Notwendige niederzuschreiben, und mehr als einmal blickte ich zum Fußende des Bettes hinüber, als könnte ich Euch dort sehen. Und während dieser Zeit wart Ihr auf hoher See, um aus dem irischen Krieg den großen Stein herüberzubringen, der auf sein Grab gelegt werden sollte.» Er nickte still vor sich hin, wie es alte Menschen zu tun pflegen, als lebe er ganz in der Vergangenheit. Ich brachte ihn in die Gegenwart zurück. «Und wie weit seid Ihr mit Eurer Schilderung der Zeitläufte gekommen?» 140
«Ach, ich bemühe mich, alle Ereignisse festzuhalten. Aber jetzt, da ich aus dem Mittelpunkt der Geschehnisse ausgeschieden bin und mich auf Erzählungen von Leuten im Ort und zufälligen Besuchern verlassen muß, ist es schwer, zu wissen, wieviel ich dabei übersehe. Ich unterhalte Briefwechsel, aber manchmal sind die Briefschreiber gleichgültig, ja, die jungen Leute sind nicht mehr das, was sie einmal waren ... Es ist ein großer Glücksfall, der Euch hierher geführt hat, Merlin, und für mich ein großer Tag. Ihr werdet doch bleiben? So lange Ihr wollt, mein Lieber; Ihr habt sicherlich schon gesehen, daß wir ein einfaches Leben führen, aber es ist ein gutes Leben, und es gibt noch so viel zu erzählen, so viel . . . Und Ihr müßt meine Weinstöcke sehen. Ja, eine schöne, helle Traube, die zu einer herrlichen Süße heranreift, wenn es ein gutes Jahr ist. Auch Feigen gedeihen hier, und Pfirsiche, und ich habe sogar Erfolge gehabt mit einem Granatapfelbaum aus Italien.» «Diesmal kann ich leider nicht bleiben», sagte ich mit ehrlichem Bedauern. «Ich muß morgen früh nach Norden Weiterreisen. Aber wenn Ihr gestattet, werde ich bald noch einmal zurückkommen - und dann werde auch ich Euch bestimmt viel zu erzählen haben! Große Dinge bahnen sich an, und Ihr werdet der Menschheit einen Dienst erweisen, falls Ihr sie niederschreiben wollt. Wäret Ihr einverstanden, wenn ich Euch von Zeit zu Zeit einen Brief schickte? Ich hoffe, vor Einbruch des Winters wieder bei Artus zu sein; auf diese Weise könnt Ihr auf dem laufenden bleiben.» Seine Freude war offensichtlich. Wir unterhielten uns dann noch eine Weile, während sich die Nachtfalter um die Lampe zu scharen begannen. Dann gingen wir für die Nacht auseinander. Das Fenster meines Schlafzimmers ging auf die Terrasse hinaus, wo wir gesessen hatten. Noch lange, bevor ich mich zum Schlafen niederlegte, lehnte ich die Ellbogen auf den Fenstersims, schaute hinaus und atmete den nächtlichen Duft ein, der in Wellen hereindrang. Die Drossel war verstummt, und jetzt hörte man nur noch das leise Rauschen des Wassers. Eine schmale Mondsichel stand am Himmel, . und die Sterne leuchteten. Hier, ohne die Lichter und Geräusche von Stadt oder Dorf, herrschte tiefe Nacht; der schwarze 141
Himmel erstreckte sich unergründlich bis in eine nicht vorstellbare Welt, wo Götter wandelten und Sonnen und Monde wie Blütenblätter herabschwebten. Es gibt eine Kraft, die Augen und Herzen des Menschen emporzieht und ihn über Staub und Erde, die ihn an das Diesseits binden, hinaushebt. Es kann die Musik sein, und der Mondenschein, vermutlich auch die Liebe, obwohl ich sie damals, außer im spirituellen Bereich, noch nicht erfahren hatte. Die Tränen waren wieder da, und ich ließ ihnen freien Lauf. Ich wußte jetzt, was für eine Wolke es gewesen war, die seit jener Zufallsbegegnung auf dem Moorpfad meinen Blick verdunkelt hatte. Wieso es dazu gekommen war, wußte ich nicht, aber der Knabe Ninian, der so jung und still war und im Aussehen und in seinen Bewegungen so viel Anmut zeigte, die das häßliche Brandmal des Sklaven auf seinem Arm Lügen strafte - er trug das Zeichen des herannahenden Todes. Darum hätte gewiß jeder, der es sah, geweint; auch ich weinte, aber um mich selbst; um Merlin, den Zauberer, der sah und nichts tun konnte; der auf seinen einsamen Höhen dahinwanderte, wo anscheinend niemand in seine Nähe kam. In dem ruhigen Antlitz und den lauschenden Augen des Knaben, in jener Nacht auf dem Moor, als die Vögel gerufen hatten, war mir ein flüchtiger Einblick in das, was vielleicht einmal gewesen war, zuteil geworden. Zum ersten Mal seit jener Zeit, als ich zu Galapas' Füßen gesessen hatte, um die Kunst der Magie zu erlernen, hatte ich jemanden gesehen, der würdig gewesen wäre, diese Kunst von mir zu lernen. Nicht so, wie andere diesen Wunsch gehabt hatten, aus Machtstreben oder um der Aufregung willen, auch nicht, um einer Feindschaft zu dienen oder eine persönliche Gier zu befriedigen, sondern weil er mit den Augen eines Kindes dunkel erkannt hatte, wie die Götter mit den Winden dahingehen und mit dem Meere sprechen und in den zarten Krautern schlafen, und wie Gott selbst die Summe alles dessen ist, das sich auf dem Angesicht der Erde befindet. Die Magie ist das Tor, durch das der Sterbliche manchmal schreitet, um den Eingang in die Berghöhlen zu finden und sich selbst Zutritt in die weiten Räume jener anderen Welt zu verschaffen. Ich hätte ihm diese Tore öffnen können und ihm den Schlüssel überlassen können, wenn ich ihn selbst nicht mehr brauchte. 142
Und jetzt war er tot. Ich hatte es, glaube ich, schon gewußt, nachdem ich auf dem Marktplatz mit ihm gesprochen hatte. Mein scharfer, unüberlegter Protest war aus keinem bewußten Grund erhoben worden: die Erkenntnis kam erst später. Und immer, wenn ich so sprach, taten die Menschen, wie sie von mir geheißen waren. So hatte der Knabe wenigstens sein süßes Gebäck und den Sonnenschein des Tages genossen. Ich wandte mich von der schmalen, heller werdenden Mondsichel ab und legte mich nieder. *** «Er hat wenigstens noch das süße Gebäck und den Sonnenschein genossen.» Beltane, der Goldschmied, erzählte uns davon, als wir im Gasthaus der Stadt am nächsten Tag gemeinsam zu Abend aßen. Er war ungewöhnlich schweigsam und schien erschüttert zu sein; er klammerte sich an uns ebenso, wie er sich trotz seiner scharfen Zunge an die Gegenwart des Knaben geklammert haben mußte. «Aber - ertrunken.» Ulfins Stimme hatte einen ungläubigen Unterton, aber ich entnahm seinen Blicken, daß er begonnen hatte, die Ereignisse richtig einzuordnen und zu verstehen. «Wie ist es geschehen?» «Gestern abend brachte er mich zur Essenzeit hierher zurück und packte die Sachen ein. Es war ein guter Tag gewesen, und die Einnahmen hoch; wir erwarteten eine gute Mahlzeit. Er hatte schwer gearbeitet, und als er sah, daß einige junge Leute hinunterliefen, um in dem Bach zu baden, bat er um die Erlaubnis, sich ihnen anschließen zu dürfen. Er hatte die Gewohnheit, sich so oft wie möglich zu waschen . . . und es war ein heißer Tag gewesen, und die Menschen rühren mit ihren Füßen auf dem Markt eine Menge Staub und Dreck auf. Ich ließ ihn gehen. Dann kamen die anderen Knaben zurückgerannt und erzählten. Er muß in ein Loch getreten sein und den Halt verloren haben. Der Bach ist tückisch, sagten sie mir . . . Wie hätte ich das wissen sollen? Als wir gestern herüberkamen, schien die Furt so flach und ungefährlich zu sein...» «Und der Leichnam?» fragte Ulfin nach einer Pause, als er merkte, daß ich nichts sagen wollte. 143
«Dahin. Er wurde stromabwärts geschwemmt, sagten die Knaben, wie ein Stück Holz bei Flut. Er kam etwa eine halbe Meile weiter unten noch einmal hoch, aber sie konnten ihn nicht fassen, und dann verschwand er. Es ist ein schlimmer Tod. Man sollte ihn finden und wie einen Mann begraben.» Ulfin machte noch eine freundliche Bemerkung, und nach einer Weile erstarben die Klageworte des Mannes, und das Abendessen kam, und während er aß und trank, schien er über den Verlust hinwegzukommen. Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne, und zu j dritt brachen wir gen Norden auf und erreichten vier Tage später das Land der Votadini, das die Briten Manau Guoto-din nennen. 11 Etwa zehn Tage später erreichten wir nach den vorgesehenen Pausen zur Erledigung von Geschäften unterwegs Lots Hauptstadt Dunpeldyr. Es war spät am Nachmittag an einem regnerischen Tag. Wir hatten noch Glück, in einer Herberge in der Nähe des Südtores eine Unterkunft zu finden. Die Stadt war kaum mehr als eine Gruppe dicht beieinanderstehender Häuser und Läden am Fuße eines großen Felsens, auf dem die Burg stand. Früher hatte der Felsen den eigentlichen festen Platz bedeutet, aber jetzt drängten sich die Häuser willkürlich zwischen Klippen und Fluß und an den Hängen, die zum Felsen hinaufführten, bis zur Burgmauer. Der Fluß (ein anderer Tyne) windet sich um den Fuß des Felsens herum und fließt dann in weiten Biegungen etwa eine Meile durch flaches Land bis zu seinem versandeten Mündungsarm. An seinen Ufern sind Häuser entstanden, und Boote werden auf den steinigen Strand heraufgezogen. Es gibt zwei Brücken: eine schwere hölzerne, die auf steinernen Pfeilern steht und den Weg zum Haupttor der Burg nach oben freigibt; die andere, schmalere, führt zu einem steilen Pfad, der an einem Seitentor der Burg endet. Hier waren keine Straßen gebaut worden; der Ort war planlos gewachsen und besaß weder Schönheit noch sonst irgendwelche Vorzüge. Die Häuser sind aus Lehmziegeln gebaut und mit Grassoden gedeckt, und die steilen Gassen werden bei 144
regnerischem Wetter zu schmutzigen Gießbächen. Der Fluß, der gar nicht weit entfernt einen hübschen Anblick bietet, ist hier noch voller Schlinggewächse und Abfälle. Zwischen dem Felsen und dem Fluß liegt, nach Osten hin, der große Marktplatz, wo Beltane am nächsten Morgen seine Waren feilbieten wollte. Es gab etwas, was ich unverzüglich erledigen mußte. Falls Beltane, so komisch es klingen mochte, als meine «Augen» innerhalb der Burg fungieren sollte, durften weder Ulfin noch ich uns in seiner Gesellschaft sehen lassen; da er von einem Diener abhängig war, mußte jemand gefunden werden, der den ertrunkenen Knaben ersetzte. Beltane hatte auf unserer Reise in den Norden keine diesbezüglichen Anstalten gemacht und war jetzt nur zu dankbar, als ich mich anbot, dieses Problem für ihn zu erledigen. Dicht außerhalb der Stadttore war mir ein Steinbruch aufgefallen; es war kein großes Unternehmen, aber man arbeitete dort noch. Am nächsten Morgen ging ich - mit Bedacht zur Tarnung in einen abgetragenen, rostbraunen Umhang gehüllt - dorthin und suchte den Vorarbeiter auf, einen großen, umgänglich wirkenden Kerl, der unter den verwahrlost aussehenden Arbeitern wie ein Lord herumstolzierte und den Eindruck machte, als genieße er die Sommerluft auf seinem Landsitz. Er sah mich herablassend von oben bis unten an. «Arbeitsfähige Diener kommen teuer, mein lieber Herr.» Ich merkte, wie er mich beim Sprechen einzuschätzen versuchte und dann nach einem anscheinend wenig günstigen Ergebnis fortfuhr: «Ich kann auch keinen entbehren. An einem Arbeitsplatz wie diesem bekommt man nur Gesindel. . . Sträflinge, Verbrecher und so weiter. Keinen, der einen ordentlichen Haussklaven abgeben könnte oder für irgendeine Art verantwortungsvoller Tätigkeit geeignet wäre. Und Muskelkraft ist teuer. Ihr solltet lieber bis zum Jahrmarkt warten. Dann kommen alle möglichen Menschen her; sie verdingen sich und ihre Familien, oder sie verkaufen sich oder ihre Kinder, um etwas zu essen zu haben - aber vielleicht wäre es noch besser, wenn Ihr bis zum Winter warten könntet, um billige Arbeitskräfte zu bekommen.» 145
«Ich will nicht warten. Ich kann zahlen. Ich bin auf Reisen und brauche einen Mann oder einen Knaben. Er braucht keine besonderen Fähigkeiten zu besitzen, aber er muß auf Sauberkeit achten und seinem Herrn treu ergeben sein; und er muß kräftig genug sein, um auch im Winter, wenn das Reisen beschwerlich ist, unterwegs sein zu können.» Während ich sprach, wurde er etwas entgegenkommender; anscheinend hatte er seine Einschätzung meiner Person revidiert. «Reisen? Was seid Ihr denn von Beruf?» Ich sah keinen Grund, ihm zu sagen, daß ich den Diener nicht für mich selbst suchte. «Ich bin Arzt.» Meine Antwort hatte die Wirkung, die sie in neun von zehn Fällen hervorbringt. Er begann eifrig, mir von allen seinen Gebrechen zu erzählen, deren er, da er über vierzig Jahre alt war, viele hatte. «Schön», sagte ich, als er geendet hatte, «ich kann Euch, glaube ich, helfen, aber es müßte auf Gegenseitigkeit beruhen. Falls Ihr einen Arbeiter habt, den Ihr mir als Diener abtreten könnt - und er müßte natürlich billig sein, denn Ihr habt hier ja sowieso nur Gesindel-, dann könnten wir vielleicht ein Geschäft machen. Und da ist noch etwas. Wie Ihr verstehen werdet, gibt es in meinem Beruf manche Dinge, die geheimgehalten werden müssen. Ich brauche keine Plaudertasche; der Mann muß schweigsam sein.» Daraufhin sah mich der Bursche überrascht an, schlug sich auf den Schenkel und lachte, als habe er den größten Witz auf der Welt gehört. Er drehte den Kopf zur Seite und brüllte einen Namen. «Casso! Komm her! Schnell, du Dummkopf! Hier bekommst du eine Chance, du Glückspilz, und einen neuen Herrn, und ein schönes, neues Leben voller Abwechslungen!» Ein schlaksiger Jüngling löste sich von einer Arbeitergruppe, die damit beschäftigt war, Gesteinsbrocken unter einem Überhang loszubrechen, der jederzeit zusammenzustürzen drohte. Er richtete sich langsam auf und schaute sich um, bevor er seine Hacke fallen ließ und auf uns zukam.
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«Diesen Burschen kann ich Euch abtreten, Doktor», sagte der Vorarbeiter gutgelaunt. «Er entspricht genau Euren Wünschen.» Und dann brach er wieder in lautes Gelächter aus. Der junge Mann blieb mit hängenden Armen und auf den Boden gerichteten Blick vor uns stehen. Er war schätzungsweise achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Er sah kräftig aus-was er wohl auch sein mußte, wenn er dieses Leben länger als sechs Monate ausgehalten hatte -, aber er wirkte dumm bis zur Verblödung. «Casso?» sagte ich. Erhob den Blick, und ich erkannte, daß er lediglich erschöpft war. In einem Leben ohne Hoffnung oder Vergnügen hatte es wenig Sinn, Energie auf Gedanken zu verschwenden. Sein Herr lachte wieder. «Es ist sinnlos, mit ihm zu reden. Wenn Ihr etwas wissen wollt, müßt Ihr mich fragen oder es selbst in Erfahrung bringen. Er ergriff das Handgelenk des Burschen und hielt dessen Arm hoch. «Seht Ihr? Stark wie ein Ochse und kerngesund. Und verschwiegen genug, auch für Euch. Ja, weiß Gott, unser Casso ist verschwiegen - er ist stumm.» Der junge Mann schien die körperliche Berührung kaum wahrgenommen zu haben, aber beim letzten Satz hob er noch einmal kurz die Augen und sah mich an. Ich hatte mich geirrt. In seinem Kopf wohnten Gedanken - und Hoffnung; ich sah, wie die Hoffnung erstarb. «Aber nicht auch taub, nehme ich an?» sagte ich. «Was war die Ursache? Habt Ihr eine Ahnung?» «Seine eigene dumme Zunge, könnte man sagen.» Er fing wieder zu lachen an, begegnete meinem Blick und räusperte sich statt dessen. «Den könnt Ihr nicht mehr heilen, Doktor, er hat keine Zunge mehr. Ich habe es nie ganz genau erfahren, aber er stand in Diensten unten in Bremenium, und soweit ich gehört habe, hat er das Maul einmal zu weit aufgerissen. Und der Lord Aguisel macht bei Frechheiten nicht viel Federlesens . . . Na, ja, er hat seine Lektion bekommen. Ich erhielt ihn zusammen mit anderen Arbeitskräften, nachdem die Brücken repariert worden waren. Er hat mir nie Schwierigkeiten gemacht. Und soweit ich weiß, war er früher mit Hausarbeiten beschäftigt, so 147
bekommt Ihr also dazu noch einen. . . He! Ihr da!» Während wir uns unterhielten, war sein Blick gelegentlich zu der Gruppe hinübergewandert, die den Stein bearbeitete. Jetzt ging er selbst zu den Leuten hin und beschimpfte das «faule Pack», das sich die Gelegenheit zunutze gemacht habe, um die Hände in den Schoß zu legen. Ich sah Casso nachdenklich an. Ich hatte seinen Gesichtsausdruck und das rasche, unwillkürliche Kopfschütteln bemerkt, als der Vorarbeiter von «Frechheit» gesprochen hatte. «Du warst in Aguisels Haushalt?» fragte ich ihn. Ein Kopfnicken. «Aha.» Jetzt wurde mir vieles klar. Aguisel genoß einen üblen Ruf und war um nichts besser als Lot. Er hatte sich in den Überresten der Festung Bremenium weiter südlich verschanzt. Was dort geschah, konnte ein anständiger Mensch nur ahnen. Ich hatte von seiner Vorliebe gehört, stumme oder geblendete Sklaven zu verwenden. «Habe ich recht in der Annahme, daß du Dinge gesehen hast, die du nicht weitererzählen durftest?» Wieder ein Kopfnicken. Diesmal blieben seine Augen fest auf mich gerichtet. Es mußte lange her sein, seit ihn jemand in ein solches, wenn auch kurzes Gespräch gezogen hatte. «Das habe ich mir gedacht. Auch ich habe Geschichten über Aguisel gehört. Kannst du lesen oder schreiben, Casso?» Ein Kopf schütteln. «Sei dankbar dafür», meinte ich trocken. «Wenn du es könntest, wärst du jetzt nicht mehr am Leben.» Der Vorarbeiter hatte seinen Arbeitstrupp wieder in Schwung gebracht. Er kam auf uns zu. Ich dachte schnell nach. Die Stummheit des jungen Mannes war für Beltane vielleicht kein Nachteil, denn dieser war durchaus in der Lage, sich ausreichend selbst verständlich zu machen; aber ich war von der Voraussetzung ausgegangen, daß der neue Sklave als die «Augen» seines Herrn fungieren müsse, während wir uns in Dunpeldyr aufhielten. Jetzt sah 148
ich, daß diese Notwendigkeit nicht bestand: was auch immer aus Lots Hochburg nach außen durchsickerte, konnte Beltane durchaus auch selbst erfassen. Sein Augenlicht war zwar nicht gut, aber er hörte vorzüglich, und er konnte uns weitererzählen, was dort gesprochen wurde; wie der Platz aussah, spielte kaum eine Rolle. Falls der Goldschmied lieber einen anderen Diener gehabt hätte, würden wir ihm nach der Abreise aus Dunpeldyr sicher einen beschaffen können. Aber jetzt drängte die Zeit, und hier konnte ich mir auf jeden Fall Verschwiegenheit - wenn auch eine erzwungene - einhandeln, sowie meines Erachtens jene Loyalität, die mit Dankbarkeit einherging. «Na?» fragte der Vorarbeiter. Ich sagte: «Wer den Dienst in Bremenium überlebt hat, ist bestimmt kräftig genug, alle meine Forderungen zu erfüllen. Gut. Ich nehme ihn.» «Großartig, großartig!» Der Kerl lobte überschwenglich mein Urteilsvermögen und Cassos hervorragende Eigenschaften, so daß ich mich schon zu fragen begann, ob er die Sklaven tatsächlich verkaufen durfte oder ob er hier eine Möglichkeit sah, in die eigene Tasche zu arbeiten und seinen Auftraggebern zu melden, der junge Mann sei gestorben. Als er über den Preis zu feilschen begann, schickte ich Casso weg, damit dieser seine Habseligkeiten zusammenpackte, und wies ihn an, an der Straße auf mich zu warten. Ich habe nie einsehen können, warum ein Mensch, nur weil er ein Gefangener oder ein Kaufobjekt ist, der elementarsten Menschenwürde entkleidet werden sollte. Sogar ein Pferd oder ein Jagdhund sind um so leistungsfähiger, je mehr man ihnen ein gewisses Selbstbewußtsein läßt. Nachdem er gegangen war, wandte ich mich wieder dem Vorarbeiter zu. «Wir sind übereingekommen, falls Ihr Euch erinnert, daß ich den Preis zum Teil in Arzneien bezahlen würde. Ihr findet mich in dem Gasthaus neben dem Südtor. Wenn Ihr heute abend kommt oder jemanden vorbeischickt, der nach Master Emrys fragt, werde ich die Arzneien rechtzeitig vorbereiten und sie zur Abholung bereitstellen. Und jetzt-der Rest des Kaufpreises ...» Schließlich einigten wir uns, und ich begab mich, gefolgt 149
von meinem neuen Sklaven, auf den Rückweg zu der Herberge. Casso machte ein enttäuschtes Gesicht, als er hörte, daß er nicht mir zu dienen haben würde, sondern mit Beltane gehen sollte; aber im Verlauf des Abends, bei der Wärme und dem guten Essen und den vielen Gästen, die in die Herberge strömten, sah er aus wie eine Pflanze, die sich nach langem Siechtum in Dunkelheit plötzlich im Sonnenlicht entfaltet. Beltane war mir ausgesprochen dankbar und begann fast unmittelbar mit einer langen Darstellung seiner Kunstfertigkeit, die für Cassos Ohren gemünzt war. Dieser könnte kaum eine Stelle gefunden haben, in der seine Verstümmelung eine noch geringere Rolle gespielt hätte. Während der Abend weiterging, begann Beltane, in einem stummen Diener etwas Positives zu sehen. Ninian hatte zwar auch wenig gesprochen, aber er hatte auch nicht •zugehört. Casso saugte alles in sich ein und versuchte, mit seinen schwieligen Händen die einzelnen Stücke zusammenzusetzen; sein Gehirn erwachte von der Betäubung hoffnungsloser Erschöpfung und nahm zusehends an den Freuden des Abends teil. Die Herberge war zu klein - und wir waren offensichtlich zu arm-, um ein Einzelzimmer zu bekommen, aber am hinteren Ende des Schankraumes, abgesetzt vom Feuer, lag ein tiefer Alkoven mit einem Tisch und zwei Sesseln, wo wir ungestört sein konnten. Niemand achtete auf uns, und wir blieben den ganzen Abend in unserem Winkel; dabei lauschten wir dem Gerede, das in dem Gasthaus laut wurde. Es waren zwar keine Tatsachen, dafür um so mehr Gerüchte; das bedeutsamste davon war, daß Artus zwei weitere Gefechte gewonnen hatte und die Sachsen seine Bedingungen angenommen hatten. Der Hochkönig werde noch einige Zeit in Linnuis bleiben, aber Lot, hieß es, könne jetzt jeden Tag zu Hause erwartet werden. Tatsächlich kam ererstnach vier weiteren Tagen. Ich blieb während der Zeit im Hause, schrieb an Ygraine und Artus und machte mich an den Abenden mit der Stadt und ihrer Umgebung vertraut. Die Stadt war klein und zog nur wenige Fremde an, deshalb ging ich, da ich nicht auffallen wollte, erst bei Einbruch der Dunkelheit hinaus, wenn die meisten Leute zu Hause 150
beim Abendessen saßen. Aus dem gleichen Grund habe ich keine Patienten geworben; jeder, der sich uns näherte, wurde durch Beltane mit Beschlag belegt und dachte nicht daran, sich weiter umzusehen. Man hielt mich wahrscheinlich für irgendeinen armen Schreiber. Ulfin trieb sich bei den Stadttoren herum, sammelte so viele Nachrichten, wie er konnte, und wartete auf die Kunde von Lots Rückkehr. Ohne jegliches Mißtrauen ging Beltane seinen Geschäften nach. Er stellte seinen Ofen auf dem Platz neben der Herberge auf und begann, Casso die Grundzüge der Schmuckreparatur zu lehren. Dies erregte natürlich allgemeines Interesse und zog viele Kunden an, so daß der Goldschmied schon bald ein glänzendes Geschäft machte. Dies zeitigte am dritten Tag genau das Ergebnis, worauf wir alle gehofft hatten. Das Mädchen Lind kam eines Tages über den Marktplatz und sah Beltane; sie trat näher und nannte ihren Namen. Beltane schickte sie mit einer Botschaft zu ihrer Herrin zurück, schenkte ihr wieder eine Spange und wurde schon bald dafür belohnt. Am nächsten Tag wurde er in die Burg gerufen und setzte sich sofort triumphierend in Marsch, gefolgt von dem mit seinen Schätzen beladenen Casso. Auch wenn er nicht stumm gewesen wäre, hätte Casso nichts berichten können. Als die beiden durch das rückwärtige Tor hineingelassen wurden, hielt man Casso in der Stube des Torhüters fest, während ein höherer Bediensteter den Goldschmied zu den Gemächern der Königin geleitete. Voller Neuigkeiten kehrte er bei Sonnenuntergang in die Herberge zurück. Er hatte zwar viel von hochgestellten Persönlichkeiten geredet, aber dies war das erste Königsschloß, in das er Einlaß gefunden hatte, und Morgause die erste Königin, die seinen Schmuck tragen würde. Die Bewunderung, die er für sie hegte, seit er sie in York gesehen hatte, war jetzt in einen Zustand ehrfürchtiger Verehrung übergegangen; aus der Nähe wirkte ihre Schönheit auch auf ihn wie eine Droge. Während des Abendessens plauderte er unentwegt und dachte offenbar nicht einen Augenblick daran, daß ich mich vielleicht 151
für die eine oder andere Einzelheit nicht interessieren könnte. Casso und ich (Ulfin war noch draußen) erhielten eine getreuliche Schilderung jedes Wortes, das gesprochen wurde; wir erfuhren von ihren Reizen, ihren Lobesworten für seine Arbeit, ihrer Freigebigkeit, weil sie drei Stücke gekauft und ein viertes entgegengenommen habe; wir erfuhren sogar von dem Duft, den sie bevorzugte. Er erging sich außerdem in einer genauen Beschreibung ihrer Schönheit und der Pracht des Raumes, in dem sie ihn empfangen hatte, aber hier hatten wir es nur mit Eindrücken zu tun; das Bild, das er uns vermittelte, war ein Gemisch aus Licht und Farbe; er sprach von dem kühlen "Glanz, der durch ein Fenster auf ihre bernsteinfarbene Robe fiel, von dem Aufleuchten ihrer herrlichen, blonden Haare; von dem Rauschen der Seide und dem Knistern der Feuerscheite, die im Kamin brannten. Auch von Musik; von der Stimme eines Mädchens, das leise ein Wiegenlied gesungen habe. «Das Kind war also dort?» «In der Tat. Es schlief in einer hohen Wiege neben dem Feuer. Ich konnte es ganz deutlich sehen; es hob sich gegen die Flammen ab; und das Mädchen wiegte es und sang dabei. Die Wiege hatte einen Baldachin aus Seide und Gaze, sowie ein Glöckchen, das beim Wiegen hell läutete und im Widerschein des Feuers aufblitzte. Eine königliche Wiege. Ein wunderschöner Anblick! Ich hätte mir gewünscht, daß meine alten Augen allein für diesen Anblick besser gewesen wären.» «Und habt Ihr das Kind selbst gesehen?» Das hatte er nicht. Das Baby sei einmal aufgewacht und habe etwas geweint, dann habe es die Kinderfrau beruhigt, indem sie es auf den Arm genommen habe. Die Königin habe ein Halskettchen anprobiert und, ohne sich umzublicken, dem Mädchen den Handspiegel abgenommen und ihm aufgetragen, dem Baby etwas vorzusingen. «Eine hübsche Stimme», sagte Beltane, «aber solch ein trauriges Liedchen. Und ich hätte das Mädchen wirklich kaum wiedererkannt, wenn sie nicht gestern zu mir gekommen wäre. So mager und unscheinbar, wie eine Maus, und auch ihre Stimme war dünn 152
geworden. Sie heißt Lind, habe ich Euch das nicht schon gesagt? Ein merkwürdiger Name für ein Mädchen. Heißt nicht eine Schlange auch so?» «Ich glaube, ja. Habt Ihr den Namen des Kindes gehört?» «Sie nannten es Mordred.» An dieser Stelle wäre Beltane wieder am liebsten zu seiner Schilderung der Wiege und des hübschen Bildes zurückgekehrt, das das Mädchen mit seinem Gesang abgegeben hatte, aber ich brachte ihn auf das Wesentliche zurück. «Wurde irgend etwas über die Heimkehr König Lots gesagt?» Beltane, der nichtsahnende Künstler, erkannte nicht einmal die Bedeutung dieser Frage. Man habe ihn jederzeit erwartet, erklärte er unbekümmert. Die Königin sei aufgeregt wie ein junges Mädchen. Sie könne von nichts anderem mehr reden. Ob ihrem Herrn das Halsband gefallen werde? Ob durch die Ohrringe ihre Augen leuchtender werden würden? Er verdanke, meinte Beltane, der Ankunft des Königs die Hälfte seines Geschäfts. «Und sie schien sich überhaupt nicht zu fürchten?» «Zu fürchten?» Er sah mich verständnislos an. «Nein. Warum sollte sie sich fürchten? Sie war überglücklich. <War-tet nur>, sagte sie zu den Damen, genau wie jede andere junge Mutter, deren Gemahl im Kriege ist, <wartet nur, bis mein Herr den prächtigen Sohn sieht, den ich ihm geboren habe, und er sieht seinem Vater ähnlich, wie ein Wolf dem anderen. > Und sie lachte und lachte. Es war ein Scherz, müßt Ihr verstehen, Master Emrys. In dieser Gegend wird Lot der Wolf genannt, und man ist stolz darauf, was bei den Wilden hier oben im Norden nur natürlich ist. Nur ein Scherz. Warum sollte sie sich fürchten?» «Ich dachte an die Gerüchte, von denen Ihr einmal gesprochen habt. Ihr erzähltet mir von Dingen, die Ihr in York gehört hattet, und dann, sagtet Ihr, gebe es Getuschel unter dem einfachen Volk auf dem Marktplatz.» «Ach, das meint Ihr, gewiß . . . Aber das ist nur Gerede. Ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt, Master Emrys, auf die gemeinen 153
Geschichten, die herumerzählt worden sind. Ihr wißt selbst, daß so etwas immer geschieht, wenn eine Frühgeburt eintritt, und in einem königlichen Haushalt wird natürlich um so mehr geredet, als mehr daran hängt, gewissermaßen.» «Es war also eine Frühgeburt?» «Ja, so sagt man wenigstens. Alle waren überrascht. Das Kind kam auf die Welt, bevor noch die Ärzte des Königs herkommen konnten; diese waren nach Norden entsandt worden, um der Königin beizustehen. So haben die Frauen das Kind entbunden, aber Gott sei Dank ist alles gut gegangen. Erinnert Ihr Euch, daß man uns erzählte, es sei ein kränkliches Kind? Ich hätte dasselbe nach der Art und Weise sagen können, wie es schrie. Aber jetzt gedeiht der Knabe und nimmt zu. Die Zofe Lind sagte es mir, als ich auf dem Rückweg zum Tor mit ihr sprach. fragte ich sie. Sie sieht mich an, als wollte sie sagen: Damit wird alles Gerede widerlegt, aber laut meint sie nur: <Ja, es ist dem König wie aus dem Gesicht geschnitten.)» Er beugte sich über den Tisch und nickte mit Nachdruck. «Ihr seht also, alles war nur Lüge, Master Emrys. Und man braucht sich mit ihr nur zu unterhalten. Diese hübsche Frau sollte ihren Herrn betrügen? Sie sah wie eine Braut aus, die sich auf seine Rückkehr freut. Und ihr hübsches Lachen klang wie das Silberglöckchen an der Wiege. Oh, ja, Ihr könnt überzeugt sein, daß die Geschichten lauter Lügen waren. Diese wurden in York von denjenigen, die Grund zur Eifersucht hatten, unter das Volk gebracht... Ihr wißt doch, wen ich meine, nicht wahr? Und das Kind ist sein Abbild. Alle sagten dasselbe: Ihr wißt ja, wie Frauen reden, Master Emrys. » Und so redete er weiter, während Casso, der sich mit dem Polieren einiger billiger Gürtelschnallen zu schaffen machte lauschte und lächelte, und ich ließ den Mann weiterreden während ich meinen eigenen Gedanken nachhing. 154
Wie sein Vater? Dunkle Haare, dunkle Augen, die Beschreibung könnte sowohl auf Lot als auch auf Artus passen Bestand vielleicht doch die schwache Hoffnung, daß das Schicksal auf Artus' Seite stand? Daß sie das Kind von Lot empfangen und dann Artus in dem Versuch verführt hatte, ihn an sich zu fesseln? Zögernd schob ich die Hoffnung beiseite. Als ich in Luguvallium die dunkle Ahnung bevorstehenden Unheils gehabt hatte, besaß ich noch meine magische Kraft. Unc ihrer hätte es nicht einmal bedurft, um mir zu sagen, daß Morgause nicht zu trauen sei. Ich war in den Norden gekommen, um sie zu beobachten, und jetzt konnten mir die bruchstückhaften Nachrichten, die mir Beltane erzählt hatte, einen Hinweis geben, wonach ich Ausschau zu halten hatte. Dann kam Ulfin herein; er schüttelte sich die Regentropfen von seinem Umhang. Er schaute sich um, sah uns und gab mir ein verstohlenes Zeichen. Ich stand auf, sagte kurz etwas zu Beltane und ging hinüber zu ihm. Er sprach leise. «Es gibt etwas Neues. Der Bote der Königin kam gerade hereingeritten. Ich habe ihn gesehen. Es muß ein harter Ritt gewesen sein, denn das Pferd schien am Ende seiner Kräfte. Ich habe Euch doch gesagt, daß ich mich mit einem der Posten am Tor angefreundet habe. Er meint, König Lot befinde sich auf dem Heimweg. Er treibe seine Begleiter zu höchster Eile an. Man erwarte ihn heute abend oder morgen.» «Ich danke dir», sagte ich. «So, du bist den ganzen Tag unterwegs gewesen. Zieh dir trockene Sachen an und besorge dir etwas zu essen. Ich habe soeben etwas von Beltane erfahren, was mich auf den Gedanken gebracht hat, daß eine Beobachtung des Seitentores von Nutzen sein könnte. Ich erzähle dir davon später. Wenn du gegessen hast, komm herunter und such mich. Ich finde schon ein trockenes Plätzchen, wo ich warten kann und wo wir nicht gesehen werden.» Wir traten wieder zu den anderen, und ich sagte: «Beltane, könnt Ihr mir Casso eine halbe Stunde überlassen?» «Aber selbstverständlich. Doch später brauche ich ihn noch. Ich bin für morgen noch einmal auf die Burg bestellt, und zwar mit dieser Schnalle; sie muß für den Kammerherrn repariert werden, und dazu 155
brauche ich Cassos Hilfe.» «Ich werde ihn nicht lange aufhalten. Casso?» Der Sklave war bereits auf den Beinen. Ulf in meinte mit einem Unterton von Besorgnis in der Stimme: «Ihr wißt also, was jetzt zu tun ist?» «Ich vermute es», sagte ich. «Ich habe nicht mehr die alte Kraft, wie ich dir schon gesagt habe.» Ich sprach leise, so daß mich Beltane bei dem in der Schenke herrschenden Lärm nicht hören konnte. Aber Casso hörte mich und blickte rasch zwischen Ulfin und mir hin und her. Ich sah ihn lächelnd an und sagte: «Mach dir darüber keine Sorgen. Ulfin und ich haben hier Geschäfte zu erledigen, die weder dich noch deinen Herrn berühren. Komm j etzt mit mir hinaus.» «Ich könnte selbst mitkommen», sagte Ulfin schnell. «Nein. Tu, wie ich dir geheißen habe, und iß zuerst etwas. Es könnte eine lange Nachtwache werden. Casso . . .» Wir gingen durch das Gewirr schmutziger Straßen. Der Regen, der jetzt gleichmäßig fiel, bildete dreckige Pfützen und spülte den Mist in stinkende Lachen. Wo sich Lichter in den Häusern zeigten, waren sie trübe und gegen die feuchte Nacht durch Häute oder Sackleinen abgeschirmt. Nichts behinderte unsere Nachtsicht, und wir konnten den Weg finden, ohne in die zahlreichen kleinen Wasserläufe zu treten. Nach einiger Zeit stieg drohend der baumbewachsene Steilhang des Burgfelsens über uns auf. Eine Laterne hing hoch oben in der Finsternis und wies den Weg zum Seitentor. Casso, der mir gefolgt war, berührte meinen Arm und zeigte auf eine schmale Gasse, die, kaum mehr als ein Ablauf für das Regenwasser, steil bergab führte. Ich hatte diesen Weg vorher noch nicht gesehen. Von unten drang das Rauschen des Flusses herauf und übertönte das stete Regengeräusch. «Eine Abkürzung zum Brückensteg?» fragte ich. Er nickte nachdrücklich. Wir suchten uns über die verschmierten Pflastersteine hinweg den Weg in die Tiefe. Das Rauschen des Flusses wurde lauter. Ich konnte das weißliche Wasser hinter dem Wehr und davor ein großes Mühlrad erkennen. Dahinter lag der Brückensteig; seine Umrisse waren im Widerschein des schäumenden Wassers deutlich zu sehen. 156
Niemand war in der Nähe. Die Mühle stand still; der Müller wohnte vermutlich weiter oben. Er hatte die Türen verriegelt, kein Licht war zu sehen. Ein schmaler, schlammiger Pfad führte neben der Mühle durch das regennasse Gras am Ufer entlang bis zur Brücke. Ich fragte mich, halb verärgert, warum Casso ausgerechnet diesen Weg ausgesucht hatte. Er mußte irgendwie begriffen haben, daß ich auf Geheimhaltung Wert legte, obwohl auch die Hauptstraße bei diesem Wetter und zu dieser Tageszeit bestimmt menschenleer war. Aber dann ließen mich Stimmen und der pendelnde Schein einer Laterne Schutz im Toreingang der Mühle suchen. Drei Männer kamen die Straße herab. Sie hatten es eilig und sprachen gedämpft miteinander. Ich sah, wie eine Flasche von Hand zu Hand wanderte. Zweifellos Bedienstete der Burg, die sich auf dem Rückweg von der Schenke befanden. Sie blieben am Ende der Brücke stehen und sahen sich um. Aus ihren Bewegungen sprach etwas Verstohlenes. Einer von ihnen sagte etwas, und das nachfolgende Lachen wurde sofort unterdrückt. Sie gingen weiter, aber ich konnte sie im Schein der Laterne klar und deutlich sehen: Sie waren bewaffnet, und sie waren nüchtern. Casso stand dicht neben mir, in den dunklen Toreingang gelehnt. Die Männer hatten keinen Blick in unsere Richtung geworfen. Sie gingen rasch über die Brücke, und ihre Schritte hallten hohl von den nassen Planken wider. Noch etwas anderes hatte mir der Lichtschein gezeigt. Dicht hinter der Mühle, an der nächsten Ecke, stand noch ein Tor offen. Dem Stapel von Holzvorräten und den bereits zugesägten Radfelgen, die draußen in dem Hof lagen, entnahm ich, daß es die Werkstatt eines Wagners sein müsse. Sie schien während der Nacht leer zu sein, aber drinnen glühte noch der Rest eines Kaminfeuers. Von dort aus würde ich in der schützenden Dunkelheit jeden sehen und hören können, der sich der Brücke näherte. Casso lief mir voraus in die noch warme Werkstatt und hob ein paar Reisigbündel hoch. Er trug sie zum Feuer und wollte sie gerade auf die glühende Asche werfen. 157
«Vorläufig nur eines», sagte ich leise. «Du bist ein braver Bursche. Jetzt lauf zurück und bring Ulfin zu mir; dann kannst du dich trocknen und wärmen und alles vergessen, was du soeben gesehen hast.» Er nickte und lächelte - eine Pantomine, die mir zeigen sollte, daß mein Geheimnis, was es auch sein mochte, bei ihm in guter Hut sein würde. Der Himmel mochte wissen, was er glaubte; vielleicht dachte er, ich hätte ein Stelldichein oder arbeitete als Spion. Und dabei wußte er ungefähr so viel wie ich selbst. «Casso. Würdest du gern Lesen und Schreiben lernen?» Stille. Das Lächeln verschwand. In dem aufflackernden Feuer sah ich, wie er mich mit weit aufgerissenen Augen ungläubig anstarrte wie ein Mensch, der sich verirrt hat und plötzlich, gegen jede Hoffnung, auf den richtigen Weg zurückfindet. Er nickte, nur einmal, aber heftig. «Ich werde dafür sorgen, daß du Unterricht bekommst. Geh jetzt, und vielen Dank. Gute Nacht.» Er rannte los, als ob es in der übelriechenden Gasse taghell gewesen wäre. Auf halbem Wege nach oben sah ich ihn hüpfen und springen, wie ein junges Tier, das man an einem schönen Morgen plötzlich aus seinem Stall herausgelassen hat. Ich kehrte leise in die Werkstatt zurück und bahnte mir den Weg zwischen der Radgrube und dem schweren Schmiedehammer, der neben dem Haufen aus Radspeichen lehnte. Neben dem Kamin stand der Hocker, wo der Gehilfe saß, der den Blasebalg zu bedienen pflegte. Ich setzte mich nieder, um zu warten, und breitete meinen nassen Umhang vor dem wärmenden Feuer aus. Draußen dröhnte das Wehr und erstickte das Geräusch des gleichmäßig herabfallenden Regens. Eine lose Schaufel des großen Mühlrads klapperte und hämmerte unter dem Druck des Wassers. Zwei halb verhungerte Hunde rannten vorbei und stritten sich um irgendeinen Bissen, den sie in einem Abfallhaufen gefunden hatten. In der Werkstätte des Wagners roch es nach frischem Holz, nach trocknendem Harz und den Aststücken verbrannten Ulmenholzes. Das leise Knistern des Feuers war in der dunklen Wärme gegenüber den 158
von draußen hereindringenden Wassergeräuschen klar zu hören. Die Zeit verstrich. Schon einmal hatte ich allein neben einem Kaminfeuer so dagesessen und an das Schicksal eines Kindes gedacht, das mir von meinem Gott offenbart worden war. Es war eine Sternennacht gewesen, der Wind wehte über die unbewegte See, und der große Königsstern leuchtete. Ich war damals noch jung; ich war meiner selbst und des Gottes, der mich vorwärtstrieb, völlig sicher. Jetzt bestand diese Sicherheit nicht mehr, und ich konnte nur hoffen, jedes Unheil, das Morgause im Schilde führte, abwenden zu können. Aber ich verfügte über die Kraft, die aus dem Wissen kommt. Menschliches Ahnen hatte mich hierher gebracht, und wir würden sehen, ob ich die Zeichen richtig verstanden hatte. Und obwohl mein Gott mich verlassen hatte, besaß ich noch immer mehr Kraft, als den gewöhnlichen Sterblichen zuteil wird. Ein König hörte auf mein Wort. Jetzt war Ulfin da, um diese Nachtwache mit mir zu teilen, wie er es schon in Tintagel getan hatte. Ich hatte ihn nicht gehört, sondern sah nur, wie sein Körper den trüben Schein des Himmels im Toreingang verdunkelte. «Hier», sagte ich, und er kam herein, indem er sich vorsichtig bis zu der Feuerstelle vortastete. «Noch nichts, Herr?» «Nein, nichts.» «Was erwartet Ihr?» «Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, daß heute nacht jemand mit einem Auftrag der Königin hier vorbeikommenwird.» Ich spürte, wie er sich umdrehte, um mich in der Dunkelheit besser sehen zu können. «Weil Lots Heimkehr bevorsteht?» «Ja. Gibt es darüber etwas Neues?» «Nur, was ich Euch schon berichtet habe. Man nimmt an, daß er seine Begleitung zur Eile antreiben wird. Er kann schon sehr bald hier sein.» «Das glaube ich auch. Jedenfalls wird Morgause kein Risiko eingehen wollen.» «Was für ein Risiko, Herr?» «Im Hinblick auf den Sohn des Hochkönigs.» Kurze Pause. «Glaubt Ihr denn, daß sie ihn hinausschmuggeln wollen, falls Lot den Gerüchten Glauben schenkt 159
und das Kind umbringt? Aber in diesem Fall. . .» «Ja? In diesem Fall?» «Nichts, Herr. Ich habe nur gedacht, weiter nichts . . . Glaubt Ihr, daß sie ihn auf diesem Weg herausschaffen werden?» «Nein. Ich glaube, sie haben es bereits getan.» «Tatsächlich? Habt Ihr gesehen, auf welchem Weg?» «Erst seit ich hier bin. Ich wollte damit sagen, daß ich überzeugt bin, daß das Kind in der Burg nicht Artus' Kind ist. Sie haben es vertauscht.» Ein tiefer Atemzug neben mir in der Dunkelheit. «Aus Angst vor Lot?» «Natürlich. Denk einmal darüber nach, Ulf in. Was immer Morgause Lot erzählen mag - er muß gehört haben, was die Leute reden, seit bekannt wurde, daß sie ein Kind erwartet. Sie hat versucht, ihn davon zu überzeugen, daß es sein Kind ist, aber eine Frühgeburt war; und vielleicht glaubt er ihr. Aber glaubst du denn, daß er das Risiko eingehen wird, daß sie vielleicht doch lügt und daß der Sohn eines anderen Mannes, von Artus ganz zu schweigen, dort in der Wiege liegt und einmal Lothian erben wird? Was er auch glauben mag, es ist nicht ausgeschlossen, daß er den Knaben tötet. Und das weiß Morgause.» «Glaubt Ihr, er habe die Gerüchte gehört, daß es der Sohn des Hochkönigs sein könnte?» «Er konnte gar nicht anders. Artus hat aus seinem nächtlichen Besuch bei Morgause kein Geheimnis gemacht, und sie auch nicht. Sie wollte es so. Als ich sie später zwang, ihre Pläne zu ändern, hat sie vielleicht ihre Frauen durch Drohung zur Geheimhaltung verpflichtet, aber die Wachen haben ihn gesehen, und schon am nächsten Morgen wußten alle in Luguvallium davon. Was kann Lot also tun? Er wird mit Sicherheit keinen Bastard dulden - aber wenn Artus der Vater ist, könnte das Kind gefährlich werden.» Er schwieg eine Weile. «Dabei fällt mir Tintagel ein. Nicht die Nacht, als wir König Uther täuschten, sondern das andere Mal, als 160
Königin Ygraine Euch Artus übergab, um ihn vor König Uther in Sicherheit zu bringen.» «Ja.» «Herr, habt Ihr vor, auch dieses Kind an Euch zu nehmen, um es vor Lot zu retten?» Obwohl er leise sprach, merkte man seiner Stimme die innere Spannung an. Ich hörte ihm kaum zu, denn von weit draußen in der Nacht hatte ich, noch über das Rauschen des Wassers hinweg, Pferdegetrappel vernommen; es war kein Geräusch, eher ein Vibrieren des Bodens unter unseren Füßen, weil die Schwingungen von der Erde weitergetragen wurden. Dann war dieser schwache Pulsschlag wieder vergangen, und das Donnern des Wassers war wieder da. «Was hast du gesagt?» «Ich fragte mich nur, Herr, wie sicher Ihr Eurer Sache bezüglich des Kindes dort oben in der Burg seid.» «Nicht mehr, als aus den Fakten hervorgeht. Sieh sie dir an. Sie hat über das Geburtsdatum gelogen, so daß man von einer Frühgeburt sprechen konnte. Schön; das konnte eine Ausrede sein, mehr nicht; so etwas geschieht immer wieder. Aber sieh dir einmal an, auf welche Weise es geschah. Sie legte alles darauf an, daß kein Arzt zugegen war, und behauptete dann, daß die Geburt so unerwartet und so schnell vor sich gegangen sei, daß keine Zeugen in das Gemach gerufen werden konnten, wie es bei königlichen Geburten Sitte ist. Zugegen waren nur ihre Frauen, und diese sind ihre Kreaturen.» «Aber warum, Herr? Was konnte sie dadurch gewinnen?» «Nur folgendes: sie konnte Lot ein Kind zeigen, das er umbringen konnte, wenn er wollte, während ihr und Artus' Sohn ungeschoren blieb.» Ulfin schien entsetzt. «Ihr meint. . .?» «Es paßt alles zusammen, nicht wahr? Sie konnte einen Tausch bereits mit irgendeiner anderen Frau vereinbart haben, die zur selben Zeit entbinden sollte - mit irgendeiner armen Frau, die das Geld nehmen und den Mund halten würde, und dazu noch froh sein würde, den königlichen Säugling zu stillen. Wir können nur vermuten, was 161
Morgause ihr gesagt hat; die Frau hat bestimmt keine Ahnung, daß ihr eigenes Kind in Lebensgefahr schweben könnte. Der Wechselbalg liegt also dort oben in der Burg, während Artus' Sohn, Morgauses Machtinstrument, irgendwo in der Nähe versteckt worden ist. Der Platz dürfte meines Erachtens gar nicht so weit von hier entfernt sein. Sie wird gelegentlich Neuigkeiten über ihn erfahren wollen.» «Und wenn es stimmt, was Ihr sagt, dann wird, wenn Lot zurückkommt...» «Dann wird irgend etwas passieren. Wenn er dem Wechselbalg tatsächlich ein Leid zufügt, wird Morgause dafür sorgen müssen, daß die Mutter nichts davon erfährt. Vielleicht wird sie für Mordred ein anderes Heim finden.» «Aber. . .» «Ulfin, wir können nichts tun, um das untergeschobene Kind zu retten. Nur Morgause könnte es retten, wenn sie wollte. Es steht nicht einmal fest, daß es sich in Gefahr befindet; Lot ist schließlich kein Wilder. Aber wir beide würden dabei nur in Lebensgefahr geraten, und das Kind mit uns.» «Ich weiß. Aber man redet doch so viel dort oben auf der Burg. Beltane hat Euch davon erzählt, als ich zu Abend aß. Ich meine - das Baby sei dem König Lot wie aus dem Gesicht geschnitten, sagen alle. Vielleicht habt Ihr Euch doch geirrt, und Lot ist tatsächlich der Vater? Auch der Zeitpunkt könnte stimmen. Die Leute sagten, es sei ein kränkliches und besonders kleines Kind.» «Könnte sein. Ich habe dir ja gesagt, daß es nur Vermutungen sind. Was wir aber mit Bestimmtheit wissen, ist, daß Morgause einen unredlichen Charakter hat - und daß sie Artus' Feindin ist. Wir müssen genau beobachten, was sie und Lot unternehmen. Artus muß ohne Zweifel wissen, wo die Wahrheit liegt.» «Selbstverständlich. Das sehe ich ein. Etwas könnten wir jetzt tun herausfinden, wer etwa zur selben Zeit wie die Königin einen Sohn zur Welt gebracht hat. Ich könnte mich morgen in der Ortschaft einmal umhören. Ich habe inzwischen ein paar nützliche Weinfreunde gewonnen.» 162
«In einer Stadt dieser Größe könnte es einer unter zwanzig sein. Und wir haben keine Zeit mehr. Hör doch!» Jetzt war durch den Boden ganz deutlich der Hufschlag zu spüren. Ein Reitertrupp in vollem Galopp. Dann das Geräusch, schon ganz nahe und immer näher kommend, und bald darauf der Lärm, als sich die Bevölkerung nach draußen drängte, um besser sehen zu können. Laute Rufe; Holz stieß krachend auf Stein, als die Torflügel weit aufgerissen wurden; das Klirren von Zaumzeug und Rüstung; das Schnauben überanstrengter Pferde. Weiteres Rufen und ein Echo vom Burgfelsen hoch über uns; dann ein Trompetenstoß. Die Hauptbrücke donnerte. Die schweren Tore knarrten und schlugen wieder zu. Der Lärm wurde schwächer, als sich der Trupp dem Innenhof näherte und ging schließlich in den anderen, uns näheren Geräuschen unter. Ich stand auf und ging zur Tür der Wagnerwerkstatt; ich sah zu der Stelle hinauf, wo sich oberhalb des Mühlendaches die Burg vom Nachthimmel abhob. Es hatte aufgehört zu regnen. Lichter bewegten sich. Fenster wurden hell und dann wieder dunkel, als die Dienerschaft den König im Schein ihrer Laternen durch die Burg geleitete. An der Westseite waren zwei Fenster matt erleuchtet. Die sich bewegenden Lichter erreichten diese Fenster und verharrten dort. «Lot ist heimgekehrt», sagte ich. 12 Eine Glocke schlug auf der Burg. Mitternacht. Ich lehnte in der Tür der Wagnerwerkstatt und reckte die Schultern, die in der kühlen Abendluft zu schmerzen begonnen hatten. Hinter mir legte Ulfin ein neues Reisigbündel auf das Feuer, aber mit besonderer Vorsicht, damit die Flammen nicht plötzlich aufloderten und vielleicht Aufmerksamkeit erregten. Die Stadt war wieder in den Nachtschlaf versunken; man hörte nur das Bellen von Hunden und hin und wieder den hohlen Ruf einer Eule von den Bäumen am Fluß des Burgfelsens. Ich trat leise aus dem schützenden Türeingang auf die Straße hinaus, dicht beim Ende der Brücke. Ich blickte zu dem schwarzen, massigen Felsen hoch. Die oberen Fenster der Burg waren noch beleuchtet, und man konnte auch den Widerschein der Fackeln der 163
Soldaten über den Mauern sehen, die die Sicht auf den Hof verdeckten. Ulfin stand dicht neben mir und holte Luft, um eine Frage zu stellen. Dazu kam es nicht mehr. Jemand rannte in wilder Flucht über den Brückensteg, prallte direkt auf mich, stieß einen unterdrückten Schrei aus und versuchte, an mir vorbeizukommen. Ich war ebenso überrascht und reagierte nicht schnell genug, aber Ulfin sprang vor, ergriff einen Arm und drückte der Person eine Hand fest auf den Mund, um den nächsten Schrei zu ersticken. Der Neuankömmling drehte und wand sich in seinem Griff, ließ sich aber leicht festhalten. «Ein Mädchen», sagte Ulfin erstaunt. «In die Werkstatt», sagte ich rasch und ging voraus. Dort angekommen, warf ich noch ein Holzscheit auf das Feuer. Flammen züngelten empor. Ulfin brachte seine Gefangene, die sich noch immer zur Wehr setzte, in den Lichtschein. Die Kapuze war ihr vom Kopf gefallen, und ich erkannte sie - mit Genugtuung. «Lind.» Sie stemmte sich gegen Ulfin. Ich sah den Schimmer entsetzter Augen, die mich über der vorgehaltenen Hand anstarrten. Dann weiteten sie sich, und sie wurde ganz ruhig - wie ein Rebhuhn vor einem Wiesel. Auch sie hatte mich erkannt. «Ja», sagte ich. «Ich bin Merlin. Ich habe auf dich gewartet, Lind. Wenn dich Ulfin jetzt losläßt, wirst du keinen Ton von dir geben.» Sie nickte. Er nahm die Hand von ihrem Mund, hielt ihren Arm aber noch fest. «Laß sie los», sagte ich. Er gehorchte und trat zurück zwischen sie und die Tür, aber er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Kaum hatte er sie freigegeben, 164
rannte sie auf mich zu und warf sich in den Hobelspänen vor mir auf die Knie. Sie klammerte sich an mein Gewand. Sie zitterte am ganzen Leib und schluchzte laut. «O, Herr, Herr! Helft mir!» «Ich bin nicht hier, um dir oder dem Kind ein Leid anzutun.» Um sie zu beruhigen, sprach ich kühl und sachlich. «Der Hochkönig hat mich hierher gesandt, um Nachrichten über seinen Sohn zu beschaffen. Du weißt, daß ich nicht zur Königin selbst gehen kann, deshalb habe ich hier auf dich gewartet. Was ist oben in der Burg geschehen?» Aber sie wollte nicht sprechen. Ich glaube, sie war dazu außerstande. Sie klammerte sich an mich und zitterte und weinte. Ich sagte in freundlicherem Tonfall: «Was auch geschehen sein mag, Lind, ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht Bescheid weiß. Komm ans Feuer, beruhige dich und erzähl mir alles.» Als ich aber versuchte, meinen Umhang aus ihren Händen frei zu machen, verkrampfte sie die Finger nur noch mehr. Sie schluchzte heftig. «Haltet mich hier nicht fest, Herr, laßt mich gehen! Oder helft mir! Ihr habt die Macht - Ihr seid Artus'Mann - Ihr fürchtet Euch nicht vor meiner Herrin . . .» «Ich werde dir helfen, wenn du mir alles erzählst. Ich will etwas über den Sohn von König Artus wissen. War das König Lot, der gerade eben ankam?» «Ja. O ja! Er kam vor einer Stunde zurück. Er ist wie von Sinnen, das kann ich Euch sagen! Und sie hat nicht einmal versucht, ihn zu beruhigen. Sie lachte bloß und ließ es ihn tun.» «Ließ ihn was tun?» «Das Baby umbringen.» «Er hat das Kind getötet, das Morgause auf der Burg hat?» 165
Sie war zu verzweifelt, um irgend etwas an der merkwürdigen Formulierung meiner Frage zu finden. «Ja, ja!» Sie schluckte. «Und es war doch sein eigener Sohn! Ich war bei der Geburt dabei, und ich schwöre bei meinen Herdgöttern-es war...» «Was ist passiert?» sagte Ulfin, der an der Tür Wache hielt, in scharfem Ton. «Lind!» Ich bückte mich, stellte sie auf die Füße und hielt sie fest. «Dies ist nicht die Zeit, um in Rätseln zu reden. Weiter! Erzähl mir alles, was sich ereignet hat.» Sie drückte sich den Handrücken gegen den Mund und gewann nach einigen Augenblicken die Fassung zurück. «Als er kam, war er zornig. Wir hatten es erwartet, aber nicht in dieser Form. Er hatte gehört, was die Leute sich erzählten-daß der Hochkönig mit ihr geschlafen habe. Ihr wußtet das, Herr, Ihr wußtet, daß es die Wahrheit ist ... So überhäufte König Lot sie mit wüsten Beschimpfungen, nannte sie Hure und Ehebrecherin . . . Wir waren alle dort, ihre Frauen, aber er machte sich nichts daraus. Und sie - wenn sie wenigstens lieb mit ihm geredet hätte, gelogen hätte, ja sogar ...» Sie schluckte. «Es hätte ihn beruhigt. Er hätte ihr geglaubt. Er konnte ihr nie widerstehen. Wir hatten alle gedacht, daß sie so handeln würde, aber sie tat es nicht. Sie lachte ihm ins Gesicht und sagte:
stehen. Sie zitterte immer noch und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wie es Frauen tun, wenn sie von Kummer erfüllt sind. «Er riß die Vorhänge von der Wiege. Das Baby begann zu weinen. Er schrie: <Wie ich? Die fürstliche Brut hat dunkle Haare, und ich habe dunkle Haare. Das ist aber auch alles.) Dann drehte er sich zu uns Frauen um und schickte uns hinaus. Wir rannten. Er sah wie ein tollwütiger Wolf aus. Die anderen liefen weg, aber ich versteckte mich hinter den Vorhängen im Nebenzimmer. Ich dachte - ich dachte ...» «Du dachtest?» Sie schüttelte den Kopf. Ihre Tränen schimmerten im Licht der Feuerstelle. «Dann hat er es getan. Das Baby hörte auf zu weinen. Es gab einen Krach, als ob die Wiege umgestürzt wäre. Die Königin sagte seelenruhig: Dann sagte sie ganz langsam: <Ja, ich lüge. Ich habe die Hebamme angewiesen, das Kind mitzunehmen und mir einen Sohn zu beschaffen, den ich dir vorweisen konnte. Vielleicht habe ich Unrecht getan. Ich wollte meinen Namen und deine Ehre retten. Ich haßte das Kind. Wie hätte ich wünschen sollen, das Kind eines anderen Mannes auf die Welt zu bringen? Ich hatte gehofft, es wäre dein Sohn, nicht der seinige, aber er war der Vater. Es ist wahr, daß es ein schwächliches Kind war. Laß uns hoffen, daß es inzwischen ebenfalls gestorben ist. > Der König sagte: » Diesmal war es Ulfin, der rasch einwarf: «Ja? Sprich weiter.» Das Mädchen atmete schwer. «Sie wartete einen Augenblick, dann sagte sie - auf eine abschätzige, hämische Art, wie es Frauen tun, wenn sie einen Mann zu einer gefährlichen Handlungsweise herausfordern wollen:
von Lothian, außer dadurch, daß du jedes Kind umbringst, das seit dem Maitag in dieser Stadt geboren worden ist? Ich habe dir ja gesagt: ich weiß nicht, wohin man ihn gebracht hat.> Er nahm sich nicht einmal Zeit, nachzudenken. Er rang nach Luft, wie jemand, der beim Laufen außer Atem gekommen ist. Er sagte: Sie gingen in ihr Schlaf gemach und machten die Tür zu. Ich hörte sie nach mir rufen, aber ich verließ sie und rannte davon. Sie ist böse, böse! Ich habe sie immer gehaßt, aber sie ist eine Hexe; ich habe Angst vor ihr.» «Niemand wird dich für die Taten deiner Herrin verantwortlich machen», sagte ich ihr. «Und jetzt kannst du ein gutes Werk tun. Führe mich zu dem Ort, wo der Sohn des Hochkönigs verborgen gehalten wird.» Sie zuckte zusammen und warf einen wilden Blick über die Schulter, als wolle sie davonlaufen. «Komm, Lind, wenn du Angst vor Morgause hast, wieviel mehr Angst müßtest du dann vor mir haben? Du bist diesen Weg 168
entlanggelaufen, um ihn zu schützen, nicht wahr? Allein gelingt dir das nicht. Du kannst dich nicht einmal selbst beschützen. Aber wenn du mir jetzt hilfst, werde ich dich schützen. Das wirst du nötig haben. Pst!» Über uns wurde das Haupttor der Burg mit großem Lärm geöffnet. Durch die dicken Baumäste hindurch konnte man Fackeln erkennen, die sich auf die Hauptbrücke zu bewegten. Dann hörte man Pferdegetrappel und laute Befehle. Ulfin sagte kurz: «Sie sind draußen. Es ist zu spät.» «Nein!» schrie das Mädchen. «Machas Häuschen liegt auf der anderen Seite. Dorthin werden sie zuletzt kommen! Ich zeige Euch den Weg, Herr!» Ohne ein weiteres Wort stürzte sie zur Tür; ich selbst und Ulfin blieben ihr auf den Fersen. Wir liefen den Weg hinauf, den wir heruntergekommen waren, über eine offene Fläche, dann eine andere steile Gasse hinunter, die sich wieder in Richtung auf den Fluß zurückbog, dann einen Uferpfad entlang, der dicht mit Nesseln bewachsen war, wo sich nichts anderes rührte als zahlreiche Ratten, die von dem Misthaufen hierher gekommen waren. Hier war es sehr dunkel, und wir konnten deshalb nicht schneller laufen, obwohl uns die Schrecken der Nacht wie eine Hundemeute im Nacken saßen. Hinter uns, auf der anderen Seite der Stadt, hörte man Lärm. Erst bellten Hunde, Soldaten fluchten, Pferdehufe dröhnten. Dann wurden Türen geschlagen, Frauen schrien auf, Männer brüllten; und ab und zu hörte man Waffen aufeinander schlagen. Ich bin in Städten gewesen, die gerade erobert worden waren, aber dies hier war anders. «Hier», entfuhr es Lind, und sie bog in eine andere Gasse ein, die vom Fluß wegführte. Die schrecklichen Geräusche von jenseits der Häuser machten die Nacht zu einem Alptraum. Wir liefen über den schlüpfrigen Schmutz der Gasse, dann einige zerbrochene Stufen hinauf und wieder hinaus in eine schmale Straße. Hier war alles still, aber ich sah einen Lichtschein, wo ein verängstigter Einwohner wahrscheinlich wach geworden war und sich wunderte, was der ganze Lärm zu bedeuten habe. Wir rannten vom Ende der Straße auf eine Wiese hinaus, wo ein Esel angebunden war, an einem Obstgarten und 169
der offenstehenden Tür einer Schmiede vorbei, und erreichten ein hübsches Häuschen, das allein hinter einer Weißdornhecke stand; vorne befanden sich ein kleines Gartenstück sowie ein Taubenschlag und ein Hundezwinger. Die Haustür stand weit offen und schwang leicht hin und her. Der Hund an seiner Kette gebärdete sich wie wahnsinnig. Die Tauben waren ausgeflogen. Im Haus brannte kein Licht; alles war still. Lind lief durch den Garten, blieb an dem dunklen Türeingang stehen und schaute hinein. «Macha? Macha?» Eine Laterne stand auf einem Brett neben der Tür. Es war keine Zeit mehr, nach Zunder und Feuerstein zu suchen. Ich schob das Mädchen sanft beiseite. «Nimm sie mit hinaus», sagte ich zu Ulfin, nahm dann die Laterne in die Hand und schwang sie hoch. Zischend stieg die Flamme aus dem Docht. Ich hörte, wie Lind einen unterdrückten Schrei ausstieß, dann blieb ihr jeder weitere Ton im Halse stecken. Das helle Licht beleuchtete jeden Winkel des Hauses: das Bett an der Wand, den wuchtigen Tisch und die Bank, die Tonkrüge für Öl und Lebensmittel, den Hocker mit dem Spinnrocken und der Wolle, den blanken Herd, den Steinfußboden, der sauber geschrubbt war - bis auf die Stelle, wo die Frau mit durchschnittener Kehle lag. Die Wiege neben dem Bett war leer. *** Lind und Ulf in warteten am Rand des Obstgartens. Das Mädchen war jetzt still; es war so erschüttert, daß es nicht einmal mehr weinen konnte. Im Schein der Laterne sah ihr Gesicht bleich aus, als sei ihr übel. Ulfin hatte den Arm um sie gelegt und stützte sie. Er wirkte sehr blaß. Der Hund wimmerte kurz, setzte sich dann auf die Hinterbeine und stimmte ein langes, durchdringendes Geheul an. Aus den im Dunkel liegenden benachbarten Straßenzügen drang, wie ein Echo, lautes Kreischen und Waffenlärm zu uns herüber. Dann wieder Geschrei und Kampfgeräusche, diesmal schon näher. 170
Ich machte die Tür hinter mir zu. «Es tut mir leid, Lind, aber hier können wir nichts mehr tun. Wir sollten jetzt gehen. Du kennst die Herberge am Südtor? Willst du uns dorthin führen? Vermeide das Zentrum der Stadt, wo der Lärm herkommt. Du brauchst keine Angst zu haben; ich habe gesagt, daß ich dich beschützen werde, und das werde ich auch tun. Vorläufig bleibst du besser bei uns. Komm jetzt.» Sie rührte sich nicht von der Stelle. «Sie haben das Baby mitgenommen! Sie haben das Baby. Und sie haben Macha ermordet!» Sie drehte sich mit tränennassen Augen zu mir um. «Warum haben sie Macha getötet? Der König hätte so etwas nie angeordnet. Sie war seine Geliebte!» Ich sah sie nachdenklich an. «Ach so?» Dann packte ich sie an der Schulter und schüttelte sie leicht. «Komm jetzt, Kind, wir dürfen nicht länger hier bleiben. Die Männer werden nicht noch einmal hier vorbeikommen, aber solange du auf der Straße bist, könnte dir Gefahr drohen. Bring uns zum Südtor.» «Sie muß ihnen den Weg gewiesen haben!» rief Lind aus. Es war, als hätte ich überhaupt nicht gesprochen. «Die Männer kamen zuerst hierher! Es war für mich zu spät! Wenn Ihr mich nicht an der Brücke angehalten hättet...» «Dann wärst du jetzt auch tot», sagte Ulfin kurz und bündig. Seine Stimme klang ganz normal, als ob die Schrek-ken der Nacht ihn überhaupt nicht berührt hätten. «Was hättet ihr denn tun können, du und Macha? Sie hätten dich entdeckt und dich niedergemacht, bevor du noch bis zum Obstgarten dort drüben gekommen wärst. So, und jetzt tu, was mein Herr dir sagt. Das heißt, falls du nicht lieber zur Königin zurückkehren und ihr erzählen willst, was hier geschehen ist? Du kannst dich darauf verlassen - sie hat geahnt, wohin du gegangen bist. Man wird schon bald nach dir suchen.» Es war brutal, aber es hatte Erfolg. Bei der Erwähnung des Namens Morgause kam sie wieder zu sich. Sie warf einen letzten, entsetzten Blick auf das Häuschen zurück, zog sich dann die Kapuze wieder über den Kopf und machte sich durch die Obstbäume auf den Weg. 171
Ich blieb bei dem jammernden Hund stehen, bückte mich und legte ihm eine Hand auf den Kopf. Das schreckliche Geheul hörte auf. Er blieb zitternd sitzen. Ich zog meinen Dolch heraus und schnitt das Halsband durch, das ihn festband. Er rührte sich nicht von der Stelle, und ich ließ ihn dort sitzen. Einige Dutzend Kinder wurden in jener Nacht weggebracht. Irgend jemand - eine weise Frau oder eine Hebamme - mußte den Soldaten gesagt haben, wo sie suchen müßten. Als wir schließlich auf einem Umweg durch die menschenleeren Außenbezirke der Stadt wieder zu der Herberge zurückkamen, war der Schrecken vorbei und die Soldaten verschwunden. Niemand sprach uns an - niemand schien uns auch nur zu bemerken. Auf den Straßen herrschte ein wildes Durcheinander. Menschen rannten ziellos umher oder lugten voller Entsetzen aus dunklen Toreinfahrten heraus. Hier und da bildeten sich kleine Gruppen um irgendeine klagende Frau oder einen aufgebrachten Mann. Es waren arme Leute, die keine Möglichkeit hatten, sich dem Willen ihres Königs zu widersetzen. Der königliche Zorn war über die Stadt hereingebrochen, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrem Gram hinzugeben. Auch Verwünschungen wurden laut. Ich hörte Lots Namen: Schließlich waren es ja seine Soldaten gewesen. Aber neben Lot sprach man auch von Artus. Die Lüge hatte bereits Fuß gefaßt und würde mit der Zeit wahrscheinlich die Wahrheit verdrängen. Artus war der Hochkönig und als solcher die Quelle alles Guten und Bösen. Eines war ihnen erspart geblieben; es hatte kein Blutbad gegeben. Macha war das einzige Todesopfer. Die Soldaten hatten die Kinder aus den Betten geholt und waren mit ihnen in die Dunkelheit geritten. Außer einigen Verletzungen, wenn ein Vater ihnen Widerstand geleistet hatte, war es zu keinen Gewalttätigkeiten gekommen. Das sagte mir Beltane, als er uns im Eingang zur Herberge begrüßte. Er war vollständig angezogen und zitterte noch vor Erregung. Er schien nicht einmal Linds Anwesenheit zu bemerken. Er ergriff meinen Arm und erzählte mir seine Version der nächtlichen Ereignisse. Das einzig Klare, das man seinen Worten entnehmen 172
konnte, war, daß die Soldaten mit den Kindern erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit da vongeritten waren. «Sie lebten noch und weinten - wie Ihr Euch vorstellen könnt, Master Emrys!» Er rang lamentierend die Hände. «Schrecklich, schrecklich, wir leben wirklich in einer schlimmen Zeit. Das ganze Gerede über Artus und daß er den Befehl dazu gegeben habe - wer wird so ein Märchen glauben? Seid still! Je schneller wir wieder unterwegs sind. desto besser. Dies ist kein Ort für ehrliche Handelsleute. Ich wäre schon vorher abgereist, Master Emrys, aber ich blieb Euretwegen noch da. Ich dachte, man hätte Euch vielleicht zu Hilfe gerufen, denn angeblich sind einige Menschen verletzt worden. Sie werden die Kinder ertränken - habt Ihr das gewußt? Bei den Göttern, und wenn man sich vorstellt, daß erst heute . . . Aha, Casso, braver Junge! Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, Eure Tiere satteln zu lassen, Master Emrys. Ich war überzeugt, daß Ihr nichts dagegen haben würdet. Wir sollten jetzt gehen. Ich habe den Wirt bezahlt, es ist alles erledigt, Ihr könntet Euren Anteil unterwegs an mich entrichten . . . Und Ihr werdet sehen, daß ich Maultiere für uns gekauft habe. Ich hatte es schon lange vorgehabt, und heute, nach den Glücksumständen auf der Burg . . . Welch ein Segen, welch ein Segen! Aber diese wunderschöne Dame - wer hätte gedacht - aber an dieser Stelle genug davon! Die Wände haben Ohren, und wir leben in schlimmen Zeiten. Wer ist das?» Er sah Lind, die sich, halb ohnmächtig, an Ulfins Arm klammerte, mit kurzsichtigen Augen an. «Aber natürlich - ist das nicht das junge Fräulein . . . ?» «Später», sagte ich rasch. «Jetzt bitte keine weiteren Fragen. Sie kommt mit uns, Master Beltane. Inzwischen vielen Dank. Ihr seid ein guter Freund. Ja, wir sollten uns unverzüglich auf den Weg machen. Casso, kümmere du dich, bitte, um das Gepäck. Das Mädchen reitet auf dem Packtier. Ulfin, du hast doch gesagt, daß du einen Freund im Wachlokal hast. Reite voraus und rede mit der Wache, damit sie uns durchläßt. Stell fest, welche Richtung die Soldaten eingeschlagen haben. Besteche die Wache, wenn es nicht anders geht.» 173
Es stellte sich heraus, daß dies nicht nötig war. Das Stadttor wurde gerade geschlossen, als wir ankamen, aber die Wachen ließen uns anstandslos durch. Und dem Getu-schel, das wir mit anhören konnten, war zu entnehmen, daß sie über die Ereignisse ebenso schockiert waren wie die Stadtbevölkerung und es für durchaus verständlich hielten, daß friedliche Handelsleute in aller Eile ihre Sachen zusammenpacken und die Stadt mitten in der Nacht verlassen wollten. Draußen auf der Straße, außer Hörweite der Wachen, parierte ich mein Maultier. «Master Beltane, ich habe noch etwas zu erledigen. Nein, nicht drüben in der Stadt, deshalb braucht Ihr Euch um mich auch keine Sorgen zu machen. Ich stoße später wieder zu Euch. Reitet Ihr weiter bis zu der Herberge, in der wir auf dem Weg gen Norden abgestiegen waren, die mit dem Ginsterstrauch neben der Tür - erinnert Ihr Euch? Wartet dort auf uns. Lind, dir droht bei diesen Männern keine Gefahr. Hab keine Angst, aber du tust gut daran, keinen Ton von dir zu geben, bis ich wieder da bin. Hast du verstanden?» Sie nickte. «Also beim Ginsterstrauch, Master Beltane?» «Selbstverständlich. Ich verstehe zwar überhaupt nichts mehr, aber vielleicht kann ich morgen früh ...» «Morgen früh, so hoffe ich, wird alles klar sein. Einstweilen gute Nacht.» Sie trabten davon. Ich zog die Zügel an. «Ulfin?» «Sie haben den östlichen Weg eingeschlagen, Herr.» So nahmen auch wir den Weg nach Osten. *#* Da wir nicht besonders gut beritten waren, hätten wir normalerweise nicht erwarten können, die im Eilmarsch befindlichen Reiter einzuholen. Aber unsere Tiere waren ausgeruht, während Lots Männer bestimmt noch dieselben strapazierten Pferde benutzten, auf denen sie von den Schlachtfeldern im Süden hierher geritten waren.
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Als wir nach einer halben Stunde von den Leuten weder etwas gesehen noch gehört hatten, hielt ich deshalb an und drehte mich im Sattel um. «Ulfin. Ich muß mit dir sprechen.» Er lenkte sein Maultier an meine Seite. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß er Angst hatte. Er hatte sich vorher noch nie gefürchtet, nicht einmal bei Machas Häuschen. Und hier konnte er nur vor etwas Angst haben: vor mir. Ich sagte zu ihm: «Warum hast du mich belegen?» «Herr...» «Die Soldaten haben diese Straße gar nicht benutzt?» Ich hörte ihn schlucken. «Nein, Herr.» «Welche Richtung haben sie also eingeschlagen?» «Zum Meer. Ich glaube - die Leute meinten, die Soldaten würden die Kinder in ein Boot legen und dieses aufs offene Meer hinaustreiben lassen. Der König habe gesagt, er wolle sie in Gottes Hand geben, so daß die Unschuldigen ...» «Unsinn!» sagte ich. «Lot hat von Gottes Hand gesprochen? Er hatte nur Angst, was die Leute tun würden, falls sie mitansehen müßten, wie die Kinder umgebracht wurden -das ist alles. Zweifellos wird er das Gerücht ausstreuen, daß Artus die Ermordung befohlen, er selbst aber den Urteilsspruch abgemildert und den kleinen Kindern noch eine Chance gegeben habe. Das Ufer. An welcher Stelle?» «Ich weiß nicht.» «Wirklich nicht?» «Nein, wirklich nicht. Es gibt mehrere Wege zum Meer. Niemand wußte genau, wohin sie geritten waren. Das ist die reine Wahrheit.» «Ja. Hatte es jemand gewußt, wären vielleicht einige Männer gefolgt. Deshalb reiten wir zurück und nehmen den ersten Weg zum Ufer. Wir können dann am Strand entlangreiten. Komm.» Aber als ich mein Maultier umdrehte, griff er mir mit der Hand in die Zügel. So etwas hätte er nie zu tun gewagt, außer in einer 175
verzweifelten Lage. «Herr - verzeiht mir. Was wollt Ihr tun? Nach all diesem . . . Versucht Ihr immer noch, das Kind zu finden?» «Was denkst du denn? Artus' Sohn!» «Aber Artus selbst will seinen Tod!» Das war es also. Ich hätte es mir schon lange denken können. Mein Maultier stieg, als ich die Zügel zu heftig anzog. «Du hast also in Caerleon gelauscht. Du hast gehört, was er in jener Nacht zu mir gesagt hat.» «Ja.» Diesmal konnte ich ihn kaum hören. «Sich zu weigern, ein Kind zu ermorden, Herr, das ist die eine Sache. Aber wenn Euch jemand den Mord abnimmt. . .» «... braucht man ihn nicht mit allen Mitteln zu verhindern? Vielleicht nicht. Aber da du nun schon einmal in jener Nacht gelauscht hast, wirst du auch gehört haben, daß ich dem König gesagt habe, ich nähme nur Befehle von einer Gewalt entgegen, die über der seinigen steht. Und bis jetzt habe ich kein Zeichen von meinen Göttern erhalten. Glaubst du etwa, es sei der Wunsch der Götter, daß wir uns mit Lot und seiner verworfenen Königin auf eine Stufe stellen? Und du hast selbst die Verleumdungen gehört, die man über Artus verbreitet. Im Interesse seiner Ehre, und wenn auch nur um seines Seelenfriedens willen, muß er die Wahrheit erfahren. Ich bin an seiner Statt hier, um zu beobachten und zu berichten. Was immer getan werden muß, werde ich tun. Und jetzt nimm die Hand von meinem Zügel.» Er gehorchte. Ich trieb das Maultier zum Galopp an. Wir ritten den Weg zurück. Dies war dieselbe Route, auf der wir ursprünglich bei Tageslicht nach Dunpeldyr gelangt waren. Ich versuchte, mich zu erinnern, was wir damals von dem Küstenstreifen gesehen hatten. Es ist eine Steilküste, in die breite sandige Buchten eingebettet sind. Etwa eine Meile von der Stadt entfernt stieß eine Landzunge ins Meer hinaus, und es schien auch bei Ebbe wenig wahrscheinlich, daß man um sie herumreiten konnte. Aber unmittelbar hinter der Landzunge führte ein Pfad zum Ufer hinunter. Von dort aus - und meiner Meinung nach 176
mußte jetzt Niedrigwasser herrschen - konnten wir den ganzen Weg am Strand entlang bis zur Mündung des Tyne zurückreiten. Kaum merklich ging die Nacht in die Morgendämmerung über. Man konnte den Weg bereits undeutlich erkennen. Ein Hünengrab tauchte zu unserer Rechten auf. Auf einer flachen Steinplatte bewegte sich ein Federbündel im Wind, und die Maultiere scheuten; sie konnten wohl das Blut riechen. Und hier war der Pfad, der über holperiges Grasland hinweg zur Küste hinabführte. Wir bogen in ihn ein. Plötzlich ging es steil bergab, und vor uns lag die See. Die Landzunge erschien zu unserer Rechten; nach links dehnte sich der graue Sandstrand aus. Wir wandten uns in diese Richtung und fielen wieder in Galopp. Das Wasser war abgelaufen, der Sand fest und von Rillen zerfurcht. Zu unserer Rechten warf das Meer eine Art von grauem Lichtschein zum wolkenverhangenen Himmel. Etwas weiter nach Norden und ein wenig zurückgesetzt erhob sich der gewaltige Felsen, auf dem der Leuchtturm steht. Sein Licht war rot und stetig. Bald, dachte ich bei mir, während unsere Maultiere dahingaloppierten, müßten wir eigentlich landeinwärts die Umrisse des Felsens von Dunpel-dyr und die Bucht erkennen können, wo sich der Fluß in das Meer ergießt. Vor uns sprang eine flache Landzunge ins Meer; an ihrem vorderen Ende brach sich die Brandung in weißen Schaumkronen. Wir umrundeten sie, und die Maultiere planschten fesseltief durch das schäumende Wasser. Jetzt konnten wir eine oder zwei Meilen landeinwärts das noch hell erleuchtete Dunpeldyr erkennen. Vor uns lag das Ende des Sandstrands. Dunkle Bäume bezeichneten den Flußlauf, und ein aschgrauer Schimmer zeigte, wo sein Wasser in das Meer floß. Und am Flußufer, wo die Straße zum Strand hinabführte, tanzten die Fackeln von Reitern auf und ab, die in leichtem Galopp der Stadt zustrebten. Die Arbeit war getan. Mein Maultier kam bereitwillig zum Stehen. Ulfins Tier hielt schnaubend eine halbe Länge hinter mir. Unter ihren Hufen sog die Ebbe an dem groben Sand. 177
Nach einer Weile sagte ich: «Dein Wunsch ist anscheinend in Erfüllung gegangen.» «Herr, verzeiht mir. Ich dachte an nichts anderes als . . .» «Was soll ich dir verzeihen? Soll ich dir einen Vorwurf daraus machen, daß du deinem Gebieter mehr als mir gehorcht hast?» «Ich hätte Euch mehr Vertrauen entgegenbringen sollen.» «Wo ich meiner selbst nicht einmal sicher war? Soviel ich weiß, bist du weiser als ich gewesen. Da nun alles vollbracht ist und Artus anscheinend einen Teil der Schuld selbst zu tragen hat, kann man uns die Hoffnung, daß Morgauses Kind zusammen mit den anderen ums Leben gekommen ist, vielleicht vergeben.» «Wie hätte denn auch nur eines der Kinder entrinnen können? Seht doch, Herr.» Ich drehte mich um und schaute in die Richtung, die sein Arm wies. Draußen auf dem Meer, hinter einem flachen Felsenriff am Rande der Bucht, schimmerte der blasse Halbmond eines Segels auf dem Wasser. Dann umrundete es das Riff, und das Boot trieb auf die offene See hinaus. Der von Land her wehende Wind blähte das Segel und trieb das Boot schnell vor sich her. Als ob Herodes für die Unschuldigen noch einen Rest von Barmherzigkeit empfunden hätte so trieb das Boot, auf den Wellen tanzend, vor dem Wind aufs offene Meer hinaus und trennte seine unglückselige Fracht immer schneller von dem rettenden Ufer. Das Segel verschmolz in dem Grau und verschwand. Die See seufzte und murmelte unter dem Wind. Die kleinen Wellen leckten an den Felsbrocken und schwemmten den Sand und kleine Muscheln an den Füßen der Maultiere vorbei ins Meer. Auf der Düne neben uns raschelte das Seegras im Wind. Dann hörte ich, als sich der Wind einen Augenblick legte, ganz schwach, einen langgezogenen Klagelaut, der so unwirklich klang wie der Ruf der Robben, den sie an ihren Paarungsplätzen ausstoßen. Er verebbte, während wir lauschten; dann kam er wieder, laut und durchdringend, als ob eine Seele, die das dem Verhängnis preisgegebene Boot bereits verlassen hatte, heimwärts zum Ufer geflogen wäre. Ulf in erschrak, als habe er ein Gespenst gesehen und machte das Zeichen gegen das Böse. Aber es 178
war nur eine Möwe, die hoch über uns hinwegflog. Ulfin blieb stumm, und ich verharrte regungslos auf meinem Maultier. Irgend etwas war da in der Dunkelheit -j etwas, das mich tief bedrückte. Nicht nur das Schicksal der Kinder; gewiß nicht der vermutete Tod von Artus' Kind. Aber der verblassende Anblick jenes Segels, das über die grauen Wassermassen hinweg entschwand, und die klagenden Töne, die aus der Dunkelheit zu uns herüberdrangen, fanden irgendwo ein Echo im Innersten meiner Seele. Ich blieb still auf meinem Maultier sitzen, während der Wind abflaute, das Wasser gegen das Gestein schlug und die Klagelaute draußen auf dem Meer erstarben. ZWEITES BUCH
CAMELOT So gern ich es auch getan hätte - ich verließ Dunpeldyr nicht sofort. Artus war noch in Linnuis und erwartete mit Sicherheit von mir einen Bericht nicht nur über das eigentliche Massaker, sondern auch über die nachfolgenden Ereignisse. Ulfin rechnete meines Erachtens damit, entlassen zu werden, aber da ich es für nicht ungefährlich hielt, irgendwo im Ort Dunpeldyr abzusteigen, blieb ich im «Ginsterbusch» und behielt Ulfin als Boten und Mittelsmann noch bei mir. Beltane, der durch die Ereignisse der Nacht verständlicherweise tief erschüttert war, setzte sich mit Casso unverzüglich nach Süden in Marsch. Ich hielt mein Casso gegebenes Versprechen. Es war ein Versprechen, das ich zwar spontan abgegeben hatte, aber ich habe festgestellt, daß solchen Impulsen meistens ein Ursprung zugrunde liegt, den man nicht übersehen sollte. So sprach ich also mit dem Goldschmied und überzeugte ihn rasch von den Vorteilen, die ein Diener mit sich bringen werde, der lesen und schreiben könne; dazu erklärte ich ihm, daß ich ihm Casso für die Hälfte der Summe, die er mich gekostet habe, abtreten würde, falls mein Wunsch erfüllt werde. Ich hätte gar nicht so eindringlich mit ihm zu reden brauchen; Beltane, dieser gutherzige Mann, sagte mit Vergnügen zu, Casso persönlich zu unterrichten. Dann verabschiedeten sich beide von mir und ritten in südlicher Richtung davon; ihr Reiseziel war York. Mit ihnen ritt Lind, die in York anscheinend einen Bekannten hatte, der ihr Schutz 179
gewähren würde; es war ein kleiner Kaufmann, ein allgemein geachteter Mann, der von Heirat gesprochen hatte, den sie aber aus Angst vor der Königin abgewiesen hatte. Ich sagte ihnen Lebewohl und war gespannt, was die nächsten Tage bringen würden. Zwei oder drei Tage nach der Schreckensnacht wurde das Bootswrack an Land getrieben, und mit ihm die Leichen. Offensichtlich war das Boot irgendwo auf ein Felsenriff aufgelaufen und dann, schwer beschädigt, von der Flut weggeschwemmt worden. Die bedauernswerten Frauen, die zum Strand hinunterliefen, stritten heftig miteinander, weil keine wußte, welches Baby ihr gehörte. Am Strand wimmelte es von den unglücklichen Frauen. Sie weinten viel und sprachen sehr wenig; es lag auf der Hand, daß sie, wie Tiere, daran gewöhnt waren, alles hinzunehmen, was ihre Herren ihnen zumuteten, ob es Almosen oder Schläge waren. Ebenso lag es für mich, der ich im Schatten der Schenke saß und lauschte, auf der Hand, daß die meisten Leute, trotz des Gerüchts, Artus sei für das Massaker verantwortlich, in Morgause und Lot die Schuldigen sahen. Lot sei hintergangen worden und deshalb in Wut geraten. Und weil die Menschen überall gleich sind, waren sie geneigt, ihren König wegen seiner übereilten Reaktion auf seinen Zorn nicht übermäßig zu tadeln. Jeder Mann, sagten sie schon bald, hätte genauso gehandelt. Wer nach Hause kommt und feststellt, daß seine Frau das Kind eines anderen auf die Welt gebracht hat, wird allgemeines Verständnis finden, wenn er die Fassung verliert. Und was den Massenmord angeht - ein König war immerhin ein König und mußte auf seinen Thron ebensoviel Rücksicht nehmen wie auf sein Bett. Und hatte der König nicht eine fürstliche Wiedergutmachung angeordnet? Denn Lot war klug genug, so etwas zu tun; und so sehr die Frauen auch immer noch weinen und trauern mochten -die meisten Männer nahmen Lots Tat wie auch das Gold, das sie entschädigen sollte, hin als natürliche Handlung eines getäuschten und zornigen Königs. Und Artus? Ich stellte eines Abends diese Frage beiläufig in einem dieser Gespräche. Wenn die in Umlauf gesetzten Gerüchte über die Beteiligung des Hochkönigs an den Morden wahr seien, wäre nicht Artus ebenfalls aus dem gleichen Grunde gerechtfertigt? Falls das 180
Kind Mordred in der Tat sein Bastard von seiner Halbschwester und ein Druckmittel gegenüber König Lot (der nicht immer zu seinen treuesten Freunden gehört habe) gewesen sei, so könne man doch eigentlich mit Recht sagen, daß die Politik diese Tat gerechtfertigt habe? Welchen besseren Weg hätte Artus finden können, um sich die Freundschaft des großen Königs von Lothian zu erhalten, als das Kuckucksei in dessen Nest zu beseitigen und die Verantwortung für den Mord zu übernehmen? Viele schüttelten den Kopf und murmelten etwas vor sich hin; schließlich stimmten mir alle bis zu einem gewissen Grade zu. Dann gab ich einen weiteren Punkt zu bedenken. Jedermann wisse, daß in Fragen der hohen Politik - und besonders dann, wenn es um ein großes Land wie Lothian gehe - nicht der junge Artus die wesentlichen Entscheidungen treffe; dies sei Merlin, sein erster Berater. Man könne sich darauf verlassen, es handele sich hier um die Entscheidung eines rücksichtslosen und verderbten Geistes, nicht um den Entschluß eines tapferen, jungen Soldaten, der jeden Tag seines Lebens im Kampf gegen die Feinde Britanniens zubringe und wenig Zeit für Schlafzimmerintrigen habe. So wurde dieser Gedanke wie ein Grassamen ausgesät, und er wuchs und gedieh ebenso schnell wie das Gras. Als die Nachricht von Artus' nächstem siegreichen Gefecht eintraf, hatte man das Massaker bereits mehr oder weniger hingenommen, und die Schuld, ob sie nun bei Merlin, Artus oder Lot lag, so gut wie verziehen! Es war klar, daß der Hochkönig - möge Gott ihn vor seinen Feinden bewahren -wenig damit zu tun gehabt hatte, außer daß er die Notwendigkeit einsah. Außerdem wären die meisten der Kinder noch im Säuglingsalter ohnehin aus dem einen oder anderen Grunde gestorben, und das ohne Goldgeschenke, wie sie Lot unter die trauernden Väter verteilt hatte. Hinzu kam, daß die meisten Frauen bald wieder ein Kind erwarteten und notgedrungen ihre Tränen vergessen mußten. Auch die Königin. Es wurde anerkannt, daß sich Lot wirklich wie ein König benommen hatte. Er war im Zorn heimgekehrt, hatte den Bastard (ob auf Weisung von Artus 181
oder aus eigenem Antrieb) beseitigt, konnte jetzt an Stelle des toten Knaben einen echten Erben erwarten und war wieder davongeritten, wobei seine Loyalität gegenüber dem Hochkönig keine Einbuße erlitten hatte. Einige der Väter, denen er Stellungen in der Truppe anbot, ritten mit ihm, bestärkt in ihrer eigenen Loyalität. Morgause, die durch die Gewalttätigkeit ihres Herrn keineswegs eingeschüchtert zu sein oder den Zorn des Volkes zu fürchten schien, wirkte bei den wenigen Gelegenheiten, als ich sie ausreiten sah, unbekümmert und selbstzufrieden. Was immer die Leute über ihre Rolle in dem Massaker geglaubt haben mochten, jetzt war sie sicher vor deren Zorn, da man davon sprach, daß sie den wahren Thronerben unter dem Herzen trage. Wenn sie ihrem verlorenen Sohn nachtrauerte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Daraus gehe hervor, meinten die Leute, daß sie in Wahrheit von Artus verführt worden sei und den Bastard gar nicht habe zur Welt bringen wollen. Aber für mich, der ich unscheinbar und unerkannt nur wartete und beobachtete, begann ihr Verhalten eine ganz andere Bedeutung zu bekommen. Ich war nicht überzeugt, daß sich der kleine Mordred überhaupt in dem Boot mit den unschuldigen Mordopfern befunden hatte. Ich mußte an die drei bewaffneten Männer denken, die kurz vor Lots Rückkehr und nach der Ankunft von Morgauses Boten aus dem Süden durch das Seitentor in die Burg zurückgekehrt waren. Ich mußte auch an Macha denken, die mit durchschnittener Kehle tot in ihrem Häuschen neben der leeren Wiege lag; und an Lind, die ohne Morgauses Wissen oder Genehmigung in die Dunkelheit hinausgerannt war, um Macha zu warnen und das Kind Mordred in Sicherheit zu bringen. In Anbetracht aller dieser Einzelheiten glaubte ich zu wissen, was tatsächlich geschehen war. Macha war als Pflegemutter für Mordred ausgewählt worden, weil sie Lot ein uneheliches Kind geboren hatte; Morgause hatte vielleicht sogar mit Vergnügen mitangesehen, als das Baby umgebracht wurde; sie hatte gelacht, wie Lind uns berichtete. Da sich Mordred in Sicherheit befand und der Wechselbalg sich als Opfer anbot, hatte Morgause Lots Rückkehr abgewartet. Als sie erfuhr, daß mit seinem Erscheinen jederzeit zu 182
rechnen sei, hatte sie ihre Leibwächter mit dem Auftrag entsandt, Mordred in ein anderes, sicheres Versteck zu bringen und Macha zu töten, die, falls ihrem eigenen Kind ein Leid geschehen sollte, hätte versucht sein können, die Königin zu verraten. Und jetzt war Lot beruhigt, in der Stadt war es still, und irgendwo - dessen war ich sicher - wuchs das Kind, das für Morgause ein Machtmittel darstellte, in Sicherheit auf. Nachdem Lot aufgebrochen war, um wieder zu Artus zu stoßen, schickte ich Ulfin gen Süden weg, blieb aber selbst weiterhin in Lothian und setzte meine Beobachtungen fort. Da Lot fort war, zog ich nach Dunpeldyr zurück und versuchte auf jede nur mögliche Weise, irgendeinen Anhaltspunkt für den jetzigen Aufenthaltsort des kleinen Mordred zu finden. Was ich getan hätte, falls ich ihn gefunden hätte, weiß ich nicht, aber der Gott hat mir die Last dieser Entscheidung nicht auferlegt. So wartete ich volle vier Monate in dieser elenden kleinen Stadt, und obwohl ich mich bei Tag und bei Nacht am Meeresufer erging und mit meinem Gott in jeder Zunge und auf jede Art, deren ich mächtig war, sprach, sah ich weder im Sonnenlicht noch im Traum irgendein Zeichen, das mich zu Artus' Sohn hätte führen können. Meine Verwirrung wuchs mit jedem Tag. Schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, daß ich mich vielleicht doch geirrt hatte, daß auch Morgause nicht so verworfen sein könnte und daß Mordred mit den anderen Kindern auf dem Meer umgekommen sei. Als der Herbst in den Winter überging und die Nachricht eintraf, daß die Kämpfe in Linnuis beendet seien und Lot bald wieder den Heimweg antreten werde, reiste ich schließlich aus Dunpeldyr ab. Artus würde zu Weihnachten in Caerleon sein und mich dort erwarten. Auf meinem Ritt legte ich nur einmal eine Ruhepause ein, um ein paar Tage bei Blaise in Northumbrien zu bleiben und ihm die neuesten Nachrichten zu überbringen. Dann setzte ich die Reise nach Süden fort, um zur Stelle zu sein, wenn der König heimkehrte. **# Er kam in der zweiten Dezemberwoche zurück, als Frost die Erde überzog und die Kinder zur Ausschmückung des Weihnachtsfestes 183
Stechpalmenzweige und Efeu sammelten. Er nahm sich kaum Zeit zu baden und sich umzuziehen, bevor er mich rufen ließ. Er empfing mich in dem Raum, wo wir vor unserer Trennung miteinander gesprochen hatten. Diesmal war die Tür zum Schlafzimmer zu, und er war allein. Er hatte sich in den Monaten seit Pfingsten sehr verändert. Er war größer geworden, gewiß, fast einen halben Kopf- es ist das Alter, in dem junge Männer wie Gerste in die Höhe schießen -, und er war auch breiter geworden und zeigte jene Sonnenbräune, die er durch sein Soldatenleben bekommen hatte. Aber dies war nicht der eigentliche Wandel. Sein Selbstvertrauen war gewachsen. Man sah ihm jetzt an, daß er wußte, was er tat und wohin der Weg ihn führte. Abgesehen davon hätte unser Gespräch ein Echo jenes anderen sein können, das ich mit dem jüngeren Artus in der Nacht geführt hatte, als Mordred gezeugt wurde. «Die Leute sagen, ich hätte dieses abscheuliche Verbrechen angeordnet!» Er hatte sich kaum die Mühe genommen, mich zu begrüßen. Er schritt im Raum hin und her - es war dieselbe elastische und dennoch kräftige Gangart, wie sie ein Löwe hat, aber die Schritte waren um eine Handspanne länger geworden. Der Raum war ein Käfig, der ihn einengte. «Du weißt selbst, daß ich in diesem selben Zimmer gesagt habe: Nein, wir müssen es dem Gott überlassen. Und jetzt dies!» «Aber du hast es doch so gewollt, nicht wahr?» «Alle diese Morde? Sei kein Narr, hätte ich es so getan? Oder du?» Eine Antwort auf diese Frage erübrigte sich. Ich sagte bloß; «Lot hat sich nie durch Klugheit und Zurückhaltung ausgezeichnet, und außerdem hatte ihn die Wut gepackt. Man könnte vielleicht sagen, daß ihm die Tat von jemand anderem nahegelegt worden ist.» Er warf mir einen raschen, vielsagenden Blick zu. «Von Morgause? So habe ich gehört.» «Ich nehme an, daß dir Ulfin alles erzählt hat? Hat er dir auch berichtet, welchen Anteil er selbst an der Sache gehabt hat?» 184
«Daß er versuchte, dich irrezuführen und die Kinder ihrem Schicksal zu überlassen? Ja, das hat er mir erzählt.» Kurze Pause. «Das war Unrecht, und ich habe es ihm auch gesagt. Aber es ist schwer, sich über jemanden zu erzürnen, der aus Treue gehandelt hat. Er dachte - er wußte, daß mich der Tod des Kindes erleichtert hätte. Aber all die anderen Kinder . . . Knapp einen Monat nach meinem Gelöbnis, für das Volk einzutreten und es zu schützen, wird mein Name besudelt ...» «Ich glaube, du brauchst dich nicht zu beunruhigen. Ich bin überzeugt, daß nur wenige glauben, du hättest etwas damit zu tun gehabt.» «Wie dem auch sei.» Die Worte klangen scharf und schneidend. «Aber einige werden es glauben, und das genügt schon. Lot hatte wenigstens eine Entschuldigung, gewissermaßen; eine Entschuldigung, die der einfache Mann begreifen kann. Aber ich? Kann ich vor aller Welt erklären, daß Merlin, der Seher, mir gesagt habe, das Kind könne zu einer Gefahr für mich werden, und daß ich es deshalb habe umbringen lassen, und andere dazu, weil ich fürchtete, es könne womöglich durch die Maschen schlüpfen? Was für ein König kann mir so etwas anlasten? Lot und seinesgleichen?» «Ich kann nur wiederholen, daß ich bezweifle, ob man dir die Schuld zuschiebt. Morgauses Frauen befanden sich in Hörweite, vergiß das nicht, und die Wachen wußten, von wem sie ihre Befehle erhielten. Auch Lots Eskorte - die Leute wußten bestimmt, daß er mit Rachegelüsten heimwärts ritt, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Lot aus seinen Absichten einen Hehl gemacht hat. Ich weiß nicht, was Ulf in dir erzählte, aber als ich Dunpeldyr verließ, sagten die Leute, Lot habe die Anweisungen für das Massaker gegeben; und diejenigen, die glaubten, du habest den Befehl gegeben, meinten, du seist dabei meinem Ratschlag gefolgt.» «So?» sagte er. Er war wirklich aufgebracht. «Bin ich etwa ein König, der keine eigenen Beschlüsse fassen kann? Wenn die Schuld zwischen uns beiden geteilt werden sollte, dann übernehme ich sie allein, und nicht du. Das weißt du gut genug. Du weißt ebenso gut wie ich, was hier zwischen uns besprochen worden ist.» 185
Auch hier bedurfte es keiner Antwort. Er schritt im Raum wieder auf und ab und sagte dann: «Wer immer den Befehl gegeben haben mag - du kannst ruhig sagen, daß ich ein Schuldgefühl habe. Das entspricht den Tatsachen. Aber ich würde, hei allen Göttern im Himmel und in der Hölle, nie so gehandelt haben! So eine Tat bleibt an dir haften und lebt nach dir weiter! Man wird sich meiner nicht als des Königs erinnern, der die Sachsen aus Britannien vertrieben hat, sondern als des Mannes, der wie Herodes die Kinder in Dunpeldyr ermordet hat!» Er brach ab. «Was gibt es da zu lächeln?» «Ich zweifle, ob du dir über den Namen, den du hinterlassen wirst, Gedanken zu machen brauchst.» «Das sagst du.» «Das habe ich gesagt.» Der Wechsel in meinem Tonfall ließ ihn aufhorchen. Ich begegnete seinem Blick und wich ihm nicht aus. «Ja, ich, Merlin, habe das gesagt. Ich habe es gesagt, als ich noch meine Kraft besaß, und es ist die Wahrheit. Du hast recht, wenn du diese Scheußlichkeiten beklagst, und du hast auch recht, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen. Aber falls dieses Geschehnis als deine Tat in die Geschichte eingehen sollte, wird man dich trotzdem von jeglicher Schuld freisprechen. Das kannst du mir glauben. Was noch alles kommen wird, wird dich jeglicher Verantwortung entbinden.» Seine Erregung hatte nachgelassen, und er schien nachzudenken. Er sagte zögernd: «Willst du damit sagen, daß aus der Geburt und dem Tod des Kindes eine Gefahr entstehen wird? Etwas so Schreckliches, daß die Menschen den Mord als gerechtfertigt ansehen werden?» «Das habe ich nicht sagen wollen, nein ...» «Du hast noch eine andere Prophezeiung gemacht, wie du weißt. Du hast mir gegenüber angedeutet - nein, du hast mir rundweg gesagt -, daß Morgauses Kind zu einer Gefahr für mich werden könnte. Das Kind ist jetzt tot. Hätte dies die Gefahr sein können? Der Makel auf meinem Namen?» Er hielt inne. «Oder wird vielleicht eines Tages 186
einer der Männer, deren Söhne ermordet wurden, mir in der Nacht mit einem Messer auflauern? Hast du an so etwas gedacht?» «Ich habe dir erklärt, daß ich an nichts im besonderen denke. Ich habe nicht gesagt, daß das Kind eine Gefahr für dich, Artus, sein . Ich sagte, es würde bestimmt eine Gefahr sein. Und wenn mein Wort noch etwas gilt, so wird die Gefahr hierin liegen, und nicht bei dem Messer in der Hand eines anderen.» Nach seiner Ruhelosigkeit war er plötzlich ganz still geworden. Er sagte unwirsch: «Du meinst, daß das Massaker seinen Zweck nicht erreicht hat? Daß das Kind - Mordred, hast du nicht so gesagt - noch am Leben ist?» «Ich bin inzwischen zu dieser Überzeugung gelangt.» Er atmete hörbar ein. «Es wurde also irgendwie aus dem Boot gerettet?» «Es ist immerhin möglich. Entweder wurde es zufällig gerettet, oder es lebt irgendwo unerkannt, wie du während deiner Kindheit - dann mußt du damit rechnen, ihm eines Tages zu begegnen, wie Laios dem Ödipus begegnete, und ihm in Unkenntnis zum Opfer zu fallen.» «Dieses Risiko gehe ich ein. Irgendwann fällt jeder einmal einem anderen zum Opfer. Oder?» «Oder er ist überhaupt nicht in dem Boot gewesen.» Er nickte nachdenklich. «Morgause, ja. Das würde in das Bild passen. Was weißt du?» Ich erzählte ihm das wenige, das ich genau wußte, und die Schlußfolgerungen, die ich gezogen hatte. «Sie muß gewußt haben», endete ich, «daß Lot gewalttätig reagieren würde. Wir wissen, daß sie das Kind behalten wollte, und warum. Sie hätte ihr eigenes Kind bei Lots Rückkehr kaum einer solchen Gefahr ausgesetzt. Es ist offensichtlich, daß sie die ganze Sache in die Wege geleitet hat. Lind hat uns später Einzelheiten berichtet. Wir wissen, daß sie Lot bis zur Weißglut gereizt und dadurch das Massaker ausgelöst hat; wir wissen ferner, daß sie das Gerücht ausgestreut hat, du seiest der einzig Verantwortliche. Was hat sie also getan? Sie hat Lots Befürchtungen ausgeräumt und ihre eigene Position gesichert. 187
Und ich bin überzeugt - nach allem, was ich über sie erfahren habe -, daß sie alles darauf angelegt hat...» «Ihre Geisel erst einmal in Sicherheit zu bringen.» Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er wirkte kalt; seine Augen sahen aus wie grauer Schiefer, auf den es geregnet hat. Dies war ein Artus, den andere gesehen hatten, ich aber noch nie. Wie viele Sachsen mußten wohl in diese Augen blicken, kurz bevor sie starben? Er sagte mit Bitterkeit in der Stimme: «Jene Nacht der Lust ist mir bereits zur Genüge heimgezahlt worden. Ich wünschte, du hättest mir damals freie Hand gegeben, sie umzubringen. Sie ist ein Weib, das mir besser nicht wieder nahe kommt, es sei denn auf den Knien und in Sack und Asche gehüllt.» Es klang wie ein Gelübde. Dann änderte er den Ton. «Wann bist du aus dem Norden zurückgekommen?» «Gestern.» «Gestern? Ich dachte . . . ich glaubte, diese Greuel seien schon vor Monaten geschehen.» «Ja. Ich blieb dort, um die weitere Entwicklung zu beobachten. Ich hoffte, Morgause würde irgendeinen Schritt unternehmen, aus dem ich ersehen könnte, wo das Kind versteckt war. Wenn Lind zu ihr hätte zurückkehren können und gewagt hätte, mir zu helfen . . . aber das war unmöglich. Deshalb blieb ich noch dort, bis die Nachricht eintraf, du habest Linnuis verlassen, und Lot werde bald wieder in Dunpeldyr sein. Ich wußte, daß ich nichts mehr würde tun können, sobald er wieder daheim war. Deshalb machte ich mich auf den Weg.» «Ich verstehe. Und dazu noch auf einen so langen-Weg, und jetzt halte ich dich auf den Beinen und fahre dich an, als wärst du ein Wachposten, der schlafend angetroffen wurde. Willst du mir verzeihen?» «Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich habe geruht. Aber ich würde mich jetzt gern hinsetzen. Vielen Dank.» Er zog einen Stuhl für mich heran und setzte sich dann selbst in den großen Sessel hinter dem wuchtigen Tisch. «Du hast in deinem Bericht nichts von der Möglichkeit erwähnt, daß Mordred noch am Leben sein könnte. Und Ulfin hat auch keine diesbezügliche Andeutung gemacht.» 188
«Ich glaube, dieser Gedanke ist ihm gar nicht gekommen. Erst als er weg war und ich Zeit hatte, nachzudenken und zu beobachten, kam ich zu dieser Schlußfolgerung. Es gibt selbstverständlich noch keinen Beweis, daß ich recht habe. Und nichts außer der Erinnerung an eine alte Vorahnung, die mir sagen könnte, ob es tatsächlich von Belang ist oder nicht. Aber eines kann ich dir sagen: Auf lange Zeit hinaus wird von Mordred keinerlei Bedrohung ausgehen.» Er warf mir einen Blick zu, aus dem auch der letzte Rest von Zorn verschwunden war. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. «Ich habe also Zeit.» «Du hast Zeit. Dies war übel, und du hattest recht, wütend zu sein; aber die Leute denken schon kaum noch daran und werden es angesichts deiner strahlenden Siege bald ganz vergessen haben. Deine Erfolge sind in aller Munde. Deshalb hör auf, darüber nachzugrübeln, und denk lieber an das Nächstliegende. Die Rückschau im Zorn ist Zeitverschwendung.» Die Spannung löste sich schließlich in sein vertrautes, breites Lächeln auf. «Ich weiß. Schaffen, nicht zerstören. Wie oft hast du mir das schon gesagt? Aber ich bin auch nur ein Sterblicher. Ich zerstöre zunächst, um mir Bewegungsfreiheit zu schaffen . . . Also gut, ich werde nicht mehr daran denken. Es gibt genug, woran jetzt gedacht werden muß, ohne unnötig Zeit mit Vergangenem zu vergeuden. Übrigens», sein Lächeln wurde noch breiter -, «habe ich gehört, daß König Lot einen Zug gen Norden in sein dort gelegenes Territorium plant. Vielleicht fühlt er sich in Dunpeldyr nicht ganz wohl - obwohl er mir die Schuld an dem Verbrechen in die Schuhe schiebt? Die Orkneys sind fruchtbare Inseln, wie man mir sagt; in den Sommermonaten läßt es sich dort angeblich gut leben. Allerdings sollen sie den ganzen Winter hindurch von jeder Verbindung abgeschnitten sein. «Es sei denn, das Meer friert zu.» «Und das», meinte er mit höchst unköniglicher Genugtuung, «dürfte sich sogar Morgauses Einfluß entziehen. Die Entfernung wird uns also helfen, Lot und seine Machenschaf ten zu vergessen ...» 189
Er kramte in den Papieren und Schrifttafeln, die auf dem Tisch lagen. Ich dachte bei mir, daß ich meine Suche nach Mordred vielleicht doch noch weiter hätte ausdehnen sollen. Falls Lot mit seiner Königin über den Plan zur Verlegung des Hofes nach Norden gesprochen hatte, wäre sie vielleicht auf den Gedanken gekommen, auch das Kind in jene Gegend zu schicken. Aber Artus sprach schon wieder. «Weißt du etwas von Träumen?» Ich war überrascht. «Träumen? Natürlich, ich habe schon manche gehabt.» Er schien belustigt. «Ja, das war eine törichte Frage. Ich habe gemeint: Kannst du mir sagen, was sie bedeuten - die Träume anderer Menschen?» «Ich bezweifle es. Wenn meine eigenen Träume eine Bedeutung haben, sind sie ganz klar und lassen keinen Zweifel zu. Warum fragst du? Haben dich Träume geplagt?» «Schon seit vielen Nächten.» Er zögerte und machte sich mit den Sachen auf dem Tisch zu schaffen. «Es lohnt sich wahrscheinlich nicht, darüber nachzudenken, aber der Traum ist so lebhaft, und es ist immer derselbe ...» «Erzähl ihn mir.» «Ich gehe allein auf die Jagd. Keine Hunde, nur ich selbst und mein Pferd. Ich folge der Fährte eines Hirsches. Dieser Teil variiert manchmal etwas, aber ich weiß immer, daß die Verfolgung schon viele Stunden dauert. Dann, wenn ich schon glaube, den Hirsch eingeholt zu haben, springt er in ein Dickicht und ist verschwunden. Im selben Augenblick bricht mein Pferd tot unter mir zusammen. Ich werde ins Gras geworfen. Manchmal wache ich an dieser Stelle auf; wenn ich aber wieder einschlafe, liege ich noch immer im Gras an einem Flußufer, und das tote Pferd liegt neben mir. Dann höre ich Jagdhunde herannahen, eine ganze Meute, und ich setze mich auf und schaue mich um. Ich habe diesen Traum schon so oft gehabt, daß ich noch während des Träumens genau weiß, was kommen wird, und ich fürchte mich ... Es 190
ist keine Hundemeute, die herannaht, sondern ein einziges wildes Tier - ein fremdartiges Tier, das ich, obwohl ich es so oft gesehen habe, nicht beschreiben kann. Es bricht durch das Unterholz und macht einen Spektakel wie dreißig Bluthunde. Es nimmt von mir oder meinem Pferd keine Notiz, sondern bleibt am Ufer stehen und säuft; dann läuft es weiter und verliert sich im Wald.» «Ist das das Ende?» fragte ich, als er stockte. «Nein. Auch das Ende wechselt, aber immer erscheint nach dem merkwürdigen Tier ein Ritter, allein und zu Fuß, der mir erzählt, auch sein Pferd sei während der Jagd tot unter ihm zusammengebrochen. Jedes Mal - jede Nacht, wenn ich diesen Traum habe - frage ich ihn, was für ein Tier dies sei und welchem Wild die Jagd gilt, aber jedesmal, wenn er es mir sagen will, kommt mein Reitknecht mit einem neuen Pferd heran, und der Ritter besteigt es, ohne mich um Erlaubnis zu bitten, und schickt sich an, da vonzureiten. Und ich falle ihm in den Zügel, um ihn aufzuhalten, und bitte ihn, mich die Jagd durchführen zu lassen. , sage ich, Aber er schlägt meine Hand beiseite und sagt: <Später. Später, werm es nottut, kannst du mich hier finden, und ich werde mich verantworten für das, was ich getan habe.> Und dann reitet er weg und läßt mich allein im Wald zurück. Ich wache auf - die Furcht ist noch in mir. Merlin, was bedeutet das?» Ich schüttelte den Kopf. «Ich kann es dir nicht sagen. Ich könnte leichtfertig behaupten, dir sei eine Lektion in Demut erteilt worden: Daß auch der Hochkönig nicht für alles verantwortlich ist...» «Du meinst, ich soll in den Hintergrund treten und dich die alleinige Verantwortung für das Massaker tragen lassen? Nein, das wäre viel zu raffiniert, Merlin!» «Habe ich nicht das Wort gebraucht? Ich habe keine Ahnung, was dein Traum bedeutet. Wahrscheinlich ist er nicht mehr als eine Mischung aus Sorgen und Kopfschmerzen. Aber eines kann ich dir sagen: Welche Fährnisse auch vor dir liegen mögen - du wirst sie meistern und Ruhm erwerben; und was auch geschehen ist, was du getan haben magst oder noch tun wirst - du wirst noch im Tod verehrt werden. Ich werde dahinschwinden und vergehen wie Musik, wenn 191
die Harfe tot ist, und die Menschen werden mein Ende schmachvoll nennen. Aber du wirst in der Vorstellungswelt und in den Herzen der Menschen weiterleben. Doch werden bis dahin noch viele Jahre vergehen. Jetzt erzähl mir erst einmal, was sich in Linnuis zugetragen hat.» Wir unterhielten uns noch lange. Schließlich kam er auf die nahe Zukunft zu sprechen. «Bis die Wege im Frühling wieder passierbar werden, können wir hier in Caerleon unserer Arbeit nachgehen. Dafür bleibst du einstweilen hier. Aber im Frühling sollst du dich mit meinem neuen Hauptquartier befassen.»Ich sah ihn fragend an, und er nickte. «Ja, wir haben schon einmal darüber gesprochen. Was in den Zeiten von Vortigern oder auch Ambrosius richtig war, wird in einem Jahr nicht mehr genügen. Das Bild wandelt sich, besonders drüben im Osten. Komm an die Karte, ich will es dir zeigen . . . Dieser Mann von dir, Gereint, ist wirklich eine Entdeckung. Ich lasse ihn herkommen. Männer seines Schlages brauche ich in meiner Nähe. Die Informationen, die er mir nach Linnuis gesandt hat, waren von unschätzbarem Wert. Hat er dir von Eosa und Cerdic erzählt? Wir sammeln so viele Informationen, wie wir können. Ich bin sicher, daß er recht hat. Das Neueste ist, daß sich Eosa wieder in Germanien befindet und jedem, der sich ihm anschließen will, Himmel und Erde verspricht, und ein sächsisches Königreich dazu ...» Eine Zeitlang sprachen wir über Gereints Informationen, und Artus berichtete mir, was neuerdings aus jenen Quellen bekannt geworden war. Dann fuhr er fort: «Auch hinsichtlich des Passes hat er natürlich recht. Wir haben dort oben mit der Arbeit begonnen, sobald ich deine Berichte erhalten hatte. Ich habe Torre dorthin entsandt . . . Ich glaube, der nächste Vorstoß wird aus nördlicher Richtung kommen. Ich hoffe, bald Näheres von Caw und von Urbgen zu erfahren. Aber auf lange Sicht gesehen werden wir hier, im Südwesten, den entscheidenden Widerstand leisten müssen. Mit ihrem Ausgangspunkt Rutupiae und der Küste hinter sich müssen sie mit ihrer Hauptmacht auf diesem Wege vorrük-ken, hier und hier ...» Er fuhr mit dem Finger 192
über die Reliefkarte aus gebranntem Ton. «Wir sind auf diesem Weg von Linnuis zurückgekehrt. Ich habe mir eine gute Vorstellung von den Geländeverhältnissen verschafft. Aber davon später mehr, Merlin. Ich lasse gerade neue Karten für mich machen, dann können wir weiterreden. Kennst du die dortige Gegend?» «Nein. Ich bin zwar auf jenem Weg gereist, aber in Gedanken war ich woanders.» «Wir haben es nicht eilig. Wenn wir im April oder im Mai aufbrechen können und du eines deiner Wunder wirkst, ist es früh genug. Denk darüber nach, und wenn die Zeit kommt, geh selbst einmal hin. Willst du das für mich tun?» «Gern. Ich habe es mir bereits angeschaut . . . Nein, ich meinte, in Gedanken. Ich erinnerte mich an etwas. Dort liegt ein Berg, der das ganze umliegende Land beherrscht . . . Soweit ich mich erinnere, ist er oben flach und bietet Platz für ein ganzes Heer oder eine Stadt oder wofür du ihn benutzen willst. Und er ist hoch genug. Man kann Ynys Witrin - die Glasinsel - von ihm aus sehen und die ganze Kette der Signalstationen, und man hat über viele Meilen eine ungehinderte Sicht nach Süden und Westen.» «Zeig ihn mir auf der Karte», sagte er rasch. «Irgendwo hier.» Ich legte den Finger auf die Stelle. «Ich kann den Punkt nicht genau bestimmen, aber ich glaube, daß auch die Karte nicht ganz genau ist. Ich glaube, dies ist der Fluß, der dort vorbeifließt.» «Sein Name?» «Ich weiß nicht, wie er heißt. Es ist ein Berg, um den ein Fluß fließt, und dieser wird, glaube ich, Camel genannt. Der Berg war eine Festung schon bevor die Römer nach Britannien kamen; schon die alten Briten müssen seine strategische Lage erkannt haben. Sie verteidigten die Höhe gegen die Römer.» «Die sie schließlich eroberten?» «Ja, zu guter Letzt. Dann befestigten sie den Berg ihrerseits und hielten ihn.» «Aha. Dann gibt es dort auch eine Straße.» 193
«Gewiß. Wahrscheinlich ist es diese, die von der Glasinsel an dem See vorbeiführt.» Ich zeigte ihm die Punkte auf der Karte, und er sah sich alles aufmerksam an und wanderte dann wieder ruhelos im Zimmer hjn und her, bis die Dienerschaft das Abendessen und Lampen hereinbrachte; dann richtete er sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und kam aus seinen Planungen wieder in die Gegenwart zurück - wie ein Taucher, der aus dem Wasser an die Oberfläche zurückkehrt. «Schön, das muß alles warten, bis Weihnachten vorbei ist. Aber begib dich so bald wie möglich dorthin, Merlin, und sag mir, was du davon hältst. Du bekommst jede Unterstützung, die du brauchst. Das weißt du. Und jetzt iß mit mir zu Abend, und ich werde dir alles über die Kämpfe bei Blackwater erzählen. Ich habe schon so viele Male davon erzählt, daß die Ereignisse allmählich solche Dimensionen angenommen haben, daß ich sie selbst kaum noch wiedererkenne. Aber für dich werde ich alles noch einmal wiederholen.» «Ich bestehe darauf. Und ich verspreche dir, daß ich jedes Wort glauben werde.» Er lachte. «Ich habe ja gewußt, daß ich mich auf dich verlassen kann.» Es war ein schöner, ruhiger Frühlingstag, als ich von der Straße abbog und den Berg mit Namen Camelot sah. So lautete sein Name später; jetzt war er als Caer Camel bekannt, benannt nach dem Flüßchen, das sich durch die umliegende Ebene wand und um den Fuß des Berges herum-floß. Es war, wie ich Artus gesagt hatte, ein Tafelberg - nicht allzu hoch, aber doch hoch genug, um einen klaren Rundblick über das umliegende Flachland zu bieten, und so steil, daß er ausgezeichnete Verteidigungsmöglichkeiten eröffnete. Es war leicht zu erkennen, warum die Kelten und nach ihnen Römer diesen Berg als Standort für eine Festung ausersehen hatten. Von seinem höchsten Punkt aus hat man nach fast allen Seiten einen erstaunlichen Fernblick. Nach Osten zu versperren einige Hügelketten die Sicht, aber nach Süden und Westen wandert das Auge meilenweit, und in nördlicher Richtung bis zur Küste. Auf der Nordwestseite kommt das Meer bis auf etwa acht Meilen an den Berg 194
heran; bei Flut dringt das Wasser durch die feuchte Wiesenlandschaft herein und speist den großen See, in dem sich die Glasinsel befindet. Diese Insel - oder besser Inselgruppe -liegt wie eine ruhende Göttin auf dem glasklaren Wasser; sie ist seit undenklichen Zeiten der Göttin gewidmet, deren Heiligtum dicht neben dem Königspalast steht. Darüber wird die Spitze des großen Leuchtturms von Tor deutlich sichtbar, und viele Meilen dahinter, unmittelbar an der Küste des Severn Channel, kann man den nächsten Leuchtturm, den von Brent Knoll, erkennen. Die Hügel der Glasinsel, mit den sie umgebenden, tiefliegenden und sumpfigen Wiesen, sind als Summer Country bekannt. Der dortige König war ein Mann namens Melwas, er war jung und ein überzeugter Gefolgsmann von Artus. Er brachte mich bei sich unter, als ich mir zunächst einmal einen Überblick über Caer Camel verschaffte, und schien hoch erfreut zu sein, daß der Hochkönig plane, seine wichtigste Festung am Rande seines Territoriums zu errichten. Er betrachtete die Karten, die ich ihm zeigte, sehr genau und sagte mir jede Art von Hilfe zu - von der Bereitstellung einheimischer Arbeitskräfte bis zu dem Versprechen, den Platz zu verteidigen, falls dies während der Arbeiten notwendig werden sollte. König Melwas hatte sich erboten, mir den Ort persönlich zu zeigen, aber ich zog es vor, mir zuerst einmal allein einen Überblick zu verschaffen. Es gelang mir, sein Angebot mit verbindlichen und höflichen Worten abzulehnen. Er und seine jungen Leute begleiteten mich auf dem ersten Teil des Rittes; dann bogen sie in einen Weg, der kaum mehr als ein Trampelpfad war und durch die Moorlandschaft führte; hier gingen sie vergnügt ihrem Tagessport nach. Das Land ist ein ideales Jagdgebiet; es wimmelt von Niederwild aller Art. Ich sah ein günstiges Vorzeichen in der Tatsache, daß König Melwas, kurz nachdem er sich von mir getrennt hatte, seinen Falken gegen einen Schwärm von Zugvögeln aufsteigen ließ, die vom Südosten hereinkamen, und dieser innerhalb weniger Sekunden seine Beute geschlagen hatte und gleich darauf wieder auf die Faust seines Herrn zurückgekehrt war. Dann ritten die jungen Leute unter fröhlichen 195
Zurufen und lautem Lachen durch das Weidengestrüpp davon, und ich machte mich allein auf den Weg. Ich hatte richtig vermutet, daß eine Straße zur ehemals römischen Festung Caer Camel führen würde. Die Straße verläßt Ynys Witrin und umrundet den Fuß des Berges, überspannt einen schmalen Ausläufer des Sees und erreicht dann einen trockenen festen Landstreifen, der sich nach Osten erstreckt. Dort trifft sie auf den alten Fosse Way und biegt dann nach einer Weile wieder nach Süden in Richtung auf das Dorf ab, das am Fuße des Caer Camel liegt. Dieses war ursprünglich eine keltische Siedlung und dann der vicus für die römische Festung gewesen; seine Bewohner hatten sich von dem Boden mehr schlecht als recht ernährt und waren bei Gefahr hinter die Festungsmauern geflüchtet. Als die Festung immer mehr verfiel, hatten sie ein schweres Leben führen müssen. Abgesehen von der stets aus dem Süden und Osten drohenden Gefahr hatten sie sich in schlechten Jahren sogar der Menschen aus dem Summer Country erwehren müssen, wenn das Sumpfgebiet um Ynys Witrin höchstens noch Fische und Sumpfhühner hervorbrachte und die jungen Männer aus der Enge ihres eigenen Territoriums hinausstrebten. Es war nicht viel zu sehen, als ich zwischen den verfallenen Hütten mit ihren verfaulenden Rieddächern hindurchritt; hier und da beobachteten mich Augen aus einem dunklen Türeingang, oder eine Frau rief mit schriller Stimme nach ihrem Kind. Mein Pferd stapfte durch Schlamm und Mist, furtete knietief durch den Camel, und dann konnte ich schließlich durch die Bäume bergauf reiten und im Galopp die Steilkurve des Weges einschlagen, den einst die Kriegswagen genommen hatten. Obwohl ich auf manches gefaßt war, erstaunte mich dennoch die Größe des Berggipfels. Ich betrat das Plateau durch die Ruinen des Südwesttores und erreichte einen großen freien Platz, der nach Süden leicht abfiel, aber vor mir steil anstieg zu einem Höhenzug mit einem Gipfel westlich des Zentrums. Ich ließ mein Pferd im Schritt weitergehen. Der freie Platz, oder besser gesagt: das Plateau, war mit den Überresten zahlreicher Gebäude bedeckt und auf allen Seiten von 196
tiefen Gräben und den Überbleibseln von Befestigungsanlagen umgeben. Stechginster und Brombeergestrüpp überzogen die verfallenen Mauern, und Maulwurfshügel lagen zwischen den aufgebrochenen Pflastersteinen. Überall lag Gestein herum, guter römischer Stein, der irgendwo in einem einheimischen Steinbruch gewonnen worden war. Jenseits der verfallenen Außenwerke fiel der Berg steil ab. Die Bäume auf diesen Hängen waren einst abgeholzt worden. Inzwischen waren neue Schößlinge herangewachsen, und die jungen Bäume bildeten ein dichtes Unterholz. Dazwischen war der Steilhang von Dorngestrüpp dicht überzogen. Ein ausgetretener Pfad führte durch Farne und Nesseln zu einer Lücke in der Nordmauer. Diesem folgte ich und konnte sehen, wo etwa auf halber Höhe am Nordhang eine Quelle unterhalb der Bäume hervorsprudelte. Dies mußte Lady's Well sein, die der Göttin geweihte Quelle. Die andere Quelle, die die Festung mit Wasser versorgte, lag auf halbem Wege an dem steilen Weg, der zum Nordosttor hinaufführte. Anscheinend wurde auch jetzt noch Vieh dort getränkt; ich sah jedenfalls eine Rinderherde langsam den Hang heraufkommen und dann auseinandergehen, um in der Sonne zu grasen; dabei ertönte schwaches Glockengeläut. Der Hirte folgte den Tieren; es war eine kleine Gestalt, die ich zuerst für einen Knaben hielt; aber dann sah ich aus der Art, wie er sich bewegte und seinen Stab als Stütze benutzte, daß es ein alter Mann war. Ich wandte den Kopf meines Pferdes in seine Richtung und ritt durch die herumliegenden Gesteinsbrocken langsam auf ihn zu. Eine Elster stieg auf und flog zeternd davon. Der Alte blickte hoch. Er blieb überrascht stehen und schien auf der Hut zu sein. Ich hob zum Zeichen des Grußes eine Hand. Irgend etwas an dem einsamen und unbewaffneten Reiter mußte ihn beruhigt haben, denn nach einem kurzen Augenblick ging er langsam zu einer niedrigen Mauer, die von der Sonne beschienen wurde, und setzte sich hin, um auf mich zu warten. Ich stieg ab und ließ mein Pferd grasen. «Seid gegrüßt, Vater.» 197
«Seid auch Ihr gegrüßt.» Es klang kaum lauter als ein Gemurmel; der gutturale Akzent der Gegend war nicht zu überhören. Er sah mich argwöhnisch aus halbblinden Augen an. «Ihr seid hier fremd.» «Ich komme aus dem Westen.» Dies schien für ihn keine Beruhigung zu sein. Anscheinend hatte die hiesige Bevölkerung zu lange mit dem Westen im Krieg gelegen. «Warum seid Ihr dann von der Straße abgewichen? Was wollt Ihr hier oben?» «Ich bin auf Anweisung des Königs gekommen, um mir die Festungsmauern anzusehen.» «Schon wieder?» Während ich ihn noch überrascht ansah, trieb er seinen Stab in den Boden, als wolle er Eigentumsrechte geltend machen, und sagte dann mit unterdrücktem Zorn: «Dies war unser Land, bevor der König kam, und es ist trotz allem auch jetzt noch das unserige.» «Ich glaube nicht...» begann ich und brach dann ab, weil mir plötzlich ein Gedanke kam. «Ihr sprecht von einem König. Welchem König?» «Ich kenne seinen Namen nicht.» «Melwas? Oder Artus?» «Mag sein. Ich habe Euch doch gesagt, daß ich es nicht weiß. Was wollt Ihr hier?» «Ich komme als Gefolgsmann des Königs.» «Ja. Um die Festungsmauern wieder aufzurichten und uns dann unser Vieh wegzunehmen, unsere Kinder umzubringen und unsere Frauen zu mißbrauchen.» «Nein. Um hier ein Bollwerk zu errichten, das Euer Vieh und Eure Kinder und Frauen schützen wird.» «Die Festung hat uns auch früher nicht geschützt.» Stille breitete sich aus. Der Alte rüttelte mit der Hand an dem Knauf seines Stabes. Die Sonne schien heiß. Mein Pferd graste vorsichtig um einen Distelbusch herum, der wie ein abgeschrägtes Rad aussah. Ein früher Schmetterling ließ sich auf der roten Blüte einer Kleepflanze nieder. Eine Lerche stieg trillernd zum Himmel empor. «Mein Alter», sagte ich begütigend, «hier hat es weder zu Euren Lebzeiten noch zu denen Eures Vaters eine Festung gegeben. Was für Mauern haben denn hier gestanden und über das Gewässer hinweg 198
nach Süden und Norden und Westen hinausgeschaut? Was für ein König kam denn her, um sie zu erstürmen?» Er sah mich einige Augenblicke an und schüttelte wie ein zittriger Greis den Kopf. «Es ist eine Geschichte, nur eine Geschichte, Herr. Mein Großvater hat mir erzählt, wie das Volk hier früher gelebt hat: mit Rindern und Ziegen und' saftigen Weideplätzen. Es hat Tuch gewebt und den Boden bebaut, bis der König kam und sie alle hinunter ins Tal getrieben hat, und dort war es für sie wie in einem Grab, so breit wie der Fluß und so tief wie die Berghöhle, wo sie den König zur letzten Ruhe betteten.» «Was für ein Berg war das? Ynys Witrin?» «Was? Wie hätten sie ihn dorthin bringen können? Es ist ein fremdes Land. Sie nennen es Summer Country; denn es ist ein flacher See das ganze Jahr hindurch, außer während der Trockenzeit im Sommer. Nein, sie bahnten einen Weg in die Höhle und legten ihn dort nieder, und mit ihm alle diejenigen, die zusammen mit ihm ertrunken waren.» Ein plötzliches Kichern. «Im See ertrunken, und das Volk sah zu und machte keine Anstalten, ihn zu retten. Es war die Göttin, die ihn mitgenommen hat, und seine Hauptleute dazu. Wer hätte sie daran hindern können? Die Leute sagen, erst nach drei Tagen habe sie ihn wieder zurückgegeben, und nackt, ohne Krone und Schwert.» Wieder das kichernde Lachen; dann nickte er und fuhr fort. «Euer König tut gut daran", seinen Frieden mit der Göttin zu machen sagt ihm das.» «Er wird es tun. Wann ist dies geschehen?» «Vor hundert Jahren. Vor zweihundert. Wie soll ich das wissen?» Wieder trat Stille ein, während ich meinen Gedanken nachhing. Was ich soeben gehört hatte, waren Überlieferungen, die seit undenklichen Zeiten von Mund zu Mund weitergegeben worden waren. Aber sie bestätigten, was mir erzählt worden war. Der Ort mußte schon in grauer Vorzeit befestigt gewesen sein. «Der König» könnte einer der keltischen Herrscher gewesen sein, der von den Römern aus seiner Festung vertrieben wurde, oder der römische General selbst, der hier Halt gemacht hatte, um die Festung zu belagern. 199
Ich sagte unvermittelt: «Wo ist der Weg, der in den Berg hineinführt?» «Was für ein Weg?» «Die Tür zum Grabmal des Königs; wo haben sie den Weg zu seinem Grab angelegt?» «Wie soll ich das wissen? Das Grab ist da, mehr weiß ich nicht. Und manchmal reiten sie in der Nacht hinaus. Ich habe sie gesehen. Sie kommen beim Sommermond und gehen bei Sonnenaufgang wieder in den Berg zurück. Und wenn in einer stürmischen Nacht die Morgendämmerung sie überrascht und sich einer verspätet, steht er vor dem verschlossenen Tor. Dann muß er bis zum nächsten Vollmond allein auf dem Berg herumwandern, bis ...» Er stockte. Er zog den Kopf ein und sah mich furchtsam an. «Ihr sagtet, Ihr seid ein Mann des Königs?» Ich lachte. «Fürchtet Euch nicht vor mir, Vater. Ich gehöre nicht zu denen da. Gewiß, ich bin ein Mann des Königs, aber ich komme von einem lebenden König, der die Festung wiederaufbauen und Euch und Euer Vieh und Eure Kinder und deren Kinder in seine Hand nehmen und Euch Sicherheit gegen den sächsischen Feind bieten wird. Und Ihr werdet weiterhin gute Weidegründe für Eure Herde behalten. Dies verspreche ich Euch.» Er schwieg und saß eine Weile stumm da; er nickte in der Sonne still vor sich hin. Ich merkte, daß er einfältig war. «Warum sollte ich mich fürchten? Es hat hier immer einen König gegeben, und so wird es auch bleiben. Ein König ist nichts Neues.» «Dieser wird etwas Neues sein.» Er achtete nicht mehr auf mich. Er rief den Kühen etwas zu. «Komm her, Brombeere, komm her, Tautropfen. Ein König, der das Vieh für mich weidet? Haltet Ihr mich für einen Narren? Aber die Göttin kümmert sich um ihresgleichen. Er sollte besser der Göttin gefügig sein.» Und er verstummte, tastete nach seinem Stab und murmelte dann etwas Unverständliches vor sich hin.
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Ich schenkte ihm eine Silbermünze, wie man sie einem Sänger als Lohn für seinen Vortrag gibt, und führte dann mein Pferd zu dem Kamm hinauf, der die höchste Stelle des Plateaus einnahm. 3 Einige Tage später trafen die ersten Landvermesser ein, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Ihr Anführer wurde zusammen mit mir in dem behelfsmäßigen Hauptquartier untergebracht, das man für uns am Ort errichtet hatte. Tremorinus, der Chefingenieur, der mir - als ich noch als Knabe in der Bretagne lebte - so viel von seinem Beruf erzählt hatte, war schon vor einiger Zeit gestorben. Artus' Chefingenieur war jetzt ein Mann namens Derwen, den ich bei dem Wiederaufbau von Caerleon unter Ambrosius vor Jahren kennengelernt hatte. Er war ein rotbärtiger Mann mit kräftigen Gesichtsfarben, aber ohne den Jähzorn, der oft mit diesem Äußeren einhergeht; im Gegenteil, er war wortkarg und konnte störrisch wie ein Maultier sein, wenn man ihn unter Druck setzte. Aber ich kannte ihn als einen tüchtigen und erfahrenen Mann, und er verstand es, andere bereitwillig für sich arbeiten zu lassen. Außerdem fühlte er sich aul allen denkbaren Arbeitsgebieten zu Hause und hielt es nie für unter Seiner Würde, die Ärmel aufzukrempeln und schwere körperliche Arbeit zu leisten, wenn es erforderlich war. Auch schien er nicht gekränkt zu sein, wenn ich ihm meine Anweisungen erteilte. Er schien vor meinen Fähigkeiten eine schmeichelhafte Hochachtung zu besitzen; dies jedoch meiner Ansicht nach nicht deshalb, weil ich in Caerleon oder Segontium besondere Fähigkeiten an den Tag gelegt hätte - dort wurde nach alten römischen Plänen, die jedem Baumeister vertraut waren, die alten wiederhergestellt -, sondern weil Derwin in Irland als Lehrling arbeitete, als ich den gewaltigen Königsstein von Killare bewegt hatte. Anschließend war er beim Wiederaufbau von Stonehenge dabei gewesen. So kamen wir ganz gut miteinander aus und wußten, auf welchem Gebiet der andere besondere Erfahrungen besaß. Artus hatte mit seiner Vorahnung, daß die nächste Gefahr von Norden her drohen würde, recht behalten, und er war Anfang März 201
hinaufgezogen. Aber während der Wintermonate hatten er und ich zusammen mit Derwin viele Stunden über den Plänen für das Fort zugebracht. Angestachelt durch meine Beharrlichkeit und Artus' Begeisterung hatte Derwin schließlich meinen Vorstellungen über den Wiederaufbau von Caer Camel zugestimmt, obwohl er sie offensichtlich für gewagt hielt. Ich wollte, daß die ganze Anlage für Artus fertig war, sobald sich der Feldzug im Norden seinem Ende näherte, und ich wollte außerdem, daß die Hochburg von Dauer sein würde. In Größe und Widerstandskraft sollte sie seinem Rang entsprechen. Die Größe war gegeben; das Hochplateau war mindestens acht Hektar groß. Aber, die Verteidigungsfähigkeit . . . Ich hatte Aufstellungen über das Material anlegen lassen, das sich dort inmitten der Ruinen noch befand. Ich hatte genau untersucht, wie der Platz früher aufgebaut worden war, und mir eine Vorstellung davon verschafft, wie die Römer ihre eigenen Befestigungsanlagen auf den Resten früherer keltischer Mauern und Gräben errichtet hatten. Bei meiner Arbeit bedachte ich auch Befestigungsanlagen, die ich auf meinen Auslandsreisen gesehen hatte - Festungen, die in unwirtlicheren Gegenden und in ebenso schwierigem Gelände errichtet worden waren. Den Wiederaufbau nach dem römischen Modell auszuführen, wäre eine gewaltige, wenn nicht gar unmögliche Aufgabe gewesen: auch wenn sich Derwins Steinmetze auf die römische Art der Steinbearbeitung verstanden hätten, wäre ein solches Unterfangen schon allein wegen der Ausmaße von Caer Camel nicht in Frage gekommen. Aber die Steinmetze besaßen große Erfahrung in ihrer eigenen Steinbauweise, die ohne Mörtel auskam, und es lagen viele behauene Steine herum, und ein Steinbruch befand sich in der Nähe. Wir hatten Eichenwälder und Zimmerleute, und bei den Sägemühlen zwischen Caer Camel und dem See hatten den ganzen Winter über Stapel von Bauholz gelagert. So entwarf ich schließlich meinen Plan. Daß er hervorragend ausgeführt wurde, kann jedermann sehen. Die von Gräben umgebenen Steilhänge des Platzes, der jetzt Camelot 202
genannt wird, sind von dicken Mauern aus Stein und Holz gekrönt. Wachposten patrouillieren hinter den Brustwehren und bewachen die gewaltigen Tore. Zum Nordtor steigt zwischen befestigten Böschungen ein Fuhrweg hinauf, während sich zu dem an der Südwestecke gelegenen Tor - das allgemein das Königstor genannt wird -eine für Streitwagen geeignete Straße hinaufwindet; sie bietet auch den schnellsten Rädern festen Halt und ist auch für eine galoppierende Reitertruppe breit genug. Innerhalb dieser Mauern, die in diesen Friedenszeiten ebenso gut instand gehalten wurden wie in den schweren Tagen, für die ich sie errichtet hatte, ist eine Stadt entstanden. Farbenprächtig und voll flatternder Banner, bietet sie ein frisches Bild mit ihren Gärten und Obstbäumen. Auf den gepflasterten Terrassen ergehen sich elegant gekleidete Frauen, und Kinder spielen in den Gärten. In den Straßen drängt sich das Volk; man plaudert und lacht. Auf dem Marktplatz wird gefeilscht, man hört das Getrappel von Artus' schnellen Pferden, die Zurufe junger Männer und das Läuten der Kirchenglocken. Die Stadt ist durch friedlichen Handel reich geworden und erstrahlt im Glanz ihrer Kunstwerke. Camelot bietet einen herrlichen Anblick, und Reisende aus allen Winkeln der Erde suchen die Stadt auf. • Aber damals, als das Plateau noch unbewohnt und mit den Ruinen verlassener Häuser übersät war, stellte der Plan nicht mehr als eine Idee dar, und diese Idee erwuchs aus den harten Notwendigkeiten des Krieges. Wir wollten natürlich mit den Außenmauern beginnen, und hierzu plante ich die Verwendung des überall herumliegenden Materials: Ziegel aus den alten Fußbodenheizungen, Fliesen und die Unterlagen der Böden, sogar Gestein aus den alten Straßenzügen, die von den Römern in der Festung angelegt worden waren. Mit diesen führten wir eine Mauerverkleidung aus hartem Gestein auf, das die Außenmauer stützen sollte und gleichzeitig einen breiten Umgang für die Verteidiger an der Innenseite der Brustwehren ermöglichte. Die eigentliche Mauer stieg an der Außenseite senkrecht aus dem Steilhang auf - wie eine Krone auf dem Königshaupt. Auf den Hängen fällten wir alle Bäume und legten Gräben an, so daß ein Steilhang entstand, der aus unpassierbaren 203
Felsschluchten bestand und oben durch eine große, aus Stein errichtete Mauer abgeschlossen wurde. Für dieses Mauerwerk verwendeten wir den behauenen Tuffstein, der an Ort und Stelle gefunden wurde, sowie neues Material, das von Melwas' Steinmetzen und unseren eigenen aus dem Steinbruch gewonnen werden konnte. Und dann wollte ich darüber noch eine massive, geglättete Holzmauer errichten lassen, die fest mit dem Stein verbunden und durch einen starken Holzrahmen in das aufgeschüttete Geröll eingelassen werden sollte. Bei den Toren, an denen die Zufahrtswege, tief eingebettet in felsige Böschungen, die Festung erreichten, entwarf ich eine Art Tunnel, der die befestigte Mauer durchbohrte und dadurch den Umgang für die Verteidiger ohne Unterbrechung über die Tore hinweg weiterlaufen ließ. An diesen Tunneln, die hoch und breit genug waren, um Pferdefuhrwerken oder drei Reitern nebeneinander den Durchgang zu gestatten, sollten riesige Tore angebracht werden, die gegen die mit Eichenholz verkleideten Mauern zurückgeschwungen werden konnten. Um dies zu erreichen, mußten wir die Zufahrtsstraßen noch tiefer in den Boden einlassen. Dieses und vieles andere hatte ich Derwen auseinandergesetzt. Er war zuerst skeptisch gewesen, und nur der Respekt, den er für mich empfand, hatte ihn meines Erachtens davon abgehalten, störrischen Widerstand zu leisten - insbesondere hinsichtlich der Tore, denn für diese gab es seiner Meinung nach kein Beispiel, und die meisten Ingenieure und Architekten arbeiten vernünftigerweise nach bewährten Vorbildern - besonders wenn es um Kriegs- und Verteidigungsprobleme geht. Zuerst sah er nicht ein, warum das bewährte Modell der Zwillingstürme und Wachräume auf gegeben werden sollte. Aber nachdem wir viele Stunden über meinen Plänen und den Listen, die ich über das bereits vorhandene Material aufgestellt hatte, gesessen hatten, akzeptierte er weitgehend die von mir empfohlene Verbindung von Stein und Holz, und dann erwachte in ihm sogar ein gewisser Enthusiasmus für das ganze Projekt. Er besaß genug Fachwissen, um sich an neuen Ideen begeistern zu können - insbesondere dann, wenn die Verantwortung bei einem eventuellen Fehlschlag bei mir und nicht bei ihm liegen würde.
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Aber eine solche Entwicklung war wenig wahrscheinlich. Artus, der sich an den Planungen beteiligte, war zwar sehr davon angetan, wies aber, als eine technische Einzelheit zui Debatte stand, darauf hin, er wisse, was er zu tun habe, um verlasse sich darauf, daß auch wir unser Geschäft verstünden. Wir alle wüßten, welche Aufgabe dieser feste Platz zu erfüllen haben werde; es sei unsere Sache, ihn entsprechend zu bauen. Sobald die Bauarbeiten beendet seien (schloß er kurz und knapp), werde er dafür sorgen, daß die Anlagen instand gehalten würden. Da die warme Witterung verhältnismäßig früh einsetzte, ging Derwen jetzt mit Eifer an die Arbeit, und bevor noch der alte Hirte die Kühe zum ersten Melken in den Ställen hereingetrieben hatte, wurden die Pflöcke gesetzt, Gräben ausgehoben, und die erste Wagenladung mit Vorratsgütern kam ächzend hinter den Zugochsen den Berg herauf. Caer Camel erstand wieder. Der König kam zurück. *** Er kam an einem sonnigen Junitag. Begleitet von Bedwyr, seinem Pflegebruder Cei und etwa einem Dutzend seiner Reitereihauptleute ritt er auf seiner apfelgrauen Stute Amrei den Weg vom Dorf herauf. Die Hauptleute der Reiterei waren jetzt allgemein unter dem Namen equites oder Ritter bekannt; Artus selbst nannte sie seine «Gefährten». Sie ritten ohne Rüstung, wie eine Jagdgesellschaft. Artus schwang sich vom Rücken seiner Stute herab, warf Bedwyr die Zügel zu und schritt, während die anderen absaßen und ihre Pferde grasen ließen, allein die grasbewachsene Fläche hinauf. Er sah mich und hob die Hand, aber er schien keine Eile zu haben. Er blieb vor der Außenmauer stehen und sprach mit den dort tätigen Arbeitern; dann ging er zu den Planken, die einen Graben überbrückten, und die dort arbeitenden Männer richteten sich auf, um seine Fragen zu beantworten. Ich sah, wie einer von ihnen auf etwas hinwies; Artus sah hin und blickte dann noch einmal in die Runde, bevor er sie wieder verließ, um die zentrale Erhebung zu besteigen, wo die Fundamente für sein Hauptquartier ausgehoben worden waren. Von dort aus konnte er den ganzen Bereich überblik-ken und vielleicht eine Vorstellung von dem Sinn des Labyrinths an Gräben 205
und Fundamenten gewinnen, die vorläufig noch halb verborgen unter einem Netz von Seilen und Gerüsten lagen. Er drehte sich langsam auf dem Absatz um, bis er den gesamten Kreis in sich aufgenommen hatte. Dann kam er mit den Zeichnungen in der Hand raschen Schrittes auf die Stelle zu, wo ich stand. «Ja», war alles, was er sagte, aber man merkte ihm die Genugtuung an. Und dann fragte er: «Wann?» «Im Winter wird hier schon etwas für dich stehen.» Er ließ die Augen wieder in die Runde wandern - mit einem Blick voll Stolz und Vorausschau, wie ich es vielleicht getan hätte. Ich wußte, daß er, ebenso wie ich, die fertigen Mauern, die stolzen Türme und alle die Bauten aus Stein und Holz und Eisen vor sich sah, die diesen Raum leuchtender Sommerluft umschließen und die ganze Anlage zu seiner ersten Schöpfung machen würden. Es war aber auch der Blick des Kriegers, der eine starke Waffe sieht, die ihm in die Hand gegeben wird. Er wandte den Blick voll tiefer Befriedigung wieder zu mir. «Ich bat dich, ein Wunder zu wirken, und das hast du getan, zumindest in meinen Augen. Vielleicht bist du zu sehr Fachmann, um solche Empfindungen zu haben, wenn du siehst, was nur eine Zeichnung auf Ton oder auch nur ein flüchtiger Gedanke bewirken können - besonders dann, wenn etwas Handfestes entsteht, das die Ewigkeit überdauern wird?» i «Ich glaube, daß jeder, der etwas Neues schafft, so fühlt. Ich bestimmt.» «Wie schnell ist hier gearbeitet worden! Hast du dies alles mit Musik gebaut, so wie den Tanz der Giganten?» «Ich habe mich hier desselben Wunders bedient. Du kannst es sehen. Die Männer haben es vollbracht.» Er warf mir einen Seitenblick zu und ließ dann die Augen über den aufgewühlten Boden und die schuftenden Arbeiter bis zu dem Bezirk wandern, wo, so sauber und ordentlich wie in einer alten ummauerten Stadt, die Werkstätten der Zimmerleute und Schmiede und Steinmetze 206
von Gehämmer und lauten Zurufen widerhallten. Er schien in eine ferne Zukunft zu schauen, und trotzdem war es ein Blick nach innen. Er sagte leise: «Ich werde es mir merken. Weiß Gott, jeder Befehlshaber sollte es tun. Ich selbst bediene mich desselben Wunders.» Dann drehte er sich zu mir um und sagte: «Und im nächsten Winter?» «Bei Anbruch des nächsten Winters wird innen alles fertig sein, und nach außen hin wird der Platz verteidigt werden können. Etwas Besseres als diesen Ort hätten wir nicht erhoffen können. Später, wenn die Kriege vorüber sind, wirst du Raum und Zeit haben, um für andere Zwecke zu bauen: für Bequemlichkeit und Eleganz und Prunk, für alles, das deiner und deiner Siege würdig ist. Wir werden dir einen wahrhaften Adlerhorst errichten. Eine Hochburg, von der aus du in den Krieg ziehen kannst, und eine Heimstatt, in der es sich lohnen wird, im Frieden für die Zukunft vorzu-sorgen.» Er hatte sich halb von mir abgewandt, um dem zuschauenden Bedwyr ein Zeichen zu geben. Die jungen Leute saßen auf, und Bedwyr kam mit Artus' Stute am Zügel auf uns zu. Artus drehte sich ruckartig zu mir um. Er zog die Augenbrauen in die Höhe. «Du weißt also Bescheid? Ich hätte wissen sollen, daß ich vor dir nichts geheimhalten kann.» «Geheimhalten? Ich weiß von nichts. Was wolltest du denn vor mir geheimhalten?» «Nichts. Was hätte es für einen Sinn? Ich hätte es dir sowieso sofort erzählt, aber dies hier hatte Vorrang . . . Obwohl sie sicher nicht gern hört, wenn ich so rede.» Ich muß ihn wie ein Narr mit offenem Mund angestarrt haben. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. «Ja, es tut mir leid, Merlin. Aber ich wollte es dir wirklich gerade sagen. Ich werde heiraten. Ach, ärgere dich doch nicht. Dies ist ein Problem, bei dem du für mich kaum einen befriedigenden Ratgeber abgeben könntest.» «Ich ärgere mich nicht. Was für ein Recht hätte ich darauf? Dies ist etwas, das du ganz allein entscheiden mußt. Anscheinend hast du den Entschluß bereits gefaßt, und ich bin froh darüber. Ist die Verbindung abgesprochen?» 207
«Nein, wie könnte es auch anders sein? Ich wollte erst mit dir darüber sprechen. Bis jetzt ist es nur zu einem Briefwechsel zwischen Königin Ygraine und mir gekommen. Die Anregung ging von ihr aus, und ich nehme an, daß wir vorher noch viel zu besprechen haben werden. Aber ich warne dich» - ein plötzliches Aufblitzen in seinen Augen -, «mein Entschluß steht fest.» Bedwyr glitt neben uns aus dem Sattel herunter, und Artus nahm von ihm die Zügel der Stute entgegen. Ich sah ihn fragend an, und er nickte. «Ja, Bedwyr weiß davon.» «Dann wirst du mir vielleicht auch sagen, wer sie ist?» «Ihr Vater war March, der unter Herzog Cador kämpfte und in einem Scharmützel an der irischen Küste ums Leben kam. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, und seit dem Tode ihres Vaters nimmt sich Königin Ygraine ihrer an. Du mußt sie gesehen haben, aber sie ist dir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Sie fungierte als Hofdame in Amesbury und dann wieder bei der Krönung.» «Ich kann mich an sie erinnern. Habe ich ihren Namen schon einmal gehört? Ich habe ihn vergessen.» «Guenever.» Ein Regenpfeifer flog in gaukelndem Flug über unsere Köpfe hinweg. Sein Schatten huschte zwischen uns über da Gras. Irgend etwas schlug an die Saiten meiner Erinnerungetwas aus jenem anderen Leben von Macht und Schrecken und klarer Vision. Aber ich konnte es nicht fassen. Mein Herz war so ruhig wie der große See. «Was hast du, Merlin?» Sein Tonfall klang ängstlich - wie der eines Knaben, de einen Tadel fürchtet. Ich blickte auf. Bedwyr neben mi beobachtete mich mit demselben besorgten Gesichtsaus druck. «Gar nichts. Sie ist ein reizendes Mädchen und trägt einen schönen Namen. Wir wollen hoffen, daß die Götter die Ehe segnen werden, wenn die Zeit kommt.» Auf den jungen Gesichtern zeigte sich Erleichterung. Bedwyr machte irgendeine schnelle, spöttische Bemerkung und erging sich dann in ehrlicher Begeisterung über die Fortschritte der Bauarbeiten, 208
worauf die beiden eine Diskussion begannen, in der für Heiratspläne kein Platz war. Ich erkannte Derwen bei einem der Tore, deshalb gingen wir hinüber, um mit ihm zu sprechen. Dann verabschiedeten sich Artus und Bedwyr und bestiegen ihre Pferde; die anderen jungen Leute wendeten ihre allmählich unruhig werdenden Pferde, um ihrem König bergab zu folgen. Sie kamen nicht weit. Als die kleine Kavalkade durch das Tor reiten wollte, stieß sie auf «Brombeere» und «Tautropfen», die mit ihren Schwestern gemächlich den Berg heraufkamen. Der alte Hirte klammerte sich hartnäckig an seine Weiderechte auf Caer Camel und trieb die Herde täglich auf den Teil der Hochfläche hinauf, der von den Bauarbeiten bislang verschont geblieben war. Ich sah, wie die graue Stute stutzte; sie scheute und begann zu tänzeln. Die Kühe drängten sich wiederkäuend und mit hin und her schwingenden Eutern langsam vorbei. Plötzlich tauchte von irgendwo zwischen den Tieren der Alte auf. Die Stute stieg und schlug mit den Vorderhufen. Artus zog sie zur Seite, wobei sie hart gegen Bedwyrs Rapphengst stieß, der daraufhin prompt ausschlug und «Tautropfen» nur um Zentimeter verfehlte. Bedwyr lachte, aber Cei schrie wütend: «Mach Platz, du alter Narr! Kannst du nicht sehen, daß es der König ist? Und scher dich mit deinen verdammten Kühen zum Teufel. Sie haben hier nichts mehr zu suchen!» «Ebenso viel wie Ihr selbst, junger Herr, wenn nicht mehr», sagte der Alte schlagfertig. «Sie ernähren das Land, das Ihr und Euresgleichen zerstört! Ihr seid es deshalb, die sich mit den Pferden zum Teufel scheren sollten! Geht im Summer Country auf die Jagd und laßt ehrliche Leute in Ruhe!» Cei gehörte zu denjenigen, die nie wissen, wann sie ihren Zorn zügeln und den Mund halten sollten. Er trieb sein Pferd an Artus' Stute vorbei und beugte sein rot angelaufenes Gesicht zu dem Alten hinunter. «Bist du taub, alter Narr, oder bloß schwachsinnig? Jagd? Wir sind die Hauptleute des Königs, und dieser hier ist der König!»
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Artus sagte, halb lachend: «Ach, laß es gut sein, Cei», mußte dann aber sein Pferd zügeln, als der alte Gnom plötzlich dicht neben ihm auftauchte und mit trüben Augen zu ihm aufblickte. «König? Nein, so könnt Ihr mich nicht an der Nase herumführen, meine Herren. Der ist doch erst ein Knabe. Der König ist ein erwachsener Mann. Außerdem ist dies noch nicht seine Zeit. Er kommt im Hochsommer, bei Vollmond. Ich habe ihn gesehen, das habe ich, mit allen seinen Kriegern.» Er machte eine Bewegung mit seinem Stab, die die Pferde erneut unruhig werden ließ. «Dies sollen Krieger sein? Knaben sind sie, weiter nichts! Die Soldaten des Königs tragen Rüstungen und Speere, so lang wie Eschenbäume, und Federbüsche auf ihnen wie die Mähnen ihrer Pferde. Gesehen habe ich sie, ich selbst habe sie gesehen, als ich allein in einer Sommernacht hier war. O ja, ich kenne den König.» Cei öffnete wieder den Mund, aber Artus hob die Hand. Er sprach, als ob niemand außer ihm und dem Alten zugegen wäre. «Ein König, der im Sommer hierher kam? Was erzählst du uns da, Vater? Was für Männer waren es?» Irgend etwas an seiner Art ließ den anderen aufhorchen. Er schien nicht mehr so sicher. Dann wurde er meiner ansichtig, zeigte auf mich und sagte: «Ihm habe ich es gesagt. Ja. Der Mann des Königs sei er, hat er gesagt, und sprach ganz freundlich mit mir. Ein König werde kommen, sagte er, der meine Kühe für mich weiden lassen werde und mir die Weidegründe für sie schenken werde ...» Er sah sich um und schien zum ersten Mal den Anblick der prächtigen Pferde mit ihrem wertvollen Sattelzeug und das selbstsichere Gebaren der jungen Männer in sich aufzunehmen. Er begann zu stocken und murmelte nur noch etwas vor sich hin. Artus sah mich an. «Weißt du, wovon er redet?» «Von einer alten Legende - von Geistern, die, wie er sagt, zu mitternächtlicher Stunde aus ihrem Grab im Berg herausgeritten kommen. Ich vermute, daß er eine alte Sage über die keltischen Herrscher oder die römischen - vielleicht auch beide - meint. Es braucht dich nicht zu beunruhigen.» 210
«Uns nicht beunruhigen?» sagte jemand. Ich glaube, es war Lamorak, ein tapferer, aber leicht reizbarer Gentleman, der den Sternenhimmel nach Zeichen absuchte und an dessen Sattelzeug allerlei Amulette klapperten. «Geister, und wir sollen uns nicht beunruhigen?» «Und er hat sie selbst gesehen, genau hier an dieser Stelle?» sagte ein anderer. Dann murmelten wieder andere: «Speere und Federbüsche? Das erinnert an die Sachsen.» Dann wieder Lamorak, der mit einem Korallenstück an der Brust spielte: «Geister von Toten, die hier gefallen sind und unter diesem Berg begraben liegen, wo du eine Festung und eine gesicherte Stadt errichten willst? Artus, hast du das gewußt?» Es gibt wenige Menschen, die abergläubischer sind als Soldaten. Aber schließlich leben sie stets in der Nähe des Todes. Alles Lachen war verstummt, und ein Frösteln ergriff uns, als habe sich eine Wolke zwischen uns und die Sonne gelegt. Artus runzelte die Stirn. Auch er war Soldat, gewiß, aber er war auch der König und richtete sich wie sein Vater, der König vor ihm, nach Tatsachen. Er sagte mit ungewöhnlicher Schärfe: «Und wenn schon? Zeigt mir irgendein Fort, das so gut ist wie dieses, das nicht von tapferen Männern verteidigt und auf ihrem Blut gegründet worden wäre! Sind wir Kinder, daß wir die Geister der Männer fürchten sollten, die hier vor uns gestorben sind, um dieses Land zu verteidigen? Wenn sie überhaupt noch umgehen, werden sie auf unserer Seite sein!» Dann zu dem Hirten gewandt: «Also? Erzähl uns deine Geschichte, Vater. Wer war dieser König?» Der Alte zögerte; er war verwirrt. Dann fragte er unvermittelt: «Habt Ihr schon einmal von Merlin, dem Zauberer, gehört?» «Merlin?» Es war Bedwyr, der sprach. «Weißt du denn nicht. . .?» Unsere Blicke trafen sich, und erbrach ab. Alle schwiegen. Artus fragte, ohne mich anzusehen, in die Stille hinein: «Von Merlin?» Die trüben Augen blickten in die Runde, als ob sie jeden einzelnen Mann, jedes aufmerksame Gesicht deutlich erkennen könnten. Sogar die Pferde standen regungslos da. Dem Hirten schien die 211
erwartungsvolle Stille neuen Mut zu geben. Er wurde plötzlich lebhaft. «Es war einmal ein König, der daranging, eine Burg zu bauen. Und wie die Könige aus alter Zeit, die starke Männer und erbarmungslos waren, hielt er Ausschau nach einem großen Krieger, den er töten und unter den Fundamenten begraben konnte, damit die Burg fest bliebe. So nahm er Merlin gefangen, der der größte Mann in ganz Britannien war, und wollte ihn töten; aber Merlin rief seine Drachen herbei und flog durch den Himmel davon. Er rief einen neuen König nach Britannien, der den anderen in seinem Turm zu Asche verbrannte und dessen Königin dazu. Habt Ihr diese Geschichte gehört, Herr?» «Ja.» «Und ist es wahr, daß Ihr ein König seid und diese hier Eure Hauptleute?» «Ja.» «Dann fragt Merlin. Die Leute sagen, er sei noch am Leben. Fragt ihn, welcher König sich fürchten sollte, das Grab eines Helden unter seiner Schwelle zu haben. Wißt Ihr nicht, was er tat? Er legte den großen Drachenkönig selbst unter die Hängenden Steine, das tat er, und er bezeichnete die Stelle als die sicherste Burg in ganz Britannien. Jedenfalls sagen das die Leute.» «Sie sprechen die Wahrheit», sagte Artus. Er blickte sich um und erkannte, daß die allgemeine Unruhe bereits der Erleichterung gewichen war. Er drehte sich wieder zu dem Hirten um. «Und der starke König, der mit seinen Männern im Innern des Berges liegt?» Aber hier kam er nicht weiter. Der Alte, unter Druck gesetzt, wurde erst vage und dann völlig unverständlich. Hier und da konnte mal ein Wort verstanden werden; es ging um Helme, Federbüsche, runde Schilde und kleine Pferde, und dann wieder um lange Speere «wie Eschen» und Mäntel, die im Winde wehen, «wenn gar kein Wind weht». Ich sagte kühl, um diese neuen, gespenstischen Visionen zu unterbrechen: «Ihr solltet Merlin danach befragen, mein Herr König. Ich glaube zu wissen, was er sagen würde.» 212
Artus lächelte. «Was denn?» Ich wandte mich dem Alten zu. «Du hast mir gesagt, daß die Göttin den König und seine Männer ertränkte und daß sie hier begraben wurden. Du hast mir außerdem gesagt, daß der neue, junge König seinen Frieden mit der Göttin machen sollte, sonst würde sie ihn abweisen. Jetzt sieh, was sie getan hat. Er wußte nichts von der Geschichte, aber er ist unter ihrer Führung hierher gekommen, um seine Hochburg genau an der Stelle zu errichten, wo die Göttin eine Gruppe guter Kämpfer und deren Führer erschlug und begrub. Und sie gab ihm das Schwert und die Krone. Sag deinen Leuten dies, und sag ihnen außerdem, daß der neue König unter dem Schirm der Göttin hier erschienen ist, um sich eine eigene Festung zu bauen und um dich und deine Kinder zu beschützen und um dein Vieh in Frieden weiden zu lassen.» Ich hörte Lamorak tief einatmen. «Von der Göttin selbst -da habt Ihr es, Merlin!» «Merlin?» Man hätte meinen können, der Alte höre den Namen zum ersten Mal. «Ja, das würde er sagen . . . und ich habe die Leute erzählen hören, wie er das Schwert aus dem tiefen Wasser herausgeholt und es dem König übergeben hat ...» Während die anderen dicht beieinander standen und sich erleichtert und lächelnd unterhielten, kehrte er einige Minuten zu seinem unverständlichen Gemurmel zurück. Aber dann, als er die Bedeutung meines letzten, unvorsichtig ausgesprochenen Satzes begriff, kam er plötzlich mit einer klaren und deutlichen Redeweise wieder auf das Problem seiner Kühe und die Bosheit von Königen zu sprechen, die sich in seine Weiderechte einmischten. Artus warf mir einen raschen, bedeutungsvollen Blick zu und lauschte dem Alten mit ernstem Gesicht; die jungen Männer lachten erleichtert auf, und alle Sorgen schienen sich in Fröhlichkeit aufzulösen. Zum Schluß versprach der König dem Alten leutselig, ihn seine Kühe weiter auf Caer Camel weiden zu lassen, solange dort noch das saftige Gras wuchs, und für ihn anderswo einen Weidegrund zu suchen, wenn es hier kein Gras mehr gäbe. «Bei meinem Wort als Hochkönig», schloß er. 213
Es war nicht klar, ob ihm der alte Hirte wenigstens jetzt Glauben schenkte. «Meinetwegen nennt Euch König oder nicht», sagte er. «Für einen jungen Burschen redet Ihr gar nicht so unvernünftig. Ihr hört auf die, die sich auskennen, nicht wie andere» - dabei warf er einen boshaften Blick auf Cei - «bei denen alles nur Schall und Rauch ist. Und das nennt sich Krieger! Jeder, der etwas vom Kriegshandwerk versteht, weiß, daß niemand mit leerem Magen in den Kampf ziehen kann. Ihr gebt meinen Kühen das Gras, und wir werden Euch die Bäuche füllen.» «Ich habe gesagt, daß du es bekommst.» «Und wenn Euer Baumeister» - damit war ich gemeint «Caer Camel verwüstet hat - welches Land werdet Ihr mir dann geben?» Wahrscheinlich hatte Artus nicht damit gerechnet, so schnell beim Wort genommen zu werden, aber er zögerte nur einen Augenblick. «Ich habe dort unten neben dem Fluß gute, grüne Wiesen gesehen, jenseits des Dorfes. Wenn ich kann...» «Das ist kein gutes Weideland für Rinder. Für Ziegen vielleicht und für Gänse, aber nicht für Kühe. Es ist saures Gras, und voll von Dotterblumen. Gift für das Vieh.» «Ach so? Das habe ich nicht gewußt. Wo wäre denn deiner Meinung nach gutes Weideland?» «Drüben beim Biberberg. Der liegt dort hinten.» Er machte eine Handbewegung. «Dotterblumen!» Er kicherte verächtlich. «König hin oder her, junger Herr, wieviel man auch weiß, es gibt immer einen, der noch mehr weiß.» Artus sagte in ernstem Ton: «Auch dies ist etwas, das ich mir merken werde. Also gut. Wenn ich am Biberberg entlangkommen kann, gehört er dir.» Dann ließ er sein Pferd zurücktreten, damit der Alte vorbei konnte, und ritt mit einem Gruß an mich und gefolgt von seinen Rittern den Berg hinab. Derwen erwartete mich bei den Fundamenten des Südwestturms. Ich ging zu ihm hinüber. Ein Regenpfeifer - vielleicht 214
derselbe - strich im Gaukelflug durch die leicht bewegte Luft dahin. Erinnerungen stiegen in mir auf. .. .. . Die Grüne Kapelle oberhalb von Galava. Dieselben beiden jungen Gesichter, Artus' und Bedwyrs, die mir aufmerksam zuhörten, als ich ihnen von Schlachten und fremden Ländern erzählte. Und an der gegenüberliegenden Wand, hinter dem Lampenschein, der Schatten eines fliegenden Vogels - der Schnee-Eule, die unter dem Dach wohnte - Guenhwyvar, der weiße Schatten, bei dessen Namen mir eine Gänsehaut kam, eine plötzliche böse Vorahnung, an die ich mich jetzt kaum noch erinnern konnte, außer vielleicht, daß der Name Guenever irgendwie ein Verhängnis für ihn bedeuten konnte. Heute hatte ich eine solche Vorwarnung nicht gespürt. Ich erwartete sie auch gar nicht. Ich wußte genau, wie wenig mir von der Kraft, die ich einmal besessen hatte, noch geblieben war. Heute war ich nichts anderes als ein Baumeister, wie mich der alte Hirte genannt hatte. «Wirklich nicht mehr?» Mir fiel das ehrfurchtsvolle Staunen in den Augen des Königs ein, als er sich die Grundlagen des «Wunders» betrachtete, das ich jetzt für ihn schuf. Ich blickte auf die Pläne in meiner Hand hinunter und empfand die bekannte und rein menschliche Erregung desjenigen, der etwas Neues schafft. Der Schatten floh und entschwand im Sonnenschein, und ich ging eilends auf Derwen zu. Wenigstens besaß ich noch soviel Kraft, um meinem Knaben eine uneinnehmbare Festung zu errichten. Drei Monate später fand in Caerleon die Hochzeit von Artus und Guenever statt. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, seine Braut noch einmal zu sehen, ich glaube sogar, daß er mit ihr keine weiteren Worte als die Höflichkeitsfloskeln gewechselt hatte, die bei der Krönung unvermeidlich waren. Er mußte Anfang Juli wieder nach Norden ziehen und konnte deshalb keine Zeit erübrigen, um nach Cornwall zu reisen und sie nach Guent zu begleiten. Jedenfalls geziemte es sich, da er der Hochkönig war, daß die Braut ihm zugeführt wurde. Deshalb verzichtete er einen kostbaren Monat auf Bedwyr, damit dieser nach Tintagel reiten und die Braut nach Caerleon bringen konnte. 215
Den ganzen Sommer hindurch fanden im Norden sporadisch Kämpfe statt; in jenem bewaldeten Bergland handelte es sich dabei hauptsächlich um Hinterhalte und kleinere Scharmützel, aber Ende Juli erzwang Artus ein größeres Gefecht am River Bassas. Dieses gewann er so entscheidend, daß er eine willkommene Ruhepause herbeiführte, die sich zu einem Waffenstillstand während der Erntezeit verlängerte und es ihm schließlich gestattete, mit ruhigem Gewissen nach Caerleon zu reisen. Aus diesem Grunde wurde es zu einer Art Garnisonshochzeit; er konnte es sich nicht leisten, auch nur auf einen Teil der Kampfbereitschaft zu verzichten; deshalb mußte sich die Braut gewissermaßen in seine übrigen Vorhaben einfügen. Sie schien nichts anderes erwartet zu haben und nahm alles so glücklich und vergnügt entgegen, als handle es sich um eine festliche Gelegenheit in London; und die eigentliche Feier verlief ebenso fröhlich und prunkvoll, wie ich es bisher bei ähnlichen Anlässen erlebt habe, obwohl die Männer ihre Speere draußen vor der Festhalle stapelten und die Schwerter jederzeit in Reichweite ließen und der König selbst jede verfügbare Minute mit Beratungen im Kreis seiner Offiziere oder draußen auf dem Exerzierplatz oder auch manchmal noch spät bis in die Nacht - mit dem Kartenstudium verbrachte, wobei die Berichte seiner Geheimagenten auf dem Tisch neben ihm lagen. Ich verließ Caer Camel in der ersten Septemberwoche und ritt quer durchs Land nach Caerleon. Die Arbeiten an der Festung machten gute Fortschritte und konnten der Obhut von Derwen überlassen bleiben. Ich machte mich leichten Herzens auf den Weg. Alles, was ich über das Mädchen hatte erkunden können, sprach für sie; sie war jung, gesund und guter Abkunft, und es war Zeit, daß Artus heiratete und sich Gedanken über seine Nachkommenschaft machte. Weiter dachte ich über sie nicht nach. Ich war rechtzeitig in Caerleon, um die Ankunft der Hochzeitsgesellschaft zu erleben. Sie hatten nicht die Fähre über den Fluß benutzt, sondern kamen auf der Straße von Glevum angeritten; Zaumzeug und Sättel der Pferde waren mit goldgeschmücktem Leder und farbenprächtigen Quasten verziert, und die Sänften der Frauen 216
leuchteten von frischer Farbe. Die jüngeren der Damen trugen Umhänge in verschiedenen Farben und hatten Blumen in die Mähnen ihrer Pferde flechten lassen. Die Braut hatte die Sänfte verschmäht; sie ritt auf einem hübschen cremefarbenen Pferd, das ein Geschenk aus Artus' Stallungen war. Bedwyr trug einen neuen rostfarbenen Mantel und hielt sich dicht an ihrer linken Seite; auf seiner anderen Seite ritt Prinzessin Morgan, Artus' Schwester. Ihr Pferd war ebenso ungestüm wie Guenevers lammfromm war, aber sie meisterte es mühelos. Sie schien sich in Hochstimmung zu befinden; sie war offenbar über ihre eigene bevorstehende Heirat ebenso begeistert wie über die andere, bedeutsamere Hochzeit. Auch schien sie nicht neidisch auf die zentrale Rolle zu sein, die Guenever bei den Festlichkeiten spielte, oder auf die Ehrerbietung, die diese wegen ihrer neuen Stellung empfing. Auch Morgan spielte eine wichtige Rolle, war sie doch in Abwesenheit von Ygraine als Vertreterin der Königin und mit dem Herzog von Cornwall erschienen, der Guenevers Hand in die des Hochkönigs legen sollte. Artus, der noch nichts über die Schwere der Erkrankung von Ygraine wußte, hatte mit deren Erscheinen gerechnet. Bedwyr sprach bei der Ankunft unter vier Augen mit ihm, und ich sah, wie ein Schatten das Gesicht des Königs überzog; dann riß er sich zusammen und empfing Guenever. Seine Begrüßung war förmlich und fand vor aller Augen statt. Aber ich sah ein verstecktes Lächeln auf seinem Gesicht, das sie sittsam beantwortete und dabei ein Grübchen auf der Wange zeigte. Die Damen raschelten mit ihren Gewändern, unterhielten sich in gedämpftem Ton und sahen ihn interessiert an, während die Männer nachsichtig schmunzelten und die älteren sich anerkennend über ihre Jugend und Frische zu äußern schienen, wobei sie in Gedanken bereits an einen Thronfolger dachten. Die jüngeren Männer beobachteten die Szene mit ebenso anerkennenden Blicken, und auch Neid sprach aus ihren Augen. Guenever war jetzt fünfzehn. Sie war ein wenig größer und etwas fraulicher geworden, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, aber sie war noch immer ein halbes Kind, mit frischer Haut und lustigen Augen; 217
sie freute sich offenbar sehr über den Glückszufall, der sie aus Cornwall als Braut des Lieblings des ganzen Landes, Artus', des jugendlichen Königs, herausgeführt hatte. Sie übermittelte die Entschuldigung der Königin geziemend und machte keine Andeutung darüber, daß Ygraine unter mehr als nur einem vorübergehenden Unwohlsein litte, und der König nahm ihre Worte gelassen entgegen, reichte ihr den Arm und geleitete sie mit Morgan zu dem Haus, das für sie und ihre Damen hergerichtet worden war. Es war das beste der Stadthäuser außerhalb der Festungsmauern; dort konnten sie der Ruhe pflegen und sich auf die Hochzeitsfeierlichkeiten vorbereiten. Er kam bald darauf in seine Gemächer zurück, und wähl rend er sich noch auf dem Gang befand, konnte ich hören, wie er sich eifrig mit Bedwyr unterhielt. Dabei ging es weder um Hochzeit noch um Frauen. Schon beim Betreten des Raumes entledigte er sich seines Prunkgewandes, und Ulfin, der seine Gewohnheiten kannte, stand bereit, den prachtvollen Mantel aufzufangen und den schweren Schwertgürtel entgegenzunehmen. Artus begrüßte mich gutgelaunt. «Na? Was sagst du? Hat sie sich nicht reizend herausgemacht?» «Sie ist sehr schön. Sie wird dir ebenbürtig sein.» «Und sie ist weder schüchtern noch auf den Mund gefallen, Gott sei Dank. Dafür habe ich keine Zeit.» Ich sah Bedwyr lächeln. Wir wußten beide, daß er es wörtlich meinte. Er hatte keine Zeit, langwierig um eine spröde Braut zu werben; er wollte heiraten und ins Brautgemach einziehen, und wenn er dann den älteren Edlen Bescheid getan und den Kopf wieder frei hatte, konnte er sich den noch nicht erledigten Aufgaben im Norden zuwenden. So viel sagte er jetzt, als er in den Vorraum, wo der Kartentisch stand, vorausging. «Aber darüber werden wir gleich sprechen, wenn die übrigen Ratsmitglieder da sind. Ich habe sie rufen lassen. Gestern abend sind übrigens neue Nachrichten eingetroffen, mit Kurier. Ich habe dir doch 218
gesagt, Merlin, daß ich deinen jungen Mann Gereint aus Olicana herkommen lassen würde? Er ist gestern abend eingetroffen - hast du ihn schon gesehen? Nein? Er kommt mit dem Rest. Ich bin dir sehr dankbar; er ist wirklich eine Entdeckung und hat seinen Wert schon mehr als dreimal bewiesen. Er brachte Nachrichten von Elmet mit . . . Aber lassen wir das jetzt. Bevor sie kommen, möchte ich dir einige Fragen über Königin Ygraine stellen. Bedwyr sagt mir, daß ihre Teilnahme an der Hochzeit sowieso nicht in Frage gekommen sei. Wußtest du, daß sie krank ist?» «Ich erfuhr in Amesbury, daß sie leidend war, aber sie wollte nicht darüber sprechen, weder damals noch später, und sie hat mich nie zu Rate gezogen. Was weißt du Neues über sie, Bedwyr?» «Ich kann es nicht beurteilen», sagte Bedwyr, «aber sie machte auf mich einen schwerkranken Eindruck. Seit der Krönung habe ich gemerkt, wie sie sich verändert hat; sie ist abgemagert zu einem Skelett und verbringt den größten Teil ihrer Zeit im Bett. Sie hat Artus einen Brief geschickt, und sie hätte auch Euch geschrieben, sagte sie, aber es überstieg ihre Kräfte. Ich sollte Euch ihre Grüße ausrichten und Euch für Eure Briefe danken. Sie wartet auf jede Nachricht von Euch.» Artus sah mich an. «Konntest du so etwas vermuten, als du sie das letzte Mal gesehen hast? Ist es eine todbringende Krankheit?» «Ich glaube, ja. Als ich sie in Amesbury sah, war der Keim der Krankheit schon in ihr. Und als ich dann bei der Krönung wieder mit ihr sprach, wußte sie meines Erachtens schon, daß sie nicht mehr lange zu leben haben würde. Aber zu sagen, wie lange noch . . . Auch wenn ich ihr Leibarzt wäre, könnte ich darüber kaum ein Urteil abgeben.» Man hätte erwarten können, daß er mich nach dem Grund fragen würde, warum ich ihm meinen Verdacht nicht mitgeteilt hatte, aber die Gründe lagen auf der Hand, so daß er kein weiteres Wort daran verschwendete. Er nickte lediglich und machte ein tiefbesorgtes Gesicht. «Ich kann nicht . . . Du weißt, daß ich wieder in den Norden gehen muß, sobald hier alles erledigt ist.» Er sprach, als ob die 219
Hochzeit eine Ratssitzung oder ein Gefecht wäre. «Ich kann nicht nach Cornwall reiten. Sollte ich dich hinschicken?» «Es wäre nutzlos. Außerdem ist ihr eigener Arzt so gut, wie man es sich nur wünschen könnte. Ich kannte ihn schon, als er noch als junger Mann in Pergamon studierte.» «Gut», sagte er und akzeptierte meinen Einwand. «Recht gut. . .» Aber er fingerte ruhelos an den Nadeln, die hier und da in die Reliefkarte eingesteckt waren. «Das Dumme ist nur: Man hat immer das Gefühl, es gäbe etwas, das man noch tun müßte. Ich will selbst die Würfel in die Hand nehmen und nicht darauf warten, daß ein anderer sie wirft. O ja, ich weiß, was du sagen willst - daß die eigentliche Weisheit darin besteht, zu wissen, wann man etwas unternehmen soll und wann auch schon der bloße Versuch sinnlos ist. Aber manchmal glaube ich, daß ich niemals alt genug werde, um weise zu sein.» «Vielleicht ist das Beste, was du sowohl für Königin Ygraine als auch für dich selbst tun kannst, die Hochzeitsfeierlichkeiten hinter dich zu bringen und dafür zu sorgen, daß deine Schwester Morgan zur Königin von Rheged gekrönt wird», sagte ich, und Bedwyr nickte. «Einverstanden. Aus der Art, wie sie davon sprach, erhielt ich den Eindruck, daß sie nur noch dafür lebt, beide Ehen sicher unter Dach und Fach zu wissen.» «Das bringt sie auch in ihrem an mich gerichteten Brief zum Ausdruck», sagte der König. Er wandte den Kopf. Vom Korridor her drang schwach der Ton von Frage und Antwort herein. «Ja, Merlin, ich hätte dich nur schwer für eine Reise nach Cornwall freigeben können. Ich will dich wieder in den Norden entsenden. Kann Derwen die Leitung der Arbeiten auf Caer Camel allein übernehmen?» «Selbstverständlich, wenn du es so willst. Er wird es sicher sehr gut machen, obwohl ich rechtzeitig zum Frühlingsanfang wieder dort sein möchte.» «Es besteht kein Grund, warum dir das nicht gelingen sollte.» «Geht es um Morgans Heirat? Oder - vielleicht hätte ich vorsichtiger sein sollen? Geht es wieder um Morgause? . .. Ich warne 220
dich. Wenn es sich um eine Fahrt auf die Orkney Inseln handelt, weigere ich mich.» Er lachte. Er sah bestimmt nicht so aus - auch redete er nicht so -, als ob er an Morgause oder ihr uneheliches Kind gedacht hätte. «Ich würde dich keinem solchen Risiko aussetzen, weder von Morgause noch den nördlichen Gewässern. Nein, es geht um Morgan. Ich möchte, daß du sie nach Rheged bringst.» «Das wird mir ein Vergnügen sein.» Es war wirklich so. Die Jahre, die ich in Rheged, im Wild Forest, der zu dem ausgedehnten Landstrich mit Namen Caledonian Forest gehört, verbracht hatte, bildeten den Höhepunkt meines Lebens; es waren die Jahre gewesen, in denen ich Artus, der damals noch ein Knabe war, Unterricht erteilt hatte. «Ich werde sicher auch mit Ector sprechen können?» «Warum nicht, wenn Morgan erst einmal unter der Haube ist? Ich gebe zu, daß es nicht nur für mich, sondern auch für die Königin eine Beruhigung sein wird, sie in Rheged gut versorgt zu wissen. Es ist möglich, daß im nächsten Frühjahr ein neuer Krieg im Norden ausbrechen wird.» So ausgedrückt, klangen seine Worte merkwürdig, aber vor dem Hintergrund jener Zeiten ergaben sie einen gewissen Sinn. Damals fanden die Hochzeiten im Winter statt; die Männer zogen im Frühjahr in den Kampf und legten Wert darauf, eine gesicherte Heimstatt zurückzulassen. Für einen Mann wie Urbgen von Rheged, der nicht mehr jung, Herrscher über ausgedehnte Gebiete und eine ausgesprochene Kämpfernatur war, wäre es töricht gewesen, die Hochzeit noch länger hinauszuschieben. Ich sagte: «Natürlich werde ich sie dorthin bringen. Wann?» «Sobald hier alles erledigt ist, und bevor der Winter einbricht.» «Wirst du auch dort sein?» «Wenn ich kann. Darüber sprechen wir noch. Ich werde dir Nachrichten zukommen lassen, und du wirst Urbgen natürlich meine Geschenke überbringen.» Er gab Ulfin ein Zeichen, worauf dieser zur Tür ging. Die anderen traten einseine Ritter und die Männer des Rates 221
und einige der Kleinkönige, die wegen der Hochzeit nach Caerleon gekommen waren. Cador war da, und Gwilim, und andere aus Poys und Dyfed und Dumnonia, aber keiner aus Elmet oder aus dem Norden. Dies war verständlich. Es war eine Erleichterung, Lot jetzt nicht sehen zu müssen. Unter den jüngeren Männern erkannte ich Gereint. Er lächelte mir zu, aber es war keine Zeit, mit ihm zu sprechen. Der König hielt eine Ansprache, und wir setzten unsere Beratungen bis zum Sonnenuntergang fort; dann wurde Essen hereingebracht, und danach verabschiedeten sich die Gäste, und ich mich mit ihnen. Als ich in mein Quartier zurückgehen wollte, schlössen sich mir Bedwyr und mit ihm Gereint an. Die beiden jungen Männer schienen sich bereits gut zu kennen. Gereint begrüßte mich herzlich. «Es war für mich ein Glückstag», sagte er lächelnd, «als der auf Wanderschaft befindliche Doktor nach Olicanakam.» «Und ich glaube, auch für Artus», erwiderte ich. «Wie gehen die Arbeiten an der Paßhöhe voran?» Er erzählte mir davon. Es bestand im Augenblick anscheinend keine unmittelbare Gefahr aus dem Osten. Artus hatte in Linnuis einen klaren Sieg errungen, und in der Zwischenzeit sorgte der König von Elmet für die Bewachung dieser Region. Die Straße über den Paß war von Olicana bis nach Tribuit instand gesetzt und beide westlichen Forts waren in Verteidigungsbereitschaft versetzt worden. Im Anschluß daran kam er auf Caer Camel zu sprechen, und hierbei griff Bedwyr das Thema auf und stellte mir allerlei Fragen. Dann standen wir plötzlich an der Stelle, wo sich unsere Wege teilten. «Ich muß Euch hier verlassen», sagte Gereint. Er warf einen Blick zurück auf den Weg, den wir gekommen waren, in Richtung auf die Gemächer des Königs. «Sehet», sagte er, «die Hälfte ist mir nicht gesagt worden.» Es klang, als zitiere er aus irgendeinem Werk, aber diese Worte hatte ich noch nie gehört. «Dies sind für uns alle große Tage.» 222
«Und größere werden noch kommen.» Dann wünschten wir uns eine gute Nacht, und Bedwyr und ich gingen zu Fuß zusammen weiter. Der junge Fackelträger hielt sich einige Schritte voraus. Zunächst sprachen wir in gedämpftem Ton über Ygraine. Er konnte mir mehr berichten als das, was er vor Artus gesagt hatte. Ihr Arzt, der sich schriftlich nicht festlegen wollte, hatte Bedwyr Nachrichten für mich anvertraut, aber nichts daran war mir neu. Die Königin liege im Sterben und warte nur noch darauf dies stammte von Bedwyr persönlich-, daß die beiden jungen Frauen, gekrönt und in dem ihnen gebührenden Glanz, ihre neuen Stellungen eingenommen hatten; danach wäre es ein Wunder (hatte Melchior gesagt), wenn sie Weihnachten noch erleben sollte. Sie hatte mir eine Grußbotschaft übersandt, sowie ein Erinnerungsstück, das Artus nach ihrem Tode übergeben werden sollte. Es war eine Brosche aus Gold und blauem Emaille; sie zeigte ein Bild der Mutter Gottes, wie sie von den Christen verehrt wird, und der Name Maria befand sich als Inschrift am Rande des Schmuckstücks. Sie hatte ihrer Tochter Morgan und Guene-ver bereits Schmuck geschenkt; er war zur Hochzeitsgabe bestimmt worden, obwohl Morgan die Wahrheit bereits wußte - Guenever anscheinend jedoch nicht. Das Mädchen war Ygraine in letzter Zeit beinahe noch mehr ans Herz gewachsen als ihre eigene Tochter, und die Königin hatte Bedwyr genaue Instruktionen erteilt, daß nichts die Hochzeitsfeierlichkeiten stören dürfe. Nicht daß die Königin, meinte Bedwyr (der gegenüber Ygraine offenbar die größte Hochachtung empfand), irgendwelche Illusionen über Artus und dessen Trauer um sie hegen würde; sie habe seine Liebe der für Uther und der Zukunft des Königreiches zum Opfer gebracht, und sie selbst habe sich mit dem Tod abgefunden, fest verankert in ihrem Glauben; aber sie sei sich bewußt, wie sehr das Mädchen'sie liebgewonnen habe. «Und Guenever?» fragte ich schließlich. «Du mußt sie auf der Reise gut kennengelernt haben. Und du kennst Artus besser als jeder andere. Werden die beiden zusammenpassen? Von welcher Art ist sie?» «Sie ist reizend, voller Leben - auf ihre persönliche Art ebenso wie er-, und sie ist nicht dumm. Sie stellte mir viele Fragen über die 223
Kriege, und diese Fragen hatten Hand und Fuß. Sie begreift, was er vorhat, und hat jede seiner bisherigen Unternehmungen genau verfolgt. Sie hat sich bei ihrem ersten Zusammentreffen in Amesbury Hals über Kopf in ihn verliebt ... ich glaube sogar, daß sie schon vorher in ihn verliebt war, so wie jedes andere Mädchen in Britannien. Sie hat aber auch Humor und gesunden Menschenverstand; sie ist kein träumerisches Geschöpf, das nur an die Krone und das Ehebett denkt; sie kennt ihre zukünftigen Pflichten genau. Ich weiß, daß Königin Ygraine diese Ehe geplant und auf deren Zustandekommen gehofft hat. Sie hat sich der Erziehung des Mädchens bereits seit längerer Zeit angenommen.» «Es hätte kaum eine bessere Lehrerin geben können.» «Das ist auch meine Meinung. Aber Guenever hat ein sanftes Gemüt, und sie lacht gern und viel. Ich freue mich», schloß er schlicht. Dann sprachen wir von Morgan und der anderen bevorstehenden Heirat. «Wir wollen hoffen, daß auch diese glücklich wird», sagte ich. «Sie entspricht bestimmt Artus' Wünschen. Und Morgan? Sie scheint bereit, ja sogar glücklich zu sein.» «O ja», sagte er und fuhr dann lächelnd, aber achselzuk-kend fort: «Man könnte meinen, es sei eine Liebesheirat, und die ganze Sache mit Lot habe es nie gegeben. Ihr behauptet immer, Merlin, Ihr verstündet nichts von Frauen und könntet nicht einmal erraten, was sie bewegt. Dasselbe kann ich von mir auch behaupten, und ich bin kein geborener Einsiedler wie Ihr. Ich habe viele kennengelernt, und jetzt habe ich etwa einen Monat in der Gesellschaft von Frauen zugebracht - aber ich kann sie auch jetzt noch nicht verstehen. Sie sehnen sich nach der Ehe, die sie in eine Art Sklaverei versetzt und die nicht einmal ungefährlich ist. Man könnte es noch bei denjenigen begreifen, die bettelarm sind; aber hier geht es um Morgan: Sie besitzt Reichtum und eine hohe Stellung, und sie genießt den Schutz des Hochkönigs. Trotzdem wäre sie zu Lot gegangen, dessen Leumund Euch bekannt ist, und jetzt geht sie ebenso eilfertig zu Urbgen von Rheged, der 224
dreimal so alt wie sie ist und den sie kaum jemals gesehen hat. Warum?» «Wegen Morgause, nehme ich an.» Er warf mir einen schnellen Blick zu. «Das ist möglich. Ich habe mit Guenever darüber gesprochen. Sie sagt, daß seit die Nachricht von Morgauses jüngstem Wochenbett eintraf und aus ihren Briefen bekannt wurde, was für einen Hofstaat sie hält...» «Auf den Orkney Inseln?» «So sagt sie jedenfalls. Es sieht wirklich so aus, als ob sie das Königreich regiere. Wer sonst? Lot ist bei Artus gewesen . . . Schön, Guenever erzählte mir, daß sich Morgan seit einiger Zeit in einen wachsenden Ärger hineingesteigert und begonnen habe, sehr abfällige Bemerkungen über Morgause zu machen. Außerdem habe sie wieder angefangen, das zu praktizieren, was die Königin ihre nennt. Guenever scheint sich vor diesen Praktiken zu fürchten.» Er zögerte. «Sie nennen es Magie, Merlin, aber es ist nichts im Vergleich mit Eurer Kraft. Es ist irgendwie undurchsichtig und bedenklich.» «Wenn es Morgause sie gelehrt hat, muß es wirklich undurchsichtig sein. Je schneller Morgan Königin in Rheged werden und selbst eine Familie gründen kann, desto besser. Und wie steht es mit dir, Bedwyr? Hast du schon einmal an eine Ehe gedacht?» «Noch nicht», sagte er fröhlich. «Dazu habe ich keine Zeit.» Worauf wir lachten und unserer Wege gingen. *** Am nächsten Tag, bei herrlichem Sonnenschein und all dem Prunk und der Musik und der Begeisterung, die eine frohgestimmte Menge erzeugen kann, wurde Artus mit Guenever vermählt. Und nach dem Festmahl, als die Fackeln niedergebrannt waren und Männer und Frauen gegessen und gelacht und ausgiebig getrunken hatten, wurde die Braut weggeführt, und später begab sich der Bräutigam, begleitet von seinen Rittern, zu ihr. In jener Nacht hatte ich einen Traum. Er war kurz und verschwommen, nur ein Schatten dessen, was eine wirkliche Vision 225
hätte sein können. Da waren Fenstervorhänge, die zugezogen wurden und im Winde wehten, und ein Ort voll kalter Schatten, und eine Frau, die im Bett lag. Ich konnte sie nicht klar erkennen, auch konnte ich nicht sagen, wer sie war. Zuerst dachte ich, es sei Ygraine, aber dann, als sich der Lichteinfall veränderte, hätte es auch Guenever sein können. Und sie lag da, als wäre sie tot, oder als schlafe sie tief nach einer Liebesnacht. So machte ich mich wieder auf den Weg gegen Norden; diesmal hielt ich mich bis Luguvallium jedoch an die Weststraße. Es war wirklich eine Hochzeitsreise. Das gute Wetter blieb den ganzen Monat über, dem goldenen September, der für Reisen besonders gut geeignet ist, denn Hermes, der Gott der Wanderer und Fahrenden, hat ihn zu seinem Monat erklärt. Er hielt während der ganzen Reise die Hand über uns. Die Straße, die Artus an der Westküste hauptsächlich benutzte, war instandgesetzt worden und befand sich in gutem Zustand; sogar auf dem Moor war der Weg trocken, so daß wir unsere Reise nicht danach einteilen mußten, wo geeignete Ruhestationen für die Frauen waren. Wenn bei Sonnenuntergang keine Stadt und kein Dorf in der Nähe lag, schlugen wir da, wo wir uns gerade befanden, ein Lager auf und aßen am Ufer eines Baches, wo Bäume uns Schutz gewährten, zu Abend, während Regenpfeifer in der hereinbrechenden Dunkelheit ihren Ruf ertönen ließen und Reiher mit trägem Flügelschlag von ihren Fischgründen zurückkehrten. Für mich wäre es eine idyllische Reise gewesen, wenn nicht zweierlei sie getrübt hätte. Das erste war die Erinnerung an meine letzte Reise in den Norden. Wie jeder vernünftige Mensch hatte ich unnützes Bedauern aus meinen Gedanken verbannt; als aber eines Abends mich jemand bat, zu singen, und mein Diener mir die Harfe brachte, schien es mir plötzlich, als brauchte ich von den Saiten nur aufzuschauen, um die alten Erinnerungen wieder im Schein des Lagerfeuers auftauchen zu sehen: Beltane, den Goldschmied, sein altes Lächeln auf dem Gesicht, und hinter ihm Ninian. Und danach erschien mir der Knabe jede Nacht, in der Erinnerung oder im Traum, und mit ihm die tiefe Trauer um das, was vielleicht hätte sein können und jetzt unwiederbringlich verloren war. 226
Es war mehr als nur der einfache Kummer um einen Schüler, der mein Werk hätte fortsetzen können, wenn ich einmal nicht mehr war. Hand in Hand damit ging ein schmerzliches Gefühl der Selbstverachtung, weil ich ihn hilflos hatte gehen lassen. In jenem Augenblick des unwillkürlichen Aufbegehrens an der Brücke über den Cor hätte ich wissen müssen, warum dieser Protest erhoben wurde. Der Verlust des Knaben traf mich in Wirklichkeit viel tiefer als das Unvermögen, einen Erben und Nachfolger zu gewinnen: Sein Verlust stellte symbolhaft mein eigenes Leben dar. Ich war nicht mehr der Merlin von einst, und deshalb war Ninian gestorben. Der zweite Wermutstropfen in dem Wein dieser Reise war Morgan selbst. Ich hatte sie nie gut gekannt. Sie war in Tintagel geboren und hatte dort ihre Kindheit verbracht, während ich im Verborgenen in Rheged lebte, um den heranwachsenden Artus zu betreuen. Seit jener Zeit hatte ich sie nur zweimal gesehen: bei der Krönung ihres Bruders und dann noch einmal bei seiner Hochzeit, aber bei beiden Anlässen hatte ich kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Sie ähnelte ihrem Bruder insofern, als auch sie groß für ihr Alter und dunkelhaarig war und jene dunklen Augen hatte, die meines Erachtens vom spanischen Blut des Kaisers Maximus in die Familie der Ambrosü eingebracht worden waren, aber in den Gesichtszügen glich sie Ygraine, während Artus mehr seinem Vater Uther nachgeraten war. Ihre Haut war blaß, und sie war ebenso still wie Artus überschwenglich. Dabei spürte ich in ihr etwas von jener Kraft, jener geheimen Macht, die wie ein Feuer unter der Asche weiterschwelt. Außerdem besaß sie etwas von der Raffinesse, über die Morgause, ihre Halbschwester, in so hohem Maße verfügte und die Artus völlig fehlte. Aber dies ist eine Eigenschaft der meisten Frauen, und oft deren einzige Waffe und Schutzschild. Morgan lehnte es ab, die für sie bereitgestellte Sänfte zu benutzen, und ritt einen Teil der Reisezeit neben mir dahin. Wenn sie sich bei den Frauen oder den jüngeren Männern aufhielt, wurde meines Erachtens hauptsächlich von der bevorstehenden Hochzeit und den kommenden Zeiten gesprochen; wenn sie aber bei mir war, ging die 227
Rede hauptsächlich um die Vergangenheit. Immer wieder bat sie mich, von jenen meiner Taten zu sprechen, die allmählich zur Legende geworden waren, von der Geschichte mit den Drachen bei Dinas Emrys, der Aufstellung des Königsteines bei Killare und dem Tag, als das Schwert des Macsen aus dem Stein gehoben wurde. Ich beantwortete ihre Fragen gern und hielt mich dabei an die Tatsachen; und da ich mich an all erinnerte, was ich über Morgan von ihrer Mutter und Bed wyr erfahren hatte, versuchte ich, ihr ein gewisses Verstand nis für die Bedeutung des Wortes «Magie» zu vermitteln. In den Augen junger Mädchen geht es dabei vor allem um Zaubertrank und Geflüster in dunklen Zimmern, um Zaubersprüche, die das Herz eines Mannes binden oder das Bild eines Geliebten in einer Mittsommernacht heraufbeschwören können. Ihre Hauptsorge galt verständlicherweise der aphrodisischen Überlieferung - wie man eine Schwangerschaft herbeiführen oder verhüten könne, welche Amulette die Gefahren vom Kindbett bannten, wie man das Geschlecht des ungeborenen Kindes voraussagen könne. Ich will ihr nicht Unrecht tun: Morgan hat diese Fragen nie mit mir besprochen; sie war in diesen Angelegenheiten offenbar bereits bewandert. Auch schien sie im Gegensatz zur jungen Morgause - wenig an der Heilkunst interessiert zu sein. Ihre Fragen betrafen ausschließlich den Machtzuwachs, der Artus zuteil geworden war. Sie wollte alles wissen, was von der ersten Begegnung zwischen Uther und ihrer Mutter und Artus' Empfängnis bis zur Rückgewinnung des großen Schwertes von Macsen geschehen war. Ich antwortete ihr ausführlich und zuvorkommend; sie hatte meines Erachtens ein Recht, die Tatsachen zu erfahren, und da sie Königin von Rheged werden sollte und mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Gatten überleben und dem künftigen König dieser mächtigen Provinz mit Rat und Tat beistehen würde, versuchte ich, ihr zu zeigen, welche Ziele Artus für die ruhigeren Zeiten nach dem Krieg verfolgte, und ihr dieselben Gedanken einzuflößen. Es war schwer zu sagen, ob ich Erfolg damit hatte. Nach einiger Zeit merkte ich, daß sie in ihren Gesprächen immer häufiger auf das 228
Wie und Wozu der Kräfte einging, die ich besessen hatte. Ich versuchte, ihre Fragen beiseite zu schieben, aber sie blieb beharrlich und schlug schließlich mit einer Selbstsicherheit, die der Artus' ähnelte, vor, ich solle ihr irgendeinen Beweis dafür liefern, als wäre ich ein altes Weib, das Zaubertränklein über dem Feuer mischte, oder ein Wahrsager auf dem Jahrmarkt. Bei dieser Zumutung fiel meine Antwort wohl zu abweisend aus. Kurz darauf zog sie die Zügel an und ließ ihren Zelter zurückfallen; den Rest des Weges legte sie bei den jungen Leuten zurück. Wie ihre Schwester, begnügte sich Morgan nur selten mit der Gesellschaft von Frauen. Ihr ständiger Begleiter war ein gewisser Accolon, ein prächtig gekleideter frischer junger Mann, der laut zu lachen pflegte und eine rosige Gesichtsfarbe hatte. Sie war nie länger mit ihm allein, als der Anstand erlaubte, obwohl er aus seinen Gefühlen kein Geheimnis machte; er ließ sie nicht aus den Augen; er berührte ihre Hand, wann immer er konnte, oder brachte sein Pferd so dicht an ihre Seite, daß sein Schenkel den ihrigen berührte und die Mähnen ihrer Pferde ineinander gerieten. Sie achtete nicht darauf und gab ihm, so weit ich sehen konnte, stets dieselben kühlen Antworten, die sie allen anderen erteilte. Ich hatte natürlich die Pflicht, sie unberührt und als Jungfrau (falls sie noch eine Jungfrau war) an Urbgens Bett zubringen, aber ich hatte vorläufig keinen Grund, um ihre Ehre besorgt zu sein. Ein Liebhaber hätte es schwer gehabt, ihr während dieser Reise zu nahe zu treten, auch wenn sie ihn dazu aufgefordert hätte. In den meisten Nächten, wenn wir ein Lager aufgeschlagen hatten, wurde Morgan von allen ihren Frauen bedient, und sie schlief zusammen mit zwei älteren Zofen, sowie mit einigen jüngeren Begleiterinnen. Sie ließ nie erkennen, daß sie eine andere Lösung vorgezogen hätte. Sie handelte und sprach wie jede Königsbraut auf dem Weg zu einem willkommenen Brautgemach, und wenn Accolons hübsches Gesicht und eifrige Werbung einen Eindruck auf sie gemacht hatten, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Wir hielten zum letzten Mal kurz vor der Grenze, die von Caer-luel, wie die Briten Luguvallium nennen, bestimmt wird. Hier gönnten wir 229
den Pferden eine Ruhepause, während sich die Dienerschaft mit dem Säubern des Zaumzeugs und Abwaschen der Sänftenwände beschäftigte und die Frauen ihre Kleider, Frisuren und Gesichter in Ordnung brachten. Dann setzte sich die Kavalkade wieder in Marsch, um die zum Empfang ausgerückten Reiter zu begrüßen, die weit außerhalb der Stadtgrenzen auf uns warteten. An ihrer Spitze war König Urbgen persönlich erschienen. Er saß auf einem prächtigen Pferd, das ihm von Artus geschenkt worden war, einem braunen Hengst, der mit einer rot-goldenen Schabracke geschmückt war. Neben ihm führte ein Bediensteter eine für die Prinzessin bestimmte weiße Stute am Zügel; dieses Pferd sah mit seinem silbernen Zaumzeug und den blauen Quasten wunderschön aus. Urbgen wirkte ebenso prunkvoll wie sein Schlachtroß; er war ein kraftvoller Mann mit breiter Brust und starken Armen; jeder nur halb so alte Krieger hätte es kaum mit ihm aufnehmen können. Seine blonden Haare und der Bart waren allmählich schneeweiß geworden, obwohl sie ihre Dichte beibehalten hatten. Sein Gesicht war durch die Sommer des Kriegführens und die Winter der langen Ritte durch die Kälte verwittert. Ich kannte ihn als starken Mann, zuverlässigen Verbündeten und klugen Herrscher. Er begrüßte mich so zuvorkommend, als wäre ich der Hochkönig persönlich; dann führte ich ihm Morgan zu. Sie hatte sich in Blaßgelb und Weiß gekleidet und ihr langes dunkles Haar mit Goldfäden durchwirkt. Sie reichte ihm die Hand, machte einen tiefen Knicks und bot ihm kühl die Wange zum Kuß; dann bestieg sie die Schimmelstute und ritt neben ihm davon; dabei begegnete sie den aufmerksamen Blicken seines Gefolges und seinen eigenen prüfenden Augen mit unbeirrbarer Fassung. Ich sah, wie Accolon mit unwirschen Blicken in den Hintergrund trat, als sich Urb-gens Gefolge um uns drei scharte und wir in gemäßigter Gangart zum Treffpunkt der drei Wasserläufe ritten, wo Luguvallium inmitten des rötlich schimmernden Herbstlaubes der Bäume lag. *** 230
Am Ende der Reise sollten sich dann meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten. Morgause kam zur Hochzeit. Drei Tage vor der Zeremonie erschien ein reitender Bote mit der Nachricht, ein Schiff sei in der Flußmündung gesichtet worden; es zeige das Wappen und schwarze Segel der Orkneys. König Urbgen ritt zur Begrüßung zum Hafen hinunter. Ich entsandte meinen Diener mit dem Auftrag, weitere Einzelheiten festzustellen; er kam in Windeseile wieder zurück, bevor noch die Orkney-Gruppe an Land gegangen sein konnte. König Lot, meldete er, sei nicht dabei, aber Königin Morgause sei gekommen, und zwar mit großem Gefolge. Ich schickte ihn nach Süden zu Artus, um diesen vorzuwarnen; ich ließ ihm ausrichten, es würde ihm bestimmt nicht schwerfallen, einen Vorwand zu finden, um sein Fernbleiben zu entschuldigen. Ich selbst brauchte Gott sei Dank nicht lange nach einem ähnlichen Vorwand zu suchen. Ich hatte auf Urbgens eigenes Ersuchen bereits Vorbereitungen getroffen, auszureiten und die Signalstationen im Mündungsgebiet des Flusses zu inspizieren. In ziemlicher Eile und vielleicht auch wenig würdevoll hatte ich mich aus der Stadt entfernt, bevor Morgause mit ihrer Begleitung eintraf; ich kam erst am Vorabend der Hochzeit wieder zurück. Später hörte ich, daß auch Morgan ihrer Schwester aus dem Wege gegangen war, aber bei einer Braut, die so tief in den Hochzeitsvorbereitungen steckte, war schließlich kaum etwas anderes zu erwarten. So sah ich also, wie sich die Schwestern vor dem Tor der Kirche, wo Morgan nach christlichem Ritus getraut werden sollte, begegneten. Beide, die Königin ebenso wie die Prinzessin, waren prunkvoll gekleidet und von großem Gefolge umgeben. Sie begrüßten sich, sprachen ein paar Worte und umarmten sich; beide lächelten süßlich. Morgan blieb meines Erachtens Siegerin bei diesem Zusammentreffen, denn sie war für ihre Hochzeit prächtig gekleidet und schien der leuchtende Mittelpunkt des ganzen Vorganges zu sein. Ihre Robe mit der Schleppe, deren Purpur mit Silberfäden durchwirkt war, sah herrlich aus. Sie trug eine Krone auf den dunklen Haaren, und unter dem prachtvollen Schmuck, den Urbgen ihr geschenkt hatte, erkannte ich einige Stücke, die Ygraine von Uther in der Anfangszeit ihrer Leidenschaft erhalten hatte. Ihre schlanke Gestalt war trotz des 231
Gewichts des schweren Kleides hoch aufgerichtet; ihr Gesicht war bleich und gefaßt urid außerordentlich schön. Sie erinnerte mich an die junge Ygraine, die damals ebensoviel Anmut ausgestrahlt hatte. Ich hoffte inständig, daß die Berichte über die Abneigung der Schwestern gegeneinander der Wahrheit entsprachen und daß es Morgause nicht gelingen möge, sich bei ihrer Schwester einzuschmeicheln. Aber mir war nicht ganz wohl zumute; denn nur hergekommen zu sein, um den Triumph ihrer Schwester zu erleben und sich von dieser an Schönheit und Bedeutung in den Schatten stellen zu lassen, konnte nicht der wahre Grund für Morgauses Erscheinen sein. Morgause schien, je reifer sie wurde, um so schöner zu werden. Aber man munkelte, daß sie wieder ein Kind erwartete, und sie hatte außerdem ein Kind, einen Knaben, mitgebracht. Er war noch ein Säugling und lag in den Armen seiner Kinderfrau, Lots Sohn; nicht das Kind, das ich - halb hoffnungsvoll, halb ängstlich - zu sehen erwartet hatte. Morgause hatte meine Blicke bemerkt. Sie lächelte mir auf ihre eigene, verstohlene Art halb zu und betrat dann mit ihrem Gefolge die Kirche. In Vertretung von Artus wartete ich noch draußen, um die Braut hineinzuführen. Meinem Ratschlag folgend ging der Hochkönig andernorts irgendwelchen Geschäften nach. Wenn ich gehofft hatte, Morgause weiterhin aus dem Wege gehen zu können, so wurden meine Erwartungen nicht erfüllt. Beim Hochzeitsmahl saßen sie und ich als die beiden nächsten Anverwandten der Braut nebeneinander am Kopf der Tafel. Der Saal war derselbe, in dem Uther den Sieg gefeiert hatte, der zu seinem Tod führte. In einem Raum dieser selben Burg hatte Morgause Artus beigelegen und das Kind Mordred empfangen, und am nächsten Morgen hatte ich in einer heftigen Auseinandersetzung ihre Hoffnungen zerstört und sie von Artus' Seite vertrieben. Das war ihrer Meinung nach unsere letzte Begegnung gewesen. Sie wußte nichts jedenfalls hoffte ich es - von meiner Reise nach Dunpeldyr, wo ich meinen Beobachtungsposten bezogen hatte. 232
Ich sah, wie sie mich unter ihren schweren Augenlidern von der Seite beobachtete. Ich fragte mich plötzlich, ob sie womöglich gemerkt haben konnte, daß ich jetzt nicht mehr in der Lage war, ihr Widerstand zu bieten. Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte sie alle Tricks einer Hexe gegen mich angewandt, und ich hatte deren Kraft gespürt. Aber damals hatte sie mir nicht mehr anhaben können als eine Spinne, die einen Falken in die Falle locken will. Ich hatte den Spieß umgedreht und durch meine inneren Kräfte den Zauber auf sie zurückgerichtet. Aber diese Kraft hatte mich jetzt verlassen. Vielleicht konnte sie meine Schwäche ermessen. Ich war mir darüber nicht im klaren. Ich hatte Morgause nie unterschätzt und würde es auch jetzt nicht tun. Ich sagte glatt und höflich: «Ihr habt einen prächtigen Sohn, Morgause. Wie heißt er?» «Gawain.» «Er schaut seinem Vater sehr ähnlich.» Sie senkte den Blick. «Meine beiden Söhne», sagte sie leise, «sehen ihrem Vater sehr ähnlich.» «Beide?» «Ach, Merlin, wo habt Ihr Eure Kunst gelassen? Habt Ihr die schrecklichen Geschichten geglaubt, als Ihr sie hörtet? Ihr müßt doch gewußt haben, daß es nicht die Wahrheit war.» «Ich wußte, daß Artus die Morde nicht angeordnet hatte, und zwar trotz der verleumderischen Behauptung, die Ihr über ihn verbreitet habt.» «Ich?» sagte sie mit großen unschuldsvollen Augen. «Ja, Ihr. Das Massaker mag Lots Werk gewesen sein, er ist ein Heißsporn, und es waren mit Sicherheit Lots Leute, die die Kinder in das Boot warfen und sie mit der Ebbe aufs offene Meer hinaustreiben ließen. Aber wer hat sie dazu angestachelt? Es war von Anfang an Euer Plan, nicht wahr? Sogar bis zu dem Mord an dem armen Kind in der Wiege? Und es war nicht Lot, der Macha getötet und das andere Kind aus dem Blutbad herausgeholt und irgendwo in Sicherheit gebracht hat.» Ich ahmte ihren eigenen, halb spöttischen Tonfall nach. 233
«Ach, Morgause, wo ist Eure Kunst geblieben? ihr solltet klüger sein, als mir gegenüber die Unschuldige zu spielen.» Bei der Erwähnung von Machas Namen sah ich plötzlich einen Funken Angst in ihren Augen aufleuchten; aber sonst ließ sie sich nichts anmerken. Sie saß still und aufrecht da; sie hatte eine Hand um den Stil ihres Weinkelches gelegt und drehte diesen langsam herum, so daß das Gold im Fackellicht zu leuchten begann. Ich sah, wie der Puls an ihrer Kehle rascher schlug. Es war bestenfalls eine bittere Genugtuung. Ich hatte recht gehabt. Mordred war am Leben und befand sich meines Erachtens irgendwo verborgen in dem Inselgewirr der Ork-neys, wo Morgause die Herrschaft ausübte und wo ich, ohne mein zweites Gesicht, ihn nicht würde finden können. Oder ihn, falls ich ihn fände, auch nicht würde töten können. «Ihr habt es gesehen?» fragte sie mit leiser Stimme. «Gewiß habe ich es gesehen. Wann habt Ihr etwas vor mir geheimhalten können? Ihr müßt doch wissen, daß mir alles klar vor Augen steht, und ebenso dem Hochkönig -das laßt Euch gesagt sein.» Sie saß regungslos und offenbar gefaßt da; nur ihr Pulsschlag war unter der zarten Haut deutlich zu sehen. Ich fragte mich, ob es mir gelungen war, sie davon zu überzeugen, daß ich noch immer ein Mann war, den man fürchten mußte. Sie war nicht auf den Gedanken gekommen, daß sich Lind an mich gewandt haben könnte, und warum sollte sie sich an Beltane erinnern? Die Halskette, die er für sie angefertigt hatte, funkelte unruhig auf ihrer Kehle. Sie schluckte und sagte dann mit einer dünnen Stimme, die in dem allgemeinen Lärm der Festgesellschaft kaum zu hören war: «Dann werdet Ihr auch wissen, daß ich, auch wenn ich ihn vor Lot gerettet habe, nicht weiß, wo er jetzt ist. Vielleicht könnt Ihr es mir sagen?» «Erwartet Ihr von mir, daß ich Euch dies glaube?» «Ihr müßt es mir glauben, denn es ist die Wahrheit. Ich weiß nicht, wo er ist.» Sie wandte den Kopf und sah mir voll ins Gesicht. «Wißt Ihr es?»
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Ich gab ihr keine Antwort. Ich lächelte nur, hob meinen Kelch und trank. Aber ohne sie anzusehen, spürte ich in ihr eine plötzliche Erleichterung und fragte mich, innerlich fröstelnd, ob ich einen Fehler begangen hatte. «Wie könnte ich ihn, auch wenn ich es wüßte», sagte sie, «bei mir haben, wo er doch seinem Vater gleicht, wie ein Ei dem anderen?» Sie trank, setzte den Kelch ab und lehnte sich dann auf ihrem Stuhl zurück; dabei faltete sie die Hände über ihrem Kleid, so daß die Wölbung ihres Bauches deutlich sichtbar wurde. Sie lächelte mich an; Bosheit und Haß, aber keine Spur von Furcht lagen in ihrem Blick. «Prophezeit mir etwas über dieses Kind, Merlin, wenn Ihr es schon über das andere nicht könnt. Wird es ein Sohn werden, der die Stelle des anderen einnehmen wird, den ich verloren habe?» «Daran habe ich keinen Zweifel», sagte ich kurz, und sie lachte laut. «Das höre ich gern. Für Mädchen habe ich nichts übrig.» Ihr Blick wanderte zu der Braut, die aufrecht und gesammelt neben Urbgen saß. Er hatte eine Menge getrunken, und die Röte war ihm in die Wangen gestiegen, aber er bewahrte seine Würde, obwohl er mit den Augen seine Braut liebkoste und sich zu ihr hinüberneigte. Morgause beobachtete die Szene und meinte dann verächtlich: «Meine kleine Schwester hat also schließlich doch noch ihren König bekommen. Ein Königreich, gewiß, und eine schöne Stadt und ein weites Land. Aber einen alten Mann, der bald fünfzig wird und schon Söhne hat ...» Sie strich sich die Vorderseite ihres Kleides glatt. «Lot mag ein Heißsporn sein, wie Ihr ihn genannt habt, aber er ist ein Mann.» Es war ein Köder, aber ich biß nicht an. Ich sagte: «Wo ist er, daß er nicht zur Hochzeit kommen konnte?» Zu meiner Überraschung antwortete sie ganz gelassen und gab das hämische Versteckspiel offenbar auf. Lot sei mit Urien, dem Mann seiner Schwester, wieder nach Northum-brien gegangen und befasse sich dort mit dem Ausbau des Schwarzen Deiches. Ich habe darüber bereits berichtet. Der Deich verläuft von den nördlichen Gewässern landeinwärts und bietet einen gewissen Schutz gegen Einfalle an der Nordostküste. Morgause schien etwas davon zu verstehen, und auch 235
ich war unwillkürlich an diesem Thema interessiert. In dem folgenden Gespräch lockerte sich die Atmosphäre, und dann stellte mir jemand eine Frage über Artus' Hochzeit und die neue junge Königin, worauf Morgause lachte und ganz ungezwungen sagte: «Was hat es für einen Sinn, Merlin danach zu fragen? Er mag alles auf der Welt verstehen, aber man braucht ihn nur nach einer Hochzeitsfeier zu befragen, und ich wette, daß er nicht einmal weiß, welche Farbe die Haare der Braut oder ihr Gewand gehabt haben!» Die Unterhaltung um uns herum belebte sich, es wurde viel gelacht, Reden wurden gehalten, und ich muß viel mehr getrunken haben, als ich gewohnt war, denn ich kann mich noch gut erinnern, wie das Fackeliicht abwechselnd hell und dunkel leuchtete, während die Unterhaltung und das Lachen in Wellen anschwoll und wieder verebbte, und zugleich spürte ich den Duft der Frau, ein süßlicher Geruch wie der des Geißblattes, der die Sinne gefangennahm wie eine Leimrute die Biene. Der Dunst des Weines durchdrang alles. Ein goldener Krug neigte sich, und mein Kelch war wieder zum Überlaufen voll. Jemand sagte lächelnd: «Trinkt, Herr.» Ich hatte einen Geschmack nach Aprikosen auf der Zunge; er war süß und stechend; die Haut fühlte sich pelzig wie eine Biene oder eine Wespe an, die auf einer Gartenmauer in der Sonne stirbt . . . und die ganze Zeit hindurch beobachteten mich fremde Augen - erst voller Aufregung und vorsichtiger Hoffnung, dann verächtlich und triumphierend . . . dann waren Bedienstete da und halfen mir, vom Stuhl aufzustehen, und ich sah, daß die Braut bereits gegangen war und König Urbgen ungeduldig auf das Zeichen an der Tür wartete, ihr ins Bett folgen zu können. Der Stuhl neben mir war leer. Um mich drängten sich die Diener und halfen mir lächelnd zurück in meine Gemächer. 6 Am nächsten Morgen hatte ich heftigere Kopfschmerzen, als ich sie jemals als Nachwirkung meiner Zauberkräfte erlebt hatte. Ich blieb den ganzen Tag in meinem Zimmer. Am darauffolgenden Tag verabschiedete ich mich von Urbgen und seiner Königin. Wir hatten vor Morgauses Ankunft eine Reihe offizieller Besprechungen geführt, 236
und jetzt konnte ich, Dankbarkeit im Herzen, die Stadt verlassen und mich in südwestlicher Richtung durch den Wild Forest auf den Weg machen; dort stand Galava, die Burg des Grafen Ector. Von Morgause verabschiedete ich mich nicht. Es war gut, wieder unterwegs zu sein, und diesmal nur mit zwei Begleitern. Morgans Eskorte hatte hauptsächlich aus ihren eigenen Leuten aus Cornwall bestanden, die bei ihr in Luguvallium geblieben waren. Die beiden Männer, die mit mir ritten, waren von Urbgen in meinen Dienst abgestellt worden; sie sollten mich bis Galava begleiten und dann zurückkehren. Meine Proteste, ich ritte lieber allein und würde in keine Gefahr geraten, fruchteten nichts; König Urbgen erklärte lediglich lächelnd, daß mich nicht einmal meine Magie gegen Wölfe oder dichten Herbstnebel oder plötzliche vorzeitige Schneefälle werde schützen können; in diesem gebirgigen Gelände könne ein plötzlicher Wintereinbruch jedem Reisenden rasch zum Verhängnis werden. Durch seine Worte wurde ich daran erinnert, daß ich jetzt nur noch den Ruf überirdischer Kräfte besaß, diese inzwischen aber verloren hatte und daher ebenso wie jeder andere einsame Reisende in diesem unwirtlichen Land dem Überfall durch Diebe und Räuber ausgesetzt war; so nahm ich die Eskorte mit Dank an und habe mir damit vermutlich das Leben gerettet. Wir ritten hinaus über die Brücke und dann durch das schöne grüne Tal, wo der Fluß, gesäumt von Erlen und Weiden, in vielen Windungen dahinfließt. Obwohl meine Kopfschmerzen vergangen waren und ich mich wieder ganz wohl fühlte, war mir eine gewisse Mattigkeit geblieben, und ich atmete die frische, mir so vertraute Luft, in der es nach Kiefern und Farnen duftete, dankbar ein. Ich erinnere mich an einen Vorfall, der mir damals unbedeutend erschien. Als wir durch das Stadttor geritten waren und die Flußbrücke überquerten, hörte ich einen schrillen Schrei, den ich zuerst einer Möwe zuschrieb, deren es hier viele gab. Dann fiel mir eine Bewegung auf, und ich blickte hinab und sah eine Frau, die, ein Kind auf dem Arm, am Flußufer unterhalb der Brücke entlangging. Das Kind schrie, und sie versuchte, es zu beruhigen. Sie sah mich, blieb regungslos stehen und schaute zu mir hinauf. Ich erkannte 237
Morgauses Kinderfrau. Dann trappelte mein Pferd von der Brücke herunter, und die Weidenbüsche verbargen Frau und Kind vor meinem Blick. Ich dachte nicht mehr an den Vorfall und hatte ihn kurz darauf wieder vergessen. Wir ritten weiter und gelangten durch Dörfer und Bauernhöfe, bei denen viel weidendes Vieh zu sehen war. Die Weiden leuchteten golden, und in den Haselnußbüschen tummelten sich die Eichhörnchen. Einige späte Schwalben sammelten sich auf den Dächern, und als wir uns dem Gebirgs- und Seengebiet näherten, das an der südlichen Grenze des ausgedehnten Waldgebietes liegt, waren die Vorberge von leuchtendem Adlerfarn, der rostgelb zwischen den Felsen hervorlugte, überzogen. An anderer Stelle bot der Wald mit seinen Eichen und Kiefern einen dunklen Eindruck. Bald erreichten wir den Rand des eigentlichen Wild Forest, wo das Dickicht jedes Sonnenlicht abhält. Kurz darauf überquerten wir den Pfad, der zur Grünen Kapelle hinaufführt. Ich hätte den Ort gern noch einmal aufgesucht, aber dies hätte unsere Reise nur verlängert, und außerdem ließ sich ein solcher Besuch viel müheloser von Galava aus durchführen. Deshalb hielten wir uns an unseren Weg und verließen die Straße bis Petrianae nicht. Heutzutage verdient diese Ortschaft kaum noch den Namen Stadt, obwohl sie in römischen Zeiten ein blühender Marktflecken gewesen ist. Es werden zwar immer noch Märkte abgehalten, wo einige Rinder, Schafe und allerlei Waren den Besitzer wechseln, aber Petrianae ist zu einem armseligen Haufen strohgedeckter Hütten herabgesunken; sein einziges Heiligtum ist ein verfallener Steinbau, in dem sich ein alter, dem Mars gewidmeter Altar befindet; er wurde hier in der Gestalt der Gottheit Cocidius verehrt. Ich sah keine Opfergaben dort, außer auf der vermoosten Treppe eine Lederschleuder, wie sie von Hirten verwendet wird, und einen Stapel von Schleudersteinen. Ich fragte mich, für welches Entkommen, von Wolf oder Räuber, der Hirte hier seinen Dank abstatten wollte. Hinter Petrianae verließen wir die Straße und bogen in die Gebirgspfade ein, die meinen Begleitern gut bekannt waren. Wir zogen ruhig dahin und genossen die warme Herbstsonne. Als wir 238
höher hinauf stiegen, war die Luft zwar noch warm, aber sie besaß eine Frische, die an den ersten Frost des kommenden Winters gemahnte. Wir rasteten, um den Pferden eine Ruhepause zu gönnen, in einem hochgelegenen, einsamen Talkessel, wo ein kleiner Bergsee eingebettet im steinigen Gras lag, und hier trafen wir auf einen Hirten, einen jener zähen Bergbewohner, die den ganzen Sommer mit ihren kleinen bläulichen Rheged-Scha-fen in den Bergen zubringen. Unten im Tal mögen Kriege geführt und Schlachten geschlagen werden, aber sie blicken nach oben, denn von dort fühlen sie sich bedroht, und beim ersten Wintereinbruch suchen sie Zuflucht in den Höhlen, ernähren sich kärglich von Schwarzbrot und gedörrten Trauben und von Pfannkuchen, die sie auf einem Feuer aus getrockneten Grassoden herstellen. Sie treiben ihre Herden zum Schutz vor der Kälte in Hürden, die aus Gesteinsbrocken am Hang aufgebaut worden sind. Manchmal hören sie keine andere menschliche Stimme von der Geburt der Lämmer bis zur Schafschur, und dann bis zum Ende des Herbstes. Dieser junge Bursche war des Redens so entwöhnt, daß er kaum ein Wort herausbrachte, und was er sagte, hatte einen so starken Akzent, daß ihn auch meine Begleiter, die aus dieser Gegend stammten, kaum verstehen konnten. Er hatte anscheinend eine Unterredung mit den Alten gehabt und schien begierig, seine Neuigkeiten weiterzugeben. Sie waren wenig erfreulich. Artus sei nach seiner Heirat noch fast einen Monat in Caerleon geblieben und habe dann mit seinen Rittern den Weg über den großen Paß nach Olicana und die Ebene von York eingeschlagen, wo er sich mit dem König von Elmet treffen wollte. Dies war für mich kaum etwas Neues, aber es war wenigstens eine Bestätigung dafür, daß es während des Spätherbstes zu keinen neuen Kriegshandlungen gekommen war. Der Schafhirte hatte sich die beste Einzelheit bis zum Schluß aufgehoben. Der Hochkönig (er nannte ihn «Jung-Emrys» mit einer solchen Mischung aus Stolz und Vertraulichkeit, daß sich seine und Artus' Wege meiner Meinung nach in vergangenen Zeiten gekreuzt haben mußten) hatte seine Königin zurückgelassen, die ein Kind erwartete. Meine Begleiter waren in 239
dieser Hinsicht skeptisch; vielleicht stimmte es, meinten sie, aber wie konnte man nach knapp einem Monat so etwas genau wissen? Ich war nicht so ungläubig. Wie ich bereits erklärt habe, erfahren die Alten ihr Wissen auf Wegen, die uns zwar unverständlich bleiben, die man aber ernst nehmen muß. Ob der junge Bursche diese Nachricht von ihnen erfahren hatte . . .? So war es. Mehr wisse er nicht. Jung-Emrys sei nach Elmet gegangen, und das Mädchen, das er geheiratet hatte, erwarte ein Kind. Der Ausdruck, den er gebrauchte, lautete: «Sie wird lammen», worauf meine Begleiter in Gelächter ausbrachen; ich aber dankte ihm und gab ihm eine Münze. Er warf mir nur noch einen kurzen Blick zu, als habe er den Einsiedler der Grünen Kapelle wiedererkannt, und kehrte dann befriedigt wieder zu seinen Schafen zurück. An jenem Abend waren wir noch weit von der nächsten Straße oder einem geeigneten Quartier entfernt, deshalb schlugen wir, als die Dunkelheit hereinbrach und Nebel aufzog, unser Lager unter hohen Fichten am Waldrand auf, und die Männer bereiteten das Abendessen zu. Ich hatte unterwegs nur Wasser getrunken, wie ich es in den Bergen, wo das Wasser rein und klar ist, gern tue; aber um die Neuigkeit, die uns der Hirte erzählt hatte, gebührend zu feiern, öffnete ich eine Flasche des Weines, den ich aus Urbgens Keller erhalten hatte. Ich wollte den Inhalt mit meinen Gefährten teilen, aber sie lehnten ab, denn sie zogen ihren eigenen dünnen Wein vor, der nach den Häuten schmeckte, in denen sie ihn mitführten. Ich aß und trank also allein, und legte mich dann zum Schlafen nieder. *** Ich kann nichts darüber schreiben, was dann geschah. Die Alten kennen die Geschichte, und vielleicht hat sie auch irgendein anderer Mann irgendwo sonst aufgezeichnet; ich kann mich nur vage an dies alles erinnern, als betrachte ich ein Traumbild durch ein dunkles, rauchiges Glas. Aber es war kein Traumbild; Traumbilder bleiben mir im Gedächtnis anschaulicher erhalten als echte Erlebnisse. Hier handelte es sich um eine Art von Wahnsinn, der von mir Besitz ergriff ausgelöst, wie ich jetzt weiß, durch eine Droge in dem Wein, den ich 240
getrunken hatte. Schon zweimal zuvor, als Morgause und ich von Angesicht zu Angesicht einander gegenüberstanden, hatte sie ihre Hexenkunst an mir ausprobiert, aber die Magie einer Anfängerin war an mir abgeprallt i wie der Kieselstein eines Kindes von einem Felsbrocken. Aber dieses letzte Mal .. . Mir fiel wieder ein, wie sich bei dem Hochzeitsmahl plötzlich das Licht um mich herum verdunkelte, während der Geruch nach Geißblatt alte Erinnerungen anderer Art lebendig machte und der Geschmack von Aprikosen an Mord gemahnte. Und wie ich, der beim Essen und Trinken Mäßigung bewahrt, betrunken ins Bett gebracht wurde. Ich entsann mich auch der Stimme, die da sagte: «Trinkt, Herr», und der grünen, wachsamen Augen. Sie mußte von neuem versucht haben, ihre Heimtücke gegen mich zu richten, und hatte dabei festgestellt, daß ihre Magie jetzt stark genug war, mich in ihren klebrigen Fäden zu fangen. Vielleicht wurde die Saat des Wahnsinns schon beim Hochzeitsmahl gesät und war so bemessen, daß die Wirkung erst später eintrat, als ich mich schon so weit entfernt hatte, daß niemand ihr die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Sie hatte ihre Dienerin bei der Brücke über den Fluß postiert, um sicher gehen zu können, daß ich die Stadt auch tatsächlich verlassen hatte. Die Hexe hatte offenbar die Droge mit einem anderen Giftstoff vermischt und in eine meiner Weinflaschen gefüllt. Sie hatte Glück gehabt. Wenn ich nicht von Guenevers Schwangerschaft erfahren hätte, wäre ich vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, die vergiftete Flasche zu öffnen. So aber hatten wir Luguvallium schon weit hinter uns gelassen, als ich das Gift trank. Wenn die mich begleitenden Männer auch davon getrunken hätten, wäre es ihnen bestimmt sehr schlecht ergangen. Morgause hätte sich nicht gescheut, hundert Unschuldige zu beseitigen, nur um Merlin, ihren Feind, zu treffen. Ich brauchte jetzt nicht weiter nach dem Motiv zu suchen, warum sie zur Hochzeit ihrer Schwester erschienen war. Was für ein Gift es auch gewesen sein mochte - meine Mäßigung betrog sie um meinen Tod. Was alles geschah, nachdem ich getrunken und mich niedergelegt hatte, kann ich nur mühsam aus den Erzählungen anderer und aus undeutlichen Bruchstücken meiner eigenen Erinnerung wieder zusammensetzen. 241
Anscheinend waren meine Begleiter während der Nacht durch mein Stöhnen aufgewacht, an meinen Schlafplatz geeilt und mußten mit Entsetzen feststellen, daß mir offenbar übel geworden war und ich heftige Schmerzen hatte; ich wand mich ächzend auf dem Boden und war offenbar schon halb bewußtlos, so daß ich nicht mehr vernünftig sprechen konnte. Sie taten, was sie konnten - viel war es allerdings nicht -, aber mit ihrem kräftigen Zupacken retteten si^ mir das Leben, das ich verloren hätte, wäre ich allein gewesen. Sie brachten mich zum Erbrechen, hüllten mich zusätzlich in ihre eigenen Wolldecken ein, damit mir wärmer wurde, und schürten das Feuer. Dann blieb der eine von ihnen an meiner Seite, während sich der andere auf den Weg machte, um Hilfe oder eine bessere Unterkunft zu finden. Er wollte uns auch einen ortskundigen Führer schicken und dann hinunter nach Galava reiten, um dort über alles zu berichten. Als er weg war, bemühte sich der andere nach Kräften um mich, und nach einer guten Stunde versank ich in eine Art Schlaf. Ihm gefiel mein Aussehen zwar noch immer nicht, aber als er es schließlich wagte, mich einen Augenblick allein zu lassen, um draußen unter den Bäumen seine Notdurft zu verrichten, rührte ich mich nicht und gab auch keinen Ton von mir; deshalb beschloß er, die Gelegenheit zu nutzen, um frisches Wasser aus dem Bach zu holen. Dort angekommen, fiel ihm das Feuer ein, das wieder heruntergebrannt war; er ging über den Bach und noch ein wenig weiter - höchstens dreißig Schritte, wie er später erklärte -, um mehr Holz zu sammeln. Dort lag genügend Reisig herum, und er war höchstens einige Minuten abwesend. Als er zum Lagerplatz zurückkam, war ich verschwunden, und trotz aller Suche konnte er keine Spur von mir entdecken. Man darf ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er, nachdem er über eine Stunde in dem finsteren Wald herumgeirrt und laut meinen Namen gerufen hatte, sein Pferd bestieg und hinter seinem Gefährten hergaloppierte. Über Merlin, den Zauberer, waren zu viele Geschichten erzählt worden, in denen er plötzlich wie vom Erdboden verschwunden war, als daß der einfache Geselle auch nur den geringsten Zweifel hätte haben können, was sich tatsächlich ereignet hatte. 242
Der Zauberer war verschwunden, und sie konnten nichts weiter tun, als den Vorfall zu melden und auf seine Rückkehr zu warten. *## Es war ein langer Traum. An seinen Anfang kann ich mich nicht erinnern, aber ich muß wohl - mit neuen Kräften, wie sie das Delirium dem Menschen verleihen kann - von meinem Schlafplatz weggekrochen und über die dicke Moosschicht des Waldbodens dahingeirrt sein; dann habe ich mich vielleicht, wo ich zufällig hinfiel, niedergelegt, vielleicht tief in irgendeinem Graben oder Dickicht, so daß mein Begleiter mich nicht finden konnte. Ich muß mich rechtzeitig so weit wieder erholt haben, daß ich mich vor dem Wetter schützen, auch etwas zum Essen finden und vielleicht sogar ein Feuer anzünden konnte; in den folgenden Wochen gab es viele Unwetter, aber an diese kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich entsinne mich nur noch einer Reihe von Bildern, an einen hellen und stummen Traum, in dem ich mich wie ein Geist bewegte, schwerelos und körperlos, von der Luft getragen, wie ein schwerer Körper vom Wasser emporgetragen wird. Diese Bilder, so lebhaft sie auch sind, werden in eine gefühllose Ferne hinein verkleinert, als ob ich auf eine Welt schaue, die mich kaum betrifft. So, stelle ich mir manchmal vor, müssen die körperlosen Toten über der Welt wachen, die sie verlassen haben. So irrte ich in der Tiefe des herbstlichen Waldes wie ein Gespenst durch die Nebelschwaden. Wenn ich jetzt versuche, mir die Einzelheiten wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, treten die Bilder wieder vor mein geistiges Auge. Tiefe Schluchten von Buchen, die dick mit Bucheckern umgeben waren, wo das Wildschwein nach Nahrung suchte und der Dachs seinen Bau anlegte; und die Hirsche kämpften miteinander, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Auch Wölfe gab es - der Pfad durch diese hochgelegenen Wälder heißt Wolfsweg-, aber obwohl ich für sie eine leichte Beute gewesen wäre, ließen sie mich in Ruhe, weil sie einen fetten Sommer erlebt hatten. Dann brach die erste wirkliche Winterkälte herein, Rauhreif lag in den frühen Morgenstunden auf den Zweigen, der Wald schien verlassen, der Dachs hatte sich auf sein Lager und der Hirsch ins Tal 243
zurückgezogen, die Wildgänse waren weggezogen und der Himmel leer. Dann der Schnee. Nur eine flüchtige Vision - zunächst ein leiser, umlaufender Wind, der nach dem Nachtfrost warm wirkte; der Forst hüllte sich in Nebel, die Konturen verschwammen, und dann setzte wirbelndes Schneetreiben ein und bedeckte alles mit gleißender, stummer Kälte . . . Eine Höhle, mit dem typischen Höhlengeruch, brennende Grassoden und der Geschmack von Wein, und Stimmen in dem rauhen Tonfall der Alten, gerade so weit entfernt, daß ich sie nicht mehr verstehen konnte. Der Gestank schlecht gegerbter Wolfsfelle, der stechende Biß des Ungeziefers in meinen Kleidern und dann auf einmal ein Alptraum, als seien mir die Glieder gefesselt und ein Gewicht drücke mich nieder. Dann kommt eine lange dunkle Lücke, aber danach scheint wieder die Sonne, neues Grün und die ersten Vogelstimmen machen sich bemerkbar, und dann plötzlich eine Vision, so scharf umrissen wie das erste Frühlingserlebnis eines Kindes, von dicken Polstern aus Schöllkraut, die golden glänzen. Und das Leben regt sich wieder im Wald; die mageren Füchse kommen ans Tageslicht, die Erde hebt sich über den Dachsbehausungen, die Hirsche ziehen wehrlos und ohne Geweih vorbei, und das Wildschwein geht auf Nahrungssuche. Und dann ein absurdes, undeutliches Traumbild, in dem mir ein Frischling begegnet, der noch die Streifen und die lange, seidige Behaarung der ersten Monate hat; er humpelte auf einem gebrochenen Lauf dahin und war von seinesgleichen verlassen worden. Dann plötzlich, in der grauen Morgendämmerung, das Geräusch galoppierender Pferde, das im Wald widerhallt, und das Aufeinanderschlagen von Schwertern und Äxten, die Schreie verletzter Tiere und Menschen, und dann, wie ein greller, auf- und abebbender Traum voller Gewalttat, ein tagelanger Kampf, der in einer unheimlichen Stille und mit dem Geruch nach Blut und zertrampeltem Adlerfarn endete.
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Dann Schweigen, und der Duft von Apfelbäumen und jener unheimliche Gram, der einen überfällt, wenn man beim Erwachen wieder einen Verlust spürt, den man im Schlaf vergessen hatte.
7 «Merlin!» hörte ich Artus sagen. «Merlin!» Ich schlug die Augen auf. Ich lag im Bett in einem Zimmer, das hoch und luftig zu sein schien. Die helle Morgensonne schien herein und fiel auf behauene Steinwände, die eine Rundung hatten, was auf das Innere eines Turmes schließen ließ. Hinter dem Fenstersims erkannte ich Baumwipfel, die sich gegen die Wolken abhoben. Die Luft bewegte sich leicht und war kühl, aber im Zimmer brannte ein Kohlenbecken, und ich lag bequem unter Wolldecken und Bettzeug aus Leinen, das nach Zedernholz duftete. Irgendwelche Krauter waren auf die Holzkohle des Feuerbeckens geworfen worden; der schwache Rauch roch frisch und harzig. Die Wände waren kahl, aber dicke, schiefergraue Schafsfelle lagen auf dem Boden, und ein schlichtes Kreuz aus Olivenholz hing gegenüber dem Bett an der Wand. Ein christlicher Haushalt und, nach dem äußeren Anschein, der einer wohlhabenden Familie. Neben dem Bett standen auf einem Tischchen aus vergoldetem Holz ein Krug und ein Trinkgefäß aus sami-scher Töpferware, sowie eine Schüssel aus getriebenem Silber. In der Nähe befand sich ein Hocker, wo ein Diener gesessen haben mußte, der mich beobachtete; jetzt stand er aufrecht mit dem Rücken gegen die Wand und hielt den Blick nicht auf mich, sondern auf den König gerichtet. Artus atmete hörbar aus, und etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und seine Wangen waren unter den Backenknochen eingefallen. Der letzte Rest seiner Jugend war vergangen; hier stand ein Mann, der sich selbst und seine Gefolgschaft durch eisernen Willen bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit vorwärtstrieb.
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Er kniete neben dem Bett. Als ich die Augen bewegte, um ihn anzuschauen, ergriff er mit rascher Bewegung mein Handgelenk. Ich konnte die Schwielen an seiner Handfläche spüren. «Merlin? Erkennst du mich? Kannst du sprechen?» Ich versuchte vergeblich, ein Wort zu formen. Meine Lippen waren trocken und aufgesprungen. Ich war klar bei Bewußtsein, aber mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Der Arm des Königs legte sich um mich, stützte mich, und auf ein Zeichen von ihm trat der Diener vor und füllte das Trinkgefäß. Artus nahm es ihm ab und hielt es mir an den Mund. Es war ein süßes und starkes Mittel zur Stärkung. Er erhielt von dem Mann ein Tuch, wischte mir die Lippen damit ab und ließ mich wieder in die Kissen zurücksinken. Ich lächelte ihm zu. Es muß kaum mehr als eine schwache Muskelbewegung gewesen sein. Ich versuchte, seinen Namen zu nennen: «Emrys.» Ich konnte keinen Ton wahrnehmen. Das Wort kam höchstens als ein Hauch aus meinem Mund. Seine Hand legte sich wieder über die meinige. «Versuche nicht, zu sprechen. Ich hätte dich nicht dazu auffordern sollen. Du lebst, und nur darauf kommt es an. Bleib jetzt ruhig liegen.» Mein wandernder Blick fiel auf einen Gegenstand, der hinter ihm lag; es war meine Harfe, die sich auf einem Stuhl an der Wand befand. Ich sagte, ohne auch jetzt noch ein Wort herauszubringen: «Du hast meine Harfe gefunden», und mich ergriffen Erleichterung und Freude, als müsse jetzt irgendwie alles wieder gut werden. Er folgte meinem Blick. «Ja, wir haben sie gefunden. Sie ist unversehrt. Bleib jetzt ruhig liegen, mein Lieber. Alles ist wieder gut. Alles ist gut, wirklich ...» Ich versuchte wieder, seinen Namen auszusprechen, aber es gelang mir nicht, und ich sank wieder in das Dunkel zurück. Ganz schwach, wie Bewegungen aus der Traumwelt im Jenseits, nahm ich wahr, wie Anordnungen erteilt und leise gesprochen wurde, wie die Dienerschaft umhereilte; ich
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hörte das Trippeln von Pantoffeln und das Rascheln von Frauengewändern, dann Stimmen, und jemand berührte mich mit kühlen Händen. Dann die Tröstung des Vergessens. **# Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich frisch, als hätte ich einen langen Schlaf hinter mir. Mein Kopf war klar, die Glieder sehr schwach, aber es waren meine eigenen. Ich spürte Hunger und war dankbar dafür. Ich bewegte versuchsweise meinen Kopf, dann die Hände. Sie fühlten sich steif und schwer an, aber sie gehörten zu mir. Wo ich auch herumgeirrt sein mochte - ich war in meinen eigenen Körper zurückgekehrt. Ich hatte die Traumwelt der letzten Tage verlassen. Das Licht fiel jetzt anders ein; es mußte also Abend geworden sein. Ein Diener - jetzt ein anderer - stand wartend neben der Tür. Aber eines war noch dasselbe: Artus war bei mir geblieben. Er hatte sich den Hocker herangezogen und saß neben dem Bett. Er wandte den Kopf und sah, daß ich ihn beobachtete. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Mit einer raschen Bewegung legte er wieder die Hand auf die meinige, wie es ein Arzt tut, der am Handgelenk den Puls mißt. «Bei Gott», sagte er, «du hast uns einen Schrecken eingejagt! Was ist denn geschehen? Nein, nein, denk jetzt nicht daran. Später wirst du uns alles erzählen, woran du dich noch erinnern kannst . . . Jetzt wissen wir wenigstens, daß du in Sicherheit und am Leben geblieben bist. Du siehst besser aus. Wie fühlst du dich?» «Ich habe geträumt.» Meine Stimme war die eines anderen; sie schien von irgendwo herzukommen, aus der Luft, fast so, als besäße sie ein Eigenleben. Sie war so schwach wie das Wimmern des Frischlings, als ich ihm den gebrochenen Lauf einrichtete. «Ich glaube, ich bin krank gewesen.» «Krank?» Er lachte kurz auf, aber es klang freudlos. «Du bist einfach wahnsinnig gewesen, mein lieber Prophet des Königs. Ich glaubte schon, du habest völlig den Verstand
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verloren, und fürchtete, daß du nie wieder in unseren Kreis zurückkehren würdest.» «Es muß irgendein Fieber gewesen sein. Ich kann mich nicht genau erinnern ...»Ich runzelte die Augenbrauen und dachte scharf nach. «Ja, ich befand mich mit zwei Begleitern von Urbgen auf dem Weg nach Galava. Wir schlugen in der Nähe des Wolfspfades unser Lager auf und . . . Wo bin ich jetzt?» «In Galava. Dies ist Ectors Burg. Du bist daheim.» Die Burg war Artus' Heim und nicht das meinige gewesen; denn aus Gründen der Geheimhaltung hatte ich selbst nie auf der Burg gewohnt, sondern die Jahre im Wald, oben bei der Grünen Kapelle, verbracht. Aber als ich jetzt den Kopf wandte und die vertrauten Düfte nach Fichten und Seewasser, sowie den Geruch des fruchtbaren Bodens von Drusillas Gartenerde unterhalb des Turms in mich aufnahm, überkam mich tiefe Ruhe, wie wenn man im Nebel plötzlich ein bekanntes Licht erblickt. «Die Schlacht, die ich gesehen habe», sagte ich, «hat sie tatsächlich stattgefunden, oder habe ich mir alles nur eingebildet?» «Oh, die war durchaus echt. Aber versuche jetzt noch nicht, darüber zu sprechen. Glaube mir, daß alles in Ordnung ist. Aber jetzt solltest du dich wieder ausruhen. Wie fühlst du dich?» «Ich habe Hunger.» Daraufhin entstand eine neue Geschäftigkeit. Diener brachten Brühe und Brot und weitere Stärkungsmittel, und die Gräfin Drusilla half mir persönlich beim Essen und überließ mich, wie schon vorher, einem willkommenen und traumlosen Schlaf. *** Wieder wurde es Morgen, und ich sah dasselbe helle Licht, bei dem ich zum ersten Mal erwacht war. Ich fühlte mich noch schwach, konnte aber meine Glieder wieder bewegen. Anscheinend hatte der König befohlen, gerufen zu werden, sobald ich erwachte, aber dies wollte ich nicht zulassen, solange ich nicht gebadet und rasiert worden war und etwas gegessen hatte. 248
Als er schließlich kam, sah er ganz anders aus. Die Schatten unter seinen Augen waren fast vergangen, und sein wettergegerbtes Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe bekommen. Auch etwas von seinem eigenen, persönlichen Wesen schien zurückgekehrt: jene Kraft der Jugend, aus der die Menschen, wie von einer Quelle, trinken und neue Kraft schöpfen. Ich mußte ihn über meine eigene Genesung erst beruhigen, bevor er mich sprechen lassen wollte, aber schließlich ließ er sich herbei, mir die neuesten Nachrichten zu erzählen. «Das letzte, was ich hörte», sagte ich ihm, «war, daß du nach Elmet gegangen warst . . . Aber das ist jetzt längst Vergangenheit. Ich nehme an, daß der Waffenstillstand gebrochen wurde. Was war das für eine Schlacht, die ich sah? Sie muß irgendwo hier oben, im kaledonischen Wald, stattgefunden haben. Wer war beteiligt?» Er sah mich an - meines Erachtens etwas merkwürdig -antwortete dann aber prompt. «Urbgen rief mich herbei. Der Feind war quer durch das Land bis nach Strathclyde eingefallen, und Caw gelang es nicht, ihn aufzuhalten. Die feindlichen Heere hätten durch den Wald bis zur Straße durchstoßen können. Ich trat ihnen entgegen, trieb sie auseinander und schlug sie zurück. Die Reste flohen in südlicher Richtung. Ich hätte ihre Verfolgung sofort einleiten sollen, aber dann fanden wir dich, und ich mußte bleiben . . . Wie hätte ich mich erneut in Marsch setzen können, bevor ich genau wußte, daß du wieder daheim und gut versorgt warst?» «Ich habe das Gefecht also tatsächlich gesehen? Ich habe mich schon gefragt, ob das alles nicht nur ein Teil meines Traumes gewesen ist.» «Du mußt alles miterlebt haben. Die Kämpfe zogen sich durch den Wald und dort am Fluß entlang. Du kennst das Gelände: Es ist im allgemeinen offen mit einem schütteren Baumbestand, hauptsächlich Birken und Erlen - genau das richtige Gelände für einen Überraschungsangriff mit leichter Kavallerie. Wir hatten den Berg im Rücken und griffen die Feinde an, als sie die Furt erreichten. Der Fluß führte viel Wasser; für Reiter kein Hindernis, aber für Fußsoldaten eine Falle . . . Später, als wir von der 249
ersten Verfolgung zurückkamen, liefen die Leute mit der Nachricht auf mich zu, du seist wieder da. Man habe dich gefunden, als du unter den Toten und Verwundeten umhergewandert seist und den Ärzten Anweisungen erteilt habest . . . Zuerst hat dich niemand erkannt, aber dann wurde gemunkelt, Merlins Geist sei plötzlich erschienen.» Ein kleines, schiefes Lächeln. «Ich nehme an, daß der Rat des Geistes nicht schlecht gewesen ist, wie schon so oft. Aber das Gemunkel führte natürlich dazu, daß sich die Leute ängstigten, und einige Narren begannen, Steine zu werfen, um dich zu vertreiben. Einer der Bediensteten, ein Mann namens Paulus, erkannte dich und setzte den Geistergeschichten ein Ende. Er folgte dir bis zu der Stelle, wo du lebtest, und ließ mich dann benachrichtigen.» «Paulus. Ja, gewiß. Ein guter Mann. Ich habe oft mit ihm zusammengearbeitet. Und wo lebte ich?» «In einer kleinen Turmruine, die mitten in einem alten Obstgarten lag. Kannst du dich daran nicht erinnern?» «Nein. Aber irgend etwas dämmert mir jetzt. Ein Turm, ja, verfallen, lauter Efeu und Eulen. Und Apfelbäume?» «Ja. Das ganze war kaum mehr als ein Steinhaufen, mit Adlerfarnen als Schlafplatz, und Haufen verrottender Äpfel und einem Vorrat an Nüssen; Lumpen hingen zum Trocknen an den Ästen der Apfelbäume.» Er hielt inne, um sich zu räuspern. «Zuerst hielten dich die Leute für einen jener in der Wildnis lebenden Einsiedler, und tatsächlich, als ich dich zum ersten Mal wiedersah ...» Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. «Du schienst in diese Rolle noch besser hineingewachsen zu sein als damals bei der Grünen Kapelle.» «Das kann ich mir vorstellen.» Ich hatte, bevor man mich rasierte, einen langen grauen Vollbart gehabt, und meine Hände, die zerbrechlich auf der hellen Decke lagen, sahen mager und alt aus, als würden die Knochen nur durch ein Netz knotiger Adern zusammengehalten. «Dann brachten wir dich hierher. Ich mußte kurz darauf wieder in den Süden ziehen, wir holten den Feind bei Caer Guinnion ein und 250
schlugen dort eine blutige Schlacht. Alles ging gut aus, aber dann kam ein reitender Bote von Galava mit weiteren Nachrichten über dich. Als wir dich fanden und dich hierher brachten, warst du zwar kräftig genug, um auf den Beinen stehen zu können, aber du schienst geistig verwirrt; du erkanntest niemanden, und du sprachst von Dingen, die überhaupt keinen Sinn abgaben; doch als du hier erst einmal in die Obhut der Frauen gelangt warst, verfielst du in tiefen Schlaf. Der Bote erreichte mich nach der Schlacht und berichtete, du seist noch nicht aufgewacht. Anscheinend habest du hohes Fieber und redetest immer noch wirres Zeug, und dann seist du schließlich so lange bewußtlos gewesen, daß man dich für tot gehalten und den Kurier zu mir entsandt habe. Ich kam darauf hierher, sobald ich konnte.» Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn an. Aus dem Fenster fiel sehr helles Licht herein. Er sah dies und gab dem Sklaven ein Zeichen, den Vorhang vorzuziehen. «Wie war es also genau? Nachdem ihr mich im Wald gefunden und nach Galava gebracht hattest, gingst du in den Süden. Und dort kam es zu einem weiteren Gefecht? Artus, wie lange bin ich schon hier?» «Drei Wochen sind vergangen, seit wir dich fanden. Aber es sind volle sieben Monate vergangen, seit du angefangen hast, im Wald herumzuirren und die Orientierung zu verlieren. Du warst den ganzen Winter verschwunden. Ist es denn dann ein Wunder, daß wir glaubten, du seist tot?» «Sieben Monate?» Oft habe ich als Arzt diese Art von Antwort meinen Patienten geben müssen, die lange Zeit gefiebert oder im Koma gelegen hatten, und jedesmal habe ich bei ihnen denselben ungläubigen, beinahe entsetzten Blick erlebt. Jetzt hatte ich selbst diese Empfindung. Zu wissen, daß ein halbes Jahr einfach aus dem Leben herausgefallen war, und noch dazu dieses halbe Jahr . . . Was hätte in diesen Monaten nicht alles in einem Lande geschehen sein können, das so zerrissen und von Kämpfen geschüttelt war wie das meinige? Und was hätte dem König zustoßen können? Andere Dinge, die bis jetzt im Nebel der Krankheit vergessen schienen, stiegen wieder in mir auf. 251
Während ich ihn ansah, bemerkte ich von neuem, und nicht ohne Besorgnis, die eingefallenen Wangen und die Spuren schlafloser Nächte unter seinen Augen. Und das bei Artus, der einen Wolfshunger gehabt und wie ein Kind geschlafen hatte! Im Felde hatte er keine Rückschläge erlitten; sein Waffenruhm war ungeschmälert erhalten geblieben. Auch die Sorge um mich konnte ihn nicht in diesen Zustand versetzt haben. Es blieb also nur seine Familie übrig. «Emrys, was ist geschehen?» Wieder kam mir an dieser Stelle der Name aus der Kindheit ganz natürlich über die Lippen. Ich sah, wie er das Gesicht verzog, als schmerze ihn die Vergangenheit. Er neigte den Kopf und blickte auf die Wolldecke hinunter. «Meine Mutter, die Königin. Sie ist tot.» Die Erinnerung regte sich. War es die Frau, die in dem großen, mit reichen Behängen verzierten Bett lag? Ich hatte es also gewußt. «Es tut mir leid», sagte ich. «Ich hörte kurz vor der Schlacht bei Caer Guinnion davon. Lucan überbrachte die Nachricht, mit dem Andenken, das du ihm hinterlassen hattest. Du weißt doch, die Brosche mit dem christlichen Symbol? Ihr Tod war keine Überraschung. Wir hatten damit gerechnet. Aber ich glaube, daß der Gram ihren Tod noch beschleunigt hat.» «Gram? Wieso, war da . . .?»Ich brach ab. Es kam mir jetzt klar wieder in die Erinnerung zurück - die Nacht im Wald und die Weinflasche, die ich geöffnet hatte, um sie mit meinen Begleitern zu leeren. Und warum. Die Vision regte sich wieder, die im Mondlicht liegende Kammer und die wehenden Vorgänge und die tote Frau. Etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich sagte gepreßt: «Guenever?» Er nickte, ohne aufzublicken. Ich fragte, obwohl ich die Antwort schon kannte: «Und das Kind?» Er hob rasch den Kopf: «Du hast es gewußt? Ja, natürlich, du mußt es gewußt haben . . . Sie hat es nicht zur Welt gebracht. Es hieß, sie erwarte ein Kind, aber kurz vor Weihnachten setzten Blutungen ein, 252
und dann starb sie zu Neujahr unter großen Schmerzen. Wenn du dagewesen wärest. . .»Er brach ab, schluckte und schwieg. «Es tut mir leid», wiederholte ich. In einem Ton, der fast zornig klang, fuhr er fort: «Wir dachten, auch du seist tot. Dann, nach der Schlacht, warst du wieder da, heruntergekommen, alt und verrückt, aber die Feldschere meinten, du würdest dich vielleicht wieder erholen. Wenigstens dies war mir aus den Trümmerhaufen des Winters geblieben . . . Dann mußte ich dich verlassen, um nach Caer Guinnion zu ziehen. Ich gewann das Gefecht, gewiß, aber ich verlor dabei einige gute Männer. Dann traf kurz darauf Ectors Kurier ein und überbrachte die Nachricht, du seist tot. Als ich gestern bei Tagesanbruch herkam, rechnete ich damit, daß du bereits begraben oder verbrannt wärst.» Er verstummte, stützte die Stirn auf die geballte Faust und blieb eine Weile so sitzen. Der regungslos am Fenster stehende Diener fing meinen Blick auf und ging leise hinaus. Kurz darauf hob Artus den Kopf und sagte in seinem normalen Tonfall: «Verzeih mir. Während des langen Rittes nach Norden mußte ich immer wieder daran denken, was du über einen schmählichen Tod gesagt hast. Es war schwer zu ertragen.» «Aber jetzt bin ich hier, unversehrt und bei klarem Verstand, und ich werde mich bestimmt weiter erholen, wenn du mir alles erzählst, was sich in den letzten sechs Monaten zugetragen hat. Sei jetzt bitte so freundlich, mir etwas von dem Wein dort einzuschenken, und dann komm bitte, wenn es dir nichts ausmacht, wieder auf deine Reise nach Elmet zu sprechen.» Er gehorchte mir, und nach einer Weile lockerte sich das Gespräch. Er sprach von seinem Ritt über den Paß nach Olicana und was er dort vorgefunden hatte, sowie von seiner Zusammenkunft mit dem König von Elmet. Dann erzählte er von seiner Rückkehr nach Caerleon, der Fehlgeburt der Königin und deren Tod. Diesmal war er imstande, auf meine Fragen zu antworten, und zuletzt konnte ich ihm die wenig tröstliche Gewißheit geben, daß auch ich mit meiner Anwesenheit am Hof der jungen Königin nicht hätte helfen können. Ihre Ärzte seien 253
erfahren im Umgang mit Arzneien gewesen und hätten ihr die schlimmsten Schmerzen erspart; mehr hätte ich auch nicht tun können. Über der Empfängnis des Kindes habe ein Unglücksstern gestanden; nichts hätte es selbst oder seine Mutter retten können. Nachdem er sich angehört hatte, was ich ihm zu sagen hatte, schien er sich zu beruhigen und wechselte das Thema. Er wollte unbedingt wissen, was sich nach dem Hochzeitsmahl in Luguvallium zugetragen hatte, was mir zugestoßen sei und warum ich mich an so wenig erinnern konnte. «Weißt du denn nicht mehr, wie du zu dem Turm, wo wir dich fanden, gelangt bist?» «Kaum. Aber es fällt mir Stück für Stück wieder ein. Ich muß in dem Waldgebiet herumgeirrt sein und mich bis zum Winter irgendwie am Leben erhalten haben. Dann müssen mich irgendwelche primitiven Bergbewohner aufgelesen und mich versorgt haben. Sonst hätte ich den Schnee wahrscheinlich nicht überlebt. Ich dachte, es könnten einige von Mabs Leuten, den Alten aus dem Bergland gewesen sein; aber wenn es so war, hätten sie dir sicherlich Nachricht zukommen lassen.» «Das taten sie auch. Ich wurde unterrichtet, aber erst, als du wieder verschwunden warst. Wie üblich, wurden die Alten oben in ihren Höhlen über den Winter eingeschneit, und du mit ihnen. Bei der Schneeschmelze gingen sie auf die Jagd, und als sie in die Höhlen zurückkamen, warst du nicht mehr da. Von ihnen erfuhr ich zuerst, daß du den Verstand verloren hattest. Sie hätten dich anbinden müssen, sagten sie, aber dann habest du dich immer wieder beruhigt und seist sehr schwach gewesen; bei einer solchen Gelegenheit hätten sie dich allein gelassen. Als sie zurückkehrten, seist du fort gewesen.» «Ich erinnere mich, daß man mich festgebunden hat. Ja. Danach muß ich wohl bergab gewandert und schließlich in der Ruine nahe der Furt angelangt sein. In meinen wirren Gedanken muß ich mir gedacht haben, immer noch auf dem Weg nach Galava zu sein. Es war Frühling; daran kann ich mich noch erinnern. Dann muß das Gefecht 254
über mich hinweggegangen sein, und du hast mich dort im Wald gefunden. Davon weiß ich nichts mehr.» Er erzählte mir noch einmal, wie man mich, abgemagert und verwahrlost und sinnloses Zeug vor mich her redend, in dem halb verfallenen Türmchen gefunden habe; um mich herum hätten ein Eichhörnchenvorrat an Eicheln und Bucheckern und getrockneten Äpfeln gelegen; außerdem sei da ein junges Wildschwein mit einem geschienten Bein gewesen. «Das ist also Wirklichkeit!» sagte ich lächelnd. «Ich entsinne mich, das Tier gefunden und sein Bein geheilt zu haben, aber an mehr kann ich mich nicht mehr erinnern. Wenn es mir so schlecht gegangen ist, wie du sagst, dann war es noch edel von mir, den kleinen Frischling nicht aufgegessen zu haben. Was ist aus ihm geworden?» «Er ist hier in Ectors Ställen.» Ein erster Anflug von Humor umspielte seine Lippen. «Und ich glaube, er ist für ein langes Leben ausersehen. Keiner der Stallknechte würde wagen, Hand an das private Schwein des Zauberers zu legen, das sich zu einem kräftigen Keiler zu entwickeln scheint; es wird also schließlich der unbestrittene Herr des Schweinestalles werden, was nicht mehr als recht und billig ist. Merlin, du hast mir alles erzählt, woran du dich erinnern kannst, nachdem du dort oben auf dem Wolfspfad das Lager aufgeschlagen hast; was ist vorher geschehen? Was hat dich krank gemacht? Urbgens Leute sagen, es sei ganz plötzlich über dich gekommen. Sie glaubten, es sei Gift gewesen, und auch ich war dieser Meinung. Ich fragte mich, ob die Hexe dich nach dem Hochzeitsmahl hatte verfolgen lassen, und ob eine ihrer Kreaturen dich in jener Nacht, als deine Begleiter nicht aufpaßten, aus dem Bett gezerrt hatte. Aber wenn es so gewesen ist, hätten sie dich sicher umgebracht. Gegen jene beiden Männer bestand keinerlei Verdacht; Urbgen hatte sie persönlich für diesen Auftrag ausgesucht.» «So ist es. Es waren brave Burschen, und ich verdanke ihnen mein Leben.» «Sie haben mir gesagt, daß du an jenem Abend Wein aus deiner eigenen Flasche getrunken hast. Sie haben davon nicht mitgetrunken. Sie erklärten außerdem, du seist bei dem Hochzeitsmahl betrunken 255
gewesen. Du? Ich habe nie gesehen, daß du dich beim Wein übernommen hättest. Und du saßest neben Morgause. Hast du irgendeinen Grund zu der Annahme, daß sie dir etwas in den Wein geschüttet hat?» Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, und bis auf den heutigen Tag schwöre ich, daß das Wort auf meinen Lippen «ja» lautete. Dies war meines Wissens die Wahrheit. Aber ein Gott mußte mich gehindert haben, es auszusprechen. Statt dem «Ja», das ich in meinen Gedanken geformt hatte, sagten meine Lippen: «Nein». Meine Redeweise muß seltsam geklungen haben, denn ich merkte, wie er mich erstaunt und mit zusammengekniffenen Augen ansah. Sein Blick bereitete mir Unbehagen, und ich ging näher auf seine Frage ein. «Wie soll ich es wissen? Ich glaube es nicht. Ich habe dir ja gesagt, daß ich keine Kraft mehr besitze, aber die Hexe konnte das nicht wissen. Sie fürchtet mich noch immer. Sie hat schon früher versucht, nicht nur einmal, sondern zweimal, mich in ihren Bann zu schlagen. Beide Male gelang es ihr nicht, und ich glaube, sie hätte es nicht noch einmal versucht.» Er schwieg eine Weile. Dann sagte er kurz: «Als meine Königin starb, wurde von Gift geredet. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht.» Dagegen konnte ich wahrheitsgemäß protestieren. «Ein solches Gerede entsteht immer, aber du darfst es nicht ernst nehmen! Nach allem, was du mir erzählt hast, bin ich sicher, daß es dazu nicht gekommen ist. Außerdem - wie denn?» fügte ich so überzeugend, wie ich konnte, hinzu. «Du kannst es mir glauben, Artus. Falls sie schuldig wäre, siehst du dann irgendeinen Grund, warum ich Morgause vor dir in Schutz nehmen sollte?» Er schien noch immer zu zweifeln, ging aber nicht näher auf dieses Thema ein. «Schön», sagte er lediglich. «Für eine Weile sind ihr jetzt sowieso die Flügel beschnitten. Sie ist wieder in Orkney, und Lot ist tot.» Ich nahm diese Nachricht schweigend auf. Sie war ein weiterer Schock. In den letzten Monaten hatte sich viel verändert. «Wie?» fragte ich ihn. «Und wann?» 256
«In dem Waldgefecht. Ich kann nicht sagen, daß ich ihm nachtrauere, außer daß er diese Ratte Aguisel unter der Fuchtel hatte, und ich bin überzeugt, daß ich von der Seite noch Ärger bekommen werde.» Ich sagte langsam: «Jetzt fällt mir noch etwas anderes ein. Während der Kämpfe im Wald hörte ich die Leute sich zurufen, der König sei tot. Es erfüllte mich mit hilfloser Trauer. Für mich gibt es nur einen einzigen König . . . Aber sie müssen Lot gemeint haben. Gewiß, Lot war das Böse in Person. Jetzt wird Urien im Nordosten nach Belieben schalten und walten können, und Aguisel mit ihm . . . Aber dafür haben wir noch genügend Zeit. Wie steht es um Morgause? In Luguvallium erwartete sie ein Kind; sie müßte es inzwischen zur Welt gebracht haben. Ist es ein Knabe?» «Zwei. Zwillinge, die in Dunpeldyr geboren wurden. Sie begab sich wieder zu Lot nach Morgans Hochzeit. Hexe hin oder her», sagte er mit einem Anflug von Bitterkeit, «sie bringt jedenfalls viele Söhne zur Welt. Als Lot hier in Rheged zu uns stieß, meinte er prahlerisch, er habe, bevor er Dunpeldyr verließ, wieder einen Sohn gezeugt.» Er betrachtete seine Hände. «Du mußt bei der Hochzeit doch auch mit ihr gesprochen haben. Hast du etwas über den anderen Knaben in Erfahrung bringen können?» Es erübrigte sich zu fragen, welchen Knaben er meinte. Anscheinend konnte er es nicht über sich bringen, zu sagen, «über meinen Sohn». «Nur, daß erlebt.» Er warf mir einen schnellen Blick zu. In seinen Augen blitzte kurz etwas auf. Aber ich war sicher, daß es ein Ausdruck der Freude war. Noch vor kurzer Zeit hatte er das Kind in der Absicht gesucht, es umzubringen. Ich sagte in einem Tonfall, der mein mitleidiges Bedauern verschleiern sollte: «Sie hat mir gesagt, daß sie nicht wisse, wo er sich befindet. Vielleicht lügt sie, aber ich bin mir dessen nicht sicher. Offenbar hat sie ihn vor Lot in Sicherheit gebracht. Aber jetzt holt sie ihn vielleicht wieder ans Tageslicht. Wen hat sie jetzt, da Lot nicht mehr lebt, noch zu fürchten? Außer vielleicht dich?» 257
Er schaute wieder auf seine Hände hinunter. «In dieser Beziehung braucht sie jetzt keine Angst mehr vor mir zu haben», sagte er tonlos. An mehr kann ich mich von diesem Gespräch nicht erinnern. Ich hörte jemanden sprechen, aber die Worte schienen wie ein geflüstertes Echo um die gerundeten Turmmauern herumzugehen, oder es waren Worte, die nur in meinem eigenen Kopf erklangen: «Sie ist die falscheste Frau, die zur Zeit auf dieser Erde lebt, aber sie muß ihre vier Söhne, die sie vom König von Orkney empfangen hat, aufziehen, denn aus ihnen werden deine treuesten Gefolgsleute und die Tapfersten deiner Ritter werden.» Dann muß ich die Augen geschlossen haben, denn eine Woge der Erschöpfung übermannte mich. Als ich sie wieder aufschlug, war es dunkel, und Artus war fort. Der Diener kniete neben dem Bett und reichte mir eine Schüssel mit Suppe. 8 Ich bin ein kräftiger Mann und genese schnell. Kurz danach war ich schon wieder auf den Beinen und zwei oder drei Wochen später wieder soweit erholt, daß ich Artus in den Süden nachreiten konnte. Er war am nächsten Morgen in Richtung Caerleon geritten. Bald darauf hatte ein Kurier die Nachricht überbracht, daß Langschiffe in der Mündung des Severn gesichtet worden seien; es sah also so aus, als ob der König bald wieder in den Kampf ziehen müßte. Ich wäre gern noch etwas länger in Galava geblieben, um den Sommer in der mir so vertrauten Gegend zu verbringen und meine alten Schlupfwinkel im Wald wieder aufzusuchen. Aber nach der Ankunft des Kuriers hielt ich es für an der Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen, obwohl Ector und Drusilla mich zum Bleiben aufforderten. Die jetzt bevorstehende Schlacht würde von Caerleon aus stattfinden. Es war sogar möglich (hieß es in der Kuriermeldung), daß die Eindringlinge versuchen würden, die Hochburg ihres Hauptgegners und sein Versorgungszentrum zu zerstören. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß Caerleon von Artus gehalten werden würde, aber es war für mich Zeit, nach Caer Camel zurückzukehren, um nachzusehen, was Derwen während meiner Abwesenheit geleistet hatte. 258
Es war Hochsommer, als ich den Ort wiedersah, und Derwens Mannschaft hatte Wunder gewirkt. Dort stand die Festung auf dem Tafelberg. Ein Traum war Wirklichkeit geworden. Die Außenwerke waren vollendet: die große doppelte Mauer aus behauenem Stein mit ihrer Holzverkleidung am oberen Rand, die auf der Höhe des Steilhanges den ganzen Berg zu krönen schien. Sie wurde an zwei gegenüberliegenden Ecken von großen Toren durchbrochen; auch diese waren fertig- und eindrucksvoll. Große, doppelflügeli-ge Eichentore, die mit Eisen beschlagen waren, standen offen; sie waren zurückgezogen, um die unterirdischen Gänge zu verschließen die durch das dicke Mauerwerk hereinführten. Darüber verlief hinter den Brustwehren der Weg für die Wachposten. Und Wachposten waren auch tatsächlich da. Seit dem Winter, erzählte mir Derwen, habe der König die Festung umlagert, so daß innerhalb der Mauern die Fertigstellung der Arbeiten ungestört vorangehen konnte. Und bald würde alles beendet sein. Artus habe ihn wissen lassen, daß er im Juli oder August mit seinen Rittern und der gesamten Reiterei dort sein wolle. Derwen drängte darauf, zunächst die Staatsgebäude und Gemächer des Königs fertigzustellen, aber ich kannte Artus besser. Ich hatte Anweisung gegeben, zunächst die Unterkünfte der Mannschaften und die Pferdeställe sowie die Küchen und Werkstätten zu vollenden, und dies war auch geschehen. Auch bei den zentralen Gebäuden waren gute Fortschritte erzielt worden: Der König mußte zwar zunächst behelfsmäßig in einem Holzhaus wohnen und sich mit Fellen zudecken, als stünde er noch im Felde, aber seine große Halle war bereits unter Dach, und Zimmerleute waren bei der Arbeit, um drinnen die langen Tische und Bänke herzustellen. An Hilfe aus der einheimischen Bevölkerung hatte es keinen Mangel gegeben. Das in der Nachbarschaft lebende Volk war froh, daß in der Nähe seiner Siedlungen eine feste Burg entstand, deshalb waren die Leute, wann immer sie konnten, zur Ableistung von Hilfsdiensten herbeigeeilt oder hatten unseren Handwerkern geholfen. Mit ihnen kamen viele, die zwar willens, aber zu alt oder zu jung waren, um l schwere Arbeit zu leisten. Derwen wollte sie eigentlich 259
wieder wegschicken, aber ich setzte sie ein, um die von i Gestrüpp überwucherten Gräben in der Nähe des Hauptquartiers zu säubern, wo früher einmal ein Heiligtum gestanden haben mußte. Keiner weiß, welchem Gott es geweiht ist; j aber ich kenne Soldaten und weiß, daß sie irgendeinen Mittelpunkt mit Licht und Opfergaben brauchen,' um, zu ihrem Gott in eine persönliche Beziehung zu treten, wenn Hoffnung und Glaube sie im Stich zu lassen drohen. In ähnlicher Weise setzte ich die Frauen zur Säuberung der Quelle an der nördlichen Palisade ein; sie entsprang innerhalb der Außenwerke der Befestigung. Sie führten diese Arbeiten mit großem Eifer aus, denn es war bekannt, daß diese Quelle seit grauer Vorzeit der Göttin selbst geweiht war. Seit vielen Jahren war sie vernachlässigt worden und von einem Dornengestrüpp überwuchert, das die Frauen daran hinderte, Opfergaben darzubringen und Gebete zu sprechen. Jetzt hatten die Zimmerleute das Dickicht niedergehackt, deshalb ließ ich die Frauen das Heiligtum wieder zum Leben erwecken. Sie sangen Lieder bei der Arbeit; sie hatten vermutlich befürchtet, daß ihr geheiligter Ort in dieser Männer-Enklave untergehen würde. Ich belehrte sie eines Besseren: Wenn erst einmal die Macht der Sachsen gebrochen sei, habe der Hochkönig die Absicht, daß Männer und Frauen in Frieden kommen und gehen könnten, und dann würde Caer Camel eine schöne Stadt werden und nicht nur ein Soldatenlager. Auf dem tiefergelegenen Teil der Hochfläche, in der Nähe des Nordosttores, machten wir schließlich einen Platz für die Menschen und ihr Vieh frei, wo sie Zuflucht suchten und notfalls leben konnten, bis die Gefahr vorüber war. Dann kam Artus. In der Nacht flammte der Berg plötzlich auf, und jenseits des Lichts konnte man die Spitze mit dem Leuchtturm erkennen. In der Morgensonne kam Artus mit seinen Rittern am Ufer des Sees entlang geritten. Weiß war noch immer seine Farbe; er ritt sein weißes Schlachtroß; sein Banner war weiß, ebenso sein Schild er war zu stolz, um sich den Schilden der anderen anzupassen. Er tauchte aus dem Nebel wie ein Schwan, der am Seeufer 260
dahinschwamm. Dann verschwand die Kavalkade hinter den Bäumen, die den Fluß des Berges säumten, doch das Geräusch der Pferdehufe näherte sich stetig und zog zum Königstor herauf. Das Doppeltor stand offen, um ihn zu empfangen. Neben dem neu gepflasterten Weg im Innern der Burg erwarteten ihn alle diejenigen, die diese Hochburg für ihn errichtet hatten. So zog Artus, der Herr der Heerscharen und Hochkönig unter allen anderen Königen Britanniens, in die Burg ein, die als Camelot seine eigene Heimstatt werden sollte. *** Er war natürlich sehr angetan von den Fortschritten, und an jenem Abend wurde ein Festmahl abgehalten, zu dem alle -Männer, Frauen und Kinder-, die mitgearbeitet hatten, eingeladen wurden. Er und seine Ritter saßen, gemeinsam mit Derwen und mir selbst und einigen anderen, in der großen Halle an dem langen Tisch, der erst vor kurzem mit Sand abgeschliffen worden war, so daß der Staub noch in der Luft hing und um die Fackeln einen Lichtkreis bildete. Es war ein freudiger Anlaß ohne irgendwelche Feierlichkeit - wie ein Siegesfest auf dem Schlachtfeld. Er hielt eine Art Begrüßungsansprache - von der ich mich an kein Wort mehr erinnern kann - und erhob seine Stimme so laut, daß auch die Menschen, die sich draußen vor den Türen drängten, mithören konnten; dann, als das Essen in der Halle begonnen hatte, verließ er seinen Platz am Kopf der Tafel und machte, mit einem Hammelknochen in der einen und einem Weinkelch in der anderen Hand, die Runde; er setzte sich zu dieser und jener Gruppe, er tauchte den Löffel mit den Steinmetzen in den Topf oder ließ sich von den Zimmerleuten aus dem Metfaß bedienen - und während dieser ganzen Zeit schaute und fragte und lobte er wieder in der brillanten Art, die man so gut an ihm kannte. Nach kurzer Zeit schmolz die ehrfürchtige Scheu der anderen dahin, und sie überhäuften ihn mit allerlei Fragen. Was sei in Caerleon geschehen? In Linnuis? In Rheged? Wann werde er sich ständig hier niederlassen? Sei es wahrscheinlich, daß die Sachsen so weit vorstoßen und über die Niederungen bis hierher gelangten? Wie stark sei Eosa? Waren die Geschichten, die über dieses und jenes verbreitet wurden, wahr? Auf alle diese Fragen. 261
gab er geduldige Antworten: Wenn man wisse, was einem bevorsteht, werde man jede Lage meistern; es sei die Furcht vor der Überraschung und dem Pfeil aus dem Dunklen, die auch den Stärksten in die Knie zwinge. Hier trat wieder ganz der junge König Artus auf, wie ich ihn kannte. Auch äußerlich schien er wieder so wie früher. Alle Anzeichen von Überanstrengung und Verzweiflung waren vergangen; den Kummer hatte er überwunden; hier erschien wieder der König, der aller Augen auf sich zog und jedem neue Kraft einflößte. Am nächsten Morgen würde es niemanden mehr geben, der nicht bereit gewesen wäre, für ihn sein Leben zu opfern. Daß er sich dieser Wirkung auf die Menschen bewußt war, schmälert nicht seine Größe. Wie immer führten wir vor dem Schlafengehen ein kurzes Gespräch. Er war bescheiden, aber besser als in einem Feldzelt untergebracht. Man hatte ein Lederdach über die Deckensparren seines halbfertigen Schlafgemaches gezogen und Teppiche ausgelegt. Sein Feldbett stand an der Wand, daneben der Tisch und die Leselampe, unter der er arbeitete; außerdem waren da zwei Stühle, die Kleidertruhe und der Waschtisch mit der Silberschüssel und dem Wasserkrug. Wir hatten uns seit Galava nicht mehr unter vier Augen unterhalten. Er erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand und sprach von der Arbeit, die ich auf Caer Camel geleistet hatte. Dann besprachen wir, was noch zu tun sei. Was sich bei Caerleon zugetragen hatte, war mir bereits durch die Tischrunde bekannt. Ich erwähnte die Veränderung, die in ihm vorgegangen war. Er sah mich an und schien dann nach einer Weile zu einem Entschluß gekommen zu sein. «Da ist noch etwas, was ich dir sagen wollte, Merlin. Ich weiß nicht, ob ich ein Recht dazu habe, aber ich werde es trotzdem sagen. Als du in Galava krank darniederlagst, mußt du irgendwie gespürt haben, was in mir vorging. Das war doch ganz natürlich. Wie immer belastete ich dich mit allen meinen Problemen - gleichgültig, ob du sie bei deinem Zustand ertragen konntest oder nicht.» «Daran kann ich mich nicht erinnern. Wir sprachen miteinander, gewiß. Ich fragte dich, was geschehen sei, und du hast es mir erzählt.» 262
«So ist es. Jetzt bitte ich dich, mir wieder deinen Rat zu geben. Diesmal werde ich dir hoffentlich keine neue Last aufbürden, aber ...» Er legte eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln. Irgendwie schien er unschlüssig zu sein. Ich war gespannt, was jetzt kommen würde. Er fuhr fort: «Du hast mir einmal gesagt, daß das Leben aus Hell und Dunkel bestehe, so wie die Zeit aus Tag und Nacht. Das stimmt. Ein Unglück scheint das nächste heraufzubeschwören, und so war es bei mir. Es war eine Zeit der Dunkelheit - die erste, die ich erlebt habe. Als ich zu dir kam, war ich unter der Last der Verluste, die ich erlitten hatte, halb zusammengebrochen, als ob sich alle Welt gegen mich gewandt und mein Glück mich verlassen hätte. Der Tod meiner Mutter konnte mir nicht viel anhaben, wie du weißt, und, um die Wahrheit zu sagen, ich würde mehr über Drusillas oder Ectors Tod trauern. Aber der Tod meiner Königin, der kleinen Guenever ... es hätte eine gute Ehe werden können, Merlin. Wir hätten, glaube ich, sogar zu einem Liebesverhältnis gelangen können. Und was diesen Kummer so bitter machte, waren der Verlust des Kindes und der Verlust ihres jungen Lebens in Schmerzen und außerdem die Furcht, sie könne von meinen Feinden ermordet worden sein. Dazu kam - und ich gebe es offen zu - die trübe Aussicht, von neuem nach einer geeigneten Verbindung Ausschau halten und noch einmal das ganze Ritual der Brautwerbung durchmachen zu müssen, wo ich doch so viel anderes zu tun habe.» Ich sagte rasch: «Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, daß sie ermordet worden ist?» «Nein. In dieser Beziehung hast du mich beruhigt, wie auch über deine eigene Krankheit. Ich hatte dieselbe Befürchtung deinetwegen, ich könne schuld an deinem Tod gewesen sein.» Er hielt inne und sagte dann rundheraus: «Und das war das Schlimmste. Es war der endgültige Ver- f lust, der alle anderen in den Hintergrund drängte.» Es war eine Geste, die er halb verschämt und halb resigniert aussprach. «Du hast mir nicht nur einmal, sondern oft gesagt, daß du, wenn ich in Not geriete, stets für mich da sein würdest. Und so war es auch immer - bis zum damaligen Zeitpunkt. Dann warst du plötzlich 263
verschwunden, als es um mich herum dunkel wurde. Und es war noch so viel zu tun. Caer Camel war gerade begonnen, und weitere Kämpfe standen ins Haus. Und danach die Siedlungen und die Gesetzgebung und die Herstellung von Ruhe und Ordnung . . . Aber du warst fort ermordet, glaubte ich, durch meine Schuld, wie meine kleine Königin. Ich kam nicht darüber hinweg. Ich habe die Kinder in Dunpeldyr nicht getötet, aber ich hätte, bei Gott, die Königin von Orkney erschlagen, wenn sie mir in jenen Monaten über den Weg gelaufen wäre!» «Ich verstehe das. Ich glaube, ich wußte es. Fahr fort.» «Du hast jetzt von meinen Siegen während dieser Zeit gehört. Bei anderen Menschen mußte der Eindruck entstanden sein, daß mir das Glück treu geblieben sei. Ich aber hatte, hauptsächlich wegen deines Verlustes, das Gefühl, daß mein Leben in den dunkelsten Abgrund gesunken sei. Nicht nur wegen des Kummers über den Verlust alles dessen, was zwischen uns besteht - die lange Freundschaft - eine Art von Vormundschaft - ich möchte es Liebe nennen -, sondern aus einem Grund, an den ich dich nicht zu erinnern brauche. Du weißt, daß ich gewohnt bin, mich in allen Angelegenheiten, mit Ausnahme der Kriegführung, an dich zu wenden.» Ich wartete, aber er sprach nicht weiter. Ich sagte: «Ja, das ist meine Aufgabe. Kein Mensch, nicht einmal ein Hochkönig, kann alles allein machen. Du bist noch jung, Artus. Auch mein Vater Ambrosius ließ sich trotz seiner langen Lebenserfahrung von anderen beraten. Dies ist kein Zeichen von Schwäche. Verzeih mir, aber es ist ein Zeichen von Jugend, so zu denken.» «Ich weiß. Ich denke nicht so. Das ist es auch nicht, was ich sagen wollte. Ich möchte dir etwas erzählen, das sich während deiner Krankheit ereignet hat. Nach der Schlacht in Rheged nahm ich Geiseln. Die Sachsen flohen in einen dichten Wald auf einen Berg - oberhalb des Turms, wo wir dich kurz darauf fanden. Wir umstellten den Berg und griffen dann von allen Seiten an; wir erschlugen so viele, daß sich die wenigen Überlebenden schließlich ergaben. Ich glaube, sie hätten vielleicht schon früher kapituliert, aber ich ließ ihnen keine Chance. Ich wollte Blut sehen. Schließlich warfen die wenigen, die übrig geblieben waren, die 264
Waffen weg und kamen heraus. Wir nahmen sie gefangen. Einer von ihnen war Colgrims früherer Stellvertreter, Cynewulf. Ich hätte ihn am liebsten auf der Stelle erschlagen, aber er hatte seine Waffen niedergelegt. Ich ließ ihn unter der Bedingung frei, daß er mit seinen Schiffen davonsegle; und ich nahm Geiseln.» «Und? Es war ein weiser Versuch. Wir wissen, daß er fehlschlug.» Ich sprach ohne besondere Betonung. Ich ahnte, was kommen würde. Ich hatte die Geschichte bereits von anderen gehört. «Merlin, als ich erfuhr, daß Cynewulf, statt nach Germanien zurückzufahren, wieder in unser Land einfiel und Dörfer niederbrannte, ließ ich die Geiseln töten.» «Du hattest keine Wahl. Cynewulf mußte damit rechnen. Er hätte dasselbe getan.» «Er ist ein Barbar und ein Fremdling. Ich nicht. Zugege--ben, er mußte damit rechnen. Vielleicht hatte er gedacht, ich würde meine Drohung nicht wahr machen. Einige von ihnen waren noch reine Kinder. Der Jüngste war dreizehn -jünger als ich damals war, als ich meinen ersten Kampf bestritt. Sie wurden zu mir gebracht, und ich gab den Befehl.» «Mit Recht. Und jetzt denk nicht mehr daran.» «Wie soll ich es vergessen? Sie waren tapfer. Aber ich hatte damit gedroht, und so tat ich es. Du sprachst von der Veränderung, die in mir vorgegangen ist. Du hattest recht. Ich bin nicht mehr derselbe wie vor dem letzten Winter. Dies war meine erste Tat im Krieg, von der ich weiß, daß sie böse war.» Ich dachte an Ambrosius bei Doward - an mich selbst bei Tintagel. Ich sagte: «Wir alle haben schon einmal etwas getan, das wir gern vergessen möchten. Vielleicht ist der Krieg an sich böse.» «Aber warum denn?» meinte er ungeduldig. «Doch ich erzähle es dir jetzt nicht deshalb, weil ich deinen Rat oder deinen Trost brauchte.» Ich wartete, denn ich war um eine Antwort verlegen. Er fuhr fort und wählte jedes Wort mit Bedacht: «Es war das Schlimmste, was ich tun mußte. Ich tat es, und ich werde dazu stehen. Was ich jetzt noch zu sagen habe, ist folgendes: Wenn du dagewesen wärest, hätte 265
ich mich, wie immer, an dich gewandt und um deinen Ratschlag gebeten. Und obwohl du gesagt hast, du habest nicht mehr die Kraft der Prophetie, hätte ich weiterhin gehofft - wäre ich sicher gewesen-, daß du hättest sehen können, was die Zukunft bringen würde, und du hättest mich auf den Weg gebracht, den ich einschlagen sollte.» «Aber diesmal war dein Prophet tot, deshalb wähltest du deinen eigenen Weg?» «So ist es.» «Ich verstehe. Du willst mich insofern beruhigen, als ich Entschluß und Aktion ruhig dir überlassen kann, obwohl ich wieder da bin. Dabei wissen wir doch beide, daß dein noch immer tot ist.» «Nein», sagte er entschieden. «Du hast mich falsch verstanden. Gewiß, ich biete dir Trost, aber von anderer Art. Glaubst du, ich wüßte nicht, daß es seit dem Heben des Schwertes auch für dich schwere Zeiten gewesen sind? Verzeih mir, falls ich über Dinge spreche, die ich nicht verstehe, aber wenn ich auf die vergangenen Ereignisse zurückblicke, glaube ich ... Merlin, was ich sagen will, ist folgendes: Ich glaube, daß dein Gott noch mit dir ist.» Einen Augenblick trat Stille ein. Nur das Flackern der Flamme in der Bronzelampe war schwach zu hören, und von weit draußen drangen die Geräusche des Lagerlebens herein. Wir sahen uns an; er war noch ein junger Mann, ich schon gealtert und (wie mir bewußt war) durch meine jüngste Krankheit erheblich geschwächt. Und kaum merklieh veränderte sich unser Verhältnis zueinander - vielleicht hatte es sich bereits verändert. Jetzt war er es, der mir Kraft und Tröstung bot. Dein Gott ist noch mit dir. Wie konnte er auf diesen Gedanken kommen? Er brauchte doch nur daran zu denken, daß mir außer den einfachsten Zaubertricks nichts mehr geblieben war; daß ich gegenüber Morgause wehrlos und nicht in der Lage gewesen war, den Verbleib von Mordred festzustellen. Aber er hatte nicht mit der leidenschaftlichen Überzeugung der Jugend, sondern mit der ruhigen Gewißheit eines Richters gesprochen. Ich dachte zurück - zum ersten Mal ohne die Apathie, die seit meiner Krankheit auf die frühere Stimmung ruhiger Gelassenheit 266
gefolgt war. Ich begann zu erkennen, in welche Richtung sich seine Gedanken bewegt hatten. Man könnte sagen, es waren die Gedanken eines Generals, der einen Sieg aus einem planmäßigen Rückzug herausholen kann. Oder einer Führernatur, die fähig ist, mit einem einzigen Wort Vertrauen einzuflößen oder zu zerstören. Dein Gott ist mit dir, hatte er gesagt. Etwa mit mir in dem vergifteten Wein und den leidvollen Monaten, die mich von Artus' Seite entfernt und ihn in die Lage gezwungen hatten, einsame Entschlüsse zu fassen? Mit mir (obwohl er dies nicht wußte) in der leise geflüsterten Mahnung, die mich veranlaßt hatte, den Giftanschlag zu leugnen und Morgause, die Mutter jener vier Söhne, vor seiner Rache zu bewahren .. .? Mit mir in dem Verlust von Mordred, dessen Überleben jenes freudige Aufblitzen in Artus' Augen gebracht hatte? Ob er auch noch mit mir sein würde, wenn ich schließlich begraben sein würde - während Mordreds Schicksal noch immer ungeklärt blieb? Wie der erste Windhauch für den in eine Flaute geratenen und halb verhungerten Seemann, regte sich neue Hoffnung in mir. Es war also nicht genug, sich in das Schicksal zu finden und auf die Rückkehr des Gottes in all seiner Herrlichkeit zu warten. In der dunklen Ebbe konnte man, ebenso wie bei der Flut, die ganze Macht des Meeres spüren. Ich neigte den Kopf wie einer, der aus der Hand des Königs ein Geschenk entgegennimmt. Es bedurfte keiner Worte. Wir lasen in den Gedanken des anderen. Plötzlich sagte er unvermittelt: «Wie lange dauert es noch, bis diese ganze Anlage fertiggestellt ist?» «Bis zur Herstellung voller Abwehrbereitschaft noch einen Monat. Sonst ist sie praktisch fertig.» «Das habe ich mir auch gedacht. Ich kann also aus Caerleon Fußtruppen, Reiter und Versorgungsgüter hierher verlegen?» «Wann du willst.» «Und dann? Was hast du selbst vor, bis du wieder gebraucht wirst, um für den Frieden vorzusorgen?» 267
«Ich habe noch keine Pläne. Vielleicht gehe ich heim.» «Nein. Bleib hier.» Es klang wie ein Befehl. Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. «Merlin, es ist mein Ernst. Ich brauche dich hier. Wir sollten die Macht des Hochkönigs nicht spalten, bevor der Zeitpunkt da ist, wo wir es müssen. Verstehst du mich?» «Ja.» «Dann bleib. Richte dich hier ein und verzichte noch eine Weile auf deine wundersame Höhle in Wales.» «Noch eine Weile», versprach ich ihm lächelnd. «Aber nicht hier, Artus. Ich brauche Einsamkeit und Stille - lauter Dinge, die im Umkreis einer Stadt wie dieser schwer zu haben sein werden, sobald du als Hochkönig erst einmal hier residierst. Darf ich mich nach einer geeigneten Stelle umsehen und mir ein Haus bauen? Wenn du so weit bist, dein Schwert an der Wand über deinem Sessel aufzuhängen, wird meine wundersame Höhle hier ganz in der Nähe liegen, und der dort wohnende Einsiedler wird jederzeit bereit sein, in den Kreis deiner Ratgeber einzutreten. Falls du dann noch glaubst, seines Rates zu bedürfen.» Er lachte und schien befriedigt zu sein, worauf wir beide z:u Bett gingen. 9 Am nächsten Tag ritten Artus und sein Gefolge zurück nach Ynys Witrin, und ich begleitete sie. Wir folgten einer Einladung von König Melwas und dessen Mutter, der Königin, um an einer Feier aus Anlaß der jüngsten Siege des Königs teilzunehmen. Obwohl es auf Ynys Witrin eine christliche Kirche und bei der heiligen Quelle auf dem Berg eine klösterliche Siedlung gab, war die herrschende Gottheit dieser Insel noch immer die Göttin selbst, die «Mutter», deren Heiligtum seit Urzeiten dort stand und die auch jetzt noch von ihren Priesterinnen, den ancillae, bedient wird. Es ist ein Kult, der zwar dem des Vestalischen Feuers im alten Rom ähnelt, aber meines Erach-tens älter ist. König Melwas war mit der Mehrheit seines Volkes ein Anhänger der alten Götter; und - was noch 268
wichtiger war - seine Mutter, eine eindrucksvolle alte Dame, verehrte die Göttin und hatte viel für deren Priesterinnen getan. Die gegenwärtige Hohe Priesterin war mit ihr verwandt. Obwohl Artus in einem christlichen Haus aufgewachsen war, wunderte es mich nicht, daß er Melwas' Einladung annahm. Aber andere waren überrascht. Als wir uns nahe dem Königstor für den Ritt versammelten, sah ich, wie einige seiner Ritter ihm Blicke zuwarfen, aus denen ein gewisses Unbehagen sprach. Artus sah mich an - wir warteten noch, während Bedwyr ein paar Worte mit der Wache am Tor wechselte - und grinste. Er sagte leise: «Muß ich es dir erklären?» «Keineswegs. Du hast bedach t, daß Melwas dein unmittelbarer Nachbar sein wird und dir beträchtliche Hilfe bei den hiesigen Bauarbeiten geleistet hat. Außerdem hast du eingesehen, daß es klug ist, der alten Königin einen Gefallen zu erweisen; und natürlich denkst du auch an und und über die Belehrung, die dir zuteil wurde, wie man die Göttin am besten zufriedenstellt.» « und.. .? Ach ja, die Kühe des alten Mannes! Ja, natürlich! Ich hätte wissen können, daß du darauf zu sprechen kommst! Übrigens habe ich eine Botschaft von der Priesterin selbst erhalten. Die Leute auf der Insel wollen ihren Dank für die Siege des Jahres abstatten und den Segen der Göttin für Caer Camel erbitten. Hoffentlich sagt ihnen niemand, daß ich während der Kämpfe bei Caer Guinnion Ygraines Erinnerungsstück getragen habe!» Er sprach von der Brosche, auf deren Rand der Name MARIA eingraviert war. So heißt die Göttin der Christen. Ich sagte: «Ich glaube nicht, daß du dir darüber Sorgen zu machen brauchst. Das Heiligtum ist so alt wie die Erde, auf der es steht, und zu welcher Göttin du dort auch sprichst -jede wird dich hören. Es gibt seit Anbeginn nur eine einzige. Jedenfalls ist dies meine Überzeugung . . . Aber was werden die Bischöfe sagen?» «Ich bin der Hochkönig», sagte Artus und ließ es dabei bewenden. Dann trat Bedwyr zu uns, und wir ritten durch das Tor hinaus. 269
Es war ein milder, grauer Tag; irgendwie lag Sommerregen in der Luft. Wir ließen bald das bewaldete Gebiet hinter uns und erreichten das Weideland. Zu beiden Seiten des Weges erstreckte sich, grau und gekräuselt, das Wasser, während die leichte Brise mit ihren Katzenpfoten darüber hinstrich. Pappeln schimmerten weiß in dem aufkommenden Wind, und die Weiden ließen ihre Zweige bis in das flache Wasser hinunterhängen. Kleine Eilande, Weidengebüsch und Sumpfland schienen auf der silbrigen Wasserfläche zu schwimmen; ihr Spiegelbild verzerrte sich im Windhauch. Der gepflasterte Weg war von Moos und Farnen überzogen, wie es in dieser tiefliegenden Gegend üblich war; er führte durch Schilf und Wasser auf den Rücken höher liegenden Grundes zu, der wie ein Arm das eine Ende der Insel halb umschlang. Die Hufe traten plötzlich auf Stein, und der Weg führte einen sanften Hang hinauf. Vor uns lag jetzt der eigentliche See, der die Insel wie ein Burggraben umgab. Hier und da sah man Fischerboote oder die flachen Kähne der Sumpfbewohner. Aus dieser glitzernden Wasserfläche erhob sich der Berg Tor wie ein Riesenkegel, der so symmetrisch geformt war, als wäre er von Menschenhand gebaut. Er war flankiert von einem sanfter gerundeten Hügel, und dahinter lag ein langgezogener Rücken, der wie ein ausgestrecktes Bein in das Wasser hineinragte. Hier lagen die Landungsstege; man konnte die Schiffsmasten wie Schilfrohre im Wind sich wiegen sehen. Jenseits des Inselberges erstreckte sich bis in die Ferne eine große, leuchtende Wasserfläche, in die Sumpfgras, Binsen und Schilfinseln eingebettet lagen, dazwischen standen Weiden, in deren Schutz die Bevölkerung lebte. Es war alles ein einziger großer beständig sich verändernder Schimmer, soweit das Auge reichte. Man konnte sehen, warum die Insel Ynys Witrin die Glasinsel genannt wurde. Heute heißt sie manchmal Avalon. Überall auf Ynys Witrin lagen Obstgärten. Die Bäume standen in der Nähe des Hafens und auf den Abhängen des Tor so dicht gedrängt, daß man nur an den Rauchwolken, die zwischen den Ästen aufstiegen, erkennen konnte, wo das Dorf lag. (Obwohl hier ein König residierte, verdiente der Ort keine andere Bezeichnung.) Etwas weiter oberhalb lagen zahlreiche Hütten wie Bienenkörbe, wo die christlichen 270
Einsiedler und die frommen Frauen lebten. Melwas ließ sie in Frieden; sie hatten sogar eine eigene Kirche, die nahe des Heiligtums der Göttin erbaut worden war. Die Kirche war ein bescheidenes, aus Lehm errichtetes und mit Stroh gedecktes Bauwerk. Sie sah so aus, als ob sie vom ersten Sturm hinweggefegt werden würde. Ganz anders wirkte das Heiligtum der Göttin. Es hieß, daß sich im Laufe der Jahrhunderte das Land um den Schrein langsam gehoben habe, so daß er jetzt wie eine Krypta unterhalb der Erdoberfläche lag. Ich hatte den Ort noch nie gesehen. Männer wurden in diesem geheiligten Bezirk normalerweise nicht empfangen, aber heute standen die Priesterin und ihre verschleierten, weißgekleideten Frauen und Mädchen mit Blumen in der Hand wartend bereit, um den Hochkönig willkommen zu heißen. Die alte Frau neben ihr, mit dem kostbaren Umhang und dem Diadem auf dem grauen Haar, mußte Melwas' Mutter, die Königin, sein. Hier hatte sie vor ihrem Sohn den Vortritt. Melwas selbst stand inmitten seiner Hauptleute auf der Seite. Er war ein gedrungener, gutaussehender Mann, mit dichten braunen Haaren und gepflegtem Vollbart. Man munkelte, daß er nicht geheiratet habe, weil keine Frau den Ansprüchen seiner Mutter genüge. Die Priesterin begrüßte Artus, und zwei der jüngsten Mädchen traten vor und hängten ihm Blumengirlanden um den Hals. Hohe Frauenstimmen sangen ein Lied. Der graue Himmel riß auf und ließ einen Sonnenstrahl durch. Es schien ein günstiges Vorzeichen zu sein; die Menschen sahen sich lächelnd an, und der Gesang klang auf einmal fröhlicher. Die Priesterin wandte sich um und schritt mit ihren Frauen die langen, flachen Stufen in das Heiligtum hinab. Die alte Königin folgte ihr, und danach Artus und wir übrigen. Zum Schluß kam Melwas mit seinem Gefolge. Das einfache Volk blieb draußen. Während der Zeremonie konnten wir von draußen das Geraune hören, als alle warteten, um noch einen Blick auf den legendären Artus der neun Schlachten zu erhäschen. Das Heiligtum war nicht groß; wir füllten es fast aus. Es war schwach beleuchtet; kaum ein halbes Dutzend Räucherkerzen standen zu beiden Seiten des Bogenganges, der in das Innere des Heiligtums 271
führte. In dem gedämpften Licht machten die weißen Gewänder der Frauen einen geisterhaften Eindruck. Schleier verhüllten ihre Gesichter, bedeckten ihre Haare und wallten bis zum Boden hinab. Nur die Priesterin selbst war deutlich zu sehen; sie stand voll im Lampenlicht, mit Silberschmuck angetan, und trug ein Diadem, in dem sich das wenige Licht widerspiegelte. Sie war eine königliche Gestalt; es konnte kein Zweifel bestehen, daß sie fürstlichen Geblütes war. Auch das Allerheiligste im Inneren war verhängt; niemand außer den Eingeweihten - nicht einmal die alte Königin - darf einen Blick hinter diesen Vorhang werfen. Die Zeremonie, deren Zeugen wir wurden (obwohl es sich eigentlich nicht geziemt, hier darüber zu schreiben), war nicht die übliche, der Göttin geweihte Andacht. Sie zog sich in die Länge; wir mußten zwei Stunden über uns ergehen lassen und standen während der ganzen Zeit dicht gedrängt nebeneinander; aber ich vermute, daß die Priesterin die Gelegenheit zum Anlaß nahm, einen nachhaltigen Eindruck zu erzeugen, und wer konnte ihr zum Vorwurf machen, daß sie dabei an eine künftige Schirmherrschaft dachte? Aber schließlich endete auch die Feierstunde. Die Priesterin nahm Artus' Opfergabe entgegen, legte sie mit entsprechendem Gebet nieder, und wir traten wieder ins Tageslicht zurück, um die Zurufe des Volkes entgegenzunehmen. Es war ein kleiner Vorfall, der sich mir vielleicht gar nicht eingeprägt hätte, wenn nicht die anderen Ereignisse gefolgt wären. Ich entsinne mich noch der anheimelnden Atmosphäre, der ersten Regentropfen, die uns begrüßten, als wir das Heiligtum verließen, und des Gesangs der Drossel, der aus dem Dornbusch klang, der im hohen Sommergras stand; er war von blassem Knabenkraut und mit dem Gold der kleinen Blüten umgeben, die man Frauenschuh nennt. Der Weg zu Melwas' Schloß führte durch Rasenflächen, wo unter den Apfelbäumen Blumen gediehen, die in dieser Gegend eigentlich nicht vorkommen; ihre Bedeutung lag, soweit ich wußte, auf dem Gebiet der Medizin oder Magie. Die ancillae übten die Heilkunst aus und hatten diese wohltätigen Krauter gepflanzt. Mir schien, daß ich, wenn 272
ich in dieser Gegend leben müßte, keinen besseren Garten für meine eigenen Heilpflanzen würde finden können. Dann kamen wir zu dem Palast und wurden von Melwas in die Festhalle geführt. Das Festmahl unterschied sich kaum von anderen seiner Art, wenn man von der Vielzahl vorzüglicher Fischgerichte absieht. Die alte Königin saß am Kopf der Tafel, Artus auf der einen und Melwas auf der anderen Seite. Keine der Frauen aus dem Heiligtum, nicht einmal die Priesterin selbst, war anwesend. Die Frauen, die zugegen waren, schienen mir, wie ich mit einiger Belustigung feststellen konnte, alles andere als hübsch, und keine war jung. Das Gerede über die Königin hatte vielleicht doch eine gewisse Berechtigung. Ich erinnerte mich an einen Blick und ein Lächeln, das zwischen Melwas und einem Mädchen in der Menge gewechselt wurde - die alte Frau konnte ihn eben doch nicht die ganze Zeit beobachten. Sein anderer Appetit war auch nicht schlecht: Das Essen war ergiebig und gut zubereitet, obwohl keine besonderen Delikatessen dabei waren, und eine Sängerin trug Lieder mit einer schönen Stimme vor. Der vorzügliche Wein stammte, wie man uns sagte, von einem etwa vierzig Meilen entfernten Weinberg, der in der Nähe der Kalkfelsen lag. Er sei kürzlich durch die Sachsen zerstört worden, die in diesem Sommer noch näher herangekommen waren. Sobald dies gesagt war, nahm die Unterhaltung den unvermeidlichen Verlauf. Zwischen der Rückschau auf die Vergangenheit und den Gedanken über die Zukunft ging die Zeit rasch dahin; Artus und Melwas waren völlig einer Meinung, was nur Gutes erhoffen ließ. Wir verabschiedeten uns vor Mitternacht. Ein Mond, der beinahe voll war, spendete klares Licht. Er stand tief hinter dem Leuchtturm und ließ die Konturen der Mauern von Melwas' Hochburg deutlich hervortreten. Es war ein Ort, in den sich die Menschen in Notzeiten zurückziehen konnten; sein Palast, wo wir bewirtet worden waren, stand weiter unten, etwa in Höhe des Wasserspiegels. Es wurde höchste Zeit für uns. Vom See stieg Nebel auf. Bleiche Schwaden zogen über das Gras, unter den Bäumen dahin und reichten 273
bis zu den Knien unserer Pferde. Bald würde der schmale Pfad nicht mehr zu sehen sein. Melwas, der uns mit seinen Fackelträgern begleitete, führte uns durch die vom See aufsteigende Nebelwand bis in die klare Luft hinaus. Dann verabschiedete er sich und machte sich auf den Heimweg. Ich zügelte mein Pferd und schaute zurück. Von hier aus war von den drei Hügeln, aus denen die Insel bestand, nur der Tor zu sehen, der aus einem Wolkenmeer aufzusteigen schien. Durch den Nebel an seinem Fuß konnte man die von rotem Fackellicht erleuchteten Umrisse des Palastes erkennen. Der Mond war über den Tor hinweg in den dunklen Himmel hinaufgestiegen. In der Nähe des Leuchtturms, auf den Windungen des Weges, der zur Festung hinaufführte, flackerte ein Licht. Ein Frösteln überkam mich. Nebelschwaden lagen dort oben, und über sie hinweg bewegte sich ein Schatten, wie der eines Riesen. Der Tor war bekannt als Tor zur Unterwelt; einen Augenblick fragte ich mich verwundert, ob ich, falls mir der sechste Sinn zurückgegeben war, einen der Hüter dieses Ortes beobachtete - einen der Geister, die das Tor bewachten. Dann wurde mein Blick klarer, und ich erkannte, daß es ein Mann mit einer Fackel war, der den Hang zum Tor hinauflief, um das Feuer im Leuchtturm zu entzünden. Als ich meinem Pferd die Sporen gab, hörte ich Artus knappe Befehle erteilen. Ein Reiter löste sich aus der Kavalkade und entfernte sich in gestrecktem Galopp. Die anderen, plötzlich verstummt, folgten ihm rasch, aber in guter Ordnung, während hinter uns die Flammen in den Nachthimmel emporstiegen und Artus zu einem neuen Kampf aufriefen. 10 Die Einweihung von Caer Camel war der Anfang eines neuen Feldzugs. Er dauerte vier Jahre: Belagerung und Scharmützel, Ausfälle und Hinterhalte - nur während der Wintermonate konnte sich Artus etwas Ruhe gönnen. Und zwei weitere Male, gegen Ende dieser Zeit, triumphierte er über den Feind in einem größeren Gefecht. An der ersten Schlacht beteiligte er sich auf einen Hilferuf von Elmet hin. Eosa war persönlich an der Spitze neuer sächsischer 274
Truppen von Germanien her gelandet; ihm hatten sich die Ostsachsen, die bereits nördlich der Themse siedelten, angeschlossen. Cerdic fügte eine dritte Speerspitze hinzu durch eine Streitmacht, die mit Langbooten aus Rutupiae herübergebracht worden war. Es war die schwerste Bedrohung seit Luguvallium. Die Eindringlinge kamen mit Übermacht herein und drohten - was Artus seit langem vorhergesehen hatte -, bei der Gebirgskette am Paß durchzubrechen. Überrascht und ohne Zweifel verwirrt durch die Abwehrbereitschaft der Festung bei Olicana, wurden sie dort zum Stehen gebracht, während die Nachricht in Windeseile an Artus abgesandt wurde. Die ostsächsischen Kräfte, die von beträchtlicher Stärke waren, konzentrierten sich auf Olicana; der König von Elmet hielt sie dort fest, aber die anderen stürmten in westlicher Richtung über den Paß. Artus erreichte in Eilmärschen über die Weststraße das Fort Tribuit vor ihnen und stellte sie bei Nappa Ford zum Kampf. Er schlug sie dort in die Flucht und warf dann seine leichte Kavallerie über den Paß nach Olicana; dort trieb er im Verein mit dem König von Elmet den Gegner ins Flachland zurück. Der sächsische «König» mußte sich geschlagen geben. Die Niederlage war jedoch noch nicht endgültig. Der Name Artus hatte einen solchen Klang bekommen, daß seine bloße Erwähnung gleichbedeutend mit Sieg war und das Wort «Artus kommt» die Rettung bedeutete. Als er das nächste Mal zu Hilfe gerufen wurde - es war eine Operation zur Bereinigung kleinerer Widerstandsnester, die sich nach dem langen Feldzug noch gehalten hatten -, erschien seine gefürchtete Reiterei mit dem Schimmel an der Spitze und dem Drachen über den Helmen auf dem Gebirgspaß von Agned; die Feinde wurden sofort von Panik erfaßt, so daß die Aktion eher eine Verfolgung als ein wirkliches Gefecht wurde. Während dieser Kämpfe führte Gereint (der dieses Gebiet sehr gut kannte) ein ehrenvolles Kommando bei der Reiterei. So belohnte Artus treue Dienste. Eosa war in dem Gefecht bei Nappa verwundet worden. Er nahm an weiteren Kämpfen nicht mehr teil. Es war der junge Cerdic, der die Sachsen bei Agned anführte und sich nach besten Kräften bemühte, dem Angriff von Artus standzuhalten. Man erzählte sich, daß er 275
danach, als er sich - immerhin noch geordnet - zu den wartenden Langbooten zurückzog, das Gelübde abgelegt habe, er werde bei seinem nächsten Angriff auf britischem Boden bleiben, und nicht einmal Artus werde ihn daran hindern können. Darauf hätte ich ihm antworten können,'dann müsse er warten, bis es Artus nicht mehr gäbe. *** Es war nie meine Absicht, die Kämpfe jener Jahre im einzelnen zu schildern. Diese Chronik hat ein anderes Thema. Außerdem kennt heute jeder die Feldzüge, die Artus geführt hat, um Britannien zu befreien und die Küsten gegen Einfalle von außen zu sichern. Das ist alles oben in dem Haus in Vindolanda von Blaise und dem ernsten, stillen Schriftkundigen, der von Zeit zu Zeit zu ihm kam, um ihm zu helfen, niedergeschrieben worden. Hier will ich nur wiederholen, daß ich nicht ein einziges Mal während der Jahre, die er brauchte, um die Sachsen aufzuhalten, in der Lage war, ihm mit meiner Sehergabe zu Hilfe zu kommen. Die Geschichte jener Jahre ist eine einzige Kette von Heroismus, Ausdauer und Zielstrebigkeit. Es bedurfte zwölf größerer Gefechte und über sieben Jahre harter Arbeit, bevor der junge König sicher sein konnte, daß in seinem Land Ackerbau und Viehzucht sowie die verschiedenen Künste des Friedens ihren angestammten Platz behalten konnten. Es ist nicht wahr - wie von Dichtern und Sängern erzählt wird-, daß Artus alle Sachsen aus Britannien vertrieben hätte. Er gelangte, ebenso wie vor ihm Ambrosius, zu der Einsicht, daß es unmöglich war, weite Gebiete schwierigen Geländes vom Feind zu säubern, der sich außerdem jederzeit leicht über das Meer zurückziehen konnte. Seit den Zeiten von Vortigern, der als erster die Sachsen als seine Bundesgenossen nach Britannien rief, war die Südostküste unseres Landes von Sachsen besiedelt, die ihre eigenen Herrscher und ihre eigenen Gesetze hatten. Daß sich Eosa den Titel eines Königs zulegte, hatte eine gewisse Berechtigung. Auch wenn es Artus möglich gewesen wäre, die Sachsen völlig zu verjagen, hätte er Siedler, die vielleicht schon in der dritten Generation auf der Insel lebten, vertreiben und sie zwingen müssen, über See in das Land ihrer 276
Großväter zurückzukehren, wo sie wahrscheinlich ebensowenig willkommen gewesen wären wie hier. Die Menschen verteidigen ihr Heim mit der Kraft der Verzweiflung, wenn sie Gefahr laufen, heimatlos zu werden. Trotz aller seiner Siege wußte Artus, daß es keinen Sinn hatte, Menschen in die Berge und Wälder und Einöden zu treiben, wo sie nie zum offenen Kampf gestellt werden konnten; dies hätte einen langen Krieg bedeutet, aus dem keiner als Sieger hervorgegangen wäre. Er sah als Beispiel die Alten vor sich; sie waren von den Römern enteignet worden und in das unwirtliche Bergland ausgewichen; vierhundert Jahre später waren sie noch immer dort und lebten in ihren unzugänglichen Bergfestungen - die Römer selbst waren inzwischen gegangen. Artus akzeptierte also die Tatsache, daß es auch in Zukunft sächsische Königreiche auf britischem Boden geben müsse, und war darauf bedacht, deren Grenzen so sicher wie möglich zu machen und darauf zu achten, daß die sächsischen Könige aus Furcht vor Vergeltung innerhalb ihrer Territorien blieben. So verging sein zwanzigstes Lebensjahr. Er kam Ende Oktober nach Camelot zurück und berief sofort den Ältestenrat ein. Ich war zugegen, wurde gelegentlich um Rat gefragt, begnügte mich aber hauptsächlich mit der Rolle des Zuhörers. Wenn ich ihn beriet, tat ich es unter vier Augen, hinter geschlossenen Türen. In den Augen der Öffentlichkeit traf er seine Entscheidungen allein. Diese beruhten ebensooft auf seinem eigenen Urteil als auf meinem Ratschlag, und im Laufe der Zeit konnte ich ihn beruhigt seinem eigenen Urteil folgen lassen. Er handelte manchmal impulsiv, und in vielen Angelegenheiten fehlte ihm die nötige Erfahrung, aber er ließ sich nie zu vorschnellen Entschlüssen hinreißen und er bewahrte sich, trotz der hochfahrenden Art, die der Erfolg oft mit sich bringt, die Angewohnheit, andere Menschen zu Wort kommen zu lassen, so daß jeder, wenn die Entscheidung des Königs verkündet wurde, der Meinung war, er habe etwas mitzureden gehabt. Eine der Fragen, über die längere Zeit gesprochen wurde, war das Problem einer neuen Eheschließung. Ich merkte, daß er damit nicht gerechnet hatte; aber er schwieg und hörte den älteren Männern zu. 277
Unter ihnen gab es einige, die Namen und Stammbäume und Landbesitz auswendig hersagen konnten. Ich erkannte als Beobachter außerdem, daß es gerade diejenigen waren, die bei Artus' Proklamation zum Hochkönig damit nichts zu tun haben wollten. Jetzt hätten sich auch seine eigenen Ritter nicht loyaler verhalten können. Er hatte die älteren für sich gewonnen, ebenso wie auch alle anderen. Man hätte glauben können, daß ihn jeder einzelne als unbekannten Knaben im Wild Forest entdeckt und ihm das Schwert des Königreiches übergeben hatte. Man hätte außerdem glauben können, daß jeder über die Heirat eines Lieblingssohnes sprach. Viele strichen sich die Barte und wiegten bedächtig ihre Köpfe; Namen wurden genannt und besprochen, aber kein Vorschlag begegnete allgemeiner Zustimmung, bis eines Tagesx ein Mann aus l Gwynedd, der während aller Kriege neben Artus gekämpft hatte und mit Maelgon selbst verwandt war, aufstand und eine Rede über seine Heimat hielt. Wenn sich ein dunkler Waliser erhebt und zu reden beginnt, ist es, als habe man einen Barden eingeladen; er spricht weitläufig und in schwingendem Tonfall. Aber dieser Mann hatte eine so wunderschöne Stimme, daß sich alle anderen nach den ersten Minuten bequem in ihren Sesseln zurücklehnten und ihm zuhörten, als lauschten sie einer Lobrede während eines Festmahls. Sein Thema schien seine Heimat zu sein: die Schönheit seiner Täler und Berge, die blauen Seen, das schäumende Meer, die Hirsche und Adler und kleinen Singvögel, die Kühnheit der Männer, die Schönheit der Frauen. Dann hörten wir von den Dichtern und Sängern, den Obstgärten und Blumenwiesen, von dem Reichtum an Schafen und Rindern und den Erzadern in den Felsen. Dann ging er auf die historischen Heldentaten seiner Landsleute ein, auf Schlachten und Siege, Standhaftigkeit im Unglück, auf die Tragödien zu früh Gefallener und die fruchtbare Schönheit junger Liebe. Er näherte sich jetzt seinem eigentlichen Thema. Ich sah, wie sich Artus in seinem großen Sessel regte. 278
Und, berichtete der Sprecher, der Reichtum und die Schönheit und Tapferkeit dieses Volkes seien repräsentiert in der Familie seiner Könige, einer Familie, die (ich hörte nicht mehr genau zu; ich beobachtete Artus im Schein einer grell aufflackernden Lampe, und mein Kopf schmerzte) auf eine Abstammung so alt wie Noah zurückblicken könne . .. Da sei natürlich auch eine Prinzessin. Jung, liebreizend, hervorgegangen aus einer Verbindung walisischer Könige mit einem edlen römischen Geschlecht. Artus selbst könne auf keine edleren Vorfahren zurückblicken . . . Und jetzt konnte man sehen, warum der Redner so ausführlich gesprochen und dabei den jungen König von der Seite angesehen hatte. Ihr Name lautete Guinevere. Ich sah die beiden wieder vor mir. Bedwyr, dunkel und übereifrig, der den Blick auf den anderen Knaben gerichtet hielt; Artus-Emrys, schon mit zwölf Jahren der Führer, voller Tatendrang und Lebenslust. Und der weiße Schatten der Eule, der über ihren Köpfen dahintrieb; das guenhwyvar von Leidenschaft und Gram, von hochfliegenden Plänen und einem Begehren, das Bedwyr in eine Welt des Geistes entführen und Artus einsam zurücklassen würde - um im Zentrum des Ruhms selbst zu einer Legende und zum Mittelpunkt der Gralssage zu werden ... *#* Ich kam in den Saal zurück. Ich hatte starke Kopfschmerzen. Das blendende Licht tat meinen Augen weh. Ich spürte, wie mir der Schweiß unter dem Gewand herunterlief. Meine Hände rutschten auf den geschnitzten Armlehnen des Stuhles aus. Ich rang mit mir selbst, um den Atem und das Hämmern meines Herzens zu beruhigen. Niemand hatte von mir Notiz genommen. Zeit war vergangen. Der offizielle Teil der Beratung war vorüber. Artus bildete jetzt den Mittelpunkt einer Gruppe, die laut miteinander sprach und lachte; um den Tisch herum saßen die älteren Männer und unterhielten sich in gelöster Atmosphäre. Diener waren hereingekommen, um Wein einzuschenken. Die Gespräche schienen wie aufsteigendes Wasser um mich her anzuschwellen. Einzelne Bemerkungen, die Sieg und 279
Erleichterung erkennen ließen, waren zu hören. Es sei geschafft; es würde eine neue Königin geben, die Thronfolge sei gesichert. Die Kriege seien vorbei, und Britannien werde als einziges ehemals römisches Land bis ans Ende der Zeiten in Sicherheit hinter den Schutzmauern leben, die sein König errichtet hatte. Artus wandte den Kopf und fing meinen Blick auf. Ich rührte mich nicht und sprach kein Wort, aber das Lachen wich aus seinem Gesicht, und er sprang auf. Er wies seine Gefährten mit einer Handbewegung an, sich außer Hörweite zu begeben, und trat mit raschen Schritten auf mich zu. «Merlin, was hast du? Ist es diese Heirat? Du kannst doch nicht glauben, daß ...» Ich schüttelte den Kopf. Ein stechender Schmerz durch-fuhr mich. Ich glaube, ich schrie auf. Als der König auf mich zukam, verstummten alle Gespräche, und jetzt herrschte im Saal völlige Stille. Stille - und Augen - und das flackernde Licht der Lampen. Er beugte sich vor, als wolle er meine Hand ergreifen. «Was ist los? Bist du krank? Merlin, kannst du sprechen?» Seine Stimme schwoll an, hallte im Saal wider und erstarb. Sie betraf mich nicht. Nichts rührte mich, außer dem Zwang, etwas auszusprechen. Die Kerzenflammen brannten irgendwo in meiner Brust; das heiße Öl der Lampen ergoß sich sprudelnd durch mein Blut. Mein Atem ging schwer und stechend, als sei Rauch in meine Lunge gedrungen. Als ich schließlich Worte fand, überraschten sie mich selbst. Seit meiner Vision in der Kapelle vor langer Zeit hatte ich nichts mehr gesehen. Sie hatte damals wenig oder gar nichts bedeutet. Was ich mich jetzt sagen hörte, in einer rauhen und hallenden Stimme, die Artus wie einen Schlag zu treffen schien und alle aufrüttelte, hatte eine ganz andere Bedeutung. «Es ist noch nicht vorbei, König! Besteig dein Pferd und reite los! Sie haben den Frieden gebrochen, und bald werden sie in Badon sein! Männer und Frauen sterben in ihrem Blut, und Kinder weinen, bevor sie getötet werden. Kein König ist in der Nähe, um sie zu schützen. Mach dich auf den Weg, jetzt sofort, Anführer der Könige! Du mußt jetzt handeln, denn das Volk ruft dich um Hilfe! Reite mit deinen 280
Rittern und mache diesem Unheil ein Ende! Denn, beim Licht des Gottes, Artus von Britannien, dies ist das letzte Mal und der letzte Sieg! Geh jetzt!» Die Worte hallten laut in der allgemeinen Stille wider. Alle diejenigen, die mich zuvor noch nicht als Seher hatten sprechen hören, erbleichten; alle machten das Zeichen. Mein Atem ging rasselnd wie der eines alten Mannes, der mit dem Tode ringt. Dann wurden aus dem Kreise der jüngeren Leute Worte des Unglaubens, sogar des Spottes laut. Dies war nicht verwunderlich. Sie hatten Geschichten über meine vergangenen Taten gehört, aber so viele davon waren offenbar dichterisch ausgeschmückt worden und hatten in Gesängen und Liedern Eingang in die Legendenwelt gefunden. Das letzte Mal, als ich so sprach, war es in Luguvallium gewesen, bevor er das Schwert gehoben hatte, und einige der jungen Leute waren damals noch Kinder gewesen. Diese kannten mich nur als Baumeister und Arzt, als den stillen Ratgeber, der das Ohr des Königs hatte. Um mich herum entstand allgemeines Gemurmel - es war wie Wind in den Baumwipfeln. «Es hat kein Signal gegeben; wovon redet er überhaupt? Als ob der Hochkönig nur auf sein bloßes Wort hin losreiten könnte! Artus hat genug getan, und wir auch; der Friede ist gesichert - das kann jeder sehen! Badon? Wo liegt das? Die Sachsen würden dort nicht angreifen, jedenfalls jetzt nicht ... Ja, aber wenn sie es trotzdem täten, könnte sie dort niemand aufhalten, darin hat er recht. . . Nein, es ist Unsinn, der Alte hat wieder einmal den Verstand verloren. Wißt ihr noch, dort oben im Wald, wie er da war? Verrückt, und das ist die Wahrheit . . . und jetzt ist er wieder wahnsinnig geworden, genauso wie damals!» Artus hatte seinen Blick nicht von mir gewandt. Das Geflüster ging hin und her. Jemand rief nach einem Arzt, und im Saal herrschte Kommen und Gehen. Er achtete nicht darauf. Er und ich waren jetzt allein zusammen. Er ergriff mein Handgelenk. Ich spürte trotz der peinigenden Schmerzen, wie er mich mit der Kraft seiner Jugend sanft in den Sessel zurückdrückte. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß ich 281
stand. Er streckte die andere Hand aus, und jemand reichte ihm einen Kelch. Er hielt mir den Wein an die Lippen. Ich drehte den Kopf auf die Seite. «Nein. Laß mich. Geh jetzt. Vertrauemir.» «Bei allen Göttern, die es gibt», sagte er mit heiserer Stimme, «ich vertraue dir.» Er drehte sich auf dem Absatz um und sagte: «Du, und du, und du, gebt die Befehle aus. Wir reiten jetzt. Macht euch fertig.» Dann wandte er sich wieder zu mir um und sprach so laut, daß es alle hören konnten: «Sieg, hast du gesagt?» «Sieg. Kannst du Zweifel daran haben?» Trotz meiner Schmerzen sah ich für einen kurzen Augenblick sein Antlitz: Es war das Gesicht des Knaben, der auf mein Wort hin der weißen Flamme die Stirn geboten und das verzauberte Schwert gehoben hatte. «Ich habe keinen Zweifel», sagte Artus. Dann lachte er, beugte sich vor und küßte mich auf die Wange. Gefolgt von seinen Rittern verließ er mit raschen Schritten den Saal. Die Schmerzen ließen nach. Ich konnte wieder atmen und klar sehen. Ich stand auf und ging ihnen nach, hinaus in die frische Luft. Im Saal machten mir alle Platz. Niemand sprach mich an oder wagte, eine Frage zu stellen. Ich stieg auf die Brustwehr und schaute hinaus. Der wachhabende Posten schrak vor mir zusammen. Er verdrehte die Augen. Es hatte sich schnell herumgesprochen. Ich zog den Mantel vor dem Wind enger um mich und blieb stehen. Sie waren weggeritten - eine kleine Gruppe, die sich dem sächsischen Versuch, Britannien endgültig zu erobern, entgegenstellen wollte. Das Geräusch galoppierender Pferde verebbte in der Narht. Irgendwo in der Finsternis stand der Tor im Norden vor dem dunklen Himmel. Kein Licht, nichts. Auch jenseits, kein Licht. Auch im Süden oder Osten; nirgendwo ein Licht oder Signalfeuer. Nur mein Wort. Irgendwo in der Dunkelheit hörte ich ein Geräusch. Einen Augenblick glaubte ich, es sei der Widerhall der in die Ferne davongaloppierenden Pferde; dann hörte ich Schlachtenlärm, ganz schwach, kaum wahrnehmbar. Ich dachte, daß mir die Sehergabe 282
zurückgegeben sei. Aber mein Kopf war klar, und die Nacht, mit all ihren Geräuschen und Schatten, war die Nacht der Sterblichen. Dann kamen die Töne näher und rauschten hoch in der Luft über mich hinweg. Es waren die Wildgänse, das Rudel der Himmelhunde, die Wilde Jagd, die mit Llud, dem König der Unterwelt, in Kriegszeiten über den Himmel zieht. Sie waren aus den Gewässern des Sees aufgestiegen und flogen jetzt in der Dunkelheit über mich hinweg. Direkt vom stillen Tor kamen sie heran, um über Caer Camel und dann zurück über die schlafende Insel zu fliegen; der Klang ihrer Stimmen und ihr Flügelschlag verloren sich schließlich in Richtung auf Badon in den Tiefen der Nacht. Bei Einbruch der Morgendämmerung flammten die Signallichter über dem ganzen Land auf. Wer immer die Sachsen nach Badon geführt haben mochte, konnte kaum den Ort erreicht haben, als aus der Dunkelheit Hochkönig Artus und seine Ritter - schneller noch als die Vögel geflogen sein konnten - sich auf sie stürzten und sie vernichteten; damit wurde die Macht der Barbaren nicht nur für diesen Tag, sondern für die Zeitspanne der ganzen Generation gebrochen. Der Gott kam also zurück zu mir, zu Merlin, seinem Diener. Am nächsten Tag verließ ich Caer Camel und ritt hinaus, um mir einen Platz zu suchen, wo ich mir ein Haus bauen konnte. DRITTES BUCH
APPLEGARTH Östlich von Caer Camel ist das Land wellig und zum Teil bewaldet; auf den grünen Höhenrücken und Hügeln sind unter Buschwerk und Farnkraut hier und da noch Spuren alter Wohnhäuser oder Befestigungsanlagen aus vergangenen Zeiten zu erkennen. Eine solche Stelle war mir schon früher einmal aufgefallen, und jetzt ging ich wieder dorthin. Sie gefiel mir. Es war ein zwischen zwei Hügeln eingebetteter, einsamer Platz, wo eine Quelle aus der Grasnarbe hervorsprudelte und als kleiner Bach den Hang hinunterfloß, um sich unten im Tal mit einem größeren Flüßchen zu vereinigen. Vor langen Zeiten hatten Menschen hier gelebt. Bei einem bestimmten Sonnenstand konnte man noch die Umrisse uralter 283
Mauern unter dem Rasen erkennen. Diese Siedlung war schon lange verschwunden, aber später hatte sich hier, in schweren Zeiten, ein anderer Siedler einen Turm erbaut, dessen Hauptteil noch stand. Er war aus römischen Steinen errichtet worden, die von Caer Camel stammten. Die quadratisch geformten Steine mit ihren noch sauberen Rändern waren von allerlei Buschwerk und Brennesselgestrüpp schon fast überwuchert. Dieses Unkraut war mir nicht unwillkommen, gibt es doch bei vielen Krankheiten ein vorzügliches Heilmittel ab. Ich hatte die Absicht, sobald das Haus fertig war, mir einen Garten anzulegen - also ein echtes Werk des Friedens zu vollbringen. Und Frieden hatten wir schließlich. Die Nachricht vom Sieg bei Badon erreichte mich, bevor ich noch die Ausmaße meines neuen Heims abgeschritten hatte. Nach der Schilderung des Kampfverlaufs, die mir Artus schickte, schien es sicher, daß dies der endgültige Sieg des ganzen Feldzugs war; Artus diktierte jetzt die Bedingungen und war fest entschlossen, die Grenzen seines Reiches genau abzustecken. Es bestehe kein Grund zu der Annahme (hieß es in seiner Botschaft), daß es auf absehbare Zeit wieder zu Überfällen oder Widerstand kommen werde. Ich hatte zwar das Schlachtfeld nicht gesehen, aber ich wußte Bescheid und richtete mich auf eine längere Friedenszeit ein; ich brauchte ein Haus, in dem ich in stiller Abgeschiedenheit, die ich so liebte und die ich nötig hatte, leben konnte - weit genug entfernt vom geschäftigen Treiben, das Artus umgeben würde. Inzwischen schien es mir ratsam, alle benötigten Steinmetze und sonstigen Handwerker heranzuholen, bevor Artus' eigene, groß angelegte Pläne für den Ausbau seiner Hauptstadt Gestalt anzunehmen begannen. Die Handwerker kamen, schüttelten angesichts meines Vorhabens den Kopf und gingen dann fröhlich an die Arbeit, um zu bauen, was ich mir vorgenommen hatte. Es ging um ein kleines Haus, das in eine Höhlung des Hanges eingebettet werden und den Blick nach Süden und Westen, weg von Caer Camel, in Richtung auf das ferne Tiefland freigeben sollte. Das Anwesen war gegen Norden und Osten geschützt und durch einen tiefer liegenden Bergvorsprung von der Talstraße her nicht 284
einzusehen. Ich ließ den Turm in seiner alten Form wiederaufbauen und setzte das neue Haus dagegen; es hatte nur ein Stockwerk; dahinter lag ein Hof im römischen Stil. Der Turm stand an der Ecke zwischen meinem Wohnhaus und der Küche. An der Seite, dem Haus gegenüber, befanden sich Werkstätten^Und Vorratsschuppen. An der Nordseite stand eine mit Dachziegeln abgedeckte Mauer, an der ich einige der empfindlicheren Pflanzen einsetzen wollte. Ich hatte schon seit langem vorgehabt, worüber die Steinmetze jetzt den Kopf schüttelten: die Mauer sollte aus zwei Wänden bestehen, und der Hypokaust würde warme Luft in den Zwischenraum hineinführen. Dadurch würden nicht nur die Weinreben und Pfirsiche vor der Winterkälte geschützt, sondern die Wärme würde für die gesamte Gartenanlage von Nutzen sein, wie der Sonnenl schein, der eingefangen und festgehalten würde. Es war das erste Mal, daß ich diese Idee in der Praxis verwirklicht sah; später wurde sie auch in Camelot und in Artus' anderem Palast bei Caerleon in die Tat umgesetzt. Ein kleiner Aquae-dukt leitete Wasser von der Quelle in einen Brunnen im Mittelpunkt der Anlage. Die Arbeiter, die mehrere Jahre nur militärische Anlagen errichtet hatten, empfanden die Arbeit bei mir als angenehme Abwechslung und kamen rasch voran. Wir hatten in diesem Jahr einen milden Winter. Ich ritt nach Bryn Myrddin, um die Überführung meiner Bücher und bestimmter Arzneivorräte zu beaufsichtigen; dann verbrachte ich Weihnachten in Camelot bei Artus. Die Zimmerleute kamen gleich nach Neujahr in mein Haus, und die Arbeiten waren so rasch erledigt, daß die Leute rechtzeitig zur Verfügung standen, um im Frühjahr auf Camelot mit der Errichtung der Königsresidenz zu beginnen. Ich hatte noch keinen Diener und mußte mich jetzt daran machen, eine geeignete Person zu finden - keine leichte Aufgabe, denn wenige Menschen leben gern in der Abgeschiedenheit, die ich bevorzuge, und meine Gewohnheiten haben sich stets von denen der üblichen Herrschaftsfamilien unterschieden. Mein Tageslauf muß seltsam anmuten; ich brauche nur wenig Essen und wenig Schlaf; Stille ist mir 285
die Hauptsache. Ich hätte mir einen Sklaven kaufen können, der sich auf alle meine Wünsche hätte einstellen müssen, aber ich habe gekaufte Dienste nie geliebt. Doch hatte ich auch diesmal wieder Glück. Einer der Steinmetze hatte einen Onkel, der Gärtner war; er hatte diesem, sagte er, von der Errichtung der geheizten Mauer erzählt, worauf der Onkel nur mit dem Kopf geschüttelt und irgend etwas über diesen neumodischen, ausländischen Unsinn vor sich hingemurmelt habe. Denn jedoch habe er lebhaftes Interesse über den Fortgang der Bauarbeiten bekundet. Er hieß Varro. Er werde gern bei mir arbeiten, meinte der Steinmetz, und seine Tochter, die kochen und saubermachen konnte, würde gleich mitkommen. Dies war also geregelt. Varro begann sofort mit dem Jäten und Umgraben, und das Mädchen Mora schrubbte und lüftete. Und dann in einem jener durchsichtig klaren und schönen Augenblicke des Vorfrühlings, als sich die Schlüsselblumen bereits unter dem knospenden Schlehdorn zeigten und die jungen Lämmer neben den Mutterschafen im blühenden Farnkraut lagen, stellte ich mein Pferd in den Stall, packte meine große Harfe aus und war zu Hause. *** Kurz darauf kam Artus, um mich zu besuchen. Ich war im Garten und saß in der Sonne auf einer Bank zwischen den Pfeilern der kleinen Säulenhalle. Ich war mit dem Sortieren von Samen beschäftigt, die ich im vergangenen Sommer gesammelt und in Pergamenttüten verpackt hatte. Hinter den Mauern hörte ich das Pferdegetrappel der Eskorte des Königs. Er trat allein ein. Varro grüßte und ging, den Spaten in der Hand, schnell an ihm vorbei. Ich stand auf, während Artus die Hand zum Gruß erhob. «Es ist sehr klein», waren seine ersten Worte, während er sich umschaute. «Groß genug. Es ist nur für mich.» «Nur!» Er lachte und drehte sich dann auf dem Absatz um. «Mmm . . . wenn du Hundehütten liebst, und es hat den Anschein, dann muß ich sagen, das Ganze ist sehr hübsch. Also das dort ist die berühmte Mauer? Die Steinmetze haben mir davon erzählt. Was willst du dort pflanzen?» 286
Ich sagte es ihm und führte ihn dann in meinem kleinen Garten herum. Artus, der von Gärten ebensoviel verstand wie ich von Kriegführung, der sich aber für alles Neue interessierte, sah sich alles an, berührte dies und jenes und stellte mir Fragen; viel Zeit widmete er der geheizten Mauer und dem Bau des kleinen Aquädukts, der den Brunnen speiste. «Eisenkraut, Kamille, Beinwurz, Ringelblume...» Er nahm die beschrifteten Samenpäckchen, die auf der Bank lagen, in die Hand. «Ich kann mich erinnern, daß Drusilla l Ringelblumen zog. Sie verabreichte mir einen Absud davon, wenn ich Zahnschmerzen hatte.» Er blickte wieder in die Runde. «Weißt du, hier herrscht schon jetzt etwas von demselben Frieden, den man in Galava spürte. Du hattest recht, als du dich weigertest, in Camelot zu wohnen. Ich werde hier eine Zufluchtstätte haben, wenn mich die Geschäfte zu hart bedrängen.» «Hoffentlich kommst du gelegentlich her. Hier ist alles vorhanden. Dort habe ich meine Blumen, und draußen liegt ein Obstgarten. Ein paar alte Bäume standen noch, und sie scheinen noch gesund zu sein. Möchtest du jetzt hereinkommen und dir das Haus ansehen?» «Mit Vergnügen», sagte er plötzlich in einem so offiziellen Tonfall, daß ich aufsah und merkte, daß seine Aufmerksamkeit gar nicht mehr mir, sondern Mora galt, die aus der Tür herausgetreten war und ein Tuch ausschüttelte. Der Wind trieb ihr das Kleid gegen den Leib, und ihre hübschen Haare flogen ihr wirr um das Gesicht. Sie hielt inne, um sie sich aus dem Gesicht zu streichen, sah Artus, errötete und kicherte, dann lief sie wieder ins Haus. Ich sah ein helles Auge durch eine Spalte lugen, dann merkte sie, daß ich sie beobachtete, und zog sich zurück. Die Tür wurde zugemacht. Offenbar hatte das Mädchen keine Ahnung, wer der junge Mann war, der sie so interessiert gemustert hatte. Er meinte grinsend zu mir gesandt: «Ich werde in einem Monat heiraten, du kannst es dir also ersparen, mich so anzuschauen. Ich werde ein vorbildlicher Ehemann sein.» 287
«Dessen bin ich sicher. Habe ich dich beobachtet? Es geht mich zwar nichts an, aber ich sollte dich warnen: Der Gärtner • ist ihr Vater.» «Und er scheint ein stämmiger Bursche zu sein. Also gut, ich werde bis Mai kühlen Blutes bleiben. Der Himmel weiß, daß es mich schon einmal in Schwierigkeiten gebracht hat, und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.» «<Ein vorbildlicher Ehemann?>» «Ich sprach von meiner Vergangenheit. Du hast mir gesagt, daß sie bis in meine Zukunft hineinreichen wird.» Er sprach leichthin; die Vergangenheit, vermutete ich, lag jetzt weit hinter ihm. Ich bezweifelte, ob ihm Gedanken an Morgause noch schlaflose Nächte bereiteten. Er folgte mir ins Haus und begab sich, während ich Wein einschenkte, auf einen neuen Erkundungsgang. Das Haus hatte nur zwei Zimmer. Der Wohnraum nahm etwa zwei Drittel der Länge des Hauses ein und dessen ganze Breite; es hatte Fenster nach beiden Seiten, mit Blick auf Garten und Hügel. Die Tür ging auf die Kolonnade hinaus, die den Garten begrenzte. Heute, bei der milden Luft, stand die Tür zum ersten Mal offen, und Sonnenlicht fiel über die Terrakottaplatten des Fußbodens herein. Am Ende des Raumes war Platz für den Kamin, mit einem breiten Rauchabzug. In Britannien brauchen wir offene Feuer und außerdem geheizte Fußböden. Die Kaminplatte war aus Schiefer, und an den aus behauenem Stein gemauerten Wänden hingen Teppiche, die ich von meinen Reisen in den Orient mitgebracht hatte. Tisch und Stühle waren aus Eichenholz, das von demselben Baum stammte, aber der große Sessel war aus Ulmenholz, ebenso wie die Truhe unter dem Fenster, in der meine Bücher lagen. Eine Tür am Ende des Raumes führte in mein Schlafgemach, das mit Bett und Kleiderkasten schlicht möbliert war. Vielleicht in Erinnerung an meine Kindheit hatte ich draußen vor dem Fenster einen Birnbaum gepflanzt. All dies zeigte ich ihm und führte ihn dann zum Turm. Die Eingangstür lag an der Säulenhalle in der Ecke des Gartens. Im Erdgeschoß befand sich der Arbeitsraum, wo die Krauter getrocknet und die Arzneien hergestellt wurden. Die ganze Einrichtung bestand 288
aus einem großen Tisch, Hockern und Schränken, sowie einem kleinen, gemauerten Herd mit Backrohr und einem Holzkohlenbrenner. An der einen Wand führte eine Steintreppe ins Obergeschoß. Dieses war eine Kammer, die ich als rein persönlichen Arbeitsraum benutzen wollte. Hier standen vorläufig nur ein Arbeitstisch mit Stuhl, zwei Hocker und ein Schrank mit Schrifttafeln, sowie die mathematischen Instr-umente, die ich aus Anriochia mitgebracht hatte. In der Ecke stand ein Feuerbecken. Ich hatte ein Fenster mit Blick nach Süden einrichten lassen; dieses besaß weder Verkleidung noch Vorhang. Ich bin gegen Kälte ziemlich unempfindlich. Artus wanderte in dem winzigen Raum auf und ab, bückte sich, öffnete Kästen und Schränke und stützte sich mit den Fäusten auf, um aus dem Fenster zu schauen. Er schien den kleinen Raum mit seiner Vitalität so auszufüllen, daß ihn sogar die dicken, römischen Mauern kaum umschließen konnten. Wieder im Hauptraum, nahm er einen Becher von mir und hob ihn. «Auf dein neues Heim. Wie willst du es nennen?» «Applegarth.» «Der Name gefällt mir. Und er stimmt. Also auf Applegarth, und daß du noch lange hier leben mögest!» «Ich danke dir. Und auf meinen ersten Gast.» «Bin ich der? Das freut mich. Mögen noch viele dich besuchen, und mögen sie alle in friedlicher Absicht kommen.» Er trank und setzte den Becher ab. Dann sah er sich wieder um. «Schon jetzt herrscht hier tiefer Friede. Ja, ich verstehe allmählich, warum du dir diesen Platz ausgesucht hast. . . aber bist du sicher, daß du damit zufrieden bist? Du weißt, und ich weiß es auch, daß mein ganzes Königreich von Rechts wegen dir gehört, und ich versichere dir, daß ich dir die Hälfte davon überließe, wenn du mich darum bitten würdest.» «Behalte es vorläufig. Es fiele mir schwer, dich darum zu beneiden. Hast du Zeit, noch eine Weile zu bleiben? Willst du etwas essen? Die bloße Vorstellung wird Mora in Todesschrecken versetzen, denn du kannst sicher sein, daß sie schon ihren Vater gefragt hat, wer der junge 289
Fremde ist, aber ich bin überzeugt, daß sie etwas Eßbares finden wird -» «Nein, vielen Dank. Ich habe schon gegessen. Hast du nur die beiden Diener? Wer kocht für dich?» «Das Mädchen.» «Kocht sie gut?» «Doch, ganz ordentlich.» «Daraus entnehme ich, daß du es noch nicht einmal gemerkt hast. Um Gottes Willen», sagte Artus. «Ich werde dir einen Koch herschicken. Ich mag nicht daran denken, daß du immer nur diesen Bauernfraß zu essen bekommst.» «Nein, bitte nicht. Ich will nicht mehr als diese beiden den ganzen Tag um mich herum haben. Und auch sie gehen abends nach Hause. Ich komme sehr gut zurecht-wirklich. > «Meinetwegen. Aber ich möchte gern etwas für dich tun, dir ein Geschenk machen.» «Wenn mir irgendein Wunsch einfällt, werde ich es dir sagen. Jetzt erzähl mir bitte, wie die Bauarbeiten vorangehen. Ich bin leider mit meiner Hundehütte zu sehr beschäftigt gewesen, um mich viel darum kümmern zu können. Wird der Bau für deine Hochzeit fertig sein?» Er schüttelte den Kopf. «Bis zum Sommer ist er vielleicht so weit fertig, daß ich eine Königin dort unterbringen kann. Aber zur Hochzeit gehe ich zurück nach Caerleon. Sie wird im Mai stattfinden. Wirst du da sein?» «Es sei denn, es ist dein ausdrücklicher Wunsch, daß ich komme, sonst würde ich lieber hierbleiben. Mir scheint allmählich, daß ich in den letzten Jahren zuviel unterwegs gewesen bin.» «Wie du willst. Nein, keinen Wein mehr, vielen Dank. Etwas wollte ich dich noch fragen. Als zum ersten Mal der Gedanke aufkam, ich solle heiraten - bei meiner ersten Ehe -, schienst du gewisse Zweifel zu hegen. Mir war, als hättest du irgendeine Vorahnung über kommendes Unheil. Wenn es so war, hast du recht behalten. Sag mir, bitte - hast du dieses Mal auch solche Zweifel?» 290
Man sagt, daß niemand in meinen Gedanken lesen kann, wenn ich mir nichts anmerken lassen will. Ich schaute ihm ins Gesicht. «Nein. Warum fragst du mich? Sind dir selbst Zweifel gekommen?» «Nein, keine.» Ein kurzes Lächeln. «Jedenfalls noch nicht. Wie sollte es auch anders sein, wo mir doch erzählt wird, sie sei die Vollkommenheit in Person? Alle sagen, sie sei anmutig wie ein Maienmorgen, und sie erzählen mir dies und das über sie. Aber das tun die Leute ja schließlich immer. Mir wird es genügen, wenn sie einen reinen Atem und ein nachgiebiges Wesen besitzt... O ja, und eine hübsche Stimme. Auf Stimmen lege ich seit einiger Zeit besonderen Wert. Wenn all dies der Fall ist, könnten wir gar nicht besser zueinander passen. Als Waliser, Merlin, solltest du mir beipflichten.» «O ja, das tue ich auch. Ich bin mit allem einverstanden, was Gwyl dort in dem Festsaal gesagt hat. Wann gehst du nach Wales, um sie nach Caerleon zubringen?» «Ich selbst kann es nicht tun; ich muß in etwa einer Woche nach Norden reiten. Ich entsende wieder Bedwyr, und Gereint mit ihm, und dazu noch - um ihr eine besondere Ehre zu erweisen, da ich nicht persönlich kommen kann -König Melwas vom Summer Country.» Ich nickte, und das Gespräch wandte sich dann den Gründen für seine Reise in den Norden zu. Er unternahm die Fahrt, wie ich wußte, hauptsächlich deshalb, um sich die Verteidigungsanlagen im Nordosten anzusehen. Tydwal, Lots Verwandter, hielt Dunpeldyr jetzt, offenbar als Statthalter von Morgause und Lots ältestem Sohn Gawain, obwohl es zweifelhaft war, daß die Familie der Königin jemals Orkney verlassen würde. «Was mir sehr gelegen kommt», sagte der König gleichmütig. «Aber es erzeugt gewisse Schwierigkeiten im Nordosten.» Er erläuterte die Lage. Das Problem liege bei Aguisel, der die feste Burg von Bremenium in den Bergen von Nordum-brien im Besitz habe, wo die Dere Street in den High Cheviot hinaufführt. Während Lot den Norden beherrscht habe, sei Aguisel ihm «als sein 291
Helfershelfer» gefolgt, meinte Artus verächtlich, zusammen mit Tydwal und Urien. Aber jetzt, wo Tydwal auf Lots Stuhl sitzt, erwache in Aguisel der Ehrgeiz. «Ich habe gerüchtweise gehört Beweise habe ich .zwar keine -, daß, als die Angeln ihre Schiffe den Alaunus River hinaufschickten, Aguisel ihnen dort entgegentrat -nicht in kriegerischer Absicht, sondern um mit ihrem Führer zu sprechen. Und Urien läuft weiterhin hinter ihm her-zwei Hunde, die so tun, als wären sie Löwen. Vielleicht glauben sie, ich sei zu weit weg, aber ich werde ihnen einen Besuch abstatten und ihnen diese Illusion nehmen. Als Grund gebe ich an, mir den Ausbau des Schwarzen Deiches ansehen zu wollen. Ich brauche einen Vorwand, um Aguisel ein für allemal aus dem Wege zu räumen, aber ich muß es tun, ohne Tydwal und Urien zu seiner Verteidigung auf den Plan zu rufen. Das Letzte, was ich mir leisten kann, bis ich die Westsachsen völlig unter Kontrolle habe, wäre ein Auseinanderbrechen der Allianz im Norden. Sollte ich Tydwal beseitigen müssen, könnte dies zur Folge haben, daß Morgause nach Dunpeldyr zurückkehrt. Sicher nichts Aufregendes verglichen mit allem anderen, aber der Tag, an dem sie in einer Burg auf dem Festland sitzt, kann für mich kein guter Tagsein.» «Dann laß uns hoffen, daß dieser Tag nie kommen wird.» «Du sagst es. Ich werde mein bestes tun, alles so zu steuern.» Im Gehen wandte er sich noch einmal um. «Es ist ein hübscher Ort. Ich werde leider keine Zeit haben, dich noch einmal zu sehen, bevor ich losreite, Merlin. Ich mache mich vor dem Ende der Woche auf den Weg.» «Mögen alle Götter dich begleiten, mein Lieber. Mögen sie dir auch bei deiner Hochzeit zur Seite stehen, und komm eines Tages wieder her.» Er ging. Der Raum schien zu beben und größer zu werden, und es war, als versinke alles wieder in den Zustand völliger Ruhe. 2 Und Ruhe war der beherrschende Eindruck der folgenden Monate. Kurz nach Artus' Abreise in den Norden ritt ich hinüber nach Camelot, um nachzusehen, wie die Bauarbeiten fortgeschritten waren; befriedigt 292
überließ ich alles Der-wen, um die Arbeiten zu beenden, und zog mich in meine neu geschaffene Festung zurück; dabei hatte ich fast dasselbe Gefühl, heimzukehren, wie ich es damals bei Bryn Myrddin hatte. Den Rest dieses Frühlings ging ich meinen eigenen Angelegenheiten nach: Ich bepflanzte meinen Garten, schrieb an Blaise und sammelte, als frisches Grün die Landschaft belebte, diejenigen Krauter ein, die ich zur Ergänzung meiner Vorräte benötigte. Ich sah Artus vor der Hochzeit nicht mehr wieder. Ein Kurier überbrachte mir Nachrichten, die zwar kurz waren, aber günstig klangen. Artus hatte Beweise für Aguisels Niedertracht gefunden und ihn in Bremenium angegriffen. Einzelheiten erfuhr ich nicht, aber der König hatte die Stadt eingenommen und Aguisel hinrichten lassen; dies gelang ihm, ohne Tydwal oder Urien gegen sich aufzubringen. Tydwal hatte sogar an Artus' Seite bei der Erstürmung der Mauern mitgekämpft. Wie der König dies erreicht hatte, war aus der Nachricht nicht zu erkennen, aber nach Aguisels Tod waren viele Probleme bereinigt, und da er ohne Söhne gestorben war, konnte jetzt ein von Artus ausgewählter Mann die Verteidigung der Burg, die den CheviotPaß beherrschte, übernehmen. Artus entschied sich für Brewyn, einen Mann, dessen er sicher sein konnte, und begab sich dann befriedigt gen Süden nach Caerleon. Lady Guinevere traf zur vorgesehenen Zeit in Caerleon ein; ihre königliche Eskorte bestand aus Melwas und Bedwyr, sowie einer Abordnung von Artus' Rittern. Cei hatte nicht zu der Eskorte gehört; als Artus' Seneschall war er für den Palast in Caerleon verantwortlich, wo die Hochzeit mit großem Prunk gefeiert wurde. Ich hörte später, daß der Vater der Braut den Maitag vorgeschlagen, Artus aber nach kurzem Zögern «Nein» gesagt hatte, und zwar so rundheraus, daß sich viele wunderten. Aber dies war der einzige Schatten. Alles andere verlief harmonisch. Das Paar wurde gegen Ende des Monats an einem herrlichen Sonnentag vermählt, und Artus nahm zum zweitenmal eine Braut ins Bett, diesmal jedoch standen den beiden viele gemeinsame Tage und Nächte bevor. Sie kamen im Frühsommer nach Camelot, wo ich die zweite Guinevere das erste Mal sah. 293
Königin Guinevere von Northgalis hatte mehr als «einen reinen Atem und ein nachgiebiges Wesen»; sie war eine Schönheit. Um die Faszination, die von ihr ausging, zu beschreiben, hätte man die herkömmlichen Ausdrücke der Barden zu Hilfe nehmen müssen: Haare wie goldenes Korn, Augen wie der Sommerhimmel, eine pfirsichfarbene Haut und ein geschmeidiger Körper - und dazu noch die Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit, ein mitreißender Frohsinn und die Art, anderen Freude mitzuteilen. Sie war wirklich faszinierend; an dem Abend, als sie nach Camelot geleitet wurde, beobachtete ich sie während der Feierlichkeiten und sah, daß bei dem Mahle nicht nur die Augen des Königs ständig auf sie gerichtet waren. Sie würde nicht nur die Königin von Artus, sondern der gesamten Ritterschar sein, das war offensichtlich. Mit Ausnahme vielleicht von Bedwyr. Er suchte als einziger nicht ständig, ihren Blick auf sich zu ziehen; er war sogar noch stiller als sonst und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, und was Guinevere angeht, so warf sie nur selten einen Blick in seine Richtung. Ich fragte mich, ob während der Reise von Northgalis womöglich etwas geschehen war, worüber er nicht hinwegkam. Aber Melwas, der in ihrer Nähe saß, hing an ihren Lippen und beobachtete sie mit denselben hingebungsvollen Blicken wie die jüngeren Leute. Es war ein wunderschöner Sommer, wie ich mich erinnere. Die Sonne schien warm, aber von Zeit zu Zeit fiel der ersehnte Regen, und leichter Wind kam auf, so daß das Getreide gedieh wie kaum je zuvor und Rinder und Schafe prächtig im Futter standen und eine vorzügliche Ernte erwartet werden konnte. Obwohl überall an Sonntagen die Glok-ken in den christlichen Kirchen läuteten und jetzt Kreuze zu sehen waren, wo bisher Hügelgräber oder Statuen am Wegesrand gestanden hatten, segnete die Landbevölkerung den jungen König, der ihnen nicht nur Frieden und dadurch die Möglichkeit gebracht hatte, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen, sondern darüber hinaus noch eine überreiche Ernte. In ihren Augen waren Wohlhabenheit und Ruhm auf ihren jungen Herrscher zurückzuführen, denn während des letzten Jahres, als Uther dahinsiechte, hatte das Land unter Brand und Trockenfäule zu leiden gehabt. Und das einfache Volk wartete zuversichtlich - ebenso wie in 294
Camelot die Edlen warteten - auf die Bekanntmachung, daß ein Thronerbe gezeugt worden sei. Aber der Sommer ging vorbei und der Herbst zog herauf, und obwohl auf dem Lande die reiche Ernte eingebracht wurde, ritt die Königin jeden Tag mit ihren Hofdamen aus und wirkte so schlank und geschmeidig wie eh und je. Die Bekanntmachung blieb aus. Und hier in Camelot dachte niemand mehr an die junge Frau, die den Erben empfangen hatte und während der Schwangerschaft gestorben war. Alles war neu und schön; jeder ging geschäftig seiner Arbeit nach. Der Palast war fertiggestellt, und jetzt waren die Holzschnitzer und Vergolder bei der Arbeit, und die Frauen webten und nähten, und Wagenladungen mit Töpferwaren, Silber und Gold kamen täglich in die neue Stadt, so daß auf den Straßen ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Es war die Zeit der Jugend und des Frohsinns; die schlimmen Jahre waren vergessen. Was den «weißen Schatten» meiner Vorahnung anbetraf, so begann ich mich zu fragen, ob es tatsächlich der Tod der anderen, hübschen Guinevere gewesen war, der jenen Schatten über das Licht geworfen hatte und noch immer wie ein Gespenst in Winkeln und Ecken zu hausen schien. Aber ich hatte sie nie gesehen, und Artus, wenn er überhaupt noch an sie dachte, sagte nichts. So vergingen vier Winter, und Camelots Türme erstrahlten in ihrem neuen Goldschmuck; an den Grenzen herrschte Ruhe, die Ernten waren gut, und das Volk gewöhnte sich an Frieden und Sicherheit. Artus war fünfundzwanzig und schweigsamer als früher; er schien häufiger und jedesmal länger unterwegs zu sein. Cadors Herzogin hatte einen Sohn zur Welt gebracht, und Artus ritt nach Cornwall, um das Patenamt zu übernehmen, aber Königin Guinevere begleitete ihn nicht. Einige Wochen wurde gemunkelt, sie habe vielleicht gute Gründe, nicht an dieser Reise teilzunehmen; aber der König kehrte mit seiner Begleitung wieder zurück und begab sich dann über See nach Gwynedd, und immer noch ritt die Königin in Camelot aus und lachte und tanzte und hielt Hof, schlank wie ein junges Mädchen und - wie es schien- genauso sorgenfrei. 295
Dann kam an einem regnerischen Tag, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, ein Reiter an mein Tor mit der Nachricht: Der König sei unterwegs und werde vielleicht noch eine ganze Woche fortbleiben, und die Königin sei verschwunden. *** Der Bote war Cei, der Seneschall, Artus' Ziehbruder und Sohn Ectors von Galava. Er war ein wuchtiger Mann, an die drei Jahre älter als der König, breitschultrig und von lebhafter Gesichtsfarbe. Er war ein guter Kämpfer und ein tapferer Mann, aber nicht der geborene Führer, wie Bedwyr. Cei hatte weder Nerven noch Phantasie; diese Eigenschaften sind zwar die Voraussetzung für Tapferkeit im Krieg, aber sie machen noch keine Führernatur aus. Bedwyr, der Dichter und Träumer, der sehr viel feinfühliger war, stellte ihn weit in den Schatten. Aber Cei war zuverlässig und unerschütterlich; da er für den Haushalt des Königs verantwortlich war, kam er jetzt, nur von einem Diener begleitet, persönlich zu mir. Und dies, obwohl er einen Arm in der Schlinge trug und müde und abgespannt aussah. Er erzählte mir die Geschichte, als wir in meinem Zimmer saßen und das flackernde Feuer Schatten über die Deckenbalken zog. Er nahm einen Becher Glühwein an und redete schnell, während er auf mein Drängen hin die Schlinge abnahm und mich seinen verletzten Arm untersuchen ließ. «Bedwyr schickte mich her, um Euch zu unterrichten. Ich wurde verletzt, deshalb fiel die Wahl auf mich. Nein, ich habe keinen Arzt aufgesucht. Verdammt noch mal, dazu war gar keine Zeit! Alles hätte geschehen können, wartet, bis ich es Euch erzähle . . . Sie ist seit Tagesanbruch weg. Heute morgen hatten wir gutes Wetter, wie Ihr wißt. Sie unternahm einen Ausritt mit ihren Damen; die übrige Eskorte bestand nur aus den Stallknechten und zwei weiteren Männern. Ihr wißt, so ist es immer gewesen.» «Ja.» Es stimmte. Manchmal wurde die Königin von einigen Rittern begleitet, aber häufig hatten diese Wichtigeres zu tun, als ihr auf ihren täglichen Ausritten den Hof zu machen. Ihr standen Soldaten und Stallknechte zur Verfügung, und seit einiger Zeit drohte in der Nähe 296
von Camelot keine Gefahr mehr von gesetzlosen Räubern, die jene einsamen Gegenden unsicher gemacht hatten, als ich noch ein Knabe war. So war Guinevere früh aufgestanden, weil das Wetter einen sonnigen Vormittag versprach, hatte ihre graue Stute bestiegen und war mit zwei ihrer Hofdamen und vier Männern, von denen zwei Soldaten waren, da vongeritten. Sie hatten in südlicher Richtung einen Gürtel trockenen Hochmoors, das von dichtem Wald umgeben war, überquert. Rechts von ihnen lagen die Niederungen, wo sich die Bäche in tiefen, von Schilf bewachsenen Einschnitten seewärts schlängelten, und im Osten stieg das Land, wellig und mit Bäumen bestanden, zu dem höher gelegenen Hügelland auf. Die Reiter waren auf viel Niederwild gestoßen; die Windhunde waren ihm wie wild nachgerannt, und die Stallknechte hatten - sagte Cei - alle Hände voll zu tun, um sie wieder zurückzubringen. Inzwischen hatte die Königin ihren Jagdfalken nach einem Hasen aufsteigen lassen und war ihm geradewegs in den Wald hinein gefolgt. Cei brummte unwirsch, als meine tastenden Finger den verletzten Muskelstrang entdeckten. «Ich habe Euch ja gesagt, daß es nicht der Rede wert sei. Bloß eine Zerrung, nicht wahr? Ein gedehnter Muskel? Wird es lange dauern? Macht nichts, es ist nicht mein Schwertarm . . . Also, sie galoppierte mit der grauen Stute in den Wald, und die Frauen blieben zurück. Ihre Zofe ist keine Reiterin, und die andere, Lady Melissa, ist nicht mehr jung. Die Stallknechte kamen mit den Windhunden auf dem Sattel zurück und befanden sich noch in einiger Entfernung. Niemand machte sich besondere Sorgen. Sie ist eine großartige Reiterin - Ihr wißt, sie ist sogar mit Artus' weißem Hengst fertig geworden -, und außerdem hat sie es schon früher getan, nur um die anderen zu foppen. Deshalb nahmen sie es auf die leichte Schulter, die Damen blieben zurück und die beiden Soldaten ritten hinter ihr her.» Der Rest war leicht zu ergänzen. Es stimmte, daß sich so etwas auch schon vorher einmal ereignet hatte und gut abgelaufen war; deshalb folgten die Soldaten der Königin nur im leichten Galopp. Sie konnten hören, wie die Stute der Königin durch das dichte Unterholz vor ihnen 297
brach und Buschwerk und trockenes Holz unter den Hufen des Pferdes knickte. Der Wald wurde dichter; die beiden Soldaten verlangsamten die Gangart, duckten sich unter den Zweigen hindurch, die sich nach der Königin noch leise hin und her bewegten, und führten ihre Pferde durch das Gewirr von Holzresten und Wasserlöchern, die den Waldboden so gefährlich machten. Halb fluchend, halb lachend, merkten sie erst nach einigen Minuten, daß sie von der Stute der Königin nichts mehr hören konnten. Das verschlungene Unterholz ließ keine Spur davon erkennen, daß hier ein Pferd durchgebrochen sein konnte. Sie zügelten die Pferde, um zu lauschen. Nichts war zu hören, außer der fernen Schelte eines Eichelhähers. Sie riefen in den Wald hinein, bekamen aber keine Antwort. Eher verärgert als alarmiert, trennten sie sich: Der eine ritt in Richtung auf den Ruf des Eichelhähers, der andere weiter in den Wald hinein. «Ich kann Euch den Rest ersparen», sagte Cei. «Ihr wißt, wie so etwas ist. Nach kurzer Zeit trafen sie sich wieder und waren dann natürlich alarmiert. Sie riefen wieder in den Wald hinein, und die Stallknechte hörten sie und beteiligten sich an der Suche. Nach einiger Zeit hörten sie dann wieder die Stute. Sie sei in voller Bewegung gewesen, sagten sie und habe laut gewiehert. Sie gaben ihren Pferden die Sporen und setzten ihr nach.» »Und?» Ich richtete den verletzten Arm in der frisch gebundenen Schlinge neu ein, und er dankte mir. «So ist es besser. Ich bin Euch dankbar. Sie fanden also die Stute drei Meilen weiter im Wald, sie lahmte und zog einen zerrissenen Zügel hinter sich her, aber von der Königin keine Spur. Sie schickten die Frauen mit einem der Stallknechte zurück und setzten die Suche fort. Bedwyr und ich zogen weitere Soldaten hinzu und durchsuchten den ganzen Tag über den Wald, so gut wir konnten, aber vergeblich.» Er hob seine unverletzte Hand. «Ihr wißt, was für eine Gegend dies ist. Wo nicht gerade ein Dickicht aus Buschwerk und Bäumen besteht, das einem feuerspeienden Drachen Einhalt gebieten würde, ist es Sumpfland, wo Pferd und Mensch bis über den Kopf einsinken. Und auch im Wald gibt es Gräben, die so tief sind und so breit, daß man sie nicht überspringen kann. Dort machte ich mir ernste Sorgen. 298
Abgestorbene Fichtenzweige verdeckten ein Loch, das wie eine Wolfsfalle aussah. Ich hatte noch Glück, nicht schwerer als so verletzt zu werden. Mein Pferd rammte sich einen Ast in den Unterleib, das arme Tier. Es ist zweifelhaft, ob es wieder gesund werden wird.» «Die Stute», sagte ich, «war sie gestürzt? War sie mit Schlamm bedeckt?» «Bis an die Augen, aber das hat nicht viel zu sagen. Sie mußte eine ganze Stunde durch Sumpf und Moor galoppiert sein. Das Sattelzeug war zerrissen. Meines Erachtens mußte sie gestürzt sein; ich kann mir nicht vorstellen, daß sie die Königin abgeworfen hat, außer, daß die Königin durch einen überhängenden Ast aus dem Sattel gerissen wurde. Glaubt mir, wir haben bestimmt jedes Dickicht und jeden Graben in dem Wald abgesucht. Vielleicht liegt sie irgendwo bewußtlos auf dem Boden. . . wenn es nicht Schlimmeres ist. Mein Gott, wenn sie schon so etwas vorhatte, warum konnte sie es dann nicht tun, wenn der König daheim war?» «Ihr habt ihn natürlich benachrichtigt?» «Bedwyr entsandte einen reitenden Boten, bevor wir Ca-melot verließen. An der Suche beteiligen sich jetzt mehr Männer als zuvor. Es wird allmählich zu dunkel, um sie zu finden, aber wenn sie bewußtlos irgendwo gelegen hat und wieder aufwacht, hören sie vielleicht ihr Rufen. Was könnten wir sonst tun? Bedwyr hat jetzt auch Leute mit Schleppnetzen eingesetzt. Einige dieser Tümpel sind tief, und in dem Fluß gibt es eine Strömung ...» Er brach ab. Seine ziemlich törichten blauen Augen starrten mich an, als bäte er mich um ein Wunder. «Als ich gestürzt war, schickte er mich zu Euch. Merlin, wollt Ihr mit mir kommen und uns zeigen, wo wir die Königin finden können?» Ich schaute hinunter auf meine Hände, dann auf das Feuer, das jetzt in kleine Flammen zusammengesunken war, die um ein grau gewordenes Holzscheit züngelten. Ich hatte seit Badon meine Kräfte nicht auf die Probe gestellt. Und wie lange davor nicht, seit ich das letzte Mal versucht hatte, mich ihrer zu bedienen? Weder Flammen, noch Träume, noch auch der Schimmer der Klarsicht im Kristall oder 299
in den Wassertropfen: Ich würde Gott nicht belästigen und ihn bitten, mir aus dem großen Wind einen kleinen Atemzug zu zeigen. Wenn er zu mir kam, dann kam er. Es lag an ihm, den Zeitpunkt zu wählen, und an mir, ihm dann zu folgen. «Oder könnt Ihr es mir jetzt schon sagen?» Cei sprach in inständig bittendem Tonfall. Früher, dachte ich, hätte ich nur ins Feuer zu blicken und eine Hand zu erheben brauchen . . . Die kleinen Flammen zischten und züngelten einen Fuß hoch in die Luft; sie hüllten das graue Holzscheit mit glühenden Lichtbögen ein und strahlten eine Hitze aus, die die Haut versengte. Funken sprangen hoch und erzeugten den alten, willkommenen Schmerz. Das Licht, das Feuer, die ganze lebendige Welt strömte nach oben, hell und dunkel, Flamme und Rauch und flackernde Vision; sie rissen mich mit. Ein Geräusch von Cei brachte mich wieder zu ihm zurück. Er war aufgestanden und vor dem lodernden Feuer zurückgewichen. Durch den rötlichen Lichtschein, der ihn einhüllte, sah ich, daß er erbleicht war. Schweißperlen standen auf seinem Gesicht. Er sagte mit heiserer Stimme: «Merlin -» Er schien bereits in der Glut und Dunkelheit zu entschwinden. Ich hörte mich sagen: «Geht! Macht mein Pferd bereit. Und wartet auf mich.» Ich hörte ihn nicht gehen. Ich war bereits weit vom Feuerschein des Raumes entfernt; ich fühlte mich über den kühlen und schäumenden Fluß hinweggetragen, der mich leicht wie ein vom Wind gelöstes Blatt in die Dunkelheit an den Toren zu einer anderen Welt fallen ließ. *** Die Höhlen schienen in die Unendlichkeit zu führen; die Deckengewölbe verloren sich in der Dunkelheit, und an den Wänden schimmerte ein seltsamer, wie aus dem Wasser aufsteigender Glanz, der jede .Unebenheit der Felswand deutlich hervortreten ließ. Von Steinbögen hingen Stalaktiten herab, wie Moosgeflecht von alten Bäumen, und Felssäulen wuchsen ihnen vom Boden her entgegen. 300
Irgendwo fiel Wasser herab, sein Echo hallte wider, und in dem verschwimmenden Licht kräuselte sich das Spiegelbild. Dann erschien, noch ganz fern und klein, ein Licht; es hatte die Form eines strengen, aber gefälligen Säuleneingangs. Dahinter rührte sich etwas. Als ich weitergehen und es aus der Nähe sehen wollte, bewegte ich mich ganz ohne Mühe, wie ein Blatt im Wind, wie ein Geist in einer Sturmnacht. Die Tür war das Tor zu einer großen Halle, die wie für eine Festlichkeit beleuchtet war. Die Bewegung, die ich gesehen hatte, war nicht mehr da; nur noch weite Räume gleißenden Lichts, der farbenprächtige Boden einer Königshalle, vergoldete Säulen und Fackeln, die in goldenen Drachenständern standen. Auch goldene Sitze sah ich, die an den schimmernden Wänden angeordnet waren, und silberne Tische. Auf einem von diesen lag ein Schachbrett; es war aus Silber und leuchtete hell und dunkel, die silbernen Schachfiguren standen dort so, als ob die Partie unvermittelt abgebrochen worden wäre. In der Mitte des weiträumigen Bodens stand ein prächtiger Elfenbeinsessel. Vor ihm befand sich ein goldenes Schachbrett und auf ihm standen etwa ein Dutzend goldene Schachfiguten, und eine von ihnen war erst halb fertiggestellt; sie lag neben einem Goldbarren und einer Feile, wo jemand an der Arbeit gewesen war, sie zu schnitzen. Ich wußte dann, daß dies keine Vision, sondern ein Traumerlebnis von der legendären Halle des Llud-Nuatha, des Königs aus dem Jenseits war. Zu diesem Palast waren sie alle gekommen, die Helden des Liedes und der Erzählungen. Hier hatte das Schwert gelegen, und hier mochte eines Tages der Gral und die Lanze von jemandem erträumt und gehoben worden sein. Hier hatte Macsen seine Prinzessin gesehen, das Mädchen, das er in der Welt draußen geheiratet hatte und mit dem er jene Kette von Herrschern gezeugt hatte, deren letzter Sproß Artus war. . . Schnell wie ein Traum am Morgen war das Bild wieder vergangen. Aber die großen Höhlen waren noch da, und in ihnen saß jetzt ein dunkelhaariger König auf einem Thron und neben ihm eine Königin, 301
von Schatten halb verhüllt. Irgendwo sang eine Drossel, und ich sah die Königin den Kopf wenden und hörte sie seufzen. Dann wurde mir plötzlich klar, daß ich, Merlin, gerade dieses Mal nicht die Wahrheit zu sehen wünschte. Da ich sie vielleicht schon im Unterbewußtsein kannte, hatte ich für mich selbst den Palast des Llud, die Halle des Dis und seiner eingekerkerten Persephone aufgebaut. Hinter beiden lag die Wahrheit, und da ich des Gottes und Artus' Diener war, mußte ich sie finden. Ich suchte weiter. Das Rauschen von Wasser und der Gesang einer Drossel. Ein halb verdunkelter Raum, niedrig, weder mit Silber noch mit Gold geschmückt; ein Zimmer, dessen Vorhänge zugezogen, das aber hell erleuchtet war; in ihm saßen ein Mann und eine Frau an einem kleinen, eingelegten Tisch und spielten Schach. Sie schien zu gewinnen. Ich sah, wie sich sein Gesicht verfinsterte, während er die Schultern straffte und sich über das Brett beugte, um sich den nächsten Zug zu 'überlegen. Sie lachte. Er hob die Hand, zögerte, zog sie aber wieder zurück und blieb eine Weile still sitzen. Sie sagte etwas, und er blickte zur Seite; dann wandte er sich um, um den Docht an einer der Lampen, die neben ihm standen, zu richten. Als er den Blick vom Schachbrett wandte, verrückte sie mit der Hand verstohlen eine Figur auf dem Schachbrett -unbemerkt wie ein Dieb auf dem Marktplatz. Als er sich wieder umdrehte, saß sie, die Hände im Schoß gefaltet, in aller Bescheidenheit da. Er warf einen Blick auf das Schachbrett, sah noch einmal hin, lachte dann laut und zog. Sein Springer räumte ihre Königin vom Brett. Sie machte ein überraschtes Gesicht, warf malerisch die Hände hoch und begann dann die Figuren neu aufzustellen. Er aber, plötzlich ungeduldig geworden, sprang auf, ergriff über das Brett hinweg ihre Hände und zog sie an sich. Zwischen ihnen kippte das Schachbrett um, und die Figuren fielen auf den Boden. Ich sah die weiße Königin in der Nähe seines Fußes rollen, den roten König über ihr. Der weiße König lag abseits, er war mit dem Gesicht nach unten zum Liegen gekommen. Er blickte hinab, lachte noch einmal und sagte ihr etwas ins Ohr. Er umschlang sie mit 302
den Armen. Ihr Gewand zerstreute die Schachfiguren, und sein Fuß trat auf den weißen König. Das Elfenbein zersplitterte. Damit verging auch die Vision; sie zerbrach in wabernde Schatten, die ins Lampenlicht und das letzte Aufglühen des ersterbenden Feuers zurückkamen. Ich stand mit steifen Gliedern auf. Draußen stampften Pferde mit ihren Hufen, und irgendwo im Garten sang eine Drossel. Ich nahm meinen Umhang vom Haken und legte ihn mir um. Ich ging hinaus. Cei machte sich bei den Pferden zu schaffen. Er schien ungeduldig zu sein. Er kam auf mich zu. «Wißt Ihr etwas?» «Ein wenig. Sie lebt und ist unverletzt.» «Oh! Dem Himmel sei Dank dafür! Wo ist sie?» «Noch weiß ich es nicht, aber ich werde es erfahren. Einen Augenblick. Cei, habt ihr den Jagdfalken gefunden?» «Was?» fragte er verständnislos. «Den Falken der Königin, den sie aufsteigen ließ und dem sie in den Wald gefolgt ist.» «Keine Spur. Warum? Wäre das eine Hilfe gewesen?» «Ich weiß nicht recht. Es war nur eine Frage. Bringt mich jetzt zu Bedwyr.» 3 Glücklicherweise stellte Cei keine weiteren Fragen, denn er war nur mit seinem Pferd beschäftigt, als wir, mal rutschend, mal galoppierend, über das schwere Gelände ritten. Obwohl es trotz des Regens noch hell genug war, um den Weg zu erkennen, war es nicht einfach, einen ungefährlichen Pfad über das Sumpfgebiet zu finden, das den kürzesten Weg zwischen Applegarth und dem Wald darstellte, in dem die Königin verschwunden war. Auf dem letzten Teil des Rittes konnten wir uns nach dem Fackellicht in der Ferne und Menschenstimmen richten, die durch Wasser und Wind unnatürlich verstärkt und verzerrt wurden. Wir fanden Bedwyr bis zu den Hüften im Wasser -drei oder vier Schritt vom Ufer entfernt in einem tiefen, stillen Gewässer, das von knorrigen Erlen und den Stümpfen uralter Eichen umgeben war; einige waren vor langer Zeit zur Gewinnung von Bauholz gefällt worden und 303
andere waren das Opfer von Stürmen oder hohem Alter geworden; jetzt wuchsen sie wieder im Gewirr toter Äste empor. Bei einem dieser alten Bäume hatten sich die Männer versammelt. Man hatte Fackeln an die abgestorbenen Zweige gebunden, und zwei Männer mit Fackeln waren im Wasser neben Bedwyr, um die Suche mit Schleppnetzen zu beleuchten. Am Ufer, dicht neben dem Eichenstumpf, lag ein Haufen nassen Schwemmguts, das von der Strömung rnitgeführt worden war; es glänzte im Fackelschein. Man konnte sich vorstellen, daß jedes Mal, wenn die Netze mit einer schweren Last heraufgezogen wurden, die Männer im Licht der Fackeln voller Spannung und Angst erwarteten, die ertrunkene Königin im Netz zu finden. Eine solche Last war gerade hochgezogen worden, als Cei und ich uns der Stelle näherten. Unsere Pferde, die keinen festen Halt finden konnten, kamen unmittelbar am Ufer zum Stehen. Bedwyr hatte uns nicht gesehen. Ich hörte seine vor Ermüdung heisere Stimme, als er den Männern den Punkt zeigte, wo sie den nächsten Schleppversuch machen sollten. Aber die Männer am Ufer riefen ihm etwas zu. Er drehte sich um, nahm dem Mann neben ihm die Fackel ab und kam plantschend auf uns zu. «Cei?» Sorge und Erschöpfung schienen ihn übermannt zu haben, denn mich sah er nicht. «Hast du mit ihm gesprochen? Was hat er gesagt? Einen Augenblick, ich bin gleich bei dir.» Er drehte sich um und rief über die Schulter: «Weitermachen, dort!» «Nicht nötig», sagte ich. «Du kannst die Arbeit einstellen, Bedwyr. Die Königin ist in Sicherheit.» Er befand sich dicht unterhalb der Uferböschung. Über sein im Fackelschein nach oben gewandtes Gesicht zog ein solches Leuchten der Erleichterung und Freude, daß man hätte schwören können, die Fackeln hätten plötzlich heller gebrannt. «Merlin? Den Göttern sei Dank! Du hast sie also gefunden?» Man hatte unsere Pferde zurückgeführt. Wir wurden umdrängt von den Männern, die alles genau wissen wollten. Jemand half Bedwyr über die Böschung herauf; das schlammige Wasser rann ihm aus seiner Kleidung. 304
«Er hatte eine Vision.» Es war Cei, der unverhohlen sprach. Alle verstummten und starrten mich an. Die Fragen erstarben zu ehrfürchtigem und verlegenem Gemurmel. Bedwyr fragte schlicht: «Wo ist sie?» «Ich kann es dir leider noch nicht sagen.»Ich sah mich um. Nach links schlängelte sich der schlammige Wasserlauf tiefer in das Dunkel des Waldes, aber nach Westen, rechts von uns, drang noch ein Rest des abendlichen Lichtes durch die Bäume; dort lag ein sumpfiger Teich. «Warum habt ihr gerade hier gesucht? Wie mir gesagt wurde, wußten die Soldaten nicht, wo sie gestürzt ist.» «Es stimmt, daß sie es weder gehört noch gesehen haben, und sie muß schon einige Zeit, bevor sie die Spur der Stute fanden, vom Pferd gefallen sein. Aber es sieht so aus, als ob der Unfall hier geschah. Der Boden ist zwar jetzt zertrampelt, so daß man nicht mehr viel sehen kann, aber es gab hier Spuren eines Sturzes; wahrscheinlich hat das Pferd gescheut und ist dann durch dieses Geäst da vongaloppiert. Haltet die Fackel mal näher hierher. Dort, Merlin, siehst du? Die Spuren an den Ästen und ein Stoffetzen, der von ihrem Umhang stammen muß ... Da war auch Blut an einem Baumstumpf. Aber wenn du sagst, daß sie in Sicherheit ist...» Er strich sich die Haare aus den Augen. Seine Hand hinterließ einen Schmutzstreifen, der sich über seine Wange zog. Er achtete nicht darauf. «Das Blut muß von der Stute stammen», sagte jemand von rückwärts. «Sie hatte Abschürfungen an den Beinen.» «Ja, das mag stimmen», sagte Bedwyr. «Als wir sie einfingen, lahmte sie und hatte einen zerrissenen Zügel. Und als wir dann die Spuren hier am Ufer und im Geäst entdeckten, glaubte ich, gesehen zu haben - ich fürchtete, zu wissen, wie es sich abgespielt hatte. Ich dachte, die Stute habe gescheut, sei gestürzt und die Königin sei in das Wasser geschleudert worden. Hier ist es tief, gleich unter der Böschung. Ich dachte mir, sie hätte sich vielleicht am Zügel festgehalten und versucht, sich von der Stute wieder herausziehen zu lassen, aber der Zügel zerriß, und dann galoppierte das Pferd davon. Oder aber der Zügel verfing sich an einem der Baumstümpfe, und die 305
Stute konnte sich erst später losreißen und davonpre-schen. Was ist wirklich geschehen?» «Das kann ich dir nicht sagen. Jetzt kommt es nur darauf an, sie zu finden, und zwar schnell. Und dafür brauchen wir die Hilfe von König Melwas. Ist er hier, oder einer seiner Leute?» «Keiner seiner Bewaffneten, nein. Aber wir stießen zufällig auf drei oder vier der Sumpfbewohner - brave Leute, die uns den Weg durch den Wald zeigten.» Dann rief er mit lauter Stimme: «Die Leute von Mere, sind sie noch da?» Das war offenbar der Fall. Sie traten widerstrebend und voller Furcht nach vorne, gedrängt von ihren Gefährten, die hinter ihnen standen. Zwei Männer von kleinem Wuchs und breitschultrig, bärtig und ungekämmt, und mit ihnen ein Knabe, der anscheinend der Sohn des jüngeren Mannes war. Ich sprach zu dem ältesten: «Ihr kommt von Mere, im Summer Country?» Er nickte, und seine Finger spielten nervös mit den Falten seiner naß gewordenen Tunika. «Ihr habt gut daran getan, den Männern des Hochkönigs zu helfen. Ihr werdet es nicht bereuen, das verspreche ich euch. Wißt ihr, wer ich bin?» Wieder ein Kopfnicken. Der Knabe schluckte hörbar. «Dann fürchtet euch nicht, aber beantwortet meine Fragen, wenn ihr könnt. Wißt ihr, wo sich König Melwas jetzt aufhält?» «Eigentlich nicht, Herr, nein.» Der Mann sprach langsam, fast wie jemand, der eine fremde Sprache benutzt. Diese Sumpfbewohner sind ein wortkarges Volk und verwenden unter sich einen Dialekt, den nur sie selbst verstehen. «Aber Ihr werdet ihn nicht in seinem Palast auf der Insel finden, das weiß ich bestimmt. Wir haben ihn auf die Jagd ausreiten sehen, vor zwei Tagen. Das tut er ab und zu, nur er und einer seiner Ritter, vielleicht auch zwei.» «Jagd? In diesem Waldgebiet?» «Nein, Herr, er ging auf Entenjagd. Nur er allein mit einem anderen, der das Boot ruderte.» «Und ihr habt ihn ausreiten sehen? In welche Richtung?» 306
«Nach Südwesten.» Der Mann machte eine Handbewegung. «Dorthin, wo der Pfad ins Moor führt. Dort ist das Land stellenweise trocken, und dort gibt es ab und zu viele Wildgänse. Dort hat er eine Jagdhütte, aber jetzt ist er nicht dort. Die Hütte ist seit dem letzten Winter leer, und es ist auch keine Dienerschaft dort. Außerdem kam heute früh die Nachricht über das Wasser, daß sich der junge König mit einigen Schiffen von Caer-y-n'a Von auf dem Heimweg befinde und wahrscheinlich bei der nächsten Flut auf der Insel landen werde. Und unser König Melwas muß dann natürlich zur Stelle sein, um ihn willkommen zu heißen.» Dies war mir neu - auch Bedwyr, wie ich sehen konnte. Es ist ein beständiges Rätsel, wie die Bewohner dieser entlegenen Sümpfe Neuigkeiten so schnell erfahren. Bedwyr sah mich an. «Auf dem Tor brannte kein Leuchtfeuer, als die Nachricht über die Königin eintraf. Hast du ein solches gesehen, Merlin?» «Nein. Auch sonst niemand. Die Segel können noch nicht gesichtet worden sein. Wir sollten uns jetzt auf den Weg machen, Bedwyr. Wir werden zum Fort reiten.» «Willst du mit Melwas sprechen, bevor wir die Königin gefunden haben?» «Allerdings. Gib die entsprechenden Anordnungen. Und sorg dafür, daß diese Leute für ihre Hilfe entschädigt werden.» In dem folgenden geschäftigen Treiben, das diesen Anweisungen folgte, berührte ich Bedwyrs Arm und zog ihn zur Seite. «Ich kann jetzt nicht sprechen, Bedwyr. Dies ist eine höchst gefährliche Sache. Wir beide allein müssen die Königin suchen. Kannst du dies schaffen, ohne daß man dir Fragen stellt?» Er runzelte die Stirn, sah mich prüfend an, sagte dann aber sofort: «Natürlich. Aber Cei? Wird er damit einverstanden sein?» «Er ist verletzt. Außerdem sollte Cei, da Artus erwartet wird, wieder in Camelot sein.» «Das ist richtig. Und die übrigen können zur Insel reiten und auf die Gezeiten warten. Es ist sowieso bald so dunkel, daß wir uns von ihnen 307
entfernen können.» Die Anstrengungen des Tages machten sich plötzlich in seinem Tonfall bemerkbar. «Willst du mir vielleicht sagen, worum es jetzt eigentlich geht?» «Ich werde es dir erklären, wenn wir unterwegs sind. Aber es darf niemand mithören, auch nicht Cei.» Wenige Minuten später waren wir unterwegs. Ich ritt zwischen Cei und Bedwyr, die übrigen Männer hinter uns. Sie unterhielten sich zwanglos, da sie sich offenbar durch mein Wort, alles sei in Ordnung, beruhigt fühlten. Obwohl ich selbst nur so viel wußte, wie mir der Traum offenbart hatte, fühlte ich mich auf seltsame Art innerlich erleichtert und ritt neben Bedwyr in scharfem Trab über den trügerischen Boden dahin, ohne auf Gefahren zu achten, oder auch nur den Sattel oder die Zügel zu fühlen. Es war keine neue Empfindung, aber viele Jahre waren vergangen, seit sie mir zuletzt zuteil geworden war; der Wille des Gottes, der an mir vorbeiströmte und mich mitriß, ein Funke, der zwischen den ewigen Sternen aufblitzte. Ich wußte nicht, was uns in diesem feuchten Halbdunkel erwartete, nur das eine: Die Königin und ihr Abenteuer bildeten nur einen kleinen Teil des Geschicks dieser Nacht, die Schatten der Ungewißheit waren bereits durch die gewaltige, vorwärtsdrängende Kraft aus dem Jenseits vertrieben worden. Meine Erinnerung an diesen Ritt ist jetzt verschwommen. Cei und seine Begleiter verließen uns. Kurz danach fanden wir Boote, und Bedwyr ließ die Hälfte unserer Gruppe auf dem kürzeren Weg über den See übersetzen. Den Rest teilte er auf: Einige sollten den Uferweg benutzen, andere den Damm, der direkt zum Landungssteg führte. Der Regen hatte aufgehört, und mit der heraufziehenden Nacht bildeten sich überall Nebelschwaden; am Himmel blinkten Sterne wie silbrige Fische in einem Netz. Mehr Fackeln wurden angezündet, und die mit Menschen und Pferden voll belade-nen, flachen Boote wurden langsam durch das von Nebel überzogene Wasser gestakt, das wie Rauch unter uns dahin-strömte. Als die Truppe an Land ging und sich neu formierte, standen die Pferde bis zum Widerrist in dem wabernden Nebel; dann sahen wir in der Ferne einen Fackelträger, der zum Fort hinaufstieg. Artus' Segel waren gesichtet worden. 308
Nun war es für Bedwyr und mich nicht schwer, uns umbemerkt zu entfernen. Unsere Pferde traten von dem gepflasterten Weg hinunter, galoppierten mühsam über eine Strecke nassen Weidelands und erreichten die Straße, die nach Südwesten führt. Bald versanken die Lichter und Geräusche der Insel hinter uns. Vom Wasser stiegen zu beiden Seiten Nebelschwaden auf. Die Sterne zeigten uns den Weg, aber nur undeutlich, wie Lampen an einem Geisterpfad. Unsere Pferde gewöhnten sich an die Bodenverhältnisse, bald wurde der Weg weiter und wir konnten dicht nebeneinander reiten. «Diese Jagdhütte im Südwesten.» Seine Stimme klang atemlos. «Ist sie unser Ziel?» «Allerdings. Kennst du sie?» «Ich kann sie finden. Ist dies der Grund, warum du Melwas' Hilfe brauchtest? Wenn er vom Unfall der Königin erfährt, wird er unsere Truppen sein Land vom einen Ende zum anderen durchsuchen lassen. Und wenn er im Augenblick nicht in der Jagdhütte ist -» «Hoffentlich ist er nicht dort.» «Du sprichst in Rätseln.» Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, klang seine Stimme gerade eben noch höflich. «Du sagtest, du würdest mir alles erklären. Du sagtest, du wüßtest, wo sie ist, und jetzt suchst du nach Melwas. Schön, aber dann -» «Bedwyr, begreifst du denn nicht? Ich glaube, daß Gui-nevere in der Jagdhütte ist. Melwas hat sie hingebracht.» Das nachfolgende Schweigen war lauter als jeder Fluch. Als er wieder sprach, konnte ich ihn kaum hören. «Ich brauche dich nicht zu fragen, ob du deiner Sache sicher bist. Du bist es immer. Und wenn du tatsächlich eine Vision gehabt hast, muß ich mich fügen. Aber sag mir, wie und warum es geschehen ist!» «Das Warum liegt auf der Hand. Das Wie weiß ich noch nicht. Ich vermute, daß er diese Aktion schon seit einiger Zeit geplant hat. Ihre Gewohnheit, häufig auszureiten, ist allgemein bekannt, und sie reitet oft zu dem Wald, der an das Sumpf gebiet angrenzt. Falls sie ihm dort begegnet ist, als sie weit vor ihrer Begleitung dahinritt- was wäre 309
natürlicher, als daß sie ihre Stute gezügelt und mit ihm gesprochen hätte? Dies mag die Stille erklären, als die Soldaten sie zu finden versuchten.» «Ja . . . Und wenn er ihr in den Zügel fiel und versuchte, sie zu packen, und wenn sie dann ihrer Stute die Sporen gab . . . Das würde den zerrissenen Zügel und die Spuren erklären, die wir am Ufer entdeckten. Bei allen Göttern, Merlin! Wovon du jetzt redest, ist Entführung! - Und du meinst, er muß dies schon seit längerer Zeit geplant haben?» «Ich kann es nur ahnen», sagte ich. «Anscheinend hat er ein paar erfolglose Versuche unternommen, bevor seine Chance kam: die Königin ohne Begleitung und das Boot in der Nähe bereit.» Ich verfolgte meine eigenen Gedanken nicht weiter. Ich erinnerte mich jenes im Lampenschein liegenden Zimmers, das mit Vorbedacht für sie hergerichtet war; ich dachte an das Schachspiel; an die abwartende Haltung der Königin und ihr Lächeln. Ich dachte auch an die langen Stunden, die seit ihrem Verschwinden bei Tageslicht und der Abenddämmerung verstrichen waren. Auch Bedwyr schien denselben Gedanken nachzuhängen. «Er muß verrückt geworden sein! Ein Kleinkönig wie Mel-was, und riskiert Artus' Zorn? Hat er den Verstand verloren?» «So könnte man es ausdrücken», sagte ich- trocken. «So etwas hat es schon immer gegeben, wenn es um Weiber ging.» Wieder trat Schweigen ein, das schließlich durch eine Handbewegung und einen Richtungswechsel in der Gangart seines Pferdes unterbrochen wurde. «Jetzt langsam. Wir biegen bald von der Straße ab.» Ich gehorchte ihm. Unsere Pferde fielen in Trab, dann in Schritt, während wir uns in dem Nebel zu orientieren versuchten. Dann sahen wir die Spur, die anscheinend direkt in den Sumpf hineinführte. «Ist dies der Weg?» «Ja. Es ist eine schlechte Strecke. Vielleicht müssen wir mit den Pferden schwimmen.» Ich merkte, daß er mich über die Schulter ansah. «Wirst du es schaffen?» 310
Erinnerungen stiegen in mir auf; Bedwyr und Artus im Wild Forest - sie ritten wie die Teufel, wie es Art der Jungen ist, aber sie nahmen immer Rücksicht auf mich, den ungeübten Reitersmann, der sich schwertat, ihnen auf den Fersen zu bleiben. «Ich komme schon zurecht.» «Dann hier hinunter.» Sein Pferd sprang durch das Schilf hinab und tauchte dann wie ein Boot beim Stapellauf ins Wasser; das meinige folgte ihm, und wir bahnten uns, naß bis an die Hüften, den Weg durch das stille Wasser. Es war ein merkwürdiges Vorwärtskommen, denn der Nebel verhüllte das Wasser, verhüllte sogar die Köpfe unserer Pferde. Ich fragte mich, wie Bedwyr überhaupt den Weg sehen konnte; dann erkannte ich selbst, weit drüben jenseits der schimmernden Wasserfläche und der Nebelbänke, den winzigen Lichtschein, der eine Behausung ahnen ließ. Er kam langsam näher, und ich zerbrach mir den Kopf über alle Möglichkeiten, die jetzt bedacht werden mußten. Artus, Bedwyr, Melwas, Guinevere . . . und wie das tiefe Gesumm, das eine Harfe unterhalb des feinen Gewebes der Musik erzeugt, bestand während der ganzen Zeit jener andere Druck einer Kraft, die mich vorwärtstrieb - wohin? Die Pferde stiegen schwerfällig aus dem Wasser und standen, schnaubend und tropfnaß, auf einer trockenen Bodenwelle. Diese erstreckte sich über einige fünfzig Schritte vor uns hin, und hinter einer weiteren Wasserzone lag, etwa zwanzig Schritte weiter, das Haus. Es gab keine Brücke. «Auch kein Boot.» Er fluchte still vor sich hin. «Hier müssen wir schwimmen.» «Bedwyr, ich werde dich diesen letzten Teil allein erledigen lassen. Aber du -» «Ja, bei Gott!» Sein Schwert rasselte in der Halterung. Ich griff unverzüglich nach dem Zaumzeug seines Pferdes oberhalb der Trense. «- Aber du wirst genau das tun, was ich dir sage.» Schweigen. Dann seine Stimme, leise und verstockt. «Ich bringe ihn natürlich um.» «Du wirst nichts dergleichen tun. Du wirst auf den Namen 311
des Hochkönigs und auf den ihrigen Rücksicht nehmen. Dies geht Artus an, nicht dich. Laß ihn die Sache bereinigen.» Ein längeres Schweigen. «Also gut. Ich folge deinen Weisungen.» «Gut.» Ich wandte mein Pferd leise in die Deckung eines Erlendickichts hinein. Dabei zog ich das seinige mit. «Warte einen Augenblick. Schau dort hinüber.» Ich wies nach Nordosten, auf den Weg, den wir gekommen waren. Weit hinten in der Nacht, jenseits des flachen Weidelandes, zeigten sich hoch oben, wie Sterne, zahlreiche Lichter. Melwas' Burg, zur Begrüßung hell beleuchtet. Wenn der König selbst nicht von der Jagd heimgekehrt war, konnte es nur eines bedeuten: Artus war zurückgekehrt. Dann hörten wir ein Geräusch, das durch das Wasser so verstärkt wurde, daß wir aufschreckten. Es war das Knarren einer Tür, die in der Nähe geöffnet, und das leise Geräusch eines Bootes, das durch das Wasser gerudert wurde. Die Geräusche kamen von der Rückseite des Hauses, wo jemand, den wir nicht sehen konnten, ein Boot bestieg und sich in den Nebel hinein entfernte. Eine Männerstimme war leise zu hören. Bedwyr machte eine ruckartige Bewegung, und sein Pferd schlug mit dem Kopf gegen meine Hand. Seine Stimme klang gepreßt. «Melwas. Er hat die Lichter gesehen. Verdammt, Merlin, er bringt sie -» «Nein, warte. Hör doch.» Aus dem Haus schien noch das Licht. Eine Frauenstimme rief etwas. Es klang wie eine flehentliche Bitte, aber man konnte nicht erkennen, ob Angst oder Sehnsucht oder Kummer der Grund waren. Das Geräusch des Bootes verebbte. Die Haustür wurde geschlossen. Ich hielt Bedwyrs Zügel noch immer fest. «So, jetzt geh hinüber, hole die Königin, und wir bringen sie heim.» 4 Kaum hatte ich geendet, sprang er vom Pferd, ließ seinen schweren Umhang über den Sattel fallen und war auch schon im Wasser; er schwamm wie ein Otter auf den grasbewachsenen Abhang vor der Tür 312
zu. Dort angekommen, begann er sich aus dem Wasser aufs Trockene zu ziehen. Ich sah, daß er plötzlich innehielt, und hörte einen unterdrückten Fluch. «Was ist los?» Er gab keine Antwort. Er schob ein Knie auf die Böschung und zog sich dann langsam mit Hilfe eines herunterhängenden Weidenastes auf die Füße. Er blieb kurz stehen, um sich die Nässe von den Schultern zu schütteln, und stapfte dann den rutschigen Hang zur Haustür hinauf. Mir schien, als mache ihm das Gehen Mühe. Ich glaubte, er humpele. Sein Schwert kam rasselnd aus der Scheide. Mit dem Knauf hämmerte er an die Tür. Der Klang hallte wider, als sei das Haus ganz leer. Nichts rührte sich; es kam keine Antwort. (Und das, dachte ich im Stillen, bei einer Dame, die auf ihre Rettung wartet.) Bedwyr hämmerte weiter. «Melwas! Macht auf, ich bin Bedwyr von Benoic! Im Namen des Königs, macht auf!» Eine lange Pause trat ein. Man konnte förmlich spüren, daß drinnen im Haus jemand mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen wartete. Dann öffnete sich die Tür. Sie wurde aber nicht ungestüm aufgerissen wie von jemandem, der sich zum Kampf stellen will, sondern nur ganz langsam zu einem Spalt, durch den man das schwache Licht einer Wachskerze und den Schatten eines Menschen erkennen konnte, der hinausblickte. Eine schlanke Gestalt mit gelösten Haaren und einem langen mattglänzenden Gewand aus kostbarem Stoff. Bedwyr sagte gepreßt: «Madam? Lady! Seid Ihr unverletzt?» «Prinz Bedwyr.» Ihre Stimme klang zwar atemlos, aber leise und offenbar ganz gefaßt. «Ich danke Gott, daß Ihr gekommen seid. Als ich jemanden kommen hörte, bekam ich Angst. . . Aber dann, als ich wußte, daß Ihr es seid . . . Wie seid Ihr hergekommen? Wie habt Ihr mich gefunden?» «Merlin hat mir den Weg gewiesen.» Von dem Punkt, wo ich stand und die Pferde hielt, hörte ich, wie sie stutzte und den Atem anhielt. Die Kerze beleuchtete ihr blasses 313
Gesicht, als sie den Kopf wandte und mich jenseits des Wassers stehen sah. «Merlin?» Dann sagte sie wieder leise und gefaßt: «Ich danke Gott für seine Seherkraft. Ich dachte, niemand würde jemals hierher kommen.» Dies, dachte ich bei mir, glaube ich gern. Laut sagte ich: «Könnt Ihr Euch fertigmachen, Madam? Wir sind gekommen, um Euch zum König zurückzubringen.» Sie gab keine Antwort, drehte sich aber um, um wieder hineinzugehen; dann verhielt sie einen Augenblick und sagte etwas zu Bedwyr, aber so leise, daß ich es nicht verstehen konnte. Er antwortete, worauf sie die Tür weit öffnete und ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Er trat ein und ließ die Tür weit offen. Im Inneren sah ich das flackernde Auf und Ab eines Lichtscheins, das auf ein Kaminfeuer hinzudeuten schien. Der Raum war durch eine Lampe gedämpft beleuchtet; durch Tür und Fenster erkannte ich, daß das Innere viel aufwendiger eingerichtet war, als es bei einer nur selten benutzten Jagdhütte üblich gewesen wäre; da waren vergoldete Stühle und rote Kissen, und durch eine andere, halb offen stehende Tür sah ich die Ecke eines Bettes oder einer Liegestatt mit unordentlichem Bettzeug, über das jemand eine Decke gebreitet hatte. Melwas hatte das Liebesnest also gut vorbereitet. Meine Vision von Kaminfeuer und gedecktem Tisch und dem gemütlichen Schachspiel hatte sich bestätigt. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich Artus diese Situation würde schildern müssen. Der Nebel zog wie ein weißer Schatten, wie weiße Geister, um das Haus herum . .. Bedwyr tauchte aus dem Hause auf. Sein Schwert steckte wieder in der Scheide, und in der einen Hand trug er eine Lampe; in der anderen hielt er eine Stange, wie sie von den Sumpfbewohnern benutzt wird, um die flachen Boote durch das Schilf zu staken. Er näherte sich mit vorsichtigen Schritten dem Uferrand. «Merlin?» «Ja? Soll ich mit den Pferden hinüberschwimmen?» «Nein! Unter der Wasseroberfläche sind Messer eingesetzt. Ich hatte diesen alten Trick vergessen und bin mit einem Knie direkt in eine Schneide gestoßen.» 314
«Mir war schon so, als ob du gehumpelt hättest. Hast du dich schlimm verletzt?» «Nein. Nur Fleischwunden. Die Königin hat sie mir verbunden.» «Grund genug, daß du nicht zurückschwimmen kannst. Wie willst du sie herüberbringen? Es muß doch eine Stelle geben, wo ich die Pferde gefahrlos hinüberfuhren kann. Frag sie.» «Das habe ich schon getan. Sie weiß es nicht. Und ein Boot gibt es auch nicht.» «So?» Dann fragte ich: «Hat Melwas irgend etwas hier, das auf dem Wasser schwimmt?» «Daran habe ich auch schon gedacht. Es gibt sicher etwas, was wir verwenden können; und je kostbarer, desto besser.» Ein Anflug von Belustigung erhellte den grimmigen Tonfall. Aber wir beide wollten uns nicht näher über die Situation auslassen, da Guinevere in Hörweite war. «Sie kleidet sich jetzt an», sagte er kurz, als habe er meine Gedanken erraten. Er stellte die Lampe auf den Uferrand. Wir warteten. «Prinz Bedwyr?» Die Tür wurde wieder geöffnet. Sie hatte den Reitdress angezogen und sich die Haare in Zöpfe geflochten. Den Umhang trug sie über dem Arm. Bedwyr humpelte die Uferböschung hinauf. Er hielt ihr den Umhang hin, und sie legte ihn sich um die Schultern und zog die Kapuze über die Haare. Er sagte etwas und verschwand dann im Haus, um kurz darauf mit einem Tisch wieder zu erscheinen. Wäre jemand in der Stimmung gewesen, die Komik der Situation zu würdigen, hätte er wahrscheinlich gelacht: Königin Guinevere stand auf der einen und ich auf der anderen Seite des Wassers; schweigend sahen wir Bedwyr zu, der ein groteskes Floß improvisierte. Dann kam ihm ein ' Gedanke. Er warf noch ein paar Kissen hinein und forderte dann die Königin auf, einzusteigen. 315
Dies tat sie, und sie kamen wenig würdevoll herüber; die Königin hockte geduckt auf dem Tisch und hielt sich an einem geschnitzten und vergoldeten Tischbein fest, während der Prinz von Benoic das Gefährt im Zickzack über das Wasser stakte. Das Ding erreichte das Ufer, und ich hielt es an einem Bein fest. Bedwyr krabbelte heraus und drehte sich um, um der Königin zu helfen. Sie trat mit Anstand ans Ufer, dankte uns ein wenig atemlos und blieb stehen, um ihren beschmutzten und zerknitterten Umhang auszuschütteln. Ebenso wie ihr Reitkleid war er durchnäßt gewesen und behelfsmäßig getrocknet worden. Ich sah, daß er zerrissen war. Aus den Falten fiel ein kleiner, heller Gegenstand auf den modrigen Boden. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben. Es war eine Schachfigur aus weißem Elfenbein. Der König, und er war zerbrochen. Sie hatte es nicht bemerkt. Bedwyr stieß den Tisch zurück in Wasser und nahm mir den Zügel seines Pferdes aus der Hand. Ich reichte ihm seinen Umhang und sagte zur Königin in einem so offiziellen Ton, daß meine Stimme steif und kalt klang: «Ich freue mich, Euch gesund und wohlbehalten wiederzusehen, Lady. Wir haben einen bösen Tag hinter uns, da wir uns um Euch Sorgen gemacht haben.» «Es tut mir leid.» Sie sprach leise; ihr Gesicht blieb unter der Kapuze verborgen. «Ich wurde abgeworfen, als meine Stute in dem Wald zu Fall kam. Ich - ich kann mich danach an nichts mehr erinnern, bis ich hier wieder erwachte, in diesem Haus ...» «Und König Melwas war bei Euch?» «Ja. Ja. Er fand mich auf dem Boden liegend und trug mich hierher. Ich war ohnmächtig, nehme ich an. Ich weiß es nicht mehr. Sein Diener versorgte mich.» «Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn er bei Euch geblieben wäre, bis Eure eigenen Leute zur Stelle waren. Sie suchten den ganzen Wald nach Euch ab.» Ein kleines Zucken in der Hand, mit der sie die Kapuze ins Gesicht zog. Mir schien, daß die Hand zitterte. «Ja, ich glaube auch. Aber diese Hütte war nahe, gleich hinter dem Wasser, und er mache sich 316
Sorgen um mich, sagte er, und das Boot schien wirklich die beste Lösung zu sein. Ich hätte nicht reiten können.» Bedwyr saß im Sattel. Ich nahm den Arm der Königin, um ihr zum Sitz vor ihm zu verhelfen. Mit Überraschung - denn nach ihrer ruhigen Redeweise war so etwas nicht zu vermuten gewesen - spürte ich, wie sie am ganzen Körper bebte. Ich verzichtete auf weitere Fragen und sagte lediglich: «Wir werden ganz langsam reiten. Der König ist zurück, habt Ihr es gewußt?» Ich fühlte, daß ein Schauer, wie ein Schüttelfrost, sie überlief. Sie sagte nichts. Sie war leicht und schlank wie ein junges Mädchen, als ich sie vor Bedwyr in den Sattel hob. Auf dem Rückweg ließen wir uns Zeit. Als wir uns der Insel näherten, konnten wir sehen, daß es auf dem hell erleuchteten Landungssteg von Berittenen wimmelte. Als wir noch eine gute Strecke entfernt waren, löste sich eine Gruppe von Reitern aus der Menge und kam auf dem Damm im Galopp auf uns zu. Ein Mann auf einem Rappen führte die Reiter an und wies den Weg. Dann sahen sie uns. Rufe wurden laut. Bald hatten sie uns erreicht. Die Führung hatte jetzt Artus übernommen; sein Schimmelhengst war bis zum Widerrist mit Dreck bespritzt. Neben ihm auf dem Rappen ritt Melwas, König des Summer Country, und machte seiner Sorge um die Königin laut Luft. *** Ich ritt allein nach Hause. Artus und Melwas schon jetzt einander gegenüberzustellen, hätte nichts eingebracht, sondern die Sache höchstens noch verschlimmert. Melwas' rascher Entschluß, die Jagdhütte durch den Hinterausgang zu verlassen und anwesend zu sein, um Artus am Landungssteg zu begrüßen, bewahrte uns alle vor einem Skandal, und Artus geriet nicht in die Zwangslage - was er auch empfinden mochte, wenn er die Wahrheit herausfand oder auch nur ahnte -, übereilt einen öffentlichen Streit mit seinem Bundesgenossen vom Zaun brechen zu müssen. Im Augenblick war es besser so. Melwas würde sie alle mit in seinen hell erleuchteten Palast nehmen, ihnen Essen und Wein vorsetzen und sie vielleicht bei sich übernachten lassen; und bis zum Morgen würde Guinevere ihrem 317
Gemahl ihre Version - irgendeine Version - der Geschichte erzählt haben. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese Geschichte aussehen würde. Es würde ihr nicht leicht fallen, einige Dinge plausibel zu erklären: das für sie mit Vorbedacht hergerichtete Zimmer; das lose Hausgewand, das sie getragen hatte; das zerwühlte Bett; die Lügen, die sie Bedwyr und mir über Melwas aufgetischt hatte. Und vor allem die zerbrochene Schachfigur, die eine Bestätigung meines Traumes darstellte. Aber all dies mußte warten, bis wir Melwas' Gebiet verlassen hatten und von seinen Bewaffneten nicht mehr umringt waren. Und was Bedwyr betraf, so sagte er nichts und würde auch in Zukunft, was immer er sich denken mochte, aus Liebe zu Artus den Mund halten. Und ich? Artus war der Hochkönig und ich sein oberster Berater. Ich schuldete ihm ein wahres Wort. Aber ich wollte heute nacht nicht dableiben, mich seinen Fragen aussetzen und womöglich Notlügen gebrauchen müssen, um ihn zu beruhigen. Später, dachte ich bekümmert, während mein müdes Pferd am Seeufer entlang dahinstapfte, würde ich klarer sehen und wissen, was ich zu tun hatte. *** Ich ritt auf dem langen'Umweg nach Hause, ohne den Fährmann in Anspruch zu nehmen. Auch wenn er bereit gewesen wäre, mich zu so später Stunde noch überzusetzen, fühlte ich mich seinem Geschwätz und dem der Soldaten, die vielleicht ebenfalls auf der Fähre sein würden, im Augenblick nicht gewachsen. Ich brauchte Stille, und die Nacht, und die sanften Nebelschleier. Das Pferd witterte den Stall, spitzte die Ohren und schritt freier aus. Bald hatten wir den Lärm und die Lichter hinter uns gelassen; der Berg Tor stand nur noch als schwarzer Schatten in der Nacht, und die Sterne funkelten über ihm. Bäume standen, vom Nebel'halb verhüllt, am Weg, und unter ihnen leckte das Seewasser an die flachen Ufersteine. Da war der Geruch nach Wasser und Schilf und aufgerührtem Schlamm, das stete Stapfen der Pferdehufe, das leichte Kräuseln der Wasseroberfläche und über allem - kaum wahrnehmbar und unendlich fern, aber prickelnd wie Salz auf der Zunge - der Atem 318
der Gezeiten, zur Ebbe sich wendend und hier seinen trägen Endpunkt findet. Irgendwo ertönte ein Vogelruf; er klang heiser, das Tier selbst war nicht zu sehen. Das Pferd schüttelte die feuchte Mähne und schritt mühsam weiter voran. Stille und unbewegte Luft, und die Ruhe des Alleinseins. Sie zogen einen Schleier, so greifbar wie der Nebel, zwischen die Anstrengungen des Tages und die Ruhe der Nacht. Der Gott hatte seine Hand zurückgezogen. Keine Vision prägte sich in der Dunkelheit aus. An das Morgen und die Rolle, die mir zufallen würde, wollte ich nicht denken. Durch einen prophetischen Traum hatte mir Gott den Weg gewiesen, eine Übeltat zu verhindern; auf was aber das plötzliche Wiederaufleben der göttlichen Kräfte in mir hindeutete, konnte ich nicht sagen, und ich war auch zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen. Ich schnalzte dem Pferd zu, das daraufhin schneller ausschritt. Über einer Gruppe von Ul-rnen stand die Mondsichel silbern am nächtlichen Himmel. Nach knapp einer halben Meile würden wir das Seeufer verlassen und auf der Schotterstraße nach Hause reiten. Das Pferd blieb so plötzlich stehen, daß ich nach vorn auf seinen Hals geworfen wurde. Wäre das Tier nicht so müde gewesen, hätte es vielleicht gescheut und mich abgeworfen. So stutzte es nur, rammte beide Vorderfüße steif in den Boden und schüttelte mich bis auf die Knochen durch. Hier führte der Weg auf der Uferböschung entlang, die den ganzen See umgab. Sie fiel etwa zwei Meter steil zur Wasseroberfläche ab. Der Nebel lag in dichten Schwaden auf dem Wasser, aber irgendeine Luftbewegung, die vielleicht von der Flut herrührte, bewegte ihn leise, so daß er sich drehte und hob; dann wieder trieb er wie Wasser langsam und schwerfällig dahin. Ich hörte ein leises Geplätscher und sah, was meinem Pferd aufgefallen war: ein Boot, das in einiger Entfernung vom Ufer gestakt wurde und in ihm einen Menschen, der, aufrecht stehend, mit Vorsicht das Gleichgewicht zu halten suchte wie ein Vogel, der sich auf einem schwankenden Ast niederläßt. Ich hatte nur einen flüchtigen Eindruck, verschwommen und wie ein Schatten von einer anscheinend noch 319
jungen und schlanken Gestalt, die in ein mantelartiges Gewand gehüllt war, das bis über den Rand des Bootes hinabhing und das Wasser berührte. Der junge Mann bückte sich, richtete sich wieder auf und wrang den Stoff aus. Der Nebel riß bei dieser Bewegung einen Augenblick auseinander, und ich erkannte unter den bleichen Schwaden das Gesicht. Ein Schock durchfuhr mich wie ein spitzer Pfeil. «Ninian!» Er fuhr auf, drehte sich um und brachte das Boot geschickt zum Halten. Die dunklen Augen wirkten in dem blassen Gesicht riesengroß. «Ja? Wer ist da?» «Merlin. Prinz Merlin. Kennst du mich noch?» Ich erschrak. Durch den Schock war ich unachtsam geworden. Ich hatte vergessen, daß ich damals, als ich mit dem Goldschmied und seinem Gehilfen auf dem Weg nach Dunpeldyr zusammentraf, in Verkleidung gereist war. Ich sagte rasch: «Du kanntest mich als Emrys; so heiße ich. Myrddin Emrys von Dyfed. Es gab Gründe, warum ich nicht unter meinem richtigen Namen auftreten konnte. Erinnerst du dich jetzt?« Das Boot schaukelte. Der Nebel wurde dichter und nahm mir die Sicht; einen kurzen Augenblick ergriff mich blinde Panik. Er war wieder verschwunden. Doch dann sah ich ihn, wie er, den Kopf zur Seite gelegt, im Boot stand. Er dachte nach und sagte dann: «Merlin? Der Zauberer? Seid Ihr der?» «Ja. Es tut mir leid, falls ich dich erschreckt haben sollte. Es war für mich ein Schock, dich wiederzusehen. Ich glaubte, du seist ertrunken - damals bei der Cor Bridge, als du mit den anderen Knaben zum Baden an den Fluß gegangen bist. Was ist geschehen?» Mir war, als zögerte er einen Augenblick. «Ich bin ein guter 320
Schwimmer, Herr.» Da war noch irgendein Geheimnis. Aber es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle. Ich hatte ihn gefunden. Dies war es, was die Nacht mir bescheren sollte. Nicht der Fehltritt der Königin war jenes «Wesentliche», worauf mich die Kraft hingelenkt hatte. Die Zukunft lag hier. Die Sterne blitzten und funkelten, wie sie damals auf dem Knauf des großen Schwertes geblitzt und gefunkelt hatten. Ich beugte mich über den Hals des Pferdes und sprach in eindringlichem Ton: «Ninian, hör mir zu. Wenn du keine Fragen beantworten willst, werde ich dir keine stellen. Also gut, du bist aus der Sklaverei entlaufen; das ist mir gleichgültig. Ich kann dich schützen, du brauchst dich also nicht zu fürchten. Ich will, daß du zu mir kommst. Als ich dir zum ersten Mal begegnete, erkannte ich dein Wesen; du bist wie ich, und nach der Sehergabe, die Gott mir verliehen hat, glaube ich, daß du derselben Leistungen fähig sein wirst. Auch du hast dies geahnt, nicht wahr? Willst du zu mir kommen und dich von mir unterrichten lassen? Es wird nicht leicht sein; du bist noch jung; aber ich war noch jünger, als ich zu meinem Meister ging, und du kannst alles lernen. Vertraue mir. Willst du kommen und mir dienen und von weiner Kunst so viel lernen, wie ich dir geben kann?» Diesmal gab es kein Zögern. Es war, als ob diese Frage schon vor langer Zeit gestellt und beantwortet worden wäre. Vielleicht war es auch so. In gewissen Dingen gibt es diese Unausweichlichkeiten; sie stehen seit dem letzten Tag der Sintflut in den Sternen geschrieben. »Ja», sagte er, «ich werde kommen. Laßt mir aber etwas Zeit. Es gibt Dinge, die ich - die ich noch erledigen muß.» Ich richtete mich auf. Mein Brustkorb schmerzte von den tiefen Atemzügen, die ich gemacht hatte. «Weißt du, wo ich lebe?» «Das wissen alle.» «Dann komm, wenn du kannst. Ich freue mich auf dich.» Dann setzte ich noch leise hinzu, als spräche ich zu mir selbst: «Beim Namen Gottes, ich freue mich auf dich.»
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Er gab keine Antwort. Als ich wieder hinüberblickte, sah ich nichts als den weißlichen, von den Sternen beschienenen Nebel, und unter mir gluckste das Wasser ans Ufer. *** Erst nach meiner Heimkehr erkannte ich die volle Wahrheit. Seit dem Tag, da ich den Knaben Ninian gesehen und in ihm das einzige menschliche Wesen erkannt hatte, das denselben Weg wie ich beschreiten konnte, waren Jahre vergangen. Wie viele? Neun, zehn? Und er war damals etwa sechzehn gewesen. Zwischen einem Sechzehnjährigen und einem jungen Mann Mitte zwanzig liegt eine ganze Welt des Wandels und der Veränderungen; der Knabe, den ich soeben im Überschwang der Freude erkannt, das Gesicht, an das ich mich oft tief bekümmert erinnert hatte - dies konnte nicht derselbe Mensch sein, auch wenn er dem Wasser des Flusses vor all jenen Jahren entronnen war und überlebt hatte. Während ich in jener Nacht wach im Bett lag und zu den Sternen durch das schwarze Geäst des Birnbaums hinaufschaute, wie ich es als Kind getan hatte, ging ich die ganze Szene noch einmal durch. Der Nebel, der gespenstische Nebel; das Sternenlicht; die Stimme, die wie ein Echo vom Wasser her zu mir heraufdrang; das Antlitz, an das ich mich so gut erinnerte und das in den vergangenen zehn Jahren so oft in meinen Träumen erschienen war - all dies hatte eine trügerische Hoffnung in mir erweckt. Dann wurde mir unter Tränen bewußt, daß der Knabe Ninian wirklich gestorben war und daß diese Begegnung in der geisterhaften Dunkelheit mir in meiner Übermüdung nur ein wirres und grausames Traumbild vorgegaukelt hatte. 5 Er kam nicht - natürlich nicht. Mein nächster Besuch war ein Kurier von Artus, der mich nach Camelot zu kommen bat. Vier Tage waren vergangen. Ich hatte eigentlich erwartet, schon früher gerufen zu werden, als aber keine Nachricht eintraf, hatte ich angenommen, Artus habe sich noch nicht entschieden, welche 322
Maßnahmen er ergreifen, oder ob er die ganze Affäre lieber vertuschen solle. Normalerweise kam drei- oder viermal in der Woche ein Kurier vorbei, und jeder Bote, der in Erledigung seines Auftrags an meinem Haus vorbeiritt, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in Applegarth zu halten und sich zu erkundigen, ob ich einen Brief mitzugeben hätte. Auf diese Weise blieb ich auf dem laufenden. Ich erfuhr mit ungläubigem Staunen, daß sich Guinevere noch immer auf Ynys Witrin aufhielt, wo sich ihr einige ihrer Hofdamen als Gäste der alten Königin angeschlossen hatten. Auch Bedwyr wohnte noch in Melwas' Palast; die Messer waren verrostet gewesen, und einige seiner Wunden hatten sich entzündet; außerdem hatte er sich in der nassen Kälte eine fiebrige Erkrankung zugezogen. Einige seiner Gefolgsleute waren - ebenfalls als Melwas' Gäste - bei ihm. Königin Guinevere besuche ihn täglich, berichtete mein Informant, und helfe den Pflegerinnen. Ich erfuhr außerdem, daß der Jagdfalke der Königin tot aufgefunden worden war; er hing an den Fußriemen in einem hohen Baum nahe der Stelle, wo Bedwyr das Schleppnetz durchs Wasser gezogen hatte. Am fünften Tag erging der Ruf an mich; ich erhielt einen Brief, der mich aufforderte, mich mit dem Hochkönig über den neuen Ratssaal zu besprechen, der fertiggestellt worden war, während er sich in Gwynedd befand. Ich sattelte mein Pferd und ritt sofort nach Camelot. Artus erwartete mich auf der Westterrasse des Palastes. Es war ein breiter, gepflasterter Streifen mit einigen Beeten, wo die Rosen der Königin, Stiefmütterchen und allerlei hübsche Sommerblumen blühten. Jetzt, in der kühlen Luft des Frühlingsabends, kam die einzige Farbe von den Narzissen und den blassen, geneigten Köpfen des Steinbrechs. Artus stand neben der Terrassenmauer und schaute hinaus auf die ferne Linie, den Rand des offenen Meeres. Er wandte sich nicht um, um mich zu begrüßen, sondern wartete, bis ich neben ihm stand. Dann vergewisserte er sich, ob der Bedienstete, der mich zu ihm gebracht hatte, gegangen war, und sagte unvermittelt: 323
«Du hast sicher vermutet, daß es nichts mit dem Ratssaal zu tun hat. Das war für die Sekretäre bestimmt. Ich will mit dir unter vier Augen sprechen.» «Melwas?» «Natürlich.» Er drehte sich herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen die halbhohe Mauer. Er betrachtete mich stirnrunzelnd. «Du warst bei Bedwyr, als er die Königin fand und als er sie nach Ynys Witrin brachte. Ich sah dich dort, aber als ich mit dir sprechen wollte, warst du schon fort. Man hat mir außerdem erzählt, daß du es warst, der Bedwyr den Weg zu ihr gewiesen hat. Wenn du mehr über diese Affäre wußtest - warum hast du dann nicht gewartet und schon neulich mit mir darüber gesprochen?» «Alles, was ich dir hätte sagen können, hätte nur unnötigen neuen Ärger verursacht. Wir brauchten Zeit. Zeit, damit sich die Königin ausruhen und du mit ihr reden konntest; Zeit, damit sich die Männer beruhigen und nicht erneut aufgestachelt werden würden. Dies hast du offenbar erreicht. Wie ich höre, befinden sich Bedwyr und die Königin noch auf Ynys Witrin.» «Ja. Bedwyr ist krank. Er ging mit einer Erkältung sofort ins Bett und hat jetzt Fieber.» «Das habe ich gehört. Ich gebe mir selbst die Schuld. Ich hätte bleiben sollen, um die Schnittwunden zu versorgen. Hast du mit ihm gesprochen?» «Nein. Er war dazu nicht in der Lage.» «Und die Königin?» «Die ist wohlauf.» «Aber noch nicht so weit, daß sie die Heimreise antreten könnte?» «Nein», sagte er kurz. Er wandte sich wieder ab und schaute auf das ferne Schimmern des Meeres hinaus. «Melwas muß dir doch irgendeine Erklärung gegeben haben?» sagte ich schließlich.
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Ich erwartete, daß diese Frage ihn zu irgendeiner Reaktion veranlassen würde, aber er blickte nur müde drein - eine graue Gestalt an einem grauen Abend. «O ja. Ich habe mit Melwas gesprochen. Er hat mir erzählt, wie sich alles zugetragen hat. Er sei auf Entenjagd gewesen, er selbst mit nur einem Diener, einem Mann namens Berin. Sie seien mit dem Boot auf dem Fluß, den du gesehen hast, bis zum Waldrand gefahren. Er hörte die Aufregung im Wald und sah dann die Stute der Königin auf der schlammigen Uferböschung ausrutschen. Die Königin wurde abgeworfen und fiel ins Wasser. Ihr Gefolge war nirgends zu sehen. Die beiden Männer ruderten zu ihr hin und zogen sie heraus. Sie war bewußtlos, als ob sie mit dem Kopf beim Sturz irgendwo angestoßen wäre. Unterdessen hörten sie, wie ihre Leute in einiger Entfernung vorbeizogen, ohne sich dem Fluß zu nähern.» Eine kurze Pause. «Gewiß hätte Melwas in diesem Augenblick seinen Mann hinter ihnen herschicken sollen, aber er war zu Fuß, und sie waren beritten, und außerdem war die Königin völlig durchnäßt und ohnmächtig und stark unterkühlt; sie hätte höchstens mit einem Boot nach Hause transportiert werden können. Deshalb ließ Melwas den Diener zur Jagdhütte rudern und Feuer machen. Er hatte dort Lebensmittelvorräte und Wein. Er hatte ohnehin vorgehabt, selbst dort zu übernachten, deshalb war alles vorbereitet.» «Das war ein glücklicher Zufall.» Ich versuchte zwar, meinem Tonfall einen harmlosen Anstrich zu geben, aber er warf mir rasch einen Blick zu. «Allerdings. Nach einiger Zeit kam sie wieder zu sich. Er schickte den Diener mit dem Boot nach Ynys Witrin, um Hilfe zu holen - Frauen, die sich ihrer annehmen konnten, mit Pferden und einer Sänfte, oder sonst einen Kahn, in dem sie bequem hätte fahren können. Aber kurz darauf kehrte der Mann zurück und meldete, meine Segel seien gesichtet worden und er habe den Eindruck, als ob ich bei auflaufender Flut landen werde. Melwas hielt es für das Beste, sich sofort auf den Weg zu machen, um mich am Landungssteg willkommen zu heißen, wie es seine Pflicht war, und mir von ihrer Rettung zu berichten.» 325
«Dabei ließ er sie allein zurück», sagte ich beiläufig. «Dabei ließ er sie allein zurück. Das einzige Fahrzeug, das er bei sich hatte, war das leichte Fellboot, das er für seine Jagdausflüge verwendete. Es kam für sie nicht in Frage -jedenfalls nicht bei dem Zustand, in dem sie sich befand. Du hättest es selbst sehen sollen. Als Bedwyr sie zu mir brachte, bebte sie am ganzen Leib und weinte. Ich mußte sie von den Frauen sofort ins Bett bringen lassen.» Er stieß sich von der Mauer ab, wandte sich zur Seite und ging ein paarmal mit raschen Schritten auf und ab. Er brach einen Rosmarinzweig ab und zog ihn mehrmals durch die Hände. Von meinem Platz aus konnte ich den würzigen, stechenden Duft riechen. Ich sagte nichts. Nach einer Weile blieb er breitbeinig stehen und sah mich an; dabei zog er immer noch den Rosmarin durch die Finger. «So lautet also die Geschichte.» «Ich verstehe.» Ich betrachtete ihn nachdenklich. «Und so hast du die Nacht als Melwas' Gast verbracht, und Bedwyr ist noch immer dort, und die Königin ist noch immer dort untergebracht. . . bis wann?» «Ich werde sie morgen abholen lassen.» «Und heute hast du mich hierher kommen lassen. Warum? Anscheinend ist die Sache erledigt und du hast deine Entschlüsse gefaßt.» «Du weißt ganz genau, warum ich dich habe kommen lassen.» In seinem Tonfall lag plötzlich ein Anflug von Schärfe, der seine bisherige Ruhe Lügen strafte. «Was hätte deiner Meinung nach Ärger verursacht, wenn du gleich an jenem Abend mit mir gesprochen hättest? Wenn du mir etwas zu sagen hast, Merlin, dann sag es.» «Also gut. Aber sag mir zunächst, ob du überhaupt schon mit der Königin gesprochen hast.» Er zog die Augenbrauen in die Höhe. «Wie kommst du darauf? Ein Mann, der fast einen Monat von seiner Frau getrennt war? Und eine Frau, die trostreichen Zuspruchs bedurfte?» «Aber wenn sie krank war und von den Frauen gepflegt wurde...» 326
«Sie war nicht krank. Sie war müde und niedergeschlagen, und sie fürchtete sich sehr.» Ich mußte an Guineveres gefaßte, ruhige Stimme, an ihre gesammelte Haltung und ihren zitternden Körper denken. «Nicht vor meinem Kommen.» Er sprach in scharfem Ton und antwortete auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. «Sie fürchtete Melwas, und sie fürchtet dich. Überrascht dich das? Das tun die meisten Menschen. Aber vor mir hat sie keine Angst. Warum auch? Ich liebe sie. Aber sie fürchtete, daß böse Zungen mich mit Lügen vergiften könnten. . . Deshalb fand sie keine Ruhe, bis ich zu ihr ging und mir ihre Darstellung anhörte.» «Sie fürchtete sich vor Melwas? Warum? War ihre Darstellung nicht dieselbe wie die seinige?» Diesmal ging er auf meine Andeutung ein. Er warf den zerdrückten Rosmarinstengel über die Terrassenmauer. «Merlin.» Er sprach das Wort leise, aber mit einem Anflug endgültiger Entschlossenheit aus. «Merlin, du brauchst mir nicht zu sagen, daß Melwas mich angelogen hat und daß es eine Entführung war. Wenn Guinevere sich so verletzt haben sollte, als sie stürzte, daß sie fast den ganzen Tag bewußtlos dalag, hätte sie wohl kaum mit dir nach Hause reiten können; auch wäre sie nicht so gesund gewesen, als ich ihr in jener Nacht beigelegen habe. Sie hatte überhaupt keine Verletzungen erlitten. Sie hatte nur Angst.» «Sie hat dir gesagt, seine Darstellung sei eine Lüge?» «Ja.» Wenn Guinevere ihm eine andere Geschichte erzählt hatte, glaubte ich zu wissen, was sie verschwiegen hatte. Ich sagte bedächtig: «Als sie mit Bedwyr und mir sprach, erzählte sie dasselbe wie Melwas. Und jetzt sagst du, die Königin selbst habe dir gesagt, sie sei entführt worden?» «Ja.» Er zog die Augenbrauen zusammen. «Du schenkst beiden Darstellungen keinen Glauben, nicht wahr? Das willst du mir doch sagen? Du glaubst - bei Gott Merlin, was glaubst du?» 327
«Ich kenne noch nicht die Darstellung, wie sie von der Königin abgegeben worden ist. Erzähle mir, was sie gesagt hat.» Er war so wütend, daß ich schon dachte, er würde mich auf der Stelle allein lassen. Aber nach einigen Schritten über die Terrasse kam er zu mir zurück. Er sah fast aus wie ein Mann, der einem Zweikampf entgegensieht. «Meinetwegen. Du bist schließlich mein Ratgeber, und ich werde allem Anschein nach einen Rat gebrauchen können.» Er holte tief Luft. Dann sprach er in kurzen, ausdruckslosen Sätzen. «Dies ist, was sie sagt. Sie ist überhaupt nicht vom Pferd gestürzt. Sie sah, wie ihr Falke herunterstieß und sich mit den Fußriemen in einem Baum verfing. Sie hielt an und stieg ab. Dann sah sie Melwas, der neben dem Ufer in seinem Boot saß. Sie rief ihn zu Hilfe. Er kam die Böschung herauf, kümmerte sich aber nicht um den Jagdfalken. Er begann, von Liebe zu reden und wie er sie seit der Zeit geliebt habe, da sie gemeinsam von Wales heraufgekommen waren. Er wollte nicht auf sie hören, als sie ihn zum Schweigen bringen wollte, und als sie Anstalten machte, wieder aufzusitzen, ergriff er sie, und bei dieser Auseinandersetzung riß sich die Stute los und stürmte davon. Die Königin versuchte, ihre eigenen Leute herbeizurufen, aber er drückte ihr eine Hand auf den Mund und warf sie hinunter ins Boot. Der Diener legte ab und ruderte sie weg. Der Mann habe sich gefürchtet, sagt sie, und wollte protestieren, aber er tat schließlich, was Melwas ihm befahl. Er brachte sie zu der Jagdhütte. Alles war vorbereitet, als ob er sie erwartet hätte . . . oder irgendeine andere Frau. Du hast das Haus gesehen. War es nicht so?» Ich dachte an das Feuer, das Bett, die üppigen Behänge, das Gewand, das Guinevere getragen hatte. «Etwas habe ich gesehen. Ja, das Haus war vorbereitet.» «Er hatte es schon lange auf sie abgesehen ... Er hatte nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Er war ihr schon früher gefolgt - es war allgemein bekannt, daß sie ihrem Gefolge mit Vorliebe davonritt.» Schweißperlen standen auf seinem Gesicht. Er hob die Hand und wischte sie sich von der Stirn. 328
«Hat er mit ihr geschlafen, Artus?» «Nein. Er hielt sie den ganzen Tag dort fest und bat um ihre Liebe flehentlich, wie sie sagt. Er begann mit verführerischen Redensarten und Versprechungen, sagt sie, und wurde heftig; er erkannte die Gefahr, in der er sich selbst befand. Nachdem er seinen Mann weggeschickt hatte, glaubt sie, hätte er sie womöglich vergewaltigt, aber der Diener kam schnell zurück und meldete seinem Herrn, daß meine Segel gesichtet worden seien; daraufhin wurde Melwas von Panik ergriffen und eilte zu mir, um mir seine Lügen aufzutischen. Er drohte ihr, daß er, falls sie mir die Wahrheit sagte, behaupten würde, er habe ihr beigelegen, so daß ich sowohl sie als auch ihn töten würde. Sie solle dieselbe Version wie er erzählen. Was sie, wie du sagst, auch getan hat.» «Ja.» «Und du wußtest, daß es nicht die Wahrheit war?» «Ja.» «Ich verstehe.» Er beobachtete mich noch immer mit demselben, prüfenden Blick. Mir wurde allmählich klar -wenn auch ohne Überraschung -, daß auch ich jetzt vor ihm keine Geheimnisse bewahren konnte. «Und du dachtest, sie könnte mich angelogen haben. War dies der <Ärger>, den du voraussahst?» «Ja, teilweise.» «Du glaubtest, sie würde mich belügen?'Mich?» Er wiederholte es, als wäre so etwas undenkbar. «Wer könnte ihr eine Lüge zum Vorwurf machen, wenn sie Angst hat? Ja, ich weiß, du sagst, sie fürchte sich nicht vor dir. Aber sie ist schließlich nur eine Frau, und es ist durchaus möglich, daß sie deinen Zorn fürchtet. Jede Frau würde zur Lüge greifen, um sich zu retten. Es wäre dein Recht gewesen, sie zu töten, und ihn ebenfalls.» «Es ist auch jetzt noch mein Recht, dies zu tun - ob sie nun vergewaltigt wurde oder nicht.» «Also dann...? Konnte sie denn wissen, daß du ihr überhaupt zuhören würdest, daß du den König und Staatsmann an die erste Stelle 329
setzen und erst dann den rachelüsternen Gatten spielen würdest? Auch ich bin erstaunt, und ich habe immer geglaubt, dich zu kennen.» Grimmige Belustigung blitzte in seinen Augen auf. «Da Bedwyr und die Königin als Geiseln auf der Insel sind, könntest du sagen, mir seien die Hände gebunden. .. Selbstverständlich werde ich ihn töten. Das weißt du, nicht wahr? Aber erst zu gegebener Zeit und aus irgendeinem anderen Grund, wenn diese ganze Affäre vergessen ist und die Ehre der Königin nicht mehr auf dem Spiele steht.» Er wandte sich ab, legte beide Hände auf die niedrige Mauer und blickte wieder hinaus über das allmählich dunkel werdende Land in Richtung auf das Meer. Irgendwo brach ein Lichtstrahl durch die Wolken und ließ in der Ferne die Wasserlinie grell aufleuchten. Er sprach langsam, als rede er mit der Ferne. «Ich habe über die Geschichte nachgedacht, die ich unter die Leute bringen werde. Ich werde ein Mittelding zwischen Melwas' Lüge und der Version nehmen, wie sie mir die Königin erzählt hat. Sie war den ganzen Tag bei ihm, vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Nacht. . . Ich werde verbreiten lassen, sie sei vom Pferd gefallen, wie Melwas erklärt hat, und sei bewußtlos zur Jagdhütte transportiert worden; dort habe sie den größten Teil des Tages ohnmächtig gelegen. Bedwyr und du, auch ihr müßt bei dieser Version bleiben. Falls bekannt würde, daß sie gar nicht verletzt war, würde es bestimmt Leute geben, die ihr zum Vorwurf machen, keinen Fluchtversuch unternommen zu haben. Und dies, obwohl der Diener die ganze Zeit ein Auge auf das Boot hatte, und auch wenn sie hätte schwimmen können, waren da ja noch die Messer... Sie hätte ihnen natürlich mit meiner Rache drohen können, aber das schien ihr viel zu gefährlich. Er hätte sie dort festhalten, sich mit ihr vergnügen und sie dann töten können. Du weißt, daß sie von ihren Leuten bereits für tot gehalten wurde. Nur von dir nicht. Und das hat ihr das Leben gerettet.» Ich sagte nichts. Er drehte sich um. «Ja. Nur von dir nicht. Du sagtest ihnen, sie lebe, und hast Bedwyr zu ihr gebracht. Sag mir jetzt, woher du alles gewußt hast. War es ein ?» 330
Ich neigte den Kopf. «Als Cei zu mir kam, rief ich die alten Kräfte an, und sie beantworteten meinen Ruf. Ich sah sie in der Flamme, und Melwas auch.» Artus schien über etwas scharf nachzudenken. Es geschah nicht oft, daß der Hochkönig in mir die Wahrheit suchte, wie er es bei geringeren Menschen zu tun gewohnt war. Ich konnte in ihm einen Teil jenes Wesens spüren, das ihn zu dem gemacht hatte, was er war. Er war ganz ruhig geworden. «Ja. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Sag mir genau, was du gesehen hast.» «Ich sah einen Mann und eine Frau in einem üppig ausgestatteten Raum, und hinter der Tür ein Schlafgemach mit einem Bett, das benutzt worden war. Sie lachten zusammen und spielten Schach. Sie trug ein loses Gewand, wie für die Nacht, und hatte die Haare gelöst. Als er sie in die Arme nahm, kippte das Schachbrett um, und der Mann trat auf die Figuren.»Ich hielt ihm die zerbrochene Schachfigur hin. «Als die Königin zu uns heraustrat, fiel diese Figur aus den Falten ihres Mantels.» Er nahm die Figur und beugte sich über sie, als wollte er sie untersuchen. Dann warf er sie dem Rosmarinzweig nach. «Es war also ein wahrer Traum. Sie sagte, dort habe ein Tisch gestanden und darauf Schachfiguren aus Elfenbein und Ebenholz.» Zu meiner Überraschung lächelte er. «Ist das alles?» «Alles? Es ist mehr, als ich dir je erzählt hätte, wäre ich es dir als dein Ratgeber nicht schuldig.» Er nickte, noch immer lächelnd. Sein Zorn schien verflogen zu sein. Er schaute wieder auf die Ebene hinaus, wo in der Ferne ein Lichtstrahl das Meer aufschimmern ließ. «Merlin, eben hast du noch gesagt <Sie ist nur eine Frau>. Du hast 'mir oft erzählt, du verstündest nichts von Frauen. Ist dir nie zum Bewußtsein gekommen, daß sie ein Leben in Abhängigkeit führen müssen und diese so vollständig ist, daß Unsicherheit und Furcht aus ihr entstehen können? Daß ihr Leben dem von Sklaven oder von Haustieren gleicht, die von Kreaturen benutzt werden, die stärker als sie selbst und manchmal grausam sind? Sogar Frauen königlichen Geblüts werden gekauft und verkauft; sie sind dazu erzogen, fern von ihrer Heimat und ihrem Volk zu leben, 331
und zwar als Eigentum von Männern, die ihnen vorher unbekannt waren.» Ich wartete, um zu erkennen, worauf er abzielte. Es war ein Gedankengang, der mir schon früher gekommen war, als ich Frauen unter den Launen von Männern hatte leiden sehen; sogar solche Frauen, die, wie Morgause, stärker und klüger als die meisten Männer waren. Sie waren - es scheint -Werkzeuge in der Hand der Männer und litten darunter. Wer Glück hatte, fand einen Mann, den sie beherrschen konnte, oder der sie liebte. Wie die Königin. «Dies ist also Guinevere zugestoßen», fuhr er fort. «Du hast soeben selbst gesagt, daß ich in mancherlei Hinsicht für sie noch immer ein Fremder sein muß. Sie fürchtet mich nicht, nein, aber manchmal glaube ich, daß sie von einer Lebensangst geplagt wird. Und mit Sicherheit hatte sie Angst vor Melwas. Verstehst du mich? Dein Traum entsprach der Wahrheit. Sie lächelte und sprach mit ihm und verbarg ihre Furcht. Was hätte sie deiner Meinung nach tun sollen? Sich an den Diener um Hilfe wenden? Den beiden mit meiner Rache drohen? Sie wußte, daß dieser Weg nur ihr Ende bedeuten konnte. Als er ihr das Schlaf gemach zeigte, damit sie ihre nassen Kleider wechseln konnte (er bringt anscheinend manchmal Frauen in das Haus, außer Sichtweite der alten Königin, seiner Mutter, und es gibt dort einen Vorrat an Frauenkleidern und Dinge, wie Frauen sie lieben), dankte sie ihm lediglich und schloß dann die Tür vor ihm ab. Später, als er kam, um sie zum Essen einzuladen, schützte sie Unwohlsein vor, aber nach einer Weile wurde er mißtrauisch, dann aufdringlich, und sie fürchtete, er würde die Tür aufbrechen; deshalb aß sie mit ihm und machte ihm schöne Worte. Und so ging es den ganzen Tag über weiter, bis zum Einbruch der Dunkelheit. Sie ließ ihn in dem Glauben, daß er in der Nacht sein Vergnügen haben würde, gab aber die ganze Zeit die Hoffnung auf Rettung nicht auf.» «Und dann kam diese.» «Wider Erwarten, und dank deiner Hilfe. Schön, so lautet ihre Geschichte, und ich glaube ihr.» Er wandte wieder rasch den Kopf. «Du auch?» 332
Ich antwortete ihm nicht sofort. Er wartete und ließ weder Zorn noch Ungeduld erkennen - auch nicht den geringsten Schatten eines Zweifels. Als ich schließlich sprach, klangen meine Worte überzeugend. «Ja. Sie sprach die Wahrheit. Vernunft, Instinkt. <Ein zweites Gesichb oder blinder Glaube, dessen kannst du gewiß sein. Ich bedauere, daß ich an ihr gezweifelt habe. Du hattest recht, mich daran zu erinnern, daß ich Frauen nicht begreife. Ich hätte wissen müssen, daß sie sich fürchtete, und deshalb hätte ich mir vorstellen können, daß sie die wenigen Waffen, die sie gegen Melwas besaß, einsetzen würde . . . Und für alles Übrige - ihr Schweigen, bis sie mit dir sprechen konnte, ihre Sorge um deine Ehre und die Sicherheit deines Reiches - hat sie meine Bewunderung. Und diese hast auch du, mein König.» Ihm fiel die förmliche Anrede auf. Sein Gefühl der Erleichterung wurde durch ein halbes Lächeln verstärkt. «Warum? Weil ich nicht in Wut geraten bin und Köpfe gefordert habe? Wenn die Königin aus Angst einen ganzen Tag schauspielern konnte, dann werde ich es doch wohl ein paar kurze Stunden tun können, zumal ihre Ehre und die meinige auf dem Spiel stehen? Aber nicht mehr lange. Beim Hades, nicht mehr lange!» Die Wucht, mit der er mit der geballten Faust auf den Mauerabsatz schlug, zeigte, was sich in ihm aufgestaut hatte. Dann fügte er in ganz anderem Tone hinzu: «Merlin, du mußt dir im klaren sein, daß das Volk die Königin - nicht liebt.» «Ich habe die Leute flüstern hören, gewiß. Aber dies nicht deshalb, weil sie so und nicht anders ist oder etwas getan hat. Es geschieht nur deshalb, weil das Volk täglich auf einen Thronerben wartet und sie jetzt vier Jahre lang Königin ist, ohne zu gebären. Es ist nur natürlich, daß es zu enttäuschten Hoffnungen und Geflüster gekommen ist.» «Es wird keinen Erben geben. Sie ist unfruchtbar. Ich bin jetzt dessen sicher, und sie ist es auch.» «Ich habe es gefürchtet. Es tut mir leid.» «Wenn ich nicht hier und da ein Kind gezeugt hätte», sagte er mit schiefem Lächeln, «könnte ich die Schuld mit ihr teilen; aber da war das Kind, das ich mit meiner ersten Königin bekommen hätte; gar nicht zu reden von Morgauses Bastard. So liegt die Schuld - falls man 333
von einer solchen reden kann - nach Meinung der Leute bei der Königin, und da sie eine Königin ist, geht ihr Kummer darüber sie nicht nur persönlich an. Und es wird immer Menschen geben, die Gerüchte in die Welt setzen, weil sie hoffen, daß ich die Königin verstoßen werde. Was», fügte er kurz und bündig hinzu, «ich nicht tun werde.» «Es käme mir nie in den Sinn, dir dazu zu raten», sagte ich milde. «Ich frage mich nur, ob dies der Schatten ist, den ich auf deinem Ehebett gesehen habe . . . Aber genug davon. Was wir jetzt tun müssen, ist, ihr wieder zu der Zuneigung des Volkes zu verhelfen.» «Das ist leichter gesagt, als getan. Wenn du weißt, wie -» «Ich glaube, ich weiß es. Du hast soeben beim Hades geschworen, und ein alter Traum ist wieder vor mir auferstanden. Willst du mich nach Ynys Witrin gehen und sie selbst zu dir zurückbringen lassen?» Er wollte nach dem Grund fragen, zuckte dann aber lachend mit den Schultern. «Warum nicht? Für dich ist es vielleicht so einfach, wie es klingt. .. Also geh. Ich werde veranlassen, daß eine königliche Eskorte bereitgestellt wird. Ich werde sie hier empfangen. Damit erspare ich mir wenigstens ein Wiedersehen mit Melwas. Willst du mit allen deinen weisen Ratschlägen etwa versuchen, mich davon abzuhalten, ihn zu töten?» «Ebenso wirksam wie eine Glucke, die den jungen Schwan aus dem Wasser herbeiruft. Du wirst tun, was du für richtig hältst.» Ich schaute über die feuchtnasse Ebene hinüber zum Berg Tor und sah die flache, benachbarte Insel, wo der Hafen lag. Ich setzte nachdenklich hinzu: «Es ist ein Jammer, daß er es für richtig hält, Hafengebühren - und dazu noch unsinnig hohe - von dem Befehlshaber zu fordern, der ihm Schutz gewährt.» Seine Augen weiteten sich, er schien nachzudenken. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Er sagte gedehnt: «Ja, findest du nicht auch? Und dann gibt es noch das Problem mit dem Wegegeld. Wenn meine Hauptleute sich weigern sollten, diese Abgaben zu bezahlen, dann wird Melwas zweifellos persönlich hier erscheinen, um Beschwerde zu führen, und wer weiß, vielleicht ist dies sogar die erste Klage, die 334
in der neuen Ratskammer behandelt werden wird. Da dies der Grund ist, den ich gegenüber dem Schreiber für dein Kommen angegeben habe - sollen wir gehen und uns sein Werk ansehen? Und morgen, zur dritten Stunde, werde ich die königliche Eskorte entsenden, damit die Königin heimgeführt wird.» 6 / Da Bedwyn noch auf Ynys Witrin weilte, wurde die Eskorte von Nentres angeführt, einem der westlichen Herrscher, der schon unter Uther gekämpft hatte und jetzt Artus seine Ergebenheit und die seiner Söhne entgegenbrachte. Er war ein in vielen Kämpfen ergrauter Veteran von schlankem Wuchs und im Sattel so gewandt wie ein Jüngling. Er verließ die Eskorte unter ihrem Drachenbanner auf der Straße unterhalb meines Hauses und kam - gefolgt von einem Stallknecht, der einen Fuchshengst als Handpferd mitführte -den kurvenreichen Weg zu mir herauf geritten. Pferd und Geschirr erstrahlten im Hochglanz so hell wie Nentres' Schild, und Edelsteine blitzten am Brustband. Die dunkelbraune Schabracke war mit Silberfäden durchwirkt. «Der König hat Euch dies geschickt», sagte er schmunzelnd. «Er findet, Euer eigenes Pferd würde unter den anderen wie eine Schindmähre aussehen. Seht den Hengst nicht so an, er ist viel frommer, als er scheint.» Der Stallknecht half mir in den Sattel. Der Fuchs warf den Kopf hoch und kaute auf der Trense, aber seine Gangart war glatt und leicht. Nach meinem mürrischen, alten schwarzen Wallach wirkte er wie ein Segelboot neben einem flachen Flußkahn. Durch den Nordwind, der die Felder seit Mitte März mit Kälte überzogen hatte, war die Morgenluft kühl und frisch. Bei Tagesanbruch war ich auf den Hügel hinter Applegarth hinaufgestiegen und hatte auf meiner Haut jenes schwer erklärbare Gefühl gespürt, das ein Umschlagen des Windes ankündigt. In dem Dornengebüsch zeigten sich gerade die ersten Knospen, aber unten im Tal konnte man bereits einen grünen Schimmer an den Bäumen erkennen, und die ge335
schützt liegenden Uferböschungen waren voller Schlüsselblumen und wild wachsendem Knoblauch. Saatkrähen krächzten und flatterten in den von Efeu überzogenen Bäumen herum. Der Frühling war schon da, aber er wartete noch, da er von den kalten Winden zurückgehalten wurde, so wie die Schwarzdornblüten noch nicht aufgebrochen waren. Aber der Himmel war bedeckt und grau, fast als drohe neuer Schnee, und ich war froh, meinen Mantel mit all seiner prächtigen Verbrämung aus Pelz und Purpur zu haben. In Melwas' Halle war alles zu unserem Empfang bereit. Der König trug ein dunkelblaues Gewand und war, wie ich sofort bemerkte, voll bewaffnet. Er zeigte zur Begrüßung ein unbefangenes Lächeln, aber in seinen Augen lag ein hintergründiger Blick; zu viele Bewaffnete drängten sich in der Halle, abgesehen von der Abordnung, die oben aus der Festung stammte und sich jetzt in den Obstfeldern bereithielt, die dem Palast als Gärten dienten. Banner und bunte Wimpel verliehen der Begrüßung einen festlichen Charakter, aber man konnte sehen, daß jeder Mann Schwert und Dolch bei sich hatte. Er hatte natürlich Artus erwartet. Als er meiner ansichtig wurde, schien er zunächst erleichtert zu sein; dann sah ich, daß er um so mehr auf der Hut war und die Lippen zu schmalen Linien zusammenkniff. Er begrüßte mich höflich, aber sehr zurückhaltend, wie ein Mann, der beim Schach den Eröffnungszug macht. Ich erwiderte ihm mit der langen, einstudierten Ansprache als Artus' Stellvertreter und wandte mich dann der Königin, seiner Mutter, zu, die neben ihm am Ende der langen Halle stand. Sie zeigte nicht die Befangenheit, die ihr Sohn an den Tag legte. Sie begrüßte mich mit hoheitsvoller Gelassenheit und wies dann mit der Hand auf eine Tür, die sich auf der rechten Seite der Halle befand. Es kam zu einer Bewegung, als die Menge eine Gasse bildete und Königin Guinevere inmitten ihrer Hofdamen eintrat. Auch sie hatte Artus erwartet. Sie zögerte und suchte ihn im glitzernden Prunk der vollbesetzten Halle. Ihr Blick ging, ohne mich zu erkennen, über mich hinweg. Ich fragte mich, welcher Gott sie veranlaßt haben mochte, Grün, Maigrün, zu tragen, mit an der Brust eingestickten Blumen. Auch ihr Umhang war grün; er hatte einen weißen Marderkragen, der ihr Gesicht umrahmte und ihr ein 336
besonders zartes Aussehen verlieh. Sie war sehr bleich, bewahrte jedoch die Fassung. Ich mußte daran denken, wie sie in jener Nacht unter meiner Hand gezittert hatte; und - als sei ich in kaltes Wasser getaucht worden erkannte ich bei dem Gedanken, daß Artus recht gehabt hatte. Sie mochte nach Haltung und bei all ihrem Mut eine Königin sein, aber unter dieser Oberfläche verbarg sich ein furchtsames Mädchen, das ständig nach Liebe Ausschau hielt. Fröhlichkeit, lustiges Lachen und die Hochstimmung der Jugend hatten die Suche einer Verbannten nach Freundschaft unter den Fremden eines Hofes verdeckt, der sich vom häuslichen Herd im Reiche ihres Vaters grundlegend unterschied. Da ich mich seit zwanzig Jahren fast ausschließich mit Artus beschäftigte, hätte ich mir nie die Mühe gemacht, über sie nachzudenken, außer vielleicht in den Gedankengängen seines Volkes: Sie war ein Gefäß für seine Männlichkeit, eine Gefährtin für sein Vergnügen, eine strahlende Säule der Schönheit, die, Silber neben seinem Gold, den Gipfel seines Ruhmes beglänzen sollte. Jetzt sah ich sie, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ich sah ein zartes Mädchen von schlichtem Gemüt, dem das Glück zuteil geworden war, den größten Mann jener Zeit zu heiraten. Artus' Königin zu sein, war keine leichte Bürde, wenn man an die Einsamkeit und das Leben in einem fremden Lande dachte, wo ihr Gemahl häufig nicht zur Stelle war, um sich zwischen sie und die Schmeichler zu stellen, die machthungrigen Intriganten, die neidisch auf ihre Stellung oder ihre Schönheit waren, oder - was vielleicht das Gefährlichste war - die jungen Männer, die sie in Liebe verehrten. Dann gab es auch solche (und es waren ihrer nicht wenige), die ihr immer wieder von der «anderen Guinevere» erzählten, der bildhübschen Königin, die vom König ein Kind empfangen hatte und um die er so bitterlich getrauert hatte. So wurde sie immer wieder daran erinnert. Aber all dies wäre nichts gewesen und wäre vorübergegangen und vergessen gewesen durch die Liebe des Königs und ihre neue, erregende Machtstellung, wenn sie nur fähig gewesen wäre, ein Kind zu empfangen. Daß Artus die MelwasAffäre nicht benutzt hatte, sie zu verstoßen und eine fruchtbare Frau in 337
sein Bett zu nehmen, war in der Tat ein Beweis für seine Liebe; aber ich zweifelte, ob sie schon Zeit genug gehabt hatte, die Situation so zu sehen. Er hatte recht gehabt, als er mir sagte, sie fürchte sich vor dem Leben, sie fürchte sich vor den Menschen in ihrer Umgebung, sie fürchte sich vor Melwas und - das erkannte ich jetzt - mehr als alle anderen fürchtete sie mich. Sie hatte mich gesehen. Die blauen Augen weiteten sich, und sie griff mit den Händen an den Pelzbesatz an ihrem Hals. Sie hielt einen Augenblick inne und nahm dann, gefaßt, ihren Platz neben der Königin-Mutter auf der anderen Seite von Melwas ein. Weder sie noch der König hatten sich bis jetzt einen Blick zugeworfen. Eine Stille, die im Raum widerzuhallen schien, breitete sich aus. Irgendwo raschelte ein Gewand, und es klang wie das Rauschen eines Baumes im Wind. Ich trat vor. Als sei Guinevere die einzige Anwesende, verneigte ich mich tief und richtete mich dann wieder auf. «Seid gegrüßt, Madam. Es ist gut, Euch wieder wohlauf zu sehen. Ich bin mit anderen Eurer Freunde und Bediensteten gekommen, um Euch nach Hause zu geleiten. Der Hochkönig erwartet Euch in Eurer Burg Camelot.» Farbe überzog ihr Gesicht. Sie bangte um die Zukunft. Ich habe Augen wie die ihrigen bei einem jungen Reh gesehen, das gefangen war und auf den tödlichen Speer wartete. Sie murmelte etwas und verstummte. Um ihr eine goldene Brücke zu bauen, wandte ich mich an Melwas und seine Mutter und dankte beiden in wohlgesetzter Rede für die Sorge, die sie für Artus' Königin aufgebracht hatten. Während ich sprach, wurde mir klar, daß Melwas' Mutter keine Ahnung hatte, irgend etwas könne nicht in Ordnung sein. Während ihr Sohn mich mit einem scheinheiligen Blick beobachtete, der aus einer Mischung von Vorsicht und Trotz zusammengesetzt war, antwortete mir die alte Königin mit höflichen Dankesbezeigungen, Botschaften an Artus, Komplimenten für Guinevere und schließlich mit der Einladung, ihre Gastfreundschaft noch länger in Anspruch zu nehmen. In diesem Augenblick blickte die junge Königin kurz auf, doch dann verschleierten die Lider wieder ihre Augen. Als ich das Angebot 338
ablehnte, sah ich, wie sich ihre Hände entspannten. Ich vermutete, daß es seit der Trennung in der Jagdhütte für Melwas keine Gelegenheit mehr gegeben hatte, mit ihr zu sprechen und festzustellen, was sie Artus gesagt hatte. Meines Erachtens versuchte er, uns zum Bleiben zu bewegen, aber irgend etwas in meinem Blick machte ihn stutzig, und dann stellte seine Mutter gerade diejenige Frage, die sie besonders interessierte. «Wir haben in jener Nacht auf Euch gewartet, Prinz Merlin. Wie ich höre, führte Euch eine Vision zur Königin, bevor noch mein Sohn mit der Nachricht auf die Insel zurückkehrte. Wollt Ihr uns nicht sagen, was es mit dieser Vision auf sich hatte?» Melwas fuhr hoch. Sein abweisender Blick schien mich am Sprechen hindern zu wollen. Ich lächelte, und er senkte die Augen. Ohne mein Zutun hatte die alte Frau gerade jene Frage gestellt, die ich mir gewünscht hatte. Ich hob die Stimme. «Sehr gern, Madam. Es ist wahr, daß ich eine Vision hatte; ob diese aber von den Göttern der Luft und der Stille stammten, die früher zu mir gesprochen haben, oder von der Göttin, der dieser Schrein hinter den Apfelbäumen geweiht ist, kann ich nicht sagen. Aber ich hatte eine Vision, die mich wie ein abgeschossener Pfeil durch das Weideland direkt zum Ziel führte. Es war eine doppelte Vision - ein heller Traum, durch den der Träumende in ein weiter unten liegendes, dunkleres Traumreich übergeht; das Spiegelbild in tiefem Wasser, wo die Oberfläche wie Glas über dem Dunkel darunter liegt. Die Visionen verschwammen, aber ihre Bedeutung war klar. Ich wäre ihnen schneller gefolgt, aber ich glaube, die Götter haben es anders gewollt.» Guinevere hob jetzt den Kopf, und ihre Augen weiteten sich. Bei Melwas spürte ich wieder den Anflug von Zweifel. Es war die alte Königin, die dann fragte: «Wieso anders? Wollten sie nicht, daß die Königin gefunden wird? Was für ein Rätsel ist dies, Prinz Merlin?» «Ich werde es Euch sagen. Aber zuerst will ich Euch von dem Traum erzählen, den ich hatte. Ich sah den Saal eines Königs, mit Marmorfußboden und Säulen aus Silber und Gold, wo keine Bediensteten herumstanden, sondern wo die Lampen und Kerzen mit 339
duftendem Rauch brannten, hell wie der Tag ...» Ich sprach jetzt mit einer Stimme, die den Singsang eines Barden angenommen hatte, der vor Fürstenthronen singt; ihr Widerhall erfüllte den Raum und trug die Worte hinaus zu der Menge, die draußen schweigend wartete. Ich sah, wie sich Finger bewegten, um das Zeichen gegen die Magie zu schlagen; auch bei Guinevere. Die alte Königin hörte mir offenbar mit Befriedigung und Vergnügen zu; dabei muß man bedenken, daß sie die Schirmherrin des Heiligtums der Göttin war. Was Melwas anbetrifft, so sah ich ihn, während ich sprach, von Argwohn und Spannung in einen Ausdruck der Fassungslosigkeit und schließlich ehrfürchtiger Scheu übergehen. Für alle Anwesenden hatte der Traum bereits eine bekannte Gestalt angenommen - die einer Reise in jene Welt, von der nur wenige zurückkehren. «... Und auf dem kostbaren Tisch ein Satz goldener Schachfiguren und daneben ein prächtiger Sessel mit Armlehnen, die als Löwenhäupter geschnitzt waren; sie schienen auf den König zu warten. Und daneben stand ein silberner Stuhl mit Taubenklauen, die auf die Königin warteten. So wußte ich, daß es sich um Llud's Halle handelte, wo das geheiligte Gefäß aufbewahrt wird und wo einstmals das berühmte Schwert hing, das jetzt bei Artus in Camelot an der Wand hängt. Und von oben, am Himmel jenseits der Höhle, hörte ich sie dahingaloppieren, die Wilde Jagd, wo die Ritter der Unterwelt ihrer Beute nachjagen und sie tief in die unterirdischen Gewölbe bringen, aus denen es keine Wiederkehr gibt. Aber als ich mich zu fragen begann, ob der Gott mir sagen wolle, die Königin sei tot, änderte sich die Vision ...» Zu meiner Rechten befand sich ein Fenster oben in der Wand. Draußen sah man über den Kronen der Obstbäume ein Stück bewölkten Himmels. Die knospenden Apfelbäume hoben sich mit ihrem jungen Grün von dem schiefergrauen Himmel ab. Die Pappeln wirkten blaß wie Speere. Aber in den Morgenstunden hatte ich jenes Gefühl gehabt, das Wetter werde umschlagen; ich spürte die kommende Veränderung auch jetzt noch; den Blick auf die dunkle Wolke gerichtet, fuhr ich fort: 340
«... Und ich war in einer älteren Halle, einem tieferen Gewölbe. Ich war in der Unterwelt selbst, und der dunkle König war dort, der noch älter als Llud ist, und neben ihm saß die bleiche, junge Königin, die aus den hellen Gefilden von Enna geritten und aus der wärmenden Welt herausgetragen worden war, um Königin der Hölle zu werden; Persephone, die Tochter der Demeter, der Mutter alles dessen, was auf der Erde wächst. . .» Die Wolke zog langsam, langsam vorbei. Jenseits der knospenden Zweige konnte ich sehen, wie der Rand ihres Schattens den Schleier beiseite zog. Von irgendwoher kam eine Brise auf, unter der die hohen Pappeln am Rande des Obstgartens zu erzittern begannen. Die meisten der Anwesenden kannten die Geschichte sicherlich nicht, deshalb erzählte ich sie, und zwar zur offensichtlichen Genugtuung der alten Königin, die, wie alle Anhänger des Mutterkults, die kalte Drohung der Veränderung auch hier, in der uralten Hochburg des Kults, gespürt haben mußte. Als Melwas mir etwas entgegenhalten wollte, brachte sie ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und streckte (vielleicht aus einem ihr unbewußten Verständnis) die Hand aus, um die Königin enger an sich zu ziehen. Ich sah weder Melwas noch Guinevere an, sondern beobachtete das hohe Fenster mit einem Seitenblick und erzählte die alte Mär von Persephones Entführung durch Hades und von der langwierigen Suche, die Demeter, die Muttergöttin unternahm, während die ihres Frühlingswachstums beraubte Erde in Kälte und Dunkelheit dahinsiechte. Außerhalb des Fensters erhielten die Pappeln im frühen Morgenlicht plötzlich einen goldenen Schimmer. Ich nutzte die Stunde. «Und als die Vision erstarb, wußte ich, was mir eröffnet worden war. Eure Königin, Eure junge und liebreizende Königin, lebte und befand sich in Sicherheit; sie wurde von der Göttin beschützt und wartete nur darauf, heimgeführt zu werden. Und mit ihrer Ankunft wird schließlich doch noch der Frühling kommen, und die kalten Regenfälle werden aufhören, und wir werden aus unserem Land wieder einmal eine reiche Ernte gewinnen - in dem Frieden, den uns 341
das Schwert des Hochkönigs gebracht hat, und mit der Freude, die ihm durch die Liebe der Königin beschert worden ist. Dies war der Traum, den ich hatte, und den ich, Merlin, Fürst und Seher, Euch allen soeben gedeutet habe.» Ich sprach an Melwas vorbei nur zu der alten Königin. «So bitte ich Euch jetzt Madam, mir zu gestatten, die Königin in Ehren und mit Freuden heimzuführen.» Und in diesem Augenblick brach die gesegnete Sonne hervor und zog einen Lichtstrahl quer über den Boden bis zu den Füßen der Königin, so daß sie, gold und weiß und grün leuchtend, von der Sonne angestrahlt wurde. *** Wir ritten nach Hause, und der wunderschöne Tag war vom Duft der Schlüsselblumen erfüllt. Die Wolken hatten sich verzogen, und der See schimmerte blau hinter den Trauerweiden. Eine frühe Schwalbe flog auf der Jagd nach Fliegen dicht über der Wasseroberfläche dahin. Und die Frühlingskönigin, die auf die Sänfte, die wir für sie mitgebracht hatten, verzichtete, ritt an meiner Seite. Sie sprach nur einmal, und auch dann nur kurz. «Ich habe Euch in jener Nacht nicht die Wahrheit gesagt. Habt Ihr es gewußt?» «Ja.» «Ihr habt also wirklich die Sehergabe? Ihr seht alles?» «Ich sehe viel. Wenn mir daran liegt, und wenn der Gott es so will, sehe ich alles.» Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und ihr Blick erhellte sich, als sei sie von einer Last befreit. Zuvor hatte ich sie für schuldlos gehalten; jetzt wußte ich, daß sie es war. «Auch Ihr habt also meinem Herrn die Wahrheit gesagt. Als er mich nicht selbst abholte, bekam ich Angst.» «Ihr braucht keine Angst zu haben, weder jetzt noch in der Zukunft. Ihr braucht nicht daran zu zweifeln, daß er Euch liebt. Außerdem kann ich Euch, Guinevere, meiner Base, jetzt sagen, daß er, auch wenn Ihr ihm nie einen Thronerben für Britannien schenken werdet, Euch nie 342
verstoßen wird. Euer Name wird neben dem seinigen genannt werden, solange wie er in der Erinnerung weiterlebt.» «Ich werde es versuchen», sagte sie so leise, daß ich ihre Worte kaum hören konnte. Dann kamen die Wehrtürme von Camelot in Sicht. Sie verstummte und schien sich in Gedanken auf das Kommende zu rüsten. *** So wurde der Grundstock für die Legendenbildung gelegt. Während der goldenen Frühlingswochen, die jetzt folgten, hörte ich mehr als einmal, wie sich die Menschen mit vorgehaltener Hand über die «Vergewaltigung» der Königin unterhielten, und wie sie fast bis in die dunklen Hallen von Llud hinunter gebracht, aber von Bedwyr, dem besten der Ritter von König Artus, wieder ans Tageslicht zurückgeholt worden sei. So war der ganzen Sache der Stachel genommen; weder Artus noch die Königin waren mit Schande bedeckt; und Bedwyr wurde die erste seiner vielen Ruhmestaten zugeschrieben; die Geschichte wuchs und wuchs, und seine Heldengestalt gewann weiter an Ansehen, während seine Verletzungen heilten und er schließlich vollends genas. Was Melwas anbetraf, so verquickte man, wie es in solchen Dingen häufig geschieht, den «Dunklen König» der Unterwelt mit dem schlecht beratenen König, dessen Hochburg der Berg Tor war, ohne daß dabei ein Schatten auf Guinevere gefallen wäre. Was Melwas dachte, wußte niemand. Er mußte erkannt haben, daß Artus von Guinevere die Wahrheit erfahren hatte. Er mag seiner Rolle als Böse wicht der Geschichte überdrüssig geworden sein und wollte anscheinend nicht länger warten, bis der Hochkönig den ersten Schritt gegen ihn tat. Er mag sogar die Hoffnung gehegt haben, daß er in fernerer Zukunft die Königin würde vielleicht doch noch besitzen können. Wie dem auch sei - er war es jedenfalls, der als erster handelte und Artus dadurch freie Hand gab. Eines Morgens ritt er nach Camelot und setzte sich, nachdem er seine bewaffnete Eskorte draußen vor dem Ratssaal hatte zurücklassen müssen, auf den Stuhl des Beschwerdeführers. 343
*** Der Ratssaal war im Stil einer kleineren Halle gebaut worden, die Artus bei einem seiner Besuche, die er dem Vater der Königin in Wales abstattete, gesehen hatte. Jener Bau war lediglich die größere Version eines aus Lehm und Stroh errichteten Rundhauses der Kelten gewesen; das Bauwerk hier in Camelot war ein großer Rundbau, mit Rippen aus behauenem Stein und dazwischen Mauern aus römischen Backsteinen, die aus den vor langer Zeit verlassenen, in der Nähe gelegenen Ziegelöfen stammten. Es gab riesige Doppeltüren aus Eichenholz mit dem eingeschnitzten Drachen; sie waren schön vergoldet. Der Innenraum war offen; der Boden bestand aus Fliesen, die wie ein Spinnennetz vom Zentrum her nach außen verlegt worden waren. Und die Wände waren, wie der Außenring eines solchen Netzes, nicht gebogen, sondern in graden Flächen getäfelt. Diese Täfelung war mit fein geflochtenen gelben Strohmatten bedeckt, um die Zugluft abzuhalten. Sie sollten noch mit Stickereien überzogen werden; Guinevere hatte bereits ihre Zofen mit dieser Arbeit beauftragt. Vor jeder dieser gradlinigen Unterteilungen stand ein Stuhl mit hoher Rückenlehne und davor jeweils ein Fußschemel. Der Sitz des Königs war nicht höher als der seines Nebenmannes. Dieser Bau, sagte er, solle freimütigen Diskussionen zwischen dem Hochkönig und seinen Edlen dienen und ein Ort sein, wo jeder der führenden Persönlichkeiten des Reiches seine Probleme vorbringen könne. Das einzige, was Artus' Stuhl kennzeichnete, war der weiße Schild, der über ihm hing. Zu gegebener Zeit sollte dort in Gold und Rot der Drache leuchten. Auf einigen der anderen Paneele hingen bereits die Wappen seiner Ritter. Der Sitz gegenüber dem König war leer. Hier sollten diejenigen Platz nehmen, deren Klage durch den Hof entschieden werden sollte. Artus hatte diesen Platz den Stuhl des Beschwerdeführers genannt. Aber in späteren Jahren hörte ich, daß ihm der Name Gefährlicher Stuhl verliehen worden war, und ich glaube, diese Bezeichnung wurde erstmals nach diesem Tag verwendet. #** 344
Ich war nicht zugegen, als Melwas seine Klage vorbrachte. Obwohl mir damals ein Platz in der Rundhalle (wie sie bald darauf genannt wurde) zur Verfügung stand, nahm ich ihn nur selten ein. Wenn die Edlen dort mit dem König auf einer Stufe standen, durfte der König ihnen an Wissen nicht nachstehen, und er mußte sein Urteil abgeben, ohne sich auf den Rat eines Mentors zu stützen. Die Gespräche, die ich mit Artus führte, fanden unter vier Augen statt. Wir hatten viele Stunden über die Affäre Melwas gesprochen, bevor sie im Rat behandelt wurde. Artus schien zunächst überzeugt zu sein, daß ich versuchen würde, ihm einen Kampf mit Melwas auszureden, aber in diesem Fall stimmten meine kühle Überlegung und sein Hitzkopf überein. Für Artus würde es eine Genugtuung und für mich zweckmäßig sein, daß Melwas öffentlich für seine Taten büßen sollte. Die inzwischen verstrichene Zeit und Artus' Schweigen - in Verein mit der Legende, die ich aufgebracht hatte - gewährleisteten, daß Guineveres Ehre nicht in Frage gestellt werden würde: Das Volk hatte sie wieder ins Herz geschlossen, und wo immer sie erschien, wurden ihr Blumen mit Segenswünschen auf den Weg gestreut. Sie war die Königin des Volkes - der Liebling seines Lieblings - und sie wäre ihm beinahe durch den Tod genommen worden, und nur Merlins Magie hatte sie gerettet. So ging das Gerede unter dem Volk. Aber unter den einflußreicheren Leuten gab es auch diejenigen, die vom König erwarteten, daß er gegen Melwas einschreite, und die ihn verachtet hätten, wenn er dieser Auseinandersetzung ausgewichen wäre. Er war es sich selbst schuldig, als Mann und als König. Die strenge Zurückhaltung, die er sich selbst bezüglich des Vorfalls mit der Königin auferlegt hatte, war ihm schwergefallen. Als er jetzt feststellte, daß ich ihm beipflichtete, ging er in wilder Freude an die Planung seines weiteren Vorgehens. Er hätte König Melwas natürlich unter einem Vorwand in den Ratssaal rufen können, aber dies wollte er nicht tun. «Wenn wir ihm so lange zusetzen, bis er selbst Klage führt, läuft es vor den Augen Gottes auf dasselbe hinaus», meinte er trocken, «aber vor meinem Gewissen - oder meinem Stolz, wenn du so willst - will ich in der Rundhalle keine falsche Anklage erheben. Der Ort muß als die Stelle 345
gelten, wo sich niemand zu fürchten braucht, vor mich hinzutreten, es sei denn, er selbst hat gefehlt.» Also setzten wir ihm zu. Da die Insel zwischen der Hochburg des Hochkönigs und dem Meer gelegen war, war es einfach, Anlässe dazu zu finden. Aus allerlei Gründen kam es ständig zu Auseinandersetzungen über Hafengebühren, freies-Durchfahrtsrecht, Abgaben und Steuern, die willkürlich auferlegt und ebenso hitzig abgelehnt wurden. Jeder der Kleinkönige wäre unter dem ständigen Strom kleiner Ärgernisse aufsässig geworden, doch Melwas protestierte noch schneller, als es die meisten getan hätten. Laut Bedwyr (dem ich einen Bericht über die Ratssitzung verdanke) war es von Anfang an klar, daß Melwas vermutete, er sei nur deshalb vor den König zitiert worden, um sich wegen der älteren, gefährlicheren Beschuldigung zu verantworten. Er schien bereit, dies auch zu tun, ließ aber natürlich kein Wort darüber fallen, denn dies hätte ihm durch den einmütigen Beschluß des Rats mit Sicherheit den Tod wegen Hochverrats eingetragen. So wurde in langwierigen Debatten über die Klagen wegen Abgaben und Zöllen, über die Auseinandersetzungen wegen der rechtmäßigen Abgabe als Ausgleich für den Schutz, den Camelot bot, gesprochen, während sich die beiden Männer aufmerksam beobachteten, wie es Kämpfer tun, und schließlich auf den Kern der Sache zu sprechen kamen. Es war Melwas, der einen Zweikampf vorschlug. Wie er auf diesen Gedanken kam, war nicht ganz klar; meiner Meinung nach hörte er nur wenig auf seine Ratgeber. Jung, draufgängerisch, ein guter Einzelkämpfer, hatte er wohl, da er sich in ernster Gefahr wußte, die Chance einer raschen, entscheidenden Lösung ergriffen, die ihm wenigstens einen gewissen Erfolg versprach. Vielleicht hatte er sich auch größere Hoffnungen gemacht. Schließlich kleidete er seine Herausforderung in die Worte: «Ich fordere eine Begegnung, um diese Angelegenheit hier auf der Stelle zu bereinigen; und Mann zu Mann, wenn wir jemals wieder ein gutes Nachbarschaftsverhältnis haben sollen! Ihr seid das Gesetz, König; nun beweist es mit Eurem Schwert!» 346
Es entstand ein Tumult, alle redeten durcheinander. Den Älteren unter den Anwesenden schien es undenkbar, daß der König sein Leben riskieren sollte, aber inzwischen ahnten alle, daß mehr auf dem Spiel stand als Hafengebühren, und die jüngeren Ritter waren offenkundig darauf erpicht, einen solchen Kampf zu sehen. Mehr als einer von ihnen (insbesondere Bedwyr) machten sich erbötig, Artus bei diesem Kampf zu vertreten, bis der König sich mit entschiedener Gebärde erhob. In der plötzlich eintretenden Stille schritt er zu dem runden Tisch, der in der Mitte des Saales stand, hob die Schrifttafeln auf, auf denen Melwas' Beschwerden verzeichnet waren, und schleuderte sie krachend auf den Boden. «Bringt mir mein Schwert», sagte er. *** Es war Mittag, als sie sich auf dem ebenen Platz in der Nordostecke von Caer Camel gegenübertraten. Der Himmel war wolkenlos, aber eine leichte Brise dämpfte die Hitze des Tages. Das Licht war gleichmäßig und gut. Am Rande des Platzes standen dichtgedrängt die Menschen, ebenso wie oben auf den Brustwehren. Auf einem der vergoldeten Türme von Camelot sah ich in ihren blauen und grünen und roten Gewändern eine Gruppe von Frauen, die sich hier versammelt hatten, um dem Kampf zuzusehen. Die Königin unter ihnen war in Weiß, Artus' Farbe, erschienen. Ich fragte mich, was sie wohl empfinden mochte, und konnte mir die gefaßte Haltung vorstellen, hinter der sie ihre Angst verbergen wollte. Dann kam der Trompetenstoß, und Stille trat ein. Die beiden Zweikämpfer waren mit Speeren und Schilden bewaffnet, außerdem trug jeder am Gürtel Schwert und Dolch. Artus verwendete nicht Caliburn, das königliche Schwert. An seiner Rüstung- leichter Helm und Lederwams - sah man keinerlei Schmuck oder Zierrat. Melwas war fürstlicher gekleidet, und er war ein wenig größer. Er machte einen grimmigen und entschlossenen Eindruck, und ich sah ihn einen Blick auf den Turm hinaufwerfen, wo die Königin stand. Artus hatte nicht hinauf geschaut. Er wirkte kühl und unendlich erfahren, während er anscheinend mit gespannter Aufmerksamkeit der offiziellen Ankündigung des Herolds lauschte. 347
An der einen Seite des Platzes wuchs eine Platane. Bedwyr stand neben ihr in ihrem Schatten; er sah mich prüfend an und stieß dann einen Seufzer der Erleichterung aus. «Ihr seid nicht besorgt. Dafür sei Gott Dank!» hörte ich Bedwyr sagen. «Es mußte auf diese Weise zu einem Ende kommen. Es ist das Beste. Wenn für ihn eine Gefahr bestanden hätte, wäre ich eingeschritten und hätte den Kampf verhindert.» «Trotz alledem ist es eine Torheit. Oh, ich weiß, daß er es so wollte, aber er sollte sich nie auf diese Weise in Gefahr begeben. Er hätte mich an seiner Stelle kämpfen lassen sollen.» «Und was für eine Figur hättest du abgegeben? Du bist noch immer lahm. Du hättest besiegt werden können, wenn es nicht noch schlimmer für dich ausgegangen wäre, und dann hätte die ganze Legende noch einmal von vorn angefangen. Das einfältige Volk glaubt noch immer, daß das Recht auf Seiten des Stärkeren liegt.» «So ist es auch heute, sonst würdet Ihr nicht tatenlos zusehen, ich weiß. Aber ich wünschte . . .»Er verstummte. «Ich weiß, was du dir wünschst. Ich glaube, dein Wunsch wird in Erfüllung gehen, nicht nur einmal, sondern oft, bevor das Ende deiner Tage kommt.» Er sah mich scharf an und wollte noch etwas sagen, aber dann wurde der Wimpel gesenkt. Der Kampf begann. Lange Zeit umkreisten sich die beiden Männer, die Speere wurfbereit, die Schilde in Bereitschaft. Das Licht benachteiligte keinen. Es war Melwas, der als erster angriff. Er machte ein Täuschungsmanöver und schleuderte dann mit großer Wucht seinen Speer. Artus' Schild blitzte auf und lenkte den Speer ab. Die Spitze glitt kreischend vom Schildbuckel ab, und der Speer blieb im Gras stecken. Melwas griff nach seinem Schwertknauf und sprang zurück. Aber Artus warf in demselben Augenblick, als er den Speer ablenkte, seinen eigenen. Dadurch begab er sich des Vorteils, den ihm Melwas' Wurf gegeben hatte; aber er zog sein eigenes Schwert nicht; er griff nach dem anderen Speer, der neben ihm im Boden steckte, zog ihn 348
heraus und wog ihn in der Hand; in diesem Augenblick wehrte Melwas, der seinen Schwertknauf losgelassen hatte, den Speer des Königs ebenfalls mit seinem Schild ab, drehte sich blitzschnell um und hob ihn auf. Jetzt standen sich beide Wieder mit dem Speer in der Hand gegenüber. v Aber Artus' Waffe, die kraftvoller geschleudert und grade noch pariert wurde, flog wirbelnd zur Seite, landete flach auf dem Boden und rutschte von Melwas weg. Es bestand keine Hoffnung, sie aufzuheben, bevor Artus werfen konnte. Melwas, den Schild in Bereitschaft, führte Scheinangriffe nach links und rechts aus und hoffte, den Speer des anderen doch noch zu gewinnen und damit seinen Vorteil zurückzuerhalten. Er griff nach der auf dem Rasen liegenden Waffe; er bückte sich an der Stelle, wo der Speer in einem Gewirr von Disteln lag. Artus hob den Arm, und die Spitze seines Speers blitzte in der Sonne auf. Melwas reagierte sofort, duckte sich und warf seinen Schild in die Wurflinie hinauf; gleichzeitig fuhr er herum, um die auf dem Boden liegende Waffe zu ergreifen. Aber die Bewegung des Königs war eine Täuschung gewesen; als sich Melwas nach der Seite bückte, um den anderen Speer zu fassen, traf ihn der Speer des Königs in den ausgestreckten Arm. Artus zog sein Schwert und folgte dem Speer. Melwas wankte. Als der Aufschrei der Menge von den Mauern widerhallte, gewann er neuerlich die Herrschaft über sich, ergriff den Speer und schleuderte ihn direkt auf den König. Hätte er nicht so schnell gehandelt, wäre Artus Sieger geblieben, bevor Melwas den Speer werfen konnte. Aber so traf Melwas ins Ziel, als der König den freien Raum zwischen ihnen schon zur Hälfte überwunden hatte. Artus fing den Speer mit seinem Schild auf, aber bei dieser kurzen Entfernung war die Wucht so groß, daß er ihn nicht ablenken konnte. Der lange Schaft fuhr im Halbkreis herum und bremste den Ansturm des Königs. Das Schwert noch in der rechten Hand, versuchte Artus, die Speerspitze aus dem Leder zu reißen, aber sie war dicht neben einem der Metallknöpfe eingedrungen und blieb dort durch ihre Widerhaken stecken. Er warf den Schild mit dem 349
Speer zur Seite und stürzte auf Melwas zu; dabei hatte er nichts außer dem Dolch in der linken Hand, um sich auf dieser Seite zu schützen. Der Ansturm gab Melwas keine Zeit, sich zu erholen und l einen Speer zum dritten Wurf zu fassen. Das Blut floß an seinem Arm herunter; er zog sein Schwert und begegnete dem Angriff des Königs, Leib an Leib; Metall prallte auf Metall. Der bisherige Kampfverlauf hatte keinem einen entscheidenden Vorteil gebracht: Melwas Verletzung, die seinen Schwertarm schwächte, wurde durch die ungeschützte Körperseite des Königs wieder ausgeglichen. Melwas war ein guter Kämpfer; er war schnell und sehr stark, und in den ersten Minuten des Handgemenges führte er jeden Hieb und jeden Stoß gegen die linke Seite des Königs. Aber jedesmal traf er auf Eisen. Und Schritt für Schritt drängte ihn der König zurück; Schritt für Schritt war Melwas gezwungen, vor dem Angriff zurückzuweichen. Das Blut rann herunter und schwächte ihn immer mehr. Soweit man sehen konnte, war Artus unverletzt. Er hielt den Druck aufrecht, die widerhallenden Schläge kamen schnell und hart, und der Klang von Hieb und Parade wiederholte sich laufend. Hinter Melwas lag der Speer auf dem Boden. Melwas wußte es, wagte aber nicht, sich umzusehen. Die Angst vor dem Fallen verlangsamte seine Bewegungen. Der Schweiß rann ihm vom Gesicht, und er begann, laut schnaubend zu atmen. Dann kam der Moment, wo die Männer Brust an Brust und Waffe an Waffe völlig still ineinander verkeilt standen. Rund um den Platz hielt die Menge den Atem an. Der König sprach, leise und kalt. Niemand konnte hören, was er sagte. Melwas gab keine Antwort. Eine kurze Pause trat ein, dann eine rasche Bewegung, ein plötzlicher Druck, ein Brummen von Melwas und irgendeine barsche Antwort. Dann löste sich Artus langsam von seinem Gegner und griff mit einem weiteren, leise gesprochenen Satz erneut an. Melwas' rechte Hand war von Blut verschmiert. Sein Schwert bewegte sich langsamer, als wäre es ihm zu schwer geworden. Sein Atem ging keuchend. Mit großer Anstrengung ließ er seinen Schild 350
wie eine Axt auf den König niederkrachen. Artus wich aus, rutschte aber auf dem Boden weg. Der Schildrand traf ihn an der rechten Schulter und mußte den Arm gefühllos gemacht haben. Sein Schwert flog weit zur Seite. Den Zuschauern entrang sich ein lauter Schrei. Melwas jubelte auf und schwang sein Schwert, um Artus den Garaus zu machen. Aber Artus, jetzt nur noch mit dem Dolch bewaffnet, sprang nicht zurück. Bevor jemand auch nur Atem holen konnte, stürzte er sich vorwärts, vorbei an dem Schild, und sein langer Dolch stieß in Melwas' Hals. Der Dolch blieb stecken; ihm folgten nur einige wenige Blutstropfen. Er führte keinen weiteren Stoß. Wieder sagte er etwas mit leiser Stimme. Melwas blieb versteinert stehen. Das Schwert entfiel seiner Hand. Der Schild fiel ins Gras. Der König zog den Dolch heraus und trat zurück. Langsam, angesichts der Menge, der Männer des Königs und seiner eigenen, und der Königin, die vom Turm aus zusah, kniete Melwas, König des Summer Country, auf dem blutbefleckten Gras von Artus nieder und ergab sich. Jetzt herrschte völlige Stille. Mit einer langsamen, fast feierlich anmutenden Bewegung hob der König seinen Dolch und warf ihn, mit der Spitze nach unten, auf den Boden, wo er zitternd steckenblieb. Dann sprach er wieder, diesmal sogar noch leiser als zuvor. Melwas antwortete ihm mit geneigtem Kopf. Sie sprachen einige Zeit miteinander. In derselben, feierlichen Art streckte der König schließlich die Hand aus und half Melwas beim Aufstehen. Dann rief er das Gefolge des Geschlagenen heran, wandte sich, als seine eigenen Leute herbeiströmten, um und schritt zum Palast davon. *** In späteren Jahren hörte ich verschiedenartige Schilderungen dieses Zweikampfes. Einige sagten, es sei Bedwyr gewesen, der gekämpft habe, und nicht Artus, aber das ist völliger Unsinn. Andere 351
behaupteten, es habe gar keinen Kampf gegeben, oder Melwas wäre mit Sicherheit erschlagen worden. Artus und Melwas, erklärten diese Leute, seien im Rat durch irgendeinen Vermittler zu einem Vergleich veranlaßt worden. l Das ist nicht wahr. Alles geschah so, wie ich es erzählt habe. Später erfuhr ich vom König, was zwischen den beiden Männern auf dem Kampfplatz gesprochen worden war; Melwas, der seinen Tod erwartete, wurde gezwungen, die Wahrheit der Anschuldigung, die von der Königin erhoben worden war, und seine eigene Schuld einzugestehen. Es stimmt, daß es für Artus nicht schwer gewesen wäre, ihn zu töten, aber Artus handelte - und dies geschah nicht auf Grund eines Ratschlages von mir - klug und beherrscht. Es ist eine Tatsache, daß ihm Melwas nach jenem Tag die Treue hielt und Ynys Witrin als Juwel in Artus' Krone galt. Es ist allgemein bekannt, daß die Schiffe des Königs keine Hafengebühren mehr entrichteten. 7 So ging das Jahr vorüber, und der bezaubernde Monat kam, der September, mein Geburtsmonat, der Monat des Windes und des Raben und der Monat des Myrddin, des Fahrenden zwischen Himmel und Erde. Die Apfelbäume trugen schwer an ihren Früchten, und die Heilkräuter wurden gesammelt und getrocknet; sie hingen in Garben und Büscheln von den Dachbalken in den Nebengebäuden von Applegarth, und der Vorratsraum war voll von in Reihen aufgestellten Krügen und Büchsen, die darauf warteten, angefüllt zu werden. Im ganzen Haus, im Garten, Turm und Wohngebäude duftete es lieblich nach Krautern und Obst und nach dem Honig, der aus den Bienenkörben quoll; sogar aus der hohlen Eiche am Ende des Obstgartens, wo die wilden Bienen hausten. Man hatte den Eindruck, daß sich in Applegarth innerhalb seiner eng gezogenen Grenzen die goldene Fülle des Sommers widerspiegelte. Sommer der Königin nannten die Menschen diese Jahreszeit, als die Ernte auf die Zeit des Heuens folgte und das Land noch in dem von der Göttin geschenkten Überfluß erglühte. Eine goldene Zeit, sagten die Menschen. Auch für 352
mich war es eine vergoldete Zeitspanne. Jetzt, wie nie zuvor, hatte ich Zeit zum Alleinsein. Und an den Abenden, wenn der Wind aus Südwest blies, konnte ich ihn im Gebein spüren und war dankbar für das Feuer. Jene Wochen des Hungers und der Einsamkeit, die ich in der kalten Bergluft von Kaledonien verbrachte, hatten mir ein Vermächtnis hinterlassen, das auch ein starker Körper nicht abschütteln konnte, und jene Zeit trieb mich unaufhaltsam dem Greisenalter zu. Und noch ein anderes Vermächtnis war mir geblieben; ob es eine schleichende Nachwirkung des Giftes der Morgause war oder von einer anderen Ursache herrührte - ich bekam jedenfalls von Zeit zu Zeit kurze Anfälle, die ich mit Fallsucht bezeichnet hätte, wenn diese nicht eine Krankheit gewesen wäre, die selten in späteren Jahren auftritt. Außerdem unterschieden sich die Symptome von denen, die ich früher bei anderen gesehen oder behandelt hatte. Solche Anfälle waren bis jetzt dreimal aufgetreten, und nur dann, wenn ich allein war; deshalb wußte niemand davon, außer mir selbst. Was geschah, war folgendes: Ich lag ruhig im Bett und war in eine Art von Schlaf versunken, wachte dann aber viele Stunden später - kalt und steif, schwach vor Hunger - wieder auf; ich hatte jedoch keine Lust, etwas zu essen. Beim ersten Mal handelte es sich um etwa zwölf Stunden, aber ich vermutete aufgrund des Schwindelgefühls und der Erschöpfung, die ich empfand, daß es kein normaler Schlaf gewesen sein konnte. Bei dem zweiten Vorfall vergingen zwei Nächte und ein Tag, und ich hatte noch Glück, daß mich die Krankheit überfiel, als ich geborgen im Bett lag. Ich erzählte niemandem davon. Als der dritte Anfall bevorstand, erkannte ich die Anzeichen: ein leicht hungriges Gefühl, etwas Schwindel und der Wunsch, zu ruhen und mit niemandem sprechen zu müssen. Deshalb schickte ich Mora nach Hause, verriegelte die Türen und begab mich in mein Schlaf gemach. Danach hatte ich ein Gefühl, wie es mich manchmal nach Zeiten der Prophetie überkommen hatte; es war, als ob ich schwebte, alle meine Sinne schienen gereinigt und sauber, als wären sie neu, Farben und Töne erschienen mir frisch und 353
leuchtend, wie sie einem Kind vorkommen müßten. Natürlich wandte ich mich um Rat an meine Bücher, da ich aber dort keine Hilfe fand, nahm ich die Angelegenheit hin, wie ich gelernt hatte, die Schmerzen der Prophetie als eine Berührung durch die Hand Gottes hinzunehmen. Vielleicht zog mich die Hand jetzt mehr an sich. Der Gedanke hatte nichts Beängstigendes für mich. Ich hatte getan, was er von mir gefordert hatte, und wenn die Zeit kam, würde ich bereit sein zu gehen. Aber er verlangte meiner Meinung nach von mir nicht, meine Selbstachtung zu opfern. Die Menschen sollten sich an den königlichen Seher und Zauberer erinnern, der sich zu gegebener Zeit aus dem Blickfeld der Menschen und dem Dienst an seinem König zurückzog; nicht an einen schwachsinnigen Greis, der zu lange auf seine Entlassung gewartet hatte. So lebte ich in meiner Abgeschiedenheit, machte mir im Garten und bei meinen Arzneien zu schaffen, ich schrieb und schickte lange Briefe an Blaise in Northumbrien; und zur gleichen Zeit versorgte mich das Mädchen Mora, dessen Kochkünste von Zeit zu Zeit durch eine Gabe von Artus' Tafel bereichert wurden. Auch ich brachte Geschenke auf den Weg; einen Korb mit besonders guten Äpfeln von einem der jüngeren Bäume; Elixiere und Medizinen; sogar Parfüms, die ich für die Königin zusammengebraut hatte; Krauter für die Küche des Königs. Lauter einfache Sachen, nach den erregenden Gaben der Prophetie und nach dem Sieg; aber irgendwie strömte aus ihnen der Friede und die besonnte Vergangenheit. Gaben der Liebe und der Zufriedenheit; jetzt hatten wir für beides Zeit. Es war in der Tat eine goldene Zeit, die durch keine dunkle Vorahnung verdüstert wurde; aber bei meiner Feinfühligkeit erkannte ich, daß irgendein Wandel bevorstand; es war nichts, vor dem ich mich fürchten mußte, aber es schien mir ebenso unausweichlich zu sein, wie der Fall des Laubes im Herbst und das Heraufkommen de s Winter s. Ich machte mir keine Gedanken, worum es sich handeln könnte. Ich war wie ein Mensch, der sich allein in einem leeren Raum befindet, zwar mit sich selbst zufrieden, aber auf Geräusche, die von jenseits der geschlossenen Tür hereindringen, hört und mit halben Herzen 354
wartet, daß jemand hereinkommen möge, obwohl er im tiefsten Innern weiß, daß dieser Jemand nicht erscheinen wird. Aber er erschien. Er kam an einem herrlichen Abend etwa um die Mitte des Monats. Der Vollmond war wie ein Geist lange vor dem Sonnenuntergang aufgegangen. Er hing hinter den Zweigen der Apfelbäume wie eine große Laterne; sein Licht nahm langsam etwas Wächsernes an, und als der Himmel dunkler wurde, bekam er einen Anflug von Gold und Aprikosenfarbe. Ich war im Vorratsraum und zerkrümelte einen Haufen getrockneten Ysops. Die Krüge standen bereit. Im Raum duftete es nach Ysop und den Äpfeln und Pflaumen, die auf den Regalen zum Reifen ausgelegt waren. Ein paar späte Wespen summten, und ein durch die Zimmerwärme angezogener Schmetterling preßte seine bunten Flügel gegen den Stein des Fensterrahmens. Ich hörte leichte Schritte hinter mir und drehte mich um. Man nennt mich Magier, und das ist auch die Wahrheit. Aber weder erwartete ich sein Kommen, noch hörte ich ihn, bis ich ihn, angestrahlt vom Gold des Mondes, dort in der Abenddämmerung stehen sah. Er hätte ein Geist sein können, deshalb blieb ich wie gebannt stehen und starrte ihn an. Ich hatte oft an jene Begegnung im Nebel der Uferlandschaft gedacht, aber nie als an etwas Wirkliches; je größer die Mühe wurde, mich daran zu erinnern, um so stärker verschwamm die Begegnung in einem Traum, in etwas Eingebildetem, in einer Hoffnung.. Jetzt war der leibhaftige Knabe hier; sein Gesicht war gerötet, und er lächelte, aber er schien sich nicht ganz wohl zu fühlen, als wäre er nicht sicher, ob er willkommen sei. Er hielt ein Bündel in der Hand, das wohl seine Habseligkeiten enthielt. Er war in Grau gekleidet und trug einen Mantel in der Farbe des Buchenknospen. Er hatte keine Waffen bei sich. Er begann: «Ich glaube nicht, daß Ihr Euch an mich erinnert, aber -» «Warum denn nicht? Du bist der Knabe, der nicht Ninian ist.» «Doch, der bin ich. Ich meine, Ninian ist einer meiner Namen.» 355
«Ich verstehe. Als ich dich anrief -» «Ja. Als Ihr zu mir spracht, glaubte ich, Ihr müßtet mich kennen; aber dann - als Ihr sagtet, wer Ihr seid - wußte ich, daß Ihr Euch geirrt hattet, und so fürchtete ich mich. Es tut mir leid. Ich hätte Euch gleich die Wahrheit sagen müssen, statt einfach davonzurennen. Es tut mir leid.» «Aber als ich dir sagte, ich möchte dich meine Kunst lehren und als ich dich fragte, ob du zu mir kommen wolltest, erklärtest du dich einverstanden. Warum?» Seine Fingergelenke schimmerten weiß, als er mit den Händen das Bündel umklammerte. Er stand noch auf der Schwelle, als wolle er jeden Augenblick wieder davonlaufen. «Das war . . . Als Ihr sagtet, daß er - jener andere Knabe -jene Art von menschlichem Wesen gewesen sei, das von Euch hätte lernen können. . . Ihr hättet es seit langem gefühlt, sagtet Ihr, und er habe es auch gewußt.» Er schluckte. «Ich glaube, daß es auch mir so erging. Ich habe mein ganzes Leben lang das Gefühl, daß es in meinem Herzen Türen gibt, die sich dem Licht öffnen könnten, wenn ich nur den Schlüssel finden würde.« Er brach ab, hielt aber meinen Blick fest. «Ja?» Ich baute ihm keine goldene Brücke. «Als Ihr dann so zu mir spracht, war mir plötzlich, als habe sich ein Traum erfüllt. Merlin sprach mich bei meinem Namen an und bot mir diesen Schlüssel. . . Auch trotz der Tatsache, daß Ihr mich für jemand anderen, der gestorben war, gehalten hattet, kam mir der unwahrscheinliche Gedanke, daß ich vielleicht zu Euch kommen und den Platz dieses anderen einnehmen könnte . . . Dann merkte ich natürlich, wie töricht es war, ausgerechnet Euch täuschen zu wollen. Deshalb wagte ich nicht, zu kommen.» «Aber jetzt hast du es gewagt.» «Ich mußte.» Es klang, als konstatiere er nur eine Tatsache. «Ich habe seit jener Nacht an nichts anderes mehr denken können. Ich fürchtete mich, weil. . . Ich fürchtete mich, aber es gibt Dinge, die man einfach tun muß; sie lassen einen nicht mehr los; es ist, als werde man gehetzt. Könnt Ihr das verstehen?» 356
«Sehr gut.» Es fiel mir schwer, meiner Stimme einen gleichmäßigen und ernsten Ton zu verleihen. Sie mußte irgendeinen Klang in sich gehabt haben, denn ich hörte ganz schwach aus dem Oberstock die Antwort meiner Harfe. Er hatte nichts gehört. Er bot mir die Stirn und zwang sich in die Rolle des Bittstellers. «Jetzt kennt Ihr die Wahrheit. Ich bin nicht der junge Mann, den Ihr kanntet. Von mir wißt Ihr nichts. Was ich auch empfinde, hier in mir selbst» - er rührte eine Hand, als wolle er sie sich auf die Brust legen, aber dann umklammerte er wieder sein Bündel - «vielleicht haltet Ihr mich nicht für würdig, Euer Schüler zu werden. Ich erwarte gar nicht, daß Ihr mich aufnehmt oder mir Eure Zeit schenkt. Aber wenn Ihr es tätet - wenn Ihr mich hier nur wohnen ließet, damit ich Euch irgendwie helfen könnte - bei einer Arbeit wie dieser hier» - er warf einen Blick auf den Ysop -«bis Ihr vielleicht erkennt...» Er stockte und verstummte gänzlich. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und sah mich an. Ich senkte den Blick und wandte mich ab, um die Freude zu verbergen, die ich in meinen Wangen aufsteigen fühlte. Ich stieß die Hände tief in die duftenden Krauter und rieb die trockenen Blätter zwischen den Fingerspitzen. Der starke Duft des Ysop stieg auf und beruhigte mich. Zu den Kräuterkrügen gewandt, sagte ich langsam: «Als ich dich an dem See anrief, hielt ich dich für einen Knaben, mit dem ich viele Jahre zuvor gen Norden gereist war und der einen Charakter hatte, der mich ansprach. Er starb, und seither habe ich seinen Tod betrauert. Als ich dich sah, glaubte ich, ich hätte mich geirrt und er lebe noch; aber als ich genug Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, wußte ich, daß er jetzt nicht mehr ein Knabe, sondern ein erwachsener Mann sein müßte. Du könntest sagen, es sei ein törichter Irrtum gewesen. Ich falle solchen Irrtümern im allgemeinen nicht anheim, aber zur damaligen Zeit sagte ich mir, dieser Irrtum entstamme der Übermüdung, dem Gram und der Hoffnung, die noch in mir lebendig war, er würde eines Tages zu mir zurückkehren.» Ich hielt inne. Er sagte nichts. Der Mond war aus dem Fensterrahmen weggewandert, und die Tür, in der der 357
Knabe stand, lag fast in Dunkelheit. Ich wandte mich ihm wieder zu. «Ich hätte wissen müssen, daß es kein Irrtum war. Es war die Hand des Gottes, die dich mir über den Weg führte und dich jetzt zu mir getrieben hat, trotz deiner Furcht. Du bist nicht der Knabe, den ich einmal kannte, aber wenn du nicht der wärst, der du bist, hätte ich dich mit Sicherheit nicht gesehen, geschweige denn, mit dir gesprochen. Jene Nacht war voll starker Magie. Ich hätte daran denken und dem Zauber trauen sollen.» Er sagte eifrig: «Auch ich habe es gespürt. Man konnte die Sterne wie Frost auf der Haut fühlen. Ich war hinausgegangen, um Fische zu fangen . . . aber ich ließ sie in Frieden. Es war keine Nacht für den Tod, auch nicht für einen Fisch.»Ich sah ihn lächeln, aber als er Luft holte, schien er unsicher geworden zu sein. «Ihr meint, ich darf bleiben? Werde ich es schaffen?» «Du wirst es schaffen.» Ich hob die Finger vom Ysop und ließ die Krümel wieder auf das Tuch zurückfallen; dann staubte ich den Rest von den Fingerspitzen. «Wer von uns wird nach allem, was geschehen ist, noch wagen, den Gott zu ignorieren, der uns vorantreibt? Du brauchst mich nicht zu fürchten. Du bist herzlich willkommen. Ich werde dich zu gegebener Zeit darauf hinweisen, auf welch schwere Aufgabe du dich einläßt und daß ein dornenreicher Weg vor dir liegt, aber in diesem Augenblick will ich nichts sagen, das dich wieder verschrecken könnte. Komm herein und laß dich anschauen.» Während er mir gehorchte, hob ich die unangezündete Lampe vom Regal. Der Docht fing Feuer durch den Luftzug und flammte auf. Im vollen Lichtschein wußte ich sofort, daß ich ihn nie mit dem Knaben des Goldschmieds hätte verwechseln können. Aber er sah jenem anderen sehr ähnlich. Er war um eine Daumesbreite größer, und sein Gesicht war nicht ganz so schmal. Seine Haut war zarter, und die feingliedrigen Hände ließen erkennen, daß er niemals Sklavenarbeit verrichtet hatte. Seine Haare waren die gleichen - eine dichte, dunkle Mähne, die bis kurz über die Schultern zurückgeschnitten war. Sein Mund glich dem des anderen so sehr, daß ich mich wieder hätte täuschen 358
lassen können; er zeigte jene sanften, träumerisch anmutenden Linien, hinter denen sich meines Erachtens große Festigkeit, sogar Hartnäckigkeit verbargen. Der junge Ninian hatte auf seine stille Art und Weise über alles hinweggesehen, das er nicht zur Kenntnis nehmen wollte; die Lehrvorträge seines Herrn schienen ihm Schall und Rauch zu sein, während er Zuflucht in seiner eigenen Gedankenwelt suchte. Hier erkannte ich dieselbe weiche Hartnäckigkeit, und in diesen Augen lag auch derselbe halb geistesabwesende, verträumte Blick, der die Außenwelt ebenso wirkungsvoll wie geschlossene Augenlider verbannen konnte. Die Augen waren grau, die Iris hatte einen schwarzen Rand und besaß die Klarheit des Seewassers. Ich stellte später fest, daß diese Augen ebenso wie das Seewasser Farben widerspiegeln konnten und je nach Stimmung grün oder blau oder schwarz wirkten. Jetzt beobachteten sie mich mit einer Mischung aus Faszination und Angst. «Die Lampe?» sagte ich. «Hast du noch nicht gesehen, wie das Feuer herbeigerufen wird? Schön, das ist eines der ersten Dinge, die du lernen wirst; es war das erste, was mein eigener Lehrer mir beigebracht hat. Oder sind es die Krüge? Du siehst sie an, als glaubtest du, ich wollte sie mit Gift anfüllen. Ich war gerade dabei, die Gartenkräuter für den Winter aufzubewahren.» «Ysop», sagte er. Mir war, als sähe ich einen Anflug von Schalk in seinen Augen; bei einem Mädchen hätte ich vielleicht von Geziertheit gesprochen. <«Bei Halsentzündungen mit Schwefel zu verbrennen; oder bei Brustfellentzündung mit Honig abzukochen. >» Ich lachte. «Galen? Mir scheint, wir haben bereits einen guten Anfang gemacht. Du kannst also lesen? Weißt du eigentlich -? Nein, das muß bis morgen warten. Im Augenblick- hast du etwas zu Abend gegessen?» «Ja, vielen Dank.» «Du sagtest, Ninian sei <einer deiner Namen>. Wie willst du genannt werden?» « genügt. . . das heißt, Ihr möchtet das Wort wohl lieber nicht benutzen. Was ist aus dem Knaben geworden, den Ihr kanntet? Sagtet Ihr nicht, er sei ertrunken?» 359
«Ja. Wir waren bei Corstopitum, und er ging mit einigen anderen Knaben zum Schwimmen in den Fluß neben der Brücke, wo der Cor in den Tyne fließt. Sie kamen zurückgelaufen und sagten, er sei weggeschwemmt worden.» «Es tut mir leid.» Ich lächelte ihm zu. «Du wirst hart arbeiten müssen, um seinen Verlust wiedergutzumachen. Komm jetzt, Ninian, wir müssen einen Schlafplatz für dich finden.» *** So gewann ich meinen Gehilfen, und der Gott seinen Diener. Er hielt die ganze Zeit über die Hand über uns beide. Jetzt scheint mir, daß der erste Ninian nur ein Vorläufer - ein Schatten - des echten Ninian war, der vom See her später zu mir kam. Von Anfang an wurde offenkundig, daß der Instinkt uns beide nicht getrogen hatte; der Ninian des Sees erwies sich, obwohl er noch wenig von meinen Kunstfertigkeiten verstand, als gelehriger Schüler. Er hatte eine rasche Auffassungsgabe und nahm Wissen und Kunst so gründlich in sich auf, wie ein Tuch klares Wasser aufsaugt. Er konnte fließend lesen und schreiben, und obwohl er nicht wie ich in meiner Jugend eine ausgeprägte Sprachbegabung besaß, sprach er ein reines Latein ebenso wie die lateinische Umgangssprache und hatte sich genügend Griechisch angeeignet, um ein Etikett lesen zu können oder ein Rezept genau zu verstehen. Er habe einmal, erzählte er mir, Zugang zu einer Übersetzung des Galen gehabt, aber von Hippokrates wußte er außer Hörensagen nichts. Ich ließ ihn die in meinem Besitz befindliche lateinische Version lesen und hatte bis zu einem gewissen Grade das Gefühl, selbst wieder in die Schule zu gehen, denn er stellte mir viele Fragen, deren Antworten ich seit langer Zeit für so selbstverständlich hielt, daß ich inzwischen vergessen hatte, wie diese Antworten zu begründen waren. Von Musik verstand er nichts und wollte sie auch nicht erlernen; bei dieser Gelegenheit erlebte ich zum ersten Mal seine sanfte aber unverrückbare Unbeugsamkeit. Mit verträumtem Gesichtsausdruck hörte er mir zu, wenn ich spielte oder sang; aber selbst wollte er nicht singen, es nicht einmal probieren; und nach einigen Versuchen, ihn 360
die Noten auf der großen Harfe zu lehren, gab ich es auf. Es wäre mir lieb gewesen, wenn er eine Stimme gehabt hätte; ich hätte es zwar nicht geschätzt, wenn ein anderer auf meiner 'Harfe spielte, aber jetzt, im Alter, war meine eigene Stimme nicht mehr so gut wie früher, und ich hätte gern eine jüngere Stimme die Gedichte vorsingen lassen, die ich schrieb. Aber nein. Er lächelte, schüttelte den Kopf, stimmte die Harfe für mich ( das konnte er und war auch bereit dazu) und lauschte meinem Gesang. Aber auf allen anderen Gebieten war er eifrig bemüht und lernte rasch. Ich versuchte, mich nach besten Kräften an die Methode zu erinnern, mit der mich der alte Galapas, mein Meister, in die Künste der Magie eingeführt hatte und nahm ihn, Schritt für Schritt, mit in die seltsamen und nebligen Gefilde dieser Kunst. Das besaß er bereits bis zu einem gewissen Grade; aber im Gegensatz zu mir, der ich meinen Meister schon bald übertroffen hatte, würde Ninian zufrieden sein müssen, wenn er es zu gegebener Zeit mit mir gleichtun konnte, und die Verästelungen der Prophetie waren für ihn noch immer ein unbekanntes Gebiet. Wenn er nur halb so weit wie ich gelangen würde, konnte er zufrieden sein. Wie alle alten Menschen konnte ich nicht glauben, daß dieser junge Verstand und dieser zarte Körper den Strapazen widerstehen würde, denen ich so oft widerstanden hatte. Ich half ihm, wie Galapas es bei mir getan hatte, mit gewissen, ungefährlichen Drogen, und schon bald hatte er Gesichte im Feuer oder in der Lampe und wachte hinterher aus der Vision ermüdet und manchmal auch beunruhigt über das, was er gesehen hatte, wieder auf. Vorläufig konnte er die Realität mit der Vision noch nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Ich leistete ihm dabei keine Hilfe; und es geschahen in jenen friedvollen Monaten seiner Lehrlingszeit auch nur wenige Dinge, die bedeutsam genug gewesen wären, um Anlaß zu prophetischen Einsichten zu bieten. Ein paarmal sprach er mit mir beinahe etwas verwirrt über die Königin, über Melwas, Bedwyr und den König, aber ich schob die Visionen als zu undeutlich beiseite und ging ihnen nicht weiter nach.
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Er weigerte sich beharrlich, mit mir über sich selbst oder über seine Herkunft zu sprechen. Er habe den größten Teil seines Lebens, sagte er, auf oder bei der Insel gelebt und erweckte bei mir den Eindruck, seine Eltern seien arme Siedler in einem der benachbarten Dörfer gewesen. Er nannte sich Ninian vom See und meinte, das sei genug; und als solchen akzeptierte ich ihn. Seine Vergangenheit war schließlich ohne Bedeutung; was aus ihm einmal werden sollte, würde mein Werk sein. Ich drängte ihn nicht; als uneheliches Kind ohne Vater kannte ich die Schande, wenn man vor solche Fragen gestellt wird; deshalb respektierte ich das Schweigen des Knaben und stellte keine weiteren Fragen, außer er war bereit, von sich aus mit mir zu sprechen. Er interessierte sich für die praktische Seite der Heilkunst, das Studium der Anatomie und die Verwendung von Arzneien; und in diesen Fächern war er gut. Er konnte auch sehr geschickt zeichnen, was mir nie gegeben war. In diesem ersten Winter begann er aus reiner Freude an der Arbeit, ein Pflanzenbuch der einheimischen Heilkräuter zusammenzustellen, obwohl das Suchen und Identifizieren der Pflanzen, was über die Hälfte der ärztlichen Kunst ausmacht, zum großen Teil bis zum Frühjahr würde warten müssen. Aber es bestand keine Eile. So verging der Winter im Gefühl glücklicher Zufriedenheit; jeder Tag war zu kurz, um all unsere Vorhaben auszuführen. Ninians Gesellschaft bedeutete mir alles; ich durchlebte wieder meine eigene Jugend, in der ich erpicht gewesen war, möglichst viel zu lernen und in der sich mir ein Leben voll glänzender Aussichten eröffnet hatte; und gleichzeitig genoß ich das Denken in Stille und Einsamkeit. Er schien zu spüren, wenn ich allein sein wollte, und zog sich dann entweder in sein Zimmer zurück oder verstummte, wobei er offenbar irgendwelchen tiefen Gedanken nachhing und mich der Pflicht entband, mich geistig mit ihm zu befassen. Er wollte das Haus nicht mit mir teilen und meinte, es sei ihm lieber, seine eigenen Räume zu haben, wo er mich nicht störte; deshalb ließ ich Mora die Zimmer im Obergeschoß für ihn herrichten, wo das Dienstpersonal untergebracht worden wäre, 362
hätte jemand ständig bei mir gewohnt. Die Zimmer lagen über der Werkstatt und dem Vorratsraum; sie gingen nach Westen, und obwohl klein und niedrig unter den Dachbalken, waren sie bequem und leicht zu lüften. Ich fragte mich zunächst, ob Mora und er zu irgendeiner Übereinkunft gekommen seien; sie redeten oft lange Zeit miteinander in der Küche oder unten am Bach, wo das Mädchen einen Teil der Wäsche wusch; ich hörte die beiden lachen und merkte, daß sie unbefangen miteinander umgingen; aber es gab kein Anzeichen intimer Beziehungen, und bald erkannte ich, daß Ninian von der Liebe ebensowenig verstand wie ich. Aus der Art, wie die Kraft beinahe greifbar von Woche zu Woche in ihm wuchs, hielt ich diese Tatsache nur für natürlich. Die Götter schenken nicht zwei Gaben zur selben Zeit, und sie sind eifersüchtig. *** Im nächsten Jahr kam der Frühling schon zeitig, mit milden, sonnigen Tagen im März, und täglich flogen die Wildgänse zu ihren Nistplätzen im Norden über uns hinweg. Ich zog mir eine leichte Erkältung zu und blieb im Haus, aber eines schönen Tages ging ich doch hinaus und setzte mich in den kleinen Innenhof, wo die Tauben bereits mit dem Turteln begonnen hatten. Durch die beheizten Mauern war es hier so angenehm wie neben dem Kamin; rosarote Quittenknospen schimmerten vor den Steinen, und die Winteriris war am Fuß der Mauer schon voll herausgekommen. In den Gärten jenseits der Stallungen konnte ich Varro beim Umgraben hören und überließ mich den Gedanken an die Bepflanzung, die ich geplant hatte. Nur ganz vage, angenehme häusliche Vorhaben beschäftigten mich; ich erkannte den rosa Schimmer auf den Brustfedern der Tauben und hörte ihr einschläferndes Gurren . . . Rückschauend fragte ich mich später, ob mir meine Krankheit für eine kurze Stunde das bewußte Erleben der Gegenwart genommen hatte. Eine solche Vorstellung wäre mir nicht unangenehm gewesen. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß diese Krankheit mit meinem Alter zusammenhing und daß die Schwäche eine Folge der Erkältung und der einlullenden Wirkung innerer Zufriedenheit war. 363
Schnelle Schritte auf einer Steintreppe schreckten mich auf. Ich hob den Blick. Ninian kam eilends von seinem Zimmer heruntergelaufen, aber mit unsicheren Schritten, als wäre er es und nicht ich, der halb benommen oder sogar krank wäre. Er hielt eine Hand gegen die Steinmauer, als suche er nach einem Halt. Noch immer unsicher auf den Beinen, überquerte er die Kolonnade und trat in die Sonne hinaus. Dort blieb er stehen und stützte sich mit der Hand an einem Pfeiler. Sein Gesicht war bleich; er hatte die Augen weit aufgerissen, und die schwarzen Pupillen schienen die Iris zu verdecken. Seine Lippen wirkten trocken, aber es lag Feuchtigkeit auf seiner Stirn, und zwei scharfe, von Schmerzen gezeichnete Linien prägten sich zwischen seine Augenbrauen ein. «Was ist los?» Alarmiert begann ich, auf die Füße zu kommen, aber er streckte eine Hand aus, um mich zu beruhigen, und trat dann näher. Er sank auf den Fliesen zu meinen Füßen nieder. «Ich habe einen Traum gehabt», sagte er, und sogar seine Stimme klang fremd. «Nein, ich war nicht eingeschlafen. Ich las neben dem Fenster. Dort war ein Spinnennetz, das von der letzten Nacht noch voller Regentropfen hing. Ich beobachtete es, als es im Sonnenlicht leise zitterte ...» Da begriff ich. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: «Bleib einen Augenblick ruhig sitzen. Du wirst den Traum nicht vergessen. Warte hier. Du kannst mir alles später erzählen.» Aber als ich aufstand, griff er nach meinem Gewand. «Ihr versteht mich! Es war eine Warnung! Ich bin überzeugt davon! Von irgendwoher droht Gefahr...» «Ich verstehe sehr gut. Aber solange die Kopfschmerzen nicht vergangen sind, wirst du dich an nichts deutlich erinnern. Warte jetzt. Ich bin gleich wieder zurück.» Ich ging in den Vorratsraum. Bei der Mischung des Stärkungsmittels konnte ich an nichts anderes als an ihn denken, wie er dort saß, nachdachte und las, und wie ihm in dem Aufblitzen eines Tautropfens diese Vision zuteil geworden war. Ich, der ich im hellen Sonnenschein nur so dagesessen hatte, hatte nichts gesehen. Ich stellte 364
fest, daß meine Hand ein wenig zitterte, als ich den Trunk für ihn eingoß; ich bedurfte der Liebe, dachte ich bei mir, um ruhig beiseite zu treten und mitanzusehen, wie der Gott seine Schwinge von mir auf diesen anderen übertrug. Es spielte keine Rolle, ob die Kraft auch Schmerz und die Furcht der Menschen und manchmal sogar Haß heraufbeschworen hatte. Niemand, der eine solche Kraft besessen hat, wünscht, sie an einen anderen abzutreten. Jedenfalls nicht an einen beliebigen anderen. Ich trug den Becher hinaus in die Sonne. Ninian hockte noch mit gesenktem Kopf auf den Fliesen und drückte sich eine Faust gegen die Stirn. Er wirkte sehr jung und irgendwie zerbrechlich. Er hob den Kopf, als er mich kommen hörte, und die unter Tränen verschwimmenden grauen Augen sahen mich blind an. Ich setzte mich, nahm seine Hand und führte ihm den Becher an den Mund. «Trink dies. Du wirst dich gleich besser fühlen. Er trank, dann senkte sich sein Kopf wieder, diesmal gegen mein Knie. Ich legte ihm die Hand auf den Kopf. Einige Zeit blieben wir so sitzen, während die Tauben, durch sein Erscheinen aufgeschreckt, zur Mauer hinunterflogen und leise vor sich hingurrten. Hinter den Stallungen war das monotone Geräusch von Varros Spaten zu hören. Plötzlich regte sich Ninian. Ich hob meine Hand. «Besser?» Er nickte und hob den Kopf. Die Zeichen des Schmerzes waren vergangen. «Ja. Ja. Es ist ganz weg. Es war mehr als ein Kopfschmerz; es war, als hätte ich einen Stich mitten durch das Gehirn erhalten. Ich habe noch nie ein derartiges Gefühl erlebt. Bin ich krank?» «Nein. Du bist ein Seher, Auge und Stimme für einen höchst herrischen Gott. Du hast einen Wachtraum gehabt, den man eine Vision nennt. Erzähle mir jetzt davon, und wir werden sehen, ob es eine echte Vision gewesen ist.» Er zog die Knie an und umklammerte sie mit beiden Händen. Er sprach und schaute dabei auf die Mauer mit den schwarzen Ästen und roten Knospen der Quitte. Seine unter dem Eindruck der Vision 365
geweiteten Augen wirkten dunkel, und seine Stimme klang tief und gleichmäßig, als ob er etwas auswendig Gelerntes aufsagte. «Ich sah ein graues Meer, und der Sturm peitschte das Wasser mit weißen Schaumkronen über die Felsen. Da war ein steiniger Strand, ebenfalls grau und vom Regen überströmt. Die Wogen überspülten den Strand und schwemmten zerbrochene Sparren und Fässer und zerfetzte Segel -Wracktrümmer - ans Ufer. Und Menschen; Leichen ertrunkener Männer und Frauen. Der Leichnam eines Mannes rollte in meiner Nähe hin und her, und ich sah, daß der Mann nicht ertrunken war; im Nacken hatte er eine tiefe Wunde, aber das Blut war durch das Meer weggespült worden. Er sah aus wie ein Tier, das verblutet war. Da waren auch tote Kinder, drei an der Zahl. Eines war nackt; es war mit einem Speer durchbohrt worden. Dann sah ich draußen jenseits der Brandung ein weiteres Schiff, ein intaktes Boot; seine Segel waren gerefft, und die Besatzung hielt es mit den Rudern gegen den Wind. Das Boot schien dort draußen zu warten, und ich sah, daß es tief im Wasser lag, als wäre es schwer beladen. Es hatte einen hoch aufragenden Bug, an dem ein Hirschgeweih befestigt war; ich konnte nicht sehen, ob es ein echtes Geweih oder nur eine Holzschnitzerei war. Aber ich konnte den Schiffsnamen erkennen: er lautete King Stag. Die Männer an Bord sahen lachend zu, wie die Leichen ans Ufer geschwemmt wurden. Sie waren zwar ziemlich weit draußen, aber ich konnte ganz deutlich verstehen, was sie sagten . . . Könnt Ihr das glauben?» «Ja. Fahr fort.» «Sie sagten: Sie sprachen zum Kapitän.» «Konntest du seinen Namen verstehen?» «Ich glaube, ja. Sie nannten ihn .» «War das alles?» «Nein. Dunkelheit fiel herein wie ein dichter Nebel. Dann war die King Stag verschwunden, aber in meiner Nähe am Ufer waren plötzlich Berittene, und einige waren abgesessen und betrachteten die Toten. Ein Mann hob eine gebrochene Schiffsplanke hoch, auf der 366
etwas geschrieben stand, das der Name des untergegangenen Schiffes sein konnte; er trug das Stück zu einem anderen Mann, der noch zu Pferde saß. Es war ein dunkelhaariger Mann, der kein erkennbares Abzeichen trug, aber er war offensichtlich der Anführer. Er schien zornig zu sein. Er sagte etwas, und die anderen saßen wieder auf und galoppierten durch die Dünen und das hohe Seegras landeinwärts davon. Ich blieb allein zurück, und dann waren auch plötzlich die Toten verschwunden, und der Wind blies mir ins Gesicht, so daß meine Augen tränten. .. Das war alles. Ich richtete den Blick auf das Spinnennetz, auf dem die Tropfen in der Sonne getrocknet waren. Eine Fliege hatte sich dort verfangen und brachte das Netz zum Zittern. Ich glaube, das hat mich aufgeweckt. Merlin...» Er brach unvermittelt ab und neigte lauschend den Kopf. Jetzt konnte ich von der Straße weiter unten Pferdegetrappel und ein Haltesignal hören. Ein einzelner Reiter löste sich von der Gruppe und kam in rascher Gangart näher. «Ein reitender Bote von Camelot?» sagte ich. «Wer weiß, vielleicht hängt dies mit deiner Vision zusammen.» Das Pferd kam zum Stehen. Ich hörte das Klirren der Zügel, die Varro zugeworfen wurden. Artus trat durch den Torbogen ein. «Merlin, ich freue mich, daß du auf den Beinen bist. Man hat mir gesagt, du seist krank. Deshalb bin ich hergekommen, um selbst nach dir zu sehen.» Er hielt inne und sah Ninian an. Er wußte natürlich, daß der Knabe bei mir war, aber sie waren sich noch nicht begegnet. Ninian hatte sich geweigert, mit mir nach Camelot zu reiten, und jedesmal, wenn der König mich besuchte, hatte er sich mit irgendeiner Entschuldigung auf sein Zimmer zurückgezogen. Ich war nicht in ihn gedrungen, da ich die ehrfürchtige Scheu kannte, die dem Hochkönig von der Dorfbevölkerung entgegengebracht wurde. Ich hatte mich erhoben und wollte gerade sagen: «Dies ist Ninian», als mir der Knabe ins Wort fiel. Er sprang mit einer raschen Bewegung auf die Füße und rief: «Das ist der Mann! Das ist er! Es war also ein wahrer Traum, ein wahrer Traum!» 367
'Artus zog die Augenbrauen in die Höhe, und zwar nicht, wie ich wußte, wegen des Mangels an Ehrerbietung, sondern wegen der Worte. Sein Blick wanderte von Ninian zurück zu mir. «Ein wahrer Traum?» Er sprach die Worte ganz leise aus. Er kannte den Ausdruck seit alters her. Ich hörte Ninian einen unterdrückten Schrei ausstoßen, als sei er plötzlich durch den Vorhang der Vision in die Gegenwart zurückgekehrt. Er blinzelte mit den Augen, wie jemand, der plötzlich ins helle Tageslicht versetzt worden ist. «Es ist der König. Es war also der König.» Artus sagte jetzt in scharfem Ton: «Was war also der König?» Ninian errötete und begann zu stammeln: «Nichts. Das heißt, ich sprach gerade mit Merlin. Ich habe Euch zuerst nicht erkannt. Ich...» «Lassen wir das. Du kennst mich jetzt. Was hat es mit diesem wahren Traum für eine Bewandtnis?» Ninian sah mich hilfesuchend an. Mir seinen Traum zu erzählen war etwas anderes, als angesichts des Königs seine erste Prophetie zu verkünden. Ich sagte, an ihm vorbei, zum König: «Es hat den Anschein, daß ein alter Freund von dir sich der Seeräuberei oder anderen Schurkereien in den heimatlichen Gewässern verschrieben hat. Mord und Raub, und friedliche Handelsschiffe werden ausgeplündert und dann versenkt, und niemand bleibt am Leben, um davon zu berichten.» Er runzelte die Stirn. «Ein alter Freund von mir? Wer denn?» «Heuil.» «Heuil?» Sein Gesicht verdunkelte sich. Dann blieb er einige Augenblicke nachdenklich stehen. «Ja, das paßt. Es paßt. Ich hatte vor einiger Zeit Nachricht von Ector. Er sagt, Caw gehe es sehr schlecht, und seine wilde Brut halte wie ein Rudel streunender Hunde Ausschau nach etwas, was sie in Stücke reißen könnten. Dann erfuhr ich vor drei Tagen von Urbgen, dem Gemahl meiner Schwester in Rheged, daß ein Dorf an der Küste überfallen und geplündert worden sei; die Bewohner seien entweder getötet worden oder waren in alle Winde 368
verstreut. Er schien den Iren die Schuld zu geben, aber ich habe das bezweifelt; das Wetter ist zu schlecht für alle Unternehmungen, die nicht örtlich begrenzt sind. Heuil, nicht wahr? Das überrascht mich nicht. Soll ich gehen?» «Mir scheint es das Beste zu sein. Ich vermute, daß Caw entweder tot ist oder im Sterben liegt. Ich kann nicht glauben, daß es Heuil sonst wagen würde, sich mit Rheged anzulegen.» «Ist das deine Vermutung?» «Ja, das ist alles.» Er nickte. «Wahrscheinlich ist es so. Jedenfalls paßt mir die Sache in mein Konzept. Ich hatte bereits daran gedacht, irgendeinen Vorwand für einen Einfall in die nördlichen Gebiete zu erfinden. Jetzt, wo Caw die Zügel entgleiten und dieser schwarze Hund Heuil eine Gefolgschaft um sich schart, die den Anspruch seines Bruders auf die Herrschaft von Strathclyde in Frage stellen könnte, möchte ich selbst dort oben sein, um nach dem Rechten zu schauen. Seeräuberei, wie? Die genaue Stelle sahst du nicht?» Ich blickte Ninian an. Er schüttelte den Kopf. «Nein», sagte ich, «aber du wirst ihn finden. Du wirst dort ans Ufer gelangen, solange die Wrackteile und die Toten noch herumliegen. Das Seeräuberschiff heißt King Stag, Das ist alles, was wir wissen. Du solltest den Schuldigen ausfindig machen können.» «Das werde ich tun, keine Angst.» Er schien grimmig entschlossen. «Noch heute nacht werde ich Urbgen und Ector Bescheid geben, daß sie mich erwarten sollen, und ich selbst breche morgen früh auf. Ich bin dankbar. Ich suchte ohnehin nach einem Grund, den feinen Herrn Heuil aus der Meute herauszufischen, und jetzt bietest du mir diese Gelegenheit. Vielleicht ist es die Chance, die ich brauche, um einen neuen Vertrag zwischen Strathclyde und Rheged zustande zu bringen und mein Gewicht für den neuen König in die Waagschale zu werfen. Ich weiß nicht, wie lange ich wegbleiben werde. Und du, Merlin? Bist du wirklich ganz in Ordnung?» «Es geht mir sehr gut.» 369
Er lächelte. Ihm waren die Blicke, die zwischen Ninian und mir gewechselt worden waren, nicht entgangen. «Anscheinend hast du jetzt jemanden, mit dem du deine Visionen teilen kannst. Gut, Ninian, ich freue mich, dich kennengelernt zu haben.» Er lächelte dem Knaben zu und machte eine freundliche Bemerkung. Ninian antwortete ihm. Ich sah ein, daß ich mich über seine Person geirrt hatte; er versank in Gegenwart des Königs nicht in ehrfürchtige Scheu. Die Art,, wie er Artus ansah, hatte etwas an sich, das ich noch nicht deuten konnte; es war nicht jene Verehrung, die ich bei anderen so oft erlebt hatte, sondern eher ein ruhiger, abschätzender Blick. Artus sah ihn, schien belustigt und entließ dann den Knaben; er wandte sich wieder an mich und bat um Botschaften für Morgan und Ector. Dann verabschiedete er sich und ging. Ninian sah ihm gedankenverloren nach. «Ja, es war ein l wahrer Traum. Der dunkelhaarige Führer auf dem Schimmel mit dem glänzenden weißen Schild, auf dem kein Wappen schimmerte, sondern nur der Widerschein des Himmels. Ohne jeden Zweifel war es Artus. Wer ist eigentlich dieser Heuil und warum sucht der König einen Grund, ihn zu beseitigen?» «Er ist einer der Söhne des Caw von Strathclyde; dieser ist, soweit ich zurückdenken kann, König auf Dumbarton Rock. Er ist sehr alt und hat mit verschiedenen Frauen neunzehn Söhne gezeugt. Es mag auch Töchter geben, aber bei diesen wilden Leuten im Norden gelten die Mädchen wenig. Der jüngste Sohn, Gildas, wurde kürzlich zu meinem alten Freund Blaise geschickt, von dem du schon gehört hast, um lesen und schreiben zu lernen. Wenigstens er wird ein Mann des Friedens sein. Aber Heuil ist der zügelloseste einer wilden Brut. Er und Artus haben sich nie leiden können. Sie haben einmal wegen eines Mädchens einen Zweikampf ausgefochten; damals lebte Artus als Knabe im Norden. Da Caws Gesundheitszustand sich verschlechtert, hat der König in Heuil eine Gefahr für den friedlichen Ausgleich im Norden gesehen. Heuil würde meines Erachtens alles tun, um Artus zu schaden - er würde sich sogar mit den Sachsen verbünden. Jedenfalls ist Artus dieses Glaubens. Aber da sich Heuil 370
jetzt dem Raub und Totschlag verschrieben hat, kann er gejagt und vernichtet werden; dadurch wird die größere Gefahr abgewendet.» «Und der König führt ein Heer nach Norden - einfach so -nur auf Euer Wort hin?» Auf seinem Gesicht zeigte sich jetzt ein Ausdruck innerer Erschütterung; aber es war nicht die Ehrfurcht vor Königen oder deren Ratgebern, er fühlte zum ersten Mal die Kraft in sich selbst. Ich lächelte. «Nein, auf deines. Wenn es so ausgesehen hat, als habe ich das Gesicht für mich in Anspruch genommen, so tut es mir leid. Aber die Sache war dringend, und er hätte dir vielleicht nicht so bereitwillig geglaubt.» «Natürlich nicht. Aber Ihr habt es auch gesehen?» «Ich sah nichts.» Er machte ein überraschtes Gesicht. «Aber Ihr habt mir sofort geglaubt.» «Selbstverständlich. Daß ich nicht dieselbe Vision hatte, heißt noch lange nicht, daß es kein wahrer Traum war.» Er wirkte tief besorgt. «Aber Merlin, wollt Ihr damit sagen, daß Ihr nichts davon wußtet, bevor ich Euch meinen Traum erzählt hatte? Ich meine, über Heuil und die Seeräuberei. . Ihr habt also den König allein auf mein Wort gen Norden geschickt.» «Ja, so ist es.» Schweigen trat ein, während sich Verstörtheit, Erregung und dann Freude auf seinem Gesicht ebenso deutlich zeigten wie der Widerschein von Hell und Dunkel auf dem Wasser seines heimatlichen Sees. Er schien noch über die Bedeutung der Sehergabe nachzudenken. Aber als er sprach, erstaunte er mich. Wie Artus, ging es ihm nur darum, was diese Gabe für mich, und nicht für ihn bedeutete. Und seine nächsten Worte klangen wie ein Echo auf das, was Artus gesagt hatte. «Merlin, habt Ihr etwas dagegen?» Ich antwortete ihm ebenso einfach: «Vielleicht. Jetzt vielleicht ein wenig. Aber bald überhaupt nichtmehr. DieGabeist eine schwere Bürde, und vielleicht ist es Zeit, daß der Gott sie an dich 371
weitergegeben hat und mich in der Sonne sitzen läßt, damit ich die Tauben auf der Mauer beobachten kann.» Ich lächelte, während ich sprach, aber in seinem Gesicht leuchtete kein verständnisinniger Schimmer auf. Er tat dann etwas Merkwürdiges. Er griff nach meiner Hand, hob sie an seine Wange, ließ sie dann wieder fallen und ging, ohne ein weiteres Wort und ohne sich umzusehen, wieder hinauf in sein Zimmer. Ich blieb dort in der Sonne stehen und gedachte eines anderen, viel jüngeren Knaben, der aus der Höhle des Galapas den Berg hinunterritt; die Visionen schwirrten ihm durch den Kopf, Tränen standen ihm in den Augen, und die Pein der Vereinsamung und der Gefahr hing in den Wolken über seinem Haupt. Dann ging ich hinein, betrat mein eigenes Zimmer und las neben dem Feuer, bis Mora das Mittagsmahl hereinbrachte. 8 Artus brach am nächsten Tag in den Norden auf, und danach blieben wir ohne weitere Nachricht. Ninian ging wie benommen umher und wunderte sich offenbar über sich selbst und die «wahre Vision», sowie über mich, weil ich nicht gekränkt schien über die Art und Weise, wie diese an mir vorbeigegangen war. Ich selbst war innerlich hin und hergerissen; bei der Rückschau auf jenen Tag wußte ich, daß ich mich am Rande des vergifteten Traums, der meine Krankheit war, aufgehalten hatte; aber auch nach Artus' Besuch und dessen Eingehen auf Ninians Prophezeihung war mir nichts aus dem Dunkel zuteil geworden, weder Zustimmung noch Ablehnung. In der stillen Atmosphäre jener Tage hatte ich trotzdem das Gefühl, mit dem Wandel einverstanden zu sein. Es war, als beobachte man einen Schatten, der sich langsam, so wie die fernen Wolken ziehen, von einem Feld oder Forst auf den nächsten zubewegt und diesen verdunkelt. Mir war wie von zarter Hand gezeigt worden, wo mein eigenes Glück jetzt lag; so nahm ich es hin und bereitete den jungen Ninian darauf vor, so zu werden, wie ich selber einst war, und ich rüstete mich selbst für eine Zukunft, die ich zwar oft geahnt und undeutlich vor mir gesehen hatte, die mir aber jetzt viel deutlicher vor die Seele trat und nichts zu fürchtendes mehr an sich hatte. 372
Ninian schien sich stärker noch als bisher in sich selbst zurückzuziehen. Einige Male, als ich nachts nicht schlafen konnte, hörte ich ihn auf leisen Sohlen draußen den Hof überqueren und dann wie ein junges, freigelassenes Tier das Tal zur Straße hinunterrennen. Zweimal versuchte ich sogar, ihm mit meiner seherischen Kraft zu folgen, aber er mußte sich mit Bedacht vor mir abgeschirmt haben, denn ich konnte nicht weiter als bis zur Straße sehen und erkannte dann nur noch die schlanke Gestalt, die im Nebel verschwand, der zwischen Applegarth und der Insel lag. Es machte mir nichts aus, daß er Geheimnisse vor mir hatte, ebensowenig wie es mich störte, ihn und das Mädchen Mora sich im Vorratsraum oder in der Küche - manchmal des längeren unterhalten zu hören. Ich hatte mir nie eingebildet, ein lebhafter Gesellschafter zu sein, und neigte mit zunehmendem Alter dazu, mich noch stärker von der Außenwelt zurückzuziehen. Es gefiel mir lediglich, daß die jungen Leute gemeinsame Interessen fanden und beide in meinen Diensten zufrieden waren. Denn der Dienst war eine Fron. Ich nahm den Knaben stärker heran als jeden Sklaven. Dies ist auch eine Art der Liebe, finde ich; man sehnt sich so sehr danach, daß der geliebte Mensch die besten Ergebnisse erzielt, daß man ihm nichts erspart; und daß ich Ninian liebte, unterlag keinem Zweifel mehr. Der Knabe war ich selbst, und durch ihn würde ich weiterleben. So lange wie der König die Sehergabe des königlichen Propheten benötigte, würde er sie finden ebenso griffbereit wie das königliche Schwert. Eines Abends schürten wir kräftig das Feuer zum Schutz gegen den kalten Aprilwind und setzten uns daneben hin, um in die Flammen zu schauen. Ninian saß, wie immer, auf dem Teppich vor der Feuerstelle; er hatte das Kinn auf die Faust gestützt und die grauen Augen gegen die Helligkeit der Flammen zusammengekniffen. Auf der glatten, blassen Haut zeigte sich allmählich ein Schimmer, der durch Schweißtropfen erzeugt wurde - ein Film, der den Feuerschein auffing und sein Gesicht nachzeichnete; er ließ den Haaransatz hervortreten und umgab die schwarzen Wimpern mit allen Regenbogenfarben. Seit einiger Zeit beobachtete ich ihn mehr, als daß ich auf meine eigene 373
Kraft zurückgegriffen hätte. Es war eine Mischung aus tiefer Genugtuung und einer auf schmerzhafte Weise beunruhigenden Liebe, und ich machte keinen Versuch, diesem Gefühl Einhalt zu gebieten oder es zu verstehen. Ich hatte aus der Vergangenheit gelernt; ich ging mit der Zeit und glaubte, daß ich genug Herr meiner selbst und meiner Gedanken sei, um dem Knaben kein Leid zuzufügen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Irgend etwas bewegte sich dort - ein Widerschein von Gram oder Kummer oder Schmerz - wie etwas, das man undeutlich in einem Glas erkennt. Der Schweiß rann ihm in die Augen, aber er verzog keine Miene. Es war an der Zeit, daß ich mit ihm ging. Ich wandte den Blick von ihm ab und schaute ins Feuer. Sofort sah ich Artus. Er saß auf seinem gewaltigen Schimmel am Rande des Meeres. Es war ein mit Kieseln bedeckter Strand, und ich erkannte oben auf der Klippe die Burg: Rhegeds Festung, die das Mündungsgebiet der Ituna beherrscht. Die Dunkelheit brach herein, und der Gewitterhimmel türmte dunkle Wolken hinter einer grauen See auf, die heller als ihr eigener Horizont war. Die Schaumkronen der Wogen brachen sich auf dem Gestein und jagten zischend das Ufer hinauf; dort kamen sie in weißlichen Wirbeln zum Stehen und liefen über die Kiesel zurück. Der Schimmelhengst stand unbeweglich da; das Wasser schäumte um seine Fesseln; seine von der Gischt besprühten schimmernden Flanken und Artus' Umhang, der zusammen mit der Mähne seines Pferdes im Sturm flatterte, ließen den Eindruck entstehen, als sei der König geradewegs dem Meer entstiegen. Ein Mann, dem Aussehen nach ein Bauer, stand bei Artus' Zügel, sagte etwas und wies mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. Der König wandte den Kopf in die angegebene Richtung, richtete sich im Sattel auf und legte eine Hand über die Augen. Ich sah, wohin er blickte: auf ein Licht, das weit draußen am Horizont über der aufgewühlten See auf und ab tanzte. Der König stellte eine Frage, und der Mann wies diesmal mit dem Arm landeinwärts. Der König nickte, ein kleiner Gegenstand ging von Hand zu Hand; dann zog er den Kopf 374
seines Hengstes herum und hob einen Arm. Der Schimmel galoppierte den Abhang hinauf, und durch den dichter werdenden Nebel der Vision konnte ich sehen, daß die Soldaten sich dicht hinter ihm hielten. Kurz bevor das Bild endgültig verschwamm, sah ich noch oben auf der Klippe einzelne Lichter im Turm aufblitzen. Ich kam in den vom Feuer erhellten Raum zurück und sah, daß Ninian vor mir da war. Er hockte gebückt auf dem Teppich und hielt den Kopf in den Händen. «Ninian?» Keine Bewegung, nur ein leichtes Kopf schütteln. Ich ließ ihm ein paar Augenblicke Zeit und griff dann nach dem bereitgestellten Stärkungsmittel. «Komm. Trink dies.» Er nippte an dem Trank, und seine Augen dankten mir, aber er sprach noch immer kein Wort. Ich sah ihm schweigend eine Zeitlang zu und sagte dann: «Es hat also den Anschein, daß der König das Ufer der Ituna erreicht und sich über die Piraten informiert hat. Er rastet im Leuchtturm von Rheged, und morgen bei Tagesanbruch wird er daran habe ich keinen Zweifel - Heuil nicht mehr aus den Augen lassen. Also, was hast du denn? Artus ist in Sicherheit, deine Vision hat sich erfüllt, und er tut, was er sich vorgenommen hat.» Noch immer nichts, nur jener tiefbekümmerte Blick. Ich sagte rasch: «Komm Ninian, nimm es dir nicht so zu Herzen. Für Artus ist dies eine Kleinigkeit. Das einzig Schwierige daran ist, daß er Heuil bestrafen muß, ohne dessen Brüder zu kränken; aber auch das dürfte nicht unlösbar sein. Es ist lange her, seit Heuil - bildlich gesprochen den Herdstein seines Vaters angespuckt hat und ausgezogen ist, seine Missetaten zu verüben. Auch wenn der alte Caw noch lebt, zweifle ich, ob er aufbegehren wird; und was die älteren Söhne anbetrifft, so bin ich sicher, daß Heuils Tod sie erleichtert aufatmen lassen wird.» Dann fügte ich nachdrücklich hinzu: «Wenn es eine Tragödie oder ein großes Unglück war, das du gesehen hast, ist es um so wichtiger, 375
darüber zu sprechen. Caws Tod haben wir erwartet; wer sonst? Stirbt Morgan, die Schwester des Königs? Oder Ector?» «Nein.» Seine Stimme klang fremd, wie ein Musikinstrument, durch das ein Windstoß fährt. «Ich habe den König gar nicht gesehen.» «Du meinst, du sähest nichts? Schau, Ninian, das kommt vor. Du weißt doch, daß es auch mir so ergangen ist. Du darfst dich dadurch nicht entmutigen lassen. Es wird oft geschehen, daß dir nichts zuteil wird. Ich habe dir schon früher gesagt, daß du auf den Gott warten mußt. Er wählt den Zeitpunkt, nicht du.» Er schüttelte den Kopf. «Das ist es nicht. Ich habe etwas gesehen. Aber nicht den Hochkönig. Etwas anderes.» «Dann sag es mir.» Er warf mir einen verzweifelten Blick zu. «Ich kann nicht.» «Schau, mein Lieber, ebensowenig wie du dir aussuchen kannst, was dir offenbart wird, kannst du wählen, was du aussagen wirst. Die Zeit mag kommen, da du vor Königsthronen deinem eigenen Urteil folgen wirst, aber bei mir wirst du alles sagen, was du siehst.» «Ich kann es nicht!» Ich wartete einen Augenblick. «Also - du hast in den Flammen etwas gesehen?» «Ja.» «Steht das, was du gesehen hast, im Gegensatz zu den vorherigen Ereignissen oder zu dem, was ich gerade gesehen habe?» «Nein.» «Wenn du schweigst aus Furcht vor mir, oder aus Furcht, ich könnte aus irgendeinem Grunde zornig werden...» «Ich habe mich nie vor Euch gefürchtet.» «Dann», sagte ich geduldig, «kann auch kein Grund bestehen, zu schweigen; im Gegenteil, es spricht alles dafür, daß du mir erzählst, was du gesehen hast. Es mag gar nicht die Tragödie sein, für die du das Gesehene hältst. Du deutest es vielleicht falsch. Ist dir dieser Gedanke noch nicht gekommen?» Ein Hoffnungsschimmer, der bald erlosch. Er holte Luft und ich glaubte, er werde sprechen, aber dann biß er sich auf die Lippe und blieb stumm. Ich fragte mich, ob er meinen Tod vorhergesehen hatte! 376
Ich beugte mich vor, nahm sein Gesicht in meine Hände und zog es zu mir empor. Zögernd begegnete er meinem Blick. «Ninian, glaubst du, ich könnte dir auf deinem Wege nicht folgen? Willst du mich einer solchen Mühsal aussetzen, oder willst du mir jetzt gehorchen? Was war es, was du in der Flamme gesehen hast?» Er strich mit der Zunge über die trockenen Lippen und sagte dann im Flüsterton, als fürchte er sich vor dem Klang seiner Stimme: «Wußtet Ihr, daß Bedwyr nicht beim Hochkönig ist? Daß er in Camelot geblieben ist?» «Nein, aber ich hätte es mir denken können. Es lag auf der Hand, daß der König einen seiner Hauptleute zurücklassen mußte, damit seine Hochburg gesichert bleibt und die Königin beschützt wird.» «Ja.» Er leckte wieder seine Lippen. «Eben dies habe ich gesehen. Bedwyr in Camelot - bei der Königin. Sie waren -ich glaube sie sind...» Er brach ab. Ich nahm meine Hände zurück, und er war dankbar, mich nicht mehr ansehen zu müssen. Es gab nur eine einzige Deutung für seine Qual. «Liebende?» «Ich glaube, ja. Ja. Ich weiß es bestimmt.» Dann fuhr er fort: «Merlin, wie konnte sie so etwas tun? Nach allem, was geschehen ist nach allem, was er für sie getan hat! Die Affäre mit Melwas jedermann weiß, was sich dort zugetragen hat! Und Bedwyr, wie konnte er den König so hintergehen? Die Königin - wie kann sich eine Frau von solch einem Mann, solch einem König, abwenden. . . Wenn ich nur glauben könnte, daß es kein wahrer Traum gewesen ist! Aber ich weiß, daß er stimmt!» Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. «Merlin, in Gottes Namen, was müssen wir tun?» Ich sagte bedächtig: «Das kann ich dir noch nicht sagen. Aber denk nicht mehr daran, wenn du kannst. Dies ist eine Last, die du nicht mit mir zu teilen brauchst.» «Werdet Ihr es ihm sagen?» «Ich bin sein Diener. Was stellst du dir denn vor?» Er biß sich wieder auf die Lippe, starrte ins Feuer, sah aber diesmal, glaube ich, nichts. Sein Gesicht war weiß und spiegelte seinen ganzen 377
Jammer wider. Ich erinnere mich, daß es mich irgendwie überraschte, daß er Guinevere offenbar größere Vorwürfe wegen ihrer Schwäche, als Bedwyr wegen seines Verrats machte. Schließlich sagte er: «Wie könnt Ihr ihm so etwas sagen?» «Ich weiß es noch nicht. Kommt Zeit, kommt Rat.» Er hob den Kopf. «Ihr seid nicht überrascht.» Es klang wie eine Anklage. «Nein. Ich glaube, ich wußte es schon in jener Nacht, als er zu Melwas Jagdhütte im See hinüberschwamm. Und danach, als sie ihn pflegte . . .Und ich weiß noch, wie Bedwyr, als sie zur Hochzeit nach Caerleon kam, der einzige Ritter war, der sie nicht anschaute, und auch sie sah ihn nicht an. Ich glaube, daß sie es schon auf der Reise von Northgalis gefühlt hatten, noch bevor sie den König zum ersten Mal sah.» Ich setzte hinzu: «Und du könntest sagen, daß ich es schon vor vielen Jahren deutlich erkannt habe - damals, als sie beide noch Knaben waren und noch keine Frau als Störenfried in ihr Leben getreten war.» Er stand unvermittelt auf. «Ich gehe zu Bett», sagte er und ließ mich allein. Ich schaute wieder in die Flammen. Gleich darauf erkannte ich die beiden wieder. Sie standen auf der Westterrasse, wo ich mit Artus gesprochen hatte. Die Burg lag jetzt im Dunkeln. Nur hier und da glitzerte ein Stern am Himmel, und der vereinzelte Lichtstrahl einer Lampe lag schräg über dem Steinboden zwischen den Kübeln mit knospenden Rosensträuchern. Sie standen stumm und wie versteinert da. Sie hatten ihre Hände ineinander verschränkt und sahen sich mit tief innerer Erregung an. Sie schien verängstigt, und Tränen standen ihr auf den Wangen; sein Gesichtsausdruck wirkte gequält, als ob der weiße Schatten seinen Seelenfrieden zerstört hätte. Was für eine Art von Liebe die beiden auch ergriffen haben mochte, es war jedenfalls eine grausame, und ich wußte, daß keiner von beiden es bis jetzt gewagt hatte, diese Liebe über ihre Treue obsiegen zu lassen. 378
Ich sah zu und empfand tiefes Mitleid und wandte mich dann von den glosenden Holzscheiten ab, um die beiden nicht zu stören. 9 Acht Wochen später kehrte der König heim. Er hatte Heuil eingeholt, ihn in ehrlichem Kampf besiegt, seine Schiffe verbrannt und ihm einen Tribut auferlegt, der ihm für einige Zeit die Handlungsfreiheit nehmen würde. Wieder einmal hatte er seinen natürlichen Instinkt der politischen Klugheit zum Opfer gebracht. Auf seiner Reise in den Norden hatte ihn die Nachricht erreicht, daß Caw von Strathclyde friedlich im Bett gestorben sei. Friedlich, das heißt, was Caw anbetraf; er hatte den Tag auf der Jagd und die halbe Nacht mit einem Festgelage zugebracht und war dann, als die unvermeidlichen Folgen seinen neunzig Jahre alten Körper kurz vor Sonnenaufgang überwältigten, im Bett gestorben - umgeben von. denjenigen seiner Söhne und deren Müttern, die rechtzeitig an sein Sterbelager eilen konnten. Er hatte außerdem seinen zweiten Sohn Gwarthe-gydd (der Älteste war vor einigen Jahren im Kampf verstümmelt worden) zum Thronerben ernannt. Der reitende Bote, der Artus die Nachricht überbrachte, war außerdem angewiesen, den Hochkönig der Freundschaft Gwarthegydds zu versichern. Deshalb wollte Artus, bis er persönlich mit Gwarthegydd gesprochen und gesehen hatte, wie dieser zu seinem Bruder Heuil stand, diese Freundschaft nicht gefährden. Er hätte nicht so vorsichtig zu sein brauchen. Als Gwarthegydd die Botschaft von Heuils Niederlage erhielt, ließ er angeblich ein dröhnendes Lachen ertönen, das an das donnernde Gelächter seines Vaters erinnerte, und trank ein ganzes Hörn voll Met auf Artus' Gesundheit. So ritt der König mit Urbgen und Ector nach Dumbarton, blieb neun Tage bei Gwarthegydd und nahm schließlich an dessen Krönung teil. Dann ritt er befriedigt wieder nach Süden. Diesmal wählte er die östliche Route über Elmet, stellte fest, daß die von Sachsen bewohnten Gebiete ruhig waren, unc ritt dann quer durch das Land nach Caerleon. Dort blieb er einen Monat und kam in den ersten Junitagen nach Camelc zurück. 379
Es war höchste Zeit. Immer wieder hatte ich im Feuer die Liebenden gesehen - hin und her gerissen zwischen Begierde und Treue - Bedwyr feingliedrig und schweigsam, die Königin mit großen Augen und nervösen Händen. Sie warer nicht wieder allein; stets saßen ihre Hofdamen bei ihnen unc nähten, oder seine Mannen ritten mit ihm aus. Aber sie hielten sich immer etwas von den anderen abgesetzt und sprachen unaufhörlich miteinander, als ob sie im Gespräch und hin und wieder mit einer leichten Berührung eine gewisse Tröstung finden könnten. Und sie warteten Tag und Nacht auf Artus' Rückkehr: Bedwyr, weil er seine so qualvolle Aufgabe ohne Erlaubnis des Königs nicht verlassen konnte; Guinevere mit der düsteren Aussicht, eine vereinsamte, junge Frau zu werden, die sich halb vor ihrem Gatten fürchtet, aber zum eigenen Schutz und den wenigen Gemeinsamkeiten, die er ihr aus Mangel an Zeit bieten kann, auf ihn angewiesen ist. Er war etwa zehn Tage in Camelot, als er zu mir herauskam. Es war ein warmer Junimorgen. Ich war, wie es meine Gewohnheit ist, kurz nach Sonnenaufgang aufgestanden und unternahm einen Spaziergang auf dem hügeligen Gelände oberhalb des Hauses. Ich war allein unterwegs; Ninian ließ sich gewöhnlich nicht blicken, bevor Mora ihn zum Frühstück rief. Ich war etwa eine Stunde draußen, hing meinen Gedanken nach und blieb ab und zu stehen, um die Pflanzen zu sammeln, nach denen ich suchte, als ich hinter einem flachen Hügelrücken Huf schlage hörte. Fragt mich nicht, wieso ich wußte, daß es Artus war; ein Hufschlag ist durchaus wie der andere, und an jenem Tag lag keine Vorahnung in der Luft; aber die Liebe ist stärker als die Vision, und so drehte ich mich einfach um und wartete auf ihn; ich stand im Windschatten eines Dornengebüsches, das hier und da die kahlen Hänge der höher gelegenen Hügelketten unterbrach. Das Gestrüpp krönte den Rand eines kleinen Einschnitts, wo ein schmaler Pfad heraufführte, der so alt wie das Land selbst war. Auf diesem Weg sah ich ihn plötzlich herankommen; er saß lässig auf einer hübschen Fuchsstute, und sein junger Jagdhund, Cabals Nachfolger, folgte ihm auf den Fersen. 380
Er hob die Hand zum Gruß, wandte die Stute gegen den Hang und glitt aus dem Sattel. Er begrüßte mich mit einem Lächeln. «Du hast also recht gehabt. Als ob ich dir das noch zu sagen brauchte! Und jetzt brauche ich dir wohl nicht einmal mehr zu erzählen, was sich zugetragen hat? Ist dir je in den Sinn gekommen, Merlin, wie eintönig es ist, einen Propheten um sich zu haben, der alles schon im voraus weiß? Nicht nur, daß ich dir jemals Lügen erzählen könnte - ich kann nicht einmal hinterher zu dir kommen und mich meiner Taten rühmen.» «Es tut mir leid. Aber sei versichert: diesmal hat dein Prophet ebenso begierig wie alle anderen auf Nachrichten von dir gewartet. Ich danke dir für die Briefe . . . Wie hast du mich gefunden? Warst du in Applegarth?» «Ich war auf dem Wege dorthin, aber ein Bursche mit einem Ochsenkarren - einer von den Holzfällern - sagte, er habe dich hier heraufkommen sehen. Gehst du noch weiter? Ich würde dich gern begleiten, wenn ich darf.» «Selbstverständlich. Ich wollte gerade umkehren . . . Deine Briefe waren zwar sehr willkommen, aber ich möchte trotzdem alles noch einmal aus erster Hand hören. Es ist seltsam, wenn man sich vorstellt, daß der alte Caw schließlich doch dahingegangen ist. Er hat, so lange ich mich erinnern kann, auf dieser Klippe bei Dumbarton gesessen. Glaubst du, daß Gwarthegydd sich wird behaupten können?» «Gegen die Iren und die Sachsen ja, daran habe ich keinen Zweifel. Wie er sich mit den siebzehn anderen Thronprätendenten auseinandersetzen wird, ist eine andere Frage.» Er grinste. «Besser gesagt sechzehn, nachdem ich Heuil die Flügel gestutzt habe.» «Sagen wir: fünfzehn. Den jungen Gildas kannst du eigentlich nicht mitrechnen, seit er in die Dienste von Blaise getreten ist.» «Das ist richtig. Ein kluger Bursche, und er war immer Heuils Schatten. Ich könnte mir vorstellen, daß er, wenn Blaise stirbt, ins Kloster geht. Das ist vielleicht gar nicht so schlecht. Er hat mich ebensowenig geliebt wie sein Bruder.» 381
«Dann laß uns hoffen, daß er mit den Papieren seines Meisters vertrauensvoll umgeht. Du solltest einige deiner eigenen Schriftkundigen einsetzen, um deine Aufzeichnungen festzuhalten.» Er zog die Augenbrauen in die Höhe. «Was soll das bedeuten? Ist es die Warnung eines Propheten?» «Nichts dergleichen. Nur ein flüchtiger Gedanke. Gwar-thegydd ist also dein Mann? Es gab einmal eine Zeit, da ließ er Caw im Stich und versuchte, sich bei den irischen Königen lieb Kind zu machen.» «Damals war er noch jünger, und Caws Hand lag schwer auf ihm. Das ist vorbei. Ich glaube, er wird sich bewähren. Worauf es in diesem Augenblick in erster Linie ankommt, ist, daß er sich mit Urbgen einigt. . .» Während wir langsam über das abfallende Gelände zurückgingen, erzählte er mir in allen Einzelheiten von den Schwierigkeiten, die ihm die letzten Wochen beschert hatten; die Stute schritt hinter uns her, und der Jagdhund lief mit der Nase am Boden in weiten Kreisen um uns herum. Im Wesentlichen, dachte ich bei mir, hatte sich nichts geändert. Noch nicht. Immer weniger brauchte er sich um Rat an mich zu wenden, aber wie immer seit seiner Jugend suchte er die Gelegenheit, über den Ablauf der Ereignisse und über die Probleme zu sprechen, die im Zuge der neugegründeten Königreiche entstanden. Nach ein oder zwei Stunden, in einem Gespräch, zu dem ich viel oder manchmal auch gar nichts beigesteuert hatte, erkannte ich, daß sich viele verschlungene Knoten auf vernünftige Weise lösten. Dann pflegte er plötzlich aufzustehen, sich zu strek-ken, mir Lebewohl zu sagen und zu gehen; bei jedem anderen wäre dieser Abschied viel zu abrupt gekommen, aber zwischen uns beiden bedurfte es keiner weiteren Formalitäten. Ich war der starke Baum, auf dem sich der Adler im Vorbeiflug niederließ, um zu rasten oder nachzudenken. Aber jetzt zeigte die Eiche den einen oder anderen verdorrten Ast. Wie lange würde es dauern, bis der junge Schößling sein Gewicht würde tragen können? Er war an das Ende seiner Erzählung gelangt. Dann, als hätten sich meine Gedanken ihm mitgeteilt, sah er mich lange an. «Und jetzt 382
sprechen wir von dir. Wie ist es dir in den letzten Wochen ergangen? Du siehst müde aus. Bist du wieder krank gewesen?» «Nein. Du brauchst dir über meine Gesundheit keine Sorgen zu machen.» «Ich habe mehr als einmal über meinen letzten Besuch bei dir nachgedacht. Du sagtest, es sei dieser» - er stockte - «dein Gehilfe gewesen, der Heuil und seine Bande bei der Arbeit < gesehen> habe.» «Ninian. Ja, er war es.» «Und du selbst hast nichts gesehen?» «Ja», sagte ich. «Nichts.» «Das hast du mir neulich auch gesagt. Ich finde das immer noch merkwürdig. Du nicht auch?» «Doch, ich auch. Aber du darfst nicht vergessen, ich fühlte mich an jenem Tag nicht wohl. Ich hatte mich noch nicht wieder ganz von der Erkältung erholt, die ich mir zugezogen hatte.» «Wie lange ist er jetzt bei dir?» «Er kam im September. Es sind also genau neun Monate.» «Und du hast ihn alles gelehrt, was du weißt?» Ich lächelte. «Kaum. Aber ich habe ihm viel beigebracht. Du wirst nie auf einen Propheten verzichten müssen, Artus.» Er erwiderte mein Lächeln nicht. Er schien zutief st beunruhigt zu sein. Er setzte den Weg über die mit Kieseln durchsetzte Grasnarbe fort; die Nase der Stute lag an seiner Schulter, und der Hund lief voraus. Er durchstöberte das Ginstergestrüpp, aus dessen Blüten ein betäubender Duft aufstieg. Wo immer der Hund erschien, scheuchte er Wolken von winzigkleinen, blauen Schmetterlingen und roten Marienkäfern auf; letztere waren in jenem Frühjahr geradezu eine Plage - sie saßen wie kleine rote Beeren zu Hunderten auf dem Ginster. Artus schwieg eine Weile und hing stirnrunzelnd seinen Gedanken nach. Dann faßte er offenbar einen plötzlichen Entschluß. «Vertraust du ihm?» «Ninian? Natürlich. Warum nicht?» 383
«Was weißt du von ihm?» «So viel, wie ich wissen muß», sagte ich, vielleicht ein wenig förmlich. «Ich habe dir erzählt, wie er zu mir kam. Ich war damals überzeugt - und bin es auch heute noch -, daß der Gott uns zusammengeführt hat. Und ich könnte keinen fähigeren Schüler haben. Alles, was ich ihn lehren muß, nimmt er mit großem Eifer in sich auf. Ich brauche ihn nicht anzutreiben; eher muß ich ihn zurückhalten.» Ich sah Artus an. «Warum zweifelst du? Ich hätte geglaubt, du habest den Beweis seiner Fähigkeiten selbst erlebt. Seine Vision hat sich bewahrheitet.» «Oh, ich ziehe seine Fähigkeiten nicht in Zweifel.» Er gab dem Wort «Fähigkeiten» eine merkwürdige Betonung. «Was denn? Was willst du mir sagen?» Auch ich konnte ein leichtes Erstaunen nicht ganz unterdrücken. Er sagte rasch: «Es tut mir leid, Merlin. Aber ich muß dir etwas sagen. Ich habe Zweifel an seinen Absichten dir gegenüber.» Obwohl er mich vorgewarnt hatte, traf mich der Schlag mit lähmender Wucht. Mir war, als stocke mein Herz. Ich blieb stehen und sah ihn an. Um uns herum stieg, süßlich und stark, der Duft des Ginsters auf. In ihn eingebettet nahm ich unwillkürlich auch den Geruch von Thymian und Sauerampfer und zerquetschtem Bockskraut wahr, als die Stute den Kopf senkte und einen Büschel Gras aus dem Boden riß. Ich werde selten wütend, am allerwenigsten auf Artus. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis ich gleichmütig sagen konnte: «Was immer du zu sagen hast, sag es lieber jetzt. Ninian ist mehr als mein Gehilfe; er hat gute Aussichten, einmal mein zweites Ich zu werden. Falls ich jemals ein Stab in deiner Hand gewesen bin, wird er auch ein solcher werden, wenn ich gestorben bin. Ob du den Knaben leiden kannst oder nicht - aber wie willst du das beurteilen, du kennst ihn ja kaum -, wirst du ihn so hinnehmen müssen. Ich werde nicht ewig leben, und er hat die Kraft. Er hat sie zum Teil schon jetzt, und sie wird in ihm wachsen.» «Ich weiß. Das ist es ja gerade, was mich beunruhigt.» Er wandte wieder den Blick von mir ab. Ich konnte nicht beurteilen, ob er es 384
deshalb tat, weil er mir nicht ins Auge sehen konnte. «Siehst du denn nicht, Merlin? Er hat die Kraft. Er war es, der die Vision hatte. Und du hattest sie nicht. Du sagst, du wärest müde und krank gewesen. Aber wann hat dein Gott jemals darauf Rücksicht genommen? Dies war kein belangloses <Sehen>; normalerweise wäre dir so etwas nicht entgangen. Dank dieser Vision war ich bereits dort, an der Grenze von Rheged, als Caw starb, und konnte Gwarthegydd den Rücken stärken und wer weiß wieviel Ärger verhindern, der unter jenen streitsüchtigen Prinzen entstanden wäre. Warum hast du also keine Vision gehabt?» «Muß ich es dauernd wiederholen? Ich...» «Ja, du warst krank. Warum?» Schweigen. Ein leichter Luftzug kam aus dem Hügelland herüber und trug den Duft nach Honig mit sich. Unter ihm raschelten die Gräser. Die Stute graste eifrig; der Hund war zu den Füßen seines Herrn zurückgekehrt und hatte sich mit heraushängender Zunge dort niedergelassen. Artus rührte sich und wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor. «Was willst du mir sagen? . . . Nein, antworte jetzt nicht. Ich weiß sehr gut, was du sagen willst. Daß ich diesen unbekannten Knaben bei mir aufgenommen habe, in ihn vernarrt bin und ihn in die Geheimlehre von Drogen und Krautern und einen Teil der Magie eingewiesen habe - und daß er jetzt plant, meinen Platz einzunehmen und meine Macht an sich zu reißen. Daß er nicht von dem Vorwurf l freigesprochen werden kann, meine eigenen Drogen gegen mich zu verwenden. Ist es das?» Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, aber sein grimmiger Gesichtsausdruck erhellte sich nicht. «Du hast dich nie doppelsinnig ausgedrückt, nicht wahr?» «Ich habe nie die Wahrheit verschleiert, am allerwenigsten vor dir.» «Aber dann, mein Lieber, siehst du offenbar nicht die ganze Wahrheit.» Aus irgendeinem Grund ließ gerade die sanfte Mäßigung seiner Antwort eine dunkle Vorahnung in mir aufsteigen. Ich sah ihn 385
stirnrunzelnd an. «Ich bin bereit, das zu akzeptieren. Da ich mir kaum vorstellen kann, daß dies alles nur irgendeinem vagen Verdacht entspringt, muß ich also wohl annehmen, daß du etwas über Ninian weißt, was mir bisher nicht bekannt ist. Wenn dies so ist, warum sagst du es mir nicht und läßt mich selbst beurteilen, wie bedeutsam es ist?» «Also gut. Aber...» Eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck ließ mich den Kopf wenden und seinem Blick folgen. Er sah an mir vorbei in ein kleines Tal hinab, wo ein mit Birken und Weiden umsäumter Bach dahinfloß. Dahinter stieg der grüne Hügel auf, in dessen Schutz Applegarth lag. Unter den Weiden sah ich plötzlich etwas Blaues und erkannte Ninian, der also doch früh aufgestanden sein mußte. Er beugte sich über etwas am Rande des Baches. Dann richtete er sich auf, und ich sah, daß seine Hände voll Grünzeug waren. Wasserkresse wuchs dort, und Pfefferminze vermischt mit Hahnenfuß. Er blieb einen Augenblick stehen, als ob er die Pflanzen in den Händen sortieren wollte, dann sprang er über den Bach und rannte den jenseitigen Hang hinauf. Sein blauer Mantel flatterte wie ein Segel hinter ihm her. «Also?» sagte ich. «Ich wollte gerade sagen-laß uns dort hinuntergehen. Wir müssen miteinander sprechen, und dazu müssen wir uns nicht unbedingt hier oben auf dem Berg gegenüberstehen; wir können es uns auch bequemer machen. Du bringst mich noch immer in Verlegenheit, Merlin, auch wenn ich weiß, daß ich recht habe.» «Das war nicht meine Absicht. Aber gehen wir doch hinunter.» Er zog den Kopf der Stute aus dem Gras herauf und ging vor mir bergab bis zu der Stelle, wo sich am Bachufer das kleine Gehölz befand. Die meisten Bäume waren Birken, nur hier und da eine knorrige Erle, die mit Dornengestrüpp und Geißblatt überwuchert war. Ein kürzlich umgefallener Birkenstamm lag da; die silbrige Baumrinde war glatt und sauber. Der König band ein Ende des Zügels an einen jungen Schößling und ließ die Stute grasen; dann kam er zurück und setzte sich neben mich auf den Birkenstamm. Er kam sofort auf den Kern der Sache zu sprechen. «Hat Ninian jemals etwas über seine Herkunft erzählt? Seine Familie?» 386
«Nein. Ich habe ihn nie dazu gedrängt. Ich vermutete eine niedere Herkunft, vielleicht auch uneheliche Geburt - er sieht nicht wie ein Bauer aus und redet auch nicht so. Aber wir beide wissen, wie sehr man einen Menschen mit solchen Fragen kränken kann.» «Ich habe keine derartigen Skrupel gehabt. Ich habe mir seit dem Tag Gedanken über ihn gemacht, da ich ihn bei dir in Applegarth kennenlernte. Nach meiner Rückkehr habe ich Erkundigungen über ihn eingezogen.» «Und was hast du festgestellt?» «Genug, um zu wissen, daß er dich von Anfang an getäuscht hat.» Er schlug sich in einem Anfall von Verzweiflung mit der Faust auf das Knie. «Merlin, Merlin, bist du mit Blindheit geschlagen. Ich könnte schwören, daß sich kein Mann so täuschen lassen würde, mit Ausnahme von dir ... Auch jetzt noch, vor ein paar Minuten, hast du ihn hier unten am Bach beobachtet und nichts gesehen?» «Was hätte ich sehen sollen? Ich glaube, er hat Erlenrinden gesammelt. Er wußte, daß wir davon noch mehr brauchen, und du kannst selbst sehen, wo der Baum dort geschält worden ist. Und er hatte Wasserkresse in den Händen.» «Siehst du? Dafür sind deine Augen gut genug, aber nicht, um zu merken, was jeder andere Mann auf der Welt gesehen haben würde und wenn auch nicht sofort, dann doch spätestens nach einigen Tagen! Ich hatte in jenen ersten Minuten dort unten in deinem Garten den Verdacht, als du mir von dem <wahren Traum> erzähltest, und als ich dann Nachforschungen anstellte, erfuhr ich, daß mein Verdacht begründet war. Wir haben soeben dieselbe Person den Hang hinauflaufen sehen. Du sahst einen Knaben mit Wasserkresse in der Hand, aber was ich sah, war ein Mädchen.» Ich kann mich nicht erinnern, an welcher Stelle seiner Rede mir klar wurde, was er mir sagen wollte; bevor er noch geendet hatte, wußte ich, daß ich alles irgendwie bereits gewußt hatte; die Hitze, bevor der Blitz einschlägt, die Stille nach dem Blitz, bis der Donnerschlag kommt. Was der weise Zauberer mit seinen gottgesandten Visionen nicht bemerkt hatte, war dem jungen, im Umgang mit Frauen erfahrenen Mann sofort aufgefallen. Es stimmte. Ich konnte mich nur 387
wundern, weil ich mich so leicht hatte täuschen lassen. Ninian. Die im Nebel nur undeutlich erkennbare Gestalt, die dem ertrunkenen Knaben so ähnlich war, daß ich sie grüßte und ihr die Worte «Knabe» und «Ninian» in den Kopf setzte, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. Ich sagte ihr, ich sei Merlin und bot ihr die Gabe meiner Kraft und Magie an, Gaben, die mir eine andere Frau - die Hexe Morgause vergebens zu entlocken versucht hatte, die ich aber dieser Fremden bereitwilligst zu Füßen legen wollte. Kein Wunder, daß sie Zeit gebraucht hatte, um darüber nachzudenken, ihre Angelegenheiten zu ordnen, sich die Haare zu schneiden, ihre Kleidung umzustellen und sich Mut zu machen, bevor sie zu mir nach Applegarth kam. Daß sie sich geweigert hatte, das Haus mit mir zu teilen und lieber in den Räumen jenseits der Säulenhalle mit ihrer eigenen Treppe bewohnte; daß sie sich nicht für Mora interessierte, die beiden aber gut miteinander auskamen. Hatte es Mora also vermutet? Ich schob den Gedanken beiseite, weil mir plötzlich noch viele andere kamen. Die Geschwindigkeit, mit der sie von mir gelernt hatte, die Kraft, mit all ihrer Pein, die sie zuerst mit Furcht und Ergebenheit, aber schließlich freudig akzeptiert hatte. Der ernste, sanfte Blick, die Andeutungen einer Verehrung, die sie mit Bedacht anbot und ebenso sorgfältig in Grenzen hielt. Die Art und Weise, wie sie sich entfernt hatte, als ich leichthin erklärte, Frauen seien ein Störenfried im Leben der Männer. Ihre sofortige Verdammung der Guinevere anstelle von Bedwyr, weil diese einer verletzenden Liebe nachgegeben habe. Dann mußte ich daran denken, wie sich ihre dunklen Haare unter meiner Hand angefühlt hatten; ich dachte an ihre hübschen Gesichtszüge, die grauen Augen, die in das Kaminfeuer schauten, und die quälende Liebe, die mir so viele Sorgen bereitet hatte, mich aber jetzt nicht mehr zu stören brauchte. Jetzt war ich endlich frei, mit all der Kraft und dem Ruhm auch mein Mannestum zu verschenken, das bis jetzt nur dem Gott allein gehört hatte. Die Abdankung, vor der ich mich gefürchtet hatte, würde jetzt keinen Verlust mehr bedeuten, sondern mir eher neue Freuden eintragen.
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Ich kam in den Sonnenschein zurück; das Birkenwäldchen und die Glockenblumen sahen plötzlich ganz anders aus. Artus blickte mich unverwandt an. «Es scheint dich nicht zu überraschen. Hattest du es geahnt?» «Nein. Aber ich hätte es mir denken können; wenn nicht auf Grund der Anzeichen, die dir auffielen, so doch durch die Gefühle, die ich selbst hatte - und auch jetzt noch habe.» Ich lächelte über seinen Blick. «O ja. Ein alter Narr, wenn du so willst. Aber jetzt bin ich überzeugt, daß meine Götter es gut mit mir meinen.» «Weil du glaubst, daß du dieses Mädchen liebst?» «Weil ich sie liebe.» «Ich habe dich immer für einen klugen Mann gehalten», sagte er. «Und weil ich ein kluger Mann bin, weiß ich auch, daß sich die Liebe nicht verleugnen läßt. Es ist zu spät, Artus. Was auch daraus werden mag - es ist zu spät. Es ist nun einmal geschehen. Nein, hör mir zu. Jetzt ist alles klar geworden wie der Sonnenschein auf dem Wasser. Prophezeihungen, die ich gemacht habe, künftige Dinge, die ich mit Schrecken vorhergesehen habe ... Ich sehe sie jetzt auf mich zukommen, upd der Schrecken ist vergangen. Ich habe oft genug gesagt, daß die Sehergabe ein zweischneidiges Schwert ist; die Götter reden zweideutig; ihre Drohungen schlagen, ebenso wie ihre Glücksversprechungen, in den Händen der Menschen oft ins Gegenteil um.» Ich hob den Kopf und schaute durch das sich leise bewegende Laub nach oben. «Ich habe dir gesagt, daß ich mein eigenes Ende gesehen habe. Ich hatte einstmals einen Traum, ich sah eine Vision in der Flamme. Ich sah die Höhle in den Waliser Bergen: Und die Frau, meine Mutter, deren Namen Niniane war, und der junge Prinz, mein Vater, lagen beieinander. Dann sah ich mich selbst, grauhaarig, und ein junges Mädchen mit dichtem, dunklen Haar und geschlossenen Augen, und ich dachte, daß auch sie Niniane war. Und sie war es. Sie ist es. Verstehst du? Wenn sie bei meinem Ende die Hand im Spiele hat, wird es ein gnädiges Ende sein.» Er stand so abrupt auf, daß der Hund mit gesträubten Rückenhaaren aufsprang und sich umschaute, als drohe Gefahr. Artus machte drei 389
Schritte zurück und trat dann wieder vor, um mir, von Angesicht zu Angesicht, ins Auge zu blicken. Er schlug die geballte Faust so heftig in die andere Handfläche, daß die etwa ein Dutzend Schritte entfernte Stute erschrak und mit gespitzten Ohren zitternd stehenblieb. «Wie kannst du eigentlich von mir erwarten, daß ich dir zuhöre, wenn du von deinem Tod sprichst? Du hast mir einmal erzählt, daß du lebendig in einem Grabmal enden würdest - du glaubtest, es würde in Bryn Myrddin sein. Jetzt wirst du wohl von mir verlangen, daß ich dich dorthin zurückgehen lasse, damit diese - diese Hexe dich dort zu Grabe tragen kann!» «Ganz so ist es nicht. Du hast nicht verstanden-» «Ich verstehe es ebenso gut wie du, und ich erinnere mich noch an mehr! Hast du Morgauses Fluch vergessen? Daß weibliche Magie dich letzten Endes umstricken wird? Und was hat dir einst die Königin Ygraine, meine Mutter vorausgesagt? Du hast mir erzählt, was sie sagte. Daß sie, falls Gorloise von Cornwall stürbe, den Rest ihres Lebens von allen Göttern erflehen werde, daß du durch den Verrat einer Frau ums Leben kommen mögest.» «Na und?» sagte ich. «Und bin ich nicht umgarnt worden? Und bin ich nicht betrogen worden? Und das ist alles.» «Bist du dessen so sicher? Verzeih mir, wenn ich dich noch einmal daran erinnere, daß du von Frauen nichts verstehst. Denk an Morgause. Sie versuchte dich zu überreden, sie in deiner Magie zu unterweisen, und als du es nicht wolltest, riß sie die Macht auf andere Weise an sich . . . auf eine Weise, die wir beide kennen. Jetzt ist diesem Mädchen gelungen, was Morgause nicht geschafft hat. Aber sag mir eines: wenn sie als Frau zu dir gekommen wäre, hättest du sie dann aufgenommen und in deiner Kunst unterwiesen?» «Das kann ich dir nicht sagen. Wahrscheinlich nicht. Aber es kommt schließlich darauf an, daß sie nicht als Frau erschienen ist. Und die Täuschung ging nicht von ihr aus; sie wurde ihr durch meinen Irrtum aufgezwungen, und dieser Irrtum wiederum wurde mir durch den Zufall aufgezwungen, als ich Ninian, der ertrank, kennen und lieben lernte. Wenn du hier nicht sehen kannst, daß die Hand des Gottes am Werke war, dann tust du mir leid.» 390
«Ja, ja», sagte er ungeduldig, «aber du hast mir gerade erklärt, daß die Götter doppelzüngig reden. Was du jetzt als Freude erkennst, kann sehr wohl den Tod bedeuten, den du gefürchtet hast.» «Nein», sagte ich. «Du mußt es anders sehen. Daß sich nämlich ein lange befürchtetes Schicksal letzten Endes als barmherzig erweisen kann wie dieser . Mein Alptraum, ich würde lebendig begraben, kann sich auch als ein solcher Fall erweisen. Aber was es auch sein mag - ich kann ihm nicht aus dem Wege gehen. Was kommen wird, wird kommen. Der Gott wählt den Zeitpunkt und die Form. Wenn ich ihm nach all diesen Jahren nicht mehr vertraute, wäre ich tatsächlich der Narr, für den du mich hältst.» «Du gehst also zu diesem Mädchen zurück, behältst sie bei dir und fährst fort, sie in deiner Kunst zu unterrichten?» «Genau das. Ich kann es jetzt nicht abbrechen. Ich habe die Saat der magischen Kraft in sie gelegt; und ebenso sicher, wie ein Baum oder ein von mir gezeugtes Kind heranwachsen, kann ich jetzt nicht aufhören. Und auch die andere Saat ist gesät, zum Guten oder Bösen. Ich liebe sie innig, und wäre sie zehnmal eine Zauberin, kann ich Gott nur dafür danken und sie nur um so enger an mich binden.» «Ich kann nicht mit ansehen, daß dir wehgetan wird.» «Sie wird mir nicht wehtun.» «Falls sie es dennoch tut», sagte er, «Hexe hin oder her, werde ich mit ihr verfahren, wie sie es verdient. So, ich glaube, jetzt gibt es nichts mehr zu sagen. Wir gehen jetzt besser zurück. Der Korb da sieht schwer aus. Laß mich ihn tragen.» «Einen Augenblick. Da ist noch etwas anderes.» «Ja?» Ich saß noch auf dem Birkenstamm, und er stand mir direkt gegenüber. Vor dem Hintergrund der zarten Birkenzweige und dem Laub, das sich in der sanften Brise leicht bewegte, wirkte er groß und mächtig. Die Edelsteine an Schulter, Gürtel und Schwertknauf funkelten, als führten sie ein Eigenleben. Er sah zwar nicht jung, aber wie ein Mann aus, der in der Blüte seines Lebens steht; ein Führer 391
unter Königen. Er wirkte gesammelt. Nichts wies darauf hin, was er sagen oder tun würde, nachdem ich gesprochen hatte. Ich sagte langsam: «Da wir von Dingen sprechen, die sich jüngst ereignet haben, gibt es in diesem Zusammenhang noch etwas, was ich dir sagen muß. Auch eine Vision, die ich dir aus meinem Pflichtgefühl heraus zur Kenntnis bringen muß. Es ist etwas, das ich gesehen habe nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Bedwyr, dein Freund, und Guine-vere, deine Königin, lieben einander.» Ich hatte beim Sprechen den Blick abgewandt, da ich nicht mitansehen wollte, wie ihn dieser Schlag traf. Ich hatte einen Zornesausbruch erwartet, mindestens aber Erstaunen und Ungläubigkeit. Statt dessen herrschte Stille, eine Stille, die sich so lange hinzog, daß ich schließlich aufschaute und in seinem Gesicht keine Spur von Zorn oder auch nur Überraschung sah, sondern eine Art von Gelassenheit, aus der nur Mitleid und Bedauern sprachen. Ich sagte und glaubte es selbst nicht: «Du hast es gewußt?» «Ja», sagte er schlicht. «Ich weiß es.» Es trat eine Pause ein, während ich nach Worten suchte und keines fand. Er lächelte. In dem Lächeln lag etwas, das überhaupt nicht von Jugend und Macht zeugte, sondern eher von einer Weisheit, die vielleicht noch größer, weil rein menschlich war, als sie mir zugeschrieben wurde. «Ich habe keine Sehergabe, Merlin, aber ich sehe, was vor meinen Augen liegt. Und glaubst du etwa, daß andere, die raten und munkeln, nicht alles daran gesetzt haben, mir diese Tatsache zu hinterbringen? Ich habe manchmal den Eindruck, daß die einzigen, die mir weder durch Worte noch durch Blicke einen Hinweis gegeben haben, Bedwyr und die Königin sind.» «Wie lange weißt du es schon?» «Seit der Sache mit Melwas.» Und ich hatte keine Ahnung gehabt. Sein gütiges Verhalten der Königin gegenüber, ihre Erleichterung und wachsende Glückseligkeit hatten mir keinen Fingerzeig gegeben. «Warum hast du dann Bedwyr bei ihr zurückgelassen, als du nach Norden zogst?»
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«Um ihnen etwas zu gönnen, wenn es auch noch so wenig ist.» Die Sonne schien ihm ins Gesicht, er runzelte die Stirn. Dann sagte er langsam: «Du hast mir soeben gesagt, daß man Liebe nicht kommandieren oder unterbinden kann. Wenn du bereit bist, die Liebe zu akzeptieren, und dabei weißt, daß sie dir den Tod bringen kann, um wieviel mehr muß ich dann dies hinnehmen, wo ich doch weiß, daß diese Liebe weder Freundschaft noch Treue zerstören kann?» «Und das glaubst du?» «Warum nicht? Alles was du mir jemals erzählt hast, hat sich bewahrheitet. Denk nur an deine Prophezeiungen über meine Ehe, über den <weißen Schatten>, den du sahst, als Bedwyr und ich noch Kinder waren, an guenhwyvar, der uns beide berührte. Du sagtest damals, daß es das Vertrauensverhältnis, das wir zueinander hatten, weder trüben noch zerstören würde.» «Ich erinnere mich.» «Sehr gut. Als ich meine erste Guenever heiratete, warntest du mich, daß diese Ehe für mich verderblich sein könnte. Die kleine Guenever und verderblich?» Er ließ ein freudloses Lachen hören. «Schön, jetzt kennen wir die Wahrheit über diese Prophezeiung. Jetzt haben wir den Schatten gesehen. Und jetzt sehen wir ihn über Bedwyrs Leben und das meinige fallen. Aber wenn dieser Schatten unser gegenseitiges Vertrauen nicht berührt, was sollte ich dann deiner Meinung nach tun? Ich muß Bedwyr das Vertrauen und die Freiheit schenken, auf die er Anspruch hat. Bin ich ein armer Bauer, der nichts im Leben hat außer einer Frau und einem Bett, das er eifersüchtig bewacht wie der Hahn seinen Misthaufen? Ich bin ein König, und ich führe das Leben eines Königs; sie ist eine Königin, und kinderlos, deshalb muß ihr Leben armseliger als das einer armseligen Frau sein. Soll sie Jahr für Jahr in einem leeren Bett warten? Soll sie Spazierengehen, ausreiten und ihre Mahlzeiten einnehmen, wenn der Platz neben ihr leer ist? Sie ist jung und sie sehnt sich wie jede Frau nach Geborgenheit und Liebe. Bei deinem Gott oder jedem Gott, Merlin, wenn sie in den langen Zeiten, die mich meine Arbeit vom Hofe wegführt, einen Mann mit in ihr Bett nimmt - sollte ich dann nicht dankbar sein, daß es Bedwyr ist? Und was sollte ich deiner 393
Ansicht nach tun oder sagen? Jedes Wort, das ich an Bedwyr richte, würde die Wurzeln unseres Vertrauensverhältnisses berühren, und es würde nichts an dem ändern, was bereits geschehen ist. Liebe, sagst du mir, läßt sich nicht verleugnen. Deshalb halte ich den Mund, und du wirst dasselbe tun, und dadurch werden Glaube und Freundschaft ungebrochen weiterbestehen. Und wir können ihre Unfruchtbarkeit als eine Gnade empfinden.» Er lächelte wieder. «Der Gott wirkt also für uns beide auf verschlungenen Wegen, findest du nicht auch?» Ich stand auf. Die Birken regten sich, und die Sonne schien herab. Das Glitzern des Baches blendete mich, so daß mir Tränen in die Augen traten. Ich sagte still: «Siehst du? Dies ist die endgültige Gnade. Du brauchst meine Kraft und meinen Rat nicht mehr. Was immer du in Zukunft noch an Prophezeiung brauchen solltest, kannst du jederzeit in Applegarth finden. Und was mich 'anbetrifft, so laß mich in Frieden ziehen, zurück in mein eigenes Heim und meine eigenen Berge und zu allem, was mich dort erwartet.» Ich hob den Korb auf und reichte ihn ihm. «Aber willst du jetzt erst einmal mit mir nach Applegarth kommen und sie kennenlernen?» 1O Als wir in Applegarth ankamen, schien das Anwesen verlassen zu sein. Es war noch sehr früh. Varro war noch nicht zur Arbeit erschienen, und Mora hatte ich aus der Ferne gesehen, als sie mit dem Korb über dem Arm zum Dorfmarkt gingDie Stute kannte den Weg zu den Stallungen und trabte davon, nachdem sie einen Klaps auf das Hinterteil bekommen hatte. Wir traten ins Haus. Ninian war da; sie saß wie gewohnt auf ihrem Hocker am Fenster und las. Nicht weit von ihr pickte ein Rotkehlchen vom Fenstersims die Brotkrumen auf, die sie dort hingestreut hatte. Sie mußte das Pferd gehört und angenommen haben, daß ich an diesem Morgen geritten und nicht zu Fuß gegangen, oder daß ein reitender Bote schon sehr früh von Camelot herübergekommen war. 394
Den König hatte sie offenbar nicht erwartet. Als ich das Zimmer betrat, blickte sie lächelnd auf und sagte «Guten Morgen»; dann sah sie Artus' Silhouette im Türeingang hinter mir, stand auf und rollte das Buch zwischen den Händen zusammen. «Ich werde Euch allein lassen, soll ich?» sagte sie und wandte sich ohne Hast zum Gehen. Ich wollte sie vorwarnen. «Ninian...» begann ich, aber dann kam Artus mit raschen Schritten an mir vorbei in den Raum, blieb stehen und sah sie an. Jetzt, da ich Bescheid wußte, fragte ich mich verwundert, wieso ich es nicht schon seit langem bemerkt hatte. Es war kaum das Gesicht eines jungen Mannes von achtzehn Jahren; ein unreifer Achtzehnjähriger hätte vielleicht diese glatten Wangen und den hübschen Mund haben können, und ihr Körper unter dem formlosen Gewand war schlank wie der eines Knaben, aber die Hände waren nicht die eines jungen Mannes, auch die schmalen Füße nicht. Ich kann mir nur vorstellen, daß meine eigene Erinnerung an den Knaben Ninian mich blind gemacht und sich mir sein Bild, wie er mit sechzehn ausgesehen hatte, so tief eingeprägt hatte, daß ich ihn neu erstehen ließ, zuerst in dem nur undeutlich erkennbaren Geist am See, dann in diesem Mädchen, das mir so nahe war, von mir so genau beobachtet und trotzdem nicht gesehen wurde, und das die ganzen langen Monate hindurch. Und dann (dachte ich bei mir) war es ihr vielleicht gelungen, ein wenig von meiner eigenen Zauberkraft gegen mich zu verwenden, mich mit Blindheit zu schlagen, damit sie bei mir bleiben konnte, bis sie ihren Zweck erreicht hatte. Sie stand kerzengrade vor uns und sah uns an. Ich glaube, es bedurfte keiner Zauberkraft, um ihr zu sagen, daß wir Bescheid wußten. Die grauen Augen begegneten ganz kurz meinem Blick und wandten sich dann dem König zu. Was nun geschah ist schwer zu beschreiben. Da war der stille, vertraute Raum, der mit den Düften und Geräuschen des Sommermorgens angefüllt war; Geißblatt und ein paar frühe Rosen und die Levkojen, die sie draußen vor dem Fenster gepflanzt hatte; halb verbrannte Holzscheite des Vorabends (in den Nächten konnte es 395
noch immer kühl werden, und sie hatte darauf bestanden, ein Feuer zu machen, damit ich mich neben ihm wärmen konnte); der liebliche Triller des Rotkehlchens, als es in die Äste des Apfelbaums hochflog. Ein freundliches Zimmer, wo sich für jeden mit normaler Sinneswahrnehmung überhaupt nichts ereignete. Lediglich drei Menschen - und keiner sprach ein Wort. , Aber ich hatte plötzlich ein prickelndes Gefühl auf der Haut, wie von Wasser, wenn der Blitz einschlägt. Ich spürte eine Gänsehaut, und die Haare auf meinen Unterarmen standen zu Berge. Ich rührte mich nicht. Weder dem König, noch dem Mädchen schien etwas aufgefallen zu sein. Sie sah ihn mit ernstem Gesicht, völlig ruhig an. Es wirkte gelassen und fast ein wenig gleichgültig, wie mir schien, und gleichzeitig überfluteten mich jene beängstigenden Ströme, wie einen Stein, den auflaufendes Wasser am Strand überspült. Ninians graue Augen hielten seinem durchdringenden Blick stand. Ich konnte die Kräfte spüren, die freigeworden waren, als sich die beiden begegneten. Die Luft schien zu vibrieren. Dann nickte er und hob eine Hand, um sich den Umhang von der Schulter zu lösen. Ich sah, wie sich ihr Mund mit dem Anflug eines Lächelns bewegte. Die Botschaft war verstanden worden. Um meinetwillen würde er sie akzeptieren. Und um meinetwillen würde sie die Prüfung bestehen. Die Spannung verebbte, und ich sagte: «Laß mich das tun», und nahm ihm den Umhang ab. Das Mädchen sagte: «Soll ich ein Frühstück hereinbringen? Mora hat es zubereitet, aber Ihr kamt spät, deshalb ist sie schon auf den Markt gegangen. Sie meint, die besten Sachen seien immer schon ausverkauft, wenn sie nicht ganz früh dort ist.» Sie ging und brachte die hergerichteten Platten herein. Wir setzten uns. Sie holte Brot und den Topf mit Honig, sowie je einen Krug mit Milch und Met. Letzteren stellte sie neben dem König hin und nahm dann wortlos mir gegenüber ihren gewohnten Platz ein. Sie hatte mich nicht mehr angesehen. Als ich ihr einen Becher Milch einschenkte, dankte sie mir, ohne die Augen zu heben. Dann strich sie sich Honig auf ihr Brot und begann zu essen. 396
«Dein Name», sagte der König. «Ist er Niniane?» «Ja», sagte sie, «aber ich bin immer Nimue gerufen worden.» «Deine Eltern?» «Mein Vater hieß Dyonas.» «Ja. Der König der River Islands?» «Derselbe. Er lebt nicht mehr.» «Das weiß ich. Er kämpfte neben mir bei Viroconium. Warum bist du von zu Hause weggegangen?» «Ich wurde in den Dienst der Lieben Frau auf die Glasinsel geschickt. Es war der Wunsch meines Vaters.» Der Anflug eines Lächelns. «Meine Mutter war Christin, und als sie im Sterben lag, nahm sie ihm das Versprechen ab, mich auf die Insel zu schicken; ich weiß, daß sie mich für den Dienst in der Kirche ausersehen hatte. Ich war damals erst sechs Jahre alt, aber er versprach es ihr. Er selbst hatte für den neuen Gott -wie er ihn nannte - nie viel übrig gehabt; er war ein Eingeweihter des Mithraskults; sein Vater brachte ihn zur Zeit von Ambrosius dorthin. Und als die Zeit kam, da er das meiner Mutter gegebene Versprechen einlösen mußte, brachte er mich zwar auf die Insel, aber in den Dienst der Guten Göttin, in das Heiligtum unterhalb des Berges Tor.» «Ich verstehe.» Jetzt verstand auch ich. Als eine der ancillae des Schreins mußte sie dort gewesen sein, als Artus nach Caer Guinnion und Caerleon am Dankgottesdienst teilnahm. Vielleicht hatte sie auch mich dort neben dem König gesehen. Sie mußte gewußt haben, daß sie kaum eine Gelegenheit finden würde, sich dem fürstlichen Zauberer zu nähern und etwas von seiner Kunst zu lernen. Dann hatte ich ihr in jener nebligen Nacht selbst den Schlüssel in die Hand gegeben. Es hatte eines gewissen Mutes bedurft, ihn zu ergreifen, aber Gott wußte, daß sie ein mutiges Mädchen war. Der König verhörte sie weiter. «Und du wolltest die Magie erlernen. Warum?» «Sir, ich kann nicht sagen, warum. Warum will ein Sänger die Musik erlernen? Oder warum schwingt sich ein Vogel in die Luft? Als 397
ich zum ersten Mal auf die Insel kam, entdeckte ich dort einige Spuren der magischen Kunst; ich lernte alles, was man dort lernen konnte, aber ich blieb hungrig. Dann sah ich eines Tages ...» Zum ersten Mal zögerte sie. «Dann sah ich Merlin in dem Heiligtum. Ihr werdet Euch des Tages erinnern. Später erfuhr ich, daß er sich hier in Applegarth niedergelassen hatte. Ich dachte, ich könnte zu ihm gehen, wenn ich nur ein Mann wäre. Er ist weise, er würde wissen, daß mir die Magie im Blut liegt, und er würde mich unterrichten.» «Ach ja. Der Tag, an dem wir für unsere Siege einen Dankgottesdienst abhielten. Aber wenn du dort warst - wie kommt es dann, daß du mich zuerst nicht erkannt hast, als du mich hier wiedersahst?» Sie errötete tief. Zum ersten Mal wandte sie den Blick von ihm. «Ich sah Euch nicht, Sir. Ich habe Euch ja gesagt, daß mein Blick auf Merlin gerichtet war.» Plötzlich herrschte Stille im Raum, als ob man eine Hand auf die Harfensaiten legt und jeden Ton erstickt. Ich sah, wie Artus den Mund auf- und gleich wieder zumachte; dann stand ein lebhaftes Lachen auf seinem Gesicht. Sie, die unverwandt den Tisch ansah, merkte davon nichts. Er warf mir einen höchst belustigten Blick zu, trank dann seinen Becher aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Tonfall hatte sich nicht geändert, aber die Spitze war ihm genommen; er hatte das Schwert gesenkt. «Aber du wußtest, daß Merlin dich wahrscheinlich nicht als Schülerin aufnehmen würde, auch wenn die Liebe Frau dazu gebracht werden konnte, dich aus ihrem Kloster zu entlassen.» «Ja. Das wußte ich. Mir blieb keine Hoffnung. Danach fand ich mich mit dem Leben im Kreis der anderen Frauen noch weniger ab. Sie schienen so zufrieden zu sein, dort mit den kleinen Zaubertricks und den Gebeten und Zaubersprüchen eingesperrt zu sein und den Blick stets auf die alte Sagenzeit gerichtet zu haben ... es ist schwer zu erklären. Wenn man etwas in sich hat, etwas, das irgendwie frei sein will, dann weiß man davon.» Sie sah ihn an, wie ein Gleicher unter Gleichen. «Auch Ihr müßt es erfahren haben. Ich war noch nicht geboren und hämmerte von innen gegen die Eierschale, nur um hinaus 398
in die Luft zu kommen. Aber die einzige Möglichkeit, der Insel zu entrinnen, wäre der Heiratsantrag eines Mannes gewesen, aber dafür wäre ich nicht weggegangen, und mein Vater hätte mich dazu auch nicht gezwungen.» Er nickte verständnisvoll. «Also?» «Es fiel mir sogar schwer, Zeit zum Alleinsein zu finden. Ich hielt die Augen offen, wartete auf meine Chance und schlüpfte manchmal hinaus - dann war ich mit meinen Gedanken, mit dem Himmel und dem Wasser allein. . . Dann, in der Nacht, als Königin Guinevere vermißt wurde und die Insel in heller Aufregung war, dachte ich plötzlich, daß dies für mich die Gelegenheit sei, wegzugehen, ohne daß man mich sofort vermißte ... Es gab da ein Boot, das ich mir manchmal auslieh. Ich ging ins Freie. Ich wußte, daß mich in dem Nebel niemand sehen würde. Dann kam Merlin am Seeufer auf mich zu und sprach mich an.» Sie stockte. «Ich glaube, den Rest müßt Ihr kennen.» «Ja. Als dich also Merlin durch Zufall - du würdest sagen Gott, da du Merlins Schülerin bist - mit dem Knaben Ninian verwechselte und dich aufforderte, zu ihm zu kommen und von ihm zu lernen, hast du den zweiten Zufall selbst herbeigeführt.» Sie neigte den Kopf. «Als er mich ansprach, war ich verwirrt. Es war wie ein Traum. Später erkannte ich, daß er mich für irgendeinen Knaben gehalten hatte, der ihm einmal begegnet war.» «Wie hast du dich schließlich von dem Heiligtum trennen können? Was hast du als Grund angegeben?» «Ich sei zu höherem Dienst gerufen worden. Ich gab keine Einzelheiten preis. Ich ließ die hohe Frau in dem Glauben, ich kehre in das Haus meines Vaters zurück. Ich glaube, sie bildete sich ein, ich müßte auf die River Isles zurückgehen, um dort meinen Vetter zu heiraten, der jetzt dort herrscht. Sie stellte keine Fragen und legte mir nichts in den Weg.» Nein, dachte ich bei mir; jene herrische Frau ist sicher froh gewesen, eine Adeptin loszuwerden, die sie mit Sicherheit noch in den Schatten gestellt hätte. Im Kreis jener weißgekleideten Mädchen 399
mußte diese junge, bezaubernde Person wie ein Diamant in weißem Flachs gewirkt haben. Hinter mir ließ sich das Rotkehlchen wieder auf dem Fensterbrett nieder und probierte eine weitere Strophe seines Liedes. Ich zweifle, ob Nimue oder Artus es überhaupt hörten. Seine Fragen gingen jetzt in eine andere Richtung. «Brauchst du für deine Vision ein Feuer, oder kannst du, wie Merlin, die Welt in kleinen Tautropfen sehen?» «Ich habe Heuil in Tautropfen gesehen.» «Und das hat sich bewahrheitet. Mir scheint, daß du dir bereits einen Teil der Seherkraft angeeignet hast. Feuer ist zwar nicht da, aber willst du für mich noch einmal Ausschau halten und mir jetzt sagen, ob in den Sternen irgendeine andere Warnung liegt?» «Ich kann nichts dergleichen sehen.» Ich biß mich auf die Lippe. Es war meine eigene Stimme als junger Mann, selbstsicher, vielleicht ein wenig großspurig. Auch er erkannte den Tonfall. Er sagte ernst: «Es tut mir leid. Ich hätte es wissen sollen.» Dann stand er auf und griff nach dem Umhang, den ich über einen Stuhl gelegt hatte. In ihrer Haltung war eine leichte Unsicherheit zu spüren, als sie ihm beim Umlegen half. Er sagte mir Lebewohl, aber ich hörte ihn kaum. Auch ich hatte die Fassung verloren. Ich, der ich nie um Worte verlegen war, wußte nicht, was ich in diesem Augenblick sagen sollte. Der König stand im Türrahmen. Die Sonne warf seinen Schatten zwischen uns beide herein. Die großen Smaragde auf dem Schwertknauf von Caliburn blitzten im Licht. «König Artus!» sagte Nimue scharf. Er drehte sich um. Ob er ihren Ton anmaßend fand, ließ er sich nicht anmerken. Sie sagte: «Wenn Eure Schwester, Lady Morgan, nach Camelot kommt, schließt Euer Schwert weg und seid vor Verrat auf der Hut.» Er schien erstaunt und sagte dann mit rauher Stimme: «Was meinst du damit.» 400
Sie stockte und schien über ihre eigenen Worte erstaunt zu sein. Dann hob sie die Hände, als wollte sie mit den Achseln zucken. «Herr, ich weiß es nicht. Nur das. Estutmirleid.» «Schön . . .» sagte Artus. Er warf mir einen Blick zu, zog die Augenbrauen in die Höhe und ging hinaus. In der jetzt folgenden Stille hüpfte das Rotkehlchen bis ins Zimmer und auf den Tisch, wo das Frühstück, kaum berührt, angerichtet war. «Nimue», sagte ich. Da schaute sie mich an, und ich sah, daß sie sich scheute, meinem Blick zu begegnen, obwohl sie sich vor dem König nicht gefürchtet hatte. Ich lächelte ihr zu und sah verwundert, daß sich ihre grauen Augen mit Tränen füllten. Ich streckte ihr meine Hände entgegen. Sie kam meiner Bewegung entgegen. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Wir hörten nicht, daß der König den Hang hinunterritt; ebensowenig hörten wir späterhin, daß Mora vom Markt zurückkehrte und feststellte, daß wir ihr Frühstück nicht aufgegessen hatten. VIERTES BUCH
BRYN MYRDDIN l So fand ich gegen Ende meines Lebens einen neuen Beginn. Es war ein Beginn in der Liebe, für uns beide. Ich besaß keinerlei Erfahrung, und sie, die von Kindheit an als Jungfrau der Göttin angelobt worden war, hatte kaum jemals an Liebe gedacht. Aber was wir erlebten, war genug und mehr als genug: Sie, die viele Jahre jünger als ich war, schien glücklich und befriedigt; und ich, der ich mir wie ein alter Narr vorkam, wußte, daß dies nicht stimmte, sondern das zwischen mir und Nimue ein Band bestand, das stärker war als jedes andere Zusammengehörigkeitsgefühl, das zwischen dem idealen Liebespaar in der Blüte seiner Jahre bestehen konnte. Wir waren dieselbe Person. Wir gehörten zueinander wie die Nacht und das Tageslicht, Dunkelheit und Morgendämmerung, Sonne und Schatten. Wenn wir beieinander lagen, lagen wir am Rande des Lebens, wo die Gegensätze verschmelzen und neue Einheiten bilden, nicht aus dem 401
Fleisch, sondern aus dem Geist, wo der Gedankenaustausch ebenso bedeutsam ist wie die körperliche Lust. Wir gingen keine Ehe ein. Wenn ich jetzt zurückschaue, zweifle ich, ob einer von uns beiden jemals daran gedacht hat, unsere Beziehung auf diese Weise zu festigen; es war nicht klar, nach welchen Riten wir geheiratet oder welches stärkere Band wir erhofft haben könnten. Im Laufe der Tage und Nächte jenes milden Sommers rückten wir immer enger zusammen, als wären wir in ein und dieselbe Form gegossen: Wir wachten am Morgen auf und wußten, daß wir denselben Traum erlebt hatten; wir begegneten uns abends, und jeder wußte, was der andere am Tage erfahren und getan hatte. Und während dieser ganzen Zeit, so glaubte ich, erlebte jeder von uns beiden seine ganz persönliche und wachsende Freude; ich, während ich zusah, wie sie die Schwingen ihrer Sehergabe ausprobierte - wie ein junger Vogel, der sich zum ersten Mal traut, die Luft zu erobern; sie, die diese wachsende Gabe empfing und in Liebe, aber ohne Mitleid Zeuge der Tatsache wurde, daß mich die Sehergabe zur selben Zeit allmählich verließ. So verging der Juni wie im Fluge, und der Hochsommer zog herauf. Der Kuckuck war aus den Adlerfarnen verschwunden, der Spierstrauch strömte seinen starken Honigduft aus und die Bienen summten den ganzen Tag im blauen Boretsch und Lavendel. Nimue ließ durch Varro den Fuchshengst satteln- Artus hatte ihn ihr zum Geschenk gemacht-, gab mir einen Kuß und ritt hinunter zum See. Es war natürlich inzwischen allgemein bekannt, daß die frühere Dienerin der Göttin jetzt mit Merlin in Applegarth zusammenlebte. Es war bestimmt viel spekuliert und gemunkelt worden, zum Teil zweifellos in boshaftem Sinn - und sicherlich waren alle erstaunt, daß sich ein junges und reizendes Mädchen bereitgefunden hatte, mit dem alternden Zauberer das Bett zu teilen. Aber der Hochkönig hatte öffentlich erklärt und seine Einstellung durch Geschenke und Besuche unterstrichen, daß er unsere Beziehung billigte; so hatte nicht einmal die Hüterin des Heiligtums versucht, ihr Tor vor Nimue zu verschließen; im Gegenteil, sie hatte sie bei sich willkommen geheißen, vermutlich in der Hoffnung (wie Nimue belustigt meinte), 402
daß der Schrein einige von Merlins Geheimnissen würde erben können. Nimue verließ Applegarth nicht oft, um auf die Insel oder zum Hof von Camelot zu reiten. Aber man konnte ihr kaum einen Vorwurf machen, wenn sie ein wenig stolz auf diese ersten Monate unseres Zusammenlebens war; als junge Braut würde sie sich natürlich freuen, sich in ihrer neuen Stellung vor ihren' früheren Freundinnen zu zeigen; deshalb nahm ich an, daß Nimue begierig war, die anderen Mädchen im Heiligtum der Göttin wieder einmal aufzusuchen. Am Hof von Camelot war sie ohne mich noch nicht gewesen; sie sprach es zwar nicht aus, aber sie hatte meines Erachtens gewisse Zweifel, wie sie dort, trotz der Unterstützung durch den König, aufgenommen werden würde. Aber bei drei Gelegenheiten war sie wieder auf der Insel gewesen, und diesmal, sagte sie mir, wolle sie einige Pflanzen abholen, die ihr aus dem Garten bei der heiligen Quelle versprochen worden seien. Sie wäre bei Dunkelheit wieder daheim. Ich verabschiedete sie, überprüfte meine Arzneitasche, setzte einen Strohhut wegen der heißen Sonne auf und machte mich auf den Weg, um hinter dem Berg eine Frau zu besuchen, die sich nur langsam von einem Fieberanfall erholte. Ich schritt rasch dahin. Es war ein klarer, aber kühler Tag, und die Lerchen sangen hoch oben am Himmel. Ich erreichte den Bergrücken und folgte dem Pfad, der sich zwischen blühenden Ginsterbüschen hindurchwand. Stieglitze flatterten durch hohes Distelgestrüpp, und überall duftete es nach Thymian. Das ist alles, woran ich mich genau erinnern kann. Urplötzlich schien sich die Welt zu verdunkeln, die Sterne traten heraus und funkelten so klar und deutlich, daß man es prickelnd gerade/u fühlen konnte. Ich lag flach auf dem Rücken und schaute zu ihnen hinauf. Die Ginsterbüsche standen um mich herum, und allmählich - als ob die Empfindungen aus unendlicher Ferne wieder in mich zurückkehrten - fühlte ich ihre Stacheln an Händen und Armen. Im Tau lag das Gefunkel der Sterne. Überall herrschte tiefe Stille, als hielte die Erde den Atem an. Dann begann hoch über mir im schwarzen Himmel ein anderer Lichtpunkt zu wachsen. Die Finsternis erhellte sich. In diesen einzigen wachsenden Lichtpunkt wurden die 403
kleineren Sterne, wie Metallstaub an den Magnet, wie ein Schwärm in den Bienenkorb hineingezogen, bis es am ganzen Himmel kein anderes Licht mehr gab. Meine Augen waren geblendet. Ich konnte mich nicht bewegen, sondern lag nur da, anscheinend allein am Rande der Welt, und beobachtete den Stern. Dann begann er, mit fast unerträglicher Helligkeit, seine Bahn zu ziehen und schoß wie ein Feuerbrand am Himmel vom Zenit zum Horizont hinab und zog einen hellen Lichtschweif, der wie ein Drache geformt war, hinter sich her. Ich hörte laut rufen: «Der Drache! Seht, wohin der Drache stürzt!» Und ich wußte, daß es meine Stimme war. Dann Lichter, und Hände, und Nimues Gesicht, das im Lampenschein weiß zu sein schien; hinter ihr Varro und ein junger Mann, in dem ich vage den Schafhirten wiedererkannte, der seine Herde auf den Wiesen weidete. Dann Stimmen. «Ist er tot?» «Nein. Komm, schnell, decke ihn zu. Er ist kalt.» «Er ist tot, Herrin.» «Nein! Niemals! Ich glaube es nicht! Tut, was ich sage!» Dann angsterfüllt: «Merlin, Merlin!» Und eine männliche Stimme in tief besorgtem Ton: «Wer wird es dem König sagen?» Danach eine Zeitlücke, die diesmal von tiefem Schlaf ausgefüllt war. #** Jetzt kommen wir zu dem Teil meiner Chronik, die am schwierigsten zu erzählen ist. Ob nun der Komet mit seinem Drachenschweif für Merlin wirklich das Ende seiner Sehergabe bedeutete oder nicht (wie man allgemein glaubte) - ich weiß jedenfalls, daß ich bei der Rückschau auf die folgenden Wochen und Monate nicht mit Sicherheit sagen kann, ob" das, woran ich mich erinnere, Traum oder Wirklichkeit war. Es war das Jahr meiner Reise mit Nimue. In der Rückschau sehe ich jede einzelne Szene vor mir, wie Spiegelbilder im Wasser, wenn das Boot vorbeigleitet verschwommen und durchbrochen, wenn die Ruder in die Wasseroberfläche eintauchen. Oder wie jene Augenblicke kurz vor dem Einschlafen, wenn jede einzelne Szene noch einmal vor dem geistigen Auge erscheint, die wahren Erinnerungen wie Träume, und die Träume so wirklichkeitsnah wie die Erinnerung. 404
Ich brauche auch jetzt nur meine Augen zu schließen, um Applegarth zu sehen, wie es friedlich in der Sonne dalag und die alten Bäume dick mit silbernen Flechten überzogen waren - wo das unreife Obst in den Zweigen leuchtete und in dem geschützen Innenhof Lavendel und Salbei und Geißblatt ihren Duft wie in dichten Rauchschwaden in die Luft ausatmeten. Und auf dem Hang hinter dem Turm standen jene seltsamen Dornenbüsche, die im Winter blühen und kleine Blüten mit Staubgefäßen wie Nägel hervorbringen. Und die Tür, wo das Mädchen Nimue, mit dem Licht hinter ihr, am Anfang schüchtern stand - wie der Geist des ertrunkenen Knaben, der vielleicht ein größerer als sie geworden wäre. Und dann dieser Geist: der «Knabe Ninian», der mich immer noch in der Erinnerung verfolgt, neben dem schlanken Mädchen, das in der Sonne zu meinen Füßen saß. Etwa eine Woche nach meinem Anfall auf dem Bergrücken saß ich die meiste Zeit vor meinem Haus. Nicht aus Schwäche, sondern weil Nimue darauf bestand, und außerdem brauchte ich Zeit zum Nachdenken. Dann rief ich sie eines Abends, als es draußen noch warm war, zu mir. Sie ließ sich auf ihrem vertrauten Platz, einem Kissen zu meinen Füßen, nieder. Ihr Kopf war gegen mein Knie gelehnt, und meine Hand strich über ihr dichtes Haar. Dieses war inzwischen nachgewachsen und reichte ihr bis auf die Schultern herab. Ich wunderte mich täglich über meine Blindheit, weil ich nicht die Kurven ihres Körpers und die zarten Linien von Hals, Augenbrauen und Handgelenken gesehen hatte. «Du hast in dieser Woche viel zu tun gehabt.» «Ja», sagte sie. «Was eine Hausfrau so zu tun hat. Ich habe die Krauter geschnitten und sie in Büscheln zum Trocknen aufgehängt.» «Bist du damit fertig?» «Fast. Warum?» «Ich habe die ganze Zeit, während du gearbeitet hast, untätig herumgesessen, aber ich habe nachgedacht.» «Worüber?» 405
«Unter anderem auch über Bryn Myrddin. Du bist noch nie dort gewesen. Bevor der Sommer zu Ende geht, müssen wir, glaube ich, Applegarth verlassen, du und ich-» «Applegarth verlassen?» Sie erschrak und sah verstört zu mir auf. «Du meinst, wir beiden sollten wieder in Bryn Myrddin wohnen?» Ich lachte. «Nein. Das sehe ich noch nicht. Glaubst du daran?» Sie ließ sich mit gesenktem Kopf wieder gegen mein Knie sinken. Sie schwieg eine Weile und sagte dann leise: «Ich weiß nicht. Ich habe nicht einmal davon geträumt. Aber du hast mir gesagt, daß du dort sterben wirst. Ist es das, was du gemeint hast?» Ich streckte die Hand aus und berührte ihr Haar. «Ich weiß, daß ich so etwas gesagt habe, aber bis jetzt habe ich noch keine Ankündigung empfangen. Ich fühle mich sehr gut - besser als seit vielen Monaten. Aber du mußt das ganze so sehen: wenn mein Leben tatsächlich endet, muß das deinige beginnen. Und damit dies geschehen kann, mußt du eines Tages, so wie ich es tat, in die Kristallhöhle der Visionen eintreten. Du weißt das. Wir haben schon davon gesprochen.» «Ja, ich weiß.»Es klang wenig überzeugt. «Also», sagte ich ihr in heiterem Ton, «wir werden nach Bryn Myrddin gehen, aber erst am Ende unserer Reise. Vorher werden wir noch viele Orte und vielerlei Dinge sehen. Ich möchte, daß du die Orte kennenlernst, wo ich mein Leben verbracht habe, und alles das siehst, was ich gesehen habe. Ich habe dir so viel erzählt, wie ich konnte; jetzt mußt du dir alles das ansehen, was ich dir zeigen kann. Verstehst du das?» «Ich glaube, ja. Du schenkst mir den Inbegriff deines Lebens, auf dem ich mein eigenes aufbauen soll.» «So ist es. Für dich sind es die Bausteine, auf denen du dein Leben errichten kannst, wie du es dir wünschst; für mich ist es die Krone und die Ernte.» «Und wenn ich das alles habe?» fragte sie kleinlaut. «Dann werden wir weitersehen.» Belustigt liebkoste ich ihre Haare wieder. «Mach nicht so ein Gesicht, Kind, nimm es leichter. Es ist eine Hochzeitsreise, keine Trauerprozession. Unsere Reisen dienen 406
zwar einem bestimmten Zweck, aber wir werden uns viel Freude bereiten, dessen bin ich sicher. Ich habe schon seit einiger Zeit daran gedacht; der Anlaß ist nicht bloß mein letzter Anfall. Hier in Applegarth sind wir glücklich, und wir werden ganz sicher auch später wieder glücklich und zufrieden hier leben, aber du bist zu jung, um dich hier Jahr für Jahr einzuschließen. Deshalb werden wir auf Reisen gehen. Mein eigentliches Ziel ist dabei, dir die Orte zu zeigen, die ich gekannt und geliebt habe - und zwar aus keinem anderen Grunde als dem, daß ich sie gekannt und geliebt habe.» Sie setzte sich auf und schien gelöster zu sein. Ihre Augen begannen zu leuchten. Sie war noch so jung. «Also eine Art von Pilgerfahrt?» «So könnte man es nennen.» «Du meinst Tintagel, und Rheged, und die Stelle, wo du das Schwert gefunden, und den See, wo du es niedergelegt hast, um auf den König zu warten?» «Mehr als das. Gott helfe uns beiden, wir müssen in die Bretagne übersetzen. Mein Leben und das des Hochkönigs sind - wie auch das deinige sein wird - mit diesem Schwert untrennbar verbunden. Ich muß dir den Ort zeigen, wo mir der Gott zum ersten Mal den Hinweis auf dieses Schwert gab. Deshalb sollten wir schon bald aufbrechen. Jetzt ist die See noch ruhig, aber im nächsten Monat ziehen die Herbststürme auf.» Sie erschauerte. «Dann laß uns unbedingt so schnell wie möglich aufbrechen.» Und dann war sie plötzlich wieder die junge Frau, die vor einer aufregenden Reise nur an eines denken konnte: «Und du mußt mich nach Camelot mitnehmen. Ich habe wirklich nichts anzuziehen . . .» So sprach ich am nächsten Tag mit Artus' Kurier, und kurz darauf erschien Artus persönlich, um mir zu sagen, daß Eskorte und Schiffe bereitstünden und wir aufbrechen könnten. Ende Juli liefen wir von der Insel aus; Artus und die Königin ritten zum Hafen hinunter, um uns Lebewohl zu sagen. Bedwyr war bei uns; sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Erleichterung und 407
seelischem Schmerz; er war beauftragt, uns bei der Überfahrt das Geleit zu geben. Er wirkte wie ein Mensch, der von der Qual einer Droge erlöst worden ist, die - wie" er genau weiß - seinen Tod bedeuten kann, nach der er aber Tag und Nacht sehnsüchtig verlangt. Er hatte Kurierpost von Artus an dessen Vetter König Hoel von der Bretagne bei sich und sollte uns bis an Hoels Hof bei Kerrec begleiten. Als wir zum Kai kamen, wurde das Schiff noch beladen, aber bald war alles fertig, und Artus verabschiedete sich von uns; er ermahnte Nimue: «Paß gut auf ihn auf!» - wodurch ich unwillkürlich an eine andere Seereise erinnert wurde, die ich mit Artus unternommen hatte, der damals noch ein greinendes Baby in den Armen seiner Amme war; König Hoels Eskorte war über den Lärm empört gewesen und hatte sich bemüht, mir trotz allem den gebührenden Empfang zu bereiten. Dann gab er Bedwyr einen Kuß, aus dem nichts als herzliche Zuneigung zu entnehmen war, und Bedwyr murmelte etwas und hielt ihn einen Augenblick fest, bevor er sich umwandte, um Abschied von der Königin zu nehmen. Sie stand lächelnd an der Seite des Königs und hatte sich vollkommen in der Gewalt; sie berührte Bedwyrs dargebotene Hand nur leicht, und als sie ihm eine gute Reise wünschte, lag in ihren Worten kaum mehr Wärme als in ihrem Abschiedsgruß für Nimue. Mir sagte sie besonders herzlich Lebewohl. (Seit der Melwas-Affäre hatte sie mir Dankbarkeit und Sympathie entgegengebracht, vielleicht in der Art,, wie sich ein Mädchen gegenüber seinem alternden Vater verhält.) Ich sprach ein paar Abschiedsworte, warf noch einen prüfenden Blick auf die glatte, ruhige See und ging an Bord. Nimue, bereits etwas blaß geworden, kam mit. Es bedurfte keiner Sehergabe, um voraussagen zu können, daß wir wenig voneinander sehen würden, bis das Schiff vor der bretonischen Küste vor Anker ging. Es ist nicht der Sinn dieser Erzählung, unsere Reisen Meile um Meile zu verfolgen. Ich kann es auch gar nicht, wie ich schon erklärt habe. Wir fuhren in die Bretagne - das weiß ich - und wurden dort von König Hoel willkommen geheißen; wir verbrachten Herbst und Winter in Kerrec. Ich zeigte 408
Nimue die Wege durch den «Gefährlichen Wald» und das bescheidene Gasthaus, wo Ralf, mein Page, den kleinen Artus während der gefahrvollen Jahre des Exils bewacht hatte. Aber schon hier verschwimmen die Erinnerungen; während ich diese Zeilen niederschreibe, kann ich sie alle noch sehen, aber sie gehen ineinander über wie Gespenster, die im Laufe der Jahrhunderte Einzug in ein altes Haus gehalten haben. Jede Einzelheit steht mir deutlich vor der Seele. Artus als Baby, schlafend im Krippenstroh. Mein Vater, der mich im Lampenschein ansieht und fragt: «Was wird aus Britannien werden?» Die Druiden bei ihrem mörderischen Wirken in Nemet. Ich selbst als verängstigter Knabe, der sich im Kuhstall versteckt. Ralf, der im gestreckten Galopp durch die Wälder reitet, um mir Nachrichten von Hoel zu überbringen. Nimue an meiner Seite, ausgestreckt auf dem duftenden Gras einer Waldlichtung liegend. Dann wieder dieselbe Lichtung und das weiße Reh, das in hohen Fluchten abspringt, um die Gefahr von Artus abzulenken. Und damit verwoben andere Erinnerungen oder andere Träume; ein weißer Hirsch mit roten Augen; er floh in der hereinbrechenden Dunkelheit unter den Eichen bei Nodens Schrein davon; Zauber über Zauber. Aber durch all dies hindurch leuchteten - wie eine Fackel, die für eine andere Suche entzündet worden ist - die Sterne, der lächelnde Gott, das Schwert. Wir blieben bis zum Sommer fort - soviel weiß ich genau. Ich weiß sogar noch den Tag unserer Rückkehr nach Britannien. Cador, Herzog von Cornwall, starb in jenem Jahr, und als wir an Land gingen, trauerte das Volk um einen großen Soldaten und einen guten Herzog. Wir landeten in einer kleinen Bucht nicht weit von Tintagel entfernt an der Nordküste von Dumnonia, zwei Tage nach Cadors Tod. Artus war mit seinem gesamten Hofstaat bereits da. Als er unser Segel sah, kam er zum Anlegeplatz herunter, um uns zu begrüßen. Bevor wir noch an Land gingen, sahen wir die mit Stoff überzogenen Schilde, die auf halbmast wehenden Wimpel und das schlichte Weiß der Trauerkleidung. Szenen wie diese tauchen wieder vor mir auf, hell und ohne jeglichen Schatten. Aber dann kommt die im Kerzenschein liegende Kapelle, wo Cadors Leichnam aufgebahrt lag; die Mönche stimmten 409
ihren Singsang an und das Bild verschwimmt. Dann stehe ich wieder an der Bahre seines Vaters und warte auf den Geist des Mannes, den ich verraten hatte. Auch Nimue, zu der ich davon einmal gesprochen hatte, konnte mir dabei nicht helfen. So lange schon hatten wir Gedanken und Träume miteinander geteilt, daß sie (wie sie mir sagte) den Anblick des sommerlichen Tintagel mit seinen leise ans Ufer schlagenden Wellen nicht mehr von meinen stürmischen Erzählungen aus der Vergangenheit trennen konnte. Tintagel, das um Cador trauert, erschien uns beiden weniger wirklichkeitsnah zu sein als die von Stürmen gepeitschte Hochburg, wo Uther, im Beilager mit Gorlois' Weib Ygraine, Artus für Britannien gezeugt hatte. Und so blieb es für den Rest unserer Reise. Nach Tintagel begaben wir uns in den Norden. Die Erinnerung, oder der Traum, zeigt mir hier in der langen Dunkelheit die sanften Hügel von Rheged, die dichten Wälder, die Seen, in denen' sich unzählige Fische tummelten, und, sich im See widerspiegelnd, Caer Bannog, wo ich für Artus das Schwert verborgen hatte. Dann die Grüne Kapelle, wo Artus später, in jener sagenumwobenen Nacht, das gewaltige Schwert schließlich in die eigene Hand nahm. So folgten wir, wie ich es vor Jahren zielstrebig getan hatte, leichten Herzens dem Schwert, aber irgend etwas - ich war mir nicht sicher, ob es ein prophetischer Instinkt, geschweige denn klug war - veranlaßte mich, über jene andere Suche zu schweigen, die ich zuweilen in den Schatten flüchtig erkannt hatte. Sie war nicht meine Aufgabe; sie würde nach mir kommen, und die Zeit war noch nicht reif. So sagte ich nichts von Segontium oder dem Ort, wo noch immer, tief in der Erde, die anderen Schätze vergraben lagen, die zusammen mit dem Schwert in den Westen gelangt waren. Schließlich kamen wir nach Galava. Es war der glückliche Abschluß einer angenehmen Reise. Wir wurden vom Grafen Ector willkommen geheißen; er hatte mit zunehmendem Alter und durch das gute Leben seit dem Friedensschluß an Leibesfülle zugenommen. Er stellte Nimue der Lady Drusilla augenzwinkernd als «Prinz Merlins Gemahlin, Mädchen, -endlich!» vor. Und neben ihm stand, mit strahlendem Gesicht, mein getreuer Ralf; er war stolz wie 410
ein Pfau auf seine hübsche Frau und vier kräftige Kinder und wartete gespannt auf Nachrichten von Artus und dem Süden. Nimue und ich waren gemeinsam in dem Turmzimmer untergebracht, wohin man mich gebracht hatte, als ich mich von Morgauses Gift erholen mußte. Es war einige Zeit nach Mitternacht, als wir dalagen und beobachteten, wie der Mond hinter dem'Fenster den Bergrücken berührte. Sie regte sich, drehte ihre Wange in die Höhlung meiner Schulter und sagte leise: «Und was geschieht dann? Gehen wir nach Bryn Myrddin, in die Kristallhöhle;» «Ich glaube, ja.» «Wenn deine eigenen Berge so schön wie diese hier sind, habe ich vielleicht nichts dagegen, Applegarth im Stich zu lassen», ich hörte ein Lächeln in ihrer Stimme . . . «wenigstens im Sommer.» «Ich habe dir versprochen, daß es nicht dazu kommen wird. Sag mir eines: möchtest du auf der letzten Etappe deiner Hochzeitsreise lieber die Route an der Westküste nehmen oder mit dem Schiff von Glannaventa über das Meer nach Maridunum fahren? Wie ich höre, ist die See zur Zeit ruhig.» Es trat eine kurze Pause ein. Dann sagte sie: «Aber läßt du mir die Wahl? Ich dachte...» «Du dachtest?» Wieder eine Pause. «Ich dachte, du hättest mir noch etwas anderes zu zeigen.» Ihr Instinkt war anscheinend ebenso untrügerisch wie mein eigener. Ich sagte: «Was denn, meine Liebe?» «Du hast mir die ganze Geschichte über das Schwert erzählt, und du hast mir jetzt gezeigt, was mit ihm geschehen ist, mit diesem herrlichen Caliburn, der das Sinnbild der königlichen Macht darstellt und durch den er sein Reich zusammenhält. Du hast mir die Orte gezeigt, wo du durch eine Vision auf seine Spur gebracht wurdest; wo du es versteckt hast, bis Artus in der Lage war, es in die Hand zu nehmen, und wo er es auch tat. Aber du hast mir nie erzählt, wo du es selbst gefunden hast. Ich hatte mir 411
vorgestellt, daß du mir dieses als Letztes zeigen würdest, bevor du mich heimführst.» Ich gab keine Antwort. Sie richtete sich auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah auf mich herunter. Der Mondschein lag auf ihr und machte sie zu einem Wesen aus Silber und Schatten; er beleuchtete die reizenden Linien von Schläfe und Wange, Hals und Brust. Ich lächelte und zeichnete die Linie ihrer Schulter mit sanftem Finger nach. «Wie kann ich überhaupt denken und dir antworten, wenn du so aussiehst?» «Ganz leicht.» Sie beantwortete mein Lächeln, rührte sich aber nicht. «Warum hast du es mir nie gesagt? Vielleicht deshalb, weil da noch etwas anderes ist, das der Zukunft gehört?» Ich sagte langsam: «Du sprachst von einem . Ja, es gibt noch ein Geheimnis, ein einziges; und ja, es reicht in die Zukunft. Ich habe es selbst noch nicht klar gesehen, nur einmal, bevor er König wurde, habe ich Artus etwas prophezeit. Es geschah zwischen dem Auffinden und dem Emporheben des Schwerts, als die Zukunft noch von Feuer und Visionen umgeben war. Ich weiß noch, was ich damals sagte ...» «Ja?» Ich zitierte: <«Ich sehe ein bewohntes und schönes Land, wo das Korn in reicher Fülle gedeiht und die Landwirte in Frieden auf ihren Feldern arbeiten, wie sie es zur Zeit der Römer taten. Ich sehe ein Schwert, das untätig und mißvergnügt wird, und die Tage des Friedens vergehen in Streitsucht und Nörgelei; die untätigen Schwerter und die hungernden Seelen sehnen sich nach neuen Aufgaben. Vielleicht l hat der Gott gerade aus diesem Grund den Gral und den Speer von mir genommen und beide im Boden vergraben, so daß du vielleicht eines Tages aufbrechen wirst, um den Rest von Macsens Schatz zu finden. Nein, nicht du, sondern Bed-wyr ... es ist sein Geist, nicht der deinige, der hungern und seinen Durst in den falschen Quellen löschen wird. >» 412
Ein langes Schweigen. Ich konnte ihre Augen nicht sehen; sie waren voll des Mondscheins. Dann flüsterte sie: «Der Gral und der Speer? Macsens Schatz, der wieder vergraben ist und zum Gegenstand einer Suche werden soll, die so groß sein wird, wie die nach dem Schwert? Wo? Sag mir, wo?» Sie wirkte eifrig; nicht verschüchtert, sondern eifrig wie ein Läufer, der das Ziel schon vor sich sieht. Wenn sie tatsächlich den Kelch und den Speer sieht, dachte ich bei mir, wird sie das Haupt vor deren Zauberkraft neigen. Aber sie ist noch ein Kind und betrachtet die Dinge der Macht als Waffen in ihrer eigenen Hand. Ich sagte zu ihr nicht: «Es ist dieselbe Suche, denn was nützt jemandem das Schwert der Macht, ohne die Erfüllung des Geistes? Alle Könige sind jetzt ein einziger König. Es ist an der Zeit, daß auch die Götter zu einem einzigen Gott würden, und dort in dem Gral ist die Einheit, nach der die Menschen suchen werden, um deret-willen sie sterben und im Tod weiterleben werden.» Ich sprach es nicht aus, sondern lag eine Weile schweigend da, während sie mich unverwandt ansah. Ich konnte die Kraft spüren, die von ihr ausging - meine eigene Kraft, die in ihr jetzt stärker war als in meinen eigenen Händen. Ich selbst fühlte nur tiefe Müdigkeit und Kummer. «Sag es mir, mein Liebling», flüsterte sie mir zu. So erzählte ich es ihr. Ich lächelte sie an und sagte mit sanfter Stimme: «Ich werde etwas Besseres tun, als dir nur davon zu erzählen. Ich werde dich dorthin mitnehmen und dir alles zeigen. Was von Macsens Schatz übriggeblieben ist, liegt unter den Ruinen des Mithras-Tempels in Segontium, genannt Caer-y-n'a Von, unterhalb von Y Wyddfa. Und das ist jetzt alles, was ich dir geben kann, Kleines, außer meiner Liebe.» Ich weiß noch, daß sie sagte: «Und das wäre schon genug gewesen, auch ohne den Rest.» Dann beugte sie sich nieder und drückte ihre Lippen auf die meinigen. Als sie eingeschlafen war, lag ich noch lange wach und sah zum Vollmond hinauf, der hell in der Mitte des Fensterrahmens stand. Und ich erinnerte mich, daß ich vor langer Zeit, als Kind, geglaubt hatte, 413
daß solch ein Anblick mir meinen Herzenswunsch erfüllen würde. Aber was meine geheimsten Wünsche in jenen Tagen gewesen waren - Macht, Prophetie, Dienst, Liebe -, wußte ich nicht mehr. All dies war vergangen, und mein Herzenswunsch lag hier und schlief in meinen Armen. Und die Nacht, so voll des Lichts, war leer - ohne Zukunft, ohne Vision; aber trotzdem, wie atmende Geister einer fernen Vergangenheit, kamen die Stimmen. Morgauses Stimme - die Stimme der Hexe, die mir ihren Fluch entgegenspie: «Seid Ihr so sicher, gegen den Zauber der Frauen gefeit zu sein, Prinz Merlin? Er wird Euch am Ende umstricken.» Und dagegen Artus' Stimme - kraftvoll, erzürnt, voll herzlicher Zuneigung: «Ich kann nicht mitansehen, daß man dir wehtut.» Und dann: «Hexe hin oder her - ich werde mit ihr verfahren, wie sie es verdient.» Ich drückte ihren jungen Leib eng an mich und küßte sie zart auf die geschlossenen Augenlider. Ich sagte - zu den Geistern, zu den Stimmen, zum leeren Mondschein: «Die Zeit ist um. Laßt mich in Frieden gehen.» Dann empfahl ich mich und meinen Geist dem Gott, in dessen Obhut ich in all diesen Jahren gestanden hatte, und überließ mich dem Schlaf. Dies war das Letzte, von dem ich genau weiß, daß es wirklich so geschah und nicht nur ein dunkler Traum war. _ 2 t Als kleines Kind schlief ich mit meiner Amme im Gesindeflügel der großväterlichen Burg zu Maridunum. Das Gemach lag zu ebener Erde, und draußen vor dem Fenster wuchs ein Birnbaum, wo abends eine Drossel sang; und später kamen dann die Sterne hinter den Ästen hervor und sahen wie kleine Lichtpunkte aus, die sich in dem Baum verfangen hatten. Ich blickte in der Stille der Nacht zu ihnen empor und spitzte die Ohren, um die Musik zu hören, die, wie man mir gesagt hatte, die Sterne machen, wenn sie über den Himmel ziehen. Jetzt endlich, so schien es mir, hörte ich sie. Ich lag warm eingehüllt auf einer Bahre, die - nach der schwankenden Bewegung zu schließen 414
- unter dem Nachthimmel entlanggetragen wurde. Tiefe Dunkelheit umfing mich, und weit über mir wölbte sich der Himmel, an dem unzählige Sterne flimmerten und ein leises Glockengeläut ertönen ließen. Ich war Teil des Bodens, der sich bewegte und als Echo in meinem Pulsschlag widerklang, und ich war Teil des unendlichen Dunkels, das ich über mir sehen konnte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob meine Augen offen waren. Meine letzte Vision, dachte ich bei mir, und mein geheimster Wunsch. Mein geheimster Wunsch: bevor ich starb, die Musik der Sterne zu hören. Dann wußte ich, wo ich war. Menschen mußten in meiner Nähe sein, denn ich konnte leise Stimmen hören, aber sie kamen offenbar aus einiger Entfernung, wie Stimmen, die man als Fieberkranker hört. Diener trugen die Bahre; manchmal berührten mich ihre warmen Arme; mit ihren Sandalen schlugen sie einen Takt auf dem Boden. Dies war keine durch Sphärengesang erhellte Vision; ich war lediglich ein kranker, alter Mann, der in der Hilflosigkeit seiner Krankheit heimbefördert wurde. Die Musik der Sterne war nichts weiter als das Geklingel der Glöckchen am Geschirr der Maultiere. Wie lange es dauerte, kann ich nicht sagen. Schließlich kam die Bahre am Ende eines längeren Aufstiegs wieder in die Waagrechte, ein wärmender Feuerschein empfing mich; und überall waren Menschen; ich hörte Stimmen, jemand weinte, und ich wußte, daß ich nach einem neuen Anfall heim nach Bryn Myrddin gebracht worden war. Danach weitere Wirrsal. Manchmal glaubte ich, ich sei mit Nimue noch auf Reisen; ich zeigte ihr die Straßen von Byzanz oder erging mich mit ihr auf den Höhen oberhalb von Berytus. Sie brachte mir die Arzneien, die sie hergestellt hatte, und hielt sie mir an den Mund. Es war ihr eigener Mund, der auf dem meinigen lag; er schmeckte nach Erdbeeren, und mit ihren Lippen formte sie über mir einen lieblichen Singsang, und die Höhle füllte sich mit dem Rauch einer Handvoll kostbaren Weihrauchs. Überall standen Kerzen; in ihrem milden Licht hockte mein Falke neben dem Höhleneingang auf einem Felsband und wartete auf den Atem des Gottes an seinem Gefieder. Galapas saß 415
neben dem Feuerbecken und zeichnete für mich die ersten Landkarten in den Staub, und neben ihnen kniete jetzt der Knabe Ninian und betrachtete sie aufmerksam mit seinen ernsten, sanften Augen. Dann blickte er auf, und ich sah, daß es Artus war, lebhaft und ungeduldig, und zehn Jahre alt... und dann Ralf, jung und schwermütig. . . und dann schließlich der Knabe Merlin, der auf Geheiß seines Meisters in die Kristallhöhle hinaufging. Und ebenso kamen die Visionen; ich sah sie alle wieder, die Träume, die hier, in dieser selben Höhle auf mich eingestürmt waren. Und diesmal hielt Nimue meine Hand und sah sie mit mir, Stern für Stern, und sie hielt mir danach den Heiltrunk an die Lippen, während Galapas und das Kind Merlin und Ralf und Artus und der Knabe Ninian verblaßten und verschwanden wie die Geister, die sie waren. Nur die Erinnerungen blieben und waren fest in ihrem Hirn verankert, so wie sie es in dem meinigen gewesen waren, und würden bis in alle Ewigkeit ihr gehören. Obwohl ich kein Gefühl für die Zeit besaß, verging ein Tag nach dem anderen, und noch immer lag ich in jener seltsamen Verstrickung von hilflosem Körper und lebhaft arbeitendem Geist, während Nimue, die Zauberin, allmählich -wie eine Biene den Honig aus einer Blume saugt - das Destillat aller meiner Lebenstage von mir nahm. Dann erwachte ich eines Morgens aus langem Schlaf; draußen sangen die Vögel, und die warme Sommerbrise brachte den Duft nach Blumen und Heu in die Höhle. Ich stellte fest, daß die Krankheit mich verlassen hatte. Der Traum war vorüber, ich lebte und war hellwach. Ich war außerdem allein. Es war dunkel um mich herum -mit Ausnahme eines langen Sonnenstrahls, der durch eine Lücke an der Stelle hereinfiel, wo sie einen Haufen von Gesteinsbrocken am Höhleneingang aufgetürmt hatten, bevor sie sich entfernten und mich in meiner Grabstätte zurückließen. *#* Ich wußte nicht, wie lange ich in dem Zustand zwischen Leben und Tod dagelegen hatte. Wir waren im Juli in Rheged gewesen, und es herrschte offenbar noch Hochsommer. Drei Wochen, oder höchstens einen Monat. . .? Hätte er länger gedauert, wäre ich mit Sicherheit schwächer gewesen. Bis zum letzten Tiefschlaf, den man für meinen 416
Tod gehalten haben mußte, war ich mit meinen eigenen Stärkungsmitteln und Arzneien behandelt worden, so daß ich jetzt, obwohl ich noch steif und sehr schwach war, eine gute Überlebenschance hatte. Es bestand keine Hoffnung, daß ich einen der Steine, die mein Grab versiegelten, würde wegräumen können, aber vielleicht konnte ich die Aufmerksamkeit von jemandem, der des Weges kam, auf mich ziehen. Der Ort war in Urzeiten ein Heiligtum gewesen, und das einfache Volk kam regelmäßig mit Opfergaben für den Gott, der als Hüter der heiligen Quelle neben der Höhle galt, das Tal herauf. Es war möglich, daß man den Ort jetzt für noch. verehrungswürdiger hielt, da man wußte, daß Merlin, der den Hochkönig in seiner Hand gehalten und seine Zeit und sein Wissen hergegeben hatte, um ihre und die Krankheiten ihrer Tiere zu heilen, dort begraben lag. Sie hatten täglich Essen und Wein dargebracht, als er noch lebte; jetzt würden sie gewiß mit ihren Opfergaben erscheinen, um den Toten zu versöhnen. Ich unterdrückte meine Befürchtungen, erhob mich und versuchte, mir trotz des Schwindelgefühls darüber klar zu werden, was ich jetzt tun müsse. Sie hatten mich nicht in der kleinen Kristallhöhle niedergelegt, die sich als Aushöhlung hoch oben in der Wand der Haupthöhle befand, sondern in der eigentlichen Höhle und auf meinem eigenen Bett. Dieses war mit einem Material bezogen, das sich dick und steif anfühlte und im Lichtschein die Stickereiarbeit und kostbare Steine erkennen ließ. Ich befühlte das Leichentuch, das mich bedeckte; es war aus irgendeinem weichen und warmen Stoff und wunderbar gewebt. Mit den Fingern tastete ich das Muster ab, das auf ihm eingearbeitet war: der Drachen. Und jetzt konnte ich an den vier Ecken des Bettes die hohen schmiedeeisernen Kerzenhalter sehen, die golden leuchteten. Ich war offensichtlich mit königlichen Ehren bestattet worden. Ob der König selbst hier gewesen war? Ich wünschte, ich hätte mich an ihn erinnern können. Und Nimue? Ich mußte wohl meinen eigenen Prophezeiungen dafür danken, daß die Grablegung damit ihr Bewenden gehabt und daß man mich nicht der Erde oder dem Feuer übergeben hatte. Bei dem bloßen Gedanken rann 417
es mir kalt den Rücken herunter, aber ich erwachte zu neuer Aktivität. Ich betrachtete die Kerzen. Drei von ihnen waren zu formlosen Wachsklumpen heruntergebrannt und dann ausgegangen. Die vierte, die vermutlich durch einen Luftzug ausgelöscht worden war, hatte noch immer die Höhe von einem Fuß. Ich legte einen Finger an die nächststehende Kerze, wo das Wachs heruntergelaufen war; es war noch weich. Zwölf Stunden, rechnete ich, oder höchstens fünfzehn waren vergangen, seit sie angezündet und ich hier allein zurückgelassen worden war. Der Ort war noch warm. Wenn ich am Leben bleiben wollte, mußte ich mich vor der Kälte schützen. Ich lehnte mich gegen das pralle Kissen zurück, zog das Leichentuch mit seinem goldenen Drachen über meinen Körper, richtete den Blick auf die erstorbene Kerze und dachte: wir werden sehen. Die einfachste aller Zaubereien - die erste, die ich ausgerechnet hier gelernt hatte: wir wollen sehen, ob auch diese mir genommen worden ist. Durch die Anstrengung verfiel ich wieder, erschöpft, in tiefen Schlaf. Beim Erwachen sah ich die Sonne, die die hintere Ecke der Höhle beleuchtete, aber die eigentliche Höhle war ganz erhellt. Die Kerze brannte ruhig und hatte eine warme, goldene Flamme. Ihr Widerschein schimmerte auf zwei Goldmünzen, die auf dem Leichentuch lagen; ich erinnerte mich vage ihres Gewichts, als sie mir von den Augenlidern fielen, während ich erwachte und mich bewegte. Sie erklärten mir auch das rituelle Gebäck und den Wein, die man als Opfergaben für die Toten neben der Bahre zurückgelassen hatte. Ich sprach laut zu Gott, der mich erhalten hatte; setzte mich dann auf der Totenbahre auf und aß und trank, mit den Grabtüchern noch um mich herum, was auf dem Boden abgestellt worden war. Das Gebäck war trocken, schmeckte aber nach Honig, und der Wein war stark; er rann wie neues Leben in mich hinein. Das Kerzenlicht, von dem eine leichte Wärme ausging, verscheuchte den letzten Rest meiner Angst. «Emrys», flüsterte ich vor mich hin, «Emrys, Kind des Lichts, Liebling der Könige ... dir wurde gesagt, daß du in Finsternis begraben und deine Macht dahin sein würde; und siehe, so ist es geschehen, und es ist gar nicht furchterregend; du bist begraben, aber 418
du hast Licht und Luft und - falls man den Ort nicht geplündert hat zu essen und zu trinken, und du hast Wärme und Arzneien ...» Ich hob die Kerze aus ihrem schweren Ständer und trug sie in die inneren Höhlen, wo die Vorratsräume lagen. Alles war noch so, wie ich es verlassen hatte. Stilicho hatte sich wieder einmal als getreue Seele erwiesen. Ich dachte an den Wein und das Honiggebäck, die neben der «Totenbahre» aufgestellt worden waren, und fragte mich, ob die anderen Höhlenräume ebenfalls durchstöbert und für die Toten neu bevorratet worden waren. Was auch der Grund dafür gewesen sein mochte, alles so zu belassen, wie es gewesen war jedenfalls standen dort jetzt noch reihenweise die Kisten mit den kostbaren Vorräten, und daneben die Flaschen und Krüge mit den Arzneien und Stärkungsmitteln, die ich nicht mit nach Applegarth genommen hatte. Außerdem waren da ein richtiger Eichhörnchenvorrat an Lebensmitteln, Dörrobst und Nüssen, sowie Bienenwaben, aus denen sachte der Honig in die Krüge tropfte, und ein Faß mit Oliven in Öl. Natürlich kein Brot, aber ich fand in einem Tongefäß steinharten Haferkuchen, der vor langer Zeit von der Frau des Hirten gebacken und mir geschenkt worden war; er war noch gut, trocken wie ein Brett, deshalb brach ich ihn auseinander und legte einige Stücke in den Wein. Der Mehlvorrat war noch zur Hälfte da, so daß ich mit dem Öl aus dem Olivenfaß mir selbst irgendwelche Mehlfladen herstellen konnte. Wasser besaß ich natürlich; kurz nachdem ich mich damals in der Höhle niederließ, hatte ich meinen Diener angewiesen, eine Wasserleitung von der Quelle draußen anzulegen, um einen Behälter zu füllen; dieser war bedeckt und gewährleistete reines Wasser auch bei Frost und Sturm. Der Abfluß, der in eine entfernte hintere Kammer der Höhle abgeleitet wurde, diente als Abtritt. Kerzen gab es in Hülle und Fülle, außerdem Zunder neben den Feuersteinen auf dem Regal, wo ich sie immer aufbewahrt hatte. Es gab auch einen gewissen Vorrat an Holzkohle, aber aus Angst vor Rauch oder gefährlichen Dämpfen zögerte ich, das Feuerbecken zu entzünden. Vielleicht würde ich die Wärme in der vor mir liegenden Zeit noch nötiger brauchen. Wenn ich mit meiner Zeitberechnung recht hatte, dann würde nach einem knappen Monat 419
der Sommer vorbei sein und der Herbst mit seinen kühlen Winden und der tödlichen Feuchtigkeit einsetzen. So machte ich, während die warme Sommerluft noch durch die Höhle wehte, Licht nur dann, wenn ich beim Zubereiten meiner Nahrung bessere Sicht brauchte, oder ich zündete das Feuer an, wenn mir die Stunden in der Finsternis zu lang wurden. Ich hatte keine Bücher, denn alle waren nach Applegarth gebracht worden. Aber Schreibutensilien waren vorhanden, und während ich im Laufe der Tage neue Kraft schöpfte und in meiner Gefangenschaft unruhig zu werden begann, faßte ich den Gedanken, die Geschichte meiner Jugend und die Zeiten, die ich durchlebt hatte, in irgendeiner Form niederzuschreiben. Auch Musik konnte man im Dunkeln spielen, aber die große Harfe befand sich mit meinen Büchern in Applegarth, und meine kleine Harfe hatte man leider nicht mit den anderen Grabbeigaben in die Höhle gebracht. Gewiß dachte ich daran, aus meinem Grab zu entkommen. Aber die Menschen, die mich hier in der Höhle niederlegten, hatten das Gestein des heiligen Hügels verwendet, um mich damit von der Außenwelt völlig abzuschließen; anscheinend war die Hälfte des Berghangs abgetragen worden, um den Eingang /ur Höhle zu versperren. Sooft ich es auch versuchte - ich konnte mir keinen Ausgang freimachen. Jemandem mit den richtigen Werkzeugen wäre es bestimmt in kurzer Zeit gelungen, aber ich besaß keine. Wir bewahrten Spaten und Äxte immer in dem Stall unterhalb der Klippe auf. Es gab noch eine andere Möglichkeit, die mir immer wieder in den Sinn kam. Abgesehen von den Höhlen, die ich benutzte, gab es andere - kleinere Kammern, die tief in den Berg hineinreichten. Eine dieser inneren Höhlungen war kaum mehr als ein Schacht, der durch das Gestein hinaufführte und oben in einer kleinen Mulde ins Freie trat. Hier hatte sich vor vielen Jahren unter dem Druck von Baumwurzeln und Regengüssen ein niedriger Felshang gespalten und Licht sowie Regenwasser in den darunter liegenden Hohlraum hereinfallen lassen. Durch diesen Riß flogen jetzt jeden Tag die Fledermäuse aus der Höhle ins Freie hinaus. Im Laufe der Zeit war loses Gestein von oben 420
in die Höhle gefallen und hatte unten eine Art von Widerlager gebildet, das etwa bis zu einem Drittel an die «Laterne», wie ich das ins Licht führende Loch nennen möchte, heranreichte. Als ich voller Hoffnung nachschaute, ob sich diese primitive Stiege inzwischen ausgedehnt hatte, erlebte ich eine Enttäuschung: Darüber lag immer noch ein steiler Schacht, etwa dreimal so hoch wie ein Mensch, und weiter nach oben wiederholte sich dieser Kamin - zuerst steil und dann etwas schräger, bis er ans Tageslicht hinausführte. Es war durchaus möglich, daß ein gewandter und kräftiger Mensch ohne Hilfe hier hätte hinausklettern können, obwohl die Felswand stellenweise feucht und schlüpfrig, an anderen Stellen offenbar auch brüchig war. Aber für einen alternden Mann, der vor kurzem noch auf dem Krankenlager gelegen hatte, war es unmöglich. Der einzige Trost, den diese Entdeckung bot, lag in der Tatsache, daß es hier buchstäblich einen «Schornstein» gab; in den kalten Tagen, die zu erwarten waren, konnte ich gefahrlos Feuer machen und auf diese Weise neben der Wärme auch heiße Mahlzeiten und Getränke zu mir nehmen. Ich dachte natürlich auch daran, irgendein Feuer anzulegen, damit der Rauch vielleicht die Aufmerksamkeit eines Neugierigen erregte, aber dagegen sprach zweierlei. Erstens war die Landbevölkerung, die in der Umgebung lebte, an den Anblick der Fledermäuse gewöhnt, die täglich vom Berghang aufstiegen und kleinen Rauchbällchen nicht unähnlich waren; zweitens ging mein Vorrat an Brennmaterial zur Neige. Ich konnte nichts anderes tun, als mit meinem kostbaren Schatz hauszuhalten und auf jemanden zu warten, der das Tal hinaufsteigen und die heilige Quelle besuchen würde. Aber niemand kam. Zwanzig Tage, dreißig, vierzig wurden auf meinem Zählstock eingekerbt. Ich mußte mir zögernd eingestehen, daß das einfache Volk, dem es zur Gewohnheit geworden war, vor dem Geist der Quelle zu beten und dem Lebenden, der sie geheilt hatte, Dankopfer zu bringen, sich jetzt fürchtete, das Grab des Zauberers und die von Geistern heimgesuchte Berghöhle aufzusuchen. Da 421
das Tal nur zu der Höhle und der Quelle hinaufführte, wurde es von sonst niemandem begangen. Nichts kam in das Hochtal, außer den Vögeln (die ich hörte) und - wie ich glaube - auch ab und zu ein Reh. Einmal hörte ich einen Wolf oder einen Fuchs, der des Nachts an dem Steinhaufen herumschnüffelte, der den Höhleneingang versperrte. So schleppten sich die Tage dahin, und ich blieb am Leben und hielt - was mir schwerer fiel - auf jede nur mögliche Art die Furcht in Schach. Ich schrieb und rang um Fluchtpläne und tat, was mir die Aufgaben des Tages abverlangten; und Ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich mir die Nächte -und manchmal auch die hoffnungslosen Tage - mit Wein oder Opiaten, mit denen man die Sinne einlullen konnte, erträglicher machte. Verzweiflung ließ ich nicht aufkommen; während des ganzen langen Lebens hatte ich mich an einem festgehalten, wie an einer Leiter, die von dem Licht über mir herabgelassen worden war: Ich hatte stets meinem Gott gehorcht, ich hatte Kraft von ihm empfangen und sie wieder zurückgegeben; jetzt hatte ich erlebt, daß diese Kraft an die junge Geliebte weiterging, die von mir Besitz ergriffen hatte; aber obwohl sich mein Leben offenbar dem Ende näherte, war mein Leib - ich konnte weder sagen wieso oder warum - vor der Erde und dem Feuer bewahrt worden. Ich war am Leben; ich hatte sowohl Stärke als auch Willenskraft zurückgewonnen - und, Gefängnis hin oder her, dies war die Berghöhle des Gottes. Ich konnte nicht glauben, daß er mir nicht noch eine Aufgabe zugedacht hatte. Ich glaube, ich hatte dies im Sinn, als ich mich schließlich aufraffte, in die Kristallhöhle hinaufzusteigen. Bis jetzt hatte ich, da meine Körperkraft den Tiefpunkt erreicht und, wie ich wußte, man auch die Zauberkraft von mir genommen hatte, es nicht über mich gebracht, den Platz der Visionen wieder aufzusuchen. Als ich aber eines Abends, da mein Kerzenvorrat allmählich abnahm, zu lange im Dunkeln gesessen hatte, brachte ich mich schließlich doch dazu, das Felsband im hinteren Teil der Höhle hinaufzusteigen und, gebückt, in die von Bergkristall umgebene Höhlung hineinzukriechen. 422
Ich tat es, glaube ich, nur aus dem einen Grund, um den Erinnerungen an vergangene Macht und Liebe nachzuhängen. Ich nahm kein Licht mit und erwartete auch keine Vision. Ich lag einfach, wie ich es als Knabe getan hatte, mit dem Bauch nach unten auf den unregelmäßigen Kristallen des Höhlenbodens, ließ mich von der Stille umfangen und erfüllte sie mit meinen Gedanken. Woran ich dachte, weiß ich nicht mehr. Ich betete, nehme ich an. Ich habe meines Erachtens nicht laut gesprochen. Aber nach einiger Zeit wurde mir bewußt - wie der Mensch in dunkler Nacht die heraufkommende Morgenröte eher spürt als sieht - daß irgend etwas auf meine Atemzüge antwortete. Es war kein Ton, nur der Anflug eines Odems, als ob ein Geist erwache und neue Lebenskraft aus der meinigen zöge. Mein Herz begann zu hämmern; ich atmete schneller. In der mich umgebenden Finsternis beschleunigte sich auch der andere Rhythmus. Die Luft in der Höhle begann zu summen. Um die Kristallwände lief wie ein Echo ein Wispern, das ich kannte. Ich spürte, wie mir die Tränen der Erschöpfung in die Augen traten. Ich sagte laut: «So haben sie dich schließlich an deinen angestammten Platz zurückgebracht.» Und aus der Dunkelheit heraus antwortete mir meine Harfe. Ich tastete mich vorwärts. Meine Finger berührten das lebendige, seidige Holz. Der geschnitzte Vordergriff fügte sich in meine Hand, wie damals der Knauf des großen Schwerts in des Königs Griff geglitten war. Ich kroch rückwärts aus der Höhle, ließ das schwache Klagen der Harfe an meiner Brust verstummen und suchte mir vorsichtig den Rückweg hinunter in mein Gefängnis. *** Dies war das Lied, das ich erfand. Ich nannte es Merlins Lied aus dem Grabe: Wohin sind siegegangen, die Lichtvollen ch denke an die Sonne Und an den stürmischen Wind; Ich denke an einen Gott, der mir, 423
Sich aus dem Sternenhimmel herabneigend, Antwortete. Ich sehe einen Stern, der für mich leuchtete; Ich höre eine Stimme, die zu mir sprach; Ich sehe den Falken, der mir den Weg wies, Und den Schild, der mich schützte. Ich sehe einen Weg zu dem Tor, Wo sie mich erwarten Wo sie gewiß auf mich warten ? Der Tag verebbt, Der Wind erstirbt. Sie sind dahin, die Lichtvollen. Nur ich bin noch da. Weshalb rufen mich die Wesen, Die weder Schild noch Stern ihr eigen nennen ? Weshalb kniet er vor mir nieder, Der ich nur der Schatten Seines Schattens BinNurder Schatten eines Sterns, Der vor langer Zeit Vom Himmel fiel. Kein Lied ist von Anfang an fertig; man muß es häufig singen und es ändert sich dabei jedesmal. Deshalb kann ich mich auch nicht erinnern, wann ich mir eines ungewöhnlichen Tones bewußt wurde, der seit mehreren Strophen gewissermaßen an die Eingangstür zu meinem Gehirn klopfte. Ich legte die Hand auf die Saiten und lauschte. Mein Herzschlag klang laut in der stillen, abgestorbenen Luft der Höhle. Daneben schlug ein anderer Pulsschlag, ein Geräusch, das aus dem Inneren des Berges zu kommen schien. Da ich schon so lange 424
von der Außenwelt abgeschnitten war, kann man mir kaum einen Vorwurf machen, wenn mein erster Gedanke instinktiv Zuflucht bei uralten Glaubensvorstellungen suchte - bei Llud von der Unterwelt, den Pferden der Wilden Jagd, bei allen Schatten, die in den Berghöhlen hausten . . . Kam zu guter Letzt doch der Tod an diesem stillen Abend zu Ende des Sommers? Dann wurde mir plötzlich die Wahrheit klar - ich wußte, was der Ton bedeutete - aber es war bereits zu spät. Es war der Reiter, auf den ich gewartet und mit dessen Erscheinen ich kaum noch gerechnet hatte. Er war oberhalb der Höhle vorbeigeritten und hatte an der Stelle, wo die «Laterne» lag, angehalten, als er die Musik hörte. Es trat eine kurze Pause ein, die nur durch das Scharren von Pferdehufen unterbrochen wurde, als das Pferd unruhig wurde und zu tänzeln begann. Dann eine Männerstimme, die rief: «Ist da jemand?» Ich hatte die Harfe schon beiseite gelegt und kroch, so schnell ich konnte, durch das Halbdunkel auf die Höhlung unter ihm zu. Dabei versuchte ich, einen Ton herauszubringen, aber es dauerte einige Augenblicke, bis ich bei meiner ausgedörrten Kehle und dem hämmernden Herzen rufen konnte: «Ich bin es, Merlin! Fürchtet Euch nicht. Ich bin kein Gespenst. Ich lebe und bin hier gefangen. Verschafft mir einen Weg ins Freie, im Namen des Königs!» Meine Stimme ging in dem plötzlich auftretenden Lärm, der von oben herunterdrang, unter. Ich ahnte, was geschehen war. Das Pferd, das nach Art der Tiere etwas Ungewöhnliches zu wittern schien - ein Mensch unter der Erde, die unnatürlichen Klänge, die offenbar aus dem Riß im Gestein zu kommen schienen, vielleicht sogar meine Angst-, gab ein lautes, langgezogenes Wiehern von sich und stürmte davon, wobei es Steine und Kiesel löste, die durch den Schacht nach unten fielen. Ich wiederholte mein Rufen, aber entweder hörte mich der Reiter nicht, oder er glaubte, das Pferd habe einen untrüglicheren Instinkt bei Gefahr als er selbst -jedenfalls kam es zu einem neuen Gestampfe von Pferdehufen und einer neuen Gesteinskaskade; dann 425
entfernte sich das Geräusch eines galoppierenden Pferdes schneller, als es gekommen war. Ich konnte dem Reiter, wer immer er sein mochte, keinen Vorwurf daraus machen; auch wenn er nicht wußte, wessen Grabstätte unter ihm lag, so mußte er jedenfalls gewußt haben, daß der Berg geheiligt war, und wenn er dann noch bei einbrechender Dunkelheit Musik von unten herauf dringen hörte . .. Ich ging zurück, um die Harfe zu holen. Sie war unbeschädigt. Ich schob sie beiseite und mit ihr die Hoffnung auf Rettung. Dann ging ich entschlossen daran, mir- wenn man es so nennen kann - ein Abendessen zuzubereiten. 3 Zwei oder vielleicht drei Nächte waren seither vergangen, als mich irgend etwas aufweckte. Ich schlug die Augen auf; ringsum herrschte völlige Finsternis. Dann hörte ich das Geräusch. Ein verstohlenes Kratzen, leiser Steinschlag, das Prasseln herunterfallenden Erdreichs. Die Geräusche kamen von der «Laterne», hoch oben in der inneren Höhle. Irgendein Tier, dachte ich, vielleicht ein Dachs oder Fuchs oder sogar ein Wolf, der durch den Essensgeruch angelockt worden ist. Ich zog die Decken über mich, drehte mich auf die andere Seite und schloß wieder die Augen. Aber die Geräusche hielten an, beharrlich und jetzt, wie mir schien, immer ungeduldiger - es klang wie ein wütendes Scharren in dem Gestein, das nicht von einem Tier herrühren konnte. Ich setzte mich wieder auf und lauschte gespannt. Neue Hoffnung war plötzlich in mir erwacht. Vielleicht war der Reiter zurückgekerht? Oder er hatte anderen von seinem Erlebnis erzählt, und eine andere, tapferere Seele war gekommen, um nachzusehen? Ich wollte schon laut rufen, hielt dann aber inne. Ich wollte diese Person nicht ebenso wie den Reiter wieder verscheuchen. Ich wollte warten, bis er mich selbst ansprach. Er sagte jedoch nichts; es kam ihm offenbar nur darauf an, sich den Eintritt durch die Öffnung im Berg freizumachen. Weiteres Geröll fiel herab; ich hörte den hellen Ton eines Brecheisens und dann unverkennbar - einen unterdrückten Fluch. Es war eine Männerstimme. Dann trat eine Pause ein, als ob er lauschte, dann begannen die Geräusche wieder, und diesmal benutzte er anscheinend 426
irgendein schweres Werkzeug, Hacke oder Spaten, um den Eingang freizu-graben. Um nichts in der Welt hätte ich jetzt gerufen. Niemand, der lediglich einer merkwürdigen Geschichte auf den Grund gehen will, würde sich so verstohlen benehmen. Er würde so handeln, wie es der Reiter getan hatte, nämlich erst rufen oder still warten und lauschen, bevor er den Versuch unternahm, sich den Weg durch die «Laterne» zu bahnen. Außerdem würde niemand allein und bei Nacht hierher gekommen sein, wenn er nicht Böses im Schilde führte. Nach kurzer Überlegung glaubte ich die Erklärung gefunden zu haben. Der Mann war ein Grabräuber; vielleicht irgendein Geächteter, der von dem Königsgrab in Merlins Berg gehört hatte; vermutlich hatte er sich zunächst den Höhleneingang angesehen und festgestellt, daß dieser zu gründlich verbarrikadiert war; dann hatte er sich für den Eingang durch den Schacht entschieden, weil dieser Weg einfacher und weniger auffällig war. Vielleicht war es auch ein Einheimischer, der die prunkvolle Prozession beobachtet hatte und schon seit Jahren wußte, wie man in den Berg gelangen konnte. Vielleicht auch ein Soldat - einer von denen, die nach den Feierlichkeiten eingesetzt worden waren, um den Höhleneingang zu verschließen und der die Erinnerung an die reichen Grabbeigaben nicht loswerden konnte. Wer es auch sein mochte - es war bestimmt ein Mann, der keine Nerven hatte. Er war jedenfalls bereit, einen hier aufgebahrten Leichnam zu finden; er war entschlossen, sich über den zu erwartenden Leichengestank hinwegzusetzen, den Toten sogar anzufassen und ihn seiner Juwelen zu berauben, bevor er ihn von dem mit Edelsteinen besetzten Leichentuch und goldbestickten Kissen herunterwälzte. Und wenn er statt eines Toten einen lebenden Menschen vorfinden sollte? Einen Alten, der durch die vielen, unter der Erde verbrachten Tage geschwächt war; und dazu noch einen Mann, den die Welt für tot hielt? Die Antwort war einfach. Er würde mich töten und dann mein Grab berauben. Und ich, der ich meiner magischen Kraft ledig war, besaß keine Abwehrmöglichkeiten. Ich erhob mich leise vom Bett und kroch hinüber zu dem Schacht. Die Grabgeräusche hielten an, und durch die erweiterte Öffnung 427
konnte ich Licht sehen. Er hatte irgendeine Lampe bei sich, die ihm genügend Licht spendete. Sie verhinderte aber auch, daß er einen schwachen Lichtschein von unten wahrnehmen konnte. Ich begab mich in die eigentliche Grabkammer zurück, entzündete vorsichtig hinter einem Schirm eine Kerze und machte mich dann an die einzigen Vorbereitungen, die ich treffen konnte. Wenn ich mich mit einem Messer (ich hatte keinen Dolch, aber es lagen einige Messer für die Küchenarbeit herum) oder mit irgendeinem schweren Gerät auf die Lauer legte, war es keineswegs sicher, daß ich schnell und kräftig genug sein würde, um ihn abzuwehren; und solch ein Angriff würde mit Sicherheit meinen eigenen Tod bedeuten. Ich mußte einen anderen Ausweg ersinnen. Ich dachte nach. Die einzige Waffe, die ich besaß, war eine, die sich schon in der Vergangenheit mehrfach als wirksamer denn Dolch oder Keule erwiesen hatte. Die Angst des anderen. Ich nahm die Decken vom Bett und legte sie gefaltet beiseite. Ich breitete das edelsteinbesetzte Leichentuch aus, strich es glatt und rückte das violette Kissen zurecht. Die goldenen Kerzenhalter standen noch da, wo sie aufgestellt worden waren - an den vier Ecken des Bettes. Neben das Bett stellte ich den goldenen Becher, der mit Wein gefüllt gewesen war, und die mit Granatsteinen besetzte Silberschüssel. Ich nahm die Goldmünzen, die Abgabe an den Fährmann, hüllte mich in den Mantel des Königs, den sie mir dagelassen hatten, blies das Licht aus und legte mich auf dem Leichentuch nieder. Ein ohrenbetäubender Krach kam aus dem Schacht. Geröll prasselte auf den Höhlenboden herunter und gleichzeitig drang frische Nachtluft herein; ich wußte, daß er durchgekommen war. Ich schloß die Augen, legte die Goldmünzen auf meine Lider, strich die langen Falten des Mantels glatt, kreuzte dann die Arme unter der Brust, holte so unauffällig Atem wie nur möglich und wartete. Selten war mir etwas so schwergefallen. Schon oft hatte ich mich zwar Gefahren gegenüber gesehen, aber stets hatte ich irgendwie gewußt, wie hoch das Risiko anzusetzen war. Jedesmal - wie beim Kampf mit Brithael und dem Hinterhalt im Wild Forest - hatte ich 428
gewußt, was mir bevorstand, aber dann war zu guter Letzt der Sieg errungen worden. Jetzt wußte ich gar nichts. Dieser heimtückische Mord in der Finsternis wegen ein paar Juwelen konnte in der Tat das schändliche Ende sein, das mir die Götter in den Sternen als mein «rasches Ende im Grabe» gezeigt hatten. Ihr Wille sollte geschehen. Aber, dachte ich bei mir: wenn ich dir je treu gedient habe, Gott, mein Gott, laß mich noch einmal die frische Luft atmen*bevor ich sterbe. Ich hörte einen leisen Aufprall, als er durch den Schacht hindurch auf dem Höhlenboden landete. Er mußte ein Seil bei sich haben, das er vermutlich oben auf dem Bergrücken an einem Baum befestigt hatte. Ich hatte mich nicht geirrt: Er war allein. Unter dem Gewicht der auf meinen Augenliedern liegenden Goldmünzen hindurch konnte ich einen Lichtschein erkennen; er hatte also seine Laterne mitgebracht. Jetzt tastete er sich vorsichtig auf dem unebenen Boden auf die Kammer zu, wo ich lag. Ich roch seinen Schweiß und den Dunst der primitiven Laterne; dabei fiel mir mit Genugtuung ein, daß er vermutlich nicht noch den in der Höhle vorhandenen Duft nach Essen und Wein, oder den Geruch des erst vor kurzem ausgelöschten Lichts in sich aufnehmen würde. Seine Atemzüge verrieten ihn; mit noch größerer Genugtuung wußte ich, daß er sich fürchtete. Er sah mich und blieb wie gebannt stehen. Sein Atem ging wie ein lautes Röcheln. Er hatte sich wahrscheinlich darauf gefaßt gemacht, einen verwesenden Leichnam vorzufinden, und stand jetzt vor einem Toten, der wie ein Lebendiger oder erst vor kurzem gestorbener Mensch aussah. Einige Sekunden blieb er unschlüssig stehen und atmete schwer; dann dachte er vielleicht an Erzählungen über die Kunst der Einbalsamierung, fluchte leise vor sich hin und kam auf Zehenspitzen näher. Die Lampe pendelte in seiner Hand. Je mehr ich seiner Angst gewahr wurde, desto ruhiger wurde ich. Ich atmete möglichst flach, damit er in dem flackernden Lampenlicht und der Rauchbildung nicht merkte, daß in dem Leichnam noch Leben war. Er schien endlos dort zu stehen, aber schließlich gab er sich offenbar einen Ruck - wie ein Pferd, dem man die Sporen gibt - und trat dicht neben mich. Eine Hand, die feucht von kaltem Schweiß war und unsicher schien, nahm mir die Goldmünzen von den Augenlidern. 429
Ich schlug die Augen auf. In diesem einen kurzen Augenblick, bevor ich noch Atem holen oder mich bewegen konnte, nahm ich alles in mich auf: das dunkle, von der Lampe beschienene, keltische Gesicht, die grobe Bauernkleidung, die narbige, schweißglänzende Haut, den gierigen, heruntergezogenen Mund und die blöden Augen, dazu das scharfe Messer in seinem Gürtel. Ich sagte ganz ruhig: «Willkommen im Totenreich, Krieger.» Und aus der hinteren, dunklen Ecke flüsterte beim Klang meiner Stimme die Harfe etwas, das wie ein klagender Ton klang. Die Goldmünzen fielen klirrend auf den Boden und rollten in die Finsternis. Ihnen folgte die Lampe, die auf dem Boden zerbrach und rauchendes Öl verbreitete. Er stieß einen Angstschrei aus, wie ich ihn in meinem langen Leben noch nicht oft gehört hatte. Und wiederum ertönte aus dem Dunkel das spöttische Lied der Harfe. Nach einem erneuten Aufschrei sprang er auf und rannte blindlings aus der Kammer auf den Schacht zu. Beim ersten Versuch gelang es ihm offenbar nicht, an seinem Seil hinaufzuklettern; er stieß einen Schrei aus und stürzte auf den mit Gesteinsbrocken übersäten Boden zurück. Dann lieh ihm die Angst neue Kraft; ich hörte ihn schwer atmen, während er sich bis zur oberen Öffnung hinaufzog. Seine Schritte verklangen allmählich am Berghang. Dann erstarben alle Geräusche, und ich war wieder allein und in Sicherheit. In Sicherheit, aber in meinem Grab. Er hatte das Seil mitgenommen. Vielleicht aus Furcht, daß der Geist des Zauberers ihn verfolgen könnte, hatte er es aus dem Schacht nachgezogen. In der Öffnung war der Himmel zu sehen, wo aus weiter Ferne, rein und unbeteiligt, ein Stern leuchtete. Ein kalter Luftzug drang herein, und mit ihm der unverkennbare Geruch aufkommender Dämmerung. Ich hörte oben eine Drossel singen. Gott hatte mir geantwortet. Ich hatte die frische Luft geatmet und das Gezwitscher des Vogels gehört. Aber das Leben in Freiheit war noch ebenso weit von mir entfernt wie zuvor. 430
Ich kehrte in die innere Kammer zurück und gegann, als sei nichts geschehen, mich für einen weiteren Tag zu rüsten. *** Und noch einen. Und einen dritten. Als ich am dritten Tag gegessen, geruht und geschrieben hatte und wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, untersuchte ich den Kaminschacht noch einmal. Der elende Leichenfledderer hatte mir zu einem kleinen, neuen Hoffnungsschimmer verhelfen; der Haufen heruntergefallener Steine war um fast einen Meter höher geworden, und obwohl er das Seil zum Schluß nach oben gezogen hatte, hinterließ er mir ein anderes, das ich lose zusammengerollt am Fuße des Schachts liegen sah. Aber die Hoffnungen, die ich daran knüpfte, erwiesen sich schon bald als trügerisch; das Seil war von schlechter Qualität und maß in der Länge höchstens vier oder fünf Ellen. Der Mann hatte vermutlich vorgehabt, seine Beute zusammenzubinden - er konnte unmöglich gehofft haben, auch nur einen einzigen Kerzenständer beim Hinaufklettern mitnehmen zu können -, dann alles am Ende des Hauptseils zu befestigen und das Bündel von oben nachzuziehen. Nach meiner Berechnung hätte der Dieb allein zum Abtransport der vier Kerzenständer viermal durch den Schacht klettern müssen. Die dünnere Schnur hätte mein Gewicht bestimmt nicht ausgehalten, auch wenn es mir gelungen wäre, sie mit einer Schlaufe an irgendeinem Felsvorsprung festzuhaken. Ebensowenig konnte ich in der Wand eine Stelle entdecken, die mir einen sicheren Tritt oder Halt geboten hätte. Einem jungen Mann oder gewandten Knaben wäre es vielleicht gelungen, den Aufstieg zu bewältigen, aber obgleich ich mich mein ganzes Leben hindurch durch Körperkräfte und Ausdauer ausgezeichnet hatte, war ich nie ein Athlet gewesen, und jetzt, im fortgeschrittenen Alter, nach der Krankheit und all den Entbehrungen, erschien mir der Aufstieg als ein völlig aussichtsloses Unterfangen. Aber noch etwas anderes hatte der Dieb getan: Während ich mir vorher den Ausstieg hätte freischaufeln müssen -ohne Leiter und geeignetes Werkzeug eine unmögliche Aufgabe -, war der Schacht jetzt breit genug. Ich mußte zunächst einmal bis zu der schrägen 431
Passage des Kamins gelangen; von dort kam ich vielleicht mit Hilfe einer behelfsmäßig zusammengebastelten Leiter weiter. Die Höhleneinrichtung war zum größten Teil nicht mehr da, aber es gab noch das Bett, einen oder zwei Hocker, einen Tisch, die Fässer und eine stabile Bank, die vergessen in einer Ecke stand. Es kam jetzt darauf an, diese Stücke zu zerlegen, die Einzelteile mit Schnur oder aus der Decke herausgerissenen Stoffetzen zusammenzuknüpfen und sie mit Scherben der Vorratskrüge zu verkeilen. Den Rest desselben und den ganzen nächsten Tag arbeitete ich an der Herstellung meines behelfsmäßigen Gerüsts und mußte dabei unwillkürlich an Tremorinus, den Baumeister meines Vaters, denken, der mich als erster in seiner Kunst unterrichtet hatte. Er hätte gelacht, wenn er mich jetzt hätte sehen können: den großen Merlin, der als erfindungsreicher Ingenieur seinen Lehrmeister überflügelt und die Hängenden Steine beim Tanz der Riesen hochgehoben hatte - und jetzt ein Flickwerk herstellte, das dem dümmsten Lehrling die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Ich brauche doch nichts weiter zu tun, hätte er gesagt, als wie Orpheus meine Harfe zu nehmen und den Bruchstücken der Möbel etwas vorzuspielen; dann hätten sie sich wie die Mauern Trojas von selbst zusammengesetzt. So sei es mir - wie er in aller Öffentlichkeit erklärte - auch gelungen, die gewaltigen Trilithen von Stonehenge zubewegen. Gegen Abend des zweiten Tages hatte ich einen rohen Gerüstbau fertiggestellt; auf ihm lag als Abdeckung das dicke Brett der Sitzbank, das als Unterlage für eine Leiter dienen konnte. Das Gerüst war neun Fuß hoch und durch Steinhaufen fest am Boden verankert. Jetzt brauchte ich nur noch weitere fünfundzwanzig Fuß zu überwinden. Ich arbeitete bis zum Einbruch der Dunkelheit, zündete dann die Lampe an und ging an die Zubereitung meines bescheidenen Essens. Dann nahm ich wie ein Liebhaber die Harfe in den Arm und spielte, ohne an Orpheus oder Troja zu denken, bis mir die Augen zufielen und ein falscher Ton mir anzeigte, daß es Zeit war, schlafen zu gehen. ***
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Wer hätte ahnen können, was mir der nächste Tag bringen würde? Ermüdet von der schweren Arbeit, schlief ich länger als sonst und wachte erst auf, als jemand meinen Namen rief. Einen Augenblick blieb ich regungslos liegen und glaubte mich noch verhaftet in den nebelhaften Vorstellungen eines Traumes, der mich schon so oft genarrt hatte. Aber dann war ich plötzlich hellwach; ich lag auf dem Höhlenboden (das Bett war für den Bau des Gerüsts zerlegt worden) und hörte die Stimme jetzt ganz deutlich. Sie kam von oben - es war eine Männerstimme, die vor nervöser Erregung etwas unnatürlich klang, aber durch die seltsame Aussprache des Lateins irgendwie vertraut wirkte. «Herr? Merlin, Mylord? Seid Ihr dort unten, Herr?» «Ich bin hier! Ich komme!» Trotz schmerzender Gelenke sprang ich wie ein junger Bursche auf und rannte zum Fuß des Schachts. Die Sonne schien von oben herein. Ich erreichte stolpernd das primitive Gerüst, das den unteren Teil des Schachts fast ganz ausfüllte. Ich reckte den Hals. Oben waren gegen den Himmel Kopf und Schultern eines Mannes zu erkennen. Zuerst konnte ich bei der blendenden Helligkeit nur wenig unterscheiden. Aber er mußte mich deutlich sehen können - ungepflegt und bärtig, ohne Zweifel bleich wie das Gespenst, das er zu sehen befürchtet hatte. Ich hörte ihn nach Luft schnappen, und der Kopf zog sich zurück. Ich schrie: «Bleib hier, um Himmels willen! Ich bin kein Gespenst! Bleib da! Hilf mir! Stilicho, bleib da!» Unwillkürlich hatte ich ihn an seinem Akzent erkannt. Es war mein alter Diener, der Sizilianer Stilicho, der die Müllerstochter Mai geheiratet und den Mühlenbetrieb am Tywy weitergeführt hatte. Ich kannte seinesgleichen - es waren leichtgläubige und abergläubische Menschen, die sich vor allem, was sie nicht verstanden, fürchteten. Ich lehnte mich gegen die senkrechten Streben des Gerüsts und rang um Fassung, um ihm Vertrauen einzuflößen. Langsam kam sein Kopf wieder ins Blickfeld. Ich sah die weit aufgerissenen, schwarzen 433
Augen, die fahle Blässe seines Gesichts, den offenstehenden Mund. Mit einer Selbstbeherrschung, die mich viel Kraft kostete, redete ich langsam und ruhig in seiner eigenen Sprache auf ihn ein: «Fürchte dich nicht, Stilicho. Ich war nicht tot, als sie mich hier niederlegten; es war ein Irrtum, und seit Wochen sitze ich hier gefangen in der Berghöhle. Ich bin kein Gespenst, Mann; ich bin wirklich Merlin, aus Fleisch und Blut, und brauche dringend deine Hilfe.» Er beugte sich tiefer herab. «Dann hat also der König - und alle anderen, die hier waren...?» Er brach ab und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. «Glaubst du denn, daß ein Geist dieses Gerüst gebaut haben könnte?» fragte ich ihn. «In den ganzen langen Wochen, die ich hier zugebracht habe, habe ich nie die Hoffnung auf Rettung aufgegeben; aber beim Gott aller Götter, Stilicho, wenn du mich jetzt verläßt, ohne mir herauszuhelfen, dann bin ich ein toter Mann, noch bevor der Tag zu Ende geht.» Ich schwieg und schämte mich vor mir selbst. Er räusperte sich. Er klang erschüttert, was verständlich l war, aber nicht mehr verängstigt, als er sagte: «Ihr seid es also wirklich, Herr? Die Leute sagten, Ihr seid gestorben und begraben, und wir haben um Euch getrauert. . . aber wir hätten eigentlich wissen müssen, daß Eure Magie Euch den Tod vom Leibe halten würde.» Ich schüttelte den Kopf. Ich zwang mich, keine Pause eintreten zu lassen, sondern weiterzureden, weil ich wußte, daß er um so eher an mein Überleben glauben und sich ein Herz fassen würde, zu mir in das Grab hinabzusteigen. «Es war nicht Magie», sagte ich, «sondern die Krankheit, die euch alle getäuscht hat. Ich bin kein Zauberer mehr, Stilicho, aber ich muß Gott dafür danken, daß ich noch bei Kräften bin. Sonst hätte ich die langen Wochen unter der Erde bestimmt nicht lebend überstanden. Und jetzt, mein Lieber, kannst du mich von hier herausholen? Wir können später reden und entscheiden, was sonst noch alles zu 434
geschehen hat, aber jetzt hilf mir erst einmal hinaus, in die frische Luft...» Es war eine schwierige Unternehmung und sie dauerte lange; nicht zuletzt deshalb, weil ich, als er Hilfe holen wollte, ihn inständig bat worüber ich mich jetzt noch schäme -, mich nicht im Stich zu lassen. Er machte keine Einwendungen, sondern ging daran, das lange, dicke Seil zu verknoten, das er an einer Esche oberhalb des Schachtausgangs gefunden hatte. Am Ende brachte er eine Schlinge für meinen Fuß an und ließ das Seil dann langsam herunter. Es reichte bis an das oberste Brett des Gerüsts hinab. Dann ließ er sich selbst durch den Kamin herunter und stand kurz darauf am Fuß des Gerüstes neben mir. Ich glaube, er wäre auf die Knie gesunken, wie es seine Gewohnheit gewesen war, um mir die Hände zu küssen, aber ich packte ihn so fest, daß er mich mit der Kraft seiner Jugend stützte und in die Hauptkammer der Höhle zurückführte. Er entdeckte noch einen unbeschädigten Hocker für mich, entzündete dann die Lampe und brachte mir Wein. Dann fühlte ich mich imstande, lächelnd zu sagen: «Jetzt weißt du also, daß ich ein lebendiger Mensch und kein Gespenst bin. Du hast Mut bewiesen, überhaupt herzukommen, und erst recht, als du hiergeblieben bist. Was hat dich um alles in der Welt veranlaßt, hierherzukommen? Du bist der Letzte, dem ich zugetraut hätte, ein Grab aufzusuchen.» «Ich wäre gar nicht gekommen», sagte er freimütig, «aber bei den umlaufenden Gerüchten fragte ich mich, ob Ihr vielleicht doch nicht tot seid. Ich wußte, daß Ihr ein großer Zauberer seid, und dachte mir, daß Ihr durch Eure Magie vielleicht nicht sterben würdet wie andere Menschen.» «Was hast du denn gehört?» «Ihr kennt doch den Mann, den ich als Gehilfen in der Mühle beschäftige. Er heißt Bran. Also, er war gestern in der Stadt und erzählte von einem Kerl, der sich in einem der Gasthäuser sinnlos betrunken hatte; dieser hatte erzählt, daß er nach Bryn Myrddin hinaufgestiegen sei und der Zauberer aus dem Grab mit ihm gesprochen habe. Die anderen zahlten ihm daraufhin seine Getränke 435
und ermunterten ihn, mehr zu erzählen. Alles, was er ausplauderte, waren natürlich Lügen, aber trotzdem machte ich mir so meine Gedanken ...» Er stockte. «Was ist wirklich geschehen, Herr? Ich wußte sofort, daß jemand hier gewesen sein muß, und zwar wegen des Seils an dem Baum.» «Es geschah zweimal», sagte ich. «Beim ersten Mal war es ein Reiter, der zufällig vorbeikam ... du kannst dort drüben an dem Kerbstock sehen, wie lange es her ist. Er muß mich auf der Harfe spielen gehört haben; der Klang muß durch den Schacht nach oben ins Freie gedrungen sein. Beim zweiten Mal war es - vor vier Tagen oder fünf? - ein Dieb, der das Grab berauben wollte; er erweiterte den Schacht und ließ sich mit dem Seil herunter.» Ich erzählte ihm, was geschehen war. «Er muß derartig von Angst gepackt worden sein, daß er sein Seil nicht mehr losgebunden hat. Es ist eine Gnade, daß du seine Erzählung gehört hast und hergekommen bist, bevor er sich wieder ein Herz gefaßt hat und zurückgekommen ist - um den Raub in der Grabkammer noch einmal zu versuchen.» Er sah mich von der Seite an. «Ich will Euch nichts vormachen Herr. Es ist nicht recht, daß Ihr mich wegen meines Mutes lobt. Ich kam gestern abend herauf. Ich wollte nicht allein sein, aber ich schämte mich, Bran mitzunehmen, und Mai wollte unter gar keinen Umständen in die Nähe dieses Ortes gehen ... Na ja, ich sah, daß der Höhleneingang unverändert war, und dann hörte ich die Harfe. Ich machte kehrt und - und rannte nach Hause. Es tut mir leid.» Ich sagte in sanftem Tonfall: «Aber du bist zurückgekommen.» «Ja. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ihr erinnert Euch sicher, daß Ihr mir einmal den Auftrag gabt, die Höhle zu bewachen? Dabei zeigtet Ihr mir Eure Harfe und wie sie manchmal von selbst spielt, wenn es einen leichten Luftzug gibt. Und wie Ihr mir Mut einflößtet und mir die Kristallhöhle zeigtet und mir dabei sagtet, daß ich dort immer in Sicherheit wäre? Daran mußte ich denken, und auch daran, daß Ihr oft so gut zu mir gewesen seid, daß Ihr mich aus der Sklaverei befreit und mich zu einem freien Mann gemacht habt, und ich mußte an das Leben denken, wie ich es jetzt habe. Und ich dachte, auch wenn es der Geist meines Herrn ist oder die Harfe durch 436
Zauberkraft von selbst spielt - ich würde bestimmt nicht zu Schaden kommen ... So kehrte ich zurück, diesmal aber bei Tageslicht. . . Ich dachte bei mir: Wenn es ein Gespenst ist, dann wird es bestimmt schlafen, wenn die Sonne scheint.» «Und ich schlief auch.» Es lief mir plötzlich kalt den Rücken herunter, denn wenn ich gestern abend ein Betäubungsmittel genommen hätte, wie ich es schon so oft getan hatte, hätte ich möglicherweise gar nichts gehört. Erfuhrfort: «Diesmal nahm ich den Weg über den Berg, und ich sah frisch aufgebrochenes Gestein weiß in der Mulde schimmern, wo der kleine Luftschacht mündet. Ich ging hin, um nachzusehen. Dann sah ich das Seil, das an der Esche befestigt war, und als ich einen Blick in den Schacht hinunter warf, sah ich das Ding, das Ihr dort gebaut hattet.» Ich hatte nicht geglaubt, daß mich jemals wieder etwas belustigen könnte. «Das ist ein Baugerüst, Stilicho.» «Ja, natürlich. Ich dachte mir, das könne nicht das Werk eines Geistes sein. Deshalb rief ich. Das ist alles.» «Stilicho», sagte ich, «wenn ich jemals etwas für dich getan habe, so hast du es mir bestimmt tausendfach vergolten. Unc du hast mir zweimal das Leben gerettet. Nicht nur heute wenn du hier in der Höhle nicht alles so zurückgelassen hättest, wie ich es vorfand, wäre ich schon vor Wochen an Hunger und Kälte gestorben. Das werde ich dir nie vergessen.» «Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß Ihr ins Freie gelangt Aber wie?» Er blickte sich in der halbleeren Höhle unc zwischen den zerbrochenen Einrichtungsgegenständen um «Jetzt, da wir miteinander gesprochen haben und Ihr Euch kräftiger fühlt, Herr, soll ich nicht doch lieber gehen, Leute mit Werkzeugen herholen und den Höhlenausgang für Euch öffnen? Es wäre gewiß der beste Weg.» «Das weiß ich, aber ich will es trotzdem nicht. Ich habe genügend Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Solange ich nicht weiß, wie die Dinge im Reich stehen, kann ich nicht plötzlich <wieder zum Leben erweckt werden>. So wird es das einfache Volk sehen, wenn Prinz 437
Merlin aus dem Grabe aufersteht. Nichts darf davon durchsickern, bis der König Bescheid weiß.» «Er hat sich angeblich in die Bretagne begeben.» «So?» Ich dachte einen Augenblick nach. «Wer ist Regent?» «Die Königin, zusammen mit Bedwyr.» Es trat eine Pause ein, während ich meine Hände betrachtete. Stilicho saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden. Im Lampenschein sah er noch fast wie der Knabe aus, den ich damals gekannt hatte. Die dunklen, byzantinischen Augen beobachteten mich. Ich befeuchtete meine Lippen. «Und die Lady Nimue? Weißt du, wen ich meine? Sie...» «O ja, alle kennen sie. Sie hat die Zauberkraft, wie Ihr sie hattet wie Ihr sie habt, Herr. Sie ist immer in der Nähe des Königs. Sie lebt bei Camelot.» «Ja», sagte ich. «Es tut mir leid, mein Lieber, aber es darf nichts bekannt werden, bevor der König aus der Bretagne zurückkommt. Irgendwie werden wir beide es schon schaffen, mich durch den Schacht ins Freie zu befördern. Ich bin sicher, daß es uns gelingen wird, wenn du das Werkzeug aus dem Stall heraufbringst.» Und so machten wir es auch. Er war in knapp einer halben Stunde mit Nägeln und Werkzeugen und dem kleinen Holzvorrat, der sich noch im Stall befand, wieder zurück. Es war für mich eine schwere halbe Stunde. Ich zweifelte nicht, daß er zurückkommen würde, aber jetzt, wieder alleingelassen, saß ich dort auf dem Hocker und schwitzte und zitterte wie Espenlaub. Als aber dann das Material durch den Schacht nach unten befördert und er selbst auch heruntergeklettert war, hatte ich die Selbstbeherrschung wieder gewonnen, und wir gingen an die Arbeit; ich blieb auf dem Stuhl sitzen, sah ihm zu und gab meine Anweisungen, während er eine behelfsmäßige Leiter zusammenbaute und sie auf der Plattform, die ich hergestellt hatte, befestigte. Die Leiter reichte bis zum schrägen Teil des Kamins. Dann schnitt er Holzstücke zurecht, die er in dem Seil verknotete und in gewissen Abständen in Rissen und Spalten der 438
Kaminwand verkeilte, so daß man mit dem Knie ab und zu einen Halt fand. Als alles fertig war, probierte er sein Werk aus, und während er dies tat, wickelte ich die Harfe in die einzige, noch vorhandene Decke und gab meine Manuskripte und einige der Arzneien hinzu, die ich vielleicht noch brauchen würde, um wieder voll zu Kräften zu kommen. Er kletterte mit den Sachen nach oben. Zum Schluß nahm ich ein Messer, trennte die besten Edelsteine aus dem Leichentuch heraus und ließ sie, zusammen mit den Goldmünzen, in einen Lederbeutel fallen, in dem sich vorher Heilkräuter befunden hatten. Ich schob die Schnur des Beutels über mein Handgelenk und wartete am Fuße des Gerüsts, bis Stilicho schließlich oben wieder auftauchte, das Seil in die Hand nahm und mir zurief, ich solle jetzt mit dem Aufstiegbeginnen. 4 Ich blieb einen Monat bei Stilicho in der Mühle. Als Mai, die mir vorher immer in tiefer Ehrfurcht begegnet war, erkannte, daß ich kein furchterregender Zauberer, sondern lediglich ein kranker und hilfebedürftiger Mann war, sorgte sie rührend für mich. Ich sah niemanden, außer diesen beiden. Ich blieb ständig in dem oberen Gemach, das sie mir zur Verfügung gestellt hatten - es war ihr eigenes Zimmer und das beste in der Mühle, aber sie ließen sich nicht umstimmen. Der Knecht schlief draußen in den Getreideschuppen; er wußte lediglich, daß ein älterer Verwandter des Müllers sich in der Mühle aufhielt. Den Kindern wurde dasselbe gesagt, und sie nahmen mich ohne weitere Fragen hin, wie es Kinder tun. Zuerst blieb ich im Bett. Die Reaktion auf die jüngst vergangenen Wochen war heftig; ich litt unter dem Tageslicht und fand die verschiedenen Tagesgeräusche schwer zu ertragen - das Stimmengewirr auf dem Hof, wenn die Getreidekähne am Landungssteg anlegten, das Pferdegetrappel auf der Straße, das Geschrei der spielenden Kinder. Am Anfang fiel es mir sogar schwer, mit Mai oder Stilicho zu sprechen, aber sie brachten mir das Verständnis einfacher Menschen entgegen, so erholte ich mich allmählich wieder. Bald verließ ich mein Bett und nahm die 439
Niederschrift meiner Chronik wieder auf; dann rief ich die älteren Kinder zu mir und begann, sie in Lesen und Schreiben zu unterrichten. Nach einiger Zeit freute ich mich sogar über Stilichos überschwengliche Art und befragte ihn eindringlich über alles, was sich während meiner in der Höhle verbrachten Zeit ereignet hatte. Von Nimue wußte er außer dem, was er mir bereits erzählt hatte, nur wenig. Ich nahm an, daß ihr Ruf, Zauberkräfte zu haben, in den Wochen meiner Abwesenheit so schnell Gestalt angenommen hatte, daß der Mantel des königlichen Zauberers wie selbstverständlich auf ihre Schultern gefallen war. Sie verbrachte einen Teil ihrer Zeit in Applegarth, war aber nach dem Tod der Lady zum Heiligtum auf der Insel zurückgekehrt und wurde dort ohne weitere Fragen als die neue Herrin akzeptiert. Es wurde gemunkelt, daß sich die Stellung der Lady in ihrer Person ändern würde; sie blieb nicht ständig als Jungfrau unter Jungfrauen auf der Insel. Sie suchte den Hof zu Camelot häufig auf und man redete bereits von einer möglichen Heirat. Stilicho konnte mir nicht sagen, um welchen Mann es sich dabei handelte. «Aber er wird», meinte er, «natürlich ein König sein.» Damit mußte ich mich zufriedengeben. Es gab wenige sonstige Neuigkeiten. Die meisten Menschen, die flußaufwärts zur Mühle kamen, waren einfache Arbeiter oder Flußschiffer, die sich nur in der näheren Umgebung auskannten und kaum andere Interessen hatten, als einen guten Preis für die von ihnen beförderten Güter zu erzielen. Es herrschte offenbar immer noch allgemeiner Wohlstand; der Reichsfriede war ungebrochen, und die Sachsen hielten sich an die Verträge. Infolgedessen hatte es sich der Hochkönig leisten können, außer Landes zu gehen. Warum, wußte Stilicho nicht. Für mich spielte das im Augenblick keine Rolle, außer daß ich die Geheimhaltung noch eine Weile aufrechterhalten mußte. Ich überdachte die Lage nach meiner Gesundung von neuem und kam zu denselben Schlußfolgerungen. Mit meiner Rückkehr ins Licht der Öffentlichkeit war niemandem gedient. Sogar das «Wunder» einer Rückkehr aus dem Grab würde dem Reich und seinem Hochkönig ebensowenig einbringen, als mein «Tod» und 440
der Übergang der Macht an einen anderen. Ich konnte dem Hochkönig weder Kraft noch prophetische Voraussagen bieten; es würde falsch sein, eine Rückkehr zu veranstalten, die nur dazu angetan sein konnte, Nimue als meine Nachfolgerin in Mißkredit zu bringen, ohne Artus dabei auch nur im geringsten zu nützen. Ich hatte mich verabschiedet, und die Legende, die man um mich gewober hatte, nahm immer deutlichere Formen an. Soviel konnte icr den Erzählungen entnehmen, die sich bereits, laut Stilicho, um die Geschichte des Grabschänders gerankt hatten. Auch für Nimue galt dasselbe. Nach langen Überlegunger erkannte ich, daß die Liebe, die uns zusammengeführt hatte, der Vergangenheit angehörte. Ich konnte nicht zurückgeher und meinen Platz neben ihr beanspruchen und einem Falken, der bereits im Fluge war, die Beinfesseln wieder anle gen. Irgend etwas hielt mich zurück - etwas, das ich bei Tage nicht genau erfassen konnte, das mich aber im Traum mit alten Prophezeiungen zu narren pflegte. Was wußte ich vor Frauen, auch jetzt? Wenn ich daran dachte, wie mich meine magische Kraft allmählich verlassen hatte, wie ich schwach geworden und in einen Trancezustand verfallen war, in dem ich gelegen hatte, bevor mich das Dunkel umfing, fragte ich mich, was diese Liebe anderes gewesen sein konnte als jenes Band, das sie mit mir verstrickt und mich veranlaßt hatte, ihr alles zu überantworten, was ich besaß? Auch wenn ich mich ihrer Liebe, ihrer Verehrung und all der vielen Liebesbezei-gungen erinnerte, so wußte ich doch (dazu brauchte ich kein Seher zu sein), daß sie jetzt nicht auf ihre Sehergabe verzichten würde, auch dann nicht, wenn sie mich nur so zurückholen konnte. Es war schwierig, Stilicho verständlich zu machen, daß icr mich nur ungern in der Öffentlichkeit zeigte, aber er respektierte meinen Wunsch, auf Artus' Rückkehr zu warten, bevor wir irgendwelche Pläne machten. Aus seinen Bemerkungen über Nimue ging hervor, daß er noch nicht wußte, daß sie mehr für mich bedeutet hatte als nur die Schülerin, die den Platz ihres Meisters eingenommen hatte. Es ging mir aber schließlich wieder besser, und da ich Stilicho nicht länger zur Last fallen wollte, rüstete ich mich zur Fahrt nach Northumbrien und beauftragte Stilicho, die entsprechenden 441
Vorbereitungen für mich zu treffen. Ich beschloß, über See nach Norden zu fahren. Eine Seefahrt ist etwas, das ich nur ungern unternehme, aber über Land wäre es eine lange und mühsame Reise gewesen, und niemand wußte, ob das gute Wetter anhalten würde; außerdem hätte ich mich kaum allein auf den Weg machen können; Stilicho hätte darauf bestanden, mich zu begleiten, obwohl er gerade in dieser Jahreszeit in der Mühle nur schwer hätte entbehrt werden können. Er wollte mich sogar auf dem Schiff begleiten, ließ sich aber schließlich von diesem Gedanken abbringen. Und zwar meines Erachtens nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern weil er mich noch immer für den «großen Zauberer» hielt, dem er in der Vergangenheit mit so viel Stolz und Ehrfurcht gedient hatte. Schließlich setzte ich mich durch und fuhr eines Morgens auf einem der Frachtkähne flußabwärts, um in Maridunum eines der nach Norden gehenden Küstenschiffe zu besteigen. Ich hatte Blaise in Northumbrien keine Nachricht zukommen lassen, denn es gab keinen Kurier, dem ich die Nachricht von «Merlins Rückkehr aus dem Totenreich» hätte anvertrauen können. Ich würde ihn irgendwie darauf vorbereiten, wenn ich in seiner Nähe eintraf. Möglicherweise wußte er noch nicht einmal etwas von meinem Tod; er lebte in solcher Abgeschiedenheit, daß ich mir vorstellen konnte, daß er erst jetzt meinen letzten Brief aus Applegarth entrollt hatte. Wie sich später herausstellte, war dies auch der Fall; aber ich wußte es damals noch nicht. Ich fuhr auch nicht bis nach Northumbrien, sondern gelangte nicht weiter nördlich als Segontium. Das Schiff lief an einem klaren, ruhigen Morgen dort ein. Die kleine Stadt sonnte sich am Rand der schimmernden Meerenge; ihre dicht beieinander stehenden Häuser wirkten winzig gegenüber den gewaltigen Mauern der alten römischen Festung, die dem Kaiser Maximus als Hauptquartier gedient hatte. Jenseits der Enge leuchteten die Kornfelder der Insel Mona golden in der Sonne. Hinter der Stadt, eine kurze Strecke jenseits der Festungsmauer, standen die Überreste eines Turms, der unter dem Namen Macsen's Tower 442
bekannt war. Dicht daneben lagen die Tempelruinen des Mithras, wo ich vor Jahren das Königsschwert von Britannien gefunden hatte und wo ich, tief unter dem aufgebrochenen Fußboden und dem verfallenen Altar des Gottes, den Rest von Macsens Schatz, die Lanze und den Gral, zurückgelassen hatte. Dies war der Ort, den ich Nimue auf unserem Rückweg von Galava hatte zeigen wollen. Hinter dem Turm erhob sich der gewaltige Schneeberg, Y Wyddfa, gegen den Himmel. Das erste Weiß des Winters lag auf seinem Kamm, und seine umwölkten Hänge schimmerten sogar an diesem sonnigen Tag schwärzlich rot durch das Geröll und die verdorrte Heide. Wir legten im Hafen an. Es waren Güter zu entladen, und da dies einige Zeit dauern würde, freute ich mich, an Land gehen zu können, und begab mich nach einem kurzen Besuch im Kontor des Hafenmeisters in das nächstgelegene Gasthaus. Dort konnte ich essen und das Beladen und Entladen meines Schiffes beobachten. Ich hatte Hunger, der sich wahrscheinlich noch steigern würde. Auch bei ruhigem Wetter begab ich mich auf jeder Seereise sofort unter Deck und blieb, ohne Essen oder Trank zu mir zu nehmen, so lange unten, bis die Reise beendet war. Der Hafenmeister hatte mir gesagt, das Schiff werde nicht vor der Abendflut auslaufen; ich hatte also genügend Zeit, mich auszuruhen und für die nächste, gefürchtete Etappe der Reise vorzusorgen. Mir kam zwar in den Sinn, noch einmal zum Mithrastempel hinaufzusteigen, aber ich schob den Gedanken beiseite. Auch wenn ich den Ort noch einmal aufsuchen sollte, würde ich auf gar keinen Fall den Frieden des Schatzes stören. Das stand mir nicht an. Außerdem hatten mich die Strapazen der Reise ermüdet, und ich mußte etwas essen. So begab ich mich zu dem Gasthaus. Dieses umschloß auf drei Seiten einen Innenhof, während die vierte zum Hafen hin offen war - auf diese Weise konnte man die Schiffsladungen unmittelbar in die Vorratskammern des Gasthauses befördern, die der Stadt als Lagerhäuser dienten. Unter den überhängenden Regentraufen des offenen Innenhofes standen Bänke und wuchtige Holztische, aber trotz des schönen Wetters war es nicht warm genug, im Freien zu essen. Ich 443
betrat den eigentlichen Gastraum, wo ein Holzfeuer brannte, und bestellte Essen und Wein. (Ich hatte meine Passage sinnvollerweise mit einer der Goldmünzen bezahlt, die als «Fährmannslohn» gedacht waren; dadurch besaß ich genügend Wechselgeld, was den Kapitän veranlaßt hatte, mir eine Hochachtung zu bezeigen, die durch mein Äußeres kaum gerechtfertigt schien.) Jetzt beeilte sich der Diener, mir eine gute Mahlzeit, bestehend aus Lammbraten und frischem Brot, zu servieren; dazu eine Flasche einfachen Rotweins, wie ihn die Seeleute bevorzugen; dann ließ er mich allein, so daß ich das wärmende Feuer genießen und durch die offene Tür die Szene am Anlegeplatz beobachten konnte. Der Tag zog sich in die Länge. Ich war müder, als ich zuerst gemerkt hatte. Ich nickte ein, wachte auf und fiel dann wieder in einen unruhigen Schlaf. Draußen am Kai schritt die Arbeit fort: Winden knarrten, Ketten rasselten und Taue spannten sich bis zum äußersten, als Ballen und Säcke von den Kränen an Bord gehievt wurden. Über allem kreischten die Möwen. Ab und zu holperte ein Ochsenkarren mit knarrenden Rädern vorbei. Im Gasthaus herrschte wenig Betrieb. Einmal ging eine Frau mit einem Wäschekorb auf dem Kopf über den Hof, und ein Knabe eilte mit Broten durch den Raum. Anscheinend befand sich eine andere Gästegruppe in den Gemächern rechts vom Hof. Ein Bursche in Sklaventracht eilte aus der Stadt herein und trug einen flachen Korb, der mit einem Leinentuch bedeckt war. Er verschwand durch eine Tür, und kurz darauf kamen Kinder herausgelaufen - gut gekleidete, aber sehr geräuschvolle Knaben, die irgendwie einen fremdländischen Akzent sprachen, den ich nicht einordnen konnte. Zwei von ihnen ihrem Aussehen nach Zwillinge -setzten sich auf die Pflastersteine, um ein Knöchelspiel zu beginnen, während sich clie beiden anderen zu einem Scheingefecht entschlossen, wobei sie Stöcke als Schwerter und alte Kistendeckel als Schilde verwendeten. Kurz darauf erschien eine anständig aussehende Frau, die ich für ihre Betreuerin hielt, und setzte sich in der Sonne auf eine Bank, um den Kindern zuzuschauen. Aus der Art, wie die Knaben hin und wieder davonrannten, um zum Hafen hinunter zu schauen, entnahm ich, daß 444
sie entweder auf meinem Schiff die Reise fortsetzen oder ein anderes Boot besteigen wollten, das einige Längen entfernt am Kai festgemacht hatte. Von meinem Sitzplatz aus konnte ich den Kapitän meines Schiffes sehen; neben ihm stand eine Art von Zahlmeister mit Griffel und Wachstafel in der Hand. Dieser Mann hatte seit einiger Zeit nichts mehr notiert, und an Bord schienen die Arbeiten beendet zu sein. Ich mußte bald zu meinem primitiven Bett unter Deck zurückkehren und kläglich darauf warten, daß uns die leichte Brise weiter nach Norden führen würde. Ich stand auf. Im selben Augenblick sah ich, daß der Kapitän den Kopf hob - so wie ein Hund, der eine Gefahr wittert. Dann drehte er sich herum und blickte zum Dach des Gasthauses hinauf. Direkt über meinem Kopf hörte ich das langgezogene Knarren der Wetterfahne, die herumschwang und in der plötzlich auffrischenden Brise hin und herzupendeln schien. Dann kam sie zur Ruhe. Der Wind wehte wie ein grauer Schatten über das Wasser des Hafenbeckens, und hinter ihm schwankten die festgemachten Schiffe hin und her; die Taue schlugen wie Trommelstöcke gegen die Masten. Neben mir flackerte das Feuer, entbrannte dann in voller Glut den offenen Kamin hinauf. Der Kapitän, offenbar zornig und verärgert, schritt zur Gangway des Schiffes hinüber und erteilte irgendwelche Befehle. Trotz meiner eigenen Verärgerung empfand ich ein Gefühl der Erleichterung; bei diesem Wind würde die See in kurzer Zeit sehr unruhig werden, aber ich würde nicht an Bord sein. Der Wind hatte gedreht, wie es im Herbst häufig vorkommt. Das Schiff konnte nicht auslaufen. Der Wind kam jetzt direkt von Norden. Ich ging hinüber, um mit dem Kapitän zu sprechen; dieser beaufsichtigte die Seeleute beim Verstauen und Vertäuen der Ladung angesichts des veränderten Wetters. Er bestätigte mürrisch, daß ein Auslaufen nicht in Frage komme, solange der Wind uns ins Gesicht blase. Ich ließ mir durch einen Jungen meine Sachen heraufbringen und ging zurück, um ein Zimmer im Gasthaus zu bestellen. Daß eines frei sein würde, wußte ich bereits, denn der für uns ungünstige Wind kam den anderen Gästen offenbar sehr gelegen. Ich konnte sehen, wie 445
das andere Schiff von seiner Besatzung zum Auslaufen klargemacht wurde, und im Gasthaus fühlte ich sofort eine allgemeine Geschäftigkeit. Die Kinder waren vom Hof verschwunden; sie traten sogleich wieder in Erscheinung, diesmal mit Mänteln und warmen Schuhen versehen; der kleinste Knabe hielt die Hand der Kinderfrau, die anderen sprangen um sie herum und freuten sich offensichtlich auf die Fortsetzung der Schiffsreise. Sie warteten voller Ungeduld, während der Sklave, den ich gesehen hatte, gemeinsam mit einem anderen das Gepäck heraustrug -gefolgt von einem Mann in der Livree eines Kammerherrn; dieser machte einen befehlsgewohnten Eindruck. Es mußte sich, trotz ihrer merkwürdigen Sprache, um hochgestellte Persönlichkeiten handeln. Der größte unter den Knaben schien mir irgendwie vage bekannt. Ich stand im Schatten des Haupteingangs und sah ihnen zu. Der Gastwirt war herbeigeeilt, um das Geld vom Kammerherrn entgegenzunehmen, und dann erschien eine Frau - vielleicht sein Eheweib - mit einem Paket unter dem Arm. Ich hörte das Wort «Wäsche», dann traten beide mit Knicks und Verbeugung von der Tür zurück, als schließlich der Hauptgast auf der Bildfläche erschien. Es war eine von Kopf bis Fuß in Grün gekleidete Frau. Sie war von zartem Wuchs, strahlte aber Selbstbewußtsein aus. Ich sah Gold an ihrem Handgelenk aufblitzen, und am Hals trug sie Juwelen. Ihr Mantel war reich mit Rotfuchspelz gefüttert und besetzt, ebenso die Kapuze, die sie über die Schultern zurückgeschoben hatte; ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, denn sie hatte sich umgedreht und sprach mit jemandem hinter ihr im Haus. Noch eine Frau trat heraus; diese hatte eine Schatulle in der Hand. Das Kästchen war in ein Tuch gehüllt und schien schwer zu sein. Diese Person war schlicht wie eine Zofe gekleidet. Wenn die Schatulle den Schmuck ihrer Herrin enthielt, mußten es in der Tat hochgestellte Persönlichkeiten sein. Dann wandte sich die Dame um, und ich erkannte sie. Es war Morgause, Königin von Lothian und Orkney. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Das hübsche Haar hatte seinen rötlich-goldenen 446
Schimmer verloren und war etwas dunkler geworden, und ihr Körper war nach den Geburten etwas fülliger geworden, aber die Stimme war noch dieselbe, ebenso wie die mandelförmigen Augen und der hübsche Mund. Also handelte es sich bei den vier robusten und temperamentvollen Knaben mit dem fremdartigen Akzent des Nordens um ihre Kinder von Lot von Lothian, Artus' Feind. Ich hatte für sie jetzt keine Augen mehr. Ich beobachtete den Türeingang und fragte mich, ob ich zu guter Letzt noch ihren ältesten Sohn, ihr Kind von Artus, zu sehen bekommenwürde. Er kam mit raschen Schritten heraus. Er war größer als seine Mutter - ein schlanker Jüngling, den ich, obwohl ich ihn nie zuvor gesehen hatte, überall sofort erkannt hätte. Dunkle Haare, dunkle Augen und die Gestalt eines Tänzers. Irgend jemand hatte dasselbe einmal von mir gesagt, und er war wie ich, dieser Mordred, Artus' Sohn. Er blieb neben Morgause stehen und sagte etwas zu ihr. Seine Stimme klang hell und angenehm, wie ein Echo der Stimme seiner Mutter. Ich verstand die Worte «Schiff» und «voraussichtlich» und sah sie nicken. Sie legte die Hand auf seinen Arm, und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Mordred warf einen Blick zum Himmel und machte noch eine Bemerkung, aus der ich einen Anflug von Besorgnis entnehmen konnte. Sie gingen wenige Meter an der Stelle vorbei, wo ich stand. Ich schrak zurück. Die Bewegung mußte ihre Aufmerksamkeit erregt haben, denn sie blickte auf, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke. Sie schien mich nicht zu erkennen. Als sie sich aber umwandte, um eiligst das Schiff zu erreichen, sah ich, wie sie erschauerte und sich den pelzgefütterten Mantel enger um den Leib zog, als fröstele sie. Ihr folgten die Dienerschaft sowie Lots Kinder Gawein, Agravaine, Geheris und Gareth. Sie überschritten die Gangway des wartenden Schiffes. ' Sie fuhren nach Süden, sie alle. Was Morgause dort vorhatte, konnte ich nicht erraten, aber es konnte nur eine neue Untat sein. Und ich war machtlos, sie aufzuhalten oder auch nur eine Nachricht vorauszuschicken, denn wer würde einer Botschaft aus dem Totenreich Glauben schenken? 447
Dann trat der Gastwirt mit seiner Frau neben mich und fragte nach meinen Wünschen. Ich hatte nach allem, was geschehen war, keine Lust, in den Zimmern zu schlafen, die von der Königin von Orkney und ihrem Gefolge soeben freigemacht worden waren. *#* Auch am nächsten Tag wehte der Wind, kalt, stark und stetig, aus nördlichen Richtungen. Mein Schiff konnte die Reise nach Norden vorläufig nicht fortsetzen. Mir kam erneut der Gedanke, eine Warnung nach Camelot zu schik-ken, aber Morgauses Schiff war bestimmt schneller als ein Reiter, und an wen konnte ich die Mitteilung richten? An Nimue? An Bedwyr oder die Königin? Ich konnte nichts tun, solange der Hochkönig nicht wieder in Britannien war. Und gleichermaßen konnte Morgause, während sich Artus noch außer Landes aufhielt, ihm keinen Schaden zufügen. Ich dachte darüber nach, während ich mich außerhalb der Stadt auf dem Pfad, der unterhalb der Festungsmauern entlang führte, in Richtung auf Macsen's Tower auf den Weg machte. Es mußte in der Tat ein böser Wind sein, wenn er nicht auch etwas Gutes für mich mitbrachte. Die gestrige Ruhe hatte mich erfrischt, und der ganze Tag stand mir zur Verfügung. Diese Gelegenheit wollte ich ausnutzen. Bei meinem letzten Aufenthalt in Segontium, dieser großartigen Militärgründung, die von Kaiser Maximus, den die Waliser Macsen nennen, aufgebaut und befestigt worden war, war sie völlig verfallen gewesen. Später hatte sie Cador von Cornwall instandgesetzt und gegen Angreifer aus Irland neu befestigt. Dies war vor vielen Jahren geschehen, aber in jüngerer Zeit hatte Artus dafür gesorgt, daß Maelgon, sein Befehlshaber im Westen, den Platz in gutem Zustand erhielt. Ich interessierte mich dafür, was getan worden war und auf welche Weise; deshalb stieg ich das Tal empor. Bald befand ich mich weit oberhalb der Stadt. Die Sonne schien, und ein kühler Wind wehte; die Stadt lag hell und farbenfroh in dem dunkelblauen Meeresarm unter mir. Neben dem Weg ragten die Festungsmauern drohend empor, und hinter ihnen konnte ich den Dienstbetrieb einer 448
alarmbereiten und gut geführten Garnison hören. Als wäre ich noch Artus' Baumeister und beauftragt, ihm einen Bericht zu geben, notierte ich alles, was ich sah. Dann gelangte ich zur Südseite der Festung, wo dem Verfall kein Einhalt geboten worden war, und blieb einen Augenblick stehen, um den aufsteigenden Talkessel entlang zu Macsen's Tower hinauf zuschauen. Da war der Pfad, auf dem einstmals die getreuen Legionäre marschiert waren; jetzt wurde er wahrscheinlich nur noch von Schafen oder Ziegen mit ihren Hirten benutzt. Er führte den Steilhang zu dem Bergrücken hinauf, hinter dem sich der uralte Schrein des Mithras verbarg. Seit über hundert Jahren war der Ort vollkommen verfallen, aber bei meinem letzten Besuch waren die Stufen, die zum Eingang hinunterführten, noch benutzbar gewesen und man hatte den eigentlichen Tempel, obwohl offenbar Einsturzgefahr bestand, noch erkennen können. Ich begann langsam den Aufstieg und fragte mich, warum ich eigentlich hergekommen war. Die Frage erübrigte sich. Der Tempel war nicht mehr da. Weder von dem Erdhügel, der das Dach bedeckt hatte, noch von den Stufen, die nach unten geführt hatten, war noch eine Spur zu entdecken. Ich brauchte nicht lange nach der Ursache Ausschau zu halten. Oben auf dem Hang, wo der Tempel gestanden hatte, waren die Erneuerer von Segontium daran gegangen, die großen Steine für ihren Wiederaufbau abzutragen und hier und da nach kleineren Erzvorkommen zu suchen; dadurch war die Hälfte des Berges zu einem langen Geröllhang geworden. Auf ihm hatten sich zahlreiche kleinere Bäume - Eschen, Dornenbüsche und Brombeergestrüpp - angesiedelt, so daß auch die Spur durch das heruntergefallene Geröll kaum noch zu finden war. Und überall zogen sich, wie der Schußfaden eines Webstuhls, die schmalen Trampelpfade der Schafe, weiß schimmernd, quer über den Hang. Mir schien, als hörte ich ganz schwach die verebbende Stimme des Gottes.
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«Stürze meinen Altar. Es ist Zeit, ihn hinabzustürzen.» Altar, das Heiligtum und alles, was in ihm gewesen war, lag jetzt in den verwunschenen Tiefen des Berges. *** Ein solcher Wandel ist kaum zu begreifen. Ich blieb einige Zeit dort stehen und versuchte, mich zu orientieren. An der Genauigkeit meiner Erinnerung hatte ich keinen Zweifel; eine Linie von Macsen's Tower oben auf dem Berg bis zur Südwestecke der alten Festung und eine andere, die vom Haus des Kommandanten bis zum fernen Gipfel des Y Wyddfa führte, schnitten sich genau über der Stelle, wo das Heiligtum lag. Jetzt kreuzten sie sich genau in der Mitte der Geröllhalde. Ich konnte die Stelle erkennen, wo das Gebüsch spärlicher wuchs und die Gesteinsbrocken Lücken zeigten, als ob unter ihnen ein Hohlraum bestand. «Etwas verloren?» fragte eine Stimme. Ich sah mich um. Über mir saß ein Knabe auf einem heruntergerollten Steinblock. Er war noch ganz jung, vielleicht zehn Jahre alt, und sehr schmutzig. Er hatte wirre Haare, war halb nackt und kaute an einem Stück Gerstenbrot. Eine Haselrute lag neben ihm. «Vielleicht einen Schatz», sagte ich. «Was für einen Schatz? Gold?» «Mag sein. Warum?» Er schluckte das letzte Stück Brot herunter. «Was ist es Euch wert?» «Oh, mein halbes Königreich. Willst du mir helfen, den Schatz zu finden?» «Ich habe hier schon früher Gold gefunden.» «So?» «Ja. Und einmal einen Silberpenny. Und einmal eine Gürtelschnalle. Die war aus Bronze.» «Mir scheint, deine Weide ist reicher, als sie aussieht», sagte ich lächelnd. Dieser Weg zwischen Festung und Tempel war früher häufig begangen worden. Die Gegend mußte viele solcher Fundstücke 450
enthalten. Ich sah den Knaben an. Seine Augen blickten klar und lebhaft aus dem schmutzigen Gesicht. «Weißt du», setzte ich hinzu, «ich will eigentlich gar nicht nach Gold graben, aber wenn du mir mit ein paar Nachrichten aushelfen kannst, dann springt ein Kupferpfennig für dich dabei heraus. Sag mir, lebst du schon die ganze Zeit hier?» «Ja.» «Hast du die Schafe in diesem Tal gehütet?» «Ja. Kam meistens mit meinem Bruder hierher. Dann wurde er an einen Händler verkauft und ging auf ein Schiff. Jetzt hüte ich die Schafe allein. Sie gehören mir nicht. Mein Herr ist ein großer Mann drüben am Berg.» «Kannst du dich noch erinnern» - ich stellte die Frage ohne Hoffnung; einige der jungen Bäume waren gewiß schon zehn Jahre alt - «kannst du dich noch erinnern, wann dieser Bergrutsch geschah? Vielleicht damals, als man das Fort wiederaufgebaut hat?» Ein Schütteln des Wuschelkopfs. «So wie jetzt ist es immer gewesen.» «Nein. Es war nicht immer so. Als ich früher einmal hier war, vor vielen Jahren, gab es eine gute Straße am Hang entlang, und dort drüben lag ein Gebäude unter der Erde. Es war früher einmal ein Tempel. In alten Zeiten wurde Mithras von den Soldaten verehrt. Hast du nie davon gehört?» Wieder ein Kopf schütteln. «Vielleicht von deinem Vater?» Er grinste. «Sagt mir, wer das ist, dann erzähle ich Euch, was er mir gesagt hat.» «Dann also dein Herr?» «Nein. Aber wenn es dort unten liegt», sagte er und machte eine Kopfbewegung in Richtung auf die Geröllhalde, «dann weiß ich auch, wo. Dort unten ist auch Wasser. Wo das Wasser ist, muß auch die Stelle sein.»
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«Da war kein Wasser, als ich...» Ich brach ab. Ein Schauer rann mir wie ein kalter Luftzug über die Haut. «Wo ist Wasser?» «Unter den Steinen. Dort. Weit unten. Doppelt so tief, wie ein Mensch groß ist - so ungefähr.» Ich sah mir die kleine, verdreckte Gestalt, die hellen, grauen Augen und die Haselrute zu seinen Füßen an. «Kannst du Wasser unter der Erde finden? Mit der Haselrute?» «Nichts leichter als das. Aber ich spüre es auch sonst manchmal, auch ohne die Rute.» «Und Metall? Hast du auf diese Weise auch das Gold hier gefunden?» «Ja, einmal. Es war so etwas wie eine Statue oder etwas Ähnliches. Sah wie ein Hund aus. Der Herr hat sie mir abgenommen. Wenn ich jetzt wieder etwas fände, würde ich es ihm nicht sagen. Aber meistens ist es Kupfer - Kupfermünzen. Dort oben in den alten Gebäuden.» «Ich verstehe.» Mir fiel ein, daß der Schrein, als ich ihn entdeckte, schon seit über einem Jahrhundert eine verlassene Ruine gewesen war. Aber als er errichtet wurde, mußte eine Quelle in der Nähe gewesen sein. «Wenn du mir zeigst, wo das Wasser unter den Steinen liegt, springt für dich eine Sübermünze dabei heraus.» Er rührte sich nicht. Mir schien, als sei er vor mir auf der Hut. «Soll dort dieser Schatz liegen, nach dem Ihr sucht?» «Hoffentlich.» Ich lächelte ihn an. «Aber so etwas könntest du nie allein entdecken, Kind. Dazu braucht man Männer mit Brechstangen, um die Steine wegzuschaffen, und auch wenn du die Leute an die Stelle führtest, würdest du nichts von den Fundstücken bekommen, die sie ausgraben. Wenn du mir diese Stelle jetzt zeigst, verspreche ich dir eine gute Entlohnung.» Er blieb einige Augenblicke sitzen und kratzte mit seinen bloßen Füßen im Boden herum. Dann kramte er in seinem Lederkilt, der sein einziges Kleidungsstück bildete, herum und brachte auf der flachen Hand eine Silbermünze zum Vorschein. «Ich wurde schon entlohnt, Herr. Andere Leute waren hier, die von dem Schatz gewußt hatten. Wie hätte ich wissen sollen, daß er Euch gehört? Ich habe ihnen die 452
Stelle gezeigt, wo sie graben sollten, und sie schafften die Steine weg und nahmen den Kasten mit.» Schweigen. Hier im Windschatten des Berges herrschte völlige Ruhe. Ich setzte mich auf einen Felsbrocken. «Herr?» Der Knabe rutschte von seinem Sitzplatz herunter und kam auf mich zu. Er blieb kurz vor mir stehen und sah mich an, als wolle er jeden Augenblick die Flucht ergreifen. «Herr? Wenn ich etwas Böses getan habe...» «Du hast nichts Böses getan. Wie hättest du davon wissen sollen? Nein, bleib noch, bitte, und erzähl mir davon. Ich werde dir nicht weh tun. Wie sollte ich auch? Wer waren die Leute, und vor wie langer Zeit haben sie den Kasten mitgenommen?» Er warf mir wieder einen zweifelnden Blick zu, schien mir aber dann doch zu vertrauen. Er sagte eifrig: «Erst vor zwei Tagen. Es waren zwei Männer, ich kenne sie nicht, Sklaven waren sie, und sie kamen mit der Lady.» «Mit der Lady?» Irgend etwas in meinem Gesichtsausdruck ließ ihn zurückschrecken, aber dann faßte er sich wieder. «Ja. Vor zwei Tagen kam sie her. Sie besaß Zauberkraft, glaube ich. Sie steuerte direkt darauf zu, wie ein Hund auf den Freßnapf. Sie zeigte genau auf die Stelle und sagte . Die beiden Burschen fingen an, die Felsbrocken wegzuräumen. Ich saß dort oben. Als sie eine Weile gearbeitet hatten, bewegten sie sich in der falschen Richtung, deshalb kam ich herunter. Ich sagte ihr, was ich Euch erzählt habe, daß ich nämlich Dinge entdecken könne. , sagte sie, drgendwo liegt hier Metall vergraben, ich habe die Karte verloren, aber ich weiß, daß es hier sein muß. Der Besitzer hat mich hergeschickt. Wenn du uns zeigen kannst, wo wir graben sollen, bekommst du eine Silbermünze. > Und so habe ich es gefunden. Metall! Es hat mir die Haselrute aus der Hand gerissen - wie ein großer Hund, der nach einem Knochen schnappt. Es muß eine ganz besondere Art von Gold gewesen sein.» «Allerdings», sagte ich. «Hast du gesehen, wie sie es fanden?» «Ja. Ich wartete auf meinen Lohn, versteht Ihr?» 453
«Natürlich. Wie sah es aus?» «Ein Kasten, etwa so groß.» Er deutete die Größe mit Handbewegungen an. «Er schien schwer zu sein. Sie haben ihn nicht geöffnet. Sie befahl den Männern, den Kasten auf die Erde zu stellen und legte dann die Hände quer darüber -etwa so. Ich habe Euch ja gesagt, daß sie über Zauberkräfte verfügte. Sie schaute hinauf, hinauf zum Y Widdfa, als spräche sie mit dem Geist. Ihr wißt doch, mit dem Geist, der dort oben wohnt. Er hat einmal ein Schwert gemacht, behaupten die Leute. Jetzt hat es der König. Merlin hat es ihm vom König der Berge beschafft.» «Ja», sagte ich. «Und dann?» «Haben sie es mitgenommen.» «Hast du gesehen, wohin sie gingen?» «O ja. Hinunter zur Stadt.» Er schob seine Zehen im Staub hin und her und betrachtete mich mit verschleierten Augen. «Sie hat wirklich gesagt, daß der Besitzer sie hergeschickt habe. War das eine Lüge? Sie war sehr freundlich. Und die Sklaven trugen Abzeichen mit einer Krone. Ich hielt sie für eine Königin.» «Das war sie auch», sagte ich. Ich richtete mich auf. «Mach nicht ein so verängstigtes Gesicht, Kind, du hast nichts Böses getan. Im Gegenteil, du hast mehr getan, als die meisten an deiner Stelle getan hätten; du hast mir die Wahrheit gesagt. Du hättest dir noch eine Silbermünze verdienen können, wenn du den Mund gehalten, mir die Stelle gezeigt hättest und dann wieder weggegangen wärst. Ich werde dich trotzdem entlohnen, wie ich es versprochen habe. Hier.» «Aber das ist ja Silber, Herr. Und für nichts.» «Für nichts - nein, keineswegs. Du hast mir etwas erzählt, das ein halbes Königreich, oder sogar noch mehr, aufwiegt. Was du gesagt hast, ist äußerst wertvoll.» Ich erhob mich. «Du brauchst mich nicht zu verstehen. Bleib hier in Frieden, hüte deine Schafe und werde glücklich - und die Götter seien mit dir.» «Und mit Euch, Herr», sagte er erstaunt. 454
«Vielleicht», sagte ich, «sind sie es noch. Sie brauchen mir jetzt nur noch nach dem ersten ein zweites Schiff zu schik-ken, das mich mit in den Süden nimmt.» Ich ließ ihn stehen. Er sah mir fassungslos nach und hielt die Silbermünze fest in der Hand. Ein nach Süden gehendes Schiff legte am nächsten Tag gegen Mittag an und lief mit der Abendflut wieder aus. Ich war an Bord und blieb in elender Verfassung unter Deck, bis wir, fünf Tage später, wohlbehalten in den Severn einfuhren. 5 Es wehte weiterhin ein steifer Wind, aber aus unterschiedlichen Richtungen. Als wir den Severn erreichten, hatte sich das Wetter beruhigt, deshalb legten wir nicht in Maridunum an, sondern segelten den Mündungsarm des Flusses weiter hinauf. Erkundigungen .hatten ergeben, daß der Bestimmungshafen der Orc, Morgauses Schiff, Ynys Witrin war und daß sie mindestens zweimal unterwegs anlegen werde. Es war möglich - da mein Schiff hoffentlich ein Schnellsegler war, daß sich Morgause und ihre Begleitung in nicht allzu großem Abstand vor mir befanden. Ich hätte sicherlich den Kapitän meines Schiffes veranlassen können, ebenfalls bei der Insel festzumachen, aber dort wäre ich mit Sicherheit erkannt worden und es wäre dann zu dem Tumult gekommen, den ich unbedingt vermeiden wollte. Hätte ich gewußt, als ich Morgause sah, daß sie die Machtinstrumente aus dem Mi-thrastempel bei sich hatte, wäre ich vielleicht, ohne Rücksicht auf das Risiko, auf den Gedanken gekommen, mit ihr auf der Orc zu fahren, obwohl ich diese Reise vermutlich nicht überlebt hätte. Ich hatte keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, wann Artus zurückerwartet wurde; und wenn ich mich bis zu seiner Rückkehr versteckt hielt, konnte ihn Morgause wahrscheinlich vor mir erreichen. Als ich in südlicher Richtung so dicht hinter ihr herfuhr, hoffte ich, irgendwie mit Nimue in Verbindung treten zu können. Über die Folgen war ich mir klar. Eine Rückkehr von den Toten ist selten ein Erfolg. Es war durchaus möglich, daß sie selbst versuchen 455
würde, mich von Artus fernzuhalten, da sie jetzt meinen Platz in seiner Nähe beanspruchte. Aber sie besaß meine Kraft. Der Gral war etwas für die Zukunft, und die Zukunft gehörte ihr. Aber ich mußte sie warnen, daß noch eine Hexe unterwegs war. Der Raub von Macsens Schatz hatte mich auf eine Gefahr aufmerksam gemacht, die ich nicht ignorieren durfte. Zu meiner Erleichterung passierte mein Schiff den Mündungsarm, der zum Hafen der Insel führte, und hielt weiterhin Kurs auf den eigentlichen Severn. Wir legten schließlich an einem kleinen Landungssteg im Mündungsgebiet des Frome River an, von wo aus eine gute Straße direkt nach Aquae Sulis im Summer Country führt. Ich hatte diesmal mit einem der Edelsteine von meinem Leichentuch bezahlt, und mit dem Wechselgeld kaufte ich mir ein gutes Pferd, füllte die Satteltaschen mit Lebensmitteln und Kleidern zum Wechseln, und machte mich dann auf den Weg zur Stadt. Außer in denjenigen Ortschaften, wo ich sehr gut bekannt war, hielt ich es für wenig wahrscheinlich, irgendwo entdeckt zu werden. Ich war seit meiner Grablegung dünner geworden, meine Haare waren jetzt völlig ergraut, und ich trug noch immer meinen Vollbart. Ich beabsichtigte, Städte und Dörfer, wenn ich konnte, zu umgehen und in Landgasthäusern abzusteigen. Draußen konnte ich nicht schlafen; es wurde jeden Tag kälter, und ich fand, wie erwartet, den Ritt sehr anstrengend. Am Abend des ersten Tages bedurfte ich dringend der Ruhe und quartierte mich dankbar in einer kleinen, ordentlich aussehenden Gastwirtschaft ein, die vier oder fünf Meilen vor Aquae Sulis lag. Bevor ich mir noch Essen bestellte, erkundigte ich mich nach der Lage und erfuhr, daß Artus heimgekehrt war und sich auf Camelot befand. Als ich den Namen Nimue erwähnte, antworteten die Leute bereitwillig, aber weniger präzise. «Merlins Lady» nannten sie sie, «des Königs Zauberin», und erzählten mir einige phantasievolle Geschichten; aber sie wußten nicht genau, wo sie sich im Augenblick aufhielt. Einer sagte, sie sei beim König auf Camelot, aber ein anderer war überzeugt, daß sie den Ort schon vor einem Monat verlassen habe; es habe, meinte er, Ärger in Rheged gege456
ben, und er erzählte noch etwas über Königin Morgan und das große Schwert des Königs. Nimue war also anscheinend unerreichbar; und Artus war daheim. Auch wenn Morgause tatsächlich auf der Insel an Land gegangen war, würde sie sich vielleicht nicht beeilen, unverzüglich dem König entgegenzutreten. Wenn ich schnell handelte, konnte ich ihn vielleicht noch vor ihr erreichen. Ich verzehrte rasch meine Mahlzeit, zahlte, ließ mein Pferd wieder satteln und machte mich erneut auf den Weg. Obwohl ich müde war, hatte ich knapp zehn Meilen zurückgelegt. Aber mein Pferd war noch frisch; wenn ich es nicht überforderte, würde es bestimmt die ganze Nacht durchhalten. Der Mond schien, und die Straße befand sich in gutem Zustand, deshalb kamen wir schnell voran und erreichten Aquae Sulis noch vor Mitternacht. Die Stadttore waren geschlossen, deshalb umging ich die Mauern. Zweimal wurde ich angehalten: einmal von einem Torposten, der nach meinem Begehr fragte, das andere Mal von einem Trupp Soldaten, die Melwas' Abzeichen trugen. Jedesmal wies ich meine Brosche mit dem Drachenschmuck vor und sagte lediglich «im Auftrag des Königs», und jedesmal tat die Brosche ihre Wirkung, und man ließ mich durch. Etwa eine Meile danach gabelte sich die Straße, und ich ritt in südöstlicher Richtung weiter. Die Sonne ging auf und stand klein und rot in einem eisigen Himmel. Vor mir führte die Straße geradewegs über das karge Bergland, wo der Kalkstein weiß wie Gebein hervortritt und die Bäume von den Stürmen nach Nordosten gekrümmt worden sind. Mein Pferd fiel in Schritt und konnte dann nur noch mühsam weiter. Ich selbst ritt vor lauter Erschöpfung wie im Traum dahin. Schließlich hielt ich neben einem Wassertrog an, der am Wegesrand stand, warf Heu aus dem Netz herunter, das am Sattelknauf hing, und setzte mich auf den Rand des Trogs, um mein aus Rosinen, Schwarzbrot und Met bestehendes Frühstück zu verzehren. Es wurde allmählich heller, der Reif auf dem Gras Schimmerte weißlich. Es war sehr kalt. Ich zerbrach die dünne Eisschicht auf dem Trog und wusch mir Gesicht und Hände. Es erfrischte mich, aber 457
ich zitterte vor Kälte. Wenn das Pferd und ich am Leben bleiben sollten, mußten wir bald wieder aufbrechen. Deshalb legte ich ihm das Zaumzeug wieder an und führte es an eine Stelle, wo ich vom Trogrand aus aufsitzen konnte. Das Pferd warf den Kopf hoch und spitzte die Ohren; dann hörte auch ich es: Hufschlag, der sich offenbar im Galopp von der Stadt her näherte. Es mußte jemand sein, der die Stadt verlassen hatte, sobald die Tore geöffnet worden waren, und jetzt auf einem frischen Pferd herangeritten kam. Er kam in Sicht; ein junger Mann auf einem großen Blauschimmel. Als er etwa hundert Schritte entfernt war, erkannte ich die Insignien des königlichen Kuriers; ich kletterte mit steifen Gliedern vom Trogrand herunter, stellte mich auf die Straße und hob die Hand. Er würde meinetwegen nicht angehalten haben, aber an dieser Stelle war die Straße auf der einen Seite durch einen niedrigen Felsrücken und auf der anderen durch einen Steilhang begrenzt, und außerdem versperrte der Wassertrog ein Ausweichen nach rechts. Ich hatte mein Pferd so herumgedreht, daß es jetzt mitten auf der Straße stand. Der Reiter zügelte sein Pferd und fragte ungeduldig: «Was soll das heißen? Falls Ihr Gesellschaft haben wollt, mein guter Mann, kann ich sie Euch nicht bieten. Seht Ihr denn nicht, wer ich bin?» «Doch, ein Bote des Königs. Wohin reitet Ihr?» «Camelot.» Er war jung, hatte rötliche Haare und eine kräftige Gesichtsfarbe; außerdem zeigte er, wie es bei seinesgleichen üblich ist, eine hochfahrende Arroganz. Aber es klang trotzdem verbindlich, als er sagte: «Der König ist dort, und ich muß noch morgen dort eintreffen. Was ist los, Alter, geht Euer Pferd lahm? Dann würdet Ihr am besten an Ort und Stelle bleiben.» «Nein. Ich komme schon durch. Ich danke Euch. Ich hätte Euch wegen einer Kleinigkeit nicht angehalten, aber es ist wichtig. Ich möchte, daß Ihr eine Botschaft von mir mitnehmt, bitte. Sie ist an den König gerichtet.» Er starrte mich ungläubig an und brach dann in lautes Lachen aus. Sein Atem stand wie eine Wolke in der eisigen Luft. «An den König», sagte er. «Mein lieber Herr, verzeiht mir, aber ein Bote des Königs hat 458
Besseres zu tun, als sich Märchen von irgendeinem Wandersmann anzuhören. Wenn es eine Bittschrift ist, schlage ich vor, daß Ihr sie selbst in Caerleon überreicht. Der König wird sich dort zu Weihnachten aufhalten, und wenn Ihr Euch beeilt, könnt Ihr rechtzeitig dort sein.» Er bewegte die Fersen, als wolle er seinem Pferd die Sporen geben und weiterreiten. «Tretet also bitte beiseite und laßt mich durch.» Ich rührte mich nicht, sondern sagte ruhig: «Ihr tätet gut daran, mir zuzuhören, glaubeich.» Wütend geworden, schwang er zurück und hob die Peitsche. Ich glaubte, er würde über mich hinwegreiten. Dann begegneten sich unsere Blicke. Er schluckte herunter, was er gerade sagen wollte. Der Schimmel, in Erwartung der Peitsche, machte einen Satz nach vorn und wurde durch einen scharfen Ruck am Zügel zurückgerissen. Er beruhigte sich und stieß wie ein Drache weiße Wolken durch die Nüstern aus. Der Mann räusperte sich, maß mich zweifelnd von oben bis unten und richtete dann den Blick wieder auf mein Gesicht. Ich sah, daß seine Zweifel größer wurden. Um das Gesicht zu wahren und gleichzeitig mir ein Zugeständnis zu machen, sagte er: «Doch - Sir ich kann zuhören. Und seid versichert, ich werde jede Botschaft übernehmen, die meinem Rang entspricht. Aber wir sollen uns nicht als normale Kuriere betätigen, und ich muß einen Zeitplan einhalten.» «Ich weiß. Ich würde Euch nicht belästigen, aber ich muß den König dringend erreichen, und Ihr werdet, wie Ihr erklärt habt, schneller bei ihm sein als ich. Die Botschaft lautet: Ihr seid unterwegs einem alten Mann begegnet, der Euch ein Erkennungszeichen gab und Euch gesagt hat, er sei auf dem Weg nach Camelot, um mit dem König zu sprechen. Er komme aber nur langsam vorwärts; der König müsse ihm also entgegenreiten, falls er ihn zu sehen wünsche. Sagt ihm, welchen Weg ich eingeschlagen habe, und fügt hinzu, daß ich Euch den Fährmannslohn entrichtet habe. Wiederholt dies alles, bitte.» Diese Männer sind darin geübt, sich alles Wort für Wort zu merken. Oft überbringen sie Nachrichten von Leuten, die nicht schreiben können. Er begann, ohne weiter nachzudenken, meinen Auftrag zu 459
wiederholen: «Ich traf auf der Straße einen alten Mann, der mir ein Erkennungszeichen gab und mir sagte, er sei auf dem Weg nach Camelot, um mit dem König zu sprechen. Er komme aber nur langsam vorwärts. Wenn also der König ihn zu sehen wünsche, müsse er - he, was für eine Botschaft soll das denn sein? Seid Ihr von Sinnen? Es klingt, als ob Ihr den König zu Euch kommen laßt!» Ich lächelte. «Das mag schon sein. Vielleicht hätte ich die Botschaft für Euren Geschmack gefälliger formulieren können. Jedenfalls schlage ich vor, daß Ihr sie unter vier Augen übermittelt.» «Das möchte ich meinen! Hört, ich weiß nicht, wer Ihr seid, Sir und ich vermute, daß Ihr, obwohl Ihr nicht so ausseht, ein bedeutender Mann sein müßt- aber bei Gott, es muß schon ein bedeutsames Erkennungszeichen sein, und außerdem ein guter Botenlohn, wenn ich dem König Artus seine eigene Vorladung überbringen soll, und sei es auch unter vier Augen.» «O ja, so ist es.»Ich hatte meine Drachenbrosche in Leinen eingewickelt und zu einem kleinen Päckchen verschnürt. Ich überreichte ihm dieses und dazu die zweite der Goldmünzen, die im Grab auf meinen Augenlidern gelegen hatten. Er betrachtete die Goldmünze, sah mich an und drehte dann prüfend das Päckchen in seiner Hand herum. Er fragte zweifelnd: «Was ist darin?» «Nur das Erkennungszeichen, von dem ich sprach. Und ich wiederhole: es ist sehr wichtig, und Ihr müßt es dem König unter vier Augen so schnell wie möglich übergeben. Falls Bedwyr bei ihm ist, spielt es keine Rolle, aber sonst darf niemand zugegen sein. Habt Ihr verstanden?» «J-ja, aber ...» Mit einer Bewegung der Knie und Handgelenke drehte er das Pferd halb auf die Seite und riß dann so schnell, daß ich es nicht mehr verhindern konnte, das Päckchen auf. Meine Brosche mit dem königlichen Drachen auf goldenem Grund fiel in seine Hand. «Dies? Dies ist die königliche Chiffre.» «Ja.» Unvermittelt sagte er: «Wer seid Ihr?» 460
«Ich bin des Königs Vetter. Fürchtet Euch deshalb nicht, die Botschaft zu überbringen.» «Der König hat keinen Vetter außer Hoel in der Bretagne. Und Hoel führt den Drachen nicht. Nur der. . .» Seine Stimme verebbte. Ich sah, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. «Der König wird wissen, wer ich bin», sagte ich. «Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ich Euch einen Vorwurf daraus mache, daß Ihr an mir gezweifelt oder das Päckchen geöffnet habt. Der König hat in Euch einen guten Diener. Das werde ich ihm sagen.» «Ihr seid Merlin.» Die Worte kamen im Flüsterton heraus. Er mußte sich die Lippen befeuchten und zweimal ansetzen, bevor er einen Ton herausbrachte. «Ja. Jetzt versteht Ihr, warum Ihr mit dem König unter vier Augen sprechen müßt. Es wird auch für ihn ein Schock sein. Fürchtet Euch nicht vor mir.» «Aber. . . Merlin ist" doch gestorben und wurde begraben.» Er war inzwischen leichenblaß geworden. Die Zügel glitten ihm durch die Finger, und der Schimmel, dem die Verschnaufpause gelegen kam, senkte den Kopf und begann zugrasen. Ich sagte rasch: «Laßt die Brosche nicht fallen. Seht, Mann, ich bin kein Geist. Nicht jedes Grab ist ein Tor ins Reich der Toten.» Ich hatte ihn damit beruhigen wollen, aber er wurde, wenn dies möglich war, noch aschfahler als zuvor. «Herr, wir dachten . . . Jedermann wußte ...» «Alle glaubten, ich sei gestorben, gewiß.» Ich sprach jetzt schnell und in geschäftsmäßigem Ton. «Aber es ereignete sich nichts anderes, als daß ich durch meine Krankheit in einen totenähnlichen Zustand verfiel und mich dann wieder erholte. Das ist alles. Jetzt bin ich gesund und werde wieder in den Dienst des Königs treten. . . Aber niemand darf es wissen, bis der König selbst mit mir gesprochen hat. Ich hätte mit niemand anderem als mit einem der Kuriere des Königs davon gesprochen. Habt Ihr verstanden?» Dies hatte die erhoffte Wirkung, denn er gewann sein Selbstvertrauen zurück. Farbe kam wieder in seine Wangen, und er 461
richtete sich auf. «Ja, Herr. Der König wird - wird sehr froh sein, Herr. Als Ihr starbt - das heißt, als Ihr - na ja, als es geschah, schloß er sich drei Tage ein und wollte mit niemandem sprechen, nicht einmal mit Prinz Bedwyr, jedenfalls reden die Leute so.» Seine Stimme klang wieder natürlich, während er sprach; er freute sich offenbar über die Aussicht, dem König die gute Nachricht übermitteln zu können. Das Gold spielte dabei die geringste Rolle. Nachdem er mir des längeren und breiteren erzählt hatte, wie Merlin «im ganzen Königreich, das kann ich Euch sagen, Sir» betrauert worden sei, zog er den Kopf seines Schimmels aus dem frostigen Gras herauf, worauf das Pferd zu tänzeln begann. «Wann rechnet Ihr damit, in Camelot zu sein?» «Morgen mittag, wenn ich Glück habe und der Pferdewechsel klappt. Wahrscheinlich aber erst morgen bei Einbruch der Dunkelheit. Könntet Ihr nicht meinem Pferd ein Paar Flügel geben, wenn Ihr schon hier seid?» Ich lachte. «Dazu müßte ich mich noch etwas besser erholen. Noch einen Augenblick, bevor Ihr geht... Da ist noch eine andere Botschaft, die der König sofort erhalten sollte. Habt Ihr sie eventuell schon bei Euch? Habt Ihr in Aquae Sulis irgend etwas über die Königin von Orkney erfahren? Ich hörte, daß sie auf dem Seewege nach Ynys Witrin reiste, wohl um den Hof zu erreichen.» «Ja, das stimmt. Sie ist auch angekommen. An Land gegangen, wollte ich sagen, und befindet sich jetzt auf dem Weg nach Camelot. Einige meinten, sie würde der Vorladung nicht Folge leisten...» «Vorladung? Wollt Ihr damit sagen, daß der Hochkönig sie zu sich bestellt hat?» «Ja, Sir. Das ist allgemein bekannt, deshalb weiß ich, wovon ich rede. Ich habe damit sogar eine kleine Wette gewonnen: Die Leute sagten, sie würde nicht kommen, nicht einmal bei sicherem Geleit für die Knaben. Ich sagte, sie würde doch kommen. Da Tydwal, ein auf Artus eingeschworener Mann, auf Lots anderer Burg sitzt - wie könnte 462
sie denn Zuflucht finden, wenn es dem Hochkönig gefiele, sie auszuräuchern?» «Ja, wo eigentlich?» sagte ich geistesabwesend. Dies hatte ich nicht vorausgesehen. «Verzeiht mir, daß ich Euch aufgehalten habe, aber ich bin seit langer Zeit ohne neuere Nachrichten. Könnt Ihr mir sagen, warum der Hochkönig sie zu sich befohlen hat - und offenbar unter Drohung?» Er öffnete die Lippen und machte den Mund wieder zu. Dann kam er anscheinend zu der Überzeugung, daß es keinen Bruch seiner Regeln bedeutete, wenn er dem Vetter des Königs und einstmaligem Berater Auskunft gab. Er nickte. «Soweit ich weiß, geht es um die Knaben, Sir. Um einen im Besonderen, den ältesten der fünf. Die Königin sollte alle mit nach Camelot bringen.» Der älteste der fünf. Nimue hatte also Mordred für ihn gefunden ... wo ich versagt hatte. Nimue, die «im Auftrag des Königs» nach Norden gereist war. Ich dankte dem Mann, trat zurück und zog mein Pferd beiseite. «So, Bellerophon, laufe so schnell du kannst, und hüte dich vor Drachen.» «Ich habe alle Drachen, die ich brauche - vielen Dank.» Er nahm die Zügel auf und hob die Hand zum Gruß. «Aber das ist nicht mein Name.» «Wie heißt Ihr denn?» «Perseus», sagte er und machte ein erstauntes Gesicht, als ich lachte. Dann fiel er in mein Lachen ein, ließ die Peitsche tanzen und setzte den Schimmel an mir vorbei in Galopp. 6 Ich brauchte mich nicht mehr zu beeilen. Wahrscheinlich würde Morgause noch vor dem Kurier bei Artus eintreffen, aber dagegen konnte ich nichts tun. Obwohl es mich noch immer beunruhigte, daß sie die Instrumente der Macht bei sich hatte, war mir die größte Sorge genommen: Artus war vorgewarnt. Sie war auf seinen Befehl hin zu ihm gekommen und hatte ihre Geiseln bei sich. Es war außerdem wahrscheinlich, daß ich selbst mit ihm würde sprechen können, bevor er sich mit Morgause und Mordred auseinandersetzen würde. Ich hatte 463
keinerlei Zweifel, daß Artus sich in dem Augenblick, da er mein Erkennungszeichen gesehen und die Botschaft gehört hatte, auf den Weg machen würde, um mich zu finden. Das Zusammentreffen mit dem Kurier war ein ausgesprochener Glücksfall gewesen; auch in meinen besten Jahren hätte ich nicht so schnell reiten können, wie es diese Männer tun. Es war jetzt auch nicht mehr dringend erforderlich, daß ich mich mit Nimue in Verbindung setzte. Darüber war ich irgendwie froh. Es gibt gewisse Enttäuschungen, denen man sich nur ungern aussetzt; auch gibt es gewisse Wahrheiten, die man lieber nicht hört. Wenn ich meine Existenz vor ihr hätte geheimhalten können, hätte ich es wahrscheinlich getan. Ich wollte ihre Worte der Liebe und des Kummers bei meinem Ableben in Erinnerung behalten und nicht bei hellem Tageslicht ihr bestürztes Gesicht vor mir sehen, wenn sie erkannte, daß ich noch unter den Lebenden weilte. Den Rest des Tages ritt ich nur langsam dahin und gelangte vor Sonnenuntergang zu einem Gasthaus, wo ich anhielt. Andere Reisende waren dort nicht abgestiegen, worüber ich froh war. Ich sorgte dafür, daß mein Pferd im Stall untergebracht und gefüttert wurde, nahm dann das gute Abendessen zu mir, das von der Frau des Gastwirts zubereitet worden war, und ging früh zu Bett. Ich hatte einen traumlosen Schlaf. Den ganzen nächsten Tag blieb ich im Haus und war froh, mich ausruhen zu können. Nur wenige Menschen kamen des Wegs: ein Hirte mit seiner Herde, ein Landwirt mit seiner Frau auf dem Heimweg vom Markt, ein Kurier, der nach Nordwesten ritt. Aber bei Einbruch der Nacht war ich wieder der einzige Gast und hatte das Kaminfeuer für mich. Nach dem Abendessen, als sich das Gastwirtsehepaar zurückgezogen hatte, blieb ich allein in der kleinen Gaststube zurück; mein Strohsack lag neben dem Feuer, und Holzscheite waren daneben gestapelt, um den Raum warm zu halten. In jener Nacht unternahm ich keinen Versuch, schnell einzuschlafen. Sobald Stille in dem Gasthaus eingekehrt war, zog ich einen Stuhl nahe an den Kamin und legte frische Holzscheite nach. Die Wirtin hatte einen Topf mit heißem Wasser am Rande des Feuer 464
abgestellt. So mischte ich etwas heißes Wasser unter den Rest des Weines, den ich zum Abendessen getrunken hatte, und trank, während um mich herum die kleinen Geräusche der Nacht deutlich vernehmbar wurden: das Zusammensinken der Holzscheite im Kamin, das Knistern der Flammen, das Rascheln der Ratten im Strohdach und von weither der hohle Ruf einer Eule, die in der kalten Nacht auf Jagd ging. Dann stellte ich den Wein beiseite und schloß die Augen. Wie lange ich so dasaß, weiß ich nicht, auch nicht, welche Gestalt die Gebete annahmen, die mir den Schweiß ausbrechen ließen und die nächtlichen Geräusche in eine grenzenlose, peinigende Stille verwandelten. Und dann, schließlich, der helle Feuerschein vor meinen Augen, und durch das Licht hindurch die Dunkelheit, und durch die Dunkelheit wieder das Licht. *#* Es war lange her, seit ich den großen Saal von Camelot gesehen hatte. Er war jetzt bei der früh hereinbrechenden Dunkelheit des Herbstabends hell erleuchtet. Das üppige Licht der Wachskerzen lag glitzernd auf den buten Kleidern der Frauen und den Schmuckstücken und Waffen der Männer. Das Abendessen war gerade vorüber. Guinevere saß auf ihrem Platz im Mittelpunkt der Tafel; auf ihrem Stuhl mit vergoldeter Rückenlehne bot sie ein reizendes Bild. Bedwyr saß zu ihrer Linken. Beide machten einen glücklicheren Eindruck, fand ich; sie schienen in gehobener Stimmung zu sein und lächelten. Zur Rechten der Königin war der Platz des Königs leer. Aber just in dem Augenblick, als mich ein Frösteln ergriff, weil ich den einzigen Menschen nicht sah, den ich zu sehen erhofft hatte, erblickte ich ihn. Er schritt durch den Saal und blieb hier und da stehen, um im Vorbeigehen mit einem Mann zu sprechen. Er wirkte ruhig und gelassen; hin und wieder brachte er die von ihm Angesprochenen zum Lachen.. Ein Page ging ihm voraus; dann wurde ihm irgendeine Nachricht überbracht, und der König wandte sich um, ging zur Tür und entließ mit einem Wort an die Wachen den Knaben. Er trat hinaus. Zwei Soldaten - die zur Torwache gehörten - erwarteten 465
ihn dort. Zwischen ihnen stand ein Mann, den ich schon einmal gesehen hatte: Morgauses Kammerherr. Letzterer trat vor, sobald der König erschien, blieb dann aber stehen, offenbar erstaunt. Es war klar, daß er nicht erwartet hatte, Artus persönlich zu sehen. Er beherrschte sich aber und ließ sich auf ein Knie nieder. Er begann, mit jenem eigenartigen Akzent des Nordens etwas zu sagen, aber Artus schnitt ihm das Wort ab. «Wo sind sie?» «Am Tor, Herr. Eure Schwester hat mich entsandt, und bittet für heute Abend um eine Audienz bei Euch, dort im Saal.» • «Mein Befehl lautete, daß sie morgen im Runden Saal erscheinen solle. Hat sie die Nachricht nicht erhalten.» «Doch, Herr. Aber sie hat eine lange Reise hinter sich, und sie ist ermüdet und gespannt, den Grund Eurer Vorladung zu erfahren. Sie und ihre Kinder finden keine Ruhe, bevor sie nicht Euren Willen kennt. Sie hat heute abend alle ihre Kinder mit hergebracht und bittet Euch, Ihr und die Königin möget sie empfangen. . .» «Ich werde sie empfangen, gewiß, aber nicht im Saal. Am Tor. Geht zurück und sagt ihr, sie solle dort warten.» «Aber, Herr ...» Vor dem eisigen Schweigen des Königs erstarb der Protest des Mannes. Er erhob sich mit einem Anflug von Würde, verneigte sich vor Artus und zog sich mit den beiden Wachen in die Dunkelheit zurück. Artus folgte ihnen gemessenen Schrittes. Die Nacht war trocken und still; Rauhreif lag auf den kleinen, beschnittenen Bäumen, die am Rande der Terrassen standen. Das Gewand des Königs streifte sie, als er vorbeiging. Er schritt mit gesenktem Kopf langsam dahin und runzelte die Stirn. Niemand außer den Wachen war zuge-gen. Ein Unteroffizier erwies ihm die Ehrenbezeigung und stellte eine Frage. Artus schüttelte den Kopf. So ging er ohne Eskorte oder Begleitung allein durch die Palastgärten, an der Kapellenmauer vorbei und die Stufen neben dem Springbrunnen 466
hinunter. Dann weiter durch ein anderes Tor, wo die Wachposten salutierten, bis zu dem Weg, der zu dem Südwesttor führte. Und währenddessen saß ich neben dem Kaminfeuer in einem weit entfernten Gasthaus; die Vision trat schmerzvoll vor meine Augen, und ich schrie ihm eine Warnung zu, so klar und deutlich, wie ich sie zustande bringen konnte: Artus. Artus. Dies ist das Geschick, das du in jener Nacht zu Luguvallium heraufbeschworen hast. Dies ist die Frau, die deinen Samen aufnahm, um zu deinem Feind zu werden. Vernichte sie alle. Vernichte sie jetzt. Sie sind dein Schicksal. Sie hat das Instrument der Macht in der Hand, und ich habe Angst um dich. Vernichte sie jetzt. Sie sind in deiner Hand. Er war mitten auf dem Weg stehengeblieben. Er hob den Kopf, als ob er vom Nachthimmel etwas hören könnte. Eine Laterne beleuchtete sein Gesicht. Ich erkannte es kaum wieder. Es wirkte düster, verhärtet, kalt - wie das Gesicht eines Richters oder Scharfrichters. Er blieb einige Minuten regungslos stehen, ging dann plötzlich wie ein von Sporen angetriebenes Pferd rasch weiter und schritt auf das Haupttor der Festung zu. Dort standen sie, die gesamte Gruppe. Alle hatten sich festliche Gewänder angelegt, und ihre Pferde trugen reich geschmückte Schabracken. Im Fackellicht schimmerten die goldenen Quanten und das grün-scharlachrote Zaumzeug. Morgause hatte eine mit Silber und kleinen Perlen besetzte weiße Robe an und trug einen langen, roten Mantel, der mit weißem Pelz gefüttert war. Die vier jüngeren Knaben standen mit zwei Bediensteten im Hintergrund, aber Mordred war neben seiner Mutter; er saß auf einem schönen Rappen, dessen Zügel mit Silber beschlagen war. Er blickte neugierig in die Runde. Er weiß noch nichts, dachte ich bei mir; sie hat es ihm nicht gesagt. Die schwarzen wie Schwingen gebogenen Augenbrauen waren glatt; der verschlossene Mund bewahrte seine Geheimnisse. Die Augen glichen denen von Artus und mir. Morgause saß ruhig und aufrecht auf ihrer Stute und wartete. Sie hatte die Kapuze zurückgeschoben, und der Lichtschein beleuchtete 467
ihr Gesicht. Es war ausdruckslos und ziemlich bleich; aber die Augen schimmerten grün unter den langen Lidern, und ich sah, wie sie sich nervös auf die Unterlippe biß. Ich wußte, daß sich hinter der kühlen Fassade Unsicherheit, sogar Angst verbarg. Sie hatte sich über Artus' Kurier hinweggesetzt und absichtlich ihr kleines Gefolge zu dieser späten Stunde nach Camelot gebracht, wo sich alle in dem großen Saal versammelt haben würden. Sie mußte sich ausgerechnet haben, ihre königliche Nachkommenschaft an die Stufen des Thrones führen zu können, und vielleicht sogar Artus' Sohn der Öffentlichkeit vorzustellen, um auf diese Weise den König vor seiner Königin und all den versammelten Edlen unter Druck zu setzen. Sie konnte damit rechnen, daß alle Versammelten für eine einsame Königin mit ihren unschuldigen Kindern Partei ergreifen würden. Aber sie war am Tor aufgehalten worden; und jetzt war der König, entgegen jeglichem Brauch, allein herausgekommen, um mit ihr ohne Anwesenheit von Zeugen zu sprechen. Er kam jetzt im Fackellicht herunter. Er blieb einige Schritte im vollen Licht hinter dem Tor stehen und sagte zu den Wachen: «Laßt sie herkommen.» Mordred glitt aus dem Sattel und half seiner Mutter beim Absitzen. Die Bediensteten übernahmen die Pferde und zogen sich in das Wachlokal zurück. Dann trat Morgause, mit einem Knaben auf jeder Seite und den drei jüngeren dahinter, vor, um den König zu begrüßen. Es war ihre erste Begegnung seit jener Nacht in Luguval-lium, als sie ihre Zofe entsandt hatte, um ihn zu ihrem Bett zu führen. Damals war er ein Jüngling gewesen, ein Prinz, der nach seiner ersten Schlacht voller Temperament und Lebenslust war; die Frau war damals zwanzig Jahre alt, erfahren und raffiniert, und hatte den jungen Mann mit ihrer Sinnlichkeit und Magie in ihren Bann gezogen. Es war trotz der vielen Schwangerschaften noch etwas übriggeblieben, das die Augen der Männer auf sie zog. Aber sie stand jetzt nicht, wie damals, vor einem Jüngling; dies war ein Mann in der Blüte seiner Jahre, mit der Urteilskraft, die einen König auszeichnet, und mit der Macht, seinen Willen durchzusetzen; er hatte etwas Unberechenbares 468
und Gefährliches an sich, wie ein schwelendes Feuer, das beim geringsten Luftzug auflodern kann. Morgause sank vor ihm zu Boden - nicht in den tiefen Knicks, den man von einer Bittstellerin, die auf Vergebung und Gnade hoffte, erwartet haben könnte; aber sie kniete nieder. Mit der rechten Hand zwang sie auch den jungen Mordred auf die Knie. Gawein stand mit den anderen Kindern da und schaute erstaunt von der Mutter zum König hinüber. Sie ließ sie stehen; sie waren Lots Nachkommenschaft, kräftig, untersetzt und rotgesichtig, hatten aber das helle Haar ihrer Mutter. Was Lot in der Vergangenheit auch getan haben mochte - Artus würde es seine Kinder nicht vergelten lassen. Aber der andere, der Wechselbalg mit dem schmalen Gesicht und den dunklen Augen, die aus der königlichen Abstammung von Macsen selbst stammten . . . sie zwang ihn auf die Knie, wo er blieb, aber er hielt den Kopf hoch, und diese dunklen Augen blickten in die Runde, als wolle er alles in sich aufnehmen. Morgause sprach mit der hellen, schönen Stimme, die sich nicht verändert hatte. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Artus stand wie eine Steinsäule vor ihr. Ich zweifle, ob er auch nur ein Wort hörte. Er hatte ihr kaum einen Blick gegönnt; seine Augen waren nur auf seinen Sohn gerichtet. Ihr Tonfall schien dringender zu werden. Ich verstand das Wort «Bruder» und dann «Sohn». Artus hörte ihr mit unbewegten Gesicht zu, aber ich konnte spüren, wie die Worte wie Pfeilspitzen zwischen ihnen hin und her flogen. Dann trat er einen Schritt vor und streckte eine Hand aus. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und er hob sie auf. Ich sah unter den Knaben und den Männern, die am Tor warteten, einen Anflug von Erleichterung. Die beiden älteren Knaben, Ga-wein und Mordred sahen sich an, als ihre Mutter aufstand, und ich sah Mordred lächeln. Sie warteten jetzt darauf, daß der König ihrer Mutter den Friedenskuß geben würde. Er tat es nicht. Er hob sie auf, sagte dann irgend etwas und führte sie einige Schritte beiseite. Ich sah, wie Mordred den Kopf nach Art eines witternden Jagdhundes hin und her drehte. Dann sagte der König zu den Knaben: 469
«Ihr seid hier willkommen. Geht jetzt ins Wachlokal am Tor und wartet dort.» Sie taten, wie ihnen geheißen, und Mordred warf noch einen Blick auf seine Mutter zurück. Für einen kurzen Augenblick trat der Ausdruck tiefer Bestürzung auf ihr Gesicht, aber dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Irgendeine Anweisung mußte erteilt worden sein, denn jetzt brachte der Kammerherr eilenden Schrittes den Kasten heran, den sie aus Segontium mitgebracht hatten. Die Symbole der Macht. . . unglaublich, sie hatte sie für den König mitgenommen. Unglaublich - sie hoffte offenbar, sich mit dem Schatz des Macsen seine Gunst zurückzukaufen. Der Mann kniete zu Füßen des Königs nieder. Er öffnete den Kasten. Das Licht fiel auf den Schatz, der darinnen lag. Ich sah alles so klar, als hätte der Schatz vor meinen Füßen gelegen. Silber, alles Silber; Becher und Armbänder und ein silbernes Halsband, das jene fließenden, verwobenen Linien zeigte, mit denen die Silberschmiede des Nordens den Zauber der Gottheit anzurufen pflegten. Da war kein Zeichen von Macsens Symbolen der Macht, kein mit Samragden besetzter Gral, keine Lanzenspitze, keine mit Saphiren und Amethysten verzierte Schüssel. Artus schenkte dem Inhalt kaum einen Blick. Während der Kammerherr sich eilends in das Wachlokal am Tor zurückzog, wandte sich der König wieder Morgause zu und ließ die Gabe auf dem vereisten Boden liegen. Und ebenso wie er das Geschenk ignorierte, ging er über alles hinweg, was sie bisher gesagt hatte. Ich konnte seine Stimme deutlich verstehen. «Ich habe dich kommen lassen, Morgause, aus Gründen, die dir vielleicht nicht klar sind. Du hast klug gehandelt, mir Folge zu leisten. Einer meiner Gründe betrifft deine Kinder; du wirst dies geahnt haben; aber du brauchst dich ihretwegen nicht zu fürchten. Ich habe dir versprochen, daß keinem deiner Kinder ein Leid geschehen wird, und ich werde mein Versprechen halten. Aber für dich habe ich nichts dergleichen versprochen. Du tust gut daran, kniend um Gnade zu bitten. Aber welche Gnade kannst du erwarten? Du hast Merlin getötet. Du warst es, die ihm das Gift eingegeben hat, das ihm den Tod gebracht hat.» 470
Sie hatte damit nicht gerechnet. Ich sah, wie sie den Atem anhielt. Ihre weißen Hände zitterten. Aber sie bewahrte die Fassung. «Wer hat dir diese Lüge erzählt?» «Es ist keine Lüge. Noch auf dem Totenbett hat er dir die Schuld gegeben.» «Er war immer mein Feind!» rief sie aus. «Und wer kann behaupten, daß er sich geirrt hat? Du weißt, was du getan hast. Willst du es leugnen;» «Natürlich leugne ich es! Er hat mich immer gehaßt, und du weißt auch warum. Er wollte nicht, daß irgendein anderer Mensch Macht über dich hat außer ihm selbst. Wir haben gesündigt, gewiß, du und ich, aber wir sündigten in Unschuld...» «Wenn du klug bist, dann rede lieber nicht davon.» Seine Stimme klang eisig. «Du weißt ebenso gut wie ich, welche Sünden begangen wurden, und aus welchem Grunde. Wenn du jetzt auf Gnade hoffst, und das gilt auch für die Zukunft, dann wirst du besser nicht mehr davon sprechen.» Sie neigte das Haupt. Ihre Finger verkrampften sich. Sie zeigte eine demütige Pose. Dann sagte sie ruhig und leise: «Ihr habt recht, Herr. Ich hätte nicht so sprechen sollen. Ich will Euch nicht mit Erinnerungen belasten. Ich habe Euch gehorcht und Euch Euren Sohn zugeführt; und ich überlasse es Eurem Gewissen, rechtens mit ihm zu verfahren. Ihr werdet nicht leugnen, daß er keine Schuld trägt.» Er sagte nichts. Sie nahm einen neuen Anlauf und sagte mit scheelem Seitenblick: «Ich selbst gebe zu, daß du mich der Torheit zeihen kannst. Ich komme zu dir, Artus, als deine Schwester, die...» «Ich habe zwei Schwestern», sagte er eisig. «Die andere hat soeben versucht, mich zu hintergehen. Sprich nicht zu mir von Schwestern.» Sie hob den Kopf. Sie ließ die durchsichtige Pose der Bittstellerin fallen und blickte ihm ins Gesicht - die Königin dem König. «Was kann ich sonst sagen, außer daß ich als die Mutter deines Sohnes zu dir gekommen bin?» 471
«Du bist zu mir als die Mörderin des Mannes gekommen, der mir mehr bedeutet hat als mein eigener Vater. Und als sonst gar nichts. Mehr bedeutest du mir nicht. Deshalb habe ich dich holen lassen, und dafür werde ich dich aburteilen.» «Er hätte mich getötet. Er wollte dich veranlassen, deinen eigenen Sohn umzubrin gen.» «Das ist nicht wahr», sagte der König. «Er hat mich davon abgehalten, euch beide zu töten. Ja, ich sehe, du bist erschüttert. Als ich von der Geburt des Kindes hörte, war mein erster Gedanke der, jemanden in den Norden zu schicken, der das Neugeborene töten sollte. Aber Lot, wenn du dich erinnerst, kam mir zuvor . . . Und Merlin wollte das Kind retten, weil es mir gehört.» Zum ersten Mal blitzte ein Anflug von Leidenschaftlichkeit in seiner Selbstbeherrschung auf. «Aber er ist jetzt nicht hier, Morgause. Er wird dich nicht noch einmal in Schutz nehmen können. Warum habe ich es deiner Meinung nach abgelehnt, dich heute abend in Gegenwart der Königin und der Ritter im großen Saal zu empfangen? Darauf hattest du doch gehofft, nicht wahr? Du, mit deinem hübschen Gesicht und der hellen Stimme. Mit deinen vier wohlgeratenen Söhnen, die du von Lot empfangen hast, und mit diesem Jüngling hier, mit den dunklen Augen und den unverkennbaren Zeichen königlicher Abstammung...» «Er hat dir nichts getan!» rief sie aus. «Nein, er hat mir nichts getan. Jetzt höre mir gut zu. Ich werde dir deine vier Söhne, die du von Lot hast, wegnehmen und sie hier in Camelot erziehen lassen. Ich werde sie nicht weiter in deiner Obhut lassen, da sie dort nur als Verräter aufwachsen können, die ihren König hassen. Was Mordred anbetrifft, so hat er mir kein Leid zugefügt, obwohl ich ihm, genau wie du, schweres Unrecht zugefügt habe. Ich will nicht ein Unrecht mit einem anderen vergelten. Ich bin vor ihm gewarnt worden, aber ein Mann muß rechtens handeln, auch wenn es schmerzlich ist. Und wer kennt den Willen der Götter genau? Auch ihn wirst du bei mir zurücklassen.» «Damit du ihn ermorden läßt, sobald ich gegangen bin?» «Und wenn ich es tue, welche andere Wahl hast du denn?» 472
«Du hast dich verändert, Bruder», sagte sie in gehässigem Ton. Zum ersten Mal umspielte ein halbes Lächeln seinen Mund. «Du magst recht haben. Ob es dir einen Trost bedeutet oder nicht, weiß ich nicht, aber ich werde ihn nicht töten. Du aber, Morgause, wirst, weil du Merlin, den besten Mann in meinem ganzen Reich, ermordet hast...» Er wurde unterbrochen. Vom Tor her erklang Pferdegetrappel, ein rascher Wortwechsel mit den Wachen, ein atemlos herausgestoßenes Wort und dann das Knarren, als sich die Torflügel öffneten. Ein schweißgebadetes Pferd galoppierte herein und blieb neben dem König stehen. Es ließ den Kopf bis auf die Knie sinken. Seine Glieder bebten. Der Kurier glitt aus dem Sattel, griff sich an den Gürtel, um sich mühsam aufrecht zu erhalten, kniete nieder und erwies dem König seine Ehrenbezeigung. Es war keine angenehme Unterbrechung. Artus hob zornig die Augenbrauen und drehte sich um. «Was ist los?» fragte er. Er wußte, daß kein Kurier in einem solchen Augenblick und in einer solchen Verfassung bis zu ihm vorgedrungen wäre, wenn er nicht etwas besonders Dringendes zu melden gehabt hätte. «Augenblick mal, ich weiß, wer du bist. Perseus, nicht wahr? Welche Nachricht kannst du mir aus Glevum überbringen, deretwegen es sich lohnen würde, ein gutes Pferd zu Schanden zu reiten und mich in einem persönlichen Gespräch zu stören?» «Herr ...» Der Mann räusperte sich und warf einen Blick auf Morgause. «Herr, es ist dringend, sehr dringend, und ich muß die Nachricht unter vier Augen übermitteln. Verzeiht mir.» Dies sagte er halb zu Morgause gewandt, die wie eine Statue dastand und die Hände an ihre Kehle gelegt hatte. Irgendein Hauch vergessener Magie schien sie die Botschaft erahnen zu lassen und zu warnen. Der König sah ihn schweigend einen Augenblick an und nickte dann. Er ließ zwei Wachposten nähertreten und zu beiden Seiten von Morgause Posten beziehen. Dann gab er dem Kurier ein Zeichen, drehte sich um und schritt den Weg hinauf, während der Mann ihm folgte. Am Fuß der Palasttreppe hielt er an und drehte sich um. 473
«Deine Botschaft?» Perseus hielt ihm das Päckchen hin, das ich ihm gegeben hatte. «Ich begegnete einem alten Mann, der mir dieses Erkennungszeichen gab und mir sagte, er sei auf dem Weg nach Camelot, um mit dem König zu sprechen. Aber er komme nur langsam voran, deshalb müsse der König, falls er ihn sehen wolle, ihm entgegenkommen. Er reitet über die Straße, die zwischen Aquae Sulis und Camelot über die Berge führt. Er sagte mir-» «Dies hat er dir gegeben?» Die Brosche lag in der Hand des Königs. Der Drache glitzerte. Artus blickte auf; sein Gesicht war totenbleich. «Ja, Herr.» Er sprach rasch weiter. «Ich sollte Euch ausrichten, daß er mich für meinen Botendienst mit dem Fährmannslohn bezahlt habe.» Er hielt Artus die Hand hin, in der die Goldmünze lag. Der König nahm sie wie im Traum an sich, betrachtete sie kurz und reichte sie zurück. In der anderen Hand wandte er die Brosche hin und her, so daß der Drache im Fackellicht aufblitzte. «Weißt du, was dies hier ist?» «Jawohl, Herr. Es ist der Drache. Als ich ihn sah, fragte ich den Mann, was für ein Recht er habe, ihn zu besitzen, aber dann erkannte ich ihn. Herr, ja...» Der König, dessen Gesicht jetzt völlig blutleer geworden war, sah den Kurier wie gebannt an. Der Mann befeuchtete sich die Lippen und brachte irgendwie den letzten Teil seiner Botschaft heraus. «Als er mich gestern anhielt, befand er sich in der Nähe des dreizehnten Meilensteins. Er - er sah nicht sehr gut aus, Herr. Für den Fall, daß Ihr ihm entgegenreiten solltet, dürfte er nach meiner Schätzung wohl kaum weiter als bis zum nächsten Gasthaus gelangt sein. Es steht etwas abgesetzt von der Straße, auf der Südseite, und das Schild ist ein Stechpalmenstrauch.» «Ein Stechpalmenstrauch.» Artus wiederholte das Wort tonlos, wie ein Mann, der im Schlaf spricht. Dann verflog plötzlich der Trancezustand, in dem er sich befunden hatte. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Er warf die Brosche hoch in die Luft und fing sie wieder auf. Er lachte laut. «Ich hätte es wissen können! Ich hätte es wissen können . . . Dies jedenfalls ist ein Stück Wirklichkeit!» 474
«Er sagte mir», fuhr Perseus fort, «er sei kein Geist, und nicht jedes Grab sei das Tor zum Totenreich.» «Sogar sein Geist», sagte Artus. «Sogar sein Geist...» Er drehte sich auf dem Absatz herum und rief etwas. Leute kamen hergerannt. Befehle wurden ihnen entgegengeschleudert. «Meinen grauen Hengst. Meinen Mantel und das Schwert. Ich gebe euch vier Minuten.» Er streckte dem Kurier die Hand entgegen. «Du bleibst hier in Camelot, bis ich zurück bin. Du hast dich bewährt, Perseus. Ich werde es dir nicht vergessen. Geh jetzt und ruh dich aus . . .Ach ja, Ulfin. Sag Bedwyr, er solle zwanzig Ritter herbringen und mir folgen. Dieser Mann wird ihnen die Richtung zeigen. Gib ihm etwas zu essen, kümmere dich um sein Pferd und behalte ihn hier, bis ich zurückkomme.» «Und die Lady?» fragte jemand. «Wer?» Es war offensichtlich, daß der König an Morgause überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Er sagte gleichgültig: «Haltet sie fest, bis ich Zeit für sie habe, und laßt sie mit niemandem sprechen. Mit niemandem. Habt ihr verstanden?» Der Hengst wurde herangeführt; zwei Stallknechte klammerten sich an sein Zaumzeug. Jemand kam mit Mantel und Schwert herbeigerannt. Die Torflügel öffneten sich knarrend. Artus saß im Sattel. Der graue Hengst wieherte laut und stieg, dann machte er unter dem Druck der Sporen einen Satz vorwärts und stürmte wie ein von starker Hand geschleuderter Speer durch das Tor hinaus. Er galoppierte den steilen, gewundenen Pfad hinunter, als ob er sich in ebenem Gelände befände. So war seinerzeit Artus als Knabe durch den Wild Forest geritten, und mit demselben Ziel vor Augen. . . Morgause stand steif zwischen ihren Wachen; daß Weiß ihres Gewandes war mit aufgeworfenem Erdreich beschmutzt; Bewaffnete ritten an ihr vorbei. Die Knaben waren in ihrer Mitte, auch Mordred. Sie verschwanden in Richtung auf den Palast, ohne sich noch einmal umzublicken. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, sah ich in ihr nur die verängstigte Frau, die das Zeichen gegen den übermächtigen Zauber schlug. 475
7 Am nächsten Morgen fanden mich die Wirtsleute zu ihrem Entsetzen offenbar bewußtlos vor dem erkalteten Kamin liegen. Sie brachten mich ins Bett, wickelten heiße Steine in Tücher, um mich zu wärmen, deckten mich mit Wolldecken zu und machten ein neues Feuer. Als ich dann erwachte, versorgten mich die guten Leute mit derselben Umsicht, die sie ihrem eigenen Vater entgegengebracht hätten. Es ging mir nicht schlecht. Für Visionen habe ich immer zahlen müssen: zuerst mit den Schmerzen, die von der eigentlichen Vision verursacht werden, und hinterher mit dem langen Trancezustand völliger Erschöpfung. Ich rechnete mir die Entfernungen aus und blieb den Rest des Tages ruhig liegen; aber am nächsten Morgen setzte ich mich über den Protest meiner Gastgeber hinweg und ließ sie mein Pferd satteln. Sie waren etwas beruhigt, als ich ihnen sagte, ich würde nicht weit reiten, sondern höchstens ein paar Meilen die Straße entlang, wo mich ein Freund erwarten werde. Ich beschwichtigte sie ferner durch die Bitte, ein Abendessen «für mich selbst und meinen Freund» vorzubereiten. «Denn», sagte ich, «er liebt gutes Essen, und die Küche der Wirtin ist, das schwöre ich, mindestens ebenso schmackhaft, wie die des Hofes zu Camelot.» Daraufhin lachte die Frau des Gastwirts und redete von Kapaunen; ich ließ ihr Geld da, damit sie einkaufen konnte, und machte mich auf den Weg. Nach dem kurzen Kälteeinbruch hatte sich das Wetter gemildert. Die Sonne war aufgegangen und verbreitete eine angenehme Wärme. Obwohl die Luft milde war, waren überall die Anzeichen des bevorstehenden Winters zu erkennen. Die Bäume oben auf den Bergen waren bereits kahl, die Wacholderdrosseln tummelten sich in den roten Beeren der Eschen; Rotdrosseln waren überall im Gebüsch zu sehen, und die Haselnüsse reiften im Unterholz. Der Adlerfarn zeigte ein blasses Gold, und auf dem Ginster leuchteten noch einige Blüten. Nach seiner langen Ruhepause war mein Pferd erfrischt und munter, so legten wir die erste Wegstrecke in leichtem, aber schnellen Galopp 476
zurück. Wir begegneten niemandem. Bald führte der Weg vom Rücken der Kalkberge in einen Talkessel hinunter. Überall leuchteten die Bäume in ihren prächtigen Herbstfarben; Buchen, Eichen und Kastanien, die Birken in ihrem gelblichen Gold, und hin und wieder die dunklen Kronen der Tannen und das glänzende Grün der Stechpalmen. Durch die Bäume hindurch sah ich den Schimmer fließenden Wassers. Unten am Fluß, hatte mir der Gastwirt gesagt, gabelte sich der Weg. Die eigentliche Straße führte hier bei einer flachen, gepflasterten Furt über das Wasser und bog dann durch den Wald nach rechts ab. Es war eine wenig benutzte Verbindung, die eine Abkürzung darstellte und sich nach einigen Meilen weiter ostwärts mit der Hauptstraße wieder vereinigte. Dies war der Punkt, dem ich zustrebte. Es war schon mehr als eine Meile vergangen, seit ich irgendeine Behausung gesehen hatte; an der Furt konnten wir uns ungestört unterhalten. Ich wagte nicht, ihm weiter entgegenzureiten. Wenn Artus zu Pferde irgendwohin gelangen mußte, trieb er alle zur Eile an und nahm den kürzesten Weg. Da mir das Waldgebiet nicht bekannt war, konnte ich ihn verfehlen. Hier ließ es sich gut warten. In der Senke schien die Sonne warm, und die Luft war mild, wenn auch frisch. Es roch nach Tannennadeln. Zwei Eichelhäher zankten sich im Gebüsch und flogen dann tief über den Weg, wobei das Blau ihrer Flügel aufleuchtete. In der Ferne hörte ich das Hämmern eines Spechts. Der Fluß, an dieser Stelle kaum einen Fuß tief, floß gemächlich über die noch aus römischer Zeit stammenden Pflastersteine der Furt. Ich sattelte ab, löste die Trense und band den Zügel an einen Haselnußstamm, damit das Pferd in Ruhe grasen konnte. Ein paar Schritte neben dem Flußufer lag ein Baumstamm in der Sonne. Ich legte den Sattel daneben auf die Erde und setzte mich auf das Holz, um zu warten. Meine Zeitberechnung war richtig gewesen. Ich hatte kaum eine Stunde gewartet, als ich auf der Straße Pferdegetrappel hörte. Er hatte sich also an die Hauptstraße gehalten und nicht die Abkürzung durch den Wald gewählt. Er schien es nicht besonders eilig zu haben; 477
offenbar wollte er sein Pferd schonen. Auch war er nicht allein. Anscheinend hatte er sich von Bedwyr begleiten lassen. Ich trat auf die Straße hinaus, um ihn zu erwarten. Drei Reiter kamen durch den Wald herangetrabt und erreichten über den sanft abfallenden Hang die gegenüberliegende Seite der Furt. Es waren Fremdlinge; außerdem waren es Leute, wie man sie heutzutage nur noch selten antrifft. In vergangenen Zeiten waren die Straßen, besonders in den unwirtlichen Gebieten des Nordens und Westens, für einsame Reisende recht gefährlich, aber Ambrosius, und nach ihm Artus, hatten die Hauptverbindungswege von Räubern und dunklen Gestalten gesäubert. Offenbar aber nicht ganz. Diese drei mußten Soldaten gewesen sein; sie trugen noch das Lederwams ihres früheren Berufs, und zwei von ihnen hatten metallene Kappen auf dem Kopf. Der jüngste von ihnen hatte sich eine Rispe mit scharlachroten Beeren hinter das Ohr gesteckt. Alle drei waren unrasiert und mit Messern und Kurzschwertern bewaffnet. Der älteste von ihnen, bei dem schon graue Strähnen im braunen Vollbart zu sehen waren, hatte eine Keule, die nichts Gutes verhieß, an seinem Sattel befestigt. Ihre Pferde waren kräftig und gut genährt, das Fell aber mit Dreck überzogen. Es gehörte keine Sehergabe dazu, um zu wissen, daß diese drei Reiter gefährlich waren. Sie zügelten ihre Pferde am Flußufer und maßen mich mit ihren Blicken. Ich erwiderte ihren Blick und wich keinen Schritt zurück. Ich hatte das Messer in meinem Gürtel, aber das Schwert war bei den Satteltaschen. Eine Flucht stand außer Frage, denn mein Pferd war ungesattelt und angebunden. Der Wahrheit zuliebe muß gesagt sein, daß ich außerordentlich gespannt war, was jetzt passieren würde; es hatte Zeiten gegeben, da es niemand, auch nicht der kühnste Verbrecher, gewagt hätte, Hand an Merlin zu legen; und ich glaube, daß mich mein Selbstvertrauen auch in jenem Augenblick noch nicht verlassen hatte. Sie warfen sich gegenseitig Blicke zu und tauschten Irgendwelche Bemerkungen aus. Alles deutete auf Gefahr hin. Der Anführer - der mit dem ergrauten Bart und dem Rappen - ließ das Tier einen Schritt 478
vortreten, so daß ihm das Wasser um die Fesseln rann. Dann drehte er sich grinsend zu seinen Kumpanen um. «Seht her, hier steht ein tapferer Bursche, der uns die Furt streitig machen will. Oder bist du der Hermes, der uns eine gute Reise wünschen will? Ich muß schon sagen - wie Hermes siehst du wirklich nicht aus.» Er brach in ein lautes Gelächter aus, in das die anderen einfielen. Ich trat von der Mitte des Weges ein wenig beiseite. «Leider kann ich keine seiner Gaben für mich geltend machen, meine Herren. Auch habe ich nicht die Absicht, Euch den Weg streitig zu machen. Als ich Euch kommen hörte, hielt ich Euch für die Vorreiter der Truppe, die sehr bald hier eintreffen wird. Habt Ihr unterwegs Soldaten gesehen?» Wieder ein Blick. Der Jüngste - der mit dem Falben und den roten Beeren hinter dem Ohr - ritt durch das Wasser und kam spritzend neben mir ans Ufer. «Auf der Straße war niemand», sagte er. «Soldaten? Was für Soldaten erwartet Ihr denn? Vielleicht den Hochkönig persönlich?» Er sah seine Kumpane vielsagend an. «Der Hochkönig», sagte ich ruhig, «wird bald auf diesem Weg herbeireiten, und er sieht es gern, wenn die Gesetze eingehalten werden. Deshalb reitet in Frieden weiter, meine Herren, und laßt auch mich des Weges ziehen.» Sie hatten jetzt alle die Furt durchquert und standen um mich herum. Sie machten keinen unangenehmen Eindruck, schienen sogar gut gelaunt zu sein. Braunbart sagte: «Gewiß, wir werden Euch gehen lassen, nicht wahr, Red? Ihr seid frei wie ein Vogel, braver Mann, frei wie ein Vogel, und könnt mit leichtem Gepäck weiterziehen.» «Leicht wie eine Feder», sagte Red und lachte. Er war derjenige mit dem Fuchs. Er zog sich den Gürtel herum, so daß der Messergriff näher bei seiner Hand lag. Der Jüngste der drei bewegte sich bereits auf den Baumstamm zu, wo die Satteltaschen lagen. Ich wollte etwas sagen, aber der Anführer drängte sein Pferd noch näher heran, ließ die Zügel auf den Widerrist fallen, griff plötzlich nach unten und erfaßte mich am Kragen meines Gewandes. Er packte 479
den Stoff mit einem Würgegriff und hob mich halb zu sich empor. Er war unheimlich stark. «Also, auf wen wartet Ihr hier? Eine Truppenabordnung, war es nicht so? War das die Wahrheit, oder habt Ihr gelogen, um uns Furcht einzujagen?» Der zweite Mann, Red, drängte sein Pferd auf der anderen Seite nahe an mich heran. Es gab nicht die geringste Chance, den Leuten zu entkommen. Der dritte war abgesessen, hatte ein langes Messer herausgezogen und war dabei, das Leder der Satteltaschen aufzuschlitzen. Er sah sich nicht einmal um, um festzustellen, was seine Gefährten taten. Red hatte sein Messer in der Hand. «Natürlich hat er gelogen», sagte er in barschem Ton. «Unterwegs haben wir keine Soldaten gesehen. Nicht einen einzigen. Und sie würden auch nicht durch den Wald hierherkommen, Erec, darauf kannst du dich verlassen.» Erec griff mit der freien Hand nach hinten und zog die Keule aus ihrer Halterung. «Es war also eine Lüge», sagte er. «Ihr hättet Euch etwas Besseres einfallen lassen können, Alter. Sagt uns, wer Ihr seid und wohin Ihr geht. Diese Truppe, von der Ihr redet, woher kommt sie?» «Wenn Ihr mich loslaßt», sagte ich mühsam, denn er erstickte mich halb, «werde ich es Euch sagen. Und Euer Freund dort soll gefälligst meine Sachen in Frieden lassen.» «Seht einmal an - er kräht plötzlich wie ein Hahn!» Aber er ließ mich los, so daß ich wieder auf dem Boden stehen konnte. «Erzählt uns die Wahrheit, das wird Euer Schaden nicht sein. Auf welchem Wege seid Ihr hergekommen, und wo ist die Truppe, von der Ihr geredet habt? Wer seid Ihr und wohin wollt Ihr?» Ich begann, mir das Gewand glatt zu streichen. Meine Hände zitterten, aber es gelang mir, meiner Stimme einen Anflug von Gleichmut zu geben. Ich sagte: «Ihr tut gut daran, mich loszulassen und Euren Kopf zu retten. Ich bin Merlinus Ambrosius, genannt Merlin, Vetter des Königs, und ich reise nach Camelot. Eine Botschaft ist mir vorausgeeilt, und einige Ritter reiten mir entgegen. Sie sollten 480
dicht hinter Euch sein. Wenn Ihr nach Westen abbiegt, und zwar rasch...» Ich wurde durch lautes Gelächter unterbrochen. Erec schaukelte im Sattel hin und her. «Hast du das gehört, Red? Und du Baiin? Dies hier ist Merlin, Merlin persönlich, und er will zum Hof nach Camelot!» «Vielleicht hat er gar nicht unrecht», sagte Red und schüttelte sich vor Lachen. «Sieht ja auch wie ein Gerippe aus, findet ihr nicht? Kommt direkt aus dem Grab, darauf könnt ihr Gift nehmen.» «Und geht gleich wieder hinein.» Plötzlich wütend geworden, griff Erec wieder nach mir und schüttelte mich heftig. Ein Ausruf von Baiin unterbrach ihn. «He! Schaut einmal her!» Beide Männer drehten sich um. «Was hast du da?» «Genug Gold, um uns einen ganzen Monat davon zu verpflegen und gute Betten zu besorgen», rief Baiin fröhlich. Er warf die Satteltasche auf den Boden und hielt die Hand hoch. In ihr blitzten zwei Edelsteine auf. Erec atmete hörbar ein. «Schön, wer Ihr auch seid, wir haben anscheinend unser Glück gemacht! Sieh auch in die andere Tasche, Baiin. Komm, Red, wir wollen doch mal sehen, was er am Körper hat.» «Wenn Ihr mir etwas antut», sagte ich, «wird Euch der König bestimmt. . .» Ich brach ab, als hätte mir jemand die Hand auf den Mund gelegt. Ich stand dort eingekeilt zwischen den beiden Pferden und schaute hinauf zu dem bärtigen Gesicht, das sich zu mir niederneigte; hinter ihm war klarer Himmel. Jetzt strich ein Rabe vorbei, dessen schwarzes Gefieder in der Sonne glänzte. Er flog niedrig und geräuschlos dahin; er neigte sich • in der Luft von einer Seite zur anderen - es war der Vogel des Götterboten Hermes, der Todesvogel. Er sagte mir, was ich zu tun hatte. Bis jetzt hatte ich 'instinktiv auf Zeitgewinn gespielt, wie es jedermann angesichts des Todes tun wird. Wenn mir dies aber gelang und ich die Mörder hier aufhielt, dann würde Artus, der allein auf einem erschöpften Pferd hergeritten kam, hier, an dieser einsamen Stelle, auf die Männer stoßen. Das Verhältnis 481
war drei zu eins. In einem Kampf konnte ich ihm nicht helfen. Aber ich konnte ihm trotzdem einen Dienst erweisen. Ich schuldete Gott einen Tod, und ich konnte Artus ein neues Leben geben. Ich mußte dafür sorgen, daß diese Bestien so schnell wie möglich weiterritten. Wenn Artus mich ermordet hier liegen sah, würde er die Männer ohne Zweifel verfolgen; aber dann würde er wissen, was er tat, und er würde Hilfe haben. Deshalb sagte ich nichts. Baiin machte sich an der anderen Satteltasche zu schaffen. Erec packte mich wieder und zog mich näher heran. Red trat hinter mich und zerrte an dem Gürtel, in den der Rest meines Goldes eingenäht war. Über mir hing drohend die Keule. Wenn ich nach meiner eigenen Waffe griff, würden sie mich vermutlich eher umbringen. Meine Hand tastete nach dem Messer im Gürtel. Von hinten griff Reds harte Hand nach meinem Handgelenk, und das Messer fiel zu Boden. Die Knochen meiner Hand wurden fast zerquetscht. Er schob sein schwitzendes Gesicht über meine Schulter und sagte grinsend: «Merlin, wie? Ein großer Zauberer wie Ihr könnte uns sicher einen Eurer Tricks zeigen. Also los, rettet Euch, warum tut Ihr es nicht? Sagt einen Zauberspruch und schlagt uns tot!» Die Pferde brachen auseinander. Etwas blitzte auf und fuhr wie ein heller Lichtschein über den Himmel. Die Keule flog weit weg und fiel auf den Boden. Erecs Hand ließ mich so plötzlich los, daß ich taumelte. Immer noch über mir, trug das bärtige Gesicht einen Ausdruck der Überraschung. Die Augen starrten wie gebannt. Der durch einen schrecklichen, blitzartigen Schlag vom Rumpf getrennte Kopf fiel in einem Blutstrom auf den Hals des Pferdes und dann hinunter auf den Boden. Der Körper sackte langsam, fast anmutig, auf den Widerrist des Falben. Helles Blut strömte über die Schulter des Tieres und dann über mich, wo ich mich taumelnd an dessen Brustband festhalten wollte. Das Pferd wieherte laut, stieg und schlug wild aus; es riß sich frei und stürmte davon. Der kopflose Körper schwankte ein oder zwei Sprünge hin und her, bevor er blutüberströmt vom Sattel fiel. Ich wurde hart auf das Gras geworfen. Die kühle Feuchtigkeit drang durch meine Hände und wirkte irgendwie beruhigend. Mein Herz 482
hämmerte; die trügerische Finsternis drohte, mich wieder zu überwältigen, wich dann aber von mir. Der Boden bebte unter dem Huf schlag der Pferde. Ich blickte auf. Er kämpfte jetzt mit den beiden anderen. Er war auf seinem großen Grauschimmel allein gekommen. Er war Bedwyr und den Rittern vorausgeritten, aber weder er noch der Hengst zeigten irgendeine Spur von Ermüdung. Ich wunderte mich, daß die drei Mörder nicht sofort auf und davon geritten waren, als sie seiner ansichtig wurden. Er war nur leicht bewaffnet, trug keinen Schild, sondern nur ein mit Metallplättchen gesticktes Lederwams und hatte außerdem einen dicken Mantel um den linken Arm gewickelt. Er war barhäuptig. Er hatte die Zügel auf den Hals des Hengstes fallen lassen und steuerte das Pferd mit Knie und Stimme. Das gewaltige Tier stieg, tänzelte herum und schlug mit den Vorderhufen wie eine Streitaxt. Und um das Pferd und den König herum wirbelte, wie ein leuchtender Schild, die blitzende Klinge des großen Schwertes, das meines und seines war; Caliburn, das Schwert des Königs von Britannien. Baiin warf sich aufs Pferd, um mit einem Aufschrei seinem Genossen zu Hilfe zu kommen. Ein Lederstreifen, der aus Artus' Wams herunterhing, zeigte die Stelle, wo einer von ihnen ihn von rückwärts getroffen hatte. Aber jetzt konnten sie, obwohl sie es versuchten, nicht mehr an dem tödlichen Kreis des wirbelnden Schwertes vorbei, auch wurden sie von den wild ausschlagenden Hufen des Hengstes immer wieder abgedrängt. «Geh mir aus dem Weg», herrschte mich der König an. Ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. An meinen Händen klebte Blut, und ich zitterte am ganzen Leibe. Ich konnte nicht aufstehen, sondern kroch zu dem gefallenen Baumstamm und setzte mich dorthin. Trotz des Getümmels blieb ich dort sitzen - hilflos, bebend, alt, während mein Junge um sein Leben und das meinige kämpfte und ich keinerlei Kraft aufbieten konnte, um ihm beizustehen. Etwas blinkte neben meinem Fuß. Es war mein Messer, das noch dort lag, wo Red es mir aus der Hand geschlagen hatte. Ich griff nach ihm. Ich konnte zwar noch immer nicht stehen, aber ich schleuderte es 483
so kräftig, wie ich nur konnte, gegen Reds Rücken. Es war ein schwächlicher Wurf, der sein Ziel verfehlte. Aber das Pferd scheute, als die Waffe an seinem Kopf vorbeiflog, und der Hieb des Reiters ging daneben. Caliburn erfaßte die Klinge und hieb sie auf die Seite; dann trieb Artus den Hengst vorwärts und tötete Red mit einem Stich ins Herz. Der König konnte das Schwert nicht sofort wieder herausziehen; es verklemmte sich irgendwie und bildete durch die Last des Toten ein schweres Gewicht auf seinem Schwertarm. Aber der große Hengst wurde auch mit dieser Situation fertig. Baiin, der versuchte, den Falben herumzudrehen, um den König von hinten anzugreifen, stieß auf Zähne und bewehrte Hufe. Ein wilder Schlag riß die Schulter des Falben auf. Er fuhr schreiend herum und wandte sich trotz Sporen und Zügel zur Flucht. Aber Baiin - Schurke, aber trotzdem tapfer wie er war - riß dem Pferd mit brutaler Gewalt den Kopf herum, gerade als der König sein Schwert aus Reds Leichnam herausziehen konnte und sich dem Widersacher entgegenstellte. Ich glaube, daß Baiin in diesem letzten Augenblick den König erkannte. Aber er hatte keine Zeit mehr, etwas zu sagen oder um Gnade zu bitten. Es kam zu einem letzten, kurzen Kampf, dann durchschnitt Caliburn Balins Kehle; dieser stürzte auf das zertrampelte, blutige Gras. Er regte sich noch einmal, riß den Mund auf und starb im Strom seines eigenen Blutes. Der Falbe blieb, statt davonzulaufen, mit hängendem Kopf und zitternden Beinen stehen, während ihm das Blut von der Schulter lief. Die anderen Pferde waren verschwunden. Artus sprang vom Pferd und wischte sein Schwert an Balins Körper ab. Er schüttelte sich die Falten seines Um-hangs vom linken Arm und kam, das Pferd am Zügel führend, auf mich zu. Er berührte meine blutverschmierte Schulter und sagte: «Dieses Blut. Ist auch deines dabei?» «Nein. Und du?» «Kein Kratzer», sagte er munter. Er atmete kaum schneller als sonst. «Es war eigentlich kein Massaker. Sie waren gut ausgebildete 484
Männer, jedenfalls hatte ich den Eindruck . . . Bleib einen Augenblick ruhig sitzen; ich hole dir etwas Wasser.» Er warf mir die Zügel des Hengstes zu, griff nach dem silberbesetzten Hörn, das er am Sattelknopf mitführte, und begab sich dann leichtfüßig zum Fluß. Ich hörte, wie er mit dem Fuß gegen irgend etwas stieß. Er blieb sofort stehen und tat einen Ausruf. Ich wandte den Kopf. Er starrte auf die Überreste einer meiner Satteltaschen hinunter; dort lag in dem Durcheinander verstreuter Essensvorräte und Lederreste ein Samtstreifen, der schwer mit Gold durchwirkt war. Einer der Edelsteine, die Baiin herausgerissen hatte, lag funkelnd daneben im Gras. Artus fuhr herum. Er war weiß im Gesicht. «BeiGottIDubist's!» «Wer sonst? Ich dachte, du hättest es gewußt.» «Merlin!» Jetzt rang er wirklich nach Atem. Er kam zurück und stand über mir. «Ich dachte - ich hatte kaum Zeit, dich näher anzuschauen - ich sah nur dieses mörderische Gesin-del, das im Begriff war, einen alten Mann niederzumetzeln -der anscheinend unbewaffnet war und nach dem Aussehen von Pferd und Sattelzeug einen armen Eindruck machte ...» Er kniete neben mir nieder. «Ach, Merlin, Merlin ...» Und der Hochkönig von ganz Britannien legte seinen Kopf auf mein Knie und schwieg. Nach einer Weile regte er sich und hob den Kopf. «Ich bekam dein Erkennungszeichen und die Nachricht durch den Kurier.. Aber ich habe ihm nicht ganz geglaubt. Zuerst, als er sich bei mir meldete und mir den Drachen zeigte, schien mir alles zu stimmen. . . Ich habe wohl nie geglaubt, du könntest tatsächlich sterben wie ein normaler Mensch . . . aber auf dem Weg hierher ritt ich allein und konnte nichts anderes tun, als nachzudenken - plötzlich kam mir alles unwirklich vor. Ich weiß nicht, was ich mir vorstellte; vielleicht bildete ich mir ein, wieder vor jenem zugemauerten Höhleneingang zu stehen, wo wir dich lebendig begruben.» Ich spürte, wie ihn ein Schauer durchdrang. «Merlin, was ist geschehen? Als wir dich für tot 485
hielten und in der Höhle niederlegten, war es natürlich die Krankheit, die dir ein totenähnliches Aussehen gab. Das ist mir jetzt völlig klar. Aber danach? Als du aufwachtest, allein warst und unter deinen eigenen Leichentüchern lagst? Weiß Gott, das würde genügen, auch den Stärksten umzubringen! Was hast du getan? Wie bist du allein in dem Berg am Leben geblieben? Wie kamst du wieder heraus? Und wann? Du mußt doch gewußt haben, wie bitter ich dich betrauerte. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?» «So lange ist es noch gar nicht her. Als ich entkam, warst du außer Landes. Man sagte mir, du seist in der Bretagne. Deshalb gab ich mich nicht zu erkennen und wohnte bei Stilicho, meinem alten Diener, der die Mühle bei Maridunum betreibt, und wartete deine Rückkehr ab. Ich werde dir gleich alles erzählen - wenn du mir erst noch den Schluck Wasser besorgst.» «Zu dumm, das habe ich ganz vergessen!» Er sprang auf und lief zum Fluß. Er füllte das Hörn und brachte es zu mir; dann ließ er sich auf ein Knie hinunter und hielt mir das Wasser an die Lippen. Ich schüttelte den Kopf und nahm ihm das Hörn ab. «Vielen Dank, aber ich habe mich schon wieder gefaßt. Es ist nichts. Ich bin nicht verletzt. Ich schäme mich nur, daß ich dir so wenig habe helfen können.» «Du gabst mir alles, was ich brauchte.» «Was wirklich nicht viel war», sagte ich, halb lachend. «Mir haben diese Halunken beinahe leid getan; sie glaubten, mich leicht aus dem Wege schaffen zu können, und dann erschien plötzlich Artus persönlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich habe sie zwar gewarnt, aber wer könnte ihnen einen Vorwurf daraus machen, daß sie mir nicht glaubten?» «Willst du mir damit sagen, daß sie wußten, wer du warst? Und dich trotzdem so behandelten?» «Ich habe dir doch gesagt, daß sie mir nicht glaubten. Warum auch? Merlin war tot. Und die einzige Macht, die mir geblieben ist, liegt in deinem Namen - und auch das haben sie nicht geglaubt. <Ein alter 486
Mann, unbewaffnet und arm>.» Ich zitierte ihn lächelnd. «Und sogar du hast mich nicht erkannt. Habe ich mich so verändert?» Er betrachtete mich aufmerksam. «Es ist der Bart, ja, und du bist jetzt völlig ergraut. Aber wenn ich dir auch nur einmal in die Augen geblickt hätte ...» Er nahm mir das Hörn ab und erhob sich. «O ja, du bist es wirklich. In allem, worauf es ankommt, bist du noch derselbe. Alt? Gewiß, wir werden alle alt. Das Alter ist nichts als die Summe des Lebens. Und du lebst und bist wieder bei mir. Was sollte ich jetzt noch fürchten?» Er trank das Hörn aus, befestigte es wieder am Sattel und sah sich um. «Ich glaube, ich sollte dieses widerliche Durcheinander hier aufräumen. Fehlt dir wirklich nichts? Könntest du dich um mein Pferd kümmern? Ich glaube, es müßte zur Tränke geführt werden.» Ich führte den Hengst zum Wasser hinunter, gemeinsam mit dem Falben, der ruhig graste und keinen Versuch unternahm, davonzulaufen. Als sie getrunken hatten, band ich sie an und holte mir eine Salbe aus dem Gepäck, um die Schnittwunde an der Schulter des Falben zu behandeln. Er verdrehte ein Auge, um mich anzusehen, und die Haut auf seiner Schulter zuckte, aber er schien keine Schmerzen zu empfinden. Die Wunde blutete noch, wenn auch nur noch ganz leicht, und das Tier ging nicht lahm. Ich lockerte die Sattelgurte bei beiden Pferden und ließ sie grasen, während ich den verstreut herumliegenden Inhalt meiner Satteltaschen einsammelte. Artus löste das Problem, das «widerliche Durcheinander aufzuräumen» - drei Männer waren eines gewaltsamen Todes gestorben - dadurch, daß er die Leichen an den Füßen zu einem Versteck am Waldrand zog. Den abgetrennten Kopf hob er am Bart auf und schleuderte ihn hinterher. Bei dieser Beschäftigung pfiff er eine lustige, kleine Melodie vor sich hin. «Der nächste Regen wird das Blut wieder wegspülen. Und auch wenn ich einen Spaten oder eine Hacke hätte, würde ich meine Zeit bestimmt nicht damit vergeuden, dieses Ungeziefer einzugraben. Die Raben sollen sich alles holen. Inzwischen könnten wir die Pferde herholen; wie ich sehe, sind sie oben am Weg stehengeblieben und 487
weiden. Ich muß mir aber erst noch das Blut abwaschen, sonst lassen sie mich nicht nahe genug herankommen. Du trennst dich am besten von diesem Umhang, denn er wird nie wieder so fein wie zuvor. Hier, du kannst meinen umlegen. Nein, ich bestehe darauf. Es ist ein Befehl. Hier.» Er warf den Umhang über den Baumstamm und ging dann zum Fluß hinunter, um sich zu waschen. Während er wieder aufsaß und in leichtem Galopp die Straße hinaufritt, um die anderen Pferde einzufangen, legte ich meinen Umhang ab, der vor lauter Blut schon ganz steif geworden war, wusch mich und legte dann Artus' purpurnen Königsmantel um. Meinen eigenen rollte ich zusammen und warf ihn zu den Toten ins Unterholz. Artus kam im Trab zurück und führte die Pferde der' Räuber am Zügel. «So, wo ist jetzt dieses Gasthaus mit dem Stechpalmenstrauch?» 8 Der junge Bursche des Gastwirts stand auf der Straße und hielt nach mir Ausschau. Ich nehme an, daß er von der Wirtin dort postiert worden war, um rechtzeitig zu melden, wann «die eines Königs würdige Mahlzeit» aufgetischt werden sollte. Als er uns kommen sah zwei Männer und fünf Pferdö - blieb er noch eine Weile erstaunt stehen und rannte dann zurück in das Gasthaus. Als wir uns noch etwa siebzig Schritte vor dem Gasthaus befanden, kam der Wirt heraus. Er erkannte Artus sofort. Das Pferd des Königs hatte seine Aufmerksamkeit gleich erregt. Dann sah er den Reiter prüfend an und fiel draußen auf der Straße auf die Knie. «Steh auf, Mann», sagte der König beschwingt. «Ich habe Gutes über das Haus gehört, das du hier führst, und ich möchte gern deine Gastfreundschaft ausprobieren. Unten an der Furt hat es ein kleines Scharmützel gegeben - nichts Schlimmes, aber doch genug, um meinen Appetit anzuregen. Aber das wird noch etwas warten müssen. Kümmere dich erst hier um meinen Freund, und wenn deine Frau seine Kleider säubern kann und jemand die Pferde versorgt, werden wir gern noch eine Weile auf das Essen warten.» Als dann der Mann 488
stotternd etwas über die Armut seines Hauses zu sagen anfing, meinte Artus: «Sei unbesorgt, Mann, ich bin Soldat, und es hat Zeiten gegeben, da ich jeden Schutz vor dem Wetter für einen Luxus gehalten habe. Dein Gasthaus ist - wie ich gehört habe - ein wahres Paradies. Können wir jetzt eintreten? Auf den Wein möchten wir nicht länger warten, auch nicht auf das Feuer ...» Wir bekamen beides in sehr kurzer Zeit. Nachdem sich der Gastwirt ein wenig erholt und mit der königlichen Invasion abgefunden hatte, schob er vernünftigerweise alles Unwesentliche beiseite und kümmerte sich um die jetzt vordringlichen Aufgaben. Der Knabe kam angerannt, um uns die Pferde abzunehmen, und der Gastwirt legte persönlich Holzscheite im Kamin nach und brachte Wein; dann half er mir aus meinen beschmutzten und blutverschmierten Kleidern und brachte heißes Wasser sowie frisches Zeug aus meinem Reisesack. Dann schloß er auf Artus' Geheiß die Haustür gegen Gelegenheitsgäste ab und begab sich in die Küche, wo er - wie man sich vorstellen kann - sein tüchtiges Eheweib in eine Art Panikstimmung versetzte. Als ich mich umgezogen und Artus sich gewaschen und seinen Mantel vor dem Feuer zum Trocknen ausgebreitet hatte, goß er mir Wein ein und setzte sich auf der anderen Seite des Kamins nieder. Obwohl er schnell und weit geritten war und zum Schluß noch einen Kampf zu bestehen gehabt hatte, sah er so frisch aus, als sei er eben erst vom Bett aufgestanden. Seine Augen waren hell wie die eines Knaben, und in seine Wangen war eine leichte Röte gestiegen. Durch die Freude über unser Wiedersehen und den Reiz der überwundenen Gefahr schien er wieder zum Jüngling geworden zu sein. Als schließlich das Wirtsehepaar mit dem Essen hereinkam und umständlich daranging, den Tisch zu decken und die Kapaune zu zerlegen, empfing er sie mit einer so ungezwungenen Leutseligkeit, daß die Frau seine Stellung völlig vergessen zu haben schien, denn sie schrie vor Lachen über einen seiner Spaße und scherzte zurück. Dann zog der Ehemann sie am Kleid, und sie lief hinaus. Endlich waren wir allein. Der Nachmittag brach an, und bald würde es Zeit sein, die Lampen zu entzünden. Wir kehrten zu unseren 489
Plätzen auf beiden Seiten des Feuers zurück. Ich glaube, wir beide fühlten uns müde und schläfrig, aber keiner von uns dachte an eine Ruhepause, bevor wir nicht diejenigen Neuigkeiten ausgetauscht hatten, über die wir in Gegenwart der Wirtsleute nicht sprechen konnten. Der König war, wie er erzählte, die ganze Strecke mit nur ein paar Stunden Schlaf und einer Ruhepause für das Pferd geritten. Er sagte: «Wenn ich mich auf die Botschaft des Kuriers und das Erkennungszeichen, das er mitbrachte, verlassen konnte, dann mußtest du dich in Sicherheit befinden und würdest auf mich warten. Bedwyr und die anderen begleiteten mich, aber auch sie legten eine Rast ein. Ich sagte ihnen, sie sollten etwas zurückfallen und mir einen Vorsprung von einigen Stunden ermöglichen.» «Das hätte dich teuer zu stehen kommen können.» «Mit diesem elenden Pack?» meinte er verächtlich. «Wenn sie dich nicht unbewaffnet und unverhofft angetroffen hätten, wärst du allein mit ihnen fertig geworden.» Es gab Zeiten, dachte ich bei mir, da ich auch ohne Dolche in der Hand mit ihnen fertig geworden wäre. Ob Artus an dasselbe dachte, weiß ich nicht, er ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Ich sagte: «Es ist wahr, daß sie deines Schwertes nicht würdig waren. Und da wir gerade davon sprechen: was höre ich über den Raub von Caliburn? Irgendein Gerede über deine Schwester Morgan?» Er schüttelte den Kopf. «Das ist erledigt, deshalb können wir diesen Punkt noch warten lassen. Wichtiger ist jetzt, daß ich genau erfahre, was dir zugestoßen ist. Erzähl es mir. Erzähl mir alles. Laß nichts aus.» So erzählte ich ihm meine Geschichte. Der Abend zog herauf, und hinter den kleinen, tief eingelassenen Fenstern verdunkelte sich der Himmel zu Indigo, dann zu Schiefer. In der Gaststube hörte man nur das Knistern der Flammen. Eine Katze kam aus einer Ecke hervorgekrochen und legte sich eingerollt und schnurrend vor den Kamin. Es war eine seltsame Kulisse für die Geschichte, die ich zu erzählen hatte, die Geschichte von meinem angeblichen Tod und dem aufwendigen Begräbnis, von Furcht und Verlassenheit und dem verzweifelten Willen zu überleben, von vereiteltem Mord und der 490
schließlich gelungenen Rettung. Er hörte mir, wie schon so viele Male zuvor, aufmerksam zu, runzelte über einigen Passagen die Stirn, aber ließ sich schließlich von der Wärme und Zufriedenheit, die der Abend spendete, gefangennehmen. Diese Szene lebt immer wieder in meiner Erinneruiig auf, wenn ich an ihn denke; der stille Raum, der aufmerksam zuhörende König, das Feuer des Kamins, das sich rot auf seinen Wangen widerspiegelte und die dichten, dunklen Haare leuchten ließ, und dazu die dunklen, mich unverwandt anschauenden Augen. Aber etwas war jetzt anders: Hier saß ein Mann, der eine bestimmte Absicht verfolgte, der sich zusammenreimte, was ihm erzählt wurde, der sich ein eigenes Urteil bildete und zum Handeln entschlossen war. Schließlich regte er sich. «Dieser Kerl, der Grabräuber-wir müssen ihn finden. Es sollte nicht zu schwer sein, denn er läßt sich mit seiner Geschichte in allen Kneipen von Maridunum zum Trinken einladen . . . Ich bin gespannt, wer es war, der dich als erster gehört hat. Und dann der Müller, Stilicho. Ich habe keinen Zweifel, daß du dies alles selbst machen möchtest?» «Ja. Aber vielleicht, wenn du das nächste Mal in Caerleon bist? Mai wird vor Aufregung und Entsetzen sterben, aber Stilicho wird, da er dem großen Zauberer zu Diensten gewesen ist, seinen wohlverdienten Lohn gerne entgegennehmen . . . und sich dann bis an sein Lebensende dieser Großtat rühmen.» «Selbstverständlich», sagte er. «Ich habe unterwegs über alles nachgedacht; von hier gehen wir jetzt direkt nach Caerleon. Ich kann mir vorstellen, daß du noch nicht wieder so weit bist, um bei Hofe zu erscheinen...» «Jetzt nicht und vielleicht nie mehr. Auch nicht in Apple-garth. Ich habe den Ort für immer verlassen.» Ich fügte nicht hinzu: «Ich habe ihn Nimue hinterlassen». Ihr Name wurde von keinem von uns auch nur erwähnt. Wir hatten sie so ausdrücklich aus dem Spiel gelassen, daß ihr Name in jedem Satz, der zwischen uns gesprochen wurde, wie ein Echo widerzuhallen schien. Ich fuhr fort: «Ich bin überzeugt, daß du es mir ausreden willst, aber ich will nach Bryn Myrddin 491
zurückkehren. Ich werde überglücklich sein, bei dir in Caerleon zu bleiben, bis der Ort wieder hergerichtet ist.» Natürlich erhob er Einwände, und wir stritten uns eine Weile, aber schließlich gab er nach, allerdings nur unter der sehr vernünftigen Bedingung, daß ich dort nicht allein leben dürfe, sondern von Dienstpersonal versorgt werden müsse. «Und wenn du unbedingt deine geheiligte Ruhe haben willst, dann sollst du sie auch haben. Ich werde eine Unterkunft für deine Diener errichten lassen - außer Sichtweite und am Fuß des Felsens; aber sie müssen dort wohnen.» <«Und das ist ein Befehl?>» zitierte ich ihn lächelnd. «Jawohl. . . Wir haben noch genug Zeit, um dies zu veranlassen; ich werde Weihnachten in Caerleon verbringen und du wirst bei mir sein. Ich gehe davon aus, daß du nicht darauf bestehen wirst, nach Bryn Myrddin zurückzukehren, bevor der Winter vorbei ist?» «Nein.» «Gut. In deiner Darstellung ist etwas, das mit den Tatsachen nicht übereinstimmt. . . Die Sache in Segontium, die du geschildert hast.» Er blickte auf und lächelte. «Dort hast du also Caliburn gefunden? Im Schrein des Lichts? Ja, das paßt. Ich erinnere mich, daß du mir einmal vor Jahren, kurz bevor wir den Wild Forest verließen, gesagt hast, daß dort noch andere Schätze liegen. Du sprachst von einem Gral. Ich weiß noch genau, was du sagtest. Aber die Gabe, die mir Mor-gause überbrachte, war kein Schatz von Macsen. Es waren Silbersachen Becher und Broschen und Halsringe, wie man sie im hohen Norden herstellt. Ganz hübsch, aber nicht der Schatz, den du mir geschildert hast.» «Nein. Ich habe die Gegenstände einmal kurz in der Vision gesehen. Es war nicht Macsens Schatz. Aber der junge Schafhirte war überzeugt, daß er geraubt worden war. Und ich glaube ihm.» «Du weißt es nicht?» «Nein. Wie könnte ich es ohne Macht genau wissen?» «Aber du hast diese Vision gehabt. Du hast beobachtet, wie Morgause und die Knaben mich auf Camelot ansprachen. Du sahst 492
den Silberschatz, den sie mir gab. Du wußtest, daß der Kurier angekommen war und ich mich auf dem Weg zu dir befand.» Ich schüttelte den Kopf. «Es war nicht die Seherkraft, jedenfalls nicht die, die wr beide gekannt haben. Es war nur ein Gesicht, und dieses werde ich, glaube ich, behalten, bis ich sterbe. Jede Weissagerin in den Dörfern besitzt es bis zu einem gewissen Grade. Die Kraft ist mehr als das; sie beruht auf exaktem Wissen; sie befiehlt ohne weitere Gedanken und weiß, daß ihr Folge geleistet wird. Diese Gabe ist dahin. Ich bin darüber nicht traurig.» Ich stockte. «Ich hoffe, das Gleiche gilt für dich? Ich habe Geschichten über Nimue gehört daß sie die neue Herrin des Heiligtums auf der Insel ist. Ich habe erfahren, daß man sie die Zauberin des Königs nennt und daß sie dir gute Dienste erwiesen hat.» «Ja, so ist es.» Er wich meinem Blick aus, beugte sich vor und legte ein Holzscheit auf dem Feuer zurecht. «Sie war es, die den Raub Caliburns geklärt hat.» Ich wartete, aber er ließ es dabei bewenden. Schließlich sagte ich: «Wie ich hörte, ist sie noch im Norden. Geht es ihr gut?» «Sehr gut.» Das Scheit brannte zu seiner Zufriedenheit. Er stützte das Kinn auf eine Faust und starrte ins Feuer. «Gut. Wenn Morgause den Schatz bei sich hatte, als sie das Schiff bestieg, muß er sich irgendwo auf der Insel befinden. Meine Leute sorgten dafür, daß sie zwischen Segontium und hier nicht an Land ging. Sie wohnte bei Melwas, deshalb sollte es nicht gar zu schwer sein, die Sachen aufzufinden. Morgause wird bis zu meiner Rückkehr ständig bewacht. Wenn sie sich weigert, zu sprechen, werden die Kinder kaum gegen ein Verhör gefeit sein. Die jüngeren werden in ihrer Unschuld keine Bedenken haben, die Wahrheit zu sagen. Kinder sehen alles; sie werden wissen, wo sie den Schatz versteckt hat.» «Wie ich weiß, willst du die Kinder bei dir behalten.» «Das hast du gesehen? Ja, so ist es. Dann hast du sicher auch gesehen, daß dein Kurier gerade noch rechtzeitig eintraf, um Morgause das Leben zu retten.» Ich dachte an meine eigenen Anstrengungen, ihn mit meinem Willen zu erreichen, als ich schon glaubte, sie würde 493
den gestohlenen Gral gegen ihn ins Feld führen. «Du wolltest sie töten?» «Gewiß, weil sie dich umgebracht hatte.» «Ohne Beweise?» «Ich brauche keine Beweise, um eine Hexe hinrichten zu lassen.» Ich zog die Augenbrauen in die Höhe und zitierte die Worte, die bei der Eröffnung des Runden Saals gesprochen worden waren: «Kein Mann und keine Frau sollen ungerecht Schaden erleiden oder ohne Gerichtsverfahren oder offenkundigen Beweis ihres Vergehens bestraft werden.» Er lächelte. «Schön, meinetwegen. Aber ich hatte den Beweis. Ich hatte dein Wort, daß sie dich zu töten versuchte.» «Das hast du gesagt. Ich glaubte, du wolltest ihr damit einen Schrecken einjagen. Dir selbst habe ich nichts gesagt.» «Ich weiß. Und warum nicht? Warum hast du mir verschwiegen, daß es ihr Gift war, das dich im Wild Forest fast getötet hat?» «Du hat die Frage selbst beantwortet. Du hättest sie, nach dem Wild Forest, umbringen lassen. Aber sie war die Mutter jenes Sohnes und schwanger mit einem anderen, und ich wußte, daß sie eines Tages zu dir kommen würden, um deine treuen Diener zu werden. Deshalb habe ich dir nichts gesagt. Von wem hast du es erfahren?» «Von Nimue.» «Ich verstehe. Und sie wußte, wie es geschah? Durch ihren Seherblick?» «Nein. Sie erfuhr es von dir. Von Worten, die du in deinem Delirium ausgesprochen hast.» Sie hatte mir alles genommen- auch das letzte Geheimnis. Ich sagte nur: «Ach, ja ... Und kann ich davon ausgehen, daß sie auch Mordred für dich gefunden hat? Oder hat Morgause ihn zum Vorschein gebracht, weil Lot und ich tot waren?» «Nein. Er war noch versteckt. Soviel ich weiß, war er irgendwo auf den Orkney Inseln untergebracht. Nimue hatte damit nichts zu tun. Ich habe durch einen reinen Zufall 494
von ihm gehört. Ich bekam einen Brief. Ein Goldschmied aus York, der schon früher für Morgause gearbeitet hatte, reiste mit etwas Schmuck, den er zu verkaufen hoffte, zu ihr hinauf. Diese Leute gelangen, wie du weißt, in die entferntesten Winkel des Reiches und sehen alles.» «Doch nicht etwa Beltane?» Er hob überrascht den Kopf. «Du kennst ihn?» «Ja. Er ist so gut wie blind. Er muß in Begleitung eines Dieners reisen...» «Casso», sagte der König und fügte dann hinzu: «Ich sagte dir doch, daß ich einen Brief bekam.» «Von Casso?» «Ja. Anscheinend war er in Dunpeldyr,xals - aha, damals bist du ihnen begegnet? Dann weißt du auch, daß sie in der Nacht des Massakers dort waren. Casso hat offenbar viel über die Ereignisse gehört und auch einiges selbst gesehen; das Volk redet viel in Anwesenheit eines Sklaven, und er muß mehr verstanden haben, als er eigentlich sollte. Sein Herr hat nie geglaubt, daß Morgause mit diesen schrecklichen Vorgängen etwas zu tun gehabt haben könnte, deshalb reiste er nach Orkney, um noch einmal sein Glück zu versuchen. Casso, der weniger gutgläubig war, hielt Augen und Ohren offen und konnte schließlich das Kind ausfindig machen, das in der Nacht des Massakers plötzlich verschwand. Er schickte mir persönlich eine Botschaft. Gerade zu jener Zeit hatte ich von Nimue erfahren, daß es Morgause war, die für deinen Tod die Verantwortung trug. Ich ließ sie kommen und sorgte dafür, daß sie Mordred mitbrachte. Warum machst du ein so erstauntes Gesicht?» «Aus doppeltem Grund. Was könnte einen Sklaven -Casso war Arbeiter bei einem Steinbruchbesitzer, als ich ihn kennenlernte veranlassen, an den Hochkönig zu schreiben?» «Ich vergaß, daß ich dir davon noch nichts erzählt habe; er hat mir schon einmal gute Dienste geleistet. Erinnerst du dich noch an die Zeit, da ich nach Norden ging, um Aguisel in Luthien anzugreifen? Und wie schwer es war, irgendeinen 495
Weg zu finden, jenen gemeinen Kerl zu vernichten, ohne mir die Rache der Brüder Tydwal und Urien dabei einzuhandeln? Es muß sich irgendwie herumgesprochen haben, denn ich erhielt eine Botschaft von diesem selben Sklaven; sie enthielt beweisbare Tatsachen über Dinge, die er gesehen hatte, als er sich in Aguisels Diensten befand. Aguisel hatte einen Pagen mißbraucht, einen von Tydwals jungen Söhnen, und ihn dann ermordet. Casso sagte uns, wo wir die Leiche finden könnten. Wir fanden sie; und außerdem noch andere. Das Kind war genauso umgebracht worden, wie es Casso uns berichtet hatte.» «Und danach», sagte ich trocken, «ließ Aguisel allen Sklaven, die Zeuge des Verbrechens geworden waren, die Zunge herausschneiden.» «Willst du damit sagen, daß der Mann stumm ist? Vielleicht erklärt sich daraus die sorglose Art, mit der die Menschen in seinem Beisein zu reden scheinen. Es ist Aguisel teuer zu stehen gekommen, denn er hat sich nicht vergewissert, daß Casso nicht lesen und schreiben konnte.» «Beides konnte er damals noch nicht. Als ich ihn in Dunpeldyr kennenlernte, war er stumm und hilflos. Ich war es, der als Lohn für einen Dienst, den er mir erwiesen hatte, dafür sorgte, daß er Unterricht erhielt.» Artus hob lächelnd den Becher und trank mir zu. «Habe ich es genannt? Ich hätte wissen müssen, mit wem ich sprach. Ich habe Casso nach der Affäre mit Aguisel natürlich belohnt und ihm gesagt, wohin er eventuelle weitere Informationen senden solle. Ich glaube, er hat sich noch ein- oder zweimal als nützlich erwiesen. Dann wandte er sich bei dieser letzten Sache direkt an mich.» Wir unterhielten uns noch eine Weile darüber, doch dann kam ich zur gegenwärtigen Situation zurück. «Was willst du jetzt mit Morgause tun?» «Ich werde diesen Fall - mit deiner Hilfe - regeln, wenn ich zurückkomme. Einstweilen werde ich Befehl geben, daß sie im Nonnenkloster zu Amesbury unter Bewachung festzuhalten sei. Die Knaben bleiben bei mir; ich werde sie zu 496
Weihnachten nach Caerleon bringen lassen. Lots Söhne sind kein Problem; sie sind noch so jung, daß sie das Leben bei Hofe bestimmt interessant und aufregend finden werden, aber doch schon groß genug, um jetzt ohne Morgause auskommen zu können. Und Mordred - auch er wird seine Chance bekommen. Ich werde für ihn dasselbe tun.» Ich sagte nichts. Die Katze schnurrte plötzlich laut, brach dann mit einem Seufzer ab und schlief ein. «Also», sagte Artus, «was sollte ich deiner Meinung nach tun? Er steht jetzt unter meinem Schutz, also - auch wenn ich früher vielleicht anders darüber gedacht habe - kann ich ihn nicht töten. Ich habe noch nicht Zeit gehabt, dieses Problem bis ans Ende durchzudenken, und es ist später noch Zeit genug, diesen Fall mit dir zu erörtern. Aber ich stehe auf dem Standpunkt, daß ich den Knaben, nachdem er Lots mörderische Säuberung überlebt hat, lieber in meiner Nähe und unter meiner Aufsicht haben möchte, statt ihn irgendwo zu verstecken - mit allen Gefahren, die eine solche Maßnahme nach sich ziehen kann. Sag, daß du mir beipflichtest.» «Ja, ich teile deine Meinung.» «Wenn ich ihn also bei mir behalte und ihm das Recht des Erstgeborenen zugestehe, womit er sicher nie gerechnet hat...» «Ich zweifle, ob er je auf diesen Gedanken gekommen ist», sagte ich. «Ich glaube nicht, daß sie ihm gesagt hat, wer er ist.» «Na und? Dann werde ich selbst es ihm sagen. Das ist noch besser. Er wird erfahren, daß ich es gar nicht nötig gehabt hätte, ihn als meinen Sohn anzuerkennen. Merlin, alles wird noch gut werden. Wir beide, du und ich, wissen noch zu gut, was es heißt, die Jugend als vaterlose Bastarde zu verbringen und dann schließlich zu erfahren, daß wir Ambrosius' Blut in den Adern haben. Und wer bin ich, daß ich jetzt noch wünschen könnte, mein Sohn sei tot? Das eine Mal war schon zu viel. Weiß Gott, ich habe dafür bezahlt.» Er wandte den Blick und schaute wieder in die Flammen. Ein Anflug von Bitterkeit lag in seinem Gesichtsausdruck. Dann hob er eine Schulter und sagte: «Du fragtest nach Caliburn. Meine Schwester Morgan nahm sich anscheinend einen Liebhaber; er war einer meiner Ritter, ein Mann namens Accolon, ein guter Kämpfer 497
und ein prächtiger Mann - aber er gehörte zu denjenigen, die bei einer Frau nie nein sagen können. Als König Urbgen mit Morgan hier war, warf sie ein Auge auf Accolon, und bald scharwänzelte er wie ein Jagdhund um sie herum. Bevor sie in den Süden kam, ließ sie im Norden durch einen Schmied eine Nachbildung von Caliburn anfertigen, und während ihres Aufenthaltes hier in Camelot brachte sie Accolon dazu, die beiden Schwerter gegeneinander auszutauschen. Sie hatte sich vermutlich ausgerechnet, daß es ihr gelingen würde, den Hof zu verlassen und rechtzeitig in den Norden zurückkehren zu können, bevor der Verlust entdeckt werden würde. Ich weiß nicht, wie weit sie in ihren Gunstbezeigungen gegenüber Accolon ging, aber fest steht, daß Accolon, als sie mit König Urbgen wieder gen Norden zog, um Urlaufe bat und die beiden begleitete.» «Aber warum hat sie dies getan?» Bei seinem überraschten Blick kam mir zum Bewußtsein, wie selten ich eine solche Frage bisher hatte stellen müssen. «Ach, der übliche Grund: Ehrgeiz. Sie hatte anscheinend vor, ihren Gemahl zum Hochkönig von Britannien zu machen und als seine Königin zu fungieren. Und was Accolon angeht, so bin ich nicht sicher, was sie ihm versprochen hatte - aber wie dem auch sei, es kostete ihn das Leben. Es hätte auch das ihrige gekostet, aber es gab keine stichhaltigen Beweise, und sie ist Urbgens Frau. Daß sie meine Schwester ist, hätte ihr nichts genützt, aber er wußte nichts von dem Komplott, und ich kann es mir nicht leisten, mich mit ihm zu verfeinden.» «Wie konnte sie denn hoffen, straflos davonzukommen?» «Du warst nicht mehr da», sagte er einfach. «Sie mußte von Morgause erfahren haben, daß du kränkeltest, und sie bereitete sich auf große Zeiten vor. Sie glaubte, daß jeder, der im Besitz des Schwertes war, auf eine Gefolgschaft rechnen konnte, und wenn der König von Rheged das Schwert führte . . . Vorher mußte ich natürlich aus dem Wege geräumt werden. Accolon versuchte es. Er brach einen Streit vom Zaun und kämpfte mit mir. Es war das Ersatzschwert, natürlich; das Metall war brüchig wie Glas. Bevor ich merkte, daß etwas nicht stimmte, war es 498
zu spät. Beim ersten Zusammenprall brach die Klinge dicht unter dem Heft ab.» «Und?» «Bedwyr und die übrigen schrien , aber dessen hätte es gar nicht mehr bedurft. Ich konnte den Verrat in Accolons Augen sehen. Sein Schwert war noch ganz und das meinige zerbrochen. Ich glaube, er bekam Angst. Ich stieß ihm den Schwertgriff ins Gesicht und tötete ihn mit meinem Dolch. Er leistete keinen Widerstand. Vielleicht war er doch ein Getreuer. Ich nehme es gern an.» «Und das echte Schwert?» Woher wußtest du, wo es sich befand?» «Von Nimue», sagte er. «Sie war es, die mir erzählte, was geschehen war. Erinnerst du dich noch an jenen Tag in Applegarth, als sie mir sagte, ich solle auf Morgan und das Schwert aufpassen?» «Ja. Ich glaubte, sie meinte Morgause.» «Ich auch. Aber sie hatte recht. Als sich Morgan am Hofe befand, wich Nimue nur selten von ihrer Seite. Ich fragte mich, warum, denn es lag auf der Hand, daß sich die beiden nicht leiden konnten.» Er lachte kurz. «Ich fürchte, ich hielt das Ganze für einen Weiberzwist... sie mag auch Guinevere nicht besonders . . . aber mit Morgan hat sie recht behalten. Die Hexe hat sie verdorben, als sie noch ein kleines Mädchen war. Wie Nimue das Schwert in ihren Besitz brachte, weiß ich nicht. Sie schickte es mit einer bewaffneten Eskorte aus Rheged herunter. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen.» Ich wollte noch etwas fragen, aber er hob plötzlich den Kopf und lauschte. «Da kommt Bedwyr, wenn ich mich nicht irre. Wir haben nur wenig Zeit füreinander gehabt, Merlin, aber es werden noch andere Zeiten kommen. So Gott will, werden noch andere Zeiten kommen.» Er erhob sich, streckte die Arme aus und half mir beim Aufstehen. «Vorerst haben wir tts lange genug unterhalten. Du siehst erschöpft aus. Willstlu dich jetzt etwas ausruhen, damit ich Bedwyr und die ane-ren empfangen und ihnen die Neuigkeiten übermittln kann? Ich warne dich, es wird bei der Gesellschaft hch hergehen. Sie werden wahrscheinlich unseren braven 499
Wt um alles Trinkbare erleichtern, das er in seinem Keller ht, und während der Nacht reinen Tisch machen...» Aber ich blieb bei ihm, als er die Ritter begrüßte, uid zechte danach mit ihnen. Während der langen, geräusch\)l-len Feier erwähnte niemand mir gegenüber den Namn Nimue, und ich stellte auch keine weiteren Fragen. 9 Wir verbrachten noch einen Tag der Ruhe im Gasthaus am «Stechpalmenstrauch». Eine Gruppe ritt zurück, um die Toten bei der Furt zu begraben, und setzte dann, mit Botschaften des Königs ausgestattet, die Reise nach Camelot fort. Eine weitere Gruppe wurde nach Caerleon entsandt, um die Ankunft des Königs anzukündigen. Während ich mich ausruhte, gingen die jüngeren Männer auf die Jagd. Die Strecke des Tages lieferte uns ein ausgezeichnetes Abendessen; Diener und Pagen halfen dem Wirtsehepaar beim Kochen und Servieren. Wo diese vielen Menschen in jener Nacht schliefen, weiß ich nicht; ich vermute, daß man die Pferde ins Freie ließ und der Stall noch voller als die Wirtsstube war. Am nächsten Tag machten sich zum offensichtlichen Bedauern unserer Gastgeber der König mit seiner Begleitung auf den Weg nach Caerleon. Auch nach der Errichtung von Camelot hatte Caerleon seine Bedeutung als königliche Hochburg im Westen beibehalten. Wir ritten an einem sonnigen Tag voller Wind in die Burg ein; die Standarten mit dem Drachen wehten von den Dächern, und auf den Straßen, die zur Festung hinaufführten, drängten sich die Menschen. Auf meinen besonderen Wunsch hin ritt ich verkleidet am hinteren Ende der Kolonne und nicht neben dem König. Artus hatte sich schließlich mit meinem Vorsatz abgefunden, auf meinen Platz neben ihm zu verzichten; man kann eine Abdankung nicht rückgängig machen, und die meinige blieb endgültig. Er hatte noch immer kein Wort über die Rolle gesagt, die Nimue in dieser Sache gespielt hatte, obwohl er sich gefragt haben mußte, wieviel von meiner Zauberkraft auf sie übergegangen sein mochte. Wenn sonst niemand, so mußte zum mindesten sie 500
«gesehen» haben, daß ich wieder auf der Erde weilte und beim König war; sie hätte sogar wissen müssen, daß ich bei noch lebendigem Leibe begraben worden war . . . Aber keiner stellte eine Frage, und ich äußerte mich auch nicht zu diesem Problem. In Caerleon waren mir fürstliche Gemächer neben denen des Königs zugewiesen worden. Zwei junge Pagen, die mich mit lebhafter Neugier betrachteten, geleiteten mich zu den Zimmern. Viele der Diener, an denen wir vorbeikamen, kannten mich, und alle hatten offenbar irgendeine Version der merkwürdigen Geschichte gehört; einige hasteten vorbei und schlugen das Zeichen zur Abwehr des Zaubers, aber andere traten auf mich zu, begrüßten mich und boten ihre Dienste an. Schließlich erreichten wir meine Gemächer; sie waren prunkvoll ausgestattet. Ein Kammerherr erwartete mich und zeigte mir eine Fülle prächtiger Gewänder, die mir vom König zur Auswahl geschickt worden waren, zusammen mit Juwelen aus der königlichen Schatulle. Ein wenig zur Enttäuschung des Kammerherrn legte ich das mit Gold und Silber durchwirkte Tuch mit dem Pfau und den roten und blauen Stickereien beiseite und wählte ein warmes Gewand aus dunkelroter Wolle mit einem Gürtel aus vergoldetem Leder und dazu passende Sandalen aus. Dann sagte der Kammerherr: «Ich werde Lampen herbringen lassen, Herr, und Wasser zum Waschen», und zog sich zurück. Zu meiner Überraschung gab er den beiden Pagen ein Zeichen, das Gemach mit ihm zu verlassen, und ließ mich allein zurück. Die Lampen hätten schon lange angezündet werden müssen. Ich trat ans Fenster; das Abendrot ging langsam in ein tiefes Purpur über. Ich drehte mich nicht um, als die Tür geöffnet wurde. Der flackernde Lichtschein einer Feuerschale stahl sich ins Zimmer und ließ den Abendhimmel um so dunkler erscheinen. Der Page ging leise durch den Raum und entzündete eine Lampe nach der anderen, bis der ganze Raum zu glühen schien. Ich war zwar noch müde von dem Ritt, aber es wurde allmählich Zeit, daß ich aufstand und mich für das abendliche Festmahl ankleiden ließ. Der Knabe war hinausgegangen, um die Schale wieder in ihre 501
eiserne Halterung an der Korridorwand einzusetzen. Die Tür stand offen. Ich erhob mich. «Vielen Dank», begann ich. «Und jetzt, wenn du mir freundlicherweise...» Ich brach ab. Es war kein Page. Es war Nimue, die rasch eintrat, mit dem Rücken an die Tür gelehnt stehen blieb und mich ansah. Sie trug eine lange, graue, mit Silberfäden durchwirkte Robe; ihre Haare, aus denen Silberschmuck glänzte, fielen ihr über die Schultern herab. Ihr Gesicht war weiß, und während ich sie noch fassungslos anstarrte, traten ihr die Tränen in die Augen. Dann eilte sie quer durchs Zimmer, hielt mich fest in den Armen und lachte und weinte und küßte mich; die Worte sprudelten ihr aus dem Mund - unverständliche Worte, die nur den einen Sinn zu haben schienen: ich sei am Leben und sie habe die ganze Zeit um meinen Tod getrauert. «Magie», sagte sie in einem verwunderten, halb verängstigt klingenden Tonfall immer wieder. «Es ist Magie - so stark, wie ich sie nie begreifen werde. Und du sagtest mir, du habest mir alles gegeben. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen. Ach, Merlin, Merlin ...» Was auch immer geschehen sein mochte, was sie auch von mir ferngehalten und sie blind vor der Wahrheit gemacht haben mochte das alles spielte jetzt keine Rolle. Wir hielten uns eng umschlungen; ihr Kopf lag an meiner Brust und meine Wange auf ihrem Haar, während sie wie ein Kind immer wieder dasselbe sagte: «Du bist es. Du bist es wirklich. Du bist zurückgekehrt. Es ist Magie. Du mußt noch immer der größte Zauberer auf der ganzen Welt sein.» «Es war nur die Krankheit, Nimue. Sie hat euch alle getäuscht. Es war keine Zauberkraft. Ich gab sie dir ganz.» Sie hob den Kopf. Auf ihrem Gesicht lag ein tragischer Ausdruck. «Ja, und wie du mir alles gegeben hast! Ich kann nur darum beten, daß du dich nicht erinnerst! Du hattest mir aufgetragen, alles zu lernen, was du mir zu sagen haben würdest. Du hattest gesagt, ich müsse auf jeder Einzelheit deines Lebens 502
aufbauen und nach deinem Tode würde ich Merlin sein. . . Und du würdest mich verlassen, mir im Schlaf entgleiten ... Ich mußte es tun, nicht wahr? Ich mußte dir den letzten Rest deiner Kraft entziehen, auch wenn ich dir den letzten Rest deiner Stärke raubte? Ich tat'es, und dabei war mir jedes Mittel recht - ich umschmeichelte dich, ich wurde stürmisch, ich drohte, ich gab dir Stärkungsmittel und hielt dich wach, damit du mir auf alle meine Fragen antworten konntest - denn wärest du ein anderer Mann gewesen, hätte ich dich weiterschlafen lassen und wäre in Frieden von dir gegangen. Und weil du Merlin warst, und kein anderer Mann, erhobst du dich unter Schmerzen und standest mir Rede und Antwort. Du gabst mir alles, was du hattest. So machte ich dich von Minute zu Minute schwächer, wo ich dich doch, wie ich jetzt weiß, hätte retten können.» Sie schob ihre Hände an meiner Brust empor und sah mich mit tränennassen Augen an. «Willst du mir eine Frage beantworten und dabei die volle Wahrheit sagen? Schwörst du bei Gott?» «Was ist es?» «Weißt du noch, wie ich mich an dich klammerte und dich zu Tode peinigte - wie eine Spinne, die der Honigbiene den Lebenssaft aussaugt?» Ich legte meine Hände über die ihrigen. Ich schaute direkt in die wunderschönen Augen und log. «Mein liebes Mädchen, aus jener Zeit sind mir nur Worte der Liebe in Erinnerung geblieben und daß mich Gott friedlich bei der Hand genommen hat. Das schwöre ich dir, wenn du willst.» Ein Ausdruck der Erleichterung überzog ihr Gesicht. Aber sie schüttelte dennoch den Kopf und wollte sich nicht trösten lassen. «Aber trotz aller Kraft und allen Wissens, die du mir gabst, merkte ich nicht, daß wir dich lebendig begraben hatten. Merlin, ich hätte es wissen müssen, ich hätte es wissen müssen! Ich träumte wieder und wieder, aber die Träume waren wirr. Ich kehrte noch einmal nach Bryn Myrddin zurück, wußtest du das? Ich ging zur Höhle, aber die Tor war noch vermauert, und ich rief und rief, aber es war nichts zu hören. . .» 503
«Beruhige dich doch.» Sie zitterte. Ich zog sie enger an mich und küßte ihr Haar. «Es ist vorbei. Ich bin hier. Als du auf der Suche nach mir zurückkamst, muß ich noch bewußtlos gewesen sein. Nimue, was geschah, war der Wille des Gottes. Wenn er damals gewollt hätte, daß ich aus dem Grab gerettet werde, hätte er zu dir gesprochen. Jetzt hat er mich zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt heimkehren lassen, und deshalb hat er mich auch vor dem Begräbnis in der Erde oder der Einäscherung bewahrt. Du mußt alles hinnehmen, wie es ist, und ihm danken, wie ich es tue. Sie erschauerte wieder. «So wollte es der Hochkönig. Er wolle dir, sagte er, einen Scheiterhaufen so hoch wie den des Kaisers geben, damit dein Tod für die Lebenden im ganzen Land ein Fanal sein würde. Er war außer sich vor Gram, Merlin. Ich konnte ihn kaum dazu bringen, mir zuzuhören. Aber ich sagte ihm, ich hätte einen Traum gehabt und daß du selbst einmal gesagt habest, du wünschtest in deiner eigenen Berghöhle niedergelegt zu werden, damit du ein Teil des Landes würdest, das du so geliebt hast.» Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht. «Es war die Wahrheit. Ich hatte tatsächlich solch einen Traum, einen von vielen. Aber trotzdem bin ich dir nicht gerecht geworden. Wer tat, was ich hätte tun sollen, und befreite dich aus der Höhle? Was ist geschehen?» «Komm näher ans Feuer - ich werde dir alles erzählen. Deine Hände sind kalt. Komm, wir haben, glaube ich, noch etwas Zeit, bevor wir in den Saal gehen müssen.» «Der König wird auf uns warten», sagte sie. «Er weiß, daß ich hier bin. Er hat mich zu dir geschickt.» «Wirklich?» Aber ich schob diesen Gedanken zunächst beiseite. In einer Ecke des Raumes glühte ein Feuerbecken vor einer niedrigen, mit Teppichen und Fellen bedeckten Liege. Wir setzten uns nebeneinander hin, und ich berichtete ihr genau, was sich alles zugetragen hatte. Als ich geendet hatte, war ihr Kummer vergangen, und auf ihren Wangen zeigte sich wieder etwas Farbe. Ich hatte den Arm um sie gelegt, und sie hielt meine Hand fest umklammert. Zauberer oder 504
Sterblicher - ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die Freude, die sie an den Tag legte, ebenso echt war wie der Feuerschein, der uns beide wärmte. Die Zeit schien zurückgedreht. Aber nicht ganz: Ob Sterblicher oder Magier, ich konnte Geheimnisse noch immer wahrnehmen. Sie hörte mir zu und unterbrach mich hin und wieder durch einen Ausruf. Und als ich fertig war, setzte sie die Geschichte fort. «Ich erzählte dir von dem Traum, den ich hatte. Er beunruhigte mich; ich begann mich zu fragen, ob du wirklich tot warst, als wir dich in der Höhle zurückließen. Aber es bestand offenbar kein Zweifel daran; du hattest so lange regungslos und anscheinend ohne zu atmen dagelegen, und alle Ärzte hatten dich für tot erklärt. So legten wir dich schließlich dort nieder. Als mich dann die Träume wieder zur Höhle trieben, schien alles normal zu sein. Dann kamen andere Träume, andere Visionen, und mir wurde ganz wirr im Kopf...» Während sie sprach, hatte sie sich ein wenig von mir entfernt, obwohl sie noch immer meine Hand festhielt. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und blickte in die glühende Holzkohle. «Morgan», sagte ich, «und wie kam es zum Raub des Schwerts?» Sie warf mir einen raschen Seitenblick zu. «Der König hat dir wohl davon erzählt? Ja. Du hast gehört, auf welche Weise das Schwert geraubt wurde. Ich mußte Camelot verlassen, Morgan folgen und das Schwert zurückholen. Auch jetzt war der Gott mit mir. Während meines Aufenthaltes in Rheged kam ein Ritter aus dem Süden an; er wollte die Königin besuchen und erzählte abends in Urbgens Halle eine merkwürdige Geschichte. Er war Bagdemagus - mit Morgan und Artus verwandt. Erinnerst du dich an ihn?» «Ja. Sein Sohn erkrankte im Sommer vor zwei Jahren, und ich behandelte ihn. Er überlebte die Krankheit, behielt aber eine Augenentzündung zurück.» Sie nickte. «Du gabst ihm eine Salbe mit der Weisung, diese zu verwenden, falls er wieder Augenschmerzen haben sollte. Du sagtest, die Salbe enthalte ein Heilkraut, das du in Bryn Myrddin hättest.» 505
«Ja. Es war wilder Muskatellersalbei, den ich aus Italien mitgebracht hatte. Ich besaß einen gewissen Vorrat in Bryn Myrddin. Aber wie glaubte er denn, dieses Heilkraut zu bekommen?» «Er dachte, daß es dort wachse. Vielleicht hat er auch geglaubt, daß du einen Kräutergarten wie in Applegarth angelegt hattest. Natürlich wußte er, daß du dort in der Berghöhle beigesetzt worden warst. Er gab uns gegenüber nicht zu, daß er sich fürchtete, aber meines Erachtens überkam ihn die Angst. Er erzählte uns, wie er über den Bergrük-ken geritten war und Musik gehört habe, die anscheinend aus der Erde kam. Aber dann habe sein Pferd wie in Panik gescheut, und er habe nicht gewagt, noch einmal zurückzureiten. Er sagte, er habe niemandem davon erzählt, weil er sich über seine Flucht geschämt habe und habe fürchten müssen, daß er ausgelacht würde; aber dann, meinte er, habe er in Maridunum irgendein Märchen von einem Mann gehört, der behauptete, deinen Geist gesehen und mit ihm gesprochen zu haben . . . Du weißt ja, wer das war - dein Grabräuber. Wenn ich beide Erzählungen mit meinen eigenen, immer wiederkehrenden Träumen verglich, wurde mir auf einmal alles klar. Du lebtest und lagst noch in der Höhle. Ich hätte Luguvallium noch in jener Nacht verlassen, aber dann geschah etwas, das mich zum Bleiben zWang.» Sie sah mich von der Seite an, als warte sie auf mein zustimmendes Nicken. Aber ich sagte lediglich: «Ja?» Dann zeigte sie dasselbe, kurz aufblitzende Erstaunen, das ich auch bei Artus gesehen hatte. Sie biß sich auf die Lippe und erklärte: «Morgause traf mit den Knaben ein. Mit allen fünf. Ich war wohl kaum ein willkommener Gast, wie du dir vorstellen kannst, aber Urbgen zeigte sich von der liebenswürdigsten Seite, und Morgan hatte Angst vor den Folgen ihrer Tat und klammerte sich an mich. Sie glaubte wohl, daß Urbgen, solange ich da war, seine Wut nicht an ihr auslassen würde. Außerdem hat sie vermutlich gehofft, ich würde mich bei Artus für sie verwenden. Aber Morgause ...» Sie hob die Schultern, als sei ihr plötzlich kalt geworden. «Hast du sie gesehen?» «Kurz. Ich konnte, während sie da war, nicht bleiben. Ich verabschiedete mich und ließ sie in dem Glauben, daß ich nach Süden 506
abgereist sei, in Wirklichkeit aber blieb ich in Luguvallium. Ich entsandte meinen Pagen insgeheim zu Bagdemagus, und er suchte mich in meinem Quartier auf. Er ist ein guter Mann und verdankte dir das Leben seines Sohnes. Ich habe ihm nicht gesagt, daß ich glaubte, du seist noch am Leben. Ich erzählte ihm bloß, daß Morgause deine Feindin und dein Verderben gewesen sei und daß sich Morgan ebenfalls als Hexe und Feindin des Königs erwiesen habe. Ich bat ihn, über die beiden Erkundigungen einzuziehen und an mich zu berichten. Du kannst versichert sein, daß ich selbst bereits versucht hatte, von Morgause persönlich etwas zu erfahren, aber es war mir nicht gelungen. Ich konnte jetzt nur hoffen, daß die Schwestern miteinander reden würden und aus ihren Gesprächen etwas über das Gift in Erfahrung zu bringen wäre, das dir eingegeben worden war. Wenn mein Traum die Wahrheit widerspiegelte und du noch am Leben warst, konnte mir ein solches Wissen helfen, dich vielleicht doch noch zu retten. Wenn nicht, konnte ich wenigstens dem König weitere Beweise liefern und Morgau-ses Tod herbeiführen.» Sie hob die Hand an meine Wange. Dann fuhr sie mit ernstem Gesichtsausdruck fort: «Ich saß dort in meinem Quartier und wartete auf seine Rückkehr. Dabei wußte ich die ganze Zeit, daß du, allein in dem Grab, vielleicht im Sterben liegst. Ich versuchte, mit dir in Verbindung zu treten oder dich wenigstens zu sehen, aber jedesmal, wenn ich versuchte, dich und den Berg und die Grabhöhle zu erkennen, brach ein Lichtschein durch die Vision und schob sie beiseite; und dann schwamm in dem Lichtschein ein Gral herab, umwölkt wie ein Mond, der sich hinter Nebelschwaden verbirgt. Dann verschwand er wieder, und das Bewußtsein des schmerzlichen Verlustes durchbrach den Traum, bis ich zu Tode betrübt und weinend aufwachte-und dann der neue Traum erschien.» «Du warst also davor gewarnt? Mein armes Kind, einen solchen Schatz bewachen zu müssen . . . Hat Bagdemagus dir gesagt, daß Morgause beabsichtigte, den Schatz zu rauben?» «Was?» Sie sah mich verständnislos an. «Was meinst du damit? Was hatte Morgause mit dem Gral zu schaffen? Der Gott wäre tief 507
gekränkt gewesen, wenn sie auch nur einen Blick darauf geworfen hätte. Wieso hätte sie wissen können, wo er zu finden war?» «Ich weiß nicht. Aber sie nahm ihn mit. Das erfuhr ich von jemandem, der sie bei der Tat beobachtete.» «Dann hat man dir eine Lüge erzählt», sagte Nimue rundweg. «Ich selbst nahm ihn an mich.» «Du warst es also, die Macsens Schatz raubte?» «Allerdings.» Sie richtete sich auf. In ihren Augen leuchtete etwas Glitzerndes. Ihre grauen Augen blitzen im Widerschein des Feuers wie Katzenaugen oder die einer Hexe auf. «Du hat mir selbst gesagt, wo er vergraben lag; weißt du das nicht mehr? Oder warst du damals schon in deine eigene Nebelwelt entrückt, mein Lieber?» «Ich entsinne mich.» Sie sagte ruhig: «Du sagtest mir, die Zauberkraft sei eine schwere Last. Für mich war es das Schwerste, nach Segontium zu gehen, statt wieder gen Süden nach Bryn Myrddin zu reisen. Aber schließlich wußte ich, daß es meine Aufgabe war, so zu handeln. Ich nahm zwei meiner Bediensteten mit, Männer, denen ich vertrauen konnte, und fand den Ort. Er hatte sich verändert. Das Heiligtum war unter einem Erdrutsch begraben, aber ich bediente mich der Orientierungshilfen, die du mir gegeben hattest, und wir begannen zu graben. Es hätte vielleicht noch länger gedauert, aber wir bekamen Hilfe.» «Ein schmutziger, junger Schafhirte, der eine Haselrute über den Boden halten und dir sagen konnte, wo der Schatz vergraben war.» «Warum nehme ich mir dann die Mühe, dir meine Geschichte zu erzählen? Ja. Er kam und zeigte uns die Stelle, und wir gruben und nahmen den Kasten mit. Ich ging dann hinauf in die Festung, sprach mit dem Kommandanten und übernachtete dort. Ein Wachposten stand vor meiner Tür. Und während der Nacht, als ich im Bett lag und der Kasten darunter stand, überfielen mich wieder die Visionen. Ich wußte, daß du am Leben warst und daß du dich bald wieder beim König einfinden würdest. Deshalb bat ich am nächsten Morgen um eine Eskorte, die den Schatz nach Süden transportieren sollte, und machte mich auf den Weg nach Caerleon.» 508
«Und dadurch hast du mich um zwei Tage verpaßt», sagte ich. «Dich verpaßt? Wo?» fragte sie. «Glaubst du denn, ich hätte den Schafhirten ? Nein, ich war selbst dort.» Ich erzählte ihr dann kurz von meinem Aufenthalt in Segontium und meinem Besuch bei dem verschwundenen Schrein. «Als mir der Knabe von dir und deinen beiden Dienern erzählte, war ich töricht genug, anzunehmen, es sei Morgause gewesen. Er gab keine Beschreibung der Frau, außer daß sie ...» Ich hielt inne und sah sie unter hochgezogenen Augenbrauen an. «Er sagte, sie sei eine Königin gewesen und ihre Diener hätten königliche Abzeichen getragen. Deshalb nahm ich an. . .» Ich brach ab. Ihre Hand, in der die meinige lag, verkrampfte sich plötzlich. Das Lachen in ihren Augen erstarb; sie sah mich unverwandt, halb flehentlich, halb furchtsam, an. Man brauchte keine Sehergabe zu haben, um zu ahnen, worüber sie bisher geschwiegen hatte, oder warum es Artus und die anderen vermieden hatten, in meiner Gegenwart von ihr zu sprechen. Sie hatte sich nicht meine Macht angemaßt; auch hatte sie keine Hand im Spiel gehabt, als es darum ging, mich aus dem Weg zu räumen. Das einzige, was sie getan hatte, als der alte Zauberer dahingegangen war: sie hatte einen jungen Mann zu sich ins Bett genommen. Ich glaube, ich hatte diesen Augenblick seit langem erwartet. Ich lächelte und fragte: «Wer ist er- dein König?» Das Blut schoß ihr in die Wangen. Ich sah Tränen in ihren Augen. «Ich hätte es dir gleich sagen sollen. Die anderen behaupteten, sie hätten dir nichts erzählt. Merlin, ich habe es nicht gewagt.» «Mach nicht solch ein Gesicht, Liebes. Was wir gehabt haben, das haben wir gehabt. Man kann nicht zweimal vom selben Lebenselixier trinken. Wenn ich auch nur noch ein halber Zauberer gewesen wäre, hätte ich es seit langem wissen müssen. Wer ist es?» «Pelleas.» Ich kannte ihn. Er war ein junger Prinz, gutaussehend und freundlich; ihn umgab eine gewisse Fröhlichkeit, die ein gutes 509
Gegengewicht für die Traurigkeit bilden konnte, unter der sie manchmal litt. Ich sprach in hohen Tönen von ihm, und nach einer Weile beruhigte sie sich und fing an, mir von ihrer Hochzeit zu erzählen. Beim Zuhören hatte ich Zeit, die in ihr aufgetretenen Veränderungen zu bemerken. Meine sanfte Ninian war dahingegangen und hatte sich mit mir im Nebel verloren. Diese Nimue hatte etwas an sich, das vorher nicht dagewesen war; etwas Gewaltiges, Stilles - eine Art geschliffener Klarheit, wie die Schärfe eines Schwertes. Und aus ihrer Stimme klang das feine Echo tieferer Töne, die der Gott anschlägt, wenn er sich herabläßt, zu uns Sterblichen zu sprechen. Diese Attribute waren einstmals die meinigen gewesen. Ich hoffte um Pelleas' willen, daß er ein willensstarker, junger Mann war. «Ja», sagte Nimue, «das ist er.» Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Sie sah mich forschend an, dann legte sie den Kopf auf die Seite, und ihre Augen leuchteten wieder fröhlich. Wir lachten beide; dann streckte ich ihr die Arme entgegen. Sie kam auf mich zu und bot mir den Mund. Ich küßte sie, einmal leidenschaftlich und einmal zärtlich. 1O Weihnachten in Caerleon. Die Bilder stehen wieder vor mir auf: Sonne und Schnee und Fackellicht, die Jugend und das Lachen, Tapferkeit und Erfüllung - eine ganze Zeit kehrt aus der Vergessenheit zu mir zurück. Ich brauche nur die Augen zu schließen; nein, nicht einmal das; ich brauche nur ins Feuer zu blicken, und ich sehe sie vor mir, sie alle. Nimue bringt Pelleas mit, der mich mit Ehrerbietung behandelt und sie mit Liebe; er war ein König und ein Mann. «Sie gehört dem König», sagte er, «und dann mir. Und ich-ja, ist es bei mir nicht dasselbe? Ich gehöre ihm, bevor ich jemals ihr gehört habe. Wer von uns ist im Angesicht Gottes und des Hochkönigs je sein eigener Herr?» Bedwyr, der eines Abends am Flußufer zu mir trat; das Wasser floß schiefergrau und schwerfällig zwischen den winterlichen Ufern dahin. Eine Herde Schwäne suchte in dem Schlamm am Rande des Wassers 510
und im Schilf nach Nahrung. Es hatte zu schneien begonnen; die kleinen Schneeflocken schwammen wie Daunen durch die stille Luft. «Man hat mir gesagt, daß Ihr hierher gegangen seid», sagte Bedwyr. «Ich bin gekommen, um Euch zurückzuholen. Der König erwartet Euch. Wollt Ihr mitgehen? Es ist kalt und wird noch kälter werden.» Als wir uns auf den Weg machten, setzte er hinzu: «Es gibt etwas Neues über Morgause. Sie ist nach Lothian geschickt worden, in das Nonnenkloster bei Caer Eidyn. Tydwal wird dafür sorgen, daß sie dort bleibt. Und man redet davon, daß auch Königin Morgan dorthin geschickt werden wird. Man sagt, daß es König Urbgen schwer fällt, ihr zu verzeihen, weil sie versucht habe, ihn in ein verräterisches Komplott hineinzuziehen, und weil er sich fürchtet, daß der Makel, falls er sie bei sich behält, an ihm und seinen Söhnen haften bleiben wird. Außerdem war Accolon ihr Geliebter. Deshalb wird gemunkelt, daß Urbgen sie verstoßen will. Er hat Artus um dessen Genehmigung gebeten. Er wird diese bekommen. Ich glaube, Artus wird beruhigter in die Zukunft blicken, wenn seine beiden liebevollen Schwestern irgendwo eingesperrt sind, und dazu noch in weiter Ferne. Es war Nimues Vorschlag.» Er sah mich lachend von der Seite an. «Verzeiht mir, Merlin. Aber jetzt, da die Hauptfeinde des Hochkönigs Frauen sind, ist es vielleicht besser, daß er sie durch eine Frau in Schach halten läßt. Und wenn Ihr mich fragt - Ihr haltet Euch besser aus der ganzen Sache heraus ...» Guinevere saß an einem strahlenden Morgen an ihrem Webstuhl; draußen schien die Sonne auf den Schnee, und im Käfig sang ein Vogel neben ihr auf dem Fensterbrett. Sie ließ die Hände auf den farbenfrohen Fäden ruhen und wandte den Kopf, um unten, neben dem Burggraben, die Knaben beim Spiel zu beobachten. «Sie könnten meine eigenen Söhne sein», sagte sie. Aber ich sah, daß sie mit den Augen nicht die blonden Köpfe von Lots Kindern verfolgte, sondern nur den dunkelhaarigen Mordred, der etwas abseits von den anderen stand und ihnen zusah - nicht so, wie ein Ausgestoßener seine bevorzugten Brüder beobachten mochte, sondern wie ein Fürst, der auf seine Untertanen herabblickt. 511
Dann Mordred. Ich sprach nie mit ihm. Die Knaben befanden sich meistens im Kinderflügel des Palastes oder unter Aufsicht des Waffenmeisters oder ihrer Lehrer. Aber eines Nachmittags, an einem trüben Tag kurz vor Einbruch der Dunkelheit, traf ich ihn, als er neben einem Gartentor stand und auf jemanden zu warten schien. Ich blieb stehen und war unschlüssig, wie ich ihn begrüßen sollte und wie er den Feind seiner Mutter empfangen mochte; dann sah ich ihn den Kopf wenden und vortreten. Artus und Guinevere kamen gemeinsam durch die kahlen Rosenbüsche des Gartens geschritten. Es war zu weit für mich, als daß ich hätte hören können, was gesprochen wurde; aber ich sah die Königin lächeln und eine Hand ausstrecken, und der König schien freundlich und sagte etwas. Mordred antwortete ihm; dann ging er auf einen Wink von Artus zwischen beiden davon. Und schließlich Artus. Es geschah eines Abends im Privatgemach des Königs, als Nimue den Kasten hereinbrachte, um ihm den Schatz aus Segontium zu zeigen. Der Kasten lag auf dem großen Marmortisch, der einmal meinem Vater gehört hatte. Er war aus Metall und schwer; der Deckel hatte unter dem Gewicht des Gesteins gelitten, das auf ihn heruntergefallen war, als das Heiligtum zerstört wurde. Der König legte die Hände darauf. Einige Augenblik-ke leistete der Deckel Widerstand, dann plötzlich hob er sich so leicht wie ein Blatt im Wind. Darinnen lagen die Dinge, so wie ich sie in der Erinnerung hatte. Vermoderte Leinentücher, durch die hindurch eine Lanzenspitze schimmerte. Er zog sie heraus und prüfte mit dem Daumen die Schärfe - etwas ganz Natürliches. «Zur Verzierung, glaube ich», sagte er und rieb die Edelsteine der Einfassung mit der Hand ab. Dann legte er die Spitze beiseite. Als nächstes kam eine flache, goldene Schale, deren Rand mit Edelsteinen besetzt war, zum Vorschein. Und schließlich lag da in einem Haufen zu Staub zerfallener Leinentücher die Schüssel. Es war eine Art von Schüssel, die man manchmal auch Kessel nennt; es war ein nach griechischer Art geformtes, weites und tiefes Gefäß. Es war aus Gold und schien nach der Art, wie er es handhabte, 512
sehr schwer zu sein. Es trug Ziselierungen an der Außenseite und am Fuß. Die beiden Henkel glichen Vogelschwingen. Auf einem Rundband waren Smaragde und Saphire angebracht. Er hielt mir den Gral mit beiden Händen entgegen. «Nimm ihn und sieh ihn dir an. Er ist der kostbarste Gegenstand, den ich je gesehen habe.» Ich schüttelte den Kopf. «Es steht mir nicht an, ihn zu berühren.» «Auch mir nicht», sagte Nimue. Er betrachtete ihn noch eine Weile und legte ihn dann mit der Lanze und der Schale wieder in den Kasten zurück. «Und du willst mir nicht einmal sagen, wo ich eine solche Pracht aufbewahren oder was ich mit dem Gral tun soll?» Nimue sah mich an und schwieg. Als ich sprach, klang es wie ein sanftes Echo dessen, was ich schon vor langer Zeit einmal gesagt hatte. «Es steht auch dir nicht an, Artus. Du brauchst ihn nicht. Du selbst wirst der Gral für dein Volk sein, und die Menschen werden aus dir trinken und befriedigt sein. Du wirst sie nie im Stich lassen. Du brauchst den Gral nicht. Überlaß ihn denjenigen, die nach dir kommen werden.» «Da er also weder mir noch dir gehört», sagte Artus, «muß Nimue ihn übernehmen und ihn mit ihrem Zauber dergestalt verbergen, daß ihn niemand finden kann, außer denjenigen, denen er gebührt.» «Niemand wird ihn finden», sagte sie und schloß den Deckel. *** Danach zog ein neues Jahr herauf, und der nächste Frühling kündigte sich an. Ich kehrte Ende April heim; die Winde wurden wärmer, und die jungen Lämmer blökten an den Berghängen. Weidenkätzchen schimmerten gelb im Dik-kicht. Die Höhle war wieder sauber und warm, ein Ort, wo man leben konnte. Der Vorrat an Nahrungsmitteln war ergänzt worden, und außerdem gab es frisches Brot, einen Krug mit Milch und einen anderen mit Honig. Draußen, neben der Quelle, waren Opfergaben von dem Volk, das ich kannte, niedergelegt worden; außerdem hatte man meine ganze Habe, einschließlich meiner Bücher und Arzneien, 513
meiner Instrumente und der großen Harfe, von Applegarth herübergebracht. Meine Rückkehr ins Leben vollzog sich leichter, als ich erwartet hatte. Anscheinend wurde meine Rückkehr aus dem Totenreich von den einfachen Leuten, auch in den entferntesten Winkeln des Reiches, nicht als schlichte Wahrheit, sondern als eine Sage akzeptiert. Der Merlin, den sie gekannt und gefürchtet hatten, war tot; ein anderer Merlin lebte in der «heiligen Höhle» weiter und vollführte seine kleineren Zaubertricks, aber er war gewissermaßen nur ein Abglanz des Zauberers, den sie gekannt hatten. Vielleicht glaubten sie auch, daß ich, wie so viele Scharlatane der Vergangenheit, irgendein kleiner Magier sei, der sich lediglich Merlins Ruf und Wohnort zu eigen gemacht hatte. Bei Hofe, in den Ortschaften und den Großstädten der Welt wandten sich jetzt die Menschen an Nimue, wenn sie Hilfe brauchten. Zu mir kam die einheimische Bevölkerung nur, um sich ihre Verletzungen und Wehwehchen behandeln zu lassen; Ban, der Schafhirte, brachte mir seine kranken Lämmer, und die Kinder aus dem Dorf schleppten ihre Lieblingshündchen an. So verging das Jahr - ohne besondere Vorkommnisse, so daß es mir wie ein einziger Abend eines ruhigen Tages erschien. Die Tage waren vergoldet, geruhsam und voller Süße. Es gab keinen Anruf der Macht, keine wilden Stürme, keinen Schmerz im Herzen. Die gewaltigen Ereignisse im Königreich schienen mich nicht mehr zu beunruhigen. Ich hungerte nicht nach Neuigkeiten, denn wenn es solche gab, überbrachte sie mir der König selbst. So wie damals der junge Artus im Wild Forest zu mir gerannt war und mir alle seine Taten lebhaft erzählt hatte, so unterbreitete mir der Hochkönig von Britannien jetzt alle seine Entschlüsse, seine Probleme und seine Sorgen; im Feuerschein auf dem Höhlenboden setzte er mir seine Gedanken auseinander und sprach mit mir. Wie ich ihm helfen konnte, weiß ich nicht; aber jedesmal, wenn er wieder gegangen war, saß ich erschöpft und stumm allein in der Stille vollkommener Zufriedenheit da. Der Gott, der wirklich Gott war, hatte seinen Diener in der Tat entlassen und ließ ihn in Frieden dahingehen. 514
*** Eines Tages zog ich die kleine Harfe zu mir heran und begann, einem Lied, das ich vor vielen Jahren gesungen hatte, einige neue Strophen hinzuzufügen. Leg dich zur Ruhe, Zauberer, während das Feuer erstirbt. Kaum daß sich dein Augenlid senkt, Wirst du sie sehen, die Träume; Das Schwert und den König, Den Schimmel und das rinnende Wasser, Die brennende Lampe und den Knaben, Der da lächelt. Träume, Träume, Zauberer! Vergangen Mit dem Widerklang der Harfe, wenn die Saiten Verstummen; mit dem Schatten der Flamme, wenn das Feuer Erstirbt. Sei still und lausche. Fern in dunkler Nacht Weht der gewaltige Wind, steigt Die Flut, fließt das klare Wasser des Flusses dahin. Lausche, Zauberer, und höre Durch die dunkle Nacht das Lied Der Musik. . Ich mußte den Gesang hier unterbrechen, weil eine Saite riß. Artus hatte versprochen, neue mitzubringen, wenn er das nächste Mal zu mir kam. *** Gestern kam er wieder. Er sei nach Caerleon gerufen worden, sagte er; deshalb habe er, nur auf ein Stündchen, den Ritt zu mir hinauf unternommen. Als ich ihn fragte, was er in Caerleon zu tun gehabt habe, schob er die Frage beiseite, so daß ich mich schon fragte - dann aber den Gedanken als absurd abtat -, ob er die Reise nur deshalb unternommen habe, um mich zu besuchen. Er brachte Geschenke mit er kam nie mit leeren Händen - und zwar Wein, einen Korb mit 515
zubereitetem Fleisch aus seiner eigenen Küche, die versprochenen Harfensaiten und eine Decke aus weicher Wolle, die, wie er mir sagte, von den Kammerfrauen der Königin gewebt worden sei. Er trug die Sachen wie ein Diener selbst herein und legte sie für mich in den Vorratsraum. Er machte einen aufgeräumten Eindruck. Er erzählte mir von einem jungen Mann, der vor kurzem auf den Hof gekommen sei er schilderte ihn als edlen Kämpfer, der ein Vetter des March of Cornwall sei. Dann sprach er von einem Zusammentreffen, das er mit dem sächsischen «König», Eosas Nachfolger Cerdic, plane. Wir unterhielten uns, bis die Dunkelheit hereinbrach und seine Eskorte das Tal mit Geklirr heraufkam, um ihn abzuholen. Dann erhob er sich und neigte sich herab, um mich zu küssen, wie er es beim Abschied seit einiger Zeit zu tun pflegte. Gewöhnlich hieß er mich beim Feuer zu bleiben, während er in die Nacht hinausritt, aber diesmal stand ich auf, folgte ihm bis zum Höhleneingang und sah ihm nach. Der Lichtschein war hinter mir. Mein Schatten erstreckte sich schmal und lang über den kleinen Rasen und bis zu dem Dornengebüsch, wo die Eskorte unterhalb des Felsens auf ihn wartete. Es war schon fast Nacht, aber drüben hinter Maridunum im Westen zeugte ein schmaler Lichtschein noch von der untergehenden Sonne. Er warf einen hellen Schimmer auf den Fluß, der um die Palastmauer herumführte, wo ich geboren war, und ließ das Meer in der Ferne aufblitzen. Dicht neben der Höhle waren die Bäume kahl und der Boden durch den ersten Frost hartgefroren. Artus schritt über das Gras davon und hinterließ geisterhafte Abdrücke auf dem Reif. Er gelangte zu der Stelle, wo der Pfad zu dem Gehölz hinunterführte, und drehte sich halb um. Ich sah ihn eine Hand heben. «Warte auf mich.» Es war derselbe Abschiedsgruß wie immer. «Warte auf mich. Ich komme wieder.» Und wie immer, gab ich ihm die gleiche Antwort. «Was habe ich sonst zu tun, als auf dich zu warten? Ich werde hier sein, wenn du wiederkommst.« Das Geräusch der Pferdehufe schwand dahin. Die Stille des Winters kehrte wieder in das Tal ein. Die Dunkelheit senkte sich herab. 516
Ein Nachthauch glitt, wie ein Seufzer, durch die vom Frost befallenen Bäume. Danach war, beinahe geisterhaft, ein leises Geläut in der Luft zu hören. Ich hob den Kopf und erinnerte mich des Kindes, das jede Nacht auf die Sphärenmusik gelauscht, sie aber nie gehört hatte. Jetzt war sie da und umgab mich von allen Seiten; es war eine süße, wesenlose Musik, als ob der Berg zur Harfe für die Lüfte geworden war. Die Dunkelheit brach herein. Hinter mir verglühte das Feuer, und mein Schatten verschwand. Aber ich blieb noch lauschend stehen und empfand eine tiefe Befriedigung. Der Schimmer auf dem Meer in der Ferne zog hin und her, Licht folgte auf Schatten - wie der langsame Bogen eines Schwertes, das in seine Scheide zurückgleitet, oder wie eine Barke, die unter Segel über die Gewässer dahinzieht. Es war jetzt ganz dunkel. Und still. Ein kühler Lufthauch wehte über meine Haut wie die kalte Berührung eines Kristalls. Ich trat aus dem Dunkel in den Feuerschein zurück und begab mich zu dem Sessel, auf dem er gesessen hatte, und zu meiner verstummten Harfe. DIE SAGE Als König Uther Pendragon im Sterben lag, trat Merlin angesichts aller Lords zu ihm und ließ ihn seinen Sohn Artus als neuen König anerkennen. Nachdem er dies getan hatte, starb er und wurde neben seinem Bruder Aurelius Ambrosius im Bezirk von Stone Henge begraben. Dann ließ Merlin.ein großes Schwert schmieden; er fügte es mit seiner Zauberkraft in einen großen Stein ein, der wie ein Altar geformt war. In goldenen Lettern stand auf dem Schwert geschrieben: «Wer dieses Schwert aus diesem Stein herauszieht, ist rechtens der König von ganz England.» Als schließlich jedermann sah, daß nur Artus das Schwert aus dem Stein herausziehen konnte, riefen die Leute laut: «Wir wollen Artus als unseren König, denn wir alle haben gesehen, daß es Gottes Wille ist, daß er unser König sei, und jeden, der dagegen ist, werden wir erschlagen.» So wurde Artus von allen, hoch und niedrig, zum König ausgerufen. Bei seiner Krönung machte er Sir 517
Kay zum Seneschall von England und Sir Ulfins zu seinem Großkämmerer. Danach kamen viele Jahre, die von Kriegen und Schlachten erfüllt waren, aber dann erschien Merlin auf einem großen Rappen und sprach zu Artus: «Hast du noch nicht genug getan? Es ist Zeit, die Waffen niederzulegen. Deshalb begebe dich in dein Haus und bleibe dort und entlohne deine Ritter mit Gold und mit Silber, denn sie haben es verdient.» «Du hast gut gesprochen», sagte Artus, «und so, wie du es willst, wird es geschehen.» Dann verabschiedete sich Merlin von Artus und reiste zu seinem Meister Blaise, der in Northumberland lebte. So schrieb Blaise den Hergang der Schlachten Wort für Wort nieder, wie Merlin es ihm erzählte. Dann sagte König Artus eines Tages zu Merlin: «Meine Edlen gönnen mir keine Ruhe, aber ich muß mir eine Frau zum Weibe nehmen.» «Du tust gut daran», sagte Merlin, «dir ein Weib zu nehmen. Gibt es eine Frau, die dir lieber ist als alle anderen ?» «Ja», sagte König Artus, «ich liebe Guinevere, die Tochter des Königs Leodegrance von Cameliard, in dessen Haus der Runde Tisch steht, den er von meinem Vater Uther hat.» Dann wies Merlin den König darauf hin, daß es für ihn nicht ratsam sei, Guinevere zum Weibe zu nehmen, denn Lancelot liebe sie ebenso wie sie ihn. Trotzdem beschloß der König, Guinevere zu heiraten, und entsandte Sir Lancelot, den Anführer seiner Ritter und seinen vertrauten Freund, um sie aus ihrer Heimat herzuführen. Bei dieser Reise erfüllte sich Merlins Prophezeiung: Lancelot und Guinevere begegneten sich in Liebe. Aber ihre Liebe schien aussichtslos, und zu gegebener Zeit wurde Guinevere mit dem König vermählt. Ihr Vater, König Leodegrance, schickte Artus den Runden Tisch als Hochzeitsgeschenk. Inzwischen hatte Artus' Halbschwester Morgause ihren unehelichen Sohn vom König zur Welt gebracht. Sein Name war Mordred. Merlin 518
hatte prophezeit, daß durch dieses Kind für Artus und sein Reich große Gefahren entstehen würden; als der König von der Geburt hörte, ließ er deshalb alle um den ersten Mai geborenen Kinder auf ein Schiff bringen und dieses ins Meer hinaustreiben. Einige waren vier Wochen alt, andere noch jünger. Durch Zufall trieb das Schiff gegen einen Felsen, auf dem eine Burg stand. Das Schiff ging unter, und alle Insassen kamen um mit Ausnahme von Mordred, der von einem gutherzigen Mann gefunden und aufgezogen wurde, bis er vierzehn Jahre alt war; dann wurde er zum König gebracht. Kurz nach der Hochzeit von Artus und Guinevere mußte der König den Hof verlassen, und in seiner Abwesenheit entführte König Meleagant (Melwas) die Königin in sein Reich, von dem es, wie die Leute sagten, keine Rückkehr gibt. Der einzige Zugang zu ihrem von einem Wassergraben umgebenen Gefängnis waren zwei sehr gefährliche Wege. Der eine hieß «die Wasserbrücke», weil die schmale und unsichtbare Brücke unter der Wasseroberfläche lag. Die andere Brücke war noch gefahrvoller und war noch nie von einem Menschen benutzt worden, denn sie war aus einem scharfen Schwert hergestellt worden. Niemand außer Lancelot wagte, ihr zu folgen; er suchte sich den Weg durch unbekanntes Gelände, bis er in die Nähe von Meleagants Jagdhütte kam, die für die Königin erbaut worden war. Dann überquerte er die Schwertbrücke, was ihm schwere Verletzungen eintrug, aber er rettete die Königin, und später tötete er Meleagant in einem Zweikampf vor den Augen von König Artus und dem Hofstaat. Dann geschah es, daß sich Merlin in eines der Edelfräulein des Sees verliebte; ihr Name war Nimue, und Merlin ließ sie nicht in Ruhe, sondern war ständig in ihrer Nähe. Er warnte König Artus, daß er nicht mehr lange auf Erden wandeln, sondern trotz seiner Kunst lebendig begraben werden würde, und er warnte ihn ebenfalls, ein Auge auf sein Schwert mit der Scheide zu halten, denn es würde ihm von einer Frau, der er am meisten vertraute, geraubt werden. «Ach», sagte der König, «wenn du schon weißt, was geschieht, warum bringst du es dann nicht durch deine Zauberkraft in Sicherheit und verhinderst den Raub?» 519
«Das kann nicht sein», sagte Merlin. «Es ist vorherbestimmt, daß du eines würdigen Todes und ich eines schändlichen Todes sterben werde.» Dann verließ er den König. Kurz danach reiste Nimue, das Edelfräulein vom See ab, und Merlin wich nicht von ihrer Seite. Sie fuhren über See in das Land von Benwick in der Bretagne, wo König Ban regierte und Elaine, seine Gemahlin, den jungen Galahad bei sich hatte. Merlin prophezeite, daß Galahad eines Tages der verehrungswürdigste Mann auf der Welt sein würde. Danach fuhren Nimue und Merlin aus Benwick wieder ab und kamen nach Cornwall. Und das Edelfräulein fürchtete sich vor ihm, weil er der Sohn eines Teufels sei und sie nicht wußte, wie sie ihn loswerden konnte. Dann geschah es, daß Merlin ihr eine Felsenhöhle zeigte, die mit einem großen Stein versiegelt werden konnte. Durch eine feine Intrige veranlagte sie Merlin, unter jenen Stein zu treten, damit er ihr den Zauber zeigte, der dort hauste. Und dann verzauberte sie ihn so, daß er nicht wieder herauskommen konnte. Und sie ging fort und ließ ihn dort in der Höhle zurück. Und dann begab sich ein Ritter, ein Vetter des Königs namens Bagdemagus, auf einen Ritt, um den Zweig eines bestimmten Heilkrauts zu finden. Zufällig ritt er an dem Felsen vorbei, wo das Edelfräulein vom See Merlin unter dem Stein zurückgelassen hatte, und dort hörte er Merlin wehklagen. Sir Bagdemagus wollte ihm beistehen, als er aber hinging, um den Stein zu heben, war dieser so schwer, daß auch hundert Männer ihn nicht hätten bewegen können. Als Merlin wußte, daß Bagdemagus da war, sagte er ihm, er könne sich die Mühe sparen, denn es sei alles vergeblich. So entfernte sich Bagdemagus wieder und lieft Merlin allein zurück. Inzwischen war geschehen, was Merlin vorausgesagt hatte. Artus' Schwester Morgan le Fey hatte das Schwert Excalibur geraubt. Sie übergab es Sir Accolon, damit dieser es in einem Zweikampf mit dem König benutze. Und als sich der König für den Kampf rüstete, erschien eine Jungfrau von Morgan le Fey und überbrachte Artus ein Schwert, das wie Excalibur aussah, und er dankte ihr. Aber sie war falsch, denn das Schwert und die Scheide waren Nachahmungen und brüchig. Es kam also zum Kampf zwischen König Artus und Accolon. 520
Das Edelfräulein vom See kam zu diesem Zweikampf, denn sie wußte, daß Morgan le Fey dem König übel wollte, und sie wollte ihn retten. König Artus' Schwert zerbrach in seiner Hand, und nur nach einem schweren Kampf konnte er Sir Accolon sein eigenes Schwert Excalibur abnehmen und diesen besiegen. Dann gestand Accolon den Verrat, den Morgan le Fey, König Uriens Gemahlin, begangen hatte, und der König begnadigte ihn. Und danach wurde die Hüterin des Schreins die Freundin und Hüterin des Königs Artus, an Merlins, des Zauberers, statt.
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Anmerkung Nach der Sage, deren Hauptquelle Malorys <Morte d'Arthur> ist, wandelte Merlin nach Artus' Krönung nur noch eine kurze Zeit über der Erde. Die Zeitspanne der Schlachten und Turniere, die auf Artus' Krönung folgte, stellt mit Sicherheit die tatsächlichen Auseinandersetzungen dar, die von dem historischen Artus ausgefochten wurden. Von dem wirklichen Führer in der Schlacht, von Artus dem Krieger (dux bellorum), wissen wir nur, daß er zwölf bedeutende Schlachten gewann, bevor er Britannien vor den sächsischen Feinden gesichert hatte, und daß er schließlich, und Mordred mit ihm, in der Schlacht von Camlann fiel. Die oft zitierte Schilderung der zwölf Schlachten steht in der Historia Brit-tonum, die der walisischen Mönch Nennius im neunten Jahrhundert verfaßt hat. «Dann focht Artus gegen sie, und die britischen Könige mit ihm, aber er selbst war der Anführer in der Schlacht. Die erste Schlacht fand an der Mündung des Flusses statt, der Glein genannt wird. Die zweite, dritte, vierte und fünfte bei einem anderen Fluß, der Dubglas heißt und im Gebiet von Linnuis liegt. Die sechste Schlacht wurde an dem Fluß mit Namen Bassas ausgetragen. Die siebente Schlacht fand im Wald von Celidon statt, der jetzt Cat coit Celidon genannt wird. Die achte war die Schlacht von Castellum Guinnion, in der Artus das Bild der Jungfrau Maria auf seinen Schultern trug, und die Heiden wurden an jenem Tage in die Flucht geschlagen, und viele von ihnen wurden erschlagen durch die Kraft unseres Herrn Jesus Christus und durch die Kraft der heiligen Maria, seiner Mutter. Die neunte Schlacht fand bei der Stadt der Legionen statt. Die zehnte Schlacht focht er an dem Fluß, der Tribuit genannt wird, durch. Die elfte geschah an dem Berg mit Namen Agned. Die zwölfte war die Schlacht am Mount Badon, in der an einem einzigen Tage 960 Männer fielen, und alle allein von seiner Hand. Und in allen diesen Schlachten blieb er Sieger.» Nur zwei dieser Schlachten lassen sich mit einiger Sicherheit örtlich festlegen; die im Kaledonischen Forst - dem Alten Kaledonischen Forst, der sich von Strathclyde bis in den heutigen Lake District erstreckte - und die bei der Stadt der Legionen, bei der es sich 522
entweder um ehester oder um Caerleon gehandelt haben kann. Ich habe mich mit der Verwendung von Nennius' eigenen Ortsbezeichnungen zufriedengegeben und nur noch einen anderen Ort, den der Schlacht am River Tribuit, identifiziert. Hier handelt es sich angeblich um einen frühen Namen des River Ribble. Dort gibt es eine Stelle, wo die alte Römerstraße den Ribble überquert und auf den Aire Gap (den «Pennine Gap») zuführt. Dieser Punkt heißt Nappa oder Nappay-Furt, und nach der einheimischen Überlieferung hat dort eine Schlacht stattgefunden. Das in der Nähe gelegene Lager, dem ich den Namen «Tribuit» gegeben habe, befand sich bei Long Pre-ston; die beiden anderen auf der Paßstraße waren natürlich Elslack und Ilkley. Ich folgte der Überlieferung auch in soweit, als Artus bei High Rochester (Bremenium) kämpfte. Abgesehen von diesen beiden Schlachtorten habe ich keine weiteren in die Karte aufgenommen. Blaise. Laut Malory zeichnete Blaise Artus' Schlachten «Wort für Wort» auf, aber seine Chronik ist, wenn sie je bestanden hat, völlig verschwunden. Ich habe mir die Freiheit genommen, einen Bösewicht in der Gestalt von Gildas, dem jungen Sohn des Caw von Strathclyde und Bruder von Heuil, einzuführen. Sie sind historisch belegte Persönlichkeiten. Wie wir wissen, haben sich Artus und Heuil gehaßt. Gildas, der Mönch, schrieb etwa im Jahr 540 n. Chr. von dem Sieg am «Mount Badon», ohne jedoch Artus namentlich zu erwähnen. Diesen Umstand hat man als ein Anzeichen dafür ausgelegt, daß man Artus' Haltung mißbilligt hat, weil er sich nicht als Freund der Kirche erwiesen habe. Merlins Krankheit. Die Episode im Wild Forest ist der Schilderung von Merlins Wahnsinn entnommen, wie sie in der < Vita NMerlini>, einem lateinischen Gedicht aus dem zwölften Jahrhundert, das gewöhnlich Geoffrey of Monmouth zugeschrieben wird, zum Ausdruck kommt. Diese Darstellung ist zum Teil eine Nacherzählung der älteren keltischen «Lailoken»-Sage über den Wahnsinnigen, der den kaledonischen Forst durchstreifte. Merlin-Lailoken war Zeuge der Schlacht von Arfderydd (dem heutigen Arthuret bei Carlisle), wo sein Freund, der König, fiel. Aus Kummer wahnsinnig geworden, floh er in den Wald, wo er unter kümmerlichen Umständen sein Leben fristete. 523
Es gibt zwei Gedichte im , die ihm zugeschrieben werden. In dem einen beschreibt er den Apfelbaum, der ihm im Wald Schutz bietet und ihn ernährt; im anderen schildert er das kleine Ferkel, das sein einziger Gefährte war. Guenever und Guinevere. Nach der Überlieferung hatte Artus zwei Frauen desselben Namens, oder sogar drei - obwohl diese Zahl vielleicht nur deshalb gewählt wurde, weil sie der damaligen romantischen Vorstellung entsprach. Der Raub der Guinevere durch Melwas (oder Meleagant) erscheint in der mittelalterlichen Romanze von Chretien de Troyes. In Chretiens Darstellung muß Lancelot eine Schwertbrücke überqueren, die zu einer geheimnisvollen Berghöhle führt - eine Version, die wir auch in den antiken Überlieferungen von Pluto und Persephone oder Orpheus und Eury-dike wiederfinden. Nach der mittelalterlichen Sage wurde Guinevere mehrmals entführt und jedes Mal von Lancelot gerettet. Die Sänger des Mittelalters fanden in «König Artus und seinem Hof» eine reiche Quelle für allerlei Märchenerzählungen, und bald rankte sich eine Fülle von Darstellungen um die Hauptfiguren. In der Sage tritt Artus allmählich in den Hintergrund, und verschiedene neue «Heldengestalten» nehmen den Mittelpunkt der Bühne ein: Lancelot, Tristan, Gawain, Gereint. Lancelot wird erst einige Jahrhunderte später erfunden, um die Rolle des Liebhabers der Königin zu übernehmen, die für die Minnesänger des Mittelalters so wesentlich war. Aber man ist versucht zu glauben, daß die erste der «Entführungsgeschichten», die Entführung der Königin durch Melwas, auf Tatsachen beruhte. Melwas hat gewiß existiert, und Ausgrabungen haben Burgen jener Zeit bei Glastonbury Tor zu Tage gefördert. In meiner Erzählung übernimmt Bedwyr - dessen Name mit Artus, lange bevor das Wort «Lancelot» überhaupt erscheint, in Verbindung stand - die Rolle des Lancelot. In der Charakterdarstellung der Guinevere habe ich mich von Chaucers Version der «falschen» Criseyde beeinflussen lassen. 524
Nimue (Niniane, Vivien). Es besteht keinerlei Notwendigkeit, dieselbe Art von «Falschheit» auch Merlins Geliebter Nimue zuzuschreiben. Das Thema «Verrat» dieser Sage entstammt dem Bedürfnis, den Tod oder das Verschwinden eines allmächtigen Zauberers zu erklären. Meine Version von Merlins Ende basiert auf einer Überlieferung, die auch heute noch in Teilen des «Summer Country» lebendig ist. Ich habe vor vielen Jahren durch einen Korrespondenten aus Wilt-shire davon gehört. Diese Version läuft darauf hinaus, daß Merlin in zunehmendem Alter wünschte, seine magischen Kräfte an jemanden weiterzugeben, der nach seinem Tod Artus' Ratgeber sein könnte. Zu diesem Zweck erwählte er seine Schülerin Nimue, die sich als Adeptin erwies. Diese Darstellung hat viel für sich und erklärt auch Nimues späteren Einfluß auf Artus. Der König hätte sie sonst nicht in seiner Nähe geduldet oder ihre Hilfe gegen seine Feinde akzeptiert. Ninian. Die Episode mit dem «Knaben Ninian» geht auf ein Ereignis in der zurück. Hier sieht Merlin einen Jüngling, der sich Schuhe und Lederstreifen kauft, um diese Schuhe zu verstärken. Merlin weiß, daß der Junge keine neuen Schuhe braucht, da er noch am selben Tag ertrinken wird. Cerdic Elesing. In der angelsächsischen Chronik steht verzeichnet, daß Cerdic und sein Sohn Cynric mit fünf Schiffen bei Cerdices-ora an Land gingen. Cerdic war Elesing (Sohn von Elesa oder Eosa). Das angegebene Datum ist 494 A.D. Welche Zweifel man auch haben mag über die Daten von Cerdics Gefechten oder den Orten seiner ersten Eroberungen (Cerdices-ora gilt heute als Netley, nahe Southampton), alle Chronisten sind sich einig, daß er der Begründer der ersten westsächsischen Monarchie war, aus der Alfred seine Abstammung herleitete. Zum Thema Cerdic und dem Wandel in den Begräbnissitten, die Gereomt auf Seite 127 erwähnt, vgl. , Bd. i, Teil VI. Llud-Nuatha oder Nodens. Das Heiligtum des Nodens ist auch jetzt noch bei Lydney in Gloucestershire zu sehen. Merlins Gesang: «Wer allein auf der Welt ist» beruht auf dem angelsächsischen Gedicht «Der Wanderer». 525
Für viele Lücken in meinem Wissen über dieses gewaltige Thema kann ich nur um Nachsicht bitten und mit H.M. und N.K. Chadwick im Vorwort zu ihrer Englischen Literaturgeschichte sagen: «Wenn ich mehr gelesen hätte, würde ich dieses Buch nie vollendet haben.» Mehr noch: Wenn ich auch nur gewußt hätte, wie viel es zu lesen gibt, hätte ich nie gewagt, mit dem Schreiben auch nur zu beginnen. Ich kann auch nicht alle Quellen anführen, aus denen ich geschöpft habe. Aber ich kann in aller Bescheidenheit hoffen, daß meine Merlin-Trilogie für einen anderen vielleicht ein neuer Beginn sein mag. Mary Stewart, Edinburgh 1975-1979
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