Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 83
Chad Oliver
Menschheitsdämmerung Von New Mexico ins Land der Neandertaler Dr...
23 downloads
384 Views
813KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 83
Chad Oliver
Menschheitsdämmerung Von New Mexico ins Land der Neandertaler Dr. Robert Nye, Wissenschaftler des Raketentestgeländes White Sands in New Mexico, hat in jahrelanger privater Arbeit eine Raum-Zeit-Maschine erschaffen. Doch als es darum geht, das Gerät zu inspizieren, passiert Unvorhersehbares: Die Maschine wird aktiviert, und Mark, der Neffe des Wissen schaftlers, wird aus dem Heute in eine entfernte Vergangenheit geschleudert. Der junge Mann erreicht ein eiszeitliches Land, in dem Neandertaler und Cromagnonmenschen um die Vor herrschaft kämpfen, und wird in die Konflikte mit einbezogen. Mark sieht sich gezwungen zu töten, wenn er überleben und den Weg zurück ins 20. Jahrhundert finden will.
Chad Oliver
Menschheits
dämmerung
Scan by Tigerliebe K&L: tigger Freeware ebook, Oktober 2003
VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT
Titel des Originals: MISTS OF DAWN Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
UTOPIA-CLASSICS-Taschenbuch Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1952, by Chad Oliver Copyright © 1985 by Verlag Arthur Moewig GmbH Erstmals als Taschenbuch Titelbild: David B. Mattingly Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany November 1985 ISBN 3-8118-5029-6
1. Rückwärts in der Zeit Die langen schwarzen Schatten des Abends in New Mexico krochen über den Talboden und flochten ein Muster aus Licht und Dunkelheit. Die Sonne versank hinter den bewaldeten Bergen um das Tal, und unter ihren letzten Strahlen flammten die sich zusammenballenden Gewitterwolken auf. Zwei Männer folgten der staubigen Straße durch das Tal. Beim Anblick der drohenden Regenwolken beschleunigten sie den Schritt. Einer der beiden war mittleren Alters mit viel zu früh ergrautem, ja fast weißem Haar, doch von strammer Gestalt und in guter Verfassung. Der andere war jünger: ein großer, sportlicher Bursche von siebzehn. Trotz des Altersun terschieds konnte einem aufmerksamen Auge die verwandt schaftsbedingte Ähnlichkeit nicht entgehen. Auch der ähnliche Ausdruck ihrer sonnengebräunten Gesichter, vor allem aber der ihre große Intelligenz verratenden, scharfen braunen Augen sprach beredter als Worte von ihrer Verbundenheit und Freundschaft. Vor ihnen tollte ein junger Cockerspaniel hin und her und stürzte sich immer wieder auf eingebildete Feinde. Er bellte voll Eifer und wedelte selbstzufrieden mit dem Stummel schwanz. Mark Nye deutete lächelnd auf den Hund. »Du mußt Fang mit Atomkraft angereichertes Futter gegeben haben«, sagte er zu seinem Onkel. »Wenn wir nicht bald was tun, wird er die ganze Straße aufscharren.« Dr. Robert Nye holte eine arg mitgenommene Pfeife aus seiner Hosentasche und stopfte sie mit Tabak aus einer Dose, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. »Fang ist ein sehr lebhafter Hund und versucht, seinem Namen Ehre zu machen.« Wie zur Bestätigung der Worte seines Herrn griff Fang wild ein Grasbüschel an und kläffte, als wollte er die ganze Welt herausfordern. In den Bergen wetterleuchtete es bereits, und 5
ferner Donner grollte. Die Luft roch leicht nach Regen und eine kühle Brise strich seufzend durch das Tal. Plötzlich tauchten zwei dunkle Gestalten auf der Straße auf. Nach einem schnellen Blick auf sie gab Fang offenbar seine Absicht auf, ein großer Kämpfer zu werden. Er raste zu Mark zurück, und erst als er sich bei ihm sicher fühlte, begann er zu knurren. Die beiden dunklen Gestalten erwiesen sich beim Näher kommen als Indianer. Sie waren von mittlerer Größe, hatten glattes schwarzes Haar, dunkle Augen und trugen beide verwa schene Jeans und Baumwollhemden. Mark erkannte einen und winkte ihm grüßend zu. »Hallo, Tino«, rief er. »Sieht ganz so aus, als würden wir gleich naß werden.« Tino blieb stehen. »Ja, kann nicht mehr lange dauern. Wie geht es dir denn, Mark?« »Gut, danke – ich fürchte bloß, ihr habt Fang halb zu Tode erschreckt.« »Er weiß eben, wie gefährlich Indianer sind.« Dr. Nye und Mark lachten. Die beiden Apachen gingen wei ter zum nahen Mescalero-Reservat. Inzwischen war es fast dunkel geworden, und die Regenwolken trieben näher herbei. »Mit den beiden ging eine stolze Geschichte an uns vorbei«, sagte Mark nachdenklich. Dr. Nye sog an seiner Pfeife und nickte bestätigend. »Ja, Tino stammt von dem berühmtesten Apachen überhaupt ab: von Geronimo.« »Vor hundert Jahren wären wir nicht so einfach an ihnen vorbeispaziert.« Mark lächelte. »Da wäre uns auch Fang keine große Hilfe gewesen.« »Die Indianer waren alt, als Rom noch jung war«, sagte Dr. Nye bedächtig, während die Straße allmählich anstieg. »Hier in diesem Land gab es bereits Indianer, als unsere Vorfahren in Europa noch in Höhlen hausten.« 6
Als Rom noch jung war! Marks Herz schlug schneller, denn dieser Satz beflügelte seine Phantasie. Aus den Augenwinkeln blickte er auf seinen Onkel neben sich. Er dachte an dessen ungewöhnlichen Traum, ein Traum, den er nur mit ihm, seinem Neffen, teilte. Würde er sich je erfüllen? Könnten sie die Vergangenheit sehen? Rom! Das Römische Reich! Herrliche Visionen schoben sich Vor Marks inneres Auge – Visionen, die durch das Geheimnis, das er mit seinem Onkel teilte, noch bunter, noch lebendiger wurden. Rom zur Zeit der Cäsaren: eine mächtige Stadt, die Nabe eines gewaltigen Reiches, dessen Ruhm in den Seiten der Geschichte weiterlebte. Rom mit seinen sieben Hügeln, den zahlreichen Tempeln, seiner Kunst und Literatur, seinen blutigen Spielen im riesigen Kolosseum. Rom, mit den großen Männern der Geschichte, die unter der warmen italienischen Sonne durch die Straßen schritten. Julius Cäsar, dieser wunderbare, einsame Mann, und sein Adoptiv sohn Augustus; Cicero, der Redegewandte, und der Verschwö rer Catalina; der wahnsinnige Nero und der durch seine Ge walttätigkeit unbeliebte Caligula; und der ungewöhnliche Claudius – lebte er noch, irgendwo im Nebel der Zeit verbor gen? Konnten sie rückwärts in der Zeit reisen? Es war nun so dunkel geworden, daß sie kaum noch sehen konnten. Mark und Dr. Nye war der Weg jedoch so vertraut, daß sie keine Schwierigkeiten hatten, ihm zu folgen. Noch hatte der Himmel seine Schleusen nicht geöffnet, aber Blitze erhellten die Felsen und Nadelbäume um sie. Fang war verstört und hielt sich dicht an Marks Beinen. »Das Rom der Cäsaren ist näher, als du denkst«, sagte Dr. Nye ruhig. Offenbar ahnte er die Gedanken seines Neffen. »Rom ist nur zwei Wochen entfernt.« Mark blieb kurz mitten im Schritt stehen. Zwei Wochen? dachte er verblüfft. Das bedeutete … 7
»Ich bin gestern abend so ziemlich fertig geworden«, erklärte Dr. Nye. »Also frisch dein Latein auf, Mark.« »Hic, haec, hoc«, sagte Mark mit vorgetäuschter Unbe schwertheit. Er wußte, was sein Onkel jetzt empfand, da sein Traum in Erfüllung gehen sollte, nachdem er zwanzig Jahre schwer daran gearbeitet hatte. Die Maschine, die einen in die Vergangenheit bringen konnte, war fertiggestellt! Stumm stapften die beiden weiter zu Dr. Nyes Berghütte, Mark empfand größte Hochachtung vor dem Mann neben ihm. Dr. Nye war ihm Vater und Mutter gewesen, seit seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, kaum daß er fünf war. Dr. Nye, selbst kinderlos, hatte den Absturz überlebt, der auch seiner Frau das Leben gekostet hatte. Er war Mark seither näher gewesen als irgendein ande rer, und doch empfand er plötzlich Ehrfurcht vor ihm, als schreite Archimedes neben ihm her, oder da Vinci, Edison, Einstein – oder vielleicht Kolumbus, der ins Unbekannte segelte … Das Unbekannte! Was könnte geheimnisvoller, wundersamer sein, als eine Reise durch die Zeit in die sagenhafte Vergan genheit der Erde, dieses unglaublichsten aller Planeten? Dr. Robert Nye, der als Atomphysiker in der Raketenfor schung im nahen White Sands arbeitete, war sein Leben lang von der Geschichte des alten Roms fasziniert gewesen. Und seit er den Kinderschuhen entwachsen war, war Zeitreise sein Hobby, dem er jede freie Minute widmete. Einsteins Relativi tätstheorie hatte ihm die Richtung gewiesen, und die Kernkraft verschaffte ihm die erforderliche, ungeheure Energie. Und nun, endlich, war es soweit! Mark hatte viele Reisen mit seinem Onkel unternommen. Er hatte mit ihm Rom besucht, das Mittelmeer nach Nordafrika überquert, wo Hannibal zu Hause gewesen war, der die römi sche Herrschaft bedroht hatte. Er hatte sich in Frankreich und Deutschland umgesehen, wo er den Spuren der vorgeschichtli 8
chen Menschen gefolgt war – die ihn genauso interessierten, wie die Sagen der Indianer, der Ureinwohner Nordamerikas. Er hatte Geschichte studiert und seinem Onkel gelauscht, wenn er ihm von ruhmvollen Zeiten und Taten der fernen Vergangen heit erzählte. Er hatte sich sogar darauf vorbereitet, seinen Onkel zu begleiten, falls dessen Traum je Wirklichkeit würde – aber daß es nun tatsächlich soweit sein sollte … Das gelbe Licht der Lampe an der Haustür von Dr. Nyes Hütte wies ihnen die letzten paar Meter den Weg. Fang sprang erfreut voraus und wartete mit wedelndem Stummelschwanz ungeduldig auf die beiden Menschen. An den Türstufen hielt Dr. Nye an und blinzelte in die Dunkelheit hoch. »Scheint ein ordentliches Gewitter zu werden, Mark.« »Machst du dir Sorgen?« fragte Mark. »Wir haben hier oben doch oft Unwetter. Auch das heutige wird vermutlich in einer Stunde vorüber sein.« »Um uns mache ich mir keine Sorgen«, entgegnete Dr. Nye. »Der Sturm wird das Blockhaus bestimmt nicht davontragen. Ich dachte nur – es ist jetzt halb acht, und bei diesem Sturm …« »Irgend was los in White Sands?« »Dr. Nye nickte und kraulte den ungeduldigen Fang. Man will heute abend eine neue Rakete ausprobieren, die fast senkrecht hochschießt, dann einen knappen Bogen macht und an einem bestimmten Punkt, nur wenige Kilometer entfernt, wieder herunterkommen soll. Aber wenn dieses Gewitter auch in White Sands …« »Man wird den Versuch bestimmt verschieben«, meinte Mark. »Da hättest du doch nichts dagegen, Onkel Bob …« Dr. Nye lächelte. »Du liest in mir wie in einem offenen Buch, Junge. Ich soll morgen hinüberfliegen und Garvin bei der Überprüfung der Radioaktivität helfen. Aber wenn sie den Versuch abblasen, können wir morgen Vormittag an unseren Plänen arbeiten und uns vielleicht am Nachmittag davonstehlen 9
und sehen, ob wir nicht ein paar Forellen finden, die nicht zu schlau für uns sind.« Marks Gesicht leuchtete auf. »Im Reservat gibt es ein paar tolle Stellen. Das letztemal habe ich dort ein paar beachtliche Forellen herausgeholt. Die Indianer haben mich eingeladen, wiederzukommen und es noch einmal zu versuchen.« »Nicht schlecht, aber zuerst …« »Zuerst die Tür!« brüllte Mark. »Es geht los!« Eine plötzliche Stille hatte eingesetzt, als sammle die Welt ihre Kraft, um einen gewaltigen Schlag abzuwehren. Dann teilten Blitze die Spitzen der erschaudernden Fichten, und Donner schien das Trommelfell zu bersten. Und schon klopften die ersten Regentropfen auf das Hüttendach. Dr. Nye riß die Tür auf, und sie hasteten ins Haus, der aufge regt bellende Fang voraus. Kaum hatte Mark die Tür geschlos sen und das Licht eingeschaltet, schlug der Sturm mit voller Kraft zu. Das Wohnzimmer war ein gemütlicher Raum mit vollen Bücherregalen, einer Cäsarbüste neben der Lampe auf einem Tisch, Navajoteppichen auf dem Boden und die Wände mit Fichtenholz verkleidet. Ein paar Minuten genügte es den beiden Männern, sich in den Sesseln auszuruhen und dem tobenden Sturm zu lauschen. Fang hatte sich auf seinem Lieblingsplatz, dem besten Sessel, niedergelassen und war gleich eingeschlafen. »Wer richtet heute das Abendessen?« fragte Dr. Nye. »Ich«, erbot sich Mark. »Aber zuvor …« »Ja?« »Du hast mir die Zeitmaschine nicht gezeigt, seit du mit der endgültigen Konstruktion begonnen hast, Onkel Bob. Und du hast mir versprochen, ich dürfe sie sehen, sobald sie fertig ist.« Dr. Nye nickte. »Und sein Wort muß man halten. Ich fürchte nur, du wirst enttäuscht sein, denn da gibt es nicht viel zu sehen.« 10
»Es ist weniger das Aussehen, das mich interessiert, sondern was sie leistet«, versicherte ihm Mark. »Guter Junge. Schieb schon mal das Essen ins Rohr, dann besuchen wir mein kleines Geisteskind.« Mark holte die Überreste des gestrigen Bratens aus dem Kühlschrank, gab sie in den Öfen und schaltete die schnell gefüllte Kaffeemaschine ein. »Der Rest erledigt sich von selbst«, meldete er seinem Onkel. Dr. Nye lachte. »Okay, Mark, dann komm schon mit.« Während der Sturm um die Hütte brauste und der Regen schmale Bäche in schäumende Flüsse verwandelte, folgte Mark seinem Onkel in den Keller unter dem Blockhaus. Es war ein ordinärer Keller, wie der von anderen Häusern auch, aber die Gerätschaften und Werkzeuge, die es hier gab, waren weit komplexer, als man sie in einer üblichen Hobbywerkstatt fand – und dieser Kellerraum war durch eine Bleiwand in der Mitte geteilt. Marks Herz hämmerte. Das Blei diente natürlich als Schutz gegen Radioaktivität, und das bedeutete, daß auf der anderen Seite dieser Wand … Dr. Nye blieb vor der schweren Metalltür in der Bleiwand stehen, um das Kombinationsschloß zu öffnen. Als er die Tür aufschob, schaltete sich ein klares weißes Licht ein. Mit merk würdiger Anspannung, die er selbst nicht verstand, folgte Mark seinem Onkel in den Kellerraum. »Da ist sie, Mark«, sagte Dr. Nye ruhig. »Die Raum-ZeitMaschine.«
11
2. Die Raum-Zeit-Maschine Die Raum-Zeit-Maschine nahm fast den ganzen Platz ein. Sie war eine stumpfgraue Kugel mit einem Durchmesser von vier Meter fünfzig. Dr. Nye betätigte einen Hebel an ihrer Oberflä che, und ein kreisförmiger Ausschnitt im Metall glitt mit einem schwachen Zischen zurück. Weiches Licht glühte im Innern. »Nach dir, Mark«, forderte Dr. Nye seinen Neffen zum Einsteigen auf. »Aber paß auf, daß du gegen nichts stößt.« Mit unendlicher Vorsicht kletterte Mark Nye in die Kugel. Er spürte den kalten Schweiß auf seinen Handflächen. Er sagte sich, daß er keine Angst zu haben brauchte, aber er wußte zu viel über die ungeheuren Energien im Atom, und so hatte er einen heilsamen Respekt vor dem Kernreaktor, der einen ziemlichen Teil der Kugel einnahm. Viel Platz war in der Kugel nicht, aber überfüllt war sie auch nicht, allein deshalb nicht, weil die Vorräte für die Reise noch nicht eingeladen waren. Sitze gab es keine. Gegenüber dem Reaktor, etwa eineinhalb Meter vom Boden, befand sich die Armaturentafel an der Wand, und daneben hing von einem Haken ein Gürtel mit einer .45er Automatik in ihrem Holster. Mark verstand. Sein Onkel hatte diese Waffe im ersten Welt krieg getragen, als er Hauptmann der Infantile gewesen war. Sie hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet, und er hatte sie all die Jahre in seiner Nähe behalten, sowohl als Talisman denn auch zur möglichen Verteidigung. »Das also ist unsere Zeitmaschine«, sagte Mark schließlich. »Ich fühle mich so klein …« »Nur, weil du sie nicht verstehst.« Dr. Nye stopfte sich wie der seine Pfeife und zündete sie an. Er blies Rauchringe zur Armaturentafel und lächelte. »Es ist durchaus normal, sich vor etwas zu fürchten, das man nicht versteht«, sagte er. »Ich kann dir natürlich nicht die damit verbundene Mathematik und Physik erklären, aber dir das Ganze doch einigermaßen ver 12
ständlich machen, denn schließlich sollst du dich auskennen, ehe wir aufbrechen.« Mark setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden. »Dann fang mal an«, bat er. »Die Vorstellung, daß man durch die Zeit reisen kann, hat die Menschheit seit Jahrhunderten fasziniert.« Dr. Nye sog bedäch tig an seiner Pfeife und seine Augen wirkten verträumt. »Man sagt üblicherweise, daß es noch nie getan wurde, aber das stimmt nicht.« Mark starrte seinen Onkel verblüfft an. »Woran die meisten nicht denken, ist, daß wir alle Zeitrei sende sind. Mit jeder Sekunde, ob bei Tag oder Nacht, reisen wir durch die Zeit. Als wir das Haus bei Anbruch des Gewitters betraten, war es halb acht. Jetzt ist es Viertel nach acht. Wir sind in der Zeit fünfundvierzig Minuten vorwärts gereist – in die Zukunft, wenn du es so nennen willst. In gewisser Weise ist die Welt eine riesige Zeitmaschine. Wir alle reisen unaufhalt sam stetig in die Zukunft.« »So habe ich es nie betrachtet«, gestand Mark. »Aber in die Vergangenheit zurückzukehren – von Viertel nach acht zu halb acht –, ist etwas ganz anderes«, fuhr sein Onkel fort. »Soviel ich weiß, hat das noch niemand geschafft. Aber uns beiden wird es gelingen! Das weiß ich und auch, daß es völlig sicher sein wird, sonst dächte ich gar nicht daran, dich mitzunehmen. Du bist alles, was ich auf der Welt habe, Mark – alles, was mir etwas bedeutet. Den großen Augenblick teile ich lieber mit dir als mit irgendeinem Freund. Und ich weiß, daß du mich nicht enttäuschen wirst. Du hast schwer gearbeitet, hast eine Menge gelernt, und ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, daß du genau tust, was ich sage. Selbst die Wissen schaft hat ihre menschliche Seite, weißt du, und dies ist mein Traum, den ich mit niemandem sonst teilen möchte.« Mark schwieg. Er fand keine Worte. »Du verstehst also nun, daß es unrichtig wäre, diese Erfin 13
dung eine Zeitmaschine zu nennen. Sie ist eine Raum-ZeitMaschine. Was bedeutet das? Daß sie sich gleichzeitig durch Raum und Zeit bewegt. Das ist nichts wirklich Neues. Du weißt, wenn du recht überlegst, daß Raum und Zeit zusam menhängen. Du kannst dich nicht durch den Raum bewegen, ohne dich auch durch die Zeit zu bewegen – d. h., du kannst nicht ohne Zeitverlust von New York nach Washington fahren. Umgekehrt kannst du nicht durch die Zeit reisen, ohne dich gleichzeitig räumlich zu bewegen. Selbst wenn du völlig still in einem Sessel sitzt und zuschaust, wie der Zeiger auf der Uhr sich dreht, bis fünfzehn Minuten vergangen sind, hast du dich viele Kilometer bewegt – denn die Erde zieht unentwegt durch den Raum, und unser Sonnensystem, genau wie die Milchstra ße bewegen sich ebenfalls unablässig.« »Ich verstehe«, sagte Mark. »Deshalb ist es möglich, daß wir hier in New Mexico in unsere Maschine steigen und in Italien herauskommen, richtig?« »Stimmt«, bestätigte Dr. Nye. »Ich habe das genaue Verhält nis zwischen Raum und Zeit in Beziehung auf unsere Maschine berechnet. Während wir räumlich von New Mexico nach Rom reisen, bewegen wir uns zeitlich von 1953 zurück ins Jahr 46 v. Chr. Eines Tages wird es vielleicht auch möglich sein, auf ähnliche Weise durch den interplanetaren Raum zu reisen. Das heißt, es ließe sich eventuell machen, daß wir zeitlich Millio nen von Jahren zurück-, und räumlich zum Mars reisen, und zu einer Zeit ankämen, zu der es auf dem Planeten eine hochent wickelte Zivilisation gab.« Marks Phantasie machte wilde Sprünge bei diesen Worten. Mars! »Allerdings so, wie sich die Raketenforschung entwickelt«, fuhr sein Onkel fort, »sieht es ganz so aus, als könnten wir den Mars mit Leichtigkeit auch ohne die Raum-Zeit-Maschine erreichen. Trotzdem ist es etwas, das man im Auge behalten sollte.« Er sog an seiner Pfeife, und blaue Rauchwölkchen 14
stiegen auf. »Nun«, sagte er, »was diese Maschine tatsächlich macht, ist folgendes: sie nutzt die gewaltigen Kräfte des Atoms, um die Raum-Zeit auf eine Weise zu krümmen, daß die Maschine sie gezielt durchdringen kann. Da sind natürlich ein paar Haken, einiges, das beachtet werden muß. Wenn du das verstehst, wird dir vieles klar sein, das dir ansonsten ein Buch mit sieben Siegeln geblieben wäre.« »Ich bin ganz Ohr«, versicherte ihm Mark mit heftig klop fendem Herzen. Hier saß er, in der Bleikugel, im Keller seines Onkels, im Jahr 1953. Ungeheure Energien schlummerten um ihn, und ein Knopfdruck könnte ihn irgendwohin bringen, wohin noch kein Mensch gereist war – zurück in die Vergan genheit, in eine Zeit vor Kolumbus’ Entdeckung von Amerika, vor Marco Polos abenteuerlichen Reisen, in die Zeit zwei Jahre vor Cäsars Tod? Würden sie Zeuge davon sein? Oder könnten sie seinen Tod sogar verhindern? Ihn warnen? Was würde geschehen? Wie würde die Geschichte aussehen, wenn Cäsar weitergelebt hätte? »Als erstes mußt du wissen, daß diese Maschine, durch Atomkraft angetrieben wird. Das System, das ich benutze, arbeitet nach dem Prinzip kontinuierlicher Kernreaktion – das heißt, daß ihr Ziel eingestellt wird und sie nicht angehalten werden kann, ehe sie es erreicht. Ist dir das klar?« »Ja.« »Gut. Als zweites darfst du nie vergessen, daß die Maschine trotz der gewaltigen Energie ein sehr empfindlicher Mecha nismus ist. Du weißt, wie lange und schwer ich an ihr arbeitete, und die meiste Arbeit war keineswegs die Theorie der Kraft versorgung, sondern der Mechanismus selbst. Alles muß hundertprozentig abgewogen sein. Endlich habe ich offenbar die genau richtige Kombination, und natürlich habe ich detail lierte Aufzeichnungen, aber ich weiß trotzdem nicht, ob ich noch eine zweite solche Raum-Zeit-Maschine bauen könnte. Und selbst wenn, wäre es eine Arbeit von vielen Jahren.« 15
»Heißt das, daß nur eine Fahrt damit gemacht werden kann?« »So ist es. Wir haben leider kein Gerät, das uns nach Belie ben vorwärts und rückwärts durch die Zeit bringen könnte. Unsere Maschine trägt uns nur einmal in die Vergangenheit und wieder zurück nach Hause. Rom habe ich nicht nur des halb ausgewählt, weil ich mich mein Leben lang dafür interes sierte, sondern auch, weil es zeitlich verhältnismäßig nah ist. Dann wissen wir beide auch sehr viel über das alte Rom, und wir können uns dort unauffällig benehmen und verständigen. Es wäre Irrsinn, eine Reise in eine Zeit zu unternehmen, von der wir nichts wissen. Wir würden die Sprache nicht kennen, könnten uns nicht anpassen, wären falsch gekleidet – alles wäre gegen uns. Wenn man uns nicht gleich umbrächte, würden wir vermutlich in einem Gefängnis oder Irrenhaus landen – falls es dort so etwas gäbe.« »Wie ist es mit der Zukunft?« fragte Mark nachdenklich. »Könnten wir in die Zukunft reisen?« »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht«, gestand Dr. Nye. »Theoretisch, glaube ich, wäre es möglich. Aber alles, was gegen eine Reise in eine unbekannte Vergangenheit spricht, träfe hier ebenfalls zu. Da wir nicht wüßten, wo wir landeten, könnten wir uns nicht vorbereiten. Und es gibt andere Proble me. In eine Zukunft zu reisen, die es noch nicht gibt, ist riskant – denn ist es möglich, die Geschichte zu ändern? Die der Vergangenheit oder Zukunft? Was passierte beispielsweise, wenn du in der Zeit rückwärts reistest und deinen Großvater tötest, ehe dein Vater geboren wurde? Die Zeitreise ist voll unbeantworteter Fragen. Ich glaube jedoch, wir werden fest stellen, daß es unmöglich ist, die Geschichte auf grundlegende Weise zu verändern. Ich bin der Meinung, es ist auf jeden Fall klüger, gar nicht zu versuchen, etwas ändern zu wollen. Natür lich besteht die Möglichkeit alternativer Zeitströme, einer multiplen Zukunft …« »Jetzt komme ich nicht mehr mit«, unterbrach Mark ihn. 16
»Vielleicht sollten wir uns an das halten, was ich verstehen kann, oder es kommt soweit, daß ich am Ende noch verwirrter bin als zuvor.« »Okay, Mark, tut mir leid«, entschuldigte sich Dr. Nye. »Da ist nur noch etwas, das du dir unbedingt merken mußt: Wenn die Raum-Zeit-Maschine ihr Ziel erreicht und anhält, ist sie nicht in der Lage, die Rückreise sofort anzutreten. Das Ener giegleichgewicht – die Kombination der Kräfte – muß erst wieder hergestellt werden, und das braucht Zeit.« »Wie lange etwa?« erkundigte sich Mark. »Mindestens zwei Wochen, vielleicht länger. Wir werden es eben abwarten müssen. Komm mal einen Augenblick hierher.« Mark stand auf und folgte Dr. Nye zur Armaturentafel. Im oberen Teil befand sich eine Reihe von Lämpchen und in der Mitte ein Präzisionsmeßgerät, zu dessen beiden Seiten je ein schmaler Hebel mit schwarzem Griff herausragte. »Vorsicht!« mahnte Dr. Nye. »Berühre ja nichts! Die Ma schine ist startbereit. Du siehst, daß die Armaturen übersicht lich und einfach sind. Das grüne Licht bedeutet, daß die Ma schine funktionsbereit ist. Startet sie, erlischt es, und das rote Lämpchen glüht auf. Sobald das rote Lämpchen an ist, darfst du nicht versuchen, etwas zu verändern – sonst explodiert die Maschine! Vergiß das nicht! Sobald die Maschine anhält, leuchtet das gelbe Lämpchen. Das wiederum bedeutet, daß man die Maschine verlassen kann, aber auch, daß sie das Energiepo tential wieder aufbaut und nicht bewegt werden kann. Sobald es aufgebaut ist, erlischt das gelbe Licht, und das grüne geht wieder an.« »Einfach genug«, bestätigte Mark. »Und mit dem Instrument in der Mitte, kann man das Ziel einstellen?« »Richtig. Siehst du, der große Zeiger steht auf 1953, und der kleine, der wie ein Sekundenzeiger aussieht, läßt sich auf einen bestimmten Tag – ja sogar auf eine bestimmte Stunde und Minute einstellen. Und jetzt drehe ich diesen Knopf …« 17
Behutsam tat Dr. Nye es, und Mark hörte eine Reihe leiser, aber exakter Klicks. »So!« sagte Dr. Nye. »Jetzt ist er auf 46 v. Chr. eingestellt. Um dorthin zu gelangen, brauchte ich nur noch den linken Hebel zu ziehen. Ich muß dir bestimmt nicht sagen, welche Arbeit es war, die tatsächliche Zeit mit der Kalenderzeit abzustimmen. Du weißt ja, wie oft der Kalender leicht geändert werden mußte – von Papst Gregor XIII. und von Gajus Julius Cäsar selbst –, um ihn den tatsächlichen Mond- und Sonnen jahren anzupassen. Aber das ist nun alles in dieser Maschine integriert. Wir könnten nun fast überallhin und in jede Zeit reisen, nur indem wir diesen Knopf drehen.« Lächelnd tat Dr. Nye es. Ein leichtes Schwirren war zu hören und wieder eine Reihe von Klicks. »Jetzt haben wir es. Die Maschine ist eingestellt auf …« Plötzlich war ein schrilles Läuten von außerhalb der Kugel zu hören. Unwillkürlich zuckte Mark zusammen. »Das Telefon oben.« Dr. Nye blickte besorgt auf seine Uhr. »Es ist noch nicht ganz neun. Irgend was muß mit der Rakete schiefgegangen sein. Warte, ich komme gleich wieder, Mark, und berühr ja nichts!« Dr. Nye kletterte durch die kreisrunde Tür und rannte die Treppe hoch. Mark schaute sich in der stumpfgrauen Bleikugel um. Es war sehr still und er fühlte eisige Kälte seinen Rücken hochkriechen. Er zitterte, so allein in der Raum-Zeit-Maschine.
18
3. Allein im Unbekannten Ganz still stand Mark Nye in der Mitte der Bleikugel. Seines Onkels Stimme oben am Telefon war gedämpft zu hören und als Hintergrundgeräusch schwaches Donnergrollen. Durch die Bleiwand isoliert, war es zwar schwer zu sagen, aber Mark glaubte, daß das Unwetter allmählich nachließ. Er rührte sich nicht, aber sein Blick wanderte über die Arma turentafel. Das grüne Lämpchen schien ihn wie ein Smaragd auge anzustarren und wirkte fast hypnotisierend auf ihn. Er schien sich in seiner unendlichen Tiefe zu verlieren und sah sich selbst die Parade der an ihm vorüberziehenden Legionen der Geschichte abnehmen. Da war Davy Crockett, der im Alamo kämpfte, und neben ihm standen Napoleon und Dschingis-Khan. Im Schatten entdeckte er Machiavelli, und der blinde Homer sang ein Lied der Unsterblichkeit. Da waren auch Alexander der Große, David, Moses, Tutanchamun – und sie alle lebten noch, liebten und träumten. Und hinter ihnen, wie in blauem Rauch, stapften die ersten Menschen durch die Morgennebel der Erde: Croma gnon, Neandertaler und Pithekanthropus. Und noch weiter dahinter, im Dunst der Zeit versunken, zischten Drachen und brüllten über das Angesicht der Erde, als die gewaltigen Sau rier durch die Sümpfe am Anbeginn der Zeit wateten … Es kostete Mark echte Mühe, den Blick von dem Lämpchen zu reißen. Er wagte immer noch nicht, sich zu rühren. Keines wegs wollte er sich in Gefahr bringen, durch einen unglückli chen Zufall allein in den Zeitstrom geworfen zu werden. Wenn sein Onkel mit seinem gewaltigen Wissen und seiner ruhigen Selbstsicherheit bei ihm war, war alles in bester Ordnung, aber allein, sah es ganz anders aus. Also stand er ganz ruhig und wartete auf die Rückkehr seines Onkels. Es war nun geradezu erschreckend still in der Kugel, so still, daß Mark glaubte, sein Herz heftig schlagen zu hören. Er 19
schluckte und schämte sich seiner Nervosität und ballte die Hände zu Fäusten, als fürchtete er sich vor wer weiß was. Ja, es war fast … Mit einer lähmenden Plötzlichkeit passierte es. Eine gewalti ge Erschütterung rüttelte an ihm und stieß ihn quer durch die Kugel. Ein betäubender Donner krachte durch den kleinen Raum, und Mark spürte, wie das Haus um ihn erzitterte. Verzweifelt versuchte er, sich auf den Beinen zu halten. Die Rakete! Die Rakete, schrie es ihn ihm, sie ist vom Kurs abgekommen und in der Nähe explodiert! Marks Knie gaben nach, und er begann nach vorn zu kippen, geradewegs auf die Armaturentafel zu. Mark versuchte, sich zurückzuwerfen. Es gelang ihm nicht. Er stürzte auf die Arma turen – und spürte, wie er einen Hebel nach unten riß. Mark schrie gellend und bemühte sich hochzukommen. Aber es war bereits zu spät. Entsetzt sah er, wie das grüne Lämpchen erlosch. Die Tür schloß sich zischend. Das rote Lämpchen leuchtete auf, und ein summendes Vibrieren durchzog die ganze Kugel. Die Maschine! dachte er. Die Maschine startet – und ich sitze in der Falle … Er konnte nicht aufstehen, aber benommen war ihm ohnehin bewußt, daß er nichts tun könnte, selbst wenn er an die Arma turen herankäme. War die Raum-Zeit-Maschine einmal gestar tet, durfte nichts mehr verändert werden. Er war allein und reiste in die Vergangenheit! Wohin? In welches Zeitalter? Auf welches Jahr war die Maschine eingestellt? Als Dr. Nye den Knopf gedreht hatte, wo war er stehengeblieben, als das Telefon läutete? Wohin brachte die Maschine ihn? Verzweifelt kämpfte Mark sich auf die Knie. Er spürte, wie ihm das Blut hämmernd in den Kopf stieg. Erschrocken keuch te er nach Luft. Mühsam kam er auf die Beine. Das Hämmern im Kopf wurde zum Tosen, ein Brausen der Dunkelheit, die in ihm wirbelte und sich um ihn wand, ihn in kühle Tiefen zog. 20
Mit einem Stöhnen verlor Mark die Besinnung und sackte auf den Boden der Raum-Zeit-Maschine. Wie in einem Traum hörte er Laute, und Gesichter schwam men vor ihm. Fang tobte aufgeregt bellend über eine staubige Straße. Die zwei Apachen stapften unter dunklen Wolken. Cäsars Büste starrte ihn mit Flammenaugen an. Sein Onkel schüttelte den Kopf, und seine Stimme erklang aus dem Nichts: »Es wäre Irrsinn, eine Reise in eine Zeit zu unternehmen, von der wir nichts wissen …« Erschrocken kam Mark Nye zu sich und schaute sich um. Panik stieg in ihm auf, aber er kämpfte dagegen an. Das hier war kein Traum – das stand fest. Er befand sich in der Bleiku gel, und die summende Vibration quälte seine Ohren. Graue Luft schien die ganze Kugel zu füllen, und sie war mit Elektri zität geladen. Das rote Lämpchen brannte noch und schickte flackernde Strahlen aus, die in dem Grau rosig glühten. Obgleich ihm übel und schwindlig war, stellte Mark doch fest, daß er sich schmerzlos bewegen konnte. Er hatte sich also nichts gebrochen. Wenigstens etwas, wofür er dankbar sein konnte. Er bemühte sich, nicht an seine schreckliche Lage zu denken. Ein kühler Kopf war unbedingt vonnöten. Ließe er sich von Furcht und Hysterie überwältigen, wäre er verloren, und nichts könnte ihn retten. Er entschloß sich, sich so zu verhalten, daß sein Onkel stolz auf ihn sein konnte. Sein Onkel – würde er ihn je wiedersehen? Hastig wies Mark diesen Gedanken von sich und stand wie der auf. Er schloß die Augen und wartete, bis der Schwindelan fall verging. Er trug keine Uhr bei sich, so wußte er weder, wie lange er bewußtlos gewesen, noch wie spät es war. Freudlos lächelte er. Das war eine Frage, auf die die Antwort gar nicht so einfach wäre. Welche Zeit war es? Nicht in Minuten oder Stunden wollte er es wissen, sondern welches Jahr, welches Jahrhundert, welches Zeitalter es war. Er öffnete die Augen. Das rote Lämpchen an der Armaturen 21
tafel starrte ihn spöttisch an. Mark holte tief Luft und betrach tete den Zeiteinsteller. Er zuckte zusammen, glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Er schaute noch einmal nach. Er hörte Gelächter in der Kugel. Scharf sah er nach, von woher es kam. Die Maschine war leer und er allein. Es war sein eigenes Gelächter. Er nahm alle Willenskraft zusammen. Das Lachen erstarb. Er durfte seine Selbstbeherrschung nicht verlieren, egal, was geschah. Doch das war gar nicht so einfach. Der Zeiger stand nicht mehr auf 45 v. Chr., nachdem sein Onkel den Knopf gedreht hatte. Er stand auch nicht auf 460 v. Chr. und nicht auf 4600 v. Chr. … Er hatte, als sein Onkel so plötzlich durch das Läuten des Telefons gestört wurde, auf 50 000 v. Chr. angehalten! Mark erschauderte. Er würde in eine Zeit fünfzigtausend Jahre vor Christi Geburt entführt werden – und es gab nichts, was er dagegen tun könnte. Er spürte, wie der Zeitstrom an ihm vorüberfloß, während die Kugel ihn Jahrhunderte, Jahrtausende in die Vergangenheit trug. Er wußte in etwa, wo die Reise enden würde, und das war das Problem. Immer noch ein wenig schwindlig, setzte Mark sich wieder auf den Boden, um sich seine Lage durch den Kopf gehen zu lassen. Er zwang sich, das Problem rational anzugehen, wie Dr. Nye es ihn gelehrt hatte. Es genügte nicht, daß er über Verstand verfügte, er mußte ihn auch benutzen, und durfte sich nicht von Verzweiflung überwältigen lassen. Er bemühte sich, das Summen der Raum-Zeit-Maschine zu vergessen, nicht auf das gespenstische Grau um sich zu achten und das rote Auge an der Armaturentafel zu ignorieren. So ruhig wie möglich befaßte er sich mit seinem Problem. Die Maschine trug ihn durch Zeit und Raum. Sein räumliches Ziel würde nun nicht mehr Italien sein, sondern – wenn er die Funktionsweise richtig verstanden hatte – ein Gebiet, das jetzt zu Deutschland oder Frankreich gehörte. Das Zeitproblem war 22
schwieriger. Er konnte seinem Onkel nicht genug danken, daß er ihm die Geschichte so eindringlich eingepaukt hatte. Das Jahr 50 000, das wußte er, gehörte zum Pleistozän oder Eiszeit alter. Die Wissenschaftler waren sich jedoch keineswegs einig über den zeitlichen Verlauf dieses letzten Teils der Eiszeit. Das Jahr 50 000 mochte überall liegen, je nachdem, von welchem System man ausging. Sein Onkel, jedenfalls, hatte angenom men, daß es ins Paläolithikum fiel oder ins Ende der letzten Eiszeit. Mark sah sich wieder in der Maschine um, vielleicht, weil er auf ein Wunder hoffte. Aber es gab keine Wunder. Es waren keinerlei Vorräte hier – weder Nahrungsmittel, noch Wasser. Und er wußte, daß er zumindest zwei Wochen in der Eiszeit verbringen mußte, bis die Maschine ihre Energie wieder aufgebaut hatte und er zurückkehren konnte. Das bedeutete, daß er aussteigen mußte, um nach Wasser und etwas zu essen zu suchen. Wissen kann etwas Erschreckendes sein, kann einem aber auch helfen, sich keine Sorgen über nicht existierende Gefah ren zu machen, wie in seinem Fall über Saurier, denn die waren Millionen von Jahren vor der Geburt des ersten Menschen schon ausgestorben gewesen. Und es gab Menschen in der letzten Eiszeit – seltsame Menschen … Mark betrachtete sich. Er trug seine Jeans, die allerhand aus halten würden, und ein langärmeliges Wollhemd, das ihn wenigstens ein bißchen vor Kälte schützen konnte. Bei seinen Schuhen sah es weniger gut aus. Er trug mokassinähnliche Slipper, die bei Eis und Schnee nicht gerade das richtige waren. Eine Überprüfung seiner Taschen brachte das übliche zum Vorschein: ein Taschentuch, ein Kamm, ein Taschenmesser, eine Schachtel Streichhölzer – die er bei sich trug, um sie seinem Onkel zum Pfeifeanzünden zu geben, da dieser die seinen fast nie fand –, und ein Geldbeutel mit zehn Dollar in Scheinen und einigen Münzen. Er lächelte. Dort, wohin er 23
reiste, würde ihm das Geld nichts nutzen. Doch einen glücklichen Umstand gab es: Dr. Nyes .45er hing noch im Holster an der Kugelwand. Mark holte die Waffe herunter und schaute sie nach. Sie war wie üblich mit sechs Patronen im Magazin geladen. Aus Sicherheitsgründen steckte jedoch keine Kugel in der Kammer. Sechs Schüsse, wohl kaum genug für die Gefahren, denen er sich vermutlich gegenüberse hen würde. Aber sie mußten eben reichen. Mark schnallte sich den Gürtel um und fühlte sich ein bißchen besser. Dann setzte er sich wieder nieder, um zu warten – was ande res konnte er nicht tun. Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit in der Kugel vergangen war, genausowenig wußte er, wie lange diese Reise dauern würde. Er hatte Hunger, weil er nicht mehr zum Abendessen gekommen war, aber im Grund genommen, hatte er eigentlich immer Hunger. Er versuchte zu schlafen, konnte es aber nicht. Er fühlte sich wacher als je in seinem Leben. Trotzdem schloß er die Augen und bemühte sich wenigstens, sich so gut wie möglich auszu ruhen. Wie sahen seine Chancen aus? Er wußte es nicht, doch er war entschlossen, sich nicht aufzugeben. Er konnte von Glück sagen, daß er eine so gute Schulbildung hatte. So ganz unvorbereitet würde er nicht in der Eiszeit ankommen. Das was er in seinem Kopf hatte, würde sich vermutlich im großen und ganzen nützlicher erweisen als die .45er. An der völligen Stille, die plötzlich in der Kugel herrschte, erkannte Mark, daß sie angehalten hatte. Er öffnete die Augen. Das Grau war verschwunden, und die Luft war schal und verbraucht. Statt des roten Lämpchens glühte nun das gelbe. Langsam stand Mark auf. Zögernd trat er an die runde Öff nung in der Wand.
24
4. Morgendämmerung der Menschheit Mark betätigte einen Schalter, und die Tür öffnete sich zi schend. Kalte, frische Luft drang in die Maschine. Mark blickte fröstelnd hinaus. Mit unerwarteter Plötzlichkeit brüllte ihm etwas fast ins Ge sicht. Erschrocken wich Mark zurück und riß die Waffe aus der Holster. Das Herz in der Kehle pochend, wartete er. Aber was immer so gebrüllt hatte, war vermutlich über Marks Erscheinen nicht weniger erschrocken, wie der über seines. Mark hörte immer leiser werdendes Huftrappeln und wagte vorsichtig, mit der .45er in der Hand, einen weiteren Blick hinaus. Gerade noch, kurz ehe es aus seinem Blickfeld verschwand, sah er ein großes zotteliges Tier mit einem Horn. Er atmete erleichtert auf und betrachtete die Landschaft vor sich. Es war offenbar Spätnachmittag, und eine blutrote Sonne senkte sich zu den Schneekappen der Berge im Westen hinun ter. Wachsam stieg Mark aus der Maschine, den .45er schußbe reit in der Hand. Die Kugel hatte auf einer großen, baumlosen Ebene inmitten hohen, feuchten Grases aufgesetzt, aus dem sich bunte Blumen und kleinere Büsche abhoben. In der Nähe entdeckte er an einem niedrigen Strauch rote Beeren, aber er hatte keine Ahnung, ob sie genießbar waren. Weit im Norden glitzerte etwas, das eine Eisplatte sein moch te, doch war die Entfernung zu groß, um sicher sein zu können. Vielleicht war es auch glimmerähnliches Gestein, oder bloß eine Spiegelung der untergehenden Sonne. Gegen Osten erstreckte die grasige Ebene sich viele Kilome ter weit, offenbar bis zu einer niedrigen Bergkette mit weißen Gipfeln. Mark schätzte die Entfernung zu ihr auf etwa vierzig Kilometer. Die Kette beschrieb einen Bogen südwärts und wurde höher. Im Vorland schienen Nadelbäume zu wachsen, die von hier kaum mehr als fünfzehn Kilometer entfernt sein durften. Bodennebel, offenbar ein Vorläufer der bevorstehen 25
den Abendkälte, wand sich in wirbelnden Schwaden. Mark wußte nicht, was er tun sollte. Er war benommen vom Schock des Geschehenen und hungrig wie ein Wolf. Er blinzel te zur Sonne und schätzte, daß es noch etwa zwei Stunden hell sein würde. Sicher konnte er natürlich nicht sein – der Ein bruch der Nacht würde davon abhängen, wo er sich befand und welche Jahreszeit es war. Er wußte sehr wohl, daß es in man chen Erdteilen fast übergangslos dunkel werden konnte. Er überlegte, dann zog er den Hebel, der die Tür der Maschi ne verschließen würde. Zischend ging sie zu. Wohin sollte er jetzt gehen? Wild gab es hier ganz offensichtlich im Überfluß. Aber mit etwas so Großem wie dem nashornähnlichen Tier, das ihn angebrüllt hatte, wollte er sich nur mit einer Pistole be waffnet, nicht anlegen. Er beäugte die Beeren, entschied sich jedoch dagegen, sie zu kosten. Zu leicht konnten sie giftig sein, und hier gab es nur ein Versuchstier – er selbst. Mark entschloß sich, sich genau ostwärts zu halten, denn dann konnte die Stellung der Sonne ihm den Weg zur RaumZeit-Maschine zurück weisen. Er wog die Pistole in der Hand. Sie war schwer, aber sie mochte den Unterschied zwischen Leben und Tod für ihn bedeuten. Er lächelte und tätschelte das stumpfe Grau der Kugel. »Paß gut auf dich auf«, murmelte er. »Wenn dir etwas zustößt, gibt’s kein Zurück mehr für mich.« Festen Schrittes machte Mark sich auf den Weg durch diese seltsame neue Welt. Komisch, daß er so dachte. Diese Welt war alt, verloren in einer fast vergessenen Geschichte. Und doch war sie auch neu – neu und frisch und erfüllt vom Duft unzähliger Wildblumen. Ein wenig von Marks naturbedingter Furcht verflog. Wenn er nur etwas zu essen finden würde, wäre es hier gar nicht so schlimm. Vom sanften Rascheln des Grases abgesehen, war es still hier – eine Stille, wie Mark sie noch nie zuvor erlebt hatte. Immer hatte es in seiner Zeit die mechanischen Geräusche der Zivili sation um ihn gegeben. Die großen Städte in Ruß und Schmutz, 26
in denen es ratterte und krachte; und auf dem Land brummten Traktoren und Autos. Wohin man auch kam, überall waren die Geräusche der Zivilisation. Selbst an einem Bergbach er schreckten einen das Donnern der Flugzeuge und das Pfeifen der Jets. Die Stille hier war fast unheimlich – und irgendwie schien sie voll Leben zu sein, einem unsichtbaren Leben, einem, das sich vor seinem Blick verbarg. Mit allen Sinnen angespannt, stapfte Mark weiter. Er hatte sich fest unter Kontrolle und weigerte sich, an die Schrecken zu denken, denen er sich jeden Moment gegenübersehen mochte. Er konzentrierte sich völlig auf sein Vorhaben und dachte nicht an mögliche Gefahren, die baldige Kälte der Nacht und an seine Einsamkeit. Das war etwas, das sich nicht ändern ließ. Immer tiefer sank die nun orange Scheibe der Sonne hinter die Berge. Er würde bald umkehren müssen, wollte er nicht weit entfernt von der Raum-Zeit-Maschine – seine einzige Zuflucht – von der Dunkelheit überrascht werden. Aber sein Hunger trieb ihn weiter. Mit den zunehmenden Schatten und der kalten Brise, die zum stürmischen Wind wurde, wuchs Marks Besorgnis. Er war fast schon dabei, umzudrehen und die Nacht mit knurrendem Bauch zu verbringen, als er eine Bewegung voraus bemerkte. Er ließ sich sofort auf ein Knie fallen. Den Atem anhaltend, spähte er durchs Gras. Es war gerade noch hell genug, daß er nicht allzu weit ent fernt ein paar dunkle Schatten sehen konnte, die sich hin und wieder bewegten – offenbar weidendes Wild. Auf dem Bauch kroch er darauf zu, ohne auf die Kratzer zu achten, die er sich von niedrigem Gestrüpp zuzog. Immer näher kam er den weidenden Tieren. Es waren fünf. Mark studierte sie eingehend. Sie waren ver hältnismäßig groß, hatten zottige Mähnen, kurze Beine und zwei kleine Hörner. Außerdem wuchs zwischen ihren Schul 27
tern ein Buckel, und sie wirkten schwer und massig. Mark überlegte, wo er ähnliche schon gesehen hatte. Ah ja, das waren Bisons, aus denen sich später die Wisente entwickelten und der spätere Bison, fälschlicherweise Büffel genannt, der durch die Prärien und Walter Nordamerikas gestreift war, ehe Jäger ihn nahezu ausrotteten. Vier der Tiere waren ausgewach sen, eines noch ein Kalb. Zentimeter um Zentimeter kroch Mark näher an die ahnungs losen Bisons. Er durfte keine seiner kostbaren Kugeln vergeu den. Eine .45er hatte zwar eine beachtliche Durchschlagskraft, aber das Ziehen war nicht so leicht. Es war bestimmt am sichersten, auf das abseits von den anderen grasende Kalb zu schießen. Keine dreißig Meter entfernt, legte Mark sich ganz ins Gras, löste die Sicherung und hob die Pistole. Er kam nicht dazu zu schießen. Schnaubend warf das Leittier den Kopf hoch und rannte mit erstaunlicher Schnelligkeit davon. Die anderen folgten ihm dichtauf. Mark hätte natürlich noch immer schießen können, aber er war nicht sicher, daß er treffen würde, und sein Ziel zu verfehlen, konnte er sich nicht leisten. Ein kalter Schauder rann ihm über den Rücken. Etwas hatte die Bisons erschreckt, und er war überzeugt, daß nicht er es gewesen war. Lauschend blieb er ganz still im Gras liegen. Nichts war zu hören, nur das Flüstern des Windes. Es wurde immer später. Mit erschreckender Plötzlichkeit war die Sonne verschwunden, und die langen Schatten des Zwie lichts verschmolzen mit dem Schwarz der Nacht. Auch kälter war es jetzt, und es versprach noch ungemütlicher zu werden, dazu empfand Mark seinen Hunger nun geradezu schmerzhaft. So nahe war er einem kräftigen Abendessen gewesen, daß er den Geschmack von Bisonsteak fast auf der Zunge spürte. Und die Haut hätte ihn warmhalten können, falls es ihm gelungen wäre, sie mit dem Taschenmesser abzuziehen. 28
Mark wagte nicht, sich zu rühren. Er fühlte die gespenstische Anwesenheit von etwas Fremdem in den Schatten der herbei ziehenden Nacht. Ihm war, als ruhten unsichtbare Augen auf ihm, bohrten sich in seinen Rücken und stellten ihm die Här chen auf dem Nacken auf. Er sagte sich, daß es reine Einbil dung war, und stand auf, mit der Pistole in der Hand. Er sah nichts Verdächtiges, aber es war auch schon ziemlich dunkel um ihn. Verzweifelt kehrte er den Weg zurück, den er gekommen war, und richtete sich nach dem nur noch schwachen Abendrot im Westen. Er befürchtete, daß er zu lange gewartet hatte und er den Weg zurück zur Maschine in er Dunkelheit nicht finden würde. Und ginge er einfach aufs Geratewohl weiter, würde er sich hoffnungslos verirren. Nein, er mußte irgendwo bleiben, wenn er nicht mehr zurückfand, und vielleicht ein Feuer machen. Der Gedanke, die Nacht in diesem unbekannten Land im Freien verbringen zu müssen, behagte ihm gar nicht. Also hastete er weiter und betete, daß das Abendrot noch eine Weile aushalten würde. Aber mit jeder Sekunde wurde es dunkler, und er konnte kaum noch etwas sehen. Dafür hielt das scheuß liche Gefühl an, daß ihn unsichtbare Augen beobachteten. Er versuchte sich einzureden, daß das unter den Umständen eine normale Reaktion sei, aber er glaubte sich nicht. Verbissen hastete er weiter – und blieb plötzlich wie ange wurzelt stehen. Da war etwas! Vor ihm! Sie waren vor ihm. Mark drehte sich um. Sie waren auch hinter ihm. Er fühlte es. Heftig umklammerte er seine .45er, während kalter Schweiß von seiner Stirn rann. Der Nachtwind säuselte gespenstisch durch das Gras, und er konnte nichts sehen. Er steckte in der Falle. Sie hatten ihn umzingelt!
29
5. Die Neandertaler Das war zu viel! Panik griff nach Mark. Er hatte das Bedürfnis, wild in die Finsternis zu schießen, irgendwohin, auf irgend etwas. Mit Mühe beherrschte er sich. Aber was konnte er tun? Was … Ein bißchen Vernunft war noch geblieben. Wart ab! riet sie ihm. Verlier nicht die Nerven! Mark wartete, aber dabei umklammerte er die Pistole, als wolle er sie zerquetschen. Sie, was immer sie waren, kamen näher. Jetzt konnte er sie fast sehen. Mühsam unterdrückte er einen Schrei. Was waren sie? Was konnten sie sein? Seine Hand zitterte, aber er hob die Waffe und zielte sorgfäl tig. Er schoß jedoch nicht. Es waren zu viele. Zumindest zehn Gestalten konnte er schattenhaft sehen. Und er hatte nur sechs Kugeln. Natürlich war es möglich, daß die Schüsse diese Wesen vertrieben, aber er durfte kein Risiko eingehen. Sie sahen auch gar nicht so aus, als könnte irgend etwas sie je erschrecken. Mark wartete. Er spähte durch das Halbdunkel. Er konnte sie nun erkennen – und plötzlich wollte er sie nicht sehen, nicht im Licht. Sie waren erschreckend genug als undeutliche Schatten. Sie gingen auf zwei Beinen, die leicht gekrümmt waren, wodurch die Haltung dieser Wesen gebückt wirkte. Sie waren nicht sehr groß, nicht viel über einssechzig, hatten zwei Arme und schienen etwas wie Waffen zu tragen. Sie waren keine Affen – aber auch keine Menschen, wie Mark sie kannte. Und er befürchtete, wenn er sie näher sehen würde, könnte er sehr wohl den Verstand verlieren. Eines der Wesen knurrte grauenvoll und kam auf Mark zu, berührte ihn! Ein abscheulicher Tiergeruch schlug ihm entge gen. Er drückte dem Wesen den Lauf in den Bauch, wagte aber nicht abzudrücken. Er wartete. Griff man ihn an, war er ent schlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. 30
Wenn nicht – was dann? Wieder knurrte das Wesen und zerrte an seinem Arm. »Wer bist du?« hörte Mark eine Stimme krächzen. Es war seine eigene. »Was willst du?« Natürlich erhielt er keine Antwort. Wie sollten die Wesen ihn auch verstehen, selbst wenn sie eine eigene Sprache hätten? Aber Mark mußte reden, wenn er redete, fühlte er sich ein wenig besser. »Was wollt ihr von mir? Verschwindet …« Das Wesen knurrte erneut, dann brüllte es entsetzlich. Mark erschauderte. Die Augen der Halbmenschen schienen in der Dunkelheit zu glühen wie die von Teufeln. Wieder zerrte das Wesen an Marks Arm, heftiger jetzt. Seine Hand war rauh und hart wie Eisen. Das Knurren wurde lauter. Mark hielt den Lauf weiter gegen den Bauch des Halbmen schen gepreßt. Er glaubte nun zu verstehen, was man von ihm wollte. Er sollte irgendwohin mitkommen. Er wog die Möglichkeiten ab. Er konnte das Wesen, das ihn am Arm hielt, erschießen und dann versuchen davonzulaufen. Aber wohin? Es war viel zu dunkel, etwas zu sehen, obwohl die Sterne allmählich hervorkamen. Er müßte schon unwahr scheinliches Glück haben, wollte er den Weg zurück zur Raum-Zeit-Maschine finden. Und die anderen würden sich sofort auf ihn stürzen und ihn zerreißen. Er hatte gar keine Chance, das war ihm klar. »Okay«, flüsterte er. »Gehen wir.« Das Wesen verstand zwar die Worte nicht, schien jedoch ihre Bedeutung nach dem Klang von Marks Stimme zu erraten. Der eiserne Griff um Marks Arm löste sich, und er war frei. Die Schatten der Halbmenschen schlossen sich um ihn und nahmen ihn mit sich über die Ebene. Jedesmal, wenn er den Schritt verlangsamte oder zögerte, warnte ihn ein lautes Knurren. Mark behielt die .45er in der Hand, obwohl er jede Hoffnung aufgegeben hatte, sie zu benutzen. Inzwischen war es sehr kalt, 31
obgleich der Wind sich gelegt hatte. Es war still, vom Schlur fen der Schritte und dem schweren Atem der Halbmenschen abgesehen. Dann erklang aus der Ferne, als käme es aus einer anderen Welt, ein furchterregendes Trompeten wie von einem Elefanten. Mark fröstelte. Wenn er nur ein Feuer hätte, an dem er sich wärmen könnte! Eine solche Kälte war er nicht gewöhnt, und er war auch nicht passend dafür gekleidet, das Hemd hielt sie kaum ab. Ein Feuer. Das brachte ihn auf eine Idee. Er hatte doch die Streichhölzer in seiner Hosentasche – konnte er etwas mit ihnen ausrichten? Er hatte Geschichten gelesen, in denen Leute Wilde erschreckten, indem sie eines anzündeten und die Gelegenheit nutzten, zu fliehen. Es war eine geringe Hoffnung, doch einen Versuch wert. Er steckte die Pistole in die Halfter zurück und fummelte mit kältesteifen Fingern nach der Schachtel. Schließlich holte er ein Streichholz heraus und zündete es an. Nichts geschah. Die Halbmenschen blickten flüchtig, ohne jegliche Neugier auf das Licht. Hastig blies Mark es aus. Dieser einfache Trick nutzte hier also gar nichts, er erschreckte lediglich ihn selbst, denn der Anblick dieser Gesichter ringsum, auf die der Lichtsein gefallen war, war fast mehr, als er ertra gen konnte. Sie waren schrecklich. Wie Menschen und doch so grauenvoll anders. Er schritt in ihrer Mitte dahin. Soweit er es aus den Sternen schließen konnte, bewegten sie sich südwestwärts, auf die weißbehüteten Berge zu, und immer weiter weg von der RaumZeit-Maschine. Würde er sie je wiedersehen? Allmählich begannen ihm die Beine vor Müdigkeit zu schmerzen. Sein Hunger war ein drückender Knoten im Bauch, und die Kälte machte ihn steif. Der Mond, eine breite Silbersi chel, warf nun seinen bleichen Schein auf die Welt und die Wesen um ihn. Mark fürchtete sich, sie zu betrachten. Wie lange sie so dahinstapften, hätte Mark nicht sagen kön 32
nen, ihm erschien es jedenfalls eine Ewigkeit. Schließlich bemerkte er, daß sie die Ebene verlassen hatten und der Boden unter seinen Füßen anstieg, und rechts und links des Pfades sah er die Umrisse von verkümmerten Nadelbäumen. Immer höher folgten sie dem Pfad. Marks Atem kam keuchend in der kalten, dünner werdenden Luft, und er spürte ein Stechen in der Brust. Viel weiter würde er es nicht mehr schaffen. Die Halbmenschen dagegen schienen überhaupt nicht zu ermüden. Vage wurde Mark bewußt, daß sie durch einen eisigen Wildbach wateten und danach seine dünnen Slipper zu gefrieren begannen. Mark wußte kaum noch, was mit ihm geschah. Automatisch stapfte er weiter, seine Beine bewegten sich, aber er schien von seinem Körper getrennt zu sein und schwebte taub durch eine farblose Leere. Die Berge öffneten sich zu einem Tal, dann zu einem Paß, und Mark ahnte die schneebedeckten Berge ringsum mehr, als er sie sah. Die Halbmenschen führten ihn einen schmalen Felspfad hoch und schließlich in eine Höhle. Licht warf flackernde Schatten auf feuchte Wände. Feuer! Als Mark die Wärme spürte, bewegten seine Beine sich gleich viel schneller. Knurren und Murmeln begrüßte ihr Erscheinen, und Mark stand plötzlich im Feuerschein. Ein ferner Winkel seines Verstands war dankbar, daß seine geschockten Sinne nicht richtig reagierten, daß er nicht klar sehen konnte, war ihm doch, was er sah, schon zuviel. Die Wesen waren im Schatten der Nacht schrecklich genug gewesen – hier ums Feuer waren sie monströs! Wenn sie wenigstens wie Affen ausgesehen hätten, wäre es nicht so schlimm gewesen. Affen waren belustigend, waren komisch, weil sie die Menschen nachzuahmen versuchten. An diesen Wesen aber war absolut nichts komisch. Sie waren erschrek kend, denn es bestand kein Zweifel, daß sie Menschen waren. 33
Ihre Beine waren an Oberschenkeln und Knien gekrümmt, was ihre Haltung gebückt machte. Sie hatten breite, kräftige Schultern, einen Brustkasten wie ein Faß, schwere Knochen, gewaltige Muskeln, kurze kraftvolle Unterarme und Waden. Ihr großer Schädel hing vom Stiernacken nach vorn. Tieflie gende kleine Augen spähten unter schweren Überaugenbögen hervor, und ein großer, vorstehender Mund verlief in einem fliehenden Kinn. Sie waren bärtig, und schmutziges Haar wuchs tief über ihre niedrige Stirn. Alle trugen Tierfelle, die genug von ihren Körpern freiließen, daß ihre dichte Behaarung zu sehen war. Die Höhle war entsetzlich schmutzig. Abgenagte Knochen und verrottendes Fleisch lag auf dem Boden herum, und der Gestank war umwerfend. Insekten summten um die Wesen so dicht, wie Flöhe auf einem Hund hüpften. Hin und wieder versuchten die Halbmenschen die Fliegen zu vertreiben. Der Mund der Wesen hing gewöhnlich offen, so konnte Mark ihre scharfen weißen Zähne sehen. Das menschliche Gehirn und Nervensystem ist mit vielen Schutzmechanismen ausgerüstet. Wenn der Schock zu groß und die Furcht zu gewaltig werden, geschieht etwas, und nichts scheint mehr wichtig zu sein. Mark hatte dieses Stadium erreicht. Inmitten dieses Horrors hatte er nur einen Gedanken: ans Feuer zu gelangen. Sein Körper war nahezu taub vor Kälte, und die Wärme der Flammen waren wie ein Hauch von Leben. Mark taumelte vorwärts und fiel fast ins Feuer. Doch einer der Altmenschen fing ihn auf und riß ihn zurück. Die Wesen knurrten einander etwas zu, dann spürte Mark, wie er einen schmalen Pfad in der Höhle entlanggeschoben wurde und man ihn in eine klamme Minihöhle stieß, wo er auf dem Felsboden zusammensackte. Nur vage war er sich bewußt, daß die Wesen einen riesigen Felsblock vor den Eingang der winzigen Höhle schoben, und es dunkel um ihn wurde. Man hatte ihn also eingesperrt. Frierend und hungrig keuchte 34
er nach Luft. Er wußte nun mit Sicherheit, daß diese Wesen Neandertaler waren und er sich in ihrer Hand befand. Mehr ertrug er nicht mehr. Gnädige Ohnmacht griff nach ihm.
35
6. Flucht Als Mark wieder zu sich kam, blieb er still liegen und blickte auf die feuchte Felswand vor seinen Augen. Er fühlte sich ein wenig besser und hatte seinen kühlen, klaren Kopf zurückge wonnen. Er hatte Glück, daß er noch am Leben war. Er hatte nicht gedacht, daß er die Nacht überleben würde. Er vergeudete keine Zeit damit, sich leid zu tun, sondern machte sich sofort daran, die Situation zu analysieren. Solange Leben in ihm war, würde er nicht aufgeben. In welcher körperlichen Verfassung war er? Vorsichtig stand er auf und lehnte sich an die Wand, bis sein Schwindelgefühl verging. Er war sehr schwach, aber sein Hunger war nur noch ein dumpfer Druck im Magen. Sein Mund war trocken, und er hatte Durst. Aber wie durch ein Wunder hatte er kein Fieber. Er wußte, wenn er Lungenentzündung bekäme, wäre es aus mit ihm, denn er selbst könnte sich hier nicht pflegen. Er ging durch die Düsternis zum blockierten Eingang. Der Felsbrocken schloß nicht dicht, so konnte er durch die Spalten sehen. Er spähte durch die große Höhle zu deren Eingang. Es war dämmrig davor und sah aus, als würde es bald Abend. Demnach mußte er den ganzen Tag verschlafen haben. Was konnte er tun? Er versuchte, den Felsbrocken wegzu schieben, vergebens. Sinnlos, seine restliche Kraft zu vergeu den. Er streckte sich wieder auf dem nackten Boden aus. Aus dem klammen Gestein sickerte ein bißchen Wasser. Er leckte es mit der Zungenspitze auf, um wenigstens etwas Feuchtigkeit in den Mund zu kriegen. Dann richtete er den Blick auf den Spalt im Felsen und beschloß, alles herauszufinden, was er nur konnte, in der Hoffnung, auf eine Fluchtmöglichkeit zu stoßen. Er sagte sich, daß er zweifellos klüger als diese Neandertaler war, außerdem hatte er nach wie vor seine .45er. Wenn er richtig gezählt hatte, befanden sich zwanzig Perso 36
nen in der großen Höhle – der größere Teil Frauen und Kinder. Sie saßen oder bewegten sich alle um ein Feuer in Höhlenmit te. Zunächst erschienen sie Mark lediglich als eine Meute Wilder, doch während er sie länger beobachtete, erkannte er doch so etwas wie Ordnung in dem scheinbaren Durcheinan der. An ihrer geradezu erschreckenden Häßlichkeit hatte sich nichts geändert, nur fand Mark sie nicht mehr so abstoßend wie zuvor. Vielleicht lag es daran, daß er sich inzwischen an ihren Anblick gewöhnt hatte. Möglicherweise lag es aber auch an ihrer Handlungsweise. Denn so grotesk sie wohl aussahen, gingen sie doch typisch menschlicher Beschäftigung nach. Mehrere Neandertalerinnen kümmerten sich um das Feuer. Sie schleppten Reisig, trockene Aststücke, Farne und Moos von einem Haufen in einer Ecke herbei und legten es vorsichtig auf die prasselnden Flammen. So abstoßend die kleinen Kinder auch aussahen, wirkten sie doch fast komisch, wie sie hinter ihren Müttern hertrippelten und Zweige zum Feuer zogen. Eine Frau kratzte mit einem scharfen Stein das Fleisch von einem Bisonfell. Der Stein war für diesen Zweck viel zu unhandlich, trotzdem schaffte die Frau es. Tiere sah Mark keine in der Höhle. Am Eingang kauerte ein Neandertaler, der Ausguck vielleicht, und blätterte mit einem Hammerstein Stücke von einem größeren Stein ab. Neben ihm lag ein kurzer Holzspeer mit Steinspitze. Felle lagen herum, sie dienten offenbar als Lagerstätten und Schlafdecken. Hinter dem Feuer war eine seltsame Anordnung von Knochen und Steinen. Mark nahm an, daß sie eine zere monielle Bedeutung hatte. Er bemerkte auch, daß die Knochen in Vierergruppen placiert waren. Offenbar hatte der Symbolis mus einer Glückszahl schon sehr früh in der menschlichen Gesellschaft begonnen. Der Ausguck rief etwas, und kurz danach kletterten fünf Neandertaler in die Höhle. Sie schleppten mehrere kleine 37
Bisonkälber herbei, und einer Wurzeln und Beeren. Alle waren mit Speeren bewaffnet. Erleichtert stellte Mark fest, daß sie keine Bogen hatten. Sie warfen die Jagdbeute vor den Frauen auf den Boden und stießen Knurrlaute hervor. Mark konnte keine möglichen Worte heraushören, aber offenbar hatten die Altmenschen – so bezeichnete man die Neandertaler in seiner Zeit – eine eigene Sprache. Ihren lebhaften Gesten nach, schloß er, daß sie sich über die Aufteilung des Fleisches nicht einig waren. Einer wurde wütend und griff nach einem Bisonbein, woraufhin ihn zwei andere sofort grob zur Seite stießen. Von drei Männern abgesehen, die allein blieben, verteilten sich die restlichen auf Familiengruppen, die sich in getrennte Teile der Höhle zurückzogen. Die drei übriggebliebenen Männer grunzten einander etwas zu. Einer deutete auf die kleine Höhle, in der Mark eingesperrt war. Sie gingen darauf zu. Mark zog seine Pistole und wartete. Die Zeit für einen Fluchtversuch war noch nicht reif, aber möglicherweise hatte er keine Wahl. Beim Herankommen der Neandertaler kehrte Marks Furcht zurück. Menschlich oder nicht, diese Burschen boten wahrhaf tig keinen angenehmen Anblick, und bei ihren scharfen Zähnen fragte er sich … Die drei Männer schoben den Felsblock vom Eingang zu rück. Mark stand auf und hielt die Pistole schußbereit. Er konnte die Burschen riechen. Was wollten sie? Wenn er sich bloß mit ihnen verständigen könnte. Er verstand jetzt sehr gut, weshalb sein Onkel davor gewarnt hatte, unvorbereitet in eine bestimmte Zeit zur reisen. Könnte er mit ihnen reden, hätte er wenigstens eine Chance. Einer der Neandertaler deutete plappernd auf ihn. Offenbar wollte er seine großartige Beute den zwei anderen zeigen. Mark bemerkte, daß die anderen sich nicht über seine Erschei nung wunderten. Allerdings tupfte einer mit sichtlicher Neugier auf sein Hemd, und ein anderer beäugte sein kurzes Haar. Das 38
war alles. Während Mark wartete, kam ihm ein Gedanke. Es mochte von Bedeutung sein, daß die Neandertaler seine Anwesenheit und ihn überhaupt als völlig selbstverständlich hinnahmen. Natürlich konnten sie ganz einfach zu dumm sein, den Unter schied zwischen ihm und den Tieren hier zu erkennen, aber das glaubte er nicht. Die Neandertaler waren wahrscheinlich viel klüger als sie aussahen. Nein, es mußte einen anderen Grund für ihren Gleichmut geben. Und Mark konnte sich nur einen denken: die Neandertaler mußten bereits Menschen wie ihn gesehen haben. Aber wo? Und wie? Mark vermeinte die Antwort zu kennen … Nach einer Weile verließen die drei ihn und schoben den Felsbrocken wieder vor. Mark steckte die .45er ins Holster zurück und streckte sich wieder auf dem Boden aus. Sein Hunger machte sich bemerkbar, und er leckte Wassertropfen von den Wänden. Was jetzt? Wenn nicht bald etwas geschah, würde es zu spät, überhaupt etwas zu tun. Mit jeder Minute wurde er schwächer, und das Kratzen in der Kehle durch die klamme Höhlenluft immer ärger. Er spähte wieder hinaus. Offenbar war die Nacht inzwischen hereingebrochen. Die flackernden Flammen warfen lange Schatten auf die Höhlenwände, und die Altmenschen bewegten sich im tanzen den Licht wie Kreaturen aus einem vergessenen Traum. Mark sah ihnen zu, wie sie große Brocken Fleisch, auf Stecken gespießt, über dem Feuer grillten und sich den Bauch damit vollstopften. Sein Hunger wurde fast unerträglich bei dem köstlichen Fleischgeruch. Nachdem die Neandertaler gegessen hatten, stellten sie sich hinter dem Feuer, zwischen den Zeremoniensteinen und -kno chen, auf und blieben einen Augenblick reglos stehen. Einer der sich einen roten Streifen wie ein Band auf die Stirn ge zeichnet hatte, schrie viermal auf, dann warf er sich auf die Knie und schlug viermal mit dem Kopf gegen einen großen, 39
gebleichten Schädel, der einmal einem Mammut gehört haben mochte. Stille herrschte. Die langen Schatten spielten zwischen den geduckten Gestalten. Und der Wind strich stöhnend über den Höhleneingang. Trotz des Ernstes seiner Lage beobachtete Mark die Neander taler fasziniert. Auf ein zweifellos ausgemachtes Zeichen hin, das Mark jedoch nicht bemerkte, hob jeder Neandertaler, außer dem mit dem roten Streifen auf der Stirn, einen langen gebleichten Knochen auf und schlug damit auf die Steine, und ein rhythmisches Klicken drang durch die Höhle. Wieder herrschte die Zahl vier vor: nach jeweils vier Schlägen, setzte eine kurze Pause ein. Das war eine Szene, die die Phantasie auf Hochtouren brach te. Hier, im Morgengrauen der Menschheit, standen Neanderta ler und machten Musik mit Knochen und Steinen. Etwas an diesen Wesen in der Höhle war unsagbar traurig – etwas Ungeahntes, nicht Erklärliches. So schrecklich sie auch waren, empfand Mark doch nur fast Mitleid mit ihnen. Sie lebten und träumten sehr seltsame Träume, während das Rad der Zeit sich gnadenlos drehte und sie überrollte, so wie es die gewaltigen Eismassen überrollte, wo ihr Zuhause war … Doch noch lebten sie. Plötzlich verstummte das Klicken. Die plötzliche Stille schmerzte geradezu. Drei Männer lösten sich aus der Gruppe der jetzt unbewegt Stehenden. Einer davon war der mit dem roten Stirnstreifen, der die beiden anderen nun auf Marks Höhle zuführte. Mark lächelte kalt. Dann war die Zeremonie also allein sei netwegen durchgeführt worden. Und nun kam er an die Reihe. Er ahnte bereits, welche Rolle sie ihm zugedacht hatten. Es konnte wohl angenommen werden, daß eine Gruppe wie diese Neandertaler, die ein karges Leben mit nur dem Aller notwendigsten führten, keine Verwendung für Gefangene 40
hatten. Sklaven brachten in einer solchen Gesellschaft mehr Schwierigkeiten als Nutzen. Sie hatten Mark weder zu essen noch zu trinken gegeben, was bedeutete, daß sie nicht vorhat ten, ihn am Leben zu lassen. Ihm mochte ein schneller oder auch langsamer Tod beschieden sein, aber töten würden sie ihn. Waren die Neandertaler Kannibalen? Möglich – doch Mark machte sich keine Sorgen, was nach seinem Tod mit ihm geschah. Er wollte leben! Er durfte nicht länger warten und auf eine bessere Gelegen heit hoffen. Jetzt war es soweit! Die drei Neandertaler schoben den Felsbrocken zur Seite. Der Mann mit dem roten Stirnstreifen knurrte Mark an. Es bedeutete zweifellos, daß er aufstehen sollte. Mark zog die .45er. Diesmal würde er sie benutzen. Aber noch schoß er nicht. Er taumelte auf die Füße und schwankte. Er versuchte verzweifelt, die anderen erkennen zu lassen, daß er zu schwach war, sich auf den Beinen zu halten. Der mit dem roten Streifen packte Mark am Arm, und seine langen, schmutzigen Nägel gruben sich schmerzhaft ins Fleisch. Mark nahm die Pistole in die andere Hand. Wenn sie versuchten, sie ihm wegzunehmen, würde er sie alle drei erschießen müssen. Die Neandertaler achteten überhaupt nicht auf die .45er. Und Marks Trick – wenn er überhaupt einer war, denn er fühlte sich tatsächlich entsetzlich schwach – nutzte. Sie erachteten ihn offensichtlich für zu hilflos, als daß sie etwas von ihm befürch ten müßten. Zwei der Burschen kehrten zu der Zeremonie am Feuer zurück und überließen Mark dem Bemalten allein. Mark wartete, bis sie aus der kleinen Höhle waren. Nun war der Weg in die Freiheit offen. Daß es draußen dunkel und kalt war, durfte ihn nicht stören. Es war jetzt oder nie. Mark zögerte kurz. Der Neandertaler war eine schreckliche Travestie eines Menschen, trotzdem war er ein Mensch. Mark hatte noch nie einen Menschen getötet, und selbst jetzt … 41
Aber er hatte keine Wahl. Er blieb plötzlich angespannt ste hen, und der überraschte Neandertaler mit ihm, ohne allerdings den Griff um seinen Arm zu lockern. Der Altmensch knurrte tief in der Kehle. Mark blickte ihm in die Augen. Er hob seine .45er, und seine Hand war ganz ruhig. Der andere, der nicht wußte, daß das Ding eine Waffe war, wirkte ein wenig er staunt. Mark zielte zwischen die Augen und drückte auf den Abzug. Ein gewaltiger Knall schien die ganze Höhle zu erschüttern, und der Neandertaler sackte zusammen. Seine ungeahnten Kraftreserven kamen ihm zu Hilfe, als Mark zum Höhleneingang sauste. Sein Herz pochte heftig. Wohin sollte er laufen? Wie lange würde er durchhalten können? Verzweifelt raste er noch schneller, wie ein verstörter Hase, hinaus in die Dunkelheit der kalten Nacht. Zu gut erinnerte er sich an die Schnelligkeit und das erstaunliche Durchhaltever mögen der Neandertaler. Den Felsenpfad rannte er hinunter ins sternenhelle Tal, und spürte, wie sein erschöpfter Körper aufbegehrte. Er war schwach vor Hunger, und er wußte, daß er es nicht sehr lange aushalten würde. Als er kurz verschnaufte, hörte er hinter sich das Brüllen der wütenden Neandertaler.
42
7. Die Nacht In jedem Menschen steckt eine tiefe Kraftreserve. Sie liegt verborgen in der menschlichen Persönlichkeit. Es kann nicht nach Belieben angezapft werden, dieses Reservoir, und es kann nicht ins Bewußtsein gerufen werden. Die meisten Menschen wissen bis zu ihrem Tod nichts davon. Aber einige finden es. Wenigen, ein paar Auserwählten, öffnet es sich. Mark öffnete es sich. Es schien aus dem Nichts zu kommen und floß durch seine müden Adern. Es hielt ihn aufrecht, wenn er längst hätte zusammenbrechen müssen. Er raste durch das Tal. Das knurrende Brüllen der Neanderta ler schien näher zu sein. Sie durften ihn nicht erwischen, denn sie würden ihn in Stücke reißen. Er watete durch den eisigen Bach, aber seine tauben Füße spürten die kalte Nässe kaum. Er rannte durch das Bergvorland und hinaus auf die weite Ebene. Das Gras zupfte an seinen Füßen, und das Gestrüpp riß an seinen Jeans. Mark rannte und rannte. Sein Atem stach wie glühende Mes ser in seine Lunge, sein Mund war ausgedörrt, und die kalte Luft brannte durch ihn. Seine Beine zuckten und die Füße waren wie Eisblöcke. Er konnte nicht mehr! Doch hinter ihm hörte er immer noch seine unermüdlichen Verfolger. Plötzlich wurde ihm klar, daß er die Raum-Zeit-Maschine nicht erreichen konnte, selbst wenn er imstande wäre, sie im Sternenlicht zu finden. So lange würde er nicht durchhalten. Schon bald würde der Mond aufgehen, und er würde wie im Suchlicht stehen. Er konnte es nicht schaffen! Mark blieb keuchend stehen. Er mußte überlegen – aber dazu hatte er keine Zeit. Und er war so müde! Wie schön wäre es, im Gras zu liegen und sich vom Schlaf ins Nichts tragen zu lassen. Er schlug sich ins Gesicht, um wach zu werden. Die Nean 43
dertaler knurrten in der Dunkelheit hinter ihm und waren schon sehr nah. Voll Verzweiflung wechselte Mark die Richtung und zwang seinen Körper wieder zu laufen, den Weg zurück, den er gekommen war, auf die knurrenden, wütenden Verfolger zu. Aber nicht direkt. Er war vom Tal aus genau nordwärts ge laufen, jetzt rannte er südsüdostwärts, gerade genug, um unbemerkt an den Neandertalern vorbeizukommen, wenn er Glück hatte. Wenn … Sie würden nicht erwarten, daß er zurücklief, dessen war er sicher. Er zog seine .45er und lief geduckt. Er kam ihnen nahe – jetzt war er in gleicher Höhe mit ihnen, er konnte sie durch die Nacht riechen … Mit erschreckender Plötzlichkeit tauchte neben ihm eine Gestalt auf. Mark ließ sich fallen und kroch auf dem Bauch durchs nasse Gras. Hatte man ihn entdeckt? Er mußte leiser atmen, aber das war unmöglich. Hatte man ihn entdeckt? Offenbar nicht. Niemand schlug Alarm. Sein Körper war ein einziger Schmerz, als Mark sich wieder auf die Füße kämpfte und weiterrannte. Er würde sie nicht lange zum Narren halten können, und dann waren sie wieder hinter ihm her. Aber er wußte jetzt, daß er auf der freien Ebene nicht die geringste Chance hatte. Die Neandertaler waren stärker als er und in der Überzahl. Selbst im Laufen beschäftigte sich ein Winkel seines Unterbewußt seins mit dem Problem. Es war das uralte Problem des Men schen gegen den Menschen: der Gejagte gegen den Jäger. Nur in seinem Fall war es Mensch gegen Halbmensch. Das mußte ihm einen Vorteil bringen. Es war seine einzige Hoffnung. Mark hielt sich an den Hängen den Bergvorlands in Ostrich tung vom Tal der Neandertaler. Die Geräusche der Verfolger hatten sich in der Ferne verloren, trotzdem gab Mark sich nicht der trügerischen Hoffnung hin, daß er sie los war. Sie würden seine Spur wieder aufnehmen und ihr unermüdlich folgen. Die Hänge wurden immer steiler und die verkrüppelten Kie 44
fern weniger. Mark verdoppelte seine Anstrengung, kam jedoch trotzdem nur langsam voran. Wenn er bloß die Berge hinter diesem Vorland erreichen und sich irgendwo verstecken könnte … Doch die Neandertaler würden die Berge ringsum gut genug kennen, daß sie ihn fänden. Er keuchte heftig. Die Hoffnung hatte ihn verlassen, und er wußte, daß er bald die Grenze seiner Kraftreserven erreichen würde. Er konnte sich nur noch dahin schleppen, bis er umkippte – und dann war noch die .45er mit fünf Schüssen. Vier für die Neandertaler und eine Kugel für ihn. Mark kämpfte sich nun die Berge hoch, immer höher und immer ostwärts, fort vom Tal seiner Verfolger. Er kroch über glatte Simse und watete durch Schneewehen, von denen er nicht wußte, ob sie bloß knöchel- oder kilometertief waren. Der sichere Tod war hinter ihm, aber vor ihm mochte eine Chance liegen, und wenn sie noch so gering war. Sein Glück hielt an. Er kletterte den Berg nicht weiter hoch, sondern stapfte ostwärts durch den Schnee. Er wußte, daß er Fußspuren hinterließ, aber daran ließ sich nichts ändern. Oder doch? Voraus sah er eine schwarze Spalte, eine tiefe Klamm. Erst da wurde ihm bewußt, daß der Mond aufgegangen war. Er blickte hoch. Da war er, kalt und schön wie immer, eine silber ne Sichel am Himmel. In seiner eigenen Zeit machten sie sich daran, eine Rakete zum Mond zu schießen. Gab es diese Zukunft, seine Zeit irgendwo? Oder war alles nur Teil eines Alptraumes? Was war die wirkliche Welt? Die hier oder die spätere? Er schüttelte den Kopf. Er mußte sich beeilen. Weit unter sich hörte er das Gluckern von Wasser. Er lächelte, er war über allen Schmerz hinaus, über alles, außer seinem Willen zu überleben. Vorsichtig stieg er über den Rand der Klamm und kletterte hinunter. Es war ein gefährlicher Abstieg, aber irgendwie 45
schaffte er es und stand schließlich am Ufer eines tosenden Wildbachs, mit den dunklen Bergen ringsum. Aber er durfte hier nicht rasten. Wenn er nur durchhalten konnte! Wohin jetzt? Mark überlegte. Seine Verfolger würden sicher erwarten, daß er dem Bach in die Berge folgte, fort von der Ebene, die ihm fast zur Falle geworden war. Also ging er bachabwärts. Er watete durch das eisige Wasser. Er mußte im Wasser bleiben, denn nur so konnten sie seiner Spur nicht folgen. Obwohl er kaum noch fähig war, einen klaren Gedan ken zu fassen, kämpfte sein Körper sich automatisch weiter. Kilometer weit stapfte er im Wasser dahin, bis der Bach endlich die Ebene erreichte. Dann kletterte Mark ans Ufer und schleppte sich weiter ostwärts dahin, fort von den Neanderta lerhöhlen, fort von der Raum-Zeit-Maschine, die er vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Der Boden war sumpfig um ihn, aber Mark bemerkte es nicht. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den andern, und seine Schuhe verursachten quietschende Geräusche. Er kam nun nur noch im Schneckentempo voran, und er wußte, daß er ein Plätzchen finden mußte, wo er sich ausruhen konnte. Er schleppte sich weiter in Richtung des Bergvorlands. Dort sah er sich benommen um. Ein paar Kiefern wuchsen hier, doch nichts, was ihm ein Versteck hätte bieten können. Er war schon fast am Zusammenbrechen, als er einen Felsvorsprung auf einem kleinen Sims ostwärts über ihm sah. Auf allen vieren kroch er hoch, denn er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Über dem Felsvorsprung fand er eine kleine Einbuch tung im Gestein, die durch große Felsblöcke geschützt war. Er kroch hinein. Hier war er zumindest vor dem Wind geschützt. Es war kein idealer Unterschlupf, aber er schaffte es einfach nicht mehr weiter. Er war durchnäßt und bibberte vor Kälte, doch durfte er es nicht wagen, ein Feuer zu machen, selbst wenn er noch die Kraft dazu hätte, was nicht der Fall war. Er 46
holte die .45er aus dem Holster, trocknete sie, so gut er konnte, und steckte sie wieder zurück. Nach Atem keuchend, mit Stichen in der Brust, dachte er flüchtig daran, zu dem Schnee zu klettern, den er über sich sah. Er könnte ihn essen und so seinen Durst stillen … Aber sein Körper weigerte sich. Er hatte sein Bestes gegeben und konnte nun nicht mehr. Mark hörte sein Herz flatternd schlagen und konnte nicht einmal mehr eine Hand bewegen. Er war hoffnungslos von der Raum-Zeit-Maschine abge schnitten, war krank, völlig erschöpft, und hatte weder zu essen noch zu trinken. Nicht einmal die Sicherheit hatte er, daß er den Neandertalern entkommen war. Obendrein war er zu schwach, auch nur auf den Abzug seiner Pistole zu drücken. Er blickte auf den kalten Mond, der allmählich im Osten ver schwand. Aus der Ebene, die sich unter ihm erstreckte, hörte er das trompetenstoßähnliche Gebrüll eines Tieres, das er sich nicht einmal vorstellen konnte. Zum erstenmal wurde ihm so richtig bewußt, was ihm passiert war. Er war schließlich nur ein Junge, und er war müde und hungrig und entsetzlich allein. Doch dann überwältigte ihn der Schlaf und hüllte ihn warm und tröstend ein.
47
8. Flammen des Morgens Mark schlief den traumlosen Schlaf völliger Erschöpfung, und als er aufwachte, konnte er nicht glauben, daß er noch lebte. Er öffnete die Augen nicht sogleich und blieb ruhig liegen, um die angenehme Wärme zu genießen. Seine stechenden Schmerzen waren zu einem körperlichen Unbehagen abgestumpft, aber selbst das erschien ihm im Augenblick angenehm. Schließlich hob er doch die Lider und blinzelte. Die Sonne, die wundervolle Sonne strahlte an einem leuchtend blauen Himmel mit vereinzelten weißen Wölkchen. Fast glaubte er, zu Hause in den Bergen von New Mexico zu sein. Dankbar badete er sich in der Sonne. Die angenehme Wärme durchzog ihn und weckte die schlummernden Feuer des Le bens. Mark lächelte zufrieden. Gab es etwas Wundervolleres als die Sonnenwärme? Er wurde sich bewußt, daß er auf dem Rücken lag, und rollte sich auf die Seite. Die Felsbrocken, die ihm Schutz gewährt hatten, waren nun freundlich und nicht mehr furchterregende Ungeheuer, für die er sie in der Nacht gehalten hatte. Unter ihm erstreckten sich verkrüppelte Kiefern, und dahinter begann die weite Ebene. Der Duft der Nadelbäume hing süß in der Luft, und Mark bemerkte, daß die Sonne direkt über ihm stand. Es mußte Mittag sein. Vorsichtig schluckte Mark. Sein Hals schmerzte noch, aber nicht schlimmer als in der Nacht. Die Sonne hatte ihn gerettet und der Felsen. Die riesigen Felsblöcke hatten ihn vor dem schneidenden Wind geschützt, und die Sonne mußte bald aufgegangen sein, nachdem er zusammengebrochen war, und seine nassen Sachen getrocknet haben. Mark fühlte sich wie ein neuer Mensch, bereit sich dem Leben mit frischem Mut zu stellen. Er stand auf, aber da spürte er, daß er doch nicht so stark war, wie er geglaubt hatte. Schwindel machte ihn taumeln. Er wäre 48
gefallen, hätte er sich nicht an einem Felsen festhalten können. Mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis der Anfall vergan gen war, dann richtete er sich auf. Diesmal schaffte er es stehenzubleiben, aber er war entsetzlich schwach. Die Anstrengung ließ ihn keuchen, und sein trockener Mund fühlte sich wie voll Watte an. Sein Durst kehrte zurück und mit ihm ein nagender Hunger. Er brauchte unbedingt etwas zu essen und zwar schnell. Vor sichtig trat er an den Rand des Simses und schaute sich wach sam um. Es war nichts Gefährliches zu sehen. Da waren nur der blaue Himmel, die Sonne und einige winzige, ferne Schat ten über der Ebene, Vögel vermutlich. In der Nähe, unter einem riesigen, leicht überragenden Felsblock war Schnee. Er fiel davor auf die Knie, sammelte eine Handvoll und zwang sich langsam zu essen. Der Schnee schmolz in seinem Mund und sickerte die trockene Kehle hinunter. Mark gönnte sich eine weitere Handvoll und noch eine, und dann fühlte er sich ein wenig besser – gut genug, jedenfalls, um es bis zu einem Bach zu schaffen. In den Bergen gab es zweifellos überall Wasser. Mark winkte seinem kleinen Unterschlupf, der ihm das Le ben gerettet hatte, schwach Lebewohl zu und kehrte zum sumpfigen Rand der Ebene zurück. Er ließ sich Zeit, um nicht unnötig Kraft zu vergeuden. Er überlegte nur kurz, ehe er sich wieder ostwärts wandte, entschlossen eine möglichst große Strecke zwischen sich und die Halbmenschen zu legen. Es konnte natürlich sein, daß es andere vor ihm gab, aber das war eben ein Risiko, das er eingehen mußte. Mark hielt wachsam Ausschau, doch er sah nirgendwo Wild. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, wie hungrig er war, nur half es nicht. Im Dahinstapfen malte er sich wundervolle Köstlichkeiten aus, sah sich in der kleinen Küche seines Onkels sitzen, vor einem gedeckten Tisch mit Truthahnsuppe, Salat, saftigem Steak, Kartoffelbrei mit brauner Butter, und als 49
Nachspeise Bananenkuchen mit Schlagsahne. Er lächelte kläglich. Es würde lange dauern, bis er wieder Bananenkuchen bekam. Seines Onkels Bananenkuchen war fünfzigtausend Jahre und mehr entfernt … Er ging weiter und wagte nicht, die roten Beeren zu kosten, die in Hülle und Fülle rings um ihn wuchsen. Er fühlte sich entsetzlich allein. In vieler Hinsicht war seine Einsamkeit für ihn das Schlimmste. Mark war nie zuvor bewußt gewesen, wie sehr er von anderen abhing. In der modernen Welt, die er kannte, war man nie wirklich allein. Wenn man etwas brauchte, ging man zu irgend jemandem und bekam es. Hatte man Hunger, öffnete man eine Dose, die in einer Fabrik gefüllt worden war. Fühlte man sich krank, griff man zum Telefon und bekam Hilfe. Telefon! Wenn sein Onkel nur nicht nach oben gegangen wäre, um das Telefon zu beantworten! Wenn sein Onkel jetzt nur bei ihm wäre! Aber er war es nicht. Er hatte niemanden, an den er sich wenden könnte. Er würde es allein schaffen müs sen, wenn er es überhaupt schaffte! Die Sonne auf seinem Rücken war angenehm, aber das Leder seiner Schuhe war getrocknet und nun steif und hart. Seine Füße schmerzten, doch das ließ sich nicht ändern. Er ging unbeirrt weiter. Schließlich sah er üppiges Buschwerk vor sich und eilte dar auf zu. Seine Augen hatten ihn nicht betrogen. Eine Quelle speiste einen kleinen Teich vor ihm. Das Wasser war verhält nismäßig tief, aber klar. Mark konnte die Sternchen auf dem Grund zählen. Er streckte sich am Ufer aus, schob den Kopf über das Wasser und trank. Es war köstlich und erfrischte ihn. Er stand auf, ließ sich jedoch schnell auf alle viere fallen und versteckte sich im Gebüsch. Vorsichtig zog er seine .45er. Sein Herz schlug freudig. Ein kapitaler Hirsch kam aus den Büschen am gegenüberliegenden Ufer und witterte. Dann, als hätte er sich überzeugt, daß er allein war, senkte er den Kopf und begann zu saufen. Kurz danach schlossen sich ihm zwei 50
Hirschkühe und ein kleines -kalb an. Zu nervös auch bloß zu atmen, zielte Mark auf den Hirsch. Seine Hand zitterte, und zweimal mußte er die Pistole senken, weil er sie nicht ruhig halten konnte. Eine Hirschkuh witterte sichtlich nervös, und der Hirsch hob wie fragend den Kopf. Mark durfte nicht länger zögern. Er drückte auf den Abzug. Der Knall wirkte unnatürlich laut in der bisher friedlichen Stille, und der Hirsch wirbelte herum und sprang über das Gebüsch hinter sich. Verzweifelt schrie Mark auf. Er hatte ihn verfehlt. Er sprang auf die Füße und schoß verzweifelt aufs neue. Mitten im Sprung zuckte der Hirsch, setzte auf und versuchte weiterzulaufen. Da sah Mark das verräterische Rot auf seiner linken Schulter. Er zielte sorgfältig, schoß aber doch nicht. Er konnte sich noch eine Kugel eigentlich nicht leisten, würde sie jedoch opfern, wenn es sein mußte. Aber es war nicht nötig. Der Hirsch machte nur noch ein paar taumelnde Schritte, dann brach er zusammen. Der Blick aus seinen großen traurigen Augen, mit dem er Mark bedachte, wirkte fast menschlich. Das Hirschkalb stupste das gefallene Tier verwirrt an, folgte dann jedoch seiner Mutter über die Ebene. Mark ging um den Teich herum und kniete sich neben den Hirsch. Mit zitternden Fingern holte er sein Messer aus der Tasche. »Tut mir leid, alter Junge«, murmelte er. »Aber ich habe noch nie zuvor in meinem Leben etwas zu essen so dringend nötig gehabt wie jetzt.« Er machte sich an die Arbeit. Zwar war die Klinge rasiermesserscharf, aber zum Tranchieren war sie nicht gemacht. Er hatte große Mühe, ein Bein abzutrennen und dann noch ein paar gute Stücke herauszuschneiden. Möglicherweise lauerten Neandertaler in der Nähe, aber Mark dachte, wenn seine Schüsse ihre Aufmerksamkeit nicht auf ihn gelenkt hatten, würde es auch nichts anderes. So hung rig er war, wollte er das Fleisch doch nicht roh essen. Ein 51
flacher Stein am Teich würde als Grill dienen, und Kleinholz konnte er sich von den Sträuchern in der Nähe holen. Mit dem Taschenmesser schnitt er Zweige ab, befreite sie von den Blättern, spaltete sie und teilte sie in kleine Stücke, von denen er Späne schälte. Die Späne legte er zuunterst auf den Stein, dann schichtete er locker kleine Zweige und schließlich größe re darauf. In einen stärkeren Ast schnitt er an einem Ende zwei Zinken ein, dann war er bereit. Jetzt holte er seine Streichhölzer hervor und versuchte eines anzuzünden, aber es war naß, die ganze Schachtel war naß. Sein Magen verkrampfte sich. Nun wurde ihm klar, welchen Schwierigkeiten sich der primitive Mensch gegenübersah. Angenommen er, Mark, müßte sich sogar erst sein eigenes Messer anfertigen? Wie würde er es anstellen? Und angenom men, er mußte Feuer mit einem Stück Holz und einem impro visierten Bohrer machen? Sicher, auf den Bildern, die er gesehen hatte, schien es einfach genug gewesen zu sein. Aber brachte er es fertig? Er vergeudete sechs Streichhölzer, ehe endlich eines zischte und Feuer fing. Er schützte die unbezahlbare Flamme mit den Händen und hielt sie an die Späne. Das Holz war feucht vom nächtlichen Nebel, die Flamme flackerte schwach und wäre fast ausgegangen. Nie zuvor hatte Mark Feuer so zu schätzen gewußt. Bisher war es immer etwas Selbstverständliches, Alltägliches gewesen. Nicht jetzt. Er konzentrierte sich ange strengt auf das karge Flämmchen, blies vorsichtig darauf, doch es zündete die Späne nicht, wohl aber ein zweites Streichholz, das er daran hielt. Wenn es nur erst richtig brannte, würden auch die Späne Feuer fangen. Er brauchte Papier, nur gab es hier keines. Oder doch? Ihm kam eine plötzliche Idee. Während er sich bemühte, in einer Hand das Flämmchen am Leben zu halten, zog er mit der anderen seinen Geldbeutel aus der Jeanstasche. Er war feucht, aber nicht naß. Es gelang ihm, ihn mit einer Hand zu öffnen. Er 52
war innen völlig trocken, hastig holte er fünf Dollarscheine heraus. Einen zerriß er in winzige Stücke, die er vorsichtig auf das mehr glimmende als brennende Streichholz streute, das er inzwischen auf den Stein neben die Späne gelegt hatte. Tat sächlich fingen die Papierstückchen zu brennen an. Mark legte die vier anderen Scheine wie ein Zelt um sie herum und gab vorsichtig ein paar Holzspäne darauf – und tatsächlich griff die kleine Flamme danach. Mark sah zu, wie die brennenden Späne die etwas stärkeren Holzstücke erst erwärmten und wie dann auch sie Feuer fingen, das schließlich nach den dickeren Ästen griff. Er beobachtete das Feuer, als hätte er nie zuvor eines gesehen – als wäre es der herrlichste Anblick der Welt –, bis die Hitze ihn zurücktrieb. Er steckte die Streichholzschachtel wieder ein, genau wie den Geldbeutel. Dankbar spießte er ein Hirschsteak auf die Holz zinken des Astes und hielt sie gerade über die blaue Spitze der prasselnden Flammen. Das Fleisch zog sich zusammen und Saft tropfte zischend ins Feuer. Der Duft von gebratenem Wild füllte die Luft, und Mark schnupperte glücklich. Noch nie in seinem Leben war er so hungrig gewesen, und noch nie hatte etwas so köstlich gerochen. Nachdem das Fleisch gegart war, nahm er es vom Stock und legte es auf einen flachen Stein. Mit seinem Taschenmesser und einem spitzen Stock schnitt er es in Stücke und aß. Er hätte geschworen, daß ihm noch nie zuvor je etwas so gut ge schmeckt hatte. Als er satt war, trank er Wasser aus dem Teich und legte ein zweites Steak auf die glimmenden Holzkohlen. Satt und zufrieden streckte Mark sich in der Nachmittagsson ne aus und genoß es, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Nun, da er Zeit hatte, beschloß er den Hirsch oder das Rentier, was immer, vor dem Abend zu häuten. Er wollte keine weitere Nacht ohne gewissen Schutz verbringen müssen. Er verstand zwar nichts davon, wie man Felle weich und haltbar machte, aber er nahm an, wenn er das ganze Fleisch abkratzte und das 53
Fell in der Sonne trocknen ließ, würde es seinen Zweck erfül len und ihn warmhalten. Dann war da noch das Fleisch. Es hatte ihn zwei Kugeln gekostet, den Hirsch zu erlegen, und eine hatte er für den Neandertaler gebraucht. Ihm blieben also nur noch drei Schuß. Er konnte es sich nicht leisten, das Fleisch verkommen zu lassen, aber andererseits konnte er auch nicht alles essen, ehe es verdarb. Er beschloß, die besten Stücke herauszuschneiden, sie in Blätter zu wickeln und tief im Schnee zu vergraben. Das war so gut wie eine Tiefkühltruhe, und der Vorrat würde wochenlang reichen. Mark stand auf und grillte das zweite Stück. Er aß es bedäch tig, genoß den feinen Geschmack, und stellte schließlich fest, daß er sich fast überfressen hatte. Er legte sich wieder ins Gras und entspannte sich. Es war schön zu leben, und unter dem blauen Himmel mit den weißen Wölkchen, der warmen Nach mittagssonne, dem Duft von Gras und Blumen um sich, schien alle Gefahr unwirklich oder zumindest unendlich fern zu sein. Ja, es war wundervoll zu leben. Schläfrig wurde ihm bewußt, daß er das nie richtig gewürdigt hatte. Wenn man am Rand des finsteren Abgrundes dahintaumelt und endlich wieder in die Sonne kommt, sieht man die Dinge mit anderen Augen. Mark nickte schon halb im Schlaf, rollte herum und blickte fast träumend auf das stille Wasser des Teichs. Da erstarrte er. Er hatte den größten Fehler begangen, der überhaupt möglich war: er hatte auf seine Vorsicht, seinen Schutz vergessen. Im Teich spiegelte sich ein regloser Schatten. Jemand oder etwas stand hinter ihm!
54
9. Über die Kluft der Zeit hinweg Einen langen Moment war Mark wie gelähmt. So weit zu kommen, so viel zu wagen und dann durch seine blinde Sorg losigkeit zu scheitern! Idiot! beschimpfte er sich lautlos. Idiot! Er zwang sich zur Ruhe. Er war nicht bereit aufzugeben, so schlimm es auch um ihn stehen mochte. Ganz langsam, um die Aufmerksamkeit nicht auf sie zu lenken, griff er nach der .45er. Nur gut, daß Waffen wie sie in diesem Zeitalter nicht bekannt waren. Wenn der Gegner glaubt, man sei hilflos, wird er eher unvorsichtig. Und wenn die Hilflosigkeit gar nicht echt ist und man eine geladene Pistole hält … Mark zog die .45er. Hinter ihm rührte sich immer noch nichts. Vorsichtig, fast Zentimeter um Zentimeter rollte Mark sich auf den Rücken, weil er da am leichtesten treffen würde. Kein Laut kam von der Gestalt, deren Schatten er im Teich gesehen hatte. Mark spannte sich an, schwang sich ganz auf den Rücken, und sein Finger drückte schon fast auf den Abzug. Im letzten Augenblick nahm er ihn zurück. Ein Mann beobachtete ihn. Kein Halbmensch, kein Neander taler, ein richtiger Mann. Er hielt einen Bogen, mit einem gefiederten Pfeil schußbereit an der Sehne. Er war hochge wachsen, etwa einsachtzig und ein beachtliches Exemplar von Mann. Seine zweifellos ursprünglich weiße Haut war sonnen gebräunt. Er trug saubere Fellkleidung, die seine kräftigen Arme und Beine unbedeckt ließ. Sein Haar war lang und schwarz, sichtlich gepflegt und mit einem Rohlederband zusammengehalten. Das Gesicht war breit mit festen Zügen, und erinnerte Mark ein bißchen an einen Indianer, allerdings fehlte ihm der leicht mongolide Einschlag. Mark blickte den Man an und der Mann ihn. Beide schienen gleichermaßen überrascht und unsicher zu sein, wie es weiter gehen sollte. Keiner senkte die Waffe, doch war auch keiner 55
bereit, grundlos zu töten. Mark wurde klar, daß der Mann ihn längst hätte umbringen können, und daß er ihn auch jetzt für unbewaffnet hielt. Ganz offensichtlich war er kein Killer, aber ein Blick in seine kühlen schwarzen Augen sagten Mark, daß er schnell und sicher töten würde, falls sein Gegner, in diesem Fall er, eine falsche Bewegung machte. Reglos standen beide einander gegenüber. Mark wollte nicht schießen, aber andererseits wußte er auch nicht, wann der Fremde sich entschloß, seinen Pfeil abzuschießen. Er wartete. Der Mann wartete. Die Sonne schien am blauen Nachmittags himmel beobachtend anzuhalten. Mark bemerkte, daß er schwitzte, und nicht von der Hitze. »Orn?« fragte der Mann plötzlich. Seine Stimme war tief und ruhig. Wieder die Sprachbarriere. Der Mann wartete auf eine Ant wort, aber was konnte er ihm erwidern? »Freund«, sagte er, denn er hielt es für angebracht, irgend etwas zu antworten, auch wenn der andere ihn nicht verstand. Ganz langsam und so ruhig er konnte, fuhr er fort: »Ich bin dein Freund.« Der Mann blickte ihn unbewegt an. Seine schwarzen Augen verrieten nichts. Weder Pfeil noch Bogen zitterten im gering sten. Mark staunte über die Kraft, die diesen gespannten Bogen so reglos hielt. »Orn?« fragte der Mann erneut. Mark zögerte, dann stand er ganz langsam auf. Der Mann machte einen Schritt zurück und der Bogen spannte sich noch mehr. Mark versuchte ein Lächeln. Sollte er schießen? »Ich bin dein Freund«, sagte er erneut. Vorsichtig, um den andern ja nicht zu erschrecken, hob er die Linke mit der Hand fläche dem Fremden zugewandt, als Zeichen des Friedens. Mit der Rechten hielt er die .45er schußbereit. Der Mann beobach tete ihn mit klugen Augen, aber es war offensichtlich, daß ihm die Geste nichts sagte. Also senkte Mark die Hand und lächelte 56
wieder. Der Mann rührte sich nicht und hielt weiterhin den Bogen gespannt. »Orn?« fragte er aufs neue, diesmal mit harter Stimme, daß es wie ein Ultimatum klang. Marks Finger zuckte am Drücker, aber er konnte nicht ver gessen, daß dieser Mann ihn verschont hatte, obwohl er ihn kaltblütig hätte töten können. Wenn er ihm nur zu verstehen geben könnte, daß er nicht sein Feind war! Da kam ihm eine Idee. Ganz langsam ging er zu dem nieder gebrannten Feuer. Der Mann blieb stehen, ließ ihn jedoch nicht aus den Augen. Mark griff nach einem der Steaks, die er bereits zugeschnitten, aber noch nicht gegrillt hatte. Er streckte es dem Mann mit der Linken entgegen, richtete aber weiterhin die Pistole auf ihn. Der Fremde blickte auf das Fleisch, und sein Griff um den Bogen entspannte sich ein wenig. Mark ging mit dem Fleisch ausgestreckt auf ihn zu. Sofort wich der Mann zurück und nahm wieder angespanntere Haltung an. Das war ein kritischer Augenblick, und Mark wußte es. Die Freundschaft oder Feindseligkeit dieses Mannes mochten für ihn sehr wohl den Unterschied zwischen Leben und Tod in dieser fremden Welt bedeuten. Also blieb er stehen und legte das Steak auf einen Stein zu seinen Füßen. Er deutete darauf, dann auf den Mann, und wich schließlich zurück. Der Mann beobachtete ihn weiterhin mit unbewegter Miene. Eine lange Minute verging. Keiner der beiden rührte sich. Endlich schien der Mann einen Entschluß zu fassen. Er nahm den Pfeil von der Sehne und gab ihn in seinen Fellköcher an der Schulter zurück. Dann trat er vorwärts, mit dem Blick auf Mark, und hob das Fleisch auf. Er lächelte und entblößte feste weiße Zähne. Mark lächelte zurück und steckte seine Pistole in das Holster. Ihm war klar, daß der Mann sich nicht in seine Hand gab, sondern ihn weiterhin für unbewaffnet hielt. Daß er seinen Bogen umhängte, bedeutete lediglich, daß er Mark nicht mehr 57
zu töten beabsichtigte, jedenfalls jetzt nicht. Zweifellos war er überzeugt, daß er Mark auch ohne Waffe besiegen könnte, falls es nötig wäre. Und wenn Mark sich die kräftigen Muskeln anschaute, bezweifelte er das nicht. Der Mann hatte nicht vor, sein Fleisch roh zu essen. Er ging zu dem niedergebrannten Feuer, stocherte darin und warf ein bißchen Reisig darauf, bis es neu aufloderte. Dann griff er nach dem gleichen Ast, den Mark benutzt hatte und betrachtete interessiert die spitzen Zinken, ehe er das Steak aufspießte. Er garte es, ließ es nur leicht abkühlen, nahm es in die Hände und biß davon ab. Er aß mit sichtlichem Genuß. Danach wusch er sich die Hände im Teich, setzte sich in einiger Entfernung von Mark nieder und betrachtete ihn neugierig. Er versuchte nicht mehr zu sprechen, nachdem ihm vermut lich klar war, daß Mark ihn nicht verstand. Offenbar war es nicht das erstemal, daß er jemandem begegnete, dem seine Sprache fremd war. Zweifellos lebten seine Leute in Familien zusammen oder in nicht zu großen Gruppen, und es war durch aus möglich, daß jede Gruppe ihre eigene Sprache hatte. Möglich war natürlich, daß ein paar Worte zumindest von mehreren benachbarten Gruppen verstanden wurden, und »Orn« gehörte dazu. Was es wohl bedeutete? Mark hatte durch seinen Onkel eine umfangreiche sprachwis senschaftliche Ausbildung, aber in seiner gegenwärtigen Lage nutzte sie ihm nicht viel. Ein Wort mochte alles mögliche bedeuten. Ein Wort war ein Symbol, das für etwas stand, wofür eine Gruppe von Menschen wollte, daß es stand. »Orn« konnte also wer weiß was bedeuten. Mark konnte sich nur nach dem Kontext richten, der Situation, in der das Wort benutzt wurde. Er vermutete, daß es »Freund« oder Ähnliches bedeutete. Als Frage hieß es möglicherweise, ob der andere friedliche oder feindselige Absichten hatte. Wenn das stimmte, würde er nur mit demselben Wort antworten müssen und es als Bestätigung betonen. Er überlegte, ob er es tun sollte, entschied sich aber 58
dagegen, weil er sich ja auch irren konnte. Falls »Orn« Feind bedeutete, mochte es ihm einen Pfeil einbringen. Trotzdem wollte er natürlich irgendwie zu einer Verständi gung mit dem Fremden kommen. Obwohl er zweifellos ein Wilder war, konnte er doch zum wertvollen Verbündeten werden. Nach einigem Überlegen, kam er zu dem Schluß, daß er sein Fleisch nicht einfach vergraben und in der Gegend bleiben konnte. Dazu war er den Neandertalern noch viel zu nah. Und er wußte auch nicht, wie er unbemerkt zur RaumZeit-Maschine zurückkehren könnte. Er war in der Vergangen heit gefangen, und je schneller er sich mit diesem Gedanken abfand und entsprechend plante, desto besser war es für ihn. Eine plötzliche kalte Brise strich über die Ebene, und Mark wurde sich der seltsam drückenden Luft bewußt. Er schaute hoch und sah dunkle Wolken am Himmel. In seiner Aufregung über das Erscheinen des Fremden hatte er sie gar nicht aufzie hen sehen. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entge gen. Mark rückte ein wenig näher an das wieder niederbren nende Feuer. Der Wind hatte alle Wärme mit sich genommen, und es sah aus, als ob es bald regnen, wenn nicht gar schneien würde. Die Ebene, die gerade noch so freundlich gewirkt hatte, erschien nun kalt und drohend. Aber seltsamerweise lachte der Fremde. Er deutete zu den dunklen Wolken. Es war unmißverständlich, was er damit sagen wollte – ein Gewitter war im Anmarsch. Der Mann stand auf und holte einen brennenden Ast aus dem Feuer. Dann winkte er Mark unmißverständlich zu und machte sich in Richtung des Bergvorlands auf den Weg. Mark zögerte nicht. Er ließ Fleisch und Teich zurück und folgte der Einladung des Fremden. Der Mann marschierte eilig unter dem drohenden Himmel dahin, aber Mark gelang es, mit ihm Schritt zu halten. Er fühlte sich wieder kräftiger, und er wußte jetzt, daß diese harte Welt 59
ihn entweder zum Mann machen oder ihn zerbrechen würde. Blitze zuckten wie gespenstische Fackeln auf der anderen Seite der Welt, und Donner grollte dumpf. Der Fremde schaute sich mit schärfen Augen um, bis er offenbar gefunden hatte, was er suchte: zwei riesige Felsblöcke, die ein massiges V bildeten. Dann griff er nach zwei herumliegenden abgebroche nen Ästen, jeder etwa einszwanzig lang, und schnitt mit einem Steinmesser Kerben in sie. Die beiden Äste stieß er in den Boden vor den Felsblöcken, und einen dritten Ast legte er oben auf das V. Mark verstand jetzt, was er vorhatte, und half ihm weitere Äste zu suchen, längere, die vom Querast oben zum Boden hinter den Felsblöcken reichten. Dann sammelten sie Gras und belaubtes Buschwerk, das sie auf diesen Rahmen schichteten und darauf zur Verstärkung dicke Äste legten. So bekamen sie einen recht brauchbaren Unterschlupf, an dessen Eingang sie ein Feuer machten. Als Mark eine gewaltige Regenwand herbeikommen sah, sammelte er hastig noch ein wenig Holz, damit das Feuer die Nacht über nicht ausgehen würde. Dann tauchte er mit dem Fremden unter das Schutz dach, und keinen Augenblick zu früh. Prasselnd setzte der Regen ein und Donner krachte über ihren Köpfen, als wäre er entschlossen, allein durch seine Lautstärke ihren Unterschlupf zum Einsturz zu bringen. Es war fast gemütlich hier, fand Mark. Er betrachtete seinen Gefährten und überlegte, wie er sich ihm verständlich machen könnte. Als ersten Schritt versuchte er seinen Namen zu erfah ren, indem er seinen nannte. Er deutete auf sich. »Mark!« brüllte er, um durch den tobenden Sturm überhaupt gehört zu werden. Der Mann beobachtete ihn aufmerksam, das war alles. Ent täuscht fragte sich Mark, ob er etwa die Intelligenz des Mannes überschätzt hatte. Was wußte er denn schon über ihn? »Mark«, versuchte er es erneut. »Mark.« Der Fremde nickte bedächtig. »Mark?« fragte er deutend. 60
Aus seinem Mund klang der Name recht merkwürdig, er war zwar zu verstehen, klang jedoch, als käme er aus einer Fremd sprache. Mark war begeistert. »Mark«, wiederholte er, auf sich deu tend, ehe er auf den anderen zeigte. Diesmal verstand sein Gefährte sofort. Er deutete auf sich. »Tlaxcan«, sagte er artikuliert. »Tlaxcan.« Er lächelte. Mark lächelte zurück. Im Tosen des Sturms konnten sie es ohnehin nicht weiter versuchen, aber der Anfang war gemacht. Mark lauschte dem Regen und Donnern und war froh, hier im trocknen zu sein. Die Stunden verstrichen. Mark sah, daß der Mann eingeschlafen war und schloß nun ebenfalls die Augen, aber bei ihm ließ der Schlaf sich Zeit. Der Sturm heulte die ganze Nacht, und Mark konnte nicht vergessen, daß er kaum einen halben Meter von einem Wilden entfernt saß, dem es jeden Moment in den Sinn kommen mochte, ihn zu erstechen. So, wie der Fremde aussah, fiel es ihm allerdings schwer, ihn für einen Wilden zu halten, aber er war es im wahrsten Sinn des Wortes. Mark sagte sich, daß er ihm vertrauen konnte, trotzdem mied der Schlaf ihn immer noch. Wer war dieser Mann? Ganz offensichtlich kein Neandertaler und nicht im geringsten verwandt mit dieser unheimlichen und gräßlichen Rasse. Wer waren er und seinesgleichen dann? Von woher kam er? Mark glaubte es zu wissen, und ein Plan nahm Umrisse an, der ihn eines Tages wieder zur Raum-ZeitMaschine zurückbringen mochte, von der er jetzt abgeschnitten war. Es war eine lange Nacht. Zweimal legte Mark Holz nach – und beide Male öffnete Tlaxcan die Augen, um ihn zu beo bachten. Er schlief offenbar wie eine Katze und war genauso wenig bereit, sich Mark hilflos auszuliefern, wie der sich ihm. Mark dachte an seinen Onkel, der sich entsetzliche Sorgen um ihn machen würde. Er war sein ein und alles, und wenn ihm, Mark, etwas zustieß, würde er vielleicht nicht darüber 61
hinwegkommen. Da erinnerte er sich, daß für seinen Onkel ja gar nicht genauso viele Stunden, Tage oder Wochen vergehen müßten wie für ihn hier. Sobald er zur Maschine zurückkehrte, brauchte er bloß den Zeitknopf auf fünfzehn Minuten oder so nach dem Zeitpunkt einstellen, zu dem Dr. Nye das Telefon beantwortet hatte. Also selbst wenn hier Monate oder Jahre vergingen und Mark hier ein alter Mann wurde, wäre, wenn es ihm gelang zurückzukehren, für seinen Onkel lediglich eine Viertelstunde vergangen. Das war zwar fast unglaublich, doch Mark wußte, daß es stimmte. Als die Nacht dem Morgen nahe war, wurde Mark allmählich schläfrig und entspannte sich. Es war schön, nicht mehr allein zu sein, und obwohl er sich mit Tlaxcan nicht unterhalten konnte, empfand er doch eine Art Seelenverwandtschaft mit ihm. Er blickte auf den Schlafenden, durch den die Nacht irgendwie weniger kalt und furchterregend war. Wie seltsam, daß sie sich getroffen hatten, obwohl sie eine Kluft von fast zweiundfünfzigtausend Jahren trennen müßte. Doch wichtig war nur, daß er ihm begegnet war. Er war sehr froh darüber. Mark schlief leichten Herzens. Als er erwachte, spitzten Son nenstrahlen in den Unterschlupf. Er rollte sich herum – und wieder griff kalte Verzweiflung nach ihm. Tlaxcan war fort.
62
10. Die Cromagnons Mark sprang sofort auf und eilte ins Freie. Vielleicht war Tlaxcan nur früher aufgewacht und hinausgegangen, um in der frischen Luft auf ihn zu warten. Hoffnungsvoll schaute er sich um, doch der Mann war nirgendwo zu sehen. Mark setzte sich auf einen Stein. Wohin war er gegangen? Und warum war er fort! Da sah er Tlaxcans Steinmesser auf dem Boden vor dem Unterschlupf liegen. Er hob es auf. Ganz sicher wäre der Mann nicht auf die Dauer fortgegangen, ohne sein Messer mitzuneh men, das ihn viele Stunden des Anfertigens gekostet hatte. Vermutlich hatte er es absichtlich hierhergelegt, um Mark zu bedeuten, daß er wiederkommen würde. Da er seinen Bogen mitgenommen hatte, schloß Mark, daß er auf Jagd war. Mark kletterte auf einen hohen Felsblock und beschirmte die Augen. So sah er sich um. Es war anzunehmen, daß Tlaxcan sein Glück auf der Ebene versuchte, wo es an Wild wahrhaftig nicht mangelte. Zunächst entdeckte er nichts. Das offene Grasland lag möglicherweise trügerisch friedlich unter der Morgensonne. Als Erinnerung an den Sturm der vergangenen Nacht strich eine sanfte Brise durch die Blumen. In der Ferne sah Mark eine weidende Herde. Er dachte zu erst, es wären Bisons, doch bei eingehenderer Betrachtung sahen die Tiere eher wie Wildpferde aus, zwischen denen Fohlen herumtollten. Mark überlegte, ob es fünfzigtausend Jahre vor Christo überhaupt schon Pferde gegeben hatte. Er mußte lächeln. Hier waren jedenfalls Pferde, und war nicht er jetzt der große Experte für diese Eiszeit? Immerhin sah er sie als einziger mit eigenen Augen. Da erspähte er etwas anderes. Links von ihm, etwa dort, wo er das erlegte Rentier hatte liegenlassen, kreisten und landeten immer wieder große schwarze Vögel. Mark schauderte. Aas geier! 63
Aber auch rechts kreisten die schwarzen Totengräber. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm bewußt wurde, was das vermutlich bedeutete. Tlaxcan! Die Geier würden sich nicht in die Nähe seiner Beute wagen, wenn er selbst unverwundet war. Natürlich wäre es möglich, daß er einen Teil der Beute zurück gelassen hatte und auf dem Weg hierher war – aber dann brauchte er sehr lange, oder die Aasfresser waren sehr schnell gekommen. Irgend etwas sagte Mark, daß er keine Zeit verlie ren durfte. Er umklammerte Tlaxcans Steinmesser und zog seine .45er und rannte in die Richtung der kreisenden Vögel. Er brauchte eine halbe Stunde, bis er sie vor sich sah und sie vor ihm hochflatterten. Er bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das dichte Buschwerk. Seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht. Tlaxcan lehnte gegen seine Beute, ein wolfähnliches Tier, das ein bißchen wie ein übergroßer Polarfuchs aussah. Es war tot, hatte sich jedoch heftig gewehrt. Aus seinem Kadaver ragten zwei Pfeile, trotzdem hatte das Tier vor seinem Tod Tlaxcan die linke Schulter aufgerissen. Das Blut war an der Seite hinuntergeflossen und begann dort bereits zu verkrusten, während es immer noch frisch aus der Wunde sickerte. Ir gendwie war es dem Mann gelungen, bei Sinnen zu bleiben, und er hatte sogar noch den Bogen benutzt, wie ein mit einem Pfeil aufgespießter Aasgeier bewies. Tlaxcan hatte ihn kommen hören, und wieder einmal sah Mark sich einem auf ihn gerichteten Pfeil gegenüber. Doch Tlaxcan erkannte ihn sofort und senkte den Bogen. Er lächelte schwach und versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Sein angespanntes Gesicht war weiß unter der Sonnenbräune, und Mark sah, daß er viel Blut verloren hatte. Er kniete sich neben den Verwundeten. Es bedrückte ihn, daß er sich ihm nicht verständlich machen konnte, aber Tlaxcan löste das Problem, indem er ihm die Rechte auf die Schulter legte, ihm forschend in die Augen blickte und sich schließlich 64
ins Gras sinken ließ. Mark verstand. Tlaxcan legte sein Ge schick in Marks Hände. Ohne Hilfe wäre ihm der Tod sicher, deshalb vertraute er dem Fremden. Mark untersuchte die Wunde. Sie war tief und zweifellos schmerzhaft, aber nicht tödlich, wenn sie richtig behandelt wurde. Mark war kein Arzt, doch er erkannte sehr wohl, daß die größte Gefahr in einer Infektion bestand und in der zuneh menden Schwäche, wenn die Blutung nicht schnell gestillt wurde. Er schaute sich um. Der nächste Bach schien fast einen Kilometer entfernt zu sein. Wie sollte er die Wunde da säu bern? Er betrachtete sie noch einmal. Sie hatte im Augenblick zu bluten aufgehört. Er bedeutete Tlaxcan, sich ruhig zu verhalten, und und machte ein Feuer, was ihm diesmal viel schneller gelang als gestern. Tlaxcan sah ihm interessiert zu und blinzelte verwirrt, als er Marks Streichhölzer und das scharfe Metallmesser sah, das sich auf so wundersame Weise auf- und zuklappen ließ. Mark schnitt einen Streifen Lendenfleisch aus Tlaxcans Beute und grillte es über dem Feuer. Dann kam ihm ein Gedanke. Aus einem Felsstück formte er eine Tüte, in der er ein wenig des Tierbluts auffing und Tlaxcan gab. Der Mann trank sichtlich mit Genuß, dann aß er das Fleisch, das Mark für ihn gegrillt hatte. Eine Weile ließ Mark ihn noch ausruhen, bis er ihn für kräf tig genug hielt, es bis zu dem Bach zu schaffen. Er trat das Feuer aus und legte Tlaxcans guten Arm um seine Schultern, um ihn zu stützen. Nicht das leiseste Stöhnen drang über Tlaxcans Lippen, obgleich der Schmerz grauenvoll sein mußte. Fest stützend führte Mark ihn langsam den knappen Kilometer zu dem fließenden Wasser, das eher ein schmaler Fluß als ein Bach war. Tlaxcans Schulter blutete wieder, aber das würde vermutlich nicht schaden, sondern im Gegenteil zum Säubern der Wunde beitragen, die Mark nun mit dem eiskalten Wasser auswusch. 65
Dadurch zogen sich die Blutgefäße zusammen, und die Wunde hörte zu bluten auf. Mark nahm sein noch sauberes Taschen tuch, legte es zusammen und auf die Wunde. Dann riß er einen Streifen vom Saum seines Hemdes ab, den er über den Ver band um die Schulter schlang. Es war bereits Frühnachmittag, und Mark hielt es für unklug, sich irgendwo anders hin auf den Weg zu machen. Er verbrach te den Rest des Nachmittags damit, mit Ästen und Zweigen einen Unterschlupf zu errichten und ein Feuer zu machen, dann setzte er sich neben Tlaxcan, der sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt hatte. Er hatte wieder eine gesündere Farbe, und auch sein Gesicht wirkte nicht mehr so angespannt. Mit der Rechten kramte er in seinem Fellbeutel, dann streckte er Mark etwas entgegen. Einen Augenblick betrachtete Mark es verwirrt. Es war of fenbar eine Tiersehne, etwa zwei Meter lang, an der ein haken förmiges Knochen- oder Elfenbeinstück befestigt war. Tlaxcan deutete auf das rauschende Wasser des schmalen Flusses. Und jetzt verstand Mark. Es war eine Angelschnur! An Fischen hatte er bisher gar nicht gedacht, dabei mußte es hier von Fischen geradezu wimmeln! Er lächelte. Er war ein ziemlich guter Angler, und er freute sich, daß es hier wenig stens etwas gab, das er zumindest genauso gut tun konnte, wie ein Wilder, der das Pech hatte, viele Tausende von Jahren vor den Segen der Zivilisation geboren zu sein. Mark untersuchte den Angelhaken – es mußte Elfenbein sein! Er war meisterhaft geschnitzt, scharf und mit richtigem Wider haken. Durch sein Ende war ein Loch gebohrt, durch das die Sehne gezogen und verknotet worden war. Mark blickte auf die weiche Erde am Fluß und dachte daran, nach Regenwürmern zu graben, entschied sich dann aber für herumspringende Grashüpfer. Er fing einen, spießte ihn an den Haken und suchte sich ein schattiges Fleckchen am Ufer, hinter einem großen Felsbrocken, der die Strömung blockierte. Hier war das Wasser 66
klar und tief, und es mußte Fische im Überfluß geben. Er warf die Schnur aus – und schon zappelte der erste am Haken. Unwillkürlich dachte er, wie begeistert sein Onkel wäre, in einem solchen Fischerparadies angeln zu können. Er zog den Fisch an Land und war überrascht, als er ihn sofort erkannte. Er hatte ein fremdartiges Wasserungeheuer erwartet, aber statt dessen einen ganz normalen Lachs vor sich. Er war allerdings ein Prachtexemplar und wog bestimmt über drei Pfund. Er tötete ihn schnell und brachte ihn stolz erhoben zu Tlaxcan. Ihm wurde bewußt, daß er auf eine Weise, wie er sie nie vergessen würde, das erste Gesetz des primitiven Lebens zu lernen begann: daß man essen muß. Und an Essen heranzu kommen und es zuzubereiten, kostete hier viel mehr Zeit, als wenn man nur in ein Restaurant spazierte und sich etwas bestellte. Seit er aus der Raum-Zeit-Maschine gestiegen war – und das hatte er ursprünglich lediglich getan, um sich etwas zu essen zu suchen – hatte er so gut wie jede Minute einzig und allein damit zugebracht, am Leben zu bleiben. Wenn man nicht selbst etwas jagte, dann jagte irgend etwas einen. Mark schau derte, als er an die gräßlichen Neandertaler dachte, die auch jetzt hinter irgendeinem Busch oder Felsen lauern mochten … Er grillte den Lachs, und nach dem Essen schliefen sie fried lich in ihrem Unterschlupf. Schon im Morgengrauen war Tlaxcan auf den Beinen und erstaunlicherweise in guter Ver fassung. Mark beobachtete ihn voll heimlichem Neid. Der Bursche mußte eine Konstitution wie ein Ochse haben. Mit einer Wunde wie seiner wäre ein anderer tagelang hilflos. Seite an Seite wanderten sie einem Mark unbekannten Ziel entgegen, aber er achtete sorgsam auf die Himmelsrichtung, um wieder zur Raum-Zeit-Maschine zurückzufinden. Auch jetzt folgten sie einem fast exakten Ostkurs, indem sie das Bergvorland umgingen und sich vom Tal der Halbmenschen entfernten. Warme, sonnige Tage vergingen, genau wie die bitterkalten 67
Nächte, und immer noch wanderten Mark und Tlaxcan durch die gewaltige Ebene. Zweimal mußten sie um riesige, grüne Seen herum, die zurückweichende Gletscher gebildet hatten. Im Norden war hin und wieder ein Glitzern zu sehen. Mark war überzeugt, daß es das letzte Gletschereis war, denn überall sonst wucherten längst Pflanzen, und das Vorgebirge war bewaldet. Er beschloß, sich das Eis genauer anzusehen, falls er je Gelegenheit hatte. Mark nutzte diese Wanderung, Tlaxcans Sprache zu lernen, so gut er konnte. Es wäre sinnlos, von unpraktisch gar nicht zu reden, Tlaxcan Englisch beibringen zu wollen. Nicht daß sein neuer Freund zu dumm gewesen wäre, es zu lernen, aber was sollte er in diesem Zeitalter damit? Tlaxcans Sprache war auch einfacher als Englisch, doch keineswegs leicht zu lernen. Sie hatte zwar nicht viele Worte, aber jedes Wort mehrere Bedeu tungen, je nachdem, wie sie betont wurden. Außerdem gab es keine Bücher, in denen Mark hätte nachschlagen können, und wie hätte Tlaxcan ihm die Regeln erklären sollen? Trotzdem machte er allmählich Fortschritte und konnte sich mit einfa chen Sätzen verständigen. Er erfuhr, was Tlaxcan auf der Ebene gemacht hatte, als er auf die seltsamen Laute von Marks Schüssen aufmerksam geworden war. Er hatte nach QuaroHerden Ausschau gehalten, die seinen Leuten so ziemlich alles gaben, was sie brauchten. Da er jedoch sagte, daß er keine gefunden hatte, konnte er mit Quaros weder Bisons, Rentiere noch Pferde meinen, denn davon gab es hier reichlich. Nach der Beschreibung mußte es sich um etwas wie Elefanten handeln, und Mark glaubte zu wissen, wohinter Tlaxcan her war: hinter Mammuts! Während der langen Wanderung fand Mark endlich Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, und wenn er sich ausruhte, ließ er seine Phantasie schweifen. Wo, genau, war er? Was war aus der riesigen Ebene geworden, auf der sie sich jetzt befan den? Wie sah es an dieser Stelle in seiner Zeit aus? Er glaubte, 68
daß sie sich in der Gegend befanden, wo in der modernen Zeit die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich verlief. Es war fast beängstigend, sich vorzustellen, daß die Millionen und aber Millionen von Deutschen und Franzosen noch nicht geboren, daß sie Staub und weniger als Staub waren. Auf dieser Welt hatte noch niemand von Napoleon oder Hitler gehört. Wie viele Menschen würden hier in diesem Grasland sterben? Welche Geschichte würde bis zum Ende der Zeit über sie geschrieben werden? Während er in der Morgendämmerung der Menschheit durch das hohe Gras stapfte, konnte er fast sehen, wie sich Schützengräben hindurchzogen, wie Kanonen Feuer und Tod spuckten. Unwillkürlich mußte er hier in der Sonne, mit Tlaxcan an der Seite, daran denken, wie relativ doch alles war. Im Jahr 50 000 v. Chr. war dieses wunderschö ne Weideland tödlich, so friedlich es auch aussehen mochte. Wilde Tiere streiften in großen Herden herum, und die ab scheulichen Neandertaler in Gruppen. Es war nicht gut, hier allein zu sein, dazu war das Leben zu hart. Aber machten fast zweiundfünfzigtausend Jahre Zivilisation es sicherer? Er bezweifelte es. So furchtbar die Gefahren sein mochten, die jenseits des rauchblauen Horizonts hier auf ihn warteten, wußte er doch zumindest, daß er keine Atombomben zu befürchten hatte. Welchen Unterschied es doch machte, einen Gefährten zu haben! Wie schrecklich diese Welt ohne Tlaxcan für ihn gewesen war. Doch nun hatte er einen Freund, und Tlaxcan war für ihn kein mysteriöses Geschöpf aus der Menschheits dämmerung mehr, noch ein unwissender Wilder. Er war ein Mann, der gern lachte – und das in einer Welt, in der es zum Lachen wenig Grund gab –, und Mark war stolz, ihn an seiner Seite zu haben. Er vertraute ihm. Das war das Geheimnis, das hinter dem Überleben des Tüchtigsten steckte – Zusammenge hörigkeit. Einer half dem andern. Nur so ließen sich alle Widerwärtigkeiten überstehen. Allein war der Mensch nicht 69
viel mehr als ein Tier, doch mit einem wahren Freund war er König. Im Jahr 50 000 v. Chr. schien man das zu wissen, aber hatte man es im Jahr 1953 vielleicht vergessen? Am fünften Tag ihrer Wanderung, gerade als die blutrote Sonne unterging, verließen Mark und Tlaxcan die Ebene und kamen über die Hügel des Vorgebirges zu einem geschützten Tal, das allmählich zur schmalen Klamm wurde, gerade noch breit genug für den schäumenden Wildbach, der hindurch verlief. Aus der Ferne war gewaltiges Tosen zu hören. Nach einer Weile machte die Klamm eine scharfe Biegung. Sie folgten einem sichtlich vielbegangenen Pfad unmittelbar am hochgelegenen Ufer des Wildbachs. Als sie um die Bie gung kamen, blieb Mark wie angewurzelt stehen. Er wußte sofort, daß sie das Ende ihrer Wanderung erreicht hatten. Mark Nye war für Schönheit empfänglich und hatte sie in vielerlei Form erlebt: der atemberaubende Sonnenaufgang in den Bergen von New Mexico; Rom bei Nacht; die gedämpften Lichter einer winterlichen Stadt am frühen Morgen. Aber etwas wie das vor ihm, hatte er noch nie gesehen. In der blauen Ferne am Ende des Tales vor ihnen donnerte ein mächtiger Wasserfall gut dreißig Meter in ein Felsbecken, und der aufsprühende Gischt schimmerte in den letzten Son nenstrahlen in allen Regenbogenfarben. Aus dem Becken flutete das Wasser zu zwei Seiten über den Rand und toste in weiteren Wasserfällen in einen kleinen, tiefen See. Von ihm kam der Wildbach, der im Abendrot glitzernd durchs Tal brauste. Üppiges Gras bedeckte den Talboden wie ein weicher Tep pich, und süßduftende Kiefern wuchsen an den unteren Hängen der Berge ringsum. Die Luft war würzig und frisch mit einem Hauch von Lagerfeuerrauch und dem köstlichen Duft brutzeln den Fleisches. Unterhalb der Kiefern, aber auch noch an den unteren Hängen lehnten große, sichtlich gut gebaute Hütten aus stabilen Holzrahmen und mit Fellen überzogen an der stützen 70
den Hangwand. Vor den Hütten brannten kleine Feuer. Über Felsvorsprüngen sah Mark die dunklen Eingänge von einer ganzen Reihe von Höhlen. In ihnen, aber nicht zu weit vom Eingang, prasselten ebenfalls Feuer. Es war nicht still, aber auch nicht laut im Tal. Das Rauschen der Wasserfälle war als Hintergrundgeräusch über das nähere Stimmengewirr zu hören, und aus einer Höhle erklang das Hämmern von Stein auf Stein. Das Tal schien voll von Menschen zu sein – so jedenfalls erschien es Mark –, obwohl es vermutlich nicht mehr als sechzig oder siebzig waren, Männer und Frauen aller Altersstu fen, und Kinder. Die Männer und Frauen waren wie Tlaxcan in Felle gekleidet, die Kinder liefen nackt herum. Mark bemerkte, daß viele der Frauen sich mit Halsketten und Armbändern aus Muscheln schmückten, obgleich nichts darauf hindeutete, daß dieses Völkchen dem Meer näher war, als er annahm, oder Verbindung mit am Meer lebenden Völkern hatte. Die Männer trugen Talismane aus Knochen, Muscheln oder Elfenbein. Tiere waren keine zu sehen, allerdings ertönte hin und wieder aus einer der unbewohnt wirkenden Höhlen ein Knurren wie von einem Wolf oder Hund. Als Mark sich so umsah, fand er die Bestätigung seiner Ver mutung, die sich bereits beim ersten Blick auf Tlaxcan geregt hatte: er wußte, daß er auf eine der erstaunlichsten Kulturen in der Geschichte der Menschheit blickte. Auf die der Cromagnons!
71
11. Der Bemalte Während Mark sich noch staunend umblickte, kam eine Grup pe von zehn kräftig gebauten Männern auf sie zu, mit Bogen, Speeren, Äxten und langen Waffen, die wie Harpunen aussa hen. Sie sprachen nicht und lächelten auch nicht, und ignorier ten Tlaxcan, als wäre er überhaupt nicht hier. Geradewegs auf Mark kamen sie zu, und nach ihrer Miene zu schließen, hatten sie sich nicht in Marsch gesetzt, um ihn freundlich willkommen zu heißen. Er befand sich ganz offensichtlich in einer heiklen Lage, stellte jedoch erleichtert fest, daß er völlig ruhig war. Jetzt hing alles davon ab, daß er sich richtig verhielt. Beging er einen Fehler, würde er nicht mehr dazu kommen, ihn wiedergutzu machen. Drohend näherten sich die Cromagnons. Mark dachte kurz daran, die Pistole zu ziehen, gab es aber schnell auf. Wo sollte er denn hin? Und allein hatte er nicht die geringste Chance in dieser fremdartigen Welt. Seine Zukunft war mit diesen Men schen hier verknüpft, ohne sie gab es für ihn keine mehr. Er blickte Tlaxcan an, der ruhig neben ihm stand. Hatte er ihn in eine Falle geführt? Als Gefangener oder Sklave für seine Leute oder als Jagdtrophäe? Nein, das glaubte er nicht. Ob gleich sie sich noch nicht fließend unterhalten konnten, hatte er Tlaxcan während der langen Wanderung gut kennengelernt. Tlaxcan war jung, vielleicht nicht älter als er, obgleich er in jeder Beziehung erwachsener wirkte. Er war fröhlich und fand immer wieder einen Grund zum Lachen, doch war es keines wegs das Gelächter eines Dummkopfs, den jeder Blödsinn erheiterte, sondern das Lachen eines Mannes, der in einer rauhen Welt lebte und gelernt hatte, daß es besser war zu lachen als zu weinen. Hinter Tlaxcans Lachen, tief in seinen dunklen Augen, war stählerne Härte. Er war ein Mann, den man ernstnehmen mußte, und wenn Marks Menschenkenntnis 72
ihn nicht trog, war er ein Mann, der einen Freund nie betrügen würde. Wieder schenkte er Tlaxcan sein volles Vertrauen, und er tat richtig daran. Sofort, als spürte er Marks Entscheidung, trat Tlaxcan vor, zwischen Mark und die näherkommenden Krieger. »Orn!« rief er und deutete auf Mark. Seine nächsten Worte kamen zu schnell, als daß Mark sie hätte verstehen können. Die Cromagnons verlangsamten zwar ihren Schritt, blieben jedoch nicht stehen. »Tlan!« rief Tlaxcan hart. »Halt!« Trotzdem kamen die Krieger näher. Tlaxcan spannte den Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne. Es war offensicht lich, daß er es ernst meinte. Die Krieger hielten an. Mark staunte, daß Tlaxcan bereit war, eines Freundes wegen, den er erst ein paar Tage kannte, auf lebenslange Bekannte zu schie ßen. Aber die Erklärung war vermutlich einfach genug. Die Cromagnons kamen wahrscheinlich selten in so großer Zahl hier im Tal zusammen, da jede einzelne Sippe den größten Teil des Jahres mit ihren Herden unterwegs war. Die Krieger, die vor ihnen standen, waren sicher nicht von Tlaxcans Stamm, und er kannte sie auch nicht näher. Sie waren zwar nicht seine Feinde, doch das war auch schon alles. Eine kurze Weile tat sich gar nichts. Dann kamen fünf weite re Krieger herbei und stellten sich hinter Tlaxcan. Sie waren offenbar Freunde, denn er begrüßte sie mit Namen. Sie be trachteten Mark kalt, akzeptierten jedoch offenbar, daß er unter Tlaxcans Schutz stand. Tlaxcan zu helfen, als er in Schwierig keiten gewesen war, war das klügste, das Mark hatte tun können, das war ihm nun klar. Hier wurden Fremde als Feinde angesehen, außer sie konnten umgehend das Gegenteil bewei sen. Und mit seiner kläglichen Kenntnis der Sprache hätte er ohne Tlaxcan keine Chance gehabt. Die zehn Krieger standen noch kurz unsicher herum, ehe sie sich umdrehten und davonmarschierten. Mark atmete wieder etwas leichter. Er wandte sich Tlaxcans Freunden zu und 73
lächelte sie an. Nachdem Tlaxcan ihnen die Situation erklärt hatte, lächelten auch einige zurück. Sie hießen ihn jedoch nicht mit offenen Armen willkommen. Es dürfte nicht so leicht sein, als Gleichgestellter in ihrer Mitte aufgenommen zu werden. Verzweifelt wünschte er sich, er könnte sich gut genug mit ihnen verständigen, daß sie ihm seine friedliche Absicht glaubten. »Ich bin euer Bruder«, sagte er in ihrer Sprache. »Ich komme in Frieden.« Er tat sein Bestes, bemerkte jedoch, wie Tlaxcan über seinen Akzent lächelte. Vier der Krieger blieben unbewegt, aber der fünfte, ein Mann von etwa vierzig mit grauen Strähnen im langen schwarzen Haar, trat näher und legte die Hand auf Marks Schulter, wie Tlaxcan es getan hatte. »Ich bin Nrani«, sagte er freundlich. »Ich bin Tlaxcans Bruder. Du bist Tlaxcans Bruder. Ich bin dein Bruder.« Mark nickte und wünschte sich verzweifelt, er könnte »dan ke« in der Sprache der Cromagnons sagen. Natürlich nannten diese Menschen sich nicht selbst Cromagnons, sondern Dane qua, was ganz einfach Menschen bedeutete. Begleitet von den fünf Kriegern durchquerten Mark und Tlaxcan die Talsohle und stiegen einen schmalen Pfad zu den Felshöhlen hinauf. Die Sonne war inzwischen ganz unterge gangen, doch die Sicht war noch gut. Der Abendwind pfiff bereits kalt durch die Berge, und die Wasserfälle sangen ihr gewaltiges Schlaflied. Im Augenblick kam Mark alles so unwirklich vor, eine Szene aus einer Sage und die zeiterstarrte Landschaft ein Traum. Oder war die andere Welt, die von 1953, ein Traum? Sein Onkel, die Raum-Zeit-Maschine, Fang – gab es sie wirklich? Mark schüttelte den Kopf. Nutzlose Gedanken! Er war, wo er war, und sein Problem im Augenblick, am Leben zu bleiben. Als sie das Sims vor den Höhlen erreichten, schwiegen alle. Die Leute dort musterten ihn neugierig, mit weder freundli 74
chen, noch feindseligen Mienen. Sie schienen zu warten. Worauf? Mark sollte es bald erfahren. Aus einer Höhle schrillte ein gespenstischer Pfiff, sechsmal hintereinander, dem ein leiernder Gesang folgte, von dem er nur hin und wieder ein Wort verstand. Als er endete, setzte allgemeine Stille ein. Durch die schwarzen Abendschatten tanzte aus einer Höhlen öffnung ein bemalter Mann auf Mark zu. Er hüpfte zunächst sechs Schritte auf einem Bein, dann sechs weitere auf dem andern. Er wand seine Arme wie Schlange, und sein Kopf schien wie vom Rumpf gelöst vor und zurück zu hüpfen. Selbst im schwindenden Abendlicht erstaunten die Farben seines Körpers. Arme, Beine, Gesicht, Brust, Rücken – überall war der Mann leuchtend bemalt, in Rot, Braun, Schwarz, Weiß, Grau und Grün, und zwar in Reihen dünner Sechsen. Dazu trug er Hals kette, Arm- und Fußbänder aus Muscheln, Knochen und Elfen bein. All das klackte und wirbelte mit seinen Bewegungen, und in der Stille erinnerte es Mark an eine Klapperschlange. Der Mann war furchterregend, aber Mark hatte schon ähnli che wie ihn gesehen und behielt die Nerven. Er hatte bestimmt in etwa die gleiche Stellung wie der Neandertaler mit dem roten Stirnstreifen. Über seinesgleichen hatte Dr. Nye sich oft mit ihm unterhalten, sie fehlten auch unter den Indianern nicht. Er war etwas wie ein Medizinmann, ein Schamane. Daß er das wußte, nutzte ihm. So wirkte der Mann nicht wie ein übernatürliches Ungeheuer auf ihn, sondern war ein durch schaubarer Mensch, mit dem man fertig werden konnte. Das änderte jedoch nichts daran, daß Mark sehr vorsichtig sein mußte. Schamanen waren gefährlich – sie verfügten über die Macht über Leben und Tod. Wie immer hing viel von dem einzelnen ab. Auch ein Scha mane war in erster Linie ein Mensch, dann erst ein Medizin mann. Sie neigten manchmal zu religiösem Wahn, aber nicht alle. Ist der Fahrer eines Wagens gefährlich? Das hängt davon 75
ab, wer der Fahrer ist und wo man selbst ist. Der Bemalte war eine absolute Unbekannte für Mark. Wie sollte er sich verhalten? Wieder einmal kam ihm Tlaxcan zu Hilfe. Er legte beruhi gend die Hand auf Marks Arm und lächelte ihm zu. »Orn«, flüsterte er. »Hab keine Angst.« Marks dankendes Lächeln war ein wenig zittrig. Das Wort »Orn« wurde für seinen Geschmack etwas zu großzügig angewandt. Der Bemalte, der da auf ihn zuhopste, mochte ja alles mögliche sein, aber seiner Miene nach war er keineswegs sein Freund. Vor Mark hielt er an. Wieder redete Tlaxcan und erneut zu schnell, daß Mark ihm hätte folgen können. Der Schamane antwortete, seine Stimme war sehr hoch für einen Mann, aber nicht abnorm. Dann fuhr Tlaxcan fort, und diesmal verstand Mark so einiges. Tlaxcan erläuterte, wie Mark ihm das Leben gerettet hatte, und danach, wie er ihn überhaupt auf der Ebene begegnet war. Ehrfürchtigen Tons berichtete er, daß Mark ohne Waffen, außer einem winzigen Messer, ein Rentier erlegte. Und so hatte er es offenbar auch geglaubt, denn vermutlich erachtete er die .45er lediglich als Talisman oder eine plumpe Handaxt. Er erzählte ausführlich von dem erstaunlichen Mes ser, das nicht aus Stein war, und dem roten Blumenfeuer, das Mark durch Zauberei hervorgerufen hatte. Der Schamane war sichtlich beeindruckt, obgleich er sich bemühte, es nicht zu zeigen und etwas murmelte wie, er könnte das auch, wenn er nur wollte. Tlaxcan widersprach ihm nicht, aber sein Zweifel war unverkennbar. Nun wandte der Schamane sich an Mark. »Komm«, forderte er ihn auf, und seine Stimme zitterte dabei ganz leicht. Da wurde Mark plötzlich klar, daß der Mann aus seiner Sicht etwas sehr Mutiges tat. Man hatte ihm Mark als sehr mächtigen Medizinmann beschrieben, und wie sollte er wissen, daß er ihm nicht schaden wollte? Mark entspannte sich ein wenig, und auf ein aufmunterndes Lächeln Tlaxcans folgte er dem Schamanen 76
in eine Höhle. Der Wasserfall toste in der Ferne und die Nacht hatte sich wie schwarzer Schnee über das Tal gebreitet. Obwohl Mark nun sicher war, daß der Schamane sich vor ihm fürchtete, fühlte er sich nicht gerade wohl in seiner Haut. Während er hinter ihm in die dunkle Höhle trat, fragte er sich, ob er sie wohl wieder lebend verlassen würde. Die Höhle war sehr geräumig und trocken. Sie bogen um eine Ecke, folgten einem schmalen geraden Gang, bis sie in eine winzige Felskammer gelangten, in der ein niedriges Feuer brannte. Es war kein Holzfeuer, wie Mark bemerkte, sondern ein Knochenfeuer. Das war in einer Gegend, in der Holz knapp war, verständlich. Der Bemalte hielt jedoch hier nicht an, sondern trat in eine größere Höhle dahinter. Sie war dunkel, das einzige Licht kam von dem flackernden Feuer der Kam mer, das verzerrte Schatten an die Wände warf. Mit erschreckender Plötzlichkeit schrillten Stimmen, ein gespenstisches Singen und Schreie klangen von der Decke, dem Boden, den Ecken. Stimmen schienen aus dem Nichts zu kommen, dazu schnaubten Bisons, wieherten Pferde, brüllten Löwen und trompeteten Elefanten – nein, hier konnten es nur Mammuts sein. Mark zitterte. Unwillkürlich wich er zum Feuer zurück. Da knurrte etwas unmittelbar hinter ihm, und er blieb stehen. Ein Bauchredner, sagte ihm sein Verstand, aber es nahm ihn trotzdem mit. Der Schamane verstand seine Sache. Er war wirklich gut! Da breitete sich ein unheimliches, bläuliches Licht aus. Mark erschrak. War das Gestein radioaktiv? Ein leuchtendes Mine ral? Er wußte es nicht, doch er sah nun, daß der Bemalte einen langen Überwurf trug und etwas Großes, Weißes, Schimmern des in beiden Händen hielt. Ein Schädel! Und kein gewöhnli cher, sondern ein riesiger mit zwei gewaltigen Stoßzähnen. Mark fragte sich, wie der Schamane ihn überhaupt halten 77
konnte. Aber vermutlich hing er von irgendeiner an der Decke befestigten Schnur, die er in dem Zwielicht nur nicht sehen konnte. Der Bemalte blickte ihn mit blitzenden Augen an. »Mark!« rief er. Dann richteten seine Augen sich auf den Schädel. »Quaro!« sagte er. Also Mammut. Mark beobachtete ihn angespannt. Der Schamane nahm die Hände vom Schädel, und er blieb in der Luft hängen. Eine Schnur, sagte Mark sich wieder. Er muß an einer Schnur hängen! Wie durch Zauberei hielt der Medizinmann plötzlich ein Messer in der Hand, das er schnell um den Schädel führte. Der Schädel verschwand. Verschwand! Mark schnappte nach Luft. Unwillkürlich hatte er die ganze Zeit den Atem angehalten. Zu seinem Glück verstand er genug von Anthropologie und den alten Sitten seiner indianischen Freunde, um die Vorstellung des Schamanen richtig zu deuten, zumindest hoffte er es. Er war in den Stamm gekommen und ersuchte um Aufnahme. Verständlicherweise war der Stamm nicht an Schwächlingen interessiert. Also mußte Mark sich erst einmal bewähren und zwar auf eine Weise, die keinen Zweifel an seiner Tüchtigkeit ließ. Er mußte ein Mammut töten. Das war leichter gesagt als getan. Ein so gewaltiges Tier konnte man nicht mit einer Pistole erlegen, auch nicht mit einer .45er. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie diese Menschen Mammuts jagten, doch gewiß nicht bloß mit Pfeil und Bogen. Jedenfalls konnte er nur hoffen, daß sie es nicht im Alleingang taten. Er, jedenfalls, würde viel Hilfe brauchen. Aber er hatte das Gefühl, daß man nichts Unmögliches von ihm verlangen würde. Er sollte lediglich beweisen, daß er fähig war zu tun, wozu jeder andere dieser Zeit imstande war – nicht mehr und keinesfalls weniger. Der Schamane führte ihn zurück in die Felskammer, wo das Knochenfeuer brannte. Selbst im Jahr 50 000 v. Chr. fanden Zauberer, daß ihre Tricks im Dunkeln, wo nicht alles genau gesehen werden konnte, wirkungsvoller waren. Aber es war 78
eine großartige Vorführung gewesen, selbst für Marks Zeit, und er bemerkte, daß es dem Schamanen gar nicht so leicht fiel, ein selbstzufriedenes Lächeln zurückzuhalten. Er wußte, daß er seine Sache gutgemacht hatte. Der Bemalte, der nun einen reichgeschmückten Überwurf trug, legte einen Arm auf Marks Schulter – das DanequaZeichen der Freundschaft – und nannte seinen Namen: »Qual xen«. Mark wußte die Ehre zu schätzen und lächelte dankend. Auch er nannte seinen Namen, obwohl Qualxen ihn ja bereits kannte. Einen Augenblick herrschte Verlegenheit, bis Mark schloß, daß der Medizinmann darauf wartete, daß er nun ihm ein paar Tricks zeigte. Die sollte er haben und im Licht, ohne Hokuspokus. Er holte seine Streichholzschachtel hervor und nahm zwei Hölzer heraus. Da überlegte er. Nein, so ganz ohne Tamtam wäre es doch nicht das richtige. Das Wichtigste an einem Zaubertrick war das Drumherum. Wenn ein Bühnenzauberer nur so einfach scheinbar eine Frau auseinandersägte, würde es das Publikum vermutlich bloß langweilen. Aber wenn die passende Beleuch tung oder vielmehr Verdunkelung dazukam und die richtige Hintergrundmusik, dann war das schon was anderes. Irgend etwas mußte er sich einfallen lassen. Er entschied sich für einen Kinderreim, der genau den richtigen Klang hatte, und Qualxen verstand ja sowieso nicht, was er sagte. Mark verzerrte das Gesicht, fuchtelte mit beiden Händen durch die Luft, stöhnte tief, dann klatschte er sechsmal in die Hände – es konnte nicht schaden, sich der offenbar magischen Zahl der Danequa zu bedienen, dachte er. Plötzlich erstarrte er, dann stieß er unerwartet den Kopf vor, bis fast zu Qualxens. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben«, flüsterte er mit grabestiefer Stimme. »Eine Bauersfrau kocht Rüben, eine Bauersfrau kocht Speck …« Furchterfüllt wich der Schamane zurück. Wahrhaftig, das 79
war mächtiger Zauber. »Und du mußt WEG!« stöhnte Mark. Beim letzten, gebrüllten Wort hob er die Hände in die Höhe von Qualxens Gesicht und rieb die beiden Streichhölzer zu sammen. Es zischte und ein Flämmchen leuchtete auf. Der Medizinmann blieb tapfer stehen, aber ihm war deutlich anzusehen, daß ihn Furcht schüttelte. Die rote Blume! Feuer aus dem Nichts! Abfällig blies Mark die Zündhölzer aus und warf sie ins Feuer. Qualxen faßte sich und grinste erfreut. »Orn!« sagte er und legte wieder die Hand auf Marks Schulter. »Orn!« Qualxen wußte, was ein mächtiger Magier war und wollte sich gut mit ihm stellen. Und Mark wußte, daß er sich einen einflußreichen Verbündeten im Lager der Cromagnon geschaffen hatte. Und außerdem gefiel ihm dieser geschickte Qualxen. Der Schamane ging ihm voraus zum Ausgang. Je näher sie ihm kamen, desto düsterer wurde Marks Stimmung. Selbst wenn er den Medizinmann zum Freund gewonnen hatte, war seine Vorstellung ernst gemeint gewesen. Und ein Trick mit Streichhölzern würde nicht genügen, ein Mammut zu erlegen. Inzwischen war eine frostklare Sternennacht hereingebro chen. Der eisige Wind strich seufzend durch das Tal. In der Ferne donnerte der große Wasserfall in silbernem Gischt ins Felsbecken. Und dahinter – bildete er es sich nur ein? – er schallte das tiefe Trompeten gigantischer Mammuts.
80
12. Eine neue Welt Mark befand sich in einer etwas ungewöhnlichen Lage. Er hatte Freunde unter den Cromagnons und wurde vom Stamm zumindest geduldet, aber er war kein Angehöriger und war mit niemandem hier verwandt. Daß sie ihn »Bruder« nannten, war lediglich eine freundschaftliche Bezeichnung. Wo sollte er Unterkunft finden? Im Jahr 50 000 gab es keine Hotels oder Herbergen. Sein Freund Tlaxcan war nirgends zu sehen, aber offenbar hatte er dafür gesorgt, daß man sich seiner annahm, den Qual xen führte Mark zu einer kleinen Höhle und sagte, er würde ihn wiedersehen, wenn die große rote Blume aufblühte – damit meinte er sicher den Sonnenaufgang. Er lächelte Mark freund lich zu und verließ ihn. Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber es war zweifel los bereits spät – genau konnte Mark die Zeit nicht schätzen. Er blickte aus der Höhle. Das Tal der Danequa wirkte verlassen. Alles schlief, nur der große Wasserfall sang die ganze Nacht sein mächtiges Lied. Es war kalt, aber in der Höhle hatte man ihm Pelze zurechtgelegt. Er hüllte sich in sie und fühlte sich recht wohl. Er war nicht sicher, aber er glaubte, gerade aus dieser Höhle – die eigentlich nicht viel mehr als ein Alkoven im Felsen war – am Abend das Knurren von Wölfen oder Hunden gehört zu haben. Tatsächlich roch es hier auch so, als hätte noch vor kurzem etwas hier gehaust. Er konnte nur hoffen, daß es nichts Gefährlicheres als ein Hund gewesen war und nicht auf die Idee kam, irgendwann in der Nacht zurückzukommen. Mark wurde erst bewußt, wie müde er war, als er sich in die warmen Pelze gewickelt auf dem Höhlenboden ausstreckte. Er nahm seine .45er aus der Holster und legte sie in Reichweite neben sich und schloß die Augen. Das Schicksal ist wahrhaftig eigenartig, dachte er schläfrig. Vor ein paar Tagen noch hätte 81
er jeden für verrückt gehalten, der ihm gesagt hätte, daß es möglich wäre, zum Anfang der Menschheit zurückzukehren und daß er dort völlig furchtlos schlafen würde. Und nun lag er entspannt hier und vertraute seinen neuen Freunden. Sie waren ganz sicher nicht heimtückisch. Wenn sie einen nicht mochten, würden sie es ihm offen zeigen. Und hier brauchte er auch keine Angst vor den gräßlichen Halbmenschen zu haben, die wie Alptraumwesen durch die nächtlichen Lande der Eiszeit stapften … Mark schlief und träumte. Er war dankbar für den Schlaf, aber seinen Traum würde er lange nicht vergessen. Durch das graue Dämmerlicht der Traumwelt, eine Welt ohne jegliche Farbe, rannte verzweifelt ein Mann. Seit langem rannte er bereits, und er war entsetzlich müde. Seine Brust schmerzte und trotz der Kälte glitzerte Schweiß wie eine zweite Haut auf ihm. Seine Füße waren wundgerannt und bluteten. Er trug Fellkleidung, aber Mark kannte ihn. Der Mann war er selbst. Hinter ihm, dicht auf den Fersen, schrien und knurrten die Halbmenschen furchterregend. Mark wagte es nicht, sich umzudrehen, aber er wußte genau, daß sie ihn verfolgten. Die Neandertaler holten ihn nicht ein, blieben jedoch auch nicht weiter zurück. Unermüdlich kamen sie hinter ihm her und behielten immer denselben Abstand bei. Wohin rannte er? Mark schaute sich um. Die Gegend kam ihm irgendwie bekannt vor. Er war schon einmal hier gewesen. Die bewaldeten Hügel verschmolzen mit den höheren Bergen dahinter, deren Schneekappen sich vom grauen Himmel abho ben. Zwischen den Bergen lag ein Tal – nicht das Tal der Danequa mit seinem üppigen Gras und dem atemberaubend schönen Wasserfall. Ein grauenvolles Tal. Ein Alptraumtal … Zu seiner Rechten verlief in Wellen eine graue Wiese bis zum Horizont. Das graue Gras neigte sich unter einem unnatür lichen Wind. Er konnte den Wind sehen – er war wie grauer 82
Rauch. In der Ferne schimmerte ein etwas helleres Grau. Die Eisplatte. Und vor ihm wartete eine riesige Kugel auf der Ebene. Die Raum-Zeit-Maschine. Heftig keuchend, mit den Halbmenschen dicht hinter sich, drückte Mark den grauen Hebel an der Kugelhülle. Die kreis runde Tür öffnete sich zischend, und Mark stürzte ins Innere. Hastig schloß er die Tür hinter sich, die die Hand eines Nean dertalers abtrennte. Mark lag auf dem Boden der Raum-Zeit-Maschine und rang nach Atem. Ungeheure Erleichterung durchflutete ihn. Er war in Sicherheit! Er brauchte nur noch den Zeitknopf einzustellen, dann würde er bald aussteigen und Dr. Nye und Fang begrüßen können und wieder zu Hause in New Mexico sein. Er lachte fast hysterisch vor Freude über sein knappes Entkommen. Etwas lachte mit ihm. Er war nicht allein! Mark sprang auf und wich entsetzt zurück. Ein Neandertaler war mit ihm in der Maschine, und es war der größte Neanderta ler, den er je gesehen hatte. Er war gut zweisiebzig groß, und sein dicht behaarter Körper füllte die Kugel fast aus. Sein Geruch überwältigte Mark fast. Er schrie grauenerfüllt. Die monströse Hand des Neandertalers griff nach ihm, die haarigen Hände mit den schmutzigen Klauenfingern berührten ihn … Mark zuckte zurück und erwachte. Es beruhte ihn tatsächlich eine Hand, aber sie gehörte keinem Neandertaler, sondern Tlaxcan. »Du warst im Land der Schatten«, sagte er lächelnd. »Jetzt bist du zurück.« Mark stand auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die noch kraftlosen Strahlen der frühen Morgensonne erhellten die Welt. In ihrer Wärme lösten sich die Ängste der Nacht auf. Bewußt schrieb Mark Träumen keine Bedeutung zu. Für ihn waren sie, was sie waren: Träume, nichts weiter. Aber unter bewußt fiel es ihm schwer, diesen Alptraum zu vergessen. 83
Es war schön, daß Tlaxcan wieder da war, und er folgte ihm nur zu gern hinaus ins Treiben des Danequa-Tals. Der tosende Wasserfall war schöner denn je, er glitzerte im Morgenlicht, und der Kiefernduft wirkte belebend. Mark begleitete Tlaxcan zu dessen Höhle, hoch auf einem anderen Sims. Er war über rascht, dort Tlaxcans Familie kennenzulernen. Seltsamerweise hatte er seinen Freund bisher für ledig gehalten, aber wenn er es recht bedachte, heiratete man in primitiven Völkern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit sehr jung. Ein Mann brauchte jemanden, der seine Kleidung anfertigte, sein Essen zubereitete und ihm ein Zuhause gab. Es gab kein Dienstpersonal in dieser frühen Zeit, und ein Mann war die meiste Zeit mit Jagen und Fischen beschäftigt. Tlaxcans Frau begrüßte Mark sichtlich scheu. Auch sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie war anziehend in ihrer Sauberkeit und Gesundheit, und Tlaxcan offensichtlich sehr zugetan. Sie hieß Tlaxcal, ganz einfach die weibliche Form von Tlaxcan. Die beiden hatten einen Sohn, ein munteres, hübsches Kind von etwa drei Jahren und sein Name war – mit wundervoll sparsamer Logik – Tlax. Furchtlos rannte er zu Mark und versuchte, ihm die winzige Patschhand ebenfalls auf die Schulter zu legen. Mark bückte sich, um es ihm zu ermögli chen, und grinste. Im allgemeinen hielt er nicht viel von klei nen Kindern, aber Tlax war eine Ausnahme. Er fand ihn ganz besonders goldig und war sofort vernarrt in ihn. Sie frühstückten gebratenes Fleisch und Beeren. Das Fleisch hatte einen herben Geschmack, und Mark nahm an, daß es sich um Bison handelte. Voll Selbstironie lächelte er, als er sah, daß die roten Beeren genau die gleichen waren, die er trotz seines Hungers nicht angerührt hatte, weil er sie für giftig gehalten hatte – und dabei waren sie ausgesprochen köstlich! Nach dem Frühstück lehnte Mark sich zurück und unterhielt sich mit den anderen so gut er es konnte. Er fühlte sich hier wie 84
zu Hause und lachte herzlich mit Tlaxcan und Tlaxcal über den kleinen Tlax, der sich eifrig bemühte, an der Sehne von seines Vaters Bogen zu ziehen, der fast größer war als er. Es fiel Mark jetzt schwer, in Tlaxcan, dem glücklichen Familienvater, den grimmigen Wilden zu sehen, der zum Töten bereit an dem Teich hinter ihm gestanden hatte. Das bewies wieder einmal, wie falsch der erste Eindruck sein konnte. Jetzt jedenfalls kam es Mark vor, als kenne er Tlaxcan schon sein Leben lang, und er wußte mit absoluter Sicherheit, daß er nie und nirgendwo einen besseren Freund finden würde. Tlaxcal vermied es zwar, Mark direkt ins Gesicht zu sehen, aber seine Kleidung musterte sie mit großem Interesse. Mark fühlte sich unter ihren Blicken unbehaglich, denn er wußte, wie schmutzig und zerrissen seine Sachen waren, durch alles, was sie hatten mitmachen müssen. Tlaxcal flüsterte Tlaxcan etwas zu und er lächelte zustimmend. Mark brauchte nicht Gedanken lesen zu können, um zu erraten, daß er neue Bekleidung be kommen sollte. Wieder beschloß er zu lernen, was »danke« in der Sprache der Danequa hieß. So versuchte er sich einstweilen mit den Augen zu bedanken und hatte das Gefühl, daß er auch verstanden wurde. Schließlich verließ er mit Tlaxcan die Höhle und lächelte Tlaxcal und Tlax auf Wiedersehen zu. Das Kind versuchte, ihnen ein Stück des steilen Pfads hinunter zu folgen, da zog seine Mutter es zurück und schalt es aus, nicht anders, als es in Marks Zeit der Fall wäre. Mark dachte an seine eigene Mutter, die er kaum gekannt hatte, weil er bei ihrem Tod noch so klein gewesen war. Und an seinen Onkel – wo war er jetzt? Was bedeutete »jetzt«? Mark schritt zwischen den Danequa dahin und hielt die Au gen offen. Es war durchaus möglich, daß ihm bestimmt war, den Rest seines Lebens unter diesen Leuten zu verbringen. Der Gedanke erschreckte ihn nicht zu sehr, denn es war offensicht lich, daß sie mit ihrer Fellkleidung, die mit Elfenbeinnadeln 85
genäht war, ihren brauchbaren Waffen und ihrem ungekünstel ten Humor ein bemerkenswertes, begabtes Volk waren. Mark war nun schon lange genug in dieser harten, frühen Welt, um die Leistungen der Danequa zu würdigen. Gewiß, aus moder ner Sicht war die Siedlung am rauschenden Wasserfall primi tiv. Es gab keine Hochhäuser, keine Kraftwerke, kein Theater, aber dafür das saubere Stadion der Natur. Doch die Dinge sind selten das, was sie zu sein scheinen, und hier war es nicht anders. Welche Leistung war größer: zum erstenmal Pfeil und Bogen zu erfinden, oder mit allen Hilfsmitteln moderner Technologie die Atomkraft zu entwickeln? Es war keine leichte Frage, und Mark wußte nicht, wie er sie beantworten würde. An diesem Tag lernte Mark Roqan und seine Frau Roqal kennen. Roqan war, nach der Lebensspanne der Danequa gerechnet, ein alter Mann, fünfzig Jahre etwa. Sein Haar war noch dunkel und voll, aber sein Gesicht war weit runzliger als das eines Fünfzigjährigen in moderner Zeit. Er wirkte sehr streng, und eine alte Jagdnarbe auf der Stirn machte ihn noch finsterer. Alle behandelten ihn mit großem Respekt. Als er Mark sah, musterte er ihn, als wäre er ein ekliges Insekt. »Was willst du von uns?« fragte er drohend. »Ich kenne dei nesgleichen. Ihr wollt nichts anderes, als uns zu bestehlen und unsere Krieger zu töten.« Mark erwiderte seinen grimmigen Blick, entschlossen seinen Augen nicht auszuweichen. Wie sehr er sich wünschte, die Sprache gut genug zu beherrschen, um dem Alten gründlich entgegnen zu können. So aber blieb ihm nichts übrig, als ein paar Worte zu Tlaxcan zu stammeln, der für ihn antwortete. »Mein Freund kommt in Frieden«, sagte Tlaxcan zu Roqan. »Sein einziger Wunsch ist, so weise und gütig zu werden wie sein großer Bruder Roqan, von dem er weit von hier gehört hat.« »Du lügst«, stellte Roqan fest, aber er fühlte sich sichtlich geschmeichelt. Seine Augen zwinkerten verschmitzt, und Mark 86
hatte gleich darauf den Eindruck, daß er verärgert über sich war, weil er sein gutes Herz hatte durchblicken lassen. Also verzog er schnell sein Gesicht wieder zu einer finsteren Gri masse. Aber Mark ließ sich dadurch nicht täuschen. Er wußte, daß er sich mit Roqan gut verstehen würde. Roqal schien zumindest rein äußerlich sein genaues Gegen teil zu sein. Sie war rundlich, mütterlich und ungemein lie benswürdig, ja sprudelte vor Freundlichkeit. Mark hatte das Gefühl, daß sie ein wenig beschwipst war. Er vermutete, daß sie gern dem gegorenen Beerentrunk zusprach, einem sehr likörähnlichen Getränk, das die Danequa Kiwow nannten. Sie begrüßte ihn mit mädchenhaftem Kichern und gab ihm unmiß verständlich zu verstehen, daß er ihr gefiel. Mark sah Qualxen, den Schamanen, wieder, der ihn wie ei nen alten Freund begrüßte und ihm so von Kollege zu Kollege verschwörerisch zublinzelte. Natürlich antwortete er auf gleiche Weise. Es war schön, wieder Freunde zu haben, da durch war die ganze Welt gleich freundlicher. Mark lernte an diesem Tag nur zwei Danequa kennen, die sich distanzierten. Einer war Tloron, ein dünner, bleicher Mann. Wenn er Tlaxcan richtig verstand, war er so etwas wie ein heiliger Mann mit gewaltigen magischen Kräften. Offenbar aber waren sie von anderer Art als Qualxens, denn zwischen beiden schien es keine Eifersüchteleien zu geben. Irgendwie mochte Mark Tloron, obwohl dieser ihn zu mißachten schien. Der andere war Nranquar, ein großer, kräftiger Krieger, der aussah, als würde er allein mit einem Mammut fertig. Nranquar mißtraute Mark und machte daraus kein Hehl. Er erklärte laut, daß er Mark nicht aus den Augen lassen würde, wenn er sich im Kampf mit einem Mammut bewähren mußte. Und wehe, wenn er seine Sache nicht gut machte! Trotzdem war es ein schöner Tag, und Mark bedauerte, daß er zu Ende ging. Im Tal herrschte reges Treiben. Wie er he rausgefunden hatte, war es die Zeit für Stammesfestlichkeiten. 87
Ähnlich den Indianern in ihren großen Tagen waren diese Menschen fast das ganze Jahr in einzelnen Gruppen unterwegs und folgten den Herden. Wenn sie dann zusammenkamen, feierten sie ein großes Fest. Bedauernd erklärte Tlaxcan Mark, daß er an den Zeremonien nicht teilnehmen dürfe, weil er im Grunde genommen noch ein Außenstehender war. Nach dem Abendessen begleitete der Freund ihn zu seinem Höhlenalko ven, in dem jemand – höchstwahrscheinlich Tlaxcal – ein kleines Feuer gemacht und genügend Knochen zum Nachlegen zurückgelassen hatte. Mark setzte sich, in seine Felldecke gehüllt, an die Öffnung und schaute zu, wie die schwarzen Schatten des Abends durch das Tal strichen, das schwindende Licht aufsogen und den Weg für den kalten Nachtwind ebneten, der aus dem Norden wehte. Die Sterne schimmerten wie Perlen am Himmel, und der Wasserfall rauschte eintönig in der Ferne. Mark fühlte sich einsam und empfand es besonders stark, nachdem er gerade erst die Wärme neuer Freundschaft und menschlicher Gesellschaft genossen hatte. Die Danequa – Männer, Frauen und Kinder – waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und hatten nur die dunklen Kiefern und den ächzenden Wind zurückgelassen. Am fernen Talende, in der Nähe des Sees am Fuß der Was serfälle, flackerten Feuer auf. Allein in der Stille der Nacht hörte er anschwellendes, rhythmisches Trommeln, das sich über das Tosen des Wassers hinweghob. Und dann folgte ein Gesang, ein gespenstisch klingender Chor klagender Laute, von tiefen und hellen Stimmen hervorgebracht. Es war ein unharmonischer Gesang, und sein Rhythmus paßte sich nicht dem Takt der Trommeln an. Der Wind trug ihn durch das Tal zu Mark. So wild und pri mitiv das Ganze zweifellos war, hätte Mark doch viel gegeben, dabei sein und mit den anderen unter den Sternen tanzen zu dürfen. 88
Der Silbermond stieg immer höher, doch die Trommeln ver stummten nicht, genausowenig wie der nun fast wie ein Schluchzen klingende Gesang. So sehr hatte Mark gehofft, daß jemand nach Beendigung der Zeremonie bei ihm vorbeischau en würde – aber niemand kam. Das war die Nacht der Dane qua, und er war kein Danequa. Schließlich konnte er die Feuer nicht mehr beobachten, so kroch er in die winzige Höhle, obwohl er noch nicht müde war, und streckte sich auf dem Boden aus. Er schloß die Lider, konnte aber nicht einschlafen. Der rhythmische Trommel schlag; verbunden mit dem Tosen des Wasserfalls drang durch die Höhlenöffnung und schlug dumpf in sein Ohr. Das Singen schien die ganze Höhle zu füllen, und Mark fühlte sich so einsam wie noch nie zuvor. Er dachte an daheim, wie Einsame es üblicherweise tun, und es wurde ihm schmerzhaft bewußt, daß er sich fast zweiundfünfzigtausend Jahre davon entfernt befand. Da drang ein anderer Laut in die Höhle. Etwas wie ein Win seln, aber auch Knurren … Hellwach sprang Mark auf und hielt schon die .45er in der Hand. Die Halbmenschen! war sein erster Gedanke, und er schauderte. Eher würde er sich selbst umbringen, bevor er sich noch einmal diesen Ungeheuern ergab. Aber einige würde er mit sich in den Tod nehmen! Mit angehaltenem Atem wartete er. Nichts geschah. Das Geräusch kam erneut. Mark spähte vorsichtig aus der Höhle. Es war zu dunkel, etwas zu erkennen. Er nahm einen langen Stock in die Linke und stocherte damit im Feuer. Der Lichtschein breitete sich aus. Da – ein dunkler Schatten! Mark zielte sorgfältig, schoß jedoch noch nicht. »Wer ist da?« rief er. »Was willst du?« Keine Antwort. Da waren nur die Nacht, der Mond und die Schatten. »Antworte oder stirb!« zischte er und der Finger krümmte 89
sich um den Abzug. Ein leises Winseln erklang. Der Schatten bewegte sich und kam in den Lichtkreis. »Ich werd’ verrückt«, entfuhr es Mark. Der Schatten entpuppte sich als Hund! Zumindest sah er so sehr wie ein Hund aus, daß er keinen Unterschied erkennen konnte. Er war fast ausgewachsen, hatte braungraues Fell und sah wie ein Polarhund aus. Er legte sich flach auf den Bauch, den Kopf wie fragend schräg, und mit hoffnungsvoll wedeln dem Schwanz. Mark erinnerte sich an das Knurren, das er bei seiner An kunft im Tal gehört hatte. Er brauchte nicht lange, zwei und zwei zusammenzuzählen. Er glaubte nicht, daß die Danequa Hunde zähmten, zumindest nicht, um sie in Gefangenschaft zu züchten. Aber es war durchaus möglich, daß sie einigen gestat teten, sich in der Siedlung aufzuhalten, in leeren Höhlen zu hausen und die Reste ihres Essens zu fressen. Vermutlich streichelten sie sie sogar hin und wieder und spielten mit den Welpen. Jedenfalls schien dieser Hund alles andere als wild und gefährlich zu sein. Es sah im Gegenteil ganz so aus, als wollte er sich einschmeicheln. »Hallo, Boy«, sagte Mark auf Englisch zu ihm. »Hat man dich meinetwegen aus deiner Höhle vertrieben?« Der Hund wedelte bestätigend mit dem Schwanz. »Nimm’s nicht übel und komm her. Ich freue mich über Gesellschaft.« Ohne Mark aus den Augen zu lassen, näherte sich das Tier langsam und streckte sich neben dem Feuer aus. Vorsichtig, um ihn nicht zu verschrecken, ging Mark auf ihn zu und kraulte ihn sanft. Der Hund erstarrte, doch dann entspannte er sich und wedelte erfreut. Mark lauschte dem fernen Trommelschlag und dem unheim lichen Gesang der Danequa. Der Nachtwind stöhnte und der Silbermond schwamm durch ein Sternenmeer. 90
»So ist’s gut«, flüsterte Mark. »Bleib hier bei mir, dann sind wir beide nicht mehr allein.«
91
13. Titanen des Eises Die Tage wurden zu Wochen. Mark blieb bei den Danequa, lernte ihre Sprache, ihre Lebensweise und alles, was er wissen mußte, um in dieser seltsamen neuen Welt zu überleben. Seine Freunde, Tlaxcal und Kleintlax, Roqan und Roqal und der Schamane Qualxen standen ihm helfend zur Seite. Und immer war Tlaxcan unerschütterlich für ihn da, bereit mit ihm zu lachen und zu kämpfen. Es waren glückliche, ausgefüllte Tage, trotzdem fühlte Mark sich einsam. Er war noch immer nicht im Stamm aufgenommen und mußte so häufig abseits stehen. Der Hund, der in der Nacht zu ihm gekommen war, war wie die Geister, die man einmal gerufen, nicht mehr los wird. Nicht, daß Mark das Tier wieder anbringen wollte, durch ihn waren seine Nächte nicht mehr so einsam. Er war auch ein beachtlicher Hund, und Mark nannte ihn Fang, genau wie seinen Cocker, der im Jahr 1953 zurückgeblieben war. Ihn hatte er nur zum Spaß Fang genannt, aber der neue Fang machte seinem Namen Ehre. Zu Mark, der ihn fütterte und streichelte, war er sanft wie ein Lamm, aber jeden anderen, der in seine Nähe kam, knurrte er drohend an. Die Danequa staun ten über diese seltsame Freundschaft zwischen Mark und dem Hund, sie selbst hielten ja keine Haustiere. Aber sie akzeptier ten das Tier, wie sie Mark akzeptiert hatten. Andere Länder, andere Sitten. Nranquar mißtraute Mark immer noch, und daß er jetzt ständig Fang um sich hatte, trug nicht zur Verbesserung ihrer Beziehungen bei. Und dann war es eines Tages soweit. Ein Späher mit dersel ben Aufgabe, die zur Begegnung Tlaxcals mit Mark geführt hatte, kam mit der sehnsüchtig erwarteten Nachricht zurück. Die Mammutherde war gesichtet worden! Aufgeregt wurden die Jagdvorbereitungen getroffen. Wichtig war der Proviant. Dörrfleisch wurde zerstampft, mit Beeren vermischt und mit Tierfett zusammengehalten. Qualxen erfleh 92
te in einer kurzen Zeremonie die Hilfe Übernatürlicher. Mark erkannte zum erstenmal, wieviel Zeit die Danequas doch mit Ritualen zubrachten, aber wenn sie dadurch Mut schöpften, war es keine vergeudete Zeit. Hat man eine schwierige Aufga be vor sich, hilft es sehr, wenn man glaubt, es schaffen zu können. Die Männer bewaffneten sich mit Speeren, Harpunen, Pfeil und Bogen, und scharfen Messern. Frauen und Kinder fertigten Krachmacher verschiedener Art an und beluden sich mit Fellen, die sie zum Treiben schwenken würden. Mark trug seine .45er und war entschlossen, sie zu benutzen, wenn es sein mußte, aber er gab sich nicht der Illusion hin, daß er damit ein Mammut töten könnte. Außerdem hatte er sich mit einem von Tlaxcans Speeren bewaffnet. Er würde sein Bestes tun, sich auf dieser Jagd zu bewähren. Es blieb ihm auch gar nichts übrig, wie er sich grimmig erinnerte. Der Stamm verließ die Siedlung. Die Quaro-Herde war im Norden gesehen worden, am Rand der schwindenden Eisplatte, etwa vierzehn Stunden entfernt. Alle kamen mit, Männer, Frauen und Kinder. Die Mammuts bedeuteten Essen, Häute für Unterkunft und Kleidung und vieles mehr für die ganze Sied lung, und deshalb machte sich auch die gesamte Siedlung daran, ein Mammut zu erlegen. Ein einzelner Jäger, so ge schickt er auch war, konnte nichts gegen ein so riesiges Tier ausrichten, das wäre, als würde man einen Elefanten mit einer Schleuder erlegen wollen. Im hellen Tageslicht zogen die Danequa dahin, und wieder einmal fand sich Mark auf der weiten Ebene mit dem hohen Gras und den zahllosen, bunten Blumen. Doch diesmal war es anders. Er war nicht mehr allein, er war Teil einer Gemein schaft, und so barg die Welt jetzt keine Schrecken für ihn. Was immer auch kommen würde, er hatte keine Angst. Zum Teil lag das natürlich an den Freunden, die mit ihm marschierten, zu einem großen Teil aber auch an ihm selbst. Denn sogar für ihn 93
kaum merklich, hatte er sich verändert. Seine Freunde des Jahres 1953 hätten ihn wohl kaum mehr erkannt. Sie hätten einen jungen, sonnengebräunten Wilden vor sich gesehen, das lange Haar durch ein schmales Bisonfellband zusammengehal ten, und in warme Pelze gekleidet, die Tlaxcal für ihn zusam mengenäht hatte, mit einem wilden Hund an der Seite. Er war erwachsen geworden und hart, wie nur eine harte Welt einen Mann machen kann, und voll Selbstvertrauen. Den ganzen Tag zog der Stamm dahin. Die Männer waren bemalt, auch Mark hatte sich mit ein paar grünen Streifen auf Stirn und Armen einverstanden erklärt. Er hatte sich sogar darüber gefreut, daß Qualxen höchstpersönlich sich erboten hatte, ihn zu bemalen. Er trug sogar einen kleinen Medizinbeu tel an einer Lederschnur um den Hals. Er enthielt nichts weiter, als einen Zahn und einen kleinen Stein, und er versicherte sich, daß er nicht an seine Kräfte glaubte, aber er trug ihn. Die Sonne sank langsam zu den Berggipfeln, und die Abend schatten glitten über das Land. Mark staunte, als sie in der Ferne eine Bisonherde entdeckten, die so riesig war, daß man glauben konnte, eine schwarze Flut woge dahin, als sie davon lief. Es mußten tausend und aber tausend dieser Tiere gewesen sein. Nun glaubte er die Geschichten aus dem Wilden Westen, daß Bisonherden die Züge aufgehalten hatten. Aber die Dane qua waren jetzt nicht hinter Bisons her, sondern hinter größe rem. Bei Einbruch der Nacht sahen sie eine große Herde Wild pferde durch das Gras galoppieren. Mark dachte, wieviel einfacher das Leben für die Danequa doch sein könnte, wenn sie die Pferde als Reittiere benutzten. Aber diese Idee war ihnen offenbar noch nicht gekommen, und so stapften sie nur hundert Meter entfernt an den besten Reittieren vorbei, die die Welt je gekannt hatte. Auch während der Nacht marschierten die Danequa weiter. Sie schienen einen unfehlbaren Orientierungssinn zu haben, 94
denn Mark sah nichts, wonach sie sich hätten richten können. Irgendwo in der Nacht, das wußte er, war seine Raum-ZeitMaschine, und zwar von hier links, im Westen. Inzwischen war sie zweifellos auch wieder startbereit, falls ihr nichts zugesto ßen war. Er brauchte nur bloß zu ihr zu kommen und einzustei gen. Aber sie zu erreichen, darin lag das Problem. Die Nean dertaler würden ihn aus ihrem Todestal erspähen, und lebend durch sie hindurchzukommen, war unmöglich. Ihm war fast, als spüre er die kalten Augen der Halbmen schen in diesem Moment auf sich. Im trügerischen Licht des frühen Morgengrauens, etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang, erspähten die Kundschafter die Qwaro-Herde. Mark selbst sah sie zwar nicht, hörte jedoch ihr Trompeten, das ihm Schauder über den Rücken jagte. Wie gut ausgebildete Soldaten machten die Danequa sich ans Werk. Jeder einzelne kannte seinen Platz und wußte, was er tun mußte. Die älteren Männer postierten sich am Fuß einer schroffen Felswand, die gut hundert Meter auf harten Fels abfiel. Ganz offensichtlich hatten die Danequa sie schon öfter für ihre Zwecke genutzt, denn es lagen zahllose Knochen herum – riesige Knochen! Die mit Krachmachern und Fellen ausgerüsteten Frauen und Kinder verteilten sich hinter den Felsen, die zu der Wand führten. Sie bildeten eine trichterförmige Gasse mit der schma len Öffnung nahe der Wand. Die Felsen waren ihr einziger Schutz. Sie hatten lediglich ihre Krachmacher, die Felle, die sie krachend schlagen würden, und ihren erstaunlichen Mut. Nranquar, der einzige Mann, der Mark deutlich gezeigt hatte, daß er ihn als Feind ansah, führte die Krieger in einem weiten Kreis. Mark spürte das Gras unter seinen Füßen immer kärgli cher werden, und plötzlich trat er auf Eis. Es war schwierig, hier vorwärtszukommen, aber den Danequa gelang es fast geräuschlos. Nun, ganz kurz vor Sonnenaufgang war es dunk ler, und alles war still. Selbst Fang, der auf dem Eis immer 95
wieder ausrutschte, verhielt sich ganz ruhig. Er schien zu wissen, genau wie Mark, daß Nranquar ihn ohne Zögern töten würde, gäbe er einen Laut von sich. Nranquar stellte sich nun auf. Sie befanden sich hinter der Mammutherde, zwischen den riesigen Tieren und der offenen Eisplatte, und bildeten einen breiten Halbkreis. Mark, Tlaxcan und der alte Roqan, der darauf bestanden hatte, bei den Krie gern zu bleiben, obgleich er ein wenig lahmte, häuften Holz für ein Feuer auf. Sie hatten das Holz mitgebracht und schichteten es nun auf ganz bestimmte Weise auf. Zuunterst kamen feine Späne, locker darauf feines Reisig, dann dünne Zweige, dann etwas größere Äste, doch keiner dicker als drei Zentimeter. Dazwischen blieb viel Luft. Es war von größter Wichtigkeit, daß das Ganze sofort Feuer fing, wenn man es anzündete. Gelänge es nicht, konnte es zur Katastrophe führen. Rund um den Haufen, mit den Spitzen in ihm, um sich zu entzünden, legten sie trockene, besonders behandelte Stöcke, die als Fackeln dienen würden, eine für jeden Krieger. Im Osten begann der Himmel im Morgenrot zu glühen, doch noch lag graues Dämmerlicht auf dem Eis, Mark strengte die Augen an. Bis jetzt sah er nichts, wohl aber hörte er das ruhelo se Scharren der Urtiere und zweimal ein fast ohrenbetäubendes Trompeten ganz in der Nähe. Mark schluckte schwer, als die allzu vertraute Trockenheit, die die Aufregung mit sich brachte, in der Kehle würgte, und er fühlte sein Herz so laut in der Brust pochen, daß er fast befürchtete, die Mammuts könnten es hören. Als es etwas heller wurde, sah Mark die benachbarten Krie ger auf ihren Posten. Und nun war er sicher, daß sich in der Dunkelheit weiter draußen gewaltige Schatten bewegten. Die Sonne stieg höher und spitzte bereits knapp über den Horizont. Mark spürte, wie seine Hände schwitzten. Hastig trocknete er sie an seiner Fellkleidung ab. »Jetzt, Mark«, flüsterte der alte Roqan streng. »Schnell, zünd 96
das Feuer an. Und sieh zu, daß du es richtig machst!« Mark ließ sich auf ein Knie fallen. Die Streichhölzer hielt er schon in der Hand. Tlaxcan stand mit seinem Feuerbohrer bereit, falls Marks Magie versagen sollte, wie Zauberei es im kritischen Augenblick gern tat. Mark zündete ein Streichholz und hielt es unter die Späne. Er wagte kaum zu atmen. Es schien ihm endlos zu dauern, bis das Reisig Feuer fing, aber dann flammte es explosionsartig auf. Mark hörte ein aufgeregtes Trompeten vor sich, blickte je doch nicht auf. Erst mußte er sich vergewissern, daß das Feuer nicht gleich wieder ausgehen würde. Dann erst griffen er und Tlaxcan nach den inzwischen brennenden Fackeln und verteil ten sie, indem einer mit der Hälfte in einer Richtung den Halbkreis entlanglief, und der andere in die entgegengesetzte. Als jeder Krieger seine Fackel hatte, kehrten Mark und Tlaxcan zu Roqan in der Mitte zurück. »Ihr habt lange gebraucht!« rügte Roqan. »Zu meiner Zeit brauchte ich nicht halb so lange. Ich weiß nicht, was aus dieser jüngeren Generation werden soll!« Die Sonne stieg höher. Mark umklammerte seinen Speer. Er konnte jetzt die Quaro sehen, und das Blut drohte ihm zu stocken. »Los!« brüllte Roqan, ehe Mark Zeit zum Denken hatte. Und während der Morgennebel von der Eisplatte aufzustei gen begann, stürmten die Danequa zum Angriff – Mark mit ihnen, die Fackel in einer, den Speer in der anderen Hand, und er brüllte aus Leibeskräften, während Fang an seiner Seite bellte. Jetzt war keine Zeit für Furcht. Mark vermied es, auf die trompetenden Mammuts zu blicken, aber eine Stimme tief in ihm flüsterte ihm zu, daß diese Titanen des Eises sie zertram peln würden, wenn etwas schiefging.
97
14. Mensch gegen Mammut Den bisher so friedlichen Morgen erfüllte ohrenbetäubendes Trompeten. Mark rannte mit den brüllenden Männern los. Die Erde unter der Eisplatte erzitterte, kalte Luft stach in seine Lungen – und schon waren die Quaro direkt vor ihm. Mammuts – das Wort bedeutete gewaltig, und gewaltig wa ren sie. Fünfzehn der Riesen waren auf dem Eis. Mark schätz te, daß der größte nicht weniger als neuntausend Kilo wog. Sie sahen in etwa den Elefanten ähnlich, wie er sie kannte, mit einem kräftigen Rüssel, der bis fast zum Boden reichte, aber sie waren mit einem dichten Pelz aus gelbbrauner Wolle mit langem schwarzem Haar vermischt bedeckt. Sie hatten gewal tige, gebogene Stoßzähne aus Elfenbein, manche bestimmt viereinhalb Meter lang und mit gefährlichen Spitzen. Sie waren auch trotz ihrer ungeheuren Masse keineswegs plump oder dumm, wie es die ausgestorbenen Saurier gewesen waren. Mark wußte, daß die Elefanten zu den klügsten Tieren gehörten und ihr biegsamer Rüssel ein Experiment der Natur war auf dem Weg, der schließlich zum Daumen und der zupackenden Hand des Menschen geführt hatte. Zweifellos war das Mammut ein würdiger Gegner, und Mark fragte sich, wie viele es gewagt hätten, es nur mit Speer und Fackel anzugreifen. Die Danequa jedenfalls griffen an, und Mark auch. Er brüllte aus voller Lunge und schwang die Fackel in feuri gen Kreisen um den Kopf. Er wußte, daß der Erfolg der Jagd davon abhing, daß sie die Mammuts durch Feuer und Lärm in Verwirrung hielten. Gestatteten sie ihnen Zeit für einen klaren Kopf, würden sie ihre Jäger zerstampfen. Der erste Schritt war, sie in Bewegung zu bringen. Und das war wahrhaftig nicht leicht. Die älteste militärische Taktik war Überraschung und Panik. Wie jede Taktik war sie großartig, solange sie funktionierte. Wenn nicht … 98
Die Mammuts hatten es absolut nicht eilig. Sie beäugten die brüllenden Krieger nervös, trompeteten, verlagerten ihr Ge wicht, und blinzelten wütend, aber sie rannten nicht. Mark schrie und fuchtelte mit der Fackel, und ein Tier wich ein Stückchen zurück. Doch das genügte nicht. Nranquar raste plötzlich hinter ein Mammut und stieß den Speer durchs Fell. Das Tier trompetete erbost. Es wirbelte mit erstaunlicher Schnelligkeit herum und bäumte sich schnaubend auf. Nran quar rührte sich nicht vom Fleck, sondern brüllte und schwang die Fackel. Das war ein kritischer Moment, und Mark und Tlaxcan rannten ihm zu Hilfe. Entschloß das Mammut sich zum Kampf, konnte es vermutlich sie alle drei mühelos töten, und dann würden die anderen Riesen bei dem Massaker mit machen. Die drei Krieger schrien, und in plötzlicher Eingebung warf Tlaxcan seine Fackel wie einen Speer auf das sich immer noch aufbäumende Tier. Das Feuer schien es zu erschrecken und es setzte mit erderbebender Gewalt die Vorderbeine wieder auf. Gerade daß die drei Männer sich noch davor in Sicherheit bringen konnte. Das Tier beäugte sie wachsam, dann drehte es sich langsam um und setzte sich in Bewegung. Mark atmete etwas leichter und sah erfreut, daß die Herde sich dem alten Bullen angeschlossen hatte und nun in Richtung Ebene stapfte. Natürlich wußte Mark, daß sie die Mammuts in keinster Weise besiegt hatten. Es war bloß, daß die Quaro, wie die meisten Tiere, gar nicht kämpfen wollten. Alles, was sie wollten, war, in Ruhe gelassen zu werden, und zweifellos hielten sie die winzigen Menschlein gar nicht ihrer Beachtung wert. Aber man konnte nie wissen, ob sie es sich nicht jeden Augenblick anders überlegten. Jedenfalls mußten die Danequa vorsichtig vorgehen. Wie Tlaxcan es ihn gelehrt hatte, half Mark, die Herde in die gewünschte Richtung zu treiben. Fang lernte schnell. Immer wieder schoß er vor, biß nach den Beinen der Tiere und bellte dabei heftig. Fang hätte einen ausgezeichneten Hirtenhund 99
abgegeben. Jedenfalls war er von großer Hilfe, und Mark bemerkte, daß Tlaxcan sichtlich begeistert von ihm war. Alles verlief nach Plan, und die Morgensonne lächelte über ihnen. Sie rannten nun wieder in der Ebene, und Mark begann sich zu entspannen. Aber zu früh! Nichts deutete darauf hin, was geschehen würde. Plötzlich, von einem Augenblick zum andern spielte sich die Tragödie ab. Drei Mammuts bogen gleichzeitig seitwärts. Es war un möglich, sie aufzuhalten. Sie stiegen ganz einfach auf den Krieger, der ihnen im Weg war und schleuderten seinen Speer wie einen Zahnstocher zur Seite. Von dem Mann blieb nur eine blutige Masse übrig, und die drei Mammuts folgten gemächlich ihrem eigenen Weg, und da war nichts, was man dagegen hätte tun können. Die Danequa-Krieger verdoppelten ihre Anstrengung, die übrigen zwölf Mammuts zusammenzuhalten. Im Grund ge nommen gab es nichts, was die Riesen davon abhalten konnte, ihren Artgenossen zu folgen, falls sie es wollten – nichts als Mut, Menschenstimmen und ein paar armselige Fackeln. Aber sie wollten den dreien gar nicht folgen, sie trampelten brav auf die Falle zu. Mark wagte nicht mehr, sich zu entspannen. Er brüllte aus Leibeskräften, und als seine Fackel abgebrannt war, warf er sie mitten unter die Mammuts. Fang bellte und knurrte, als bildete er sich wirklich ein, er könne ein Mammut niederreißen, wenn er es nur wollte. Tlaxcan trieb die Tiere mit großem Geschick und unendlicher Geduld an, und er lächelte dabei. Nranquar, dessen Mut außer Frage stand, riskierte immer wieder sein Leben, um die trompetenden Quaro beisammenzuhalten. Durch das taufeuchte Gras der Ebene rannten sie, und Mark freute sich über die neue Kraft seiner Muskeln, die nicht zu ermüden schienen. Er atmete ruhig und fest. Er hatte einen gesunden Respekt vor den riesigen Mammuts, die ihn mit Leichtigkeit zermalmen könnten, aber er hatte auch einen 100
gesunden Respekt vor seinen Kameraden, den Danequa. Sie waren wahrhaftig keine Dummköpfe, und sie hätten diese Jagd nicht geplant, würden sie sie nicht für erfolgversprechend halten. Allein die Tatsache, daß sie noch lebten, sprach für ihre früheren Erfolge. Mit der Präzision der erfahrenen Experten zogen die Danequa-Krieger sich genau in dem Moment zur kompakten Gruppe hinter den Tieren zusammen, als diese in die Öffnung der Trichterfalle stapften. Die Männer brüllten mit neuer Kraft, und nun sprangen die Frauen und Kinder an den Seiten hoch. Sie schrillten wie besessen, betätigten ihre verschiedensten Krachmacher und schlugen die Felle schnalzend durch die Luft. Der Lärm war gewaltig, und die Mammuts trugen mit ihrem Trompeten und dem Donnern ihrer riesigen Füße noch beachtlich dazu bei. Nun wurden die nervösen Riesen zum erstenmal wirklich erregt. Der Lärm verwirrte sie und sie wollten nichts, als fort von ihm, von diesen irritierenden Kreaturen, die wie aufge scheuchte Bienen um sie zu schwärmen schienen. Sie waren noch nicht in Panik, sondern folgten in ihrem Drang wegzu kommen lediglich dem Weg des geringsten Widerstands, der gewöhnlich der gefährlichste ist, den man nehmen kann, egal, welches Ziel man zu erreichen sucht. Doch während die Seiten der Trichterfalle immer näher zusammenkamen, verstärkte sich auch der entsetzliche Lärm. Die gewaltigen Tiere hoben ihre kräftigen Rüssel und trompeteten wütend, und schließlich fingen sie zu laufen an. Die Erde erbebte unter dem Trampeln der Herde. Erregt durch ihr Rennen, liefen die Mammuts immer noch schneller, und die Danequa hatten Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Das Trompeten wurde ohrenbetäubend, und Mark brüllte begeistert. Die Tiere waren in Panik geraten und rasten nun wild dahin. Durch den Todestrichter stürmten die Mammuts, die langen Rüssel ausgestreckt, die Stoßzähne in der Morgensonne 101
schimmernd. Näher donnerten sie dem gähnenden Abgrund, und mit jedem Schritt vergrößerte sich ihre Geschwindigkeit. Sie wollten nur eins: dem gräßlichen Lärm entgehen. Zu spät sah der Leitbulle, was sie erwartete. Er schrie grau envoll und versuchte anzuhalten. Verzweifelt schwenkte er den Rüssel, als er seine Artgenossen brüllend warnte. Aber es war zu spät, die Falle hatte sich geschlossen. Die anderen Tiere, die nicht sehen konnten, was vor ihnen lag, rasten weiter. Ihre schweren Leiber schoben den Bullen über den Rand der Fels wand, und er stürzte jämmerlich trompetend in die Tiefe auf die Felszacken. Die nachfolgenden konnten nicht anhalten, allein oder zu zweien und dreien stürzten sie über den Rand und landeten mit zerbrochenen Knochen auf den Felszacken am Fuß der Wand. Ihre schrecklichen Schreie zerrissen die Morgenluft, und Mark mußte die Zähne zusammenbeißen. Killer Mensch tötete wieder, und sein unschuldiges Opfer waren die Tiere. Aber Mark hätte sich sein Mitleid sparen können. Ein Mam mut zumindest brauchte es nicht. Es war das letzte der Herde. Es hatte seine Gefährten sterben sehen, und hinter ihm waren keine, die ihn über den Felsrand schoben. Ihm gelang es, dort anzuhalten. Seine roten Augen glitzerten wild. Es drehte sich um – und ein gestelltes Tier ist doppelt gefährlich. Die Danequa mußten es über den Rand treiben – jetzt oder nie. Der nächste Krieger zögerte keinen Augenblick. Brüllend und seinen Speer schwingend, raste er auf das Tier zu. Das beeindruckte das Mammut nicht. Es hatte seine Lektion ge lernt. Unbewegt wie ein Fels stand es da. Sein mächtiger Rüssel schnellte vor und legte sich um den Herbeistürmenden. Mit einem verächtlichen Rüsselzucken schleuderte das Tier ihn in die Tiefe zwischen die Mammuts, an deren Tod er mitver antwortlich war. Die Danequa erstarrten, während das Mammut triumphierend am Felsrand stand. Es stampfte mit einem Fuß, trompetete laut, 102
und seine haßerfüllten Augen wanderten über seine Feinde. Da trat Nranquar stolz auf ihn zu. Er war entschlossen, es zurückzudrängen, ehe es noch mehr Unheil anrichten konnte, und er hatte noch eine brennende Fackel in der Hand. Wie einen Schild hielt er sie vor sich, und er zauderte nicht. Be schämt durch diesen Mut, folgte ihm Mark, und wortlos schloß Tlaxcan sich ihm an. Nranquar war noch ein paar Schritte voraus. Das Mammut beobachtete ihn. Seine roten Augen glitzerten im Flammen schein. Es schnaubte, zögerte. Es mochte die Fackel nicht und war auch nicht versessen darauf, die in einer dichten Gruppe dahinter wartenden Krieger anzugreifen. Aber mit diesen drei Menschlein, die da auf ihn zukamen, war es etwas anderes. Wenn sie sich einbildeten, sie könnten es über den Felsrand jagen, hatten sie sich getäuscht. Trompetend griff das Mammut an.
103
15. Nicht mehr allein Die Zeit schien stillzustehen, als der tonnenschwere Riese sich den drei Menschen entgegenwarf, die es gewagt hatten, ihn herauszufordern. Zum Denken blieb Mark keine Zeit, trotzdem registrierte er jede Einzelheit, als das Mammut auf ihn zukam. Er sah, daß ein Stoßzahn an einer Seite leicht abgesplittert war; er sah die rote Zunge unter dem hochgeschwungenen Rüssel; und ganz deutlich sah er die vier gewaltigen Zehen des erhobe nen Mammutfußes. Er hörte den rauhen, pfeifenden Atem des Tiers und sein Geruch schlug ihm entgegen. Er spürte das Zittern des Bodens unter den schweren Füßen. Nranquar wich verzweifelt zurück, konnte aber unmöglich rechtzeitig aus dem Weg springen. Er schleuderte die Fackel auf das Tier, das es verächtlich mit dem Rüssel zur Seite schlug. Nranquar blieb einen langen Augenblick stehen, zielte und warf seinen Speer mit aller Kraft. Er bohrte sich in des Mammuts linke Schulter. Es war ein guter Wurf. Das Mammut brüllte vor Wut und Schmerz, hielt jedoch nicht an. Nun stürmte es auf den wehrlosen Nranquar zu, der davonzu laufen versuchte. Er war nicht schnell genug. Der tödliche Rüssel peitschte vor und warf Nranquar zu Boden. Der Krieger stöhnte einmal und lag still, aber er atmete noch. Das Mammut blieb stehen, trompetete wütend und hob einen Fuß, um das Menschlein zu zermalmen. Mark und Tlaxcan griffen gemeinsam an. Sie schrien aus Leibeskräften, um den Riesen abzulenken. Das Mammut zögerte, mit dem Fuß über dem liegenden Nranquar erhoben, und beobachtete die beiden tollkühnen Menschlein, die sich an ihn heranwagten. Mark, der etwas leichter als Tlaxcan war, hatte ihn überholt und raste ohne Zögern auf das Mammut zu. Er war genau zwischen den langen gebogenen Stoßzähnen, als der überraschte Riese einen Schritt zurückwich und so von Nranquar abließ, der sich daraufhin vergebens hochplagte. 104
Mark wußte, wie nahe er dem Tod war, aber er war ent schlossen, es seinen Freunden und vor allem Nranquar zu zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Der Tod war ihm nun kein Fremder mehr und er stellte sich ihm furchtlos. Das Tier war zwar einen Schritt zurückgewichen, das war aber auch alles. Es hatte keineswegs vor, sich über den Fels rand drängen zu lassen. Es stemmte die Beine fest auf den Boden und trompetete. Mark, zwischen dem Riesen und dem liegenden Nranquar, atmete tief, und stieß mit aller Kraft den Speer. Er spürte den Schock in den Armen, als die Spitze durch die dicke Haut drang, und er hörte das betäubende Trompeten. Er sah, wie das wollige Fell sich rot färbte, und flüchtig, wie die spitzen Stoßzähne sich bewegten. Das war alles, woran er sich deutlich erinnerte. Dann spürte er einen feurigen Schmerz in der Seite, und als er sich umdreh te, krachte etwas mit lähmender Kraft gegen seinen Schädel. Vor dem wütenden Mammut brach er mit dem Gesicht im Gras zusammen. Vage, wie aus unendlicher Ferne, hörte er Schreie und Trompeten, während ein Kampf auf Leben und Tod über ihm tobte. Er hörte Tlaxcan Befehle brüllen, und der alte Roqan rief, daß alle Platz machen und einen Mann durchlassen sollten. Jemand packte seine Füße und zog ihn durchs Gras, fort vom Kampfplatz. Dann begann sich alles um oder in ihm zu drehen, und schließlich hüllte ihn Schwärze ein. Schwärze, Stille. Seine Seele schwamm durch eine unendli che, ruhige See ohne Wellen, die trotzdem gegen die Küsten des Universums spülte. Mark wußte, daß er tot war. Und es war gut, tot zu sein, ohne sich je wieder über irgend etwas Sorgen machen zu müssen. Er hatte sich oft gefragt, wie es wohl war zu sterben, und er hatte sich immer davor gefürchtet. Doch nun, da es geschehen war, war es gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, sehr angenehm, so für immer dahinzutreiben … »Mark!« Jemand rief ihn. Wer konnte es sein. Er war doch ganz allein 105
auf der See. »Mark!« Sein Onkel? Nein, der war Tausende von Jahren entfernt. »Mark!« Mark rührte sich. Die See löste sich in Nichts auf. Sein Kopf schmerzte. Er öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne und in blauen Himmel. Er sah eine Wolke. Er stöhnte und schloß, daß er noch lebte. Er wünschte sich, er wäre wieder tot. »Alles gut, Mark«, sagte eine Stimme. Es war nicht die Stimme seines Onkels, sie sprach nicht Englisch. »Der Quaro ist tot, aber du lebst. Die große rote Blume wird noch sehr viele Male am Himmel brennen, ehe du uns verläßt. Die bösen Geister hatten dich – sie zogen dich fort über das Meer der Schatten –, aber ich holte dich zurück.« Benommen blickte Mark zu dem Gesicht auf. Es gehörte Qualxen, dem Schamanen. Er lächelte breit, zufrieden, daß es ihm gelungen war, die Geister mit seinen Zauberkräften zu vertreiben. Mark bemühte sich um ein dankendes Lächeln. »Du bist der mächtigste Medizinmann der ganzen Welt«, versicherte er ihm mit noch schwacher Stimme. Qualxen strahlte. »Schlaf«, flüsterte er. »Schlaf …« Mark schlief traumlos. Als er wieder erwachte, war es dun kel. Man hatte ihn mit einem Fell zugedeckt, und sein Kopf war klar. Er setzte sich auf und blickte sich um. Er fühlte sich erstaunlich wohl. Der Schmerz in seiner Seite war nur noch ein dumpfes Pochen, und ein vorsichtiges Abtasten versicherte ihm, daß er sich nichts gebrochen hatte. Wo der schwingende Stoßzahn ihn getroffen hatte, schmerzte sein Kopf zwar noch, aber bloß an der Oberfläche. Erleichtert atmete er auf. Er war offenbar nur niedergeschlagen, doch nicht ernsthaft verletzt worden. Leicht taumelnd stand er auf, da löste sich ein Schatten von den andern, die die Nacht ausfüllten, und kam auf ihn zu. »Du bist wieder bei dir«, sagte eine Stimme. »Ich habe dich 106
beobachtet.« »Nranquar!« entfuhr es Mark überrascht. »Ja, ich bin es, Nranquar. Die andern sind unten und lösen das Fleisch aus.« »Was ist passiert? Das Mammut …« »Tlaxcan und Roqan trieben es zurück – der ganze Stamm half ihnen dabei. Es starb kämpfend, aber niemand wurde mehr verletzt.« Ein verlegenes Schweigen setzte ein, dann sagte Nranquar zögernd: »Ich – ich schulde dir mein Leben,« Dem Mann, der sich furchtlos dem Tod stellte, fiel es schwer, seine Gefühle zu zeigen. »Ich war die ganze Zeit, seit du zu uns kamst, gegen dich – und trotzdem hast du mir das Leben gerettet. Es gehört dir!« »Ich habe es dir nicht übelgenommen«, versicherte ihm Mark und legte die Hand auf des andern Schulter. »Ich wäre stolz, dich Freund nennen zu dürfen.« »Du bist jetzt ein Danequa«, sagte Nranquar sanft. »Du bist mein Bruder.« Ein gewaltiges Glücksgefühl durchzog Mark. Vor wenigen Monaten – oder eher vor zweiundfünfzigtausend Jahren – hatten diese Menschen für ihn noch nicht existiert. Sie waren nicht mehr als Wilde in einem Geschichtsbuch gewesen, und nun bedeutete ihm ihre Freundschaft und Anerkennung mehr als sonst etwas auf der Welt. Er beeinträchtigte diesen großen Moment nicht durch Worte. Was hatte gesagt werden müssen, war gesagt worden. Er wußte jetzt, daß er zu den Danequa gehörte, was immer auch geschah. »Gehen wir zu den andern«, forderte Nranquar ihn schließ lich auf. »Sie warten auf uns.« Sie folgten dem schmalen Pfad in die Tiefe. Der Mond schien hell, aber sie brauchten ihn nicht mehr, als sie die Danequa erreichten, denn lodernde Feuer brannten und ein angenehmer Geruch von Holzrauch und brutzelndem Fleisch 107
stieg auf. Die Danequa aßen, während sie arbeiteten, und waren müde, doch zufrieden. Mark sah, daß sie die beiden getöteten Krieger in die Nähe eines Feuers gelegt und zugedeckt hatten. Ihr Verlust dämpfte die Freude ein wenig, aber es wurden keine Trauerfeierlichkeiten abgehalten. Dafür war erst Zeit, wenn die Arbeit getan war. Das war kein Mangel an Gefühlen. Diese Menschen lebten mit dem Tod stets an ihrer Seite, und sie mußten mit ihrer Trauer warten, bis sie dazu Zeit hatten. Freundliches Lächeln, Zurufe und Winken begrüßten Mark, und das bedeutete ihm mehr als alle Worte. Er gehörte jetzt dazu. Er war kein Held und wollte auch gar keiner sein, aber er war ein Danequa und teilte Freud und Leid mit ihnen. Tlaxcan grinste ihn an. »Du wolltest dich wohl vor der Arbeit drücken?« Der alte Roqan kam mit finsterem Gesicht, wie immer, her über und brachte Mark ein besonders saftiges Stück Braten und einen gespaltenen Knochen voll Mark. »Da«, brummte er, »wenn du schon nicht mitgearbeitet hast, sollst du wenigstens etwas essen.« Sein verschmitztes Zwinkern nahm den Worten den Stachel. Dankbar biß Mark in das Fleisch und versuchte das Mark, das bei den Danequa als besondere Delikatesse galt. Roqal, die rundliche Frau Roquans, kam herbeigelaufen und versicherte ihm, daß sie ihn für den mutigsten jungen Mann hielt, den sie je gekannt hatte. Und er machte ihr ein Kompli ment, sagte ihr, daß sie schön sei, woraufhin sie glückstrahlend zu ihrem Mann rannte und es ihm erzählte. Daß er anderer Ansicht war, tat nichts zur Sache. Die Danequa befestigten die abgezogenen Felle jeweils an zwei kräftige, lange Äste, und darauf luden sie soviel Fleisch, wie sie nur mitnehmen konnten, dann zogen sie es, das Fell über den Boden schleifend, hinter sich her. Mark erinnerte sich, daß die Indianer früher ihre Lasten auf ähnliche Weise trans portiert und sie auch von Hunden hatten ziehen lassen. Er versuchte, Fang vor einen kleineren dieser Fellschlitten zu 108
spannen, aber der Hund machte nicht mit. Er biß nach seinem improvisierten Geschirr und blickte Mark flehend an, da gab Mark es auf. Er streichelte den Hund und warf ihm einen besonders großen Fleischbrocken zu. »Du hast sowieso genug gearbeitet«, erkannte er an. Fang wedelte glücklich und stupste Marks Hand. Unwillkür lich dachte Mark, daß hier ein konkretes Beispiel eines Pro blems war, über das er oft nachgedacht hatte. Konnte man die Geschichte ändern? Die Cromagnon hatten keine Lasttiere benutzt, und sein Versuch, das zu ändern, war gescheitert. Hatte er überhaupt, seit er bei den Danequa war, etwas auf grundlegende Weise geändert? Er glaubte nicht und bezweifel te, daß er es fertigbrächte, selbst wenn er es wollte. Ein Volk und seine Kultur mußten für neue Ideen empfänglich sein. Die Danequa ließen drei Krieger zurück, um das restliche Fleisch zu bewachen, und machten sich mit vollbeladenen Fellschlitten auf den Rückweg, mit dem alten Roqan an der Spitze, und unmittelbar hinter ihm, Seite an Seite, Mark, Tlaxcan und Nranquar. Der Vollmond schien silbern vom sternenhellen Himmel und leuchtete dem langen Zug auf seinem Weg über die weite Ebene. Mark empfand ungeheuren Stolz und tiefe Demut zugleich. Nie würde er diese Nacht vergessen. Hinter ihm stimmten einige ein Lied an, in das allmählich immer mehr einfielen. Mark hörte zu, um es zu lernen. Es war nicht schwierig, nachdem ihm klar geworden war, wie es ging. Nicht jede Zeile hatte eine Bedeutung, wie ihm schnell klar wurde. Die Textzeilen wechselten mit reiner Lautmalerei ab. Nranquar blickte ihn lächelnd an und forderte ihn auf mitzu singen. Mark holte tief Luft und sang leise mit, um nicht aufzufallen, wenn er etwas verkehrt machte. Und so schallte es in der Menschheitsdämmerung durch die mondhelle Nacht: 109
O he o-jo o-jo he o-he O he o-jo o-jo he o-he o O he o-jo o-jo he o-he he O he o-jo o-jo he o-he O he o-jo! Haus der Nacht Haus des Mondes Die Nacht unser Begleiter Auf der Jagd Im Leben, im Tod Der Mond bringt das Ende Der Mond bringt die Erfüllung O he o-jo o-jo he o-he O he o-jo o-jo he o-he o … Mark lächelte glücklich. Er wußte, daß er jetzt ganz und gar dazugehörte. Er war jetzt nicht mehr so schrecklich allein.
110
16. Hinterhalt Am nächsten Abend, nachdem sie sich ein paar Stunden im Tal der Danequa ausgeruht hatten, machten Mark und Tlaxcan sich auf den Weg zurück zum Felsen der Mammuts. Der Rest des Stammes war eifrig damit beschäftigt, Fleisch zu trocknen und einen Teil unter dem Schnee im Kühlschrank der Natur zu verstauen. Die meisten würden am nächsten Tag aufbrechen, um weiteres Fleisch ins Tal zu schaffen. Mark und Tlaxcan sollten inzwischen die drei zurückgelassenen Wachen ablösen. Fang trottete neben ihnen her und ließ sich nun sogar hin und wieder auch von Tlaxcan streicheln. Auch jetzt trug Mark seine .45er, sowohl wie einen Speer. Tlaxcan war mit Pfeil und Bogen und dem Steinmesser be waffnet, von dem er sich selten trennte. Sie erwarteten keine Schwierigkeiten, waren jedoch trotzdem wachsam und auf alles vorbereitet. Die Nacht war immer voll verborgener Gefahren, und der kalte Wind des Todes lauerte hinter jedem Felsen und Busch. Die Nacht verstrich ohne Vorfall, gegen Morgen aber erspäh ten sie ein merkwürdiges Tier, das Mark sofort an das erinner te, das er flüchtig gesehen hatte, als er zum erstenmal aus der Raum-Zeit-Maschine geschaut hatte. Es sah wie ein riesiges Flußpferd mit einem gefährlichen Horn auf der Nase aus, hatte jedoch einen ähnlichen gelbbraunen Wollpelz wie die Mam muts. Es wirkte nicht gerade freundlich, und Mark fiel auf, daß Tlaxcan einen weiten Bogen um es herum machte. Das wollige Rhinozeros beachtete sie kaum. Ihm genügte offenbar, daß man ihm nicht zu nahe kam. Den ganzen Tag hindurch wanderten die Freunde dahin und stärkten sich an dem mit Fett zusammengehaltenen Trocken fleisch mit Beeren. Sie näherten sich dem Mammutfelsen aus dem Südwesten, aber es war bereits Spätnachmittag, als sie die Hügel um die Trichterfalle sichteten. Mark staunte, wie leicht 111
er die Fährte verfolgen konnte, die die Danequa auf ihrem Rückweg gemacht hatten. Er war sicher, daß er durch sie den Weg auch allein gefunden hätte, und das erfüllte ihn mit Stolz. Er lernte langsam, aber sicher. Doch auf dieser fremden Welt gab es noch viel mehr zu lernen … Als sie zu dem Elefantenfelsen kamen, rief Tlaxcan den Wa chen. Seine Stimme echote durch die Stille der Felsen, doch er bekam keine Antwort. »Sie schlafen vermutlich.« Tlaxcan lächelte. »Ihr Glück, daß Roqan nicht hier ist. Er würde ihnen das Fell abziehen, weil sie nicht Wache halten.« »Aber es wäre merkwürdig, wenn sie um diese Zeit schlie fen«, gab Mark zu bedenken. Tlaxcan blickte ihn an. »Das ist es allerdings«, bestätigte er, und Mark wurde klar, daß er von Anfang an befürchtet hatte, daß etwas faul war. Er hätte ja wirklich daran gewöhnt sein sollen, daß Tlaxcan selbst dann scheinbar sorglos sprach, wenn er sich schlimme Gedanken machte. »He!« brüllte Tlaxcan. »Wo seid ihr?« Keine Antwort. »Ist alles in Ordnung?« Schweigen. »Das gefällt mir nicht.« Mark lockerte die .45er in ihrem Holster und umklammerte den Speer in seiner anderen Hand fester. Das einzige Geräusch war die kühle Abendbrise, die über die Ebene strich. Es war zu still, und die Gefahr in der Luft war plötzlich fast greifbar. Vorsichtig gingen die beiden Männer weiter. Tlaxcan, einen halben Schritt voraus, legte einen Pfeil an die Sehne, und unwillkürlich duckte er sich kampfbereit. Seine Nasenflügel blähten sich, als er witternd die Luft einsog. Wie von Instinkt geleitet, veränderte Tlaxcan die Richtung ein wenig, um auf eine nahe Erhebung zu steigen. Er hielt es für unklug, der Fährte weiter zu folgen, ehe er nicht herausge 112
funden hatte, was vorging. Sie eilten die Erhebung hoch. Ihre leichten Schritte hallten erschreckend laut in der unnatürlichen Stille. Mark glaubte, das Land noch nie so still erlebt zu haben, kein Insekt summte, kein Vogel zwitscherte, nichts rührte sich. Die beiden hielten sich in Deckung, ohne so recht zu wissen, weshalb, denn wenn ihnen wirklich Feinde auflauerten, hatten die sie längst erspäht. Auf allen vieren krochen sie zu einem Haufen spitzer Felsbrocken und spähten darüber. Am Fuß des Mammutfelsen war alles fast so, wie sie es vor ihrem Aufbruch gesehen hatten. Die gewaltigen Kadaver lagen zerstückelt herum und ihre Elfenbeinstoßzähne schimmerten im Schein der untergehenden Sonne. Auch die drei zurückgelassenen Wäch ter waren da. Doch nun war klar, weshalb sie nicht geantwortet hatten. Sie waren so tot wie die Mammuts um sie. Mit zusammengeschnürter Kehle blickte Mark auf diese schreckliche Szene, trotzdem fiel ihm auf, daß etwas nicht stimmte. »Es sind überhaupt keine Geier da«, flüsterte er aufgeregt Tlaxcan zu. Das war es! Die Mammutkadaver lagen schon einen ganzen Tag in der Sonne, und da die drei Wächter ebenfalls tot waren, hätten ganze Schwärme von Aasgeiern über ihnen kreisen und herabstoßen müssen. Auch andere Aasfresser – Wölfe, Hunde, oder sonst was – sollten hier sein. Fangs Nackenfell stellte sich auf, und Mark fühlte ein eisiges Prickeln. Wenn keine Men schen hier waren, müßte es von Aasfressern wimmeln. Aber da waren keine, also … »Lauf!« zischte Tlaxcan und witterte. »Die Mroxor!« Die Mroxor – die Halbmenschen … Mark brauchte keine zweite Aufforderung. Verzweifelt sprin tete er den Weg zurück, den sie gekommen waren, mit Tlaxcan an seiner Seite, während Fang vorauslief. Noch hatten sie keinen der Neandertaler gesehen, und immer noch war es unnatürlich still. Vielleicht waren sie dem Hinterhalt entgan 113
gen, indem sie die Fährte verlassen hatten? Oder Tlaxcan hatte sich getäuscht? Nein, Tlaxcan hatte sich nicht getäuscht. Als sie sahen, daß ihre Opfer der Falle entkamen, quollen die Halbmenschen aus ihren Verstecken hervor. Gräßliche Schreie zerrissen die Abendstille. Mark spürte, wie sein Herz hämmer te. Nie würde er diese Laute vergessen, die ihn durch den Alptraum seiner ersten Tage im Eiszeitalter verfolgt hatten. Er verspürte ein besonderes Grauen vor den tierischen Neanderta lern, und es fiel ihm schwer, den Kopf nicht zu verlieren. Die Halbmenschen hatten versteckt an der Fährte auf sie gelauert, und Tlaxcans unerwartetes Abbiegen hatte ihnen den Hinterhalt vereitelt. So hatten sie sich der Erhebung genähert, als Tlaxcans feine Nase sie witterte. Nun befanden sie sich zum größten Teil hinter den beiden Männern und verfolgten sie mit ihren seltsam schlurfenden, aber nichtsdestoweniger schnellen Schritten. Mark drehte sich nicht um, er wußte auch so, daß es nicht nur ein paar waren. Mark und Tlaxcan rannten südostwärts zurück, wo sich das niedrige Vorgebirge im grauen Dämmerlicht abhob. Tlaxcan schien zu wissen, wohin er wollte, aber Mark hätte auch so keine Wahl gehabt, als ihm zu folgen. Sie rannten mit der Geschwindigkeit und Ausdauer, die nur die Furcht verleihen kann, trotzdem blieben ihnen die Halbmenschen dicht auf den Fersen. Nur zu gut erinnerte Mark sich an ihre hartnäckige, endlose Verfolgung. Auf einer geraden Strecke war ihnen nicht zu entkommen. Aber wenn sie es zu den Bergen schafften … Wie in einem Alptraum sprangen plötzlich zwei Halbmen schen hinter einem Felsbrocken hervor und versperrten ihnen den Weg. Unglaublich häßlich waren sie mit ihren dichtbehaar ten, nach vorn geneigten Körpern und den brutalen Mündern und Augen, daß Mark flüchtig tatsächlich an einen Alptraum glaubte und hoffte, bloß die Augen aufmachen zu müssen, dann wären sie weg. 114
Aber sie waren nur allzu wirklich und dachten gar nicht dar an zu verschwinden. Sie umklammerten ihre Steinäxte, ihre Augen funkelten, und sie hatten die Zähne gefletscht. Nur schnelles Handeln konnte helfen. Die Meute war hinter ihnen und diese beiden Halbmenschen vor ihnen. Ohne im Laufen innezuhalten, schoß Tlaxcan seinen Pfeil ab. Ein Neandertaler stürzte ins Gras. Mark hatte keine Zeit, seine Pistole zu ziehen, er rannte einfach voll auf den andern zu und rammte ihm den Speer durch den Bauch. Der Gestank des Mroxor war überwältigend, und die anderen waren zu dicht hinter ihm, als daß Mark den Speer hätte zurückziehen und mitnehmen können. So raste er ohne ihn hinter Tlaxcan her über die grasige Ebene. Kurz hatte er die entsetzliche Vorstel lung, daß seine Zeit bei den Danequa lediglich ein schöner Traum gewesen war und er in Wirklichkeit die ganze Zeit von den Neandertalern verfolgt wurde und den Rest seines Lebens vor ihnen fliehen mußte. Der Rest seines Lebens war vielleicht gar nicht mehr so lang! Aber die Panik verging, als er sah, daß die Halbmenschen nicht aufholten. Tatsächlich war er in weit besserer Verfassung als bei der ersten Verfolgung, außerdem war er nicht allein und die Welt war ihm nicht mehr so fremd wie damals. Doch das war wenig Trost, falls diese Meute sie erwischte, und das würde sie, wenn Tlaxcan nicht genau wußte, was er tat. Tlaxcan vergeudete keinen Atem mit Worten, aber da er spürte, was in dem Freund vorging, lächelte er Mark ermuti gend zu. Es war erstaunlich, wie das Mark half. Er zweifelte nicht mehr, daß Tlaxcan sie in Sicherheit bringen konnte. Mark hörte zu denken auf. Ihm war klar, daß Tlaxcan das Land weit besser kannte, als er es je kennen würde. Er brauchte ihm nur zu folgen. Er war intelligent genug, einen echten Führer zu erkennen, und nicht so dumm, seinen Willen in einer Situation durchsetzen zu wollen, der Herr zu werden ihm die Voraussetzungen fehlten. Und er wollte auch gar nicht an die 115
knurrenden Halbmenschen hinter ihnen denken, denn er konnte es sich nicht leisten, daß die Furcht ihm die Muskeln ver krampfte. Mark versuchte sich vorzustellen, daß das nur ein Wettren nen war, an dem er teilnahm, ein Marathonlauf. Er richtete die Augen auf Tlaxcans breiten Rücken und folgte ihm Schritt um Schritt. Vage war ihm bewußt, daß die Nacht hereingebrochen war und die Sterne schienen. Er spürte, wie das Gras unter seinen Füßen Stein wich, als sie das Bergland erreichten, und er wurde sich auch bewußt, daß das Knurren der Neandertaler immer weiter zurückblieb. Schließlich hörte er nur noch das Hämmern ihrer eigenen Schritte, das Keuchen ihres eigenen Atems. Sie waren allein – sie hatten die Verfolger abgeschüttelt. Tlaxcan blieb stehen, und Mark ließ sich auf den Boden fallen, um zu Atem zu kommen. Tlaxcan zog ihn sofort wieder auf die Füße. »Du glaubst doch nicht, daß man den Mroxor so leicht ent kommen kann«, keuchte er. »Sie haben uns in der Dunkelheit nur kurz verloren.« Mark schämte sich seiner Dummheit. »Das kommt davon, wenn man zu denken aufhört. Was tun wir denn jetzt?« »Wir machen ein Feuer«, antwortete Tlaxcan überraschen derweise, »und zwar schnell!« Mark blickte seinen Freund verblüfft an, aber jetzt war keine Zeit, über Strategie zu debattieren. Wenn Tlaxcan sagte, daß jetzt ein Feuer gemacht werden mußte, würden sie auch ein Feuer machen. Mark trug hastig dürre Zweige zusammen, schnitt Späne mit seinem Messer und gemeinsam schichteten sie Reisig- und Zweiglagen auf. Dann kniete Mark sich daneben, holte die kostbaren Streichhölzer hervor und blickte Tlaxcan fragend an. »Sie werden das Feuer sehen und hierherkommen«, sagte er. »Und uns finden.« Tlaxcan lächelte. »Sie würden uns auch so finden. Und sie 116
werden hierherkommen – nur werden wir nicht hier sein.« Verwundert zündete Mark die Späne an. Sie fingen Feuer, das schnell nach dem Reisig griff. Mark stellte fest, daß er bereits Experte im Feuermachen war. Wenn er je wieder nach Hause kam, würde er nie wieder mehr als ein Streichholz zum Anzünden vergeuden. »Jetzt brauchen wir Äste, die sich als Fackeln verwenden lassen – so viele wir nur tragen können«, sagte Tlaxcan. »Wir müssen uns beeilen.« Nach einigem Suchen fanden sie sechs geeignete Äste, zün deten jedoch nur einen an, den Tlaxcan nahm. Dann verließen sie das Feuer und kletterten einen Hang hoch. Nach einer Weile kamen sie zu einer dunklen Höhle, die offenbar von vornherein Tlaxcans Ziel gewesen war. Keinen Augenblick zu früh! Ein wildes, knurrendes Gebrüll unter ihnen, verriet, daß die Halbmenschen das Feuer erreicht hatten. Der Höhleneingang wirkte keineswegs einladend. Klamme, faulige Luft schlug ihnen entgegen, und Mark schauderte unwillkürlich. Wie Häuser hatten auch Höhlen ihre eigene Ausstrahlung. Einige waren warm und kuschelig, genau richtig, sich darin wohl zu fühlen. Andere waren geheimnisvoll und versprachen ungeahnte Szenerie. Wieder andere waren naßkalt und modrig und furchterregend, und man stellte sich grauen volle Ungeheuer vor, die in ihnen hausten. Gastlich war die Höhle wahrhaftig nicht, aber Tlaxcan wußte, was er tat, das sah Mark ein. Sie konnten den Neandertalern im Freien nicht auf die Dauer entkommen, auch nicht in den Bergen. Genausowenig konnten sie mit einem glücklichen Zufall rechnen, wie er Mark das erstemal gerettet hatte. Früher oder später würden sie sich stellen und kämpfen müssen, und dann war es besser, ausgeruht zu sein. Außerdem konnten die Halbmenschen sie hier in den engen Höhleneingängen nur einzeln angreifen, und wer weiß, ob sie überhaupt den Mut hatten, ihnen ins Erdinnere zu folgen. Dummköpfe waren die 117
Mroxor nicht. Sie würden wissen, daß es Selbstmord nahekam, zwei Danequa in eine dunkle Höhle zu folgen. Wieder herauszukommen war natürlich eine andere Sache, aber darüber würden sie sich später Gedanken machen. Nur die schwach flackernde Fackel zeigte ihnen den Weg, als sie die Höhle betraten. Fang schnüffelte laut und wich winselnd zurück. Erst als er die Halbmenschen hinter sich schrill schrei en hörte, trottete er zögernd hinter den beiden Männern her.
118
17. Höhlenbewohner Die Höhle führte schräg abwärts, und Marks Schritte wurden von selbst schneller. Er hörte die Neandertaler in der Dunkel heit knurren und nahm an, daß sie sich am Eingang versammelt hatten und überlegten, ob sie die Höhle betreten sollten. Das röhrenförmige Labyrinth verzerrte die Stimmen und machte es unmöglich zu erkennen, ob sie ganz aus der Nähe oder von hundert Metern entfernt kamen. Das Knurren und Murmeln verlor sich in unzähligen Echos. Fang hielt sich so dicht an Mark, daß der in Gefahr kam, über ihn zu stolpern. Er mußte ihn mit Gewalt zur Seite schieben, um voranzukommen. Ganz offenbar fürchtete der Hund sich vor etwas, und Mark war sicher, daß dieses Etwas irgendwo voraus war und nichts mit ihren Verfolgern zu tun hatte. Mark hatte ständig das Gefühl, daß er jeden Augenblick den Boden unter den Füßen verlieren würde. Sehen konnte er nichts als den schwachen Fackelschein. Natürlich war ihm klar, daß er Tlaxcan unbeschadet folgen konnte. Wenn der Freund nicht in einen Abgrund gestürzt war, würde er es auch nicht. Trotz dem war es ein ungutes Gefühl, sich durch das Dunkel immer tiefer unter die Erde zu tasten … Der unangenehme Geruch wurde mit jedem Schritt stärker. Was an ihm so beängstigend war, wußte Mark nicht zu sagen. Vermutlich war es nur, weil er ihn nicht zu deuten wußte und er sich durch die Tonnen von Gestein von der Oberwelt abge schlossen fühlte. Es erinnerte Mark an eine Abwasserröhre, in die er als Kind gekrochen war. Sie hatte in einen steinernen Tunnel geführt, wo die Kanalisation unter dem Bahnnetz verlief. Das Licht seiner Taschenlampe wurde immer schwächer, und so hatte er sich durch die Dunkelheit getastet, erst mit der rechten, dann der linken Hand, dann mit der rechten, und dann hatte seine Linke etwas berührt! Es war kalt und ein wenig rauh gewesen. 119
In seinem Schock konnte er die Hand nicht davon lösen. Das Ding war gewölbt, weich, nachgiebig und offenbar lang. Seine andere Hand zitterte so sehr, daß er nur mit Mühe die Taschenlampe darauf richten konnte. Vor ihm, auf dem Stein boden, starrten ihn die Augen einer riesigen Klapperschlange an, die schon lange nicht mehr lebte … Das gleiche Gefühl, das der Tunnel ihm damals vermittelt hatte, vermittelte ihm dieser Höhlengang. Immer tiefer stieg Tlaxcan und schaute sich nicht einmal um. Mark konnte die Halbmenschen nicht mehr hören. Hatten sie aufgegeben? Warteten sie vor dem Höhleneingang? Oder schlichen sie ihnen durch diese Höllenfinsternis nach, die roten Augen auf Tlaxcans schwaches Fackellicht gerichtet? Fang winselte erbärmlich, verstummte jedoch, als Mark ihn beruhigend tätschelte, dabei hätte Mark selbst jemanden gebraucht, der ihm Mut machte. Wieder sagte er sich, daß Tlaxcan schon wußte, was er tat und wohin er ging. Das half ein bißchen, aber das unheimliche Gefühl blieb. Tlaxcan zündete eine neue Fackel an der niedergebrannten alten an und warf den Stumpf von sich. Zischend landete er in einer tiefen Lache öligen Wassers und erlosch. Die frische Fackel verdrängte die Schatten, und Mark sah phantastische Felsgebilde um sich: Bogenöffnungen zu abzweigenden Gän gen, atemberaubende Stalagmiten und fast mit ihnen zusam menwachsende Stalaktiten. Das Ganze war von unheimlicher, lebloser Schönheit. Unermüdlich und sicheren Schrittes, als mache er einen Morgenlauf über eine Wiese, rannte Tlaxcan weiter, immer wieder bog er nach der einen oder anderen Seite ab, einem Weg folgend, den Mark nicht sehen konnte. Der klamme Druck verstärkte sich. Aus der Ferne war ein Rauschen wie von fließendem Wasser zu hören. Das war alles und kein alarmierendes Geräusch. Er bemerkte auch nichts Beunruhi gendes, und doch wuchs sein Unbehagen. 120
Die Neandertaler waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und Mark glaubte nicht, daß sie ihnen gefolgt waren, denn sonst hätten sie sich irgendwie bemerkbar gemacht. Entweder waren sie zu den erlegten Mammuts zurückgekehrt, oder sie warteten am Höhleneingang. Weder er noch Tlaxcan waren darauf versessen, umzukehren und sich zu vergewissern, so begaben sie sich immer noch tiefer in dieses unterirdische Labyrinth. Mark nahm an, daß der Freund einen anderen Ausgang kannte, denn sonst hätte er sich bestimmt nicht so weit vorgewagt, wo die Falle sich für sie tödlicher schließen könnte als irgendwo im Freien. Aber wenn auch die Neanderta ler diesen anderen Ausgang kannten … Immer wieder wich Fang zurück, um dann Mark jedoch schnell nachzulaufen, voll Angst allein zurückbleiben zu müssen. Was war nur los mit ihm? Mark wußte, daß Wildhun de an Höhlen gewöhnt waren, außerdem war Fang kein Feig ling, er hatte seinen Mut bei der Mammutjagd hinlänglich bewiesen. Er war auch nicht leicht einzuschüchtern, also mußte es einen triftigen Grund für seine Furcht geben. Solche Gedan ken trugen aber nicht gerade zu Marks Beruhigung bei. Sie konnten jetzt nicht umkehren, selbst wenn sie mit Sicherheit wüßten, daß in den finsteren Tiefen Gefahr lauerte. »Wir müssen nicht mehr viel tiefer«, sagte Tlaxcan plötzlich. In der Stille der Höhle klang seine Stimme erschreckend laut. »Hoffentlich.« Mark versuchte seine Stimme unbeschwert klingen zu lassen. »Es dürfte jetzt jeden Augenblick ziemlich heiß werden.« Tlaxcan verstand zwar nicht, was Mark damit meinte, aber er fragte ihn auch nicht danach. »Wir haben die Mroxor abge hängt«, sagte er statt dessen. »Bist du sicher?« »Sie werden uns nicht hierher folgen«, versicherte ihm Tlax can. »Warum nicht?« 121
»Dies ist keine gute Höhle«, antwortete Tlaxcan ruhig. »Wir sind sehr weit von der Sonne entfernt.« Die zweite Fackel brannte ab, und Tlaxcan zündete eilig seinen letzten trockenen Ast an. Mark war dankbar für das Licht, genau wie Fang, der erleichtert wedelte. Licht half doch sehr. Mark mochte sich gar nicht vorstellen, wie es hier ohne wäre. Er hatte seine drei Äste noch, aber es war gar nicht gesagt, daß sie reichen würden. Das dürre Holz brannte schnell, und nicht einmal Tlaxcan konnte ohne Licht den Weg an die Oberfläche zurückfinden. Es mußte einen Durchzug hier geben, sonst würde die Fackel nicht so flackern. Mit einemmal endete die Schräge, der sie so lange gefolgt waren, daß es Mark fast schwerfiel, seinen Schritt dem ebenen Boden anzupassen. Die Höhle schien sich zu weiten. Das Fackellicht reichte weder zu den Wänden noch zur Decke. Das Gurgeln des Wassers war nun ganz nah und echote erstaunlich laut von den Felsen. Offenbar befanden sie sich in einem riesigen Raum, tief unter der Erdoberfläche. Tlaxcan verlangsamte den Schritt nicht, und Mark mußte sich beeilen, ihn wieder einzuholen. Erstaunlicherweise war der unangenehme, bedrückende Geruch in dieser riesigen Höhle stärker als zuvor in den engen Gängen. Es kostete Mark Wil lenskraft, nicht ständig über die Schulter zu schauen. Er fand nun, daß es nicht ein bestimmter Geruch war, sondern eine Mischung verschiedener Gerüche, zu der, wenn er sich nicht sehr irrte, der Gestank von toten Fischen gehörte. Die anderen Gerüche konnte er nicht identifizieren, aber da war eine Frage, die einer schnellen Antwort bedurfte. Wer oder was fing hier in dieser Tiefe Fische? Niemand beantwortete ihm diese ungestellte Frage, doch offenbar hatte sich auch Tlaxcan darüber Gedanken gemacht. Er beschleunigte den Schritt, hielt die Fackel hoch und schwang den Bogen in der freien Hand, bereit ihn zu benutzen. Auch Fang schien der aufdringliche Geruch noch schlimmer zu 122
ängstigen, jedenfalls winselte und knurrte er jetzt fast ohne Unterlaß. Sie durchquerten einen eisigen Bach. Mark gefiel es gar nicht, durch Wasser zu waten, das er nicht sehen konnte, und er wartete angespannt, daß irgend etwas passierte. Aber nichts tat sich, und sie stapften ungehindert weiter durch die riesige Höhle. Tlaxcan führte ihn in einen schmalen Gang und zu einer weiteren Höhle, die offenbar nicht ganz so groß wie die soeben verlassene war. Es war stockdunkel und Tlaxcans Fackel leuchtete kaum noch. Fang winselte nun pausenlos und kroch fast auf dem Bauch dahin. Mark spürte, wie sich ihm die Nackenhärchen aufstellten. Selbst Tlaxcan schien etwas zu spüren, denn er ging langsamer und atmete schwer. Etwas stimmte nicht mit dieser Höhle. Mark wußte nicht, was ihn so verängstigte. Der Gestank war stärker, doch das war alles. Außer Fangs Winseln und dem Rauschen des Wassers aus der anderen Höhle war es völlig still hier. Da sah er in der Dunkelheit – Augen! Ein Augenpaar starrte sie an. Es glühte wie gelbe Flammen in der Dunkelheit. Die Augen allein waren schon schlimm genug, aber noch furchterregender war, daß sie sich mindestens viereinhalb Meter über dem Höhlenboden befanden. Und plötzlich zerriß ein ungeheuerliches Brüllen die Stille der Höhle. Wie Donner schlug es gegen Marks Ohr und be täubte ihn fast vor Furcht. Es war das erschreckendste Brüllen, das er je gehört hatte – um so mehr, da es aus einer solchen Höhe kam … »Zurück, Mark!« schrie Tlaxcan. »In die Ecke!« Mark bewegte sich nicht. So verstört er auch war, hatte er nicht die Absicht, Tlaxcan bei seinem Ablenkungsmanöver allein zu lassen. Tapfer stellte er sich neben ihn und zündete einen seiner Äste an Tlaxcans niederbrennender Fackel an. Das Holz fing schnell Feuer und er sah flüchtig etwas Ungeheuerli 123
ches, Schwarzes unter den glühenden Augen. Wieder brüllte das Untier. Und kam näher! Tlaxcan warf seinen noch brennenden Fackelstummel mit aller Kraft auf das Ungeheuer. Es knurrte grauenvoll, zögerte und wischte die Flamme zur Seite. »Jetzt«, zischte Mark. »Zurück!« Sie hatten nur eine Richtung, aus der sie sich verteidigen konnten – eine Ecke, in die sie sich hastig zurückzogen. Mark hielt seine Fackel hoch. Fang knurrte. Nun, da die Gefahr Wirklichkeit geworden war, fürchtete er sich nicht mehr. Wieder brüllte das Ungeheuer. »Was wir auch tun, müssen wir schnell tun«, sagte Tlaxcan. »Wir brauchen die Fackeln, um von hier wieder hinauszu kommen.« Sie lehnten mit dem Rücken an der Wand, wo sie wenig Bewegungsfreiheit hatten. Ihr Lichtvorrat löste sich in Rauch auf. Mark dachte lieber nicht daran, was passierte, wenn sie mit dem Ungeheuer allein in der Dunkelheit waren. Sie mußten schnell handeln und das Tier sofort töten, denn verwundeten sie es bloß, wäre es noch gefährlicher. Aber was ließ sich gegen ein viereinhalb Meter hohes Untier unterneh men? Sie hatten keine Wahl, und offenbar war Tlaxcan zum glei chen Schluß wie Mark gekommen. Es war charakteristisch für den Mann, daß er sich nicht mit dem Freund absprach, wer sein Leben als erster einsetzen sollte. Mit einem vagen Lächeln trat Tlaxcan stolz vor, um gegen das riesige Ungeheuer mit Pfeil und Bogen zu kämpfen.
124
18. Kriegsrat »Tlaxcan!« Mark streckte den Arm aus und zog den Freund in die relative Sicherheit der Ecke zurück. Angespannt blickte Tlaxcan Mark an, als zweifle er an seinem Verstand. »Du hast keine Waffen«, sagte er, »also wirst du die Fackel halten.« »Du täuschst dich«, entgegnete Mark. »Ich habe sehr wohl eine Waffe.« Er zog seine .45er und zeigte sie dem Freund. Das Ungeheuer scharrte mit den nicht zu sehenden Füßen und knurrte warnend. Fang knurrte zurück und machte mit seinem Mut wett, was ihm an Größe fehlte. Tlaxcan lächelte geduldig. »Du bist tapfer, mein Freund, aber manchmal ist Mut fehl am Platz. Mit diesem winzigen Ding kannst du dem Höhlenbewohner nichts anhaben. Ja du kämst nicht einmal nahe genug an ihn heran, es zu benutzen.« Mark vergeudete keine Zeit damit, ihm die Funktion von Schußwaffen erklären zu wollen. »Das ist eine Zauberwaffe«, sagte er. »Damit habe ich den Mroxor getötet. Sie wird uns nicht im Stich lassen. Zumindest mußt du gestatten, daß ich es versuche. Ich werde mich dazu nicht vom Fleck rühren müs sen.« Tlaxcan zögerte. Er wußte, daß sein Freund im Ruf stand, starke Medizin zu haben, und er wußte auch, daß seine Chan cen, das Tier mit einem Pfeil zu töten, gering waren. »Halt du die Fackel«, bat Mark und drückte sie ihm in die Hand. »Ich werde meinen Zauber versuchen.« Mit einer Hand hielt Tlaxcan die Fackel hoch, mit der ande ren umklammerte er den Bogen. Zauberei war schön und gut, aber aus Erfahrung wußte er, daß nicht immer Verlaß darauf war. Mark war durchaus nicht so sicher, wie er tat. Gewiß, eine .45er mit drei Kugeln war eine wirkungsvollere Waffe als Pfeil und Bogen, selbst in so geschickten Händen wie Tlaxcans, aber 125
eine Pistole konnte keine Wunder wirken. Er gab sich keines wegs der Illusion hin, daß ein Schuß das Ungeheuer umwarf, als wäre es ein Kaninchen, irgendwie kam er sich vor, als wollte er einen Panzer mit einem Luftgewehr aufhalten. Erneut brüllte das Tier ohrenbetäubend und kam näher. Jetzt oder nie! Mark stellte sich vor, diese Alptraumkreatur sei nichts weiter als eine Zielscheibe. Er ignorierte das Brüllen und zielte sorgfältig auf ein gelbes Auge. Er versuchte ruhig zu atmen und leicht auf den Abzug zu drücken, damit die Pistole nicht zur Seite gerissen wurde. Er spürte, wie ihm kalter Schweiß über den Rücken rann. Er schoß. Der Knall in der Höhle war ungeheuerlich. Mark befürchtete, daß die Erschütterungen die Decke zum Einsturz bringen und sie verschüttet werden könnten. Der Rückstoß riß seine Hand zurück, und ein gelbes Auge erlosch. Ein schreckliches Schmerzensgebrüll erfüllte die Höhle. Die Kugel hatte ihr Ziel getroffen, aber das Ungeheuer lebte noch. Mark sah ein gelbes Auge und darunter die ungeheure schwar ze Masse des brüllenden Tieres, das rasend vor Schmerz auf sie zukam. Mark schoß nicht blindlings. Er zielte nach dem zweiten Auge und drückte wieder ab. Der Schuß knallte, als Mark bereits den fauligen Atem auf sich spürte. Vage war er sich bewußt, daß Tlaxcan die Fackel fallen ließ und einen Pfeil auf das Ungeheuer schoß. Fang knurrte und griff an. Aber auch der zweite Schuß hatte nicht genügt. Das stinken de Ungeheuer kam unaufhaltsam näher, und ehe Mark den dritten Schuß abfeuern konnte, hatte es ihn erreicht. Vergeblich streckte er die Hände abwehrend aus. Er wurde gegen die Höhlenwand geworfen, dabei entglitt ihm die Pistole. Er schloß die Augen und wartete auf die Zähne, die ihn zermalmen würden. Nichts geschah. Mark öffnete die Augen. Verzweifelt kroch er unter dem 126
dunklen Leib hervor und spürte etwas Feuchtes, Klebriges an den Händen. »Tlaxcan«, krächzte er. »Was …?« »Es ist tot«, antwortete der Freund ruhig, mit tiefer Hochach tung in der Stimme. »Du hast es mit deinem Zauber getötet.« Da setzte die Reaktion ein. Mark wurde entsetzlich übel, und als er sich übergeben hatte, fühlte er sich viel besser. Er be trachtete das tote Ungeheuer. Fang wedelte eifrig und stupste Mark voll großer Zuneigung. »Was – was ist das?« fragte Mark. Er hob die Pistole auf und steckte sie ins Holster zurück. Tlaxcan griff nach der noch am Boden liegenden Fackel und hielt sie so, daß Mark das Tier sehen konnte. Selbst im Tod wirkte es furchterregend. Die Augen waren durchschossen, und aus einer Schulter ragte ein Pfeil. Es lag nun auf dem Boden in einer wachsenden Lache seines eigenen Blutes, war bestimmt fünf Meter lang und hatte zottiges, verfilztes schwarzes Fell und einen Stummelschwanz. Die lange Schnauze war im Tod zu einem herausfordernden Grinsen geöffnet, das im Fackel schein gelbe Zähne entblößte. »Das ist Groxur«, sagte Tlaxcan. »Der Höhlenbewohner.« Der Name beantwortete Marks Frage nicht. Er betrachtete das Tier eingehend im flackernden Licht, aber er wußte, daß ihnen nicht viel Zeit blieb, wollten sie die Höhle verlassen, ehe die letzte Fackel niedergebrannt war. Tlaxcan zündete bereits wieder eine neue an. Sie verließen die Höhle mit ihrem toten Bewohner. Wieder machte Tlaxcan den Führer und eilte durch das Labyrinth. Mark dachte über das Ungeheuer nach. Es fiel ihm nur ein Tier seiner Zeit ein, das ihm ein wenig ähnelte: ein Bär. Das Unge heuer hatte sich offenbar hauptsächlich von Fisch ernährt, und er erinnerte sich, von riesigen Höhlenbären gehört zu haben, die früher tief unter der Erde gehaust hatten. Er schauderte. Nie wieder würde er einen Bären sehen können, ohne an dieses grauenvolle Ungeheuer erinnert zu werden. 127
Immer weiter eilten sie. Als die Fackel niederbrannte, zünde ten sie an ihr ihre letzte an. Nun rannten sie fast. Mark dachte, daß er nun nur noch eine Kugel in seiner .45er hatte. Wenn er zu seiner Raum-Zeit-Maschine zurückwollte, mußte er sich bald auf den Weg machen. Zweimal hatte ihm die Pistole das Leben gerettet. Ohne sie hatte er kaum eine Chance, noch lange in dieser frühen Welt am Leben zu bleiben. Aber wie könnte er zur Maschine zurückkommen? Er hatte nur eine einzige Chan ce … Es war Morgen, als Mark und Tlaxcan mit dem fröhlich bel lenden Fang aus dem Höhlenlabyrinth in die frische Luft und den freundlichen Sonnenschein des neuen Tages traten. Tlax cans Strategie, die Höhle durch einen anderen Ausgang zu verlassen, war erfolgreich. Die Halbmenschen waren nirgend wo zu sehen. Mark warf den rauchenden Stummel ihrer letzten Fackel fort. Sie stiegen die Hänge hinunter auf die Ebene. Es schien keine Gefahr auf sie zu lauern, und so machten sie sich wieder frohen Mutes auf den Weg zum Tal der Danequa. Daß sie die Kunde vom Tod der drei Danequa-Wächter brachten, dämpfte ihre gute Laune nicht sehr, dazu waren sie viel zu froh, selbst noch am Leben zu sein. Die unterirdischen Gänge hatten sie dem Danequa-Tal nä hergebracht, und sie brauchten nur noch einen Tag und eine Nacht, die Ebene dorthin zu überqueren. Unterwegs stärkten sie sich an einem Hirsch, den Tlaxcan mit einem Pfeil erlegte. Früh am Morgen kamen sie im Tal an, gerade als die Danequa aufstanden. Der schillernde Wasserfall, das üppige frischgrüne Gras, der würzige Kiefernduft – alles erschien den beiden Männern herrlicher denn zuvor. Glücklich nahmen sie das Bild auf und lauschten den fröhlichen Rufen der Danequa. Es war schön, wieder zu Hause zu sein! Mark und Tlaxcan berichteten den Danequa-Kriegern, was sie gesehen und erlebt hatten, begrüßten ihre Freunde und 128
beeilten sich, zu Tlaxcans Höhle zu kommen. Tlaxcal schickte Tlax zum Spielen im Freien, damit die beiden Männer sich ungestört ausschlafen konnten. Fang trottete gehorsam zu Marks Höhle, die er zweifellos als seine eigene erachtete, und schlief ebenfalls sofort ein. Als Mark und Tlaxcan erwachten, war es bereits Abend. Der kalte Wind pfiff durchs Gras und schüttelte die Zweige der Kiefern. Am Himmel glitzerten die Sterne wie mit Rauhreif überzogen. In der Ferne rauschte gedämpft der Wasserfall. Und noch etwas anderes konnten sie hören: Trommeln. Mark und Tlaxcan standen auf und fühlten sich wieder frisch. Sie gingen durch das Tal zu den lodernden Feuern und den pochenden Trommeln. Der kalte Wind strich gegen ihre Ge sichter und das hohe Gras streifte weich gegen ihre Beine. »Das sind die Ratstrommeln«, erklärte Tlaxcan. »Mein Stamm hält Kriegsrat.« Mark hob die Brauen. »Wegen der Mroxor?« fragte er. Tlaxcan nickte. »Sie haben sich zuviel herausgenommen. Sie haben unsere Krieger getötet und das Fleisch gestohlen, für das wir unser Leben einsetzten. So darf das nicht weitergehen. Wir haben schon früher gegen sie gekämpft und müssen es eben nun wieder tun.« Beim Anblick von Mark und Tlaxcan brachen die Danequa in einen Begeisterungssturm aus und führten die beiden in die Mitte des Kreises der Ratsmitglieder. Dort wiederholte Tlax can, was sie gesehen und erlebt hatten, und berichtete, wie Mark mit seiner Magie den Höhlenbewohner getötet hatte. Mark spürte den Respekt, den man ihm entgegenbrachte. Qualxen, der wieder von Kopf bis Fuß bemalt war und sehr beeindruckend aussah, bedachte Mark mit einem besorgten Blick. Mark wurde zu mächtig für seinen Geschmack, und falls es zu einem Wettkampf mit Zauberkräften kommen sollte, konnte es leicht sein, daß er die längste Zeit Medizinmann 129
gewesen war. Mark lächelte ihm zu, und der Schamane beru higte sich sichtlich. Einer nach dem andern wurden die Ältesten der Danequa aufgerufen, ihre Meinung über den Mroxor-Überfall zu sagen und was unternommen werden sollte. Es wurde viel geredet, es dauerte bis tief in die Nacht. Mark bemerkte den dünnen, bleichen Tloron, den er seit seiner Ankunft bei den Danequa nicht mehr gesehen hatte. Der Mann saß allein an einem Feuer, in das er stumm blickte. Was las er in ihm? Mark wußte, daß Tloron für die Danequa als heiliger Mann galt, das war schon alles, und er hatte die ganze Zeit nicht mehr über ihn erfahren. Wie war er, dieser einsame Mann. Welchen Gedanken hing er nach? Die allgemeine Entscheidung war, daß man einen Feldzug gegen die Mroxor unternehmen sollte, um sie für ihre Untaten zu bestrafen. Tatsächlich war die Mehrheit so überwältigend, daß Mark lange nicht verstand, weshalb die Versammlung sich noch so lange dahinzog. Zum Teil lag es zweifellos daran, daß es eine zeremonielle Sitzung war, bei der bestimmte Rituale eingehalten werden mußten, die ziemlich zeitraubend waren. Außerdem hatten die Danequa ohnehin keine Eile, denn so teuflische Erfindungen wie die Uhr gab es in ihrer Kultur nicht. Wenn sie in dieser Nacht noch fertig wurden, konnten sie morgen Vorbereitungen treffen, wenn nicht, dann übermorgen. Selbst wenn sie es eine Woche verschieben mußten, oder einen Monat, oder ein Jahr, was spielte das schon für eine Rolle? Ein Zeitpunkt war so gut wie der andere. Doch das war nicht der einzige Grund. Alle waren mit sicht lichem Ernst bei der Sache, der nichts mit den Zeremonien zu tun hatte. Der Rat der Danequa tat sein Bestes, eine Entschei dung zu treffen, und soweit Mark sehen konnte, waren alle, außer einem einzigen, für denselben Plan. Dieser eine, der sich dagegen sträubte, war ein Krieger mitt leren Alters namens Dranquan. Er beharrte darauf, daß sie 130
bereits mehr Männer verloren hatten, als sie sich leisten konn ten. Das klang gar nicht unvernünftig. Dranquan fand, daß es allmählich Zeit sei, das Lager hier für den Winter zu verlassen, und daß jede Sippe wieder getrennt den Herden folgen sollte. Bei einem Kampf gegen die Mroxor würden sie nur noch mehr Krieger verlieren und absolut nichts gewinnen. In gewissem Sinn war Dranquan die Stimme der Vernunft. Er ließ sich nicht von Stolz und Rachegefühlen leiten, sondern sah die Dinge aus einer höheren Warte. Immer wieder legte jeder seine Meinung dar und immer wie der wurden die gleichen Argumente benutzt, aber Dranquan ließ sich nicht umstimmen. Mark wurde klar, daß die Gesell schaftsform der Danequa in gewisser Hinsicht eine absolute Demokratie war. Es genügte ihnen nicht, eine klare Mehrheit zu gewinnen, sie wollten eine völlige Einstimmigkeit. Dieses System hatte natürlich seine Nachteile, und einer hier war offensichtlich. Was geschah, wenn einer dagegen und nicht bereit war, seine Meinung zu ändern? Würde die Sitzung sich dann endlos dahinziehen, ohne daß etwas erreicht wurde? Aber offenbar funktionierte dieses System, denn sonst würde man es nicht beibehalten. Mark sah, wie die Sache am frühen Morgen gelöst wurde. Als völlig klar war, daß Dranquan nicht umgestimmt werden konnte, und Dranquan erkannte, daß er nichts ausrichten konnte, stand er einfach auf und ging und nahm jene der Danequa mit sich, die ihm folgen wollten. Keiner nahm es dem anderen krumm, und keine Gruppe versuchte der anderen einen Stein in den Weg zu legen. Mark atmete erleichtert auf, als endlich die Entscheidung für den Feldzug gegen die Mroxor fiel; und zwar sollten die Krieger aufbrechen, sobald alle Vorbereitungen getroffen waren. Mark hatte sich davor gehütet, die Entscheidung beein flussen zu wollen, um nur ja nicht mitverantwortlich am Tod der Kriegsopfer zu sein. Dabei war ihm von vornherein klar 131
gewesen, daß dieser Feldzug gegen die Halbmenschen seine einzige Chance darstellte, je wieder zu seiner Raum-ZeitMaschine zu gelangen. Als er durch das Tal der Danequa zu seiner Höhle zurück kehrte, erkannte Mark, daß er nicht hierhergehörte. Er hatte sich einen Platz in der Gesellschaft der Danequa errungen, und er bewunderte diese Menschen sehr. Aber ihre Lebensweise war nicht seine. Der harte Winter stand bevor und die Danequa würden sich bald in Gruppen aufteilen, um auf Nahrungssuche durch den Schnee der Eiszeit zu streifen. Mark war gar nicht sicher, daß er die Strapazen überleben würde. Zweimal hatte seine .45er ihm das Leben gerettet, und nun hatte er nur noch eine Kugel übrig. Er hatte neue Freunde gefunden, wundervolle Freunde, aber er vermißte seine alten. Er dachte an seinen Onkel und die Berghütte in New Mexico, so viel tausend Jahre entfernt. Er dachte an seinen Fang dort, der so ganz anders war als der Wildhund hier. Egal, was hier geschah, ihm war nun klar, daß sein Leben und seine Zukunft für immer mit jener noch unge borenen Welt verbunden waren. Er mußte zurück! Ein Krieg der Danequa gegen die Mroxor würde ihn zurück zu dem schrecklichen Tal der Halbmenschen bringen und somit in die Nähe der Raum-Zeit-Maschine. Nie wieder würde er eine solche Chance haben.
132
19. Das Felsbild Während der nächsten Tage wurden Pläne für den Angriff gemacht und Vorbereitungen getroffen. Pfeile und Speere mußten hergestellt, für Proviant gesorgt und die Pläne koordi niert werden. Das alles dauerte seine Zeit. Mark wußte, daß er das herrliche Tal nie mehr wiedersehen würde. Hatte er Glück, würde er zu seinem Onkel zurückkeh ren. Hatte er Pech, würde er die Schlacht nicht überleben. Nichts als der drohende Verlust läßt einen wirklich würdigen, was man hat. Niemand ist sich des Lebens so voll bewußt, wie der, der dem Tod ins Auge sieht und spürt, wie das Nichts ihn einzuhüllen beginnt. Und so sah Mark seine Umgebung mit neuen Augen, bewunderte jede Einzelheit der atemberaubend schönen Wasserfälle, der mit Höhlen durchzogenen Berge ringsum, der Kiefern mit ihren würzig duftenden langen Nadeln, des hohen Grases, das sich unter dem Wind beugte, der großen roten Blume, die die Sonne war. An all das wollte er sich für immer erinnern. Er verbrachte viel Zeit damit, mit Fang durch das Tal zu spazieren und sich mit Freunden zu unterhalten, die er sich hier gemacht hatte. Roqan erzählte jedem, der es hören wollte oder nicht, wie man es getan hätte, als er ein junger Krieger gewe sen war, während seine durch den Kiwow leicht angeheiterte Frau an seinen Waffen arbeitete. Roqan konnte sich nicht dazu überwinden, Mark direkt zu seinem Sieg über den Höhlenbe wohner zu gratulieren, aber er ließ durchblicken, daß, wenn Mark so weitermachte, er eines Tages vielleicht so gut sein würde wie er, Roqan. Er drängte Mark sogar ein Messer auf, an dem sein Herz hing, tat dabei jedoch so, als gäbe er es nur weg, weil es nichts taugte. Mit Nranquar, der ihm zum guten Freund geworden war, saß er oft am unteren Wasserfall und sah zu, wie das gischtende Wasser in den See toste. Am flackernden Feuer unterhielt er 133
sich mit der scheuen Tlaxcal und schenkte ihr schließlich sein Taschenmesser, um ihr die Arbeit zu erleichtern. Tlax, der Mark inzwischen als zur Familie gehörend betrachtete, war zur Zeit damit beschäftigt, sich mit einem stumpfen Stock, den er irgendwo gefunden hatte, eine eigene Höhle auszugraben. Daß er dabei kaum Fortschritte machte, störte ihn nicht, er war immer fröhlich. Mark wäre stolz gewesen, ihn als Sohn zu haben. Mit Qualxen unterhielt Mark sich eingehend über die Schwierigkeiten bei der Zauberei. Qualxen sah in Mark inzwi schen den mächtigsten Medizinmann, von dem er je gehört hatte, und er war stolz über seine Gesellschaft, weil das seine eigene Stellung erhöhte. Mark behandelte den Mann mit gutmütiger Toleranz und war seinerseits stolz auf sein überle genes Wissen, bis der Schamane ihm eines Tages lächelnd sagte: »Da du uns bald verläßt, um ins Land deiner Väter zurückzu kehren, solltest du Tloron näher kennenlernen, ehe du gehst. Er ist ein sehr heiliger Mann.« Mark starrte Qualxen an. »Euch verlassen?« sagte er blin zelnd, »ich habe doch nichts davon gesagt.« »Du wirst uns verlassen«, wiederholte Qualxen. »Und du wirst nicht wiederkommen.« Mark blickte den Schamanen an, aber der lächelte nur ge heimnisvoll und sagte nichts mehr. Eine gute Vermutung, dachte Mark. Aber doch reiner Zufall. Trotzdem wuchs seine Hochachtung für Qualxen beachtlich. Er hatte zu niemandem über seine Pläne gesprochen – wie konnte der Medizinmann da davon wissen? Seine Vernunft sagte ihm, daß es wirklich nur Zufall und die richtige Wahl des Zeitpunkts war. Aber gefühlsmäßig war er da nicht so sicher. Mit jedem Zeitalter war das Wissen des vor hergehenden als dummer Aberglaube abgetan worden – oder zumindest versuchte man es. Auch das zwanzigste Jahrhundert 134
würde vergehen und sein Wissen ungültig werden. Was wür den die Menschen der Zukunft darüber denken? Wieviel wußte der Mensch wirklich, und wieviel bildete er sich lediglich ein zu wissen? Was Tloron betraf, nun, Mark hätte wirklich gern ein bißchen mehr über in gewußt. Er fragte Tlaxcan, wo Tloron war, und der Freund sagte ihm, daß der heilige Mann in einer Höhle tief unter der Erde im heiligen Raum der Danequa arbeitete. Tlax can benutzte natürlich nicht direkt das Wort »heilig« – er sagte, die Höhle sei voll Kraft, voll Macht, erfüllt von den Geistern der Erde, der Untererde und des Himmels. Und weil seine Gefühle für diesen Ort wie die für ein Heiligtum waren, über setzte Mark sie für sich so. Tlaxcan erbot sich, Mark zu Tloron zu bringen, und Mark nahm dankbar an. Mit Fackeln betraten sie eine große Höhle, die Mark seltsam bekannt vorkam, obwohl er sich nicht erin nern konnte, schon einmal hiergewesen zu sein. Sie folgten fast endlosen Höhlengängen, bis Mark schätzte, daß sie sich gut drei Kilometer unter der Erdoberfläche befanden – und immer noch hatte Mark das Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein und schien sich an jede Biegung der unterirdischen Gänge zu erinnern. Wo hatte er sie gesehen? Wann? Nach etwa einer Stunde sahen sie in einer Höhle ein Licht vor sich. Sie bogen um eine Ecke und blieben stumm über das Bild vor sich stehen. In dieser Kalksteinhöhle, tief in der Erde, erhellten zwei Steinlampen in Felsnischen die Dunkelheit. Die Lampen waren mit tierischem Fett gefüllt und ihre Dochte waren gedrehtes Moos. In ihrem weichen Licht arbeitete der bleiche Tloron ganz allein. Mit Tonbrocken, Beerenfarben und angekohlten Stöcken malte er an die Höhlenwand. Ganz langsam, wie tastend arbeitete er und machte immer wieder eine Pause, um sein Werk kritisch zu betrachten. Mark stand wie angewurzelt und hielt den Atem an. Er hätte 135
die Gefühle, die in ihm tobten, nicht zu beschreiben vermocht. Sie waren in etwa mit denen eines Besuchers aus der Zukunft vergleichbar, der über Shakespeares Schulter blickte, als er Hamlets Monolog schrieb. Mark wußte, daß ihm hier vergönnt war, die Entstehung eines der großen Wunder der Erde mitzu erleben. Was malte der schweigsame Tloron? Zum größten Teil Tier gestalten. Einige blickten Mark von der Wand entgegen: ein wundervoller Bison, dessen Muskelspiel klar ausgedrückt war; ein Hirsch mit kapitalem Geweih; ein gewaltiges Mammut, das den Rüssel an der Seite zurückbog. Die Tiere waren im Profil gezeichnet, ohne Perspektive, und in kräftigen Farben bemalt: in Schwarz, Braun, Rot, Gelb und Weiß. Im Schein der Talg lampen waren die Bilder in ihrer Ausdruckskraft und Klarheit verblüffend. Verblüffend? Nein, das war wohl kaum das richtige Wort, denn Mark hatte diese Felsbilder schon einmal gesehen – vor fast zweiundfünfzigtausend Jahren in der Zukunft! Als er mit seinem Onkel eine Frankreichtour gemacht hatte, war er in dieser Höhle gewesen, hatte diese Bilder gesehen. Zwar waren die Farben verblaßt, aber im großen und ganzen waren die Zeichnungen gut erhalten gewesen. Die Bilder vor ihm waren die ersten großen Kunstwerke in der Geschichte der Menschheit. Mark hatte die Felsbilder 1949 mit dreizehn Jahren gesehen. Und nun wurden sie vor seinen Augen gemalt, während er siebzehn und nahezu zweiundfünfzigtausend Jahre in der Vergangenheit war. Was konnte er zu diesem schweigsamen Mann sagen, der ganz allein unter der Erde arbeitete, tastend, unsicher, durch die Dunkelheit nach der Schönheit greifend, die er in sich sah? Wie sollte er Tloron versichern, daß sein Werk länger als alle anderen bewundert werden würde? Er brachte kein Wort hervor. Er stupste Tlaxcan, hob eine kleine Schale mit roter Farbe auf, die Tloron weggeworfen 136
hatte, und machte sich auf den Rückweg. Ihm war klar, daß Tloron nicht gestört werden wollte und auch keine Lust hatte, sich zu unterhalten. Tloron erschuf ein Meisterwerk, und Mark war kein schlecht erzogener Tourist, ihm die Zeit zu stehlen. »Tloron ist ein sehr heiliger Mann«, sagte Tlaxcan, erfreut über Marks Takt. »Er macht das Wild zahlreich und die Jagd gut.« Mark nickte. Er erinnerte sich an so einiges, was Dr. Nye ihm während ihrer Wanderungen durch die Berge von New Mexico über Magie erzählt hatte. Es gab zwei Grundtypen: die Schwarze und Weiße Magie. Die schwarze bewirkte Schlim mes, die weiße Gutes. Ob die Magie für jemand Bestimmten weiß oder schwarz war, hing davon ab, auf welcher Seite er stand. Zu den Arten der Weißen Magie gehörte die rituelle, mit der man Jagderfolg herbeibeschwor. Dazu malte man ein Tier an eine Höhlenwand, und so wie es dort zu sehen war, würde es in Wirklichkeit erscheinen, so daß es nur erlegt zu werden brauchte. Also war die erste große Kunst in der Menschheits geschichte zum Teil Magie – wie in gewisser Weise seither alle große Kunst. In der Nähe des Eingangs, aber noch unter der Erdoberfläche und gut geschützt, blieb Mark stehen und bat Tlaxcan, die Fackel für ihn zu halten. Lächelnd tat der Freund es. Mark nahm einen herumliegenden flachen Stein mit einem Durch messer von etwa vierzig Zentimeter und schrieb darauf. »Mein Zauber«, sagte er zu Tlaxcan, der die Wirkungen von Marks Magie erlebt hatte und sie deshalb ernstnahm. Mark tauchte einen spitzen Stein in die rote Farbe und zeich nete so gut er konnte ein Düsenflugzeug. Darunter schrieb er Einsteins berühmte Gleichung: E = mc2, das bedeutete, daß Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat ist, was zur Entwicklung der Atomenergie geführt hatte. Dann legte er den Stein hinter einen großen Felsblock in einer schwer zugängigen Ecke der Höhle. Er lächelte, denn nun hatte er 137
einen Beweis, falls er je einen brauchte, daß er sich tatsächlich bei den Cromagnonmenschen aufgehalten hatte. Natürlich würde man in seiner Zeit diese Steinzeichnung als Fälschung hinstellen, denn Menschen mit vorgefaßter Meinung konnte man nichts beweisen. Was würde beispielsweise geschehen, wenn ein Anthropolo ge oder Archäologe diesen Stein entdeckte, ehe er zurückkehr te? Daß man ihn nicht gefunden hatte, ehe er mit der RaumZeit-Maschine aus seiner Zeit aufbrach, wußte er, aber was wäre später, wenn er nicht zurückkehrte? Er konnte sich die Bestürzung des Entdeckers dieses mit der Cromagnon-Kultur verbundenen Steines vorstellen. Vermutlich würde der Mann den Stein schnell vergraben und ihn vergessen, statt seine Echtheit beweisen zu wollen und damit, daß offenbar jemand in der Eiszeit über Einstein und Düsenflugzeuge Bescheid gewußt hatte. Während sie durch die Kalksteinhöhlen ins Freie gingen, wo die Kriegsvorbereitungen getroffen wurden, war Mark ver sucht, Tlaxcan etwas von sich und seiner Herkunft zu erzählen. Aber er gab den Gedanken auf, denn die Sprache der Danequa kannte keine Begriffe, mit denen er die Raum-Zeit-Maschine und die Welt der Zukunft hätte beschreiben können. Ihre unterschiedlichen Kulturen, Sitten und Gebräuche standen einer Verständigung im Weg – und doch war Tlaxcan einer der besten Freunde, die er je gehabt hatte, und Mark widerstrebte es, ihn ohne Lebewohl und Erklärungsversuch zu verlassen. Mark spielte mit dem Gedanken, Tlaxcan in der Raum-ZeitMaschine mitzunehmen. Aber er sah ein, daß er ihm damit nichts Gutes täte. Tlaxcan würde in Marks Zeit weit weniger zu Hause sein als umgekehrt. Er würde als Zeitungssensation ausgebeutet werden, als Freak. Und Tlaxcan war kein Freak, er war ein Mensch, der ein Recht auf sein eigenes Leben hatte. Mark schaute sich unter den Danequa um, mit dem seltsamen Gefühl, sich unter seinen unendlichen fernen Vorfahren zu 138
befinden. Die Zeit spielte einem manchmal seltsame Streiche, und dies war einer davon. Er wußte, daß die Danequa in jeder Beziehung seine Vorfahren waren. Sie waren die Menschen, die sich zu der gegenwärtigen Bevölkerung von Europa ent wickelt und die Amerika zum größten Teil kolonisiert hatten. Wieder einmal beschäftigten sich seine Gedanken mit der Zeitreise und den Fragen, die sie aufwarf. Was wäre z. B. passiert, wenn er nur zwei Jahre in die Vergangenheit zurück gereist wäre? Hätte er dann sich selbst im Alter von fünfzehn gesehen? Hätte er sich mit seinem jüngeren Ich unterhalten können? Und wenn er es getan hätte, hätte er sich dann mit siebzehn, ehe er in die Zeit zurückkehrte, nicht daran erinnern müssen? Doch jetzt war nicht die Zeit für müßige Überlegungen. Er half bei der Arbeit mit, die sein zukünftiges Leben entscheiden sollte. Die Tage vergingen, und schließlich marschierten die Krieger der Danequa über die weite Ebene zu den Halbmenschen, die zwischen Mark und seinem Geschick standen.
139
20. Schlacht in der Menschheitsdämmerung Westwärts marschierten die Danequa über die blühende Ebene, herum um die smaragdgrünen Seen, zu dem dunklen Tal der Halbmenschen. Westwärts, immer westwärts ging der Marsch, der untergehenden Sonne entgegen. Die Neandertaler, dachte Mark waren wahrhaftig ein Volk des Sonnenuntergangs. In der grauen Dämmerung der Mensch heit waren sie entstanden, und nun ging ihre bleiche Sonne unter durch die Danequa, die ihnen ihre Welt wegnahmen. Mark fand es möglich, die dem Untergang geweihten Nean dertaler zu bemitleiden, so grauenvoll sie auch dem modernen Menschen erscheinen mochten. Die Altmenschen waren etwa hunderttausend Jahre durch die Ebenen und Gletscher Europas gestreift. Der moderne Mensch, zu dem die nun an seiner Seite marschierenden Danequa gehörten, gab es noch nicht einmal halb so lange. Die gesamte bekannte Geschichte des Menschen, alle seine mächtigen Reiche, seine Literatur hatten einen Bruchteil der Zeit eingenommen, die den Neandertalern ver gönnt gewesen war. Die Jahre seit der Geburt Jesu Christi zählten nicht einmal ein Fünfzigstel der Zeit, während der die Erde den Neandertalern gehört hatte. Bedauere den Neandertaler ruhig, dachte Mark, aber vergiß nicht, daß der moderne Mensch bei weitem noch nicht so lange existiert, wie der Altmensch es getan hatte. Und wer konnte schon sagen, wie lange es den Menschen noch gab? Würde er sich mit seiner eigenen Technologie vernichten? War es Hochmut, daß er sich einbildete, das Endprodukt der Evolution der Intelligenz zu sein? Welche zukünftigen Spezies mochten eines Tages ungerührt den Menschen verdrängen, so wie dieser jetzt den Altmenschen verdrängte? Doch noch gab es die Neandertaler, erinnerte sich Mark grimmig. Und sie waren gefährlich. Sie versperrten ihm den Weg zur Raum-Zeit-Maschine. Er konnte schon jetzt sagen, 140
wie der Kampf enden würde. Es bestand kein Zweifel, daß die Danequa gewannen. Sie hatten die größere Intelligenz, die besseren Waffen und das Überraschungsmoment. Die Chancen der Neandertaler standen so schlecht, wie seinerzeit die der Indianer gegen die Repetiergewehre und die militärische Disziplin der Weißen. Aber den allgemeinen Ausgang vorher zusehen, war nicht dasselbe, wie vorherzusehen, was den einzelnen passierte. Die Indianer hatten verloren, aber sie hatten viele Bleichgesichter mit sich ins Reich der Schatten genommen. Die Altmenschen würden verlieren, doch wie viele Danequa würden mit ihnen sterben? In der Nacht nahmen die Danequa ihre Stellungen ein. Sie hatten sich gegen einen Sturm aufs Tal der Mroxor entschieden und einen Plan ausgearbeitet, der ihnen den Vorteil ihrer weitreichenden Pfeile sicherte. Sie hatten erkannt, daß es ideal war, die Danequa genau in Pfeilschußweite aufzustellen – eine Entfernung, die zu groß für die Wurfspeere der Mroxor war. Theoretisch könnten sie so die Halbmenschen vernichten, ohne selbst einen Mann zu verlieren. Doch unter tatsächlichen Bedingungen ließen Theorien sich nicht immer so in die Tat umsetzen, wie man es sich erhofft hatte. Die Danequa-Führer wußten, daß ein Plan flexibel sein mußte, wollte er sich durchführen lassen, und sie wußten auch, daß die Neandertaler nicht so dumm waren, einfach stehenzu bleiben und sich abschießen zu lassen. Sie würden die Bogen schützen entweder angreifen und sich in ihre Höhlen zurück ziehen, wo sie sicher waren, solange ihre Vorräte reichten. Deshalb hatten die Danequa mit beachtlichem Geschick ihre Bewegungen so geplant, daß sie die Situation und das Terrain bestmöglich nutzen konnten. Ein Trupp Bogenschützen schlich zum Paßende und ver steckte sich hinter Felsen und Kiefern. Die anderen Krieger postierten sich entlang der hohen Talwände, von wo aus sie die Höhlenöffnungen unter Beschuß nehmen konnten. Mark und 141
Tlaxcan lagen hoch auf einer Bergseite hinter einem Felsblock mit Fang zwischen sich. Die Nacht verging, der Morgen graute. Mark blickte ins Tal. Unwillkürlich schauderte er, als die tierischen Halbmenschen aus ihren Höhlen schlurften, um ihrer Arbeit nachzugehen. Nur zu gut entsann er sich der Stunden des Grauens in diesem trostlosen Tal, und daß nur ein Wunder ihn vor den Halbmen schen gerettet hatte. War er so weit gekommen und hatte soviel gewagt, nur um doch noch durch ihre Hand zu sterben? Durch die Knurr- und Grunzlaute unten erschallte unüber hörbar Nranquars Stimme, die zum Angriff rief. Fang bellte aufgeregt, und Mark und Tlaxcan sprangen auf die Füße. Ohne Vorwarnung, ohne noch Zeit zu haben, sich zu bewaffnen, sahen die Neandertaler ganze Wolken von Pfeilen auf sich zusirren. Die gedrungenen Mroxor fielen wie Fliegen. Ihr Brüllen und Schreien zerriß die Luft. Halbmenschen oder nicht, ihr Tod war tragisch. Mark nahm am Töten nicht teil, er hatte keinen Bogen, und sein Speer war aus dieser Entfernung von keinem Nutzen. Seinen kostbaren letzten Schuß sparte er für einen Notfall, und dieser Notfall war noch nicht gekommen. Aus seiner Höhe sahen die Mroxor wie Spielzeugfiguren aus, wie Miniaturmonstren. Aber die Halbmenschen verstanden etwas vom Kampf, und es fehlte ihnen keineswegs an Mut. Trotz des Pfeilhagels verloren sie nicht den Kopf. Sie rannten in ihre Höhlen und holten ihre Waffen: ihre Speere, Äxte und Messer. Und da sie erkannten, daß sie einer Belagerung nicht standhalten konnten, weil es ihnen an Vorräten mangelte, versuchten sie der Falle zu entgehen und ins Freie zu gelangen, wo sie Mann gegen Mann kämpfen könnten. Das war kein besonders kluger Plan, aber es ist wohl niemand imstande, ganz klar zu denken, wenn rings um einen die Freunde fallen. Die Neandertaler taten, was sie konnten, obwohl sie wußten, 142
daß die Schlacht verloren war, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Sie zogen sich über die Talsohle zurück, ihren Haß und Grimm hinausknurrend. Ihre Frauen und Kinder nahmen sie mit sich. Nur die ganz kleinen Kinder, die nicht selbst laufen konnte, mußten sie zurücklassen. Die Krieger der Danequa dachten an ihre Kameraden, die die Mroxor kaltblütig aus dem Hinterhalt ermordet hatten, und eilten die Hänge hinunter, hinter den Flüchtenden her. Mark und Tlaxcan, mit Fang kläffend zwischen sich, rannten Seite an Seite. Plötzlich blieben sechs Neandertaler stehen, drehten sich um und stürzten sich nun ihrerseits auf den Feind, und gaben so den anderen die Gelegenheit, das Tal über einen geheimen Pfad zu verlassen und dadurch der Falle zu entgehen, die die Dane qua, die mit Bogen am Talausgang auf sie gewartet hatten, für sie gestellt hatten. Völlig unerwartet befanden Mark und Tlaxcan sich mitten im Kampfgetümmel. Die sechs Mroxor schwangen ihre Steinäxte, und mehr als ein Danequa ging zu Boden. Tlaxcan warf seinen Bogen von sich und stürzte sich mit dem Messer auf einen Mroxor. Mark stieß mit dem Speer nach einem anderen, mußte sich jedoch schnell auf den Boden werfen, um einer pfeifenden Axt zu entgehen. Fang sprang den Halbmenschen an und zerriß ihm die Kehle, während der alte Roqan mit einem Pfeil nach einem Mroxor stach. Mark sprang auf, um Tlaxcan zu helfen, doch das war nicht mehr nötig, denn der Freund hatte seinen Gegner bereits getötet, allerdings war das Blut, das von Tlaxcan herabrann, zum Teil auch sein eigenes. In Sekunden war es vorbei. Die sechs Neandertaler lagen tot im Gras, und vier Danequa waren schwer verwundet. Aber jedenfalls hatte der selbstmörderische Angriff der Mroxor seinen Zweck erfüllt – ihre Gefährten hatten aus dem Tal fliehen können. 143
Marks Mut sank. Die Neandertaler hatten das Tal am Nor dende verlassen und rannten nun über die weite Ebene. In ihrem Grimm über ihre Verluste waren sie jetzt zweifellos doppelt gefährlich – und sie befanden sich immer noch zwi schen Mark und der Raum-Zeit-Maschine. »Kommt!« brüllte Roqan, und seine Augen funkelten. »Sind die Danequa Weiber, daß sie die Mroxor entkommen lassen wollen? Ihnen nach!« Begeistert brüllten die Krieger auf und machten sich an die Verfolgung. Doch wieder täuschten die Mroxor sie. Nicht alle waren geflohen! Als die Danequa durch den Engpaß des Talausgangs rannten, stürzten gewaltige Felsbrocken auf sie herab. Es waren zwar nicht viele, und die paar Halbmenschen, die zurückgeblieben waren und sie hinuntergeworfen hatten, verzogen sich hastig, aber es verwirrte die Danequa zumindest flüchtig, und zwei von ihnen lagen zermalmt unter den mörderischen Geschossen. Als die Danequa sich gefaßt hatten, hatten die flüchtenden Neandertaler bereits einen guten Vorsprung und teilten sich außerdem in drei Gruppen auf, von denen jede in einer anderen Richtung die Ebene durchquerte. Schnell formierten die Dane qua sich neu. Ein großer Trupp raste los, um den ostwärts fliehenden Mroxor den Weg abzuschneiden. Sie mußten um jeden Preis aufgehalten werde, ehe sie das nahezu ungeschützte Tal der Danequa erreichten, wo die Frauen und Kinder zurück geblieben waren. Ein kleinerer Trupp verfolgte die westwärts flüchtenden Halbmenschen und ein dritter die genau nordwärts Fliehenden. Mark, Tlaxcan und Nranquar liefen mit der mittleren Gruppe, und Fang sprang neben ihnen her. Die Neandertaler rannten um ihr Leben durch das hohe Gras der Ebene und knurrten wie gefährliche Tiere. Die Danequa bemühten sich, in Pfeilschuß weite zu gelangen, doch sie wurden langsamer, genau wie ihre Feinde, bis ihr Sprint zum Dauerlauf wurde, zu einem Zähig 144
keitswettkampf. Viele Stunden schon zog sich die Verfolgungsjagd dahin, während die Sonne gemächlich über den Himmel wanderte und eine milde Brise über das Gras strich. Trotz seiner neuerwor benen Kraft und Härte spürte Mark seine Müdigkeit immer mehr und war der völligen Erschöpfung nahe. Er konnte nicht endlos laufen, aber bald war es Abend, der sie zur Aufgabe der Verfolgung zwingen würde. Bis dahin mußte er durchhalten, außerdem brachte ihn jeder Schritt seinem langersehnten Ziel näher. Er mußte die Raum-Zeit-Maschine erreichen. Oh, wenn ihr nur nichts zugestoßen war! Eine zweite Chance bekommst du nicht! drängte ihn seine innere Stimme, und er plagte sich weiter. Sie kamen den Halbmenschen nun näher, die auf ihre Frauen und Kinder Rücksicht nehmen mußten. Entschlossen, bis zur rettenden Nacht durchzuhalten, teilten die Mroxor sich plötz lich erneut in noch kleinere Gruppen auf. Wortlos teilten auch die Danequa sich entsprechend auf, und Mark und Tlaxcan verfolgten nun allein zwei Mroxor. Immer weiter ging es im gefährlichsten Wettlauf überhaupt. Fang hechelte erschöpft, und die Sonne ging bereits unter. Mark nahm seine letzten Kraftreserven zu Hilfe, um diese unförmigen Halbmenschen zu stellen. Gelang ihnen das nicht vor Nachteinbruch, würden sie den Rückweg antreten oder befürchten müssen, einem Hinterhalt in dem hohen Gras zum Opfer zu fallen. Und die Raum-Zeit-Maschine war so nah – bestimmt direkt vor ihnen! Mark und Tlaxcan holten immer mehr auf, aber würden sie es noch rechtzeitig schaffen? Die langen Schatten des Abends begannen über die Ebene zu kriechen.
145
21. Eine Chance fünfzig zu fünfzig Es war noch nicht dunkel und würde auch mindestens noch eine Stunde dauern, bis es ganz dunkel war, aber das Licht war bereits trügerisch. In einer Entfernung von etwa hundert Metern war nicht mehr zu erkennen, ob es sich bei einem dunklen Schatten um einen Busch oder einen kauernden Menschen handelte. Die beiden Freunde und der Hund liefen trotzdem nicht lang samer, aber Tlaxcan warf Mark einen fragenden Blick zu. Mark ballte die Fäuste. Er wußte nicht, was er tun sollte. Es wäre entsetzlich, so kurz vor seinem Ziel umdrehen zu müssen, aber andererseits war es zu gefährlich, im Dunkeln aufs Gera tewohl weiterzulaufen. Tlaxcan wußte nichts von der RaumZeit-Maschine, die für ihn ja auch keine Rettung wäre. Und er durfte Tlaxcan nicht seinem Schicksal überlassen, nur um seine Haut zu retten. Da sah er sie – ja, er sah sie, die riesige Kugel, die aus dem Gras ragte, wo er sie hatte stehenlassen. Und gleichzeitig bemerkte er direkt vor sich die Neandertaler. Die beiden Flüchtlinge hatten sich geduckt und waren durch das schwindende Licht zurückgekrochen, um sie zu erwarten. Sie wollten nicht mehr davonlaufen – sie waren bereit zu kämpfen. Tlaxcan kam rutschend zum Halt und legte sofort einen Pfeil an die Sehne. Mark konnte nicht mehr anhalten, er mußte zur Seite rennen, um dem auf ihn gerichteten Speer zu entgehen. Mit wild pochendem Herzen glitt er aus und fiel ins hohe Gras. Noch während er aufschlug, zog er seine .45er. Mit ihr in der Rechten hob er sich auf Hände und Knie und sah sich sofort einem entsetzlichen Problem gegenüber. Tlaxcan hatte seinen Pfeil nicht mehr rechtzeitig abschießen können, und der kräfti gere Neandertaler hatte ihn zu Boden geworfen und hob gerade sein Steinmesser, um es ihm in den Hals zu stoßen. Tlaxcan 146
war offenbar einer Ohnmacht nahe, und seine Kräfte verließen ihn zusehends. Der andere Neandertaler kam durch das Gras näher, um sich auf Mark zu stürzen. In der Pistole war nur noch eine Kugel. Er zögerte nicht. Zum Denken blieb gar keine Zeit. Mark zielte sorgfältig, drückte auf den Abzug, und der Halbmensch, der Tlaxcan töten wollte, brach leblos zusammen. Sofort warf Mark die nutzlose Waffe dem anderen Mroxor ins Gesicht. Sie traf ihn so hart, daß der Halbmensch kurz taumelte. Mark sprang auf, packte seinen Speer, mußte jedoch entsetzt feststel len, daß durch seinen Sturz die Spitze abgebrochen war. Der Mroxor hatte sich inzwischen wieder gefaßt und stürzte sich mit dem Messer auf Mark, der schnell zurückwich und den gebrochenen Speer benutzte, um sich den Feind vom Leib zu halten. Verzweifelt stocherte er damit, während er immer weiter zurückwich. Er durfte den Neandertaler nicht an sich heranlassen, weil der ihm an roher Kraft weit überlegen war. Bekäme der Halbmensch ihn in seine schraubstockgleichen Pranken, wäre es aus mit ihm. Der ekelerregende Geruch des Neandertalers stieg ihm in die Nase, und er las die Mordlust in den kleinen Augen. Mark rann eiskalter Schweiß über den Rücken, während er wie benommen mit dem Speerschaft zuschlug und zustieß, und spürte, wie seine Kraft immer mehr nachließ. Er konnte nicht fliehen, das war ihm klar. Er würde kämpfen müssen. Aber er machte sich nichts vor. Der Neandertaler konnte ihm so leicht das Genick brechen, als wäre es ein dürrer Ast. Ihm blieb keine Wahl mehr. Er blieb stehen und benutzte den Schaft weiterhin abwechselnd als Stichwaffe und als Prügel. Aber er war viel zu leicht, und obwohl er den Schädel des Halbmenschen mehrmals traf, blinzelte der lediglich und kam näher. Nun war es bloß noch eine Frage der Zeit. Der Neandertaler 147
hatte auf seine Gelegenheit gewartet, und als Marks Schaft sein Ziel um eine Spur verfehlte, entwand der Halbmensch ihn ihm. Mark spürte die kalten Hände des Todes nach ihm greifen. Jetzt stand er dem Mroxor ohne Waffe gegenüber. Zum Davon laufen war er zu erschöpft. Glücklicherweise arbeitete sein Verstand noch und sagte ihm, daß er sich auf keinen Fall auf einen Ringkampf mit dem Halbmenschen einlassen und ihn keineswegs nahe genug herankommen lassen durfte. Er würde seine Boxkünste zu Hilfe nehmen müssen. Die Lage schien zwar hoffnungslos zu sein, aber Mark war bereit zu kämpfen, solange noch Leben in ihm war. Mit dem grimmigen Lächeln der Hoffnungslosigkeit trat Mark einen Schritt vor. Mit der Linken stieß er zum Scheinan griff vor, und als der verblüffte Mroxor unbeholfen nach seiner Faust zu greifen versuchte, versetzte ihm Mark mit der Rechten einen Kinnhaken. Genausogut hätte er gegen eine Mauer schlagen können. Der Neandertaler schüttelte lediglich den Kopf und kam heran, um der Sache ein Ende zu machen. Mark hatte sein Bestes gege ben, aber es war nicht gut genug gewesen. Verzweifelt wich er zurück, ohne den Blick von seinem Feind zu nehmen. Mit kaum beherrschter Wut folgte ihm der Mroxor, unmißverständlich öffnete und schloß er die Fäuste. Mark holte tief Atem. Er konnte nicht mehr lange durchhalten. Da sah er einen schweren, spitzen Stein neben sich im Gras, aber er wußte, wenn er sich danach bückte, würde der Mroxor sich sofort auf ihn stürzen. Doch eine andere Chance hatte Mark nicht mehr. Er sprang zu dem Stein. Der Neandertaler knurrte und sprang ebenfalls. Mark schloß die Augen – und öffnete sie erstaunt. Der Halbmensch erreichte sein Opfer nicht. Fang hatte sich mit einem ungeheuren Sprung auf ihn geworfen, daß er auf den Rücken stürzte. Der Wildhund war bei Tlaxcan gewesen und hatte, als er sich nach seinem Herrn umsah, erkannt, in welch 148
großer Gefahr sich dieser befand. Und nun schnappte er nach der Kehle des Feindes. Mark taumelte auf die Füße, mit dem Stein in der Hand. Der Weg zur Raum-Zeit-Maschine lag jetzt offen vor ihm. Er brauchte nur zu ihr zu laufen, einzusteigen und Fang und Tlaxcan ihrem Schicksal zu überlassen. Doch keine Sekunde dachte Mark daran, und das hatte nichts mit Heldentum oder Unüberlegtheit zu tun. Es war reine Charaktersache. Mark war ganz einfach nicht imstande, seine Freunde im Stich zu lassen. So griff er in diesen Kampf ein, in dem beide Gegner knurr ten. Der Neandertaler hatte inzwischen die Hände um Fangs Hals und drückte zu. Fang seinerseits ließ den Mroxor nicht los, obwohl seine Augen bereits aus dem Kopf zu quellen drohten – und ihr Blick flehte Mark an, ihm zu helfen. Das tat Mark. Mit aller Kraft schlug er mit dem Stein auf den Halbmenschen ein, aber der ließ den Hund nicht los. Aufs neue schlug Mark zu und wieder. Da sah er des Neandertalers Steinmesser im Gras liegen. Hastig griff er danach und stach zu. Erschöpft sank Mark ins Gras. Fang taumelte japsend auf die Beine und machte sich daran, seinem Herrn das Gesicht abzu schlecken. Mark tastete hoch und kraulte den Hund hinter den Ohren, während er verzweifelt nach Luft keuchte. Er spürte, wie seine Sinne ihn zu verlassen drohten, aber es war ange nehm, im Gras zu liegen … Tlaxcan! Müde kam Mark auf die Füße und taumelte zu seinem Freund. Tlaxcan hatte sich aufgesetzt und hielt seinen Kopf mit beiden Händen. Der Neandertaler, den Mark erschossen hatte, lag neben ihm. »Wie fühlst du dich?« fragte Mark besorgt. »Ich fühle – das genügt eigentlich«, antwortete Tlaxcan mit schwachem Lächeln. »Komm, mein Freund, der Nachtwind ist nah.« »Ich komme nicht mit, Tlaxcan«, sagte Mark und fühlte sich 149
dabei entsetzlich elend. Tlaxcan blickte ihn an, und sein Lächeln schwand. »Ich muß fort.« Er versuchte es Tlaxcan verständlich zu ma chen. »Es schmerzt, meinen Freund zu verlassen, aber ich muß fort.« Tlaxcan zögerte. »Kommst du zurück, Mark?« »Vielleicht«, murmelte Mark, obwohl er wußte, daß er den Freund nie wiedersehen würde. Die blutrote Sonne stand sehr tief, nur noch ein winziger Rand ragte über die Berge und hielt die Nacht einstweilen zurück. Der kalte Abendwind säuselte durch das Gras. Tlaxcan versuchte nicht, Mark umzustimmen. Zweifellos hatte sein Freund gute Gründe für seinen Entschluß. Mark würde seinen Weg gehen, und Tlaxcan seinen. Wieder lächelte er und legte die Rechte auf Marks Schulter. »Orn«, sagte er. »Wir werden immer Brüder sein.« »Orn«, sagte Mark es ihm nach. »Wir werden immer Brüder sein.« Ohne eine weiteres Wort drehte Tlaxcan sich um und machte sich auf den langen Rückweg über die weite Ebene zu seinem Stamm und seiner Familie. Er blickte nicht zurück. Fang saß still im Gras und schaute fragend zu Mark hoch. Mark kraulte den Hund hinter den Ohren und strich ihm über das weiche Nackenfell. »Auch du, alter Junge«, sagte er. »Du bist hier zu Hause. Geh mit Tlaxcan. Verstehst du? Geh mit Tlaxcan!« Er deutete über das Gras auf seinen Freund. Fang winselte und wedelte hoffnungsvoll den buschigen Schwanz. »Nein, ich muß allein fort«, sagte Mark. »Geh mit Tlaxcan!« Fang schien mit dem intuitiven Verständnis eines guten Hun des für seinen Herrn zu verstehen. Er blickte Mark mit unsag bar traurigen Augen an, dann trottete er mit hängendem Kopf davon, hinter Tlaxcan her. 150
Mark war allein. Mit einer unendlichen Einsamkeit tief in sich vergraben, ging Mark auf die graue Kugel zu, die nun in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen war. Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht, und er fühlte sich wie eine Ameise, die völlig allein und unge schützt nach ihrem Hügel sucht. Er erinnerte sich an den Alptraum, den er vor so langer Zeit, wie ihm schien, gehabt hatte. Er war über das Gras dieser grauen Welt gerannt und die Halbmenschen hatten ihn knur rend verfolgt, und um ihn war grauer Rauch gewesen, durch den er verschwommen die große graue Kugel auf der kalten grauen Ebene gesehen hatte – so wie jetzt … Außer, natürlich, daß nun keine Neandertaler um ihn waren. Oder doch? Waren einige hierher geflohen? Was könnte er gegen sie unternehmen ohne Waffen, von der leeren .45er abgesehen, die er wieder aufgehoben hatte, und dem Steinmes ser des Mroxor? Mit einemmal schien die Welt voller Geräusche zu sein – unheimlicher Geräusche … Mark lief schneller, bis er vor der Maschine war. Sie sah noch genauso aus, wie er sie vor scheinbar unendlicher Zeit verlassen hatte, still und gespenstisch unter den ersten Sternen. Ein eisiger Schauder durchzog ihn, als er sich an den Halb menschen erinnerte, der in seinem Traum in der Kugel gelauert hatte. Er sagte sich, daß solche Gedanken sinnlose Quälerei waren, trotzdem zitterte er, als er den grauen Hebel zog, der den Öffnungsmechanismus betätigte. Er hielt den Atem an. Wenn die Tür sich nicht öffnete … Mit mechanischem Zischen – ein ungewohnter Laut hier auf der Ebene im Eiszeitalter – öffnete sie sich jedoch. Im Innern brannte weißes Licht, das kalt in die Nacht hinausschien. Mark stieg in die Maschine. Er war nervös, und das glatte Metall ringsum kam ihm unwirklich vor. Die Raum-Zeit-Maschine war leer. Mark zog am Innenhebel, 151
und erneut schloß die Tür luftdicht ab. Alles war, wie er es verlassen hatte, nur das gelbe Lämpchen an der Armaturenta fel, das den Neuaufbau der Energie anzeigte, war erloschen. Dafür leuchtete das grüne Lämpchen wie auffordernd. Die Maschine war startbereit. Mark wischte sich die schwitzenden Hände an der Pelzklei dung ab und studierte den Zeiteinstellknopf vor sich. Er mußte jetzt ganz vorsichtig sein. Er wollte die Zeit so einschalten, daß er so kurz wie möglich nach seinem Aufbruch wieder in die Berghütte zurückkam, um seinem Onkel unnötige Sorge zu ersparen. Zwar war Dr. Nye bei bester Gesundheit und noch lange nicht alt, aber Mark wußte, daß er für seinen Onkel das einzig wirklich Wichtige war. Er hatte nur für Mark und seine Reise ins alte Rom gelebt, um die Mark ihn ungewollt gebracht hatte. Er hatte dadurch seinen Traum verloren, und wenn er auch noch seinen Neffen verloren glaubte, den er an Sohnes Statt angenommen hatte … Mark stellte den kleinen Zeiger, der dem Sekundenzeiger einer Uhr glich und fast genauso exakt war, auf etwa fünfzehn Minuten nach seinem unerwarteten Start. Das müßte eigentlich ausreichen, dachte er. So würde sein Onkel sich nicht zu lange Sorgen machen, und es würde verhindern, daß Mark etwa gar zu früh zurückkam – eine Vorstellung, die ihm kalte Schauder über den Rücken rinnen ließ. Was würde beispielsweise passieren, dachte er, wenn er 1953 fünfzehn Minuten vor seinem Start zurückkehrte? Würde es dann zwei Marks im Keller von Dr. Nyes Haus geben und zwei Raum-Zeit-Maschinen? Oder würde er ganz einfach in dem anderen Mark verschwinden, dort mit seinem Onkel warten und sich mit ihm unterhalten, bis zu dem verhängnisvollen Anruf und der Explosion – um dann wieder ins Eiszeitalter zurückzukehren und seine Abenteuer erneut durchzumachen und immer wieder, ohne Ende? Würde ihm bestimmt sein, immer aufs neue zu früh zurückzukehren in einem unaufhörli 152
chen Teufelskreis? Das waren unbeantwortbare Fragen, an die er jetzt besser gar nicht dachte. Er vergewisserte sich noch einmal, daß er den Zeiger auch richtig eingestellt hatte. Es war einundzwanzig Uhr gewesen, als die Raum-Zeit-Maschine zu ihrer seltsamen Reise aufgebrochen war, und jetzt stand der kleine Zeiger auf einundzwanzig Uhr fünfzehn. Genauso sorgfältig stellte er nun auch noch den Tag, den Monat und das Jahr ein. Jetzt konnte er nichts mehr tun, als den Starthebel zu ziehen. Allzu sehr war er sich bewußt, daß er viel zu wenig vertraut war mit der Raum-Zeit-Maschine, und eine nagende Furcht quälte ihn, daß er einen schrecklichen Fehler gemacht haben könnte. Die Maschine war noch neu und unerprobt. Zwar hatte sie ihn sicher in die Zeit der Menschheitsdämmerung gebracht, aber konnte sie ihn auch wieder sicher nach Hause bringen? Mark schloß, daß er eine Fünfzig-zu-fünfzig-Chance hatte. Er blickte grimmig lächelnd auf das grüne Lämpchen und zog den Hebel.
153
22. Zu Hause Ein durchdringendes Summen erfüllte die ganze Kugel. Das grüne Lämpchen erlosch, und das rote leuchtete auf. Durch die grau werdende Luft schien es jedoch wie in vibrierenden Wellen rosa zu blinken, und in der Maschine knisterte es vor Elektrizität. Mark fühlte sich schwindlig – offenbar wirkte sich die er zeugte Spannung innerhalb der Maschine auf seinen Organis mus aus. Er legte sich auf den Boden und schloß die Augen. Er konnte nichts tun, bis die Maschine anhielt. Er war lediglich ein Fahrgast, der sich von dem mechanischen Fahrer dorthin bringen ließ, wohin er wollte. Diese kybernetischen Steuersy steme – oder »mechanischen Gehirne« waren eine großartige Sache, dachte er müde. Sie konnten die komplizierten Justie rungen, die eine solche Reise erforderten, in Sekundenschnelle vornehmen. Ein Mensch hätte allein für ihre Berechnungen ein ganzes Leben gebraucht. Sein Onkel hatte ihm gesagt, daß eine Raum-Zeit-Reise ohne Robotercomputer für Kybernetik undenkbar wäre … Selbst mit geschlossenen Augen spürte Mark, wie das rote Lämpchen ihn durch den grauen Nebel anstarrte. Die summen de Vibration rüttelte an seinem Gehirn, und es fiel ihm schwer, sich zu entspannen. Wie seltsam, dachte er, daß, was eigentlich ein faszinierendes Abenteuer sein müßte, so monoton verlief. Es gab absolut nichts zu sehen in der Raum-Zeit-Maschine und so gut wie nichts zu tun. Ironisch war es auch, daß er keine Ahnung hatte, welche Zeit es war. Umgeben von den exaktesten Zeitmeßgeräten, die der Mensch je erfunden hatte, hatte er doch keine Möglichkeit, die Zeit innerhalb der Maschine zu messen. Die subjektive Zeit, die Schätzung der verstreichenden Zeit, war unzuverlässig. Mark hätte wirklich nicht zu sagen gewußt, wie lange er auf dem Boden der Kugel lag – Minuten, Stunden, oder gar Tage. 154
Immer wieder hob er die Lider, doch nichts als grauer Nebel umgab ihn, durch den das rote Lämpchen stierte, und das Summen und Vibrieren hielt an. Für ihn gab es nichts als das elektrische Nichts, und in ihm, verloren und unsichtbar, mar schierte mit Geisterfüßen die gewaltige Spanne der Geschichte in tiefere Schatten. Die Zeit verging, in der Kugel und außerhalb. Mark schlief unruhig. Wie beim erstenmal, als die Maschine angehalten hatte, wurde Mark durch die plötzliche völlige Stille darauf aufmerksam. Nichts, gar nichts war zu hören. Er öffnete die Augen. Das rote Lämpchen war erloschen und das gelbe aufgeglüht. Mit hämmerndem Herzen sprang Mark auf die Füße. Wieder war seine Handfläche schweißnaß, als er am Hebel des Öffnungsmechanismus zog. Die runde Tür öffnete sich zischend wie immer. Den Atem anhaltend, stieg Mark aus. »Stehenbleiben!« warnte eine kalte Stimme. »Sofort stehen bleiben!« Mark kauerte sich sprungbereit gegen die Raum-ZeitMaschine und ballte die kräftigen Hände. Er blinzelte in das ungewohnt helle Licht, das ihn blendete. Was war passiert? Wo war er? Was konnte schiefgegangen sein? Seine Augen paßten sich an. Mark schaute um sich und be gann vor Erleichterung fast hysterisch zu lachen. Er war zurück im bleiverkleideten Kellerraum seines Onkels, von wo er aufgebrochen war. Die Tür zu der anschließenden Kellerwerk statt stand offen, und dort sah er, mit einem schweren Schrau benschlüssel drohend erhoben, seinen Onkel. »Onkel Bob«, rief Mark. »Kennst du mich denn nicht mehr?« Dr. Nye starrte ihn ungläubig blinzelnd an. Er konnte offen bar seinen Augen nicht glauben. Zum erstenmal wurde Mark bewußt, was er doch für einen seltsamen Anblick bieten mußte, und wie sehr er sich von dem Jungen unterschied, der diesen 155
Raum vor einer Ewigkeit verlassen hatte. Er war tiefbraunge brannt und kräftig. Statt der Jeans und dem Wollhemd trug er Pelzkleidung, dazu Fellsandalen, und in dem Rohledergürtel steckte ein Steinmesser. Das lange Haar war mit einem Rohle derband zusammengehalten, und seine Augen waren die eines reifen Mannes. Dr. Nye senkte den Schraubenschlüssel. »Mark!« krächzte er. »Mark …« Freudig umarmte Dr. Nye seinen Neffen, dann trat er zurück, um ihn eingehend zu betrachten. »Ich kann es einfach nicht glauben, Mark«, flüsterte er. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist Viertel nach neun – nach meiner Zeit warst du bloß fünfzehn Minuten weg. Wider alle Hoffnung hatte ich gehofft …« Von Rührung überwältigt, konnte Dr. Nye nicht weiterspre chen. Er strich sich durch das weiße Haar und bemühte sich, seine Fassung wiederzugewinnen. Mark legte den Arm um seines Onkels Schultern und mußte sich zusammennehmen, um ihm nicht auf Danequa-Weise die Rechte aufzulegen. Er verstand die Erschütterung seines Onkels. Für ihn war alles so schnell gegangen, daß er noch völlig benommen war. Schließ lich hatte er das Verschwinden seines Neffen erst vor wenigen Minuten bemerkt, und nun war Mark zurück, ganz offensicht lich als erwachsener Mann. Es war charakteristisch, daß er offenbar gar nicht an den Verlust seiner Raum-Zeit-Maschine gedacht hatte, noch an seinen verlorenen Traum, das alte Rom zu besuchen. Nur um seinen Jungen hatte er sich Sorgen gemacht. »Gehen wir nach oben«, sagte Dr. Nye schließlich mit nicht ganz fester Stimme. Sie verließen den bleiverkleideten Keller mit der Raum-ZeitMaschine. Mark fiel dabei auf, daß die Maschine sich etwa einen halben Meter näher als zuvor bei der Tür befand. Aber ein Fehler von einem halben Meter und ein paar Sekunden bei einer Reise von fünfzigtausend Jahren durch die Raum-Zeit 156
war nichts, dessen er sich zu schämen brauchte. Sie stiegen die Treppe hoch durch die Küche, wo der Braten noch im Back rohr war und der Kaffee in der Maschine, zum Wohnzimmer. Marks Blick wanderte über die Büste Cäsars, die Navajoteppi che, die Bücherregale und die hellen Holzwände. Es war alles noch so, wie er es vor zwanzig Minuten verlassen hatte, und doch erschien es dem Mark, der durch Äonen gereist war, wie etwas aus einem Traum. Fang, den die Explosion aus dem Schlaf geschreckt hatte, richtete sich im besten Sessel des Hauses auf und knurrte Mark an. Wer war dieser Eindringling in dem seltsamen Pelzzeug und dem langen, zusammengebundenen Haar? Er begann ihn anzubellen, doch dann beäugte er ihn eingehender, und der Stummelschwanz wedelte. Noch unsicher sprang er vom Sessel und stapfte vorsichtig durchs Zimmer zu Mark, um ihn zu beschnüffeln. Mark kraulte ihn hinter den Ohren. Offenbar beruhigt, kehrte er schwanzwedelnd zu seinem Sessel zurück. Er verstand das Ganze zwar nicht so recht, aber er verließ sich mehr auf seine Nase als seine Augen, die ihn zu täuschen versuchten. Der Pelzgekleidete war Mark. Daß er nicht in Begeisterungsstürme über seine Rückkehr ausbrach, lag daran, daß für ihn nicht viel mehr als eine Viertelstunde vergangen war, seit er ihn das letztemal gesehen hatte. Dr. Nye ließ sich in einen Sessel fallen, und Mark tat es ihm gleich. Die weiche Polsterung empfand er als unangenehm. Nervös ballte und öffnete er immer wieder die Hände und versuchte sich zurechtzufinden, sich hier zu Hause zu fühlen wie früher. »Wie lange warst du fort?« fragte Dr. Nye schließlich. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Mark. »Ein paar Mo nate, nehme ich an.« Das Englisch kam ihm wie eine Fremd sprache vor. »Fünfzigtausend Jahre vor Christi«, murmelte Dr. Nye nach denklich. Er erinnerte sich, wie er den Knopf auf diese Zeit 157
gestellt hatte. Er schüttelte sich. »Hast du Hunger?« Mark lächelte. »Nein. Was ist passiert – war es die Rakete?« Dr. Nye nickte. »Sie geriet vom Kurs ab und explodierte in den Bergen ganz in der Nähe. Ein Wunder, daß niemand zu Schaden kam.« Mark ruckte im Sessel. Dinge wie Raketen waren ihm fremd geworden. Seine ganze Einstellung war verändert. Er lebte noch in der anderen Welt und kam sich in seinem eigenen Zuhause wie ein Eindringlich vor. »Ich hätte mir nie verziehen, Mark, wenn …« Mark schüttelte den Kopf. »Es war doch nicht deine Schuld, Onkel Bob. Und ich bin wirklich dankbar. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen, aber es war ein einmaliges Erlebnis, das ich nicht missen möchte.« Dr. Nye nickte verständnisvoll. »Wir können uns später in aller Ruhe darüber unterhalten.« »Onkel Bob – es tut mir so leid – die Raum-Zeit-Maschine …« »Vergiß es, Junge.« Dr. Nye stand auf und legte eine Hand auf Marks Schulter, fast wie die Danequa. »Vielleicht kriege ich sie wieder hin. Was einem einmal gelang, kann einem auch ein zweitesmal gelingen. Nur du zählst, Mark. Ich glaube nicht, daß die Mühe vergeudet war. Vor zwanzig Minuten warst du noch ein Junge. Jetzt bist du ein Mann mit offenen Augen, Sohn. Das ist jeden Preis wert.« Mark blieb eine Weile schweigend sitzen und versuchte, sich den neuen Umständen anzupassen. Er blickte auf den kleinen Fang, der schon wieder schlief. Wie anders war doch der Spaniel als der Wildhund, den er in der Eiszeit zurückgelassen hatte. »Hat es zu regnen aufgehört?« fragte er. »Ja.« »Gehen wir ein bißchen spazieren, Onkel Bob«, bat er. »Gute Idee, Junge.« Dr. Nye lächelte. »Doch du solltest dich 158
lieber zuerst umziehen, sonst könnte es sein, daß jemand auf dich schießt, weil er dich für ein Ungeheuer hält.« Mark grinste und begann sich ein bißchen zu entspannen. Er rannte in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Seine Sachen waren ihm alle zu klein und eng geworden, aber er zwängte sich in die bequemsten hinein. Doch von seinen Schuhen paßten keine mehr, also behielt er die Danequa-Sandalen an. Sein Blick fiel auf den Mann, der ihm erstaunt aus dem Spiegel entgegensah – er erkannte sich kaum noch und kam sich wie ein Fremder in seinem eigenen Zimmer vor. Hastig verließ er es und kehrte zu seinem Onkel ins Wohnzimmer zurück. »So ist’s schon besser«, lobte Dr. Nye und sog an seiner Pfeife. »Komm, gehen wir zum Point.« Sie traten in die kühle Nachtluft und die Stille, und gleich fühlte Mark Nye sich besser. Der würzige Duft vertrauter Nadelbäume hing in der regenfrischen Luft. Die Wolken waren aufgebrochen, und die Sterne glitzerten am Himmel. Der Vollmond schien die dahintreibenden Wolken verfolgen zu wollen und verwandelte sie in einen Silbersee und sich selbst zu einem Schiff aus Eis. Mark atmete tief und war heilfroh, daß er noch lebte. Keiner der beiden sprach. Sie folgten dem Bergpfad durch das Mondlicht, bis sie den Point erreichten. Der Point war ein breiter Felsvorsprung, von dem aus man ins lichterfunkelnde Tal sehen konnte. Hier wuchsen keine Bäume, so konnte der Wind ungehindert darüber streichen. Ein Flugzeug zog hoch über ihnen vorüber. Das Motorengeräusch war durch die Entfernung gedämpft, und die roten und grünen Lichter blink ten zwischen den Sternen. Der Vollmond löste sich aus den Silberwolken, und Mark sah zu ihm auf. Seine Freunde waren tot und Staub im Grau der Zeit. Tlaxcan lächelte nicht mehr, und Tlax hatte sein Leben gelebt und war gestorben. Nranquar und Roqan und der stolze Qualxen – wo waren sie jetzt? 159
Tot. Verloren mit dem Staub der Zeit … Mark blickte seinen Onkel an, der an seiner Pfeife sog. Mark war froh, wieder bei ihm zu sein. Schließlich gehörte er hier her. Er hatte gar keine Wahl. Dies war seine Welt mit all ihren Problemen, und hier war ihm bestimmt, sein Leben zu leben. Und doch … Es war Vollmond. Wie lange war es her, daß er unter einem Vollmond wie diesem das Lied der Danequa mit seinen Freun den gesungen hatte, während die Aufregung der Quaro-Jagd sein Blut noch heiß durch die Adern jagte? Der Mond schien ihm zuzulächeln, und Mark schloß die Augen. Ganz deutlich hörte er über die Äonen hinweg, klar wie Silberglöckchen, das Lied der Danequa. Haus der Nacht Haus des Mondes Die Nacht unser Begleiter Auf der Jagd Im Leben, im Tod Der Mond bringt das Ende Der Mond bringt die Erfüllung O he o-jo o-jo he o-he o O he o-jo o-jo he o-he he. Mark öffnete die Augen und lächelte. Tot? Die Danequa waren nicht tot. Tlaxcan und Tlaxcal und Roqan und Tloron – sie alle waren ein Teil von ihm, waren Freunde, die er zwar nie wie dersehen konnte, die jedoch für immer in seinem Herzen leben würden. Er gehörte hierher, und hier würde er bleiben. Aber ein Teil von ihm, ein wilder, freier Teil, würde immer bei den Freunden sein, die er sich in der Menschheitsdämmerung gewonnen hatte. »Jetzt habe ich wieder zu mir gefunden, Onkel Bob«, sagte er. 160
Dr. Nye lächelte. »Dann wollen wir heimgehen, Junge.« Seite an Seite kehrten sie den mondhellen Pfad zurück zu der Hütte, die ihr gemeinsames Zuhause war. ENDE
161
Als Utopia-Classics Band 84 erscheint:
Jesco von Puttkamer
Elektronengehirne, Wurmlöcher und Weltmodelle Jesco von Puttkamer x 11 Der 1933 in Leipzig geborene Autor verfaßte bereits 1952 vor seinem Studium an der TH Aachen seine erste SF-Story. In den Folgejahren wurde Jesco von Puttkamer, bevor ihn Wernher von Braun in die USA berief, wo er heute bei der NASA als Programm-Direktor für bemannte Weltraumprojekte tätig ist, trotz seines vergleichsweise kleinen Gesamtwerks zu einem Begründer der eigenständigen deutschen SF. Der vorliegende Band enthält insgesamt elf Erzählungen aus v. Puttkamers früher Schaffensperiode der 50er Jahre – und zwar unter anderem die Story vom Duell der Gigant-Gehirne – die Story vom integrierenden Faktor – die Story vom Ende der Zukunft – die Story von der Bestimmung des Menschen – die Story des mörderischen Wirtschaftsmagnaten – und die Story vom 200-Millionen-Jahre-Rennen.
162