BAD EARTIH
Die große Science-Fiction-Saga
MEISTER DER MATERIE von Achim Mehnert Wir schreiben das Jahr 2041. Mensche...
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BAD EARTIH
Die große Science-Fiction-Saga
MEISTER DER MATERIE von Achim Mehnert Wir schreiben das Jahr 2041. Menschen von der Erde - John Cloud und die GenTecs Scobee, Resnick und Jarvis - werden durch das Jupiter-Wurmloch an einen unbekannten Ort der Galaxis geschleudert. Es stellt sich heraus, dass der ungewollte Transfer sie nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich versetzt hat - in die Zukunft! In eine Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden und sich zur verhassten Geißel der Galaxis entwickelt haben. Die so Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten. Als sie von irdischen Schiffen gejagt werden, können sie gerade noch zum geheimnisumwitterten Aqua-Kubus flüchten. Damok, ein Außerirdischer, der die Menschen des Mordes an seinem Volk bezichtigt, ist der Meinung, der gigantische, durch das AN treibende, vollständig mit Wasser gefüllte Würfel - mit einer Kantenlänge von einer Lichtstunde - biete Ihnen Schutz. Doch dann wird Innerhalb der vermeintlich sicheren Zuflucht einer der GenTecs Jarvis - von der Gruppe getrennt. Er gerät In die Gewalt nur entfernt menschenähnlicher Wesen, die offenbar Helfer der legenden umwitterten Vaaren sind, der eigentlichen Beherrscher des Kubus. Mit Letzteren sehen sich Cloud, Scobee und Resnick schließlich selbst konfrontiert. Die Begegnung wird zum Fiasko. Denn noch bevor es zu echter Verständigung kommt, zeigt sich die Kompromisslosigkeit der Vaaren. Etwas attackiert die Menschen und zersetzt ihre lebenserhaltenden Anzüge, die sie von Damok erhalten haben. Der verzweifelte Kampf gegen den Erstickungstod, gegen das Ertrinken, beginnt... 1. Träumte - oder wachte er? Sein Körper schien Tonnen schwer zu sein. Trotz größter Anstrengung gelang es ihm nicht, einen Arm zu heben. Etwas hielt ihn fest, aber es gelang ihm nicht, einen Blick darauf zu werfen. Denn um ihn war Dunkelheit. Da waren düstere Konturen, unheimlich aussehende Instrumente, deren zitternde Werkzeuge über seinem Gesicht pendelten, als würden sie den Helm seines Schutzanzugs untersuchen. »Wer bist du?«, vernahm er eine Frage. Es war hypnotischer Singsang, der ihn verwirrte, und von dem er nicht hätte sagen können, woher genau er kam - oder ob er überhaupt als gesprochenes Wort an ihn gerichtet wurde. »Wie lautet dein Name?« Er hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Was geschehen war, lag im Dunkel verborgen. Nur so viel schien klar: Er war nicht dort, wo er hätte sein sollen. Träge drängten sich Erinnerungsfetzen an die Oberfläche.
»Jarvis«, antwortete er. »Ich bin Jarvis.«
Als hätte die Nennung seines Namens eine Blockade gelöst, fiel ihm alles wieder ein.
Er war gehetzt und entführt worden. Doch wohin hatte man ihn gebracht?
Als sich der GenTec umsah, erkannte er weitere Einzelheiten. Er lag auf dem
Rücken, festgeschnallt auf einer Art Liege, in einem düsteren Raum, der wie ein
geheimer Folterkeller der Inquisition auf ihn wirkte.
Schwarze Gestalten umhuschten ihn. Mehrere von ihnen - er hatte Probleme, ihre
Zahl zu bestimmen - traten an ihn heran und musterten ihn eindringlich. Zuerst hielt
er sie für Kinder, die von Neugier getrieben wurden. Doch als er sich auf eines von
ihnen konzentrierte, erkannte er seinen Irrtum.
Keine Kinder!
Es waren ihm unbekannte Wesen von humanoider Gestalt, nicht mehr als einen
Meter groß. Ihre Arme und Beine endeten in schlanken Ausläufern. Sie glichen
Flossen mit Greifwerkzeugen. Die schmalen, von türkisfarbenem Flaum bedeckten
Köpfe besaßen zwei riesige tiefblaue Augen und ein vorspringendes Fischmaul. Die
Körper steckten in eng anliegender, in allen Farben des Regenbogens leuchtender
Kleidung.
»Welchem Volk gehörst du an?«
»Und du?«, konterte Jarvis. »Du kennst meinen Namen. Ich deinen nicht.«
Er erhielt keine Antwort. Dafür senkte sich von oben eine Art Glocke herab, die
knapp über seinem Kopf anhielt. In ihrem Inneren bildeten sich komplizierte
Farbstrukturen, die sich in immer schnellerer Abfolge veränderten. Jarvis versuchte,
einen Sinn in dem Wechsel zu erkennen, was ihm aber nicht gelang. Zunächst konnte
er noch einzelne Muster unterscheiden, doch schließlich wurde die Abfolge so
schnell, dass die einzelnen Bilder sich nicht mehr trennen ließen.
»Was soll das?« Jarvis zerrte an Fesseln, die keinen Millimeter nachgaben.
Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten.
Dann erloschen die Farbmuster. Einige Sekunden vergingen, in denen sich Jarvis'
Augen an die Dunkelheit gewöhnten, bis jäh Licht aufflammte. Blendend hell.
Instinktiv schloss der Klon die Augen, aber das Licht drang selbst durch die
geschlossenen Häute seiner Lider.
Schreiend versuchte Jarvis sich aufzurichten...
... und verlor erneut das Bewusstsein.
Nuglion schwamm über dem Untersuchungstisch und betrachtete den Fremden abschätzend. Ein seltsames Wesen war das, wie es die Vaaren nie zuvor gesehen hatten.
Die Heukonen hatten herausgefunden, dass es sich „Jarvis" nannte. Auch eine Menge weiterer Informationen gab es, doch nicht so viele, wie die Herren von Tovah'Zara es sich gewünscht hätten. Jarvis war nicht bereit zu kooperieren. Er wehrte sich mit Vehemenz - eine Feststellung die Nuglion zunächst irritiert hatte, ihn inzwischen aber beeindruckte. Keine Spezies des Wasserreichs hätte es gewagt, sich den Forderungen derVaaren zu widersetzen. Aller Widerstand nützte ihm jedoch letztendlich nichts. Es gab Mittel, ihn zu brechen. Doch erst mussten die Untersuchungen der Heukonen abgeschlossen werden. Denn die Wahrheit musste gefunden werden, und die echte Wahrheit erlangte man nicht durch Druck und Zwang. Jarvis musste sie aus freien Stücken preisgeben, sonst konnte man nicht sicher sein, dass sie nicht doch mit Bruchstücken von Lüge versetzt war. Nuglion erinnerte sich an seine Überraschung, als er die Nachricht von Königin Lovrena erhalten hatte, wonach Fremde in Tovah'Zara eingedrungen seien. Natürlich war ihre Ankunft nicht unbemerkt geblieben, auch wenn sie selbst sich vielleicht lange Zeit für unentdeckt gehalten hatten. Mit Beklemmung dachte Nuglion daran, welchen Schaden die Fremden hätten anrichten können, wären sie nicht frühzeitig von den Werkzeugen entdeckt worden. Jarvis behauptete, auf der Flucht vor Angreifern gewesen zu sein, aber Nuglion bezweifelte den Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Wo steckten denn diese angeblichen Angreifer? Warum wandten sie sich weder offen gegen Tovah'Zara, noch waren sie von den sensiblen Überwachungssystemen registriert worden? Oder gab es Fakten, auf die er keinen Zugriff hatte? Unsinn, entschied Nuglion. Königin Lovrena hatte keinen Anlass, ihm etwas vorzuenthalten. Schließlich war er einer ihrer loyalen Anhänger. Also blieb die entscheidende Frage: Stellten die Eindringlinge, die sich Menschen nannten, eine Gefahr dar? Waren sie möglicherweise nur die Vorhut einer unbekannten Macht? Späher, die die Verteidigungsfähigkeit von Tovah'Zara ausspionieren sollten?
Nuglion hielt es für möglich. Dennoch schüttelte er den Gedanken ab und konzentrierte sich auf die unmittelbare Zukunft. Um jenes Wesen Jarvis, das sich in sicherer Verwahrung befand, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Er schaltete die Verbindung ab, die ihn scheinbar - denn in Wahrheit hatte es sich nur um eine Projektion gehandelt - über dem Untersuchungstisch im Wonak-Matul hatte treiben lassen. Seine Gedanken wandten sich Jarvis' Begleitern zu. Einmal waren sie entkommen, ein zweites Mal würde ihnen dies nicht gelingen. Nuglion beglückwünschte sich dazu, Suchschwärme eingesetzt zu haben. Ganz gleich wohin sich die Fremden auch wandten, früher oder später würden sie entdeckt werden. Und sein Vertrauen in die Protomaschinen wurde nicht enttäuscht. Der Schwarm entdeckte die, die zu Jarvis gehörten - und stellte sie. Sie konnten nicht mehr entkommen. Sie hatten das kleine Schiff, mit dem sie reisten, verlassen und damit einen nicht mehr korrigierbaren Fehler begangen.
Rings um ihn war Wasser - es war allgegenwärtig -, und er konnte ihm nicht entkommen. Er wand sich verzweifelt, während sein großer, schlanker Körper von etwas attackiert wurde, das ihm fremd war. Absolut fremd. Aus, dachte er. Das ist das Ende. Ich werde sterben! Cloud schlug wild um sich, aber da war kein Gegner, den er hätte treffen und beeindrucken können. Was ihn angriff, ließ sich nicht fassen. Seine Hände wischten über den Körper. Etwas umkrustete seine Haut, etwas, das er zunächst als riesigen Schatten wahrgenommen hatte. Es war in Myriaden von Teilen zerfallen. Lebewesen? Cloud vermochte es nicht zu sagen. Die Partikel waren über ihn und seine Begleiter hergefallen und hatten sich auf den von Darnok erhaltenen Anzügen festgesetzt. Anzüge aus intelligentem Material, das sich selbstständig der Körperkontur seines Trägers anpasste, und mit Helmen versehen, die keine festen Objekte waren, sondern eine Art Energieblase, die bei aller Transparenz vollkommen dicht gegen die Umgebung abschottete. Doch jetzt nicht mehr. Ein eigenartiger Verdacht kam ihm. Warum hatte Darnok darauf bestanden, ihm und den GenTecs diese Anzüge zu überreichen, statt ihre eigenen mit neuen Sauerstoffpatronen zu versorgen, wozu er zweifellos in der Lage gewesen wäre? Er hatte sie ihnen geradezu aufgedrängt. Vielleicht nur, damit genau das eintrat, was jetzt geschah?
Darnoks Absichten waren nicht freundlicher Natur - das wussten sie inzwischen. Er beschuldigte die Menschen des Mordes an seinem Volk. Und trotzdem... ... trotzdem habe ich ihn nie, keine Sekunde, als Feind betrachtet. Er... will uns etwas vermitteln. Aber ich bezweifele, dass er ernsthaft annimmt, wir vier armen Seelen hätten persönlich etwas mit der Tragödie zu tun, die ihn heimgesucht hat. Die Gedanken zerrannen. Es war ganz und gar unmöglich, sich den Kopf über etwas Fremdes wie Darnok zu zerbrechen, wenn man nicht mehr in der Lage war, Atem zu schöpfen! Cloud war dem unheimlichen Prozess hilflos ausgeliefert. Sein Anzug löste sich auf wie unter einem chemischen Verfahren, das seine Bestandteile absorbierte. Absorbiert! Das war es. Cloud war sich sicher, dass genau das mit dem Anzugstoff geschah. Keine Faser blieb davon übrig... Die Wasser des Kubus umgaben ihn. Hätten ihn zerquetschen müssen. Dieser immense Druck, den eine Masse mit einer Kantenlänge von einer Lichtstunde ausübte... Wände aus purer Energie sorgten dem Anschein nach dafür, dass das Wasser nicht in den freien Raum entwich. Grüner Lichtschimmer durchdrang den gesamten Riesenwürfel. War es mehr als Licht? Sorgte es für... Druckentlastung, Sauerstoffanreicherung... all das, was nötig war, um Leben in einem solchen Giganten zu erhalten? Tatsache war, dass unbekannte Kräfte mit regulierender Wirkung in die Physik des Aqua-Kubus eingriffen, andernfalls hätte allein schon der unvorstellbare Wasserdruck jegliches Objekt darin zermalmt, von Leben ganz zu schweigen. Das Volumen war enorm. Und woher... kam so viel Wasser, wie nötig war, den Würfel zu füllen. Wie war es gewonnen worden? Der Gedanke, dass Welten ihres lebenswichtigen Elements beraubt worden sein könnten, um diesen Kraftakt zu vollbringen, legte sich wie eine dunkle Last auf Clouds Brustkorb. Oder war es die Enge des Luftmangels? Das Wissen um den unausweichlichen Tod so fern der Erde, dass nicht einmal ein Wunder ihn je wieder dorthin zurückbringen konnte - egal ob tot oder lebendig? Planeten und Monde befanden sich im Kubus. Riesige, bizarre Korallenstrukturen... Welch ein Grab! Dabei war er mit der RUBIKON zum Mars unterwegs gewesen. Zum Mars - um das mysteriöse Scheitern der ersten Astronauten, die den roten Planeten betraten, zu untersuchen. Sein Vater war damals, vor mehr als zwei Jahrzehnten, auf einer fremden Welt gestorben, und nun würde er, John, es ihm auf einer noch viel fremderen, bizarreren Welt gleich tun... All diese Gedanken dauerten nur Sekunden, in denen sich Cloud verzweifelt gegen das drohende Schicksal aufbäumte. Er konnte nicht mehr atmen, bekam keine Luft. Nicht weil Wasser in seine Lungen drang, sondern weil das, was seinen Raumanzug aufgelöst hatte, sich nicht damit zufrieden gab. Es bedeckte sein Gesicht und war in seine Körperöffnungen eingedrungen. In Mund und Nase, sogar in die Ohren.
Während er wie ein Fisch an der Angel zappelte, versuchte er instinktiv, nach seinen
Begleitern Ausschau zu halten. Vergeblich, denn auch seine Augen waren betroffen.
Er war blind und taub. Er konnte nichts für Scobee oder Resnick tun.
Er konnte sich nicht einmal selbst retten. Seine letzten Sauerstoffreserven wurden
ihm aus den Lungen gepresst.
Er verfluchte den Aqua-Kubus und die Silberstadt, in deren Nähe sie gelandet waren.
Warum nur hatten sie Darnoks Karnut verlassen?
In seinen Ohren baute sich Druck auf. Diese Miniaturwesen waren Invasoren seines
Körpers. Es kitzelte, und unbewusst kratzte er sich, um sich Linderung zu
verschaffen. Ein pelziger Belag kroch über seine Zunge, und Cloud musste würgen.
Krächzend versuchte er, das Eingedrungene auszuspucken, aber er hatte keine Macht
darüber. Er konnte seinen Mund nicht einmal mehr eigenständig öffnen.
Seine Sinne begannen zu schwinden.
Wäre er doch einfach ertrunken, dann wäre alles schon vorbei. So aber erschien ihm
sein Martyrium endlos.
Mit beiden Händen wollte er sich das Fremde vom Gesicht reißen, aber er hatte keine
Kraft mehr. Er besaß nicht länger die Kontrolle über seinen Körper. Seine Lungen
schienen zu explodieren, von innen heraus zerfetzt zu werden.
Ein eigenartiges Glücksgefühl bemächtigte sich seiner letzten bewussten
Wahrnehmung. Endorphingesteuerte Euphorie.
Er starb, aber er war zu berauscht, um länger Bedauern darüber zu empfinden.
Du wirst nie wieder aufwachen. Na und?
Es war, als fiele er in einen ewig dunklen, bodenlosen Abgrund.
2. Mit geschmeidigen Bewegungen huschte Sorkka eine Anhöhe hinauf. Er bewegte sich auf allen vieren vorwärts, obwohl Luuren normalerweise den aufrechten Gang bevorzugten. Bereits vor Jahrtausenden waren sie dazu übergegangen, sich zum Gehen auf ihr hinteres Beinpaar zu verlassen, das vordere war dann auch im Laufe der Zeit verkümmert. Die einstigen Zehen waren mehr und mehr zu Greifwerkzeugen geworden, dazwischen befanden sich Schwimmhäute. Sorkka kannte wenige Luuren, die sich wie er, wenn sie nicht gerade schwammen, auf allen vieren bewegten. Die anderen sahen das als einen Makel. Als einen Rückschritt in Zeiten, die ihnen archaisch und animalisch gleichermaßen vorkamen. Erst mit dem aufrechten Gang waren sie zivilisiert geworden, und diesen Fortschritt wollten sie nicht wieder verlieren. Dem jungen Luuren war diese Denkweise unverständlich. Es machte ihm Spaß, so zu laufen, wie seine Ahnen es dereinst getan hatten. Außerdem war er auf vier Beinen schneller als auf zweien. Doch niemand, mit dem er sich darüber unterhalten hatte, wollte das einsehen. Also hatte es Sorkka im Laufe der Zeit aufgegeben, dieses Thema anzuschneiden. Nicht einmal mit Rurkka, seinem Lehrmeister und Ziehvater, sprach er darüber.
Das bedeutete aber nicht, dass er sich dieser Neigung, die ihn in einen wahren Freudentaumel versetzen konnte, selbst nicht mehr hingab. Er vermied es nur, wenn andere Luuren zugegen waren. So schnell er konnte, lief er die Anhöhe auf der anderen Seite wieder hinab und folgte dem südlichen Pfad, der nahe an den Protowiesen vorbeiführte. Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass ihn jemand beobachten könnte. Er wusste sich allein. Weit und breit war nichts von einem Schöpfer zu sehen. Es gab nicht viele von ihnen, und zurzeit schienen sie alle vollauf beschäftigt zu sein. Sorkka fragte sich, womit. Ihre Parabegabung konnten sie nur bei den Protowiesen einsetzen, und vom Hügel aus hatte er gesehen, dass niemand da und schöpferisch tätig war. Trotz seiner Jugend war Sorkka ebenfalls ein Schöpfer. Er hatte sich diesen Status nicht verdient, sondern war in die Rolle hineingeboren worden. In diese Kaste. Und er fühlte sich wohl. Die Vorstellung, dass das Schicksal ihm einen anderen Weg zugedacht und ihn zu einem gewöhnlichen Arbeiter gemacht hätte, ließ ihn schaudern. Niemals hätte er dann seine Paragabe gespürt, nie etwas allein mittels seines Geistes erschaffen. Er erklomm einen weiteren Hügel und verharrte, als er oben ankam. Was er sah, ließ sein Herz aufgehen. Unter ihm lagen die Protowiesen, und sie dehnten sich schier endlos aus, bis sie weit entfernt im ewigen Licht, das Tovah'Zara durchdrang, den Blicken entschwanden. Einmal hatte er sie umrundet. Zu Fuß! Eine Leistung, auf die er stolz war, denn seines Wissens war er der Einzige, der dies jemals versucht hatte. Die Älteren hatten über ihn gelacht. »Wieso hast du das getan?« - »Welchen Sinn hatte das?« - »Was hat es dir eingebracht?« Sorkka lächelte, als er sich an ihre verständnislosen Fragen erinnerte. Warum ersteigt man einen Berg?, hatte er für sich selbst nur gedacht. Weil er da ist. Warum umrundet man die Protowiesen? Weil sie da sind! Damals wollte er ihnen antworten, hatte es aber nicht getan. Denn seine Tat bedurfte keiner Erklärung. Seine Wanderung hatte ihren Sinn in sich getragen und ihn bereits in jungen Jahren nahe zu sich selbst gebracht. Sie hatte ihn gelehrt, dass er alles erreichen konnte, was er sich vornahm. Er durfte nur nicht anhalten, sondern musste immer weitergehen. Wenn er etwas erreicht hatte, tauchte irgendwann ein neues Ziel auf, und dann wieder eines... Sorkka hatte sich geschworen, auf jedes Ziel zuzuhalten und jede Hürde zu nehmen, wie unüberwindlich sie auch scheinen mochte. Wenn sie, die älteren Schöpfer, die doch wesentlich weiser als er selbst hätten sein sollen, das nicht begriffen, war es sinnlos, es ihnen erklären zu wollen. Ergriffen betrachtete er das weite Feld zu seinen Füßen. Manchmal wogten die Protowiesen, als würden sie von Stürmen gepeitscht. Dann schien die Protomaterie mit all der ihr innewohnenden Macht zeigen zu wollen, dass
sie nicht tot war. Dass sie nur darauf wartete, von den Schöpfern in etwas Großartiges geformt zu werden. Unzählige Generationen hatten dies getan, wie Sorkka aus Überlieferungen wusste. Rurkka berichtete ihm oft darüber. Doch die Protowiesen waren nie kleiner geworden. Kein Luure konnte sich das erklären, aber offenbar wuchs die Protomaterie ständig nach, regenerierte sich. So wie es auch die künstlich geschaffenen Protomaschinen vermochten. Die mikroskopisch kleinen Dinge reproduzierten sich ganz nach Belieben. Zuweilen war es schwierig, ihren Expansionsdrang unter Kontrolle zu halten. Sorkka liebte die Protomaterie, weil er überzeugt war, dass sie ebenfalls etwas für diejenigen empfand, 10 die etwas aus ihr schufen. Sie fühlte sich den Schöpfern ebenso verbunden wie die Schöpfer ihr. Sorkkas Gedanken versanken in der endlosen Fläche, die heute völlig ruhig dalag. Als würde sie schlafen. Doch die Protomaterie schlief nie. Er spürte sie, und mittels seiner Parakräfte löste er Bestandteile aus ihrem Verbund. Sorkka musste etwas Großartiges leisten, etwas noch nie Dagewesenes. Dann war es nur noch ein winziger Schritt bis hin zu seinem nächsten Ziel... Erster Verwerter. Etwas Magisches haftete diesem Titel an. Er schien wie für Sorkka gemacht. Noch hatte sein Ziehvater Rurkka ihn inne, aber dieser sah in Sorkka seinen Wunschnachfolger. Der junge Luure stieß sich vom Boden des Hügels ab und sirrte pfeilgleich durch das Wasser. Für Momente fühlte er sich schwerelos. Seine Gedanken eilten ihm voraus und fanden ihr Ziel. Teile der Protomaterie lösten sich und schwebten in die Höhe. Sie wirbelten das Wasser durcheinander und nahmen Gestalt an. Wo sie aus dem Teppich herausgerissen worden waren, verschloss er sich umgehend wieder. Sorkka konzentrierte sich. Es war leicht, jedes einzelne Elementarteilchen zu erkennen. Beinahe unendlich war ihre Zahl, aber der junge Luure brauchte nicht lange, um sie zu gruppieren. Sie begriffen seine Befehle und ballten sich zu Clustern, die miteinander interagierten und unaufhörlich wuchsen. Sorkka lenkte und dirigierte sie, wie es ihm gefiel. Er musste sich kaum anstrengen. Alles geschah wie von selbst. In seiner Vorstellung entstanden strahlende Kugeln von unendlicher Schönheit. Und die Protomaschinen wucherten blühend in die Wirklichkeit hinaus.
Scobee sah das Unheil auf sich zukommen. Die winzigen Angreifer befielen ihren Körper. In Bruchteilen von Sekunden analysierte sie die Lage und kam zu dem
Schluss, dass ihre speziellen Fähigkeiten als GenTec in diesem Fall nutzlos waren.
Weder kam sie mit hoch gezüchteter Kraft noch mit ihrer enormen Schnelligkeit
weiter. Damit konnte sie nur bei einem körperlich greifbaren Angreifer etwas
ausrichten.
Zwar bekam sie die Substanz, die ihren Körper befiel, zu fassen, und es gelang ihr,
einige flechtenartige Stücke wegzureißen, aber das Zeug vermehrte sich mit rasender
Geschwindigkeit.
»John, hörst du mich?«, rief sie nach Cloud.
Sie erhielt keine Antwort. Vielleicht hatte er bereits das Bewusstsein verloren. Oder
sein Anzug war schon so weit zerstört, dass keine Verbindung mehr möglich war.
»Habe ich auch schon versucht«, vernahm sie eine andere Stimme. »Unser Ex
reagiert nicht. Ich werde versuchen, ihn zu erreichen. Allerdings...«
Übergangslos brach die Stimme ab. »Resnick!«, rief Scobee. »Alles in Ordnung?
Hörst du mich noch?«
Der GenTec antwortete nicht mehr.
Der Großteil von Scobees Schutzanzug war inzwischen verschwunden, und nun griff
der Vorgang auch auf ihren Kopf über. Innerhalb von Sekunden existierte ihr Helm
nicht mehr, dafür fühlte sie die auf sie eindringenden Partikel auf ihrem Gesicht. Es
kribbelte wie von tausend Insekten, aber noch gab es Lücken, konnte sie sehen.
Sie machte ein paar hastige Schwimmbewegungen und versuchte sich in dem
grünlich leuchtenden Wasser zu orientieren.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine sich in Panik windende Gestalt. Luftblasen
sprudelten um sie herum und wirbelten davon.
Cloud!
Scobee schnellte nach vorn, als hätte sie ihr ganzes Leben nur im Wasser zugebracht.
Von ihrem Schutzhelm war nichts mehr übrig geblieben. Gleichzeitig schritt die
fremde Inbesitznahme ihrer Haut fort. Ihr Blickfeld verengte sich, als die Partikel
begannen, auch ihre Augen zu überziehen. Mund und Nase folgten, und plötzlich war
ihr kein Atemzug mehr möglich.
Aber sie gab nicht auf. Nicht solange sie Cloud noch erreichen konnte. Mit der
Eleganz eines Fischs jagte sie dorthin, wo sie ihn ausgemacht hatte. Sie konnte ihn
schon kaum noch erkennen.
Und Cloud bewegte sich nicht mehr.
Scobee erhöhte ihre Anstrengung, um ihn zu erreichen, doch es war zu spät. Plötzlich
war das grüne Leuchten verschwunden und Cloud mit ihm.
Sie war blind. Selbst mit Infrarotsicht vermochte sie nichts mehr zu sehen und konnte
anderen so auch nicht mehr helfen.
Jede Sekunde zählte. Sie hatte nur noch die Luft in ihren Lungen und zwang sich zu
nüchternem Nachdenken. Nur nicht in Panik verfallen!
Sie gab jeglichen Widerstand auf und versuchte zu entspannen. Für einen flüchtigen
Moment schmeckte sie Wasser auf der Zunge, als sich ihre Mundhöhle auch schon
mit der fremden Substanz füllte, die sich bis in ihren Rachenraum ergoss.
Süßwasser, dachte sie benommen, als wäre dies noch von Belang. Kein Salzwasser.
Ihre Gedanken wurden träger, als sie reglos durch das sie umgebende Medium glitt. Sie dehnten sich ins schier Endlose und verloren alle Klarheit. Sie überlegte nicht mehr und dachte an nichts mehr. Ihr Geist zog sich vollends bis in den äußersten Winkel ihres Seins zurück, wo er nichts mehr auszurichten vermochte. Allmählich erlahmten und erloschen ihre Körperfunktionen. Sie wurden von einer umfassenden Lähmung erfasst, die sich bis in die letzten Verzweigungen ihres Nervensystems fraß und es unter Kontrolle brachte. Ihr Herzschlag verlangsamte, bis die Pausen zwischen den Schlägen einem Stillstand gleichkamen. Scobee... erlosch. Und Resnick erging es nicht anders.
Die Protomaschinen leisteten ganze Arbeit. Nuglion war zufrieden mit dem Verlauf der Operation. Der kurze Kontakt mit den Fremden hatte diese - in Sicherheit wiegen sollen. Um den Überraschungseffekt - was den Proto-Überfall anging - noch effektiver zu gestalten. »Nicht mehr lange, und wir können die Fremden an Bord nehmen. Aber seid vorsichtig mit ihnen. Noch niemals sind wir auf eine Spezies wie diese getroffen.« Abgesehen von dem, den wir schon vorher gefangen genommen haben, dachte er. Der sich Jarvis nennt. Er warf dem Schiff, mit dem die Fremden gekommen waren, einen beiläufigen Blick zu. Es war viel klobiger als die Jadeschiffe der Vaaren, die VULGAAR etwa, in der er sich befand. In Momenten wie diesen erinnerte er sich daran, dass es sich dabei um viel mehr handelte als um ein bloßes Ding. Jadeschiffe bestanden aus psionisch angereicherter, grünlich schimmernder Protomaterie und waren speziell in Hinblick auf die Bedürfnisse der Vaaren entwickelt worden. Die Besatzung trieb ein Schiff mittels ihrer Psi-Kräfte an, und das Wasser bot dem keinen nennenswerten Widerstand. Jeder Ort innerhalb von Tovah'Zara war damit binnen kürzester Frist erreichbar. Karron, jener Luure, der vor langer Zeit das erste Jadeschiff erdacht und aus dem Bewuchs der Protowiesen geformt hatte, weilte längst nicht mehr unter den Lebenden. Doch aufgrund seiner richtungsweisenden Entwicklung hatte er den Status einer Legende erlangt. Insgeheim bewunderte Nuglion die Luuren, aber das hätte er niemals öffentlich eingestanden. Schließlich waren auch sie nur eines unter vielen geknechteten Völkern innerhalb von Tovah'Zara... An Bord wurden letzte Vorbereitungen zur Aufnahme der Fremden getroffen. Ihre Kabinen wurden speziell auf ihre Körperbedürfnisse hin modifiziert.
Nuglion widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Fremden. Sie wehrten sich gegen die Protomaschinen, obwohl es zu ihrem eigenen Besten war, was geschah. Die Protomaschinen absorbierten das Material ihrer Raumanzüge und übernahmen dessen Funktion. Mehr noch, sie drangen in die Körper der Wesen ein und passten sie den Erfordernissen ihrer Umwelt an.
Nicht alle Geschöpfe waren für ein Leben im Wasser geschaffen. Tatsächlich traf dies nur auf einen sehr geringen Prozentsatz zu. Die Vaaren hatten im Laufe ihrer Geschichte wenige kennen gelernt.
Sie versuchen, die Protomaschinen zu entfernen, durchzuckte es ihn plötzlich.
Damit hatte er nicht gerechnet. Ein derart unlogisches Verhalten hatte er noch nie erlebt. Vielleicht waren diese Wesen noch sehr viel fremder als alle, mit denen er je Kontakt gehabt hatte.
Warum tun sie das?, dachte er. Wir müssen ihnen erklären, dass sie einen Fehler machen.
Er musste sie zu Lovrena bringen - lebend!
Aber etwas - alles!'- ging schief. Kein Zweifel: Sie... starben!
Die Rückmeldung der Protoma
schinen war eindeutig.
Wertlos, dachte Nuglion dumpf,
als der Tod der Wesen feststand. Voll
kommen wertlos...
Blieb nur noch der Eine, den die Heukonen bewachten - und der nach wie vor unversehrt schien.
Würde sich Königin Lovrena damit zufrieden geben?
Aufmerksam beobachtete Nuglion, wie der Fremde in die VULGAAR verladen
wurde. Er bebte innerlich bei der Vorstellung, dass noch etwas schief gehen könnte.
Wenn er auch noch den letzten lebenden Eindringling verlieren würde, konnte das
höchst unangenehme Folgen für ihn haben.
Auch wenn sie noch den hatten, der sich Jarvis nannte.
Nuglion fragte sich, wie viele dieser Fremden sich noch in Tovah'Zara aufhielten.
Diese hier waren mit einem Schiff gekommen, einem Typ, den er nie zuvor gesehen
hatte, und er konnte sich nicht sicher sein, dass es das einzige seiner Art war.
Vielleicht waren noch mehr Fahrzeuge unterwegs, auf die die Vaaren bisher nicht
aufmerksam geworden waren. Selbst den zahlreichen Wesen in Tovah'Zara, die für
die Vaaren Späherdienste verrichteten, konnte etwas entgehen. Allein dass die
Fremden nach Tovah'Zara gelangt waren, verriet ihr Gefahrenpotential.
Normalerweise hielten die Grenzfelder nicht nur das Lebenselement derVaaren fest,
sondern verhinderten auch jeden Einbruchsversuch von außen.
Wer bist du, Wesen?, fragte er sich, als die Vorrichtung mit dem Bewusstlosen in der VULGAAR verschwand. Eine Weile noch hielt er die Instrumente im Auge. Bis zuletzt hoffte er, dass die Anzeigen der Vitalfunktionen schlagartig wieder hochschnellen würden. Aber das geschah nicht. Es war kein Lebensfunke mehr in den beiden Fremden. Er setzte ein Signal ab. Er wollte die Toten nicht achtlos zurücklassen. Und es gab noch einen anderen Grund: Die Körper der Fremden sollten nicht verloren gehen. Es gab eine Spezies, die dafür Verwendung hatte... Anschließend begab sich Nuglion in den Hangar der VULGAAR und überzeugte sich persönlich davon, dass der Überlebende fachmännisch untergebracht war. Die Transportbahre war in einem stoßfesten Kokon verstaut worden, der selbst den Zusammenstoß zweier Jadeschiffe unbeschadet überstanden hätte. Der Körper des Fremden wurde von zahlreichen Sonden überwacht. Zufrieden registrierte Nuglion, dass sämtliche Vitalfunktionen des Fremden stabil waren. Gleichzeitig fragte er sich, wieso die beiden anderen gestorben waren. Er konnte sich nicht erinnern, dass das unter seiner Aufsicht schon einmal geschehen war. Er hatte keinen Fehler begangen, sondern gehandelt wie immer. Aber fraglos war bei den beiden Toten etwas anders gewesen als sonst. Sie waren Sauerstoffatmer, wie er von den Protomaschinen erfahren hatte. Natürlich wären sie im Wasser ohne ihren Schutzanzug ertrunken. Doch das verhinderten die Mikromaschinen, sobald sie sich in den Körpern der Fremden eingeschleust hatten. Für Sekunden spielte er mit dem Gedanken, die Toten doch an Bord verladen zulassen, um sie einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Vielleicht gelang es ihm, die Ursache ihres Todes herauszufinden. Nuglion entschied jedoch, dass nur die zweitbeste Lösung gewesen wäre. Klarer würde die Diagnose derer ausfallen, die er bereits informiert hatte und die sich um die Leichen kümmern würden. Er betrachtete die Bildschirme und nahm einige Änderungen an den Einstellungen vor. Das Schiff, mit dem die Fremden gekommen waren, rückte in den Mittelpunkt der Bildübertragung. Unschlüssig begutachtete Nuglion es. Es passte zu dem, was er bisher gesehen hatte. Es war ihm so unbekannt wie die Fremden selbst. Weder die Vaaren noch irgendein anderes Volk in Tovah'Zara hatte je mit solchen Wesen zu tun gehabt. Nuglion kam ein Verdacht. Das kleine Schiff wies zwar keine verdächtigen Ortungsmuster auf, aber das allein besagte noch nicht, dass sich auch tatsächlich niemand mehr an Bord aufhielt... In Nuglion kam Bewegung. »Was hast du vor?«, fragte Gaglum, ein anderer Vaare, der sich bislang um die Einschleusung des Fremden gekümmert hatte. Nuglion antwortete nicht. Die Berührung des anderen war ihm seltsam unangenehm. Die Berührung, die den zur Kommunikation nötigen Kontakt herstellte. Mit einer Schaltung brachte er die Protomaterie der VULGAAR zu einer Reaktion. In seiner unmittelbaren Nähe veränderte sich die nur scheinbar stabile Struktur. Ein Ausstieg entstand.
»Du willst aussteigen und die Toten untersuchen?«, fragte Gaglum.
»Unsinn! « Die Frage war naiv. »Ich werde aussteigen, das hast du richtig erkannt.
Aber warum sollte ich mich um Totes kümmern? Das hat ein Vaare nicht nötig!
Mein Interesse gilt allein dem Fahrzeug der Fremden...«
»Aufgrund der körperlichen Werte der Fremden schließe ich, dass du auf ein
Sauerstoffgemisch treffen wirst.«
»Auch das ist mir nicht entgangen. Fürchtest du, dass es mir schadet?«
»Es kann einem Vaaren nicht schaden. Verspotte mich nicht. Ich würde dich nur gern
begleiten.«
»Ich gehe allein.«
»Du weißt nicht, was dich erwartet. Vielleicht kommst du in Schwierigkeiten und
brauchst Hilfe.«
»Von was für einer Gefahr redest du? Glaubst du an die unsichtbaren
Wassergeister?«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, trat Nuglion durch die neu entstandene Öffnung
und verließ die VULGAAR.
Die Oberfläche des kleinen Schiffs erinnerte Nuglion an dunkles Eis. Eis. Ein abstrakter Begriff. Innerhalb von Tovah'Zara herrschte seit Jahrtausenden eine gleich bleibende Temperatur, die sich als optimal für die Bewohner erwiesen hatte. Ein partiell anderer Aggregatzustand des Wassers hätte sich nicht lange halten können. Flüchtig untersuchte der Vaare die Außenhaut, die ihn an eine Panzerung erinnerte, er wurde aus ihrer genauen Struktur aber nicht schlau. Er spürte lediglich eine unheimliche Fremdheit, als würde das Material bei der Berührung versuchen, ihn geradewegs in die Unendlichkeit von Raum und Zeit zu saugen. Nuglion war irritiert, denn er war sich sicher, dass dieser Eindruck nicht von ungefähr kam. Auf seine Sinne war Verlass. Er hatte es nicht mit einem herkömmlichen Raumfahrzeug zu tun, soviel stand fest. Dies hier war etwas ganz Besonderes, und noch bevor er es betrat, wuchs in Nuglion die Überzeugung, es an Bord der VULGAAR zu nehmen und bis ins letzte Molekül zu erforschen. Wie er erwartet hatte, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, in das Schiff der Fremden einzudringen. Wieder empfand er diesen Hauch der Ewigkeit, der von dem kalten Metall ausging. Er erweckte eine unbekannte Sehnsucht in Nuglion. Gedämpftes Licht erwartete ihn, aber Nuglion hätte sich auch in völliger Dunkelheit zurechtgefunden. Er sah sich im Innern um. Das Schiff wirkte verlassen. Niemand hielt sich mehr an Bord auf.
Durch die Anordnung verschiedener Einrichtungsgegenstände kam er zu dem Schluss, dass es sich um Bestandteile der Schiffstechnik handelte. Er beachtete sie nicht weiter. Für eine genauere Untersuchung war später Zeit. Dafür fiel ihm etwas anderes auf. Anhand des Aufbaus von Räumlichkeiten und der Inneneinrichtung gewann er den Eindruck, dass das Schiff nicht für die Fremden gebaut worden war Zwar war es in weiterem Sinne passend, aber in Hinblick auf ihre Statur nicht perfekt. Jedes raumfahrende Volk war bestrebt, für seine Angehörigen eine optimale Umgebung zu kreieren. Hier gab es diesbezüglich starke Widersprüche. Nuglion suchte gezielt nach Hinweisen auf eine weitere Lebensform, entdeckte aber nichts. Fasziniert betrachtete er eine eigenartige Gerätschaft. Nuglion vermutete, dass es sich dabei ebenfalls um eine Apparatur handelte. Sie war kuppelförmig und bestand aus einem ähnlich unbekannten Material wie das ganze Schiff. Vielleicht eine Gehäuseverkleidung... Nuglions filigrane Extremitäten tasteten nach der dunklen Oberfläche, zogen sich aber im letzten Moment zurück. Der Vaare wollte nicht riskieren, durch Unachtsamkeit eine Reaktion auszulösen. Solange er nicht wusste, womit er es zu tun hatte, durfte er nicht unvorsichtig sein. Dennoch konnte er sich nicht vom Anblick des Klumpens lösen. Er hatte ein ähnliches Gefühl dabei wie bei der an die Unendlichkeit gemahnenden Schiffshülle. Mehr und mehr gelangte Nuglion zur Überzeugung, dass das Fahrzeug ursprünglich nicht den Fremden gehört hatte. Vielleicht hatten sie es gestohlen. Nuglion kehrte an Bord der VULGAAR zurück. Mit dem Fahrzeug der Fremden wurde gemäß seiner Weisungen verfahren. Dann nahm die VULGAAR Fahrt auf. 3. Tick-tick-tick...
Seine innere Uhr schlug, pochte, zählte sein Leben ab.
Rurkka stieß einen kehligen Laut aus, als er sich dessen, von Wehmut erfüllt,
bewusst wurde. In letzter Zeit gelang es ihm immer seltener, das Wissen über sein
unausweichliches Ende auch nur vorübergehend zu verdrängen.
Sobald er sich einen kurzen Moment der Ruhe gönnte und sich nicht in seine Arbeit
vertiefte, war die ernüchternde Wirklichkeit sofort wieder präsent. Er konnte das
monotone Ticken nicht wirklich hören, aber er wusste, dass es existierte und die
restliche Spanne seines Lebens stoisch herunterzählte.
Wie ein Countdown.
Bei Null wartete der Tod, der sich durch nichts und niemanden würde aufhalten
lassen!
Dabei hatte Rurkka die Zeit ohnehin betrogen. Das war das Vorrecht seines Amtes,
denn Rurkka war Erster Verwerter der Luuren. Während andere Vertreter seines
Volks eine Lebenserwartung von 37 Standardjahren hatten, war seine eigene um das
Fünffache erhöht.
Er hatte sich unzählige Male gefragt, warum ein Luuren-Leben überhaupt so reglementiert, so genau auf sein Ende hin ausgerichtet war, denn bei sämtliche Arten, die er sonst kannte, war dies anders. Sie hatten durchschnittliche Lebenserwartungen, die bei den einzelnen Individuen beträchtlich voneinander abwichen. Nur bei den Luuren gab es keine „Spielräume", ihr Alter stand von Geburt an fest. Die innere Uhr bemaß die 37 Jahre auf den Bruchteil eines Augenblicks genau. Einen Aufschub, wie gering auch immer, gab es für niemanden. Es sei denn, er war der Erste Verwerter. »Woran denkst du, Meister?« Die Worte rissen Rurrka aus seinen Überlegungen, als das sanfte Vibrieren des Wassers die Schwingungen an seine Haut trug. Luuren vermochten sich auf diese Weise untereinander ebenso problemlos zu unterhalten, wie sie es früher an der Luft, unter freiem Himmel, getan hatten. Früher... Er warf seinem Schüler einen prüfenden Blick zu. Sorkkas Lederhaut war glatt und glänzend, das Licht spiegelte sich darauf. So hatte auch der Erste Verwerter einmal ausgesehen, aber das war so lange her, dass er fast meinte, es hätte einen anderen betroffen. Heute war seine Haut spröde und rissig, manche Partien wirkten regelrecht brüchig. Das einstmals so jugendliche Schwarz war längst vergangen. Nun war es matt und von grauen Flecken durchzogen. »Wenn ich der Meinung bin, dass du das wissen solltest, werde ich es dir sagen«, wehrte er schroff ab. »Verzeihung, ich wollte nicht indiskret sein. Aber ständig drängst du mich zu fragen, wenn ich etwas wissen will, und wenn ich frage, ist es auch nicht richtig.« »Ich erwarte Fragen von dir, die unsere Tätigkeit betreffen. Vergiss niemals, dass du mein Nachfolger werden sollst. Um das zu erreichen, fehlt dir noch viel an Wissen.« Nein, eigentlich gar nicht mehr so viel, dachte er bei sich, aber das wollte er Sorkka nicht verraten, um ihn nicht zur Nachlässigkeit zu verleiten. Ihm lag viel daran, dass der junge Luure ihn als Ersten Verwerter beerben würde. Sie arbeiteten bereits viele Jahre zusammen und hatten Vertrauen zueinander aufgebaut. Trotzdem redete Sorkka ihn standesgemäß mit Meister an. Jeder Gestalter der Materie war stolz auf diesen Titel. Der Herr der Protowiesen betrachtete seinen Schützling nicht nur als potentiellen Nachfolger, er war ihm wie ein eigener Sohn. Rurkka hatte niemals Kinder gehabt, sondern sein Leben der Schöpfung von Dingen geweiht. Es gab Momente, da er dies bedauerte. Doch auch das war das Los des Ersten Verwerters. Selbstverwirklichung im Privaten gab es für ihn nicht. Wäre er kein Schöpfer gewesen, sondern hätte er der einfachen Arbeiterkaste angehört, wäre er von solchen Einschränkungen befreit gewesen - aber er hätte auch niemals die Befriedigung verspürt, die seinem Amt innewohnte. »Darum geht es doch«, hielt ihm Sorkka entgegen. »Du erwartest von mir eine besondere Leistung, Meister. Mein Meisterstück, das Ihnen beweist, dass ich würdig bin, dir nachzufolgen...«
»Das wirst du sein, daran hege ich keinen Zweifel.« In der Tat war Sorkkas
Entwicklung erstaunlich. Er besaß nicht nur die spezielle Parabegabung aller Luuren,
er begriff die Muster der Paramaschinen auch intuitiv, ohne Pläne studieren zu
müssen. Rurkka konnte sich nicht erinnern, so viel Talent jemals bei einem anderen
Schüler festgestellt zu haben.
Nicht einmal bei sich selbst.
Eines Tages würde Sorkka ihn übertreffen und im Umgang mit der Protomaterie
neue Maßstäbe setzen. Doch noch war es nicht so weit.
»Dennoch verlangst du die Prüfung von mir.«
»Weil es so Sitte ist. Jeder künftige Erste Verwerter muss etwas erschaffen, das
einmalig ist in unserer Gesellschaft. Bei mir war das nicht anders. Selbst wenn ich es
wollte, könnte ich dir diese Prüfung nicht ersparen.«
»Ich will die Prüfung doch ablegen, Meister. Meine Gedanken kreisen nur noch um
dieses Thema. Ich glaube, dass ich jetzt die Voraussetzungen erfülle, die mir bislang
fehlten.«
Der Herr über die Protowiesen betrachtete seinen Schüler nachdenklich.
»Du spielst auf die beiden Leichen von außerhalb an«, vermutete er.
»Ich würde sie gern verwenden.«
»Organische Bestandteile aus einer anderen Welt, womöglich von einer
Zusammenstellung, die uns unbekannt ist - darauf willst du hinaus?«
»Ich bin sicher, dass sich mir damit Möglichkeiten bieten, die niemand vor mir
jemals hatte. Verwehre mir diese einmalige Gelegenheit nicht, ich bitte dich! «
Rurkka horchte auf. Diesen Ehrgeiz hatte er nicht einmal seinem Schüler zugetraut.
Andererseits konnte er Sorkka verstehen, denn dessen Vorstellungen, die er mit den
fremden Toten verknüpfte, waren nicht von der Hand zu weisen. Durch Einbindung
solch exotischer Materie, wie die Fremden sie darstellten, mochten sich völlig neue
Konstellationen herstellen lassen. Eine völlig neue Richtung in der Ausformung von
Protomaterie.
»Was erwartest du von mir?«
»Ich bin sicher, dass man dir die Leichen übergeben wird, wenn du darum ersuchst.
Niemand schlägt dem Ersten Verwerter einen Wunsch ab.«
Rurrka neigte überrascht den Kopf. Anscheinend hatte er seinen Schüler bisher
unterschätzt. Er war nicht mehr der brave, rücksichtsvolle Lehrling von einst,
sondern verfügte inzwischen, über eine gewisse Skrupellosigkeit. Das war eine
Eigenart der Jugend, die auch ihn einmal ausgezeichnet hatte. Doch im Laufe seines
Lebens und mit wachsender Weisheit hatte er sie als Makel empfunden und abgelegt.
»Werde nicht zu kühn, mein forscher Schüler«, warnte er Sorkka. »In unserer
Position können wir uns eine Menge Freiheiten erlauben, aber wir stehen nicht über
den Gesetzen.«
»Es existiert kein Gesetz, das uns die Nutzung der Fremden verbietet. Im Gegenteil,
jeder wird erwarten, dass sich der Erste Verwerter persönlich um sie kümmert. Die
anderen Schöpfer würden sich darum reißen.«
Aber nicht aus persönlichen Beweggründen, sondern zu Forschungszwecken, die im
Interesse der Allgemeinheit lägen.
»Wenn, müssen wir behutsam vorgehen.«
»Ich weiß, aber Vorsicht sollte nicht zur Behäbigkeit werden.«
»Damit meinst du mich und die Ruhe meines Alters?«
Sorkka gab einen unartikulierten Laut von sich und starrte über die scheinbar
endlosen Protowiesen.
Rurkkas Blick ging in die gleiche Richtung. Ein bizarres Objekt sich gegenseitig
umlaufender Kugeln aus einem Stoff, der wie grelles Licht wirkte, schwebte über
dem Boden. Es war riesig und bewies damit, zu welchen Erfolgen sein Ziehsohn
bereits fähig war.
Der Herr über die Protowiesen seufzte und fragte sich, warum Sorkka es ihm so
schwer machte. Die Gelegenheiten, bei denen er den Alten an seinen Gedanken
teilhaben ließ, waren rar gesät. Bei den seltenen Gelegenheiten aber, da er die wahre
Nähe zuließ, waren sie sich tatsächlich so verbunden wie Vater und Sohn, und
Rurkka war sicher, dass Sorkka ähnlich empfand wie er selbst.
Plötzlich brach das ungewöhnliche Schauspiel in sich zusammen. Die rotierenden
Kugeln verloren ihren Zusammenhalt, verließen ihre vorgegebenen Bahnen und
stießen zusammen. Dann lösten sie sich in Nichts auf.
Oder richtiger, sie degenerierten in Sekundenschnelle zurück zu der Protomaterie,
aus der Sorkka sie geformt hatte.
»Warum zerstört du deine Schöpfung? Sie war beeindruckend.«
»Sie war meiner unwürdig. Verletze mich nicht, Meister, indem du mir
weiszumachen versuchst, dieser Tand sei schon das Großartige, das du von mir
erwartest.« Sorkka ließ keinen Zweifel daran, wie leicht es ihm gefallen war, sein
Werk aus dem Nichts heraus zu erschaffen. Er aber wollte etwas generieren, das ihn
vor Schwierigkeiten stellte. Vor echte Schwierigkeiten! Nur so, glaubte er, konnte er
sich selbst beweisen. Und das war auch richtig.
»Wenn du glaubst, dass ich nicht mehr leisten kann, bin ich es nicht wert, Erster
Verwerter zu werden.«
»Ich weiß, dass du mehr kannst, viel mehr sogar. Dennoch musst du nicht zerstören,
was du einmal erschaffen hast.«
»Ich konnte es mir nicht mehr länger ansehen. Es war hässlich. Ich mochte es nicht,
und ich möchte nicht mehr darüber reden.«
Rurrka spürte den unterdrückten Zorn seines Schülers und versuchte, sich zu
erinnern, ob er jemals ähnlich impulsiv gehandelt hatte. Wahrscheinlich schon. Es
war wohl dieser Antrieb gewesen, der ihn letztlich dorthin geführt hatte, wo er heute
war. Aber es wäre auch anders gegangen, das wusste er mit der stoischen Sicherheit,
die erst im Alter kam.
»Also lass uns über etwas anderes reden.«
»Ich will nicht mehr reden. Ich will die Erwartungen erfüllen.«
»Meine Erwartungen an dich?«
Sorkka wandte sich von den Protowiesen ab und musterte seinen Lehrmeister. Vor
Aufregung verfärbten sich die Muster auf seinem lang gezogenen Rücken. In seinen
glühenden, gelben Augen funkelte es angriffslustig.
»Meine Erwartungen an mich selbst. Du verstehst das nicht, aber ich muss nicht nur dir beweisen, wozu ich fähig bin, sondern vor allem mir selbst.« »Ich verstehe dich sehr gut. Mir ging es nicht anders, als ich jung war.« »Nein, du verstehst mich nicht!«, beharrte Sorrka trotzig. Der Gestalter der Materie sah ein, dass es an diesem Tag keinen Sinn hatte, länger mit seinem Schüler zu diskutieren. Er ahnte, dass Sorkka nicht wirklich frustriert war, sondern ihn lediglich provozieren wollte, um zu bekommen, wonach er verlangte. Rurkka gab sich geschlagen. Vielleicht war er es, der zu halsstarrig war. Er durfte seinem Ziehsohn diese einmalige Chance nicht verwehren. Ein Schwall von Sympathie überkam ihn und gleichzeitig Melancholie. Zwar hatte er in seinem langen Leben viel erreicht, aber er begann, die Wichtigkeit all seiner Erfolge infrage zu stellen. War nicht viel wichtiger, dass er etwas von sich selbst zurückließ, wenn seine Uhr stehen blieb? Einen Sohn, der seine Ideen fortführte? Sobald Rurrka das Zepter an seinen Nachfolger übergeben hatte, würde er eines friedlichen Todes sterben. Ein Erster Verwerter konnte das Amt an jemanden übergeben, zu dem er keine persönliche Bindung besaß - oder aber an einen Luuren, der ihm wie ein Sohn geworden war. »Ich werde tun, was ich kann«, versprach er - und über Sorkkas Gesicht huschte ein Ausdruck von Triumph. 4. Die feuerroten Muster auf Pirkkos schwarzer Lederhaut schienen von innen heraus zu leuchten. Die Landung des Bergungsfahrzeugs ging ihm viel zu langsam vonstatten. Am liebsten hätte der Luure die Kontrolle selbst übernommen und es kurz entschlossen nach unten gebracht - aber er unterdrückte den Impuls. Erstens hätte ein solches Vorgehen den Sicherheitsbestimmungen widersprochen, und zweitens hätte der Bergungstrupp es nicht hingenommen. Wie der Bergungstrupp gehörte auch Pirkko der Arbeiterkaste an, und in dieser Kaste hatte jeder sein eng umgrenztes Betätigungsfeld. Pirkkos Aufgabe war es, sein Bergungsboot zu befehligen, aber nicht selbst die Schritte durchzuführen, die es ans Ziel brachten. »Wir haben drei Runden gedreht«, versetzte er ärgerlich. »Ich erwarte, dass wir endlich aufsetzen.« »Was ist los mit dir?«, fragte jemand. »Unsere Fracht hat es nicht mehr eilig, die ist tot. So wie es immer ist. Wir kümmern uns immer nur um Totes. Mit dem Leben, gar seiner Erhaltung, haben wir nichts zu schaffen.« Was los mit mir ist? Spürst du Narr nicht, dass diesmal alles anders ist als sonst? Unsere Fracht besteht aus Wesen, die nicht einmal den Vaaren bekannt zu sein scheinen! Pirkko sprach seine Gedanken nicht aus. Er war es gewohnt, dass seine Mitarbeiter das Ihre erledigten und dabei keine Neugierde zeigten. Natürlich hinterfragte auch er
selbst die Befehle nicht, die sie erhielten, das stand ihm nicht zu. Aber er spürte ein Feuer der Erregung. Fremde Wesen, dachte er für sich. Von wer weiß woher. Und wir haben die Gelegenheit, sie mit eigenen Augen zu sehen. Das entschuldigt schon ein bisschen Ungeduld. »Mit mir ist gar nichts. Aber die Schöpfer warten nicht gerne.« Er ignorierte das Murren der Bergungscrew. Wenn die Schöpfer ins Spiel kamen, ging alles etwas schneller, denn mit der obersten Kaste durfte es sich ein Arbeiter nicht verderben. Die Luuren waren die Gesundheitspolizei von Tovah'Zara. Wenn es irgendwo zu Todesfällen kam, wurden sie benachrichtigt, um die Leichen abzuholen und den Protowiesen zuzuführen. Wer starb, ließ noch nicht alles hinter sich, sondern hatte eine letzte ehrenwerte Bestimmung erst vor sich. Tote wurden - in verwandelter Form - wiederum Bestandteil des Lebens in Tovah'Zara. Aber diese Vorstellung war zu abstrakt für Pirkko. Er konnte sich darunter nicht wirklich etwas vorstellen. Schließlich war er auch nur Arbeiter und kein Schöpfer. Die Schöpfer hingegen wussten genau, was sie zu tun hatten. Sie wiederum waren abhängig von den Bergungsmannschaften. Lieferten diese nichts Totes ab, gab es keinen ausreichenden Nachschub für die Produktion auf den Protowiesen. Pirkko war stolz darauf, auf diese Weise gebraucht zu werden. Die Muster seiner Lederhaut brannten heftig, und sein kräftiger Echsenschwanz peitschte ungeduldig das Wasser, als sich das Bergungsboot gemächlich nach unten neigte. Nachdem es endlich sanft aufgesetzt hatte, konnte er seine Ungeduld kaum noch zügeln. Mit geübten Handgriffen öffnete er eine Luke und glitt ins Freie. »Bringt die Bahren!«, rief er zurück, ohne sich zu vergewissern, dass seine Mannschaft der Aufforderung nachkam. Es war Routine. Er hätte nicht einmal sagen können, wie viele Einsätze sie bereits hinter sich gebracht hatten. Dennoch war es diesmal etwas anderes. Etwas in ihrem Leben möglicherweise Einmaliges! Auch wenn er der Einzige zu sein schien, der das begriff. Mit raschen Schwimmbewegungen glitt er durch das Wasser, bis er die Fremden erreicht hatte. Andächtig verharrte er in der Betrachtung der toten Körper. Bleiche, unförmige Gestalten, dachte er. Nicht so schön wie die Vaaren, und nicht so elegant wie wir. Aber aufgrund ihrer fragwürdigen Herkunft trotzdem von gewaltiger Faszination. Natürlich wusste Pirkko, dass die Toten noch nicht lange im Wasser lagen, das erkannte er auf den ersten Blick. Sonst hätten sie ganz anders ausgesehen. Bereits nach zwei Tagen boten Wasserleichen keinen angenehmen Anblick mehr, außerdem gab es unzählige Kleinstlebewesen, die von der Existenz der Vaaren und deren Wünschen keine Ahnung hatten. Weil sie über keinerlei Intelligenz verfügten. Sie hätten die Toten auf ihre sinnlose Weise entsorgt. Über ihm tauchten die Arbeiter mit den Bahren auf und setzten sie auf dem Boden ab.
»Fasst sie nicht an!«, keifte er schrill. »Ich will nicht, dass ihr etwas zerstört. Ich werde mich selbst um sie kümmern.« Wenn dem Material etwas zustieß, würden die Schöpfer es nicht verzeihen. Behutsam nahm er einen der Toten auf und bettete ihn um. DerTote fühlte sich warm und frisch an. Es bestand keine Gefahr, dass das Material bereits Schaden genommen hatte und so für die Protowiesen nicht mehr brauchbar war. Nachdem er seine Last abgelegt hatte, verfuhr er mit dem Zweiten ebenso. Er ließ sich Zeit dabei, weil es ihm schwer fiel, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Stattdessen betrachtete er die Gesichter der Fremden. Wie er selbst verfügten auch sie über zwei Augen, über Nase und Mund. Allerdings wirkte bei ihnen alles weniger perfekt ausgebildet und viel zerbrechlicher. »Pirkko, wir sollten aufbrechen. Sonst müssen wir später wieder erklären, warum wir so lange gebraucht haben. Du hast selbst gesagt, dass die Schöpfer warten. Ich muss dich nicht daran erinnern, dass sie keinen Spaß verstehen.« Niemand musste ihm das sagen.Von Geburt an wurde den Arbeitern die Vormachtstellung der Schöpfer eingebläut. Auch Pirkko war dies in Fleisch und Blut übergegangen. Er wedelte auffordernd mit seinem Schwanz, um seinen Leuten mitzuteilen, dass sie die Bahren nun verladen konnten. Mit wachsamen Augen verfolgte er die tausendfach geübten Handgriffe, bei denen kein Fehler unterlief. Für ihn selbst gab es dabei nichts zu tun. Es war wie mit der Steuerung des Bergungsbootes. Be- und Entladearbeiten hatte er zu beaufsichtigen, aber nicht selbst durchzuführen. Hätte er sich dazu herabgelassen, wäre die eine nicht wieder gutzumachende Beschädigung seines Ansehens gleichgekommen.
»Sie stammen tatsächlich von draußen«, bemerkte Sorkka aufgeregt, während er um die beiden Fremden herum glitt, die die Arbeiter ihnen gebracht hatten. »Du hast richtig gehandelt, Meister, dass du sie sofort zu uns bringen ließest. Wenn diese Wesen einem Schöpfer zustehen, dann dem Ersten Verwerter! « »Und natürlich seinem Schüler«, antwortete Rurkka mit leichtem Sarkasmus. Fasziniert betrachtete er die fremdartig aussehenden Wesen. Sie waren größer als ein Luure, verfügten aber ebenfalls über zwei Beine und zwei Arme, an deren Enden sich Greifhände befanden. Ihre Haut war viel dünner als die eines Luuren. Man musste sie nicht aufschneiden, um das zu erkennen. Zudem war sie auf abstoßende Weise bleich. »Die Körper sind äußerlich bereits grob von Protomaschinen befreit«, stellte Sorkka fest, während er eine erste oberflächliche Untersuchung vornahm.
Die nackten Körper der Fremden lagen auf Untersuchungsliegen. In der Größe unterschieden sie sich deutlich voneinander. Ein Scannerstrahl tastete die Körper nacheinander ab. Dann begann Sorkka mittels eines speziellen Geräts damit, die letzten Protomaschinen von der Haut zu entfernen. »Ich bin auf die ersten Gewebeproben gespannt, Meister.« Rurkka beobachtete die zielsicheren Handgriffe seines Schülers, der vor Begeisterung sprühte. Er fragte sich, wer die Fremden waren und woher sie stammen mochten. Natürlich kamen sie von draußen, von einer Welt außerhalb des ewigen Tovah'Zara. Wahrscheinlich hätten sie ihm eine Menge nie ausgesprochener Fragen beantworten können. Er bedauerte, dass er sie nicht kennen gelernt hatte, bevor sie gestorben waren. Ob ihr Tod ein Unfall gewesen war? Die Protomaschinen sprachen dagegen. Aber die Vaaren würden keine diesbezüglichen Erklärungen abgeben. Sorrka legte immer größere Teile der Haut frei. Die Wesen machten einen muskulösen, sehnigen Eindruck auf ihn, aber aufgrund ihrer vergleichsweise dünnen Haut waren sie vermutlich sehr verletzungsanfällig. Ihr Tod kam wahrscheinlich nicht von ungefähr. »Wenn es mir gelingt, eine Kompatibilität zwischen diesem organischen Material und unserem herzustellen, kannst du mir zu meinem Erfolg gratulieren.« »Du willst den umgekehrten Weg gehen?«, fragte der Älteste verblüfft. »Ich werde etwas ganz Neues ausprobieren«, bestätigte sein Schüler mit aufgeregter Stimme. »Mit dem Gedanken spiele ich schon lange. Niemand hat je einen solchen Versuch unternommen.« »Wie stellst du dir das vor? Protomaschinen in das Gewebe von Toten zu injizieren und somit ganz neue Formen zu kreieren ist kein Problem. Aber du willst das Gewebe der Fremden den Maschinen andienen? Eine verrückte Idee!« »Nur weil sie noch niemand hatte. Auch du nicht, Meister. Ist es das, was dir Sorgen bereitet? Dass ich visionärere Gedanken hege, als du sie jemals hattest?« »Du vergisst dich, Schüler! «, maßregelte Rurkka den Jüngeren. Plötzlich spürte er eine nie gekannte Kluft zwischen sich und Sorkka. Sein Schüler hatte sich verändert, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Rurkka machte sich Vorwürfe. Keinem Vater sollte eine grundlegende Veränderung seines Kindes entgehen. »Du weißt, dass ich alles, was ich tue, für dich tue. Ich gönne dir deinen Erfolg von ganzem Herzen, mehr als ich ihn mir selbst jemals gegönnt habe. Ich bin sicher, du weißt das, auch wenn es dir schwer fällt, es zu zeigen. Aber ich erwarte trotzdem, dass du auf meine Warnungen hörst. Wir müssen vorsichtig sein.« Sorkka überhörte die Ermahnung. Anstelle einer Antwort nahm er ein anderes Diagnosegerät zur Hand und untersuchte damit den Kopf eines der Fremden. »Die Protomaschinen sind überall«, wechselte er abrupt das Thema. »Sie sind in ihnen.«
Nachdenklich wandte sich der Herr über die Protowiesen ab. Seine Vermutung, dass die Vaaren den Tod der Fremden absichtlich herbeigeführt hatten, verdichtete sich zusehends. Mit einem Mal wagte er es nicht mehr, seine Gedanken mit seinem Ziehsohn zu teilen. Was, wenn Sorkkas Veränderung noch umfassender war, als er glaubte? Sie hatten beide häufig unbedachte Äußerungen über die Vaaren fallen lassen, obwohl sie wussten, dass man mit solchen Worten vorsichtig sein musste. Die Vaaren lebten zurückgezogen, doch sie beherrschten Tovah'Zara, und niemand hatte jemals daran gedacht, ihnen ihre Vormachtstellung streitig zu machen. Ein Schrei ließ Rurkka herumfahren. Sorkka hatte das Diagnosegerät fallen lassen. Er zitterte am ganzen Körper. »Die Fremden!«, stieß er erschüttert aus. »Sie... sie bewegen sich.« Augenblicklich war Rurkka bei den Wesen. Heftig bäumten sich ihre Körper auf. Und dann schlug einer von ihnen die Augen auf. 5. Sie lebte. Eine Erkenntnis von kosmischer Bedeutung. Dabei hatte sie nichts anderes erwartet. Nur allmählich schälte sich ihr Geist aus der Dunkelheit, in die sie ihn bewusst gesteuert hatte. Noch bevor sie ihren Wachzustand erreichte, spürte sie ihren Körper. Sie registrierte ihren Herzschlag und fühlte, wie ihre Brust sich hob und senkte. Also war alles so verlaufen, wie sie es auf der Erde prognostiziert hatten. Die Erbauer der Matrix hatten sich nicht geirrt... Im Angesicht des drohenden Todes hatte Scobee ihre Winterschlaf-Fähigkeit eingesetzt. Eine Option, über die auch jeder geklonte, jeder echte GenTec verfügte. Sie hatte den Prozess willentlich gesteuert, aber im Nachhinein vermochte sie nicht zu entscheiden, bis zu welchem Zeitpunkt das geschehen war. Zweifellos hatte sie den Vorgang zunächst bewusst in Gang gesetzt, doch im fortgeschrittenen Stadium musste er sich verselbstständigt haben. Jedenfalls hatte es funktioniert, allein das zählte. Ihre Körperaktivitäten waren auf fast Null heruntergefahren gewesen, jede Hirnaktivität ausgeschaltet worden - bis auf ein letztes Quäntchen, einen letzten Funken, der sich perfekt zu verbergen vermochte. Das, was Scobee ausmachte, war dem Tod näher gewesen als dem Leben. Wenn jemand sie in diesem Zustand sah, musste er unweigerlich zu dem Schluss kommen, es mit einer Toten zu tun zu haben. Ihren tatsächlichen Status konnte man nur noch mit immensem Aufwand und unter Zuhilfenahme speziell auf sie, auf den menschlichen Metabolismus abgestimmter Instrumente feststellen. Scobee hatte keine Möglichkeit festzustellen, wie viel Zeit verstrichen war. Noch immer hing sie in der Schwebe zwischen Wachen und Schlafen. Noch existierte keine Welt um sie herum. Sie war allein. Die umgebende Welt schien nur in der eigenen Einbildung zu existieren.
Aber Scobee wusste, dass das nicht stimmte. Die Welt war da draußen, sie musste sie
nur wieder an sich heranlassen.
Langsam dämmerte sie ins bewusste Leben zurück, während sie meinte, Stimmen zu
vernehmen, die aus unendlicher Ferne zu ihr drangen. Sie konnte nicht verstehen,
was die Stimmen sagten, aber sie waren real, keine Einbildung.
Dann setzte das Erinnerungsvermögen ein.
Sie waren einer unheimlichen Attacke zum Opfer gefallen. Scobee dachte an Resnick
und Cloud, die bei ihr gewesen waren. Um den GenTec machte sie sich keine
Sorgen, denn er verfügte über die gleiche Fähigkeit wie sie selbst, die ihm ebenfalls
das Leben gerettet haben würde. Es gab Reflexe, denen man sich im Angesicht des
fast sicheren Todes nicht entziehen konnte.
Cloud jedoch... Erschüttert erinnerte sie sich, dass es ihr nicht mehr gelungen war,
ihm beizustehen.
Die Vorstellung, dass er ertrunken oder auf andere Weise umgekommen sein könnte,
beschleunigte ihr endgültiges Erwachen. Ihr Herzschlag normalisierte sich, sämtliche
Körperfunktionen näherten sich den Normalwerten an.
Scobee wollte nach Cloud rufen, doch sie brachte nur ein hilfloses Würgen hervor.
Waren die unbekannten Organismen noch immer da?
Sie erkannte, dass dem nicht so war. Trotzdem war nichts in Ordnung.
Nichts!
Etwas lief in ihren Mund, in ihre Nase. Scobee schnappte nach Luft wie ein Fisch auf
dem Trockenen, doch da war keine Luft, die sie atmen konnte. Von Panik erfasst,
schlug sie die Augen auf.
Wasser um sie herum, und sie war nackt.
Wasser!
Immer noch.
Sprichwörtlich vom Regen in die Traufe gekommen.
Aber das war unlogisch. Warum war sie dann wieder zu sich gekommen? Hatte ihr
genetisches Programm versagt?
Sie schluckte Wasser.
Zurück in den Zustand der Stase!
Bevor es zu spät war! Sie musste...
Doch ihr Körper wollte ihr diesmal nicht gehorchen.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Zu früh, sie war zu früh wieder ins Leben
zurückgekehrt! Vor ihren Augen begann die Umgebung zu verschwimmen. Sie hatte
sich nicht gerettet, sondern lediglich einen flüchtigen, sinnlosen Aufschub verschafft.
Nur um schließlich doch zu sterben.
Die beiden Fremden schlugen voller Panik um sich und wirbelten Wasser auf.
Luftbläschen entstanden, als der Rest von Luft aus ihren Lungen gedrückt wurde.
Sie lebten, aber Rurkka verschwendete keine Zeit mit der Suche nach einem Grund.
Er reagierte augenblicklich.
Sein geschmeidiger Körper glitt durch das Wasser und griff nach einem silbernen
Stab. Er war sicher, dass es sich bei den Fremden um Luftatmer handelte, aber er
brauchte eine Bestätigung, um nicht einen irreparablen Fehler zu begehen. Es gab
unzählige Mischungsverhältnisse. Aus all diesen Möglichkeiten musste er das richtige, das für sie einzig atembare Gemisch herausfinden. Noch konnte er sie retten, doch dazu musste er nicht nur entschlossen handeln, sondern auch extrem zielgerichtet. Einer der beiden Fremden war bereits wacher als der andere. Um ihn musste er sich zuerst kümmern. Rurkka jagte ihm eine Injektionsnadel in den Körper. Schneller als er einen Gedanken fassen konnte, wurden Protosonden ausgeschüttet und durcheilten den sich windenden Körper. Nur Sekunden vergingen, doch Rurkkas Aufregung steigerte sich ins Unermessliche. Es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, bis er endlich die Bestätigung erhielt, die er brauchte. Sauerstoffatmer! Er ergriff einen der Fremden und hob ihn spielerisch in die Höhe. »Nimm den anderen«, wies er Sorkka an. »Wir bringen sie nach nebenan in die Kammer.« Dass sein Ziehsohn keine Fragen stellte, zeigte dem Ältesten der Luuren, dass Sorkka seinen Plan begriffen hatte. Der Fremde wand sich in seinem Griff und versuchte, sich zu befreien. Sicher glaubte er sich in Gefahr. Woher sollte er wissen, dass der Herr über die Protowiesen und sein Schüler versuchten, ihm das Leben zu retten? Er war stark, doch Rurkka auch. In aller Eile verfrachtete er seine Last in den kleinen Raum, den er als Kammer bezeichnet hatte. Sorkka war gleich hinter ihm und verfuhr ebenso. Sie legten die Fremden auf dem Boden ab. Derjenige, der kurz vor seinem Begleiter zu sich gekommen war, rollte sich krampfartig zusammen. Sein Gesicht hatte sich bläulich verfärbt. Dafür kam der andere jetzt richtig zu sich und kämpfte gegen den Erstickungstod. Jeden Moment konnte es zu Ende sein. Etwas, was sich Rurkka niemals verziehen hätte. Natürlich fühlte er sich für das Schicksal der Fremden nicht verantwortlich, trotzdem wollte er ihr Leben um jeden Preis bewahren. Vielleicht konnten sie ihm über das Draußen berichten, an das er keine Erinnerungen knüpfte. Es war also in seinem ureigenen Interesse, ihr Leben zu retten. Er durfte nicht versagen. 78 Prozent Stickstoff, 21 Prozent Sauerstoff, weniger als ein Prozent Argon und ein verschwindend geringer Anteil an Kohlendioxid, so sah das Luftgemisch aus, an das die Lungen der Fremden gewohnt waren. Rurkka stieß einen gurgelnden Schrei aus, als die Protosonden ihm endlich die exakte Zusammensetzung übermittelten. Er zog Sorkka mit sich aus der Kammer hinaus. In Windeseile pumpte er dann das Wasser ab und flutete den Raum im gewünschten Mischungsverhältnis mit Luft. »Im letzten Moment«, bemerkte Sorkka. »Wenn es nicht doch schon zu spät ist, Meister. Sie bewegen sich nicht mehr.«
Der alte Luure betrachtete die beiden Fremden durch die transparente Wand, welche die Wesen voneinander trennte. Sie rührten sich nicht, aber je länger er sie ansah, desto klarer erkannte er, dass sie sich voneinander unterschieden - und atmeten. »Du irrst dich, mein voreiliger Schüler«, erwiderte er erleichtert und hatte dabei den Eindruck, dass die verblassten Farben auf seinem Rücken ein wenig von ihrer einstigen Intensität zurück gewannen. Er fühlte sich, so jung wie schon lange nicht mehr. »Sie leben, und ich glaube, dass sie noch sehr viel länger leben werden als ich.« Sein Ziehsohn gab einen undefinierbaren Laut von sich. Rurkka wandte sich ihm zu. Im Gegensatz zu ihm selbst schien Sorkka nicht angetan von dieser Aussicht. »Ich glaube nicht, dass es richtig war, sich einzumischen«, gab der Schüler zurück. »Allein hatten sie keine Chance zu überleben. Es steht uns nicht zu, diesen Umstand zu missachten.« »Du hättest sie lieber sterben lassen?« Rurkka gab sich Mühe, sein Entsetzen nicht offen zu legen. Er fragte sich, was mit seinem Ziehsohn los war. Nie hätte er derartige Abgründe bei Sorkka vermutet. »Ich hätte sie nicht sterben lassen. Das hätte schon ihre eigene Unfähigkeit übernommen, sich an unsere Lebensverhältnisse anzupassen. Ich hätte nur nicht gegen diese Entscheidung der Natur gearbeitet.« »So gering achtest du das Leben? Vergiss niemals, dass du ein Schöpfer bist. Wir kümmern uns um das Werden, nicht um das Vergehen. Also muss eines unserer obersten Ziele das Leben und nicht der Tod sein.« Er ließ seinen Schüler nicht aus den Augen, der sich sanft abstieß und mit ein paar kräftigen Schwimmzügen die transparente Wand passierte. Das Zittern, das Sorkkas Körper regelrecht schüttelte, entging ihm nicht. Mit einem Mal verstand Rurkka. Sorkka sah sich um die Möglichkeit gebracht, endlich zu tun, wonach ihn schon so lange verlangte. Er hatte sich seinem Ziel endlich nahe gesehen, und nun verkraftete er die Enttäuschung nicht. »Tote wären dir lieber, weil du dann ihre Körper verwenden könntest«, schloss er mit einem Anflug von Bitterkeit. »Ist dir das wirklich so viel wert? Zwei Leben? Auch ohne sie wirst du deine Chance erhalten.« Sorkka schwieg. Rurkka widmete sich erneut den Fremden. Er erkannte erste zaghafte Bewegungen, aber er glaubte nicht, dass sie bewusst gesteuert waren. Vielmehr handelte es sich um körperliche Reflexe. Noch immer versorgten ihn die Protosonden mit Informationen. Die Fremden waren völlig verausgabt, aber er hatte richtig gehandelt. Denn auch wenn sie vollkommen entkräftet waren, war zumindest ihr Leben nicht mehr in unmittelbarer Gefahr. Sie verfügten über eine außergewöhnliche Konstitution. Sie würden sich rasch erholen. Er fragte sich nur, wie es dann mit ihnen weitergehen sollte.
»Was wird jetzt mit ihnen?«
Sorkka machte sich die gleichen Gedanken wie er selbst, wurde dabei aber von
anderen Beweggründen gelenkt - eine Tatsache, die Rurkka nicht behagte.
Nie zuvor hatte er eine solche Distanz zu seinem Ziehsohn gefühlt. Die Erkenntnis
belastete ihn, denn er fühlte sich verantwortlich für Sorkkas Einstellung. Was hatte er
in all den Jahren, die er den jungen Luuren nun schon unterrichtete, falsch gemacht?
Er kam zu dem Schluss, dass er ihn wahrscheinlich unbewusst zu sehr unter Druck
gesetzt hatte. Er selbst hatte den Ehrgeiz, der Sorkka antrieb, geradezu
herausgefordert.
Er hätte ihn behutsamer ans Ziel heranführen müssen, mit mehr Verständnis und
Einfühlungsvermögen.
Nun war es zu spät dazu, denn Rurkka wusste, dass ihm nicht mehr die Zeit blieb,
diese Fehler zu korrigieren.
Tick-tick-tick.
Seine innere Uhr zählte unaufhaltsam weiter seine Lebenszeit ab.
Wie sehr sich seine Gedanken um diese Tatsache drehten, erstaunte ihn. Früher hatte
es ihm nichts ausgemacht, aber nun konnte er an beinahe nichts anderes mehr
denken. Selbst die Ablenkung durch die Fremden stellte nur eine Momentaufnahme
dar, die bald vergangen sein würde. Dann würde ihn seine eigene Tragik wieder mit
aller Macht treffen.
Früher hatte er noch mehr Zeit zur Verfügung gehabt, wurde ihm klar. Deshalb hatte
er sich keine Gedanken machen müssen. Doch mit jedem Tag, der verstrich, war er
dem finalen Stillstand seiner biologischen Uhr einen Schritt näher gekommen. Erst
jetzt, da sich das Ende abzeichnete, wurde ihm die ganze Tragweite dessen bewusst.
Es war grausam, einen Schöpfer so unerbittlich vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Warum war es ausgerechnet bei den Luuren so?Warum mussten sie so sicher wissen,
wann es mit ihnen zu Ende ging? Bei den anderen Bewohnern von Tovah'Zara
verhielt sich die Natur anders. Ihnen blieb an jedem Tag ihres Lebens zumindest die
Hoffnung, dass noch viele Tage nachfolgten.
Bei ihm, Rurrka, war das anders.
Ihm blieb keine Hoffnung.
Er konnte nur auf seinen unaufschiebbaren Tod warten.
»Meister, was ist mit dir?«, riss Sorkka ihn aus seinen düsteren Gedanken. »Geht es
dir nicht gut? Du scheinst überhaupt nicht bei dir zu sein.«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, wehrte er ab. »Ich mache mir viel mehr Gedanken
um dich.«
»Dazu besteht keinerlei Veranlassung.«
»Ich spüre doch, dass dich etwas quält. Willst du mir nicht verraten, was es ist?«
Sorkka blickte in eine andere Richtung, hatte sich von seinem Mentor abgewandt.
Das hatte es noch nie gegeben. Rurkkas Bestürzung darüber war beinahe greifbar.
Plötzlich begriff er, dass alles, was er in den vergangenen Jahren getan hatte, sinnlos
gewesen war. Mit aller Macht hatte er sich einen Sohn heranziehen wollen, aber es
war ihm nicht gelungen.
Sorkka legte nicht nur keinen Wert darauf, er verachtete Rurkka sogar. Anders war
sein Verhalten nicht zu deuten.
Der alte Luure schloss sekundenlang die Augen. Er schien seinen Körper zu
verlassen. Sein Geist trieb in unbestimmte Ferne. Dorthin, von wo sein Volk dereinst
gekommen war. Dorthin, wo es wahrscheinlich noch immer existierte.
Nach draußen!
In die Welt außerhalb von Tovah'Zara!
Er trieb durch die Unendlichkeit und sah vor seinem inneren Auge die Urheimat, die
er niemals hatte kennen lernen dürfen...
... nur um jäh zurückgeschleudert zu werden.
Er öffnete die Augen. Sorkka musterte ihn.
»Wir haben das Schicksal betrogen«, sagte er, »und damit auch mich. Wir haben
etwas getan, das nicht hätte geschehen dürfen. Wir haben uns am Wesen der
Protowiesen versündigt, an unserem heiligsten Glauben. Es gibt nur eine
Möglichkeit, unsere Überheblichkeit zu korrigieren. Wir müssen unseren Eingriff
rückgängig machen.«
Rurkka war nicht einmal mehr überrascht, denn diese Antwort hatte er erwartet. Er
war einfach nur noch verbittert und maßlos enttäuscht.
Den Eingriff rückgängig machen.
»Du willst die Fremden töten«, folgerte er mit tonloser Stimme. »Um dein großes
Werk aus ihnen doch noch erschaffen zu können.«
»Es wäre rechtens. Es stünde mir einfach zu.«
»Gar nichts steht dir zu! «
Rurkka hatte die Worte im Zorn ausgestoßen. Er erschrak vor sich selbst. Nie zuvor
hatte er seinen Ziehsohn in dieser Weise angefahren, aber die Ungeheuerlichkeit
seiner Forderung ließ ihm keine andere Wahl.
Sorkka zuckte unter den Worten zusammen. Doch er war nicht bereit, sich
geschlagen zu geben. Seine wachen Augen blitzten herausfordernd.
»Dann wiederhole ich meine Frage. Was machen wir mit den Fremden?«
Rurkka warf einen beiläufigen Blick auf die Anzeigen. Die Atemsysteme der
Fremden funktionierten einwandfrei, soweit er das beurteilen konnte. Bald schon
würde ihre körperliche Regeneration einsetzen.
»Wir warten ab, bis sie sich erholt haben«, sagte er. »Dann hören wir uns an, was sie
zu erzählen haben. Willst du denn gar nicht wissen, woher sie stammen? Vielleicht
sind sie weiter entwickelt als wir und können uns Dinge verraten, die dir dabei
helfen, ein wirklicher Meister unter den Schöpfern zu werden. Ein Meister der
Materie, der alle Schöpfer, die jemals gelebt haben, mit seinen Leistungen übertrifft.
Das ist es doch, was du immer wolltest. Was wir beide immer wollten.«
»Vertröste mich nicht, Meister. Wenn die Fremden so wären, wie du sie beschreibst, würden sie nicht in dieser misslichen Lage stecken. Zweifellos wären sie niemals hineingeraten.« »Was erwartest du von mir? Glaubst du wirklich, ich würde diese Wesen töten?« »Du musst das nicht entscheiden, Meister. Kontaktiere die Vaaren und hole dir die Erlaubnis ein. Wenn sie es gestatten, brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen.« Rurkka fühlte eine nie gekannte Leere in sich. Wieder wünschte er sich, weit weg zu sein, aber er konnte sich der Verantwortung, die auf ihm lastete, nicht entziehen. Er wollte sie auch nicht auf die Vaaren abwälzen, redete er sich ein. Zutreffender aber war, dass er den Vaaren nicht gestatten wollte, sich in seine Entscheidungen einzumischen. Ein lockerer Scherz darüber lag ihm auf der Zunge, aber dann wagte er es doch nicht, ihn auszusprechen. Der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, sich niemals um Sorkka gekümmert zu haben, befiel ihn. Alles war vorbei, und alles war zu spät. Nichts von dem, was er für die Zukunft geplant hatte, würde sich erfüllen. Er war am Ende, noch bevor seine Lebensuhr schwieg. Tiefer Fatalismus bemächtigte sich Rurkkas. »Ich werde nicht mit den Vaaren sprechen«, erklärte er matt. »Sie haben uns die Fremden überlassen und damit jeden Anspruch verloren.« Seine eigenen Worte kamen ihm hohl und heuchlerisch vor, denn die Vaaren verloren niemals einen Anspruch. An nichts und niemanden. Sorkka schien der gleichen Meinung zu sein. »Die Vaaren sind einem Irrtum unterlegen, das ist die einzige Erklärung. Sie haben uns alarmiert, weil sie die Fremden für tot hielten. Ich kann keinen Fehler in meiner Forderung erkennen.« »Ich werfe dir keinen Fehler vor, ich erinnere dich nur an die Moral.« »Moral?« Das Wort, so wie Sorkka es ausstieß, klang verächtlich. »Du hast immer viel davon gehalten, aber die Aussicht auf einen triumphalen Erfolg hat dich korrumpiert. Ich fordere dich auf, innezuhalten und in dich zu horchen. So sehr kannst du dich nicht verändert haben, und so sehr habe ich mich auch nicht in dir getäuscht.« Sein Schüler ignorierte Rurkkas eindringliche Worte. Er drückte sich gegen die wasserdichte Membran, die die Kammer vor dem Wassereinbruch schützte. Einer der Fremden lag noch immer auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Der andere hatte sich in eine sitzende Position aufgerichtet. Er schien orientierungslos. Allerdings machte er noch immer einen erschöpften Eindruck und unternahm keinen Versuch, einen Kontakt zu den Luuren herzustellen. Nur an seinen Begleiter richtete er hin und wieder Worte, auf die er aber - noch - keine Antwort erhielt. »Ich werde mit Königin Lovrena reden«, flüsterte Sorkka. »Meine Worte werden sie interessieren. Ihrer Entscheidung werde ich mich beugen.« Der Klang seiner Worte ließ keinen Zweifel daran, dass er damit rechnete, dass die Königin ihm seinen Wunsch gestatten würde, die beiden Fremden zu töten, um doch noch zu seinem vermeintlichen Recht zu gelangen. »Sie hat nichts damit zu schaffen. Sicher wird sie nicht erfreut sein, wegen dieser Sache von dir belästigt zu werden.«
»Das weißt du nicht, Meister.« »Aber du glaubst es zu wissen, mein törichter junger Schüler. Ich kenne die Vaaren schon so viel länger als du. Sie sind die Beherrscher von Tovah'Zara, aber sie sind auch eine eigentümliche Spezies. Am liebsten sind sie für sich allein. Sie mögen es nicht, ungefragt von anderen Bewohnern kontaktiert zu werden. Nicht von ungefähr bekommt man sie kaum einmal zu sehen, und wenn man sie sieht, dann zumeist so wie man sie sich vorstellt. Jedem, der nicht ihrem Volk angehört, erscheinen sie in einer ihnen beliebigen Form.« Er hatte den Eindruck, dass Sorkka seine Worte nicht einmal hörte, so sehr hatte sein Schüler sich in dieser Sache versteift. Rurkka erkannte, dass er eben so gut mit einem der draußen umher treibenden Korallenstöcke hätte reden können. »Tu mir einen Gefallen«, wagte er trotzdem noch einen Versuch. »Überleg dir diese Entscheidung gut. Wenn du dich entschieden hast, komm erst noch einmal zu mit Dann werden wir weitersehen.« Sorkka drehte sich nicht zu ihm um, als er sich in Bewegung setzte und sagte: »Schon gut. Ich werde zuerst mit dir sprechen, Meister.« Dann war er verschwunden. .Rurkka straffte seinen faltigen, ausgemergelten Körper. Er hatte ein beklemmendes Gefühl, aber er konnte nichts anderes tun, als zu hoffen und zu warten. Und die Augen offen halten, um nicht von den kommenden Ereignissen überrascht zu werden. Damit widmete er sich wieder den beiden Fremden. 6. Sie wurden beobachtet.
Scobee hatte das Wesen, das hinter der unsichtbaren Wand stand, längst registriert.
Sie gab es ihm aber nicht zuerkennen. Stattdessen tat sie, als sei sie immer noch viel
zu erschöpft, um auf die Lage, in der sie sich befand, zu reagieren.
Zwar ging es ihr schon viel besser, aber bevor sie etwas unternahm, wollte sie darauf
warten, dass auch Resnick wieder vollends bei sich war.
Kaum dass er sich zu rühren begann, flüsterte sie ihm ein paar aufmunternde Worte
zu.
»Wir sind in Gefangenschaft. Aber offenbar droht uns keine akute Gefahr.«
Resnick hatte das gleiche Alter wie Scobee. Aber er war ein 1,90 Meter großer Hüne
mit athletischem Körperbau. Sein Schädel war haarlos.
Während sie ihn betrachtete, dachte sie, dass sein muskulöser Körperbau nicht
verhinderte, dass er länger zur Regeneration brauchte als sie selbst. Ihr schlanker,
beinahe zierlicher Körper, durchtrainiert und doch ganz Frau, stellte also keinen
Nachteil dar.
Sie war ihm im Gegenteil in einigem voraus - Dinge, von denen er nicht einmal
ahnte...
Immer, wenn das Wesen hinter der Barriere sich abwandte, riskierte sie einen
genaueren Blick. Es sah aus wie ein aufrecht gehender Salamander mit ursprünglich
zwei Beinpaaren, von denen das vordere aber wie menschliche Arme und Hände benutzt wurde. Unwillkürlich drängte sich ihr die Assoziation eines niedlichen Kinderspielzeugs auf, aber sie hatte keinen Zweifel daran, dass der Fremde hoch intelligent war. Zuweilen hantierte er an grazilen Aufbauten. Es war ihr unmöglich, in seiner Mimik zu lesen, aber sie wurde den Verdacht nicht los,, dass es sich um Gerätschaften handelte, mit denen sie und Resnick überwacht wurden. Wenn das stimmte, konnte sie ihm nichts vormachen. Dann wusste er über ihre körperliche Verfassung Bescheid. Allerdings fehlten Sensoren, die mit ihrem Körper verbunden waren. Oder brauchten die Fremden solche Einrichtungen nicht für eine medizinische Analyse? Scobee dachte an das, was ihren Körper befallen hatte. Scheinbar war es verschwunden. Oder steckte es noch immer in ihr? Als es ihr in Mund, Nase und Ohren gedrungen war, hatte sie ihre Winterschlaf-Fähigkeit eingesetzt, aber sie glaubte nicht, dass sie es damit vertrieben hatte. Nun war sie nicht länger bedroht. Jedenfalls nicht akut, wie sie es auch Resnick vermittelt hatte. In dem kleinen Gemach, in dem man sie und Resnick untergebracht hatte, war auch das Wasser verschwunden. Es schien abgepumpt worden zu sein. War es der Fremde auf der anderen Seite der unsichtbaren Barriere gewesen, der sie gerettet hatte? Dann verdankten sie ihm ihr Leben. Allerdings bedeutete das noch nicht, dass er ihnen freundlich gesonnen war. Vielleicht hatte er ganz eigene Pläne, die ihnen nicht gefallen würden... »Wie geht es dir?«, wandte sie sich an Resnick. »Mir geht es besser. Wer hat uns denn da eingefangen? Lurchi?« Trotz ihrer Lage musste Scobee schmunzeln. Jetzt wusste sie, woran der Fremde sie unbewusst erinnert hatte. »Willst du dich noch etwas ausruhen?« Anstelle einer Antwort erhob sich Resnick. »Ich habe keinen Bedarf mehr an Ruhe«, erwiderte er. »Ich will hier weg.« Scobee nickte. Ihr ging es nicht anders. Aber sie waren beide nackt und auch sonst ihrer Ausrüstung beraubt. »Unsere Raumanzüge sind verschwunden. Was auch immer geschehen sein mag, Darnoks kleine Wunderwerke haben wohl doch nicht gehalten, was sie versprachen.« Scobee richtete sich nun ebenfalls auf. »Wir befinden uns offenbar noch immer im Kubus.« »Das bedeutet, dass sich irgendwo Darnoks Karnut befinden muss. Was mag mit Cloud geschehen sein?« »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit dieses unheimliche Zeug unsere Anzüge auflöste.« »Nanotechnik«, mutmaßte Resnick, was das „Zeug" anging. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, bevor wir das Bewusstsein verloren. Auf der Erde gibt es vergleichbare Anstrengungen, aber noch im relativen Anfangsstudium. Ich tippe, dass wir von Nanorobotern attackiert wurden.«
»Dann trifft vielleicht zu, was ich befürchte: dass sie noch in uns stecken.«
»Spürst du etwas?«
»Würde man Nanoroboter denn spüren?«
»Eine dumme Frage, du hast Recht«, gab Resnick zu. Er deutete zu der unsichtbaren
Barriere. »Lurchi scheint etwas von uns zu wollen.«
Das salamanderähnliche Wesen hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, wirkte
aber keineswegs bedrohlich.
»Vielleicht will Lurchi mit uns reden«, vermutete Resnick.
»Es freut mich, dass es euch besser geht«, vernahmen sie plötzlich eine Stimme. Sie
schien geradewegs aus dem Nichts zu kommen. »Mein Name ist Rurkka. Ich bin ein
Luure, ein Schöpfer. Ich spreche eure Sprache so wenig wie ihr die meine, aber die
Protomaschinen in euch unterstützen die Verständigung. Ich habe sie entsprechend
verändert. Die Linguatoren, wie wir sie nennen, werden uns eine problemlose
Kommunikation ermöglichen. Sprecht also bitte nicht länger über mich, sondern mit
mir.«
Scobees Irritation wuchs. »Das werden wir«, versicherte sie dennoch. »Wenn du uns
zunächst einmal verrätst, wo wir uns befinden.«
»Ich werde euch noch mehr verraten«, drang die Stimme zu den beiden GenTecs vor.
»Doch zunächst entschuldigt mich für einen Moment. Ich muss etwas überprüfen.«
Das Wesen, das sich als Luure oder Schöpfer bezeichnet hatte, entfernte sich mit
mühelos anmutenden Bewegungen voller Eleganz zu seinen Instrumentenaufbauten.
Scobee wurde nachdenklich. Sie konnte sich irren, aber sie hatte den Eindruck
gewonnen, dass dieser Rurrka enorm aufgeregt war.
Und dass seine Probleme Resnick und ihr vielleicht zum Vorteil gereichen konnten...
»Mein Meister hat seinen Weitblick verloren. Er erkennt nicht mehr, was gut für uns
ist und ignoriert die Möglichkeiten, die sich uns bieten.«
Die Worte versetzten Rurkka einen Schlag, obwohl - oder gerade weil - sie nicht an
ihn gerichtet waren.
Seine Ahnung hatte ihn also nicht getrogen. Sorkka hatte sein Versprechen
gebrochen und sich an Königin Lovrena gewandt, um ihr sein Anliegen vorzutragen.
Er konnte nicht wissen, dass sein Ziehvater schon vor langem eine Möglichkeit
geschaffen hatte, sämtliche Gespräche abzuhören, die die Gestalter der Protowiesen
führten.
Sorkka schien nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben, was ohnmächtigen
Zorn in Rurkka aufsteigen ließ.
Verräter!, ging es ihm durch den Sinn. Nach allem, was ich für dich getan habe,
verrätst du mich nun zum Dank.
»Hat er dir einen Grund genannt?«
»Keinen, den ich nachvollziehen könnte. Ich denke, er will mir die Wahrheit nicht sagen. Ich schätze, er ist einfach der Meinung, ich sei noch nicht reif genug. Aber ich bin viel weiter, als er denkt. Er will diese Tatsache nur nicht wahrhaben. Er fürchtet, mich zu verlieren, wenn er sie eingesteht. Ich weiß schon lange, dass mein Meister eifersüchtig auf mich ist, weil all das und noch viel mehr erst vor mir liegt, was er bereits hinter sich hat.« »Das sind schwerwiegende Vorwürfe.« »Aber keine unbegründeten. Lange habe ich geschwiegen, aber damit muss es ein Ende haben.« »Der Erste Verwerter wird gute Gründe für sein Handeln haben.« Die Worte der Vaaren-Königin wurden von Protomaschinen übermittelt. Es war die gleiche Prozedur, die Rurkka initiiert hatte, als er zu den beiden Fremden gesprochen hatte. Vaaren sprachen nicht. Sowohl untereinander als auch Dritten gegenüber bedienten sie sich einer telepathischen Bildersprache. Über ein kompliziertes Netzwerk - einer hoch sensiblen Symbiose aus ursprünglicher Protomaterie und künstlich erschaffenen Protomaschinen - vermochten sie ihre telepathischen Impulse in Laute umzuwandeln. »Daran zweifele ich nicht«, sagte Sorkka. »Ich mache meinem Meister keinen Vorwurf. Sicher will er nur mein Bestes, aber er verkennt die Lage. Er ist alt und weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er keinen Blick mehr für die Zukunft hat. Ich aber schaue nur in die Zukunft, und die will ich mir nicht verbauen lassen.« Sorkka widersprach sich, fand Rurkka. Aber das nützte dem Ersten Verwerter nur, wenn Lovrena zu dem gleichen Schluss kam. Er betrachtete die Königin, während er angespannt auf ihre Antwort wartete. Er hatte gelernt, sich nicht von falschen Eindrücken leiten zu lassen. Den meisten Lebewesen stellte sich Königin Lovrena, so wie alle Vaaren, in einer Gestalt dar, die sie sich unterbewusst wünschten. Doch der Altersweise fiel auf diese Täuschung nicht herein. Die Vaaren waren weiße, geisterhafte Gestalten. Sie sahen aus, als würden sie aus Ektoplasma bestehen, und wirkten äußerst filigran - einfach schön. Wie Fäden, die sich kaum im Wasser halten konnten. Die Parabegabten, die ihre Jadeschiffe mittels ihrer gebündelten Psi-Kräfte steuerten, waren aber vielleicht in Wirklichkeit auch noch einmal ganz anders geartet. Eine letzte Sicherheit gab es auch für Rurkka nicht. »Ich widerspreche dir nicht«, ließ die Königin den jungen Luuren über das Protonetz wissen. »Rurkka ist die Vergangenheit, du bist die Zukunft. Daher entspreche ich deinem Wunsch, dir das organische Gewebe der Toten zu überlassen.« Rurkka hatte das Gefühl, dass ihm die Sinne schwanden. Alles hatte sich gegen ihn verschworen. Sein Ziehsohn verriet ihn, und für die Vaaren-Königin war er bereits... Geschichte. Er fühlte sich buchstäblich am Boden zerstört. Aber noch etwas war eine niederschmetternde Erfahrung: Sorkka hatte die Königin belogen. Das war ein ungeheuerlicher Vorgang. Er war offenbar dabei geblieben, dass die Fremden bereits tot waren. Der junge Luure musste jede moralische Hemmschwelle abgelegt haben; früher waren ihm niemals Lügen entsprungen.
Er war ein völlig anderer Luure geworden. Rurkka fragte sich, ob das Auftauchen der Fremden dafür verantwortlich war. Doch die Zeit seit ihrem Erscheinen war zu kurz. Die zerstörerische Anlage musste schon immer in Sorkka geschlummert haben. Durch die Verkettung der Umstände der letzten Tage hatte sie sich ein Ventil gesucht, war an die Oberfläche getreten. Rurkka war drauf und dran, sich in das Gespräch einzuschalten, doch damit hätte er seine Überwachungsmechanismen enttarnt. Er war sicher, dass Sorkka ihm damit mehr Schaden hätte zufügen können als Rurkka seinem Ziehsohn mit der Aufdeckung der Wahrheit. Ziehsohn. Der Erste Verwerter stieß einen meckernden Klagelaut aus. All die Jahre hatte sein Schüler ihn hinters Licht geführt, nun erst zeigte er sein wahres Gesicht. Tick-tick-tick. Mehr denn je begriff Rurkka, wie sich seine innere Uhr ihrem letzten Schlag näherte. Doch so durfte niemand mit ihm umspringen. Nicht einmal die Vaaren-Königin durfte das. Er träumte von den unerreichbaren Gefilden jenseits von Tovah'Zara. Wo es kein Wasser gab, sondern einen Weltenraum, in dem sich die Gestirne und ihre Trabanten fast verloren, so gewaltig war er. Planeten im Nichts, die nicht von Wasser umgeben waren wie hier. Von einem dieser in unendlicher Zahl vorhandenen Planeten stammte er, und die Sehnsucht nach der Urheimat wurde schier übermächtig. Rurrka traf eine folgenreiche Entscheidung. 7. »Wir stammen von der Erde.«
Ein Ort, von dem Rurkka nie gehört hatte. Die beiden Fremden aus dem Volk der
Menschen, die sich Scobee und Resnick nannten, konnten ihm nicht erklären, wo ihr
Sonnensystem lag. Überhaupt waren sie nicht besonders mitteilsam.
Kein Wunder, er selbst hätte sich in Gefangenschaft auch nicht anders verhalten.
Mit dem, was er ihnen über sich und sein Volk erzählt hatte, konnten sie
wahrscheinlich ebenso wenig anfangen. Denn natürlich hatte er darauf geachtet,
keine Informationen preiszugeben, die nicht für eine fremde Spezies bestimmt waren.
Auch wenn er sich in Gedanken bereits von seinem Volk und sämtlichen anderen in
Tovah'Zara abgewandt hatte, bedeutete das nicht, dass er zum Verräter werden
würde.
Wie Sorkka es geworden war.
Immerhin wusste der Gestalter jetzt, dass es sich bei Scobee und Resnick um einen
weiblichen und einen männlichen Vertreter ihrer Spezies handelte.
Um ein Paar vielleicht.
»Lass uns endlich frei!«, forderte der Mann zum wiederholten Mal. »Du hast kein
Recht, uns festzuhalten.«
»Ihr hättet nicht in nach Tovah'Zara vorstoßen sollen«, erwiderte Rurkka ebenso stoisch. »Es ist unsere Heimat. Ich bin überzeugt, dass auch ihr nicht tatenlos zuseht, wenn Fremde in euren Lebensraum eindringen. Ihr würdet ebenfalls Fragen stellen.« »Fragen stellen bestimmt, aber nicht gleich einsperren. Außerdem blieb uns keine andere Wahl, wenn wir nicht umgebracht werden wollten. Ich habe dir schon erklärt, dass wir uns auf der Flucht befanden. Sonst wäre es vermutlich niemals zu diesem Zusammentreffen gekommen.« »Wir planen keine Aggression gegen euch«, unterstrich die Frau namens Scobee. Rurkka gewann den Eindruck, dass sie ihre Worte mit Bedacht wählte. »Wir haben nie erwartet, überhaupt auf euch zu treffen, aber nun, da es geschehen ist, sind wir an einer friedlichen Verständigung interessiert.« »So etwas lässt sich leicht behaupten. Wer weiß, was ihr getan hättet, wenn wir euch nicht gefangen genommen hätten.« »Dann hätten wir von uns aus Kontakt aufgenommen.« Rurkka bezweifelte das. Er war sicher, dass die Menschen ihre eigenen Ziele verfolgten. Bei diesem Gedanken wunderte er sich über sich selbst. Natürlich verfolgen sie bestimmte Ziele. Welche Spezies, welches Lebewesen tut das denn nicht? Er selbst eingeschlossen. »Angenommen ihr wärt frei«, wagte er einen vorsichtigen Vorstoß. »Was wäre dann euer nächstes Ziel? Habt ihr vor, unseren Lebensraum wieder zu verlassen?« Einige Momente verstrichen. Ihm entging nicht, dass die Menschen Blicke tauschten, um sich stumm zu verständigen. Er drängte sie nicht. Andererseits durfte er keine Zeit verlieren. Nach dem belauschten Gespräch zweifelte er nicht daran, dass Sorkka in Kürze auftauchen würde, um sich der Menschen anzunehmen. Bis dahin musste Rurkka sein Vorhaben in die Tat umgesetzt haben. Sollte es ihm nicht gelingen, blieb ihm nur noch, Königin Lovrena die ganze Wahrheit zu beichten. Sollten sich die beiden Fremden allerdings gegen seinen Plan stellen, trugen sie selbst die Schuld an ihrem weiteren Schicksal. Dann gab es für ihn keinen Grund mehr, Partei für sie zu ergreifen. »Wir hatten niemals vor, länger in diesem Kubus zu verweilen. Wir wollen nur gemeinsam mit unseren Gefährten wieder an Bord unseres Raumschiffs.« »Mit euren Gefährten? Aber außer euch haben wir niemanden gefunden.« »Cloud«, sagte Scobee. »Er war mit uns im Wasser, als etwas über uns herfiel.« »Protomaschinen«, erwiderte Rurkka. »Anscheinend habt ihr euch gegen sie gewehrt. Dabei hatten sie lediglich die Aufgabe, die Funktion eurer Raumanzüge zu übernehmen. Die Protomaschinen sind dabei wesentlich effektiver.« »Deine so genannten Protomaschinen hätten uns fast erstickt. Was ist mit ihnen passiert?« »Wir haben sie entfernt.« Rurkka erkannte, dass es ihm unmöglich war, den Namen seines Ziehsohns auszusprechen. Zu tief saß die Schmach, die er erlitten hatte. »Immerhin etwas. Dann brauchen wir nicht mehr zu befürchten, ersticken zu müssen.«
»Ihr irrt euch. Diese Gefahr bestand nie. Im Gegenteil hätten euch die
Protomaschinen in euren Lungen zum Atmen im Wasser befähigt.«
Wieder berieten sich die Menschen mit Blicken und Gesten. Rurkka konnte ihnen
nicht verdenken, dass sie seiner Behauptung skeptisch gegenüberstanden.
»Ich habe keinen Grund, euch zu belügen. Vergesst nicht, dass ich euch gerettet
habe.«
»Aber du hast uns unsere Frage noch nicht beantwortet«, begehrte Resnick auf. »Was
ist mit Cloud?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Herr über die Protowiesen wahrheitsgemäß. »Als
unser Trupp euch barg, wart ihr allein.«
Was über Verbleib und Schicksal von Cloud keinen Aufschluss gab.
»Die Vaaren haben ihn mitgenommen. Also ist er am Leben«, spekulierte Scobee -
wobei offenbar der Wunsch Vater des Gedankens war.
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Resnick.
Rurkka begriff den Sinn der Worte nicht, aber er meinte, Hoffnung herauszuhören.
»Falls dem so ist, müssen wir ihn dort heraushauen! «
»Hauen?«, echote Rurkka ungläubig. »Bei den Vaaren? Ihr versteht nicht...«
»Ich verstehe nur, dass du uns etwas vormachst. Du bist nicht an unserer
Unterstützung interessiert«, blaffte Resnick.
»Doch, das bin ich. Wenn ich diesen Cloud so einfach - wie ihr sagt - heraushauen
könnte, würde ich es tun«, versuchte Rurkka den Mann zu beschwichtigen. »Ihr habt
wirklich keine Ahnung von den hiesigen Verhältnissen. Die Vaaren sind die Herren
über Tovah'Zara. Man kann nicht einfach zu ihnen gehen und etwas von ihnen
fordern. Außerdem leben sie sehr zurückgezogen. Ich wüsste nicht einmal, wo genau
ich nach ihnen suchen sollte.«
Dass er mühelos eine Kommunikationsverbindung zu den Vaaren hätte herstellen
können, verschwieg Rurkka. Damit wäre nichts gewonnen gewesen. Wenn die
Vaaren tatsächlich einen lebenden Menschen aufgelesen hatten, würden sie ihn nicht
wieder herausgeben.
Die Unterhaltung dauerte bereits viel zu lange. Hin und wieder blickte sich Rurkka
nervös um. Noch war Sorkka nicht wieder aufgetaucht. Aber das konnte jeden
Moment geschehen.
Rurkka beschloss aufs Ganze zu gehen.
»Ich möchte hinaus«, eröffnete er den beiden Gefangenen. »Ich will Tovah'Zara
verlassen. Wenn ihr mich in eurem... Raumschiff mitnehmt, werde ich euch zur
Flucht von hier verhelfen - weigert ihr euch, kann ich nichts für euch tun.«
»Das ist Erpressung!«
Rurkka überlegte. Was sollte er darauf erwidern? Er selbst hätte einen solchen
Handel kaum anders bezeichnet.
»Ja«, erwiderte er tonlos. »Das ist es. Aber mir bleibt keine andere Wahl - und euch,
fürchte ich, auch nicht.«
Resnicks knappes Nicken entging Scobee nicht. Der alte Luure hatte zweifellos seine Beweggründe, warum er sich zu einem solchen Schritt entschlossen hatte, und einen deutlicheren Wink des Schicksals konnten sie nicht erwarten. Die GenTec vermochte in Resnicks Augen zu lesen. Auf Rurkkas Wünsche eingehen und ihm, zur Not, das Blaue vom Himmel versprechen, signalisierten sie. Keine Hemmungen haben und kein schlechtes Gewissen. Er brauchte nicht zu wissen, dass das Karnut nicht ihnen unterstellt war, sondern Darnok. Sie schloss sich dieser Einstellung an. Wenn sie jemanden hintergehen mussten, um die Freiheit zu erlangen, würden sie es eben tun. Mit übertriebener Ehrlichkeit kamen sie nicht weiter. Wenn hehre Grundsätze nicht erwidert wurden, begab man sich damit auf dünnes Eis. Sie hatte keine Gewissensbisse. Schließlich war auch Rurkkas Hilfe nicht selbstlos. Er verlangte eine Gegenleistung, nur um ihnen zurückzugeben, was ihnen zustand. Er musste naiv sein, wenn er erwartete, dass die GenTecs sich nach allem, was geschehen war, verpflichtet fühlten, mit offenen Karten zu spielen. Zudem war Scobee nicht bereit, sich den Protomaschinen, wie Rurkka sie genannt hatte, ein zweites Mal auszusetzen. Die Erinnerung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Resnick machte eine knappe Handbewegung, als sie das Wort ergreifen wollte. Scobee verstand. So leicht durften sie es dem Luuren nicht machen, damit er keinen Verdacht schöpfte. Und wenn sie ihn wirklich an Bord des Karnuts mitnehmen sollten, dann bestimmt nicht ohne weitere Gegenleistung seinerseits. Das Wissen, dass dies letztlich in Darnoks Entscheidungsgewalt lag, überging sie, wobei sie ja noch nicht einmal wussten, ob sie das Karnut jemals wieder finden würden. »Wir hatten einen weiteren Begleiter«, wandte sie sich an den Luuren. »Jarvis. Wir haben ihn verloren, als wir schon einmal aus unserem Schiff aussteigen mussten. Wir wollen wissen, was aus ihm geworden ist.« »Was ist passiert?« »Er ist verschwunden. Vor unseren Augen!«, sagte Resnick lauernd. »Menschen verschwinden nicht einfach, jedenfalls nicht bei uns. Sind dafür vielleicht auch deine Protomaschinchen verantwortlich?« »Ich weiß es nicht. Ich habe von keinem Menschen namens Jarvis gehört. Wo ist das passiert?«
»Woher sollen wir das wissen? Irgendwo dort draußen. Wir wurden von Tieren
angegriffen, die uns nachzuahmen versuchten. Würde mich nicht wundern, wenn
dahinter ebenfalls Luuren oder die Vaaren steckten.«
»Mimikryaner «, erwiderte Rurkka tonlos. »Mit denen haben wir nichts zu tun. Du
tust uns unrecht. Wenn euer Freund ihnen zum Opfer gefallen ist, können wir nichts
mehr für ihn tun.«
»Und wenn nicht?«
»Ich fürchte, auch dann nicht. Wie sollte ich ihn denn ausfindig machen?«
Resnick ballte die Fäuste. »Dürfte echt schwierig sein«, bemerkte er bissig. »Bei all
den vielen Menschen, die sich in eurem Tovah'Zara aufhalten. Da wird sich sicher
niemand, der Jarvis gesehen hat, an ihn erinnern können...«
»Ich verstehe nicht. Bei uns gibt es keine anderen Menschen.«
»Auch das noch«, stöhnte der GenTec verzweifelt auf. »Sarkasmus kennen die
Burschen auch nicht!«
»Vergiss seine dummen Scherze, Rurkka«, mischte sich Scobee ein. »Wir wollen
hier raus, und zwar gemeinsam mit Cloud und Jarvis. Du solltest dir etwas Mühe
geben, sie zu finden. Sie beide.«
»Was ist, wenn ich bei Jarvis passen muss?«
»Dann bleiben wir, wo wir sind, und du auch. Möglicherweise gelingt uns aus
eigener Kraft die Flucht, aber erwarte nicht, dass wir dich dann mitnehmen«, drohte
Scobee unverhohlen.
Rurkka überlegte angestrengt. Scobee hatte den Eindruck, dass er sie gleichzeitig
musterte - obwohl das immerwährende grüne Leuchten es schwer machte, sich
dessen allzu sicher zu sein.
Nach einer Weile verschränkte der Luure seine vorderen Extremitäten in
menschlicher Manier vor der Brust.
»Das ist auch Erpressung«, sagte er.
»Es wäre besser, mit dem Jammern aufzuhören«, knurrte Resnick. »Uns bleibt nicht
mehr viel Zeit, schätze ich.«
Der Luure drehte sich um und eilte mit flinken, grazilen Bewegungen davon.
»Ich werde sehen, was ich erreichen kann«, vernahmen sie seine verwehenden
Worte.
Dann war er zwischen den fremden Maschinen verschwunden.
Rurkka stellte eine Verbindung zum Protonetz her. Wenn er eine Chance hatte, etwas
über einen Fremden namens Jarvis zu erfahren, dann bei den Verwaltern des Netzes.
Der Luure, der sich meldete, war ihm unbekannt.
»Du weißt, wer ich bin?«, fragte er überheblich und ohne sich vorzustellen.
»Selbstverständlich, Erster Verwerter!«, lautete die unterwürfige Antwort. »Ich war schon immer ein Bewunderer deiner großartigen Leistungen. Was verschafft mir die Ehre?«Rurkka betrachtete ihn skeptisch. Er versuchte, im Gesicht seines Gegenübers Rurkka betrachtete ihn skeptisch. Er versuchte, im Gesicht seines Gegenübers zu lesen, aber der Mann verriet mit keiner Miene seine wahren Gedanken. »Dies ist ein vertraulicher Anruf von übergeordnetem Interesse. Ich verlasse mich auf deine Verschwiegenheit, genau wie diejenige Person, in deren Auftrag ich recherchiere und die in diesem Zusammenhang nicht genannt werden möchte. Bist du allein?« Mit seinen sorgsam gewählten Anspielungen lockte er den Verwalter aus der Reserve. In dessen Gesicht begann es zu arbeiten. Zweifellos überlegte er, in wessen Auftrag Rurkka ihn anrufen konnte. Normale Aufträge würde er niemals übernehmen, es sei denn von einer einzigen Autorität. »Die Königin?«, fragte er ehrfurchtsvoll. »Sie hat sich noch nie bei mir gemeldet...« »Das wird sie zweifellos auch niemals tun«, wies Rurkka ihn zurecht. »Dir scheint dein Status nicht bewusst zu sein. Aber wenn du nicht in der Lage bist, mir bei meinen Nachforschungen zu helfen, gibt es zweifellos jemanden über dir, der das kann. Ich werde ihm ausrichten, dass du dein Möglichstes getan hast.« »Ich bin allein, und du kannst dich auf mich verlassen«, beeilte sich der Verwalter zu versichern. »Mein Name ist Keerek.« Rurkka ließ einige Momente verstreichen. Er konnte erkennen, wie die Nervosität in seinem Gegenüber wuchs. »Das ist gut, Keerek«, sagte er schließlich anerkennend. »Ich werde deinen Namen nicht vergessen und ihn bei Gelegenheit wohlwollend an entsprechender Stelle fallen lassen.« Der Verwalter deutete seine Dankbarkeit mit einer Geste an. »Ich habe von einem Fremden gehört, der gefangen genommen wurde«, begann Rurkka ohne weitere Umschweife. »Ich möchte wissen, was mit ihm geschehen ist.« »Das bleiche Wesen namens Jarvis?« »Korrekt.« »Man hat es ins Wonak-Matul überstellt. Dort wird es untersucht.« Das Wonak-Matul war mehr Forschungszentrum denn Gefängnis. Das stimmte Rurkka zuversichtlich, obwohl es natürlich auch dort streng gesicherte Einrichtungen gab, in die niemand eindringen, aus denen aber auch niemand entkommen konnte. Immerhin befand sich Jarvis noch auf Lurr und war nicht auf eine andere Welt gebracht worden. »Wer kümmert sich um Jarvis?«, fragte Rurkka. Misstrauen blitzte in den Augen des Verwalters auf. »Die Heukonen, und soweit mir bekannt ist, tun sie dies im Auftrag der Königin. Hat sie dir das nicht gesagt?« »Natürlich. Ich wollte nur wissen, wie weit du informiert bist. Das bedeutet, dass du jetzt den Status eines Geheimnisträgers innehast. Mach dir das jederzeit bewusst. Du darfst mit niemandem über unser Gespräch reden.« »Natürlich nicht«, versicherte Keerek aufgeregt. »Du kannst dich auf mich verlassen, großer Schöpfer.«
Nun gab es keine Umkehr mehr. Rurkka musste alles hinter sich lassen, wofür er sein
Leben lang eingestanden war. Wenn die Wahrheit herauskam, war alles aus.
Niemand würde ihm seine Lüge verzeihen, Königin Lovrena schon gar nicht. Ihm
blieb gar nichts anderes mehr übrig, als mit Scobee und Resnick zu paktieren.
Sie waren seine letzte Hoffnung. Rurkka begriff aber auch, dass er sich damit von
ihnen abhängig machte. Wenn sie nicht zu ihrem Wort standen, konnte er sich
nirgendwo sonst mehr hinwenden.
»Das weiß ich«, verabschiedete er sich von dem Verwalter. »Und ich werde es nicht
vergessen.«
Damit unterbrach er die Verbindung.
Wiederum hatte er wertvolle Zeit verloren. Die beiden Menschenwesen mussten so
schnell wie möglich frei kommen.
Doch zuvor galt es noch, etwas zu besorgen.
8. Resnick bemerkte die Veränderung zuerst. Sachte stieß er Scobee an und deutete zu einer der transparenten Wände. Für ein paar Sekunden schimmerte an einer Stelle ein kreisrunder Ausschnitt. »Was ist das?«, rätselte Scobee. »Sieht aus, als würde die Wand kollabieren...« Resnick stieß einen Fluch aus. »Wenn sich eine Öffnung bildet, haben wir das gleiche Problem wie zuvor. Dann werden wir elend ersaufen. Auf Dauer wird uns auch der Winterschlaf-Effekt nicht retten. Ich hoffe, unser edler Retter hat es sich nicht doch wieder anders überlegt und ist zu dem Schluss gelangt, dass er uns nicht mehr braucht.« »Unsinn. Er braucht uns. Ich bin sicher, dass wir nicht mehr lange auf seine Rückkehr warten müssen.« Wie zur Bestätigung tauchte Rurkka zwischen seinen Instrumenten auf. Die Veränderung der transparenten Wand war abgeschlossen. Der kreisrunde Ausschnitt waberte in irisieren dem Schwarz. Man konnte an dieser Stelle nicht länger hindurchschauen. Rurkka trug einen zylinderförmigen Gegenstand bei sich, den er gegen das schwarze Feld presste. Ein leises Zischen war zu vernehmen, wie bei einer HochdruckInjektion. Das Schwarz geriet in Wallung. Etwas Kleines, kaum zu erkennen, drang durch die künstliche Membran hin durch und raste wie ein sirrender Partikelregen auf die beiden Menschen zu. »Schließ den Mund!«, rief Resnick. »Das ist derselbe Dreck wie draußen! « Scobee hatte ebenfalls erkannt, was auf sie zukam. Sie taumelte rückwärts, bis sie eine Wand in ihrem Rücken spürte. Unzählige winzige dunkle Partikel näherten sich ihr. »Habt keine Angst«, vernahm sie Rurkka. »Die Protoparasiten stellen keine Gefahr für euch dar. Aber sie werden in euch eindringen, wie sie es schon einmal taten.« »Parasiten?« Rurkka ging nicht darauf ein.
»Du kannst nicht ernsthaft erwarten, dass wir...« »Sie sorgen dafür, dass ihr unter Wasser atmen könnt. Es gibt keine andere Möglichkeit, wenn ihr entfliehen wollt.« Die Partikel wurden langsamer und verharrten schließlich, von unbekannten Kräften getragen, in der Luft. Ungläubig schüttelte Scobee den Kopf. Es sah aus, als warteten die mikroskopisch kleinen Erzeugnisse auf die Erlaubnis, ihren und Resnicks Körper betreten zu dürfen. »Es funktioniert nicht«, sagte sie. »Wir haben es doch bereits erlebt. Wir müssen einen anderen Weg finden. Wir brauchen Schutzanzüge mit Sauerstoffvorräten! « »Unmöglich«, beharrte der alte Luure. »So etwas kann ich nicht auftreiben. Die müsste ich erst herstellen.« Immer wieder schaute er sich um, als erwartete er ungebetenen Besuch. »Soviel Zeit haben wir aber nicht mehr. Jeden Moment kann Sorkka auftauchen. Er wird euch töten, um aus eurer Körpermaterie sein Meisterstück zu erschaffen...« Scobee zuckte zusammen. »Sein Meisterstück? Resnick, ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber wir sollten Rurkka vertrauen.« Resnick brummte seine Zustimmung. »Hauptsache, wir kommen hier endlich raus.« »Dann gebe ich die Protomaschinen jetzt frei. Bewegt euch nicht, und vor allem wehrt euch nicht. Atmet ganz normal weiter, damit sich die Parasiten möglichst rasch an euren Metabolismus gewöhnen können. Sie werden rasch ihre volle Effizienz entfalten.« Die dunklen Partikel setzten sich wieder in Bewegung. Wie ein Fliegenschwarm fielen sie über die beiden Menschen her und drangen durch Mund, Nase und Ohren in ihre Körper ein. Unwillkürlich wollte Scobee dem Vorgang Widerstand leisten, zwang sich aber zur Ruhe. Sie dachte an Cloud und die Erde und versuchte zu verdrängen, was mit ihr geschah. Trotzdem konnte sie nicht ignorieren, wie ihr das Atmen schwerer fiel. Ihre Hände verkrampften sich und fuhren zu ihrer Kehle. Doch schon bald ging es ihr wieder besser. Sie spürte, wie etwas um ihre Knöchel spülte. Wasser, das durch unsichtbare Düsen in die Kammer geflutet wurde. Für Sekunden hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen. Doch dann... bereits vollständig umschlossen von Wasser... konnte sie plötzlich wieder atmen! Sie öffnete die Augen. Mit einem beiläufigen Blick vergewisserte sie sich, 48 dass die Protomaschinen verschwunden wären. In ihrem und in Resnicks Körper. Das Wasser füllte die gesamte Kammer aus. Und Scobee atmete darin, als hätte sie Zeit ihres Lebens nichts anderes getan.
Die Euphorie, die ihn leichten Herzens in den Tod geleiten wollte, war von ihm abgefallen. Stattdessen hatten sich seine Sinne geklärt, und er konnte wieder klar denken. Cloud schlug die Augen auf und fand sich in einer fremden Umgebung wieder. Zwar war immer noch Wasser um ihn herum, aber er befand sich nicht länger im Freien. Er atmete. Sein Mund war leicht geöffnet, und er schmeckte das Süßwasser auf der Zunge. Instinktiv wollte er ausspucken und den Mund schließen. Eine sinnlose Reaktion. Er hätte längst ertrunken sein müssen, aber er lebte. Er erinnerte sich an eine Substanz, die in seinen Mund eingedrungen war. Steckte sie noch immer in seinem Körper? Er glaubte sie in seinen Lungen zu spüren. Oder war das Wasser? Wenn ja, warum tötete es ihn nicht? Wieso atmete er, wo keine Luft mehr war...? »Die Protomaschinen in deiner Lunge versorgen dich mit allem Nötigen.« Cloud zuckte zusammen. Er hatte die Botschaft nicht über das Gehör wahrgenommen, sondern sie war unmittelbar in seinem Geist entstanden. Es handelte sich um eine rasche Abfolge von Bildern, aus denen er wie selbstverständlich Worte formte. Erst jetzt bemerkte er die sanfte Berührung an seinem Brustkorb. Als er an sich hinunterschaute, bemerkte er eine Art Schemen. Er hatte keine bestimme Form, sondern wirkte unwirklich auf ihn. Wie eine milchige Masse, die sich im Wasser vermischt hatte, nicht flüssig, aber auch nicht fest. Lange, dünne Fäden gingen davon aus - wie die Nesselfäden von Quallen. Einige hatten sich auf seine Brust gelegt und die kaum wahrnehmbare Berührung erzeugt. »Wo bin ich?«, fragte... dachte Cloud zurück. »Wer bist du?« Unter Wasser konnte er nicht sprechen. Damit war der Chip, den Darnok ihm eingepflanzt hatte und der dessen Worten zufolge mit den gebräuchlichsten Sprachen der Galaxis programmiert war, an diesem Ort nutzlos. Ganz abgesehen davon, dass Cloud bezweifelte, sich in einem Bereich aufzuhalten, dessen Idiom von den anderen Milchstraßenbewohnern als gebräuchlich betrachtet wurde. Der Kubus war Sperrgebiet, und selbst Darnok schien darüber nicht mehr als ein paar vage Legenden zu wissen. Cloud erwartete nicht, dass seine Gedanken bei einem Empfänger ankommen würden, doch die Antwort erfolgte umgehend. »Ich bin Nuglion, ein Vaare, und du befindest dich an Bord meines Jadeschiffs, der VULGAAR.« Cloud sah sich um. Er wusste sofort, dass er an Bord eines der Rochenschiffe war, die er und seine Begleiter schon aus der silbernen Stadt kannten. Jadeschiffe wurden sie also von ihren Besitzern genannt. Eigenartige Formen umgaben ihn. Alles war aus einem Guss, konturlos und miteinander verschmolzen. Zwischen buckligen Erhebungen befanden sich Schaltelemente, die sich kaum von der Umgebung abhoben und erst auf den zweiten Blick erkennbar wurden. Zwischen Weiß war Silber und Grün - Grün wie das Licht, das den Kubus durchwob.
Cloud beobachtete die sich windende Masse. Sie waberte unruhig umher, als suchte
sie eine bestimmte Form, ohne sich entscheiden zu können. Die Fäden auf seiner
Brust zitterten. Obwohl es keine Strömung gab, waren sie in einer schwachen
Wellenbewegung begriffen.
»Nuglion? Bist du das?« Cloud tastete vorsichtig nach der Erscheinung. Er spürte
nichts, als seine Finger sie erreichten, so als sei sie lediglich Einbildung.
»Ich bin Nuglion. Wer bist du?«
Cloud entschloss sich zur Wahrheit. Seine Gedanken entfuhren ihm auch unbewusst,
eine Lüge wäre daher wahrscheinlich ohnehin sofort durchschaut worden. »Ich heiße
John Cloud und stamme vom Planeten Erde.«
»Diese Welt ist mir unbekannt. Sie interessiert mich auch nicht. Ich muss nur deinen
Namen kennen, damit ich dich vorstellen kann.«
»Wem willst du mich vorstellen?«
»Gedulde dich. Du wirst es bald erfahren.«
Davon ging Cloud aus. Aber eine andere Frage beschäftigte ihn ohnehin mehr. »Wo
sind meine Freunde?«
»Deine Freunde?«
»Du weißt, von wem ich rede. Ich war nicht allein, als ihr uns angegriffen habt.«
Bewusst wählte er seine Worte provozierend.
Aber entweder begriff Nuglion seinen Vorwurf nicht, oder er ging einfach darüber
hinweg. »Ich kann dir keine Informationen geben. Das ist allein Sache der Königin.«
»Königin?«
»Lovrena.«
»Ihr werde ich vorgestellt?«
Nuglion gab keine Antwort.
Cloud stellte Nuglion weitere Fragen, aber die Auskunftsfreudigkeit desVaaren war
erschöpft. Schließlich gab Cloud die sinnlosen Versuche auf. Er versuchte, weitere
Details des Rochenschiffs in sich aufzunehmen, aber das erwies sich als schwierig.
Er war andere Bedingungen gewöhnt. An Bord sämtlicher Fahrzeuge der US Air
Force, von denen er eine Menge geflogen hatte, hatte es klar definierte Maschinen
und Ausrüstungsgegenstände gegeben. Jedes Gerät und jedes Ding war von
markanter Bauart und hinterließ häufig allein durch seine Formgebung eine Ahnung
der damit verbundenen Funktion.
In den Jadeschiffen war alles anders.
Er wagte einen neuen Versuch.
»Ist dies die Zentrale deines Schiffes?«, wechselte er das Thema. »Wird das Schiff
von hier aus gesteuert?«
»Eine Zentrale?«, erreichte ihn eine verblüffte Antwort. »So etwas gibt es nicht. Ich
kann die VULGAAR von jedem Ort aus steuern.«
»Dezentrale Schaltelemente?«, wollte Cloud wissen. Theoretisch hielt er eine solche
Anordnung für möglich, wenn sie aufgrund menschlicher Erfahrung auch
unpraktisch schien. »Ihr benötigt mehr Platz als erforderlich wäre.«
»Wir benötigen überhaupt keinen Platz für Steuerelemente. Ich kann die VULGAAR
von überall an Bord steuern.«
Cloud beobachtete das Spiel der sich windenden Fäden. Nuglion erschien ihm unendlich fremd. Da war es nicht verwunderlich, dass auch die Gedanken des Wesens für ihn keinen Sinn ergaben. Er war überzeugt, dass es Lebensformen im Universum gab, die ihm noch viel fremdartiger vorkommen mussten. So fremdartig vielleicht, dass er sie gar nicht als Leben oder Intelligenz erkannt hätte. »Trotzdem muss es einen zentralen Rechner geben, der die verschiedenen Funktionsbereiche miteinander koordiniert«, bohrte er weiter. »Geh nicht von dem aus, was du kennst.« Nuglions Gedanken barsten schier vor Stolz über die eigene Hochtechnik. »Unsere Schiffe sind speziell konzipiert. Sie sind nicht auf Bedienungselemente, wie du sie ansprichst, angewiesen. Die VULGAAR ist aus Protomaterie geformt, die auf meine Psi-Kraft reagiert. « »Du steuerst dein Schiff mittels deines Geistes? So wie du auch mit mir kommunizierst?« »Nach deinem Verständnis kann man es wahrscheinlich so simpel ausdrücken.« »Also gibt es an Bord keinen einzigen Computer?«, fragte Cloud irritiert. »Ich denke, dass die Frage falsch gestellt ist. Was ist denn ein Computer? Ein künstliches Produkt mit der Fähigkeit, Fragen zu verstehen, Befehle zu analysieren und sie umzusetzen. Bei der Protomaterie verhält es sich nicht anders. Nur dass ich meine Befehle nicht umständlich über spezielle Vorrichtungen eingeben muss, sondern sie mittels meiner Gedanken direkt in den biologischen Strukturen verankern kann.« »Dann lebt dein Jadeschiff?« »Der gesamte Kubus lebt, denn die Protomaterie ist allgegenwärtig. Sie ersetzt bei uns das, was du als Technik kennst.« Organische Materie war nicht so langlebig wie hochwertige Werkstoffe. Cloud fragte sich, wie lang die Lebenserwartung eines Rochenschiffs oder anderer KubusTechnologie war. »Was geschieht, wenn eure Technik versagt?«, fragte er deshalb. »Wenn diese... Protomaterie Schaden nimmt?« »Das geschieht selten. Die Luuren sind begnadete Schöpfer. Tritt dennoch ein solcher Fall ein, sind sie in der Lage, unverzüglich Ersatz zu schaffen.« »Luuren? Schöpfer? Erzähl mir von ihnen.« Doch so mitteilsam Nuglion kurzfristig gewesen war, so stumm blieb er plötzlich, als hätte er bereits mehr verraten als er wollte. Cloud registrierte, wie die VULGAAR Fahrt aufnahm, ohne dass Nuglion optisch etwas dazu beitrug. Er löste sich lediglich von dem Menschen und unterbrach damit die gedankliche Verbindung, was Cloud bedauerte. Vorläufig konnte er nicht darauf hoffen, weitere Informationen zu erhalten. Draußen jagten Korallenstöcke mit unglaublichen Abmessungen vorüber. Das Rochenschiff beschleunigte mit Irrsinnswerten, ohne dass sich an den Druckverhältnissen etwas änderte. Die „lebende" Technik der Vaaren funktionierte offenbar allumfassend.
9. Fasziniert betrachtete Cloud die Frau. Lovrena, die Herrscherin der Vaaren. Natürlich wusste er, dass sie keine Frau war, jedenfalls nicht im menschlichen Sinne. Was er sah, gaukelte ihm diesen Eindruck jedoch vor. Entweder vermochte sie, ihre Gestalt zu verändern, oder sie beeinflusste seine Gedanken dahingehend, dass er sah, was sie wollte. Und das war das Bild einer jungen, in ihrer Exotik wunderschönen Frau. Das bleiche Weiß ihres Äußeren steigerte die Faszination noch, der sich Cloud kaum entziehen konnte. Sie schwebte, umgeben von Wasser, über dem Tisch - wie ein Geist, aus einer Substanz, die Cloud, wie schon bei Nuglion, an Ektoplasma erinnerte. Unwirklich, als könnte sie jeden Moment ins Nichts entschwinden, umgarnte sie ihn. Sie glitt mit solcher Eleganz durch das Wasser, dass Cloud den Eindruck hatte, sie müsste es nicht einmal teilen. Aber vielleicht musste sie das ja wirklich nicht. Jedenfalls schien es ihr keinen Widerstand entgegenzusetzen. Verwundert machte sich Cloud bewusst, dass er bereits eine ganze Weile seinem an gestammten Lebensraum entrissen war. Es bereitete ihm viel weniger Probleme, als er es vermutet hätte. Wenn mir nur keine Schwimmhäute, zwischen den Zehen wachsen... Er wehrte sich nicht, als sie sich ihm näherte und ihn mit Nesselfäden berührte, die sie in Gedankenschnelle entstehen ließ. Er verließ sich darauf, dass sie lediglich der Verbindungsaufnahme dienten. Dann empfing er auch schon die Bilder, die ihm gleichermaßen vertraut wie neu waren. Zwar erinnerte ihn der Kontakt stark an die Unterhaltung mit Nuglion, er war aber sanfter und von viel größerer Emotionalität geprägt. Sie umschmeichelte seinen Verstand und gab ihm das Gefühl, einen Freund vor sich zu haben. Lange hatte er darauf gewartet, endlich mit ihr zusammenzutreffen. Nun war es so weit. Ein Gefühl von Dankbarkeit übermannte ihn. Unsinn. Du kennst sie nicht. Was macht sie nun schon wieder mit dir? Cloud versuchte dem befürchteten Bann zu entkommen. »Königin Lovrena«, erwiderte er bemüht distanziert. »Es ist mir eine Ehre.« In seinem Geist materialisierten Bilder, die er mit Worten assoziierte. Und so setzte er für sich die Sätze zusammen: »Das unterscheidet dich nicht von anderen. Doch sparen wir uns die Floskeln. Ich habe Fragen an dich.« »Ich habe ebenfalls eine Frage«, antwortete Cloud. »Was ist mit meinen Begleitern?« »Du bist ungeduldig, neugierig. Nuglion teilte es mir bereits mit. Doch du wirst keine Fragen stellen, solange ich es dir nicht gestatte.« Cloud war versucht, sich dem zu fügen, unterdrückte den Impuls aber. Er musste sich klar machen, dass sie weiterhin Macht auf ihn ausübte. Wenn er das auch nur einen Augenblick vergaß, würde er Dinge preisgeben, die nicht für Lovrena oder andere bestimmt waren. »Ich werde mich zurückhalten«, erklärte er. »Aber meine Fragen werde ich stellen, sobald den Zeitpunkt für richtig halte. Egal ob ich dein Gefangener bin oder nicht.«
»Hat Nuglion dir bedeutet, dass du dich als Gefangenen betrachten sollst?« »Das hat er nicht.« »Wie kommst du dann darauf?« »Kann ich gehen? Kann ich zu meinem Schiff zurückkehren?« In seiner Vorstellung erschien das Karnut, erschien er, wie er sich darauf zu bewegte. Natürlich würde sie es ihm nicht gestatten. Cloud erwartete keine Antwort auf seine Frage. Eine Weile verging. Die Faszination, die von Lovrena ausging, steigerte sich. Ein Kribbeln fuhr über Clouds Haut. Es setzte sich durch seinen gesamten Körper fort, während ihre Nesselfäden forschend über seinen Oberkörper tasteten. Mit jeder Sekunde, die er sie betrachtete, schien sie schöner zu werden. Ein verwirrender Schleier aus milchigem Gewebe breitete sich vor seinen Augen aus und vernebelte seine Sinne. »Wieso seid ihr in unseren Lebensraum eingedrungen?« Die Frage - Bild an Bild gereiht - kam überraschend. Bevor er darauf antworten konnte, folgte bereits die nächste Abfolge von Impressionen. »Was habt ihr vor? Wollt ihr uns ausspionieren?« »Wir hatten keine Pläne und verfolgten keine bestimmte Absicht«, antwortete Cloud, ohne darüber nachzudenken. »Wir waren auf der Flucht. Es war purer Zufall, dass sich der Aqua-Kubus in unserer Nähe befand. Er war unsere Rettung. Vorübergehend zumindest.« »So nennt ihr Tovah'Zara? Aqua-Kubus?" Cloud bejahte. Lovrena schwieg eine Weile, dann schickte sie Bilder, die sagten: »Ich glaube dir nicht. Wovor sollte er euch gerettet haben?« Cloud bäumte sich gedanklich auf, als er begriff, dass er erneut ohne Zögern antworten wollte. »Du kannst doch meine Gedanken lesen. Sie verraten dir, dass ich die Wahrheit sage.« »Du irrst dich. Ich lese deine geheimsten Gedanken nicht. Es ist ein viel komplizierterer Vorgang, als du dir offenbar vorstellen kannst. Wir Vaaren sind in der Lage, Gedankenbilder zu erzeugen und zu empfangen, die in unserem Gegenüber Wissen über das entstehen lassen, was wir ihm sagen wollen.« »Das scheint mir genau das zu sein, was ich unter Gedankenlesen verstehe.« »Falsch, denn wir vermögen nichts zu sehen, was uns vorenthalten werden soll. Wesen vermögen dies instinktiv zu verhüllen. Du auch.« Kopfschüttelnd presste sich Cloud die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Um sich von ihrer unablässig spürbaren Präsenz abzulenken, konzentrierte er sich auf den Raum, in den man ihn geführt hatte. Die Königinnenkammer. Es gab einen lang gestreckten Tisch mit fremdartigen Stühlen. Auf einem davon saß er gegen die hohe Rückenlehne gelehnt. Noch immer schwebte Lovrena über dem Tisch. Sie war von einem überirdischen Leuchten umgeben, wie von einer Aura, und es bereitete Cloud Schwierigkeiten, seinen Blick von ihr zu lösen. An den Wänden bemerkte er eine Reihe von Monitoren. Sie waren aus geschaltet. Auch verschiedene andere Geräte kamen ihm vertrauter vor als die Dinge, die er auf der VULGAAR gesehen hatte.
Das war erstaunlich... oder auch nur eine Inszenierung? Für ihn? Schließlich hatte er
bereits erfahren, dass vaarische Technik nicht an bestimmte Formen gebunden war.
Er erinnerte sich daran, was er von Nuglion über Protomaterie erfahren hatte. Wenn
die Luuren tatsächlich solche Meister im Umgang damit waren, konnten sie
möglicherweise alles daraus erschaffen, was ein Mensch – oder Vaare - sich nur
vorzustellen vermochte.
Cloud lenkte seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand des weitläufigen Raums.
Sieben prunkvoll umrahmte Bilder hingen dort, ähnelten irdischen Gemälden alter
Meister, bestanden aber zweifellos nicht aus bemalter Leinwand. Cloud vermutete,
dass auch die Bilder aus Protomaterie geformt worden waren.
Sie zeigten nichts, für das er eine Bezeichnung fand. Vielmehr erkannte er liebevoll
ziselierte Artefakte mit ihm unverständlichen kryptischen Symbolen.
»Was ist das?«, fragte er neugierig.
»Warum seid ihr in den Kubus eingedrungen?«, kam die Gegenfrage.
»Ich sagte es dir bereits, aber wenn du mir nicht glaubst...«
Er spürte, dass Lovrena ihm nichts über die Gemälde mitteilen wollte, aber Fetzen
von Gedankenbildern hatten sich in ihre Gegenfrage gemischt.
... Sieben... Hirten...
Die, die schon lange... nicht mehr waren...
Handelte es sich um etwas Ähnliches wie Heilige für die Vaaren? Götter?
»Die Sieben Hirten - wer ist das?«, wollte er geradeheraus wissen.
»Ich sagte dir schon einmal, dass ich es bin, die die Fragen stellt. Du hast lediglich zu
antworten, denn du bist der Eindringling. Wir können uns das nicht bieten lassen,
denn wir müssen davon ausgehen, dass ihr eine Gefahr für uns darstellt.«
Sobek. Mont. Mecchit.
»Ich habe dir eine einfache Frage gestellt, und ich warte noch immer auf eine
Antwort«, erinnerte Lovrena.
Ihre Gedankenimpulse wurden drängender. Gleichzeitig wuchs die Erregung der
Vaaren-Königin. Deutlich erkannte Cloud, dass sie ihm die heiligen Namen nicht
mitteilen wollte. War das ihre Schwäche? Ihr eigener Überschwang, den sie nicht
bremsen konnte?
Sarac. Ogminos.
Lovrenas Aufregung übertrug sich auf Cloud. Beinahe fiebrig starrte er die Gemälde
an, und er hatte den Eindruck, in den nichts sagenden Symbolen die eben
empfangenen Namen wieder zu finden. Namen, die eine Reaktion in ihm auslösten.
Allein dem Klang wohnte eine gewisse Magie inne.
Verwirrung übermannte ihn. Er konnte nicht mehr unterscheiden, ob seine eigene
Begeisterung mit ihm durchging, oder ob er Lovrenas Emotionen mit lebte.
Zwei Namen fehlten noch. Epoona. Siroona.
Das waren sie.
Die Sieben Hirten.
Unwillkürlich wusste Cloud, dass es sich dabei nicht um Normalsterbliche handelte.
Diese Wesen mussten etwas Besonderes sein. Allein der Klang ihrer Namen ließ
keinen anderen Schluss zu. Und ebenso die Art und Weise, wie Lovrena sich zu
ihnen hingezogen fühlte und ihnen bedingungslose Verehrung entgegenbrachte.
Vielleicht konnte Darnok etwas mit den Namen anfangen.
»Was habt ihr mit meinem Schiff gemacht?«, fragte John.
»Wir haben es untersucht, aber es war nichts an Bord, das wir verwenden könnten.
Eure Technik ist nicht mit unserer kompatibel.«
Die Antwort beruhigte den Kommandanten. Den Vaaren war es offenbar nicht
gelungen, Darnok dingfest zu machen. Sie hatten ihn offenbar nicht einmal erkannt.
Das war immerhin ein positiver Aspekt. Darnok blieb also so etwas wie eine Trumpf-
Karte in der Hinterhand.
Er verdrängte die Gedanken, damit sie nicht doch noch zu Lovrena durchdrangen.
»Ich werde dir auf keine deiner Fragen mehr antworten«, ging er in die Offensive.
»Es sei denn, du verrätst mir, wo meine Begleiter sind.«
»Die Antwort wird dir nicht gefallen.«
Das Gedankenbild war von düsteren Farben geprägt. Und dann fügte Lovrena auch
schon hinzu: »Die, die sich Scobee und Resnick nannten, sind tot.«
Die Eröffnung versetzte Cloud mehr als nur einen Stich. Er glaubte, den Boden unter
den Füßen zu verlieren. Verzweifelt lauschte er in sich hinein, um einen Hinweis
darauf zu finden, dass Lovrena ihn lediglich anlog. Doch ihm war klar, dass sie dafür
keinen Grund hatte.
Er sah Scobees Gesicht vor sich, und er erkannte, dass sie und er sich näher
gekommen waren, als er das bewusst wahrgenommen hatte. Nun war es zu spät. Die
GenTec war tot - und Resnick mit ihr.
Die Erschütterung wich erst der Hilflosigkeit und dann purer Wut.
»Ihr habt sie getötet! Dabei haben sie euch nichts getan. Wir sind nicht in
feindseliger Absicht gekommen! «
»Es war ein Unfall«, erwiderte die Vaaren-Königin. »Sie sind ertrunken. Ihr Tod war
nicht vorhersehbar.«
»Du lügst! Ihr habt sie auf dem Gewissen. Ohne euch wären sie noch am Leben!«
Cloud spürte, wie ihn seine Kräfte verließen. Er war in einer ausweglosen Situation,
in der Hand von Wesen, die er nicht einzuschätzen vermochte. Er war allein.
»Du solltest mit mir zusammenarbeiten, wenn du nicht ebenfalls sterben willst.«
Eisige Kälte sprach aus Lovrenas Gedanken. Die Vaaren hatten die beiden GenTecs
nicht willentlich getötet, aber deren Ende bedeutete ihnen auch nicht das Geringste,
wie es schien. Es war der Königin so gleichgültig, als spräche sie über eine Lappalie.
Cloud schüttelte den Kopf. Eine mechanische Geste, die Lovrena nicht verstehen
konnte.
»Was ist mit Jarvis?«, wollte er wissen, weil sie ihn bei ihrer Aufzählung
verschwiegen hatte.
»Er lebt, und es geht ihm gut. Ihn konnten wir retten.«
»Retten? Ihr hättet niemanden retten müssen, wenn ihr uns nicht angegriffen hättet.«
Cloud konnte sich nicht einmal über die gute Nachricht freuen. Der Schock über den
Tod der anderen saß tiefer, als er es noch vor Tagen für möglich gehalten hätte.
Der Weltraum hält unzählige Gefahren für uns bereit. Wir dürfen nicht so vermessen
sein zu glauben, ihn erobern zu können, ohne uns gelegentlich Schrammen zu holen.
Sein Vater war es gewesen, der ihm vor vielen Jahren diese Worte gesagt hatte.
Lange vor der ersten Marsexpedition.
Nathan Cloud hatte Recht behalten.
Cloud versank in dumpfes Brüten. Er war nicht mehr ansprechbar und reagierte auch
nicht auf Lovrenas Signale.
Nur unbewusst bekam er mit, wie die Vaaren-Königin schließlich anordnete, ihn
wieder in seine Zelle zu bringen.
Die Menschen folgten ihm wie selbstverständlich. Rurkka behielt sie im Auge. Auch wenn sie auf ihn angewiesen waren, traute er ihnen doch nicht so, wie er es sich gewünscht hätte. Sie waren Gefangene, deshalb war es kein Wunder, dass sie sich zu einer Zusammenarbeit bereit erklärten. Wenn ihnen erst die Flucht gelungen war, mochte das anders aussehen. Ganz anders. Rurkka fühlte sein Herz vor Aufregung hüpfen. Was er tat, war selbst in seinen Augen ungeheuerlich. Er versuchte, sich nicht auszumalen, welche Konsequenzen es im Falle eines Misserfolges für ihn bedeutete. Und wenn schon, führte er sich vor Augen. Deine Zeit läuft ab. Du hast nicht mehr lange zu leben, ganz egal wie dieses Abenteuer ausgehen wird. Ein starkes Argument! Sie hielten sich im Schatten der großen Gebäude, um nicht entdeckt zu werden. Zwar glaubte Rurkka nicht, dass bereits jemand die Flüchtlinge vermisste, aber wenn man sie sah, würden sie Aufsehen erregen. Später wäre es dann leicht, ihre Spur zu verfolgen. Er dachte an Sorkka. Ob sein Ziehsohn die richtigen Schlüsse ziehen würde? Vermutlich, denn Sorkka war kein Dummkopf. Er hatte sich nicht umsonst gegen den Altersweisen durchgesetzt - wenn auch nur mit Hilfe der Königin. »Wir müssen dort hinüber«, dirigierte er Scobee und Resnick. Sie schwammen durch einen Algenpark, der zum Wonak-Matul gehörte, der Aufbereitungsstätte. Zum Glück waren die meisten Räumlichkeiten um diese Zeit verwaist, aber irgendwelche Luuren waren immer in den an die Protowiesen
angrenzenden Bereichen unterwegs, um einen Blick auf das sagenumwobene
Wonak-Matul zu werfen.
Vergangenheit. Aus und vorbei. Du wirst nie wieder auf den Protowiesen arbeiten.
Du wirst nie wieder auch nur einen Blick darauf werfen können.
Er begriff, dass es ihm beinahe gleichgültig war. Den größten Teil seines Lebens
hatte er dort verbracht, doch nun war es vorbei. Mit erschreckender Klarheit
analysierte er seine Motivation.
Du hast Angst vorm Sterben, nicht mehr und nicht weniger.
Mit der Ablösung kam für ihn der Tod, und das konnte er nicht einfach hinnehmen.
Tief in seiner Seele war der Wunsch nach Unsterblichkeit verankert. Niemand hatte
das Recht, ihm sein Leben zu nehmen. Er, der große Schöpfer Rurkka, würde dem
Tod ein Schnippchen schlagen!
Doch da war noch eine zweite Stimme. Sie wollte ihm einreden, es sei unmöglich,
auf diese Art davonzukommen. Die Vaaren würden es nicht zulassen, und er konnte
sich nicht noch mehr Zeit borgen, die ihm von Natur aus nicht zustand.
Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen - vergeblich.
Tick-tick-tick.
Er bildete sich ein, das gleichmütige Ticken zu hören, das biomechanisch in seinen
Genen verankert war.
»Dort kommt jemand«, warnte Resnick. Die Linguatoren arbeiteten einwandfrei.
Ohne eine Antwort abzuwarten, bewegte sich Rurkka in den Schatten einer hoch
aufragenden Säule von nachtschwarzer, wie geronnen wirkender Finsternis. Er
tauchte in sie hinein und verschwand vor den Augen der GenTecs.
»Rurkka!«, zischte Resnick. »Der Kerl hat uns reingelegt.«
»Kommt schon«, drang da die Stimme des Luuren zu ihnen herüber. »Oder wollt ihr
warten, bis man euch entdeckt?«
Die Menschen folgten ihm, aber sie brauchten einige Sekunden, bis sie ihn eingeholt
hatten und ebenfalls die Säule erreichten. Sie zögerten, doch als sich eine Gruppe
Luuren näherte, gab sich Scobee einen Ruck und trat ebenfalls in den Schatten der
Stele. Resnick folgte ihr einen Augenblick später.
Erleichtert registrierte Rurkka, dass sie es gerade noch geschafft hatten. Auch wenn
die beiden Menschen gute Schwimmer waren, merkte er ihnen an, dass sie ein Leben
unter Wasser nicht gewohnt waren. Dennoch machten sie ihre Sache gut.
Seine Nervosität steigerte sich, als fünf pulsierende Kugeln erschienen und wenige
Meter über dem Boden verharrten. Grelle Lichtspiele waren darin zu erkennen,
bizarre Muster bildeten sich und fielen wieder in sich zusammen. Ein hypnotischer
Klang ging von den Kugeln aus.
»Was ist das?«, fragte Scobee misstrauisch. »Eine Bedrohung für uns?«
»Schwebsphären«, erklärte Rurkka. »Sie bestehen aus instabiler Protomaterie, die
sich unablässig verändert und ihren Insassen nie gekannte Träume zeigt.«
»Ihren Insassen?«
»Traumsüchtige, die versuchen, mit der Protomaterie eins zu werden. Sie haben die
Wirklichkeit vergessen und streben ein Hybrid-Dasein an.«
Bevor Scobee weitere Fragen stellen konnte, setzten die Schwebsphären ihren Flug fort und verschwanden in der Ferne. »Weiter!«, drängte der Erste Verwerter. »Sorkka wird zurück im Labor sein. Bei seiner Intelligenz braucht er nicht lange, um sich auszumalen, dass ich euch zur Flucht verholfen habe. Dann alarmiert er die Königin, und in kürzester Zeit sind die Vaaren hinter uns her. Denen kann man nicht lange entkommen. Sie haben überall ihre Späher.« »Wenn du damit andeuten willst, dass wir keine Chance haben, Jarvis zu befreien und allein fliehen sollen, vergiss es. Wir lassen ihn nicht zurück.« »Ich habe das verstanden«, zischte Rurkka verärgert. Er konnte die Menschen nicht begreifen. Er an ihrer Stelle hätte versucht, seine eigene Haut in Sicherheit zu bringen, statt sich auf ein aussichtsloses Unternehmen einzulassen. Eine Entscheidung reifte in Rurkka. Es genügte nicht, den Menschen Jarvis aus dem Wonak-Matul zu befreien, denn danach fing die eigentliche Flucht erst an. Die öffentlichen Protofähren würden ihnen dabei nicht weiterhelfen, sie brauchten ein eigenes Schiff. Vor ihnen tauchten die Umrisse eines Haltepunkts auf. Er war verlassen. Zum Glück brauchten sie nicht lange auf eine Fähre zu warten. Dank seines Status bestiegen sie eine der nicht von außen einsehbaren Luxuskabinen. »Die Fähre wird uns an einen Ort bringen, an dem wir Hilfe erhalten«, informierte er Scobee und Resnick. »Es sind drei Stationen. Erst danach können wir uns um euren Freund kümmern.« »Was hast du vor? Versuch nicht, uns hereinzulegen, sonst kannst du unsere Abmachung vergessen.« Rurkka zweifelte daran, dass seine tollkühne Überlegung zu einem Erfolg führen würde. Aber er sah keine andere Möglichkeit. Er musste alles riskieren, wenn er das Draußen einmal sehen wollte. »Wir werden eines der Jadeschiffe entführen!«, stieß er hervor. So weit war es also gekommen. Nicht einmal davor schreckte er noch zurück. Mit einem unguten Gefühl dachte er an den handlichen Rezeptor, den er bei sich trug. Und wusste, dass er ihn einsetzen würde. 10. Wirre Träume geisterten durch seinen Schlaf, Träume, in denen sich das Weltall gegen ihn verschworen hatte. Wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden hing er im Fokus der Verschwörung. Es gelang ihm nicht, sie zu zerschneiden, und niemand half ihm. Alle hatten sich von ihm abgewandt... Als er jäh hoch schreckte, wusste er nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Selbst seine Zelle war von dem trüben grünen Licht durchdrungen. Es war allgegenwärtig, aber er machte sich in diesem Moment keine Gedanken über seinen Ursprung. Auf der Erde war Grün die Farbe der Hoffnung, doch um Cloud herum war nur völlige Hoffnungslosigkeit. Das Gefühl breitete sich immer weiter in ihm aus. Es
fraß sich wie ein krankes Geschwür durch ihn hindurch, und er hatte keine Kraft, sich dagegen zur Wehr zu setzen. War denn nicht ohnehin alles umsonst? Ihm waren die Hände gebunden. Es gab nichts, was er aus eigener Kraft tun konnte, man ließ ihm keinen Handlungsspielraum. Für die Vaaren war er nicht viel mehr als ein etwas intelligenteres Tier, zumindest hatte er diesen Eindruck gewonnen. Nun, da er nicht mehr unter Lovrenas direktem Einfluss stand, war sein Urteilsvermögen zurückgekehrt, und es urteilte nicht sonderlich schmeichelhaft über ihn selbst. Widerstandslos war er ihren suggestiven Einflüsterungen erlegen gewesen. Nun war er wieder er selbst, aber das nützte ihm auch nichts. Er hatte seine schmucklose Zelle untersucht, aber rasch einsehen müssen, dass eine Flucht daraus unmöglich war. Er entdeckte nicht einmal einen Zugang. Wände, Boden und Decke der Zelle waren wie aus einem Guss. Cloud nahm an, dass sie, wie so vieles im Aqua-Kubus, den Lovrena Tovah'Zara nannte, aus Protomaterie geformt war. Er hatte keine Möglichkeit, etwas zu zerstören. Doch selbst wenn, wohin hätte er sich nach einem gelungenen Ausbruch wenden sollen? An Darnok in seinem Karnut? Cloud hatte keinen Anhaltspunkt, wo er den Keelon suchen sollte. Die Entfernungen innerhalb des Kubus waren riesig, ohne ein schnelles, weit reichendes Fahrzeug war man verloren. Es war nicht einmal sicher, dass Darnok sich überhaupt noch auf dem gleichen Planeten aufhielt wie Cloud. Vielleicht hatte man ihn samt Karnut zu einem anderen Planeten transportiert, vielleicht hatte Darnok aber auch längst das Weite gesucht. Dass er nicht ihr Freund war, hatte er mehrfach bewiesen. Aber er ist auch kein Feind, versuchte sich Cloud eine Spur von Hoffnung zu bewahren. Obwohl Darnok behauptete, die Menschheit - also das Volk, dem er, Cloud, und die GenTecs entstammten - habe die Keelon ausgerottet. Das Schlimmste daran war, dass dies womöglich stimmte. Die Menschen waren allem Anschein nach zu rücksichtslosen Eroberern geworden. Wo sie auftraten, führten sie Kriege und schürten den Konflikt zwischen außerirdischen Rassen. Nach allem, was Cloud bislang wusste, war er mit den anderen in einer ferneren Zukunft gestrandet, in der nichts mehr so war wie sie es kannten. Selbst wenn ihm die Flucht gelang, wie sollte er je in seine Epoche zurückkehren? War ein Wurmloch wie eine Zeitmaschine nutzbar - und wenn ja, handelte es sich dabei um ein in beide Richtungen funktionierendes System, oder war es eine Einbahnstraße? Was bedeutet hätte, dass es nie mehr ein Zurück gab. Wenn er darüber nachdachte, kam ihm die Vorstellung so oder so geradezu grotesk vor. Trotzdem war es in eine Richtung bereits irgendwie geschehen - und damit hatte sich alles verändert. Cloud atmete schwer. Ein gewaltiger Druck lag auf seiner Brust. Was war da erwachsen aus seiner Expedition zum Mars? Wie nur hatte es so weit kommen können? Ich werde es nicht mehr erfahren. Und ich werde die Erde niemals wieder sehen.
Er spürte einen Fatalismus, der ihn zerbrechen konnte, zumindest aber gleichgültig
machen gegen die Situation, in der er sich befand. Und das war nicht weniger
gefährlich und destruktiv.
Er richtete sich auf, als sich in einer der Wände eine Lücke bildete.
Sie kamen, und diesmal waren sie stark und kräftig. Ihre Nesselfäden ähnelten
Fangarmen, denen ein normaler Mensch nichts entgegenzusetzen hatte.
Sie packten Cloud und zerrten ihn mühelos mit sich fort.
Cloud unternahm nicht einmal den Versuch, sich zu wehren.
Scobee betrachtete das Rochenschiff mit gemischten Gefühlen. Von der Silberstadt aus hatten sie diesen Schiffstyp bereits bei verschiedenen Operationen beobachtet. Die Fahrzeuge der Aqua-Bewohner waren schnell und wendig. Inzwischen wusste Scobee, dass sie über ein enormes Beschleunigungsvermögen verfügten. »Das kann nur schief gehen«, unkte Resnick. »Oder diese Vaaren sind doch keine solchen Wunderknaben, wie man uns weismachen will.« Auch Scobee war skeptisch. Die Beherrscher des Kubus mussten über eine unglaubliche Macht gebieten, kontrollierten offenbar sämtliche Vorgänge innerhalb des „galaktischen Weltwunders", das der Würfel darstellte - und nicht zuletzt schienen sie ihn auch erbaut zu haben. Es war allerdings erstaunlich, dass der Kubus seit urlanger Zeit völlig unbehelligt durch das All zu ziehen schien. Wo waren die Abenteurer, die Neugierigen, die Glücksritter, die darin ein Eldorado sehen mussten - einen Hort unvorstellbarer Schätze und Reichtümer? Wo waren die Flotten irgendwelcher Sternenreiche, die versuchten, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen, um den Kubus zu annektieren? Stattdessen schienen selbst die völlig egoistisch agierenden Menschen den Sonderstatus des Kubus zu respektieren. Sie hatten die Verfolgung abgebrochen, nachdem das Karnut in den Würfel eingeflogen war. Oder täuschte das? Bereiteten sie ihren Schlag nur überaus sorgfältig vor? »Wie willst du den Vaaren überwinden?«, fragte Scobee. »Ich hoffe, du hast nicht vor, ihn zu töten. Dann wird eine gnadenlose Jagd auf uns beginnen.« »Die Vaaren werden uns ohnehin jagen«, erwiderte Rurkka. Scobee hatte den Eindruck, dass seine Stimme zitterte. »Doch ich habe nicht vor, ihn zu töten. Ich bin ein Schöpfer, kein Mörder.« »Das solltest du mal deinem Schüler klar machen.« »Sorkka geht seinen eigenen Weg. Es ist meine Schuld, dass es nicht der richtige Pfad ist.« Damit schien das Thema für den Luuren erledigt zu sein, denn er widmete sich dem Jadeschiff, das sich langsam aus dem Zwielicht hervorschälte. Während sie sich ihm näherten, wurde seine Ähnlichkeit mit irdischen Mantas immer deutlicher.
Nur dass hier der Körper starr war. Dadurch verlor das Objekt automatisch an Eleganz. Rurkka brachte aus einer umgehängten Tasche ein handliches Gerät zum Vorschein. Versonnen betrachtete er es, um schließlich einige Einstellungen vorzunehmen. Eine schwache Kontrolllampe begann rhythmisch zu blinken, als er es gegen das sich nun vor ihnen auftürmende Jadeschiff richtete. Eine Luke öffnete sich, dahinter gähnte Dunkelheit. »Ich bringe die Gefangenen. Triff alleVorbereitungen für einen Start.« Rurkkas Worte ließen Scobee zusammenzucken. Sie tauschte einen viel sagenden Blick mit Resnick. Es gab eine Menge Unwägbarkeiten. Der Vaare an Bord konnte längst informiert sein, dass Rurrka mit den Wesen von jenseits des Kubus ein Bündnis eingegangen war. Vielleicht ließ er sich von Rurkka auch nicht einfach übertölpeln. Der Luure mochte auf schöpferischem Gebiet eine Kapazität sein, aber er war kein Kämpfer. Die beiden GenTlecs schwammen zuerst durch die Luke. Rurkka hielt jetzt ein anderes Gerät in der Hand. Angeblich eine Waffe, mit der er seine Gefangenen dirigierte, damit sie nicht auf die Idee eines neuerlichen Fluchtversuchs verfielen. »Beeindruckend«, bemerkte Resnick. Scobee empfand das Innere des Rochens ebenso. Es war mehr als großzügig angelegt - auf irdischen Raumschiffen hätte man sich eine derartige Platzverschwendung wahrscheinlich nicht geleistet. Allerdings entdeckte sie weder Maschinen, noch irgendwelche Einrichtungsgegenstände, die auf Funktionalität hindeuteten. Entweder war die Technik in die Schiffswandungen eingebaut,„ oder sie war dermaßen fremdartig, dass es ihr nicht gelang, sie zu erkennen. Gern hätte sie Rurkka danach gefragt, doch das hätte das Misstrauen des Insassen geweckt. Dann endlich bekam sie einen Vaaren zu sehen. Das Wesen war von absoluter Fremdartigkeit. Es bestand aus unruhig im Wasser schwebenden silberweißen Fäden, die keine feste Konsistenz zu ha ben schienen. Beinahe fühlte sie sich an einen Geist erinnert, an ein Phantom, einen Schemen. Sie fand keine treffendere Bezeichnung. Es war alles auf einmal, und doch nichts davon. »Golgerd«, vernahm sie die Stimme des Luuren. »Ich danke dir für deine Gastfreundschaft.« »Du musst dich nicht bedanken, Schöpf er. Vielmehr müssen wir Vaaren uns bei dir bedanken, weil es dir gelungen ist, die Flüchtlinge wieder einzufangen. Wie es deine Bitte war, habe ich Lovrena noch nicht davon unterrichtet. Diese Ehre gebührt dir allein.« Die übermittelte Stimme des Vaaren kam der GenTec überirdisch und unwirklich vor. So als dränge sie aus einer anderen Sphäre. Sie fragte sich, ob es an der Wiedergabe durch den Linguator lag, den Rurkka benutzte. Er hatte den Klonen vorher erklärt, dass sich Vaaren keiner Lautsprache bedienten, sondern mittels einer semitelepathischen Bildersprache untereinander und mit anderen kommunizierten einer Form von Telepathie, die im Normalfall körperlichen Kontakt, Berührung, voraussetzte. Lediglich dank Rurkkas kleinem, technischen Spielzeug konnten
Resnick und sie der Unterhaltung folgen, ohne physische Verbindung zu Golgerd
herzustellen.
Sie warf dem Luuren einen unauffälligen Blick zu.
Warum handelte er nicht endlich?
»An Bord der DAALGOR brauchst du deine Waffe nicht«, meinte Golgerd. »Deine
Gefangenen können hier keinen Schaden anrichten. Ich habe sie jederzeit unter
Kontrolle.«
»Ich weiß um die Fähigkeiten der Vaaren. «
»Dann weißt du, dass deine Sorge unbegründet ist. Wenn du willst, werde ich jetzt
einen Kontakt zu Lovrena herstellen.«
»Wir werden keinen Kontakt zur Königin aufnehmen«, erklärte der Erste Verwerter
mit Nachdruck.
»Ich verstehe dich nicht. Möchtest du deinen Erfolg nicht auskosten?«
»Mein Erfolg steht mir erst noch bevor«, erwiderte der Schöpfer. Er löste den kleinen
Kasten in seiner Hand aus. »Natürlich verstehst du nicht, denn du hast keine Ahnung
von meinen Plänen. Kein Vaare hat das. Was wisst ihr schon?«
Scobee konnte nicht erkennen, was Rurkka tat, aber Golgerd antwortete nicht mehr.
Sekundenlang herrschte Stille.
»Geschafft«, meinte Rurkka endlich. »Ich habe Golgerd überwunden. Er wird tun,
was ich verlange. Die DAALGOR gehört uns.«
»Das klingt, als ob du an deinem eigenen Erfolg gezweifelt hättest«, bemerkte
Resnick.
»Machen wir, dass wir hier wegkommen!«, trieb Scobee Rurkka zur Eile an. »Wir
müssen Jarvis befreien! «
Rurkka erteilte dem Vaaren entsprechende Anweisungen, und schon Sekunden später
war die DAALGOR auf dem Weg zum Wonak-Matul der Heukonen.
11. Königin Lovrena war immer noch so schön, wie er es von ihrer ersten Begegnung
her in Erinnerung hatte - und das, obwohl sie diesmal keinen erkennbaren Versuch
unternahm, ihn zu beeinflussen.
Cloud ließ sich auf einem der hochlehnigen Stühle nieder. Ihm war nicht nach reden,
auch nicht in der Form, die die Vaaren beherrschten. Die Müdigkeit wollte ihn nicht
mehr loslassen. -
Sein Körper war müde, und sein Geist war es auch.
»Ich weiß jetzt, dass ihr mich belogen habt«,riss ihn Lovrena aus seiner Lethargie.
Doch Cloud stierte weiterhin auf die Gemälde mit den kryptischen Darstellungen der
Sieben Hirten.
Welche Persönlichkeiten mochten sich hinter ihnen verbergen? Er kannte nun die
Namen, doch sie sagten nichts über ihre Träger aus.
Noch eine Frage, auf die er keine Antwort erhielt. Aber vielleicht gab es gar keine.
Auch die Menschen hatten sich im Laufe ihrer Entwicklung ständig neue Götter
geschaffen. Die Geschichte der Vaaren mochte ähnliche religiöse Eckpfeiler aufweisen. »Dir scheint es gleichgültig zu sein, was ich dir zu sagen habe.« Cloud löste sich aus seinen Betrachtungen. Umständlich rutschte er in seinem Stuhl umher und wandte der Königin den Blick zu. Mehr denn zuvor erschien sie ihm unwirklich und gar nicht real bei ihm zu sein. »Es ist alles gesagt«, erwiderte er. »Ob vorsätzlich oder nicht, ihr habt meine Freunde getötet. Mehr habe ich nicht zu sagen.« »Du irrst dich, und wir haben uns ebenfalls geirrt.« Cloud horchte auf. Er richtete sich kerzengerade auf. Plötzlich erwachte neue Hoffnung in ihm. »Was heißt das? Willst du mich belügen, um mich zu einer Zusammenarbeit zu verleiten? Darauf falle ich nicht herein.« »Ich habe es nicht nötig, dich zu belügen. Ich sage dir die Wahrheit. Deine Freunde leben.« Cloud konnte es nicht fassen. Er musste nicht einmal über ihre Behauptung nachdenken, um zu wissen, dass sie den Tatsachen entsprach. Denn Lovrena brauchte ihn nicht zu belügen. Er war sicher, dass sie über andere Wege verfügte, die Informationen aus ihm herauszuholen, die sie von ihm haben wollte. Scobee und Resnick lebten - auch Jarvis war irgendwo gefangen. Gefangen, aber am Leben. »Deine beiden Begleiter haben uns überlistet. Ihnen ist die Flucht gelungen, aber das wird ihnen nichts nützen. Es wird nicht lange dauern, bis wir sie wieder eingefangen haben.« Er dachte an die besonderen Fähigkeiten der GenTecs. Nur mit deren Hilfe konnte es ihnen gelungen sein, den Vaaren ein Schnippchen zu schlagen. »Ich weiß noch nicht genau, was geschehen ist, aber ich vermute, sie hatten einen Helfer«, riss ihn Lovrena aus seinen Überlegungen. »Ich erhalte in Kürze einen vollständigen Bericht von einem Luuren.« Cloud war wie elektrisiert. Der Verzweiflung der letzten Stunden war schlagartig von ihm abgefallen. Sollten die Klone es tatsächlich geschafft haben, Verbündete zu finden? Dann gab es wieder Hoffnung. Schließlich bildete auch Darnok noch eine stille Reserve, von der die Vaaren nichts zu ahnen schienen. Anderenfalls hätte Lovrena ihm das längst unter die Nase gerieben. Auch wenn sich an seiner eigenen Lage zunächst nichts änderte, konnte er nun wieder optimistischer in die Zukunft schauen. Er betrachtete die Gemälde an der Wand und nickte zuversichtlich. Ich werde herausfinden, wer ihr seid - oder wart, dachte er, und es war, als würde er sich selbst gegenüber einen Schwur leisten. Irgendwann werde ich mehr über euch in Erfahrung bringen als eure bloßen Namen. Irgendwann...
Das schwarze Wesen pulsierte so schwach, dass kein Außenstehender es als Lebenszeichen wahrgenommen hätte. Der Fremde, der an Bord des Karnuts gekommen war, hatte Darnok dementsprechend auch für einen Teil des Schiffes gehalten. Der letzte Keelon gab ein Geräusch von sich, das wie ein menschlicher Seufzer klang. Wie jede Äußerung Darnoks drang auch dieser Ton aus den Wänden.Die Die Menschen waren verschwunden. Cloud, Scobee und Resnick waren von den Bewohnern des Kubus mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden. Das Karnut hing im Schlepp eines ihrer Schiffe, die an riesige Lebewesen erinnerten. Sämtliche Aktivitäten waren auf Null heruntergefahren. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich der Pilot noch an Bord aufhielt. Wieder drang ein gequälter Laut aus den Wänden des Karnuts. Stärker denn je suchte er nach dem Sinn seines Lebens. Dem ihm noch verbliebenen Sinn. Das Bewusstsein, der Letzte eines Volkes zu sein, war wie ein Sturz in einen endlosen Abgrund. Damit einher ging solche Einsamkeit, dass sie sich nicht mit Worten beschreiben ließ. Darnok hatte Verlangen nach der Nähe anderer Keelon. Er wünschte nichts mehr, als ein letztes Mal einem von ihnen zu begegnen, aber er wusste, dass sich dieser Wunsch nicht erfüllen würde. Nie mehr. 'Er horchte in seinen Körper und stellte fest, dass er sich regeneriert hatte. Er verfügte über die Fähigkeit, die Zeit zu manipulieren. Er konnte sie formen, denn er lebte in einer Symbiose mit ihr. Jeder Einsatz dieser Fähigkeit aber schwächte ihn. Ohne Regenerationszeit verfiel er buchstäblich. Wie vor kurzem, als er auf Cloud und die anderen getroffen war... Darnok fühlte und genoss die Rückkehr seiner Vitalität. Noch auf Kaiser war sie nahe dem Nullpunkt gewesen. Verschwunden. Anderenfalls hätten sie nicht den Kubus ansteuern müssen... Ein klagender Laut, gepeinigter als je ein lebendes Wesen ihn vernommen hatte, wehte durch die Räume des Karnuts. Um die genauen Umstände zu ermitteln, die zur Vernichtung seines Volkes geführt hatten, musste Darnok das tun, was ihn am meisten schmerzte: Er musste sich den Menschen anschließen, den Erinjij. Denn nur über diesen Weg, dessen war er sich sicher, konnte er hoffen, die ganze Wahrheit zu ergründen. Nein, ihm blieb wahrhaftig keine andere Wahl, als das Karnut zu verlassen und nach den verschwundenen Menschen zu fahnden. Darnok entschied, dass es an der Zeit sei, aktiv zu werden. Er erhob sich aus der schützenden Schale, in der er sich regeneriert hatte - und verließ das Karnut, um seinen Feinden beizustehen.
ENDE
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