ANKE VELMEKE
LUFTFISCHE ROMAN
VERLAG C. H. BECK
Die Autorin dankt der Prosawerkstatt 1999 des Literarischen Colloqu...
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ANKE VELMEKE
LUFTFISCHE ROMAN
VERLAG C. H. BECK
Die Autorin dankt der Prosawerkstatt 1999 des Literarischen Colloquiums Berlin und insbesondere Ursula Krechel für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch. Irgendeine Ähnlichkeit von Figuren dieses Romans mit verstorbenen oder lebenden Personen, die ein Leser vielleicht erkennen könnte, ist rein zufällig, jedenfalls aber nicht beabsichtigt.
ISBN 3 406 46206 5 © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 2000 Gesamtherstellung: Kösel, Kempten Printed in Germany
Lene – so heißt die zentrale Figur dieses durch und durch ungewöhnlichen Romans über eine nach außen hin gewöhnliche Familie –, Lene ist dreizehn und kein Kind mehr. Mit ihrem Vater spricht sie nicht. Sie entzieht sich seinem Zugriff, erhält immer mehr Macht und gewinnt letztendlich eine einflußreiche Position in der Familie, aus der sie ihn, ohne es zu wollen und ohne sich dessen bewußt zu sein, ganz verdrängt. Im Mittelpunkt des Romans steht die Beziehung zwischen Vater und Tochter; davon ausgehend erzählt Anke Velmeke auf unsentimentale und ironische, fast spielerische Weise von den Konstellationen innerhalb der Familie, wobei die Autorin auf jegliche Art psychologischer Reflexion verzichtet hat. Oben und unten, Dachfirst und Erdboden, draußen und drinnen – dies sind die Eckpunkte ihres Puzzles, das der Leser mit größtem Vergnügen zusammensetzen wird.
Für A.
1
Lene war dreizehn, kein Kind, auch wenn dreizehn kein Alter ist. Sie mochte die Luft, draußen vorm Haus, das ihr dunkel und steil im Rücken stand. Die Vordertür fiel ins Schloß, ölig klickend, Lenes Kopf in den Nacken: Himmel, Giebel, Haus, hinter ihr und doch sichtbar. Im März sprach sie zum letzten oder vorletzten Mal mit dem Dachdecker, der unvermutet erschienen war wie oft. Die Haustür schlug zu, er trat hinter der weißen Kante des Nachbarhauses hervor: blauer Ärmel, schwarzes Hosenbein, karges und glattgespanntes Muskelgesicht. Lene begann im Kopf zu zählen, irgendwas, Gesten/Steinchen/Kippen, wich ihm nicht aus. Es war der Weg zum Kiosk, auf dem er ihr entgegenkam, schrittweise ging sie auf ihn zu, 5 Schritte, 6, dabei hatte er schon sein Verbotsgesicht aufgesetzt, die Wangenknochen traten hervor unter der Gummihaut, Sehnen vibrierten, 8, Verbotsvorboten, was würde er heute verbieten, spannend war das, man wußte es nie. Sie dürfe die Vordertür nicht mehr benutzen. Warum, fragte sie, ein Wort, das sie oft zwischen den Zähnen trug, das hervorblitzte wie eine Zahnspange. 17. Er schlug sie nicht, natürlich, es war ja auch draußen, direkt an der Straße, eine Einbahnstraße, mit schönen roten Blechkreisen, weiße Streifen darin, wie man sie Leuten, die anonym bleiben sollen, vor die Augen klebt, sie unkenntlich macht. Die Kreise standen auf Stangen, an denen Lene und ihre Brüder emporkletterten, unermüdlich nach oben, wo sie sich vorwärtstasteten, balancierten, auf Mauern, Bäumen, Dächern. Die Dachdeckerfrau konnte nichts dagegen tun, nur zuschauen von
innen und sich festhalten an der Fensterbank, bis endlich die Fenster zustaubten: es waren ja Dachdeckerkinder. Weil ich das sage, sagte der Dachdecker auf Lenes Warum, 18 bis 21, es war eine Formel, ein Axiom, und: aha sagte Lene nicht, auch nicht haha, und alles mögliche nicht, sondern schwieg, überschritt die Grenze zum nächsten Grundstück, 22, wo sich der glatte nachbarliche Asphalt über den heimischen geschoben hatte, ihn überlappte, vorankroch, millimeterweise, zu den Rosen an der Hauswand, die er umschlang und schwärzte, wie dann auch die Schieferwand selbst und das Haus. Das war abzusehen, und man sprach nicht darüber, eine nachbarliche Übereinkunft, es gab wohl auch einen Vertrag darüber, der irgendwo auf dem Speicher vergilbte. Der Weg zum Kiosk war unsichtbar, dabei doch vielfüßig begangen, links eine Imbißstube, wo sich hinter Fettglas halbe Hähnchen drehten, gemächlich, schwitzend. Wenn es kalt war, drückte Lene Hände und Nase an die Scheibe, beruhigender Anblick das, besser als ein Aquarium, die Hähnchen waren ja bereits tot. Rechts eine Mauer, eine Straße, die steil am Berg lehnte. Vorn der Kiosk, grünweiß gefliest, mit einem Fenster für den Straßenverkauf, hinten ein dämmriger Laden, wo sich alles und jedes bis zur Decke stapelte. Als Lene die Glastür hineinschob, fragte gerade eine Lederne nach einer Zündkerze, und: etwa ne Tankstelle hier, brummte Schröter, drängte sich aber schwerfällig an ihr vorbei, stocherte mit dem Krückstock in einem Regalwinkel, bis das Päckchen über die Kante kippte, so daß sie es nur noch zu fangen brauchte. Schröter hatte ein Bein in Rußland verloren, es lag dort im Straßengraben, gestiefelt und zugeschneit. Das neue zirkelte beim Gehen schöne halbe Kreise, gab ihm auch Wettertips, und wenn ihm jemand in die Quere kam, streckte er es zur Seite, wie um auszuholen und zuzutreten, was niemand riskieren wollte.
Und du? fuhr er Lene an, dabei kaufte sie immer das gleiche, eine Flasche Amselfelder, zwei Veltins und ein paar Camels für die Dachdeckerfrau, die meinte, daß so kleine Mengen nicht auffielen. Heute allerdings noch eine Bravo, was willsten mit dem Schund, abfällig schob Schröter das Kinn vor, sie schaute beim Zusammenrollen kurz auf: Pubertät, knickte entschuldigend die Ellenbogen, er runzelte zum Abschied die Stirn. Pu-Pu-Pubertät hüpfte ihr das Wort noch daheim durch den Kopf, als sie sich und die Bravo aufs Bett warf, dann doch wieder mit den Beinen nach dem Boden tastete und sitzend das Heft in der Mitte aufschlug: ein Unterarm, sogar mit Hand, den sie heraustrennte, ausschnitt und an Shaun Cassidys Ellenbogen feststeckte. Kopflos stand der Jüngling vor ihr, in Jeans, sonst nichts. Puuuh. Sie wischte die Haare aus dem Gesicht. Pubertät.
Er: morgens am Küchentisch, 1, Heldenprofil, geschorenes Haar, der wuchtige Unterarm lag vor ihm, 2, in der Steinhand die kleine Kaffeetasse, zerknisterte Zeitung, aß, 3, 4, 5. Lenes Blick glitt von ihm ab, Morgen, mußte jetzt gesagt werden, und zwar laut, zackig, mit eigener Stimme, mit ihrem Mund. Der fühlte sich taub an, die Zunge platt. Die Beine: ein Schritt. Der auf dem Stuhl griff nach dem Wurstbrot, hielt es starr in die Luft, ohne zuzubeißen. Lenes Lippen schlossen sich leicht: kein Ton. Sie legte die Hand auf die kühle Herdkante, sagte: nichts, null, was leicht war, wohltuend, taschentuchsanft, und auch er: nichts, kein Wort, und immer noch nichts, und das Schweigen, das aus ihrem Mund kam, breitete sich über den Küchentisch, über Anrichte, Spüle und Herd, schwappte zur Decke wie klare Suppe, in alle Fugen, strömte in Fäden aus dem Haus in den brüchigen Morgen.
Lene setzte sich ihm gegenüber: ihr Platz, stand noch mal auf, um Wasser aufzusetzen, Hannes kam in die Küche, der gewachsen war, sie bald überholen würde und immer noch größer werden, ein Mann, schneller, Hannes, dachte sie, was Quatsch war. Immer wenn sie ihn messen wollte, flüchtete er, sie rannte hinter ihm her, den Zollstock in der Hand, über den Hof auf die Wiese, und wenn er stillhielt, dann nur, um blitzschnell an ihren nagelneuen Busen zu fassen, wenn der ohne Deckung war. Idiot. Sie schob das Nutella zu ihm, diagonal über den Tisch, dabei wollte er gar kein Nutella essen, kratzte nur mit dem Daumennagel über die Rillen des Deckels, sah sie verschlafen an, mit „seinem Lakritzblick. Damit lockte er sie, mit Lakritz, sie, die eigentlich keine Süßigkeiten mochte, aber Lakritz, schwarz, sie konnte nicht einfach schwarz sagen, mußte es immer zweimal sagen, schwarz, schwarrrz! Keine Farbe. Sie wand sich, schlängelte sich, wenn er unschuldig die Fäuste vor sich hielt, als wisse er nicht, was sie umschlossen, sie dann öffnete und die Schnecken aufblitzten, Lakritzschnecken, doppelte Doppelschnecken, über denen die rauhen Finger sich schlossen. So machte er sie sich gefügig: sie mußte sich auf den Rücken legen, egal wo sie waren, den Pullover hochziehen, sie sah in den farblosen Himmel, durch den Vögel rieselten, und vorsichtig, mit spitzen Fingern legte er die Rollen auf ihre Brustwarzen, immer gleichzeitig rechts und links, los, mach schon, und Lenes Leib wölbte sich unter der kalten Berührung. Erst wenn sie lagen und er die Hände fortnahm, durfte sie sie einfangen, indem sie den Pullover darüberriß, stopfte sich die erste Rolle noch liegend in den Mund, obwohl man im Liegen nicht essen soll, die ganze Rolle, und biß und kaute, bis alle Zähne von Lakritzmasse klebten. Schwarz. Falschrum lag sie auf dem schrägen Dach, kopfunter, spürte das Blut in den Ohren und riß den Arm hoch,
führte die Hand mit dem Zeigefinger im Halbkreis herum, bis sie auf den Kirchturm wies, auf die goldene Kirchturmkugel. Den Kirchturm hatte er gedeckt, zu fünf Mann hatten sie die Kugel hinaufgetragen, auf fünf Leitern, wohnzimmergroß war sie, sah aber jetzt eher aus wie eine Plastikperle. Die zweite Rolle dann genüßlich, am liebsten faßte Lene die beiden Lakritzfäden, spreizte sie auseinander, zog rechts und links, während die Rolle sich in der Mitte drehte. Das Dachfenster wurde aufgestoßen, Pauls Kopf erschien. Hannes fiel nach hinten und bekam einen Lachkrampf, bei dem er langsam, sich krümmend, das Dach hinabglitt. Was habt ihr denn, sagte Paul. Er war erst 8. Das Haus war 11 Meter hoch. Den Kopf auf den Arm gestützt, beobachtete Lene, wie Hannes’ Körper sich der Dachrinne zuwandte. Wenn abends das Licht hinter den Horizont kippte, fuhr sie auf dem Rad durch leere Straßen, zögernd drehten sich die hohen Reifen, zerdrückten Asphaltkrümel, Staub; Speiche um Speiche klappte nach vorn, und zwischen den Speichen drehten sich die Zwischenräume mit, die viereckig waren, gekrümmte Trapezoide. 21 Gänge hatte Hannes’ Rad, ein Rennrad, Herrenrad, chromblitzend, eloxiert. Auf ihm glitt sie zwischen weißen Markierungen, Bürgersteigen, Gullis und Bordsteinkanten, wechselnd zwischen Straße und Rinnstein, sehr langsam, sehr aufrecht, im Gleichgewicht. Die Pedale hoben und senkten sich kaum, sie ließ sich rollen zwischen Geraden, folgte Parabeln, Tangenten, überall Linien, Striche im Koordinatensystem, der Busbahnhof mit seinen parallelen Plattformen, irrlichternde Ampeln, Schaufenster, Kinos und Männer, langsam und lange an Häuserfronten entlang, zwischen wunderschönen Hyperbeln, vor den Blicken der Männer und Hunde, immer davor. Immer war sie es, die beobachtet wurde auf dem schmalen Sattel, die Beine beidseits der Stange. Sie strich den verblassenden Farben hinterher,
folgte Gerüchen, Geräuschen, fernes Quietschen oder Klappern zogen sie an, schließlich die Ruhr, das Fließen, Strömen, die Wasserlinien, die Brücke, die sie langsam überquerte, ohne anzuhalten. Dort, im Norden der Stadt, jenseits des Flusses, jenseits der Stahlfabrik, hing ein Zigarettenautomat, wo es ihre Marke gab, Dunhill schwarz. Langweilig, dieses klebrige, bittere Schwarz, manchmal wurde sie seiner überdrüssig, schleuderte Packungen gegen Hauswände, von denen sie niemals elastisch zurücksprangen, sondern grundsätzlich schlapp abrutschten. Neulich hatte sie sogar in plötzlichem Widerwillen rot gezogen, rote Dunhills, die nächsten Schwestern und bösesten Feindinnen der schwarzen. Schmeckten süßlich, fad, und die Packung, in glitzerndem Bordeaux und Gold, mußte sie in die hintere Hosentasche schieben, um sie vor sich selbst zu verbergen. Vor niemandem sonst, Rauchen war erlaubt oder vielmehr egal. Nur einmal, als sie auf dem Fahrrad zurückkam, sie fuhr unversehens schneller, je bekannter, riskanter, heimischer die Straßen, Fassaden, Fenster wurden, das Straßennetz, in dessen Mitte das Spinnenhaus, wo sie zu Hause war und also er, rasch, eilig in die Pedale, hochschalten, hoch die Gänge, die Häuserketten rechts links grau ernst, ließen sie durch, entließen sie in die Einbahnstraße, wo, wie sie wußte, oben das Haus, aufwärts jetzt auch noch, stehend die steile Einfahrt neben dem Haus, hastig in die Garage, Fahrrad abstellen, der Ständer klemmte, das Rad schwankte noch, da stand: er, vor ihr. Stand da unbeweglich, ein Dunkelmann, Betonkerl, massiv, konkret, der ließ nichts durch. 1, dachte sie, atmete. Zwischen ihnen 1 Meter, Sicherheitsabstand, 1, dachte sie, kam nicht weiter. Ihr gegenüber: ihr Gegenüber, blockierend, sperrend. 1. Was wollte er denn, schnitt ihr den Weg ab, wozu. Was ist denn, fragte sie leise, das war ihr Stimme. Von ihm nichts, das Schattengesicht unbewegt, ein schwarzer Balken lief quer
darüber, daneben der schmale Tenormund, die lächerlich kleinen weißen regelmäßigen Zähne, als er sprach: Hast du gekifft. Eine Frage, wenn auch tonlos, antworten jetzt, aber sie kannte das Wort nicht, zögerte, was ein Fehler war, falscher Fehler, sagte Paul gern, es war das falscheste, falschestmögliche; der Körper des Mannes sackte in sich zusammen, wurde schwerer, richtete sich zugleich auf, der Mund ein Strich, 1, dachte Lene. Die Hände. Gekifft, sagte sie noch, dann: rennen, plötzlich rannte sie, 10, zwängte sich an ihm vorbei, um die Hausecke, 100, Haus oder Garten, die Haustür stand offen, 1000, die Diele, wohin, durch Flure, um Ecken, ihn auf den Fersen, die Wutmaschine, ihr Zimmer, 10000, die Tür. Der Schlüssel, er ließ sich nicht drehen, flatternde Finger, die Tür: sprang auf, er, verzerrt. Er hatte sie, und dann war es ruhig, sie spürte: nichts. Irgendwann lag sie am Boden, da war es bequemer, er, über ihr, trat auf etwas ein, trat gegen etwas, wogegen, sie schützte den Kopf, er trat, und es wurde ihm gar nicht langweilig, dieses Treten, das konnte er, das ging wie von selbst, und er trat. Später war all das zum Lachen, das Rennrad, die Dunhills, das Treten, ihr sei es nämlich langweilig geworden, so erinnerte sie sich, sie sei sich blöd vorgekommen, so am Boden liegend, albern, ihr sei eingefallen, wo der Mann die empfindlichste Stelle habe, seine Schnecke, Nacktschnecke, wo seine Schneckenhaftigkeit zu Tage träte, schutzlos, wunderbar frei, allem ausgesetzt. Sie habe also zurückgetreten, schräg nach oben, mit ihren schon recht langen Beinen, gleiches mit gleichem vergeltend, obwohl man das ja nicht soll, egal, und er sei verschwunden, zumindest nicht mehr dagewesen irgendwann. Das war nun wieder lustig, lachhaft, eine Tat, Lene war die einzige, die sich je gewehrt hatte, ungläubig wurde gelacht, ruckhaft, das Lachen drohte die
langen Leiber zu zermürben oder auch nur zu erschüttern, sie bogen sich umeinander im winzigen Bad, zwischen grauen Kacheln, vorm zahnpastafleckigen Spiegel, zusammengedrängt von Waschmaschine, Klo und Dusche, die nie vollständig geputzt wurde von der Frau, sondern von der immer ein kleines Stück schmutzig blieb, zum Vergleich, zwecks gebührender Würdigung. Ein Streifen, handbreit, der umher wanderte, bald vorn war, beim silbrig schimmernden, von silbernen Fischchen bewohnten Abfluß, bald hinten unterm Fenster, auf dessen Fensterbank die Seifensammlung ausgebreitet war, die schlanken, zierlich gerundeten und gebogenen Stücke, in blassen Farben, veredelt durch den Gebrauch. Gern nahm Lene die lichtgebleichten Ovale auf, wog sie in der Hand, steckte die Fingernägel in Risse, die beim Trocknen aufgeplatzt waren, ließ die Kuppen über die stumpfen Ränder gleiten. Im Bad wurde gelacht und außerdem und zugleich uriniert, zahngeputzt, herumgestanden, das Bad war ein Ort der Begegnung, man zwängte sich aneinander vorbei, streifte Körperteile, ließ sich vom Autogeyser anfauchen, verglich die spiegelverkehrten Gesichter, Hannes hatte den runderen Mund und die Stupsnase der Frau, Lene alles vom Mann, also Pech; unbequemste Plätze nahm man ein: den kantigen Duschrand, das Klo, und genoß die Freuden des Bads, das dazu noch abschließbar war. Hier erzählte die Dachdeckerfrau vom Blut, Blut hätte der Mann an der Schläfe gehabt nach Lenes Züchtigung, dieses Blut jedoch konnte Lene sich nicht erklären, so lang waren ihre Beine nicht, das Blut blieb ein Rätsel, und die Frau hatte es abgetupft mit zärtlicher Taschentuchgeste, peinlich, manchmal tat sie sowas, ohne zu wissen warum. Sie war eine Romantikerin geblieben, trotz allem, aber es war ja auch nicht die Schuld des Dachdeckers, daß er so war, es gab ja Gründe,
eine Kausalkette hatte sie aufgefädelt, lückenlos, hübsch, alles war dabei, Hitlerjugend, Nachkriegszeit, schwacher Vater, Internat. Dort hätte einmal ein Schüler im Unterricht an der falschen Stelle gelacht, erzählte die Frau und zog ihren Pullover über den Kopf. Ihre kurzen schwarzen Haare standen durcheinander, spitz zeigten die Brüste nach rechts und links, darüber schnitt das Schlüsselbein scharf durch die Haut. Hannes drückte die Nase auf das kalte weiße Blech der Waschmaschine. Daraufhin hätten die Mädchen und Jungen sich getrennt in zwei Reihen aufstellen müssen, die Jungen hätten die Hosen herunterziehen müssen und seien der Reihe nach verprügelt worden, während die Mädchen sie auch noch verspottet hätten. Nicht schlecht, fand Lene, die gern zu den Mädchen gehört hätte. Hannes befühlte den Wasserhahn, an dessen Öffnung ein breiter Tropfen hing, dann ging er. Paul blieb, als die Frau Hose und Schlüpfer hinabschob: magere, bleiche Beine, der Po flach, sie fand sich zu dünn, und der Mann stimmte ihr da zu. Knochenfuße hob sie ins Duschbecken, auf die stumpfblaue Rubbermaid-Matte, die Matte des Rubbelmädchens, das sich nachts mit dem Alibert vergnügte. Wasserstrahlen trafen auf die milchige Haut, Strichstrahlen, aus dünnen Düsen, die Kuhlen hineindrückten. Lene, die auf dem Klodeckel saß, lehnte sich zurück, ihr Blick zog die Tropfenbahnen nach, hinterm Ohr, im Nacken und unter den Achseln, wo in fließender Linie die Brüste begannen, tropfengeschmückt wie die Ohrläppchen, Nase und Kinn. Die Haare schienen vom Wasser verdünnt, verschwanden fast ganz, der Kopf wie skalpiert, die Schamhaare: karges Gestrichel, das beim Trockenrubbeln kräuselig wiedererstehen würde. Die Hände im Nacken gefaltet, spreizte Lene die Beine, ließ die Fersen über die Bodenfliesen gleiten, kleine weiße Quadrate, schieferfarbene Trapeze, die sich abwechselnd in den
Vordergrund schoben. Pfützen dehnten sich bis zu Paul, der immer noch still vor der Waschmaschine kauerte, Wasser lief auch über die steinernen Wände, den Spiegel, floß durch die Luft, eine Überschwemmung, das Badezimmer würde zum Schwimmbecken werden, wenn die Frau so weiterduschte und immer nur duschte, ein Aquarium, mit Fraufisch und Paulfisch und Lenefisch, die sehr heiter und geradezu fröhlich, seepferdchengleich, durcheinanderschwämmen, sich gegenseitig mit dem Duschkopf besprühten und im letzten und allerletzten Moment, kurz bevor der Mann die Tür aufbräche, durch den Abfluß in kühle Kanäle entkämen. Die Frau des Dachdeckers schob ihr Gesicht ans Glas, drückte die Schläfe gegen die Scheibe, in das Rechteck zwischen den Sprossen. Man sah nicht gut durch die Staubschicht, die äußere Welt war zerkrümelt, ein grobkörniges Bild – die Straße, dahinter die Mauer, im Nachbargarten Baumgerüste, triefendschwarz. Erster Stock: kein Blut in den Spülfingern, weiße Gelenke, so klammerte sie sich an der Fensterbank fest, vermochte den Griff kaum zu lösen. Durchs kühle Glas fiel ihr Blick in die Tiefe und weiter, die Straße hinab, wo der Dachdeckerkopf hinuntergerollt war, langsam, es war kein sehr runder Kopf, und die Nase lenkte die Bewegung zur Seite ab, immer wieder kippte der Kopf, als wolle er den Asphalt aus der Nähe besehen, über Kinn und Nase, die sich schon grau färbten. Kaum Blut, nur sporadisch getupfte Tröpfchen, die grellrot aufglitzerten und sofort verblaßten bzw. sich mit dem Straßenstaub mischten. Die Axt, die an der Heizung lehnte, rutschte zur Seite, Heizungsblut gluckerte; später wollten die frierenden Kinder zwischen die Stahlrippen kriechen. Den Kopf? Mit der Axt? riefen sie lachend. Cool. Ihre Lider zerteilten die Blicke; die dünnen Arme zwängten sie hinter den Körper der Heizung. Lene schob eine Hand von unten über die
Wange, den Ringfinger eng am Nasenflügel entlang: War es nicht schwer? Obwohl die Frau jetzt auf der Heizung saß, fror sie, schob die Hände zwischen die Oberschenkel. Überhaupt nicht, sagte sie in das Wohnzimmer hinein. Wie Butter. – Warme Butter, warf Hannes ein. – Und dann hab ich ihn aus dem Fenster geworfen. – Cool, krähte Paul, und Hannes: Den Kopf? Die Stimme der Frau holperte geradeaus durchs Zimmer. Ich weiß gar nicht warum. Und wieso plötzlich die Axt da war. Leer lag der Wohnzimmertunnel vor ihnen, grün leuchteten eckige Sessel; das Sofa spannte zwischen sich und die Schrankwand synthetisch den Teppich: keine Axt, kein Rumpf, und abends kratzte der Schlüssel im Innern der Tür, schwerer als sonst war der Schritt, bevor der Kasten mit DimpleFlaschen abgesetzt wurde. Dreieckige Flaschen, gleichseitig dreieckig und konkav, unberührbar, innen glitzerte bernsteinfarbene Flüssigkeit. Wer Geld hat, trinkt Dimple, sagte später die Frau in Abwandlung eines Werbespruchs. Logik war nicht ihre Stärke, und Geld: das Wort stellte sich quer in den Ohren, stieß an den Ohrwänden an. Im Sommer – der Dachdecker war noch ein junger Mann gewesen – hatte er an der Anrichte gelehnt, scharf im Gegenlicht, ein Meister, und in seiner Dachdeckerhand einen 1000 Mark-Schein flattern lassen. Er fuchtelte damit vor Hannes’ Nase herum, bis der schützend die Hand hob, riß den Schein wieder weg. Willste mal anfassen? Hannes griff mit zwei Fingern danach, dachte vielleicht an Lakritz, und auch Lene berührte das Papier. Tolles Gefühl, was? sagte der Mann, und Lene: Ja. Ihr Hals war aus Blech, zugeschraubt, sie konnte kaum schlucken, aber er lehnte sich zurück, an die Luft, die Arme verschränkt, und in der Küche atmete man. Vielleicht hätte er sie zur Dachdeckerfrau gemacht, sie war ihm am
ähnlichsten, aber zu jung. Glück gehabt. Sie ließ ihr Gesicht von einer Kaugummiblase wegsaugen. Ein Ohren-Wackler war er übrigens auch, der Dachdecker, manchmal beim Mittagessen baten sie ihn darum, ihnen etwas vorzuwackeln mit seinen Ohren, und gern willigte er ein, mit knappstem Lächeln. Dann schauten seine babyblauen Augen zwischen der Frau und Lene durch, durchs Küchenfenster, vielleicht sogar durch die weiße gedellte Wand des Nachbarhauses und weiter, in die Ferne, ein Hitlerjunge, schnurgerader Blick. Der ganze Kopf verhärtete sich, und wundersam begannen die Ohren sich zu bewegen, vor, zurück, vor, zurück, sie wackelten nicht wirklich, die Ohren dieses Kopfes, der Muskeln hatte, wo andre nichts hatten, schwenkten nur langsam, fast knarrend, herum. Torflügel. Die Frau und die Kinder starrten die Ohren an, ihre eigenen Ohren taten ihnen weh beim Zuschauen, trotzdem fragten sie immer wieder danach, denn sie schien ihn zu befriedigen, diese Ohrenshow. Wahrscheinlich trug er deshalb auch die Haare so kurz, zum Ohrenvorführen. Mit dem Lachen mußten sie allerdings aufpassen, manchmal war es erwünscht, dann wieder strikt verboten, und wenn der Ohren-Wackler zuschlug, konnte mitunter eine Suppenschüssel zu Bruch gehen, was nun wirklich niemand wollte. Suppen konnte sie nämlich kochen, die Frau, obwohl sie so mager war. Wenn der Mann etwas an ihr mochte, dann ihre Suppen, dicke, deftige Linsen- und Graupensuppen, die flossen zwar nicht so schnell vom Tisch, aber wenn man die Pfützen von der Tischdecke kratzte, hatten sie einiges von ihrer Würze verloren. Auch die Scherben, das konnte einem schon den Appetit verderben, besonders der Mann war da sehr empfindlich. Er brauchte manchmal nur Paul beim Essen zuzusehen, dann verschlug es ihm schon den Appetit. Paul konnte nicht richtig essen, winzige Fehler machte er beim Essen, die allein der Mann bemerkte, und er, der
Mann, konnte das nicht mitansehen, wenn Paul aß. Lieber sah er die Wand an, die direkt neben ihm war, wandte ihr das Gesicht zu, der Tapete mit dem Mauermuster, den Suppenteller in der Hand, während der ganzen Mahlzeit ruhte sein Blick auf der Mauertapete, erholte sich vom Anblick Pauls, der außerdem blaß war und Schatten um die Augen hatte, der eigentlich gar nicht wie ein Kind aussah. Dann lieber die Tapete, die naturgetreu wirkenden Steine, dazwischen die Fugen, in die der Mann sicher gern hineingekrochen wäre, wenn sie nur echt gewesen wären. Die Frau war eigentlich gern zuhaus. Schräg floß der dunkle Amselfelder ins Glas, Gluckermusik, runde Töne mit durchscheinenden Rändern, unterm Strahl flogen schwarze Vögelchen durch und segelten über die Spülberge, überflatterten zwitschernd die Fußbodenlinie, die die Frau von der Spüle trennte. Meine Herren, heute sehn Sie mich Gläser abwaschen, sang die Knef. Rot fiel auf alles, denn die Frau hatte die Gardinen zugezogen. Sie mochte das Licht nicht. Mittags stand sie immer erst auf, wenn es Zeit war, für den Mann und die Kinder eine Dose Bami oder Nasi Goreng zu öffnen, mit Fingern, dünn wie die Zigaretten, nach denen sie griff. Der Ehering fand längst keinen Halt mehr, manchmal wirbelte sie ihn wie einen Hulahuppreifen um den Ringfinger, schleuderte ihn irgendwohin, ließ ihn am Ende aber doch in ihr Necessaire klirren. Es gab nicht viel zu tun. Die Knef sang, und die Frau riß der Camelschachtel ihr goldenes Halsband ab, zerknitterte die Plastikfolie: da lagen sie wieder, die lieben Zigaretten, Filter an Filter, brav, starr, ganz anders als die biegsamen Finger der Frau, die sie zurückklappen konnte, bis sie senkrecht zum Handrücken standen, auch sich selbst bog sie manchmal nach hinten, so daß der Kopf auf der Höhe der Kniekehlen hing, nur um etwas aufzuheben oder die kichernden Kinder von unten zu
besehen, die blauäugigen Monsterchen, nein, sie mochte sie ja, sogar den Mann eigentlich sehr, was aber nicht ganz reichte, und sie trank das Glas leer und schlug ein Rad in der Küche, nur um zu sehen, ob es noch ging. Sowas konnte man draußen nicht tun, wurde angestarrt, schlimmer noch angesprochen, von Mündern, Sie sieht man nie sieht man Sie, und die Augen stellten sich scharf, Lichtaugen, Münder voll Licht, dagegen half auch die lila Sonnenbrille nicht, die das Gesicht fast zur Gänze bedeckte und sie wie eine sehr große Fliege aussehen ließ, eine Stubenfliege, verirrt. Die Schachtel war leer: keine Zigaretten, auch das Haus, niemand, den oder die sie hätte losschicken können, kein Kind, wider/bereitwillig, niemand da. Also sie. Mußte sie also, die letzte noch zwischen den Fingern, mußte sie also zum Äußersten hinter der Mauer, am äußersten Ende orange, die glühende Spitze kam näher, die letzte. Zum letzten Mal in die Äußerlichkeit, während die andere sich selbst fraß, außer Haus, ihre Schuhe die brauchte sie, derweil jene den eigenen Leib verdaute, konnte sich nicht an die Schuhe erinnern. Asche fiel, grauer Kot auf dem Teppich. Wo die Schuhe, die brauchte sie. Für draußen fürs Außerhäusliche. Nein, es machte nichts aus, fast nichts, zumal es ja schon bereits dämmerte, nur die Schuhe. Das Haus färbte auf die Umgebung ab, die begehbarer wurde. Nur die Schuhe, nicht im Kleiderschrank auch nicht in der Kommode, der Papierschlauch zog sich zusammen, drückte dem Tabak die Luft ab, die Schuhe neulich gesehen vor kurzem, der Tabak verraucht ungeraucht, im Schuhschrank, wo sonst. Dachfenster, am Boden aneinandergelehnt, nach innen ergrünende Spiegelschichten, die Lene und den Himmel einander entgegenwarfen, die Himmel dahinter, dahinter. Dann das eine, das sie öffnete, dessen Knarren sie kannte, heute aber lautlos an diesem Tag. Kühle und nasse Luft kam herein. Lene
drückte die Hände auf den Blechrahmen, Muskeln halbgespannt, wollte sich hochstemmen; jenseits des Rahmens, der Teerpappe, Dachpappe, oben, am obersten Punkt ihres Blickfeldes war was. Jemand/ein Tier/Paul, zu klein. Doch: Paul, wie immer kauernd, schien sich noch kleiner machen zu wollen in dieser Welt, wo es nur Aufwärtsbewegungen gab, wo gewachsen wurde, kleinbleibend er, ein Kind. Hockte dort über der Höhe und Tiefe, schattenlos, eine Ausbuchtung des Daches, eine Teerblase, da, wo schon kein Dach mehr war, in der blechernen Dachrinne. Lene bewegte sich längst nicht mehr, starr war sie, atemlos. Nicht ans Schwimmbad denken, jetzt nicht, nichts durfte getan, nichts gesagt oder getan oder gedacht werden, was ihn betraf/betreffen könnte, aus dem Gleichgewicht, daran nicht denken, nicht atmen, bewegungslos, und den Bruder zu sich saugen mit dem Blick, behutsam, unmerklich, daß er sich nicht sträubte, bloß nicht. Spiralblick, rund, runde Lippen, die formten den Namen, Paul. So klein. Sonst, wenn sie standen, hielt er sich an ihrem Oberschenkel fest. So wie hier hatte er im Schwimmbad am Beckenrand, nicht dran denken, nicht erinnern, und war dann. Jetzt: drehte er sich, dieser runde ruhige Kindskopf, langsam, die Augen rundblau, lächelte sagte hallo, mit der Schneekinderstimme, zu Lene, deren Mund zum Schneeköniginnenlächeln gefror und hallo sagte, hastig, Lene kletterte hastig und langsam aufs Dach, kroch dann, auf Händen, Knien, kriechen, den Kopf hochgeknickt, lächeln, kriechen, robben, sich flach aufs Dach drücken. Wurde zur Frau. Näherte sich ihm von schräg hinten, bis sie ihn hätte halten können, jeden Augenblick, immer und jetzt und blieb. Nimm dein Matheheft mit, hatte die Schmitt gesagt, die Lenes Mutter oder Mathemutter war, überall rund, sehr rund wie ihre Schrift, sehr gut schrieb sie und Schmitt und schob die Tür auf, dahinter ein Nebelraum, der außerdem dämmrig war,
eng, die Luft nicht atembar. Lene hustete und die Dachdeckerbude fiel ihr ein, in der es nach Bier/Schweiß/Teer roch. Um den Tisch, der fast den ganzen Raum ausfüllte, saßen Hintermänner und Nebenfrauen, die die Lehrer waren, vor allem aber rauchten und in Schüsseln aschten. Mit wächsernen Händen schnappten sie nach Lenes Heft, als ernährten sie sich von Papier, aßen es aber nicht, sondern blätterten, sagten «das ist ja», reichten es weiter, «überaus extraordinär» und «würde ich meinen», gestikulierten und warfen sich das Heft sogar zu, von einem Tischende zum anderen, es purzelte voran wie die Maus, die die Männer über den Tisch gejagt hatten. Das Knallen der Hände, das Fiepen der Maus, das Heft raschelte, und Lene sprang los, wollte es retten und Jupp mit den drei Bauchfalten fing die Maus und hielt die Zappelnde am Schwanz in die Luft, ich bin halt schnell, sagte er schwerfällig, das kommt von meim Sprit. Die Bartstoppeln seiner beiden Kinne rieben gegeneinander, und Jupp hob seine Bierflasche, die fast leer war. Er schlug eine neue gegen die Tischkante, um sie zu öffnen. Jeden Tag trank er eine Kiste, Schächtelchen nannte er sie und prostete den Mitjägern zu, auch der Posterfrau, die vor allem aus Busen bestand. Lene befühlte mit ihrem die Tischkante. Hannes war am Freitag den dreizehnten geboren, deshalb wurde er am meisten geprügelt und hatte auch sonst oft Pech. Beim Menschärgerdichnichtspiel verlor er und war außerdem der Junge, im Gegensatz zu Lene, die das Mädchen war. Der Mann fand, er müsse regelmäßig übers Knie gelegt werden, er brauche das, und dazu schlug Hannes sich auch noch selbst, aus Versehen, mit dem Hammer auf den Daumen, der platt und flächig wurde, wie der Pfennig, nachdem sie ihn auf die Schienen gelegt hatten. Hannes war noch vor dem warnpfeifenden Zug herumgehüpft, der ihn beinahe auch überfahren hätte. Die Frau hatte oft Angst um ihn, aber auch
vor ihm, weil er ja auch eine Art Mann war. Deshalb ließ sie ihn nicht gern ins Haus, wenn der Prügler gerade nicht da war. Stundenlang drückte Hannes den Klingelknopf, dingdong, manchmal auch nur ding, perlte es durchs Haus, Schallwellen sickerten durch Türen, schwappten über Scheitel, dingdong, doch es war verboten, ihm zu öffnen. Dong, sehr selten bloß dong. Sie gingen durch die dröhnende Wohnung, die Flure, getrieben vom elektrischen Gong, und dachten an Hannes, der draußen fror, und drückten den erlösenden Türöffnerknopf nicht, warum eigentlich nicht, die Verbote der Frau galten sonst nicht viel. Nur Lene entriegelte manchmal heimlich, es gleich wieder vergessend, das Fenster einer winzigen, bis auf Schulterhöhe mit Plunder gefüllten Kammer, die Kabäuschen hieß, die Frau hatte das Wort für die Kinder mit Kreide auf die Straße geschrieben. Hannes machte draußen einen Klimmzug, um zuerst die Ellenbogen auf die innere Fensterbank zu stemmen, schob den Oberkörper ruckweise vor, bis er die Knie zwischen sich und den Rahmen klemmen konnte. Dann sprang er auf den Lumpenberg, die Knie wurden ihm weich, und mußte jetzt nur noch zu seinem Bett gelangen, das im Flur hinter einem Raumteiler stand und in das die Frau hoffentlich nicht wieder den Kehricht geschüttet hatte. Sowas machte sie gern oder kam ihm auf dem Weg zum Bett entgegen, Satansbraten nannte sie ihn bei solchen Gelegenheiten, auch Göttersöhnchen, er sei wie Er, der Mann, den sie längst nur noch Er nannte. Später war Hannes auch ein Er, dann Paul und andere, alle verschmolzen zu einem vielköpfigen Er-Kollektiv aus Strichmännchen, die einzelnen Namen vergaß die Frau. Das Klingeln geriet ins Stocken, brach ab, Hannes kam aber nicht, noch nach Stunden nicht. Lene stieg schließlich auf das weiche Gebirge, zog das Fenster auf, um nach ihm Ausschau zu halten. Unter der Leere des Hofes schmiegten die Pflastersteine sich aneinander, die Bäume strahlten Grünlicht
herum. Scharfan der Hauswand entlang die sich überlappenden Schiefersteine, daran lehnte ein Gerüst, und in dem hing er, Hannes, nackt, blaulippig, bleich. Starr hätte sie sein wollen, starr wie er, und kletterte doch auf die Fensterbank, sich selbst im Weg, und sprang oder ließ sich fallen, dem Pflaster entgegen, obwohl es doch noch die Haustür gab, durch die jetzt auch Paul trat, und dann die Frau. Lene war schon bei Hannes, umfaßte den kühlen Leib, umfing ihn wie nie, um ihn aufzutauen, bedeckte ihn mit ihren Gliedmaßen. Erst als der Krankenwagen kam, ließ sie von ihm ab, doch prompt, als habe sie mit der angetauten Bruderfigur jetzt nichts mehr zu schaffen, und während Hannes endlos wiederbelebt und verpackt und aufgebahrt wurde, standen sie herum, zu dritt, Zuschauer wie sonst so oft, wenn er verprügelt wurde, lahme Gaffer, blaßäugige Zeugen, kraftlos, wie stumpf und stupide und immer, als sei es das erste Mal. Abends gossen sie Wasser in den Dachdeckerbauchnabel. Sie beugten sich über den großen und noch immer weiterwachsenden Bauch des Dachdeckers, der, wie der Dachdecker selbst, weithin ausgebreitet auf dem grünen Sofa lag. Der Fernseher lief, niemand sah hin, alle hielten die Köpfe über den Bauch und den tiefen und runden Bauchnabel: Lust des Darüberbeugens, kugliges Aneinanderstoßen der Köpfe, scharfer modriger Bauchnabelgeruch, während eine ihrer Hände einen mit Sprudel gefüllten Sprudelflaschendeckel über den bebenden Bauch balancierte. Kichern, Luftanhalten, aber nie schlug der Mann plötzlich los bei diesem Balanceakt: die Hände auf der Brust gefaltet, bot er ihnen den Bauch dar, seinen Schwerpunkt, seine mittigste Mitte, die zum Fokus wurde, auf den sich aller Aufmerksamkeit konzentrierte. Wenn dann am Ende der Zitterpartie der silberne Deckel vorsichtig, auch beherzt, ausgekippt wurde und das sprudelnde Wasser den Bauchnabel bis zum Rand füllte, wo tropfenbehangen die
Bauchnabelhaare standen, jubelten sie immer ein bißchen, nicht viel, und stoben doch schnell auseinander, zu ihren Fernsehplätzen zurück, obschon der Dachdecker weiterhin reglos dalag, um das Wasser im Nabel zu halten, das aber irgendwann durch ein Beben, ein Zucken überschwappte und unbeachtet in dünnem Rinnsal über den Bauch floß, auf dessen weiter Fläche es sich verlor.
Das Quadrat über der Höhe, das blauschwarze Quadrat, das noch über der Höhe schwebt oder mit einer Spitze in den obersten Punkt dieser Höhe gepiekst ist und sich scheppernd nach dem Wind dreht, dieses blechern tönende, an Stellen stumpf glänzende Quadrat ähnelt nicht, sondern ist exakt dasselbe wie das Erzeugnis, das die beiden abgeschnittenen Stücke hervorbringen, die entstehen, wenn die Höhe die dem rechtmäßigen Winkel gegenüberliegende Seite in die Seite trifft und sticht und schneidet und schließlich zerteilt. Lene berührte mit dem Fuß die beiden Seitenteile, die herumlagen wie tote Tiere, immer noch nah beieinander, nur durch die schwindelnde Höhe getrennt, die dort stand, ein Strich, beinahe unsichtbar, oben das nun starre Quadrat. Den Kopf bog Lene in den Nacken, hob die Lider: das allerhöchste also, das Produkt der Zerstörung, der gespaltenen Seite. Na ja. Wollte sie da wirklich hin? Ihr Fuß schon, der stand bereits auf der nächsten Erhebung, die Hand griff nach einem Vorsprung, zog den Rest hinterher. Sie kroch eine Winkelhalbierende empor, weiter oben gab es auch Leitern, die allerdings schmaler und morscher wurden, Sprossen fehlten oder waren in der Mitte angesägt, Lebensgefahr, Seitenstechen, eigentlich aber ein Spiel. Unten fuhren winzige Autos durcheinander, ein Mini-Verkehrschaos, oben das Quadrat, immer noch hoch, aber kleiner, und gerade diese Kleinheit übte einen Sog auf
Lene aus, als würde auch sie beim Aufsteigen Volumen verlieren. Jetzt aber tauchte ein Hindernis auf, sie sah es noch nicht, als es sich schon wie ein unförmiger Schatten über ihr Empfinden legte, es sprang hervor aus der Kletterwand, stand ab, ein Halbrund oder vielmehr Halboval, Halb-Ei, aber flach, nur die Silhouette eines längs halbierten Eis, mit verschnörkeltem Inneren, und als sie aufgab und weiterkletterte und doch noch an dieses immer unüberwindlichere Hindernis herankletterte, wurde ihr klar, daß es ein Ohr war: ein Dachdeckerohr. Noch während sie schrie, recht leise, und Hände und Füße losließ und losriß und mit dem Fallen begann, erkannte sie auch die Dachdeckerwange, den schmalen, wie gedruckten Dachdeckermund, der sich nicht bewegte, ein schöner Mann, während die Hand den Hammer hob und den Nagel ins Holz schlug, behutsam zuerst, leichte Schläge, damit er seinen Weg fand, dann fest, Schlag auf Schlag, bis von ihm nur der Kopf und dann die von den Schlägen schon glänzende Schädeldecke übrigblieb. Noch nicht Nacht, aber vieles schwärzte sich, als die Frau vor und hinter Türen stand, schwarze Kiesel, kiesgraue Rosen, bei denen sie verweilte, obwohl oder weil sie keine Rosen mochte. Die Luft war wäßrig, cool, dachte die Frau, was kühl hieß, Lichttrichter flackerten auf, die falschherum standen, und ein Männerschatten ging langbeinig vorbei, auch falsch. Sie hätte dieser Mann sein sollen, keine Frau, eine richtige Frau war sie nie gewesen. Als Kind hatte man sie für einen Jungen gehalten, auch als sie mit 15 endlich die Zöpfe abschnitt, wofür sie eine Tracht Prügel bekam, von der Mutter, Vater gabs keinen, der war in Rußland geblieben. Vaterlos sie also, kurzhaarig, wirkte wie aufgeklebt auf den Familienfotos, störrisch, ungeschminkt. Dann die Rosen, die man ihr schenkte und hinwarf und überreichte, in allen Farben, keine grauen natürlich, die
Rosenflut, mit der man sie überschüttete, auch diese hier knisterten schon wieder so steif. Eine Tür, jetzt aus Glas, so daß sie das Licht kaum zurückhielt. Es schlug der Frau entgegen, nackt, ließ sie abprallen; dahinter, hinter dem Licht hing der Zigarettenautomat. Männer saßen da, die steckten sich Hähnchenkeulen in den Mund und kippten alles mögliche hinterher, und andere warfen mit Pfeilen. Diese Tür: war ihr verschlossen, ihr, der Frau. Hier kam sie nicht weiter. Wenn sie unsichtbar wäre, ja dann. Durch Glas gehen könnte, wenn nur ein schwacher Umriß ihrer Gestalt auf dem Glas übrigbliebe, nichts sonst. Oder wenn jemand käme, von hinten, ein bis zwei Handwerker, um einen Zigarettenautomaten vorüberzutragen, die dann aber haltmachten vor ihr: können wir Ihnen behilflich sein, ja gern, und sie würde lange nachdenken, welche Marke, dabei kam natürlich nur Camel in Frage, sie: das sanfte Kamel, er (ihr Mann): Senoussi, stolzer Araber, das alte Spiel. Die Handwerker würden sich ihre Erschöpfung nicht anmerken lassen wollen und zähneknirschend hervorstoßen: lassen Sie sich Zeit, nur die Ruhe, Madame, und sie würde ihnen mit dem Ringfinger je einen Schnörkel auf die kratzigen Wangen streichen. Die Tür ging auf, jemand öffnete sie von innen. Ein Mann, viel Mund und Atem und Bieraugenbrauen, Schultern auch, groß, breit. Hielt die Tür auf, sagte hereinspaziert sagte er, und seine Hand schwang sich in den Lichttraum, aber, sagte die Frau, und er: Wir fressen Sie nicht. – Das habe ich auch nicht erwartet, sagte die Frau, auf den Gedanken wäre ich gar nicht gekommen. Sie bringen mich eigentlich erst darauf. – Es zieht, rief einer von innen. Halt die Klappe, so der Mann, und formte gekonnt ein Entschuldigungslächeln, also gut, sagte leise, die
Schultern zusammenschiebend, die Frau. Sie machte einen Schritt. Abends, wenn der Mann um die Hausecke bog, erschien er vor den hohen und flachen Fenstern, durch die ihn die im Haus sahen oder hätten sehen können, von oben auf ihn herabblickend oder sitzend zu ihm aufschauend, schnell, als bläulichen Schatten oder als Bewegung, als Stampfen sicherheitsbeschuhter Beine. Der Mann war schwerer als sonst, wenn er von der Arbeit kam; alle Dachleitern, Schweißbahnen, Bleirollen, die er auf die Dächer geschleppt hatte, hatten etwas von ihrem Gewicht in seine Schultern gedrückt; jetzt lastete auch die Nähe des Hauses auf ihm; Schritt für Schritt nahm er an Schwere zu, so daß sich der Rost vor der Eingangstür unter ihm bog. Die hinter den Fenstern schauten ihm nach, auf das Jackenblau und das Schwarz der Hose, in der der gelbe VeluxZollstock steckte und strahlte, so einmalig telefonzellen- und leuchtbanenengelb, so sattgelb und gelbsatt und in voller Länge durchnumeriert, oft nahmen sie ihn in die Kinderhände, zogen ihm die Glieder vom Rumpf ab, entfalteten ihn, der immer schlanker, graziler wurde, eine gelbe Tentakel, ein Fangarm, der ihre Arme verlängerte, zitterte, sich nicht mehr halten konnte und, wenn sie nicht achtgaben, wegknickte. Der Mann stand vor der Tür, rieb die Schuhe über den Rost und dachte an nichts und an die Frau, als sie jung war, die Dachnägel gingen ihm aus, das Gesicht der Frau zwischen Leitersprossen, das Lächeln nur in den Mundwinkeln, darüber Sommersprossen, morgen das Flachdach, drei Leute brauchte er dafür. Innen die Frau, die beim Kratzen des Schlüssels den Hals geradebog, die die Zigarette schon ausdrücken wollte, dann noch mal schnell an ihr zog, sitzenbleiben/ihm entgegengehen, sie stand auf, der Mann war schon da, türgerahmt, die Arme pendelnd. Na? Er brauchte nur einen Blick in ihr Gesicht zu werfen, auf die verhangenen Pupillen,
die gewölbten Unterlider, die Mundfalten und die Wangensenken, und wußte schon alles, Hannes? fragte er, hat er wieder, war er wieder frech, und wenn die Frau das geringste Zeichen der Zustimmung gab, eine Drehung des Kopfes, ein Zucken der Lippen, ein Lidschlag, stieg in ihm das Blut hoch, wo ist er, rief der Mann, erst wurde der Hals rot, dann die Wangen, das ganze Gesicht. Wo ist er, und die Frau faßte ihn am Arm, nicht, sagte sie, während der Mann nach dem Zollstock tastete, nicht, laß ihn doch, laß ihn. Der Mann drehte sich weg, als sei sie nicht da; ihre Hand glitt von seinem Oberarm ab, und er war schon im Flur, riß Türen auf, wo war Hannes, der Prügelsohn, den er suchte und fand, immer fand er ihn, vorm Fernseher oder im Bett oder Garten, ganz unversteckt, arg- und willenlos. Er nahm ihn sich vor, den Stolperer, der sich kaum schützte, zu schützen versuchte, ihn nur flüchtig ansah, mit seinen, des Mannes Augen, und der Mann griff nach ihm, dem Kind und dem Kind im Kind, und klappte es sich übers Knie oder klemmte es in die Armbeuge und zückte den Zollstock, mit dem er die Strafe bemaß, also schlug, Schlag um Schlag, dahin, wo das Kind war. Jeder Schlag löste den nächsten aus und der den übernächsten, der Zollstock sprang ihm schnalzend entgegen und klatschte aufs Kind, sehr rhythmisch; das Tempo spreizte den Gelbstab zum Fächer; beim Ausholen standen dem Mann die 20, daneben die kleinere 19 vor Augen. Hör auf zu schreien, schrie er den Sohn an, oder aber: schrei endlich, warum schreist du nicht, und beides war ihm Grund, zu schlagen und immer weiterzuschlagen, und wenn er ihn totschlug, es war ihm egal. Nachher, wenn er auf dem Sofa lag, federten seine Fingerkuppen noch nach, tippten im Takt der Schläge gegeneinander, nackte, glatzköpfige Fingerkuppen, die die Nagelstümpfe überragten; der Mann arbeitete so hart, daß seine Nägel von selbst kurz blieben, oder er biß sie ab,
Kraftnahrung, Mannsdiät. Die Finger schoben sich ineinander; er faltete die vibrierenden Hände auf dem Bauch, so daß ihre Wärme sich im Körper ausbreitete, wie Bitumen schmolz der, wurde viskos, vielleicht auch nur hochviskos, jedenfalls paßte die Körpermasse sich in die Rillen des grünen Kordsofas ein, floß zwischen die Sofakissen, schon war dem Mann jede Bewegung unmöglich, er würde hier liegenbleiben müssen, bis zum Wochenende und länger, ein Behinderter oder Gelähmter, aber trotzdem der Chef der Firma und vor allem ihr Kopf. Die Arbeiter – Mit-Arbeiter nannte er sie – träten auf Socken ins Wohnzimmer, stünden gereiht hinterm Wohnzimmertisch, nähmen die Losung des Tages entgegen. Still wäre es im Haus, wie auch jetzt, kein Gejammer, kein Mitleidgewäsch war zu hören, nur das Knarren der Jalousie, das Säuseln der JakobsKrönungs-Melodie aus dem Fernseher. Über seinen Bauch hinweg sah der Mann die dampfenden Kaffeetassen, darüber die zart gekräuselten Nasen, darunter seine eigenen Socken, fußgefüllt. Abwechselnd machte er je ein Auge auf und zu, die Füße rutschten nach rechts und links. Im Fernseher flackerte ein Lächelgewitter auf, jemand schob die Kaffeepackung ins Bild, die Dachdeckerfrau trat ins Wohnzimmer und brachte ihm das Abendessen, das sehr schön auf einem Tablett angeordnet war. Sie gab sich immer große Mühe damit, richtete die belegten Brote in Hausform an, mit leuchtenden Dächern aus Lachsschinken und blumenkohlqualmenden Schwarzwurstschornsteinen, dazu Zwiebelringe in Form des Mercedessterns. Mit Monalisalächeln stellte die Frau das Ganze auf den Tisch, schenkte Bier nach und zog sich fast lautlos zurück, während der Mann begann, das Kunstwerk, ohne hinzusehen, zügig und systematisch von links oben nach rechts unten zu verzehren. Später zwängte sich Paul durch den Türspalt ins Wohnzimmer, den Zollstock in der Hand, den der Mann
irgendwo liegengelassen hatte. Er kauerte sich still in eine Sesselecke, ließ den zusammengefalteten Gliedermaßstab durch die Hand gleiten, zog ihn wie eine Ziehharmonika auseinander, formte daraus Figuren. Der Mann sah wieder den Fernseher an.
So schlimm war er eigentlich gar nicht und Feuerwehrmann und ein bißchen stolz waren sie ja schon auch sogar auf ihn und Lene fand ihn im Grunde genommen überhaupt nicht so richtig übel. Zumindest war er ihr gleichgültig, und dann sprach sie ja nicht mehr mit ihm und er netterweise auch nicht mit ihr, ließ sich von ihr zum Fremden machen, widerstandslos, ein Körper, der im Weg stand, um den man herumgehen mußte, wenn er sich nicht selbst fortbewegte, der aber ansonsten kaum störte. Angenehm war es, den Mann nicht mehr wahrnehmen zu müssen oder wenigstens nicht als solchen. Beglückend, durch seine kompakte Gestalt schlicht hindurchschauen zu können, was zuvor undenkbar erschien. Einträchtig lebten sie aneinander vorbei und umeinander herum, ohne jemals unmittelbar miteinander zu tun zu haben. Dabei war durchaus einiges Geschick und Taktieren vonnöten, um den Abstand zu wahren. Wenn sie sich in den engen Fluren der Wohnung begegneten, konnten sie einander kaum ausweichen, und in dem Maße, in dem er dicker wurde, wurde sie es auch. Sie hätten sich querstellen, an die Wand drücken können, aber das hätte bedeutet, den anderen zu bemerken, womöglich anzusehen oder gar gerahmte Familienidyllbilder versehentlich von den Wänden zu reißen, nach deren Scherben sie sich vielleicht auch noch gemeinsam gebückt hätten. Das wäre peinlich, sogar sehr peinlich geworden. Um einen solchen und ähnliche Zwischenfälle zu
vermeiden, empfahl es sich, vorausschauend zu leben, Umwege mußten gemacht, Momente abgepaßt werden, Sekunden und Meter wurden entscheidend, Positionen, Räume, Zeiten. Die Wohnung: ein Grundriß, ein Spielbrett mit Gefahren- und Ruhefeldern, auf die sie ihre Körperfiguren setzten. Nacheinander wechselten sie von Zimmer zu Zimmer, benutzten abwechselnd die Flure, immer bewußt, wo der/die andere sich gerade befand. Lene, die es ohnehin längst gewohnt war, die Anwesenheit des Mannes selbst aufgrund von Luftzügen oder schwachen Gerüchen zu erspüren, war hier im Vorteil. Sie, die ja die Frau war, kannte seinen Rhythmus, paßte sich unmerklich an, kaum bewußt, es war ein Tanz, ein Tanz auf Distanz. Manchmal suchte sie sogar seine Nähe, den Nervenkitzel, fühlte sich sicher im Schweigen, kam heran, wenn er aß oder vor dem Fernseher lag oder ein Fenster reparierte, eine Silhouette mit Werkzeug, ein Schattenriß hinten im Wohnzimmer, flach vorm Licht, konzentriert, präzise Bewegungen, Staubgeruch, und anstatt das Zimmer sofort zu verlassen, legte sie sich in einen Sessel, die Füße verbotenerweise auf dem Tisch, blätterte in einer Illustrierten, den Kopf leer, kühl, schlenderte schließlich gedankenlos von hinten an ihn heran, zum anderen Fenster, stand also neben ihm, sah hinaus. Jenseits der Straße die Mauer, neben Lene der reparierende Schatten, fremder als alle, der da war und nicht, gestützt auf dieselbe Fensterbank, er atmete dieselbe Luft. Stop – spinnenfingrig, digital stach die Frau in den Arm ihres Nebenmanns, wie heißt du noch, fragte sie, nein: hießest du! Rolf? Ihr eigenes Lachen traf sie mit solcher Wucht, daß es ihr den oder sie dem Boden weggerissen hätte, wenn Rolf oder wie er hieß nicht nach ihr gegriffen hätte. Laß mich los, ich fall sonst, versprach sie, immer noch geknickt vom Lachen, das quer durch die Nacht sprang. Jetzt mal im Ernst – Quatsch, sie klappte zurück, richtete ihren dünnen Blick auf seine
Borstenwangen, nicht Ernst: Rrrolf. Hier stimmt was nicht. – Verarschen könne er sich selber, floskelte der Mann. Aber sie: Siehst dus nicht? Er schnaufte, resigniert. Das Haus stehe falsch, behauptete sie. Es sei immer links gewesen, und jetzt plötzlich auf der falschen Seite. Nämlich: rechts. – Kannst mir viel erzählen, leierte der Mann, und sie: Sieh wenigstens hin! Er beugte sich vor, daß die Augenmurmeln fast raussprangen. Wiiiieh: immer. – Du wohnst ja nicht hier, fiel sie ihm in die Worte. Jah, rief er stramm, richtete sich auf, schwammig entschlossen, und dessentwegen gehe ich jetzt. Sah nach, was er in der Hand hielt: einen Pizzakarton. Ich will ja, will ja nich deim Mann begegnen. Vorsicht iss… – Meinem was? Sie schlängelte sich schräg nach oben, zu ihm hin, bis ihr der andere einzufallen schien und sie ins Pendeln geriet. Rolf hob den Zeigefinger, Ab-schieds-kuß, verkündete er, sie sank ihm entgegen. Am Morgen hatte sie auf dem Kinn ein Oval, wund, nicht rund, ein Wundmal, das sie betastete, rohes Fleisch, hautlos, naß. Ein roter Kinnbart, er paßte eigentlich gut in ihr fleckiges Gesicht. Auf dem Küchentisch lag die Pizza, Ka-lo-ri-en, hatte Rolf es ihr vorgekaut. Sie fuhr mit der Fingerspitze über den fransigen Wundrand, machte einen Kußmund, was wehtat. Oreganowolken trieben durch die Küche. Der Mageninhalt der Frau drängte aufwärts. Wo hatte sie ihre Haut gelassen? In seinem Dreitagebart, hing sie da, flusig und transparent? Hatte er sie bereits weggezupft, mit einer Pinzette in eine auf gestern datierte Streichholzschachtel geschnippt? Die Frau klappte den Pizzakarton wieder zu, ging ins Bad und bestäubte die Wunde mit Fissan-Silberpuder. Die Kinder turnten umeinander herum, machten Grimassen. Triffst du ihn jetzt öfter, fragte Lene und setzte sich rittlings auf eine Stuhllehne. Die Frau wußte es nicht. Sag ihm, er soll sich rasieren. Paul rannte auf Lene zu und drückte seinen Kopf in ihren Bauch.
Die Wunde heilte nur zögernd. Von den Rändern her entstand eine graugelbe Kruste, unter der sich Eiter sammelte, so daß sie nach Wochen wieder aufbrach. Die Pizza hingegen war bald getrocknet, die Paprikastückchen verblaßt. Die Tomatensoße bekam einen Braunton. Der rasiert sich bestimmt, sagte Hannes, der die Frau beim Pudern beobachtete. Seine Finger streichelten die Puderdose. Die Frau lächelte, und es schmerzte kaum. Nach der Tagesschau nagelte sie die Pizza an die Küchenwand. Schreiben: Gefinger auf steilen Tasten und schwarzen, staksige Hebel drehen sich in Gelenken, ZUIOPÜ, QWERTZ, Fuchteln von Typenarmen, die trommeln, die sich aufs Schwarzband und es aufs Papier drücken, neues Blatt. Fingernagelkanten hacken auf Buchstaben, KLÖÄ, ein Zeilenendklingeln, ein Griff zum Hebel, ratsch. Buchstabenstränge, Zahlenstapel, erlaube ich mir, Ihnen in Rechnung zu stellen, Klingeln, Hebel, die Gummiwalze rückt vor. Mahnungen: es ist Ihrer Aufmerksamkeit sicher entgangen, das flutschte aus den Fingern, die fegten über die Tastatur, und die Stimme des Mannes bekam einen Beiklang, Ironie, die kribbelte in den Ohren. Auf der Tischkante sitzend diktierte er Briefe, Lene und er sprachen noch miteinander, saßen im Büro und Bürogeruch, im Muff und Mief, schwer wie die Goldschnörkelsessel, schrankgroßen Eichenschreibtische, Teppiche, Schränke und Aktenschränke, die das Haus direkt unterm Dach balancierte. Das Büro war der Kopf des Hauses, das Haushirn, hier schrieb Lene, verschrieb sich nie, denn wenn er die Briefe am Ende neugierig, ungeduldig, hochachtungsvoll aus der Maschine drehte, waren sie immer richtig, kein Fehler, schreiben, das konnte sie, neues Blatt. Ein Klingeln, sie griff nach dem Hebel, doch der Mann sprang auf, Geschäftsbesuch, sie fuhr herum, Quatsch, sah gerade noch, wie er die Puppe vom Tisch nahm, ihre Puppe, an den Beinen,
das ist meine, sie lief ihm nach. Die Bürotür hatte er offengelassen, ging schon um die Treppenbiegung und schlug, schlug die Puppe, ihre Puppe schlug er aufs Geländer, rhythmisch, eine Stufe, ein Schlag. Nicht sie, schrie Lene. Er sah kaum hoch. Sie rannte und setzte hinter ihm her, durchs herrschaftlich glänzende Treppenhaus, die Großeltern ließen es putzen, Lene sprang über dunkle Läufer und silberne Leisten, die Hand am Geländer, auf das er die Puppe schlug, das sich drehte, rasant, 360 Grad, 361 Stufen, die Großelterntür, 370 und tiefer war er, mit ihr, der Wehrlosen, berühren konnte Lene sie schon beinahe fast, dann die Haustür und er entkam. Lenes Atem hallte durchs Treppenhaus, warf Echos. Sie drückte sich an die Wand. Vorm Fenster: Dachdecker, große, kleine und Kleinstdachdecker hatten sich vor die Hauswand gestellt, nach der Größe geordnet, zum Firmenfoto. Da durfte der Haupt- und Oberdachdecker nicht fehlen und reihte sich ein, grinsend, die Puppe am Haar zur Seite gehalten. Dann entschied er sich um und um und warf die Puppe herum, bis ihr Puppenkopf direkt unter seinem war, und knips. Lene hingegen war und blieb im Haus, das leer war, und wußte, sie mußte dort bleiben, war aus- oder eingeschlossen, und fehlte jetzt auf dem Foto, obwohl sie, das wurde ihr plötzlich klar, dazugehörte und Arbeiterin war wie die Männer, also eine von ihnen und so auch recht eigentlich Dachdeckerin. Mit Hannes war sie in den Kirchturm gestiegen, zu den Glocken, wo sie durch Fensteröffnungen runterschauen oder -springen konnten, auf Dächer und Köpfe, Kanten und Autos, sich rausbeugen, einander zurückreißen, abschütteln, bis ein Wind sie hinein- und auseinanderdrängte. Der Kirchturm war innen noch weißer als außen, ein Luftraum, auch zwischen Lene und Hannes viel Luft. Gern wäre sie ihm entgegengefallen, der Wind ließ sie aber nicht durch, und jetzt zog Hannes was aus der Tasche, die Kommunionsuhr, 15:11.
Draußen trieb der Himmel irgendwohin. Hannes hielt die Uhr sehr fest in der Hand. Der Blick, den er auf die Zahlen richtete, war fast sichtbar. 15:12. Sollen wir küssen? fragte er ohne aufzuschauen. Lenes Kopf fuhr herum, daß der Raum sich mitdrehte: Was? Die Uhr? Uns? Schon schwirrten die Fragen mitsamt den Fragezeichen zwischen den weißen Wänden herum, und gleich der betäubende Viertelschlag. Lene legte die Hände auf die Ohren. Hannes und Lene wuchsen auseinander, er nach oben, sie horizontal, in alle Richtungen. Trotzdem stand er oft in ihrem Zimmer, wohl auch weil er selbst keins hatte, und wuchs der gelben Hängelampe entgegen, die erst als Heiligenschein, dann als Friseurshaube über ihm schwebte, schließlich seinen Kopf ganz umschloß, so daß er ihn herauszog und die Lampe während ihrer Gespräche elegant und geduldig um Stirn und Hinterkopf kreisen ließ.
Die Frau hatte nichts gegen Schnecken, Schnecken waren ihr egal, war aber als Kind nie barfuß über die Schneckenwiese gegangen, die die grünste von allen war, die Erde unter den Safthalmen schwarz und triefend, nie barfuß, und hatte doch recht hübsche Füße, weiß, die Sohlen blaßrosa, schmale Zehen, die sich zum mittleren hin umeinanderringelten, durchsichtige Nägel, Fußringer; mit ihnen hob sie Entglittenes vom Boden auf, jätete Unkraut, tippte an Steine. Nur auf der Schneckenwiese nicht, da schnallte sie sich Sandalen an, die in die Grasbüschel trampelten, große Schritte machte sie, lief beinahe, und sah nicht nach unten, wollte sie nicht sehen, die nackten Schnecken, das Glitschvieh. Nur noch die Hälfte der Wiesendiagonalen, nur ein Drittel, nur wenige Schritte, da glitten sie über die schärfsten Halme, wie ziellos, blind, ließen die trockene Schleimspur zurück. Der Zaun schon, das Gatter,
dahinter die Kühe, haarig und warm, die auf ihren vier Beinen standen wie Polstermöbel, die fielen nicht einfach um, wenn man sich an sie lehnte. Die Frau sollte sie von der Weide holen, streckte den Arm, wollte das Gatter aufziehen mit einem Ruck: Kaltes am Fuß, berührte die Zehen, schleimig, nachgebend, glibbrig hatte es sich unter die Zehen geschoben, ein Tier, eine nackte Schnecke steckte in der Sandale, zwischen Zehen und Sohle, halb lebend, halb tot. Kalt klatschte ihr etwas entgegen, und die Frau warf sich herum, weg damit, bloß weg, sie schlenkerte den Fuß in die Luft, wollte das Tier wegschleudern, die Sandale, den ganzen Fuß abschütteln, es ging nicht, alle waren miteinander verbunden, mechanisch, unlösbar. Rechts und links flog der Schneckenfuß über den Halmen, streifte sie, fuhr durchs klamme Gras, bis die Frau, was schnell ging, das Gleichgewicht verlor, weich zu Boden ging, zu ihresgleichen, eine Schnecke zwischen Schnecken, und mit zappelnden Fingern die Sandalenschnalle löste, dann flog sie, flog die Sandale fort und segelte samt Schnecke oder auch ohne irgendwohin egal wohin vor den Zaun vor den Stacheldraht, fiel. Mittags waren die Pommes so gelb und goldig-goldgelb, fettschimmernd, mit durchscheinenden Salzkristallen besetzt, daß sich Mann, Frau und Kinder, also überhaupt alle, einander bis auf Tischbreite näherten und hinsetzten auf die Stühle, die ja bereits da waren, und mit spitzem Eßwerkzeug hineinstachen, die Kartoffelquader also aufspießten, sortierten, nach Größe, Färbung, Form, oder aßen oder zu Prozessionen aufreihten, die sich spiralförmig auf die Mitten der Teller zubewegten. Hantierten also und klimperten mit Besteck, das zwischengeschaltet war zwischen Hand und Lippen, die sich öffneten, um es mitsamt dem Gespießten einzulassen. Schmatzen, Knirschen, Kaubewegungen, rundherum die
bekannten Gesichter und Hände und Töne, das Räuspern und Klirren, aus dem sich ein Rhythmus herausbildete, ein gleichmäßig wiederkehrendes Ping und noch mal Ping: die Gabel des Mannes, die gegen den Teller schlug. Gleich würde er reden, das Tellerantippen verschaffte ihm Gehör, gab ihm den Takt vor, brachte sein Mundwerk überhaupt erst in Gang, das nun lossprach, von Dächern, Walmdächern, Krüppelwalmdächern, zwischen denen es dann auch wieder aß und kaute und redete. Die Lippen nahmen gern die Farbe des Hemdes an, ein Rostrot oder Blaßpink oder helles Lila. Lene hatte sich früher kaum sattsehen können an dieser Farbharmonie, Lippen und Hemd, das Hemd heißt Hemd, weil es hemmt, hatte er immer gesagt. Jetzt wurden ihre Blicke von der Trennwand abgelenkt, die sie zwischen sich und ihm aufgerichtet hatte, von dem transparenten Sicht- und Schallschutz, der direkt hinter dem Schnellkochtopf begann. Seitenblicke also nur, auf die im Essen stochernden Brüder, die sofagrünen Gläser und Teller, das magere, abwärts geneigte Profil der Frau, rund waren nur die Ohrmuschel und der Punkt auf der Stupsnase. Die Frau war die einzige, die sich Antworten ausdachte auf die Reden des Mannes, die von Angeboten handelten oder von Konkurrenz oder von einem gewissen Kleinschmidt, einem Satteldach, hat es dem nicht ins Bett geregnet, sagte die Frau, und ach der, kam es aus Lenes Mund, sie schnappte nach Luft, versuchte die Worte zurückzusaugen, umsonst: sie hatte auf den Mann reagiert, indirekt zwar, aber doch. Ihre Hand hing noch in der Luft, sie hätte sie fast vor den Mund geschlagen. Im Nacken das Schaudern: ein nasses Handtuch. Wie hatte ihr das unterlaufen können, hoffentlich hatte es keiner bemerkt, aber leider hatten es alle bemerkt und stockten und hielten inne, die Brüder warfen sich Blicke zu, die Frau rieb das Messer zwischen den Fingern, dessen Lichtreflexe durch die Küche strichen. High
Noon. Nur der Mann sagte schon wieder was und redete, sprach immer weiter und weiter. Lene streichelte ihre Gabel, während die Sätze wie Papierstreifen aus seinem Mund traten und sich auf dem Tisch um sich selbst kringelten. Sie legte die Unterarme dazu, die schwer wurden, dann sank ihr Kopf gegen die Schulter der Frau, bog sich hinab, bis er die scharfen Schulterknochen berührte. Immer so bleiben, und wenn es noch so unbequem war. Sie hatte den Armzacken im Bild, mit der Hand, in der die Gabel, auf der eine krumme, pappige Pomme frite steckte, die weißer war als die Hand selbst. Die Gabel hob sich, senkte sich wieder. Iß, flüsterte Lene. Lange sah die Frau den Teller an, die Pommes frites und das ihnen zugesellte Schweinebratenstück, vertiefte sich in deren Anblick, der nahrhaft war: sie fütterte damit etwas in sich, ein Kind, einen Ekel, das oder der praller wurde, sich und sie zu einer Scheinsattheit blähte und schließlich ballonartig aufsteigen ließ von ihrem Platz und herausschweben aus dieser Küche, ins Bad, um ihr Spiegelbild zu sehen, das immer noch da war. Lene und ihre Brüder blickten ihr nur kurz hinterher, sie kannten das schon, erwarteten vielmehr das Schließen der Tür, um sich auf die von der Frau verschmähte Speise zu stürzen, die sie sich noch gegenseitig von den Gabeln schnappten.
Vor Lene ein Fuß, groß wie sie, auch der Schuh, Riesenschuh, auf dem nahm sie Platz, auf dem Schuh, der glatt war und abschüssig nach den Seiten, in der Mitte boten die Schnürsenkel Halt. Lene klammerte sich am Schienbein fest, mit Armen und Beinen, am Hosenbein, und links, marsch, marsch ging der Fuß und links und links, einen Klumpfuß hatte der Mann und einen richtigen Fuß und marschierte mit denen durch die Wohnung, Lene flog in Bögen, setzte auf, flog, der
Fahrtwind oder Flugwind war kühl, er wehte ihr den Hosenstoff ins Gesicht. Viel sah sie nicht, nur manchmal rechts oder links am Bein vorbei ein bißchen Wohnung, Klotz am Bein, sang der Mann ohne Melodie, Klavier vorm Bauch, wie lang ist die Chaussee, und marschierte mit ihr den Flur hinauf und hinab, sie sah den Mann nicht, er war irgendwo über ihr, in den Flurgewölben, aber auch unter ihr, unterm Po, zumindest sein Fuß. Links ne Pappel, rechts ne Pappel, in der Mitt n Pferdeappel, sie sah es vor sich, nur den Pferdeapfel getrennt, als Pferd und als Apfel, während an ihren Ohren die Tapete vorüberflog und die Türrahmen. Mit ihr auf dem Fuß ging der Mann überallhin, durch die Zimmer und Straßen und über die Dächer, humpelnd, ungleicher Gang, sie auf dem Fuß, den Klotz am Bein, der nicht abzuschütteln war, rechts links rechts links, bis zum Schützenfest, als die Fahnen von den Häusern hingen, grün und weiß, da holte der Mann aus mit dem Fuß und schleuderte von sich das Kind, das flog an den Straßenrand, zwischen die Leute, die es nach vorn schoben, so siehst du mehr, die Kapelle, Trompeten, Tubas wie Urwaldschnecken, das viele Blech vor den Mündern, die Trommeln, das Stampfen, das ließ Lenes Füße vom Boden hochschnellen, Schlag auf Schlag, sie bekam sie nicht mehr nach unten, sie trippelte, hopste, stand nur auf Zehen, der Boden stieß ihre Fußsohlen ab. Die Musik überall in der Luft, fett und geballt wie die Tubas, dann wieder schneidend, die Luft zerteilend mit Sägerädern, Lene wollte herumhüpfen oder marschieren, wie der Mann, wie die grünweißen Männer, der König, goldbehängt, die Schützen, hintereinander in zwei Reihen, rechts und links außen, im Gänsemarsch. Lückenlos gingen sie, Mann für Mann, trotzdem sah man durch die Reihe hindurch, sah die andere Männerreihe, dazwischen den Zwischenraum, fast straßenbreit, der immer mitging, das
Sperrgebiet, keiner durfte da rein. Die Männergesichter unbewegt, Blick nach vorn, Gedanken an Ehre/Pflicht/Hühneraugen, man sah nicht, was sie dachten, unsichtbar die Gedanken, die blieben in den Köpfen oder schwappten in der Luft durcheinander und gegen die Wände der Häuser, im Takt der Musik. Dazwischen der Mann, mitten unter ihnen, irgendwo, in einer der Reihen, soll ich Schützenkönig werden, hatte er gefragt, dreikehliges Jaaa, hm hm machte der Mann, den Vogel zu treffen sei kein Problem, aber teuer sei das Ganze, sehr teuer, zehntausend oder fünfzig und mehr, allein für das viele Bier, da blieb er doch lieber ein einfacher Schütze, einer von vielen, Lene mußte ihn finden, durfte ihn nicht übersehen, den Dachmann im Schützenzug, grüne Jacke, weiße Hose, tagelang hatte die Frau sie gewaschen, damit sie im grünen und weißen Meer untergingen, tellergrün, tippexweiß wie alle, wo war der Mann, wo sein Gesicht, ein Männergesicht wie alle, ununterscheidbar. Gesichter folgten Gesichtern, breite Nasen, dünne Kinne, alles zufällig, austauschbar, wippend im Rhythmus, Fließbandgesichter, die ineinander übergingen, Nasen sprangen von Vorder- zu Hintermann, die verwechselbar wurden, miteinander verschmolzen, wo war der Mann, in welcher der Reihen, Lene behielt die rechte im rechten Auge, die linke im linken, wo war er, ihr waren die Augen so leer, die Männer so gleich, so gli gla gleich, dazu die Musik, Posaunen und Hörner, die Trommel, immer die Trommel, sie mußte ihn finden, er war doch der Mann, sie war doch sein Klotz am Bein. Geheiratet hatten der Mann und die Frau auch irgendwann, wußten aber später nicht genau warum. Vielleicht weil sie beide wie Filmstars aussahen, das gab es sonst kaum auf dem Land. Fotogesichter, bewegliche Körper, Anzug, Petticoat, Sonnenbrillen. Gern flanierten sie Arm in Arm auf der
Ruhrpromenade, bei jedem Wetter, beugten sich abwechselnd vor, um sich in den Schaufenstern zu sehen: ein schönes Paar. Das Hochzeitskleid reichte nur knapp übers Knie, war aus Plastik, weiß, die Haut darunter naß. Die Frau wußte nicht, wo ihr der Kopf stand. Der Mann trug sein bestrasiertes Lächeln. Als sie nach der Trauung zum Haus kamen, war die Straße naß, Bäche flossen ihnen entgegen. Babywäsche flatterte auf dem Dach, blaß vor dem grau getürmten Himmel. Feuerwehrmänner in dunklen Anzügen zielten mit Wasserbögen nach dem lächelnden Paar, das den Strahlen auszuweichen versuchte. Vor den Füßen prasselte das Wasser auf die Straße, sprang sternförmig hoch. Die Spritzer trafen die Nylons, sprangen der Frau unter den Rock und auf seine blanken Schuhe. Das Paar trippelte seitwärts, vor, zurück, als tanze es. Die Frau sah in den Wasserstrahl, der alles rundum reflektierte und abwies, gern hätte sie ihn an ihrem Kleid zerren lassen, das ohnehin wasserdicht war, wollte aber die Frisur nicht gefährden. Los, zum Haus, kommandierte der Mann und warf ihr sein Jackett über. Im Laufen lächelten sie immer noch. Im Restaurant saßen sie im Familienkreis, wo es eng war, ihre Familie noch kleiner als seine: 1 Mutter, 1 Bruder. Die Brüder redeten über Autos, Fußball, Geld. Sie stießen an auf das junge Glück. Die Frau lächelte. Sie wußte schon gar nicht mehr, wie es sich anfühlte, nicht zu lächeln. Die Vorspeise kam in seltsamen Gefäßen, kleinen Pfannen, in die Vertiefungen eingelassen waren. Graue gebogene Stückchen – Fisch? Embryonen? Im Mund, zwischen den Zähnen, verursachten sie ein Knirschen, ein Gefühl wie zu hartes Kaugummi, schmeckten nach nichts. Die Frau schaute zur Seite; der Mann aß schon das dritte. Er hatte die kleine Gabel tief im Mund. Weißt du, was das ist? flüsterte sie ihm zu, doch er redete los, woandershin, mit vollem Mund. Als sie noch mal
fragte, kaum hörbar jetzt, machte er den Rücken lang: ist doch egal, und da wußte sie es, und ihre Gabel, auf der die Schnecke steckte, klirrte gegen das Glas. Sehr fest hielt die Frau die Gabel, doch die wollte sich bewegen, auf und ab wippte die glitzernde Schnecke, auf ab neben dem Glas durch die Luft, und auch innen, in der Frau, bewegte sich was und kletterte, wollte raus und rauf, Klimmzüge machte es, rauf und nach oben, die Speiseröhre hinauf. Auf dem Eiffelturm stemmte die Frau ihre Handballen gegen das Geländer und ließ den Körper vor und zurückwippen. Die hellen und dunklen Dächer verschränkten sich, ihre Schattierungen schoben sich in der Ferne ineinander. Die Frau dachte, daß dies der Anfang von etwas sei, wußte aber nicht wovon. Der Mann sah ihr Gesicht von der Seite an, die schwarzen, das Ohr berührenden Locken, aus denen der Bügel der Sonnenbrille trat, auf der Nase die ungleichen Sommersprossen. Er zündete sich eine Zigarette an. Weil die Frau ihm noch immer nicht ihr Gesicht zuwandte, kletterte er aufs Geländer; das war nicht gefährlich, weiter unten gab es noch einen Vorsprung. Als er freihändig stand, rief er sie. Sie sah ihn, wie er lachte, die Arme ausgebreitet, überm Abgrund, um ihn herum viel Licht, das ihr in die Augen strömte, und ihre Hände flogen vom Geländer weg, vor die Brille und weiter, rissen den Kopf nach hinten, auch den Oberkörper und alles. Sie fiel, sie lag auf dem eisernen Eiffelturmboden. He, rief er und stand noch auf dem Geländer, und noch mal: he. Sie lag auf der Seite, die Gliedmaßen nebeneinandergefächert. Jetzt kamen schon Leute, die hockten schon bei ihr und redeten auf französisch und richteten sich auf und suchten mit Blicken die Plattform ab. Er sprang, ging zwei Schritte zur Seite. Sie sahen ihn, aber er machte noch einen Schritt. Dann bekam sie Kinder und er die Firma. Die Kinder waren klein und laut. Der Mann saß über den Wohnzimmertisch
gebeugt und hielt sich die Ohren zu, er brauchte Ruhe: vor ihm ein Blatt voll mit Unterschriften, d.h. mit einer, nämlich seiner Unterschrift, die von oben nach unten immer größer und unleserlicher wurde und am Ende der Seite nur noch eine Reihe paralleler Striche war: die Chefunterschrift:. Die Frau kam herein, ein weinendes Kind auf dem Arm, und trat auf ihn zu, indem sie mit dem Fuß zerknülltes Papier beiseiteschob. Was machst du denn, fragte sie lächelnd. Das Kind schrie, und sie nahm das Blatt hoch und lächelte nicht mehr, sah lange das Blatt an, dann den Mann, dann wieder das Blatt. Er saß auf dem Sofa, breitbeinig, geduckt, und schaute zu ihr auf. Schließlich hob er die Schreibmaschine auf den Tisch. Du weißt doch, daß ich Ruhe brauche, sagte er.
Die Firma war nicht groß, ein Dutzend Gesellen und Lehrlinge, auf die man aber gut aufpassen mußte. Wenn sie frühmorgens erschienen, in steifer Kluft, Rasierwunden in den grauen Gesichtern, die Augen blinzelnd und schmal, traten sie lange fröstelnd von einem Bein auf das andere, bis der Dachdecker ihnen erklärt hatte, was es zu tun gab. Er mußte es ihnen oft zwei- oder dreimal sagen, denn während er sprach, kratzten sie sich, zündeten sich Zigaretten an oder zogen ihre Hosen über die Bäuche, so daß sie, wenn er am Ende war, den Anfang schon wieder vergessen hatten. O.k. Chef, sagten sie schließlich, alles klar, und aus ihren Mündern kamen Wolken, die weiß waren wie ihre Hände. Dann machten sie doch alles ganz anders, beluden die schmucken Lastwagen, auf denen der Name des Dachdeckers stand, und fuhren in der ganzen Stadt umher. Bald stiegen sie auf dieses, bald auf jenes Dach, hämmerten, teerten, brieten im Sommer Würstchen auf der heißen Dachpappe und setzten einmal alles in Brand, so daß die Firma fast pleite ging und der
Mann die Hände rang. Er entließ erst einen, dann einen zweiten, dann gewöhnte er sich an das Entlassen; die morgendliche Frierrunde schrumpfte, die Zitterpartie verkürzte sich, alles wurde einfacher, das Aufteilen der Mit-Arbeiter auf die Baustellen, das Ermahnen und Zur-Ordnung-Rufen, die Lastwagen fuhren schneller, selbst der Mann nahm vorübergehend ab, bis ihn der Unternehmergeist wieder heimsuchte und er die Entlassenen wieder einstellte, die daheim auf ihren Sofas gelegen hatten, die Fingernägel aufund abgleitend in den Kordrillen ihrer Dachdeckerhosen. Das Telefon stand in der Mitte des Hauses, blaßgrau, die Muscheln des Hörers beidseits als Ohren; hier, tief im Innern, war das Haus durchlässig, hatte ein Loch, durch das die Außenwelt eindrang; das Telefon war eine Sonde der Welt, streckte andererseits selbst sein Kabel wie einen Fühler nach außen, wo die Drähte sich verzweigten und das Telefon verbanden mit den Nachbartelefonen, den Verwandten- und Bekanntentelefonen, auch mit irgendwelchen unbekannten Telefonen, alle waren grau, die Wählscheiben schwarz numeriert, die Klingeln schrillten in hallende Flure, kahle Möbelhauswohnungen, saubere Ohren hinein; die ganze Normalwelt verbanden sie mit dem Haus, ließen sie ins Haus, die Normalbürger brauchten bloß anzuklingeln, schon herrschte im Haus Telefonalarm; in der Dämmerung stockten die Bewegungen, wurden ruckhaft, abrupt: wo waren die Mitbewohner, wer würde ans Gerät gehen, das schon zum zweiten Mal schellte, waren überhaupt alle ansprechbar oder mußte jemand verleugnet werden, weinte/lallte/hatte sich eingeschlossen, nahm womöglich der Mann den Anruf entgegen und war der eventuell gar nicht für ihn, sondern vielleicht für Lene? Eine dritte Person mußte dann in der Nähe sein, die es ihr ausrichtete, während Lene selbst auf Distanz blieb, in ihrem Zimmer, der mannfreien Zone, am Boden
liegend, die Decke im Blick, die Lampe, das Spinnwebgeflecht; das Klingeln unüberhörbar auch hier, Lene bog ihre Ohren um, klappte sie zu, hörte hinter dem Ohrmuschelrauschen das Klingeln noch immer. Es war schon das sechste und wohl letzte, niemand nahm ab, zum siebten Mal schellte das Telefon und Lene stand auf. Sie würde den Anruf entgegennehmen, allen Gefahren trotzen, notfalls dem Mann begegnen oder gemeinsam mit ihm aufs Gerät zueilen, die Hörergreifarme schon ausgestreckt, sich den Hörer dann aus den Händen reißen, das achte Klingeln erklang, das neunte. Als sie vor dem bimmelnden Kästchen stand, war der Mann plötzlich nah, sie spürte und hörte die Schritte, wie sie herankamen, die atmende Mannmasse in der Tür, den Hörer an ihrem Ohr, ein Klicken, der Freiton brach los. Das endlos strömende, gleichmäßig tönende Summen, der Mann bei ihr, Schritt für Schritt, Lene sah irgendwohin und drückte den Hörer ans weiche Ohr und fing an zu reden, sprach in die taube Muschel hinein, hallo, ach du bists, wie gehts, hielt den Hörer ans Ohr und preßte den dröhnenden Freiton ins Ohr. Die Eltern des Mannes waren gut im Liegen; sie glaubten noch an den Sommer und lagen von Mai bis September auf dem Balkon, auf rosageblümten Liegen, die der Mannvater Tag für Tag aufklappte, aufstellte, zuklappte, wegstellte. Braun wollte die Mannmutter werden und war es doch schon, tiefbraun, eine Negerin, sehr europid, verwaschene Augen, gebleichtes Strohhaar, das sie ab und zu nachblondieren mußte. Ihre Haut nahm das Licht auf wie Fotopapier, und noch brauner und blonder erschien sie neben ihrem Mann, der gut mit ihr kontrastierte, ein Wintertyp, dunkelhaarig und blaß, ein Hüne dazu, neben ihr, der Zwergin oder Zwergpygmäin, auf der sich die Pigmente konzentrierten. Kein Sonnenöl, das brauchte sie nicht, auch wenn ihre Haut sich über die Jahre wellte und riffelte, sich auffaltete in dicht
beieinanderstehenden Runzeln, kein Sonnenöl; die Mannmutter saugte die Sonne auf, selbst durch Wolken hindurch, sog sie bis in die kühlen Knochen, hätte die Sonne am liebsten als Punktstrahler auf sich gerichtet gehabt, während die Haut sich kräuselte, raffte wie Stoff, nur die Grate wurden noch braun, in die Rillen gelangte kein Licht mehr, dort herrschte blasses Dunkel, und wenn man die Gesichtshaut der Mannmutter glattgezogen hätte, wäre sie kreuz und quer nadelgestreift gewesen. Das Liegen dauerte viele Stunden am Tag; unbeweglich waren die Leiber, der kurze, der lange, nebeneinander hingelagert und hatten noch unter den Sonnenbrillen die Augen geschlossen. Man hätte von außen auf den Balkon klettern, sich anschleichen, die Sonnenvergötzer erschrecken können, aber den Kindern waren die leblosen Körper und schwarzrunden Insektenaugen suspekt; sie wirkten jetzt schon so tot, daß sie beim kleinsten Schrecken oder Geräusch bestimmt richtig sterben würden und dann noch viel toter wären, zwei Leichen auf Blumenstoff überm leeren und weiten Balkonquadrat, das vor Sauberkeit gefährlich strahlte, während sich auf der Mauer, die es umgab, die Geranien drängten, in einem Signalrot, das überallhin schien, eine Grenzlinie, die den sterilen Balkon der Manneltern gegen Haus und Garten abschirmte. Das Rot der Blumen drang hinab in den Hof, wo die Kinder lärmten und eigentlich immer zu laut waren; manchmal erschien zwischen den Blumen der Blondkopf der Mannmutter, geranienumkränzt; ein rotes Blatt hing ihr über die Stirn; kaum konnte sie über die Mauer schauen und hatte doch den Mann und noch weitere Männer zur Welt gebracht, selbst wenn sie den letzten gern zurückgestopft hätte. Winzig war sie, auch ihre Stimme, und zaghaft bat sie die Kinder um Ruhe, doch das Stimmchen verklang in der Weite des Hofes, bis der Mannvater hinter sie trat; er war ihr Verstärker und
Handlanger; für seine Frau tat er alles, erhob erst sich, dann die Stimme hinter dem Blütengesicht, und er konnte brüllen, der Ex-Dachdecker, dem einst die Firma gehört hatte, drohte, den Kindern die Tischtennisplatte mit der Axt zu zerhacken, und wenn sie nicht aufpaßten, dann auch sie selbst, die zu ihm aufschauten, den Mund geradehielten, ja sagten sie und stellten sich Tischtennisplattensplitter vor, dazwischen den axtschwingenden Mannvater, und das Lachen kam zwischen ihren Zähnen durch. Die Tischtennisplatte war der alten Frau ein Greuel, nicht jedoch die Gymnastikplatte, die eine Schallplatte war; die Mannmutter legte sie immer auf, wenn die Kinder sie in ihrer Wohnung besuchten; im Halbkreis standen sie dann ums Gerät, auf Socken, und hüpften herum zu James-Last-Musik, die Mannmutter mitten unter ihnen, in rosa und babyblau, mit lachenden Fältchen und Falten; klatschte sogar in die Hände und paßte doch auf, daß man vorsichtig tobte, nicht zu wild, sonst sprang die Nadel und klirrte der Kronleuchter und bekam die Mannmutter sofort Migräne, berührte ungläubig den Kopf, sehr zart, mit allen Fingerspitzen zugleich. Sah die Finger an, als sei etwas von der Migräne auf ihnen zurückgeblieben, ein Fleck, überall sah sie Flecken, nie war die Wohnung ihr sauber genug. Die Putzfrau war nachlässig, taugte nur für das Grobe; die Mannmutter mußte ihr hinterherputzen, sich aufregen, neue und schärfere Putzmittel kaufen und schaffte es doch nie ganz, die Wohnung gegen den Schmutz zu verteidigen, der sich im Haus breitgemacht hatte. Bei ihr mußte alles blitzblank sein und gähnend leer, nur senkrecht aufeinanderstoßende Flächen, nirgends ein Kratzer, ein Geruch, eine Spur der Benutzung, alles geleckt und gebügelt. Und doch nahmen die Flecken im Laufe der Jahre zu, drangen von außen durch die Wände, sprangen vor ihren Augen über Schränke und Tische, sammelten sich auf dem Fensterglas, schnellten schließlich der
alten Frau ins Gesicht, dunkle Flecken, brauner als braun, da half kein Schrubben, kein Wischen, die Mannmutter kratzte, schabte vorm Spiegel; über- und überall war der Schmutz.
Manchmal war die Luft voller Ziegel, die flogen auf ihren Flugbahnen, ballistischen Kurven, gegen den Luftwiderstand an, auf der Seite die Falzen, unten die Nasen, flogen auf Hannes zu, der sie, wenn sie in Reichweite waren, fing, weiterwarf, fing. Nacheinander flogen die Ziegel, stiegen unmerklich auf, erreichten höchste Punkte, fielen flach ab, landeten in Handschuhhänden, erhoben sich wieder, ringsum beschrieben sie ihre Flachbögen, schwerelos unterm blauweißen Himmel, hüpften von Mann zu Mann oder von Mann zu Hannes, der kein Mann war. Zwischen die Augen zielen, hatte Jupp gesagt und sich selbst auf die Stelle getippt, wo eine Hautschuppe hing, alles klar, und Hannes schleuderte ihm die Steine ins Gesicht, die Schuppe wegschießen, wußte aber nicht, ob sie trafen, sah nicht, wohin er warf, ex und hopp, hatte Walter gesagt, nicht hinterherschauen, was weg ist, ist weg. Hannes wandte sich um und fing, drehte sich wieder zurück, es war ein ständiges Drehen, ein ständiges Schnappen und Weitergeben. Die Dachfläche wischte an ihm vorbei, das schräge Trapez, die Sparren, dazwischen die Luftstreifen, gegenüber die untere Dachecke, das Nachbardach, werfende Dachdecker, Karl, der die Ziegel über die Sparren hängte, Hannes nahm es nur schattenhaft wahr. Selbst die heranfliegenden Ziegel sah er nicht wirklich, spürte sie nur als flimmerndes Gleiten, ging bei jedem Stein in die Knie, bog sich um ihn herum, schob dann beim Werfen die Hüfte vor. Jupp fing sie alle, Hannes’ Würfe; Walter, der nach Hannes in der Kette gestanden hatte, hatte er zur Seite geschoben, laß mich man.
Die Ziegel flogen, Hannes fing, dabei wurden sie schnell unförmig, bekamen Spitzen und schräge Kanten, Verdickungen, kaum konnte er sie halten, wurden auch schwerer, waren bald schwerer als er selbst, der mit verdrehten Füßen zwischen Balken, Sparren und Latten stand, neben dem Schuh ein Splitter im Holz, daneben war Luft, die nach Holz roch, drei Meter tiefer ein Betonboden. Mach, was du willst, hatte die Frau gesagt und mit der Außenseite ihres Fingernagels einen Fettfleck vom Herd gekratzt. Es ist deine Entscheidung. Sie wandte Hannes die dünne Schulter zu, Jupp drehte ihm das Gesicht entgegen, Hannes warf, seine Arme flogen in die Luft, flogen hinter dem Ziegel her, Hannes zog sie zurück und drehte sich. Es war ein Spiel, ein Computerspiel, Catch the brick, zwischen Jupps Augen zielen, Maustaste drücken, aus die Maus. Lebende, lebensechte Körper, dazwischen der Ziegelhagel, der prasselte, fiel, der nicht nachließ, geschweige denn abbrach, stop sagen, hatte Jupp gesagt, wenn was ist: einfach stop, sonst legts dich, sonst fliegst du und liegst du, fliegen und liegen, ganz flach. Hannes sagte nicht stop, er fing, dabei war er kein Mann, würde nie einer sein, auch die Hände so winzig, trotz der Handschuhe. Nie würde er beim Blick in den Spiegel einen Mann sehen oder ähnliches, ein ernstes und schroffes Stoppelgesicht, ein Kurzhaar- und Rotwerdgesicht, das sähe ihm nicht aus dem Spiegel entgegen, das hätte er höchstens hinter sich, das könnte ihm in den Rücken blicken, von der Traufe her, von da, wo die Leiter stand, und stop. Dort könnte ein Mannsgesicht erscheinen oder war da, war vielleicht schon da und stierte und kontrollierte ihn, den Dachdeckersohn, den Sohnemann, was der Sohnemann schon alles kann. Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht um, was war das, was flog auf ihn zu, rechteckig, steinhart, auch Hannes flöge, von Hand zu Hand,
von Gesell zu Gesell, in schönen Bögen, die Nase nach unten, ein Dachdeckerflug, und stop. Lene hatte den Mann nie nackt gesehen, nur einmal ganz kurz, da aber nackter als nackt; splitterfasernackt rannte er durch die Wohnung, eine helle riesige Hautgestalt, zwei weiße Pobacken, haarige Beine, im Rücken ein Graben, der ging bis zum Nacken, nackt und rennend, ein Flitzer, ein Exhibitionist. Nein, er wollte ja nicht, daß sie ihn sah, er lief weg vor ihr, schämte, genierte sich, ängstigte sich vor ihrem Blick, der aber schneller war, der ihn traf, zwar nur von hinten, dafür komplett, von oben bis unten, bis zu den rosa Fußsohlen, Plattfüße hatte der Mann, wegen seines Gewichts. Das Lachen kam langsam, zuerst in den Lippen, die sich verbogen, deren Enden sich hoben, so lustig der Mann, hilflos, eine Witzfigur, ein Nackter, der durch die Wohnung rannte, vom Bad durch einen der Flure, die zusammen ein T formten, das köpfüber in dem Wohnungs-L stand. Was war ihm da schiefgegangen, durch welchen Übermut war er seiner Kleidung verlustig gegangen, warum wollte er nicht gesehen werden. Das Lachen kam aus dem Bauch, kribbelige Luft stieg in den Hals, die Lippen zusammengepreßt, Prusten, hahaha, dann haha, schließlich ha. Später sah sie ihn nicht einmal angezogen, schaute durch ihn hindurch, da fehlte nicht nur seine Kleidung, sondern auch er. Die Frau, die dabeigestanden war, hatte ihn vor Lenes Blicken zu schützen versucht, lächerlich bei ihrer Größe, oje, wie komme ich hier weg, habe er gesagt, hatte sie gesagt, dann auch gelacht über den Mann oder zumindest gelächelt, ein bißchen, nicht viel. Im Laufe der Jahre brach seine Nacktheit mehr und mehr aus der Kleidung hervor, Reißverschlüsse standen auf, Knöpfe sprangen, an Schultern und Armen platzten die Nähte über den Muskeln, Bizeps, Trizeps, Deltamuskel, und grinsend zeigte er
die klaffenden Risse in den Hemden, stolz und verschämt, sie kopfschüttelnd besehend, und die Frau lächelte leicht in sein Grinsen hinein. Wohin bloß mit soviel Kraft, einmal trug er sie alle, seine ganze Familie, die tatsächlich eine Familie war, zumindest in diesem Moment, links die Frau, die noch Paul auf dem Arm hatte, rechts Hannes und Lene, sie waren ihm ein Leichtes, saßen auf ihm, ein Familienbaum, aufgepflanzt an der T-Kreuzung, am Schnittpunkt der beiden Flure, rundum Türen und Zimmerfluchten. Hier trug er sie, schlug später hier auch die Frau und rief nach dem Bac, mein Bac, wo ist mein Bac, werbewirksam durch beide Flure, wer hat mein Bac, he JohnBoy, was ist, so nannte er Hannes, der sich an der Wand rieb, Mensch guck nicht so blöd, rück es raus oder kämpf mit mir, sei ein Mann, ist schließlich für uns alle da, das Bac. Meistens stand das Haus einfach herum, aber manchmal bewegte es sich, die Lampen tänzelten, die Türen bebten in den Angeln, ein Knarren, in den Wänden raschelte Stroh. Pst, sagte die Frau. Ihre Gesten wurden unbestimmt, sie strich sich mit zwei Fingern übers Brustbein, zeigte nach oben: Die Großeltern. Die üben… Sie stockte, räusperte sich. Die üben den Beischlaf. Die Kinder schauten am Finger entlang und weiter, sie holten tief Luft, prusteten, stellten sich ein Gewirr von Armen und Beinen vor, die sich in umständlicher Mechanik knickten, spreizten und gegeneinander verschoben, verknäult mit weißer Bettwäsche. Die Frau lachte über die Kindergesichter und über die Lampen, überhaupt lachte sie gern und schrieb auf der Schreibmaschine über den Tod und über die Schreibmaschine oder hörte Boney M, in der Küche, I can’t stand the rain, und tanzte mit den Kindern: Hannes und Paul schubsten sich, Lene beobachtete ihre Füße, die Frau bewegte vorsichtig den Po hin und her. Nachts, wenn die Schallplatten zerkratzt waren, saß sie an ihrem Platz am Tisch und zog mit dem Fingernagel die Linien
des Holzes nach. Alles vermengte sich. Wo hörte der Tisch auf, und wo begann die Wand? Die Spinnwebskulpturen in den Ecken verknoteten sich mit ihren Schatten. Die Pizza, die an der Wand hing, begann zu ticken, auch die Zeitschaltuhr des Herdes, dessen Platten die fettige Tapete anstarrten. Die Heizung sah wie eine Tür aus, die Tür wie ein Schrank, nur der Schrank sah überhaupt nicht wie eine Heizung aus. Die Augen der Frau verschwammen, Braun floß ins Weiß und umgekehrt. Arme und Beine wurden austauschbar, das Schwarz der Haare erschien in den Zähnen. Auch der Mann und die Kinder vermischten sich, ihre Gesichter legten sich übereinander, deckten sich in ihren Zügen. Die vier Nasen, nur leicht verschoben, zeigten auf sie, die Augen: gauloiseblau, wie gemalt. Alles dieselbe Sorte, dachte die Frau, die ließen die Haare im Waschbecken liegen, aßen die letzte Schokolade weg, nahmen das Telefon nicht ab, kauften zuwenig Zigaretten, stahlen dabei noch Geld aus dem Portemonnaie und stritten schließlich alles ab. Die Frau griff nach dem Glas, und der süße, saure, bittere Amselfelder ritzte sich in sie, heiß im Bauch und überall, flutete von innen gegen die kribbelnde Haut. Die Frau stemmte sich hoch. Sagen, man mußte es ihnen sagen, es mußte gesagt werden und zwar jetzt. Tischbein und Stuhl, die sich ihr in den Weg stellten, stieß sie weg, ein langer Schritt, und sie war jenseits der Fußbodenlinie. Im Flur ein Chaos, die Teppichfliesen waren durcheinandergeraten; die Frau, schräg an die Wand gelehnt, schob sie mit den Schuhspitzen zurecht. Die Türen, wo waren die Türen, doch, eine Klinke, ein Zimmer, sie drückte den Lichtschalter, Paul verschlafen im Bett: was ist denn, und sie sagte es ihm, er wisse es sowieso und genau wisse er es und was die Fragerei solle, stur sei er, stur wie er. Wie wer, fragte Paul; ihr Unterlid zuckte, die Hand schloß sich um die Türklinke, du weißt es genau.
Hannes wachte erst gar nicht auf, er hatte keine Tür, die man aufreißen konnte. Tu doch nicht so, sagte sie, als ob du schliefest, da gingen ihm die Augen auf, doch er sah nur die Zimmerdecke an, die Minihügel und -täler der Rauhfasertapete, die Schluchten und darin die Cowboys, Indianer säumten die Grate, die Bögen gespannt. Du hörst gar nicht zu, doch, sagte er, war wie er, glich ihm am meisten, wem, ihm, alle glichen ihm, alle und alle am meisten. Die Kühlschranktür hatte er offengelassen, hab ich nicht, verlogen war er, ein Lügner, Miststück, und jetzt: hau ab, sagte er, schlug die Decke zurück, du bist doch, verschwinde, und kam auf sie zu, verschwinde. Und erhob die Hand gegen sie, die Frau, aus dem Grab wachsen würde sie ihm, berührte die Frau, tippte sie an, nicht fest, die in Zeitlupe gegen die Wand sank, an ihr entlangglitt, bis sie völlig verquer und gekrümmt und schräg zwischen Wand und Fußboden lag. Ihre Augen geschlossen, seine weit offen, die blauen, odolfarben jetzt. Er wandte sich um, schnell ins Bett, es war Nacht, und er zog die Decke über den Kopf.
Sonntags: Wanderung, durch Flur und Tür, querfeldein, Waldausflüge machten sie, waren eine Familie oder sogar eine richtig nette Barbiefamilie. Überall Gegend, sagte der Mann und zeigte mit den Armen herum, wo die Berge und Bäume und Felder und Strommasten sich aufgestellt hatten für diese echte Familie, damit die da hindurchspazieren konnte, weil es ja Sonntag war. Immer voran, nichts hielt sie auf, Bäche nicht, kein Gestrüpp, geschweige denn ein Elektrozaun. Kühe standen überall, die sahen aus wie Lene oder Lene wie sie; gern wäre auch sie eine Kuh oder doch nicht. Die Landschaft zerbeult, gepiekst von Fichten und Stacheldrähten, der Himmel war auch da, imposant, sagte der Mann, im Hintern Kies, im
Arsch Geröll. Der Mann ging voran, er war der Schnellste, dann Hannes, der auch gern schnell sein wollte, dann die Frauen, der letzte war Paul. Er war noch klein oder zu klein, besonders die Beine ziemlich kurz, aber auch der Rest. Einmal war er auf der Strecke geblieben, im Gras, das höher war als er, sie, die Riesen, waren davongestakst, und er, trotzig oder erschöpft, dann ängstlich, hatte zu weinen begonnen, sie zögerten, aber: keiner geht zurück, sagte der Dachdecker, von dem man gegen den Himmel vor allem das Kinn und die Nasenlöcher sah. Lene und die Frau hatten sich angeschaut, geh, hatte die Frau mit den Augen gesagt. Sein Kinn, ihre Augen, das Kinn. Lene ging. Paul war noch zu retten, immer rettbar, auf dem Haus oder drinnen, wenn er Häuser zeichnete, Grundrisse, Seitenansichten, mit langen 5 H-Bleistiften, die ragten ihm aus der Faust, er tief gebeugt, fast lag sein Gesicht in den blassen Schulheften, kariert mit Rand. Er zeichnete, zog Striche, mit oder ohne Lineal, sehr präzis, Gebäude und Bauwerke, Wohnungen, die sich verzweigten, die ihre Flure und Balkone bis zum Rand des Karopapiers streckten oder darüber hinaus auf den Schreibtisch, zum Radiergummi, der klein war und blaß. Da brauchte ihm bloß die Bleistiftspitze zu brechen oder der Mann mit den großen Händen ihn anschreien, schon sah es Lene von außen, durchs Fenster, mit einem Blick, ließ den Schulranzen fallen, rannte zu ihm. Die Bleispitze klebte sie fest oder zog ihn weg von dem fuchtelnden Schreier, für den Lene nicht existierte und er nicht für sie, entzog Paul dem Mann, der da stand, rot das Gesicht und die sinkenden Hände eigentlich auch ziemlich rot. Sie waren am Meer. Die Luft war kühl, aber sie hatten fast nichts an, Badehosen, die Frau einen rosa Bikini, weil es Sommer war. Sie gingen im Kreis, einzeln, getrennt, der Mann voran. In der Hand hielt er einen Stock, mit dem zeichnete er
Linien in den nassen Sand, spiralförmig, immer im Kreis. Das Meer zog den Himmel auseinander. Es war flach wie der Strand; im Urlaub war alles flach, nur die Körper nicht, die nach oben abstanden: sie waren umgeben von Haut und Luft, gingen im Kreis, folgten den Linien, dünnen Gräben, die Ränder von kleinen Sandhügelketten gesäumt. Das Grau des Sandes war gelb. Sandkörner flogen auf und prasselten gegen die Haut. Die Linien waren Grenzen, die man nicht überschreiten durfte, nicht mal mit dem großen Zeh dran rühren, wie Bordsteine oder Verkehrsinselkanten. Zwischen den Linien mußte man gehen, da waren die Gänge, Hochplateaus, Bürgersteige, Fußgängerüberwege, scharf begrenzt. Manchmal gabelten sie sich, manchmal hörten sie einfach auf, die Linien schnitten den Weg ab, man kehrte um. Ein Irrgarten, aber flach, nur der Grundriß eines Labyrinths, am Meer, später am Stadtrand: Lene gehend, dreizehn zwischen Strichen, Randstreifen, Gullis, Einfassungen frisch ausgegossener Straßen. Dreizehn noch und nöcher, die Zahl auf die Stirn tätowiert, und ging und wäre beinahe irgendwohin gegangen oder sonstwohin, großer Moment, bald vergessen sofort. Die Finger sprangen über Drähte, streiften Zäune, hohe, die zäunten Bildchen ein, in Rhombenform, Puzzles von flachen Fabriken, knallgelben Baggern, Kränen, Sandhaufen, Kies. Sauber das alles, sauber hingekippt, auch der Dreck, und blieb so, unbewegt, nicht mal der Wind drang dort ein. Von hinten das Surren, schon lange, noch hinter dem Rücken, im Hinterland, ein Schnurren und Rollen, das langsamer wurde und sich ihr anpaßte, nicht irgendeinem, sondern ihrem Tempo, dem Schrittempo. Neben ihr dann, auf der Seite, schwappte die Vorderhaube nach vorn, die Haube des Gestirnten, des Bonzbenz, grünblaugrau, schwer zu zügeln die 3000 Kubik. Kotflügel ausladend, fette Polster, Kopfstützen, Rücklehnen, Scheiben lautlos, Plastikgeruch, einer sitzt da,
willst du mit, und öffnet die Beifahrertür. Sie braucht ja nicht über ihn drüberzusteigen, hat ja zwei Türen das Auto, wenn man nachzählt, sogar ein Viertürer. Willst du mit, und sie nickt, auf jeden Fall nickt sie nach oben und unten zurück, sagt dann ja. Vielleicht sagt sie ja. Schröter, der Mann vom Kiosk, stand oben am Fenster, redete. Er gestikulierte, sagte was, schleuderte Worte heraus, räusperte sich, dröhnte, verstummte. Die Stimme schien sich in seinem Hals zu stauen, brach los, wurde gezügelt, gedämpft, schwoll an. Die Front des Hauses: gelbes Rechteck, Balkone, gereihte Fenster, die blaß den Himmel spiegelten, als sei das Haus durchsichtig. Schröter, in einem der Fenster, redete und hielt sich am Fensterrahmen fest, drückte sich die Brille auf die Nase, strich mit der Hand durch die Luft oder strich sich die graublonden Strähnen über die Glatze. Lene, die gegenüber auf dem Bordstein saß, verstand ihn nicht. Zahlen rief er ihr zu, beliebige, unzusammenhängende Zahlen, Zahlenketten, 23, 110, 7, Lene rechnete mit ihnen herum, konnte keine Ordnung erkennen, merkte sich die Zahlen, eine nach der andren, rieb sich die Nase. Was wollte er sagen? Sie nahm ihre Schuhspitzen in die Hände, klemmte das Kinn zwischen die Knie. 17, schrie Schröter und deutete auf etwas hinter ihr. Lene wandte sich um, mühsam, zu träge, sich zu erheben: ein Garten, Wiese, ein knorriger Baum, Gebüsch, dazwischen hingen an einer Wäscheleine Shaun Cassidys Teile, echt, nicht papieren, dreidimensional, Fuß neben Schulter, manche nackt, andere in Jeans, und pendelten leicht, obwohl es windstill war unter dem Eternithimmel. Lene, starr verdreht, weitete den Blick: diese Unordnung. Kinn hing bei Bauch, Knie bei Ohr, ein einziges Durcheinander. Wieso waren die Stücke nicht sortiert worden? Eine Schändung, Entweihung, und plötzlich wußte Lene warum, es war ihre Schuld, sie hatte ihn nicht geliebt, der zerteilt worden war,
hatte ihn nicht lieben können. Die Schuld steckte sperrig im Hals, ballte sich in der Brust. Wie zustimmend schien jetzt Shaun Cassidys Fuß zu wippen, nicht auszuhalten, sie drehte sich steif zurück, und noch in der Bewegung sah sie aus dem Augenwinkel im Fenster neben Schröter einen anderen, einen Schattenmann, schwarzbraun, von der Seite, unscharf konturiert: der Dachmann, der sich neben dem Fenster versteckte, Schröter war sein Legat, eine Art Fürsprecher, und sie begriff, daß der Mann sich mit ihr versöhnen wollte, versöhnen, sie schüttelte schnell den Kopf und wußte, daß der Mann hinter der Wand im selben Moment zu Boden sank.
Später hing das Seil noch lange und lang am Haus, ein heller Strich vor der Schieferfront, die Litzen wie die Steine sich überlappend, hing als riesiges Haar dem Haus in die Fensteraugen, das Ende auf Handhöhe, baumelte leicht, handbreit. Auf dem Dach hatte es sich um sich selbst geschlängelt, gekringelt in Windungen, Biegungen, Kurven, während Lene fror. Sie fühlte sich alt. Vor dem Himmel, der wasserblau war, balancierte Hannes über den First, das Seilende in der Hand. Ich binds an den Schornstein. Lene saß fröstelnd zwischen dem flacheren und dem steileren Teil des Daches, an jenen gelehnt. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie Hannes sehen, den Dachdeckersohn, auf oder unter dem Grat, kopfüber, die zitternden Arme ausgebreitet, sehr wackelig gegen den Wind gelehnt, in einer Hand das Seil. Arhythmisch setzte er die Füße, unelegant, abrupt, stand krumm, die Knie verschieden geknickt, riß das Seil in die Luft, schlug es aufs Dach, während sein Körper auf der Dachlinie Zeichen formte. Der Regen verfärbte später das Seil, verdunkelte es; morgens hatte der Rauhreifes hell gepudert, das steif und spröde
geworden war, sich nicht mehr bewegte, sich nur leicht zu einer Seite bog, ein zaghafter Tastversuch. Lene drückte den Hinterkopf gegen die Körner der Dachpappe, schmiegte sich an das Dach, die untere Grenze des Himmels; Himmel und Haus stießen hier zusammen, berührten einander und sie, die so leicht dort lag, fast fiel sie ins flirrende Blau oder lag oder hob millimeterweise ab oder lag einfach da, wollte sich fest ans Dach drücken, doch da war nichts, wogegen sie sich stemmen konnte. Sie richtete sich auf, legte sich zurück, richtete sich auf; Autolärm, Passantenrufe, darüber die Dachwelt, schräg, zerklüftet, die Sonnen- und Schattenseiten der Dächer, spitze Winkel, stumpfe, der Wind. Im Osten wurde die Haut des Himmels geritzt, bekam einen Kratzer oder auch zwei, Kondensstreifen, Streifen aus kondensierter Milch, die miteinander verschmolzen, ausflockten, zur Seite hin abtrieben. Vor Lenes Füßen das Seil, das sich langsam um sich selbst wand, hinter Hannes herglitt, der es zog, das dann einen Hüpfer machte, wieso hüpfte es, wo war Hannes, stürzte er gerade ab, das lose Seil in der Faust, nein, er stand schon beim Schornstein, die Knie zur Seite gewinkelt, die Jacke offen, Wellen durchliefen seinen Körper. Der Schornstein war größer als er, aus rötlichen Backsteinen, unverputzt; direkt hinter ihm fiel das Dach beinahe senkrecht ab, in den Abgrund, aus dem das Nachbarhaus aufstieg, weiß, graues Pfannendach, nah, unerreichbar, eine Provokation. Oder mußte man nur eine Bohle von Giebel zu Giebel legen, sie überqueren und wäre schon dort und sähe alles von anderswo, wäre auch selber ein anderer Mensch? Oder mußte man dazu bloß älter werden, auch wenn man schon alt war, und älter und immer noch älter? Oder hängen, am Seil, zwischen oben und unten, Dach und Gestein, mitten dazwischen, haltlos im Luftraum, hängen an Händen, den eigenen Händen, dem einen Seil, das erst dick
war und haltbar, jetzt fadendünn, schlaff, kaum spürbar zwischen den Beinen, der Körper Gewicht, eine Puppe aus Blei, und pendeln, bei jeder Bewegung, sich drehen ohne Sinn oder Drehsinn, die Hauswand vor Augen, die Schattenschlucht, gerahmte Fenster, das Fallrohr der Dachrinne, Luft, weiter hinten die Werkstatt, den Apfel-, den Kirschbaum, beide kahl. Sich drehen und drehen, die Hände vor Augen, rot, hart ums Seil gekrampft, Glanzgelenke, eisige Hände, vom Seil nicht zu lösen, Schweiß im Gesicht. Die Arme kraftlos, taub, kurz vorm Zerreißen, warum rissen sie nicht, warum fiel sie nicht aus der sich dehnenden Zeit. Unten Hannes, sein umgedrehtes Gesicht, oben das straffe, dünner werdende Seil, das die Dachrinne deute, danach verschwand, darüber der Himmel, der leer war wie zuvor, Lene hatte ihn zum Gähnen gefunden, zum Weggucken, trotz der Punkte, die in ihm erschienen waren, Kometen, blasse Ballons, die über den Himmel flitzten und standen, reglos, dann wieder losrasten, sie folgten Lenes Blick, egal wo sie hinsah, aufdringlich schwebten sie zwischen dem Himmel und ihr, waren mit den Augen und Augenbewegungen verbunden, durch unsichtbare Stricke, ein Hebelwerk, sprangen später in sie hinein. Hannes legte das Seil um den Schornstein wie um einen Männerbauch; dick war es, ein Tau, mit dem er rang, verknotete es mit sich selbst, ein Zimmermannsknoten, noch einer. Wir müssen den Weg nach unten finden, hatte er gesagt; schon seit Tagen sprach er vom Abstieg, zugleich Aufstieg; das Hausinnere war labyrinthisch, das Treppenhaus verbotenes Terrain, wo hinter den Türen die Erwachsenen lauerten, was willst du denn hier, mach, daß du wegkommst, dann die Klappleitern, die übereinandergeschichteten Dachböden, darin der zentimeterdicke Staub. Außen war der Weg zum Dach kurz, elf Meter Luftlinie, keine Entfernung, und ihn am Seil
zurückzulegen war elegant, als gehöre das Dach nicht eigentlich zum Haus, sei eine eigene Welt, was es ja war. Später das Hängen, Lenes Hängen am Seil, sehr unschön, sehr unbequem, peinlich, ein Klumpen, eine Verdickung, ein sich drehendes Objekt, allseits zu besichtigen. Für sie selbst gab es nicht mal links oder rechts, nur oben und unten, beide unerreichbar. Was ist, rief Hannes jetzt auch noch und hielt das Seil fest, das Drehen ließ etwas nach. Ich kann nicht mehr, sagte sie tonlos, dann spring, so er, und sie: nein; doch, laß los, ist nicht mehr tief. Ihr klebten die Hände am Seil, Tapetenkleister, Sekundenkleber, laß los, laß einfach los, fallen würde sie, fallen auf ihn, der zu ihr aufsah, der weich sein würde, eine Luftmatratze, Bleipuppe auf Gummipuppe, so würden sie liegen, Hüfte auf Hüfte, Knie auf Knie, die Nasen einander berührend. Jetzt spring, und sie lockerte ihre Finger, loslassen, rief er, da schoß das Seil zwischen den Händen durch, heiß war es, herdplattenheiß, hart der Boden, Hannes’ Arme dünne Stäbe, und sie lagen beisammen, sehr flach. Dann sitzen, am Boden, der kalt war, die Hände geöffnet, waren das ihre, rotgebrannt, hautlos, verbrüht, die Handteller bonbonrosa, auch die Innenseiten der Finger, sowohl rechts als auch links. Warum denn die Hände, die zart linierten, warum kein Bruch, nicht mal ein verstauchter Knöchel, die Hände, das waren doch ihre. Was sollte sie anfangen ohne die. Hannes rieb sich den Ellenbogen. Warum hast du nicht losgelassen, hab ich doch. Oben die Traufe, die Dachrinne, sanft gebeult, darunter, erleichtert, schwerelos baumelnd, das Seil. Wasser: zuckt, rollt, wälzt sich millimeterweise, fingerschmal in Rinnsalen, umschließt Asphaltkrümel, weicht anderen aus. Wasserzunge, schwarz, leckt durch Staub, befeuchtet Kiesel, teilt sich, teilt sich wieder. Inseln bilden sich, schrumpfen, verschwinden. Oben strömt es breit, kaum zu überspringen,
weiter oben Pfützen, kleine Seen, in die es tropft, vom Blech, von Nummernschild und Stoßstange des pitschepatschenassen Benz. Den wäscht er, seinen Benz, grün ist der, und der nächste silbergrau-metallic, auch die Nummern wechseln, aber nicht der Schlauch, den der junge Mann auf seinen eigenen fast neuen Benz hält. Der Glasstrahl, der zerplatzt, wie abends aus dem Wasserhahn, jetzt Vorsicht: heiß. Das Becken füllt sich, der Wasserspiegel steigt, glättet sich, blinkt den Badezimmerspiegel an. Der Männerfinger nimmt einen fetten Wurm Handwaschpaste aus der Dose, sandig die Paste, braun, wie Dreck. Das Wasser: heiß, Lenes Fingerspitzen zucken weg, doch er: die ganzen großen teerbedeckten Hände hält er ins Becken, und die vom Handvolumen verdrängte Wassermenge verschwindet glucksend durch den Überlauf. So entspannt er, stehend, das wuchtige Kreuz gebückt, die Fingerspitzen gegen die Krümmung der Waschbeckenwand gestemmt, hängenden Kopfes oder aufschauend in den verspritzten Spiegel. Von den garen aufgeweichten Händen her wölben sich die benzgrünen Adern, schwellen quellen, Lene zieht sie nach, die pulsieren, sich teilen, zusammenfließen im sehr großen Körper. Anderntags wäscht er den Benz oder sie fahren in die Waschanlage oder sie sitzen im Benz, zu fünft, rechts die Frauen, die Männer links, und singen und fahren wohin, singen von einem Meer, das rot ist, von krummen Juden, die klein und schwarz und ameisengleich durch den vom Meer gebildeten roten Korridor ziehen: die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh, das ist lustig, immer wollen sie das schöne Lied singen und 200 fahren und starren auf den Tacho, nur die Frau nicht, die eine Spielverderberin ist.
2
Am Morgen war Hannes weggefahren, auf seinem Mofa, auf das Lene sich nie hatte setzen dürfen, nur mit dem Finger darüberstreichen: Obacht, hatte er immer gerufen, sein Lieblingswort, Obacht, der Bremszug, die Gangschaltung, und Lene war bei jeder Benennung innerlich zurückgezuckt, obwohl sie das Gefährt bloß ihm zuliebe befühlte. Das rote und nagelneue verstaubte Mofa, die Großeltern hatten ihm Geld dafür gegeben, damit der Junge nicht hinter seinen Freunden zurückstehen muß. Dabei hatte Hannes kaum Freunde. Lene hatte ihm nicht gewunken, nicht einmal hinter ihm hergeschaut, sie hatte schon Tschüß gesagt, als Hannes den Ständer des Mofas wegklappte, war zurück in den Wohnwagen gegangen, in die stickige Enge von Teppich und Klapptisch. Lauschte den Abfahrgeräuschen: wie er zweimal hintereinander im Stand das Gas aufdrehte, langsam durch den Schlamm und um die Dauerpfützen kurvte und schließlich, als er den Kiesweg erreichte, mit einem späten Kavalierstart die Kiesel aufspritzen ließ. Lene saß in der Wohnwagenküche auf einer der Bänke, die zusammen mit dem Küchentisch in ein Bett verwandelt werden konnten. Das orangelila Muster der Bank gegenüber, kopfgroße lila Kreise, orange umrahmt, war ein Spiegelbild des Musters, auf dem sie saß. Nur sie selbst fehlte im Bild, zumindest der Teil von den Knien bis zu den Achseln. Hannes fuhr wahrscheinlich gerade durch den Haupteingang, für ihn jetzt Hauptausgang, des Campingplatzes, saß zusammengekauert auf dem Mofa wie auf einem kleinen Stuhl,
windschnittig, geduckt, und setzte erst draußen, als er nicht mehr erkannt werden konnte, seine Brille auf. Von überallher strömte die muffige Wohnwagenluft auf Lene ein. Sie legte sich zurück auf die Bank; vorhin hatte sie noch mit Hannes hier gesessen: es gab nichts zu sagen, er baute einen Turm aus Plastiktasse, Filmdose und Feuerzeug, auf dem er mit den Fingerspitzen noch eine Zigarette plazierte. Ich hau ab, murmelte er, den Blick auf die Zigarette gerichtet. Lene klammerte sich am Sitz fest, obwohl der sich gar nicht bewegte. In ihrem Bauch drehte sich etwas spiralförmig ein, immer weiter, bis die Eingeweide durcheinanderkamen. Kein Wort, sagte Hannes mit neuer Stimme. Zu keinem, und warf einen Blick auf sie, an der Zigarette vorbei, direkt in Lenes Gesicht, die Augen aufgerissen, sogar sein Mund stand halboffen. Lächerlich. Lene betrachtete die rote Tasse, an deren Wand eine Kakaotropfenbahn verlief, ließ das Polster wieder los. Soll er doch fahren. Kein Wort zu keinem! Was gab es denn überhaupt zu sagen und wem. Das Motorengeräusch, das, obwohl es außen bereits verklungen war, noch eine Weile in Lenes Ohren gekratzt hatte, wich dem Gurgeln des Kühlschranks. Lene stemmte im Liegen die Füße gegen die Spüle. Hannes’ Turm stand auf dem Tisch: sollte sie ihn stehenlassen zu Hannes’ Angedenken? Würden sie dann immer um den Turm herum frühstücken, in gebührendem Abstand? Lene berührte ihn, tippte ihn immer fester an; er blieb stehen. Hannes fuhr jetzt wohl durch die Allee, auf dem frischen Asphalt, zwischen dem Knallweiß der Birken und dem des Mittelstreifens. Hinter den Stoppelfeldern verschoben die Baumreihen sich gegeneinander, wirkten zweidimensional, wie eingegossen in Plexiglasscheiben, ließen Zwischenräume frei, die die Sicht auf andere Baumreihen öffneten. Die Allee kreuzte einen Feldweg, Hannes fuhr weiter, aber Lenes Füße
glitten von der Spüle ab: wenn er doch den Feldweg nahm? Damit man ihn nicht fand? Um seinen Verfolgern zu entkommen, obwohl Lene nicht wußte, welche Verfolger das sein sollten, die Polizei vielleicht, aber die hatte anderes zu tun. Und wenn er abbog, dann nach rechts? Oder nach links? Eine einzige Kreuzung, schon fuhren drei Hannesse über das flache Land, zwei langsam, einer schneller, entfernten sich voneinander. Jede Panne, jede Abzweigung würde sie sich weiter vervielfältigen lassen. Blöde Idee. Lene gähnte. Sie wollte sich zur Seite und zu Boden gleiten lassen, aber sie paßte nicht zwischen Tisch und Bank durch.
Für die Frau war das Geknatter des Mofas eine Maschinengewehrsalve. Vorn auf dem weiten Platz hatten die Soldaten die erste Reihe Leute niedergeschossen, alle sollten erschossen werden, mußten geordnet antreten und vorher noch ihre Personalien angeben. Der Kontrolleur war fast so groß wie das Hochhaus hinter ihm, blickte aber wohlwollend auf die Frau herab. Das wußte sie, obwohl sie nur sein Dreifachkinn sehen konnte; das Kinn war ein Zeichen für seine Gutmütigkeit. Sie begann ihre Taschen nach ihren Personalien zu durchsuchen, schaute überall nach, auch im Ausschnitt, in den Ärmeln, wobei die Kleidungsstücke sich von ihr lösten, warum war sie bloß so ungeschickt, schon segelte die Bluse zu Boden, die Hose rutschte runter, sie stand da in Unterwäsche, durchsuchte aber auch die, bis sie von ihr abfiel. Sie mußte sich selbst durchsuchen, in sich suchen, ihren Körper durchkämmen, nackt sein, immer nackter und lag im Bett. Es war heiß. Sie tastete mit den Füßen nach dem Rand der Decke, streckte einen Fuß hinaus. Den anderen behielt sie im warmen Raum unter der Decke, zur Sicherheit, dachte sie, ohne zu wissen, was dem Fuß draußen geschehen könnte.
Draußen: das Wohnwagenwohnzimmer, das gerade ein einziges großes Bett war. Draußen: der Rest des Wohnwagens mit den Kindern. Draußen: der Campingplatz. Draußen: die Küste, schließlich das Meer. Versehentlich öffneten sich die Augen, schlossen sich aber gleich wieder beim Anblick der vor Leuchtkraft fast platzenden grünen Vorhänge. Schon wieder Tag. Es war die Zeit der Mininächte, die nur kurz dunkel aufblitzten, einen Lidschlag lang, sie zählten nicht, versanken im Licht, es herrschte ein einziger langer Tag, schattenlos oder fast. Tag, das hieß aufstehen, sich erheben, sich von der Waage- in die Senkrechte begeben, alle taten das und alle vor ihr, weil sie immer die letzte war. Aufstehen, um sich erschießen zu lassen. Irgendwann, bald, in Kürze, würde auch sie, die Frau, sich zur Seite drehen, den Oberkörper auf den Ellenbogen stützen, die Decke wegschlagen, die vielen kleinen Aufstehbewegungen machen, schön der Reihe nach, eins nach dem anderen, auch wenn das nicht ihre Stärke war; sie griff immer schon nach dem Kamm, wenn der Strumpf erst halb hochgezogen war, strich den Kamm ein paarmal durchs Haar, öffnete das Necessaire und gleich darauf die Tube mit der Tagescreme, besann sich dann wieder auf ihren Strumpf. Kompliziert war das alles, schwierig, all die Tätigkeiten des Alltags, die man miteinander verwechseln konnte. Lieber saß sie an der Schreibmaschine und beobachtete, wie die Buchstaben auf das Papier flogen und die Finger über die Tasten krabbelten und richtige Wörter und Sätze entstanden, die vom Tippen und von ihren Händen handelten; die Maschine war aber daheim. Aufstehen also. Die Frau zog tatsächlich, wenn auch sehr langsam, ein Bein an, spannte die Muskeln des Armes, als ihr auffiel, daß etwas fehlte und bereits die ganze Zeit gefehlt hatte: der Kaffeeduft, der sie sonst immer aus dem Bett gelockt hatte und magisch magnetisch in die Küche gezogen, am
liebsten wäre sie selbst so ein Duft gewesen und durch die Türritzen gequollen oder hätte sich dort mit jenem vereint. Er war aber nicht da, und sie hörte auch keinen Laut aus der Küche oder von den Nachbarn in ihren Wagen, nur Gezwitscher von irgendwoher. Es war zu früh. Zufrühzufrühzufrüh, holladihühte es in ihrem Kopf, und die Lust des Liegens und Nichtstuns, die Liegelust berieselte sie wie eine kaffeewarme Dusche. Seit Hannes nicht mehr da war, mußte Lene das Wasser holen und tat es gern, hatte Lust zu schuften, Lust auf Muskelkater, wollte alles für die Frau tun, die eine Nichtstuerin war, die im Bett lag, tagelang. Gerne hätte Lene sie in den Achseln und Kniekehlen gefaßt und getragen, aus dem Bett in die Küche oder auch über den Platz, aber die Frau ließ es nicht zu, und so wartete Lene darauf, daß endlich das Wasser ausging. Nach der Luft war das Wasser ihr zweitliebstes Element, es gefiel ihr, daß es auf dem Campingplatz nicht von irgendwoher durch eine lange und enge Leitung gepreßt, sondern in kleinen Portionen herangeschaukelt wurde; sie griff sich die beiden Plastikkanister, die, wenn man sie gegeneinanderschlug, ein flaches Geräusch von sich gaben, zwei Nullen, dachte sie, so durchsichtig, und mußte aufpassen, daß sie sie nicht vor und zurückschwang oder auf ihren Kopf stellte, sie, die Wasserträgerin; barfuß in Jeans schritt sie über den Platz, setzte behutsam die Füße, befühlte dabei jeden Kiesel, jeden trockenen Grashalm. Wege, die sie gehen konnte, gab es viele, sie schlüpfte zwischen fettweißen Wagen und bunten Zeltschächtelchen hindurch, stieg über Wagenachsen, stakste zwischen Zeltschnüren herum auf eckigen, selbst ausgedachten Zickzackpfaden, erblickte hinter den Wohnwagenecken auch dies und das: eine hagere Südländerin, die sich ein FußballWM-Handtuch vor die Brust hielt, das Gesicht vor Ärger ganz schmal; einen Badehosenmann, hockend, der eine Hundeleine
um jeden einzelnen Finger schlang, einen in Windjacke, der hinter ihn trat. Lene spürte ihre Blicke im Nacken, prickelnd wie PrickelPit, das blaßgelbe Brausebonbon, das sich im Handteller zusammen mit Spucke in grünen Schaum verwandelt. Lang und durchsichtig, diese Blicke, die ihren Schritt aus dem Takt brachten, gehen, einfach weitergehen, das war nicht leicht, aber die Blicke schubsten sie, drängten sie voran, damit sie woanders neue Blicke auf sich zog; losgelöst waren sie von den Sehern, kleine Speere, die sie im Rücken pieksten, so daß sie ihn dehnen und strecken mußte. Über allem, über dem symmetrischen Muster aus Haupt- und Nebenwegen, über den Wohnwagenreihen und Zeltgevierten, schließlich auch über dem Schiefermeer erhob sich das Waschhaus, ein quadratischer Pfahlbau, ein Betonbunker auf Betonpfählen. Dem Waschhaus entströmte aus vielerlei Öffnungen das immer andere Wasser: das punktförmige aus den Düsen der Duschen, aus den Hähnen die Wasserkreise, aus den Klos das Wasser in Hufeisenform. Jeder Wasserwunsch konnte hier gestillt werden, die Bedürftigen brauchten bloß in Reihen über die Freitreppe hochzusteigen zur Bedürfnisanstalt, trugen ihr Niederstes nach oben, teilten sich dort in Geschlechter auf, stiegen später erleichtert, wenn auch nicht schwebend, hinab. Lene war diesen Weg oft gegangen, hatte schon aus der Ferne die Auf- und Absteigenden beobachten können, war dann aber auch selbst, noch am Boden, wieder in fremdes Blickfeld geraten. Hier, auf den beiden Bänken unter dem Waschhaus, saßen Schattengestalten, Kerle und ein, zwei Mädchen, nur wenig älter als Lene, aber doch eine ganz andere Sorte Mensch; zunächst wußte sie nicht, worin der Unterschied bestand; die auf den Bänken waren schmutzig wie sie, Jeanstypen, rauchten. Vielleicht war es einfach ihr Herumlungern am Waschhaus oder ihr Dasein als Gruppe, das
sie von ihr so unterschied, Lene die einzelne, die anderen die vielen. Und dann saßen die auch so auf der Bank, wie sie es nie gesehen hatte, so unbequem, saßen auf der Rücklehne, die Füße auf dem Sitz, der schon ganz sandig war und voller Schuhspuren. Schauten nicht stumm hinter ihr her, sondern riefen hey baby, Mann ist die schnuckelig, guck mal die Perle da, komm und hol dir nen Kuß ab, I love you, what’s your name. Lene ging hier sehr gerade, genau auf ihrer Nasenverlängerungslinie, sie mußte die Richtung einhalten und die Reihenfolge der Schritte, rechtslinksrechtslinks, das erforderte einige Konzentration. Durfte auch nicht versehentlich an der Treppe vorbeilaufen oder einen Kanister fallenlassen, hielt beide ganz fest. Im Abfüllraum, zwischen Betonwänden und tropfenden Hähnen, stand sie momentlang still, bis die Kanister in ihren Händen so leicht wurden, so gewichtslos, daß es in den Schultergelenken wehtat. Die mußten gefüllt werden, und zwar bis zum Rand, randvoll sollten die sein und untragbar schwer, auch Lene beschweren und sie unterscheiden von denen da unten, den Leichtfertigen, Leichtsinnigen, sie zugleich zu ihnen herunterziehen, sie langsam, allmählich in den Betonboden einsacken lassen wie in einen Sumpf. Lene stellte die Kanister auf den nassen Rost, schraubte die Deckel ab, die man falschherum hinlegen mußte, wegen der Hygiene, einer geisterhaften Dame, die heimlich den Beckenrand ableckte oder Schlimmeres, und drehte den Wasserhahn auf, ließ das wütende Wasser heraus, das spritzte wie aus einer pissenden Kuh und durchsichtig und sichtbar im Kanister tobte.
Obwohl der Mann ging, Fuß vor Fuß setzte, blieb seine Schulter auf gleicher Höhe, bewegte sich nicht; die Frau hielt sich mit den Augen daran fest, ging leicht versetzt, weder
neben noch hinter ihm, sie das Kamel, er der Araber. Der Weg war nicht weit, wenige Meter zu den Nachbarn, die sie eingeladen hatten, zur Fußball-WM vorm Fernseher, auf ein Bier oder zwei. Geh du, hatte die Frau gesagt, ich bleibe hier, und er war aufgestanden, hatte die Wohnwagenküche mit seinem Körper gefüllt: du kommst mit, wie sieht das denn aus, was sollen die von uns denken. An die Gedanken der Nachbarn hatte die Frau nicht gedacht, und dann war sie schon draußen, im hellen Abendlicht, machte Schritte hinter dem Mann, er voran, sie schräg dahinter, die Schritte steil, jeder Schritt war ein Berg, über den sie stieg, aber der Weg war nicht weit. Die Gesichter, die die Frau sah, waren zuerst nur sehr braune Kreise und Ovale, einfache geometrische Formen, die nicht nur mit den Leibern, sondern über jene auch mit den Campingstühlen verwachsen zu sein schienen. Eine Stuhlfrau, drei Stuhlmänner, von denen einer mit seinem Stuhl ein bißchen zur Seite rutschte, wo der kleine Fernseher auf einer Sprudelkiste stand, ein Spielzeugfernseher, riesig daneben die Hand und der Mann, der die Antenne mit den Fingerspitzen drehte auf der Suche nach den unsichtbaren Sendewellen, wovon das Bild aber nur schlechter wurde. Vorhin war es noch gut, sagte er und strich ein paar Haare auf die Glatze. Niemand stand auf, um den Mann und die Frau zu begrüßen, aber der Gastgeber, der Klaus hieß, prostete ihnen mit der Bierdose zu. Ah, unsere Nachbarn von drüben, sagte Sabine, seine Frau, und zeigte dahin, wo nach zwei Metern Luftlinie der Wohnwagen begann. Sabine und Klaus waren Zeltbewohner, wie offenbar auch ihre anderen Gäste; der Mann und die Frau hatten das neureiche Wohnwagenland verlassen, waren in die flatterhafte Zeltgegend eingedrungen, wurden nun von den Zeltlern gemustert. Sabine tat so, als wolle sie sich erheben, könne aber nicht, weil der Stuhl an ihr festhing, und wies auf die beiden freien
Stühle, die nebeneinander standen, Stuhlfallen, an denen der Mann und die Frau jetzt auch festkleben würden, gehalten durch einen tückischen Klappmechanismus. Setzt euch, sagte sie, duzte sie also, und den ganzen Abend mischten sich Sies und Dus, jedes Du war eine Mini-Obszönität, jedes Sie eine empörte Distanzierung; so ging es hin und her, es herrschte solch ein Durcheinander, daß die Frau sich, wenn überhaupt, nur sehr unpersönlich ausdrückte, obwohl gerade sie mit den Zeltbewohnern gern ein persönliches Verhältnis gehabt hätte bzw. eine von ihnen gewesen wäre. Ein Blonder, Dürrer zog mit dem Fuß eine Kühltasche heran, aus der er zwei Biere kramte. Die Flaschen wurden weitergereicht, bis sie bei dem Mann und der Frau ankamen, es war wie ein unbekanntes Spiel. Der Mann versuchte, den Amselfelder aus seiner sitzenden Position heraus möglichst weit in die Mitte zu stellen, aber die Flasche blieb wegen des unebenen Bodens nicht im Gleichgewicht, und so verlegte er ihren Standort immer näher zu sich, stellte sie schließlich, als sei sie ihm peinlich, direkt neben seinen Stuhl. Zwischen den Zelten, den vielfarbig flatternden, stapfte Lene kanisterbeschwert und stampfte den Boden platt, sehr unelegant, und trampelte ihr Gewicht in den Sand auf einem der Waschhausrückwege, die kürzer als die Hinwege waren und gangbarer; der Wind stellte sich ihr entgegen, ging von allen Seiten auf sie los zwischen knallenden Zeltwänden, hatte plötzlich auch eine Stimme, eine klanglose Männerstimme, grau und rauh, jetzt warte doch mal, rief da einer hinter ihr oder ähnliches, wieder und wieder, Lene war nicht gemeint, konnte nicht gemeint sein, eine Verwechslung, trotzdem wandte sie sich im Gehen um. Ein Typ, einer, den sie nie gesehen hatte, ging an einem orangefarbenen Zelt vorüber, stieg über Schnüre, die Füße gewölbt, in grünen Plastiksandalen. Von den Waden standen die Jeans ab, über
dem farblosen Hemd ein hoher Hals, der Kopf blond, schütter; er schaute auf, die Augen in Höhlen: Kann ich dir tragen helfen? Lene wollte weitergehen, stand aber da, die Kanister in beiden Händen, sah ihn kommen, der wie sie keinen Schatten hatte, schließlich bleich vor ihr stand. Er berührte ihre Hand, die wegzucken wollte, aber es hing ja der Kanister daran; es muß sein, dachte sie, hob den Kanister an und gab ihm ungefragt auch den zweiten, lief unangenehm leicht und überflüssig halb vor, halb neben ihm her, konnte jederzeit weggeweht werden, und er würde sie nicht mehr finden und wohl auch verzweifeln. Wie riesige Ohrhänger für die Hände hingen die Kanister an ihm, deplaziert, unpassend für den Mann, als hätte er Lenes Schmuck angelegt. Sie steckte ihre Hände in die Taschen; wenigstens brauchte sie nicht zu sprechen und hatte ja auch noch nichts zu ihm gesagt, schon gar nicht ja. Er war nur ihr Träger, eine Art Sklave, sie seine Gebieterin. Er hatte ihre Kanister, sie hatte ihn: kein schlechter Tausch, und ihre Beine streckten sich, die Zelte wurden blasser, zogen sich in den Hintergrund zurück. Wie heißt du eigentlich, sagte da plötzlich er, dessen papierene Stimme sie schon vergessen hatte. Wieso wollte er jetzt ihren Namen wissen, was konnte er mit dem denn anfangen? Ist doch egal, sagte sie, und er wandte sein Gesicht zur anderen Seite; die Poren in seiner Haut vergrößerten sich, waren wie Punkte von Ausrufezeichen. Aber er fragte nicht weiter nach, sondern besah seine Füße, ob die auch taten, was er von ihnen wollte; Lene hörte seine Schritte, das Schnalzen der Sandalen, das Aneinanderreihen der Hosenbeine, den leiser werdenden Wind. Vorm Wagen blieben sie stehen, er vor ihr, sie vor ihm, der immer noch die Kanister trug; hoffentlich gab er sie ihr bald, hoffentlich wollte er nicht immer so dastehen, dann müßten sie bei ihm ihr Wasser holen. Lene sah sich selbst und die Frau
vor dem Typen am Boden kriechen und Gläser unter die Hähne halten, da plötzlich hielt er ihr die Kanister hin, beide gleichzeitig, die Arme waagrecht und parallel, und sie nahm sie auch, obwohl das Gewicht sie beinahe umwarf. Ich heiße Heinz, murmelte er, der heiße Heinz, dachte sie und sagte aha, und die Kanister kamen ihr schwer vor wie nie. Er sagte noch was vom Waschhaus, und sie könne ja mal kommen, aber sie konnte ihm nicht mehr frontal gegenüberstehen, drehte sich leicht, sah die runde Ecke des Wohnwagens, dahinter den weißgrauen Himmel, na dann tschüß, sagte der Träger, also Heinz, und ging. Der Antennendreher hielt seinen Kopf direkt vor den Bildschirm und schaute hinein in das Schneetreiben, als ob dort die Ursache der Bildstörung zu finden sei. Ich weiß auch nicht, sagte er, zum Glück habe das Spiel noch nicht angefangen, Deutschland-England im Viertelfinale, bis zum Anpfiff würden sie den Fernseher bestimmt wieder flottmachen, und darauf: Prost. Eigentlich interessiere er sich ja nicht so für Fußball, aber die WM, und die Lippen blieben vom M zusammengedrückt und gingen nicht mehr auseinander. WM ist was anderes, half der Mann, und die Frau schaute in ihre Bierflasche, wo es fast wie im Fernseher aussah; überall war dieses Flimmern, die Gegenstände flimmerten und die Leute, die auch zu Gegenständen wurden, beleuchtet von diesem diffusen zähen Abendlicht, das nicht verblassen wollte. Die Männer tauschten sich über Berufe und Herkunftsorte aus, Essensiegengießen oder ähnlich, sie redeten, sprachen, unterhielten sich; der Dicke rückte noch näher an den Fernseher heran, drehte das ganze Gerät, zog eine Schublade auf, drehte an Rädchen. Nichts half; die Schneeflocken formierten sich weder zu Schneemännern, noch und schon gar nicht zu rennenden Kerlen.
Wenigstens war man sich einig, daß Deutschland gewinnen würde, ob 1:0, 2:0 oder 2:1 war nicht so wichtig, ohnehin schienen die Männer die Zahlen direkt ihren Gesichtern zu entnehmen, Klaus hatte eine Nase wie eine 1, der Dicke 2 hübsche Zweierohren, dazu einen Nullmund usw. alle glaubten indes an Deutschlands Sieg, sogar die Frau und dehnte die langen Zehen nach oben. Senoussi, wer raucht schon Senoussi, der Dürre machte eine Schnute, Klaus rieb sich das Kinn, Senoussi, die kannten sie nicht. Dann schmeiße er mal ne Runde, sagte der Mann. Die Frau drückte sich fest in den Campingstuhl, während neben den Augen des Mannes Fältchen erschienen, in Fächerform, und dann lächelte er sogar sein Steve-McQueen-Lächeln, und die Frau rieb die Handflächen über die Lehnen. Spitz waren ihre Knie in den Baumwollhosen, sehr spitz, und darunter die halbrunden Fußnägel, und jetzt hob sie doch wieder den Kopf und konnte einfach nicht wegschauen, denn der Mann war nicht mehr der Mann, sondern ein Schauspieler, wenn auch ein zweitklassiger, bei dem es nur auf das Aussehen ankommt, und was er da spielte, war ein Werbespot für Zigaretten. Übereinander schlug er die Beine wie lange nicht mehr und schien wieder schlank zu werden, zumindest an manchen Stellen, holte dann aus seiner Brusttasche die Senoussischachtel, mit zwei Fingern faßte er sie an, die zerfleddert war und zerbeult und zerdrückt, und schaute hinein. Ein paar waren noch drin, und er reichte die Schachtel herum, aber bereits der zweite puhlte eine angebrochene Zigarette heraus, hielt sie mit den Fingerspitzen vor sich wie einen Wurm. Nee, das wird nichts, sagte der Mann, und der andere: Vielleicht ist ja, mal gucken, neenee, wieder der Mann, ich hab noch ne Stange im Wagen, muß nur eben, er setzte die Füße auf.
Ich gehe, sagte leise und schnell die Frau, ich wollte sowieso, und stand schon, war selbst verdutzt, wie leicht sie sich jetzt doch vom Stuhl hatte lösen können und wie er da stand, so leer und geblümt, ohne sie, und sie so hoch zwischen den Sitzenden, die Beine zwei Stelzen, und stakste durch den blaßgrauen Sand, um sich wenigstens für ein paar Minuten oder auch nur Minütchen aus der Runde davonzustehlen. Eigentlich war alles egal, und hier zwischen Meer- und Himmelsgrau war es sogar noch egaler als sonst, egal, was geschah und warum. Egal, daß es unterm Waschhaus nach Pisse roch und der Sand voller Scherben war und daß dort zwei Bänke standen, die waren so zerkratzt, daß kaum noch Farbe an ihnen haftete, und wer darauf saß, war auch egal, ob Lene zu ihnen ging oder nicht, jetzt tat sie es halt und ging durch den Waschhausschatten und Kippensand schräg auf ein Bankende zu. Sieben saßen auf den Bänken, Langhaarige, Blasse und Dunkle, eine hockte vor ihnen im Sand, die wandte sich zu ihr um, das große Lächeln noch im Gesicht. Hi, sagte Lene, und ein paar schauten auf, die Augen Schlitze, hi, gaben sie ironisch zurück, hi, und ein Blonder streckte den Kopf vor und grinste sie an. Hi. Da stand sie, getrennter von ihnen als je, kein Mensch, höchstens ein Gegenstand oder Ding, die Beine zwei Röhren, die Arme aus Porzellan, und nichts war egal. Was wollte sie hier, waswaswas, so stehend bei den Bänken, nur fort und weg. Willst dich setzen, sagte jetzt plötzlich der Blonde, dem die Haarspiralen vom Kopf abstanden. All seine Sommersprossen waren auf Lene gerichtet, die Brauen gehoben, gekonnter Bittund Bettelblick. Die anderen waren zusammengerückt, saßen jetzt Hintern an Hintern. Das freie Stück Lehne reichte gerade für ihren aus, war schmal genug und auch wirklich von Anfang an ziemlich unbequem. Trotzdem, sie saß, eindeutig saß sie und war plötzlich eine der unter dem Waschhaus Sitzenden,
besetzte mit ihnen die beiden Bänke, Schulter an Schulter; die Lederjacke des Nachbarn strich über ihren Oberarm. Neben Lene die Köpfe der Mitsitzer, die Profile gegeneinander verschoben, kaugummikauend, Zigaretten im Mundwinkel, Haarstreifen hinterm Ohr. Sie rochen dünn, nach Rauch und Schweiß, und schwiegen sehr, bloß ein Rülpsen, ein Schmatzen oder Gähnen waren manchmal zu hören. Heinz ist nicht da, sagte einer von der anderen Bank, ein Dunkelgelockter im rosa Muskelshirt, halb zu Lene gewandt. Heinz? Ach der. Ganz klein tauchte er in ihrer Vorstellung auf, weit entfernt, im Regen, kanistertragend für irgendein Mädchen. Sein weißer Ellenbogen leuchtete auf, dann die nasse Sandale, der Regen schob sich vor das Bild. Neben Lenes linkem Turnschuh war das Haus vom Nikolaus in die Bank geritzt, nur der letzte Strich fehlte. Das Mädchen am Boden verschränkte die Beine und bog sie zum Schneidersitz auseinander. Top, sagte sie. Das Muttermal auf ihrem Schlüsselbein war der Anhänger eines Kettchens. Das ist das Haus vom Niko. Mußten nicht alle Mädchen am Boden sitzen? Gehörte es sich nicht so, auch damit sie allseitig von den Typen begutachtet werden konnten? War Lene kein richtiges Mädchen? Ne Kippe? fragte einer von der zweiten Bank, und ein Tabakbeutel flog zu Lenes Nachbarn, der ihr schnell eine Zigarette drehte, sie zum Mund führte, und die Zunge, sehr rund, beleckte das Papier. Ein glasklarer Spuckefaden verband es mit ihr, als wolle die Zigarette sich lieber nicht von ihrem Schöpfer trennen. Schatzi, brüllte der Sommersprossige, und seine Stiefelabsätze rammten sich in die Ritze zwischen den Bankbrettern. Schatzi, riesig und golden flog das Wort durch die Waschhausdüsternis zu der Braunblonden, die das Gebäude passierte, die schnell und wie auf einer Bühne am Waschhaus vorbeiging, und das Schatzi bedeckte sie ganz, fast war sie das
Schatzi, aber sie schüttelte es ab, ging weiter, stumm, und ging, bis sie aus dem Blickfeld war und länger. Das ist das Haus vom Niko. Lene richtete sich auf, ließ die Waden über die Sitzflächenkante gleiten. Gestern war sie noch dieses Mädchen gewesen, nur etwas blasser und dunkler, jetzt eine schmutzige Göre, eine von jenen aus der WaschhausUnterwelt, und würde auch morgen hier sitzen und rauchen, auch wenn sich auf ihrem Po ein Abdruck der Kante einprägte, auch übermorgen, die Nase geradeaus, während die Typen einander mit spritzenden Flaschen bewarfen, mit Feuerzeugen die Haare versengten, den ganzen Platz abfackeln wollten oder einfach nur saßen.
An die Wohnwagenform hatte die Frau sich nie gewöhnen können, die flachen, dann wieder in sich gekrümmten Kurven, nichts Klares, kein Halbkreis, keine Ellipse. Geraden, die eigentlich nur Scheingeraden waren, oder nicht einmal das, die sich nach Zentimetern bereits verbogen und das unvermeidliche Wohnwagenweiß umschlangen, dessen Farblosigkeit die Frau irritierte, Weiß, die Unfarbe, Farbe der Blödheit, der Stupidität. Das ganze Gefährt war ihr immer wie eine fette Made vorgekommen; jetzt stand sie, die Frau, hinter der Wagen- oder Madenkante, und also in ihrem Schutz. Das Abendlicht hatte seine Strahlkraft kaum eingebüßt, schale Helligkeit beherrschte noch immer den Platz und die auf ihm abgestellten Hausimitate, die ein unförmiges Stück grasigen Sand freiließen. Überall das zartblaue Flackern der Fernseher, und die Stimme des Fußballkommentators mischte sich mit Möwengeschrei und Seetanggeruch, die von der Abendbrise herantransportiert wurden. Das Spiel hatte wohl gerade angefangen, auch das Grölen der Zuschauer schwappte in Wellen über den Platz.
Hinter dem Wagen und noch entscheidende zwei Meter weiter saßen Sabine und die Männer, die sich nurmehr recht wenigsilbig unterhielten; die Frau gab sich Mühe, auch dieses wenige nicht zu verstehen; fast konnte sie sie sehen, durch die doppelte Wagenwand hindurch, wie sie die Beine ausstreckten und die Füße übereinanderlegten oder die Flaschen zum Mund führten, die Flaschenhälse an die Lippen setzten und tranken, dieser befremdliche Vorgang, den die Frau nie beherrscht hatte. Aus der Flasche zu trinken war ihr zuwider, es widerstrebte ihr, die Öffnung mit den Lippen zu berühren, und jedes Mal hatte sie wieder vergessen, wie es ging: die Lippen außen um den Flaschenmund legen oder ganz in ihn hineinstecken? Das Getränk also in sich hineinschütten oder ansaugen? Sie mußte herumprobieren, die anderen Flaschentrinker beobachten, die Münder und auch die Schluckbewegungen der Kehlköpfe und Adamsäpfel – es war kein Genuß. Die hinterm Wagen sprachen nun gar nicht mehr. Die Frau sah sie auf den Fernseher starren, der offenbar wieder einwandfrei lief, die Seher und Sitzer und Trinker und Schweiger im halben Rund. Bald, in naher Zukunft würde auch sie zu ihnen gehören und eine von ihnen sein, noch jedoch nicht, jetzt noch nicht. Noch stand sie im Sichtschutz, lehnte sich sogar an die kühle Wohnwagenwand, nur ein Schritt weiter und sie hätten sie sehen können, doch sie machte den Schritt nicht, warum eigentlich nicht. Es waren doch Menschen wie du und ich und Leute von nebenan, eben Nachbarn, und die Klaussabine und der Sabineklaus ein hübsches Gegenbild zu dem Mann und ihr, und alles so wunderbar unverbindlich, mit Nichtwiedersehensgarantie, sobald der Urlaub vorüber war. Jetzt ging sie zu ihnen – oder doch nicht. Dann aber jetzt, und viele Jetzte verstrichen ungenutzt. Schön war es, an der Wand zu stehen, schönschönschön, auch im Sand zu stehen war
schön, doch dann fielen ihr plötzlich ihre Füße ein, ihre Füße und die Plastiksandalen drumherum, und daß der Wohnwagen ja gar nicht bis zum Boden reichte und also die Füße unter ihm hervorschauten, bloßgestellt wurden durch den Hohlraum unterm Wagen und sie mit ihnen. Vielleicht oder hoffentlich hatte man sie nicht gesehen, alle beschauten ja den Fernseher, aber das Stehen hinterm Wagen war der Frau nun verleidet; ein Blick würde reichen, und sie wäre beim Verharren sowie beim Zögern ertappt. Also gut, jetzt galts, sie verließ den geschützten Raum, stellte sich ihnen, ging auf die Sitzgruppe zu, fast zu schnell, und hörte sie noch im Herantreten stöhnen: o nein schon wieder, ach je, das gibts doch – son Mist. Der Bildschirm war tief verschneit, und alle starrten ihn an. Noch während die Frau sich auf die Stuhlkante setzte und der Mann sagte: tauchst du auch mal wieder auf, wurde ihr klar, daß der Fernseher sie nicht mochte oder eine Antipathie bestand zwischen ihm und ihr oder irgendwas mit elektrischen Wellen oder Strahlen, jedenfalls störte sie seinen Empfang, breitete ein Störfeld aus um sich herum, das nur der Fernseher bemerkte, der vielleicht der Empfindsamste von allen war. Sie kannte das schon von einigen Radios, denen sie sich nicht nähern durfte: auch sentimentale Schlager wurden dann umgehend zu Motorenlärm verzerrt; andere Geräte legten Wert auf ihre Anwesenheit, verweigerten die Leistung, wenn sie sich entfernte; eines schließlich, an das sie mit einer gewissen Rührung zurückdachte, ein klappriger, grüner UKWEmpfänger, funktionierte ausschließlich auf ihrem Schoß, weshalb der Mann ihn schließlich zum Sperrmüll stellte. Jetzt saß er neben ihr, besah wie alle den Fernsehschnee, sagte: das gibts nicht, und: vielleicht sollten wir, wie hypnotisiert war er von dem schlechten Fußballwetter und nahm die Zigarettenpackung, die sie ihm hinhielt, nicht an, so daß sie sie auf seine Oberschenkel gleiten ließ. Wieder wurde
an der Antenne gezupft, während das unsichtbare Spiel sich zuzuspitzen schien, einen Höhepunkt erreichte, wie dem schrillen, vielstimmigen Lärm zu entnehmen war, der auf dem Platz zu einem Geräuschnebel zusammenfloß. Die Frau rückte auf ihrem Stuhl herum, jetzt klebte sie endgültig an ihm fest, ein weiteres Aufstehen würde vom Mann nicht geduldet werden. Wo willst du wieder hin, würde er fragen, streng, gereizt, und sie: nur wegen des Bildes, und er: was soll das heißen, wegen des Bildes. Sie blieb also sitzen, obwohl sie ein Störfaktor war, behaftet mit einem Makel; es macht nichts, dachte sie, ich will das Spiel ja nicht sehen, es kann mir egal sein, aber es war ihr überhaupt nicht egal, daß sie die Bildstörung verursachte, sie hielt das nicht aus, keinen Augenblick länger hielt sie das aus. Sie mußte weg, entfernen mußte sie sich von dem Fernsehgerät, brauchte Abstand von ihm, und wenn nun einmal der Stuhl an ihr hing, dann mußte sie sich mit dem Stuhl bewegen, dann rückte sie also nach hinten, rutschte langsam zurück durch den Sand, Zentimeter um Zentimeter, den Bildschirm im Blick, der lange nicht reagierte, dann aber doch, und man atmete auf.
Als die Mutter der Frau zu Besuch kam, wurde das Wetter weder besser noch schlechter, es blieb, wie es war, das gleichbleibendste aller Wetter, das große Einheitsgrau der Siebziger, das jeden Sommer einfärbte; Sommer im eigentlichen Sinn gab es nicht, und das Erscheinen der Fraumutter änderte daran nichts. Im Wagen wurde es eng, obwohl der Mann jetzt oft mit dem Benz herumfuhr, aber die Fraumutter war von einiger Leibesfülle; sie besetzte den freigewordenen Raum sofort bis an seine Grenzen und darüber hinaus. Die anderen, die Frau und die Kinder, wichen nicht etwa zurück, sondern versuchten
ihrerseits, mehr Platz für sich zu erobern, ein paar Zentimeter Sitzbank, den Vortritt im Gang. Man wand sich nicht mehr umeinander herum, sondern kam sich in die Quere, quetschte sich durch, schubste oder schob die störenden Körper beiseite, es kam zu Zusammenstößen, wenn nicht gar zu Grobheiten. Als Lene und Paul z.B. gleichzeitig nach derselben fast vollen Colaflasche griffen, die zuvor lange Zeit als Monument, braunschwarz und wie gemeißelt, auf dem Küchentisch gestanden hatte, ließ keiner von beiden los. Ein Tauziehen begann, Paul zog am Flaschenhals, Lene an der Taille und rechnete nicht mit Pauls geringem Widerstand, jedenfalls ging die Flasche zu Boden, traf dumpf auf, ohne zu zerbrechen. Das war typisch, kein Platzen, keine Entladung, die Spannung blieb, als hielte die Enge des Wagens, vielleicht durch den hohen Luftdruck, die Flasche zusammen. Einzig die Limonade lief aus, am nicht ganz geschlossenen Deckel vorbei, und Lene hob die Flasche nicht auf, sah zu, wie das sprudelnde Braun in den Teppich sickerte, der triefte, tagelang patschte es, wenn man dort hintrat, wie im Moor. Niemand sagte etwas dazu, auch als die Stelle zu kleben begann und man sie meiden mußte, auch als die Mutter der Frau mit einem Schwamm in der Hand dort am Boden kroch und mit ihrem ausladenden Hintern den Durchgang blockierte. Da mußten die anderen wirklich lange Schritte machen, um sich im Wagen noch bewegen zu können, und setzten die Füße scharf neben dem Graukopf auf. Paul klebte ihr bei der Gelegenheit eine Prilblume aufs Hinterteil, die sie nicht entfernte, vielleicht gefiel sie ihr, und sie paßte ja auch zu ihr. Es war rührend, sie zum Waschhaus stapfen zu sehen, sehr resolut, eine Trümmerfrau, die rotblaue Blume hin und herwiegend im Kittelgrau wie eine Markierung des Darmausgangs. Niemand wußte, warum sie zu Besuch gekommen war, aber als man darüber nachzudenken begann, verschwand sie auch
schon, packte im Morgengrauen ihren karierten Koffer, sagte, es sei wohl besser so, und ging. Die Welt machte einen auf schick, hatte sich Blau in den Himmel gemalt, Geglitzer aufgetupft; das Meer war verjüngt, geglättet, prall, der Horizont in die Länge gestreckt, und Wellen ließen sich nur mit der Lupe erkennen, zumindest vom Deich aus, auf dem sie gingen, Lene, die blinzelnden Typen. Hier draußen am hellichten Nachmittag wirkten sie dunkel, trugen die Waschhausdämmerung mit sich, sie war ihnen auf die Leiber gepinselt, die scharf umrandet waren, wenn Lene sich zu ihnen umblickte, die Schatten nur kurze Stümpfe. Gurke setzte seine Sonnenbrille auf, Ali entblößte seinen haarigen Bauchnabel. Der Wind hatte freies Spiel, umsprang sie und sprang mit ihnen um und bestürmte sie; er frisierte sie neu, drückte ihre Hemden an die Bäuche, beulte sie aus und ging ihnen unter die Wäsche, und Lene mußte die Arme verschränken, damit ihr Busen bedeckt blieb. Unten das flache, platte Land mit Wiesen, Feldern, Baumreihen, vorn mit Leere gemischt, in der Ferne verdichtet, hier der steinige, steinschattige Küstenhöhenweg, der so gerade war, daß Lene immer nur abbiegen wollte und schräg gehen, den Hang runter und wieder rauf und um die Typen herumwirbeln wie ein Kind; sie war aber keins. Das jedenfalls war die Welt, und an ihrem Ende lag Horumersiel, ein Nest, ein Kaff, vom Deich aus komplett zu überblicken, rothäusig, weißfenstrig und so sauber, so leergefegt, wie mit einer schmutzabweisenden Schutzschicht bedeckt, einem Schmutzschutz, oder auch selbstreinigend, jedenfalls bekam man von dem Ort eine Gänsehaut. Kein Mensch war da weit und breit zu erblicken, nur ein Sandkorn lag auf dem Asphalt und warf seinen Schatten. Die Kerle schienen mit jedem Schritt zu verwahrlosen; das Licht, das von oben auf sie niederging und sie seitlich von den
Spiegelfenstern her ansprang, beleuchtete sie bis in die Poren, Narben kamen da zutage, Bartstoppeln, fettige Haut, während Horumersiel immer nur seine hübschesten, blitzblanksten Briefkästen und Telefonzellen und Gartenzwerge und Parkverbotsschilder vorweisen konnte und auch vorwies. Sogar ein Leuchtturm war da, viel schöner und rotweißgestreifter als Gurkes größter Pickel, und während Alis Adern sich krumm und kreuzquer über den Arm ringelten, liefen Horumersiels Bürgersteige schnurkerzengerade, dazu parallel. Im Hafen drei Schiffe, ein Fischgeruch, die Schiffe gekettet an Mauern, die das schwarzlila Wasser einpferchten, der Fischgeruch überall, wie die Luft, die sehr durchsichtig war. Dazwischen, zwischen Gemäuer und Wasser und Luft, am steinharten Kai: ein Schmuckstand mit Kofferradio, hinter dem ein Anorakmann auf einem Klappstuhl saß, direkt vor dem Wasser, eine falsche Bewegung, ein Verrücken des Stuhls, und er fiel. Wie ein Verurteilter saß er da, bleichschmal, und hielt sich am Stuhl fest. Das Radio an seiner Seite beschallte den halben Ort, übertönte indes das Schweigen des Mannes nicht ganz. Die Typen sahen von Anfang an nur den Stand, sie stellten sich auf entlang dem Schmuck, von links nach rechts und zurück, umstanden den Stand, umzingelten ihn, befühlten und prüften den Schmuck, die Herzchenkettchen und Titancolliers und Armbänder und Creolen, schön angerichtet, in Mustern drapiert, goldsilbern vorm dunklen Wasser. Der Mann rieb seine Hände, die kalt aussahen. Ganz schön teuer, fanden die Typen und griffen zu, ihre Arme streckten sich über den Tisch, nebeneinander und schräg und quer; gefällt dir das Kettchen, fragte der große Leo mit dem Kindergesicht die kindkleine Karin, die sich in seiner Nähe hielt. Sie probierten und kommentierten, nein wirklich, sehr hübsch, leider teuer, und
die Hände des Mannes hielten sich nicht mehr aneinander fest, sondern am Tisch, er stand auf, wollte überall hinschauen, war aber zu langsam, sah nichts in dem Hände- und Finger- und Schmuckgewirr. Na ja, sagten schließlich die vielen, und na denn und tja und wandten sich ab, verließen den Stand, und eigentlich lag da der Schmuck wie zuvor, sehr glänzend und aufgereiht; aber: kaum auf der anderen Hafenseite, holte Leo im Gehen das Kettchen für Karin aus der Tasche und für sich einen fetten Totenkopfring. Die anderen lachten nicht, klopften ihm nicht auf die Schultern, grinsten nur leicht im Abwenden, und einer stieß einen Pfiff aus. Zum Edekageschäft ging es ein Treppchen hoch, dann zwischen zwei großen und gleichgroßen Schaufenstern durch, ein Klingeln, viel kühle käsige Luft, zwei Regale in der Mitte und also drei Gänge. Die Verkäuferin drückte hinter der Theke die Hände aufs Einwickelpapier, den Kopf gesenkt, als wollte sie verhindern, daß das Papier wegflöge, große Bögen, die bedächtig den Luftraum füllen würden und später herniedersänken, um alles, Regale, Waren, auch sie selbst mit weiten papiernen Schwingen zu bedecken. Sie würde sich nicht mehr rühren können, regte sich auch jetzt kaum, hob nur kurz, den Gruß erwidernd, den Kopf. Die Tiefkühltruhe stand offen, strahlte Kälte in die Gesichter, die sich über sie beugten wie von weit her: Eis, Buntpapier, Eis im Eis. Hm Nogger, Cornetto Erdbeer, o geil Erdbeer, das bringts nicht, Nuß, Cornetto nur Nuß, Nogger kommt gut, vergiß es, nogger dir einen, das schärfste ist Split, he nogger dir einen, ach nö bitte ein Split. Und standen an der Truhe, stützten sich auf ihren Rand, wollten hineinkriechen in die Kälte, nichts gab es zu sagen als Nogger und/oder Split, was ohne Geld sowieso egal war. Und schwiegen noch ein bißchen und kratzten an der
Gummidichtung der Truhe, dann gingen sie, verließen treppab das Geschäft. Bis auf Leo, der blieb und noch an der Truhe stand. Die Frau an der Theke zeichnete mit ihrem Finger auf dem Papier. Leo an der Truhe, man sah ihn von draußen, es war dort sehr luftig, auch zwischen der Frau und ihm war viel Luft. Dann ging er zur Kasse, ein Minimilk in der Hand, sie trafen sich dort, er zahlte. Ein netter Junge, hochwohlerzogen, wünschte ihr noch einen schönen Tag, und draußen, wenige Schritte neben dem Geschäft, griff er sich in die weiten Hosen, die, wie Lene jetzt bemerkte, an den Knöcheln mit Einmachgummis abgedichtet waren, und holte ein Cornetto und noch eins und Nogger und Minimilk heraus, lächelte lausbübisch von oben, als sie sich bei ihm ihr Eis abholten, jeder bekam, was er wollte, und seine Hosen bestaunten. Tjaja, sagte er und zog sie in die Breite wie ein Tanzröckchen, ging zu einem angedeuteten Knicks in die Knie, marschierte dann weiter, Karin im Windschatten. Die anderen standen noch da, halberstarrt, jeder sein Eis in der Hand, auf der blauschwarzen Straße, folgten ihm dann, lösten im Schlendern das Eispapier ab, leckten und bissen ins Eis. Vor ihnen der kindliche Riese in Wunderhosen, jedes Hosenbein war ein Füllhorn, das noch manches erwarten ließ. Aber je weiter sie kamen, und indem sie ihn immer mehr einholten, war er doch wieder einer der ihren, vermischte sich mit der Gruppe, wurde unscheinbar, eine Randfigur, auch wenn sein blonder Kindskopf nach oben ragte. Das jedenfalls war also Horumersiel, und sie gingen zurück zum Platz, der ihnen jetzt, von der Welt her betrachtet, doch etwas schäbig erschien, so schmutzig und ungrün, mit staubigen Wohnwagendächern. Trotzdem hatten sie es eilig, zurückzukommen, kletterten sogar, um den Weg abzukürzen, über einen Zaun, und Leos Hose bekam einen Riß.
Er kam dann nicht mehr zum Waschhaus. Er sei beim Dealen erwischt worden, erzählte einer und seufzte und schaute woandershin, und: jaja, der Leo, sagten sie rauh, jaja, die Bullen, und niemand ging mehr nach Horumersiel.
Die Frau stand an der Spüle, Lene sah sie von hinten, das Rückeneck im schwarzen Hemd, rechtwinklig wie die Schranktüren, der lange Hals, der sich zur Mitte hin verjüngte, dann wieder auseinanderstrebte, die Haare sehr kraus, wie geblümt. Wasser lief gleichmäßig ins Becken und durch den Abfluß, der Strahl traf hohl prasselnd auf dem Blech der Spüle auf. Lene spürte ein Ziehen am ganzen Körper, als würde das Wasser aus ihr herausgesogen, als sei es ihre eigene Körperflüssigkeit, ohne die sie zusammenfallen würde zu einem Häuflein Staub. Es war das Wasser der Welt, das hier verfloß, zu Abwasser wurde, und Lene hatte es herangeschleppt und in den Wohnwagentank geschüttet und würde es wieder tun, hektoliterweise würde sie das Wasser herbeischaffen, nur damit es, wenn die Frau am Hahn drehte, floß. Die Frau an der Spüle bewegte sich nicht, sie hielt ihre Arme ins Becken, dem das Wassergeräusch entstieg. Ihr mußte kalt sein, so bewegungslos, wie sie da stand, schlecht durchblutet, in der kühlen Spülenluft, die Beine im Abgrund zwischen Spüle und Tisch, weit entfernt von Lene, die quer auf der Sitzbank saß. Die Luft zwischen ihnen war dünn, zwei Riesinnen im Möbelgebirge; Steilwände reflektierten das Plätschern. Das Wassergeräusch bestand aus zwei Tonstrahlen, dem tieferen, konstanten Geräusch des Strahls, der auf der Spüle auftraf, und dem höheren, ungleichmäßigen der einzelnen zur Seite springenden Tropfen. Es reizte immer dieselbe Stelle im Ohr, es verwandelte sich, wurde zum
Geräusch brutzelnden Fetts, zum Motoren- oder Maschinengeräusch, bald spürte Lene jeden Tropfen auf der Haut, Wasserfolter, sie sprang auf und stand schon halb neben der Frau, schaute ihr über die harte Schulter. Der Zeigefinger der Frau schwebte quer unterm Wasserhahn, sie hielt ihn darunter; das Wasser umfloß den Finger, der schon ganz rot war. Der Wasserstrahl wurde vom Finger verbreitert und floß unten wieder zusammen, zu mehreren Strahlen, die auf dem Spülenboden umherspringende Wasserkreise warfen. Wollte die Frau das Wasser befühlen? Den Strahl umleiten? Das Becken ausspülen? Hast du dich verbrannt? fragte Lene, und die Frau: nein, und drehte am Hahn. Der Strahl brach ab, Stille drang von überallher ins Waschbecken, füllte sofort den ganzen Raum. Die Frau roch an ihrem Finger: Tabakgeruch, besah die braungelben, filterfarbenen Flecken. Die würde sie niemals abwaschen können, dafür war es zu spät. Sie nahm die Zigarettenpackung vom Tisch. Möchtest du eine? fragte sie Lene.
Nachts ging Lene mit den Typen ans Meer, das ja auch noch da war und immer da gewesen, manchmal grau, dann wieder schwarz, veralgt und verdreckt und sehr groß, fast so groß wie der Campingplatz oder größer. Die Nordsee, kalt wie alles, wie der Sand und der Wind, die auf ihrem Horizont Tanker balancierte und Containerschiffe, während sie vorn am Strand fleißig wellte und wallte. Ermüdend, dieser Wellenschlag, ein Zucken oder blindes Tasten des Wassers, krankhaft, krampfhaft, nie endender, sinnloser Wellenrausch, mit Möwengekreisch usw. Schön waren die Strandkörbe, blauweißgestreift und willkürlich über den Strand verteilt, aber immer so, daß sie das Meer beschauen konnten, plumpe Möbelmonster aus dem
letzten Jahrhundert, wo pflichtbewußte Urlauber alten Schlages in Decken gepackt von morgens bis abends auf dem Posten saßen, das Meer bewachten oder nach einem auftauchenden U-Boot ausspähten. Ehrwürdige alte Streifenstrandkörbe, und ihr Bestes verbargen sie unter sich, man brauchte sie nur leicht nach hinten zu kippen, dann gaben viele von ihnen ein Bier-Nest frei, eine Kuhle voller wunderbar kühler Dosen, Henninger, Jever, Becks, die die Urlauber dort für den nächsten Tag, vielleicht aber auch für die Typen gelagert hatten, man wußte ja nie. Jedenfalls nahm man mit und packte noch in Tüten, bis die schon fast rissen; für alle war genug da und mehr. Und wanderte weiter den Strand entlang unterm sternlosen Himmel, nur der Sand gab ein müdes Licht von sich und die Spitzen der Zigaretten, die kleine Warnblinklämpchen der Atemzüge waren. Nie gingen zwei Typen nebeneinander; alle achteten darauf, daß ihre Anordnung möglichst zufällig war. Die Schritte: knirschten leise, quetschten Körnchen aneinander, machten Hügel zu Tälern und umgekehrt. Wenn den Tütenträgern, wie sie sagten, der Arm abfiel, wurde nach einer Sandburg Ausschau gehalten, Gurke schleuderte das Bier hinein, und die anderen nahmen am Fuß der kalten Sandhänge Platz, öffneten Dosen, zündeten neue Zigaretten an, schütteten Sand aus ihren Schuhen. Als Lene sich zurücklehnte, rieselte ihr ein feiner Sandstrom von hinten ins Hemd. Die Sandburg, über deren Rand sie jetzt kaum noch hinwegblicken konnte, war ein Modell ihrer Heimatstadt, von Bergen umsäumt. Auch ein Bier, fragte Gurke, beugte sich weit zu ihr herüber und reichte es ihr so schwungvoll, daß ein kalter Bierschwall über ihren salzigen Handrücken ging. Sie leckte ihn ab: ihr erstes Bier, an das sie sich immer erinnern würde, bei jedem Bier, das sie trank, und das sich in ihrer Erinnerung immer mehr verändern würde, immer geschmackloser werden und salziger, ebenso das
Drumherum, die Typen würden allmählich ihre Konturen verlieren, sie säßen weiter weg, obwohl die Sandburg kleiner würde und ganz klein der Strand und das Meer. Auch sie selbst würde jünger werden in ihrer Erinnerung, naiv und leicht zu beeindrucken, unreif, apolitisch und schlank. Auf Karin lag plötzlich ein Arm. Sie hatte still dagesessen, knöchern, strähnig, hell, als Paket, die Hände auf den Unterschenkeln gefaltet. Der fremde Arm lag da, wo eben noch ihre Schultern gewesen waren. Schwer sah er aus, so daß Lene der Anblick im Nacken schmerzte. Es war Alis Arm; er mußte sich abstützen nach dem langen Marsch, nein er wollte sie trösten, nein sie waren ein Paar. Niemand schien sich darüber zu wundern, auch Karin nicht, die nur ganz langsam in sich zusammen- und vielleicht auch in den Sand sackte, bis bloß noch ihr Kopf herausschauen würde, umweht von den wenigen Haaren, Sandkörner auf der Spitznase. Ali schliefe daneben am Boden, und weiter würde geschwiegen oder ganz schön sandig hier gesagt. Lenes Hand glitt über die Sandhügel. Man konnte nicht sagen, was kälter war: die Luft oder diese pulverisierten Steine und Muscheln, durchmischt mit ganzen Muscheln, dieses Muschelsuppen-Trockenpulver. Der Sand war grau; es hätte auch Trockenzement sein können in einer Großbaugrube. Kälte und Dunkelheit mischten sich, verbanden sich zu einer zähen Masse, die über allem lag und schon auf Lenes Haut abgefärbt hatte. Seit langem fror sie nicht mehr. Wieso war auf ihr kein Arm? Die anderen in der Sandburg rochen kalt, obwohl sie sich durchaus bewegten und also lebten. Am kältesten war vielleicht das Bier, aber nur das in der Dose, nicht das in Lenes Magen, das dort brodelte und Wellen schlug. Vielleicht war das Meer auch eine Art Bier, und sie saßen in einem riesigen Magen, obwohl es dafür ziemlich kalt war. Und was, wenn das ganze Biermeer verdaut war? Waren sie dann dran? Warum
lag auf Lene kein Arm? Sahen ihre Schultern zu unbequem aus? Sollte sie mehr lächeln? Oder weniger? Auch wenn es sowieso niemand sah? Nochn Bier? fragte Gurke, und tatsächlich, das erste war leer. Sie bohrte es in den Sand und trank auch das zweite und dritte, ohne Moos nix los, sagte Gurke, und Karin seufzte, und Ali streichelte ihr den Arm, Lene immer noch armlos. Die Lichter von jenseits der Bucht waren wie die auf dem alten Röhrenradio, das die Frau immer auf ihrem Schoß gehabt hatte; Rom, Moskau, Madrid vor dem Bauch der Frau, in dem Lene angeblich gewesen war, und jetzt am Rand dieser Bucht in der Kälte. Mir friert gleich der Arsch ab, sagte Heinz, ach ja, Heinz war ja auch da, den vergaß sie immer, lieber der Arsch als die Eier, fand Gurke, Arsch oder Eier, Heinz oder Gurke, wollemer? Packemers? Sie taumelten hoch in den Stand. Das übrige Bier? Geeeschenkt! rief Gurke und trat in den Dosenberg: das ist geschenkt. Lene stand bereits, als sie merkte, daß Stehen gar nicht so einfach war, man brauchte dafür auch die Arme, die waren sogar am wichtigsten, und unten war da, wo der Sand war. Oder andersrum? Sie mußte sich das in Ruhe überlegen und ausruhen, legte sich schnell noch mal hin, sogar sehr schnell, und lag im sehr weichen Kaltsand, und sie gingen fort in die Ferne und ließen sie hier, doch das machte nichts. Hey, Mädel, rief einer, Heinz oder Gurke, guckt euch mal die an, und über ihr ging ein Gesicht auf, das war der Mond oder Mondmann, nein natürlich der Mond im Mann, dort im Mann innen drin. Auch mit Nase das Gesicht und Augen, wie der richtige Mond. Wer lacht eigentlich die ganze Zeit, Mund zu, haha, jetzt den Mund zu, sonst kommt Sand in den Mund, hahaha, Mund zuhalten. Was ist denn mit der los, was hat denn die, verträgt nichts, das Mädel, ist nichts gewohnt, ja, das Weibsvolk. Einer griff Lenes Hand, die voll Sand war, nicht ziehen, o doch, er zog. Ich kann auch hier schlafen. Hier schlafen, jaja. Nee,
Mädel, das kannste vergessen. Vergißmeinnicht. Vergießmeinnicht, ach ja pissen mußte sie auch und tats gleich an Ort und Stelle, dann wieder nach oben zum Mädelhalter, das war der Träger, der Wasserträger und Mädelhalter, der Heinz. Natürlich der Heinz, der hatte ja damals, der war ja schon immer, sie war ja die Freundin vom Heinz und sein Arm war nicht schwer.
Abseits, ganz klar, fand der Fernseher. Die Frau saß im Abseits, am Rand des immer noch halbhellen Sandplatzes, seitlich neben den Fußballguckern, die um das Gerät einen Halbkreis bildeten. Ihr Mann hatte ihr den Rücken zugewandt, das machte aber nichts, war sogar seine attraktivere Seite, breite Schultern, ausrasierter Nacken u.a. die anderen sah sie im Profil, auch den Fernseher, als schwarzen Quader oder little black box, in der das Fußballtheaterchen aufgeführt wurde. Der Bildschirm war nur als gewölbte Kante sichtbar; immer wieder brach das Licht aus dem Glas hervor und bläute alles, besonders die Gesichter, hohläugige Masken, die keinerlei Regung zeigten, selbst wenn sich, nach der Geräuschkulisse zu urteilen, Großes, Bewegendes, Erregendes im Kästchen ereignete. Es war schön, so ignorant zu sein, nicht zu sehen, was dort aufgeführt wurde, es sich nur vorzustellen, das Beinchenstellen und Rennen und Sich-am-Boden-Wälzen, sie kannte es von den endlosen Fußballabenden im dunklen Wohnzimmer und Fernsehsessel, in dem sie sich immer wieder anders hinsetzte und neue, ungekannte Sitzpositionen erfand, in den Augenrändern ein Ziehen, als könnten sie tatsächlich rechteckig werden. Der Fernseher und sie hatten einander zu hypnotisieren versucht, er mit seinen immer neuen Variationen von Linien, Rasengrau, Jägermeisterbandenwerbung; sie mit
ihrem starren Blick, den sie nur lang und konzentriert genug durchhalten mußte, dann würden die Fußballer plötzlich langsamer laufen, auf die Armbanduhren schauen, gähnen, schließlich schulterzuckend stehenbleiben, um in Grüppchen, vielleicht sogar Arm in Arm, vom Spielfeld zu spazieren. Das geschah jedoch nie; es gelang der Frau nicht, den Kasten telepathisch zu beeinflussen; der Fernseher war eines dieser immunen, gegen alles gefeiten Geräte, mit elektromagnetisch abgeschirmtem Vollkunststoffgehäuse, dem einfach nichts unter die Haut ging. Allmählich begann es zwischen den Zelten, den Stühlen und Stuhlbeinen zu dämmern; gleichzeitig schwoll auf dem Platz der Fußballärm an; die einzelnen, nicht heraushörbaren, unidentifizierbaren Stimmen der Stadionsitzer flossen zu schrillem Rauschen zusammen, das sich auf die Campingfernseher verteilte, um dann wieder zusammenzuströmen und in Wogen über den Platz zu gehen, während die schwarzen Farbpartikel der Nacht die Campingwelt in Zeitlupe überschwemmten. Mitten in den Strömen saß die Frau, bzw. löste sich auf, in kleine Staub- und Wasserteilchen, die übereinanderglitten und den Campingstuhl hinabrieselten. Eine Möwe flog im Bogen über die Zeltlichtung, die Frau folgte ihrem Geflatter mit dem Blick, als unten, am Boden, bei der Fernsehrunde eine fremde Stimme den Fußballkommentar beiseiteschob. Was machst du denn da. Die Möwe flog im Abdrehen einen Schlenker; ihr Gefieder war grauer geworden. He, ich hab dich was gefragt. Die Frau wollte nicht wissen, wer da sprach, nicht mal, woher die Stimme kam, doch dann war die Möwe fort, und die Frau senkte den Kopf in die falsche Richtung, die Richtung der Stimme. Der Mann war noch schöner und häßlicher als sonst, die engen Grenzen seines ursprünglich schlanken Gesichts vom
Fett gedehnt; das Blau seiner Augen drang durch die Salzluft mühelos geradewegs zur Frau. Er hatte sich zu ihr umgewandt, den Ellenbogen auf der Stuhllehne, stand aber jetzt schon auf, kam mit schwerem Schritt auf sie zu. Ein Sandmann, eine Figur aus kaltem aneinandergebackenen Sand. Links rechts links rechts gingen die Beine, immer gleich, immer geradeaus, er würde über sie gehen, den Stuhl zermalmen, das Stahlrohr, das später zerknickt und verknotet am Boden läge. Sie wollte zur Seite rücken, dem Mann ausweichen, seinem vorprogrammierten, schnurgeraden Kurs, aber der Stuhl blieb nicht still, er machte ein helles Geräusch, ein metallenes Quietschen, verriet die Frau und sich selbst, und dann stand der Mann schon vor ihr und schaute kopfschüttelnd auf sie herab, versperrte der Frau mit seinem Körper die Sicht. Nur das Dreieck zwischen den Beinen blieb frei, dadurch war nicht viel zu erkennen, ein Grashalm, Sand, und oben zwischen Kopf und Schultern zwei Himmelsstücke, die sich beim Schütteln des Kopfes abwechselnd vergrößerten und verkleinerten. Die Frau blickte hoch, direkt in das pendelnde Manngesicht, das aussah wie eh und je, das Badezimmer-, das Bettgesicht, schmallippig, schmalnasig, hart. Obwohl der Mann bloß vor ihr stand, spürte sie sein Gewicht, das ein Muskel- und Knochengewicht war, das Gewicht harter Haut; der Mann war so schwer, daß er eigentlich im Sand hätte einsinken müssen. Sie, die papierleicht auf ihrem Stühlchen saß, wurde von der Schwerkraft zu ihm gezogen, all ihre Zellen und Moleküle strebten zu ihm hin, kaum hielt es sie auf dem Stuhl, so sehr war sie mit ihm verheiratet. Dann ging er. Ging die wenigen Meter zum Wohnwagen, verschwand hinter ihm und war auch schon fort, und die Frau sah die Nachbarn auf ihren Stühlen; alle Gesichter ihr zugewandt, vom Fernseher nichts zu hören, eine Flaute im Spiel, kein Jubeln, kein Tosen, der Kommentator schwieg, der Mann und die Frau
dienten als Fernseh-Ersatz. Klaus und Sabine lehnten in ihren Ehestühlen, Sabine kratzte sich mit dem Zeigefinger über die Jeans. Die beiden Männer hatten die Köpfe zur Frau gedreht; puh, sagte Sabine, und es war nicht klar, ob das ein Kommentar zur gerade gesehenen Eheszene war oder doch bloß ein Füllwort, um mit ihm die Stille zuzustopfen, die dadurch nur leerer und spürbarer wurde. Die Frau wäre gern noch lange geblieben und hätte am Rand dieses kleinen Platzes in dem leisen Fußballärm gesessen, aber sie erhob sich, nahm den Stuhl bei der Lehne, setzte ihn neben den ihres Mannes, fest, so daß die Beine knöcheltief im Sand steckten; noch einen schönen Abend, sagte sie etwas lauter als sonst, aber immer noch ziemlich leise. Wollen Sie schon gehen? fragte der Blonde, und seine Stimme kitzelte sie in den Ohren, aber der Blick der Frau glitt zur Seite, über Klaus’ Bauch, Sabines Lächeln zur Bildstörung auf dem Fernseher, und sie sagte ja. Schwarz war die Luft, schwarz der Sand, und Lene und Heinz waren ein Paar, ein paar Menschen, zwei, miteinander verhakt, die gingen den Strand entlang, sehr schnell, in verdoppeltem Tempo, im Gleichschritt und Eilmarsch, die Schritte sich überstürzend, kaum voneinander zu unterscheiden, das Atmen und Schnaufen mischte sich mit dem Rauschen der Brandung. Schräg vor ihnen schwankten Ali und Karin durch den Sand, das andere Paar, ein Abbild und Vorbild; Lene behielt sie im Blick, so oder ähnlich sahen Heinz und sie selbst aus, zumindest von hinten; Heinz ist einer, dachte Lene, ich bin eine. Der Rückweg war kurz, wenige Meter oder Sekunden; der Strand strömte ihnen entgegen, sie wurden wie auf einem Fließband hindurchgetragen, sofort leuchteten die Lichter des Platzes auf, die Straßenlampen und Fernseher; der Asphalt schob sich unter den Sand, der verschwand, und das andere
Paar blieb stehen, drehte sich um seine Achse: Ali, leuchtend, halb lächelnd, und Karin, die auf ihre Schuhe sah. Dann standen Lene und Heinz ihnen gegenüber, spiegelverkehrt, Karin berührte ihr Haar, Ali trank seine Bierdose leer, den Kopf im Nacken, warf sie hinter sich, wo sie scheppernd auftraf, er grinste, die Zähne weiß, schüttelte die dunklen Locken, jetzt wird getauscht, rief er dann, ließ in einem Schwung Karin stehen, griff nach Lene, die er fest in der Taille faßte, drehte sie von Heinz weg, während Lene und Karin, zwei Puppen, die Gesichter einander zugewandt, die Köpfe einander hinterherdrehten, Alis Drehbewegung entgegen. Ich bring sie heim, rief Ali noch über die Schulter, tschüssi; da standen die übrigen, Übriggebliebenen, ohne sich zu berühren, sehr blond im Lichtkreis der Straßenlampe und wurden schnell klein. Ali war dünn und dunkel; ein Nachtmensch, dachte Lene, er verkörperte die Nacht, roch auch nach ihr, trug eine Geruchswolke mit sich, nach Schweiß und Rauch und Nacht, die Lene umnebelte, der Geruch drang nicht nur durch die Nase, sondern auch durch Ohren und Mund in sie ein, wurde schärfer und herber; Lene war schwindlig vom plötzlichen Männertausch oder vom Geruch, aber Ali hielt sie fest, mit dünnen Drahtarmen, legte auch den freien Arm noch um Lene herum, drück ich zu fest, flüsterte er in ihr Ohr, ich will dir nicht wehtun, und Lene sagte nein, halblaut und sehr kurz. Er schob die Nase in ihre Haare, du bist so, murmelte er, seine Locken kitzelten ihre Schläfe, dieses Kitzeln und sein Geruch, die brachten sie fast aus dem Gleichgewicht; sie gingen und gingen, was nicht leicht war, sie mußten weiter, denn er brachte sie heim, durch die verschwimmende Welt. Heinz fiel ihr ein, der war weit weg, je weiter, je besser, aus Heinz war Ali geworden, ein guter Tausch, und Ali berührte ihre Wange mit seiner, die feucht war, seine Nase stupste ihre von der Seite
an, sie gingen nicht mehr, sie blieben stehen, sein Atem ganz nah, seine Lippen an ihrer Nase, auf ihrem Mund, den sie öffneten; es gab nur noch einen großen, gemeinsamen Mund, eine Höhle mit Schlangenzungen, die sich berührten, umeinander wanden, glibbrig und rauh, die an fremde Zähne stießen, die Welt war ein Mund, dunkel und heiß, in dem Lene verschwand. Lene erzählte der Frau vom Meer, wie die Winde in das Wasser stoßen und Wasserberge und Täler entstehen lassen, die umherwandern, angeschubst von anderen Winden. Wie sie schließlich auf die Küste zukommen, sich ihr zuwenden, sich aufreihen hintereinander, sich am ansteigenden Strand überschlagen und Wasser über Wasser über Wasser stürzt. Wie der Wind im Wasser Turbulenzen erzeugt, das Wasser sich mit der Luft vermischt und Blasen entstehen, die die Wellen mit Schaum krönen. Von den Gezeiten sprach sie, von Sonne und Mond, die das Wasser nicht radial von der Erde weg, sondern horizontal zu sich ziehen, mit einer Kraft, die umgekehrt proportional ist zur zweiten Potenz ihrer Erdentfernung. Die Frau sah Lene im Taucheranzug, schwarzglänzend und naß, erkennbar nur an Augen und Füßen; sie hockte auf einem Floß, einer Kunststoffinsel, starrte aufs Zifferblatt eines silbernen Meßgeräts, von dem ein Schlauch ins Wasser führte. Das Meer war schwarz. Lene erzählte der Frau vom Waschhaus, vom Sitzen auf Lehnen, gewinkelten Körpern, müden oder schlafenden Körperteilen, Lidern, die in der Schwebe blieben, in einer Balance, die alles ausglich, die die Typen auf den Kanten aufrecht, die Zigaretten in ihren Mundwinkel hielt und für eine gleichmäßige Besetzung der Bänke sorgte. Sie erklärte ihr das Zigarettendrehen, das Werfen mit vollen, offenen Flaschen, das Bierdosenstehlen am Strand.
Die Frau sah Lene als Dreijährige auf dem Krankenhausbalkon, umweht von ihren eigenen Morgenmantelfalten. Fröstelnd schlang die Frau ihre Hände ineinander, während Lene ihr die Welt erklärte, die sie tatsächlich seit Tagen nicht gesehen hatte: die Häuser und Bäume und Autos, den Himmel, ein Flugzeug, das Balkongitter, schließlich den Morgenmantel, den die Frau trug. Sie drückte den Kopf des Kindes an sich und in den Mantel hinein. Lene hielt den Mantel fest in den Fäusten. Und das hier bist du, sagte sie.
Wasser hüllte das Waschhaus ein, in Schauern, in Strömen stürzte der Regen, dicht bei dicht fielen die Tropfen, in immergleichen Abständen, abwärts, auch schräg nach links, fielen aus Höhen, zogen lange und gerade Bahnen, um dann am Boden wie nichts zu zerplatzen, ein Wasserfall, eine riesige Welle, die sich aufbäumte über dem Platz. Der Weg zum Waschhaus hatte Lene durchnäßt, zieh die Jacke an, hatte die Frau gesagt und sie ihr hingehalten mit kalter Hand. Lene kam das albern vor, wieso den Körper schützen, diesen Fleisch- und Knochenmix, der war doch egal. Sie wollte den Regen spüren, Kälte und Wind, hautnah, begann aber dann doch zu rennen, durch den matschigen Sand, umgeben vom Endlosgetropf, fühlte die Tropfen, jeden einzelnen, auf der Haut, je schneller sie lief, um so mehr, fing sie auf mit Hemd und Haaren, die später ganz schwarz und kringelig waren, auch die Schultern und Oberseiten der Brüste dunkel gefärbt, eine Wassernixe, ein Nymphenkind. Auf den Armen die Gänsehaut: lächerlich, Lene strich darüber, um sie zu glätten, es gab keinen Grund für die Haut, sich derart zu riffeln und auszustülpen. Nur weil es draußen kälter war als in ihrem Inneren, dem Inneren des Körpers,
dieses zusammengesetzten Gegenstands, kleiner Rumpf, lange Greifarme und Beine, Haare, die passiv und unbrauchbar am Kopf hingen, das war sie, ihr eigenes Ich, das nicht die Welt war, vollkommen abgedichtet, das sich nicht mischte mit ihr. Niemand kam; sie waren allein: Lene, das Waschhaus, der Regen. Der Raum unterm Waschhaus war vom Wasser verhängt und leer, menschenleer. Nur die Bänke standen da, müllgeschmückt, der Sand um sie herum mit Kippen hübsch gespickt. Zuerst hatte Lene die Leere für eine optische Täuschung gehalten, vielleicht wegen hoher Luftfeuchtigkeit, als müsse man nur aus dem richtigen Winkel auf die Bänke schauen, dann würden die anderen erscheinen und alles wäre wie sonst. Oder trafen sie sich woanders, in der breiigen Sandburg vielleicht, dunkle, harte Gestalten, die in einer Wasser- und Matschwelt umhertrieben? Kein Mensch, und eigentlich hatte schon vor Tagen ein Schwund eingesetzt, die Sitzenden machten sich breit und breiter, umsonst, das freie Stück Lehne vergrößerte sich. Das Wochenende hatte die Reihe gründlich gelichtet, auch Ali war fort; sie hatten sich stundenlang geküßt, waren rückwärts voneinander fortgegangen, die Gesichter einander zugewandt, und Lene hatte am ganzen Körper gespürt, wie das Band zwischen ihnen sich dehnte und langsam zerriß, hatte zu ihm rennen wollen, jeden und jeden Moment, und war doch rückwärts gegangen, Schritt für Schritt. Der Regen hatte die Luft graugrün gefärbt, er wässerte und durchtränkte sie, das Wasser begann, die Waschhauspfeiler zu umspülen, dunkle Wasserdreiecke schoben sich auf die nach innen gekehrten, trockenen Seiten, und Lene zog ihre Knie zu sich. Es würde immer so weiterregnen, sie mußte nur einfach sitzenbleiben, durfte die Bank nicht verlassen, dann würde es regnen und regnen, den Herbst hindurch und den Winter, der Platz würde immer kahler werden und sumpfig, das Meer
würde über das Land kommen, tropfenweise, und Lene säße hier, unbeweglich, von der Kälte konserviert. Niemand kam; zum Glück war wenigstens sie selbst da, das Waschhaus also nicht gänzlich verlassen, und sie ja eigentlich immer allein und würde so bleiben, ein Fisch. Paul fiel ihr ein, und Hannes auf dem Mofa irgendwo in der Welt; dann tauchte Gurke in der Ferne auf; Lene sah ihn heranschlendern, nicht ganz zielstrebig, als könne er im letzten Moment noch vom Weg abweichen, als spüre er auch den Regen nicht, sei wasserdicht, obwohl ihm die Haare am Kopf klebten und er eine Tropfenspur über den Waschhaussand sprühte. Sie begrüßten sich mit Handverrenkungen, Armverschlingungen, Schlägen auf Handflächen und sonstwohin; Gurke mochte das und warf sich seufzend auf die Sitzfläche der Bank, die Absätze in den Sand gestemmt. Von seinen Haaren lief ein Tropfen in den Nacken, den Lene mit dem Finger aufhalten wollte; der Tropfen floß weg. Sie spürte Gurkes Wärme als Strahlung durch die Luft; Gurke war nicht wirklich ein anderer Mensch, eher eine Verlängerung ihres rechten Beins, wenn auch unförmig und ziemlich eigensinnig. Er seufzte, streckte den Kopf nach hinten, die Wangen gepunktet, Baby, take a walk on the wild side, trällerte er. Jemand ging vorüber, schwarz beschirmt, Baby, rief er ihm nach, hey baby, und machte sich mit den Fingernägeln die Fingernägel sauber. Puuh, er streckte die Beine weiter aus, als eigentlich möglich schien. Nix los hier, ohne Moos nix los, verstehste? Er wandte plötzlich den Kopf zu Lene: Wo hastn dein Heinz gelassen? Lene zuckte mit den Achseln, ist nicht mein Heinz, murmelte sie, und: Nee? gab Gurke zurück. Na dann. Tja also, irgendwie bißchen frisch heute, findste nich? Er rappelte sich hoch, murmelte: glaub, ich mach mich mal wieder, und ging, erst schleppend, dann, als er das Waschhausdach hinter sich ließ, immer elastischer, den Oberkörper hochaufgerichtet, die Beine
auf- und zuklappend wie die Schenkel einer Schere, durch das strömende Wasser davon. Zwischen dem Nassesten und dem Trockensten, zwischen Wasser und Pudersand gingen die Frauen den Strand entlang, auf der feuchten Bahn, die die zurückweichende Flut hinterließ, wo der Boden sehr fest war, dunkelglitzernd und muschelgespickt. Schaumteppiche breiteten sich zu ihren Füßen aus, wiesen den Weg ins Wasser und waren selbst keins, sondern flüssiges Styropor oder Polystyrol oder Polyethylen, unnatürlich weiß, hochbeweglich und schaumig. Trugen Algen mit sich, olivgrüne, knotige Wasserverzierungen, echt und schön, wahrscheinlich streute die Küstenwacht sie ins Meer, zur Dekoration. Die Küste war endlos und gerade, mußte gar nicht begradigt werden, das Meer hingegen tobte und schnaufte, umspülte die Luft. Die Füße hinterließen fast keine Spuren, nur schwache Abdrücke im feuchten Sand, Sandverschiebungen, kaum sichtbar, aufstampfen wollte die Frau, sich schwer machen, und war doch so mager und windumweht. Hätte die Füße auch tief in den Sand rammen können, Stapfen hineindrücken, kleine Tümpel, würden doch weggespült wie nichts, nur den Moment des Auftretens gab es, auf ihn kam es an, wenn der Sand sich um den Fuß herum aufhellte, ihn mit einem Heiligenschein umgab. Der Himmel flog vom Meerhorizont zum Strand und weiter ins Land, war graumeliert, durchzogen von dunklen Schlieren, zog über sie wie ein Film, so schnell, daß er jederzeit reißen konnte. Unten nur wenige Linien, die die Landschaft teilten, Horizont, Strand, Deich, man mußte ihnen folgen, hangelte sich an ihnen entlang, hin und her, es gab kein Ziel, nur den Punkt, an dem man umkehrte. Kannst du noch, fragte Lene die Frau, deren Atem sich hörbar aus dem Wind heraushob. Wie weit gehen, wann wenden, welches war die Stelle für das
Umkehrmanöver – innehalten, den Takt der Schritte unterbrechen, sich umwenden, nachsehen, was hinter einem war und ob einem nicht die ganze Zeit jemand gefolgt war, feststellen, daß die Welt sich geräuschlos verwandelt hatte, alles die Plätze getauscht, da wo das Meer gewesen war, war jetzt der Deich und umgekehrt, nur Lene blieb auf der Landseite, trat in die eigenen Fußstapfen, die Frau auf ihrer, der Meerseite, den Kopf kaum wippend vor dem Plastikfolienwasser. Ihre Haare waren hier draußen sehr schwarz, glatter als sonst, der Wind zog sie glatt, blies Breschen hinein. Der Mund geschlossen, auf der Spitze der geröteten Nase der Nasenpunkt, der ihr die Blickrichtung vorgab. Sie sah weder den Strand noch das Meer an, schaute auf den Boden, dahin, wohin sie gleich ihre Füße setzen würde, prüfte ihn, suchte ihn nach Hindernissen ab, über die sie hätte stolpern können. Dabei war er so platt und schimmernd wie der Wohnwagentisch, an dem sie gesessen hatte, die Zigarette zwischen den Fingern wie festgewachsen, ein heller Strich vor ihrer Schattenhaftigkeit, dem Grau der Arme, dem dunklen Rotwein, dem Illustriertenbild. Unbeweglich war sie in ihrem Rauch gesessen, eine Rauchsäulenheilige. Laß uns rausgehn, hatte Lene gesagt und ihr die Hand unter die Achsel gelegt; ach Lene, so die Frau und strich über die faltige Haut ihrer Fingergelenke. Lene hatte das Glas zur anderen Seite des Tisches gerissen, daß es gegen die Wohnwagenwand klirrte, die Illustrierte dazu, ein Seitenwirbel, sie pickte nach der Zigarette, die die Frau aber schnell zu sich zog und in Sicherheit brachte: laß mich, und Lene: du mußt raus hier, an die Luft, hier erstickst du doch, du erstickst, und hockte schon vor ihr am Boden, steckte ihr Schuhe auf die Füße, raus hier raus hier, Lene nein, nicht heute, ich kann nicht, doch sie zog sie aus der Bank und zur Tür, wie eine Verhaftete, während die Frau um sich griff, sich
festzuhalten versuchte, an Schränken und Klapp Vorrichtungen, auch an ihrer Zigarettenschachtel, als schwanke der Wagen, nichts half. Lene schob sie das Treppchen hinab, warf ihr zugleich die Jacke über, in der die Frau fast ertrank, so daß sie noch immer nicht richtig und eigentlich nur zum geringen Teil draußen war. Jetzt hob sie im Gehen das Gesicht, sofort schlug ihr der Sog der Ferne entgegen, die Anziehungskraft der am Horizont zusammenlaufenden Linien; sie zerrte an der Frau, trieb sie an, die plötzlich gehen konnte, auch ohne sich mit dem Blick am Boden festzuhalten. Das Gleichgewicht war wieder da, es war ihres, das Gleichgewicht zwischen dem unruhigen Meer und dem hochgewölbten Land, zwischen dem Wind und dem Mädchen. Sie ging und ging, konnte gehen, die Welt war zugig und leer, der Wind drang fast sichtbar vom Meer her auf sie ein und blies alles aus ihr heraus, alles, sie wußte nicht was, aber alles. Gleich würde sie Lene am Arm fassen oder sie schubsen, gleich würde sie sich mit ihr balgen, lachend am Boden wälzen, gleich eine Sandballschlacht mit ihr beginnen. Gleich.
3
Die Stadt war klitzeklein. Sie war aus der Kreuzung zweier Bundesstraßen entstanden, deren eine dem begradigten Lauf der Ruhr folgte, während die andere sich in Kurven durch bewaldete Hügelketten schwang. Gemeinsam viertelten sie die Stadt von den Rändern her, um in deren Mitte unter Getöse auch einander durchzuschneiden. Hier war das Leben: Autos, Einkaufstaschen, Kinderwagen, Autofahrer näherten sich einander von allen Seiten, mischten sich in Strömen und Schüben, vibrierten, pulsierten im Takt, im Gelichter der Ampeln, im Blinken, Gasgeben, Schubsen, Bremsen, Hupen und Husten, aus dem sich die Kirche erhob, schmutzig-weiß, mit dem klobigen, nach oben hin immer weißeren, persilweißen Kirchturm, darüber die Kirchturmkugel, hochgolden im Wolkenlicht oder farblos aufblitzend unter Strahlen, sichtbar allenthalben, omnipräsent wie Omis und Omnibusse. Sie schaukelte in den Himmel der Häuser und stand über den weiten Brachen, die unmittelbar ans Zentrum stießen, es umlagerten, über Plätzen und Schrottplätzen, wo gerostet wurde, wo man zwischen ölberingten Pfützen auf Gittern saß und den gelben Halmen beim Zittern zusah, in einer Blase der Stille. Die Autos waren hier nicht größer als Insekten, und man kletterte über Stapel morschen Holzes und Steinhaufen, stieß gegen rissige, mit Wasser halb gefüllte Eimer, probierte das Sterben aus, Ersticken, Erfrieren, das dauerte, und man strich mit den Sohlen über die Muster des Schlamms. Raupenprozessionen verfolgte man, zeichnete die Routen der Käfer rot ins Gras. Oben die Kugel, aus Blech, Symbol der Rundlichkeit, Sonnenersatz, Denkmal für ihn, den
Turmstürmer, golden wie das Schweigen, das ihn mit Lene verband. Sie spannte eine Luftlinie zwischen sich und die Kugel, rechnete zwischen ihnen herum, Entfernung, Volumen, Pythagoras, Strahlensatz, einäugig maß sie den Kugeldurchmesser, die Finger als Schieblehre am ausgestreckten Arm, zwei Millimeter, zur eigenen Armlänge ins Verhältnis gesetzt, und gähnte. Die Fenster des Hauses waren die staubigsten weit und breit, von außen und innen fast blind, als lebe im Haus seit Jahren kein Mensch mehr. Rundherum blinkten die Nachbarfenster, wurden allwöchentlich gewischt und geledert, aber die im Haus bemerkten das kaum: die Sauberkeit fremder Fenster sieht man nur durch saubere Fenster. Der Fensterstaub war eine Schutzschicht, ein Sichtschutz, der die schmutzigen Gardinen verbarg, die man, wenn man hinausschauen wollte, zuerst beiseiteschieben mußte, dann mit dem Finger ein Loch in den Staub bohren; das half, den Blick auf bestimmte Punkte zu konzentrieren, außerdem konnte man in den Schmutz Bilder zeichnen, Bilder der Welt, deren Umrisse selbst aus Welt bestanden: Autobilder, begrenzt von echten fahrenden Autoflächen, Baumbilder, in deren Umrandungen sich Äste im Wind wiegten. Lene zeichnete, Paul sah zu, so war es immer, seitlich saßen sie auf der Heizung, deren Rippen drückten sich kalt in den Po, Lene zeichnete, und dann war plötzlich der Mann da, stand hinter ihnen am Fenster, hatte sich angeschlichen, das konnte er, ein Pfadfinder, was macht ihr denn da, sagte er. Beinahe wären sie schräg von der Heizung gekippt, zwei Kippfiguren, auseinandergeklappt, auch um ihm die Sicht aufs Fenster freizugeben. Was macht ihr denn da, wir zeichnen, wäre die Antwort gewesen, aber war das nicht frech, konnte ihn das nicht reizen, durften sie das überhaupt, in den Staub zeichnen, auf der Heizung sitzen, irgendwas mußte daran verboten sein, im Wohnzimmer sein, obwohl der Mann
es für sich allein haben wollte. Was macht ihr denn da, und gern wären sie von der Heizung geglitten, langsam, stetig, damit es nicht auffiel, aber es wäre aufgefallen, wie überhaupt alles jetzt auffallen mußte. Der Mann kam noch näher und trat ans Fenster heran und zwischen sie, dann hob er plötzlich den Finger und kratzte im Staub und begann nun selber zu zeichnen, gerade Striche, einen und noch einen, rechte Winkel, Rechtecke, manchmal auch Bögen, ein Grundriß. Eigentlich hatte der Mann Architekt werden wollen, manchmal zeichnete er noch einen Grundriß irgendwohin, auf alte Briefumschläge oder Bierdeckel. Die Köpfe im Nacken, sahen die Kinder ihm zu, dem fremden und nahen Mann, und wichen dem Jackenärmel aus, der ihnen übers Gesicht strich. Wie findet ihr das, fragte der Mann, und sie sagten gut, und er schrieb ihre Anfangsbuchstaben in die Zimmer und W und K und B und D und erklärte die Viertelkreise an den Türen und warum die Küche beim Eßzimmer sein müsse und das Büro am Eingang und sagte, das sei ihr neues Haus. Dann baute er es wirklich, dieses Haus; er kaufte ein Grundstück am Hang, ritzte den Plan vom Fenster dort in den Boden, baggerte, goß das Fundament, mauerte, setzte Stein auf Stein, wie sie dachten, ein mauernder Superheld, und ehe man sich versah, war der Rohbau fertig, die Stockwerke genau aufeinandergesetzt, aus übergroßen rauhen Steinen, mit zugigen Fensterlöchern, ruinenhaft, ruinös. Es war sein Haus, und sie sollten darin wohnen, sie waren ja seine Familie, und sonntags lud er sie alle in seinen Benz und fuhr hin. Der Wind riß ihnen die Haare ins Gesicht, als sie vor dem schroffen Gebilde standen, und kaum weniger, als sie durchs Haus stiegen, die Hände in den Taschen, auf geländerlosen Treppen, durch kahle Flure und alles ansahen und sich vorkamen wie Figürchen, die über einen Grundriß spazierten. Der Mann erklärte ihnen das Haus von vorne bis hinten und
von oben bis unten, das Hallenzimmer, in das mehrere Tischtennisplatten gepaßt hätten, das Turmzimmer, das zwei Stockwerke hoch war, immer neue Räume taten sich auf, die alle gleich aussahen, grau und düster, und toll, sagten die Kinder, und wo kommt mein Zimmer hin, und drückten ihre Jacken an den Körper. Als sie wieder daheim waren, schrumpfte das Haus auf Kieselsteingröße, wurde zu einem Punkt im Neubaugebiet, hoch oben am Hang, zu einer Zelle im Gehirn des Mannes, der manchmal von Türklinken sprach und von Bodenbelägen, er hätte von allem das Teuerste gekauft, erzählte er, zumindest aber das Zweitteuerste, und er lehnte sich in den Türrahmen, klemmte sich mit schräg gestemmtem Arm hinein, als sei er noch jung. Die Kinder balancierten über die schwarze Linie, die den Küchenfußboden teilte. Das neue Haus war nicht ihr Haus, sondern seins, es ging sie nichts an, hatte mit ihnen nichts zu tun. Sollte er doch dort einziehen, dann hätten sie ihre und er seine Ruhe, und er könnte im Turmzimmer Whisky trinken, in der Halle auf dem Kotflügel des Benz sitzen und sich mit dem Zollstock in die Hand klopfen oder gegen den Kopf, wenn er wollte. Aber er zog nicht ein und baute auch nicht weiter an dem Haus, das jahrelang als Rohbau stehenblieb, auf den Fenstersimsen wuchs das Moos, die Dachrinnen lockerten sich, im frischgedeckten Dach fehlten schon die Ziegel. Aus den Dachfenstern hätte man im Tal das alte Haus sehen können, wenn nicht auch sie zugestaubt gewesen wären. Manchmal wanderte die Frau nachts mit Paul und Lene hinauf; dann saßen sie am Boden des Turmzimmers, jeder an eine Wand gelehnt, und tranken das mitgebrachte Bier, und die Frau sagte ich weiß nicht, ich weiß nicht, und die Kinder wußten nicht, was es da zu wissen gab. Schließlich trieb das
Haus den Mann fast in den Ruin, und er verkaufte es zu einem Schleuderpreis an einen Freund.
Hinterm Ohr hatte die Frau einen dunklen Punkt, der hatte die Form von Wuppertal: länglich-rund von Barmen bis Elberfeld, ansonsten franselig, mit Ausläufern. Lene sah die Autos auf Schnellstraßen aus dem Punkt herausfahren, abends, wenn der Schatten des Ohrs über ihn fiel. Senkrecht und halbrund erhob sich die Ohrwand neben dem Punkt, oben breitete das Ohr sich schirmartig aus, mit gefalztem, rötlichem Rand. Lene strich daran entlang, berührte dann leicht den Punkt, mit der Spitze ihres sensibelsten, des mittleren Fingers. Der Punkt stand etwas ab von der umliegenden Haut, war härter, ledriger, schimmerte. Die schwarzen, rauchigen Haare bogen sich um ihn herum. Das kitzelt, sagte die Frau, dabei war es kein Kitzeln im eigentlichen Sinn: alles, ihr ganzer Körper, strebte dem Punkt entgegen, zog sich zum Punkt hin zusammen, die Schulterblätter hoben sich zu ihm, die Kopfhaut spannte sich, glitt zum rechten Ohr, die Hände und selbst die Gardinen am Fenster schienen dem Punkt entgegenzuflattern, die Schränke ruckten knackend zu ihm hin. Je unmerklicher zudem die Berührung, desto eisiger der Schmerz, den sie verursachte und der sich wellenförmig ausbreitete, ins Ohr, in die Kopfhälfte, über die Schulter. Trotzdem rührte die Frau sich nicht. Sie saß auf der Kante des Bettes, hatte einen Fuß auf die Ferse gestellt und betrachtete ihn. Die Skelettform und selbst die kleineren Knochen waren deutlich durch die Haut zu erkennen, die sich wie eine Plastikfolie über sie spannte, gelblichbleich, die Hornhaut tiefrot, wie entzündet. Jeder Zeh sah anders aus, alle waren spindeldürr, an den Gelenken verdickt und auf den
Mittelzeh hin orientiert, neigten sich ihm entgegen, der selbst aber auch nicht gerade war, sondern im unteren Glied einen Knick hatte. Vom großen Zeh löste sich der gelbe, aufgeschwemmte Nagel, vom kleinen sogar die Haut. Wie sollte sie mit diesem Fuß noch laufen? Und wohin? Zum Glück hatte Lene nicht ihre Füße geerbt, sondern ganz eigene, deren Ebenmaß die Frage der Vaterschaft hätte aufwerfen können. Schon an den Füßen des Säuglings, die durch die Fettpolster noch wie geschwollen wirkten, bildeten die Zehenkuppen vom kleinen bis zum großen Zeh eine gerade Linie: aparte, wenn nicht gar elegante Füße, anders als die sichelförmigen Unterschenkel, die ausladenden Oberschenkel, der runde Bauch, die speckigen, dreifach durch Falten geteilten Arme. Auf das Ehebett im kühlen Schlafzimmer hatte sie das halbnackte Kind gelegt, ihm eine Kuhle im Deckengebirge gemacht, es dann wieder an den weißen Berghang gelehnt oder flach aufs Laken, mal hierhin, mal dorthin, so wie der Mann sie manchmal drehte und wendete. Lene hatte sie angelächelt, mit ihrem simplen Babygesicht, in dem alles gleich groß war: Augen, Nase, Mund, der Kopf dahinter war leer, ein Gehäuse, vielleicht eine inhaltslose Struktur, und die Frau, ihr Gesicht, ihre Gesten fielen in diesen Raum und waren dort einen Moment lang die Welt. Lene hatte das Kinn auf die Brust gelegt, den Mund leicht geöffnet, sah an ihr vorbei. War da wer? Die Frau sah sich schnell um: nur der Putz. Beruhigend lächelte sie auf das Kind ein, kniete sich dann vors Bett und also vors Kind und begann es zu liebkosen, die Fußsohlen, glatt wie Eis, die Kniebälle, dann griff sie in die sahneweichen Oberschenkel, das schlaffe, kühle Gewebe. Lene spreizte die angewinkelten Beine, streckte sie mit Schwung nach vorn, winkelte sie wieder an usw. Die Frau schnappte nach den Oberschenkeln, knetete sie, die aussahen wie die einer alten Frau und auch so rochen, nach
Urin, aber der Bauch war ein Kinder-, ein Lenebauch, und sie drückte ihr Gesicht hinein, es paßte genau, tauchte die Nase tief ins Warme und Weiche. Das Kind griff sofort in ihre Haare, riß an den Schläfenhaaren, ein scharfer Schmerz, hü sagte es und hu und riß den Mund so weit auf, daß das runde Kinn fast verschwand. Auch jetzt hielt Lene die Haare der Frau zwischen den Fingern, aber natürlich war es nicht mehr dieselbe Lene, auch die Haare waren längst ausgefallen, diese waren völlig andere Haare, die auf einer anderen Kopfhaut wuchsen. Sie strich sie hinters Ohr, wie die Frau es nicht mochte, ihre Ohren sollten immer bedeckt sein, wenn auch nur minimal, von wenigen Strähnen. Lene, die hinter der Frau saß, umarmte sie, damit sie sich die Strähnen nicht wieder vors Ohr schieben konnte. Sie lehnte sich an den Rücken der Frau, spürte den BH-Träger und steckte die Nase hinter das Ohr, wo der Punkt war. Nicht den Fisch, bat Lene, dabei lag ihr an Fischen nichts, nicht einmal in der Dose, dem Fischgehäuse, konnte sie ihnen etwas abgewinnen, trotzdem legte sie für diesen Worte ein, drei, erflehte – sie wußte nicht warum – seine Verschonung. Vergebens. Ungehört trieb der Satz durchs streifige Nachmittagslicht, ungerührt, ohne hinzusehen, zog der Gesell am Band, an dessen Ende der gefangene Fisch dem Beckenrand entgegenschoß, immer noch mit der Schwanzflosse paddelnd, zog er einen Chromstrich durchs wellige Wasser. Im Schwimmbad war nicht viel los, vereinzelt, einsam zogen sich Schwimmbadheroen die Flossen über, starrten in müden Wind. Lene saß mit dem Gesellen an einem der weißen Tischchen, die so nah am Becken standen, daß sie, von ferne und aus geeignetem Blickwinkel betrachtet, nach Tischart über dem Wasser zu schweben schienen. Überall blitzten kleinste Wellchen silbern auf, als werde der Fisch auf seiner letzten Bahn von seinesgleichen begleitet oder
als würfe er selbst mit diesen Reflexen um sich, da habt ihr meine Haut und Hautfarbe, dies ist mein Abschieds-, mein Todesgeflimmer. Lene ruckte herum auf dem Stahlstuhl, schlug die Beine über- und übereinander. Egal hätte er ihr sein sollen, der Fisch, denn hier ging es um den Gesellen, auf den kam es an, kein Lehrling, Gesell, tönte es noch aus ihr, dann stießen ihre Arme, mit denen sie sich gerade selbst zusammenschnüren wollte, an die metallene Lehne, die die Kälte des Nachmittags gespeichert hatte, und gleichzeitig sah sie im Augenwinkel den hellen Luftbogen des Fisches, der am Beckenrand festgehangen hatte. Der Gesell ließ ihn am Boden zappeln, still gekrümmt verfolgte sie seine Halbkreishüpfer, bis ihr Blick dem Bewegungsknäuel entkam und sich an den Winkeln der Bodenplatten davonhangelte. Darüber, über allem und direkt neben dem Dreimeterbrett, entfaltete sich das Gesellengrinsen, das eigentlich klein war, angedeutet, nur seltsam in die Luft projiziert, der Gesell war nicht böse, sondern, im Gegenteil, lieb, helle Hüte trug er, wollte sie nur ein bißchen necken und mit ihr scherzen, und dann zog er den Fisch auf den Tisch und ritzte dem immer noch Lebenden die Haut auf, enthäutete ihn. Lenes Fischmitleid war, nachdem sie es in einem Schwall über die Fliesen gegossen hatte, daselbst verdampft. Sie ließ Fingernägel über Stuhlbeine klickern, arhythmisch, legte die Füße auf den Tisch neben den Fisch und beobachtete wie durch ein Fernglas dessen Häutung und Zerlegung. Auch als beim letzten Abstreifen der Haut das Innere, das immer noch Fischform besaß, sämtlichen Regeln fischiger Zurückhaltung trotzend einen klagenden Laut von sich gab, schlug sie lediglich flachhändig gegen die Armlehnen: ich geh schwimmen, und erhob sich, wenngleich bereits die Worte sie frösteln machten. Im Nacken den Blick des Gesellen, schritt sie das Wasser ab, eine bräunliche Brühe, in der bunt, aber
doch wenig einladend der Müll dümpelte, egal, sie konnte jetzt nicht zurück. Auf der Treppe, die ins Wasser führte, überholte sie einen Jungen, einen Boy, dachte sie, der im Herabsteigen aus einer Schale Pommes frites aß, hochkonzentriert, eine Stufe, eine Pommes, die er zwischen den Spitzen der Fingerkuppen hielt. Lene wandte sich noch zurück zu ihm, betrachtete ihn bis hinab zu den Knien, wohin das Wasser jetzt schwappte, oben die weiße Schale vor knallbrauner Haut, da fuhr sie zusammen: He da, riefs vom nahen Beckenrand, doch sie war nicht gemeint; die Brust gebläht, die Trillerpfeife in der Hand, hielt der Bademeister inne und ließ, als werde der Film zurückgedreht, alles wieder sinken, hallo, rief er, im Wasser wird nicht gegessen, und der Junge erschrocken: oh, nicht? Schon warf er die ganze Schale mit den Pommes frites an der eigenen Schulter vorbei aufs Wasser, wo sie elegant mit der Kante auftraf: blaßgelbe Pommes wirbelten umeinander, formierten sich zu Zufallsmustern – einmal erschien eine 11 –, bevor sie an den Beckenrand gespült wurden. Lene, die ohnehin das Gefühl hatte, in einer riesigen kalten Holsteiner Linsensuppe zu stehen, bekam Hunger. Zwischen Lene und dem Mann war das Schweigen, spannte sich zwischen sie wie ein Laken, weiß und glatt; wo sie einander begegneten, sich näher- oder in die Quere kamen, in der Küche, auf der Straße, in der Werkstatt, es war sofort da, erschien aus dem Nichts, war ja auch selber ein Nichts, zu spüren, aber nicht zu berühren, eine Tonlosigkeit, sehr angenehm, breitete sich aus, um sie herum, sank auf die Möbel und auf den Boden, hing zugleich zwischen ihnen, in Schulterhöhe, nur ihre Köpfe ragten daraus hervor. Die anderen sagten sich dies und das, redeten jeder mit jedem, sternförmig in alle Richtungen, sie aber schwiegen einander an, ignorierten einander, waren die Meister des Schweigens. Hochaufgerichtet gingen sie umeinander herum, das Laken
zwischen ihnen blieb gespannt, makellos, kein Wort, keinen Blick, keine Geste weit ließ es sich ausbeulen, immer hielten sie den Abstand ein. Die anderen gerieten aneinander, rempelten sich an, unterbrachen oder stritten sich, sie hingegen wichen einander nicht einmal aus. Eng beieinander verliefen ihre Lebensläufe; sie parallelisierten sie, ließen keine Abweichung zu, damit sie sich nie, weder jetzt noch irgendwann, in einer der Zukünfte, kreuzten. Wenn sie dieselbe Seife benutzten, dieselben Schalter betätigten, so setzten sie zwar, was unvermeidbar war, ihre Fingerabdrücke direkt aufeinander, und doch verlief dazwischen die Grenze, die immer da war, flexibel, hochbeweglich, transparent. Sie stießen sich ab wie zwei Magneten, zwei Süd- oder doch eher Nordpole, und es war größte Ferne zwischen ihnen, die von ihrer Gleichartigkeit herrührte. Zwei kühle Titanen, beherrscht, präzis, konzentriert, die einander höchste Aufmerksamkeit schenkten, damit nicht der Anschein entstand, sie würden einander auch nur bemerken oder wahrnehmen. Das Schweigen war ein Pakt, ein geheimes Einverständnis, das Frage- und Antwortspiel der anderen nicht mitzuspielen, sich den Kontakt miteinander zu ersparen, ein Schweigegelübde wie in strengen Orden; ihr Umgang war rein, von nichts Menschlichem getrübt. Auch von außen richtete man nur mit Vorsicht das Wort an sie, um zu vermeiden, daß sie indirekt, über einen Dritten, doch miteinander sprachen. Die anderen, auch Freunde, Gäste, behüteten das Schweigen, es war ihnen heilig, niemals verwickelten sie die Schweigemeister in ein gemeinsames Gespräch. Das Schweigen war golden, nicht silbern wie das Reden; es war Lenes Schweigen; sie hatte sich darin eingegossen wie in Plexiglas, hatte das Schweigegebot erlassen, und der Mann ging darauf ein, das Schweigen war
auch seine Sprache, Lene und er verstanden sich; sie war ja auch sein Lieblingskind gewesen. Tag für Tag wuchs das Schweigen an, schuf zwischen ihnen einen Zwischenraum, eine Vakuumblase, drückte sie auseinander und schob sie an fernste Punkte, wo jeder für sich in Ruhe hantierte. Dazwischen erstreckten sich freie Flächen, wo Gedanken und Winde zirkulierten, und alle, auch die Frau und die Brüder, bekamen mehr Luft. Frei und offen war das Schweigen, undurchdringlich auch, und sie wurden einander fremder und fremder, vergaßen sich, Lene dachte nicht an den Mann; sie dachte an vieles, an dies oder das, an Vektoren und Typen, nicht an ihn. Sie dachte nicht an ihn. Nach Jahren fuhr sie den grünen Suzuki des Mannes, den hatte er Hannes, der wiederum Lene geliehen, weißes Kleid auf hartem Sitz, fourwheeldrive für die Baustellen, Hendrix übertönte den Motor, hell im Suzuki, die Haare fliegend, so sah der Mann sie oder sie ihn zum letzten und allerletzten Mal, was sie nicht wußten, am Straßenrand er, die Knie gebogen zum Schritt, die Hände im grauen Blouson, ausdrucksloser Suzukibesitzer, sie -fahrerin, sie, seine Lene, fuhr seinen Wagen, Blattfederung, Sperrdifferential, cross-town traffic, aus dem offenen Fenster hing die Hand wie ein Winken, Lene schaltete hoch.
Von Natur aus waren die Lippen der Frau sehr rot; sie überdeckte das Rot mit einem weißen, dann mit einem braunen Lippenstift, versuchte den Lippen den Farbton der übrigen Haut zu geben, damit sie im Rest des Gesichts untergingen, vielleicht gar nicht mehr auffindbar wären. Leider haftete die Doppelschicht nicht gut; wenn die Frau die Lippen spitzte oder verzog, riß die Farbe, löste sich von der Haut, hing nur noch lose zwischen den Lippenfalten, als Fetzen oder Krümel. Vom
Mund her schien das Gesicht der Frau sich aufzulösen; das Mundloch, das schon da war, verstopfte sie mit der Zigarette. Lene hob ihr das Feuerzeug entgegen, ovales Handding, das rundes Mundding berührt, der Funke sprang über. Die Frau saugte die Flamme zu sich, als wolle sie sie schlucken; sie war meistens kalt, die Frau, oft auch ihr, und konnte sich an nichts als an der Zigarettenglut wärmen. Sie saßen sich gegenüber auf gepolsterten Stühlen, wie immer, Lene links, rechts die Frau, dazwischen der glänzende Tisch. Die Gesichter einander zugewandt, die Profile entgegengesetzt, Silhouetten gegen das Fensterlicht, ein Vasen-Vexierbild, allerdings mit unförmiger Vase: die Frauen sahen sich nicht im geringsten ähnlich, was schade war und auch wieder nicht. Die Frau war einmal schön gewesen; die Schönheit steckte ihr noch in den Knochen, blitzte noch auf, wenn die schwarzgrauen Locken die Ohren berührten, die Nase sich kräuselte, die Fingernägel über die Tischplatte strichen. Aber Schönsein war kein Spaß, machte das Leben nicht leichter, sondern, im Gegenteil, schwerer: Schönheit machte eine Frau unnahbar für die netten Männer, zog die James Bonds und John Waynes an. Schöne Frauen bekamen keine guten Männer, und das war das wichtigste, daß Lene einen guten Mann bekam oder, besser noch, gar keinen bzw. viele auf einmal, die sie umlagerten, während Lene sich auf einem Diwan räkelte und an ihrer Zigarettenspitze sog. Einer würde ihr das Glas halten, einer den Ascher, einer die Waden massieren, und alle trügen Anzüge, schütteres Haar und wären von Lenes Charme ganz bezaubert. Männer sollte es in ihrem Leben immer nur in der Mehrzahl geben. Leider hatte Lene keinen Charme. Wichtig war auch das Rauchen und Trinken, exzentrisch mußte man sein und leidenschaftlich wie Franchise Sagan oder Edith Piaf, eine Femme fatale, ein Enfant terrible mit Negligé
und Necessaire und Chaiselongue und Parapluie. Lene wollte sich auch Mühe geben, so zu werden und dem Wunsch der Frau zu entsprechen, befürchtete aber, daß schon ihre blauen Augen sie dabei behindern würden, und erst recht ihre vielen Rundungen, alles an ihr war rund, was nur rund sein konnte, die Brüste waren Tennisbälle, die sie beim Gehen fast aus dem Gleichgewicht brachten, die kugelrunden Fingerkuppen paßten genau in den runden Bauchnabel, die Knie sorgsam ausgepolstert, von den Pobacken ganz zu schweigen, was auch wieder praktisch war beim Sitzen oder Verprügeltwerden. Was ihr aber fehlte, waren sowohl Charme als auch Eleganz und das gewisse Etwas schon sowieso. Sie hatte nicht die leiseste Idee, wie sie sich bewegen sollte; zum Gehen und Stehen und Sitzen hätte sie Hilfestellungen gebraucht, unsichtbare Tanzlehrer, die sanft nach ihren Füßen griffen und sie so setzten, wie die Eleganz es erforderte. Auch der ausdrucksvolle Blick, den sie vorm Spiegel einübte, aufgerissene Augen, der Mund leicht geöffnet, brachte sie nicht mal zum Lachen, und sie preßte sich gegen die Tischkante, so daß der Busen auf dem Tisch zu liegen kam. Dein T-Shirt, sagte die Frau und drückte, ohne hinzusehen, die kaum halbgerauchte Zigarette in den Aschenbecher, wobei sie lediglich den Filter umknickte, während die Glut weiterschwelte. Ein Rauchfaden stand in der Luft, verdickte sich oben, verwirbelte, brach manchmal ab. Lene, die im Schneidersitz saß, blies einen Rauchring in seine Richtung, der ihn jedoch nicht traf. Immer wieder glühte in der liegenden Zigarette zischend ein Tabakfädchen auf, während die Frau schon nach der nächsten griff. Keiner von Lenes Ringen traf den Rauchfaden; dafür lösten sich langsam die weißen Steine aus der Mauertapete und tanzten, wenn Lene die Augen zusammenkniff, mit den Rauchringen Ringelreihen. Der Mann trank seinen Dimple nie aus der Flasche, sondern grundsätzlich aus seinem Spezial-Dimpleglas, das immer exakt
bis zum Strich gefüllt war, 50 cl. er trank ihn on the Rocks und auf dem Sofa, da hatte er seine Prinzipien; als Boß mußte man klare Prinzipien haben, Verantwortung, Gerechtigkeit, Firmenloyalität, aber die hatte er und war überhaupt die ideale Führer- und Unternehmerpersönlichkeit; schon als Junge, als Dreikäsehoch, als der Damm des nahen Stausees zerbombt worden war und die Stadt unter Wasser stand, hatte er aus den Trümmern ein Floß gebaut und als Fährjunge den Leuten Geld und Zigaretten aus der Tasche gezogen. Er hatte immer die meisten Zigaretten, sogar dem Neger, der einmal plötzlich im Bett seiner entsetzten Mutter lag, hatte er gleich eine angeboten. Thanks, hatte der uniformierte Neger gebrüllt und ha! ha! ha!, genau drei Mal, in Richtung der Schlafzimmerlampe, jedes ha lauter als das vorhergehende, der Mund war immer breiter, die Zähne weißer geworden, übergroß im schwarzglänzenden Gesicht, und die Stiefelspitzen waren gegen die untere Bettlatte gestoßen, komplett bekleidet lag er auf dem Bett, auf der Tagesdecke, neben ihm die Zigarette des Mannes, unbeachtet und absturzgefährdet. Später hatte der Neger ihm eine ganze Schachtel Camel geschenkt, so daß der Mann nicht mehr wußte wohin mit den Zigaretten; noch später hatte Roberto Blanco ihm sogar das Du angeboten, hatte sich in einer Bar in Düsseldorf einfach neben ihn gesetzt, saß plötzlich da und verbreitete um sich herum eine scharf begrenzte Geruchswolke, süßlich-schneidend, die im Gehirn des Mannes zugleich ihren Gegengeruch erzeugte, einen Dachgeruch, nasser, abgasdurchsetzter Wind. Das Barlicht schimmerte auf Robertos runden Wangen, ich bin Roberto Blanco, hatte er sich ihm zugewandt, und wer sind Sie, zuerst hatten sie sich noch gesiezt, aber Blanco hatte die Arme ausgebreitet, als wolle er ihn umarmen, und der Mann hätte sich vielleicht auch umarmen lassen, hineinfallen lassen in diese warme Schwärze,
die das Hintergrundschwarz hinter den Fernsehbildern war. Roberto jetzt plötzlich hier neben ihm, dabei war der Fernseher doch daheim und sie beide in Düsseldorf, aber eigentlich war ja auch nichts dabei und Blanco ein Mensch wie jeder andere, wenn auch sehr schwarz, und der Mann war ja schließlich auch nicht irgendwer, kein Nobody, sondern ein Meister und Chef, auch Roberto sah das so. Kennst du mich vom Fernsehen, fragte er, macht nichts, und lächelte sein Schokolächeln; ist ein Job wie jeder andere. Dachdecken war natürlich kein Job wie jeder andere, aber das behielt der Mann für sich und trank seinen Ballantines; Dimple hatten sie hier nicht. Zu Hause erzählte er vielen von Blanco, der Bar und sich selbst, auch der Frau und den Kindern, verschwieg den Ballantines in immer den gleichen drei Sätzen; er wollte es kurz machen, war ja schließlich kein Roberto-Fan, niemand sollte das denken, weshalb er auch grinste, ein bißchen, nicht breit: Blanco und er, der blasse Dachdecker, wie kurios.
Hannes/Lene/Hannes – so gleich waren ihre Augen, blau, kürbiskernkonform, sie hätten exakt aufeinandergepaßt. Zum Glück waren immer die Nasen als Abstandhalter dazwischen, und auf der Mauer saßen die Geschwister vertikal zueinander, er seitlich, an das abwärts führende Dachrinnenrohr gelehnt, sie mit zur Hofseite hängenden Beinen, die bei jedem Baumelversuch an die Wand stießen. Die Sonne schien überallhin. Zwischen ihnen: ein Riß, daumenbreit, in dem stiegen sechsfüßige Mauerameisen herum, in langen Bahnen, gegenläufigen Ketten, einander endlos begegnend, zuweilen überschreitend. Sinnlos, zweckfrei, wie es schien, wandelte dies Ameisenvolk hin und her und trug dabei mit sich: nichts, höchstens selten eine seiner gräßlich, ja widernatürlich
gekrümmten Toten. Aus Ehrerbietung? Als Proviant? Lene und Hannes wollten es lieber nicht wissen. Die Schornsteine hockten auf den Dächern wie Männer. Lene versuchte, mit der Hand die Sonne zu verscheuchen, traf dabei einen Kohlweißling, blödes Vieh, und stieß sich den Fuß, der immer meinte, alles mitmachen zu müssen. Sie zog ihn in ihren Schoß. Gestreifte Welt: die Einfahrt, das Haus, das sich gegenüber erstreckte, die länglichen Flächen der Mauer, auf der sie steckten wie Briefklammern auf dem Papier, als würde die Mauer, wenn sie sie verließen, sofort auseinanderfallen. Die tragen Turnschuhe. Hannes räusperte sich, um seine wegkippende Stimme aufzufangen. Eine Ameise spazierte ihm über den Finger. Von Adidas. – Laß mal sehen, Lene wollte sich zu ihm beugen, ließ sich dann aber lieber nach hinten fallen, bis sie von der Mauer hing, nur ihre Unterschenkel noch oben auflagen, tauchte ein in die Welt des Verkehrten. Hier war Schatten, wurde kopfgestanden, es war wie sonst. Die Arme störten, tasteten herum wie Fühler, ließen sich nirgends lagern. Der Rumpf: schwer, schlaff hängend, plump. Zuunterst der Kopf, in dem das Blut zusammenfloß. Als sie wieder hochkam, war der Gesell da. Schlank, mauerhoch, tänzelnd, bot ihr in weitem Ausschnitt seine Schlüsselbeine dar. Sofort schlossen sich ihre Lider, aber er blieb, lehnte sich an die Kante des Hauses. Hoi, sagte er – ein neuer Gruß? Oder hatte er was am Mund? Auch das Lächeln war anders als sonst, verschlossen, beherrscht, mitleidig vielleicht ob Lenes unwürdiger Verrenkungen. Am Boden der Schatten: unvollständig, als sei es nicht seiner. Hi, murmelten Hannes und sie, die sich längst von außen sah, den Kopf, aus dem das Blut nicht abfloß, die Hände, die die Mauer tätschelten, die miteinander verhakten Füße, vor kurzem noch das einzig Sichtbare von ihr.
Der Gesell rieb den Rücken an der Kante und öffnete sein Grinsen, langsam, vampirhaft, aber nur, bis etwas Schwarzes, Dünnes zwischen den Zähnen hervortrat, ein Fädchen, das er ergriff und an dem er zog, es wurde länger, er zog noch immer. Lakritz. Lene schob die Knie gegeneinander. Er: zog. Hatte er eine Rolle im Mund? Das hätte man sehen müssen. Sollte sie ihm das Lakritz aus dem Mund essen? Würden sie es zwischen sich spannen, ein Stromkabel, durchhängend jetzt im Sommer, im Winter straff? Ein Knoten erschien zwischen den Lippen, ein zweiter Faden war an den ersten geknüpft, dessen anderes Ende schon zwischen den Waden des Gesellen pendelte. Der Lakritzstrick begann zu glänzen, bald sehr, war auch nicht mehr tiefschwarz, sondern braun, und plötzlich wußte Lene, wo der Gesell ihn verstaute und wohl auch verdaute. Tief aus dem Geselleninneren war das Lakritz aufgestiegen: Lava, die ihm aus dem Mund rann, ein Konzentrat seiner selbst. Lene hatte sich vorgebeugt. Sie schloß ihre Lippen, die feucht waren. Ein Sprung. Hannes landete tief in den Knien, kein Blick. Er ging. Lene schluckte ihre Spucke. Hau doch ab, rief sie dem Bruder hinterher. Er drehte den Kopf, bis sie seine Nasenspitze sah. Dem Gesellen glitt ein letzter halbverdauter Knoten über die Lippen, die sich triumphierend in die Breite zogen und sich dann plötzlich, als sei etwas Überdehntes gerissen, zu einem kleinen Rund kräuselten.
Die Frau war eine Haus-Frau, sie gehörte dem Haus, das sie nicht mehr hinausließ, Fenster und Türen hatte es zugezurrt, die Wände rückten enger zusammen, das Haus umschloß die Frau wie eine zweite, weite Haut, in der sie herumgehen, aus der sie hinausschauen konnte, mehr nicht. Die Wände waren die Grenzen, die sie nicht überschreiten konnte, jahrelang
bewegte sie sich hin und her, vor und zurück im großen liegenden L des Hauses; das Draußen war ihr versperrt. Auch die Haut der Frau zog sich enger zusammen, nahm ab, spannte sich über die Knochen und das magere Fleisch, als wolle sie die Frau aus sich herauspressen; der Frau wurde es eng im eigenen Leib, die Haut wurde dünner, riß fast an den Gelenken, wölbte sich an anderen Stellen wieder auf, bildete Hügel, kleine Berge, Vulkane, die oben ein Loch hatten, die, wenn man sie drückte, ausbrachen, leuchtgrüne Lava spritzte meterweit durch die Luft, gegen den Schlafzimmerschrank, an dessen Tür sie langsam herabrann. Die Frau, die auf der Bettkante saß, starrte das Rinnsal an, das sich in eine durchsichtige und eine sehr grüne Komponente teilte; zielsicher bahnte es sich seinen Weg nach unten. Das also war sie, ihr Innerstes oder zumindest ein Teil von ihr, das kleine bißchen Zuviel, das aus der Haut hatte fahren wollen und ohne das es sich eventuell leichter lebte. Noch ein Druck auf den Beinvulkan, dem sich aber nurmehr ein träger Tropfen Frau entlocken ließ. Sie, das war dieses Lebewesen, eine Lebende, eng begrenzt, die zusammenstieß mit den Toten, der Kleidung, der Bettkante, dem ganzen unerbittlich zusammenpassenden Schlafzimmermobiliar, Birke-Furnier. Die Haut der Möbel berührte die Frauhaut, die sich zusammenzog, Hautkrampf, überall zerrte sie an der Frau, an den Fesseln, den Handgelenken, besonders aber am Hals, der ohnehin dünn war, die Frau war auf diesen Schlangenhals stolz gewesen, dabei mußte durch den Hals ja auch die Luft, ihre Atemluft, die sie brauchte, zum Leben und Zigarettenanzünden und überhaupt. Am Hals zog die Haut sich zusammen und preßte der Frau die Luft ab, die nur noch in dünnem, fädigem Strom in die Lunge gelangte, fast blieb die Lunge leer, die Frau saugte Luft ein, schnappte nach mehr, stieß sie ruckartig aus. Hechelnd atmete die Frau, der Hals zog sich zu wie ein Gummischlauch, bloß
nicht ausatmen, nichts entweichen lassen, sie brauchte mehr Luft. Vor sich das Furnier des Schranks, sie stand auf, kippte fast zur Seite weg, die Birkenmaserung baumelte ihr vor den Augen, der Schrank so schräg oder sie. Im Gesicht dieses Kribbeln, brodelnd das Herz, halb fiel sie zurück aufs Bett, über dem das Kreuz hing, das Zeichen des Todes, sie sah es aus den Augenwinkeln, ging jetzt, schwankend, gebückt, sich festklammernd am Bett und an der Kommode, wo ihr Spiegelbild erschien: die Haare schwarzgrau gestreift, die Augen verwackelt, daneben die Flasche, das Glas. Lenes Hunger war nicht heiß, sondern frostig, er kühlte sie beständig von innen aus, ließ sie sich hohl und hallend fühlen, als seien ihre Innenwände aus Metall wie die Münzen zwischen den Fingern, das Markstück, die Groschen, silbern, grün, rauh, sie rieb sie zwischen den Kuppen, das eigene, ureigenste Geld, das ihren Hunger stillen würde. Sie tippte mit der Mark auf die Theke, schräges, gebogenes Plexiglas, brusthoch, an das sie sich lehnte und schmiegte, warm und fettig wie alles in der Grillstube, wie die Hähnchen, die sich im Glaskasten drehten und nachts, wenn keiner es sah, durch den Raum flatterten, wie die Currywurst rotweißrot, die automatisch vom Wurstschneider zerteilt wurde. Lene klickerte mit dem Geld auf der Theke, klickerdiklick, durchs Plexiglas schaute sie dem Grillstubenmann auf den Perlonkittel, der nie, selbst mittags nicht, sauber war, nur erschienen die Ketchupspritzer immer an anderen Stellen. Mit feuchten Händen griff der Mann zur Geflügelschere, er triefte, Tropfen liefen ihm über die strähnig behaarte Glatze ins breite Gesicht, war es Schweiß oder Fett, das aus der Friteuse als Dampf aufstieg und sich am Imbißmann absetzte, ein Glitschmann, Lene war froh, daß die Theke sie trennte, und fraß ihm doch jederzeit aus der Hand. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, sabberte Unverständliches über der Friteuse, Nerv,
Geklapper, glaubte Lene herauszuhören und hoffte, daß die Feuchtigkeit seiner Worte im Fett verdampfte, andererseits wollte sie Pommes, selbst wenn sie von seinem Schweiß und Speichel durchtränkt waren, essen, nur essen, und sie legte das Markstück, das immer ihres bleiben würde, in den Geldteller, warum nahm er es nicht, ihr Geld, warum stand sie jetzt, am hellichten Nachmittag, schon wieder hier, jetzt, da das Fett noch kalt war und die Grillstube leer, wie gestern und vorgestern. Luft traf sie von hinten, Straßenluft von der Eingangstür, Schritte, jetzt stand einer neben ihr, ein Großer, du auch hier, sagte er: Hannes. Sie wandte den Kopf, mußte ihn kippen, weit wie nie, war das Hannes oder ein Mann; er streckte den ganzen Raum nach oben, ließ Lene in sich zusammenschrumpfen, und? wie? Er war ausgezogen, lebte bei Freunden, mal hier, mal da; auf einmal hatte er Freunde und wuchs wie verrückt, die Jeans hingen kaum noch über die Knie, versehentlich war er zum Mann geworden, keine Absicht, murmelte er und sah auf die Preistafel, was hast denn bestellt, klein der Kopf zwischen ausladenden Schultern, Stupsnase, kindliches Kinn. Doppelt Pommes, sagte er, Ketchup, Currywurst, Senf, und stand schon am Spielautomaten, als Lene noch wo wohnstn jetzt fragen wollte oder wie gehts. Sie schaute zu, wie er Tasten drückte, dann stand Karotte neben Karotte neben Karotte, Superwin, 1000 Punkte, Geklimper im Schacht, das Ganze noch mal; er legte das Geldhäufchen auf die Theke: ich zahl für sie mit. Ich rauche zuviel, sagte er, als sie draußen auf der Fensterbank saßen; sie aß seine, er ihre Pommes und drehte sich schon wieder eine, er habe jetzt seine Glückszahl gefunden, die 19, kommt gut, Glückszahl kommt gut, was macht denn JR, so nannten sie den Mann, Entzug, hoho. Er selbst trinke auch ganz gut, Amaretto, abgefahrenes Zeug, sie
solle doch mal vorbeikommen. Wo ich wohne? tja, wo wohn ich denn gerade. Bald sei er 18, dann Auto, dann 19, also Glückszahl, verstehste? Eine Zeitlang hielt er mit seinen Kumpanen die Grillstube besetzt; man traf sie zu jeder Tages- und Nachtzeit dort an; Hannes schien dort auch zu wohnen, hatte vielleicht ein Notoder Feldbett neben dem Klo. Sie spielten Doppelkopf, tranken, immer am selben Plastiktisch, auf den sie neben die Karten auch die Füße legten. Hannes saß mal der Wand, mal der Fensterfront zugewandt, auf den Tisch gestützt, spielkartenbleich, die Haare strichen über die Schulter. Einmal, als Paul hereinkam, um ihn etwas zu fragen, sackte Hannes, der gerade stand, bei seinem Anblick zu Boden, krabbelte um die Tischecke herum zu ihm, kichernd und bellend, und hob, als er bei ihm war, das Bein. Dann wieder saß er mit dem Rücken zur Theke, zupfte eine Karte aus seinem Blatt, balancierte sie bis zum Stapel in der Mitte, legte sie ab wie etwas Zerbrechliches. Schließlich kam er nicht mehr, nur sein Parka hing noch über einem der Stühle. Tage später fehlte auch der. Die Geliebte des Mannes war neu, eine Aus- und Einsteigerin; sie verließ den Benz in einer Drehbewegung, glitt geschmeidig in ihn hinein, schlug Benztüren zu. Dann wieder sprang sie aus dem noch nicht stehenden Wagen, gab der Tür einen Klaps, eine Sportlich-Drahtige, burschikos, im Gesicht etwas grau; sie ging neben dem Mann vorm Haus auf oder ab, als sei die Straße ein Laufsteg oder die Einfahrt zur Garage eine lange Bühne. Die Frau sah sie von innen, lief immer gleich ans Fenster, wenn eine Schulter der Geliebten dort auftauchte, wollte das Bild des Paares erhaschen und sich verkleinern sehen: der Mann ein breit flatterndes Rechteck, die Geliebte strichschlank, kurzes Haar, undefinierbar blondgraubraun, so daß die Frau ihre eigene Schönheit aus den
Ohr- und Nasenlöchern herausblitzen spürte; sie hatte sich bloß ins Innere der Frau zurückgezogen, wartete nur darauf, sich wieder breitzumachen auf der Außenwand der Frau, als Haargekringel, Zahnweiß und Augenglanz, nicht als Nasenglanz natürlich. Die Finger der Frau bewegten sich flatternd, wenn sie den Mann mit der Geliebten sah, die Fingernägel tickerten über die Fensterbank; gern wäre sie unsichtbar durch die Scheibe gestiegen, der Geliebten zwischen die Zähne oder unter die Wäsche gekrochen, hätte ihre Sprache, ihren Körper erforscht, während jene im Abendlicht mit dem Mann beim Benz stand und auf ihre sonnenbeschienene Uhr sah; der Mann auf der Motorhaube sitzend, neben dem Stern, schwer wie sonst, sie stehend, die Hände in die Taschen gestemmt, gestenlos, nüchtern/gehemmt, jedenfalls ein Gegenbild der Frau; gleiche Silhouette und Form, gefüllt mit den verschiedensten Sorten Mensch. Nie wäre die Frau z.B. vorm Haus einer Kontrahentin auf- und abspaziert, nie mit einem Mann auf offener Straße gestanden, sie konnte nur den Kopf darüber schütteln, wünschte sich manchmal mehr Ähnlichkeit, aber eins hatten sie ja in jedem Fall gemeinsam: den Mann, wenn die Frau auch nicht verstand, was der Geliebten an ihm gefiel. Wahrscheinlich hatten sie sich beim Dachdecken kennengelernt, in windiger Höhe, die Geliebte heraussteigend aus dem Dachfenster, das Handwerkerbier emporhaltend, ein letzter Fuß noch im Haus, er herbeieilend auf der sich biegenden Planke, aber nicht doch, das ist doch nicht nötig, sie die Dachjungfrau auf Männerfang oder Schützenfang unterm Vogel, staunend ob seiner Treffsicherheit, ihr Finger tippt auf den Kolben des Gewehrs. Stießen an mit Gläsern oder Autos; sie nahm seine Vorfahrt, beim Benz ist die ohnehin eingebaut, ihr Fiat zerknickt, sie schwankend zwischen den Blechen, ein Blick, er nur noch Schulter.
Die Frau drückte ihre Nase ans Fenster, ein weißlicher Abdruck, auf dem der Nasenpunkt fehlte, stemmte die Nase wieder gegen den Fleck, unbeweglich stand sie, wie das Paar auf der Straße, dessen Schatten über den Asphalt floß, die Gosse hinauf, bis zum Kiosk. Spitze Köpfe, Strommastenarme und -leiber, wiewohl an den Hüften, auf Autohöhe, zusammengewachsen; Statuen sie alle drei, die nur mühsam und selten die Lippen bewegten, das sollte so bleiben, die Freifrau am Fenster, der Mann in Sichtweite, nicht mehr im Haus oder hinter ihr, woanders, vielleicht auch weit fort. Wenn der Wagen sich schließlich entfernte, als Druckwelle zwischen Kiosk und Trauerweide davonrollte, stieß die Frau sich vom Fenster ab und hatte das Eifersüchtigsein wieder vergessen; jetzt bemühte sie sich, versuchte zumindest ein MiniEifersüchtelchen aus ihrem Bauch zu pressen oder aus dem Kopf oder woher es sonst hätte kommen müssen. Sie die Gefühllose, Gefühlskalte vielleicht sogar, ihr Mann ein Gefühlsmensch seit neuestem, obwohl ihm die Geliebte wohl kaum mehr als eine Partnerin war, eine Sexpartnerin, Kumpanin für gewisse Verrichtungen, eine blasse, blaßgraue Geliebte, geruchlos und uncharmant; die Frau hätte sie gerne gewarnt und ihr Kaffee serviert in der Rotlichtküche, hätte sie gern dort sitzen gehabt auf einem der einsturzgefährdeten Stühle, die kühle Hand um die Tasse gebogen, wo auf der Kaffeefläche, zwischen den porzellanenen Wänden, das Spiegelbild ihres Gesichts ins Flimmern geraten wäre. Dann hätte die Frau ihr die Tasse ab- und die Warnungen wieder zurückgenommen; immerhin half ihr die Rivalin die Manneslast tragen, hielt den Mann fern vom Haus, wo er nicht gern gesehen war, turnte mit ihm auf plastikbezogenem Sofa herum, das war gut für Kreislauf und Wohlbefinden, und trank vielleicht nachher mit ihm ein Bananenshake.
Dann ging alles sehr schnell. Er stellte den Geldhahn ab, stellte im Herbst auch den Heizungshahn ab, wollte von ihr nichts mehr gekocht, nichts gewaschen haben, kaufte sich neue Hemden, wenn die alten schmutzig geworden waren, während die Frau und die Kinder in Parkas am Mittagstisch saßen; Kartoffeln gab es, Salzkartoffeln mit Quark, Pellkartoffeln mit Salz, Kartoffelsuppe, Kartoffelpüree, das schmeckte nicht schlecht, und lustig war das Armeleuteleben, wenn man zuvor immer Benz gefahren war. In Pauls Leben geschah vieles zweimal. Zweimal kippte sein Motorrad im Stand sehr langsam auf seinen Knöchel; zweimal holte er Hannes beim Wachsen ein, worauf jener doch wieder ein paar Millimeter zulegte. Zweimal stand er von mittags bis abends auf einem Bein; er hatte die Zeit verlängern wollen, doch sie dehnte sich kaum, lief wie ein Uhrwerk; kurze und Kürzestaugenblicke reihten sich hintereinander, spulten sich ab, gleichmäßig, als endloses Maßband. Er hatte gedacht, der Gang der Dinge ließe sich aufhalten oder zumindest verzögern, aber die Zeit, seine Eigenzeit, von der er im Überfluß hatte, floß weiter, verfloß, und er ließ sie treiben, während sein Fuß mit dem Boden verschmolz. Mitten im Zimmer, mitten im Gehen war Paul stehengeblieben, die leere Chipstüte noch in der Hand; sein linker Fuß hatte innegehalten, schwebte, hing in der Luft, der rechte fing die Gewichtswelle auf, ließ sie vom Ballen zur Ferse schwappen, zur Außenseite, nach innen. Die Landschaft der rechten Fußsohle breitete sich im Zimmer aus, Groß- und Kleinzehenballen beim Computer und Schreibtisch, die Ferse als Sessel, der Leerraum dazwischen das Fußgewölbe. Paul schob sein Körpergewicht herum, verlagerte es auf einzelne Fußteile, spürte so selbst dem kleinen und kleinsten Zeh nach; die Unterschenkelknochen waren kühle Säulen, das Kniegelenk ein mechanisches Ineinander; er knickte das Knie, streckte es, drückte es durch. Vor Augen die
Rauhfasertapete, zwei Heftzweckenlöcher, schräg hängend ein Spinnweb, oben bauschig verdickt, das Paul an sich selbst erinnerte. Ein Stück vom Sofa, das steif war, braungrau, die spitzgerippte Heizung, jetzt war er ihnen ähnlich, selbst fast ein Möbel, eine Installation. Auf der Tapete Licht-, Halblichtund Schattenstreifen, die das Fenster erahnen ließen, dahinter die Straßenlampe, und wenn er selbst sich nur genug öffnete, auch die Häuser und Dächer der Stadt. Die Langsamkeit hatte sich seiner schon früher bemächtigt, schon vor dem endgültigen Anhalten; wie gähnend hatte der Mund die letzten Chips eingelassen, sie mit den Zähnen betastet, die gepfefferten Plättchen, die in der Höhle des Mundes von selbst auseinanderbrachen; dann das Aufstehen, behutsam, verzögert, dabei nicht schlapp oder schlaff, sondern elegant, unter Anspannung nur der notwendigen Muskelpartien. Die Zeitlupenschritte in die Mitte des Zimmers, der Stillstand auf diesem einen Bein, vielleicht aber auch bloß eine extreme Verlangsamung, nichts Statisches, keine Erstarrung. Das rechte Bein und das linke: waren sie wirklich von gleicher Art, zwei Extremitäten, spiegelbildlich geformt, oder war nicht vielmehr das eine ein Ständer, dessen Gelenke gemächlich zu pulsieren schienen, spitzer und länglicher Auswuchs des Rumpfes, das andere eher ein dritter Arm, der sich hob, schwerelos stieg bis zur Hüfte, rundum belüftet, der am anderen Bein entlangstrich, sich mit ihm verschränkte, sich dann wieder in den Raum streckte, in sich verdreht und verwunden, die Zehen gespreizt? Dieser zweite und linke Fuß war ein Fühl- und Tastorgan, strich herum, vagabundierte, kühlte aber auch schnell aus, schmerzte mitunter vor Nutzlosigkeit, und als Paul ihn nach Stunden dem Boden zu nähern versuchte, wurde er abgestoßen, scheute er jeglichen
Teppichkontakt, stellte sich Pauls künftiger Zweibeinigkeit fast entgegen. Es mache ihm nichts aus, sagte Paul später, daß sich vieles in seinem Leben wiederhole; er wisse ja vorher nicht, was, durchlebe so auch alles viel intensiver; auch das einbeinige Stehen mache ihm nichts aus, auch daß er für all das die Zeit habe, diese Unmenge Zeit, um die man ihn beneidete und die vielleicht eigentlich Hannes gehörte, dem nämlich fehlte sie ständig, der war ein Gehetzter, der mit langen Papierstreifen wedelte, auf denen sein Tagesablauf verzeichnet war, dem er hinterherjagte, um Stunden im Rückstand, er hätte noch minus 5 Minuten Zeit, 5 Minusminuten, sagte er, in minus 2 Stunden müsse er bei der Antiatomkriegsmahnwache sein, war immer im negativen Bereich. Wenn Hannes und Paul aufeinandertrafen, stießen sie aufeinander, aus ihren verschiedenen Tempi heraus, die nicht in Gleichlauf gebracht werden konnten; ihre Begegnungen paßten in keinen gemeinsamen Rhythmus, fielen heraus, überlang, leer. Zwei Riesen, die sich im luftleeren Raum gegenüberstanden, der eine will weiter, sieht auf die Uhr, der andere ist noch nicht da, sie lähmten einander, hatten sich wenig zu sagen, verstummten dann, schwiegen, auch sie konnten das, es lag in den Genen. Während das Haus an manchen Stellen zerfiel, der Schiefer abblätterte, Fugen aufklafften, dehnte es sich woanders aus: ein zweites Treppenhaus richtete sich auf, Türen zeichneten sich ab und lockerten sich in den Gelenken; dahinter wölbten sich Räume wie eckige Riesenblasen, altmodisch tapeziert. Dorthin, in den äußeren Teil des Hauses zog der Mann, richtete sich ein, mit Fernseher, Kühlschrank, Klo, und wohnte und lebte sein Eigenleben, schlief, aß, sah fern, mit niemandem als ihm selbst, so daß seine Beine und bald auch die anderen Körperteile ihm halbe Lebewesen, vielleicht eine Art
Ersatzfamilie wurden. Niemanden sonst zog es in diesen Teil des Hauses, auch die Geliebte nicht; niemandem brauchte der Mann den Zugang zu verwehren und verströmte seinen Körper- und Teergeruch bis in die hintersten Winkel, markierte alles, lebte, lebte sich aus und streichelte manchmal die Fernbedienung. Die anderen dachten um diese Gegend des Hauses herum, sie war ihnen eine Wucherung und Tabuzone wie das Aquarium, das weiter unten im Wohnzimmer stand und das, nie gereinigt, selten mit Wasser und Futter beschickt, eine ganz eigene Flora und Fauna entwickelt hatte, sehr undurchsichtig, niemand blickte da durch oder auch nur hin. Nur die Frau, der es einmal gehört hatte, näherte sich ihm bisweilen, goß es oder stäubte gedankenverloren etwas Futter über den Sumpf. Sie war es auch, die schließlich doch ihren Fraufuß auf den Fuß der zweiten und anderen Treppe setzte; der Mann war nicht da und im Portemonnaie nur noch Blech, das bei jeder Bewegung klimperte, die Treppe steil und außerdem schmal, schlank wie sie selbst, die schon auf der dritten Stufe stand, kindflink. Noch eine Stufe, zwei, die Augen nach oben gerichtet, die lichtübergossene Treppe empor, wo die Stufen noch schmaler und flacher wurden, fast gar nicht vorhanden waren, die Treppe sich in eine Rutschbahn zu verwandeln schien. Kein Blick zurück in die Tiefe; die Frau ließ sich ziehen von Marionettenfäden, flott ging das, rasant wie die Treppe selbst, kaum hatte man sie betreten, war man schon über die Mitte hinweg, nur den Blick nicht schwanken lassen, an den Rückweg nicht denken, der war egal, kein Gedanke daran, wie sie später oben stünde, noch über der obersten Stufe, den Abgrund vor Augen, die steilste aller Treppen, eine Eschertreppe, die auf halbem Weg plötzlich kippen konnte und unten in oben und oben in unten verwandeln, kein Ausweg mehr aus dem vertikalen Labyrinth, daran nicht denken.
Schon fast oben die Frau; leicht war sie wie ihr Geldbeutel, puppenleicht; im Keller drei Puppenkartoffeln, verschrumpelt, die man sich um den Finger biegen konnte, der Mann auf Malta mit der lieben Geliebten oder Jalta, sie hatte nicht hingehört. Die Stufen so winzig und glatt; auch das Geländer, die Wände voll Licht, hinten die Lichtschlucht, wie auf Malta/Jalta, wo die anderen beiden herumkletterten, Felsen, Dornengestrüpp, wie die Frau auf der Treppe, trippelnde Füße, Blümchentapeten rechts und links, die aufblühten in der sehr hellen Sonne, die Frau halb geblendet vom Licht, er auf Malta legte die Hand vor die Augen, die Geliebte berührte die Sonnenbrille. Das Zimmer des Mannes war wie er, schwer möbliert, zugestaubt, Manngeruch überall, dazu der nach Tabak und Whisky; der Mann war hier so präsent, als sei die Frau in sein Innerstes oder sein Herz eingedrungen, befände sich mitten in einer der Kammern im flirrenden Goldstaub, der Ursubstanz allen Seins. Das Bett zur skurrilen Skulptur zerwühlt, der Schrank eine offene Herzklappe, und überall Hemden, am Schrank, auf Sesseln, Boden und Bett, hängend, geknittert, geknubbelt, grau, graublau oder graublaugrau, das waren die verschiedenen Ichs des Mannes, viel mehr, als die Frau ihm zugetraut hätte. Seine Urlaubsgedanken lagen als Atlas und Hotelkatalog zwischen Schuhen, und dort beim Bett – die Frau stand unbewegt – halb versteckt unterm Bett, graublechern, eckig, mit geöffnetem Mund: die Geldkassette, das Innerste männlichen Innenlebens und überquellend von Geld, Papiergeld und Geldpapier, einer zähen, zerblätternden Masse, nur große und sehr große Scheine, zumindest der Frau kamen sie groß vor oder sie sich klein vor den starrbunten Geldgesichtern, die zu ihr heraufblickten, alte Zwerginnen und Zwerge, oft nur Kinne oder Hüte. Geld, gellte es in ihrem Kopf, Geldgeldgeld, vielleicht hatte das die Luft so vergoldet
und elektrisiert, all das Geld, das in ihrer Handtasche fehlte, das ewige Nein der Jahre, die Antimaterie, hier lag sie gehäuft und gestopft, alle Möglich- und Unmöglichkeiten, die jetzt plötzlich im Zimmer umherschwirrten; ihr wurde der Kopf ganz leer davon. Dann plötzlich wieder der Mann, dessen Inneres offen vor ihr lag, sie spürte ihn hinter sich, greifbar nah, er war im Raum oder hinter der Tür, konnte jederzeit kommen, sowohl von Malta als auch von Jalta war es ein Mückenflug. Die Zeit drängte, zerrte an der Frau, Sekunden und Möglichkeiten tickerten durch den Zähler, wieviel war es, wieviel Geld, das mußte sie wissen, wenigstens das, und konnte das Geld doch nicht zählen. Unberührbar die Scheine, erst recht nicht sortierbar, man griff doch nicht in die Eingeweide des Gatten, keinen Millimeter durfte das Raschelzeug sich verschieben. Nur ein Zollstock war da, das Mannesrequisit, mit dem er überall sein Terrain markierte; sie konnte die Stapel messen, das war möglich, wenn auch vermessen, addierte die Zahlen: 17 cm Geld hatte der Mann hier versteckt bzw. offen herumliegen, das war jetzt klar, das konnte sie jedem erzählen, diese Zahl hatte sie jetzt für immer im Kopf, das war das Ergebnis, das kleine numerische Souvenir ihrer Malta-Expedition. Lenes Schritte waren lang und schmal, und länglich lag neben einem von ihnen etwas am Boden, ein Stab, eine Rolle rosa Plastikfolie, die mit einem Ende die Fahrbahn, mit dem anderen die Kante des Trottoirs berührte, den Rinnstein überbrückte, sehr unbequem, als läge sie dort noch nicht lange. Lene bückte sich im Gehen, hatte die Rolle schon in der Hand, kein Diebstahl, ein Fund. Die Stadt war wie immer, grausauber, grellbunt, voller Sprüche. An den Vorfahrtschildern lehnten Gestalten oder gingen zwischen ihnen umher; die Plastikrolle konnte jedem von ihnen gehören; jemand hatte sie verloren, weggeworfen, fallenlassen,
vielleicht auch plaziert, deponiert. Lene hätte sie in ihrem Ärmel verstecken, mit ihr auch den Arm versteifen und schienen können, doch sie nahm sie nur in die andere Hand, eine Rolle rosa Plastik, wohl Tüten, Müllsäcke vielleicht, blaßrosa, durchscheinend, um sich selbst und um ihresgleichen gewickelt; in der Tiefe vertiefte sich auch das Rosa; die blassen Rosas addierten sich, das Tiefenrosa schien durch die Transparenz des Plastiks hindurch nach draußen. Unversehrt war die Rolle; man konnte sie fast für unberührt halten, kein Dreck, kein Staub, kein Wassertropfen haftete auf ihr, auch war das Plastik nicht beschlagen von der Luftfeuchtigkeit, wie sonst bei draußen herumliegenden Tüten. Lene drehte die Rolle zwischen den Fingern; welch Potentialität und Fassungsvermögen: die Rolle konnte, auseinandergezogen, -gerissen an der Perforationslinie, auseinandergezupft, unzählige Liter und Kubikliter von allem Möglichen aufnehmen, und das so hübsch, wohlgeordnet in 20 oder 50 rosa Säcken. Auch sie selbst hatte längst, mit nichts als einer durchsichtigen Tüte und dunkler Sonnenbrille bekleidet, durch die Stadt gehen wollen, jene aber dann doch nicht für die geeignete Kulisse gehalten, diese Kleinststadt mit den überbreiten, zu kurz geratenen Straßen, fast parallel, dann doch wieder schlaff gebeult, gesäumt von vielfach durchbrochenen Häuserreihen, menschenleer, scheinbar offen, die Durchsichtigkeit jedoch nur vorgetäuscht, die Weitsicht gebremst von Mauern, Schaufenstern, kleinen Monumentalbauten, dem Rathaus, dem Finanzamt, das steinerner, rechtwinkliger war als die Nachbarhäuser, innen scharfkantig, hallend. Der Mann sei hier, hatte ein Dachdeckerlehrling zu Lene gesagt und über seine kalten Hände geklagt, aber sie wollte in der gleißenden Halle nicht warten, hinterließ ihm eine Notiz auf der Fensterbank, lehnte die Rolle daneben an die Scheibe.
Draußen wurden ihr die Beine wieder lang, balancierte sie über Linien, ging auch im Zickzack über die Straße, die kaum befahren war. Lange stand sie vor einem Kaugummiautomaten, betrachtete hinterm zerkratzten Glas die Kaugummikugeln, Lottozahlenkugeln für ganz kleines, halbautomatisches Glück. Als sie sich umwandte, kam der Mann die Straße entlang, die rosa Rolle in der Hand, fragte: ist die für mich, fragte es Lene, mit heller Männer- und Mannesstimme, dahinter ein Fragezeichen, und Lene: ja, sagte ihm das ja direkt ins Gesicht, und es kam in seinen Ohren an, obwohl die ja seitlich am Kopf klebten, sagte ihm ja, wie als Kind, von Kind zu Mann. Der Mann sah die Rolle an, hielt sie an einem Ende, schön, sagte er, und sie: das sind Plastiktüten, kannst ja Müll reintun oder so was, jetzt duzte sie ihn sogar und sprach mit ihm und er mit ihr, als kennten sie sich, seien Bekannte oder sogar Verwandte, sahen sich dabei auch an, von Gesicht zu Gesicht, sagten sich Sätze und Nebensätze, er wisse jetzt nicht, wohin mit der Rolle, sagte der Mann, ob sie sie noch mal nehmen könne, und Lene: na klar, und er gab sie zurück, ein Staffelholz, ein Phallussymbol, eine Nanosekunde lang hielten sie sie beide an den Enden, dann nur noch Lene. Sie sprachen wieder miteinander, auch wenn sie jetzt nichts sagten; wie war es dazu gekommen; welches waren die ersten Worte gewesen; Lene konnte sich überhaupt nicht erinnern und hatte sie sich doch unbedingt merken wollen. Der Mann holte ein Diktiergerät aus seiner Tasche; er habe das Gespräch übrigens aufgenommen, sagte er, sie könne es sich anhören, wenn sie wolle, und lächelte und wandte sich ab, während auf der anderen Straßenseite drei Müllsäcke an die Straße gestellt wurden, aber die waren blau.
Bevor das Haus einstürzte oder mit betonverankerten Pfählen gestützt oder abgerissen wurde, mußten Fotos gemacht werden, auch vom Abriß selbst, von Schaulustigen jenseits des rotweißen Geflatters, von Wassersprühern in orangenen Jacken und vom Bagger, der insektengleich den Hausberg emporkroch und ihn schließlich besetzt hielt. Gutes Fotografierwetter, die Strahlen der Kirchturmkugel kratzten über die Schieferwände; die Einbahnstraßenschilder leuchteten wie von selbst. Die Nachbarschaft war bereits abgetragen; so ließ sich die Perspektive frei wählen und die Szenerie auch ohne Weitwinkelobjektiv erfassen. Das Haus zum Einsturz zu bringen war leicht, ein Fingerschnippen, ein knappes Lachen, schon sackten Mauern und Fachwerk widerstandslos in sich zusammen, die mürben Fensterscheiben zerrieselten, gläsern splitterte das Holz. Nur der Staub bäumte sich auf, wölbte sich sahnig vom Boden her, umquoll Trümmer oder duckte sich unterm Wasserstrahl. Für einen Blick blieb die Vorderfront stehen und umrahmte mit hohlen Fenstern Himmel und Schutt. Dann war die Luft aus dem Haus gelassen, Zimmer und Flure auf Puppenhausgröße geschrumpft, unförmig, verzerrt. Dachrinnen ragten aus dem Haussalat, Tapetenfetzen hingen an Heizungen, Waschbecken, voll mit Stroh, lehnten bei halben Fenstern. Tagelang fraßen Bagger an dem Ballaststoffmix; schließlich war das Haus weg, dem Erdboden gleichgemacht, aber einem so lächerlich kleinen Stück davon, daß unklar war, wie es überhaupt dahingepaßt hatte. Frau, Kinder und Mann tippten, wenn sie zufällig vorbeikamen, manchmal die Grundmauern mit dem Fuß an. Zum Glück waren sie schon vorher ausgezogen, nacheinander, jeder für sich, mit kleinen Transportern, der Mann in ein Haus, das nur wenige Meter entfernt am Rand der kahlen Fläche stand und vom Abrißkommando knapp verschont worden war. Er schloß
die Tür hinter sich, sah sich um. Aus der Tasche holte er die Fotos, hielt sie neben der Tür an die Wand und schlug Nägel hinein. Lene und Hannes zogen in Städte und immer andere Städte, riefen sich an und gaben sich ihre Telefonnummern durch. Die Fotos verschwanden in ihren Umzugskartons und sackten während der Jahre nach unten. Am längsten hielten Paul und die Frau es im Haus aus; manchmal sah man sie durch die Schlammwüste waten, in der das Haus stand oder zu versinken drohte; er, inzwischen ein Langbeiner, wollte die Frau stützen, doch sie riß ihn zurück, bis beide stehenblieben. Keinen Schritt wollte die Frau mehr gehen und wies auf die kahle Fläche, wo die neue und leere und freie Straße entstehen sollte. Hier ist kein Weg, sagte die Frau: schwarze Erde, fettglänzend, schmelzend, halbgeschmolzen an Stellen, woanders von feiner Puderkrume bedeckt, da war kein Weg, da waren nur Baggerbißspuren. Paul, zu ihr gebeugt, überredete sie zum Weitergehen, fing sie im nächsten Moment schon auf, als sie in eine Pfütze zu fallen drohte, wurde dann aber Schornsteinfeger, was sie ihm lange nicht verzieh. Sie zogen in eine kleine Wohnung am Stadtrand. Die Fotos verteilten sie auf dem Küchentisch und spielten mit ihnen Memory. Am Boden der Brief vom Anwalt, schmal, elegant, mit spitzer Lasche. Er lag auf einer der dunklen Fliesen; nur eine Ecke ragte darüber hinweg. Die Frau hielt ein Büschel Werbeprospekte in der Hand, wohin damit, sie bewegte sie von sich weg, zurück, sah sie an, durch sie hindurch, mit Röntgenblick dahin, wo der Brief lag. Unter der Haustür zog kühle Luft durch, strich über den Brief, dann über die Füße der Frau, die ihr nackter erschienen als sonst, und sie rieb mit dem einen über den anderen. Der Brief bewegte sich nicht. Der Anwalt war der Anwalt des Mannes, sie hatte keinen. Oben im
Treppenhaus schloß jemand eine Tür auf; das metallene Geräusch rieselte herab; die Frau bückte sich, pickte den Brief mit zwei Fingern auf und trug ihn mitsamt den Broschüren die Treppe hoch, in die Wohnung, wo sie alles in den Kleiderschrank warf. Der Kleiderschrank war ihr Lieblingsschrank, sie mochte das helle Furnier mit der fädrigen Maserung, die sie gern mit den Fingern nachzog. Die aufgehängten Kleider innen erinnerten an menschliche Körper, geduldig und weich, pendelnd im selbstgemachten Dämmerlicht. Der Brief rutschte in eine Tasche oder einen Blusenausschnitt, mindestens aber in einen der Schuhe unter den Kleidern. Die Frau zog Türen hinter sich zu. Im Wohnzimmer roch es nach Rauch. Im Bad hing ihr Spiegelbild an der Wand, das Sohnzimmer sohnlos, die Küche blitzblank, von vorn. Dann lehnte sie im Türrahmen und schaute an sich herab. Sie wußte, was in dem Brief stand, sie würde ihn nicht lesen. Am Boden die Füße, Knochengestelle, fleischlos, darüber fleckig entzündete Haut. Sie hob einen an, die Zehen spreizten sich. Kälte schob sich zwischen sie, drang in sie ein, jetzt auch in die Zehen des anderen Fußes. Sie rieb die Füße über den Teppich, Reibung erzeugt Kälte, die an den Waden hochstieg wie flüssiger Stickstoff, knietief stand sie im Flüssiggasteich, durch den sie nun watete, ins Schlafzimmer, sie zog eine Schublade auf: die Strümpfe, die Baumwoll- und wollenen Socken paarweise ineinandergeschlagen und aufgereiht. Die Frau nahm sich ein Paar, setzte sich aufs Bett, steckte die Füße hinein. Auch in den Strümpfen waren die Füße noch Füße. Sie holte ein weiteres Paar, zog es an. Die Füße wurden runder, verloren ihre Form, und die Frau zog Strümpfe darüber. Langsam verschwanden die Füße unter den Schichten, wurden zu Klumpen, Klauen oder Stummeln. Die Frau drehte und betrachtete sie lange. Sie zog ein Paar Strümpfe darüber.
Später probierte der Mann noch andere Frauen aus – Dünne, Blonde, Sekretärinnen, Mittvierzigerinnen. Alle waren nett, geübte Lächlerinnen und Beifahrerinnen. Eine bohrte ihm Wattestäbchen in die Ohren, versteckte seine Dimpleflaschen, eine machte sogar mit ihm FKK. Der Mann lehnte sich zurück und tat so, als betrachte er sie. In Wirklichkeit dachte er an die neue Eternitschneidemaschine . Einmal traf er seine Exfrau im Copyshop. Überall standen Kopierer, graue Blöcke, die Deckel hochgeklappt oder flach, blitzten, surrten, sonderten dünnes Papier ab, weiß, leicht, oder standen herum. An den Wänden bunte Zettel mit den Preisen: je größer die Anzahl der Kopien, um so billiger war jede einzelne. Das freie Kopiergerät roch nach Kunststoff und blinkte grün. Er öffnete den Deckel, doch lag, als er sein Blatt aufs Glas gleiten ließ, dort bereits eine Hand, rötlich, schmal. Der Mann sah am Ärmel entlang nach oben: die Exfrau, nur jünger, sie zog ihre Hand weg, trat zurück. Entschuldigung. Der Punkt auf ihrer Nasenspitze zeigte auf ihn. Hallo, sagte er, und sie: Na? Er stieß sich am Kopierer, der zwischen ihnen stand. Du siehst toll aus. – Danke, sagte die Frau. Der Bauch des Exmannes ragte über das Glas, dabei wollte er seinen Bauch gar nicht fotokopieren. Er ließ der Frau den Vortritt; sie hatte vergessen, wie man das Gerät startete, und ungeduldig drückte er den Knopf für sie. Ihr Blick rutschte auf dem Mann aus, schlitterte vom Gesicht zum Bauch und zurück. Die Kopie flatterte, als sie nach ihr griff, die Frau hatte es eilig, sah aber wirklich gut aus, das Haar wieder ganz schwarz, lockiger als zuvor, die Zähne perfekt, die Ohren klein und barock. Als sie den Kopierladen verließ, dachte sie, die Dinge könnten plötzlich von ihr fallen: Tasche, Kleidung, Schmuck. Sie hielt alles sehr fest, fuhr mit dem Bus nach Hause und schüttete Mehl in eine Schüssel. Sie buk jetzt viel und fotokopierte, Pizzen und Mietbescheinigungen, Scheidungsurteile, Aufläufe.
Oft hockte sie vor dem Sichtfenster des Ofens und notierte genau, wie das Gericht sich veränderte: Blasen, Färbung, Konsistenz. Manchmal hustete sie. Es tat nicht weh. Hannes und Lene spannten Entfernungen zwischen sich und die Stadt, schoben Gleiskilometer nach hinten und hintereinander, folgten Kabeln und Mittelstreifen, geradeaus, auch schräg links, zumeist aber geradeaus. Hinter ihnen schrumpfte die Stadt bis zur Unkenntlich- und Unauffindbarkeit, schrumpfte zusammen auf ein bis zwei Straßen, ein Haus und war doch immer noch weitaus größer, als sie aus der Distanz in Wirklichkeit ausgesehen hätte, bevölkert von Paul und der Frau, die eine Stimme am Ohr war, gefiltert, durch Leitungen gepreßt, die redete, schwieg, dann wieder sprach. Hinter der Stimme blieb der Körper zurück, der düster und flach war, zweidimensional, nur die Brüste standen ein bißchen hervor. Ich weiß nicht, sagte die Frau und blies Rauch aus; ein paar Moleküle entströmten dem Hörer, stiegen in Lenes Nase, aber ich, behauptete Lene, du solltest jetzt wirklich, sie seufzte. Vor sich das schattige Handgelenk des Türken, blaßbraun, die Finger gebogen, entspannt, die Querlinien des Handgelenks kreuzten sich mit den Sehnen, Daumenstrecker, Fingerbeuger, Lene schnippte daran, sie sprangen zurück. Ach Lene, seufzte die Frau aus der Kabeldunkelheit heraus, könntest du nicht, du weißt doch genau, nein jetzt nicht, und Lene zog mit dem Fingernagel die Adern des Türken nach, zartlila Rinnsale, nach oben hin grün, verdickt. Hast du einen Mann da, ach so. Vor dem spitzen Druck zogen die Adern sich nach innen zurück, in den Unterarm; außen blieben die Kratzspuren, gerade, viel zu gerade, hell wie Lenes Fingernägel, schnurgerade Striche, fast weiß, Hannes folgte den Strichen, rannte zwischen Linien, neben hellen Streifen, die Lederjacke schwarz, das Springmesser in der Tasche, hinter ihm Kahlköpfe, vier oder
fünf, Hannes’ Beine sehr lang, nicht sein Atem. Schritte schnell wie das Herz, Häuser rechts links, kein Mensch. Hinten die Hautköpfe, eingeledert bis zu den Sohlen, wollten ihn, seinen Skalp, sein vor ihnen flatterndes Haar, das reizte und lockte sie, Hannes hätte es fest und zusammengehalten, lief aber, lief, bis von der Seite, aus der Seitenstraße dritte Schritte herankamen, der Eilschritt, der Stech- und der Marschschritt, die Uniformen und Plexiglasschilde, Hannes hielt an, der Atem leckte ihm aus dem Mund, er zeigte nach hinten, auf die langsamer rennenden Glatzen, schob das Messer ins Jackenfutter, und Lene stach zu, in die Folie, sah durch die Lupe und stach ein winziges Loch in die Flurkarte, die vor ihr auf dem Zeichentisch lag. Du riechst gut, sagte der Türke. Sein Finger strich von der Hand zur Kartiernadel und zurück, dann nahm er ihr die Nadel ab, Lene fuhr herum, hielt ihm die Nase zu. Mit der anderen Hand suchte sie nach ihrem Nullenzirkel. Der Vater der Frau war im Krieg verlorengegangen; oft dachte sie an ihn; ein schöner Mann in Uniform; er war manchmal zu Besuch gekommen, auf Fronturlaub oder Heimaturlaub, wie hieß es denn, Mutter und Tanten wußten das nie und schwankten, polierten aber den Wohnzimmerschrank, in dem am schwarzgoldenen Band das Kreuz hing. Schwarze Kuchen buken sie, schäumten Muckefuck auf, schwangen das wilde weiße Tuch über den Tisch, das sich aufbäumte, so daß es festgeklammert werden mußte. Dazwischen hielt die Frau, die ein Kind war, sich am Tischbein fest, lief im Kreis, geh spielen, das Tischbein war rund, ri ra rund, geh doch raus, im Dunkeln mußte sie sich bücken oder stieß mit dem Kopf gegen den Tisch. An der Tür erschien lachend der Uniformmann, der der Vater war; die Mutter hing an ihm, er hatte angeklebte Ohren zum Wegfliegen, roch wie alte Aktenordner. Dann saß das Kind selbst auf der Kratzuniform, also auf ihm, der ihr schwarzen
Kuchen vors Gesicht hielt, steil löchrig zerklüftet, sie mußte zubeißen, aber nicht ihm in die langen Finger, kauen, schlucken, ohne Spucke, das Kuchengeklump in den Hals drücken und vorne schon wieder den Mund auf. Das krümelte und rieselte über ihr Sonntagskleid, machte aber nichts, es wurde gelächelt, rundum lächelten die Frauen und nickten unter den schimmernden Kämmen, die Haar von Haar trennten, in Strähnen zerteilten, die kopfweise miteinander verknotet waren. Nie wurden benachbarte Köpfe zusammengeknüpft, obwohl dann nur eine hätte nicken müssen und die andere automatisch mitgenickt hätte. Das Kind hustete, der Kuchen spritzte in Brocken aus seinem Mund, doch der Mann fing ihn auf. Du Süße, sagte er und drückte sie an den rauhen Stoff. Dann ging er zur Tür. Später blieb ihr ganz die Spucke weg; Hand vorm Mund, überraschend der Blick in den Spiegel, eine Frau in den mittleren Jahren, die ihre letzten waren, grauhäutig, meliert, und schob zwischen spröden Lippen eine fremde Zunge durch: bäh sagt das Schaf. Munddürre, Trockenheit bis in den Rachen, das kam von den Strahlen, im Hals hatte sich etwas verknotet, Sprechen, Schlucken, alles witzlos. Nur Husten ging gut, das konnte sie, herauspressen aus dem Rachen, was dann doch nichts war, arhythmisch, laut, leise oder mittellaut, trocken und kurz oder ausdauernd und sich krümmend, als käms von innen. Auch husten im Gehen, Fernsehhusten, husten beim Spülen, beim Nägellackieren, im Bett. Kein Essigschwamm wurde ihr an den Mund gedrückt, sie gurgelte mit Ölbaumöl, lutschte kalte Butter zur Kühlung. Ans Sterben war gar nicht zu denken, sie stäubte sich mit dem Pinsel Puder übers Gesicht, der in Krater rieselte. Sie schwärzte, rötete, ließ erglänzen, stumpfte ab. Selbst die Augen sahen wieder lebendig aus, sterben paßte jetzt nicht, das Odem-Aushauchen, das Liegen, starr, kalt, sie fror jetzt schon, und keinesfalls wollte sie
gewaschen werden, niemand sollte an ihr herumpolieren von oben nach unten, zurück, schrubbschrubb mit Gummihandschuhen und Lauge, ihr Zellstoff in den Mund stecken, Lippen zukleben und schminken, krakeln im kalten Gesicht. Sterben kam nicht in Frage, und wenn, dann jedenfalls nur frisch geschminkt. Nachts Blaulicht, Sirenen, Lichtfetzen fuhren ins Zimmer, rasten über die Wände, Discowerbung? Ein Brand? Lene vergaß ihren Traum, ging hin. Die Straßen waren steinerne Rillen, dunkel, blauflackernd, die Luft von Tönen erfüllt und still. Unter den Straßenlampen schob sich Lenes Schatten tintenhaft aus ihren Füßen, verlängerte sich mit den Schritten, verblaßte; das übrige Schwarz konzentrierte sich hinter den Fenstern. Sirenen von hinten, ein Feuerwehrwagen überholte sie, sehr rot, den sich drehenden Blaupickel auf der Stirn, lebensfroh trötend. Der Beifahrer, ein Schnurrbärtiger, drehte den Kopf zurück, grinste: ein Discomann. Vom Brand sah man nichts; das brennende Haus stand düster und still inmitten von Feuerwehrautos, deren Rot die Flammen simulieren sollte. Zwischen den Motorhauben die Feuerwehrmänner, die einander auf die Schultern schlugen, rauchten oder sich Zigaretten anzündeten. Lene blieb auf Abstand, auf der anderen Straßenseite, während auf dem Balkon des Hauses Leute erschienen, die Brandopfer, eine Frau und zwei Männer, bleich, die Haare strähnig; über der Nachtwäsche trugen sie Winterjacken, die sie sich an den Körper drückten, traten von einem Bein auf das andere, während die Feuerwehrmänner sich an ihre Autos lehnten, die Hände im Nacken gefaltet. Dann aber schob sich von einem der Wagen ein Strich in die Höhe, die Feuerwehrleiter, deren einzelne Abschnitte ineinandersteckten und die sich nach oben hin stufenweise verjüngte; plötzlich verjüngte auch Lene sich, machte eine schnelle Bewegung, der Mann fiel ihr ein, der
Dachdecker, Prügler und Mann, der ja ein Feuerwehrmann war, der einzige Schwindelfreie zudem, der einzige, der sich auf die Leiter wagte und der sie nun wirklich betrat, zu steigen begann, recht schnell, es mußte der Mann sein, überlange Zupack-Arme, breiter Oberkörper, die Beine, recht kurz, stiegen und stiegen. Die Rechtecke aus Sprossen und Holmen rahmten Teile des Mannes ein, die Unterschenkel, die Knie usw.; er ragte aus jedem einzelnen Bild heraus, stieg auch sofort heraus, gewann an Höhe, verkleinerte sich; auch Lene am Boden sehr jung und klein, wie sie zu ihm hochsah oder aufsah, zur Unperson, zum Schattenriß, zum Loch in ihrem Sichtfeld. Ein Nachtwind fuhr in die Rauchsäule, die auf dem Haus stand, auch in Lenes Ärmel, vielleicht sogar in den Ärmel des Mannes, der schon die Mitte der Leiter erreicht hatte, Lene wandte sich zum Gehen, drehte sich wieder zurück, ihre Sohlen strichen über den Boden. Der Mann war ihr egal, und es war ihr egal, daß er ihr egal war; sie hatte mit diesem Mann nichts zu tun, seine Heldenhaftigkeit ging sie nichts an, und eigentlich war auch der ganze Brand eine Farce. Lene stemmte die Hände in die Taschen, der Mann bog die Knie, hob die Unterschenkel und stieg durch die rauchige Nacht, am Opferbalkon vorbei, höher und höher, was wollte er dort oben, sie wollte es nicht wissen, ein Strichmännchen war er, ein Strichmännchen auf der Strichleiter, ein Retter, ein Held, ein Feuerwehrmann. Lene ging. Jahre später sah sie ihn auf einem Zeitungsfoto, in Reih und Glied; sein Kopf war ein rosa Punkt, textmarkermarkiert zwischen Graugesichtern. Seine Mutter hatte ihr das Bild geschickt, kommentarlos, die Adresse steil auf den Umschlag gekrakelt; wahrscheinlich hatte sie den Mann rosa eingefärbt, um Lene das mühsame Suchen zu ersparen, Augenvergleich, Kinnabschätzung; Frisur oder Haarmenge boten ja keine Orientierung mehr, genausowenig die Breite des Gesichts.
Die Mannmutter, wie sie in ihrem aristokratischen Wohnzimmer saß, den feuchten Edding in der papierenen Hand, den Mannmarker, und ihn in das Gesicht ihres Sohnes drückte, als bespritze sie es mit Blut oder gebe ihm zumindest auf ewig die Farbe ihres Schoßes, und das saugfähige Zeitungspapier schlürfte den Farbsaft in sich hinein, LeuchtEdding, rosa Lichtenergie. Die Zitterhand hatte das Gesicht gut getroffen und die Haare gleich mit, die Ränder sorgsam ausgemalt, selbst das winzig zur Seite lugende linke Ohr, nur an der Wange beulte das Rosa sich aus, vielleicht eine Pore des Papiers, in die die Farbe gelaufen war, sie verklebte die Poren der Mannhaut, die vielen Vertiefungen in seinem Gesicht, so groß und so tief wie die von Lenes derzeitigem Bettgenossen, der im Morgengrauen, auf der Bettkante sitzend, doch ziemlich dachdeckerhaft aussah und dem sie zum Trost ihren großen Zeh ins abstehende Ohr gebohrt hatte. WHILE r > 0 schrieb Lene auf den Monitor, und der Cursor blinkte, DO schrieb Lene, BEGIN, das Foto lag auf dem Schreibtisch, und das Manngesicht überstrahlte nicht nur die benachbarten Schattengestalten, sondern beleuchtete über die Grenzen des Fotos hinweg auch den Fuß des Monitors und die Tastatur, war nicht zu übersehen, dabei kaum zu erkennen, die Züge verzerrt wie in dem Moment kurz vorm Losschlagen, wenn das Blut ins Gesicht schoß, die Hand sich härtete, während ihre Minihände sich taub anfühlten. Lene nahm das Bild hoch, ließ es zwischen den Fingerspitzen pendeln, vielleicht sollte das Signalrosa auch an das Feuerwehrrot erinnern, das Bild war ein Feuerwehrbild, Ehrung für 40jährige Mitgliedschaft. Lene suchte den Namen des Mannes in der Bildunterschrift, ließ das Foto sinken, schrieb IF und ODD (r) und THEN. Was sollte sie mit dem Foto tun, war es ein Stück Konzeptkunst, sollte sie es rahmen, aus dem Fenster segeln
lassen, wegfaxen, an Hannes, der an so was seinen Spaß hatte? Leider käme das Rosa nicht bei ihm an, sie müßte einen Pfeil und «rosa Edding» hinzufügen, und der Zeitungsausschnitt beeindruckte ja gerade durch private Wortlosigkeit. Vor Jahren hatte die Mannmutter sie um so wortreicher angerufen, der Mann läge im Sterben, im Sterbebett, vor das Lene sich stellen solle oder daneben, versöhnen, sagte sie, und bereuen und lebenslang, steinerne Wörter, und Lenes Sprache dazwischen wie Plastikbuchstaben zum Aufkleben: ach ja? wozu? glaub ich nicht, dabei hatte sie einen kleinen Schreck verspürt, fast angenehm, einen Luftzug, wie er sie immer anwehte, wenn vom Tod die Rede war. Nach dem Auflegen hatte sie sich zurückgelehnt und sich auf die Nase getippt, die sie vom Mann hatte, die aber doch ihre eigene war, war dann im Laufe des Tages immer zappeliger geworden, hatte mit den Füßen gewippt, mit den Fingern getrommelt, die Zigarette zwischen den Zähnen auf- und abschnappen lassen, hatte sogar gelächelt, versehentlich, woher dieses Lächeln und Prickeln und Zappeln, dabei hatte sie eigentlich immer gedacht, der Mann sei ihr egal und sonst nichts, und dann starb er nicht mal. Als die Frau schon im Krankenhaus lag, saßen Hannes und Lene im blauen Kadett und fuhren zwischen verschneiten Hängen. Der Schnee häufte sich in den Gräben, krallte sich an den Straßenrändern fest, und wenn Hannes bremste, glitt der nasse Asphalt unter den Rädern durch. Lenes linke Hand flog in die Luft, fast bis zum Rückspiegel, keine Panik, sagte Hannes, und Lene: ach was, ihre Hand sei plötzlich so leicht, sie habe den Fingerring zu Hause vergessen, neben dem Waschbecken liege er, sie könne die Hand kaum unten behalten, der Finger schmerze vor Nacktheit, als fiele er ohne den Ring auseinander. Hannes schaltete, faßte dann den ringlosen Finger am unteren Glied und drückte, hielt ihn bei gleichmäßigem Druck zwischen drei Fingerspitzen, ein
Ringersatz, fuhr weiter ohne zu schalten. Lene rieb den Rücken an der Lehne, schaukelte sich leicht in die sich abspulenden Kurven hinein, während Hannes weiter den Ring simulierte, sie probierte es aus, seine Hand ging mit der ihren mit, überallhin, auch als sie die Haare hinters Ohr schob. Schließlich legte sie die schwer gewordene Hand auf Hannes’ Knie, wo sie erst allmählich, dann immer schneller auskühlte. Die Stadt war inzwischen eine andere geworden, die der früheren nur entfernt ähnelte; sie hatte sich ein paar Mal selbst zerstört und wiederaufgebaut; Straßen waren verlegt und verbreitert worden; in den wenigen Zwischenräumen drängten sich die neuen Häuser, Minihochhäuser, eckig und glatt, vor denen grellblaue Mülltonnen standen. Hannes und Lene streiften sie beim Umhergehen, gingen mit Tunnelblick auf Hausecken zu, hinter denen sich neue Betonschluchten auftun würden, und dann: wie weiter? rechts oder geradeaus? Selten wußten sie, wo sie waren, mußten sich mühsam orientieren, suchten nach Anhaltspunkten am Boden, Kanaldeckeln, Kaugummiflecken, Rissen, wollten wiedererkennen, was nicht wiederzuerkennen war, und sahen dabei durch die neuen Fassaden hindurch nur die alte Stadt, die eine Geister- und Kopfstadt war und die sie zwanghaft in Gedanken rekonstruierten. Während sie über jede Ebenheit stolperten, renovierte und modernisierte sich um sie herum die Stadt. Gerüste standen herum, es wurde gehämmert und zementiert, neue Häuser wurden abgerissen und durch noch neuere, nietund nagelneue ersetzt; mit großer Rasanz veränderte, wandelte sich die Stadt, während das Sterben der Frau sich in die Länge zog. An der Kante des Krankenhausbettes lehnte sie und strich mit dem rechten Pantoffel im Viertelkreis über den Boden, sah geradeaus, die Hände in Hosentaschen. Unter Jeans und Hemd zeichneten sich die Knochen ab, aus denen die Frau fast nur
noch bestand und zwischen denen der Husten sich durchzwängte, vorbei an Knoten und Knötchen. Die Frau hustete, witzelte über den Husten; bald würde sie sich komplett weggehustet haben, dann gäbe es sie nur noch als Husten, der umherwehte, geisterhaft. Sie ging zum Spiegel, zog den Lippenstift nach, während woanders die Ärzte überlegten, was sie ihr noch wegoperieren könnten, Stimme/Zunge/ Geschmack. Länger als nötig sah sich die Frau im Spiegel an. Soll ich sterben, fragte sie das Bild; die Kinder standen reglos und durcheinander im Raum, Paul atmete; soll ich sterben, fragte sie und lehnte sich an Hannes, und sie sagten nein und vielleicht und weiß nicht, saßen später am Boden um die Frau herum, dachten sie sich weg, ließen sie in ihrer Vorstellung verblassen und im Weiß der Wand und der Bettwäsche aufgehen, während die Frau wieder mit dem Husten begann. Vielleicht mußten sie sie nur festhalten, alle drei, am Bauch und am Rücken, dann wäre Schluß mit der Husterei; vielleicht brauchten sie ihr nur die Hand zu führen, die Lippen zu bewegen, die Füße am Boden vorwärtszuschieben, und sie würde leben und immer weiterleben. Draußen im Flur kam der Arzt auf sie zu. Die Überlebenschancen der Frau seien um 15 Prozent gestiegen, rief er ihnen entgegen. Hannes fragte wieso; Paul legte den Arm um Lene. Der Arzt hielt ihnen den Taschenrechner vor.
Länger als Lene war Lenes Schal und schwarz und zog sich noch länger, verfing sich in Zacken und allem. Lene zerrte an ihm, einem Schal, der festhing, riß. Sie schleifte ihn hinter sich her. Die Stadt im März: Fachwerk, erfrorene Äpfel, Lastwagen, Meßpunkte, abseits die Ruhr. Lene stellte den Fuß auf den Eisrand, es knirschte, ein Sprung. Am Boden krachte ein
Zweig, dessen Schatten zerstob. Gasthof Canisius. Neben dem Türrahmen stand sie, im Flur, der Finger strich über gestreifte Tapete, eine Kante, Ecken, dahinter: Onkel, Tassen und Tanten, vor allem Tanten, in grünen Kostümen, lächelnd, rührend bemüht, einander das Grün wegzulächeln, auch Onkel, die ihre Finger ansahen, in denen nichts steckte. Eine sagte was, sofort redeten viele und nickten in eigenen Tempi, gemächlich und schnell, ihre bleichen Locken blieben still. Dann hob Onkel Karl auch noch den Kopf, sah auf und zur Tür, zur halben Lene, sein schmaler Blick schob ihren Körper nach links, bis nur noch die Hand in das Türloch ragte, auf die die Blicke nun prasselten. Die Hand winkte. Der Kirchplatz, ein Trapezoid, spiegelte den Himmel, Eisbrocken lagen wie Dinge herum. Lene trat gegen einen, der nicht zerbarst, auch sie blieb ganz, sah ihm nach, der weit über den Platz glitt, schlitterte hinterher. Der Schal streifte über das Eis, so oft sie ihn schulterte, verhakte sich, wo es am glattesten war. Sie schwang ihn herum, er stand in der Luft, ein Strich vor der Kleinstadtkulisse. Gasthof Canisius. Im Flur lehnte die jüngste Tante, die rauchte und blaß war und nach Lenes Unterarm griff. Mit kalter Hand zog sie sie in die Stube, wo mehr Hände ihr entgegenragten, Lene schüttelte sie alle, reihum, immer im Kreis, bis die Gesichter sich wiederholten. Der Drall drückte sie auf einen Stuhl, sie verstaute die Beine, griff zum Gäbelchen, wie Renate, wurde da gesagt. Lene hob den Kopf. Manche sahen sie an, andere die Teller. Die jüngste Tante, am anderen Ende des Raumes, sprach laut und gedämpft auf sie ein: Deine Gesten. Wie du dich hinsetzt. Wie sie. Lene schüttelte knapp den Kopf, und: Schon wieder, rief die Tante, und Lene: Ich nicht. Unsinn war das, verschiedener konnte man nicht sein als die Frau und sie und die Frau, die sieben Handtaschen hatte und außerdem tot war. Lene hob sich ein
Kuchenstück auf den Teller und spielte mit der Tasse, wobei sie frauhaft die Finger verbog, du kannst das auch, hatte die Frau gesagt, aber Lene hatte es nicht können wollen. Wenn die Frau ihr mit paarweise aneinandergepreßten Fingern vorm Gesicht schnippelte, flatterten ihre Lider, zerteilten das Bild, dann, Tage später, sie war allein, strich sie sich Pattex auf die Fingerseiten. Die Frau riß ihre Hände zu sich und schrie, jahrelang, während Lene kopfüber aus Bäumen fiel, sich prügelte, sich tätowieren ließ. Ein schöner Schrei, und als er verklang, verschwanden die Wunden, die Frau radierte an den Narben herum. Die aber blieben. Schicke helle Striche, die aufblitzten, als Lene im dämmrigen Gastraum die Ärmel hochschob, die Ellenbogen aufstützte. Wie Renate, sagte niemand, und sie hatten ja recht, alles mögliche sah Lene in ihrer Tasse, nur nicht das Fraugesicht. Na und? Sie stellte die Tasse ab, daß der Tee bis zum Rand schwappte, saß und aß und war eine Nichte, sonst nichts, derweil die Tanten von Quitten sprachen, vom Quittenzerhacken und Quittenzersägen. Vom Quittensprengen sprachen sie nicht. Die Onkel schwiegen. Nacht. Außer der Nacht nahte ein Tief, das ihr seit Krefeld entgegenjagte, wolkig, windig, lau verdüsterte es Hagen, fegte durch Fröndenberg, stieß auf die Nacht und färbte sie schwarz, schalschwarz, dann weiter nach Freienohl, als die Nacht längst in Aachen war. Dort hatte der Theodolit gestanden, dreibeinig, grau im gleißenden Licht. Sein Schatten klappte Lene entgegen, sie drehte am Okular, schwenkte ihn herum: 30, 70, ein Stopschild, Jan, der in zwei Fingern den Fluchtstab hielt. Dahinter der Türke mit dem Stativ, er fixierte den Stab, rotweißrot, stellte ihn lotrecht, Lene sah beide durchs Okular, einfluchten wollte sie sie, nach Strich und Faden, und jetzt. Der Türke rieb mit der Fingerspitze übers Stativ. Jan hob den Kopf.
Beide, entschied die Frau später, oder keinen. Sie schielte über die Öffnung der Bierflasche hinweg zum Münster. Lene, die vor ihr auf der Treppe saß, verdrehte den Kopf: dann lieber keinen, und: Prost, rief die Frau. Sie schwang ihre Bierflasche gegen Lenes, gestikulierte und lachte, daß die Passanten sich umwandten. Auch Lene lachte. Zwischen Wänden und Stunden nahm sie ihr Glas, hob die Kante zur Nase. Die Tanten sprachen jetzt über die Onkel, auch über das Schweigen der Onkel, und Lene drückte den Glasrand an ihre Nase, da, rief die jüngste, seht euch das an. Lene erstarrte sofort, damit man sie fokussierte. Bleib so, hatte niemand gesagt, also blieb sie so, bis man nein, wirklich sagte, sich abwandte. Und gähnen, die Arme über den Tisch gestreckt, spitzwinklig wie die Kleiderausschnitte, die Zeiger der Uhr, die sich berührten und spreizten, zu stumpferen Winkeln und überstumpfen, schon brach man auf, hielt einander die Mäntel, bezupfte sie wie später die Gräber. Draußen: Regen. Tropfen zerplatzten auf eisigem Boden, um sofort zu gefrieren. Lene, in den Türrahmen gelehnt, ließ die Schuhspitze über den Boden gleiten: glatt. Ziemlich glatt. Dann standen die Verwandten am Hang, unsicher, frierend, die Köpfe gesenkt, hinskizzierte Gestalten, sie hielten einander an Ellbogen, Schultern und Ärmeln, tasteten sich vor, rutschten zurück. Vorn die jüngste Tante, deren Schritt sich verlängerte, ihr entglitten die Füße, die Beinschere spreizte sich weit, bis endlich die Hand den Boden berührte und die Tante sich mühsam aufrichten konnte. So gehts nicht, entschied sie. Wir brauchen einen Schal. Meßpunkte blitzten auf unter der Eisschicht, den Hang empor, Grenzpunkte und Polygonpunkte flirrten umeinander herum, undefinierbar, ein Punktewirbel. Lene: stand, am durchpunkteten Ort.
Wer hat einen Schal? Sie stöberten in ihren Kleidern, blickten an sich herab, träge drehten sie sich zu Lene, deren Finger sich spannten, den Schal nicht berührten, jetzt nicht. Schon lag er am Boden, lang hingestreckt, und über ihm schwebte ein Schuh, dann: Schritte, die über ihn niedergingen, Staccatoschritte, die trafen präzis, punktierte Rhythmen, Schritte und Schrittchen, der Weg der Frau durch den weißen Flur, von einer Bodenfliese zur nächsten, in neuen Pantoffeln, über der Schulter den Schal, auf dem sie gingen, Tante, Onkel, Tante. Vorn warfen sie ihn wieder aus, der sich plättete unter den Tritten, dessen Fäden sich aneinanderpreßten und mürbe wurden, Lene legte ihn um den Hals der Frau, immer im Kreis um die Frau herum, der Schal zerfaserte und zerfranste, Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß, schwarz glitt er durch Lenes Finger, die Frau tippte ihn an: den möchtest du erben, nicht wahr, er fiel aus der Hand, lang aufs Eis, auf ihm stiegen sie hoch, dessen Fäden sich lösten, der zerfiel und zerging: sie vermaßen den Hang mit ihm, einem Schal. Oben schoben sie die Fetzen mit den Füßen ins Gebüsch, nickten Lene zu: Morgen kaufen wir dir einen neuen. Sie drückte die Hände tief in die Taschen, die Schultern gewölbt, hob den Blick. Aus Mohair, verlangte sie dann. Steil richteten sich die Verwandten auf. Sie traten zurück, sie steckten die Köpfe zusammen. Renate war anders, murmelten sie.