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l Der Reisende hatte eine Strecke gewählt, die hauptsächlich für Rohstofftransporte benutzt wurde. Sie führte in einen Bereich der Milchstraße, der nur dünn besiedelt war, wenige, weit voneinander liegende Planeten gab es hier, ihre Sonnen waren klein und kraftlos. Hier konnten die Transporte große Entfernungen geradlinig überwinden, nichts hemmte ihren Weg, zwang sie zu Zeitverzögerungen. Der Reisende hatte sich nach langen Überlegungen für diese Strecke entschieden, denn sie führte genau in die Gebiete fernab von der Zivilisation, denen man so wenig Bedeutung beimaß und ohne die doch das ganze System nicht funktionieren würde. Der Reisende hoffte, dort Erkenntnisse zu gewinnen, die ihm bei seinen täglichen Meditationen verschlossen geblieben waren. Seine Freunde hatten über diese Idee die Köpfe geschüttelt, es war ganz und gar nicht üblich, Nachforschungen anzustellen, wenn man Zusammenhänge erkennen wollte. Sich in sich selbst versenken, lange nachsinnen, den Flug der Gedanken verstärken, sich mit anderen verbinden, gemeinsam begreifen, registrieren, deuten, das alles waren Mittel, die einem Forscher und Philosophen auszeichnen. Auf diese Weise hatte sich die Menschheit entwickelt, hatte Weisheit gewonnen, war aufgestiegen zur Herrscherin über die Natur, und das war es, worin sie sich von allen anderen Wesen im Universum unterschied. Aber der Reisende wollte die Randgebiete selbst sehen, die Meditation half ihm nicht weiter, und wenn ihm auch die anderen niedere Abenteuerlust vorhielten, so bestand er doch darauf, daß Forschung mehr war als
Gedanken addieren. Schauern und das Unfaßbare als Realität hinnehmen, das schien ihm mehr wert zu sein als das Beharren in festgefahrenen Denkvorstellungen. Er stellte sein Gerät sorgfältig ein, überprüfte mehrfach die Zielpeilung, schließlich war es ein überdurchschnittlich weiter Weg, den er zurücklegen würde. Er hoffte, in einem Monat zurück zu sein, aber es kam ganz anders. Der unglaubliche Zufall wollte es, daß in der Nähe einer kleinen, gelben Sonne, die am Weg des Reisenden lag, ein skurriles Gefährt von einem toten, atmosphärelosen Gestirn aufstieg, angepeilt von einem Zielgerät, das in einer hundertstel Sekunde den Weg des Reisenden hemmte. So unwahrscheinlich dieses Zusammentreffen auch war – der Reisende hatte keinen Augenblick diese Möglichkeit auch nur erwogen –, seine Fahrt nahm dadurch eine völlig unerwartete Wendung. Grau und schmerzlich war sie zu Ende, irgendwo in den kalten Zonen der Randgebiete.
2 Jochen Berner löffelte seine heiße Tomatensuppe und blickte dabei sein Gegenüber an, den runden, blonden Kopf des Tagesschau-Redakteurs Harmbeck. Berner hatte gerade ein paar randgefüllte Tage hinter sich, und er wußte, daß die nächsten nicht weniger turbulent sein würden. Er machte Reportagen, ganz aktuell, am liebsten direkt vom Platz des Geschehens, live also, und er wußte, daß er mit diesen Berichten gut lag, das war etwas, was er konnte.
Das Lob seiner Kollegen und der Fernsehzuschauer zog er sich täglich wie ein frisches Hemd an. Harmbeck hatte ihm eben eine saftige Geschichte erzählt, Haustratsch, und sie lachten beide. "Mitten in der Sendung?" fragte Berner noch einmal, um den Spaß auch ganz auszukosten. Harmbeck nickte. "Es sollte doch live sein, aber der liebe Chef Kommentator hatte nicht bis zur Sendung warten wollen. Er hatte seinen Beitrag auf Band aufgezeichnet, und das natürlich nicht nur einmal, sondern viermal, bis es ihm besonders gelungen schien. Er hatte wieder letzte politische Weisheit verspritzt, und so einen Versprecher, den konnte sich der große Herr doch nicht leisten." "Und da hat er gesagt, zum Donner, das machen wir noch einmal?" Harmbeck lachte bei der Erinnerung wieder. "Das wäre ja nicht schlimm gewesen, nur wurde leider dieses Band gesendet und nicht das endgültige. Wir waren alle so entgeistert, daß uns erst Sekunden später bewußt wurde, was da über den Bildschirm gegangen war! Mitten in der Sendung sagt der große Chefkommentator, zum Donner, das machen wir noch einmal, und blinzelt nervös in die Kamera." "Der ist zu Haus im Sessel zusammengebrochen", sagte Berner und schlürfte genußvoll seine Suppe. Harmbeck schüttelte lachend den Kopf. "Zusammengebrochen ist der Regisseur unten im Studio. Der große Herr hing keine Minute später am Telefon und machte sich beim Chefredakteur Luft. Na, du kannst dir vorstellen, was nach der Sendung los war." Berner lehnte sich in seinem Stuhl zurück, zündete sich eine Zigarette an und blickte zufrieden um sich. Die
Kantine war um diese Zeit voll, und viele Kollegen grüßten ihn von den Nachbartischen her, manche, die er gar nicht kannte, aber für die er einer der bewunderten Fernsehstars war. Er brauchte Zuschauer, auch hier in der Betriebskantine. Er schob Harmbeck die Zigarettenpackung hin und sagte, weil er wußte, daß es gut ankam: "Dann traf die Schuld mal wieder den Kleinsten, der sich nicht wehren kann." "Davon, daß der Kommentar aufgezeichnet und nicht live gesendet war, sprach keiner mehr", meinte Harmbeck zustimmend, "aber der arme Kerl, der die Bänder mit der Aufzeichnung vertauscht hatte, der wurde geköpft." "In eine andere Abteilung versetzt?" Harmbeck beugte sich vor und beschrieb, wie sich Ärger und Wut, aber auch Angst um die eigene Position und Scham vor den Kollegen wie eine Flutwelle über den Techniker ergossen und ihn auf staubige Nebenarbeiten gespült hatten. Berner hörte nicht mehr zu. Uninteressant, was da in diesem elektronischen Schaltwerk moderner Fernsehtechnik passierte, Hilfsarbeiten für seine eigenen großen Auftritte. Die Technik hatte zu funktionieren; wie, das war nicht seine Sache, und es lag ihm fern, sich damit zu beschäftigen. Plötzlich stand er auf, hatte das Gefühl, lange genug hier gesessen und freundliche Worte gewechselt zu haben. Er klopfte Harmbeck auf die Schulter, murmelte ein ›Schönen-Tag-noch‹ und war schon an der gläsernen Ausgangstür, breitschultrig, nicht ganz so schlank, wie er es sich wünschte, in einem gutsitzenden Schneideranzug, die Blicke der anderen auf seinem Rücken spürend.
Geht langsam auf die Vierzig zu, dachte Harmbeck, als er ihm nachsah, der ist mit seiner Karriere noch nicht am Ende, so selbstsicher und gewandt, kaltschnäuzig und ehrgeizig, ein Kerl, dem der Beruf ebenso auf den Leib geschneidert ist wie der Maßanzug. Die Unruhe in der Kantine schreckte den Redakteur aus seinen Gedanken auf. Viele Kollegen waren aufgestanden, hatten sich in einen Nebenraum zurückgezogen, um dessen Tür sich Nachkommende drängten. Hier, im Fernsehzimmer, zitterte die Direktübertragung vom Mondflug über die Mattscheibe, das oft schon gehörte Wechselgespräch mit dem Mutterschiff Europa I in englischer Sprache, nun aber zum ersten Mal ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer und ein Italiener an Bord dieses Mondlandeunternehmens.
3 Der Kontrollmonitor zeigte gestochen scharfe Bilder aus dem Mutterschiff. Die Landefähre hatte sich vom Mondboden abgehoben und kam in weitem Bogen auf den Rendezvouspunkt zu. Hier im Meß- und Kontrollraum des Deutschen Raumfahrtinstituts war Hochbetrieb, eine stickige Atmosphäre, in der das Piepen, Schlürfen und Schnalzen der Elektronik wie geronnene Puddingmasse standen. Etwa dreißig Frauen und Männer, Wissenschaftler und Ingenieure, saßen in dem niedrigen, fast fensterlosen Raum, zwischen dem Blech, den Röhren, Kontrollampen, Schaltern, Magnetspulen, Transistoren und Verstärkern. An der einen Wand, über die offen verlegte Kabel verliefen,
stand ein zimmerlanger Holztisch, auf dem die Kontrollmonitore und Meßgeräte aufgebaut waren. Hier war das Überwachungszentrum. Dahinter Tischreihen für die Wissenschaftler, die die Daten überprüften und neue errechneten. Hinter ihnen, fast schon an der gegenüberliegenden Wand, die Schaltpulte des Rechenzentrums, scheinbar planlos in Tausenden von Plastikadern mit Geräten außerhalb dieses Raumes verbunden. An der Schmalseite des Raumes, auf einem hölzernen Podest und mit einer Glaswand abgetrennt, das Chefzimmer, ein Führerstand, in dem die wichtigsten Fäden zusammenliefen. Die Luft hätte hier wohltuend kühl, der Lärm erträglich sein können, wenn nicht immer die Glastür offengestanden hätte. "Meßwerte normal", sagten die Stimmen in der stickigen Luft, in den Mikrofonen auf den Tischen, in den Lautsprechern an der Decke und im Chefzimmer, die Stimmen in den kilometerlangen Kabeln zu den anderen Haupträumen des Instituts und in den Telefonleitungen zu den anderen europäischen Raumfahrtstationen, zur Abschußbasis und zum Steuerzentrum. "Keine Abweichungen – - – Ankopplung beendet – - – Europa I bitte kommen – - – Europa I bitte kommen." Im leeren Chefzimmer schrillt das Telefon. Bevor die Sekretärin vom Vorzimmer aus den Schreibtisch erreichen kann, ist einer der Wissenschaftler von seinem Pult aufgestanden, durch die offene Tür geeilt und hat den Hörer abgenommen. "Hadrich", meldet er sich,"– nein, der Chef ist noch nicht zurück. Die Ankopplung hat gerade geklappt – ja, danke, wir sind alle sehr zufrieden, ihr könnt das Fernsehteam schon heraufschicken, die müssen ja noch einleuchten vor dem Interview."
Der Wissenschaftler legt den Hörer auf und starrt einen Augenblick lang durch die Glaswand in den Meßraum. Ein Bild, das sich seit Wochen kaum verändert hat, Tag und Nacht, nervenfressendes, konzentriertes Arbeiten am Höhepunkt eines ehrgeizigen, mehr politisch als technisch bahnbrechenden Projekts. Daß jetzt auch Europäer den Mond betreten haben,-aus eigener Kraft, mit eigenen Mitteln, in jahrelanger, selten harmonisch verlaufender Vorarbeit geplant, daß sie jetzt alle dabei sind und dazugehören, das erfüllt sie mit Stolz. In diesen Wochen und Monaten mußte auf private Wünsche verzichtet werden, es hatte manches harte Wort gegeben, überreizt, wie sie waren. Auch der Chef, denkt Hadrich, kühl und besonnen, wie der Chef ist, auch er hatte einige Male unnötig scharfe Worte gebraucht. Hadrich lächelte. Jetzt dürfte der Chef zufrieden sein, die schwierigste Phase ist vorüber, kein Zweifel, daß die Astronauten sicher zurückkehren werden. Schon damals bei den amerikanischen Mondflügen gab es ja kaum noch Unsicherheitsfaktoren. Als sie alle vor Jahren von hier aus die Apolloflüge verfolgten, waren sie hingerissen von der technischen Perfektion. Jetzt beherrschten sie sie selbst. Sie waren nicht schlechter als die in Houston. Hadrich, vierunddreißig Jahre alt, Junggeselle, mit weichem, braunem Haar, schwarzer Hornbrille, Tennisspielerfigur, Hadrich gehörte jetzt zu den Experten in der Welt.
4 Dr. Gerd Kramlo hatte viele Jahre gebraucht, bis er seine berufliche Laufbahn mit diesem Erfolg schmücken
konnte. Ingenieur mit politischen Interessen, übermäßig ehrgeizig und ständig von dem Gedanken verfolgt, ihm könne einmal ein Fehler unterlaufen, hatte er sich Zug um Zug dem Direktorensessel entgegengeschoben, nichts überhastet, aber auch keine Gelegenheit ausgelassen. Jetzt, Mitte Fünfzig, war er Leiter des Deutschen Raumfahrtinstituts, einer Einrichtung, die in den letzten Jahren internationales Ansehen und innerhalb der europäischen Gemeinschaft eine führende Rolle erworben hatte. Kramlos Sohn Andreas, der neben ihm stand und auf ihn einredete, schien nichts vom Vater ererbt zu haben. Das einzig Gemeinsame zwischen beiden war gleichzeitig auch das am stärksten Trennende: Beide trugen die Uniform ihrer Generation. Kramlo erschien wie stets in seinem Büro in einem eng geschnittenen, in warmem Ton gehaltenen Anzug, den breiten Schlips unter einem sorgsam gestutzten Bart wie eine Blumenwiese drapiert. Sein Sohn dagegen war wie fast alle Zwanzigjährigen kahl rasiert und trug die zottige, fellähnliche Kunstfaserkleidung, die an die Tracht kanadischer Pelztierjäger erinnerte. "Du könntest doch wenigstens heute abend für eine Stunde kommen, Vater, ich weiß nicht, warum du so störrisch bist. Das ist unsere erste Ausstellung, der Beginn einer Malerei, die zum ersten Mal Piet Mondrian ..." "... ins Geistige transponiert", lächelte Kramlo und schüttelte mit knapper Bewegung den Kopf. "Das hast du mir alles schonerzählt, Andreas. Aber heute beginnt der Rückflug, wenn du dich bitte erinnern willst. Ich bin – wir alle sind hier verantwortlich für die Männer im Raumschiff, für ihre Rückkehr und für die nutzbringende Verwendung der öffentlichen Mittel."
"Du redest zu mir wie zu deinem Aufsichtsrat. Die öffentlichen Mittel sind mir egal, und daß die Herren Raumfahrer heil zur Mami kommen, dafür hast du hier ja einen Riesen-Stab von gut trainierten Leuten sitzen. Heute abend sagt der Singbai was zu seinen Bildern, gelben und orangeroten Spiralen in mathematisch gegliederten Sphären, Zeitspiralen, die dich die Verschiebung der Dimensionen erahnen lassen, verstehst du, nein, du verstehst nur immer öffentliche Mittel." Kramlo war weitergegangen, in Gedanken bereits an seinem Schreibtisch und bei den vielen Verpflichtungen, die auf ihn warteten. Als sich Andreas ihm jetzt in den Weg stellte, gestikulierend und nicht gewillt, den Vater ohne Zusage vorbeizulassen, wurden seine Lippen schmal. "Die öffentlichen Mittel, die du verspottest", sagte er eindringlich, "ernähren uns und ermöglichen dir dein Studium. Würdest du dir das einmal unter die Glatze schreiben?" In diesem Augenblick veränderte sich das monotone, hier auf dem Flur des Raumfahrtinstituts gedämpft blubbernde und piepende Geräusch aus den Meß- und Kontrollräumen, aus den Rechenzentren und Büros. Der Lautsprecher über der Tür des Chefzimmers schaltete sich knisternd ein, dann sagte die kalte, unpersönliche Stimme des Ersten Physikers: "Keine Daten vom Schiff. Energieentladung im Gammabereich. Versuchen, die Verbindung wieder herzustellen." Die Worte fielen wie Steine herab. Kramlo zögerte nur eine Sekunde, dann hatte er mit einem Satz die Tür zu seinem Zimmer erreicht, über der der Lautsprecher diese unglaubliche Nachricht verbreitet hatte.
Sein Sohn reagierte nicht so prompt. Er starrte dem Vater nach, sackte dann in seinem Trapperfell zusammen, reckte den Kopf vor, klopfte sich mit den Knöcheln der Faust gegen die Stirn und murmelte: "Nichts verstehst du von Gelb. Immer nur deine Raumfahrt, die hast du im Kopf. Was da sonst noch drin ist, weißt du selber nicht, Angst könnte man bekommen vor dem, was da drin ist." Aber Kramlo hatte die Tür bereits hinter sich geschlossen, überfallen vom Stimmengewirr. "Europa I, bitte melden", sagten die Stimmen. "Noch immer kein Kontakt. Unterbrechung in Position BA SiebzehnNullNeun. Europa I, bitte melden." Und dazwischen, fast drohend, die Stimme des Ersten Physikers, noch einmal: "Energieentladung im Gammabereich." Kramlo stand an seinem Schreibtisch und teilte kurze, präzise Anordnungen aus, diese Situation stellte ihn, er nahm sie als Herausforderung. Seine engsten Mitarbeiter standen um ihn herum, vertrauten seiner Umsicht, warteten auf Weisungen. "Informieren Sie das Startzentrum in Sydney", sagte Kramlo zu Hadrich. "Ist schon geschehen, Chef. Was ist mit der Raumfahrtbehörde?" Kramlo schüttelte den Kopf. "Erst wenn wir Bescheid wissen", entschied er. Dann folgten seine Augen einer kurzen, unauffälligen Szene. Einer seiner Wissenschaftler hatte die Tischreihe mit den Meßinstrumenten verlassen und war hinausgelaufen, zu schnell und im falschen Augenblick, wie Kramlo meinte. "Holen Sie Anger zurück", sagte er zu Hadrich.
In diesen Sekunden scheinen die Lautsprecher das Leben im Raumfahrtinstitut zu diktieren. Anweisungen und Informationen sprühen durcheinander, jeder Mitarbeiter hockt an seinem Platz, bereit, seine Daten beizusteuern, wenn sie abgefordert werden. Die Flure sind leer, die Fahrstühle verlassen. Anger hat mit einem Sprung einen offenen Fahrkorb erreicht, die Kellertaste gedrückt, jetzt hüpfen die Zahlen über der Tür abwärts. In der Hand hält er ein kleines Gerät, ein Kabel hängt an der Seite heraus. Als sich im Keller die Schachttür wieder geöffnet hat, eilt Anger auf eine Stahltür zu, schließt sie auf, während er weiter das kleine Gerät umkrampft hält. Als sich die Tür wieder hinter ihm geschlossen hat, sieht der Kellerflur ebenso leer und unbenutzt aus wie alle neun Flure darüber, unmöglich für Hadrich, Angers Spur zu folgen. Hadrich blickt kurz und ohne Erwartung in die Toilettenräume, ruft pflichtgemäß über Haustelefon in die Kantine, zuckt die Achseln und kehrt ins Chefzimmer zurück.
5 Der Reporter hockte auf dem harten Holzstuhl am Pult des Bildingenieurs und lachte. Seit zwei Wochen stand dieser große Übertragungswagen des Fernsehens auf dem Hof des Raumfahrtinstituts und stellte so die elektronische Verbindung zu den Studios im Funkhaus und zu den Sendezentralen her. Hier aus dem Ü-Wagen, wie die Fernsehleute knapp und militärisch sagten, hier aus diesem fahrbaren Studio konnten Meldungen, Berichte und Reportagen direkt überspielt werden. Kein
Zeitverlust, Aktualität geht vor, der Zuschauer will wissen, was sich abspielt zwischen hier und dem Mond. Berner, mit den Berichten aus dem Raumfahrtinstitut während dieser ersten europäischen Expedition beauftragt, verstand mit dem Drei-Millionen-Objekt zu spielen. Er war mit seinem Team hier mitten zwischen den blasierten Raumfahrern, er machte die Show. Sein Lachen klang schadenfroh. "Seit wann sind die Mondfahrer witzig?" wunderte sich der Bildingenieur und steckte neugierig den Kopf herein. Im Ü-Wagen war alles eng, das Fernsehstudio war auf kleinstem Raum untergebracht. Wenn man mit den Kollegen reden wollte, mußte man schon als Schlangenmensch geübt haben. "Die haben seit Sekunden nur noch Sauerkraut auf ihren Bildschirmen", sagte Berner und fand das offenbar erheiternd. Der Kameramann, der Toningenieur und der Fahrer quetschten sich jetzt ebenfalls herein. "Kontaktstörung?" fragte der Bildingenieur, griff mit geschulter Hand zu den Schaltknöpfen und Mischhebeln am Pult, pegelte das Bild ein, überflog forschend die Kontrollskalen, schließlich stellte er befriedigt fest, daß hier alles in Ordnung war. "Sieht böse aus", sagte er ernst, "müssen ganz erhebliche atmosphärische Störungen sein." Betroffen hakte Berner ein. "Das kann auch uns das Geschäft verderben", erkannte er. "Prüft mal die Strecke zum Studio." Er machte dem langen Bildingenieur Platz, der sich gewandt auf den Sitz schob, noch beim Hinsetzen die Ruftaste drückte und mit den Kollegen im Sender, hundertachtzig Kilometer entfernt, Kontakt aufnahm.
Der Mann im Schaltraum meldete sich sofort. Hier im ÜWagen war die Erleichterung zu spüren, die Leitung stand, die Verbindung war tadellos. "Sagen Sie der Redaktion, wir brauchen mehr als 30 Sekunden für den Bericht", gab Berner noch durch, "hier ist allerhand los, ich will ein Interview mit dem Chef machen." Stichworte, die man sich wie Spielkarten zuschob. Man war unter sich, Fachchinesisch, das den Wortwechsel auf wenige exakte Vokabeln beschränkte. Das technische Gespräch war schnell beendet, man lehnte sich zurück und starrte in die knisternden Linien auf dem Bildschirm. "Das kann nicht atmosphärisch sein", schloß der Bildingenieur seine Überlegungen ab, "derartige Energieentladungen müßten ganze Bereiche überlagern. Aber hier ist nur die Raumschiff-Frequenz gestört." Berner fing den Ball auf; er erkannte schnell, wenn sich sensationelle Entwicklungen auftaten. Vorsichtig tastete er sich an den Kern heran: "Das heißt, die Störung tritt im Weltall auf, irgendwo zwischen Erde und Mond?" Der Bildingenieur starrte vor sich hin. Das war Neuland, schlichte Spekulation, auf die er sich einließ. Wie alle Techniker hielt er sich lieber an das, was man messen konnte. "Das wäre ungewöhnlich", sagte er nur. Berner bohrte weiter. "Das geht eigentlich gar nicht?" fragte er bewußt naiv. Der Techniker mochte sich nicht festlegen. "Doch, schon, aber es müßte schon eine außerordentliche Erscheinung vorliegen", sagte er hölzern, "eine Eruption auf der Sonne ..."
Er hatte schon zuviel gesagt. Auf diesem Gebiet kannte er sich nicht aus, mochte der Reporter doch die Raumfahrtfachleute da drinnen fragen, die großen Herren vom Institut, die einen glänzenden Apparat besaßen, um die Störung zu orten. Aber Berner stellte keine weitere Frage. Er textete bereits im Kopf das Interview, trommelte sein Team zusammen. Minuten später stand er mit dem Kameramann in Kramlos gläserner Zentrale. Die hochempfindliche elektronische Kamera, leicht wie das Schmalfilmgerät eines Hobbyfilmers, gab das Bild gestochen scharf an den Ü-Wagen unten im Hof weiter, von dort überbrückte es die hundertachtzig Kilometer zum Sender. Ein Knopfdruck, und Millionen Fernsehzuschauer konnten miterleben, was der Kameramann durch seine Linse sah. Aber heute wurde die Szene nicht live gesendet. In der Sendezentrale zeichnete eine große Maschine Bild und Ton auf ein schmales Kunststoffband auf. Die Redaktion würde dann bestimmen, wann das alles wieder abgerufen und gesendet würde. Eine Aufzeichnungsmaschine konnte jederzeit wiedergeben, was sie gespeichert hatte, wie ein Tonband wurde sie nicht müde, jedes gewünschte Stück zu jedem Augenblick unendlich oft zu wiederholen. Der Kameramann hatte das Objektiv groß auf Kramlo gerichtet. "Und hier das Deutsche Fernsehen", sagte Berner zu dem Institutschef und hielt das daumengroße Mikrofon lässig in Gürtelhöhe. "Herr Doktor Kramlo, Sie haben Schwierigkeiten?" Kramlo sah sich überrumpelt. "Sie hatte ich fast vergessen", murmelte er, fing sich dann aber sofort. Er hatte Hunderte von Interviews
gegeben, kannte die Spielregeln und besaß genug Einfühlungsvermögen, um auch den technischen Ablauf zu durchschauen. "Läuft es schon?" fragte er den Kameramann. "Läuft", antwortete der geschäftsmäßig. Berners routinierte Reporterstimme ließ den vorgefertigten Text in das Mikrofon fließen. "Das erste europäische bemannte Raumfahrtunternehmen kämpft mit unerwarteten Schwierigkeiten. Hier im deutschen Kontrollzentrum versucht man, den Fehler zu beheben. Herr Dr. Kramlo, was konnten Sie feststellen?" Kramlos Fernsehroutine schien der des Starreporters kaum nachzustehen. Halb zu Berner, halb zum Kameramann gewandt, gab er ohne Zögern Auskunft. "Seit fünfzehn Uhr dreizehn Minuten fünfzehn Sekunden Mitteleuropäischer Zeit hatten wir keine Bildund Tonverbindung. Europa I war für uns einen Augenblick lang verschollen." Nach gekonnter Pause und mit eingeübtem Lächeln fuhr er fort: "Aber natürlich nicht für die Bodenstation in Sydney. Das Raumschiff ist nicht in Gefahr. Eine kosmische Energieentladung störte unsere Geräte ..." "Ein natürliches Ereignis?" unterbrach ihn Berner gezielt. "Selbstverständlich. Unsere Anlagen arbeiten einwandfrei, aber sie empfangen noch nicht wieder." Berner hakte nach. "Gibt es überhaupt natürliche Ereignisse, die Sie nicht vorher einkalkuliert haben, und die jetzt das Unternehmen gefährden?" Er war zu weit gegangen. Kramlo packte die Gelegenheit zum Eigenlob. "Das Unternehmen war nie gefährdet und ist es jetzt auch nicht. Die Störung in der Verbindung zu uns hat
keinen Einfluß auf den Ablauf des Programms. Die Männer in Europa I haben Kontakt mit Sydney und mit Genf. Sie werden sicher geleitet." Die Stimme des Ersten Physikers fiel aus den Deckenlautsprechern zwischen das Interview. "Verbindung wiederhergestellt. Störung beendet." Kramlo lächelte selbstgerecht. "Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Berner?" Der Reporter brach die Aufnahme ab. "Wir sollten ein Gespräch über die Ursache machen", sagte er mürrisch. "Das wird die Zuschauer interessieren."
6 Die Mannschaft im Ü-Wagen schwieg, als Berner zurückkam. "Ein Schuß in den Ofen", stellte der Reporter böse fest. Seine säuerliche Miene warnte die anderen, jetzt war es nicht gut, mit ihm zu reden. Das Interview war verpatzt, die Geschichte mußte ganz neu eingefädelt werden. Alle wußten, Berner würde jetzt in die kleine Gastwirtschaft gehen, dort drüben auf der gegenüberliegenden Seite, würde einen Whisky trinken und vor sich hinbrüten. Sie kannten seine Launen, die er danach an ihnen auslassen würde, aber sie arbeiteten trotzdem gern mit ihm zusammen. Er war ein Star, aber auch ein guter Kumpel, er konnte sie mitreißen, und er konnte nächtelang mit ihnen Skat spielen. Sie bewunderten ihn, weil sie so anders waren als er. Berner andererseits hatte keine Bewunderung für sie, empfand nicht einmal Achtung vor der schwierigen Arbeit der
Kollegen, vor dem Fachwissen und der exakten Routine, mit der sie die Apparatur beherrschten. Die Ü-Wagen-Besatzung blickte ihm gelassen nach, als er am Hauptgebäude des Instituts vorbei und über den großen Parkplatz ging. Aber Berner blieb mitten zwischen den Wagen plötzlich stehen, schaute unschlüssig die Wagenreihen entlang und heftete seine Blicke schließlich auf ein großes, graues Fahrzeug. Einer von Kramlos Mitarbeitern war dort eben eingestiegen, Berner hatte es mehr nur am Rande wahrgenommen. Was den Reporter stutzig machte, war der Zeitpunkt, zu dem dieser Wissenschaftler das Institut verließ, jetzt in der Schlußphase des Mondfluges, während des Countdowns für den Rückstart des Mutterschiffes. Mit einem Satz hatte Berner den Wagen erreicht und ließ sich wortlos auf den Beifahrersitz fallen. Der Wissenschaftler blickte ihn kurz an, ohne Überraschung zu zeigen, nickte und fuhr los. "Wenn ich etwas für Sie tun kann, gerne", sagte er dabei, "aber ich habe es eilig." "Ich wollte Sie auch nicht aufhalten, Anger", sagte der Reporter und zündete sich eine Zigarette an, "ich hatte den Eindruck, Sie könnten mir die Sache von vorhin erklären." Der hohe Summton der Turbine lag wie ein Teppich im Wagen, unaufdringlich, überhörbar. Da Anger nicht antwortete, lehnte sich der Reporter in den Sitz zurück und musterte ihn von der Seite". Berner kannte den Wissenschaftler schon seit einigen Jahren, trotzdem wußte er kaum mehr als seinen Namen. Das kleine Wohnhaus draußen am Stadtrand, in dem Anger allein und zurückgezogen lebte, verschiedene eindrucksvolle Erfindungen, mit denen der Wissenschaftler bekannt
geworden war, die Tatsache, daß Anger sich nie an Partys und Betriebsfesten beteiligte, mehr Daten konnte Berner über den Mann nicht zusammenkratzen. War er alt? Die kurzen, grau wirkenden Haare deuteten auf einen Mann um die Fünfzig, die Gesichtshaut ließ ihn wesentlich jünger erscheinen. Am ältesten wirkten die Augen, hellgrau und fremdartig, mit durchdringendem Blick. Berner wollte von ihm wissen, warum er so eilig das Institut verlassen hatte. Er spürte, das müsse irgendwie mit der Störung in Zusammenhang stehen, die das Raumschiff für kurze Zeit vom Institut abgeschnitten hatte. Aber Anger blieb stumm. "Ich hab' mich oft gefragt, was Sie für ein Mensch sind", sagte Berner schließlich, um ihn aus seiner Reserve zu locken. "Ein bekannter Erfinder, in untergeordneter Stellung. Befriedigt Sie das?" "Halten Sie es für erstrebenswert, Leistungen für die Allgemeinheit mit einem besser bezahlten Beruf prämiert zu bekommen?" fragte Anger zurück und lächelte. Berner begriff nicht, was damit gemeint war. Dieser Gedanke lag so außerhalb seines Weltbildes, daß er sich gar nicht erst die Mühe machte, darüber nachzudenken. Selbstverständlich wurden berufliche Leistungen durch berufliches Fortkommen belohnt, das anzuzweifeln schien Berner völlig absurd. "Eine handfeste Erklärung aus dem Raumfahrtinstitut, exklusiv, jetzt aufgenommen, in zwei Stunden gesendet. Könnten Sie mir die geben?" fragte er gezielt und vermied dabei weiteres Philosophieren über nutzlose Fragen.
"Ich werde Ihnen etwas zeigen", antwortete der Wissenschaftler, "aber es ist eine Bedingung damit verbunden." "Nur heraus damit." "Erst zu berichten, wenn ich es erlaube." Berner lehnte sich lächelnd in das Sitzpolster zurück. Das hatte er schon oft gehört, es war für ihn selbstverständlich, derartige Abmachungen zu treffen und einzuhalten, er lebte von heißen Informationen und wußte, wann er sie verkaufen durfte. Das graue, unscheinbare Haus Angers tauchte jetzt zwischen den Büschen auf. Der Wagen rollte auf die kiesbestreute Auffahrt und hielt. Als Anger den Zündschlüssel herauszog, dachte Berner, erstaunlich, es ist gar kein Unterschied zu hören zwischenlaufendem und abgestelltem Motor. Er wollte eine Bemerkung dazu machen, aber Anger war schon ausgestiegen, und Berners technisches Interesse war zu gering, um später das Thema noch einmal aufzunehmen. Er folgte dem Wissenschaftler ins Haus und wunderte sich wieder über die bescheidene, zurückgezogene Art, in der dieser bedeutende Erfinder und Raumfahrtexperte lebte. Es gab keinen Schmuck, kein Bild, keinen Teppich. Die Lampen stammten offenbar vom Vorbesitzer, und auch die Wände schienen seitdem nicht renoviert worden zu sein. In dem großen Raum am Ende des Flurs, von wo aus eine breite Fensterfront den Blick auf einen völlig verwilderten Garten gestattete, hatte Anger Labortische, Meßgeräte, Transformatoren und Versuchsanordnungen aufgebaut. Berner war hier schon oft gewesen. Mit sicherem Blick erkannte er auf einem niedrigen Tisch ein neu entwickeltes Gerät, etwa sechzig Zentimeter hoch, eine
kupfergerahmte, netzartige Fläche, die senkrecht auf einen kleinen schwarzen Kasten montiert war. Dieser Kasten enthielt offenbar den wichtigsten Teil des Gerätes, denn aus seiner Seite ragten mehrere Skalen, Zeiger und Drehknöpfe heraus. Ein elektrisches Kabel führte zu einem der Transformatoren, die Anger mitten im Zimmer aufgestellt hatte. "Sie haben es gleich entdeckt", lächelte der Wissenschaftler, und jetzt erst bemerkte Berner, daß Anger ein Meßgerät aus dem Institut am Computer angeschlossen hatte und Daten einfütterte. Da das im Zusammenhang mit der heutigen Kontaktstörung zum Mutterschiff stehen konnte, wandte sich Berner erst einmal diesem Vorgang zu. "Sie haben vorhin Daten gespeichert, als die Funkverbindung ausgefallen war. Nun werten Sie sie aus", riet er. "Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie vermuten?" "Zunächst muß mir der Computer sagen, was er davon hält", gab Anger zurück. Berner wandte sich wieder dem schwarzen Kasten zu. "Wollten Sie mir Ihre neue Erfindung vorstellen?" Er schob den ausgestreckten Finger auf die kupfern funkelnde, netzartige Fläche zu, aber Anger riß seine Hand blitzschnell beiseite. "Schade", versuchte Berner ihn zu provozieren, "vor zwei Jahren konnte ein armer Journalist wie ich davon leben, über Ihre Erfindungen zu berichten. Es war ein Feuerwerk, wie Sie produziert haben, praktische, intelligent erdachte Haushaltsgeräte, Maschinen für den täglichen Bedarf! Und was ist das hier?" "Das ist nichts Nützliches, so wie Sie es verstehen", sagte Anger ernst.
"Warum erfinden Sie nichts Nützliches mehr?" Und da Anger nicht antwortete, fuhr Berner fort: "Ausgebrannt?" "Damals brauchte ich Geld", sagte der Wissenschaftler. "Das ist doch keine Erklärung! Machen Sie das mit Knopfdruck? Erfinden anstellen, Erfinden abstellen, und schon ist man ein gemachter Mann?" "Ich weiß nicht, was Sie unter einem gemachten Mann verstehen", sagte Anger, und seine alten, hellen Augen schienen belustigt den Fernsehreporter zu mustern, "aber es ist doch nicht schwierig, in diesem leicht überschaubaren Wirtschaftssystem eine Marktlücke zu entdecken, sie zu nutzen und das Honorar zu empfangen, das in dieser Individualgesellschaft Unabhängigkeit und Sicherheit garantiert." Berner hatte keinen Vortrag in Soziologie erwartet. "Ich will ganz aufrichtig sein", meinte er, "dieser Text wirkt angelesen. Daß Sie Wirtschaftsexperte sein wollen, Anger, das habe ich Ihnen schon damals nicht abgenommen." Anger war überrascht und zeigte das auch. "Als wir die ersten Male beisammensaßen, hier in Ihrer Hexerküche, da hatte ich eher den Eindruck, einem genialen, weltfernen Spintisierer gegenüberzusitzen. Aber – einem Mann mit unternehmerischen Fälligkeiten?" "Die Erfindungen paßten doch in die Zeit – oder?" gab Anger zu bedenken. Und da Berner anerkennend nickte, fuhr er fort: "Wenn für eine Erfindung kein Bedarf besteht, wird sie gleich wieder vergessen. Viele Dinge sind dutzendmal erfunden worden, aber weil die Zeit nicht reif war, blieben sie unerkannt. Eine Erfindung taugt nur dann etwas, wenn sie in ihre Zeit paßt."
"Jetzt halten Sie mir Vorträge fürs Bildungsprogramm", sagte Berner, "oder fürs dünnblütige Feuilleton einer Wochenzeitung." Anger trat an den Computer und las die Meßdaten, die auf einem breiten grünen Papier ausgedruckt wurden. Die Maschine hatte die Auswertung abgeschlossen, Anger schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. "Kommen Sie!" Er winkte den Reporter heran und zeigte ihm die Zahlen- und Buchstabenreihen, so als ob es Klartext sei, und Berner richtete seinen Blick auf das jungenhafte Gesicht des Wissenschaftlers und wartete auf die Übersetzung. "Zwischen Mond und Erde gab es einen Durchzug extraterrestrischer Energie. Es war eine ungewöhnliche, weil punktuell auftretende Energie, die nicht abstrahlte und eher einem Massebündel ähnelte. Da sie sich mit hoher Geschwindigkeit geradlinig fortbewegte und dabei in keiner Weise abnahm, mußte sie aus einem fernen Sonnensystem herrühren." "Da würden mich alle Physiker steinigen, wenn ich das verbreiten würde", schüttelte Berner den Kopf, "Energie, die sich wie Masse verhält? Hohe Geschwindigkeit ohne Abstrahlung und Substanzverlust? Den Bären können Sie mir nicht aufbinden." "Der Computer hat meine Vermutung bestätigt", nickte Anger. "Der Energieball, der die Funkverbindung unterbrach, stammt aus dem Gebiet des Arkturus." Das war nichts, worüber sich berichten ließ. Die Story, erkannte Berner, zerfloß ihm unter den Händen. Ein Energiestrahl aus den Tiefen des Alls, der die Fernsehverbindung zum ersten europäischen Mondlandeunternehmen für Minuten lahmgelegt hatte, das klang nicht seriös. Und als Zeuge für diese
Behauptung nur ein Mitarbeiter des Raumfahrtinstituts, nicht einmal der Chef. Berners Unmut nahm zu. "Arkturus?" wiederholte er zweifelnd und suchte in seiner Erinnerung nach dem zugehörigen Sternbild. "Stammte der Energiestrahl vielleicht von einer Supernova?" Anger faltete das grüne Papier mit den Daten des Computers sorgfältig zusammen und steckte es lächelnd in seine Jackentasche. "Nein. Ich halte ihn für künstlich geschaffen."
7 "Unglaublich, was dieser Mann mir zugemutet hat." Berner spülte seinen Ärger mit einem großen Glas Bier hinunter. "Irgendwo aus dem Sternbild Bootes stieß ein Strahl herab und zerstörte die Fernsehverbindung zum europäischen Raumfahrtunternehmen, gerade in dem Augenblick, als sich das Ankopplungsmanöver dem kritischen Augenblick näherte." Berner packte die Hand des Mädchens, das neben ihm saß. "Und das Ganze haben Arkturianer gemacht, die aus der kleinen Entfernung von einigen Lichtjahrzehnten oder -Jahrhunderten mit Argusaugen den Planeten Drei unserer Sonne beobachten." "Mit Arkturus-Augen", korrigierte Lilli und entzog ihm ihre Hand. Sie hatte hier in der kleinen Gastwirtschaft gegenüber dem Raumfahrtinstitut auf Jochen Berner gewartet, die Ü-Wagen-Mannschaft hatte ihr den Tip gegeben. Liane Sonnenberg, von Freunden und Kollegen Lilli genannt, war Stewardeß. Traumberuf kleiner Mädchen,
hatte sie sich durch eine langwierige Ausbildung und viele Prüfungen durchgebissen, bis sie Kinderschwester, Arzthelferin, Serviermädchen, Psychiaterin, Hebamme, Scheuerfrau und Dolmetscherin geworden war, fliegendes Personal der Deutschen Lufthansa. Seit fünf Jahren lebte sie mit dem großen Fernsehreporter zusammen, und doch waren es wohl nur vier Wochen, wenn man die Stunden zählte, die sie zusammen verbracht hatten. Lilli war ein Mädchen wie aus der Zigarettenwerbung geschnitten, groß, blond, frisch, oberflächlich und modegesteuert. Mit ihren fröhlichen und wachen Augen suchte sie den Alltag nach ihren Vorteilen ab. Von Vorteil war für sie auch der berühmte Freund, der sie auf Pressebällen und Opernpremieren herumzeigte. Von Nachteil wäre eine Heirat mit ihm gewesen, denn Jochen Berner war männlich-konservativ, was den Stand der Ehe betraf. Jochen hätte von ihr die Aufgabe des Berufes verlangt, sie zum Hausmütterchen gemacht, das zu gegebenem Anlaß ins Abendkleid gesteckt und vom Friseur auf Grand Salon toupiert wird. Lilli lehnte sich zurück und lachte Berner ins Gesicht. "Was schimpfst du auf diesen verkalkten Elektronensammler", besänftigte sie ihn. "Nimm dir noch einmal den großen Herrn des Instituts vor und laß ihn Farbe bekennen. Und dann komm zu uns nach Hause, wo ich ein großes rustikales Abendmahl serviere." "Hat dein Unternehmen endlich Konkurs gemacht?" gab Berner zurück und ließ sich von ihrem Tonfall anstecken. "Was machst du überhaupt hier in Marias Bierbar, wo du zwischen Honolulu und Neuseeland schweben solltest?"
"Das würden dir deine Zuschauer sehr verübeln, wenn du ihnen derartige Enten auftischen würdest", sagte Lilli. Sie spürte, sie hatte gewonnen, Jochens Mißmut, den so viele seiner Kollegen fürchteten, war weggewischt. "Ich habe zwei Tage frei, Dienstplan getauscht, und wenn du jetzt deine Aufnahme machst und den Ü-Wagen abschließt, können wir endlich einen angenehmen Abend verbringen." Die Inhaberin der Bierbar blickte zu ihnen hinüber. "Seltene Gäste sind Sie geworden", bemerkte sie mit ihrer trockenen Baßstimme. "Dafür um so treuer", rief Lilli zurück. Die beiden Männer, die an der Bar hockten, drehten sich um, warfen einen Blick auf Lilli und Jochen und steckten die Köpfe zusammen. "Wäre froh, wenn die Fernsehbonzen wieder weg wären vom Hof", sagte der Jüngere, ein pickelgesichtiger Mann mit Stoppelhaar. Bevor der andere etwas erwidern könnte, hatte Maria ihren Kopf zu ihnen geneigt und sagte, wobei sie ihre Baßstimme dämpfte: "Das macht ihr nicht noch einmal!" Der Ältere, ein hagerer, fast glatzköpfiger Mann Mitte Fünfzig, legte sein Ledergesicht in verlegene Falten. "Aber Maria", sagte er betreten, "ich wollte es dir vorher noch sagen." "Nicht mit mir", beharrte die Bierbarinhaberin. "Sei doch lieb zu einem alten Freund!" Der Hagere tätschelte ihr den Arm. Bert, der pickelgesichtige Junge, lehnte sich zurück und sagte aufsässig: "Das Bier schmeckt heute nicht." Der Ältere zischte ihn an, zu schweigen, wandte sich wieder mit treuem Augenaufschlag der Wirtin zu,
besänftigend: "Ich wußte nicht, wohin mit dem Zeug. Du weißt doch, ich bin vorsichtig." "Nicht in meinen Keller, Karl, ein für allemal." "Das Bier ist heute richtig schal", sagte der Junge impertinent. Maria würdigte ihn keines Blickes. "Du nimmst das heute noch mit, oder ich lasse es abholen." Der hagere Mann erschrak, seine lederne Haut wurde grau. Sehr leise sagte er: "Polizei? Das kannst du doch nicht machen!" Bert schlug ihm auf die Schulter und sagte laut: "Das ist kein Bier, das ist Ziegenlimonade." Maria warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Sag dem Bengel, daß er hier nichts zu bestellen hat", sagte sie zu Karl. Der ärgerliche, ängstliche, vorsichtige Mann flüsterte drohend: "Du hältst die Schnauze, verstanden?" Dann sagte er bittend zu Maria: "Versteh doch. Ich schaff das weg, aber morgen. Heute geht es nicht." Die Wirtin blickte ihn lange an, lehnte sich zurück und sagte leise: "Davon weiß ich nichts." Dann wandte sie den beiden den Rücken zu, schob sich durch das Lokal, sah sich auch nicht mehr um, als die Männer den Raum verließen. Die Mittagspause war zu Ende. Karl und Bert, seit ein paar Jahren Kraftfahrer beim Raumfahrtinstitut, überquerten die Straße, bestiegen den blaulackierten Lastwagen und erledigten ihren Auftrag, neue Geräte für die Radarstation vom Flughafen abzuholen. "Wie kannst du der Dicken versprechen, die Sachen heute noch abzutransportieren?" knurrte Bert. "Da liegen
sie gut, ich wüßte keinen besseren Platz. Wenn wir damit angehalten werden, sind wir dran." "Wenn wir sie dort lassen, sind wir auch dran", sagte Karl und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Fahrbahn. "Aber wir wollten doch heute nacht... Erinnerst du dich nicht? Du hast doch selbst diesen Termin bestimmt!" Der Ältere nickte. "Wenn wir uns heute nacht das Haus des Erfinders vorknöpfen, kann uns nichts passieren, hast du gesagt. Heute nacht sind die zum letztenmal alle im Institut versammelt." "Der Termin ist richtig", sagte Karl in seiner zögernden Sprechweise, "aber die Maria kann ich auch nicht sitzenlassen. Das kann ich nicht." Einige Zeit schwiegen beide. Dann nahm Bert den Faden wieder auf. "Und was machen wir?" Karl starrte weiter geradeaus. Schließlich sagte er: "Beides."
8 Der mächtige Radio-Parabolspiegel wanderte auf unzähligen Rollen um sich selbst. Die kreisrunde Schiene, auf der er voranglitt, hatte einen Durchmesser von 25 Metern. Darüber ragte ein acht Meter hohes Gestell auf, an dem der Parabolspiegel hing, eingeklinkt in ein gut durchdachtes System von Walzen und Lagern. Weit darüber wölbte sich die Kuppel, die zum Wahrzeichen des Raumfahrtinstituts geworden war. Durch die Leitungen, Steuer- und Meßgeräte, die mit
dem Parabolspiegel verbunden waren, flossen stetig Informationen, die das Mutterschiff Europa I auf dem Rückweg zur Erde ausstrahlte. Routine, von der das Gelingen der Mondreise und das Leben der Astronauten abhing. Die hektische Atmosphäre vom Augenblick des Ankopplungsmanövers war gewichen, viele Wissenschaftler und Techniker hatten sich in die Kantine zurückgezogen oder waren nach Hause gefahren für ein paar Stunden Schlaf, denn in der kommenden Nacht stand der nächste Höhepunkt bevor: Das Wiedereintauchen in die Erdatmosphäre. Im Meß- und Kontrollraum war es still wie an einem regnerischen Sommertag in einer Badeanstalt. Im gläsernen Führerstand hatte sich Nachdenken ausgebreitet. "An uns kann es nicht gelegen haben", sagte der Erste Physiker etwas selbstgefällig, "die Geräte arbeiteten alle einwandfrei." Kramlo, inmitten seiner leitenden Mitarbeiter, blickte von dem computergestanzten Blatt in seiner Hand auf und lächelte. Das war eine Äußerung, wie sie nur sein Chefphysiker zustande brachte. Er war so unfehlbar wie seine Maschinen, man hatte manchmal den Eindruck, er sei selbst Teil des Maschinensystems. "Das muß ich bestätigen", sagte der Erste Kybernetiker eifrig, "der Computer hat keine Unregelmäßigkeiten vermerkt." "Das sehe ich selbst", bemerkte Kramlo kalt. "Wenn sich ein energieabstrahlender Festkörper zwischen uns und dem Mutterschiff befunden hätte, würde ich ihm die Schuld geben. Aber es ist keiner gesehen worden." "Die Meßdaten zeigen äußerst seltsame Werte", sagte schließlich einer der Wissenschaftler aus dem
Kontrollraum, und er flüsterte fast: "Unnatürliche Werte." "Wo ist Anger?" fragte Kramlo unvermittelt. "Ich lasse ihn ausrufen", bot sich der Wissenschaftler an, froh, seine unqualifizierte Äußerung vergessen zu machen. Die anderen starrten weiter auf die Auswertungen, die ihnen so viel Kopfzerbrechen verursachten. Die ersten Computeranalysen erbrachten deutlich, was der Chef ausgesprochen hatte. Aber keiner konnte sich erklären, woher ein Festkörper mit derartig anomalen Gammawerten in dieser Geschwindigkeit gekommen sein sollte, der weder vorher noch nachher von irgendeiner Station auf der Erde geortet worden war. Ein Meteorit hätte sich anders verhalten, ein Energiesturm, von der Sonnenoberfläche ausgelöst, wäre vorher registriert worden. Für eine künstliche Sonde sprachen manche der Daten, aber in diesem Bereich und mit dieser Geschwindigkeit hatte sich noch keines der unbemannten Raumschiffe bewegt, die in den vergangenen dreißig Jahren von den raumfahrttreibenden Staaten der Erde gestartet worden waren. Kramlo hoffte im stillen, in den Archiven eine Antwort zu finden. Er hatte einen Mitarbeiter an die Auswertung der Mikrofilme gesetzt, auf denen alle Daten früherer Raumfahrtunternehmen festgehalten waren. Wenn irgendwo im Apollo-Programm der Amerikaner, im Lunar- und Wostock-Programm der Russen oder bei einem der späteren bemannten Raumflüge ähnliches aufgetreten war, dann mußte es hier registriert sein. In der Fachliteratur war eine derartige Erscheinung bisher jedenfalls nicht beschrieben worden. Kramlo brauchte einen Anhaltspunkt, er spürte, daß Analyse allein hier
nicht weiterhalf. Aber mitten in die Überlegungen platzte das Fernsehen. Auf der Schwelle des Chefzimmers standen Berner und sein Team. "Wir sind den Zuschauern heute abend eine Erläuterung schuldig", sagte der Starreporter in seiner lauten Art. "Herr Dr. Kramlo, Sie müssen mir schon etwas zu dem Vorfall sagen." Kramlo blickte ihn lange nachdenklich an. "Das kann ich nicht", sagte er schließlich. Berner trat nahe an ihn heran. "Sie wollen doch nicht, daß wir heute abend berichten, das Deutsche Raumfahrtinstitut hätte keine Erklärung für die Funkstörung?" "Was wollen Sie von mir hören?" Kramlos graue Augen wirkten noch grauer, als er die Kamera auf sich gerichtet sah. "Sie sollen erklären, was geschehen ist, mehr nicht. Wir zeichnen das Gespräch jetzt auf und senden es in einer knappen Stunde in der Tagesschau." Kramlo fügte sich. Er wußte, wie wichtig Publizität, wie notwendig die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für die Bewilligung der Finanzmittel war. Berner stellte sich nah neben ihn und gab dem Kameramann ein unauffälliges Zeichen. Dann zückte er seine Fragen. "Heute mittag war die lebenswichtige Verbindung mit Europa I für sechs Sekunden total unterbrochen, die Nachwirkungen hielten über Minuten an. Herr Doktor Kramlo, wie erklären Sie diese Störung?" Kramlo, bereit, mit vielen Worten wenig zu sagen, blickte in die Kamera.
"Der Weltraum ist nicht leer", begann er, "Meteoriten, kleinste Materieteilchen, Energien unterschiedlichster Strahlungswerte werden in ihm gemessen. Wenn derartige Phänomene auf der rund 40 000 Kilometer langen Strecke zwischen uns und Europa I auftreten, kann die Funkverbindung durchaus gestört werden." "War das hier der Fall?" fragte Berner dazwischen. "Die Störung trat nachweislich im Raum auf. Weder unsere Geräte noch die des Mutterschiffes waren daran schuld." "Aber dann müssen Sie das Partikel ja geortet haben", sagte Berner listig, "seine Beschaffenheit und Herkunft kennen." Kramlos Augen irrten von der Kamera zu dem Reporter. "Wir haben es geortet, aber unsere, Analysen sind noch nicht abgeschlossen", antwortete er zögernd. Er wußte, hier vor aller Öffentlichkeit konnte er sich keine Spekulationen leisten, jeder Hinweis auf Sonneneruptionen oder Meteoriten würde Schwärme von Astronomen auf den Plan rufen. Kramlo flüchtete sich in die Allegorie. "Sie müssen sich das wie einen Klumpen vorstellen", fuhr er volkstümlich fort, "ein Stück Masse, das gleichzeitig Energie besitzt und mit seiner Strahlung den Funkverkehr stört.“. "Woher kam der Klumpen Ihrer Meinung nach?" fragte Berner eisern weiter. "Von der Erde oder aus dem Weltall?" "Sicher nicht von der Erde", meinte Kramlo und spürte das dünne Eis, auf das er sich begab, "aber erst unsere Analysen können letzte Klarheit darüber bringen."
"Können weitere – wie sagten Sie? – weitere Klumpen aus dem Weltall kommen, Herr Doktor Kramlo, und das europäische Mondlandeprogramm in seiner letzten Phase gefährden?" "Dazu wollen wir heute nicht Stellung nehmen", gab Kramlo zu und fühlte, wie lahm seine Worte wirkten. "Danke", sagte Berner trocken und beendete das Interview. Er hatte den großen Wissenschaftler mit seinen Fragen provoziert, und diesmal war ihm Kramlo nicht ungeschoren davongekommen. Ein Klumpen aus dem Weltall, dachte Berner lächelnd, und ihm fiel Angers abstruse Bemerkung über den künstlichen Ursprung ein. Alles Scharlatane, diese Wissenschaftler. Aber diese Feststellung behielt Berner für sich.
9 Klar und schwarz der Himmel, die Sterne stechen ihr eiskaltes Licht hinein. Kaum Wind, der die großen, breitschultrigen Bäume in Bewegung brächte. Irgendwo da oben über dem ungepflegten, grauen Haus das Sternbild Bootes mit dem funkelnden Arkturus. Die beiden Männer, die ihren Lieferwagen unterhalb der kiesbelegten Auffahrt abgestellt haben, achten nicht darauf. Ihre Augen sind auf das Haus gerichtet, das sich still und dunkel unter die Bäume duckt. Schon einmal haben sie hier Schätze gehoben, elektronische Anlagen, Saphire, Platin, Diamanten, alles Dinge, für die der Hehler viele blaue Scheine auf den Tisch legte. Nun sind sie wieder knapp bei Kasse, einige Scheine wären ihnen sehr willkommen, und dem großen Erfinder
fehlen die Stücke offenbar nicht, er hatte nicht einmal Anzeige erstattet. Karl und Bert stehen auf der Wiese, links neben dem Vordereingang, und fixieren das Kellerfenster. Der Junge zieht eine Taschenlampe aus der Jacke, aber Karls breite Hand fällt sofort auf seinen Arm. "Ich denke, die Luft ist rein?" flüstert Bert. "Klar sind die alle im Institut." Karls rauhe Stimme ist kaum zu verstehen. "Aber Nachbarn gibt's auch hier." Er kniet neben der grasumstandenen Betoneinfassung des Kellerfensters nieder, seine Hände tasten den Rost ab, finden den eisernen Riegel, der nur lose im Putz hängt. Mit einem kräftigen Ruck ist das Gitter hochgehoben und zur Seite geräumt. Karl springt in den Schacht, nimmt Handschuhe und Glasschneider aus der Aktentasche, die ihm Bert nachreicht, entfernt mit fachkundigem Schnitt die linke Scheibe, greift hinein und entriegelt das Fenster. Ein zufriedenes Lächeln steht auf seinem Gesicht, es war für ihn leicht, in den Keller zu kommen. Neben ihm schieben sich die dürren Beine des Jungen in den Schacht, jäh springt der Lichtstrahl aus der Taschenlampe in den Kellerflur. Im Haus bleibt es still, groteske Schatten hüpfen über die unebene Wand. "Kein Licht", zischt Karl, als er die Hand des Jungen auf dem Schalter liegen sieht. Hier, am unteren Ende der Kellertreppe, ist es besonders gefährlich, die Tür oben könnte offenstehen, der Lichtschein durch die unverdunkelten Fenster auf die Straße fallen. Karl hat Erfahrung, er weiß, nur Sorgfalt bewahrt sie beide vor dem Richter. Sie tappen weiter, folgen dem weißen Lichtkegel, den Bert über den unebenen Betonboden schiebt. Dann ist
der Flur zu Ende und mündet in den großen Kellerraum mit den Regalen, auf denen sie wieder ihre Schätze vermuten. Damals, vor ein paar Jahren, hatten sie nur die Aktentaschen zu öffnen brauchen und von diesen Regalen gefegt, was immer auch darauf war. Karl lächelt, als er daran denkt. Der Lichtkegel von Berts Taschenlampe springt in den Raum, vor ihnen, auf einem Tisch, reflektieren die großen grünen Augen einer toten Katze seinen Schein. Erstickt schreit Bert auf, seine Hand mit der Lampe zittert. Karl, dicht hinter ihm, ist leichenblaß geworden. Auf dem Tisch liegen mehrere Tiere, Katzen und Hunde, tot, verstümmelt, Teile von ihnen verstreut zwischen schwarzen Mordmaschinen, Guillotinen gleich. Aus dem Kopf eines Chow-Chow ragen Kupferdrähte, angeschlossen an ein Meßgerät, Volt- oder Amperemeter, an der Schnur hängt noch das geronnene Blut, Pfoten der Tiere sind auf den Boden gefallen, ranken um ein Starkstromkabel. Berts Hände zucken vor, gleichzeitig reißt er sie wieder zurück, es würgt ihn in der Kehle. Automatisch stopft er das Gerät, das ihm am nächsten steht, in die Tasche, stürzt dem Ausgang zu, die Lampe gleitet ihm aus der Hand und rollt über den Boden. Karl begreift, wenn auch er jetzt die Nerven verliert, werden sie zu Gefangenen ihrer Fehler. Langsam bückt er sich nach dem Licht, hebt es auf, da fällt sein Blick auf die mannshohe Guillotine neben dem Eingang, eine schwarze Metallplatte, von Drähten eingefaßt, montiert auf ein Podest, in das das Starkstromkabel führt. Es ist die Todesangst, die Karl besonnen macht. Ohne etwas anzurühren, steigt er über das Kabel und tastet sich
in den Kellerflur zurück, langsam, obwohl er kaum die Panik niederkämpfen kann. Er reißt den zusammengesunkenen Jungen hoch, der erbrochen hat, stößt ihn zum Fenster, faucht ihn mit rauher Stimme an, bis er begriffen hat, er muß hinausklettern. Karl zwingt sich sogar noch, den eisernen Rost zurückzulegen, der auf der Betongrube vor dem Kellerfenster lag. Doch auf dem Weg zum Auto versagen ihm die Knie, er sackt ins Gras, der Junge stolpert neben ihn, jetzt schüttelt sie der Schock. Stunden später, die Sterne am Himmel sind schon verblaßt, haben sie Kraft genug abzufahren, ihre Gesichter sind grau wie zerknülltes Packpapier.
10 Lilli war Frühaufsteherin. Ihr schmeckten Knäckebrot und Joghurt am besten nach einer heißen Dusche, wenn die Morgendämmerung die schwarze Häuserfront gegenüber färbte. Die Dächer lagen niedriger und zeichneten das skurrile Bild der Straßenschluchten nach, gewachsene Stadtpläne, die kein Architektenbüro, sondern die Jahrhunderte zum Vater gehabt hatten. Ein freier Tag lag vor Lilli, kein Griff zum kleinen Handgepäck, kein Abflug, kein Hotelzimmer, heute hatte sie Urlaub zu Hause. Während sie sich abfrottierte und ihr ungeschminktes Gesicht kritisch im Spiegel musterte, verblaßte das schwarze Milchglas hinter ihr zu einem hellen Graublau. Ihr langes blondes Haar fiel ungekämmt über die Schultern, der etwas zu breit geratene Mund war tiefrot durchblutet. Lilli war mit sich zufrieden, ihre Figur entsprach dem, was man landläufig
als schön bezeichnete, die Konkurrenz von Pin-up-Girls hatte sie nicht zu fürchten. Sie lächelte bei dem Gedanken. Jochen Berners Vorstellungen über Frauen entstammten zwar Illustriertenrubriken vom Nachtleben in Monte Carlo bis Fragen-Sie-Frau-Irene, aber die Ausziehmädchen auf den Deckblättern sahen ihm meist zu dumm aus. Während sie sich schminkte, entstand ein Fahrplan für den Urlaubstag, Essen gehen, nein, lieber selbst kochen, Irish Stew, weil Jochen es am liebsten aß, wenn es nach Originalrezept mit Käse überbacken wurde. Ihr fiel ein, daß er ihr nichts über seine eigenen Termine gesagt hatte. Er schlief noch, man durfte ihn auf keinen Fall jetzt wecken. Sein Tag begann Stunden später, und auch dann wurde er nur mühsam wach. Er fand ihr frühes Aufstehen abscheulich, machte stets bissige Bemerkungen darüber und gefiel sich in der Rolle des Mannes, der um elf Uhr im Morgenmantel vor dem Kühlschrank steht. Sie ließ ihn gewähren, redete ihm nicht in den Tagesablauf, und er mischte sich selten in ihre Planungen. Sie waren beide zu selbständig, als daß sie versucht hätten, den anderen zum Wohnungsbestandteil zu machen. Jochen, das wußte sie, war früher einmal für kurze Zeit verheiratet gewesen, er sprach nie darüber, aber er war offenbar der kleinbürgerlichen Enge entflohen, die ihn an Eigentumswohnung, Balkonblumen, Ratenzahlungen und Weckerklingeln gebunden hatte. Seitdem hatte er mal hier, mal dort gewohnt, hatte im Ausland als Korrespondent gearbeitet und teilte seit ein paar Jahren mit Lilli dieses Apartment. Die kleine Küche der Penthouse-Wohnung war auf Knopfdruck eingerichtet. Das Inventar schimmerte
ebenso silbrig-steril wie die Bordküche eines Intercontinental-Jets. Auch Gardinen gab es nicht, Lilli fand sie überflüssig, hier oben hoch über der Stadt, wo sie weit bis zu den Vororten blicken konnte. Hinter ihr, vom großen Wohnraum aus, der in Sitz- und Schlafgelegenheiten unterteilt war, sah man die andere Hemisphäre der Stadt, breit durchzogen vom grünen Dunst der Parkanlagen. Markanter Blickpunkt am südlichen Ende: die große Kuppel des Raumfahrtinstituts. Lilli lehnte in der Küchentür, aß im Stehen ihr Knäckebrot. Ihr Blick wanderte von dem Radioteleskop zurück wieder in den großen, betont braun gehaltenen Raum. Jochen schlief im dunkleren Teil, das Gesicht der Wand zugekehrt, in ihrer Nähe, während sein eigenes Bett im Nebenzimmer unbenutzt blieb. In ein paar Stunden, wenn sie vom Einkauf zurückgekommen war, würde sie ihn dort an seinem Schreibtisch finden, mit einer Tasse Kaffee und den Morgenzeitungen. Der Markt hatte gerade begonnen, die Waren drängten sich frisch und prall auf den hölzernen Ständen. Ein kalter Morgenwind packte die Beine der Besucher, Lilli band ihren Strickschal fester, sie fror ständig, selbst wenn die Sonne schien. Vor den Äpfeln blieb sie stehen, groß, grün und sauer, wie sie aussahen, griff hinein, biß von einem besonders großen ab und fragte kauend: "Was kostet der?" Die Antwort des Verkäufers machte den Apfel noch saurer. "So teuer und schon angebissen?" frotzelte sie. "Sie müssen bedenken, auch Bäume brauchen höhere Löhne", sagte eine Stimme hinter ihr.
Lilli drehte sich um und blickte in das Gesicht des jungen Raumfahrtphysikers, den sie einmal auf einer Party kennengelernt hatte, sie kramte in ihrem Gedächtnis, aber der Name fiel ihr nicht sofort ein. "Frau Sonnenberg kauft Äpfel im kalten Deutschland, wo sie die schönsten Früchte aus der Südsee mitbringen könnte", lächelte er. Lilli sah sein übernächtigtes Gesicht forschend an, die dicke schwarze Hornbrille, die zurückhaltenden, schüchternen Augen dahinter, das braune Haar, das ihm der Morgenwind zerrupft hatte. Damals, auf der Party, hatte er in der Ecke gehockt, neben dem Institutschef Kramlo, sie hatte ihn für dessen rechte Hand gehalten. Hadrich, jetzt fiel es ihr wieder ein. "War es eine lange Nacht, Herr Hadrich?" machte sie Konversation, froh, daß ihr der Name wieder eingefallen war. "Nun ja, Europa I", sagte er verlegen im Telegrammstil, "aber das meiste haben wir jetzt hinter uns. Das Raumschiff ist im vorausberechneten Winkel in die Erdatmosphäre eingetreten, die Geräte arbeiteten bis zur unvermeidlichen Funkunterbrechung einwandfrei..." Er stockte, weil Lillis belustigter Blick ihn traf. "Das interessiert Sie sicher gar nicht." Nun war seine Stimme noch verlegener geworden. "Das ist nicht gerade sehr spannend", platzte Lilli lachend heraus, "es sei denn, Sie lassen noch ein paar Klumpen aus dem Weltall dazwischensausen." "Kramlo war wütend über das Interview", nickte Hadrich, an die Interpretation der Störung erinnert. Frei heraus erklärte er: "Auf Ihren Freund ist der Chef zur Zeit nicht gut zu sprechen."
"Das ist das Schicksal von Fernsehleuten", sagte sie wichtigtuerisch. Hadrich lächelte und stellte fest, daß der Apfel schon gewirkt haben müßte, da er der Sage nach erkenntnisfördernd wirkte. Lilli beendete ihren Einkauf und stand mit dem Wissenschaftler am Straßenrand, als der große graue Wagen Angers zwischen den Lieferwagen der Marktleute hielt. "Ich wollte Sie zum Frühstück einladen", sagte der Erfinder durch das offene Seitenfenster, "aber wie ich sehe, haben Sie schon angenehmere Gesellschaft gefunden." "Ein holländisches Frühstück nach dieser Nacht, und dann noch ohne es selbst zubereiten zu müssen, das klingt gut, nicht wahr?" meinte Hadrich zu Lilli. "Sie sind Holländer?" wandte sie sich an Anger. Er stieg aus, begrüßte sie und verneinte die Frage. "Aber seine Frühstücke sind holländisch – so gewaltig!" bekräftigte Hadrich seine Auffassung, aus der die Erinnerung an Ei und Zwieback, Saft, Honig, Schinken und Käse aufstieg. Lilli lehnte die freundliche Einladung ab, ebenfalls an dem nachbarlichen Frühstück teilzunehmen. Hadrich hatte seinem Kollegen in seiner umständlichen Art erklärt, wer Liane Sonnenberg sei und woher er sie kenne, und die ganze Zeit lag der klare alte Blick des Wissenschaftlers auf ihr, und sie hatte das merkwürdige Gefühl, er dringe in sie hinein, wendete ihr Innerstes um und untersuche es leidenschaftslos, sachlich, als ob sie Objekt seiner Forschungen sei. Unwillig schlug sie die Augen nieder und wandte sich ab. "Ich möchte Ihnen ein Geschenk machen", sagte Anger mit warmer Stimme, und der Gegensatz zu dem kalten
Blick war es, der Lilli dazu brachte, ihn unvermittelt wieder anzusehen, "Ihnen und Ihrem berühmten Freund", setzte er hinzu, gab ihr eine kleine schwarze Platte, groß wie eine Briefmarke, die auf einer halben Streichholzschachtel stand. Das Spielzeug war aus Metall und überraschend schwer. "Es ist ungefährlich, ein Erinnerungsstück", beantwortete er ihre ungestellte Frage, und als sie immer noch zögerte: "Ihr Freund war gestern bei mir und erkundigte sich nach diesem Apparat. Wir hatten nicht ausreichend Zeit, darüber zu sprechen – vielleicht beantwortet dieses Spielzeug noch einige seiner Fragen." Das merkwürdige Unbehagen, das Lilli in seiner Gegenwart empfunden hatte, war verflogen. Sie lachte, nahm das Kästchen, steckte es in ihre Handtasche. "Klug ausgedacht ist das! Sie suchen für Ihre Erfindungen Reklame, und Kontakte zum Fernsehen soll man nutzen!" Gescheit kam sie sich vor, flirtete mit ihm auf eine Weise, wie es Mädchen mit doppelt so alten Männern zu tun pflegen, wenn sie sie beeindrucken wollen. Der Wissenschaftler ging nicht darauf ein. "Es freut mich, daß Sie das kleine Geschenk annehmen", sagte er förmlich und stieg wieder in den Wagen. Während die beiden Raumfahrtspezialisten davonfuhren, ihrem holländischen Frühstück entgegen, dachte Lilli wieder an Irish Stew und hatte das schwarze Kästchen in ihrer Handtasche vergessen.
11
"Steck das weg!" Karl schrie den Jungen an. Plötzlich stand die mannshohe Guillotine wieder vor seinen Augen, monströs, tödlich. Aber was sein Beifahrer da in der Hand hatte, war nur entfernt damit ähnlich. Es war etwa so groß wie die Handfläche, eine senkrechte schwarze Scheibe, auf einen Kasten montiert, auf dessen Seite mehrere Schalter herausragten. "Wie schwer das ist!" sagte Bert und hielt es mit beiden Händen fest. "Ich möchte wetten, daß es voller Spulen und Transistoren ist." "Du hättest es dort lassen sollen", sagte Karl angewidert. Sie saßen beide im Führerhaus des InstitutsLieferwagens, warteten auf neue Order, auf der anderen Seite des Hofes stand der Ü-Wagen des Deutschen Fernsehens, unbesetzt und abgeschlossen, daneben der Wagen des Chefs, sonst war der Hof leer. Karl, mit der Thermosflasche auf den Knien, machte sich Gedanken über den Jungen. Er konnte nicht begreifen, daß Bert in der Nacht, von Grauen überwältigt, die Fassung verloren hatte, und heute mit dem Teufelszeug spielte. "So ein Gangster, dieser Ingenieur", sagte Bert und stellte die Maschine vor sich auf das Armaturenbrett. "Ob er das alles im Auftrag des Instituts gemacht hat?" Karl blickte ihn überrascht an. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Das Institut? Darauf ließ er nichts kommen, seitdem es ihm zur zweiten Heimat geworden war, damals, nach dem Knast. Karl dachte daran, wie er damals zusammen mit dem Jungen entlassen worden war, wie sie beide Arbeit gesucht hatten und nur abgewiesen worden waren. Wenn er dem Jungen nicht immer wieder zugeredet hätte, ihn aus den Kneipen
geholt und vor den alten Freunden gewarnt, der Junge säße heute längst wieder ein. An dem Tag, an dem das Institut sie beide als Fahrer einstellte, hatten sie sich abends vollaufen lassen, der letzte Alkohol, und dann für immer nüchtern, hatten sie gelacht, es war ein Feiertag gewesen. Das Institut, nein, das hatte mit diesen Mordwerkzeugen nichts zu tun. Als ob Bert das Wort aufgefangen hätte, fragte er plötzlich: "Ob das eine Waffe ist?" Eine Waffe? Ein Mordwerkzeug? Die toten Tiere traten wieder vor Karls Augen, er sah das Blut, ihm war, als ob die riesige Guillotine hinter ihm stünde. Unmöglich, das Institut stellte keine Waffen her. "Steck das weg, versteck es", sagte Karl noch einmal, und plötzlich spürte er Angst, hier auf dem Institutshof damit gesehen zu werden. Bert zuckte die Schultern und ließ das schwarze Gerät achtlos in der Jackentasche verschwinden. "Vergrab es am besten", setzte Karl hinzu. "Warum wollen wir es nicht versilbern? Meinst du, der Typ bezahlt dafür nichts?" Karl ließ der Gedanke nicht mehr los, es könnte etwas Gefährliches sein. "Ich will nicht, daß das in andere Hände kommt." Bert war es gewohnt, die plötzlichen Entschlüsse seines Kumpels hinzunehmen, ohne sie zu verstehen. Karl Stadier war ein Vater für ihn, Eltern hatte er nie gekannt, war im Heim groß geworden, zweimal ausgerissen, beim Einbruch dabeigewesen, als einziger erwischt worden. Er hatte die anderen nicht verraten, aber ihm wurde mehr aufgebrummt, als er eigentlich als nicht vorbestrafter Jugendlicher hätte haben dürfen. Im Knast lernte er Karl kennen. Karl sagte immer, ein
anständiger Beruf ist mehr wert als ein alter Knastologe zu sein. Bert konnte das nicht verstehen, aber das Denken hatte er meistens anderen überlassen. Jetzt tat es Karl für sie beide. "Nicht versilbern? Wozu habe ich es dann mitgehen lassen?" murrte Bert. Karl dachte darüber nach, ob sein Institut vielleicht geheime Aufträge vergab, die der Ingenieur wegen ihrer Gefährlichkeit zu Hause entwickelte. Vielleicht wurde das Institut auch mißbraucht, der Aufsichtsrat wußte gar nichts davon, Kramlo war schuldlos an der Sache, Anger trieb ein doppeltes Spiel? Das überstieg Karls Horizont. Er wischte die Gedanken beiseite, schraubte die Thermosflasche zu, ließ abrupt den Wagen an und sagte: "In der nächsten Stunde kommt doch nichts auf uns zu. Wir fahren erst einmal zu Maria." Er hatte versprochen, die beiden Kisten wegzuschaffen, Kisten voller elektronischer Geräteteile für den Hehler. Karl kam von seinen Steifzügen nicht mehr los, auch wenn er dem Jungen das bürgerliche Leben als so erstrebenswert pries. Seit seiner Kindheit hatte er seinen Lebensunterhalt vorwiegend aus Diebstählen bestritten, es war zur Manie geworden. Und wie ein Süchtiger fühlte er sich danach schal und schlapp, stritt mit sich selbst und flüchtete an den einzigen Herd, der ihn wärmte: zu der Gastwirtin, Maria war sein Halt im ehrbaren Leben, schon zweimal hatte sie ihn bei sich aufgenommen, nachdem er seine Strafen abgesessen hatte. Diesmal, als er mit dem Jungen gekommen war, hatte sie ihm das Wohnen verweigert, aber hin und wieder ließ sie ihn gewähren, wenn er allein kam. Sie mochte den Jungen nicht, und Bert mochte sie nicht, doch Karl hielt verbissen daran fest, seinen Freund
aus dem Knast vor weiteren Begegnungen mit dem Staatsanwalt zu bewahren. "Du bist nicht der Mann, der ihn davor schützen kann", hatte Maria zu ihm gesagt, "gerade du mit deinen Rückfällen, du kannst dich nicht mehr ändern, wie willst du dann den Jungen ändern? Du kannst ihm nicht helfen, aber er kann dir schaden." Und ein anderes Mal sagte sie: "Laß ihn laufen, er ist schlecht, ich kenne die Menschen, sehe sie vor mir, weiß, wer zu nichts nutze ist. Du kannst wieder bei mir wohnen, wenn du den Jungen fortschickst." Er konnte ihn nicht fortschicken. Gefühle, die er früher nicht gekannt hatte, zogen ihn zu dem Jungen hin, er war der Vater für ihn, das wäre, wie sein eigenes Kind aussetzen. Sie parken den Lieferwagen auf dem schmalen Weg hinter der Gastwirtschaft und gehen von dort direkt in den Keller. Wehmütig denkt Karl an Maria dort oben hinter der Theke, aber er will ihr erst wieder unter die Augen treten, wenn diese Arbeit getan ist. "Tante Maria ist aber vorne in der Wirtschaft", sagt ein Knirps, als sie in den Keller steigen. Er spielt mit einem Fußball um sie herum, Karl ist ärgerlich über den Zeugen. "Geh nach Hause, hier ist kein Spielplatz", herrscht er den Zehnjährigen an, aber der sagt nur: "Soll ich Tante Maria Bescheid sagen, daß Ihr liefern kommt?" "Wir kommen nicht liefern", sagt Bert, tänzelt um den Kleinen herum und schießt den Ball mehrere Häuser weiter, brüllt "Tor!", folgt dann in großen Sprüngen dem Alten, der schon im Keller verschwunden ist. Der kleine Junge hat seinen Ball schnell wieder, spielt ihn von
Häuserwand zu Häuserwand zurück, zehn Fußballstars stehen mit ihm im Olympiastadion, ein gelungener Paß läßt den Ball zwischen den Vorderrädern des Lieferwagens verschwinden und vom Absatz der Kellertreppe zurückspringen. Da bleibt der Fußballer stehen, ein Spielzeug fällt ihm auf, das da vorher noch nicht gelegen hatte, eine schwarze Platte auf einem kleinen Kasten, schwer ist das, sicher ein Teil einer großen Rennwagenanlage, ein Starter vielleicht für die elektrischen Autos. Der Kleine packt seinen Ball und hüpft mit dem Fund nach Hause.
12 Jeden Morgen, wenn er beim Rasieren vor dem Spiegel stand, fragte sich Jochen Berner, wie weit er es noch bringen würde, Chefredakteur, Programmdirektor, Intendant, oder sollte er eines Tages den Journalismus an den Nagel hängen und sein Wissen in den Dienst eines Industrieunternehmens stellen? Er dachte an Kollegen, die diesen Weg beschritten hatten, sie verfügten heute über mehr Geld als er, aber in der Öffentlichkeit waren sie unbekannt. Fast täglich auf dem Bildschirm sein, das war schon etwas, wofür man auf größeren Reichtum verzichten konnte, das trug dem eigenen Gesicht den Wert eines Markenzeichens ein, der große Hans Joachim Berner, Anwalt des Volkes. Er glaubte es selbst, wenn er sich im Spiegel ansah, und empfand ein fast narzißtisches Vergnügen an seinen markanten Zügen und dem unbeirrbaren Blick. Dieser Kopf gehörte nicht mehr ihm, er war Vertrauter von Millionen Fernsehzuschauern, für die er zwischen Fußballern und
Bundesministern rangierte. Aber nicht nur die Zuschauer, deren Bewunderung eher seiner selbstsicheren Art als dem Inhalt seiner Vorträge und Interviews galt, die sie meistens nicht ganz verstanden, auch die wichtigen Leute vom Fach schätzten ihn. Sie zitierten ihn, holten seinen Rat ein, baten ihn um Beiträge in Zeitschriften und Illustrierten, verliehen ihm schließlich in der talmiglänzenden Werbeschau des jährlichen Smokingrituals die Goldene Kamera. Berner blies lächelnd den Bartstaub aus seinem Rasierapparat und bestätigte sich, daß ihm nichts wichtiger sei als der Journalismus, das Streiten mit dem Wort für Wahrheit und Gerechtigkeit, daß er leichten Herzens auf Direktorensessel von Großunternehmen wie auf Staatssekretärsstellen verzichten könnte, sollten sie ihm einmal angeboten werden, würde er nein sagen können, hier im Deutschen Fernsehen hatte er seine Aufgaben gefunden. Während er herbduftendes After Shave auf seine Haut rieb, spürte er, diese Worte waren ein wenig zu abgegriffen, als daß man sie noch sagen dürfte. Er würde auch nie in dieser Weise über sich sprechen, die Artikel über seine Person überließ er anderen, aber hier, mit sich allein, konnte er denken und sagen, wie es wirklich war. Er stieg auf die Waage, lächelte beim Anblick der Zweiundachtzig-Kilo-Marke und machte ein paar sportlich gemeinte Bewegungen. Dann warf er sich mit der Geste eines Wiener Hofschauspielers den Morgenmantel über und ging in die Küche, um sich ein Frühstück zusammenzustellen. Er las gerade die ganz und gar abwegigen Ausfälle gegen die Bundesregierung, denen sich der Chefredakteur einer großen Tageszeitung im heutigen
Leitartikel entledigte, schlürfte ebenso genußvoll an seinem heißen Kaffee und kreidete mit einem roten Filzstift besonders herbe und unglaublich danebenzielende Formulierungen an, als Lilli zurückkam. Sie stellte in der Küche ihren Einkauf ab, warf ihren Mantel auf einen Sessel und kam in sein Zimmer, gab ihm einen Guten-Morgen-Kuß, nahm sich eine Zigarette und sah ihn fröhlich an. Sie wußte, daß das Alltägliche jetzt nicht zu besprechen war, wartete auf eine beißende Bemerkung von Jochen zu dem Zeitungsartikel und studierte inzwischen sein weitverbreitetes Gesicht auf eine ihr eigene Weise. Sie kannte den ehrgeizigen, vordergründigen, effektsuchenden Mann, sie kannte aber auch seine Empfindsamkeit, seine zärtliche Unsicherheit, seine Einsamkeit. Der Mann, den Millionen kannten, zu dessen Freundeskreis die Großen aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Presse zählten, der Mahn mit dem kühlen Verstand hatte keinen Freund, der ihm wirklich nahe stand. Lilli, die schnell Freundschaften schloß und stets Menschen um sich hatte, spürte in Jochens Nähe die Einsamkeit, die ihn umgab. Dann wärmte sie ihn mit ihrer Zuneigung und ahnte, daß sie der einzige Mensch in seinem Leben sei, dem er mehr über sich eingestehen würde als sich selbst. "Sicher muß ich heute noch einen Kommentar zum Abschluß des Raumfahrtunternehmens machen, nötig wäre wohl auch noch ein Stück über das Institut." Berner hatte gemerkt, daß Lilli diesen freien Tag planen wollte. "Den Artikel für Bauermann kann ich auch in der kommenden Nacht schreiben, das ist frühzeitig genug für den Umbruch."
Seine Blicke wanderten von Zeit zu Zeit auf den Bildschirm des Fernsehers, der mit abgeschaltetem Ton gegenüber dem Schreibtisch stand und die Vorbereitungen auf die Wasserung der Raumkapsel in der offenen See vor Neuseeland zeigte. "Ob noch einmal eine Störung wie gestern auftritt?" fragte Berner plötzlich, mehr an sich selbst gerichtet, und blickte das live übertragene Bild aus Neuseeland grübelnd an. Lilli wußte nicht recht, ob die Frage ihr gegolten hatte, und schwieg, Berner dachte laut weiter: "Wenn jetzt die gleiche Störung noch einmal auftreten würde, wäre das ein Beweis für das Versagen des Instituts oder wenigstens der von ihm verantworteten Technik. Dann müßte sich Kramlo etwas anderes einfallen lassen als die dürftige Geschichte von dem Energiebrocken, der durch das Weltall segelt." "Warum springst du so hart mit dem Mann um?" "Seine eingebildete Art paßt mir nicht", sagte Berner spontan, "wie alle Wissenschaftler fühlt er sich erhaben über die anderen Menschen." Lilli hielt den Augenblick für gekommen, nach dem Zeitpunkt für das gemeinsame Essen zu fragen. "Ich werde kurz noch einmal beim Ü-Wagen vorbeischauen", antwortete Berner und wies mit dem Filzstift auf das Fernsehbild. "Die haben eine durchgehende Kontrolle über die Qualität des eingehenden Bildes. Ich bin gegen zwei Uhr wieder hier." Das traf sich mit Lillis Vorstellungen. Sie machte ein paar Andeutungen, daß es etwas Besonderes zu essen gab, und zog sich in die Küche zurück.
Berner traf zwanzig Minuten später im Hof des Raumfahrtinstituts ein. Der Ü-Wagen war jetzt besetzt, die Mannschaft mokierte sich über das langweilige Programm. Als Berner den Kopf zur Tür hineinsteckte, sagte der Bildingenieur, als ob er die Gedanken des Reporters erraten hätte: "Wir haben heute ein gutes Bild, der Pegel ist hervorragend." Er deutete auf das grünschillernde Meßinstrument, dessen Streifen und Linien nur ihm etwas sagten. Berner zeigte nicht, daß er enttäuscht war. "Das kann doch die Zuschauer überhaupt nicht mehr interessieren", sagte der Tonmann und zog den Regler etwas auf, so daß Rauschen und Piepen und der spärliche Kommentar gerade zuhören waren. "Das ist doch alles kalter Kaffee. Ein Dutzend Apolloflüge, Fußspuren im Mondstaub, Zahnbürste schwerelos, herabsinkende Raumkapsel, Empfang durch Froschmänner, und dann lächeln alle wieder." "Bloß der Steuerzahler nicht", sagte der Bildingenieur und nickte dem anderen zu, "den kostet das Milliarden." "Schade ums Geld", fuhr der Tonmann fort. "Mir ist es lieber, der Staat gibt das Geld für die Raumfahrt aus, als daß er es in die Rüstung steckt." Berner konnte derartige Unterhaltungen nicht ertragen, weil sie stets mit dem Argument endeten, man solle doch Schulen und Krankenhäuser dafür bauen. Daß das volkswirtschaftlich Unsinn sei, eine derartige Alternative aufzustellen, daß man nicht Rüstungsgüter und Wirtschaftsgüter in ihrer Wirkung auf das Bruttosozialprodukt gleichstellen könne, daß Raumfahrt zwar Arbeitsplätze schafft, aber anders als andere staatliche Investitionen auf die Inflation wirkt, daß also
"Butter statt Kanonen" ein unbrauchbares Programm in dieser Marktwirtschaft sei, das alles hatte Berner schon mehrere Dutzend Mal erläutert. Investitionen in die Raumfahrt gehen zwar der Rüstungsindustrie, nicht aber der Sozialpolitik verloren, pflegte er zu dozieren. Aber er machte sich nicht die Mühe, das alles seinen Technikern zu wiederholen, und so blieb seine Äußerung für sie unverständlich, sie blickten ihn verwirrt an, nickten gedankenverloren vor sich hin und wandten ihre Aufmerksamkeit dem Auftauchen der Raumkapsel zu. Jemand tippte Berner von hinten auf den Arm. "Sie sind doch vom Fernsehen", sagte der pickelgesichtige Junge hinter ihm unbeholfen und beugte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. "Wir sind alle vom Fernsehen", sagte Bemer trocken, "was wollen Sie?" "Ich kann Ihnen etwas erzählen, etwas Wichtiges über das Institut. Das ist geheim", sagte Bert mit leiser Stimme und unterdrückte die Erregung, so gut es ging. Berner runzelte die Stirn. Der Junge wollte etwas wissen, das ihm bisher entgangen war? "Wer sind Sie?" fragte er und zog den Jungen neben den Ü-Wagen. "Ich bin Fahrer beim Institut, da bekommt man manchmal Dinge zu sehen, die andere nicht sehen", sagte Bert und fühlte festeren Boden unter sich. "Was zahlen Sie für meine Information?" "Noch weiß ich ja nicht, was sie wert ist", lächelte Bemer und hoffte plötzlich, hier zu finden, wonach er seit Tagen suchte. "Wenn ich Ihnen sage, daß es etwas Militärisches ist?" Bert fühlte sich schlau.
Der Reporter ließ seine gewohnte Vorsicht außer acht. Material über Kramlo zu erhalten, da konnte er nicht abweisend sein. Großzügig bot er dem Jungen hundert Mark. "Waffen", sagte Bert noch leiser als zuvor, "da werden neuartige Waffen entwickelt und getestet." Jäh kehrte Berner in die Wirklichkeit zurück, sein Informant war ohne Zweifel ein Lügner. "Schade um die hundert Mark", sagte Berner sarkastisch und wandte sich ab, "Ihre Information ist wertlos." "Das nennen Sie wertlos?" brauste Bert auf, empört über die Zurückweisung, "soll ich es Ihnen beweisen? Hier, ich trage ein Teilstück bei mir, ich kann es Ihnen zeigen, ich habe es aus einem Labor." Die Sätze sprudelten aus ihm hervor. "Ich habe Tests gesehen, wenn das keine Waffen sind!" Dann erstarrte er, griff noch einmal tief in seine Taschen, kehrte sie um, klopfte sich die Kleidung von außen ab, er konnte es nicht glauben, das Gerät war nicht mehr da. Berner legte ihm jovial die Hand auf den Arm, murmelte: "Lassen wir das", wandte sich ab und stieg in sein Auto. "Ich hätte es mir gleich denken können", beschwichtigte er sich selbst, "derartige Informanten taugen nie etwas." Als er abfuhr, war der Junge schon verschwunden.
13
Das sichere Wassern der Raumkapsel wurde im Institut mit Sekt gefeiert. Die Direktübertragung aus dem Seegebiet östlich Neuseelands lief über alle Bildschirme der Stationen, Büros und Meßräume, und so wie hier in der deutschen Zentrale freuten sich auch die Mitarbeiter der britischen Bodenstation in Sydney und die französischen Techniker in Toulouse. Dr. Kramlo unterdrückte den Wunsch, es seinen Leuten gleichzutun, und beugte sich über die Papierstapel, die ihm seit gestern ein so unerwartetes Problem bereiteten. An den Messungen gab es keine Zweifel, aber das logische Ergebnis war unglaublich. Kramlo fühlte jetzt, wie übermüdet er war, daß er seit vierzig Stunden nicht den Anzug gewechselt hatte, er sehnte sich nach seiner behaglichen ledergarniturgeprägten Wohnung, empfand es als Mangel, sich seinem Sohn Andreas nicht mehr gewidmet zu haben, dachte an seine Frau, mit der er seit Tagen außer guten Abend und guten Morgen kein Wort gewechselt hatte. Kramlo hatte in den sechsunddreißig Jahren seit seinem Abitur nichts anderes gekannt, als an seiner Karriere zu bauen, seine Familie war ihm Staffage für die gesellschaftliche Stellung, auch wenn er das nie zugeben würde. Er glaubte seine Frau zu lieben, war davon überzeugt, daß sie glücklich an seiner Seite sei, fühlte sich zufrieden, weil er seinem Sohn die Ausbildung ermöglichte, die sich Andreas selbst gewünscht hatte. Kramlo lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm, ohne das Geschehen zu verfolgen. Ein Mitarbeiter legte einen alten Aktenordner auf seinen Schreibtisch.
"Ich habe etwas gefunden, Chef, nur haben die Kollegen in Houston das seinerzeit nicht so exakt aufgezeichnet." Plötzlich ist keine Müdigkeit mehr da, hellwach studiert er den Bericht, den ihm der Wissenschaftler zeigt. Das sind Arbeitsprotokolle vom Apollo-12-Flug, zweites Mondlandeunternehmen der Amerikaner, damals eine technische Pioniertat, um die er die Wissenschaftler in Houston und Kennedy glühend beneidet hatte. Das Protokoll vermerkt eine kurzfristige Unterbrechung der Verbindungen mit dem ApolloRaumschiff, verweist auf anomale Meßwerte, enthält sogar – Kramlo liest es zweimal – die Notiz des Chefphysikers, daß die eigenen Geräte störungsfrei gearbeitet hätten und für den Fehler nicht verantwortlich seien. "Ich habe die Rohdaten dieses Zeitraums ebenfalls herausgesucht", sagte der Mitarbeiter eifrig, "vergleichen Sie sie mit unseren Werten! Wie gesagt, es ist nicht alles so präzis festgehalten, wie wir es jetzt tun, aber es sind die gleichen anomalen Zahlen!" Kramlo prüft die Datenkolonnen, vergleicht, obwohl es sein Mitarbeiter sicher längst zwanzigmal getan hat, er ahnt, daß sie dem Phänomen auf der Spur sind. Damals, 1969, hatte das gleiche Energiezentrum die Bildfunkverbindung unterbrochen, fast im gleichen kritischen Augenblick des Kopplungsmanövers. Dann stutzt er. "Haben Sie die Zeitdaten auch miteinander verglichen?" fragte er den weißbekittelten Mann neben sich. "Natürlich", sagt der zögernd, "da ist die große Abweichung.
Die Störung war viel kürzer als bei uns, und ..." – er blättert in dem Aktenordner zurück und zeigt auf eine computergedruckte Kurve – "sie schwoll sozusagen ab und endete abrupt. Bei uns hielt sie sich länger, obwohl sie nur Sekunden aktiv war, und gab den Kontakt erst nach vielen Minuten wieder frei." Kramlo lehnt sich zurück, wägt die Feststellungen gegeneinander ab. "Das könnte der Schlüssel zur Klärung sein, wenn wir hier die Datenanalyse ansetzen, kann es uns eher zum Ziel führen, als wenn wir hundertprozentige Übereinstimmung hätten." Kramlo nickt dem Mann zu, bedankt sich für die fleißige Archivarbeit, behält die Aktenordner vor sich auf dem Schreibtisch. Kurz darauf waren die leitenden Mitarbeiter um ihn versammelt. Ohne lange Vorrede steuerte Kramlo das Thema an. Nach einem dürren Satz des Dankes für die jahrelange Vorarbeit an dem Projekt, das in diesen Minuten zu Ende ging, machte er auf den Berg von unerledigten Forschungsarbeiten aufmerksam. "Und zuallererst", Kramlo sah seine Mitarbeiter fest an, "brauche ich eine Datenanalyse der gestrigen Störung. Banninger hat in den Akten aus Houston Vergleichswerte gefunden, ich bin zuversichtlich, daß wir bald dem Aufsichtsrat einen fundierten Bericht übergeben können." Vergleichswerte? Die Männer blickten sich erstaunt an, wollten wissen, was denn damals passiert war, baten Kramlo um nähere Auskünfte, aber der schwieg sich aus. Er teilte ein paar Wissenschaftler für die Auswertung ein und setzte einen Termin für den Bericht. Dann schien es,
als wollte er die Mitarbeiter zur wohlverdienten Ruhe nach Hause schicken. Einer hob sein Glas, das er zur Besprechung mitgebracht hatte, und sagte: "Auf Sie, Doktor Kramlo! Daß dieses Unternehmen so positiv verlief, ist nicht zuletzt Ihre Leistung!" Die anderen Männer murmelten zustimmend, aber Kramlo sagte nur mürrisch: "In Zukunft möchte ich alle Projektleiter bei meinen Besprechungen sehen, auch Herrn Anger." Dann ging er. Seine Mitarbeiter kannten die unnahbare Haltung, mit der er sich gerade in derartigen Augenblicken hinter dem Schutzwall seiner Funktion versteckte, aber die Bemerkung über Anger ließ sie stutzen. Der Chef hatte in letzter Zeit mehrfach über Anger geklagt, die Extratouren des bekannten Physikers paßten ihm nicht. Warum war Anger eigentlich nicht da, dachte Zimmermann, er ist doch sonst nicht aus dem Institut zu prügeln? Und dann fiel ihm auf, daß auch Hadrich nicht anwesend war, und lächelte bei dem Gedanken, daß diese beiden ungleichen Männer irgend etwas Gemeinsames haben könnten.
14 "Sie sind ein Gourmand, nur Ihre Figur paßt nicht dazu", lachte Hadrich beim Anblick des holländischen Frühstücks, das Anger aufgebaut hatte. "Ich bin zwar nicht bewandert in der Sprache Ihres Nachbarlandes", ging Anger auf die Bemerkung ein, "aber ich bin ein Gourmet."
Hadrich hatte gerade ein Krustenbrötchen mit feinstem Schinken in den Mund geschoben und sah sich außerstande zu antworten. Sie saßen in Angers Haus, im Wohnraum, zur Südseite hin sah er in den Garten, der vor Jahren einmal gepflegt worden war, seitdem fiel er schnell und schneller in die Natur zurück. Die Fenster hatten keine Gardinen, die Scheiben waren seit längerer Zeit nicht mehr gereinigt worden. Aber das war es nicht, was Hadrichs Blicke fesselte. Unter dem Fenster standen auf Experimentiertischen Geräte, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. "Ich habe eine Bitte an Sie", sagte Anger in seiner direkten Art und blickte ihm in die Augen. "Ich dachte mir schon, daß das Frühstück nicht umsonst ist", grinste Hadrich, "warum haben Sie mich mitgenommen? Schießen Sie los!" "Können Sie sich vorstellen, daß man ohne Transportmittel reisen kann?" "Haben Sie das erfunden?" fragte Hadrich kauend. "Nein, ich habe das nicht erfunden." "Das geht auch nicht, es sei denn, Sie gehen zu Fuß." "Oder man läßt sich schicken." "Machen Sie keine Wortspiele", sagte Hadrich und griff nach einem Zwieback, "entweder Transportmittel oder zu Fuß." "Ich hatte das Wort Transportmittel für Wagen, Bahnen, Flugzeuge, Raumschiffe gewählt", sagte Anger in seiner distanzierten Art, "aber wenn Sie Bilder oder Worte schicken wollen, so senden Sie sie einfach per Telefon oder drahtlos durch den Äther." Da Hadrich schwieg und nicht geneigt war, das Frühstück vorzeitig abzubrechen, fuhr der Erfinder fort:
"Man kann eben auch das, was Sie per Wagen oder Bahn schicken, durch den Äther senden." "Materietransmission?" entfuhr es Hadrich. Dann schüttelte er den Kopf. "Das gibt es nicht." Anger lächelte, und in diesem Augenblick wirkte er lehrerhaft. "Auch Gegenstände lassen sich senden wie Bilder, an jeden gewünschten Ort, in Bruchteilen von Sekunden." "Sie erzählen Ammenmärchen, Herr Kollege", sagte Hadrich in seiner flapsigen Art, "ein Bild besteht aus elektronischen Impulsen, ein Gegenstand aus Materie. Erstes Semester, erste Stunde." "Materie – oder Energie. Das wissen Sie spätestens seit Einstein." "Gut, eins zu null für Sie." "Wenn Sie den Gegenstand in Energie verwandeln, können Sie ihn auch ausstrahlen." "Als Atombombe", sagte Hadrich und fühlte sich beim Frühstück gestört, "aber dann bleibt nichts übrig." Anger sagte mit gleichbleibend ruhiger Stimme: "Wenn Sie es machen wie die Barbaren! Man muß den Gegenstand kontrolliert in Energie umsetzen, jedes Masseteilchen auf einer festen Frequenz versenden und bei der Auffangstation nach dem gleichen Muster wieder in Materie umwandeln." "Nehmen Sie es mir nicht übel, Anger, aber das ist reine Science-fiction! Das Brötchen, das ich auf diese Weise versende, kommt nie an. Gut, theoretisch kann ich es verstrahlen, ebenso wie Uran oder Radium, aber wie sollte man es auffangen können, ohne den Empfänger zu zerstören, geschweige denn es wieder zusammensetzen?"
Anger stand auf, trat an den Experimentiertisch und winkte mit dem Löffel, den er in der Hand hielt, seinen Gast zu sich. Hadrich faltete seufzend die Serviette zusammen, rückte seine Hornbrille zurecht und kam näher. "Hier", sagte Anger und deutete auf ein seltsames Gerät, das aus einer flachen Scheibe und einem viereckigen Sockel bestand, "hier verwandele ich den Gegenstand in Energie. Dort..." -und er zeigte auf ein ähnliches, allerdings sehr viel weniger kompliziert erscheinendes Gerät, das einen Meter entfernt stand "wird er wieder zurückverwandelt." Anger drückte den Löffel gegen die flache Scheibe, und ohne jedes Geräusch verschwand der Löffel, im selben Augenblick fiel er hinter der Scheibe des zweiten Gerätes auf den Tisch. "Das macht einem Zauberer alle Ehre", sagte Hadrich, nachdem er sich von der ersten Verblüffung erholt hatte, "der Trick mit der zersägten Jungfrau! Verkaufen Sie Ihre Erfindungen neuerdings auf dem Jahrmarkt?" "Damit Sie nicht meinen, ich machte Ihnen Luftspiegeleien vor", sagte Anger, lächelte und gab dem anderen das Empfangsgerät in die Hand, "nehmen Sie es mit ins Nebenzimmer oder in den Garten. Ich sende Ihnen Ihren Kaffeelöffel auch durch geschlossene Wände." Hadrich hatte trotz des Frühstücks das leere Gefühl im Magen, das sich einstellt, wenn eine Zigeunerin in ihre Karten geschaut und die Wahrheit gesprochen hat. Zögernd griff er nach dem kleinen, schweren Gerät und trat in den Garten.
"Gehen Sie bis an den Zaun, und bleiben Sie hinter den Bäumen!" rief ihm Anger nach, ein Mann, der sich seiner Sache sicher war. Hadrich stand zwischen dem Unkraut, in der frischen Morgenluft fröstelte er, der breite Baum hinter ihm überschattete die Brennesseln, die mannshoch am Zaun entlang wucherten. Auf der ausgestreckten Hand hielt er das seltsame Gerät vor sich, das jetzt schwach vibrierte. Plötzlich erschien der Kaffeelöffel neben der schwarzen Platte und fiel ins Unterholz. Hadrich war nicht imstande, sich danach zu bücken. Wie gelähmt starrte er den Apparat an, als ob dort immer noch mehr Löffel herausfallen würden, und die Physik, die er in vielen Semestern begierig gelernt hatte, schien ihm nichts mehr wert.
15 "Daran also haben Sie in der letzten Zeit so intensiv gearbeitet!" sagte Hadrich, als er wieder mit Anger zusammen in dem großen Wohnraum saß, "so intensiv, daß der Chef manchmal ungehalten war über Ihre Abwesenheit." "Sie meinen Doktor Kramlo? Er braucht nicht zu wissen, woran ich arbeite." Es war der überhebliche Ton, der Hadrich überraschte. Er konnte sich nicht entsinnen, ihn früher bei Anger erlebt zu haben. "Sein physikalischer Verstand würde sich genauso gegen diese Maschine wehren wie der Ihrige. Er wäre imstande und würde mich an der Fertigstellung hindern, und ich habe nicht die Absicht, mich hindern zu lassen,"
Die beiden Männer saßen sich gegenüber und starrten schweigend vor sich hin. Was entwickelt er wirklich? dachte Hadrich. Dieser Zauberkasten gehört in den Spielzeugladen, dafür opfert ein Mann wie Anger weder seine Zeit noch möglicherweise seine Stellung. Es muß etwas anderes sein, das er mit dieser Demonstration tarnt. Aber was? Das kleine schwarze Gerät stand auf dem Frühstückstisch, zwischen dem unabgeräumten Geschirr, den Brötchenkrumen, den Marmeladentöpfchen, dem benutzten Besteck. Mechanisch griff Hadrich nach dem Kaffeelöffel und drehte ihn zwischen den Fingern, offenbar hatte er keinen Schaden genommen, es war noch immer derselbe Löffel. Woher hatte Anger das physikalische Wissen, woher die Mittel für seine Entwicklungen? Stand ein geheimer Staatsauftrag dahinter, von dem auch Kramlo nichts wußte? Aber was hätte ich damit zu tun? dachte Hadrich weiter. Er hob die Augen und starrte Anger an. Warum hatte der Erfinder ihn mitgenommen und eingeweiht? Dann fiel es ihm wieder ein. "Sie sagten vorhin, Sie hätten eine Bitte an mich", brach Hadrich das Schweigen, "was ist es?" Anger schien nicht mehr so selbstsicher zu sein wie vorhin, er zögerte, bevor er antwortete, und es schien fast so, als ob er die Antwort widerstrebend gab: "Ich wollte Sie bitten, mir zu helfen." Hadrich war überrascht. "Wie das?" entfuhr es ihm, "bei einer derart perfekten Entwicklung noch helfen? Wie könnte ich das, wo mir das Wissen fehlt, wo offensichtlich meine elementaren Grundkenntnisse versagen, wo ich weder Konstruktion
noch Zweck der Erfindung kenne? Ich kann Ihnen nicht helfen." Die seltsam alten hellen Augen Angers ruhten auf ihm, Hadrich schien es, als durchbohrte ihn der Blick, und für einen Augenblick hatte er das Gefühl, Anger sei in ihn eingedrungen. Als er sich trotzig dagegen wehrte, verschwand das Gefühl ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Seltsamerweise sagte Anger: "Entschuldigen Sie." Und nach einer kurzen Pause fuhr er hastig fort: "Ich glaube, Sie sind der einzige, der mir assistieren kann. Sie haben genug Fantasie, um mitzudenken, und Sie werden schweigen können." Da war es wieder, dachte Hadrich. Ich muß schweigen können, also ist es etwas Geheimes, das hier entsteht – oder erst noch entstehen soll. "Was fällt für mich dabei ab?" fragte er realistisch, "außer daß ich möglicherweise mit Kramlo in Konflikt gerate?" "Sie brauchen Doktor Kramlo nicht zu fürchten", sagte der Erfinder und machte eine beschwörend wirkende Handbewegung. "Und was für Sie dabei abfällt, wie Sie sich ausdrückten, das müssen Sie selbst entscheiden." Anger stand auf und trat an das Fenster. Er wandte dem jungen Kollegen absichtlich den Rücken zu, um ihn beim Abwägen der Antwort nicht zu drängen. Hadrichs Blicke wanderten von dem seltsamen Gerät zu der Gestalt dort am Fenster, die plötzlich fremd wirkte. Ein einsamer, egozentrischer alter Mann, durchfuhr es ihn. Was will er wirklich von mir? Dann blickte er wieder auf das Gerät, den kleinen schwarzen Kasten, in dem offenbar Batterien oder Akkumulatoren die elektrische Energie erzeugten, die für
die Übertragung notwendig war, Transistoren, Dioden, ein schlichter Drehkondensator, soweit war es kinderleicht, den Apparat zu durchschauen. Aber die seltsame senkrecht stehende Platte darauf, die weder aus Kupfer noch aus Stahl gemacht war, obwohl sie je nach Blickwinkel entweder den einen oder den anderen Eindruck erzeugte! Wie vermochte so ein schlichtes Brett so ungeheuer komplizierte Vorgänge so exakt zu vollziehen, wenn hier wirklich hundertprozentige Energie in korrekter Reihenfolge in Masse umgewandelt wurde, und das im Bruchteil einer Sekunde! "Welche Reichweite hat das Gerät – der Sender, meine ich?" fragte Hadrich plötzlich in die Stille hinein. Anger lachte wieder in seiner zurückhaltenden, freundlichen Art, die man von ihm kannte. Er wußte, daß er den jungen Physiker richtig eingeschätzt hatte, er brauchte den Assistenten, er mußte ihn einweihen, und er mußte sicher sein, daß das Geheimnis unter ihnen blieb. Er wagte nicht daran zu denken, was für eine Katastrophe über die Menschheit hereinbrechen würde, wenn seine Arbeit jetzt bekannt würde. Hadrich, das hatte er von Anfang an gewußt, Hadrich würde mitarbeiten und schweigen. "Die Reichweite ist eigentlich unbegrenzt", sagte er leichthin und fügte mit breiterem Lächeln hinzu: "Wenn Sie an die Möglichkeiten auf der Erde denken." "Wieso?" hakte Hadrich überrascht ein und merkte nicht, wie er bereits begann, sich in die Arbeit zu vertiefen, "kann ich damit auch den Kaffeelöffel der Raumfahrer vom Mond zurückholen?" Anger lachte, aber er antwortete nicht. Er trat auf Hadrich zu und streckte ihm die Hand hin. "Sie schlagen also ein?"
Hadrich war jung genug, sich auf Abenteuer einzulassen, aber er hing an seiner Arbeit im Institut. "Wenn es mich nicht meinen Job bei Kramlo kostet", sagte er, "bin ich Ihr Mann." "Natürlich bleiben Sie im Institut", nickte der Ältere, "aber es wird etwas von Ihrer Freizeit drauf gehen." "Das geht in Ordnung", antwortete Hadrich und griff die ausgestreckte Hand Angers und schüttelte sie fest.
16 Es war früher Abend und nicht mehr richtig hell draußen. Der Polizeibeamte zog den Schirm seiner Schreibtischlampe etwas tiefer und studierte die Anzeige ein zweites Mal. Dann schüttelte er den Kopf, blickte über seinen Brillenrand zur Tür, wo gerade zwei Kollegen hereingekommen waren und ihre schweren Mäntel abgelegt hatten. "Kalt draußen", sagte der Jüngere der beiden, der die modische Stoppelhaarfrisur der jungen Leute unter seiner Dienstmütze verborgen hatte, rieb sich die Hände und suchte nach dem Kaffeetopf, der üblicherweise auf einer elektrischen Kochplatte neben der Tür vor sich hindampfte. "Der Kaffee ist hier", brummte der alte Wachtmeister, der hinter dem Schreibtisch saß. "Seht euch das an", sagte er, als die beiden Kollegen zu ihm gekommen waren, "ich habe wirklich schon viel erlebt, und es gibt die unsinnigsten Anzeigen, weil die Menschen an Dinge glauben, die gar nicht stattgefunden haben können, aber das hier ist eine der seltensten Blüten in meiner Sammlung."
Unter der fortlaufenden Verzeichnisnummer und dem heutigen Datum las der Stoppelhaarige die Anzeige des dienstleitenden Arztes aus dem benachbarten Unfallkrankenhaus. Da war die Rede von einem verletzten Kind, dem der Zeigefinger fehlte. Das war nicht weiter seltsam, denn das kam leider allzuoft vor, seltsam war offenbar, daß sich die Anzeige gegen das Raumfahrtinstitut richtete, das mit einem neuartigen Gerät diese Verletzung hervorgerufen haben sollte. Nach Angaben der verletzten Person, hieß es in dem umständlichen Amtsdeutsch, habe die ungesicherte Waffe neben dem Lieferwagen des Instituts gelegen, der gerade entladen wurde. Durch die Unachtsamkeit der Lieferanten sei die gefährliche Gerätschaft in die Hände des spielenden Kindes gelangt, in den Augen des Arztes sei das fahrlässige Körperverletzung. Die Gerätschaft sei sichergestellt, Beweismittel registriert unter der Nummer –, dann folgten wieder die üblichen Hieroglyphen. Der junge Polizist zuckte die Achseln. "Findest du es so abwegig, daß die Leute vom Raumfahrtinstitut derartige Geräte transportieren?" "Du hast nicht richtig gelesen", brummte der Alte und stieß den Zeigefinger unwirsch auf den Text, "hier, da wird der Vorgang beschrieben, da steht, der abgeschnittene Finger sei unauffindbar gewesen, und als der Arzt mit seinem Besteck die Waffe berührt habe, da sei auch das Besteck zerstückelt worden, atomisiert, hat der Doktor gesagt!" "Die atomisieren noch den Mond", sagte der junge Wachtmeister lahm, er hatte keine Lust, darüber länger nachzudenken, sollte das doch die Kripo tun, die dafür da war.
Ein junger Mann in rotem Regenmantel poltert in die Wachstube und grüßt überlaut. "Hallo Hans, Norwin, Ansgar", nickt er den drei Polizisten zu, "was Neues?" Für die drei ist der junge Lokalreporter ein guter Bekannter. "Du kommst gerade richtig", sagt der stoppelhaarige Polizist und schlürft weiter an seinem Kaffee. Der Text der Anzeige ist schnell überflogen, die Meinung des alten Wachtmeisters hört der Reporter nur noch aus Höflichkeit an. Er hat sofort erkannt, daß er den Zipfel einer Geschichte in der Hand hält. Der langweilige, ergebnislose Tag hat ihm den Knüller bis zum Abend aufbewahrt.
17 Der Achtzeiler in der dritten Spalte der zweiten Lokalseite war Jochen Berners Aufmerksamkeit zunächst entgangen, erst die beiden Wörter "Waffe" und "Raumfahrtinstitut" veranlaßten ihn, den ganzen Bericht zu lesen. Der Redakteur hatte offenbar kein rechtes Zutrauen zu der Meldung gehabt, dachte Berner bei seiner Morgenlektüre, er hat weder nachrecherchieren lassen, noch hat er es an die Presseagenturen weitergegeben. Den vermutlich übersprudelnden Bericht seines Polizeireporters hat er mit "möglicherweise", "angeblich" und "unbestätigt" garniert, so daß die Aussagen eines verletzten Kindes übrigblieben, das mit einer Waffe gespielt haben soll, die ein Lieferant des Raumfahrtinstituts verloren hatte – angeblich, möglicherweise.
Berner lehnte sich zurück, schob die Zeitung auf den großen, dunkelgebeizten Schreibtisch und starrte aus dem Fenster über die regennassen Häuserdächer, in den grauverhangenen Himmel, von dem die Wolkenschwaden herabhingen und die ferne Kuppel des Raumfahrtinstituts versteckten. "Also Waffen, Doktor Kramlo", sagte Berner und empfand es als persönlichen Angriff, daß ihm das bisher verschwiegen worden war. Er kniff die Augen zusammen, überlegte, wie er am besten die Sache aufziehen könnte, dachte für einen Augenblick an ein Gespräch mit dem Lokalreporter, gab dann einer Unterhaltung mit dem Arzt des Unfallkrankenhauses den Vorzug, verwarf auch diesen Gedanken. Die Story des verletzten Kindes war ihm nicht wichtig, die politische Verstrickung des zivilen Instituts in militärische Forschung reizte ihn. Kramlo würde nichts zugeben, würde sich ausschweigen, höchstwahrscheinlich gedeckt durch oberste Regierungsstellen. Vielleicht ließen sich nur auf diese Weise die hohen Institutskosten laufend aus dem Verteidigungshaushalt ergänzen, was war da sonst schon so viel zu tun, wenn nicht das seltene Ereignis eines europäischen Raumfahrtunternehmens in der Tür stand, in all den Jahren, in denen das Institut mit großem Aufwand wissenschaftlich gearbeitet hatte? Für Berner gewann die Geschichte an Glaubwürdigkeit, je länger er darüber nachsann. Eine tiefe Abneigung gegen die allwissenden Akademiker, gegen diese dekorierten Titelträger, Diplom-Physiker, Promovierte, Habilitierte, Professoren, die hoch oben in einer abgeschlossenen Welt mit ihren fundamentalen Erkenntnissen lebten und den normalen Bürger ihre
Überheblichkeit spüren ließen, eine tiefe Abneigung gegen die Kaste der Wissenschaftler zwang Berner, die kleine achtzeilige Nachricht auf der Lokalseite hin- und herzuwenden, um den Thron des Doktor Kramlo ansägen zu können. Berner war stolz darauf, die journalistische Arbeit von Anfang an in all ihren Sparten erlernt zu haben. Ihn konnten, so hielt er sich vor, die Titel nicht beeindrucken. Er verdrängte den Gedanken an die Zeit, in der er als Schüler damit gerechnet hatte, selbst die Universität zu besuchen, Wirtschaft und Politik zu studieren. Es war nichts daraus geworden. Den Versuch des Abendstudiums mußte er wieder aufgeben, die vielen halbgelesenen Bücher, Abhandlungen, Sammelwerke und Lehrtexte hier hinter seinem Schreibtisch in dem großen Bücherschrank waren übriggeblieben aus einer Zeit, in der er immer noch gehofft hatte, zum nächsten Semester beginnen zu können, und in der er mit Beiträgen für Provinzblätter wenig verdient hatte. Die Waffe aus dem Raumfahrtinstitut – wenn es sie gab – bot Gelegenheit, den Starreporter als Anwalt des Steuerzahlers auftreten zu lassen, als Sprecher der vielen, denen die Geheimnisse von Wissenschaft und Macht stets verborgen blieben, und die das Treiben der Großen an den Schaltstellen bestenfalls mißtrauisch machte. Man müßte es Kramlo auf den Kopf zusagen, ihn zwingen, öffentlich Rechenschaft abzulegen, dachte Berner. Er griff nach der Kaffeetasse und verfolgte den aufsteigenden Dampf. Wie würde Kramlo reagieren? Könnte er es dann noch schlichtweg abstreiten? Plötzlich stellte Berner die Kaffeetasse mit einem Ruck zurück, die braune Flüssigkeit schwappte über und lief in die Untertasse. Der Lieferwagenfahrer! Der Pickelgesichtige, dem er hundert Mark gegeben hatte!
Jetzt fiel es ihm ein. Etwas Militärisches, hatte der gesagt. Berner sah den jungen Mann wieder vor sich, "da werden neuartige Waffen entwickelt und getestet", hatte der geflüstert, da war der Zeuge, und er hatte es nicht geglaubt! Berner stand auf, ging nachdenklich ins Badezimmer, schaltete mechanisch die Konsolenbeleuchtung ein, griff nach seinem Elektrorasierer, setzte ihn aber noch nicht an. Er versuchte sich an die Szene zu erinnern, an den jungen Mann, der sich als Fahrer beim Institut bezeichnet hatte, und er begann zu ahnen, daß zu der Zeitungsnachricht noch ein weiterer Zusammenhang bestehen mußte. War der junge Mann zur Lokalpresse gegangen, um dort dieselbe Information noch einmal zu verkaufen? Und welche Rolle spielten das Kind und der Unfallarzt? Berner schüttelte den Kopf und kehrte sofort zu dem Pickelgesicht zurück, dort war der Schlüssel, dort wurde die Geschichte stimmig. Die Waffe, die der junge Mann ihm zeigen wollte, war in die Hände des Kindes geraten. Aber wenn es so gewesen war, dachte Berner weiter, wer hatte das Kind damit verletzt? Es war doch wohl undenkbar, daß ungesicherte, scharfe Waffen neuartiger, geheimer Konstruktion vom Institut offen auf Lieferwagen befördert wurden! War jemand der Sache bereits auf der Spur und wollte das Institut auf diese Weise zwingen, Farbe zu bekennen? Erschrocken dachte Berner an Konkurrenz. War ein anderer schon näher dran als er, war vielleicht der Informant gekauft, wurde Berner selbst zum Spielball fremder Interessen?
"Ich muß an die Waffe heran", sagte er laut. Nur wenn ich das Beweisstück habe, dachte er weiter, nur dann bin ich selbst handlungsfähig. Er hob den Rasierapparat ans Kinn, blickte in den Spiegel und sah ein rotes Herz, das Lilli mit Lippenstift darauf gemalt hatte, und darunter stand: "Bis morgen früh."
18 Der Zeitungsartikel löste bei einem anderen Leser fast entgegengesetzte Reaktionen aus. Karl wußte sofort, was geschehen war, als er die Notiz gelesen hatte, seine lederne Gesichtshaut wurde grau, seine Hände zitterten vor Wut und Angst. Er sprang vom Frühstückstisch auf, warf die Zeitung dem Jungen auf den Teller und schlug mit der Faust darauf, so daß das Geschirr zersprang. Der Gefühlsausbruch war für Bert ungewohnt, er zuckte zurück und stieß dabei seinen Stuhl um, stolperte über die Lehne und landete auf den Knien. "Was ist los mit dir? Bist du verrückt?" krächzte er. Karl hatte sich wieder soweit in der Gewalt, daß er sprechen konnte. "Du hast uns beide in die Tinte gerissen! Was du getan hast, da kommen wir nicht wieder heraus! Ein Kind hast du fast umgebracht mit deiner Unachtsamkeit, das ist nicht schwer für die Polizei, uns zu finden, und dann sind wir dran!" "Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank", stotterte der Junge und richtete sich wieder auf, "ich habe doch kein Kind umgebracht, das könnte ich nie, dafür kann man mich nicht einkellern, dafür nicht."
"Das, was hier in der Zeitung steht, weiß auch die Kripo." Karl fuchtelte dem Jungen mit dem Blatt unter der Nase herum, und Bert nahm es ihm zögernd, fast unwillig aus der Hand und las. "Du mußtest das Teufelszeug ja unbedingt mitnehmen", schimpfte Karl weiter, weil ihm die Angst im Nacken saß, "anstatt es da stehen zu lassen, wo es war, in dieser Hexenmeisterküche, da mußtest du es unbedingt mitnehmen." Er stand am Fenster, dem Jungen den Rücken zugewandt, ballte die Fäuste in den Taschen und starrte hinaus, als erwarte er jeden Augenblick, einen Polizeiwagen auftauchen zu sehen. "Ich habe dir gesägt, du solltest es vergraben, irgendwo weitab, aber jetzt wird es uns verfolgen." "Hör auf mit der Predigt", sagte der Junge, "ich kann es nicht vertragen, wenn du mich erziehen willst. Das haben schon andere versucht und wieder aufgegeben, wenn du jemanden erziehen willst, dann schaff dir doch selber Kinder an und laß mich in Ruhe." "Du Drecksack", zischte Karl durch die Zähne, er hatte sich wieder umgewandt und starrte den Jungen an, "ich habe dich aus dem Loch geholt und dir einen anständigen Job verschafft, sieh doch zu, wie weit du kommst, wenn du mich nicht hast." Bert war zurückgewichen und lehnte mit dem Rücken an der Wand, seine Augen funkelten böse, er vertrug Kritik nur schlecht, und wenn sie von Karl kam, brachte sie ihn zum Sieden. "Ausgerechnet du hältst dich für etwas Besseres." Berts Stimme wurde schrill, wenn er sich ertappt und angegriffen fühlte. "Ausgerechnet du, Karl, und dabei hast du sehr viel mehr auf dem Kerbholz als ich. Du
willst den anständigen Bürger markieren, du gibst dir den Anschein des soliden Angestellten vom angesehenen Raumfahrtinstitut. Donnerwetter, das ist etwas, da kann man die Nase hoch tragen, und trotz all deiner angelesenen Predigten kannst du nicht aus deiner Haut und läßt mal hier etwas mitgehen und mal da einen kleinen Einbruch versuchen. Natürlich nur die ganz sicheren Tips, mit peinlicher Sorgfalt vorbereitet, und nur die ganz gerechten Diebstähle, bei denen kein armer Bürger zu Schaden kommt, damit beruhigst du dein Gewissen, das du dir wie einen Goldfisch im Aquarium hältst. So ein mieser Charakter wie du ist mir schon lange nicht mehr begegnet." Aus Karls lederner Gesichtshaut war alle Farbe gewichen, die Stimme versagte ihm fast, aber er brachte es fertig, den Jungen hinauszuwerfen. "Du kommst mir nicht wieder in die Wohnung", rief er hinter ihm her, "dein Gerümpel stelle ich heute nachmittag beim Fahrdienstleiter ab, da kannst du es mitnehmen." Dann war es still geworden in dem kleinen, käsig riechenden Raum. Der alte Mann erkannte, daß Berts verletzende Worte den Kern getroffen hatten. Er ahnte, daß der Junge, den er zu sich in seine Obhut genommen hatte, nur Staffage gewesen war für sein eigenes bürgerliches Dasein. Karl ließ die Wohnung wie sie war, zog sich seinen Mantel an, schloß die Tür sorgfältig ab und ging hinunter auf die Straße. Einen Augenblick lang hoffte er, den Jungen noch irgendwo zu sehen, er wäre imstande gewesen, ihn zurückzurufen, ihm anzubieten, die Sache gemeinsam durchzustehen, denn Bert hatte nicht die Kraft und nicht die Erfahrung, den Schaden möglichst
gering zu halten. Dann schimpfte er mit sich selbst, dachte an die unglaubliche Leichtsinnigkeit des Jungen und an die Beleidigungen, die er eben über ihn ausgekippt hatte. Karl marschierte mit gesenktem Kopf die Straße hinunter und steuerte automatisch Marias Gastwirtschaft an, und erst als er um die Ecke bog, hinter der an dem großen Platz das Raumfahrtinstitut lag und gegenüber das Bierlokal, in dem er eigentlich zu Hause war, erst dann merkte er, wohin er ging. Er wartete in der Küche des Lokals, bis er Maria für einen Augenblick allein sprechen konnte. "Ich hab' ihn zum Teufel gejagt", sagte er, "du hast recht gehabt, es ist nichts Gutes dran an ihm, und er würde mich sonst mit hineinreißen." Maria blieb vor ihm stehen, in jeder Hand hielt sie ein dampfendes Mittagessen, sie musterte den schmalen, grauen Mann, und sie sah die Angst, die ihn unruhig machte. "Ich fürchte, das war ein Fehler von dir", sagte sie und ließ ihn stehen.
19 Die Mitarbeiter des Raumfahrtinstituts waren kurzfristig in den großen Konferenzraum gerufen worden. Die Männer und Frauen, meist in weißen Kitteln, die anderen in weichgeschnittenen samtigen Hosen und farbenfrohen Blusen, so wie es gerade Mode war, drängten sich auf dem langen Gang des obersten Stockwerks, an dessen Ende der holzgetäfelte Saal lag. Einige sprachen über ihre Vermutungen, daß die Konferenz mit der Zeitungsnotiz zusammenhängen müßte, die sie gelesen
hatten, andere wußten nichts davon und ließen sich berichten. Als der Konferenzraum voll war, waren alle weitgehend informiert, sie setzten sich auf die Stühle, die wie in einem Theater zu Reihen zusammengestellt waren, und ereiferten sich über die unsinnige Unterstellung. Ganz vorn saßen einige leitende Mitarbeiter, die vom Pressereferenten Fotokopien des Artikels erhalten hatten. Sie falteten nervös die Zettel zusammen, rollten sie auf, glätteten sie wieder und lasen den Text noch einmal, obwohl sie ihn schon mehrfach studiert hatten. Der einzige unter ihnen, der unbeteiligt vor sich hinblickte, war Anger. Dann trat Kramlo ein, wie immer im schlichten, samtenen Anzug, mit breiter, greller Krawatte, die unter dem kurzen Bart wie ein elektronisches Auge hervorstach. Er war blaß, seine unpersönliche Art wirkte heute noch kälter als sonst. Vor der vordersten Reihe blieb er stehen, blickte in den Saal, das Murmeln erstarb. "Ich habe Sie alle hierher gebeten, weil unser Institut auf infame Weise bedroht wird." Kramlo machte eine Pause und prüfte, ob er den Sachverhalt voraussetzen könnte. "Es gibt Schreiberlinge, die bösartige und gefährliche Falschmeldungen verbreiten, ohne den Betroffenen vorher zu fragen, ohne ihn zu informieren, ohne auch nur den Versuch zu machen, dem Angegriffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wenn, wie heute geschehen, dem Institut unterstellt wird, es betreibe geheime Waffenforschung und sei darüber hinaus so töricht, Musterprodukte offen zu transportieren und in die Hände Unbeteiligter geraten zu lassen, so müßte man darüber lachen, weil das Unsinnige und Absurde nicht
mehr zu überbieten ist. Nach Lachen darf uns aber nicht zumute sein, denn hier wird gezielt politische Wühlarbeit geleistet, die die friedliche internationale Zusammenarbeit des Instituts stören und die öffentliche Hand als Geldgeber zum Rückzieher zwingen soll." Die Männer und Frauen in den Stuhlreihen starrten betreten vor sich hin, einige wechselten geflüsterte Worte, um der Szene die Peinlichkeit zu nehmen, andere schüttelten mechanisch den Kopf. "Wenn jetzt irgendein Schatten auf unsere Arbeit fällt", fuhr Kramlo fort, "ist die Arbeit an Europa I unsere letzte Aufgabe gewesen, zumindest die letzte von internationaler Bedeutung. Solche Artikel wie dieser ..." – Kramlo wies mit dem Finger auf einen Aktendeckel, der vor ihm lag – "werden auch von den Mitgliedern unseres Aufsichtsrates gelesen. Wir wissen genau, daß staatliche Forschungsinstitute mehr Feinde als Freunde haben. Ich brauche vor Ihnen nicht zu betonen, daß der Konkurrenzneid anderer Unternehmen genügt, um unter Politikern Zwietracht zu säen. Nicht jedes Mitglied unseres Aufsichtsrates betrachtet unsere Arbeit mit Wohlwollen. Die Konsequenz kann sich jeder von Ihnen leicht selbst ausmalen." Kramlos dramatisierende Formulierungen verfehlten nicht ihre Wirkung. Das Kopfnicken in den Stuhlreihen wirkte uniform, die Stille war bedrückend. Gerade als Kramlo weitersprechen wollte, öffnete sich die letzte Saaltür, seine Sekretärin steckte den Kopf herein, schob den Türflügel noch weiter auf und ließ den Fernsehreporter ein. Kramlos Augen verengten sich, seine Stimme wurde schneidend.
"Sie sind nicht eingeladen, Herr Berner, und Sie sollten sich bei Ihren Kollegen bedanken, daß wir nicht gut auf Sie und Ihresgleichen zu sprechen sind. Wir müssen mit einer Sache fertig werden, die unsere Existenz bedroht. Wenn wir Publicity brauchen, werden wir Sie rufen." Die meisten Köpfe waren herumgefahren, das bekannte Gesicht des Starreporters erschien ihnen in diesem Augenblick wie das Bildnis des Verursachers selbst. Berner erfaßte die Situation blitzartig. "Sie machen einen großen Fehler, Doktor Kramlo", sagte er breit und publikumsgewohnt, "mich in irgendeiner Weise mit dem perfiden Artikel zu identifizieren. Sie sollten sich meiner Hilfe versichern, anstatt mich hinauszuwerfen." Dann drehte er sich gut einstudiert herum und verließ den Raum. Der Auftritt verfehlte nicht die Wirkung, auf die es Berner angelegt hatte. "Herr Doktor Kramlo", sagte Zimmermann, der aufgestanden war, "hätte er uns nicht helfen können, die Leute ausfindig zu machen, die dahinterstecken?" Kramlo blickte den weißbekittelten Wissenschaftler bleich an. "Das hier ist eine interne Sitzung. Das geht das Fernsehen nichts an." Und in das allgemeine Gemurmel hinein sagte er mit erhobener Stimme: "Der Leiter der Fahrbereitschaft hat bereits mit der Untersuchung begonnen, ob irgendeines der Fahrzeuge oder einer der Fahrer zu unerlaubten Transporten unterwegs gewesen sind. An Sie alle, besonders aber an die Abteilungs- und Projektleiter unter Ihnen, habe ich die Bitte, jeden noch so fragwürdigen Verdacht zu überprüfen, ob nicht
jemand mit politischen Gegnern unserer Arbeit in Verbindung stehen könnte. Ich danke Ihnen." Mit Betretenheit reagierten die Mitarbeiter auf diese Aufforderung. Niemand erhob sich, und schließlich sagte ein junger Wissenschaftler laut: "Vielleicht könnten Sie schon etwas über die Analysen sagen, die die Störungen von vorgestern erklären sollen?" Kramlo, schon auf die Saaltür zugegangen, drehte sich langsam um, sah den Sprecher an und sagte kurz: "Ich habe eine Arbeitsgruppe beauftragt. Sobald Ergebnisse vorliegen, wird sie berichten." Dann war er hinaus. "Das kann er doch nicht machen", erregte sich Zimmermann. Die Abteilungsleiter steckten die Köpfe zusammen und suchten nach Worten. "Das ist ja Aufforderung zur Kollegenbespitzelung!" "Wenn ich das Schwein erwische, das diesen Artikel lanciert hat", sagte ein anderer derb, "ich dreh ihn durch das Speicherwerk." "... Eine unbekannte Waffe, die angeblich ein Lieferant des Raumfahrtinstituts beim Abladen übersehen haben soll", las ein dritter aus dem fotokopierten Artikel vor, "das Kind hat sich möglicherweise in einem unbewachten Augenblick in den Besitz des Gerätes bringen können." "Steht da Gerät?" fragte Zimmermann aufmerksam. Als der Kollege nickte, dachte er laut weiter: "Vielleicht hat man ein Teil unserer Präzisionsinstrumente gefunden, und das Kind hat sich an einer Sache verletzt, die überhaupt nichts mit einer Waffe gemein hat?"
"Aber wir haben doch in den letzten Tagen gar keine Instrumente transportiert", sagte der Leiter der Verwaltung. Zimmermann sah sich nachdenklich um. Ihm fiel auf, daß Anger wieder fehlte, obwohl er vorhin noch dort in der ersten Reihe gesessen hatte. Er mußte den Gedanken gewaltsam beiseite schieben, der ihm in diesem Augenblick kam, und zu sich selber sagte er: "So schnell also sind wir bereit, den Kollegen für einen Feind zu halten, Chef."
20 Berner saß im Besuchersessel, als Kramlo in sein Arbeitszimmer zurückkam. "Das war nicht gerade fein von Ihnen", sagte er mit unpersönlichem Lächeln und stand auf, "aber ich kann Ihre Erregung verstehen." "Ich weiß nicht, ob Sie das können", erwiderte Kramlo feindselig, "diese Arbeit ist eine einzigartige Chance, friedliche Forschungsarbeit auch einmal ausreichend finanziert zu bekommen. Und dann gibt es Schmutzfinken, die uns mit Dreck bewerten, bis wir das Vertrauen der Parlamentarier verloren haben. Schmutzfinken", sagte Kramlo mit eisiger Stimme, "die dasselbe Handwerk betreiben wie Sie, Herr Berner." "Sie haben mich schon coram publico beleidigt", sagte Berner, "hier könnten Sie es sich und mir ersparen." Er machte eine Kunstpause und sagte dann direkt: "Ich
schlage Ihnen ein Abkommen vor. Sie sagen mir, was an der Geschichte wahr ist, und ich gebe Ihnen die Möglichkeit, sie öffentlich zu dementieren." Auf Kramlo wirkten diese Worte als Ungeheuerlichkeit. Er suchte nach einer Antwort, aber erst nach vielen Sekunden wurde ihm deutlich, daß auch Berner ganz selbstverständlich angenommen hatte, die Meldung könnte nicht erfunden sein. Kramlos Lippen waren blutleer, als er leise sagte: "Nichts ist daran wahr, Herr Berner, da Sie es offenbar noch immer nicht begriffen haben. Aber wenn Sie das Intrigenspiel politischer Gegner unterstützen wollen, so steht es Ihnen frei, die unbewiesene Behauptung im Fernsehen zu verbreiten. Es ist ja wohl aus der Mode gekommen, den Angeschuldigten auch zu Wort kommen zu lassen." "Sie haben übersehen", sagte Berner und genoß seine Überlegenheit, "daß ich Ihnen gerade Sendezeit eingeräumt hatte." Kramlo empfand in diesem Augenblick eine tiefe Abneigung gegen den Fernsehmann. Alles, worüber er sich in den vielen Jahren schwieriger Öffentlichkeitsarbeit geärgert hatte, drängte sich ihm auf die Lippen. "Sie tun so, als ob Sendezeit Ihr Privateigentum wäre, dabei sind Sie dem Gebührenzahler verpflichtet, so wie ich dem Steuerzahler. Sie meinen, etwas wird erst wahr, wenn es im Fernsehen gebracht worden ist, und die wortreichen Kommentare geben der Wirklichkeit erst die Weihe, ohne die eigentlich gar nichts existiert. Wenn Sie nur lange genug von Waffen reden, die wir angeblich herstellen, dann sind sie schließlich zur Realität geworden, und wenn ich Ihnen zwanzigmal in die Kamera sage, es gibt keine Waffen, es hat keine
gegeben, und solange ich hier Chef bin, wird es in diesem Institut keine Waffenentwicklung geben, dann schneiden Sie es zwanzigmal heraus, denn es paßt nicht in Ihr Konzept von der Wirklichkeit." Berner empfand die Bitterkeit, die aus Kramlo sprach, aber das dämpfte nicht sein Gefühl des Triumphes. Großzügig sagte er: "Sie können es live haben, wenn Sie unsere Bearbeitung fürchten." "Es scheint so, als ob Sie etwas für mich tun wollen", erwiderte Kramlo sarkastisch. "Finden Sie die Leute, die auf diese Weise dem Institut den Geldhahn zudrehen wollen, dann haben Sie Ihre Neuigkeit." Berner lehnte sich im Sessel zurück und musterte sein Gegenüber, den ehrgeizigen Wissenschaftler, der um sein Lebenswerk kämpfte. Dann stand er auf, streckte dem anderen die Hand hin, um sich zu verabschieden, und sagte beiläufig: "Mit diesem alten Trick können Sie mich nicht abspeisen. Sie sollten eigentlich wissen, daß ich nicht mit leerer Hand pokere." Auf dem Flur schob Berner die Hände in die Hosentaschen und blieb nachdenklich stehen. Es war klar, daß Kramlo alles abstreiten, daß er sich hinter der Maske des Angegriffenen verstecken würde. Aber wenn er ihm in Gegenwart der Mitarbeiter die Waffe auf den Schreibtisch legen könnte, dann würde kein Manöver mehr helfen. Berner riß den Kopf hoch und ging entschlossen auf den Fahrstuhl zu. Er mußte jetzt gleich an die Waffe heran, und es schien ihm leicht, das Beweisstück zu bekommen, denn er kannte seit vielen Jahren die wichtigsten Männer, der Justiz ebenso wie die einflußreichen Politiker, Wirtschaftler und Kulturmanager.
Dem Fahrer, der mit einem Wagen des Fernsehstudios vor der Tür des Raumfahrtinstituts auf ihn gewartet hatte, sagte er nur: "Zur Justizbehörde." Aber noch während sie über den breiten, vollbesetzten Parkplatz rollten, der sich von der Vorderfront des Instituts bis zur Hauptstraße erstreckte, fiel ihm eine elegantere Lösung ein. "Nein, Herr Körten", sagte er und klopfte dem Fahrer auf die Schulter, "fahren wir zuerst ins Büro." Der neue, schwere Wagen veränderte den Summton kaum wahrnehmbar, als der Fahrer sofort in die nächste Seitenstraße einbog und an der Seitenfront des Institutsgebäudes entlangrollte, über der sich die Kuppel mit dem Parabolspiegel erhob. In der Mitte der Häuserwand war die Toreinfahrt zum Hof, hier war am frühen Morgen der Fernseh-Ü-Wagen wieder abgerückt, der während der neuntägigen Reise von Europa I festes Quartier bezogen hatte. Es ist gegenüber früher vieles unkomplizierter geworden, dachte Berner, der Übertragungswagen ist heute innerhalb von zwanzig Minuten sendeklar, die lästigen Vorbereitungen sind auf ein Minimum beschränkt. Andererseits ist die Arbeit der Journalisten schwieriger geworden, nicht alle Leute sind mehr sofort bereit, für das Fernsehen einen Kopfstand zu machen. Deshalb hatte er Körten zum Büro umdirigiert. Berner wollte sich beim Staatsanwalt ein Entree verschaffen, und dazu muß man die Vorzimmer bemühen.
21
Stunden später wußte er, daß ihm der Winkelzug nichts genützt hatte. Als er in dem barocken Justizgebäude die schwere, reich geschnitzte Tür zum Dienstraum des Staatsanwalts hinter sich geschlossen hatte, stand er einem ihm unbekannten, freundlichen, reichlich zugeknöpften Mann gegenüber. "Selbstverständlich wäre ich gerne bereit, Ihnen Auskünfte zu geben, Herr Berner", sagte der, "aber ohne daß wir auch nur mit den Ermittlungen begonnen hätten, wurde das Beweisstück heute vormittag bereits vom Verteidigungsministerium angefordert." Berners Verdacht verstärkte sich. Während er den rundlichen Mann fixierte, der kaum älter als er selbst war, schien sich ihm der Kreis zu schließen: Der Auftraggeber fordert das Geheimprojekt zurück, damit es wieder von der öffentlichen Bühne verschwindet, auf die es durch einen Betriebsunfall geraten war. Der Fernsehreporter machte ein paar bedauernde Bemerkungen und dachte krampfhaft über den nächsten Schritt nach, da bot ihm der Staatsanwalt selbst, eine Möglichkeit. "Ich könnte Sie natürlich mit dem Kommissar bekannt machen, der mit der Untersuchung beauftragt wurde. Ich glaube nicht, daß es in der gegenwärtigen Phase etwas gäbe, das wir der Presse oder dem Fernsehen verschweigen müßten. Nur muß ich natürlich um Ihre Diskretion bitten, was das Vorgehen des Verteidigungsministeriums angeht." Der Mann sagt zu oft "natürlich", dachte Berner. Nichts ist von alledem natürlich, und am allerwenigsten das Interesse des Verteidigungsministeriums.
Kurz darauf saß er mit Kommissar Binewski zusammen, einem jungen Polizisten, der über das Entschwinden der Tatwaffe sehr verärgert war. "Meine Vorgesetzten wollen mir einreden, das sei ein unwichtiger Fall, dem Kind sei kaum etwas passiert und die Anzeige des Arztes reine Routineangelegenheit, aber dann weiß ich wirklich nicht, warum ich nicht nach der Vernehmung des Kindes den Täter festnehmen und mit dem gefährlichen Instrument konfrontieren kann, um die Geschichte aus der Welt zu schaffen." "Sie haben das Kind vernommen?" fragte Berner. "Die Sache ist eindeutig. Ein Fahrer des Raumfahrtinstituts hat beim Abladen in der Straße, in der das Kind wohnt, das Gerät verloren. Der Junge – er heißt übrigens Paul Hartwig, elf Jahre alt – hat offenbar die lebensgefährliche Waffe aufgehoben und sich kurz darauf die Verletzung beigebracht. Er behauptet, das Gerät nur angefaßt, keinen Auslöser gedrückt oder es gewaltsam geöffnet zu haben. Ich wollte den Fund ins waffentechnische Labor schaffen lassen, aber ..." – Binewski zuckte die Achseln – "aber das wissen Sie ja." Berner blickte den Kommissar nachdenklich an, da war etwas in dem Bericht, das falsch sein mußte. "Sagten Sie, der Lieferwagen des Instituts sei in der Straße abgeladen worden, in der der Junge wohnt?" "So war es, sehen Sie selbst, hier im Protokoll steht: Schreinergasse, etwa auf der Höhe der Gaststätte ›Bei Marie‹." Binewski reichte dem Reporter das Vernehmungsprotokoll. "Finden Sie es nicht merkwürdig, daß das Raumfahrtinstitut eine Gaststätte beliefert?"
Binewski stutzte, blickte auf das Papier, leichte Röte kroch ihm vom Hals bis in die Ohrmuscheln. "Sie haben recht, verdammt, daß mir das nicht gleich auffiel!" "Das erschüttert ja wohl die Aussage des Kindes?" Der schmächtige, blauäugige Kommissar wirkte plötzlich wie ein Abiturient kurz vor der Prüfungsarbeit. "Der Junge ist in Ordnung", sagte er eigensinnig. "Daran zweifle ich ja gar nicht. Aber könnte er nicht das unschuldige Opfer einer von langer Hand geplanten Aktion sein, vielleicht sogar, ohne es zu wissen, Instrument von Interessenten, die sich auf einer Fährte geradewegs in die Keller des Raumfahrtinstituts selbst befinden?" Weil Binewski nicht antwortete, setzte Berner nach: "Vielleicht war der Vorfall in der Schreinergasse nur ein Betriebsunfall, durch den eine dunkle Geschichte um eine Handbreit ans Licht der Öffentlichkeit kommt – vielleicht war er inszeniert, oder halten Sie das für zu fantastisch?" Binewski antwortete immer noch nicht, nagte an seiner Unterlippe, starrte auf das Protokoll, ohne es zu lesen. Berners Andeutungen hatten unterstrichen, was ihm selbst seit den frühen Morgenstunden durch den Sinn ging. Politisch, dachte er und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, politisch ist der Hintergrund, und das bedeutet, daß ich Ärger bekommen kann.
22 Grauer Regen hing mit langen Fäden über den Häusern, auf dem Hof des Raumfahrtinstituts bildeten sich Pfützen an den Kanten der Betonplatten. Der schwere
Wagen, der sich langsam durch die seitliche Toreinfahrt schob, hatte die gleiche Farbe, grau sah auch der Mann aus, der am Steuer saß. Der Pförtner kontrollierte auf seinem Tischgerät die Daten der Identitätskarte, die an dem Seitenfenster des Wagens angebracht war. Er hob nicht einmal den Kopf, denn es war einer der leitenden Mitarbeiter des Instituts, jede weitere Kontrolle war überflüssig, das Fahrzeug konnte passieren, die Torschranke schloß sich danach automatisch, der Pförtner wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Der Wagen rollte über den leeren Hof bis vor den Kellereingang des Hauptgebäudes, der Fahrer sprang heraus, ging um das Fahrzeug herum und öffnete den Kofferraum. Elektronische Bauteile, Drähte, Transistoren, Metallplatten, Schrauben und Plastikstücke füllten den Stauplatz bis zum Deckel. Anger zögerte nicht auszupacken. Behutsam deckte er ein imprägniertes Tuch über die Ladung, so daß sie vor dem Regen geschützt war, dann begann er Stück für Stück in einen Beutel zu füllen, verschloß den Kofferraum wieder und trug den ersten Teil seiner Fracht in den Keller. Unter der Decke des schmalen, weißgetünchten Flurs verliefen farbige elektrische Kabel, die alle fünf Meter in großen Verteilerdosen verschwanden, um dahinter in neuer Formation weiterzulaufen. Jede der Dosen trug eine Nummer. Von der linken Flurseite gingen viele Stahltüren ab, eine militärisch anmutende Wachtparade der Eintönigkeit. Anger kannte den Weg. Ohne zu zögern trat er auf die dritte Tür nach dem Kellereingang zu, öffnete sie mit einem Schlüssel, den er, aus seiner Jackentasche gezogen hatte, und trat in den ebenfalls weißgetünchten Lagerraum ein. Die nackte Deckenbeleuchtung spendete nur unvollkommen Licht,
das wuchtige Stromkabel, das zu einer Steckdose führte und von dort zum Schalter und zur Decke abzweigte, war der einzige Farbstrich in der fensterlosen Kammer. An der linken Wand standen auf einem hölzernen Klapptisch zwei Meßgeräte, wie sie auch oben im Kontrollraum zu finden waren, im übrigen war die Kammer leer. Anger packte den Inhalt seines Beutels auf den Betonfußboden, ging den gleichen Weg zurück und holte weitere Teile aus dem Kofferraum seines Wagens. Das mußte er etwa zehn Mal wiederholen, schließlich hatte er die ganze Ladung in den Kellerraum geschafft. Der Regen war ihm sehr zustatten gekommen, er wollte bei dieser Arbeit nicht gesehen werden, und niemand hatte in dieser Zeit den nassen Hof überquert. Obwohl in dem Komplex etwa achthundert Menschen arbeiteten, wirkte das Haus wie ausgestorben. Nach dem letzten Gang schloß sich Anger in dem Kellerraum ein und begann, die Baustücke zusammenzusetzen. Er kannte jede Platte, jede Schraube, jedes Kabel, er hatte die vielen Einzelteile oft genug in der Hand gehabt, ihre Funktion geprüft, ihre Genauigkeit kontrolliert. Sein Leben hing von dieser Maschine ab, er wußte, daß ein Fehler für ihn tödlich sein konnte. Trotzdem war ihm die innere Spannung nicht anzumerken, mit Routinehaften Griffen fügte er eins ans andere, langsam nahmen der schwarze Sockel und die hohe, kompliziert gewobene Platte Gestalt an. Zwei Stunden später stand im Keller des Raumfahrtinstituts das mächtige elektronische Gerät, die Guillotine, die den Einbrecher Karl Stadier im Haus des Erfinders bis ins Mark erschreckt hatte. Anger sah das Gerät lange an, ein zärtlicher Ausdruck trat in seine Augen – ein
ungewöhnliches Bild für jeden, der ihn dabei gesehen hätte, denn allen galt er als unnahbar, unerschütterlich und gefühlskalt. Dem berühmten Erfinder war man vor ein paar Jahren, als er im Institut eingestellt wurde, mit Hochachtung und Neugier begegnet, aber die meisten Kollegen mußten sehr rasch begreifen, daß dieser seltsame Mann weder einzuladen war noch selbst Einladungen aussprach, daß er keinerlei privaten Umgang pflegte und sich an Kasinogesprächen nicht beteiligte. Man hatte es ihm als stur, eingebildet und hochnäsig ausgelegt, war von ihm abgerückt, aber die Achtung vor seinen Leistungen war geblieben. Der Anger, der hier im Keller steht, ist ein Mann ohne Maske, ein Mensch mit Wünschen, Sehnsüchten, Zielen, in seinem lebendigen Gesicht steht die Aufregung. Als er das schwere Stromkabel nimmt und es an der Steckdose anschließt, zittern seine Hände. Ein kaum vernehmbarer Summton erfüllt den kahlen Raum, die Zeiger der eingebauten Meßgeräte springen in Position, sorgfältig prüft Anger jeden Wert, vergleicht die Zahlen mit den Angaben auf den Kontrollgeräten, die an der Seite auf dem Klapptisch stehen. Nach einer Stunde peinlich genauer Tests richtet er sich wieder auf und tritt einen Schritt zurück, für einen Augenblick scheint es, als wolle er auf den Sockelkasten steigen. Es kostet ihn Mühe, sich zurückzuhalten, jetzt, wo die Arbeit vollbracht ist, wo das Gerät vor ihm steht, von dem er geträumt hatte, aber er spürt die Verantwortung gegenüber den Menschen, die hier leben. Abrupt wendet er sich ab, zieht den Hauptstecker aus der Dose, löscht das Licht und verläßt den Raum, den er hinter sich wieder verschließt. Dann geht er den Kellerflur in entgegengesetzter Richtung weiter bis zu
den Fahrstühlen des vorderen Treppenhauses. Wenig später betritt er den Meß- und Kontrollraum im siebten Stock. Jörg Hadrich war der einzige, der Angers Eintreten bemerkte. Er blickte auf, und für Sekunden trafen sich ihre Augenpaare. Ich muß Sie heute abend noch sprechen, hörte Hadrich in seinem Kopf, und voller Schrecken wurde ihm klar, daß Anger die Worte gar nicht gesprochen hatte, daß die Botschaft auf telepathischem Wege übermittelt worden war. Schon im nächsten Augenblick war der Kontakt wieder vorbei, Anger hatte sich an seinen Arbeitsplatz gesetzt, und Hadrich schob den Eindruck unwillig beiseite. Das habe ich mir nur eingebildet, murmelte er vor sich hin, Telepathie! Er schüttelte den Kopf, aber der unmittelbare Eindruck war zu nachhaltig gewesen, als daß er sich ganz wieder davon lösen konnte. Er überlegte angestrengt, ob Anger die Lippen bewegt hatte. Verstohlen blickte er über die Reihen der Kollegen, aber keiner im Raum hatte offenbar etwas gehört. Ich habe erwartet, er würde das sagen, gestand sich Hadrich schließlich ein, er würde das Gespräch fortsetzen wollen, habe ich gedacht, und als wir uns ansahen, hatte ich den Eindruck des Einverständnisses.
23 Entschlossen riß sich Berner vom Anblick des trüben Regentages los, drückte auf den Auslöser seines Diktiergerätes und sagte:
"Zum Jubel ist kein Anlaß. Erste Stellungnahmen von Politikern in den westlichen Hauptstädten sprachen bereits überschwenglich von einer Besiegelung der europäischen Gemeinschaft, und es klang so etwas wie der Geist einer Kampfgemeinschaft durch, der die Völker verbunden hat. Nun, ein Kampf war es gewiß nicht, den Mond zu besuchen. Die technische Pioniertat hatten bereits vor Jahren die Amerikaner erbracht, und die Präzision des Mondfluges war schon damals nicht mehr zu übertreffen gewesen. Wenn man heute eine Leistung bejubeln muß, dann ist es nicht die Arbeit von Jacksen, Leblanc, Andrezotti und Schmidt, sondern der jahrelange erfolgreiche Kleinkrieg europäischer Raumfahrtmanager gegen die Europapolitiker, die immer nur von Gemeinschaft reden und nationale Selbstsucht meinen. Wenn dieser Kampf die Leute hier im Deutschen Raumfahrtinstitut mit den Männern in Sydney und Toulouse, mit den Planern in London, Genf und Karlsruhe zu einer Gemeinschaft verbunden hat, dann ist es ihr Sieg und nicht der Triumph Europas. Man soll in diesen Stunden nicht vergessen, gegen wieviel Widerstände, nationale Eitelkeiten, politisches Gezänk und unwahre Propaganda das Projekt zustande kam. Noch heute gibt es Politiker in Europa, die den Mondflug als Beispiel für falsch ausgegebenes Geld hinstellen, nur um einigen Wählern nach dem Munde zu reden, die an Stammtischen meinen, man könnte dieselben Mittel zum Bau von Schulen verwenden. Die Männer und Frauen in den Raumfahrtzentralen haben ihren ehrgeizigen Plan verwirklicht. Auf dem Mond sind vier Wissenschaftler gelandet und nicht die Gründungsversammlung der Europäischen Union.
Politisch hat das Projekt ebensowenig Bedeutung wie all seine Vorgänger." Ich müßte etwas zu den Geldmitteln sagen, die aus so unterschiedlichen Quellen und oft so spärlich flossen, dachte Berner und hielt das Diktiergerät an. Aber wenn ich nach dem Eklat von heute vormittag auch nur eine leise Andeutung mache, dann wecke ich womöglich schlafende Hunde. Ich habe jetzt den Zipfel zu einer politischen Story in der Hand, und wenn ich es richtig anfange, dann reden in der nächsten Woche die Kollegen nicht mehr vom europäischen Mondflug, sondern von den geheimen Arsenalen der europäischen Verteidigung. Berner starrte wieder zum Fenster hinaus und dachte an den kleinen Kommissar. Binewski weiß im Augenblick noch weniger als ich, aber er wird sich nicht abspeisen lassen mit lapidaren Anweisungen. Der bohrt, und ich muß warten auf das, was er zutage fördert. Berners Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das sofort wieder verschwand, als das Tischsprechgerät summte. "Herr Berner, die Redaktion fragt nach Ihrem Kommentar", sagte die Sekretärin. Der Fernsehreporter drückte die Sprechtaste und knurrte: "Sollen warten. Die Sendung ist doch erst in zwei Stunden." Hier auf diesem Flur war er König, und er liebte es, sich auch so zu geben. Sein Arbeitszimmer war ein prachtvoll eingerichteter Raum, mit schweren Mahagonimöbeln und breiten Persianersesseln nach dem Trend modernster Innenarchitektur ausgestattet. Reproduktionen klassischer Meister, nach dem erst seit einem Jahr entwickelten Holographieverfahren hergestellt, schmückten die Wände, vor dem breiten
Fenster hing ein durchgehender Netzstore. Der in Altrosa gehaltene Bodenteppich unterstrich den warmen, tiefroten Mattglanz der Möbel. Dem Schreibtisch gegenüber waren in die Schrankwand zwei große Monitore eingelassen, auf denen Berner sowohl das laufende Programm aller Kanäle als auch die Beiträge des Filmgebers, der elektronischen Aufzeichnungszentrale und der Studios verfolgen konnte. Er liebte es, auf beiden Mattscheiben stets Bilder zu sehen, ließ aber den Ton abgestellt, um bei seiner Arbeit nicht gestört zu werden. Im Augenblick zeigte der linke Monitor das laufende, vierte Programm, das hauptsächlich regionale politische Nachrichten und leichte Unterhaltungssendungen -verbreitete, der rechte Monitor blickte in das leere Studio C, in dem Berner später seinen Kommentar live sprechen würde. Zuvor mußte seine Sekretärin das Diktat abschreiben und ein Exemplar der zuständigen Redaktion überreichen, die zwar formal für die Sendezeit verantwortlich war, tatsächlich aber an dem Text des Starreporters nichts mehr ändern durfte. Berners Stellung war unangefochten. Hatte er organisatorische oder politische Probleme zu besprechen, wandte er sich an den Programmdirektor, von dem er stets Unterstützung erwarten konnte. Mit den Chefredakteuren und Chefreportern befreundeter und auch konkurrierender Unternehmen pflegte er lässigen Kontakt, immer darauf bedacht, sein Reich als bedeutenden Flecken in der Fernsehlandschaft herauszustellen. Darin unterschied er sich nicht im geringsten von den anderen, es wäre höchstwahrscheinlich als unangenehm empfunden worden, wenn er sich anders verhalten hätte.
Jochen Bemer hielt noch immer unschlüssig das Mikrofon seines Diktiergeräts in der Hand, mit einem Ruck beugte er sich über das Tischsprechgerät und herrschte sein Vorzimmer an: "Ich möchte jetzt nicht gestört werden!" Dann lehnte er sich wieder zurück, fixierte die bunten Schatten auf dem linken Monitor und brütete über der Formulierung, mit der er das Finanzthema vorbereiten wollte. "Politisch hat das Projekt ebensowenig Bedeutung wie all seine Vorgänger", sagte seine Stimme noch einmal aus dem Lautsprecher des Diktiergeräts, das Wort "Vorgänger" blieb ruckartig in der Luft hängen, bis Berner die Spule weiterlaufen ließ. "Nach dem Fehlschlag des europäischen Gemeinschaftsprojektes Concorde im Jahre 1974 hatten sich die Regierungen in den westeuropäischen Hauptstädten stets geweigert, Geld in technische Planungen zu investieren, die ihnen bei den nächsten Wahlen um die Ohren geschlagen werden konnten. Die Folge war, daß auch die gemeinsamen Raumfahrtpläne unter dem Druck nationaler Augenblickserfolge zurückstehen mußten. Man mag heute nicht mehr die vielen zermürbenden Sitzungen der Raumfahrtmanager mit ihren zuständigen Finanzbehörden zählen, aber sicher ist, daß dabei die Raumfahrtinstitute als der schwächere Teil größere Zugeständnisse machen mußten. Wenn also der Prestige-Erfolg einer internationalen Mondlandung nicht in den ersten Jahren gleich zu verbuchen war, so mußten andere, nach außen hin kaum erwähnte Projekte die Geldausgaben begründen. Deshalb wird sich in der nächsten Zeit die Bedeutung dieses Raumfluges in seinen Nebenprodukten
niederschlagen, auf deren Veröffentlichung wir zweifellos nicht mehr lange zu warten brauchen." Berner hielt das Gerät wieder an und dachte über den letzten Satz nach, ließ das Band noch einmal zurücklaufen, hörte den Satz ein zweites, ein drittes Mal, befand ihn schließlich für gut, politisch abgewogen, deutlich genug für die Eingeweihten, ausreichend interessant für die Zuschauer. Dann rief er seine Sekretärin herein. Die hagere, etwa fünfundvierzigjährige Blondine hatte schon mehrere Chefs auf diesem Stuhl erlebt, auf dem jetzt Jochen Berner saß. Sie hatte sich stets den Eigentümlichkeiten und Marotten dieser Stars angepaßt, manchmal war es ihr schwergefallen, aber der jetzige Leiter des Reportage-Büros entsprach in seiner knappen, sachlichen, leicht autoritären, nie ungerechten Art ihrem eigenen Temperament so sehr, daß sie ungern an den Augenblick dachte, an dem ihr Chef in der Hierarchie dieser öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt eine weitere Stufe nach oben erklimmen würde, falls er den finanziellen Verlockungen privater Fernsehunternehmen widerstand. Berner reichte ihr wortlos die Kassette mit dem Diktat, und als sie schon wieder in der Tür war, sagte er: "Dann schicken Sie mir bitte noch Maurer und Hahning herein, ich werde um 17 Uhr heute keine Konferenz abhalten können." Mit seinen Mitarbeitern besprach er täglich die fälligen Reportagen, ging die Tagesereignisse durch und skizzierte eine Vorschau auf die kommenden Tage. Die Beiträge von gestern und vorgestern wurden noch einmal kritisch durchleuchtet, mit den Ergebnissen der Zuschauerbefragungen verglichen, auf ihren politischen
Inhalt hin abgeklopft. Die meisten der täglichen Reportagen ließ Berner von seinen Mitarbeitern machen, er selbst behielt sich vor, die sensationellen, die politisch gewichtigen Ereignisse, die bedeutenden Interviews zu präsentieren. Als die beiden Reporter ins Zimmer traten – sie waren zur Stunde die einzigen, die nicht mit Reportageaufträgen unterwegs waren –, legte die Sekretärin Berner wortlos die Tagesmappe auf den Schreibtisch, in der alle wichtigen Termine', alle vorhersehbaren Ereignisse, alle Büronotizen stets auf neuestem Stand enthalten waren! Berner nickte nur, begrüßte die beiden Mitarbeiter, die in den Sesseln Platz nahmen, und schlug die Mappe auf. Zuoberst lag ein Zettel, auf dem seine Sekretärin notiert hatte: Kommissar Binewski bittet um Rückruf. Er ist bis 19 Uhr im Amt zu erreichen.
24 "... so mußten andere, nach außen hin kaum erwähnte Projekte die Geldausgaben begründen. Deshalb wird sich in der nächsten Zeit die Bedeutung dieses Raumfluges in seinen Nebenprodukten niederschlagen, auf deren Veröffentlichung wir zweifellos nicht mehr lange zu warten brauchen." Das Bild auf dem Fernsehgerät verlosch, dann sagte ein Sprecher: "Sie hörten den Tageskommentar von Hans Joachim Berner." Kramlo, hinter seinem Schreibtisch versunken, starrte auf die Mattscheibe, blind für das folgende Programm, ohnmächtig gegenüber einer Gefahr, die er ahnte, aber
nicht verstand. Wer spann hier eine Intrige gegen ihn, die nach dem triumphalen Erfolg des Mondlandeunternehmens ihn nun tief stürzen lassen sollte? Was war wahr an der Zeitungsmeldung, was wußte dieser Fernsehreporter? Gewohnt, analytisch vorzugehen, teilte er die Bedrohung, die er nur bruchstückhaft greifen konnte, in drei Gruppen ein: Erstens, es war ein Komplott gegen ihn, dann kamen nur Mitarbeiter in Frage, denn der Aufsichtsrat stand zur Zeit fest hinter ihm, der Erfolg des Mondfluges garantierte für die nächsten Monate eine gute Zusammenarbeit. Unter den Mitarbeitern konnte es Neider geben, Wissenschaftler, die sich zurückgesetzt fühlten, sich übergangen glaubten, in ihrer Karriere behindert sahen. Meist waren es Angestellte, die auf die Fünfzig zugingen und sich panikartig bewußt wurden, daß sie die Endstation ihrer Laufbahn erreicht hatten. Anger, schoß es Kramlo durch den Kopf, ein Ingenieur mit märchenhaften Fähigkeiten, Spezialist auf seinem Gebiet, ein undurchsichtiger Mann, selbstsicher bis zur Überheblichkeit, unnahbar, Anger war in letzter Zeit immer häufiger eigene Wege gegangen. Die zweite Möglichkeit: ein politischer Angriff auf das Institut. Zum Beispiel Mitglieder des Wissenschaftsrates, denen er die Gelder abgetrotzt hatte, die daran interessiert waren, das Spektakel des Raumfluges in der Öffentlichkeit mit einem Skandal auszulöschen. Vielleicht bedurften sie in ihrer Partei eines Erfolges, der ihnen die Wiederwahl sicherte, vielleicht hofften sie auch, seinen" Kramlos, Platz für sich selbst zu erobern. Das fleischige, blutleere Gesicht Professor Steigerwalds tauchte vor Kramlo auf, und mit kaltem Grimm konstatierte er, daß seine bis hier geführte Analyse einen
Fehler aufwies: Steigerwald war nicht nur einflußreiches Mitglied im Wissenschaftsrat, sondern auch stellvertretender Vorsitzender seines Aufsichtsrates. Eisern hakte Kramlo auch diesen Punkt ab und wandte sich der dritten Möglichkeit zu: Der Fernsehreporter selbst hatte die Sache lanciert. Wenn diese Annahme stimmte, mußte Kramlo das fehlende Glied in der Kette finden. Da es dem Fernsehmann nur um die Sensation gehen konnte – man sah das deutlich an der dramatischen Art, die Geschichte von einem verletzten Kind her aufzuziehen –, mußte irgendwo ein Körnchen Wahrheit ah der Sache selbst sein, denn mit einer plumpen Unterstellung hätte der Reporter zu wenig in der Hand, das Substanz genug bewies, in der öffentlichen Diskussion zu bestehen. Einem neidischen Mitarbeiter würde man die Lüge zutrauen, denn er blieb anonym. Einem politischen Gegner standen genügend Mittel zur Verfügung, die reine Unterstellung auf die Dauer wirksam werden zu lassen. Dem selbst im Rampenlicht stehenden Berner aber mußte etwas in die Hand gegeben sein, und daraus folgerte unerbittlich die Frage: Welches Beweisstück besaß der Fernsehmann? Kramlo zweifelte in keiner Sekunde daran, daß in seinem Institut nichts Illegales geschah. Er kannte jedes Projekt, jede Arbeit, jeden Schritt seiner fast zweihundert Mitarbeiter. Da aber in dem großen Gebäudekomplex einige Etagen weitervermietet waren, konnte es da nicht eine Verwechslung gegeben haben? Wurde hier dem Institut, das mit seinem Namen für das ganze Gebäude stand, etwas untergeschoben, das einer der Privatfirmen zuzurechnen War? Der Institutschef hing diesem Gedanken eine Zeitlang nach, denn er erleichterte ihn, bot die Möglichkeit, das
bedrückende Problem, auf einfache Weise loszuwerden. Systematisch ging er die Firmen durch, prüfte in Gedanken ihre Produkte, verfolgte ihre Arbeitsweise und überlegte, was diese Firmen wohin lieferten. Nach und nach wurde ihm aber deutlich, daß er sich auf dem Holzweg befinden mußte, daß er der Verführung erlegen war, den Zufall die entscheidende Rolle spielen zu lassen. Und gerade als er sich von diesen Überlegungen losriß, um seine eigenen Abteilungen unter die Lupe zu nehmen, klingelte das Telefon. Steigerwald wollte ihn sprechen. "Das trifft sich gut", sagte Kramlo eilfertig und nervös, "und da Sie von sich aus anrufen, Herr Professor, sind Sie sicher über diesen unglaublichen Artikel unterrichtet." Steigerwald, Universitätsprofessor und Politdilettant, lebte mehr von seinem Jähzorn als von seinem Fachwissen. "Unglaublich ist ein viel zu schwaches Wort, mein lieber Kramlo, um der Tragweite der Angelegenheit gerecht zu werden", donnerte er ins Telefon, und der Institutschef hatte deutlich vor Augen, wie sich das bleiche, schwere Gesicht des anderen mit Blut füllte, "das wird uns eine Anfrage im Parlament einbringen, und die Opposition wird es darauf anlegen, den Vorfall als internationalen Vertragsbruch auszulegen. Sie wissen hoffentlich, wozu die Bundesrepublik in Sachen Waffenproduktion verpflichtet ist." Kramlo nutzte die rhetorische Pause, um Öl auf die Wogen zu gießen. "Sie haben sicher sofort erkannt, Herr Professor Steigerwald, daß es sich hier um eine infame
Unterstellung handelt, der wir mit aller Entschiedenheit begegnen müssen." Steigerwald, der das durchaus nicht erkannt hatte, schluckte, fühlte sich an weiteren Zornestiraden gehindert, schwenkte aber, in langen Jahren parlamentarischer Arbeit geschult, sofort um. "Dazu wollte ich Sie ja gerade auffordern", sagte er mit der gleichen donnernden Stimme, "wir müssen eine Aufsichtsratssitzung einberufen, in der Sie und Ihre Mitarbeiter klipp und klar darlegen, daß kein Quentchen wahr ist an der Sache." Kramlo, von Zweifeln geplagt, quälte sich eine wenig überzeugende Zustimmung ab. Um aber keinesfalls den Eindruck entstehen zu lassen, es könnte doch irgend etwas wahr daran sein, lenkte er das Gespräch geschickt auf den abgeschlossenen Mondflug. "Die Aufsichtsratssitzung würde uns Gelegenheit geben, auch einen ersten Bericht über den Erfolg unseres Mondlandeunternehmens vorzulegen. Mit diesem Bericht könnten wir dann die Planung für den kommenden Forschungszeitraum und eine erste Schätzung der dafür benötigten Summen vorlegen", setzte er kühn hinzu. "Was war denn das nun für eine merkwürdige Störung?" hakte Steigerwald ein, dem das Thema Finanzen in der augenblicklichen Situation nicht zupaß kam, "dazu werden Sie doch hoffentlich auch ein Untersuchungsergebnis vorlegen können?" Kramlo folgte einem plötzlichen Einfall, weil er sich den Knüller noch aufsparen wollte, daß es bereits im amerikanischen Apolloprogramm ähnlich unbegreifliche Erscheinungen gegeben hatte.
"Selbstverständlich erhalten Sie das schriftliche Ergebnis, sobald die Untersuchung abgeschlossen ist. Wir haben aber schon jetzt die Vermutung, daß es gemeinsame Wurzeln gibt für die gezielte Störung und diese Zeitungsintrige. Das klingt vielleicht abwegig, aber beides ist mit soviel Ungereimtheiten verbunden, daß ich es mir nur mit einem eindeutig gegen unsere Arbeit gerichteten Manöver erklären kann. Das ist natürlich eine These, die man nie würde erhärten können, und deshalb ist diese Information höchst vertraulich gemeint", sagte Kramlo mit leerem Gefühl im Magen. Aber er hatte richtig kalkuliert, der zunächst absurd erscheinende Zusammenhang verfehlte bei Steigerwald nicht seine Wirkung, denn der Professor besaß eine ausgeprägte Freund-Feind-Mentalität, mit der er jedem politischen Problem zu Leibe rückte. Es gab also Feinde des Instituts, diesen Feinden war erst, einmal zuzurechnen, was dem Institut schadete, man mußte das Institut vor ihnen schützen. "Wir müssen die Strategie für die Aufsichtsratssitzung noch gemeinsam vorher abstecken", sagte er jovial, "diese Waffengeschichte muß natürlich gründlich vom Tisch, und das mit der Finanzplanung sollten wir auf das nächste Mal verschieben." Kramlo merkte, wenigstens einen Teilerfolg verbuchen zu können, nickte wortlos und sagte dann eilig ins Telefon: "Jeder Oppositionsvertreter in unserem Aufsichtsrat wird sich lächerlich machen, wenn er dem Zeitungsartikel irgendeinen Glauben schenkt. Schließlich hätte er ja selbst der Bewilligung einer Finanzierung derartiger Arbeiten zustimmen müssen, nicht wahr?"
Das polternde Lachen auf der anderen Seite der Telefonverbindung bewies es ihm, Steigerwald war auf seine Darstellung eingegangen. Mit der stereotypen Floskel: "Und bitte grüßen Sie Ihre Frau recht herzlich von mir" verabschiedete er sich, legte auf, spürte eine gewisse Erleichterung, und langsam überzeugte er sich davon, daß der Verdacht unbegründet gewesen war, Steigerwald hätte es auf seinen Chefstuhl abgesehen. Damit war aber nur ein Punkt seiner Situationsanalyse als erledigt anzusehen. Sein Blick schweifte aus dem gläsernen Büro hinaus in den Meß- und Kontrollraum, nachdenklich betrachtete er die Mitarbeiter, die begonnen hatten, den Raumflug technisch und wissenschaftlich auszuwerten. Gab es unter ihnen den Intriganten, den Rivalen, war einer dieser Spezialisten von der privatwirtschaftlichen Konkurrenz bestochen? Die meist offenstehende Tür zu dem großen Raum war jetzt geschlossen, Kramlo fühlte sich abgeschnitten. Gerade als er aufstehen wollte, schrillte noch einmal das Telefon. Seine Sekretärin stellte ihm den Leiter der Fahrbereitschaft durch. "Herr Doktor", rief der Mann aufgeregt, "wir können die Sache als erledigt betrachten. Ich habe auftragsgemäß alle Fahrten geprüft und jeden Fahrer vernommen. Der Karl Stadier hat zugegeben, sein Fahrzeug für einen privaten Transport benutzt zu haben." "In der fraglichen Zeit?" hakte Kramlo nach, als er sich von der Überraschung erholt hatte. "Gestern vormittag", bestätigte der Leiter der Fahrbereitschaft zufrieden, "er hat auch zugegeben, mit
dem Fahrzeug in der Schreinergasse für private Zwecke geparkt zu haben." "Aber um Gottes Willen, was für gefährliche Geräte hat der Mann denn im Wagen gehabt?" "Dazu wollte er sich bei mir nicht äußern. Ich muß Ihnen noch sagen, Herr Doktor, in den Personalakten des Stadier steht, daß er wegen Diebstahls mehrfach vorbestraft ist." "Bringen Sie den Mann in den Besprechungsraum", sagte Kramlo, "ich will selbst mit ihm reden." Während er wieder auflegte, wurde ihm deutlich, daß es die Waffe geben mußte, und daß ein Mitarbeiter seines Hauses damit in Verbindung zu bringen war.
25 Professor Dr. phil. Egori Steigerwald, ehemals Hochschullehrer für neuere Geschichte, seit seiner unrühmlichen Abwahl durch die Fachschaft dank seiner politischen Freunde Abgeordneter der Konservativen, Mitglied des Wissenschaftsrates, Stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates des Deutschen Raumfahrtinstituts, Ehrenvorsitzender des Verbandes des Deutschen Weinhandels, Präsident des Kegelvereins in seinem Heimatort, sechzig Jahre alt, verheiratet, ein Kind, blinzelte in den trüb vorbeischlurfenden Rhein. Die Kette des Siebengebirges gegenüber war in lappigen Regenwolken versteckt, in der frühen Abenddämmerung begannen auf der Beueler Seite die Uferlichter aufzublinken. Seit Jahren war dieser Blick aus dem Hochhaus dem Abgeordneten vertraut, er sah die Jahreszeiten vorbeiziehen wie die Lastkähne auf dem
herrlichen, geschichtsträchtigen deutschen Fluß. Das Gespräch mit dem Direktor des Raumfahrtinstituts hatte ihn angeregt, von dem Ruhm des geglückten europäischen Mondlandeunternehmens zehrte auch er, oft hatte er sich in der vergangenen Zeit als Vorkämpfer für eine angemessene deutsche Beteiligung an dem Projekt geriert, in seinem Wahlkreis galt er als der Raumfahrtprofessor, obwohl doch das hatten die meisten vergessen – sein Lehrgebiet die Hegelsche Philosophie gewesen war. Steigerwald hatte auf ärztliches Anraten das Rauchen aufgeben müssen, seitdem aß er Konfekt, in der Schreibtischschublade lag stets ein gefüllter Karton. Behaglich schmatzte er eine Praline, als ihn der Anruf des bekannten und von manchen seiner Kollegen gefürchteten Chefreporters des Deutschen Fernsehens erreichte. Steigerwald hatte auch auf dem Bildschirm die Rolle des Raumfahrtprofessors gern geübt, er fühlte sich übergangen, wenn man ihn nicht in Raumfahrtfragen zu Worte kommen ließ, der Anruf des Fernsehgewaltigen erschien ihm überfällig. "Mein lieber Berner", dröhnte er los, "an unserem Erfolg, haben auch Sie großen Anteil – streiten Sie es nicht ab! Ich habe Ihre Reportagen allesamt verfolgt, sie waren klar, wissenschaftlich korrekt und publikumsnah. Sicher planen Sie jetzt eine abschließende Diskussion, die das ganze Unternehmen würdigt, ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung ..." Berner, trainiert darauf, diesem Wortschwall keine inhaltliche Bedeutung beizumessen, revanchierte sich mit einer orientalisch anmutenden Antwort, bevor er listig den Zeitzünder legte.
"Seit wann arbeitet denn das Institut, das Sie beaufsichtigen, mit dem Verteidigungsministerium zusammen? Meinen Sie nicht..." Steigerwald ließ ihn nicht weitersprechen. "Wollen Sie mich auf den Arm nehmen mit dem Schwindel, der da in der Zeitung stand?" lachte er überlegen ins Telefon, "Sie haben doch sicher sofort erkannt, daß es sich um eine infame Unterstellung handelt." Die Worte Kramlos gingen ihm wie die eigenen über die Lippen. "Meinen Sie, ich würde Sie anrufen, Herr Professor Steigerwald, wenn ich die Angelegenheit nicht recherchiert hätte?" Die langsam gesprochenen Worte Berners tropften durch den Telefondraht, das fleischige Gesicht des Abgeordneten wurde blaß. "Die Waffe – und Sie wissen ja, welche Waffe – wurde heute vormittag vom Verteidigungsministerium beschlagnahmt und auf diese Weise der Polizei entzogen. Für den Kommissar, der den Fall behandelt, besteht kein Zweifel, daß sie aus dem Raumfahrtinstitut stammt." "Es ist schon möglich, daß da irgendwo auf der Straße eine Waffe gefunden wurde", stotterte Steigerwald und suchte sich der Konfrontation zu entwinden, "aber das Institut hat damit nichts, gar nichts zu tun. Das müßte ich ja schließlich wissen, Herr Berner, und Sie kennen mich lange genug, daß ich Ihnen das nicht vorenthalten würde, wir beide haben doch stets ein offenes Wort miteinander gepflegt." "Deshalb rufe ich Sie ja an", erwiderte der Reporter trocken, "wenn Sie schon nichts über die Sache wissen,
sollten Sie sich wenigstens wappnen, da kommen stürmische Zeiten auf den Aufsichtsrat zu." "Ich habe die Angelegenheit selbstverständlich sofort klären lassen", sagte Steigerwald und fühlte sich sicher nach seinem Gespräch mit Kramlo, "da steht gar nichts zu befürchten, mein lieber Berner, das ist eine ausgemachte Ente." "Fragen Sie doch einmal Ihren Kontaktmann im Verteidigungsministerium", sagte Berner grob, weil er sich verletzt fühlte, "die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, welche geheimen Forschungen aus Steuergeldern finanziert werden." Nach einer kühlen Verabschiedung legte er auf, böse, daß ihm Kramlo zuvorgekommen war. "Ich muß zu Binewski", sagte er laut. Er wußte, hier lag der Schlüssel, nur der Kommissar konnte ihn weiterbringen. Berner spürte, er hatte die Sache falsch angepackt, das Institut selbst bot ihm keinen Hebel, weder der Chef noch die Mitarbeiter, noch der Aufsichtsrat, alle steckten sie unter einer Decke, jeder leimte ihn auf seine Art. Doch bevor er in Ruhe mit dem Kommissar reden konnte, mußte er noch einen Filmbeitrag prüfen, da war dieser neue Reporter, der für das Wochenmagazin den politischen Hintergrund des gemeinsamen Raumflugs abgeklopft hatte, nun gut, man würde sehen, was da zustande gekommen war.
26 "In Deutschland regnet es", sagte der Flugkapitän und blinzelte die Stewardeß an, die lang und blond in der
Kanzel hinter ihm stand. Tief unter der riesenhaften Düsenmaschine waren winzige Wolkenreste hingetupft, noch weiter darunter kräuselte sich das Blau des Atlantischen Ozeans. Die Sonne dehnte sich mächtig am Himmel, irgendwo am Horizont spiegelte die milchige Mondscheibe ihr Licht. Regen? dachte Lilli, und der Gedanke an das graue Wetter war ihr hier oben so fern wie der Zielflughafen, das sind noch ein paar Stunden bis dorthin, zunächst Zwischenlandung in Paris-Charles-de-Gaulle, dann noch eine Stunde Nachtflug. "Ich hab' Ihnen einen Orangensaft gebracht", sagte sie zu den beiden Piloten und beugte sich über den Wust von Hebeln und Armaturen. "Ein Schatz sind Sie", lachte der Kopilot, behielt aber den Blick auf die automatische Steuerung gerichtet, "pünktlich ,24,3 Grad West 48,1 Grad Nord wird der Saft serviert." "Und ebenso pünktlich werde ich vergessen", knurrte der Funker und schnippte mit den Kopfhörern. "Pilot müßte man sein und in der Sonne sitzen." "... die im Dunkeln sieht man nicht", intonierte der Kapitän die Weilische Melodie, aber Lilli meinte nur: "Ich habe nur zwei Hände, kann nur zwei Becher tragen, der Nachschub rollt gleich." Und dann war sie schon wieder im Mittelgang, durchquerte die Erste Klasse, steuerte die Bordküche an. Das Flugzeug ist halb besetzt, die elf Mann Besatzung fühlen sich unterbeschäftigt, Lilli steht allein in dem silbrigen Kabäuschen. Sie nimmt zwei Pappbecher aus dem Spender, hält sie unter den Zapfhahn und träumt vor sich hin, erst als ihr der klebrige Saft über die Finger läuft, drückt sie erschrocken auf den Verschlußknopf.
Ärgerlich über sich selbst wirft sie die übervollen Becher in die Abfallkippe, hält die Hände unter fließendes Wasser, entdeckt einen Safttropfen auf ihrer Schuhspitze. Minuten vergehen, bis sie die Finger getrocknet, den Schuh abgerieben, ihr Make-up wieder hergerichtet hat. Bei der Suche nach dem Lippenstift sieht sie plötzlich das kleine schwarzlackierte Spielzeug. Anger hatte es ihr gegeben, vorgestern früh auf dem kalten Markt. Sie hätte es Jochen geben sollen, fällt ihr ein, Anger hatte es ihr als Geschenk für ihn mitgegeben. Das Spielzeug interessiert sie nicht weiter, aber der große rote Zettel, der daneben in ihrer Tasche liegt, dieser Zettel ist ihr unbekannt. Sie besitzt keine roten Notizblöcke, hat nie einen Brief auf diesem Papier erhalten. Hat ihn ihr eine Kollegin in die Handtasche geschoben? Ihr gefällt der Gedanke nicht, daß sich jemand an ihre Tasche macht, wenn sie sie für kurze Zeit aus den Augen läßt. Das ist bisher nicht vorgekommen, sie wird die anderen Stewardessen zur Rede stellen müssen. Halb empört, halb neugierig faltet sie den Brief auseinander, in klaren großen Buchstaben steht darauf: "Ich hatte Ihnen eine exklusive Berichterstattung versprochen. Heute abend, 22 Uhr 30, löse ich das Versprechen ein. Kommen Sie ins Institut. Ihr Anger." Das Datum auf dem Schreiben ist das heutige, vergleicht Lilli erschrocken. Wie kommt der rote Brief in ihre Tasche, sie ist seit letzter Nacht unterwegs, kehrt gerade aus Übersee zurück, niemals hat sie einen Brief von Anger erhalten und geöffnet, schon gar nicht einen Brief mit dem heutigen Datum.
Irgend etwas Unfaßbares ist da geschehen, spürt sie, es ist ihr unbehaglich, sie hat das Gefühl, zu einer Figur in einem unüberschaubaren Schachspiel zu werden. Das muß ich klären, denkt sie, jetzt, ich muß dort anfangen, wo ich Anger traf. Als er ihr das Spielzeug gab, war da auch der Brief dabei gewesen? Steckte er vielleicht in dem schwarzlackierten Kästchen und fiel heraus, hier in ihrer Tasche? Lilli betrachtet die seltsame Maschine, wendet sie zwischen den Händen, fährt mit den Fingern über das aufragende rechteckige Plättchen, das mit einer gitterähnlichen, rötlich schimmernden Schicht überzogen zu sein scheint, und über den kleinen Kasten darunter, der wie ein Sockel aussieht. Wie ein abstraktes Standbild für eine Spielzeugstadt, denkt Lilli und wendet den Apparat um, auf der Unterseite des Sockels ist ein Deckel, er verdeckt eine briefmarkengroße Taschenbatterie. Hier konnte der Zettel nicht herausgefallen sein, erkennt sie sofort, der Platz reicht kaum aus für die Batterie, viel zu groß ist der Brief, der da vor ihr auf der Servierplatte der Bordküche liegt. Warum hätte Anger auch die Botschaft vordatieren und in dem Gerät verstecken sollen, überlegt sie, es bestand gar keine Veranlassung, ihr nicht auch den Brief auszuhändigen, als sie das Spielzeug erhielt. Wenn sie aber gestern früh zwar das Gerät, nicht aber den Brief bekommen hatte, wie war er dann in die Tasche gelangt? Hatte eine Kollegin vor dem Abflug das Schreiben von Anger erhalten, mitgenommen und später in Lillis Tasche geschoben? Warum hat sie mir dann nichts gesagt, wir waren doch seit dem Abflug immer zusammen? Lilli geht hinüber zu der Sitzreihe, die für die Stewardessen reserviert ist. Drei Mädchen haben es
sich hier bequem gemacht, im Augenblick ist an Bord nichts zu tun. Aber alle drei verneinen erstaunt, sie wüßten nichts von einem Brief an Lilli, ihnen hätte niemand etwas mitgegeben. Auch die anderen Stewardessen, die Lilli in der oberen Bordküche und im Schreibkontor am Rumpfende des Düsenriesen aufstöbert, wollen mit der Sache nichts zu tun haben. "Deine Liebesbriefe mußt du dir schon allein abholen, ich eigne mich nicht als Postillon", lacht eine von ihnen, und der Bar-Steward meint anzüglich: "Du solltest eigentlich wissen, wie ich heiße, wo wir uns schon so nah waren!" Und er zwinkert den anderen zu, damit sie den platten Scherz beklatschen sollen. Der Mißerfolg ihrer Umfrage verwirrt Lilli noch mehr, sie kehrt zu ihrer Tasche zurück, mißtrauisch starrt sie das seltsame schwarze elektrische Gerät an, als erwarte sie eine Antwort. Wozu ist eigentlich die Batterie gut, denkt sie, die Maschine heizt nicht, gibt keine Töne von sich, hat keine Räder, leuchtet nicht – wozu eine Batterie? Der Rufton des Bordfunkers schreckt sie auf, sie hat den Orangensaft vergessen. Schnell stopft sie das Spielzeug wieder in die Tasche, aber der Brief – jäh hält sie inne –, der Brief enthält eine wichtige Nachricht, und diese Nachricht ist an Jochen gerichtet, dem sie ja längst auch das Gerät hätte geben sollen. Sie liest noch einmal den Termin, heute 22 Uhr 30, um diese Zeit wird sie noch nicht zu Hause gelandet sein. Sie steckt den roten Brief in ihre Uniformtasche, füllt zwei neue Becher mit Orangensaft und wendet sich wieder dem Cockpit zu. Ein schläfriger Fluggast in der Ersten Klasse zupft an ihrem Ärmel und bittet um einen Kaffee. Ohne ihn anzusehen, vertröstet sie ihn und
verschwindet durch die Tür nach vorn, Zutritt nur für das Flugpersonal. Bevor der Funker eine spitze Bemerkung loswerden kann, weil sie so lange hat auf sich warten lassen, drückt sie ihm den Becher in die Hand und sagt schnell: "Du mußt bitte etwas für mich erledigen, Tom, jetzt sofort, es eilt." "Erst kommst du nicht wieder und kommst nicht wieder, Liane Sonnenberg", sagt er gedehnt, "und jetzt eilt es?" "Ich hab' etwas vergessen", erwidert sie unbeirrt, "stell mir bitte eine Verbindung mit dem Heimat-Tower her." "Private Telefonate sieht die Gesellschaft nicht gern", doziert der Funker, aber der Flugkapitän sagt: "Nun mach schon." Lilli kennt einige der Männer und Frauen auf dem Tower, man verspricht ihr, die Nachricht mit dem Termin an das Fernsehstudio für Hans Joachim Berner weiterzugeben, sofort, sie könne sich darauf verlassen.
27 Der Film des jungen Reporters hielt Jochen Berner länger auf als erwartet. In dem engen, stickigen Schneideraum, in dem er nun schon seit zwei Stunden saß, nahm die Diskussion kein Ende. Der Film war konventionell hergestellt, und diese Feststellung, dachte Berner, betraf nicht nur die Technik, einen Umkehrfilm zu belichten, zu entwickeln und zu schneiden, sondern auch die Form. Der junge Mitarbeiter hatte Politiker und Wissenschaftler im Inland und im Ausland befragt, recht stereotyp und dümmlich, die Antworten waren
entsprechend mager, und die Cutterin hatte mühsam Bilder vom Start und vom Aufenthalt der vier Raumfahrer auf dem Mond dazwischen garniert, damit das Ganze optisch lebendiger wurde. Neben dem Filmschneidetisch, auf dessen Sichtschirm das jetzt sieben Minuten lange Werk zu betrachten war, stand ein moderner elektronischer Tisch, auf dem magnetische Bildbänder geschnitten werden konnten. Ein Stahlspind in der Ecke, mehrere Regale mit Filmrollen und Magnetbandspulen, ein schmaler Schreibtisch, drei Stühle, der Raum war bereits vollgestopft, bevor überhaupt ein Mitarbeiter darin Platz nahm, nun saßen sie zu dritt hier, die Cutterin ließ den Beitrag vorwärts und rückwärts rollen, hielt ihn an den Stellen an, an denen sich die Diskussion entzündet hatte. Der junge Reporter hoffte von seinem Chef, das noch unfertige Stück für gut zu befinden und für die nächste politische Magazinsendung im ersten Programm vorzusehen. Aber Berner war unzufrieden. Der Mann hatte offenbar die Kernfrage nicht erkannt, die Interviews erbrachten nichts über den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Nutzen für die beteiligten Regierungen. Da steckt doch ein guter Teil politischer Egoismus in der Bewilligung von Forschungsmitteln und der Ausbildung von Raumfliegern und Raumfahrttechniken, warum war das im Wirrwarr leerer Worte untergegangen, warum hatte der Reporter nicht deutlicher, nicht gründlicher gefragt? Unbehagen bereitete Berner auch die Form des Beitrags, dieser ermüdende Wechsel von unbekannten Gesichtern und allzu bekannten Mondlandeszenen. Das war so breiig, abgestanden, ungenießbar wie die Luft in diesem kleinen, dunklen Raum. Der Schneidetisch summte monoton vor sich hin, die Cutterin, selbst unzufrieden
mit dem Material, beteiligte sich kaum an dem Dialog zwischen Reporter und Chef. Wenn wenigstens Hahning noch dabei wäre, dachte Berner, ein Redakteur, der mir die Kleinarbeit abnehmen könnte, aber alles, was mit Mondflug und Raumfahrtprojekten zusammenhing, hatte die Redaktion dem Chefreporter überlassen. Er redigierte, er prüfte, das Thema war für ihn reserviert. "Gehen Sie Ihre Interviews noch einmal gründlich durch, das ganze hier nicht verwendete Material, und kommen Sie morgen in mein Büro, wir wollen dann prüfen, was unbedingt in diesem Bericht enthalten sein müßte und bisher noch fehlt", verfügte Berner schließlich lahm und schob damit die Entscheidung über den Beitrag vor sich her, er mochte sie heute nicht treffen, obwohl für ihn schon in der ersten halben Stunde festgestanden hatte, daß der Film nicht sendbar war. Der Reporter nickte stumm, die Cutterin packte müde und resigniert die Rollen zusammen, für sie hieß das: langwierige Sucharbeit in den Schnittresten. Im Hinausgehen dachte Berner: Schade, der klare Blick für das Eigentliche fehlt dem Mann. Wie kann er so am Vordergründigen hängenbleiben, wo der Kern dahinter das wirklich Interessante ist? Aber schon auf dem Weg vom Schneideraum zur Redaktion schüttelte er diese zwei unerquicklichen Stunden von sich ab, Kommissar Binewski erwartete seinen Anruf, und noch immer war er nicht dazu gekommen. Ich werde sofort hinfahren, überlegte sich Berner, dann werde ich ihn noch im Präsidium abfangen, und wir gehen zusammen essen, wir hätten dabei genügend Zeit, unsere nächsten Schritte gemeinsam zu planen. Mitten auf dem Flur wandte er sich um, ging direkt zum
Pförtner am Haupteingang des Studios und bestellte seinen Wagen. Minuten später hielt Körten vor der Tür, der Regen hatte nachgelassen, aber es war früher Abend geworden als sonst. "Nach Hause?" murmelte der Chauffeur wie als Selbstbestätigung und begriff nicht gleich, als Berner ihn zum Polizeipräsidium dirigierte. "Da gibt es jemanden, der um diese Zeit noch arbeitet?" wunderte er sich. "Die Polizei arbeitet Tag und Nacht", lachte Berner.
28 Fast wäre er aber doch zu spät gekommen, denn Kommissar Binewski stand schon im Mantel auf dem Flur. Die Einladung zum gemeinsamen Essen nahm er widerstrebend an, offensichtlich wartete eine besitzergreifende Hausfrau auf ihn. In dem schmalen, altmodischen Restaurant in der Innenstadt taute er dann auf. Hier in der stilgerecht nachgeahmten Umgebung der hochbürgerlichen Epoche, wo lächerlich befrackte Kellner duftenden Eintopf in weißen Terrinen servierten, lehnte sich der kleine Kommissar in die gestreiften Plüschpolster und entspannte sich. Er beneidete den Fernsehmann um die Möglichkeit, häufiger als er selbst derartige Abende zu erleben, aber Berner winkte ab, das täusche, meinte er, bei seiner Tätigkeit könne man seltener über die Abende verfügen, als wenn man einer geregelten Büroarbeit nachginge.
Binewski hatte das Gefühl, seinen Teil zu diesem Abend beitragen zu müssen, und steuerte das Thema an, das sie beide zusammengeführt hatte. "Als ich Sie am Nachmittag um Ihren Anruf bat, wußte ich nur ein Viertel der Story, aber ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre These zu überdenken. Diese These, das muß ich zugeben, hat auch mich fasziniert, sie hat mich aber auch erschreckt. Wissen Sie, politische Verwicklungen auf höchster Ebene machen es einem gewöhnlichen Kriminalkommissar ungeheuer schwer, einen scheinbar eindeutigen Bagatellfall zu den Akten zu legen." Bagatellfall, dachte Berner ernüchtert, natürlich, für die Polizei muß es so aussehen, die Anzeige des Arztes war Routine, dem Kind ist nichts Weltbewegendes zugestoßen. "Wie geht es dem verletzten Kind?" fragte er. "Paul Hartwig wurde am Abend bereits wieder nach Hause entlassen, er wird bis zur Abheilung ambulant behandelt." "Und der Finger ist abgetrennt, sagten Sie? Warum hat man das fehlende Glied nicht wieder angenäht?" "Der Finger war wie mit einem scharfen Küchenmesser weggeschnitten, den Rest hat man nicht gefunden, nach Auskunft des Kindes und der Mutter soll er in der Maschine verschwunden sein." "Ich weiß nicht, welchen militärischen Sinn ein Fleischwolf haben kann, in dem Körperteile verschwinden", sagte Berner grob, "bei der Vielzahl sublimer atomarer, chemischer und bakteriologischer Waffen erscheint das wie ein Rückgriff auf die Steinzeit."
"Da muß ich Ihnen zustimmen." Der Kommissar rührte langsam in der Suppe und hielt den Kopf gesenkt. "Das ist es, was ich Ihnen heute nachmittag sagen wollte. Ihre These paßte nicht zu dem, was ich über das Gerät erfahren konnte." "Sie haben es aber selbst noch nicht untersuchen können?" fragte Berner schnell. "Nein, wir haben es noch nicht zurückerhalten. Aber inzwischen habe ich den Täter." Binewski hob ruckartig den Kopf und blickte den Fernsehreporter voll an, er wußte, Berner würde überrascht sein, und er hatte sich nicht geirrt. "Den Täter?" wiederholte Berner. "Sie meinen den Mann, der die Waffe fahrlässig – oder wie ich glaube, absichtlich – in der Nähe des Kindes verloren hat?" "Sehen Sie", lächelte der Kommissar und fühlte sich plötzlich dem großen Fernsehstar überlegen, "Sie waren über die Maßnahme des Verteidigungsministeriums gestolpert, und das gab Ihnen zu denken. Das wundert mich nicht bei Ihrem Beruf. Aber ich muß von dem ausgehen, was mir gemeldet wird, und so mußte ich den Mann finden, gegen den die Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung gerichtet war. Ich muß zugeben, ich habe ihn nicht gefunden, er wurde mir gemeldet." Berner, der aufmerksam zuhörte, wartete geduldig, bis Binewski weitersprach. "Es wird Sie kaum überraschen, woher die Meldung kam. Vor einer Stunde rief mich der Direktor des Raumfahrtinstituts an und überstellte mir einen Fahrer aus seinem Haus, der einen Lastwagen des Instituts zugegebenermaßen zu einem Transport gestohlener Geräte benutzt hatte. Der Mann ist geständig."
Das Polizeideutsch überhörte Berner, hellwach war er bei der Nennung des Instituts geworden. "Der Mann hat also, wenn ich das richtig verstanden habe, elektronische Geräte, wie er meint, aus dem Institut gestohlen und mit einem Lastwagen abtransportiert, um sie dann zu verkaufen?" Berner war so in seine Überlegungen vertieft, daß er das Kopfschütteln Binewskis gar nicht bemerkte. "Die Geräte wurden also aus dem Institut entwendet, also sind sie dort hergestellt worden, und der Diebstahl brachte den geheimen Forschungsauftrag ans Tageslicht! Wieso zweifeln Sie noch an meiner These?" Der Kommissar legte den Löffel aus der Hand, fuhr sich mit der Serviette über den Mund, er brauchte Zeit, um sich die Antwort zu überlegen. "Da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, darf ich Ihnen heute abend nicht mehr erzählen", sagte er schließlich, "aber das Diebesgut stammt nicht aus dem Institut." Berner lachte trocken. "Das soll ich Ihnen glauben?" sagte er mit hochgezogenen Brauen. Er wollte dem Kommissar vorwerfen, er fürchte sich vor den politischen Konsequenzen und klammere sich deshalb an den schlichten Diebstahl, aber er mochte ihn nicht vor den Kopf stoßen. "Ich bin fast sicher, daß ich Ihnen morgen mehr sagen kann", meinte Binewski, "aber heute fragen Sie bitte nicht weiter! Bedenken Sie, daß Sie selbst an der Wirksamkeit der Waffe gezweifelt haben." Die Männer saßen noch eine kurze Zeit zusammen, jeder wußte, daß das Gespräch im Augenblick nicht fortzusetzen war. Beide meinten aber auch, den Zipfel
der Wahrheit in der Hand zu halten, und glaubten vom anderen, daß er sich täusche. Ein Fahrer des Instituts, dachte Berner, da wird also dieser pickelgesichtige Junge der Polizei vorgeworfen, und der Herr Kramlo wäscht sein heißgeliebtes Institut wieder rein! Ich habe Tests gesehen, hatte der Junge zu ihm gesagt. Was hatte Kramlo ihm bezahlt, damit er es als hundsgewöhnlichen Diebstahl ausgab? Ich kenne den Fernsehmann nicht gut genug, dachte Binewski, wie weit kann ich ihm trauen? Wenn ich ihm mehr erzähle, warnt er vielleicht seine hohen Freunde, die Wissenschaftler, und der wichtigste Teil geht mir durch die Finger! Der alte Berufsverbrecher, den mir das Institut geschickt hat, hat mir nicht alles erzählt, aber den Rest muß ich auch wissen. Als die beiden Männer aus dem Restaurant in die kalte Abendluft hinaustraten, hatte es zu regnen aufgehört, der Himmel war sehr hoch und sternenklar.
29 Fast zur selben Zeit, zu der sich Berner und der Kommissar in das mit Plüsch, Tafelporzellan und Fräcken dekorierte Lokal setzten, erfuhr Jörg Hadrich von seinem Kollegen, der ihn auf so seltsame Art zu sich bestellt hatte, die Wahrheit über die Maschine. Hadrich hatte Anger zugesagt, ihm zu helfen, wobei, sollte er jetzt hören, und wenn er nicht gestern nach dem herrlichen holländischen Frühstück das Experiment im Garten selbst miterlebt hätte, würde er kein Wort geglaubt haben.
"Ich brauche Sie heute nacht als Assistenten", sagte der Erfinder, "vielleicht haben Sie den Eindruck, ich lade Sie zu einer spiritistischen Sitzung ein, aber so merkwürdig es für Sie klingen mag, ich will um 22 Uhr 30 die Erde wieder verlassen." Die beiden Männer aus dem Raumfahrtinstitut hatten sich in Angers Wohnhaus getroffen. Der graue, teppichund gardinenlose Raum, in dem sie tags zuvor gefrühstückt hatten, wirkte noch leerer und unbewohnter als sonst. Alle elektronischen Geräte, alle Kabel, alle Maschinenteile waren verschwunden, die Experimentiertische standen da wie nie benutzt. Was hat der Mann eben gesagt? durchfuhr es Hadrich, ich denke, er braucht einen Assistenten, und nun verabschiedet er sich von mir? "Sie haben recht", nickte Anger, der ernst und fremd vor ihm stand, "ich brauche Sie als Assistenten, um mich verabschieden zu können." Wieder erschrak der junge Wissenschaftler, weil er das Gefühl hatte, Anger könnte seine Gedanken lesen. "Das Gerät, mit dem ich Ihnen den Löffel in den Garten teleportierte, war ein Probemodell. Das Original ist imstande, Menschen zu versenden, und es steht fertig im Keller des Institutsgebäudes." "Menschen versenden? Lebendig senden, und sie kommen heil an?" "Heil wie der Löffel", lächelte Anger, "Atom für Atom, jedes Teil an seinem Platz." "Woher wissen Sie das? Sie erfinden ein unglaubliches Transportmittel, und offensichtlich wollen Sie sich jetzt selbst der Gefahr aussetzen, es auszuprobieren! Sie stürzen ab wie Ikarus, glauben Sie mir, der Löffel ist kein hinreichender Beweis !"
"Der Löffel!" wiederholte Anger wegwerfend, "das wäre sicher kein Beweis für die Tauglichkeit des Geräts, und wie gering mein Wissen über einen so alltäglichen Gegenstand wie Sende- und Empfangsgeräte für Teleportation war, mußte ich schmerzlich feststellen, als ich die Maschine bauen wollte. Aber es gibt Millionen, Milliarden Menschen, die täglich und stündlich so reisen wie ich heute nacht." Nun verstand Hadrich überhaupt nichts mehr. Hatte er eben noch geglaubt, der ideenreiche Erfinder hätte eine verkehrstechnische Neuerung von unübersehbaren Ausmaßen entwickelt und wolle sie nun testen, so sprach er jetzt davon, als ob es das längst gäbe. "Das ist schwer für Sie zu begreifen", sagte Anger und gab sich offenbar Mühe, den gewaltigen Informationsvorsprung nicht zu kraß zutage treten zu lassen, "aber mir bleibt nicht viel Zeit, Sie schonend auf den ethnologischen Schock vorzubereiten, der Ihre Aufnahmefähigkeit jetzt blockiert. Aber so, wie ich Sie kenne, wird dieser Schock für Sie keine nachteiligen Folgen haben." Und bevor Hadrich einen Gedanken fassen konnte, fuhr er fort: "Ich bin kein Mensch von dieser Erde, ich stamme von einem fernen System, das hier das Sternbild Bootes genannt wird. Daß unsere Zivilisation, die ich mit Ihrem Ausdruck die arkturische nennen will, der hiesigen solaren Zivilisation überlegen ist, gesellschaftlich, geistig, technisch, ist Ihnen sicher klar. Sie haben längst bemerkt, daß ich mit Ihnen in direkten Gedankenaustausch treten kann, ohne daß ich zu Ihnen sprechen muß. Eine Zivilisation, die durch Nutzbarmachen natürlicher elektrischer Energie den Gedankenkontakt ebenso beherrscht wie die Teleportation, muß auch in ihren sozialen Beziehungen
sehr viel weiter entwickelt sein als eine Gesellschaft, die wie die Ihrige in einem fast unglaublichen Individualsystem den Menschen in Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Verfügung über Privateigentum und Herrschaft über Abhängige zwängt. Wenn ich einen adäquaten Ausdruck Ihrer Sprache benutzen darf, das ist Barbarei, was hier in der solaren Zivilisation herrscht. Aber ich will Sie nicht deprimieren, fast alle menschlichen Gesellschaften haben diese Stadien durchlaufen, und wir haben längst erkannt, daß es keine Form des Zusammenlebens gibt, die Bestand hat. Aber sowenig, wie Sie sich in meiner Zivilisation wohl fühlen würden, so wenig gern bin ich hier auf der Erde gewesen, was Sie sicher verstehen werden." "Ich hatte Ihnen schon beim Frühstück gesagt, daß Sie mir Science-fiction auftischen", begann Hadrich nach einer Pause, und seine unbeschwerte Art erlaubte es ihm, mit der niederschmetternden Eröffnung fertig zu werden, "es gibt also Menschen auf anderen Welten, und es gibt Zivilisationen, die der unsrigen einiges voraus haben. Ich nehme Ihnen das ab, weil Sie mir keine andere Wahl lassen. Die Märchen von Robert Heiniein und Ray Bradbury sind also wahr. Daß ich ein Sonntagskind bin wußte ich schon immer. Warum aber zum Teufel haben Sie gerade mich aufgesucht, daß ich dem einzigen Wesen aus einer anderen Welt beim Selbstmord helfen soll?" "Ich will wieder zurück, in meine Welt", sagte Anger geduldig, "ich bin vor vielen Jahren hier gestrandet. Durch einen fast nicht ausrechenbaren Zufall geriet ich in den Fernsehkontakt des amerikanischen Mondlandeunternehmens Apollo 12, mein Telestrahl wurde abgelenkt, und ich materialisierte mich hier auf
der Erde. Welche technischen Voraussetzungen zufällig vorhanden waren, um dieses Kunststück fertigzubringen, müssen mir die Wissenschaftler zu Hause erzählen, ich bin keiner, ich kann es mir bis heute nicht erklären. Das einzige, was mir von vornherein klar war, war der Zusammenhang zwischen meiner Landung hier und der technischen Möglichkeit, wieder fortzukommen. Wenn es hier einen Entwicklungsstand gibt, sagte ich mir, der es den solaren Menschen erlaubt, mich aus der Bahn zu reißen, dann muß dieser Entwicklungsstand auch ausreichen, mich zurückzusenden." "Aber es gibt hier keine Teleportationsmaschinen", sagte Hadrich überflüssigerweise. "Deshalb mußte ich sie mir selbst bauen", lächelte Anger, "und das fiel mir schwer, denn ich bin technisch nicht sonderlich begabt."
30 Der Vorstellung, Anger sei kein Mensch von dieser Erde, ein fremdes Wesen aus fremder Natur, konnte Hadrich keinen Realitätswert beimessen. Das erschien ihm viel zu absurd, seit Jahren hatte er mit diesem Kollegen zusammengearbeitet, Tage und Nächte hindurch am selben Projekt, im selben Raum, Anger gehörte zum Mitarbeiterstab, daß er zufällig irgendwo anders geboren war, konnte an den Gemeinsamkeiten nichts ändern. Aber Jörg Hadrich ist selbst zu sehr Wissenschaftler, als daß ihn nicht die Teleportationsmaschine faszinierte, diese revolutionierende Erfindung, die das Leben der Menschen von Grund auf umkrempeln wird. Das ist
Physik von übermorgen, die Erde wird neu gestaltet. Das, was seit Jahrtausenden die Kulturen verändert hat, der Verkehr zwischen den Staaten, wächst in neue Dimensionen. So wie vor Jahrtausenden im Gelben Meer, im Mittelmeer und im Golf von Mexiko Seereisen die Völker verbanden und dort Kulturen wachsen ließen, so wie die Eisenbahn im ig. Jahrhundert die Kleinstaaten beseitigte und das Flugzeug ein Jahrhundert später den Dialog zwischen den Kontinenten erzwang, so ist jetzt der Bund der Völker endgültig in greifbare Nähe gerückt. Die Ländergrenzen verschwinden, Gebirge und Meere trennen nicht mehr, Entfernungen wirken sich nicht mehr aus. Flughäfen veröden, Eisenbahnstränge rosten, aus Rissen in milliardenteuren Autobahnen wächst das Gras. Die Volkswirtschaften, denkt Hadrich, werden sich neu gliedern müssen, es gibt keine nationalen Schutzzölle, keine Rohstoffkrisen, keine Versorgungsengpässe mehr. In Sekundenschnelle können Güter aus den Überflußgebieten in die Hungerzonen, aus den Tiefen des Meeres auf die kahlen Höhen beschäftigungsloser Völker transportiert werden. Auf der anderen Seite werden Industrien zusammenbrechen, die heute das Rückgrat nationalen Wohlstandes bilden, wer wird noch ein Auto brauchen, wer mit dem Flugzeug, mit dem Schiff reisen? Öl ist nicht länger der Motor des Handels, Stahl nicht länger der Grundstoff des Verkehrs. Die gewaltigsten Industriemanager werden zu machtlosen Rentnern. In einem Strudel umwälzender Gedanken sieht Hadrich eine Landschaft ohne Nationalstaaten, ohne Gütermangel, ohne Abgase, ohne Verkehrslärm. Der Mann, erkennt er, der morgens in seinem Haus hoch
oben über dem klaren Fjord in Norwegen erwacht, kann das Frühstück auf einer Terrasse in Neapel einnehmen und in Gedankenschnelle mit seinem Geschäftspartner in Tokio Abschlüsse unterschreiben, es wird sogar möglich sein, nicht mehr an ein und demselben Platz zu wohnen, wenn zwischen dem Schlafzimmer und dem Eßraum als Tür eine Teleportationsmaschine steht. Doch mit der Mobilität, denkt Hadrich, vervielfachen sich auch die Gefahren, nicht nur Menschen und Güter, auch Viren wandern durch die Maschine, Krankheit, Haß, Verständnislosigkeit, Krieg. Denn je näher die Völker zusammenrücken, desto härter werden sie auch ihre Meinungsverschiedenheiten austragen. Eine Empfängerplatte genügt, um Armeen in anderen Gebieten auftauchen zu lassen, um Giftgas zu verströmen, um die große Bombe im Regierungszentrum des Nachbarn zu zünden. Wenn Zeit und Entfernung keine Rolle mehr spielen, dann hat das Gleichgewicht der Kräfte seinen Sinn verloren, und bis sich neue Mächte formieren, wird das Chaos hereinbrechen. Wenn also schon die Volkswirtschaften bis in ihre Fundamente erschüttert werden, die Nationalstaaten absterben, die Ordnung ungültig wird, dann braucht das Jahrhunderte, um nicht die Menschen an den Rand des Abgrunds zu drängen. Die neue, freiere, mobile Welt der Gleichberechtigten wird sich nicht mit dem Knopfdruck an Angers Maschine auftun, im Gegenteil, die Erschütterung wird auch das zerbrechen, worauf heute das Glück der Menschen ruht. Die Revolution wird total, der Zusammenbruch zerstörerisch, das Chaos unbeschreiblich. Jahrhunderte bösester Reaktion werden folgen, die Maschine dem Monopol der Polizeigewalt unterstellt. Die Güter in Überflußgebieten verdorren,
Forschung und Wissenschaft veröden, wer das Teleportationsgerät kontrolliert, wird die Welt beherrschen, ein Transportmonopol, hundertfach schlimmer als die Rohstoff- und Herstellungsmonopole der heutigen Zeit. Mit den Folgen dieser Erfindung werden wir nicht fertig, drängt es sich Hadrich auf, was waren der Benzinmotor, was der Intercontinental-Jet dagegen, und selbst das haben die Völker noch nicht verkraftet. Die schlichte, kupfern schillernde Scheibe auf dem schwarzen Sockel scheint das Ende der Zivilisation anzukündigen. "Richtig", sagt Anger, "Ihre Welt würde zusammenbrechen." Hadrich, jäh aus dem Zukunftstraum gerissen, fühlt Angers steuernde Gedanken in seinem eigenen Gehirn. Ich mußte dieses Spiel mit Ihnen treiben, hört er den älteren Kollegen denken, ich mußte Sie davon überzeugen, daß kein Wissenschaftler dieser Erde die Maschine heute herausgeben darf. Lange starrt Hadrich auf die leeren Experimentiertische, er muß sich aus der Faszination befreien, schließlich nickt er. "Die Maschine, die auf den ersten Blick so zukunftsträchtig scheint, sie würde das Ende aller Zukunft sein. Keine Zivilisation kann einen derartigen technologischen Sprung überleben", sagte Anger ruhig, er hatte sich behutsam aus Hadrichs Gedanken wieder zurückgezogen. "Ich war mir klar darüber, daß ich sie nicht hierlassen dürfte, und deshalb brauche ich Sie. Wenn ich abgereist bin, werden Sie den Sender vernichten."
Diese Aufforderung traf den jungen Wissenschaftler hart, er hatte zwar die Konsequenzen drastisch durchdacht, aber ein so kostbares Gerät zu zerstören widerstrebte ihm. Selbst wenn man es nicht nutzen würde, dachte er, welche Quelle physikalischer Erkenntnisse stellt es dar! "Ich weiß, daß es Ihnen gegen die Natur geht. Aber ich weiß auch, daß Sie es tun werden. Sie werden den Sender zerstören, und dann kann diese Zivilisation ihren natürlichen Entwicklungsverlauf nehmen." Die beiden Männer standen vor dem Haus, es regnete nicht mehr, unwillkürlich wanderte Hadrichs Blick zum Himmel, dort stand er, Arkturus, im Sternbild Bootes. Anger reichte ihm den Hausschlüssel. "Ich werde das nicht mehr brauchen", sagte er, "vielleicht verkaufen Sie für mich das Haus?" Der fantastische Gedanke an Angers Reise zum Arkturus war jäh geplatzt. Hadrich fühlte sich ernüchtert. "Es gehört mir doch gar nicht. Mit den Besitzverhältnissen hier auf der Erde scheint es etwas komplizierter zuzugehen als bei Ihnen." Anger lächelte. "Die seltsamen Eigentumsregeln sind mir inzwischen vertraut geworden. Ich habe ein Testament hinterlassen, denn mit meiner Abreise werde ich für euch gestorben sein. Das Haus gehört Ihnen." In was bin ich da hineingeraten, durchzuckte es Hadrich, ich helfe ihm also doch beim Selbstmord, ich bin der einzige Zeuge der Tat, ich erbe sein Haus, wer wird mir glauben? Mit gemischten Gefühlen stieg er zu Anger in den Wagen, und er fühlte seine Lage bestätigt, als ihm
auffiel, daß der Reisende kein Gepäck mitgenommen hatte.
31 Die gläserne, kastenförmige Taxe war elektrisch getrieben. In ein paar Jahren, dachte Berner, werden sie durch Autopiloten gesteuert, Taxifahrer ist ein aussterbender Beruf. Körten war mit dem Dienstwagen längst zu Hause, nach der Verabschiedung von Kommissar Binewski war Berner noch für eine Viertelstunde durch die hell erleuchteten Fußgängerzonen gewandert, die frische Luft nach dem langen Regen hatte ihm gutgetan. War das Instrument, das das Kind gefunden hatte, überhaupt eine Waffe? Vielleicht war es nur ein Teil davon, eine hochempfindliche elektronische Fernsteuerung, ein Gerät, das Laserstrahlen aussendet, die das Fingergewebe des Kindes zerstört hatten? Der struppige junge Mann mit dem Pickelgesicht fiel ihm wieder ein. Von Testversuchen hatte der gesprochen, Experimenten also, die man in den Labors des Instituts veranstaltet hatte. Möglicherweise hatte ihm Binewski so etwas andeuten wollen, durfte aber über den wahren Charakter dieser geheimen Entwicklung noch nichts sagen? Berner starrte in die still vorbeigleitenden Straßen hinaus. Es war seit einigen Jahren leiser geworden in den Städten, die ausgedehnten Fußgängerbereiche, die elektrischen Taxen und Busse, die turbinenartig summenden Autos, das alles hatte den Stadtkernen den angenehmen, anziehenden Charakter riesiger Terrassen gegeben. Die
jahrzehntelange Propaganda für bessere Umweltbedingungen begann Früchte zu tragen, die Flüsse stanken nicht mehr nach Chemikalien und toten Fischen, die Industrievororte hatten hie und da schon ihre stickig-gelben Gaskegel verloren. Es war ein mühsames Geschäft, dachte der Reporter und überschlug die letzten zwanzig Jahre seiner journalistischen Arbeit, aber man konnte den Eindruck gewinnen, es würde zum Erfolg führen, wenn man lange und intensiv genug die Massenmedien, besonders das Fernsehen als Mahner für bessere Lebensbedingungen verwendete. Konnte man mit diesem Instrument wirklich politische Erfolge erzielen? Berner liebte diesen Zweifel nicht. War er nicht gerade jetzt wieder dabei, den mächtigen Wissenschaftlern und Politikern auf die Finger zu klopfen, ihre Geheimniskrämerei hervorzuzerren und den Leuten zu sagen, hier, seht, das geschieht mit euren Steuergeldern? "Setzen Sie mich bitte beim Fernsehstudio ab", sagte Berner zu dem Taxifahrer in einer plötzlichen Eingebung, "das ist in der übernächsten Straße gleich rechts." "Weiß Bescheid, Herr Berner", nickte der Chauffeur, der seinen Fahrgast beim Einsteigen sofort erkannt hatte, "immer viel zu tun, was?" Er schlug einen vertrauten Ton an, um anzudeuten, wie oft der berühmte Hans Joachim Berner schon in seinem Wohnzimmer erschienen war. Für den Reporter war das etwas Alltägliches. Er mochte das Anbiedern nicht, aber er genoß die Anerkennung, die er herauszuhören glaubte. Wenn der pickelgesichtige Junge mit seinem Institutslastwagen die später gefundene und sichergestellte Waffe absichtlich verloren hatte, wenn
ihn also Auftraggeber bestochen hatten, warum war er dann zu mir gekommen? hing Berner seinen Gedanken weiter nach. Es war zwar nicht auszuschließen, aber beweisbar aus dem, was er bisher erfahren konnte, war es keinesfalls. Die Wahrscheinlichkeit sprach für den Zufall, wenn auch die Schnelligkeit, mit der Kramlo den Fahrer der polizeilichen Ermittlung opferte, für Berner unerwartet gekommen war. "Da sind wir", riß ihn der Taxifahrer aus seinen Überlegungen und fügte hinzu: "Donnerwetter, bei Ihnen ist ja noch alles hell erleuchtet!" Berner zahlte den Fahrpreis. "Das Studio ist immer bis zum Sendeschluß besetzt", sagte er lakonisch. Überrascht war er aber doch, als er in seine Büroräume kam und die Sekretärin noch vorfand. "Was tun Sie noch hier?" entfuhr es ihm. "Gott sei Dank, da sind Sie ja", sagte die hagere Frau und setzte ihre Brille ab, "den ganzen Abend versuche ich, Sie zu erreichen. Vor drei Stunden kam ein Telex von der Lufthansa. Frau Sonnenberg hatte einen wichtigen Termin für Sie. Nun wird es ja doch noch klappen", dachte sie laut mit einem Blick auf die Uhr. "Folgende Mitteilung von Anger, Raumfahrtinstitut, erreichte mich heute: ›Ich hatte Ihnen eine exklusive Berichterstattung versprochen. Heute abend, 22 Uhr 30, löse ich das Versprechen ein. "Kommen Sie ins Institut. Ihr Anger.‹ Entschuldigung für verspätete Weitergabe" Lilli." "Soll ich Herrn Körten herbestellen, oder nehmen Sie ein Taxi?" fragte die Sekretärin. "Nun verstehe ich gar nichts mehr." Berner runzelte die Stirn. "Kann mir vielleicht jemand erklären, warum
Anger an Lilli, die in Amerika ist, einen Termin durchgibt, der an mich gerichtet ist?" "Ich nehme an, Herr Anger hat Frau Sonnenberg vor ihrer Abreise getroffen, ihr den Termin genannt, und sie ist nicht mehr dazu gekommen, Sie anzurufen", brachte die Sekretärin das Geschehen in einen logischen Zusammenhang. "Das ist glasklar gedacht", erwiderte der Chefreporter trocken, "nur haben Sie übersehen, die beiden kennen sich überhaupt nicht."
32 Der junge Mann, der an diesem Abend gegenüber der Gastwirtschaft "Bei Marie" stand und auf die buntbemalte Fassade starrte, war hungrig. Unschlüssig war er seit drei Stunden durch den Regen geschlendert, hatte sich in den Kaufhäusern aufgewärmt, traute sich aber weder nach Hause noch in die Kneipe. Als er am Nachmittag mutig und fest entschlossen, dem Karl zu zeigen, daß er allein fertig wurde, das Vorzimmer beim Fahrbereitschaftsleiter betreten hatte, erfuhr er durch den offenen Türspalt des Chefzimmers, daß sein Kumpel verhaftet worden war. Ohne noch nach seinem Gepäck zu fragen, das Karl hier abgeben wollte, war er wieder hinausgestürzt, der Schrecken polterte durch seine Glieder. Er versäumte seinen Dienstantritt in der Furcht, ebenfalls herzitiert und der Polizei übergeben zu werden, er ging nicht in die gemeinsame Wohnung zurück, weil die Adresse ja im Institut bekannt war, er hatte nur noch den Wunsch, unter dem Laken der Nacht zu verschwinden.
Was soll jetzt werden? dachte er, mit dem Job ist es aus, entweder sie fassen mich, wenn ich zum Dienst komme, oder sie deuten mein Fortbleiben als Schuldgeständnis, so oder so, diese Arbeit ernährt mich nicht mehr. Die alten Kumpel von früher aufsuchen, das mochte angehen, sie würden ihn verstecken und vor der Polizei warnen. Aber er wollte dort nicht mit leeren Händen auftauchen, sie würden ihn nicht für voll nehmen. Das elektronische Gerät war schuld, dachte er, dieses merkwürdige Schlachtermesser des Katzenmörders, das ich da drüben in der Schreinergasse verloren habe, das hat den ganzen Wirbel verursacht. Bert stopfte die Hände trotzig in die Manteltaschen, ging entschlossen auf die nächste Bushaltestelle zu und stieg in den herangleitenden Glaszug. Es waren nicht viele Fahrgäste um diese Zeit in dem langen, halbdunklen Fahrzeug, aber der Junge blieb am hinteren Ende und versank ebenso rasch, wie er eingestiegen war, in dem dunkelroten Kunstlederpolster des letzten Fahrgastsessels. Er brauchte fast eine ganze Stunde bis zur Endstation, die ganze Zeit über klingelten die Regentropfen monoton auf dem gläsernen Busdach. Auch gut, dachte Bert, je stärker der Regen, desto weniger Leute auf der Straße. Als er aber schließlich ausstieg, hatte der Regen aufgehört, ein kalter Wind blies die schwarzen Wolkenbänke hinter den Horizont, Bert schlug den Kragen seines Mantels hoch. Es waren noch zwanzig Minuten zu laufen, hier in dem einsam gelegenen Vorort kam ihm die Stadt viele hundert Kilometer entfernt vor. In den großen Pfützen auf dem Fußweg und der schlecht asphaltierten Straße
spiegelten sich die Wohnzimmerlampen der Häuser: zwischendurch, wenn ein unbebautes Stück kam, sahen die Wasserflächen wie schwarze Löcher aus. Passanten begegneten ihm nicht, einmal summte ein großes Auto behäbig über die nasse Fahrbahn. Endlich steht er vor dem grauen, ungepflegten Haus, wie zufällig spaziert er heran, sorgfältig die dunklen Fenster und die Vordertür im Auge behaltend. Nach einer vorsichtigen Runde durch den unkrautverwucherten Garten ist es klar, der Erfinder ist nicht zu Hause, diesmal will Bert klüger handeln. An dem seitlichen Kellerfenster macht er halt, hebt den Rost aus der Verankerung, wie er es bei Karl gesehen hat, tatsächlich, auch die Scheibe ist noch nicht wieder ersetzt. Durch das Loch, das Karl sauber in das Glas geschnitten hat, greift der Junge nach dem inneren Riegel, öffnet das Fenster, mit einem kurzen, sichernden Blick auf die stumme Umgebung läßt er sich durch die Betoneinfassung bis in den Kellerflur gleiten. Seine Hoffnung, ohne Werkzeug hineinzugelangen, hat sich erfüllt, aber was er vorher nicht bedacht hat, er kommt kaum ohne die Taschenlampe aus, und die hat er auch nicht bei sich. Schrittweise tastet er sich den Flur entlang, kommt an der Stelle vorbei, an der die Treppe zur Wohnung hinaufführt, jetzt können es nur drei, vier Schritte bis zu dem großen, gräßlichen Experimentierraum sein. Berts Hand fährt um die Ecke und faßt den Lichtschalter, ach was, denkt er, Karl mit seiner gepriesenen Vorsicht, von hier kann überhaupt kein Licht nach draußen fallen. Aber in dem Augenblick, wo er einschaltet, schließt er jäh die Augen, die Erinnerung an vorgestern nacht ist
übermächtig, die blutige Szene steht so deutlich vor ihm, daß er sich nicht umzublicken wagt. Wütend über sich selbst, wie ein Dummkopf mitten im Keller eines fremden Hauses mit geschlossenen Augen dazustehen, reißt er sich schließlich zusammen. Doch das Bild, das ihn anspringt, ist ebenso unerwartet wie zwei Tage zuvor. Der große Kellerraum ist leer, als ob niemals etwas darin gestanden hätte, die staubigen Regale erstrecken sich kahl über die Wände, wo vorgestern abend noch kostbare elektronische Geräte, Quarze und Transistoren, Edelmetalle, seltene Chemikalien aufgereiht standen, abgeräumt ist es wie von Geisterhand. Der große Tisch in der Mitte ist verschwunden, die Tierkadaver, die elektrischen Kabel, das Blut, nichts mehr davon vorhanden als die nackte, kalte Birne, die weiß strahlend von der Decke hängt. Bert fühlt sich unwohl. Irgendein böses Spiel wird hier mit ihm getrieben, aber er kämpft die Angst nieder, er will nicht noch einmal kopflos und wie ein Idiot davonstürzen. Wütend schaltet er das Licht wieder aus, wartet einen Augenblick, bis sich die Augen an das Dunkel gewöhnt haben, tastet sich bis zur Treppe zurück. Wenn der Hexenmeister seine Schandtaten weggeräumt hat, denkt er, wird er die teuren Apparaturen vielleicht oben aufbewahren, diesmal sollen sie ihm nicht durch die Lappen gehen. Vorsichtig setzt er den Fuß auf die unterste Stufe, Schritt für Schritt tastet er sich weiter, jetzt packt er den Griff der Tür, die vom Keller in den Hausflur führt. Langsam öffnen, ermahnt sich Bert, geübt, unliebsame Geräusche zu vermeiden. Dann ist die Tür offen, unschlüssig steht der Junge auf der obersten Stufe. In dem dunklen Hausflur sagt eine Stimme:
"Bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch. Versuchen Sie nicht zu fliehen."
33 Innerhalb einer Viertelstunde trommelte Berner ein Kamerateam zusammen, einen Techniker, der das tragbare Bandaufzeichnungsgerät bedient, auf dem Bild und Ton festgehalten werden, einen Fahrer, der als Beleuchter, Kabelträger und Kameraassistent während der Aufnahmen arbeitet, und einen Kameramann, der mit der schnellen elektronischen Kamera einwandfrei umzugehen versteht. Der Fahrer, der in Bereitschaft saß und gerade ein paar Runden Skat hinter sich hatte, belud den Wagen, während der Kameramann und der Bild- und Tontechniker aus dem häuslichen Abend gerissen wurden.' "Ich kann Ihnen noch nicht sagen, was wir aufnehmen werden", sagte der Reporter zu den drei Männern, die nicht gerade begeistert über den späten Einsatz waren, "ich habe eben erfahren, daß im Raumfahrtinstitut heute nacht etwas geschieht. Sie müssen dort die Augen offenhalten, vielleicht müssen Sie aufnehmen, wenn ich nicht dabeisein kann." Der Kameramann, gewohnt, aktuelle Ereignisse selbständig zu filmen, nickte nur. "Kann es lange dauern?" fragte der Techniker. "Das läßt sich nicht abschätzen", schnitt Berner die Diskussion ab, "wenn Sie heute nacht noch Verpflichtungen haben, sagen Sie sie lieber ab." Die vier stiegen in den Wagen, das Aufnahmegerät hinter sich im Laderaum, und rollten zum Institut, dessen
hohe Teleskopkuppel schon über viele Straßenzüge hinweg zu sehen ist. Auf der Fahrt zog Jochen Berner das Telex-Schreiben von Lilli aus der Tasche, überflog es noch einmal, rollte es nachdenklich zwischen den Fingern. Unerklärliche Sorge um das Mädchen wurde in ihm wach, auf welch seltsame Weise wurde sie in ein Spiel gezogen, in dem es für ihn noch so viele Unbekannte gab? Wenn wir jetzt im Institut eintreffen, und es findet dort gar nichts statt? Es ist vielleicht nicht einmal ein Kramlo, ein Anger oder sonst ein wichtiger Mitarbeiter dort; ich kann das Team wieder nach Hause schicken, dann wird sich dieses merkwürdige Schreiben als Scherz herausstellen. Wenn aber nicht – Berner sah auf seine Armbanduhr, es war wenige Minuten vor zehn Uhr –, dann war dies ein weiterer Stein in einem Puzzle, das für ihn immer verworrener, immer lückenhafter wurde. Wollte Anger ihn benutzen, um endlich mit einem gelungenen Schlag den alten Kramlo aus dem Sessel zu heben? Warum zog er dann Lilli hinein, der er noch nie begegnet war? Berner faltete das Telex zusammen und wieder auseinander, starrte auf die maschinengetippte Unterschrift "Lilli", kennen sich die beiden vielleicht doch, und er wüßte nichts davon? So etwas wie Eifersucht breitete sich in ihm aus, und plötzlich mußte er über sich selbst lächeln. Bist du in die Jahre gekommen, alter Junge, sagte er zu sich, daß du die feste Bindung an das Mädchen nötig hast? In diesem Augenblick hielten sie vor der breiten Treppe, die zum Hauptportal des Institutsgebäudes führte. Die unteren, vermieteten Stockwerke waren dunkel, aber oben, auf Kramlos Fluren, sah es aus wie in
den letzten Tagen und Wochen des Mondflugs. Berner wies das Team an, die Aufnahmegeräte in den siebten Stock zu bringen und dort auf ihn zu warten, dann ging er mit schnellen Schritten in das Haus, stieg in einen bereitstehenden Fahrstuhl und fand sich wenig später auf dem Flur wieder, an dem die großen Laborräume lagen. Neugierig, wie es sein Beruf mit sich brachte, öffnete er die nächste Tür und blickte in einen menschenleeren Versuchsraum, in dem Strahlungsgeräte an Computer angeschlossen waren. Die Anlage war ausgeschaltet, offenbar wurde hier zur Zeit nicht gearbeitet, und obwohl Berner brennend daran interessiert war, über die Arbeitsweise dieser Lichtstrahler etwas zu erfahren, machte er die Tür wieder zu. Im nächsten Raum standen drei weißbekittelte Männer und eine Frau vor einem Rechner, sie durchforsteten meterlange Papierschlangen, einer von ihnen, der Große in der Mitte, entsann sich Berner, hieß Zimmermann. "Welch hoher Besuch am späten Abend", wunderte sich der, "hat der Chef Sie geschickt, damit wir Ihnen unser Untersuchungsergebnis bekanntgeben können?" Berner trat in den Raum, reichte jedem die Hand und meinte dann vorsichtig: "Sie haben wieder ganze Arbeit geleistet, Herr Zimmermann, wie ich Sie kenne?" "Es waren zwei harte Tage, das können wir ehrlich zugeben", erwiderte Zimmermann ohne zu zögern, "aber wir können jetzt eindeutig nachweisen, daß die Störung vorgestern von einem kosmischen Phänomen verursacht wurde, das auch schon bei früheren Raumflügen registriert werden konnte." Die Wissenschaftlerin hielt Berner ein Computerblatt unter die Augen und sagte aufgeregt: "Wir haben da offenbar einen punktuell auftretenden-Energiestoß
aufgespürt, der zwar schon einmal von den Kollegen in Houston registriert werden konnte, aber bisher nicht analysiert wurde." "Wir wissen noch zu wenig über das Phänomen", dämpfte der dritte die Begeisterung seiner Kollegin, "aber soviel ist eindeutig zu sagen, es handelt sich um eine kosmische Erscheinung, die häufiger in ganz bestimmten Hochfrequenzbereichen auftritt. Ob sie mit den Quasaren in Zusammenhang zu bringen ist, die ja schon mehrfach unserer Rundfunk- und Fernsehtechnik zu schaffen gemacht haben, müßten weitere Forschungen erbringen." Berner lächelte über die Mitteilsamkeit der vier Wissenschaftler, die viele Stunden in die Klärung einer Sache gesteckt hatten, die er längst wieder vergessen hatte. Höflich sagte er: "Wir sollten Ihre Entdeckung im Wissenschaftsmagazin vorstellen", machte ein paar Bemerkungen über die Möglichkeit, den Energiestoß grafisch darzustellen, meinte dann, er müsse noch einmal mit Doktor Kramlo sprechen, und war wieder auf dem Flur. Die große Uhr am Ende des Gangs zeigte 22 Uhr 15. Der Chef ist also auch noch im Haus, dachte Berner und ging auf den Fahrstuhl zu, und er hat sich von den vier Leuten hier oben sorgfältig ausrechnen lassen, daß nicht sein hervorragendes Institut, sondern ein ferner dunkler Quasar an der Störung schuld gewesen war. Wollte er damit die Waffenaffäre zudecken? Auf dem nächsten Flur, wo sich das Kamerateam mit seinen Gerätschaften auf Besuchersesseln niedergelassen hatte, prallte der Reporter mit dem Institutsdirektor zusammen.
"Sie sind gleich mit Ihren Leuten angerückt, Herr Berner?" sagte Kramlo gedehnt und maß sein Gegenüber mit abschätzendem Blick. "Wenn Sie mich schon so umständlich einladen", erwiderte Berner aufs Geratewohl, "dann muß Ihre Mitteilung ja wohl so bedeutsam sein, daß ich sie der Öffentlichkeit nicht vorenthalten will." "Ich wüßte nicht, daß ich Sie eingeladen hätte", sagte der Mann in dem schlichten, samtenen Anzug feindlich, "es ist offenbar Ihre Art, ungebeten zu erscheinen." "Sie sind wohl über die Vorgänge in Ihrem eigenen Hause nicht voll unterrichtet", konterte Berner, "ich bin von einem Ihrer engsten Mitarbeiter für 22 Uhr 30 hierherbestellt, falls Sie es nicht wissen sollten." "Und wer wäre das?" "Nun sagen Sie nur, Sie wüßten nicht, daß Herr Anger das Fernsehen einlädt! Wollten Sie vielleicht Ihre Aussage über die Energieklumpen, die durchs All fliegen, präzisieren?" Kramlo stand unschlüssig vor dem Starreporter, er bemerkte kaum, daß die drei Männer des Teams aufgestanden waren, ihre Geräte bereit machten und einen Handscheinwerfer einschalteten. "Ich hatte Ihnen Sendezeit zugesagt", meinte Berner, weil Kramlo nicht antwortete, und ließ sich das Mikrofon geben, "wie also soll Ihre Erklärung aussehen?" "Ich will keine Erklärung abgeben, zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht", wehrte der Wissenschaftler Kamera und Mikrofon ab. "Auch nicht zu den Vorwürfen geheimer Herstellung von Waffen?" setzte Berner nach und sah, daß der Kameramann den Institutsdirektor voll im Okular hatte.
Kramlos Gesichtsausdruck änderte sich abrupt. Er blickte lächelnd in die Kamera, dann zu Berner, und sagte mit fester Stimme in das Mikrofon: "Diese Vorwürfe sind völlig aus der Luft gegriffen und entbehren jeder Grundlage. Zu der lächerlichen Spekulation auf Waffen, die von der Tagespresse angestellt wurde, kann ich Ihnen mitteilen, die Polizei hat heute einen Einbrecher gefaßt, der bereits gestanden hat, das Gerät aus einer Privatwohnung gestohlen zu haben." Berner wollte Kramlo den Pluspunkt nicht gönnen. Sofort versuchte er nachzuhaken: "Das Gerät, das als Waffe bezeichnet wurde und mit dem ein Kind verletzt worden ist?" "Angeblich eine Waffe aus unserem Forschungslaboratorium", sagte Kramlo mit Genugtuung, "aber das Gerät stammt aus einem Einbruch in ein Privathaus." "Das ist die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze", sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. Berner und Kramlo fuhren herum, der Kameramann schaltete sein Aufnahmegerät aus und wandte ebenfalls den Kopf. In der offenen Tür des Fahrstuhls stand Kommissar Binewski, unbemerkt hatte er die letzte Szene verfolgt. "Vielleicht sagen Sie dem Deutschen Fernsehen", wandte er sich an den Institutsdirektor, "daß dieses Privathaus Ihrem leitenden Mitarbeiter Anger gehört?" "Sieh an", grinste Berner befriedigt, "die Polizei leistet ganze Arbeit! Auch der Herr Kommissar wußte also inzwischen, daß der tüchtige Chef des Raumfahrtinstituts hier oder sogar in besser getarnten Räumen illegale Forschungsarbeit betreiben läßt."
"Verdrehen Sie doch nicht alles!" schrie ihn Kramlo an, "begreifen Sie denn nicht, daß das Institut auf dem Spiel steht? Wenn Anger privat oder in fremdem Auftrag experimentiert hat, so kann ich doch dafür nicht die Verantwortung übernehmen!" "Wußten Sie es denn?" fragte Binewski und schaute dem zornigen Mann ruhig ins Gesicht. "Natürlich wußte ich es nicht, ich hätte es nie geduldet, meine Mitarbeiter sind verpflichtet, ihre ganze Arbeitskraft in den Dienst des Instituts zu stellen, private Nebenarbeiten bedürfen der schriftlichen Genehmigung." Das steife, förmliche Zitat aus den Anstellungsverträgen ließ den Kommissar lächeln. Natürlich hab ich es geahnt, dachte Kramlo grimmig, Anger, der immer häufiger gefehlt hatte, Anger war also der Mann, der sich mit einem Forschungsergebnis für den Direktorensessel qualifizieren wollte. Anger hatte das Fernsehen herbestellt, vielleicht hatte er auch schon Steigerwald informiert. Die grellgelbe Krawatte machte Kramlos blasses Gesicht noch bleicher, mühsam unterdrückte er den Wunsch, das Fernsehen und die Polizei gleichzeitig hinauszuwerfen. Warum war der Kommissar noch einmal hergekommen, er hatte ihm doch alles am Telefon erzählt! Steckte Anger auch hinter diesem Coup, dann war der öffentliche Skandal bestens vorbereitet. Die Blutleere im Gehirn ließ ihn taumeln, schwankend griff er nach vorn und sagte leise: "Meine Herren, wollen wir uns nicht in mein Büro setzen?" Der Kameramann und der Aufnahmetechniker reagierten schlagartig, beide schalteten ihre Geräte wieder ein und blickten fragend auf Berner.
Aber der Reporter schüttelte den Kopf, im entscheidenden Augenblick, da er den verachteten, hochfahrenden Wissenschaftler in der Faust hielt, hatte er Mitleid mit ihm. Der ehrgeizige Institutsdirektor, der sich jetzt einen Tag nach dem größten Erfolg seiner Laufbahn, dem reibungslos abgelaufenen Mondlandeprojekt, am Ende seiner Karriere und mitschuldig an einer Reduzierung der Institutsarbeit glaubte, der sechsundfünfzigjährige Dr. Gerd Kramlo schien ihm plötzlich nicht mehr das Ziel seiner Attacken zu sein. Verwirrt griff er nach der ausgestreckten Hand des Wissenschaftlers, stützte ihn unter den Achseln, murmelte: "Mein Gott, Kramlo, Sie sind ja ganz bleich, setzen Sie sich doch erst einmal", und führte ihn zu einem der Besuchersessel. Binewski blickte betreten auf seine Schuhspitzen, ihm war nicht wohl in seiner Rolle, aber nach dem Anruf, den er vor einer Viertelstunde aus dem Villenvorort von der zuständigen Polizeidienststelle erhalten hatte, war Anger eindeutig in die Sache verwickelt, und da er nicht zu Hause war, mußte er hier sein. Ich werde ihn mitnehmen und ausfragen, und dann kann ich morgen diesen kleinen und doch ungewöhnlichen Fall abschließen, dachte der Kommissar, dies alles sind Leute, mit denen ich nicht gern umgehe. Der Kameramann zuckte die Schultern und gab den beiden Kollegen zu verstehen, zunächst sei wohl nicht mehr mit Arbeit zu rechnen. Der Fahrer, noch immer den Handscheinwerfer hochhaltend, griff nach dem Schalter. Aber nicht nur das Licht des Scheinwerfers erlosch in diesem Augenblick, es war, als sei die Hauptsicherung des ganzen Gebäudekomplexes durchgebrannt. Mit
einem jähen, blauzuckenden Aufflackern ging die gesamte Beleuchtung aus.
34 Eine Viertelstunde vor diesem Ereignis stellte Anger seinen Wagen auf dem Institutshof ab, gleich neben dem weißen Fahrzeug Kramlos. Hadrich, der während der Fahrt ununterbrochen Fragen gestellt hatte, stieg mit noch größeren Zweifeln aus, als er eingestiegen war. Hatte ihm Anger vielleicht die kindliche Geschichte seiner arkturischen Herkunft nur deshalb vorgesetzt, damit er jede Diskussion über die Gefährlichkeit des Selbstversuchs mit der neuen Erfindung abwehren konnte? Merkwürdigerweise, dachte Hadrich und starrte den grauhaarigen Mann mit der jungen Haut und den alten Augen unentwegt an, merkwürdigerweise nehme ich ihm diese völlig unsinnige Erklärung ab, ich bin nicht einmal sonderlich erstaunt darüber, daß hier ein Wesen aus einer Milliarden und Milliarden Kilometer fernen Zivilisation aufgetaucht ist, meine Sprache spricht, die gleiche Arbeit tut wie ich, ißt und trinkt wie ich und Heimweh hat, wie ich es haben würde. Eine seiner Fähigkeiten, in der er sich von uns unterscheidet, habe ich gespürt, daran ist nicht zu rütteln, er kann meine Gedanken lesen. Einige seiner anderen Fähigkeiten, in wenigen Tagen die Gebräuche, die Sprache, das Wirtschaftssystem einer fremden Welt zu erlernen und sich unauffällig darin zurechtzufinden, muß ich ihm glauben, denn wenn er wirklich aus dem Bereich des Arkturus stammt, hat er diese Aufgaben in hervorragender Weise bewältigt. Daß
er aber als Energiebündel, aufgelöst in Strahlungspartikel, durch die Leere des Weltalls reisen will, erscheint mir viel zu unglaublich, als daß es wahr sein könnte. Anger unterbrach ihn und sagte: "Ich hatte dem Fernsehen einen Wink gegeben, daß es bei meinem Abflug dabeisein darf, ich war das dem Reporter schuldig, der durch so viele Jahre hindurch über meine kleinen Erfindungen berichtet hatte. Hier auf dem Hof sehe ich den Übertragungswagen nicht, würden Sie bitte zum Haupteingang gehen und den Reporter mit seinen Leuten in den Keller bitten?" Der seltsame Schritt in die Öffentlichkeit verwirrte Hadrich noch mehr. Er nickte nur und ging durch den Seiteneingang ins Treppenhaus, blickte sich noch einmal verstohlen nach Anger um, der in diesem Augenblick direkt vom Hof aus den Kellerflur betrat, dann nahm er den Fahrstuhl zur Eingangshalle, wo er das Kamerateam vermutete. Zu seiner großen Überraschung sah er aber anstelle der Fernsehleute mehrere Polizisten, die das Portal und das Treppenhaus überwachten. Der unerwartete Anblick der Uniformierten ließ ihn sogleich wieder auf den Abwärtsknopf drücken, und bevor ihn jemand hindern konnte, war er bereits wieder im Keller. Anger, der wartend in dem weißgetünchten Flur vor einer Stahltür stand, starrte ihn verblüfft an, als er im Eilschritt auf ihn zukam. "Polizei!" sagte Hadrich atemlos, "in der Halle ist Polizei!" Anger öffnete schnell die Stahltür, zog seinen Assistenten in den kleinen Kellerraum und schloß die Tür von innen wieder ab, wobei er den Schlüssel stecken ließ.
"Es könnte sein, daß man mich an meiner Abreise hindern will", sagte er nachdenklich, "vielleicht ist mein Projekt entdeckt worden, vielleicht verbietet man mir, hier die elektrische Energie anzuzapfen. Wir müssen also schnell handeln." Hadrich starrte ehrfürchtig auf die Teleportationsmaschine, die gewaltig in der Mitte des Kellerraums stand. Der etwa sechzig Zentimeter hohe Sockel beherbergte eine Reihe von Meßinstrumenten, Skalen mit unbekannten Symbolen, Kontrollichtern und Schaltern. Unterhalb eines mächtigen schwarzen Hebels befand sich ein leuchtendweißer Knopf. Über dem Sockel erhob sich die fast zwei Meter hohe Platte, deren Oberfläche einem feinen Kupfergewebe ähnelte. Welche Metalle und welche Chemikalien Anger für dieses ungeheuer feine Netz verwendet hatte, war unmöglich zu erraten. Schließlich wanderte Hadrichs Blick auf das dicke Kabel, das die Maschine mit der roten Stromzufuhr des Kellerraums verband. "Ich hatte diesen Raum ausfindig gemacht, als ich in meinen freien Stunden experimentieren wollte, ohne erst in das Haus dort draußen zu fahren", sagte Anger erklärend, "der Hausmeister hatte mir einmal versichert, dieser Raum würde erst in ein paar Jahren als Archiv gebraucht werden. Seit vorgestern aber wußte ich, daß ich meinen Sender hier aufbauen mußte, denn für die elektrische Energie, die ich für die Reise benötigte, reicht das Vorortnetz nicht aus. Nur hier kann ich hoffen, so viel Energie zu bündeln, daß ich damit rechnen kann, auch anzukommen." Jetzt unterstrich Anger selbst die Gefährlichkeit seines Unternehmens, dachte Hadrich. Bis vor kurzem hatte er
so getan, als ob es sich um einen Spaziergang im Park handeln würde. "Warum wissen Sie es erst seit vorgestern? Waren Ihre vielen Experimente mit den Modellen nutzlos geblieben?" Der andere schüttelte den Kopf. "Ich sagte Ihnen schon, ich bin kein Ingenieur. Mein Wissen ist nicht mehr als – wie Sie es nennen würden – Schulwissen. Wie ein Sender gebaut wird, weiß bei uns jeder. Aber welche detailliert genaue Energiemenge notwendig ist, um die Entfernung zwischen der Erde und meiner Heimat zu überbrücken, weiß nur der Streckentechniker, der die Routen in diesem Reisebereich kontrolliert." Da Anger eine Pause machte und nachdenklich auf die Teleportationsmaschine blickte, fragte Hadrich gespannt: "Und was hat Ihnen vorgestern diese Daten verraten?" "Erinnern Sie sich an die Störung im Bildkontakt zu Europa I? Das war der Zufall, der mir zu Hilfe kam. Ich hatte gehofft, daß während unserer ständigen Messungen ein Transport aus dem arkturischen System hier auf derselben Strecke wie ich an der Erde vorbeiziehen würde. Ich hatte Glück. Die Meßdaten der Störung sagten mir, was ich wissen wollte."
35 Dies ist der Augenblick, den der Reisende viele Erdenjahre hindurch vorbereitet hatte. Da steht sein selbstgebauter Sender, in einem versteckten Raum auf diesem seltsamen, barbarischen Planeten, ein heimischer Anblick in einer fremden Umwelt.
Meine Rechnung ist aufgegangen, sinnt er, wo die Elektronik fähig ist, unseren Flug zu hemmen, da kann sie auch zu neuem Start nutzbar gemacht werden. Mein Abenteuer wird mir viele neue Freunde eintragen, Historiker, Ethnologen, Soziologen, wer ist schon jemals in der Vorzeit gestrandet und wieder zurückgekehrt? Ich werde den Kritikern ins Gesicht lachen, den Philosophen neue Bereiche erschließen, vielleicht werden andere meinem Beispiel folgen. Er fühlt den Stolz, der in diesem Augenblick stärker ist als die Sorge über die bevorstehende Reise. In den letzten Minuten auf dem dritten Planeten des solaren Systems zieht das Kaleidoskop dieses Abenteuers durch seine Erinnerung, die bestürzende Landung in einer bewohnten Welt, die noch nichts wußte von interstellaren Beziehungen zwischen gesitteten, geistig voll entwickelten Menschen, die mitten in einem Chaos feindseliger Machenschaften sich selbst in der höchsten Blüte der Entwicklung fühlte. Dann seine hektischen Versuche, in dieser primitiven, abstoßenden Welt die Gesetze des Zusammenlebens und die Bedingungen des Aufgenommenwerdens zu studieren, damit seinem Schiffbruch nicht auch noch der Tod folgte. Ich habe mich hineingefunden, ohne meine wahre Herkunft preiszugeben, nickt der Reisende in sich hinein, zwischen Wesen, die mir zwar äußerlich gleichen, wie sich alle Menschen in der Galaxis gleichen, deren Geist dem unsrigen aber so unendlich fern ist, daß man es nur in Jahrzehntausenden ausdrücken könnte, ich habe zwischen ihnen überlebt. Sein Blick fällt auf seinen Assistenten, den Menschen, der die Mitbewohner dieses Planeten vor dem ethnologischen Schock bewahren soll. Unwillkürlich
dringt der Reisende noch einmal in das Gehirn dieses Wesens ein, ermahnt es, nach der Abreise auf jeden Fall den weißen Knopf zu drücken. "Den weißen Knopf?" fragt Hadrich erstaunt zurück, "ist das alles, was Sie von mir verlangen?" Der weiße Knopf verändert die Voltzahl, sagt Anger in Hadrichs Kopf, die erhöhte Spannung wird den Sendeschirm zerschmelzen. Seien Sie unbesorgt, Ihnen wird nichts geschehen. Der junge Wissenschaftler kann sich nur noch auf diese Aufgabe konzentrieren, alle übrigen Gedanken sind wie abgeblockt. "Wann soll ich ihn drücken? Wieviel Zeit liegt zwischen Ihrer Abreise und der Zerstörung des Geräts?" "Es genügen sechs Minuten", überträgt Anger deutlich die Antwort, "dann müssen Sie die Zerschmelzung auslösen." Die Zahl erscheint Hadrich unfaßbar. "Sechs Minuten...", sagt er laut, seine Gedanken überstürzen sich. Die Störung vor zwei Tagen, die Anger als Vorbeiflug eines arkturischen Transports bezeichnete, dauerte bereits mehrere Minuten. Selbst wenn der eigentliche Störfaktor nur zwei Sekunden zwischen Mond und Erde stand, müßte dieses Maß bis hin zum Arkturus mit Milliarden multipliziert werden, eine Reisezeit, die die menschliche Lebensdauer bei weitem übersteigt! "Sie machen sich die Rechnung zu einfach", sagt Anger laut, "Sie gehen von der Ausdehnung und Geschwindigkeit des Lichtes aus, und selbst die Lichtquanten werden von Schwerkraft und magnetischen Strömen im All beeinflußt und breiten sich nicht konstant aus. Die Energiepartikel, in die ich jetzt zerlegt
werde, bewegen sich weitaus schneller, aber auch weitaus stärker noch beeinflußt von Festkörpern, die sie passieren. Um es Ihrem Vorstellungsvermögen entsprechend auszudrücken, meine Reise wickelt sich in Gedankenschnelle ab." Der Reisende hat das Gefühl, jetzt genug erklärt zu haben, er würde die Verwirrung seines Assistenten nur steigern und seine Handlungsfähigkeit einschränken, wenn er ihn noch mehr wissen ließe. Langsam und die Erregung niederkämpfend, die in ihm aufsteigt, legt er den großen schwarzen Hebel an der Seite der Maschine um. Ein feiner, hoher Summton erfüllt den Raum, das Netzwerk des Schirms beginnt eigentümlich zu fluoreszieren. Der Reisende besteigt den Sockel, schaut sich noch einmal zu dem Mann um, der klein, verwirrt und einsam in diesem wunderlichen Versteck steht und zu ihm aufschaut, und benutzt die Sprache, die er hier gelernt hat: "Es ist alles gesagt, was zwischen uns zu sagen war. Es ist hier üblich, sich für Gastfreundschaft zu bedanken, so gebe ich Ihnen meinen Dank an alle, die mir das Überleben ermöglicht haben. Das Weltall ist nicht so groß, wie man hier annimmt. Irgendwann einmal werden sich unsere Rassen wiederbegegnen." Dann wendet sich der Reisende dem flirrenden Schirm zu und schreitet entschlossen durch ihn hindurch. Für Bruchteile von Sekunden sieht Hadrich noch seine Umrisse, dann starrt er nur noch in das unirdische Licht des Netzwerks, der Sockel ist leer. Wie im Traum sind ihm die letzten Minuten vergangen, trotz der überraschenden Demonstration in Angers Garten hat er bis jetzt nicht geglaubt, daß dieser Mann dort verschwinden, sich in Luft auflösen würde,
eher hätte es zu einem Desaster kommen können, als daß sich dieses Märchen vollzieht. Unverwandt starrt Hadrich auf den Sendeschirm, auf dieses Tor zu einer anderen Welt. Wenn ich jetzt dort ebenfalls durchschreiten würde, würde ich Anger wiedersehen? Aber der Gedanke läßt ihn schaudern, viel stärker als die Neugier ist die Angst vor der unbekannten Technik. Er hatte sich als einer der bedeutenden Experten auf dieser Welt gefühlt, als ein Physiker, der stolz auf seine Leistungen sein konnte. Noch vorgestern saß er auf diesem hohen Sattel, Anger hat ihn heruntergeholt. Wie viele Minuten er so steht, unfähig, sich zu sammeln, weiß Hadrich nicht, plötzlich hört er Schritte auf dem Kellerflur, mehrere Männer mit schweren Schuhen scheinen den Gang entlangzukommen, sie reißen die unverschlossenen Stahltüren auf, rütteln an den Türen der gefüllten Archive. "Ist da jemand!?" ruft einer der Polizisten. Hadrich stürzt auf die Maschine zu, hastig tastet er nach dem weißen Knopf unterhalb des Schalthebels und drückt ihn wie ein Hilfesuchender den Feuermelder. Mit zischendem Geräusch zerbirst der Sendeschirm, aus dem Sockel blitzt eine bläuliche Stichflamme hervor, Zuleitung und Deckenkabel verglimmen schlagartig zu schwarzer Asche, irgendwo bricht Mörtel aus der Wand. Gleichzeitig wird es finster, Hadrich ist bis an die verschlossene Stahltür zurückgewichen, mit leerem Blick stiert er in die rotglühenden Reste der Sendeanlage, seine Augen füllen sich mit Tränen, der scharfe Qualm tränkt ihm die Kehle, während er zusammensackt, pocht es ihm hinter den Schläfen: die großartige, die gefährliche Maschine ist nicht mehr.
36 Der Gestank zerschmorter Kunststoffkabel mischt sich in den Kellergängen mit dem kalkigen Staub aus geplatzten Sicherungs- und Verteilerdosen. Von irgendwo her hat Jochen Berner das Wort Keller aufgefangen, in dem fahlen Blau der Notbeleuchtung hastet er die sieben Stockwerke über das Treppenhaus hinunter, lange vor den anderen erreicht er den raucherfüllten Kellerflur. Im grauen Kegel einer Taschenlampe sieht der Reporter einen Mann zwischen den Stiefeln von vier Polizisten am Boden liegen, einer der Beamten bemüht sich, dem Verletzten Erste Hilfe zu leisten. "Verbrennungen und Rauchvergiftung", sagt er zu den anderen, "schnell, der Mann muß hier raus." Während sie den Ohnmächtigen mit geübtem Griff hochheben und zum Ausgang tragen, kann Berner für Sekunden in dem tanzenden Licht der Taschenlampe das rußgeschwärzte Gesicht sehen: Jörg Hadrich, Kramlos rechte Hand, denkt er überrascht, also nicht der, den er hier erwartet hat. Auch auf dem Hof, wo zwei Polizisten den Verletzten auf eine Uniformjacke betten, ist es stockfinster. Nicht nur im Raumfahrtinstitut, sondern im ganzen Stadtviertel ist der Strom ausgefallen. Erst Minuten später hat ein Pförtner das Notstromaggregat des Instituts auf die Hausbeleuchtung umgeschaltet, jetzt wird das Haus im siebten und achten Stock, im Haupteingang und auf dem Hof wie eine mittelalterliche Burg beleuchtet, erstaunte Passanten blicken aus schwarzen Straßenschluchten an der Fassade hinauf bis zu der großen Kuppel.
Auf dem Hof hat sich eine größere Gruppe versammelt, Kommissar Binewski dirigiert den großen Einsatzwagen vom Haupteingang hierher, und während das grüne Fahrzeug neben die beiden anderen Wagen rollt, die still vor dem Hintereingang parken, sagt ein Polizist: "Er kommt wieder zu sich." Kramlo beugt sich über seinen Mitarbeiter. "Hadrich, was ist passiert? Was war geschehen?" "Fühlen Sie Schmerzen?" fragt Binewski von der anderen Seite her. Die beiden Polizisten, die Hadrich auf die hintere Sitzbank ihres Fahrzeugs betten wollten, stützen ihn, als er sich aufrichtet. "Danke", sagt er, "danke, es geht schon, ich bin, glaube ich, völlig in Ordnung." Und dann hustet er sich den schwärzlichen Qualm aus dem Hals. "Geben Sie ihm etwas zu trinken", sagt Binewski, "anschließend bringen wir ihn ins Haus." Unauffällig plaziert er seine Leute wieder dorthin, wo sie die strategisch wichtigen Punkte des Gebäudes kontrollieren können, noch immer fehlt ihm der Mann, den er hier zu fassen hofft. Der Kriminalpolizist, der sich als erster um Hadrich bemüht hat, sagt zu dem Kommissar: "Wir haben die Stahltür aus dem Schloß brechen müssen. Sie war von innen verriegelt." "Kommen Sie mit", sagt Binewski sofort, "wir müssen noch einmal dorthin zurück, in dem Raum muß noch ein zweiter Mann liegen." Im Kellergang, in dem die Leuchtröhren zersprungen sind, ist es nach wie vor stockfinster. Der brenzlige Rauch ist kaum abgezogen, auf dem Steinfußboden
liegen Kabelreste, geschwärzte Teile von numerierten Verteilerdosen, die unter der Decke, gehangen hatten, Mörtel von der Decke und aus dem Loch, in dem sich das Schloß der aufgebrochenen Stahltür befand. Binewski drängt seinen Mitarbeiter in den kleinen Raum, hier ist die Luft kaum erträglich, hustend halten sich beide ihre Taschentücher vor Nase und Mund. Das Licht aus der Taschenlampe springt über zerborstene elektronische Geräte, geschmolzene Metallröhren, Drähte, Klammern und Glassplitter liegen wirr durcheinander. "Nein", sagt der Kommissar enttäuscht, "ich kann ihn nicht ausmachen." Habe ich mich denn so geirrt? schoß es Binewski durch den Kopf. Das Gerät, mit dem das Kind verletzt wurde, stammte eindeutig von Anger. Der Dieb, der in Angers Haus gefaßt werden konnte, hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, daß der Erfinder seine wertvollen elektronischen Geräte so schnell in Sicherheit bringen würde. Anger konnte sie aber eigentlich nur hier in das Institut geschafft haben, die Explosion deutet auf eine unsachgemäße oder wenigstens hastige Lagerung hin. "Kommen Sie, Herr Kommissar", murmelte der Kriminalbeamte und zerrte ihn wieder hinaus, "wir werden uns auch eine Rauchvergiftung zuziehen, wenn wir hier länger bleiben." "Suchen Sie die Kellergänge sorgfältig ab, dann gehen Sie zusammen mit dem Kollegen, der an der Kellertreppe postiert ist, durch alle Stockwerke. Lassen Sie keinen Raum aus, auch die Toiletten nicht. Der Mann, den wir suchen, wird nicht vermuten, daß sich die Polizei für ihn interessiert. Er wird sich deshalb auch
nicht verstecken. Bringen Sie ihn zu mir, wenn Sie ihn gefunden haben." Der Polizist, dem die Personenbeschreibung vor dem Einsatz genau eingeprägt worden war, nickte. Der große graue Mann mit den seltsam hellen Augen würde ihm sofort auffallen. Binewski wandte sich wieder dem vorderen Treppenhaus zu, tastete sich vorsichtig voran, da der Kriminalbeamte die Taschenlampe mitgenommen hatte. Unvermittelt stieß er mit einem Mann zusammen, und für einen Augenblick glaubte er, Anger gefunden zu haben. Es war der Reporter. "Sie vermuten dasselbe wie ich, Herr Kommissar", sagte Berner, "und Sie haben an derselben Stelle gesucht. Ist er tot?" Binewski zog den Fernsehmann mit sich in das Treppenhaus, der kalkige und beißende Geruch raubte ihm den Atem. Schluckend und hustend schüttelte er den Kopf. "Wir haben Anger noch nicht gefunden. In dem Raum, in dem die Explosion stattfand, ist eine genauere Untersuchung noch nicht möglich." Berner wartete, bis sich der Kommissar den Ruß aus den Augenwinkeln gewischt hatte. "Aber er muß im Hause sein, daran gibt es gar keinen Zweifel", sagte er dann, "auf dem Hof steht sein Wagen." "Sind Sie sicher?" "Absolut. Ich habe mehrfach in dem Auto gesessen, wenn Anger mich mitgenommen hatte. Ich habe früher schon über seine Erfindungen berichtet, und er hatte offenbar wieder etwas entwickelt, das er bis zur heutigen Vorführung geheimzuhalten versuchte. Er tischte mir
sogar eine physikalisch unhaltbare Geschichte über die vorgestrige Störung im Kontakt zu Europa I auf, nur um mich von dem Modellversuch abzulenken, den er aufgebaut hatte." "Was war das für ein Experiment?" fragte Binewski interessiert. "Ich könnte mich zum Teufel wünschen", schüttelte Berner den Kopf, "aber er hat mich tatsächlich ablenken können. Ich erinnere mich nur noch, daß auf dem Tisch mehrere schwarze Kästen standen, kaum einen halben Meter groß, von denen rötliche Platten aufragten." "Würden Sie sagen, es waren elektronische Geräte?" "Kann sein", erwiderte Berner, verärgert über sein Mißgeschick, der Sache nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, "jedenfalls erinnere ich mich deutlich, daß Anger mich daran hinderte, die Dinger anzufassen, er riß sogar erregt meine Hand zurück, für sein phlegmatisches Temperament mit unerwarteter Heftigkeit." "Sehen Sie", sagte der Kommissar und nickte wie zur Selbstbestätigung vor sich hin, "die Hand des Kindes hatte niemand zurückgerissen."
37 "Sie sind zu spät gekommen", sagte Hadrich mit tonloser Stimme, als der Fernsehreporter den Raum betrat, "Sie haben Ihre Exklusivstory versäumt." Im Aufenthaltsraum im siebten Stock hatten sich alle versammelt, die noch um diese Zeit im Hause beschäftigt waren. Kramlo hatte Hadrich auf eine Liege genötigt und darauf bestanden, daß ein Arzt gerufen wurde, jetzt saß
er neben ihm, kaum weniger bleich und mit ebenso rot umränderten Augen. Berner, dem die Szene etwas theatralisch schien, trat neben die beiden und sagte barsch: "Sie sind doch offenbar eingeweiht gewesen! Was hatte Anger denn geplant? War es ein Unfall oder war es Sabotage?" "Lassen Sie ihn", unterbrach in Kramlo, "er gibt nur unverständliche Antworten. Ich fürchte, er hat einen Schock erlitten." "Ich weiß, wie Menschen mit Unfallschock aussehen", wischte Berner den Einwand beiseite, "Hadrich hat in Ihrem Hause zusammen mit Anger dunkle Geschäfte getrieben. Soll ich raten?" wandte er sich mit harter Stimme an den jungen Physiker, "die Anlage im Keller diente Sabotagezwecken, die Arbeit des Instituts sollte gestört, die Erfolgsserie abgeschnitten werden. Kramlo hätte sich dann als unfähig erwiesen, der berühmte Erfinder wäre sein Nachfolger geworden. Was hatte er Ihnen für Ihre Hilfe versprochen?" "Geben Sie sich keine Mühe", sagte Hadrich, ohne sein Gesicht zu verziehen, "Sie haben Ihre Story verpaßt." "Sie gehen entschieden zu weit", schnitt Kramlo den Wortwechsel ab und erhob sich, "Sie können Ihre Anschuldigungen doch überhaupt nicht beweisen!" "Ich behaupte noch immer, daß Anger an einem illegalen Forschungsauftrag gearbeitet hat, ob Sie von ihm Kenntnis hatten, muß jetzt dahingestellt bleiben. Was hier im Institut in den letzten Wochen vor sich gegangen ist, werde ich herausbekommen, das schwöre ich Ihnen, und ich werde darüber berichten. Es liegt jetzt bei Ihnen, ob die Lawine Sie mitreißt oder ob Sie zur Klärung Ihrer Situation beiträgt."
Kramlo fühlte sich schwach, er schüttelte mechanisch den Kopf, setzte sich wieder hin und starrte auf den Boden. Der Kommissar, der bis dahin stumm an der Tür gestanden hatte, trat näher, beugte sich zu Hadrich herab und fragte ihn sachlich: "Sind Sie bereit zu sprechen?" "Selbstverständlich", sagte der Physiker und setzte sich auf, "ich bin völlig in Ordnung und will versuchen, die Sache zu schildern, soweit ich darüber Bescheid weiß." "Wo ist Anger?" Hadrichs Gesicht erstarrte, steinern blickte er geradeaus. "Er wollte abreisen, hat er gesagt, er hatte eine Maschine gebaut, mit der er sich selbst elektronisch versenden wollte. Er war imstande, Gegenstände auf diese Weise an jeden beliebigen Ort zu schicken, und er war fest davon überzeugt, daß auch Lebewesen diese Art des Transports überstehen würden. Ich habe versucht, ihm das auszureden, aber er beharrte darauf, daß es diese Art des Reisens längst gäbe." Binewski konnte mit dieser Erklärung wenig anfangen, sie erschien ihm reichlich skurril, aber mit ruhiger Stimme fragte er weiter: "Sie sprechen vom Reisen, dann hatte also Anger das Institut bereits verlassen, als wir Sie im Keller fanden?" Hadrich nickte. "Ich habe gesehen, wie er verschwand, es war, als ob das Glühen ihn auflöste." Binewski begriff diese Antwort noch weniger. "Aber wenn Anger längst fort war, und offenbar ohne seinen Wagen zu benutzen, warum haben Sie sich dann dort in dem Kellerraum eingeschlossen?"
"Anger selbst hatte doch den Kellerraum abgeschlossen", erwiderte Hadrich und spürte, daß all seine Antworten unglaubwürdig klangen, "er wollte bei der Abreise nicht gestört werden." Nun fand Binewski keine Logik mehr in dem, was ihm Hadrich vorsetzte. Mühsam begann er noch einmal von vorn: "Sie sagten, er wollte abreisen. Wohin wollte er denn reisen, oder wissen Sie nichts darüber?" "Sehen Sie, wie soll ich Ihnen antworten, wenn Sie nicht bereit sind, mir zu folgen?" fragte Hadrich verzweifelt. "Sie werden mir erst recht nicht glauben, wenn ich Ihnen jetzt sage, daß er zum Arkturus reisen wollte, genauer gesagt, zu einem Planeten des arkturischen Systems im Sternbild Bootes." "Das ist Hunderte von Lichtjahren entfernt!" entfuhr es Zimmermann, der die ganze Zeit mit dem Gefühl dabeigestanden hatte, sein Kollege schildere den Inhalt einer Kinderstunde im Fernsehen. Aber bevor er weitersprechen konnte, hatte sich Berner schon an den Kommissar gedrängt. "Diese fabelhafte Geschichte hat mir Anger auch selbst serviert", sagte er, "ich begreife nicht, daß nüchterne Wissenschaftler über derartigen Unsinn überhaupt miteinander sprechen, Reisen zum Arkturus, wo dieses Institut gerade die Landung auf dem Mond gefeiert hat!" Binewski blickte nachdenklich auf den Fernsehreporter, dann wanderte sein Blick zu Zimmermann. Ihm kam ein Gedanke. "Ich glaube, ich habe begriffen, was Sie sagen wollen", wandte er sich wieder an Hadrich, "Anger reist in Gedanken, seine Maschine, von der Sie erzählten, ist so
etwas wie ein Gedanken- Fernseh-Gerät, das die Illusion vermittelt, sich an jedem gewünschten Ort aufzuhalten." Der Physiker antwortete nicht. Er starrte mit maskenhaften Zügen immer noch geradeaus, die Worte Binewskis gewannen langsam in ihm Gestalt. War das die Erklärung? wiederholte er sich, war die Reise Angers Fantasie, technisches Spiel? Hadrich hörte die Stimme des Kommissars wie aus weiter Ferne: "Als Astronom wünschte er sich natürlich irgendwo ins Weltall, nicht wahr?" "Von einer derartigen Weiterentwicklung des Fernsehens in Ihrem Hause haben Sie doch gewußt, Herr Kramlo!" sagte Berner sofort und spielte die Vermutung des Kommissars gegen den Institutschef aus. "Sie streiten mir gegenüber mit kalter Berechnung die Waffenforschung ab, um das eigentliche Projekt geheimzuhalten!" "Es hat nie eine Forschung auf dem Gebiet der Fernsehelektronik bei uns gegeben", sagte Zimmermann, "wir haben weder den Auftrag noch die Mittel. Es gibt schon gar keine geheime Forschung, denn der Aufsichtsrat muß jedes Projekt genehmigen. Vielleicht erinnern Sie sich bitte daran", wandte er sich an den Reporter, und seine Stimme zitterte vor Ärger, "daß der Kollege Anger ein nicht ganz unbekannter Erfinder ist, der sich privat mit Dingen beschäftigt, mit denen das Institut nichts zu tun hat!" "Es hat keinen Zweck, Zimmermann", sagte Kramlo mit leiser Stimme, "dem Fernsehen klarmachen zu wollen, etwas sei anders, als es sich das gedacht habe. Da reden Sie gegen Wände."
Umständlich zog er ein Taschentuch hervor, hüstelte hinein, ihn fror. Ein Polizeibeamter trat ein und erstattete Binewski flüsternd Bericht. "Nicht gefunden?" fragte der Kommissar zurück. Der andere schüttelte den Kopf. "Haben Sie auch die zertrümmerte Maschine einer zweiten Prüfung unterzogen?" "So gut es ging." "Sie müssen mir nun schon genau sagen, was dort unten im Keller geschehen ist", wandte sich der Kommissar wieder an Hadrich, "Anger hatte also die Erfindung in seinem Haus entwickelt, hierher transportiert und sich heute abend mit Ihnen eingeschlossen, um sie ungestört erproben zu können?" "Ungestört ist wohl nicht der richtige Ausdruck", warf Berner ein, "schließlich hatte er mich und das Kamerateam hierherbestellt." "Aber der Versuch mißlang, die Maschine explodierte?" hakte Binewski nach, ohne auf Berners Einwurf einzugehen. Hadrich blickte den Polizisten, dann den Reporter an, eine Illusionsmaschine, dachte er, hat Anger nur Träume erleben wollen? Wie eine Magnetspule drehte sich die Erinnerung in seinem Kopf: der Erfinder, der durch den rotglühenden Schirm trat, der weiße Knopf, der grelle Lichtblitz, und immer deutlicher dazwischen ein kleiner, alltäglicher Gegenstand: Der Löffel, nun fiel es ihm ein, der Löffel war keine Illusion gewesen. "Der Versuch mißlang nicht", sagte er mit sicherer Stimme, "ich sah ja, wie Anger abreiste." "Aber die Explosion im Keller?" beharrte der Kommissar.
Wieder hörte Hadrich die schweren Schritte auf dem Kellergang, sah sich auf den weißen' Knopf zuspringen, dann wurde es schwärz um ihn. Mühsam gegen Ohnmacht und Übelkeit ankämpfend, sagte er lauter als zuvor: "Ich selbst habe die Maschine zerstört! Sie funktionierte, Anger reiste ab! Ich habe das Gerät vernichtet!" Alle schwiegen und starrten den Physiker an, in der Stille hörte man den keuchenden Atem Kramlos. Betroffenheit lastete wie ein Klotz im Raum, minutenlang wagte sich keiner der weißbekittelten Wissenschaftler zu rühren, der kleine Kommissar kaute nachdenklich an seinen Lippen, Berner sortierte, was er gehört hatte, und sah seine große politische Story zu einem bedauerlichen Forschungsunfall zusammenschrumpfen. Die Tür ging auf, und der Arzt trat ein, den man zu Hadrich bestellt hatte, niemand beachtete ihn. In seinem Stuhl war der Institutsdirektor wie ein nasses Hemd zusammengesackt.
38 Das Morgengrauen filterte diffuses Licht in den Räum, zwischen fast geschlossenen Augenlidern nahm Berner nur undeutlich Lillis Rückkehr wahr. Sie meinte, er schliefe fest, und bewegte sich besonders leise. Rasch legte sie ihre Uniform ab, ihre Schuhe, ihre Unterwäsche, zog sich ohne Geräusch ins Bad zurück und begann das tägliche Spiel des Abschminkens.
Berners Gedanken wanderten wieder und wieder in das Institut zurück, er sah den zusammengesunkenen Kramlo vor sich, die fahlen Wissenschaftler zu Säulen erstarrt, den mißgestimmten Kommissar, die pittoreske Szene Rembrandtschen Stils. Ob der junge Physiker, dieser unglückliche Hadrich, nun absichtlich oder unabsichtlich seinen Kollegen in den Tod geschickt hatte, oder ob es wirklich nur ein Unfall gewesen war, beschäftigte den Starreporter nicht so sehr wie die quälende Vermutung, seine unnachsichtige Attacke habe den Schwächeanfall des Institutsdirektors herbeigeführt. Du hast eine viel zu dünne Haut für deinen Beruf, hatte Lilli öfter zu ihm gesagt, du nimmst alles zu persönlich, und das schadet dir. Er warf sich auf die andere Seite und blinzelte in den Lichtspalt, der die Badezimmertür umrahmte. Hatte es Anger wirklich auf den Posten seines Chefs abgesehen gehabt, oder war seine Erfindung nur ein neues, gewinnbringendes Spielzeug gewesen? Die Frage, dachte der Reporter, spielt eigentlich keine Rolle mehr. Sollte sich Kramlo erholen, würde er die Zügel fester in die Hände nehmen als je zuvor, die illegale Forschungsarbeit erwies sich als privater Spaß eines bedauerlicherweise dabei umgekommenen Erfinders. Einen Nachruf würde das abgeben, aber keine politischen Schlagzeilen. Das Licht im Bad ging aus, leise öffnete Lilli die Tür und trat mit fließenden Bewegungen heran, ihr nackter Körper hob sich nur schemenhaft vor der dunklen Wand ab. Sie schlüpfte unter die Bettdecke, rollte sich wie ein Kind zusammen und war Minuten später eingeschlafen. Berner spürte die Behaglichkeit, die von ihr ausging, zärtlich strich er ihr über Haare und Schultern.
Als Exklusivstory wollte mir der junge Hadrich die Erfindung verkaufen, lächelte er vor sich hin, als ob ich nicht in früheren Jahren jede Arbeit Angers als erster gewürdigt hätte! Was war es denn nun gewesen? Ein Illusionsgerät, Konkurrent des Fernsehens, mit dem man den Eindruck uneingeschränkter Reisen erzeugen konnte? Die Arkturus-Geschichte wirkte zu rührend, als daß sie zu Anger passen wollte. Vielleicht war der grauhaarige Schlaukopf doch einer Sache auf der Spur gewesen, an der mehr dran war als ein Freizeitspielzeug. Elektronisches Reisen, drahtloser Transport? Eine seltsame Art von "Live-Sendung", dachte Berner und erheiterte sich an dem Wortspiel, das hätte, würde es funktionieren, unausdenkbare Umwälzungen zur Folge. Daraus hätte sich ein politisch-wissenschaftlicher Bericht machen lassen, ein spannendes Gespräch mit dem Erfinder, aber nun war es nur ein Hirngespinst, ein Trümmerberg im Keller des Raumfahrtinstituts. Nutzlos, der Sache weiter nachzuhängen. Wie war er überhaupt darauf gekommen, Anger habe institutsinterne Absichten verfolgt? War es der Zugriff des Verteidigungsministeriums gewesen, der ihn mißtrauisch gemacht hatte? Aber davon hatte er ja erst später erfahren, allerdings, mußte er hier im stillen vor sich selbst zugeben, es hatte ihm gut in seine Vorstellungen gepaßt. Während es im Penthouse hoch über der Stadt langsam heller wurde und die Müdigkeit über Berner die Oberhand gewann, kam ihm noch der Gedanke, daß dieses Gerät, das sich im Verteidigungsministerium befand, Hadrichs Aussagen unterstützen oder widerlegen könnte. Schließlich war es ja wohl ein Baustein der
explodierten Maschine, entscheidendes Teil.
vielleicht
sogar
ein
39 "Der verdammte Regen ist daran schuld", murmelte der schwergewichtige Abgeordnete und wandte prüfend die Knospen seiner Bauernrosen hin und her, "wenn die Sonne nicht bald scheint, verfault mir das alles." Egon Steigerwald blickte mißmutig zum verhangenen Himmel, hatte es am frühen Morgen noch so ausgesehen, als ob sich das Wetter bessern würde, so bot es jetzt wieder reichlich Gesprächsstoff für Schimpftiraden am Gartenzaun. Gestern abend war er aus Bonn in seinen Heimatort zurückgekehrt, so hielt er es schon all die Jahre hindurch, die wichtigsten Ausschußsitzungen, Debatten und Einzeltermine nahm er in den ersten drei Tagen der Woche wahr, dann zog es ihn in seinen Garten zurück, hier hockte er in einer luftgegerbten Lodenjoppe zwischen den Blumen, die Honoratioren des Ortes besuchten ihn hier, hier verfaßte er seine Sonntagsreden. Der große Garten erstreckte sich bis zu einer schmalen Anliegerstraße, auf der anderen Seite einen reichlich bepflanzten Hang hinauf bis zu dem flachen Haus, das im wenig glücklichen Kistenstil der frühen sechziger Jahre recht ungemütlich wirkte. Vor der Gartentür hielt lautlos ein gläsernes Taxi, aber Steigerwald kannte den jungen Mann nicht, der da ausstieg und zielstrebig in seinen Garten kam. Der kahlrasierte Schädel ließ ihn wie irgendeinen aus dem Heer der jungen Leute erscheinen, und wie die meisten dieser Generation trug er eine zottige
Kunstfaserkleidung, bei der nicht ganz auszumachen war, ob es sich um einen Mantel, ein Kleid oder einen Drillich handelte. Was auffällig an ihm war, war der schlichte dunkelbraune Aktenkoffer, den er in der Hand trug und der zu der übrigen Aufmachung überhaupt nicht zu passen schien. Der Abgeordnete blickte seinem Besucher schweigend entgegen, dann nahm er den verklebten Strohhut ab und wartete auf die Begrüßung. "Guten Tag, Herr Professor Steigerwald", sagte der junge Mann geschäftsmäßig, "Sie werden mich nicht mehr kennen, ich bin Andreas Kramlo, mein Vater ist Direktor des Raumfahrtinstituts." Mit dem breiten Lachen der Leute, die an herangewachsenen Kindern nicht gern messen, wie alt sie selbst inzwischen geworden sind, schüttelte Steigerwald seinem Besucher die Hand. "Ich muß schon sagen, Ihr Kommen überrascht mich. Wie geht es zu Hause?" "Das ist der Grund, weshalb ich Sie aufsuche", sagte Kramlos Sohn, "Vater ist heute nacht in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Er sagt, es sei ein Schwächeanfall gewesen, aber der Arzt meinte, er wäre noch gerade eben um einen Herzinfarkt herumgekommen." "Das tut mir aber leid", polterte Steigerwald die üblichen Floskeln heraus, "gestern war er noch ganz munter, als ich mit ihm telefonierte! Nun, der Jüngste ist er ja auch nicht mehr, und wir haben uns eigentlich alle viel zuviel aufgehalst." Die beiden Männer gingen auf das Haus zu; der Professor klopfte sorgfältig seine Stiefel ab, hängte den Hut in den Flur und bat seinen Gast ins Arbeitszimmer.
"Sie trinken doch sicher etwas nach dem weiten Weg, Herr Kramlo", setzte er die Konversation fort, "was soll es sein?" Andreas schüttelte seinen Billardkopf, klappte den Aktenkoffer auf und nahm mehrere Ordner heraus., "Mein Vater hat mich heute früh beauftragt, zu Ihnen zu fahren. Obwohl die Ärzte ihm zunächst unbedingte Ruhe verordnet hatten und jeden Besuch verweigerten, hatte man mich schließlich doch zu ihm gelassen. Es bedrückte ihn, das Institut allein lassen zu müssen, besonders in einem Augenblick, wo offenbar dort zum erstenmal ein Unfall während einer Forschungsarbeit vorgekommen ist. Er gab mir einige Anweisungen mit, ließ mich aus seinem Büro bestimmte Akten holen, um sie zu Ihnen zu bringen und Sie zu bitten, den Aufsichtsrat einzuberufen und für einen bisher nie bestellten Vertreter zu sorgen." Steigerwald wunderte sich über den sachlichen Tonfall und die unumwundene Art, mit der der junge Mann seinen Auftrag ausführte, wenn ich mich recht erinnere, grübelte er, hat Kramlo erzählt, sein Sohn sei Kunststudent, Maler oder etwas Ähnliches. "Warum hat er Sie zu mir geschickt – ich bin doch nur stellvertretender Vorsitzender?" Der Abgeordnete lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und musterte den jungen Kramlo. "Der Vorsitzende des Aufsichtsrates ist vorgestern für drei Monate nach Japan gereist, außerdem – wenn ich das vertraulich hinzufügen darf – meinte er, Sie seien mit dem Institut viel mehr vertraut und auch wissenschaftlicher Sachkenner." Andreas Kramlo griff eifrig zu dem ersten Aktenordner und fuhr fort:
"Hier ist die Liste der leitenden Angestellten des Instituts, die Sekretärin hat sie heute morgen noch auf den neuesten Stand gebracht. Zu streichen wäre die zweite Position in dem dritten Abschnitt, Anger, es handelt sich um den Verunglückten, von dem ich bereits sprach. Außerdem bat mein Vater ausdrücklich, auch die fünfte Position in diesem Abschnitt zu streichen; dieser Mann, Jörg Hadrich, hat bei dem Unfall einen Schock erlitten, er soll zunächst beurlaubt werden. Der Dienstälteste wäre dann Ulrich Zimmermann, letzter im ersten Abschnitt, Projektleiter im Forschungslabor. Selbstverständlich wollte mein Vater der Entscheidung des Aufsichtsrates aber nicht vorgreifen." Steigerwald, der sich eben noch aus der beschaulichen Ruhe seines Gartens gerissen fühlte, begann sich ernsthaft mit der Lage des Instituts zu beschäftigen. Einen kommissarischen Leiter bestellen, dachte er und begann an einige Parteifreunde zu denken, das ist wohl nicht ausschließlich mit Dienstranglisten zu bewerkstelligen. Außerdem, ging es ihm durch den Kopf, ist es wohl nützlich, den Posten des Stellvertreters dauerhaft zu besetzen, falls Kramlo in absehbarer Zeit ganz ausfallen sollte. Diese Weichen konnte man schon jetzt stellen. "Ihr Vater hat recht", nickte er seinen Überlegungen nach, "es ist immer wieder in den letzten Jahren unterblieben, den Stellvertreter zu wählen. Ich bedaure es außerordentlich, daß dieser unglückliche Anlaß nötig ist, um das endlich zu korrigieren." Andreas Kramlo nahm sich nicht die Zeit, die Maske seines Gegenübers zu studieren. In seinen Auftrag vertieft, entnahm er einem zweiten Ordner einen farbigen Briefumschlag und erklärte:
"Dies ist eine Notiz des Mitarbeiters, der in der Nacht den Schock erlitten hat. Sie ist handschriftlich abgefaßt und nicht sehr verständlich, erklärlicherweise ..." Der junge Mann wußte nicht, ob er noch weitere Erläuterungen geben sollte, aber Steigerwald öffnete das Papier bereits und brummte: "Immerhin, so groß kann der Schock ja nicht gewesen sein, der Mensch schreibt ja zusammenhängende Sätze." "Aber der Inhalt zeigt seine Verwirrung deutlich", gab Andreas Kramlo zu bedenken, ging um den Schreibtisch herum, stellte sich neben das Aufsichtsratsmitglied und wies auf ein paar Zeilen. "Hier schreibt er: ›Anger war sich höchstwahrscheinlich über das Risiko im klaren, das er einging, denn er schilderte mir vor seiner Abreise, daß ihm eine Reihe von Versuchen mit lebenden Tieren mißglückt seien.‹ Etwas später steht: ›Die Abreise ging glatt, Anger verließ über die Teleportationsmaschine den Keller. Ich bin sicher, daß er nie zurückkehren wird.‹ Und dann, auf der nächsten Seite: ›Er hat mich gezwungen, die Maschine zu zerstören, aber ich tat es erst, nachdem er in Sicherheit war. Ich erkläre ausdrücklich, daß ich auf Angers Wunsch hin gehandelt habe und daß mich an seinem Verschwinden keine Schuld trifft. Bis zur endgültigen Klärung der Umstände bitte ich mich zu beurlauben" Das paßt alles nicht recht aneinander, Herr Professor Steigerwald. Fest steht, daß dieser Jörg Hadrich den Unfall seines Kollegen Anger im Keller des Instituts miterlebt hat und nun offenbar unter Schuldkomplexen leidet. Aber die Polizei wird das sicher klären."
"Die Polizei?" dehnte Steigerwald seine Frage, "wer hat denn Polizei eingeschaltet? Hat das Ihr tüchtiger Vater auch noch heute früh getan?" "Nein", sagte der junge Kramlo unbefangen, "die Polizei war schon in der Nacht im Institut." Steigerwalds massiges Kinn senkte sich auf den Kragen, kopfschüttelnd legte er das Urlaubsgesuch Hadrichs aus der Hand. "Was haben Sie noch in Ihrer Wundertüte?" fragte er. "Das sind nur die wichtigsten täglichen Papiere, die mir die Sekretärin vorhin mitgegeben hat. Sie meinte, sicher würden Sie noch heute oder gleich morgen im Büro sein, so daß die weiteren Akten im Institut bleiben könnten. Dies aber ..." – Andreas hob einen schwarzen Aktendeckel hoch – "dies ist der Entwurf einer Vorlage für den Aufsichtsrat, in der es um die Störung während der Übertragung von Europa I am letzten Tag des Unternehmens geht. Mein Vater bat mich, Ihnen dieses Papier auf jeden Fall mitzubringen, da er es Ihnen am Telefon zugesagt hatte." Die peinliche Korrektheit des Institutsdirektors hatte dem Professor schon immer Hochachtung und Neid abgenötigt, daß der Mann todkrank im Bett liegt und noch immer an seine dienstlichen Zusagen denkt, schien ihm fast unmenschlich. "Die Vorlage enthält die Zusammenfassung eines ausführlichen wissenschaftlichen Berichtes, wonach die Störung – wenn ich es Ihnen kurz erläutern darf – auf eine natürliche Erscheinung im Fernsehwellenbereich zurückzuführen ist, die seit Jahren bekannt ist, der aber bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zweitens enthält sie die schriftliche Wiedergabe einer polizeilichen Mitteilung, wonach ein Gerät, das in
Zeitungsberichten als Waffe bezeichnet und mit dem ein Kind erheblich verletzt wurde, nicht aus dem Institut stammt, sondern aus einem Diebstahl in einem Privathaus herrührt. Den Vorwurf, das Institut betreibe illegale Waffenforschung, konnte mein Vater deshalb gestern abend noch in einem Fernsehinterview entkräften." Der bürokratisch-geschliffene Tonfall des jungen Kramlo begann Steigerwald auf die Nerven zu fallen. Mein Gott, dachte er und fühlte sich dem anderen gegenüber unsicher, wenn der schon mit seinen kaum zwanzig Jahren wie sein Vater redet, wie ist der Junge dann mit Fünfzig? Ich dachte immer, das müsse so ein versponnener Künstlertyp sein, und jetzt tritt er hier auf, als ob wir ihm die Leitung des Raumfahrtinstituts übertragen hätten. Diese Kramlos sind gefährlich, sie schweben immer so hoch über uns, daß sie auf uns herabblicken, wie jung sie auch noch sind. Der Abgeordnete stemmte seinen schweren Körper aus dem Sessel und klopfte seinem Besucher anerkennend auf die Schulter. "Ihr Vater kann stolz auf Sie sein", sagte er, "er hätte keinen besseren Anwalt hierherschicken können. Bestellen Sie ihm, daß sich seine Sache bei mir in den richtigen Händen befindet, und daß ich ihm alles Gute für seine baldige Genesung wünsche."
40 Der Kommissar war sicher froh, so schnell seinen Bericht machen zu können, dachte Jochen Berner, gestern abend hatte es noch den Anschein, als ob einiges
mehr als nur das verletzte Kind auf ihn zukommen würde. Der Starreporter saß in seinem großen Büro, eben hatte die Sekretärin den Fernschreibertext auf die Tagesmappe gelegt. "An das Deutsche Fernsehen, Herrn Hans Joachim Berner", stand pauschal auf dem Telex, und etwas weiter darunter: "Ich habe die Genehmigung erhalten, Ihnen diesen Bericht zu übermitteln. Meine vorgesetzte Dienststelle bittet jedoch, von einer Veröffentlichung im ganzen oder in Teilen abzusehen, solange der Vorgang noch anhängig ist." Diese Beamten! dachte Berner, den Umgang mit der Öffentlichkeit lernen die nie. Er überflog die Überschrift, "Zur Anzeige Nr.", darunter: "des Arztes Dr. med." Name, dann die Eltern des verletzten Kindes Paul Hartwig, darunter ein Hinweis auf die Vernehmungsprotokolle des Fahrers Karl Stadier und des Beifahrers Bert Nimmitt. Also waren es zwei Diebe gewesen, bemerkte der Reporter jetzt, sein Blick glitt über die Zeilen weiter nach unten, der Kommissar hatte sich eng an die Geständnisse der beiden Einbrecher gehalten, ihnen fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen und den Einbruch selbst als Verfahren abgetrennt. Erst im letzten Abschnitt wurde der Bericht für den Fernsehmann interessant: "Der Hersteller des Gerätes, das die Verletzung verursachte, konnte nicht mehr von mir vernommen werden. Er verstarb infolge eines Betriebsunfalls, kurz bevor ich ihn vernehmen konnte. Obwohl ich dem Bericht über den Tod des Anger nicht vorgreifen möchte – bis heute früh konnte die Leiche noch nicht aufgefunden werden –, steht eindeutig fest, daß er bei
diesem Arbeitsunfall gestern abend um 22 Uhr 35 ums Leben kam. Der Raum, in dem er sich mit dem Zeugen Hadrich aufgehalten hatte, war von innen verschlossen. Der Tote hat ein Testament, datiert vom selben Tag, hinterlassen, er war sich also der Gefährlichkeit seines Unternehmens voll bewußt." Das ist schlicht formuliert, nickte Berner anerkennend, ebenso schlicht wie der ganze Kommissar. Erstaunlich, daß ein Mann, der sich so eng an die Realitäten hält, plötzlich Ideen von Reise-Illusionsmaschinen entwickelt, obwohl das aus dem Gestammel des angeräucherten Hadrich kaum herauszuhören war. Vielleicht habe ich mich in dem kleinen Polizisten geirrt, vielleicht ist das Pepitamuster, das er zur Schau trägt, nur die Oberfläche, und darunter sitzt eine große Portion Fantasie? Berner wandte sich dem letzten Abschnitt zu und erinnerte sich dabei nur ungern daran, daß er dem Gerät, der "Waffe", so emsig nachgeforscht hatte. "Das Gerät, das die Verletzung verursachte, wurde mit Zustimmung unserer Behörde vom Waffentechnischen Labor des Bundesverteidigungsministeriums vollständig zerlegt und analysiert. Danach handelt es sich um ein wertloses Radio-Verstärkergerät, dessen wichtigste Teile infolge unsachgemäßer chemischer Behandlung bereits unbrauchbar geworden waren. Die Materialien wurden im Labor ausgemustert." In den Mülleimer also, übersetzte sich Berner den Text, die haben das Ding auseinandergebastelt und weggeworfen, armer Anger, deine Erfindung hat dich nicht überlebt. Gedankenversunken faltete er die pergamentartige Kunststoffolie zusammen, auf die der Fernschreiber den Bericht gestanzt hatte, und sah noch einmal den
grauhaarigen, schmalen Mann mit der jungenhaften Haut und den alten, hellen Augen vor sich. "Ich weiß wirklich nicht, wofür du dein Gehalt bekommst", sagte Lilli, die in der Tür stand, "du sitzt an deinem teuren Bürotisch am hellen Mittag und träumst!" Die Sekretärin hinter ihr lächelte verlegen und machte die Tür von außen wieder zu. "Nun wundert mich nicht mehr, daß euch die interessantesten Ereignisse durch die Lappen gehen, wenn schon der Chef selber schläft", stichelte sie weiter, nahm ihm entschlossen das Telexblatt aus der Hand und küßte ihn. "Ich sehe, du bist ausgeschlafen", sagte er mit einem Blick auf die Uhr, "erstaunlich, wie du mich, im Spätaufstehen überrundet; hast!" Der nachdenkliche Ausdruck war von seinem Gesicht verschwunden, anerkennend wanderte sein Blick über ihre frische bräunliche Hautfarbe, ihr sorgfältig gesträhntes blondes Haar und den weich fallenden, hellblauen Anzug, dessen Aufschläge noch jüngstem Modediktat mit Samt besetzt waren. Die Sorge, die er sich gestern abend um Lilli gemacht hatte, der Anflug von Eifersucht wurde wieder lebendig; das Mädchen eines Tages vielleicht für immer entbehren zu müssen, bereitete ihm Unbehagen. "Du bist sehr weit weg gewesen letzte Nacht", sagte er warm, "und ich meine das nicht in Kilometern." Lilli zog ihn an sich, so standen sie neben dem Schreibtisch, und jeder hatte das Gefühl, dem anderen festen Halt geben zu müssen. "Du weißt, wie wichtig mir mein Beruf ist", sagte sie leise, "aber die Augenblicke mehren sich, in denen ich wünsche, mehr Zeit für uns beide zu haben."
Berner nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und verzog seine Mundwinkel, so als ob der Satz mit Zitrone bespritzt war, den er jetzt sagte: "Es sieht so aus, als ob wir uns gerade einen Heiratsantrag machten." "Du solltest nicht so liederlich mit deinem Leben umgehen", lachte Lilli fröhlich, "ich tauge für derart waghalsige Abenteuer nicht." Sie hatten sich wieder voneinander gelöst, und um ihre Befangenheit abzuschütteln, spielte Lilli mit den Knöpfen an den Fernsehmonitoren, aber die verschiedenen Programme, die dabei durcheinander würfelten, beachtete sie nicht. Plötzlich drehte sie sich wieder zu Berner um und sah ihn ernst an. "Als ich kam, hatte ich dich beim Nachdenken gestört, Jochen. Willst du jetzt lieber wieder allein sein?" Der Reporter schüttelte den Kopf. "Da gibt es nicht mehr viel drüber nachzudenken, ich hatte mich verrannt in einen Gedanken, und was schließlich herausgekommen ist, ist ein armer alter ehrgeiziger Kerl mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus. Ich hatte ihn stellen wollen, aber gerade als ich ihn im Visier hatte, brach er zusammen, und mit ihm meine Story." "Kramlo?" fragte Lilli, aber sie wußte es schon. Jochen Berner setzte sich wieder hinter seinen breiten Mahagonischreibtisch und lachte vor sich hin. "Als Ersatz für die schöne große Geschichte vom Deutschen Raumfahrtinstitut, das aus geheimen Quellen Steuergelder für Waffenforschung erhält, bot mir dann ein kleiner Mitarbeiter meines lieben Institutsdirektors ein Blättchen fürs Poesiealbum an, von einer Story, die ich verpaßt hätte."
"Und wie ging die?" "Es war einmal eine große Maschine, mit der konnte man reisen, überallhin, bis tief ins Weltall, man brauchte nur Abrakadabra zu sagen, und schon war man dort. Das Fernsehen sollte dabeisein, damit es alle sehen könnten, nur ging leider vorher die ganze Maschine in Flammen auf, wie der fliegende Koffer mit seinem Feuerwerk, und als wir uns den Schaden näher besahen, war das Wunder verbrannt und der Veranstalter tot." "Was du mir da erzählst!" schüttelte Lilli den Kopf, "ich glaube, du solltest das Ressort wechseln und die bunte Abendunterhaltung im fünften Kanal übernehmen!" "Stell dir das vor!" wischte Berner den Einwand beiseite, "keine Autos, keine Flugzeuge, keine Raketen, eine Welt ohne Verkehrstote und ohne Düsenlärm, dafür lohnt es sich schon, das Fernsehen zum Zeugen zu haben." "Du bist nicht recht bei Trost", sagte Lilli, "glaubst du wirklich, du mußt mir erst eine Zukunft ohne Flugzeuge vorführen, damit ich dich heirate, du alter Spötter?" Sie ließ sich in einen der breiten Persianersessel fallen, die dem Schreibtisch gegenüber standen, und erst jetzt wurde ihr klar, was Jochen überhaupt erzählt hatte. "Die Vorführung, zu der dich Anger bestellt hatte, ging daneben?" fragte sie, "wieso sagtest du, der Veranstalter sei tot?" "Anger ist mit seiner Erfindung in die Luft geflogen", nickte Berner, "als wir den Raum fanden, war es schon zu spät." "Wie furchtbar", sagte Lilli verschreckt. Da fiel Berner die seltsame Nachricht wieder ein.
"Sag mal, du kanntest ihn doch gar nicht?" forschte er, "wie kam es dann zustande, daß ausgerechnet du mir den Termin von Anger durchgegeben hast?" "Die Geschichte ist etwas länger", meinte sie und berichtete von ihrem Einkauf auf dem Markt, dem Zusammentreffen mit den beiden Männern aus dem Forschungsinstitut und schließlich von dem merkwürdigen Fund in ihrer Handtasche. "Er hatte dir also den Zettel für mich auf dem Markt gegeben, und du hast vergessen, ihn mir herauszulegen?" Lilli blickte nachdenklich auf den Teppichboden, die Entdeckung des Briefes gestern nachmittag in der Bordküche kam ihr reichlich unglaubwürdig vor. Das Spielzeug hatte er mir gegeben, dachte sie, diesen seltsamen schwarzen Briefbeschwerer, den sie als Erinnerungsstück Jochen überreichen sollte. Höchstwahrscheinlich hatte doch der Brief darunter gesteckt, es war ihr wohl in dem Augenblick nicht aufgefallen, dort am Rande des Marktes, wo es so kalt war und sie schnell wieder nach Hause wollte. "So muß es wohl gewesen sein", sagte sie, "zusammen mit diesem Spielzeug, und er sagte dabei, vielleicht beantwortet es einige deiner Fragen, so drückte er sich jedenfalls aus." Sie nestelte ihre Handtasche auf, brachte das kleine Modell der Teleportationsmaschine zum Vorschein und stellte es auf den Schreibtisch. "Meine Fragen beantworten?" lachte Berner und drehte das schwarze Kästchen mit der kupfernen Platte zwischen den Fingern, "was sollte ich noch für Fragen haben, jetzt, wo der Erfinder sie doch nicht mehr beantworten kann?"
Ein Souvenir, dachte er und stellte das kleine Gerät auf seinen Schreibtisch zurück, ein Andenken an den Mann, dem ich eine Reihe erfolgreicher Berichte verdanke. Eine Zeitlang betrachteten sie es beide schweigend, nun gut, dachte Berner, soll es hier auf dem Schreibtisch seinen Platz behalten, es steht schon genug Firlefanz herum. Dann stand er auf, nahm Lilli bei der Hand und sagte: "Komm, laß uns zu Marie gehen, ich habe Appetit auf einen mexikanischen Fleischeintopf."