Gordon McGill Little Buddha
Scan: jamison Korrektur: anybody Version 1.0, Juni 2003
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Gordon McGill Little Buddha
Scan: jamison Korrektur: anybody Version 1.0, Juni 2003
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Jesse führt ein Leben wie viele andere Jungen seines Alters. Bis zu dem Tag, da er von einem alten buddhistischen Mönsch für die Wiedergeburt eines weisen Lamas gehalten wird. Gemeinsam reisen sie ins ferne Bhutan und hinauf in den Himalaya, das sagenhafte ›Dach der Welt‹. In farbenprächtigen Traumbildern erfährt Jesse dort die Legende des Prinzen Siddhartha, der seinen Königshof verließ, um jene Erfahrungen zu machen, die ihn zu Buddha werden ließen...
Und er ist geboren, er, der das Übel der Wiedergeburt vernichten wird. Er wird die höchste Macht aufgeben, er wird seine Leidenschaften bändigen, er wird die Wahrhe it begreifen, und vor dem Licht seiner Weisheit wird der Irrtum aus der Welt verschwinden. - A. Ferdinand Herold, Das Leben des Buddhas
Prolog Im Traum sah der Mönch den alten Mann ihn anlächeln, genau wie er den Tod angelächelt hatte. Während die Trauernden mit den Tränen rangen, schloß der Sterbende die Augen und kicherte über einen unausgesprochenen Scherz. Der Mönch hörte ihn flüstern, und es war, als verriete er ein Geheimnis, daß er das Leben seit jeher amüsant gefunden hätte und keinen Grund sähe, das jetzt zu ändern. Auch als Lama Dorjes Seele weiterzog, blieb das Lächeln in seinem Gesicht — sogar noch, als sein Körper steif wurde und er das Bardo genannte Übergangsstadium durchlief; und sogar nachdem die Leiche auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, schien das sardonische Grinsen des Schädels den eigenen Zustand zu verhöhnen. In seinem Traum wachte der Mönch auf und sah den alten Mann wieder am Leben. Winkend forderte dieser ihn auf, ihm einen Hügel hinauf zu folgen. Er trug blaue Hosen und ein Oberteil, das man im Westen T-Shirt nennt. Sein Äußeres ließ den Mönch an ein westliches Sprichwort denken, das irgend etwas mit Ländern und Sitten zu tun hatte. Er versuchte sich daran zu erinnern, doch es verblaßte, bevor er sich des genauen Wortlauts entsann, und so konzentrierte er sich darauf, mit dem alten Mann Schritt zu halten, der rasch dem Gipfel entgegenstrebte. Der Hügel gehörte zu einem Vorort. Hier standen hinter Grasstreifen und in Reih und Glied angeordneten Bäumen schindelgedeckte Häuser, deren Vorgärten aussahen, als würden sie von Kosmetikerinnen gepflegt. Der Duft von Kiefern mischte sich mit dem von Rhododendren. Es war eine ruhige, ordentliche Gegend,
in der Kinder sicher waren – sogar in diesem gewalttätigen Land. Der Mönch begann zu schwitzen und spürte, wie seine Beine müde wurden und zu schmerzen begannen. Doch dann blieb der alte Mann glücklicherweise stehen und deutete nach rechts, auf ein zweitausend Quadratmeter großes, umzäuntes Stück Land, auf dem Spuren von Planierraupen und anderen Baumaschinen zu erkennen waren. Der Mönch wunderte sich über eine rechteckige Grube, die er zuerst für eine Art Massengrab hielt, wie es die seltsamen Bestattungsrituale der westlichen Länder vorschreiben. Aber der alte Mann schüttelte den Kopf, denn er hatte seine Gedanken gelesen und teilte ihm nun telepathisch mit, daß es sich um das Fundament eines Hauses handelte. Jenseits des Zauns fiel der Boden steil ab. So konnte man das Panorama der Stadt vor sich sehen, mit seinen hohen, gläsernen Gebäuden, die Drachenzähnen ähnelten, und dem schmalen, futuristischen Turm mit der Parabolantenne an der Spitze, in dem Männer und Frauen sich hin und her bewegten; winzige Gestalten, Menschen, die in himmlischen Höhen lebten. Ließ er seine Blicke schweifen, so erinnerte ihn das glitzernde Blau der Bucht und die Berge entfernt an zu Hause. Er wandte sich um, um den alten Mann zu fragen, weshalb sie hier seien, doch er war verschwunden, und der Mönch begann sich zu sorgen, daß er sich nach dem Aufwachen weder daran erinnern noch verstehen würde, was das alles bedeutete... Der Mönch blinzelte in die Morgendämmerung. Seine Beine waren so, schwer, als wäre er bergsteigen gewesen. Schweiß lief seinen rundlichen Körper entlang, und der Traum war noch lebendig, denn die Bilder waren wie mit
Säure in sein Gedächtnis eingeätzt. Während er in seinem nüchternen kleinen Zimmer auf dem schmalen Bett lag, fühlte er sich geehrt, daß er als Bote auserwählt worden war. Es würde nicht einfach sein, doch war es schon immer die Art des Lamas gewesen, seinen klügeren Schülern anspruchsvolle Aufgaben zu stellen, und der Mönch hatte keinen Zweifel daran, daß er die Baugrube auf dem Gipfel des Hügels finden würde. Es bestand kein Grund zur Eile. Das Kind; das der alte Mann war, würde Zeit zum Wachsen brauchen, bevor es den Prüfungen unterzogen werden konnte.
Erster Teil 1. Kapitel Der Badezimmerspiegel war gnädigerweise vom Dampf der Dusche beschlagen, und so rasierte sich Dean Konrad blind. Als er fertig war, hatte sich der Dampf aufgelöst, und er betrachtete sein Spiegelbild. Seine Augen waren schon wieder gerötet, und in seinem Mund klebte noch der Geschmack des Whiskys vom Vorabend. Er griff nach den Augentropfen, träufelte sie auf die Pupillen, gurgelte mit Mundwasser und blinzelte sich selbst noch einmal zu. »Fünfunddreißig und noch am Leben«, murmelte er. Seine Augen wurden langsam klar, doch er roch wie eine Drogerie. Er rieb sich mit dem Daumen das Kinn. Noch keine Spur von Speck, kein Grau im dichten, schwarzen Haar und immer noch zweiundachtzig Kilo, gut verteilt auf einem Meter dreiundachtzig. Trotzdem hatte Lisa kürzlich gesagt, er sähe »bewohnt« aus. Als er sie angeknurrt hatte, hatte sie einen Rückzieher gemacht und behauptet, es sei ein Kompliment gewesen. Früher nannte sie ihn »markig«. Heute hieß es »bewohnt«. In den letzten Monaten hatte er den Wettlauf gegen die Eitelkeit verloren. Zum ersten Mal sah er so alt aus, wie er war. Whisky und Sorgen waren eine schlechte Kombination. Als er sich mit dem Handtuch das Haar trockenrieb, versuchte er sich zu erinnern, wer den Spruch erfunden hatte, daß man seine Sorgen nicht ersäuft, sondern ihnen Schwimmen beibringt. Es fiel ihm nicht ein. Irgendein Klugscheißer, der keine neue Hypothek auf dem Hals hatte, die sich in eine Bankrotterklärung verwandeln würde.
Eine große Dosis Koffein, und er war bereit für die Fahrt zum Flughafen. Er zog sich im Schlafzimmer an und streifte die Uhr über. Halb sechs — das bedeutete vier Stunden Schlaf. Vier Stunden – das war inzwischen schon reine r Luxus geworden. Doch es gab keine andere Wahl, nicht angesichts der Pleitegeier, die über dem Dach schwebten. Er nahm seine Tasche und sah hinab auf Lisa, die so hübsch und so blond dalag, Lisa mit den perfekten Wangenknochen. Er küßte sie auf den Hals. Sie packte seinen Daumen und brummte etwas im Halbschlaf, doch er verschloß ihr die Lippen und flüsterte, es sei noch viel zu früh. Beim Hinausgehen hörte er, wie sie »Bye-bye« murmelte, und daß er nicht vergessen solle, sie vom Flughafen anzurufen. Er tappte den Flur entlang und in Jesses Zimmer. Ein Streifen Mondlicht fiel auf den Jungen, der mit eng angelegten Armen in einer Art horizontaler Habachtstellung auf dem Rücken lag und schelmisch grinste. Dean mußte schmunzeln. Schlafende Kinder sahen angeblich wie Engelchen aus – vollkommen unschuldig und entzückend. Jesse nicht. Er sah aus, als plante er das Chaos. Als er vors Haus trat, dämmerte schon der Morgen, und zum ersten Mal seit dem Frühjahr konnte er seinen Atem sehen. Er fuhr den Wagen rückwärts aus der Garage den Hügel hinauf und betrachtete den Eine-Million-DollarBlick auf die Stadt, die Bucht und die Berge. Das Panorama war großartig. Zumindest konnte er es nach wie vor bewundern. Er war noch nicht abgestumpft. Er konnte noch staunen. Noch...
Für Lisa sollte es ein normaler Tag werden: ein Weckruf von Dean, bevor er ins Flugzeug stieg, ein eindringliches »Verhör« von Jesse beim Frühstück, an das sie sich schon nicht mehr erinnerte, dann in die Schule. Die dritte Klasse war launisch und unkonzent riert. Einige der älteren Jungen hatten sie mit lüsternen Blicken bedacht. Die Fünfte, die Problemklasse, hatte sich mürrisch und gelangweilt gezeigt. In manchen Momenten, wenn sie in die desinteressierten Gesichter blickte, wünschte sie, sie hätte Geschic hte studiert, so daß sie den Schülern etwas erzählen konnte, anstatt zu versuchen, sie für die Geheimnisse der Infinitesimalrechnung und die Wunder von n zu begeistern. Doch auf der anderen Seite standen die Pluspunkte: das kleine Mädchen mit den Locken und der dickköpfige, zehnjährige Junge mit dem Superhirn – beide Naturbegabungen, beide für den Weg an die Universität vorbestimmt und die einzigen, die sich wirklich für das Fach interessierten, die einzigen, die die Schönheit der Geometrie erkannten. Und Jesse. Als sie mit dem kleinen VW von der Schnellstraße abbog, fragte sie sich, welche Richtung er wohl einschlagen würde. Momentan war er ein Allroundtalent und zeigte keine besondere Neigung für ein bestimmtes Fach. Aber es war ja noch Zeit. Was er besaß, war eine begnadete Kombination von grenzenloser Neugier und ausbaufähigen Begabungen. Sie stimmte im stillen einen Du-kannst- von-Glück-sagen-Gesang an, so ähnlich wie ein Mantra, in dem sie Gott oder wem oder was auch immer für Dean, Jesse und ein schönes Zuhause in einer tadellosen, drogenfreien und von Verbrechen praktisch verschonten Gegend dankte. Beim Aussteigen sog sie die frühherbstliche Luft tief in die Lungen und sagte sich zum x-ten Mal: Wenn du es nicht
schaffst, in Seattle im Bundesstaat Washington, der letzten Bastion des Liberalismus, einen Achtjährigen zu einem lebenstüchtigen, gebildeten jungen Mann, dem die Welt zu Füßen liegt, zu erziehen... dann, Lisa, hast du irgendwie versagt. Sie ging hinüber an den Zaun der Schule, sah den Kindern beim Spielen zu und hielt dabei Ausschau nach der Seahawks-Jacke und dem blonden Schopf. So konzentriert suchte sie nach ihm, daß sie erst, als sie eine Stimme hinter sich hörte und vor Schreck zusammenzuckte, merkte, daß sie beobachtet wurde. »Ein schöner Tag heute.« Sie drehte sich um und sah hinter sich einen kleinen, kahlen, rundlichen Mann in einem rotbraunen Gewand stehen. Er hatte die Arme verschränkt, die Hände in die weiten Ärmel gesteckt und lächelte sie an. Um die sechzig, dachte sie, ohne Falten, wie ein erwachsenes Baby. Sie stimmte seiner Bemerkung über das Wetter zu und wandte sich wieder zum Zaun. »Ich bin ein buddhistischer Mönch.« Aha, dachte sie. Gut. Schön. »Aus Tibet.« Die Stimme war schwer einzuordnen, ohne merklichen Akzent, ohne eindeutige Modulation, und gab keinen Grund für schnelle Urteile oder Vorurteile. »Ich heiße Kempo Tenzin.« Sie wandte sich erneut um und sah auf ihn hinab. Er verbeugte sich. Sein Lächeln wurde breiter, und die kleinen Augen verschwanden fast zwischen Speckfalten. »Ich lehre hier«, sagte er. Das war nicht übermäßig interessant, doch sie versuchte, ihr »Oh, tatsächlich?« aufrichtig klingen zu lassen.
Er verbeugte sich wieder, und sie verspürte den Drang, ihn mit nach Hause zu nehmen, ihm eine Angel in die Hand zu drücken, einen Teich zu bauen und Gartenzwerge um ihn herumzustellen. Er schien auf eine Reaktion zu warten. »Ich bin auch Lehrerin«, sagte sie. Er nickte. »Mathe.« Diese Neuigkeit gefiel ihm. »Wie ich«, sagte er. »Außerdem lehre ich Astrologie. Vor allem Astrologie.« »Wie ungewöhnlich«, bemerkte sie spitz und wartete auf die unvermeidliche Folgefrage. Was war sie für ein Sternzeichen? Doch sie kam nicht. »Wir Tibeter haben ein sehr hoch entwickeltes astrologisches System«, erklärte er. Doch sie hörte ihm nicht mehr zu. Sie hatte Jesse entdeckt und winkte ihm zu. Der Mönch kam näher, und ihr stieg ein seltsamer Geruch in die Nase, wie von leicht ranziger Butter vermischt mit Räucherstäbchen. Sie schaute ihn noch einmal an. Nun sah er nicht mehr nur aus wie ein Baby, sondern roch auch wie eines: Säuglingsmilch und Haschisch; eine Art dicker, alter Baby-Hippie. Sie mußte ein Grinsen unterdrücken. Er blickte über den Hof, während Jesse auf sie zustürmte, und fragte dann höflich: »Darf ich fragen, an welchem Tag Ihr Sohn geboren wurde?« Im ersten Moment wollte sie ihn mit einem schnippischen »Was geht Sie das an?« abfertigen, doch sein Gesicht war so unschuldig und seine Stimme von so dezenter Wißbegier, daß sie ihm eine Antwort gab: am ersten März. »Und um welche Uhrzeit?« »Morgens. Früh. Um halb sieben, glaube ich.«
Seine Reaktion war erstaunlich. Er klatschte in die Hände und führte einen kleinen Freudentanz auf. Es war, als hätte er im Lotto gewonnen. »Wunderbar, wunderbar«, meinte er. »Halb sieben. Etwas ganz Besonderes.« Sie wollte ihn schon fragen, was so Besonderes daran sei, im Morgengrauen im März ein Kind zu gebären, doch Jesse hatte sich an den Zaun gestürzt und schnitt ihr alberne Grimassen. Sie registrierte kaum, daß der Mönch ihr eine Visitenkarte zusteckte und sich dann rückwärtsgehend entfernte. Flüchtig dachte sie an etwas, was sie einmal gelesen hatte: Majestäten wendet man nicht den Rücken zu. Dann fing Jesse wieder eine seiner inquisitorischen Befragungen an, und sie dachte nicht mehr an Kempo Tenzin... Er sah ihr nach, wie sie davonging, eine große, schlanke Schönheit im maßgeschneiderten Kostüm, und neben ihr der kleine Junge, der auf und ab hüpfte, wobei sie beide aussahen wie aus einem Werbespot für Haarshampoo. Am Tor umarmten sich Mutter und Sohn, und Kempo Tenzin umarmte sich vor Begeisterung selbst. Er hatte die Prüfung bestanden. Jetzt mußte er nur noch ein Postamt finden, von dem er die Nachricht nach Hause senden konnte.
2. Kapitel An jenem Septembermorgen, der später der Tag des Telegramms genannt werden sollte, war der junge Mönch Chompa in Tagträumen versunken. Er saß am Fenster unter dem Dachvorsprung des alten Klosters und blickte nach Norden, zu den Bergen und der unmarkierten Grenze zwischen Bhutan und Tibet. Er dachte an seine Eltern und an die anstrengende zweitägige Wanderung auf den Paß, die er vor fünf Jahren mit ihrer Asche in einer Messingurne, die er unter seinen Gewändern verborgen hielt, unternommen hatte. Sie waren beide innerhalb einer Woche gestorben, und er hatte sein Versprechen gehalten, ihre Asche in dem Land zu verstreuen, aus dem sie zwölf Jahre vor seiner Geburt geflüchtet waren. Als sie ihn darum baten, war ihre einzige Angst, daß er von Soldaten entdeckt und gefangengenommen werden könnte, doch er war ihnen sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg mit Leichtigkeit entwischt. Nicht einmal die Chinesen mit ihren Menschenmassen konnten Patrouillen für den gesamten Himalaya aufstellen. Er wußte noch, daß es in Tibet so ähnlich wie in Bhutan ausgesehen hatte, doch von jenem Tag an empfand er die Sehnsucht, zurückzukehren, vielleicht Lhasa zu sehen und auf jeden Fall im Land seiner Eltern zu sterben. Bis dahin würden die Chinesen ja bestimmt abgezogen sein. Bestimmt wären sie in vierzig oder fünfzig Jahren, wenn seine Zeit gekommen war, wieder vernünftig geworden... »Also dann. Paßt auf...« Die Stimme des Lamas riß ihn aus seinem Traum, und er wandte sich vom Fenster ab.
Der alte Mann wollte eine seiner Geschichten erzählen. Er saß auf einem Podium neben einer lebensgroßen, steinernen Buddha-Figur, und Chompa mußte nicht zum ersten Mal daran denken, wie ähnlich sie einander waren: die gleiche Leibesfülle, der gleiche Stiernacken, die gleichen bulligen Schultern und die gleiche gütige Miene. Wenn der Buddha mit den Augen zwinkern könnte, hätten sie Brüder sein können. Die zwanzig jungen Mönche, die im Halbkreis vor dem alten Mann saßen, mußten nicht extra dazu aufgefordert werden zuzuhören, denn Lama Norbu war berühmt für seine Geschichten. Er besaß eine sonore Stimme und einen hypnotischen Blick, und Chompa, der seinen Blick über die Jungen mit den bis auf schwarze Stoppeln abrasierten Haaren und den rotbraunen Gewändern schweifen ließ, mußte an Kobras denken, die einem Mungo gegenübersaßen. Als der Lama zu erzählen anfing, flüsterte er, damit die Jungen sich konzentrieren mußten. »Es war in alter Zeit«, begann er, »lange bevor dieses Gebäude errichtet wurde, und dort draußen...« – er zeigte auf das Fenster, und zwanzig Köpfe fuhren herum »...stand eine Schar Dorfbewohner vor einem steinernen Altar.« Chompa hatte die Fabel schon oft gehört. Sie handelte von einer Ziege, die um einer guten Ernte willen geopfert werden sollte, doch gerade als das Messer erhoben wurde, sprach sie zu dem Hohepriester, lachte ihm ins Gesicht und erklärte ihm, wie erfreut sie darüber war, ein weiteres Mal zu sterben. Der alte Mann erzählte die Geschichte aus beiden Perspektiven und ahmte einmal die Stimme des Priesters, einmal das Meckern der Ziege nach.
»›Nachdem ich vierhundertneunundneunzigmal gestorben bin‹, sagte die Ziege, ›und als Ziege wiedergeboren wurde, werde ich nun als Mensch wiedergeboren werden.‹« Einer der Kleineren klatschte in die Hände. Chompa mahnte ihn zur Ruhe, worauf das Gesicht des Jungen eine so tiefrote Färbung annahm wie sein Gewand. Der Lama sprach weiter: »Die Ziege fügte hinzu: ›Ich denke an dich, du armer Priester. Vor fünfhundert Jahren war ich auch ein Priester und habe wie du den Göttern Ziegen geopfert.‹ Daraufhin fiel der Priester auf die Knie und stammelte: ›Vergib mir, ich flehe dich an. Von nun an will ich der Hüter und Beschützer aller Ziegen im Land sein.‹« Der kleinste Junge riß vor Erstaunen den Mund auf. Chompa starrte ihn an und sandte ihm durch Gedankenübertragung eine Botschaft. Mach den Mund auf und fang Mücken. Der Junge klappte den Mund wieder zu. Ruhig erzählte der alte Mann weiter, wie die Ziege wußte, daß ihre Zeit gekommen war. Tatsächlich schlug ein greller Blitz in das Gebirge ein und prallte mehrmals von den Felsen ab, bevor er sie erschlug. »Ihr Kopf wirbelte durch die Luft«, sagte der Lama, »und landete direkt vor dem knienden Priester. Sie lächelte.« Nun herrschte Stille; der ganze Raum war wie ein atmendes Stilleben. »Also?« fragte der alte Mann. »Was lehrt uns diese alte Geschichte?« Im Chor riefen sie: »Daß kein Lebewesen jemals geopfert werden darf.«
Lama Norbu hob den rechten Zeigefinger. »Denn wer etwas Böses tut...« »Wird bestimmt etwas Böses erleiden«, erwiderten sie. Zufrieden mit ihren Antworten, nickte Lama Norbu und lächelte. Der jüngste Mönch machte immer noch ein unglückliches Gesicht. Er hob sein winziges Händchen, und Lama Norbu rief ihn auf. »Was ist mit der Ziege passiert?« »Ach ja, die Ziege. Die Ziege hatte viele Leben als Mensch, bis sie sich eines Tages in jemand wirklich Merkwürdigen verwandelte...« Er machte eine Kunstpause und streckte dann auf einmal den Zeigefinger aus. »Sie wurde zu... Chompa.« Chompa reagierte auf sein Stichwort, ließ sich auf alle viere sinken, wackelte meckernd durch den Raum und warf den Kopf hin und her. Er machte sich gut als Ziege. Die Jungen lachten und klatschten Beifall, und Lama Norbu und der Buddha strahlten sie an. Als es wieder leiser wurde, öffnete sich die Tür, und ein alter Mann mit einem Umschlag in der Hand kam herein. Er verbeugte sich vor Lama Norbu und gab ihm das Papier. Der Lama schaute verwirrt. Es war das erste Mal, daß das Kloster ein Telegramm erhielt. Nachrichten aus der »anderen Welt«, die am Fuße des Gebirges lag, drangen selten bis in die Berggipfel zu den Mönchen vor. Er setzte seine Brille auf, las gewissenhaft und strahlte Chompa an. »Acht Jahre habe ich hierauf gewartet«, sagte er, und Chompa wollte schon fragen, was es war, als ein Gong ertönte; alle jungen Mönche zugleich sahen bittend den Lama an, wie ein Haufen hungriger Küken.
»An euren flehenden Gesichtsausdrücken«, meinte er, »kann ich erkennen, daß eure Mägen nun völlig die Kontrolle über eure Gedanken übernommen haben, also geht nun lieber und eßt.« Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, und binnen weniger Sekunden waren die beiden Männer allein. »Geht es um Lama Dorje?« fragte Chompa. Lama Norbu nickte. »Haben sie ihn gefunden?« »Vielleicht.« ›Vielleicht‹ war genug für Chompa. ›Vielleicht‹ bedeutete die Möglichkeit, die Welt zu sehen. Wenn das ›Vielleicht‹ zu einem ›Wahrscheinlich‹ werden könnte, dann würde er, als Lieblingsschüler des alten Mannes, auf die Suche gehen. Er würde das Gebirge verlassen, in die Ebene reisen, ein Flugzeug besteigen und über den Ozean fliegen. Bereits die Vorstellung machte ihn schwindelig. Der alte Mann hatte eine schlechte Nacht mit kalten Schweißausbrüchen und Alpträumen hinter sich. Das Gesicht Maras, des Fürsten der Dunkelheit, verhöhnte ihn, denn im Schlaf bekam er plötzlich Angst vor dem Tod, und Mara lachte über seine Schwäche. Im wachen Zustand hatte er keine Angst vor dem bevorstehenden Tod, davor, daß dieses spezielle Leben enden würde, doch im Schlaf raubte Mara ihm den Schutzschild seines Glaubens und terrorisierte ihn, als wäre er ein Ungläubiger. Langsam wachte er auf und erhob sich von der Pritsche. Sein Rücken schmerzte, doch er nahm keine Notiz davon. Auf einem Altar unter dem Fenster standen zwei Butterlampen. Als er sie anzündete, erleuchteten sie
den Raum in mattgelbem Schimmer. Er war so klein wie eine Zelle und enthielt nichts als das Bett und den hölzernen Altar, auf dem sich eine Schale an die andere reihte, zwischen denen eine gerahmte Fotografie stand, auf der ein alter Mann in die Kamera grinste und an seinem linken Ohrläppchen zog. Lama Norbu saß vor dem Altar und neigte in Meditation versunken den Kopf. Binnen Sekunden verlor er sein Zeitgefühl. Eine Stunde verstrich, dann noch eine. Das Licht veränderte sich und der erste blasse Schimmer der Morgendämmerung drang durch die Ritzen der Fensterläden. Ein Hahn krähte. Der alte Mann öffnete die Augen, erhob sich unter Schmerzen, schritt zurück und ließ sich wieder vor den Altar fallen, wobei er dreimal mit der Stirn den Fußboden berührte und ein Mantra murmelte. Der Schweiß strömte ihm in winzigen Tröpfchen von Stirn und Oberlippe, und er atmete stoßweise. Dann stand er auf und öffnete die Fensterläden. Die Gipfel des Himalaya schimmerten blaßrosa. An diesem Blick konnte er sich nie sattsehen. Einer solchen Aussicht überdrüssig zu werden hieße, die Seele zu verspotten. Er nahm den Rahmen, holte die Fotografie heraus, berührte seine Stirn damit und legte sie in die Truhe. Dann begann er zu packen: zwei rotbraune Gewänder, mehrere Garnituren wollener Unterwäsche und einen Armvoll loser Blätter aus der Schrift. Er setzte sich erneut aufs Bett und holte tief Luft. Das Geräusch aus seiner Lunge klang ungesund — ein Schnarren, als würde Holz zersägt. Er nahm eine kleine Schachtel vom Altar, öffnete sie und legte sich eine schwarze Pille unter die Zunge. Die Pillen würden dieses spezielle Leben verlängern, zumindest bis seine Aufgabe erledigt war. Er
würde sich nicht dazu erniedrigen, den Buddha um einen Gefallen zu bitten, doch hoffte er, daß ihm der Wunsch erfüllt würde, vor seinem Tod Lama Dorje wiederzusehen. Eine Stunde später ging er hinaus in die Morgenluft und schritt langsam die äußere Treppe zum Hof hinunter. Hinter ihm trugen zwei junge Mönche die Truhe, auf der zwei Koffer lagen. Danach folgte Chompa in gemächlichem Schritt und bemühte sich, feierlich dreinzusehen, da er nicht wollte, daß man ihm die Aufregung ansah. Sie überquerten den Hof und gingen durch einen Säulengang. An dessen Ende arbeiteten zwei Mönche auf einem Zeichentisch an einem Mandala. Es bestand aus einem Sandkreis von einem Meter achtzig Durchmesser. Sie waren gerade dabei, ein kompliziertes Muster abzustecken. Lama Norbu blieb kurz stehen, sah es sich an und ging weiter, blieb aber kurz darauf wieder stehen, als in einer Tür ein hochgewachsener, würdevoller alter Mann erschien, der kaum gehen konnte und von einem jungen Mönch gestützt wurde. Der Lama ging zu ihm und hielt ihm seine Kata entgegen. Der alte Mann segnete den weißen Schal und legte ihn dem Lama auf die linke Schulter, wie es die Tradition verlangte. »Wir werden alle für den Erfolg Eurer Mission beten«, sagte er mit keuchender Stimme. »Ich danke Euch, Abt«, sagte der Lama. Sie berührten einander mit der Stirn, und die Prozession setzte ihren Weg zum Haupttor fort. »Vergeßt nicht, Eure Medizin zu nehmen«, rief ihnen der Abt hinterher.
Der Lama nickte und ging den gepflasterten Weg zu einer überdachten Brücke hinab, die sich über den Fluß spannte. Auf halbem Weg stellte sich ihnen ein verwahrloster Mann in schmutzigen Fellen in den Weg. Aus seinen verfilzten, schulterlangen Haaren stand ein gelber Knochen hervor. Er hatte auffällig großen Jadeschmuck in den Ohren, und ein schiefes Grinsen zog sich über sein wettergegerbtes Gesicht. Er hob eine Hand, um sie zum Stehenbleiben zu bringen, während er mit der anderen aus den Falten seiner Felle eine hölzerne Schale hervorholte und sie ihnen entgegenhielt. Chompa dachte zuerst, er wolle betteln, doch dann machte er eine Verbeugung und räusperte sich. Als er zum Sprechen ansetzte, knarrte seine Stimme, da er sie lange nicht gebraucht hatte. »Diese Schale gehörte Lama Dorje«, sagte er. »Er hat sie mir geschenkt, als ich vor dreizehn Jahren wegging, um in meiner Höhle zu leben. Ihr werdet sie auf Eurer Suche brauchen.« Chompa starrte ihn an und versuchte, sich zu erinnern. Er mußte etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als er diesen Mann zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war er aufrecht und muskulös gewesen und hatte leuchtende Augen gehabt, doch er hatte den Weg des Asketen gewählt, um die Erlösung zu finden. Vermutlich hatte er die ganzen Jahre nie gesprochen, und Chompa fragte sich, ob es weh tat. Während der Asket die Schale mit dem Ellbogen auswischte, schmunzelte er. »Lama Dorje bestand stets darauf, daß alles sauber war«, sagte er. »Ich eingeschlossen.« Chompa runzelte die Stirn und fand sein Verhalten gegenüber dem Lama respektlos, doch der alte Mann
zeigte keinen Anflug von Ärger. Statt dessen verbeugte er sich, als er die Schale entgegennahm. »Und wie lebt es sich als Einsiedler?« fragte er. »Wie erwartet. Als ich in die Höhle ging, war ich ein kompletter Narr. Nun, da ich für einen Tag herausgekommen bin, stelle ich fest, daß ich ein noch viel größerer Narr bin.« Dies fand er enorm komisch. Er schüttelte den Kopf, stieß ein kreischendes Lachen aus, drehte sich um, rannte zurück über den Fluß und verschwand im Wald. Der alte Mann setzte sich langsam wieder in Bewegung, und Chompa folgte ihm über die Brücke, wandte sich um und wagte einen Blick nach Süden, in Richtung der Gegend, die man Tal nannte, wo sie ein Flugzeug besteigen und über den Ozean in eine Zukunft namens Amerika fliegen würden.
3. Kapitel Die Schicht des jungen Zollbeamten näherte sich ihrem Ende, und – wie es heutzutage üblich ist – seine Toleranzgrenze war langsam überschritten. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, daß ihn sein Beruf verdarb. Angefangen hatte er als aufgeschlossener Liberaler mit sämtlichen passenden, politisch korrekten Antworten, doch nun, nach zwei Jahren, wurde er mittlerweile ein bißchen bigott. Er streckte den armen und geknechteten Massen nicht mehr automatisch die Hand zum Willkommensgruß hin: Die zwei Jahre, in denen er Schmuggelware in ihrem Gepäck und Verschlagenheit in ihrer vorgetäuschten Unschuld entdeckt hatte, hatten ihn verhärtet. Er fragte sich, wenn er, Steve McGovern, ein netter College-Absolvent aus einer demokratisch gesinnten Familie aus dem Bundesstaat Washington, tatsächlich Vorurteilen zum Opfer fallen konnte — welche Chance hatten dann seine Kollegen in New York, Miami oder der Grenzpatrouille am Rio Grande? Allmählich machte sich Verbitterung in ihm breit. Letztes Mal hatte er schon Bush gewählt. Er sah auf seinem Plan nach. Der nächste Schwung, der ankommen sollte, war ein Air-India-Flug aus Neu-Delhi. Eine weitere Ladung Sarongs, Saris und Sandalen. Vielleicht hatte er ja Glück. Vielleicht würden ja Joe und Big Mick unten bei der Einreise gehässig werden, nur Amerikaner hereinlassen und den Rest über den Pazifischen Ozean zurückschicken. Dann sah er auf, und sein Gesicht, das einst den Fremden instinktiv entgegengelächelt hatte, nahm einen mißmutigen Ausdruck an.
Er warf Harry am benachbarten Schalter einen Blick zu und konzentrierte sich dann auf die ersten beiden, die auf ihn zukamen. Rotbraune Gewänder und kahlrasierte Köpfe. Der Große war eine ältere Version von George Foreman, der jüngere ein Mondgesicht, das sich staunend umsah. Sie wirkten wie eine Art Doppelgängernummer aus dem Varieté und gingen mit ihren beiden kleinen Taschen und einer Truhe auf einem Wagen, die aussah, als stammte sie aus Noahs Arche, auf den Ausgang »Zollfreie Waren« zu. — Das habt ihr euch wohl so gedacht. — »Verzeihen Sie, die Herren.« Seine Worte klangen sarkastisch, und er beorderte sie, unverschämt mit dem Zeigefinger deutend, zu sich her. Der Junge rollte den Gepäckwagen auf ihn zu. Er sah auf die Truhe und stellte fest, daß sie aus Holz und mit allen möglichen komplizierten Schnitzereien versehen war. Verwundert fragte er sich, wie hoch wohl die Gebühr gewesen war, die sie hatten zahlen müssen, um dieses Baby ins Land zu bringen. Der Junge machte sie auf. Die Scharniere knarrten. Der Alte beobachtete genau, wie McGovern sich über den Inhalt hermachte. Der Truhe entstieg ein muffiger Geruch von ranziger Butter und Räucherwerk. McGoverns Nasenflügel zuckten. Er sah zu dem alten Mann auf, und das erste Wort, das ihm für dessen Beschreibung in den Sinn kam, war klischeehaft: unergründlich. Falsch, dachte er. Mehr als das. Er suchte nach dem treffenden Wort. Onkelhaft vielleicht. Nein. Der alte Knabe sah ihn an, als täte er ihm leid. Mitleidig. Das war es, und McGoverns Mißstimmung schwang in Wut um.
»Haben Sie Drogen oder Handfeuerwaffen, Früchte oder Gemüse dabei?« Er ratterte die Frage monoton herunter, wie ein Polizist, der einem Verdächtigen seine Rechte vorliest. »Nein«, sagte der alte Mann. Grob durchwühlte er Gewänder und Unterwäsche, zerrte die Kleidungsstücke heraus und blickte in eine Schatzhöhle wie aus Tausendundeiner Nacht. Lauter alte Schalen, aller möglicher Tand, Trommeln und kleine, schmerbäuchige, grinsende Buddhas, bis er fand, was er gesucht hatte – etwas, das das selbstgefällige Mitgefühl auf dem Gesicht des alten Knaben erlöschen ließ. Der Dolch besaß eine heimtückische, dreieckige Klinge. Er hielt ihn in die Höhe und pfiff durch die Zähne. Wenn man das in lebendiges Fleisch bohrte, würde die Wunde niemals heilen. Er beäugte das Heft, das wie ein grauenerregender Greif geformt war. »Wozu brauchen Sie das?« herrschte er den alten Mann aggressiv an. »Das ist ein religiöser Gegenstand«, erklärte dieser. »Man verwendet ihn, um die Bande des Unwissens zu durchtrennen.« Natürlich, dachte McGovern; er könnte ohne weiteres eine Schlagader durchschneiden. »Tja. Für mich sieht das wie eine Waffe aus.« Eins zu null, dachte er und legte den Dolch auf den Tisch. Während er seine Durchsuchung fortsetzte, hörte er eine wohlbekannte Stimme hinter sich sagen »Das ist schon in Ordnung«, drehte sich um und sah, wie sein Chef durch den Raum auf ihn zukam: Roger, der einen Schmuggler auf hundert Meter Entfernung erkannte, Roger mit den Röntgenaugen und dem angeborenen Mißtrauen, ein Mann, der so oft recht hatte, daß man ihm
telepathische Fähigkeiten nachsagte. Und nun tat er etwas Merkwürdiges. Er stellte sich vor den alten Mann, legte die Handflächen aneinander und verneigte sich. Dann nahm er den Dolch und legte ihn zurück in die Truhe. »Sie können weitergehen, Lama«, sagte Roger. »Und willkommen in Seattle.« Lama? McGovern blinzelte, als er den beiden Männern nachsah, wie sie in ihren Gewändern auf den Ausgang zuschritten, und dann fiel es ihm wieder ein. Ein Lama war doch ein Priester, oder nicht? Also stimmten die Gerüchte. Roger war eben doch ein verdammter Buddhist. Vielleicht hatte er daher seine telepathischen Fähigkeiten. Amen, sagte McGovern zu sich selbst. Noch zwei Irre mit einem Dolch im Land der Freiheit; ein Tropfen im Ozean. Chompas erster Eindruck von den Menschenmassen in der Ankunftshalle war von verwirrender Vielfalt: so viele verschiedene Haut- und Haarfarben, so viele verschiedene Kleidungsstücke und Hüte, und beinahe jeder war mit irgendeiner Botschaft versehen. Leute gingen an ihm vorbei, deren Jacken verkündeten, sie seien Coca-Cola, ein Seahawk oder ein New York Met, ein Superbowl '93 oder ein Hollywood. Sämtliche Kappen waren mit Buchstaben verziert; auf fast allen TShirts waren Zahlen auf der Rückseite aufgedruckt – alles völlig rätselhaft. Sowohl Männer wie Frauen trugen enge Kleidung, die gewiß unbequem war und ihn in so viel entblößtes Fleisch einblicken ließ, daß er einen Moment lang die Augen schließen mußte, um das
aufflammende Feuer des Samsara zu ersticken. Als er sie wieder öffnete, erblickte er einen beruhigend gewohnten Streifen Rotbraun hinter der Glaswand, die Pforte nach Amerika, und erkannte Kempo Tenzin, der ihm zuwinkte; der dicke, kleine Tenzin, den er nicht mehr gesehen hatte, seit er ein kleiner Junge war. Lama Norbu schritt bereits auf Tenzin zu, so daß Chompa Mühe hatte, ihm nachzukommen. Er überholte mit seinem Gepäckkarren schnell den Lama, damit er der erste wäre; der Amerika betrat. Verblüfft zuckte er zusammen, als die Glaswand surrte und sich teilte, ohne berührt worden zu sein. Tenzin ging ihnen entgegen, hieß sie willkommen und zeigte auf etwas namens Parkplatz. Chompa konnte die ganzen Eindrücke, die durchs Fenster auf ihn einstürmten, gar nicht auf einmal verarbeiten. Peinlich wurde ihm Lama Norbus Mißbilligung bewußt, als er bemerkte, daß ihm der Mund offenstand und die Zunge schlaff auf der Unterlippe lag. Mach den Mund auf und fang Mücken. Er klappte ihn so hastig zu, daß er sich auf die Zunge biß. Die Schnellstraßen, wie Tenzin sie na nnte, schlängelten sich über Brücken und Wasseradern, vereinigten und trennten sich wieder, und Autos rasten auf ihnen entlang wie fleißige Ameisen. Die in den Himmel ragenden schlanken Gebäude mußten Trugbilder sein, eine Art optischer Täuschung, wie ein Mandala, nur ohne jede Symmetrie. Lama Norbu hatte versucht, ihn darauf vorzubereiten, indem er ihm das Phänomen der Zeitverschiebung erklärte und ihn vor dem sogenannten Kulturschock warnte, aber Chompa fühlte sich dennoch von den ersten Eindrücken erschlagen. Außerdem konnte er nicht
gleichzeitig mit diesem Ort namens Seattle fertig werden und Tenzin zuhören, und so schloß er die Augen. »... es fing etwa einen Monat nach seinem Tod an«, berichtete Tenzin. »Jedesmal derselbe Traum.« Lama Norbu hörte konzentriert zu, als der Mönch ihm den Traum beschrieb, und unterbrach ihn nur ein einziges Mal. »Jeans?« fragte er. »Er hatte Jeans an?« »O ja«, antwortete Tenzin kichernd. »Andere Länder, andere Sitten. Das ist ein westliches Sprichwort.« Dann plapperte er aufgekratzt weiter und erzählte, wie er seine detektivischen Fähigkeiten entdeckt und sich von einem Gebäude namens Space Needle aus orientiert hatte. »Seht«, sagte er und deutete auf den Turm, der die Silhouette der Stadt dominierte. »Schön, nicht wahr? Eines der höchsten Gebäude an der Westküste. Einhundertvierundachtzig Meter hoch. Und die Bucht, schaut doch. Sie heißt Fuget Sound, und der Hügel dort drüben Mount Rainier.« Chompa schlug die Augen auf und dachte, daß Tenzin möglicherweise in seiner Wahlheimat der Sünde des Stolzes schuldig geworden war, aber es störte ihn nicht. Wenn es denn eine Sünde war, so war sie geringfügig. Tenzin plauderte angeregt weiter. »Ich bin oft an die Stelle gegangen, jedesmal, wenn der Traum wieder gekommen war, doch alles war stets unverändert, bis ich im vergangenen Jahr eines Tages sah, daß sie angefangen hatten, ein Haus zu bauen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus: Wie er beim Hausbau zugeschaut und dann die Familie hatte einziehen sehen, wie schön die Frau mit dem gelben Haar war und wie hübsch der kleine Junge mit dem gleichen
feinen, gelben Haar, und wie er herausgefunden hatte, daß sie Konrad hießen. »Wie denn?« fragte Lama Norbu. »Von ihrem Briefkasten«, antwortete Tenzin. Er berichtete weiter, daß er sich nicht dazu hatte durchringen können, sie anzusprechen oder bei ihnen zu läuten, und Chompa nickte beifällig im Halbschlaf. Der Respekt vor dem Privatleben anderer stand über allem. Tenzin erzählte, wie er Jesse in der Schule gesehen hatte und sich eines Tages ein Herz gefaßt und einfach am Zaun auf seine Mutter zugegangen war... Dann schlief Chompa ein. Lisa saß an ihrem Schreibtisch und korrigierte Algebraaufgaben, als es an der Tür klingelte. Sie hörte, wie sich Maria in der Küche sofort in Bewegung setzte, und brüllte: »Lassen Sie nur, ich geh' schon.« Gähnend stieg sie die Treppen hinab und überlegte, daß es wohl Sally von nebenan wäre und sie am besten gleich Kaffee aufsetzte und eine Pause machte. Als sie an der Tür angekommen war, dachte sie zum hundertsten Mal, wie schön es war, in einer Gegend zu leben, wo man keine Türspione und Ketten und so weiter brauchte. Sie öffnete und erblickte das kleine, alte Baby in seinem rotbraunen Gewand. Er verneigte sich tief, richtete sich wieder auf und sagte: »Mrs. Konrad. Erinnern Sie sich noch an mich?« Wie hätte sie ihn vergessen können – aber wie hieß er doch gleich noch mal, warum folgte er ihr, und wie hatte er das Haus ausfindig gemacht? Sie sagte bloß »ja« und wartete ab. Dann fiel ihr die Visitenkarte wieder ein.
»Ach ja, Ihre Karte mit der Einladung in Ihr...« Sie hatte das Wort vergessen, doch dann kam sie darauf. »... Dharma-Zentrum. Ich hatte leider einfach keine Zeit.« Er zuckte die Achseln und blickte hinter sich, und sie sah ein zweites Mondgesicht am Tor stehen, einen großen, bulligen Mann, der sie beobachtete, und für einen Augenblick wurde sie ängstlich und war froh, daß Maria im Haus war. Für alle Fälle. »Ich hoffe, wir stören nicht«, sagte Tenzin. Das taten sie zwar, doch es war egal; sie störten lediglich ihre Korrekturarbeiten in Algebra. Außerdem war er so überaus freundlich und unaufdringlich, nicht wie die Zeugen Jehovahs oder die gruseligen Moonies oder die Mormonen, die einfach den Fuß in die Tür stellten. »Mein Freund Lama Norbu« – er wies mit dem Kopf in Richtung des großen Mannes – »ist soeben erst aus Bhutan angekommen.« Bhutan? Denk nach. Im Himalaya, stimmt's? »Er ist ein sehr bedeutender Lama.« Er hielt inne, während Lisa nach Worten suchte, die nicht allzu abgedroschen klangen. »Er ist noch nie in Amerika gewesen.« Tenzin scharrte mit seinen Sandalen und sah verlegen drein. »Und ich dachte...«, sagte er. »Ja?« »Ich dachte... ob es eventuell möglich wäre... er ist in einer ganz besonderen Mission unterwegs.« Lisa lächelte und machte seiner Not ein Ende, indem sie die beiden hereinbat. Und wieder das Strahlen. Er hatte erneut im Lotto gewonnen. »Ja, ja«, sagte er und winkte den alten Mann herbei. »Es wird sehr interessant
für ihn werden.« Als der Lama auf sie zukam und Tenzin sie einander vorstellte, dachte sie: Buddhisten sind doch Pazifisten, oder? Würden buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun. Das Gegenteil von Wahnsinnigen. Ich kann diese Leute in mein Haus lassen, oder? Natürlich. Sie führte sie nach oben und entschuldigte sich für das Durcheinander. »Wir sind erst vor ein paar Wochen eingezogen. Mein Mann hat das Haus entworfen. Er ist Architekt.« Sie brachte sie ins Wohnzimmer mit dem Eine-MillionDollar-Blick über die Stadt, die Bucht und die Berge: zwei Stühle, ein Sofa, ein Couchtisch und noch untapeziert; immer noch, wie sie mit Dean gescherzt hatte, »unbewohnt«. Im Gegensatz zu seinem Gesicht. Sie sah dem Lama zu, wie er direkt auf den Couchtisch zuschritt und die gerahmte Fotografie nahm, die auf der Skihütte gemacht worden war und auf der sie Dean anlächelte, während Jesse zwischen ihnen saß und an seinem Ohr zupfte. Der Lama betrachtete das Foto konzentriert, und ihr fiel auf, daß es Jesse war, den er musterte. »Sie sehen ja«, bemerkte sie, »daß wir immer noch aus Kisten leben.« Lama Norbu stellte das Bild wieder hin. »Sehr schön«, sagte er. »Sehr leer.« Angesichts dieser Beschreibung mußte Lisa kichern. »Ja«, sagte sie. »Mein Mann liebt die Leere. Er möchte es gern so beibehalten.« Gut, dachte sie, was bietet man Tibetern denn an? Kaffee? Nein. Tee?
Nein danke. Und kein Small talk. Sie setzten sich einfach hin, Tenzin auf einen Stuhl und der Lama im Schneidersitz auf den Boden. Er zog die Schuhe aus. Ein Geräusch veranlaßte sie dazu, sich umzudrehen. Maria stand in der Tür und starrte die Männer an. »Mrs. Konrad«, sagte sie, ohne den Blick von ihnen abzuwenden. »Ist es Ihnen recht, wenn ich jetzt gehe?« »Ja, ist gut. Bis morgen.« Doch sie rührte sich nicht, und Lisa wußte genau, was sie dachte. Ihr Beschützerinstinkt war geweckt, und sie wollte Lisa nicht mit diesen seltsamen Leuten alleinlassen. »Es ist schon gut, Maria«, sagte sie. »Gehen Sie nur.« Zögernd drehte sie sich um, wobei Lisa sie noch scheuchte wie einen Hund, lächelnd, abwartend, was die komischen Männer von ihrer Chefin wollten. »Lama Norbu ist auch Lehrer«, sagte Tenzin. »Er war mein Lehrer. In unserem Kloster in Bhutan.« »Aha.« Ein Zimmer voller Lehrer; eine halbe Versammlung sogar. »Er ist in einer für uns alle sehr wichtigen Mission gekommen. Er wird in dem Dharma-Zentrum wohnen, das wir in Oakville aufgebaut haben.« Lisa hörte sich ein weiteres Mal »aha« sagen, dann fragte sie den Lama, ob er zum ersten Mal in Amerika sei. »O ja. Zum ersten Mal.« Sie wartete. Sie schienen es nicht eilig zu haben, endlich ihr Anliegen loszuwerden, sondern waren schon in fast unangenehmem Maße höflich. Wieder Schweigen. Langsam wurde sie ungeduldig und war erleichtert, als sie hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. »Das muß Dean sein«, sagte sie und entschuldigte sich.
Er trottete die Stufen hinauf. Vor nicht allzulanger Zeit rannte er Treppen regelmäßig hoch und tollte im Haus herum – ein einen Meter dreiundachtzig hohes und zweiundachtzig Kilo schweres Paket Vitalität. Nun trottete er. »Du siehst erledigt aus«, sagte sie, als sie sich küßten. »Bin ich auch.« Nichts weiter. Keine Erklärung. Sie würde ihn nicht noch einmal fragen, was los war, um dann mit einem kurz angebundenen »nichts« abgefertigt zu werden. Zu gegebener Zeit würde er es ihr sagen. »Komm rein«, sagte sie und schob ihn auf die Wohnzimmertür zu. »Ich habe eine kleine Ablenkung für dich.« Er schaute hinein, sah die beiden Männer und trat reflexartig einen Schritt zurück. »Wer sind diese Typen?« Sie unterdrückte ein Kichern. Er hörte sich an wie Paul Newman in der Rolle des Butch Cassidy, und nun würde sie Robert Redfords Rolle übernehmen und sagen: »Denk einfach nach, Butch, das ist genau deine Stärke«, doch dafür blieb keine Zeit. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie sind einfach aufgetaucht.« Er warf noch einen Blick in den Raum. »Der rundliche ist Astrologielehrer«, sagte sie. »Und der eckige?« »Ist der Lehrer des Lehrers.« »Und wo ist Jesse?« »Macht Hausaufgaben.« Sie führte ihn hinein. Die Tibeter standen auf und verneigten sich, als Lisa sie einander vorstellte.
»Ich habe Mr. Tenzin vor ein paar Wochen kennengelernt, Liebling«, sagte Lisa. »Vor Jesses Schule.« »Ah ja.« Er hatte es vergessen. Sie hatte es ihm an jenem Abend erzählt, als er von San Francisco anrief, doch er hatte es sich nicht gemerkt. Die Neuigkeit, daß irgendein Mönch aufgetaucht war und sich erkundigt hatte, wann Jesse geboren war, war ihm damals nicht gerade schlagzeilenträchtig vorgekommen. Eine weitere Pause des Schweigens entstand, als sich die Tibeter wieder hinsetzten. Dean betrachtete den Lama auf dem Fußboden und dann dessen Schuhe, die ihm wie offenstehende Mäuler entgegenklafften. »Unsere Freunde haben die Leere des Zimmers bewundert«, sagte Lisa. »Richtig«, meinte Dean. »Mir kann es nicht leer genug sein.« »Leere ist ein großes Thema«, sagte Lama Norbu zu Lisa und wandte sich dann an Dean. »Wie die Null für Mathematiker. Doch ist kein Raum jemals leer, wenn der Geist voll ist.« Er lächelte Tenzin an. »Das lernt man in einer Gefängniszelle.« Lisa warf Dean einen Blick zu und wußte, was er dachte. Nämlich: Mein Gott, diese Typen sind ehemalige Strafgefangene. In meinem Haus. Und dann noch dieser Dialog. Wie aus einem chinesischen Glückskeks. Und anscheinend sollte noch mehr davo n kommen. Der Lama sah wieder Dean an. »Alle Form dreht sich um Leere«, sagte er. Dann sprach er zu Lisa. »Jede Ursache hat ihre Wirkung.« Und schließlich sah er sie abwechselnd beide an und sprach weiter.
»Nichts ist von Dauer, und nichts geschieht zufällig. Man sollte sich selbst, anderen und der Natur gewaltlos begegnen. Daran glauben Buddhisten.« Tja, dachte Lisa. Bei dir gibt's nur alles oder nichts, mein Freund; kein Small talk – entweder Schweigen oder Tiefgründigkeit. Dann lachte der Lama. »Doch ich werde zu lehrerhaft«, sagte er. Dean rieb sich die Augen. »Liebes«, flüsterte er, »ich brauche einen Whisky.« »Ich auch«, flüsterte sie zurück, bemüht, nicht unhöflich zu wirken, doch die beiden Männer schienen wieder so in Gedanken vertieft zu sein, als meditierten sie. Sie wollte gerade aufstehen, als sich der Lama plötzlich vorbeugte und sie eindringlich anblickte. »Jetzt muß ich unsere Mission erklären.« Dean zog sie wieder an seine Seite. Der Whisky würde warten müssen. »Wir stammen aus Tibet. Seit vielen Jahren leben wir im Exil, als Gäste unserer Brüder in Bhutan, Nepal und Indien.« »Seit der Besetzung«, sagte Tenzin. »Im Jahr 1959.« Dean nickte, und Lisa seufzte vor Erleichterung. Das hatte er also mit der Gefängniszelle gemeint. Die chinesische Invasion Tibets. Das war kurz vor ihrer Geburt gewesen. Der Dalai Lama flüchtete über die Berge, und es kursierten schreckliche Geschichten über die Greueltaten der chinesischen Soldaten... »Der praktizierte Buddhismus erhält den Geist des tibetischen Volkes aufrecht«, fuhr der Lama fort. »Im tibetischen Buddhismus glauben wir, daß jeder unaufhörlich wiedergeboren wird, doch gibt es einige wenige Wesen, die zur Erleuchtung gelangen und so aus
dem endlosen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt ausbrechen und das Nirwana erreichen können. Doch nach ihrem Tod können sie freiwillig beschließen, zurückzukommen, um anderen zu helfen. Wir glauben, daß diese ganz besonderen Wesen als spirituelle Führer zurückkommen, als außergewöhnliche Menschen, die wir erkennen können.« Er hielt inne. »Und deshalb sind wir hier.« »Sie meinen«, sagte Dean, »daß Sie hier sind, um jemanden zu suchen.« Lisa hörte den Sarkasmus in seiner Stimme, den zynischen, ungläubigen Tonfall, und sie hoffte, daß ihn die Tibeter nicht bemerkten. Die Stimme des alten Mannes dagegen klang besänftigend tief, melodiös und hypnotisch, und ein frevelhafter Gedanke kam ihr in den Sinn: Es war die Stimme eines Verführers. »Ja«, sagte er. »Meinen ehemaligen Lehrer, Lama Dorje. Wir suchen nach seiner Reinkarnation.« Dean schnaubte verächtlich, und Lisa suchte nach Worten. Aber unterdessen hatte der Lama seinen Blick auf die Tür gerichtet. Sie drehte sich um und sah in einem Meter Höhe eine rote, von Barthaaren gekrönte Schnauze ins Zimmer lugen. »Jesse«, sagte Lisa. »Komm rein und sag guten Tag.« Der Junge mit seiner Pappmache-Maske betrat zögernd den Raum und starrte die Tibeter an. Dann zog er an seinem linken Ohrläppchen, und Lisa wußte, daß er nachdachte. Diese Angewohnheit war ihm angeboren. Langsam durchquerte er auf Strümpfen das Zimmer und steckte seinen rechten Fuß in einen Schuh des Lamas. »Das ist Lama Norbu, Schatz«, sagte Lisa. »Kempo Tenzin kennst du ja schon.«
Jesse lüftete die Maske, und das Haar fiel ihm in die Stirn, feine, seidige, blonde Strähnen, die sich laut Sally für die Shampoo-Werbung eignen würden. »Warum haben Sie Ihre Schuhe nicht an?« fragte er. Weder ›Hallo‹ noch ›Guten Tag‹, einfach direkt auf den Punkt – wie sein Vater. Der Lama lächelte. »Das ist eine alte tibetische Sitte.« Er wies auf Jesses Füße. Jesse nickte und verstand, zog dann wieder seine Maske übers Gesicht und fragte ihn mit gedämpfter Stimme, ob sie ihm gefiele. »Bei uns zu Hause lieben wir Masken.« »Ich hab' sie selbst gemacht. Es ist eine rote Ratte.« Dann drehte er sich um, rannte hinaus, und sie hörten ihn die Treppe hinunterpoltern. »Ich werde es Ihnen erklären«, sagte der Lama. »Ich war der Schüler eines sehr bedeutenden Mannes, eines wirklich heiligen Mannes. Lama Dorje war sogar Lehrer des Dalai Lama, unseres großen spirituellen Führers. Gegen Ende seines Lebens hielt er es für wichtig, das Dharma im Westen zu verbreiten, und so kam er in die Vereinigten Staaten, wo er vor acht Jahren starb. Wir haben schon an vielen Orten nach seiner Reinkarnation gesucht. Und nun glauben wir, er könnte hier wiedergeboren worden sein – als Ihr Sohn.« Lisa ächzte: »Jesse?« Dann war sie buchstäblich eine Zeitlang sprachlos. Sie merkte, wie ihr der Mund offenstehen blieb. Sonst verließ sie ihre Schlagfertigkeit nie, wenn jemand etwas Dummes sagte. Normalerweise hätte sie sofort etwas Geistreiches entgegnet, eine einschüchternde Replik, doch diesmal war sie fassungslos. Es war, als hätte man ihr mit chemischen Mitteln das Gehirn blockiert. Auf einmal fing Kempo Tenzin ungestüm zu kichern an.
»Lama Dorje war ausgesprochen humorvoll.« Sie sah Dean an. Er hatte den Witz nicht begriffen. Er hielt sich beide Hände vors Gesicht, wie ein Boxer, der den nächsten Schlag abwehren will, beugte sich dann vor und sprach langsam, wobei er jede Silbe genau artikulierte, als könne er sich nicht darauf verlassen, daß die Wörter in der richtigen Reihenfolge herauskamen. »Damit ich das richtig verstehe: Sie glauben, daß unser Sohn Jesse tatsächlich die Reinkarnation Ihres tibetischen Lehrers sein könnte?« »Ja«, sagte der Lama lächelnd. »Bitte seien Sie nicht böse.« Dean schüttelte den Kopf und begann zu lachen. »Das ist ja umwerfend«, meinte er. »Das ist das Unglaublichste, was ich je gehört habe.« Die Tibeter nickten zustimmend. »Wir sind uns natürlich noch nicht sicher«, sagte der Lama. »Es ist sehr schwer herauszufinden. Fast so schwer, wie es zu begreifen ist.« Lisa warf Dean einen Blick zu und fragte sich, was er wohl als nächstes tun würde. Wahrscheinlich warf er sie hinaus und griff nach der Whiskyflasche. Doch dann hörten sie Schritte auf der Treppe, und Jesse kam mit einer weiteren Überraschung herein. Ein junger Mönch mit einem sympathischen runden Gesicht und geschwollenen Augen, als sei er soeben erst aufgewacht. »Das ist Chompa«, sagte Jesse stolz, als gehörte er ihm. Chompa verneigte sich. Er hatte drei Päckchen dabei, von denen zwei in Musselin und das dritte in Papier verpackt war. »Aha«, sagte der Lama. »Du bist also aufgewacht.« Er wandte sich an Dean und Lisa. »Bitte sehen Sie es uns nach«, bat er. »Chompa war sehr müde und ist im Auto
eingeschlafen. Wir sind heute nachmittag aus Bhutan angekommen. Es war ein sehr langer Flug.« Erneut warfen sich Lisa und Dean erstaunte Blicke zu, bis Dean langsam, als spräche er mit einem zurückgebliebenen Kind, fragte: »Sie sind heute eingetroffen? Aus Bhutan? Und direkt hierher gekommen?« Die drei Männer nickten. Chompa reichte dem Lama die in Musselin gewickelten Päckchen, der das eine Lisa und das andere Dean gab. Jesse runzelte die Stirn. »Warum geben sie euch Geschenke, Mom?« fragte er, und Lisa hörte die Betonung auf dem Wort »euch« genau heraus. Soll heißen: Warum bekomme ich nichts? Trotzdem war es eine gute Frage. Warum sollten sie Fremde beschenken? Erneut stieg ihr ein Hauch ranziger Butter vermischt mit Haschisch in die Nase, als sie den dünnen Baumwollstoff entfernte und eine kleine, bronzene Glocke hervorholte, die mit komplizierten Mustern verziert war. Dean wickelte ein kleines Bronzeszepter aus. »Die Glocke steht für Schweigen«, sagte der Lama, »und das Szepter für Mitleid.« »Schön«, meinte Dean. »Genau das hat mir gefehlt.« Da war er wieder, dachte Lisa, der abweisende Sarkasmus. Sie warf dem alten Mann einen Blick zu, um zu sehen, ob ihm die Beleidigung aufgefallen war, doch er zeigte es nicht. Statt dessen verneigte er sich ein weiteres Mal. »Es war eine große Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Nun müssen wir gehen.«
Jesse wackelte nervös vor Ungeduld mit dem ganzen Körper und zog ihn am Ärmel. »Kommt ihr mal wieder?« fragte er. »Ich hoffe es. Bestimmt.« »Ihr müßt euch die Hochbahn anschauen«, sagte Jesse und hatte mittlerweile vor Aufregung ganz rote Wangen bekommen. Er drehte sich zu Dean um. »Das müssen sie doch, Dad, oder? Ich zeige ihnen die Hochbahn.« »Das ist sehr ne tt von dir«, sagte der Lama. »Aber ich glaube, das müssen deine Eltern entscheiden.« »Ich habe morgen keine Schule, Mom.« Jesse bettelte nun, und Lisa fühlte sich in die Enge getrieben. »Nun«, meinte sie. »Ich glaube, Maria könnte mitkommen...« Dann fällte Dean die Entscheidung. »Sicher«, sagte er. »Du kannst sie herumführen.« Jesse jauchzte vor Freude. Dann beugte sich der Lama zu ihm herab, ließ sich von Chompa das dritte Päckchen geben, reichte es ihm und berührte sachte Jesses Stirn mit der seinen. »Das ist für dich... und morgen wirst du mein Führer sein.« »Ja.« Führer? dachte Lisa. Sein ehemaliger Lehrer war sein Führer. Die Sache wurde immer mysteriöser. Und dann waren sie verschwunden – nur ein Hauch von ranziger Butter und Räucherwerk hing noch in der Luft. Ein Eine-Million-Dollar-Blick: Das hatte der Immobilienmakler gesagt, als er versuchte, ihm das Grundstück zu verkaufen. Dean sah hinaus und nahm einen Schluck Whisky. Der Mann hatte nicht übertrieben.
Der Abendhimmel war von rosafarbenen Streifen durchzogen, auf den Bergen schimmerte der herbstliche Schnee, die Stadt glitzerte wie ein irdischer Stern, und die Parabolantenne der Space Needle leuchtete im gelben Schein. Einst hatte er sich hier oben fast göttergleich gefühlt, wenn er auf die durchsichtigen Ameisenhügel, von Menschen für Menschen gebaut, herabsah. Er ließ die Eiswürfel klirren und verwünschte sich selbst. Durchsichtige Ameisenhügel der Menschheit. Du lieber Gott! Er mußte sich mehr eingeschenkt haben, als er dachte. Ein paar doppelte Malzwhisky mit vierzig Prozent Alkohol waren schon ein Zeichen von Großspurigkeit. Doch Großspurigkeit hin oder her — es ließ sich nicht leugnen, daß er es weit gebracht hatte. Mit unerschöpflichem Fleiß und häufiger Nachtarbeit hatte er seine Ziele erreicht. Ohne fremde Hilfe hatte er sich an den eigenen Haaren aus dem Nichts gezogen und es zu einem Eine-Million-Dollar-Blick gebracht. Das Problem war nur der pessimistische Haken an der mathematisch bewiesenen Gewißheit, daß dem Aufstieg der Abstieg folgt. Als er so in sein Glas starrte, kam es ihm eher halbleer als halbvoll vor. Er konnte die Spitze des Turmes sehen, genau fünf Kilometer nach Südwesten, zwanzig leerstehende Stockwerke konstruiert aus Betonträgern und grüngetöntem Glas. Evan hatte ihn den grünen Elefanten getauft. Das Richtfest hatte genau in der Woche stattgefunden, als Wall Street ins Wanken geraten war. Er war mit den schönsten Hoffnungen und den höchsten Erwartungen entworfen und gebaut worden, und nun wollte niemand auch nur einen Quadratzentimeter mieten. Sein Name, der neben dem von Evan zusammen mit dem Datum des ersten Spatenstichs mit Blattgold in
den Grundstein aus Granit eingraviert worden war, erschien ihm nun wie ein Grabmal. Er dachte daran, was der alte Tibeter über Leere gesagt hatte. Nun, der grüne Elefant ist leer, und wenn er sich nicht schleunigst füllt, sind wir bald alle nicht mehr hier, sondern unten auf Meereshöhe, noch bevor wir im EineMillion-Dollar-Blick richtig heimisch geworden sind. Er nahm noch einen Schluck Whisky. »Man ertränkt seine Sorgen nicht. Man bringt ihnen nur Schwimmen bei.« Er sah in einer Spiegelung im Fenster, daß Lisa auf ihn zukam. Als er sich umdrehte, streckte sie die Arme nach ihm aus, drückte ihn an sich, nahm ihm sein Glas weg und schlürfte daran. Sie roch nach Seife. »Wo ist Lama Dorje?« fragte er. »Läßt Badewasser ein.« Sie gab ihm das Glas zurück, ging in die Küche und holte die Flasche. »Die Mönche«, sagte sie, »sind ein bißchen wie die drei Weisen aus dem Morgenland, was?« »Ja«, sagte er, schenkte sich nach und mußte an angetrunkenen Mut denken. »Erstaunlich. Wenigstens wollten sie uns nicht erzählen, daß Jesse das Resultat einer unbefleckten Empfängnis sei.« Sie sah ihm beim Trinken zu, und er begann erneut über seinen Sorgen zu brüten. Was, wenn sie ausziehen mußten? Was, wenn sein Geld, das mit dem Evans in das Projekt investiert worden war, restlos verlorenging? Was, wenn er ganz von vorn anfangen mußte? Es war eine Sache, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, doch wie würde es sein, wenn man alle Haare lassen mußte? Was, wenn sie von Lisas Gehalt leben müßten? Könnte er ein Hausmann sein? Er war ein ›Selfmademan‹ und Arbeitstier. Das Phänomen des
›Neuen Mannes‹ war an ihm vorbeigegangen. Und den Sprung zum ausgehaltene n Mann konnte er schon gar nicht machen. Oder? Sie sah ihm immer noch dabei zu, wie er trank, doch in ihrer Miene lag keine Mißbilligung. Er fragte sich, ob sie, wenn sie ihn finanzieren müßte, sich ändern würde und dann das Nörgeln und all die anderen Schrecklichkeiten des Ehelebens anfangen würden, die er bisher nicht aus eigener Erfahrung kannte. Sie blickte träumerisch aus dem Fenster. »Ich finde, die Reinkarnation ist eine sympathische Vorstellung«, sagte sie. »Ich hätte nichts dagegen wiederzukommen. Die Orte, die ich mag, und die Menschen, die ich liebe, wiederzusehen...« »Stell dir vor, du kämst als Ameise wieder.« »Was ist denn an Ameisen auszusetzen?« fragte sie und wandte ihm den Rücken zu. »Jede Menge Gemeinschaftsleben.« »Sicher«, meinte er, »aber du kannst zerquetscht werden.« Auf diese düstere Entgegnung hin sah Lisa ihn an und wußte, daß er es ihr nun sagen würde. »Menschen werden auch zerquetscht«, erwiderte sie nachdenklich. »Ja. Allerdings.« Laß ihn nicht krank sein, sagte sie zu sich selbst. Laß ihn keine andere haben. »Evan ist bankrott.« Ihre erste Reaktion war Erleichterung, gefolgt von Unglauben. Das konnte nicht sein. Nicht der schlitzohrige Evan, der so reich wie Krösus war. »Er hat es vor allen geheimgehalten«, sagte er. »Sogar vor mir.«
Sie hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, streichelte seine Hand und trank ab und zu aus seinem Glas. Als er geendet hatte, fragte sie ihn, was das alles bedeutete. Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wenn er untergeht, verlieren wir vielleicht das Haus.« »Und? Dann sind wir eben wieder arm.« Auf ihrem Gesicht erschien ein tapferes Lächeln, die Miene einer Schauspielerin. »Wir können doch trotzdem glücklich sein.« Dean drückte ihre Hand, und sie fragte sich, ob dieser harte Mann kurz davor war, weich und ganz untypisch sentimental zu werden. Vielleicht wäre das ja auch geschehen, wenn nicht ein Schrei aus dem Badezimmer ertönt wäre, mit dem Jesse ankündigte, daß er bereit war, gebadet zu werden. Sie stand auf, ging zur Tür und wandte sich noch einmal um. »Vielleicht kannst du dann mehr Zeit mit uns verbringen.« Es war falsch, das zu sagen, das wurde ihr im selben Moment klar. Ein Mann wie Dean arbeitete dafür, daß er Zeit für seine Familie hatte. Er mußte sie sich verdienen. Mäste ihn mit Freizeit, und er würde dick und unglücklich werden ... Mit diesem Gedanken stieß sie die Badezimmertür auf und sah Jesse tief unter Schaumbergen vergraben liegen, wobei nur Kopf, Zehen und Arme herausschauten. Mit ausgestreckten Armen hielt er sein Geschenk vor sich. Es war ein Buch über das Leben Buddhas. Sie nahm es ihm ab, legte es auf den Fußboden, und schon ging das Verhör los, über Mönche, Tibet, Bhutan und den Himalaya. Sie erzählte ihm vom Mount Everest und vom Annapurna. Er wollte nicht glauben, daß sie höher sein
könnten als sein Mount Rainier. Sie erzählte ihm, daß die Gegend das Dach der Welt und als Shangri- La bekannt war, doch als er wissen wollte, was Shangri- La war, wußte sie nicht mehr, ob es echt oder erfunden war, und nahm sich vor, es nachzuschlagen. Jesses Verhöre nach dem dritten Grad führten unweigerlich zum enzyklopädischen Lexikon. Doch das waren alles noch leicht zu klärende Fragen. Die nächste allerdings war heikel. »Mom? Ist Dad wütend auf mich?« Da war wieder dieses Gefühl für zwischenmenschliche Stimmungen, als besäße das Kind telepathische Fähigkeiten. »Nein, mein Schatz. Er ist nicht wütend auf dich. Er hat nur ein paar Probleme, das ist alles.« Damit gab er sich zufrieden, sagte auf Wiedersehen, hielt sich die Nase zu und verschwand unter dem Schaum. Lisa nahm das Buch und schlug die erste Seite auf. Es hatte wundervolle Illustrationen: Volkskunst in plakativen Farben, alles sehr ausdrucksvoll: Der Himmel war blau, die Gebäude ockerfarben, die Saris und Gewänder leuchtend blau, rot oder grün. Prustend kam Jesse wieder zum Vorschein und beäugte den Hof König Suddhodanas. Seine Lippen bewegten sich leise mit, als er zu lesen begann: Buddha kam vor zweitausendfünfhundert Jahren in Nordindien zur Welt, in der Nähe der Stadt Kapilavastu, die nach dem großen Einsiedler Kapil benannt ist. Sie wurde zwanzig Jahre lang in Frieden von König Suddhodana vom Geschlecht der Sakyas regiert. Noch als Prinz hatte Suddhodana den letzten seiner Feinde
besiegt, und das Volk lebte nun in Eintracht mit seinen Nachbarn und mit sich selbst. Die Stadt war ein magischer Ort auf dem Dach der Welt, und manchmal, im gleißenden Licht der Sonne oder dem hell schimmernden Dunstschleier des Mondes, schien sie sich fast von den Gipfeln zu lösen und schwebte zwischen Erde und Himmel. Die mit Zinnen bewehrten Mauern des Königspalastes waren nur noch Dekoration, und die ockerfarbenen Wälle gingen chamäleonartig in die Abhänge der Berge über. Anstatt wie ein Wundmal auf dem Land zu wirken, fügte sich die Stadt harmonisch in die Umrisse der Bergkette ein. Männer, Frauen und Kinder trugen seidene Gewänder und Saris, und in der Luft hing das Klirren ihrer Armund Fußreifen und Halsketten. Alles war bunt, und die Fremden, die zu Besuch kamen, verließen den Palast mit dem Eindruck, daß der Rest der Welt grau war. Die Lieblingskönigin des Königs hieß Maya. Sie war so schön, daß man ihr keinen Spiegel zugestand, damit sie nicht von der Sünde des Stolzes in Versuchung geführt wurde. Sie wußte nicht, daß ihre Augen so schwarz waren wie eine mondlose Nacht, oder daß ihre Züge von vollkommener Symmetrie waren. Wenn ihre Dienerinnen den Blick von ihr abwandten, so dachte sie, dies geschähe aus Ergebenheit, und nicht, weil sie die Sünde der Eifersucht fürchteten, und wenn Männer ihr den Rücken zukehrten, so vermutete sie Ehrerbietung, und nicht Furcht vor der Sünde des Verlangens. Der Palast war wie eine Bienenwabe aus Zimmern und Höfen auf vielen Stockwerken, die Mauern waren mit Edelsteinen besetzt und mit Pflanzen und Sträuchern
geschmückt. Es gab hängende Gärten und Springbrunnen, Fischteiche und Badebecken. Pfauen stolzierten umher, Schwäne glitten über das Wasser, und die Rose wetteiferte mit dem Lotos, um die Luft mit Wohlgeruch zu tränken. Das Schlafzimmer des Königs war nur über eine mit Blattgold verzierte Marmortreppe zu erreichen. Es erstreckte sich unterhalb des Daches des Palasts vom Dach der Welt und stand den Elementen offen. Das Bett hing an Seilen von der Bambusdecke. Im Windhauch der Nacht schaukelte es sachte, heftig aber in Momenten der Leidenschaft. Wünschte die Königin nicht, die Sterne oder den Mond zu sehen, so zog sie an einer Kordel, und schon war das Bett in seidene Vorhänge gehüllt. Die Matratze bestand aus Gänsedaunen und wurde jeden Abend mit frischen Rosenblättern bestreut. In der Nacht, da der Mann, der Buddha werden sollte, empfangen wurde, schien ein glänzender Mond, doch Maya hatte die Seidenvorhänge nicht geschlossen. Über dem Bett erstreckte sich der klare Himmel, und in ihrem Traum stieg ein weißer Elefant vom Firmament herab und weckte sie. Sie umarmte ihn und hatte das Gefühl, er sei in ihren Schoß eingedrungen. Am Morgen erzählte sie dem König von ihrem Traum, und er fragte sie, ob es ein Alptraum gewesen sei, ob sie sich gefürchtet hätte. »Nein«, antwortete sie. »Es war wie ein Segen.« Der König nahm sie in die Arme, und ihre Leidenschaft loderte heiß. Am nächsten Tag schickte der König nach den Brahmanen, die Träume interpretieren konnten, und sie sagten ihm, daß er bald einen Sohn bekäme, der zum Herrscher der Welt werden würde. Von diesem Tag an
besaß Maya Heilkräfte. Ihre Berührung trieb den Schmerz aus. Wenn sie den Leidenden über die Stirn strich, gewannen die Blinden das Augenlicht zurück, die Lahmen konnten ihre Glieder wieder bewegen, und die Sterbenden waren getröstet. Zehn Monate vergingen, und die Zeit kam. Wie es Sitte war, machte sich Maya auf den Weg ins Dorf ihrer Eltern, um dort zu gebären. Sie reiste mit ihrer Schwester Prajapati in einer Kutsche, die von zwei schwarzen Wasserbüffeln gezogen wurde. Sie wurden von Fußsoldaten und einem Gefolge von Dienerinnen in einer Karawane kleiner Kutschen begleitet. Der Monsun stand kurz bevor, die Luft war schwer, und das Land versank in Lethargie. Die Karawane zog durch flaches, von Savannengras bewachsenes Land mit vereinzelten Wäldchen voller üppiger Vegetation. Die Hitze ermattete Kutscher und Büffel, so daß sie nur langsam vorankamen. Maya wußte, daß sie das Dorf ihrer Eltern nicht erreichen sollte. Daher befahl sie, am Rand eines Waldes namens Lumbini haltzumachen. Sie betete eine Weile, da sie wußte, daß der Moment gekommen war, dann half man ihr aus der Kutsche, und sie ging allein und. mit unsicherem Tritt in das Wäldchen, die Dienerinnen in respektvollem Abstand hinter ihr. Sie schritt zwischen den Bäumen hindurch, wobei immer wieder das Sonnenlicht auf sie herabfiel, bis sie die Mitte des Waldes erreicht hatte, wo ein Baldachin aus verflochtenen Ranken und Ästen nur einzelne Strahlen durchließ. Sie blieb stehen und horchte auf die Geräusche des Waldes, das Kreischen der Affen, das Zwitschern und Pfeifen der Vögel, das Rauschen der Blätter und das
Murmeln eines Baches. Dann, als hätte plötzlich ein Dirigent seinen Stock geschwenkt, trat Stille ein. Ein Schößling neigte sich ihr langsam entgegen. Sie streckte die Hand aus, griff nach ihm und begann zu singen, und die Dienerinnen lauschten dem Geburtsgesang. Der neugeborene Junge war so groß wie ein Einjähriger und gluckste vergnügt, als er im Bach gebadet wurde. Dann hielt ihn Prajapati in die Höhe und zeigte ihn ihrer Schwester. Maya lächelte. Plötzlich hielt sie erstaunt die Luft an, als der Junge sich aus Prajapatis Händen wand und aufstand. Einen Moment blieb er aufrecht stehen, lächelte seine Mutter an und ging schließlich auf sie zu. Sieben Schritte brauchte er, bis er bei ihr angelangt war, und aus jedem Fußabdruck entsprang auf der Stelle eine blühende Lotosblume. Da wußte Maya, daß sie wirklich gesegnet worden war. Der König taufte den Jungen Siddhartha und ließ ein großes Fest ausrichten, um ihn dem Volke vorzustellen. Ein gewaltiger Bambuspavillon wurde in den Wiesen unterhalb der Stadt gebaut, und alle Einwohner des Königreichs kamen herbei, um dem kleinen Prinzen ihre Aufwartung zu machen. Suddhodana und Maya waren in seidene Gewänder mit Goldornamenten gehüllt und hatten ihre edelsten Juwelen angelegt. Der König und die Königin trugen ihre wertvollsten Kronen und saßen Seite an Seite auf juwelenverzierten Thronen, während ihre Höflinge vorbeidefilierten. Alle trugen sie seidene Gewänder in Gold, Rotbraun, Grün oder Blau, jeder verneigte sich vor dem königlichen Paar und murmelte Glückwünsche. Die Reihe der Aufwartenden wand sich wie eine Schlange zwischen Tischen hindurch, die schwer beladen waren
von Gewürzen, Früchten und dampfenden Reistöpfen, an Bratstellen vorbei, auf denen sich Schweine an Spießen drehten, vorbei an Weinfässern, in die goldene Kelche getaucht wurden, und vorbei an in Reihen angeordnetem Doma, das man langsam kaute, um das sinnliche Empfinden zu verstärken und den Appetit zu steigern. Draußen stand die Menge in gelben Gewändern und Turbanen auf den Wiesen wie ein Feld blühender Sonnenblumen. Zur Mittagszeit traf der Weise ein, der als Asita bekannt war, und respektvolles Schweigen senkte sich über den Raum, da man ihn seit einer Generation nicht mehr gesehen hatte. Sein Alter war ihm anzusehen. Obwohl er sich auf einen Stock stützte, versuchte er sich dennoch aufrecht zu halten. Er schritt langsam durch die Menschenmenge, die sich vor ihm teilte wie ein Fluß vor dem Bug eines Schiffes, und jeder Mann, jede Frau und jedes Kind sank auf die Knie und verneigte sich. Die Verehrung, die man dem alten Mann entgegenbrachte, war so groß, daß der König aufstand und die Königin sich vor ihm verneigte, als er bei ihren Thronsesseln angekommen war. »Willkommen, Asita«, sprach der König. »Ihr erweist uns eine große Ehre durch Euren Besuch.« Die Königin reichte ihm das Kind, und Asita, dem man anhörte, daß er seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, sagte, daß göttliche Stimmen ihm erzählt hätten, dem König der Sakyas sei ein Sohn geboren worden, der die wahre Weisheit erlangen werde. »Er wurde Euch geboren«, sagte er, »da Eure Vorfahren reich an Gold und Land, vor allem aber reich an Tugend waren.«
Asita betrachtete das Kind und sah Zeichen, die nur für ihn sichtbar waren, die Zeichen der Allmacht: ein Büschel blondes Haar zwischen den Augenbrauen des Jungen, das Zeichen des Rades auf seinen Fußballen, die dünnen Häutchen zwischen seinen Fingern, der doppelte Wirbel seines Schädels und die langen Ohrläppchen. Er begann zu schluchzen, und die Königin, die ihn genau beobachtet hatte, riß ihm unvermittelt das Kind aus den Armen. »Macht Euch keine Sorgen«, sagte er. »Meine Tränen sind nur die Tränen eines alten Mannes, der weiß, daß er nicht mehr lange genug leben wird, um von den Lehren Eures Sohnes zu lernen.« Diese Worte über Lehren und wahre Weisheit hatten nun den König beunruhigt. Er wollte nicht, daß Siddhartha Lehrer wurde. Seine Bestimmung war die Dynastie und deren Fortsetzung. »Wird er ein großer König werden?« fragte er, und es klang mehr wie ein Befehl denn wie eine Frage. Asita sah auf das Kind und lächelte. »Er wird der Herr der Welt sein«, antwortete er. »Oder ihr Erlöser.« Der König war verwirrt. Dies war nicht die einfache Antwort, die er erwartet hatte. »Wenn er so alt ist wie Ihr, Asita«, versuchte er dem alten Mann nahezulegen, »kann er Lehrer werden wie Ihr, falls er das wünscht, aber zuerst muß er meine Nachfolge antreten und König werden.« Doch Asita ließ sich nicht beirren und schüttelte den Kopf. »Möge es kommen, wie Ihr es Euch wünscht, Suddhodana«, sagte er, »doch oft übergehen die Götter die Wünsche der Sterblichen.« Der König wurde wütend. Er entriß der Königin das Kind und brüllte: »Er wird König werden!«
Der erschrockene Siddhartha begann zu weinen. Die Königin griff nach ihm, doch der König stieg von seinem Thron, schritt hinab in die Wiesen und hielt das nackte Kind über seinem Kopf, indem er es an den Füßen und am Hinterkopf festhielt. Die Menge tat laut ihre Zustimmung kund, und der Lärm war so groß, daß sich auf den höchsten Gipfeln Lawinen lösten. Die Königin, die machtlos zusah, war von Trauer erfüllt, als wüßte sie bereits, daß ihr eigenes Leben bald vorüber sein würde. Eine Woche später wurde sie von einer schrecklichen Krankheit befallen. Sie begab sich zu Bett, und man zog die seidenen Vorhänge zu. Zwei Tage und eine Nacht lang hörte man keinen Vogel singen, nur das monotone Murmeln der Stadt, die im Gebet versunken war. Suddhodana und Prajapati wachten schweigend an Mayas Bett, während sie sich mit ihrem Sohn an ihrer Seite auf den Tod vorbereitete. Als die Nacht hereinbrach, bat sie ihre Schwester, deren Schönheit und milder Charakter nur einen Hauch hinter ihrem eigenen zurückstand, für Siddhartha zu sorgen, als wäre er ihr eigener Sohn. Noch während Prajapati ihr Versprechen gab, starb Maya. Die Kerzen im Raum flackerten noch einmal kurz auf, bevor sie erlöschten, die Gebete verstummten, und man hörte nur noch das herzzerreißende Schluchzen Suddhodanas und das leise Weinen der neuen Mutter. Die Geschichte war vom Badezimmer mit in die Küche gewandert, hatte Jesse beim Abendessen und schließlich ins Bett begleitet. Lisa schlug das Buch zu und gab ihm einen Gutenachtkuß. Dean fuhr ihm durchs Haar, und sie
gingen Hand in Hand hinaus, schlossen die Tür und setzten sich ins Wohnzimmer. »Stolzierende Pfauen, gleitende Schwäne, keifende Affen«, murrte Dean. »Ein Klischee nach dem anderen.« »Sicher«, meinte Lisa, »aber wir haben es hier mit einer Zeit von vor 2500 Jahren zu tun. Damals waren das keine Klischees.« »Und der Elefant?« »Na und? Die Jungfrau Maria hatte ihren Engel. Das ist eine Legende, Dean. Mythologie. Hast du auf dem College nicht Hesse gelesen?« »Was für einen Hesse?« »Hermann. Du weißt schon. Siddhartha. Steppenwolf.« »Steppenwolf war eine Band.« Sie lächelte. Er machte schon wieder Witze und spielte die Rolle des nüchternen Realisten, der sich nicht mit intellektueller Literatur abgibt – und auf einmal war es wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.
4. Kapitel Chompa war seit jeher für seine gute Vorstellungskraft bekannt gewesen, doch nichts, was er sich über Amerika ausgemalt hatte, hatte ihn auf dieses Ding namens Hochbahn vorbereitet. Diese verschlossene Metallröhre, die fünfzehn Meter über der Erde auf einem einzigen Gleis mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern – wie Jesse ihm gesagt hatte – dahinraste, zwischen den Gebäuden und über die anderen Verkehrsadern entlangglitt und sich in Kurven legte und manchmal mitten durch die hohen, gläsernen Häuser zu fliegen schien, bevor sie einen Bogen machte, um in tiefe Betonschluchten zu tauchen. Das krampfhafte Lächeln saß ihm wie eingemeißelt im Gesicht, denn es ging nicht an, daß er vor dem Jungen Furcht zeigte, aber seine Augen verrieten ihn. Sie lächelten nicht, sondern starrten ständig auf denselben Fleck, und die Knöchel seiner Hände, mit denen er den Sitz vor sich fest umklammert hielt, waren weiß vor Anstrengung. Ab und zu warf er einen Blick auf Lama Norbu und schöpfte Kraft. Der alte Mann sah sich neugierig wie ein Kind um, und Chompa sagte sich, wenn er keine Angst hatte, gab es auch keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Das Gefährt schoß aus einer Schlucht wieder hervor ans strahlende Sonnenlicht und fuhr eine Weile an der Bucht entlang. Chompa blickte hinter sich, um zu sehen, wie es der dunkelhaarigen Frau dabei erging. Maria lächelte ihn an, als wolle sie ihn trösten, und ihm war gleich wohler, da er nun wußte, daß sie, die hier fremd zu sein schien, sich nicht fürchtete. Aber warum mußten sie nur so schnell fahren? Das wußte Jesse bestimmt, und als
Chompa ihn fragte, kam es ihm vor, als sei er das Kind und Jesse der Erwachsene. »Das ist doch nicht schnell«, wehrte Jesse ab, als wäre das eine dumme Frage. »Da sollten Sie erst mal mit der Achterbahn fahren.« Was auch immer eine Achterbahn sein mochte Chompa wollte nichts damit zu tun haben. Dann zeigte Jesse hinaus und hüpfte auf seinem Sitz auf und ab. »Da, schaut! Das grüne Haus dort drüben. Seht ihr? Das hat mein Dad entworfen. Er ist Architekt. Sein Name steht auf dem Grundstein.« »Sehr gut«, sagte der Lama. »Er muß sehr klug sein.« »Er ist der Beste«, sagte Jesse und bohrte dem alten Mann den Finger in die Brust. »Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte er. »Sie suchen nach Ihrem Lehrer, stimmt's?« Woher wußte er das, wunderte sich Chompa. War das eine Art von zweitem Gesicht? Doch der alte Mann schmunzelte nur. »Ja«, bestätigte er. »Und rote Ratten haben sehr große Ohren.« Aha. Das war es also. Der Junge hatte gelauscht. »Wie heißt er?« fragte Jesse. Der Lama sagte es ihm: »Lama Dorje. Das heißt in deiner Sprache Donnerkeil.« »Echt?« Jesse war beeindruckt. Donnerkeil. Er würde gerne Jesse Donnerkeil heißen. Das war ein besserer Name als Konrad. »Der Name paßte zu ihm. Er besaß einen sehr mächtigen Geist. Machte andauernd Witze.« »Riecht er auch so komisch wie ihr?« Chompa lächelte. Der kleine Junge war doch nicht so schlau, wie er schien. Er hatte nicht bemerkt, daß Lama
Norbu in der Vergangenheit redete. Aber warum sollte er auch? Er nahm natürlich an, daß sie nach jemandem suchten, der in der Stadt lebte. Der Lama mußte über die Frage lachen. »Das muß der Geruch der Yakbutter sein«, antwortete er. »Wir verwenden sie so häufig, daß der Geruch in die Poren unserer Haut eindringt.« »Was ist denn ein Yak?« »Eine tibetische Kuh. Wie ein Büffel mit langen Haaren.« Jesse nickte und runzelte die Stirn. »Ich finde, Sie sollten zur Polizei gehen, wenn Sie ihn finden wollen«, sagte er. »Nein«, sagte Lama Norbu. »Die Polizei kann uns leider nicht helfen. Lama Dorje ist nämlich tot, weißt du.« Jesse starrte ihn an. »Aber wie wollen Sie ihn finden, wenn er tot ist?« »Das ist schwer zu erklären, doch wir glauben, daß er wiedergeboren worden ist.« Jesse pfiff durch die Zähne und schaute zu Maria, die den alten Mann ungläubig anstarrte. Ein dolles Ding, fand Jesse. Das war noch besser als Geschichten über Yaks. »Als ein Geist meinen Sie?« »Nein. Als Kind.« Nachdem Jesse das vernommen hatte, lehnte er sich so weit vor, daß sein Gesicht nur noch drei Zentimeter von Lama Norbus Nase entfernt war. »Könnte ich Lama Dorje sein?« Maria, die das Gespräch verfolgt hatte, erwartete, daß der Mann zu lache n begann und »Sei doch nicht albern« sagte, doch er blieb ganz ernst.
»Du könntest es sein. Ja«, sagte er, und Maria mußte sich abwenden, für den Fall, daß sie vor Lachen losprustete, was schlechtes Benehmen und noch dazu vor Fremden unverzeihlich gewesen wäre. Jesse zupfte kurz an seinem linken Ohr und nickte dann. »Ich glaube, ich bin es«, sagte er. »Ich bin Lama Dorje.« Der alte Mann lächelte. »Das müssen wir noch sehen.« »Wenn ich es nicht bin, warum sind Sie dann zu uns ins Haus gekommen?« Völlig logische Frage, dachte Maria, aber der alte Mann antwortete nicht, sondern lachte nur, zwickte Jesse in die Nase und meinte: »Du stellst eine Menge Fragen.« Jesse war enttäuscht. Es war wie damals, als er noch kleiner war und seine Mutter oder sein Vater sich nach einem »Verhör« geschlagen geben mußten und nur noch sagten »Darum...« Er wollte schon seinen Vorteil ausnutzen, als Maria sich vorbeugte und ihm einen Vorschlag ins Ohr flüsterte. Er war gut. Er wünschte, er wäre selbst darauf gekommen. »Ja, Maria, ja«, sagte er und ballte triumphierend die Fäuste. Er würde es ihnen zeigen. Er würde ihnen zeigen, wo der Buddha lebte. Zehn Minuten später führte Jesse die kleine Prozession ins Museum für asiatische Kunst in den ersten Stock und deutete siegessicher auf eine Statue. Sie war drei Meter hoch und saß im Lotossitz vor einer Glasfront, durch die man im Hintergrund die Skyline von Seattle sah. Chompa starrte sie verblüfft an und staunte darüber, daß Ungläubige im Westen sich die Mühe gemacht hatten, dem Buddha in ihrer Stadt einen Ehrenplatz einzuräumen. Es sprach von Toleranz und Mitgefühl für
den Glauben anderer. Das waren keine engstirnigen Menschen. Sie sind sogar, so überlegte er, offener als wir, denn in Bhutan gab es keine Statuen für den Mann, den sie Jesus nannten. Eine Zeitlang standen sie schweigend da, bis Jesse den Bann brach. »War Buddha ein Gott?« fragte er und betrachtete das lächelnde, steinerne Antlitz. »Nein«, antwortete der Lama. »Er war ein richtiger Mensch.« »Wie Jesus?« »Ja. Ein wenig wie Jesus, obwohl er lange vor ihm zur Welt kam.« »Siddhartha ist ein komischer Name.« »In deiner Sprache«, erklärte der Lama, »heißt es Derdas-Ziel-erreicht-hat.« Sie schritten weiter den Korridor entlang und kamen zu einem Glasrelief von Königin Maya mit dem Elefanten, und Jesse stutzte. »Warum mußte sie sterben? Die Stelle hat mir nicht gefallen.« Der alte Mann kniete sich vor ihn und nahm Jesses Hände in seine große rechte Hand. »Aber das Leben besteht nicht nur aus Glück«, sagte er. »Um uns das zu lehren, und wie man über Leben und Tod hinausblickt, ist Siddhartha zu uns gekommen.« Er ließ sich von Jesse das Buch geben, das dieser die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte, und schlug es auf: Er wuchs zu einem aufrechten, hübschen und starken jungen Mann heran und lebte, den Jahreszeiten entsprechend, in drei verschiedenen Palästen: einer für
den Sommer, einer für den Winter und einer für die Regenzeit, und so bekam er nie die Außenwelt zu sehen. Er reiste in einer fensterlosen Kutsche von einem zum anderen. Es wunderte ihn nicht, da er annahm, daß jeder auf diese Weise reiste. Als die Zeit gekommen war, da er heiraten sollte, lud der König alle jungen Mädchen der Stadt in den Palast ein. Siddhartha saß auf einem goldenen Thron im Haupthof, flankiert von Statuen des großen Elefanten. Seine Dienerinnen hatten ihn in ein schlichtes Gewand gekleidet und ihm keinerlei Schmuck angelegt, da man fürchtete, die Frauen wären sonst von seinem Anblick überwältigt. Wie seine Mutter hatte er nie einen Spiegel gesehen; wie sie wußte er nicht, daß seine Augen schwarz wie eine mondlose Nacht und seine Züge vollkommen symmetrisch waren. Er war nicht stolz auf seinen von der Sonne verwöhnten Körper, den täglicher Sport geschmeidig und muskulös gemacht hatte, und er nahm es als selbstverständlich hin, daß er der Stärkste und Schnellste war, einfach weil er der Prinz und so seine Überlegenheit vorbestimmt war. Da er keine Niederlage kannte, wußte er auch nichts von Konkurrenz und ging fraglos davon aus, daß seine Braut die klügste und schönste Frau im Land sein würde. Sie stellten sich in einer Reihe auf und zogen an ihm vorbei, und jeder gab er einen Edelstein. Er war von solcher Schönheit, daß es keine wagte, ihn anzusehen. Jede nahm das Geschenk mit gesenkten Augen entgegen und ging davon. Die letzte hieß Yasodhara, und Siddhartha wußte auf der Stelle, daß sie die Richtige war. Sie sah ihm offen in die Augen, und er wollte einen Edelstein hervorholen, doch es war keiner mehr übrig, außer einem Ring, den er trug. Er streifte ihn ab und reichte ihn ihr, doch sie
lehnte mit den Worten ab, daß es an ihr sei, ihm etwas zu schenken, und nicht, etwas von ihm anzunehmen. Der König sah und hörte dies, ließ ihren Vater in den Palast kommen und bat ihn, Yasodhara seinem Sohn zur Frau zu geben. Doch der Mann war ein stolzer Sakya und weigerte sich. Seine Tochter würde einen tapferen, klugen und geschickten Mann heiraten, keinen, der ein Leben des Müßiggangs gepflegt hatte und nie auf die Probe gestellt worden war. Alles andere als gekränkt, bereitete der König eine Reihe von Wettkämpfen vor, zu denen jeder junge Mann eingeladen war, und Yasodharas Vater versprach sie dem, der sich in allen Disziplinen auszeichnete. Zuerst wurde die Schreibkunst geprüft. Ein Jüngling, der sich für geübt hielt, kam nach vorn, doch der Lehrer Visvamitra sagte ihm, daß Siddhartha bereits als Kind vierundsechzig verschiedene Schriften beherrscht hatte, und der junge Mann zog beschämt davon. Dann kam die Mathematikprüfung, die sofort vorüber war, da Siddhartha die richtigen Antworten gab, noch bevor ihm die Probleme vollständig dargelegt worden waren. Dann verlagerte sich der Wettkampf auf die athletischen Disziplinen, wo er jeden Lauf gewann und am höchsten sprang. In den Kabadi genannten Ringkämpfen siegte er ein weiteres Mal, indem er jeden Gegner mit geschulten Griffen in den Sand warf. Schließlich kam das Bogenschießen. Zuerst sah es so aus, als ob er nicht mitmachen könnte, da er vor lauter Kraft jeden Bogen zerbrach, aber der König ließ nach einem alten Bogen schicken, der seit Jahrhunderten im Tempel zur Schau gestellt wurde. Kein Mann war je in der Lage gewesen, ihn zu spannen, doch Siddhartha
brauchte nur einen Finger dazu. Das Ziel war auf einen so weit entfernten Baum aufgemalt, daß es außer ihm niemand sehen konnte. Als er schoß, spaltete der Pfeil den Stamm und bohrte sich in den Boden, wo auf der Stelle eine Quelle entsprang, die von da an Pfeilquelle genannt wurde. Und so gab Yasodharas Vater Siddhartha seine Tochter zur Frau. Die Hochzeitsfeier dauerte zehn Tage und Nächte, und noch Monate danach führten sie ein Leben voller Leidenschaft, indem sie sämtliche Sinne schärften und allen Gelüsten nachgaben. Yasodhara wurde schwanger, und die Geburt stand kurz bevor, als man anfing, Fehler zu machen, und Siddhartha die ersten Wörter der neuen Sprache hörte. Es war nach einem Ringkampf vor dem Palasthof. Siddhartha hatte seine Mannschaft zum Sieg geführt und die seines Wagenlenkers Channa geschlagen. Sie verließen den Kampfplatz und kamen an einem Blumenbeet vorbei. Ein Gärtner wechselte die Blumen aus, und die Götter fügten es, daß Siddhartha das bemerkte und den Mann fragte, was er da mache. Er antwortete, er pflanze neue Blumen ein, und Siddhartha wollte wissen, warum. »Ihr wißt doch, wie Euer Vater ist«, antwortete der Gärtner in aller Unschuld. »Er schätzt es, wenn die Blumen erneuert werden, bevor sie welken.« »Welken?« fragte Siddhartha. »Was ist ›welken‹?« Der Gärtner konnte nur lächeln, da er nicht in der Lage war, Siddhartha den Tod zu erklären. »›Welken‹?« wiederholte Siddhartha und lachte, als Yasodhara ihn ablenkte, und für den Moment vergaß er das Wort.
Die Krise war vorübergegangen, doch nicht auf Dauer. Zur Mittagszeit am Tag der Sommersonnenwende kamen ihm wie zufällig die ersten Zweifel. Siddhartha ruhte auf einem Lager im Hof und döste. Eine Dienerin massierte ihm die Füße mit Ölen, eine andere manikürte die Nägel seiner rechten Hand. Yasodhara saß auf seidenen Kissen daneben. Pfaue stolzierten vorbei und schlugen respektvoll ihr Rad. Über den Hof hinweg konnte man ein Mädchen singen und Sitar spielen hören, was Siddhartha veranlaßte, verwundert die Augen aufzuschlagen. Es waren die fremdartigsten und schönsten Klänge, die er je gehört hatte, eine Art Freudengesang. Aber durch die hellen, verspielten Klänge konnte Siddhartha ein ihm unbekanntes Gefühl der Beklemmung ausmachen. Hätte er je von Melancholie gehört, hätte er sie in den Liedern wiedererkennen können, doch für ihn war es nur fremdartig. Er erhob sich und ging zu der Fensterbrüstung, an der das Mädchen sang, und blickte zu ihr hinauf. Er legte den Kopf schief wie ein neugieriges Hündchen. Yasodhara eilte an seine Seite, und er fragte sie, was das für ein Lied sei. Als wäre sie von einem boshaften Gott geblendet, war nun sie an der Reihe, einen Fehler zu machen. Sie antwortete ihm, es sei ein Lied über die Wunder und Schönheiten des fernen Landes, aus dem das Mädchen stammte, und über die Seen und Berge, die sie nicht vergessen konnte. »Wie merkwürdig«, sagte er. »Gibt es solche Orte? Ebenso schön wie hier?« Die Vorstellung schien unbegreiflich. »Ich hatte noch nie den Wunsch, nach draußen zu gehen.«
Yasodhara spürte, daß sie eine gefährliche Neugier in ihm geweckt hatte, und versuchte sie im Keim zu ersticken. »Ich habe gehört, daß es jenseits dieser Mauern nur Leiden gibt«, insistierte sie, aber auf der Stelle wurde ihr klar, daß sie einen zweiten Fehler gemacht hatte. Er wandte sich zu ihr und fragte: »Was ist Leiden?« Sie seufzte und sah zur Seite. »Dein Vater liebt dich sehr«, erwiderte sie ihm. »Er hat uns alles gegeben, was du dir nur wünschen kannst. Es besteht keine Notwendigkeit, irgendwo anders hin zu gehen, wenn man von solcher Schönheit umgeben ist.« »Das ist wahr«, sagte Siddhartha. »Wir haben alles, und alles ist vollkommen. Woher kommt also dieses Gefühl in mir? Wenn die Welt so schön ist, warum habe ich sie dann nie gesehen? Ich kenne nicht einmal meine eigene Stadt. Ich muß die Welt sehen, mit meinen eigenen Augen.« Und Yasodhara begann zu weinen und wandte sich von ihm ab, da ihr bewußt wurde, welche Gefahr diese neue Wißbegier für ihr Leben darstellte. Er wollte die Welt sehen — was immer das auch war. Es herrschte völlige Stille in Konrads Wohnzimmer, nur die Konzentration verursachte eine gewisse Spannung in der Luft. Lisa saß an ihrem Schreibtisch und stellte Prüfungsaufgaben zusammen, Dean saß auf dem Sofa und studierte einen Plan. Unten ging die Haustür, was Lisa erleichtert lächeln ließ. Langsam war sie ein wenig ängstlich geworden und hatte sich gewundert, daß Maria den Jungen so lange nicht heimbrachte. Sie hatte sich bereits Zeitungsschlagzeilen über einen Jungen aus Seattle ausgedacht, der von tibetischen Mönchen entführt
worden war, und sich selbst in den Nachrichten gesehen, wie sie vor der Kamera erzählte, daß sie einen so netten Eindruck gemacht hätten, während die Zuschauer über ihre Leichtgläubigkeit kicherten. Doch nun war alles in Ordnung. Er war wieder da. Sie hörte Maria plappern und dann seine müden Schritte auf der Treppe. Verwundert fragte sie sich, ob etwas nicht stimmte, da er normalerweise wie ein Ziegenbock hüpfte; nun kam er angetrottet wie sein Vater nach einem harten Tag. Als er das Zimmer betrat, ha tte er eine ängstliche Miene aufgesetzt. »Mom, wenn du stirbst, kommst du dann wieder?« Herrje. Was für eine Frage. »Was redest du denn da, Jesse? Ich werde nicht sterben.« »Jeder stirbt.« Dann ging ihr ein Licht auf. Das Buch. Der Tod der Königin. Zeit für einen Themenwechsel. »Wie war es mit Lama Norbu?« fragte sie, und als er den Namen des alten Mannes hörte, fing Jesse zu strahlen an. »Es war toll.« Er hopste hinüber zu Dean. »Ich habe ihm dein Haus gezeigt, Dad.« »Gut.« »Und, Dad, Lama Dorje heißt Lama Donnerkeil. Und Bhutan ist das Land des Donnerdrachens.« Er nahm die Messingglocke vom Couchtisch und schwang sie hin und her. »Und ich möchte dort hinfahren. Ich werde ins Land des Donnerdrachens fahren.« Nachdem er seinen Entschluß verkündet hatte, verließ er den Raum mit Riesenschritten, läutete mit der Glocke und murmelte immer wieder »Donnerkeil«, wie eine Litanei.
Lisa wandte sich um und stellte fest, daß Dean sie mit zur Seite gelegtem Kopf anschaute und nachdenklich dreinsah. »Warum siehst du mich so an?« »Wie denn?« »Als ob du mich noch nie gesehen hättest.« »Das ist mein tibetischer Blick.« Wie, bitte? Tibetischer Blick? Es war völlig untypisch für Dean, in Rätseln zu sprechen. »Was?« »Ich meine, das ist ja alles ganz nett«, sagte er langsam. »Aber wie weit wollen wir denn das Ganze mitmachen?« Lisa zuckte die Achseln. »Die Reinkarnation des Jesse Konrad«, sagte er mit einer guten Portion Sarkasmus in der Stimme. »Du kennst doch deinen Sohn, oder?« Der letzte Satz ließ sie zusammenzucken. Wie konnte er es wagen, ihr so eine beleidigende Frage zu stellen? Natürlich kannte sie ihren Sohn. Sie hatte ihn ja acht Jahre lang aufgezogen. Sie wollte ihm gerade die Meinung sagen, da redete er schon weiter. »Du weißt doch, wieviel Phantasie er hat. Er wird noch ganz verwirrt. Oder nicht?« Sie zuckte erneut die Achseln. Sie konnte an dieser Beschäftigung nichts Schlimmes finden. Das SiddharthaBuch war anregend. Es war entschieden besser für Jesse als diese Computerspiele. »Und durcheinander«, beharrte er. »Ich sag's dir. Bald fängt er noch an, sich einzubilden, er wäre dieser Lama Dorje.« Dann lächelte er. »Das sollte ein Witz sein.« Doch sie lachte nicht. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber wie viele kleine Jungen aus Seattle bekommen denn die Chance, etwas über eine andere Welt zu erfahren? Es ist, als wäre ein Märchen wahr geworden.«
»Abgesehen davon, daß es nicht wahr ist, oder?« Er wurde auf einmal wütend. »Ich glaube nicht an Reinkarnation. Jedenfalls nicht auf diese Art. Mit einem Namen, einer Adresse und einer Telefonnummer als eine bestimmte Person zurückzukommen. Und du glaubst es auch nicht.« Er erwartete eine Antwort, hoffte, daß sie ihm zustimmte, doch sie schwieg. »Oder glaubst du es?« »Nein.« »Also?« Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen und starrte statt dessen auf einen Stapel Hefte. Dean wollte, daß sie ihn bestätigte. Er wollte, daß sie seiner Skepsis Rückhalt bot, doch das konnte sie nicht. Ständig sah sie das Gesicht des alten Mannes vor sich und hatte den warmen Singsang seiner Stimme im Ohr. Dean zuzustimmen hieße, den Lama irgendwie zu verraten, und dazu konnte sie sich nicht überwinden. »Wir wissen nicht viel über irgendwelche Zusammenhänge, egal welcher Materie«, sagte sie. »Und absolut überhaupt nichts über die allerwichtigsten Dinge. Wir wissen nicht, warum wir geboren werden. Oder ob es überhaupt ein Warum gibt.« Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu, der ihn zum Widerspruch reizen sollte, dazu, der großen Warumsind-wir- hier-Frage zu widersprechen, die keiner der größten Philosophen der Welt je beantwortet hat. »Das ist doch interessant«, meinte sie. Dean seufzte, und um seine Kapitulation zu verdeutlichen, hob er die Hände. »Ich muß Evan anrufen«, sagte er.
Er mußte über seine finanzielle Lage diskutieren. Die Reinkarnation mußte warten.
5. Kapitel »Genau das hat mir gefehlt.« Auf dem Weg in die Innenstadt hörte sie erneut den sarkastischen Unterton in seiner Stimme. Eine unangenehme Tonlage, die neu an ihm war; und dann gestern seine kaum zurückgehaltene Wut. Er war schon immer in gewissem Maße ein Skeptiker gewesen, ein nüchterner Typ, was durchaus in Ordnung war. Doch gab es einen feinen Unterschied zwischen Skepsis und Zynismus, zwischen Witz und Gift, und sie hoffte, daß ihn seine Sorgen nicht seines Taktgefühls beraubten, da sie nicht mit einem weltverdrossenen Zyniker zusammenleben wollte. Das war nicht Teil des Paktes gewesen, als sie einander das Jawort gaben... »Links«, brüllte Jesse. »Nein, rechts. Nein, links.« »Entscheide dich...« »Ja, links, da ist es. Schau. Dort drüben.« Sie hatte das Gebäude schon einmal gesehen. Ein gewölbtes, schindelgedecktes Bauwerk, das früher eine methodistische Kirche gewesen war. Sie konnte sich noch erinnern, wie die Gemeinde herausströmte, als sie an einem Sonntagmorgen im Nieselregen daran vorbeispaziert war; alles Männer in grauen Anzügen und schwarzen Hüten. Nun hatten es die Buddhisten cremefarben gestrichen, und über der Tür prangten in rotbraun die Worte ›Dharma-Zentrum‹. »Was bedeutet Dharma, Mom?« »Ich glaube, es heißt ›der Weg‹ oder so etwas«, antwortete sie und wackelte mit den Fingern, um Anführungszeichen anzudeuten. Ihre Eltern hatten, bevor sie auf die Welt gekommen war, eine Zeitlang eine
Beatnik-Phase durchlebt, und ein Überbleibsel davon war ein Buch von Kerouac mit dem Titel The Dharma Bums. Sie hatte versucht, es zu lesen, doch sie hatte sich nicht dafür begeistern können. Vor dem Zentrum parkte sie den Wagen, und Jesse stieg mit seinem Buch in der Hand eilig aus. Es war wie in der Kreditkarten-Werbung: Man geht nie ohne aus dem Haus. Chompa verneigte sich, als sie hereinkamen, und Lisa sah sich anerkennend um. Die Trostlosigkeit und Strenge der Methodisten mit ihren harten Bänken und düsteren Ermahnungen zur Gottesfurcht war verschwunden. Jetzt war es ein farbenfroher Ort der Verehrung. Die Kanzel war verschwunden und hatte einem Gerüst Platz gemacht. Zwei Maler arbeiteten am Bild des Buddhas. Die anderen Wände waren mit Gemälden verziert. »Wir nennen sie Thangkas«, sagte Chompa. »Und der weiße Schal, den wir als Gruß darbringen, heißt Kata.« »Okay«, sagte Lisa, blieb stehen und lauschte dem monotonen Singsang der Mönche bei ihrer Andacht. »Das ist das Herz-Sutra«, sagte er. »Es ist unser bekanntestes Gebet.« »Wie das Vaterunser!« »Ich glaube schon.« Sie gingen vor an das Gerüst und hörten zu, während Chompa übersetzte: »Körper ist Leerheit... Leerheit ist Körper... Alles ist Leerheit, weder entstanden noch aufgehoben ... kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, kein Körper, kein Denken...« »Keine Farbe, kein Ton, kein Geruch, kein Geschmack, keine Tastempfindung, keine Denkinhalte.« Dann lächelte er und sah verlegen drein: »Es ist schwer, so schnell zu übersetzen.«
»Es ist sehr schön«, sagte Lisa und sah auf die Uhr. »Aber jetzt muß ich gehen.« Sie fuhr Jesse durchs Haar und kniete sich vor ihm hin. »Dad holt dich um vier Uhr ab. Okay?« Er nickte und wandte sich um, um den Buddha zu betrachten, als sie davonging. An der Tür drehte sie sich noch einmal nach Jesse um, ihr kleiner blonder Junge unter all diesen singenden Männern in ihren rotbraunen Gewändern, und unterdrückte die aufsteigende Angst. Hier würde ihm doch nichts geschehen, oder? Nur eine Stunde ungefähr? Bei diesen Leuten war er besser aufgehoben als bei den Methodisten mit ihrer düsteren Weltsicht und ihrer Gottesfurcht. Ihm würde nichts geschehen. Es war ja nur für eine Stunde. Chompa winkte, als sie hinausging und führte Jesse dann zu einem Raum im hinteren Teil der Kirche. An der Tür stand in Blattgold das Wort ›Sakristei‹. Er klopfte und wartete, doch es kam keine Reaktion. Leise drückte er die Tür auf und schlich auf Zehenspitzen hinein. Es war ein kleiner Raum, in dem lediglich ein schmales Bett, ein hölzerner Altar und ein kleiner Toilettentisch standen. Auf dem Altar stand die Fotografie von Lama Dorje. Lama Norbu saß im Lotossitz auf dem Bett und hielt seine Gebetsschnur um die Finger gewickelt. Sein Kopf war auf die Seite gesunken. Rasch ging Chompa auf ihn zu und beugte sich hinab, um an seiner Brust zu horchen. Dabei setzte sich der alte Mann auf und zwinkerte. »Entschuldigung«, sagte Chompa. »Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Eines Tages, Chompa«, sagte der alte Mann. »Aber jetzt noch nicht.« Dann sah er zur Tür, wo Jesse stand.
Der alte Mann winkte ihn herbei, aber der Junge ging direkt auf den Altar zu. »He, das ist ja Lama Donnerkeil!« sagte er. »Genau.« Die beiden Männer wechselten einen Blick, während der Junge das Foto betrachtete. Dann ging er an den Toilettentisch, auf dem neben einer Thermosflasche und zwei Tassen vier hölzerne Schalen standen. Drei waren neu, die vierte war alt und rissig. Jesse ergriff die alte und runzelte die Stirn. Dann murmelte er gereizt »Sie ist staubig«, und rieb sie mit dem Ellbogen sauber. Erneut warfen sich die beiden Männer einen Blick zu, und Chompa dachte: Vielleicht ist es ja nur Zufall, und er hat einfach erraten, daß das auf dem Foto Lama Dorje ist. Vielleicht. Nun nahm Jesse etwas in die Hand, das hinter den beiden Scha len verborgen gewesen war. Er hielt es in die Höhe und blickte den alten Mann fragend an. »Das ist eine Trompete aus einem Menschenknochen.« »Ehrlich?« Seine Augen waren so groß wie Golfbälle. Er hob sie an die Lippen und blies. Die Trompete gab einen schr illen Ton von sich, und Jesse kicherte. Der alte Mann nahm ihm das Buch aus der Hand und schlug es auf. »Also«, sagte er. »Wie weit bist du gekommen?« »Siddhartha wollte die Welt sehen.« Jesse hüpfte aufs Bett, während der alte Mann die richtige Seite aufb lätterte. Er begann zu lesen, und Chompa, der zusah, fühlte sich an die jungen Mönche zu Hause erinnert, an Schlangen und einen Mungo... Der König wußte, daß der Moment gekommen war und er das Unvermeidliche nicht aufhalten konnte.
Siddhartha glich, wie es ein altes Sprichwort ausdrückte, einem Elefanten, den man zu lang im Stall eingesperrt hat. Zwar war es der luxuriöseste aller Ställe, doch seit Yasodhara ihn in diesem unbedachten Moment neugierig auf die Welt hinter den Palasttoren gemacht hatte, sah Siddhartha ihn als Käfig. Er ging zu seinem Vater und sagte ihm, daß er bald fortziehen und eine große Reise antreten werde. Der König hatte diesen Tag stets kommen sehen und war darauf vorbereitet. Die Alten, die Kranken und die Bettler wurden zusammengetrieben und weit von der vorgesehenen Route weggeschafft. Siddhartha würde die Außenwelt sehen, erkennen, daß sie ebenso froh und heiter war wie das Leben in den Palastanlagen, und der Drang, seine Neugier zu stillen, würde vergehen. Er würde zufrieden sein, seinem Vater auf dem Thron nachzufolgen. Die Dynastie würde weiterleben, und das war alles, worauf es ankam. Der Tag der Abreise brach an. Siddhartha war neunundzwanzig Jahre alt. Dienerinnen badeten ihn und salbten seinen Körper. Sein langes schwarzes Haar, das nie eine Klinge gesehen hatte, wurde toupiert und gelockt. Sie kleideten ihn in ein blau-goldenes Gewand, setzten ihm eine Krone auf und hängten ihm eine mit Edelsteinen besetzte Kette mit sechs Medaillons um den Hals; ein von Diamanten übersäter Reif schloß sich um seinen linken Unterarm, und seine rechte Hand war mit unzähligen Ringen geschmückt. Als er im Hof erschien, jubelten die Männer, und die Frauen seufzten. Channa erwartete ihn. Er trug einen schlichten roten Umhang und hielt Siddharthas weißen Hengst Kantaka an den Zügeln. Siddhartha lächelte ihn an und sagte: »Wir werden die Welt sehen.« Dann half
man ihm in eine Sänfte, einen Thron aus Mahagoni mit Einlegearbeiten aus Blattgold. Ein Baldachin aus Pfauenfedern sollte ihn vor der Mittagssonne schützen. Er sah zum Balkon hinauf und winkte seinem Vater, seiner Tante und Yasodhara zu. Diese rieb sich die Augen, um nicht zu weinen, doch Siddhartha glaubte unschuldig, daß ihr ein Staubkörnchen ins Auge geflogen sein mußte. Dann gab der König ein Signal. Trompeten schmetterten, ein Trommelwirbel erklang, und drei Dutzend Männer in gelben Gewändern hoben sich die Sänfte auf die Schultern. Die Trompeten verstummten, und die Trommeln begannen, einen Rhythmus vorzugeben, der die Schritte der Träger leiten sollte. Siddhartha sah auf Channa hinab und strahlte voller Vorfreude. Schließlich öffneten sich die schweren Tore, und er sah in die Welt. Es war eine enge Straße, eine Schlucht von dreistöckigen Häusern, die vor jedem Fenster einen frisch in Rot, Ocker oder Gelb gestrichenen hölzernen Balkon hatten. Eine Menschenmenge säumte die Straßen, lehnte sich aus Fenstern und von Balkonen herab und hockte auf Dächern. Überall wimmelte es von Männern, Frauen und Kindern in ihren besten Gewändern und Turbanen. Von allen Seiten lächelten ihn die Gesichter an, und beim Verlassen des Palastgeländes wurde er mit Rosenblüten und rotem Puder überschüttet, so daß er kaum hindurchsehen konnte. Einen Augenblick schwiegen die Trommeln, und die Menge schrie im Chor seinen Namen, und wie sie es geübt hatten, betonten alle die zweite Silbe: Sii-DAA-AAR-ta! Sii-DAAAAR-ta! SiiDAAAAR-ta! Die Trommeln griffen den Rhythmus auf, und die Rosenblüten flogen wie in einem Wirbelsturm
durch die Luft. Siddhartha fing Hände voll davon auf, roch daran und warf sie einem hübschen Mädchen zu, blieb dann stehen und breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. SII-DAAAAR-TA! SII-DAAAAR-TA! Und das Wort, das Yasodhara gebraucht und das ihn so bestürzt hatte, verschwand aus seinem Gedächtnis. Er blieb aufrecht stehen, als die Sänfte langsam die Straße entlang getragen wurde. Alle, die links und rechts, auf Balkonen und ebenerdig standen, lächelten ihn an und riefen seinen Namen; Hände reckten sich ihm entgegen, aber er bekam sie nicht zu fassen. Er war verzückt und wünschte sich, daß dieser Moment nie vergehen möge, doch nun konnte er, hundert Meter entfernt, das Ende der Welt sehen. Man würde ihn dorthin tragen, und dann würde der Thron, wie es eingeübt worden war, auf seiner Halterung herumgeschwenkt werden, die Männer würden die Sänfte von ihren Schultern heben, sich umwenden und zum Palast zurückkehren. Siddhartha freute sich schon auf die Feiern und Tänze, als er die Ungeheuer erblickte. Zu seiner Linken befand sich eine Gasse, die auf den ersten Blick leer zu sein schien, doch dann sah er ein junges Mädchen, das die Arme nach ihm ausstreckte. Als er sich von ihr abwandle, waren plötzlich zwei Ungeheuer am Anfang der Gasse aufgetaucht. Siddhartha saß stocksteif da und starrte sie an. Sie hatten Ähnlichkeit mit Menschen, doch das wenige Haar, das sie besaßen, hatte die Farbe von Kantakas Mähne. Zuerst dachte er, sie bückten sich, um irgend etwas aufzuheben, aber sie richteten sich nicht auf, sondern standen nur gebeugt da; ihre Haut war runzlig, und ihre Rippen waren so deutlich zu erkennen wie die Speichen der
Fächer, mit denen er sich in der Mittagshitze Kühlung verschaffte. Als sie ihn sahen, begannen sie zu lächeln, doch sie hatten jeweils nur drei Zähne, die aussahen wie kleine Hauer, gelb und abgestoßen. Siddhartha schloß die Augen und dachte einen Moment lang, daß es einer dieser Träume sein müsse, die Yasodhara Alpträume genannt hatte, was immer das auch war. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, wie zwei Wachen die beiden Ungeheuer von hinten packten, als wögen sie nicht mehr als Federn, und sie die Gasse hinab davontrugen, wobei die dünnen Ärmchen der beiden wie Trommelstöcke wirbelten. Channa würde es wissen. Channa war draußen geboren. Er beugte sich zu ihm und deutete in die Gasse. »Was sind das für Männer?« fragte er, wobei er noch überlegte, ob es überhaupt Männer waren. »Männer wie wir alle, mein Gebieter. Männer, die an den Brüsten ihrer Mütter gesäugt wurden. « »Aber warum sehen sie so aus?« Da beging Channa einen Fehler: »Weil sie alt sind, mein Gebieter.« Noch eine fremdartige Silbe, noch ein bedeutungsloser Laut. »Was meinst du damit – ›alt‹?« »Das Alter zerstört das Gedächtnis, die Schönheit und die Kraft«, erklärte Channa und verwirrte dadurch Siddhartha noch mehr, obwohl er wußte, daß er eigentlich nicht antworten sollte, doch die Zunge gehorchte seinem Verstand nicht. »Am Schluß geht es uns allen so, mein Gebieter.« Es war ausgesprochen. Es war passiert. Die Worte waren gefallen, und Siddhartha starrte ihn an, schüttelte dann den Kopf, als versuchte er, das Wort ›alt‹ aus
seinem Gedächtnis zu löschen, aber statt dessen erinnerte er sich eines längst verdrängten Wortes: ›Verwelkt‹. ›Verwelkt.‹ ›Verwelkt‹, ›alt‹, ›Leiden‹. Neue Wörter. Sie klangen schrecklich. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, sprang er von der Sänfte hinab in die Menge. Es kam so unerwartet, daß Channa einen Augenblick wie angewurzelt dastand, bevor er reagieren konnte. Zuerst dachte er, er hätte ihn aus den Augen verloren, und dankte den Göttern für die goldene Krone, die immer wieder über der Menschenmenge auftauchte und schließlich verschwand, als Siddhartha in die Gasse einbog. Channa drängte sich in panischer Angst durch die Menge, denn falls das Undenkbare geschah, wenn er den Prinzen verlor, wäre der Zorn des Königs maßlos; was das für ihn hieße... Schließlich fand er ihn am Ende der Gasse, die auf einen großen Platz führte. Den Kopf merkwürdig schief gelegt, beäugte er einen weiteren alten Mann – starrte nur und rümpfte die Nase. Channa rannte zu ihm hin, als Siddhartha sich umdrehte und auf den alten Mann zeigte. »Geschieht das mit jedem?« fragte er. Channa nickte. »Mit dir auch?« Channa nickte erneut. »Und mit mir?« »Ihr solltet Euch lieber nicht mit diesen Dingen beschäftigen, mein Gebieter«, sagte er, doch noch während er sprach, wußte er, daß er seinen Atem verschwendete, und versuchte sich vorzustellen, was für ein Schock Siddharthas Verstand gerade erschütterte — die erste Andeutung von Sterblichkeit –, und das im Alter
von neunundzwanzig Jahren. Was würde er tun? Wie würde er reagieren? Siddharthas Verhalten überraschte ihn. Er streifte Schmuck und Krone ab, reichte alles Channa und wies ihn an, ihm sein Gewand zu geben. Und mitten in dieser schmutzigen Gasse, durch die ein offener Abwasserkanalfloß, legte der große Prinz vom Geschlecht der Sakyas sein Gewand ab und stand einen Moment nackt da, bevor Channa ihm das seine reichte. Siddhartha zog es an, bedeckte seinen Kopf mit der Kapuze, wandte sich um und ging auf den Platz zu, so daß ihm Channa im Lendenschurz folgen mußte, das blau-goldene Gewand und die herrlichsten Edelsteine des Landes fest an sich gedrückt. Gemächlich schritt Siddhartha auf den Platz und sah sich um. Das war also die Welt, keine vorgezeichnete Route. Die Menschen gingen, unbeirrt durch diesen Fremden im roten Gewand, ihren Geschäften nach. Niemand beachtete ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich unsichtbar. Fasziniert sah er zu, wie Männer Strohballen mit Gabeln auf Karren hievten, andere auf ihren Mühlrädern standen und sie in Bewegung brachten und ein Töpfer an seiner Scheibe arbeitete. Als Channa bei ihm angelangt war, fragte er ihn, was sie da machten. »Korn mahlen«, sagte er. »Warum?« »Um Brot zu backen.« Nie hatte er daran gedacht, daß Brot gebacken werden mußte. Für ihn war es etwas, das serviert wurde — zusammen mit dem Wein. Er überquerte den Platz und betrachtete die Menschen, die an Ständen Obst und Fleisch verkauften, und wurde zum ersten Mal in seinem Leben beschimpft, als er gegen
einen Mann stieß, der Brennholz trug; aber er war nicht gekränkt, da er gar nicht verstand, was der Mann da sagte. Erging im Zickzack durch das Treiben, wobei ihm Channa , stets auf dem Fuße folgte, und blieb stehen, als er ein entsetzliches Jammern hörte. Er ging darauf zu, stieg über dicke Schlammschichten und ein übelriechendes Rinnsal, bis er an einer strohgedeckten Hütte ankam. Das Geräusch wurde immer lauter. Anfangs klang es für ihn so ähnlich wie die Laute, die Yasodhara manchmal in Momenten der Leidenschaft von sich gab, doch als er hineinblickte, sah er das Gegenteil dessen, was er erwartet hatte. Auf einem Strohsack lag eine alte Frau mit einem geschwollenen und schwer gezeichneten Gesicht. Der Geruch beleidigte seine Nase, so daß er sie mit zwei Fingern fest zuhielt. Dann begann die Frau fürchterlich zu husten und spuckte etwas Ekelerregendes auf den schmutzigen Fußboden. Siddhartha fürchtete sich, für ihn ein fremdes Gefühl, da er noch nie, Angst empfunden hatte. »Was ist denn los mit ihr? Warum, stöhnt sie so?« »Sie hat Schmerzen, mein Gebieter. Sie ist schwer krank.« Nein, dachte er. Schmerz, das war, wenn man sich beim Kabadi weh tat. Es ging schnell vorüber. Und dann dieses zusätzliche neue Wort — ›krank‹. Er ließ seine Blicke schweifen und sah noch mehr Ungeheuer auf dem Stroh liegen, Menschen mit schrecklich entstellten Gesichtern, von denen manchen einzelne Körperteile fehlten. Sie sahen... ›verwelkt‹ aus. War ›verwelkt‹ das gleiche wie ›krank‹? Er wandte sich zu Channa und fragte. »Vielleicht ist es besser, das nicht zu wissen«, meinte Channa.
Siddhartha wurde wütend. Auch das war neu, daß Channa sich weigerte, ihm zu antworten. »Sag es mir«, herrschte er ihn an. »Ich befehle es.« Channa sah beiseite und sprach so leise und zögernd, daß Siddhartha Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Krankheit ist ein Unglück, das alle Lebewesen befällt. Niemand stirbt, ohne wenigstens einmal krank gewesen zu sein.« »Nicht einmal Könige?« fragte er ungläubig. Channas Schweigen war eine bejahende Antwort. Siddhartha sah weg von ihm. Vier Männer, die bis auf die Lendenschurze und die gelben Turbane nackt waren, trugen eine große Kiste auf den Schultern und intonierten ein Mantra, das Siddhartha noch nie gehört hatte und das wie das Muhen von Wasserbüffeln klang. »Und der Tod?« fragte er und wandte sich erneut an Channa. »Was ist das?« Channa zuckte nur die Achseln und sah auf den Boden. »Zeig ihn mir, Channa«, forderte Siddhartha. »Es ist zu spät zum Umkehren. Zeig mir den Tod.« Da wußte Channa, daß er keine Wahl hatte. Langsam führte er Siddhartha weg von dem Platz und eine schmale Straße voller baufälliger Häuser hinab, bis sie zum Fluß kamen. Eine Menge schweigender alter Männer und Frauen lagerte am Ufer. »Hier warten sie«, sagte Channa. Feuer brannten, die Sonne war stechend, und der Geruch von etwas Gekochtem machte Siddhartha hungrig. Am Flußufer erblickte er eine mit Ästen und Zweigen bedeckte hölzerne Plattform, auf der etwas Weißes lag – eine Art riesiger Vogel, der reglos in seinem Nest lag, dachte Siddhartha.
Beim Näherkommen stiegen ihnen Rauch und Ruß in die Augen. Sie blieben stehen, um sich die Augen zu reiben, und vier Männer mit einer Kiste überholten sie. Mit erneut wie ein Hündchen zur Seite geneigtem Kopf sah Siddhartha dabei zu, wie der weiße Vogel aus seinem Nest gehoben wurde. Er sah aus, als hätte er die Form eines Menschen, wie ein großer Säugling in Windeln. Dann waren die Männer mit der Kiste beim Nest angekommen, holten noch ein Wesen in Weiß aus ihr heraus und legten es auf das Nest. Siddhartha schüttelte den Kopf und versuchte, seiner Verwirrung Herr zu werden, doch alles, was er sah, war ihm ein Rätsel. Ein alter Mann stand bis zu den Knien im grünen Fluß und setzte eine Schale auf das Wasser. Siddhartha ging zum Ufer und sah sie vorbeitreiben. Sie war mit Asche gefüllt. Schon stand Channa neben ihm und wies auf ein weißes Bündel, das nur wenige Meter entfernt bei einem der Feuer lag, und nun sah Siddhartha, daß es ein Mensch war. Seine Füße lagen im Wasser, und ein Priester sprach ein Mantra über ihm. »Das ist der Tod, mein Gebieter«, flüsterte Channa. Siddhartha verstand erst, als der Tote in seinem Leichentuch hochgehoben wurde; doch auch dann konnte er nicht fassen, was die Männer da machten. Warum sie ihn auf ein Nest aus Zweigen und Blättern legten und ein Mann mit einer Fackel das Nest in Brand steckte und es in Flammen aufging. »Der Tod ist der Moment der Trennung, der zu jedem Menschen kommt«, sagte Channa. »Zu jedem, in jeder Familie. Wenn ein Körper kalt und steif wie Holz wird,
dann ist sein Leben vorüber, und er muß wie Holz verbrannt werden.« Siddhartha trat näher an den Scheiterhaufen heran. Während er zusah, hockte sich ein heiliger Mann im Lendenschurz neben ihn. Siddhartha bemerkte ihn nicht. Er sah nur die Leichenverbrennung und nahm den von ihr ausgehenden Geruch wahr. Er sah Fett aus dem Leichentuch in die Glut tropfen, sah, wie das Gesicht zum Schädel und der Körper zum Gerippe wurde. Er bemerkte nicht, daß Channa ging, die Sonne versank und der Tag zur Nacht wurde. Schließlich waren die Feuer ausgegangen und die Menschen verschwunden, und nur er und der heilige Mann saßen noch da. Siddhartha streckte den Arm aus und nahm sich eine Handvoll warmer Asche, stand dann auf und ging zurück zu dem Platz, die schmutzige Gasse entlang bis zu der Straße, die immer noch mit Rosenblättern bedeckt war. Im Palast angekommen, tat er etwas noch nie Dagewesenes: Er betrat den Innenhof seines Vaters unangekündigt und sah ihn an einem Wasserbecken sitzen, sah, wie ihm eine Dienerin den Bart färbte und daß dieser vor dem Färben so weiß war wie Kantakas Mähne. Nun wußte er, daß Channa die Wahrheit gesprochen hatte, daß diese neuen Wörter sogar für Könige und sogar für ihn galten und er eines Tages zu dem werden würde, was er in seiner Hand umschlossen hielt — und dieses Wissen machte ihn wütend. Als der König ihn sah, versuchte er, seinen Bart zu verbergen, doch er wußte, daß es bereits zu spät war und seine gesamten Vorkehrungen umsonst gewesen waren. »O mein Vater«, sagte Siddhartha. »Warum hast du mir die Wahrheit so lange vorenthalten? Warum hast du
mich darüber belogen, daß es Dinge wie Armut, Tod und Alter gibt?« »Wenn ich dich belogen habe, so geschah dies nur aus Liebe.« »Nein.« Siddhartha schüttelte heftig den Kopf. »Läßt sich Liebe in Lügen kleiden ? Deine Liebe ist zum Gefängnis geworden. Wie kann ich weiterleben wie bisher, wenn es draußen so viel Leiden gibt?« »Du wolltest nie nach draußen.« Noch während er seine Entgegnung aussprach, wußte der König, wie kläglich sie war. »Ich muß diesen Palast der Illusionen verlassen, mein Vater«, sagte Siddhartha. »Ich muß dem Leiden ein Ende machen.« Der König setzte seine letzte Hoffnung auf eine Neuigkeit, von der sein Sohn noch nichts wußte. »Selbst wenn du mich im Stich läßt«, sagte er. »Hast du denn kein Mitleid mit deiner Frau und... deinem Sohn?« Siddhartha strahlte ihn an. »Mein Sohn ist zur Welt gekommen?« fragte er. »Heute abend. Denk an die beiden.« Doch Siddharthas Lächeln erstarb, denn plötzliche Verwirrung überkam ihn. Der König trat auf ihn zu und legte ihm sachte die Hand auf die Schulter. »Auch du bist ein Vater«, sagte er. »Auch du hast eine Verpflichtung. Du kannst jetzt nicht gehen.« Siddhartha schüttelte nachdenklich den Kopf, und einen Augenblick lang dachte der König, er würde ihm zustimmen und eingestehen, daß er nicht gehen konnte, doch als er sich umdrehte, sah er in Siddharthas Augen seine Entschlossenheit. »Nicht einmal meine Liebe zu Yasodhara und meinem Sohn kann den Schmerz stillen, den ich empfinde«, sagte
er voller Trauer. »Denn ich weiß, daß auch sie alt werden und sterben müssen. Wie du, wie ich, wie wir alle.« Und er ergriff die Hand seines Vaters und beschmierte sie mit Asche. Der König schauderte und wich voller Ekel zurück. »Ja«, sagte er leise, »wir alle müssen sterben und wiedergeboren werden und erneut sterben. Kein Mensch kann diesem Fluch je entkommen.« »Dann ist dieser Fluch meine Aufgabe«, sagte Siddhartha. »Ich werde ihn aufheben.« Er drehte sich um und ging hinaus. Der König trat an den Brunnen und wusch sich die Asche der Menschheit von den Händen. Dann rief er den Wachen am Tor zu: »Versperrt die Tore, und verdoppelt die Wachposten. Wenn der Prinz versucht, den Palast zu verlassen, muß er mit Gewalt daran gehindert werden.« Der Mann, der Buddha werden sollte, war nun ein Gefangener in seinem eigenen Heim. Lama Norbu schloß das Buch. Jesse blinzelte, erwachte aus seinem tranceartigen Zustand und sah seinen Vater an der Tür lehnen. Er schrie »Dad!« und rannte auf ihn zu. Dean fragte, ob er ihn unterbrochen hätte, doch der alte Mann schüttelte den Kopf. Jesse zeigte ihm die Trompete. Dean äußerte sich erstaunt, tätschelte ihm den Kopf und bat ihn, sie kurz allein zu lassen, da er unter vier Augen mit Lama Norbu sprechen wollte. Chompa nahm Jesse bei der Hand und erklärte, daß er ihn herumführen werde. Dann waren die beiden Männer miteinander allein. »Ich habe Jesse gerade die Geschichte erzählt, wie...«
»Ich weiß«, fiel ihm Dean ins Wort. »Ich habe zugehört. Es ist eine schöne Geschichte. Ein wundervoller Mythos.« »Es ist eine Art, die Wahrheit zu sagen. Kindern scheint es sehr zu gefallen.« Dean nickte. »Lama Norbu«, sagte er. »Ich habe großen Respekt vor Ihrer Religion und Ihrer Kultur. Ich weiß von der Invasion Tibets und der Tragödie, die sich dort abgespielt hat, und ich...« »Aber Sie haben Angst«, sagte der Lama. Dean lächelte erleichtert. Er hatte befürchtet, daß es unangenehm werden könnte, was er ihm zu sagen hatte, daß es in einen Streit ausarten könnte; zwei Männer aus verschiedenen Kulturen ohne Vermittler oder Dolmetscher; doch dieser Mann schien eine Art Gedankenleser zu sein, und darüber hinaus die Toleranz in Person. »Gewissermaßen schon«, gab er zu. »Ich meine, ich möchte mich nicht verhalten wie Siddharthas Vater. Ich will Jesse nicht vor der Außenwelt bewahren und ihn in Watte packen oder so, aber...« »Es ist ganz normal, daß man die Menschen beschützen will, die man liebt«, sagte der Lama. »Manchmal ist die Wahrheit schmerzhaft.« Stimmt, dachte Dean. Du sagst es. Und jetzt laß uns das hinter uns bringen. »Lama Norbu«, begann er erneut. »Ich glaube nicht an Reinkarnation, und meine Frau auch nicht.« Da. Es war ausgesprochen. Jetzt kam der Streit, der Versuch, ihn zu bekehren. Jetzt würde der alte Mann loslegen wie ein radikaler Sektenanhänger oder ein gottverdammter fundamentalistischer Prediger. Doch der
Lama setzte sein sanftes Lächeln auf und nickte zustimmend. »Warum sollten Sie auch?« sagte er. »Der Buddha lehrt, daß man an überhaupt nichts glauben sollte, bevor man es nicht genauestens geprüft hat.« Er nahm die Thermosflasche und bot Dean eine Tasse Tee an. Dean schüttelte den Kopf. Der alte Mann hob das Gefäß hoch, goß sich eine Tasse ein und betrachtete sie aufmerksam. »Wir in Tibet sehe n Geist und Körper wie Inhalt und Behälter«, sagte er. Mit Schwung ließ er die Tasse auf dem Tisch zerschellen. Dean zuckte erschrocken zusammen. Die Tasse lag in Stücke zerschmettert da, und der Tee begann auf den Boden zu tropfen. »Die Tasse ist jetzt keine Tasse mehr«, sagte der alte Mann. »Doch wie steht es mit dem Tee?« »Er ist nach wie vor Tee«, antwortete Dean. »Genau. In der Tasse, auf dem Tisch und auf dem Boden. Er bewegt sich aus einem Behälter in den nächsten, aber es ist immer noch Tee. Wie der Geist nach dem Tod, der sich von Körper zu Körper bewegt, aber immer noch Geist ist.« Er griff hinüber aufs Bett, nahm einen kleinen Lappen und wischte den Tee auf. Dann lächelte er Dean an. »Sogar in dem Lappen«, sagte er, »ist es immer noch derselbe Tee.« Dean grinste ihn ebenfalls an. Eine geschickte Andeutung. Doch sie bewies genausowenig wie alle anderen religiösen Gleichnisse. Der alte Mann machte eine Kopfbewegung zu der Fotografie hin. »Gegen Ende seines Lebens«, erzählte er, »kam Lama Dorje in den Westen. Er fand, daß das Dharma überall in
der Welt gebraucht würde. Vielleicht ist das der geistige Zweck des Exils außerhalb von Tibet. Er starb in diesem Haus.« Dean kam ein Anruf von Lisa in den Sinn. »Am ersten März, stimmt's? Morgens um halb sieben. « Der Lama lächelte. »Stimmt. Und weil er hierhergekommen war, dachten wir, daß er eventuell im Westen wiedergeboren werden wollte.« »Man kann sich aussuchen, wie man wiedergeboren werden möchte?« Dean sah ihn verblüfft an. Der Mann lieferte eine Überraschung nach der anderen. »Ein großer Geist schon, doch bleibt es für uns trotzdem äußerst schwer, ihn wiederzuerkennen.« »Und mal angenommen, es gelingt Ihnen. Was geschieht dann mit der betreffenden Person?« »Dafür gibt es keine festen Regeln. Normalerweise würde das Kind eine spezielle Erziehung in einem unserer bedeutenden Klöster erhalten. Es könnte eine mächtige Figur in unserer Gesellschaft werden – ein spiritueller Führer.« Dean blickte hinter sich und sah, wie Jesse an der Tür mit Chompa sprach. »Auch als Mensch aus dem Westen?« fragte er und drehte sich wieder um. »Wollen Sie Jesse tatsächlich ein Leben in einem buddhistischen Kloster anbieten? Meinen Sie das?« »Selbstverständlich. Wenn Sie das wünschten. Oder er könnte sein Leben hier weiterführen und darüber entscheiden, wenn er älter ist. Verstehen Sie, das Ganze ist für uns fast ebenso neu wie für Sie. Es kommt wirklich sehr selten vor. Außerdem ist es ausgesprochen witzig.«
Er lachte schon wieder, und Dean starrte ihn ungläubig an. Er begriff den Witz nicht, aber eines wußte er: daß seine gesamten vorgefaßten Meinungen über buddhistische Mönche falsch waren. Falls er je einen Gedanken an sie verschwendet hätte, so hätte er sie als ernst und streng eingestuft, permanent in meditativer Trance versunken, doch dieses Grüppchen schien alles zum Lachen zu finden. Und ansteckend war es auch. Dean stellte fest, daß er gleichfalls lächelte. Der alte Mann hustete und wurde wieder ernst. »Um uns der Reinkarnation sicher sein zu können, müßten wir Jesse nach Bhutan mitnehmen, um den Abt unseres Klosters und weitere Experten zu befragen.« Das Lächeln auf Deans Gesicht erstarb. »Sie sehen verärgert aus«, meinte der Lama. »Bin ich auch«, sagte Dean. »Kinder ihren Familien wegzunehmen – das nennt man hierzulande Kidnapping.« Lama Norbu schüttelte den Kopf und wollte gerade etwas erwidern, als Jesse ins Zimmer gerannt kam und Geräusche von sich gab, als führe er auf einem imaginären Motorrad. Er hielt einen Umschlag in der Hand, den er dem Lama reichte. »Sonderzustellung für Lama Norbu«, verkündete er und brummte wieder hinaus. Der Lama schlitzte den Umschlag mit dem Daumennagel auf und sagte: »Wir würden uns wünschen, daß Sie und Ihre Frau ihn begleiten.« »Nach Bhutan?« fragte Dean. Er wußte nicht einmal, wo dieses verfluchte Land lag. »Es ist ein wunderschönes Land«, meinte der Lama, während er noch las, und sah schließlich auf. »Doch womöglich stellt sich das Problem gar nicht. Offenbar
kompliziert sich unsere Suche durch das Auftauchen eines zweiten Kandidaten. Ein kleiner Junge, der in Katmandu lebt.« »Nun«, sagte Dean, »er hat meine ganze Unterstützung.« Dann hielt er inne. »Lama Norbu, ich finde, Sie sollten in Ihre Welt zurückkehren und uns hier in unserer lassen, in der ich sowieso schon genug Probleme habe.« Er wandte sich zum Gehen und sah Jesse an der Tür stehen, der an ihm vorbeisah und den alten Mann anblickte. Dean fühlte sich so unsichtbar, als gäbe es ihn gar nicht. »Gibt es viele wie uns, Lama Norbu?« fragte Jesse. »Wie viele sind es? Ich will sie kennenlernen.« Dean hatte genug von dem Ganzen. Sein Sohn interessierte sich mehr für diesen alten Schwindler als für ihn. Er packte ihn .grob und hob ihn hoch. Es war Zeit zu gehen. Der alte Mann hievte sich unter Schmerzen vom Bett, nahm das Buch und humpelte hinter ihnen her. Jesse schrie ihm von der Schulter seines Vaters etwas zu. »Dein Buch, Jesse...«, rief der alte Mann, streckte die Hand aus und gab es ihm. Dean drehte sich um und stolzierte davon, wobei er den Lama wehmütig sagen hörte: »Auf Wiedersehen, Jesse Langohr.« Der Junge machte sich in Deans Armen steif, während Dean sich verabschiedete, ohne den Mönch noch eines Blickes zu würdigen, unhöflich und endgültig. Kein ›Adieu‹ oder ›Bis bald‹ oder ›Hasta manana‹, sondern Lebewohl. Ein für allemal. Auf der Heimfahrt herrschte zwischen Vater und Sohn eisige Stille. Er wußte, daß seine Verärgerung nicht frei von Eifersucht war, und dieses Wissen machte alles noch
schlimmer. Gut und schön, war der alte Knabe eben ein netter Kerl. Wenn schon. Und er veranstaltete Spielchen mit Teetassen? Machte Fremden Geschenke? War um die halbe Welt gereist, um Jesse kennenzulernen? Na und? Allein die Vorstellung, in den Himalaya zu reisen, war absurd. Wie konnte der alte Knabe die Unverfrorenheit besitzen, überhaupt zu fragen? Es war, als machte man bei der ersten Verabredung einen Heiratsantrag. Es war verrückt. Und es war verflucht unamerikanisch. »Ist es immer falsch, wenn man lügt, Dad?« Was jetzt? »Weiß nicht. Vielleicht.« Worauf wollte er hinaus? »Dad, es hat mir gefallen, wie du der Weihnachtsmann warst.« Jetzt fiel der Groschen. Es war schon wieder dieses Buch, in dem der König seinen Sohn anlog. Er wollte sich gerade eine Antwort ausdenken, als das Autotelefon läutete. Er nahm ab und brummte ein »Ja?« hinein. Jesse, der ihn beobachtete, sah, wie er weiß wurde und für einen Moment die Kontrolle über das Steuer verlor. Dean stammelte: »Ich fasse es nicht... wann... ? Sicher... Ich versuche, noch heute abend einen Flug zu bekommen.« Er legte auf. Für Jesse sah es aus, als hätte sein Vater soeben mit dem Baseballschläger eins übergezogen bekommen. »Was ist denn passiert?« fragte Jesse. »Evan hatte einen Unfall.« Dean brachte nur ein Flüstern zustande. »Ist er tot?«
Dean nickte, sah in den Spiegel und fuhr an den Straßenrand. Dort hielt er an, wischte sich hastig eine Träne aus dem Auge und stieg aus. Jesse sah, wie er da neben der Straße stand und ins Nichts starrte. Eine Zeitlang ließ er ihn so stehen, dann packte er sein Buch, hüpfte aus dem Wagen und zupfte ihn am Ärmel. »Er wird wiederkommen«, versuchte er Dean zu beruhigen. Mit diesen Worten ging der kleine Junge zum Auto zurück und schlug das Buch auf. ... und sie waren die Unwissenden, die gesegneten jungen Leute, in Träume verstrickt und durch die Erfüllung ihres Verlangens gesättigt. Der gesamte Hof König Suddhodanas schlummerte in den Palastgärten, und Wein und Doma hatten die Phantasie der Schläfer angeregt und sie zu Liebesspielen unter freiem Himmel ermuntert. Nun schliefen sie, und mit ihnen die Tänzer und Musikanten, die sie unterhalten hatten, und das einzige Geräusch war das süße Zirpen einer Sitar, bis auch das erstarb, als der Musikant in den Schlaf sank. Nichts regte sich. Die Welt schlief. Die Pfaue neigten die Hälse, und die Schwäne verbargen die Köpfe im Gefieder. Die Vögel hatten sich in den Kletterpflanzen verkrochen, und sogar die Insekten ruhten. Die Götter hatten die Welt in Schlaf versetzt, um ihre Ziele zu erreichen. Nur Siddhartha wachte. Er durchquerte den Garten und flüsterte Channas Namen. Einmal stieg er über eine schöne junge Frau, die mit offenen Augen dalag und im Traum lächelte. Ein Tamburin begann zu klirren, als er
über eine andere stieg und es ihr aus dem Arm stieß. Doch niemand erwachte. Schließlich fand er Channa schlafend auf den Stufen, in der Umarmung des Mädchens, das das Lied über die fernen Länder gesungen hatte. Siddhartha schüttelte ihn, doch er wollte nicht aufwachen. Er schüttelte ihn erneut und wies ihn flüsternd an, unauffällig Kantaka zu holen und zum alten Tor zu kommen. Dann kehrte er in den Palast zurück, um endgültig Abschied zu nehmen. Er stieg ins oberste Geschoß und betrat den Raum, der als Dach der Welt galt, wo er empfangen worden und seine Mutter gestorben war. Yasodhara schlief mit dem Rücken zu ihm und hielt ihren neugeborenen Sohn in den Armen. Er ging hinüber, um dem Kind ins Gesicht zu sehen, doch als er am Bett angekommen war, drehte sie sich im Schlaf um, so daß er das Kind nicht sehen konnte, und er wußte, daß ihn die Götter auf die Probe stellten. Denn wenn er sie weckte und das kleine Geschöpf sah, wäre er versucht zu bleiben und würde für den Rest seines Lebens ein Gefangener sein. Deshalb wandte er sich schweren Herzens von ihnen ab und traf damit die erste schmerzliche, aber notwendige Entscheidung, beging seine erste unfreiwillige Handlung. Er war nicht geübt in Selbstverleugnung. Als er am alten Tor anlangte, erwartete ihn Channa bereits. Er hielt Kantaka an den Zügeln und hatte die Hufe des Hengstes in Stroh und Musselin eingewickelt. Langsam bewegten sie sich auf das Tor zu und an den schlafenden Wachen vorbei. Nur der große Elefant war wach. Er hob seinen riesigen Rüssel zum Gruß, und wie im Traum – und wie es die Götter bestimmt hatten – öffneten sich die Tore, teilten sich, ohne daß sie von
Menschenhand berührt worden wären, so daß Siddhartha hinausschreiten konnte, um die Welt zu entdecken... Bei Tagesanbruch ritten sie durch Ebenen, die mit Savannengras bewachsen waren, das sich hier und da mit dichten Waldstücken abwechselte. Kantaka galoppierte mit beiden Männern auf dem Rücken dahin, bis sie an den Rand eines Wäldchens namens Lumbini kamen, wo der Hengst von selbst anhielt. Siddhartha stieg ab und ging, ohne zu wissen, wo er hinwollte, in Richtung Wald. Es war eine Reise ohne Karte und Plan. Langsam schritt er davon. Channa, der noch auf Kantaka saß, rief ihm nach, er solle zurückkommen und wieder aufsteigen, denn in dem Wald gäbe es Schlangen, Spinnen und Skorpione, die durch Ledersohlen beißen oder stechen konnten. Doch Siddhartha marschierte unbeirrt weiter. Kantaka witterte die Männer zuerst. Er wieherte zur Warnung, worauf Siddharta sich umschaute und Lebewesen entdeckte, wie er sie noch nie erblickt hatte. Fünf an der Zahl, die nackt, dünn und schmutzig am Ufer eines Baches saßen. Er wandte sich zu Channa und fragte ihn flüsternd, wer sie seien. »Asketen«, sagte Channa. »Und warum sind sie so dünn und nackt?« »Sie haben sich von sämtlichen Annehmlichkeiten des Lebens losgesagt, mein Gebieter. Sie haben geschworen, den Wald nicht zu verlassen, bevor sie die Erleuchtung erlangt haben.« Siddhartha lächelte. »Sie suchen also dasselbe wie ich.« Und damit nahm er seine Goldkette ab, schnallte das Schwert ab, faßte seine Locken zu einem Pferdeschwanz
zusammen und schnitt sich mit einem einzigen Schwertstreich das Haar ab. Channa, der zusah, wußte, daß sein Gebieter eine symbolische Geste vollführt hatte, und fragte sich, ob er ihn nun zum letzten Mal gesehen hatte, denn Männer, die der Welt entsagten und sich das Haar abschnitten, tauchten nur selten wieder auf. »Channa«, sagte Siddhartha. »Umarme meinen Vater und meine Frau und mein Kind. Sag ihnen, daß ich erst zurückkommen werde, wenn ich Tod und Wiedergeburt überwunden habe.« Channa begann zu weinen. Siddhartha nahm sein Gesicht in die Hände und wischte ihm mit dem Daumen die Tränen ab. Dann reichte er ihm Halskette und Schwert. »Das ist für dich«, sagte er. »Channa, ich tue das für alle. Ich suche die Freiheit.« Er streichelte Kantakas Gesicht, wie er das Channas gestreichelt hatte, wandte sich um und schritt in den Wald. Er drehte sich nicht um. Channa sah einen Bettler aus dem Wald herauskommen, der eine Schale in der Hand hielt und das Mantra der verlorenen Seelen skandierte. Siddhartha ging auf ihn zu, und im ersten Moment konnte Channa nicht glauben, was er sah, nämlich daß ein stolzer Prinz aus dem Geschlecht der Sakyas mit einem Bettler die Kleider tauschte. Das letzte, was er von seinem Gebieter sah, war ein geschorener Mann in Lumpen, der unter einem Baldachin von Ranken und Ästen im Wald verschwand. Nun war es der Bettler, der aufrecht ging; seine demütige Haltung hatte sich in hochmütige Würde verwandelt. Channa stieg auf Kantakas Rücken und versuchte, ihn zu wenden, doch er rührte sich nicht von der Stelle, ehe
die letzte Witterung seines Meisters verflogen war. Erst dann galoppierte er nach Hause und starb, sowie er den Stall erreicht hatte... Siddhartha ging tief in den Wald hinein. Ohne Scheu stellte sich ihm ein Reh in den Weg; von einem Ast in Schulterhöhe hieß ihn ein Papagei krächzend willkommen, eine Python ließ sich vom Baum herabhängen und züngelte vor seinem Gesicht, als wolle sie sprechen, ein Elefant trompetete wie ein ganzes Blasorchester, ein Nashorn scharrte im Erdreich und beugte seinen wuchtigen Kopf. Es schien, als wäre jedes Lebewesen herausgekrochen, um den Neuankömmling zu begrüßen. Er ging weiter, bis er ans Ufer des Anoma kam, wo er haltmachte, sich unter einen Baum setzte und die Augen schloß. Die Nacht brach herein. Siddhartha saß regungslos bis zum Morgengrauen. Als er erwachte, sah er die fünf Asketen im Halbkreis vor sich sitzen. Sie waren nackt und schmutzig und hatten wild wuchernde Haare und Bärte. Des einen Zunge hing ihm lose übers Kinn wie bei einem Wolf und berührte fast das Schlüsselbein. Der andere hatte die Hände so lange geballt gehalten, daß die Nägel durch die Handflächen und am Handrücken wieder herausgewachsen waren. Außerdem blühten zwischen den Nägeln Orchideen. Siddhartha sah erst von einem zum anderen und dann zum Himmel. Eine Monsunwolke verdeckte die aufgehende Sonne. Donner grollte. Während die ersten Regentropfen fielen, glitt eine riesige Kobra, der Schlangenkönig Mucilinda, auf sie zu. Siddhartha schloß die Augen und sah nicht, wie Mucilinda sich ihm näherte, noch rührte er sich, während die Schlange sich um ihn
wand. Als das Gewitter losbrach, erhob sich Mucilinda hinter Siddharthas Nacken und hob seinen mächtigen Kopf mit der Brillenzeichnung über ihn, so daß Siddhartha, obwohl der Sturm den ganzen Tag anhielt, nicht von einem einzigen Tröpfchen benetzt wurde. Nachdem das Unwetter vorüber war, löste sich Mucilinda und schlängelte sich lautlos davon. Als Siddhartha wieder die Augen öffnete, lagen die fünf Männer ausgestreckt vor ihm und beteten ihn an. »Meine Freunde«, sagte er, »laßt uns gemeinsam nach Erleuchtung suchen und schwören, zu schweigen, bis wir sie gefunden haben.« Er berührte mit beiden Händen seine Lippen, und die Asketen taten es ihm gleich.
6. Kapitel Dean hatte nie richtig über das Dasein nachgedacht. Dafür hatte er keine Zeit gehabt. Und was die großen, grundlegenden Fragen betraf, die Lisa angeschnitten hatte, nun... er sah die Sache so: Nachdem schließlich nicht einmal die bedeutendsten Denker des ganzen Planeten Antworten gefunden hatten, wie konnte da er, Dean Konrad, es wagen, sich überhaupt damit auseinanderzusetzen? Doch er hatte eine Woche Zeit zum Nachdenken gehabt. Das Grübeln über Evan hatte unweigerlich dazu geführt, daß er sich mit sich selbst beschäftigen mußte; eine Woche lang hatte er verglichen und abgewägt. Er konnte sich an eine Gelegenheit vor nicht allzu langer Zeit erinnern, als das Thema Religion aufgekommen war und Evan abgewunken hatte. Seine Religion waren geschäftliche Mauscheleien. Das Büro war seine Kirche, das Telefon sein Rosenkranz, und an jenem Abend hatte er - den Bauch voll Bier - damit geprahlt, daß er sich ohne das Netz der spirituellen Sicherheit auf das Drahtseil des Lebens gewagt hätte. Das war gut und schön – so lange, bis er ausrutschte. »Sir?« Er schaute auf, und die Stewardeß sah ihn mit dieser besorgten, berufsbedingten Grimasse eines Lächelns an, das »Geht's Ihnen gut, Mann?« heißen sollte. Er fragte sich, ob er die Lippen bewegt oder womöglich, schlimmer noch, laut mit sich selbst gesprochen hatte und – um mit den Seelenklempnern zu sprechen – seine Ängste verbalisiert hatte. »Kann ich Ihnen etwas bringen?« »Allerdings. Whisky.«
»Kommt sofort.« Er sah zu Lisa hinüber, die auf ihrem Fensterplatz schlief, und fr agte sich, wie er es ihr beibringen sollte. Sie würde es nicht glauben. Eine Woche war nicht viel Zeit, um eine geistige Kehrtwendung durchzuführen. Wenn sie ihn fragte, warum, könnte er es ihr nicht einmal sagen, da er sich selbst nicht sicher war. Vielleicht war das Wort ›Asche‹ die treibende Kraft gewesen. Als der Priester auf diesem Hügel in San Francisco über dem offenen Grab die Worte gesprochen hatte, mußte Dean an Jesses Bilderbuch denken und daran, wie der König sich die Hände wusch wie Pontius Pilatus. »Asche zu Asche.« Als er auf den Sarg blickte, während die Erdklumpen auf das Mahagoni herabpolterten, dachte er über Verschwendung nach. Evan hatte auf jeden Fall seine Spuren hinterlassen, doch was hatte es ihm genützt? Sein Gott hieß Mammon, und zu Mammon konnte man nicht beten. Die Stunde nach der Beerdigung mit seiner Mutter in deren Haus war schrecklich gewesen: diese einsame, kleine Frau, die seit fünf Jahren keinen Mann und nun auch keinen Sohn mehr hatte, die ihr einziges Kind verloren hatte und der nicht einmal eine Schwiegertochter tröstend zur Seite stand. Ihr Leben war nun zum Vakuum geworden. Keine von Evans kostspieligen Frauen war aufgetaucht. Die Geier zeigten sich bloß, wenn es Aas zu fleddern gab. Der Letzte Wille und das Testament eines Bankrotteurs waren eine wertlose Verhöhnung eines Lebens. Zu allem Überfluß würde die alte Frau auch noch bis ans Ende ihrer Tage von dem Gedanken geplagt werden,
daß Evan möglicherweise Selbstmord begangen hatte. Sie würde sich die Szene immer wieder vor Augen führen: eine freie Straße, gute Sicht und Evan ein hervorragender Fahrer. Daß der Gerichtsmediziner nicht auf diese Idee gekommen war, bot nur schwachen Trost. Die Unfallursache galt offiziell als ungeklärt, was es nicht leichter machte. Asche zu Asche. Nun beneidete er die Christen um ihren Glauben an ein Leben nach dem Tod, und ganz besonders beneidete er die Buddhisten. »Er wird wiederkommen, Dad.« Jesses Worte wiederholten sich in seinem Hirn wie ein Schluckauf oder ein Endlosband. Vielleicht hätte Evan die Kurve nicht mit solcher Geschwindigkeit genommen, wenn er an die Wiedergeburt geglaubt hätte. Oder vielleicht doch. Vielleicht wollte er noch eine Chance. Vielleicht wollte er wiederkommen und mit seinen geschäftlichen Mauscheleien wieder ganz von vorn anfangen. Der Whisky kam, und Dean verfluchte seine unberechenbare Phantasie. Er warf erneut einen Blick auf Lisa. Sie würde ihm nicht glauben. Sie würde einfach denken, er liefe davon. Und vermutlich hatte sie recht. Als Dean und Lisa zu Hause ankamen, war es schon fast Mitternacht. Maria war voller Beileid und bot ihnen Suppe und Sandwiches an, doch ihr Taxi wartete auf sie, und so verließ sie widerstrebend das Haus. Sie sahen zu Jesse hinein. Er war mit angeschaltetem Licht und dem Buch auf seiner Brust eingeschlafen. Eine Landkarte des Himalaya hing über dem Bett, und das neue Puzzle der Weltkarte war beinahe fertig – nur das Stück mit Tibet fehlte noch. Er hielt es in der rechten
Hand, und als sie versuchten, es ihm zu entwinden, damit er es nicht in den Mund steckte, umklammerte er es fest und protestierte im Schlaf. So durfte er Tibet die Nacht über behalten. Dean nahm das Buch, drehte es um und betrachtete eine Illustration, auf der unter einem Baum ein Mann saß, um den sich eine gewaltige Kobra schlängelte, deren gezeichneter Kopf ihm während eines heftigen Regengusses als Schirm diente. Fünf verwahrloste Typen saßen nackt um ihn herum. In alten Zeiten, also noch vor einer Woche, hätte Dean sich eine witzige Bildunterschrift ausgedacht, doch die vergangenen Tage hatten seinen Sarkasmus gebremst. »Meine Freunde«, sagte Siddhartha, »laßt uns gemeinsam nach Erleuchtung suchen und schwören, zu schweigen, bis wir sie gefunden haben.« Er las den Satz zweimal, nahm Jesses Lesezeichen vom Nachttisch, steckte es hinein, legte das Buch weg und ging mit Lisa hinaus. Im Schlafzimmer angekommen, holte er tief Luft und sagte es: »Ich finde, Jesse sollte nach Bhutan fahren.« Sie wirbelte herum wie ein Derwisch und das Wort »Was?« schoß aus ihrem Mund wie ein heftiges Niesen. »Nach Bhutan«, wiederholte er, als schlüge er einen Ausflug an den Strand vor. Sie erkundigte sich, ob er Witze machte. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nur einfach in der letzten Woche meine Meinung über viele Dinge geändert.«
Er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und zog die Schuhe aus. Ihm wurde klar, daß er nicht überzeugend gewirkt hatte. »Aber was willst du damit sagen?« Sie hatte die Hände in der klassischen Pose der wütenden Hausfrau in die Hüften gestemmt. »Soll das heißen, daß du auf einmal glaubst, daß Jesse ein tibetischer Lama ist?« »Ich dachte, du wärst diejenige, die der Angelegenheit offen gegenübersteht.« »Hör bloß auf.« Sie ließ den Kopf ungläubig und frustriert auf die Seite fallen und sah ihn böse an. »Das ist doch verrückt! Was ist denn los?« Er versuchte es mit Leichtfertigkeit und setzte das schiefe Grinsen auf, das ihr immer so gefiel. »Gar nichts ist los. Ich glaube nur, daß es eine gute Aufstiegsmöglichkeit für Jesse wäre...« Sie funkelte ihn an. »Er könnte diese ganzen niedlichen Gewänder tragen und auf dem Boden sitzen und meditieren...« Er wurde immer unglaubwürdiger. »Das ist nicht witzig«, sagte sie todernst. »...sich mit den anderen Mönchen herumtreiben.« »Es ist verflucht noch mal nicht witzig.« Dean zuckte erschrocken zusammen. Das Wort verwendete Lisa sonst nicht. Niemals. Lisa doch nicht. »Okay«, lenkte er ein. »Nur für zwei Wochen.« Noch immer konnte sie nicht glauben, was er da sagte, doch der Ärger war verraucht, und der klare Verstand gewann wieder die Oberhand. »Er kann nicht fahren. Er hat Schule. Und ich bin mitten in meinem Semester, also kann ich ihn nicht begleiten.«
Und dann versetzte er ihr den zweiten Schlag ins Genick. »Ich dachte, ich könnte ihn begleiten.« Das saß. »Nur ihr beide«, flüsterte sie. »Und ich bleibe hier?« Er konnte ihr nicht in die Augen schauen, als sie fortfuhr. »Aber du hast noch nie auf Jesse aufgepaßt. Er ist noch nie von mir getrennt gewesen.« Ihre Stimme bekam eine weinerliche Färbung, doch er mußte weitersprechen. »Hier kann ich im Moment sowieso nichts tun«, sagte er. »Außer darauf warten, daß der eine Anwalt mit dem anderen Anwalt redet, der wieder mit einem dritten und jener mit noch einem anderen... Also gut. Vielleicht ist das die Zeit, die ich brauche, um darüber nachzudenken, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll.« Sie fing an zu weinen. Langsam bildeten sich Tränen und begannen he rabzutropfen. »Ohne mich?« Er stand auf und nahm sie in die Arme. »Ich liebe dich, Lisa«, sagte er und wußte nicht mehr, wann er das zuletzt gesagt und auch gemeint hatte, wann sich zum letzten Mal der Beschützerinstinkt in ihm geregt hatte, was die reine Ironie war- sich als Beschützer zu fühlen, wenn man weglief. »Wehe, wenn nicht.« »Es sind ja nur zwei Wochen.« Sie wich zurück und sah ihn an. »Aber was geschieht, wenn sie feststellen, daß Jesse diese Reinkarnation ist?« fragte sie. »Das werden sie nicht. Sie haben ja jetzt schon einen anderen Kandidaten, weißt du noch? Sollte es aber doch
der Fall sein, nun, dann wird Jesse selbst entscheiden, wenn er älter ist. Genauso wie er alles andere in seinem Leben entscheiden wird.« Und Lisa fügte sich ins Unvermeidliche und murmelte unaufhörlich Jesses Namen vor sich hin. »Weißt du was?« sagte er. »Auf der Beerdigung habe ich mir gewünscht, ich würde an die Wiedergeburt glauben.« Sie wich wieder zurück und lächelte. »Vielleicht mußt du das auch. Du könntest als Vater eines spirituellen Gottes wiederkommen.« »Wer? Ich?« »Tut mir leid«, sagte sie und wischte die Tränen weg. »Ich bin bloß wütend. Wütend auf mich selbst, weil ich dich nicht ermutige und weil ich dir und Jesse nicht zur Seite stehe.« Dann verpaßte sie ihm einen Tiefschlag. »Und ich bin wütend auf dich, weil du mir das Abenteuer wegnimmst.« Dean seufzte. Zusätzlich zu dem Gepäck, das er sowieso schon auf diese Reise mitschleppen mußte, hatte sie ihm soeben noch eine Tasche voller Schuldgefühle aufgeladen.
Zweiter Teil 7. Kapitel Ein Tag und eine Nacht flog der Jumbo der Air India nach Westen, und für Jesse stand die Zeit still. Jede Mahlzeit schien ein Frühstück zu sein, und doch war er nicht müde. Sein Vater hatte ihm zu erklä ren versucht, was Jet-Lag war, aber er war so aufgeregt, daß er sich nicht die Mühe machte, richtig zuzuhören. Das Buch lag aufgeschlagen auf seinem Schoß, und aus dem Lämpchen in der Verschalung über ihm fiel ein Lichtstrahl darauf. Sämtliche Jalousien waren geschlossen, und der Strahl beleuchtete die Worte: ... und sie waren die Unwissenden ...in Träume verstrickt. Außer ihm waren lediglich zwei Stewardessen wach, die neben einer der Türen saßen. Jesse sah sie prüfend an. ›Sie waren schön, mit Augen so schwarz wie eine mondlose Nacht und Zügen von vollkommener Symmetrie, und die Schönheit der jüngeren stand nur einen Hauch hinter der der anderen zurück.‹ Jesse schlug das Buch zu und blickte sich um. Im Flugzeug war es still. Er konnte lediglich das blecherne Zirpen von Sitarmusik hören, die aus den Kopfhörern eines jungen Mannes gegenüber drang, und dann erstarb auch das, als das Band zu Ende war. Jetzt wollte Jesse mit jemandem sprechen. Sein Vater neben ihm auf dem Fensterplatz schlief. Jesse wedelte ihm mit den Fingern vor dem Gesicht herum, aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Er kletterte hinaus in den Gang und ging zu Chompa, der über drei Sitze ausgestreckt lag. Erneut versuchte es Jesse mit seiner Methode, doch es klappte wieder nicht. Weiter hinten saß Lama Norbu mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf auf einem Fensterplatz. Jesse hüpfte auf den leeren Sitz vor ihm und wedelte mit den Händen. Der alte Mann öffnete die Augen. »Guten Morgen, Jesse Langohr«, sagte er. Jesse lächelte. »Beten Sie?« fragte er. »Ich meditiere.« »Was ist meditieren?« »Es ist eine Methode, um den Geist zu befreien«, erklärte er. »Eine Methode, sich von der Welt zu lösen und seine Gedanken zu betrachten, als wären sie vorüberziehende Wolken... weiter nichts.« Jesse grinste breiter. »Ich mag Wolken«, sagte er. Der Lama schob die Jalousie hoch und zeigte hinaus. Jesse lehnte sich über den Sitz und sah in der Ferne die Kette des Himalaya und die Kumuluswolken darüber. »Wenn wir lernen können, auf die richtige Weise zu meditieren«, fuhr der Lama fort, »können wir alle zur Erleuchtung gelangen.« »Was ist Erleuchtung?« »Es ist das, wonach wir suchen, das wir aber nicht beschreiben können.« Jesse war verwirrt. Das klang mal wieder wie eine dieser »Darum«-Antworten. Er wollte den alten Mann schon weiter bedrängen, aber die Wolken zogen ihn in ihren Bann. Sie sahen aus wie riesige Wattebäuschchen und wurden schließlich zu einem kompletten weißen Wattemeer. »Da«, flüsterte er.
»Jetzt schau mal nach unten«, sagte der Lama. »Dort wurde Siddhartha geboren, und dort wurde er auch zum Buddha.« Jesse sah aus zehntausend Meter Höhe hinunter und rannte zu seinem Platz. Er mußte sein Buch holen. Er mußte den Lama bitten, vorzulesen und zu erklären... Sechs Jahre lang verharrten Siddhartha und seine Gefolgsmänner in Schweigen und verließen nie den Wald. Zum Trinken hatten sie den Regen, ihre Nahrung war ein Reiskorn, Lehmbrühe oder die geringe Beute, die gelegentlich ein vorüberfliegender Vogel fallen ließ. Sie verzehrten nichts, was von Menschenhand zubereitet war. Sie aßen weniger als Vögel und tranken weniger als Frösche. Sie schützten sich nicht vor Wind, Regen oder Sonne und ließen es zu, daß Schlangen und Mücken sie bissen. Siddhartha wurde so dünn, daß er seine Wirbelsäule spüren konnte, wenn er gegen seinen Bauch drückte. Efeu wuchs um seine Füße herum und hinauf bis zu den Knien. Er und die anderen versuchten, ihr Leiden zu meistern, indem sie ihre körperliche Existenz verleugneten: Indem sie ihren Geist dermaßen stärkten, würden sie ihren Körper vergessen. Und doch war das Wissen, nach dem sie strebten, nur schwer zu greifen... bis Siddhartha eines Tages eine Botschaft der Götter erhielt. Es war früh am Morgen, und er erwachte von den Tönen einer Flöte und einem einsaitigen Instrument namens Vina. Er öffnete die Augen und sah, wie sich vor ihm eine Herde Wasserbüffel suhlte und ein Bambusfloß den Fluß herabgeschwommen kam. Darauf saßen ein alter Mann und ein Junge. Der Alte spielte die Flöte, und
der Junge zupfte auf der Vina. Sie spielten das Lied von den fernen Ländern, das Siddhartha an Yasodhara erinnerte, und ihn überfiel entsetzliche Melancholie. Als sie an ihm vorbeifuhren, hörte er den alten Mann zu dem Jungen sagen: »Wenn du die Saiten zu fest spannst, reißen sie; und wenn du sie zu locker läßt, kannst du nicht auf ihnen spielen.« Das Floß glitt vorüber. Weder der alte Mann noch der Junge sahen ihn, da er mittlerweile die Farbe eines Baumstamms angenommen hatte. Siddhartha sah ihnen nach, bis das Floß hinter einer Kurve verschwand, und als er die Musik nicht mehr hören konnte, stand er auf. Es dauerte lange und tat weh. Seine Knochen knackten, als er versuchte, die Beine auszustrecken. Die Efeuranken boten Widerstand und waren zuerst stärker als er. Jedes Gelenk in seinem Körper knarrte protestierend. Er tat einen tiefen Atemzug, und es schmerzte, als sich seine erschlafften Lungen mit Luft füllten. Mühsam erhob er sich und lehnte sich lange gegen den Baum. Vier seiner Gefolgsmänner waren in Meditation vertieft und sahen ihn nicht, doch der fünfte, der auf einem Bein am Flußufer stand und dessen Haar ihm bis zu den Knöcheln reichte, funkelte ihn zornig an, als er den ersten Schritt vom Baum weg machte. Er ging langsam, wandte sich dann um und untersuchte seine Fußspuren im Schlamm. Keine Lotosblüten sprossen aus ihnen. Seine Füße zeichneten sich deutlich ab. Er humpelte zum Flußufer und ließ sich ins Wasser gleiten. Die Büffel glotzten ihn an, wichen aber nicht vor ihm zurück. Kleine Inseln von Lotosblüten trieben an ihm vorüber; manche kitzelten ihn und ließen ihn erschauern. Er betrachtete seine Hände, die ihm durchsichtig
vorkamen, dann krümmte er sie, schöpfte Wasser und begann sich Gesicht, Arme und Schultern zu waschen. Alles war Haut und Knochen ohne ein Fleischpolster dazwischen. Dabei spürte er sich selbst knacken wie ein Bündel Reisig zum Feuermachen. Als er fertig war und noch bis zur Taille im Fluß stand, sah er ein junges Mädchen auf sich zukommen. Ihr Name war Sujata. Sie hatte eine Schale Reis bei sich, blieb stehen und bot ihm davon an. Zuerst dachte Siddhartha, dies müsse das Werk Maras sein, des Bösen, der ihn in Versuchung führen wollte, doch dann fielen ihm die Worte des alten Mannes wieder ein: »Wenn du die Saiten zu fest spannst, reißen sie.« Er nahm ein Körnchen Reis, aß es und gab ihr die Schale zurück, doch Sujata lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. So aß er mehr, schließlich eine ganze Handvoll. Der Mann, der auf einem Bein stand, heulte vor Wut und weckte die anderen, so daß sie ans Flußufer kamen und ihn schweigend anstarrten. Er hob die Schale und sagte: »Kommt und eßt mit mir.« Sie schüttelten die Köpfe. Ein kleiner Vogel kam aus dem Haar des einen geflogen, dann spuckte der mit der Wolfszunge auf die Erde, und als er sprach, klang es wie das Quaken eines Ochsenfroschs. »Du hast deine Gelübde gebrochen«, sagte er. »Du hast die Suche aufgegeben.« Ein anderer sagte: »Wir können dir nicht mehr folgen.« Und ein dritter sagte: »Wir können nicht mehr von dir lernen.« Siddhartha wußte nun, daß er sich geirrt hatte. Neunundzwanzig Jahre lang war die Saite der Vina zu locker und sechs Jahre lang zu fest gewesen. Nun mußte er sie neu stimmen, um die Melodie spielen zu können.
Weder sich gehenlassen noch sich selbst erniedrigen war die Lösung. »Lernen heißt sich ändern«, erklärte er ihnen. »Der Weg zur Erleuchtung ist der Mittelweg. Er ist die Verbindung zwischen allen gegensätzlichen Extremen.« Doch sie waren noch nicht weit genug, um ihn zu verstehen. Wie ein Mann wandten sie sich von ihm ab und gingen zurück in den Wald. Er sah ihnen nach und blickte in die Schale. Sie war leer. »Wenn ich die Erleuchtung erlangen kann«, sagte er zu Sujata, »dann möge diese Schale stromaufwärts schwimmen.« Er setzte sie aufs Wasser und sah ihr zu, wie sie langsam flußabwärts trieb. Dann hielt sie an, drehte sich zweimal um sich selbst und begann, sich gegen den Strom zu bewegen. Und Siddhartha lächelte. Der erste Eindruck war enttäuschend. Dean hatte etwas Fremdartiges erwartet. Er hatte genug Prospekte und Reiseberichte ge lesen. Im schlimmsten Fall hatte er mit Schmutz gerechnet, im günstigsten Fall mit etwas Exotischem, aber der nächtliche Flughafen von Katmandu hätte genausogut der von Cincinnati sein können. Der Himalaya war von Wolken eingehüllt, und das einzige, was er aus dem Taxi auf dem Weg zum Hotel sehen konnte, waren vereinzelte Lichter. Dann stiegen sie aus. Sie befanden sich in einer Art Gasse. Zwei Mönche nahmen ihre Taschen und wiesen sie an, ihnen zu folgen. Dean gab einen lauten Seufzer von sich, so daß Chompa ihn fragte, was los sei. Er antwortete: »Nichts.« Er wollte nicht unhöflich zu seinen Gastgebern sein. Schließlich bezahlten sie die Reise.
Doch wenn er gewußt hätte, daß er, beobachtet von zwei ausgezehrten Ziegen, neben einem Rinnsal entlang, in dem weiß Gott was für Widerlichkeiten schwammen, eine Gasse hinabmarschieren würde, dann hätte er es sich vielleicht noch einmal überlegt... und das Gebäude, in das er dann geführt wurde, hatte Ähnlichkeit mit den Baracken in Auschwitz. Die Rezeption bestand aus einem Tisch und einer Theke, doch gab es weder einen Portier noch irgendwelche Formalitäten. Die beiden jungen Mönche geleiteten sie einen langen Flur hinab, der von kleinen braunen Türen gesäumt war, und Dean fiel wieder ein, daß man ja die Zimmer der Mönche »Zellen« nannte. Außerdem machte ihm der Jet-Lag zu schaffen. Dann blieb der vordere Mönch stehen und stieß eine Tür auf. »Das ist Ihr Zimmer«, sagte er. »Sehr gutes Zimmer.« Dean schaute hinein und sah eine einzelne, nackte Glühbirne unsicher flackern, darunter zwei schmale Eisenbetten mit Matratzen, die aussahen wie Bahren aus dem Leichenschauhaus. Das »Bad« bestand aus einer rissigen Emailschüssel mitten im Zimmer. Der Raum hatte ein kleines Fenster, das auf einen Hof hinausging. »Willkommen in Katmandu«, sagte der Mönch. Dean faßte automatisch in die Hosentasche und zog sein Portemonnaie hervor, doch als er einen Geldschein herausgeholt hatte, drehte sich der Mönch um und ging davon. Lama Norbu sagte gute Nacht und wünschte ihnen angenehme Ruhe. Besorgt warf Dean einen Blick auf Jesse, um zu sehen, wie ihm diese Ausführung eines Hotelzimmers im Himalaya gefiel, doch seine Befürchtungen erwiesen sich
als unbegründet. Der Junge rannte auf eines der Betten zu und hüpfte hinauf, offensichtlich zu Unfug aufgelegt. Dean schloß die Tür, zog ein Päckchen Zigaretten hervor und sprach zur Wand: »Ich hoffe, hier ist Rauchen gestattet.« »Keine Sorge, Dad«, meinte Jesse. »Ich verpetz' dich schon nicht.« Dean streckte sich auf dem Bett aus und zündete sich eine Zigarette an. Jesse stand auf und begann, im Zimmer herumzuschnüffeln wie ein Welpe in fremder Umgebung. »Was ist denn?« fragte Dean. »Das ist ja unglaublich, daß du nicht müde bist.« »Dad, diesen Geruch kenne ich«, sagte er und seine Nasenflügel zuckten. »Das sind Räucherstäbchen – wie sie sie auch im Dharma-Zentrum hatten. Nichts aus deinem früheren Leben. Die Mönche brennen sie ständig ab.« Er stand auf und begann auszupacken, wobei er sich fragte, wie es hier mit Schränken aussah. Er hatte zwar weder einen Whirlpool noch eine Mini- Bar erwartet, aber vielleicht einen Drahtkleiderbügel... »Hey, Dad! Lama Norbu hat mir eine Geschichte über einen Kranich und eine Schar Krebse erzählt.« »Ach ja?« »Auf jeden Fall...« Die Geschichte zog sich ewig in die Länge. Sie handelte von zwei Teichen in einem Wald, von denen der eine fast ausgetrocknet, der andere aber tief und von Lotosblüten überwachsen war. Die Krebse saßen in dem seichten Teich fest und waren dem Tod nahe. Da kam der Kranich vorbei und bot den Krebsen an, sie einen nach dem anderen in seinem Schnabel zu dem tiefen Teich hinüberzutragen.
Aber einer der Krebse war ein Zyniker. Er glaubte dem Vogel nicht, und so schlug der Kranich vor, zuerst zur Probe einen Krebs hinüberzutragen, ihn den Teich besichtigen und ein bißchen herumschwimmen zu lassen... Dean gähnte. ...dann zurückzukommen und zu berichten. »Also«, fuhr Jesse fort. »Genau so haben sie es dann gemacht, und die Krebse waren einverstanden, und so trug der Kranich den ersten Krebs zurück, doch dieses Mal fraß er ihn auf und ließ die Überreste auf der Erde liegen. Und so machte er es mit jedem einzelnen Krebs bis auf den letzten, den Zin... Zin...« »Zyniker«, meinte Dean. »Ja, der Zyniker war der letzte, aber er sagte: ›Trag mich nicht in deinem Schnabel, o Kranich: Ich will auf deinem Rücken sitzen.‹ Und das tat er auch, und da sah er die Überreste seiner Freunde, und ihm wurde klar, was passiert war. Er wartete, bis sie fast am Teich angekommen waren, und dann packte er den Kranich mit seinen Scheren am Genick, bis es brach, und ließ sich in den Teich fallen.« Jesse grinste und hopste auf dem Bett auf und ab. »So. Und was will uns die Geschichte sagen?« »Daß man Krebsen nicht trauen soll.« »Nein, Dad, sei doch nicht doof. Sie lehrt uns, daß Bosheit nicht immer siegt und daß jeder Kranich einmal seinen Krebs trifft.« »Gut, stimmt«, sagte Dean und gähnte heftiger. »Was hast du denn, Dad?« Der Junge sah ihn an wie ein bekümmerter Elternteil, der sich um sein Kind sorgt.
»Nichts, Jesse«, sagte Dean matt. »Aber wir waren jetzt über zwanzig Stunden unterwegs, also mach die Augen zu und tu einfach so, als würdest du einschlafen. Vielleicht hast du ja Glück.« Aber nein. Nach einem Weilchen ertönte schon wieder »Da—aad?« Dean riß der Geduldsfaden: »Herrgott noch mal«, brüllte er. »Schlaf jetzt.« Der Junge drehte sich von ihm weg, zerrte sich das Kissen über den Kopf und ringelte sich zur Embryonalstellung zusammen. Dean wollte schon hinübergehen und sich dafür entschuldigen, daß er geschrien hatte. Doch er war immer noch so wütend, daß er sich mit einem Rundgang beruhigen wollte. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Ich mache jetzt einen Spaziergang, und ich will, daß du schläfst, wenn ich zurückkomme.« Das Kissen wackelte zweimal, als Jesse darunter gehorsam mit dem Kopf nickte. Nun konnte er seiner Besorgnis auch noch Schuldgefühle zur Seite stellen. Er fluchte unhörbar und wanderte den übelriechenden Korridor entlang, wobei er an jeder Tür kurz stehenblieb, um auf die Schnarchgeräusche zu horchen. An seinem Ende angelangt, bog er um die Ecke und kam an eine große Tür, die knarrte, als er sie aufstieß. Plötzlich blickte er in das wuchtige, steinerne Antlitz eines Buddhas. Die Statue beherrschte den Raum. Dean schätzte, daß sie vom Scheitel bis zu den verschränkten Beinen etwa sieben Meter maß. Sie war lediglich von den Butterlampen erleuchtet, so daß infolge des Luftzugs vom Öffnen der Tür Schatten über ihr Gesicht zuckten. Große, kunstvolle Gemälde in plakativen Farben
schmückten die Wände, doch es waren die Augen des Buddhas, die seinen Blick magnetisch anzogen. Ein Mönch saß im Lotossitz in der Ecke gegenüber und skandierte ein Mantra: »Om mani padme hum.« Wieder und wieder. Dean sah ihn an und sog den Geruch der Räucherstäbchen in die Nase. »Om mani padme hum.« Wieder und wieder, bis das Mantra sich in Deans Kopf zum Summen eines Bienenstocks verdichtete. Er schauderte. Auf Stirn und Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. In seinem Gedächtnis stiegen Erinnerungen an schreckliche Predigten aus seiner presbyterianischen Kindheit auf, in denen davon die Rede war, daß man für seine Sünden ewig im Höllenfeuer brannte. Er fühlte die entsetzliche Angst wieder aufsteigen, die ihn befallen hatte, als er sich als Sechsjähriger mit einem Streichholz den Finger verbrannt hatte und die Vorstellung von einer Ewigkeit unter diesen sengenden Schmerzen nicht begreifen konnte... »Hab keine Angst, Dad.« Er spürte, wie sich Jesses Hand in die seine stahl, und als er in das Gesicht des Jungen hinabsah, fielen ihm die Worte des Dichters wieder ein: Das Kind ist des Mannes Vater. Angst? Das war doch ein zu starkes Wort, oder? Hier stand er, ein zweiundachtzig Kilo schwerer amerikanischer Prachtkerl, der auf eine Boxerkarriere im College zurückblicken konnte, die ihm beinahe die Goldenen Handschuhe eingebracht hätte. Angst?
Nein. Bestimmt nicht. Nur ein bißchen unheimlich war ihm. Das war alles. Er grinste Jesse an und hob ihn hoch. Als er sich zum Gehen wandte, hätte er schwören können, daß ihm der lächelnde, steinerne Buddha zuzwinkerte. Katmandu. Erdkunde war nie eine von Deans Stärken gewesen, und Katmandu gehörte zu den Orten, die man auf drei oder vier verschiedene Weisen beschreiben konnte. Da gab es doch so eine Geschichte über ein kleines Götterbild mit grünen Augen im Norden der Stadt, oder? Die Stadt, in die Alt-Hippies zum Sterben reisten. Wenn er sich das alles oberflächlich durch den Kopf hätte gehen lassen, hätte er Schmutz und Elend erwartet, Armut und verschlagene Schurken wie aus IndianaJones. Was er statt dessen zu sehen bekam, war Geschäftigkeit und Farbenpracht. Ein sich unaufhörlich bewegendes Gedränge mitten in einem offenbar unbeschwerten Chaos. Die zwischen Autofahrern, Radfahrern und Motor-Rikschas hin und her fliegenden Beschimpfungen schienen willkürlich, ja sogar liebevoll zu sein. Mitten auf der Straße stand eine Kuh ins Wiederkäuen vertieft. Und dahinter ragten die Gipfel des Himalaya in ihrer ganzen Erhabenheit auf. Sie fuhren dicht gedrängt in einem Dreirad-Taxi, er, Jesse, Lama Norbu und Chompa, wobei der junge Mönch als Führer und Dolmetscher agierte. Auf die Gipfel der Bergkette hinweisend, erklärte er ihnen, wo der Mount Everest im Verhältnis zum Annapurna war, daß man das kleine Taxi Pudrej nannte und daß das Mantra, das Dean am Vorabend gehört hatte, ungefähr mit »O du Kleinod
im Lotos« übersetzt werden konnte, was die Anrufung des Bodhisattvas des grenzenlosen Mitleids war, der Avalokiteshvara hieß. »Ha?« machte Dean. »Ava- lock- it-...« Er wurde durch einen Schrei unterbrochen, das Taxi blieb stehen, und sie bemerkten einen anderen jungen Mönch, der ihnen zuwinkte. »Das ist Sangay«, sagte Chompa. »Er wird uns zu Kandidat Nummer zwei führen.« Sie kletterten aus dem Wagen, und nachdem sich jeder vor jedem verneigt hatte, sagte Sangay: »Er heißt Raju und stammt aus einer sehr armen Familie.« Lama Norbu nickte. »Ja, ich habe den Bericht gelesen«, sagte er. »Das Interessante sind die Träume. Sie sind erstaunlich ähnlich.« »Nahezu identisch. Fünfzehn verschiedene Mönche und derselbe Traum. Ein kleiner Zirkus.« »Ich weiß, aber ich habe seine Diagramme noch nicht gesehen.« »Sie sind perfekt«, sagte Sangay. »Wie die von Jesse. Klassische Astrologie. Doch das wichtigste ist, was Sie empfinden, wenn Sie ihn sehen.« Der alte Mann nickte wieder. Erst ein kleiner, blonder Amerikaner, und nun ein Junge aus dem Zirkus. Das war typisch für Lama Dorje: Stets war er zu Scherzen aufgelegt, andauernd stellte er einem kleine Prüfungen, und er mußte an Kempo Tenzins Traum denken: »Ich habe das Leben seit jeher amüsant gefunden und sehe keinen Grund, das jetzt zu ändern.« Er war immer ein Spaßvogel gewesen, doch es überstieg alles bisher Dagewesene, daß er sie um die halbe Welt schickte und sie dann zurückholte, damit sie
seinen Tulku praktisch vor ihrer Haustür fanden. Toller Witz. Vor ihnen bogen Jesse und Dean Hand in Hand von der Straße auf einen Platz ein und blieben wie angewurzelt stehen. Das Gebäude, das sich vor ihnen erhob, war das Eindruckvollste, was Dean je gesehen hatte. Die Kamera schien in seiner Hand lebendig zu werden, so begierig war er, es festzuhalten – für den Fall, daß es sich um eine optische Täuschung handelte, eine Art Trugbild, die ihm seine Müdigkeit vorgaukelte. Im Hintergrund befand sich ein Platz mit schiefen mittelalterlichen Häusern, Türmchen, Dächern und Baikonen, die sich wie der Turm von Pisa in alle Richtungen neigten und in allen möglichen Farben gestrichen waren und — wie es auf den ersten Blick schien — aufs Geratewohl errichtet worden waren. Doch als Dean sich umsah, bekam er das Gefühl, daß Planung dahintersteckte, als ob der Turm zur Rechten das Dach gegenüber ergänzte. Und dann stand er vor dem Gebäude selbst. Automatisch begann er, Berechnungen anzustellen. Auf einem Sockel von etwa drei Metern Höhe und einem Durchmesser von gut vierzig Metern erhob sich über einer Reihe von Terrassen ein rein weißes Bauwerk zu einer ebenso weißen Halbkugel. Diese wurde von einem Würfel gekrönt, der auf jeder Seite ein in leuchtenden Farben aufgemaltes Auge trug, das in eine der vier Himmelsrichtungen blickte. Den Abschluß dieser Konstruktion bildete eine gestufte, goldbemalte Pyramide. Jesse pfiff durch die Zähne und flüsterte: »Ist das nicht toll?« »Ja. Es schaut uns an.«
»Es ist eine Kuppel, wie auf deinem Haus.« Dean schmunzelte und fuhr ihm durchs Haar. »Meinst du, das haben sie bei mir abgeschaut?« »Guter Witz, Dad«, meinte Jesse. Dann wandten sie sich um, und Lama Norbu kam auf sie zu. »Das ist die Bodhnath-Stupa-Anlage«, erklärte er. »Die Stupas waren ursprünglich Grabhügel, doch heute sind es Heiligtümer. Sie gehören zu den bedeutendsten in ganz Asien. Der quadratische Sockel ist das Symbol für die Erde, die Kuppe das für Wasser. Die Augen stehen für Erleuchtung oder Feuer. Rechts von der Spitze findet sich das Symbol für Sonne und Mond gemeinsam, die Vereinigung der Gegensätze.« Dean war so überwältigt von dem Anblick, daß er im ersten Moment die Menschenmenge gar nicht bemerkte. Das Gewirr wirkte auf ihn wie ein großer, bunter Maskenball. Es war Mardi Gras und Karneval von Rio zugleich. Noch die Ärmsten in ihren fadenscheinigen Gewändern wirkten farbenfroh mit ihren Armbändern und Halsketten aus Korallen und Türkisen. Eine Gruppe Mönche in Rotbraun schritt hinter ihnen her und drehte an Gebetsmühlen, die in den Mauern des Stupa angebracht waren. »Tibeter wie ich«, sagte Lama Norbu. »Einige von ihnen sind tagelang marschiert, um hierher zu kommen. Beim Zurückwandern werden sie wieder versuchen, den chinesischen Patrouillen aus dem Weg zu gehen.« Dean sah den alten Mann prüfend an und suchte nach Spuren der Verbitterung auf seinem Gesicht, doch es war kein Anflug von Ärger zu entdecken. Auf dem Flug hatte er von den Grausamkeiten gelesen, davon, daß man Mönche und Nonnen gezwungen hatte, vor den Bewohnern Lhasas zu kopulieren. Die mumifizierten
Überreste der Lamas hatte man an Hunde verfüttert, so daß mittlerweile jeder verbrannt wurde, um diese äußerste Demütigung unmöglich zu machen. Ein ganzes Volk hielt die andere Wange auch noch hin. »Lama, Lama...« Jesses Stimme holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Der Junge zog den alten Mann mit der einen Hand am Ärmel, mit der anderen zeigte er auf die Gebetsmühlen. »Kann ich herumlaufen und diese Dinger anfassen?« »Natürlich«, bekam er zur Antwort. »Und denk daran, daß man immer im Uhrzeigersinn gehen sollte.« Jesse sah hinauf zu Dean, um seine Zustimmung zu bekommen. »Hier kann ihm nichts zustoßen«, sagte der alte Mann, und Dean dachte: Okay, unter diesen Menschen ist er wohl sicher, vielleicht sicherer als an den meisten Orten zu Hause. Er hatte sowieso vor, zum Stupa hinaufzugehen und konnte ihn von dort aus im Auge behalten. Er war ja ganz leicht auszumachen, der einzige Blondschopf mit Baseballmütze weit und breit. Sie verabredeten sich in einer Kaffeestube in der Nähe und trennten sich. Jesse ging an der Mauer entlang, während Dean eine Treppe hinaufstieg, von wo aus er Jesse noch mit einem Daumenzeichen das Okay gab und ihm nachsah, wie er rasch davonlief. Der Junge schloß sich den anderen an, indem er an den Gebetsmühlen drehte, die sich klappernd in Bewegung setzten. Dean wandte sich um, betrachtete den Stupa und zog schließlich ein Notizbuch aus der Hosentasche. Jesses Kopf war ein brodelnder Kessel voller Aufregung. Alles war so aufregend. Es war richtig exotisch, und er mußte an die Jungs zu Hause denken. Sie hatten jetzt gerade Erdkunde, und er erlebte es in
Wirklichkeit. Doch dann fiel ihm der Zeitunterschied wieder ein. Schlafen würden sie jetzt. Bei dieser Vorstellung mußte er lachen. Eine Horde Kinder in wehenden Gewändern stieß ihn an und drehte ihm die Kappe von hinten nach vorn, doch es störte ihn nicht. ES war nicht wie zu Hause, wo die großen Jungen herkamen und einen pufften, bis man auf sie losging; die Jungs hier waren in Ordnung. Sie redeten in ihrer seltsamen Sprache auf ihn ein, und als er die Schultern zuckte und in gespielter Kapitulation die Arme hob, lachten sie nur und rannten davon. Am Ende der Mauer angekommen, bog er um die Ecke, wo er beinahe über einen alten Mann gefallen wäre, der mit verschränkten Beinen auf dem Boden saß. Er war bis auf einen Lendenschurz nackt und von oben bis unten mit Asche bedeckt. Jesse trat einen Schritt zurück und starrte ihn an, doch der Alte nahm ihn gar nicht wahr. Er schaute genauer hin, aber der Mann schien durch ihn hindurchzusehen, und in seiner Phantasie stellte Jesse sich vor, ob er vielleicht, wenn er den Bauch des Mannes berührte, sogar dessen Wirbelsäule spüren könnte. Er ging an ihm vorüber und hielt sich dicht an der Mauer, wobei er ständig an den Gebetsmühlen drehte. Schließlich spazierte er wie von unsichtbaren Fäden gelenkt in die Menge hinab, auf laute Musik und das Klingeln eines Tamburins zu. Durch die Menge hindurch konnte er drei Jungen und ein Mädchen sehen, alle zerlumpt und halbnackt, ungefähr in seinem Alter. Zwei der Jungen tanzten zum scheppernden Klang eines uralten Plattenspielers, das Mädchen schlug das Tamburin. Ein Affe mit Hut und rotem Frack schwenkte eine Blechtasse. Doch es war der dritte Junge, der Jesse faszinierte: ein barfüßiger Wildfang im zerrissenen
Hemd, der mit vier Bällen jonglierte, die zu brennen schienen und aus denen Flammen schossen. Der Junge war so geschickt, daß er sich nicht verbrannte, er sprang nur herum, als hätte man ihn an eine Steckdose angeschlossen, und grinste wie ein Irrer. Jesse zuckte zusammen und trat verunsichert einen Schritt zurück, als der Affe von der Schulter des Mädchens hüpfte und zu ihm herübergerannt kam. Er klapperte mit seiner Blechtasse, sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an und sprang schließlich zum nächsten Zuschauer, der eine Münze hineinwarf, woraufhin sich der Affe verbeugte. Die Vorstellung des kleinen Straßenjungen hatte ihn so in ihren Bann gezogen, daß er gar nicht sah, wie Lama Norbu und Sangay herbeikamen und sie beide anstarrten. »Das ist der andere Junge, nicht wahr?« flüsterte der Lama. »Ja, das ist Raju.« »Sie haben einander gefunden«, sagte der Lama und schüttelte erstaunt den Kopf. Das war wieder typisch Lama Dorje, dachte er, er trieb schon wieder seine Spaße. Sie beobachteten, wie Raju auf Jesse zuging. Einen Augenblick starrten sie einander schweigend an. Dann begann Raju mit tiefer, selbstsicherer Stimme und in barschem Tonfall auf englisch zu sprechen. »Hey, willst du noch mehr Kunststücke sehen?« Jesse nickte und grinste. Der Junge hatte einen amerikanischen Akzent. »Wieviel gibst du? Zehn Rupien?« Jesse zuckte die Achseln. »Fünf Rupien?« Jesse schüttelte den Kopf. »Eine Rupie?«
»Ich habe überhaupt kein Geld.« Raju deutete auf seine Hosentasche. »Was ist da drin?« »Das ist mein Gameboy.« Er holte ihn heraus und hielt ihn Raju hin. »Willst du mal probieren?« Warum nicht? dachte Jesse. Katmandu gegen Seattle, und nur einer konnte Sieger sein. Rajus Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, und seine Daumen begannen zu fliegen. Das Grüppchen drängte sich zum Zuschauen enger zusammen, und der Affe sprang Raju auf die Schulter. Jesse blinzelte. Der Junge war ein Könner. »Du bist gut«, sagte er. »O ja, danke«, sagte Raju ohne aufzusehen. »Ich bin der Champion--von Katmandu.« Es würde ein hoher Sieg für Nepal werden, und Jesse fragte sich, wie er hier sein Gesicht wahren konnte, als der Affe eingriff, indem er sich den Gameboy schnappte und davonsauste, auf den Fersen gefolgt von den vier Kindern, die allesamt seinen Namen riefen: »Tashi, Tashi...« Einen Augenblick stand Jesse vor Schreck wie angewurzelt da, dann rannte er ihnen nach, wütend, daß er sich hatte hereinlegen lassen. Erst fünf Minuten in der Dritten Welt, und schon hatte ihm ein Winzling, der ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte, ein Computerspiel im Wert von fünfzig Dollar abgeluchst. Er rannte über den Platz und sah den Affen eine Gasse hinunterflitzen, gefolgt von dem Straßenjungen, und es sah so aus, als wären die Zuschauer auf ihrer Seite, da er sich mit Schubsen und Drängeln den Weg freikämpfen mußte. Als er an der Ecke angekommen war, waren sie nicht mehr zu sehen.
Die Gasse war eng, und von einem Rinnsal durchzogen. Vor einem Verkaufsstand feilschte eine Menge Leute. Da er nicht durchkam, ließ er sich auf alle viere nieder und krabbelte zwischen den Sandalen hindurch. Als er wieder aufstand, blickte er in die Augen dreier geschlachteter Ziegen, deren dünne Barte im Wind flatterten. Jesse schüttelte sich und rannte weiter, bis die Gasse endete und auf einen Platz mündete. Er schaute nach links und nach rechts, doch der Affe war nirgends zu entdecken. Gemächlich trottete er über den Platz. Die Menschen gingen ihren Geschäften nach und beachteten ihn nicht. Männer luden Strohballen auf Karren, andere brachten tretend ihre Mühlräder in Bewegung. Ein Töpfer saß an seiner Scheibe. Jesse setzte sich auf eine Treppe und blickte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Von dem Platz gingen viele gleich aussehende Gassen ab, und weil er sich so beeilt hatte, um den verdammten Affen zu finden, konnte er sich nicht mehr erinnern, welche er entlanggerannt war. Er hatte sich verlaufen und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Zum Teufel noch mal, dachte er, ich bin Amerikaner, und ich werde nicht zulassen, daß mich diese mittelalterlichen Leute weinen sehen. Er mußte sich nur zusammenreißen, das war alles. Wenn es hart wird, und so weiter... Dann ließ ihn eine Stimme hinter sich hochfahren. »Hey.« Er drehte sich um. Der Straßenjunge stand mit dem Affen auf der Schulter eine Stufe über ihm und hielt ihm den Gameboy hin.
»Tashi ist ein ungezogener Affe«, sagte er und versetzte ihm mit seiner freien Hand einen Klaps. »Aber er ist auch sehr schlau.« Und mit einem Mal war alles wieder in Ordnung. Dean hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er hatte sein Notizbuch zur Hälfte mit Skizzen gefüllt und drei Filme verknipst. Der Geist, der dieses Bauwerk ersonnen hatte, verblüffte ihn und schüchterte ihn ein. Er hatte seinen Grundriß mit dem Stadtplan verglichen und gesehen, daß der Stupa exakt in Nord-Süd-Ausrichtung stand. Er war von vollkommener Symmetrie, jedes der vier Augen blickte genau in eine Himmelsrichtung. Es war geometrische Poesie. Als er auf den Stadtplan sah, fiel sein Blick auf die Uhr, und er bekam Schuldgefühle, da er die letzten vierzig Minuten nicht mehr an Jesse gedacht hatte. Nun musterte er die Menschenmenge und konnte ihn nicht finden. Bis er bei der Kaffeestube anlangte, begann er sich langsam Sorgen zu machen, und bei der zweiten Tasse Kaffee steigerte sich seine Unruhe zu regelrechter Angst. Wenn Jesse nicht bald auftauchte, würde er in Panik geraten. Er blickte hinüber zu Lama Norbu. Irgendwie waren seine Reaktionen wichtige Indikatoren. Er war eine Führungspersönlichkeit. Wenn er ihn ansah, empfand Dean dasselbe, wie wenn er bei heftigen Turbulenzen auf einem Flug die Stewardessen musterte. Wenn sie nicht besorgt dreinsahen, waren die Tragflächen noch nicht kurz davor abzubrechen; und wenn der alte Mann eine unbekümmerte Miene zur Schau trug, gab es ebensowenig Anlaß zu Besorgnis. Er sah, wie er in sein Gewand griff, ein kleines Schächtelchen hervorholte und eine schwarze Pille schluckte.
Chompa saß am Nebentisch und blickte träge auf den Platz hinaus. Dean lehnte sich zu ihm hinüber und fragte leise: »Ist Lama Norbu krank?« Chompa ließ sich Zeit, bis er antwortete: »Er ist nicht ganz gesund«, sagte er. »Aber sehr stark.« Auf einmal stand Jesse in der Tür. Er führte einen zerlumpten, barfüßigen Straßenjungen in das Lokal. Drei weitere standen am Fenster und drückten sich an der Scheibe die Nasen platt. »Dad, Dad«, rief er. »Das ist mein neuer Freund. Ich habe mich verlaufen, und er hat mich gefunden...« Lama Norbu unterbrach ihn, indem er aufstand und mit erhobener Hand um Ruhe bat. »Das wissen wir, Jesse«, sagte er. »Wir haben euch beide erwartet.« Dann legte er die Handflächen aneinander und verneigte sich tief vor der Straßengöre. »Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Raju«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Sangay hat mir viel von dir erzählt. Es ist gut, daß sich zwei der Kandidaten auf diese Weise begegnet sind. Typisch für Lama Dorjes Scherze.« Die Jungen hielten sich immer noch an den Händen. Nun wandten sie sich um und starrten einander an, und beide traten unwillkürlich einen Schritt zurück. Beide trugen den gleichen Gesichtsausdruck: Spiegelbilder äußerster Verblüffung. Doch was Dean verwirrte, war die Formulierung des Lamas. Zwei der Kandidaten. Nicht: die zwei Kandidaten. Die Frage wurde unverzüglich beantwortet. Lama Norbu zog einen Umschlag aus den Falten seines Gewands und legte ihn auf den Tisch. »Und nun müssen wir noch einen dritten besuchen«, sagte er mit einer Spur Mattigkeit in der Stimme, »von dem ich gerade erst erfahren habe. Es wird eine sehr
lange Fahrt werden, also hoffen wir, daß dies Lama Dorjes letzter Scherz ist.« Sie mieteten einen Kleinbus, und Dean erbot sich zu fahren. Die Tibeter schienen nicht allzu erpicht darauf zu sein. So hatte er wenigstens Gelegenheit, etwas zu tun und nicht nur den Aufpasser zu spielen. Es war eine alte Kiste mit Gangschaltung, die ihm, an Automatik gewohnt, anfangs etwas zu schaffen machte. Katmandu war ein Verkehrschaos, und so rumpelte er mit Chompa als Beifahrer vergnügt dahin. Als er ein Pudrej schnitt, grinste dieser ihn an. »Andere Länder, andere Sitten«, sagte er. Dean fragte sich, wo er dieses Sprichwort aufgeschnappt hatte. Als sie auf der Landstraße waren und in südöstlicher Richtung fuhren, erkundigte sich Dean nach dem Brief. Chompa erzählte, daß er ans Kloster geschickt und zu der Herberge weitergeleitet worden war. Im Spiegel sah Dean nach den beiden Jungen, dem neu hinzugekommenen Mönch, dem Lama und dem Affen und begann sich zu fragen, ob er hier zu einer Art Fliegender Holländer wurde. Ob er auf ewig durch Asien reisen und andauernd größere und bessere Wagen mieten mußte, die sich nach und nach mit Achtjährigen füllten. Schließlich bog er auf Anweisung Lama Norbus nach Süden auf einen Feldweg ein. Eine Stunde lang fuhr er an staubigen Ebenen mit Büscheln von Savannengras vorüber. Der übrige Verkehr beschränkte sich auf gelegentlich auftauchende Ochsenkarren. Vielleicht lag es an der Höhenluft, aber er fühlte sich leicht benommen, als hätte er Haschisch geraucht. Vielleicht kam es aber auch von der Nähe des Lamas und
der zwei Mönche, denn er spürte einen Anflug von Spiritualität in sich. Oder womöglich war es die Mischung aus anhaltender Müdigkeit und Kulturschock. Langsam merkte er, wie ihn das Land verzauberte. »Was ist denn, Dad?« fragte Jesse, als könne er seine Gedanken lesen. »Ich glaube, ich werde langsam zu einem Hippie«, antwortete er. »Tja«, meinte Jesse und grinste ihn an. »Behalt's für dich.« Im Spiegel erwiderte er das Grinsen. Raju zwinkerte ihm zu, hob die Hand und zeigte den Spielstand mit den Fingern an. Der Gameboy-Wettbewerb wurde zum Verzweiflungskampf. Nepal führte zweiundzwanzig zu fünfzehn. Dean verlor erneut das Zeitgefühl. Ab und zu warf er einen Blick über die Schulter, da er hoffte, den Mount Everest erspähen zu können, doch die Berge verbargen sich unter einem Hitzeschleier, und der Horizont war ein schimmerndes Trugbild. Dann stieß ihn der Lama sanft an und deutete auf eine Baumgruppe, worauf Dean abbog. Der Weg führte durch die Bäume, bergauf zu einer baufälligen Villa, die mit ihren Säulen, großzügigen Veranden und Gesimsen einmal hochherrschaftlich gewesen sein mußte. Vor Deans geistigem Auge stiegen Bilder aus alten Zeiten auf, wie Bedienstete die an der Decke hängenden, großen Fächer in Bewegung hielten, während andere Eistee servierten und träge Anweisungen mit schleppendem britischen Akzent entgegennahmen. Das Haus hatte vielleicht einem Elfenbeinhändler gehört, doch heute war es heruntergekommen.
Die steinernen Stufen, die zu der Mahagonihaustür hinaufführten, waren brüchig. Der Garten war seit Jahren nicht mehr gepflegt worden, und in der Luft hing der Geruch verfaulender Pflanzen und unerwünschter Kompostierung. Als Dean anhielt, öffnete sich eine Seitentür, aus der eine alte Frau langsam die steinernen Stufen herunterkam. Sie trug eine Kata und wartete, bis Lama Norbu vorsichtig aus dem Wagen gestiegen war, und begrüßte ihn lächelnd. »Der Dharma-Klatsch ist Euch vorausgeeilt«, sagte sie. »Stimmt es, daß einer der anderen Kandidaten Amerikaner ist?« »Ja, Ani- La«, sagte er und wies auf Jesse. »Lama Dorje war schon immer für Überraschungen gut.« Die alte Frau ging zu Jesse hinüber, berührte sein Haar und schüttelte lächelnd den Kopf. Währenddessen kam eine Frau mittleren Alters in einem eleganten Sari die Treppe herunter, verneigte sich tief vor Lama Norbu, richtete sich wieder auf und fragte, ob die Reise sehr anstrengend gewesen sei. »Nein«, sagte er. »Und jetzt möchte ich das andere Kind sehen.« Die Frau wandte sich um. Auf der Veranda stand ein Mädchen in einem roten Sari. Sie war groß, elegant und ernst. Jesse und Raju schauten sie neugierig an und äugten dann an ihr vorbei ins Haus. »Hier ist mein Schatz«, sagte die Frau. Die beiden Jungen starrten erst einander und dann das Mädchen an, das auf sie zukam und vo n ihrer Mutter dem Lama vorgestellt wurde. Ruhig zelebrierte sie mit ihm
das Kata-Ritual, und ging dann zu den Jungen, wobei sie verächtlich den Kopf in den Nacken warf. »Ich bin der echte Lama Dorje«, sagte sie hocherhobenen Hauptes. »Und ihr seid beide Schwindler.« Jesse zuckte zusammen. Raju schüttelte auf diese Provokation hin den Kopf. »Lama Dorje war keine Frau«, sagte er. »O doch«, erwiderte sie trotzig und musterte ihn, als sei er gerade aus dem Abwasserkanal gekrochen. »Sie war Äbtissin eines Klosters. Aber woher sollst du das wissen? Du gehst ja nicht einmal zur Schule.« Dann drehte sie sich zu Jesse. »Und du bist bloß ein Ausländer.« Jesse zuckte erneut zusammen. Nur ein Ausländer. Er wollte gerade sagen, daß er kein Ausländer, sondern Amerikaner war, und sie nur eine Ausländerin. Es wußte doch jeder, daß Amerikaner keine Ausländer waren, doch sie ließ sich nicht unterbrechen. Sie stellte sich dramatisch in Positur und sagte mit in die Hüften gestemmten Händen: »Ich habe einen geheimen Garten.« Dann breitete sie die Arme aus wie eine Ballerina, wirbelte auf den Hacken herum und spazierte davon, in einen dichten Hain, und rief ihnen über die Schulter zu: »Kommt. Kommt schon, ihr unwissenden Jungen.« Jesse und Raju blickten Lama Norbu fragend an, der sie anlächelte und nickend seine Zustimmung signalisierte. Und schon rannten sie los, hinter ihr her. Tashi folgte ihnen auf dem Fuße. Lama Norbu wandte sich an die anderen: »Sie hat ganz recht, wißt ihr«, sagte er. »Vor fünf Leben war Lama Dorje eine sehr berühmte Frau, die Vorsteherin eines bedeutenden Klosters in Tibet.«
Er machte sie miteinander bekannt. Ani- La war eine Nonne aus einem fünfzig Kilometer entfernt liegenden Kloster. Gitas Mutter hieß Sonali und erzählte ihnen ihre Geschichte, nachdem sie es sich auf der Terrasse bequem gemacht hatten. »Mein verstorbener Mann stammte aus Tibet«, erzählte sie. »Er war strenggläubig und kannte Lama Dorje. Jedes Jahr machte er seinem Kloster eine Spende. Eines Tages stand der Lama einfach wie durch ein Wunder vor der Tür. Das war im Jahr vor seinem Tod. Er blieb zwei Tage, und bevor er abreiste, legte er mir die Hand auf den Bauch. Ich wußte nicht, was diese Geste bedeuten sollte, doch unmittelbar nach seinem Tod wurde ich schwanger, etwas, das ich für unmöglich gehalten hatte.« Sie lächelte bei der Erinnerung, und die Nonne spann die Geschichte weiter. »Vor einem Monat schrieb sie mir, ich solle sofort kommen, da etwas äußerst Erstaunliches geschehen war. Eines Nachts sprach das Kind...« Sonali unterbrach sie, begierig darauf, selbst weiterzuerzählen. »Gita sprach Gebete auf tibetisch und sagte Dinge, die ich nicht verstehen konnte.« »Sie sprach das Lotos-Mantra«, sagte Ani-La. »Woher hätte sie es kennen sollen?« Sie sah von einem zum anderen und erwartete eine Antwort. Das war leicht, dachte Dean. Lama Dorje kannte das Lotos-Mantra. Lama Dorje war ja Tibeter. Quod erat demonstrandum. Um darauf zu kommen, braucht man nichts weiter als den Glauben an die Wiedergeburt.
Gitas geheimer Garten war auf vier Seiten von Mauern umgeben und mit Gräsern und Ranken zugewachsen. Zwei steinerne Kobras von einem Meter achtzig Höhe reckten sich mit herausgestreckter Zunge und Brillenzeichnung aus rissigen, leeren Wasserbecken. Im Vorbeigehen griff Jesse nach der Zunge der einen, machte dann aber einen Satz zurück, für den Fall, daß sie plötzlich lebendig wurde und Gift nach ihm spuckte. Er wollte in diesem seltsamen Land kein Risiko eingehen. Aus sicherer Entfernung starrte er ihr in die edelsteinbesetzten Augen und versuchte sie zu hypnotisieren, wie er es zu Hause im Fernsehen einen Mungo hatte tun sehen. Als Gita ihm auf die Schulter tippte, drehte er sich um. Herablassend sah sie erst ihn, dann Raju an. »So, ihr Bewerber«, sagte sie. »Es ist wirklich jammerschade, daß ihr den ganzen Weg umsonst gemacht habt.« Die Jungen warfen sich gegenseitig vielsagende Blicke zu. Raju zeigte auf Jesse. »Er ist Lama Dorje«, sagte er. »Nein«, meinte Jesse. »Raju ist Lama Dorje.« Gita schüttelte den Kopf, wirbelte davon und kam, wieder mit in die Hüften gestemmten Händen, zurück. »Genau hier in diesem Garten«, sagte sie, »wurde mein Großvater, der ein Radscha und ein großer Heiliger war, von einem Tiger gefressen.« Mit ausladender Geste wies sie auf eine Ecke unter einem Baum. Jesse sah sie staunend an, Raju eher mißtrauisch. »Es herrschte eine schreckliche Hungersnot«, erzählte sie weiter. »Die Tigerin war auf der Suche nach Futter, um ihre Jungen zu ernähren, und mein Großvater opferte sich.«
Jesse tat so, als spuckte er aus. »Muß ja ganz schön blöd gewesen sein«, meinte er. Gita sah ihn verächtlich an. »Nur ein großer Geist war zu einer solchen Tat imstande«, sagte sie. Jesse war beeindruckt, konnte es aber nicht zeigen, nicht angesichts solcher Überheblichkeit, und deshalb verspottete er sie, indem er sich an Raju wandte. »Friß mich, du armer hungriger Tiger«, bat er. Raju knurrte, warf sich auf alle viere und schoß auf ihn zu, boxte ihn gegen das Knie und fauchte. Dann rannten sie davon und tollten im Garten herum, bis Gita ihnen Einhalt gebot. Sie zeigte ihnen eine Halskette, an der ein gelber Zahn hing, und schwenkte sie hin und her, als versuchte sie, die beiden zu hypnotisieren. »Der«, sagte sie, »hat dem Tiger gehört, der meinen Großvater gefressen hat.« Gegen seinen Willen war Jesse erneut beeindruckt. Er nahm ihn ihr aus der Hand und untersuchte ihn. Er hörte nicht, wie Raju dem Mädchen zuflüsterte: »Mich legst du damit nicht rein. Ich habe diese Geschichte schon tausendmal gehört. Aber er weiß das nicht.« Jesse hielt den Zahn in die Höhe. »Dein Großvater muß ganz schön zäh gewesen sein, wenn der Tiger dabei diesen Zahn verloren hat.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Jesse fragte sich, wie sie es aufnehmen würde, als Witz oder als Beleidigung; doch dann lächelte sie und nahm die Kette wieder an sich. »Als Trägerin des Tigerzahns«, verkündete sie, »mache ich euch beide zu Mitgliedern der geheimen Gesellschaft des Kobrakönigs.« Der Waffenstillstand wurde geschlossen, doch Gita hatte Tashi übersehen. Der Affe sprang aus dem
Unterholz auf sie zu, schnappte sich den Zahn und hüpfte über die Gartenmauer. Die Kinder rannten mit Gebrüll hinterher. Jesse war am schnellsten. Er stürzte sich auf Tashi, doch der Affe wich ihm geschickt aus und angelte sich den herunterhängenden Ast eines Baumes. Jesse blieb stehen und sah hinauf. Einen solchen Baum hatte er noch nie gesehen. Der Hauptstamm, so schätzte er, mußte einen Umfang von fast zwei Metern haben. Dann zählte er: Zwölf Nebenstämme zweigten vom Hauptstamm ab, um oben einen Baldachin von sechs Metern Durchmesser zu bilden. Die Knoten in den offenliegenden Wurzeln waren so groß wie Fußbälle. Tashi kreischte ihn an und schwenkte die Kette verlockend vor seinen Augen, aber außer Reichweite. Jesse wandte sich um und sah die anderen mit den Erwachsenen zusammen den Weg entlangkommen. Gita ging voran. »Hast du gewußt, daß Siddhartha die Erleuchtung unter diesem Baum erlangt hat?« fragte sie Raju und lächelte dann Lama Norbu an. »Jedenfalls unter einem Baum wie diesem.« Jesse sah den alten Mann an. »Ist das wahr?« fragte er. Der alte Mann lächelte. »Er muß diesem Baum sehr ähnlich gewesen sein«, gab er zur Antwort. Er sah hinauf zu Tashi, streckte die Hand aus und gab ihm einen Wink. Der Affe ließ die Kette in die Hand des Lamas fallen, und der alte Mann legte sie Gita um den Hals. Dann ließ er sich unter dem Baum nieder, und die Kinder setzten sich im Halbkreis um ihn herum. Es war vor einem Dorf namens Bodhgaya. Siddhartha schritt zum großen Baum und sah Svastika, den Schnitter, am Straßenrand arbeiten. Er bat ihn um etwas Gras,
damit er während seiner langen Meditation ein wenig Schutz vor dem harten Fußboden hätte. Svastika schnitt ihm acht Handvoll, die Siddhartha um den Stamm verteilte, und sie fügten sich zu einem Sitz. Siddhartha verneigte sich siebenmal, ließ sich dann im Lotossitz mit dem Rücken zum Baum nieder und gelobte, sich nicht zu regen, bevor er nicht das höchste Wissen erlangt hätte, auch wenn seine Haut vertrocknen und seine Knochen zu Staub zerfallen sollten. Kaum hatte er die Augen geschlossen, als auch schon Mara, der Böse, sich bedroht fühlte, da er wußte, wenn Siddhartha Frieden fände und sein Wissen verbreitete, würde Maras Macht über die Menschheit schwinden. Deshalb schickte er seine fünf Töchter aus, damit sie ihn in Versuchung führten. Sie waren die Geister des Hochmuts, der Gier, der Angst, der Unwissenheit und der Sinnenlust. Jede einzelne von ihnen konnte einen Mann vernichten. Allen fünf zusammen konnte niemand widerstehen. Sie näherten sich ihm als Dorfmädchen verkleidet, anmutige Gestalten in roten und goldenen Saris. Eine hatte eine Sitar dabei, eine zweite ein Tamburin und eine dritte einen irdenen Krug, und sie wußten, daß sich Siddhartha auch mit geschlossenen Augen ihrer Anwesenheit bewußt war, denn sie hatten in parfümiertem Wasser gebadet und dufteten wie junge Mädchen im Sommer. Die erste schritt an Siddhartha vorbei an die Quelle, die durch die Baumwurzeln sprudelte. Sie schöpfte Wasser und füllte ihren Krug. Dann ließ sie ihren Sari bis zur Taille herunter und wusch sich. Eine andere setzte sich ihm gegenüber, ahmte seine Sitzhaltung mit den verschränkten Beinen nach, löste dann ihr Haar und
begann es zu kämmen, wobei sie ihm ständig ins Gesicht sah. Doch er öffnete die Augen nicht. Die dritte und vierte saßen an der Quelle und spielten Sitar und Tamburin. Durch den Rhythmus animiert, wiegten sich die anderen im Takt und tanzten vor ihm. Schließlich streckte sich die fünfte, der Geist der Sinnenlust, in Reichweite vor ihm aus und streichelte den Hals des Kruges, als liebkoste sie einen Geliebten. Aber noch immer öffnete Siddhartha nicht die Augen, nicht einmal, als sie den Krug umwarf und das herausströmende Wasser vor ihm eine Pfütze bildete. Mara wußte nun, daß seine Töchter versagt hatten. Er hatte die Verlockungen in ihre einfachste Form verpackt, doch Siddhartha blickte über Formen, über das Offenkundige, hinaus. Mara rüstete sich selbst zum Kampf. Die Heftigkeit seiner Wut ließ Siddhartha die Augen aufschlagen. In der Pfütze zu seinen Füßen erblickte er Maras scheußliches Antlitz und wußte, daß das Kräftemessen begonnen hatte. Mara schoß wie eine Furie aus dem Wasser. Mit seinem zahnlosen Mund schnitt er eine Grimasse, die roten Augen waren von Schleim umrandet, der Himmel wurde schwarz, und ein beißender Wind heulte dazu. Der Sturm war so stark, daß die Töchter sich wimmernd aneinanderkauerten, doch vor Maras Zorn gab es kein Entkommen. Sie hatten ihre Aufgabe nicht erfüllt, und nun bedeckte sie der Wind mit Leichentüchern aus Laub, verwandelte sie in Staub und verstreute sie in alle vier Himmelsrichtungen. Jetzt brachte Mara die Elemente ins Spiel. Blitz, Sturm und Donner, Kugelblitze gehorchten seinem Kommando. Er befahl den bösartigen Kräften der Natur, Siddhartha anzugreifen, doch als der Sturm sich verdichtete,
schöpfte Siddhartha Kraft aus der Stärke des Geistes und schützte sich mit dem Schild der Meditation. ›Was ist der Grund für Alter und Tod?‹ fragte er sich selbst. ›Die Antwort heißt Geburt.‹ ›Was ist der Grund für das Werden?‹ ›Die Antwort heißt Bindung.‹ Die Elemente begannen ihn zu attackieren. ›Es gibt Bindung, weil es Gier gibt.‹ ›Es gibt Gier, weil es Empfindung gibt.‹ Blitze flackerten um den Baum wie die Zunge Mucilindas und entfachten kleine Feuer, doch Siddhartha blieb unverletzt. Kugelblitze verwandelten sich in Leuchtkäfer und Glühwürmchen. ›Was ist der Grund für Empfindung?‹ fragte Siddhartha sich selbst. ›Die Antwort heißt Berührung.‹ Dann begann er zu skandieren: Om mani padme hum... Er sprach es wieder und wieder. Es war ein so eindringlicher Singsang, daß er Mara wahnsinnig machte. Obwohl er sich die Ohren zuhielt, konnte er sich nicht dagegen wehren. So bat er Siddhartha, aufzuhören, der aus Mitleid seinen Wunsch erfüllte. Der Wind legte sich, und auf der Welt herrschte Ruhe. Es war, als hielte die Erde den Atem an. Mara nahm die Hände von den Ohren und funkelte Siddhartha an. Er konnte die Gedanken des tief in Meditation versunkenen Mannes lesen. ›Was ist der Grund für Berührung? ‹ ›Die Antwort heißt die sechs Sinne.‹ ›Was ist der Grund für die sechs Sinne?‹ ›Die Antwort ist Name und Körper. ‹ ›Was ist der Grund für Name und Körper ?‹
›Die Antwort heißt Bewußtsein. ‹ ›Was ist der Grund für Bewußtsein?‹ ›Die Antwort heißt Sinneseindrücke‹. ›Was ist der Grund für Sinneseindrücke ?‹ ›Die Antwort heißt Unwissenheit.‹ Mara brüllte vor Ärger und ließ seine Armee aufmarschieren. Erneut brach schwarze Nacht herein. Tiefhängende Wolken verdunkelten Mond und Sterne. Am Horizont erschien eine schreckliche Streitmacht: tausend Mann in geschlossenen Reihen, mit Rüstungen und gefiederten Helmen aus schwarzem Metall, beladen mit Speeren und Spießen und den Werkzeugen für Folter und Tod. Maras Macht war so groß, daß Siddhartha gezwungen war, die Augen zu öffnen. Er bemühte sich, in den Gesichtern von Maras Soldaten Hilfe und Mitleid zu finden, doch hinter den vergitterten Helmen erblickte er nur Totenschädel, verhöhnendes Grinsen und leere Augenhöhlen. Er wußte, daß er nicht auf Mitleid hoffen durfte, und so zog er sich wieder in sich selbst zurück und kehrte den Ablauf seiner Meditation um. ›Unwissenheit ist die Wurzel des Leidens‹, sprach er zu sich selbst. ›Überwinde die Unwissenheit, indem du Sinneseindrücke überwindest.‹ ›Überwinde Sinneseindrücke, indem du das Bewußtsein überwindest.‹ ›Überwinde das Bewußtsein, indem du Namen und Körper überwindest.‹ Synchron zog nun jeder der Totenschädel-Soldaten einen Pfeil aus dem Köcher, jede Pfeilspitze war mit Pech beschmiert. Von links und rechts kamen verkrüppelte Zwerge mit Fackeln angehumpelt, die die
Pfeile in Brand setzten. Als alle Pfeile in Flammen standen, spannten die Soldaten die Bogen. Die Wolken waren voller roter Strähnen. Trommeln begannen zu schlagen. ›Überwinde Namen und Körper, indem du die sechs Sinne überwindest‹, schärfte sich Siddhartha ein. Die Bogen waren jetzt zum Zerreißen gespannt und die Armee erwartete wie erstarrt den Befehl Maras. ›Überwinde die sechs Sinne, indem du Berührung überwindest‹ ›Überwinde Berührung, indem du Empfindung überwindest. ‹ ›Überwinde Empfindung, indem du die Gier überwindest. ‹ Mara stieß einen Schrei aus, die Bogenschützen schossen ihre Pfeile ab. Diese aber flogen zischend in den Himmel, wie zornige Vögel, und verschwanden vorerst in den Wolken. ›Überwinde die Gier, indem du die Bindung überwindest.‹ ›Überwinde die Bindung, indem du das Werden überwindest.‹ An ihrem höchsten Punkt angelangt, fielen die Pfeile senkrecht nach unten. Sie sahen glühenden Spitzen gleich, die die Wolken durchbohrten, während sie auf Siddhartha zurasten. ›Überwinde das Werden, indem du die Geburt überwindest‹ ›Überwinde die Geburt, indem du Alter und Tod überwindest‹ Die Pfeile klumpten auf einmal zusammen, als würden sie von Magnetkräften angezogen, und Siddhartha hieß sie mit geöffneten Augen willkommen.
›Leben heißt Leiden.‹ ›Gier führt zur Wiedergeburt.‹ ›Indem wir die Gier überwinden, verhindern wir die Geburt.‹ ›Und verhindern das Leiden.‹ ›Heiligkeit erstickt die Gier, und wir hören auf, Geburt und Leiden durchzumachen.‹ Daraufhin verwandelten sich die Pfeile in Lotosblüten und schwebten sachte auf ihn herab, um auf seinem Haar und in seinem Schoß liegenzubleiben. Die Wolken lösten sich auf, und die Armee war verschwunden. Der aufsteigende Vollmond warf sein Licht auf den Baum und die Pfütze. Eine Grille zirpte. Die Lotosblüten auf der Oberfläche der Pfütze lösten sich auf, als er sein Spiegelbild betrachtete. Einen Moment saß er reglos da, dann streckte er die rechte Hand aus und berührte das Wasser. Seine im Wasser gespiegelten Finger schlossen sich um sein Handgelenk, so daß er sein Spiegelbild aus der Pfütze ziehen konnte. Es setzte sich ihm gegenüber. Das Spiegelbild sprach: »Du, der du dorthin gehen wirst, wohin sich niemand wagen wird, willst du mein Gott sein?« »Es ist eine Last, so oft geboren zu werden«, sagte Siddhartha. »Architekt, endlich habe ich dich gefunden. Du wirst dein Haus nicht noch einmal errichten.« »Aber ich bin dein Haus, und du lebst in mir«, erwiderte sein Spiegelbild. Siddhartha berührte mit der linken Hand die Erde und sprach: »O Gebieter meines eigenen Ichs, du bist nichts als ein Trugbild. Du existierst nicht. Die Erde ist mein Zeuge.« Da nahm sein Spiegelbild die Gestalt des aufgeschwemmten Körpers und scheußlichen Antlitzes
Maras an, doch ging von ihm kein Schrecken mehr aus, er trug nur den resignierten Blick des Unterlegenen. Dann verschwand die Vision und ließ Siddhartha allein, umfangen von Mitleid. Lama Norbu sah von einem Kind zum anderen. »Siddhartha gewann den Kampf gegen ein Heer von Dämonen allein durch die Kraft seiner Liebe und des großen Mitleids, das er entdeckt hatte, und so erlangte er die große Ruhe, die vor der Loslösung von Gefühlen steht.« »Er war über sich selbst hinausgewachsen. Nun stand er jenseits von Freude oder Schmerz, von Strafe befreit, und konnte sich erinnern, ein Mädchen, ein Delphin, ein Baum und...« – er warf einen Blick auf Tashi – »... ein Affe gewesen zu sein. Er konnte sich an seine erste Geburt erinnern und an die Millionen, die folgten. Er konnte über das Universum hinausblicken.« »Er hatte die endgültige Realität aller Dinge erkannt. Er hatte verstanden, daß nichts zufällig geschieht, daß jede Bewegung im Universum eine Wirkung ist, die von einer Ursache hervorgerufen wird. Er wußte, daß es ohne Mitleid für jedes andere Lebewesen keine Erlösung geben konnte. Von diesem Moment an wurde Siddhartha der Buddha genannt, der Erwachte.« Jesse hob die Hand, und Chompa lächelte, da er an den kleinsten der jungen Mönche denken mußte. »Was meinte er mit dem Architekten?« fragte er. Lama Norbu kicherte. »Er hat nicht deinen Vater gemeint. Er meinte das Gefängnis des eigenen Ichs. Und das...« – er tippte sich gegen die Schläfe – »ist so ungefähr alles, was dir dieser alte Mann hier erzählen kann.«
8. Kapitel Nichts ha tte Dean auf das vorbereitet, was ihn auf dem Flug in die Berge erwartete. Sie flogen in einer kleinen einmotorigen Maschine, die am Rumpf die in rostbrauner Farbe aufgemalten Worte Royal Bhutan trug. Als der Pilot sie ins Cockpit einlud, konnte er nicht glauben, was der Höhenmesser anzeigte: Er stand auf viertausenddreihundert Meter, und trotzdem schauten alle, die im Passagierraum saßen, der Lama, die zwei Mönche, die Nonne und die drei Kinder, zu den Bergen hinauf - sogar Tashi. In diesen Höhen konnte ja wohl niemand leben. »O doch«, sagte der Pilot. »In Bhutan leben Menschen bis fast fünftausend Meter über dem Meeresspiegel.« »Brauchen sie denn keinen Sauerstoff?« »Aber nein. Sauerstoff in Massen. Gute Luft.« Der Pilot lächelte. »Ich war mal in Los Angeles. Dort gibt's nicht viel Sauerstoff. Und jetzt sollten Sie lieber wieder an Ihren Platz zurückgehen und sich anschnallen. Wir werden bald landen.« Auf dem Weg nach hinten sah Dean hinaus. Landen? Wo denn landen? Das einzige, was er sehen konnte, waren Be rge. Er setzte sich, schloß den Sicherheitsgurt und starrte verzweifelt auf eine Felswand. Kurz wandte er sich zu Jesse um, der zwei Reihen hinter ihm saß. Jesse machte mit dem Daumen das Okay-Zeichen, und als Dean sich wieder umdrehte, sah er, daß sich im Himalaya ein schmaler Spalt aufgetan hatte. Während sie sanken, gab es einen Ruck, und schon hatten sie den Spalt durchflogen. Das Flugzeug näherte sich nun einem grünen Tal und einer Hütte mit einem Windsack davor.
Die Landebahn war mit Gras bewachsen. Für Zoll und Einreise war ein Mann in einem Mönchsgewand zuständig, der in der Hütte saß. Dann fuhren sie in einem Ochsenkarren in Richtung Norden. Ein Amerikaner und sein Sohn, zwei Mönche, ein Lama, eine Nonne, zwei nepalesische Kinder und ein Affe. Der Straßenbelag bestand aus Kieselsteinen, daneben plätscherte ein Bergbach. Riesige Yaks beäugten sie zwischen Rhododendronbüschen hindurch, doch fanden keinerlei Interesse an ihnen. Ab und zu zockelte ein anderer Ochsenkarren an ihnen vorbei. Dean sah ein Baby, das in der Satteltasche eines Pferds festgebunden war, so wie Babys in Seattle auf einem Fahrradsitz. Während sie immer weiter nach Norden und immer höher kamen, merkte er, daß er Heimweh hatte – aber nicht nach Seattle. Seattle war hinter der zeitlichen und räumlichen Entfernung verschwunden. Er spürte, daß er - so groß war die menschliche Anpassungsfähigkeit Heimweh nach Katmandu hatte, und das nach nur zwei Übernachtungen. Denn Katmandu war zumindest eine Stadt. Das hier war ein anderer Planet. Erneut verlor Dean jegliches Zeitgefühl. Sie mochten eine oder auch zwei Stunden gefahren sein, als Chompa auf einen weißen Fleck am oberen Ende eines Gletschertals wies. »Daheim«, sagte er. Es dauerte eine weitere Stunde, bis sie dort angelangt waren. Als sie näher kamen, stellte Dean wieder seine Berechnungen an. Es sah wie eine Festung aus, ein weitläufiges Rechteck an den Abhängen eines Flußufers, dessen weiß verputzte Mauern vielleicht dreißig Meter hoch sein mochten und oben von zwanzig Fenstern in südlicher und zehn Fenstern in östlicher Richtung
durchbrochen waren. Darüber erhob sich ein flaches Dach aus schwarzen Balken – uralt und uneinnehmbar. Dean sprang aus dem Karren und blickte am Kloster vorbei in die Berge. Chompa folgte ihm und zeigte nach vorn. »Tibet«, sagte er und schritt auf die Brücke. Dean spürte, wie sich eine kleine Hand in die seine stahl, und sah auf Jesse herab. »Dad. Ich hab' Angst.« Ein verzagtes Stimmchen. Dean wußte, was er meinte. Sie waren inzwischen ganz schön weit weg von zu Hause und standen vor einer Art bhutanesischem Alcatraz, während solche Nabelschnüre wie Reisepässe, Kreditkarten und Telefon längst durchtrennt waren. »He, Mann, ich hab' auch Angst«, sagte er. »Aber was willst du dann Mum erzählen, hm? Sie wird bestimmt wissen wollen, wie die Geschichte ausgegangen ist.« »Ja.« Er spürte, wie die Anspannung von dem Jungen wich, und sie sahen gemeinsam hinüber auf den Abhang. Er schien sich zu bewegen, schimmerte weiß und war übersät von langen Bambusstangen, an deren Ende Stoffstücke flatterten, von denen manche neu waren und sich im Wind blähten, während andere zerfetzt herabhingen oder nur noch aus ein paar Fäden bestanden. Lama Norbu erklärte ihnen, was das bedeutete. »Gebetsfahnen«, sagte er. »Die Gebete werden in die Seide eingenäht und dem Wind überlassen.« »Aber warum...«, die Antwort fiel ihm ein, während er noch sprach. »Vergänglichkeit, stimmt's?« »Genau.« Und Dean war ein kleines bißchen stolz.
Hand in Hand überquerten Vater und Sohn die Brücke und folgten den anderen auf einem gepflasterten Weg, der sich den Hügel hinaufwand. Dean kniete sich hin und ließ die Hand über die Steine gleiten. Sie fühlten sich glatt an, poliert von den Füßen in Sandalen, die seit Jahrhunderten über sie hinwegschritten. Ohne Mörtel hatte man sie in kunstvoller Weise ausgelegt. Beim Näherkommen hörten sie, wie Hunderte von Stimmen das vertraute Mantra intonierten. Om mani padme hum. Dean schien es, als gingen sie auf einen riesigen Bienenstock zu. Je näher sie kamen, desto stärker vermischte sich das Geräusch mit dem Klatschen von Füßen in Sandalen, die auf den Pflastersteinen hin und her rannten. Ab und zu ertönte das aufgeregte Schreien jugendlicher Stimmen. Die Gruppe bog um eine Ecke und gelangte an ein Tor, das von zwei Statuen bewacht wurde: Eine stellte einen Krieger dar, der einen widerspenstigen, grollenden Tiger an der Leine hielt, die andere einen Mann im Mönchsgewand, der ein Yak an den Zügeln hielt. Jesse streckte dem Tiger die Zunge heraus, und flüsterte Dean zu: »Ein Yak ist eine tibetische Kuh.« »Eins zu null«, flüsterte Dean zurück. Am Tor blieben sie stehen. Lama Norbu stieß es auf und führte sie in einen Innenhof von etwa fünfundvierzig Quadratmetern Fläche. An drei Seiten war er von Kreuzgängen umgeben, von denen Türen abgingen. Eine Gruppe junger Mönche rannte auf der Jagd nach einem Ball über den Hof, und aus Fenstern sowie von den mit Türmen und Zinnen befestigten Wällen blickten Männer in rotbraunen Gewändern auf sie herab.
»Willkommen in unserem Zuhause«, sagte Lama Norbu, doch das Lächeln konnte seine Erschöpfung nicht verbergen. Auf Dean machte er den Eindruck, als hätte es ihn fast seine letzte Kraft gekostet. Er war um die halbe Welt gereist, und nun konnte er sich ausruhen. Vielleicht, so überlegte Dean, als ihm Chompas Worte aus der Kaffeestube in Katmandu wieder einfielen, würde es die letzte Ruhe werden. Die Kinder sahen dem Ballspiel zu, das keine Regeln zu haben schien. Der Ball wurde vom einen Ende des Hofes ins andere geworfen. Die Jungen rannten ihm mit wehenden Gewändern und klatschenden Sandalen hinterher. Der erste, der ihn erwischte, schoß ihn gegen die Wand. Der Ball prallte zurück, und die Jagd begann erneut. Jesse ließ Deans Hand los und ging langsam auf sie zu. Raju folgte einen Schritt hinter ihm, Gita kam als letzte. Dean mußte an den Tag denken, als er und Lisa Jesse in seiner neuen Schule besucht hatten. Sie hatten durch den Zaun geschaut und gesehen, wie ein großer Junge auf Jesse zukam und ihm einen Stoß versetzte. Lisa hatte schon einen Satz auf ihn zu gemacht, als Dean sie gerade in dem Moment zurückzog, als Jesse den anderen Jungen in den Bauch boxte und weiterging. Er war der Sohn seines Vaters, er wußte mit Rüpeln umzugehen — und nun war er hier, eine halbe Weltreise von zu Hause entfernt, und ging, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, auf fünfzig Fremde in Mönchsgewändern zu. Die Mönche sahen sie und hörten auf zu spielen. Einen Moment lang starrten sie die Neuankömmlinge an, dann rannten sie schmunzelnd und lachend auf sie zu und
umringten sie, so daß Dean den kleinen Blondschopf nicht mehr sehen konnte. »Manche von ihnen sind auch Reinkarnationen früherer Lamas«, sagte Lama Norbu. »Man nennt sie Tulkus.« Dean nickte. Dann sah er, wie die Gruppe sich auflöste und drei der älteren Jungen Jesse, Raju und Gita zu einer Treppe führten. »Wo bringen sie sie hin?« fragte Dean. »Zu ihren Zimmern. Folgen Sie mir. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« »Ja, aber was ist mit den...« Dean wollte wissen, wer wo schlafen sollte. »Zu ihren Zimmern«, hatte der alte Mann gesagt. Das hieß, daß er und Jesse getrennt wurden, doch der Lama lief nun schnell voraus, so daß er sich beeilen mußte, um ihm nachzukommen. Er blieb an einem Säulengang stehen, in dem sich drei Mönche über einen Tisch beugten. Etwas so Kunstvolles hatte Dean noch nie gesehen: Es war ein Mandala von einem Meter achtzig Durchmesser, ein riesiges, buntes Puzzle aus Sand, das bis zum letzten Körnchen symmetrisch war. Der älteste Mönch entnahm vorsichtig eine Prise roten Sand aus einem von mehreren Tiegeln, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, plazierte ihn in das Muster und glättete die Stelle. Dean pfiff durch die Zähne. »Sie haben am Tag meiner Abreise mit dem Mandala angefangen«, sagte Lama Norbu. »Nun ist es fast fertig. Es spiegelt die natürliche Vollkommenheit des Universums wider.« »Herrlich«, sagte Dean. »Aber warum aus Sand?« »Um die Vergänglichkeit von allem und jedem innerhalb des Universums aufzuzeigen. Wenn es fertig ist, wird es mit einer einfachen Bewegung zerstört
werden.« Er führte die Hand in einem Bogen über das Mandala. »So.« Dean hatte die Kamera erhoben und wieder sinken lassen. Vergänglichkeit. Wieder dieses Wort. Womöglich galt es als kleiner Affront, einen Schnappschuß von der Vergänglichkeit zu machen; die Vergänglichkeit festzuhalten könnte gewissermaßen ein Widerspruch sein. Vielleicht sollte das Mandala nur im Gedächtnis haftenbleiben. Lama Norbu lächelte ihn an, und er merkte, daß er eine Art Test bestanden hatte. Dann kam Sangay zu ihnen und verneigte sich vor Dean. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« Dean folgte ihm eine gepflasterte Treppe hinauf, die auf einen Wall führte. Sangay zeigte nach Norden, nach Tibet. Ein Eine-Million-Dollar-Blick, dachte Dean und überlegte beiläufig, wie hoch wohl sein Immobilienmakler dieses Anwesen veranschlagen würde. Sein Zimmer war spartanisch: nur ein Bett, ein Waschbecken und ein Fenster, das zum Hof hinausging. »Wenn es Ihnen recht ist«, sagte Sangay, »wird Jesse heute nacht bei Raju schlafen. Gita hat natürlich ein eigenes Zimmer, aber Raju braucht einen Freund. Er ist nervös.« »Der?« fragte Dean. »Der Junge aus dem Zirkus? Nervös?« »In der Stadt hat er keine Probleme«, sagte Sangay. »Aber hier ist es anders.« Dean warf seine Tasche aufs Bett, und sie gingen wieder in den Hof hinunter. Die Kinder spielten mit den
jungen Mönchen; Jesse winkte ihm zu. Schon ganz wie zu Hause, dachte Dean; als wäre er hier geboren. Sie gingen zu einem Säulengang hinüber, wo eine Gruppe Mönche Tiraden auf eine andere losließ. Dean blieb stehen, um zuzusehen. Einer schrie sein Gegenüber an und ballte die Faust. Ein zweiter sprang in die Luft und wirbelte mit den Füßen wie ein Ballettänzer. Die Angegriffenen hörten schweigend zu. Als ihre Gegner fertig waren, führten sie ihre eigenen Argumente aus, und dabei sprangen und stampften sie und klatschten in die Hände. Dean warf Sangay einen fragenden Blick zu. »Es ist eine philosophische Debatte«, erklärte er. »Ein Duell der Logik.« Für Dean sah es mehr nach Karate aus. Sangay zeigte auf die Streitenden und begann zu übersetzen. »Der da sagt: ›Ein Glas Wasser ist ein Zuhause für einen Fisch und ein Getränk für einen Menschen. Was davon stimmt?‹ Und der andere entgegnet: ›Relativ betrachtet stimmt beides. Das Wasser ist sowo hl ein Zuhause als auch ein Getränk. Es hat nie Unstimmigkeiten zwischen einem Menschen und einem Fisch gegeben. Aber letztlich ist beides falsch, da es weder Wasser noch ein Zuhause gibt.‹« Dean blinzelte. »Und wer gewinnt?« Auf diese Frage hin schüttete Sangay sich vor Lachen aus. »Niemand«, erwiderte er. Dean wollte gerade fragen, zu was das Ganze dann gut sei, als ein junger Mönch zwischen sie trat. »Aber es gibt einen Verlierer«, sagte er zu Dean. »Nämlich der erste, der sich selbst widerspricht.«
»Wie kann es einen Verlierer, aber keinen Gewinner geben?« fragte Dean. Eine berechtigte Frage, fand Dean, doch der Mönch schüttelte den Kopf und kicherte. »Sehr gut«, sagte er. »Sehr westlich. Sie müssen Christ sein.« »Ich wurde als Christ geboren.« »Aber das sind Sie immer noch«, beharrte der Mönch, »wenn Sie nach Dualitäten im Leben suchen: das Gute, das Schlechte, der Gewinner, der Verlierer. Auf die gleiche Weise glaubt ihr Christen an Gott, da euch das garantiert, daß ihr existiert. Ihr existiert, weil Gott euch erschaffen hat.« »Mag sein«, meinte Dean. »Auf jeden Fall bin ich mehr Christ, als ich Buddhist bin.« Der Mönch nickte. »Darf ich einen Vorschlag machen?« fragte er. »Fangen Sie an, umgekehrt zu denken. Gott existiert, weil Sie existieren. Sie haben Gott erschaffen.« Es war sowohl der Ton als auch der Inhalt: überheblich und neunmalklug, was Dean wütend machte. »Was wissen Sie denn schon?« sagte er. »Sie leben zurückgezogen auf Ihrer Festung und streiten über Fische. Was wissen Sie denn vom Leben?« Er wartete. Der junge Mönch lächelte nur. »Oder von der Leidenschaft?« Das Lächeln wurde breiter. »Oder von der Liebe?« Der Mönch zuckte die Achseln. »Ihr Buddhisten redet von Loslösung, davon, alle Leidenschaften aufzugeben -« »Nein, nein, Mister«, widersprach der Mönch. »Sie mißverstehen den Buddhismus. Sie können Ihre ganzen Leidenschaften behalten, wenn Sie Ihr Ego aufgeben.« »Was?« Das verblüffte Fragewort klang wie ein Quaken.
»Ich sagte, Sie können die heftigsten, tiefsten, unendlichsten Gefühle haben, wenn Sie dazu fähig sind, dieses Ich aufzugeben.« Der Mönch lächelte erneut und wandte sich ab. Dean schlug sich mit der linken Hand auf den Bizeps und schnalzte mit den Fingern. Da, sagte er zu sich selbst. Hier habe ich ein Handzeichen für dich, ein typisch amerikanisches Du-kannst- mich-mal-Zeichen. Er war kurz davor, den Mann zurückzurufen, als er Chompa aus einer Tür kommen und nach den Kindern rufen sah. Er hielt drei Katas in der Hand, reichte jedem der Kinder eine und führte sie dann weg. »Jetzt werden sie vom Abt empfangen«, sagte Sangay. Vielleicht war es der überhebliche Mönch, der es ausgelöst hatte, aber auf einmal regte sich in Dean das Konkurrenzdenken. Auf die Plätze, Jesse, sagte er zu sich selbst. Werde Sieger. Das Zimmer des Abtes war ein Sammelsurium von Gemälden, Stühlen, Tischen und überquellenden Bücherregalen. Auf einem Altar neben dem Fenster stand eine große, gerahmte Fotografie von Lama Dorje. Auf einem Tisch gegenüber der Tür lagen nebeneinander vier identische kegelförmige, rote Hüte. Sie waren alt und abgetragen und glichen einander aufs Haar. Der Abt saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne, Lama Norbu an seiner Seite. Die Tür ging auf, und Chompa führte Raju herein und schloß sie hinter ihm wieder. Der Junge blinzelte und sah sich mit offenem Mund im Zimmer um. »Komm herein, Raju«, sagte der Abt und lächelte ihn an. »Komm rein, Freund kleiner Affen.«
Schüchtern ging er auf den alten Mann zu, bot ihm seine Kata dar und erhielt sie über die Schulter gelegt zurück. »Jetzt«, sagte der Abt, »möchte ich dir eine Frage stellen.« Er wies auf die Hüte, und Raju sah sie an. »Ich möchte, daß du denjenigen aussuchst, der dir am besten gefällt.« Raju ging zum Tisch hinüber und drehte sich dann um. »Aber sie sind alle gleich«, sagte er. »Ja«, sagte der Abt. »Sie sind alle gleich, und doch ist jeder anders.« Raju wandte sich wieder den Hüten zu und berührte den Hut ganz rechts. Der Abt legte die Handflächen aneinander, verneigte sich und sagte: »Vielen Dank, Raju.« Einen Moment lang stand der Junge da und starrte die beiden unsicher an, doch dann wurde ihm klar, daß sie nichts weiter von ihm wollten. Er ging zur Tür, öffnete sie und blickte sich um. Lama Norbu wedelte mit den Händen, als scheuchte er Gänse, und Raju eilte hinaus und drückte sich an Gita vorbei, die gerade von Chompa hereingeführt wurde. »Willkommen, Gita«, sagte der Abt, »Freundin hungriger Tiger.« Er stellte ihr dieselbe Aufgabe. Gita schritt hinüber an den Tisch und wählte den Hut zur Rechten. Als nächster kam Jesse. »Willkommen, Jesse Langohr«, begrüßte ihn der Abt. »Ich habe schon viel von dir gehört.« Als Jesse hörte, was man von ihm wollte, zuckte er die Achseln, schaute eine Weile auf die Hüte und wählte dann denselben wie die anderen und setzte ihn sich auf.
Er reichte ihm bis über die Nase. Ohne zu sehen, drehte er sich um und sagte mit erstickter Stimme: »Der hier.« »Das ist Lama Dorjes Hut«, sagte der Abt und zitterte, als wäre der Hut aus Porzellan. »Also geh bitte vorsichtig mit ihm um.« Jesse schob ihn sich auf den Hinterkopf, zwinkerte ihnen zu, legte ihn wieder hin und rannte hinaus, um nach seinem Vater zu suchen. Im Zimmer herrschte nun Stille. Die beiden sahen einander an, schritten dann zum Fenster und blickten in den Hof hinab. Lama Norbu sah Dean beim Mandala stehen. Er hatte sein Notizbuch hervorgezogen und machte sich eine Skizze. Jesse rannte auf ihn zu und stürzte ihm in die Arme. Erneut durchzuckte Lama Norbu ein tiefer Schmerz. Er fuhr zusammen und wandte sich zum Abt. »Ich gla ube, mir bleibt nur noch sehr wenig Zeit, Euer Heiligkeit.« »Dann müssen wir den Alten fragen«, entschied der Abt. »Obwohl ich glaube, daß Ihr die Antwort bereits kennt. Und die endgültige Entscheidung könnt nur Ihr fällen.« In all den Jahren, die er nun schon im Kloster war, war Lama Norbu nie dem alten Mann begegnet. Manche jungen Mönche bezweifelten sogar, daß es ihn gab. Sein beengtes Zimmer hatte im Lauf der Zeit einen modrigen Geruch angenommen, und die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit ausgeble ichten Thangkas behängt. Der alte Mann selbst saß in scharlachroten Gewändern auf einem schwarzen Thron und trug einen metallenen Helm mit fünf Zacken. Zu seinen Füßen hockte ein Gehilfe mit einem Notizbuch, der seine Äußerungen niederschreiben und zu übersetzen versuchen sollte.
Lama Norbu und eine Gruppe älterer Mönche drängten sich vor ihm zusammen. Der Lama starrte ihn an und wartete. Das Gesicht des alten Mannes war zart und feminin, wies weder Falten noch Wimpern oder Augenbrauen auf. Sein Gesichtsausdruck war leer, als schliefe er. Man hatte ihm von den drei Kindern berichtet und ihm die Diagramme übergeben. Nun schloß er die Augen, holte tief Luft und trat in die Zwischenwelt, die Menschen und Götter trennte, ein. Lama Norbu spürte, wie ihm das Herz gegen den Brustkorb schlug. Die Klaustrophobie nahm ihm den Atem. Dann riß der Alte die Arme in die Höhe, seine Wirbelsäule krümmte sich unter heftigen Krämpfen, schließlich fiel er vornüber und begann mit einer hohen Stimme, die nicht zu einem Menschen zu gehören schien, zu sprechen. Der Gehilfe schrieb die Laute nieder, bis der Geist, der Besitz von dem alten Mann ergriffen hatte, wieder verschwunden war und der Alte zu Boden sank. Dean wurde langsam ungeduldig. Nun stand er schon fast eine Stunde auf dem Wall, und nichts geschah. Den Mönchen mochte es ja entsprechen, völlig unbeteiligt dort unten im Hof herumzuspazieren: Sie hatten ein Leben der Meditation hinter sich – oder vielmehr einige Leben, wenn man ihnen Glauben schenkte. Sie hatten eine lange Geduldsspanne. Dean wünschte nur, daß der alte Lama und der Abt zu einer Entscheidung kämen – so oder so. Die drei Kinder standen auf der Seite, Gita an der südlichen Mauer, Raju fünfundvierzig Meter gegenüber auf der anderen Seite des Hofes, wo es nun von Mönchen wimmelte. Jesse saß mit Chompa an der westlichen
Mauer und schaute manchmal zu Dean hinauf und winkte ihm. Alle drei waren beschäftigt: Jesse lernte, wie man mit einer Gebetsschnur umging, Gita ließ sich von AniLa das Haar flechten, und Raju spielte auf dem Gameboy. Plötzlich sahen sie alle gleichzeitig auf, als sich eine Tür öffnete und Lama Norbu auf den Hof geschritten kam, gefolgt von einer Gruppe älterer Lamas. Ein Mönch mit einer Peitsche in der Hand trat aus der Gruppe hervor. Er ging auf Lama Norbu zu, verneigte sich und nahm seinen Platz hinter ihm ein. Der alte Mann blieb mit dem Gesicht nach Osten in der Mitte des Hofes stehen. Dann begann er sich langsam umzudrehen. Dean hielt den Atem an. Er hatte nicht gewußt, wie er reagieren würde. Es schien Jahrhunderte her zu sein, seit er Lisa mit den Worten beruhigt hatte, daß es nicht Jesse sein würde, daß sie einen anderen Kandidaten gefunden hatten, daß er als Ausländer keine großen Chancen hätte und er, wenn er hätte Wetten abschließen sollen, sowieso dächte, daß ein alter tibetischer Lama lieber im Körper eines Jungen aus Katmandu wohnte als in dem eines Fans der Seattle Seahawks... Doch als Lama Norbu auf Raju zuging, durchzuckte Dean ein Stich der Enttäuschung. Vielleicht war es der Amerikaner in ihm, doch nun wußte er, daß er, egal was für Konsequenzen das hätte, sich gewünscht hatte, daß Jesse der Erwählte wäre. Seit er die Flugtickets von dem alten Mann angenommen hatte, hatte er daran gedacht, daß es sich für die Mönche nur lohnte, wenn Jesse der Erwählte wäre. Sonst wäre es eine schreckliche Vergeudung von Zeit und Geld gewesen. Aber noch während er das dachte, wurde ihm klar, daß er nach Scheinbegründungen suchte und einfach wollte, daß die Wahl auf Jesse fiele, da es unamerikanisch war, nur
teilzunehmen und noch unamerikanischer, Zweiter zu werden – Buddhismus hin oder her. Als sich der alte Mann vor Raju auf die Erde warf, schaute Dean zu seinem Sohn hinüber und sah die Enttäuschung auf seinem Gesicht. Dann warf er Gita einen Blick zu, die mit ihrem Zopf spielte und sich desinteressiert gab. »O mein Lehrer«, sagte Lama Norbu zu Raju. »Ich bin so glücklich, daß ich dich wiedergefunden habe.« Seine Stimme hallte im gesamten Innenhof wider. Der Mönch knallte bekräftigend mit der Peitsche. Das war's dann, dachte Dean. Zeit, ins Feuer zu pissen, wie die Cowboys sagten, und die Hunde zurückzurufen; die Jagd war vorbei. Er wollte sich schon umdrehen und zur Treppe gehen, als er den alten Mann auf Gita zuschreiten sah. Dean beobachtete ihn und vermutete, er werde ihr wohl sein Bedauern aussprechen, doch er warf sich erneut auf den Boden. Erneut sprach er dieselben Worte. Und wieder knallte der Mönch mit der Peitsche. Dean wurde langsam ärgerlich. Das begriff er nicht. Wie konnte es zwei geben? Wie konnte Lama Dorje seine Seele aufspalten wie eine Art spirituelle Amöbe? Nun war es eine doppelte Beleidigung für Jesse. Er rannte an der Brüstung entlang und die Treppe hinunter. Gerade rechtzeitig kam er im Hof an, um mitzuerleben, wie sich Lama Norbu erneut auf die Erde warf, diesmal vor Jesse, und durch die Menge der Mönche hindurch konnte er sehen, wie Jesse es ihm gleichtat und sich hinkniete. Der Junge berührte mit seiner Stirn die des alten Mannes, bevor die Stimme des Lamas ein drittes Mal durch den Hof hallte: »O mein Lehrer, ich bin so glücklich, daß ich dich endlich gefunden habe.«
Erneut knallte die Peitsche. Langsam und unter Schmerzen, aber lächelnd erhob sich Lama Norbu und winkte Raju und Gita herüber. Dean schloß sich dem Kreis der Mönche an, die sich um sie scharten, während der alte Mann die drei Kinder anstrahlte. »Ich bin wirklich glücklich«, sagte er. »Dreifach glücklich.« Und es war Jesse, der die Frage stellte; Jesse, der noch nie besonders schüchtern gewesen war. »Aber wie können wir alle Lama Dorje sein?« Ganz mein Junge, sagte Dean zu sich selbst. Wie denn? »Es ist sehr selten«, sagte der alte Mann, »doch es ist schon vorgekommen. Getrennte Manifestationen des Körpers, der Sprache und des Geistes. Nichts von den dreien existiert ohne die anderen. Wir alle sind gebunden, wie die Erde ans Universum. Aber vergeßt eines nicht...« Er sah vom einen zum anderen und dann zu Dean. »Das allerwichtigste überhaupt ist, Mitleid mit allen Lebewesen zu empfinden, freigiebig zu sein und vor allem das Wissen weiterzuverbreiten, wie es der Buddha tat. Nach seiner Erleuchtung brachte Buddha den Rest seines Lebens damit zu, anderen zu helfen. Und er hilft uns noch immer. Sogar in diesem Moment.« Das lange Sprechen hatte ihn erschöpft, und er lehnte sich gegen einen der Mönche, um sich zu stützen. Dann sah Jesse seinen Vater, rannte auf ihn zu und stürzte sich in seine Arme. »Dad, Dad«, sprudelte er begeistert los. »Wir sind alle Lama Dorje: Raju, Gita und ich.« »Ich weiß. Ein großer Tag, Jesse Lango hr.«
Es war das erste Mal, daß er den Spitznamen verwendete, den der alte Mann für seinen Sohn geprägt hatte. Der Dämon der Eifersucht war geschlagen. »Was von den dreien bist du?« fragte Dean. »Körper, Sprache oder Geist?« »Der Körper«, antwortete er. »Nein, der Geist.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Es ist auch egal.« Er wand sich aus Deans Umarmung und stellte sich aufrecht hin. »Ich muß jetzt gehen, Dad. Der Abt will uns sprechen.« Als er davonrannte, dachte Dean: Jetzt habe ich doch tatsächlich ein Drittel Tulku gekriegt. Der Hof leerte sich schnell, und Dean sah, wie Lama Norbu auf eine Tür zuschritt, stolperte, sich an die Brust griff und sich schwer gegen die Wand lehnte. Er rannte auf ihn zu und sah in sein ermattetes Gesicht. »Hey«, sagte er. »Geht's Ihnen gut?« »Ja, danke«, sagte er. »Nur etwas ergriffen, weiter nichts.« »Tja, es war für uns alle eine sehr gefühlsbeladene Zeit.« Der alte Mann holte tief Luft und rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin leider kein besonders gutes Beispiel für buddhistische Distanziertheit.« Das Lächeln wurde zu einem Kichern. »Kinder«, sagte er. »Wir sind alle Kinder.« Langsam nahm er seine Armbanduhr ab und holte aus den Falten seines Gewands die brüchige, hölzerne Schale hervor, die ihm der wilde Einsiedler gegeben hatte. »Die ist für Jesse«, sagte er und legte seine Uhr hinein. »Und die ist für Sie. Meine Aufgabe ist erledigt. Jetzt kann ich mich ausruhen.«
Er reichte Dean die Schale und kicherte wieder. »Ich kann sogar nach Tibet zurückgehen«, sagte er, stieß sich von der Wand ab und drohte Dean mit dem Finger. »Sie glauben immer noch nicht an Reinkarnation, was?« Dean zuckte die Achseln, und der alte Mann schlich keuchend davon und lachte dabei über einen unausgesprochenen Witz, den nur er kannte. Er stieg die drei Stufen zur Kapelle hinauf, wo sein Lachen in einen trockenen Husten überging. Dean ließ ihm einen Moment Zeit, damit er sich hinsetzen konnte, und sah dann hinein. In der Kapelle war es finster, und seine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch dann sah er, wie Lama Norbu es sich auf einem Kissen bequem machte, die Schuhe auszog und den Lotossitz einnahm. Der Raum war klein und bis auf eine Gebetsmühle an der Tür und einen Altar fast leer. Die Fenster waren dicht verschlossen, es war stickig und beängstigend eng. Der Lama sah ihn nicht, da er meditierte und die Augen geschlossen hielt. Hinter ihm saß ein alter Mönch an einer Nähmaschine. Außer dem Geräusch seines Fußes auf dem Trittbrett war nur noch das schwere Atmen des Lamas zu hören. Dean bekam das Gefühl, daß er störte, und ging leise hinaus.
9. Kapitel Während er mit dem Aufwachen rang, dachte Dean im ersten Moment, daß das Geräusch vom Brüllen Hunderter Ochsen stammen mußte, doch kein Ochse hätte so tief betrübt klingen können. Er blinzelte und wußte einen Moment lang nicht, wo er war. Dann stieg er aus dem Bett, tappte hinüber zum Fenster und öffnete die Läden. Zwei Männer standen auf dem Ziegeldach gegenüber. Sie trugen Mönchsgewänder und Turbane und bliesen auf zweieinhalb Meter langen Hörnern. Neben ihnen lagen die Glocken. Es war das schmerzlichste Geräusch, das Dean je gehört hatte. Er wandte sich um, zog sich rasch an und rannte hinaus, über die Treppe in den Hof hinab. Chompas Worte wiederholten sich unaufhörlich wie ein Mantra in seinem Kopf: »...nicht ganz gesund, aber sehr stark.« Und plötzlich wurde es ganz wichtig, den alten Mann noch einmal zu sehen, auch wenn es, dem Klang der Hörner nach zu urteilen, zu spät war. Die Tür zur Kapelle war geschlossen und knarrte, als er sie aufdrückte. Lama Norbu saß noch in derselben Haltung da, wie er ihn zuletzt gesehen hatte. Der alte Mönch nähte immer noch mit der alten Nähmaschine. Der Lama atmete nun noch schwerer. Dean ging hinein, nickte dem Mönch grüßend zu, setzte sich mit dem Rücken zur Wand dem Lama gegenüber und begann seine Krankenwache. Seit er ein Tulku war, hatte Jesse Angst und Heimweh abgestreift und begegnete auch den Jungen in ihren Gewändern nicht mehr eingeschüchtert. Alle schienen es
ihm recht machen zu wollen: Erwachsene Männer verneigten sich vor ihm, und er begann sich wichtig zu fühlen. Er fragte sich, ob das wohl eine Sünde sei. Die Vorbereitung hatte Stunden gedauert. Man hatte ihn gebadet und mit duftenden Ölen gesalbt. Man hatte ihn in rotbraune und gelbe Gewänder gesteckt und ihm einen gelben Hut, der aussah wie ein Papageienschnabel, aufgesetzt. Dann führten ihn die beiden Mönche in den Innenhof, wo Gita und Raju auf ihn warteten. Sie waren genau wie er angezogen: Sprache, Geist und Körper. Gita lächelte ihn an, und ihr geflochtener Zopf schaukelte hin und her. Raju sah feierlich drein. Seite an Seite führte man sie über den Hof in den Gebetsraum. Dort angekommen, sah Jesse sich um und betrachtete die hohen gewölbten Decken, die bunten Thangkas an den Wänden, den Altar und den goldenen Buddha. Mönche saßen im Lotossitz da und sahen sie an, während andere von Balkonen auf sie herabblickten. Alles war rotbraun, jedes Gesicht lächelte. Er fühlte sich wie Siddhartha, der den Palast verläßt, um die Welt zu sehen, und erwartete schon fast, mit Rosen- und Lotosblüten überschüttet zu werden. Dann brach die Kakophonie los. Trommeln begannen zu dröhnen, Trompeten schmetterten, Tamburins und Schlaginstrumente fingen an zu klappern und zu rasseln, und jeder Mönch, der vorüberging, warf sich zu Boden. Am anderen Ende des Raumes standen vor einem großen Thronsessel und einem Altar drei wundervoll geschnitzte, kleine hölzerne Throne mit Einlegearbeiten aus Blattgold nebeneinander.
Jesse wurde zum linken und Raju zum rechten geführt. Gita nahm ihren Platz in der Mitte ein und lächelte die beiden huldvoll an, als gehöre ihr das ganze Anwesen. Jesse lehnte sich zurück. Er fühlte sich wie der Präsident der Vereinigten Staaten. Als der erste Mönch auf ihn zukam und ihm ein Armband überreichte, war seine einzige Sorge, daß seine Schulkameraden ihm kein Wort davon glauben würden. Ein schepperndes Geräusch riß Dean mitten in einem Alptraum aus dem Schlaf. Benommen sah er einen Mönch in der Tür stehen. Es war der Mann, mit dem er die Auseinandersetzung gehabt hatte. Nun war er gegen die Gebetsmühle gestoßen. Er nickte ihm zu und kam herüber, um sich neben ihn zu setzen. Erst in diesem Moment nahm Dean die anderen wahr: Drei Männer standen um Lama Norbu herum. Einer berührte ihn am Handgelenk, und ein anderer fühlte an seiner Halsschlagader nach dem Puls. »Gestern«, flüsterte Dean, »hat er davon gesprochen, daß er wieder nach Tibet zurückgeht.« Der Mönch nickte. »Wie lange kann er so sitzen bleiben? « fragte Dean. »Seit gestern abend hat er sich nicht gerührt.« »Er hat alle seine Gefühle und Bindungen unter Kontrolle gebracht«, antwortete der Mönch, »deshalb kann er tagelang dasitzen wie ein Berg, heiter und unbeweglich, und meditieren wie der Ozean, tief und weit, so lange er möchte. Und wenn er sich von seinem Körper trennen möchte, kann er das tun, ganz nach seiner Wahl.« »Wollen Sie damit sagen, daß er sich aussuchen kann, wann er stirbt?« Dean konnte nicht glauben, was der
Mann da sagte, und fragte sich, ob er ihn vielleicht falsch verstanden hatte. »Ja, er hat die Wahl, weil er an nichts gebunden ist. Wenn man an etwas gebunden ist, nimmt die Bindung überhand, und man hat keine Wahl mehr.« Dean starrte weiter den Lama an. »Was geschieht, wenn er stirbt?« »Er wird Atmung und Herzschlag einstellen, doch er wird weiter meditieren, da der Geist nicht sterben kann. Wissen Sie, der Übergang vom Leben zum Tod ist, wie wenn man sich umzieht: Bevor Sie das Neue angezogen und nachdem Sie das Alte ausgezogen haben, müssen Sie mindestens eine Sekunde lang nackt sein. Das ist das Übergangsstadium, das man Bardo nennt.« »Aber warum hat er beschlossen, jetzt zu scheiden?« Der Mönch zuckte erneut die Achseln. »Warum nicht?« sagte er. »Vielleicht ist das die größte Lehre, denn nur die Trennung läßt einen das Zusammensein schätzen. Außerdem entspricht es dem Vorbild des Buddha. Er schied dahin, um uns die Vergänglichkeit zu lehren.« Dean begriff es nicht. Vielleicht würde er es nie verstehen, aber er bemühte sich immer noch. »Macht Sie das nicht traurig?« fragte er. »Er wird mir fehlen«, gab der Mönch zur Antwort, »aber ich bin nicht traurig, da ich versuche, mir Leben und Tod wie einen Traum vorzustellen, und dann versuche ich, während des Erwachens zu erwachen.« Er lächelte. »Wissen Sie, Lama Norbu hat immer gesagt, wenn wir einschlafen, sollen wir uns vorstellen, wir würden aufwachen, und dann, wenn wir am Morgen aufwachen, sollen wir uns vorstellen, wir würden einschlafen und zu träumen beginnen. Außerdem weiß
ich, daß er zurückkommen wird. Nicht wegen des Karmas und auch nicht wegen der Macht irgendwelcher anderen Umstände, sondern aufgrund der Macht seines eigenen Mitleids, um als Bodhisattva anderen Lebewesen zu helfen.« Dean wünschte, er wäre auch davon überze ugt. Er wünschte, er könnte glauben. Die Zeremonie im Gebetsraum näherte sich ihrem Ende. Der Abt nahm den Kindern die Hüte vom Kopf, träufelte langsam einen Tropfen Wasser auf jeden Scheitel und schnitt jedem eine Haarlocke ab, dann trat er zurück und verneigte sich tief. Die Mönche begannen an den dreien vorbeizudefilieren, und jeder von ihnen überreichte Perlen, Edelsteine oder Schmuckstücke. Jesse sah zu, wie sich die Schätze vor ihm auftürmten und nahm die Huldigungen mit einem Kopfnicken und einem Lächeln entgegen. Als er sich umwandte, sah er, wie ein Mönch hereinkam, auf den Abt zuging und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Der Abt nickte, hielt die Hand in die Höhe und stimmte einen Sprechgesang an. Mit leisem Murmeln fielen die anderen mit ein. Jesse schaute hinüber zu Gita und sah, daß sie weinte und daß Raju sich die Augen mit den Fäusten rieb. Instinktiv wußte er, daß Lama Norbu gestorben war. Er blickte zum Altar hinauf, und einen Moment lang dachte er, er sähe den alten Mann, doch dann schloß er die Augen und hörte seine Stimme, als säße er neben ihnen. »Jesse, Raju, Gita«, sprach er. »Sie singen das HerzSutra. Es ist ein herrliches Gebet. Lernt es. Bewahrt es für immer in euren Herzen. Es wird euch helfen.«
Die Kinder lauschten dem Gesang der Mönche mit geschlossenen Augen und fühlten, daß Lama Norbu, im Stadium des Bardo, mit ihnen sang: »O Shariputra, Körper ist Leerheit, Leerheit ist Körper. Was Körper ist, ist Leerheit, Was Leerheit ist, ist Körper.« Jesse bewegte lautlos die Lippen, während er den Worten des alten Mannes lauschte. Die Augen hielt er fest geschlossen, um die Tränen zurückzuhalten. »O Shariputra, alle, die existieren, Sind Ausdruck der Leerheit; Weder entstanden noch aufgehoben, weder unrein noch rein, Weder unvollkommen noch vollkommen. Also gibt es in der Leerheit keinen Körper, Keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Geistesregung, kein Bewußtsein. Kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper, kein Denken. Keine Farbe, keinen Ton, keinen Geruch, keinen Geschmack, keine Tastempfindung, keine Denkinhalte...« Und eine halbe Weltreise entfernt sprach Kempo Tenzin im Dharma-Zentrum in Seattle ins Telefon, und Lisa hörte zu. »Kein Reich des Sehens und kein Reich des Bewußtseins.
Keine Unwissenheit und keine Vernichtung der Unwissenheit, Kein Alter und keinen Tod. Kein Leiden und keine Entstehung und keine Vernichtung des Leidens. Keinen Weg, kein Wissen und keine Erlangung. Keine Erlangung, und deshalb leben die Bodhisattvas In vollkommenem Einklang ohne Hemmnisse. Des Geistes, ohne Hemmnisse und daher ohne Angst. Weit jenseits der irregeleiteten Gedanken, Das ist das Nirwana.« Jesse schlug die Augen auf. Nun herrschte Stille; die Mönche schwiegen und beteten, und vor ihm kniete sein Vater. »Dad«, flüsterte er, »Lama Norbu hat gerade gesagt: ›Kein Auge, kein Ohr, keine Nase...‹« Er zeigte auf sich selbst: »Kein Jesse, kein Lama...« Dann zeigte er auf seinen Vater: »Kein Du, kein Tod, keine Angst.« Und er lächelte, obwohl er nun die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und sie auf sein Gewand tropften. Dean wischte sie weg und half ihm von seinem Thron. Gemeinsam verließen sie den Gebetsraum. Nach ihnen kamen Gita und Ani-La, dann Raju und Sangay, und als letzter Chompa. Langsam überquerten sie den Hof und näherten sich der Kapelle. Man hatte die Fensterläden geöffnet. Langsam schritten sie die Stufen empor und sahen hinein. Lama Norbu saß noch genau so da, wie er seit einer Nacht und einem Morgen saß, nur eine Kata bedeckte sein Gesicht.
Nun, alter Mann, dachte Dean, die Tasse ist zerbrochen, aber wo ist der Tee? Jesse verneigte sich zum Abschied, nahm Dean bei der Hand, wandte sich um und führte ihn zu dem Säulengang, wo der Abt und eine Gruppe von Mönchen neben dem Mandala standen. Es war nun fertig. Der Abt wartete, bis die Kinder und ihre Begleiter einen letzten Blick darauf geworfen hatten, und dann, mit einer einzigen Handbewegung, verstreute er den Sand im Wind.
Epilog Auf dem Flughafen gab es eine Überraschung: Neben Lisa stand eine rotbraune Gestalt in der Ankunftshalle und lächelte verschmitzt. Die Begrüßung war ein Wirrwarr von Umarmungen und Küssen gewesen, und Lisa hatte verstohlen ein paar Tränen beiseite gewischt. Sie erzählte, daß sie und Kempo Tenzin sich in den vergangenen zwei Wochen angefreundet hätten und er ihr beigestanden hatte, wenn sie sich Sorgen machte oder einsam fühlte, aber Dean hörte das alles gar nicht mehr, da sie ihm unter all den Umarmungen und Küssen anvertraut hatte, daß sie schwanger war. Sie hatte es ausgerechnet: Es mußte in der Nacht nach Lama Norbus Besuch passiert sein, eine Art Segen, ein Beispiel von Ursache und Wirkung. Es war eine Fortsetzung. Nun saßen sie und Jesse auf einem Pier am Jachthafen und hielten Ausschau nach Dean. Auf Lisas Schoß lag ein Holzkästchen. Sie probierte, es zu öffnen, versuchte es erst auf die eine, dann auf die andere Weise und gab schließlich auf. Es hatte ein verborgenes Scharnier. Jesse machte es auf, und zwei Schubladen kamen zum Vorschein. Er zog die obere heraus und zog einen weißen Schal hervor. »Das ist Lama Norbus Kata«, sagte er. Dann zog er die untere heraus. Sie war mit Asche gefüllt. »Und das ist Lama Norbu.« Lisa nickte. Am Abend zuvor hatte sie in ihrer praktischen Art gefragt, ob denn die Zollvorschriften der Vereinigten Staaten die Einfuhr der Überreste eines tibetischen Lamas gestatteten. Aber Jesse hatte ihr
erklärt, daß es kein Problem wäre, weil der Typ vom Zoll Buddhist sei. Dann sahen sie Dean in der Mary Jane um die Boje herum kommen, dem kleinen Sechs-Meter-Bötchen, das sie eventuell verkaufen mußten, wenn sich die Lage nicht besserte. Doch der Gedanke daran schien Dean nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Probleme waren die gleichen geblieben, doch seine Einstellung hatte sich geändert. Dean würde klarkommen. Als das kleine Boot am Pier anlegte, schlug Jesse ein Rad. »Mom, Dad, ich bin Raju«, sagte er. »Und was ist mit Gita?« fragte Lisa. Jesse stellte sich in Positur wie eine Ballerina und ahmte die Stimme des Mädchens nach. »Oh, Gita, die geheime Gesellschaft des Kobrakönigs.« Dann sprang er kichernd an Bord und half Lisa in den Bug. Dean stieß das Boot vom Pier ab, und sie tuckerten hinaus in die Bucht. Es war ein trüber Tag mit heftigem Seegang, so daß sie zwanzig Minuten brauchten, bis sie weit genug draußen waren. Wenn sie sich umdrehten, hatten sie einen großartigen Blick auf die Skyline von Seattle und die Berge. Dean stellte den Motor ab und holte die alte Schale unter seinem Sitz hervor. Dann sah er Jesse dabei zu, wie er sie mit der Asche füllte, und schaute auf die Uhr des alten Mannes. Es war schon fast Zeit. In Nepal würde Gita bereitstehen, um die Asche unter dem großen Baum zu verstreuen, und in Bhutan würde Raju, der dort geblieben war, um sich den jungen Mönchen anzuschließen, die Überreste in eine Kata füllen, die an mehrere Ballons gebunden war, um Lama Norbu in den Himmel zu schicken.
Nach einem kurzen Moment sagte Jesse instinktiv »Jetzt ist es soweit«, ohne daß er nach der Uhrzeit hätte fragen müssen. Er hielt die Schale in beiden Händen, beugte sich seitlich hinaus und setzte sie sanft auf das Wasser. Dean sah seinen Sohn an. Er war sicher, daß er auf die eine oder andere Art Lama Norbus Wunsch nachkommen und das Dharma im Westen verbreiten würde. Wenn ihm der Buddhismus auch nicht direkt im Blut lag, so wohnte er doch in seiner Seele. Er hatte eine Verantwortung den anderen gegenüber, denn was waren Geist und Sprache ohne Körper oder Körper und Sprache ohne Geist oder Geist und Körper ohne Sprache? Er mußte den Jungen noch vieles fragen, so vieles war noch unbeantwortet. Er würde ihn fragen, wenn er erwachsen war. Als er der im Wasser auf- und abschaukelnden Schale nachschaute, schien sie in seiner Einbildung gegen die Strömung zu schwimmen. Und Jesse lächelte.
Über den Buddhismus Der Hintergrund zu »Little Buddha« ist der Glaube an die Wiedergeburt, der die Grundlage des Buddhismus ist. Im Gegensatz zu jüngeren Religionen wie Christentum und Islam glauben die Buddhisten nicht an einen ursprüngliche n Schöpfer. Der Buddhismus versteht sich auch nicht als Religion im üblichen Sinne und verkündigt daher auch kein Evangelium. Statt dessen beruft er sich auf ein unaufhörliches, in Spiralen verlaufendes Seinskontinuum, innerhalb dessen gute und böse Handlungen — das Karma — den nach oben oder unten führenden Weg individueller Wiedergeburten beeinflussen, sowie auf die wechselseitige Abhängigkeit aller empfindungsfähigen Wesen. Der Buddhismus läßt sich eher als Weltanschauung beschreiben – als Suche nach spiritueller Wahrheit. Seine Anhänger sollen die Lehren lieber erfahren als sie einfach nur zu lernen, und anstelle eines Glaubenssystems steht das Streben nach Selbsterkenntnis im Vordergrund. Der Buddhismus besitzt eine undogmatische Tradition, die sich nic ht auf ein Buch oder Glaubensartikel gründet. Basis ist die Hochachtung davor, wie der Buddha seine eigene Suche nach spiritueller Wahrheit durchführte, aus der sich eine Reihe spiritueller Gebräuche, angefangen von moralischen Grundsätzen bis hin zu Meditationspraktiken, entwickelt haben. Der Buddha lebte vor ungefähr 2500 Jahren. Ebenso wie Hindus streben Buddhisten nach der Überwindung des Kreislaufs der Wiedergeburt, doch während das hinduistische Ideal in der Vereinigung mit dem Schöpfer besteht, wird im Buddhismus das
Erreichen des Nirwana angestrebt, des Zustandes vollkommenen und endgültigen Friedens, der mit der Erleuchtung eintritt. Die Erleuchtung läßt sich erlangen, indem man die vier edlen Wahrheiten meistert: Es gibt das Leiden. Das Leiden hat eine erkennbare Ursache – die Gier. Die Bezwingung der Gier kann das Leiden beenden. Die Gier läßt sich bezwingen, indem man dem Achtfachen Weg folgt. Zum Achtfachen Weg gehören: Rechte Ansicht Rechter Entschluß Rechte Rede Rechtes Verhalten Rechtes Leben Rechte Anstrengung Rechte Bewußtheit Rechte Meditation. Dies läßt sich in die Grundbestandteile Erkenntnis, Ethik und Versenkung unterteilen. Der Achtfache Weg kennt keine Hierarchie; sämtliche Elemente müssen gemeinsam entwickelt werden. Der Weg, den der Buddha entdeckt und den Mittelweg genannt hat, nimmt die Welt weder an, noch lehnt er sie ab, sondern er strebt nach Loslösung. Hat man erst einmal die Illusion eines Selbst abgestreift, kann die Erleuchtung erlangt werden. Durch Übersetzungen und Vorbilder verbreitet, wurde der Buddhismus zur wichtigsten spirituellen Größe für die vielen verschiedenen Kulturen des Fernen Ostens. Er
verbreitete sich über die Länder, die wir heute als Indien, Nepal, Tibet, Sri Lanka, Thailand, Vietnam, Korea, China, Japan, Kambodscha und die Mongolei kennen. Mit der Ausdehnung des Buddhismus ging die Entwicklung verschiedener Lehren und Praktiken einher, wie zum Beispiel der Tantrische und der ZenBuddhismus. Jedoch überdeckt die Vielfalt der unterschiedliche n Ausprägungen des Buddhismus nicht die Einfachheit seiner Hauptgedanken, die für sämtliche Anhänger des Buddhismus weltweit die gleichen sind. Die Vorstellung von der Reinkarnation steht im Mittelpunkt aller Formen des Buddhismus. Allerdings ist die im Film Little Buddha dargestellte Art der Wiedergeburt nicht allgemeingültig in der buddhistischen Welt. Die Reinkarnation eines bestimmten Lamas in einer (oder mehreren) bestimmten anderen Person, die dann gefunden werden muß – also die Vorstellung von Rinpoches und Tulkus –, ist eine Eigenheit des tibetischen Buddhismus. Die buddhistische Kultur und die Rituale, die in Little Buddha gezeigt werden, haben ihren Ursprung ebenfalls im tibetischen Buddhismus.
Das Leben Prinz Siddharthas — historischer Hintergrund Das Geburtsdatum des Mannes, der als der Buddha bekannt werden sollte, ist nicht bekannt, doch schätzt man, daß es ungefähr 2500 Jahre zurückliegt. Allgemein herrscht Einigkeit darüber, daß er in Lumbini in der Region Terai geboren wurde, die auf dem heutigen Staatsgebiet des Königreiches Nepal liegt. Er erhielt den Namen Siddhartha und nahm von sich aus den Stammesnamen Gautama an. Er war der Sohn Suddhodanas, eines Königs oder Häuptlings der Sakyas, der Terai von seiner Hauptstadt Kapilavastu aus regierte. Seine Mutter Maya starb eine Woche nach seiner Geburt, woraufhin ihre Schwester Prajapati ihren Platz einnahm. Man sagt, daß die Geburt dieses großen Mannes durch einen prophetischen Traum angekündigt wurde, in dem er in Form eines Elefanten in den Schoß seiner Mutter einging. Sie war zehn Monate lang mit ihm schwanger und gebar ihn stehend. Sowie er auf die Welt gekommen war, stand er aufrecht und konnte gehen. Kurz nach der Geburt von Prinz Siddhartha kam ein Weiser und Astrologe namens Asita nach Kapilavastu und prophezeite, daß Siddhartha später einmal ein erleuchteter Buddha und Lehrer der Menschheit werden würde. Alles andere als erfreut über dieses Orakel beschloß Suddhodana, seinen Sohn von der Welt fernzuhalten. Je älter er wurde, desto schwie riger gestaltete es sich, ihn ständig zu beaufsichtigen. Daher wurden drei prächtige Paläste für ihn gebaut, einer für die heiße Saison, einer für die kühle und einer für die Regenzeit. Siddhartha bewegte sich nur zwischen diesen Palästen und wuchs zu einem freundlichen und hübschen
Jüngling heran, der sich im Sport hervortat. Mit sechzehn errang er die Hand seiner schönen Cousine Yasodhara, indem er die zahlreichen konkurrierenden Bewerber in einer Reihe von Wettkämpfen schlug. Yasodhara sollte ihm einen Sohn gebären – Rahula. Trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen drang Kunde von der Außenwelt an Siddharthas Ohr und machte ihn neugierig und unruhig. Man arrangierte Ausflüge in die »andere« Welt, auf denen er – stets begleitet von seinem Burschen Channa – Alter, Krankheit und Tod begegnete. Dies beeindruckte ihn nachhaltig, und so faßte er den unumstößlichen Entschluß, das Wesen des Leidens zu erfassen und eine Lösung dafür zu finden. Auf einer dieser Ausfahrten traf Siddhartha auf einen in Lumpen gekleideten, besitzlosen Sadhu (einen umherziehenden Heiligen). Diese Begegnung entfachte in seinem Innersten einen heftigen Konflikt. Er wußte, daß er seinen Palast verlassen müßte, doch das würde bedeuten, sämtliche materiellen Annehmlichkeiten aufzugeben und – was weit wichtiger war – seine Frau zu verlassen und sich seinem Vater gegenüber aus der Pflicht zu stehlen. Der Konflikt führte zur unausweichlichen Entscheidung, denn, wie die Legende besagt, in der Nacht, als Yasodhara Rahula gebar, weckte Siddhartha Channa, ließ sich sein Pferd Kantaka satteln, und die beiden flohen mitten in tiefster Nacht aus dem Palast. Prinz Siddhartha war neunundzwanzig Jahre alt. Sie ritten zum Anoma, einem Fluß an der Grenze des SakyaReiches. Siddhartha hackte sich das Haar ab und tauschte seine edlen Gewänder gegen die eines umherziehenden Heiligen und wies Channa an, nach Kapilavastu
zurückzukehren. So begann Siddharthas große spirituelle Suche. Siddhartha suchte die hervorragendsten Lehrer seiner Zeit auf und probierte eifrig, die erhabenen spirituellen Zustände zu erreichen, doch er blieb unbefriedigt. Dann zog er in den Dschungel bei Uruvela und unterwarf sich, im Glauben, daß sich das Leiden besiegen ließe, wenn man den Körper kasteite und extremen Formen des Leidens unterwarf, der zermürbendsten Form der Askese. Dort ließ er sich von der Sonne versengen, fror des Nachts und hungerte. Fünf Asketen hatten sich zu ihm gesellt, mit denen er fünf Jahre zusammenblieb. Schließlich erkannte Siddhartha, daß Selbstverleugnung ihn der Wahrheit nicht näher brachte als Sichgehenlassen: So weiterzumachen hieße, daß er stürbe, bevor er die Lösung fand, die er suchte. Als er ein wenig Nahrung zu sich nahm, sagten sich die Asketen angeekelt von ihm los. Siddhartha hatte auf alles verzichtet, und das einzige, was er nun noch versuchen konnte, war, einen Mittelweg auszuprobieren. In einem Ort in Indien, der heute unter dem Namen Bodhgaya bekannt ist, setzte sich Siddhartha meditierend unter einen Bodhi- Baum (der Spezies Ficus religiosa). Dort, so will es die Legende, mühte sich Mara, der Versucher, dessen Aufgabe es war, Irrglauben und Gier aufrechtzuerhalten, Siddhartha zu vernichten. Als es Maras fünf schönen Töchtern nicht gelang, ihn zu verführen, ließ er seine dämonischen Horden Siddhartha angreifen. Doch nicht einmal diese grauenerregende Armee konnte Siddhartha von seinem Versuch abbringen, nach Erleuchtung zu suchen. Weniger mythologische Fassungen dieser Geschichte überliefern uns, daß Siddhartha nach neunundvierzig
Tagen in einen Zustand meditativer Versenkung eintrat, der es ihm ermöglichte, so viel Wissen und Erkenntnis zu erlangen, daß er sich an zahlreiche frühere Existenzen erinnern konnte, herausfand, wie es sich mit dem Karma verhält und wie man die Mißstände des sinnlichen Begehrens und des Verlangens nach Werden sowie das Unwissen abtötet. Siddhartha hatte die Illusion des ›Ich‹ überwunden und das wahre Wesen aller Dinge erfaßt. Er war nun nicht mehr Siddhartha Gautama, sondern war zum Erwachten – zum Buddha – geworden. Man nimmt an, daß der Buddha unter dem BodhiBaum blieb, bis der große Gott Brahma Sahampati ihn dazu aufforderte, anderen seine Lehren nahezubringen. Er begann mit den fünf Asketen, die sich zuvor von ihm abgewandt hatten. Seine spirituelle Ausstrahlung nahm sie wieder für ihn ein, und so lauschten sie seinen Lehren von den vier edlen Wahrheiten und dem Mittelweg. Einer der Asketen, Kordanna, begriff auf der Stelle und wurde zum ersten buddhistischen Mönch geweiht. Damit hatte der Buddha begonnen, »das Rad des Dharma in Bewegung zu versetzen« und die Gemeinschaft der buddhistischen Mönche ins Leben zu rufen. Es wird vermutet, daß der Buddha etwa fünfunddreißig Jahre alt war, als er erleuchtet wurde. Fünfundvierzig Jahre lang zog er lehrend durch Mittel- und Nordindien. Er soll nach Kapilavastu zurückgekehrt sein, um seine Familie auf den rechten Weg zu bringen. Mit achtzig Jahren starb er in Kasia, etwa hundert Kilometer südöstlich von Lumbini.
Glossar der verwendeten Namen, Titel und Begriffe Buddha:
Dharma:
Karma: Kata: Lama: Mandala:
Nirwana: Rinpoche: Samsara: Stupa: Sutra: Thangka:
Allgemeine Bezeichnung für eine Reihe buddhistischer Lehrer. Nicht zu verwechseln mit ›der Buddha‹, was sich ausschließlich auf Siddhartha Gautama bezieht. Mehrere Bedeutungen. Ganz allgemein heißt Dharma ›Kosmisches Weltgesetz‹. Im engeren Sinne bezieht es sich auf die Pflichten, die man seiner Familie, der Religion und der Gemeinschaft gegenüber hat. Angesammelte Verdienste, die die nächste Wiedergeburt bestimmen. Weißer Schal, der Lamas zur Begrüßung überreicht wird. Bedeutender religiöser Lehrer, der nicht unbedingt Mönch sein muß. Mystisches Diagramm und ritueller Meditationsgegenstand. Im Tantrischen Buddhismus ist es ein Modell des Kosmos sowie des ganzen Menschen. Erleuchtung und Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten. ›Schatz‹. Ehrentitel für hohe Lamas. Wird an den Namen angehängt. Ewiger Kreislauf der Existenzen. Großes buddhistisches Monument, das meist Reliquien beherbergt. Grundlegende buddhistische Lehrtexte. Buddhistische Bildrolle.
Tulku:
Reinkarnation einer hochrangigen Person.