Frank Moorfield
Lügner, Lords und Lumpenpack Eine Schar hungriger Möwen kreiste mit lautem Geschrei über der silbrig s...
48 downloads
462 Views
567KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Frank Moorfield
Lügner, Lords und Lumpenpack Eine Schar hungriger Möwen kreiste mit lautem Geschrei über der silbrig schimmernden Wasserfläche der Themse. Die Aprilsonne des Jahres 1598 meinte es gut mit den Armen und Reichen von London. McNeil, der seit mehr als einer Stunde scheinbar dösend auf einem lecken Weinfaß hockte, interessierte sich jedoch nicht im geringsten für den aufkeimenden Frühling. Dafür waren seine kleinen, geröteten Augen unentwegt auf die am Ufer vertäute Schebecke gerichtet. Seine lauernden Blicke verfolgten nahezu jede Bewegung des Seewolfs und seiner Männer...
Die Hauptpersonen des Romans: Robert Devereux - der Graf von Essex, ein Höfling, der seine Stellung eifersüchtig verteidigt und sich als hinterhältiger Intrigant erweist. Elisabeth I. - die englische Königin. Sie kennt ihre „Pappenheimer" und versteht es, richtig mit ihnen umzugehen. Bill McNeil - ein kleiner Spitzel, der im Intrigen-Karussell des Grafen für die Seewölfe zur Schlüsselfigur wird. Jenny-Rose - eine resolute „Lady" aus dem Hafenmilieu. Sie wird als Lockvogel mißbraucht. Philip Hasard Killigrew - der Seewolf ist das Hauptziel der Intrigen des Grafen und gerät in eine schwierige Situation.
1. Normalerweise war Bill McNeil die Ruhe in Person, und an der Kimm mußten schon ziemlich dunkle Wolken heraufziehen, wenn er nervös werden sollte. Die rothaarige Jenny-Rose schaffte es jedoch spielend, ihm auf den Geist zu gehen. Ja, sie ging regelrecht auf seinem Gemüt spazieren - exakt dreißig Schritte hin und dreißig Schritte zurück. Und das seit geraumer Zeit. Bereits zum dritten Mal blieb sie vor McNeil stehen und versuchte ihr Glück mit einem verführerischen Augenzwinkern. „Nun, mein Süßer, bist du wirklich so müde, oder tust du nur so?" Sie beugte sich ein Stück zu ihm hinunter und fügte wispernd hinzu: „Dein Mittagsschläfchen wirst du hinterher doppelt genießen, das verspreche ich dir." Offenbar hatte die nicht mehr ganz taufrische Lady gewaltigen Durst auf Dünnbier und Brandy, aber in der mittäglichen „Saure-Gurken-Zeit"
noch keinen spendablen Freier gefunden. Auch McNeil ließ sich nicht locken. „Laß mich in Ruhe!" zischte er mit gedämpfter Stimme. „Mit mir kannst du nicht ins Geschäft kommen. Zumindest nicht heute. Verschwinde endlich." Solche unfreundlichen Worte schüchterten Jenny-Rose jedoch keineswegs ein. Sie baute sich mit wogendem Busen vor McNeil auf und stemmte die Hände auf die breiten Hüften. Ihre Augen signalisierten Verteidigungsbereitschaft, während das handgearbeitete blaue Veilchen über der linken Augenbraue erkennen ließ, daß sie Schwierigkeiten nicht aus dem Weg ging. „Hast du was dagegen, wenn eine Lady in der ersten Frühlings sonne am Themseufer spazierengeht, du Schlafmütze?" Ihre Stimme klang jetzt herausfordernd. McNeil vollführte eine unwirsche Geste. „Du gehst nicht spazieren, sondern suchst einen Freier", sagte er sach-
5 lich. „Und was die ,Lady' betrifft darüber kann ich nur lachen. Versuch's doch mal woanders und hör endlich auf, mir ständig vor der Nase herumzutanzen." Jenny-Rose bedachte den schmächtigen Mann mit einem giftigen Blick. „Was kann ich dafür, daß du das Zipperlein hast, Opa?" erwiderte sie. „Wenn du den Anblick einer Lady nicht ertragen kannst, solltest du in dein Wasserfaß kriechen und die Holzwürmer zählen. Ich kann dann wenigstens in Ruhe auf den Landgang der Jungs dort drüben warten. Wie man hört, sind die Burschen gut betucht, außerdem sehen sie verdammt gut aus. Das sind nicht so duftende Knoblauchfresser, wie du einer bist..." Jetzt reichte es McNeil. Er schoß in die Höhe, schniefte laut und ballte die Hände zu Fäusten. Schließlich hatte man ihm für seine Beobachtungen eine gute Bezahlung in Aussicht gestellt. Er dachte nicht daran, sich das Geschäft von einer Hafenhure wie Jenny-Rose verderben zu lassen. „Zum letztenmal", drohte er. „Verschwinde jetzt, oder ich halte dich kopfüber in die Themse, damit du mal den Unterschied zwischen Wasser und Brandy kennenlernst." Jenny-Rose atmete tief ein, und selbst dem erbosten McNeil entging nicht, daß ihr mächtiger Busen dadurch an Umfang zunahm. „Solltest du Läuseknacker wagen, mit deinen Spinnenfingern auch nur den Saum meines Kleides zu berühren", versprach sie, „schreie ich wie eine tugendhafte Jungfrau um Hilfe. Ich bin sicher, daß es die Männer auf
dem Schiff als eine Ehre betrachten, eine Lady vor einem üblen Sittenstrolch zu beschützen. Wollen wir das mal ausprobieren, Kleiner?" McNeil kochte vor Wut. Seine geröteten Schweinsäuglein glänzten tükkisch. „So was wie dich sollte man als Hexe verbrennen", schnaubte er. „Und wenn es sein muß, finde ich jederzeit ein paar Freunde, die bezeugen werden, daß du auf einem Besen über den Tower geritten bist. Dir wird's ganz schön warm werden, wenn erst das Feuerchen unter deinem drallen Hintern knistert." Das wiederum war zuviel für Jenny-Rose. „Was sagst du da? Ich - eine Hexe? Das wirst du bereuen, Freundchen. Kerlen wie dir muß man immer gleich was auf die Nase geben, das sagte schon meine selige Großmutter." Die füllige Jenny-Rose setzte ihre ererbte Lebensphilosophie sofort in die Tat um. Ihre rechte Hand ballte sich zu einer beachtlichen Faust, schnellte vor und fegte McNeil neben sein Wasserfaß. Das brüllende Gelächter, das vom Deck der ranken Dreimast-Schebecke herüberdröhnte, ließ erkennen, daß man dort längst auf das sich anbahnende Schauspiel aufmerksam geworden war. Gleichzeitig aktivierte es die Kampfeslust an beiden Fronten. Während Jenny-Rose den Seewölfen mit siegerhaftem Lächeln zuwinkte, schnellte McNeil flink auf die Beine. Jetzt wurde sehr deutlich, daß er einen ganzen Kopf kleiner war als
6 Jenny-Rose. Diese Feststellung konnte seine unbändige Wut jedoch nicht bremsen - im Gegenteil. „Jetzt fliegst du in die Themse, du rothaarige Hexe", zischte er, „aber ohne Besen und Zauberspruch." Er schnellte vor, um die stämmige Lady zu packen. Das brachte jedoch ungeahnte Schwierigkeiten mit sich. Zu spät fiel ihm ein, daß so ein Frauenzimmer in bezug auf Männerhände zahlreiche Tabu-Zonen hatte und dadurch weit weniger Angriffsfläche bot als ein Männerkörper. McNeil zögerte einen Augenblick, und das war ein Fehler, denn JennyRose teilte seine Berührungsängste in keiner Weise. „Das ist für die Hexe", verkündete sie und verpaßte dem schmächtigen Burschen eine schallende Ohrfeige, die ihn beinahe von den Beinen fegte. „Schade, daß ich keinen Besen zur Hand habe, du Strolch", fügte sie keifend hinzu, „sonst hätte ich dir gezeigt, wie man damit umgeht." „Verdammtes Luder!" schrie McNeil, während er mühsam danach trachtete, das Gleichgewicht zu bewahren. Eine Sekunde später klatschte die zweite Ohrfeige in sein Gesicht und brannte wie Feuer. Von Bord der Schebecke ertönte erneut Gelächter. Ein bulliger Kerl mit einem gewaltigen Rammkinn war an das Schanzkleid getreten und hatte die muskelbepackten Arme über der Brust verschränkt. „Nur zu, Lady!" rief er. „Bring dem Rübenschwein ruhig einige christliche Tugenden bei. Wenn du Hilfe brauchst, laß es mich wissen."
Die Hilfe wurde nicht nötig, denn als sich McNeil der Aufmerksamkeit der Schebeckenbesatzung bewußt wurde, hatte er es plötzlich sehr eilig, vom Schauplatz zu verschwinden. „Wir sprechen uns noch, du Miststück!" rief er drohend, dann wandte er sich um und eilte mit langen Schritten davon - begleitet von einigen deftigen Abschiedsworten der strahlenden Siegerin. „Vielen Dank für die angebotene Hilfe, Mister!" rief sie zu der Schebecke hinüber. „Aber wie du siehst, ist der Strolch bereits versorgt." „Alle Achtung, Lady", sagte der gewaltige Edwin Carberry. „Du erinnerst mich an meine Großmutter, die war auch so eine wehrhafte Jungfrau . . . " „Aber Ed", unterbrach ihn der Seewolf, „man vergleicht eine junge Lady doch nicht mit seiner Großmutter!" Carberry zuckte zusammen. „Oh, verdammt, Sir", sagte er mit gedämpfter Stimme. „Da habe ich mal wieder zu schnell die Wahrheit gesagt. Aber schau sie dir genau an, und dann sag mir, ob ich nicht doch recht hatte." Hasard grinste sich eins. Jetzt sollte Ed nur sehen, wie er die holde Blume wieder los wurde. Jenny-Rose hingegen näherte sich der Schebecke mit betont langsamen Schritten und bemühte sich dabei um ein aufreizendes Wiegen ihrer runden Hüften. „Ich heiße Jenny-Rose!" rief sie. „Und ich sage nicht nein, wenn mich echte Gentlemen zu einem Umtrunk einladen!"
7 Während einer der Arwenacks im Hintergrund leise „Ogottogott", murmelte, kratzte sich der Profos verlegen am Hinterkopf. „Gegen einen Umtrunk haben wir ebenfalls nichts einzuwenden, Lady", erwiderte er. „Nur haben wir leider noch keinen Landgang. So leid es uns tut - wir müssen das auf später verschieben." Das sah Jenny-Rose - wenn auch mit großem Bedauern - ein und wies graziös darauf hin, daß ihr Angebot auch am Abend noch seine Gültigkeit habe. Außerdem, so betonte sie, sei es ihr ein besonderes Vergnügen, mit solch „kernigen Mannsleuten" den einen oder anderen Humpen Brandy oder Dünnbier zu leeren. Danach warf sie einige Handküsse zu den Seewölfen hinüber, und entschwebte hüftwippend stadteinwärts. „Nun, Ed, hoffentlich hast du nicht zu große Erwartungen in dieser zarten Jungfrau geweckt", sagte der Seewolf grinsend. „Ich wette, daß sie irgendwo dort drüben auf Station geht und sehnsüchtig auf deinen Landgang wartet." Der Profos erschrak. „Jage mir bloß keine Angst ein, Sir."
2. Gegen Abend erinnerte nichts mehr an die wärmende Sonne des frühen Nachmittags. Es war merklich kühler geworden, und über der Themse hing ein dunstiger Schleier. Auf dem Kopfsteinpflaster einer schmalen Gasse in Ufernähe waren
Schritte zu hören. Eine kleine Gruppe von Seewölfen näherte sich „Huntly's Corner", einer Eckkneipe, durch deren Fensteröffnungen der süßliche Duft von Brandy und der verführerische Geruch von gebratenem Fleisch nach draußen drang. „Da könnte man sich direkt mal von der eigenen Kombüse erholen", meinte der blonde, etwas hagere Kutscher. „Vielleicht ist das die richtige Adresse für uns." In diesem Moment wurde die Tür der Schenke aufgestoßen. Eine menschliche Gestalt flog wie ein Bündel Lumpen nach draußen und landete ungefähr drei Yards vom Eingang entfernt auf dem Pflaster. Eine zweite Gestalt segelte auf dem gleichen Kurs und gesellte sich unsanft zu seinem Vorgänger. Dann schlug die Tür krachend zu. „Du hast recht, Kutscher", sagte Edwin Carberry, „da kann man getrost einkehren." Der Kutscher bedachte den Profos mit einem mißtrauischen Blick. „Dich juckt's wohl schon wieder in den Pranken, he?" Carberrys Gesicht verwandelte sich in ein Spiegelbild reinster Unschuld. „Ein solches Gefühl ist mir völlig unbekannt", erwiderte er mit scheinbarer Entrüstung. „Doch hast du nicht bemerkt, daß in der Kneipe soeben ein paar Plätze frei geworden sind?" „Das ist natürlich ein unwiderlegbares Argument", sagte der Kutscher und hob schnuppernd die Nase in den Wind. „Ich tippe auf Lammfleisch mit Knoblauch", fuhr er fort. „Du
8 hast recht, Ed, man sollte nicht warten, bis die frei gewordenen Plätze wieder besetzt sind." Während sich die beiden verludert aussehenden Kerle, die man an die frische Abendluft befördert hatte, laut fluchend aus der Gosse hochstemmten, riß Edwin Carberry die schwere Tür auf und vollführte eine einladende Geste. „Immer hereinspaziert, Gentlemen", sagte er, „das Schott ist offen. Nur Rübenschweine und plattfüßige Heringe müssen draußenbleiben." Sam Roskill, Luke Morgan, Nils Larsen, Bill und der Kutscher ließen sich nicht zweimal bitten. Sie alle hatten am Nachmittag auf der Schebecke kräftig zugepackt, als es galt, noch anstehende Reparaturarbeiten ein Stück voranzutreiben. Jetzt wollten sie die Freiwache so richtig in heimatlicher Atmosphäre genießen. „Huntly's Corner" schien dazu in der Tat alle Voraussetzungen zu bieten. Die langgestreckte, saalartige Schankstube war gut besetzt. Die Gehilfen des Wirts drängten sich mit ihren Krügen und Kannen durch die Bank- und Tischreihen, um die Becher nachzufüllen. Lautes Stimmengewirr und Gegröle erfüllte den Raum. Tranlampen, die an der Decke baumelten oder in Wandnischen aufgestellt waren, verbreiteten schummriges Licht. Ein Durchgang hinter dem wuchtigen Schanktisch führte direkt in die Küche, in der die Wirtin Fett über einen Spieß mit riesigen Fleischstükken goß und ihn langsam über dem Feuer drehte. Der Wirt, ein hochgewachsener,
kräftiger Mann namens Cyrus Huntly, sorgte dafür, daß das Geschäft florierte und niemand hungrig oder gar durstig seine Kneipe verlassen mußte. Er griff gerade nach einem wuchtigen Holzhammer und trieb den Zapf hahn in ein Dünnbierfaß, als die neuen Gäste ihre Blicke durch die Schankstube wandern ließen. „Willkommen in meinem bescheidenen Gemäuer", sagte er grinsend. „Freut mich, daß mich auch mal einige Männer Sir Hasards beehren." Die Arwenacks sammelten wieder einmal die Erfahrung, daß sie seit dem Besuch der Königin bei ihnen und der spektakulären Übergabe der „Geschenk-Galeone" sowie der Wettfahrt gegen die „Arrow" in weiten Teilen Londons so bekannt waren wie bunte Hunde. Dabei legten sie nicht einmal besonderen Wert darauf, weil sie aus Erfahrung wußten, daß es nicht nur Bewunderer, sondern auch eine ganze Menge Neider gab. „Man könnte wirklich meinen, wir seien quergestreift oder blaukariert", murmelte der Profos. „Oder an was erkennen die uns sonst, was, wie?" Die Arwenacks fanden einen passenden Tisch und ließen sich auf den klobigen Holzbänken nieder. Cyrus Huntly sorgte dafür, daß sie mit gebührender Aufmerksamkeit bewirtet wurden. „Mit Dünnbier allein kriegt man das Sägemehl gar nicht so richtig aus der Kehle", sagte der blonde Nils Larsen. „Da bleibt einem gar nichts anderes übrig, als einen Humpen Brandy als Rachenputzer zu benutzen."
9 Damit fand er allgemein Zustim- Wirt soll uns den gebratenen Ochsen mung. oder was es sonst auch ist, ruhig auf Der Kutscher interessierte sich na- die Tischplatte wuchten." turgemäß für die Vorgänge in der Auch dagegen hatte keiner der ArKüche. Er hob immer wieder genüß- wenacks etwas einzuwenden. lich schnuppernd die Nase. So saßen sie denn auch bald tief Edwin Carberry begann zu grinsen. über ihre vollbeladenen Kummen ge„Weißt du, an wen du mich erin- beugt und langten ordentlich zu. nerst, Kutscherlein?" fragte er und „Köstlich, wirklich köstlich", lobte setzte seinen Humpen ab. der Kutscher. „Besser als dieses zarte Der Koch und Feldscher der ArweLammfleisch kann selbst ein Trutnacks kniff die Augen zusammen. hahn aus Norfolk oder eine der be„Nein", erwiderte er, „aber du wirst rühmten Enten aus Aylesbury nicht es mir sicher gleich sagen." schmecken. Wenn man ein solches „Klar, mein Guter. Du erinnerst Mahl zum Dessert noch mit einem mich mit deinem Geschnüffel nämechten Stiltonkäse abrundet, dann lich an Plymmie. Es fehlt nur noch dürfte man den Gipfel der Genüsse das Schwanzwedeln." erreicht haben." Der Kutscher lächelte dünn, wähDie Mannen begannen zu grinsen, rend allgemeines Gelächter aufklang. „So etwas Ähnliches habe ich er- obwohl sie dem Kutscher innerlich wartet", entgegnete er. „Verführe- durchaus recht gaben. „Man merkt, daß du neuerdings am rische Düfte veranlassen in der Tat auch kultivierte Menschen, wie Königshof ein und aus gehst", warf Hunde zu schnuppern. Andererseits Luke Morgan ein. „Kaum hat dir unhabe ich aber auch schon Kerle ken- sere alte Lissy ein Küßchen genengelernt, die wie unsere gute Plym- schenkt, schmeckt dir nur noch Stilmie knurren, wenn's ihnen stinkt. Da ton zum Dessert." gibt es zum Beispiel an Bord einer ge„Und statt Erbsen gibt es demwissen Schebecke einen Mister..." nächst Perlen und kleingehackte „Schon gut!" unterbrach der Pro- Kronjuwelen in die Suppe", fügte Edfos. „Ich weiß bereits, wie das weiter- win Carberry kauend hinzu. geht, Kutscher. Gegen deine gelehrsaDie Stimmung unter den Arwemen Erklärungen kommt ein demüti- nacks war hervorragend. Dennoch ger Christenmensch sowieso nicht an. blieb ihnen einen Augenblick später Aber wenn du's genau wissen willst: beinahe der Bissen im Halse stecken. Ich habe mächtigen Kohldampf. Und Die Eingangstür von „Huntly's Corda es in diesem ehrbaren Haus im Ge- ner" flog auf, und eine illustre Gegensatz zu gewissen Schebeckenkom- stalt, die sofort alle Blicke auf sich büsen gar lieblich duftet, werde ich zog, betrat den Schankraum. dich ausnahmsweise beim SchnupCyrus Huntly eilte hinter dem Trepern unterstützen. Nur sollten wir es sen hervor, um den neuen Gast samt dabei nicht bewenden lassen. Der den hinter ihm auftauchenden Beglei-
10 tern mit einigen Verbeugungen zu begrüßen. Der Mann war etwa um die dreißig. Er hatte ein schmales Gesicht mit angenehmem Profil, einen dünnen Oberlippenbart und langes, kastanienbraunes Haar. Man sah auf den ersten Blick, daß er zu den Reichen und Vornehmen des Landes gehörte. Auf den zweiten Blick fiel auf, daß er wie ein Höfling gekleidet war - mit Federhut, Rüschenkragen, kostbarem, reichverziertem Wams und enganliegenden Beinkleidern. Der Degen baumelte an seiner linken Hüfte. „Seht ihr auch, was ich sehe?" fragte Sam Roskill mit gedämpfter Stimme. „Oder träume ich?" Um es auszuprobieren kniff er die Augen zusammen und riß sie dann weit auf. „Du bist genauso wach wie wir", entgegnete der Kutscher und legte das butterzarte Stück Lammbraten auf die Kumme zurück. „Das ist er tatsächlich - Robert Devereux, der Graf von Essex." „Jetzt sag nur noch, daß dieser eingebildete Affe hier, mitten unter dem gemeinen Volk, einen Humpen Dünnbier trinken will", stieß Bill verblüfft hervor. Der Kutscher lächelte vielsagend. „Mit einem einzigen Humpen wird es wohl nicht abgetan sein", entgegnete er. „Wenn er seine Kratzfüße bei der Königin hinter sich gebracht hat, pflegt er - meist zusammen mit recht zwielichtigen Saufkumpanen - sogar die übelsten Kneipen heimzusuchen." Die Seewölfe hatten den Earl of Essex im Zusammenhang mit jenem höllischen Wettsegeln auf der Themse bereits ausgiebig kennenge-
lernt. Und sie wußten, daß er trotz des Wirbels, für den er ständig sorgte, in der Gunst der Königin stand. Diese Gunst aber wollte er um keinen Preis verlieren. Deshalb wachte er immer wieder eifersüchtig darüber, daß ihm kein Rivale den Rang ablief. Alles in allem war Robert Devereux, der von seinem edlen Stammbaum her mit den Plantagenets, Tudors und den Stuarts eng verwandt war, ein Mann, den man mit größter Vorsicht genießen mußte. Daran gab es bei den Seewölfen nicht den geringsten Zweifel. „Da sind wir ja genau in die richtige Spelunke geraten", sagte Carberry nüchtern und griff sich ein neues Stück Spießbraten. „Aber was soll's! Den Appetit darf man sich auch von einem herausgeputzten Pfingstochsen nicht verderben lassen." Mit dieser Meinung fand er die Zustimmung seiner Kameraden, und keiner von ihnen dachte im Ernst daran, das köstliche Mahl zu unterbrechen. Grinsend registrierten sie noch, auf welche einfache, aber praktische Art der Wirt einen freien Tisch für seinen hohen Gast besorgte. Er ließ einfach einige Zecher, die ohnehin schon zu tief in den Becher geschaut hatten, durch seine Schankknechte hinausbefördern. Und schon konnte sich der Earl of Essex samt seinem mehr oder minder erlauchten Anhang an dem freien Tisch niederlassen. Der Wirt und seine Helfer überboten sich gegenseitig mit Ehrbezeigungen und einer kriecherischen Dienstbereitschaft.
11 Wer jedoch auf Seiten der neuen Gä„Fang bloß keinen Stunk an, Ed. ste einen distinguierten Umgangston Wir sollten nicht mehr Aufsehen erreoder gar höfisches Gehabe erwartete, gen, als nötig ist." wurde enttäuscht, denn Seine Lord„Ist ja schon gut, Kutscherlein. Ich schaft und die kleine Schar der Zech- übe mich in christlicher Demut und genossen fraßen, soffen und grölten Selbstbeherrschung." wie ein Haufen Radaubrüder aus dem Die Frage, die die Arwenacks beHafenviertel. schäftigte, beantwortete sich indes Die Arwenacks kümmerten sich von selbst. McNeil sah sich nämlich nicht darum, und Edwin Carberry kurz in „Huntly's Corner" um, ohne ließ sich einen weiteren Krug Brandy die Seewölfe zu bemerken, dann steubringen, als die Fleischplatte leerge- erte er zielstrebig auf den Tisch des Grafen von Essex zu. Dort verbeugte fegt war. „Ich fühle mich so satt und rund wie er sich so tief, daß er beinahe mit der ein wohlgenährter Säugling", er- Stirn die Tischplatte berührte und klärte er. „Du hattest recht, Kutscher. blickte den Höfling fragend an. Das Mahl war köstlich. Du solltest dir Seine Lordschaft lieh ihm huldvoll das Rezept hinter die Ohren schrei- das rechte Ohr. ben. Mit einem solchen Braten lassen Nachdem McNeil einige Sätze hinwir uns auch gern draußen auf See eingeflüstert hatte, kassierte er einige mal verwöhnen." Münzen, die er sofort in der HosenBill nickte zustimmend. „Das ist tasche verschwinden ließ. Dann verwas anderes als Speckpfannkuchen." beugte er sich abermals und verließ Bevor der Kutscher etwas darauf das Lokal mit raschen Schritten. erwidern konnte, betrat ein weiterer „Da haut's doch die stärkste JungGast die Schankstube, der den See- frau um!" entfuhr es dem Profos. wölfen sehr bekannt war. „Dieser tiefäugige Hering wird von „Na so was", ließ sich Carberry ver- dem durchlauchten Pfingstochsen als nehmen. „Ist das nicht das Rüben- Zuträger benutzt. Zum Kuckuck schwein, das den halben Nachmittag von jetzt an müssen wir in der Tat die an der Towerpier hockte, um unsere Ohren steifhalten. Wenn ich den BurSchebecke zu belauern, was, wie?" schen noch mal in der Nähe unseres Schiffes sehe, werde ich mich wohl Die anderen nickten. „Vielleicht will er uns hier auch be- doch ein bißchen um ihn kümmern spitzeln", meinte Sam Roskill. „Es müssen." würde mich interessieren, für wen der Der Kutscher grinste. „Wie wär's, Kerl arbeitet." wenn du die rothaarige Jenny-Rose Der Prof os grinste unternehmungs- mit dieser Aufgabe betrauen würdest? Die Lady wird uns den Spitzel lustig. „Soll ich ihn ein bißchen unter der bestimmt vom Hals halten, wenn du Zunge kitzeln, damit er's uns verrät?" ein bißchen nett zu ihr bist." Der Kutscher bedachte den Profos Carberry zog eine säuerliche Grimit einem strafenden Blick. masse. „Mit dieser lieblichen Wal-
12 küre könnte man zur Not eine ganze Schar Schnapphähne in die Flucht schlagen." Nachdem die Arwenacks ihre Kehlen mit einem weiteren Krug Brandy angefeuchtet hatten, bemühten sie sich, „Huntly's Corner" möglichst unauffällig zu verlassen. Daß der Graf von Essex ihnen mit zusammengekniffenen Augen nachstarrte, und - nachdem sich die schwere Eichentür hinter ihnen geschlossen hatte - sofort den Wirt herbeiwinkte, bemerkten sie nicht.
„Bier, Wein oder Brandy? Womit darf ich Ihrer Lordschaft dienen?" fragte Cyrus Huntly dienstbeflissen. Der Graf schüttelte unwillig den Kopf. „Mein Becher ist noch gefüllt", erwiderte er. „Aber sage mir eins, Wirt - gehören die Männer, die eben die Schenke verließen, nicht zur Mannschaft des Kapitäns Killigrew?" Huntly nickte eifrig. „Jawohl, Mylord, sie gehören alle dazu." „Interessant." Über das Gesicht des Grafen huschte ein nichtssagendes Lächeln. „Und sind diese - diese Seewölfe, wie man die Gentlemen zu nennen pflegt, des öfteren zu Gast in deiner Schenke?" „Bisher leider nicht, Mylord", erwiderte Huntly. „Es war heute das erste Mal, daß ich die Ehre hatte." „Aha." Der Graf betrachtete das Gespräch als beendet und gab dem Wirt mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, daß er verschwinden möge.
Sir Geoffrey Danton, einer seiner Tischgenossen, hob ihm seinen Becher entgegen. „Cheerio!" rief er. „Trinken wir auf das Wohl der Königin." „Und auf den Mißerfolg aller Verräter", fügte der Graf hinzu. Nachdem die Becher geleert waren, sah Sir Geoffry den Grafen augenzwinkernd an. „Dachten Sie bei Ihrem Trinkspruch an eine ganz bestimmte Person, Mylord?" „Ich pflege immer erst zu denken, bevor ich rede", erwiderte Devereux schnippisch. „Und da Ihnen die Neugierde buchstäblich ins Gesicht geschrieben ist, Sir Geoffrey, möchte ich das Kind ganz offen beim Namen nennen. Ja, ich dachte an diesen Killigrew. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß er kein ehrliches Spiel mit Ihrer Majestät treibt. Dieser Mann ist ein Blender. Er blendet die Augen der Königin mit einem Teil der Schätze, die er den Spaniern abgejagt hat. In Wirklichkeit aber verfolgt er ganz andere Ziele - Ziele, die England zum Schaden gereichen werden." „Das sind harte Worte, Mylord", sagte Sir Geoffrey, „vor allem in bezug auf einen Mann, der bei Ihrer Majestät hoch in Gunst steht." Der noch recht jugendlich wirkende Sir Geoffrey Danton gehörte zu jenen Hitzköpfen, die der Graf im Juni des Jahres 1596 nach dem Sieg der englischen Flotte über Cadiz zu Rittern geschlagen hatte, und zwar ohne Wissen und Einwilligung der Königin. Seitdem gehörte er zum engeren Freundeskreis des Höflings
13 und war diesem bis hin zur Kumpa„Dann werden wir zu Taten schreinei ergeben. ten und mit allen Mitteln dafür kämpDer Graf leerte den inzwischen fen, daß dieser Bastard namens Kilnachgefüllten Becher in einem Zuge. ligrew samt seinen Kumpanen dort „Meine Worte mögen sich zwar landet, wo er hingehört - im Tower." hart anhören", sagte er mit finsterem „Das ist eine klare Kampfansage, Gesicht, „aber ich werde ihre Berech- Mylord", erklärte Sir Geoffrey. tigung zu gegebener Zeit beweisen. „So ist es, Freunde", bekräftigte Falls nötig, werdet ihr mir dabei be- der Graf. „Wenn Worte nichts mehr hilflich sein, Freunde." bewirken, bleiben nur noch die Ta„Das ist Ehrensache, Mylord", ver- ten. Aber wie gesagt - ich bin ein sicherte Sir Geoffry, und auch die an- Mann der Vernunft. Deshalb werde deren Kumpane am Tisch brachten ich noch einen letzten Versuch wagen sofort ihre Zustimmung zum Aus- und die Königin vor den Machendruck - teilweise von einem hämi- schaften Killigrews warnen." schen Grinsen begleitet. Seine Lordschaft hatte sich in Rage Im stillen waren sich alle darüber geredet. Mit einem herrischen Wink im klaren, daß der Graf wieder ein- zitierte er den Wirt herbei und befahl mal von seiner Eifersucht geplagt diesem, gleich mehrere Krüge der wurde. Er sah in Sir Philip Hasard verschiedensten Getränke herbeizuKilligrew, der vor Jahren von der Kö- schaffen. Danach riß er seinen kostnigin persönlich zum Ritter geschla- baren Dolch aus der Lederscheide und gen worden war, einen gefährlichen rammte die Spitze wütend in das Nebenbuhler. Bisher hatte er es noch Holz der Tischplatte. immer verstanden, vermeintliche „Weg mit allen Rebellen und VerräKonkurrenzen auszustechen. An ge- tern!" rief er mit schwerer Zunge. „Es eigneten Mitteln hatte es ihm noch lebe die Königin!" nie gefehlt. „Es lebe die Königin!" tönte es Der Graf ließ die Becher nachfül- pflichtschuldigst aus den heiseren len. Kehlen seiner Saufkumpane. „Morgen - gleich morgen werde ich Auch sie griffen nach ihren Bemit Ihrer Majestät ein ernstes Wort chern und erhoben sich. in dieser Angelegenheit reden", fuhr Der Umtrunk, zu dem Robert Deer fort. „Und ich hoffe sehr, daß ich vereux, der Graf von Essex, geladen diesmal nicht wieder auf taube Ohren hatte, fing jetzt erst richtig an. Bier, stoße." Brandy und Wein flossen in Strömen, „Und wenn doch?" fragte Sir Geof- und die Wirtin, die inzwischen einige frey, der die Abneigung der Königin Helferinnen in der Küche beschäfgegen jede Art von Hofklatsch tigte, hatte alle Hände voll zu tun. kannte. Der hitzköpfige Graf verstand es in Das Gesicht des Grafen verfin- der Tat, zu feiern - besonders wenn sterte sich noch mehr, ja, seine Augen es galt, Kumpane für seine hinterhälfunkelten jetzt wütend. tigen Pläne zu gewinnen.
14 3. Ein kühler Morgenwind strich über die Themse und ließ die Männer an Bord der Schebecke zeitweise frösteln. Durch die grauen Nebelschwaden, die den Fluß überlagerten, waren die düsteren, jahrhundertealten Mauern der Toweranlage nur als dunkle Schatten wahrzunehmen. Doch die Arwenacks ließen sich von dem unwirtlichen Tagesbeginn das morgendliche Backen und Banken nicht verdrießen. Schließlich hatten sie nicht den blauen Himmel der Karibik erwartet, als sie - aus dem Mittelmeer kommend - nach England gesegelt waren. Hier war das Wetter zum Frühjahrsbeginn eben launisch und wechselhaft. Nils Larsen schob sich ein Stück gebratenen Speck in den Mund. „Es fehlt ganz einfach der zarte Hauch von Knoblauch", sagte er augenzwinkernd zu Sam Roskill. „Und der verführerische Duft des Lammbratens", fügte dieser hinzu. Luke Morgan, der auf einem Stück Brot herumkaute, rollte verzückt mit den Augen. „Ob der Kutscher wohl auch an den echten Stilton zum Desert gedacht hat?" Edwin Carberry winkte hingegen mit einem leisen Knurren ab. „Was sind schon Knoblauch und Käse, wenn bei einem erlesenen Mahl die erlauchte Gesellschaft fehlt, was, wie? Statt von gräflichem Schmatzen und Grölen müssen wir uns vom Scheppern der Mucks und Kummen unterhalten lassen." Der Seewolf, dem sie schon gestern abend ein Loblied auf „Huntly's Cor-
ner" gesungen hatten, konnte ein Lächeln nicht verkneifen. „Ihr werdet das eine oder andere vielleicht vermissen", sagte er. „Aber eins ist euch geblieben: der zarte Hauch von Knoblauch. Insofern ist es ganz angenehm, daß eine frische Brise über das Deck streicht." „Trotzdem, Sir", sagte Carberry mitten in das Gelächter der Kameraden hinein, „ich würde es wieder tun - ich meine das mit dem Lammbraten und Knoblauch und so. Frag den Kutscher, der versteht ja angeblich auch was von gutem Essen. Und wenn es hier ein bißchen duftet - was macht das schon! Wir erwarten ja heute nicht schon wieder einen Besuch unserer Bessy." „Das ist schon richtig", sagte Hasard. „Die Königin hat schließlich auch noch etwas anderes zu tun." „Klar", fuhr Carberry fort, „die muß ja auch ab und zu mal den Höflingen, ihren Hofdamen und all den Lords und sonstigen feinen Affen die Ohren langziehen, wenn die zu üppig werden, nicht wahr? Ich denke da nur an diesen blaukarierten Affenarsch mit dem französischen Namen Defferöö..." „Du sprichst vom Earl of Essex, Ed", unterbrach Hasard. „Mag sein, Sir", fuhr der Profos ungerührt fort. „Aber ein Affenarsch ist er trotzdem. Du hättest dieses Bürschchen gestern abend mal in Huntly's Corner' erleben sollen. Da war überhaupt nichts Feines mehr dran." „Wir alle kennen diesen Mann bereits zur Genüge, Ed", sagte der Seewolf, „und daß er mit Vorsicht zu ge-
15 nießen ist, wissen wir ebenfalls. Es kann durchaus sein, daß er uns noch Schwierigkeiten bereitet. Zu seinem streitsüchtigen Charakter würde das passen." „Da hilft nur eins, Sir", verkündete der Profos in weiser Voraussicht. „Dem Burschen muß einfach mal die Haut in klitzekleinen Streifen von seinem erlauchten..." „Schon gut, Ed", unterbrach Hasard abermals, „aber damit kann man ihn wohl auch nicht kurieren. Dieser Mann ist voller Widersprüche. Mal gebärdet er sich wie ein Komödiant wie vor einigen Jahren in Frankreich, als der spanische Philipp in der Bretagne und der Normandie einfiel und die Königin ihn - zunächst widerstrebend - an die Spitze von mehr als dreitausend Mann stellte, die den französischen Truppen beistehen sollten, und ein anderes Mal spielt er wieder den glühenden Patrioten, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor der Königin auf die Knie fällt und ihr die Schuhspitzen küßt." „Pfui Teufel!" entfuhr es dem Profos. „Als hätte die alte Lissy nicht genug Diener zum Schuheputzen." „So kann man es auch sehen", fuhr Philip Hasard Killigrew lächelnd fort. „Aber gerade damals in Frankreich, als die Stadt Rouen bereits von spanischen Truppen belagert wurde, führte sich der Graf von Essex wie ein Hofnarr auf. Statt seine Soldaten gezielt einzusetzen, reiste er mehr als hundert Meilen weit an den Hof König Heinrichs IV. und nahm dort an einem sportlichen Wettspringen teil. Natürlich sprang er weiter als alle anderen. Die Königin platzte damals
schier vor Zorn. Und als sie ihn schließlich zur Räson pfiff, schlug er noch geschwind vierundzwanzig junge Leute aus seinem Gefolge zu Rittern, obwohl sie dafür nicht das Geringste geleistet hatten." Die Arwenacks hatten sich inzwischen um ihren Kapitän versammelt und lauschten interessiert seinen Ausführungen. „Das ist ja nicht zu fassen", murmelte Old O'Flynn. „Und das alles hat sich die Königin gefallen lassen?" Der Seewolf vollführte eine vielsagende Geste. „Wie man sagt, sah sie ihm viele solcher Dummheiten nach, obwohl sie sich sehr darüber ärgerte. Sie bezeichnete solche Vorkommnisse oft als Jugendtorheiten. Na schön, Devereux war noch sehr jung. Aber fünf Jahre später, im Jahre 1596, schien er noch immer nichts dazugelernt zu haben. Damals beschloß die englische Krone, Drakes Bravourstück, den uns wohlbekannten Überfall auf Cadiz, zu wiederholen. Dieser Schachzug verlief zwar erfolgreich, weil die Spanier auf diesen Angriff nicht vorbereitet waren, dennoch verhielt sich der Earl of Essex auch dabei wieder wie ein Tölpel. Nicht nur, daß man die Königin erheblich an ihrem Beuteanteil betrog - man übersah auch eine Kauffahrerflotte von sechsunddreißig Schiffen mit einer Ladung im Wert von zwölf Millionen Dukaten, die in einem stillen Winkel des Hafens lag. Die Königin war verstimmt, aber das hinderte Devereux nicht daran, wieder sechzig seiner Freunde ohne Einwilligung Ihrer Majestät zu Rittern zu schlagen. Es scheint also in der Tat so zu sein, daß
16 dieser Mann bislang nichts dazugelernt hat." Der alte O'Flynn kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, nachdem er einen Schluck aus seiner Muck genommen hatte. „Vom Wettsegeln hat er ja wohl die Nase voll", sagte er, „und wenn du meinst, Sir, daß man diesen windigen Burschen mit einem Wetthüpfen bei Laune halten kann, werde ich es trotz meines Holzbeines mit ihm aufnehmen." Die Arwenacks lachten. „Für dich gibt's nur noch eine Sportart, Donegal", japste Al Conroy, der Waffen- und Stückmeister, „und das ist der Seitensprung. Dafür aber würde dir dein holdes Eheweib, die allseits verehrte Missis Mary Snugglemouse, nach unserer Rückkehr in die Karibik ganz gewaltig die Leviten lesen." Das Backen und Banken auf der Schebecke war beendet. Auf die Männer wartete noch genügend Arbeit in Form von kleineren Schäden, die der Dreimast-Segler von seinen Atlantikgefechten mitgebracht hatte. Außerdem waren noch eine Menge kleinerer und größerer Einkäufe zu erledigen. Der Nebel lichtete sich allmählich, es wurde unverkennbar heller. Die Sonne schien sich mit Gewalt Durchlaß durch die dunstigen Schwaden zu verschaffen. Die Arwenacks konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Sie blickten erst wieder hoch, als sie von Hasard junior, einem der Zwillingssöhne des Seewolfs, auf eine „schwarze Wand" hingewiesen wurden, die sich ein Stück
flußaufwärts durch die aufgelockerten Dunstschwaden schob. Die schwarze Wand entpuppte sich als eine riesige Kriegsgaleone der königlichen Flotte. Die Arwenacks brauchten nicht lange zu warten, bis sich der plumpe Dreimaster an ihnen vorbeischob. Der Bugspriet ragte in die Luft, als wolle er die sich auflösenden Nebelfetzen aufspießen. Am Schanzkleid standen Offiziere und Seesoldaten und starrten in einer unverkennbar hochmütigen Haltung zu der vergleichsweise winzigen Schebecke. „Die fühlen sich bestimmt wie der biblische Riese Goliath, als er den kleinen David musterte", sagte Ben Brighton, Hasards Stellvertreter. „Das sieht man schon daran, wie sie ihre Nasen in den Wind halten." Edwin Carberry, der gerade eine Taurolle neben den Großmast gewuchtet hatte, schob das mächtige Rammkinn vor. „Das sind balzende Auerhähne", erklärte er. „Alles ist nur Gehabe. Die Rübenschweine plustern sich auf wie Sir John dort hinten auf den Aufbauten." Als hätte der karmesinrote Aracangapapagei die Worte verstanden, breitete er die Flügel aus und trippelte an der Vorderkante der Achterdecksaufbauten entlang. „Alle Mann an die Brassen", krakeelte er. „Hopp, hopp, ihr lausigen Säcke! Gebt dem Affen Zucker!" „Knall bloß die Luke dicht, du alte Sumpfeule", schimpfte Carberry. „Wenn die vornehmen Gentlemen dort drüben das hören, kriegen sie es womöglich noch in die falsche Kehle.
17 Einige von denen sehen ohnehin aus, als warteten sie nur darauf, endlich ein bißchen Krieg spielen zu dürfen."
blühenden Frau entgegenbringen würde? Ihre Majestät schüttelte den Kopf über sich selbst und verscheuchte diese Gedanken. Es gehörte zu ihren Prinzipien, sich um alles in der Welt Im Verlauf des Vormittags löste die nicht selber etwas Fadenscheiniges Sonne die letzten Nebelfetzen auf. einzureden. Und daran hielt sie sich Ihre Strahlen fielen gebündelt durch auch jetzt. die Scheiben der königlichen GemäVöllig in die Wirklichkeit zurückgecher. kehrt, griff die alternde Frau zu den Ihre Majestät, Elisabeth I., stand goldgefaßten und perlenbesetzten vor dem riesigen, in Gold gefaßten Döschen, die vor dem Spiegel auf Spiegel und betrachtete prüfend ihr dem Schminktisch standen. Der Umgang damit war längst zur täglichen Gesicht. Was sie sah, gefiel ihr nicht sonder- Routine geworden. Manchmal ließ sie lich. Fahle Haut, Krähenfüße und sich dabei von einer ihrer Hofdamen Falten, die das Leben tief in ihr Ant- helfen, meistens jedoch übte sie sich litz gegraben hatte. Spuren, die auch selbst in dieser weiblichen Kunst. für eine Königin unabwendbar waren Wenn sie schon keinen Einfluß auf und an das unaufhaltsame Fort- die Zeichen der Zeit hatte, dann schreiten der Zeit erinnerten. wollte sie ihren persönlichen Einfluß In der Tat - ohne die Mittelchen, wenigstens in korrigierender Weise, die diese Spuren zu überdecken ver- mittels Salben und Puderquasten, mochten, ohne Perücke, ohne ihre geltend machen. Halskrause und das königliche GeSpätestens als die Königin die Peschmeide sah sie wirklich nicht son- rücke und Halskrause angelegt hatte, derlich reizvoll aus. weilten ihre Gedanken bei völlig anElisabeth I. stand im 65. Lebens- deren Dingen. Was würde ihr dieser jahr. Kein Wunder, wenn sich eine Tag wohl bescheren? Gab es wieder solche Anzahl von Jahren auswirkte. einmal schlechte Nachrichten aus IrDamit mußte sich auch eine Frau wie land? sie abfinden. Kein Befehl, keine köHatte Hugh O'Neill, Graf von Tynigliche Anordnung konnte am Ver- rone und Führer der Aufständischen, lauf der Natur etwas ändern. wieder einmal für Ärger gesorgt? Um den schmallippigen Mund der Dieser und ähnliche Gedanken ginKönigin huschte ein dünnes Lächeln. gen ihr durch den Kopf, als sie - nach War nicht die Macht, die in ihren einem letzten Blick in den Spiegel Händen lag, ein gewisser Ausgleich? ihr Schlafgemach verließ. Mußte ihr nicht jeder ihrer UntertaRobert Devereux war ihr angesagt nen - vom Bettler bis zum Lord- worden. Nun denn, sie würde gleich Kanzler - mit derselben Ehrerbietig- hören, was er ihr zu sagen hatte. keit begegnen, die er einer jungen, Der Graf wartete schon eine Weile
18 und ging ungeduldig im Audienzzimmer auf und ab. Als die Königin eintrat, fuhr er herum, eilte ihr entgegen und warf sich zum ergebenen Handkuß vor ihr auf die Knie. Elisabeth I. rang sich mühsam ein Lächeln ab und bedeutete dem Besucher, sich zu erheben. „Was gibt es, Mylord?" fragte sie knapp. „Ich hoffe, Sie bringen nicht schon am Vormittag schlechte Nachrichten." Der Graf deutete eine leichte Verbeugung an. „Schlecht wäre übertrieben, Majestät", erwiderte er vorsichtig. „Sagen wir lieber, ich möchte Sie auf einige Tatsachen hinweisen, deren Kenntnis Ihnen zukünftig eine Fülle von unangenehmen Nachrichten ersparen wird." „Drücken Sie sich deutlicher aus, Mylord", befahl die Königin. „Um was und um wen geht es?" Sie kannte ihre Pappenheimer und wußte nur zu gut, daß in der Regel irgendwelche Eifersüchteleien und Klatschgeschichten dahintersteckten, wenn der Graf von Essex Umschweife wählte, bevor er zum Kern der Sache kam. „Nun, Majestät, leider zwingen mich die Umstände, noch einmal mit Ihnen über Sir Philip Hasard Killigrew zu sprechen . . . " „Doch nicht schon wieder!" unterbrach ihn die Königin. „Haben Sie immer noch nicht Ihr schändliches Verhalten und Ihre Niederlage beim Wettsegeln verwunden, zu dem Sie Sir Hasard in eigener Selbstüberschätzung herausgefordert hatten?" Brennende Röte schoß in das Gesicht des Grafen. Es bereitete ihm
fast körperliche Schmerzen, wenn er an die schmähliche Niederlage erinnert wurde - erst recht, wenn diese Erinnerung aus dem Mund der Königin erfolgte. Noch immer stand das Bild vor seinen Augen, das ihn nach wie vor wie ein Alptraum quälte: Die Königin hatte ihn in aller Öffentlichkeit zutiefst beleidigt und gesagt, sie könne seinen Gestank nicht mehr ertragen. O ja, solange Devereux denken konnte, war das einer der dunkelsten Tage seines Lebens gewesen. Der Königin gegenüber konnte er das natürlich nicht eingestehen. Er vollführte deshalb eine wegwerfende Geste. „Aber nicht doch, Majestät, dieses Mißgeschick, das auf ein Fehlverhalten meiner Mannschaft zurückzuführen war, habe ich längst vergessen. Wenn ich dennoch über Sir Hasard spreche, dann hat das andere - viel schwerwiegendere Gründe. Gründe, die Ihre Majestät unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte." Die Königin nickte kühl. „Nun denn, Mylord, ich höre." Sie raffte ihre Röcke und ließ sich in einem reichverzierten Sessel nieder. Ihrem Besucher bot sie jedoch keinen Platz an. Sie wollte ihm gar nicht erst die Gelegenheit geben, sie stundenlang mit dem neuesten Hofklatsch zu langweilen. „Majestät", begann Devereux und rang beschwörend die Hände. „Ich bin mir darüber im klaren, daß ich nicht zum erstenmal wegen Sir Hasard vor Ihnen erscheine, und ich gestehe, daß einige meiner damals vorgetragenen Punkte auf Vermutungen
19 und Befürchtungen beruhten, die ich jedoch - stets das Wohl Englands im Auge behaltend - nicht einfach beiseite schieben wollte. Inzwischen aber haben sich viele dieser Befürchtungen bestätigt, ja, mehr und mehr drängen sich sogar Beweise dafür auf, daß Sir Philip Hasard Killigrew tatsächlich umstürzlerische Ziele verfolgt. Ich bitte Ihre Majestät deshalb dringend, die nötige Vorsicht walten zu lassen und aus Sicherheitsgründen Abstand zu dieser Person zu wahren . . . " „Blödsinn!" unterbrach ihn die Königin ungehalten. „Seit wann liefert ein echter Rebell solche Reichtümer ab, wie das Sir Hasard getan hat? Beweist nicht gerade die Tatsache, daß ein Korsar, der meinen Kaperbrief hat, treu die vereinbarten Beuteanteile abliefert, seine Loyalität? Ein Rebell versucht die Regierung eines Landes zu schwächen und nicht durch reichhaltige Zuwendungen zu stärken." Devereux hob abwehrend die Hände. „Dieses Argument ist mir nicht neu, Majestät. Aber könnte eine solch scheinbar loyale Handlungsweise nicht gerade Teil einer besonders raffinierten Strategie sein? Jeder Umstürzler wird zunächst versuchen, sich das Vertrauen und die Anerkennung seines Herrschers zu erschleichen, weil er dann ein um so leichteres Spiel hat." Die Königin schüttelte den Kopf, ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „Sie sehen Gespenster, Mylord. Ich habe keinerlei Veranlassung, an der Ergebenheit Sir Hasards und seiner
Männer zu zweifeln. Sie sollten sich daran gewöhnen, daß man schwerwiegende Anklagen nicht einfach auf Behauptungen und Vermutungen stützen kann." Der Graf gab sich bestürzt. „Aber Majestät! Nichts liegt mir ferner, als haltlose Behauptungen an Sie heranzutragen. Es gibt inzwischen eine Menge Beweise, die sich mit logischen Schlußfolgerungen decken. Warum wohl hat Sir Hasard in der Karibik einen geheimen Stützpunkt aufgebaut, in dem es - wie man weiß - unter der Aufsicht des Hesekiel Ramsgate sogar eine eigene Schiffswerft gibt? Und warum war er an der Gründung jenes verschwörerischen ,Bundes der Korsaren' beteiligt? Ich versichere Ihnen, Majestät, daß man in absehbarer Zeit versuchen wird, Sie aller Ihrer Besitztümer in der Neuen Welt zu berauben. Und ist dies erst gelungen, wird man auch nicht davor zurückschrecken, Ihre Macht in diesem Land zu erschüttern." Über das Gesicht der Königin huschte ein herbes Lächeln. „Sie sind in der Tat ein Träumer, Mylord", sagte sie mit einem schwachen Seufzen. „Haben Sie denn noch nie versucht, die Fragen, die Sie aufgeworfen haben, selbst zu beantworten? Ja, warum hat Sir Hasard wohl einen geheimen Stützpunkt in der Karibik aufgebaut? Nun, ich will Ihnen diese Frage beantworten: Zum ,Bund der Korsaren' gehören etliche mir treu ergebene Männer, die eine Familie haben. Selbst der schon etwas betagte Mister O'Flynn hat dort Weib und Kind. Und niemand kann diesen Angehörigen zumuten, daß sie
20 an den gefährlichen Raids der Männer teilnehmen. Eine Familie braucht eine Heimat, auch wenn es nur eine Art Ersatzheimat oder ein sogenannter Stützpunkt ist, der gleichzeitig als Treffpunkt der zum ,Bund' gehörenden Schiffe dient. Daß dieser Stützpunkt geheim sein muß, ist völlig verständlich, wenn man bedenkt, daß die Spanier in der Neuen Welt stark vertreten sind und Sir Hasard zum gefährlichen Staatsfeind erklärt haben. Und was die eigene Schiffswerft betrifft, so kann sich Sir Hasard nur glücklich preisen, daß sich ein so hervorragender Schiffsbauer wie Hesekiel Ramsgate jenem ,Bund der Korsaren' angeschlossen hat. Selbst Sie, Mylord, werden wissen, daß es bei häufigen Seegefechten eine Menge Kleinholz gibt. Ein Fachmann ist da Goldes wert. Sie sehen, auch ich vermag bezüglich der Fragen, die Sie aufgeworfen haben, logische Schlußfolgerungen zu treffen." Robert Devereux schluckte hart, als die Königin ihre ausführliche Stellungnahme beendete. Er sah seine Felle mehr und mehr davonschwimmen und war sich darüber im klaren, daß er härtere Geschütze auffahren mußte. „Erlauben Sie, Majestät", sagte er, „daß ich die von mir vorgetragene Version als die richtige ansehe, zumal sich meine Schlußfolgerungen auf Beweise stützen." ,,Und die wären?" fragte die Königin ungehalten. „Nun, Majestät, ich bin am gestrigen Abend zusammen mit einigen Freunden - sozusagen zu einem kleinen Umtrunk - in eines der besten
Wirtshäuser Londons eingekehrt. Dort hatte ich, selbst unbemerkt, die Gelegenheit, die Prahlereien einiger Männer aus Sir Hasards Crew anzuhören. Und ich versichere Ihnen, daß dabei alle meine Befürchtungen bestätigt wurden. Die Burschen haben ganz offen und siegessicher über ihre umstürzlerischen Absichten gesprochen und - ich wage es kaum zu sagen - sogar lauthals verkündet, sie würden mit der Galeone, die sie Ihrer Majestät geschenkt hätten, die Kronjuwelen zu ihrem Schlupfwinkel bringen. Sie schlossen nicht einmal eine Zusammenarbeit mit den Spaniern aus, um ihre verräterischen Ziele zu erreichen. Wahrscheinlich haben sie durch ihr Crewmitglied, Don Juan de Alcazar, bereits die nötigen Kontakte geknüpft." Die Königin sagte zunächst gar nichts und blickte Devereux nur scharf an. Schließlich erhob sie sich und trat an das nächstgelegene Fenster. „Und Sie sind sicher, daß es sich um Männer aus der Crew Sir Hasards handelte?" fragte sie. „Absolut sicher, Majestät. Mister Huntly, der Wirt, hat es mir sogar bestätigt." „Kennen Sie die Namen der Männer?" „Nein, Majestät, aber die ließen sich wohl ermitteln. Meine Freunde und ich würden sie bestimmt wiedererkennen." Die Königin, die Devereux für einen Moment den Rücken zugewandt hatte, drehte sich jetzt abrupt um. Ihre Augen funkelten zornig. „Wissen Sie, was ich von der gan-
21 zen Geschichte halte, Mylord? Nichts! Schlicht und einfach nichts." Dem Grafen rieselte es eiskalt über den Rücken. Er wußte zwar, daß die Königin stur und hartnäckig sein konnte, aber mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet - zumindest nicht nach der geschickt vorgetragenen Kneipenstory. „Majestät!" rief er mit bebender Stimme. „Wollen Sie damit sagen, daß i c h . . . " Die Königin unterbrach ihn sofort. „Ich will damit sagen, daß es aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten gibt", sagte sie scharf. „Entweder waren diese Männer, von denen ein Wirt behauptete, es seien Männer aus der Crew Sir Hasards gewesen, betrunken, oder sie waren nüchtern. Da ich jedoch davon ausgehen kann, daß in unseren Londoner Kneipen kräftig gebechert wird, wage ich zu behaupten, daß ihre Hirne genauso umnebelt waren wie die der anderen Zecher. Und in diesem Zustand schwätzt man eben dummes Zeug und treibt alberne Spaße. Wären sie nämlich nicht betrunken gewesen, hätte es sich um Vollidioten handeln müssen, denn nur solche würden hochbrisante Umsturzpläne lautstark in einer Kneipe herposaunen. Ich halte es nicht für nötig, dieser Sache nachzugehen, da ich ihr nicht die geringste Bedeutung beimesse. Außerdem hatte ich inzwischen mehrfach die Gelegenheit, Sir Philip Hasard Killigrew und seine Männer als absolut loyal und zuverlässig kennenzulernen. Und ich verrate Ihnen noch etwas, Mylord: Wenn ich jemandem die
Kronjuwelen anvertrauen müßte dann diesen Männern!" Die Königin drehte sich um, ließ Devereux einfach stehen und eilte mit raschen Schritten hinaus. Der Graf stand da, als hätte man ihn mit Eiswasser übergossen. Für einen Moment war er unfähig, sich zu rühren. Die Königin hatte ihn - ihn, den Earl of Essex - abgekanzelt wie einen dummen kleinen Jungen! O nein, das würde er sich nicht gefallen lassen. Auch nicht von der Königin. Und diesem Killigrew, dem würde er jetzt erst recht zeigen, wer hier den längeren Arm hatte. Wutentbrannt und kalkweiß im Gesicht stürmte Robert Devereux aus dem Audienzzimmer.
4. Die Nacht hatte sich über London gesenkt. Der Mond stand als gelbe Sichel am Himmel und warf sein fahles Licht über die Stadt und den Fluß. Für die Seewölfe war der Tag ruhig verlaufen. Sie waren mit den anstehenden Arbeiten ein Stück vorangelangt, und der Kutscher hatte dafür gesorgt, daß die Vorratskammer der Schebecke mit frischem Proviant gefüllt worden war. Selbst einige prächtige Stücke Lammfleisch hingen an den Haken und nicht weit davon entfernt ein Säckchen mit Knoblauch. Ein Großteil der Crew nutzte ihre Freiwache zu einem ausgiebigen Landgang. „Huntly's Corner" - das war der heiße Tip des Abends gewesen. Der Seewolf war mit einer Handvoll seiner Mannen an Bord geblie-
22 ben und hatte die Wache übernommen. Da ausgesprochene Ruhe an der Towerpier herrschte, hatte er sich in seine Kammer zurückgezogen, um im blakenden Licht einer Tranlampe einige neue Seekarten zu studieren. In der Nähe des Schotts lag Plymmie, die Wolfshündin, und schien zu dösen. Die wenigen Männer, die Wache gingen, hielten sich vorn und achtern auf. Einige waren bei spärlichem Licht mit Würfelspielen beschäftigt. Der Kutscher, der erst am gestrigen Abend mit an Land gewesen war, blätterte gedankenverloren in einem abgegriffenen Buch, in dem die Wirkung von Heilpflanzen beschrieben wurde. Trotz des Frühnebels hatte sich im Tagesverlauf die Sonne durchgesetzt. Selbst jetzt, am Abend, strich ein milder Frühjahrswind über die Themse, so daß keiner der Arwenacks, der sich an Deck befand, frieren mußte. Die Zeit verrann, bisweilen war das Glasen einer Schiffsglocke zu hören. Manchmal tönte das dumpfe Schlagen einer Turmuhr zum Liegeplatz der Schebecke hinüber. Es war bereits kurz vor Mitternacht, als die friedliche Idylle jäh zerstört wurde. Entfernte Hilferufe ließen die Bordwachen zusammenzucken. „Hilfe! Ihr verdammten Scheißkerle! Ich ertrinke - so helft mir doch!" „Das ist eine Frau", sagte der Kutscher und klappte sofort das Buch zusammen. „Wenn mich nicht alles täuscht", meinte Paddy Rogers, „liegt die Frau
im Wasser. Die Schreie kommen von dort drüben." Er deutete in Richtung Flußmitte. „Du bist vielleicht ein schlaues Bürschchen", stieß der Kutscher hervor. „Meinst du vielleicht, die geht dort an der Pier spazieren und ist am Ertrinken?" Die Hilferufe waren erneut zu hören. Diesmal lauter und schriller. „Wir müssen etwas unternehmen", entschied der Kutscher. „Philip, gib sofort dem Kapitän Bescheid." Philip junior lief sofort zum Achterdeck, aber Hasard erschien bereits in Begleitung Plymmies. „Will, Donegal, Jack, Piet und Philip - ihr bleibt hier und paßt auf das Schiff auf", sagte er kurz. „Die anderen kommen mit mir. Nehmt ein Tau mit und eine Lampe." „Hilfe - ich kann nicht schwimmen, so helft mir doch endlich. Hilfe!" Die Schreie wurden unverkennbar in Todesangst ausgestoßen. „Einen Moment, Lady, wir helfen gleich!" rief Hasard. „Halten Sie sich mit Armbewegungen über Wasser. Und schreien Sie weiter, damit wir Sie in der Dunkelheit finden." Die Arwenacks handelten rasch. Während Luke Morgan nach einer Taurolle griff und der Kutscher die blakende Laterne am eisernen Griff packte, eilten die anderen bereits an das Backbordschanzkleid, um in die am Schiff vertäute Jolle abzuentern. „Irgendwie meine ich, die Stimme zu kennen", murmelte der Profos, als er und Big Old Shane das Boot von der Bordwand abstießen. „Ich möchte fast behaupten, daß sie zu der schlagkräftigen Lady gehört, die ge-
23 stern den verdammten Spitzel zum Teufel gejagt hat." „Kann sein", ließ sich der Seewolf vernehmen. „Weiß der Teufel, wie die mitten in die Themse gelangte." Die Arwenacks legten sich kräftig in die Riemen und pullten in jene Richtung, aus der die Hilferufe zu ihnen drangen. „Vielleicht hat sie ein unzufriedener Freier ins Wasser geworfen", meinte Luke Morgan. „Aber doch nicht in Flußmitte, du Hirsch!" bollerte der Profos. „Es sei denn - nun ja, die beiden hätten sich miteinander in einem Boot - ä h . . . " „Das ist jetzt unerheblich", sagte der Seewolf. „Wenn wir sie nicht bald finden, ertrinkt sie." Die Arwenacks meldeten sich mit ständigen Zurufen und schwenkten die Laterne. Da die Schreie immer lauter wurden, wußten sie, daß sie auf dem richtigen Kurs lagen. Sie trieben das Boot mit kräftigen Riemenschlägen voran und waren jetzt mehr als eine Kabellänge von der Schebecke entfernt. Die Wolkenfetzen, die sich vor den Mond geschoben hatten, wanderten weiter. Das milchige Licht entlockte dem Wasser der Themse ein schwaches Glitzern. Es reichte aus, um die Frau zu finden. Was zunächst wie ein kleiner, dunkler Schatten auf der Wasseroberfläche aussah, entpuppte sich durch seine heftigen Bewegungen rasch als Ziel der Arwenacks. „Hier bin ich!" schrie die Frau mit schriller Stimme. „Ich - ich kann
nicht mehr lange durchhalten. Hilfe! Hierher!" „Noch eine Minute, Lady!" rief der Seewolf, „dann sind wir da." Es dauerte in der Tat nicht länger, bis die Jolle die in Todesangst um sich schlagende Frau erreichte. Hasard hielt ihr einen Bootsriemen entgegen. „Halten Sie sich daran fest!" rief er. Sie tat es. Wenige Augenblicke später zogen die Arwenacks ein völlig erschöpftes, nasses Bündel in die Jolle. „Bei des Teufels Großmutter", murmelte der Profos, „sie ist es!" Er hatte sich nicht getäuscht. Jenny-Rose kauerte nach Luft japsend auf den Planken. „Heiliger Patrick!" keuchte sie. „Um ein Haar wäre ich ertrunken. Lange hätte ich mich nicht mehr über Wasser halten können. Diese Schweine - diese elenden Schweine!" „Nun denn, Lady, du kannst uns später noch erzählen, was passiert ist", sagte der Seewolf. „Wir pullen erst mal zurück zu unserem Schiff. Sei ganz ruhig, jetzt kann nichts mehr passieren." Doch damit hatte er sich gewaltig geirrt.
Bis jetzt hatten weder Hasard noch die anderen Männer, die zur Jollenbesatzung gehörten, etwas Ungewöhnliches bemerkt. Auch die beiden Boote, die sich während der Bergungsaktion aus dem Gewirr der am Themseufer vertäuten größeren und kleineren Segler gelöst hatten, waren ihnen bislang nicht aufgefallen.
24 Big Old Shane, der mit seiner wuchtigen Gestalt und dem mächtigen grauen Bart an den Meeresgott Neptun erinnerte, war der erste, der die beiden Boote bemerkte. Mit ausgestrecktem Arm deutete er in die Dunkelheit. „Wir erhalten Besuch", sagte er sachlich. In der Tat hielten die Boote direkt auf die Jolle der Arwenacks zu. „Ob das noch ein paar edle Retter sind?" fragte der Profos. Aber diese Frage konnte niemand genau beantworten. Immerhin lag es im Bereich des Möglichen, daß die Hilferufe der Lady auch von anderen gehört worden waren. Die Blicke des Seewolfs versuchten die Dunkelheit, so gut es ging, zu durchdringen, aber auch er konnte nichts besonders Auffälliges entdekken, außer daß eine Distanz von ungefähr einer halben Kabellänge zwischen den beiden Booten lag. So gesehen, hielten sie von zwei Seiten auf die Jolle zu. „Es sieht fast so aus, als wolle man uns in die Zange nehmen und den Rückweg zur Schebecke abschneiden", sagte Hasard. „Aber das kann natürlich auch täuschen." „Soll ich vorsichtshalber die Laterne auslöschen, Sir?" fragte der Kutscher. „Das kann nicht schaden", erwiderte Hasard. „Im Dunkeln gibt man keine so gute Zielscheibe ab." Aufgrund der veränderten Situation hatte sich Edwin Carberry inzwischen der triefend nassen Jenny-Rose zugewandt, die nach wie vor schlotternd auf den Planken kauerte.
„Darf man dir nun, nachdem du einige Humpen Themsewasser genossen hast, eine kurze Frage stellen, du holde Blume?" „Klar, Süßer." Ihre Zähne klapperten vor Kälte. „Uns würde nämlich interessieren, wie du in der Nacht mitten in die Themse geraten bist, obwohl du offenbar nicht besser schwimmen kannst als eine Kanonenkugel." „Das fragst du noch?" Nachdem Jenny-Rose den ersten Schock überwunden hatte, wurde sie erneut vom Zorn übermannt und begann wütend zu keifen. „Hineingeworfen haben sie mich, diese Bastarde! Einfach hineingeworfen!" „Und was für Bastarde waren das?" wollte der Profos wissen. „Das weiß der Kuckuck!" fauchte Jenny-Rose. „Und warum sie es getan haben, weiß ich auch nicht. Einer spielte mir den Freier vor und lockte mich zu einem Boot, in dem mehrere Kerle auf ihn warteten. Dann haben sie mich einfach festgehalten, sind mit mir da hinübergefahren und haben mich über Bord geworfen. Der Teufel soll sie dafür holen!" In diesem Augenblick wurde den Arwenacks endgültig klar, daß man sie in eine Falle gelockt hatte. „Also brauchen wir uns nicht auf den Empfang weiterer edler Retter einzustellen", sagte Hasard. „Irgend jemand wollte uns von der Schebecke weglocken." „Um das Schiff in Ruhe ausplündern zu können?" fragte Luke Morgan mit einem schrägen Blick zu den nahenden Booten. „Das glaube ich nicht", entgegnete
25 Hasard. „Auf der Schebecke scheint Ruhe zu herrschen. Es muß andere Gründe dafür geben, daß die Kerle wie verrückt auf uns zupullen. Und ich schätze, daß wir schon recht bald erfahren, was da gespielt wird." Zu Jenny-Rose sagte der Seewolf: „Am besten, du verkriechst dich unter eine Ducht, Lady, sonst kann es passieren, daß du noch mal schwimmen mußt." „Von wegen!" donnerte Jenny-Rose und stemmte sich von den Planken hoch. „Gebt mir lieber einen handfesten Prügel, damit ich mich bei diesen Mistkerlen gebührend bedanken kann." Für kurze Zeit schoben sich Wolkenfetzen vor die Mondsichel, so daß die beiden Boote nur noch als dunkle Schatten wahrzunehmen waren. Die Arwenacks mußten innerhalb der nächsten Minuten mit einer Begegnung rechnen - wie immer diese auch ausgehen mochte. Natürlich waren sich die sechs Mannen darüber im klaren, daß sie bei zwei vollbesetzten Booten eine deutliche Übermacht zu erwarten hatten. Hinzu kam, daß sie außer einigen Messern und Pistolen keinerlei Waffen bei sich trugen. Die Lage spitzte sich mehr und mehr zu. „Nehmt die Riemen", sagte der Seewolf mit gedämpfter Stimme, und die Mannen wußten nur zu genau, was das zu bedeuten hatte. Schließlich war es nicht das erste Mal, daß sie die Bootsriemen notgedrungen als Schlagwerkzeuge benutzten. Hasard legte die Hände trichterförmig an den Mund.
„Die Frau ist gerettet!" rief er. „Was wollt ihr von uns?" Statt einer Antwort dröhnte spöttisches Gelächter zu der Jolle. Die Arwenacks zogen langsam die Riemen aus dem nachtschwarzen Wasser. Das Boot, das schräg auf die Backbordseite der Jolle zuhielt, würde als erstes den Schauplatz erreichen. Das andere Gefährt war noch mindestens fünfzig Yards entfernt. Hasard startete einen letzten Versuch. „Was wollt ihr?" rief er. „Wir werden die Frau am Ufer absetzen. Bis dahin steht sie unter unserem Schutz." „Die Hure könnt ihr behalten", tönte eine rauhe Stimme zurück, „wenn ihr uns dafür den Seewolf ausliefert!" „Abgelehnt!" rief Hasard zurück. „Wenn ihr mich haben wollt, müßt ihr euch schon ein wenig anstrengen. „Genau das werden wir tun", ließ sich dieselbe Stimme vernehmen. „Wir sind insgesamt sechzehn Mann, und bereits jetzt sind eine ganze Menge Musketenläufe auf euch gerichtet. Wenn ihr euch nicht ergebt, verarbeiten wir euch zu Fischfutter!" „Das sieht verdammt mulmig aus, Sir", raunte der Profos. „Wenn die uns in die Zange nehmen, haben wir wirklich keine großen Chancen mehr. Und die Deckungsmöglichkeit bei Schußwaffengebrauch ist hier gleich Null." „Du hast völlig recht, Ed", entgegnete Hasard. „Ich gehe jedoch davon aus, daß man die Kerle nicht hierher
26 geschickt hat, um mich umzubringen. Die Burschen bezwecken etwas, und dazu brauchen sie einen lebenden Killigrew. Wir werden sehen, was sich ergibt. Wenn es die Lage gebietet, werde ich mich unter der Bedingung ergeben, daß ihr zur Schebecke zurückkehren könnt." Der Profos schob das Amboßkinn vor. „Aber Sir, wir lassen dich doch nicht..." „Keinen Widerspruch", unterbrach ihn Hasard. „Es wird kein Leben unnütz aufs Spiel gesetzt." Zu JennyRose gewandt, fügte er noch hinzu: „Und du verschwindest jetzt, so gut es eben geht, unter der achteren Ducht, Lady." Aber da biß der Seewolf zum zweiten Male auf Granit. Jenny-Rose hielt bereits einen Bootsriemen in der Hand. „Ich bin kein Angsthase", erklärte sie. „Richtig Schiß hatte ich nur, als ich kübelweise Themsewasser schlukken mußte. Hier aber kann ich mich bewegen, und wenn dieser Holzprügel in Stücke geflogen ist, werde ich jedem einzelnen dieser Kerle die Augen auskratzen." Da war echt nichts zu machen, das mußte auch Hasard einsehen. Das erste Boot der Schnapphähne schob sich aus der Dunkelheit heran und sollte wohl an der Backbordseite der Jolle längsseits gehen. Die Besatzung bestand - soweit das im spärlichen Mondlicht zu erkennen war - aus acht übel aussehenden Kerlen. Offenbar hatte man da einen wüsten Haufen von Hafenstrolchen und anderen Tagedieben zusammengewürfelt - Burschen, die für eine
Handvoll Münzen ihre eigene Großmutter auf einem Sklavenmarkt verkaufen würden. Und was nicht zu übersehen war: Vier dieser Kerle hatten tatsächlich ihre Musketen auf die Handvoll Arwenacks gerichtet. Ein vierschrötiger Mann mit einem struppigen Bart erhob sich von der achteren Ducht und verzog das verschlagene Gesicht zu einem hämischen Grinsen. Offenbar war er der Anführer. „Na, Killigrew, bist du immer noch nicht bereit, freiwillig auf dieses Boot umzusteigen?" Hasard stand in der Jolle und hatte sich lässig auf den hochkant gestellten Riemen gestützt. „Das ist noch zu überlegen", erwiderte er. „Darf man zunächst einmal erfahren, wer sich meine Gesellschaft einen solchen nächtlichen Aufwand kosten läßt?" „Das tut nichts zur Sache, aber es wird wohl jemand sein, dem du lieb und teuer bist." „Nun ja, einen solchen Gönner sollte man wohl nicht enttäuschen", sagte Hasard voller Spott. „Da ich jedoch kein Freund von nassen Füßen bin, muß ich schon darum bitten, daß ihr mit eurem Boot ein bißchen näherrückt, um mir das Umsteigen zu erleichtern." Der Bärtige ging sofort darauf ein. Vielleicht glaubte er tatsächlich, Sir Philip Hasard Killigrew gehöre zu jenen vornehmen Stutzern, die nasse Füße und einen nachfolgenden Schnupfen fürchteten. Jedenfalls ließ er das Boot sofort näher an die Backbordseite der Jolle manövrieren.
27 Der Seewolf wartete nicht, bis das Boot das Dollbord berührte. In seine schlanke, mehr als sechs Fuß große Gestalt, geriet plötzlich Leben. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er den Riemen hoch und hechtete mit einem gewaltigen Sprung auf das Dollbord des fremden Bootes hinüber. Durch sein Körpergewicht krängte das leichte Boot so stark nach Backbord über, daß die völlig überraschten Kerle urplötzlich durcheinanderflogen. Der bärtige Anführer und die vier Musketenmänner, die sich bereits von den Duchten erhoben hatten, waren die ersten, die sich im kühlen Wasser der Themse wiederfanden. „Auf geht's zum Schinkenklopfen!" brüllte Carberry. Die Riemen der Arwenacks zischten augenblicklich durch die Luft und gleich darauf zeigten einige der Gestalten im Wasser kein Interesse mehr daran, sich an irgendeinem Dollbord festzuklammern. Zwei weitere Kerle wurden von den Duchten gefegt und sanken durch die Wucht der Hiebe wie schlaffe Mehlsäcke in sich zusammen. Auch der Seewolf war zwangsläufig mit ins Wasser gerissen worden. Er ließ dort jedoch emsig den Riemen tanzen. Eine der verluderten Gestalten hatte sich in dem wie wild schaukelnden Boot auf die Heckducht geschwungen und fuchtelte - laut Kommandos brüllend - mit einem Degen in der Luft herum. Doch bevor er die Waffe zum Einsatz bringen konnte, traf ihn Carber-
rys Riemen wie ein Rammbock gegen die Brust. Er schrie laut auf, ließ den Degen fallen und kippte ebenfalls über Bord. Einem spindeldürren Burschen, der sich im Rücken der Seewölfe triefend naß in die Jolle gezogen hatte und nun mit einem Messer auf Big Old Shane losgehen wollte, blieb nicht einmal die Zeit, dies zu bereuen. Der ehemalige Waffenschmied der Feste Arwenacks wehrte die Messerattacke mit einem harten Riemenschlag ab und wuchtete dem Angreifer dann mit einer solchen Kraft die rechte Faust unters Kinn, daß er wie von einem Katapult abgeschossen in die Themse zurückgeschleudert wurde. Die Arwenacks gerieten jetzt so richtig in Fahrt, und selbst JennyRose, deren schönes rotes Haar immer noch naß am Kopf klebte, leistete wackeren Beistand. Von den wenig schmeichelhaften Kampfrufen, die sie dabei mit schriller Stimme von sich gab, konnte selbst der Profos noch einiges lernen. Das hinterhältige Lumpenpack hätte auf Dauer keine Chance gegen den Seewolf und seine Mannen gehabt, wenn da nicht noch das zweite Boot gewesen wäre, das ebenfalls mit acht üblen Gestalten besetzt war. Dieses Boot fiel den Arwenacks gewissermaßen in den Rücken, als es an der Steuerbordseite der Jolle auftauchte. Diesmal hielten die Burschen auf Distanz, um nicht in die Reichweite der Bootsriemen des Gegners zu geraten. Außerdem waren nun sechs Musketenläufe auf die Männer in der Jolle gerichtet.
28 „Notfalls haben wir für jeden eine die beiden Boote mit dem gefesselten Kugel!" brüllte der glatzköpfige An- Seewolf an Bord flußaufwärts in der führer dieses Gefährts. „Und wir ha- Nacht. ben Anweisung, nicht daran zu sparen, wenn es hart auf hart geht", fügte er noch hinzu. „Ergebt euch und 5. legt die Waffen weg. Wir wollen nur den Killigrew, alle anderen können Edwin Carberry rollte wild mit den verschwinden." Augen und ließ - ohne die geringste Jetzt sah es in der Tat bitter aus für Rücksicht auf die Gegenwart von die Arwenacks. Von der Schebecke Jenny-Rose zu nehmen - einen ellenwar keine Hilfe zu erwarten, die weni- langen Fluch vom Stapel. Bei einer gen Männer, die dort verblieben wa- riesengroßen Schweinerei tatenlos ren, durften ihren Posten nicht ver- zusehen zu müssen, war für ihn eins lassen. Außerdem konnten sie nur der größten Übel überhaupt. entfernt ahnen, was hier draußen auf „Heiliger Bimbam", stöhnte er der Themse vor sich ging. schließlich. „Ich fühle mich wie einer, Die Mannen mußten einsehen, daß der am Galgen baumelt und keine sie der Übermacht des Feindes und Luft mehr kriegt." der Waffen auf Dauer nicht gewachSo erging es auch den anderen an sen waren. Bord der Jolle. Es juckte ihnen allen „Gut, ich beuge mich der Gewalt", mächtig in den Fäusten, aber sie entgegnete der Seewolf, der sich wie- konnten in ihrer gegenwärtigen der an Bord der Jolle befand. „Aber Situation nichts gegen die Übernur unter der Bedingung, daß meine macht der Halunken ausrichten, ohne Männer unbehelligt zu unserem dabei auch das Leben Hasards zu geSchiff zurückkehren können." fährden. „Einverstanden", sagte der Glatz„Im Augenblick können wir nicht kopf. „An ihnen sind wir nicht intermehr tun, als zu unserem Schiff zuessiert. Wenn sie allerdings versurückzukehren", sagte Big Old Shane. chen sollten, uns zu folgen, schießen Er ließ sich auf eine der Duchten sinwir." ken und griff nach dem Riemen. Es blieb keine andere Wahl, die Ar„So ist es", sagte der Kutscher. wenacks streckten mit knirschenden „Am besten, wir schicken einen BoZähnen die Waffen. In ihrem Fall beten zu ,Huntly's Corner' und tromdeutete das, daß sie die Riemen in die meln alle zu einer Lagebesprechung Dollen legten. an Bord zusammen." Hasard mußte die wenigen Yards zu dem fremden Boot schwimmend „Mehr werden wir für den Rest der zurücklegen, da die verluderten Nacht auch nicht tun können", Kerle nicht bereit waren, näher an meinte Luke Morgan. „Dem Lumpendie Jolle heranzupullen. pack mit der Schebecke zu folgen, Augenblicke später verschwanden bringt auch nichts. Bis wir das Schiff
29 flottkriegen, sind die Kerle längst irgendwo an Land gegangen, und wir wissen nicht einmal, an welchem Ufer." Der Kutscher schüttelte den Kopf. „Nein, Luke, gerade in der Dunkelheit wäre das völlig sinnlos. Wir haben die Boote ja jetzt schon aus den Augen verloren. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß sich unser Kapitän in den Händen dieser Gauner befindet." Die Arwenacks legten sich kräftig in die Riemen und nahmen Kurs auf die Towerpier. Eine brennende Laterne auf den Achterdecksaufbauten der Schebecke erleichterte ihnen die Orientierung. Jenny-Rose, die während der letzten Minuten recht schweigsam geworden war, schien plötzlich so etwas wie Gewissensbisse zu empfinden. „Und ich bin auch noch schuld an diesem verdammten Affentheater", sagte sie. „Ihr seid extra rausgepullt, um mich aus dem Wasser zu ziehen, und jetzt habt ihr dafür eine Menge Ärger am Hals." „Ganz so kannst du das nicht sehen, Lady", erklärte der Kutscher. „Genaugenommen kannst du überhaupt nichts dafür. Die Kerle haben dich genauso in eine Falle gelockt wie uns. Die brauchten lediglich eine Frau mit kräftiger Stimme, um sie als Lockvogel zu benutzen. Die Sache wäre übel für dich ausgegangen, wenn wir dich nicht rechtzeitig gefunden hätten." „Du bist ein richtiger Schatz", flötete Jenny-Rose, nachdem der Kutscher sie mit seinen Worten etwas aufgebaut hatte. „Ihr alle seid Schätze - wirklich. Eine Frau wie ich
kann das beurteilen. Andere Kerle hätten mich lieber wie eine Katze ersaufen lassen, statt mich aus dem Wasser zu fischen. Ich muß mir echt noch überlegen, wie ich mich bei euch allen bedanken k a n n . . . " „Oh, das hat viel Zeit, Süße", unterbrach der Profos hastig, „ich meine äh - das mit dem Bedanken. Wir erwarten nämlich gar keinen Dank für solche Kleinigkeiten, verstehst du? Außerdem haben wir vorerst bestimmt alle Hände voll zu tun." Diese netten Worte brachten dem Profos, der sich anstelle des entführten Seewolfs auf der achteren Ducht niedergelassen hatte, ungewollt einen graziös zugeworfenen Handkuß ein. Die Mannen erreichten ungehindert die Schebecke, auf der sie von den Kameraden bereits ungeduldig erwartet wurden. „Was war denn los da draußen, he?" rief Old O'Flynn, der sich über das Schanzkleid beugte. „Und bei allen Wassermännern - wo ist Hasard?" „Laß uns mal erst an Bord, da spricht's sich leichter", antwortete Edwin Carberry mit einem grimmigen Unterton in der Stimme. Das Aufentern ging rasch vonstatten. Die Mannen berichteten den bestürzten Kameraden der Bordwache in kurzen Sätzen, was geschehen war. Philip junior holte auf das Geheiß des Kutschers eine Decke für die nasse und frierende Lady und außerdem eine Muck mit Rum, die von Jenny-Rose mit weit größerer Dankbarkeit begrüßt wurde als die Wolldecke. Einen Boten zur Kneipe von Cyrus Huntly zu schicken, erübrigte sich.
30 Old Donegal hatte das bereits veranlaßt, als Geräuschfetzen, die bis zur Schebecke gedrungen waren, auf Ärger schließen ließen. Piet Straaten hatte sich sofort auf den Weg begeben, und man rechnete jeden Augenblick mit dem Eintreffen der Männer. „Und was soll mit diesem unmoralischen Frauenzimmer geschehen?" begehrte Old Donegal zu wissen. „Soll sie vielleicht auf unserem Schiff übernachten?" „Das ginge nur, wenn du in deiner Koje etwas zur Seite rückst", entgegnete Edwin Carberry spitz. „Oder willst du sie einfach zum Teufel jagen, was, wie?" Der Kutscher beendete die Diskussion. „Jenny-Rose können wir getrost nach Hause schicken. Die Lady steht wieder fest auf den Beinen, und der Rum wird ihr zartfühlendes Herz auch ein bißchen erwärmt haben." Luke Morgan grinste. „Die ist längst wieder fit. Wenn ich daran denke, wie sie mit dem Riemen auf die Kerle losgedroschen hat." „Und außerdem ist sie von Berufs wegen gewohnt, als Frau nachts allein unterwegs zu sein", fügte der Kutscher hinzu. „Sie wird ihre Koje schon finden." Es dauerte jedoch noch einige Augenblicke, bis Jenny-Rose winkend und bester Laune die Schebecke verließ. In überschwenglicher Dankbarkeit hatte sie es sich nicht nehmen lassen, jedem, der an ihrer Rettung beteiligt gewesen war, einen schmatzenden Kuß auf die Wange zu drücken. „So ist das Leben", murmelte der Profos erschüttert. „Einmal wird
man von Königinnen geküßt, ein andermal von leichten Ladys . . . " Als Schritte und laute Stimmen die Ankunft der von Piet Straaten alarmierten Landgänger ankündigte, marschierte die Lady bereits über die Pier. „So was hat man gern", war die Stimme Ferris Tuckers zu hören. ,,Läßt man die Burschen für einige Stunden allein an Bord, gehen die Weiber dort bereits ein und aus." Die gute Stimmung, die die Mannen aus „Huntly's Corner" mitgebracht hatten, verflog jedoch rasch, als der Kutscher sie über die Vorgänge dieser Nacht informierte. Die anfängliche Ratlosigkeit wich rasch hitzigen Debatten. „Wahrscheinlich haben wir es mit Schnapphähnen zu tun, die Lösegeldforderungen stellen werden, oder aber scharf darauf sind, unsere Schebecke auszuplündern", sagte Dan O'Flynn. „Es ist ja nicht das erste Mal, das man uns durch Geiselnahme zu erpressen versucht." Ben Brighton und einige anderen waren jedoch nicht seiner Meinung. „Ich werde das verdammte Gefühl nicht los", sagte Ben in seiner ruhigen, besonnenen Art, „daß diesmal etwas ganz anderes anliegt. Wenn es um Lösegeld ginge, dann hätten die Halunken ja gleich bei eurer Kapitulation ihre Forderungen stellen können. Das hätte ihnen das Risiko erspart, das die Übergabe eines Erpresserbriefes für gewöhnlich mit sich bringt. Auch glaube ich nicht, daß die Kerle unser Schiff ausnehmen wollen. Dazu hätten sie die beste Gelegenheit gehabt, als ihr euch draußen
31 auf der Themse befandet und die Bordwache nur noch aus wenigen Männern bestand. Meiner Meinung nach hat man uns da eine weit härtere Nuß zugespielt, an der wir uns die Zähne ausbeißen sollen." Die Arwenacks horchten auf. Es war nicht unlogisch, was Ben da sagte. „An was denkst du?" fragte Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann. „Gehen deine Gedanken bereits in eine bestimmte Richtung?" Ben Brighton lächelte. „Nun ja Gedanken sind bekanntlich frei. Es kann durchaus sein, daß ich völlig danebenliege. Aber mir spukt ständig dieser Devereux im Kopf herum." „Der windige Graf?" fragte Old Donegal erstaunt. „Glaubst du wirklich, daß der etwas mit der Sache zu tun haben könnte? Ich meine, er ist schließlich trotz aller seiner Mucken ein echter Graf, einer der angesehensten Männer am Hof, eine Lordschaft . . . " „Und ein ausgekochter Halunke dazu", unterbrach Ferris Tucker. „Daran gibt es doch wohl keinen Zweifel nach all den Theaterstückchen, die er sich bisher geleistet hat. Das müßtest du schließlich genausogut wissen wie wir, Donegal." Der Alte zuckte hilflos mit den Schultern. „Na ja", sagte er. „Es ist mir sehr wohl bekannt, daß nicht jeder, der sich in einer hohen Stellung befindet oder einen entsprechenden Titel trägt, auch ein Ehrenmann ist. Und ich schätze den Grafen von Essex sogar als einen ganz durchtriebenen Burschen ein, aber daß er so weit ge-
hen würde, unseren Kapitän zu entführen, nur weil er scharf auf unsere Klunkerchen i s t . . . " „Mein lieber Donegal", fiel ihm der Kutscher ins Wort. „Dir muß heute nacht das Holzbein auf den Kopf gefallen sein. Wer spricht denn von Klunkerchen? Dieses Thema haben wir längst hinter uns. Außerdem hat der Graf von diesem Zeug wohl selber genug. Dem Kerl geht es um etwas völlig anderes. Er ist eifersüchtig, jawohl, ganz einfach eifersüchtig." Nun aber schüttelte der meist etwas langsame Paddy Rogers verständnislos den Kopf. „Ein Ende des Holzbeins muß aber auch deinen Schädel getroffen haben, Kutscher. Warum soll der Kerl denn eifersüchtig sein? Unser Kapitän ist doch keine Lady, die sich für einen anderen Liebhaber entschieden hat!" Der Kutscher griff sich mit beiden Händen an den Kopf. „O Lord", stöhnte er, „ich werde in dieser Nacht noch wahnsinnig. Eifersucht hat doch nicht zwangsläufig etwas mit einer Frau zu tun. Man spricht genauso von Eifersucht, wenn jemand einem anderen seine Stellung, sein Ansehen oder vielleicht auch die Gunst neidet, die er - sagen wir einmal - bei der Königin genießt." Die meisten Arwenacks zogen jetzt nachdenkliche Gesichter. „Der Kutscher hat recht", sagte Carberry. „Und Ben auch. Unser Kapitän genießt bei der alten Bessy hohes Ansehen, und das scheint diesem Rübenschwein von einem Grafen wohl nicht in den Kram zu passen. Ei-
32 fersüchtig wie er ist, befürchtet er, unser Sir könne ihm den Rang ablaufen. Das war schließlich auch der Grund für das Wettsegeln, nur ging das für ihn voll in die Hose. O ja, ich halte diesen Hundesohn durchaus für fähig, eine großangelegte Schweinerei auszubrüten." Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, hieb sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Und dieser Kerl hockt den ganzen Abend in derselben Kneipe wie wir und soff, was das Zeug hielt, während - wenn wir mal davon ausgehen, daß unsere Vermutungen stimmen - sein angeheuertes Lumpenpack die Dreckarbeit erledigte. Was meint ihr, Leute, wollen wir uns diesen liederlichen Lord gleich vorknöpfen?" Ben Brighton hob abwehrend die Hände. „Nur langsam", sagte er beschwichtigend. „Wir dürfen jetzt nicht den Fehler begehen und alles überstürzen. Noch stützen wir uns ausschließlich auf Vermutungen. Ohne Beweise dürfte es aber unmöglich sein, an eine solch hohe Persönlichkeit wie Devereux heranzukommen. Er ist nach wie vor einer der Hauptgünstlinge der Königin, und man kann sich da, wenn man nicht vorsichtig ist, gewaltig in die Nesseln setzen." „Heißt das, daß wir einfach untätig herumsitzen sollen?" fragte Jeff Bowie. Er ließ die Hakenprothese am linken Arm voller Tatendrang durch die Luft zischen. „Ganz und gar nicht", erwiderte Ben. „Aber wenn wir ohne Beweise dem Grafen einfach die Pistole auf die Brust setzen, landen wir schlicht
und einfach im Tower, und dort soll's alles andere als gemütlich sein. Außerdem würden wir von dort Hasard in keiner Weise helfen können. Wir müssen uns vielmehr Stück für Stück an den Kerl heranarbeiten. Wenn wir erst einmal genau wissen, daß er die Hände im Spiel hat, werden wir auch herauskriegen, wohin seine Helfer Hasard gebracht haben." „Und wie willst du das tun - so Schritt für Schritt?" fragte Jeff. Ben lächelte und zeigte damit, daß er die Lage wieder einmal ganz gut im Griff hatte. „Ich denke da zum Beispiel an diesen schmierigen Spitzel, der auf der Pier herumlungerte und Frühjahrsmüdigkeit vortäuschte, bis er von dieser lieblichen JennyRose vertrieben wurde. Dabei scheint der Kerl nur deshalb kein Interesse an ihren Angeboten gehabt zu haben, weil er sich von ihr bei seinen Beobachtungen gestört fühlte. Außerdem möchte ich daran erinnern, daß einige von euch selbst gesehen haben, wie er Devereux in ,Huntly's Corner' etwas zuflüsterte und dafür eine Belohnung kassierte." „Verdammt und zugenäht", entfuhr es Al Conroy, „fast das gleiche hat sich auch heute abgespielt, kurz bevor wir die Kneipe verließen. Nur habe ich dem nach dem soundsovielten Becher Brandy keine Bedeutung beigemessen." Er erntete eifriges Kopfnicken. „Wir wußten zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, was passiert war", sagte Ben Brighton. „Außerdem waren die Blicke der meisten wohl auch vom Brandy getrübt. Jedenfalls betrat dieser Kerl kurz vor unserem Ab-
Von R P , Weg ,3300 Braunschweig, erhielten wir folgenden Brief: Liebe Seewölfe-Redaktion! Ich bin zwar noch ein recht junger Leser Ihrer Serie (im doppelten Sinne: altersmäßig, ich bin 14, und zum anderen erst seit Nr. 536 dabei), dennoch muß ich mich einmal zu Wort melden. Kritik: 1. Der Preis ist ein bißchen hoch. 2. Ihr sprecht immer, von ,,Kap Hoorn", dabei wurde dieses erst 1613 so benannt. 3. Ihr solltet wieder (kürzere) Zyklen schreiben. 4. Die Sprengung der Schlangen-Insel war nicht das Wahre!! Positiv: 1. Seemannskiste, da ich mich sehr für Segelschiffe interessiere. 2. Der Bund der Korsaren ist eine gute Idee wie auch der Stützpunkt. Fragen: 1. Schreiben Eure Autoren unter Pseudonym, da sie englische Namen haben, die Serie aber nicht in England erscheint? 2. Warum bringt Ihr in der Seemannskiste keine Decksrisse mehr? Vorschläge: 1. Bringt doch in der Seemannskiste ein paar Ansichten (von See und von oben) vom Stützpunkt der Korsaren! 2. Wie wäre es mit neuen Crew-Mitgliedern oder gar neuen Mitgliedern im Bund der Korsaren (in Europa müssen doch welche zu finden sein)? 3. Bildet in der Seemannskiste einmal den Schiffstyp ab, den die Seewölfe zur Zeit verwenden! 4. Laßt doch wieder den Wikinger oder die Rote Korsarin den Seewölfen entgegenfahren. 5. Der Bund der Korsaren sollte ruhig ein paar unbemannte ,,Ersatzschiffe" im Stützpunkt unterhalten (Jerry Reeves braucht ein ordentliches Schiff.).
6. Tip für die 4. Weltumsegelung: Laßt die Seewölfe in Indien aufkreuzen. So, das wär's. Mit einem donnernden Arwenack verabschiedet sich- R P PS.: Ich bin froh, wenn mir ein Leser zu älteren Romanen (vielleicht kostenlos) verhelfen könnte, da mein Taschengeld nicht für die Käufe an der Börse reicht. Herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr P ! Zum Punkt Kritik möchten wir uns nur zu 2. äußern. Kap Hoorn wurde 1578 von Francis Drake entdeckt, aber nicht benannt, jedenfalls nicht direkt. Er nannte die Inseln an der Südspitze Südamerikas die „Elisabethiden". Die Engländer, die nach Drake den Pazifik befuhren und Drakes Bericht sicher kannten, machten keinen Gebrauch davon und zogen es vor, durch die Magellan-Straße zu segeln, denn das hatte den Vorzug, sich dort mit frischem Pinguinfleisch versorgen zu können. Den Holländern Le Maire und Willem Schouten blieb es vorbehalten, am 29. Januar 1616 das Kap zu runden und nach Schoutens Heimatstadt „Hoorn" zu benennen. Würden unsere Autoren bei Erwähnung des Kaps von „Elisabethiden" schreiben, wüßte kein Leser, wo das sein sollte! Es sei denn, sie würden jedesmal erklären, was damit gemeint ist. Was soll's! Insofern wurde von den Autoren „Kap Hoorn" gewählt, um dem Leser langatmige Beschreibungen zu ersparen. Wir meinen, daß dieser „Kunstgriff" verzeihlich ist. Zu den Fragen: 1. Ja, unsere Autoren schreiben unter einem Pseudonym. 2. Decksrisse müßten extra gezeichnet werden und würden den Etat für die Seemannskiste leider sehr hoch belasten - was nicht ,,drin" ist. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern den Segelriß (S. 34) und den Takelriß (S. 35) eines Dreimast-Gaffelschoners vor. Ganz allgemein ist der Schoner ein Segelschiff mit zwei und mehr Masten, an denen Schratsegel gefahren werden, das heißt Segel, die man in Längsschiffsrichtung setzt - im Gegensatz zum Rahsegel, das querschiffs gesetzt wird. Der Schoner stellt einen Übergang vom Rahsegler zum reinen Gaffelsegler dar (wie wir ihn abgebildet haben). Dazwischen gab und gibt es Varianten. Der normale Dreimast-Schoner führte am Fockmast Toppsegel und Bramsegel. Dreimast-Toppsegelschoner wiederum führten am Fockmast und am Großmast Toppsegel und Bramsegel (Toppsegel und Bramsegel sind Rahsegel!). Lediglich der Gaffelschoner hatte überhaupt keine Rahsegel, sondern nur Gaffel- und Stagsegel. Das Gaffelsegel ist mit seinem Oberliek an einer Gaffel angeschlagen, während das Stagsegel mit seinem Vorliek an einem Stag fährt. Die Gaffelsegel übertrafen an Wirksamkeit alle Segel aus früheren Zeiten. Die Gaffelschoner waren die verbreitetsten und leistungsfähigsten Küstensegler bis in unser Jahrhundert. Die Nummern bedeuten: 1 Außenklüver, 2 Klüver, 3 Binnenklüver, 4 Stagfock, 5 Schonersegel, 6 Vor-Gaffeltoppsegel, 7 Großsegel, 8 GroßGaffeltoppsegel, 9 Besan, 10 Besan-Gaffeltoppsegel, 11 Fockmast, 12 Großmast, 13 Besanmast, 14 Vorstenge, 15 Großstenge, 16 Besanstenge, 17 Vor-Bramstenge, 18 Groß-Bramstenge, 19 Besan-Bramstenge, 20 Schonersegelbaum, 21 Großbaum, 22 Besanbaum, 23 Schonersegelgaffel, 24 Großgaffel, 25 Besangaffel, 26 Außenklüverbaum, 27 Klüverbaum, 28 Bugspriet, 29 Stampfstock, 30 Fockwanten, 31 Großwanten, 32 Besanwanten, 33 Vorstenge- und Brampardunen, 34 Großstengeund Brampardunen, 35 Besanstenge- und Brampardunen, 36 Vorbramstag, 37 Vorstengestag, 38 Klüverstag, 39 Binnenklüverstag, 40 Fockstag, 41 Groß-Bramstag, 42 Groß-Stengestag, 43 Großstag, 44 Besan-Bramstag, 45 Besan-Stengestag, 46 Besanstag, 47 Vorbaumdirk, 48 Großbaumdirk, 49 Besanbaumdirk, 50 Vorpiekfall, 51 Großpiekfall, 52 Besanpiekfall, 53 Vorschot, 54 Großschot, 55 Besanschot.
37 marsch die Schankstube, wechselte einige Worte mit Devereux und wurde anschließend zum Umtrunk eingeladen. Daraus ist nicht nur zu schließen, daß er dem Grafen angenehme Nachrichten überbracht hat, sondern ihm überhaupt als Zuträger dient. Aus diesem Grund finde ich, daß wir bei ihm den Hebel ansetzen sollten." „Ich glaube, ich brech' auseinander", stöhnte Ferris Tucker. „Während wir uns ahnungslos den Brandy hinter die Binde kippten, hat diese Wühlmaus womöglich dem Grafen die Nachricht vom Gelingen des Anschlags überbracht." „Das ist absolut denkbar", erwiderte Ben. „Dann kaufen wir uns den Mistkerl sofort", verlangte Edwin Carberry. „Vielleicht hält er sich immer noch in der Kneipe auf und gurgelt mit Huntlys bestem Brandy." „Das ist gut möglich", sagte Ben. „Wir sollten deshalb keine Zeit verlieren. Ed, Ferris und Philip - ihr begleitet mich zu Huntly's Kneipe. Sobald der Kerl die Pinte verläßt, werden wir ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Ich halte es sogar für möglich, daß er sich nach dem Besäufnis wieder zur Towerpier begibt, um zu beobachten, was sich nach der Entführung Hasards bei uns tut." „Na, das werden wir ihm gründlich versalzen", versprach der Profos und rieb sich in Erwartung der kommenden Dinge genüßlich die Pranken. Die Arwenacks atmeten auf, weil sie nun wenigstens einen begründeten Verdacht zu haben glaubten und ein Ziel, auf das sie hinarbeiten konnten.
Ben Brighton und seine drei Begleiter verließen die Schebecke und marschierten zu „Huntly's Corner". Philip junior gehörte deshalb zu dem kleinen Trupp, weil er noch nicht in der Kneipe gewesen war. Niemand würde sich deshalb etwas dabei denken, wenn er einen Blick in den Schankraum warf, um die Lage zu peilen. 6. Es war lange nach Mitternacht, als die Seewölfe in die schmale, kopfsteingepflasterte Gasse einbogen, an deren Ende „Huntly's Corner" lag. Schon bald würden die ersten hellen Schatten am Himmel den neuen Tag ankündigen. Im Schutz eines hochgewölbten Torbogens stoppten sie ihre Schritte. Die Entfernung zur Kneipe betrug höchstens noch dreißig Yards. Durch die Fensteröffnungen drangen noch immer Stimmengewirr, Gelächter und zuweilen das Grölen der Betrunkenen. „Die Zecher scheinen heute eine gehörige Ausdauer zu haben", sagte Ferris Tucker mit leiser Stimme und drückte sich sofort eng an die Mauer des Torgewölbes, als im gegenüberliegenden Haus plötzlich ein Fenster aufgerissen wurde. Eine Gestalt beugte sich aus der dunklen Öffnung, hievte ein irdenes Gefäß über die Brüstung und schüttete dessen Inhalt hinaus auf das Pflaster. Danach wurde das Fenster wieder geschlossen. Edwin Carberry grinste. „Da haben
38 wir aber Glück gehabt, daß wir auf der anderen Seite sind, was, wie?" „Freu dich nicht zu früh", sagte Ferris Tucker. „Auch die Leute, die auf unserer Seite wohnen, haben Nachttöpfe." Auf ein Zeichen Ben Brightons hin ging Philip auf die Kneipe zu, öffnete die schwere Eichentür und verschwand im Inneren. „Hoffentlich versackt das Jüngelchen nicht", raunte der Profos augenzwinkernd. „Der weiß schon, was er zu tun hat", entgegnete Ben. „Mehr als einen Humpen Dünnbier wird er nicht trinken." Auf dem Kopfsteinpflaster wurden plötzlich Schritte laut. Die Arwenacks verhielten sich still und verharrten reglos in der Einfahrt. Zwei uniformierte Männer der Stadtgarde gingen langsam durch die Gasse. Einige Schritte von den Arwenacks entfernt blieben sie stehen und blickten zur Kneipe. „Bei Huntly geht's wieder mal rund", sagte einer von ihnen. „Hm", meinte der andere. „Ein ganz schöner Lärm zu dieser späten Stunde. Wenn sich das in den nächsten Tagen wiederholt, müssen wir wieder mal ein Wörtchen mit ihm reden." „Zumindest auf einen Brandy", fügte der andere mit unterdrücktem Lachen hinzu. „Aber vorher sollten wir uns vergewissern, daß der Earl nicht zu den Gästen zählt, sonst haben wir am Ende den Ärger am Hals. Mit Seiner Lordschaft ist nicht zu spaßen." Das war wohl auch der Grund, war-
um die beiden Gardisten den Wirt trotz des Lärms unbehelligt ließen und ihren Kontrollgang fortsetzten. Die Geräusche ihrer Stiefel verloren sich rasch in der Dunkelheit. „Die brauchen wir nicht gerade als Zuschauer", ließ sich Carberry vernehmen. „So schnell werden sie auch nicht wieder auftauchen", meinte Ben. Die Zeit verrann, die Mannen schauten immer wieder ungeduldig zum Eingang der Kneipe hinüber. Endlich öffnete sich die Tür und Philip tauchte auf. Er schlenderte ohne Hast die Gasse entlang und kehrte dann rasch in den Schatten des Torbogens zurück. „Das waren der Zeit nach aber mindestens zwei Humpen Dünnbier", bemerkte der Profos spitz. „Eben nicht", sagte Philip. „Ich hatte schließlich auch was mit den Augen zu tun und nicht nur mit der Kehle." „Ist er noch drin?" fragte Ben unvermittelt. Philip nickte. „Der Graf auch. Die Kerle schlucken wie ausgedörrte Blumentöpfe. Von ihren Gesprächen konnte ich nicht viel mitkriegen. Sie werden ja wohl auch nicht laut darüber reden, wenn sie Dreck am Stekken haben." „Na schön", sagte Ben. „Dann können wir jetzt nichts anderes tun, als weiterhin zu warten. Hoffentlich wird der Bursche bald rausgeschmissen." Die Geduld der Seewölfe wurde in der Tat noch einmal auf eine harte Probe gestellt. Zwar verließen immer wieder mal einige Zecher mit mehr
39 oder weniger stabilen Schritten die Kneipe, aber der Spitzel war nicht dabei. Erst nach Ablauf einer guten halben Stunde war es soweit. McNeil trat auf die Gasse hinaus und blickte sich zunächst prüfend um, als müsse er sich orientieren. Nach einem lauten Rülpsen setzte er sich in Richtung Hafen in Bewegung. „Habe ich es nicht gesagt?" raunte Ben. „Der Kerl hat wahrscheinlich den Auftrag, uns weiterhin zu bespitzeln." Ferris lachte leise. „Dieser schwindsüchtige Bastard geht direkt an uns vorbei. Hoffentlich macht er sich nicht die Hosen voll, wenn wir ihn ein bißchen erschrecken." Der schmächtige McNeil war trotz der zahlreichen Brandys, die der Graf von Essex huldvoll spendiert hatte, noch erstaunlich gut auf den Beinen. Mit zufriedenem Gesicht und sich wohl völlig in Sicherheit wiegend, näherte er sich dem finsteren Torgewölbe, wo er sehnsüchtig erwartet wurde. Ben gab mit einem Nicken das Startsignal, und fast im selben Augenblick sah sich McNeil von vier dunklen Gestalten umringt. „Was - was soll das?" stotterte er völlig überrascht, als ihn Edwin Carberry wie ein Kaninchen am Nacken packte. Ferris Tucker griff im selben Moment zum Gürtel des schmächtigen Mannes, erleichterte ihn um sein Messer und warf es in hohem Bogen in den Rinnstein. „Schön ruhig, du triefäugige Kakerlake", sagte er mit gedämpfter
Stimme. „Wenn du laute Töne von dir gibst oder irgendwelche Zicken veranstaltest, muß ich dir leider den dürren Hals umdrehen." Zur Bekräftigung seiner Worte verstärkte er seinen Griff in McNeils Nacken. „Aber - was - was wollt ihr?" stieß der Kerl gurgelnd hervor. „Wir möchten dir nur unseren Geleitschutz anbieten", antwortete Ferris. „Schließlich kann man vornehme Leute, die zu den Saufkumpanen einer Lordschaft gehören, nicht ungeschützt bei Nacht und Nebel durch einsame Gassen marschieren lassen. Da wir denselben Weg haben wie du, werden wir ein bißchen auf dich aufpassen." Die Arwenacks nahmen McNeil in die Mitte, und der immer noch verblüffte Spitzel mußte wohl oder übel mit ihnen Schritt halten. So erreichte der kleine Trupp im ersten Morgengrauen ungehindert die Towerpier. Erst als er die Schebecke vor sich sah, riskierte McNeil einen Versuch, sich loszureißen. Er war ziemlich flink, und wenn es ihm gelang, den eisernen Griff des riesigen Kerls neben sich abzuschütteln, würde er rasch in irgendeinem Winkel untertauchen. Tatsächlich schaffte er es, der Pranke Edwin Carberrys mit einer schnellen und kräftigen Bewegung zu entschlüpfen. Doch seine Flucht war nach einem Schritt zu Ende. Jung Philip reagierte geistesgegenwärtig. Bevor McNeil aus dem Kreis seiner Bewacher ausbrechen konnte, stolperte er bereits über das vorgestreckte Bein Philips und flog der Länge nach aufs Pflaster. Diesmal packte ihn Carberry am
40 Kragen und hob ihn so weit hoch, daß seine Füße in der Luft baumelten. „Du brauchst dich nicht vor uns niederzuwerfen, du plattfüßige Miesmuschel", sagte er. „Wir sind nämlich nicht so vornehm wie ein gewisser Graf. Aber wenn du noch mal versuchst, wie eine Ratte davonzuhuschen, dann tauche ich dich ins Wasser und wische mit dir dort drüben auf der Schebecke die Decksplanken auf. Hast du das verstanden, du Giftzwerg?" McNeil nickte hastig und keuchte laut, als Carberry ihn wieder auf die Füße stellte. Wenige Augenblicke später enterten die Arwenacks mit ihrem Gefangenen an Bord der Schebecke, wo sie sofort von ihren Kameraden umringt wurden. McNeils kleine, gerötete Schweinsäuglein huschten ängstlich hin und her. Die grimmigen Blicke, die. ihn von allen Seiten trafen, erzeugten ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend. „Da hätten wir also unseren speziellen Freund, der sich seit Tagen so sehr für uns und unser Schiff interessiert", sagte Ben Brighton. „Ich finde, wir sollten so gastfreundlich sein und ihm unser feines Schiffchen endlich mal aus der Nähe zeigen. Vielleicht entdeckt er noch einige hübsche Kleinigkeiten, über die er seinem erlauchten Auftraggeber berichten kann." „Ich - ich weiß gar nicht, was Sie da reden, Sir", jammerte McNeil. Ben funkelte ihn wütend an. „Erstens bin ich kein Sir, und zweitens weißt du genau, von was ich spreche. Oder glaubst du, wir hätten
nicht bemerkt, daß du dich seit Tagen in der Nähe unseres Schiffes herumtreibst und hinterher deine Beobachtungen in ,Huntly's Corner' in bare Münze umsetzt?" „Aber - ich halte mich doch nur in der Nähe der Piers auf, weil ich da manchmal Arbeit finde", sagte McNeil. „Es vertäuen häufig Schiffe, die entladen werden müssen, und da werden Leute wie ich gebraucht, um die Kisten und Säcke an Land zu schleppen." „Aha, wir haben es also mit einem fleißigen Arbeiter zu tun", fuhr Ben fort. „Nur hat dich leider noch niemand von uns jemals einen Sack oder eine Kiste schleppen sehen. Dafür ist uns aufgefallen, daß du bei einer gewissen Lordschaft fleißig abgeladen hast. Siehst du, mein Freund, und jetzt sind wir genau beim Thema. Wir möchten von dir wissen, welche Art von Fracht du zu dem erlauchten Herrn befördert hast." McNeil fühlte sich äußerst unwohl, das war ihm deutlich anzusehen. Seine Blicke waren ständig auf der Suche nach einem Ausweg. Aber den gab es nicht - mitten im geschlossenen Kreis der Seewölfe. „Na, wo bleibt denn die Antwort?" fragte der Profos, dem das Zögern des Spitzels zu lange dauerte. „Falls dir noch nichts Passendes eingefallen ist, könntest du uns vorab schon mal verraten, wie dein Name ist. Den wirst du doch wohl wissen, wie?" Der Mann nickte eifrig. „Natürlich", sagte er dienstbeflissen. „Ich heiße McNeil. Bill McNeil." „Welch ein schöner Name", sagte der Profos mit einem furchteinflö-
41 ßenden Grinsen. „Aber wie steht's nun, Mister McNeil? Was hat unser fleißiger Arbeiter denn abgeladen? Ist dir inzwischen eine Ausrede eingefallen?" Er trat einen Schritt auf McNeil zu, was diesen veranlaßte, sofort ein Stück zurückzuweichen. „Das - das alles ist ein Mißverständnis", stotterte er. „Ich bin doch kein Spitzel. Seine - Seine Lordschaft gab mir ein Trinkgeld, jawohl, nur ein kleines Trinkgeld für einen kurzen Botengang." Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Das ist keine gute Ausrede", sagte er. „Seit wann benutzen Lordschaften für Botengänge Leute wie dich, statt ihre Lakaien loszuschicken? Nun, mein lieber McNeil, solche Geschichten brauchst du uns nicht aufzutischen. Du wirst dieses Schiff nur dann mit heilen Knochen verlassen, wenn du die Wahrheit sagst, und zwar verdammt schnell." Zur Bekräftigung von Bens Worten zogen die Arwenacks den Kreis um den Spitzel noch enger. McNeil wurde zusehends nervöser. Auf seiner Stirn perlten plötzlich kleine Schweißtropfen. „Nun - äh - ich sagte doch..." Ben winkte ab. „Schön, McNeil", sagte er mit schneidender Stimme. „Du hast deine Chance gehabt. Mister Carberry ist unser Profos. Ich muß ihn nun leider bitten, seines Amtes zu walten, damit du begreifst, daß sich die Männer des Seewolfs nicht mit Lügengeschichten abspeisen lassen." Carberry nahm den Faden geschickt auf und verzog das narbige
Gesicht zu einer beeindruckenden Grimasse. Sich die mächtigen Pranken reibend, rückte er einen weiteren Schritt auf McNeil zu. „Gentlemen", so verkündete er, „es wird mir ein Vergnügen sein, eine hinterhältige Ratte zum Pfeifen zu bringen." Dann fügte er theatralisch hinzu: „Kutscher, bring mir endlich das Kupferbecken mit den Holzkohlen, aber nimm nur diejenigen, die am heißesten glühen. Wenn wir sie diesem sauberen Mister in die Hosen gefüllt haben, wird es in ganz London niemanden mehr geben, der so laut redet wie er." Der Kutscher ging sofort auf das Spiel ein. „Ja", sagte er mit einem Schulterzucken zu McNeil, „ein außergewöhnlicher Profos hat eben auch außergewöhnliche Methoden." McNeil erbleichte. „Das - das werdet ihr doch nicht tun?" „Ha!" donnerte der Profos. „Wenn du wüßtest, wie viele angesengte Affenärsche bereits in London herumspazieren, würde dich das kalte Grausen packen, Mister McNeil." Der Kutscher marschierte demonstrativ los und nahm Kurs auf die Kombüse. McNeil zitterte jetzt wie Espenlaub. Die Komödie, die ihm die Arwenacks vorspielten, schien ihn endgültig von der Entschlossenheit dieser Männer überzeugt zu haben. Erzählte man sich nicht in ganz London und Umgebung davon, mit welch einer harten Mannschaft der Seewolf über die Weltmeere segelte? McNeil rang die Hände. „Halt, Mister!" rief er mit schriller
42 Stimme hinter dem Kutscher her. „Halt, bleiben Sie hier, ich - ich sage alles, was ich weiß. Und ich schwöre ich schwöre, daß es die Wahrheit ist...." Der Kutscher stoppte seine Schritte und drehte sich um. „Was sagst du dazu, Mister Carberry?" Der Profos tat, als müsse er lange über seinen Entschluß nachdenken. Dann wandte er sich Ben Brighton zu. „Also - ich bin dafür, daß wir diesem Lügenbold eine Lehre erteilen. Aber lassen wir den Stellvertreter unseres Kapitäns entscheiden." Auch Ben Brighton schien der Entschluß, seinen Auftrag an den Profos zurückzunehmen, äußerst schwerzufallen. Schließlich sagte er jedoch: „Gut, er soll eine allerletzte Chance haben." McNeil atmete hörbar auf und hatte Mühe, seine schlotternden Knie unter Kontrolle zu halten. „Danke, Mister", stieß er hervor. „Sie sind sehr großzügig." „Das weiß ich längst", entgegnete Ben. „Aber das ist nicht das, was ich von dir hören will. Also, McNeil: Welcher Art sind die Geschäfte, die du mit dem Earl of Essex abwickelst? Heraus mit der Sprache!" McNeil schluckte hart. „Das ist so", begann er schließlich. „Seine - Seine Lordschaft hat über einen seiner Freunde Kontakt mit mir aufgenommen. Es ging um einfache Beobachtungstätigkeiten. Seine Lordschaft muß schließlich wissen, was um ihn herum vor sich geht. Aber ein so hoher Herr kann sich natürlich nicht selbst unter das
gemeine Volk begeben, um sich über alles, was so in der Stadt geschieht, zu informieren." „Da lachen selbst die Hühner, bis sie von der Stange fallen", knurrte Ferris Tucker. „Der hohe Herr ist zu fein, sich unter das gemeine Volk zu begeben. Das hindert ihn aber nicht im geringsten daran, in den Londoner Kneipen das übelste Lumpenpack zu Saufgelagen einzuladen." McNeil knetete entnervt die Hände. „Der Graf trinkt in der Regel nur mit guten Freunden", sagte er entschuldigend. „Und dazu zählst du wohl auch, was, wie?" fragte der Profos. „Natürlich nicht", beteuerte McNeil hastig. „Er hat mir lediglich heute abend einen Brandy spendiert, weil er - weil er guter Laune war." „Und warum war er guter Laune?" fragte Ben Brighton. „Haben vielleicht deine Beobachtungen dazu beigetragen?" „Das - das kann ich nicht genau beurteilen." „Wir wissen, daß du den Auftrag hattest, uns und unser Schiff zu bespitzeln", sagte Ben. „Und darüber wollen wir jetzt von dir Einzelheiten hören. Und wehe dir, du läßt etwas Wichtiges aus." „Nein, nein, ich sage alles, was ich weiß", versprach McNeil, „auch wenn es nicht sehr viel ist. Es stimmt, ich hatte den Auftrag, euch ein bißchen im Auge zu behalten. Der Graf wollte ab und zu wissen, wo ihr seid und was ihr tut. Aber fragt mich nicht warum - ich weiß es leider nicht." „Und du hast das natürlich getan,
43 nicht wahr?" Ben warf dem Spitzel kannte. Er wartete schon auf mich, als ich erschien. Er trug mir lediglich einen grimmigen Blick zu. McNeil zuckte mit den Schultern. auf, dem Grafen zu sagen, daß die „Was sollte ich tun? Ich bin ein armer Sache geklappt habe und alles in Mann, und Seine Lordschaft war Ordnung sei. Um welche Sache es stets großzügig zu mir. Wie hätte ich ging, hat man mir nicht gesagt." Die Arwenacks sahen sich betrofes ablehnen können, Gefälligkeiten auszuschlagen, um die mich der Earl fen an. Sie konnten sich nur zu gut vorstellen, was mit dieser „Sache" of Essex bitten läßt?" „So kann man das auch sehen", gemeint war. McNeils kleine, geröteten Augen murmelte Ben. Mit lauter Stimme fuhr er jedoch fort: „Uns geht es in ließen nach wie vor Angst erkennen, der Hauptsache um den letzten offenbar wußte er die Blicke der Abend. Behaupte nicht, du hättest Männer nicht recht zu deuten. uns zu diesem Zeitpunkt nicht bespit„Das ist wirklich alles, Gentlemen, zelt - wir haben gesehen, wie du dich ich schwöre es." ständig an der Towerpier herumge„Schon gut", sagte Ben Brighton. drückt hast. Was wollte der Graf ge- „Hast du außer diesen Bespitzelunstern abend von dir?" gen noch andere Aufträge für den Grafen ausgeführt?" Auf der Schebecke war es nun mucksmäuschenstill. Die Augen der „Nur einen einzigen Botengang", Seewölfe waren in gespannter Erwar- versicherte McNeil. „Ich glaube aber tung auf den Spitzel gerichtet. nicht, daß das etwas mit euch zu tun hatte." McNeil räusperte sich verlegen. „Er - er wollte noch am späten „Was war das für ein Botengang?" Abend wissen, ob der Kapitän an „Ich mußte gestern um die MitBord ist." tagszeit aufbrechen, um einen Brief „Und das hast du ihm bestätigt", zu Sir Harold Ashley zu bringen. Das hat einen guten halben Tag in Ansagte Ben. „Es war nicht besonders schwierig, spruch genommen, denn Sir Harold wohnt ein ganzes Stück flußaufdas festzustellen." „Gut, McNeil", spann Ben den Fa- wärts." den weiter. „Spät in der Nacht - es „Wo genau?" wollte Ben wissen. war schon nach Mitternacht - hast du „Im Rivers Lane von Southwark, dem Grafen eine weitere Nachricht direkt am anderen Ufer. Es ist das überbracht, jene nämlich, die seine dritte Gehöft nach der Southwark Laune so gewaltig angehoben hat. Cathedral und hat eigene BootsWas war das für eine Botschaft?" stege." McNeil zuckte mit den Schultern. „Du weißt nicht, was in dem Brief „Auch das war nichts Außergewöhn- stand?" liches. Ich hatte die Anweisung, mich „Um Gottes willen, nein, Mister. am anderen Ende der Towerpier mit Der war versiegelt. Und außerdem einem Mann zu treffen, den ich nicht ich kann nicht lesen."
44 „Das hätte mich auch gewundert", sagte Edwin Carberry gallig. McNeil war am Ende. Was er wußte, hatte er unter dem Druck der Arwenacks ausgeplaudert. Es war nicht viel gewesen - für die Seewölfe aber war es eine ganze Menge, denn es bestätigte alle ihre Vermutungen in bezug auf das teuflische Intrigenspiel des Grafen von Essex. Sie wußten jetzt zumindest, welchen Kurs sie einzuschlagen hatten. Die Männer, die zur Schiffsführung gehörten, traten einige Schritte abseits von McNeil zu einer kurzen Beratung zusammen. „Was tun wir jetzt mit dieser Wühlmaus?" wollte Carberry wissen. „Am besten, wir lassen ihn laufen", erwiderte Ben. „Er ist wirklich nur ein kleines Würstchen und hat meiner Meinung nach alles ausgeplaudert, was er weiß. Ich kann' mir nicht vorstellen, daß er noch tiefer mit drin steckt, denn Devereux ist ja kein Dummkopf, der einem schmierigen kleinen Spitzel hochbrisante Dinge anvertrauen würde." Das leuchtete den Männern ein. „Außerdem wird sich das Kerlchen hüten müssen, dem Grafen etwas von seinem Besuch auf unserem Schiff zu erzählen", sagte Old O'Flynn. „Es ist immerhin vorstellbar, daß Seine Lordschaft mit Plaudertaschen nicht gerade zimperlich umgeht." So beschloß man, Bill McNeil ungeschoren zu lassen. „Du kannst dich verziehen, McNeil", sagte Ben Brighton einen Moment später. „Ich hoffe nur, du bist dir darüber im klaren, daß dich dein erlauchter Auftraggeber nicht
gerade vor Freude umarmen wird, wenn du ihm auch nur ein Sterbenswörtchen von unserer kleinen Unterhaltung erzählst. Er wird mit Sicherheit dafür sorgen, daß man im Tower noch ein freies Kämmerchen für dich findet." „Bei Gott - ich werde kein Wort sagen, Mister", stieß McNeil hervor. „Und noch etwas", fügte Edwin Carberry hinzu. „Wenn wir dich noch ein einziges Mal in der Nähe der Towerpier sehen, werden wir dir sofort den Achtersteven etwas anwärmen. Unser Koch hat immer ein paar Köhlchen im Kombüsenfeuer." Bill McNeil hatte es ziemlich eilig, die Schebecke der Seewölfe zu verlassen. So schnell ihn die Beine trugen, verschwand er von der Towerpier froh, darüber, daß ihn diese fürchterlichen Kerle nicht doch noch geröstet hatten.
7. Die Seewölfe standen im ersten Morgengrauen vor schwerwiegenden Entscheidungen. Eine frische Brise strich über das Deck. Aufsteigende Dunstschwaden verzögerten den Durchbruch des Tageslichtes. Wie es aussah, würde die Frühlingssonne an diesem Tag lange auf sich warten lassen. Kaum war der Spitzel McNeil ihren Blicken entschwunden, begann eine weitere Lagebesprechung. Diesmal jedoch unter anderen Voraussetzungen, denn jetzt konnten die Arwenacks mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß der Graf von Es-
46 sex bei der Entführung ihres Kapitäns die Hände im Spiel hatte. Der kühle Morgenwind, verbunden mit einem kräftigen Magenknurren, erinnerte die Männer daran, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatten. Mac Pellew sorgte jedoch bereits in der Kombüse für eine rasche, aber kräftige, Mahlzeit, die der Crew wieder auf die Beine helfen sollte. Die Frage, die die Arwenacks hauptsächlich beschäftigte, kreiste um den möglichen Ort, an dem man Hasard gefangenhielt. Außerdem interessierten sie nach wie vor die Motive des Grafen und die Absichten, die er verfolgte. Für einige, darunter Ben Brighton und der Kutscher, war der von McNeil erwähnte Sir Harold Ashley ein Begriff. Sie konnten sich noch daran erinnern, ihn einmal während eines früheren Besuches in der Heimat kennengelernt zu haben. „Es muß einen Zusammenhang geben zwischen der Entführung Hasards und diesem ominösen Brief, den Devereux an Sir Harold geschickt hat", sagte der Kutscher. „Meiner Meinung nach sollten wir dort mit der Suche beginnen." „Einen Zusammenhang gibt es mit höchster Wahrscheinlichkeit", bestätigte Ben Brighton. „Diese Vermutung wird allein schon durch die zwielichtige Persönlichkeit Sir Harolds bestärkt." „Warum zwielichtig?" wollte. Bill, der frühere Moses, wissen. „Ist er nicht ein Sir?" „Das schon", erwiderte Ben. „Aber eben ein zwielichtiger Sir. Der ehemalige Günstling gilt als Rebell und
unterhielt erwiesenermaßen schon vor Jahren Kontakte zu allerlei Hitzköpfen, Deserteuren und Unzufriedenen. Das brachte ihm schließlich einige Jahre Kerker ein und führte außerdem zum Verlust eines großen Teils seiner Güter. Seit seiner Begnadigung durch die Königin lebt er ziemlich zurückgezogen, gilt aber nach wie vor als umstrittene Figur." „Trotzdem verstehe ich nicht ganz, welche Rolle der Graf diesem Mann zugedacht hat", sagte Al Conroy. „Das ist gar nicht so schwer zu erraten", entgegnete Ben. „Nachdem wir uns wohl alle darüber im klaren sind, daß es Devereux nicht um Lösegeld geht, bleibt als Motiv nur Eifersucht und Rivalität. Vielleicht will er Hasard bei der Königin als Rebell und Verschwörer hinstellen, und da läßt sich in Verbindung mit einem Mann wie Sir Harold Ashley schon etwas einfädeln." „Außerdem wäre es nicht das erste Mal, daß man Hasard und uns als Rebellen bezeichnet", sagte der Kutscher. Ferris Tucker legte die Stirn in Falten und kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Das klingt ja alles ganz einleuchtend", sagte er, „und es läßt sich auch nicht von der Hand weisen, daß dieser Sir Harold irgendwie im Spiel ist. Aber damit wissen wir noch lange nicht, wohin man Hasard gebracht hat. In London gibt es tausend Möglichkeiten, einen Gefangenen zu verstecken. Wo soll man da mit dem Suchen anfangen?" Die Arwenacks nickten, denn Ferris hatte damit die Frage angespro-
47 chen, die sie alle am meisten beschäftigte. „Vielleicht sollten wir uns den sauberen Grafen schnappen, und die Antwort aus ihm herauskitzeln", sagte Old Donegal. In seinen zerfurchten Gesicht wetterleuchtete es gewaltig. Ben Brighton vollführte eine abwehrende Geste. „Wir müssen unbedingt kühle Köpfe bewahren", mahnte er. „Der Einfluß des Grafen ist gewaltig und darf von uns nicht unterschätzt werden. Er gleicht, wenn man so will, einer Spinne, die überall ihr Netz ausgelegt hat. Ein unbedachtes Vorgehen auf unserer Seite könnte deshalb Hasard in größte Gefahr bringen. Außerdem ist nur schwer abzuschätzen, wie der Bursche unserem Kapitän gegenüber reagiert, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Ich muß auch in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnern, daß wir zwar wissen, daß Devereux hinter der Sache steckt, aber keine Beweise dafür haben." „Wie steht's mit McNeill?" wollte Jack Finngan wissen. „McNeil können wir in dieser Hinsicht vergessen", sagte Ben. „Kein Lord - erst recht nicht die Königin würde das, was ein kleiner, verluderter Hafenstrolch zu sagen hat, zur Kenntnis nehmen. Ganz davon abgesehen, daß sich der Kerl eher in die Hosen machen würde, als gegen einen Mann wie Devereux auszusagen." „Ben hat recht", sagte der Kutscher. „Wir können zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur auf eigene Faust nach Hasard suchen. Ich schlage vor,
daß wir damit in Southwark, bei dem ehrenwerten Sir Harold Ashley, beginnen." „Glaubst du etwa, daß unser Kapitän dort zu finden ist?" Edwin Carberry stemmte die Fäuste auf die Hüften. „Niemand weiß das", antwortete der Kutscher. „Aber es wäre immerhin möglich. Außerdem ist Southwark die einzige Adresse, die uns augenblicklich zur Verfügung steht." Ben Brighton, als Hasards Stellvertreter, nickte zustimmend. „Wie McNeil sagte, haust er im dritten Gehöft nach der Southwark Cathedral. Allein diese uralte Klosterkirche am anderen Ufer ist bei Tag nicht zu übersehen und läßt sich gut mit unserer Schebecke erreichen." „Kurs flußaufwärts ist immer gut", brummte der Profos, „denn in diese Richtung sind die Schnapphähne in der Nacht davongepullt." Jetzt, da sie ein Ziel vor Augen hatten, gerieten die Mannen in Bewegung. Als der stets griesgrämig dreinblickende Mac Pellew zum Backen und Banken rufen wollte, waren sie bereits damit beschäftigt, die Taue von den Pollern zu lösen und die Segel zu setzen.
In „Huntly's Corner" war auch bei Tagesanbruch noch keine Ruhe eingekehrt. Die meisten Bänke waren zwar nicht mehr besetzt, weil sich das „gemeine Volk" inzwischen doch auf den Heimweg begeben hatte, der Graf von Essex aber und einige seiner eng-
48 sten Vertrauten hielten noch immer die Stellung. Cyrus Huntly, der Wirt, rieb sich mitunter verstohlen die Augen oder unterdrückte ein Gähnen. Er beneidete in solchen Augenblicken seine Schankknechte, denen er längst erlaubt hatte, sich aufs Ohr zu legen. Er aber mußte durchhalten. Nicht nur des guten Geschäftes wegen, sondern auch, um seine Lordschaft bei Laune zu halten. Kein Wirt in ganz London konnte sich leisten, den einflußreichen Höfling zu verärgern. Der Graf schien ungeheure Mengen an „geistigen" Getränken zu vertragen. Auch jetzt hob er wiederum den randvollen Becher und bedachte Sir Geoffrey Danton mit einem Augenzwinkern. „Auf weiteres gutes Gelingen, mein Freund", sagte er. Der noch ziemlich junge und etwas pausbäckige Sir Geoffrey erwiderte seinen Trinkspruch. Auch ihm lag viel daran, Seiner Lordschaft die gute Laune zu erhalten. „Ihre Pläne scheinen unter einem glücklichen Stern zu stehen", sagte er. „Das kann man wohl sagen", erwiderte Devereux und warf einige rasche Blicke durch die Schankstube, um sicher zu sein, daß keine fremden Ohren mithörten. „Bis jetzt hat alles vorzüglich geklappt." Er rieb sich die Hände. „Ich kann kaum erwarten, das Gesicht Ihrer Majestät zu sehen, wenn man ihr von der Aushebung des Rebellennestes berichtet. Sie werden sehen, Sir Geoffrey, die Königin wird sich bei mir entschuldigen." „Das wird sie tun müssen", pflich-
tete der von ihm geadelte Geoffrey Danton bei. „Sir Harold Ashley und der Seewolf gewissermaßen an einem Tisch - das muß ihr die Augen öffnen. Sie wird Ihren Argumenten nichts mehr entgegenhalten können, Mylord." „So ist es, mein Freund." Der Graf von Essex lächelte hinterhältig. „Man muß notfalls auch eine Königin überlisten, wenn sie stur auf ihrer Meinung beharrt." Sir Geoffrey nickte. „Ihr Plan war grandios", schmeichelte er. „Dabei war es sicher nicht ganz einfach, den Seewolf und seine Männer bei Nacht in die Falle zu lokken. Ebenso schwierig stelle ich es mir vor, einen Querulanten wie Sir Harold für ein solches Unternehmen zu gewinnen." „Man tut, was man kann", entgegnete Devereux mit einem eitlen Augenaufschlag. „Im Falle des Seewolfs half nur eine List, verbunden mit einer gehörigen Übermacht. Bei Sir Harold hingegen war das schon einfacher. Er weiß, daß er trotz seiner Begnadigung eine Person ist, der man nur mit der nötigen Distanz begegnet. Er ist ein relativ armer Mann und hat kaum noch Freunde. Er kann also nur gewinnen, wenn er mit einem Mann wie mir zusammenarbeitet. Zumindest habe ich ihm das glaubhaft dargestellt." „Exzellent!" lobte Sir Geoffrey. „Wenn man den Leuten einen Vorteil vor Augen hält, lassen sie sich formen wie Wachs." Der Graf vollführte eine bestätigende Geste. „So war es im Falle Sir Harolds. Er strebt nach seinem frühe-
49 ren Ansehen. Also habe ich ihm die volle Rehabilitation versprochen, wenn er aussagt, Sir Hasard habe ihn zu einer Verschwörung gegen die englische Krone überreden wollen. Aus diesem Grund sei er heimlich, bei Nacht und Nebel, bei ihm aufgetaucht." „Und der Tölpel hat das mit der Rehabilitation geglaubt?" Sir Geoffrey grinste hämisch. „Das hat er", versicherte der Graf. „In Wirklichkeit denke ich natürlich nicht daran, diesem Unruhestifter zu seinem früheren Ansehen zu verhelfen. Im Gegenteil - man wird beide ,auf frischer Tat' ertappen und in den Tower sperren. Noch besser wäre, man würde sie um eine Haupteslänge verkürzen." Über das Gesicht des Grafen huschte ein schadenfroher Zug, während die Pausbacken Sir Geoffreys an Röte zunahmen. Ob vom Brandy oder der Begeisterung, wußte er wohl selber nicht zu unterscheiden. „Und wann beginnt die zweite Phase Ihres Planes, Mylord?" erkundigte er sich bei Devereux. „Jetzt", sagte der Graf. „Jetzt in den frühen Morgenstunden ist dafür die günstigste Zeit. Außerdem möchte ich die ganze Angelegenheit nicht zu lange hinausziehen, um den Männern Sir Hasards gar nicht erst Gelegenheit zu geben, nach ihrem Kapitän zu suchen." „Das ist eine kluge Entscheidung", lobte Sir Geoffrey. „Bis jetzt dürften die Burschen völlig im dunkeln tappen, und so sollte es vorerst auch bleiben." Devereux lachte meckernd. „Dafür
werden wir schon sorgen, Sir Geoffrey. Wenn ich Sie nun bitten darf gehen Sie so vor, wie wir das abgesprochen haben. Es wird eine Leichtigkeit für Sie sein, Ihre guten Beziehungen zum Befehlshaber der Leibwache spielen zu lassen. Sagen Sie dem Mann einfach, es sei Ihnen von anonymer Seite die Nachricht zugespielt worden, daß Sir Philip Hasard Killigrew schon während der Nacht das Haus von Sir Harold Ashley aufgesucht habe, um gemeinsam mit diesem eine Verschwörung und einen Anschlag auf das Leben der Königin vorzubereiten. Als Befehlshaber der Leibwache kann es sich der Mann nicht leisten, diesen ernsten Hinweis zu ignorieren. Schließlich ist er für die Sicherheit der Königin verantwortlich. Von diesem Moment an, mein lieber Sir Geoffrey, wird alles nach Plan verlaufen." „Wahrscheinlich wird dann die Leibwache die Soldaten der Stadtgarde damit beauftragen, die beiden Rebellen in Southwark zu überraschen", fügte Sir Geoffrey grinsend hinzu. „Das soll uns nicht stören", erwiderte Devereux. „Jedenfalls wird die Nachricht am Hof schnell bekannt werden, wenn die Leibwache informiert ist. Die Gerüchte werden dann noch für die nötige Stimmung sorgen, und sicherlich auch Ihrer Majestät ein bißchen zu denken geben." „Grandios. Wirklich grandios!" Sir Geoffrey Danton erhob sich. „Ich werde aufbrechen, Mylord. Sie können sich voll auf mich verlassen." Der Graf von Essex nickte gönnerhaft.
50 „Sie wissen, mein Feund, daß ich solche Gefälligkeiten niemals zu vergessen pflege." Sir Geoffrey verbeugte sich und verließ die Schankstube. Devereux zeigte keine Anstalten, seine Zelte bei Huntly abzubrechen. Er brauchte schließlich eine Art Befehlszentrale. Außerdem hatte er von Angang an beschlossen, selbst stets im Hintergrund zu bleiben und die Marionetten für sich tanzen zu lassen. Beides ließ sich von dieser Kneipe aus hervorragend bewerkstelligen.
8. Die schlanke und wendige Schebecke der Seewölfe lief flußaufwärts gute Fahrt. Achterlicher Wind füllte die Lateinersegel des Dreimasters und erleichterte dem stämmigen Pete Ballie, der am Ruder stand, die Arbeit. Auch was die Armierung betraf, konnte sich der schnelle Segler sehen lassen. Je sechs Culverinen standen an Steuerbord und an Backbord. Hinzu kamen vorn und achtern je zwei Drehbassen. Diese Bestückung reichte hervorragend aus, sich den nötigen Respekt zu verschaffen und beutehungrigen Schnapphähnen kräftig auf die Finger zu klopfen. Es wurde zunehmend heller, der Morgenwind kräuselte die Wasseroberfläche. Nur vereinzelt bildeten sich Dunstschwaden und zogen langsam über den Fluß. Die Arwenacks waren kribbelig. Es ging ihnen gewaltig gegen den Strich,
daß man ihren Kapitän entführt hatte, um ihn das Opfer einer Intrige werden zu lassen. Daß dies ausgerechnet in der alten Heimat geschah, wurmte sie ganz besonders. „Da schlägt man sich durch bis nach England, quält sich diese Pißrinne namens Themse hinauf, nur um sich wieder einmal am heimischen Herd den Rücken zu wärmen", murrte Edwin Carberry, „und da haben hinterfurzige Rübenschweine nichts anderes zu tun, als für Ärger zu sorgen." Ferris Tucker stimmte ihm zu. „Recht hast du, Ed. Man könnte direkt wieder Fernweh kriegen. Das affige Gehabe der Gecken, die vor dem Thron der alten Lissy herumbalzen, geht einem ja schon auf die Klüsen. Ein ausgekochtes Lumpenpack ist das, auch wenn sie vor lauter goldenen Ringen kaum noch die dicken Wurstfinger bewegen können." Die Augen des Schiffszimmermannes blickten grimmig flußaufwärts, als rechne er damit, daß ihnen der Seewolf plötzlich in einem Boot entgegenpullte. Ben Brighton hingegen hielt besonders die Uferregionen im Auge. Schon nach verhältnismäßig kurzer Fahrt, deutete er auf graue, verwitterte Mauern, die Backbord voraus auftauchten. „Das ist Southwark", sagte er. „Die Türme der Kathedrale erleichtern die Orientierung." „Ein ganz schön wuchtiges Bauwerk", bemerkte der Kutscher. „Es soll sogar älter als Westminster Abbey sein." „Ist es auch", sagte Ben Brighton.
51 „Es nahm schon vor fünfhundert Jahren als Kloster seine Anfänge." Edwin Carberry zeigte sich wenig beeindruckt. „Trotzdem ist es nicht weit her mit all den christlichen Tugenden", erklärte er. „Der Großlord da oben müßte mal so richtig mit einem Belegnagel dreinhauen." Die Schebecke glitt stolz wie ein Schwan die Themse hinauf. Die Fischer und Händler, die ihr in Booten und Schaluppen begegneten, bedachten sie teils mit neugierigen und teils mit scheuen Blicken. Ben Brighton fand, daß es an der Zeit war, zur längst abgesprochenen „Tagesordnung" überzugehen. Sein erster Befehl lautete: „Klarschiff zum Gefecht!" Zwar gehörte es nicht zu den Plänen der Arwenacks, ein großes Gefecht heraufzubeschwören, aber die Schebecke sollte für alle Fälle gerüstet sein - besonders zur Rückendeckung jener Männer, die sich von der Landseite her an den Wohnsitz Sir Harold Ashleys heranpirschen sollten. Der Befehl Ben Brightons brachte die eingespielte Crew, die dem Teufel schon mehr als ein Ohr abgesegelt hatte, nicht aus der Ruhe. Jeder wußte, was er zu tun hatte, überflüssige Handgriffe gab es nicht. Innerhalb kürzester Zeit wurden die Stückpforten geöffnet und die Culverinen ausgerannt. Die gußeisernen Geschützrohre zeigten wie drohend ausgestreckte Zeigefinger auf die beiden Ufer der Themse. Al Conroy überwachte in seiner Eigenschaft als Stückmeister die Um-
Wandlung der Schebecke in eine schwimmende Festung. Während der Kutscher und Mac Pellew die gußeisernen Becken mit glühenden Holzkohlen auf die Geschütze verteilten, um ein rasches Zünden zu gewährleisten, wurden bereits die Handfeuerwaffen herangeschafft. Die Musketen, Tromblons und Pistolen wurden insbesondere an jene Männer ausgegeben, die Edwin Carberry an Land begleiten sollten. Es waren dies: Dan O'Flynn, Jeff Bowie, Stenmark, Nils Larsen, Ferris Tucker und Bill. Ein Stück unterhalb des Zieles ließ Ben Brighton die Segel bergen. Das Schiff verlor rasch an Fahrt, so daß mit vereinten Kräften die Jolle abgefiert und bemannt werden konnte. „Klar bei Riemen!" rief der Profos. Gleich darauf nahm die Jolle Kurs auf das Ufer und drang dann in dessen Deckung bis in die unmittelbare Nähe des von McNeil bezeichneten Gehöftes vor. Die Schebecke hatte es inzwischen mit dem Weitersegeln nicht besonders eilig. Ben beobachtete den kleinen Trupp in der Jolle durch das Spektiv und ließ die Segel erst wieder setzen, als der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Edwin Carberry saß auf der achteren Ducht und bediente die Ruderpinne. Seine Augen tasteten unentwegt das Ufer ab. „Dort drüben ist ein lauschiges Plätzchen", sagte er schließlich und deutete zu einer Böschung, die mit dichtem Buschwerk bewachsen war. Sand und Geröll zogen sich bis zum Wasser hin. Außerdem war der Platz
52 höchstens noch zwei Kabellängen vom Wohnsitz Sir Harolds entfernt. Die hochaufragenden Fachwerkbauten, die spitzen Giebel und Türmchen waren deutlich zu erkennen. Ebenso die flacheren Bauten, die wohl als Stallungen dienten. Mehrere Bootsstege ragten in unmittelbarer Nähe der Gebäude ins Wasser der Themse. „Von jetzt an heißt es Klüsen auf und Luken dicht", sagte der Profos, um zu verdeutlichen, daß besondere Vorsicht geboten war. „Wenn man unseren Kapitän tatsächlich in diesen Hühnerstall gesperrt hat, müssen wir damit rechnen, daß nicht nur dieser lausige Sir Harold auf ihn aufpaßt, sondern auch noch einige jener plattfüßigen Heringe, die uns während der Nacht überfallen haben. Ein Wiedersehen mit ihnen würde mir ganz besonders das Herz erwärmen." Im übrigen wußten die Männer Bescheid. Sie zogen die Jolle auf die Uferböschung, packten die Riemen hinein und griffen nach ihren Waffen. Bevor sie aufbrachen, um sich dicht an der Böschung entlang an das Gehöft heranzupirschen, warf Carberry einen Blick zur Schebecke hinüber. Der Segler setzte sich langsam in Bewegung. Die Dunstschwaden verdeckten das Schiff nur stellenweise. Die Sicht war verhältnismäßig gut. Bis jetzt hatte kaum jemand von dem kleinen Trupp Kenntnis genommen. Die Aufmerksamkeit der wenigen Fischer und Bauern, die sich zu dieser frühen Morgenstuhde bereits am Fluß oder in seiner Nähe aufhiel-
ten, galt fast ausschließlich der gefechtsbereiten Schebecke. Carberry und seine Begleiter grinsten erwartungsvoll. „Wenn alles klappt, wird den Kerlen der Frühstücksspeck im Hals stekkenbleiben", meinte der blonde Stenmark leise. Die Männer arbeiteten sich unterhalb der Uferböschung bis auf fünfzig Yards an das Gehöft heran. Alles blieb still, nichts rührte sich. Nur das Zwitschern der Vögel drang von den Wipfeln der Obstbäume herüber, die sich in dichten Gruppen auf einem Feld hinzogen, das unmittelbar vor dem Gehöft lag. Aus der Ferne war das Bellen eines Hundes zu hören. Carberry deutete stumm zu einigen Booten, die neben den Stegen im Wasser dümpelten. Dann begann er, die Böschung hinaufzuklettern. Oben angelangt winkte er die anderen hinter sich her. Schon wenige Augenblicke später huschten die sieben Männer - die Deckung der Bäume und der langgestreckten Stallungen ausnutzend - auf einen holprigen Weg zu, der direkt in den Hof führte. Die Arwenacks überzeugten sich rasch davon, daß sich niemand im Hof aufhielt. Vor den flachen Stallgebäuden war ein riesiger Misthaufen aufgetürmt. Daneben standen einige alte Holzfässer und Karren. In der Nähe des Hauseingangs hatte man eine nicht gerade prunkvoll aussehende Kutsche abgestellt. Carberry nickte den anderen zu. „Die Voraussetzungen sind günstig", flüsterte er. „Am besten, wir arbeiten uns zuerst bis zur Kutsche vor und gehen dahinter in Deckung, bis
54 Ben für Ablenkung sorgt. Von da ab Der Profos nickte und übernahm muß alles schnell gehen." Stenmarks Muskete. Die Männer nickten entschlossen. Bereits eine Sekunde später hechIhre Waffen waren notfalls schnell tete der blonde Schwede mit zwei laneinsatzbereit. Degen und Pistolen tru- gen Sätzen auf das Mädchen zu und gen sie am Gürtel, die schweren Mus- packte sie. Noch bevor sie einen keten hatten sie fest im Griff. Schrei ausstoßen konnte, preßte er Auf einen Wink Carberrys hin eine Hand auf ihren Mund. Die Holzhuschten sie in geduckter Haltung die schüssel mit Getreidekörnern, die ofzwanzig Schritte bis zur Kutsche hin- fenbar als Hühnerfutter dienen sollüber. Von da aus betrug die Entfer- ten, fiel mit einem dumpfen Laut auf nung zum Hauseingang höchstens die Erde. noch zehn weitere Schritte. Gleich darauf verschwand StenDie Arwenacks befanden sich nun mark mit der Magd hinter der Bretin Warteposition. Die Kameraden auf tertür eines Stalles. Es war der der Schebecke würden für ein Ablen- Schweinestall, das signalisierte nicht kungsmanöver sorgen, das war be- nur das Grunzen der Tiere, sondern reits während der Fahrt vereinbart auch der durchdringende Geruch. worden. Außerdem hatte Ben BrighDie Augen der Magd waren vor ton jede ihrer Bewegungen durch das Angst weit aufgerissen. Stenmark Spektiv verfolgt, bis sie zwischen den preßte ihr noch immer die Hand auf Obstbäumen verschwunden waren. den Mund. „Warum tut sich nichts? Ist den „Hör gut zu, schöne Maid", sagte er Burschen das Pulver naß geworden?" mit gedämpfter Stimme. „Wenn du Jeff Bowie warf den Kameraden eimir versprichst, daß du diesen gemütnen ungeduldigen Blick zu. lichen Ort in der nächsten halben Bevor jemand darauf eingehen Stunde nicht verläßt und dich wähkonnte, tat sich etwas. Aber anders, rend dieser Zeit mucksmäuschenstill als erwartet. Die alte, verwitterte Eingangstür verhältst, wird dir nichts passieren. wurde mit einem lauten Quietschen Wenn du jedoch für Wirbel sorgst, aufgestoßen, dann trat ein junges wird man morgen in der schönen KaMädchen in den Hof. Unter dem rech- thedrale von Southwark eine Totenten Arm trug sie eine Holzschüssel messe lesen müssen. Wie steht's also und steuerte zielstrebig auf eins der - wirst du dich leise verhalten?" Die Magd nickte. Stallgebäude zu. Die Gefahr, daß sie die Männer hinter der Kutsche entStenmark nahm langsam die Hand deckte, war groß. von ihren vollen, roten Lippen. Sie Die Arwenacks dachten nicht dar- schwieg tatsächlich. Stenmark nutzte die Chance. an, sich im letzten Augenblick alles verderben zu lassen. „Wird ein Mann in diesem Haus geStenmark hob die Hand und warf fangengehalten?" fragte er. Carberry einen fragenden Blick zu. Wieder nickte das Mädchen.
55 „Du darfst leise antworten", sagte Stenmark. „Wo befindet er sich?" „Während der Nacht war er im Keller", erwiderte die Magd im Flüsterton. „Vor kurzem hat man ihn ins Eßzimmer gebracht. Er soll das Frühstück gemeinsam mit Sir Harold einnehmen." „Ist er gefesselt?" „Ja - das heißt, nur an den Füßen. Sonst könnte er ja nichts essen." „Schön." Stenmark ließ sie nun ganz los. „Du rührst dich nicht von der Stelle und verhältst dich absolut leise. Denke daran, was ich dir gesagt habe." Das Mädchen setzte sich ängstlich auf ein Strohbündel. Kaum war Stenmark zu den Kameraden zurückgekehrt, brach jenseits des Herrschaftsgebäudes die Hölle los. Das Brüllen einer Kanone zerriß jäh die morgendliche Stille. Die Arwenacks hinter der Kutsche konnten sich lebhaft vorstellen, wie dicht bei den Bootsstegen, die sich von ihrer Sicht aus direkt hinter dem Haus befanden, eine riesige Wassersäule hochgischtete. Der Schuß war das vereinbarte Signal. Die Vermutung der Seewölfe bestätigte sich sofort. Die Schnapphähne, die sich noch zur Bewachung Hasards im Gehöft Sir Harold Ashleys aufhielten, wandten, vom Krachen der Kanone aufgeschreckt, ihre Aufmerksamkeit der Schebecke zu. Davon zeugte das laute Gebrüll, das von der Uferseite des Hauses zu hören war. Gleich darauf setzte wildes Musketenfeuer ein. Edwin Carberry grinste zufrieden.
„Jetzt sind wir an der Reihe. Hopp, hopp - an die Brassen!" Die sieben Arwenacks stürmten mit schußbereiten Musketen auf den Eingang zu, um den Entführern in den Rücken zu fallen. Ein Fußtritt Carberrys ließ die Tür auffliegen und gegen die Wand prallen. Niemand stellte sich ihnen entgegen, und da Sir Harold Ashley keineswegs in einem Schloß wohnte, war das Eßzimmer schnell gefunden. Die Magd hatte die Wahrheit gesagt. Stenmark atmete auf. Während auf den Bootsstegen erneut Musketenschüsse krachten, stürmten sie in den Raum. Der Seewolf saß an einem großen, runden Eichentisch, der mit allerlei Kannen und Töpfen übersät war. Sir Harold, ein hochaufgeschossener, hagerer Mann, war offenbar von seinem Stuhl aufgesprungen und stand etwas unschlüssig an der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Wesentlich entschlossener waren hingegen die beiden übel aussehenden Kerle, die gerade damit beginnen wollten, Hasard die Handfesseln wieder anzulegen. Als sie die Eindringlinge erblickten, zuckten ihre Hände zu den Gürteln, in denen außer Messern Steinschloßpistolen steckten. Doch keiner von ihnen schaffte es noch, eine Waffe zu ziehen, geschweige denn, einen Schuß abzufeuern. Den ersten fegte der Musketenkolben Carberrys von den Füßen. Sein Körper krachte, mehrere Stühle mit sich reißend, gegen einen Schrank, dann sank er schlaff auf den Fußboden.
56 Den zweiten hatte sich Jeff Bowie geschnappt. Bevor sich der vierschrötige Bursche versah, hatte ihm Jeffs scharfgeschliffene Hakenprothese das Wams vom Leib gefetzt. Unmittelbar darauf fuhr ihm eine eisenharte Faust in die Magengrube. Der Kerl klappte ächzend zusammen und schlug hart auf dem Boden auf. Auch die anderen Arwenacks hatten die Zeit genutzt. Während Ferris Tucker dem Seewolf ein Messer zuwarf, damit er sich von den Fußfesseln befreien konnte, hatte Carberry den Hausbesitzer am Kragen gepackt. „Her mit dem Briefchen!" forderte er. „Was - was für einen Brief meinen Sie?" stotterte Sir Harold mit schrekkensbleichem Gesicht. „Den Brief des Grafen von Essex", blaffte der Profos. „Her damit, aber ein bißchen schnell!" Er hob drohend die Muskete hoch, die er am Lauf gepackt hielt. Sir Harold holte mit zitternden Fingern das Schriftstück aus seinem Wams hervor. Er schien die ganze Situation reichlich verwirrend zu finden. „Was wird hier gespielt?" rief er mit schriller Stimme, als Carberry ihm den Brief aus der Hand riß. „Das wirst du noch früh genug erfahren. Vielleicht wird es dir dein Freund Devereux erklären." Die letzten Worte Garberrys gingen im Wummern einer Kanone unter. Dem Schuß folgte ein häßliches Splittern und Bersten. Als die Seewölfe samt ihrem Kapitän auf den Hof hin-
ausstürmten, konnten sie in der Tat feststellen, daß die Kugel einen Teil des Dachgiebels weggerissen hatte. Die Schnapphähne an der Rückseite des Hauses antworteten mit Schüssen und wüsten Flüchen, während die Arwenacks in langen Sätzen über den Hof jagten und auf demselben Weg, über den sie sich angepirscht hatten, ans Themseufer zurückkehrten. Bald registrierten sie, daß es auf den Bootsstegen leiser geworden war. Nur noch vereinzelt waren Schüsse zu hören. Die Auswirkungen der zweiten Kanonenkugel hatten den Kerlen wohl verdeutlicht, daß es besser war, zunächst im Gemäuer des Hauses Deckung zu suchen. Den Arwenacks, die flink die Jolle ins Wasser schoben, war das nur recht. Trotzdem mußten sie so schnell wie möglich das Ufer hinter sich lassen. Sie waren sich darüber im klaren, daß sie in unmittelbarer Ufernähe für Verfolger hervorragende Zielscheiben darstellten. Der üblichen gepfefferten Aufforderungen Carberrys bedurfte es absolut nicht. Die Mannen legten sich auch so in die Riemen und pullten, was ihre Muskeln hergaben. Natürlich entging das den Kameraden auf der Schebecke nicht. Als sie sahen, daß sich auch der Seewolf an Bord der Jolle befand, dröhnte spontan ihr alter Kampf ruf „Ar-we-nack!" über die Themse. Dann blühten an drei weiteren Culverinen Feuerblumen auf. Die Rohre stießen ihre Ladungen mit ungeheurer Wucht ins Dach des Herrschaftshauses und sorgten dafür, daß die
57 Handlanger des Grafen erst einmal alle Hände voll mit sich selbst zu tun hatten. Die Laune der Seewölfe war hervorragend, als sich kurze Zeit später alle wieder an Bord der Schebecke befanden - einschließlich Hasards. „Jetzt gilt es, den Affenärschen ein zweites Mal zuvorzukommen, Sir", erklärte Carberry. „Wir sollten schleunigst zur Towerpier zurückkehren und ,Huntly's Corner' einen Besuch abstatten, um das Rübenschwein von einem Grafen selbst vom Scheitern seiner Pläne in Kenntnis zu setzen. Ich wette, daß wir den Kerl dort antreffen." Er zog den Brief hervor, den er Sir Harold abgenommen hatte. „Den solltest du mal durchlesen, Sir", fügte er hinzu. „Seine Lordschaft hat ihn gestern durch einen Boten zu Sir Harold bringen lassen. Es steht bestimmt etwas Hinterfurziges drin." Der Seewolf entfaltete das Blatt und überflog die Zeilen. „Du hast völlig recht, Ed", sagte er mit einem Kopfschütteln und las den kurzen, in einer steilen Handschrift verfaßten Text laut vor: „Verehrter Sir Harold, im Hinblick auf die getroffenen Absprachen bitte ich Sie, Ihr Haus während der kommenden Nacht zur Verfügung zu halten. Um alles Weitere werden sich einige Freunde kümmern." Unterschrieben war die Nachricht, die das gestrige Datum trug, von niemand anderem als dem Grafen von Essex. „Das paßt wie die Faust aufs Auge", ließ sich Ben Brighton vernehmen und berichtete dem Seewolf in knappen Sätzen, wie es ihnen
gelungen war, sein Versteck zu finden. Hasard lächelte. „Danke, Freunde", sagte er, „wir werden das noch gebührend feiern." Er faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es ein. „Wir werden diesen Brief zunächst einmal hüten wie einen Augapfel. Und ehrlich gesagt das Kribbeln, das ihr alle in den Händen verspürt, hat mich angesteckt, und ich wette, daß zumindest Mister Carberry schon weiß, wie man das am besten wieder loswird." „Und ob ich das weiß, Sir", beteuerte der Profos mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. „Du wirst von meinem Mittel begeistert sein!" 9. Durch Huntly's Kneipe zog ein verführerischer Bratenduft. Der völlig übermüdete Wirt und seine Schankknechte brachten dampfende Pfannen und Töpfe aus der Küche und deckten den gräflichen Frühstückstisch. Im stillen wünschte Cyrus Huntly den Earl of Essex zum Teufel, doch Mylord dachte nicht im entferntesten daran, die Schenke zu verlassen. O ja, er war sogar entzückt gewesen, als die Wirtin sich bereit erklärt hatte, frischen Gänsebraten zuzubereiten. Außerdem erklärte der Graf seinen Freunden mit einem Augenzwinkern, daß man wohl langsam mit dem Feiern beginnen könne. Seiner Meinung stand dem nichts mehr im Wege, seit Sir Geoffrey mit positiven Nachrichten von seinem Besuch beim
58 Befehlshaber der königlichen Leibwache zurückgekehrt war. Obwohl der Graf nicht verbergen konnte, daß seine Zunge im Verlauf der langen Nacht und als Folge der zahlreichen geleerten Becher etwas schwerer geworden war, brachte er angesichts des exquisiten Frühstücks sofort einen weiteren Toast aus. „Auf unsere Freundschaft", verkündete er mit hoch erhobenem Becher. Seine Günstlinge grinsten geschmeichelt, auch wenn ihn der eine oder andere wegen des konsumierten Brandys nur noch verschwommen wahrnahm. Die gutgelaunte Tischrunde sollte jedoch keine Gelegenheit mehr erhalten, die erhobenen Becher auszutrinken. Noch bevor die Trinkgefäße die Lippen berührten, flog die Eingangstür auf, und der Seewolf betrat mit einer Gruppe seiner Männer den Schankraum. Das gönnerhafte Lächeln, das noch sine Sekunde zuvor über das Gesicht des Grafen gehuscht war, gefror jäh zu einer starren Grimasse. Seine Blicke hafteten an Philip Hasard Killigrew, als handele es sich bei seiner Person um ein leibhaftiges Gespenst. Die Hand, die den vollen Trinkbecher erhoben hatte, sank schlaff nach unten, der köstliche Rotwein schwappte über den Rand, als der Becher hart auf der Tischplatte aufsetzte. Der Seewolf verstand es, das Überraschungsmoment zu nutzen. Gefolgt von seinen Männern trat er mit festen Schritten auf den reichgedeckten Tisch des Grafen zu und stützte sich
an dem Devereux gegenüberliegenden Tischende auf die dicke Holzplatte. Der feste Blick seiner eisblauen Augen schien den Earl wie ein Dolchstoß zu treffen. „Erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen einen frohen guten Morgen wünsche, Mylord", sagte er mit eisiger Stimme. „Er wird nämlich nicht froh für Sie verlaufen. Doch bevor ich Ihnen auf einprägsame Weise veranschauliche, was ich von Ihnen und Ihrem Lumpenpack von Saufkumpanen halte, möchte ich nicht versäumen, Ihnen die Grüße Sir Harolds zu übermitteln." Devereux, der die Schrecksekunde überwunden hatte, wollte wie von einer Tarantel gestochen von seinem Stuhl hochfahren. Doch das schaffte er nicht mehr. Der Seewolf packte den Tisch mit beiden Händen und kippte ihn um. Becher und Krüge, heiße Pfannen und dampfende Töpfe stürzten um und zerschellten am Boden. Ihr Inhalt verfärbte so manches vornehm geschneiderte Beinkleid, und auch der Graf fand unversehens eine gebratene Gänsekeule auf seinem Schoß. Die heiße Soße hinterließ auf seinen weißen Strümpfen häßliche braune Spuren. Dies war erst der Auftakt. Schließlich wollten die Arwenacks das Kribbeln in ihren Fäusteh loswerden, und sie waren fest entschlossen, Huntly's Kneipe erst dann zu verlassen, wenn sie es nicht mehr verspürten. Für sie war das Umstürzen des Tisches das Signal, auf das sie angesichts der hinterhältigen Intrigen, die
59 von dem Grafen eingefädelt worden waren, nur gewartet hatten. „Auf denn!" rief der Profos. „Laßt uns diesen schwindsüchtigen Kakerlaken zum Tanz aufspielen." Der Tanz begann, und zwar gewaltig. „Was erlauben Sie sich, Sir Hasard!" schnaubte der Graf, dann zuckte seine Hand zum Degen. Doch der Seewolf hatte ihn bereits am Rüschenkragen gepackt und stellte ihn auf die Beine. „Das werden Sie gleich verspüren, Mylord", erwiderte er. Seine rechte Faust raste wie ein Geschoß nach vorn und erwischte den Grafen am Kinn. Seine Lordschaft wurde ein Stück zurückgeschleudert, prallte gegen einen Tisch, rutschte rücklings über die Platte und plumpste dann auf den Boden. Doch damit war die Sache für ihn längst noch nicht ausgestanden. Bevor er sich ächzend von den Steinfliesen hochrappeln konnte, war der Seewolf schon zur Stelle. „Das war erst die Anzahlung, Mylord." Seine Augen funkelten zornig, als er den Grafen erneut packte und zu einem wuchtigen Hieb ausholte. Die übrigen Arwenacks waren nicht weniger aktiv. Edwin Carberry hatte sich mit dem Busenfreund des Grafen, Sir Geoffrey Danton, angelegt, der flugs ein Messer aus dem Gürtel gerissen hatte und glaubte, das übrige Lumpengesindel mit schriller Stimme befehligen zu müssen. Sein gerötetes Gesicht glich einer überreifen Tomate. „Willst du wohl mit dem Gekrei-
sche aufhören, Kollege Rotbäckchen?" röhrte der Profos. Der heimtückischen Messerattacke Sir Geoffreys entging er zunächst durch geschicktes Ausweichen. Dann aber schlug er erbarmungslos zu. Seine Fäuste glichen einem wirbelnden Vorschlaghammer, und als er sie zufrieden zu reiben begann, lag Sir Geoffrey mit einem ebenso entspannten Gesichtsausdruck auf den Fliesen und zeigte an den Vorgängen in Huntly's Kneipe nicht mehr das geringste Interesse. „Und jetzt der Nächste!" rief der Profos. „Na, wo sind denn all die triefäugigen Wasserflöhe?" Ferris spielte ihm einen davon zu. Das heißt, der rothaarige Riese hatte mit einem wuchtigen Fausthieb dafür gesorgt, daß ein kleiner, dicklicher Kerl direkt auf den vor Tatendrang strotzenden Profos zutorkelte. Das war sein Pech. Der Profos griff sich blitzschnell einen Topf, der am Boden lag und in dem sich noch Gemüsereste befanden, und stülpte ihn dem Mann kurzerhand über den Kopf. Während dem Dicklichen heiße Erbsen, Karottenstücke und Bohnen über Gesicht und Oberkörper kullerten, griff Carberry nach einer Pfanne, die nicht zu Bruch gegangen war, und schlug sie dem Kerl schwungvoll auf den vom Topf geschützten Kopf. Das Metall dröhnte wie ein dumpfer Glockenschlag in den Türmen der Westminster Abbey. Dann knickten dem Dicklichen die Knie ein. Als er auf den Steinfliesen aufprallte, fand der „Glockenschlag" ein mehrfaches Echo.
60 Der Wirt, seine Frau und die Schankknechte verfolgten das Schauspiel einerseits händeringend, andererseits auch mit einiger Faszination. Daß ein echter Graf Hiebe empfing, hatten sie noch nie gesehen. Dabei wußten sie nicht einmal, warum. Doch Cyrus Huntly war nach allem, was er über den Seewolf gehört hatte, davon überzeugt, daß dieser einen triftigen Grund hatte, wenn er Seiner Lordschaft einen Denkzettel verpaßte. Er hütete sich deshalb davor, in das Geschehen einzugreifen und verbot dies auch seinen Schankknechten. Seine Lordschaft kroch auf allen vieren unter einem Tisch hervor, unter den ihn ein Fausthieb des Seewolfs befördert hatte. Sein eleganter Federhut war längst durch die Kneipe gesegelt, und die Lockenperücke hing über einer gebratenen Gans, die am Boden lag. Ein Auge des Grafen begann sich bereits zu verfärben und anzuschwellen. Seine aufgeplatzten Lippen brannten wie Feuer. „Schlagt sie tot! Schlagt die Kerle tot!" schrie er in ohnmächtiger Wut. Hasard wartete fairerweise, bis er sich wieder aufgerappelt hatte. „Hier wird niemand totgeschlagen", sagte er dann scharf. „Es werden nur Quittungen ausgestellt und Andenken überreicht, Mylord." Devereux fluchte wie ein Hafenarbeiter und versuchte abermals, seinen Degen zu ziehen. Hasard verhinderte es zum wiederholten Mal. „Wenn Sie den Degen ziehen, bin ich gehalten, das ebenfalls zu tun",
sagte er. „Ich denke aber nicht daran, mich mit einem Schurken und ehrlosen Intriganten zu duellieren." Diese Beleidigung entlockte dem Grafen einen wilden Aufschrei. Er stürzte sich dem Seewolf entgegen um sich schlagend wie ein Irrer. Vernünftige Überlegungen spielten jetzt ohnehin keine Rolle mehr bei ihm. Er fühlte sich nicht nur nach allen Regeln der Kunst verprügelt, sondern auch maßlos erniedrigt. Noch nie hatte jemand gewagt, die Hand gegen ihn, den Grafen von Essex, zu erheben. Dieser Killigrew aber verdrosch ihn wie einen aufsässigen Lümmel. Der Seewolf blockte die Schläge des Grafen zunächst geschickt ab, dann aber setzte er ihm erneut die Faust unters Kinn. Devereux torkelte ein Stück zurück und ruderte dabei nach Halt suchend in der Luft herum. Ein wuchtiger Tisch fing ihn schließlich auf. Doch sobald er den Anflug von Benommenheit überwunden hatte, packte er einen Stuhl und ging damit auf Hasard los. Mit einem wüsten Fluch riß er das Möbelstück hoch, um es auf dem Kopf des Seewolfs zu zerschmettern. Der aber wich dem hinuntersausenden Stuhl mit einem flinken Sprung aus. Ein bulliger Bursche, den Big Old Shane mit eisenharten Fäusten vor sich hergetrieben hatte, war nicht so schnell. Er geriet direkt ins Zielgebiet des Grafen und empfing voll die Härte echt englischen Eichenholzes. Während etliche Sprossen krachend und splitternd aus dem Leim gingen und durch den Schankraum flogen, sackte der Mann in sich zu-
61 sammen wie ein vom Blitz gefällter Baum. „Gut getroffen, Mylord", lobte Carberry, der gerade einen dürren Burschen in die über den Boden fließende Bratensoße gesetzt hatte. „Wenn du noch ein bißchen übst, wird noch was aus dir." Der Seewolf beschloß, dem Treiben ein Ende zu bereiten. „Jetzt folgt die Restzahlung, Mylord", stieß er grimmig hervor und sorgte mit einigen blitzschnellen Handkantenschlägen dafür, daß Devereux die Überreste des Stuhls auf den Boden fallen ließ. Danach holte er aus und setzte dem Grafen mit der Wucht einer Kanonenkugel die Faust in die Magengrube. Seine Lordschaft stöhnte auf und sank ächzend auf die Fliesen. Dort lag er nun, der Graf von Essex, zwischen Töpfen und Pfannen, Gemüseresten und Soßepfützen. Vorerst rührte er sich nicht mehr. Ähnlich erging es seinen Saufkumpanen. Sir Geoffrey war immer noch ohne Besinnung, und einige der anderen Kerle, die teilweise recht verlottert aussahen, krochen keuchend auf dem Boden herum. Die Arwenacks hatten aufgeklart, und zwar gründlich. Der Seewolf wandte sich an den Wirt. „Es tut mir leid, Mister Huntly, daß sich das ausgerechnet in Ihrem Haus abspielte", sagte er. „Aber diese Abrechnung war unaufschiebbar gewesen. Ich werde Ihnen selbstverständlich alle Schäden ersetzen." Er kramte einige Goldstücke aus seinem
Gürtel und legte sie auf den Schanktisch. „Ich hoffe, das genügt fürs erste." Huntly bedankte sich überschwenglich, denn das, was der Seewolf da übergeben hatte, reichte für eine neue Kneipeneinrichtung und noch mehr. „Schenken Sie uns nun einen Brandy ein, Mister Huntly", sagte Hasard. „Dabei wollen wir es zunächst bewenden lassen. Wir werden später zurückkehren, dann aber als friedliche Gäste." Der Wirt holte dienstbeflissen einen Krug von seinem besten Brandy herbei, und die Arwenacks stießen mit ihrem Kapitän an. Bevor sie „Huntly's Corner" verließen, wandte sich Hasard ein letztes Mal dem Grafen zu, dessen Lebensgeister langsam zurückzukehren schienen. Er blieb vor ihm stehen und blickte mit ausdruckslosem Gesicht auf ihn hinunter. „Noch ein Wort zum Abschied, Mylord", sagte er eisig. „Ich habe, bevor ich hier erschienen bin, Ihrer Majestät einen kurzen Brief geschrieben und sie über Ihre Machenschaften unterrichtet, um klare Verhältnisse zu schaffen. Die Zeilen jedoch, die Sie durch einen Boten zu Sir Harold bringen ließen, habe ich noch in Verwahrung. Es hängt von Ihrem zukünftigen Verhalten ab, ob und inwieweit ich das Sie belastende Papier gegen Sie benütze." Er wandte sich um und marschierte mit seinen Männern aus der Kneipe. Der Graf wurde von Panik gepackt. Er ließ sich eiligst vom Wirt auf die Beine helfen. Durch seinen Kopf
62 schwirrten tausend Gedanken, denn das, was der Seewolf da eben gesagt hatte, traf ihn schlimmer als alle Fausthiebe, die er hatte einstecken müssen. Er mußte sofort etwas unternehmen - aber was?
Der Graf von Essex hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend, als er mit raschen Schritten die Soldaten der Leibwache passierte. Die Königin hatte ihn zu sich beordert und keinen Zweifel daran gelassen, daß sie ihn „sofort und augenblicklich" zu sehen wünsche. Das waren keineswegs positive Vorzeichen. Als er - zwar frisch eingekleidet, aber immer noch von den Spuren der Schlägerei gezeichnet - das Audienzzimmer betrat, wandte sich Elisabeth I. vom Fenster ab. Sie hatte offensichtlich schon auf ihn gewartet. Auch das war kein gutes Zeichen. Devereux ging auf die Knie, um der Königin die Hand zu küssen, aber sie entzog sie ihm. „Stehen Sie auf, Mylord!" Ihre Stimme klang zornig, und ihr Gesicht war ernst. „Ich brauche Sie wohl nicht erst davon in Kenntnis zu setzen, warum ich auf Ihr Erscheinen gewartet habe." Der Graf zuckte zusammen. „Majestät, wenn Sie verärgert sind, weil Sie auf mich warten mußten, bitte ich um Verzeihung. Aber ich muß Sie leider davon in Kenntnis setzen, daß ich zusammen mit einigen Freunden von Sir Philip Hasard Killigrew und seinen Leuten überfallen und auf das
Übelste zugerichtet wurde. Sehen Sie nur mein Gesicht..." Die Augen der Königin funkelten. „Werden Sie nicht unverschämt, Mylord!" fauchte sie. „Sie wissen genau, daß es nicht um die Nebensächlichkeit des Wartens geht, sondern um die ungeheuerlichen Vorgänge der letzten Nacht. Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß Sie diesmal weit über das Ziel hinausgeschossen sind. Sie haben sich benommen, wie wie ein einfältiges Kind, dem jemand sein Spielzeug wegnehmen will." Das verschwollene Gesicht des Grafen wurde hochrot. „Aber Majestät!" Seine Stimme klang plötzlich schrill. „Ich weiß nicht, welche, Lügen man an Sie herangetragen hat, um mich bei Ihnen in Mißkredit zu bringen, aber ich werde Ihnen einen umfassenden Bericht erstatten und Ihnen Zeugen benennen . . . " „Zum Teufel mit Ihnen und Ihren Zeugen!" unterbrach ihn die Königin voller Zorn. „Ich habe Ihre ständigen Intrigen satt, denn ich habe Wichtigeres zu tun, als Ihren kindischen Eifersüchteleien Gehör zu schenken. Außerdem finde ich es wenig ehrenhaft von einem Mann in Ihrer Stellung, den Ruf eines verdienten Mannes wie Sir Hasard in den Schmutz zu ziehen. Das mindeste, das ich von Ihnen verlange, ist eine Entschuldigung . . . " „Niemals, Majestät!" Der Graf stampfte wutentbrannt mit dem rechten Fuß auf den Boden. Das aber war auch für die Königin zuviel. Sie trat einen Schritt auf Devereux zu und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige.
63 „Das ist meine Antwort auf Ihre Ungezogenheit." Für einen Atemzug herrschte Totenstille, dann fuhr die Hand des Grafen zum Griff seines Degens. „Diese Schmach werde ich nicht auf mir sitzenlassen, Majestät", sagte er mit bebender Stimme. „Sie ist für mich unerträglich." „Soll das eine Drohung sein, Mylord?" Die Königin kochte vor Wut. „Hinaus mit Ihnen! Ich möchte nicht, daß Sie mir in den nächsten Tagen noch einmal unter die Augen treten." Der Graf von Essex drehte sich auf dem Absatz um und verließ mit bleichem Gesicht das Audienzzimmer. 10. Die Vormittagssonne stand hoch am Himmel, ihre milde Wärme ließ erkennen, daß der Winter in England wohl endgültig vorbei war. „Es wird Frühling, die Schwalben werden bald aus dem Süden zurückkehren", sinnierte Old Donegal, der am Backbordschanzkleid der Schebecke stand und die Blicke über die Themse schweifen ließ. „Hoffentlich singst du uns jetzt nicht ein Liedchen vom schönen Lenz", ließ sich Edwin Carberry vernehmen. „Mir reicht schon das ständige Kreischen der Möwen." Old Donegal bedachte den Profos mit einem mißbilligenden Blick. „Als ob ein Krakeeler wie du das Geschrei hungriger Möwen von lieblichem Gesang unterscheiden könnte!" Der Profos grinste. „Sagtest du lieblich? Dann, mein lieber Donegal,
solltest du mal in die Kombüse schnuppern. Der Kutscher hat den Lenz im Topf. Es duftet gar herrlich nach frischem Lammbraten und Knoblauch." „Tatsächlich?" fragte der raubeinige Alte. „Das muß ich sofort überprüfen." Er stelzte mit dem Holzbein über die Planken und hob dabei die Nase in den Wind, als könne er die Kombüse nur mittels einer Duftspur finden. Kaum war Donegal verschwunden, waren aus der Ferne Hufschläge zu hören. Die Arwenacks blickten interessiert zum Ufer hinüber und erkannten bald einen Reiter in der Uniform der königlichen Palastwache. „Ob der sich wohl verirrt hat?" fragte Bill. Er hatte nicht, denn er zügelte das Pferd direkt an der Towerpier, saß ab und näherte sich zielstrebig der Schebecke. „Wo ist der Kapitän?" wollte er wissen. Hasard trat ihm entgegen. „Ich habe einen Brief Ihrer Majestät, der Königin, zu überbringen", sagte der Mann und überreichte dem Seewolf ein zusammengefaltetes Blatt, das mit dem königlichen Siegel versehen war. Augenblicke später öffnete Hasard den Brief und las ihn seinen Männern vor. „Mein lieber Sir Hasard", schrieb die alte Bessy, „ich möchte vorab mein Bedauern über das ausdrücken, was letzte Nacht geschehen ist. Im Hinblick darauf, daß Sie und Ihre Männer solche Unverschämtheiten nicht verdient haben, habe ich den
64
Grafen geohrfeigt. Er wird sich jedoch noch bei Ihnen entschuldigen müssen..." Der Brief trug die königliche Unterschrift. Die Arwenacks lachten, daß sich die Decksplanken bogen. „Unsere liebe Bessy hat dem Rübenschwein eine gelangt", japste der Profos. „Weißt du, wie das ist, Sir? Wie ein Kuß auf den Bauchnabel!"
Der Brief der Königin ging durch aller Hände und hob die Stimmung an Bord gewaltig. Nur der gute Carberry versuchte plötzlich, sich rasch und unauffällig unter Deck zu verdrücken. Die erstaunten Blicke der anderen verwandelten sich rasch in ein verständnisvolles Grinsen, als sie die üppige Figur der offenbar recht frohgelaunten Jenny-Rose an der Towerpier auftauchen sahen . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 611
Dunkle Gassen in London von Sean Beaufort Philip Hasard Killigrew, vom Landgang zurück, stand auf der Towerpier, hob die lodernde Fackel und drehte sich ratlos um. Es war um Mitternacht. „Nicht einmal eine Nachricht ist zu finden. Kein Zeichen", sagte er vorwurfsvoll und ahnte, daß etwas vorgefallen sein mußte, das vorläufig ohne Erklärung blieb. Will Thorne kletterte die nasse Leiter zur Pier hinauf und sagte verbissen: „Die Leinen sind gekappt. Ich bin sicher, daß sie mit einer Axt oder einem scharfen Schiffshauer zerschnitten wurden." Zufällig waren der Seewolf und der alte Segelmacher die ersten gewesen, die um Mitternacht durch das Labyrinth der nebelschwarzen Londoner Gassen zur Towerpier gefunden hatten. Sie schauten einander ratlos an. Denn ihre Schebecke war spurlos verschwunden - bis auf die gekappten Festmacher. In der Nähe lagen nur leere Frachtboote. Das war alles...