LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLER
Thomas Mann
Der Tod in Venedig Von Hans-Georg Schede
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Al...
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LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLER
Thomas Mann
Der Tod in Venedig Von Hans-Georg Schede
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten © 2005, 2006 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen Made in Germany 2006 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN-13 978-3-15-950135-2 ISBN-10 3-15-950135-3 ISBN-13 der Buchausgabe 978-3-15-015358-1 ISBN-10 der Buchausgabe 3-15-015358-1 www.reclam.de
Inhalt 1. Erstinformation zum Werk 5 2. Inhalt 9 3. Personen 23 4. Werkaufbau 40 5. Wort- und Sacherläuterungen 44 6. Interpretation 51 7. Autor und Zeit 73 8. Rezeption 89 9. Checkliste 91 10. Lektüretipps /Filmempfehlungen 94
1. Erstinformation zum Werk Im Mai 1911 machte Thomas Mann mit seiner Frau Katia und seinem älteren Bruder, dem Autor Heinrich Mann, Urlaub in Venedig. Thomas Mann war 35 Jahre Thomas Mann alt, hatte zwei Romane, etwa zwei Dutzend in den Jahren Erzählungen und ein Theaterstück geschrievor 1911 ben und galt bereits als einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Zeit. Nachdem er durch seinen ersten Roman, Buddenbrooks (1901), berühmt geworden war, ging sein Ehrgeiz in den Folgejahren dahin, ein Werk zu schreiben, das seiner Vorstellung von Größe, Würde und Repräsentativität entsprach. Auf der Suche nach einem bedeutenden Stoff plante und verwarf er einen Roman über Friedrich den Großen. Er machte Notizen zu einer großen Abhandlung Geist und Kunst, die wie andere Projekte dieser Zeit aber ungeschrieben blieb. Diese nicht verwirklichten Werke schrieb er dann im Tod in Venedig Gustav von Aschenbach zu. Manns außergewöhnliches Stilgefühl, sein Anspruch auf Perfektion, machte die Entstehung eines jeden neuen Werks zu einer nervenaufreibenden Geduldsprobe. Auch der parodistische Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull wurde damals nicht fertig, blieb lange liegen und erschien erst 1954, ein Jahr vor Thomas Manns Tod. Das ist, in knappen Umrissen, die Situation, in der Thomas Mann 1911 nach Italien reiste. Dort, in Venedig, fand er den Stoff, den er sofort aufzugreifen und künstlerisch zu gestalten entschlossen war und aus dem unverhofft seine berühmteste Erzählung wurde: ein meisterliches Werk und gleichzeitig eine kritische Hinterfragung eben dieser Meisterlich-
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1. ERSTINFORMATION ZUM WERK
keit. Eine besondere Brisanz des Textes liegt darin, dass Thomas Mann in dieser Novelle, die gewissermaßen seinen Anspruch formulierte, dereinst zu den Klassikern der deutschen Literaturgeschichte zu zählen, erstmals fast unverstellt das Urmotiv seines Schreibens behandelte: die unterdrückte, sehnsüchtige und zugleich ängstliche, Liebe zu schönen jungen Männern. Ängstlich war Homosexualität diese Liebe, weil Homosexualität zur Zeit Thomas Manns nicht nur strafrechtlich verfolgt wurde, sondern auch gesellschaftlich außerordentlich kompromittierend war. Die betonte Meisterlichkeit der Novelle in Form und Sprache dient insofern wohl auch dem Zweck, das Verpönte unangreifbar zu machen, dem in vielfältiger Hinsicht Bekenntnishaften des Textes das Persönliche zu nehmen und vielmehr das Exemplarische, allgemein Gültige der geschilderten Ereignisse und inneren Konflikte zu betonen. Was hatte Thomas Mann auf seiner Reise erlebt? Zunächst war er mit Katia und Heinrich nach Urlaub in der Insel Brioni vor Istrien gereist. Dort geVenedig fiel es ihnen aber nicht, und so reisten sie am 26. Mai zu Schiff von Pola aus weiter nach Venedig, wo sie sich im Hôtel des Bains (»Bäder-Hotel«) auf dem Lido einquartierten, das dem Ehepaar Mann schon von früheren Aufenthalten her vertraut war. In dem Hotel wurde Thomas Mann gleich am ersten Wladyslaw Tag auf den vierzehnjährigen polnischen Baron Moes Knaben Wladyslaw Baron Moes aufmerksam, der ihn sofort in seinen Bann zog. Baron Moes hat viel später, ein Jahrzehnt nach Thomas Manns Tod, bestätigt, dass Mann ihn in der Novelle genau porträtiert habe.
1. ERSTINFORMATION ZUM WERK
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Als weitere Augenzeugin versicherte Katia Mann in ihren 1974 veröffentlichten, auf Interviews beruhenden Ungeschriebenen Memoiren, dass die polnische Familie »genau so aussah, wie mein Mann sie geschildert hat: mit den etwas steif und streng gekleideten Mädchen und dem sehr reizenden, bildhübschen, etwa dreizehnjährigen Knaben, der mit einem Matrosenanzug, einem offenen Kragen und einer netten Masche gekleidet war, und meinem Mann sehr in die Augen stach. Er hatte sofort ein Faible für diesen Jungen, er gefiel ihm über die Maßen, und er hat ihn auch immer am Strand mit seinen Kameraden beobachtet. Er ist ihm nicht durch ganz Venedig nachgestiegen, das nicht, aber der Junge hat ihn fasziniert, und er dachte öfters an ihn« (S. 71). Auch »Jaschu«, der polnische Spielgefährte Tadzios in der Novelle, ist keine Erfindung Thomas Manns. Er hieß Janek Fudakowski und war mit Wladyslaw, wie dieser später berichtete, eng befreundet, »wenn ich auch seine rohe Art nicht leiden konnte. Seine Griffe, die er beim Raufen benutzte, waren kaum kameradschaftlich« (nach: Peter de Mendelssohn, S. 1426). Auch dies hat Thomas Mann offenbar am Strand beobachtet und in der Schlussszene seiner Novelle verwendet (vgl. 86). Selbst die überstürzte Abreise Gustav von Aschenbachs am Ende des dritten Kapitels beruht auf tatsächlichen Erlebnissen. Wie die Hauptfigur der Novelle litten Thomas, Katia und Heinrich Mann in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes unter dem drückenden Wetter. Der Himmel war bedeckt, von der Stadt her breitete sich der faulige Geruch der Lagune aus. Heinrich Mann drängte auf erneute Abreise in die Berge, wo die Luft gesünder sein würde. Man brach nach Como auf. Doch dann ging Heinrichs Koffer verloren
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1. ERSTINFORMATION ZUM WERK
und die drei Reisenden kehrten unverzüglich nach Venedig zurück, wo sie bis zum 2. Juni blieben. Noch weitere Elemente der Erzählung gehen auf Erlebtes zurück. Thomas Mann versicherte in seinem 1930 entstandenen Lebensabriß gar, dass »im Tod in Venedig nichts erfunden« sei. »Der Wanderer am Münchener Nordfriedhof, das düstere Polesaner Schiff, der greise Geck, der verdächtige Gondolier, Tadzio und die Seinen, die durch Gepäckverwechslung mißglückte Abreise, die Cholera, der ehrliche Clerc im Reisebureau, der bösartige Bänkelsänger oder was sonst anzuführen wäre – alles war gegeben, war eigentlich nur einzustellen und erwies dabei aufs verwunderlichste seine kompositionelle Deutungsfähigkeit« (GW XI, S. 124). Obgleich »alles gegeben« und »eigentlich nur einzustellen« war, arbeitete Thomas Mann nach seiner gewohnten skrupulösen Weise ein Jahr lang, von Juli Entstehung der 1911 bis Juli 1912, an der Novelle. Brieflich Novelle bezeichnete er das im Entstehen begriffene Werk wiederholt als »unmögliche Conception«, wohl im Hinblick auf das zentrale Thema der Knabenliebe und die damit verbundene Gefahr der Preisgabe seiner eigenen Gefühlswelt. Festzuhalten ist, dass in den Tod in Venedig viel Persönliches von Thomas Mann eingeflossen ist: persönliche Erlebnisse wie persönliche Gefühle. Doch das ist lediglich das Material. Die fertige Novelle ist weit mehr als die Schilderung eines Reiseerlebnisses. Sie ist ein ungewöhnlich komplex durchgestaltetes Kunstwerk und zugleich eine tiefgründige Positionsbestimmung des Künstlers in der (damaligen) Gesellschaft.
2. Inhalt Erstes Kapitel Die Hauptfigur der Novelle ist der Schriftsteller Gustav von Aschenbach. Das erste Kapitel (7–12) handelt von seinem plötzlichen Entschluss, für drei oder vier Wochen nach Italien zu reisen. Nervlich überreizt von den Mühen seines schriftstellerischen Tagespensums unternimmt Aschenbach an einem Nachmittag im Mai eines nicht näher bestimmten Jahres zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen ausgedehnten Spaziergang durch seine Wahlheimatstadt München, um innerlich wieder zur Ruhe zu kommen (7). Das Gegenteil geschieht: Am Nördlichen Friedhof an einer menschenleeren Haltestelle auf die Tram, die Straßenbahn, wartend, hat er eine Begegnung, die ihn vollends aus dem Gleichgewicht bringt (7f.). Vor der Aussegnungshalle nimmt Aschenbach eine Gestalt wahr, deren fremdartiges Aussehen, Der Fremde Gesichtszüge und herrische, wilde Haltung ihn in seinen Bann ziehen. Seine eingehende Musterung des Fremden erwidert dieser mit einem derart kriegerischen Blick, dass Aschenbach sich unangenehm berührt abwendet (8f.). Der verstörende Blickkontakt wirkt in inneren Bildern fort, die sich unmittelbar darauf in Aschenbachs Bewusstsein drängen. Sie zeigen ihm eine Dschungellandschaft mit üppig und unübersichtlich wuchernder Vegetation, fremdartigen Vögeln und einem im Bambusdickicht lauernden Tiger. Aschenbach, der die Unruhe, in die ihn die Begegnung mit dem Fremden versetzt hat, sofort als Reise-
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2. INHALT
lust gedeutet hat, ist zugleich fasziniert und verängstigt (9f.). Er versucht, sich über diese überraschende, seiner gewohnten Lebensweise durchaus fern liegende Reiselust Rechenschaft abzulegen und erkennt darin das Bedürfnis, auf einige Zeit der Mühsal seiner künstlerischen Arbeit zu entfliehen. Zwar liebt er den Dienst an der Kunst, wie er seine Tätigkeit versteht, aber er empfindet ihn auch als Bürde. Davon überzeugt, dass künstlerische Kontrolle und Souveränität nur mittels einer gezügelten Empfindung zu erreichen sind, scheint ihm aber diese gezügelte Empfindung den Genuss an der eigenen Leistung zu verderben. Zwar wird sein Werk von der Nation geehrt, aber er selbst hat keine Freude mehr daran. Kurz, er entdeckt, dass er dem eigenen Tun zwiespältiger gegenübersteht, als ihm das bis vor kurzem klar war. Insofern erscheint es ihm nur vernünftig, die augenblickliche produktive Hemmung zu akzeptieren und sich durch eine Reise auf andere Gedanken bringen zu lassen, um diese kleine Krise seines Selbstverständnisses als Künstler auf undramatische Weise zu überwinden (11f.).
Zweites Kapitel Im zweiten Kapitel (13–20) informiert der Erzähler über Aschenbachs Vorfahren (13), seine persönliAschenbachs che Entwicklung und körperliche KonstituPersönlichkeit tion (13–15), den Charakter und die Wirkung seiner schriftstellerischen Werke (15–17), seine Entwicklung als Künstler (17–19) und zuletzt seine bürgerliche Existenz sowie seine äußere Erscheinung (19f.). Aschenbach ist in Schlesien geboren und entstammt väterlicherseits einer Familie von Offizieren, Richtern und
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höheren Verwaltungsbeamten, die sich durch asketische Pflichterfüllung in ihren den Staatsinteressen dienenden Ämtern auszeichneten. Seine Mutter hingegen war die Tochter eines böhmischen Kapellmeisters. Diese gegensätzlichen Erbteile bilden die Grundlage seiner Persönlichkeit und seines Künstlertums. Noch in jungen Jahren erobert er sich mit seinem Werk, das sowohl das breite Publikum wie die Kenner anspricht, eine Stellung in der literarischen Welt. Aufgrund seiner schwachen Konstitution vom Besuch einer öffentlichen Schule ausgeschlossen, ohne Kameradschaft und ohne jugendliche Unbekümmertheit aufgewachsen, hat er sich bereits früh eine zuchtvolle Lebensweise auferlegt, um den Ansprüchen, die sein Talent an ihn stellt, gerecht zu werden. Sein Lieblingswort ist »Durchhalten« (14). Dieses »Durchhalten« kennzeichnet auch sein Werk, das als ein Trotzdem dasteht, als ein Sieg des Willens und der Begabung über die allgegenwärtige Überforderung. Sinnbildlich für diese Haltung und damit auch sinnbildlich für Aschenbachs in seinen Werken bevorzugten Heldentypus steht der Heilige Sebastian, der noch angesichts seiner Qualen Anmut und Würde bewahrt. Dieser Heroismus der Schwäche, wie er vom Erzähler bezeichnet wird, verbindet Aschenbach mit seinen Lesern, den durch die gesellschaftlichen Verhältnisse der modernen Welt Überbürdeten und Überanstrengten, und bewirkt untergründig die Anteilnahme, die sie seinem Werk entgegenbringen, weil sie sich in ihm, bewusst oder unbewusst, wiedererkennen. Aschenbachs Entwicklung als Künstler läuft auf eine gewollte Meisterlichkeit und Aschenbachs Klassizität zu. Begonnen hat er, scharfsinniKünstlertum ger Psychologe, ironischer Meister der Ent-
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larvung, unverkennbar – auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird – als Schüler Friedrich Nietzsches, indem er konventionelle Wahrheiten und jede scheinbare moralische Eindeutigkeit verwarf. Jenseits von Gut und Böse aber entsteht die Sympathie mit dem Abgrund. Gegen den scharfen Reiz solcher Erkenntnis bald abgestumpft, fasst Aschenbach in der Mitte seiner Entwicklung den, wie es heißt, tiefen Entschluss »des Meister gewordenen Mannes, das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber hinwegzugehen« (17). Er ekelt sich vor der Pose des alles Durchschauenden und löst dafür das »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit« ein, wie er es selbst nennt (18). Diese neue Haltung kommt in der Würde, Reinheit, Einfachheit seiner von nun an geschaffenen Werke zum Ausdruck. Ob diese »sittliche Vereinfältigung der Welt und der Seele« (18) nicht aber, indem sie die psychologische Erkenntnis (und damit auch Selbsterkenntnis) unterdrückt, ihrerseits zwiespältig ist und den Keim des Unsittlichen in sich trägt – das stellt der Erzähler als Frage in den Raum, die vorerst unbeantwortet bleibt. Effekt und Erfolg von Aschenbachs Haltung auf der Ebene der öffentlichen Anerkennung ist, dass seine Werke Eingang in die Schullesebücher finden und er zum 50. Geburtstag von einem deutschen Fürsten den persönlichen Adel verliehen bekommt. Aschenbach war verheiratet und hat eine ihrerseits bereits verheiratete Tochter. Seine Frau starb schon früh nach wenigen glücklichen Ehejahren. Äußerlich ist Aschenbach etwas weniger als mittelgroß, bartlos und beinahe zierlich von Gestalt, gegen die sein bedeutender Kopf fast zu groß wirkt. Seine Gesichtszüge sind asketisch und durchgeistigt, von inneren künstlerischen Erlebnissen geprägt. Er trägt eine
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Brille. Besonders bemerkenswert ist der im Ruhezustand oft schlaffe, dann aber wieder schmale und angespannte Mund. Hier findet sich der innere Zwiespalt wieder, der für die gesamte Persönlichkeit Aschenbachs als charakteristisch erscheint.
Drittes Kapitel Das dritte Kapitel (20–49) erzählt Aschenbachs Italienreise bis zu dem Zeitpunkt, als er seinen inneren Widerstand gegen die Gefühle, die seine Urlaubsbegegnung mit dem Knaben Tadzio in ihm auslöst, aufgibt. Etwa zwei Wochen nach dem im ersten Kapitel geschilderten Erlebnis, zwischen Mitte und Ende Mai, bricht Aschenbach nach Italien auf. Er plant, vier Wochen wegzubleiben (20). Zunächst reist er über Triest nach der Adria-Insel Pola, wo ihm aber das schlechte Wetter, die übrige Hotelgesellschaft und das Fehlen eines SandAufenthalt in Pola strands das Gefühl geben, noch nicht am gewünschten Ort zu sein. Dann wird ihm klar, dass das märchenhaft Fremde, nach dem es ihn verlangte, ohne dass er eine Fernreise auf sich zu nehmen gewillt war, natürlich in Venedig zu finden wäre, und so schifft er sich nach anderthalb Wochen von Pola nach Venedig ein (20f.). Die Überfahrt, auf einem veralteten und düsteren Schiff, ist seltsam. Auf Deck macht besonders eine Gruppe junger einheimischer HandelsÜberfahrt nach Venedig gehilfen durch lautes Benehmen auf sich aufmerksam. Zu seinem Erschrecken erkennt
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2. INHALT
Aschenbach, dass derjenige der Gruppe, der sich dabei besonders hervortut, eigentlich ein geschminkter und als Jüngling verkleideter Greis ist (22f.). Aschenbach hat mehr und mehr die Empfindung einer ins Träumerische hinüberspielenden Entstellung der Wirklichkeit (23f., 25). Zu seiner Enttäuschung wird er von der Stadt seiner Sehnsucht nicht, wie bei früheren Aufenthalten, mit strahlendem Wetter willkommen geheißen. Der Himmel bleibt trüb (24). Während der Einfahrt in den Hafen hat der falsche Jüngling, inzwischen betrunken und äußerlich derangiert, noch einen abstoßenden Auftritt: Er albert herum und leckt sich auf in Aschenbachs Augen obszöne Weise mit der Zunge die Mundwinkel (25). Als die Passagiere das Schiff verlassen, wendet sich der Alte in zudringlicher Weise direkt an Aschenbach, der dessen geschmacklosen und anstößigen Vertraulichkeiten minutenlang ausgesetzt ist (26). Aschenbach möchte mit einer Gondel zur Station jener kleinen Dampfer gebracht werden, die zwischen der Stadt und dem Lido, wo er wohnen wird, verkehren. Der Gondolier, dem er sich anvertraut, ein schmächtiger Mensch mit brutalen Gesichtszügen, rudert ihn jedoch direkt zum Lido. Aschenbach, den die erschlaffende Bequemlichkeit seines Polstersitzes in einen Bann der Trägheit versetzt hat, protestiert halbherzig, kann sich aber nicht durchsetzen, zumal er dem zutreffenden Einwand des Gondoliers, dass der Vaporetto kein Gepäck befördere, nichts als seine ursprüngliche Absicht entgegensetzen kann (27–29). Am Quai angekommen, macht sich der Gondolier aus dem Staub, bevor Aschenbach Geld gewechselt hat, um ihn zu bezahlen. Es stellt sich heraus, dass Aschenbachs Gondolier keine Konzession besitzt. Andere Gondolieri haben die illegale Fahrt telefonisch gemeldet (30).
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Im Bäder-Hotel wird Aschenbach von dem beflissenen Manager empfangen und auf sein Zimmer geführt, von dem aus Strand und Meer zu überblicken sind. Der Erzähler schaltet sich ein und teilt resümierend mit, dass die Erlebnisse der Anreise Aschenbachs Gemüt nachhaltig beunruhigten und dass überhaupt ein einsam-stummer Mensch Gefahr laufe, sich auf unverhältnismäßige und verkehrte Weise in seine Erlebnisse zu vertiefen (31). Zur Abendmahlzeit erscheint Aschenbach etwas verfrüht in der Halle. Eine Zeitung in der Hand, betrachtet er die anderen Gäste. Vier polnische Geschwister, unter der Obhut einer Gouvernante, fallen ihm auf. Die drei Schwestern, wohl zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt, sind klösterlich schlicht und ungefällig gekleidet, ihre Mienen, mit den Worten des Erzählers, nonnenhaft leer; ganz anders der etwas jüngere, vielleicht vierzehnjährige Tadzio Knabe, der Aschenbach zu seinem Erstaunen vollkommen schön erscheint und in dessen reicher Kleidung und lässig eleganter Haltung seine Vorzugstellung unter den Geschwistern zum Ausdruck kommt (32f.). Drinnen im Speisesaal beginnt die Mahlzeit. Doch erst nachdem die Mutter, eine vornehme Erscheinung, die Halle betreten hat, macht sich die Familie auf den Weg dorthin. Aschenbach blickt der Gruppe nach, in Anschauung versunken, wie es heißt. Als sich der Knabe auf der Schwelle zum Speisesaal noch einmal umsieht, begegnen sich erstmals ihre Blicke (34). Während des Essens träumt Aschenbach der Begegnung nach, indem er den empfangenen Eindruck gewohnheitsmäßig in eine Kunstbetrachtung über Schönheit münden lässt, die ihm aber hinterher schal und unnütz erscheint (35).
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Am nächsten Morgen ist das Wetter unverändert bedeckt. Aschenbach ist verstimmt und denkt an neuerliche Abreise. Einem solchen Entschluss entgegen steht sein vor sich selbst noch uneingestandenes tiefes Interesse an dem polnischen Knaben. Mit dem Frühstück hält er sich so lange auf, bis dieser, der lange geschlafen hat, den Saal betritt (36). Später, am Strand, im Anblick des Meeres, beschließt er zu bleiben. Das Meer liebt er als Sinnbild des Maßlosen, des Nichts und damit gleichermaßen auch des Vollkommenen, während er als Künstler sich dem Vollkommenen auf entgegengesetztem Wege, durch die Form, die Gestaltung, annähern muss (38). Ausgiebig beobachtet er den Knaben beim Spiel mit seinen Kameraden, beim Baden und beim anschließenden Ruhen (38–41). Angelegentlich beschäftigt er sich damit, aus den Rufen am Strand seinen Namen zu erschließen, und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Tadzio lauten müsse. Zurück auf seinem Hotelzimmer, unterwirft er sich vor dem Spiegel einer kritischen Musterung. Als er sich zum Lunch begibt, kommt es im überfüllten Lift zu einer erneuten Begegnung mit Tadzio. Aus der Nähe beobachtet Aschenbach den schlechten Zustand der Zähne des Knaben. Dieses Anzeichen von Morbidität erfüllt ihn mit einem Gefühl der Genugtuung und Beruhigung (42). Am Nachmittag macht Aschenbach einen Ausflug nach Venedig, auf dem er seine Entschlüsse vom Vormittag gänzlich und fast panikartig revidiert. Entnervt vom Scirocco, dem landestypischen Föhnwind, von dem er sich zugleich erregt und erschlafft fühlt, glaubt er einsehen Fluchtversuch zu müssen, dass er dem Klima Venedigs nicht gewachsen ist und abreisen muss (43). Als er am nächsten Morgen erwacht, reut ihn die voreilige Ent-
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scheidung bereits. Aber da er seine Pläne schon bekannt gegeben und die Rechnung bezahlt hat, kann er nicht mehr zurück (44). Beim Frühstück verharrt er lange, in der uneingestandenen Hoffnung, Tadzio noch einmal zu sehen. Den Portier, der nervös zum Aufbruch drängt, weist er grob zurecht. Tatsächlich wird ihm sein Wunsch erfüllt und Tadzio tritt ein, als er sich endlich, bereits resigniert, von seinem Sitz erhebt (45). Auf der sich anschließenden Fahrt zum Bahnhof durchleidet Aschenbach alle Qualen der Reue. Spät, aber noch rechtzeitig, erreicht er die Station. Da kommt ihm ein Zufall zu Hilfe. Sein Koffer ist, wie sich herausstellt, in die falsche Richtung aufgegeben worden. Der für den Fehler verantwortliche Hotelangestellte ist sehr betreten. Aschenbach, die Situation nutzend, erklärt, ohne seinen Koffer nicht abreisen zu wollen und in dieser Lage vorläufig im Hotel wohnen zu bleiben. Unter Wahrung der angemessenen Haltung ärgerlicher Resignation lässt er sich ins Hotel zurückfahren, innerlich beglückt von dem komisch-traumartigen, beschämenden Abenteuer, wie der Erzähler den Zwischenfall charakterisiert (47). Im Hotel bekommt er ein neues Zimmer, das jedoch dem vorherigen ganz ähnlich ist (48). Dann sitzt Aschenbach im Lehnstuhl am offenen Fenster, zufrieden und doch auch befremdet über das Schwanken seiner Wünsche, ruhend und träumend, als Tadzio vom Meer her kommend zum Hotel zurückkehrt. Seine Erschütterung beim Anblick des Knaben macht es ihm unmöglich, seine wahren Gefühle länger zu verleugnen. Insgeheim war er auf die nun eingestandenen Empfindungen natürlich vorbereitet; und so versucht er sie auch nicht abzuwehren, sondern heißt sie erwartungsvoll willkommen (48f.).
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Viertes Kapitel Im vierten Kapitel schildert der Erzähler, der nun die chronologische Erzählweise des dritten Kapitels aufgibt, zusammenfassend Aschenbachs immer intensivere Passion für Tadzio. Auch nachdem der Schriftsteller zwei Tage nach seinem überstürzten Aufbruch sein Gepäck zurückerhalten hat, ist von erneuter Abreise nicht länger die Rede. Ein Wetterumschwung hat endlich die ersehnten klaren Sonnentage gebracht, die zu Beginn des Kapitels in antikisierender Redeweise gefeiert werden. Der gehobene Stil der Passage deutet bereits Aschenbachs innere Gehobenheit, seine euphorische Stimmung an (49). Aschenbach genießt, gegen alle Gewohnheit, sein müßiges Leben am Strand. Er ist ganz der BeHingabe und obachtung Tadzios hingegeben, zu welcher Selbstbetrug sich täglich vielfältige Möglichkeiten ergeben (50f.). Vor allem aber sieht er ihn vormittags am Strand. Bald kennt er jede Linie und Pose von Tadzios Körper (52). Immer noch versucht er seine Leidenschaft für den Knaben in Bezüge zu stellen, die ihr scheinbare Würde und geistige Überlegenheit verleihen. Er meint in Tadzio das Schöne selbst zu erblicken, die menschliche Verkörperung eines geistigen Ideals (53). Er träumt vom Athen der Antike, wo in gefälliger Landschaft ein Älterer, Hässlicher einen Jungen und Schönen in vertrautem Gespräch belehrt: Er träumt von Sokrates und Phaidros, wie sie von Plato geschildert werden (54). Angeregt durch diese Phantasie eines geistigen Austausches, regen sich in Aschenbach noch einmal seine produktiven Kräfte. Am Strand, Tadzio immer vor Augen, verfasst er über ein zufälliges Thema einen klei-
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nen Aufsatz von großer stilistischer Vollkommenheit (55). Der Erzähler lässt durchblicken, dass die makellose kleine Schrift das Produkt einer Ausschweifung, eines gewissermaßen ins Geistige verschobenen Geschlechtsverkehrs ist und dass die Welt glücklicherweise von den Ursprüngen der Kunstwerke, die sie bewundere, keine Kenntnis habe (55f.). Am nächsten Morgen ergibt sich für Aschenbach die Möglichkeit, auf beiläufige Art die Bekanntschaft Tadzios zu machen und so seine ungesund übersteigerte Neigung für den Knaben wieder in alltägliche, normale Bahnen zu lenken. Er bringt es, hämmernden Herzens, nicht über sich und scheut im Grunde auch, wie der Erzähler anmerkt, die mit einem solchen Schritt notwendig einhergehende Ernüchterung (56). So verfolgt er seine mit antikem Bildungsgut und mythologischen Vorbildern überhöhte Schwärmerei weiter (58f.). Allmählich nimmt er dabei wahr, dass auch Tadzio auf ihn aufmerksam wird (59f.). Als Aschenbach ihm eines Abends unvermutet begegnet und in seiner Miene, derart unvorbereitet, seine Gefühle für Eingeständnis Tadzio preisgibt, lächelt dieser zurück, mit der Liebe dem selbstbezogenen Lächeln des Narziss. Erschüttert flüchtet sich Aschenbach auf eine Bank und gesteht sich nun auch in Worten ein, was er längst weiß: »Ich liebe dich!« (61).
Fünftes Kapitel Das fünfte Kapitel handelt davon, wie sich die Cholera in Venedig ausbreitet, wie Aschenbach sich durch seine Leidenschaft entwür-
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digt und wie er schließlich, am Tag der Abreise der polnischen Familie, an der Seuche stirbt. Etwa drei Wochen sind seit Aschenbachs missglückter Abreise vergangen (vgl. 61), als er wahrzunehmen beginnt, dass in Venedig etwas nicht stimmt. Die Abreise der deutschsprachigen Gäste mitten in der Hochsaison, der süßliche Geruch nach Desinfektion in der Stadt und weitere Anzeichen, zu denen auch die übereifrig abwiegelnden Auskünfte der Einheimischen gehören, überzeugen ihn davon, dass Venedig von einer Seuche heimgesucht wird, ohne dass er über diese Vermutung letzte Gewissheit erlangen kann. Erregt wünscht er sich, dass die Wahrheit unterdrückt bleibt: aus Angst, die polnische Familie könnte abreisen, welcher Gedanke ihn zu der entsetzlichen Einsicht kommen lässt, dass er in diesem Falle nicht wüsste, wie er weiterleben solle; zugleich aber auch aus der unbestimmten Hoffnung heraus, dass die offiziell geförderte Atmosphäre der Verleugnung und Heuchelei seiner eigenen verbotenen Leidenschaft vorteilhaft sein werde (63). Dieser Leidenschaft gibt sich Aschenbach mittlerweile ohne Rücksicht auf gesellschaftliche SchickIm Bann des lichkeit hin. Er überlässt die Begegnungen Dämons mit Tadzio nicht mehr dem Zufall, sondern verfolgt ihn regelrecht, etwa beim Besuch der Messe in San Marco, auf Spaziergängen oder Gondelfahrten durch Venedig (63–65). Er scheut sich nicht, spät abends vor dem Zimmer des Jungen Halt zu machen und seine Stirn minutenlang an die Angel der Tür zu lehnen (66). Mitunter regt sich, beim Gedanken an seine sittenstrengen Vorfahren, sein Ehrgefühl. Doch findet er Ausflüchte, die seine würdelose Hingegebenheit verklären (66f.). Dem geheim gehaltenen Zustand der Stadt, an dem er
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komplizenhaft Anteil nimmt, versucht er weiter auf den Grund zu kommen; so auch anlässlich der abendlichen Musikvorführung einer vierköpfigen Gruppe von Straßenmusikanten im Vorgarten des Hotels (68–74). Nach Beendigung der Darbietungen fragt Aschenbach den Anführer der Gruppe, einen ausgemergelten, verwegen aussehenden Gitarristen, warum Venedig desinfiziert werde (71). Doch der äußerlich abstoßende Spaßvogel leugnet jede Gefahr. Nach einer Zugabe mit frechem Lachrefrain streckt er den Hotelgästen, als letzten hämischen Gruß, die Zunge heraus (73f.). Am nächsten Tag erlangt Aschenbach durch einen aufrichtigen englischen Angestellten eines Reisebüros endlich Gewissheit über die tatsächliche Lage (76–78). Die indische Cholera ist im Mittelmeerraum und seit Mitte Mai auch in Venedig aufgetaucht. Die Krankheit grassiert in einer besonders gefährlichen Form, der so genannten trockenen Cholera, die nach ihrem Ausbruch binnen weniger Stunden zu einem qualvollen Erstickungstod führt. Aus Sorge um den Tourismus wird die Wahrheit unterdrückt. Schon greifen als eine Folge dieser Politik der Vertuschung Kriminalität und Prostitution um sich. Der Engländer rät Aschenbach eindringlich abzureisen, bevor die Stadt demnächst unter Quarantäne gestellt werde (77). Den Gedanken, die polnische Familie zu warnen und durch eine solche reinigende Handlung auch selbst wieder zu sich zu kommen, verwirft Aschenbach Moralische rasch (77f.). In der folgenden Nacht hat Zerrüttung er einen furchtbaren Traum, in dem er Teil einer reißenden orgiastischen Meute wird und aus dem er moralisch zerrüttet erwacht (78–80). Die befremdeten Blicke der Menschen scheut er nun nicht mehr. Ohnehin verlassen immer mehr Touristen die
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Stadt, denn die Wahrheit sickert allmählich durch (80). Doch Tadzio und die Seinen bleiben. Im verblendeten Bemühen, dem Jungen zu gefallen, lässt Aschenbach sich vom Coiffeur des Hotels kosmetisch verjüngen (81f.). Inzwischen hat wiederum das Wetter gewechselt. Lauwarmer Sturm, vom Fäulnisgeruch der Stadt erfüllt, ist aufgekommen (82). Auf einem seiner Gänge durch Venedig, bei denen er Tadzio nachstellt, verliert Aschenbach die polnische Familie aus den Augen. Entnervt, erschöpft, von Durst gequält, kauft er vor einem Gemüseladen einige überreife Erdbeeren (83). Unversehens gelangt er auf den kleinen Platz, wo er vor Wochen den schließlich aufgegebenen Entschluss gefasst hatte abzureisen. Dort lässt er sich nieder. Halb bewusstlos verbindet er seine persönliche Gesunkenheit mit einer Betrachtung des Künstlertums im Allgemeinen. Die Sehnsucht des Künstlers gelte der Schönheit, welche ihn aber gleichzeitig zur Sinnlichkeit verführe und damit ein Irrweg sei. Daher könne der Dichter weder würdig noch weise sein und diene nicht zum Vorbild (84f.). Einige Tage darauf erfährt Aschenbach, dass die polnische Familie noch am selben Tag abreisen wird. Seit dem Morgen wird Aschenbach von Schwindelanfällen und Angstzuständen heimgesucht. Er begibt sich zum mittlerweile entvölkerten Strand, wo er noch einmal Tadzio beobachtet, der ins Meer hinausgeht und sich von einer Sandbank aus nach ihm umwendet (87). Wenig später findet man Aschenbach in seinem Liegestuhl am Strand. Noch am selAschenbachs Tod ben Tag melden die Zeitungen den Tod des berühmten und geachteten Dichters, des Erziehers der Jugend.
3. Personen Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig weist eine wirkliche Figur auf: den Schriftsteller GusPersonentav von Aschenbach. Außer ihm macht nur konstellation Tadzio eine Entwicklung durch, wobei er sich jedoch bezeichnenderweise ganz passiv verhält. Keine Widersacher stellen sich Aschenbach entgegen, keine mit eigenen Interessen ausgestatteten Figuren kreuzen seinen Weg und nehmen Einfluss auf die Handlung. Der Anblick Tadzios, des schönen Knaben, verhilft lediglich einer inneren Tendenz Aschenbachs zum Durchbruch, in der sich Selbstbefreiung und Selbstzerstörung auf tragische Weise verbinden und die schon vor der Begegnung mit dem Jungen in Aschenbach wirksam ist. Der Wanderer am Nördlichen Friedhof von München, der Gondolier und der Gitarrist sind durch ihre äußere Erscheinung und ihr Verhalten als Todesboten gekennzeichnet, so wie auch Tadzio auf der letzten Seite der Novelle als bleicher und lieblicher »Psychagog«, als Geleiter der Seele ins Totenreich, bezeichnet wird. Der falsche Jüngling auf dem Schiff nach Venedig nimmt Aschenbachs spätere Liebesverfallenheit und Entwürdigung allegorisch vorweg. Die anderen Figuren, der schmeichelnde Hotelmanager, die Mutter und die Schwestern Tadzios sowie deren Gouvernante, Tadzios Kamerad »Jaschu«, der loyale englische Angestellte im Reisebüro oder der Coiffeur des Hotels, markieren den Hintergrund und Zusammenhang, vor dem sich Aschenbachs Schicksal vollendet. Eigenes Gewicht haben sie nicht. Dieses weitgehende Fehlen eigenständiger Figuren neben Aschenbach signalisiert dreierlei: Die dramatische
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Entwicklung, die dieser durchläuft, ist nicht auf neue äußere Erfahrungen zurückzuführen, sondern Resultat und Konsequenz schon früher angelegter innerseelischer Konflikte. Zudem macht sich im Fehlen wirklicher anderer Figuren die träumerische Entstellung der Welt bemerkbar, die Aschenbach zu erkennen glaubt (vgl. insbesondere die Erzählerkommentare Seite 23 und 25). Und schließlich zeigt sich, dass die Perspektive, unter der in der Novelle die Ereignisse in den Blick geraten, die Aschenbachs ist, des Einsamen, ganz mit sich Befassten. Zwar schaltet sich der Erzähler wiederholt mit kritischen Kommentaren ein oder verleiht seiner Schilderung eine ironische Färbung. Was er jedoch schildert, ist das, was Aschenbach wahrnimmt. Gustav von Aschenbach. Da die Handlung der Novelle in ihren wesentlichen Zügen mit der Entwicklung der Hauptfigur zusammenfällt, wird auf die ausführliche, die inneren Vorgänge einschließende Inhaltsangabe verwiesen. Hier sollen die Hintergründe des Zusammenbruchs von Aschenbachs Persönlichkeit, sein Hang zur Selbsttäuschung sowie die historischen Vorbilder, die der Figur Aschenbachs eingeschrieben sind, erörtert werden. 1. Im ersten Kapitel der Novelle verspürt Aschenbach den aus dem Rahmen seiner gewohnten Existenz fallenden und für ihn irritierenden Wunsch, der selbst auferlegten Disziplin seiner schriftstellerischen Arbeit zu entfliehen und zu verreisen. Das zweite Kapitel hingegen bietet ein Porträt seines Charakters, seines Werks und seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt, an dem die Erzählung eingesetzt hat (vgl. Inhaltsangabe, 10–13). Das erste Ka-
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pitel behandelt demnach einen inneren Konflikt, dessen Schwere erst auf dem Hintergrund des Charakterbildes, das im zweiten Kapitel entworfen wird, voll erkennbar ist. Die zentrale Frage, mit der die GlaubwürDie Glaubwürdigdigkeit der im Tod in Venedig geschilderkeit von Aschenbachs ten inneren und äußeren Handlung steht Zusammenbruch und fällt, lautet: Wie kann es dazu kommen, dass ein so disziplinierter Mensch wie Aschenbach sich derart dem Verfall hingeben kann, wie es in der Novelle erzählt wird? Glaubhaft wird dieser phantastische Umschwung durch den ausführlichen Hinweis darauf, dass Aschenbach sein Leben bis zur Reise nach Italien ganz in den Dienst seines literarischen Werks gestellt hat, dass er aus künstlerischer Ungenügsamkeit »das Gefühl gezügelt und erkältet« (12), also wichtige Anteile seiner Persönlichkeit jahrzehntelang unterdrückt hat. Diese unterdrückten Gefühle haben sich, wie man landläufig sagt, lange aufgestaut, bis endlich der Damm brach. Das Bild des Dammbruchs ist überhaupt gut geeignet, Aschenbachs Schicksal zu veranschaulichen. Die verheerende Art und Weise, in der sich das unterdrückte Gefühls- und Triebleben Aschenbachs schließlich Bahn bricht, lässt sich der reißenden, mörderischen Gewalt des Wassers, das den Damm zum Bersten bringt, vergleichen. Aschenbachs Traum von der orgiastischen Meute ist nur ein anderer Ausdruck derselben Erfahrung, dass sich die eigene Persönlichkeit unter dem Andrang einer unwiderstehlichen Gewalt auflöst: »Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als […]
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grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges« (80). Aschenbachs Unfähigkeit, diesem Dammbruch etwas entgegenzusetzen, steht somit nicht im Widerspruch zu seiner fast ein ganzes Leben lang erprobten Disziplinierung seiner selbst, sondern wurzelt gerade in dieser Selbstdisziplin. Nur mit ihrer Hilfe konnte Aschenbach so lange gegen seine unbewussten Bedürfnisse handeln, die nun derart heftig durchbrechen. In Rechnung zu stellen ist ferner, dass die Unterdrückung tief sitzender Wünsche über eine so lange Zeit hinweg eine äußerste, wenn auch unbemerkte, Anstrengung bedeutet. Aschenbachs Erschöpfung, sein Bedürfnis nach einer »so ungewohnten als süßen Lässigkeit« (27), wie sie besonders während der Überfahrt in der Gondel zum Lido vermerkt, aber auch sonst allenthalben deutlich wird, ist die Folge einer solchen jahrelangen Überforderung. In der Novelle gibt es dafür ein wiederkehrendes Bild: das der zunächst fest geschlossenen (vgl. 14) und schließlich geöffneten, zu einer »bereitwillig willkommen heißende[n], gelassen aufnehmende[n] Gebärde« nach oben gewendeten Hände (49). Steht Aschenbachs Traum für seine Machtlosigkeit gegenüber dem Ansturm seines Trieblebens, so steht die endlich geöffnete Hand für den Wunsch, seinen Gefühlen nicht länger Gewalt anzutun und die in der Faust symbolisierte Abgeschlossenheit seiner Existenz aufzugeben (vgl. zu diesem Motiv auch die Worterläuterung zu 14,15). 2. Das dritte und vierte Kapitel handeln von zwei verschiedenen Stadien der Selbsttäuschung Aschenbachs hinsichtlich seiner eigentlichen Gefühle Tadzio gegen-
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über. Im dritten Kapitel möchte er nicht wahrhaben, dass ihm Tadzio überhaupt ein tiefes persönliches Interesse einflößt. Im vierten Kapitel glaubt er sich Aschenbachs mithilfe einer antikisierenden Camouflage Selbsttäuschung in ein intimeres Verhältnis zu Tadzio hineinträumen zu dürfen, ohne seine moralische Integrität, seine Würde und Überlegenheit, zu verlieren. Natürlich stellt sich das eine wie das andere als Illusion heraus, worauf der Erzähler zunächst mittelbar und diskret, dann zunehmend offen hinweist. Auffällig ist, wie im dritten Kapitel Aschenbachs unwillkürliche Empfindungen beim Anblick Tadzios und seine vom Bewusstsein gelenkten Reaktionen auseinander fallen. »Sonderbar ergriffen« ist Aschenbach schon nach der ersten Begegnung mit dem Knaben (34). Bei der zweiten Gelegenheit erschrickt er »über die wahrhaft gottähnliche Schönheit des Menschenkindes« (36); bei der dritten ist er »erheitert und erschüttert zugleich, das heißt: beglückt« (39). Erheiterung ist die Gefühlshaltung, mit der Aschenbach seine wahre Erschütterung vor sich zu verbergen sucht. Er begegnet Tadzio anfangs verschiedentlich mit einem amüsierten Lächeln (vgl. 36 und 40). In einem solchen Lächeln drückt sich Anteilnahme, eine gewisse Komplizenschaft, aber eben auch Überlegenheit aus. Dieses Lächeln wahrt genau die Balance zwischen Intimität und Abstand, die Aschenbach gegenüber Tadzio finden möchte. Der Erzähler greift diesen Wunsch Aschenbachs auf, wenn er von »väterliche[r] Huld« und »gerührte[r] Hinneigung« spricht, die Aschenbach für Tadzio zu empfinden meint (41). Der Erzähler sorgt jedoch andererseits auch schon frühzeitig dafür, dass Aschenbach nur sich selbst, nicht aber den Lesern der Novelle etwas vormachen kann. So heißt es im Anschluss an Aschenbachs
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zweite Begegnung mit Tadzio: »Gut, gut! dachte Aschenbach mit jener fachmännisch kühlen Billigung, in welche Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Entzücken, ihre Hingerissenheit kleiden« (37). Dass die angeblich fachmännisch kühle Billigung nur eine Pose ist, die die eigentliche Hingerissenheit verdecken soll, wird hier deutlich ausgesprochen. So entlarvt der Erzählerkommentar Aschenbachs anfängliche Tendenz, Tadzio wie ein Kunstwerk zu taxieren (vgl. 35, 36, 39), als Rationalisierung seiner tiefen persönlichen Ergriffenheit. Noch im überstürzten Entschluss, aus Venedig abzureisen, wiederholt sich das Muster. Aschenbach schiebt seine »Seelennot«, in der er sich »ganz zerrissen« fühlt (46), auf die scheinbare Einsicht, der »geliebte[n] Stadt« Venedig mit ihrem schädlichen Klima physisch nicht gewachsen zu sein. In Wahrheit aber kann er, wie die Szene beim Frühstück gezeigt hat (44f.), nicht von Tadzio lassen. Wenig später ist er unverhofft wieder zurück am eigentlichen Ort seiner Wünsche, innerlich jubelnd, aber doch auch »kopfschüttelnd unzufrieden über seinen Wankelmut, seine Unkenntnis der eigenen Wünsche« (48). Im vierten Kapitel gibt Aschenbach unbedenklich seiner Leidenschaft für Tadzio nach. »Bald kannte der Betrachtende jede Linie und Pose dieses so gehobenen, so frei sich darstellenden Körpers, begrüßte freudig jede schon vertraute Schönheit aufs neue und fand der Bewunderung, der zarten Sinneslust kein Ende« (52). Er phantasiert sich in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Tadzio hinein, das die von Platon geschilderte Beziehung zwischen Sokrates und Phaidros zum Vorbild hat (53f.). Er will die Leidenschaft, aber er will auch seine Würde bewahren. Im Hochgefühl der Sonnentage am Strand möchte er sich ein-
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reden, dass er beim Anblick Tadzios »das Schöne selbst« begreife (53). Doch der Erzähler weist eine solche Deutung deutlich und ironisch zurück, spricht im Gegenteil von »aufschwärmendem Entzücken« und stellt fest: »Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen« (53). »Aschenbach«, heißt es wenig später, »war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt« (56). Diese Unwilligkeit zur Selbstkritik ist die fatale Spätfolge seines »Ekels gegen den unanständigen Psychologismus der Zeit« (17f.), von dem bei der Schilderung seiner künstlerischen Entwicklung im zweiten Kapitel die Rede war. So entschieden er sich seinerzeit von »jeder Sympathie mit dem Abgrund« losgesagt hat (18), so blind ist er dem Abgrund nun ausgeliefert. Aschenbachs Selbstverständnis als Schöpfer von Werken »adelige[r] Reinheit« (18) versperrt ihm einen unvoreingenommenen Blick auf sich selbst. Also übernimmt es der Erzähler, Kritik zu üben, und entlarvt Aschenbachs Phantasie einer platonischen Liebe zu Tadzio, indem er sarkastisch Aschenbachs Rationalisierungen seiner Triebwünsche betont: »Sein Geist kreißte« (53). Und später: »Er wünschte plötzlich, zu schreiben. […] an diesem Punkte der Krisis war die Erregung des Heimgesuchten auf Produktion gerichtet. […] Und zwar ging sein Verlangen dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen […]. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei […]. Sonderbare Stunden! Sonderbar entnervende Mühe! Seltsam zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als Aschenbach seine Arbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft, ja zerrüttet, und ihm war,
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als ob sein Gewissen wie nach einer Ausschweifung Klage führe« (55f.). Dass Aschenbachs Verhältnis zu Tadzio weit entfernt ist von der unbefangenen Intimität einer platonischen Lehrer-Schüler-Beziehung, zeigt sein Unvermögen, mit Tadzio wirkliche Bekanntschaft zu machen (56, 59). So steigert er sich immer mehr in seine Leidenschaft für den aus der Entfernung angeschwärmten Knaben hinein, um schließlich, ohne Rücksicht auf Würde und Ansehen, ganz in ihr sein Heil zu suchen. Diesen endgültigen Niedergang schildert das fünfte Kapitel. Man kann auch sagen: Aschenbach sucht in der Liebe zu Tadzio nicht sein Heil, sondern in Wahrheit den Tod, denn dass es für diese Liebe keine irdische Hoffnung gibt, steht fest. 3. Das erbarmungswürdig-abstoßende Schauspiel einer späten, hoffnungslosen Leidenschaft, das Aschenbach im Tod in Venedig bietet, geht nicht nur auf Thomas Manns Erlebnisse in Venedig und damit verknüpfte Gedankenspiele zurück, sondern auf einen ganz ähnlichen, Johann Wolfgang unausgeführten Plan zu einer Novelle über von Goethe den alten Goethe: »Ich war von dem Wunsche ausgegangen«, so Thomas Mann 1940 in einem Vortrag an der Universität Princeton, »Goethe’s Spätliebe zu Ulrike von Levetzow zum Gegenstand meiner Erzählung zu machen, die Entwürdigung eines hochgestiegenen Geistes durch die Leidenschaft für ein reizendes, unschuldiges Stück Leben darzustellen – jene schwere Krise Goethe’s, der wir seine herrliche Karlsbader [eigentlich: Marienbader] Elegie verdanken, diesen Aufschrei aus tiefstem Verstört- und Hingerissensein, das für ihn fast zum Untergang geworden wäre und jedenfalls ein Tod vor dem Tode
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gewesen ist. – Damals hatte ich es nicht gewagt, die Gestalt Goethe’s zu beschwören, ich traute mir die Kräfte nicht zu und kam davon ab. Ich schuf mir einen modernen Helden […]« (On Myself, GW XIII, S. 148). Dieser moderne Held ist in manchen äußerlichen Zügen ein Porträt des großen Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler (1860–1911). In einem Brief vom 25. März 1921 an Wolfgang Born, der neun farbige Lithografien zum Tod in Venedig geschaffen hatte, schreibt Thomas Mann: »In die Konzeption meiner Erzählung spielte, Frühsommer 1911, die Nachricht vom Tode Gustav MahGustav Mahler lers hinein, dessen Bekanntschaft ich vordem in München hatte machen dürfen und dessen verzehrend intensive Persönlichkeit den stärksten Eindruck auf mich gemacht hatte. Auf der Insel Brioni, wo ich mich zur Zeit seines Abscheidens aufhielt, verfolgte ich in der Wiener Presse die in fürstlichem Stile gehaltenen Bulletins [Meldungen] über seine letzten Stunden, und indem sich später diese Erschütterungen mit den Eindrücken und Ideen vermischten, aus denen die Novelle hervorging, gab ich meinem orgiastischer Auflösung verfallenen Helden nicht nur den Vornamen des großen Musikers, sondern verlieh ihm auch, bei der Beschreibung seines Äußeren, die Maske Mahlers« (Vorwort zu einer Bildermappe, GW XI, S. 583f.). Geht Aschenbachs Vorname auf Gustav Mahler zurück, so klingt sein Nachname an den Namen des 1910 verstorbenen Landschaftsmalers Andreas Achenbach (1815–1910) an, dessen Bilder unter Achenbach, Wagner, anderem in der Münchner Neuen Pinakothek Nietzsche, Platen hingen und Thomas Mann von daher sicher bekannt waren. Dass aus Achenbach Aschenbach wurde, kann als Vorausdeutung auf die Todesverfal-
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lenheit der Novellenfigur gedeutet werden. Das »von« zwischen Vor- und Nachname, der Aschenbach zu seinem fünfzigsten Geburtstag von einem deutschen Fürsten verliehene persönliche Adelstitel (19), erinnert wiederum an Goethe, der vom Großherzog von Sachsen-Weimar geadelt worden war. Weitere Künstler, die für Thomas Manns persönlichen Bildungsgang eine herausragende Rolle spielen und als entfernte Paten für die Figur Aschenbachs in Frage kommen, sind Richard Wagner (1813–83), Friedrich Nietzsche (1844–1900) und August Graf von Platen (1796–1835). Der Komponist Richard Wagner starb 1883 in Venedig. 1911 erschien posthum die erste Ausgabe seiner Autobiografie Mein Leben, in der ausführlich seine Lebenskrise während der Jahre 1857 und 1858 geschildert ist, zu welcher Zeit sich Wagner in Venedig aufhielt. Darüber hinaus bezeugt Thomas Manns während des Aufenthalts in Venedig entstandener kurzer Aufsatz Über die Kunst Richard Wagners, das Pendant zu Aschenbachs »kleine[r] Abhandlung« (55), die Zugehörigkeit Wagners zum Entstehungszusammenhang der Novelle. Bei Friedrich Nietzsche, dem Philosophen und Kulturkritiker, fand Thomas Mann die Zerrüttung eines herausragenden Geistes vorgebildet, wie er sie viel später in weit engerer Anlehnung an die Biografie Nietzsches in seinem ebenfalls stark autobiografisch geprägten Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947) gestaltet hat. Nietzsches Zusammenbruch ereignete sich 1889 in Turin. Der künstlerische und menschliche Zwiespalt Aschenbachs, wie er im Tod in Venedig geschildert wird, ist nach dem Konzept des Apollinischen und Dionysischen struk-
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turiert, das Nietzsche in seiner ästhetischen Frühschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) entwickelte (vgl. Interpretation, S. 65f.). Der homoerotisch veranlagte Dichter August von Platen schließlich hielt sich 1824 in Venedig auf und veröffentlichte 1825 seine Sonette aus Venedig. Das Gedicht Tristan beginnt mit den Versen: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben«. Thomas Mann hat diese Verse in seinem Werk wiederholt zitiert. Als Aschenbach bei der Einfahrt in den Hafen von Venedig »des schwermütig-enthusiastischen Dichters« gedenkt, ist unverkennbar August von Platen gemeint. Aschenbach wiederholt im Stillen einige Verse des Dichters und fragt sich dann vorausahnend, »ob eine neue Begeisterung und Verwirrung, ein spätes Abenteuer des Gefühles dem fahrenden Müßiggänger vielleicht noch vorbehalten sein könnte« (24). Platen verkörpert modellhaft die Ausweglosigkeit der Liebe, auch der bekämpften Liebe. Der Dichter starb früh, äußerlich »an einer undeutlich typhösen Krankheit«, in Wahrheit aber an »Gefühlsüberlastung und -abschnürung«, wie es Thomas Mann in seinem 1930 geschriebenen Aufsatz über Platen formuliert hat (August von Platen, GW IX, S. 281). Tadzio. Der Knabe Tadzio ist das Idol, an dem sich Aschenbachs späte Leidenschaft entzünTadzio als Idol det. Tadzio wird in der Novelle so geschildert, wie Aschenbach ihn wahrnimmt: überlagert mit Projektionen des Liebenden. Seine eigene (wohl auch noch nicht sehr stark ausgebildete) Persönlichkeit bleibt undeutlich. Sie spielt für den Verlauf der Novelle kaum eine Rolle.
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Tadzios Gesicht ist »bleich und anmutig verschlossen«, von honigfarbenen Locken umrahmt (32). Durch seine Kleidung wirkt er auf Aschenbach reich und verwöhnt (33). Er tritt wohlerzogen und durch Anmut zugleich lässig auf (33, 36). Er wirkt stolz und zart (36, 38). Seine Zähne allerdings sind »etwas zackig«, »ohne den Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder Durchsichtigkeit« (42). Diese »nicht recht erfreulich[en]« Zähne deuten, wie so häufig im Frühwerk von Thomas Mann, auf Kränklichkeit und die Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes. Übergroße Verfeinerung, geistige wie körperliche, schlägt in Degeneration und Todesverfallenheit um. Tadzios Schönheit ist infolgedessen nicht von der banalen Unkompliziertheit, die für den Künstler ästhetisch reizlos bleiben muss. Entsprechend konstatiert Aschenbach diesen körperlichen Makel unwillkürlich mit einem Gefühl der Befriedigung. Ähnlich wie der hygienische Zustand und sittliche Verfall Venedigs verheißt Tadzios scheinbare Kränklichkeit die Möglichkeit einer rauschhaften Annäherung an das Objekt der Sehnsucht im Zeichen des Todes. Tatsächlich stirbt Aschenbach im fiebrigen Glauben, von Tadzio in den Bezirk des Todes hinübergeleitet zu werden (87). Verblendung und Erfüllung liegen hier, wie im ganzen Verlauf von Aschenbachs Leidenschaft, dicht beieinander. Aschenbach und Tadzio kennen sich »mit den Augen« (59). Tadzio wirft Aschenbach, nach dessen Empfinden, forschende und sprechende Blicke zu (vgl. 34, 45, 61, 64, 69, 82f., 87). Doch nie sprechen sie ein Wort miteinander. Das hat mit der gewöhnlichen Angst des Liebenden zu tun, sich dem Objekt seiner Liebe zu nähern (56), vor allem aber mit dem Wunsch Aschenbachs, Tadzio weiterhin als Idol zu verehren. »Denn«, so kommentiert der Erzähler, »der
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Mensch liebt und ehrt den Menschen, solange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis« (59). Diese schweigende Bewunderung scheint Tadzio nicht unberührt zu lassen. Als Aschenbach ihn zum ersten Mal bemerkt, vergleicht er ihn unwillkürlich mit dem Dornauszieher, einer berühmten antiken Statue eines anmutigen Knaben (33). Das »ein ganz wenig verzerrte« Lächeln aber, mit dem er Aschenbach drei Wochen später Tadzio als Narziss zum einsamen Geständnis seiner Liebe erschüttert, ist »das Lächeln des Narziß« (61). Tadzio macht unter dem Eindruck der beobachtenden Blicke, mit denen ihn Aschenbach verfolgt, offenbar eine Entwicklung durch, die einer Schilderung Heinrich von Kleists aus dessen Aufsatz Über das Marionettentheater (1810) nachgebildet zu sein scheint. Dort heißt es: »Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung [äußere Erscheinung] damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich [… ] die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt […]. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und
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hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen […]. Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn« (Heinrich von Kleist, Werke in einem Band, hrsg. von Helmut Sembdner, München 1966, S. 805f.). Der von Kleist geschilderte Jüngling büßt beim Versuch, eine unwillkürliche, vollkommen anmutige Geste bewusst zu wiederholen, seine Grazie ein. Tadzio beginnt sich unter dem Eindruck der auf ihn gerichteten Aufmerksamkeit Aschenbachs selbst zum Objekt seines Interesses zu werden. Beide Fälle beschreiben die Ausbildung einer so genannten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, der zwanghaften Selbstbezogenheit eines Menschen. Auch Narziss ist, wie die anderen Figuren, mit denen Aschenbach Tadzio identifiziert, eine Figur aus der griechischen Mythologie: Weil der schöne Sohn des Flussgottes Kephistos die Liebe der Bergnymphe Echo verschmäht hat, lässt ihn die Göttin der Liebe, Aphrodite, sein eigenes Spiegelbild in einer Quelle erblicken und sich in dieses Bild verlieben. Seine Liebesqualen enden erst, als er in eine Narzisse verwandelt wird. Der Mann, der Tadzio beobachtet, ist sein Spiegel, der ihn sich seiner eigenen Schönheit und Anmut voll bewusst werden lässt. Weil der Mann nicht seine Bekanntschaft macht, weil er dem Jungen persönlich auch gleichgültig bleiben muss, begegnet Tadzio in den Blicken des Mannes immer nur sich selbst. Bald beginnt er diese bewundernden Blicke
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bewusst zu suchen, die ihn seiner Schönheit versichern und gleichzeitig unmerklich isolieren. Aschenbachs Verhalten führt dazu, dass Tadzio in eine Liebesbeziehung zu sich selbst gerät. Die Verzerrtheit des narzisstischen Lächelns, mit dem Tadzio Aschenbach schließlich anblickt, steht für die Verkehrtheit dieser selbstbezogenen Liebe, dafür, dass Tadzio seine Unbefangenheit sich selbst gegenüber eingebüßt hat. Die Todesboten. Der Tod ist im ganzen Verlauf der Novelle gegenwärtig. Er begegnet Aschenbach in verschiedenen Gestalten, die gewissermaßen als Wächter an seinem Weg Sorge dafür tragen, dass sich sein Schicksal erfüllt. Thomas Mann hat es so eingerichtet, dass sich in der äußeren Erscheinung dieser Gestalten (des Wanderers am Friedhof, des Gondoliers und des Straßensängers) verschiedene bildliche Überlieferungen, wie der Tod dem Menschen entgegentritt, überlagern. Das Mittelalter porträtierte den Tod als Skelett mit Totenschädel. Auf antiken Grabmälern wird Thanatos, der Tod, als Bruder des Schlafes dargestellt, der sich mit gekreuzten Beinen auf eine umgekehrte Fackel stützt (vgl. Gotthold Ephraim Lessings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet, 1769). Der antike Gott Hermes wiederum, der in vielerlei Gestalt im literarischen Werk Thomas Manns gegenwärtig ist, hat neben anderen Aufgaben auch die des »Seelengeleiters«, des Schlaf- und Traumgottes inne (Hermes psychopompos). Die gängigen Attribute des Götterboten sind sein geflügelter Hut, sein Heroldsstab und der Reisebeutel. Zu den antiken Todesvorstellungen gehört ferner Charon, der Fährmann, der die Verstorbenen über den Todesfluss Styx übersetzt zum Hades, dem Reich des Todes.
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Die Rothaarigkeit der drei Figuren könnte zudem auf Satan, den Teufel, deuten, der sich nach christlicher Vorstellung der Seelen der Menschen zu bemächtigen versucht, was in der Literatur vor allem im Faust-Stoff gestaltet ist. Eindeutiger sind die Attribute, die auf Dionysos weisen: fremdländisches Gepräge, kühne und herrische Haltung, der Thyrsos-Stab und der Efeukranz (vgl. die Basthüte der Figuren). Dionysos ist in der griechischen Mythologie der Gott des Rausches, der Entgrenzung. Im Liebesrausch löst sich Aschenbachs zuvor fest gefügte IdenRausch und Tod tität auf. Dieser Selbstverlust führt ihn in den Untergang. Insofern kündet auch Dionysos von Aschenbachs Tod. Die nachstehende Tabelle verdeutlicht, wie die drei Todesboten einander gleichen und welche ikonographischen Traditionen in der Darstellung des Todes sie verkörpern: Ikonographie des Todes
Der Wanderer Der Gondolier am Friedhof (8f.) (28f.)
Der mittelalterliche Tod (Skelett)
»Mäßig hochge- »eher schmächtig »Schmächtig wachsen, mager« von Leibesbegebaut und auch schaffenheit« von Antlitz mager und ausgemergelt« »bartlos« »bartlose[n] »auffallend Züge[n]« stumpfnäsig«; »bleiches, »kurz auf»kurz aufgewor- stumpfnäsiges geworfene[n] fene[n] Nase« Gesicht« Nase« rothaarig »Wulst seines roten Haars«
Der mittelalterliche Tod (Totenschädel)
der Teufel/Satan
Der Straßensänger und Gitarrist (70f.)
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Dionysos (»der »durchaus nicht bajuwarischen fremde Gott«, Schlages«; »Gevgl. 78) präge des Fremdländischen« Hermes psycho- »Basthut« »Gurtanzug« pompos / »Rucksack« Dionysos »Stock«, »auf dessen Krücke er, bei gekreuzten Thanatos; der Tod als Bruder Füßen, die Hüfte lehnte« des Schlafs hagerer Hals, an welchem »der Adamsapfel stark und nackt« hervortritt zwischen den Dionysos Augen »zwei senkrechte, energische Furchen« Der mittelalter- »mit farblosen, rotbewimperten liche Tod (Totenschädel) Augen« der Teufel/Satan
»durchaus nicht italienischen Schlages«
»schien nicht venezianischen Schlages«
»formlosen Strohhut« »gelbe[n] Schärpe gegürtet«
»unter der Krempe«
Der mittelalterliche Tod (Skelett und Totenschädel)
seine Haltung hat »etwas herrisch Überschauendes, Kühnes oder selbst Wildes« Der mittelalter- »seine Lippen schienen zu liche Tod (Totenschädel) kurz«, »völlig von den Zähnen zurückgezogen« Dionysos
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»ein Mann von ungefälliger, ja brutaler Physiognomie« »rötlichen Brauen«
»die schroffe, überhebliche […] Art des Menschen« »vor Anstrengung die Lippen zurück und entblößte seine weißen Zähne«
»sein hagerer Hals mit auffallend groß und nackt wirkendem Adamsapfel« »die beiden Furchen […], die trotzig, herrisch, fast wild zwischen seinen rötlichen Brauen standen« »halb Zuhälter, halb Komödiant, brutal und verwegen, gefährlich und unterhaltend«
4. Werkaufbau Carl Busse, der eine der interessantesten zeitgenössischen Besprechungen des Tod in Venedig verfasst hat (gekürzt nachgedruckt in: Bahr, Erläuterungen und Dokumente, S. 145–147), monierte »die Proportionen der Proportionen des Novelle«, die ihm »nicht ganz glücklich« erTextes schienen: »Thomas Mann braucht ein volles Drittel des Buches, ehe mit der Einführung des schönen Knaben die eigentliche novellistische Handlung beginnt. Das ist bei dieser enggeschlossenen Kunstform meiner Ansicht nach ein Mangel. Die ersten Kapitel erforderten eine stärkere Konzentration; sie haben etwas Schwerfälliges und Gewundenes. Aber dann steigt die Novelle prachtvoll an, um einen nicht mehr loszulassen.« Busse trifft hier insofern einen wahren Punkt, als insbesondere das zweite Kapitel aus dem Rahmen fällt. Zwar ist es im Ganzen notwendig, damit der Leser Aschenbachs dramatische Wandlung auf der Folie seines bisherigen Lebens und Schaffens recht begreift. Dennoch enthält es, als dichterisch kaschiertes Selbstbekenntnis Thomas Manns, manche Einzelheiten, die über die erforderliche Charakterisierung Aschenbachs hinausgehen und die zudem aufgrund ihrer autobiografischen Verschlüsselung dem ohne entsprechendes Hintergrundwissen ausgestatteten Leser etwas dunkel bleiben. Ein Beispiel sind die auf Seite 16, 16–28 beschriebenen Figuren aus Werken Aschenbachs. Sie treten einem erst plastisch vor Augen, wenn man in ihnen zentrale Figuren aus Thomas Manns eigenem Frühwerk wiedererkennt. Noch in anderer Hinsicht unterscheidet sich das zweite Kapitel von den anderen vier Kapiteln der Novelle.
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Die erzählte Zeit kommt hier zum Stillstand (auch wenn die Vorgeschichte Aschenbachs natürlich Erzählzeit und ebenfalls eine zeitliche Dimension hat). erzählte Zeit Dieser Umstand trägt dazu bei, dass die Geduld des Lesers strapaziert wird und das Kapitel noch umfangreicher erscheinen mag, als es letztlich ist. Der subjektive Eindruck einer sehr ausführlichen Information wird ferner durch die Komplexität der hier dargestellten geistigen Entwicklung verstärkt. Das zweite Kapitel ist schwierig, teilweise nicht voraussetzungslos zu verstehen und gibt »viel zu denken«. So ist man erleichtert, wenn zu Anfang des dritten Kapitels der Faden der Erzählung wieder aufgenommen wird. Die Beobachtung, dass die Erzählung im zweiten Kapitel gewissermaßen stillsteht, kann man zum Anlass nehmen, einen kurzen Blick auf die zeitliche Organisation der Novelle zu werfen. Die Erzählung beginnt an einem Nachmittag Anfang Mai eines nicht näher bestimmten Jahrs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das erste Kapitel schildert auf sechs Seiten im Wesentlichen die Begegnung mit dem Fremden am Nördlichen Friedhof in München, die kaum mehr als einige Minuten in Anspruch nimmt. Es wirkt wie ein Prolog: Eine äußerlich unscheinbare Situation wirft ein Schlaglicht auf das weitere, eigentliche Geschehen. In dieser Hinsicht ähnelt die Szene der ausdrücklich als »Vorspiel« bezeichneten Anfangssituation des Romans Königliche Hoheit (1909), des letzten größeren Werks Thomas Manns vor dem Tod in Venedig. Sie ist jedoch zugleich mehr als ein Prolog, weil sie die Handlung ins Rollen bringt. Das zweite Kapitel umfasst siebeneinhalb Seiten. Zwischen dem ersten und dritten Kapitel vergehen »etwa
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zwei Wochen« (20), welche Frist dem Leser gewissermaßen durch seine Beschäftigung mit Aschenbachs bisherigem Leben im zweiten Kapitel spürbar wird. Die erste Seite des dritten Kapitels fasst Aschenbachs Reise nach Italien und seinen anderthalbwöchigen Aufenthalt in Pola zusammen. Die restlichen achtzehn Seiten schildern Aschenbachs Meerfahrt nach Venedig (fünfeinhalb Seiten) und die ersten knapp zwei Tage seines Aufenthaltes. Es ist die Zeit, in der sich sein Schicksal entscheidet. Anschließend beschleunigt sich das Erzähltempo wieder. Die zwölf Seiten des vierten Kapitels berichten zusammenfassend von Aschenbachs Existenz während der folgenden drei Wochen (vgl. S. 61). Genaue Zeitangaben gibt es nicht. Im 26 Seiten langen Schlusskapitel geht Aschenbach jedes Gefühl für die Zeit verloren, und auch der Leser wird im Unklaren darüber gelassen, wie viel Zeit verstreicht, bis Aschenbach der Cholera und seiner Leidenschaft erliegt. Zu Beginn des Kapitels sind, seit jenem Nachmittag in München, etwa sieben Wochen vergangen. Aschenbach wird also in der zweiten Hälfte des Juni auf die Veränderungen aufmerksam, die in Venedig aufgrund der Cholera vor sich gehen. An Aschenbachs Todestag herrscht eine Atmosphäre von »Herbstlichkeit, Überlebtheit« (85). Dies ist offenkundig symbolisch gemeint. Dennoch drängt sich auch der Eindruck auf, dass der Sommer bereits vorbei ist. Diese zeitlichen Verhältnisse korrespondieren natürlich der inneren Gliederung der Handlung. Entscheidende Phasen werden erzählerisch verlangsamt, andere gerafft. Die Analyse der Erzählzeit bestätigt unzweifelhaft, dass das dritte Kapitel (neben dem Prolog) der Höhepunkt der Novelle ist.
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Dieser Befund stützt die in der Deutungsgeschichte des Tod in Venedig mehrfach geäußerte Auffassung, dass der Text annähernd nach dem Muster der Nähe zur klassischen fünfaktigen Tragödie gebaut Tragödienform sei: mit ihrer Exposition zu Beginn (der plötzliche Fluchtdrang und die ausführliche Vorstellung der Hauptfigur), der ansteigenden Handlung (Aschenbachs Reise nach Italien und Ankunft in Venedig sowie seine Betörung durch Tadzio) bis zum Höhe- und Wendepunkt im dritten Akt (die missglückte Abreise), mit der sich anschließenden abfallenden Handlung, die durch ein retardierendes Moment im vierten Akt gestaut werden kann (Aschenbachs trügerische Euphorie während der Schönwetterphase des vierten Kapitels), dann aber unaufhaltsam auf die Katastrophe zuläuft (die Ausbreitung der Cholera, die Entwürdigung Aschenbachs sowie sein Tod). Wenn diese Übereinstimmung (die ohnehin durch eine gewisse Strukturverwandtschaft zwischen Tragödie und Novelle nahe liegt) von Thomas Mann bewusst gestaltet worden ist, so vermutlich in ähnlich halbparodistischer Absicht, in der auch die Meisterhaltung der Werke Aschenbachs in der betonten Meisterlichkeit des Erzähltons der Novelle zugleich imitiert und parodiert ist. Zum Aufbau des Textes gehört auch das Geflecht der leitmotivischen und mythologischen Beziehungen, das die Novelle durchzieht. Diese Beziehungen werden in den Kapiteln 3 (Personen) und vor allem 6 (Interpretation) dieses Lektüreschlüssels näher beleuchtet.
5. Wort- und Sacherläuterungen 7,6 eine so gefahrdrohende Miene: Anspielung auf eine der politischen Krisen zwischen den europäischen Mächten im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. 7,13 »motus animi continuus«: »beständige Schwingung des Geistes«. Das Zitat stammt nicht von Cicero. Thomas Mann fand es in einem Brief Gustave Flauberts an Louise Colet vom 15. Juli 1853. 8,10 griechischen Kreuzen: Kreuzen mit gleich langen Quer- und Längsbalken. hieratischen Schildereien: bildlichen Darstellungen religiöser Symbole. 8,13 Schriftworte: Die beiden Zitate entstammen der römisch-katholischen Totenmesse. 8,18f. Portikus: Säulenvorhalle eines Gebäudes. 8,19 die beiden apokalyptischen Tiere: Sie sind Symbole des Antichristen, vgl. Die Offenbarung des Johannes (13,1–18). 9,18 inquisitiv: forschend, bohrend. 11,24f. Laßheit: veralteter Ausdruck, der das Schlaffwerden der Körper- und Geisteskräfte bezeichnet. 13,2 Epopöe: älterer Ausdruck für Epos. 13,13 Raisonnement: hier: philosophische Abhandlung. 14,15 Faust … geöffnete Hand: vgl. Goethes Brief an Zelter vom 24. August 1823 über seine Erlebnisse während der Kur in Marienbad, als er sich, im Alter von über siebzig Jahren, in ein junges Mädchen verliebte und dieses heiraten wollte: »Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! […] ja sogar die öffentlichen Exhibitionen des hiesigen Jägerkorps falten mich ausein-
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ander, wie man eine geballte Faust freundlich flach läßt.« Thomas Mann hatte ursprünglich den Plan verfolgt, eine Novelle über Goethes Marienbader Passion zu schreiben. 15,30–33 Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe: vgl. Thomas Manns kleinen Aufsatz Über den Alkohol von 1906: »Denn wie beinahe alles Große, was dasteht, als ein Trotzdem dasteht« (GW XI, S. 718). 16,14 die Sebastian-Gestalt: christlicher Märtyrer, der Legende nach ein römischer Offizier unter Kaiser Diokletian, der aufgrund seines Glaubens hingerichtet wurde. Das Bild des schönen gefesselten, von Pfeilen durchbohrten Jünglings ist ein verbreitetes Motiv der christlichen Kunst. Sebastian gilt zugleich als Pestheiliger. In seiner Nobelpreisrede von 1929 bezeichnet ihn Thomas Mann als seinen »Lieblingsheiligen« (GW XI, 410). 16,17f. die elegante Selbstbeherrschung …: Thomas Mann beschreibt hier die Hauptfiguren eigener Werke: Thomas Buddenbrook; Lorenzo de’ Medici und Girolamo Savonarola aus dem Drama Fiorenza, Klaus Heinrich aus Königliche Hoheit und Felix Krull aus den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. 16,32f. die am Rande der Erschöpfung arbeiten: vgl. Thomas Manns briefliche Äußerung gegenüber Heinrich Mann über Hugo von Hofmannsthal vom 7. Dezember 1908: »Es ist merkwürdig wie gerade die Besten Alle am Rande der Erschöpfung arbeiten.« 18,4 Velleität: kraftloser Wunsch. 18,11f. »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit«: Zitat aus dem Drama Fiorenza (GW VIII, S. 1060). Die
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Formulierung geht ursprünglich auf Friedrich Nietzsches Polemik Nietzsche contra Wagner zurück. 18,36f. libertinischen: liederlichen, ohne sittlichen Halt. 19,1 Puppenstande entwächst: In einem Aufsatz Thomas Manns über den romantischen Dichter Adelbert von Chamisso aus dem Jahre 1911 heißt es, Chamisso habe sich beeilt, »dem problematischen Puppenstande zu entwachsen […], wird als Meister verehrt. Nur ewige Bohemiens finden das langweilig. Man kann nicht immer interessant bleiben. Man geht an seiner Interessantheit zugrunde oder man wird ein Meister« (GW IX, S. 57). 19,29 sein Kopf: Als Vorbild für Aschenbachs äußere Erscheinung diente Thomas Mann eine Zeitungsfotografie von Gustav Mahler, die sich als Teil der Arbeitsnotizen zur Novelle erhalten hat. 20,2f. physiognomische Durchbildung: Veränderung der Gesichtszüge. 20,6 Repliken: Antworten, Gegenreden. 20,24 Pola: seinerzeit Hauptkriegshafen Österreich-Ungarns, an der Westküste der Halbinsel Istrien gelegen und wegen seiner römischen Altertümer ein beliebtes Touristenziel. 22,25 Portefeuilles: älterer Ausdruck für Aktenmappe. 22,30 Panama: geflochtener Hut mit breiter Krempe. 22,35 Karmesin: roter Farbstoff. 23,2 Fliege am Kinn: stutzerhafter kleiner Bart. 24,11 Kollation: leichte Zwischenmahlzeit. 24,15 pokulierten: zechten, sich betranken. 24,35 die Bäderinsel: der Lido bei Venedig, wo Aschenbach Quartier nehmen wird. 24,36 Port: Hafen. 25,9 Asti: italienischer Schaumwein.
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25,10 Bersaglieri: Infanteristen des italienischen Heeres. 25,34 des Palastes: des Dogenpalastes. 25,36 des Märchentempels: der Markuskirche. 26,20 Abschiedshonneurs: Ehrenbezeigungen. 26,22f. Au revoir, excusez und bonjour: (frz.) auf Wiedersehen, Verzeihung und Guten Tag! 27,16 Scirocco: trockener warmer, dem Föhn vergleichbarer Wind in den Mittelmeerländern. 28,23 Vaporetto: kleines Dampfschiff. 29,28 Aides: altertümliche Form für Hades, das Totenreich der griechischen Mythologie. 30,4 Munizipalbeamte: städtische Beamte. 30,22 das Bäder-Hotel: Gemeint ist das nach wie vor existierende »Grand-Hotel de Bains«. 32,12 Bonnen: Kindermädchen. 33,7 Dornauszieher: antike Statuette eines anmutig sitzenden Knaben, der sich einen Dorn aus der Sohle des linken Fußes entfernt. 36,7 Phäake: Dem müßiggängerischen Volk der Phäaken begegnet Odysseus auf seiner Heimfahrt nach Ithaka. 36,11 »Oft … Ruhe«: Odyssee, VIII, 249. 36,35 Eros: griechischer Gott des Liebesverlangens. parischen: von der griechischen Insel Paros. 37,23 Capannen: Strandhütten. 40,6 rote Masche: veralteter, im Österreichischen geläufiger Ausdruck für eine krawattenartige »Schleife«. 40,23–25 »Dir aber rat ich, Kritobulos … Genesung«: Zitat aus den Memorabilien des Sokrates von Xenophon (1. Buch, 3. Kapitel). Sokrates rät Kritobulos, der den Sohn des Alkibiades geküsst hat, zu der Reise, um die »Wunde« des Kusses verheilen zu lassen.
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40,25 vollreife Erdbeeren: Symbol erotischer Verheißung. Durch den Genuss überreifer Erdbeeren infiziert sich Aschenbach schließlich mit der Cholera (83,17f.). 41,32 der die Schönheit hat: vgl. Platon, Phaidros 251E. 42,6 Nobilitierung: Verleihung des Adels. 45,32 Piazetta: (ital.) der kleine Platz. 45,34f. Rialto: die Rialto-Brücke. 46,27 Unterdessen nähert: Hier wie an anderen Stellen fällt der Erzähler ins Präsens, um die unmittelbare Dramatik der Situation zu verdeutlichen. 47,4 Bagage: Gepäck. 47,16 Suade: Redeschwall. 48,7 automobiler Omnibus: Omnibusse waren seinerzeit noch überwiegend Pferdewagen. 48,16f. »Pas de chance, monsieur«: (frz.) »Kein Glück, mein Herr«. 49,19 Pontos: das Mittelmeer. 50,29ff. Dann schien es ihm wohl …: abgewandeltes Zitat aus der Odyssee (IV, 563–568). 53,20ff. Stand nicht geschrieben …: Die Passage paraphrasiert Plutarch, Erotikos 765A. 53,36 Sonnenglast: Sonnenglanz, übermäßige Sonneneinstrahlung. 54,1–36 reizendes Bild …: vgl. Platon, Phaidros 230B und Symposion (Gastmahl), 180A. 54,4 Acheloos: Flussgott in der griechischen Mythologie. 54,28 Semele: sterbliche Geliebte des Zeus. 55,6–8 Zwar liebt Eros … geschaffen: vgl. Plutarch, Erotikos 757A. 55,20 den troischen Hirten: Ganymed. 57,4–8 »Bestürzt … drückt …«: Zitat aus Plutarch, Erotikos 762F.
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58,2 Eos: Göttin der Morgenröte in der griechischen Mythologie. 58,6f. Kleitos … Kephalos … Orion: von Eos geraubte und verführte Jünglinge in der griechischen Mythologie. 58,8 Rosenstreuen: Eos trägt den Beinamen »die Rosenfingrige«. 58,10 Amoretten: geflügelte Kindergestalten, die Eros begleiten. 58,16 des Bruders heilige Renner: die Pferde vor dem Wagen des Sonnengottes Helios. 58,32f. Rosse Poseidons … Stiere: mythologische Bilder für unterschiedlichen Wellengang. Poseidon ist der Meeresgott in der griechischen Mythologie. 58,33 dem Bläulichgelockten: stehendes Attribut des Poseidon in der Odyssee. 59,5 Hyakinthos: Figur der griechischen Mythologie; ein sterblicher Jüngling, der von den Göttern Apoll und Zephyr zugleich geliebt wird. 59,8 Kithara: Saiteninstrument aus der Zeit der griechischen Antike. 61,4 Narziß: Figur der griechischen Mythologie; Jüngling, der sich in sein Spiegelbild verliebt. 61,30 Frequenz: Frequentierung, Gästezahl. 62,9 Manie: Über die umgangssprachliche Verwendung hinaus bezeichnet das Wort in der griechischen Antike einen »Zustand der Überwältigung des selbstbewußten Geistes, der Besessenheit durch fremde Gewalten«, wie Thomas Mann in einer Arbeitsnotiz festhielt. 62,16 offizinellen: arzneilichen. 62,22 Erkrankungen des gastrischen Systems: MagenDarm-Erkrankungen. 65,27f. die Kunst … buhlerisch einlullen: Anspielung auf
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Richard Wagner, der 1858 in Venedig den zweiten Akt von Tristan und Isolde beendete und 1883 dort starb. 66,5–10 wie es … zu werden: vgl. Plutarch, Erotikos 759B. 66,35–67,9 als sei der Eros … noch Lob dafür: vgl. Plutarch, Erotikos 761A. 67,26 welschen: romanischen, meist abschätzig gemeint. 68,25 quinkelierende: zwitschernde. 68,29 falsettierenden: mit der Kopfstimme singenden. 68,33 Bariton-Buffo: männlicher Sänger in mittlerer Stimmlage, das komische Fach bedienend. 69,7 Granatapfelsaft: Todessymbol innerhalb der griechischen Mythologie (Persephone). 71,7 Karbolgeruchs: Karbol bzw. Phenol war seinerzeit ein gängiges Desinfektionsmittel. 74,17 Clerk: Angestellter. 74,36 mephitischen Odem: üblen Gestank. 75,16 Vibrionen: Erreger, Bakterien. 75,33f. Tenazität: Hartnäckigkeit. 76,10 Ospedale civico: (ital.) Bürgerhospital. 82,16 Windgeister: in Analogie zu den Harpyien in der griechischen Mythologie vogelartige Wesen, die Speisen verderben wie die Choleraerreger die Erdbeeren, durch die Aschenbach sich anstecken wird. 84,7ff. »Denn die Schönheit, Phaidros …«: Die Passage übernimmt Motive aus Platons Phaidros 250D. 85,35f. photographischer Apparat … dreibeinigen Stativ: möglicherweise Anspielung auf den Dreifuß des Orakels von Delphi, das von Priesterinnen des Apoll gehütet wurde; dieses apollinische Orakel ist nun verwaist, nachdem sich Aschenbach dem Dionysos zugewandt hat. 87,20 Psychagog: Beiname des Hermes: Seelengeleiter ins Totenreich.
6. Interpretation Der Tod in Venedig ist ein stark autobiografisch geprägtes Werk. Das zeigen die Entstehungsgeschichte (vgl. oben S. 5–8), Thomas Manns Selbstaussagen zu der Novelle und zahlreiche, schon für die Zeitgenossen durchsichtige und in den ersten Rezensionen vermerkte Bezüge, die Thomas Mann zwischen seinem eigenen Leben und Werk und dem Gustav von Aschenbachs herstellt. Das zweite Kapitel, das Aschenbach zusammenfassend charakterisiert, kann ohne große Abstriche als Selbstauskunft Thomas Manns gelesen werden. Die nähere Untersuchung dieser engen autobiografischen Bezüge bildet die Voraussetzung für ein vertieftes Verständnis der Novelle und geschieht hier in drei Schritten: Im ersten Schritt zeigt sich, wie Thomas Mann in einer psychoanalytischen Schrift Sigmund Freuds das Deutungsmuster für seine eigenen Urlaubserlebnisse findet. Im zweiten Schritt wird deutlich, dass Thomas Mann sich im Tod in Venedig mit seinem eigenen Versuch einer künstlerischen Umorientierung auf die »Neuklassik« hin kritisch auseinander setzt, die damals innerhalb des Literaturbetriebs propagiert wurde. Im dritten Schritt wird erläutert, warum Thomas Mann im Tod in Venedig erstmals in seinem Werk explizit auf antike Philosophie und Mythologie zurückgreift. Sie wird als künstlerisches Mittel zur Instrumentierung der Tiefenschicht des Erzählten eingesetzt und tritt in dieser Hinsicht die Nachfolge der einfacheren, an Richard Wagners Musik geschulten Technik des Leitmotivs an. Sie
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dient ferner der festlichen Erhöhung des Erlebnisses und der Erzählung und bietet gleichzeitig die durch Nietzsches psychologische Entlarvungskunst vermittelte Möglichkeit, mit überlegener Ironie und gleichzeitig auf diskrete Weise die Selbsttäuschung Aschenbachs, dessen durchsichtige Rationalisierung seines Triebwunsches, zu illustrieren. 1. Autobiografisches Motiv und Zeitströmung 1: Psychoanalyse Dass Thomas Mann sein heikles Urlaubserlebnis – die Berückung durch den polnischen Knaben, deren Gefühlsintensität sich durch seine seit dem Jugendalter bestehenden, nie ausgelebten homoerotischen Neigungen erklärt – schriftstellerisch gestalten konnte, verdankt er mit hoher Wahrscheinlichkeit der Lektüre von SigWilhelm Jensens mund Freuds 1907 erschienener Schrift Der Gradiva-Novelle Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«. Manfred Dierks hat das überzeugend nachgewiesen. Thomas Mann selbst hat nur einmal an entlegener Stelle, 1925 in einem Interview mit der italienischen Zeitung La Stampa, auf diesen Umstand hingewiesen. In dem Gespräch äußert Thomas Mann, dass »mindestens eine« seiner Arbeiten, »die Novelle Der Tod in Venedig, unter dem unmittelbaren Einfluss Freuds entstanThomas Manns Freud-Lektüre den« sei (nach Dierks 1990, S. 242). Dieser »unmittelbare Einfluss« muss von Freuds Gradiva-Analyse herrühren, die Thomas Mann vermutlich 1911 gelesen hat. Wilhelm Jensen, der, 1837 geboren, wie Thomas Mann in
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Lübeck zur Schule gegangen war und seit 1888 in München gelebt hatte, starb im November 1911. Seine 1903 veröffentlichte Novelle Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück handelt von einem jungen, nur für die Wissenschaft lebenden Archäologen, der sich in eine auf einem antiken Relief dargestellte Frau verliebt und als Folge davon in eine unüberwindliche Arbeitshemmung gerät. Getrieben von einem unklaren Verlangen reist er nach Italien und dort schließlich nach Pompeji, das er bereits zu Hause im Traum gesehen hat. In Pompeji meint er die Gradiva zu entdecken und damit gefunden zu haben, was ihn unbewusst in die Ruinen der im Jahre 79 nach Christus von einem Aschenregen verschütteten Stadt getrieben hatte. Er folgt der Erscheinung, macht ihre Bekanntschaft, verliebt sich in sie. Am Ende stellt sich heraus, dass es sich bei der Frau, in der er die Gradiva zu erkennen geglaubt hat, um seine Kinderliebe handelt, die er vergessen hatte und die ihn, indem sie anfangs die Rolle der Gradiva spielt, behutsam aus seiner wahnhaften Fixierung auf ein Kunstwerk löst. Freud hat diese Novelle nach den psychoanalytischen Regeln seines frühen Hauptwerks, der Traumdeutung von 1900, interpretiert. Unter der Hand gibt er dabei eine Einführung in wesentliche Bereiche seiner Theorie: die Trieblehre mit ihrer Einsicht in den Mechanismus der Verdrängung und der Wiederkehr des Verdrängten; sowie die Traumarbeit, in der der Unterschied zwischen manifestem und latentem Trauminhalt (einerseits das, was man träumt, andererseits das, was damit zum Ausdruck gebracht bzw. verarbeitet werden soll) und daneben die Traumentstellung (wie und warum das, was der Traum wirklich meint, umgeformt wird) eine besondere Rolle spielen. Kernpunkt von Freuds Deutung der Gradiva-Novelle ist der Hinweis dar-
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auf, dass Hanold, der junge Archäologe, seine erotischen Gefühle, die seit seiner Kindheit an seine erste frühe Liebe gebunden sind, verdrängt hat und dass »die Erweckung der verdrängten Erotik gerade aus dem Kreise der zur Verdrängung dienenden Mittel erfolgt« (Freud, Gradiva, S. 48). Die Verdrängung und die Wiederkehr des Verdrängten ist für Freud durch den entscheidenden Schauplatz der Novelle, die beim Ausbruch des Vesuvs verschüttete antike Stadt Pompeji, dichterisch überzeugend symbolisiert. Sowohl Elemente der Gradiva-Novelle wie auch Aspekte ihrer Deutung durch Freud haben Thomas Mann bei der Komposition seiner Novelle geholfen. Das belegen zahlreiche fast wörtliche Anleihen aus der Novelle bzw. aus Freuds Nacherzählung. Hier können nur einige besonders interessante Parallelen angeführt werden: Wie Jensens Hanold leidet Aschenbach zu Beginn der Handlung unter einer Arbeitshemmung. Beide fühlen sich »überreizt«, werden ihrer Wissenschaft bzw. Kunst »nicht [mehr] froh« und stellen sich die Frage, ob sich nun die »geknechtete Empfindung« (Thomas Mann) bzw. die »unterdrückte seelische Regung« (Sigmund Freud über Gradiva) rächt, indem sie sich weigert, die »Hemmung« (Freud wie Mann) zu durchbrechen. In dieser seelischen Not erzeugen die »Einbildungskraft« Aschenbachs bzw. die »Vorstellungskraft« Hanolds (Freud) eine Vision, einen Tagtraum, der das Ziel ihrer unbewussten Sehnsüchte zur Anschauung bringt (Mann: »schuf sich ein Beispiel für alle Wunder und Schrecken«, 10; Freud: »erschuf ihm, unter Beihilfe seiner Altertumskenntnisse, den Anblick«). Die Botschaft dieser Visionen bleibt beiden Protagonisten jedoch zunächst verborgen. Sie empfinden »ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne«, »Sehnsucht ins Ferne und
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Neue« (Mann) bzw. »Verlangen in die sonnige Weite […] Sehnsucht nach der Freiheit, der Ferne« (Jensen). Freud spricht mit Blick auf Hanold von einem »Fluchtversuch« und Thomas Mann überlässt seiner Hauptfigur diese Einsicht als Selbsterkenntnis: »Fluchtdrang war sie [die Anfechtung], daß er es sich eingestand« (11). Beide Protagonisten geben diesem Fluchtdrang nach. Aschenbach reist mit dem »Nachtzug«, Hanold gar mit dem »Nachtschnellzug«. Erstaunlicherweise ist sogar der auf Thomas Manns eigene Reiseerlebnisse zurückgehende Umstand, dass der Reisende den Ort seiner Bestimmung zunächst verfehlt, in der Gradiva-Novelle vorgebildet. Freuds Deutung dieses Umwegs dient Thomas Mann als Modell für die kompositionelle Funktion der Episode: Beide Protagonisten werden sich darüber klar, dass sie ein, wenn auch ihnen noch unbekanntes, Ziel ansteuern. (Bei Thomas Mann ist von »Bewußtsein gewinnen« und Aschenbachs »Zug seines Innern« die Rede, während Freud mit Blick auf Hanold von »Bewußtwerden« und einem »Antrieb in seinem Innern« spricht.) Auf seiner Reise durch Italien begegnen Hanold immer wieder Hochzeitsreisende, die er, in unbewusster Abwehr der in ihm arbeitenden »Liebessehnsucht« (Freud), höhnisch summarisch als »August und Grete« apostrophiert. Diese Figurenreihe und ihre Deutung durch Freud mögen Thomas Mann auf die Idee gebracht haben, aus den merkwürdigen Gestalten im Tod in Venedig, denen er nach eigener Auskunft vor und auf seiner Reise selbst begegnet ist (dem Wanderer am Friedhof, dem falschen Jüngling auf dem Schiff, dem Gondolier, dem Straßensänger), eine Figurenreihe mit vergleichbarer Funktion innerhalb der Novelle zu machen. Allen vieren gemeinsam ist ihre Aggressivität, ihre
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Tendenz, Aschenbach nahe zu treten und seinen Willen zu lähmen. Sie verkörpern aus solcher Perspektive den Triebanspruch, das Andrängen des sexuellen Verlangens (der stark ausgebildete Adamsapfel, der bei der Beschreibung der Figuren jeweils besonders hervorgehoben wird, ist im Volksglauben von alters her ein Merkmal starker Sexualität), und, da es sich um ein unmögliches Begehren handelt, in letzter Konsequenz den Tod. So wie in der Gradiva-Novelle die Archäologie, der sich Hanold in Kompensation seines verdrängten Liebeslebens restlos hingegeben hat, zum Auslöser seiner Krise wird, so verfällt Aschenbach Tadzio aufgrund seines übersteigerten Schönheitssinns, der Entsprechung seines Verlangens nach Einfachheit und Klassizität, welche ihn von der psychologischen Hellsicht, der Einsicht in die Abgründigkeit des eigenen Seelenlebens, in seine verbotenen Wünsche, befreien sollte. Während diese Lösung einer Verdrängung jedoch in der Gradiva-Novelle Hanolds Rettung aus seiner Isolation bewirkt, führt sie Aschenbach in die Ausweglosigkeit, in die Entwürdigung, in den Tod. In autobiografischer Hinsicht ist damit der verborgenen Sehnsucht, homoerotische Gefühle auszuleben, der Boden entzogen. Diese Sehnsucht darf sich nicht erfüllen. Sie fließt in die Produktion und äußert sich in Werken, die immer neu von ihr erzählen und sie damit bewahren, ohne dies offen preiszugeben.
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2. Autobiografisches Motiv und Zeitströmung 2: Neuklassik Thomas Mann hat seine Werke und, umfassender, seine geistige Existenz in zahlreichen Selbstaussagen kommentiert, um so der Beurteilung seines Künstlertums durch Dritte den Weg zu weisen. Durchgängig ist dabei die Tendenz, sich zugleich als Einzelgänger und als Repräsentanten zu schildern. Als Einzelgänger behauptet er, »nie modisch« gewesen zu sein, nie einer gerade einflussreichen literarischen »Schule« angehört zu haben (so in der Rede Meine Zeit aus dem Jahre 1950). Als Repräsentant nimmt er für sich in Anspruch, dennoch und in besonderer Weise den geistigen Nerv seiner Zeit zu treffen. Für diese Selbstcharakterisierung Thomas Manns hat Hans Rudolf Vaget die paradoxe Formel »einzelgängerische Repräsentativität« gefunden. Auch Aschenbachs Künstlertum im Tod in Venedig ist wesentlich durch diese beiden Merkmale bestimmt. Früh einem breiten Publikum bekannt, hat er nur wenig später gelernt, »von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren« (13). Auch der geheime Grund seines Repräsentantentums wird erklärt. Er liegt im Heroismus der Schwäche, der ihn mit seiner Leserschaft verbindet (15–17). Sein Einzelgängertum dagegen ist in den Bedingungen seines Heranwachsens angelegt (vgl. 14) und spricht darüber hinaus aus allem, was der Leser über ihn erfährt. Auch Aschenbachs Abwendung vom »unanständigen Psychologismus der Zeit« (17f.), seine geistige »Wiedergeburt«, die seinen Werken ein Thomas Manns »gewolltes Gepräge der Meisterlichkeit und Annäherung an die »Neuklassik« Klassizität« verleiht (18), erscheint als sein persönlicher, gegen die Tendenzen der Zeit
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gefasster Entschluss. Jedoch zeigt sich, dass Aschenbach auch in diesem Punkt künstlerische Positionen Thomas Manns vertritt, die sich dieser unter dem Einfluss der theoretischen Diskussion um eine neue Klassizität angeeignet hat. Ohne die Debatte um die Neuklassik, die etwa in die Jahre zwischen 1905 und 1912 fiel, wäre der Tod in Venedig in entscheidenden Zügen ein anderes Werk geworden. Eine Neuklassik wurde erstmals 1905 von Paul Ernst in einer Aufsatzsammlung mit dem programmatischen Titel Der Weg zur Form propagiert. Kernforderungen waren die Abkehr von der neuromantischen Psychologie und die Rückkehr zur Tradition, zu formaler Strenge und asketischer Gesinnung. Insgesamt zielte das Programm auf eine ethische Erneuerung, die Leo Greiner, ein Bekannter Paul Ernsts, auf die Formel brachte: »Sittlichkeit erzeugt Form, Form wieder Sittlichkeit.« Der Tod in Venedig greift diese Gleichung auf, erweist sie allerdings durch seinen Handlungsverlauf als Illusion. »Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros«, muss sich Aschenbach schließlich eingestehen, »führen zum Rausch und zur Begierde […], führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie« (85). Warum übernahm Thomas Mann überhaupt Positionen der Neuklassik in seine Novelle, um sie dort zu widerlegen? Der Grund ist, dass er nach seiner Eheschließung 1905, in einer Phase der künstlerischen Neuorientierung, ernsthaft mit diesen Positionen gespielt hatte, um seinem Schaffen neuen Halt zu geben. Das zeigen unter anderem die Arbeitsnotizen zu der geplanten großen Abhandlung Geist und Kunst, einem von mehreren ungeschriebenen Werken, die Thomas Mann im Tod in Venedig Gustav von Aschenbach zuschreibt (13).
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Was Thomas Manns künstlerische Neuorientierung angeht, so stehen die Jahre vor 1911 im Zeichen einer kritischen Auseinandersetzung mit Richard Wagner, dem Leitstern der ersten Schaffenszeit, und einer Orientierung Annäherung an das künstlerische und peran Goethe sönliche Vorbild Goethes. Das wichtigste Dokument der Wagner-Krise ist eben der kleine Aufsatz Auseinandersetzung mit Richard Wagner, der während des Venedig-Aufenthaltes am Strand entstanden war und der in der Novelle, umgedeutet in »jene anderthalb Seiten erlesener Prosa« Aschenbachs, eine so zentrale wie, aufgrund seiner Entstehungsbedingungen, zweifelhafte Rolle spielt (55). In Thomas Manns Aufsatz heißt es: »Denke ich aber an das Meisterwerk des zwanzigsten Jahrhunderts, so schwebt mir etwas vor, was sich von dem Wagner’schen sehr wesentlich und, wie ich glaube, vorteilhaft unterscheidet, – irgend etwas ausnehmend Logisches, Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges und Heiteres, von nicht geringerer Willensspannung als jenes, aber kühlerer, vornehmerer und selbst gesunderer Geistigkeit, etwas, das seine Größe nicht im Barock-Kolossalischen und seine Schönheit nicht im Rausche sucht, – eine neue Klassizität, dünkt mich, muß kommen« (GW X, S. 842). Vorbild für diese neue, sich von der »Neuklassik« unterscheidende Klassizität ist Goethe, dessen Roman Die Wahlverwandtschaften Thomas Mann während der Arbeit am Tod in Venedig fünf Mal gelesen haben will, weil er dort ein »Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit […] ideal vollendet« vorgefunden habe, das er selbst für den Tod in Venedig angestrebt hat (Brief an Carl Maria Weber vom 4. Juli 1920).
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Das Studium von Goethes Faust II, der umfassendsten Neubelebung des griechischen Mythos in der deutschen Literatur, regte Thomas Mann darüber hinaus dazu an, im Tod in Venedig antike Philosophie und Mythologie zu verarbeiten, um dem Text dadurch einen weiteren Verweisungszusammenhang und eine aufs allgemein Menschliche zielende Bedeutungsebene hinzuzufügen: Aschenbachs Schicksal ist damit mehr als nur ein individueller Fall. Es wird zum Gleichnis der menschlichen Existenz, insofern Aschenbach, der seine Erlebnisse in den antiken Erzählungen von Göttern und Sterblichen wiederzuerkennen meint, in vorgezeichneten Bahnen wandelt, einem Muster folgt. Diese Vorstellung bildet die Grundlage für Thomas Manns MythosKonzeption und ist in der »Klassischen Walpurgisnacht« in Faust II formuliert, wo Thomas Mann sich in seiner Ausgabe folgende Verse unterstrichen hat: »Wie oft schon wiederholt’ sich’s! wird sich immerfort / Ins Ewige wiederholen … […]« (V. 7012f.). Neben dieser Mythos-Konzeption fand Thomas Mann im Faust II auch seine später oft verwendete »Lieblingsgottheit« Hermes (vgl. Thomas Manns Brief an Karl Kerényi vom 24. März 1934), und zwar in seiner Funktion als Psychagog zum Totenreich, in der er im Tod in Venedig eingeführt ist: »Alles deckte sich schon / Rings mit Nebel umher. / […] Schwebt nicht etwa gar / Hermes voran? Blinkt nicht der goldne Stab / Heischend, gebietend uns wieder zurück / Zu dem unerfreulichen […] / […] ewig leeren Hades?« (V. 9110-21). Die Parallelen zum Schlussbild der Novelle sind greifbar. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Neuklassik löste sich Thomas Mann aus dem künstlerischen Einfluss Richard Wagners
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(der ihn dennoch niemals zu faszinieren aufhörte) und begann sich an Goethe zu orientieren. Goethe vermittelte ein Ideal künstlerischer Ausgeglichenheit (Die Wahlverwandtschaften) und eine Möglichkeit, das Wagner’sche Leitmotiv durch die Konzeption des Mythos als Wiederholung zeitloser Menschheitserfahrungen abzulösen und dem Erzählten damit auf neue, heiter-strenge Weise Gewicht zu verleihen. Die Neuklassik selbst hatte ausgedient und blieb, in ihrer zweifelhaften Einseitigkeit bloßgestellt, am Wege.
3. Die »Idee der Heimsuchung«: Mythisches Erzählen 1936 hat Thomas Mann in seiner Rede Freud und die Zukunft, die er im Rahmen der Feierlichkeiten zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag in Wien hielt, erklärt, »als Erzähler den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum MythischTypischen getan« zu haben, wodurch sein zuvor »heimliches Verhältnis« zur Psychoanalyse nun ofPsychoanalyse fen zu Tage getreten sei. Denn das »mythiund Mythologie sche Interesse« sei »der Psychoanalyse genau so eingeboren, wie allem Dichtertum das psychologische Interesse eingeboren ist«. Schließlich seien die »Urgründe der Menschenseele«, die die Psychoanalyse erforscht, nicht nur in den frühen, prägenden Erfahrungen des Einzelnen zu suchen, sondern ebenso in denen der Gattung, von denen der Mythos erzählt. Der Mythos eröffnet für Thomas Mann demnach den »Blick für die höhere Wahrheit, die sich im Wirklichen darstellt, das lächelnde Wissen vom Ewigen, Immerseienden, Gültigen, vom Sche-
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ma, in dem und nach dem das vermeintlich ganz Individuelle lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst- und Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und Wiederholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spuren ist«. Dieses Wandeln in Spuren verleiht dem Einzelnen, Thomas Mann zufolge, eine »mythische Würde«, die »dem Unbewußten entstammt« und mehr ist als der »naive Dünkel«, der auf einer vermeintlichen Einmaligkeit gründet. Man kann wohl auch sagen: Dieses Wandeln in Spuren verleiht dem Einzelnen eine tragische Größe, weil er ein überindividuelles Schicksal erleidet, das vorgezeichnet ist und größer als er und in das er verstrickt ist, ohne es zu durchschauen. Entsprechend merkt Thomas Mann in seiner Rede an, dass »der mythisch orientierte Erzähler auf die Erscheinungen« einen »ironisch überlegene[n] Blick« richtet; »denn die mythische Erkenntnis hat hier ihren Ort nur im Anschauenden, nicht im Angeschauten« (GW IX, S. 493f.). In diesem Satz liegt die Erklärung für die erzählerische Ironie im Tod in Venedig: Weil Aschenbach sein eigentliches Schicksal nicht begreift und nicht wahrhaben will, weil er es nicht überblickt, trifft ihn Erzählerische Ironie die Ironie des Erzählers. Doch diese Ironie ist nicht gehässig. Sie ist getragen von überlegenem Verständnis für die menschliche Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis. Aschenbachs Schicksal ist die Erfahrung, die Thomas Mann in seinem Vortrag On Myself als das Grundmotiv seines künstlerischen Schaffens überhaupt bezeichnet hat: »Auf das durchgehende, mein Gesamtwerk gewissermaßen zusammenhaltende Grund-Motiv aber, das die Geschichte vom kleinen Herrn Friedemann zuerst anschlägt, habe ich viele Jahrzehnte später, in dem ägyptischen Buche
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meiner Josephsgeschichte einmal hingewiesen: ›[…] es ist die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zerstörender und vernichtender Mächte in ein gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf Würde und ein bedingtes Glück der Fassung verschworenes Leben. Das Lied vom errungenen, scheinbar gesicherten Frieden und des den treuen Kunstbau lachend hinfegenden Lebens; von Meisterschaft und Überwältigung, vom Kommen des fremden Gottes war im Anfang, wie es in der Mitte war. Und in einer Lebensspäte, die sich im menschheitlich Frühen sympathisch ergeht, finden wir uns zum Zeichen der Einheit abermals zu jener alten Teilnahme angehalten.‹ Im Anfang, wie in der Mitte: Vom Kleinen Herrn Friedemann zum Tod in Venedig, der viel späteren Erzählung vom Kommen des ›fremden Gottes‹ spannt sich der Bogen: und was ist die Leidenschaft von Potiphars Frau für den jungen Fremdling [Joseph] anderes als abermals der Einsturz, der Zusammenbruch einer mühsam, aus Einsicht und Verzicht gewonnenen hochkultivierten Haltung: die Niederlage der Zivilisation, der heulende Triumph der unterdrückten Triebwelt –« (GW XIII, S. 135f.). Diese Idee der Heimsuchung, die Furcht vor ihr und zugleich die Faszination, die mit ihr verbunden Die Idee der ist, ist ein allgemein menschliches, eine myHeimsuchung thisches Urerlebnis, das in einer bestimmten individuellen Ausprägung zum Grundthema von Thomas Manns Leben und Schaffen wurde: die aus seiner Sicht nicht zu verwirklichende Liebe, die homoerotische Neigung, unterdrückt und in Sehnsucht verwandelt (im Tod in Venedig wird die Liebe geradezu als Sehnsucht definiert, vgl. 59), welche im Werk produktiv verarbeitet und sublimiert wird. Auf diesen durchgängig autobiografischen,
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verborgen bekennerischen Grundzug seines literarischen Schaffens hat Thomas Mann bereits im Alter von 21 Jahren in einem Brief an den Jugendfreund Otto Grautoff hingewiesen: »Seit dem ›Kleinen Herrn Friedemann‹ vermag ich plötzlich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann. Während ich ehemals, wollte ich mich auch nur mir selbst mitteilen, eines heimlichen Tagebuchs bedurfte« (Brief vom 6. April 1897). In der Erzählung Der kleine Herr Friedemann von 1897 geht es um einen buckligen, behinderten junDer kleine Herr gen Mann, der aufgrund seiner Behinderung Friedemann von früh an »gewöhnt« ist, »für sich zu stehen und die Interessen der anderen nicht zu teilen« (GW VIII, S. 79). Er richtet sich sein Leben maßvoll und klug ein, »ohne große Affekte, aber erfüllt von einem stillen und zarten Glück, das er sich zu schaffen wußte« (GW VIII, S. 82). In diesen Schonraum bricht eine sinnlichherrische Frau ein, Gerda von Rinnlingen, die Johannes Friedemanns verdrängtes Triebleben erweckt und ihn in einen »Zustand von Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und Qual« versetzt (GW VIII, S. 90). Er ist »ganz in einem abwesenden, exaltierten Zustand befangen« (GW VIII, S. 93) und erklärt ihr schließlich berauscht seine Liebe. Wie nicht anders zu erwarten, weist sie ihn ab, woraufhin er sich ertränkt. Die Parallelen zwischen dieser frühen Erzählung und dem Tod in Venedig sind augenfällig. Thomas Manns Bemerkung, er habe mit dem Kleinen Herrn Friedemann »die diskreten Formen und Masken« gefunden, in denen er mit seinen Erlebnissen, seinem Gefühlsleben, unter die Leute
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gehen könne, bezieht sich dabei natürlich weniger auf den Umstand, dass er hier nicht direkt von sich selbst erzählt, sondern eine literarische Figur für sich einsetzt. Das ist noch kein sonderlicher Kunstgriff. Wichtig ist vielmehr, dass er gewissermaßen ein Muster, ein Strukturmodell gefunden hatte, das ihm half, sein Gefühlsleben zu sortieren und erzählerisch abzubilden. Dieses Modell geht auf Friedrich Nietzsches Konzeption des Apollinischen und des Dionysischen in seiner philosophischen Erstlingsschrift Die Das Apollinische und das Geburt der Tragödie aus dem Geiste der MuDionysische sik (1872) zurück. Apoll und Dionysos sind griechische Gottheiten. Während Nietzsche Apoll als Gott des »schönen Scheins« und der maßvollen Begrenzung charakterisiert, ist Dionysos der Gott des Rausches, der die Grenzen der Individualität sprengt. Aus dem »Bruderbund« von Apoll und Dionysos geht als eine »Mittelwelt zwischen Schönheit und Wahrheit« die griechische Tragödie hervor. Nietzsche zufolge entstand der Kult des Dionysos im asiatischen Raum; er ist der Weithergekommene, der Fremde, der von einem trunkenen und orgiastischen Gefolge angekündigt und begleitet wird. Im Tod in Venedig verweisen sowohl das Fremdartige der vier ›Todesboten‹, denen Aschenbach begegnet, wie auch die Dschungel- und Tigervision zu Beginn, zudem der orientalische Einschlag Venedigs, ferner die aus Indien (wo der Tiger wohnt, vgl. 75) eingewanderte todbringende Cholera und schließlich der Traum, aus dem Aschenbach »zerrüttet und kraftlos dem Dämon verfallen« erwacht (80), auf Dionysos. Dionysos verwendet Thomas Mann gewissermaßen als Chiffre für eine seelische Befindlichkeit, die durch Ekstase, Ich-Auf-
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lösung, Kollektiverfahrung, Rausch und Sexualität gekennzeichnet ist, während das Apollinische für Selbstbeherrschung, kontrollierte Individualität, Isolation, Gesittung, Askese und Schamgefühl steht. Darüber hinaus gehört die Kultur, das Geformte und Begrenzte, das künstlerische Werk (und hier vor allem die Plastik mit ihrer klaren Kontur) zum Bereich des Apoll, während die Natur, das Ungeformte und Zerfließende sowie in künstlerischer Hinsicht besonders die in Selbstvergessenheit oder rauschhafte Ekstase versetzende Musik dionysisch sind. All diese Zuschreibungen spielen im Tod in Venedig, wie leicht zu erkennen ist, eine Rolle. Nicht von ungefähr nimmt Aschenbach, der einseitig apollinische Künstler, Tadzio zunächst als schönes Standbild wahr. Später, als er dem Knaben bereits verfallen ist, bemerkt er, dass an Tadzios Name der »gezogene[n] u-Ruf am Ende« auffällig ist, der »etwas zugleich Süßes und Wildes hatte« (41). Dieser u-Laut kehrt im orgiastischen Geheul der dionysischen Meute wieder, der sich Aschenbach in seinem furchtbaren Traum am Ende anschließt (78). Psychoanalytisch lässt sich dieser »Vorgang der Überwältigung einer apollinisch geformten Existenz durch die […] dionysischen Mächte« als »die Wiederkehr des Verdrängten«, und zwar des verdrängten Trieblebens, fassen (Dierks in: Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch, S. 290). Von daher ist es verständlich, dass sich Thomas Mann, der seine literarischen Stoffe des Frühwerks nach dem Nietzsche’schen Modell der Polarität von Apollinischem und Dionysischem anzulegen gewohnt war, Freuds psychoanalytisches Modell, das dieser seiner Analyse der Gradiva-Novelle zugrunde gelegt hatte, ohne weiteres aneignen konnte. Es war ihm nicht grundsätzlich neu.
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Im Übrigen beschränkt sich der Einfluss Nietzsches auf den Tod in Venedig nicht auf die beiden KonWeitere stitutionstypen des Apollinischen und des Anregungen Dionysischen. Auch die »Verdächtigung der durch Nietzsche Haltungsmoral des asketischen Ideals als lebensfeindlich aus Lebensschwäche« (Dierks 1972, S. 33), die sich sowohl gegen den kleinen Herrn Friedemann wie gegen den gefeierten Schriftsteller Gustav von Aschenbach hegen lässt, hat Thomas Mann von Friedrich Nietzsche übernommen, und zwar aus dessen Buch Zur Genealogie der Moral (1887). Und schließlich geht Aschenbachs etwas gewaltsam herbeigezwungenes »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit« aus Ekel »gegen den unanständigen Psychologismus der Zeit« (17f.) beinahe bis in den Wortlaut auf Nietzsches Argumentation in seiner polemischen Streitschrift Nietzsche contra Wagner (1889) zurück, in der der einstige Verehrer Wagners dessen Kunst als Krankheit denunzierte, von der er genesen zu sein behauptete. In unserem Zusammenhang der Ausbildung eines mythischen Erzählens bei Thomas Mann ist aber vor allem der erstgenannte Einfluss wichtig. Apoll und Dionysos im Nietzsche’schen Sinne sind bereits solche zeitlosen Modelle menschlicher Möglichkeiten und Erfahrungen, wie sie nach Thomas Mann dem mythischen Erzählen zugrunde liegen. Während das Apollinische und das Dionysische in den frühen Werken jedoch lediglich als Strukturmodell verwendet ist, wird die mythologische Erzählschicht im Tod in Venedig erstmals explizit und damit Teil der Textoberfläche. »Besonders ein antikisierendes Kapitel scheint mir gelungen«, schreibt Thomas Mann nicht ohne Stolz am 2. April 1912 an Heinrich Mann. Gemeint ist das vierte Kapitel der
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Novelle, das eine Reihe antiker philosophischer Texte und Mythen in einer Weise paraphrasiert, die einem Leser, der diese Anspielungen durchschaut, ein tieferes und ironischeres Verständnis von Aschenbachs Schicksal eröffnen. Allen diesen Anspielungen kann hier nicht nachgegangen werden. Sie sind vielfach komplizierter Natur und setzen umfangreichere Erläuterungen voraus. Zudem lässt sich auf Thomas Manns briefliche Auskunft an Paul Ammann vom 10. September 1915 verweisen, in der er versichert, das »Bildungs-Griechentum« im Tod in Venedig werde überbewertet, es sei lediglich »Hilfsmittel und geistige Zuflucht des Erlebenden« gewesen (nach Mythologischer AnspielungsDierks 1972, S. 36). So genügt es an dieser horizont Stelle, den mythologischen Anspielungshorizont der Novelle anhand zweier Beispiele exemplarisch zu erhellen. Aschenbachs Hochgefühl nach der verunglückten Abreise verdankt sich dem unverhofften Glück, das Objekt seiner Liebe weiter beobachten zu können. Mit diesem Hochgefühl stimmt zusammen, dass nun auch das Wetter umschlägt und eine lange Reihe strahlender Sonnentage anbricht. Die Sonne, die eingangs des vierten Kapitels in mythologischer Umkleidung (»lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels«, 49) und auch direkt immer wieder erwähnt wird, ist jedoch mehr als ein Planet. Sie ist, nach Auffassung der alten Ägypter, ein Liebesgott. Das teilt der griechische Geschichtsschreiber und Philosoph Plutarch (ca. 46–120 n. Chr.) in seiner Schrift Über die Liebe mit, welche Aschenbach am Strand, in den Anblick Tadzios versunken, in den Sinn kommt: »Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn will-
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kommen. Sein Geist kreißte, seine Bildung geriet ins Wallen, sein Gedächtnis warf uralte, seiner Jugend überlieferte und bis dahin niemals von eigenem Feuer belebte Gedanken auf. Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere Aufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge wendet? Sie betäube und bezaubere, hieß es, Verstand und Gedächtnis dergestalt, daß die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes ganz vergesse und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der besonnten Gegenstände hängen bleibe: ja, nur mit Hilfe eines Körpers vermöge sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben« (53). Mit dieser höheren Betrachtung sind die nach dem Philosophen Platon so genannten Platonischen Ideen gemeint, die ewigen und unveränderlichen Urbilder der konkreten Erscheinungen der Welt, in deren Erkenntnis das höchste Glück und die höchste Weisheit des Menschen liegen soll. Aschenbach, der sich hier, und noch über die zitierte Passage hinaus, tatsächlich recht wörtlich an Plutarchs Schrift erinnert, möchte sich demnach dazu überreden, dass ihn, den durch die Sonne in Liebe Entflammten, die Betrachtung Tadzios auf den Weg höherer Erkenntnis leite. Tatsächlich unterscheidet Plutarch aber zwischen sinnlicher und geistiger Liebe, zwischen gemeinem und himmlischem Eros. Nach Plutarch liebt der vom gemeinen Eros getriebene Mensch »den Gegenstand, der ihn entzündet, wenn er zugegen ist, und sehnt sich nach ihm, wenn er abwesend ist. Bei Tage verfolgt er ihn ohne Unterlass, des Nachts wacht er vor dessen Tür.« Genau dies erfüllt sich mit Beginn des fünften Kapitels. Dort heißt es über den »Betörte[n]« (64): »ihn trieb die Manie, den polnischen Geschwistern zu folgen« (62). Und schließlich lässt sich der berauschte Liebhaber »auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten durchge-
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hen«, als er, »spät abends von Venedig heimkehrend, im ersten Stock des Hotels an des Schönen Zimmertür Halt gemacht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die Angel der Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen vermocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage ertappt und betroffen zu werden« (66). Auch ohne den Bezug auf Plutarch ist der Sinn dieser Stelle völlig klar. Durchschaut man jedoch den durch Plutarchs Schrift vermittelten Zusammenhang zwischen Aschenbachs lange gehegter Illusion, auch in der Liebe zu Tadzio geistige Ziele zu verfolgen und seine Würde wahren zu können, und dieser natürlich nicht zufällig so arrangierten Szene vor der Tür des Angebeteten, so vertieft sich sowohl die Tragik wie die bittere Komik von Aschenbachs Selbsttäuschung. Das zweite Beispiel, an dem der mythologische Bedeutungshorizont der Novelle erläutert werden soll, sind die verschiedenen der griechischen Mythologie entnommenen Namen, mit denen Aschenbach Tadzio belegt. Am Morgen nach ihrer ersten Begegnung fehlt Tadzio lange beim Frühstück. Lächelnd nennt Aschenbach den offenbar verzärtelten Jungen einen »kleine[n] Phäake[n]« und zitiert für sich den Vers: »Oft veränderten Schmuck und warme Bäder und Ruhe« (36). Dieser Vers entstammt der Odyssee (VIII, 249) und bezieht sich auf das verweichlichte Volk der Phäaken, die in einer Art von Schlaraffenland leben, wo ihnen Odysseus auf seiner Irrfahrt begegnet. Bemerkenswert ist jedoch Rolf Günter Renners Hinweis darauf, dass die Phäaken nach einer Sagenvariante ebenso als Fährmänner des Todes galten. Durch Aschenbachs Bildungszitat ist Tadzio demnach bereits zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Doppelrolle als Luxusgeschöpf und Todesgeleiter (Psychagog, vgl. das Schlussbild der Novelle) eingeführt.
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Als Aschenbach am Strand seinen kleinen Aufsatz verfasst, leitet ihn der Gedanke, Tadzios »Schönheit ins Geistige zu tragen, wie der Adler einst den Tadzio als troischen Hirten zum Äther trug« (55). Der Götterliebling troische Hirtenknabe ist Ganymed, der dem Mythos zufolge als der schönste Sterbliche von den Göttern entführt und zum Mundschenk an der olympischen Tafel gemacht wurde. Indem Aschenbach Tadzio mit Ganymed vergleicht, beurkundet er gleichsam dessen unvergleichliche Schönheit und hebt sich selbst in die Position eines Gottes, der Tadzio zu sich heraufzieht, ihn vergöttlicht und vergeistigt. Später am Strand sieht Aschenbach Tadzio beim Ballspiel zu »und Hyakinthos war es, den er zu sehen glaubte, und der sterben mußte, weil zwei Götter ihn liebten« (59). Der Mythos berichtet, dass Hyakinthos der schöne Liebling Apollons war, der sich nur noch mit dem Schönen abgab und seine Götterpflichten vergaß. Eifersüchtig lenkte Zephyr, der Westwind, Apollons Diskusscheibe an den Kopf des Hyakinthos und tötete ihn auf diese Weise. Im mythischen Muster ist hier die tödliche Katastrophe angekündigt, die die Selbstvergessenheit des apollinischen Menschen, der liebt und begehrt, nach sich zieht. Auch die Einsicht, dass diese Selbstvergessenheit nicht nur für den Liebenden selbst, sondern auch für sein Liebesobjekt verhängnisvoll wird, ist bereits im Mythos ausgedrückt. Dieser Aspekt wird noch dadurch betont, dass Tadzio am Ende des vierten Kapitels mit der in sich selbst verliebten und in ihrer Selbstbefangenheit lebensunfähigen mythologischen Figur des Narziss identifiziert wird (61). Die Instrumentierung der Erzählung durch mythologische Muster verbindet den Oberflächentext der eigentli-
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chen Handlung mit einer Vielzahl von Subtexten, die die Erzählung kommentieren (sofern sie sich den Lesern erschließen bzw. von ihnen erschlossen werden) und die ihr einen allgemeingültigen Zug verleihen. Damit geht das mythologische Erzählen über das leitmotivische Erzählen hinaus, das sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die Erzählung rhythmisch durchzugestalten und bestimmte Figuren, Situationen oder Handlungen mit wiederkehrenden Motiven zu verknüpfen, so wie im Musikdrama Richard Wagners mithilfe wiederkehrender musikalischer Themen unterschwellig Bezüge zwischen verschiedenen Momenten der Handlung hergestellt oder Figuren charakterisiert werden. Auch im Tod in Venedig gibt es solche Leitmotive; Beispiele sind der Tiger (10, 12, 75) oder die geballte, dann geöffnete Hand bzw. die schließlich im Schoß gefalteten Hände (14, 48f., 58). Das mythologische Erzählen unterstreicht hingegen die Gültigkeit des Erzählmodells über den geDas Allgemeinschilderten individuellen Fall hinaus – hier menschliche des Modells der Heimsuchung: der Überwältigung Apolls durch Dionysos bzw. der Wiederkehr des Verdrängten. In diesem Sinne wohnt aller Literatur eine gewisse mythische Tendenz inne. Literaturfähig sind vor allem solche Stoffe, die die menschliche Existenz im Kern angehen: etwa Liebe, Kampf, Entsagung, Tod. Literatur ist individuell und exemplarisch zugleich. Diesen Grundzug verstärkt Thomas Mann durch das bewusste Spiel mit mythologischen Überlieferungen.
7. Autor und Zeit Paul Thomas Mann wurde am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Sein Vater, der Konsul Thomas Johann Herkunft und Heinrich Mann (1840–91), besaß eine GetreiGeschwister dehandlung und war später auch Steuersenator der Stadt Lübeck. Thomas Manns Mutter, Julia Mann (1851–1923), entstammte der deutsch-brasilianischen Kaufmannsfamilie da Silva-Bruhns. Sie war schön, musikalisch und von exotischer Ausstrahlung. Thomas Mann hatte vier Geschwister. Sein älterer Bruder Heinrich (1871–1950) wurde ein produktiver Romanschriftsteller, dessen zahlreiche Werke aber bis auf wenige die Zeit nicht überdauert haben. Thomas Mann verfolgte das Schaffen seines älteren Bruders kritisch; und auch als er Heinrich in der Gunst des Publikums und der Kritik längst überflügelt hatte, vermochte er lange Zeit nicht, sich aus der Gewohnheit des ständigen Vergleichs mit dem Bruder zu lösen. Weniger wichtig für Thomas Mann waren die jüngeren Geschwister: Julia (1877–1927), lebensscheu und auf Vornehmheit bedacht und darin ihrem Bruder Thomas ähnlich, heiratete einen Münchner Bankier, mit dem sie in unglücklicher Ehe lebte. Sie wurde morphiumabhängig und beging 1927 Selbstmord. Carla (1881–1910) fühlte sich wie Heinrich Mann zur Theaterwelt hingezogen, ohne als Schauspielerin eine wirkliche Karriere zu machen. Im Begriff, eine Ehe einzugehen und sich aus der Bühnensphäre zu lösen, nahm sie sich 1910, durch eine Liebes- und Erpressungsgeschichte in die Enge getrieben, das Leben. Das Schicksal der beiden Schwestern hat Thomas Mann in dem Spätwerk
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Doktor Faustus (1947) nur wenig fiktionalisiert geschildert. Das fünfte Geschwister war der Bruder Viktor (1890–1949). Er blieb als Nachzügler ohne große Bedeutung für Thomas Mann. Thomas Mann war ein verträumtes, früh der Literatur hingegebenes Kind, das die autoritäre Schule der wilhelminischen Gesellschaft verachtete und entSchulzeit sprechend dort nicht reüssierte. Er blieb drei Mal, in der achten, neunten und elften Klasse, sitzen und verließ das Gymnasium 1894 mit fast neunzehn Jahren ohne Abitur. Seine Schuleindrücke hat er im berühmten Schulkapitel am Ende des Romans Buddenbrooks satirisch beschrieben; und 1930 antwortete er, der im Jahr zuvor den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, auf eine Umfrage der Zeitschrift Schule und Elternhaus unter anderem: »Die Schulzeit war die Kinderzeit, und also bot sie auch viel Raum für Freude. Aber die Schule war ohne Verdienst daran.« Als er einen Lehrer einem anderen Schüler habe drohen hören, er werde ihm schon die Karriere verderben, da habe er gewusst, »daß die Lehrer meine Erzieher nicht waren, sondern mittlere Beamte, und daß ich meine Erzieher anderswo zu suchen hätte, nämlich in der Sphäre des Geistes und der Dichtung« (GW XIII, S. 57). 1891 starb Thomas Manns Vater im Alter von nur 51 Jahren. Die Getreidefirma, deren hundertjähriges Bestehen kurz davor gefeiert worden war, wurde aufgelöst. Die Mutter zog mit den jüngeren Geschwistern nach München. Heinrich Mann arbeitete bereits als Volontär beim S. Fischer Verlag in Berlin, der wenige Jahre zuvor gegründet worden war und schnell zum wichtigsten deutschen Literaturverlag wurde. Thomas Manns gesamtes Werk ist dort bis heute verlegt.
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Thomas Mann Fotografie aus den Jahren vor Entstehung des Tod in Venedig
Thomas Mann blieb noch zwei Jahre in Lübeck, wo er bei verschiedenen Lehrern wohnte. In die Schulzeit fallen auch die ersten Schwärmereien für Mitschüler. Mit vierzehn Jahren verliebte sich Thomas Mann in Armin Martens, das spätere Vorbild für Hans Hansen in der Novelle Tonio Kröger (1903). Die Verliebtheit in den älteren Williram Timpe schloss sich an, der im Roman Der Zauberberg (1924) als Urbild der Liebe von Hans Castorp zu Clawdia Chauchat eine bedeutende Rolle spielt. Thomas Mann schrieb während der Schulzeit, inspiriert von Heine und
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Storm, Gedichte. Daneben verfasste er Artikel für eine kurzlebige literarische Schülerzeitschrift Frühlingssturm. Im Frühjahr 1894 folgte Thomas Mann der Mutter nach München, wo er zunächst eine unbezahlte Stelle als Volontär bei einer Feuerversicherungsgesellschaft antrat, die er jedoch im Sommer bereits wieder kündigte. Während der Arbeit war heimlich die Erzählung Gefallen entstanden, die von der Zeitschrift Die Gesellschaft, dem Organ der Münchner Naturalisten um Michael Georg Conrad, gedruckt wurde. Auf diese Weise in die literarischen Kreise der süddeutschen Residenzstadt eingeführt, versuchte Thomas Mann sich als Schriftsteller zu etablieren. Ein monatlicher Betrag aus dem Verkauf der väterlichen Firma enthob ihn dabei der Verpflichtung, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 1895 verbrachte Thomas Mann mit dem Bruder Heinrich drei Monate in Italien und ein Jahr später, ab Oktober 1896, noch einmal eineinhalb Jahre. In dieser Buddenbrooks Zeit entstanden Erzählungen und die Anfänge des Romans Buddenbrooks. Verfall einer Familie, der diesen anhand des Niedergangs der Lübecker Firma der Vorfahren schildert. Wieder zurück in München, war Thomas Mann bis Anfang 1900 beinahe zwei Jahre lang als Lektor und Korrektor für den Simplicissimus, eine damals sehr bekannte satirische Zeitschrift, tätig. Im August 1900 schickte er das umfangreiche Manuskript der Buddenbrooks an den Verleger Samuel Fischer, der sich nach einigem Zögern entschloss, das Buch herauszubringen. Der Roman erschien im Herbst 1901 in zwei Bänden und begründete Thomas Manns Ruhm. In den Spätherbst des Jahres 1900 fällt die kurze Militärzeit Thomas Manns beim Königlich Bayerischen Infanterie-
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Leibregiment, aus der ihn ein gutmütiger Militärarzt jedoch wegen anhaltender Sehnenscheidenentzündungen bald wieder entließ. Neben Buddenbrooks besteht Thomas Manns Frühwerk aus einer Reihe von Erzählungen, die in Das Frühwerk unterschiedlichen Spielarten den Konflikt zwischen Kunst und Leben gestalten. Meist ist die Hauptfigur ein Künstler oder ein künstlerisch empfindender Mensch, der dem Bürgertum entstammt und dessen Sehnsucht dem unkomplizierten Glück der unkünstlerischen Leute gilt, die sich auf das Leben verstehen, an dem er nicht teilzuhaben glaubt; während er diese kunstfernen Menschen zugleich um ihrer Schlichtheit willen verachtet. Die Kritik und Ironie dieser Erzählungen gilt gleichermaßen dem »Leben« wie dem zwischen Hochmut und sentimentaler Sehnsucht schwankenden Künstler. Zwischen 1900 und 1905 entstand zudem Thomas Manns einziges und letztlich erfolgloses Drama, Fiorenza, das im Florenz der Medici spielt und insofern an den in diesen Jahren grassierenden RenaissanceKult anschließt, im historischen Gewand jedoch wiederum den Gegensatz zwischen Kunst (hier in der Spielart religiöser Askese und des Willens zur Macht) und Leben (verkörpert durch das Herrschertum und den Besitz der schönen Frau) verhandelt. Zwischen 1900 bis 1903 war Thomas Mann in den Maler Paul Ehrenberg verliebt, den er wegen seiner liebenswürdigen Flirtnatur zugleich beneidete und gering schätzte. Paul Ehrenberg ist das Modell für die Figur des Geigers Rudi Schwertfeger im Doktor Faustus (1947) und hat auch auf die eben skizzierte Thematik des Frühwerks offenkundig prägend gewirkt.
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Mit dem sich abzeichnenden Ruhm beschloss Thomas Mann, sich auch im bürgerlichen Sinne »eine Verfassung zu geben« (Brief an Heinrich Mann vom 17. JaEheschließung nuar 1906). Die tieferen Gründe für diesen Entschluss zur Ehe hat er später an entlegener Stelle, in dem kleinen Aufsatz Die Ehe im Übergang von 1925, in ungewöhnlicher Offenheit so formuliert: »Alles, was die Ehe ist, nämlich Dauer, Gründung, Fortzeugung, Geschlechterfolge, Verantwortung, das ist die Homoerotik nicht« (GW X, S. 199). Thomas Mann warb um Katia Pringsheim, die einzige Tochter eines reichen Mathematikprofessors, »ein Wunder, etwas unbeschreiblich Seltenes und Kostbares, ein Geschöpf, das durch sein bloßes Dasein die kulturelle Thätigkeit von 15 Schriftstellern und 30 Malern aufwiegt« (an Heinrich Mann am 27. Februar 1904). Katias Brüder nannten ihn ironisch den »leberleidenden Rittmeister«, wie Katia Mann in ihren Ungeschriebenen Memoiren berichtete (S. 26). Das »kleine[s] Wunder an allseitiger harmonischer Ausbildung« (an Katia Pringsheim, Ende August 1904) zögerte zunächst, gab aber schließlich dem heftigen Werben nach. In den ersten fünf Ehejahren stellten sich vier Kinder ein, Erika (1905), Klaus (1906), Golo (1909) und Monika (1910). Ein weiteres Geschwisterpaar folgte in den Die sechs Kinder Jahren 1918 (Elisabeth) und 1919 (Michael). Früh berühmt wurden die beiden ältesten Kinder: Erika als Schauspielerin, Autorennfahrerin, Kinderbuchautorin, politische Kabarettistin (Die Pfeffermühle) sowie als kompromisslose, hasserfüllte Gegnerin des Nationalsozialismus. Klaus Mann wurde wie sein Vater Schriftsteller, berühmt innerhalb der jungen Generation der Autoren, die während der Weimarer Republik in die Öffentlich-
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keit traten, und war, im Gegensatz zum Vater, immer auch für persönliche Schlagzeilen gut. Er schrieb viel und schnell, führte eine rastlose, internationale Hotelexistenz, nahm (wie seine Schwester Erika) Drogen, lebte seine Homosexualität aus und nahm sich 1949 in Cannes das Leben. Golo, das dritte Kind, wurde ein bekannter Historiker. Elisabeth, das Lieblingskind des Vaters neben den ebenfalls bevorzugten Ältesten, lebte nach dem Tod ihres viel älteren Mannes als Meeresforscherin und Professorin in Kanada. Michael war zuerst Bratschist (Thomas Mann spielte Violine) und dann Literaturwissenschaftler. Nur Monika Mann entwickelte keine entschiedenen Talente. In den Jahren zwischen der Eheschließung und dem Ersten Weltkrieg verlief die Existenz Thomas Manns äußerlich ruhig. Unterbrochen nur von VortragsKönigliche und Urlaubsreisen, arbeitete er bis 1909 an Hoheit dem Roman Königliche Hoheit. Darin ist das Außenseiterthema des Frühwerks in das moderne Märchen eines Prinzen mit verkrüppelter Hand verwandelt, der aus seiner Befangenheit, aus seiner rein repräsentativen Existenz durch die Liebe zu einer bürgerlichen Millionärstochter erlöst wird, deren Vater gleichzeitig die zerrütteten Finanzen des kleinen Staates saniert. Die verkrüppelte Hand des Prinzen Klaus Heinrich spielt natürlich auf den deutschen Kaiser Wilhelm II. an, der unter derselben Behinderung litt. Ansonsten ist aber wieder alles ureigenstes Lebensmaterial, bis hin zu der wörtlichen Verwendung von Passagen aus Thomas Manns Brautbriefen, die er sich zu diesem Zwecke von seiner Frau entlieh. Der wie alle Werke Thomas Manns sorgfältig stilisierte Roman hatte bei Publikum und Kritik nur einen mäßigen Erfolg.
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1908 baute Thomas Mann ein Haus in Bad Tölz, am Fuße der bayerischen Alpen, wo die junge Familie in den Folgejahren die Sommermonate verbrachte (vgl. Der Tod in Venedig, 11 und 12). Ein großes Stadthaus im Münchner Herzogpark (Poschingerstraße 1, heute Thomas-MannAllee 10) wurde Anfang 1914 bezogen. Zwischendurch, 1912, erschien Der Tod in Venedig, der nach einigen künstlerisch weniger ertragreichen Jahren Thomas Manns literarischen Ruhm befestigte. Der Erste Weltkrieg markierte das Ende des alten Europa, des bürgerlichen Zeitalters, in dem auch Zäsur durch den Thomas Mann kulturell tief verwurzelt war. Ersten Weltkrieg Heinrich Mann hatte sich gleich gegen den Krieg erklärt und auf die Seite des Pazifismus und der westlichen Zivilisation und Demokratie der Gegner Deutschlands geschlagen. Thomas Mann hingegen, der vom Kriegsdienst verschont blieb, führte einen jahrelangen ideologischen Abwehrkampf gegen diese übergeordneten Ideen des zukünftigen Europa und rechtfertigte Deutschlands Haltung im Kriege und seine besondere Rolle in der Welt. Resultat dieser großen Auseinandersetzung, die in wesentlichen Zügen auch eine persönliche Auseinandersetzung mit dem älteren Bruder ist, mit dem es zu einem erbitterten Zerwürfnis kam, ist der 600 Seiten starke Riesenessay der Betrachtungen eines Unpolitischen. Das Buch erschien 1918, als der Krieg verloren war und Thomas Mann sich im Schreiben bereits von vielen der dort zunächst vertretenen Positionen verabschiedet hatte. In den Nachkriegsjahren versöhnte sich Thomas Mann mit seinem Bruder, bekannte sich zur labilen Weimarer Demokratie und warnte früh auch öffentlich vor dem aufkommenden Nationalsozialismus, dessen hässlicher Charakter
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seine Wahlheimat München, das erste Sammelbecken der Bewegung, zu verändern begann. 1924 erschien Der Zauberberg, ein Roman von tausend Seiten, den Thomas Mann noch vor dem Der Zauberberg Weltkrieg begonnen und dann zugunsten der Betrachtungen zurückgestellt hatte. Geplant als Novelle, als komisches Nachspiel und Seitenstück zum Tod in Venedig, geht auch dieses Werk auf homoerotische Gefühlseindrücke aus der Jugendzeit zurück: Hans Castorp liebt Madame Chauchat, weil sie ihn an einen Mitschüler erinnert, der ihm seinerzeit auf dem Schulhof einen Bleistift geliehen hat. Eben diese Gefälligkeit scheint den Höhepunkt von Thomas Manns Schülerliebe zu Williram Timpe ausgemacht zu haben. Um den gleichen Gefallen bittet Hans Castorp Madame Chauchat an entscheidender Stelle im Roman. Dieser autobiografische Kern des großen Romans ist jedoch sorgfältig verhüllt. In erster Linie handelt es sich um ein Zeitgemälde der europäischen Gesellschaft am Ausgang der bürgerlichen Epoche. Entsprechend steht am Ende der Handlung der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Schauplatz des Romans ist ein Lungensanatorium im Schweizer Davos, das Thomas Mann während eines dreiwöchigen Aufenthaltes bei seiner Frau Katia, die sich in den Jahren vor dem Weltkrieg wiederholt mehrmonatigen Kuren unterziehen musste, selbst in Augenschein genommen hatte. Katia Manns Briefberichte lieferten darüber hinaus weiteres erzählerisches Material. In Davos erlebt Hans Castorp die sieben Märchenjahre seiner »Verzauberung« (On Myself, GW XIII, S. 157), eine dem tätigen Leben des Flachlands entrückte Zeit der umfassenden, zuweilen auch abseitigen, Bildung und Auseinandersetzung mit den großen
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Ideen der Zeit, die ihm durch zwei ganz unterschiedliche Mentoren, den Zivilisationsredner Settembrini und den kommunistischen Theologen Naphta, nahe gebracht werden. Aufgehoben wird der Einfluss der beiden Lehrer und Redner schließlich durch die unmittelbare Persönlichkeitswirkung einer dritten Gestalt: des Mynheer Peeperkorn, auch wenn dieser, der eine Karikatur Gerhart Hauptmanns ist, sich nur unzulänglich zu artikulieren weiß. 1925 erschien die Erzählung Unordnung und frühes Leid, ein kaum verhülltes Porträt der eigenen Familie und zugleich ein Zeitbild der Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg, der Lockerung der gesellschaftlichen Umgangsformen. Die 1929 veröffentlichte Novelle Mario und der Zauberer, die in stofflicher Hinsicht auf einen Ferienaufenthalt in Italien aus dem Jahr 1926 zurückgeht, erzählt gleichnishaft vom Aufkommen des italienischen Faschismus. Seit 1924 beschäftigte sich Thomas Mann mit dem Plan, die biblische Josephslegende nachzuJoseph und erzählen. In gewisser Hinsicht folgte er damit seine Brüder einer Anregung Goethes, der mehr und mehr zum persönlichen und künstlerischen Leitbild wurde. Dieser hatte in seiner Autobiografie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit über die alttestamentliche Geschichte geschrieben: »Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen« (vgl. On Myself, GW 13, S. 163). Das unternahm nun Thomas Mann in vier Romanen auf über 1800 Seiten. Er vertiefte sich in die frühe ägyptische Hochkultur und bereiste 1925 und 1930 die archäologischen Stätten Ägyptens. 1933 erschien der erste, die Vorgeschichte enthaltende Roman,
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Die Geschichten Jaakobs. 1934 folgte Der junge Joseph, 1936 Joseph in Ägypten. Der Abschluss der Tetralogie verzögerte sich, weil Thomas Mann einen Roman über Goethe einschaltete, an dem er zwischen Ende 1936 und Ende 1939 arbeitete. Lotte in Weimar erzählt die späte Wiederbegegnung Charlotte Kestners mit Goethe, der sich mehr als vierzig Jahre zuvor als Rechtspraktikant beim Reichskammergericht in Wetzlar in sie verliebt und sie durch seinen Roman Die Leiden des jungen Werther unsterblich gemacht hatte. Nun besucht sie, begleitet von einer skeptischen Tochter, den Geheimrat in Weimar. Dessen Persönlichkeit wird zunächst in den Berichten verschiedener Gesprächspartner Lottes aus Goethes nächster Umgebung mehrfach gespiegelt, bevor im siebenten Kapitel Goethe selbst mit einem ausgedehnten inneren Monolog in den Roman eintritt. Über dieses Kapitel schrieb Thomas Mann an Ferdinand Lion, dass er »die Intimität, um nicht zu sagen: die unio mystica« mit Goethe unbeschreiblich genieße (Brief vom 15. Dezember 1938). Zuletzt kommt es zu der Begegnung zwischen Lotte und Goethe, die zunächst offiziös und enttäuschend verläuft, jedoch noch ein persönlicheres Nachspiel unter vier Augen hat. Nach dem Goethe-Roman wurde der Joseph wieder aufgenommen und Anfang 1943 zum Abschluss gebracht (Joseph der Ernährer). Diese letztgenannten Werke entstanden bereits im Exil. Wenige Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler hatte Thomas Mann am 10. Februar 1933 in München einen Vortrag über Leiden und Größe Richard Wagners gehalten, den er in den darauf folgenden Tagen in Amsterdam, Brüssel und Paris wiederholte. Im sich anschließenden, aufgrund
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der beunruhigenden Entwicklungen in Deutschland verlängerten Urlaub in den Schweizer Bergen erreichte ihn die Nachricht vom Protest der Richard-Wagner-Stadt München gegen seinen den Komponisten angeblich verunglimpfenden Vortrag. Das Pamphlet war auch von zahlreichen Bekannten unterzeichnet. Das Haus der Familie Mann wurde durchsucht, die Vermögenswerte wurden beschlagnahmt. Zuletzt erging ein Schutzhaftbefehl. Thomas Mann protestierte in Briefen an den bayerischen Reichsstatthalter und später an den Reichsinnenminister. Gleichzeitig gelang es mithilfe seiner ebenfalls gefährdeten Kinder, wichtige Manuskripte, vor allem die Intimes verzeichnenden Tagebücher, ins Ausland zu retten. Später folgten Teile der Bibliothek und besonders geliebte Möbel. Vieles andere blieb unwiederbringlich verloren. Den ersten Im Exil Sommer des Exils verbrachte die Familie in der französischen Provence, wo sich auch andere aus Deutschland geflohene Schriftsteller, unter anderem Heinrich Mann, einfanden. Danach lebten die Manns bis 1938 in Küsnacht bei Zürich. Lange konnte sich Thomas Mann nicht entschließen, öffentlich und unmissverständlich den Bruch mit seinem Heimatland zu vollziehen. Eine große Rolle spielte dabei die Loyalität gegenüber seinem Verlag, S. Fischer, der unter schwierigen Bedingungen in Deutschland weiterzuexistieren versuchte, sowie die Sorge, den Kontakt zu seinem deutschsprachigen Publikum zu verlieren. Die beiden ältesten Kinder, Klaus und vor allem Erika, beide erbitterte Gegner der Nationalsozialisten und von diesen ebenso erbittert verfolgt, setzten dem Vater lange zu, bis er sich schließlich Anfang Februar 1936 öffentlich erklärte. Im Dezember desselben Jahres wurde er ausgebürgert, ohne da-
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durch staatenlos zu werden, weil ihm die Tschechoslowakei im Vormonat die Staatsbürgerschaft angeboten hatte. Im Herbst 1938 siedelte die Familie Mann in die USA über. Vorausgegangen waren vier AmerikaÜbersiedelung reisen, auf denen sich der Umzug vorbereiin die USA tete. Eine Verehrerin Thomas Manns, die deutschstämmige Frau des Eigentümers der Washington Post Agnes E. Meyer, kümmerte sich um die Einwanderungsdokumente und verschaffte Thomas Mann eine Stelle an der renommierten Princeton University südlich von New York. Zweieinhalb Jahre später, im Frühjahr 1941, zog die Familie von der Ostküste an die Westküste nach Pacific Palisades bei Los Angeles, wo sich zahlreiche exilierte europäische Künstler niedergelassen hatten. Thomas Mann wurde aufgrund seiner guten amerikanischen Kontakte (er war auch mit dem Präsidenten, Franklin D. Roosevelt, persönlich bekannt) zur wichtigsten Anlaufstelle der Emigranten. Er und seine Frau halfen vielen von ihnen, durch vermittelnde Korrespondenz, Unbedenklichkeitsbürgschaften und auch durch unmittelbare finanzielle Unterstützung. Daneben unterstützte Thomas Mann den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland und wandte sich unter anderem zwischen 1940 und 1945 in monatlichen Radioansprachen der BBC an die Deutschen (Deutsche Hörer!). Die drei ältesten Kinder, Erika, Klaus und Golo, waren mittlerweile als Presseberichterstatter Mitglieder der amerikanischen Armee. Im Juni 1944 wurden Thomas und Katia Mann amerikanische Staatsbürger. Thomas Mann war 69 Jahre alt. Von 1943 bis Anfang 1947 schrieb Thomas Doktor Faustus Mann an dem Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian
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Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Stärker angelehnt an das alte Faust-Volksbuch von 1587 als an Goethes Faust-Drama, schildert das Buch den Lebensweg eines Komponisten, der sich um der Kunst willen dem Teufel verschreibt und auf die Liebe verzichtet. Die Absonderung der Künstlerexistenz von der Sphäre des Allgemein-Menschlichen, die das Frühwerk thematisch beherrschte, ist hier wieder aufgenommen, wie auch viele autobiografische Erfahrungen der Münchner Jahre. Als ein »rücksichtsloses Geheimwerk« hat Thomas Mann den Roman charakterisiert. Er erschrecke zuweilen bei dem Gedanken, »daß es zum öffentlichen Gegenstand geworden« (Brief vom 1. April 1948 an Martin BeheimSchwarzbach). Und an Robert Heitz schrieb er, das Buch »resumiert mein Leben, resumiert die Epoche, die ich erlebte und ist das Persönlichste, was ich je gegeben, von einer fast wilden Direktheit« (Brief vom 18. März 1948). Der Roman ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Sonderweg der Deutschen in der Welt, den Thomas Mann während des Ersten Weltkriegs noch verteidigt hatte, den er aber letztlich in totalitäre Herrschaft, den Wahn vom Übermenschentum, in Krieg und Völkermord hatte münden sehen. Wie Kultur ins Unmenschliche umschlagen kann, zeigt auf bedenkliche, aber auch erschütternde Weise Leverkühns Musik, wohingegen der parallel geschilderte Rückfall des deutschen Volks in die Barbarei nur Abscheu erregt. Während der Arbeit an dem Roman ging der Weltkrieg zu Ende. 1946 musste sich Thomas Mann einer Lungenkrebsoperation unterziehen, die er jedoch gut überstand. Dass der Doktor Faustus sein »Bestes und Äußerstes« bleiben würde und alles noch Folgende »nur noch Nach-
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spiel und Zeitvertreib sein« könne, stand für Thomas Mann fest (Brief an Caroline Newton vom 13. Juni 1948). Von Juni bis Oktober 1948 schrieb er das kleine Buch Die Entstehung des Doktor Faustus, durch das noch einmal der besondere Stellenwert des Romans unterstrichen wurde. Der Werkbericht dient dem Zweck, das Verdienst des Sozial- und Musikwissenschaftlers Theodor W. Adorno zu würdigen, dem Thomas Mann entscheidende Anregungen für die musiktheoretischen Teile des Buches verdankte. Bereits Anfang 1948 hatte Thomas Mann die Arbeit an dem kürzeren Roman Der Erwählte aufgeDer Erwählte nommen, der eine mittelalterliche Legende in epischer Ausführlichkeit nacherzählt. Das in den Josephs-Romanen entwickelte erzählerische Verfahren, das Thomas Mann selbst auf die Begriffe »Mythos plus Psychologie« gebracht hat (in einem Brief an den Religionswissenschaftler und Mythenforscher Karl Kerényi vom 18. Februar 1941), ist hier neuerlich angewendet. Die thematische Verwandtschaft zum Doktor Faustus liegt in der Frage, ob auch (oder womöglich gerade) die alle Vorstellungskraft überschreitende Sünde der göttlichen Gnade teilhaftig werden kann. Im Doktor Faustus erscheint diese Überlegung als ebenso anmaßende wie verzweifelte Spekulation. Im Erwählten wird sie humoristisch bejaht. Der Roman wurde Ende 1950 fertig. In das Frühjahr desselben Jahres fällt der Tod des Bruders Heinrich, um den es zuletzt sehr still geworden war, in der Nachbarschaft in Los Angeles. Klaus Mann hatte sich im Jahr zuvor in Cannes das Leben genommen. In Amerika begann sich inzwischen der scharfe Antikommunismus der McCarthy-Ära durchzusetzen. Auch die Familie Mann blieb von Bespitzelungen durch das FBI und Anfeindungen
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nicht verschont. Das politische Klima wurde, insbesondere für die Exilanten, kälter. Thomas Mann dachte an Rückkehr nach Europa. Eine dauernde Rückkehr nach Deutschland schloss er aus. Die unmittelbaren Eindrücke aus dem mittlerweile geteilten Deutschland, die er auf einer Vortragsreise aus Anlass des Goethejahres 1949 gewann, bestärkten ihn in Rückkehr in diesem Entschluss. 1952 kehrten die Manns die Schweiz von einer weiteren Europareise nicht in die USA zurück und bezogen ein Haus in Erlenbach bei Zürich. Anfang 1954 erfolgte dann der letzte Umzug nach Kilchberg am Zürichsee. Zwischen Ende 1950 und Frühjahr 1954 vollendete Thomas Mann seinen letzten Roman, die vierzig Jahre liegen gebliebenen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Die späte Lebens- und Schaffenszeit ist geprägt von glanzvollen öffentlichen Ehrungen aus aller Welt und zugleich wiederkehrenden Phasen der Niedergeschlagenheit über das Nachlassen der produktiven Kräfte, das Fehlen eines großen, würdigen Stoffes. Das Ende kam überraschend. Kurz nach den Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag am 6. Juni 1955 setzte während eines Urlaubs in Holland ein ziehender Schmerz im linken Bein ein. Mit der Diagnose »Venenentzündung« blieb Thomas Mann im Krankenhaus. Nach erfolgreicher Behandlung der Thrombose erlitt Thomas Mann am 12. August einen schweren Kollaps. Er starb am gleichen Abend. Als Todesursache wurde ein Riss der unteren Bauchschlagader mit plötzlichem großen Blutverlust und Kreislaufkollaps festgestellt. Es war ein schmerzloser Tod. Auf dem Friedhof seines letzten Wohnorts, in Kilchberg, wurde Thomas Mann begraben.
8. Rezeption Schon die zeitgenössische Kritik erkannte die Bedeutung des Tod in Venedig. Rund vierzig Rezensionen hat die Forschung ermittelt. Nur eine Hand voll davon Zeitgenössische ist negativ. Wegweisend für die weitere DeuKritik tung des Werkes waren besonders die beiden Besprechungen des jungen Schriftstellers Bruno Frank – eben jenes »Unbärtigen«, der in der Novelle selbst, wenn auch nicht namentlich genannt, vorkommt (18) – und Josef Hofmillers (beide auszugsweise abgedruckt in: Bahr, Erläuterungen und Dokumente, S. 150–155). Auch die Germanistik hat sich des Textes bald angenommen. Schon in der Fünfzigerjahren gehörte eine ausführliche Interpretation des Tod in Venedig zum Standardrepertoire von Handbüchern und Aufsatzsammlungen zur Gattung der Novelle. Innerhalb der Thomas-MannForschung nimmt der Tod in Venedig, der oft als Thomas Manns dichtester und formal vollkommenster Text bezeichnet wird, eine herausgehobene Stellung ein. Zu nennen sind hier besonders die Bücher von Terence J. Reed (1983) und Rolf Günter Renner (1987), die sich ausschließlich mit dieser Novelle befassen. Auch in der Literatur hat die Novelle nachgewirkt. Wolfgang Koeppens (1906–96) Roman Der Tod in Rom (1954) nimmt in Titel und Schlusssatz eindeutig Bezug auf den Tod in Venedig. Max Frischs Produktive Rezeption (1911–91) Homo faber (1957), einer der erfolgreichsten deutschen Romane des 20. Jahrhunderts, weist sowohl in der Thematik wie in der Erzähltechnik – die verbotene Liebe eines älteren Mannes zu einem
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8. REZEPTION
jungen Menschen, hier zu der eigenen Tochter; die Verwendung griechischer Mythen als anspielungsreiche Subtexte der Erzählung; die Figur des Todesboten Professor O. – eine gewisse Verwandtschaft mit Thomas Manns Novelle auf. Der 1944 geborene Lyriker Jürgen Theobaldy hat in seinem Gedicht Die Erdbeeren in Venedig (1974), einer Hommage an den amerikanischen Autor William S. Burroughs, in satirischer Absicht Motive aus der Novelle verarbeitet. Der nordamerikanische Romanschriftsteller Philip Roth (Jahrgang 1933) erweist dem Tod in Venedig immer wieder seine Reverenz, vor allem in seinen im literaturwissenschaftlichen Milieu spielenden Romanen wie The Professor of Desire (1977) oder The Human Stain (2001). Louis Begley, ein weiterer 1933 (in Polen) geborener amerikanischer Romancier, erzählt in Mistler’s Exit (1998) die Geschichte eines todkranken New Yorkers, der nach Venedig reist und unter dem Eindruck der morbiden Schönheit der Stadt eine sexuelle Beziehung eingeht, in der er sich erstmals gehen lässt und doch keine Erfüllung findet. Dass dieser Roman mit dem Tod in Venedig verglichen worden ist, bezeugt, neben mancher Strukturverwandtschaft beider Texte, wie präsent Thomas Manns Novelle nach wie vor bei Kritikern und Lesern ist. Weltweit ist der Tod in Venedig wohl Thomas Manns bekanntestes Werk. Dazu beigetragen haDer Tod in ben auch Benjamin Brittens Oper Death in Venedig als Oper Venice (1973) und Luchino Viscontis Verfilund als Film mung der Novelle (1970), die viele Details des Textes sehr getreu umsetzt, die Handlung darüber hinaus aber um Motive aus Thomas Manns Spätwerk Doktor Faustus ergänzt.
9. Checkliste Zu Kapitel 1: Erstinformation zum Werk 1. Welche Elemente der Novelle gehen auf eigene Erlebnisse Thomas Manns zurück? Zu Kapitel 2: Inhalt 2. Wie erklärt Aschenbach sich seine plötzliche Reiselust? 3. Warum ist Aschenbachs »Ekel gegen den unanständigen Psychologismus der Zeit« und sein bewusster künstlerischer Weg hin zu »Würde« und »Einfachheit« fragwürdig? Welchen Einfluss hat diese geistige Haltung Aschenbachs auf seine spätere moralische Zerrüttung? 4. Fassen Sie die ersten Eindrücke zusammen, die Aschenbach von Tadzio hat. 5. Schildern Sie, auf welche Weise im vierten und fünften Kapitel gezeigt wird, dass Aschenbach sich mehr und mehr gehen lässt und seine moralische Integrität einbüßt. Zu Kapitel 3: Personen 6. Mit welchem Recht kann man davon sprechen, dass im Tod in Venedig im Grunde nur eine Figur vorkommt? 7. Ist die Entwicklung, die Aschenbach im Verlauf der Novelle nimmt, glaubwürdig? Wenn ja, warum? 8. Wie ist das amüsierte Lächeln zu bewerten, mit dem Aschenbach seine Anteilnahme an Tadzio anfangs zum Ausdruck bringt?
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9. CHECKLISTE
9. Inwiefern und mit welchen Mitteln betrügt sich Aschenbach über seine wahren Empfindungen für Tadzio? 10. Welche historischen Personen können in einzelnen Zügen als Vorbilder Aschenbachs gelten? 11. Welchen fatalen Einfluss hat Aschenbach auf Tadzio? 12. Welche Figuren der Novelle lassen sich aufgrund ihrer äußeren Merkmale überlieferten Todesvorstellungen zuordnen?
Zu Kapitel 4: Werkaufbau 13. In welcher Hinsicht unterscheidet sich das zweite Kapitel von den übrigen Kapiteln der Novelle? 14. Skizzieren Sie in einem Schaubild das wechselnde Erzähltempo der Novelle. 15. Zeigen Sie, inwiefern der Aufbau der Novelle dem Aufbau einer klassischen fünfaktigen Tragödie gleicht.
Zu Kapitel 6: Interpretation 16. Beschreiben Sie die Strukturverwandtschaft zwischen Wilhelm Jensens Gradiva-Novelle bzw. Sigmund Freuds psychoanalytischer Deutung der Novelle und Thomas Manns Tod in Venedig. 17. Welche Ziele verfolgte die literarische »Neuklassik«? 18. Skizzieren Sie Thomas Manns künstlerische Beziehung zur Neuklassik sowie seine Loslösung von deren Positionen. Wie schlägt sich diese Entwicklung im Tod in Venedig nieder? 19. Worin besteht, Thomas Mann zufolge, die Verwandtschaft zwischen Psychoanalyse und Mythologie?
9. CHECKLISTE
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20. Durch welche Haltung des Erzählers gegenüber der Hauptfigur seiner Erzählung entsteht die erzählerische Ironie im Tod in Venedig? 21. Was hat es mit der »Idee der Heimsuchung« auf sich, die Thomas Mann als das »Grund-Motiv« seines Schreibens bezeichnet hat? 22. Inwiefern half Nietzsches Modell des Apollinischen und des Dionysischen Thomas Mann, sein eigenes Gefühlsleben zu verstehen und zu gestalten? 23. Erläutern Sie den mythologischen Anspielungshorizont der Szene, in der Aschenbach seine Stirn an die Angel der Zimmertür Tadzios lehnt. 24. Was verraten die mythologischen Namen, die Aschenbach Tadzio gibt, über Aschenbachs Gefühle? 25. Inwiefern gelingt es dem mythologischen Erzählen, in der Schilderung eines individuellen Schicksals dennoch das Allgemeine der menschlichen Existenz zu gestalten?
Zu Kapitel 7: Autor und Zeit 26. Was wissen Sie über Thomas Manns Familie: seine Eltern, seine Geschwister, seine Frau und seine Kinder? 27. Charakterisieren Sie Thomas Manns Frühwerk. 28. Zeichnen Sie, in groben Umrissen, Thomas Manns politische Entwicklung zwischen dem Anfang des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach. 29. Charakterisieren Sie jeden der Romane Thomas Manns mit einem Satz.
10. Lektüretipps/Filmempfehlungen Textausgabe Thomas Mann: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 582002. – Die Zitate aus der Novelle (mit einfacher Nennung der Seite) beziehen sich auf diese Ausgabe.
Werkausgabe Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1960, 1974, 1990 (Taschenbuchausgabe). – Diese verbreitetste und bis heute vollständigste Werkausgabe wird als: GW [Band], [Seite] zitiert.
Zur Biografie Thomas Manns Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens. Zusammengest. von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. Frankfurt a. M. 1965, 1974 (Taschenbuchausgabe). Mendelssohn, Peter de: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1975, 1996. – Die erste große Biografie über Thomas Mann ist Fragment geblieben. Sie reicht bis ins Jahr 1933. Für ausdauernde Leser, die vor allem am Lebensmaterial, weniger an der Deutung interessiert sind, stellt sie nach wie vor eine ergiebige Lektüre dar.
10. LEKTÜRETIPPS / FILMEMPFEHLUNGEN
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Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biografie. München 1999. – Hermann Kurzkes Biografie ist weitaus die beste. Sie ist auch als Taschenbuch erhältlich.
Literatur zum Tod in Venedig Bahr, Ehrhard: Erläuterungen und Dokumente: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Stuttgart 1991. (Reclams UB. 8188.) Böschenstein, Bernhard: Der Tod in Venedig. In: Interpretationen: Thomas Mann: Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993. S. 89–120. Deuse, Werner: »Besonders ein antikisierendes Kapitel scheint mir gelungen«: Griechisches in Der Tod in Venedig. In: Gerhard Härle (Hrsg.): »Heimsuchung und süßes Gift«. Erotik und Poetik bei Thomas Mann. Frankfurt a. M. 1992. S. 63–86. Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum Tod in Venedig, zum Zauberberg und zur Joseph-Tetralogie. Bern/München 1972. S. 13–59 und 207–210. – Der Wahn und die Träume im Tod in Venedig. In: Psyche 44 (1990) Nr. 3. S. 240–268. Häfele, Josef / Hans Stammel: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt a. M. 1992. Karthaus, Ulrich: Literaturwissen für Schule und Studium: Thomas Mann. Stuttgart 1994. (Reclams UB. 15203.) Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 1990.
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10. LEKTÜRETIPPS / FILMEMPFEHLUNGEN
Moeller, Hans-Bernhard: Thomas Manns venezianische Götterkunde, Plastik und Zeitlosigkeit. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 40 (1966) S. 184–205. Reed, Terence J.: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Text, Materialien, Kommentar mit den bisher unveröffentlichten Arbeitsnotizen Thomas Manns. München 1983. Renner, Rolf Günter: Das Ich als ästhetische Konstruktion. Der Tod in Venedig und seine Beziehung zum Gesamtwerk Thomas Manns. Freiburg i. Br. 1987. Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann und die Neuklassik: Der Tod in Venedig und Samuel Lublinskis Literaturauffassung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973) S. 432– 454. – Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984. Sigmund Freuds psychoanalytische Deutung der GradivaNovelle: Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich [u. a.]. Bd. 10: Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt a. M. 1969. 2000. S. 9–85.
Filmempfehlung Luchino Visconti: Der Tod in Venedig (Italien 1971).