Kopf
oder
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Andere Erzählungen aus Tirol Herausgegeben und eingeleitet von Johann Holzner
Haymon-Verlag
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Kopf
oder
Adler
Andere Erzählungen aus Tirol Herausgegeben und eingeleitet von Johann Holzner
Haymon-Verlag
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kopf oder Adler: andere Erzählungen aus Tirol / hrsg. und eingel. von Johann Holzner. Innsbruck: Haymon, 1991 ISBN 3-85218-093-7 NE: Holzner, Johann (Hrsg.) © Haymon, Innsbruck 1991 Alle Rechte vorbehalten / Printed in Austria Satz: RSM Reutte Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg bei Wien
NHALT Einleitung 7 Helene Flöss Zwillinge 13 Armin Gatterer Räume. Bewegungen 41 Sabine Gruber Störung 63 Alois Hotschnig Der Fortgang der Handlung 71 Walter Klier Husar Runge 74
Anita Pichler Adieu Pierrot 100 Walter Schlorhaufer Deckname Gift 119 Raoul Schrott Stiltebraekh 141 Christoph Zanon Maischa und der Lehrer 159 Die Autorinnen und Autoren 186
Einleitung Scheherazade hat erzählt, um Zeit zu gewinnen. Reimmichl hat sich damit begnügt, seinen Leserinnen und Lesern die Zeit ein wenig zu vertreiben: mit Geschichten, die unter einem das Althergebrachte verteidigt und alles andere verteufelt haben. Alles andere: Denken, Empfinden, Träumen, frei von den gewohnten Schienen, das alles wird in den Reimmichl-Geschichten unterbunden. So treibt der Autor seine Leserinnen und Leser in die Arme der Wirklichkeit, so bekämpft er jede öffentliche und private Unruhe. so verankert er die allgemeine Stagnation.. Sein Heimatland hat ihm das nie vergessen. Nur einmal. Nur über sieben Jahre, im Tausendjährigen Reich, hat man es ihm auch in Tirol übelgenommen, daß er am liebsten die Zeit angehalten und alle Türen zur Außenwelt versperrt hätte. Nach dem Krieg aber steigt Reimmichl wie der Phönix und wie der Tiroler Adler aus der Asche, als hätte die Geschichte seine Geschichten rehabilitiert. Er ist immer noch der populärste, der erfolgreichste Erzähler in Tirol; und außerhalb der Grenzen dieses Landes ist immer noch die Auffassung zu hören, aus Tirol käme keine aufregende Literatur, höchstens Ungereimtes, nach dem Vorbild des Reimmichl. Eine verbreitete, gleichwohl falsche Auffassung, Lange genug zwar, das ist festzuhalten, haben Autorinnen und Autoren in Tirol, vor allem nach der Zerreißung
des Landes 1918/19, sich mit den jeweils Regierenden verbündet und die Säulen der Ruhe und Ordnung bedenkenlos mit Bildern ausgeschmückt. Indem sie sich zum »staatstragenden« Katholizismus und zum sogenannten Ständestaat bekannt haben und später zum Nationalsozialismus, haben sie sich vor den eigentlichen Aufgaben der Literatur davongestohlen und endlich selbst völlig isoliert: Joseph Georg Oberkofler und Josef Wenter, Karl Springenschmid, auch Gertrud Fussenegger und Franz Turnier, um nur die bekanntesten Namen hier zu nennen. Die meisten Bücher, die in dieser Zeit der Unterdrückung ohne weiteres eine Druckbewilligung erhalten haben, sind längst der Vergessenheit anheimgefallen. Auch in der Nachkriegszeit, schon die ReimmichlRenaissance verrät es, bewegt sich in der Tiroler Literaturlandschaft zunächst nicht viel. Zwei Jahrzehnte vergehen noch, ohne daß bemerkenswerte Neuerscheinungen, literarische Publikationen von überregionalem Rang zu registrieren wären. »Der Brenner« verschwindet endgültig von der Bildfläche und findet keinen Nachfolger. Das Konzept dieser Periode, eine bodenständige Kultur zu entwickeln, kopflos, in der Abgeschiedenheit, jede Berührung mit dem Fremden tunlichst zu vermeiden, führt konsequent zur Einschränkung des Horizonts und fördert alles andere als die Identität. Zuerst hat sich der Südtiroler Literaturbetrieb gewandelt, nämlich in den späten sechziger Jahren. Provoziert von den Institutionen der Macht, die, ebenso blind wie vehement, für die Uniformierung des
politischen Denkens und des kulturellen Lebens kämpfen, tritt eine neue Generation von Schriftstellern auf den Plan, mit dem Vorsatz, nur mehr dem eigenen Kopf zu folgen. Etlichen dieser Autoren, die in der von Gerhard Mumelter herausgegebenen Anthologie »Neue Literatur aus Südtirol« 1970 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden, gelingt es schließlich in den folgenden Jahren, allen Unkenrufen, namentlich im Land selbst, zum Trotz, im gesamten deutschsprachigen Raum, da und dort auch in Italien sich Lesergemeinden zu erobern: N. C. Kaser, Joseph Zoderer, Markus Vallazza, Luis Stefan Stecher, Kuno Seyr, Herbert Rosendorfer, Gerhard Kofler. Umgekehrt kommt Turnier, der Vater dieser Generation, in das Land seiner Geburt zurück, kaum mehr wiederzuerkennen, mit seinen Büchern »Aufschreibung aus Trient« und »Das Land Südtirol«. Die Nordtiroler Literatur hat sich später eingemischt. Der einzige Repräsentant der konkreten visuellen Poesie und damit der Avantgarde, Heinz Gappmayr, hat zwar internationale Anerkennung gefunden, als einer der wichtigsten österreichischen Vertreter der experimentellen modernen Dichtung, in Tirol aber haben seine »Zeichen«, die alles Dekorative verwerfen, verworfen haben, was jetzt gelegentlich schon wieder Furore macht, nur Insider beschäftigt. Auch der Osttiroler Gerold Foidl hat zeitlebens in seiner Heimat kaum Resonanz erfahren. Dann, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, stehen längere Zeit Hans Haid und Felix Mitterer allein auf weiter Flur, bis Norbert Gstrein seine ersten Arbeiten veröffentlicht und damit auch ein Erzähler blitzartig
in die erste Reihe der österreichischen Gegenwartsliteratur aufsteigt. Inzwischen ist das Spektrum der unkonventionellen Schreibweisen in Tirol breiter und bunter als je zuvor, was augenfällig sich in den Kulturzeitschriften des Landes widerspiegelt: »Arunda«, Distel«, »Sturzflüge«, »Fen ster«, »Gegenwart« und »Inn« (um wenigstens die wichtigsten anzuführen). Der Durst nach Zugehörigkeit, der früher Autorinnen und Autoren in Tirol veranlaßt hat, sich in den traditionellen Normengebäuden des Landes einzurichten, hat sich gleichzeitig verflüchtigt: Die Tiroler Literatur ist interessant geworden, weil sie Literatur ist, nicht weil sie aus einer exotischen Region kommt. Unsere Sammlung, die neue Erzählungen vorstellt, kann lediglich einen Querschnitt bieten: eine erste, vorläufige, unvollständige Bilanz. Eine Bilanz, das soll ausdrücklich betont werden, die den einzelnen Texten keine Rollen zuweisen und Fesseln anlegen, sondern einzig und allein fesselnde Texte präsentieren sollte. Texte, die in die verschiedensten Landschaften entführen: die Augen zu öffnen für das Fremde und zugleich für eine unverkürzte Selbstwahrnehmung; die Barrieren abzubauen, die den Blick auf die Geschichte und denkbare schönere Welten ganz verstellen; die Alltagsdeutungen anzuzeigen, die mit zerstörerischem Eifer jeden Gedankenstrom begradigen und jeden Wunschtraum als Gaukelwerk verwerfen. Texte, die außergewöhnliche Erfahrungen vermitteln, als wären sie die gängigsten, und gewöhnliche Erfahrungen, als wären sie nachgerade ausgefallen.
Texte also, die als Einladung an die Leserin/den Leser verstanden werden können, nicht nur die Zeit sich zu vertreiben, vielmehr die eigene Phantasie, einmal weniger als sonst gezügelt, mit ins Spiel zu bringen. Innsbruck, im August 1991 Johann Holzner
Helene Flöss
Zwillinge Wurde Frau Daporta auf ihre Zwillinge angesprochen, brachte sie es gern an, daß die beiden eigentlich nicht einmal wie Schwestern seien und ihnen die Ähnlichkeit von Zwillingen abgehe. Die Zeiten, in denen Paula ihren Finger in den Mund gesteckt hatte, sobald sie Petra daran lutschen sah, waren lange vorbei. Spätestens als die Zwillinge die Farben unterscheiden gelernt, hatte Frau Daporta es aufgegeben, sie gleich zu kleiden. Selbst bei den Schuhen wollte die eine ein braunes, die andere ein schwarzes Paar, Hauptsache, sie unterschieden sich in Aussehen und Aufmachung. Daß die Verbundenheit bei zweieiigen Zwillingen desselben Geschlechts am geringsten sei, hatte Frau Daporta in der Mütterberatungsstelle getröstet. Die gleiche Stimme hatten die Schwestern; das war aber auch das einzige. Davon sollte sogar Paulas Sohn sich später täuschen lassen, der Petra aus der Wiege ebenso zulächelte wie seiner Mutter, redete eine der beiden ihn an. Sonst glichen sie sich weder in Haar- noch Augenfarbe, Größe oder Figur, im Charakter zuletzt. Sobald jemand von der Zwillingschaft der Schwestern erfuhr, wurden sie jedesmal zur Besonderheit. Das Unübliche, das in der Betonung ihrer Verschiedenheit bestand, machte sie zum bestaunten Doppel. Obwohl die allgemein erwartete Gleichheit sich nicht einstellte, woll-
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ten einige Bekannte doch eine Ähnlichkeit finden, und die etwas spitze Freundin Frau Daportas sprach einmal von der schönen und der unschönen Ausgabe. Es war zu erwarten, daß die Schwestern sich auch getrennte Freunde suchen würden, und bald lief Petra auf dem Spielplatz zu den deutschen, Paula zu den italienischen Kindern. Die Großmutter, die selbst kein Italienisch verstand, noch unter den Habsburgern aufgewachsen war und sich an ein Südtirol unter Italien erst gewöhnen mußte, schüttelte den Kopf über die Zugewanderten, die nach dreißig Jahren noch kein Deutsch sprachen. Ihre Enkelin hielt sie immer wieder dazu an, die Italiener unter sich zu lassen und mit Petras Freunden zu spielen, aber Paula erklärte, die italienischen Kinder redeten schöner und künftig möchte sie lieber Paola gerufen werden anstatt Paula. Die Großmutter ließ sich nur schwer überzeugen, daß ein O anstelle eines U groß etwas ausmachen könnte. Zu aller äußeren Unähnlichkeit kam also, daß Frau Daporta eine deutsche und eine italienische Tochter geboren hatte. Später, als Studentin der Linguistik, sollte Paola eine etwas abstruse Theorie entwickeln und Unterschiede in Mentalität und Lebensart der Landsleute an der Sprache aufhängen und sie vom Klima ableiten und vice versa. Um offen und verschlossen ging es vor allem, und das bezog sich auf Münder und Haustüren, und die Italiener konnten beides weit aufmachen, während den Deutschen die Kälte die Lippen zusammenzog und sie alles zumachen ließ um sich herum. Rief Frau Daporta winters ihr »Tür zu«, war man meistens noch nicht ganz drinnen und noch nicht ganz
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draußen, aber der Kohleofen heizte eben nur einen Raum. Ihren süditalienischen Schwiegersohn sollte Frau Daporta einmal fragen, was er denn zuhause anstelle der Türen habe; auf italienisch hieß das nur mehr »chiudi!«, weil das Übersetzen zu lang und die Zurechtweisung zu schroff ausgefallen wäre. In Apulien wunderte sich Paola dann über die Vorhänge aus Bast oder Plastikstreifen, die die Räume ihrer Schwiegereltern nur beiläufig trennten. Aber Italiener hatten überhaupt weniger zu verbergen, redeten auch über alles, und es ging häufig darum, wie man sich fühlte und was man gegessen hatte, wie geschlafen und warum man müde war; die Familie war eine ganze Gesellschaft, wurde in alle Angelegenheiten einbezogen, das Beisammensein hatte etwas Naturhaftes, die Stühle stellte man vors Haus, und draußen spielte sich das Leben ab. Um den Ofen kauerte man sich nicht mit jedem. Den Schanigarten ließ Paola nicht gelten zum Ausgleich und die paar Wochen nicht reichen für eine Veränderung übers Jahr. Petra blieb aber dabei, daß ihrer Schwester Konstrukt ein lächerliches sei. Die Florentiner Gräfin sagte »Hacktung, Hacktung!«, als sie Petra die Hand hinstreckte, und es war etwas wie Genugtuung im Ton, daß sie dies noch erinnerte aus alten Zeiten. Petra wußte sich die Begrüßung nicht zu deuten, nur, daß es sie kränkte, vor den Enkeln der Dame als eine Achtung-Deutsche dazustehen. Die Kinder, die Petra einen Sommer lang betreute, wollten es sich beweisen lassen, daß Deutsch auch besser klingen konnte, und Petra zitierte Christian Morgenstern und ließ ihn mit: »Sie falten die kleinen Zehlein, die Rehlein …« aus-
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gehen und bemühte sich um den sanftesten Ton, aber die Gräfin war dadurch nicht zu bekehren und Reime waren überall Melodie. Petra wußte selbst nicht genau, wie ihr geschah. War sie bei ihrer Tante im Salzburgischen zu Besuch, bestand sie darauf, eine Italienerin zu sein, gehörte in Florenz aber zu den Deutschen; ins Zweifeln kam sie eigentlich nur zuhause. Uneingestanden beneidete sie Paola, die sich entschieden auf die italienische Seite geschlagen hatte. Paolas Mickymaushefte hießen von Anfang an Topolino; dabei half sie sich mit einem winzigen Langenscheidt, den sie im Kino nicht mehr brauchte, weil sie Biancaneve ebensogut verstand wie Schneewittchen, nicht nur der Bilder wegen. Wenig später gab Paola das Wörterbuch ganz auf und las die Sätze in der anderen Sprache so oft nach, bis sie deren Bedeutung spürte. Darauf bestand Paola, daß es nicht Fremdsprache heißen durfte, sondern die andere Sprache, und daß man deren Ausrücke nicht zu verstehen hatte, sondern zu spüren. Oft traf Petra ihre Schwester vor dem Spiegel an, wie sie italienische Wörter formte und klangvoll betonte und Hand- und Kopfbewegungen dazu machte. Es sah theatralisch aus. Petra verstand nicht, warum ihre Schwester plötzlich die gemeinsame Kindersprache als lächerlich abtat, ihr die Redensart verbot, die nur für sie beide gegolten hatte, und jedesmal absichtlich weghörte, rutschte Petra das Zwillings-Wir anstelle des Ich heraus. Paola erklärte Italienisch zu ihrer Sprache und schlug Petra vor, sich ebenfalls eine auszusuchen. Weil Paola aber von Anfang an das Reden übernommen hatte, sah Petra
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dazu keinen Anlaß. Mit ihrem Nachnamen fanden beide Schwestern ein Auskommen, weil Daporta für Paola ein italienischer, für Petra kein ungewöhnlicher Name war für eine Südtirolerin. Daß dieser ladinischer Herkunft war, konnte eigentlich beiden recht sein. Das stichelnde Hickhack der Eltern war Paola peinlich. Am liebsten überging sie Vaters Deutschtümelei und Mutters spitze Bemerkung, die Ladiner seien halbe Walsche, wenn sie Schwägerin und Schwiegermutter auf beide Wangen küssen mußte, was eindeutig italienischer Brauch sei. Mit den Ladinern hatte auch Petra sich nie richtig ausgekannt. Für Vaters Verwandtschaft war ihre Mutter eine Auswärtige, den Zwillingen zeigten sie keine Absicht, sich verständlich zu machen und redeten auf ladinisch drauflos, als wollten sie durch Draufgängertum beweisen, daß man mitzukommen hatte. Petra lernte bis zehn zählen und »bela möta« wiederholen, was man ihr so häufig und innig ins Gesicht sagte, bis sie wußte, es war etwas Liebevolles. Die Fahrt ins Gadertal war jedesmal eine Reise in die Fremde, die nur zwei Autobusstunden entfernt war, und Ladinisch etwas Geheimnisvolles, das nur in Bruchstücken durchkam. Was Vater gegen die Italiener in Südtirol hatte, blieb unklar. Petra tröstete sich damit, daß Vater im Gadertal so viel redseliger war als zuhause. Weil Paola in Ladinien nie mit dabei war, mutmaßte Petra darin einen versteckten Widerstand gegen Vater, der sich auch heftiger gegen seiner Tochter Hang zum Italienischen aussprach, während Mutter die Eigenheit gelassener nahm oder sich lieber erst gar nicht darauf einließ, daß sie einen mißglückten Italiener, der keiner sein wollte, geheiratet hatte.
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Petra war ein Vater- und Paola ein Mutterkind; deutlicher hätten auch hier die Vorlieben nicht auseinandergehen können. Petra erinnerte sich noch gut daran, ihren Vater, als es um Politisches ging, das erste und einzige Mal richtig laut reden gehört zu haben. Anlaß waren die Parlamentswahlen in den Sechzigerjahren gewesen, die den Südtirolern als brenzlige Zeit gegolten hatten. Warum Vater sich an diesem Schicksalstag derart verspätet hatte, wußte Petra nicht mehr, nur, daß Mutter immer wieder ans Fenster gelaufen war und »in einer Stunde ist es aus!« gesagt hatte. Daheim in der Stube hatte sich Vater dann ungewöhnlich heftig darüber geärgert, den Italienern eine Stimme nachgeworfen zu haben, weil es schon aus war, als er ins Wahllokal kam. Um Leben und Tod der deutschen Volksgruppe ging es schon lange nicht mehr, als Paola ihren Liebhaber zuhause einführen wollte, und doch berieten die Zwillinge lange die geeignete Strategie, mit der sie Herrn Daporta den Italiener beibringen könnten; was dann aber überflüssig wurde, weil der seinen Schwiegersohn nicht mehr erlebte. Die Eltern der Zwillinge riefen einmütig wie selten zu Paolas Zimmerseite hinüber, sie möge das Radio leiser stellen, wenn diese ihre italienischen Funkerzählungen hörte; Vater störte die Sprache, Mutter die Lautstärke. Auch Petra waren die Hörspiele irgendwie zu kräftig, die Drammi Radiofonici fast immer zu dramatisch, alles Tragische übermäßig tragisch, alles Heitere übermäßig heiter. Die Großmutter der Zwillinge drohte schon in Kinderzeiten häufig, sie würde Paola kein Hochzeitsgeschenk
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machen, sollte sie einen Italiener heiraten. Wie aber ließ sich Großmutters wiederholte Feststellung erklären, Südtiroler Mädchen wären mit keinem Hiesigen mehr zufrieden, hätten sie einmal einen Italiener gehabt? Wenn Großmutter erzählte, italienische Männer brächten Rosen heim, nachdem sie ihre Frau mit einer anderen betrogen hatten, zwinkerte sie vielsagend, als würde sie zumindest die Rosen gutheißen. Auch den italienischen Musikkapellen, die sommers ihre Gastkonzerte auf dem Ortsplatz abhielten, gestand sie eine angenehme Leichtfüßigkeit zu und tat die heimischen Marschierer als eher schwerfällig ab. Dafür waren die österreichischen Offiziere ganz anders schneidig und vor allem zakkig, das brächten die Italiener nie zusammen. Auf dem Spielplatz bedauerte sie, die Kochrezepte der Frauen nicht zu verstehen. Daß Italiener feiner essen würden, stellte sie nie in Frage, es genügte, in die Plastiktaschen zu schauen. In den heimischen Lebensmittelläden sah man damals nur italienische Männer, die ihre Frauen beim Einkaufen begleiteten. Sie trugen dann wohl die schweren Taschen nach Hause. Daß dies aus reiner Höflichkeit geschah, wollte Großmutter nur mit Einschränkungen gelten lassen. Italienische Männer waren für sie vor allem Feinschmecker und Hafelegucker und überhaupt viel anspruchsvoller. Sie finden sogar das Haar im Ei, nicht nur in der Suppe, stell dir das einmal vor, hieß es von Großmutter. Meist ging ihr Räsonnieren mit der unglücklichen Liebesgeschichte ihrer Schwester aus. Die hatte sich zuhause den italienischen Eisenbahnchef ausreden lassen, weil der sie aufgegessen hätte. Nicht aus Liebe, sondern aus Eßsucht. Den Neapolitaner hat-
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te es an eine Pustertaler Bahnstation verschlagen, und er hatte sich gefürchtet vor den Crucchi und mit der Pistole unter dem Kopfpolster geschlafen. Bevor er das Bahnwärterhäuschen bezog, wohnte er im einzigen Gasthof des Dorfes. Die Wirtsleute wußten nicht recht, was sie dem Fremden vorsetzen sollten und tischten ihm am ersten Abend Wienerschnitzel und Kartoffelsalat auf. Der Ciccio lehnte es ab und deutete auf die Muspfanne der Hausleute und ob er mithalten dürfe. Man schob die Rein in seine Richtung, und der Ciccio aß wie ein Knecht. Später sollte er gestehen, der Brei sei ihm fast nicht vom Gaumen gegangen, er habe sich aber nur aus der gemeinsamen Pfanne vor einer Vergiftung sicher gefühlt. Der Ciccio stieg bald wieder auf seine mediterrane Speisekarte um, sogut es die örtlichen Umstände erlaubten, und lud seine Teresa gern ins Bahnwärterhaus und bekochte sie üppig und lernte den Dialekt rasch und bestand darauf, nicht deutsch zu können, sondern pusterisch. Die Theres schob ihr Asthma als Ehehindernis vor, den Italiener hätte sie sich nicht verbieten lassen. Als die Zwillinge den Sommer über im Gasthof ihrer Großtante mithalfen, fand es Petra ungerecht, daß den deutschen Gästen die fetten Fleischstücke zugeschoben wurden und man die Italiener sogar wählen ließ zwischen Risotto und Pasta als Vorspeise. Der August gehörte den Südländern und war entsprechend laut und anstrengend. Am größten war das Durcheinander an den Ankunftstagen. Die Italiener erwarteten sich, daß man sie gebührend feierte, waren sie nach einem Jahr wieder da und dies bereits zum zehnten oder fünfzehnten Mal. Weil sie sich
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zur Familie der Gastwirte gehörig fühlten, gab es Küsse für Wirtin und Wirt, Geschwister und Schwäger, Kinder und alteingesessenes Personal. Paola lachte über ihren verlegenen Großonkel, der den Doppelküssen immer die falsche Wangenseite hinhielt und die Augen zukniff und nichteinmal den Mund spitzte. Petra stand ein bißchen erschreckt mitten in dem geräuschvollen Volk; die unerschöpflichen Sonderwünsche und Menuänderungen, das Wechseln von Käse zu Kuchen oder andersherum spürte sie abends in den Füßen. Petra lief den Ansprüchen nach, und Paola war beliebt, weil die sich mit den Gästen unterhielt, aber nicht viel mehr tat, als die Tische zu dekken, die der Italiener natürlich, und das mit Hingabe, was vollkommen überflüssig war, weil die Italiener sich nie anständig hinsetzten und das Gedeck schonten, sondern sich ersteinmal Platz schufen für die Ellbogen, Teller und Servietten in die Tischmitte schoben, im Warten auf den ersten Gang das Gebäck aufbrachen, das Weiche herauszupften und zu Kugeln kneteten. Paola verriet ihren Italienern auch jedesmal, wenn der Kuchen frisch war, und hätte keinem eine aufgetaute Mehlspeise zugemutet. Wie es den Schwammlsuchern gehe, erkundigte sich die Großmutter, die verächtlich davon sprach, daß die Italiener sich mit den getrockneten Pilzen, die sie zuhause teuer verkauften, die Sommerfrische bezahlten. Für die Großmutter waren die italienischen Urlauber ein minderes Volk. Sie waren die Eroberer geblieben, besser, diejenigen, die sich das Landl eingeheimst hatten. Die walschen Scherenschleifer und Pfannenflicker und Krämer früher waren eine Gattung für sich gewesen und eigentlich Nachbarn. Es gab auch vornehme Italiener, das wußte
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die Großmutter wohl, die waren aber nicht nach Südtirol gekommen damals, wie auch die besseren Südtiroler nicht ausgewandert waren. Es hätten sich jeweils nur die bewegt, die nichts zu verlieren hatten. Die unterstellte Armut der Italiener war ein seltsames Gemisch, das aus umherziehenden Trentinern, Zuwanderern und Gastarbeitern zusammengeworfen, ein ganzes Volk abgab. Ihrer Tochter riet die Großmutter, sie möge sich auf alle Fälle das Loch anschauen, aus dem der künftige Schwiegersohn herausgekrochen käme. Daß Paola keinen anderen als einen Italiener heiraten würde, schien von vornherein ausgemacht. Der Wirt, Großmutters Bruder, verstand kein Wort italienisch. Wollte ein italienischer Gast sich mit ihm unterhalten, kam ihm seine Schwerhörigkeit zugute. Er schüttelte den Kopf und wedelte mit der Hand vor seinem rechten Ohr, bemühte bei den Deutschen aber gern sein linkes und formte sogar die Hand hinter der Ohrmuschel zum Trichter. Der Wirt mochte die Italiener nicht, deshalb auch Paola nicht besonders. Die machte sich aber nichts draus. Die Wirtin hingegen war den Italienern seit jeher freund, hatte die Optanten zum Dableiben überredet und ihnen nach dem Regen mit der Traufe gedroht, dem Maresciallo die paar Brocken deutsch gelehrt, die er hören wollte, und die schwarzen Zeiten verwünscht, die ein Auskommen schwer aufkommen ließen. Frau Daporta erzählte ihren Töchtern, ihr sei der Mussolini eher lächerlich vorgekommen und nur der Hitler fürchterlich; vielleicht auch deshalb, weil sie ihn nicht richtig verstand, jedenfalls schien er ihr zu den ganz großen Häßlichkeiten nicht fähig. Verglich sie die »Giovinezza«
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mit »Deutschland über alles« oder die »Bell‘ Abessinia« mit »Heute gehört uns Deutschland«, waren die Lieder der Italiener komische Schwärmereien, aus den deutschen Märschen aber hörte man die Stiefel treten. Im Dorf war Frau Daporta das Gefühl nie ganz losgeworden, die Faschisten fürchteten sich heimlich ein bißchen in der fremden Umgebung. Die Maëstra hatte sogar ihren Eltern leid getan, weil die Signorina am ersten Schultag die Tafelkläßler fast nicht in die Klasse bringen konnte. Später, als nur mehr die Carabinieri übriggeblieben waren, bedauerte Frau Daporta die einsamen Männer, die sehnsüchtig auf den Juli warteten und auf die paar Urlauber, die ihre Sprache ohne Verschandelung redeten. »Unsere Italiener waren arme Teufel und richtig glücklich, gab man ihnen nur die Möglichkeit freundlich zu sein«, sagte die Großmutter von den Carabinieri, für die sie zwar ihr Quartier hatte räumen müssen, deren Verlegenheit sie aber genau erkannt haben wollte, mit der sie Eselsohren in das Kündigungsschreiben gebogen hatten. Das mit dem weichen Herzen der Italiener hatte man im Dorf bald heraus. Weinten die Bäuerinnen den Carabinieri ein bißchen vor und beklagten ihr Elend, hieß es oft »vedremo«, »wir werden sehen«, und meistens sahen sie dann auch irgendeinen Ausweg oder eine Lücke in den Vorschriften. Wenn man es geschickt angeht mit Nachgeben und Fordern, läßt sich von den Italienern alles erreichen, wußte die Großmutter. Frau Daporta wollte die Erfahrungen von damals aber nicht herunterspielen. Es war mühsam genug, erst mit den eigenen Töchtern deutsch lernen zu müssen, sich um das kurze und das lange I zu plagen, das doppelte
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und das scharfe S. Stellte Frau Daporta Rechnungen für ihre Kunden aus, hielt sie zuerst Petra den Zettel hin und ließ ihn auf mögliche Rechtschreibfehler überprüfen, die italienischen Bestellungen sah Paola durch, und Frau Daporta ärgerte sich darüber, daß sie unausgesprochen die jeweilige Neigung ihrer Töchter zu einer der beiden Sprachen unterstützte. Frau Daporta hatte den Mädchen oft erklärt, warum sie weder deutsch noch italienisch schreiben konnte; im Reden war sie in beiden Sprachen sicherer. Das sei ein angeborener weiblicher Vorteil, hatte ihr Mann dazu gemeint. Wie lange sie nach dem Kilosack gesucht hatte, den die Maëstra dauernd in die Klasse geworfen, bis endlich ein Chi-lo-sá – Wer weiß es – daraus geworden war, hatte als Antwort zu reichen auf Paolas Ansicht, der Unterschied zwischen italienischer und deutscher Schulsprache hätte so groß nicht sein können und beide seien eben fremd. Im Gasthof »Alpenrose« strengte Paola sich wenig an und blieb, auch was die Arbeitsamkeit betraf, eine Walsche. Die Gäste aber liebten ihre Paoletta, die italienische Volkslieder sang, wie eine der ihren, Briscola spielte und Tresette, die Namen der italienischen Fußballer kannte und abends die Tische für sie zusammenschob. Sie nannten Paola »Figliola«, »Töchterchen«, und sagten von Petra, sie sei schon im Namen deutsch. Für Petra war dies nicht ausgemacht. Daß sie später für ihren österreichischen Mann nur italienische Kosewörter fand, gehörte mit zur eigenartigen Zweiheit, die sie lebte. Sich der schwärmerischen Verteidigung des Italienertums ihrer Schwester anzuschließen, fühlte Petra sich nicht berechtigt. Dafür wußte sie zu gut, wie oft ihr
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nur das neidische Wünschen blieb, gelang ihr die Leichtigkeit nicht, mit der Italiener das Leben zu nehmen schienen; dagegen rechnete sie die Ernsthaftigkeit auf. Bewunderte sie die Großzügigkeit der Italiener im Umgang mit Mehrdeutigkeiten, dachte sie die Gleichgültigkeit dazu, die oft nahe dabei war. Die Florentiner Grafen hatten Paola gerade ihrer Unnachgiebigkeit wegen geschätzt, dafür, daß auch die Kinder wissen konnten, woran sie waren. Sollten die täglichen Übungen für Emilios schielendes Auge eine Stunde am Tag dauern, stückelte Petra die zehn Minuten, die er für sein Croissant zur Pause brauchte, am Ende an. Gerade zu Petra sollte sich Paolas Mann einmal beklagen, ihre Schwester nähme es zu ernst mit der Aufzucht der Kinder. Marino verstand nicht, was das für eine befremdliche Sorge war um die rechte Erziehung; er sei überhaupt nicht erzogen worden, er sei einfach aufgewachsen. Die Grafenkinder in Florenz hatten kein Verbot einfach hingenommen, sondern ihre Bitten ein paarmal hinund hergedreht und gewendet, bis die Bedingungen ganz andere geworden waren und das Nein aufgehoben. Die Großmutter der Zwillinge hatte sich manchmal gewundert, wie aus den verzärtelten Kindern der Italiener so liebe Menschen werden konnten, Petra war im Grunde fürs Verwöhnen und hatte die gleichaltrigen italienischen Schulkinder zuhause immer beneidet, denen die Schultaschen bis vor das Tor getragen wurden und die man mittags abholte, zumindest bis in die dritte Klasse. Von den früheren, italienischen Freunden hatte Paola venezianische und neapolitanische Kinderlieder gelernt;
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heimische hatte es noch keine gegeben. Ihrem Sohn sang sie lieber auf deutsch vor, und Marino fragte, ob sie glaube, Marco sei in der Muttersprache geboren. Die deutschen Bilderbücher rechtfertigte Paola mit der aufdringlichen Buntheit der italienischen Auswahl. Die Liste der italienischen Maler aber, die Marino dagegenhielt, war gleich lang wie die der deutschen und Paola kramte ihre alten Topolinohefte wieder heraus. »Du mußt schnell wachsen, dein Vater will mit dir reden!«, hatte Marino seinem Sohn in die Wiege gesagt, und Marco antwortete seiner Mutter bald »der Hahn« und seinem Vater »il gallo«, wenn sie auf die Spitze der Bremer Stadtmusikanten zeigten. Paola arbeitete in Urbino in einem Übersetzerbüro und bedauerte es, nur mit Wirtschaftsleuten zu tun zu haben. Obwohl sie eine kleine Übersetzerin war, konnte sie doch das Ungenügen nachempfinden, mit dem Ingeborg Bachmann nach einer Entsprechung gesucht haben muß für das Wort »Allegria« in Giuseppe Ungarettis Gedicht. Zwischen die Sachtexte aus dem Sprachinstitut schob Paola gern ein paar Seiten Lyrik, der Sprachmelodie wegen. Wörter wie »Tenerezza« kamen in ihrer Sparte nicht vor. Paola übertrug Weinkarten, Tourismusprospekte oder Werbeanzeigen für Schuhfirmen, aber sie suchte aus reiner Lust häufig nach Begriffen, die sie in der anderen Sprache ebenso treffend nicht finden konnte, und probierte angemessene Wörter durch, zur Übung oder zur Unterhaltung oder um immer wieder festzustellen, daß so manches nicht hinkam. Man mußte ein Wort eben spüren, und für »Tenerezza« Zärtlichkeit zu sagen, war nur die halbe Wahrheit. Ähnlich war es mit »Allegria«,
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irgendwo zwischen Fröhlichkeit und Heiterkeit angesiedelt. Paola wußte, wohin sie das Wort zu schieben hatte. Zu ihrem Südtiroler Dialekt hatte Marino bemerkt, er klinge wie ein dumpfes Geräusch. Das nahm Paola ihm nicht übel, war er doch zuhause aus der Unterhaltung mit den Ihren ausgeschlossen. Sie übersetzte zwar flüssig, aber wie gibt man Pointen wieder, Redewendungen und Wortspiele? In Urbino tat Marino nachsichtig und verstand Paolas Wunsch, sich die eigene Vergangenheit zu bewahren und der Verwandtschaft zu zeigen, daß eine Verbundenheit nicht abreißen mußte mit einem Ehemann fremder Sprache. Daß die Kinder ihre Großeltern verstehen sollten, mußte man einem Italiener nicht erst nahelegen. Marco aber hatte nicht nur zwei Großmütter, sondern zwei Welten in den beiden Frauen. Paola tat sich schwer mit der süditalienischen Schwiegermutter, die ihren Enkel dauernd füttern wollte und ihm ein Löffelchen für Papa und eines für Mamma einschöpfte und Paola zu einem zweiten Kind riet. »Fatti una femmina«, sagte sie, »mach dir eine Tochter!« Töchter blieben ihren Müttern irgendwie ewig, die Söhne aber gingen, endgültig, eben zu einer anderen Frau, meinte Marinos Mutter und hängte ein »Scusami!« an. War Paola einmal weniger gut gelaunt, fragte ihre Schwiegermutter, ob sie etwa nicht gegessen habe, als wäre das ganze Unglück dieser Welt ein kulinarisches. Die Frau hatte ihr Leben in der Küche zugebracht und nie etwas anderes getan, als dem Mann und den Söhnen die Essenswünsche erfüllt. Allesamt hatten sie es mit dem Magen, und die Gastritis schien eine italienische Volkskrankheit zu sein und überhaupt diese Wehleidigkeit! Paola erinnerte sich an die Frau
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»Chemale«, die sie so nannten, seit sie einmal vom Stöckel gekippt war und sich ein Steinchen in die Ferse getreten und ununterbrochen »che male, che male« gejammert hatte. Dazu bemerkte Marino, die Italiener dürften sich zumindest beklagen und ausweinen und müßten keinen Knoten in der Seele darüber bekommen. Paola dachte an die Beerdigungszeremonie von Marinos Onkel, einem alten, ledigen Mann, der an einem Schlaganfall gestorben war. Im Krankenhaus war er keine Stunde allein geblieben. Man brachte nicht nur das Essen ins Spital, sondern auch Teller und Besteck von zuhause und den gewohnten Kopfpolster. Zum Sterben holten ihn Marinos Eltern zu sich. Im Totenhaus wurde drei Tage lang der Herd nicht warmgemacht, man wusch sich auch nicht, obwohl es ein besonders heißer Juni war, die Männer ließen ihren Bart unrasiert, die Nachbarschaft setzte sich im Halbkreis um die Bahre, redete ein bißchen verhaltener als sonst, blieb eine Weile, legte Kaffeebohnen als Geschenk in die Küche und verabschiedete sich von der »Buonanima«, der guten Seele. Abwechselnd kamen Dorfbewohner mit dem Essen für die Angehörigen. Sie standen an die Küchenschränke gelehnt, neben den mitgebrachten Töpfen, und ermunterten die Trauernden immer wieder, doch zu essen und sie müßten jetzt essen und eßt doch! Als der Tote zum Begräbnis abgeholt wurde, begannen seine Schwestern, sich mit den Fäusten an den Kopf zu schlagen, die Haare zu raufen und laut zu klagen. Paola wurde es unheimlich. Italienische Friedhöfe waren viel trostloser als die heimischen; ohne Grabhügel erinnerten sie an steinerne Schachteln, in die waren Gruben geschlagen für Plastik-
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blumen und Kerzen. Nur die Trauerweiden und Zypressen waren schön. Das laute Weinen der Friedhofsbesucher und das Kußhandwerfen zum Foto auf der Grabplatte waren ungewohnt. Vor allem aber fand Paola italienische Tote viel endgültiger begraben in dem Mauerwerk. Daß sie sich so bald dafür würde entscheiden müssen, ihren Marino in Südtirol unter einem Erdhügel zu bestatten, konnte sie damals noch nicht wissen. Mit der Zeremonie in Friedhof und Kirche war eigentlich auch die Trauer vorüber. Den Besuchern, die nachher hereinschauten, wurde ausführlich Agonie und Sterben erzählt, das schöne Begräbnis erinnert, bei dem Toten geschworen und jedesmal, wenn der Onkel künftig ins Gespräch kam, ein Guteseele angehängt. Nicht nur in Apulien, auch in Urbino wurde Paola »La tedesca« genannt. Sie, die zuhause auf der Vorliebe für die italienischen Landsleute hatte bestehen müssen, verlor darüber manchmal das Gleichgewicht. Das, was man die Zugehörigkeit nannte, drückte sich scheinbar nicht nur in der Sprache aus. Marino sah es nüchtern und listete an Beispielen auf, was seine Frau zur Nicht-ganz-Italienerin machte. Da waren einmal die Essens- und Schlafenszeiten, wie mit der Uhr in der Hand, die Bestimmtheit der Gebote und Verbote, daß es immer ein Anliegen geben mußte, wenn Paola sich mit jemandem zusammensetzte, das ewige Fragen nach Sinn und Zweck, als sei leben nicht schon Sinn genug, auch die geordnete Gastlichkeit, die in geplanten Einladungen für Freunde und Spielgefährten bestand und kein Türaufmachen war, ganztags und für jeden. Paolas Trost blieb die Sprache, da fragte keiner, ob
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sie von anderswoher käme. Auf die Sprache war Verlaß, die war auch ihr Anliegen gewesen von Anfang an. Das feine Gespür für Empfindlichkeiten in Südtirol hatte es Marco bald gezeigt, daß bei der deutschen Großmutter das Italienische insgesamt nicht gut ankam. Als sich Marco während der Fußballweltmeisterschaft eine Trikolore nähen lassen wollte, weigerte sich die Oma, die drei Farbstreifen zum Wimpel zu machen, und ließ den ersten einfach weg. Von seiner Mutter wollte es Marco manchmal wissen, wie das sei mit deutsch und italienisch, und Paola antwortete, Marco und sie selbst seien nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch. Das gefiel Marco, doppelt war besser, capito?, und warum sollte es nicht gutgehen, daß man in Südtirol dazu schon »pronto« war, »magari!«. Während des Sprachunterrichts waren die Zwillinge in derselben Bank gesessen, weil die Maëstra ganz empört ausgerufen hatte, Zwillinge gehörten zusammen, und ganz einfach überhörte, daß sie es vorzogen, getrennt zu sitzen. Von der Italienischlehrerin ließ Paola sich alles gefallen und empfand sogar das »Gemellina« als Kosewort. Schon damals war Gemellina mit Zwillingchen einfach nicht zu übersetzen. Petra beneidete die Schwester um die Sprachkenntnisse und bewunderte das schöne R, das Paola so selbstverständlich rollte. Das hätte auch Petra zusammengebracht, aber es kostete sie Mühe, und sie fand es die Anstrengung nicht wert, weil so und so Paola in der Klasse vorlesen durfte. Paolas Liebesverhältnis zur italienischen Sprache und Lebensart hatte, wie alle Liebesverhältnisse, etwas Ausschließliches, und Paola tat vor den Mitschülern manchmal, als fiele ihr ein deut-
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scher Ausdruck gerade nicht ein und ob sie nicht auf italienisch …? Dabei war Paola ein unpolitischer Mensch und hielt sich im Lyzeum aus den Streitereien heraus, die es zwischen den Schülern gab; sogar mit der Tochter eines Südtiroler Attentäters, den sie ohne weiteres als Freiheitskämpfer betitelte, war das Auskommen nicht nur ein Vertragen. Paola schrieb für die tirolerische Magdalena italienische Aufsätze, verbesserte ihre Übersetzungen, half bei den Hausarbeiten, weil Magdalena sich schwertun wollte in der anderen Sprache. Die Maturareise nach Neapel setzte Paola mit einigen Gleichgesinnten gegen die starke Gegenpartei durch. Als man die Zwillingsschwester mit der Drohung, die Terroni da unten würden ihr die Zöpfe abschneiden, auf die AntiNeapelseite ziehen wollte, wußte Petra, zu wem sie zu halten hatte, und lachte über die besorgten Mitschüler, die auf Neapels Straßen nicht von ihrer Seite wichen. Von Urbino fuhr Paola gern nach Hause, auch wenn es nur für ein paar Nächte war. Sie ging die alten Straßen auf und ab und hatte ein Gefühl von Geborgenheit dabei. Andere hätten es Heimweh genannt, was Paola manchmal überkam. Vom Großvater der Zwillinge hatte man gesagt, es sei kein Frieden um den Veit, wenn er nicht täglich den Dorfkirchturm und die Alte sähe. Frau Daporta mochte es nicht besonders, daß Paola zuhause durch die Straßen spazierte wie eine Touristin; sie war an das Flanieren nicht gewöhnt und ging in der Stadt nur geschäftlich herum, nie zum Zeitvertreib. Das zählte sie zu den italienischen Sitten, dieses behäbige Aufund Abwandeln auf Straßen und Plätzen in der gewohnten Lärmigkeit, wo es über alles und nichts ging. Nur
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Südländern gelang dieses Drüberhinreden ohne Thema und Absicht, ihre Welt nahmen sie sich auf die Reise mit und fühlten sich überall bald heimisch, wie nach einem Wohnungswechsel, bei dem man mit den alten Möbeln umzieht. »Typisch!« sagte Frau Daporta, als Paola wie ihre neue Familie nur mehr an Festtagen zur Kirche ging, an Festtagen aber bestimmt, und es im übrigen nicht sonderlich genau nahm mit der Christenpflicht; aber Italiener nahmen überhaupt das ganze Leben irgendwie nicht genau. Das hatte auch Petra an ihren Florentiner Grafen erfahren, daß die Widersprüche der Welt ohne besondere Scheu unter einen Hut gebracht wurden. Der Graf hatte am Sonntagmorgen die Erstkommunion seiner Tochter als großes Fest gefeiert und am selben Tag bei der Volksabstimmung über das liberale italienische Abtreibungsgesetz das Si angekreuzt. In Urbino kam es Paola manchmal so vor, als hätten die Südtiroler Italiener das, was sie mit italienischer Wesensart gleichsetzte, unterwegs oder in der Zeit verloren. Lächelte Paola auch ein bißchen über die heimische Kultur, wenn sie sich in Trachtenumzügen und Altstadtfesten zeigte, waren die paar Singchöre und der Teatro-StabileAbleger der Italiener nichteinmal ein Gegenstück. Es gab wenig, worin sie sich fanden, und selbst der Sprache ging die Besonderheit ab, die ohne Dialekt blaß und geschleckt klang. Paola wäre schon deshalb nicht mehr nach Hause zurückgezogen, weil sie ihren Kindern die Verlorenheit ersparen wollte, die sie an den Südtirolitalienern zu verspüren meinte. Paola dachte noch ab und zu daran, wie sie sich einen italienischen Bauern gar nicht hatte
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vorstellen können, der noch heute zum Heimischwerden gehörte. Bräuche und Gewohnheiten waren nicht hier gewachsen, und erfinden konnte man sie nicht. Paola staunte über die Sicherheit, mit der ihre Mutter sich mit der Florentiner Gräfin am Telefon unterhielt. Dazu erklärte Frau Daporta stolz, die kurze Befangenheit habe sie sich damit ausgeredet, daß sie immerhin imstande sei, sich in der fremden Sprache auszudrücken, die Adelige aber nicht. Paola war es peinlich, bemerkte sie das Überlegenheitsgefühl vieler deutschsprachiger Südtiroler, die sich nicht nur höflich um die andere Sprache bemühten, sondern manchmal auch ein wenig herablassend dem unkundigen Italiener zu verstehen gaben, sie wollten ihn nicht in Verlegenheit bringen. Es war eine billige Entdeckung, daß Der-Sprache-mächtig-Sein die »Macht« im Wort trug. Die Zwillinge waren beide der Liebe nachgegangen und ihrem Anliegen, beide tauschten Wörter aus und ihre Neigung, Paola übersetzte in Urbino ins Deutsche, Petra verlieh in Wien italienische Bücher. »Es ist schon ein anderes Reden mit dem Wiener!«, sagte Frau Daporta, oder auch: »Gottseidank hat Vater seinen italienischen Schwiegersohn nicht mehr erlebt. Frauen tun sich da leichter.« Paola dachte sich dazu, daß Frauen eben selten Patrioten sein können und die Matrioten zum Glück noch nicht erfunden waren. Die aber hatte schon einmal einer ganz reizvoll vorgeschlagen, als Patrioten ohne Schlagbäume, Proporze und Domänen, für die nur das Miteinanderumgehen zählte. Sie wartete auf etwas Neues, auf das Gemischte, was nicht Durcheinander hieß, nur jeweils das Liebenswerte aus bei-
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den Welten verband. Wenn sie erfahren mußte, daß es schon schwer genug war, aus der unterschiedlichen Frauenwirklichkeit, die die Zwillinge mit ihren unterschiedlichen Männern lebten, ein Gutes zu machen, kam sie wieder ins Zweifeln. Das geschmeichelte Lächeln, mit dem sich ihre Schwester für Marinos Behauptung bedankte, er habe seine Paola schöner gemacht, wollte Petra nicht der Freundlichkeit zuschreiben. Der Mann hat Recht, war Marinos Spruch, und weil auf italienisch für Recht und Vernunft dasselbe Wort galt, lag auch die Vernunft auf der Seite des Mannes. »Fai un po‘ tu«, »sieh nur du zu!«, darauf wartete Marino; seine Mutter hatte es ein Leben lang zu Mann und Söhnen gesagt, und die war noch eine »padrona«, eine Hausherrin gewesen und hatte über ein eigenes Reich gewaltet. Für Petra war dies schon lange untergegangen, aber Marino schlug einen geschickten Bogen zur Mütterlichkeit, die sich ebenfalls in Betreuen und Versorgen und Bekochen ausdrückte, und brachte »la provvista«, die Vorratshaltung, in der frühere Frauen ihren Lebensauftrag gesehen hatten, in die Nähe einer umfassenden Providenz und beinahe gottähnlichen Vorsehung. Ein Muttersöhnchen nannte Petra ihren Schwager, was als »mammone« aber schon lieblicher klang. Die emanzipierte Frau des Nordens verzichtet auf ein Stück Weiblichkeit, wußte Marino. Petra schaute erst verstohlen zu ihrer Schwester, bevor sie sich über die Schlauheit ausließ, die sich Frauen hatten zulegen müssen, um in dieser Art von Weiblichkeit nicht unterzugehen.
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Paola hatte es bereits gut gelernt, ihren Marino herumzubekommen. Sie griff nie an, gab nie mit denselben Mitteln zurück, wußte um die Schwächen ihres Mannes aber Bescheid und spielte sie aus. Sie war eine erfinderische Frau geworden, die ihren Mann lieber einfädelte als herausforderte. Marino fiel auch jedesmal herein und mit ihm seine ganze Vernünftigkeit. Paola hatte als erste geheiratet. Solange Petra allein war, das hieß ohne Vater oder Bruder, hatte sich Marino, als einziger Mann in der Familie, als Beschützer aufgeführt. Den ließ sich Petra nicht gefallen, verabschiedete sich lachend vor dem Café und fand es überflüssig, den, der drinnen auf sie wartete, vom Mann ihrer Schwester begutachten zu lassen. In der Bahnhofshalle in Wien habe sie sich schon zweimal im Schalter geirrt und sich für die Rückfahrkarte vor dem Inlandsschild aufgestellt, erzählte Petra, und Marino schaute ungläubig. Der Wiener Taxifahrer wollte wohl nur wissen, ob sein Gast sich einen gesprächigen oder einen schweigsamen Chauffeur wünschte, als er fragte »Zug nach Hause?«. Petra sagte aus Rücksicht auf den Ausländer zuerst »Italien«, dann »Südtirol«. »Ich Kurde«, rief der Fahrer zurück und »dasselbe Problem, nicht wahr?« Petra verstand nicht gleich, worauf der Kurde hinauswollte. »Unterdrückung, fremde Herrschaft!« half der Mann nach. Petra stellte richtig, der Taxifahrer wechselte das Thema: »Sie haben einen Liebhaber in Wien?« Bis nach St. Pölten dachte Petra darüber nach, wo man ihr das ansehen konnte. In Wien vermißte Petra schon bald das Italienische und begann, ausschließlich italienische Literatur zu le-
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sen, nicht nur berufshalber, und freute sich, als es auch bei den Straßenverkäufern am Neuen Markt italienische Tageszeitungen gab, ging oft lange den italienischen Touristen nach oder stellte sich in eine Gruppe vor das Café Sacher. Nach der Sprache mußte sich Petra nicht erst richten, wollte sie Italiener ausfindig machen; sie erkannte sie sicher an Gangart und Gestik und spürte, wie ein Italiener sich im Tonfall bewegte. Nicht nur der Handzeichen wegen behauptete Petra, die Italiener reden mit dem Gefühl. Wurde sie um eine Auskunft gefragt, war sie jedesmal den Tag über glücklich, wenn sie ein bißchen erzählen durfte in der schönen Sprache. Immer wieder folgte den gewohnten Sätzen der Hochachtung, daß alles so sauber war und so gut funktionierte und so gepflegt aussah, das Bedauern über die Italiener, die zuhause alles verkommen ließen und zu wenig aus ihrem Land machten und überhaupt zu nachlässig seien und viel weniger bedacht und eben zu extrovertiert und zu laut. Es war seltsam, wie Petra zu allen Mängeln der Italiener immer das Gegenstück einfiel. Beinahe geriet sie in eine Art Verteidigung dieses Italienertums, das die eigenen Leute nicht als Vorzug ansehen durften. Wechselte sie mehr als zwei Sätze mit den Wienbesuchern, kam ihre Herkunft zur Sprache und dann seufzten die Italiener meist und redeten vom glücklichen Ausgleich zwischen deutschen und italienischen Eigenheiten, der in Südtirol möglich war. Nur einmal fragte einer, wie das denn sei »ne carne, ne pesce«, »weder Fisch noch Fleisch«, und Petra antwortete »Frittata«, was Omelett heißt. Ihrer Tochter brachte Petra Italienisch wie eine Fremdsprache bei, und
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Sandra war gelehrig und wollte Wörter übersetzt bekommen und wiederholte sie von sich aus, bis Petra nickte. Sobald sie der Tochter bestätigte, es klingt wie von Tante Paola, war Sandra zufrieden. Ob ihre Mutter manchmal auf italienisch träumte, wollte Sandra wissen und war enttäuscht, als sie verneinte. War Petra traurig oder allein, stülpte sie die Kopfhörer über die Ohren, und war es besonders schlimm, wählte sie Antonello Venditti und sein »Viva L‘Italia!«. Sie ließ die Musikkassette fast nie über die Lautsprecher laufen, als schämte sie sich der ungebührlichen Sehnsucht. Von Wien aus schickte sie Strohsterne und Holzengel nach Urbino, Sternspritzer und winzige Äpfel, weil Paola ihren Christbaum heimisch verzieren wollte. Marino fragte, ob das viele Rot und Weiß an Kerzen und Watte Absicht sei, aber Marco fand, der Baum sei doch grün, und es hatte alles seine Richtigkeit. Von »I Miei«, »den Seinen«, hatte Marino geredet, wenn er Eltern und Bruder meinte. Den Seinen entzog Paola nicht nur ihren toten Marino, den sie in Südtirol begraben wollte, sondern auch Marco, der anderswo großwerden würde. Marinos Familie gab den traurigen Anspruch auf Witwe und Kind bald auf und Paola Recht; die sollte sich von den Ihren trösten lassen. Marco war inzwischen schulpflichtig. Paola fand, wenn Marco jetzt nicht Deutsch könnte, wäre zu Marinos Tod ein zweites Unglück dazugekommen. Marco wurde lange nicht heimisch. Er sprach zwar deutsch, aber sein Deutsch wirkte fremd zur Redeweise der übrigen Kinder. Versuchte es Paola mit dem Buben im örtlichen Dialekt, verzog er das Gesicht; die Mundart war ihm zu häßlich,
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und er weigerte sich, das »Mogsch« und »Tuasch« nachzusagen. Auch die Gegend hatte Marco nur während der Ferienzeit schön gefunden, auf Dauer wollte er hier nicht bleiben. Wäre Marco nicht noch ein Kind gewesen oder nicht ihr Enkel, Frau Daporta hätte die Tatsache, daß einer Südtirol nicht als den schönsten Fleck dieser Welt ansah, als Aufsässigkeit abgetan. Paola hätte den Buben in die italienische Schule schikken können, wären deutsche Zeugnisse nicht gefragter und die Berufsaussichten der Italiener nicht geringer gewesen. Trotzdem war Paola nicht davon abzubringen, die deutsche Gründlichkeit könnte sich treffen mit dem unverläßlichen Einfallsreichtum der Italiener. Zählte sie sich die phantasievollen Maßnahmen auf, die vom Psychiatriegesetz über das Strafrecht zur Schulreform gingen und immer irgendwo vor oder während oder kurz nach deren Verwirklichung steckengeblieben waren, wünschte sie sich ihr Südtirol, das einen kreativen Einflüsterer im italienischen Staat hatte und es dann wahrwerden ließ, was anderswo zu oft an Wurstelei und Planlosigkeit scheiterte. In Urbino habe er mit italienischen Freunden und deutschen Urlauberkindern gleichgut gespielt, behauptete Marco; hier wolle man immer wissen, wohin er gehöre. »Bleib in der Mitte!«, riet Paola. Später würde Marco sagen: »Zwischen den Stühlen«. Noch hielt er sich bei der Frage auf, warum er ein Einheimischer sein müsse, um dazuzugehören, und ob es zweiheimisch nicht gäbe, warum er nicht zwei Namen habe von seinen zwei Eltern und den zwei Sprachen, und Paola sagte bitter, Südtirol habe ihre Hoffnung verpatzt, weil die Umstände ihren
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Sohn dazu zwängen, sich auf eine Seite zu schlagen. Paola verweigerte das Bekenntnis; nicht aus politischen Gründen; sie hätte sich nicht zu entscheiden gewußt. Die alte Unstimmigkeit war also geblieben oder wiedergekommen. Paola fand, Unstimmigkeit sei wohl etwas zu harmlos, so könne es nur Petra sehen, die sich in Wien heraushielt. Wie es denn nun wirklich gewesen sei von der Entscheidung zur Paola mit O bis zur Rückkehr mit Marco, wollte Petra endlich erfahren, aber Paola wußte nicht mehr, als daß sie zuhause eine Italienerin hatte sein wollen und eben anders, in Urbino draufkommen mußte, daß ihr das Deutsch fehlte, und ihr die leidige Paarschaft ewig wie ein Buckel angewachsen bleiben würde. Paola spielte abends gern mit den Zahlen auf dem Steuerviereck ihres Fernsehers und sah sich hinter- und untereinander durch österreichische, deutsche, italienische und heimische Nachrichtensendungen durch und fand, daß es gut war, eine Auswahl zu haben. Die Großmutter fiel ihr ein, die die italienische Nationalhymne abgewartet hatte, bevor sie zu Bett ging, und zumindest bei der Musik nicht nach der Herkunft gefragt hatte. Großmutter war schon eine seltsame Mischung aus Vorurteil und Toleranz. Während der ladinischen Nachrichten ließ Paola das Radio weiterlaufen und genoß es, wenn sie Neuheiten mitbekam. Zu ihrem ladinischen Onkel hatte sie vor langer Zeit gesagt, seine Sprache führe nicht weit, und Mutter damit zitiert. Ihn habe sie bis nach Rom gebracht, hatte der Ministerialbeamte ein bißchen verschnupft korrigiert. Als der örtliche Kulturverein einen ladinischen Sprachkurs anbot, lernte Paola
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Ladinisch. Plötzlich war ihr die eigene Herkunft wichtig geworden. Sie begann sich mit ladinischem Brauchtum zu beschäftigen, mit Sagen und Legenden, und erzählte sie Marco noch schnell, bevor er ihnen entwuchs. Später übersetzte sie ab und zu die wöchentliche Seite für den ladinischen Leser im Tagblatt der Südtiroler. Einmal kam das Wort »Sessellift« im Text vor; das gab es im Ladinischen nicht, aber ein Philologe hatte es zusammengestückelt aus Sitz und Hintern und Luft, und es füllte fast eine halbe Zeile. Für Paola war dies nur mehr lustig.
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Armin Gatterer
Räume, Bewegungen Landschaftserzählung
Angekommen, nach der Fahrt von der Fährstelle durch die Insel herauf, an der äußersten Kante der Steilküste. Der angekündigte Blick: gegen Norden, ohne sichtbares Ende, eine geschlossene Wolkendecke, unter der, wenn der Wind den Schall senkrecht heraufweht, die Brandung anschlägt. Anfangszustand, hier am geografischen Ende, Nebel über den Wassern. Die Köche des Restaurants steigen auf das Dach des Restaurants, um die Mitternachtssonne zu fotografieren, ein ausnehmend schöner und milder Tag. Östlich schiebt sich ein zweiter Felskeil vor, aus dem Nebel entstehend, Trennung von Wasser und Land, mit einer tiefen Einkerbung, die das Plateau unterbricht. Jenseits der Einkerbung die Fratze eines riesigen weiblichen Totenschädels, im Profil, liegend, mit dem Mund, dessen Winkel weit ausgewaschen, nach oben. Die Vorstellung: an der Spitze des Plateaus zu stehen, Europa im Rücken, selbstvergessen und Gleichmut im Herzen, sich in die Tiefe stürzen zu lassen, hart aufprallend auf der Kehle, welche den Kopf mit dem Rumpf, dem Plateau, verbindet, und dann bewußtlos am Hals der Frau entlang abwärts zu gleiten. Welche Beweggründe gibt es, eine Reise zu wiederholen. Landschaften, ohne bedeutsame Abweichungen
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von der Route, neuerlich zu befahren, wie zwei Jahre vorher. Skandinavien 1990. Und welche Motive, schreibend oder die Dias wieder und wieder vorführend, sogar die Wiederholung zu erneuern. Die schnellen Auskünfte auf Fragen der Bekannten besagen, selbst wenn sie das Wesentliche summarisch enthalten, nicht viel: die Fjorde, die Seen, die Schären, die Tundra und Licht. Es werde Licht, und es ward Licht, und es blieb. Nichtunterbrochene Helligkeit. Die Nacht, keine Nacht, am Nordkap. Die Wellenbewegung einer gelbroten Sonne, die, sich in den Wellen des Nebels spiegelnd, allmählich wieder in den nächsten Tag hinaufsteigt. Die Mitternacht in Hamerfest, auf dem Hügelrücken im Süden über der Stadt sitzend, eine Rockgruppe im Hafen darunter, Tanzende auf dem Kai, die hart und frenetisch die midnight hour feiert, ein Boot, das sich aufs Meer hinausbewegt, Fischgräten in die ockergoldene Oberfläche der Bucht zeichnend. Und mitten im Kreisrund, das die Bucht vor Hamerfest für das Auge bildet, der große Felsklumpen, noch von der ersten Reise in Erinnerung, ein nackter, abgerundeter Steinkoloß, vom Eis abgeschliffen: ein Erdbatzen, dem Demiurgen aus der Hand gefallen und ins Meer getropft. Eine milde Tagnacht, kein Anfang und kein Ende, die Schöpfung erst bevorstehend. Primordiale Landschaft, im Vergleich zu den Gegenden im Süden des Kontinents, wie Gärten diese, üppig bewachsen und bevölkert, kleinteilig und zierlich. Ein Beweggrund also: Einfachheit, Reduzierung auf die Grundelemente, Wasser, Erde und Licht, Alleinsein. Der Blick vom Nordkapfelsen aufs Nordmeer, vom Hügel auf die Bucht von Hamerfest, nicht unähnlich jener auf das
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Sanddünenmeer gegen den Sonnenaufgang in der marokkanischen Wüste. Licht, Formen, ohne Zusätze. Die Helligkeit, unaufhörlich oder gerade anbrechend, die Wellenbewegungen des Wassers, des Sandes, des Nebels über dem Meer, der Sonne, Mitternacht das Wellental. Materie, ungeformt, vor dem Annehmen von Gestalt. Stoff verfestigt sich. Der senkrechte Nordkapfelsen. Oder die immer neuen Schären, die, von der Last der Eiszeit befreit, aus der Wasseroberfläche tauchen und die Fähre, Strecke Stockholm–Helsinki, zu mühsamen Manövern zwingen. Land wird, Erde. Und später: dasselbe Motiv in Finnland, nicht vermeßbares Land, jährlich zunehmend, die ständig wechselnden Uferlinien, die nicht vermeßbare Oberfläche des Inarisees, das Entstehen und Verschwinden von Inseln. Schöpfungstage. Der Beweggrund: das Wechseln von Wasser und Land in Skandinavien, das Durchspielen, bewußtlos, aller erdenkbaren Variationen. Der Schärengürtel vor Stockholm, und als Umkehrung der Elemente die finnische Seenplatte; die Tausenden von Inseln auf dem Inarisee, die kleinen Seen auf den Lofoten; die Halbinsel, die weit ins Meer hinausreicht, der Fjord, der tief ins Landinnere eindringt; der Sund, an dem sich die Festlandseiten fast berühren und den Malstroms beschleunigen. Wasser und Land, die ineinandergreifen wie Finger, oder sich, Elemente im Schöpfungsvorgang, entflechten und eigenständig werden. Und ebenso die Entflechtung von Tag und Nacht, je weiter man nach Norden vordringt, bis die Dunkelheit endgültig zurückbleibt oder, im Winter, endgültig die Helligkeit. Bereits nördlich von Kuopio, nach einem ver-
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regneten Tag und dann, unter aufreißendem Himmel, einem unerwarteten Rundblick vom Fernsehturm auf eine hundertfarbige Seenlandschaft, wurde es zum ersten Mal überhaupt nicht mehr dunkel. Von da ab sich wiederholend: das Fahren bis in den späten Abend hinein, das lange Sitzenbleiben im Freien, die Spaziergänge, um die Mitternächte, die Tagwechsel, die nicht merkbaren, zu genießen, nördlich von Kuopio auf einem Waldweg, westlich von Kuusamo auf einer Furt zwischen zwei Seen, in Vuotso wieder an einem Seeufer, in Tanabru über dem breit aus dem Gebirge herauskommenden Tanafluß, Grenze zwischen Finnland und Norwegen, auf dem Fischerboote sich abwärts treiben ließen und dann, mit stotternden Motoren in einer sonst lautlosen Nacht, stromaufwärts tuckerten, um dann sich wieder treiben zu lassen und wieder hinaufzufahren. Dasselbe Tuckern, sich wiederholend, sich im Einschlafen überlagernd, wie am Nachmittag zuvor, von der Fahrt mit dem Ausflugsboot auf dem Inarisee, hinaus zu dem Felsen, der den Lappen als Opferinsel gedient hatte, schon von weitem steil aus dem Horizont aufsteigend, und zur benachbarten Begräbnisinsel, verfallende Kreuze darauf. Charon, der Fährmann. Um die Toten vor den Bären in Sicherheit zu bringen, hatten die Lappen ihre Toten auf der Insel begraben, oder hatten, eine weiter zurückreichende Überlieferung, die während des Winters am Ufer versammelten Leichname, sobald der See auffror, hinausgefahren und im Wasser versenkt. Die Legende: wie die Seelen aus dem See, etymologische Nähe, emporsteigen, Seelensäulen zwischen Grund und Gewölbe. Und die Opfersäule daneben: die Insel, höher emporragend
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als alle anderen ringsumher, und steiler, mit dem besten Überblick, sich für den heiligen Ritus geradezu anbietend, als gäbe es dafür keinen anderen Platz, als sei er a priori dazu bestimmt. Das Auszeichnen, Markierung, von Orten. Ein Beweggrund, die Absicht beim Betrachten: wie Landschaften Räume ausbilden und Punkte in ihm bezeichnen, durch ihre Gestalt. Die Spitze einer Erhebung, einen Bergkamm, einen Paß, eine Meerenge, eine Flußmündung, eine Bucht, die Spitze einer Halbinsel. Orte und Beziehungen dazwischen, die der Landschaft eingeschrieben sind, die eingeschriebenen Vektoren, die wir nachzeichnen, indem wir Orte bewohnen und Wege aussuchen von Ort zu Ort: Voraussetzungen, die Landschaft als Matrix. Nesseby, an der Barentssee, Richtung Vardö. Schon aus mehreren Kilometern Entfernung, an der Fjordküste entlang, sichtbar: weit draußen, ins Meer hineinragend, am Ende einer schmalen Landzunge die Silhouette der Kirche. Wenn man näher kommt, zeichnet sich daneben ein zweites Dreieck ab, der Form nach der Kirche gleichempfunden und fast ebenso hoch wie diese: ein Gerüst, im Hochsommer bereits wieder leer, zum Trocknen des Stockfischs. Beide, die beiden Dreiecke ein Fotomotiv, draußen auf dem sich verbreiternden Ende der Halbinsel, von der Straße weit abseits, abseits vom Dorf. Jedoch die Kategorien erweisen sich als irrig, die Erklärungen des Mädchens, das auf die paar vorüberkommenden Touristen wartet und sich überfallartig aufdrängt, in fließendem Englisch, verändern den Blick: nicht an einer Peripherie, sondern genau im Zentrum liegt die Kirche, der Fjord als Lebensraum und Kosmos.
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Mitten im Fjord, wohin die Fischer in ihren Booten kommen, von den Dörfern, ein Strahlenkranz, ringsumher an den Küsten. Von der Decke der Kirche hängt das Modell eines Fischkutters, als Votivgabe dargeboten oder auch nur Dekoration, wie später wiederholt beobachtet, in Svolvaer auf den Lofoten oder, eine Hansekogge dort, in der Marienkirche von Bergen. Dann, auf der Rückfahrt, vom Dorf zurückblickend, das Bild: ein Arm, der in den Fjord hinausgreift, die Kirche auf dem Handteller. Geste der Darbietung. Bewohnen: Sicheinfügen in eine vorgegebene Matrix, Besetzen von sich eignenden Orten. Stadtorte: am Zusammenfluß von Tälern, Rovaniemi; in einer Bucht, Oslo, am Ende des Fjords, oder die Lofotendörfer, Nusfjord, Haennigsvaer; auf sieben Hügeln; auf einem Bergkamm, mittelitalienische Kleinstädte; an Wegkreuzungen; auf einer Insel, Tromsö, wie ein Schiff, das langgestreckt im Fjord liegt; undsofort. Oder das Hervorbringen von besonderen Orten, Landschaft imitierend: der Baum, der Zentrum bildet, Bewegungen auf sich zu zieht, die Irminsäule, oder die Kastanie im Hof des großelterlichen Gehöfts, ringsherum Wohnhaus, Schweinestall, Kegelbahn und Gemüsegarten, die mit ihrem Gezweig den ganzen Hof überdachte, im Herbst ihn ganz mit abfallenden Blättern und Igeln bedeckte; der Hain, als heiliger Raum; die Baumreihe, welche die Grenze zwischen zwei Äckern markiert; die Allee, die auf einen Eingang zufuhrt; die Bäume, mediterranes Motiv, die wie ein Kranz einen Park mit einer Villa umschließen. Abschirmen, Grenzebilden, Markieren, Raumsteigerung als Beweggründe.
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Die markierten Punkte, in der Landschaft, und die Bewegungen dazwischen. Die Orte und ihre Beziehungen. Wasser und Land: das Ungewisse und der Fels, dritter Schöpfungstag. Voraussetzungen. Voraussetzungen des Erzählens. Petrus, der Fischer auf dem Boot, und der Fels, auf dir werde ich meine Kirche, und der Niederschlag in den Redensarten: wie ein Fels in der Brandung, hart wie Stein, Granit und der Schlag ins Wasser, im Wind treibend das Schiff, schaukelnd auf den Wellen, die Odyssee, der Nachen Charons, das Narrenschiff und das Heilsschiff (die allegorische Darstellung im Kloster der Barfüßigen in Madrid) undsofort. Janusköpfiger, paradoxer Petrus. Der Glaube und die Heimatlosigkeit. Das Leitmotiv, in Skandinavien: die Fähren, die übersetzen, über einen Fjord, zu einer Insel, und wieder Land gewinnen. Die nächtliche Überfahrt nach Helsinki, und dort dann, der nachhaltigste, unerwartetste Eindruck, die Felsenkirche: ein runder Raum, von einer flachen, außen kaum wahrnehmbaren Kuppel überdacht, hineingebaut, ausgehoben, in den Felsen, der Stein ringsum naturbelassen, mit schmalen Wasserfilmen, die über die Steinflächen rinnen. Petrus, du bist der Fels, auf dir werde ich. Das Motiv variiert: die Fischer von Nesseby, die Lappen auf der Opferinsel im Inarisee, Trondenes auf den Vesteralen, nördlichste Steinkirche des Mittelalters, unmittelbar an der Küste gelegen, Anlegestelle, davor das offene Meer. Markierter Platz und der Raum, der sich, davon ausgehend, öffnet. Die Überfahrt über den Arm des Sognetfjordes hinüber nach Urnes, die Stabkirche dort, an der Landspitze, von landwärts besehen ihrerseits wie auf einem Schiffsbug. Zum ersten Mal für mich
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nachvollziehbar, zweite Stabkirche auf der Reise, von jener zufälligen Perspektive und jener Assoziation mit einem Bug ausgelöst: die Verwandtschaft der Konstruktion von Stabkirchen mit jener von Schiffen, der Schiffsmast hinüberverwandelt in den tragenden Baum, die sich zum Bug verjüngenden Absiden. Petrisches Paradox: das Schiff, der Felsen. Fahren, und sich beheimaten, Unterwegssein und Stand gewinnen, Fundament. Das Schiff, auf Land gestellt wie die Oseberg im Wikingermuseum auf Bygdoy, die Gustav Vasa in Stockholm, die Fram oder die Kontiki ebenfalls in Oslo, die Schiffssetzungen in Gotland. Die Wikingerkönigin, begraben mitsamt ihrem Schiff, reich ausgestattet mit Speisen, Kleidern und Waffen für die lange Reise, versenkt in Erde. Ähnliches Motiv, in Gotland: die Anordnung von Hinkelsteinen so, daß sie die Umrisse eines Schiffsrumpfes nachzeichnen, bis zu sechzig Meter lang, die Toten versammelt auf ein Boot, für die kollektive Fahrt. Verwandlung von Dingen, Fahrzeugen, und von Orten. Die Gustav Vasa und die Fram, in den Hallen, die über ihnen errichtet worden sind zu musealem Zweck, selbst die Oseberg, seit Archäologen ihre sakrale Fahrt unterbrochen und sie ebenfalls im Museum wieder aufgebaut haben, erzählen, zukunftlos, ihre eigene Biographie. Die Gustav Vasa: größtes Schiff der Schweden im Dreißigjährigen Krieg, reich ausgestattet, der Hinterspiegel am Heck üppig verziert, nach dem Auslaufen im Jahre 1628, noch im Hafen von Stockholm, nach 1300 Metern gesunken. Die Fram: Nansens Studien in der kanadischen Nordwestpassage; seine Drift mit dem Eis, nachdem er sich davon hatte einschließen lassen, von Ostsibirien westwärts bis Franz-Josephs-Land, drei Jahre
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lang, um eines Beweises willen, die endlosen Polarnächte, der Skorbut der Matrosen, Nansens Fußmarsch über das Eis; Amundsens Fahrt damit in die Antarktis, um, gegen Scott, den Südpol zu erreichen. Biographien, auf den Punkt gebracht, die Schiffe: Erzählungen. Geschichten von Entdeckungen, Sehnsüchten und Leiden, Träume, Scheitern. Fahrzeuge: Orte werdend, Schauplätze, in denen man sich einrichtet. Die Fähre von Stockholm nach Helsinki, und die Schären, die vorbeiziehen, während der Beobachter sich eingerichtet hat auf dem obersten Deck, Schären in allen erdenkbaren Formen und Größen, bewohnte und unbewohnte, ein Feuer brannte in einer Lichtung, von einem Bootssteg wurde gewunken, in Holzveranden zu Abend gegessen. Die Schären verengten die Fahrrinne, zwangen die Fähre zu scharfen »Wendungen, ein natürlicher Hafen öffnete sich, durch weite Becken fuhr das Schiff, das Land wurde spärlicher, waagrecht einfallende Sonne auf den letzten Hütten, westwärts eine glimmende Wasserfläche mit dunklen Flecken darin, ostwärts ein heilweißes Licht über der dunklen Oberfläche, die Segelboote dunkle Dreiecke oder leuchtende weiße Fahnen, je nach Himmelsrichtung, die Inseln, oft nur mehr Felskuppen, vereinzelten, bis das offene Meer sich ankündigte: Landschaftserzählung. Wir richteten uns ein auf dem kleinen Boot von Oleg, im Hafen von Runde, der Vogelinsel vor Alesund, nicht wissend, ob wir zur Umrundung der Insel aufbrechen konnten, derart stürmte es. Oleg erzählte, wußte die Namen aller Vögel, die die Insel bevölkern, die Brutzeit ging allmählich zu Ende, erklärte ihre Gewohnheiten und Techniken beim Fischen. Wie tief die Papageientaucher
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tauchen können, daß Mantelmöwen kleinere Möwenarten töten, die Krähenscharben, nachdem sie vom Wasser zurückkehren, ihre dunklen Federn an der Sonne trocknen lassen müssen, um wieder fliegen zu können. Wir fuhren schließlich trotz des Sturms, unter dem Bogen der Brücke, die Runde mit den näher dem Festland zu gelegenen Inseln verbindet, hindurch, um das Felsenkap herum, auf dem einsam eine Raubmöwe saß, auf die dem Atlantik ausgesetzte Seite. Die Wellen wurden höher und peitschender, wie eine Nußschale schaukelte das Boot, Wellenstöße warfen uns immer wieder von einer Seite des Boots auf die andere, in die Gischt, von der wir an Haut und Kleidern naß wurden, mischte sich das Geschrei Abertausender von Möwen, die in den senkrechten Felswänden nisteten, daraus hervorstießen und mit Beute wieder zurückkehrten. Papageientaucher, die in Schwärmen dicht über dem Wasser an uns vorbeiflogen, Heuschrecken gleich mit orangeroten Entenfüßen, jeder mit mehreren kleinen Fischen im Schnabel. Von niederen Felsen, einige Meter hoch, unternahmen junge Krähenscharben ihre ersten Flugversuche, aber statt sich ernstlich zu erheben, rutschten sie nach ein zwei geglückten Flügelschlägen am glatten Felsen entlang ins Wasser und mußten von neuem hochklettern und von neuem im Wind ihre Flügel trocknen vor dem nächsten Anlauf. Oleg zeigte uns eine Münze, die er als Talisman an der Halskette trug, dreihundert Jahre alt, erzählte er, von einem niederländischen Schiff, und das Schiff genau unter uns, hier vor dem Leuchtturm, der jetzt nicht mehr bewohnt ist, vor dreihundert Jahren gesunken. Jedem ein-
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zelnen reichte er, mit seinem Gesicht nahe an unserem, die Münze zum Anfassen und Begutachten. Oleg, von ihm wäre zu berichten. Von Edvard Grieg, Hamsun, Amundsen, Lönnrot, Agricola, Brigitta von Schweden: Erinnerung an die Stationen der Reise, zurück bis zu ihrem Anfang. Biografien zu eigen gemacht: durch das Komponistenhäuschen Griegs auf den See hinausgeschaut, einen Blick ins Hamsun-Museum geworfen nach der Rückkehr von den Lofoten, vor Amundsens Denkmal in Tromsö gestanden, seinen meerwärtsgerichteten Blick nachgeahmt, oder am Fuße des 30 Meter hohen Mastens in Vardö, an dem sein Luftschiff geankert hatte, auf der Insel vor der Stadt. Amundsens Aufbruch, nachdem er vom Unfall des Luftschiffs von Nobile gehört hatte, um diesem zu Hilfe zu eilen - und er kam nicht mehr zurück. Der Arzt Lönnrot, der, als Schwede, die Kevala dichtete, Finnlands Nationalepos, im vergangenen Jahrhundert, als Finnland unter russischer Herrschaft stand. Oder Agricola, der Reformator, neben Luther und Melanchthon im nacktweiß getünchten Innenraum des Domes von Helsinki. Brigitta von Schweden, ihre Klostergründung von Vadstena, ihre Prophezeiungen und die Aufenthalte in Rom. Topelius, seine Malereien in der Holzkirche von Paltaniemi, das Medaillon mit der Sintflut, eine leere Wasserfläche im Zentrum mit darin herumschwimmenden losen Gliedmaßen und einem Menschen, einem beobachtenden, der am rechten Rand in einem Baum sitzt: Wasser und Land. Schiffe und Kirchen. Archetypische Strukturen, in Motive übersetzt: Leben und Tod, Tag und Nacht, Wohnung und Abenteuer. Und die Motive in Stoffe: der Wechsel vom einen ins andere, die Überschreitung
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und Verwandlung. Und also: das Aufbrechen, das »Wegeentstehen, das Markieren, das Besiedeln, prädestinierter Orte. Opfern, Lieben, Sichversammeln, Umkehren: Handlungen, die sich mit den Orten verknüpfen, und diese untereinander. Die Matrix, der Schauplatz. Mit griechischen Hainen, baumbestanden, Versammlungen von Dämonen; mit Engstellen die Thermopylenschlacht oder Skylla und Charybdis; die Götter mit dem Olymp, mit dem Jordan die Taufe; in eine Bucht wird ein Hafen gebaut; auf einem Kap ein Leuchtturm errichtet; auf La Verna, weithin sichtbar, aufragend gegen den Himmel, empfing Franziskus, entgegengehend, die Stigmata. Apriorische Strukturen, Bedingung der Möglichkeit: wir verdoppeln, durch Anwesendsein oder durch Handlungen, einen Ort. Das Besteigen von Erhebungen in der Landschaft: die Hünengräber in Alt-Uppsala, mit dem Kornfeld, das sich hinab bis zur heutigen Stadt ausdehnte, mit der Silhouette des durch die Entfernung winzig gewordenen Doms als Abschluß; die Opferinsel im Inarisee; der Felsen am Nordkap, an dessen Kante man entlang wandert; die Kante einer Hochfläche auf den Lofoten, mit einer miniaturhaften Welt unten samt allen erdenkbaren Formen, Bergen und Ebenen, Inseln und Seen, Halbinseln und Fjorden, Buchten, Lagunen, Talbecken und Hügelrücken; und, nur einen Tag später, wieder auf dem Festland, die Wanderung über den nackten Fels eines Gletscherschliffs, noch in Erinnerung geblieben von der ersten Reise, der sich breit über einen Waldrücken herunterwälzt, fast weiß, mit dunklen Streifen darin, aus der Ferne farblich unentschieden zwischen Fels und Eis. Der Stein, blendend hell, warm unter
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den bloßen Fußsohlen, einmal glattgehobelt, dann wieder grobkörniger, der Horizont darüber, die Neigung allmählich steiler werdend und den Schritt verlangsamend, eine scharfe Grenze zwischen dem Grau des Felsens und dem Postkartenblau des Himmels. Die dunklen Streifen Wasserfilme, letztes Schmelzwasser, die sich ab und zu in flachen Wannen stauten, lauwarme Fußbäder, und den Felsen, auf dem die Sohlen sonst sicher hafteten, in Rutschbahnen verwandelten, glatt wie Eis. Oben, am Kamm, wo das Felsband seinen höchsten Punkt erreicht und den Blick auch auf die hintere Seite hinab freigibt, läßt man sich nieder, wie natürlich, als gäbe es keine andere Stelle zur Rast, hat vor sich und hinter sich den Fjord, weit draußen vor der Fjordmündung die Vesteralen, rundum alle Erhebungen von der Eiszeit abgeschliffen, steil aufragende Keile, senkrechte Abstürze, schiefe Ebenen, abgerundete Kuppen, Felsen: petrisches Leitmotiv. Petrisches Panorama, hier auf dem Schliff, synchrone Palette, oder, das Leitmotiv diachron, die Stationen der Reise. Abfolge von wechselnden Erscheinungen des einen Elements, des Wassermotivs, oder des petrischen: der Gletscherschliff; zu Anfang die Schädelfratze am Nordkap; dann der vom Demiurgen vergeudete Klumpen in der Bucht von Hamerfest; dazwischen die prähistorischen Felszeichnungen am Altafjord, Boote, oder Schlitten, die Interpretationen nicht einig, mit Geweihen vorne und hinten, dazwischen Fischschwärme, Rentierherden mit unterschiedlich gemusterten Bäuchen, Szenen von Kriegern; später, knapp unterhalb des Polarkreises, nördlich von Mo i Rana, die Höhlen von Grönli, die Führung an unterirdischen Wasserläufen
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und Wasserfällen entlang, durch enge Kamine, kapellenhafte Erweiterungen, ein einzelner Granitblock, der sich vor Zehntausenden von Jahren, die nächste Granitzone zehn Kilometer entfernt, ins fremde Gestein verirrt hat. Veränderte zeitliche Maßstäbe: der Stein, der, durch die Zeit hindurch, sich fortbewegt; die Felszeichnungen am Altafjord, die, je höher man steigt, umso älter sind, fünf Jahrtausende Unterschied, die untersten etwa auf den Wechsel der Zeitrechnung datiert. Landwerdung: seit zehntausend Jahren hebt sich der Felsen, von der Last des Eises befreit, der den Stein glattgeschliffen und so präpariert hat, damit er fortzu von Tieren zu Wasser und zu Land, Fischen und Rentierherden, von Menschen, Hirten, Kriegern und Liebenden, bevölkert werde und befahren von Schlitten und Booten. Auf Stein werde ich, und aus Stein und in Stein: die Felsenkirche von Helsinki. Oder, Assoziationen, welche die Stationen der Route verbinden, mit anderen Fahrten: die Katakomben, die Kirchen von Göreme in Kappadokien, die, in das Tuffgestein gehauen, von außen nicht erkennbar, alle Bildpracht ihrer Fresken nach innen wenden. Räume, Gesten. Welche Gesten sich verbinden, mit dem Stein, zum Beispiel. Das Emporheben, mit den Felsplatten, am Altafjord oder in Tanum; das Sichgründen, in Helsinki; das Hinausreichen auf dem Handteller, in Nesseby; das Sicheinschließen, in den Höhlen von Grönli oder in Göreme. Mit anderen Gründungen verbinden sich andere Gesten: Sichöffnen, mit der Eismeerkathedrale von Tromsö, dem durch die Glasöffnungen einströmenden Licht, kalt und unpersönlich; Besetzen erhöhter Orte, die Akropolis griechischer
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Städte; mittelalterliche Burgen, Festungen, die Lage italienischer Städte im Apennin; das Beherrschen, die französischen Kathedralen des 19. Jahrhunderts, auf weithin sichtbaren Erhebungen, Sacre Coeur, Notre Dame in Lyon oder in Marseille, weltlichen Anspruch demonstrierend, mit Zinnen auf den Türmen, gleich Burgen. Typologien der Konzentration: das Rund der Felsenkirche, Metapher des Allumfassens; die Moschee im Zentrum von Fes, von außen nicht erkennbar, alle Ausstrahlung zurückreflektierend ins Innere, raumverdoppelnd, an den Außenmauern ringsum Läden, die sie verstellen, die Wege der Gläubigen sich aus den engen Gäßchen in die Öffnungen des heiligen Bezirks hineinverlängernd; das Beherrschen, Herbeirufen, Notre Dame; das Insichgehen, Verinnerlichen, Göreme. Das Ansichziehen, der erhobene Arm, die über der Brust zusammengekreuzten Arme. Der Magnet, der Turm, die Kristallkugel, mit den Edelsteinen nach innen. Gesten des Versammelns: der Aufenthaltsraum hinter der Kirchentür im alten Dom von Tromsö, bevor man ins Schiff gelangt, mit den Tischen und den Zeitschriften, Bibeln, Büchern darauf; die Bänke, die sich, in evangelischen Kirchen, statt in dieselbe Richtung zu weisen, nach der Kanzel ausrichten; die Kanzel, in einer kleinen Kirche am Altafjord, als Altarbild hinter dem Altartisch, Sammlung um das Wort. Oder, wieder die Erinnerung an andere Fahrten, die Kirche von Hermenance im Wallis, steil aufragender Betonkörper zwischen den Dächern der Holzhäuser, ewiger Stein, inmitten von Vergänglichkeit: der Kirchenraum eine Betonhöhle, und miteingegliedert in den Komplex auch die Gemeinderäume und Geschäfte, ein Supermarkt, die
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profanen Funktionen in den sakralen Bezirk integriert, auf einer Betonterrasse auf halber Höhe ein Bub, der mit sich selbst Fußball spielte. Der Kosmos, und sein Abbild: Sakralität als Ergebnis, das im Vorgang des Abbildens, des Reduzierens, entsteht. Zum ersten Mal dies nachvollzogen, bildhaft, am Dom von Siena: an den Pfeilern, die, Teile des Erweiterungsplanes, das neue, niemals fertiggestellte Längsschiff tragen sollten, inzwischen Stützen in einer Häuserwand, Skeletteile geblieben also, bloß Andeutung. Die Andeutung ist: die Vermittlung zwischen dem Raum des Domes und dem Raum draußen, die behauptete Gleichsetzung, die Verkleinerung des Kosmos ins Modell. Realität, nicht begreifbar, und, eine Formel setzend, die Metapher. Welche Gesten sich verbinden: mit Räumen, mit Landschaften, mit Menschen, ineinander übersetzbar, prädestiniert für den Vergleich. Also: welche Gesten wir nachahmen, nach welcher Matrix wir uns richten, je nach Raum und Standort. Sichöffnen, am Strand mit einem Meer davor; Sicherheben, auf einen Gipfel, Überblick gewinnen; oder Umfassen, wie ein Landschaftskessel mit einem See am Grund; Sichversenken, in unterirdische Gänge; oder Verbindungen herstellen, durch die Bewegung von Ort zu Ort. Horchen, Besetzen, Sammeln, Vermitteln: Charaktere, von Landschaften oder von Menschen. Landschaftslektüren: Bedingung der Möglichkeit; die Kategorien der Wahrnehmungen und der Verknüpfungen, wie diese jene mit Bedeutungen füllen, von jenen ermöglicht werden. Wenn ich als Kind mit dem Vater von einem Gipfel wieder aufbrach, kam es vor, daß er, nicht nur einmal, son-
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dern mehrmals, ein paar Schritte noch einmal zurückging, um sich die Aussicht einzuprägen. Ich wiederhole die Geste: auf dem Taberg, mit dem Blick hinüber zum Vätternsee,auf den Anhöhen über Hamerfest,über Tromsö, über Bergen, bei der Wanderung auf den Lofoten, alle Variationen von Meer und Erde zu Füßen, demiurgische Miniatur, auf dem Fernsehturm von Kuopio, mit der Seenund Insellandschaft ringsherum, auf dem Holmenkollen, Blick zum Oslofjord-Aussichten, Neugierde und Obsession. Und immer das Anhalten, mitten in der Fahrt, das Aussteigenmüssen, Schauen, Fotografieren: der Blick in den Talboden zurück in der Telemark, eine Fläche von reifem Korn; das enge Tal, durch das man weit zur Spitze des Hardangerfjords zurücksieht; die Wasserfälle, die über Kanten springen und dann tausend Meter ins Meer stürzen; die Schneeflächen auf dem Sognetfjell, Gletscher im Hintergrund, Langläufer Ende Juli, in die schmelzwassergefüllten Mulden Eisberge hineinragend, die Schneewände links und rechts der Straße mehrere Meter hoch; der Blick von der Trollstiege hinab auf die emporführenden Serpentinen; der Felsausschnitt, in den ein Fjord hineinführt, mit Kanten zu beiden Seiten, die sich noch tausend Meter tief unter Wasser fortsetzen; der Zusammenfluß der Wasserläufe, an dem Rovaniemi liegt, in einer sanft gehügelten Waldlandschaft, die Flüsse breit und wasserreich, in großzügigen Schwüngen. Formen und Farben, diese von der ersten Skandinavienreise kaum in Erinnerung, erst in der Wiederholung entdeckt. Die wechselnden Farben des Wassers, schwarze Seen, wenn es regnet, die rosarote Oberfläche in der Mitternachtsdämmerung, tief türkis, wenn sich in einem
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Fjord ein Waldhang spiegelt; hellgrüner Seegrasflaum und Flächen von weißem Wollgras, mit Tümpeln durchsetzt, rotes Staudenfeuerkraut, das kilometerweit die Straßen säumt; die Grautöne, die, sich in der Gegensonne staffelnd, gegen den Hintergrund aufhellen; das satthelle Grün an den Hängen der Lofotenberge, oft senkrecht aufsteigend, tausend Meter hoch, mit einer niedrigen Häuserzeile vorne am Wasser, Lofotengrün; die Farben der Kornspeicher in der Telemark, einfarbig und mehrfarbig, alle Tönungen des Spektrums, mit hervorgehobenen Giebeln, Ziersäulen und Einstiegsluken; oder die Farbe der Bauernhöfe bei Trondheim, rot und weiß, oder gelb und rot, um Wohn- und Wirtschaftsgebäude voneinander zu unterscheiden; das goldene Meer in der Bucht von Bergen von oben und dann der rote Himmel über Bergen im Sonnenuntergang; das leuchtende Rot des Kutters im Hafen von Hamerfest, sich spiegelnd auf dem Wasser, das blonde Mädchen darauf, das die Taue einholte; das Dunkelrot des Fährschiffes der Konkurrenzgesellschaft, das im Schlepptau von Stockholm bis Helsinki fuhr; das Rot der Hurtigroute im Hafen von Tromsö; das Braun der Wikingerschiffe auf Bygdöy und jenes von Olegs Boot, der uns durch den Sturm um die Vogelinsel brachte; jenes der Stabkirche in Heddal, das Teerschwarz der Stabkirche in Bergen. Litanei, Lobpreis, die hunderten Dias. Welche Gesten sich verbinden: welche Landkarten entstehen, je nach Motiv und Interesse. Die Steinlandkarten, die Schiffslandkarten, die Landkarten der Stabkirchen, der Sommernistplätze, der unterschiedlichen Nachtzeiten, der wechselnden Grüntöne undso-
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fort. Sich übereinanderlagernd wie die historischen Landkarten, mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten des Landes zu verschiedenen Zeiten: die Wikinger, das dänische Norwegen, das schwedische Norwegen, das unabhängige Königreich; die nach Norden vordringende Christianisierung; Aufstieg und Niedergang der Hanse; Isohypsen und Isothermen; die zunehmende verkehrstechnische Erschließung, die Stationen der Hurtigroute und das sich bildende Straßennetz. Immer wieder wechselten die Landkarten während der Fahrt: die Steinkarte gegen jene der Wasserläufe und Wasserfälle, die kunstgeschichtliche gegen jene der Flora, die der Fischerei gegen die des Handels, auf den Lofoten oder in Bergen. Und, in den Städten, die Stadtpläne, die übereinanderliegen: der Hanseplan, mit der Brygge, der Marienkirche, dem Brygge- und dem Hansemuseum; der Landschaftsplan, mit den Ausblicken von der Floyenhöhe und dem Ulrikengipfel; der Musikplan, mit dem Wohnhaus Edvard Griegs draußen in Troldhaugen, der Grieg-Halle mitten in der Stadt; der Verkehrsplan, mit den eingezeichneten Einbahnstraßen, damit sich der unkundige Fahrer zurechtfindet; die Fahrpläne im Hafen, für die Flügelboote in den Sognetfjord oder hinunter nach Stavanger, und die Hurtigroute, hinauf bis Kirkenes. Auf der Brygge gewesen, frühmorgens, vor den Touristen, sich in die Zeit der Hanse zurückversetzt, Dachlandschaften fotografiert. Zum Wohnhaus Edvard Griegs hinausgefahren, das sich dieser am See Noirdasvatn erbaut hatte, mit Blick auf das Wasser und einer kleinen Holzhütte zum Komponieren unten am Ufer. Im Hansemuseum die bemalten hölzernen
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Schiebeluken vor den mehrstöckigen Alkoven geöffnet, sich an das Pult eines Kontoristen gelehnt und erklärt bekommen, was gelöscht und geladen wurde, Salz und Stoffe gegen Stockfisch und Tran. Im Bryggemuseum, in Schaukästen, die Modelle der Hansekoggen und der Bergen-Schiffe, mit flachem Rumpf die letzteren, den Schiffen aus dem Süden vorzuziehen. Die Stabkirche von Gol besucht, Himbeeren gepflückt in den Sträuchern, die den Weg zu ihr säumen, zwei kleine Plastikschüsseln voll aus dem mitgeführten Küchengeschirr. Mit der Seilbahn auf Ulriken gefahren, dort im Cafe gesessen, um die fünfzig Postkarten zu verschreiben, die sich für Freunde und Bekannte angesammelt hatten im Lauf der Reise. Zum ersten Mal Abschiedsstimmung, nur noch wenige Tage, die bleiben würden. Später Abend, die Sonne tief, draußen vor den vorgelagerten Inselzügen, die sich im Gegenlicht scharf abhoben, im Atlantik versinkend. Es wird wieder Nacht, wenn auch nur für eine kurze Weile. Die Schiffsmodelle in den Schaukästen, die rekonstruierten Schiffe in den Bygdöy-Museen, das Votivschiff, das von der Decke der Bergener Marienkirche hängt, die Felsschiffe vom Altafjord und von Tanum, die Pfeiler und der Mast und der Stab, Nesseby, das, von der imaginären Hand, in den Fjord hinausgehalten wird, Stifterdarstellung, wie auf mittelalterlichen Kapitellen. Riten, Beschwörungen, optische Litaneien. Wahrheitsart: durch Wiederholungen, geringfügig variiert, Gewohnheiten ausbilden. Oder andere Arten: Die Analyse, die Schichtung des Gesteins an der Straße nach Repvag, die Teleskop-Aufnahmen vom Nordlicht im Polarinstitut Tromsö. Das Experiment, die Expeditionen Nansens,
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die Luftschiffahrten vom Ankermast in Vardö aus von Nobile und Amundsen. Die Offenbarung, der Nebel, der aufreißt und die Bucht mit einem Fischerdorf freigibt, die Aussicht von der Paßstraße hinunter in den Geirangerfjord, nicht endender Polartag. Das Gleichnis, Nesseby und die Stifterkapitelle, die Lofoten als Miniatur aller Landschaften, die Fähre und Charon. Die Abschweifung, die nicht eingeplanten Abstecher von der Route, von Alesund hinaus auf die Vogelinsel, oder nach Trondenes, die Flügelaltäre dort, in der Predella lauter Mütter mit Kindern, Maria, Elisabeth, Anna mit Maria und deren Schwestern, dagegen die Anna selbdritt von Vadstena, die heilige Brigitta dort, in Ekstase, mit fehlenden Armen, die ganze Haltung aufs Schauen konzentriert, Lübecker Meister, der Einfluß der Hanse undsofort. Der Zweifel, das Dementi, die wechselnde Richtung des Malstroms, die Abtrennung Gotlands vom mitteleuropäischen Sockel und sein Wechsel hinüber nach Skandinavien, die wechselnden Meeresverbindungen zwischen Nordsee und Bottnischem Meerbusen. Die Ironie, die nackten Lustmädchen auf dem Kanzelbaldachin in einer Landkirche vor Trondheim, mit den grobgeschnitzten Evangelisten an den Ecken der Kanzelbrüstung darunter, die umherschwimmenden Menschenglieder in der Sintflutdarstellung von Topelius in Paltaniemi. Stiften, auf Wirkung anlegen, die Kevala des Arztes Lönnrot und ihre Bedeutung für das finnische Nationalgefühl, die Sigurdsage, festgehalten an der Rückenlehne des Bischofsstuhls in der Stabkirche von Heddal. Geheimnis, unauflösliche Figur, der Troll, der Granitblock in den Grönli-Höhlen, der emporgehobene Mittelbereich, abge-
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schlossen, in der Templerkirche von Segovia, der Schiffer der Fels Petrus: Wasser und Land: Fischer und Gründer. Gesten, Haltungen. Charaktere. Die Vektoren in den Landschaften, welche die Biografien ausrichten. Apriorische Strukturen. Da begännen die Erzählungen, die Mythen und Lebensläufe, die Sagen und Reiserouten. Den Raum würden Abläufe erfüllen, und es entstünde Zeit. Die Verben und Sätze würden in ihr Recht versetzt. Zum Beispiel Runde: Vor dem Leuchtturm, inzwischen verlassen, hat Oleg das Boot zum Stehen gebracht, und erzählt uns von dem niederländischen Schiff, das unter uns auf Grund liegt, von der Münze, die an seiner Kette hängt, von den Tauchern, die immer noch nach Resten des Schiffsschatzes suchen, vom Bau der Brücke, die sich in einem kilometerlangen Bogen von der Nachbarsinsel herüberbewegt, wir schaukeln gewaltig im Atlantiksturm und hören ihm zu. Der Hafen, in den wir bald zurückkehren werden, mit seinen Hafen- und Speicherhäusern, die in einer Reihe nebeneinanderstehen und sich blendendweiß von einem grauen Himmel abheben, liegt, unsichtbar, weit vor uns.
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Sabine Gruber
Störung Welch verzweifelter Mut, noch aus dem Fenster zu sehen. Elfriede Czurda Hinter verschlossenen Läden seid ihr nur eure Worte. Deine Rede ist Geschrei, seine sind nachgeworfene Beteuerungen. So wechselt ihr euch ab in diesem Spiel von Angriff und Verteidigung. Was als Verteidigung gilt, bietet neue Angriffsflächen: die Sätze werden umgekehrt, der, der angreift, sieht den anderen zappeln, kopfüber. Ein Glas wird hin- und hergeschoben. Ein Blick flüchtet sich zum Fenster. Der Ausblick ist versperrt. Jetzt geht es ans Plündern: der Kopf wird ausgeräumt, die gemeinsame Geschichte abgesucht nach den verletzten Grenzen. Es geht ans Herzteilen, und was noch dem anderen gehört, wird ihm vorgelegt. Du willst von vornherein nichts mehr damit zu tun haben. Du glaubst im voraus zu wissen, was du nicht mehr hören und sehen willst. Ihr wißt zuviel und seid müde. Die Worte sind zu laut eingestellt, Es wird nicht mehr gesprochen, sondern ausgestoßen. Einmal war es nichts als ein Fenster. Eine Lichtöffnung in der gegenüberliegenden Wand, des Nachts ein schwarzer Fleck, rechteckig, gewöhnlich, eines, das zum Hof hinausging. Eine offengelassene Stelle. Einmal sahst du aus dem Fenster auf die andere Seite. Da bewegte sich etwas, mitten im Fenster erschien ein
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Kopf, der sich zur Seite neigte, im dahinterliegenden Raum verschwand. Du hörtest ihn lachen, behieltst dieses Lachen als Erinnerung an deinen ersten Blick hinaus. Der zum Gebäude gehörende Platz war dünn bewachsen. Jemand stellte sein Rad ab und grüßte dich im Fenster, dann begann er Stummel aufzusammeln und verschwand damit im Hauseingang. Damals war es der Anfang. Jetzt ist es Trauer um den Anfang. Oder ein Schlag, der zusetzt. Ein Schlag ins Gesicht. Er sitzt dir gegenüber. Ihr habt euch nichts mehr zu sagen. Nichts, was den Gabelstichen in die Tischdecke Bedeutung beimessen könnte. Ein Loch in den Stoff gebohrt, ein Nein ins Gesicht. Ihr entfernt euch voneinander, indem du sitzenbleibst und er dich verläßt. Du hörst die Tür ins Schloß fallen und schläfst vor Erschöpfung ein. Die folgenden Tage hast du nur Augen für deine nächste Umgebung. Du schaust vom Küchenfenster auf das Nachbarhaus, schaust, daß dir nichts entgeht. Die Sonne brennt auf die Kupferplatten, Decken hängen aus dem Schlafzimmerfenster. Wenn sich etwas rührt, trittst du hinter die Vorhänge zurück, stehst gedeckt auf der Lauer. Die Jalousien werden geöffnet und wieder geschlossen. Der Hund inspiziert sein Revier. Du hoffst, daß etwas geschieht. Was du bei dir zu verhindern weißt, wünschst du den anderen: ein kopfloses Haus, in das Regen fällt. Eine Ameisenplage. Blattläuse in den Geranien. Du bist Auge und Ohr. Hörst den Nachbarn schreien, einen Motor anspringen, hörst, wie jemand den Raum über dir durchquert, die Läden schließt. Jetzt endlich sind die stumpfwinkligen Dachdreiecke schwarz, die geome-
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trischen Tagesfiguren schwärzer noch als der Himmel, die Wiederholung überkommt der Schlaf, sie ruht, wo sie nicht gesehen wird: die tadellose Zerstörung des Refrains: die Häuser, der Hof, die Autos, auf die unweigerlich dein Blick fällt, ausgelöscht, dunkle Flächen, die nicht nachzuzeichnende Finsternis, durchbrochen dann von einem beleuchteten Fenster, einer Laterne vorm Haus, und alles beginnt von vorne: das Vergessen der Wiederholung, das wiederholte Vergessen. Die Dreiecke stechen in den Himmel, von unten her haben sie Licht bekommen, von unten her ist die Nacht zutage getreten: das Zugedeckte hat sich selbst entblößt. Du glaubst, es sei ausgestanden, weil du wieder die Fenster öffnest, wieder schweigen kannst nach der lauten Zeit. Du verfolgst das Aufhellen des Himmels, schlaflos gibst du dich ihm hin. Schlaflos erwartest du die äußere Bewegung. Er würde wiederkommen, im Fenster stehen, ein unbeweglicher Körper hinter Glas. Er würde herübersehen, vielleicht winken, und du würdest zusammenzucken, instinktiv zurückweichen. Auch jetzt, wo er nicht mehr ist, wählst du den Ort, an dem du nicht sein kannst, nicht bist. Du schließt dich von vornherein aus. Hast nur Augen für die anderen, die dich nicht kennen, beobachtest, was dich nicht betrifft. Eine Frau hängt die Wäsche auf. Eine andere ruft nach ihrem Kind. Du gehst aus, verläßt die Wohnung. In der Dorfbar sitzen die Dorffrauen an einem Tisch, grüßen dich freundlich, ohne dir Platz zu machen. Trinken Kaffee und reden über die Kinder. Über die Kinder der Kinder. Über
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die und die, den und dem seine. Sind wer, solange sie einen Namen haben. Einen Namen und ein Haus. Sind die Fortsetzung in den Söhnen und Töchtern, leben in der Weiterführung, im Zu- und Ausbau. Wird ein Haus geteilt, fällt der Name. Dann fängt es an. An diesem bestimmten Tag fängt das Aufhören an, ist die Garantie abgelaufen. Was einmal Begriff war, das Schondagewesene, das Fortbestehen, ist nur mehr Teil: der durch den Verlust gezogene Name, die Halbheit, die Scham. Oder der Ruhm der Väter wirkt nach. Dann ist ihr Tod das Ende, folgt dem Tod die Erinnerung, das Erzählen. Du könntest angeben, was dir abhanden gekommen ist, die übriggebliebenen Teile zusammenfügen. Daraus würde dein Alter entstehen oder ein stückweise erinnerter Ablauf, die schubweise heranwachsende Erinnerung. Vielleicht fiele dir abwechslungsweise etwas Neues, Passenderes ein, würde man dich nach deinem Leben befragen. So, auf dich allein gestellt, bleiben deine Gedanken immer wieder bei denselben Einzelheiten hängen, kreisen. Du hast, mit ihnen verglichen, nichts vorzuweisen. Du wiederholst dich. Du zeigst dich her, und man schenkt dir keine Beachtung. Du stierst in die Gesichter, und man sieht von dir ab. Obwohl du noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt hast, bist du schon zurückgekehrt. Stehst im Hof hinter der Mülltonne und hältst mit beiden Händen deine Tasche fest. Er liegt, wie du vermutest, stundenlang im Fenster, doch ist nicht auszumachen, ob er tatsächlich dasteht und wartet. An der Theke wird ein Glas umgestoßen. Die Kellnerin stellt das Tablett ab und schenkt neu ein. Du denkst,
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man könnte lernen, was einem immer schon beigebracht worden ist: das Öffnen der Augen. Denn die Art, wie man die Augen offenhalte, entscheide über den Tag oder biege die Sätze zurecht. Auf der Straße fühlst du das Nachschauen und Hinterdirherreden. Man hat dich ausgeschlossen und macht dir den Ausschluß zum Vorwurf. Du grüßt, um nicht aufzufallen, wärst am liebsten schon zu Hause. Die Vormittagsfrauen sind dir ein Greuel, sie schlagen die Zeit tot und suchen nach Komplizinnen. Um sich dem Verdacht zu entziehen, täuschen sie Eile vor. Sie laufen, bilden Staus vor den Ampeln, überqueren vor den Autos die Straße, ohne das Umschalten der Ampel abzuwarten. Du siehst die Straße vor dir, siehst, wie die Menschenmenge zum Mittag hin wächst, immer schneller in die Geschäfte dringt, vor den Auslagen die Gehsteige verstopft. Deine Einkaufstasche zieht nach unten, du gibst dem Gewicht etwas nach, beugst dich, wirst von hinten gestoßen. Ohne Entschuldigung schiebt sich der Alte weiter, stößt dich mit Ellbogen und Stock zur nächsten Apotheke. Die Fenster der Häuser werden dunkler, wechseln mit dem Hinschauen die Farbe, als wären die Gaffer nachgewachsen, die Blick- und Aussichtslöcher voller Köpfe, Menschentrauben, die von den Fassaden hängen, und auch auf der Straße, wie auf ein Zeichen hin, beginnen die Autofahrer zu hupen, würgt ein einsetzender Preßlufthammer deine Grüße ab. Du betrittst den Hof und gehst davon aus, daß er dich hören könnte. Du schleichst unbemerkt zum Eingang, wirfst aber noch einen Blick zum Fenster: etwas bewegt sich. Die Pflanze, deren Schatten auf die untere Hälfte der
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Scheibe fällt, nutzt er als Deckung. Die dunklen Flächen sind nicht mehr auseinanderzuhalten: als verschwände er in der Pflanze, die Pflanze in ihm. Du schaust dir die Augen aus dem Kopf, hast Mühe, dich wieder umzudrehen. Erst als du deine Wohnung erreicht hast, beginnst du das Gesehene rückwärts zu wiederholen. Es zieht dich förmlich in den Hof. Ein Blick hatte genügt, und du meintest, ihn zu erkennen. Du siehst keine Möglichkeit mehr, dich seiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Du denkst die Wiederholung, und obschon du meinst, dir würde immerfort dasselbe einfallen, verschiebt sich die Sichtweise doch jeweils um die Augenblicke, die dieselben Bilder auseinanderliegen. Die Wäsche wird wieder abgehängt. Das Fahrrad lehnt unter dem Fenster. Der Hof ist von Stummeln übersät. Du setzt auf die Zeit. Ziehst den Fenchel aus der Tasche, stellst die Milch in den Kühlschrank. Deine Hoffnung ist die Verschiebung, die zugleich Ablenkung ist; zwischen den ausgepackten Gegenständen türmen sich Autos, der Küchenboden ist dünn bewachsen. Das Fenster verschwindet aus deinem Blickfeld. Die Bilder sind längst nicht mehr die, die du gesehen hast, sind bessere Imitationen, gefälligere Zusammensetzungen. Du triumphierst, fühlst eine unerwartete Freude, doch das Vorhandene ist verschwunden, um wieder aufzutauchen: noch während du dein Glück hinterfragst, bist du von seinem unverhohlenen Schauen überzeugter denn je. Weil du weißt, daß er dich im Auge hat, bewegst du dich so, als wärst du nicht zu Hause. Du kriechst auf allen Vieren von der Küche ins Schlafzimmer; dieses Mal stierte er umsonst. Dieses Mal verharrte er, bis es dunkel würde.
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Im Schlafzimmer kannst du unbeobachtet hin- und hergehen. Während er dich in der Küche vermutet, schaust du zwischen den Ritzen der Rollos in den Hof. Der Stummelsammler stolpert über das Eingangspodest und sammelt das Gesammelte noch einmal. Jeden Tag zur Mittagszeit begegnen sich der Stummelsammler und dein Nachbar im Hof. Jeden Tag geht der Nachbar samt Hund zum Brunnen, krempelt den linken Ärmel hoch, blickt zuerst auf den Stummelsammler, dann in den Brunnen, und holt die Geranienblüten heraus, als müßte er sie nach dem Herausholen zusammenfügen zu einer ganzen Blume. Deine Augen wandern vom Hund zum Fenster. Er hält sich noch immer hinter den Vorhängen versteckt. Du vergewisserst dich deiner Überwachung. Bist ruhig, da du weißt, daß ihn seine Neugierde in die Mitte des Fensters treiben wird. An deiner jetzigen Überlegenheit hast du hart gearbeitet. Es ist sogar Zeit übriggeblieben: Minuten, die sich herumschieben lassen, kleine, scheinbare Veränderungen auf nicht mehr als zwölf Quadratmetern: ein Gegenstand auf dem Bett oder ein Gegenstand auf der Kommode unter dem Fenster. Wie unter Zwang schiebst du irgendetwas vorwärts, in die Mitte, zur Seite, verschiebst es in den vorgegebenen Quadratmetern, setzt so deine Welt in Bewegung, mit einem mühsamen Drücken und Ziehen scheint etwas weggeschafft zu werden, der Tag erst anzurollen, dein Kopf endlich zu arbeiten. Die Sonne steht höher am Himmel. Die Dachdreiecke spitzen sich zu. Er hat einen Schritt getan, den Vorhang etwas zur Seite geschoben, den Kopf weiter nach vor-
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ne gereckt. Da er meint, du hättest dich ihm absichtlich entzogen, verliert er die Beherrschung und zeigt sich in voller Größe. Seine Aufdringlichkeit widert dich an. Sein Starren nagelt dich fest. Du hast deine Hände in die Taschen vergraben, erscheinst nach außen hin ruhig. An den Falten des Stoffes bemerkt man die versteckten, eingedämmten Bewegungen: ein unruhiges Reiben, ein angespanntes Zucken. Du klebst an den Rollos, drückst dir die Nase platt, starrst unentwegt hinüber. Mit einem Mal wird der Hof zum Korridor, die Häuser hängen schief an den Wänden: gerahmte Bilder mit gaffenden Hausfrauen in den kaum auszumachenden Fensteröffnungen. Weil du meinst, er käme auf dich zu, richtest du das Gewehr auf ihn. Du triffst ihn auf den ersten Schuß.
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Alois Hotschnig
Der Fortgang der Handlung Besonders ist da noch einer, der schlägt die Erinnerung wach, der nicht aufgehört hat, sie zu schlagen, der nicht aufhört damit, der die Schultüren zuschlägt und abschließt und der mit den Kindern die Tonleitern singt hinauf und herab und das Opfer, das mitmuß mit ihm in sein Zimmer. Die Kinder bleiben zurück in der Angst und haben zu singen, als wüßten sie nichts, sie singen im Takt seiner Schläge, er hat viele Lieder, sie singen, als wären sie froh und im Takt mit dem Opfer, im Takt mit den Schlägen, er singt den Refrain. Sie singen, als ginge es um nichts, als wäre es nicht schwer, den Pegel zu halten, leise genug, nicht Verdacht zu erregen bei den im Park draußen wartenden Eltern, und doch mit der Stärke, den Vorhang zu ziehn vor das Schreien und das Gebrüll und die Angst des Opfers, das eben dran ist, die Hand seines Lehrers im Haar, die festwuchs an ihm, dessen Kopf der Bewegung der Hand in den Haaren zu folgen versucht. Wenn Blut dann aus Nase und Ohr kommt, dann war es gut, dann ist es gut, ist der Kriegsgott geschwächt und sein Priester, dann holt er die Hand ein vom Opfer, das atmet, doch nicht zu stark, nicht sichtlich erleichtert das Atmen, das hätte den Fortgang der Handlung zur Folge, den Fortgang, den es so oft noch nach sich zog, zu dem es so oft noch gekommen war nach den Schlägen, bis es sich durchgeblutet hatte zu den Kindsopfern, daß das
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Daliegen, daß das Laufenlassen des Blutes auf Hemd und Hose, auf die sichtbare und überprüfbare Kindshaut, das Beste war. Besonders der eine ist immer noch da, und es ist achtzehn Jahre her, und er ist immer noch da in meinem Kopf, der mitgeht im Traum, wenn die Hand mir ins Haar fährt, der eine, der immer noch schlägt, wenn ein Traum die Schultür aufreißt und mich und die andern hineinstößt ins Zimmer. Und dann die Musik, es ist immer Musik, er drischt uns die Noten ins Ohr, und wir singen sie ab und auf und ab, so wie damals, wir singen, und dann kommt mein Blick, fallen die Augen ins Loch zwischen den Zähnen, die, von unten gesehen, aus der Höhe des Opfers gesehen, zu groß und zu weiß, auch heute noch, stehen. »Wenn dann mein Blick in dieses Loch fuhr, dann war ich verloren, ich wußte, auch der ist ein Mensch, sein Schmelz unterliegt dem Faulen im Mund, der die Tonleitern schrie und uns holte und singen ließ, wenn er den einen vor sich hinzwang, dem dann die Hand in sein Haar wuchs, und fragte: wie stehn die Soldaten? Der Schüler, das Opfer vor ihm, das, während wir sangen, sich bückte und vor der Angst salutierte, vor dem Priester, und das, während wir singen im Traum, die Hände an die Hüften preßt und das, während wir lauter und lauter zu singen beginnen, die Tonleitern schneller und schneller hinauf- und hinabzusteigen verdammt sind, zu hoffen versucht, ich sehe es von hinten, von vorne, von seitlich, ich sehe es von heute und damals, ich sehe es von innen, von mir aus, vom Opfer gesehen, ich sehe es und spüre es und höre sie singen und sehe, die Hand an
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die Hüfte gepreßt, wie er ausholt und mitsingt, und höre die Stimme: wie stehn die Soldaten, wenn die Hand mit der Lähmung im Finger zu mir kommt, mich umschlägt in Richtung der Stimmen, und zwei, ich sehe es, ich bin ja dabei, ich bin auch der zweite und sehe es auch von ihm aus, die holt er heraus und zwingt sie vor sich hin, die heben mich auf und zerren das Opfer vor ihn, die richten es auf und achten dabei auf Nase und Ohren, noch ist es nicht gut, noch müssen wir singen und wieder von vorn: wie stehn die Soldaten, die Hand an der Hüfte, und wieder rinnt Schweiß in den Traum, wenn du strammstehst im Bett wie Soldaten das tun, doch bist du im Schlaf, wenn er schlägt, und kannst dich nicht wehren, immer noch nicht, und die Hand, es rinnt Blut, wenn sie kommt, und lang mußt du stehn, bis sie kommt, und wenn sie dann ausholt und Blut holt bei dir, dann ist es gut. Dann bist du erlöst für die Nacht, dann schlägt sie dich wach: wie stehn die Soldaten, und spürst du den Schweiß deiner Haut als das Blut auf dem Hemd, dann ist es gut, dann bist du sicher für Stunden, ein zweitesmal holt er dich nicht, dann läßt er dich schlafen, dann brauchst du nicht singen für ihn, dann brauchst du nicht schreien vor ihm, dann kommt dir kein Blut mehr für heut.
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Walter Klier
HUSAR RUNGE Wir habe schön Wetter Herr Hauptmann Büchner, Woyzeck I An einem See bei Berlin, vor 1914, Sie sagt, du bist die einzige Deutsche, mit der ich so ausgelassen sein kann. Sie lachen, fassen einander an den Oberarmen. Schwenk auf einen herbstlichen See mit Schwänen. Sie schreibt am 8. Jan. 1919 in den Düsseldorfer Nachrichten, die an diesem Tag als Rote Fahne erscheinen: Weil der Spartakusbund das sozialistische Gewissen der Revolution ist, wird er von allen offnen und heimlichen Feinden der Revolution und des Proletariats gehaßt, verfolgt und verleumdet. Kreuziget ihn! rufen die Kapitalisten, die um ihre Kassenschränke zittern. Kreuziget ihn! rufen die Kleinbürger, die Offiziere, die Antisemiten, die Preßlakaien der Bourgeoisie, die um die Fleischtöpfe der bürgerlichen Klassenherrschaft zittern. Kreuziget ihn! wiederholen noch wie ein Echo getäuschte, betrogne, mißbrauchte Schichten der Arbeiterschaft und Soldaten, die nicht wissen, daß sie gegen ihr eigen Fleisch und Blut wüten. Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise Schritt für Schritt, auf dem Golgathaweg eigener
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bittrer Erfahrungen, durch Niederlagen und Siege, zur vollen Klarheit und Reife durchringen. Auf, Proletarier! Zum Kampf! Es gilt eine Welt zu erobern und gegen eine Welt anzukämpfen. In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust! Im Jan. 1919 schreibt sie an Clara Zetkin: Warte noch eine Weile mit dem Kommen, bis wir wieder einigermaßen ruhigere Zeiten haben. In diesem Trubel und dieser stündlichen Gefahr, Wohnungswechsel, Hatz und Jagd zu leben, ist nichts für Dich und natürlich gar keine Möglichkeit, ordentlich zu arbeiten und auch nur zu beraten. Ich hoffe, in einer Woche hat sich die Situation so oder anders geklärt und regelmäßige Arbeit wird wieder möglich sein. Im Lauf des 16. Jan. verbreitet das Wolffsche Telegrafenbüro eine amtliche Darstellung, die in den Mittagund Abendausgaben der Tageszeitungen abgedruckt wird und der zufolge Liebknecht bei einem Fluchtversuch erschossen und Luxemburg von einer erregten Menschenmenge am Portal des Hotel Eden ermordet worden sei. Der Hoteldirektor hat dem Personal den Bericht aus der Berliner Zeitung vorgelesen und erklärt: So haben sich die Dinge zugetragen! Daß ihrs wißt! Über alles andre habt ihr den Mund zu halten! II 8. Mai 1919. Im Schwurgerichtssaale des Landgerichts I beginnt vormittags um 9 Uhr der Prozeß gegen den Husaren Runge und Genossen. Er wird beschuldigt,
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im Januar vor dem Eden-Hotel Frau Luxemburg vor ihrem Abtransport nach Moabit durch Kolbenhiebe schwer verletzt und so ihren Tod herbeigeführt zu haben. Unter Anklage stehen weiter Kapitänleutnant Horst von Pflugk-Harttung, Oberleutnant zur See Ulrich Rittgen, Oberleutnant zur See Heinrich Stiege, Leutnant zur See Bruno Schulze und Leutnant der Reserve Rudolf Liepmann, denen vorsätzliche Tötung Liebknechts, und schließlich Oberleutnant Vogel, dem die Tötung Rosa Luxemburgs zur Last gelegt wird. Kurz nach neun erscheinen die Angeklagten. Sie kommen lachend und strahlend daher, die Brust mit Orden geschmückt, und es hat eher den Anschein, als ob sie zu einem Hochzeitsfest schritten als auf die Anklagebank. Man sieht der Gesellschaft nicht an, daß sie während der Untersuchungshaft irgendwelche Not gelitten hat. Nur der Jäger Runge paßt äußerlich nicht unter sie. Er hat ein grobes, ungepflegtes Aussehn. Vernehmung des Angeklagten Runge. Angeklagter, sagen Sie einmal, ist an Sie niemand herangetreten, daß Sie dem Liebknecht oder der Luxemburg etwas tun sollen? Von keiner Seite, auch nicht von militärischer Seite? Sie haben lediglich aufgrund eignen Entschlusses gehandelt, weil Sie eine persönliche Wut auf Dr. Liebknecht und die Frau Luxemburg hatten? Ich bin von keinem Vorgesetzten oder Offizier beeinflußt worden. Sie haben auch kein Geld bekommen? Es ist Ihnen auch nichts versprochen worden? Nein nichts. Da waren nur fünfzig Mark Liebesgaben von einer Person, die nicht genannt werden wollte. Die
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hat mir den Auftrag gegeben, meinem Kameraden zwanzig Mark abzugeben, was ich tat. Es war ein 50-MarkSchein, den habe ich gewechselt und habe Dreger zwanzig Mark abgegeben. Das ist eine recht eigenartige Liebesgabe. Wann ist die gegeben worden, vor oder nach der Tat? Vor der Tat. Das wollen Sie behaupten. Was war das für eine Person? Ein Hotelgast? Nein ein beßrer Herr. Ein Zivilist. Da haben Sie das mit Dreger geteilt? Mit dem Dreger. Wie kamen Sie dazu, das Geld mit dem Dreger zu teilen? Weil mir das gesagt wurde und ich grade mit dem Dreger zusammen war. Waren Sie besonders befreundet? Nein nicht. Wie kamen Sie grade dazu, nach der Tat ihm zwanzig Mark abzugeben? Das wurde mir von dem Gast gesagt, der mir die fünfzig gegeben hatte. Hat er sie denn zuvor gegeben? Jawohl, vor der Einlieferung. Da stand ich schon Posten. Sie meinen, der Gast tat es, ohne von den früheren Vorgängen zu wissen? Ohne zu wissen. Was haben Sie dem Zeugen Dreger gesagt? Ich sagte, da sind zwanzig Mark, das sind Liebesgaben, und ich soll dir von dem Gelde was abgeben.
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Da hat er es freudestrahlend genommen? Er sagte, wenn du mir etwas abgeben willst, nehme ich es eben. War das zu der Zeit, als Sie Posten gestanden haben? Jawohl, wo wir Posten standen. Stimmt das, Zeuge Dreger? Jawohl, es stimmt. Was stimmt? Hat der Angeklagte Ihnen zwanzig Mark gegeben und was hat er gesagt? Daß er das Geld bekommen hat und mit dem andren Posten teilen solle. Vernehmung des Zeugen Edwin von Rzewuski. Wie war die Stimmung im allgemeinen, war große Aufregung? Eine Aufregung, eine kolossale Aufregung, denn es waren noch Menschen draußen vor dem Eingang am Kurfürstendamm, an der Nürnberger Straße vielmehr, und es haben selbst Leute aus dem Publikum gerufen. Ich habe nicht gedacht, daß aus der Sache etwas wird. Die Empörung ist groß, wenn man so lange Soldat gewesen ist und kommt zurück und sieht, wie die eignen Angehörigen behandelt werden. Man ist entlassen und muß selber zum Schwert greifen. Einwurf des Verteidigers Grünspach. Verzeihen Sie gütigst, für die Frage, ob eventuell Mord oder Totschlag vorliegt, ist natürlich von Bedeutung, die Stimmung der Leute kennenzulernen. Alle schrien durcheinander, bringt ihn um! Die Situation hat mich verleitet, auf beide einzuschlagen, die Erbitterung der Menge und die Zustände.
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Vernehmung der Zeugin Pauline Baumgartner, 33 Jahre alt, katholisch. Von diesem Platz aus haben Sie gesehen, wie die Frau hineingetragen wurde. Nein, hineingezerrt wurde. Sie konnte nicht alleine gehn. Ich sehe es heute noch, mit einem Arm wurde sie hineingezerrt. War es roh oder ein Tragen? Nein, es war richtig, als wenn sie sie hineingeschmissen hätten. Sie war nicht mehr imstande zu gehen. Wie fanden Sie dies ganze Verhalten? Meiner Ansicht nach war die Tat sehr roh. Zeuge Kellner Max Krupp, 17 Jahre, evangelisch. Ich habe noch gehört, wie der Hauptmann Petri rief, haut das Schwein. Zeuge Walter Mistelski, 17 Jahre alt, evangelisch. Hauptmann Petri sagte zu den Umstehenden, seht nur zu, daß die nicht lebendig herauskommen oder nicht lebend ins Gefängnis. Zeuge Peschel, Fahrer des Liebknecht-Transports. Ich gehe nur von dem Gesichtspunkt aus: ich bin mit Leib und Seele Soldat. Ich habe mich gefreut, daß der Transport vorschriftsmäßig vor sich ging, wie er vom militärischen Standpunkt aus gemacht werden sollte. Sie verspotteten ihn, spien ihn an und schlugen ihn auf den Kopf. Dann führten sie ihn weg. Der Mord wurde auch als Hinrichtung bezeichnet. Die Hinrichtung wurde auch als Selbstmord bezeichnet. Sie sollte in der Zelle
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erhängt werden und dem Volk weisgemacht, sie habe sich selber aus Verzweiflung und um die Mörder des Mordes zu bezichtigen umgebracht. Es ist unmöglich anzugeben, wie die Waffe in die Zelle gelangt sein soll. Die Schmauchspuren sprechen ihre eigne Sprache. Um sich auf die geschilderte Weise selber umzubringen, hätte er eine akrobatische Verrenkung vollführen müssen. Wir lassen die Frage offen, was in der Todesnacht wirklich geschah. Wer den Arbeitgeberpräsidenten einen ehemaligen SS-Offizier nennt, stellt sich außerhalb der Gemeinschaft aller Demokraten. Und er ging hinaus und weinte. Zeuge Walter Grützner, evangelisch-lutherisch. Dann nahm mich der Herr Leutnant Sander in eine Nische dieses Cafés beiseite und sagte mir in gedämpftem Tone, er hätte im Auftrage – er nannte den Namen des Hauptmanns Pabst – mich zu bitten, ich solle auf die Mannschaften einwirken, daß sie günstig aussagten. Außerdem wies er darauf hin, daß sich unter den Mannschaften ungeeignete Elemente befänden. Ich hätte gewissermaßen plein pouvoir dafür zu sorgen, daß ungeeignete Elemente herauskämen. Ich wurde aus dem Gespräch nicht klar und fragte, was meinen Sie eigentlich. Da wiederholte er mir den Inhalt des Gespräches und fügte hinzu, Sie wissen doch, was hier im Eden-Hotel passiert ist? Daraufhin wurde ich natürlich etwas erregt und sagte ihm, sagen Sie dem betreffenden Herrn, daß er durchaus an den Falschen geraten ist. Ich bin zufällig Jurist, und ich würde, wenn ich eine derartige Handlung begehen
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würde, mich einfach der Verleitung zum Meineid schuldig machen. Sagen Sie ihm außerdem, daß das eine politische Dummheit ersten Ranges ist. Zeuge Willi Grantke, Jäger zu Pferde, 19 Jahre alt, evangelisch. Der Oberleutnant nahm seinen Revolver rum und wollte schießen. Da ging der nicht ab, weil er gesichert war. Im Auto wurde gesagt, er soll nicht schießen. Da nahm der Oberleutnant den Revolver, entsicherte ihn und schoß. Wo schoß er hin? Hier oben, die linke Seite. (Der Zeuge deutet mit dem Zeigefinger an die Schläfe.) Trat eine Veränderung mit dem Körper ein? Sie zuckte noch einmal zusammen. Zeuge Max Weber, 26 Jahre alt, evangelisch. Wir legten die Leiche hin. Es wurde gerufen, halt oder wir schießen. Darauf ging Vogel bis zur Brücke und gab sich zu erkennen, kam zurück und sagte, nehmt die Leiche und schmeißt sie ins Wasser. Poppe und ich haben angefaßt und die Leiche ins Wasser geschmissen.
Zeugin Anna Wandlinger, 23 Jahre alt, katholisch. Darauf warf man sie in ein Auto, wobei sie ihren Schuh verlor, einen Halbschuh, den nahm ein Soldat an sich und wollte ihn sich als Andenken aufbewahren. Er zeigte ihn uns auch. Er nannte sich Kurt Becker. Das ist alles, was ich weiß.
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Zeuge Ing. Franz Röpke, 38 Jahre alt, evangelisch. Ich meldete Herrn Hauptmann Weller, eben ist die Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, man kann sie noch schwimmen sehn. Zeuge Janschkow. Das soll Dr. Grabowski zu Ihnen gesagt haben, daß Sie, wenn Sie gefragt würden, den Leuten sozusagen die Hucke voll lügen. Sie verstehen den Ausdruck – Er hat gesagt, ich soll den Leuten etwas erzählen – Um – Um vielleicht ein Schriftstück in die Finger zu kriegen. Darüber wurde gesprochen – Hat der Zeuge nicht doch etwas gesagt und erst im letzten Augenblick durchblicken lassen, ich will erst Geld haben, bevor ich Näheres sage – Ach so – das habe ich gesagt – Die Vernehmung Janschkows wird gleich darauf beendet. Eine Aufklärung der Widersprüche in seiner Aussage unterbleibt. Auch wird nicht weiter gefragt, was er denn nun über die Rolle des Oberleutnant Vogel zu Wolf gesagt haben will. Man befürchtet offenbar eine weitere Panne. Plädoyer des Anklagevertreters Jorns. Es kommt auch in Betracht, daß sie die ganze Kriegszeit unter Waffen gestanden haben. Meine Herren, der Krieg hat ja leider die Begriffe von Recht und Unrecht, von Moral und Unmoral etwas verwischt. Namentlich wird jetzt ein Menschenleben gering geachtet. Die
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Revolution hat in dieser Beziehung auch im Innern unsres Vaterlandes leider nicht dazu beigetragen, das sittliche Niveau zu heben. Auch sind die Nerven nicht mehr so auf der Höhe, wie man es unter normalen Umständen voraussetzen muß. Ferner ist zu berücksichtigen, daß sämtliche Angeklagte zu der Tat nicht aus gemeinen Motiven gebracht worden sind, sondern daß sie in einer überaus erregten Zeit aus mißverstandnen politischen Interessen begangen worden ist. Das Urteil des Feldkriegsgerichts. Es werden verurteilt. Der Angeklagte Husar Runge wegen Wachtvergehens im Felde, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Mißbrauch der Waffe, begangen in zwei Fällen, in einem Fall auch in Tateinheit mit erschwertem Wachtverbrechen im Feld, sowie wegen Gebrauchmachens von falschen Urkunden zwecks beßren Fortkommens zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren Gefängnis, 2 Wochen Haft, 4 Jahren Ehrverlust und Entfernung aus dem Heere. Die Haftstrafe wird durch die erlittene Untersuchungshaft für verbüßt erachtet. Der Angeklagte Leutnant der Reserve Liepmann wegen Anmaßung einer Befehlsbefugnis in Tateinheit mit Begünstigung zu 6 Wochen geschärften Stubenarrests. Der Angeklagte Oberleutnant a. D. Vogel wegen erschwerten Wachtverbrechens im Felde in Tateinheit begangen mit Begünstigung während Ausübung des Dienstes, Mißbrauch der Dienstgewalt nach § 115 MStGB
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und Beiseiteschaffung einer Leiche, sowie in einem weitren Falle wegen vorsätzlich unrichtiger Abstattung einer dienstlichen Meldung zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren 4 Monaten Gefängnis und Dienstentlassung. Die Angeklagten Kapitänleutnant v. Pflugk-Harttung, Oberleutnant zur See v. Rittgen, Leutnant zur See Stiege, Leutnant zur See Schulze, Hauptmann v. Pflugk-Harttung und Hauptmann der Landwehr Weller werden freigesprochen. Nach dem Schuß wurde Frau Luxemburg eine Decke über den Kopf gezogen. Nach wenigen Minuten hatte das Auto die Corneliusbrücke erreicht, wo es links abbog und das Lützowufer am Landwehrkanal entlangfuhr. Nach einigen hundert Metern Fahrt erreichte das Auto kurz vor der Lichtensteinbrücke ein mit Gebüsch bewachsnes Rasenstück, das zwischen Kanal und Straße liegt. Der Angeklagte Vogel, der in dieser Beziehung geständig war, gab den Zeugen Janschkow und Hall etwa 50 Meter vor der Brücke den Befehl zu halten, und sagte etwa, wir wollen sie hier herausschleppen. Auf sein Geheiß faßten Weber und Poppe an und trugen Frau Luxemburg zum Kanalgebüsch. Auch Vogel selbst faßte hierbei zu und berührte eine schlaff herunterhängende Hand der Frau Luxemburg, was ihm ein unangenehmes Gefühl verursachte. Da nicht sicher nachgewiesen werden kann, ob der Tod auf die Kolbenschläge oder auf den Schuß zurückzuführen ist, kann sowohl dem Angeklagten Runge als auch dem Schützen nur eine versuchte Tötung nachgewiesen werden. Als sie hingingen, fanden sie den Leib nicht. Sie waren darüber ganz ratlos.
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Du freilich willst Gottes Sohn sein. Aber Gott würde wohl nicht einen solchen Leib haben, wie der deinige ist. Gottes Leib würde wohl nicht so gezeugt sein, wie du gezeugt wurdest. Das war die Sache eines heillosen Betrügers. Oder meint ihr, daß die Dinge der andren Mythen seien und als solche gelten, während bei euch die Katastrophe des Dramas anständig oder wahrscheinlich erfunden sei, seine Stimme am Pfahl, als er ausatmete, und das Erdbeben und die Finsternis? Daß er zwar lebend sich selbst nicht half, tot aber auferstand und die Zeichen der Strafen zeigte und die Hände, wie sie durchbohrt waren? Wer hat das gesehn? Ein halbrasendes Weib, wie ihr sagt, und vielleicht noch ein andrer von derselben Betrügerverbindung. Gestraft also wurde er von allen gesehen, auferstanden aber von einem, das Gegenteil wäre am Platze gewesen. In der Nacht zum ersten Juni wurde an der Freiarchenbrücke eine weibliche Leiche angetrieben. Im Leichenschauhaus erschien ein Leutnant, der ein Schreiben des Reichswehrministers vorwies und die Herausgabe verlangte. Erst dann wurde der Untersuchungsrichter verständigt. Die Schädeldecke war völlig unversehrt, was man nach Runges Kolbenhieben nicht vermutet hatte. Die Leiche weist eine Schußverletzung links an der Stirn auf. Da das Gehirn völlig in Verwesung übergegangen ist, können wir über die Wirkungen des Schusses keine Feststellungen treffen. Bei den Rebellen handelte es sich vermutlich um politische Widerstandskämpfer. Er hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt, den ich küssen werde, der
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ists, den ergreift. Mit denen oben ist nichts los, das sind Scheißer. Was brauchen wir noch Zeugen? Sie traten auf ihn zu und sagten, du gehörst zu ihnen, deine Sprache verrät dich. Das ist der von der Roten Fahne. Ich befehle Ihnen, ihn sofort zu erschießen. Er kam aber zu mir und sagte, er habe noch einen Auftrag zu erledigen. Er fluchte und schwor, er kenne diesen Menschen nicht. Da nahm ich das Gewehr ab, ging auf Posten zurück und Dreger sagte mir, nun hast du den da oben wohl doch nicht erschossen, es hat ja so lange gedauert. III Nach dem Mord die Lügen, die Verwischung der Spuren. Der Hauptmann Janssen von der Abteilung VIII der Garde-Kavallerieschützendivision versieht jenen Ausweis, mit dessen Hilfe Vogel aus dem Zellengefängnis Moabit herausgeholt wurde, mit dem Stempel der Division. Der aus dem Prozeß bekannte Entlastungszeuge Janschkow verkauft für eine hübsche Summe für die Durchführung der Flucht sein Auto an die Division. Am 17. Mai fliegt der Vogel nach Holland, und nachdem er sicher gelandet ist, teilt am 20. Mai die Division der Öffentlichkeit die Flucht mit. Am 23. Dezember 1920 wird Oberleutnant Vogel amnestiert. Am 21. Januar 1921 veröffentlicht die Freiheit einen Brief Runges. Am 15. Jan. wurde ich abends zwischen 7 und 9 als Posten vor das Hauptportal des Eden kommandiert. Was die Sache Liebknecht anbetrifft, hatte ich strikten Befehl von Offizieren diesen Lumpen niederzuschlagen
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an der Stelle, wo er herauskommt. Was die Luxemburg anbetrifft, kamen Offiziere zu mir und sagten, ich gebe Ihnen den Befehl, daß sie das Hotel nicht mehr lebend verläßt, merken Sie sich das! Sie wird Ihnen ja durch den Oberleutnant Vogel in die Arme geführt, sodaß Sie nur zuzuschlagen brauchen. Als sie ins Auto gezerrt wurde, sprang beim Anfahren noch einer hinten auf und schoß ihr eine Kugel in den Kopf, was ich genau in der kurzen Entfernung sehen konnte. Gleich darauf kam ein Offizier vor das Portal zu mir und sagte, ich solle sofort nach oben 4 Treppen gehen und da Ordnung schaffen. Mit denen oben ist nichts los, das sind Scheißer. Da ist auch der vor der Roten Fahne, ich gebe Ihnen den Befehl, ihn sofort zu erschießen. Ich sagte ihm, daß ich schon meine Befehle hatte und woher er den seinen habe. Da antwortete er mir, die Befehle kommen von Hauptm. Pabst. Stand ein Mann an der Wand, einer saß daneben. Ein Wachtmeister befahl mir, das Gewehr zu entsichern und beim dritten Male, wenn er zurückkomme, solle ich sofort schießen, das sei das Zeichen. Ich hatte das Gewehr eingezogen, mir kamen Bedenken und nahm es wieder ab und auch der Mann von der Roten Fahne kam zu mir und sagte, er hätte noch einen Auftrag zu erledigen. Sagte ein Offizier zu einem Wachtmeister, führen Sie den Mann ab und sorgen Sie dafür, daß nichts passiert. Inzwischen waren die andren zurück und brüsteten sich: Liebknecht haben wir eine gebrannt. Über Luxemburg hieß es: die alte Sau schwimmt schon. Ich wurde beglückwünscht und mir wurde gesagt, Ihnen passiert nichts. Sie kommen nach ein andres schönes Städtchen und es wird für Sie gesorgt.
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Ging hinaus und weinte bitterlich. Leutnant Liepmann sagte zu mir, na Mensch, Sie suche ich schon lange. Sie müssen fort, Sie müssen flüchtig werden, sonst fliegen wir alle ins Zuchthaus. Liepmann brachte mich zu dem Husarenregiment Nr. 8. Ich verständigte da auch sofort meine Vorgesetzten eingehend über die Mordsache und wurde sofort als ein Held angesehen. Eines Tages im Januar oder Februar 1919 war ich mit dem Reinigen der Gulaschkanone beschäftigt. Es kamen 2 Kinder auf den Hof und sagten, Husar Runge soll auf die Straße zu einem Soldaten kommen. Runge, ich bin auf Befehl hierher geschickt vom Adjutanten der 8. Husaren, Oberst Frh. v. Weichs. Du sollst verhaftet werden, das darf nicht sein. Er gab mir 240 M. und einen Militärfahrschein nach Köln. Ich soll machen, daß ich fortkomme, mich aber im Hotel Eden noch einmal melden. Es wurde mir gesagt, der Haftbefehl wird nicht eher losgelassen, bis Sie fort sind. In meine Wohnung wurden mir 4000 M. gebracht und ein Zettel, ich solle nach Prag fahren und mich bei dem Konsul Schwarz zur weitren Beschäftigung melden. Ich wurde 4 Tage in der Wohnung des Leutnants Liepmann in der Kurfürstenstraße gefangen gehalten, bis es den Leuten auffällig wurde. Dann erhielt ich einen Militärfahrschein nach Flensburg und falsche Papiere. Die Untersuchung ist eine Komödie gewesen. Ich sprach mit Kriegsgerichtsrat Jorns wiederholt privat und er sagte mir, nehmen Sie ruhig alles auf sich, 4 Monate werden es nur, und Sie können sich dann immer wieder an uns wenden, wenn Sie in Not sind. Es wurde mir immer wieder gesagt, wenn ich meine Aussage nicht richtig einlernte, läge mal eine Handgranate im
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Bett, wenn ich schlafen ginge. Die Offiziere hatten oft bis zwölf nachts Damenbesuch in den Zellen, mit Musik, der Wein ist geflossen. Brief des Verteidigers Grünspach vom 30. 5. 1922 an Runge. Ich habe alles getan, was ein Rechtsanwalt für Sie tun kann. Ein Gnadengesuch ist eingereicht, ein Antrag auf Strafaussetzung, schon vorher habe ich mich an den Reichswehrminister gewandt, andre Möglichkeiten gibt es nicht. Ich werde auch in der Lage sein, wenn Sie entlassen sind, Ihnen einen Betrag von 3000 M. zu zahlen, der von einem Spender, der nicht genannt sein will, für Sie mit der ausdrücklichen Weisung hinterlegt ist, Ihnen diesen Betrag erst bei Ihrer Entlassung zu übergeben, und zwar nicht auf einmal, sondern in monatlichen Raten von 300 Mark. Die Affäre Jorns wurde 1928 ausgelöst durch einen Artikel in der Zeitschrift Das Tagebuch, der sich mit der Rolle des inzwischen zum Reichsanwalt avancierten Jorns in dem damaligen Ermittlungsverfahren befaßte. Zeuge Wilhelm Pieck, 53 Jahre alt, Reichtagsabgeordneter, politischer Leiter der KPD. Der andere Soldat forderte mich auf, mich umzudrehen. Ich hatte aus dem ganzen unruhigen Gebaren den festen Eindruck, der soll mich erschießen. Ich habe mich nicht umgedreht. Der Mann bastelte an seinem Gewehr herum. Als ich bemerkte, daß er es heben wollte, lief ich auf ihn zu und rief, Kamerad, nicht schießen, ich bin hier festgenommen worden und bin noch nicht vernommen, ich weiß nicht warum, ich verlange zunächst mei-
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ne Vernehmung. Der Mann wurde dadurch irritiert und kommandierte, Marsch. Darstellung des Verteidigers Paul Levi. Am 1. März 1919, einen Tag nach seiner Inhaftierung, stellt Leutnant Liepmann den Antrag auf zahnärztliche Behandlung. Dieser Antrag ist das erste Schriftstück in der ganzen Morduntersuchung, das von Jorns mit dem Vermerk EILT versehen wird. Am 14. März erfährt Jorns durch die Ehefrau des Häftlings Peschel, daß ihr Mann im Untersuchungsgefängnis wiederholt die Besuche einer fremden Dame empfangen habe. Am 25. März begegnet Jorns in den Abendstunden dem Untersuchungshäftling Liepmann auf dem Wittenbergplatz, als dieser sich auf dem Weg in die Kolibri-Bar befindet. Am 18. Mai 1919 sitzt Runge im Kasten, und der Vogel ist entflohen. Am 8. Juni schreibt Runge, wo bleiben die Befehle, die ich hatte, und die Befehle, die meinerseits nicht mehr zur Ausführung kamen. Das meint den Befehl zur Tötung des Pieck. Am 12. Juni schreibt Runge, ich habe doch aber Befehl dazu gehabt, die niederzuschlagen und den Redakteur von der Roten Fahne zu erschießen im Edenhotel. Ich will in der Öffentlichkeit nicht mehr als Mörder gelten, ich werde den ganzen Sachverhalt klarlegen, wie er zutage getreten ist. Allerhand Versprechungen sind mir ja vorher gemacht worden, jetzt bin ich lächelnd abgeurteilt, jetzt bekümmert sich kein Herr Verteidiger um mich. Am 9. Oktober schreibt Runge, welcher Herr Gerichtsrat doch Versprechungen gemacht hat, ich soll ruhig auf mich nehmen, es kommt doch eine Amnestie.
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Dieser Herr Gerichtsrat hat diese Versprechungen auch meiner Frau gegenüber geäußert. Am 5. Jan. 1920 schreibt Runge, auch die eigentlichen Schuldigen und die richtigen Mörder werde ich namhaft machen, die mich fortwährend beeinflußt haben auf meine falsche Aussage. Am 13. Jan. 1920 schreibt Runge, Gerichtsrat Jorns habe zu ihm gesagt, ich spreche mit Ihnen noch privat. Nehmen Sie ruhig alles auf sich. 4 Monate werden es nur. Eure Exzellenz bitte nochmals davon Kenntnis zu nehmen, daß ich nach eigenmächtig vollbrachter Tat, wie man es mir zur Last legt, doch unbedingt sofort wegen dieses Eigenmächtigen hätte in Haft genommen werden müssen. Daß dies nicht geschah, müßte doch Eurer Exzellenz genügen, um daraus zu ersehen, daß keine Eigenmächtigkeit vorlag. Ich möchte wohl bezweifeln, daß man mir in einem solchen Falle freiließ, mich zu entfernen. Weiter wende ich mich ausführlich an zwei Parteien des Reichstags um Richtigstellung und mit einem ausführlichen Antrag, wie sich die Sache richtig verhält und für die Öffentlichkeit des Volkes Klarheit geschaffen wird, da ich mich für Schuldige nicht hängen lasse. Die Justiz ist dazu da, Verbrechen aufzuklären und nicht zu verdunkeln. Und weil er dieses schreibt, sagt Rechtsanwalt Levi, wird er von der Militärjustiz für verrückt erklärt. Heiterkeit im Publikum. Am 13. Februar, fährt Levi fort, platzt die Bombe. Grützner steht auf und nennt den Mann, der hinter allem stand: den Hauptmann Pabst. Ich habe bereits gesagt, welche Folgen daraus der Untersuchungsführer
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Jorns zog. Am Vormittag wollte er Pabst verhaften und am Nachmittag gab er ihm Nachricht über den Inhalt der Akten, damit er den Kriegsminister sachgemäß informiere. Aber das, was Pabst am schwersten belastet haben würde, das wiederum hatte Jorns aufzuklären unterlassen. Beide Mordtransporte gingen aus vom Kabinett des Hauptmann Pabst. Wir können heute also nicht infolge, sondern trotz der Bemühungen des Herrn Jorns feststellen: nachdem der Mord an Liebknecht im Edenhotel bekannt war, war Frau Luxemburg noch mindestens 20 Minuten im Hotel, ehe ihr Abtransport begann. Es ist alles mit Sinn und Verstand in diesem Verfahren, zweckbewußt, zielstrebig. Es hat seinen Sinn, warum gerade im Fall Pabst in allen Punkten die Mitglieder des Vollzugsrates ausgeschaltet worden sind. Ich kann mir vorstellen, daß Pabst von der Höhe seiner Macht herab erklärte, er wolle mit den Zivilschnöseln nichts zu tun haben. Ich kann mir die Bemerkungen denken. Vernehmung des Zeugen Dr. Liepmann. Konnten Sie Liebknecht sehen, als er fiel. Die Ereignisse dieses Abends spielten sich wie im Rausch ab. Wir hatten vier Jahre einander getötet, es kam auf einen mehr nicht an. Das Urteil des Schöffengerichts sprach den Angeklagten Bornstein am 27. April 1929 von der Anklage der Beleidigung und der üblen Nachrede frei. Wer sie hier vor Gericht wiedersah, schreibt die Frankfurter Zeitung am 28. April 1929, den durch jahrelang eingetrichterte Lügen ganz wirr gewordnen Runge, den an
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den Krücken der Verzweiflung humpelnden Liepmann, den ratlos und verbissen schimpfenden Jorns, wußte, was er von einer Kameradschaft zu halten hatte, die unter dem Deckmantel der Mannestreue die raffinierteste Ausnutzung menschlicher Dummheit verbarg. Runge und Liepmann, jeder auf seine Art, haben die Zusammenhänge, deren Opfer sie wurden, besser verstehn gelernt. Vielleicht ist es ihnen nicht so gut gegangen wie Herrn Jorns; sicher haben sie mit ihrer Tat keine Karriere gemacht. Das schärft den Blick. Deutsches Tagblatt, 30. April 1929. Seit Sonnabend jauchzt die jüdische Presse: Hosianna Zion! Bornstein hatte den Reichsanwalt bekanntlich der Duldung der Tötung der bolschewistischen Hetzer Liebknecht und Luxemburg bezichtigt. Ein wahres Trommelfeuer gegen die deutschen Richter war die Folge. Das Ergebnis ist da: Bornstein geht als Triumphator aus. Nach dem Siege der Levi, Bornstein über die deutsche Justiz wird die innere Bolschewisierung hemmungslos fortgesetzt werden. Der Rechtsgedanke ist ein Spielball der jüdischen Minierarbeit, die höchst zweckvoll eine Position nach der andern untergräbt. Schreiben Jorns’ vom 4. Februar 1921, abschriftlich von Jorns am 22. 12. 1930 dem Landgericht zur Sache Bornstein übergeben. Die Behauptung des früheren Husaren Runge ist entweder eine gemeine, vielleicht von dritter interessierter Seite beeinflußte Verleumdung oder, wie ich nach meinem persönlichen Eindruck über Runge und dem
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Gutachten des Gerichtsarztes Geheimen Medizinalrat Leppmann in der Hauptverhandlung gegen Runge für wahrscheinlicher halte, das Phantasie-Produkt eines geistig minderwertigen Menschen. Ich bin im Verlaufe der ganzen Untersuchung nicht um eines Haares Breite vom Wege des Rechts abgewichen. Ich habe Runge bis zur Hauptverhandlung, soviel ich mich wohl noch genau entsinne, nicht wiederholt, wie er behauptet, sondern nur ein einziges Mal privat gesprochen, und zwar, als er mir von dem Kriminalschutzmann infolge verspäteten Eintreffens dessen Telegramms gegen 10 Uhr am Sonntag morgen, wo mein Sekretär erst um halb 12 Uhr auf das Geschäftszimmer kam, in meiner Wohnung vorgeführt und nirgends zweckmäßig untergebracht werden konnte. Er erklärte mir gleich, daß er schon immer die Absicht gehabt habe, sich zu stellen und alles anzugeben, wie es sich zugetragen habe, aber er sei weggeschickt worden und habe auch Angst um seine Familie gehabt. Da er hierzu erwähnte: allerdings hätte man auch gut für seine Frau gesorgt (er sprach von einigen 1000 Mark, die er erhalten habe), habe ich ihm, wie ich noch sehr wohl in Erinnerung habe, gesagt: da könne er ja sehn, daß er wegen seiner Familie keine Sorgen zu haben brauche, ebenso wie bisher würden sich auch später Leute finden, die für seine Familie sorgten, er könne also ruhig auch alles angeben. Inwiefern Runge beurteilen kann, daß die Untersuchung eine Komödie war, ist mir unverständlich, da er ihren ganzen Verlauf gar nicht gekannt hat. Handschriftliche Stellungnahme Jorns’ zum Schöffengerichtsurteil, dem Landgericht (Kammer Ohnesorge) überreicht.
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Betr. Privatgespräcb mit Runge. Unterstützung der selbst ganz unverdächtigen Frau eines Mannes, dessen Tat in weiten Volkskreisen als verdienstvoll angesehen, in Zeiten der Not 1 Monat nach der Tat, doch nur lediglich aus Mitleid u. Sympathie mit Geschehenem zu erklären; keineswegs Hindeuten auf Zusammenhang des Geldgebers mit Täter selbst vor der Tat, umsomehr da mir bekannt, daß auch sonst von dritter privater Seite für die Täter Geld einging. Hotelgäste hatten ja sogar unmittelbar nach der Tat offenbar aus gleicher Gesinnung heraus an Soldaten Geld verteilt, Aussage des früheren Rechtsanwalts Dr. Bredereck im Januar 1931. In der fraglichen Zeit war ich Vorstand des Nationalverbandes Deutscher Offiziere. In den Offiziersverbänden, die die Macht in Händen hatten, wurde erwogen, ob es zweckmäßig sei, das Verfahren gegen die Offiziere zum Austrag bringen zu lassen. Man befürchtete Blutvergießen. Es wurde daher erwogen, 30 000 Mark zur Flucht der Offiziere zu beschaffen. Diese Summe habe ich auch von einer Stelle erhalten. Ich habe nur einen Teil des Geldes - ich weiß nicht mehr, ob es 5 000 oder 15 000 Mark waren - sofort zur Flucht gegeben, der Rest sollte ins Ausland nachgeschickt werden. Mit der Schwester des Angeklagten Kapitänleutnant von Pflugk-Harttung war ich mehrmals im Gefängnis. Die Schwester wurde ohne weitres durchgelassen, und ich habe sie begleitet. Ich wurde durch ein Schreiben aufgefordert, das Restgeld auszuhändigen; ich habe die Summe an Fräulein von Pflugk-Harttung und ihren Begleiter ausgehändigt.
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Wer war der Begleiter? Bredereck (nach einigem Zögern): Kapitänleutnant Canaris. War Canaris bekannt, welchem Zweck die Gelder dienten? Jawohl. Jorns blieb Reichsanwalt und wurde 1936 zum Reichsanwalt beim Volksgerichtshof berufen. Am 1. April 1937 trat er in den Ruhestand und erhielt eine Dankesurkunde, in der Hitler die hervorragenden Verdienste des scheidenden Beamten würdigte. Kapitänleutnant Canaris wurde später Abwehrchef Hitlers und wegen seiner Verbindung mit den Widerstandskämpfern am 20. Juli 1944 hingerichtet. IV Brief Runges an Ministerialrat Witte, Preußisches Justizministerium in Berlin. Eingangsstempel vom 15. Juli 1933. Sehr geehrter Herr Ministerialrat. In meiner Vorgeschichte vom Jahre 1919 möchte ich Sie höflig und bescheiden bitten. In wie weit die Sache gediehen ist, und balt zum Abschluß gelangt. Damit ich weiß was nun Endlich los ist. Es geht nicht an, und es bedarf keines Hinweises, so daß ich vom Nationalsozialistischen Staate auch noch verlaßen werde. Denn ich weise mit der bitte darauf hin das ich mein gutes Recht habe, und das Urteil, wie die Sache liegt, nicht gegen mich zu Recht besteht. Genauso wie das Deutsche Volk sein Recht fordert gegen den Vertrag von Versailch, genau so bitte ich um mein Recht. Aber mein hoher Führer Volkskanzler Adolf Hitler hat auch seine Idiale
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mit Gefängnis vertauscht. Mit Deutschem Gruß und Hitler Heil Parteign. Wilhelm Radolf. Schreiben des Preußischen Ministers des Innern vom 3. August 1933 an den Preußischen Justizminister. Nach dem mit der Bitte um Rückgabe beiliegenden Vorgange befindet sich der seinerzeit in die Affäre der Rosa Luxemburg verwickelt gewesene Oblt. a. D. Vogel in Holland in mißlichen gesundheitlichen und finanziellen Verhältnissen, Es würde einen Akt der Gerechtigkeit bedeuten, wenn dem Oblt. a. D. Vogel ebenso wie dem früheren Husaren Runge eine allgemeine Geldentschädigung gewährt würde. Schreiben des Preußischen Ministers des Innern vom 12. Oktober 1933 an den Preußischen Ministerpräsidenten. Die bisherigen polizeilichen Ermittlungen berechtigen zu der Annahme, daß Runge nicht als ein Mann mit der bei ihm vermuteten nationalen Überzeugung angesehen werden kann. Nach Verbüßung seiner Strafe ist er von seinen früheren Vorgesetzten und Kameraden keineswegs im Stich gelassen worden. Runge hatte vielmehr Gelegenheit, in verschiedenen Stellungen, insbesondere in der Landwirtschaft, tätig zu sein. Nachdem sich infolge seines Verhaltens, insbesondere in Hinblick auf seine Unlust zur Arbeit, die Beziehungen zu seinen früheren Vorgesetzten schon stark gelockert hatten, forderte er von einem früheren Vorgesetzten die Zahlung einer monatlichen Rente von 500 RM unter der Drohung, er würde seinen früheren Vorgesetzten wegen Beteiligung an der Tötung und Beseitigung des
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Liebknecht und der Luxemburg anzeigen, falls die verlangten Beträge nicht gezahlt werden sollten. Schreiben Wilhelm Radolfs (Runge) vom 19. März 1934 an den Preußischen Justizminister (maschinenschriftlich). Nachdem das Gesetz über die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung vom 27. Febr. 34 erlassen wurde, bitte ich um Festsetzung einer Rente für mich. Es ist der N. S. D. A. P., Pg. General Daluege, Herrn Reichsminister Dr. Frick und Herrn Minister-Präsident Hermann Göring, sowie dem Justizministerium wohl bekannt, was ich für die nationale Bewegung getan habe, sodaß ich dies nicht nochmals zu erläutern brauche. Durch die zahlreichen Überfälle und Verwundungen, die ich von meinen politischen Gegnern erhalten habe, ist mein geistiger Zustand ein sehr schlechter und mein gesamtes Nervensystem ist so mitgenommen, daß ich kaum die einfachsten Arbeiten ausführen kann. Vor allen Dingen hat mein Gedächtnis sehr gelitten. Ich bitte daher das Justizministerium, mein Gesuch wohlwollend zu unterstützen, damit auch bei mir das so oft angeführte Wort: »Der Dank des Vaterlandes ist Euch gewiß« endlich zur Geltung kommt. Heil Hitler! Wilhelm Radolf. Aus dem Protokoll über die Sitzung des Ministerrats vom 13. 6. 1934. Zu Punkt 8 der Tagesordnung (Entschädigung der in den sogen. Fememordprozessen verurteilten Personen) beschloß der Ministerrat, dem ehemaligen Husaren Otto Runge eine einmalige Entschädigung von 6 000 RM aus Staatsmitteln zu gewähren.
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Schreiben Wilhelm Radolfs (Runge) vom 19. 7. 1934 an den Preußischen Justizminister. Sehr geehrter Herr Minister Ihr Schreiben vom 16. 7. 1934 zwecks Entschädigung ist bei mir eingegangen. Ich spreche Ihnen sowie dem Staatsrat meinen besten Nationalsozialistischen Dank aus. Einen Teil des Geldes werde ich gebrauchen, meinen Gläubigern gerecht zu werden, um jede Mahnung aus dem Wege zu gehen. Einen anderen Teil werde ich Gebrauch machen die Winterhilfe zu Stiften sowie den Luftschutz. Da ich auch noch meine Stellung habe, denn da mier diese Summe nicht reitzen kann, Lebe ich einfach und schlicht. Hitler Heil Wilhelm Radolf Ich hätte auch gern meinen Nahmen Otto Runge wieder gehabt, wenn es nicht soviel Umstände macht. (Das historische Material stammt aus dem Band »Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens.« Hrsg. von Elisabeth HannoverDrück und Heinrich Hannover. Frankfurt/M. 1967 (= edition suhrkamp 233)
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Anita Pichler
Adieu Pierrot Man erzählt von Bildern von Frauen. Aus ihren Augen sollen Tränen quellen, wenn sie zu vieles sehen. Man erzählt, sie könnten die Flüssigkeit abgeben, die sich anstaut, sie seien gerührt vom Schicksal der Menschen und weinten darüber. Im Haus am Teich nahm nur die Tochter das Tränenbild nicht ernst. Zu viele Madonnentränen waren von ihren Augen geflossen, sie sollte fortgehen, der Clown. Auf der Wange hatte sie einen Leberfleck, den keine Schminke überspielen konnte. Den hatte der Lehrer mit der Schere aus der Haut geschnitten. Papierschnitzel. Jetzt aber, so erzählt man, blutet die Wunde, wenn weiße Schminke daraufgestrichen wird. Blut quillt über die Wange auf Pierrots Kleid, der lacht aus lauter Freude über die Menschen. Es soll im Haus einen Alten gegeben haben, der blind geboren war und abergläubisch. Er fuhr über die Tränen mit seinen Fingern, und sie wurden nicht naß, über des Mädchens Wange fuhr er und ward sehend davon. Die Tochter soll den Kröten im Teich eingeredet haben, sie könnten sich verwandeln, aber sie unkten nur noch lauter jede Nacht und brachten das Madonnenbild immer wieder zum Heulen über die Hoffnung, die sie in den Schlaf der Menschen schrien, der nicht kam. Der Alte soll gelauscht haben und von der Zukunft gesprochen, die es nicht gab. Zu den Kröten auch noch die
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Stimme des Alten und immer mehr Leute im Haus, die alt wurden aus der Zukunft. Das Clownmädchen soll es satt gehabt haben und bei Nacht und Nebel davongegangen sein, eine dünne Spur hinter sich herziehend. Im Haus schrien die Menschen einander an, die Kröten unkten im Teich, als sei Vollmond, und der blinde Alte öffnete seine leeren Augen: sie hatte ihm erzählt, daß sie schön wie eine Madonna sei, mit blonden Haaren und blauen Augen. Er liebte sie um ihrer Schönheit willen, und sie liebte ihn, weil er sie nicht sah. Als sie weit genug entfernt war, und die Madonna nicht mehr weinte, und die Kröten im Teich verstummten, und die Menschen endlich schwiegen, weil es nichts nützt, und des Blinden Augen sie nicht mehr verfolgten, klebte sie ihren Leberfleck wieder auf die Wange: Pierrot lachte aus ihr. Im Zug dachte das Clownmädchen an nichts mehr. Die Schienen bäumten sich auf, standen plötzlich im Grau. Zug und Führer fielen zurück auf den Bahnhof. Das Clownmädchen hing frei, ihren Körper ans Eisen gepreßt, nur der Fuß stand ab. Es soll schwarze Vögel geben, die herumziehen und den Menschen ihr Schicksal nachtragen, wo immer sie sind. Des Alten Blindheit und der Madonna Flennen kreisten jetzt um sie in ihrer Freiheit. Der blinde Alte träumte vom Madonnenmädchen mit blauen Augen und blonden Haaren, das es nicht gab. Schwarze Krähe hing sie unter Krähen und kein Blut aus ihrem Herzen. Wer sollte hier wen erlösen. Sieben Brüder in der Luft wollten sie zurückbringen. Einer zerrte an ihrer Lippe, und sie ward Schiene, die sich senkte und die Krähen
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mit ihr. Flattern um das Eisen, Nebeneinander von Ende zu Ende; Bewegung tragend, bahnend, zwingend. Auch als Schiene war der ganze Körper da, nur die rechte Hand, wo war die rechte Hand. Die Bahn fuhr über sie hinweg, Federn klebten an ihr, Schnäbel hingen ab, kein Flattern mehr. Sieben Brüder leben aus sieben Gründen oder verfolgen jeder seinen eigenen Tod. Der fahrende Zug speit keinen aus, rattert durch von Bahnhof zu Bahnhof. Des Clownmädchens Augenwinkel weiten sich um Grade. Der Versuch zu pfeifen kommt als rundgelochte Luft von den Lippen, Käsemuster, Hunger stellt sich ein. Der Alte stellt sich die Madonna als Peep-Show vor, in Blindenschrift, mit den Fingerspitzen zu lesen. Onanie machte seinen Körper sehend. Nur das Madonnenmädchen hatte er berührt. So soll sie nichts gewußt haben von schauenden Männern und war, wie sie sein wollte. Zeit klimperte an ihren Ohren, um den Hals, wie Ketten, Zeit an den Fingern, den Fesseln, dem Puls. Das Gold ihrer Zigeunergroßmutter hatte sie verschleudert wie Glasperlen. Als Clown liebte sie das Spiel über alles und hat Stück für Stück gegen ihre sieben Brüder alles verloren. Als diese den Schwindel entdeckten, verlangten sie die Zeit der Brüder zurück. Die Zeit der Mutter sollte sie zurückgeben und die des Vaters. Neun Zeiten in ihrem Leben und die eigene wie Flitter um den Körper. So fuhr Maria im Zug und sie fuhr wie aus bösen Träumen. In vier Sprachen, keine Gegenstände aus dem Fenster werfen und die Notbremse, die große Versuchung.
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Im Dorf gab es fast niemanden mehr. Als auch ihr Freund weggezogen war, hatte Maria an Jan geschrieben. Jan, der Maler, war älter als Maria, und er hatte sofort zurückgeschrieben: Komm, Pierrot, hier ist Platz für alle. Den Wandel der Jahreszeiten liebte Maria nicht mehr und die Sehnsucht kannte sie noch nicht. Ihr Begleiter war Pierrot, der Lächelnde, der Spötter. Er zog seine Murmeln aus der Tasche, spielen wäre gut. Der Mann, der Maria gegenübersaß, hatte kugelrunde Augen. Jetzt werden sie herausfallen, dachte Pierrot, er wollte sie zu den Murmeln stecken. Aber der Mann bot Maria eine Zigarette an. Pierrot ließ die Murmeln fallen, der Schaffner kam vorbei, fiel auf die Nase, Pierrot lachte und Maria schämte sich. Sie zog ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen: »Vater Ubu schüttelte seine Birne und wurde von den Engländern Shakespeare genannt.« Bald schlief Pierrot auf ihren Knien ein. Erst in der Stadt wurde sie sich ihrer Schuhe bewußt. So etwas Braunes, greinte bei jedem Schritt. Auch die Straße wollten sie nicht halten, Schlammschuhe, für mindestens zehn Zentimeter Dreck. An ihrer Seite ging Pierrot, halb in Sonne, halb in Mond gekleidet, mit Halskrause. Er wachte über ihren Tag im Atelier: dasitzen und sich anschauen lassen. Auf der Straße gab es zu viele Spiegel, so viele Spiegelbilder kann kein Mensch ertragen. Jan der Maler machte sie wenigstens unkenntlich. Er malte ihr Gesicht, immer das Gesicht. Pierrot heftete ihm ein Foto übers Papier, sie gingen spazieren: du darfst das Bild durchschneiden, Jan, kreuz und quer. Ich gehe irgendwohin oder ins Kino. In einem kleinen Laden hinter der Sorbonne entdeckte sie
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Goya. Sie pilgerte jeden Tag in ihren schweren Schuhen zu den Capriccios. Sieben Brüder wollen sieben Briefe, dein tröstendes Grinsen, Pierrot. Goya zog weiter, was danach kam, interessierte sie nicht mehr. Am Abend sagte sie zu Jan, dem Maler, sie habe Arbeit gefunden: Au-pair, in der Rue du Bac. Ein Arzt und seine Frau, ein älteres Ehepaar, ein Hund, kein Kind. Sie umarmte Jan, von Goya sagte sie nichts. Sieben Brüder schärfen sieben Sinne. Mit Pierrot kann man zufrieden sein. Auch der Hund wurde gut versorgt, er wurde im Park laufengelassen, es ist nicht verboten. Im Haus hingen Bacon und Magritte. Wie sie schaute und sich interessierte, la petite, la fille, notre fille. Später schlug ein fetter Arztfreund vor, sie könne irgendetwas lernen. Er war jung und freundlich. Krankenschwester, vielleicht. Lernen ist gut, fort vom Hund, vom braunen, sabbernden. Und im Leben ein Rhythmus: aufstehen am Morgen, Metro, Arbeitskittel, Spritzen, Fieberthermometer, Pillen, Handauflegen. Heilen, das machten die anderen. Wichtig ist der Tag, der Ablauf. Am Abend dann ins Kino, in ein Konzert, Theater, Bistro, mit dem Arzt. Sie schielte zu ihm, was wollte der Dicke. Pierrot in weiß, ohne Halskrause. Blut von außen in ihr Gesicht. Oui, es wäre nicht schlecht. Erfrischend, das junge Ding, es brachte die Kaffetassen weg. Ihr war es egal. Im ersten Brief, du liebes Kind. Es scheint die Sonne, bläst der Wind. Und Blumen im Frühjahr. In des Vaters Gelenke hat jemand glühende Messer gestochen. Das Gichtwasser fließt nicht ab. Und warme Unterwäsche und gutes Schuhwerk und Schlaf. Schläfst du auch ge-
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nug, Maria? Nein. Der Schlaf reicht nicht für einen halben Traum. Dafür aber der Tag, Abende mit sich allein. Dingträume, Gummiträume, für den Alltag. Alles kann sich hier verwandeln. In den Ohren hängen wieder Glasperlen. Nachts wird der Markt aus Les Halles geräumt. Und wie kann man hier wohnen? Maria zwingt sich nachzudenken. Sie will scharf nachdenken. Nachdenken hilft nichts mehr. Pierrot unterzieht sich einer Kur im Krankenhaus. Das Haar wird geschoren, man setzt Gummisaugnäpfe an die Kopfhaut. Ein mittelmäßiges Programm, bitte: für das Metronetz und für Busse. Fühler, zum Überqueren von Straßen, zum Einkaufen. Für Kleider ein buntes Programm, wenigstens bis Jeans getragen werden, solange ein Rockprogramm. Zum Wohnen chinesische Papierdrachen. Pierrot schmilzt langsam. Der Computer nimmt sein Lachen auf. Präservative werden über die Hände gezogen über den Kopf, an die Füße. Es kostet weniger als ein Sterilisationsprogramm oder die Pille. Pierrot, nimm die Pille. Du brauchst sie nicht zu nehmen, nimm dich lieber in acht. Marias kleine Welt in der großen Stadt. Sonntags war sie leer und Maria. Was sollte sie mit sich anfangen und mit ihrem Körper? Es war besser, ihn nicht zu füttern, dann verlangte er nichts. Es war am besten, ihn nicht zu beachten. All I need, Pierrot, man müßte einen Geliebten finden. Komm, wir spielen, wir jagen einander durch die leere Stadt, über die Île. Vor dem letzten der heiligen Trinker blieb er stehen, zog seinen Hut und verbeugte sich tief, Maria hatte nichts in den Taschen. Sie fand nur das Bild der Großmutter, die über den Fluß setzte, brach-
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te den Männern in den Mühlen Brot und Suppe. Ob dieser Fluß irgendwo Mühlen in Gang setzte? Das konnte ihr der Trinker nicht sagen, er gaffte. Komm, Pierrot, wir jagen einander weiter durch die leere Stadt. Er wäre gern noch ein bißchen geblieben, doch es hätte nichts genützt. Jetzt glänzen seine schwarzen Wimpern in der Sonne, wie schön du bist, Pierrot, schade, daß dich nur die Spiegel sehen, in den leeren Straßen der Stadt. Der zweite Brief, du liebes Kind, es glüht die Sonne, der Wind rast. Wälder brennen durch. Es ist Sommer und im Sommer brennen die Wälder. Wenn Paris brennen würde, wie Rom, oder London, wie Moskau oder wie Paris? Es brennt, würde man sagen. Häuser wachsen schneller als Bäume. Oder ein perfektes Alarmsystem. Hier kennt man solche Angst nicht. Woher sie wohl kommt, die Enge? Versengte Wälder schaffen Platz. In fast allen größeren Städten Europas war Platz nach dem Krieg. Trümmerfrauen waren die Mütter. Hast du auch eine gute Wohnung, nicht zu heiß und sicher in der großen Stadt. Unter die Leute gefallen, Maria, unsere Tochter. Hier gibt es ein Wohnprogramm. Drei Brüder bauen, auch der Jüngste kann es. Wir, aus dem Brief, wie eine Front: Wir bauen. Ein Haus. Für uns alle. Ein Zimmer für Maria, inzwischen Abstellkammer. Alle deine Kleider, die du nicht mitgenommen hast, sind gewaschen und gebügelt. Auch das noch. Und die Madonna flennt, wenn wir von dir sprechen. Sonst ist alles normal. Hier ist auch alles normal. Die Leute werden krank. Maria piekt sie in den Hintern. Sie bringt Schüsseln und Spucknäpfe. Kröten soll es geben, im Bois de Vincennes.
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Sie haben die Hoffnung aufgegeben, oder nie gekannt. Maria erzählt sie ihnen nicht. Es gibt keinen blinden Alten hier, der sie deuten möchte. Die Clochards sehen gut und die Alten auf der Station sind nicht blind. Sie waren einmal jung und jetzt sterben sie. Maria will nicht alt werden. Nicht auf der Station. Pierrot wird ihr helfen. Pierrot, ich will nicht mehr bluten. Ich will die Pille nehmen, gib sie mir. Komm, ich schlüpfe in deine Haut, schwarz und weiß und Halskrause. Das Atelier aufsuchen. Maria, auf Zehenspitzen, auf Turnschuhspitzen, die Tür steht immer offen, er merkt es nie, wenn jemand hereinkommt. Kühl ist es hier, angenehm. Jan malt. Wo steckst du? Pierrot! Gott, hast du dich verändert. Du nicht, überhaupt nicht. Auch hier hat sich nichts verändert. Ein bißchen mehr Farben, ein biß-chen mehr Staub, ein bißchen mehr Bilder gestapelt, mehr Pinsel gekauft, mehr Scheren, mehr Leinwand. Was ist das? Du. Und das, und das, und das? Du. Darf ich blättern? Aber male mich nicht. Es macht mich nervös. Warum, glaubst du, hat Anaîs Nin Henry Miller ihre Schreibmaschine gegeben? Weil sie ihn liebte. Eben nicht, siehst du, eben nicht deswegen. Du sollst mich nicht malen. Auch nicht knipsen. Ich will das Abitur machen. Und wovon leben? Der Arzt, der Dicke, hat mir Aufputschmittel gegeben. Ich brauche nicht mehr zu schlafen. Ein paar Stunden nur. Ein bißchen Krankenhaus, ein bißchen Schule. Ich will nicht alt werden, Jan. Dreiunddreißig Jahre reichen. Es ist eine lange Zeit, rund um die Uhr. Male mich nicht, Jan, male mich nie mehr. Pierrot, der Unsichtbare, sitzt in einer Ecke. Er legt den Arm um
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Marias Schultern, schaut aus großen, traurigen Augen. Seine schwarzen Wimpern glänzen: Pierrot hat Heimweh, Maria. Der vierte Brief, du liebes Kind, die Sonne wird röter, die Wälder sind ausgebrannt. Der Wind bringt Regen, der Wind. Der vierte Bruder trägt jetzt auch schon eine Brille. Stell dir das vor. Es wird ein harter Winter werden. Die Wespen sind lästig. Und es ist wieder Herbst. Jagdzeit. Leben bewegt sich in den Steinen der Stadt. Es ist gut, Pierrot, daß du die Pille genommen hast. Bei uns gibt es jetzt öfters Hasen. Mit Kümmel geschmort. Lange, langsam. Auch einen kleinen Pelz für den Winter. Gehst du auch an die frische Luft, Maria? Du sahst grau aus, beim letzten Besuch. Und trinke manchmal ein Glas Rotwein. Das macht Blut. Ja, Maria geht an die frische Luft, nachts vor allem. Nach der Schule. Über Les Halles. Die Köche mit den langen Messern, die von den Bäuchen baumeln. Au pied du cochon. Und dann, an der Haustür, jemand lauert ihr auf, schießt plötzlich aus den Steinen. Mach schnell auf. So fühlen sie sich an, die langen Messer. Alle Türen sind verriegelt. Will denn niemand an die frische Luft, heute nacht? Kommt keiner herunter, mit seinem Hund oder mit seinem Kind oder mit seiner Frau, oder auch mit sich allein? Sieh zu, daß du allein bist, wenn ich dir über den Weg laufe. Wo Maria wohnt, in ihrem Hof, dauern Minuten eine Ewigkeit. Scheißhof. Niemand gafft, niemand lauert, niemand wartet. Alle schlafen. Es läuft kein Fußballspiel. Deine Schuld, Maria, du interessierst dich nicht für das, was die Straßen belebt. Jetzt klappern nur noch die Zähne. Frische Luft tut gut, ein Taxi besser.
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Der dünne Freund, der Maler, glaubt die Geschichte nicht. Warum hätte jemand das getan. So einfach ist das. Nanu, du lachst nicht mehr. Du bist krank. Aber die Angst, die Enge, die Klemme. Du kannst bei mir wohnen. Allein ist gefährlich, das habe ich gleich gesagt. Keine Aufputschmittel mehr. Beruhigung. Schafft die Gespenster fort. Und holt mir Pierrot, den Unverwundbaren. Pierrot, Pierrot, wo kommst du her. Die Glöckchen am Hut klingeln nicht mehr. Zerrauft ist die Halskrause, das Kostüm zerrissen. Willst du an meiner Stelle alt werden, Pierrot? Dann mußt du schlafen gehen, jeden Abend. Wenn es dunkel wird. Leg dich in mein Bett, Pierrot, und warte. Weißes Gesicht, träume für mich, ich habe keine Zeit. Pierrot kommt von den Schienen an der Banlieue. Kaltes Eisen. Männer mit dunklen Gesichtern, Frauen mit den fadenscheinigen Farben der Hoffnung steigen über ihn hinweg. Warum bist du so weiß? Dies ist nur ein Abstellgleis. Raben plustern sich auf im frühen Winter. Hacken an seiner Nase. Wart noch ein bißchen, schließ die Augen wieder, warte noch einmal, träume den Traum zu Ende. Du frierst nicht, du bist Eisen, Gegenstand, Gleis. Der Traum der Dinge, mein Pierrot. Jetzt kannst du die Kröten hören, höre nicht auf sie. Der fünfte Brief, die Madonna flennt, mein Kind, mein Kind, was hat man dir getan. Wir denken oft an dich. Der Alte hat nach dir gefragt. Du hast ihn nicht besucht, im Sommer. Warum auch, es gibt Penner genug hier, den Winter über. Und die Arbeit. Du hast lange nicht geschrieben. Und Stiefel und Strümpfe und Mantel und
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Hut. Sporen, und eine kleine Peitsche. Jetzt im Winter hat man doch mehr Zeit. Man hat Zeit, man nimmt sie. Und der Wind kommt hier vom Ärmelkanal. Soviel wissen wir auch. Tut mir leid. Aber hier kommt jetzt Godard. Kennt ihr Godard? Die Brüder, meine ich. Pierrot le fou. Habe nichts verstanden. Kein einziges Wort. Aber es wird‚ 68. Man redet mit den Leuten. Auch die jungen Ärzte. Der Dicke erklärt: Was willst du mit dem Abitur? Soziologie, vielleicht. Studieren, also. Gut. Oder die Menschen bei Jan. Hier im Atelier sprechen alle durcheinander. Sie haben Pierrot entdeckt. Jetzt begleiten sie ihn ins Kino, zeigen ihm die Stadt von innen, die Farben auf der Seine, den Schnee in den Straßen. Pierrot spielt mit ihnen und lacht und hört ihnen zu. Er kann das, stundenlang. Die Wunde im Gesicht scheint vernarbt zu sein. Maria hat Pierrots Murmeln versteckt. Niemand soll darüberstolpern. Es gibt tausend kleine Details in ihrem Leben. Lichter, die Häuser gegen den Himmel in der Nacht, Glocken aus irgendwelchen Türmen, ein Stückchen Paradies aus den Fenstern der Häuser. Was siehst du in den Wintersternen, Pierrot? Ach, lassen wir sie doch oben, die Sterne, noch ein bißchen, eine kleine Weile nur, Bis es Frühling wird. Aber es könnte wohl Frühling sein in diesem späten Winter. Der sechste Brief, mein liebes Kind, wo steckst du. Die Stare sind übers Feld gezogen. Dein Vater sieht dich nicht mehr. Man sagt, er sei blind. Und wie du wohl aussiehst? Gefärbt ist das Haar, die Pfeife im Mund, und lachen. Eine goldene Strähne schicke ich euch. Die einzige. Sonst ist wieder alles ab. Hört auf, euch zu sehnen. Selbst
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Flugzeuge haben vorgegebene Bahnen, die Schienen des Himmels. Daran kann man sich nicht einmal erhängen. Ich spukke euch meine Zunge hinunter. Klaubt selbst die Wörter heraus. Mein Sinn steht anderswo. Was wir hier sagen, werdet ihr bald sehen. Sehr bald schon. Auskünfte häufen sich, Erwartungen, Marias Erwachen weckt, wurzelt Übel ein. Klein sind die Erinnerungen geworden. Neue brechen aus. Männer brechen auf, um neue Definitionen zu finden, Jeanne D’Arcs Geist lebt nicht in Maria weiter. Ihre Geister sind noch jung, so jung und ungeboren. Ein kalter Frühlingsmorgen über Saint Michel. Es wird noch kältere geben, aber an der Zukunft mißt man sich nicht. Warum man ihr wohl in den Arm kniff? Wer saß ihr in den Kniekehlen? Die Knie schlotterten, Pierrot war eins mit Marie. Wunderte sich. Auch der Malerfreund. Wer nistet sich in deinen Kniekehlen ein, Soll ich dich schützen, Maria? Nein, Pierrot macht das. Er wird warten, ich habe keine Zeit. In der Wohnung gegenüber von Notre Dame. Madame, Madonna. Ein junger Mann zerrte ein störrisches Seelchen hinter sich her. Es schaute böse in die Welt. Aus welchen Gründen auch immer, es klammerte sich an Marie. Die wußte nicht, wie ihr geschah. Aber nein, aber nein, wie kann man nur so freundlich sein. Man ist es auch nicht, man ist es nie. Das Seelchen haut ihr vors Maul. Ein Zahn fällt aus. Blut tropft auf Pierrots Kleid. Der lachte. So viel Verwunderung lohnt sich nicht. Sie hielt den Zahn in der Hand, das Seelchen schob ihr eine Mohrrübe zwischen die Lippen. Zubeißen. Bist du Josef? Ich werde dich Josef nennen.
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Man könnte es versuchen, einen Schlüssel finden, das Seelchen verstecken, Pierrot, du erzählst viel. Wie Jimmy Hendrix, oder ein tauber Maler, oder ein stummer Dichter. Weißt du, das Gold meiner Großmutter war Flitter. Aber auf ihrer Haut wurde alles zu Gold. Ich kann nichts damit anfangen. Ich brauche meine Zeit. Du erzählst zu viel. Nichts ist zu meinem Wohle. Laß meine ungeborenen Geister in Ruhe. Sie sind alt und weise. Wecke sie nicht. Es könnten Kinder sein, Götter, Idioten. Nur Menschliche sind langweilig. Das böse Seelchen kotzt auf Marias Teller. Es hat ihr ein Auge ausgekratzt. Jetzt schielt sie. Aber das neue Auge ist tatsächlich veilchenblau. Weißt du, Pierrot, ich kann sein wie ich will. Ich bestimme mein Aussehen. Geh fort, Pierrot, bevor dich das Seelchen erwischt. Es kratzt dir sonst meinen Leberfleck aus dem Gesicht. Geh und warte. Maria und Josef und das Seelchen. Pierrot, du bist ein Gummiband, man kann dich dreimal um Marias Leben wickeln. Nach Sibirien und wieder zurück. Oder als Schleuder. Maria und Josef schießen Pflastersteine zum Mond. Der strahlt auf die Bücher, die sie aufessen müssen. Das Papier schmeckt nicht. Bevor es 68 wird, müssen sie hier alles sauberessen. Nachher werden Bücher anders gestapelt. Josef ahnt es. Maria möchte fort. Ein paar Tage nur. Die Kröten anhören, im Teich, den Alten sehen, im Haus. Aufs Land fahren. Wie lange war sie nicht mehr da. Aber Josef hat keine Zeit. Was soll er im Krötenteich, was soll er mit Blindenhänden, was soll er mit Madonnentränen. Opium für das Volk, das er wecken möchte, erschrecken. Glaub
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mir, Maria, vertraue auf mich, auf meinen Buckel, auf mein Fell. Führe du das Seelchen spazieren, daß ich in Ruhe arbeiten kann. Aber wenn du nicht freundlich bist, aber wenn du nicht lustig bist, dann schrumpft das Seelchen. Die kleine Bosheit: ein bißchen Bosheit gibt es nicht. Der siebte Brief, mein liebes Kind, die Zeit wird lang. Hier schreiten Fremde wie Herren durchs Land. Wo bist du, Maria. Welche Sprache sprichst du jetzt. Deine Brüder tragen Krawatten. Sieben schwarze Raben mit Krawatten. Sie sind reich geworden. Kinder gibt es jetzt wieder im Haus. Dein blinder Vater streichelt sie, er ruft sie alle Marie. Deine Brüder haben dicke Bäuche. Ihre Frauen auch. Aus ihren Bäuchen krabbeln Autos, aus denen der Frauen immer noch Kinder. Sie fliegen nicht mehr aus. Nur die Frauen fangen am Abend ihre Kinder ein. Dann ziehen sie sich um. Hast du auch warme Kleider? Und deine Gesundheit. Du hustest wieder. Wir sind alle gesund. Und munter. Pierrot, mein Liebster. Du kannst schweigen. Überspringe die Mauer dieser Wörter, die doppelte Mauer. Es reicht, wenn du da bist, klingelst, lachst. Ich zeige dir ein Spiel, ein altes. Ich habe es auf der Straße gefunden. Ohne Murmeln, ohne Karten, ohne Würfel. Lautlos, nur wir zwei. Die Fingerspitzen, die Handflächen aufeinanderlegen: zwei mal zwei ist eins. Die Stirn, die Nase, du hast eine lange Nase, Pierrot, das Kinn. Die Lippen können sich nie berühren: drei mal zwei ist eins. Die Füße, die Zehen: fünf mal zwei ist eins. Der Wald draußen ist gestorben. Er war sehr alt. Wir müssen nicht traurig sein. Sie haben einen anderen hin-
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gestellt. Der wächst nicht mehr. Er kann nicht sterben. Du brauchst nicht mehr zu warten, Pierrot, komm, spiel mit mir. Place de la Contrescarpe und eine Art Keller. Eine junge Frau sang ein komisches Lied. Es sollte sehr traurig sein. Josef grinste. Komm, laß uns gehen. Trink deine Sangria aus. Wir ziehen durch die Straßen, gehen etwas essen, mischen uns unter die Menge. Hammel mit Kichererbsen. Das Fett legt sich wie Blei um die Magenwände. Nichts kommt mehr hoch. Warum, Josef, kotzt das Seelchen immer auf Marias Teller? Maria trägt immer noch Rot im Haar. Trägt Hosen, trägt einen Pullover aus weißer Schafwolle. Schafe werden regelmäßig geschoren. Josef muß morgen arbeiten. Maria auch, und lernen. Nur eine Nacht zum Schlafen. Seelchen schiebt sie zurück. Sie wird nicht lange dauern. Zu zweit stehen sie am großen Tor und schließen nach und nach die Türen auf, zum Schlaf. Maria möchte vieles sagen und streicheln. Aber das Seelchen legt sich zwischen die beiden. Josef ist zärtlich zu Maria, er streicht ihr übers Haar, das Seelchen beißt ihr in die Brüste, würgt an ihrem Hals. Maria versteht ihren Körper nicht mehr. Zu sagen gibt es wenig. Jetzt aufstehen, mitten in der Nacht, die Siebensachen packen, verpacken: zwei Taschen im Mantel, zwei in den Hosen und zwei Hände zum Tragen. Den Rest läßt sie hier. Leise die Türen öffnen, vom Schlaf zum Tag, komm, Pierrot, wir ziehen weiter. Hier ist es zu eng für uns zwei. Hier können wir nicht bleiben. Entweder oder, hat Josef gesagt. Ihr zwei gebt keine Garantie. Bald wird 68 sein.
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Josef braucht eine tapfere Frau, eine ernste, ohne Halskrause; die Zeit der Moral. Bist du bereit, Maria? Es wird nicht lange dauern, nur eine Jahreszeit: wir werden die Welt ändern, verbessern, eine Welt nach unserem Maß. Nachdenken können wir später. Später wird Maria ihn suchen. Das Papier schmeckt nicht, man hört alte Reden daraus, das Unbehagen. Josef glaubt, daß man etwas mit ihm vorhabe, er wird es ausführen. Wenn er genug gespielt hat, wenn er sich sattgespielt hat, wenn er sich kaputtgespielt hat. Man wird ihn einziehen, sein Gefühl, seine Fingerspitzen, seine Zeit. Der Malerfreund weiß wenig von Maria. Seine Sprache ist zu dünn, was sollte Maria damit. Wie könnte sie Pierrot davon ernähren, oder vom Papier, von Josef. Maria saß in ihrem Zimmer, über ihre Bücher gebeugt. Wörter finden, an denen man sich festhalten kann. Ganze Sätze kleben an kleinen Wörtern, Zigaretten, Kaffee und Konzentration. Alles andere drängt sie zurück, nur Wissen staut sie in ihrem Kopf: Frühlinge, die nach Arbeit schmecken. Auch Josef mußte in der Bibliothek sitzen. Der Rücken ist gekrümmt, die Augen sind schmal, manchmal verzieht sich der Mund, und die Nase ist lang und spitz. Er vergißt sein Haar zu waschen, das Haar, das Maria liebt. Immer öfter hebt er den Zeigefinger, sein böses Seelchen ist klein und zahm geworden. Es sitzt bei Maria, schaut ihr zu. Maria hat Blumen auf den Tisch gestellt. Das Seelchen knackt Nüsse und sitzt auf dem Telefon, läßt nichts durch. Josef, mein Liebster, ich weiß, doch mein Wissen ist im-
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mer das unbrauchbare, austauschbare; es nützt keinem. So kämpft man sich von einer Macht in die andere. Marias Zeit gibt es nicht. Mein Kind, mein Kind, der achte Brief. Tiefe Schatten unter den Augen und Wasser im See. Keiner wagt sich mehr hinaus. Die Kröten schweigen. Weißt du noch, das alte Bild in unserem Schlafzimmer? Dein Bruder hat es verkauft. Wo bist du, Maria? Wir haben dein Fortgehen vergessen. Wir verzeihen dir. Doch Maria hat nichts getan. Nicht was ihr denkt, nicht was ihr deutet. Dies ist der Brief der Mutter: Marias Leben als Pfand, damit alles weitergehe, wie es war. Es soll nicht weitergehen, Mutter, sieben Söhne hast du nach mir geboren, ich suche eine Schwester, jetzt. Wenn du weinen könntest, Mutter. Weinen ist wie Lachen. Pierrot weiß das. Er lacht, wenn Maria weint. Die Kranken auf der Station lieben ihn deswegen. Wenn Blut über Marias Wange rinnt, denken sie nur an ihr eigenes. Das ist gut für Maria. Sie will nicht mit ihnen sprechen, schweigen sollen sie, Maria will ihre Geschichten nicht hören. Sie will fort von hier. Die Präservative von den Händen streifen, ihre Haut ist steril geworden und der ganze Körper. Maria ruft Philippe an, den Arzt. Sie wollte nicht mehr auf die Station, sie hatte es satt. Er lud sie zum Abendessen ein, erzählte ihr von den Kindern, von einer Frau. Sie ist Ärztin. Wenn ich Ärztin wäre, dachte Maria. Es läuft ihr kalt über den Rücken. Willst du mir helfen? Er möchte, aber er kann nicht. Er billigt Marias Unruhe nicht. Man muß an seinem Platz bleiben. Philippe, du bist alt geworden. Du wirst es auch, Maria, du wirst es bereuen. Als
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wäre das ein Leben, als könnte man sich darauf verlassen, einfürallemal. Denen, die ohnehin sterben, Löcher in die Haut stechen. Du könntest auch Medizin studieren. Kapierst du nicht, Doktor? Maria sind die Leute auf der Station egal. Willst du auf die Kinderstation, Maria? Nein, Maria hat das Kranksein satt. Auch in die Bibliothek will sie nicht. Wir werden dich heilen, Maria. Einen Cognac? Noch einen. Maria will nach Hause. Sie sehnte sich nach Pierrot, sie wollte nicht begleitet werden. Sie wollte sich um Pierrot kümmern, sonst wird er fortgehen. Auch Jan, der Malerfreund. Er baute jetzt Kulissen, eine Heimat für Ubu Roi. Willst du mitkommen, Maria? Maria hat das Abitur gemacht, sie hat gewonnen: gegen sich selbst, gegen Pierrot, den Träumer, gegen den Arzt, gegen ihre sieben Brüder, gegen alle. Und jeder feiert mit ihr, jeder liebt sie, jeder liebt ein Stückchen Marie. Nur Josef liebt sie ganz. Sie fand ihn am Abend im Bistro, grün im Gesicht, durchsichtig. Ihm war elend zumute, er hatte sein böses Seelchen verschluckt. Sei nicht krank, Josef, sagte Maria, ich habe das Kranksein satt. Wir gehen lieber ins Kino. Josef hatte wenig Lust, immer weniger. Das Seelchen knurrte aus seinem Bauch. Wir könnten zusammenwohnen, bald wird 68 sein. Doch der neunte Brief, der Brief des Vaters wurde nicht geschrieben. So hat Maria nichts von seinen Pflichten erfahren und blieb, wo sie sein wollte. Mit Pierrot stieg sie auf den Berg hoch über die weite Stadt. Menschen drängten sich um die Balustrade. Vielleicht schafften sie es, einen hinunterzustoßen, loszu-
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schicken über die Häuser. Man könnte den Aufprall kaum hören. Der Wind zerrte ihren Körper am Haar, auch die Augen würden beim Sprung in die Tiefe zerschellen, beinahe konnte sie den hellen Ton hören, als würde mit Sektgläsern angestoßen, und keiner spürte die prickelnde Flüssigkeit. Schade, dachte Maria. Ihr Blick fiel auf die Lederstiefel, die Absätze waren schon wieder schiefgelaufen; wie schnell sich die Sohlen abnutzen, auch der Tag. Als wäre es Abend, und die Dunkelheit brach über die Gesichter und Körper, über den Nachmittag. Pierrot tanzte auf der Balustrade. Jemand sang: weißt du noch, als die Veilchen erblühten. In unseren Träumen, da verlassen wir uns nie, nie … Plötzlich fuhren die Menschen auseinander, Schreie zwischendurch, nur die Körper verhinderten die Flucht, sie hielten sich aneinander fest, paarweise. Maria schaute sich um, sie war zurückgeblieben: Pierrot. Den Menschen schlotterten die Knie, sie bewegten sich nicht mehr. Maria stieg allein vom Berg. Leise war der Tag vergangen. Nur ein dünnes Selbstgespräch, ein Echo auf Erwünschtes, Langersehntes. Und die Augen, immer wieder Pierrots Augen. Weinen müßte man können, dachte Maria. Den Körper auf den Boden pressen, bis es taute, ein Loch in den Asphalt, eine Zwiebel, eine Blume hervorbringen, Pierrot, gelbe Narzisse.
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Walter Schlorhaufer
Deckname Gift Gift oder die Macht der Beharrlichkeit
Madame Melanie D’Augustin I Madame Melanie D’Augustin, elegant, schön, mit einem Hang zu Okkultem, ist in diese Provinzstadt gefahren, um einen bestimmten Arzt aufzusuchen. Bei ihrer Ankunft fühlte sie sich bedrückt von den hohen Bergen, die diese Stadt in Ketten legen. Ein starker warmer Wind weht an diesem Novembertag, der es ihr unmöglich macht, einen Hut zu tragen. Was sie in der Hauptstadt ihrem Mann und ihren Kindern nicht verraten hatte, war der Umstand, daß sie den Arzt nicht wegen ihrer Rückenschmerzen aufsuchen will, sondern um ihn zu sehen, um ihn anzuschauen, da sie mit ihm vor langer Zeit befreundet gewesen war, mehr als sie es sich selbst und ihrer Familie eingestehen wollte. Nun sitzt sie seit zwei Stunden in dem kleinen Hotel garni, wo es leicht nach Mottenkugeln riecht. Um etwas zu lesen, ist sie zu unruhig. Sie wechselt von dem Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch immer wieder in das Badezimmer, besieht sich im Spiegel, zieht das Lippenrot nach, schwächt die Lidschatten ab, ordnet die Haare. Um einen Friseur aufzusuchen, ist es zu spät. So redet sie zu
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einem Spiegelgesicht, in dem sie das des Mannes nachzuzeichnen versucht. »Lang ist es her! Du siehst gut aus. Weißt du noch damals, ganz hinten in dem schönen Tal, als du mich an der Autobusstation vor dem Dorf abholtest, wenn ich dich besuchte? Deine erste Frage war immer: Hast du Gedichte mitgebracht? Du warst immer ein sehr kritischer und aufmerksamer Zuhörer und Leser. Ich habe sie alle vernichtet, zum Teil auch ganz vergessen. An eines erinnere ich mich noch. Es hieß in ihm, daß die immer gleichen Wasserpferde den Berghang herunterstürmen. Du sagtest damals, es sei das ein schönes Gedicht, aber nichts kehre wieder.« Melanie geht zum Schreibtisch zurück. Sie hätte gerne gewußt, ob er sie alt und häßlich findet, und sie ist sich sicher, daß er jünger aussieht als damals, nämlich von innen heraus jünger. Madame D’Augustin knipst die Lampe an und bestellt Tee. Es stellt sich eine spätnachmittägliche Traulichkeit ein. Traulichkeit. Sie hatten sich oft lange nicht gesehen und wurden doch immer sehr schnell miteinander vertraut. Und traurig auch, in diesen verregneten Sommern. Dann sagten sie »elegisch«. Melanie steht auf und erinnert sich, daß er sagen konnte: Daheim. Das ist ihr seit der Kindheit nicht mehr vergönnt. Sie sagt: Zu Hause. Ihr Blick fällt auf das geöffnete Köfferchen auf dem Abstelltisch, und sie kehrt zum Badezimmerspiegel zurück. In schneller Abfolge sieht sie sich und den Mann an dem Gebirgsbach, an dem er ihr das Angeln beibringen wollte. Vergeblich. Er hatte ihr erzählt, daß er die einzige Ohrfeige von seinem Vater als
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kleiner Bub deshalb bekommen habe, weil seine Forelle den Köder samt Angelhaken verschluckt hatte, und sie hatte Angst, auch ihr könnte das widerfahren. Der Wind hat sich gelegt, es hat zu regnen begonnen. Melanie blickt aus dem Fenster, aber sie sieht die Wetteränderung nicht. Jetzt weiß ich es«, sagt sie, »du hättest gesagt, Melanie sei nicht traurig, das kann einem Anfänger einmal passieren.« Nicht wahr, so wäre es gewesen. Madame Melanie D’Augustin packt ihre Sachen zusammen, weint, kurz, setzt ihren Hut auf und fährt nach Hause.
Madame Melanie D’Augustin II Madame Melanie D’Augustin, elegant, schön, ein Jahr später kaum noch von okkultistischen Interessen geplagt, besteigt einen Zug, um die Reise zu wiederholen, die sie damals resignativ abgebrochen hatte. Zwischen »ihr« und »ihm« hatte es in der Zwischenzeit einige Briefe gegeben, in denen es nach nicht wenigen Zeilen das sorgfältig eingeklammerte Wort Grab (Grab) gab. Das bedeutete das absolute Schweigen über das Mitgeteilte. Auch ein paar Kartengrüße wechselten sie, wenn einer von ihnen seinen heimatlichen Wohnort verlassen mußte oder wollte. Auf Briefen und Kartengrüßen hatte es aber auch Geheimzeichen gegeben, die nur sie beide kannten und die eine besondere Verbundenheit dokumentierten. Es regnet wie damals, als sie erfolglos nach Hause gefahren war. Über die Scheiben des Waggonfensters fließt
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strähnig das Wasser und verursacht eine verzerrte Optik. Im Abteil sitzt ein Mann und liest Zeitung. Sein Kopf ist nicht zu sehen, nur ein Rockärmel und die über-einandergeschlagenen Beine. Ihm wirft Madame nur einen kurzen Blick zu. Urteil: angenehm oder so ähnlich, höchstens noch vertrauenswürdig, also keine Turnschuhe, kein verharschtes Schuhzeug. Mehr nicht. Madame versucht vergeblich, durch die regenwasser-überzogene Scheibe auf die Bahnsteiguhr zu blicken, die sie zwar sehen kann, aber die genaue, die minutengenaue Uhrzeit ist nicht abzulesen. Melanie steht noch immer. Ihr Blick wendet sich plötzlich der einen, gut sichtbaren zeitunghaltenden Hand des Mannes zu. Eine schöne Hand ohne Ring, eine Hand, die vom Blick sich wie gestochen fühlt, weil sie sofort in gemeinsamer Arbeit mit der anderen die Zeitung zusammenfaltet. Madame verstaut ihr weniges Gepäck, das nicht den Eindruck erweckt, als müsse man ihr helfen, aber der Mann – wie alt mochte er nur sein? Nicht unter sechzig – der Mann mit dem glatten Gesicht, der Brille und den graublonden Haaren, erkennt, daß sie vergeblich nach der Uhrzeit gesehen hat, und sagt mit einer sehr angenehmen Stimme: »Gnädige Frau, in fünf Minuten fährt der Zug ab.« »Danke«, antwortet Madame D’Augustin, setzt sich in Zugrichtung wie der Herr, zieht ein Buch aus der Tasche, die sie zwischen ihm und sich hingelegt hat, um anzudeuten, daß sie kein Gespräch wünscht. Auch der Herr verschwindet wieder unter seinem Zeitungszelt. Der Zug fährt an, Zeichen für den Mann, seine Zeitung zusammenzufalten, sich zu räuspern und an seiner Krawatte zu nesteln. Seine Gedanken kreisen um
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die schöne elegante Dame. In Wirklichkeit hat er, seit sie in das Abteil trat, nicht mehr gelesen. Der aufgeschlagene Artikel »Ihrem Herrscher blind vertraut« ist noch der gleiche. Immer wieder gleiten seine Augen von der großzeiligen fetten Überschrift bis zur ersten Zeile des Artikelanfanges, um dann in Interlinearräumen spazieren zu gehen, mit der Dame, um sie herum, unbehelligt von dem Text, der vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs handelt. Schade, daß er kein Buch bei sich hat. Zwei Bücherleser wären wahrscheinlich leichter miteinander ins Gespräch gekommen, will doch der eine immer wissen, was der andere liest. Liest Madame D’Augustin? Sie liest so halb und halb, sie liest immer wieder das Gleiche und weiß nie, was eigentlich sie gelesen hat. Sie ist gezwungen, an ihren Bekannten zu denken, den sie nun endlich zu treffen hofft, gleichzeitig aber auch an den Mann, der neben ihr sitzt. Sie beschuldigt ihn insgeheim, sie nicht in Ruhe zu lassen, immer sprechen zu wollen. Er will wissen, wer ich bin, denkt sie, gleichzeitig aber auch, wer wohl er sein mag. Ob er auch Arzt ist? Ist er verheiratet, hat er Kinder? Denkt sie an die zerfließende Scheibenuhr des Ausgangsbahnhofes zurück, kopieren sich geradezu sündhaft zwei Männer übereinander. Madame preßt ihre Schenkel zusammen. Nach einer Weile steht der Mann auf, verläßt das Abteil und schließt sorgfältig die Tür. Melanie atmet auf. Gut so, aber da sich ja im Grunde zwei Männer entfernten, wäre ihr lieber gewesen, wenn ihr Bekannter bei ihr geblieben wäre. Sie liest nun wirklich. Und da der Herr, die Herren, sehr lange ausbleiben, ist zu überlegen, ob man ihnen in den Speisewagen folgt. Eine Dame tut
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das nicht. Immerhin kann man jetzt ungestört die Haare in Ordnung bringen, in den Taschenspiegel schauen, um hier und dort etwas nachzuschminken. Sie schneidet ihre kosmetischen Gesichter in den Spiegel, der diesmal keinen Mann zeigt, mit dem sie sprechen müßte. Jetzt liest sie wirklich wieder. Als sie den Mann wiederkommen sieht, stellt sie sich schlafend und legt das Buch beiseite. Noch vorsichtiger, als er hinausgegangen, kommt der Mann zurück. Leise, die Dame schläft! Hier liegt das Buch: »Der Wendekreis des Krebses«. So, denkt der Mann, dieses Buch kennt man, dieses Buch kennen selbst diejenigen, die nicht zu den Literaturfans gehören. Was bedeutet es wohl, wenn eine Dame in einem Zugabteil aufreizend offen dieses Buch hinlegt. Gut, daß die Dame nicht weiß, was der Mann denkt. Sie hört auch nicht, daß er das Abteil endgültig verläßt, denn sie ist eingeschlafen. Auch sie hätte aussteigen sollen. Als sie beim nächsten Halt den Zug verläßt, denkt sie nicht daran, zu ihrem Freund zu fahren. Sie telefoniert ihm ab, ohne zu sagen, wo sie sich gerade aufhält. Die Enttäuschung ist auf beiden Seiten groß. Madame D’Augustin fragt sich, ob sie es nicht aufgeben soll, ihren alten Freund wiederzusehen. Auch das Buch könnte ein Hinweis sein: Wendekreis! Und sie selbst ist im Krebsgang nach Hause zurückgekehrt. Später, als wieder ein paar Briefe mit vielen Zeichen bei ihr eintreffen, fragt der Arzt, ob ihre Rückenschmerzen sich von selbst gebessert haben und ob sie den »Wendekreis des Steinbocks« schon gelesen habe. Da nimmt sich Madame Melanie D’Augustin vor, es noch ein drittes Mal zu versuchen.
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Madame Melanie D’Augustin III Madame Melanie D’Augustin, immer noch schön und elegant, wartete diesmal nicht ein Jahr ab, um neuerlich einen Versuch zu machen, ihren alten Freund zu sehen. Sie will nicht nur Briefe und Kartengrüße wechseln oder telefonieren. Die Telefongespräche findet er, wenn nicht für dringliche Mitteilungen notwendig, schlecht. Sie entbehren seiner Meinung nach des Geheimnisses der Codes. Sie hingegen findet, daß Gespräche, hineingesprochen in die Finsternis, tröstlich seien. Melanie hat nun auch den »Wendekreis des Steinbocks« gelesen und versteht, warum ihr Freund sich mit dem Inhalt dieses Buches so identifiziert. Es ist das Aufbäumen gegen seine kleinbürgerliche Herkunft. Seine Vorfahren, Bauern und Handwerker, hatten ihn nach Abschluß seines Studiums geradezu verstoßen, wie einen Abtrünnigen behandelt, auf den sie während des Studiums stolz waren. Der Vorgang wiederholte sich, als er in der akademischen Laufbahn immer höher stieg. Er hätte, so sagten einige, rücksichtslos seine Karriere gemacht und sei auch nicht davor zurückgeschreckt, das auf Kosten seiner Kollegen zu tun. Melanie schätzte immer seine Redlichkeit, kannte auch seine Unbedingtheit und Anfälle von Radikalität. Fahren muß ich, sagte sie zu sich im Spiegel, solange ich halbwegs gut aussehe. Ich vermute, er schaut jünger aus, als er ist. Er ist so ein Typ, der lange jung bleibt. Das macht seine Arbeit und seine geistige Regsamkeit. Ob
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er dem Herrn im Abteil gleicht? Melanie merkt, daß ihr Gesicht sich mit einer leichten Röte überzieht. Sie dreht sich vom Spiegel weg und sagt: »Blöde Gans«. Gern hätte sie sich jetzt eine Zigarette angezündet, aber sie weiß, wie sich die Mienen ihres Freundes und ihrer Kinder verfinstern. Wenige Wochen später sitzt sie dem Arzt gegenüber. Er sieht wirklich jünger aus als er ist. Er freut sich ganz offensichtlich, aber er erlaubt sich keine Bemerkung über ihr Aussehen. Er übersieht ihre immer wieder in die Augenwinkel tretenden Tränen, die sie verschämt wegtupft, was ihr einen mädchenhaften Reiz verleiht. Zuerst wird nur von ihren Rückenschmerzen gesprochen. Eine Untersuchung ist nicht nötig, aber die Medikation wird etwas geändert. Der Übergang zum privaten Gespräch gestaltet sich schwierig und wird über die allgemeine Familiensituation von ihrer und von seiner Seite eingeleitet. Er fragt nicht nach ihren Gedichten, und sie ist froh darüber, hat sie doch längere Zeit keine mehr geschrieben. Plötzlich sagt er: »Du hast einmal ein Gedicht geschrieben, das begann mit »Komm du Dame« und endete mit einem Schrei. Leider besitze ich es nicht mehr, aber ich hätte gerne gewußt –«. Sie unterbricht ihn schnell und sehr bestimmt: »Nicht doch! Ich schreibe Gedichte, du oder jemand liest sie Die Schlüssel bleiben bei mir. Übrigens habe ich gelesen, daß es ein Ausnahmefall ist, wenn sich Eheleute, aber auch Liebende, nicht vergiften.« »Haben wir zwei das auch getan?«, fragte er. »Du mit besonderem Raffinement.« Beide lachen. Die Entspannung hält an. Freundschaft vergiftet nicht.
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Gegengift oder die Macht der Träume Monsieur le docteur I Monsieur le docteur überlegt, ob er seinen weißen Mantel ablegen soll oder nicht, läßt sich dann aber mitsamt seinem Arbeitsmantel vor Müdigkeit in den Fauteuil fallen. Die Uhr zeigt ihm, daß Melanie in ungefähr einer Stunde kommen oder anrufen müßte. Der Doktor ist nicht mehr jung, aber noch voll in seinem Beruf tätig. Sein Alter wird ihm besonders beim Gehen bewußt. Ein junger Mensch geht anders als ein alter, besonders über die Treppen. Nicht frei von Eitelkeiten, sinnt er darüber nach, ob er noch nachrasieren soll. Nach einer jahrzehntelangen Unterbrechung ihrer Kontakte treten jetzt in ihm Erinnerungen hoch, während er sein Kinn reibt. Es war eine intensive Freundschaft, sagt er und hofft, daß eine neue Verbindung zustande kommt. Er hat diese Begegnung ebenso gewünscht wie Madame Melanie D’Augustin, die er zusammen mit ihrer sehr gescheiten Mutter in den ersten Nachkriegsjahren kennengelernt hatte. Ärgerliche Lücken der Erinnerung ermüden ihn, und er schläft ein. Im Traum steht er vor dem Haus seines Großvaters mütterlicherseits, Glockenhaus nannte man es, weil an seine Vorderfront zwei große graublaue Glocken gemalt waren, Zeichen einer Vergangenheit, da in dem Haus keine Bäckerei war, sondern Glocken gegossen wurden. Vor dem Haus, auf dem Brückengeländer, sitzen Kinder seines Alters, alles Buben, die ihm zurufen, daß er jetzt an der Reihe sei. Etwas abseits kichert
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eine Gruppe Mädchen, darunter auch seine Schwester, Halbschwester, unter deren Bösartigkeit er immer zu leiden hatte. Was er tun soll, ist klar, ebenso klar wie streng verboten. Unter der Brücke führt eine moosbeschlagene, glitschige Rinne, eine Ritsche, immer höher gestelzt, bachabwärts, wo sie ihr oben dem Bach entwendetes Wasser auf ein Mühlrad fallen läßt. Es gilt nun, unter der Brücke in die Rinne zu steigen, in ihr abwärts zu rutschen und so nahe als möglich vor dem Absturz des Wassers zu bremsen, um dann gegen den Wasserlauf wieder aufwärts zu steigen. Sieger wird nach dreimaliger Wiederholung derjenige, der dem Mühlrad am nächsten gekommen ist. Er wird dann auch in das Schiedsrichterkollegium der Buben aufgenommen. Dieses herrscht unbeschränkt, auch über die Mädchen. Das aber ist wieder eine andere Sache, würde der Pfarrer sagen. Der Träumer siegt unter dem Applaus der Kinder und dem Kopfschütteln der Erwachsenen, die schon einmal die Gendarmerie gerufen hatten. Er besteht die Prüfung, steht tropfnaß wieder auf der Brücke vor den jaulenden Buben, als zuerst rechts, dann links die Hand seiner Mutter in sein grinsendes Gesicht klatscht. Sie hat kein Verständnis für seine Heldentat, wie denn überhaupt seine Mutter, seine geliebte Mutter, oft dann zuschlägt, wenn er selbst sich entweder wund oder lorbeerbekränzt fühlt. Sie zerrt ihn ins Haus, zu Unrecht, denn die Sonne hätte das Ruderleibchen und die kurze schwarze Cordhose rasch getrocknet. Und die Glocken? Sie läuten weder Sturm noch Sieg. Sie schweigen. Plötzlich gibt es auch vor dem Haus, auf der Straße, auf der Brücke keine Kinder mehr.
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Da erwacht der Schläfer schweißnaß. Der Traum hat ihn eingenäßt. Die Uhr zeigt acht, und die telefonische Rücksprache mit dem Hotel ergibt, daß Madame D’Augustin zwar dagewesen, aber ohne Angabe von Gründen wieder abgereist sei. Die Rechnung habe Madame bezahlt, hinterlassen habe sie nichts, keinen Auftrag, keine Nachricht.
Monsieur le docteur II Monsieur le docteur, der wieder einmal zögert, seinen Arbeitsmantel auszuziehen, wird in den folgenden Wochen von der Arbeit seines verantwortungsvollen Berufes überspült. Nur in den wenigen Stunden, da ihn die Gedanken an seine Tätigkeit freigeben und der Schlaf ihn meidet, denkt er an Melanie. Er ist sich sicher, daß der Traum das Scheitern des Treffens vorweggenommen hat. Denksteine, Gedenksteine von den Wassern verdunkelt, werden, wenn sie trocknen, unansehnlich wie die Fakten der Vergangenheit, die sie aufzeigen. Der Doktor versucht sie zu deuten. Zuerst einmal: Warum ist sie hierher- und dann wieder fortgefahren? Unwohlsein? Nachrichten von zu Hause? Einfach plötzlich die Begegnung doch nicht wollen: Das alles hätte sie auch sagen, schreiben können; aber es geschah nicht, es geschieht nicht. Felix ahnt schon, daß die Erklärung für immer ausbleiben wird. Ihr Recht. Sein Recht? Diese Frau, deren Bild sich immer wieder auf den vom Wasser überspülten Steinen spiegelt, es verwellt, es verschwimmt. Auf den anderen Steinen? Andere
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Frauen. Trockenlegen, befiehlt sich der Mann, alles trokkenlegen, die Vergangenheit dörren, bis sie leicht wie Luft wird. Ihre Gedichte, wohin sind sie wohl gekommen? Hat er sie vernichtet, hat er sie ihr zurückgeschickt? Schön und sehr schön waren sie . Sie war ja auch als Lyrikerin bekannt. Prosa lag ihr weniger, obwohl sie auch die sauber schreiben konnte. Kurze Prosastücke. Meine Mutter, bekannte er sich zum ersten Mal selbst, mochte beide Damen nicht, Mutter und Tochter. Sie waren ihr zu intellektuell. So hätte das meine Mutter nie gesagt, korrigierte er sich schnell, nie sagen können, eher hätte sie von einer anderen Schicht gesprochen und Gesellschaftsschicht gemeint, Leute, die auf der anderen Seite der Budel, auf der anderen Seite des Verkaufstisches zu stehen pflegten. »Felix«, hörte er sie sagen,,, greif nicht nach den Sternen. Du bist Arzt geworden, gegen den Willen deines Vaters. Das ist Glück genug.« So war es, so ist es gewesen: Sie hatte Angst, Felix könnte enführt werden (gegen Verführungen hatte sie bei ihrem Sohn nie etwas einzuwenden; bei ihrem Mann war das etwas anderes). Ruhe jetzt! Wenn ein Mann über Frauen nachdenkt, ist es nur natürlich, daß seine Mutter mitspricht. Aber nun ist es genug. Die Steine spielen ihre Liebesmaskeraden im Bach, einmal heller, einmal dunkler, in einem Bach, der zwar immer derselbe ist und doch immer ein anderer. Ecco! Mir, denkt der Arzt, wäre immer lieber gewesen, Melanie hätte keine Gedichte geschrieben, sondern gemalt. Sie hätte mich damals sicher porträtiert, und jetzt würde ich sie bitten, mich nochmals im Alter zu malen.
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Monsieur le docteur III Monsieur le docteur, der im Augenblick gar keine Zeit hat zu überlegen, ob er seinen weißen Mantel ablegen soll oder nicht, sieht, während er einen Schluck Kaffee trinkt die Post durch, schlitzt vorwegnehmend bereits Kuverts auf und hält plötzlich eine Ansichtskarte in der Hand Er betrachtet das kennzeichnende Stadtbild, das ihn dazu zwingt, an Madame D’Augustin zu denken. Sie ist es wirklich, die geschrieben hat. Ansichtssache, ist die Meinung des Vielbeschäftigten, der, noch bevor er die Kartengrüße liest, schon beschlossen hat, auf diese Form der Aufforderung nicht zu reagieren. Nach Wochen kommt ein Brief von Melanie, in dem es viele Zeichen für Geheimhaltung gibt. Vorkommnisse aus der Vergangenheit, die ihm nicht bekannt waren und jetzt das Räderwerk Melanie in ihm wieder in Gang setzen: die Geschichte eines verlorenen Hutes, der wie der von Ingeborg Bachmann freundlich grüßte. Die Schrift, oft unleserlich, nicht entzifferbar, Minuskeln der Vieldeutigkeit, Geheimschrift der Weiblichkeit. Und dann: »Jetzt höre ich auf, sonst zerfließe ich. Du hast ohnedies alles verstanden, denke ich, auch das Nichtgeschriebene. Warum alles so ist?« Warum es so ist, fragt sie? Das Merkwürdige ist, daß so gescheite Frauen so dumme Fragen stellen können. Immerhin Wasser auf die Denkmühle. In dem Brief wird auch davon geschrieben, welche Schwierigkeiten es gibt, einen neuen Begegnungstermin zu vereinbaren, nicht,
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wieder zu vereinbaren. Felix geht in seinem Antwortschreiben auf das Schweigespiel ein, nennt Daten des Möglichen und ersucht Melanie diese und jene Befunde mitzubringen, wenn er sie wegen ihrer Rückenbeschwerden beraten soll. Arthrosen, Arthritiden, Spondylosen? Oder ein Wirbelbruch? War in einem halbvergessenen Gedicht Melanies nicht von einer Dame die Rede, die mit einem Schrei im Wasser endete, als habe sie jemand von einer Brücke gestoßen? Ich werde sie fragen, nimmt er sich vor und weiß nicht, woher plötzlich die Gefühle einer Verstimmung kommen. Vom Brief nicht, denn er wünscht immer noch, sie zu treffen, auch von den Terminschwierigkeiten nicht, vielmehr beginnt in ihm das Gefühl einer Unzulänglichkeit zu sprießen, ein Gefühl, als würde er den Erwartungen von Madame D’Augustin nicht gerecht werden. Es war wenige Tage vor dem neuerlichen Versuch, einander zu treffen, als Monsieur le docteur wieder einen bedeutsamen Traum hatte: Er geht als junger Mann auf eine Kirche zu, auf eine in einer Klosteranlage. Trotz des hellen Sonnenscheins findet er den Eingang nicht. Da kommt ein Pater im schwarzen Talar und bietet dem Suchenden seine Hilfe an, als hätte er ihn erwartet. Über viele Stufen gelangen sie in eine Vorhalle. Eine der großen schwarzen Türen mit polierten Messingknöpfen hat ein kleines Fenster. Diese Türe öffnet der Pater und läßt Felix eintreten. Die Sakristei. Da kommen Priester mit Ministranten von der Messe zurück, andere wiederum verlassen die Sakristei zur Zelebration. Ehe es sich Felix versieht, wird ihm eine Albe übergestülpt, und er will schon gehen, als der ihn begleitende Pater darauf
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aufmerksam macht, daß er noch kein Meßkleid anhabe, keine Stola, auch die Manipel fehle noch. Felix erscheint das trotz seiner inneren Erregung alles völlig natürlich, ist er sich doch plötzlich im klaren darüber, daß er seine Primiz feiert. Schon verläßt er, nun vollständig adjustiert, mit dem Pater, der nun zu einem Frater oder ältlichen Messdiener wird, die Sakristei, um von dem Vorraum aus in eine völlig überfüllte Nebenkirche, Nebenkapelle zu treten. Die Gläubigen erheben sich, alle Augen sind auf ihn gerichtet, und er beginnt: »In nomine patris et filii et spiritus sancti«. Er schlägt das Kreuz und stockt, denn plötzlich weiß er nicht mehr, wie es weitergehen soll. Kein Wort fällt ihm ein, nicht ein Muster der Heiligen Handlung, die er doch so gut kennt, nichts, nichts, ein totales Blackout und ein Schweißausbruch, der ihn aus Schlaf und Traum treibt. Ein »Deo gratias« ist der erste folgerichtige Gedanke, dann das Verbum »diluere«, das heißt verwaschen, verdünnen, und stellt in der Form der Gesteinsmetamorphosen im Bachbett vor dem Haus seines Großvaters die Verbindung zum Kindheitstraum her. Nun weiß Felix, daß er den neuen Termin mit Melanie nicht ernst zu nehmen braucht; sie kommt wieder nicht, denkt er und erinnert sich gleichzeitig, daß er während seiner Volksschulzeit von seiner Familie zum Priesterberuf bestimmt, nein, nicht gerade bestimmt worden ist, sondern daß man den Priesterberuf als einen für ihn möglichen angesehen hatte. Geradezu fröhlich schlüpft Monsieur le docteur in seinen weißen Mantel und beginnt seine Arbeit ohne die gürtelgeraffte Albe, ein anderes Weiß.
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Madame D’Augustin kommt nicht, er hat es auch nicht erwartet. Er entschließt sich zu einem Brief: Er habe beschlossen, das Wort Hoffnung zu teilen in Hof und Fnung. Fnung sei chinesischer Unsinn, und Hof ist ein enger, mit groben Steinen locker gepflasterter Hof am Haus seines Großvaters. »Den chinesischen Unsinn magst Du deuten, wie Du willst«, schreibt er, »und Hof ist ein grobgepflasterter Hof am Haus meines Großvaters, an den ich dachte, während ich vergeblich auf Dich wartete.« Melanies Antwort erfolgte in Form eines Gedichtes: Ein Gewitter rollt den Bachstein in das Kindbett und das Wasser näßt das Stroh. Das Gewesene fleckt noch immer, reißt die Träume aus der blauen Weckeruhr. – Traumgewitter. Zugeschüttet von den Muren liegt der Trödel der Erinnerung. Noch bevor der etwas verwunderte Monsieur le docteur auch nur in seinem Inneren eine Antwort findet (hat die Dame hellseherische Begabungen?), kommt schon wieder ein Brief von Madame, in dem sie schreibt: »Die Hoffnung in zwei Teile zu teilen ist eine gute Idee. Und so teile ich weiter, zum Beispiel Verlust. Dieses Wort mit Trauerschleife (wie Du weißt, sind der Schleife auch Blumen beigegeben) hat den Vorteil, daß das Ver Unsinn, Nichtsinn und als Präposition negativ besetzt ist, daß aber der zweite Teil des Wortes ein praller Sack ist, voll von Köstlichkeiten aller Art für Kind und Kegel, Groß und Klein, Jung und Alt.«
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Obwohl von ihm selbst ausgelöst, empfindet Felix die Fortsetzung des Silbenspieles durch Melanie als ungehörig. Er ärgert sich. Diese Anmaßung der Dichterinnen! Sie bedienen sich einer fremden Anatomie, um ihre eigene Ratlosigkeit zu verbergen. Sie gehen nicht, sie wandern nicht, sie stelzen immerzu in ihr eigenes Inneres. Meine Anatomie ist gesichert, sie steht fest. Ursprung und Ansatz der Muskeln sind bekannt, die Beugung der Gelenke ist in Winkelgraden anzugeben.
Monsieur le docteur IV Mit und ohne Mantel läßt Monsieur le docteur die Sache mit dem Gift keine Ruhe. Die Freundschaft hält, dehnt sich sogar auf die Familie aus, aber das Gift. Gift und Gegengift ist für den Arzt eine Alltäglichkeit, mit der er umgeht, das hat er gelernt. Was Madame D’Augustin nicht begreifen will, ist, wenn er, der nun alte Arzt sagt, seine Aufgabe sei es, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Das heiße nicht, nach der Untersuchung jedes therapeutische Handeln einzustellen und den Patienten mit einer mehr oder weniger verläßlichen Prognose an die Luft zu setzen, mit der er größere oder kleinere Hoffnungen ein- und ausatmet. Nein, vielmehr wird der Arzt sich und seinem Patienten klarmachen müssen, daß das Schicksal kein Gegenstand ärztlichen Handelns sein kann. Melanie geht auf solche Überlegungen nicht ein, sondern schreibt: »Du braust am Gegengift, Du alter Giftmischer.«
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Daß Monsieur le docteur etwas beleidigt ist und sich sagt, daß Melanie sich da wohl im Ton vergriffen habe, nimmt nicht wunder. Aber so wie auf ihr zweimaliges unentschuldigtes Fernbleiben, so würde Melanie auf eine Intervention von seiner Seite auch jetzt nicht reagieren. Deshalb läßt er es bleiben, zudem hört er auch längere Zeit von Madame D’Augustin nichts. Nach vielen Wochen kommt ein Brief mit den banalen, aber doch so wichtigen Nachrichten über Verpflichtungen, kleine Krankheiten und Hindernisse, eben ohne Inhalt, der einen Code-Schlüssel notwendig gemacht hätte. Nach einem Absatz aber steht zu lesen: »Ich verstehe, daß Männer wie Du, die zu den geheimen Klerikern zählen, Angst vor einer Inbesitznahme durch Frauen haben. Sicher ist auch, das sage ich meiner Tochter immer, daß dort, wo die Liebe sich niederläßt, das Leid schon unterwegs ist. Man kann auch Gegengift überdosieren!« Womit wir wieder beim Gift wären, denkt Felix. Etwas überspitzt, aber im Grunde stimmt das alles, denkt er weiter. Doch was Frauen nicht verstehen können, ist, daß sie für den Mann Träume bleiben.
Postskriptum oder der Versuch einer Entgiftung Baronin Mathild von Schwaningen an Melanie D’Augustin März 19… Ma chere, Du hast ihn also doch noch getroffen, Deinen Wunderdoktor? Wenn ich das alles überdenke, was Du mir da geschrieben hast – eine wahre Odyssee. Ich hätte ja keinen kleinen Finger gekrümmt für diesen alten … Jetzt werd ich Dir etwas sagen: Das
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mit dem Gift, das hast Du vorzüglich gesagt; er hätte noch mehr Wahrheiten verdient, und ich bin mir nicht sicher, ob Du mir nicht doch ein paar Kleinigkeiten verschwiegen hast, denn eine Freundin (nicht eine soo liebe wie Du, aber auch sehr lieb) hat mir vor nicht allzu langer Zeit erzählt, daß sie ihn, der ja wirklich eine Koryphäe ist, wegen Fußbeschwerden aufgesucht habe, und da sagt der Doktor zu ihr: »Ausziehen«. Meine Freundin war ganz entsetzt und fragt ihn: »Alles?«, und er antwortet: Ja, Madame, alles, denn die Fußbeschwerden müssen ihre Ursache noch lange nicht in den Füßen haben, es könnte ja sein, daß es die Wirbelsäule oder die Hüfte ist,« Aber damit noch nicht genug, läßt er sie auch noch nackt vor sich hin- und hermarschieren und befühlt sie vom Knöchel bis zu den Knieen und den Hüften, und das in einer Zeit, wo andere Ärzte, die ja auch nicht so schlecht sein können, kaum noch den Schuh ausziehen lassen, wenn einer Fußweh hat. Ich hätte Dich ja gewarnt, wenn Du mich vorher von Deinen Plänen unterrichtet hättest. Das Furchtbarste kommt nämlich noch. Die Freundin hat nämlich gesagt: »Stell Dir vor Mathild, es war nicht einmal unangenehm.« Was sagst Du jetzt? Dabei kann sich meine Freundin, was die Schönheit anlangt, mir Dir nicht messen. Weißt Du eigentlich, welchen Gefahren Du Dich ausgesetzt hast? Antworte sofort! Madame Melanie D’Augustin an Mathild von Schwaningen März 19… Beruhige Dich, meine liebe Mathild, er hat mich überhaupt nicht untersucht, sondern nur meine Röntgenbilder gesehen und Befunde, die ich mitgebracht
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habe; auch hat er etwas an meiner Medikation geändert, sonst nichts. Ich hoffe, Dich bald einmal zu sehen, dann kann ich Dir mehr erzählen. Hast Du schon Pläne für den Sommer? Weißt Du, daß der Doktor ganz in Deiner Nähe aufgewachsen ist? Was mich im Augenblick wirklich aufregt, sind die Aufzeichnungen der Simone de Beauvoir, die irgendeine alberne Verwandte jetzt wieder im Kasten gefunden hat. Ich stöbere gerade alles durch, damit mir so etwas nicht passieren kann. Man kann ja nie wissen. Baronin Mathild von Schwaningen an Melanie D’Augustin April 19… Also weißt Du Melanie, in letzter Zeit regst Du mich auf! Bedarfst Du der Anregung einer Simone de Beauvoir, um Ordnung zu machen? Ich habe weder jemals eine Simone de B., noch die aufgefundenen Schriften von diesem Trutscherl gelesen, ich kenne das Ganze nur aus Rezensionen, aber daß Du Dich dadurch veranlaßt siehst, Deine Kästen zu durchwühlen – ich hoffe, Du hast nichts zu verbergen. Ich jedenfalls nicht. Ich habe solche Dinge immer gleich verbrannt, getilgt, sowie ich auch immer gleich zur Beichte ging. Ich habe schon seit vielen Jahren den gleichen Beichtvater, der mir immer wieder sagt: »Denken Sie daran, Baronin, jeder von uns kann jederzeit sterben, und es ist nicht nur eine Sünde, Sünden zu begehen – wir alle sind Sünder – sondern auch sündige Zeugnisse seinen Kindern zu hinterlassen. Er ist übrigens ein sehr schöner Mann mit einem großen Herzen. Daß Deine Koryphäe in meiner Nähe aufgewachsen ist, wußte ich nicht. Er kann dann nur von dem ordinären
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Bäckermeister abstammen. Der hatte einen Enkel, einen hübschen, aber wilden Buben (typischerweise ein uneheliches Kind) der immer eine Schar von Buben und Mädeln anführte, gefährliche Rutschfahrten auf einer Rutsche vollführte, die zu einer Oberwassermühle führte; sogar die Gendarmerie mußte da manchmal einschreiten; aber was das Ärgste war, die Bande hat mir manchmal nachgeschrieen: »Baronin, Baronin, Semmeln aufgefressen, Geld vergessen!« Vielleicht ist es der, aber ich habe immer gedacht, man hätte aus ihm einen Pfarrer gemacht, um das Geld für ein Studium zu ersparen. Wenn ich mich recht erinnere, waren auch ein paar Töchter da, auch ganz beachtliche Früchtchen. Nun gut, da kann man nichts machen. Madame Melanie D’Augustin an Mathild von Schwaningen Mai 19… Wer da wohl wen mehr aufregt? Ich Dich oder Du mich? Vorsichtig ausgedrückt, war mir schon Deine Verdächtigung des Doktors und die indelikate Äußerung Deiner Auch-gute-Freundin sehr unangenehm. Nicht weniger Deine Ausführungen über Deinen Beichtvater. Laß die Leute von meinem Doktor in Ruhe, sie waren ehrsame Leute, die in ihrem Leben mehr gearbeitet haben, als Du bereit bist Dir vorzustellen. Du wirst bigott, Mathild, und wußtest in früheren Jahren eine gewisse Dünkelhaftigkeit besser zu verbergen. Mathilde an Melanie Deine kurze Philippika beweist mir zweierlei. Einmal, daß es Leute gibt, die das Gift und die Träume lieben,
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und zweitens, daß Frauenfreundschaften nicht selten an Männerfreundschaften zugrunde gehen. Mein Entgiftungsversuch ist gescheitert.
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Raoul Schrott
Stiltebraekh da ist der mann in schwarz wieder er lüftet den zylinder leicht schlägt den frack zurück lehnt sich in meinen stuhl and schaut… sergej jessenin Stiltebraekh, mit Verlaub, weder zu Ihren Diensten, noch erfreut - allein, das ist Ihre Angelegenheit; gestatten Sie mir, mit einigem Widerwillen, aber nicht ganz gegen meinen Wunsch, einiges klarzustellen – vielleicht einigen wir uns auf ein unverfängliches Der Umstände Halber, die uns nun einmal zusammengeführt haben: meiner Verpflichtung genügende Rechnung. Sie erkennen mich nicht mehr? Auch Sie haben sich verändert, selbst wenn ein offenes Eingeständnis peinlich erschiene … und, weshalb sollte meine Vorstellung eher glücken, als die Sache selbst? Doch lassen Sie mich einwenden, daß dies den Gegebenheiten selbst zuzuschreiben war. Mein eigenes Verdienst in Zweifel zu ziehen, erübrigt sich, war es doch von Beginn an die unmittelbare Ursache meiner Verpflichtung und hinlänglich bekannt, ja im weiteren Verlauf mehrmals bestätigt; mehr als die Dinge zu ordnen und zu verfolgen, im zugestandenen Maß, war von mir ohnehin nicht verlangt worden – so mag auch die Frage nach meiner Gewissenhaftigkeit belanglos bleiben.
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Die Vorgeschichte – und in einem gewissen Sinn wird alles, was ich zu sagen habe, Vorgeschichte bleiben – ist schnell skizziert, soweit es eben das gegenseitige Einverständnis der Diskretion erlaubt. Mich hatte brieflich eine Einladung jener Art erreicht, wie man sie meist im Dutzend erhält – Beziehungen, über die man verfügen muß und daher auch wenig versprechend; jedenfalls war dies mein erster Gedanke, als ich sie aus der Post sortierte. Der Absender war mir unbekannt, die Floskeln die gebräuchlichen, sodaß ich sie überging – auch wenn ich mich gerne an diese antiquierte, fast exaltierte Distanz Ihrer Sprache halte, welche die Dinge auf andere Art gegeneinander abwägt und eicht … Wenige Tage später, im Laufe der notwendig gewordenen Anstandsbesuche, die zur Erhaltung meiner, zugegeben, prekären Stellung unumgänglich waren, traf ich Meyerhold, einen Bekannten, der diese Einladung erwähnte und, meinen ausweichenden Worten widersprechend, mir nahe legte, sobald als möglich dort vorzusprechen – die dezidiert beiläufige Bemerkung, dies könne auch mein Einkommen betreffen, ließ mich aufhorchen – was ich meinerseits ebenfalls nicht verbarg. Ich ließ ein paar Tage verstreichen – eine beabsichtigte Nachlässigkeit, die meine bevorstehende Abreise glaubwürdig kaschierte – und wurde vorstellig; man ließ mich längere Zeit unbeachtet, was vorauszusehen gewesen war und mir deshalb in stiller Genugtuung das Warten verkürzte. Die Adresse war bemerkenswert bescheiden, eine Sprengelpraxis, die Wände mit Gravüren dekoriert, eine Photographie des Doktors und seiner Mitarbeiter, ein einziges Mal, nach einem Klingeln, Rufe aus der Kulisse.
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Einmal vorgelassen, fand ich mich in der Gegenwart eines Greises von kleiner Statur und ohne Manieren, der mich zugleich mit der Aufzählung meiner finanziellen Außenstände überraschen wollte – was ich ihm nicht versagte, worauf sein barscher Ton an Rückhalt gewann und ihn unumwunden zu seinem eigentlichen Anliegen kommen ließ. Das Gespräch war vertraulich, ein Prinzip, das mir schon aus Bequemlichkeit immer vordringlich war: man war vom Sohn des Hauses ohne Nachricht, machte sich Sorgen um ihn und trug mir auf, Näheres in Erfahrung zu bringen; wenn nötig, könne ich mich auch als Freund der Familie betrachten – eine seltsame Formulierung, nicht wahr? Die in Aussicht gestellte Summe zur Abdeckung meiner Auslagen entsprach nach all den Umständlichkeiten kaum meinen, mit jedem Gemeinplatz gesteigerten Erwartungen. Ich willigte ein und verabschiedete mich mit dem gebührenden Ausdruck von Beflissenheit – und erhielt zu allem Überdruß noch ein Bündel Papier in die Hand gedrückt, um mich mit der betreffenden Person vertraut zu machen. Auf was ich eigentlich hinaus will? Vielleicht gerade auf Ihre Ungeduld, die ich solange als möglich in Anspruch zu nehmen gedenke, der einzigen Bedingung unseres Gespräches gewissermaßen … verständigen wir uns für den Augenblick darauf, daß ich Ihnen nur etwas zu erzählen vorgebe, meinen Part sozusagen – was die zweideutige Situation zu Ihren Gunsten entscheidet und allein von einem Interesse abhängig macht, auf das ich vertraue; und da unsere Konversation nun diesen Verlauf nimmt, werden Sie auch ihre Verschränkungen erträglich finden. Und, glauben Sie mir, eine fremde Sprache, wie gut man
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sie auch beherrschen mag, verleiht unwillkürlich den Spielraum, den man zum Sprechen braucht; die Krücken sind niemals die eigenen, und einen Zugriff auf das eigene Denken hat man vorerst nicht zu befürchten – ein leichtes Zugeständnis, ein freier Vorwand also – das Capodimonte kennen Sie gewiß, auch den Mantegna dort? Euphemia wie eine Jugenstilikone, die Lilie in der Hand, den Löwen an der Seite? Am selben Abend noch reiste ich ab und nahm mir in der Stadt in dem erstbesten Hotel ein Zimmer. Persönliche Angelegenheiten blieben vordringlich, ein Bericht war nicht zu einem vorgegebenen Zeitpunkt fällig, so daß ich mich der Sache erst nach einiger Zeit widmete und die Durchsicht der Papiere vornahm. Mochte sie auch eine fürsorgliche Hand zusammengetragen haben, sagten sie mehr über den Empfänger als den Absender; man hatte sich unbestritten Mühe gegeben, doch offensichtlich ohne sich im klaren zu sein, was man eigentlich erwartete. So verrieten sie einiges im doppelten Sinne: einmal durch die fehlende Einschätzung einer zweifellos nahestehenden Person, ein anderes Mal, als sie nicht preisgaben, welches Motiv für meine Nachforschungen ausschlaggebend war. Wahllos aus der Schublade familiärer Kenntnisnahme, in die man sie urteilslos abgelegt und erleichtert an mich übertragen hatte, lagen sie vor, darunter auch eine Photographie … daher auf eine Betroffenheit von meiner Seite zu schließen, wäre irreführend – ich biete Ihnen hier nur ein weiteres Klischee an, der leichteren Verständlichkeit halber: der Eindruck allein zählt, nicht das Detail, auch wenn die Billigkeit des Bildes – nun eben billig ist, Beleg einer Anwesenheit, ei-
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ner Postkarte gleich, deren Poststempel zur Authentizität genügt. Andererseits hätten diese Dokumente in ihrer Unübersichtlichkeit kaum kunstvoller zusammengestellt sein können; was man aus ihnen erfuhr, blieb im Rahmen pflichtgemäßer Achtung, die vorsichtig um ihrer selbst willen bedacht war: Grüße, Benachrichtigungen, Briefe – nichts, was man ihnen abgewinnen konnte, kein Hinweis, nur Verweise, die in sich selbst beruhten. Das einzige Verwertbare, dem ich nachging – wie sich herausstellte, fiel es etwas zu gewollt aus diesem Zusammenhang, der erste Eifer übersah es –, war der Absender des letzten Briefes auf einem vorgedruckten Papier, eine kurze Mitteilung, nichts weiter. Der Straßenzug, den der Briefkopf angab, war zwar leicht aufzufinden, doch weder die Hausnummer noch ein Hotel dieses Namens – die Straße wechselte ihren Namen einige Nummern vorher; wo es sich hätte befinden müssen, sah man das Messingschild eines der offiziellen Gebäude dieser Stadt, das Stadtmagistrat, glaube ich: diese Etablissements halten sich hier nie lange, und der Aufwand eines eigenen Briefpapiers ist danach meist überflüssig. Die Photographie wiederum war eine dieser Aufnahmen, bei denen der Schatten zum alleinigen Merkmal der Gestalt wird; die Konturen verrannen ein wenig, wie auf Löschpapier, das Gesicht war um eine Spur zu weich, der Mund mit dem Finger in dieses Wachs gestrichen, das seinen Schnitt durch das ausgeprägte Kinn erhielt, sich aber sonst in der stilisierten Pose verlor – ich will Sie nicht beleidigen, aber sehen Sie, wie sich alles bereits zu verselbständigen beginnt, wie Anzeichen, die keine sind, zu halben Gewißheiten werden und sich ohne
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weiteres Zutun schon zu Merkmalen fügen, als bestünde unausweichlich unser Bedürfnis dazu, als müsse es, für unser Gespräch zumindest, faßbar sein, um erst wahr zu werden? Gewiß, man erliegt leicht der Unart, von den ersten Vorkehrungen auf den weiteren Verlauf zu schließen, von der Schrittlänge gewissermaßen auf die Augenhöhe, jene schlußfolgernden Kadenzen, die so stimmig fallen, daß wir noch in jeder ein Abbild erkennen – etwas, das uns erst kenntlich wird, wenn es der einen oder anderen Konvention entspricht, ohne daß es nötig wäre, sie einzugestehen, weil sie gelegen kommt, jene Unart kurz, die aus einem Namen im nächsten Augenblick ein omen macht … das ich mir verkehrt zu lesen vorbehalte: Ich schweife ab – die Welt, vertrauen Sie mir, entbehrt der Grammatik, die unsereins so gerne zu Rate zieht. Irritierend – vielleicht; irrig – meist; hinderlich – immer; so ist jeder Anfang einer Nachforschung zu nennen, wenn ich mich auch mit weniger leeren Händen fand, als ich vorgebe. Was aber immer nur flüchtig lesbar wurde, wie Schrift auf verbranntem Papier, hält man es über eine Flamme, waren die, wie soll ich sagen, Manierismen einer Person, die sich zwar für Rückschlüsse eignen mögen, nur mußte ich für meinen Bericht ja das Gegenteil vorweisen können: das schmerzlose Klischee, das man von uns verlangt. Zugegeben, wir neigen dazu, den geringsten Vorfall noch in einem Mechanismus begriffen zu sehen, was wir Welt nennen, als Nervengeflecht eines Körpers zu verstehen, dafür werden wir entlohnt. Ich erachte dies jedoch für überkommene Harnprophetie, Konjekturen dieser Art für spinozische Platitüden – wenngleich ich
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in diesem Fall nichts Stichhältigeres vorzuweisen hatte: ich konnte mich weder auf die üblichen Schlußfolgerungen stützen, noch sie als reine Fiktion ansehen; und meine unternommenen Schritte waren nur aus dem Grund nicht erfolgreich, weil sie meinem Auftraggeber wenig plausibel erscheinen mußten: Kompliment, mein Herr! Doch halfen sie mir, wenigstens das Feld meiner Bemühungen abzustecken: die fast erzwungene Auffälligkeit der Einzelheiten schien für eine einfache Erklärung zu sprechen. Wie auch immer, der vierte Akt brachte aufs Stichwort genau die machina in Bewegung, die den deus auf die Bühne setzte - einen kleinen rothaarigen Kerl, der jedem erzählte, er wäre früher Ober im Ritz gewesen, und umso unangenehmer wurde, je mehr man ihm zuhörte; ich erinnere mich noch an seine behaarten Hände, als ob man die Haare einzeln in die milchige Haut gesetzt hätte, was sie anfaßten, wurde unappetitlich; mit unserer Geschichte damals hatte er jedoch nur am Rande zu tun, mehr mit unserem Gespräch heute … Wir dagegen sind vom Weg abgekommen: ich weiß, wie gut Sie sich in dieser Stadt auskennen, aber man verläuft sich hier nach Jahren noch gerne in den Gassen und gibt dem schmutzigen Gelb und bourbonischen Rot der Fassaden unwillentlich nach, besonders wenn der Abend mit dem scharfen Schnappen der Rollbalken vor den Konfektionsgeschäften fällt; man windet sich noch schnell durch diesen Spalt- das Ziel ist ja, Ihr Einverständnis weiterhin vorausgesetzt, ein gemeinsames? Das erwähnte Hotel zu finden – ich sehe, Sie ahnen die Pointe schon: es liegt für Sie also im Ermessen einer Eingebung; man versetzte sich in die Lage einer Person
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und warte geduldig auf das Eintreffen der unvermeidlichen Koinzidenz. Doch erlauben Sie mir einzuwenden, daß die Welt auch der Wahrscheinlichkeit entbehrt: in dem Maße, als sie uns den Zufall in seiner linkischen Verkettung, seiner perfiden Unauffälligkeit nicht erkennen läßt - zusehr ist man auf die Nachvollziehbarkeit des eigenen Lebens bedacht. Ich brachte die Geduld noch nie auf, das Erwartete auch wirklich eintreffen zu sehen. Die in Frage stehende Person – wie Sie also bereits wissen – war im selben Hotel abgestiegen, nicht gerade Tür an Tür, auch nicht unter anderem Namen, nein, unsere Begegnung war die Folge eines kurzen Aufblickens, dann eines formellen Grußes, obwohl sie im weiteren gesucht, ja herbeigezwungen wurde; man ist meist erst zuletzt bereit, seine unbeteiligte Haltung aufzugeben, erst wenn ein Einlenken schon aus weiterer Bequemlichkeit nicht mehr hinauszuzögern ist. Die Mühe meiner Umstände offenzulegen, erspare ich Ihnen, ein nüchternes Unterfangen, ein einfallsloses Abhaken jeden Augenblickes, das zum Erreichten in keinem Verhältnis steht: die Pointe wird es ihnen bestätigen. Nehmen Sie einen Grappa? Ich erlaube mir, die Rechnung zu begleichen, nicht nur in dieser Hinsicht … vielleicht dort? Ich sitze nicht gerne mit dem Rücken an der Wand, eine trügerische Sicherheit, auf die die Kellner am allerwenigsten Rücksicht nehmen. Hören Sie das scharfe Schlagen, diesen deutlichen Stich? Das sind die Scharen von Sperlingen, die sich um diese Stunde, unter dem handkolorierten Postkartenhimmel, der barocken Dekoration dieser Stadt zusammenballen und ihre schleifenden Bänder in den Wind schlagen, als würden sie at-
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men – sehen Sie sie, dort am Fenster: man glaubt nicht, wieviele es sind, eine rußige Wolke, die mit Behendigkeit die Form wechselt, ohne daß sie sich je verlieren. Diese Beweglichkeit war mir von je her fremd, ich bin von steterem Temperament: die Umstände bestimmen, besser, sie entscheiden mich, nicht ich sie. Nur Geschwätz, meinen Sie? Damit werden Sie überall recht bekommen; doch lassen Sie mich bei meinen Floskeln bleiben, je ausweichender man sich gibt, desto mehr verrät man sich am Ende, nicht? Ich schloß nähere Bekanntschaft, indem ich ihm schlicht den Respekt zollte, der mir in Anbetracht meiner indirekten Abhängigkeit von ihm angemessen erschien – zumindest erscheint es mir so. Ihn überraschte es, meine unbestimmte und für ihn kaum einsehbare Zuvorkommenheit machte ihn verlegen, eine schlecht verhohlene Peinlichkeit; er sah aufgedunsen aus, bleich, mit ständig geröteten Augen, doch sein Benehmen war bemüht korrekt – auch wenn er gerade vor Unannehmlichkeiten nur durch eine größere Summe Geldes, die er dem Portier zusteckte, bewahrt worden war; eine Lappalie, gewiß. Sofort den Bericht abzusenden, davon hielt mich nur die Hoffnung auf ein vollständigeres Bild ab; kann man nicht auf eine moralische Kompetenz verweisen, dann zumindest auf eine einschlägige. So behielt ich mir noch einige Tage vor, um die Sache zu einem zufriedenstellenden Ende zu bringen, einem coup de grâce, mit dem ich anderes meinte – den Beweis meiner Gründlichkeit, der in diesen Kreisen von Gewicht ist, je weniger Aufheben man davon macht. Ich wußte nicht, mit welchen Mitteln er sich betäubte und woher er sie be-
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zog, und seiner Post konnte ich auch nicht habhaft werden, da er keine erhielt, nicht einmal postlagernd – wie ich herausfand, nachdem der Portier, dieser mißgünstige und gewandte Kretin, mir seinen Paß überlassen hatte, mit dem ich bei den umliegenden Postämtern nachfragte; wir sahen einander ähnlich, und etwaigen Zweifeln kommt das Auftreten zuvor: als Fremder macht man in dieser Stadt ohnehin dieselbe Figur. Haben Sie den Herrn dort bemerkt, der schon ein drittes Mal innerhalb weniger Minuten vorbeigeht und unschlüssig einen Blick hereinwirft, ob er einen leeren Tisch findet, an dem er Platz nehmen kann, ohne unsere Blicke auf sich zu ziehen? Wie er betont gelangweilt aus den Augenwinkeln zu bemessen sucht, wieviele Schritte es zu jenem Tisch und zur Garderobe sind, ob er erst an anderen vorbei und um Verzeihung bitten muß oder der Schwung der Drehtüre bis dorthin reicht? Er war von dieser eigenen Art, die lieber unzählige Mühen auf sich nimmt, bevor sie sich einer imaginären Peinlichkeit aussetzt, für die ein linkischer Schritt ein größerer Fauxpas ist als eine offene Beleidigung. Ihr Einfallsreichtum ist unerschöpflich, wenn es darum geht, die Welt aus einer Façon geschnitten zu sehen; sie kaufen sie von der Stange, als wäre sie schon maßgenommen worden, anderem weichen sie aus – ein lächerlicher Veitstanz, der mit Unsicherheit nichts zu tun hat. Dies ist übrigens mein bevorzugter Platz; das Fresko über unseren Köpfen wird Ihnen bisher entgangen sein, der zähnebleckende Narr, der die grotesken Fratzen unter seine Schellenkappe nimmt, welche die verspiegelten Wände einrahmt; man dämpft seine Stimme unwillkür-
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lich nicht? … Sie sitzen immer noch hier? Sie schweigen? Bis auf die Blicke in die Runde? Dieses Gespräch wird zunehmend unangenehmer? Ich nehme mir keine Vertraulichkeiten heraus, aber Sie kennen Ihren Platz in diesem Spiel, als ob es nicht das Ihre wäre. Sie fallen ohne Zögern ein, trotzdem? Was schließlich jedem bleibt – auch dieser seltsamen Gestalt, die nun glücklich in der geretteten Anonymität sitzt – ist doch nur ein Bett, die kahlen Wände, der schale Zigarettenrauch, der sich im Stuck dieser hohen Räume verliert; der Straßenlärm allein vertreibt die Zeit, die Leere, die sich in den Schlaf zieht, wie der Blick, der sich nirgends mehr fängt. Dann wird man kleinlich mit sich selbst; drei Tage, und Sie sind ein erbärmliches schmutziges Ich, ein schwitzendes Etwas von Haut und Haar, vor jeder Berührung zurückschreckend; man riecht den abgestandenen Schlaf der anderen im Korridor, und zu allem bleiben es immer nur zwei Schritte … Dieses Exerzitium liegt mir nicht, sowenig wie es meinem Bekannten zu Gesichte stand, dem es sich unter der Hand verkehrte; der Blick, der einen beständig übersah, obwohl seine Haltung um jedes weitere Wort zu bitten schien, als solle man den Satz an seiner Stelle zu Ende führen – bei jeder Begegnung drückte er mir die Hand, sie ausstreckend und sich doch nicht von der Stelle rührend, daß es von Tag zu Tag anstrengender wurde, öfter mit ihm zu verkehren als nötig. Man erzählte mir mehr über seine Beziehung zu einer … nun, für mich war sie eine ältliche Soubrette, der ihre Grazilität nicht mehr gelang und ihr deshalb nicht nur etwas Geziertes sondern auch Verächtliches gab. Sie hatte eine Vorliebe für ausgefallene Kleidung, die an ihr
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herabhing wie an einer Schaufensterpuppe, Mannequin, das sie nicht mehr war – aber es paßte zum Anstrich dieser Geschichte ebenso, daß jeder anscheinend des anderen Sprache nicht ganz mächtig war und sie sich über einen Dritten unterhielten, der sich wiederum an ihren Eskapaden beteiligte – das einzige, was dieses nicht berechenbare aber absehbare Verhältnis wohl aufrechterhielt, auch wenn ich nichts Eindeutiges wußte. Was er an ihr fand, oder vielmehr suchte, schien ein Abbild seiner selbst, je mehr er sich gehen ließ und sie sich um ihn bemühte; etwas, auf das er noch herabsehen konnte und das ihm einen letzten Rest von Überlegenheit, einen letzten Halt versprach - um deren Illusion er sich wohl im klaren war; aber sie allein erhielt noch das Gefühl seiner selbst aufrecht. Es war eine vorgetäuschte und fadenscheinige Arroganz, die er mit immer vulgäreren Auswüchsen verteidigte, ihr aufs gemeinste zusetzend, um sich ihrer zu versichern – die einzige Rolle, die noch Spiel war. Und da er wußte, daß es nicht mehr von Dauer sein konnte, blieb ihm in seiner Lage nichts mehr anderes übrig, als den Schlußpunkt ihr zu überlassen, umsomehr, als er seinen Unterhalt von ihrem Geld bestritt, Geld, das sie nicht hatte; das war seine Logik, und die Gelegenheit, von ihr abzusehen, hatte er zu diesem Zeitpunkt schon verpaßt auch wenn den hinterhältigen Bemerkungen des Portiers nicht ganz zu trauen war. So wurde er zunehmend scheuer und hinterließ mir nur mehr belanglose Nachrichten, um den Schein zu wahren: Verabredungen, die er selten einhielt, Nachrichten aus zweiter Hand, anderes, nachlässig hingekritzelt, als wäre er zu beschäftigt. Er bat mich nie um
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etwas – was doch naheliegend gewesen wäre; es schien als hatte er den Blick für eine sich bietende Gelegenheit nicht mehr, als brächte er die Kraft nicht mehr auf, seine innere Lähmung einfach abzustreifen … Ich will mich nicht rechtfertigen; Sie wissen, wovon ich spreche, ich weiß, daß Sie es wissen – aber dieses Spiel erlaubt keinen Fauxpas, keinen verbotenen und zudem falschen Schritt, der sich nicht mehr revidieren läßt. Es ist ein diktatorischer Zeitvertreib und doch der einzige, der uns bleibt: nur darf man ihn nicht eingestehen, um ihn fortzusetzen - obwohl der Vorwand augenfällig ist. Ein Augurenlächeln kann mißverstanden werden, ein sardonisches Grinsen ist bereits zuviel, es entstellt, ein Tabu, das wir zu respektieren haben. Und meine Angelegenheit ist es schließlich, zu subsumieren, ein Buchhalter dieser Komödie zu sein: ich langweile Sie, schlimmer, ich bin dabei, das Ende preiszugeben – selbst dieser Nachsatz verrät noch mehr, als er vorgibt. Ein pittoreskes Motiv, eine zynische Apologie liegt mir fern – aber schließlich ist jeder Kulisse für des anderen Leben, will man oder nicht; man gehört dazu, was soll’s, man leistet sich Gesellschaft, wie man sich eben anderes leistet – oder nicht: ich bin da wenig wählerisch, ich meine, was den Appetit betrifft. Im übrigen macht man zuviel Aufhebens um die eigene Person – als wären wir und unsere zusammengekleisterte Moral nicht immer schon ein anderer, als wir uns glauben; kaum schließt man die Augen, sieht man sich doch aufs Angenehmste vor sich – wozu dann ein Bemühen um Charakter, Einbildung abzuwägen erscheint die reine Zeitverschwendung; mit sich allein hält man es ohnehin nicht aus. Ich selbst habe
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eine Schwäche, wie man gemeinhin sagt, für die weniger angesehenen Viertel dieser heruntergekommenen Stadt, mit ihren Straßenverkäufern, deren Gesichter am Feuer der Blechtonne gerinnen, den sich allen Blicken feilbietenden Kammern, in denen man reglos verharrt - die Welt, mein Herr, entbehrt auch nicht der Zwanghaftigkeit, wenn sie auch anderen verwerflich erscheinen mag; es ist eine poröse Stadt, die in sich selbst mäandriert, ohne ein Zentrum, ohne ein Wahrzeichen, ohne ein Bauwerk, das sich über andere erhebt; das einzige Symbol, das sie zuläßt, ist die Verflüssigung des Blutes, ein Zeichen in der Zeit und nicht im Raum, ein ständiges Übertragen in eine andere Gestalt, eine Anarchie, die einem älteren Gesetz gehorcht, dem Menschlichen in all seinen Formen, die jeder Regel widerstreben und auch widerstehen. Es gibt kein Grün, keine Fontänen, keine eigentlichen Plätze hier, keinen Ort distanzierter Begegnung; sie verschlingt und spuckt wieder aus, selbst ihre eigenen Grenzen, die ihr der Hafen, die Bucht und die anschließenden Hügel einmal gaben … Genug, ich war eben von einem dieser Spaziergänge zurückgekehrt, als wir uns im Hotel begegneten und er mich für später noch in die Hotelbar bat. Ich gab dem wenig acht, seine mangelnde Verläßlichkeit hatte ich zur Genüge kennen gelernt, und es mag sein, daß ich meinen Auftrag gern vergaß. Der Abend war leidlich gewesen und ich zu wenig Gutem aufgelegt; ich war früher zurückgekehrt als beabsichtigt, da mir kaum Erfolg beschieden war … Lassen Sie nur, hier gibt man kein Trinkgeld; ich begleite Sie noch zum DI LONDRA, wie es damals hieß – ein pompöser Name, nicht? … Auch dieser
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widerliche Portier arbeitet noch dort? Mit seiner schief geschnittenen Visage, die wohl Vertraulichkeit verheißt, wenn sie in ein gurrendes Lachen übergeht, ein speichelnasses Gurgeln, mit dem er die Zunge über die blutleeren Lippen schlägt – ich übertreibe. Jedenfalls nahm er mich beiseite, um mir ausführlich zu schildern, wie sich dieser Herr darüber aufgeregt hatte, daß das Bad nicht funktioniere; völlig außer sich wäre er gewesen, ob man ihm Übles wolle habe er hysterisch durch den Korridor gebrüllt, daß sich die anderen Gäste beschwerten. Abends hätte er dann allein gegessen und ihn mit versöhnlichem Ton gebeten, ihm eine Flasche aufs Zimmer zu bringen, und ihm mehr Geld untergeschoben als notwendig – das er beleidigt ignoriert habe, während er der Bitte aber nachgekommen sei Vor dem Schreibtisch wäre er dann gesessen, die Bettdecke um die Schultern, Papiere in einen offenen Karton ordnend; spät nachts kam er nochmals ins Foyer herunter, reglos eine Zigarette nach der anderen rauchend. Das Stubenmädchen fand ihn morgens, als sie ihm das Frühstück in das Zimmer stellte, den Körper verdreht, von der Brust abwärts in der Wanne voll kaltem Wasser, in dem die Kordel des Vorhangs schwamm, in ihr verspreizt, als wäre er aus Holz, fasrig die aufgeweichte Haut. Wie sie meinte, habe er versucht, sich am Rohr der Zentralheizung, das über die Decke lief, zu erhängen; da der Strick aber keinen Knoten aufwies, war er wohl – gegen seinen Willen, wie sie ungewollt sarkastisch anfügte – ausgerutscht, was die Blessur an seiner Stirn erkläre. Der Portier hatte selbst den Abtransport des leblosen Körpers veranlaßt und bat mich nun, als
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die vertraute Person, die man nun einmal in mir sah, die weiteren Formalitäten zu erledigen. In der Tasche meines Anzugs fand ich übrigens noch den Zettel, den er mir unbemerkt zugesteckt hatte, kaum zu entziffernde Zeilen … Überrascht wäre das falsche Wort; ich war eher peinlich berührt, wie man es Dingen gegenüber ist, deren Logik man erst dann vollzieht, wenn sie schon einen unangenehmen Nachgeschmack besitzen – man fühlt sich düpiert. Alle diese ungeschickten Inszenierungen, diese grundlos übertriebenen Vorfälle, hatten gerade das vor mir verborgen, gegen das ich mich gefeit geglaubt hatte – wie eine Marionette, die man erst als solche sieht, wenn die Fäden gekappt sind. Mochte sie zuvor selbst die arabeskenhaftesten und unwahrscheinlichsten Bewegungen vollführt haben, an die man um der Täuschung selbst willen zu glauben bereit war, erkennen wir sie erst als ein Bündel von Draht und Gelenken, wenn man auch die Hand bemerkt, die dieses Taschenspielerstück vollbringt. Das Leben gab‘s ja schon einmal: doch auch eine Tat wie diese hat es schon gegeben. Aber was läßt sich denn darüber sagen? Die Sprache, mein Herr, ist auf das Leben ausgerichtet, ihre Logik erschöpft sich in diesem kleinsten gemeinsamen Nenner; ist man zu einem solchen Schritt bereit - und man konnte nicht einmal das mit Gewißheit feststellen -, gibt es ihre Verbindlichkeit nicht mehr; wozu dann noch reden, ein Handschlag, oder ein Abschied? Es wäre ebenso ein Irrtum, anzunehmen, man bräuchte nur die Seiten verkehren, um auch darin folgen zu können; unsere Moral liegt nicht in diesem ungelenken Sprung …
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Nein, ich wohne seit damals nicht mehr hier, aber ich bitte Sie, noch einen Augenblick zu warten, obwohl Ihnen die Geschichte ja bis in die alltäglichen Einzelheiten, die diese Anekdoten erst glaubwürdig machen, vertraut ist, der dünne Faden, an dem sie hängen – nur von einem werden Sie nichts wissen … Ich hatte alles weitere in die Hand genommen, meinen Bericht vorgelegt und meine Auslagen zurückerstattet bekommen, weniger noch, als unter diesen Umständen zu erwarten war. Nur eines habe ich ausgelassen und zurückbehalten – das einzig wirklich Unverständliche dieser ganzen Angelegenheit. Der Portier hatte es mir zukommen lassen: eine Photographie, die er an diesem Morgen gemacht hatte, bevor der Arzt eingetroffen war, auf der Rückseite fein säuberlich datiert, selbst die genaue Stunde vermerkt und der Name notiert. Der frühen Stunde gemäß war wenig darauf zu identifizieren: der Lackglanz der Wangen, der in die Augen fiel, deren Blick sich unter dem abgewinkelten Arm entzog, über den grob die Haarsträhnen schwammen – verstörend in der Belanglosigkeit dieser zufälligen Aufnahme. Doch war sie kaum zufällig zu nennen; man hatte sie mir in einen Briefumschlag gesteckt, ohne ein Wort über die Beweggründe, die mir auch heute noch ein Rätsel sind – war es die Hoffnung, daraus Kapital zu schlagen, eine Rückversicherung, des Rufes des Hotels wegen, oder eine gewisse Genugtuung, vor der man dann doch zurückgescheut war? Meinen Fragen wich er aus - und schließlich, was ging es mich zu diesem Zeitpunkt noch an? Sehen Sie selbst, die Ähnlichkeit ist vorhanden, weiß man, wer es ist … Sie zweifeln an der Echtheit dieser Aufnahme? Wenige Schritte von hier entfernt,
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im archäologischen Museum, mein Herr, von acht bis zwei, können Sie die Gipsabgüsse der Wirklichkeit bewundern, mitten innegehaltene Körper mit ihren angespannten Gebärden ins Leere geworfen, aus dem Moment des Lebens in die Maske des Augenblicks, für die wir immer schon leblos waren, nicht nur auf einer Photographie der Bedeutung noch beraubt. Und worauf beruht Ähnlichkeit denn schon? Früher genügte eine Perücke, daß man seinen eigenen Bruder nicht mehr erkannte, eine Wahrscheinlichkeit, die man nicht in Frage stellte … Nun, ich trage sie schon länger bei mir und glaube kaum, daß es an mir ist, dieses Pfand zu verwahren; unsereins ist sich Rechenschaft schuldig. Was bleibt, ist ohnehin stets das Ungenügen, zuwenig oder zuviel erzählt zu haben, vorauseilend einer Übereinkunft zu gehorchen, die nichts rechtfertigt, außer der Vorgeschichte, ohne daß man sich ihrer entledigt hätte – doch dies mag nur auf meine Rolle in ihr zutreffen …
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Christoph Zanon
MAISCHA UND DER LEHRER (begleitet von Olivier Messiaens »Turangalila-Symphonie«)
I Ein Blick durch den langen, hellen Eingang in die anschließende, dämmrige Halle, sah der Lehrer jetzt, im späten Schuljahr, eine Schülerin, die er noch nie gesehen hatte, vielleicht nicht beachtet. Alles an ihr, Kleidung und Haar und Gesicht, erschien dunkel, und daß sich ihre Augen begegnet waren, konnte ihn getäuscht haben. Ein kämmender Griff an die Stirn, durch das reiche, lange Haar, eine Wendung des Kopfes seitab nach oben, und zugleich wandte sich die ganze Gestalt und war nach wenigen Schritten verschwunden. Oft noch sah der Lehrer diese Geste, auch ganz aus der Nähe, aber er suchte seinen Blick zu verbergen und damit seine heimliche Leidenschaft. Wenn er nun vor dem Unterrichtsbeginn nahe dem Haupteingang Aufsicht machen sollte, mißachtete er nicht – wie bisher – all den Schülertrubel und senkte seine Aufmerksamkeit in ein Buch, sondern hielt sie auf die Bewegung im Tor gerichtet; und bis über das erste
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Läuten hinaus, das die Schüler zurückrufen sollte, wartete er, ob er nicht für die wenigen Vorüberschritte den Anblick des Mädchens erhaschen könnte. Lange Zeit vergeblich; aber an einem der wenigen schönen Tage dieses Frühsommers konnte er sie heimlich betrachten. Er selbst war verdeckt im Souterrain der Garderoben, sie stand draußen im Hof vor einer ihrer Mitschülerinnen. Nun sah er, wie schmächtig sie war. Sie trug einen langen Rock. Dies blieb ihm in Erinnerung, überhaupt die dunkle Farbe an all ihrem Äußeren. Aber irgendetwas war hell gewesen an dem Mädchen, leuchtend: war es der Widerschein der weiß gekleideten Freundin, der sie nun lachend die Hand gereicht hatte und die sie hochzuziehen suchte, indem sie ihr geringes Gewicht entgegenstemmte? Als der aufgerichtete Körper der Freundin scherzend vorkippen wollte, wie um ihr in die Arme zu fallen, wich sie mit unsicher wehrenden Händen zurück. Der Lehrer war verwirrt. Die kleine Szene erschien ihm gespielt, vielleicht hatte das Mädchen ihn doch mit einem kurzen Seitenblick bemerkt? Aber gleichgut konnte alles ein unbekümmertes Scherzen gewesen sein, wie es oft ist unter Freundinnen am Rand der Kindheit. Und wenn sie das Haar zurückwarf, konnte es eine lang geübte Geste sein, die nun auch ein wenig Koketterie zusetzte. Der Lehrer sah ihre dünnen Fesseln, ihre Hände, knochig und schmal, ihren niedrigen Haaransatz: es war eigentlich nichts außergewöhnlich schön an ihr, nur das Haar, und besonders die Augen. Er wandte sich ab, und als sie durch das Tor trat, tat er unbeteiligt. Wie leicht hätte sie einen aufdringlichen Lehrer verhöhnen und lächerlich
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machen können – einen fast vierzigjährigen Mann, der von der ersten Begegnung ihrer Augen wund geworden war!
II Er nannte sie Maischa, obwohl er ihren richtigen und ganzen Namen kannte. Er forschte vergeblich danach, wie er auf den Namen Maischa gekommen war, und war schließlich überzeugt davon, daß er ihn erträumt habe. Anderes über die Schülerin erfuhr er durch Zufall. Aber es war wohl auch unvermeidlich, daß sich in der kleinen Stadt derartige Neuigkeiten so schnell herumsprachen. Denn einmal, in einer freien Stunde des Vormittags, in einem Café mitten in der Stadt, stand er an der Theke und las Zeitung. Seitwärts an einem Tisch hatte sich zu ihrer gewohnten Zeit eine Gruppe von gutbürgerlichen Frauen zum Getratsche versammelt. Die Ecke quoll fast über von den gealterten Leibern und ihrem Geschwätz und ihren Parfumdüften. Plötzlich hörte der Lehrer sich angeredet und begrüßte eine Kollegin, die Tochter einer dieser Frauen. Sie hatte die unbezähmbare Neugier ihrer Mutter geerbt, aber sie war doch nachlässig, und ihrer Leidenschaft fehlte jede Boshaftigkeit. Nun, unerwartet, erschien Maischa und ging hinter ihnen vorüber und hinaus in den Garten. Sie beachtete niemanden, es schien eine Müdigkeit zu sein in ihrem Gang, ein Widerwillen gegen eine unumgängliche Pflicht, jetzt, mitten im Vormittag, da ihre Mitschülerinnen mehr oder weniger sorglos die Unterrichtsstunden verbrachten! Der Lehrer
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war erschrocken, eine Hitze durchzog seinen Kopf, er schaute dem Mädchen nach und sah, wie sie sich zu einer Frau niederließ und sogleich den Kopf in die Hand stützte, wie um ihre Augen zu beschatten. Der Lehrer spürte die Hand seiner Kollegin auf seinem Arm: Das ist ihre Mutter, sagte sie, und ihre Stimme erhöhte sich ein wenig ins Geheimnisvolle. Du wunderst dich, woher ich das alles weiß? Ich weiß es von meiner Mutter. Sie erfährt alles und erzählt es mir brühwarm weiter, ob es mich interessiert oder nicht. Aber natürlich interessiert es mich! Das meiste, sagte sie und lachte, und der Lehrer spürte den Druck ihrer Finger auf seinem Arm. Ihre Mutter, sagte seine Kollegin, du kennst sie doch? Sie stammt ja von hier, sie ist hier zur Schule gegangen! Nein, ich kenne sie nicht, log der Lehrer und schüttelte den Kopf. Die Kleine hat Schwierigkeiten gehabt in der Großstadt, in der Schule, sagte die Kollegin. Aber mehr noch vor der Schule. Man sagt, sie ist ans Rauschgift geraten. Ich weiß nicht, was wahr daran ist, aber ihre Mutter wird wohl einen Grund gehabt haben, daß sie mit ihr hierher gezogen ist. Ich glaube, sie hat ihre Tochter aus den Verführungen der Großstadt befreien wollen. Die Kinder haben es nicht mehr einfach dort. Der Lehrer nickte eifrig. Wer hätte nicht davon gehört! sagte er. Oder gesehen. Ferngesehen. Ich verstehe das gar nicht als Spaß, erwiderte die Kollegin und schaute den Lehrer mit großem Blick an. Jedenfalls hat sie ihrer ältesten Tochter den Haushalt übertragen und ist mit der jüngeren hierher gezogen -
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gegen den Willen ihres Mannes übrigens, wie man hört. Ja, was willst du, Provinz ist Provinz, aber ruhig und sicher, nicht wahr? sagte die Kollegin und lachte. Kann sein, sagte der Lehrer, für einen ruhigen Menschen. Sie will hier bei ihrer Tochter bleiben, bis sich die Kleine eingewöhnt hat, verstehst du? Und dann soll sie ins Internat. Ist es nicht eine ungute Geschichte? Stell dir vor, dein eigenes Kind … Der Lehrer nickte. Beinahe hätte er gesagt: Es interessiert mich nicht, Er neigte den Kopf. In nebulosen Vorstellungen sah er die Großstadt-Maischa: Szenen ihres Verderbens zogen blitzartig durch seinen Kopf, und gleichzeitig zogen die halb mitfühlenden, halb oberflächlichen Kommentare seiner Kollegin vorüber. Er nickte wieder und beugte sich ein wenig zurück und sah hinaus in den Garten und sah, wie Maischa nun zurückgelehnt saß und ihre Brauen gegen das überhelle Sonnenlicht niedergezogen hatte.
III Ein nächstes Mal sah er Maischa auf der Bühne des Stadtsaals, wo sie im Hintergrund an einem der riesigen Spiegel polierte, die an goldenen Ketten ein wenig gegen die Szene geneigt hingen. Da war ihr Körper auf der Leiter, hochgereckt, bis tief in den Rücken bedeckt vom Haar, und sie beugte sich seitwärts und ihre Hüften schwangen gegen den wischenden Druck ihres Arms; im Spiegel war ihr Gesicht, ganz beschäftigt mit
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den Schleiern und Fingerabdrücken auf dem Glas, die der Lehrer aus der Entfernung nicht ausmachen konnte, während er Maischa betrachtete durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, die in hohen und breiten Falten lichtblau die Bühne umschlossen. Aber wenn sich das Mädchen zu ihren Mitschülern wandte oder niederstieg, um mitzureden und mitzuscherzen, zog er sich schnell zurück und tat wie gedankenversunken ein paar Schritte über das Parkett, über all die Blätter und Stengel und Blüten, Reste der Blumengebinde, die nun in verschwenderischem Überfluß die Szene hinter ihm, das Zimmer von Jean Genets »Zofen« schmückten. Es ließ ihm natürlich keine Ruhe, daß er Maischa so bequem aus dem Verborgenen betrachten konnte, und er stieg die Stahlleiter hinauf auf die Beleuchtungsbrücke und tat, als überschaue er den Raum und prüfe die Richtung des Scheinwerfers neben ihm. Aber er sah, daß Maischa keine Regung einer besonderen Nervosität äußerte, daß sie gar nicht nach ihm suchte. Sie war nicht gespannt über den Kreis ihrer Aufgaben und Freunde hinaus, sie war unbekümmert wie die anderen. Vielleicht hatte sie ihn noch gar nicht wahrgenommen? Er kehrte zurück auf die Seitenbühne und stieg den seitlichen Abgang hinunter in den Saal, wo die Sesselreihen in breiter, halbdunkler Stille anstiegen. Ein paar Schüler saßen vorne und redeten leise miteinander oder folgten der wechselnden Beleuchtung, wie sie der junge, aus der Schule ins Schauspiel strebende Regisseur mit lauter Stimme und großen Gesten von den Männern auf der Brücke verlangte. Die Musiker – der Lehrer war einer von ihnen – warteten auf das Ende der Beleuchtungsprobe,
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damit sie an ihren Zwischenmusikstücken weiterarbeiten könnten. Der Komponist und Dirigent, der auch gerade seine Schuljahre abgeschlossen hatte, ging hin und her, lächelte, rauchte heftig und zitierte manchmal leise summend aus seinen Stücken. Er schien recht zufrieden zu sein und erwiderte einen Scherz mit einer tänzerischen Drehung und knipsenden Fingern, gleich wie er tat, wenn er in der Probe Tempo und Takt angab. Der Lehrer hatte zuerst gedrängt. Er war die zerstreute, blödelnde Art des jungen Dirigenten nicht gewohnt und tadelte sie, wenn auch stumm. Aber bald hatte er sich dem Nichtstun ergeben. Die Ferien waren nahe, Maischas Anwesenheit war wie ein Duft, ein ganz heimliches Versprechen - warum sollte er den Vormittag nicht besser so als in der Schule verbringen? Er plauderte eine Weile mit einer Studentin, die so geschickt geholfen hatte, die Blumensträuße zu binden. Sie schien immer fröhlich zu sein und immer geneigt zu einem Gespräch. Da sie Russisch studierte, ließ sich der Lehrer ein paar Wörter und grammatikalische Eigentümlichkeiten vorsagen, während er die leere Bühne betrachtete, die schimmernden Möbel, das lichtblau überzogene Bett, die vielen verschiedenen Blüten und alles von den Spiegeln nach hinten hin in die Höhe erweitert. Da trat wieder der junge Regisseur auf, der die Hochsprache ebenso leicht erlernt hatte wie sonst jede Fremdsprache.Aber plötzlich hatte die Gemütlichkeit ein Ende: der Regisseur brach unvermittelt in wütende Vorwürfe über die Beleuchtung aus. Er richtete sie in die Seitenbühne, an seine Lehrerin-Freundin, die treibende Kraft der Theateraufführung. Seine Worte waren so scharf wie gewählt, sein Körper schien erstarrt,
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die Arme waren nach unten gestreckt, wenn sie nicht verächtlich gegen die Beleuchtung geschleudert wurden. Dabei fixierten seine Augen die Lehrerin, nur daß er zwischendurch schnell und verächtlich zu den Scheinwerfern aufblickte. Seine Stimme klang einsam und laut und klar durch die leere Bühne, den Saal, und der Lehrer zweifelte, ob der Wutausbruch sozusagen eine Generalprobe vor einer Art Publikum war oder ein wirkliches Bedürfnis. Die Lehrerin, die die Rolle der Solange darstellen sollte, wehrte sich bald mit gleicher Kraft und Redegewandtheit, aber in ihrer Stimme klang Bereitschaft mit: sie schien zu spüren, daß die Anspannung ihres jungen Kollegen eine Erleichterung suchte. Und tatsächlich verging die Wut mit der Wechselrede, sie zog sich für einen Nachhall in die Seitenbühne zurück, und dann war wieder eine schläfrige Stille im Saal. Die Musiker konnten zurückkehren in den Graben, an die Pulte und im kleinen Licht der Pultleuchten der fahrigen Notenschrift des Schüler-Komponisten folgen, sofort vertieft und selbstvergessen, wie es Eigenart der Musiker ist. Die Begleitung zur sogenannten »Weckerszene«, zum dramatischen und musikalischen Höhepunkt, war ein raunender Puls, der sich langsam höher und lauter ins Grelle steigerte. Es war eine ziemlich banale Dramatik, einem bekannten Film abgelauscht, während auf der Bühne sich die Handlung so mühsam gegen das Banale wehrte. Der junge Dirigent klopfte ab: das Schlagzeug war ihm zu laut. Und während er dem Schlagzeuger seine Vorstellung deutlich zu machen versuchte, hob der Lehrer, Abwechslung suchend und seine Überlegenheit andeutend, den Kopf hinauf zur Brüstung, und sein Blick
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streifte über die Gesichter der dort lehnenden Zuseher. Er streckte sein Kinn schon über die Schulter, als er Maischas Blick begegnete. Und für den Augenblick, den die Erschrockenen brauchten, um sich abzuwenden, waren sie Auge in Auge. Und das dunkle augenschimmernde haarumrahmte Gesicht blieb ihm im Sinn, als er schon wieder den Bogen angesetzt hatte. Er versuchte unbeteiligt zu erscheinen, aber tatsächlich spielte er für Maischa: und wenn er eigene Töne gefunden hätte, sie wären mehr beredt gewesen als alle Worte, und wenn er also schon nicht auftreten und nicht reden durfte und sie ihn schon nicht bewunderte, mußte sie doch auf ihn aufmerksam sein und auf seine tadellose Haltung und die Sicherheit, mit der er den Bogen führte – auch wenn sie ihn nur von hinten sehen konnte.
IV Als die Musiker nach der Probe durch verwinkelte, enge Gänge die Garderoben verließen, kamen ihnen Schüler von der Bühne her entgegen. Vielleicht waren sie von ihrer Neugier tiefer in das umständliche Gebäude gelockt worden, und außerdem wollten sie die Rückkehr in die Schule möglichst lange hinauszögern. Gerade zog die kleine Reihe der Musiker um eine Ecke des Ganges, da trafen der Lehrer und Maischa aneinander, und sie hätten einander streifen können, wenn sich nicht beide, dem Anstand entsprechend, dieses Wenige zur Seite gedrückt hätten. Und in demselben Augenblick hatte der Lehrer zu den Leuten hinter sich gesagt: Es ist gut. Das
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Wort war wie an Maischa gerichtet; sie ging vorüber mit einem ganz zaghaften Lächeln – bedeutete es eine kleine Erwartung oder eine kleine Ängstlichkeit oder gar nichts Besonderes? Sie schaute nicht auf; und das Wort des Lehrers blieb ohne Zusammenhang und Echo gleichsam stehen, auch sein Lachen, sein breites Vorüber an dem schmächtigen Mädchen. Nun, da sie in seinem Rücken und für den Rest des Tages endgültig verschwunden war, setzte seine Einbildungskraft ein und holte sich Maischas Gestalt zurück. Und er sah sie sitzen vor ihrem Tagebuch, und sie schrieb: »Er spielt auch Geige und ist ungefähr einen Kopf größer als ich. Ich glaube, er ist recht sympathisch, aber warum sollte er sich nach mir umdrehen? Ich habe schon gehört von Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, aber meistens sind die Alten vorsichtig, und die Jungen wollen sowieso lieber ihresgleichen. Ich könnte mir eine Beziehung zu diesem Mann gar nicht vorstellen. Und wer weiß, ob hinter der Freundlichkeit nicht doch nur Herablassung bleibt? Oder sogar Spott? Ich bin nicht verknallt in den Typ oder was, aber irgendwie interessiert er mich.« Solcherart schrieb der Lehrer Maischas Tagebuch.
V Und jedesmal wenn er wieder an sie dachte, begann seine Phantasie Geschichten zu entwickeln, wie es in seinem Kopf zu geschehen pflegte, solange er denken konnte. Er sah das langsame leise Annähern der Verliebten, heim-
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liche Treffen am Nachmittag, auf den Wiesen des heiteren Sommers. Maischa erzählte von ihrer Stadt, und der Lehrer begleitete ihre Erzählungen mit einer vorsichtigen Entdeckung seiner selbst. Ihre Hände berührten einander, sie berührten das Haar und zogen zaghafte Linien der Zärtlichkeit rings um die Augen. So geschahen die vielfachen, immergleichen Gesten besonderer Zuneigung, aber immer – das forderte der Lehrer ängstlich von sich – wollte er das Geschlecht als Gipfel und Ende der Bereitschaft meiden. Hallo, Schülerin! So redete er sie an. Sie saß auf dem Geländer der Uferstraße, einem Feinkostladen gegenüber, den Fluß im Rücken, die Sonne im Gesicht. Was für ein leuchtendwarmer Tag! Wartete sie auf jemanden, der beim Einkaufen war? Wann hast du Zeit für mich? fragte er so, daß es nach einem Scherz klingen konnte. Sie antwortete: Ich habe nur Zeit zwischen sechs und sieben. Morgen, sagte er und beschrieb ihr den Ort, eine kleine Kapelle am Waldrand nicht weit außerhalb der Stadt. Morgen, sagte sie und nickte und lächelte. Du meinst es nicht ernst, sagte der Lehrer. Doch, ich meine es ernst, sagte sie. Und wenn du nicht kommst? sagte er. Und wenn du nicht kommst? erwiderte sie, und beide lachten ein wenig. Damals nahm er das erstemal ihre Hand, und sie ruhte auf der seinen, und beider Augen waren auf die Hände gesenkt. Natürlich konnte es nicht bei den kurzen Abendstunden bleiben. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder das Begehren erlosch, oder es steigerte sich ins Unerträgliche. Und als sie ihrer kurzen Spaziergänge überdrüssig waren, überredete der Lehrer Maischa leicht
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und er trennte sich von allem und entführte sich und Maischa in die große Stadt, in der sich ihre Liebe vollenden und ihre Spur sich verlieren würde: nach Paris. Er tat das Verbrecherische und Befreiende mit einer wütenden Lust. Sie wohnten in einem kleinen Dachzimmerwie Nouchi und der Pole in Simenons »Outlaw«, das der Lehrer gerade las. Zuerst erlebten sie die seltsame Fremde wie zwei Kinder, dann hatten sie ihre Mittel aufgebraucht und mußten zusehen, wie sie sich von der großen Stadt nähren konnten. Sie wurden hemmungslos zueinander, ähnlich zwei Eheleuten, sie waren einander verfallen, glücklich, traurig, verkommen so weit, daß Maischa ihre Weiblichkeit verkaufen mußte, um dem Lehrer-Nichtstuer Geld zu verschaffen. Sie war ein Kind des Unglücks und mit ihrer Neugier und Ruhelosigkeit wie geboren für die Fallen der Ausbeuter. Aber wie sollte solches Augendunkel nicht voll von Träumen und Traurigkeit sein! Der Lehrer hörte Maischas kehlige Stimme, er sah ihre nach unten gekrümmte Nase, ihre Stirn, wo tief das dichte Haar ansetzte, ihre vollen, langgeschwungenen Augenbrauen, ihren vom Lachen in die Breite gezogenen Mund, er sah ihre Augen in dem ovalen Gesicht, ihre Augen: nachts fuhr sie aus dem Schlaf, der Lehrer stand am Fenster und döste in den grauenden Tag. Er dachte an andere Zeiten. Maischa trat vor ihn hin, und indem sie ihren Kopf hob, streiften ihre Lippen die seinen und streifte ihr Naß seine Lippen, ihr Naß streifte seine Nasenspitze und in ihren Augen war eine lächelnde Nacht und machte ihn wieder sehnsüchtig – O nein! dachte der Lehrer. Solche Gedanken auch nur zu äußern, selbst davor mußte er sich hüten!
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Ganz abgesehen von Maischa: ihre Mutter, die ihre Familie verlassen hatte, um das eine Kind zu retten, wäre ein zweites und endgültiges Mal getroffen! Eine Flucht nach Paris, wo jede Menschlichkeit und Unmenschlichkeit zum Alltag gehörte, wo es außer dem sicheren Erfolg oder der sicheren Verwahrlosung kein Mitteldasein gab! Und im Rücken die eigene, so schändlich verlassene, auch materiell jetzt nur mehr notdürftig sich durchschlagende Familie, die Frau und die Kinder und ihre andere, gleichsam edlere und qualblasse Art von Mühsal!
VI Das nächste Mal sah Maischa den Lehrer in einem kleinen Café, im Hinterzimmer an dem einzigen Billardtisch, wo er allein spielte. Sie war mit einer Freundin unterwegs und suchte durch die üblichen Lokale, ob es hier oder dort Bekannte oder sonst einen Anhang gebe. Sie war noch nicht heimisch in der Stadt, und ihr Urteil, daß in dem Kaff nichts los sei, schien sich mehr und mehr zu bestätigen. Sie hatte den Lehrer sofort bemerkt, im Windfang schon, wo der Blick durch die Glastür bis in den hinteren Raum geradewegs frei war. Sie sah seinen gebückten Oberkörper, die messend hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte die Hemdärmel bis über die Ellbogen aufgestülpt. Er stieß das Queue, das klare, gedämpfte Aneinanderklicken der Kugeln war zu hören – einmal? zweimal? Der Lehrer war besorgt, man könnte mit dem Ohr seine Kunst erlauschen, und er spielte nicht gut; er
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war mit den Gedanken nicht dabei. Er bemerkte Maischa. In einer jede Anrede abwehrenden Eile zog sie mit ihrer Freundin durch das Lokal, verschwand seitwärts im vorderen Raum. Der Lehrer spielte weiter, immer mit der Einbildung, zwei Augen oder wenigstens zwei Ohren seien auf ihn gerichtet. »Er spielt auch Billard«, schrieb er Maischas Tagebuch, »allein. Mir scheint, er tut alles allein, aber wie sollte ich von den wenigen Augenblicken des Tages auf die ganze restliche Zeit schließen? Ich würde ganz gern einmal mit ihm reden, er schaut auch auf, wenn ich komme. Aber das soll nichts heißen. Außerdem möchte ich nicht, daß er sich irgendetwas einbildet.« Aber Maischa war schon lang wieder weg. Der Lehrer hatte für ein Phantom gespielt. Er bezahlte und wollte resignieren – Maischa blieb ein Traum. Nahe dem Eingang saß eine Bekannte und blätterte in einer Modezeitschrift. Der Lehrer wollte wenigstens bei ihr einen Rest von Glück bestätigt wissen. Sie schloß auch sofort die Illustrierte und wandte sich ihm zu. Aber das Gespräch war mühsam, es war mehr ein Schweigen seitab und darin gelegentlich ein Satz, ein Lächeln, und erst nach und nach begann ein wahres Interesse lebendig zu werden. Der Lehrer bemerkte die Erregung der Frau, wie es jedesmal gewesen war bei ihr, eine Verbindung von Scheu und Begierde und dieser nervösen Furcht, sie müsse verlieren, was ihr noch gar nicht sicher sei. Nach und nach entspannte sich ihre Furcht in resigniertes Lachen, aber das war auch eine Befreiung: erst wenn er dann wie nebenbei über ihre Finger strich, erstarrte sie zuerst, nahm ihre Hand vom Tisch und verbarg sie in ihrem Schoß.
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Plötzlich betrat Maischa ein zweitesmal das Lokal und durcheilte es, als sei sie schockiert von dem ersten Anblick gleich hinter dem Eingang. Der Lehrer war gerade abgewendet gesessen, nun, um ja die Eifersucht des Mädchens zu fordern, neigte er sich der Bekannten zu und brachte sie mit einem Scherz zum Lachen. Schon kehrte Maischa zurück und verschwand wieder, und der Lehrer schrieb weiter in ihrem Buch: »Dann saß er bei einer Frau, die nicht sehr schön war. Ich weiß nicht, ob es seine Frau ist, aber dann wäre er wohl schon früher bei ihr gesessen. Vielleicht ist er so ein durchschnittlicher Aufreißer, dem immer langweilig ist, sogar wenn er bei einer Frau sitzt. Irgendwie haben sie ja so gelangweilt ausgesehen. Ich mag ihn jedenfalls nicht, wenn das so ist.«
VII Dann begannen die Sommerferien, und außer seltenen, beiderseits scheuen Blicken geschah nichts mehr zwischen dem Lehrer und der Schülerin. Dann gingen beide ihrer Ferienwege, und nach und nach verschwand die Gegenwart des anderen. Nur in der ersten Zeit brannte die Erinnerung noch manchmal auf als verzehren wollende Sehnsucht – und verschwand wieder und verzehrte nicht. Der Lehrer hatte sich mit seiner Familie auf eine verlassene Hütte zurückgezogen. Aber die erste Zeit fror der Sommer. Es regnete fast unablässig. In dichten, düsteren Schwaden zog das Wetter von Nordwest her, und das Land lag schwer von Nässe reglos im dämmrigen Tag und in der finsteren Nacht. Die Erde war kalt, nur in den
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Büschen und Bäumen ringsum hielt der Sturmwind ein unendliches Rauschen und Zittern und Schwanken. Im Lehrer wühlte ein Ärger, aber er wollte nicht erforschen, woher, weil ihm auch der Grund dieses Ärgers widerwärtig war. Er konnte seinen Nächsten nicht in die Augen schauen, denn ihnen verübelte er seine böse Laune. Er mied das Haus und setzte sich auf die Bank, auf die windgeschützte Seite des Balkons, und stützte die Beine auf die Brüstung und krümmte die Brust an die Knie. Trotzdem fror ihn, und seine Füße waren die ganze Zeit über kalt wie Stein. Er verharrte in den langen Stunden des zweifelhaften Lichts und schaute der Bewegung in den Zweigen zu, und aller Ausblick verwandelte sich nach und nach in den wahnsinnigen Reigen von gespenstischen Gestalten. Nun hatten die Bäume ihr eigenes Leben. Sie kümmerten sich nicht mehr um den Menschen, in dessen Augen sie doch zu Ungeheuern geworden waren. Nein, nun konnte er seinen Augen nicht mehr trauen: nie hatte er in dem sonst so heiteren Land solche Fratzen gesehen. Dort oberhalb, am Waldrand, war es schon die ganze Zeit, als ob ein riesiges Pudeltier, die Schnauze hochgereckt, sich aufstützte in unermüdlich wiegendem Hüftschwung und ankroch in tierischer Geilheit an eine noch viel höher ragende Gestalt – nein, die Gestalt war ein Lärchenbaum – nein, die Gestalt war ein Weib, das hoch über dem Hund seine Arme ausbreitete und leise hin und her schwanken ließ. So duldete das Riesenweib das hündische Drängen an ihre Mitte. Und während das Fell des Hundes silbrig wogte von den langsamen Stößen der Hüften, schwenkte das Weib langsam ihre Arme auf und
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ab wie eine blöde Frage. Welche gemeine Lust an den Verwandlungen gebar der Bösmut! Lange Zeit konnte der Lehrer den Blick nicht lösen vom tierischen Spiel. Erst als die Augen zu schmerzen begannen vom Hinstieren, wandte er sich ab in die Nähe, in das wild belassene Gezweig eines Pflaumenbaums, an seinen dunklen, gewendelten Stamm, darauf die Flechten das Grau des Wolkenhimmels wiederholten. Dort erschienen Gesichter: die schmale Schnauze eines Fuchses und seine lauernden Augen. Das grobkantige Gesicht eines Mannes mit einem struppigen Schnurrbart. Ein wirklich überheblicher Bergbewohner! Der Lehrer starrte ins dichte Blattwerk, wo sich schon die Nacht aufhielt, wo der Wind kaum Regung zeigte, und dort suchte er in einem verzweifelten Wagemut die Augen von Maischa und fand sie, nachtschwarz länglich gekrümmt über den Wangen, wie lächelnd, wie ein Schlaf mit reizenden Träumen. Doch plötzlich schlug das Bild um in eine japanische Maske, leer und starr, und ließ sich nicht mehr vertreiben. Dort aber, wo die Blätter einen Durchblick auf die Wiese in Form eines schiefen Trapezes umrahmten, erschien es ihm wie ein blinder Fleck und verführte ihn in eine Erstarrung. Mit Mühe weckte er sich daraus, aber auch dem wachen Blick wollte die irritierende Nähe und Ferne dieses kleinen Nichts nicht weichen. Es war ein böses Nichts, es machte ihm Angst: es war der Kern seines Wesens, das gestaltlose Reich seiner Seele! Den Lehrer schauderte. Er wandte sich ab, sein Kopf ließ sich bewegen, doch sein Körper war wie gebannt auf seinen Platz. Er schaute seitwärts, wo die jungen Eschen mit ihrem langen Gefieder sich wiegten vor dem blas-
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sen Himmel. Der Wind spielte hier einen tollen Tanz der Verwandlungen. Da war ein gedrungener Kobold, Kopf, Gänsehals und Schultern gleich breit. Er beugte sich zu unermüdlichen Windesworten an seine Gesellen und richtete sich wieder auf. Dann – er schien Sinn für die Verspottung zu haben – wurde er zu einem buckligen Männchen, dann teilte er sich gar in zwei Gestalten, und die größere hielt die kleinere umarmt und lud sie dann auf ihren Rücken. Der ganze Baum war ein flatterndes, wiegendes Hin und Her der Figuren, ein Durcheinander, ein heimliches Geflüster, dem nur der Wind seine Richtung gab und seinen Rhythmus, seinen geisterhaften Atem. Nun war dort ein Pfeifenkopfmännchen. Ja, sein Kopf war ein Pfeifenkopf! Er war der große Spaßmacher des Abends. Auf seinem Hut flatterte das Gefieder, sein Gewand war völlig zerschlissen. Er sagte: So sind wir Bäume! Er sagte es hundertmal. Und dahinter der Himmel war nur mehr ein Hauch von Nebellicht. Bald würde vom Wind nur mehr das Rauschen geblieben sein und in den Zweigen nur mehr eine Ahnung von dunkler Regsamkeit. Ringsum war kein Menschenlicht und kein Menschenlaut. Alle schliefen, bis auf den Lehrer, der sich weiter und weiter verlor in die Irrbilder seiner Augen und der Zweige und des Windes. Aber nun war er jeder Pflicht ledig und lachte auf und gab der Verführung nach und sinnierte tiefer in die Nacht. VIII Es war eine Überraschung, als der Lehrer Maischa neben einem seiner Schüler sitzen sah, aber es war zugleich eine günstige Gelegenheit zu einem scherzhaften
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Wort. Und weil das Mädchen gerade dabei war, ihrem Mitschüler den Würfelpoker zu erklären, lud sie gleich den Lehrer ein, der sich mit scheinbarem Widerstreben herabließ an den Tisch, während er vor verborgener Erregung bebte. Der Schüler schob seine Hand kopfstützend in das lange Haar, und weder die unsichtbare Neigung des Lehrers noch das Würfelspiel schien ihn besonders anzugehen. Er lächelte vor sich hin, nahm den Becher ohne sich aufzurichten mit gestrecktem Arm und kippte die Würfel sofort ins Tableau. Schreib, wo du willst! sagte er zu Maischa, deren fragendes Aufblicken den Schreibstift eine Weile über dem Papierblock schweben ließ. Und wie sie den Stift hielt, eingeklemmt hinten zwischen Zeige- und Mittelfinger! Als sie dann die Werte zusammenrechnete, sehr flink, hier und dort auf eine besser sich einfügende Zahl vorsprang, dann den Rest mitnahm und so ganz auf das Spiel konzentriert war, erschien sie dem Lehrer auf einmal schlicht als eine andere Verkörperung der »Frau«: sie begehrte ihn nicht, wie er es erträumte, sie beachtete ihn wahrscheinlich kaum, eine phantastische Sehnsucht, die ihm manchmal den Atem zu nehmen drohte, kannte sie gar nicht. Was wichtig war, es war ihr eingeboren, sie brauchte es gar nicht zu bedenken. Sie war eine Frau und kannte die Grenze zwischen dem angenehmen Spiel und der gefährlichen Herausforderung. Im Würfelspiel wollten sich die Gemüter abkühlen. Die Augen waren auf den Becher gerichtet und auf das Klappern der Würfel unter den beschwörend hingeredeten Formeln. Maischa gewann das erste, das zweite Spiel, und der Lehrer nahm es als gutes Omen: er mochte ihr
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in anderer Hinsicht überlegen sein! Der Schüler neben ihm, der zwar sehr schnell begriffen hatte, worum es ging, war unbekümmert und ohne Kampfeslust, und alles begleitete sein gleichmütiges Lächeln. Und in der allzu kurzen und zugleich fast überspannten Stunde des Beisammenseins wollte die Beziehung des Lehrers zu der Schülerin distanziert und gewöhnlich werden. Aber kurz, bevor sie ging – denn sie mußte zu einer bestimmten Zeit im Internat sein – warf sie lachend den Kopf in den Nacken und rief aus, ihn möchte sie als Lateinlehrer haben. Was für ein Bild! Plötzlich hatte sich Maischa in ein Kind verwandelt! So konnte sich nur ein Kind äußern! Alles Geheimnisvolle war in dieser Geste aufgelöst: Maischa war eine der Schülerinnen, die unbewußt in eine besondere Lehrerzuneigung hineingleiten und sie wieder ablegen und nicht einmal das merken. Was für ein Verbrechen an der Kindheit dieses Mädchens, wenn er all das getan hätte, wovon er phantasiert hatte! Der Lehrer schüttelte, verwundert über sich selbst, den Kopf. Daß er immer wieder in eine Situation kam, wo ein anderer Wille ihn dumm und gefügig machte! Sollte er nie die Zurückhaltung der Erwachsenen erlernen? Maischa war ein Kind! Aber alle seine Selbstvorwürfe halfen dem Lehrer nicht, er war nicht losgelassen. Am folgenden Tag in der Schule winkte ihm Maischa im Vorübergehen zu, wie manchmal Schüler grüßen, die einen Lehrer gern haben. Es war ein bloß freundschaftliches Zeichen, aber der Lehrer suchte nun jede weitere Begegnung zu meiden. Wieder bedachte er, welch üble Folgen es haben könnte, wenn er das Mädchen allzusehr an sich zog. Wahrscheinlich würde
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sie es gar nicht zulassen, aber es wäre eine Katastrophe, eine unsinnige, rasende Befreiung, ein Taumel vor dem unvermeidlichen Absturz in die totale gesellschaftliche Ächtung. Aber je mehr der Lehrer sich in solche Gedanken verstrickte, desto schwächer wurden die Einwände der Vernunft und desto reizender erschien ihm wieder die Erinnerung an Maischa. Und nach vielen Tagen näherte er sich ihr wieder, freilich noch mehr besorgt, den Schein des Alltags zu wahren. Er ging vorüber an ihrer Klasse, wie zufällig. Sie stand in einer kleinen Gruppe, halb verdeckt von der geöffneten Tür. Aber als er da war und ihren Blick suchte, fand er ihn, und es war wie eine großäugige Frage, ein scheuer Vorwurf, und im Lehrer war wieder die Sehnsucht geweckt.
IX Wie hätte er das ganz in die Ecke aneinandergedrängte Paar begrüßen sollen? Früher einmal waren ihm beider Blicke freundlich gewesen, freilich jeder für sich. Nun waren sie beisammen, und er war ausgeschlossen. Auch sie waren überrascht und angespannt und stumm. Der Lehrer hob den Arm, murmelte einen Gruß und schon war er in den anschließenden Raum geflüchtet. Er hörte hinter sich das Auflachen des Mädchens. Er stellte sich an die Theke. Es war kühl; die Vorhänge verschlossen die Aussicht auf die Straße; die Barfrau war mit einem Gast in lustlosem Gespräch. Dem Lehrer gegenüber in den Regalen standen die schimmernden Reihen der Gläser, verdoppelt vom Spiegel dahinter, und im Spiegel sah
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er seine Finger, wie sie auf der Theke lagen, locker gekrümmt, wie sie dann die verschränkten Arme umfaßten. Er sah im Spiegel eine Bewegung: Maischa ging vorüber in die Richtung der Toiletten. Er wandte sich über die Schulter ihr zu: sie duckte ihr Lachen hinter die vorgehaltene Hand. Wie hätte sie nicht lachen sollen! Hier der Mann, der gekommen war auf der Suche nach ihr, und dort ihr junger Freund, beide großäugig vor Verlangen! Als Maischa zurückkehrte, drehte sich der Lehrer nicht mehr nach ihr um. Die Gläserreihen verdeckten sein Spiegelgesicht. Jetzt hätte er es auch nicht sehen mögen. Hinter ihm zwei Burschen hatten Bier bestellt, und ihre Hin-und-her-Worte waren das Mögliche, während im Kopf des Lehrers das Unwahrscheinliche geschah. Vor einem Mädchen wurde jede Männer-Freundschaft zur Heuchelei! Die Etiketten auf den Weinflaschen zeigten die Hügelländer und die schloßähnlichen Gutshöfe darin. Und was für ein Wein war in den Flaschen? Dort die Aufschrift »Glühwein«. Ja, es war wieder die Zeit von Glühwein und gebratenen Kastanien. Mit Kräutern und Zucker und Hitze ließ sich jeder Weingeschmack übertäuben! Der Lehrer stand da in seinen unguten Gedanken und starrte wieder auf das Titelblatt der Tageszeitung, wieder auf die Gläser und ihre Spiegelreihen. Du alter Narr mit deiner Tagebuchschreiberei! dachte er und lachte sich selbst aus – aber war dieses Lachen etwa eher wahr als »Maischas Tagebuch«? Eine Musik setzte ein, die vor vielen Jahren einmal eine rasende Liebe begleitet hatte. Ich bin nicht verliebt, dachte der Lehrer. Ich bin zu alt dafür. Es gibt nur eine unbegreifliche Anziehungskraft in dem
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Mädchen, und ich folge ihr ein wenig und einmal werde ich ihr nicht mehr folgen. Sie hat nun ihren Freund gefunden. Täglich wartet er hier um dieselbe Zeit auf sie, und sie kommt. Und glaubt sie, ich sehe nicht, wie sie sich für ihr Rendezvous herrichtet? Abends geht sie mit offenem Haar und eng anliegendem Kleid. Und in der Schule trägt sie die weiten Röcke und hat ihr Haar züchtig zusammengebunden. Sie ist ein Weib wie jedes andere. Solches redete der Lehrer zu sich. Dann bemerkte er wieder Bewegung seitlich hinter sich. Maischa kam heran, ganz nahe bei ihm setzte sie ihre Ellbogen auf die Theke und einen Fuß auf die Hockerstütze und fragte über die Bar hin nach Spielkarten. Dem Lehrer fuhr es heiß durch den Kopf. Jetzt mußte er wenigstens einen Blick wagen! Aber schon hatte Maischa die Karten genommen und war wieder gegangen, ohne ihn weiter zu beachten. Er blieb und wartete, bis die Zeit für Maischa gekommen war und sie von ihrem Freund hinausbegleitet wurde. Dann erst wagte er, das Lokal zu verlassen.
X Das Singen und Klopfen der Räder, das Rucken und Schlingern des Waggons! Es machte einen müde und stark: jetzt war der Lehrer in Sicherheit und brauchte sich nicht um eine Bewegung zu bemühen. Die seltenen Lichter an den Hängen zeigten ihm, daß er in die kleine Stadt zurück unterwegs war, in die nächtlich leere Stadt, in der über Nacht auch die Leidenschaften zu schlafen schienen. Der junge Regisseur der »Zofen«, jetzt in einer
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Schauspielschule, hatte das Leben seiner dunklen Augen mit Wimperntusche verstärkt. Er hatte dem Lehrer die Hände auf die Schultern gelegt und sich an sein Ohr geneigt. Ja, nun war aus dem Schüler ein Schauspieler geworden! Aber die frühere Freundschaft zwischen den beiden, fast eine Art Liebe, war durch die Entfernung und die Betriebsamkeit der Großstadt verblaßt. Und ungern schaute der junge Großstädter in die Kleinstadt zurück: Ich hasse dieses Städtchen, hatte er gesagt, als er sich gerade zur Abreise aufmachte - und ich komme nur ganz kurz zurück, um mich gewissermaßen an ihm zu rächen. So frei bin ich, daß ich auf einen Kurzbesuch kommen kann! Und dann suche ich nur die wenigen Plätze und die wenigen Menschen, die ich geliebt habe. Und es gibt nur sehr wenige Plätze und Menschen, die ich geliebt habe. Und einer davon bist du. Du bist im Ausland und schon wie auf einem anderen Stern, hatte der Lehrer erwidert. Kannst du dir nicht denken, daß ich mich von den Nachrichten aus den großen Städten nähren muß? Es würde mich freuen, wenn ich deine Stimme wenigstens schriftlich hören könnte! Ich werde dir schreiben, hatte der Schauspieler geantwortet, und nachdem sie über die Adressen hin- und hergespaßt hatten, streckte der Lehrer seine Hand hin. Er war es gewohnt, seine Hand tief in die des anderen zu schieben, wer es auch sein mochte, aber nun stieß er an einen Ring auf dem kleinen Finger, einen großen Ring aus rotem Glas: mit seinen glatten, weichen, immer selbstbewußten Gesten hatte der Schauspieler jedesmal auch seinen Ring ins Gespräch gebracht, das Zeichen seiner künstlerischen Extravaganz.
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Er hatte den Lehrer umarmt und auf die Wangen geküßt, doch auf seiner unbändigen jugendlichen Herzlichkeit lag schon der Schatten des Schaustellens. Dann war er gegangen, und der Lehrer war geblieben und stand jetzt im Vorraum des Waggons am schmalen Fenster der Waggontür. Er spürte den Fahrtwind, und es war ihm, als würde er sich ganz aus aller menschlichen Gesellschaft entfernen. In diesem engen Vorraum, auf den rollenden, schlagenden Rädern, den Fahrtwind in der Nase, die Dunkelheit in den Augen und die langsam vorüberziehenden Lichtpunkte, konnte er sich fühlen weit entfernt, tief in der Mitte des riesigen Kontinents, verlassen in einer Gegend ohne Rückkehr. Er hörte, wie die Tür aufgeschoben wurde, und drehte den Kopf. Maischa trat aus dem Abteil. Sie hatte sich umgewandt und hängte sich an den Griff, um die Tür zuzuziehen. Sie grüßte ein leises Hallo! und lächelte und zögerte kaum merklich. Hallo! erwiderte der Lehrer und fügte hinzu: Wie geht es dir? Er wollte sie bei sich halten. Jetzt hatte er die einzige Gelegenheit. Ob sie eine Zigarette rauchen wolle mit ihm? Er lehnte sich an die Wand und hielt Maischa die Packung hin. Sie wollte mit spitzen Fingern eine Zigarette ergreifen, aber das Schlenkern des Zuges verschob ihr die Hand. Sie neigte sich an das Feuer und mit der Linken schützte sie es vor der Zugluft. Da war nun – so nahe – der feine Schwung ihrer Augenbrauen, ihre fast geschlossenen Lider blaß im schwachen Licht! Und schon vorüber der zärtliche Anblick! Sie lehnte dem Lehrer gegenüber und lächelte verlegen. Du warst bei den Eltern? fragte er. Ja, sagte sie, und dann schwiegen sie. Der Lehrer sah
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die Nacht und atmete tief ihre kühle Luft. Auch Maischa schaute hinaus. Was mochte sie denken? Fast hätte ich gewußt, daß auch du im Zug bist, sagte der Lehrer. Meine Mutter läßt dich grüßen, sie hat dein Bild in der Zeitung gesehen, sagte Maischa. Sie ist in die gleiche Schule gegangen? Ja, sagte der Lehrer. Ich habe sie wiedererkannt, als sie zusammen mit dir und deiner Italienischlehrerin auf dem Stadtplatz stand. Wie könnte ich auch ihr Gesicht vergessen? Damals in der Schule hat sie mir eine heruntergehauen. Ich lief die Treppe hinab und hätte sie fast niedergerannt. Ich war in der Unterstufe, und sie war schon in der siebten oder achten. Zweifellos ein Fall von Ehrenbeleidigung. Maischa lachte groß auf, wieder dieses Lachen gemischt aus Erleichterung und Erschöpfung. Der Lehrer zog das Fensterchen ganz nieder und schnippte den Stummel in die Nacht und steckte den Kopf hinaus, um dem Weg der Glut nachzuschauen. Dann zog er den Kopf zurück und legte die Hand an seine so plötzlich abgekühlte Stirn. Maischa lehnte neben ihm, gerade unter einer Fotografie, wo die Sphinx starr den Blick leitet vom Belvedere über die Stadt Wien. Der Lehrer näherte sich dem Mädchen mit einem langsamen Hinwenden und einem kleinen Schritt: ihr Lächeln und das Wunder ihrer Augen sollten ihn endlich annehmen. Lebte ihre Schönheit nicht von seinem Blick? Er berührte ihre Schläfe – es war eine Erwartung und Furcht in ihrem Aufschauen. Er schob seine Hand in ihr Haar – eine müde gleitende Annäherung. Als ihr Gesicht ganz nahe war, senkte sie
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die Lider und hob ein wenig den Kopf. Er berührte ihre Lippen – es war ein warmer Hauch. Sie küßte ihn. Mit dem Kuß war der Traum vorüber. Die Wirklichkeit hatte begonnen. Bald würde der Zug in die Vororte einfahren. Du mußt gehen, sagte der Lehrer, niemand darf uns zusammen sehen. Vielleicht werde ich abgeholt. Vielleicht wirst du abgeholt? Wir haben ein Geheimnis. Maischa lächelte wieder, sie neigte den Kopf und wandte sich schon ab. Wie folgsam sie war! Gerade noch erreichte er ihre Hand und hielt sie zurück für ein letztes Wort. Wann sehe ich dich wieder? fragte er. Allein! Maischa antwortete nicht. Der Lehrer ließ ihre Hand aus der seinen.
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Die Autorinnen und Autoren Helene Flöss, geb. 1954 in Brixen/Südtirol, Lehrerin. –»Nasses Gras« (Haymon). Armin Gatterer, geb. 1959 in Bozen, derzeit für die Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung tätig. – »Kopfgerüste« (Athesia), »Genfer Novellen« (Haymon). Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran, Lektorin an der Universität Venedig, – Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Alois Hotschnig, geb. 1959 in Berg/Kärnten, lebt als freier Schriftsteller in Innsbruck. – »Aus«, »Eine Art Glück« (Luchterhand). Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, freier Schriftsteller, Mitherausgeber der Zeitschrift »Gegenwart«. – »Katarina Mueller Biografie« (Hand-Presse), »Kaufhaus Eden und andere Prosa« (Aigner), »Winterende« (mit Stefanie Holzer, Pseudonym Luciana Glaser; Zsolnay), »Aufrührer« (Deuticke).
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Anita Pichler, geb. 1948 in Meran, derzeit Stadtschreiberin in Biel/ Schweiz. – »Die Zaunreiterin«, »Wie die Monate das Jahr« (Suhrkamp). Walter Schlorhaufer, geb. 1920 in Innsbruck, Vorstand der Univ.-Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen in Innsbruck. – »Die Liebesstationen des Leonhard Dignos« (F.Kleinmayr),»Tag der Sterne« (Österreichischer Bundesverlag), »Narbensaiten« (Haymon). Raoul Schrott, geb. 1964 in Landeck, derzeit Lektor am Germanistischen Institut der Universität Neapel. – »Dada 21/22« (mit Gerald Nitsche, Haymon), »Makame« (Haymon), »Die Legenden vom Tod« (mit Adolf Frohner, Haymon), »Rime« (Haymon). Christoph Zanon, geb. 1951 in Lienz/Osttirol, Lehrer in Lienz. – »Die blaue Leiter« (Haymon).
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Autoren dieses Bandes im Haymon-Verlag Helene Flöss NASSES GRAS Erzählungen 12 x 20 cm, broschiert mit Schutzumschlag, 134 Seiten Armin Gatterer GENFER NOVELLEN 12 x 20 cm, broschiert mit Schutzumschlag, 176 Seiten Walter Schlorhaufer NARBENSAITEN Gedichte 12 x 20 cm, Leinen mit Schutzumschlag, 92 Seiten Raoul Schrott RIME wie die elf lieder des guihelm IX., herzog von aquitanien & graf von poitiers, von dem raoul schrott in das deutsch geschrieben wurden und dieser sich, 1990-1991, darauf mit selbiger feder ein dutzend verse machte, für daniela mit 8 Bildern von Adolf Frohner, 14 x 24 cm, 80 Seiten
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Christoph Zanon DIE BLAUE LEITER Prosa 12 x 20 cm, broschiert mit Schutzumschlag, 176 Seiten
Felix Mitterer im Haymon-Verlag DIE KINDER DES TEUFELS Ein Theaterstück und sein historischer Hintergrund 14 x 21 cm, broschiert, 160 Seiten SIBIRIEN Ein Monolog 12 x 20,5 cm, Leinen mit Schutzumschlag, 80 Seiten MUNDE Das Stück auf dem Gipfel Mit einem Tagebuch des Autors und Fotos von Sepp Dreissinger 16 x 24 cm, broschiert, 96 Seiten Text, 48 Bildseiten EIN JEDERMANN 12 x 20 cm, Leinen mit Schutzumschlag, 120 Seiten
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DIE PIEFKE-SAGA Komödie einer vergeblichen Zuneigung Drehbuch 14 x 21 cm, broschiert, 240 Seiten mit 80 Fotos aus der Fernsehserie
Weitere Literatur im Haymon-Verlag Georg Payr AN DER SCHWELLE Erzählung 12 x 20 cm, engl. Broschur, 132 Seiten norbert c. kaser GESAMMELTE WERKE 3 Bde. 15 x 23 cm, Efalin mit Schutzumschlag, insgesamt 1440 Seiten Gerald Nitsche (Hrsg.) ÖSTERREICHISCHE LYRIK und kein Wort Deutsch Zeitgenössische Dichtung der Minoritäten. Mit Tonbeispielen auf beigelegter CD 22 x 27 cm, Efalin mit Schutzumschlag, 216 Seiten Alois Schöpf HEIMATZAUBER Roman in Scenen 12 x 20 cm, broschiert mit Schutzumschlag, 132 Seiten
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WIDERSCHEIN Bildteppiche von Ilse Abka Prandstetter Texte von Jürg Amann, Friederike Mayröcker und Julian Schutting Vorwort von Peter Weiermair 14 x 22 cm, 14 Farbbilder, Leinen mit Schutzumschlag, 80 Seiten
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