Thilo Fehmel Konflikte um den Konfliktrahmen
Thilo Fehmel
Konflikte um den Konfliktrahmen Die Steuerung der Tarifaut...
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Thilo Fehmel Konflikte um den Konfliktrahmen
Thilo Fehmel
Konflikte um den Konfliktrahmen Die Steuerung der Tarifautonomie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17227-9
Inhalt
Einleitung .......................................................................................................... 007
I
Tarifautonomie als Institution
1
Tarifsystem und Tarifautonomie: eine Abgrenzung ........................... 013
2
Tarifautonomie als institutionalisiertes Arrangement zwischen Tarifverbänden und Staat ......................................................... 021 2.1 Institutionen als „Hort der Stabilität“ ............................................................ 021 2.2 Institutionen als dynamische Konstellationen ............................................. 025
3
cultural approach:
Bindung und Selbstbindung der Gewerkschaften .................................. 031
3.1 Institutionengründung: Entstehung und Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes .................................................................................. 031 3.2 Institutionenverfestigung: der (prekäre) Zusammenhang von Tarifhoheit und Sozialer Marktwirtschaft ............................................. 036 3.3 Institutionenflexibilität: Tarifautonomie und Verfassungsrecht ............... 043 4
calculus approach:
Tarifautonomie und das Interesse des Staates an sich selbst ................ 051
4.1 Die Bedeutung von Lohnarbeit als Prinzip .................................................. 054 4.2 Inflation als Problem für den Staat ................................................................ 060 4.3 Arbeitslosigkeit als Problem für den Staat .................................................... 067 5
Synthese: kulturalistische und utilitaristische Anteile der Institution „Tarifautonomie“ ............................................... 079
6
Die Beeinflussung der Tarifhoheit durch staatliche Akteure ................ 085 6.1 Indikative Einkommenspolitik ....................................................................... 088 6.2 Kooperative Einkommenspolitik ................................................................... 091 6.3 Imperative Einkommenspolitik ...................................................................... 095
7
Synthese: Flexibilität des tarifautonomen Handlungsraumes ............... 101
II Tarifautonomie als Begriff 8
Methodische Überlegungen ..................................................................... 107 8.1 „Tarifautonomie“ als instrumentalisierungsgeeigneter Begriff ............................................................................................... 107 8.2 Qualitative und quantitative Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes ......................................................................................... 115 8.3 Konsequenzen der Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes – Begründung der Diskurs- und Datenauswahl .............................................. 122
9
Die Funktion des Begriffs „Tarifautonomie“ bei Konflikten um die Tarifautonomie .................................................... 129 9.1 Konzertierte Aktion – die Etablierung des Begriffs „Tarifautonomie“ im politischen Raum ........................................................ 129 9.2 Neufassung des § 116 AFG – Zielkonflikt zwischen Funktions- und Handlungsfähigkeit .............................................................. 143 9.3 Lohnabstandsklauseln bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – Kompetenzstreit im Grenzgebiet von Tarif- und Sozialpolitik ..................................................................................... 173 9.4 Das Bündnis für Arbeit – „...die Bundesregierung wird sich noch stärker einschalten und trotzdem die Tarifautonomie bewahren.“ ............................................................................ 198 9.5 Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit per Gesetz – der schwankende Schatten der Hierarchie .................................................... 222
10
Schluss: Gesteuerte Autonomie ............................................................... 251 10.1 Institutioneller Wandel... ................................................................................. 251 10.2 ... und semantische Kontinuität ...................................................................... 259
Literatur ............................................................................................................. 263 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen ................................................... 285
6
Einleitung
Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet Tarifautonomie gemeinhin das Recht der Tarifpartner, ohne staatliche Einmischung die Tauschbedingungen für ihre Mitglieder am Arbeitsmarkt zu regeln. Diesem Verständnis entsprechend hat sich der Staat der Einmischung in die Ausgestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen vollkommen zu enthalten. Ihm kommt lediglich die Aufgabe zu, einen institutionellen Rahmen, eben einen Konfliktrahmen, für diese autonome Regelung zur Verfügung zu stellen, in dem die kollektiven Arbeitsmarktakteure die widersprüchlichen Interessen ihrer Mitglieder temporär zu Interessenkompromissen verarbeiten können. Dieser durch Gesetzgebung geschaffene, selbst aber gesetzgebungsfreie Regelungsraum steht durch Ableitung aus dem Grundrecht auf Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit unter grundgesetzlichem Schutz. Die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen durch kollektive Akteure genießt zwar Vorrang gegenüber staatlichem Interventionswillen, nicht aber absoluten Schutz: staatliches Handeln darf zur Garantie des staatsfreien Raums der Arbeitsbeziehungen nicht in Widerspruch geraten, es sei denn, die Ergebnisse der kollektivautonomen Ausgestaltung kollidieren nach Einschätzung des Staates mit anderen, gleichrangigen Grundrechten, mit deren Einhaltungsüberwachung er beauftragt ist. Durch diese Einschränkung wird aus der absoluten Autonomie der Tarifverbände eine relative Autonomie, und aus dem unbeteiligten Nebeneinander von Verbänden und Staat ein aufeinander bezogenes Interagieren. Tarifautonomie ist damit nicht mehr nur die Bezeichnung für die staatsfreie Aushandlung von Arbeitsbedingungen. Tarifautonomie ist so zugleich auch Ausdruck für ein spezifisches Verhältnis zwischen Tarifverbänden und Staat, und in diesem relationalen Sinne wird der Ausdruck auch in diesem Buch verwendet. Tarifautonomie ist insofern die institutionalisierte Synthese der Interessen der Verbände einerseits und staatlicher Akteure andererseits. Für beide Seiten ist mithin das gefundene, mit „Tarifautonomie“ betitelte Arrangement ein Kompromiss, also eine Konfiguration, die für beide Seiten charakteristische Entlastungs-, aber auch Belastungseffekte hat. In der hier vorliegenden Arbeit werden in erster Linie die Effekte der Tarifautonomie aus der Perspektive staatlicher Akteure untersucht. Geleitet wird die Arbeit von der Annahme, dass der Staat durchaus bereit ist, sich für derartige Folgewirkungen verantwortlich zu erklären und die damit verbundenen Kosten zu tragen,
gerade weil diesen Belastungen auch Entlastungen gegenüberstehen. Tarifautonomie ist so verstanden also ein Tauschverhältnis zwischen Verbänden und Staat. Wiegen aber die Folgewirkungen tarifverbandlichen Verhaltens für staatliche Akteure dauerhaft schwerer als seine Entlastungen, dann haben staatliche Akteure nicht nur ein Motiv, sondern durchaus auch Möglichkeiten, die Verantwortungsannahme zu verweigern und die von den Verbänden externalisierten Folgekosten in das Tarifsystem zu re-internalisieren. Entsprechend ist das Verhältnis zwischen Tarifverbänden und Staat keineswegs immer von Konsens geprägt. Denn darüber, wann eine interventionswürdige Situation vorliegt, gehen die Einschätzungen staatlicher und tarifverbandlicher Akteure in aller Regel deutlich auseinander. Und was sich aus diesem Interpretationsspielraum, was sich aus diesen unterschiedlichen Deutungen ergibt, das sind die Konflikte um den Konfliktrahmen. Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Teil I widmet sich dem Verhältnis von Tarifverbänden und Staat. Unter Rückgriff auf den Erklärungsansatz des Historischen Institutionalismus werden zunächst die relevanten Interessen staatlicher Akteure beleuchtet, aus denen sich eine charakteristische Zielstruktur staatlichen Handelns im Hinblick auf Lohnarbeit ableiten lässt. Dieser Zielstruktur entspricht eine ambivalente Einstellung staatliche Akteure gegenüber den ihrem Selbstverständnis nach autonomen Tarifverbänden: Staatliche Akteure waren und sind (wenngleich nicht von Beginn an) einerseits bereit, die Gestaltungshoheit der Verbände anzuerkennen, weil und solange sich daraus Entlastungs- und Stabilisierungswirkungen für den Staat ergeben (Kapitel 3). Staatliche Akteure sind andererseits bemüht, mehr oder weniger situativ das Handeln der Verbände zu beeinflussen, wenn sie befürchten, dass die subjektiv bewerteten Folgen des Verbandshandelns der Stabilität des politischen und/oder des ökonomischen Systems abträglich sind und Probleme hervorrufen, deren Lösung die staatlichen Ressourcen überfordern und so zu Legitimationskrisen der staatlichen Akteure führen kann (Kapitel 4). Für die Beeinflussung bedienen sich staatliche Akteure verschiedener Instrumente, die zwar unterschiedlich wirksam sind, ihren gemeinsamen Nenner aber darin haben, dass sie mit der Autonomie der Tarifverbände, insbesondere der Gewerkschaften, kollidieren (Kapitel 6). Teil II erarbeitet die Funktion des Begriffs „Tarifautonomie“ bei diesen Beeinflussungsbemühungen staatlicher Akteure. Die Betonung politischer Sprache als Instrument politischer Steuerung schließt zum einen an das polit-linguistische Konzept der Leitvokabel an, die hinreichend abstrakt sein muss, um als sprachlicher Ausdruck einer Institution auch dann zu bestehen, wenn diese Institution mehr oder weniger gravierenden Wandlungen unterliegt (Buchstein, Jörke 2003). Ein derartiger Fokus ist zum anderen kompatibel mit den Prämissen des Historischen Institutionalismus. Nur eine historisch-institutionalistisch ausgerichtete Langzeitperspektive bietet die Möglichkeit, Veränderungsprozesse und Kontinuitäten in den Blick
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zu bekommen (Thelen 2002; 2004). Nur so lässt sich das Wechselspiel von Diskurs und Struktur sichtbar machen und zeigen, wie einzelne Diskurse strukturverändernde Wirkung entfalten, indem sie die Handlungsbedingungen von Akteuren und damit das Verhältnis von Staat und Tarifverbänden modifizieren; und wie diese geänderten Strukturen in der Folge wieder den Möglichkeitsraum späterer Diskurse vorgeben, mit denen dann wiederum bestehende Strukturen an aktuelle Erfordernisse angepasst werden usw. In Kapitel 8 werden zunächst einige Überlegungen zur Bedeutung von Sprache bei politischer Steuerung angestellt und methodische Probleme der Datengewinnung, -verarbeitung und -validität erörtert. Anschließend werden die Motive und möglichen Methoden der Beeinflussung gewerkschaftlichen Handelns durch staatliche Akteure zu einer Typologie zusammengefasst, die als Grundlage für die weitere empirische Untersuchung dient. In dieser (Kapitel 9) wird dann das Zusammenspiel von institutionellem Wandel und semantischer Kontinuität exemplarisch vorgeführt. Anhand von fünf Einfluss-Episoden wird einerseits gezeigt, dass und warum jeweils genau staatliche Akteure eine Einwirkung auf gewerkschaftliches Handeln für geboten hielten. Andererseits wird herausgearbeitet, wie diese Einwirkungsversuche durch die Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ flankiert wurden, um die Kollision des staatlichen Steuerungsanspruchs mit dem Autonomie-Anspruch der Verbände zu verbergen. In der Summe lässt sich zeigen, welche Rolle der Staat beim Wandel des bundesdeutschen Tarifsystems spielt und inwiefern der Rückgang der Geltungskraft tarifverbandlicher Normsetzung auch die Folge staatlichen Handelns ist.
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I
Tarifautonomie als Institution
1
Tarifsystem und Tarifautonomie: eine Abgrenzung
Das deutsche Tarifsystem steht in der Kritik. Deutlich wird dies unter anderem daran, dass auch die Tarifautonomie auf den Prüfstand gestellt wird (Zohlnhöfer 1996; BMWA 2004c). Aufgrund ihrer engen inhaltlichen Verwandtschaft werden beide Begriffe oft synonym verwendet. Oft gewinnt man den Eindruck, dass in der öffentlichen Kommunikation von Tarifautonomie gesprochen wird, wenn vom Tarifsystem und insbesondere vom Konstrukt der Sozialpartnerschaft zwischen den Organisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer die Rede sein soll. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen dem Tarifsystem und der Tarifautonomie: Die Tarifautonomie als empirisches Phänomen setzt ein Tarifsystem voraus. Das Tarifsystem hingegen muss nicht zwingend autonom sein. Diese Hierarchie – keine Tarifautonomie ohne Tarifsystem – macht es erforderlich, Überlegungen zur Tarifautonomie einige Bemerkungen zum Tarifsystem voranzustellen. Handlungsraum / Regelungsbereich Funktion des Tarifsystems ist die kollektive Gestaltung von Arbeitsbeziehungen. Arbeitsbeziehungen sind soziale Verhältnisse zwischen lohnabhängigen Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern. Dass die Verkaufs- und Anwendungsbedingungen der Arbeitskraft verhandlungs- und regelungsbedürftig sind, hat seine Grundlage im industriellen Konflikt, also dem Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der in der abstrakten Gegenüberstellung von „Kapital“ und „Arbeit“ zum Ausdruck kommt. Freilich gehören zu den Verkaufs- und Anwendungsbedingungen nichtselbständiger Arbeit nicht nur Fragen der unmittelbaren Entlohnung (also des Preises) der Arbeit, sondern sehr umfänglich auch weitergehende Aspekte wie Arbeitszeit-, Arbeitsschutz- oder Zulässigkeitsbedingungen, die mit dem materiellen Begriff „Tarif...“ („Preis...“) kaum ausreichend erfasst werden. Der Gegensatz von „Kapital“ und „Arbeit“ markiert zugleich die Grenze des Tarifsystems. Einerseits werden Preise für selbständige, freiberufliche und ähnliche Arbeit nicht innerhalb des Tarifsystems vereinbart. Andererseits strahlt die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen nichtselbständigen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf Bereiche außerhalb des Tarifsystems aus. In diesem Sinne hat die Austragung des industriellen Konflikts externe Effekte, also Folgen außerhalb des Tarifsystems. Regelungs- und Wirkungsbereich des Tarifsystems sind also nicht kongruent.
Duale Kollektivität Auch wenn die Aushandlung und Gestaltung von Arbeitsbedingungen letztlich immer nur auf das individuelle Arbeitsverhältnis zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber angewendet werden kann, so ist doch im deutschen Tarifsystem diese Aushandlung zu einem beachtlichen Teil kollektiven Akteuren vorbehalten. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind die dominanten Akteure bei den Verhandlungen über die Verkaufsbedingungen. Folgerichtig ist die vorherrschende Form der Festschreibung der Verhandlungsergebnisse zwischen beiden Seiten der Verbandstarifvertrag. Das Tarifsystem ist in dieser Hinsicht vor allem ein Tarifvertragssystem. Die Dominanz kollektiver Akteure darf freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass diese letztlich Zusammenschlüsse und damit Interessenvertreter von Individuen sind, deren Arbeitsverhältnisse im einzelbetrieblichen Kontext verankert sind. Die vertraglich fixierten Ergebnisse des verbandlichen Handelns manifestieren sich grundsätzlich erst in der einzelvertraglichen Anwendung und bewirken so eine erhebliche Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der betrieblichen Akteure. Verbandlich verantwortete Tarifverträge sind abhängig von ihrer Akzeptanz bei den Akteuren in den Betrieben. Diese strukturelle Abhängigkeit der Verbände von der Akzeptanz auf betrieblicher Ebene zwingt sie, die dort vorfindbaren Interessen und Bedürfnisse stets mit in den Blick zu nehmen. Auch im einzelnen Betrieb können Interessen aggregiert und kollektiviert werden. Betriebs- bzw. Personalräte vertreten die Anliegen der Belegschaft gegenüber dem Management eines Unternehmens, aber auch die Interessen gegenüber einer überbetrieblich wirkenden Gewerkschaft. Betriebsräten kommt damit die bedeutsame Funktion der Schnittstelle zwischen der Gewerkschaftsorganisation und den Beschäftigten in den Betrieben zu. Somit erfolgt die Repräsentation der Arbeitnehmerinteressen in zwei unterschiedlichen Arenen (Schmidt 2005: 38f.). Zum einen verhandeln und vereinbaren die kollektiven Akteure Gewerkschaften und Arbeitgeberverband die „Verkaufsbedingungen“ der Arbeitskraft (Müller-Jentsch 1997: 195). Diese Akteure sind ihrem Wesen nach überbetrieblich strukturiert: Es gibt in der Bundesrepublik keine Betriebsgewerkschaften (mehr). Die überbetriebliche Struktur der deutschen Gewerkschaften (Branchengewerkschaften, nicht Richtungsgewerkschaften) korrespondiert dabei mit ihrem Bemühen, auch die Verhandlungsergebnisse überbetrieblich umzusetzen (Flächentarifverträge). Die Vielzahl von Arbeitgeberverbänden spricht dafür, dass die Überbetrieblichkeit von Tarifverträgen (oder vielleicht auch nur die Überbetrieblichkeit der Aushandlung von Tarifverträgen) auch auf Arbeitgeberseite auf Interesse stößt. Zum anderen regeln die Akteure Betriebsrat und Management die konkreten „Anwendungsbedingungen“ der Arbeitskraft im einzelnen Betrieb (Müller-Jentsch 1997: 195).
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Konfliktaustragung Die Interessengegensätze von Kapital und Arbeit werden im Rahmen des Tarifsystems von kollektiven Akteuren in einen Kompromiss gebracht und dieser befristet in Vertragsform gegossen. Hierin liegt die Befriedungsfunktion von Tarifverträgen: Für die Dauer der Geltung dieser Verträge sind die Interessenkonflikte eingefroren. In der Befristung von Tarifverträgen kommt aber bereits zum Ausdruck, dass Kompromisse beim Interessenkonflikt von Kapital und Arbeit immer wieder aufs Neue ausgehandelt, gleichsam nachverhandelt werden müssen. Nicht immer führen diese Verhandlungen sofort zu einem für beide Seiten akzeptablen Ergebnis. Um der eigenen Forderung Nachdruck zu verleihen, sind Arbeitskämpfe als legitimes Mittel der Konfliktaustragung anerkannt. Beschäftigte verweigern mit Streiks ihre Arbeitsleistung, Arbeitgeber können mit Aussperrungen reagieren. Auch wenn Arbeitskämpfe zwingend am Ort der individuellen Arbeitsverträge, also in einzelnen Betrieben ausgetragen werden, so sind doch nur die Gewerkschaften als überbetriebliche Akteure zur Organisation von Streiks legitimiert, nicht aber Betriebsräte. Konflikte werden damit ausschließlich auf der Verbandsebene ausgetragen, wenngleich sie freilich zuweilen nur die Arbeitsbedingungen eines einzigen Unternehmens zum Gegenstand haben können. Das Tarifsystem wird so zur Arena der Konfliktaustragung. Autonom sind die Verbände im so beschriebenen Tarifsystem im Verhältnis zum Staat; durch ihr Recht und ihren Anspruch auf Selbstbestimmung werden sie gegenüber dem Staat zu tarifautonomen Akteuren. Ich ordne damit die relative Verhandlungs- und Gestaltungsfreiheit der Tarifverbände gegenüber ihren Mitgliedern, also die mehr oder weniger weit reichende Unabhängigkeit der kollektiven Akteure von den Einzelinteressen in den Betrieben, nicht der Tarifautonomie zu. Zwar lässt sich die Tarifautonomie als das überbetrieblich-verbandliche Element arbeitspolitischer Selbstregulierung ohne weiteres auch als „eine grundsätzliche regulative Schranke gegenüber der individuellen Vertragsfreiheit (Privatautonomie) und konkurrierenden Gestaltungen im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsordnungen“ (Lessenich 2003a: 250) begreifen. Allerdings kann sich eine rechtsverbindliche Kompetenzverschiebung zwischen den Ebenen Tarifautonomie, Betriebsautonomie und Privatautonomie nur durch gesetzgeberisches Handeln vollziehen, geht also insoweit notwendig auf staatliches Handeln und damit auf eine Änderung des Kompetenzverhältnisses von Tarifverbänden und Staat zurück.1 Änderungen des Verhältnisses von 1
Damit zeige ich zugleich an, dass ich mich den Debatten über die Stärkung der Privatautonomie individueller Arbeitsmarkt-Akteure in ihrem Verhältnis zu Tarifverbänden (vgl. Rüthers 2002) nicht oder nur insoweit zuwenden werde, wie diese Debatten sich auf staatliches Handeln bzw. Forderungen danach beziehen. Von den hier untersuchten Konflikten scheint mir dies vor allem für die Frage der Erleichterung betrieblicher Bündnisse für Arbeit zuzutreffen (Kapitel 9.5).
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tarif-„autonomen“, betriebs-„autonomen“ und privat-„autonomen“ Akteuren, die sich innerhalb bestehender rechtlicher Rahmungen vollziehen, stellen sich demzufolge als Wandel des Tarifsystems, nicht aber als Wandel der Tarifautonomie dar. Es hat sich eingebürgert, das Recht der Tarifverbände auf abwesende Fremdbestimmung bei der kollektiven Gestaltung von Arbeitsbedingungen absolut zu setzen (vgl. exemplarisch: Hesselberger 2000). Darauf aufbauende Definitionsversuche zur Tarifautonomie beziehen sich in aller Regel auf die konstitutionelle Festschreibung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit in Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Artikel berechtigt einerseits zur Bildung von Vereinigungen, die auf die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtet sind. Er schützt andererseits diese Vereinigungen vor Bestrebungen, ihren Handlungs- und Gestaltungsspielraum einzugrenzen. Die Kurzformel für dieses Grundrecht auf wirtschafts- und arbeitsbezogene Gestaltungsfreiheit von zu diesem Zweck gebildeten Verbänden lautet Tarifautonomie. Dennoch ist das Aushandeln von Arbeitsbedingungen keineswegs vollkommen in das Belieben der Tarifverbände gestellt. Wir begegnen dem paradox anmutenden Umstand, dass die Tarifverbände zur autonomen Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen auf Rahmenbedingungen angewiesen sind, die nur der Staat zur Verfügung stellen und aufrechterhalten kann. Um tarifautonom agieren zu können, sind die Tarifverbände auf staatliche Ermöglichung angewiesen. Das Selbstbestimmungsrecht der Verbände gegenüber dem Staat geht also einher mit einer zumindest partiellen Staatsabhängigkeit; in diesem Sinne einer regulierten Selbstregulierung haben wir es mit teilautonomen Akteuren zu tun. Dieses Bedingungsverhältnis von Verbänden und Staat wird in der Literatur als ein Raum beschrieben, in dem kollektive Akteure autonom die Verkaufsbedingungen der Arbeitskraft verhandeln und vereinbaren (Müller-Jentsch 1995) und dessen Grenzen der Staat setzt (Müller-Jentsch 1995; 1997; 2003a). Sichtbar wird diese Abhängigkeit der Tarifautonomie von staatlicher Rahmensetzung in Fragen ihrer zwei Hauptmerkmale: der rechtlichen Privilegierung und der rechtlichen Verbindlichkeit tarifautonom, also verbandlich erzielter Kompromisse. Rechtliche Privilegierung In rechtlicher Hinsicht ist die Tarifautonomie Element eines dreigliedrigen Systems. Neben den kollektiven Akteuren der Tarifautonomie haben nicht nur im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes betriebliche Akteure Einfluss auf die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Auch die individuellen Parteien des Arbeitsvertrages haben im Rahmen der so genannten Privatautonomie die Möglichkeit, Arbeitsbedingungen vertraglich auszugestalten. Wie groß diese jeweiligen Handlungsräume sind, ergibt sich aus ihrem hierarchischen Verhältnis zueinander: Privatautonom kann nur ausgestaltet werden, was nicht Gegenstand einer Betriebs-
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vereinbarung ist und auf Betriebsebene kann nur vereinbart werden, was nicht in die Regelungs- und Rechtsetzungskompetenz der überbetrieblich organisierten tarifautonomen Akteure fällt. Wenn dieses enge Bedingungsverhältnis zwischen Tarifautonomie, Betriebsverfassung und Privatautonomie im Wesentlichen durch jeweilige gesetzliche Vorgaben legitimiert und eingeschränkt wird (Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz und diverse Arbeitsgesetze), dann sind gesetzgebende staatliche Akteure bei der Untersuchung des Systems der Arbeitsbeziehungen unweigerlich mit einzubeziehen. Bereits in statischer Perspektive wird so die Begrenztheit der jeweiligen Handlungsautonomie, auch die der Tarifverbände, deutlich: Gesetze eröffnen nicht nur Handlungsmöglichkeiten, sondern beschränken sie auch. Rechtliche Verbindlichkeit Die Tarifautonomie gilt als kollektives Normsetzungsverfahren. Die Verhandlungsergebnisse zwischen den Verbänden sind für ihre Mitglieder unmittelbar verbindlich. Die Verbände sind damit in einem Ausmaß zur Rechtsetzung befugt, dass sonst üblicherweise dem Staat vorbehalten bleibt: Tarifautonomie ist die Privilegierung der Verbände zur Gestaltung von Gesetzesrecht mittels Tarifvertrag.2 Hugo Sinzheimer, der spiritus rector des deutschen autonomen Tarifsystems, sprach schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts von den Tarifverbänden als „private Gesetzgeber objektiver Rechtsnormen für Arbeitsverhältnisse“ (Sinzheimer 1907: 81). Durch vier Aspekte wird diese Normsetzungsbefugnis noch verstärkt (vgl. Rose 2006: 33ff.): Erstens dürfen Arbeitgeber, die durch ihre Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband einem überbetrieblichen Tarifvertrag unterliegen oder die mit einer Gewerkschaft einen betrieblichen Tarifvertrag abgeschlossen haben, nicht in Einzelvereinbarungen mit ihren (gewerkschaftlich organisierten) Mitarbeitern zu deren Lasten vom Tarifvertrag abweichen (Günstigkeitsprinzip). Zweitens ist es Betriebsräten verwehrt, Abmachungen mit Arbeitgebern zu treffen, wenn diese einem mit einer Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrag unterliegen und in diesem Vertrag zu der fraglichen Materie eine Abmachung getroffen wurde (Tarifvorrang). Drittens gilt ein Tarifvertrag auch über seine vereinbarte Geltungsdauer hinaus, solange er nicht durch eine andere Abmachung ersetzt wird (Nachwirkung). Und viertens unterliegen Arbeitgeber einem 2
Dies ergibt sich insbesondere aus dem Tarifvertragsgesetz (TVG, Hervorhebungen von mir): § 1 Abs. 1: Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können. § 4 Abs. 1: Die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen.
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Tarifvertrag in jedem Fall während dessen gesamter Geltungsdauer, auch wenn sie während der Geltungsdauer aus dem vertragschließenden Arbeitgeberverband ausgetreten sind (Nachbindung). Der Gesetzgeber hat aber nicht nur die Funktion, mittels so genannter Ausgestaltungsgesetze einen rechtlichen Rahmen für ein teilautonomes Tarifsystem bereitzustellen (Butzer 1994: 378f.), sondern er ist auch mit einer Vielzahl von Einzelgesetzen selbst an der Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen beteiligt. Solche gesetzlichen Normen stellen im Allgemeinen unmittelbar auf die Regelung der beiden anderen Kompetenzbereiche (Betriebsverfassung, Privatautonomie) ab, tangieren hierdurch aber mittelbar zugleich die Ausdehnung des tarifautonomen Raumes. Insofern lässt sich auch das rechtliche Verhältnis der tarifautonomen Verbände zur betrieblichen und individuellen Ebene letztlich auf ein Bedingungsverhältnis zwischen tarifautonomen Verbänden und dem Staat reduzieren. Aus dieser Perspektive ist die Tarifautonomie der verbleibende Teil des die Arbeitsbeziehungen betreffenden Regelungsraumes, nachdem der Staat mittels so genannter Schrankengesetzgebung (Wiedemann 1995: 681ff.) Regelungskompetenzen an sich gezogen oder anderen Kompetenzebenen zugewiesen hat und auf den die Tarifverbände Regelungsanspruch erheben.3 Erst so erschließt sich voll und ganz die verbreitete Definition, der zufolge Tarifautonomie ein staatlicherseits gewährter Freiraum zur kollektiven Aushandlung der Arbeitsbedingungen ist (Müller-Jentsch 1997: 202). Damit teilt sich der gesamte Regelungsraum der Arbeitsbeziehungen in einen Bereich, in dem tarifautonome Akteure verbindlich normsetzend agieren können (Normsetzungsprärogative der Verbände, vgl. Butzer 1994: 379ff.) und in einen Bereich, in dem der Staat gesetzgeberisch agieren kann, aber nicht muss, und ihn so den betrieblichen Akteuren überlässt (Abb. 1). Tarifautonomie ist nicht ein für allemal festgelegte und absolute Staatsfreiheit beim Aushandeln der Arbeitsbedingungen durch Verbände. Tarifautonomie ist ein – prinzipiell veränderbares – Kompetenzverhältnis zwischen Tarifverbänden und Staat.
3
18
Insofern stellt z.B. das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen keine Kompetenzkonkurrenz zwischen Gesetzgeber und Tarifverbänden dar: Rechtsverordnungen nach diesem Gesetz kommen gerade nur dann in Frage, wenn für die fragliche Regelungsmaterie tarifvertragliche Bestimmungen nicht existieren (§§ 1 Abs. 2 und 8 Abs. 2). Im Übrigen kann dieses Gesetz bis auf weiteres nur als theoretisches Beispiel dienen: es wurde seit seiner Verabschiedung im Jahr 1952 noch nicht angewandt. Allerdings gelangt es in jüngster Zeit im Zuge der Diskussion um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zu einiger Popularität.
Abbildung 1:
Staatlicher und tarifautonomer Regelungsraum Regelungsraum insgesamt Raum, in dem Staat alleinige Rechtsetzungsbefugnis hat Raum, in dem die Verbände tarifautonom agieren können Grenze
Dieses abstrakte Schema lässt sich im Grunde auf alle Regelungsmaterien im Bereich der Arbeitsbeziehungen und -bedingungen anwenden. Es zeigt sich, dass Tarifautonomie insgesamt letztlich die Summe ist, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Zusammenführung aller Regelungsräume ergibt, in denen Verbände gegenüber dem Gesetzgeber ein Vorrecht haben, die Arbeitsbeziehungen verbindlich gestalten zu können. Allein die kaum überschaubare Anzahl solch konkreter Regelungsgegenstände und damit Regelungsräume macht es schwer, Tarifautonomie und vor allem die Grenzen der Tarifautonomie in toto zu bestimmen. Angemessener erscheint es daher, zu einem bestimmten Zeitpunkt und auf einen jeweils konkreten Regelungsgegenstand bezogen den tarifautonomen Raum zu benennen. Konflikte um den Konfliktrahmen „Tarifautonomie“ bezeichnen also nicht konkrete Konflikte zwischen Tarifverbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen. Vielmehr haben sie die Tarifautonomie selbst, ihre sach- oder akteursbezogene Ausdehnung oder ihre Auswirkungen, zum Inhalt. Konflikte um den Konfliktrahmen „Tarifautonomie“ sind somit in letzter Konsequenz Konflikte um die Regelungskompetenzen von Verbänden und Staat. An den diesbezüglichen Debatten nehmen keineswegs nur verbandliche und staatliche Akteure teil. Die vorliegende Arbeit will ihren Fokus jedoch richten auf die „Kompetenzkonkurrenz“ von Verbänden und Staat und auf ihr jeweiliges Konfliktverhalten. Konflikte um Regelungskompetenzen haben die Größe von Regelungsbereichen und Handlungsräumen zum Gegenstand. Konflikte treten hervor, wenn Uneinigkeit darüber besteht, wo die Grenze zwischen verbandlichem und staatlichem Regelungsraum sinnvollerweise zu ziehen ist. Dabei ist das Bild des Handlungsraumes durchaus mehrdeutig: es meint die räumliche Ausdehnung tarifautonomer Befugnisse im engeren Sinne, etwa die Ausprägung der dualen Kollektivität und ihre Bedeutung für die Überbetrieblichkeit verbandlichen Wirkens, also das Verhältnis von Gewerkschaft und Betriebsrat/ Belegschaft im „Sozialraum Betrieb“ (Kuhlmann 2004) ebenso wie im weiteren Sinne die Ausdehnung der jeweiligen Regelungsbefugnisse bezüglich einer konkret beschreibbaren Regelungsmaterie, also etwa des Anteils der Gesetzgebung am möglichen Gestaltungsspielraum. Konflikte um die Aufteilung von Regelungskompetenzen sind insofern immer auch Konflikte um die rechtliche Privilegierung und um die Verbindlichkeit tarifauto19
nomer Aushandlungsergebnisse gegenüber Vereinbarungen, die ohne Verbandsbeteiligung einzelbetrieblich oder individuell getroffen werden. Solche Konflikte können zu Konflikten über die Handlungsfähigkeit der beteiligten Akteure generell führen. Das gilt vor allem für verbandliche Akteure, deren Handlungsfähigkeit auf der freiwilligen Folgebereitschaft ihrer Mitglieder beruht (Kropp 1999). Dies ist der Grund, weshalb auch vergleichsweise „kleine“ und unbedeutende Konfliktgegenstände zuweilen ein Konfliktausmaß annehmen, das außenstehenden Beobachtern als überhöht erscheint. Es ist weniger ein konkreter Regelungsgegenstand, sondern vor allem die Sorge um die eigene Handlungsfähigkeit, die verbandliche und staatliche Akteure immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Tarifautonomie motiviert. Konflikte um die Tarifautonomie sind ein Indiz für die Unzufriedenheit mit dem Status Quo eines Kompetenzverhältnisses; sie stehen dafür, dass die Folgen des einmal gefundenen Kompetenzarrangements mindestens eine der beteiligten Seiten nicht mehr befriedigen, sei es, weil sich Interessenlagen verschoben haben oder weil sich die Leistungsfähigkeit des Arrangements gewandelt hat. Doch auch wenn solche Konflikte beobachtbar sind, so erweist sich doch die Tarifautonomie als soziales Konstrukt als ausgesprochen stabil. Keineswegs endet jeder singuläre Konflikt um die Tarifautonomie in ihrer Änderung oder gar Aufhebung. Zwei Schlussfolgerungen sind denkbar und zu überprüfen: entweder besitzt die Tarifautonomie als grundsätzliches Kompetenzverhältnis zwischen Staat und Verbänden eine beachtliche Beharrungs- und fortdauernde Durchsetzungskraft, der einzelne Konflikte nichts Bestandsgefährdendes anhaben können. Oder das Konstrukt der Tarifautonomie ist in einer Weise flexibel und anpassungsfähig, dass es Interessenverschiebungen integrieren kann, ohne als grundsätzliche Leitidee und Ordnungsvorstellung daran Schaden zu nehmen. Es wird sich zeigen, dass beides zutrifft: Tarifautonomie ist ein institutionalisiertes und zugleich anpassungsfähiges Kompetenzarrangement zwischen Verbänden und Gesetzgeber. Dies gilt es in den nächsten Abschnitten zu belegen.
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2 Tarifautonomie als institutionalisiertes Arrangement zwischen Tarifverbänden und Staat
2.1 Institutionen als „Hort der Stabilität“ In der politischen Öffentlichkeit hat sich die Verwendung des Begriffs „Tarifautonomie“ im Singular etabliert. Offensichtlich symbolisiert der Begriff mehr als nur eine konkrete (von vielen möglichen konkreten), auf eine bestimmte Regelungsmaterie (von vielen möglichen Regelungsmaterien) bezogene Kompetenzstruktur zwischen Staat und Verbänden. Zugleich fällt auf, dass der Begriff“ ohne weitere Erklärung verwendet wird. Tarifautonomie scheint ein selbstverständlicher, sich selbst erklärender gesellschaftlicher Tatbestand zu sein. Es ist zu vermuten, dass der Begriff „Tarifautonomie“ sich in einem Maße verselbständigt hat, das der Tarifautonomie den Charakter einer „black box“ verleiht: Die Vielschichtigkeit des sozialen Konstrukts „Tarifautonomie“ wird bei seiner Erörterung nicht reflektiert. Das macht es plausibel, aus institutionentheoretischer Perspektive nach seinem Charakter zu fragen. Institutionen sind der Inbegriff von Stabilität, Beharrung und Dauer (Lessenich 2003b: 277). Im sozialwissenschaftlichen Sinn sind sie objektivierte und normierende Handlungsordnungen (Rehberg 1994: 56), die umso stabiler sind, je selbstverständlicher sie als strukturierender Teil der Lebenswelt anerkannt, unhinterfragt oder gar unerkannt bleiben (Soeffner 1998: 276). Sie sind „Hort der Stabilität in der Vielfalt sozialer Aktionen und Beziehungen, sie sichern Kontinuität in der Abfolge der Situationen“ (Göhler 1997: 21). Für den institutionellen Charakter der Tarifautonomie spricht bereits, dass sie ein auf Dauerhaftigkeit angelegtes Konstrukt ist. All ihre genannten Kennzeichen können sinnvoll nur in ihrer relativen Dauerhaftigkeit zur Geltung kommen. Das gilt für die garantierte Freiheit kollektiven Handelns von staatlichen Zwangsmaßnahmen im Geltungsbereich der Arbeitsbeziehungen ebenso wie für eine Gesetzgebung zur detaillierten Ausgestaltung dieser Verfassungsgarantien. Auch die beschriebene Privilegierung kollektiver Akteure hinsichtlich ihrer Rechtsetzungsbefugnis erscheint nur sinnvoll, wenn man den Regelungskompetenzen dieser Akteure Dauerhaftigkeit zuschreibt. Nicht zuletzt spricht aber auch die Einbindung der Tarifverbände in die Interessensformationen auf betrieblicher Ebene für Dauerhaftigkeit im Sinne von Berechenbarkeit: autonomes Handeln der Verbände ist ohne wiederholte Rückkopplung an die betriebliche Ebene nicht denkbar, was zwangsläufig zur Verfestigung dieser Beziehungen führt (vgl. Scharpf 2000a: 233). Das gilt in gleicher
Weise auch für die Beziehungen zwischen kollektiven Arbeitsmarktakteuren und dem Staat. Dennoch ist mit dem Befund, dass ein wesentliches Merkmal des Konstrukts „Tarifautonomie“ seine Permanenz ist, noch nicht viel gesagt. Dauerhaftigkeit ist ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium einer Institution. Unter dem Label „Tarifautonomie“ gestalten verbandliche und staatliche Akteure geordnet, strukturiert und unter Anwendung von Verfahrensregeln ihre Sozialbeziehungen. Agieren im Rahmen der Tarifautonomie hat Ordnungsmuster etabliert, an denen sich nicht nur die Verbände im System der Arbeitsbeziehungen orientieren, sondern auch staatliche Akteure bei der Nutzung ihrer Interventionsbefugnisse. Da diese Ordnungsmuster mehrheitlich durchgesetzt oder aber von ihnen zumindest soweit anerkannt sind, dass sie bei Handlungsentscheidungen berücksichtigt werden (müssen), handelt es sich um institutionelle Ordnungsmuster und Strukturierungen der erwähnten Sozialbeziehungen. Lepsius (1995a: 394) bezeichnet als Institution jede Form der sozialen Strukturierung, die einen gesellschaftlichen Wertbezug handlungsrelevant werden lässt. Institutionen sind damit mehr als bloße, auf Dauer gestellte Einrichtungen, die in einem spezifischen Problembezug den Handlungsraum von Akteuren umgrenzen. Als Ordnungsmuster strukturieren sie Sozialbeziehungen auf Basis gesellschaftlicher verfestigter Bedürfnisstrukturen (Schelsky 1970: 17) und entlang daraus abgeleiteter allgemein anerkannter Werte und Normen, die ständiger Infragestellung entzogen sind. Institutionen vollbringen somit Orientierungs-, Regulierungs- und Relationierungsleistungen. Als Ordnungs- und Handlungsrahmen für konkrete Situationen bedürfen Institutionen normativer Geltungsbegründungen. Ihre orientierende Funktion liegt in der Aufrechterhaltung bestimmter Vorstellungen sozialer Ordnung (Lessenich 2003a: 43); Institutionen sind Garanten kollektiv anerkannter Normen (Soeffner 1998: 282). Derartige Ansprüche werden symbolisch vermittelt als Leitidee dargestellt. Es sind diese symbolvermittelten Leitideen, die sozialen Konstruktionen ihren institutionellen Charakter verleihen (Rehberg 2002). Je tiefer Leitideen, also grundlegende Werte und Ordnungsvorstellungen, von Angehörigen einer Referenzgruppe, den institutionellen Adressaten, verinnerlicht werden und je mehr sie in der Folge als legitim anerkannt werden, desto stärker prägen sie die Orientierungs- und Handlungsmuster dieser Akteure. Erst durch die Internalisierung von Leitideen erfolgt die Objektivierung von Ordnungsmustern und Handlungsrahmen, das heißt, deren Befreiung von beständiger, situativer Infragestellung. Leitideen sind dann nicht mehr beliebig veränderbar (Stölting 1999). Institutionen dienen der Rationalisierung von Leitideen, also gleichsam der Übersetzung grundlegender Werte, Normen und Ordnungsvorstellungen in konkrete Handlungsvorgaben (Lepsius 1997a). Hierin liegt die regulierende Funktion von Institutionen. Eine Institution, so die implizite Rechtfertigung durch Bezug auf Leitideen, steht als wertebezogene Handlungsvorgabe für etwas Überpersönliches und Übersituatives, in das sich ein konkreter und aktueller Status einer Sozialbeziehung von konkreten Akteuren eingruppieren lässt. Institutionen vollbringen also Abstraktions- und
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damit zugleich gewichtige Entlastungsleistungen. Sie typisieren soziale Situationen und steigern damit für beteiligte Akteure die Wiedererkennbarkeit konkreter Situationen, stabilisieren also Erwartbarkeit (Rehberg 2002). Damit verbunden sind jedoch zugleich auch Prozesse der Objektivierung und Entsituierung von Sozialbeziehungen (Rehberg 1990: 139): Die Wahrnehmung einer konkreten Situation wird von Akteuren mit typischen sozialen Situationen abgeglichen und bei Übereinstimmung in einem Ordnungsarrangement bewältigt, das eine als handlungsrelevant empfundene Institution bereit stellt. Wenn eine konkrete Situation einem bestimmten Typ von Situation zuordenbar ist, dann hat man sich in typischer Weise zu verhalten. Situationstypisch verhält sich, wer sein Handeln an Werten ausrichtet, die in Form von Leitideen als bewahrens- bzw. erstrebenswert durchgesetzt und im günstigsten Fall allgemein anerkannt sind und deren Geltung durch das Verhalten in der konkreten Situation tangiert wird. Je weniger dabei die Möglichkeit anderer möglicher Ordnungsarrangements erwogen wird, desto institutionalisierter ist dieser Ordnungsrahmen. Die darin anklingende Möglichkeit, dass institutionalisierte Handlungsrahmen sowohl im Zeitverlauf als auch im Verhältnis zu anderen Institutionen mal stärker, mal schwächer wirksam sind, erklärt sich aus der Vielzahl von Ideen und Interessen. Auf welche Leitideen sich die Trägerakteure einer Institution berufen, und was den Handlungsvorgaben einer Institution entsprechend als wünschenswert gilt, ist das Ergebnis von Aushandlungsprozessen und Interessenvermittlung; Leitideen und darauf aufgebaute Institutionen sind insofern immer „Kampfprodukt und eine Synthese von Widersprüchlichem“ (Rehberg 2002: 49). In pluralistisch-demokratisch organisierten Gesellschaften ist die Konkurrenz von Leitideen der Normalfall. Es ist durchaus vorstellbar, dass in ein und derselben Referenzgruppe Leitideen dominant sind, deren Rationalisierungen zu Zielkonflikten, zu einem System von Leitdifferenzen (Rehberg 1994: 69) führen. Üblicherweise lösen gesellschaftliche Akteure derartige Konflikte nicht durch Aufgabe einer der betroffenen Leitideen, sondern durch Vermittlung. In diesem Sinne sind Institutionen Bedürfnis- und Funktionssynthesen (Schelsky 1970: 19; Hervorh.i.O.). Eine wesentliche Aufgabe von Institutionen ist es also, nicht auflösbare Spannungen in nicht-systemgefährdendes Verhalten umzulenken und damit zu entschärfen (Schelsky 1970: 24). Prominentes Beispiel für solche Vermittlungen ist in der Bundesrepublik die Verknüpfung zweier Leitideen („Kapitalismus“ und „Sozialstaatlichkeit“) zur vermittelten Leitidee der „sozialen Marktwirtschaft“ (Lepsius 1995a: 399). Das Beispiel zeigt zugleich eine Grundeigenschaft von Leitideen, und damit ein Grundproblem der Institutionenanalyse: Oft ist es gerade das Unbestimmte, Auslegungsfähige, Interpretationsoffene einer Leitidee, das ihr Stabilität verleiht (Rehberg 1994: 68). Wenn es aber bereits schwierig oder gar umstritten ist, die Kerninhalte von Leitideen wie „Kapitalismus“ oder „Sozialstaatlichkeit“ punktgenau zu bestimmen, muss sich diese Unbestimmtheit notwendig auf die daraus abgeleiteten Institutionen ebenso übertragen wie auf abgeleitete Leitdifferenz-Systeme und deren Institutionen. Auch verschiedene Institutionalisierungsformen ein und derselben Leitidee können
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konkurrieren. „Sozialstaatlichkeit“ als Leitidee lässt sich auf verschiedenen Wegen institutionalisieren: etwa durch unmittelbare staatliche Verantwortlichkeit für soziale Sicherung oder mittels selbstverantwortlicher Konfliktlösung durch gesellschaftliche Akteure innerhalb staatlich gesetzter Handlungsräume. Aus dem Mit-, Neben- und Gegeneinander von Leitideen ergibt sich die Institutionenordnung als Merkmal (von Teilbereichen) einer Gesellschaft. Einem Verständnis von Tarifautonomie als Bestandteil der Institutionenordnung der Bundesrepublik Deutschland liegt damit implizit die Annahme zugrunde, dass Tarifautonomie als Resultat von Interessenkämpfen die Konkretisierung einer oder mehrerer Leitideen und deren Überführung in Verhaltensnormen ist. Lepsius (1990: 71ff.) zufolge sind Betriebsräte-, Mitbestimmungs- und Tarifvertragssystem drei miteinander verbundene Ebenen der Institutionalisierung der Austragung des industriellen Konfliktes. Das Kollektivvertragswesen ist damit Bestandteil der heterogenen institutionellen Ausformung des Regelungssystems der Arbeitsbeziehungen, dessen verhaltensleitende Ordnungsideen sich insgesamt in der sozialen Marktwirtschaft, der Sozialstaatlichkeit und der Sozialpartnerschaft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden manifestieren (Lepsius 1990: 76; vgl. auch Lessenich 2003b). Aus dem Konflikt der beiden Leitideen „kapitalistische Rentabilität“ und „Sozialstaatlichkeit“ hat sich ein „ständiger Institutionenkampf [entwickelt], dessen Austragung im Tarifvertragswesen wiederum zur Institutionalisierung der Leitidee selbstverantwortlicher Vertragsschließung zwischen den Tarifparteien geführt hat“ (Lepsius 1995a: 399). Indem Institutionen vergleichsweise dauerhaft Handlungen vorstrukturieren und soziale Beziehungen regulieren, strukturieren und stabilisieren sie zugleich soziale Hierarchien und Positionengefüge. Hierin liegt die relationierende Funktion von Institutionen. Innerhalb institutioneller Arrangements haben Akteure spezifische Rollen inne, und nicht selten werden sie durch ihre institutionelle Einbettung auf diese spezifische(n) Rolle(n) reduziert. Zur komplexitätsreduzierenden Entsituierung durch institutionelle Arrangements kommt also eine ebenso komplexitätsreduzierende Entsubjektivierung hinzu. In diesem Sinne sind Institutionen objektivierte soziale Beziehungen (Strünck 2000: 44). Sie bieten Akteuren die Möglichkeit, unaufwändig ihre jeweilige Position in einer typischen konkreten Situation zu bestimmen. Sie geben vor, worüber, wie und mit welchen Mitteln Akteure in einer solchen Situation miteinander agieren können. Sie „formen die Interaktionsorientierungen von Akteuren in sozialen Handlungskonstellationen – und bewirken damit die Ausbildung institutionsbedingt aufeinander bezogener, relationaler Akteursidentitäten“ (Lessenich 2003a: 50). Von Vorteil ist diese Komplexitätsreduktion aufgrund der daraus resultierenden Verhaltens- und Erwartungssicherheit (Rehberg 2002). Akteure werden sich bei ihren Handlungsentscheidungen an diesen institutionell verfestigten Strukturen orientieren. Bezüglich des eigenen Verhaltens reduziert dies Entscheidungskosten, das Verhalten von Interaktionspartnern ist berechenbar. Nachteilig kann sich diese Autonomisierung der Institution auswirken, wenn sie den Blick auf attraktivere Gestaltungsmöglichkeiten
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sozialer Beziehungen verstellt oder aber durch die Art der Handlungsstrukturierung externe Effekte erzeugt, die einschränkend auf Handlungsmöglichkeiten von Akteuren außerhalb des institutionalisierten Ordnungsrahmens wirken (Lepsius 1995a: 397). Das heißt: Aus der Institutionalisierung von Handlungsmustern können sich nicht nur Ent-, sondern auch Belastungen ergeben (Rehberg 1990: 135). Für institutionelle Adressaten, also die den institutionalisierten Verhaltenserwartungen ausgesetzten Akteure, attraktiv oder zumindest von ihnen dauerhaft akzeptiert sind institutionelle Arrangements somit dann, wenn sie hinsichtlich der Gestaltung von Sozialbeziehungen einerseits genügend Erwartungssicherheit bieten können und andererseits einen ausreichend flexiblen Handlungsraum bieten. Zudem ist die Stabilität einer Institution abhängig davon, ob außerhalb des institutionellen Handlungskontextes in ausreichendem Maß Anerkennungsbereitschaft vorliegt, ob also externe Akteure bereit sind, die möglicherweise entstehenden Kosten institutioneller Externalisierungen zu übernehmen. Da aber die Interessen von institutionell eingebetteten wie auch von externen Akteuren auch von sozialen Entwicklungen außerhalb dieses institutionellen Arrangements beeinflusst werden, sind Bedürfnisveränderungen nicht auszuschließen. Sich ändernde Interaktionsorientierungen (Hall 1986: 19) konfrontieren derart unter Umständen auch die Trägerakteure einer Institution mit veränderten Erwartungen der institutionellen Adressaten. Das kann dazu führen, dass auch bereits etablierte Institutionen zu verstärkter Legitimitätsbehauptung und zu erneuerten Funktions- und Bedürfnissynthesen gezwungen sein können, sollen sie nicht insgesamt an Strukturierungsmacht verlieren. Hierin liegt das dynamische Element einer jeden Institution. Institutionen ändern sich nicht so schnell wie Bedürfnisse der in und mit ihnen agierenden Akteure. Aber Institutionen sind auch längst nicht so statisch, wie gelegentlich suggeriert wird. 2.2 Institutionen als dynamische Konstellationen Von sozialwissenschaftlichem Interesse sind insofern vor allem Institutionalisierungsund ggf. Deinstitutionalisierungsprozesse. Dabei muss die Institutionenanalyse historisch gesättigt (Weinert 1997: 89) sein: Es geht darum, Institutionen als Resultat, aber auch als Gegenstand politischer Konfliktaustragungsprozesse zu begreifen. Institutionenwandel ergibt sich aus der Veränderung des Verhältnisses von institutioneller Effizienz und sozialer Legitimität im Zeitverlauf. Erst diese Perspektive erlaubt es, institutionellen Wandel jenseits von Beharrung und Niedergang als pfadabhängig, inkrementell und kumulativ zu erfassen (Lepsius 1997a, Thelen 2004). Institutionenanalyse kann sich daher nicht mit der Betrachtung bestehender Formen vorgefundener Institutionen begnügen. Sie muss notwendig die Geschichte eines institutionellen Arrangements in den Blick nehmen, also seinen Ursprung, seine Reproduktionsfähigkeit und seine Fähigkeit der Anpassung an sich ändernde Umwelten.
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In einem für die Institutionenforschung wegweisenden Aufsatz identifizieren Hall und Taylor (1996) zwei grundsätzliche, weitgehend getrennt voneinander entstandene Erklärungsansätze für Entstehung, Persistenz und Wandel von Institutionen: zum einen eine rationalistisch-utilitaristische Institutionentheorie (Rational Choice-Institutionalismus) und zum anderen eine soziologisch-konstruktivistische Institutionentheorie (Soziologischer Institutionalismus). Ihrer Auffassung nach können beide Ansätze einiges zur Erklärung von politischen Institutionen beitragen, weisen aber zugleich auch Erklärungsdefizite auf. Diese Defizite lassen sich überwinden durch Verbindung beider Ansätze zum überwölbenden, eklektizistischen Ansatz des Historischen Institutionalismus (vgl. Steinmo et al. 1992; Thelen 2002). Die beiden in ihn eingeflossenen Erklärungsansätze bezeichnen Hall und Taylor (1996: 939) als calculus approach und als cultural approach. Im Rahmen des calculus approach wird der instrumentelle, utilitaristische Charakter des Verhaltens von Akteuren betont. Akteure haben ein festes Set von Präferenzen, und ihr Verhalten ist instrumentell an diesen Präferenzen ausgerichtet. Sie agieren entsprechend strategisch und kalkulieren bewusst sowohl die Folgen ihres Verhaltens als auch die Verhaltensweisen anderer Akteure. Institutionen entstehen dieser Lesart zufolge als Möglichkeit der Überwindung von Dilemmata, die auftreten, wenn in interaktiven Zusammenhängen alle Akteure mit dem Ziel der Nutzenmaximierung ihre Präferenzen verfolgen. In solchen Situationen sichern Institutionen kooperatives Verhalten der beteiligten Akteure ab und statten sie mit Sicherheit über gegenwärtiges und zukünftiges Verhalten anderer Akteure aus. Dauerhaft sind Institutionen, wenn sie aus Sicht relevanter Akteure mehr Nutzen hervorbringen als andere institutionelle Lösungen, wenn sie also ein Nash-Gleichgewicht zur Überwindung kollektiver Dilemmata herstellen und aufrechterhalten. Hall und Taylor (1996) schreiben diesem Institutionenverständnis einen hohen Erklärungswert zu. Zugleich machen sie auf die Grenzen eines solchen Verständnisses der Entstehung und Verfestigung von Institutionen aufmerksam. Zum einen kritisieren sie den impliziten Funktionalismus eines solchen Verständnisses, weil es die Möglichkeit ineffizienter Institutionen definitionsgemäß ausschließt. Zum anderen erachten sie ein solches Verständnis als intentionalistisch und voluntaristisch, da es impliziert, dass Institutionen als Mittel strategischer Kalkulation willentlich in und außer Kraft gesetzt werden können. Damit wird das im Zusammenhang mit Institutionen stets mitlaufende Element der Verhaltensrestriktion und des bedingten Handlungszwangs deutlich relativiert, wenn nicht gar aufgehoben. Erst in Verbindung mit den theoretischen Annahmen des cultural approach, also der Betonung der kulturellen Anteile einer Institution können die Defizite rein rationalistischer Erklärungen überwunden werden. Diesem kulturalistischem Ansatz zufolge geben Institutionen nicht nur vor, wie sich ein Akteur verhalten sollte, sondern sie bestimmen auch den Rahmen, innerhalb dessen ein Akteur in einem gegebenen Kontext überhaupt Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt. Daraus folgt, dass Institutionen nicht nur die Handlungsstrategien, sondern auch die zugrunde liegenden Handlungs-
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präferenzen selbst beeinflussen. Das Verhalten von Akteuren ist entsprechend nicht vollständig strategisch, sondern wird begrenzt von deren individueller Weltsicht, ist geprägt von Routinen und vertrauten Verhaltensmustern zur Erreichung individueller Ziele und ist abhängig von Situationsdeutungen und -interpretationen. Insofern sind Institutionen nicht nur formale Regeln und Prozeduren, sondern auch Symbolsysteme und moralische Schablonen zur Rahmung menschlichen Verhaltens, die als Filter für Interpretationen dienen. Anders als im rationalistisch-kalkulatorischen Ansatz haben Institutionen damit auch das Potential, die Identität und das Selbstbild eines Akteurs zu beeinflussen. Und ebenfalls anders als im calculus approach leitet sich aus den Annahmen des cultural approach die Möglichkeit ab, dass Institutionen entstehen, weil durch sie das Handeln relevanter Akteure legitimiert werden kann, auch wenn dieses Handeln für andere Akteure von Nachteil bzw. in der Gesamtbetrachtung ineffizient ist (Hall, Taylor 1996: 949). Die in dieser Möglichkeit von Ineffizienzen implizit mitgedachten Machtungleichgewichte zwischen relevanten Akteuren bieten zugleich die Erklärung für die Persistenz von Institutionen. Sie bestehen, gerade weil viele ihrer Konventionen sich nicht ohne weiteres von einzelnen Akteuren ändern lassen. Substantielle Änderungen einer Institution bzw. Abweichungen von Entwicklungspfaden ergeben sich damit in der Regel aus außergewöhnlichen Ereignissen, so genannten critical junctures, die zu Verschiebungen von Machtverhältnissen und Durchsetzungschancen führen. In der Zusammenführung des calculus approach, der Akteursverhaltens als strategisch-kalkulierend beschreibt, und des cultural approach, der die Bedeutung von Routinen, Symbolen, Ideen und Machtverhältnissen für Akteursverhalten betont, entwickeln Hall und Taylor (1996: 955) eine Form von Akteurshandeln, dass innerhalb gewisser Schablonen strategisch sein kann. Sie messen jedoch nach wie vor den rationalistischen Erklärungsanteilen, die sich auf die mögliche Effizienz einer Institution beziehen, einen großen Stellenwert zu. An diesem Punkt setzt Piersons (2000b) Kritik an. Auch er schließt keineswegs aus, dass Institutionen zweckmäßige Konsequenzen für jene Akteure haben können, die diese Institution erschaffen haben. Allerdings hält er die Auffassung, Institutionen seien das Ergebnis intentionaler und weitsichtiger Entscheidungen zielgerichteter, instrumenteller Akteure, für zu simpel – und zwar selbst unter der kulturalistischen Einschränkung, dass von den institutionalistischen Effekten nicht alle beteiligten Akteure in gleicher Weise profitieren: Zum einen haben „institutionelle Designer“ nur selten einen so langen Zeithorizont, dass bereits bei der Erschaffung einer Institution ihr Wandel mit einkalkuliert, gleichsam vorprogrammiert werden kann. Institutioneller Wandel entzieht sich somit weitgehend dem Erklärungsmuster weitsichtiger, zielgerichteter Planung. Zum anderen steigt mit zunehmender sozialer Komplexität auch die Wahrscheinlichkeit unintendierter institutioneller Effekte, so dass die sichtbaren institutionellen Effekte weder intendiert noch antizipiert sein müssen. Aus diesen kognitiven Einschränkungen ergibt sich die Frage nach der Existenz und Persistenz von
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„Institutionen mit nichtfunktionalen Wurzeln“ (Pierson 2000b: 493). Oft, so Pierson, folgt die Beantwortung dieser Frage der Argumentationsfigur des emergenten Funktionalismus, also der Vorstellung, dass eine Institution dauerhaft Geltungskraft entfalten kann, weil sie im Laufe ihres Bestehens für beteiligte Akteure funktional wurde (Pierson 2000b: 486). Auch diese Denkfigur ist Pierson (2000b, 2000a) zufolge unterkomplex, da sie die vielschichtige Veränderungsresistenz von Institutionen zu wenig in den Blick nimmt: Diese Resistenz ergibt sich oft aus einem spezifischen Gründungsdesign, mit dem andere mögliche institutionelle Alternativen für die Zukunft ausgeschlossen werden sollen. In der Regel mit der Intention, in aktuell noch unbekannten Kontexten die Handlungsmöglichkeiten späterer Nachfolger zu beschränken, beschränken sich politische Akteure durch die Schaffung einer politischen Institution zugleich oft selbst, zum Beispiel durch schwer veränderbare konstitutionelle Festschreibung von institutionellen Arrangements. Verstärkt werden können institutionelle Veränderungsresistenzen einerseits durch die erwähnten kognitiven Grenzen der Akteure und die daraus abzuleitenden begrenzten Fähigkeiten der Selbst-Korrektur (Pierson 2000b: 489f.), andererseits durch „increasing returns“ (Pierson 2000a): Je länger institutionelle Verpflichtungen bestehen, umso höher sind die Kosten eines Abweichens von eingespielten Entwicklungspfaden, und zwar selbst dann, wenn unintendierte Konsequenzen sichtbar werden oder sich Präferenzen beteiligter Akteure ändern. Das begrenzt ihren Handlungsraum. Dieser fundamentalen Kritik Piersons am impliziten Funktionalismus vieler Institutionen-Erklärungen ist zwar entgegenzuhalten, dass sie selbst einseitig im rationalistischen Argumentationsbereich des calculus approach verbleibt. Zu wenig nimmt er die Erweiterung kulturalistischer Erklärungsansätze in den Blick, die darin besteht, dass Akteure nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre Präferenzen an gegebene Institutionen anpassen und selbst das Wirken dieser Institutionen im Laufe der Zeit deshalb für angemessen erachten können, weil sie unter den gegebenen einschränkenden Umständen zu optimalen Effekten führen. Dessen ungeachtet ist Piersons Hinweis für die Institutionanalyse von großer Bedeutung. Keineswegs kann man per se davon ausgehen, dass es Institutionen gibt und dass sie überdauern, weil sie funktional sind. Zumindest sollten bei Erklärungsversuchen zu Entstehung und Wandel von Institutionen funktionalistische Prämissen ersetzt werden durch funktionalistische Hypothesen; und diese funktionalistische Hypothesen sollten ergänzt und kontrastiert werden mit Hypothesen, die auf mögliche nichtfunktionale Wurzeln von Institutionen abheben (Pierson 2000b: 493ff). Das erfordert zwingend nicht nur eine Überwindung eines rein funktionalen Denkens, sondern auch eine intertemporale Betrachtung der Entwicklung von Institutionen. An dieser Grundanordnung einer Untersuchung im Sinne des Historischen Institutionalismus wird sich das weitere Vorgehen der vorliegenden Arbeit orientieren. Zunächst beleuchte ich den Gründungskontext der Institution „Tarifautonomie“. Ich
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werde zeigen, inwiefern insbesondere die Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes einen Kompromiss darstellt, der wesentlich auf das Wirken der amerikanischen Besatzungsmächte zurückgeht, denen an der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Strukturen gelegen war und die zu diesem Zweck die in Weimarer Tradition stehenden staatskorporatistischen Ambitionen der zuständigen deutschen Behörden ebenso zurückwiesen wie die Sozialisierungs- und Gemeinwirtschaftsvorstellungen großer Teile der Gewerkschaften (Kapitel 3.1). Im Weiteren schildere ich die Verfestigung der Institution „Tarifautonomie“ (Kapitel 3.2). Diese Institutionalisierung ergibt sich nicht nur aus der zunehmenden Akzeptanz der Tarifautonomie infolge der Festschreibung der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz. Sie ist vor allem auch im Zusammenhang zu sehen mit der Durchsetzung der Konzeption der „Sozialen Marktwirtschaft“. Insgesamt ist hier zu zeigen, dass durch die Anbindung der Tarifautonomie an das Konstrukt der „Sozialen Marktwirtschaft“ die Gewerkschaften trotz vorhandener Skepsis subtil gezwungen waren, bei ihrem Handeln die Dominanz marktwirtschaftlicher Strukturen anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund verloren in der weiteren Entwicklung die zentralistischen und staatskorporatistischen Präferenzen der relevanten staatlichen Akteure der „Gründerjahre“ der Bundesrepublik bald an Bedeutung. Schließlich werden die verfassungsrechtlichen Mechanismen beleuchtet, die dazu führen, dass die Institution Tarifautonomie trotz ihrer Verfestigung anpassungsfähig an sich ändernde Verhältnisse und Interessenstrukturen ist (Kapitel 3.3). An diese Ausführungen anschließend untersuche ich dann, inwieweit Effekte der Tarifautonomie mit Interessen staatlicher Akteure vereinbar sind. Ich unterstelle also nicht von vornherein, dass die Dauerhaftigkeit der Institution Tarifautonomie, in Piersons Terminologie, ein Beleg ihrer „Funktionalität“ ist. Vielmehr gehe ich von der Möglichkeit aus, dass einige Effekte des tarifverbandlichen Handelns für staatliche Akteure Entlastungs-, andere hingegen Belastungswirkungen haben können. Damit prüfe ich also funktionalistische Hypothesen (Pierson 2000b: 493). Ein geeigneter analytischer Bezugspunkt dafür ist das Konzept des Interesses des Staates an sich selbst (Kapitel 4). Dieser Untersuchungsschritt hat das Ergebnis, dass die Institution „Tarifautonomie“ zu Effekten führt oder führen kann, die den Interessen staatlicher Akteure zuwiderlaufen (Kapitel 5). Daraus leitet sich das Bedürfnis staatlicher Akteure ab, auf die Bedingungen, Inhalte und Grenzen tarifautonomer Regulierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen in ihrem Sinne einzuwirken. Diese Einwirkungsbemühungen staatlicher Akteure werden als institutionelles Flexibilitätsmanagement vorgestellt und die diesbezüglichen Möglichkeiten systematisiert und zu Hypothesen verarbeitet (Kapitel 6), die dann im Weiteren an fünf Fallbeispielen überprüft werden.
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3 cultural approach: Bindung und Selbstbindung der Gewerkschaften
3.1 Institutionengründung: Entstehung und Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes Die bis heute im Wesentlichen unverändert gebliebenen gesetzlichen Grundlagen der Tarifautonomie verdanken ihre Existenz zweier Spezifika der jüngeren deutschen Geschichte. Sie sind Folge einer spezifischen Konstellation von Kontinuität und Innovation, in deren Summe die Tarifautonomie in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich ein Unikum darstellt (Pyhel 2004; Avilés 2004). Einerseits gab es in der Weimarer Republik, also dem Deutschland der Zwischenkriegszeit, bereits eine Tendenz zum freien Tarifrecht (Homburg 2000; Zippelius 1999: 130; Grevelhörster 2000: 41), wenngleich die Gestaltung der Arbeitsbedingungen staatlichen Eingriffen in Form der Zwangsschlichtung ausgesetzt blieb (Preller 1978: 509ff.; Schönhoven 2003: 48ff.). Nur vor dem Hintergrund dieser Tendenz zur Staatsfreiheit des Tarifsystems in der Zwischenkriegszeit ist die Nachkriegsentwicklung des Verhältnisses von Tarifverbänden und Staat verstehbar. Andererseits stellte die Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg und die sich anschließende, vorübergehende politische Kontrolle Westdeutschlands durch die westlichen Alliierten ein Möglichkeitsfenster und eine Bruchstelle (in institutionalistischer Terminologie: ein critical juncture) der historischen Entwicklung dar, die in deutlichem Kontrast stand zur politisch-institutionellen Kontinuität in anderen Ländern. Seit Mai 1946 hatte in der amerikanischen Besatzungszone eine Verordnung über Abschluss und Inhalt von Tarifverträgen Geltung, die Gewerkschaften und Arbeitgeber(verbände) zur Vereinbarung von Verträgen über Löhne und andere Arbeitsbedingungen ermächtigte. Wesentliche Intention dieser Verordnung war die Wiederzulassung von Tarifverbänden nach dem Betätigungsverbot während der Zeit des Nationalsozialismus. Die rechtliche Wirksamkeit dieser Verordnung war allerdings sehr gering; sie kollidierte mit dem seit Kriegsende geltenden und mit der Direktive Nr. 14 des Alliierten Kontrollrates vom Oktober 1945 untermauerten Lohnstopp. Diese Direktive Nr. 14 verknüpfte darüber hinaus die Wirksamkeit eines Tarifvertrages mit dem Zustimmungsvorbehalt der deutschen Arbeitsämter und mit der Registrierung bei der zuständigen deutschen Arbeitsbehörde (Richardi, Thiel 2001: 177).
Als organisatorische Nachfolger des Reichsarbeitsministeriums und Vorläufer des 1949 gegründeten Bundesministeriums für Arbeit (vgl. Schmuhl 2003: 361-365; Schulz 2005a: 20) waren das Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone (ZfA) und später die Verwaltung für Arbeit des wiedervereinigten Wirtschaftsgebietes (VfA) für den Entwurf einer Nachfolgeregelung der Alliierten Direktive zuständig. Dort hatte man eine Regelung des Tarifvertragsrechts im Auge, die sich an den entsprechenden Normen der Zwischenkriegszeit und – mit Ausnahme des Lohnstopps, der im November 1948 aufgehoben wurde – an den Vorgaben der Kontrollratsdirektive Nr. 14 orientierte. Diesem Modell zufolge hätten Tarifverträge nur durch die Eintragung in ein Tarifregister nach materieller Prüfung der registerführenden Behörde Gültigkeit erlangen können (Nautz 1991: 142ff., 179). Dieses Tarifrecht sollte zudem – ebenfalls in Anlehnung an die Regelungen der Zwischenkriegszeit – ergänzt werden um eine staatsinterventionistische Schlichtungsgesetzgebung. Die Umsetzung einer solchen Gesetzgebung konnte in dieser Phase der extrem dynamischen Nachkriegsentwicklung freilich nicht im Interesse der Tarifpartner sein – und zwar der Gewerkschaften wie der Arbeitgeberverbände gleichermaßen (Bührer 2006: 21). Mit der Intention, dem Verwaltungsentwurf zuvorzukommen, legten die Gewerkschaften daher in enger Abstimmung mit den Arbeitgebern ein Gegenkonzept zum Modell der ZfA/ VfA vor, das als Gesetzentwurf über die SPD im November 1948 in die parlamentarische Debatte eingebracht wurde und nahezu unverändert als Tarifvertragsgesetz im April 1949 in Kraft trat (vgl. Nipperdey 1949). Offensichtlich war es den federführenden Akteuren in den zuständigen Arbeitsverwaltungen trotz eigener fortgeschrittener Entwurfsarbeiten nicht gelungen, ihre Regelungsvorstellungen durchzusetzen. Dennoch war die in das Tarifvertragsgesetz mündende Gewerkschaftsinitiative keineswegs die Machtdemonstration gegenüber schwachen staatlichen Akteuren, als die sie aus heutiger Sicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Verständigung auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen im Gewerkschaftslager über die Grundziele zukünftigen Wirkens (Schmidt 1971 passim). Die Gewerkschaften waren zutiefst gespalten in der Frage der anzustrebenden Wirtschaftsordnung; es standen sich gegenüber einerseits Verfechter einer weit reichend sozialisierten, staatlich geplanten Wirtschaft mit ausgedehnten gewerkschaftlichen Mitbestimmungsrechten, jedoch entsprechend stark eingeschränkter Tarifvertragsfreiheit und andererseits Befürworter einer uneingeschränkten Tarifautonomie unter grundlegender Anerkennung eines freien Wirtschaftslebens (Nautz 1991: 188f.). Noch im Frühjahr 1947 hatte die erstgenannte Position durchaus Aussicht auf Durchsetzung: im Winter 1946/47 war die sich ohnehin nur langsam entwickelnde westdeutsche Wirtschaft „vollständig und nachhaltig“ (Abelshauser 2004: 115) zusammengebrochen, es kam zu – nicht zuletzt gewerkschaftlich organisierten – Hungermärschen, Unruhen und Arbeitskämpfen. In den westlichen Besatzungszonen herrschte „so etwas wie eine sozialistische Grundstimmung“ (Schneider 2000: 261).
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Angesichts dieser unübersehbaren Unmutsbekundungen, aber auch aus Gründen des Systemwettbewerbes mit der Sowjetischen Besatzungszone sahen sich die angelsächsischen Militärregierungen in Westdeutschland dem Druck ausgesetzt, diese „Lähmungskrise“ alsbald zu überwinden (Fichter 1982: 251f.) und die Maßnahmen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau zu intensivieren (Abelshauser 2004: 115). Ab Mitte 1947 wurden die Bewirtschaftungsmaßnahmen zunehmend gelockert. Eine solche Politik erschien den Alliierten als bestgeeignet, „den bei der Arbeitnehmerschaft herrschenden Mangelzustand abzubauen und so eine größere Gefährdung der von den USA verfolgten ‚Containment-Politik’ und einer damit einhergehenden Westintegration der westlichen Besatzungszonen durch innenpolitische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Eine solche Politik traf sich mit der von der CDU in zunehmendem Maße verfolgten Ausrichtung der wirtschaftspolitischen Ziele auf das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft“ (Nautz 1991: 181). Mit den von den Militärregierungen ergriffenen Maßnahmen4 konnten in der Tat bedeutende Verbesserungen erreicht werden. Ein Übriges tat der wirtschaftliche Aufschwung nach der Währungsreform im Juni 1948. Im Kontext dieser Reform wurde unter anderem das so genannte Leitsätzegesetz verabschiedet, mit dem planwirtschaftlichen Bestrebungen eine Absage erteilt und de facto der Weg zur Marktwirtschaft eingeschlagen wurde (Wengst 2001a: 62f.). Die wirtschaftlichen Erfolge nach der Währungsreform galten den Alliierten – und mit ihnen den deutschen Verfechtern des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft – damit zugleich als Beleg dafür, dass auch ohne weit reichende Sozialisierung der Schlüsselindustrien wirtschaftliche und soziale Fortschritte möglich waren. In der Folge verlor das Konzept der Sozialisierung und Gemeinwirtschaft beträchtlich an Unterstützung bei der Gewerkschaftsbasis (Schönhoven 2003: 53). Der vom Wirtschaftsrat, dem gesetzgebenden organisatorischen Vorläufer des Bundesministeriums für Wirtschaft, verfolgten Hinwendung zur Sozialen Marktwirtschaft konnten die Gewerkschaften nicht mehr nur mit einer Forderung nach Planwirtschaft begegnen, wollten sie nicht von der Gestaltung der zukünftigen Wirtschafts- und Sozialordnung ausgeschlossen werden (Nautz 1991: 190). Entsprechend gewannen die pragmatischen Flügel in den Gewerkschaftsgremien an Einfluss. Da auch die angelsächsischen Besatzungsmächte pragmatisch agierten – ihr Interesse an stabilen Verhältnissen in Westdeutschland war ja primär außenpolitisch begründet –, entschieden sie sich, was den wirtschaftlichen Aufbau Westdeutschlands anging, jeweils für die Alternative, die „den Vorzug [hatte], ohne komplizierte institutionelle Neuordnung, die Reibungsverluste befürchten ließ, realisierbar zu sein“ (Abelshauser 2004: 154). Mit gleichsam wohlwollendem Desinteresse unterstützt 4
Etwa Verzicht auf weitere Demontagen und Reparationsleistungen, Wohnungsbauprogramme, Programme zur Steigerung der Kohleförderung, der Kraftwerksleistung und der Eisen- und Stahlindustrie sowie zur Beschleunigung der Instandsetzung der Infrastruktur im Verkehrsbereich, Verteilung von Carepaketen, Stabilisierung der Nahrungsmittelversorgung, Aufschub von Sozialisierungsmaßnahmen u.ä., vgl. ausführlich Abelshauser 2004: 104, 114-119.
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wurden dementsprechend in Fragen der allgemeinen Wirtschaftsordnung die Vertreter des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft mit Ludwig Erhard an der Spitze, doch nicht so sehr um ihrer selbst willen, sondern um auf diese Weise Bestrebungen nach Sozialisierungen und Gemeinwirtschaft zu behindern (Abelshauser 2004: 189). Und in Fragen der Lohn- und Mitbestimmungspolitik unterstützen die Alliierten jene Gewerkschaftsfunktionäre, die gemäßigte, in freie Wirtschaftsprozesse eingebundene, autonome Gewerkschaften befürworteten; wenngleich auch hier nicht um ihrer selbst willen, sondern um so den gewerkschaftlichen Verfechtern von Sozialisierungen und Gemeinwirtschaft den Boden zu entziehen (Fichter 1982: 266, 274ff.). Die Stützung der pragmatischen und gemäßigten Teile der Gewerkschaftsführungen konnte aber nur erfolgreich sein, wenn zugleich deren Hauptforderung mit unterstützt wurde. Deshalb legten die Militärregierungen dem Gesetzentwurf der Verbände keine Steine in den Weg, auch wenn das bedeutete, die Arbeit der offiziellen Arbeitsverwaltungen zu desavouieren. Unter den gegebenen Verhältnissen waren also die zuständigen staatlichen Akteure nicht in der Lage, eine aus ihrer Sicht günstigere Regelung durchzusetzen. Die Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes ist somit zwar auf durchaus schwache staatliche Akteure, deshalb aber keineswegs auf starke Verbände zurückzuführen. Maßgeblich war vielmehr die charakteristisch indifferente Position der amerikanischen Besatzungsmacht, die den Wiederaufbau auf dem Weg des geringsten Widerstandes vorantreiben wollte, primär aus diesem Grund dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft den Vorzug vor Gemeinwirtschaftsmodellen gab (Schmidt 1971: 99) und im Zuge dieser Entscheidung dem Tarifvertragsgesetz zur Durchsetzung verhalf. Aus Sicht der Gewerkschaften war somit das Zustandekommen des Tarifvertragsgesetzes dem Zwang des Faktischen geschuldet: die Wiederbelebung der Marktwirtschaft schuf ökonomische Fakten und mentale Dispositionen (Schönhoven 2003: 53), die die Gewerkschaften nur um den Preis ihres Bedeutungsverlustes ignorieren konnten. Unter dem Eindruck der Verhältnisse akzeptierten sie die Stellung des Privateigentums und aus diesem heraus eine Wirtschaftsordnung, deren Grundlagen in einer zwar politisch beeinflussten, aber eben doch Wettbewerbswirtschaft zu suchen sind. Gewissermaßen als Gegenleistung für diese Systemakzeptanz schwebte den Gewerkschaften ein liberaler Korporatismus als Ziel vor, dessen Grundlage die Autonomie der Tarifverbände der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite sein sollte (Nautz 1985: 160). Voraussetzung hierfür war ein Tarifvertragsgesetz, dessen Entstehungsgeschichte zugleich auf eine weitgehende gegenseitige Anerkennung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und auf deren Interessenidentität bezüglich bestandssichernder Regularien (Lepsius 1990: 73) verweist. Das gemeinsame Vorgehen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gegen staatliche Interventionsmöglichkeiten blieb im Übrigen nicht auf das Zustandekommen des Tarifvertragsgesetzes in den Jahren 1948 und 1949 beschränkt. Noch während der Gesetzgebungsphase des Tarifvertragsgesetzes und wohl primär zu
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dessen Flankierung legten Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen in der Bizone den gemeinschaftlich erarbeiteten „Entwurf eines Gesetzes betreffend Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vor (vgl. RdA 1949: 177-178). Auch späteren Bestrebungen der Bundesregierung, ein gesetzliches Schlichtungsrecht bundeseinheitlich zu erlassen, traten die Sozialpartner geschlossen entgegen, zum Beispiel mit der Hattenheimer Vereinbarung vom Januar 1950. Ein vorläufiges Ende der diesbezüglichen Diskussion konnten sie jedoch erst herbeiführen, indem sie sich angesichts einer drohenden gesetzlichen Regelung in der Vereinbarung von Margarethenhof (September 1954) im Gegenzug selbst verpflichteten, ein den Interessen der Allgemeinheit an wirtschaftlicher Stabilität angemessenes, autonomes Schlichtungssystem einzuführen (Schulz 2005b; Richardi 2005). Auch auf eine Initiative der FDP zur Neuregelung des prozeduralen Rahmens von Schlichtungsverfahren im Jahr 1960 reagierten DGB und BDA getrennt, aber abgestimmt: Sie verwiesen nicht nur auf das grundsätzliche „Margarethenhof-Abkommen“ und auf bestehende Schlichtungsvereinbarungen zwischen einzelnen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Sie machten auch darauf aufmerksam, dass selbst in Wirtschaftszweigen, in den keine Schlichtungsvereinbarungen bestehen, „die Tarifvertragsparteien sich bisher aber immer auf dem Weg der Verhandlung geeinigt haben“ (vgl. die Dokumentation in RdA 1961: 70). Offensichtlich hatten sich die Machtverhältnisse zwischenzeitlich deutlich verschoben, das staatliche Kontrollbedürfnis jedoch nicht abgenommen. Gesetzlichen Regelungen konnten sich die Verbände nur noch dadurch entziehen, dass sie sich zur Regelung der fraglichen Materie in systemkonformer Weise bereit erklärten – eine Konstellation, die sich beschreiben lässt als Wahrung der Handlungsfreiheit durch Selbsteinschränkung der Handlungsfreiheit angesichts drohender Fremdeinschränkung der Handlungsfreiheit. Insgesamt ist dieses nicht ganz freiwillige, aber letztlich sehr deutliche Bekenntnis der Gewerkschaften gegen staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens sowie die mehrheitliche Zustimmung zu einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft, die sich in den 1950er Jahren durchsetzte, seit jener Zeit bis heute die Grundlage des gewerkschaftlichen Handelns in der Bundesrepublik (Lepsius 1990: 77; Kaufmann 2003: 149). Schon im unmittelbaren Kontext der Inkraftsetzung des Tarifvertragsgesetzes war sich der spätere erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Nipperdey (1949: 82) sicher: „Die Regelung musste auf der Grundlage der freien Autonomie der Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen erfolgen. Die Allgemeinheit konnte in die großen repräsentativen Organisationen das Vertrauen setzen, dass sie verantwortungsbewußt und sachkundig die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber wie die der Gesamtheit wahrend die Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen vornehmen. Die Verbände werden dieses Vertrauen nicht enttäuschen.“ Wengst (2001b: 116) bestätigt rückblickend das Eintreten der Prognose Nipperdeys. In den gemeinsamen Anstrengungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften „…fand ein Grundkompromiss der Tarifparteien seinen Ausdruck, der auf die künftige Ent-
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wicklung der Bundesrepublik erhebliche Auswirkungen gehabt hat. Das in der Besatzungszeit in der Bizone gestaltete Tarifvertragsrecht mit der darin festgeschriebenen Tarifautonomie entlastete den Staat und zwang die Tarifparteien zur Übernahme wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung, womit sie Gesellschaft und Wirtschaft aufs ganze gesehen stabilisiert haben.“ Aus der Entstehungs- und frühen Etablierungsgeschichte des Tarifvertragsgesetzes lässt sich aber zugleich erkennen, dass die von Wengst angesprochenen Entlastungseffekte der Tarifautonomie zugunsten des Staates von staatlichen Akteuren selbst zumindest in den ersten Jahren nicht wahrgenommen wurden. In den zuständigen Behörden blieb bis weit in die 1950er Jahre hinein der staatskorporatistische Ansatz dominant, der gegenüber dem letztlich durchgesetzten liberalkorporatistischen Ansatz eine wesentlich stärkere Beteiligung des Staates an der Tarifgestaltung vorsah. 3.2 Institutionenverfestigung: der (prekäre) Zusammenhang von Tarifhoheit und Sozialer Marktwirtschaft Das beschriebene Zustandekommen des Tarifvertragsgesetzes im Kontext der Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen Ordnung Ende der 1940er Jahre lässt sich als ein Arrangement zur Integration von Interessengegensätzen relevanter Akteure betrachten. Dieses Arrangement bedurfte der sozialen Legitimierung all jenen gegenüber, die, wie die Akteure in den Arbeitsverwaltungen, eine andere institutionelle Form der lohnpolitischen Kompetenzen der Tarifverbände oder gar, wie Teile der Gewerkschaften, eine weitgehend andere wirtschaftliche Grundverfassung präferierten (Richardi, Thiel 2001: 179). Eine derartige Legitimierung erfolgt zu einem wesentlichen Teil semantisch. Dass die in einer Marktwirtschaft unvermeidlichen Konflikte nicht ein die bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen bestandsgefährdendes Ausmaß erreichten, verdankt sich wesentlich dem Konstrukt der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses Konzept war die ordnungspolitische Leitidee der Nachkriegszeit. Es geht ideengeschichtlich zurück auf die Konzeptionen des Ordo- und des Neoliberalismus sowie auf die christliche Sozialethik. In ihrer ursprünglichen, d.h. insbesondere von Alfred Müller-Armack ausgearbeiteten und von Wirtschaftsminister Ludwig Ehrhard postulierten und pragmatisch praktizierten Form ist Soziale Marktwirtschaft ein Ordnungskonzept, das gekennzeichnet ist durch (sozial motivierte) Markteingriffe des Staates, die jedoch den Vorrang marktwirtschaftlicher Abläufe an sich nicht in Frage stellen, sondern zum Funktionieren des Marktes beitragen sollen, indem Verzerrungen eines freien Wettbewerbes unterbunden werden. Die Protagonisten des Konzeptes befürworteten damit zwar grundsätzlich die Freiheit wirtschaftlichen Handelns, indem sie eigenverantwortliches Handeln im Sinne des Subsidiaritätsprinzips in den Vorder-
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grund stellten (Sturm 1995: 85) und darauf verwiesen, dass die Marktwirtschaft schon allein wegen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wegen der Gewährung wirtschaftlicher Freiheitsrechte ohnehin sozialen Charakter trage (vgl. Lampert 1997: 91f.). Zugleich hebt das Konzept aber die bedeutsame Regulierungs-, Kontroll- und Gestaltungsfunktion des Staates hervor (Rauhut 2000). Dessen Aufgabe sei es, die Spielregeln der Marktwirtschaft auf das Gemeinwohl zu verpflichten (Abelshauser 2004: 191) und Marktfreiheit dort zu beschränken, wo sie Ergebnisse zeitigt, die nach den Wertvorstellungen der Gesellschaft nicht sozial genug erscheinen (Lampert 1997: 92). Somit habe der Staat nicht nur freien Wettbewerb zu schützen, sondern vor allem auch die Einkommens- und Vermögensverteilung zu steuern. Der oft zitierte Grundgedanke der Sozialen Marktwirtschaft sollte sein, „...das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (Müller-Armack 1966b: 243). Diese Idee des Ausgleichs, diese programmatische Synthese von liberaler Marktwirtschaft und Wirtschaftslenkung (Müller-Armack 1966a [1948]: 109) trug alle Voraussetzungen einer Institutionalisierung in sich: Das Konzept vermittelte zwischen zwei grundlegenden Werthaltungen und war in einer Weise griffig und komplexitätsreduzierend, dass es als Idee bei politischen Akteuren wie auch in der Bevölkerung schnell Verbreitung fand und als Basiskonsens (Neidhardt 2000) auf weit verbreitete Akzeptanz stieß. Es war allgemein genug gehalten, so dass sich nahezu jedes interessengeleitete Handeln relativ problemlos mit ihr in (argumentative) Übereinstimmung bringen ließ (vgl. Lessenich 2003a: 117-131). Und es hatte mit dem werbewirksamen Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ein Symbolizitätsniveau erreicht, auf dem einer Institutionalisierung und Verselbständigung nichts mehr entgegenstand. Durch die gesamte Geschichte der Bundesrepublik hinweg rief der Ordnungsanspruch der Sozialen Marktwirtschaft positive Assoziationen hervor. Akteure aus nahezu allen politischen Lagern (Schui 2005) bedienen sich affirmativ des symbolischen Begriffsgehalts – und müssen es tun, um im Kontext der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik ernst genommen zu werden (Nonhoff 2006: 379). Das spricht für die immense Verfestigung des Begriffs; einerseits ganz im Sinne seines wissenschaftlichen Begründers, für den Soziale Marktwirtschaft mehr ist „als ein ethischer Appell, denn es geht durchweg um die institutionelle Verankerung ihres Doppelprinzips in der Wirtschaftsordnung“ (Müller-Armack 1966a [1952]: 242, Hervorh. von mir), andererseits im Sinne diskursiver Hegemonie als fortgesetzt reproduzierte Vorherrschaft einer bestimmten Konstellation gesellschaftlich geteilten Sinns (Nonhoff 2006: 11). Aus institutionentheoretischer Perspektive ist das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft eine Bedürfnis- und Funktionssynthese (Schelsky 1970: 19). Sich auf die Soziale Marktwirtschaft berufende politische Maßnahmen erheben den Anspruch, sowohl freiheitliche als auch soziale Prinzipien zu berücksichtigen, zwischen beiden zu vermitteln und diesem Leitdifferenz-System durch entsprechende Rationalisierung zu handlungsstrukturierender Geltungsmacht zu verhelfen. Freilich liegt auf der Hand, dass noch so ausformulierte Ordnungs- und Verteilungskonzepte der Komplexität ge-
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sellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung über Jahrzehnte hinweg nicht gerecht werden können. Nur mit ihrer hegemonialen Stellung im wirtschaftspolitischen Diskurs der Bundesrepublik (Nonhoff 2006: 15) bei zugleich im Zeitverlauf zunehmender Unbestimmtheit und fortschreitender Reduzierung auf ein Symbol (Kaufmann 2003: 132) ist zu erklären, dass die Idee der Sozialen Marktwirtschaft bis heute ihr positives Image und ihre zentrale Stellung bei der praktischen Politikformulierung und -begründung hat bewahren können. „Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik blieb ... von Beginn an eine politisch interpretierte und interpretierbare Ordnung“ (Sturm 1995: 84); sie ist insofern vor allem ein Postulat (Abelshauser 2004: 163), über dessen Inhalt keineswegs Konsens besteht (Nonhoff 2006: 10) und aus dem somit Art und Umfang entsprechender staatlicher Aktivitäten nicht abschließend bestimmt werden können (Hardes et al. 1990: 39). Bezeichnenderweise ist die Verbindung der freiheitlichen und sozialen Prinzipien im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in politisch verbindlicher, inhaltlich jedoch sehr unbestimmter Form erstmals überhaupt aufgelistet im Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990.5 Unabhängig von der Frage, ob das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft überhaupt je als konkrete Vorgabe für politische Steuerung diente, ist demnach zu konstatieren, dass es sich als flexible, je nach Situation einsetzbare Begründung für politische Steuerung hervorragend eignete und nach wie vor eignet. Als Rechtfertigung für politisches Handeln hat die Idee der Sozialen Marktwirtschaft ganz offensichtlich an Akzeptanz und Argumentationskraft seit den späten 1940er Jahren nicht eingebüßt. Sie ist, im Gegenteil, als Leitidee ein fester und stabiler Bestandteil politischer Rhetorik (in) der Bundesrepublik. Die in Fragen der Wirtschaftsverfassung partiell erzwungene pragmatische Position der Gewerkschaften ließ sich aus Sicht staatlicher Akteure ohne größere Schwierigkeiten in diese Leitidee einpassen. Sie konnten durch Berufung auf die Soziale Marktwirtschaft das Bild vermitteln, dass sie die Rolle unabhängiger Tarifverbände innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung insgesamt respektieren, die Verbände in ihre Steuerungsbemühungen einbeziehen, den Umverteilungsanspruch der Gewerkschaften legitimieren und die Arbeitgeber auf soziales Handeln verpflichten. Zugleich ließ sich der Steuerungsanspruch des Staates aufrechterhalten. In den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU hieß es: 5
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Artikel 1, Absatz 3: Grundlage der Wirtschaftsunion ist die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien. Sie wird insbesondere bestimmt durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen... Artikel 1, Absatz 4: Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit. Sie wird insbesondere bestimmt durch eine der Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung.
Zur Verwirklichung der sozialen Marktwirtschaft stellen wir folgende Leitsätze auf: … Die Bildung von Löhnen und die Festsetzung von Arbeitsbedingungen muß dem Tarifvertragssystem überlassen sein. Leistungslohn und Lohnerhöhungen im Rahmen marktwirtschaftlicher richtiger Preise sind zu bejahen. … Die Tariflöhne sind durch freie Vereinbarungen zwischen den Vertretern der Arbeitnehmer und Unternehmer festzusetzen. […] Das Tarifvertragsrecht ist gesetzlich zu verankern und das Schlichtungswesen ist auszubauen. Düsseldorfer Leitsätze der CDU vom 15. Juli 1949
Für die Diskursgeschichte der „Sozialen Marktwirtschaft“ sind diese Düsseldorfer Leitsätze der CDU vom Frühjahr 1949 zentral. In ihnen wurde die programmatische Konstruktion der Sozialen Marktwirtschaft parteipolitisch verankert (Nonhoff 2006: 328). Damit wurde die Konzeption von den Spezifika der unmittelbaren Nachkriegsjahre isoliert und auf die Zukunft ausgedehnt. Über Jahrzehnte hinaus fand der wirtschafts- und sozialpolitische Steuerungsanspruch der CDU in der „Sozialen Marktwirtschaft“ seinen Begriff. Nur im Entstehungszusammenhang mit der sich gerade etablierenden, überwölbenden Leitidee „Soziale Marktwirtschaft“ und damit letztlich als ihr Bestandteil erlangte die Tarifvertragsautonomie im Jahr 1949 Gesetzesform und Verfassungsgarantie. Mittlerweile gilt die tarifautonome Sozialpartnerschaft als wesentliches Element der Sozialen Marktwirtschaft (Lampert 1997; Schmidt 2005: 38). Im politischen Vokabular steht die Tarifautonomie als begriffliche Konkretisierung der „Sozialen Marktwirtschaft“ in einer Reihe von (bzw. sogar in Äquivalenzrelation zu anderen) Begriffen des ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Vokabulars, etwa „freie Preisbildung“, „Freizügigkeit“, „Geldwertstabilität“, „Gewerbefreiheit“, „Leistungswettbewerb“, „Marktwirtschaft“, „Soziale Sicherheit“, „Sozialpartnerschaft“, „Sozialstaat“, „Wettbewerb“ oder „Wettbewerbsordnung“ (vgl. Nonhoff 2006: 83). In institutionalistischer Terminologie kann somit die Tarifautonomie als eine der Rationalisierungsformen der Leitidee „Soziale Marktwirtschaft“ gelten (Lepsius 1995a: 399; 1997a: 61; Offe 1972b: 180; 2006b: 48). Die Gewerkschaften selbst taten sich mit einer fraglosen Einordnung in das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft deutlich schwerer. Faktisch hatten sie dem politischen Kardinalanspruch, „Wohlstand für alle“ zu schaffen, wenig entgegenzusetzen, zumal ja der nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich einsetzende enorme und überall spürbare wirtschaftliche Aufschwung allgemein als Erfolg der Umsetzung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft gedeutet wurde. Nur durch Bezugnahme auf diesen günstigen, der „Sozialen Marktwirtschaft“ zugeschriebenen wirtschaftlichen Kontext konnten die Gewerkschaftsführungen ihren weitgehenden Verzicht auf gemeinwirtschaftliche Ambitionen legitimieren gegenüber all jenen Gewerkschaftsmitgliedern, die mit dieser Form der Wirtschaftsordnung sympathisierten. Für ein entsprechendes Bekenntnis zur „Sozialen Marktwirtschaft“ war zwar die Interpretationsoffenheit des Begriffs von Vorteil, weil sich konkrete, gar justiziable Verhaltensanfor-
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derungen daraus nicht ableiten lassen (Sturm 1999). Andererseits gewinnt die „Soziale Marktwirtschaft“ erst Sinn, indem sie regelmäßig in sachlicher Differenz und programmatischer Abgrenzung zu anderen möglichen Leitvokabeln, etwa „Planwirtschaft“ oder „Sozialistische Marktwirtschaft“, artikuliert wird (Nonhoff 2006: 82). Zumindest in diesem Punkt ist also die Formel „Soziale Marktwirtschaft“ – und damit auch ein Bekenntnis zu ihr – sehr konkret: Grundlage und Fixpunkt aller wie auch immer gearteten Aktivitäten politischer Akteure und der Beziehungen zwischen politischen Akteuren ist eine nach Marktprinzipien strukturierte, vom Privateigentum und vom Kapitalverwertungsprinzip geprägte Wirtschaftsordnung. An dieser zumindest impliziten Abgrenzung der Sozialen Marktwirtschaft anderen Modellen gegenüber entzünden sich bis heute Flügelkonflikte innerhalb der Gewerkschaften. Die Lagerbildung zwischen jenen, die an den Nachkriegsforderungen nach Gemeineigentum, weit reichender Mitbestimmung und volkswirtschaftlicher Planung festhalten und jenen, die die Gewerkschaften mehr als Ordnungsfaktor und Partner der Arbeitgeber innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft denn als Gegenmacht zum Kapital verstehen, besteht unverändert fort (Bontrup 2000: 122; Schui 2005) und verstärkt sich gar in jüngster Zeit wieder (Kädtler 2006: 317ff., vgl. auch Simon 2006: 46). Das führt, etwa im aktuellen Grundsatzprogramm des DGB von 1996, zu prägnanten Kompromissformeln zwischen den „unterschiedlichen politisch-wirtschaftlichen Positionen um die grundsätzliche Haltung zur Marktwirtschaft“ (Bontrup 2000: 122). Nicht nur wird die rein affirmative Nutzung der Vokabel „Soziale Marktwirtschaft“ vermieden, sondern darüber hinaus die „gegenwärtige demokratische und sozialstaatliche Ordnung“ relativiert, da sie „keineswegs stabil und für alle Zeiten gesichert“ ist (DGB 1996: 21): Die sozial regulierte Marktwirtschaft bedeutet gegenüber einem ungebändigten Kapitalismus einen großen historischen Fortschritt. Die soziale Marktwirtschaft hat einen hohen materiellen Wohlstand bewirkt. Die soziale Regulierung – vor allem durch die Gewerkschaften – hat gewährleistet, dass breite Bevölkerungsschichten an diesem Wohlstand teilhaben konnten. Aber auch die soziale Marktwirtschaft hat weder Massenarbeitslosigkeit noch Ressourcenverschwendung verhindert; auch sie hat soziale Gerechtigkeit nicht hergestellt. Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB 1996: 21)
Erklären lässt sich diese zwar nicht dominante, aber durchaus verbreitete innergewerkschaftlichen Skepsis gegenüber dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft mit der Unsicherheit darüber, ob die Tarifautonomie innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft der Umsetzung freiheitlicher oder regulativ-sozialer Prinzipien dient. Richtet man den Fokus auf die regulativ-soziale Dimension der Sozialen Marktwirtschaft, dann lassen sich einerseits die Rolle des Staates und seine umfassende Berechtigung zur Gestaltung von Marktprozessen betonen. Aus dieser Perspektive verfolgen autonom agierende Sozialpartner freiheitliche, staatsfreie, letztlich marktkonforme Prinzipien
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innerhalb des Konstrukts der Sozialen Marktwirtschaft. Das aber schließt die Möglichkeit von Marktversagen und sozialpartnerschaftlicher Gemeinwohlverfehlung prinzipiell ein und berechtigt staatliche Akteure zu verschärfter Beobachtung tarifautonomen Geschehens und notfalls zu Interventionen. Zum anderen lässt sich die Idee des sozialen Ausgleichs hervorheben, wodurch die Umverteilungswirkungen tarifautonomen Handelns, also gerade der Marktfreiheit beschränkende Beitrag der Tarifautonomie zugunsten der Durchsetzung sozialer Prinzipien innerhalb des Konstrukts der Sozialen Marktwirtschaft, in den Vordergrund tritt. Diese Unterscheidung setzt sich auf juristischem Gebiet fort in der Debatte über die Legitimation verbandlichen Handelns6: Betrachtet man die Rechtsetzungsmacht von Tarifverbänden als Ergebnis aggregierter mitgliedschaftlicher Ermächtigung, dann ist Tarifautonomie freiheitliches Element der Sozialen Marktwirtschaft. Versteht man hingegen die tarifverbandliche Rechtsetzungsmacht als Ausfluss staatlicher Delegation, dann erscheint Tarifautonomie als soziales Element der Sozialen Marktwirtschaft. Nach gewerkschaftlichem Verständnis verbinden sich im Konstrukt der Tarifautonomie sowohl Staatsfreiheit als auch sozialer Ausgleich. Das muss solange kein Widerspruch sein, wie auch andere, insbesondere staatliche Akteure der Tarifautonomie einen derartigen freiheitlich-sozialen Doppelcharakter attestieren. Eine solche staatliche Einschätzung ist aber – das ist aus den bisherigen Ausführungen klar geworden – keineswegs unabänderlich. Die Tarifautonomie ähnelt damit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft selbst, in das sie eingebunden ist, in einem entscheidenden Punkt: beides sind interpretationsoffene soziale Konstrukte mit hohem Symbolgehalt. Aufgrund der angesprochenen diskursiven Hegemonie des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“ zieht jede grundsatzprogrammatische Relativierung dessen, wofür sich die Umschreibung „Soziale Marktwirtschaft“ durchgesetzt hat, unweigerlich Kritik auf sich.7 Die diesbezügliche Diskurslandschaft war und ist während des gesamten 6
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Die Meinungen hierzu reichen - von der Forderung nach Überwindung des kollektivautonomen Denkens und Stärkung der Selbstbestimmungsrechte des Einzelnen gegenüber den Tarifverbänden per Gesetz (Adomeit 2004; Möschel 2002; Picker 2002; Rieble 1996: 339; Rüthers 2002; etwas moderater: Richardi 2003; Zöllner 2000; kritisch dazu: Heinze 1995) - über die Abkehr vom Delegationsgedanken und die Anerkennung einer ausschließlich privatautonomen Legitimation der Tarifverbände (Schliemann 1999) mit der Folge, dass ihnen einerseits ein sehr weiter Handlungsspielraum zur Verfügung gestellt wird, sie aber andererseits auch weitgehend sich selbst überlassen bleiben und Schutzaktivitäten seitens des Staates nicht zu erwarten haben (Windbichler 2002) - bis hin zu Forderungen an den Gesetzgeber, die Tarifautonomie nicht nur der Form nach anzuerkennen, soweit ihre Ergebnisse nicht mit anderen Grundrechten kollidieren (Schliemann 2002: 69; Hartmann 1998), sondern ggf. auch durch gesetzgeberische Unterstützung ihrer Intentionen zu stärken, um so eine sozial bedrohliche Individualisierung der Arbeitsbeziehungen zu verhindern (Blanke 1999: 425; Däubler 1997; Zachert 1988; 2003a, 2003b; Säcker, Oetker 1992; Gamillscheg 2001: 228). Vgl. für die Reaktionen auf das aktuelle DGB-Grundsatzprogramm Süddeutsche Zeitung, 18.11.1996, Jg. 52, S. 2; Handelsblatt 18.11.1996, Jg. 51, S. 3.
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Bestehens der Bundesrepublik so strukturiert, dass eine Positionierung außerhalb der hegemonialen diskursiven Formierung, zum Beispiel durch Zweifel an und Infragestellung der Sozialen Marktwirtschaft, nicht folgenlos bleibt. Sie eröffnet Kritikern die Möglichkeit, ihrerseits die Bedeutung der Zweifel äußernden Akteure zu relativieren oder sie als potentiell systemfeindlich vorzuführen. Insofern kann die Kritik etwa am ausbleibenden Bekenntnis des DGB durchaus gewerkschaftsdelegitimierende, weil reputationssenkende Wirkung haben. Das zeigt: systemnonkonformes Auftreten wird sanktioniert. Angesichts des hegemonialen Charakters der „Sozialen Marktwirtschaft“ bleibt insofern den an Existenz und Autonomie interessierten Gewerkschaften nichts anderes übrig, als im Stile verbreiteter Gemeinwohlrhetorik (vgl. dazu Vobruba 1992; Fischer 2000) und im Konzert mit den Arbeitgeberverbänden immer wieder auf den Zusammenhang von Sozialer Marktwirtschaft und Tarifautonomie hinzuweisen.8 Sie müssen trotz ihrer ggf. bestehenden programmatischen Distanz und Skepsis darauf bedacht sein, das Wissen um diesen Zusammenhang solange präsent zu halten, wie sich aus der positiven Assoziationskraft des Begriffs Soziale Marktwirtschaft die Legalität und Legitimität ihrer Tarifvertragshoheit ableiten lässt (Kädtler 2006: 31). Sie koppeln damit ihre wesentliche Existenzgrundlage an die Neigung politischer Akteure, sich und ihr Handeln auf die Soziale Marktwirtschaft als ebenso wohlklingende wie dehnbare Handlungsorientierung zu beziehen. Diskursive Frontalangriffe gegen die Tarifautonomie bzw. die dahinter stehenden Verbände sind somit nur von politischen Akteuren zu erwarten, die auch als generelle Kritiker oder umdeutungsbemühte Radikalreformer der Sozialen Marktwirtschaft auftreten. Das Gros politischer Akteure jedoch zieht durch das aktive Postulat der Sozialen Marktwirtschaft gewollt oder ungewollt zugleich auch die Verbände und deren Tarifautonomie aus der Schusslinie. Zugleich müssen die Tarifverbände beständig darauf bedacht sein, das Bild des freiheitlich-sozialen Doppelcharakters der Tarifautonomie aufrechtzuerhalten. Das ist vor allem für die Gewerkschaften schwierig. Zum einen soll sich im Konstrukt der Tarifautonomie die gleichzeitige Verfolgung zweier Ziele verbinden, die üblicherweise als unvereinbar bzw. als nur vom Staat vereinbar gelten; genau aus dieser allenfalls staatlich zu überwindenden Unvereinbarkeit freiheitlicher und sozialer Prinzipien bezieht ja die ordnungspolitische Idee der Sozialen Marktwirtschaft ihre Zustimmung. Zum anderen kontrollieren ja keineswegs ausschließlich die Gewerkschaften selbst ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, die öffentliche Wahrnehmung ihrer Funktionen und Leistungen und die diskursive Zuordnung zur freiheitlichen und/oder zur 8
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So offenbaren z.B. die Grundsatzprogramme des DGB von 1949 und 1996 (hier insb. Pkt. 5) – bei aller sonstigen Unterschiedlichkeit – starke und angesichts des zeitlichen Abstandes von fast 50 Jahren nicht selbstverständliche Ähnlichkeiten hinsichtlich der Betonung des Zusammenhangs von Sozialer Marktwirtschaft und Tarifautonomie (vgl. die Grundsatzprogramme auf www.dgb.de, siehe auch Zitate bei Schui 2005: 652). Für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) vgl. Hundt 1999.
regulativ-sozialen Dimension der Sozialen Marktwirtschaft. Der Doppelcharakter der Tarifautonomie und ihre symbolische Kopplung an das ebenfalls symbolisch stark aufgeladene und zugleich hochgradig interpretationsoffene und damit instrumentalisierungsgeeignete Postulat der Sozialen Marktwirtschaft birgt damit ein gravierendes Moment der Unberechenbarkeit in sich: gerade mit Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft lässt sich die Tarifautonomie, lassen sich ihre Verfahren, Ergebnisse und Akteure verteidigen oder anfechten. Die Anbindung der Tarifautonomie an die Soziale Marktwirtschaft eröffnet damit die Möglichkeit, die Tarifautonomie situativ, nämlich anhand ihrer aktuell wahrgenommenen Leistungsfähigkeit zu bewerten. Diese Anbindung zieht eine nicht überwindbare Einschränkung der begrifflichen Definitionshoheit der Tarifverbände über das Konstrukt der Tarifautonomie nach sich. Analog zu den beschriebenen Konsequenzen des verbandlichen Widerstandes gegen staatliche Interventionsbedürfnisse ergibt sich eine Konstellation, die sich beschreiben lässt als Bemühen der Verbände, Definitionshoheit über das Konstrukt der Tarifautonomie dadurch zu gewinnen und zu wahren, dass sie sich bei der Ausübung dieser Definitionshoheit angesichts drohender Fremddefinition selbst beschränken und der Notwendigkeit unterwerfen, ihr Postulat mit der jeweils herrschenden Definition und Interpretation des Konstrukts „Soziale Marktwirtschaft“ kompatibel zu halten. Die oben herausgearbeitete Machtkonstellation (Selbstbindung der Verbände angesichts drohender Fremdeinschränkung der Handlungsfreiheit) wird durch die Verkopplung von „Tarifautonomie“ und „Sozialer Marktwirtschaft“ kulturell untermauert und damit auf Dauer gestellt. 3.3 Institutionenflexibilität: Tarifautonomie und Verfassungsrecht Versuchen, die Leistungsfähigkeit der Tarifautonomie situativ zu bewerten und die Regelungskompetenzen tarifautonomer Akteure, insbesondere der Gewerkschaften, situativ anzupassen, wird häufig entgegengehalten, dies sei mit der Garantie der Tarifautonomie im Grundgesetz nicht vereinbar. Diese Position ist nur teilweise zutreffend. Mit Berufung auf das Grundgesetz lassen sich Grenzverschiebungen zwischen tarifautonomem und gesetzgeberischem Regelungsraum gewiss erschweren, nicht aber völlig verhindern. Die Regelungen des Grundgesetzes sind Rechtsnormen. Rechtsnormen regeln zweckgerichtete soziale Beziehungen. Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus der oft widersprüchlichen Zweckverfolgung von Akteuren innerhalb eines Sozialverhältnisses, mit ihrem Inkraftsetzen werden Gegenüberstellung und Vermittlung der Zwecke und Interessen der Akteure angestrebt. Ganz überwiegend beziehen sich Rechtsnormen dabei nicht nur auf ein konkretes Sozialverhältnis, sondern regeln Typen von Sozialverhältnissen, sie objektivieren und entsituieren also ihren Regelungsanspruch.
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Rechtsnormen fixieren den objektiven Charakter gesellschaftlicher Lebensverhältnisse und stellen damit diese entsituierte soziale Objektivität über alle subjektiven und situativen Ansprüche der in diese Objektivität eingebundenen Akteure (Schmalz-Bruns 1989: 87). So sind grundlegende Aspekte sozialer Verhältnisse der Gestaltungsfreiheit sozialer Akteure weitgehend entzogen und hierdurch auf Dauer gestellt. Das primär für diesen Zweck geschaffene Rechtsinstitut ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Es reguliert sehr grundsätzlich die Sozialverhältnisse und Handlungssituationen aller Akteure des Gemeinwesens. Als „Gesamtgefüge geistiger Bewegungen, sozialer Auseinandersetzungen und politischer Ordnungselemente, [als] Inbegriff von Ideen, Interessen und Institutionen“ (Huber 1988: VII) verarbeitet und vereinigt es eine Vielzahl von gesellschaftlichen Leitdifferenzen zu Leitideen, die ihrerseits wiederum in einer Vielzahl von Einzelgesetzen rationalisiert werden. Die Leitidee des Grundgesetzes selbst ist es, als „Norm der Normen“ die politische Struktur des Staates und den Rahmen des politischen Lebens dauerhaft und verbindlich festzulegen (Bracher 1995: 298). Das Grundgesetz als „Superrecht“ ist gleichsam ein Text, der die Angemessenheit dieser Vielzahl von Einzelgesetzen reflektiert und von dem erwartet wird, dass er „autonom Auskunft darüber gebe, was rechtmäßig sei, … was geht und was nicht geht“ (Steinhauer 2007: 13) Dass es das weitgehend unbestritten tun kann, hat das Vertrauen der gesetzgebenden und der gesetzesunterworfenen Akteure in das Grundgesetz als Ordnungsrahmen zur Voraussetzung (Lepsius 1997b). In der Tat genießt keine institutionelle Konfiguration in der deutschen Gesellschaft ein ähnlich hohes Ansehen wie das Grundgesetz und das über dessen Einhaltung wachende Bundesverfassungsgericht (Schlaich 1994: 317ff.). Angesichts eines diskreditierten deutschen Nationalismus und der Katastrophen, die aus der Unbegrenztheit des NS-Staates erwuchsen, spielte für die Bundesrepublik die staatsstrukturierende Verfassung als Grundlage des Institutionenaufbaus eine entscheidende Rolle. Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht trugen insbesondere in der frühen Nachkriegszeit zur Identitätsbildung und Selbstvergewisserung der bundesdeutschen Gesellschaft bei (Neidhardt 2000). Sie waren und sind Symbole eines begrenzten Staates. In diesem Sinne hat das Grundgesetz vor allem die Funktion, Staatsgewalt zu kontrollieren und staatliches Handeln weitest möglich berechenbar zu machen. Durch die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte in Art. 1, Abs. 3 GG (Hesselberger 2000: 69) haben sich einzelne Gesetze der Prüfung auf Vereinbarkeit mit den Grundrechten durch das Bundesverfassungsgericht zu stellen. Dadurch bleibt der Handlungsraum des Gesetzgebers beschränkt. Dieser Vorrang der Verfassung zeigt sich in der Gesetzgebungspraxis darin, dass mögliche Urteile des Bundesverfassungsgerichtes bereits im Prozess der Gesetzgebung antizipiert werden. Gesetze oder Gesetzesänderungen bewegen sich damit in einem für die betroffenen Akteure erwartbaren Rahmen und machen somit ihrerseits wiederum das Handeln dieser Akteure berechenbar (Jekewitz 1980; Lepsius 1990: 78).
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Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes ist ein so genannter Grundrechtsartikel. Tarifautonomie, die den Rahmen für die kollektiven Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen setzt (Lepsius 1990: 76) und das Verhältnis von Gesetzgeber und Tarifverbänden strukturiert (Dieterich 2002: 11f.), ist als Grundrecht institutionell garantiert (Dieterich 2000: 441). Gerade der Umstand, dass Tarifautonomie als verfassungsrechtlich garantiertes, also nahezu unveränderliches Grundrecht verstanden wird, sorgt für die Stabilität dieses Handlungsrahmens. Eine mittelbare Leitidee der rechtlichen Institution Tarifautonomie leitet sich somit aus der Stabilität als Leitidee des Grundgesetzes ab: Ein spezifisches Verhältnis von Staat und Verbänden, nämlich die Zusage, dass letztere bei der (unter Umständen auch konfliktreichen) Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen keine staatliche Intervention zu befürchten haben, ist durch die Aufnahme ins Grundgesetz auf Dauer gestellt. Freilich bedeutet die hohe Änderungsintoleranz der Normen des Grundgesetzes9 nicht, dass diese seit ihrer Festschreibung starr und unverändert geblieben wären. Zwar sind an Verfassungsrecht gesteigerte Stabilitätserwartungen geknüpft. Doch diese dauerhafte Stabilität ist voraussetzungsvoll. Sie ist zu erreichen nur durch einen Mangel an Bestimmtheit innerhalb der Verfassung (Steinhauer 2007). Damit aber unterliegen auch Verfassungsrechtsnormen Wandlungsprozessen. Starck (1995) hat darauf aufmerksam gemacht, dass in verfassungsrechtliche institutionelle Garantien regelmäßig ein Element der Flexibilität eingebaut ist, mit dem erst die Stabilität einer verfassungsrechtlich garantierten Rechtsinstitution möglich wird. Dieses Element der Flexibilität ist der Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung. Trotz der Bindungswirkung der Grundrechte bleibt in der Regel der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für Einzelgesetzgebung groß genug. Wäre dies nicht der Fall, bedürfte es eines Gesetzgebers nicht, da dann das Grundgesetz keinerlei Interpretations- (also gesetzgeberischen Handlungs-)spielraum böte. Auch Verfassungswandel, also die Änderung des Sinns und des Verständnisses der Verfassungsrechtsnormen ohne Änderung des Verfassungstextes (Pieroth 2000: 24f.), relativiert die Stabilität des Grundgesetzes. Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes erfolgen ja nicht kontextfrei, sondern haben die politische und gesellschaftliche Entwicklung mit ins Kalkül zu ziehen (Bumke 2000: 223; vgl. auch Schulze-Fielitz 2000). Und wenn nötig, lässt sich eine, dem Prinzip nach grundrechtsverletzende, Einzelgesetzgebung gerade mit dem Schutz anderer, ja ebenfalls verbindlicher Grundrechte rechtfertigen. So gesehen begrenzen konstitutionelle Grundrechte die staatlichen Handlungsbefugnisse zwar, können sie aber auch, indem sie gegeneinander argumentativ in Anschlag gebracht werden, erweitern (vgl. Preuß 1983).
9
Lt. Art. 79, Abs. 2 GG bedarf eine Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.
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Stabilität durch Flexibilität (Gesetzgebungsspielraum) wie auch Verfassungswandel (Interpretationsspielraum des Bundesverfassungsgerichts) betreffen vor allem die Grundrechte, da diese besonders weit, offen und vage formuliert sind (Pieroth 2000: 25). Damit ist auch die grundgesetzlich geschützte rechtliche Institution Tarifautonomie Wandlungsprozessen unterworfen. Bei der Rahmensetzung für das Handeln der Tarifverbände verfügt der Gesetzgeber durchaus über einen politischen Gestaltungsspielraum, den er durch die Verabschiedung und Veränderung von Einzelgesetzen ausfüllen kann (Kreßel 1994). Dieser grundsätzliche Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist ebenfalls grundgesetzlich (in Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) legitimiert. Viele Einzelmaterien innerhalb des großen Bereiches der Arbeitsbeziehungen sind aufgrund eines fehlenden Gestaltungsinteresses oder -vermögens der Tarifverbände überhaupt nicht verbandshoheitlich geregelt. Nicht jede gesetzliche Normierung der Arbeitsbeziehungen stellt also eine manifeste „Verletzung der Tarifautonomie“ dar. Doch selbst, wo ein Gesetz oder Gesetzesvorhaben mit einer bestehenden oder beabsichtigten tarifautonomen Regelung kollidiert, ist hinsichtlich der Intensität dieses Eingriffs zu unterscheiden. Dieterich (2003) differenziert hier zwischen dem relativ milden Eingriff durch tarifdispositives Gesetz10, dem moderaten Eingriff durch zwingendes Gesetz für zukünftige Sachverhalte und dem intensiven Eingriff in bestehende Tarifregelungen durch zwingendes Gesetz. Ob derartige gesetzgeberische Eingriffe in den tarifautonomen Regelungsraum verhältnismäßig (also geeignet, erforderlich und den betroffenen Verbänden zumutbar) sind, hat ggf. das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Es hat dabei abzuwägen zwischen der Bedeutung und Dringlichkeit des Regelungsbedürfnisses einerseits und den ggf. daraus erwachsenden negativen Folgen für die Tarifverbände andererseits (Dieterich 2003b). Und da auch im Rahmen der Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ein Wandel des Verständnisses der Tarifautonomie denkbar ist, kann also dem Prinzip nach die Auslegung dessen, was zum Kernbereich tarifautonomen Handelns gehört und somit vor staatlichen Interventionen geschützt ist, Veränderungen unterliegen. Was aber heißt das konkret? Aus dem Zusammenspiel von institutioneller Garantie einerseits (dauerhafte Existenz eines tarifautonomen Regelungsraumes) und Verfassungswandel andererseits (elastische Ausdehnung des tarifautonomen Regelungsraumes) ergibt sich, dass der Prüfauftrag des Bundesverfassungsgericht auf Dauer gestellt ist: Art. 9, Abs. 3 GG berechtigt die Verbände der Arbeitsbeziehungen immer wieder, staatliches Handeln im Bereich der Arbeitsbeziehungen auf Verfassungskonformität prüfen zu lassen. Damit ist freilich noch nichts über die Wahrscheinlichkeit und das Ergebnis einer solchen Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht gesagt. Als Kon10
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Im Gegensatz zu zwingendem Recht ermöglicht tarifdispostives Recht den Tarifpartnern, in Tarifverträgen vom Gesetzestext abweichende Vereinbarungen abzuschließen, und zwar sowohl zum Nachteil als auch zum Vorteil des Arbeitnehmers.
trollorgan ohne eigenes Initiativrecht wird es erst nach Aufforderung durch andere Akteure aktiv, etwa durch unmittelbare Verfassungsbeschwerde der Tarifverbände oder vermittelt über einzelgerichtliche Normenkontrollanträge (Säcker 2003: 55ff.). Das Aushandeln der Grenzen des tarifautonomen Handlungsraumes wird so zu einer Angelegenheit mit vielen Unbekannten: der Staat kann mittels Gesetzgebung in unterschiedlicher Intensität auf tarifautonomes Handeln der Verbände einwirken, er kann es aber auch von vornherein unterlassen. Für den Fall, dass Gesetze den tarifautonomen Status quo berühren, können die Verbände ein Kontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen, müssen es aber nicht. Und selbst wenn sie das Bundesverfassungsgericht mit einer Normenkontrolle beauftragen, ist der Ausgang eines solchen Verfahrens keineswegs vorherbestimmt, sondern kann auch zu Ungunsten der Verbände ausfallen: Durch die relevanten Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zieht sich die Grundauffassung, dass das Grundgesetz zwar einen von der staatlichen Rechtsetzung frei gelassenen Raum zur tarifvertraglichen Ordnung des Arbeitslebens gewährleistet. „Eine solche Gewährleistung ist aber ganz allgemein und [...] läßt dem einfachen Gesetzgeber einen weiten Spielraum zur Ausgestaltung der Tarifautonomie“.11 „Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren“.12 Macht man sich bewusst, dass Gesetzgebung und Tarifautonomie letztlich konkurrierende Institutionen zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sind, dann trägt eine solche Formulierung nicht zur eindeutigen Abgrenzung tarifautonomer von gesetzgeberischen Regelungskompetenzen bei. Ein auf diese Weise unklar bleibendes Verhältnis von Tarifautonomie und Gesetzgebung eröffnet zunächst den Akteuren beider Arenen Diskussions- und in der Folge auch Handlungsräume. Der „Gang nach Karlsruhe“ (Wesel 2004), der Versuch, das Verhältnis von Tarifautonomie und Gesetzgebung in Einzelfällen, also in jeweils konkreten Regelungsmaterien vom Bundesverfassungsgericht bestimmen zu lassen, ist aber mehr oder weniger ergebnisoffen und birgt ein Maß an Unberechenbarkeit in sich, das staatliche Akteure im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren und tarifautonome Akteure vor Klageentscheidungen bedenken müssen. Denn ob das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Verbände oder zugunsten des Gesetzgebers urteilt, ist nicht nur abhängig davon, wie sich die beanstandete gesetzliche Regelung zu den (ja ebenfalls interpretationsoffenen) Grundrechten Dritter verhält, sondern auch von ihrer Lage im politischen Raum, also davon, wie weit sie sich vom Status quo entfernt (vgl. Vanberg 1998). Zudem müssen die Akteure auf beiden Seiten den politischen Schaden einkalkulieren, der sich aus dem Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht ergeben kann. 11 12
BVerfG, Urteil vom 19.10.1966, 20,312. BVerfG, Urteil vom 03.04.2001, 103,293.
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Die prinzipielle Möglichkeit und gleichzeitige mehr oder minder große Unberechenbarkeit gerichtlicher Prüfung13 hat antizipatorische Effekte auf die Gesetzesformulierung (konfrontativ oder kooperativ) wie auch auf die Klageentscheidung der Verbände (aussichtsreich oder politisch riskant). Die Funktion des Bundesverfassungsgerichtes besteht somit zum (wahrscheinlich nur geringeren) Teil in seiner manifesten Rolle als tatsächliche Instanz und zum (größeren) Teil in seiner latenten Rolle als Instrument politischer Drohung (Burkhart, Manow 2006). Insgesamt stehen dieses Set möglicher Einflussfaktoren und die sich so ergebende Optionenvielfalt aller Beteiligten (vgl. Abb. 2) für eine sehr offene Handlungsstrukturierung. Abbildung 2:
Einfacher Handlungsbaum: Optionenvielfalt von Gesetzgeber und Tarifverbänden Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . verändert die Grenzen des ja tarifautonomen Handlungsraumes
Tarifverbände . . . . . . . . . . . . . . . strengen Normenkontrollja verfahren an
Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . entscheidet zugunsten der ja Tarifverbände
nein
nein
nein
Die Überlegungen bis hierhin unterstellten bei aller Optionenvielfalt eine prinzipielle Gleichrangigkeit tarifautonomer und staatlicher Akteure im Wettbewerb um Regelungskompetenz. Wie ungleich diese Konkurrenz um Regelungskompetenz jedoch ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welche der beiden Seiten mit stärkerer Plausibilität die beanspruchte Regelungskompetenz mit Verweis auf den „Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange“ rechtfertigen kann. Dass sie gemeinwohlorientiert agieren, können zweifellos staatliche Ak13
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Übrigens nicht nur durch das Bundesverfassungs-, sondern etwa auch das Bundesarbeitsgericht.
teure eher und glaubwürdiger für sich reklamieren als tarifautonome Akteure – womit freilich weder zur Plausibilität eines solchen Gemeinwohlbezugs (vgl. Fischer 2000; Blanke 2003: 157) noch zur Justiziabilität des Gemeinwohlbegriffs überhaupt (Dieterich 2003b) schon viel gesagt ist. Aus diesem strategischen Vorteil staatlicher Akteure im Wettbewerb um Regelungskompetenzen und der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich, dass die Tarifautonomie vom Bundesverfassungsgericht letztlich nach ihrer aktuellen Leistungsfähigkeit gewichtet und ihr Regelungsraum in Einzelfragen entsprechend bemessen wird (Dieterich 2000). Eine solche situative Bewertung in der obersten Rechtsprechung steht in erheblichem Widerspruch zum grundrechtlichen Anliegen der Entsituierung tarifautonomen Handelns und relativiert die grundgesetzliche Garantie der Tarifautonomie deutlich. Was für die politische Kommunikation staatlicher Akteure und dem Postulat einer „Sozialen Marktwirtschaft“ bereits festgestellt wurde, findet in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes seine Entsprechung: Der Abgleich des Grundrechts auf Tarifautonomie mit anderen Grundrechten eröffnet die Möglichkeit, die Tarifautonomie situativ, nämlich anhand ihrer aktuell wahrgenommenen Leistungsfähigkeit zu bewerten.
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4 calculus approach: Tarifautonomie und das Interesse des Staates an sich selbst
An früherer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass aus der Existenz und Persistenz einer politisch-sozialen Institution nicht ohne weiteres auf ihren Beitrag zur Stabilität eines wie immer spezifizierten politisch-sozialen Systems geschlossen werden darf. Stattdessen ist die Möglichkeit einzukalkulieren, dass sich die Entstehung einer Institution spezifischer Kontextbedingungen verdankt, deren Wegfall jedoch nicht zwingend auch zum Untergang der Institution führen muss. Die Abschaffung oder auch nur die nennenswerte Modifikation einer Institution ist solange schwierig, wie es Akteure gibt, die am Bestand und an den Effekten einer Institution ein starkes und durchsetzungsfähiges Interesse haben. Das aber kann bedeuten, dass von diesen institutionellen Effekten nicht alle beteiligten und betroffenen Akteure in gleicher Weise profitieren müssen (Beyer 2005). Diese Erkenntnis zwingt dazu, die Unterstellung „systemfokussierter“ funktionalistische Prämissen der Institutionenanalyse fallen zu lassen und stattdessen zur Prüfung funktionalistischer Hypothesen überzugehen (Pierson 2000b: 493). Das wiederum zwingt zur Fokussierung auf bestimmte Akteure innerhalb einer sozialen Konstellation, für die die Institution Verhaltensvorgaben macht. Ein derartiger akteurszentrierter Institutionalismus (Scharpf 2000a) muss also der Frage nachgehen, inwieweit die Effekte einer Institution für bestimmte Akteure aus deren eigener Sicht von Vorteil oder von Nachteil sind. Bezogen auf den Staat ist für die Beantwortung dieser Frage das Konzept vom „Interesse des Staates an sich selbst“ (Offe 1975; Vobruba 1983a) ein geeigneter analytischer Bezugspunkt. Diese Konzeption geht davon aus, dass sich politische Akteure bei politischen Entscheidungen immer auch an den Regeln der Erlangung und Reproduktion politischer Macht orientieren (Vobruba 2005: 100). Staatliche Akteure lassen sich zwar bei ihrem politischen Handeln nicht ausschließlich von ihrem egoistischen Interesse an Machterhaltung leiten, haben aber bei ihren Entscheidungen die Auswirkungen dieser Entscheidungen auf ihre Möglichkeit der Machtreproduktion stets mit im Blick. Ein eher simples Beispiel für diese Form politischen Handelns ist das Verteilen von „Wahlgeschenken“. Aber auch bei gesellschaftlichen Problemen werden staatliche Akteure aktiv, wenn sie ihrer eigenen Wahrnehmung nach befürchten müssen, dass diese Probleme ihre politische Macht gefährden oder gar das politische System desta-
bilisieren könnten (Bleses 2001; Raufer 2005: 28ff.). Eine diesbezüglich vom Staat getroffene Entscheidung bzw. ergriffene Intervention muss dabei, wie immer sie im einzelnen aussehen mag, auch die Bedingung erfüllen, die ökonomischen und legitimatorischen Grundlagen staatlichen Handelns zu stabilisieren oder aber zumindest nicht noch weiter zu destabilisieren. Das heißt auch, dass die angesichts wahrgenommener bedrohlicher gesellschaftlicher Probleme getroffenen Entscheidungen staatlicher Akteure keinesfalls für alle beteiligten Akteure eine geeignete Lösung dieses Problems sein müssen. Da staatliche Akteure bei ihren Entscheidungen ihr Interesse an sich selbst im Blick haben, kommen auch Problemlösungen zu Lasten anderer gesellschaftlicher Akteure in Betracht – zumindest dann, wenn von diesen Akteuren keine akute Gefährdung der materiellen Basis und der Legitimität staatlichen Handelns ausgeht. Materielle Basis und Legitimität staatlichen Handelns definieren damit das Spannungsfeld, in dem sich staatliche Akteure bewegen: Der Staat ist einerseits Steuerstaat. Da er die materiellen Voraussetzungen seiner Aufgabenerfüllung nicht selbst herstellt, wird insbesondere eine weitgehend funktionsfähige Ökonomie, die eine nennenswerte Wertabschöpfung durch den Staat zulässt und verkraftet, zum Dreh- und Angelpunkt staatlichen Handelns (Vobruba 1983a: 37). Zugleich stellt jedoch der Anspruch der Bewahrung einer funktionsfähigen Ökonomie tendenziell jede Entscheidung(smöglichkeit) des Staates unter den Generalverdacht, der Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems abträglich zu sein. Die Folge ist eine Beschränkung und Selektivität möglicher politisch-staatlicher Gestaltung; indem der Horizont des politisch Möglichen mit dem Horizont des ökonomisch Vorzugswürdigen zusammenfällt, erweist sich diese Selektivität staatlichen Handelns als Ökonomisierung der Politik (Offe 2006a: 192f.). Der Staat ist andererseits seinem Anspruch nach demokratischer Staat. Seine Akteure sind in dieser Funktion konfrontiert mit den Erwartungen einer Bevölkerung, die zumindest regelmäßig im Wahlakt die Chancen auf Zugang zu politischer Macht verteilt. Sie tut dies mit bestimmten Erwartungen an politische Akteure. Dieser Erwartungen der Wähler ergeben sich nicht zuletzt aus ihren Sicherheits- und Umverteilungsinteressen, die wiederum eng verbunden sind mit den ökonomischen Verhältnissen und den daraus abgeleiteten sozioökonomischen Strukturen. Mit Blick auf diese Erwartungen betreiben staatliche Akteure derart im Interesse an sich selbst immer auch Politisierung der Ökonomie mit dem Ziel ihres Machterhalts. Gerade aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich der Handlungsspielraum, in dem staatliche Akteure sich bewegen können. In seinem Bemühen um Balance zwischen der Sicherung seiner materiellen Basis und seiner Legitimität ist der Staat relativ eigenständiger und selbstbezüglicher Akteur und handelt nach eigener Logik (Borchert, Lessenich 2006: 14f.). Staatliche Institutionen und Akteure verfügen durchaus über eine begrenzte Handlungsautonomie (Skoczpol 1985: 14), die es ihnen erlaubt, jeweils ihre eigenen Interessen zu verfolgen – unter Umständen auch, ohne dabei im Einzelnen auf die Balance von materieller und legitimatorischer Stabilität achten zu müssen. Innerhalb des staatlichen Institutionengefüges kann einzelnen Institutionen
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die Funktion zukommen, entweder die ökonomischen oder die legitimatorischen Handlungsgrundlagen des Staates zu stabilisieren. Sein Gestaltungsspielraum besteht gerade darin, diese Komplexität und die darin verborgenen Widersprüche auszunutzen, indem er ökonomische und demokratisch-redistributive Ansprüche an ihn selbst beeinflusst und gegeneinander ausspielt. In der politischen Praxis geschieht dies üblicherweise durch komplexitätsreduzierenden, rhetorischen Bezug auf ein nicht näher definiertes (weil im Grunde singulär nicht definierbares) öffentliches Interesse der Gesellschaft, ausgedrückt etwa mit Postulaten des „Gemeinwohls“ oder der „Sozialen Marktwirtschaft“ (Fischer 2000). Dadurch kann sich der Staat eine gewisse relative Autonomie (Offe 1972a: 103; 1972b: 179) bewahren und eine allzu handlungshemmende Abhängigkeit von „ökonomischen Erfordernissen“ wie von „demokratischen Forderungen“ verhindern. Eine solche Konstellation der Ökonomisierung der Politik und der Politisierung der Ökonomie kommt auch im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG) von 1967 zum Ausdruck. Es postuliert ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht als Staatsziel (Art. 109 Abs. 2 GG) und präzisiert es, indem es Preisniveaustabilität, einen hohen Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes, stetiges Wirtschaftswachstum als gleichzeitig zu verfolgende Ziele staatlichen Handelns vorgibt. Für dieses Zielbündel hat sich in der Fachöffentlichkeit auch die Formulierung „magisches Viereck“ eingebürgert, die verdeutlichen soll, dass sich alle vier Ziele gleichzeitig nicht konfliktfrei erreichen lassen. Bekanntlich können zum Beispiel Zielkonflikte bestehen zwischen Preisniveaustabilität und hohem Beschäftigungsstand oder zwischen Preisniveaustabilität und Wirtschaftswachstum. Nehmen politische Akteure derartige Konflikte bei der Verfolgung der Einzelziele wahr, haben sie zu entscheiden, welchem Ziel sie in der gegebenen Situation und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Priorität einräumen. Das Konzept vom „Interesse des Staates an sich selbst“ und die Zielvorgaben des magischen Vierecks lassen sich aufeinander beziehen bzw., in Pierson’scher Terminologie, zu funktionalistischen Hypothesen formulieren. Mit Blick auf das hier infrage stehende Verhältnis von Staat und Tarifautonomie ist also zu fragen, wie staatliche Akteure die Effekte der Tarifautonomie im Abgleich mit den Zielen des StWG bewerten und welche Folgen sie für ihre eigenen Handlungs- und Machtreproduktionsbedingungen wahrnehmen. Bei der Beantwortung dieser Frage werde ich mich auf die beiden Stabilitätsziele Preisniveaustabilität und hoher Beschäftigungsstand konzentrieren, zuvor jedoch auf die grundlegende Bedeutung von Lohnarbeit für den Staat eingehen. Insgesamt wird sich herausstellen, dass Tarifautonomie für den Staat sowohl vorteilhafte als auch nachteilige Effekte zeitigt, staatliche Akteure also der Tarifautonomie sowohl befürwortend-tolerant als auch ablehnend-skeptisch gegenüber stehen können.
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4.1 Die Bedeutung von Lohnarbeit als Prinzip Bedeutung von Lohnarbeit für den Staat An den Staat wird unentwegt und von unterschiedlichster Seite die Erwartung herangetragen, Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die über Marktprozesse nicht bzw. nur in unzureichender Weise angeboten werden können (Pätzold 1998: 170f.; grundlegend dazu Musgrave 1990). Staatliche Akteure sind in der Regel bestrebt, diesen Erwartungen nachzukommen, wenn sie annehmen können, dass dies ihre Möglichkeiten der Machtreproduktion verbessert. Um ihre politischen Entscheidungen über Art und Umfang dieser öffentlichen Aufgaben umsetzen zu können, sind staatliche Akteure auf berechenbare und verlässliche Staatseinnahmen angewiesen (Vobruba 1983a: 37). Die Finanzierung dieser öffentlichen Aufgaben erfolgt zum überwiegenden Teil über Steuern. Lohnarbeit spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle, und zwar als Basis der Lohnsteuereinnahmen des Staates. Besteuerung von Einkommen aus Lohnarbeit oder Unternehmertätigkeit hat zunächst die unmittelbare Folge, dass die verfügbaren Einkommen um die Höhe der abzuführenden Steuer verringert werden. Einwände der Steuerpflichtigen gegen die (Höhe ihrer) Steuerpflicht werden daher üblicherweise vorgebracht mit dem Argument, der nach der Steuerabführung verbleibende Betrag sei zu gering, um seine jeweilige Funktion hinreichend erfüllen zu können. Diese Funktionen unterscheiden sich jedoch zwischen Einkommen aus Lohnarbeit oder Unternehmertätigkeit gravierend. Einkommen aus Lohnarbeit dient dem privaten Konsum, Einkommen aus Unternehmertätigkeit jedoch neben privatem Verbrauch auch der Wiedereinspeisung in den Wertschöpfungsprozess in Form von Reinvestitionen. Der Verweis auf durch Steuererhebung tendenziell verunmöglichte Reinvestition stößt bei staatlichen Akteuren auf deutlich mehr Verständnis als die Forderung nach verbesserten Reproduktionsbedingungen der Arbeitnehmer. Das erklärt sich vor allem aus dem Interesse staatlicher Akteure an (beschäftigungswirksamer) unternehmerischer Investitionstätigkeit im Inland (O’Connor 1974: 246f.; Kalecki 1987; Przeworski, 1990: 95) und aus der bei staatlichen Akteuren verbreiteten Wahrnehmung, dass die faktisch gegebenen Möglichkeiten der Arbeitgeber, einer Besteuerung wirksam auszuweichen, jene der abhängig Beschäftigten um ein Vielfaches übersteigen (Musgrave et al. 1988: 145f.). Weil letztere ihren Unmut über die Steuerabschöpfung allenfalls artikulieren, nicht aber mit Abwanderungsdrohungen14 ernsthaft untermauern können, kann der Staat auf ihr Einkommen steuerlich deutlich stärker zugreifen, ohne damit die (Re-)Investitionsbedingungen unmittelbar zu beeinträchtigen.15 Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass 14 15
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Zum Verhältnis von Artikulation und Abwanderung (Voice-Exit-Konzept) vgl. grundlegend Hirschman 1974. Das in diesem Zusammenhang oft vorgebrachte Nettolohn-Nachfrage-Argument, jede Besteuerung von Arbeitseinkommen führe zu Kaufkraftminderung im Inland und damit mittelbar zur Gefährdung
die Einführung wie auch die relative Erhöhung der Besteuerung von Arbeitseinkommen zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots im unteren, nicht aber zu einem Rückgang des Arbeitsangebots im oberen Einkommensbereich führt (Musgrave et al. 1987: 158ff.). Das unterschiedliche Ausmaß des fiskalischen Zugriffs auf Lohn- und Kapitaleinkommen ist für die Bundesrepublik empirisch belegt. Die Lohnsteuerquote, also die durchschnittliche reale Belastung der Bruttolöhne und -gehälter mit Lohnsteuer, hat sich seit 1960 nahezu verdreifacht (vgl. Abb. 3). Demgegenüber sank die Gewinn- und Kapitaleinkommensteuerquote (also die durchschnittliche reale Belastung der Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen mit veranlagter Einkommen-, Körperschaft-, Kapitalertrag-, Gewerbe-, Vermögen- und Zinsabschlagsteuer sowie mit nicht veranlagten Steuern vom Ertrag) insbesondere seit Beginn der 1980er Jahren auffallend stark und liegt heute bei etwa der Hälfte des Wertes von 1960. Abbildung 3:
Steuerquotenentwicklung (in %)
40 35 30 25 20 15 10 5 1960
1964
1968
1972
1976
Lohnsteuerquote
1980
1984
1988
1992
1996
2000
2004
Gewinn- und Kapitaleinkommensteuerquote
Quelle: Statistisches Bundesamt (Jge. 1961 bis 2005); BMGS 2005a; eigene Berechnungen des inländischen Wertschöpfungsprozesses, ist der Sache nach durchaus richtig. Es verliert jedoch sein Gewicht und seine Überzeugungskraft in dem Maße, wie der Exportanteil und der Ausfuhrüberschuss der Volkswirtschaft steigt. Deutschland ist seinem Selbstverständnis nach Export-Nation, gar „Export-Weltmeister“. Seit ihrem Bestehen entwickelt sich die Bundesrepublik weg von einer geschlossenen Volkswirtschaft. Der Export-Anteil am BIP stieg weitgehend stetig von 8,6% (1950) auf 35,1% (2005) (SVR 2005; destatis).
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Ein noch deutlicherer Beleg ist die Steuereinnahmenrelation. Über den gesamten Zeitraum hinweg nahezu unverändert machen Lohn- und Gewinnsteuern etwa die Hälfte des Gesamtsteueraufkommens aus. Das Verhältnis der Anteile von Lohnsteuer und Gewinnsteuern hat sich jedoch in den letzten vier Jahrzehnten praktisch umgekehrt: 1960 betrug der Lohnsteuer-Anteil an den gesamten Steuereinnahmen des Staates ca. 12%. Nach kontinuierlichem Anstieg macht er heute (2004) mehr als ein Drittel aus, während der Anteil der gewinnorientierten Steuern im gleichen Zeitraum von über 35% auf 13% zurückging (Abb. 4). Abbildung 4:
Steuereinnahmenrelation (in %)
40 35 30 25 20 15 10 5 1960
1964
1968
1972
1976
Lohnsteuer
1980
1984
1988
1992
1996
2000
2004
Gewinn- und Kapitaleinkommensteuern
Quelle: Statistisches Bundesamt (Jge. 1961 bis 2005); BMGS 2005a; eigene Berechnungen
Diese Entwicklung lässt sich nicht mit einer entsprechenden Änderung des GewinnLohn-Verhältnisses innerhalb des Volkseinkommens erklären: Die tatsächliche Bruttolohnquote, also der Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit am gesamten Volkseinkommen, stieg in den 1960er und 1970er Jahren von 60% auf etwas über 75% an und pegelte sich seit Beginn der 1980er Jahre stabil zwischen 70% und 74% ein (vgl. Abb. 6, S. 57), kann also als isolierte Begründung für den Anstieg des Lohnsteueranteils nicht herangezogen werden. Da jedoch im gleichen Zeitraum der Anteil der Arbeitnehmer an den Erwerbstätigen stetig von 77% auf ca. 90% stieg, ist die Stabilität der tatsächlichen Bruttolohnquote in den letzten drei Jahrzehnten de facto zu begreifen als die Verteilung eines stabilen Lohnanteils am Volkseinkommen
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auf eine stetig größer werdende Zahl von Arbeitnehmern, also als eine ebenfalls stetig abnehmende bereinigte Lohnquote (für deren Berechnung der Anteil der Arbeitnehmer an den Erwerbstätigen konstant gehalten wird, vgl. Friedrich, Kraft 2000: 299f.). Die Zeitreihen zeigen, dass die Lohnsteuer zur sich stetig ausweitenden, unverzichtbaren Basis der bundesdeutschen Staatsfinanzen geworden ist – und zwar weitgehend unabhängig von der Parteienzusammensetzung der Bundesregierungen (vgl. dazu auch Zohlnhöfer 2003; Sturm 2003). Diese Entwicklung spricht für die immense und keineswegs abnehmende Bedeutung von Lohnarbeit für die Finanzierung staatlichen Handelns. Schon allein dadurch wird das Prinzip „Lohnarbeit“ zum Bestandteil des Interesses des Staates an sich selbst. Bedeutung von Lohnarbeit für die Gewerkschaften Dieses Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung des Prinzips „Lohnarbeit“ als zentrales gesellschaftliches Strukturmerkmal deckt sich mit dem Interesse der Gewerkschaften an der Aufrechterhaltung dieses Prinzips. Lohnarbeit ist der alles andere überragende Gegenstand ihrer Aktivitäten, letztlich der Grund ihrer Existenz. Lohnarbeit als gesellschaftliches Strukturprinzip ist damit auch Voraussetzung des autonomen Tarifvertragssystems (Müller-Jentsch 1983: 125). Mit einiger Süffisance hat auf diesen Umstand und mehr noch auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen bereits 1957, also in der „Frühphase“ des Konstrukts der Tarifautonomie, der Hauptgeschäftsführer der Landesvereinigung der industriellen Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalen aufmerksam gemacht: „...eine Anerkennung der unternehmerischen Wirtschaft [...] sollte der Gewerkschaft umso leichter fallen, als doch auch ihr Sein die Existenz des Unternehmerischen voraussetzt und die Aushöhlung des Unternehmerischen auch den Tod der Gewerkschaften bedeutet. Man braucht nur nach Russland oder in die Sowjetzone zu blicken, um sich von der Richtigkeit dieser Behauptung zu überzeugen.“ (Lobeck 1957: 339)
Gewerkschaften werden also aus eigenem Interesse heraus keine ernsthaften Bemühungen entwickeln, die eine Relativierung des Prinzips „Lohnarbeit“ gegenüber anderen möglichen Tätigkeitsfeldern zur Folge hätten. Das heißt nicht, dass die diversen Unterabteilungen der Verbandsorganisationen (Sozialpolitik, Umwelt, Gender etc.) vollkommen irrelevant sind. Aber es heißt, dass diese Bereiche mehr oder minder unmittelbar mit dem Tätigkeitsschwerpunkt „Lohnarbeit“ verknüpft sind (Schneider 2000: 475) und mit dem Anspruch der Aufrechterhaltung dieses Prinzips nicht kollidieren dürfen (Nissen 1988). Das grenzt den Sichtbereich etwa sozialpolitischer Problemwahrnehmung und damit auch den Horizont sozialpolitischer Lösungsvorstellungen erheblich ein.
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Das Prinzip „Lohnarbeit“ erleichtert den Gewerkschaften zudem die Lösung ihrer Organisationsprobleme. Als inklusive Großgruppen (Olson 1992: 35ff.) können sie Verhandlungsmacht nur in dem Maße generieren, wie sie in der Lage sind, Mitglieder zu gewinnen und zu halten. Für das Individuum setzt die Zugehörigkeit zu einem auf freiwilliger Basis organisierten Verband jedoch die Möglichkeit voraus, sich selbst bewusst einer sozialen Gruppe zuordnen zu können. Das wiederum ist umso einfacher, je mehr diese Zuordnung zugleich mit der Möglichkeit der bewussten Abgrenzung von einer anderen sozialen Gruppe einhergeht. Als Entscheidungshilfe zur Feststellung individuellen Status’ bietet sich das Gegensatzpaar von Kapital und Arbeit in besondere Weise an. Allein aus Gründen der Mitgliederrekrutierung sehen sich daher die Gewerkschaften der Notwendigkeit gegenüber, diesen Gegensatz dominant zu halten. Sie werden so zu aktiven, zielgerichteten Konstrukteuren von „Klassenbewusstsein“; und erst diese Konstruktion eines Klassenbewusstseins versetzt sie in die Lage, kollektives Handeln der Beschäftigten und Umverteilung zwischen den Mitgliedern zu organisieren. Zwar hat die sozialstrukturelle Entwicklung in der Bundesrepublik längst schon, und nicht zuletzt als Folge sozialpartnerschaftlich vereinbarter Umverteilung (Lepsius 1995b), eine Stufe erreicht, auf der vom individuellen sozialen Status entlang des Kapital-Arbeit-Gegensatzes nicht mehr ohne weiteres auf eine entsprechende Position im sozialen Ungleichheitsgefüge geschlossen werden kann, wie das etwa noch im 19. Jahrhundert oder auch noch in der Zwischenkriegszeit möglich war. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Gewerkschaften auch zukünftig die Dichotomie von Kapital und Arbeit ins Zentrum ihres Handelns stellen (Kühl 2004: 136f., 146) und der Relativierung und Entdramatisierung dieses Antagonismus (Müller-Jentsch 1994: 68) mit (Re-)Dramatisierungsbemühungen begegnen werden. Denn keine der „moderneren“ gesellschaftlichen Konfliktlinien16 ist so griffig, einleuchtend, sinngebend und letztlich ja nach wie vor grundlegend, d.h. soziale Ungleichheit in anderen Dimensionen kausal fundierend (Nollmann 2004: 15; Koch 2003: 23f.) wie der Gegensatz von Kapital und Arbeit. Die aktiv konstruierende Rolle der Gewerkschaften und deren angesichts abnehmender Überzeugungskraft zunehmender Aufwand bei der Reproduktion des Kapital-Arbeit-Gegensatzes macht es daher plausibel, sie und nicht individuelle Akteure als Träger des Klassenbewusstseins zu betrachten (Marshall 1997: 44). Es ist diese spezifische Form des institutionalisierten Gegnerbezugs zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeber(verbände)n, die die Gewähr dafür trägt, dass die zu verhandelnden Konfliktthemen ebenfalls eine spezifische Form annehmen: Konflikte zwischen beiden Seiten der industriellen Beziehungen werden primär zu Lohnkonflikten und zu solchen um konkrete Fragen der Arbeitsbedingungen. Das bietet sich für die Gewerkschaftsführungen deshalb an, weil die vorübergehende Be16
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Denkbare Interessengegensätze bestehen z.B. in den Kategorien „Familie“, „Geschlecht“, „Umwelt“, „Gesundheit“ und kulminieren sämtlich in dem – allerdings schwer handhabbaren und daher für individuelle (Selbst-)Zuordnungen wenig geeigneten – Gegensatzpaar „Inklusion/ Exklusion“.
friedigung von Lohnforderungen, die gezielte temporäre Verbesserung einzelner Elemente der Arbeitsbedingungen oder auch die Verteidigung früher erreichter Bedingungen die Mitglieder eher zur Teilnahme an Arbeitskämpfen motiviert als die ebenso diffuse wie ungewisse Aussicht auf systemische Veränderungen zugunsten der Gesamtheit der Lohnarbeiter. Zusammenführung: Vorteile tarifautonomen Handelns für den Staat Die für eigeninteressierte Gewerkschaften notwendige Aufrechterhaltung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit konserviert das Prinzip „Lohnarbeit“. Das kommt staatlichen Akteuren entgegen, die einen erheblichen Anteil der finanziellen Grundlagen ihrer politischen Handlungsfähigkeit aus der Besteuerung von Lohnarbeit beziehen. Durch die fortgesetzte Institutionalisierung von Lohnarbeit als nach wie vor zentrales gesellschaftliches Strukturmerkmal stützen die Gewerkschaften aber nicht nur die fiskalische Basis staatlichen Handelns. Sie stabilisieren zugleich das bestehende politische System (O’Connor 1974: 36f., 58f., 291): Indem staatliche Akteure einen wesentlichen Teil der konfliktuösen Materie gesellschaftlicher Umverteilung aus ihrem Kompetenzbereich externalisieren, in die Zuständigkeit der Tarifpartner geben und sich bei entsprechender Gelegenheit auf die Tarifautonomie berufen können, stellen sie sicher, dass auch ohne ihr aktives Zutun Lohnarbeit als Schlüsselkategorie kapitalistischer Vergesellschaftung dominant bleibt und dass Zweifel am Grundprinzip „Lohnarbeit“ oder an den Folgen seiner alltäglichen Umsetzung abgewiesen werden (Traxler 1982). Denn durch ihr autonomes Agieren legitimieren die Gewerkschaften die sich aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit ergebenden, bestehenden sozialen Ungleichheiten und schaffen so die Voraussetzung für deren Akzeptanz, die wiederum Grundlage des sozialen Friedens (Lepsius 1995b: 4) und der Loyalität gegenüber dem politischen System (Straßner 2006: 14) ist. So können Gewerkschaften durch ihre im Vergleich zum Staat eindeutige Gruppenrepräsentationsfunktion Konfliktpotential binden und kanalisieren (Müller-Jentsch 1982; 1983: 147), das sonst womöglich ungefiltert und unbearbeitet auf staatliche Akteure durchschlagen und diese konfrontieren könnte mit ihrem postulierten Selbstanspruch, neutral, gemeinwohlorientiert und umverteilungsbefugt zu sein. „Mit dem frei ausgehandelten Tarifvertrag entlastet sich der Staat nicht nur von Ansprüchen und Erwartungen, die sich auf ihn richten, er erhöht seine eigenen Chancen der Legitimitätsgewinnung. Für eine politische Ordnung kommt es darauf an, daß Verteilungskonflikte nicht sofort zu Verfassungskonflikten werden“ (Lepsius 1995b: 6f.). Hierin liegt der Nutzen der Tarifautonomie für staatliche Akteure. Der Staat in seiner Gesamtheit als idealtypische Leit-Institutionalisierung (Rehberg 1994: 57) stabilisiert sich also selbst, indem er zu einem großen Teil die möglichen Kosten und Risiken externalisiert (Lepsius 1999), die ihm entstehen könnten, würde er sich selbst großumfänglich um die Ausgestaltung individueller Arbeits-
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bedingungen und um die Aufrechterhaltung des Prinzips „Lohnarbeit“ kümmern. Diese externalisierten Kosten werden von den Tarifverbänden getragen (Lepsius 1990: 74). Mit welchen Folgen sie dies tun, wird in den beiden folgenden Abschnitten untersucht. 4.2 Inflation als Problem für den Staat Von Preisniveaustabilität wird gesprochen, wenn sich der Geldwert für ein festgelegtes Güterbündel nicht verändert. Der in der Öffentlichkeit gebräuchlichste Vergleichszeitraum ist ein Jahr, d.h. Preisniveaustabilität besteht dann, wenn am Stichtag der Geldwert eines Warenkorbes mit dem entsprechenden Geldwert des Vorjahres-Stichtages identisch ist. Preisniveaustabilität bedeutet also nicht zwingend, dass die Preise aller zu Vergleichszwecken gemessenen Güter je für sich genommen stabil bleiben, sondern dass innerhalb des definierten Güterbündels einzelne Preiserhöhungen durch entsprechende Preissenkungen kompensiert werden und dadurch das aggregierte Preisniveau konstant bleibt (Hardes et al. 1990: 91). In der Geschichte der Bundesrepublik findet sich eine derartige absolute Preisniveaukonstanz nicht. Vielmehr waren durchweg Preisniveauveränderungen zu verzeichnen, und zwar ganz überwiegend nach oben. Derartige Inflationsphänomene lassen sich anhand ihrer dominanten Ursachen unterscheiden in Nachfrage- und Angebotsinflation. Zu Nachfrageinflation kommt es, wenn in hochkonjunkturellen Phasen, also unter Bedingungen der Vollauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten, auf weiter zunehmende gesamtgesellschaftliche Nachfrage nach Gütern oder Arbeit nicht mehr mit kurzfristiger Angebotsausweitung reagiert werden kann. Angebotsengpässe und Nachfragesteigerungen führen dann zu einem nachfragebedingten Anstieg des Preisniveaus. Demgegenüber ist Angebotsinflation die Folge eines Verteilungskampfes zwischen großen, mit Marktmacht ausgestatteten, interdependenten sozialen Gruppen. Von der einen Gruppe durchgesetzte Einkommensforderungen werden von der Gegengruppe als Kostenerhöhung wahrgenommen und, wenn möglich, durch Preisanhebungen ausgeglichen, woraus sich im fortgesetzten Wechselspiel aggregiert ein steigendes Preisniveau ergibt. Für staatliche Akteure birgt Inflation erhebliche Risiken. Zum einen haben Inflationsprozesse das Potential, staatliche Ansiedlungspolitik zu konterkarieren. Denn relevante Wirtschaftsakteure messen bei Ansiedlungs- und Investitionsentscheidungen den Rentabilitäts- und Inflationserwartungen eine wesentliche Bedeutung bei (Jarchow 1990: 276ff.). Solche Entscheidungen fallen im Allgemeinen umso schwerer, je öfter bzw. schwerwiegender vergangene Erwartungen enttäuscht wurden und je größer das Risiko zukünftiger Erwartungsenttäuschung erscheint (Herr, Hübner 2005: 155ff.), je unberechenbarer also die zukünftige Geldwert-Entwicklung ist. Je schwerer das Risiko unberechenbarer Inflation bei einer Ansiedlungsentscheidung ins Gewicht fällt, desto
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wahrscheinlicher wird aus Gründen unklarer Zukunft von einem beschäftigungswirksamen Investitionsvorhaben im Inland Abstand genommen (Hesse, Naujokat 1999). Zum anderen ziehen Inflationsprozesse Umverteilungswirkungen nach sich, die von staatlichen Akteuren nicht dauerhaft ignoriert werden können. Inflationseffekte treffen nicht alle gesellschaftlichen Akteuren in gleicher Weise und Intensität. Vielmehr lassen sich regelmäßig Inflationsgewinner und Inflationsverlierer unterscheiden (vgl. Pätzold 1998: 31-35). Zu den Inflationsverlierern müssen vor allem gezählt werden (a) all jene Steuerpflichtigen, deren rein inflationsbedingte Einkommenserhöhung bei einem progressiven Steuersystem zum Anstieg der individuellen relativen Steuerlast führt; (b) die Bezieher von Transfereinkommen, weil diese zumeist sozialpolitischen Transfereinkommen aller Erfahrung nach erst mit beträchtlicher Verzögerung an die allgemeine Preisniveauentwicklung angepasst werden und (c) all jene Gläubiger, deren Forderungen oder Spareinlagen in Geldeinheiten fixiert sind und durch Inflation an Realwert verlieren. Allein diese drei Gruppen umfassen nahezu die gesamte Bevölkerung, und sie reagieren empfindlich auf Preissteigerungen – durch Verhaltensänderungen ebenso wie durch Unmutsäußerungen. Inflationsprozesse als Problem der gesamten Gesellschaft sind damit zugleich ein Problem eigeninteressierter staatlicher Akteure, deren Fähigkeit zur Reproduktion politischer Macht von den Legitimationsbekundungen und Wahlverhaltensweisen der unmittelbar inflationsbetroffenen Bevölkerungskreise abhängt. Staatliche Akteure finden sich dabei in einem Dilemma. Ihre politische Zukunft und ihren Zugang zu politischer Macht gefährden sie nicht nur, wenn sie Inflation tolerieren. Legitimitäts- oder gar Machtverlust riskieren sie auch bei Bekämpfung von Inflation. Denn ihre wirtschafts-, fiskal- oder sozialpolitischen Instrumente wirken in der Regel asymmetrisch, belasten also einige Bevölkerungsgruppen mehr als andere. Das ist der politischen Reputation staatlicher Akteure ebenfalls nicht zuträglich (Pätzold 1998: 35). Folgerichtig haben staatliche Akteure ein generelles und ausgeprägtes Interesse an einer möglichst geringen Inflation, die sie von der Pflicht der Inflationsbekämpfung weitgehend befreit. Eine weitere umfang- und einflussreiche Bevölkerungsgruppe, die von Inflationsprozessen empfindlich betroffen ist, ist die der tariflohnabhängigen Arbeitnehmer. Sie sind in der Regel Inflationsverlierer, weil die Anpassung ihrer Nominallöhne an die Preisniveauentwicklung zeitlich verzögert erfolgt. Diese Verzögerung lässt sich nicht vermeiden: Soll die Anpassung der Löhne als Preis für die Arbeitskraft kollektiv erfolgen, dann geht dies organisationslogisch nur in größeren Abständen. Gewerkschaften stehen damit vor dem Problem, die Balance zwischen der Dauer eines Tarifvertrages und der Höhe einer Lohnforderung finden zu müssen (Wagner 2001: 290). Eine lange Vertragsdauer minimiert zwar die Transaktionskosten, erhöht aber auch das Entwertungsrisiko der Vertragsinhalte. Eine kurze Vertragsdauer erhöht den Aufwand, den Gewerkschaften für Anschlussverhandlungen, für Mitgliedermotivation, für politische Kommunikation und Akzeptanzentwicklung etc. zu betreiben haben, sie verschleißt möglicherweise die Konfliktbereitschaft der Mitglieder und verkürzt nicht
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zuletzt die Regenerationsphasen gewerkschaftlicher Ressourcen. Daraus ergibt sich zunächst ein starkes Interesse auch der Gewerkschaften an einer möglichst geringen Geldentwertung. Um aber dem tendenziellen Absinken der Lohnquote und dem realen Kaufkraftverlust der Lohneinkommen während der Tarifvertragslaufzeit entgegenzuwirken, müssen die Tarifpolitiker der Gewerkschaften bemüht sein, nicht nur die Geldentwertungen seit der letzten Anpassung auszugleichen, sondern auch zukünftige Preissteigerungen mit zu berücksichtigen und antizipativ mindestens zu kompensieren (Wagner 2001: 281). Tarifpolitisches Verhalten erfolgt so gleichzeitig in Reaktion auf und Antizipation von Inflation (Berger 1996: 577; Scharpf 2000b: 371). Die Durchsetzung derart rückblickend-vorausschauender Nominallohnforderungen zur Stabilisierung der Reallöhne verstärkt aber ihrerseits inflationäre Tendenzen bei Güterpreisen (Pätzold 1998: 266). Denn das Motiv der Transaktionskostenminimierung durch lange Vertragslaufzeiten gilt für die Arbeitgeberverbände nur in stark abgeschwächter Form. Deren Mitglieder, einzelne Unternehmen, sind zwar ebenfalls an einer berechenbaren zukünftigen Geldwert-Entwicklung interessiert. Sie aber haben in aller Regel die zusätzliche Möglichkeit, zeitnah auf durchgesetzte Lohnerhöhungen und andere Inflationsursachen dadurch zu reagieren, dass sie über die Anpassung von Produktpreisen das vormalige Gewinn-Lohn-Verhältnis zumindest annähernd wieder herstellen, wodurch sie die inflationäre Entwicklung freilich weiter forcieren. Hierauf können die Gewerkschaften in der nächsten Lohnrunde ihrerseits nur mit wiederum erhöhten Lohnforderungen reagieren. Bis heute ist die so genannte Meinhold-Formel (1965) Basis gewerkschaftlicher Lohnpolitik: Nominallohnzuwächse sollen der Summe aus Produktivitätssteigerung und Preissteigerung entsprechen. Das sich so ergebende Wechselspiel ist insgesamt in der Ökonomischen Theorie als Lohnkosteninflation bekannt und gilt als das klassische Beispiel für Angebotsinflation. Ausgangspunkt für inflationssteigerndes tarifautonomes Verhalten sind dabei in der Regel nicht die Gewerkschaften selbst, sondern exogene Einflüsse, etwa Ölpreisschocks, das Paradebeispiel zur Erklärung von Lohn-Preis-Spiralen, oder auch Verschärfungen des Lohnkeils infolge staatlicher Entscheidungen (Schmid et al. 1996: 148f.). Die inflationsverstärkende Lohnpolitik der Gewerkschaften ist insofern unintendiert (O’Connor 1974: 59). Organisationslogisch ist es aus Sicht der Gewerkschaften attraktiver, ihre Konfliktfähigkeit primär für reale Lohnsteigerungen einzusetzen und nicht primär für den Ausgleich bereits stattgefundener und erwarteter Geldentwertung. Von der Vorwegnahme zukünftiger Geldentwertung entlastet zu sein, verringert nicht nur den eigenen Beitrag zur letztlich ungewollten Verschärfung der Inflation, sondern auch die „Fehleranfälligkeit“ der eigenen Lohnpolitik. Dennoch nehmen Gewerkschaften Inflation – auch als Folge eigenen Handelns – in Kauf, und dies umso wahrscheinlicher, je stärker sie ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit in zukünftigen Lohnrunden einschätzen. Verkürzt heißt das: Das Ausmaß tarifautonom evozierter Inflation ist abhängig von der Konfliktfähigkeit der Tarifverbände.
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Der Verteilungskampf um die beiden wichtigsten Einkommenskategorien Lohn und Gewinn hat entsprechend beträchtliches Störpotential auf die Geldwertstabilität: Makroökonomisch kann der Lohnanteil am Volkseinkommen nur zu Lasten des Gewinnanteils steigen und umgekehrt. Die sich aus diesem Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit ergebende Dynamik gilt damit gemeinhin als eine der gravierendsten Ursachen für Inflationsprozesse überhaupt. Trotz ihrer beschriebenen, grundsätzlich gleichgerichteten Interessenlage bezüglich des Preisniveaus ergeben sich aus diesen Destabilisierungseffekten für Staat und Gewerkschaften unterschiedliche Handlungsoptionen für den Fall vorherrschender oder erwarteter inflationärer Entwicklungen (vgl. Abb. 5). Tarifautonomie kann also Effekte nach sich ziehen, die für eigeninteressierte, an Machtreproduktion ausgerichtete staatliche Akteure problematisch sind. In der Terminologie der angelsächsisch geprägten Institutionalismus-Forschung heißt das: Mit Blick auf das Problem der Preisniveaustabilität lässt sich die Persistenz der Institution „Tarifautonomie“ nicht damit erklären, dass sie für die Stabilität und Reproduktion des politisch-staatlichen Systems funktional ist. Im Gegenteil: Aus dem Interesse staatlicher Akteure an möglichst geringer Inflation lässt sich ihre starke Motivation ableiten, auf tarifautonomes Verhalten einzuwirken. Abbildung 5:
Problem A: instabiles Preisniveau (PN) Langfristiges Ziel
Kurzfristiger Handlungs-zweck -effekt
Gewerkschaften
PN-Stabilität
Inflationsausgleich
Inflation n
Staat
PN-Stabilität
PN-Stabilisierung
Inflation p
Angebotsinflation lässt sich letztlich nur bekämpfen durch Begrenzung der Marktmacht jener Akteure, die einen Verteilungskampf mit Inflationsfolgen führen. Im Fall der Lohnkosteninflation heißt das: Ziel staatlicher Politik ist es, auf die Entwicklung des Verhältnisses von Lohn und Gewinn so einzuwirken, dass es mit Geldwertstabilität vereinbar ist. Entsprechend ist das staatliche Bemühen um Geldwertstabilität letztlich das Bemühen um „Zementierung“ der bestehenden relativen Einkommensverteilung zwischen und jeweils innerhalb der beiden wesentlichen Einkommenskategorien trotz der sich aus Konjunkturzyklen prinzipiell ergebenden Flexibilität des Vertei63
lungsspielraums zwischen Löhnen und Gewinnen (Spahn 1983: 114ff., Pätzold 1998: 327f.). Staatliche Politik zielt also auf eine Mäßigung der gewerkschaftlichen Lohnforderungen und des (tariflichen) Lohnanstiegs, „um auf diese Weise den Kostendruck auf die Unternehmen zu mildern und die emporschnellenden Inflationsraten zu dämpfen“ (Scharpf 2000b: 364f.). Dabei kommt die rigide, direkte Beseitigung der Marktmacht der Gewerkschaften als Quelle stabilitätswidrigen Verhaltens nicht in Betracht (Pätzold 1998: 273). Das liegt zum einen an der beschriebenen institutionellen Verfestigung der Tarifautonomie. Zum anderen ist die unmittelbare staatliche Regulierung der Lohn- und Preisentwicklung, sei es in Form von Lohn- und Preisstopps oder in Form der Festlegung von Zielkorridoren, innerhalb derer sich die Lohn- und Preisentwicklung vollziehen darf, auch ökonomisch fragwürdig. Vordergründig sind zwar gesetzliche Lohn- und Preisstopps (und plausibel unter ökonomischen wie legitimatorischen Gesichtspunkten ist nur eine Parallelität beider) eine extrem wirksame Maßnahme gegen Inflation. Dieses Instrument führt allerdings auch zu einer Reihe unintendierter und vor allem kaum steuerbarer Effekte (Meyer-Thoms 1978), deren Saldierung die Ineffizienz von Lohnund Preiskontrollen sichtbar macht. Staatliche Lohn- und Preisvorgaben können vielfältiges Ausweichverhalten hervorrufen. So können sich aus verdeckter Produktqualitätssenkung bei nominal konstanten Preisen effektive, reale Preiserhöhungen ergeben; auch können sich unkontrollierbare und ungleichheitsverschärfende Schwarzmärkte bilden (Friedrich, Kraft 2000: 322f.). Vor allem aber und aus Sicht staatlicher Akteure viel bedeutsamer ist, dass Lohn- und Preiskontrollen sehr wahrscheinlich negative Allokationseffekte hervorrufen: Nur ein möglichst realistischer, also unmanipulierter Preismechanismus ist als wesentliche Information über Knappheitsrelationen für Investitionsentscheidungen geeignet. Künstlich hervorgerufene Preis- und Lohnstabilität hingegen schaltet diesen grundlegenden marktwirtschaftlichen Selbststeuerungs- und Stabilisierungsmechanismus aus, verunsichert auf diese Weise potentielle, renditeorientierte Investoren und führt damit tendenziell zu einem Rückgang der Investitionen (vgl. Wagner 2001: 298ff.). Staatliche Lohn- und Preisvorgaben konterkarieren damit die beschriebene, investitionsfördernde Ansiedlungspolitik des Staates. Lohn- und Preisstopps und selbst die Festlegung verbindlicher Lohnleitlinien sind daher für offene Volkswirtschaften jenseits extremer Ausnahmesituationen (Hyperinflation, Kriegsbzw. unmittelbare Nachkriegszustände o.ä.) ein unangemessenes Mittel, da sie nur vordergründig zur Stabilisierung der Geldwertentwicklung beitragen, jedoch fortgesetzte kapitalistische Verwertungsprozesse erheblich erschweren können. Dementsprechend kam dieses Instrument in der Geschichte der Bundesrepublik bislang nur einmal ansatzweise zum Einsatz – und zwar in einer Zeit, in der die Tarifautonomie zwar rechtlich, aber noch nicht kulturell institutionalisiert war. In den so genannten Kanzlerausschüssen bei Konrad Adenauer 1951 wurde neben der Lohn- auch die Preisentwicklung erörtert. Von der ursprünglich vorgesehenen imperativen Vorgabe von Lohn- und Preisentwicklungskorridoren wurde dann aber aufgrund des erbitter-
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ten Widerstands aller beteiligten nichtstaatlichen Akteure rasch Abstand genommen. Seither spielen lediglich noch in der öffentlich bewirtschafteten Daseinsvorsorge administrierte Verbraucherpreise, nicht aber Löhne eine nennenswerte Rolle. Ebenso wenig wie mit direkter Lohn- und Preisregulierung können staatliche Akteure mit geldpolitischen Maßnahmen Inflationsprozesse bekämpfen. Durch die starke Stellung einer autonomen Zentralbank sind ihnen weitgehend die Möglichkeiten entzogen, durch Anpassung der Geldmenge Inflationstendenzen entgegenzuwirken. Damit beschränkt sich das staatliche Bemühen um „Zementierung“ des GewinnLohn-Verhältnisses und um Stillstellung des Verteilungskonflikts zwischen Unternehme(r)n und Arbeitnehmern zwangsläufig auf relativ weiche einkommenspolitische Strategien. Und gerade weil es staatlichen Akteuren um eine dauerhafte Stillstellung des Verteilungskonfliktes geht, betreiben sie auch permanent Einkommenspolitik, also nicht nur in Phasen verstärkter Preisniveauinstabilität mit dem Ziel der Restabilisierung, sondern auch in Phasen vergleichsweise geringer Inflation mit dem Ziel der Bewahrung von Geldwertstabilität. In Abhängigkeit von der aktuellen bzw. erwarteten Preisentwicklung variiert staatliche Einkommenspolitik lediglich in ihrer Intensität (Jarchow 1990: 276-307; Wagner 2001: 272). Da „expansive“ gewerkschaftliche Lohnforderungen kurz vor oder nach Einsetzen eines konjunkturellen Aufschwungs wegen des dann größeren Verteilungsspielraums wahrscheinlicher sind als in Abschwungphasen, in denen es den Gewerkschaften eher um die Verteidigung der im Aufschwung erkämpften Lohnbedingungen geht, werden staatlicher Akteure ihre Einflussbemühungen auf die Lohnentwicklung in Aufschwungphasen (mit erhöhter Inflationsgefahr) intensivieren, in Abschwungphasen jedoch nicht vollständig unterlassen. In diesem grundsätzlichen Punkt unterscheiden sich primär keynesianische Strategien sozialdemokratisch geführter Regierungen nicht von den eher monetaristischen Strategien christdemokratisch geführter Regierungen. Unterschiede bestehen hingegen beim präferierten Zielkorridor des Gewinn-Lohn-Verhältnisses, bei der Bewertung der Geldwertentwicklung als bedrohlich und, aus beidem zusammen abgeleitet, beim (lohn-)einkommenspolitischen Vorgehen (Hibbs 1977: 1468ff.). Keine Regierung möchte für Inflation politisch verantwortlich gemacht werden. Aber mit Inflation konfrontiert, besteht einer bekannten Einteilung Fritz W. Scharpfs (2000b: 374ff.) zufolge die keynesianische Strategie staatlicher Akteure in der Vermeidung von Arbeitslosigkeit als Primärziel und der Vermeidung von Inflation als Sekundärziel; zugunsten geringer Arbeitslosigkeit wird also relativ hohe Inflation toleriert. Die monetaristische Strategie staatlicher Akteure besteht dagegen in der Vermeidung von Inflation als Primärziel und der Vermeidung von Arbeitslosigkeit als Sekundärziel; zugunsten geringer Inflation wird also relativ hohe Arbeitslosigkeit toleriert. Die Unterschiede zwischen sozialdemokratisch und christdemokratisch geführten Regierungen bestehen also nicht darin, ob, sondern wann und wie sie auf Lohnpolitik Einfluss zu nehmen versuchen, wann und wie sie also von den Gewerkschaften Lohnmäßigung fordern (Wagner 2001: 275).
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Abbildung 6 macht diese Unterschiede für einen Beobachtungszeitraum ab 1960 sichtbar. Unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung zwischen 1969 und 1983 lag einerseits die Inflationsrate durchweg im Bereich zwischen 3 und 7 Prozent, andererseits stieg die Lohnquote im selben Zeitraum stetig um insgesamt mehr als 10 Prozentpunkte. Demgegenüber ist für die Zeiträume christdemokratischer Regierungsverantwortung ein wesentlich moderaterer Lohnquoten-Anstieg bis 1969 sowie ab 1983 zunächst eine Wiederabsenkung und anschließende Konsolidierung der Lohnquote zu verzeichnen, während die Inflationsraten sich mit Ausnahme einigungsbedingter Sondereffekte Anfang der 1990er Jahre nicht bzw. nicht ernsthaft über 3 Prozent bewegten. Die Abbildung belegt somit die höhere Toleranz des Staates gegenüber Inflationstendenzen in der Zeit keynesianisch geprägter, sozialdemokratischer Regierungsverantwortung zwischen 1969 und 1983. Die Daten legen nahe, dass die vergleichsweise hohe Inflation in Kauf genommen wurde als Preis für die dauerhafte Anhebung des Lohnanteils am Volkseinkommen auf ein deutlich höheres Niveau. Geldwertentwicklung und bereinigte Lohnquote 1960-2004
80
8
75
7
70
6
65
5
60
4
55
3
50
2
45
1
40
0
35
Geldwertentwicklung zum Vorjahr in %
Lohnquote in % des Volkseinkommens
Abbildung 6:
-1 1960
1964
1968
1972
1976
1980
Bruttolohnquote
1984
1988
1992
1996
2000
2004
Geldwertentw.
Quelle: BMAS 2000: Tabn. 1.8 und 1.12, eigene Berechnungen; vgl. auch Bontrup 2000: 291ff., 356, 370
Das Bemühen staatlicher Akteure, mit dem Ziel der Milderung des Kostendrucks auf die Unternehmen mäßigend auf den Lohnanstieg einzuwirken, wird damit nicht infrage gestellt. Auch innerhalb einer keynesianischen Strategie kann das unternehmerische Interesse an stabilen, d.h. berechenbaren Investitions- und Verwertungsbedingungen dauerhaft ebenso wenig missachtet werden wie das Eigeninteresse staatlicher 66
Akteure an optimalen Machtreproduktionsbedingungen. Auch innerhalb einer keynesianischen Strategie gibt es somit eine Toleranzgrenze bezüglich gewerkschaftlicher Lohnpolitik, aber sie liegt offensichtlich höher als innerhalb der monetaristischen Strategie. Entsprechend sind staatliche Versuche, die Gewerkschaften zu Lohnzurückhaltung zu bewegen, Bestandteil sowohl keynesianischer als auch monetaristischer politischer Steuerung. Der Unterschied zwischen beiden Strategien besteht darin, dass keynesianische Politik diese Aufforderung bereits als erfüllt betrachtet, wenn die Reallohnzuwächse unterhalb der Inflationsrate liegen, während Lohnzurückhaltung in monetaristischer Lesart „freiwilligen Reallohnverzicht der Arbeitnehmerseite zur Erhöhung der Kapitalrendite“ (Scharpf 2000b: 365) meint. Entsprechend ist zu erwarten – und rückblickend auch bestätigt –, dass die (lohn-)einkommenspolitischen Einflussversuche sozialdemokratischer Regierungen auf die Gewerkschaften erst bei einer vergleichsweise höheren Inflationsrate intensiviert werden und dabei einen insgesamt weniger konfrontativen Charakter haben, als die Einflussversuche christdemokratischer Regierungen. Vor dem Hintergrund einer weitgehend unabhängigen, sich für Preisstabilität einsetzenden Zentralbank heißt dies auch: Das Risiko, mit ihr in Konflikte zu geraten, ist für sozialdemokratische, tendenziell eher keynesianisch agierende Regierungen deutlich höher als für christdemokratische, tendenziell eher monetaristisch vorgehende. Insgesamt jedoch gilt: Unabhängig davon, ob staatliche Akteure aus eigener Überzeugung früher oder unter dem Druck der unabhängigen Zentralbank später Inflationsbekämpfung betreiben, und unabhängig davon, ob sie dabei eher konfrontativ oder eher kooperativ vorgehen: in jedem Fall nähern sie sich mit diesen Einflussversuchen der lohnpolitischen Domäne der Tarifpartner. Das aber erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass im öffentlichen Diskurs die Tarifautonomie thematisiert wird. 4.3 Arbeitslosigkeit als Problem für den Staat Staatliche Akteure haben ein Interesse an der Verhinderung bzw. dem Abbau von Massenarbeitslosigkeit. Denn Massenarbeitslosigkeit erschwert zum einen die Möglichkeiten der Machtreproduktion staatlicher Akteure und begrenzt zum anderen ihren finanziellen und politischen Handlungsspielraum. Dass Massenarbeitslosigkeit politische Machtreproduktion erschwert, zeigt ein Blick auf die aktuelle Konstellation des politischen Systems der Bundesrepublik. Der Befund, dass hohe Arbeitslosenzahlen politisch folgenlos blieben und legitimatorisch kaum durchschlugen auf parlamentarische Mehrheitsverhältnisse (Vobruba 1998), galt für die frühere Bundesrepublik und gilt (mit Abstrichen) noch heute in den Alten Bundesländern. Ein Blick auf die ostdeutschen Länderparlamente und auch auf die zunehmenden Schwierigkeiten eines routinierten Parlamentarismus in den Alten Ländern zeigt jedoch eine Änderung der Verhältnisse an. Im Rahmen des Wahlverhaltens wird verstärkt pauschal „die Politik“ für Arbeitslosigkeit und damit verbundene nach-
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teilige individuelle Lebenslagen verantwortlich gemacht. Man geht zu weit, wenn man aus der Vielzahl individueller Frustrationspotentiale ein kollektives Revolutionspotential konstruiert. Aber die insbesondere nach 1990 durch die einigungsbedingte Neuordnung des Parteiensystems gemachte Erfahrung, dass vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossene eine signifikant stärkere Empfänglichkeit für rechts- oder linkspopulistische Parteipolitiken haben (Niclauß 2002: 49f., 248ff.), macht deutlich, dass etablierte politische Eliten das Durchschlagen wirtschaftlicher Krisen auf politische Verhältnisse und Gestaltungsmöglichkeiten nicht vollends ausschließen können. Massenarbeitslosigkeit begrenzt zudem den finanziellen und damit den politischen Handlungsspielraum staatlicher Akteure. Zum einen führt Arbeitslosigkeit zu einem geringeren Steueraufkommen und zu Mindereinnahmen der Sozialversicherungen (vgl. dazu Spitznagel, Bach 2000; Bach, Spitznagel 2008). Zum anderen leitet sich aus der dem Staat zugewiesenen politischen Verantwortung für das Problem „Arbeitslosigkeit“ die Verpflichtung staatlicher Akteure ab, Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen und ihre Folgen zu bearbeiten. Das verursacht Kosten. Hohe Ausgaben für beschäftigungspolitische Maßnahmen und Sozialtransfers lassen sich jedoch nicht unbegrenzt durch erhöhte Staatsverschuldung oder Abgabenerhöhungen kompensieren. Dadurch wird die Realisierung anderweitiger politischer Projekte behindert und politischen Akteuren die Möglichkeit erschwert, ihre Machtpositionen zu befestigen. Arbeitslosigkeit verlangt staatlichen Akteuren einen schwierigen Balance-Akt ab (vgl. Fehmel 2006a: 12f.). Da ihre Bemühungen um Abbau von Arbeitslosigkeit nicht zu kostspielig sein können, sind sie einerseits motiviert, Kosten und Verantwortung überschaubar und berechenbar zu halten, möglichst abzusenken und gleichwohl die Zahl transferberechtigter Arbeitssuchender zu minimieren. Andererseits sollten die Bemühungen um Abbau von Arbeitslosigkeit aus Sicht staatlicher Akteure nicht zu erfolgreich sein. Nicht nur ist faktische Vollbeschäftigung als Folge staatlicher, beschäftigungspolitischer Anstrengungen kaum im Interesse der Arbeitgeber (Vobruba 1997: 54ff.). Hinzu kommt die, freilich nur begrenzt erfahrungsgesättigte (Scharpf 1987: 151ff.), politische Sorge, dass unter Vollbeschäftigungsbedingungen die Gewerkschaften Lohnerhöhungen durchsetzen könnten, in deren Folge Inflationstendenzen zunehmen. Unabhängig davon, wie berechtigt es ist, Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität als sich gegenseitig ausschließende Ziele zu betrachten, ist allein die Möglichkeit, dass es eine solche Ausschließlichkeit geben könnte, für staatliche Akteure handlungsrelevant (Bleses, Vetterlein 2002: 16): Inflation ist mit ihrer beschriebenen Tendenz zur Selbstbeschleunigung schwerer zu prognostizieren, betrifft alle Gesellschaftsmitglieder und erhält entsprechend mehr Aufmerksamkeit als das „Minderheitenproblem Arbeitslosigkeit“ (Berger 1996: 577). Insgesamt ergibt sich daraus, dass eine moderate (überschaubare, politische Macht nicht gefährdende) und stabile (berechenbare, bezahlbare) Arbeitslosigkeit den Handlungsspielraum staatlicher Akteure am wenigsten beeinträchtigt und insofern optimal ist (vgl. Vogt 1983: 392; Vogt 1986: 148ff., Ganßmann 2000: 78-85). Durch die
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Brille staatlicher Akteure liest sich damit Soll-Formulierung „hoher Beschäftigungsstand“ im StWG als „ausreichend hoher Stand jedweder Form abhängiger Beschäftigung“, dem in Kauf genommene Arbeitslosigkeit in einem Ausmaß gegenübersteht, das bezahlund beherrschbar bleibt. In welche Beschäftigungsform Arbeitssuchende dabei vermittelt werden, ist also zunächst zweitrangig (vgl. exemplarisch für die Arbeitsbedingungen im Bereich der Postdienstleistungen Blanke 2007). Jedenfalls ist das so genannte Normalarbeitsverhältnis17 schon lange nicht mehr die von der staatlichen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik privilegierte Beschäftigungsform (Andreß, Seek 2007). Die Frage nach der Beschäftigungsform wird erst wichtig, wenn die negativen Folgen der Arbeitslosigkeit (umfangreiche Sozialtransfers, Kaufkraftverlust, Schwarzarbeit, soziale Spannungen etc.) durch die Vermittlung in abhängige Beschäftigung nicht überwunden werden können und das Risiko der Destabilisierung der ökonomischen und legitimatorischen Grundlagen politischer Macht nicht hinreichend vermindert werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich spontan ein stabiles Verhältnis zwischen gesamtwirtschaftlichem Arbeitskräfteangebot und gesamtwirtschaftlicher Arbeitskräftenachfrage mit handhabbarer Restarbeitslosigkeit einstellt und dass es dauerhaft anhält, ist sehr gering; diese Vorstellung ist insbesondere für Rezessionsphasen mit vermin17
Der Begriff geht zurück auf Mückenberger (1985a+b). Als konstitutiv für das Normalarbeitsverhältnis können folgende Elemente angesehen werden (vgl. Dombois 1999): - das Arbeitsverhältnis ist unbefristet und im Prinzip auf Dauer angelegt, die vereinbarte Arbeitszeit (in der Regel Vollzeit) ist in Länge und Lage standardisiert, - das mit dem Arbeitsverhältnis erzielte Einkommen ist mindestens existenzsichernd und stellt das einzige Einkommen des Beschäftigten, oft inklusive der Kernfamilie des Beschäftigten dar; es ist ebenfalls häufig standardisiert, sieht also von individueller Arbeitsleistung ab, - die Standardisierung von Arbeitszeit und Einkommen wird überwiegend durch tarifvertragliche und rechtliche Normierung erzielt, - im individuellen Lebensverlauf ermöglicht ein Normalarbeitsverhältnis eine kontinuierliche, im Prinzip ununterbrochene Erwerbsbiografie, die sich auszeichnet durch karriereförmige Muster der Verbesserung und Sicherung des beruflichen sowie des Einkommensstatus und die ihrerseits Basis für den Erwerb sozialpolitischer Anwartschaften ist. Je weniger ein Arbeitsverhältnis den Normalitätsannahmen in einer oder mehrerer dieser Kategorien (Dauer, Arbeitszeit, Einkommen, Standardisierung, Karrierisierung) entspricht, desto „atypischer“ ist es (Keller, Seifert 2006). Entsprechend ist der Begriff „atypische Beschäftigung“ ein nur bedingt brauchbarer Residualbegriff und als solcher vor allem im akademischen Diskurs verbreitet. Zu atypischer Beschäftigung werden sozialversicherungspflichtige Teilzeit- und befristete Beschäftigung ebenso gezählt wie zeitlich und/oder entgeltbezogen geringfügige Beschäftigung ohne Sozialversicherungspflicht, Zeit-, Leih-, Heim- und Abrufarbeit etc. Angesichts dieser Vielfalt überrascht es nicht, dass bereits ein Drittel aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse dem Bereich der atypischen Beschäftigung zuzuordnen sind. Zieht man die nicht näher bekannte Zahl nicht-sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse hinzu, dann zeigt sich schnell, wie unangemessen die Rede von atypischer oder anormaler in Abgrenzung zu typischer bzw. normaler Beschäftigung in heutiger Zeit geworden ist. Die Paßfähigkeit verschiedener Formen von Beschäftigung, über die ja mit der Unterscheidung von normaler vs. atypischer Beschäftigung etwas ausgesagt werden soll, lässt sich unter Bedingungen heutiger Beschäftigungsheterogenität nicht mehr kategorial zuordnen, sondern nur noch graduell bestimmen.
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derter Nachfrage unrealistisch. Spontane Angebotsverknappung, wie sie auf Gütermärkten möglich ist, steht den Anbietern von Arbeitskraft angesichts des damit verbundenen Einkommensausfalls als Option im Grunde ebenso wenig zur Verfügung wie die Anpassung der Löhne insbesondere der unteren Einkommensgruppen an markträumende Werte. Weder Nachfrager noch Anbieter von Arbeitskraft bringen also die Voraussetzungen mit, unter denen sich ein annähernd geräumter Arbeitsmarkt mit moderater und stabiler Arbeitslosigkeit spontan einstellt und dauerhaft einpegelt. Das heißt nicht, dass die Erreichung eines solchen Zustandes unmöglich ist. Aber es heißt, dass die Bedingungen, unter denen er sich einstellen kann, durch aktive politische Steuerung herbeigeführt werden müssen. Der Staat kann Arbeitslosigkeit bekämpfen sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes. Er kann also sowohl das Verhalten der Arbeitskräfte nachfragenden Unternehmen beeinflussen als auch das Verhalten der Arbeitskraft anbietenden abhängig Erwerbstätigen. Strategien der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit auf der Nachfrageseite Generelles Ziel nachfrageseitiger Strategien ist die beschäftigungswirksame Verbesserung der Investitionsbedingungen der Unternehmen. Zum einen kann der Staat selbst als Nachfrager auftreten und über die so ausgelösten Investitionen in den Unternehmen zu erhöhter Nachfrage nach Arbeitskräften, also zur Entstehung zusätzlicher Arbeitsplätze und zum Abbau von Arbeitslosigkeit beitragen. Er würde jedoch die intendierten Effekte seiner erhöhten Nachfrage weitgehend neutralisieren, wenn er sie über die gleichzeitige Erhöhung von Abgaben finanzieren würde. Umfangreiche Staatsverschuldung als alternativer Weg der Finanzierung staatlicher Nachfrage zur Anreizung beschäftigungswirksamer Investitionen stößt jedoch spätestens seit den 1980er Jahren auf politischen Widerstand und wird zudem erschwert durch die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages, die die Geld- und Fiskalpolitik im gemeinsamen europäischen Währungsraum strukturieren. Auch sozialdemokratische Bundesregierungen räumen mittlerweile (zwangsläufig) dem Ziel eines dauerhaft ausgeglichenen Staatshaushalts mehr Priorität ein als einer antizyklisch-keynesianischen Beschäftigungspolitik. Wenn staatliche schuldenfinanzierte Nachfragestimulation ausfällt, bleibt staatlichen Akteuren nur, zur beschäftigungswirksamen Verbesserung der Investitionsbedingungen die Kosten- und Abgabenbelastung der Unternehmen zu reduzieren. Je nach Modell übernimmt der Staat einen Teil der entstehenden Unternehmenskosten (Ansiedlungssubventionen, beschäftigungsgebundene Investitionshilfen, Lohnkostenzuschüsse u.ä.) oder verzichtet auf einen Teil der unternehmerischen Steuern und Abgaben, erhöht also seine Ausgaben oder verringert seine Einnahmen in beträchtlichem Umfang.
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Alle derartigen fiskalischen und arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Verbesserung von Investitionsbedingungen lassen sich damit letzten Endes einer weiten Definition des Kombilohn-Modells subsumieren (vgl. Jaehling, Weinkopf 2006). Denn zumindest implizit geht in der Regel mit dieser Art der Unterstützung die Überzeugung einher, dass es zu hohe und vor allem zu starre Löhne sind, die eine eigenständige unternehmerische Investitionstätigkeit ohne staatliche Mithilfe unterbinden. Insofern erbringt der Staat für Unternehmen und für Arbeitnehmer wichtige Leistungen. Unternehmen profitieren von staatlichen Hilfen und sind trotz ihrer Auffassung nach unzureichend flexiblen Lohnstrukturen investitionsfähig. Und Arbeitnehmer resp. Gewerkschaften werden von dem Druck entlastet, in Rezessionsphasen mit Lohnsenkungen die Investitionsfähigkeit der Unternehmen zu erhalten. Der Preis, den der Staat für diese Konfliktentschärfung zu zahlen hat, besteht in einer zumindest partiellen Politisierung und Fiskalisierung der unternehmerischen Kostenbestimmung und der Lohnfindung (Offe 2005: 149). Einmal mit der Möglichkeit staatlicher Unterstützung vertraut, weisen Arbeitgeber und ihre Verbände immer wieder auf zu hohe Kosten hin und verbinden das Postulat der Arbeitsplatzschaffung oder zumindest -erhaltung mit Ansprüchen lohnpolitischer und politischer Art. Forderungen etwa nach steuerlicher Entlastung, nach arbeitsrechtlicher Deregulierung oder nach umweltpolitischer Zurückhaltung erhalten so deutlich mehr Nachdruck. Angesichts seiner begrenzten finanziellen Handlungsspielräume kann der Staat aber nicht unbegrenzt den Forderungen der Unternehmen nachgeben, ohne seine Pufferposition zugunsten der Arbeitnehmer zu relativieren. Je höher die registrierte Arbeitslosigkeit ist und je unsicherer dadurch die Möglichkeiten politischer Machtreproduktion werden, umso offener drängen staatliche Akteure selbst die Gewerkschaften, im Interesse der Arbeitsplatzerhaltung und Arbeitsplatzschaffung niedrigere Löhne als bisher tariflich zu vereinbaren und zum Beispiel auch einen tarifvertraglich legitimierten NiedriglohnSektor einzurichten.18 Mit dieser Forderung stoßen staatliche Akteure freilich nahezu zwangsläufig auf den Widerstand der die Interessen ihrer „normalarbeitenden“ Mitglieder vertretenden Gewerkschaften. Es will gut überlegt sein, ob sich staatliche Akteure dauerhaft und intensiv auf derartige Legitimitätskonflikte mit den Gewerkschaften einlassen, fungieren diese doch zugleich auch immer noch und trotz beachtlichen Mitgliederschwundes als gate keeper zu einem nach wie vor beachtlichen Wählerreservoir (vgl. Jun 2001: 91). Keineswegs nur sozialdemokratische Regierungen versetzt diese Konstellation regelmäßig in Dissonanzen, und ihr Bemühen, im eigenen Interesse auf die Forderungen sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer einzugehen, führt immer wieder zu kleineren oder größeren politischen Kurswechseln. 18
Vor diesem Hintergrund ist auch Mindestlohn-Debatte zu bewerten: Die Einführung von Mindestlöhnen – ob nun tarifvertraglich oder gesetzlich geregelt – wäre damit nicht nur die Installation einer Lohnunterschwelle für Beschäftigte im Niedriglohn-Bereich, sondern zugleich die Installation einer Transferoberschwelle für den Staat. Deshalb ist ein Kombilohn-Modell (wenn überhaupt, dann) nur in Einheit mit gesetzlichen oder tariflichen Mindestlöhnen praktikabel.
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Gemessen an ihrem relativ hohen fiskalischen und bürokratischen Aufwand ist der Nutzen der staatlichen Möglichkeiten, durch nachfrageseitige Strategien Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, vergleichsweise gering. Nachfrageorientierte Maßnahmen können allenfalls dann eine relevante Methode der Verringerung von Arbeitslosigkeit sein, wenn parallel dazu die Gewerkschaften angehalten werden, die von ihnen ausgehandelten Lohnstrukturen flexibler – und das heißt vor allem: nach unten offener – zu gestalten. Dementsprechende staatliche Einflussversuche zielen hier also nicht primär auf Lohnzurückhaltung, sondern auf Tarifflexibilisierung. Strategien der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit auf der Angebotsseite Die Schwierigkeiten bei der Zielerreichung und die inhärenten Konfliktrisiken nachfrageorientierter Beschäftigungsstrategien hindern staatliche Akteure nicht daran, sie in großem Umfang anzuwenden. Ihrer deutlichen Ineffizienz wegen können sie aber keinesfalls der einzige Strategiestrang sein. Sie werden daher ergänzt um angebotsseitige Strategien der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Deren generelles Ziel ist die Anpassung des Umfangs der Erwerbstätigen an die je aktuellen Erfordernisse und Nachfrageverhältnisse am Arbeitsmarkt. Hierfür kommen drei Möglichkeiten in Betracht. Erstens können Erwerbspersonen generell, also auch registrierte Arbeitslose, zu einem Statuswechsel bewegt werden hin zu Nichterwerbspersonen. Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik ist reich an derartigen Erfahrungen restriktiver Beschäftigungspolitik zur Verminderung des Erwerbspotentials (Scharpf 1977: 73). Die beiden wesentlichen Formen dieser Strategie, Frühverrentung und Nichterwerbstätigkeit von (Ehe-)Frauen, verweisen zugleich auf die jahrzehntelang „erfolgreiche“ und allgemein akzeptierte Arbeitsteilung zwischen staatlicher Sozialpolitik und Sozialpartnerschaft: In beiden Fällen bestanden, hier sozialpolitisch direkt gewährte, dort sozialpartnerschaftlich indirekt ausgehandelte, Dekommodifizierungsmöglichkeiten für große Gruppen potentieller Erwerbstätiger. Mit beiden Formen ließ sich nicht nur das Arbeitskräfteüberangebot auf moderatem Niveau stabilisieren, sondern damit zugleich auch das Konstrukt des Normalarbeitsverhältnisses. Als Langzeiteffekt dieses institutionellen Arrangements liegt das durchschnittliche Rentenzugangsalter in der Bundesrepublik nach wie vor deutlich unter der gesetzlichen Regelaltersgrenze (Arnds, Bonin 2002; Schmid, Oschmiansky 2005). Und mit der institutionalisierten Exklusion von Ehefrauen aus dem Arbeitsmarkt ließen sich stabile, also mit starken arbeitsrechtlichen Arbeitsplatzgarantien versehene, und zugleich gut bezahlte, tarifvertraglich regulierte Beschäftigungsverhältnisse für Männer legitimieren. Im Zuge der Durchsetzung des monetaristischen Primats zunächst zu konsolidierender und anschließend dauerhaft ausgeglichener öffentlicher Haushalte als politischem Ziel wurden auch die Strategien zur Verminderung des Erwerbspotentials auf den Prüfstand gestellt und letztlich ein umfassender Rekommodifizierungsprozess
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eingeleitet, der bis in die Gegenwart anhält und mittlerweile auch von sozialdemokratischen Regierungen mitgetragen und befördert wird. So wurden etwa die sozialrechtlichen Möglichkeiten der Frühverrentung in den letzten Jahren erheblich eingeschränkt, zudem wurde seit Beginn der 1990er Jahre die Regelaltersgrenze mehrfach angehoben (vgl. zur Entwicklung der politischen Regelungen zur Frühverrentung seit 1975 Friedrich, Kraft 2000: 346ff.). Weniger politisch gesteuert, aber genauso wirkungsvoll ist die deutlich steigende Erwerbsneigung von Frauen (vgl. BA 2005: 4; Brautzsch, Lang 2006). Das hat auch Konsequenzen für die Tauschbedingungen am Arbeitsmarkt. Aus Sicht des Staates sind seine nachlassende Bereitschaft (z.B. hinsichtlich der Frühverrentung), aber auch seine abnehmende Fähigkeit (z.B. hinsichtlich des Anstiegs der Frauenerwerbsquote), große Gruppen von der Teilnahme am Arbeitsmarkt auszuschließen, nicht kompatibel mit einem Arbeitsmarkt, dessen Absorptionsfähigkeit nach wie vor geprägt ist von den Austauschbedingungen, die früher mit den beiden umfangreichen Exklusionspraktiken abgesichert wurden. Aus Sicht staatlicher Akteure müssen daher diese Austauschbedingungen am Arbeitsmarkt der Abnahme der staatlichen Exklusionsbereitschaft bzw. -fähigkeit angepasst werden. Mit dieser Intention werden die arbeitsrechtlichen Elemente der Konstruktion des Normalarbeitsverhältnisses zunehmend zur Disposition gestellt (während seine sozialrechtlichen Elemente, also vor allem das Anwartschafts- und Äquivalenzprinzip weitgehend stabil bleiben). Diesbezügliche staatliche Einflussversuche zielen also auch hier nicht zuletzt auf die Flexibilisierung tarifvertraglich regulierter Arbeitsbedingungen. Das trifft wiederum auf den Widerstand der die Interessen ihrer „normalarbeitenden“ Mitglieder vertretenden Gewerkschaften. Eine zweite Möglichkeit der Anpassung des gesamtgesellschaftlichen Arbeitskräfteangebotes an die Nachfragebedingungen am Arbeitsmarkt ist kollektive Arbeitszeitverkürzung. Das hätte eine radikale Neuverteilung des Arbeitsvolumens unter aktuell Beschäftigten und aktuell Arbeitslosen zur Folge und könnte so zum Abbau von Arbeitslosigkeit, vielleicht sogar zu Vollbeschäftigen einiges beitragen. Ein solcher Schritt liegt jedoch weit außerhalb des Entscheidungsspielraums staatlicher Akteure und muss daher an dieser Stelle nicht vertieft dargestellt werden. Darauf, dass auch die Gewerkschaften Schwierigkeiten mit kollektiver Arbeitszeitverkürzung haben, werde ich gleich zurückkommen. Zur dritten Möglichkeit der Anpassung des Arbeitskräfteangebotes an die Nachfrage gehören all jene arbeitsmarktpolitischen Praktiken, die darauf zielen, die Ansprüche der Arbeitslosen an die Bereitschaften und Möglichkeiten potentieller Arbeitgeber anzupassen. Hier geht es also darum, registrierte Arbeitslose zu „aktivieren“ und zur Aufnahme einer Beschäftigung zu motivieren, die zu Bedingungen angeboten wird, die für die Arbeitgeber akzeptabel und in deren Augen marktfähig sind (Offe 2002: 278). Das kann mit Anreizmechanismen, z.B. der Gewährung ergänzender Zuverdienstmöglichkeiten bei bestehender Arbeitslosigkeit, ebenso geschehen wie durch Sanktionsmechanismen, mit denen etwa Fragen der Zumutbarkeit von Arbeitsbedin-
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gungen oder Möglichkeiten der Verweigerung von Sozialleistungen im Falle der Nichtbereitschaft eines Arbeitslosen, ein herstell- und zumutbares Arbeitsverhältnis einzugehen, geregelt werden. Diese Form der Anpassung zieht sich seit der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahr 1969 als Konstante durch die Geschichte der bundesdeutschen arbeitsmarktpolitischen Gesetzgebung (vgl. Kühl 1982; Webber 1982; Bleses, Vobruba 2000: 274-276, 279; Rose 2003; Heinelt 2003; Schmuhl 2003: 519f., 532f., 571f. und 582-594; Pilz 2004: 138ff.). Vor allem die „Zumutbarkeitsgrenzen“ für Arbeitsplätze, auf die die Arbeitsämter Arbeitslose vermitteln, wurden regelmäßig gesenkt und damit der Nachdruck, mit dem Arbeitslose auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt verwiesen werden, kontinuierlich verschärft.19 Entsprechend stoßen auch diese „Aktivierungen“ auf den Widerstand der Gewerkschaften. Denen ist es generell, wenngleich mehr mit Blick auf die Beschäftigten als mit Blick auf die Arbeitslosen, darum zu tun, die Erosion von Normalitätsstandards zu verhindern. Aus Perspektive staatlicher Akteure ist dieser Anspruch der Gewerkschaften durchaus zwiespältig: Zwar strukturieren sie, indem sie das Konstrukt des Normalarbeitsverhältnisses verteidigen, die Ansprüche und Erwartungen Arbeitsloser an die Arbeitgeber (Dörre 2005: 63) und tragen auf diese Weise dazu bei, dem Arbeitsmarkt Arbeitskräfte zuzuführen (Bescherer et al. 2008). Durch die Aufrechterhaltung von Normalitätsstandards behindern sie jedoch andererseits das Bemühen staatlicher Akteure, „aktivierende“, von den traditionellen Normalitätsvorstellungen abweichende angebotsorientierte Anpassungsstrategien durchzusetzen und als angemessen und legitim zu kommunizieren. Einmal mehr ist zu konstatieren: Die Forderungen staatlicher Akteure nach flexibleren Arbeitsbedingungen geraten in Konflikt mit dem Anspruch der Gewerkschaften, genau diese Arbeitsflexibilisierung möglichst zu verhindern, jedenfalls aber ihre Ausweitung zu behindern. Gewerkschaften und Arbeitslosigkeit Warum eigentlich halten die Gewerkschaften an den traditionellen Normalitätsstandards des Normalarbeitsverhältnisses fest? Selbstverständlich sind ihnen die sozialen und politischen Wandlungsprozesse der letzten drei Jahrzehnte nicht verborgen geblieben. Und zumindest programmatisch haben sie darauf durchaus reagiert (vgl. Bleses 2000; Bleses, Vetterlein 2002: 81-117). Auch betonen sie beständig die Notwendigkeit, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ihr Interesse an einer Verringerung bestehender Massenarbeitslosigkeit ist glaubhaft: Sie sind die organisierten Vertreter von abhängig 19
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Parallel dazu wurden auch die Ziele arbeitsmarktpolitischer Gesetzgebung kontinuierlich gesenkt. Der Anspruch, „Vollbeschäftigungspolitik“ (so noch Offe 1972a: 98) zu betreiben, ist von staatlichen Akteuren längst aufgegeben worden. Stattdessen zeigt die Betonung weniger anspruchsvoller Ziele wie Abbau (zuweilen nur noch: Bekämpfung) der Arbeitslosigkeit oder Erhöhung der Beschäftigung (Lantzsch 2003: 235) das Bemühen staatlicher Akteure, Ansprüche an die staatliche Arbeitsmarktpolitik abzusenken (Bleses, Rose 1998: 278).
Beschäftigten, und zumindest wenn der Abbau von Arbeitslosigkeit gleichzusetzen ist mit dem Aufbau von Beschäftigung (was ja, wie wir sahen, nicht zwingend der Fall sein muss), dann ist der Zuwachs bei den Beschäftigten sicher auch der organisatorischen Basis der Gewerkschaften förderlich. Andererseits verursacht der Kampf gegen Arbeitslosigkeit Kosten. Wie wir gesehen haben, sind staatliche Akteure schon lange nicht mehr bereit, diese Kosten primär durch schuldenfinanzierte Nachfragesteuerung zu tragen und zu verantworten; vielmehr präferieren sie angebotsorientierte Strategien, denen gemeinsam ist, dass sie umso mehr Wirkung entfalten können, je flexibler die Arbeitsbedingungen sind. Genau jene geforderte Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen bedeutet aber für die in traditionellen Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten Arbeitnehmer eine Verschlechterung ihres Status quo. Vor die Alternative gestellt, im wohlverstandenen eigenen Interesse auf der Beibehaltung der Normalitätsstandards zu bestehen oder zugunsten der Beschäftigung aktuell Arbeitsloser Abstriche bei diesen Normalitätsstandards hinzunehmen, präferieren aktuell und „normal“ Beschäftigte nachvollziehbar die Beibehaltung ihrer bestehenden, stabilen Arbeitsbedingungen (Dörre 2008). Solidarität der stabil Beschäftigten mit den Arbeitslosen hat damit dort ihre Grenze, wo sie zu einer spürbaren Verschlechterung der eigenen Arbeitsbedingungen und zur Aufweichung bestehender Normalitätsstandards führt (Müller-Jentsch 1983: 148; Vobruba 1997: 60; 1998: 35; 2000: 50f.). Die überwiegend in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder erwarten also von ihrer Gewerkschaft, dass die sich in erster Linie tarifpolitisch für den Erhalt ihrer Normalarbeitsverhältnisse und für deren sozialpolitische Flankierung einsetzt (Fehmel 2006b: 86). Gewerkschaften haben schon aus organisationspolitischen Gründen diese Interessen an der Verteidigung von Normalarbeitsverhältnissen zu berücksichtigen (Holst et al. 2008). Diesem Interesse der Beschäftigten könnten sich die Tarifpolitiker der Gewerkschaften allenfalls dann widersetzen, wenn sie garantieren könnten, dass mit der Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und/ oder kollektiver Arbeitszeitverkürzung nicht nur Arbeitslosigkeit abgebaut, sondern Vollbeschäftigung erreicht werden kann. Denn Vollbeschäftigung würde die Verhandlungsbedingungen der Arbeitnehmer massiv verbessern, die Arbeitsbedingungen ließen sich den vormaligen Normalitätsstandards wieder annähern und die Relativierung des Normalarbeitsverhältnisses hätte sich rückblickend als vorübergehend erwiesen. Eine solche Garantie können Gewerkschaften nicht geben (vgl. bereits Mill 1968: 279; Vogt 1986: 136; Nissen 1988; Vobruba 1989; Ganßmann 1989; Offe 1995: 35). Aus diesem Umstand und aus den Prioritäten der Gewerkschaftsbasis ergibt sich somit eine spezifisch gewerkschaftliche Interpretation der Soll-Formulierung „hoher Beschäftigungsstand“ im StWG. Durch die Brille gewerkschaftlicher Akteure liest sie sich als „möglichst hoher Stand von Beschäftigung in Normalarbeitsverhältnissen“, dem in Kauf genommene Arbeitslosigkeit (und atypische Beschäftigung) in einem Ausmaß gegenüber stehen, das die Dominanz von Normalarbeitsverhältnissen nicht gefährdet und sozialpolitisch bezahlbar bleibt.
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Gegenüberstellung: Zielkonflikte beim Umgang mit Arbeitslosigkeit Zusammenfassend zeigt sich: die von staatlichen Akteuren präferierte Strategie, Arbeitslosigkeit zu verringern und auf erträglichem Niveau zu stabilisieren, zielt auf eine situativ angepasste Flexibilität des Arbeitskräfteangebots. Die Soll-Formulierung „hoher Beschäftigungsstand“ im StWG interpretieren staatliche Akteure als „ausreichend hoher Stand jedweder Form abhängiger Beschäftigung“. Die Flexibilisierung des Arbeitskräfteangebots steht jedoch dem primären Handlungszweck heutiger Gewerkschaften in der Bundesrepublik diametral entgegen, die ihre Hauptaufgabe aus den Interessen ihrer Mitglieder ableiten und entsprechend in der Stabilisierung der Austauschbedingungen am Arbeitsmarkt auf etabliertem Normalitätsniveau sehen. Deren Interpretation der Soll-Formulierung „hoher Beschäftigungsstand“ im StWG lautet entsprechend: „möglichst hoher Stand von Beschäftigung in Normalarbeitsverhältnissen“. Aus beiden Interpretationen ergibt sich, dass sowohl staatliche als auch gewerkschaftliche Akteure Arbeitslosigkeit nötigenfalls in Kauf nehmen. Der Unterschied zwischen beiden Seiten besteht im Umfang notfalls hingenommenen Arbeitslosigkeit. Entsprechend steigt die Wahrscheinlichkeit einer Kollision staatlicher und gewerkschaftlicher Interessen in dem Maße, in dem die Differenz zwischen staatlich und gewerkschaftlich tolerierter Arbeitslosigkeit zunimmt. Abbildung 7:
Problem B: stabile Beschäftigung vs. stabile Arbeitslosigkeit Handlungs -zweck -mittel Gewerkschaften
Stabile Flexible (Normal-) Arbeitslosigkeit Beschäftigung
Staat
Stabile Flexible Arbeitslosigkeit Beschäftigung
Mit Blick auf das Problem der Arbeitslosigkeit kann Tarifautonomie also Effekte nach sich ziehen, die für eigeninteressierte, an Machtreproduktion ausgerichtete staatliche Akteure problematisch sind. Die Persistenz der Institution „Tarifautonomie“ lässt sich nicht damit erklären, dass sie für die Stabilität und Reproduktion des politischstaatlichen Systems funktional ist. Im Gegenteil: Aus dem Interesse staatlicher Akteure an geringer und stabiler Arbeitslosigkeit lässt sich ihre starke Motivation ableiten,
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auf tarifautonomes Verhalten einzuwirken. Mit ihren Forderungen nach Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen nähern sich staatliche Akteure der Handlungsdomäne der Tarifpartner. In Abhängigkeit von ihrer programmatischen Nähe zu den Gewerkschaften können dabei ihre Einflussversuche auf die Gewerkschaften gewiss variieren bei der Frage, wann sie Arbeitslosigkeit als zu teuer und/oder als zu gefährlich für die eigene politische Reputation wahrnehmen. Auch sind Unterschiede möglich hinsichtlich der Frage, ob entsprechende Reaktionen eher konfrontativ oder eher kooperativ ausfallen. Das ändert aber nichts am Grundsatz, dass reagiert wird. Mit jeder Form der Reaktion ist aber zugleich die hohe Wahrscheinlichkeit verbunden, dass im politischen Diskurs die Tarifautonomie thematisiert wird.
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5 Synthese: kulturalistische und utilitaristische Anteile der Institution „Tarifautonomie“
Die Einordnung der Entstehungsgeschichte des Konstrukts „Tarifautonomie“ in den historischen Kontext hat gezeigt, dass dessen Institutionalisierung nicht mit von Beginn an gleichgerichteten Interessen von Staat und Tarifverbänden erklärbar ist. Im Gegenteil: Die im Tarifvertragsgesetz von 1949 rationalisierte Tarifautonomie entsprach zunächst keineswegs den Intentionen der deutschen staatlichen bzw. prä-staatlichen Akteure. Vielmehr führte eine sehr spezifische politische Machtkonstellation (starke Interessen der westlichen Alliierten, schwache prä-staatliche Akteure, gespaltene Gewerkschaften) zur Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes. Nur durch dessen Existenz wiederum wurde Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes in einer Weise inhaltlich justiziabel wie nur wenige andere Grundrechtsartikel. Und erst die Existenz einer einzel- und grundgesetzlichen, also rechtlichen Institution führte zu einem – dann immer noch jahrelangen – Prozess der Anerkennung des Konstrukts Tarifautonomie bei staatlichen Akteuren. Diese Entwicklung einer „Institution mit nichtfunktionalen Wurzeln“ (Pierson 2000b: 493) unterstreicht damit den für die Institutionenanalyse zentralen Befund von M. Rainer Lepsius, dass die Institutionenbildung der Bewusstseinsbildung vorausgeht (Lepsius 1997c: 949). Die Idee autonomer Tarifverbände stieß in den unmittelbaren Folgejahren noch auf erheblichen Widerstand sowohl bei staatlichen Akteuren als auch bei einem beachtlichen Teil der Gewerkschaftsmitglieder. Dass sich die Idee der Tarifautonomie trotz dieser verbreiteten Ablehnung als institutionelles Arrangement verfestigen konnte, ist zurückzuführen auf seine Einbindung in das sich in dieser Zeit etablierende ordnungspolitische Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“. Gegenüber allen Skeptikern in staatlichen Behörden und innerhalb der Gewerkschaften eignete sich dieses Konzept als stabile Legitimitätsgrundlage der Tarifautonomie. Diese Einbindung der Tarifautonomie in das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ hatte freilich für die Gewerkschaften weitreichende Folgen: Einerseits ließ sich so zwar ihr autonomer Status rechtfertigen, andererseits war dafür aber eine dauerhafte Anerkennung marktwirtschaftlicher Prinzipien und eine Abkehr von gemeinwirtschaftlichen Bestrebungen Voraussetzung. Mit zunehmendem Alter der politisch-rechtlichen Institution „Tarifautonomie“ traten deren Vorteile sowohl in der Wahrnehmung staatlicher als auch gewerkschaftli-
cher Akteuren in den Vordergrund. Das gilt besonders für die Stabilisierung von Lohnarbeit als einem maßgeblichen gesellschaftlichen Prinzip der Einkommens- und Statusverteilung. Für beide Seiten ist dieses Prinzip von höchster Relevanz, und dieses gemeinsame Grundinteresse bildet eine solide Basis für Tauscharrangements zwischen Staat und Gewerkschaften. Allerdings speist sich die politische Legitimation staatlicher Akteure primär aus dem Postulat ihrer Neutralität und Gemeinwohlverpflichtung; und angesichts der zentralen und damit konfliktträchtigen Stellung von Lohnarbeit als Vergesellschaftungsprinzip würden sich staatliche Akteure durch direkte Regulierung der Arbeitsbeziehungen selbst dem vergleichsweise hohen Risiko einer offensichtlichen Neutralitätsverletzung und eines sich daraus möglicherweise ergebenden Legimitationsverlustes aussetzen. Es ist daher für staatliche Akteure von Vorteil, die Regelungskompetenzen für die Arbeitsbeziehungen abgeben zu können. Diese Kompetenzabgabe erfolgt nur sehr dosiert an individuelle oder betriebliche Akteure. Vielmehr haben diesbezüglich kollektive Akteure aus dreiei Gründen Vorrang. Erstens sind zwischen Staat und Verbänden koordinierte kollektive Regelungssysteme in ihrer makroökonomischen Performanz einer direkten staatlichen Regulierung individueller Lohnfindung ebenso überlegen wie unregulierten, marktnahe individuellen Lohnfindungssystemen (Traxler, Kittel 2000), zumindest wenn es gelingt, die betrieblichen Akteure in diese Koordinierung einzubinden (Traxler 2000: 186). Zweitens sind bei der Beeinflussung von Verbänden staatlicher Gemeinwohl- und Neutralitätsanspruch einerseits und staatliches Koordinierungsbestreben andererseits eher miteinander vereinbar als bei direkter staatlicher Regulierung individueller Lohnregelungen. Zudem sind die Tarifverbände Akteure, denen aus ihrem eigenen Interesse heraus ebenfalls an der zentralen Stellung des Prinzips Lohnarbeit gelegen ist. Für die Gewerkschaften liegt der Vorteil dieser Kompetenzverlagerung auf der Hand: Ihre Legitimation speist sich aus der Fähigkeit, die Interessen ihrer Mitglieder zu repräsentieren und durchzusetzen; und das gelingt ihnen umso wirksamer, je umfassender innerhalb der Grenzen marktwirtschaftlicher Vergesellschaftung ihre Regelungskompetenzen sind. Mit der Übernahme von Regelungskompetenzen befestigen die Gewerkschaften also nicht nur ihre eigene gesellschaftliche Position, sondern entschärfen zugleich die Stabilitätsund Legitimationsprobleme staatlicher Akteure, und stützen zudem deren materielle Basis. Denn im Laufe der Jahre ist mit der Verfestigung des Prinzips „Lohnarbeit“ auch das Lohnsteueraufkommen zu einer immer wichtigeren und unverzichtbaren Voraussetzung der Handlungsfähigkeit staatlicher Akteure geworden. Rückblickend betrachtet erbrachte derart die unter grundlegend anderen Kontextbedingungen und Akteurspräferenzen etablierte Institution der Tarifautonomie im Laufe der Jahre zunehmende und sich selbst verstärkende Entlastungsleistungen für den Staat. Die Übertragung von Regelungskompetenzen an tarifautonome Verbände hat aus Sicht staatlicher Akteure jedoch nicht nur entlastende, sondern auch belastende Effekte. Es wurde gezeigt, dass das lohnpolitische Bemühen der Gewerkschaften um Kompensation von Geldwertverlusten seinerseits inflationsverschärfend sein kann
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und damit den staatlichen Interessen an Preisniveaustabilität zuwider läuft. Ähnliche Widersprüche ergeben sich in der Bewertung von Arbeitslosigkeit. Gewerkschaften sind programmatisch primär auf die Absicherung bestehender Beschäftigungsverhältnisse fixiert; sie sind insofern kaum bereit, zugunsten zusätzlicher Beschäftigung mit der Aufweichung einmal ausgehandelter Arbeitsnormen für bestehende Beschäftigung zu reagieren. Entsprechend indifferent sind sie gegenüber der Entwicklung eines steigenden Überangebotes an Arbeitskraft. Für den Staat hingegen ist die Stabilität und Berechenbarkeit des Umfangs registrierter (und damit zu verwaltender, zu finanzierender und zu rechtfertigender) Arbeitslosigkeit von größerer oder zumindest ebenso großer Bedeutung wie die vorherrschenden Normen bestehender Beschäftigung. Entsprechend indifferent sind staatliche Akteure gegenüber der Aufweichung dieser Normen zumindest soweit, wie sich aus dieser Aufweichung keine zusätzlichen Kosten für den Staat selbst, etwa in Form von Lohnergänzungsleistungen, ergeben. Diese Belastungen sind unvermeidbar Bestandteil des erwähnten Tausches. Im Gegenzug für die Externalisierung ihrer Legitimitätsrisiken tragen staatliche Akteure die möglichen Folgekosten des lohn- und flexibilitätspolitischen Verhaltens der Gewerkschaften. Insofern lässt sich das Verhältnis zwischen Staat und Gewerkschaften beschreiben als ein Arrangement der gegenseitigen Übernahme externalisierter Folgekosten eigenen Handelns (vgl. zum institutionalistischen Externalisierungstheorem grundlegend Lepsius 1999: 119ff.; 1997a: 60f.). Auch diese Konstellation wechselseitiger Externalisierung trägt dazu bei, die Legitimitätsprobleme sowohl des Staates als auch der Gewerkschaften zu reduzieren. Beide können ihr Handeln argumentativ auf das Handeln der jeweils anderen Seite beziehen. So können etwa staatliche Akteure im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf unpopuläre Maßnahmen zurückgreifen, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen; und diese Maßnahmen können sie ebenso wie ggf. deren Scheitern mit dem ausschließlich eigeninteressierten, nicht stabilitätskonformen Verhalten der Gewerkschaften rechtfertigen. Erfolge beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann sich der Staat dann selbst zuschreiben, Erfolglosigkeit lässt sich hingegen leicht mit dem Handeln der Gewerkschaften oder anderen, ebenfalls vermeintlich nicht beeinflussbaren Umständen begründen. In ähnlicher Weise kann so auch das Ausbleiben staatlicher Interventionen gegen die Ausbreitung sozial unbefriedigender, „atypischen“ Arbeitsbedingungen gerechtfertigt werden. So zeigt etwa Blanke (2007: insb. 47-58), wie staatliche Akteure durch nicht näher konkretisierten Verweis auf die Tarifautonomie die Verantwortung für prekäre Arbeitsbedingungen bei den Tarifvertragsparteien verorten und derart eine Problemannahme verweigern. Aber auch die Gewerkschaftsführungen profitieren von diesem Arrangement der institutionell geteilten Verantwortung (vgl. Weaver 1986; Pierson 1996): von unattraktiven Verhandlungsergebnissen lässt sich die eigene Klientel eher überzeugen, wenn sie mit einer drohenden gesetzgeberischen Maßnahme gerechtfertigt werden können (Traxler, Vobruba 1987). In diesem Sinne ist das Arrangement der gegenseitigen Übernahme von Folgekosten notfalls zugleich auch ein Möglichkeitsraum gegenseitiger Verant-
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wortungszuweisung und damit sowohl für den Staat als auch für die Gewerkschaften eine Legitimitätsressource durch die Begrenzung eigener Zurechnungsfähigkeit. Voraussetzung für wechselseitige Folgekostenexternalisierung und gegenseitige Verantwortungszuweisung als die beiden Elemente des politischen Tauschs zwischen Staat und Gewerkschaften ist die stabile, grundsätzliche soziale Legitimität beider Regulierungsinstanzen. Nur unter dieser Bedingung ist insbesondere die gegenseitige Verantwortungszuweisung zwischen Staat und Tarifverbänden glaubwürdig. Denn wenn gilt, dass Verantwortung für Angelegenheiten nur übernehmen kann, wer diese Angelegenheiten auch prinzipiell zu steuern in der Lage ist (Simon, Weber 2006: 27), dann folgt daraus auch, dass man anderen Akteuren, denen man Verantwortung zuweist, zugleich auch implizit prinzipiell Steuerungsbefugnis und Steuerungsfähigkeit zubilligt und zubilligen muss. Vor diesem Hintergrund bietet ein institutionalisiertes, also in den Zustand der Dauer transformiertes Kompetenzverhältnis von Staat und Tarifpartnerschaft beiden Seiten die beste Gewähr einer verlässlichen Legitimitätsressource und gegenseitigen Kostenübernahme. Ein derart institutionalisiertes Arrangement hat, wie die institutionalistische Forschung zeigt, das Potential, sich durch Verselbständigung ständiger Hinterfragung zu entziehen (Rehberg 1990). Angesichts der aufgezeigten Interessenstruktur ist diese Verselbständigung und weitgehende Unhinterfragbarkeit des Arrangements für den Staat wie auch für die Gewerkschaften als Trägerakteure dieser Institution von Vorteil, jedenfalls dann, wenn diese institutionelle Verselbständigung der Tarifautonomie dazu führt, dass Regelungsbetroffene ihren relationalen sozialen Status akzeptieren. Denn dass soziale Ungleichheit von allen, und vor allem auch von Statusschwächeren, als legitim empfunden und akzeptiert wird, ist Grundlage des „sozialen Friedens“ (Lepsius 1995b: 4), also Grundlage der Stabilität des politischen und ökonomischen Systems. Der symbolische Begriff der Tarifautonomie dient insofern nicht nur der sozialen Legitimation des beschriebenen, spezifischen Staat-Verbände-Verhältnisses im Regelungsbereich der Arbeitsbeziehungen, sondern darüber vermittelt auch der Legitimation der bestehenden und sich aus diesem spezifischen Staat-Verbände-Verhältnis ergebenden sozialen Ungleichheit. Grundsätzlich erfordert die Herstellung und Aufrechterhaltung dieser sozialen Legitimation ein entsprechend institutionenbezogenes strategisches, zielgerichtetes Handeln der staatlichen und verbandlichen Trägerakteure des Ordnungsarrangements (Nedelmann 1995). Die permanente öffentlichkeitswirksam betonte und so bewusst gehaltene Trennung zwischen Staat und Verbänden, die Wahrung des Anscheins eines gleichrangigen Nebeneinanders von Staat und Sozialpartnern, die Betonung jeweils vermeintlich klar abgrenzbarer Regelungshoheiten und die Hinweise auf extern zurechenbare partikulare Verantwortlichkeiten, also deren Verortung außerhalb des eigenen offiziellen Kompetenzbereiches, sind in diesem Sinne Selbstsymbolisierungen und Selbstlegitimierungen (Rehberg 1994: 56). Und indem Tarifverbände und Staat das Konstrukt der Tarifautonomie mit Leitideen und mit positiv konnotierten und zugleich auslegungsfähigen Symbolen und Hochwertbegriffen (Staatsfreiheit, sozialer
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Ausgleich, Partnerschaft, Gerechtigkeit u.ä.) verbinden, stellen sie es in einen dauerhaften und folgenreichen Sinnzusammenhang. So können sie mit Verweis auf das Konstrukt die Handlungskontexte und Verhaltensmöglichkeiten einer Vielzahl von Akteuren am Arbeitsmarkt einschließlich ihrer eigenen strukturieren und normieren. Anderes, den Interessen der institutionellen Trägerakteure zuwiderlaufendes Verhalten kann mit Sanktionen belegt und so erheblich erschwert oder gar ausgeschlossen werden. In dem Maße, wie verbandlichen und staatlichen Akteuren dies gelingt, in dem Maße ist das Konstrukt der Tarifautonomie über seine rechtliche und politische institutionalisierte Dimension hinaus auch eine soziale Institution.
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6 Die Beeinflussung der Tarifhoheit durch den Staat
Voraussetzung für die beschriebene wechselseitige Übernahme externalisierter Kosten ist die dauerhafte und stabile gegenseitige Gewährung und Tolerierung der Handlungsautonomie der jeweils anderen Seite. Gleichzeitig ist die Folge der wechselseitigen Übernahme externalisierter Kosten die Relativierung der Handlungsautonomie beider Seiten. Diese beiderseitige Tolerierung und Relativierung ist im Konstrukt der Tarifautonomie hochgradig institutionalisiert. Daran ist sowohl Gewerkschaften als auch staatlichen Akteuren gelegen. Angesichts des umfangreichen Nutzens, den beide Seiten aus der Institutionalisierung der Tarifautonomie ziehen, fürchten auch beide Seiten gleichermaßen eine zu geringe Institutionalisierung. Auf beiden Seiten ist also entsprechendes politisches Handeln darauf gerichtet, eine zu schwache Institutionalisierung zu vermeiden. Allerdings haben die vorherigen Abschnitte auch die Toleranzgrenzen staatlicher Akteure aufgezeigt. Deren grundlegende Akzeptanz tarifautonomen, staatsentlastenden Handelns stößt dort an Grenzen, wo sie mit den Folgen dieses tarifautonomen Handelns konfrontiert werden und die Saldierung nicht mehr zur Wahrnehmung einer Entlastung führt, sondern als unangemessene Belastung des Staates interpretiert wird. Das hat zur Folge, dass der Staat im Unterschied zu den Gewerkschaften nicht nur eine zu geringe, sondern auch eine zu starke Institutionalisierung der „Tarifautonomie“ fürchtet. Aus Sicht staatlicher Akteure ist die Tarifautonomie dann zu stark institutionalisiert, wenn es ihnen im Falle negativer Saldierung tarifautonomer Effekte auf die eigene Handlungsfähigkeit nicht mehr gelingt, das Verhalten der Tarifverbände oder das der von tarifautonomer Regulierung Betroffenen zu beeinflussen. Das wäre dann der Fall, wenn sich die Gestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen in einer Weise verselbständigt und objektiviert (Rehberg 1994) hätte, dass sie nicht mehr nur dem Anschein nach, sondern auch de facto verbandsautonom vonstatten ginge und wenn spiegelbildlich steuernde Eingriffe des Staates nicht mehr nur dem Anschein nach ausgeschlossen und tabuisiert wären, sondern für staatliche Akteure auch faktisch keine Zugriffsmöglichkeiten mehr bestünden und sie alternativlos zur Übernahme der bei der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen von den Tarifparteien verursachten, aber externalisierten Folgekosten gezwungen wären. Auf Seiten des Staates ist also entsprechendes politisches Handeln darauf gerichtet, eine zu geringe Institutionalisierung der Tarifautonomie ebenso zu vermeiden wie eine zu starke. Die praktische Konsequenz ist einerseits eine beachtliche innerinstitutionelle Dynamik: Staat und Gewerkschaften müssen unter der Überschrift „Tarifauto-
nomie“ regelmäßig aushandeln, wie hoch die jeweils von der einen Seite externalisierten und von der Gegenseite zu übernehmenden Kosten sind. Unabhängig von ihrem generellen Interesse an einer funktionsfähigen, also staatsentlastenden eigenständigen Tarifhoheit können staatliche Akteure somit durchaus situativ an einer schwachen, also eingeengten oder wenig verbindlichen Tarifautonomie interessiert sein. Aus dieser Interessenambivalenz ergibt sich das keynesianisch geprägte politische Prinzip des Sowohl-Als-Auch und die daraus abgeleitete Strategie des Es-Kommt-Darauf-An (Scharpf 1987: 42). Damit rücken die Kontextbedingungen staatlichen Handelns ins Blickfeld: Staatliche Akteure respektieren oder kritisieren (erwartete) tarifautonome Regelungen immer nur bezogen auf einen bestimmten Zeitpunkt und auf klar abgrenzbare Regelungsinhalte. Nehmen sie gewerkschaftliche Lohnpolitik als zu expansiv oder gewerkschaftliche Flexibilitätspolitik als zu restriktiv und damit als hinderlich für die Erreichung der beiden Hauptziele des „magischen Vierecks“ wahr, schreiben also den Gewerkschaften eine insgesamt unzureichende Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Ziele zu (Seitel 1995), dann werden sie einen Eingriff in tarifverbandliche Handlungsdomänen in Erwägung ziehen, zumindest aber entsprechende Erwartungen äußern und Bewertungen abgeben. Insofern haben staatliche Akteure situativ unterschiedlich ein Interesse an einer vergleichsweise starken oder an einer eher schwachen, also eingeengten, wenig verbindlichen Autonomie der Tarifverbände. Fügt man diese beiden Situativinteressen zu einer einzigen übergeordneten Kategorie zusammen, dann ergibt sich daraus das grundsätzliche Interesse des Staates an einer flexiblen und beeinflussbaren Tarifautonomie. Dieses Interesse des Staates an einer dynamisch-flexiblen Institutionalisierung der Tarifautonomie erfordert andererseits ein spezifisches staatliches Institutionenmanagement, das sich vom verbandlichen Institutionenmanagement insofern unterscheidet, als es dem Staat viel mehr als den Verbänden darum gehen muss, die Leitidee und das Symbol „Tarifautonomie“ flexibel und gleichsam in der Schwebe zu halten und permanent (und zuweilen gegen die Interessen der Verbände) zwischen zu hoher und zu geringer Institutionalisierung auszutarieren. Vor dem Hintergrund, dass staatliche Akteure ja keinesfalls die grundlegende Legitimität des Konstrukts Tarifautonomie gefährden dürfen, ist staatliches Institutionenmanagement in diesem Sinne Flexibilitätsmanagement (Nedelmann 1995). Verschiedene Formen staatlicher Einwirkungsbemühungen20 auf gewerkschaftliches Handeln lassen sich diesen Überlegungen zufolge daraufhin untersuchen, welche Bedeutung sie innerhalb des staatlichen Flexibilitätsmanagements der Institution „Tarifautonomie“ haben.
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Grundsätzlich lassen sich Einwirkungsbemühungen in sozialen Beziehungen danach unterscheiden, in welchem Ausmaß sie die Interessen des zu beeinflussenden Akteurs berücksichtigen. Entsprechend werden in der sozialpsychologischen Literatur Einwirkungsversuche als Einflussnahme bezeichnet, wenn sie mit den Interessen des oder der Betroffenen im Einklang stehen; und als Machtausübung, wenn durch das Einwirken die Interessen des oder der Betroffenen verletzt werden (vgl. Scholl 2007).
Diese Formen bzw. Methoden staatlicher Einwirkungsbemühungen auf gewerkschaftliches Handeln lassen sich systematisieren. Für das Problem der durch verbandsautonomes Handeln gefährdeten Preisniveaustabilität (Problem A) werden diese Bemühungen in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur unter dem Begriff Einkommenspolitik zusammengefasst (vgl. Wagner 2001: 270-314; Pätzold 1998: 327350). Ich dehne diese Systematik aus und wende sie auch auf staatliche Einwirkungsbemühungen an, die sich aus Sicht des Staates aus der Problemkonstellation flexibler Beschäftigungsstand vs. flexible Arbeitslosigkeit (Problem B) erforderlich machen. Wenn die Tarifautonomie ein institutionalisiertes System der gegenseitigen Übernahme externalisierter Kosten ist, und wenn es aus Sicht staatlicher Akteure in beiden Problembereichen (A und B) einen Punkt gibt, ab dem ihre Bereitschaft schwindet, die von den Tarifparteien externalisierten Kosten zu tragen, dann ist eine hinreichend weit verstandene staatliche Einkommenspolitik der Versuch der Re-Internalisierung von Externalitäten (Lepsius 1999) im Zusammenhang mit der Produktion von Preisniveaustabilität und/oder von Lohn- und Beschäftigungsflexibilität. Entsprechend motivierte Einwirkungsversuche des Staates lassen sich unterscheiden danach, ob sie indikativ, kooperativ oder imperativ wirken (sollen) (vgl. Pätzold 1998: 328ff.).21 Während die beiden erstgenannten Einwirkungsversuche ganz allgemein auf eine einvernehmliche, konfliktarme Beeinflussung des Handelns der Tarifverbände hin orientiert sind, die Gleichrangigkeit von Staat und Verbänden betonen und damit nicht zuletzt geeignet sind, die Wahrnehmung staatlicher Neutralität zu befestigen, machen imperativ wirkende, also dirigistische Steuerungsversuche des Staates sein hierarchisches Verhältnis zu den Tarifverbänden sichtbar. Ich werde im Folgenden die Prinzipien dieser verschiedenen Einwirkungsmöglichkeiten kurz vorstellen und insbesondere vergleichend ihre jeweiligen Kosten und möglichen Erträge für Staat und Tarifverbände diskutieren. Besondere Beachtung widme ich dabei der Frage, wie wirkungsvoll diese Maßnahmen gewerkschaftliches Handeln beeinflussen können und welche Notwendigkeit sich entsprechend ergeben kann, durch Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ diese Einwirkungsversuche zu begleiten.
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Andere Autoren systematisieren bei grundsätzlich gleichen Aussagen etwas anders. So verbindet etwa Wagner (2001) indikative und kooperative Einkommenspolitik zu informatorischer Einkommenspolitik, geht aber andererseits über die Pätzoldsche Systematik hinaus, indem er so genannte marktkonforme Anreizpolitik als Instrument der staatlichen Einkommenspolitik aufnimmt. Da jedoch derartige anreizpolitische Maßnahmen bislang noch nicht Eingang in praktische Politik gefunden haben (Wagner 2001: 305), die Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ sich hier also (noch) nicht prüfen lässt, sollen sie hier im Weiteren außer Betracht bleiben.
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6.1 Indikative Einkommenspolitik Indikative Einkommenspolitik umfasst im Wesentlichen an die Verbände gerichtete, unverbindliche Appelle und Aufforderungen. Mit Maßhalteappellen werden die Gewerkschaften aufgerufen, ihre Lohnsteigerungsforderungen in einem angemessenen, jedoch oft nicht näher benannten Umfang zu stellen und auf Arbeitskampfmaßnahmen zu deren Durchsetzung möglichst zu verzichten. Selbst dann, wenn mit solchen Appellen der Bezug zur Inflationsgefahr (Problem A) nicht explizit hergestellt wird, kann man doch davon ausgehen, dass die Auswirkungen von Lohnsteigerungen auf das volkswirtschaftliche Verteilungsverhältnis von Lohn und Gewinn und damit auf die Geldwertentwicklung ein wesentliches Motiv für staatliche Akteure sind, die Gewerkschaften zur Mäßigung aufzurufen (Meyer-Thoms 1978: 257). Den Gewerkschaften wird in Fragen der Lohnsteigerungen jedoch keineswegs ausschließlich Mäßigung nahe gelegt, wie Einlassungen staatlicher Akteure zur Berechtigung gewerkschaftlicher Lohnforderungen zeigen. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass derartige Äußerungen nur erfolgen, wenn die tatsächliche Realisierung der Appelle auch im Interesse des Staates selbst ist.22 Zudem sind sie oft verbunden mit Nachsätzen, die zur Flexibilität bei der Lohngestaltung aufrufen. Das zeigt, dass auch flexibilitätspolitisch motivierte indikative Steuerungsversuche üblich sind (Problem B). Diesbezügliche Aufforderungen sind darauf gerichtet, die Tarifpartner zu Vertragsabschlüssen zu bewegen, die in Fragen der Arbeits- und Entgeltbedingungen ein aus Sicht staatlicher Akteure angemessenes, jedoch wiederum kaum spezifiziertes Verhältnis von Flexibilität und Stabilität ermöglichen und auf diese Weise zum Abbau registrierter Arbeitslosigkeit oder zumindest zur Vermeidung ihrer weiteren Zunahme beitragen. Indikative Einkommenspolitik kommt damit zum Einsatz als Versuch der Thematisierung und Beeinflussung gewerkschaftlicher Lohn- wie auch gewerkschaftlicher Beschäftigungs- bzw. Flexibilitätspolitik. Dabei beziehen sich die Appelle staatlicher Akteure an die Gewerkschaften in volkswirtschaftlichen Aufschwungphasen vor allem auf die „Angemessenheit“ von Lohnsteigerungen, in Abschwungphasen hingegen primär auf die Flexibilität bzw. Flexibilisierung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Indikative Beeinflussungsversuche zeichnen sich im politischen „Alltag“ typischerweise aus durch „Ja, aber...“-Aussagekonstruktionen. Staatliche Akteure halten 22
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Diese Überlegung lässt erwarten, dass staatliche Akteure Lohnerhöhungen wenn, dann ausschließlich in wirtschaftlichen Aufschwungphasen befürworten, also in Phasen, in denen als Folge starker Lohnerhöhungen „allenfalls“ überdurchschnittliche Inflationstendenzen, nicht aber gravierende negative Auswirkungen auf den Umfang der registrierten Arbeitslosigkeit zu erwarten sind. Dann nämlich eröffnen starke Lohnerhöhungen nicht nur die Aussicht auf ausgeweiteten privaten Konsum, der ggf. zur Selbststabilisierung der Konjunktur führen kann, sondern auch und vor allem die Aussicht auf Verbesserungen der Finanzsituation öffentlicher Kassen durch Mehreinnahmen bei Lohn- und Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Fällt eine solche Phase dann noch in eine VorWahl-Zeit, dürfte für parlamentarisch agierende politische Akteure die Verlockung noch zunehmen, sich für „spürbare Lohnsteigerungen“ einzusetzen.
sich insofern an die Konventionen, als sie Appellen an die Verbände eine generelle Wertschätzung der Tarifautonomie vorausschicken bzw. anfügen. Auf diese Weise überbrücken sie sprachlich die Differenz zwischen der letztlich unbestrittenen strukturellen Funktion der Tarifautonomie und situativen, kontextgebundenen Erwartungen und Verhaltensforderungen. Nahezu rituell werden sie dafür von Verbandsvertretern zurechtgewiesen. Ein besonders schönes Beispiel dafür, das zugleich belegt, wie mit der Europäisierung der Finanzpolitik zugleich auch die entsprechenden Diskurse im Rahmen der indikativen Einkommenspolitik europäisiert werden, ist das folgende: Europas Finanzminister fordern die Gewerkschaften auf, sich in der laufenden Tarifrunde zurückzuhalten. Überhöhte Lohnabschlüsse könnten die Inflation anheizen und die europäischen Firmen im internationalen Wettbewerb zurückwerfen, warnte der Vorsitzende der Euro-Finanzminister, JeanClaude Juncker. [...] „Wir wollen uns nicht einmischen in die Tarifautonomie, aber deutlich machen, dass man bei Lohnabschlüssen auch an Arbeitslose denken muss“, sagte Juncker. [...] Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Hubertus Schmoldt, kritisierte Juncker mit den Worten: „Die Politiker sollten sich aus der Lohnfindung heraushalten.“23
Oft wird derartigen Ritualen jeder Sinn abgesprochen (vgl. Müller 1990: 268). In der Tat ist indikative Beeinflussung im Kanon der in dieser Arbeit typisierten Einflussmöglichkeiten die am wenigsten wirkungsvolle. Im Gegensatz zu imperativer Beeinflussung, bei der der Staat als Gesetzgeber agiert, und zu kooperativer Beeinflussung, bei der der Staat als Tauschpartner auftritt, scheinen indikative Aufrufe und Appelle Merkmale „schwacher“ staatlicher Akteure zu sein, die über ausreichende Sanktionsmacht oder attraktive Tauschgüter nicht verfügen. Diese Schlussfolgerung ist in der Regel falsch. Zwar lassen sich die Effekte politischer Appelle auf die öffentliche Stimmung im Kontext von Tarifverhandlungen ebenso wenig messen wie die Effekte auf die erzielten Verhandlungsergebnisse selbst. Davon, dass es solche Wirkungen gibt, ist aber auszugehen. Regelmäßige erneuerte Aufrufe etwa zur Lohnmäßigung würden unterbleiben, wenn die staatlichen Akteure selbst der Überzeugung wären, ihre Appelle blieben ohne jeden Effekt. Sie haben das Potential, ein Klima zu erzeugen, in dem „übermäßige“ Lohnforderungen mit erhöhtem Rechtfertigungszwang und entsprechend geringeren Umsetzungschancen verbunden sind. Insofern stellen indikative Äußerungen oft auch keine eigenständige und isolierte Strategie dar, sondern sind gewissermaßen die „Begleitmusik“ für andere, imperative oder kooperative Einflussbemühungen staatlicher Akteure. Quantifizieren lässt sich dies freilich nicht, und angesichts ihrer fehlenden Präzision ist indikative Einkommenspolitik allein tatsächlich weder für die Befestigung noch für die Veränderung einer bestehenden volkswirtschaftlichen Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit ein sonderlich geeignetes Mittel. Doch auch über die situative Flankierung imperativer oder kooperativer Beeinflussung hinaus sind die ritualisierten Appelle staatlicher Akteure an das Verantwortungsbewusstsein der Tarifverbände wie auch deren ritualisierte Zurückweisungen 23
Entnommen der Süddeutschen Zeitung, 28.02.2007, Jg. 63, S. 21.
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nicht nutzlos. In Anlehnung an Soeffner (1998: 281) sind diese Rituale Aktionsformen des Symbols und der Leitidee „Tarifautonomie“; durch ihren sich beständig wiederholenden Vollzug repräsentieren und institutionalisieren sie das im Begriff der Tarifautonomie zum Ausdruck kommende Ordnungsarrangement zwischen Staat und Verbänden. Indikative Einflussversuche erinnern in ihrer Aktions- und Reaktionsabfolge mit Signalwirkung zunächst an einen Tausch: Sie ermöglichen staatlichen Akteuren die Artikulation eigener Interessen und sie ermöglichen zugleich den Verbänden die Betonung und Befestigung der Leitidee „Tarifautonomie“, mit der Folge der Stärkung ihrer Positionen gegenüber den eigenen Mitgliedern und gegenüber den „KonfliktPartnern“. Aus institutionalistischer Perspektive liegt der Zweck solcher Appelle darüber hinaus in der Absicherung der Flexibilität der Institution „Tarifautonomie“. Mit ihnen wird die Differenzierung zwischen Staat und Verbänden öffentlichkeitswirksam bewusst gemacht und gehalten. Indem staatliche Akteure durch indikative Einlassungen die Tarifautonomie permanent thematisieren, tragen sie also zu deren institutioneller Stabilisierung bei. Zugleich verhindern sie mit genau dieser permanenten Thematisierung eine völlige Autonomisierung und De-Kontextualisierung (Rehberg 1990) der Institution Tarifautonomie. Indikative Beeinflussung dient damit in letzter Konsequenz sowohl der Stabilität des beschriebenen arbeitsteiligen Systems zwischen Staat und Verbänden als auch der Flexibilität dieses Arrangements. Insofern greift die Bezeichnung „persuasive Kommunikation“ (Müller-Jentsch 2007: 11) für das, was hier als indikative Politik beschrieben wird, zu kurz: Es geht nicht nur darum, dass der Staat kollektive Akteure überreden oder überzeugen will, sondern es geht um die Schaffung eines bestimmten politischen Klimas, aus dem sich Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen der Verbände ergeben. Das gilt auch für indikative Einkommenspolitik in ihrer verschärften Variante, die staatliche Akteure gelegentlich betreiben: der Androhung einer gesetzlichen Maßnahme für den Fall, dass sich die Tarifverbände nicht „freiwillig“ in die vom Staat geforderte Richtung bewegen. Trotz des zuweilen unüberhörbar imperativen Tons bleiben derartige Androhungen in aller Regel dennoch indikativ, und zwar deshalb, weil es ihnen üblicherweise an genau jener Präzision mangelt, die zu einem festgesetzten späteren Zeitpunkt Voraussetzung wäre für die Klärung der Frage, ob sich die Verbände der Drohung gebeugt haben oder nicht. Gleichwohl stellen Gesetzesandrohungen die Tarifverbände vor ein Problem, bergen aber zugleich auch eine mögliche Lösung des Problems in sich. Das Problem besteht in einer spezifischen Informationsdifferenz zwischen Verbänden und Staat: Je ungenauer eine mit einer Gesetzesandrohung verbundene Aufforderung zur Verhaltensänderung ausfällt, desto weniger sind die Verbandsspitzen als Vertreter der Interessen ihrer Mitglieder in der Lage, die Folgen ihres Widerstandes gegen die Aufforderung und ihrer Gleichgültigkeit der Gesetzesandrohung gegenüber einzuschätzen. Denn sie müssen bis auf weiteres davon ausgehen (oder können jedenfalls bis auf weiteres nicht ausschließen), dass bei unzureichender Verhaltensanpassung staatlicherseits möglicherweise imperativ gehandelt
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wird. Staatliche Akteure hingegen können darüber hinaus (zu) wissen (vorgeben), ob, wann und wie sie auf unzureichende Verhaltensanpassung imperativ reagieren werden. Durch diese Informationsdifferenz kann aber zugleich eine im Raum stehende Gesetzesdrohung den Handlungsspielraum der Verbandsspitzen in zweierlei Richtung erweitern. Je nach eigener Einschätzung des Kontextes können diese sich entscheiden. Entweder sie berufen sich auf die Interventionsdrohung des Staates, um damit Selbstregularien oder Arbeitsbedingungen bei der eigenen Klientel durchzusetzen, die diese ohne diesen „Schatten der Hierarchie“ kaum zu akzeptieren bereit wäre (Traxler, Vobruba 1987). Oder sie nutzen die oben beschriebene Gelegenheit, öffentlichkeitswirksam auf ihre Autonomie hin- und die „Einmischung“ des Staates zurückzuweisen. Zu Lasten staatlicher Legitimität gehen Appelle und Aufforderungen staatlicher Akteure in aller Regel nicht. Zwar ergibt sich, zumindest in der Wahrnehmung der Verbände und ihrer Mitglieder, aus derartigen Appellen und Aufforderungen immer eine vorübergehende Parteilichkeit, also eine temporäre Missachtung staatlicher Neutralität durch staatliche Akteure selbst. Staatliche Akteure koppeln ihre Appelle und Aufforderungen jedoch üblicherweise an eine im weitesten Sinne gesamtgesellschaftlich relevante, gemeinwohlbezogene, immer aber auch recht abstrakte Begründung. Deren sachlicher Gehalt kann von den Verbänden zumindest solange nicht angezweifelt werden, wie diesen Verbänden zugleich auch daran gelegen ist, in der Öffentlichkeit das Bild ihrer eigenen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung und Gemeinwohlorientierung (im Gegensatz etwa zu einer reinen und auch so kommunizierten Partikularinteressenvertretung einer Spezialgewerkschaft) stabil zu halten. 6.2 Kooperative Einkommenspolitik Kooperative Einkommenspolitik ist der Versuch des Staates, die Verbände zu freiwilliger Verhaltensabstimmung derart zu bewegen, dass sich diese den beiden staatlichen Zielen (Stabilität von Preisniveau und Stabilität von Arbeitslosigkeit) gleichsam einsichtig und verantwortungsbewusst unterwerfen (Wagner 2001: 271). Dieser in den Sozialwissenschaften als neokorporatistisch bezeichneten und in nachgerade unüberschaubarer Zahl beschriebenen Einbindung von Verbänden in politische Entscheidungsprozesse geht also die Wahrnehmung staatlicher Akteure voraus, dass das unbeeinflusste Verhalten der Verbände der Stabilität oder Restabilisierung der genannten Ziele nicht (mehr) hinreichend dienlich ist. Einkommenspolitische Kooperationsversuche sind damit eine angesichts der nicht erzwingbaren Teilnahme eher milde Form der Reaktion staatlicher Akteure auf ihre Sorge und Unzufriedenheit bezüglich der von ihnen zu tragenden externalisierten Kosten tarifpartnerschaftlichen Verhaltens. Oft (bspw. Waddington, Hoffmann 2000; Fajertag, Pochet 2000; Schmidt 2001; Schmierl 2001; Zimmer 2002) wurde darauf hingewiesen, dass der Grund für diese wahrgenommene Unzufriedenheit staatlicher Akteure die zunehmende Differenzie-
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rung und Heterogenisierung von Akteuren und Interessen am Arbeitsmarkt ist (Jochem, Siegel 1999). Diese Entwicklung äußert sich nicht zuletzt in der abnehmenden Repräsentationsfunktion und Verpflichtungsfähigkeit der Verbände der industriellen Beziehungen. Letztlich ist also die Ursache der staatlichen Unzufriedenheit in der zunehmenden Atomisierung und Autonomisierung der individuellen Arbeitsmarktakteure zu suchen und in der abnehmenden Fähigkeit der Tarifverbände, durch kollektive Verhaltenskoordinierung das systemkonforme Verhalten der individuellen Arbeitsmarktakteure abzusichern. Für staatliche Akteure attraktiv können korporatistische Arrangements nur dann sein, wenn die Verbände besser (d.h. überzeugender oder kostengünstiger) als der Staat selbst in der Lage sind, ihre Mitglieder zu einem Verhalten zu bewegen, das den Interessen des Staates entspricht oder zumindest nicht allzu sehr zuwider läuft. Vor diesem Hintergrund sind einkommenspolitisch motivierte Kooperationsarrangements zu betrachten als der Versuch, mit der Schaffung von Interessenvermittlungssystemen der sich verstärkenden politischen Steuerungskomplexität entgegen zu treten und die (systemstabilisierende Funktion der) Verbände zu restabilisieren. Das ist nicht nur im Interesse des Staates, sondern auch im Interesse der Verbände insofern, als diese sich davon zugleich eine Stärkung ihrer schwindenden Repräsentationsfunktion versprechen (Hassel 1999b). Die beiden wesentlichen bisher in Deutschland formalisierten makrokorporatistischen Arrangements lassen sich daher jeweils auch als Reaktionen auf diesen Bedeutungsverlust der Verbände interpretieren. Mit der Konzertierten Aktion (1967-1977) sollten die Autonomiebestrebungen der Beschäftigten gegenüber ihren Gewerkschaften, mit dem Bündnis für Arbeit (1998-2002) auch die Distanzierungstendenzen der Arbeitgeber von ihren Verbänden begrenzt werden. In beiden Foren agierte eine begrenzte Anzahl nicht konkurrierender, hierarchisch strukturierter und abgegrenzter Verbände, denen staatliche Anerkennung zuteil und ein ausdrückliches Repräsentationsmonopol zugestanden wurde (Lehmbruch 1996). Im Tausch für diese Privilegierung erwartete der Staat dann im Rahmen dieser tripartistischen Konzertierung Kompromissbereitschaft der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter bei der Lösung industrieller Konflikte, die Beachtung der Ziele und Interessen des Staates und die Durchsetzung gefundener Kompromisse bei den jeweiligen Mitgliedern (Lehmbruch 1983; Zimmer 2002: 120). Wenn es staatlichen und verbandlichen Akteuren gelingt, die Betriebsebene wirksam in ihre Koordinierungsbemühungen einzubinden, dann sind koordinierte Lohnbildungssysteme all ihren Alternativen einschließlich marktnaher Regelungen hinsichtlich der Befähigung zur Lohnmäßigung überlegen (Traxler, Kittel 2000). Allerdings ist diese korporatistische Form des politischen Tausches sehr voraussetzungsvoll, und entsprechend anfällig ist sie für die Verfehlung ihrer postulierten Ziele. Die Ursachen dieser ausgeprägten Misserfolgsanfälligkeit solcher neokorporatistischen Konstruktionen lassen sich auf der Seite der teilnehmenden Verbände ebenso verorten wie auf der Seite des Staates. Zwar ist die erste Voraussetzung
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für den Erfolg solcher Arrangements gegeben: das Wissen staatlicher Akteure um ihre eigenen strukturellen Durchsetzungsdefizite, um institutionelle Steuerungshemmnisse und um die legitimatorischen Risiken direkter Steuerung. Die daran anschließende zweite Voraussetzung bleibt hingegen eine zunehmend unrealistische Erwartung staatlicher Akteure: dass nämlich Verbände stellvertretend für den Staat die individuellen Arbeitsmarktakteure auf kollektiv-rationales, systemkonformes Verhalten hin disziplinieren können (Bleses, Vetterlein 2002: 126). Gerade deren abnehmende Lenkungs- und Steuerungsfähigkeit ist ja eine der Ursachen für die Zunahme der Steuerungskomplexität, und diesem Bedeutungsrückgang lässt sich mit der staatlichen Zuerkennung eines verbandlichen Vertretungsmonopols nicht wirksam und dauerhaft entgegensteuern. Pointiert lässt sich sagen: Formalisierte neokorporatistische Arrangements sind der staatliche Versuch, die Tarifverbände gerade dann verstärkt in die Pflicht zur Disziplinierung ihrer Mitglieder zu nehmen, wenn diesen das aufgrund der Umweltbedingungen gerade besonders schlecht gelingt. Die (Spitzen-)Verbände der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite befinden sich durch ihre Beteiligung an und Einbindung in tripartistische(n) Kooperationsrunden in einer widersprüchlichen Situation, die sich aus ihrem internen und externen Vertretungsanspruch und aus dem Umstand ergibt, dass sie immer weniger Arbeitsmarktakteure zu ihren Mitgliedern zählen können und dass sie auch gegenüber ihren verbliebenen Mitgliedern kaum über Verpflichtungsfähigkeit oder gar Weisungsbefugnis verfügen (Schmitter, Grote 1997: 550). Sie müssen einerseits ihren Mitgliedern gegenüber als Interessenvertreter glaubwürdig sein und bleiben, und das heißt, sie dürfen sich bei der tripartistischen Kompromisssuche von den Interessen ihrer Mitglieder nicht allzu weit entfernen. Sie müssen andererseits darauf bedacht sein, gegenüber dem Staat und den Gegenverbänden als dauerhaft einflussreicher und möglichst monopolistischer Repräsentant der Arbeitgeber- bzw. der Arbeitnehmerseite zu gelten, und das heißt, sie müssen ihre Mitglieder auf gefundene Kompromisslösungen verpflichten können (Vobruba 2000: 55). Aus beidem zusammen, von Schmitter und Streeck (1981) als Widerspruch zwischen Mitgliedschafts- und Einflusslogik beschrieben, ergibt sich, dass die bei tripartistischen Kooperationsrunden gefundenen Lösungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nur von eher geringer Relevanz sind: Bei ihren Mitgliedern durchsetzen können die teilnehmenden (Spitzen-)Verbände Kompromisslösungen umso schwerer, je stärker sie den Status Quo dieser Mitglieder berühren und deren Interessen zuwider laufen. Und das heißt in letzter Konsequenz, dass die Erfolge solcher Kooperationsversuche strukturell sehr begrenzt sind. Die Misserfolgsanfälligkeit dieser Arrangements verstärkt sich dadurch, dass die fehlende Verpflichtungsfähigkeit der Verbände nicht durch eine entsprechende Verpflichtungsfähigkeit des Staates ausgeglichen wird. Vielmehr ist die spezifisch deutsche Variante neokorporatistischer Arrangements (vgl. Regini 2000) gerade nicht geeignet, die verbandssoziologisch zu erklärenden Grenzen der Konzertierung zu überwinden. Denn aus dem Prinzip, die Verbände „auf freiwilliger Basis zu einem stabilitätsgerechten
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Verhalten zu veranlassen“ (Pätzold 1998: 330, H.i.O.), ergibt sich, dass die staatliche Formulierung von Zielvorgaben oder Orientierungsdaten unverbindlich und für die Tarifverbände nicht verpflichtend ist. Angesichts fehlender Sanktionsandrohungen und in Abhängigkeit vom Druck, den die jeweilige Klientel auf die Verbandsspitzen ausübt, sinkt damit der Verständigungs- und Kompromissdruck auf die Verbände bereits beim Versuch, sich konsensual auf notwendig zu erreichende Ziele oder Kennzahlen zu verständigen. Formalisierte korporatistische Steuerung ist also umso anfälliger für die Verfehlung ihrer Ziele, je weniger bei ihrem Scheitern mit imperativer Steuerung zu rechnen ist. Insgesamt wird deutlich: In tripartistischen Foren der Verhaltensabstimmung stehen die Tarifverbände zwischen den Interessen des Staates und den Interessen ihrer jeweiligen Mitglieder; ihre Aufgabe ist es, zwischen beiden Interessensphären zu vermitteln. Damit sind freiwillige neokorporatistische Arrangements, wie effizient auch immer, auf die Unterstützung staatlicher Steuerung durch Verbände angelegt (Vobruba 2000: 58). Diese Unterstützung, institutionalisiert unter dem Label „Tarifautonomie“, ist ohnehin ihre Aufgabe. Neokorporatistische Konzertierung ist damit durchaus vereinbar mit der grundsätzlichen, systemstabilisierenden Rolle der Verbände der Industriellen Beziehungen in einer marktwirtschaftlich strukturierten Ökonomie. Die Besonderheit neokorporatistischer Konzertierung liegt nicht in dieser Vermittlungs- und Filterfunktion der Verbände zwischen Staat und individuellen Arbeitsmarktakteuren per se. Sie liegt darin, dass in einer Situation, in der die Verbände gerade nicht mehr ausreichend in der Lage sind, ihre Rolle eigenständig und gleichsam unauffällig auszufüllen, die spezifische Form der neokorporatistischen Kommunikation und Akkordierung zwischen Staat und Verbänden diese Funktion der Verbände ebenso offensichtlich macht wie deren diesbezügliche Funktionsdefizite. Welche Konsequenzen hat die Teilnahme der Tarifverbände an Kooperationsarrangements für die Verwendung und Instrumentalisierung des Begriffs Tarifautonomie? Den von den Verbandsspitzen intendierten Erträgen einer Teilnahme an oder gar einer Initiative zu tripartistischen Abstimmungsforen, nämlich die Restabilisierung der Repräsentationsfunktion (Hassel 1999b), die Einbindung in die Politikformulierung (Schroeder, Esser 1999) und ein spürbarer Reputationsgewinn in der interessierten, problembewussten Öffentlichkeit (Voswinkel 2001), können unintendierte Reaktionen der jeweiligen Verbandsbasis und in der Folge ein gesteigerter Rechtfertigungsdruck auf die Verbandsspitzen gegenüberstehen. Warum? Anders als bei ebenso unverbindlicher, aber nach außen hin einseitig erscheinender indikativer Einkommenspolitik des Staates ist es den teilnehmenden Verbandsspitzen bei kooperativen Versuchen der Verhaltensabstimmung nicht möglich, sich den Forderungen und Erwartungen des Staates zumindest rhetorisch durch Verweis auf die Tarifautonomie zu entziehen. Entsprechend unwahrscheinlich ist es, dass die Vertreter der teilnehmenden Verbände von sich aus die Tarifautonomie problematisieren werden. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass individuelle Verbandsmitglieder ihre Verbandsführung auf
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die Selbst-Infragestellung der Tarifhoheit ihres Verbandes als Folge einer Teilnahme an neokorporatistischen Arrangements hinweisen und mit der Verweigerung ihrer Gefolgschaft drohen werden. Dieses Risiko besteht insbesondere dann, wenn die Verbandsmitglieder den Eindruck haben, dass die in tripartistischen Abstimmungsrunden gefundenen bzw. sich abzeichnenden Ergebnisse ihren aktuellen (relativen) Status verschlechtern (vgl. dazu empirisch Kapitel 9.1). Verbandsfunktionäre stehen in einer solchen Situation vor der Herausforderung, ihren Mitgliedern gegenüber das symbolische Leitbild der Tarifautonomie aufrecht zu erhalten, ohne jedoch ihre Teilnahme an den tripartistischen Verhandlungen zu quittieren. Hierfür bedürfen die Verbandsfunktionäre der Unterstützung und legitimatorischen Entlastung durch staatliche Akteure. Diese sind gefordert, in geeigneter Weise der Öffentlichkeit, vor allem aber den zweifelnden Verbandsmitgliedern zu versichern, dass die Einbindung ihrer Verbände in neokorporatistische Abstimmungsspiele keineswegs der Idee der Tarifautonomie widerspricht. Entsprechende Äußerungen dienen innerhalb des staatlichen Flexibilitätsmanagements der Stärkung der Institution „Tarifautonomie“. Sie lassen sich im Kontext von Konzertierter Aktion und Bündnis für Arbeit finden. 6.3 Imperative Einkommenspolitik Als eine der Ursachen der geringen Erfolgswahrscheinlichkeit neokorporatistischer Arrangements wurde die fehlende Möglichkeit des Staates benannt, sich über die Kompromissunfähigkeit der teilnehmenden Verbände hinweg zu setzen und mit den Mitteln des Gesetzgebers jenes Verhalten zu erzwingen, auf das sich die Verbände in freiwilliger Absprache nicht verständigen können. Das heißt nicht, dass dem Staat keinerlei gesetzgeberischen Möglichkeiten zur Verfügung stünden für die Steuerung von Angelegenheiten, die grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Tarifverbände fallen. Der Staat hat diese Möglichkeiten sehr wohl. Nur: nutzt er diese Möglichkeiten (oder droht er ihre Nutzung auch nur glaubhaft an), um die Verbände zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, dann wird diese Form der Steuerung nicht mehr von der Definition kooperativ-korporatistischer Steuerung (Einbindung der Verbände in politische Entscheidungen) erfasst. Im Rahmen kooperativer Einkommenspolitik ersetzt die Verhandlung zwischen den teilnehmenden Akteuren eine gesetzgeberische Maßnahme oder geht ihr, wenn die gefundenen Kompromisse in entsprechende Gesetzesform überführt werden, zumindest voraus. Greift der Staat jedoch auf seine Möglichkeiten als Gesetzgeber zurück, gerade weil eine freiwillige tripartistische Verhaltensabstimmung nicht zustande kommt; erlässt er also ein Gesetz nicht infolge, sondern anstelle einer freiwilligen Kompromissfindung, dann kann von korporatistischer, kooperativer, einvernehmlicher politischer Steuerung sinnvollerweise nicht mehr die Rede sein. Vielmehr handelt es sich dann um imperative Politik.
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Beim Versuch, empirisch zu belegen, wie wahrscheinlich imperative anstelle kooperativer Steuerung ist, empfiehlt es sich, zwischen lohnpolitisch und flexibilitätspolitisch motivierten Steuerungsversuchen ebenso zu unterscheiden wie zwischen unmittelbar und mittelbar wirkenden. Von unmittelbar wirkenden Steuerungsversuchen soll die Rede sein, wenn eine gesetzgeberische Maßnahme direkt darauf abzielt, ein bestimmtes Verhalten der Tarifverbände zu erzwingen oder zu verhindern. Demgegenüber beeinflusst mittelbare imperative Steuerung die Tarifverbände nur indirekt, indem sie deren Handlungskontexte gesetzlich so gestaltet bzw. verändert, dass davon Lenkungswirkungen auf ihr Verhalten ausgehen. Durch eine solche Situationskontrolle (vgl. Scholl 2007) wird nicht das Handeln der Tarifverbände, sondern werden deren Handlungsbedingungen gesetzlich geregelt. Durch beide Unterscheidungen (lohnpolitische vs. flexibilitätspolitische Steuerung; unmittelbar vs. mittelbar wirkend) ergeben sich theoretisch vier Untertypen imperativer Politik, die im Folgenden kurz beleuchtet werden sollen. Auf die zu erwartenden unintendierten Effekte unmittelbarer staatlicher Regulierung der Lohn- und Preisentwicklung in Form von Lohn- und Preisstopps oder -korridoren wurde bereits in Kapitel 4.2 eingegangen. Die Tarifverbände können also mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass der Staat zum Instrument verbindlich verordneter Lohn- und Preisvorgaben auch dann nicht greifen wird, wenn sein Versuch einer einvernehmlichen, kooperativen korporatistischen Verhaltensabstimmung zwischen den Sozialpartnern erfolglos geblieben ist. Unmittelbare staatliche Regulierung der tarifverbandlichen Flexibilitätspolitik ist ebenso unwahrscheinlich. Sie liefe darauf hinaus, die Sozialpartner gesetzlich zu einem bestimmten flexibilitätspolitischen Verhalten zu verpflichten. Bezogen auf die Gewerkschaften hieße das wohl vor allem, dass diese gesetzlich angeordnet ihr abwehrendes Verhalten in Fragen atypischer Beschäftigung aufweichen, wenn nicht gar aufgeben und bei Tarifabschlüssen differenziertere und flexiblere Arbeitsbedingungen ermöglichen sollen. Die Implikationen eines solchen Vorgehens werden sofort offensichtlich. Um gegenüber den Tarifverbänden durchsetzungsfähig und justiziabel sein zu können, muss eine solche gesetzliche Regelung ähnlich wie bei Lohn-Preis-Leitlinien eine möglichst konkrete Festlegung des Soll-Zustandes enthalten. Angesichts der Vielzahl von Branchen und Interessen wäre allein das entweder eine wenig sinnvolle oder aber eine kaum zu bewältigende Aufgabe für staatliche Akteure. Nochmals ungleich schwerer wiegt jedoch das Problem von Kontrolle und Reaktanz. Im etablierten, arbeitsteiligen Konstrukt zwischen Staat und Verbänden obliegt letzteren ja nicht nur die umfassende Aushandlung der Arbeitsbedingungen, sondern auch die Überwachung ihrer Einhaltung (Fehmel 2006b). Durch verbindliche gesetzliche Vorgaben würde den Tarifverbänden die Aushandlungsfunktion mehr oder weniger weit gehend entzogen, ihnen ihre Kontrollfunktion aber belassen; und zwar schon allein deshalb, weil der Staat selbst nicht annähernd über angemessene Kontrollmöglichkeiten verfügt. Das hat Auswirkungen auf die Motivationslage der Verbände. Mit einiger
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Wahrscheinlichkeit werden sie die Einhaltung von Regeln, zu denen sie selbst verpflichtet worden sind und denen sie selbst skeptisch gegenüber stehen (sonst hätte es ja der gesetzlichen Regelung nicht bedurft), mit deutlich geringerer Intensität überwachen als selbst ausgehandelte Regeln. Andererseits wird jede imperativ statt kooperativ bewirkte Änderung eines Status Quo immer auch Formen der Reaktanz bei den letztlich Regulierungsbetroffenen hervorrufen, sofern sie nicht als legitim empfunden wird (vgl. grundlegend Brehm 1972; auch Scholl 2007). Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass die Flexibilisierung bestehender Normalbeschäftigungsverhältnisse zugunsten der Beschäftigung von Arbeitslosen selbst dann bei den aktuell Beschäftigten auf vergleichsweise geringe Akzeptanz stößt, wenn die Verantwortung dafür bei den Gewerkschaften liegt; um wie viel mehr Reaktanz ist dann bei staatlich verordneten Vorgaben zu erwarten. Geringerer Kontrollneigung bei den Verbänden steht also eine gesteigerte Neigung zu abweichendem Verhalten bei den betrieblichen Akteuren gegenüber, das dadurch in erheblichem Umfang unentdeckt bleibt. Im Ergebnis gilt auch hier, dass imperative Flexibilisierungsvorgaben als wenig effiziente Maßnahme einzustufen sind, weshalb sie auch für den Fall des Scheiterns eines kooperativen tripartistischen Abstimmungsversuchs wenig Drohwirkung entfalten können. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten: Die Wirksamkeit unmittelbarer imperativer Steuerung ist sehr begrenzt. Den intendierten Wirkungen stehen unintendierte Effekte in einem Ausmaß gegenüber, das die geringe Eignung dieser Form staatlicher Steuerung deutlich macht. Zu erwartende Reaktanz und Devianz der regulierungsbetroffenen Akteure, geringe Kontrollneigung der Verbände und geringe Überwachungsmöglichkeiten des Staates erschweren insgesamt die Berechenbarkeit zukünftiger Entwicklung der Löhne und Arbeitsbedingungen, was wiederum auf investitionsbereite Kapitaleigner abschreckend wirken mag. Verglichen mit derart handfesten Gründen ist der Hinweis nachgerade trivial (aber nicht weniger bedeutsam), dass unmittelbare imperative Politik selbstredend auch die unter dem Begriff „Tarifautonomie“ etablierte Arbeitsteilung zwischen Staat und Verbänden sichtbar außer Kraft setzt. Für den mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden Fall, dass auch unmittelbare imperative Steuerung der Lohn- und Arbeitsbedingungen von hinlänglich vielen Regelungsbetroffenen nicht als ausreichend sozial integrierend wahrgenommen wird, ist aus staatlicher Sicht zudem von Nachteil, dass nun die Möglichkeit wegfällt, sich als gemeinwohlorientiert, interessenneutral und allenfalls interessenvermittelnd darstellen und die Tarifverbände als Problemverursacher benennen zu können. Von mittelbarer imperativer Steuerung soll dann die Rede sein, wenn eine gesetzliche Maßnahme zwar nicht direkt darauf abzielt, die Tarifverbände zu einem bestimmten lohn- und/ oder flexibilitätspolitischen Verhalten zu zwingen, aber dennoch geeignet ist, den Handlungsspielraum der Verbände so zu gestalten bzw. zu verändern, dass davon Lenkungswirkungen auf ihr lohn- und/oder flexibilitätspolitisches Verhalten ausgehen. Zunächst: Jede dieser gesetzlichen Maßnahmen verändert das Kompetenzverhältnis zwischen Staat und Verbänden. Allein das überaus komplexe
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System arbeitsrechtlicher Regelungen zu Einzelmaterien (zusammengefasst im Begriff der Schrankengesetzgebung, vgl. Wiedemann 1995: 681ff.) zeigt, wie sehr der Staat in die Gestaltungsmaterie der Arbeitsbeziehungen eingreift. Zudem erweitern Richterrecht und Verknüpfungen mit angrenzenden Rechtsgebieten (z.B. Sozialrecht) diesen Bereich zu Lasten der „staatsfreien Sozialsphäre, [...] in der die Tarifvertragsparteien autonome Entscheidungen treffen können“ (Müller-Jentsch 1997: 203). Dies nun aber ausschließlich als „Eingriff in die Tarifautonomie“, also als Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Verbände gegen deren Willen zu begreifen, wird den Interessenlagen der Verbände, und zwar sowohl der Gewerkschaften als auch der Arbeitgeberverbände, nicht annähernd gerecht. Denn nicht wenige der gesetzlichen Regelungen der Arbeitsbeziehungen sind die Folge entsprechender, oft konfliktreicher Aushandlungsbemühungen der Tarifvertragsparteien selbst. Das heißt, dass Verbände durchaus ein Interesse an staatlicher Regulierung haben, etwa wenn es um die Festschreibung von arbeitsrechtlichen Mindeststandards geht, auf denen dann mittels tarifvertraglicher Vereinbarungen aufgebaut werden kann. Man denke nur an das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das werktägliche Höchstarbeits- und Mindestpausenzeiten vorschreibt oder an das Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG), das die Höhe und die Dauer der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall regelt. Würde diese Form der staatlichen Gewährung minimaler Schutzvorschriften ausfallen, dann hätten die Tarifvertragsparteien in der Tat autonom, also selbständig solche Standards nicht nur zu etablieren, sondern auch regelmäßig aufs Neue zu rechtfertigen und auf eigene Kosten deren Einhaltung zu überwachen. Derartige Aufgaben aber ziehen Ressourcen ab von den weitergehenden und aufbauenden Verbändeaktivitäten. Diese Überlegungen zeigen: Eine vollständig umgesetzte Tarifautonomie, also die Beschränkung des Staates allein auf den aus dem Grundgesetz abgeleiteten Regelungsauftrag zur prozeduralen Rahmensetzung für ein funktionierendes Tarifvertragssystem, würde den Verbänden ein vollkommen anderes lohn- und/ oder flexibilitätspolitisches Verhalten abverlangen und wäre damit in den Augen der Verbände eine erhebliche und damit insgesamt unattraktive Beschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Begrenzungen des tarifautonomen Raumes durch staatliche Gesetzgebung können somit durchaus einen die Verbände entlastenden Charakter haben, indem sie grundlegende Arbeitsbedingungen zyklischer Hinterfragung entziehen. Die Tarifverbände werden daher keineswegs jede Verschiebung im Regelungskompetenzverhältnis zwischen ihnen und dem Gesetzgeber als „Eingriff in die Tarifautonomie“ thematisieren. Sie werden einerseits eine gesetzliche Begrenzung ihres Handlungsraumes gleichsam stillschweigend hinnehmen, wenn diese Begrenzung für sie in der geschilderten Weise von Vorteil ist. Und sie werden andererseits auf eine Ausdehnung ihres Handlungsraumes per Gesetz hin einen „Eingriff in die Tarifautonomie“ nicht problematisieren können, und zwar auch dann nicht, wenn wie im Falle der Absenkung gesetzlicher Mindeststandards
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diese Ausdehnung für sie eine Zunahme der Regelungsbelastung gegenüber dem status quo ante darstellt.24 Das heißt: Von einer Verletzung der Tarifautonomie werden die Verbände immer nur dann sprechen, wenn eine gesetzliche Maßnahme eine Einengung ihres Handlungsraumes zur Folge hat und wenn die Verbände ein manifestes eigenes Gestaltungsinteresse in der fraglichen Materie haben. Nur in einem solchen Fall ist es sinnvoll, dass die Verbände in der öffentlichen Diskussion das Argument eines „Eingriffs in die Tarifautonomie“ bemühen, um damit darauf hinzuweisen, dass tatsächlich Normsetzungskonkurrenz besteht und sie die mit der gesetzlichen Maßnahme verbundene Verschiebung im Regelungskompetenzverhältnis nicht ohne weiteres zu akzeptieren bereit sind. Dies ist ein Hinweis darauf, als wie nützlich sich der Begriff „Tarifautonomie“ zur Instrumentalisierung und argumentativen Unterfütterung eigener Positionen nicht nur für staatliche, sondern auch für tarifverbandliche Akteure erweist. Pointiert lässt sich sagen: im Kontext imperativer Steuerung(svorhaben) ist von Tarifautonomie immer dann die Rede, wenn zwischen Staat und Verbänden Meinungsverschiedenheiten über das Kompetenzverhältnis in Fragen der Lohn- und Arbeitsbedingungen bestehen. Es ist davon auszugehen, dass staatliche Akteure sich des Begriffs „Tarifautonomie“ nicht initiativ, sondern allenfalls reaktiv bedienen, und zwar stets dann, wenn das bestehende Regelungskompetenzverhältnis zwischen Staat und Verbänden zu Lasten letzterer verschoben, diese Intention aber nicht offensichtlich werden soll. Verbandsfunktionäre verwenden hingegen den Begriff „Tarifautonomie“ gerade initiativ und offensiv, um ihre Ablehnung dieser Kompetenzverschiebung zum Ausdruck zu bringen. Derartige Meinungsverschiedenheiten gab und gibt es anlässlich einer Vielzahl gesetzlicher Maßnahmen, die von den Verbänden als Beschränkung eigener Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen oder zumindest als solche thematisiert werden. Dabei ist die Zunahme solcher Meinungsverschiedenheiten zwischen staatlichen und verbandlichen, insbesondere gewerkschaftlichen Akteuren in den letzten nunmehr gut zwanzig Jahren nicht zu übersehen. Die wirtschaftlichen, oft als krisenhaft wahrgenommenen Wandlungsprozesse in den 1980er Jahren und die Änderung der politischen Lage seit Beginn der 1990er Jahre waren regelmäßig nicht nur Anlass für Flexibilisierungs- und Dezentralisierungsforderungen innerhalb des Tarifvertragssystems (Kittner 1995). Sie waren auch Impulse für eine Reihe arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Gesetze oder Gesetzesvorhaben oder Gesetzesandrohungen, die auf den hefti24
Das liest sich dann – etwas euphemistisch – beispielsweise so (Quelle: BMGS 2005b: 54): Maßnahme: Artikel 4a: Änderung des Seemannsgesetzes Zielsetzung: Flexibilisierung der Arbeitszeitbedingungen in der Seeschifffahrt Sachstand: 24.12.2003 (BGBl. I S. 3002), im Wesentlichen in Kraft getreten am 1.1.2004 Auswirkungen/Ergebnisse: Tarifvertragsparteien erhalten die Möglichkeit, Vereinbarungen für eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit zu treffen, die durch die gesetzlichen Mindestruhezeiten begrenzt wird.
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gen Widerstand der Gewerkschaften stießen, die die Verletzung der Tarifautonomie rügten (Wiedemann 1995: 675; Dieterich 2002). Abweichend von ihrer juristischen Differenzierung – und damit den engeren Bereich des Arbeitsrechts verlassend – lassen sich derartige Gesetze oder konkrete, ernstzunehmende Gesetzesvorhaben danach unterscheiden, wie sie mittelbar auf den Handlungsspielraum der Tarifverbände einwirken, ob sie also das flexibilitäts- oder das lohnpolitische Verhalten der Verbände oder übergreifend deren Handlungsfähigkeit generell beeinflussen. Allein für den Bereich der verbandlichen Flexibilitätspolitik gibt es eine kaum zu überschauende Zahl umstrittener gesetzliche Maßnahmen, und zwar nicht nur im engeren arbeitsrechtlichen Bereich, sondern auch bei der Regelung sachlich angrenzender, insbesondere sozialrechtlicher und arbeitsmarktpolitischer Fragen. Für den abgegrenzten Bereich der Lohnpolitik lassen sich derartige, in gleicher Weise mittelbar wirkende Gesetze kaum finden. Zwar gibt es durchaus Regelungsbereiche, in denen durch staatliche Gesetzgebung implizit auch über den Realwert und vor allem über die zukünftige Realwertentwicklung der tariflich ausgehandelten Nominallöhne mitentschieden wird; man denke nur an die Steuergesetzgebung oder die Festlegung von Sozialversicherungsbeitragssätzen, insgesamt also an die staatlichen Möglichkeiten der Beeinflussung von Arbeitsnettoeinkommen durch Zugriff auf tariflich vereinbarte Arbeitsbruttoeinkommen. Derartige staatliche Vorgaben schlagen mittelbar zweifellos in erheblichem Umfang durch auf verbandliches lohnpolitisches Verhalten. Aber die Verbände können diesen Teil der staatlichen Gesetzgebung nicht als „Eingriff in die Tarifautonomie“ reklamieren, sondern sind zu ausschließlich reaktiver Anpassung gezwungen. Es gibt jedoch in der Geschichte der Konflikte um den Konfliktrahmen einige markante Auseinandersetzungen, die die Kontextbedingungen der Handlungsfähigkeit der Verbände, insbesondere der Gewerkschaften, generell zum Thema hatten. Zwar wird auch hier letztlich eine konkrete Einzelmaterie geregelt – dies jedoch in einer so grundsätzlichen Weise, dass sie zugleich eine sehr weit reichende Situationskontrolle der Gewerkschaften durch staatliches Gesetz darstellt. Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist der Konflikt zwischen Regierung und Gewerkschaften um die Neufassung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), die im Jahr 1986 verabschiedet wurde und gegen die sich in der Folge erbitterter Widerstand der Gewerkschaften regte, die sich dadurch in ihrer Streik- und damit letztlich generell in ihrer Durchsetzungsfähigkeit im Rahmen der Tarifautonomie massiv beeinträchtigt sahen. Der politische Konflikt wie auch seine juristische Bearbeitung vor dem Bundesverfassungsgericht eignen sich daher in besonderer Weise für eine empirische Auffächerung (siehe Kapitel 9.2).
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7 Synthese: Flexibilität des tarifautonomen Handlungsraumes
Die zurückliegenden Abschnitte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens: der Staat profitiert in großem Umfang von der Arbeitsteilung zwischen ihm und den Tarifverbänden in Fragen der Regulierung der Arbeitsbedingungen. An der grundsätzlichen Verankerung dieser Arbeitsteilung im Bewusstsein der direkt und indirekt Regelungsbetroffenen haben staatliche Akteure daher ein ausgeprägtes Interesse. Diese institutionalisierte Arbeitsteilung zwischen Staat und Verbänden wird zum Ausdruck gebracht mittels des Begriffs „Tarifautonomie“, der insofern gleichsam die auf den Begriff gebrachte Leitidee dieser Arbeitsteilung ist. Er symbolisiert die Zurückhaltung des Staates und den unzweifelhaften Vorrang der Tarifverbände bei der Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Zweitens: Dessen ungeachtet sind staatliche Akteure jedoch keineswegs vollkommen gleichgültig gegenüber den Entwicklungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen und gegenüber der Statik und Dynamik am Arbeitsmarkt. Vor dem Hintergrund, dass letztlich der Staat für stabile, berechenbare Investitions- und Wertschöpfungsbedingungen verantwortlich gemacht wird, können ihn die Verhältnisse am Arbeitsmarkt nicht unberührt lassen. Zwar ist (im Gegensatz zu vielen anderen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften) das System der Industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland durch das Ordnungskonzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ so strukturiert, dass von den Gewerkschaften kein Verhalten zu erwarten ist, das das ökonomische (und in der Folge das politische) System massiv erschüttern wird. Aber angesichts spezifischer Eigeninteressen und Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften sind Situationen nicht auszuschließen, in denen ihr Handeln zu Effekten führt, die dem Eigeninteresse staatlicher Akteure an stabilen Machtreproduktionsbedingungen zuwider laufen. Derartige Situation lassen sich prinzipiell danach unterscheiden, ob sie aus Sicht staatlicher Akteure der Preisniveaustabilität oder der Stabilität der Arbeitslosigkeit abträglich sind. In solchen Situationen ist selbstbezüglichen staatlichen Akteuren also trotz der grundsätzlichen Zurückhaltung zugunsten der Tarifverbände an der Möglichkeit gelegen, auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt selbst Einfluss nehmen zu können. Drittens: Sofern staatliche Akteure die Tarifverbände als Verursacher einer zu starken Inflation oder zu kostspieligen Arbeitslosigkeit identifiziert haben, versuchen sie daher, auf die Tarifverbände einzuwirken, um diese zu einem Verhalten zu bewe-
gen, in dessen Folge sich Inflation oder Arbeitslosigkeit wieder den vom Staat tolerierten Zuständen annähern. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die Einwirkungsversuche auf gewerkschaftliche Lohnpolitiken eher (aber keineswegs nur) in konjunkturellen Aufschwungphasen häufen, Einwirkungsversuche auf gewerkschaftliche Flexibilitätspolitiken hingegen eher (aber keineswegs nur) in Abschwungphasen auftreten. Diese Versuche lassen sich prinzipiell unterscheiden in indikative Verhaltensempfehlungen, kooperativ angestrebte Verhaltensabstimmung und imperativ wirkende Verhaltensvorgaben. Viertens: Zunächst unabhängig davon, wie wirksam diese verschiedenen Einwirkungsversuche jeweils sind, sind sie doch insgesamt allein durch ihren Anspruch der Einwirkung nicht vereinbar mit dem Anspruch der durch den Begriff „Tarifautonomie“ symbolisierten und zum Ausdruck gebrachten Zurückhaltung des Staates in Fragen der Regelung von Arbeitsbedingungen. Es ist also zu erwarten, dass die jeweiligen Einwirkungsversuche staatlicher Akteure mit entsprechenden Versuchen einhergehen, diesen Widerspruch (Versuch der Einwirkung vs. Zusage der Zurückhaltung) kommunikativ zu überwinden oder zu rechtfertigen. Dieses strategisch-kommunikative Vorgehen staatlicher Akteure dürfte eine je spezifische Ausprägung haben, und zwar abhängig davon, ob damit indikative, kooperative oder imperative Steuerungsversuche begleitet werden. Fünftens: Das heißt im Einzelnen: Lässt sich im Rahmen kooperativer Verhaltensabstimmung die Thematisierung der Tarifautonomie nicht vermeiden, dann werden staatliche Akteure dies (wohl eher reaktiv als initiativ) in befürwortender und stützender Weise tun, um so die Stellung der Verbandsspitzen gegenüber ihren zweifelnden Mitgliedern und den darüber hinaus Regelungsbetroffenen zu stärken. Muss hingegen im Rahmen imperativer Beeinflussung die Tarifautonomie thematisiert werden, dann werden staatliche Akteure (ebenfalls wohl eher reaktiv) den Begriff in skeptischer und relativierender Weise verwenden, um damit die Widerständigkeit der Verbandsspitzen gegen die beabsichtige Verschiebung im Regelungskompetenzverhältnis zwischen Staat und Verbänden zu unterlaufen. Im Rahmen indikativer Kommunikation wird der Begriff „Tarifautonomie“ von staatlichen Akteuren in einer Weise verwendet, mit der die Tarifautonomie einerseits als flexibel dargestellt werden kann, andererseits die Zuständigkeit klar bei den Verbänden verortet wird. Sechstens: Diese drei Methoden sind jeweils verschiedene Aspekte innerhalb des Flexibilitätsmanagements staatlicher Akteure bezüglich der Institution Tarifautonomie. Dieses Flexibilitätsmanagement hat insgesamt das Ziel, einer zu starken Institutionalisierung der Tarifautonomie ebenso entgegen zu wirken wie einer zu geringen. Eine zu starke Institutionalisierung der Tarifautonomie, also eine zu weit gehende faktische Autonomisierung der Tarifverbände hätte für staatliche Akteure abnehmende Einwirkungschancen und höhere externalisierte Kosten zur Folge. Eine zu geringe Institutionalisierung hingegen stünde für einen Legitimitätsverlust der Tarifverbände bei der Aushandlung von Arbeitsbedingungen, den unter Umständen der Staat selbst
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durch Regulierung in einem Ausmaß zu kompensieren hätte, das dem Anschein seiner Neutralität nicht förderlich wäre. Innerhalb dieser komplexen Herausforderung wirkt die Begleitkommunikation im Rahmen imperativer Politik in Richtung einer Deinstitutionalisierung der Tarifautonomie und im Rahmen kooperativer Politik in Richtung einer Reinstitutionalisierung der Tarifautonomie. Indikative Kommunikation wirkt sowohl institutionalisierend als auch deinstitutionalisierend und insofern flexibilitätserhaltend. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit soll dies an fünf Beispielen verdeutlicht werden.
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II Tarifautonomie als Begriff
8 Methodische Überlegungen
8.1 „Tarifautonomie“ als instrumentalisierungsgeeigneter Begriff Für menschliches soziales Handeln ist Sprache zentral. Kommunikation mittels Sprache setzt nicht nur das ausreichende Einverständnis der Kommunizierenden über die Regeln der Sprachanwendung voraus, sondern auch genügend Übereinstimmung über die Bedeutungsinhalte von Begriffen. Denn Begriffe dienen nicht nur der Beschreibung von Realität, sondern implizieren oft auch Handlungsorientierungen und stabilisieren Verhaltenserwartungen. Begriffe sind also Teil eines Deutungssystems, das Gesellschaft kognitiv konstituiert (Rast 1999). Als Teil dieses Deutungssystems sind Begriffe weit mehr als nur ein Instrument der Abbildung und Beschreibung objektiv vorhandener, vorsprachlicher Wirklichkeit. Begriffe sind Wirklichkeit (vgl. Nonhoff 2006: 49). Diese „eigene“ Wirklichkeit eines Begriffs ergibt sich daraus, dass sein aktuell geltender (Be-) Deutungsinhalt mit dem Ausschnitt der vorsprachlichen Wirklichkeit, den er zu beschreiben beansprucht, nicht bzw. nicht mehr identisch sein muss. Vielmehr sind Wandlungsprozesse denkbar sowohl bei dem durch einen Begriff erfassten Sachverhalt als auch bei der Bedeutung dieses Begriffs selbst. Und diese Wandlungsprozesse von Begriff und Sachverhalt verlaufen nur in den seltensten Fällen gleichmäßig und parallel. Entschieden häufiger entwickeln sich Sachverhalt und „zugehöriger“ Begriff ungleichmäßig, vor allem ungleichzeitig auseinander: Entweder verändert sich der ursprünglich begrifflich erfasste Sachverhalt, während relativ dazu die Bedeutung des Begriffs stabil bleibt. In einem solchen Fall ist ab einem gewissen Punkt für den veränderten Sachverhalt ein neuer Begriff notwendig. Oder die Bedeutung eines Begriffs ändert sich, aber der zuvor damit erfasste Ausschnitt der vorsprachlichen Wirklichkeit bleibt relativ dazu gleich. Die vorsprachliche Wirklichkeit wird also „nur“ in einer veränderten Weise sprachlich konzeptualisiert. Auch das macht über kurz oder lang die Etablierung eines neuen Begriffs für den unverändert gebliebenen Sachverhalt erforderlich (Schultz 1979: 43ff.; Koselleck 2006: 62f., 67, 88f.). Gerade diese Fälle der ungleichzeitigen Entwicklung von beschriebenem Sachverhalt und beschreibendem Begriff sind von wissenssoziologischem Interesse. Die Wissenssoziologie macht sich dabei den fundamentalen Umstand zunutze, dass sprachliche Kommunikation zwingend repetetiv angelegt ist (Koselleck 2000: 12ff.). Erst die beständige Wiederholung kommunikativer Akte unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen und mit gleichem oder ähnlichem Inhalt führt dazu, dass sich aus-
reichende Übereinstimmung in der Frage von Begriffsinhalten überhaupt herausbilden kann. Und auch nur dank dieser semantischen Kontinuität lassen sich retrospektiv über lange Zeiträume hinweg semantische Innovationen erkennen, die die Grundlage bilden für den Vergleich der Entwicklung von beschriebenem Sachverhalt und beschreibendem Begriff und für die Suche nach sich vollziehender Abweichung zwischen beidem. Nicht alle Begriffe sind von diesem Auseinanderfallen des beschriebenen Sachverhaltes und des beschreibenden Begriffs in gleicher Weise betroffen. Besonders „anfällig“ dafür sind Begriffe, deren Sachverhalte der Dynamik menschlichen Zusammenlebens unterliegen. Gerade Begriffe aus dem politisch-sozialen Bereich geraten nahezu zwangsläufig in eine zeitliche Spannung (Koselleck 2006: 81), und darunter wiederum umso mehr jene, die als so genannte Grund- oder Schlüsselbegriffe viele einzelne Bedeutungen kategorisieren, systematisieren und aggregieren und damit eine Vielzahl möglicher konkreter Sachverhalte begrifflich verallgemeinern. Zusätzlich zur zeitlich bedingten sachlich-sprachlichen Diversifizierung haben derartige Begriffe gerade durch den Prozess der Verallgemeinerung die Tendenz, die aggregierten vorsprachlichen Sachverhalte, die sie sprachlich zu erfassen behaupten, immer weniger präzise abzubilden und in ihren Bedeutungen an Bestimmtheit und Eindeutigkeit zu verlieren. Dennoch kommt keine politische und keine Sprachgemeinschaft ohne derartige Grund- oder Schlüsselbegriffe aus (Koselleck 2006: 85, 99). Das gilt auch und gerade für „komplizierte Wörter“ (Diekmann 1980: 50f.), also für Begriffe, die zwar die Komplexität der vorsprachlichen Wirklichkeit auf eine sprachlich handhabbare Größe reduzieren und in einem Wort bündeln, dies aber um den Preis überdurchschnittlich vieler sprachlicher Verweisungszusammenhänge (Nonhoff 2006: 69f.), mit deren Hilfe erst sie in einen sachlich-sprachlichen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden können. „Komplizierte Wörter“ fungieren also gleichsam als Knoten in einem Netz aus Bedeutungs- und Sinnverkettungen (Keller 2004: 68). Zur sprachlichen Bearbeitung eines Sachverhaltes muss man sich in diesem Netz bewegen, und je bedeutsamer ein begrifflicher Knotenpunkt innerhalb eines solchen Netzes ist, je schwieriger es also ist, bei der sprachlichen Bearbeitung eines Sachverhaltes diesen Knotenpunkt zu umgehen, desto mehr ist dieser Knotenpunkt als Leitbegriff (Koselleck 2006: 84) bzw. Leitvokabel (Nonhoff 2006: 82) einzustufen. Die relationale Position eines Begriffes in diesem Netz ist eine Frage der Perspektive und des vom Beobachter gewählten Abstraktionsniveaus: verallgemeinernde Leitbegriffe bündeln zwar sprachlich die komplexe Vielfalt konkreter Sachverhalte in einem Wort, können aber zugleich Konkretisierungen übergeordneter, noch abstrakterer Leitbegriffe sein. Nicht zufällig ähnelt diese Darstellung so genannter komplizierter politisch-sozialer Leitbegriffe sehr der Darstellung von Institutionen, die ja ebenfalls, nämlich zum Zwecke der Verhaltenssteuerung individueller Akteure, Abstraktionsleistungen erbringen, indem sie Situationen typisieren und Komplexität reduzieren (Rehberg 1990: 137). In aller Regel spiegelt sich die Abstraktionsleistung und Komplexitäts-
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reduktion einer Institution auch in ihrer Begrifflichkeit wider. Vor allem politisch-soziale Institutionen sind üblicherweise durch „komplizierte Wörter“ bezeichnet. Die Bezeichnung einer Institution ist zentrales Element des Symbolisierungssystems dieser Institution (Rehberg 1994: 55). Damit hat die begriffliche Ebene einer Institution wesentlichen Anteil an der Legitimität des Geltungsanspruchs und an der verhaltenssteuernden Wirksamkeit dieser Institution. Das heißt zugleich, dass ein Begriff, der ein institutionalisiertes Arrangement bezeichnet, sich nicht nur in ein Netz aus sprachlichen Verweisungszusammenhängen einordnen lässt, sondern auch in ein bestehendes soziales Wertgefüge. Logische Konsequenz dieses Befundes ist, dass, ebenso wie andere Elemente von Institutionen (Leitideen, Trägerakteure, Zielgruppen bzw. Geltungsbereich etc.), auch die Benennung einer Institution, letztlich also die begriffliche Verfasstheit, in der sie in Erscheinung tritt, mehr oder weniger umkämpft sein kann. Die Auseinandersetzung interessierter Akteure um die Geltung einer Institution und um die Geltungsmacht ihrer Trägerakteure kann auf die begriffliche Ebene auf zweierlei Weise durchschlagen. Entweder als Auseinandersetzung um den Begriff selbst, etwa wenn er im Konflikt um eine Institution von ihren Befürwortern positiv, von ihren Gegnern negativ konnotiert verwendet wird; das spricht dann ebenso für eine schwache bzw. im Konflikt bereits stark geschwächte Institution wie die Existenz, Verbreitung und offen affirmative Verwendung von Gegenbegriffen. Wahrnehmbare Konnotationsvarianz des institutionellen Begriffs und/oder gebräuchliche, durchsetzungsfähige Gegenbegriffe weisen in der Regel auf einen offenen Konflikt um die Geltungskraft einer Institution hin. Oder der Konflikt um eine Institution wird ausgetragen unterhalb der Ebene ihres bezeichnenden Begriffs, nämlich als Deutungskonkurrenz, als Auseinandersetzung um die Anerkennung seines Inhalts. Durch die augenscheinlich affirmative Verwendung eines Begriffs bleibt zwar sein formaler Legitimationsstatus unberührt, sein Inhalt aber ist umstritten (Rast 1999). Wenn also ein eine soziale Institution bezeichnender Begriff von allen relevanten Akteuren ausschließlich affirmativ verwendet wird, so muss das keineswegs bedeuten, dass sein Inhalt zwischen diesen Akteuren unumstritten ist. Für diese Form der gleichsam unterschwelligen Auseinandersetzung kann es zwei Gründe geben. Zum einen müssen Gegner einer umstrittenen Institution trotz ihres Interesses an einer weitgehenden Deinstitutionalisierung diesen Weg wählen, solange es ihnen nicht gelingt, der Legitimationskraft der Institutionenbezeichnung anerkannte, alternative Begriffskonnotationen oder wirksame Gegenbegriffe entgegenzusetzen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es den Trägerakteuren der angefochtenen Institution zu einem früheren Zeitpunkt gelungen ist, in die sprachliche Bezeichnung ihrer Institution „komplizierte Wörter“ auf dem Abstrak-
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tionsniveau normativ stark aufgeladener Hochwertbegriffe26 zu integrieren, und über die so erreichte Immunisierung des Institutionenbegriffs auch die Institution selbst, ihre Geltung und ihre Träger offener, unmittelbarer Infragestellung zu entziehen. Zum anderen werden Konflikte um Institutionen unterhalb ihrer begrifflichen Ebene geführt dann, wenn a) die konfligierenden Akteure sich trotz ihres Dissenses hinsichtlich der konkreten Wirkmächtigkeit der Institution im grundsätzlichen Konsens über die Notwendigkeit und den Fortbestand der Institution befinden, und wenn sie b) die begriffliche Bezeichnung des institutionellen Arrangements als (für den Bestand notwendige) Legitimitätsressource betrachten, deren Beschädigung es möglichst zu verhindern gilt. In diesem Fall geht es den Kontrahenten also nicht um Erhaltung vs. Abschaffung der Institution, sondern um kontroverses institutionelles Flexibilitätsmanagement. Damit schließt sich Kreis der Argumentation: Bei der Bezeichnung institutioneller Arrangements ist die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung von beschriebenem Sachverhalt und beschreibendem Begriff die Folge von Interessenkämpfen um diese institutionellen Arrangements selbst. Die Mehrzahl von Konflikten um die Geltungsansprüche von Institutionen dürfte sich auf diese Weise abspielen: Vor dem Hintergrund eines stabilen und Stabilität verbürgenden Institutionenbegriffs wird Institutionenwandel als solcher von den Adressaten der Institution entweder nicht als bedrohlich oder überhaupt nicht wahrgenommen – und wird so oft erst möglich. Lessenich (2003a) hat diese Bedingung institutioneller Flexibilität in der Formulierung „Dynamischer Immobilismus“ auf den Punkt gebracht. Ein solches „Ausbeuten von Konnotationen“ (Klein 1991: 65) eines Institutionenbegriffs, also die bewusste Berücksichtigung der Legitimationskraft dieses Begriffs für eine Institution, nenne ich Instrumentalisierung. Wenn interessierte Akteure (gleichviel, ob mit dem Ziel der Abschaffung oder mit dem Ziel der Veränderung der Institution) den unveränderten, anerkannten, positiv konnotierten, legitimierenden Begriff der Institution strategisch verwenden, dann instrumentalisieren sie ihn für ihre Zwecke, die eben in der Abschaffung der Institution oder in der Veränderung ihres Geltungsraumes bestehen.27 Stellt man erstens in Rechnung, dass eine solchermaßen definierte Instrumentalisierung darauf gerichtet ist, beim Rezipienten eine bestimmte Wirkung auszulösen (Früh 2007: 45), dann müssen Instrumentalisierungsintention und -versuch (bzw. -akt) des Adressanten vom Instrumentalisierungseffekt und -erfolg beim 26 27
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Zahlreichen positiv konnotierten Hochwertbegriffen (z.B. Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, sozial, Autonomie) dürften Antonyme gegenüberstehen, die nur schwerlich für die mehrheitsfähige Abschaffung einer bestehenden Institution geeignet sind. Die bewusste und strategische Berücksichtigung der Legitimationskraft eines Institutionenbegriffs umfasst auch die Möglichkeit, den Begriff im singulären Sprech- oder Schreibakt zu vermeiden, obwohl die Verwendung situativ geboten wäre. Es ist sicher möglich, derartige strategische Nicht-Verwendungen nachzuweisen. Allerdings erfordert dies – zumindest teilweise – ein methodisches Herangehen an das Urdatenmaterial, das nicht dem von mir gewählten Ansatz entspricht und auch nur bedingt mit ihm kompatibel ist. Die vorliegende Untersuchung widmet sich primär der strategischen Verwendung, nicht der strategischen Vermeidung eines Begriffs.
Adressaten unterschieden werden. Dadurch differenziert sich ein Instrumentalisierungsphänomen in vier, zeitlich nacheinander und kausal auseinander folgende Subkategorien, die sich letztlich zu einem Kreis schließen und so eine Entwicklungsspirale bilden können. Dieses Modell, demzufolge Instrumentalisierungsversuche so lange fortgesetzt werden, bis ihre Effekte der Instrumentalisierungsintention entsprechen, ist jedoch zu schematisch und mithin zu simpel – und zwar nicht nur, weil es stabile, langfristige, entsituierte Intentionen der Adressanten unterstellt. Denn man muss zweitens in Rechnung stellen, dass – und zwar gerade im Konflikt um Institutionen mit stabilen, kaum veränderbaren Bezeichnungen – Instrumentalisierungen niemals nur in eine Richtung verlaufen, sondern die Adressaten einer Instrumentalisierung in der Regel zugleich auch Adressanten einer Instrumentalisierung sind und umgekehrt. Das gilt zumindest dann, wenn die Instrumentalisierungsadressaten nicht nur stille, passive Betroffene und dem unterschwelligen Institutionenwandel wehrlos Ausgelieferte sind, sondern aktive Teilnehmer am Konflikt. Diesen Überlegungen zufolge erweisen sich Instrumentalisierungen als bedeutungskonstituierende Ereignisse und damit als spezifische Praktiken innerhalb von Diskursen. Diskurse wiederum sind analytisch abgrenzbare, situative, mehr oder weniger erfolgreiche Versuche gesellschaftlicher Akteure, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren (Keller 2004: 7, 59, 62). Als diskursive Praktik im Kampf um Stabilisierung vs. Transformation symbolischer Ordnungen, also als Diskursereignisse sind Instrumentalisierungen wissenssoziologisch interessant. Das oben generell Gesagte erlaubt es nun, den Begriff „Tarifautonomie“ in aller Kürze herauszuarbeiten als besonders geeignet (bzw. anfällig) für Instrumentalisierungen: „Tarifautonomie“ ist ein Schlüsselbegriff aus dem politisch-sozialen Bereich, nämlich der überindividuellen Arbeitsbeziehungen unter Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung. Das soziale Feld, an das dieser Begriff untrennbar gebunden ist, ist das (nachkriegs-) deutsche System der Industriellen Beziehungen. Dieses System unterliegt, wie ausführlich beschrieben, einer elementaren Dynamik und einem beständigen Wandel. Innerhalb der sprachlichen Abbildung dieses Systems ist der Begriff „Tarifautonomie“ zentral. Er verallgemeinert begrifflich eine Vielzahl möglicher konkreter Sachverhalte. Zu denken ist hier etwa an die Freiheit von Individuen zum Bilden von Koalitionen zur Interessenwahrung bei Austauschprozessen am Arbeitsmarkt, an die Freiheit dieser Koalitionen zum Abschließen von Tarifverträgen oder auch die Freiheit zum Führen von Arbeitskämpfen. All diesen möglichen konkreten, aber voneinander verschiedenen Sachverhalten im Sinne der Freiheit zu... steht spiegelbildlich die Begriffsbedeutung der Freiheit von staatlicher Freiheitsbeschränkung gegenüber. Durch diese Vielzahl möglicher konkreter Sachverhalte (und damit auch
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durch die Vielzahl möglicher, unterschiedlicher Akteurskonstellationen) ist der Bedeutungsinhalt des Begriffs „Tarifautonomie“ zwangsläufig mehrdeutig und damit wenig präzise. Um für Empfänger hinreichend verständlich zu werden, sind bei der Verwendung des Begriffs „Tarifautonomie“ im singulären Kommunikationsakt Verweisungen oder Präzisierungen, also begriffliche Ergänzungen erforderlich; „Tarifautonomie“ ist damit qua definitionem ein „kompliziertes Wort“. Als solches ist der Begriff seit Jahrzehnten gebräuchlich. Er verfügt also über ausreichende semantische Kontinuität, die es erlaubt, seine Stabilität mit dem Wandel seines Begriffsgehaltes in Beziehung zu setzen. Im Sinne eines normativen Postulats der „Verbindlichkeit und Autonomie von Tarifverträgen“ wurde der Begriff erstmals näherungsweise geprägt zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Hugo Sinzheimer (1908: 280). Als rechtsdogmatischer und rechtstatsächlicher Terminus ist der Begriff „Tarifautonomie“ seit 1949 belegt (wohl erstmals bei Nipperdey 1949: 82), wurde Mitte der 1950er Jahre aufgenommen (Heimann 1956, Lobeck 1957) und erfuhr seit den frühen 1960er Jahren zunehmende Verbreitung im (fachöffentlichen) grundrechts- und arbeitsrechtswissenschaftlichen Diskurs (etwa Briefs 1962; Zander 1962). In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts taucht der Begriff erstmals 1964 anlässlich der Erörterung von Arbeitskampfbereitschaft und Gewerkschaftsbegriff auf.28 Ein weiteres Mal verwandte das Gericht den Begriff im Jahr 1966 in einem Urteil zur Tariffähigkeit von Koalitionen.29 Die Aufnahme des Begriffs in das Vokabular des Bundesverfassungsgerichtes war offensichtlich ein wesentlicher Impulsgeber für die weitere Entwicklung. Von 1964 an wurde der Begriff, ausgehend von einer nun nachgerade explosiv einsetzenden rechtswissenschaftlichen Verwendung und Erörterung (vgl. für viele andere: Biedenkopf 1964; Buchner 1964; Duvernell 1968; Paech 1966; Säcker 1969; Weber 1965; Weitbrecht 1969), zunehmend auch in der politischen Sprache zu einem festen Begriff. Hinweise für diese zunehmende Verbreitung liefert auch die Durchsicht von renommierten Enzyklopädien. In die Brockhaus-Enzyklopädie wurde der Begriff erstmals 1973 aufgenommen30, wenngleich mit einem ausnehmend kurzen und dem heutigen Begriffsverständnis keineswegs gerecht werdenden Eintrag: „Tarifautonomie – Fähigkeit, Tarifverträge abzuschließen und zu kündigen (Æ Tarifvertrag).“ Die vorausgegangene Auflage erschien 1968, d.h. zwischen 1968 und 1973 erlangte der Begriff eine für ein allgemeines Konversationslexikon eintragwürdige Relevanz, was auf die in dieser Zeitspanne zunehmende Bedeutung des Begriffs im (nicht mehr nur fachspezifischen) Sprachgebrauch verweist. Meyers enzyklopädisches Lexikon verzeichnet den Begriff erstmals 1974. Interessant ist hier vor allem eine anfängliche Bedeutungskonkurrenz: Tarifautonomie bezeichnet nicht nur die staatsfreie Aushandlung von Arbeitsbedingungen durch Tarifverbände, sondern auch das Recht von ÖPNV-Dienst28 29 30
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BVerfGE 18, 18; 6.5.1964 - 1 BvR 79/62 BVerfGE 20, 312; 19.10.1966 - 1 BvL 24/65 Brockhaus 17. Aufl. 1973, Bd. 18, S. 479
leistern zur eigenständigen Preisfestsetzung. In die Ausgaben von 1978 (9. Aufl.) und 1981 (9., korr. Aufl.) wurde dieser doppelte Eintrag unverändert übernommen. Erst in danach folgenden Editionen wird dem Begriff eindeutig die arbeitsrechtliche Bedeutung zugeordnet. Ein weiteres Indiz ist die Aufnahme des Begriffs „Tarifautonomie“ in das Schlagwort-Register der Deutschen Bibliothek Frankfurt/Main im Jahr 1972. Einer Aufnahme in diesen Katalog geht üblicherweise ein mehrfaches Auftauchen des Begriffes in Werktiteln und eine als überzufällig abgesicherte Häufung des Begriffs im (fach-)öffentlichen Sprachgebrauch voraus.31 Damit fällt insgesamt auf, dass sich die Verbreitung und Etablierung des Begriffs „Tarifautonomie“ im politischen Sprachgebrauch gerade in einer Zeit vollzog, in der der Konzertierten Aktion wegen die Autonomie der Tarifverbände besonders prekär war. Dieser Zusammenhang ist keineswegs zufällig. Auf die Bedeutung der Konzertierten Aktion für die Durchsetzung des Begriffs und insbesondere die Rolle staatlicher Akteure dabei komme ich im Kapitel 9.1 zurück. Seit diesem Impuls in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist der Begriff „Tarifautonomie“ für die sprachliche Abbildung des Systems der Industriellen Beziehungen nahezu unverzichtbar. Angesichts seiner zentralen Position innerhalb dieser Verweisungszusammenhänge ist der Begriff als Leitvokabel einzustufen. Als solche ist er eingebunden in ein Netz aus weiteren Leitvokabeln. So gilt er etwa als eine der Konkretisierungen des Konstrukts „Soziale Marktwirtschaft“ (Nonhoff 2006: 83), steht in enger Beziehung zu den Institutionen staatlicher Sozialpolitik, also zum Sozialstaat (Lepsius 1995b), ist eine der Ableitungen aus dem Grundgesetz (Hesselberger 2000: 131f.), wird oft synonym verwendet für den Begriff „Sozialpartnerschaft“ (obwohl sich dessen Bedeutungsgehalt streng genommen von jenem des Begriffs „Tarifautonomie“ unterscheidet, vgl. Wengeler 1995: 59-65; 1996: 415-421) und ist nicht zuletzt eng verknüpft mit den Hochwertbegriffen „Freiheit“, „Unabhängigkeit“ oder auch „Souveränität“ (vgl. z.B. Tarifhoheit). Damit ist der Begriff „Tarifautonomie“ zugleich an prominenter Stelle im gesamtgesellschaftlichen Wertgefüge der Bundesrepublik verankert; Tarifautonomie gilt als „Element unseres freiheitlichen Gesellschaftssystems“ (Brocker 1976). Der Begriff „Tarifautonomie“ bezeichnet ein institutionalisiertes Arrangement der geteilten Verantwortung zwischen Tarifverbänden und Staat. Die Verhaltenserwartungen dieses institutionalisierten Arrangements finden sich zumindest teilweise auch in seiner Begrifflichkeit wieder; der Wortteil „...autonomie“ enthält Handlungsorientierungen für den Staat (Zurückhaltung) und für die Verbände (Unabhängigkeit). Wie dargelegt, gibt es hinreichend Grund für die Annahme, dass diese Institution, also die Relation von staatlicher Zurückhaltung und verbandlicher Unabhängigkeit, keineswegs so statisch ist, wie die große semantische Kontinuität ihrer Bezeichnung „Tarif31
Für diesbezügliche Recherchen danke ich Hartmut Krüger, Deutsche Nationalbibliothek Leipzig.
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autonomie“ erwarten lässt. Im Gegenteil: das institutionalisierte Arrangement ist umkämpft; die jeweiligen Anteile der Regelungskompetenz und geteilten Verantwortung werden zwischen Staat und Verbänden immer wieder neu verhandelt. Im Kampf um das flexible Ausmaß der Geltung der Institution dient der Begriff „Tarifautonomie“ den Kontrahenten auf allen Seiten gleichsam als Anker, als institutioneller Stabilisator und als Legitimitätsressource. Für diese Funktion des Begriffs „Tarifautonomie“ spricht erstens, dass er zumindest in der Öffentlichkeit jenseits fachwissenschaftlicher, semiöffentlicher Kommunikationsräume im Wesentlichen deontisch auf Befürwortung festgelegt ist, also nur positiv konnotiert verwendet wird. Es gibt nur sehr wenige Hinweise auf schriftliche Versuche außerhalb des rechtswissenschaftlichen Diskurses, den Begriff „Tarifautonomie“ in seiner Etablierungsphase umzuwerten und mit negativen Konnotationen auszustatten; mir bekannt sind lediglich zwei sehr (und wohl zu) späte Belege: Vetter (1974) und Biedenkopf (1978). Deontische Bedeutungskonkurrenz (Klein 1991: 61ff.), also der Versuch der Umwertung der Wertkomponente des Begriffs „Tarifautonomie“ mit dem Ziel, ihn negativ zu konnotieren, ist weitgehend ausgeschlossen. Zweitens wird dieser positiv konnotierte Begriff von allen, also auch von widerstreitenden Diskursteilnehmern verwendet. Da deontische Bedeutungskonkurrenz ausgeschlossen ist, muss sich der Kampf um das flexible Ausmaß der Geltung der Institution zwangsläufig im Wege der deskriptiven Bedeutungskonkurrenz vollziehen. Dabei handelt es sich um den Versuch, die bestehende deskriptive Bedeutung eines Wortes durch Tilgen oder Hinzufügen inhaltlich-deskriptiver Bedeutungselemente den eigenen politischen Vorstellungen entsprechend zu ändern (vgl. Klein 1991: 57ff.). Am parlamentarischen Diskurs zur Neufassung des § 116 AFG lässt sich ein solches, oben als Instrumentalisierung eingeführtes kommunikatives Handeln besonders gut veranschaulichen. Drittens schließlich zeigt sich die Funktion des Begriffs „Tarifautonomie“ als Legitimitätsressource darin, dass sich in der Öffentlichkeit bislang keine ernstzunehmenden Gegenbegriffe etablieren ließen. Begriffe wie „Betriebsautonomie“, „Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien“ oder auch „Tarifvertragsautonomie“ bzw. „Kollektivautonomie“ oder gar „Staatsautonomie“ (vgl. etwa Picker 2002), die andere Akteursgruppen aufwerten oder den weiten, multiplen Bedeutungsgehalt von „Tarifautonomie“ präzisieren (und damit einengen) könnten, haben jenseits fachwissenschaftlicher Erörterung kaum Relevanz und sind selbst innerhalb der fach-, insbesondere rechtswissenschaftlichen Diskurse eher randständig.
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8.2 Qualitative und quantitative Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes „Tarifautonomie“ ist ein primär in der Öffentlichkeit genutzter Begriff. Für unsere Zwecke reicht es zwar aus, als Öffentlichkeit jenen fiktiven Raum zu begreifen, an dem Kommunikation vor einem Publikum stattfindet (Trenz 2006: 132). Allerdings ergibt sich diese „Gesamtöffentlichkeit“ aus der Existenz verschiedener „Teilöffentlichkeiten“. Für die sehr weite Verbreitung des Begriffs „Tarifautonomie“ spricht, dass er in vielen Teilöffentlichkeiten genutzt wird, also sowohl Bestandteil der Alltagssprache als auch Element diverser Fachsprachen als auch Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung ist. Allein diese verschiedenen Kommunikationsarenen auseinanderzuhalten, bereitet einige Mühe, da trotz sicher bestehender Schließungstendenzen Sprache immer auch in voneinander getrennte Teilöffentlichkeiten diffundiert. Hinzu kommt der bereits beschriebene interaktive Charakter öffentlicher Kommunikation, also der Umstand, dass Akteure oft zugleich Adressanten und Adressaten von Informationen sind, also eine klare Abgrenzung eines Informationen lediglich passiv aufnehmenden „Publikums“ kaum möglich ist. Der Umstand, dass der Begriff „Tarifautonomie“ eine derart weite Verbreitung findet, erschwert eine empirische Überprüfung seiner Instrumentalisierung erheblich. Aus Gründen der der Forschungseffizienz bedarf es daher einer mehrstufigen Eingrenzung des Untersuchungsfeldes. Diese muss akteursbezogen, raumbezogen und sachbezogen erfolgen. Akteursbezogene Begrenzung – nur Äußerungen staatlicher Akteure: Da sich diese Arbeit der Frage widmet, mit welchen Intentionen und auf welchem Wege staatliche Akteure eine flexible Ausdehnung des tarifautonomen Raumes anstreben, wird sich die weitere Untersuchung auf Kommunikationsakte staatlicher Akteure beschränken. Äußerungen tarifverbandlicher Akteure werden hingegen keiner eigenen inhaltsanalytischen Auswertung unterzogen: eine hierfür erforderliche differenzierte Systematisierung und Hypothesenherleitung bezüglich ihres kommunikativen Handelns ist nicht Anliegen der Untersuchung. Der zentralen Rolle von Gewerkschaften in Diskursen über Tarifautonomie wird aber Rechnung getragen, indem ihr (kommunikatives) Handeln innerhalb eines Diskurses jeweils kontextsensibel nachvollzogen wird. Raumbezogene Begrenzung – der Deutsche Bundestag als Kommunikationsraum: Prinzipiell bedienen sich staatliche Akteure im Wesentlichen der gleichen Informationskanäle wie verbandliche Akteure. Insofern gelten alle der oben beschriebenen erhebungstechnischen Schwierigkeiten auch für Äußerungen staatlicher Akteure. Es gibt jedoch einen analytisch abgrenzbaren und in der Tat auch räumlich abgegrenzten Kommunikationsraum, den staatliche Akteure für ihre Äußerungen ausgiebig nutzen: den Deutschen Bundestag als Gesetzgebungsinstanz und als Institution der formal geregelten
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und lückenlos dokumentierten politisch-sprachlichen Auseinandersetzung.32 Gerade der formal rigide und stark standardisierte Ablauf parlamentarischer Debatten und deren umfangreiche, ebenfalls standardisierte Protokollierung machen den Bundestag als Entstehungsort relevanter politischer Kommunikation zu einem forschungstechnisch handhabbaren Untersuchungsfeld. Nur unter diesen rigiden Voraussetzungen ist die Mehrfachadressierung parlamentarischer Äußerungen kein Hindernis, sondern die eigentliche Rechtfertigung der Untersuchung parlamentarischer Artikulation. Denn der Bundestag ist als Quelle des Urdatenmaterials gerade deshalb geeignet, weil er bei einerseits hochgradig formalisierten Artikulationsregeln andererseits eine Form von Öffentlichkeit generiert, die über das Publikum in Form der im Bundestag persönlich Anwesenden weit hinausgeht. Parlamentarische Äußerungen finden Beachtung auch in der politisch interessierten, massenmedial vermittelten Öffentlichkeit außerhalb des Bundestages (Burkhardt 2003: 147, 319). Redebeiträge im Bundestag werden gerade auch von den Tarifverbänden systematisch wahr- und aufgenommen. Das wiederum machen sich staatliche Akteure zunutze: Ihre Äußerungen adressieren sie keineswegs nur an das im Hause anwesende Publikum. „Parlamentsdebatten [dienen] kaum dem Austausch von Argumenten und Meinungen zur parlamentarischen Willensbildung und speziell der Überzeugung des politischen Gegners, sondern der Beeinflussung der Öffentlichkeit und der politischen Werbung“ (Grieswelle 2000: 160). 32
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Diese Betonung des Parlaments ignoriert nicht die demokratietheoretischen Probleme, die seit einiger Zeit unter dem (selbst sehr medienwirksamen) Schlagwort der Mediokratie bzw. Mediendemokratie als Degradierung der repräsentativen Demokratie (Meyer 2001: 165ff.; Oberreuter 1997: 17) thematisiert werden. Zweifellos verlagert sich die zeitgenössische politische Auseinandersetzung vom Parlament hin zu Fernseh-Talkshows u.ä., und mit Recht lässt sich behaupten, dass die zunehmende Präsenz der elektronischen Medien die Wahrnehmung parlamentarischer Abläufe behindert. Allerdings basiert diese Kritik auf sehr starken normativen Ansprüchen, die wohl auch in der Frühphase des Parlamentarismus nicht erfüllt waren. Denn erstens war das Parlament nie der ausschließliche Ort der öffentlichen Diskussion politischer Meinungen, zweitens funktioniert Demokratie in größeren politischen Gemeinschaften überhaupt nicht ohne mediale Vermittlung (Beierwaltes 2002: 9, 44) und drittens ist politisches, also auch parlamentarisches Handeln ohnehin zu einem guten Teil Inszenierung (Edelman 1990). Für die Bewertung parlamentarischen Handelns scheint mir daher weniger relevant, was und wie – zusätzlich – im außerparlamentarischen Raum politisch kommuniziert wird, sondern eher, dass sich durch die zunehmende Medienpräsenz im Parlament auch das innerparlamentarische Verhalten der Akteure gewandelt hat und weiter wandelt (Burkhardt 2003: 300-336). Zudem wird die Tendenz zur Medialisierung der parlamentarischen Abläufe konterkariert durch die Gegenentwicklung der Aufwertung der Arbeit der parlamentarischen Ausschüsse im Deutschen Bundestag. Diese Arbeit findet von der Öffentlichkeit und den Medien abgeschirmt hinter verschlossenen Türen statt und wird erst durch nachträgliche Berichterstattung publik gemacht. Hierin lässt sich ebenfalls ein faktischer Kompetenzverlust des Parlaments erkennen (Burkhardt 2003: 200ff.), der nun aber gerade nicht auf die Medialisierung des politisch-parlamentarischen Geschehens zurückzuführen ist. Weder der Anschein zunehmender Öffentlichkeit im Bundestag durch Medienpräsenz noch der gegenläufige Eindruck abnehmender Öffentlichkeit durch Aufwertung der Ausschussarbeit berühren aber das Parlament in seinen Kernfunktionen, nämlich der Gesetzgebung und der dazugehörigen – immer schon mehr oder weniger inszenierten – Erörterung. Insofern hat der Deutsche Bundestag als Institution nach wie vor ausreichende Relevanz als Quelle von Datenmaterial.
Parlamentarische Redebeiträge als Urdatenmaterial haben darüber hinaus den Vorteil, dass sie nicht im Affekt erfolgen. So manches spontane Statement vor einer Fernsehkamera oder in einem Spontan-Interview muss später nicht selten relativiert oder umgedeutet werden – der Begriff des „Zurückruderns“ umschreibt dieses Problem politischer Ad hoc-Kommunikation treffend. Parlamentsreden dagegen sind wesentlich bedachter, wohlüberlegt und wohlgesetzt. Sie sind in aller Regel vertikal und horizontal abgestimmt.33 Insbesondere Parlamentsreden von Mitgliedern der Regierung und der Regierungsfraktionen müssen vertikal abgestimmt werden. Grund dafür sind die vielfältigen, distinkten Funktionen (Przeworski 1990: 64f.) und keineswegs homogenen, oft sogar widerstreitenden Interessen (Prittwitz 1994: 107) der vielen Akteure innerhalb der staatlich-institutionellen Hierarchie. Unterschiedliche Auffassungen und Positionen zwischen verschiedenen staatlichen Akteuren (Scharpf 1977: 108f.; Ellwein 1990) müssen umso mehr koordiniert und zu widerspruchsfreien Aussagen verdichtet werden, je höher die hierarchische Ebene liegt, von der aus diese staatlichen Akteure mit ihrer Umwelt kommunizieren (Bull 1991: 30ff.). Diese Interessenverdichtung ist bereits auf Ebene der einzelnen Fachministerien sehr stark und erreicht (vor allem, aber nicht nur in Form von Ressortkonkurrenz) auf der Ebene der Bundesregierung ihren Höhepunkt. Insofern ist also zum Beispiel die offizielle Äußerung eines Bundeskanzlers mittels Regierungserklärung das Ergebnis eines umfangreichen, wohlüberlegten und zielorientierten Deutungs-, Verdichtungs- und Prioritätensetzungsprozesses (Fehmel 2006a: 11; Pörksen 2004). Auch steigt die „faktische Sorgfaltspflicht“ von Regierungsvertretern für ihre parlamentarischen Redebeiträge mit ihrem Status. Je höher der Status des Redners, desto größer scheint die Bedeutsamkeit einer Mitteilung und desto mehr öffentliche Aufmerksamkeit wird ihr entgegengebracht (Grieswelle 2000: 124) – desto größer ist aber auch die Gefahr des Ansehensverlustes bei misslungenen Reden. Diese vertikale Abstimmungsnotwendigkeit zieht in der Regel die Notwendigkeit horizontaler Abstimmung im Bundestag nach sich. Parlamentsreden müssen horizontal abgestimmt werden zwischen mehreren fachzuständigen Mitgliedern einer Bundestagsfraktion und noch stärker zwischen koalierenden Fraktionen. Das ist im etablierten deutschen parlamentarischen System unverzichtbar angesichts der in der Regel ressortübergreifenden Komplexität politischer Sachverhalte und der Heterogenität politischer Auffassungen, die üblicherweise mittels Kompromissen überbrückt wird. Diese Kompromisse müssen dem Publikum vermittelt werden, und es gilt dabei, ihm gegenüber als sachverständig, „wertbeständig“ und glaubwürdig zu erscheinen und möglichst die Gefahr zu umgehen, durch sach- und wertbezogen „falsche“, wider33
Im Hinblick auf diese Koordinierungs- und Abstimmungspraxis wird damit für die Forschungspraxis zu einem Vorteil, was aus demokratietheoretischer Sicht gerade als Nachteil bzw. als Mangel des modernen Parlamentarismus beschrieben wird, nämlich das Fehlen einer Kultur von Rede und Gegenrede, das Fehlen rhetorischer Brillanz und das Fehlen eines ernsthaften und nachhaltigen Überzeugungsanspruchs (vgl. Grieswelle 2000: 159-162).
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sprüchliche oder ungenaue Aussagen Irritationen auszulösen oder sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Angesichts dieser komplexen vertikalen und horizontalen Abstimmungspraxis ist es zudem gerechtfertigt, nicht nur Kabinettsmitglieder und Ministeriumsangehörige, sondern Mitglieder der Regierungsfraktionen im Bundestag der Gruppe staatlicher Akteure zuzuordnen und ihre Redebeiträge entsprechend zu behandeln. Die einheitliche Artikulationsform, die durchdachten und abgewogenen Artikulationsinhalte, die Mehrfachadressiertheit der Äußerungen und nicht zuletzt die lückenlos indizierte und technisch gut handhabbare Dokumentation34 der Äußerungen sind die wesentlichen Argumente, den Deutschen Bundestag als Entstehungsort relevanter politischer Kommunikation zum Untersuchungsfeld zu bestimmen. Sachbezogene Begrenzung – die Analyse konkreter Diskurse: Durch die Beschränkung auf Äußerungen staatlicher Akteure und die Beschränkung auf den Bundestag als Entstehungsort politischer Artikulation ist das Untersuchungsfeld zwar bereits beträchtlich eingegrenzt. Doch selbst nach diesen Einschränkungen ist der Gesamtumfang des potentiellen Urdatenmaterials schier unüberschaubar. So umfassen zum Beispiel die Plenarprotokolle der 14. Legislaturperiode von Herbst 1998 bis Herbst 2002 zwanzig Bände mit insgesamt 25.633 Seiten. Darin enthalten sind noch nicht sonstige Bundestagsdrucksachen (Gesetzesentwürfe, Ausschussprotokolle, Regierungsberichte, Schriftwechsel mit anderen politischen Institutionen wie Bundesrat oder Bundespräsident etc.. In der genannten Legislaturperiode sind das noch einmal 93 Bände mit insgesamt 10.006 Drucksachen, die ihrerseits jeweils mehrere Seiten, oft im zweistelligen Bereich, umfassen. Rechnet man das hoch auf einen Zeitraum von gut 50 Jahren, in denen wie gezeigt der Begriff „Tarifautonomie“ für politische Akteure relevant gewesen sein kann, dann ist leicht einsichtig, dass es einer weiteren, erheblichen Beschränkung des Urdatenmaterials bedarf. Diese Beschränkung erfolgt durch die Analyse konkreter Diskurse, also durch Analyse bedeutungskonstituierender Sprechakte (Keller 2004: 62), die sich auf eine spezifische, thematisch und zeitlich abgrenzbare Steuerungsmaterie beziehen. Bei konkreten, stark themenbezogenen Diskursen lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit inhaltliche und chronologische Anfangs- und Endpunkte finden. Diese rahmen einen Diskurs und damit auch dessen Analyse. Aus dem Blickwinkel der Forschungseffizienz sind konkrete Diskurse daher in der Regel im Vorteil gegenüber Diskursen, die ihrer Dauer und/oder ihrer inhaltlichen Weitschweifigkeit wegen als diffus zu bezeichnen sind. Zwar geht durch diese massive Selektion ein Großteil möglicherweise relevanter Kommunikationsakte staatlicher Akteure im Bundestag nicht in die Auswertung ein. Andererseits wurde in vorherigen Abschnitten dieser Arbeit eine ausrei34
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Zu den Grenzen der technischen Handhabbarkeit der Drucksachen des Deutschen Bundestags und den daraus folgenden Konsequenzen siehe Kapitel 8.3.
chend detaillierte Heuristik entwickelt, mit der es möglich ist, Typen der Begriffsverwendung zu bestimmen und relevante konkrete, situative Diskurse diesen Typen zuzuordnen. Dadurch lässt sich der Untersuchungsaufwand reduzieren und zugleich die Begriffsinstrumentalisierung durch Exemplifizierung typischer Instrumentalisierungsmethoden erschöpfend veranschaulichen. Wenn unter einem Diskurs ein analytisch abgrenzbares Ensemble von Kommunikationspraktiken und Bedeutungszuschreibungen verstanden wird, das aus einzelnen Diskursereignissen besteht, die von vorherigen Ereignissen strukturiert sind und zukünftige Ereignisse strukturieren, dann stellt sich damit zwangsläufig zugleich die Frage nach den Kontextbedingungen dieses Ensembles (Keller 2004: 59). Mit anderen Worten: zu klären sind die Umstände der konkreten Situation, in der staatliche Akteure diskursiv handeln. Unterlässt man eine Beschreibung der Situation, in der Äußerungen getätigt und Begriffe verwendet werden, dann sind diese Begriffsverwendungen selbst nicht plausibel analysierbar. Mit „Situation“ ist dabei jedoch keineswegs nur die Präzisierung von Ort und Zeit eines singulären Kommunikationsaktes gemeint, sondern vielmehr der situative Kontext und vor allem seine Wahrnehmung durch die kommunizierenden Akteure selbst. Situation und Situationswahrnehmungen sind unerlässlicher Bestandteil (der Analyse) von Kommunikation (also beobachtbarer Interaktion; Watzlawik, Beavin 1980). Bei der Analyse von Kommunikation ist zu beachten, dass Situationswahrnehmungen prinzipiell subjektiv und selektiv sind. Sie sind zum einen subjektiv insofern, als Akteure ihre Umweltbedingungen üblicherweise erfahrungsbasiert in spezifischer Weise deuten und Handlungsmöglichkeiten ableiten. Nur auf dieser Basis kann Akteurshandeln sinnhaft sein (Gerhards 1995). Subjektivität heißt aber auch, dass die deutende Wahrnehmung einer Situation durch einen Akteur von der deutenden Situationswahrnehmung eines anderen Akteurs abweichen kann (Mayntz, Scharpf 1995: 53). Situationswahrnehmungen sind zum anderen selektiv. Aus dem komplexen Set von Situationsmerkmalen muss von Akteuren der überwiegende Teil als irrelevant ausgeblendet werden. Bereits dieser Schritt ist Deutungsarbeit. Handlungsrelevante und handlungsleitende Situationsmerkmale sind sodann jene, die den deutenden Akteur seiner eigenen Wahrnehmung zufolge betreffen und Handlungsnotwendigkeiten hervorrufen (Scharpf 1977: 91ff.; Bleses 2001). Will man also Äußerungen politischer Akteure nachvollziehen, dann ist zunächst zwingend zu klären, wie diese Akteure die Situation wahrnehmen, in der sie sich zu ihren Äußerungen veranlasst sehen. Für die systematische Beschreibung handlungsleitender Situationen ist ein grundlegendes Handlungsmodell vonnöten, das das situative Agieren eines Akteurs und dessen Interaktion mit anderen Akteuren in einen größeren Zusammenhang stellt und damit plausibel macht. Diesem Modell zugrunde liegt die oben ausgeführte Annahme, dass Akteure auf der Basis von Deutungen, Interpretationen und subjektiven Kenntnissen der Situation handeln (Früh 2007: 114f.; Struck 2001: 10). Demnach lässt sich ein Set von Situationsmerkmalen mit vermuteter Rele-
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vanz analytisch zerlegen in langfristige (weitgehend situationsunabhängige) Einstellungen, Gelegenheitsstrukturen und interne Merkmale. In Anwendung auf staatliche Akteure und als Ergebnis der bisherigen Überlegungen in dieser Arbeit sind den langfristigen, dauerhaften Einstellungen und Orientierungen vor allem zuzuordnen die grundsätzliche Präferenz und Privilegierung der Kapitalverwertung als gesellschaftliches Strukturprinzip, die daraus notwendig abgeleitete Dominanz von Lohnarbeit und – unter dem Label „Tarifautonomie“ – die partielle Externalisierung der Verantwortung des Staates durch Schaffung und Stützung einer staatsfreien Sozialsphäre. Die Gelegenheitsstrukturen werden vor allem gebildet aus der Parteienkonstellation innerhalb der Regierung und innerhalb des Bundestages, weiterhin aus makroökonomischen Daten, aber auch aus dem herrschenden ökonomischen Paradigma, ohne das gegebene makroökonomische Daten gar nicht handlungsleitend gedeutet werden können. Zur Gelegenheitsstruktur gehören darüber hinaus auch die dominante öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung und erfolgte oder erfahrungsgesättigt plausibel antizipierte Positionen anderer relevanter politischer Akteure. Zu den akteursgruppeninternen Merkmalen sind insbesondere zu zählen die (subjektiv wahrgenommen) finanziellen Möglichkeiten und Restriktionen des Staates, aber auch die bereits angesprochenen Zielkonflikte, Meinungsverschiedenheiten und Durchsetzungsprozesse von Deutungen und Reaktionen innerhalb staatlich-institutioneller Hierarchien oder zwischen Koalitionspartnern. Ohne diese grundsätzliche Kontextsensibilität, ohne den Einbezug dieses Sets aus situativen Merkmalen lässt sich allenfalls nachweisen, dass staatliche Akteure den Begriff „Tarifautonomie“ verwenden, nicht aber, welche Zwecke damit verfolgt werden und welchen sprachlichen Strategien die Begriffsverwendung entspricht. Schon die Entwicklung eines solchen heuristischen Modells zur Ableitung von Handlungsorientierungen individueller Akteure (vgl. dazu v.a. Esser 1996) ist ein äußerst anspruchsvolles Unterfangen, da es zunächst plausible Annahmen und Entscheidungen über zu berücksichtigende und nicht zu berücksichtigende Faktoren treffen muss. Wendet man dieses Verfahren der „Zerlegung einer Situation“ auf staatliche Akteure an, dann kommt erschwerend hinzu, dass die Grenze zwischen eigenen Ressourcen (also akteursinternen Merkmalen) und Gelegenheitsstrukturen verschwimmt.35 Auch verlaufen Prozesse der Problemwahrnehmung und -deutung wie auch Durchsetzungsprozesse bei der Handlungsentscheidung zwischen in der Regel mehreren Möglichkeiten bei funktional ausdifferenzierten korporativen Akteuren wie „dem Staat“ um vieles komplexer als bei Individuen. Zudem hat staatliches Handeln sehr viel mehr als jenes von Individuen das Potential, im Sinne relationaler Inferenz die Gelegenheitsstrukturen selbst zu beeinflussen (Watzlawik, Beavin 1980: 106f.; Merten 1995: 110-119), was genaue Abgrenzungen erschwert. 35
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Z.B.: Sind angespannte öffentliche Haushaltslagen als interne Merkmale des Staates hinreichend beschrieben oder sind sie vielmehr Folge gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen, also Gelegenheitsstrukturen?
Die Schwierigkeit, relevante Situationsmerkmale von irrelevanten abzusondern und angemessen in die Analyse konkreter Diskurse einzubeziehen, wird jedoch abgemildert durch institutionalisierte Deutungskreisläufe. Grundlage dieser Überlegung ist auch hier, dass es beim Nachvollzug des Verhaltens staatlicher Akteure weniger darauf ankommt, in welcher „objektiven“ Situation sie sich befinden, sondern darauf, wie sie selbst ihre Situation wahrnehmen. Betrachtet man etwa das Handeln staatlicher Akteure als Reaktion auf makroökonomische Entwicklungen, dann sind die dafür zentralen Wissensquellen staatlicher Akteure selbst in die Untersuchung ihres Verhaltens einzubeziehen und primär zu berücksichtigen. Eine solche wirkmächtige Deutungsinstanz ist zum Beispiel und in allererster Linie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im Folgenden abgekürzt: SVR). Er ist ein seit 1963 gesetzlich berufenes, unabhängiges Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung, dem die periodische Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland (darüber hinaus) obliegt. Seine jährlich erscheinenden Gutachten sollen die „Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“36 erleichtern. Mit diesem Auftrag hat der SVR zwar kein Deutungsmonopol, wohl aber eine stark privilegierte, institutionalisierte Selektions- und Deutungskompetenz bezüglich makroökonomischer Daten, Arbeitsmarktdaten, fiskalischer Daten etc.. Seine Gutachten sind gleichsam amtliche Situationsbeschreibungen, -wahrnehmungen und -deutungen. Staatliche Akteure müssen sich weder die Deutungen noch die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen des SVR zueigen machen. Sie können sie aber auch nicht vollständig ignorieren, sondern müssen sie zur Kenntnis nehmen und (zumindest distanzierend) kommentieren. Diese Stellung der SVR-Gutachten legt es nahe, bei der Analyse des kommunikativen Handelns staatlicher Akteure die Jahresgutachten als relevante Kontextbedingung und die amtlich gedeutete Situationswahrnehmung als Element der Gelegenheitsstrukturen staatlicher Akteure heranzuziehen. Eine ähnliche institutionalisierte Deutungsinstanz und damit eine weitere Hilfsquelle für den Nachvollzug der Situationswahrnehmungen staatlicher Akteure stellen die Jahreswirtschaftsberichte dar, zu deren Abfassung und Vorstellung im Bundestag die Bundesregierung gemäß § 2 StWG seit 1967 gesetzlich verpflichtet ist. In diesen Berichten stellt die Bundesregierung ihre Sicht auf die makroökonomische Lage dar. Zudem enthalten Jahreswirtschaftsberichte oft unmittelbare Reaktionen auf Deutungen und Handlungsempfehlungen der SVR-Gutachten, wodurch es möglich wird zu erkennen, in welchen Punkten sich die Bundesregierung den Aussagen des SVR anschließt und in welchen sie eine andere Auffassung vertritt. Insofern können Jahreswirtschaftsberichte ernsthafte Hinweise auf die subjektive Situationswahrnehmung und -deutung des Staates geben. 36
Vgl. die Selbstdarstellung unter http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/orga/ziele.php, Abruf: 31.1.08
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Aus den dargelegten akteurs-, raum- und sachbezogenen Einschränkungen des Untersuchungsfeldes ergibt sich insgesamt die Verknüpfung von Motivstruktur und Kommunikationsstruktur staatlicher Akteure: Untersucht werden Äußerungen staatlicher Akteure im Deutschen Bundestag im Kontext konkret benennbarer Steuerungsbemühungen und unter Erschließung der situativen Steuerungsmotive. 8.3 Konsequenzen der Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes – Begründung der Diskurs- und Datenauswahl Unter der Maßgabe, dass sich die vorliegende Arbeit im Weiteren ausschließlich mit an die Gewerkschaften adressierten staatlichen Steuerungsbemühungen beschäftigt, lassen sich die bisherigen Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: Erstens: Staatliche Akte haben zwei grundsätzliche Motive, auf gewerkschaftliches Verhalten Einfluss auszuüben. Die Beeinflussung kann sich beziehen auf das lohnpolitische Verhalten (Forderung und Vereinbarung „angemessener“ Lohnsteigerungen) oder auf das flexibilitätspolitische Verhalten (Zulassung ausreichend flexibler und differenzierter Arbeitsbedingungen in den beiden basalen Dimensionen Arbeitszeit und Arbeitsentgelt). Wenn sich staatliche Akteure zu Beeinflussungsversuchen veranlasst sehen, dann üblicherweise deshalb, weil sie die gewerkschaftlichen Lohnsteigerungsforderungen als zu hoch und/oder die gewerkschaftliche Differenzierungsund Flexibilisierungsbereitschaft als zu gering bewerten. Was auch immer das situativ bedeutet: maßvolle Lohnabschlüsse und flexiblere, differenziertere Arbeitsbedingungen – auf diese Kurzformel lässt sich die Motivstruktur staatlicher Akteure bringen. Zweitens: Staatliche Akteure haben drei grundsätzliche Möglichkeiten, auf gewerkschaftliches Verhalten Einfluss auszuüben. Sie können, gewissermaßen als weichste und schmerzloseste Form der Beeinflussung, auf das Verhalten von Gewerkschaften indikativ einwirken durch Appelle an deren Anpassungsbereitschaft und durch Ankündigungen und Androhung von Ersatzmaßnahmen und Sanktionen für den Fall ausbleibender bzw. als nicht ausreichend erachteter gewerkschaftlicher Anpassungsbereitschaft. Sie können darüber hinaus auf das Verhalten von Gewerkschaften kooperativ einwirken durch institutionalisierte gegenseitige Verhaltensabstimmung und Einbindung der Gewerkschaften in staatliche Politikformulierung und -umsetzung, was üblicherweise als Tauschgeschäft konzipiert ist: gewerkschaftliche Verhaltensanpassung soll erreicht werden dadurch, dass der Staat seinerseits den Gewerkschaften Einfluss auf die Politikformulierung gewährt und (partiell) Aufgaben der Politikumsetzung überträgt. Staatliche Akteure können zudem, als rigideste Form der Beeinflussung, auf das Verhalten von Gewerkschaften imperativ einwirken durch gesetzgeberische Maßnahmen. Diese können unerwartet ergriffen werden; wahrscheinlicher ist aber, dass gesetzgeberische Maßnahmen eine diskursivee Vorgeschichte haben, die sich nachverfolgen lässt: sie sind entweder (in Reaktion auf ausbleibende oder ungenü-
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gende Beachtung von Appellen) tatsächlich umgesetzte Androhungen und insofern die Fortsetzung erfolgloser indikativer Politik. Oder sie sind Reaktion auf (warum auch immer) missglückte Versuche der gegenseitigen Verhaltensabstimmung und Gewährung von Einfluss und insofern eine Fortsetzung erfolgloser kooperativer Politik. Indikative, kooperative und imperative Beeinflussungswege stehen also in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Auch lassen sich die drei Einflussmöglichkeiten keineswegs immer eindeutig voneinander trennen. So kann etwa ein Versuch kooperativer Verhaltensabstimmung ex- oder implizit eine indikative Komponente enthalten insofern, als bei Scheitern der Verhaltensabstimmung gesetzgeberische Ersatzvornahmen zu erwarten sind. Das gilt für die tarifautonome Regulierung der Arbeitsbeziehungen sicher nicht in gleicher Weise wie für die politische Steuerung der nichtstaatlichen Akteure etwa des Gesundheitssystems. Es kann aber auch für die staatliche Steuerung der nichtstaatlichen Akteure im System der Industriellen Beziehungen – trotz der grundgesetzlich zugesicherten Tarifautonomie – nicht ausgeschlossen werden. Aus der Kombination von Einflussmotiven und Einflusstypen ergibt sich eine SechsFelder-Matrix möglicher Einflussversuche, in der sich sämtliche Bemühungen staatlicher Akteure um Einflussnahme auf gewerkschaftliches Verhalten zuordnen lassen sollten. Freilich ist es nicht immer leicht, staatliche Einflussversuche ohne weiteres nur einem der beiden gewerkschaftlichen Handlungsfelder Lohnpolitik oder Flexibilitätspolitik zuzuordnen. Vielmehr können staatliche Akteure auf die Handlungsbedingungen der Gewerkschaften auch in sehr grundsätzlicher Weise einwirken. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn durch staatliche Maßnahmen die Möglichkeiten von Gewerkschaften institutionell modifiziert werden, ihre Ziele überhaupt zu erreichen, also Lohnsteigerungen in der angestrebten Höhe durchzusetzen und / oder Flexibilisierungsbestrebungen der Arbeitgeber abzuwehren. Solche grundsätzlichen Modifikationen gewerkschaftlicher Konfliktfähigkeit sind sinnvollerweise nur im Wege imperativer Einwirkung wie zum Beispiel der Neufassung des § 116 AFG denkbar. Als bloße Folge indikativer Appelle und Drohungen oder als Zugangsvoraussetzung zu korporatistischen Arrangements werden Gewerkschaften kaum eine freiwillige Selbstbegrenzung ihrer essentiellen, grundlegenden Ressource „Konfliktfähigkeit“ vornehmen (Lehmbruch 1984: 66). Dieser Teil II der Arbeit hat das Ziel, der hergeleiteten Typologie markante Einflussepisoden im Sinne von Fallbeispielen zuzuordnen. Untersucht werden in chronologischer Anordnung gesetzliche Maßnahmen zur schon erwähnten Neufassung des § 116 AFG sowie zu Lohnabstandsklauseln bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, kooperative Abstimmungsversuche im Rahmen der Konzertierten Aktion sowie des Bündnisses für Arbeit, und schließlich die Aufforderung an die Tarifverbände, betriebliche Bündnisse für Arbeit zu ermöglichen. Insgesamt ergibt sich damit folgende Untersuchungsanordnung:
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Abbildung 8:
Staatliche Einflusswege auf gewerkschaftliche … indikativ (Appelle, Androhungen)
…Lohnpolitik
…Beschäftigungsund Flexibilitätspolitik
Betriebliche Bündnisse (2002ff.)
kooperativ (Versuch der Verhaltensabstimmung)
imperativ (direkter, unmittelbarer Eingriff)
Konzertierte Aktion (1967ff.)
Neufassung § 116 AFG37 (1986)
Bündnis für Arbeit (1999ff.)
Lohnabstandsklauseln bei ABM (1992)
Die Verknüpfung der inhaltlichen Typologie (indikativ, kooperativ, imperativ) mit den beschriebenen Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes (akteursbezogen, raumbezogen, sachbezogen) erleichtert zwar die empirische Untersuchung erheblich. Sie führt aber auch zu einigen spezifischen Problemen der Datengewinnung und -bearbeitung, die abschließend kurz dargestellt werden sollen. Die gewählte Methode des Datenzugangs gestaltet sich umso einfacher, je enger und präziser sich die zu untersuchende Materie eingrenzen lässt. Das gelingt im Falle imperativer Beeinflussungstatbestände, also gesetzgeberischer Maßnahmen, ohne größere Probleme. Jedes einzelne Gesetzgebungsverfahren ist durch ein ausführliches Fundstellensystem der Bundestagsverwaltung vollständig indiziert; damit ist bereits die Auswahl relevanter Dokumente unproblematisch. Zudem bleibt die Zahl relevanter 37
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Wie erwähnt, weise ich der Neufassung des § 116 AFG den Stellenwert einer generellen Beeinflussung gewerkschaftlicher Handlungsbedingungen zu. Die Folgen dieser Beeinflussung berühren das lohnpolitische ebenso wie das flexibilitätspolitische Verhalten der Gewerkschaften, denn sie berühren sehr allgemein und mithin zunächst unspezifisch die gewerkschaftlichen Möglichkeiten der Arbeitskampfführung. Da zum Zeitpunkt der Neufassung des § 116 AFG (1986) in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch im gewerkschaftlichen Selbstverständnis Arbeitskampfmaßnahmen innerhalb des gewerkschaftlichen Aufgabenspektrums primär der Durchsetzung von Lohnsteigerungen (bzw. Arbeitszeitsenkungen) dienten und entschieden weniger der Verhinderung von Arbeitsflexibilisierung, ist es gerechtfertigt, aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit die Neufassung § 116 AFG den lohnpolitisch motivierten Steuerungsversuchen des Staates zuzuordnen.
Dokumente bezogen auf ein singuläres, eigenständiges Gesetzgebungsverfahren stets überschaubar, was am vorgeschriebenen, formalisierten Ablauf eines (üblichen) Gesetzgebungsprozesses selbst liegt.38 Demgegenüber besteht ein Nachteil der gewählten Methode des Datenzugangs darin, dass die Untersuchung kooperativer Beeinflussungsversuche gegenüber der Analyse imperativer Beeinflussung systematisch benachteiligt ist. Zwar beziehen sich kooperative Einflussversuche möglicherweise auch auf eine recht konkrete Materie, sie haben aber eben gerade nicht eine ebenso formalisierte Gestalt wie Gesetzgebungsverfahren. Das macht eine allumfassende Fundstellenindizierung für Bundestagsprotokolle und -drucksachen nahezu unmöglich. Auch hier ist es prinzipiell denkbar, durch sehr rigide Eingrenzung auf konkrete Diskurse, also auf möglichst konkrete Sachverhalte oder auf möglichst kleine Untersuchungszeiträume, die Anzahl potentiell relevanter Dokumente auf eine handhabbare Größe zu reduzieren. Gerade dies aber ist für die Untersuchung kooperativ-korporatistischer Arrangements wenig sinnvoll: Institutionalisierte (also über einen längeren Zeitraum angelegte), makroökonomische (also eine Vielzahl einzelner Materien behandelnde) Abstimmungsrunden ziehen zwingend einen deutlich größeren Urdatenumfang nach sich als Versuche imperativer Beeinflussung. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich korporatistische Arrangements ja gerade durch einen hohen Anteil informeller, außerparlamentarischer Interaktion auszeichnen, was dazu führt, dass die (kaum eingrenzbare) parlamentarische Protokollierung der Kommunikation über außerparlamentarische Konzertierung immer eng mit dieser außerparlamentarischen Konzertierung selbst abgeglichen, mit ihr rückgekoppelt werden muss. Mit anderen Worten: dem methodischen Anspruch der Kontextsensibilität muss in solchen Fällen noch stärker Rechnung getragen werden als ohnehin. Das hätte freilich unvermeidbar eine nochmals erweiterte (und eben nicht reduzierte) Ausdehnung des Untersuchungsfeldes zur Folge. Dass es trotz der auf diese Weise potentiell sehr großen Datenmenge und des damit verbundenen immensen Erhebungs-, Aufbereitungs- und Auswertungsaufwandes möglich war, das Bündnis für Arbeit 1999ff. zu untersuchen (vgl. Kapitel 9.4), verdankt sich dem Umstand, dass sämtliche Bundestagsdrucksachen und -plenarprotokolle seit ca. Mitte der 1990er Jahre in sprachsensibel digitalisierter Form zur Verfügung stehen. Dadurch war es möglich, durch sinnvolle, theoretisch angeleitete Suchoperationen im Urdatenmaterial mit vertretbarem Aufwand alle relevanten Dokumente aufzuspüren und diese dann einer computergestützten Textanalyse zu unterziehen. Diese Möglichkeit, die beiden genannten forschungsökonomisch bedeutsamen Probleme korporatistischer Arrangements (relativ großer Untersuchungszeitraum, 38
Einbringung des Gesetzentwurfs – Erste Beratung im Bundestagsplenum – Überweisung in die zuständigen Ausschüsse – dort weitere Beratungen und Anhörungen, ggf. Änderung des Gesetzentwurfs – Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses – Zweite und Dritte Beratung im Plenum – Annahme oder Abweisung des (geänderten) Gesetzentwurfs – all dies ggf. ergänzt durch Schriftwechsel mit dem Bundesrat, soweit er in der zu regelnden Materie ein Mitspracherecht hat.
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relativ große Zahl behandelter Themen) durch elektronische Datengewinnung und bearbeitung wenn nicht zu umgehen, so doch zumindest deutlich zu reduzieren, war im Falle der Konzertierten Aktion 1967ff. nicht gegeben. Um die parlamentarischen Vorgänge rund um die Konzertierte Aktion mit vergleichbarer Intensität untersuchen zu können wie jene um das Bündnis für Arbeit 1999ff., hätte es insofern in der Tat der Lektüre eines jeden Plenarprotokolls zwischen 1967 und 1977 bedurft. Selbst wenn man sich auf die „wohl erfolgreichste Etappe“ (Schroeder, Esser 1999: 4) der Konzertierten Aktion vom Frühjahr 1967 bis zum Sommer 1969 beschränkt, wären Plenarprotokolle im Umfang von 9 Bänden oder 10.326 Seiten auszuwerten. Leicht einsichtig ist dieser Aufwand im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu leisten. Die daraus zu ziehende Konsequenz konnte nicht lauten, die Beeinflussungsepisode „Konzertierte Aktion“ aus der Untersuchung auszuschließen. Vielmehr galt es, jenseits parlamentarischer Debatten Urdatenmaterial zu erschließen, das zumindest annähernd gleichwertige Erkenntnisgewinne in Bezug auf die hier gestellte Frage nach der Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ in Aussicht stellt. Als eine solche Quelle haben sich die Jahreswirtschaftsberichte der Bundesregierung angeboten. Diese Berichte werden in präziser Regelmäßigkeit von staatlichen Akteuren als Medium für tarifpolitische Appelle und Aufrufe genutzt und von den Adressaten, den Tarifverbänden, auch als ein solches Medium verstanden, wie die ebenso präzis-regelmäßigen Reaktionen zeigen. Jahreswirtschaftsberichte bieten darüber hinaus den Vorteil, die Beschreibung des aktuellen ökonomischen und politischen Kontextes und dessen subjektive Einschätzung aus Sicht staatlicher Akteure gleich mitzuliefern. Ihre Auswertung für die Jahre 1968 bis 1970 weicht damit zwar vom methodischen Design „Inhaltsanalyse von Bundestagsdebatten“ ab. Die Auswertung ist aber angesichts des wesentlich geringeren Textumfangs (122 Seiten) unter forschungsökonomischen Gesichtspunkten vertretbar. Sie liefert zudem, wie ich zeigen werde, valide und hochgradig relevante Ergebnisse. Demgegenüber wird, wie aus Abbildung 8 hervorgeht, auf die Untersuchung indikativer Beeinflussung gewerkschaftlicher Lohnpolitik verzichtet. Die beschriebenen Probleme der Datengewinnung und -bearbeitung treten in ähnlicher Form auch im Kontext indikativer Beeinflussungsversuche auf. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass staatliche Akteure im Grunde permanent und ritualisiert an die Gewerkschaften insbesondere lohnpolitisch motivierte Maßhalteaufrufe richten. Appelle sind insofern eine ständige Übung staatlicher Akteure. Gerade aus dieser Permanenz erwächst aber die erhöhte Schwierigkeit einer sachbezogenen Eingrenzung des Untersuchungsfeldes: viele Appelle lassen sich nicht auf einen konkreten, abgrenzbaren Diskurs beziehen. Das soll nicht heißen, dass Maßhalteappelle nicht sachverhaltsbezogen wären. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lassen sich Appelle staatlicher Akteure situativ und systematisch zu makroökonomischen Daten wie der Geldwertentwicklung, der konjunkturellen Lage oder auch der registrierten Arbeitslosigkeit in Beziehung setzen. Sie sind
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dann aber eben nicht Bestandteil eines Diskurses, sofern man darunter Sprachereignisse bzw. -praktiken gesellschaftlicher Akteure versteht, die durch thematische Bezüge oder institutionell abgrenzbar, situiert und bedeutungskonstituierend (Keller 2004: 62) sind. Ich gehe davon aus, dass sich eine solche systematische Beziehung zwischen makroökonomischer Situation und appellarischer Äußerung staatlicher Akteure nachweisen lässt. Dafür bedarf es jedoch einer Langzeituntersuchung, durch die etwa ermittelt werden könnte, ob bzw. wie sehr sich das kommunikative Verhalten staatlicher Akteure in relativ gleichen, zum Beispiel konjunkturellen Phasen ähnelt. Für Langzeituntersuchungen, darauf wurde oben hingewiesen, sind aber Bundestagsprotokolle als primäre Datenquelle aufgrund der großen Urdatenmenge nicht geeignet. Ebenso ungeeignet sind in diesem Fall die Jahreswirtschaftsberichte der Bundesregierung. Zum einen würde die auf einen langen Zeitraum angelegte Untersuchungsstruktur ein Datenzugangsproblem mit sich bringen, dass sich von jenem bezüglich der Plenarprotokolle nur unwesentlich unterscheidet: Jahreswirtschaftsberichte sind zwar im Dokumentenserver der Bundestagsverwaltung zielgerichtet aufzufinden. Allerdings sind auch sie erst seit 1996 in sprachsensibel digitalisierter Form erfasst. Berichte von 1977 bis 1995 liegen nur als – computerbasiert nicht auswertbare – Bilddateien vor. Berichte bis 1976 existieren lediglich in gedruckter Form innerhalb der umfangreichen Drucksachenbände des Bundestages. Der Anspruch der Langzeituntersuchung stößt also auch hier an die Grenzen des technisch Möglichen. Vor allem aber ist für die Untersuchung eine andere als die von mir hergeleitete Heuristik vonnöten. Es bedürfte im Vorfeld der empirischen Untersuchung zumindest einer groben theoretischen Überlegung, in welchen Situationen sich staatliche Akteure wie mit Appellen an die Tarifverbände wenden. Ansätze dazu gibt es (vgl. etwa Spahn 1983). In die vorliegende Arbeit lässt sich eine solche Heuristik jedoch nicht ohne weiteres integrieren. In der erwähnten Matrix bleibt somit das Feld „indikative Beeinflussung gewerkschaftlicher Lohnpolitik“ unbesetzt.
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9 Kontinuität und Wandel der Tarifautonomie
9.1 Konzertierte Aktion – die Etablierung des Begriffs „Tarifautonomie“ im politischen Raum In der Geschichte der Bundesrepublik kam es bislang nur zweimal zu institutionalisierten makroökonomischen kooperativ-korporatistischen Arrangements zwischen dem Staat und den Tarifverbänden: zwischen 1967-1977 unter dem Namen Konzertierte Aktion, zwischen 1999 und 2002 als Bündnis für Arbeit.39 Das Bündnis für Arbeit 1999ff. war sicher nicht nur, aber doch vor allem der beschäftigungspolitisch motivierte Versuch der SPD-geführten Bundesregierung, die großen, maßgeblichen Gewerkschaften zu differenzierten Tarifabschlüssen und zur Ermöglichung flexiblerer Arbeits- und Aushandlungsbedingungen zu bewegen. Damit bleibt als mögliches Fallbeispiel für lohnpolitisch orientierte kooperative Einwirkung des Staates auf die Gewerk39
Zwei weiteren tripartistisch-korporatistischen Abstimmungsrunden zwischen Staat und Tarifverbänden in der Geschichte der Bundesrepublik fehlt dieses Merkmal der Institutionalisierung – nicht nur, aber vor allem ihrer sehr kurzen Dauer wegen: a) Zwischen Frühjahr und Dezember 1951 wurden in so genannten Kanzlerausschüssen bei Konrad Adenauer Lohn- und Preisentwicklungen, aber auch Investitions- und Außenhandelsfragen erörtert. Hintergrund war der weltweite „Korea-Boom“, von dem die deutsche Exportwirtschaft nach übereinstimmender Auffassung nur profitieren konnte, wenn zugleich die Konsumgüterproduktion eingeschränkt würde. Innerhalb dieser korporatistischen Veranstaltung kam den Gewerkschaften wohl vor allem die Rolle zu, den Arbeitnehmern die wenig populären Einschränkungen des privaten Konsums nahezubringen. Weil das Arrangement aus Sicht der Gewerkschaften kein symmetrischer Tausch war (z.B. konnten sie sich in der Frage der Ausweitung der Montanmitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft nicht durchsetzen), verließen sie im Dezember 1951 die Gesprächsrunden (vgl. Schmidt 1981; Ruck 2004). b) Für wenige Monate existierte ein erstes „Bündnis für Arbeit“ zwischen Bundesregierung, Gewerkschaften und Spitzenverbänden der Arbeitgeber von Herbst 1995 bis Frühjahr 1996. Es wurde vom IG-Metall-Vorsitzenden Zwickel initiiert, war also kein originäres Steuerungsprojekt der Bundesregierung. Angesichts einer breiten öffentlichen Zustimmung und einer nur knappen parlamentarischen Mehrheit konnte sich die CDU/FDP-Regierung allerdings dem Zwickel-Vorschlag nicht verschließen. Erfolgreiche Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 1996 interpretierte sie dann jedoch als Legitimation, ihre Politik der Arbeitsmarktderegulierung fortzusetzen. Tripartistische Absprachen hätten diese Deregulierungspolitik erschwert, weshalb die Bundesregierung die Konzertierungsgespräche bald wieder einstellte (Bleses, Vetterlein 2002: 119f., Schroeder, Esser 1999: 6f.). Angesichts der sehr kurzen, eine Institutionalisierung nicht zulassenden Dauer der Gespräche und des offensichtlichen Desinteresses der Regierung an diesem Arrangement ist das Bündnis für Arbeit 1995/96 nicht dem Typus „kooperativer Versuch der Verhaltensbeeinflussung der Gewerkschaften“ zuzuordnen. Damit erübrigt sich seine weitere detaillierte Analyse.
schaften nur die Konzertierte Aktion 1967ff.. Dass die Konzertierte Aktion in der Tat vor allem lohnpolitisch orientiert war, ist unbestritten. „The earliest instance of tripartite talks on the macro-level in Germany was not an employment pact, but an attempt at incomes policy. [...] In the Concerted Action institutional reform of labor markets and welfare states was not at issue. [...] The Concerted Action was the (only) instrument that could be used to pursue incomes policy under the institutional system of autonomous collective bargaining” (Mätzke 2000: 12f.). Die Konzertierte Aktion ist eine wesentliche Episode in der Geschichte des Begriffs „Tarifautonomie“. In ihr und durch sie wurde der Begriff im politischen Raum etabliert. Die Konzertierte Aktion kann daher (bei allen Schwierigkeiten des Zugangs zum Untersuchungsfeld) nicht ignoriert werden. Um diese Etablierung, diesen Wandel von einem rechtswissenschaftlichen zu einem politischen Begriff sichtbar zu machen, ist es nötig, den Kontext der Konzertierten Aktion zumindest in Umrissen nachzuzeichnen.40 Seit dem Kriegsende hatte man sich in Deutschland an ein dauerhaft robustes Wirtschaftswachstum gewöhnt. Zwischen 1951 und 1964 stieg das Bruttoinlandsprodukt im Schnitt um mehr als 7% (3 bis 12% jährlich), es sorgte so zugleich für die nötige Kompromissbereitschaft der Arbeitgeber in Fragen der Tarifabschlüsse (Blanke et al. 1975: 149). Entsprechend konnten die Gewerkschaften hohe Reallohnzuwächse von im Durchschnitt 5,3% für sich verbuchen (3 bis 7% jährlich), was ihrer Legitimation spürbar zugute kam. Gleichwohl waren die Lohnzuwächse so moderat, dass die Arbeitgeber nicht mit dem Mittel expansiver Preiserhöhungen das Lohn-Gewinn-Verhältnis nachträglich zu ihren Gunsten korrigieren mussten, was der Preisstabilität zugute kam. Da dies zugleich verbunden war mit einem zunehmend hohen Beschäftigungsstand, gab es auch für staatliche Akteure keinen Anlass zur Besorgnis.
40
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Ich verzichte auf eine detailliert ausgebreitete Darstellung der Umstände der Konzertierten Aktion, da sie bereits in zahlreichen Arbeiten erforscht und beschrieben worden sind. Um nur einige zu nennen: Abelshauser 2004; Adam 1972; Bergmann 1976; Boll 2003; Bonß 1980; Czada 1986; Grosser 1990; Hardes 1974; Lehmbruch 1984; Mätzke 2000; Pätzold 1998; Ruck 2004; Scharpf 1987; Schmitter, Grote 1997; Schneider 2000; Schroeder, Esser 1999; Seitenzahl 1974; Sturm 1995; Thelen 1991; Vobruba 1983b
Abbildung 9:
Ökonomische Entwicklung – 1950er / 1. Hälfte 1960er Jahre
14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 1951
1953
1955
Wirtschaftswachstum real
1957
1959
Arbeitslosenquote
1961
1963
Lohnsteigerung real
Quelle: Schneider 2000: 589, 598; destatis; eigene Berechnungen
Vor diesem Hintergrund wurde die erste ernstzunehmende wirtschaftliche Rezession der Nachkriegszeit in den Jahren 1966/67 zu einer dramatischen Erfahrung. Das reale Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 1966 gegenüber dem Vorjahr um nur 2,8%; das war der bis dahin geringste Wachstumsanstieg seit dem Bestehen der Bundesrepublik. 1967 stagnierte das Wachstum vollends und geriet gar mit -0,3% geringfügig in den negativen Bereich. Die Arbeitslosigkeit nahm für damalige Verhältnisse massiv zu, auch der Preisauftrieb beschleunigte sich. Ohne Verzögerung wurde aus der wirtschaftlichen Krise auch eine politische; im Herbst 1966 brach die amtierende CDU/ FDP-Regierung auseinander und wurde von einer Großen Koalition aus CDU und SPD abgelöst. Der Regierungswechsel war zugleich ein Paradigmenwechsel hin zu keynesianisch geprägter, antizyklischer Wirtschaftspolitik. Mit der Politik der „Globalsteuerung“ wurde die staatliche Intervention zur konjunkturellen Wirtschaftslenkung zum Programm und das „magische Viereck“ aus Wachstum, hohem Beschäftigungsstand, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht zur Maxime staatlichen wirtschaftspolitischen Handelns. Im „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (StWG) fand dieser politische Anspruch seine normative Form. Wesentliches Element der Globalsteuerung sollte die Konzertierte Aktion sein, eine Gesprächsrunde von Regierung, Verbänden, Bundesbank, Bundeskartellamt und SVR.
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In diesen Gesprächen sollten sich die Teilnehmer auf eine einheitliche Interpretation der bestehenden wirtschaftlichen Lage und der zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung einigen und ihr Verhalten mittelfristig aufeinander abstimmen. Mit Blick auf die zentrale Rolle der Lohnpolitik als makroökonomischer Impuls bedeutete dies, die Tarifverbände „in die Pflicht des ‚stabilitätspolitisch Notwendigen’ zu nehmen, sie auf ‚Orientierungsdaten’ festzulegen und zu einer stabilitätskonformen Aufteilung der Sozialproduktzuwächse zu bewegen“ (Abelshauser 2004: 412). Erwartungsgemäß stieß eine derartige Einbindung der Tarifverbände vor allem bei den Gewerkschaften von Anfang an nicht auf ungeteilte Zustimmung. Die Einbindung war einerseits verlockend, versprach sie doch einen Zuwachs an Einfluss bei der Politikformulierung und an Ansehen als gesellschaftlich relevante Akteure (Adam 1972: 31). Ihre Bereitschaft zur Teilnahme an den Gesprächen der Konzertierten Aktion machten die Gewerkschaften aber davon abhängig, dass „auf keinen Fall verbindliche Absprachen getroffen werden [sollten], die die Verantwortung der Regierung und die Tarifautonomie einschränken würden“ (Schneider 2000: 332). Damit allerdings liefen die Gewerkschaften sichtbar auf ein Dilemma zu. Ihren Austritt aus der Konzertierten Aktion konnten sie nur „um den Preis einer bewussten Brüskierung der auf Harmonie und Gesamtverantwortung eingestimmten öffentlichen Erwartungen“ (Schneider 2000: 333), also durch massiven Ansehensverlust erreichen; mit ihrem Beitritt zu und ihrem Festhalten an den Konzertierungsgesprächen (und an den dabei erzielten Ergebnissen bzw. empfangenen Anweisungen) riskierten die Gewerkschaftsführungen Glaubwürdigkeitsverluste gegenüber den Mitgliedern. In dieser Situation standen die Verbandsspitzen vor der Herausforderung, ihren Mitgliedern gegenüber das symbolische Leitbild der Tarifautonomie aufrecht zu erhalten, ohne jedoch ihre Teilnahme an den tripartistischen Verhandlungen zu quittieren. Hierfür brauchten sie die Unterstützung und legitimatorische Entlastung durch staatliche Akteure. Diese waren zur Stabilisierung der Verbandsführungen und damit letztlich im eigenen Interesse zur Absicherung der Konzertierungsergebnisse strukturell gezwungen zu dementieren, dass im Rahmen der Konzertierten Aktion irgendeine Form von Absprache stattfindet, die als Autonomieverlust interpretierbar wäre. Mit anderen Worten: staatliche Akteure hatten zur faktischen Stabilisierung der Konzertierten Aktion das Leitbild der Tarifautonomie kommunikativ aufzuwerten und hochzuschätzen. Insofern war während der gesamten „aktiven“ Zeit der Konzertierten Aktion (bis 1971) die Frage zentral, inwieweit die von der Bundesregierung veröffentlichten Orientierungsdaten staatlich vorgegebene Lohnleitlinien seien oder nicht. Das eindrücklichste (und bekannteste) Dementi dieser Art ist die folgende Äußerung des damaligen Bundeswirtschaftsministers Schiller: Mit der Aushöhlung der Tarifautonomie haben die Gespräche im Rahmen der Konzertierten Aktion überhaupt nichts zu tun. Alles, was dort besprochen wird, ist für die Tarifvertragsparteien ohne jedes Obligo. Ich sagte oft nach gewissen allgemeinen Verständigungen: Gehen Sie in Freiheit in die eigentlichen Tarifvertragsverhandlungen! Es kann gar
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keine Rede davon sein, daß es irgendwo Beschränkungen gibt. … Dabei gibt es keine Lohnleitlinien. Das Wort Lohnleitlinie habe ich in den ersten Tagen meiner Amtstätigkeit im Bundeswirtschaftsministerium durch einen Kammerjäger sozusagen vertilgen lassen. [Im] Grundsatzprogramm und Aktionsprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes … steht ein anderes Wort: Orientierungsdaten. Dieses Wort aus dem DGB-Grundsatzprogramm ist im übrigen jetzt sogar im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz als Pflicht der Bundesregierung enthalten, nicht als Pflicht etwa der Gewerkschaften, es zu vollziehen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Karl Schiller, Bundeswirtschaftsminister, auf dem 9. Gewerkschaftstag der IG Metall, 7.9.196841
Auch die Sprachregelungen in den Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung sind bemerkenswert. Die Jahreswirtschaftsberichte jener Jahre waren – gerade angesichts der hochgradigen Informalität, die multipartistischen Abstimmungsrunden zueigen ist – ein wichtiges Medium für alle beteiligten Akteure und sind es damit auch für die Untersuchung. Denn in den Jahreswirtschaftsberichten machte die Bundesregierung erstens publik, welche wirtschaftliche Entwicklung sie in den kommenden Monaten erwartete. Zweitens enthielten die Berichte jene Orientierungsdaten, die ganz im Geiste der Planbarkeit wirtschaftlichen Wachstums standen und deren Beachtung, was die lohnpolitischen Spezifizierungen betraf, in den Gewerkschaften so umstritten war. Und drittens enthielten die Jahreswirtschaftsberichte auch einen Rückblick auf die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung des vergangenen Jahres und damit auch einen Abgleich mit den publizierten Erwartungen des Vorjahres. Eine explizite retrospektive Bewertung der vorjährig ausgegeben Orientierungsdaten erfolgte dabei nicht; es ist allerdings nicht allzu schwer, rückblickend die Angemessenheit oder Unangemessenheit der ausgegebenen Orientierungsdaten zu erkennen. Die Autoren der Jahreswirtschaftsberichte mussten also zunächst das Kunststück vollbringen, einerseits die Autonomie der Verbände zu betonen und andererseits die Notwendigkeit der Konzertierung herauszustellen. Aus diesem Blickwinkel fällt bei der Lektüre der Jahreswirtschaftsberichte 1968 bis 1970 die in dieser Häufung sehr unübliche, nachgerade inflationäre, aber keineswegs wahllose Verwendung des Wortes „autonom“ auf. Ganz offensichtlich hatte der Begriff in den Berichten durchgängig die Funktion eines Gegengewichts, und zwar stets dort, wo auf irgendeine Weise die Einbindung der Gewerkschaften in die Konzertierung thematisiert wurde. In den folgenden, sehr markanten Beispielen wurde diese fast prinzipielle sprachliche Verknüpfung hervorgehoben: Im Zentrum der […] Darlegungen des Sachverständigenrates steht der Vorschlag eines zweijährigen „Rahmenpaktes für Expansion und Stabilität“. Der Sachverständigenrat sieht darin die Umrisse eines „multilateralen Interessenclearings“ zwischen Bundesregierung und den autonomen Gruppen. Der „Pakt“ soll der Absicherung einer Expansion die41
Quelle: Protokoll des 9. ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall in München vom 2. bis 7. September 1968 (6. Verhandlungstag), S. 458 ff. (zit. nach: Blanke et al. 1975: 258f.)
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nen, die den Wachstumsverlust der Rezession in forciertem Tempo einholt. Für die Bundesregierung sind diese Überlegungen deshalb wichtig, weil der Sachverständigenrat mit ihnen den Spielraum andeutet, der bei einer vernünftigen Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik und bei einer eindeutigen gesamtwirtschaftlichen Orientierung und Koordination aller Entscheidungen des Staates und der autonomen Gruppen für stabilitätskonformes Wachstum vorhanden wäre. In unserer Gesellschaftsordnung und Staatsverfassung ist ein so hoher Grad an Koordination aller wichtigen wirtschafts-, finanz- und einkommenspolitischen Entscheidungen nur schwer zu erreichen; versucht werden muß diese Koordination trotzdem. […] Die Sicherung eines anhaltenden Aufschwungs in Stabilität setzt im Jahre 1968 in besonderer Weise eine gesamtwirtschaftliche Orientierung aller einkommens- und vermögenspolitischen Entscheidungen voraus. In einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung kann dieses Ziel nur durch ein enges und vertrauensvolles Zusammenwirken des Staates mit den autonomen Tarifvertragsparteien erreicht werden. Die Bundesregierung wird deswegen im Jahre 1968 die Beratungen mit den Vertretern der Unternehmensverbände und der Gewerkschaften fortsetzen. Diese Beratungen sollen dazu dienen, die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungsmöglichkeiten rechtzeitig zu erkennen, die Zielvorstellungen zu konfrontieren und zu einer Konzertierten Aktion im Sinne einer gemeinsamen Abstimmung der Grundlinien für die autonomen Entscheidungen der Beteiligten zu kommen. Jahreswirtschaftsbericht 1968 der Bundesregierung, 25.1.1968, BT-Drs. V/2511, Sn. 4 und 15f. Die für das Jahr 1969 angestrebte Wirtschaftsentwicklung erfordert auch eine gesamtwirtschaftliche Orientierung aller einkommenspolitischen Entscheidungen, insbesondere der Lohn- und Arbeitszeitpolitik der autonomen Tarifvertragsparteien. Die Bundesregierung wird deshalb gemäß § 3 StWG ihre Bemühungen um eine Konzertierte Aktion zwischen den Gebietskörperschaften, den Unternehmensverbänden und den Gewerkschaften intensiv fortsetzen. Bereits vor Aufstellung der Jahresprojektion 1969 hat sie am 16. Dezember 1968 im Rahmen der regelmäßigen Gespräche der Konzertierten Aktion mit den Vertretern der beteiligten Verbände die für 1969 mögliche und anzustrebende Wirtschaftsentwicklung beraten. Darüber hinaus haben die Unternehmensverbände und Gewerkschaften in schriftlichen Stellungnahmen wichtige Hinweise gegeben, die von der Bundesregierung sorgfältig geprüft wurden. Mit der Aufstellung der Jahresprojektion stellt sie für das Jahr 1969 Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten der Gebietskörperschaften, der Gewerkschaften und der Unternehmensverbände zur Verfügung. Jahreswirtschaftsbericht 1969 der Bundesregierung, 31.1.1969, BT-Drs. V/3786, S. 24 Die Darlegungen des Sachverständigenrates machen insbesondere deutlich, daß ein hohes Maß […] an Koordinierung und Konzertierung der auf die Konjunktur einwirkenden dezentralisierten und regelmäßig autonomen Kräfte erforderlich ist, um die vier großen wirtschaftspolitischen Ziele gleichzeitig in vollem Umfang zu erreichen. Jahreswirtschaftsbericht 1970 der Bundesregierung, 27.1.1970, BT-Drs. VI/281, S. 7
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Derartige Formulierungen ließen Spielraum für Interpretationen insofern, als sie ja nötigenfalls als bloße Aufforderung verstanden werden konnten und den Gewerkschaftsspitzen dadurch zumindest pro forma jährlich wiederkehrend Gelegenheit gegeben wurde, gegenüber ihren Mitgliedern die Teilnahme an den Konzertierungsgesprächen als lediglich situativ angebracht und mithin befristet und keineswegs generell zu kommunizieren. Problematischer, und zwar für Gewerkschaften und Bundesregierung, war, dass in den Jahreswirtschaftsberichten auch auf die Wirksamkeit der Konzertierung, also auf ihren wirtschaftspolitischen Erfolg im Kontext der Globalsteuerung hingewiesen wurde. Zu derartigen Hinweisen war die Bundesregierung faktisch gezwungen. Ihr musste daran gelegen sein, den politischen Gegnern und der politisch interessierten Öffentlichkeit nachzuweisen, dass der vollzogene wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel sinnvoll gewesen war und dass das im StWG ausbuchstabierte keynesianische Instrumentarium – und hier nicht zuletzt die Konzertierte Aktion – seinen Zweck erfüllte. Auf diese Weise verlängerte sich das Dilemma der Gewerkschaften zu einem Dilemma der Bundesregierung: führte sie die Tariflohnentwicklung auf die Abstimmungen im Rahmen der Konzertierten Aktion zurück, lief sie Gefahr, die Gewerkschaftsspitzen vor den Gewerkschaftsbasen bloßzustellen. Unterließ sie es hingegen, im Sinne wirtschaftspolitischen Erfolges einen Zusammenhang zwischen Konzertierter Aktion und Tariflohnentwicklung herzustellen, stellte sie damit womöglich den Sinn der Konzertierten Aktion und letztlich vielleicht die Idee der Globalsteuerung insgesamt infrage. Dieses Dilemma lösten die Autoren der Jahreswirtschaftsberichte 1968 bis 1970 naheliegenderweise staats- und nicht gewerkschaftspolitisch. Es wurde nicht nur berichtet, dass sich die Tariflohnentwicklung durchweg innerhalb der Korridore bewegte, die die Bundesregierung als Orientierungsdaten ausgegeben hatte. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass diese Übereinstimmung von Orientierungsdatum und tatsächlicher Tariflohnentwicklung das Ergebnis der Beachtung der Orientierungsdaten durch die Tarifpolitiker der Gewerkschaften war. In derartigen Textpassagen war von „autonomen“ Tarifakteuren nicht die Rede: [...] ist die für die einzelnen Abschlüsse seinerzeit unterstellte Erhöhung des Tariflohnsatzes von etwa 3,5 v.H. je Stunde, die im Rahmen der Konzertierten Aktion zu Anfang des Jahres als Orientierungsdatum gegeben wurde, annähernd realisiert worden. Dabei hat die Konzertierte Aktion einer gesamtwirtschaftlich gefährlichen Einkommensschrumpfung zweifellos entgegengewirkt. Obwohl sich die Tarifvertragsparteien im großen und ganzen an die Orientierungsdaten gehalten haben, war indessen die effektive Lohnsteigerung je Beschäftigten mit +3,1 v.H. (statt +4 v.H. nach der Projektion) niedriger, da die Tariflohnentwicklung wegen der Vereinbarung von Lohnpausen, der Unterlassung möglicher Tarifkündigungen oder des Ausbleibens von Tarifabschlüssen einen zeitlich anderen Verlauf als angenommen hatte. Jahreswirtschaftsbericht 1968 der Bundesregierung, 25.1.1968, BT-Drs. V/2511, S. 8
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Um der vom Sachverständigenrat geschilderten Verzögerung im Lohnanstieg entgegenzuwirken, ermutigte die Bundesregierung schon in ihrem Jahreswirtschaftsbericht 1968 – Drucksache V/2511 – durch ein entsprechendes Orientierungsdatum (4 bis 5% Tariflohnsteigerung bei Neuabschlüssen) die Tarifvertragsparteien dazu, den durch die erwarteten Produktivitätssteigerungen geschaffenen Lohnerhöhungsspielraum stärker durch Tariflohnsteigerungen auszufüllen . Die Entwicklung zeigt, daß die tariflichen Neuabschlüsse sich etwa im Rahmen des Orientierungsdatums gehalten haben, obwohl das Wachstum des Bruttosozialprodukts und die Produktivitätssteigerung über das projektierte Ausmaß hinausgegangen sind. Die Bundesregierung weiß aus vielen Hinweisen der Tarifvertragsparteien, daß das Orientierungsdatum dahin gewirkt hat, die Bereitschaft zu einer den Aufschwung stützenden Lohnpolitik zu erhöhen. [...] Mit ihrer zu Beginn des Aufschwungs zurückhaltenden Lohnpolitik hatten die Gewerkschaften eine entscheidende Voraussetzung für das Zustandekommen eines kräftigen, sich selbst tragenden Konjunkturanstiegs geschaffen. Die Tariflohnerhöhungen hielten sich durchweg im Rahmen des in der Jahresprojektion gegebenen Orientierungsdatums. Jahreswirtschaftsbericht 1969 der Bundesregierung, 31.1.1969, BT-Drs. V/3786, Sn. 3 und 12
Eine derartige Verknüpfung von regierungsamtlichen Orientierungsdaten und gewerkschaftlicher Tarifpolitik ist relativ unproblematisch42, solange die Orientierungsdaten aus Jahresprojektionen abgeleitet wurden, die sich retrospektiv auch als annähernd realistisch herausstellen. Doch bereits im Jahr 1968 – das geht aus den beiden letzten der oben zitierten Passagen klar hervor – entwickelte sich das reale Wirtschaftswachstum stärker als in der Jahresprojektion der Bundesregierung für 1968 vorausgesehen (Projektion: 4,0%43; tatsächlich: 7,6%, SVR 1969: 79). Das aber hieß, dass die für 1968 ausgegebenen lohnpolitischen Orientierungsdaten rückblickend betrachtet deutlich zu niedrig angesetzt waren. Dieses Szenario wiederholte sich im Jahr 1969. Aus einer Prognose des realen Wirtschaftswachstums von 4,5%44 leitete die Bundesregierung lohnpolitische Orientierungsdaten im Korridor zwischen 5,5 und 6,5%45 ab, an die sich die Gewerkschaften auch weitgehend hielten. Im Laufe des Jahres 1969 trat aber immer deutlicher zutage, dass auch diesmal die Vorhersage des Wirtschaftswachstums von der Realität (8,0%, SVR 1970: 12) weit übertroffen wurde. Schon 1968, vor allem aber im Laufe des Jahres 1969 wurden die Unmutsäußerungen der Beschäftigten, denen ja die überraschend schnelle wirtschaftliche Erholung nicht verborgen blieb, immer vernehmbarer und die Forderungen immer lauter, umgehend Tariflohnsteigerungen ohne Rücksichtnahme auf staatlich vorgegebene Orientierungsdaten durchzusetzen. Hinweise der gewerkschaftlichen Tarifpolitiker auf Laufzeitbindungen der Tarifverträge führten nicht zur intendierten Beruhigung, sondern 42 43 44 45
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Zumindest unter der grundsätzlichen Prämisse, dass das bestehende Lohn-Gewinn-Verhältnis konstant bleiben soll, worüber ja innerhalb der Gewerkschaften keineswegs Einigkeit herrschte Jahreswirtschaftsbericht 1968 der Bundesregierung vom 25.1.1968, BT-Drs. V/2511: 9 Jahreswirtschaftsbericht 1969 der Bundesregierung vom 31.1.1969, BT-Drs. V/3786: 16, 24 Jahreswirtschaftsbericht 1969 der Bundesregierung vom 31.1.1969, BT-Drs. V/3786: 17
vielmehr zu einer Dynamik des Geschehens. Mit wilden Streiks ab September 1969 versuchten die Beschäftigten, das in den letzten anderthalb Jahren deutlich zu ihren Lasten verschobene Lohn-Gewinn-Verhältnis wieder zu verbessern und angesichts der Starrheit der Tariflöhne wenigstens die Effektivlöhne in der wirtschaftlichen Entwicklung angemessener Weise steigen zu lassen (vgl. Blanke et al. 1975: 268f.). Was sich im Jahreswirtschaftsbericht 1970 vom 27.1.1970 recht nüchtern liest: Die Lohn- und Gehaltsentwicklung, die den Konjunkturaufschwung zunächst verhältnismäßig zögernd nachvollzog, beschleunigte sich im Verlauf des Jahres 1969 merklich. Die Steigerung der Verdienste wurde im Herbst durch Lohnzugeständnisse auf Grund spontaner Arbeitsniederlegungen stark beeinflußt; der Abstand zwischen der Entwicklung des Tariflohn- und -gehaltsniveaus und der Effektivverdienste, die sog. „Lohndrift“, erhöhte sich auf knapp 3½ Prozentpunkte, eine Größenordnung, die selten erreicht worden ist. Die Bruttolohn- und -gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer stieg 1969 im Jahresdurchschnitt um knapp 9½%, nicht um 7%, wie in der Jahresprojektion angesetzt. Unter Berücksichtigung der ebenfalls erheblich höheren Zahl der abhängig Beschäftigten (+ 560 000 statt 270 000 nach der Jahresprojektion) wuchs die Bruttolohn- und -gehaltssumme um rund 12% anstelle der zu Beginn des Jahres projektierten 8½%. Jahreswirtschaftsbericht 1970 der Bundesregierung, 27.1.1970, BT-Drs. VI/281, S. 12
war ein veritabler Legitimationsverlust der Gewerkschaftsspitzen und der multipartistischen Abstimmungsrunden und damit de facto und a la longue der Anfang vom Ende der Konzertierten Aktion. Denn die Gewerkschaftsführungen betrieben, um die Tariflöhne nachholend an die sprunghaft gestiegenen Effektivlöhne anzupassen und damit ihre Autorität bei der Mitgliederbasis wieder herzustellen (und eher nicht aus eigener Überzeugung), in den Jahren 1970 und 1971 eine sehr offensive, sämtliche Orientierungsdaten außer Acht lassende Lohnpolitik (Scharpf 1987: 158). Zudem stellten sie die zentrale Rolle regierungsamtlicher Orientierungsdaten überhaupt infrage. Ab 1972 veröffentlichten die Gewerkschaften (wie auch die Arbeitgeberverbände) ihre eigenen Orientierungsdaten (vgl. Mätzke 2000: 15), ein deutliches Zeichen dafür, dass man sich auf die Einschätzungen der Bundesregierung nicht mehr verlassen mochte. Wo man sich aber schon nicht auf eine gemeinsame Einschätzung der Lage verständigen kann und stattdessen jeweils eigene Auffassungen zum Ausgangspunkt des Handelns werden, da geraten Abstimmungsversuche zu faktisch überflüssigen, inhaltsleeren Veranstaltungen. Formal wurden diese multipartistischen Abstimmungsgespräche bis 1977 fortgesetzt. Ihre lohnpolitische Bedeutung resp. Steuerungsfunktion hatten sie bereits 1970 verloren. Welches sind die kurz- und langfristigen Effekte der Konzertierten Aktion? Gelegentlich findet sich in der Literatur die Einschätzung, mit ihr hätte die Bundesregierung (und zwar zumindest für kurze Zeit erfolgreich) versucht, die Gewerkschaften subtil zu disziplinieren (Abelshauser 2004: 416). Die Ausgabe von Orientierungsdaten habe
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implizit Druck auf die Lohnsetzung ausgeübt, dem sich die Gewerkschaften nicht widersetzen konnten, auch wenn sie es wiederholt offiziell ablehnten, die tarifpolitische Relevanz und Verbindlichkeit dieser Orientierungsdaten anzuerkennen und stattdessen beständig auf ihre unabhängige Lohnsetzungsbefugnis im Rahmen der Tarifautonomie verwiesen (Hardes 1974: 93). Es ist nicht auszuschließen (und einige Belege sprechen dafür, vgl. z.B. Abelshauser 2004: 491), dass diese Disziplinierung in der Tat die Intention der Regierung war. Zu fragen bleibt aber, auf welchen Erfahrungen diese Intention basierte. Denn die Langfristperspektive zeigt erstens deutlich eine Kontinuität weitgehend kostenniveauneutraler Lohnpolitik seit den 1950er Jahren (Friedrich, Kraft 2000: 323). Selbst unter Bedingungen faktischer Vollbeschäftigung hatten die Gewerkschaften weitgehend der Verlockung widerstanden, diesen strategischen Vorteil in noch höhere Lohnsteigerungen umzusetzen. Zweitens gab es keinen hinreichenden Grund für die Annahme, die Gewerkschaften würden in näherer Zukunft zu Lasten der Arbeitgeber von dieser tarifpolitischen Maxime abweichen – und in der Tat kehrten sie nach der kurzen Phase expansiver Lohnpolitik in den Jahren 1970 und 1971 bereits 1972 zu einer moderaten, an der Produktivitäts- und Preisentwicklung orientierten Lohnpolitik zurück (Scharpf 1987: 158). Drittens bot auch die Entwicklung des Preisniveaus nach dem kurzen Ausreißer im Krisenjahr 1966 nach eigenem Bekunden der Bundesregierung keinen Anlass zur Sorge. Insgesamt heißt das: eine konkrete, situativ akute Notwendigkeit der Konzertierung bestand nicht. Abbildung 10:
Ökonomische Entwicklung – 2. Hälfte 1960er / 1970er Jahre
12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 – 2,0 1965
1967
1969
1971
1973
Wirtschaftswachstum real
Quelle: Schneider 2000: 589, 598; destatis; eigene Berechnungen
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1975
1977
Lohnsteigerung real
1979
Insofern ist sowohl die Einrichtung der Konzertierten Aktion als auch die anfängliche Teilnahmebereitschaft der Gewerkschaften zu interpretieren als Bekenntnis zum wirtschaftspolitischen Keynesianismus als Prinzip (Vobruba 1983b). Insbesondere von der Bundesregierung und den Gewerkschaften (weniger von der Bundesbank und im Arbeitgeberlager) wurde die „Globalsteuerung“, die keynesianisch inspirierte, antizyklisch wirken sollende Nachfragesteuerung und im Zusammenhang damit die Koordinierung von Lohn-, Geld- und Finanzpolitik anfänglich aktiv betrieben bzw. unterstützt. Die Akteure waren überzeugt von der Plan- und Steuerbarkeit wirtschaftlichen Wachstums, und aus dieser Überzeugung heraus wurde staatliche Intervention zur konjunkturellen Wirtschaftslenkung zum politischen Grundsatzprogramm und das „magische Viereck“ aus Wachstum, hohem Beschäftigungsstand, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht zur Maxime staatlichen wirtschaftspolitischen Handelns. Nicht nur passte eine solche Politik generell in die Zeit der allgemeinen Steuerungseuphorie der 1960er Jahre. Sie trug auch bei zur Befriedigung jenes um sich greifenden Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Stabilität und Harmonie, das nach den beiden zwar erfolgreichen, aber auch sehr dynamischen Nachkriegsjahrzehnten immer mehr manifest wurde. Die Konzertierte Aktion war ein Ausdruck dieser Harmonie. Die Gespräche erhöhten das wechselseitige Verständnis für die jeweilige Einschätzung der Wirtschaftslage und ihrer Erfordernisse sowie für die Handlungszwänge und Ziele der Beteiligten (Scharpf 1987: 156). Zu diesem Bedürfnis nach Stabilität trug nicht zuletzt auch die Rezession 1966 bei. Sie gilt heute angesichts ihres vergleichsweise geringen Ausmaßes als eher technische, reinigende Abkühlung der überhitzten Konjunktur. Gleichwohl rief sie in der damaligen wachstumsverwöhnten Bundesrepublik tiefe Verunsicherung hervor und wurde als bedrohliche Krise empfunden (Pötzsch 1998: 144). In der antizyklischen Globalsteuerung des Wirtschaftskreislaufs sah man das Mittel, derartige Schocks zukünftig zu vermeiden. Das galt auch für die Gewerkschaften. Sie waren in der Frühphase der Konzertierten Aktion bereit, ihren Part im Konzert der Globalsteuerung zu übernehmen. Und entgegen ihren öffentlichen Bekundungen ließen die Gewerkschaften in der Praxis der Tarifverhandlungen auch durchaus die Neigung erkennen, die regierungsamtlichen Orientierungsdaten zu berücksichtigen (Schneider 2000: 349). Es entbehrt insofern nicht einer gewissen Tragik, dass gerade dieses wirtschaftspolitische Programm der Globalsteuerung, dieses Bemühen um gegenseitig abgestimmte, planbare und geplante Wirtschaftslenkung, dieses große Projekt der growthmanship (Abelshauser 2004: 409) zu unintendierten Effekten führte, die die politischen Grenzen der Globalsteuerung aufzeigten und ihr soziales Ansehen arg in Mitleidenschaft zogen. Am schnellsten sichtbar wurden diese Grenzen bei den Reaktionen der Arbeitnehmer. Dass „die gewerkschaftliche Bereitschaft zur [tripartistisch abgestimmten oder staatlicherseits vorgegebenen, T.F.] lohnpolitischen Mäßigung zu einem Vertrauensverlust in Teilen der Mitglieder- und Arbeiterschaft beitrug, der sich angesichts
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sprunghaft gestiegener Unternehmensgewinne, aber stagnierender Reallöhne in den „wilden“ Streiks von September 1969 entlud“ (Schneider 2000: 350), ist nicht falsch, aber ungenau: Nicht die ohnehin systematisch und gesamtwirtschaftlich sensibel praktizierte (Scharpf 1987: 248ff.) Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften per se, sondern ihre „Sichtbarkeit“ im Zuge der Konzertierten Aktion rief den Unmut der Beschäftigten hervor. Erstmals mussten sie die unmittelbare Erfahrung machen, dass bei der Festlegung von Lohnforderungen durch die Tarifpolitiker der Gewerkschaftsführungen nicht nur (und womöglich nicht einmal primär) ihre Bedürfnisse und Interessen eine Rolle spielten. Mit dem Anspruch der Verhaltensabstimmung und der Thematisierung von Orientierungsdaten hatte die Bundesregierung die ebenso notwendige wie mögliche Systemkonformität und Funktionalität gewerkschaftlichen Handelns ungewollt offenbart. Die Gewerkschaftsspitzen hatten ihre Verantwortlichkeit für Systemstabilität längst akzeptiert (Schmidt 1971: 77-80, 148-156; Blanke et al. 1975: 150; Vobruba 1983b: 149), den Beschäftigten war das noch neu und nicht unmittelbar einsichtig. Der daraus folgende Vertrauensverlust machte nicht nur umgehende Relegitimierungsbemühungen der Gewerkschaften in Form (vorübergehend) hoher Tariflohnabschlüsse in den Jahren 1970 und 1971 unumgänglich. Er erzwang zudem langfristig einen Wandel der innergewerkschaftlichen Strukturen und hatte auf diese Weise auch Auswirkungen bis in die 1980er Jahre hinein (siehe Kapitel 9.2). Gleichsam als nächstes Glied der Kausalkette (Konzertierte Einbindung der Gewerkschaften – Autoritäts- und Vertrauensverlust der Gewerkschaftsführungen und „wilde Streiks“ – Relegitimierungsdruck auf die Gewerkschaftsspitzen – starker Tariflohnanstieg) waren massive Preissteigerungsraten ein weiterer unintendierter Effekt der abgestimmten gewerkschaftlichen Lohnpolitik. Die kurzzeitige expansive Lohnpolitik in 1970 und 1971 hatte ausgereicht, um einen beachtlichen Inflationsanstieg anzustoßen, der nach lediglich 1,8% in 1969 bei 3,6% in 1970 und bei 5,2% in 1971 lag. Dadurch verschärften sich die Spannungen zwischen der seit Herbst 1969 amtierenden sozialliberalen Bundesregierung und der auf Geldwertstabilität verpflichteten Bundesbank.46 Mit wahlstrategisch begründeter Verzögerung schwenkte dann aber auch die Bundesregierung ab Anfang 1973 auf jenen Politikkurs ein, den die Bundes46
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Wofür die (von der damals dominanten Logik der Phillips-Kurve) beeinflusste Äußerung des amtierenden Wirtschafts- und Finanzministers Helmut Schmidt in einem Zeitungsinterview der sicher berühmteste Beleg ist: „[I]ch lehne es ab, Stabilität oder Wirtschaftswachstum in einem höheren Rang zu sehen als Vollbeschäftigung. Mir scheint, daß das Deutsche Volk – zugespitzt – 5 Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als 5 Prozent Arbeitslosigkeit. Schon 3 Prozent Arbeitslosigkeit würden für die Bundesrepublik unerträglich sein“. Im gleichen Interview sieht Schmidt übrigens den akuten Preisanstieg u.a. im Zusammenhang „auch mit Tarifbewegungen“; und hält trotz der Vorbehalte einiger Gewerkschaftsvertreter an der Konzertierten Aktion als „institutionalisierte Form des Informations- und Meinungsaustausches“ fest (Süddeutsche Zeitung, Jg. 28, Nr. 171, 28.7.1972, S. 8). Weniger öffentlichkeitswirksam, aber ein genauso deutlicher Ausdruck für den Konflikt zwischen „Politik“ und „Ökonomie“ waren die programmatischen Titel der SVR-Jahresgutachten 1971/72 (Währung, Geldwert, Wettbewerb – Entscheidungen für morgen) und 1972/73 (Gleicher Rang für den Geldwert).
bank bereits seit längerem gefordert hatte und der mit Stabilisierungsprogrammen und Ausgabenbegrenzungen die Inflationsgefahr eindämmen sollte (Sturm 1995: 99). Diese Maßnahmen waren, obwohl sie sich dem Instrumentarium antizyklischer Globalsteuerung zuordnen ließen, unpopulär. Sie hätten aber – so die Überzeugung der Bundesregierung – nachträgliche Akzeptanz gefunden, sobald ihre Wirksamkeit zu erkennen war. Wirksamkeit aber konnten sie angesichts des Ölpreisschubs 1973 nicht mehr entfalten. Die derart als unwirksam erscheinende Globalsteuerung erlitt so einen massiven Imageschaden in der Öffentlichkeit und ermutigte die Bundesbank zu einer vollständigen Abkehr von keynesianisch orientierter Geldpolitik (Pätzold 1998: 146), was wiederum die noch einige Zeit anhaltenden antizyklischen Steuerungsversuche der Bundesregierung konterkarierte. Dieser Konflikt wiederum bereitete einer zunehmenden Hinwendung zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik im Laufe der 1970er Jahre den Weg (Hardes et al. 1990: 175). Sicher ist die misslungene Einbindung der Gewerkschaften nicht die alleinige Ursache für die nachfolgende Entwicklung, sie kann aber als ein Auslöser einer Preisniveauinstabilität gelten, für die – sofern sie zugleich mit Arbeitslosigkeit auftrat – die keynsianische Theorie keine Erklärung und keynesianisch geprägte praktische Steuerung mithin kein Gegenmittel besaß. Insofern trug die im Projekt der Globalsteuerung angelegte Intention der Vermeidung wirtschaftlicher Krisen letzten Endes zur Verschärfung der Krise nach 1974 bei, damit zur Diskreditierung der Globalsteuerung selbst und damit auch zur langjährigen Unmöglichkeit der aktiven Einbindung von Gewerkschaften in staatliche Politik. Damit in Zusammenhang steht schließlich ein dritter – und für die vorliegende Arbeit entscheidender – Effekt der Konzertierten Aktion. Folge sowohl ihres anfänglichen Erfolgs wie auch ihres späteren Misserfolgs war die im politischen Sprachgebrauch dauerhafte Etablierung von Formulierungen, die die Autonomie der Tarifverbände zum Ausdruck brachten. Wie kein anderer Typus staatlicher Beeinflussung gewerkschaftlichen Handelns macht konzertiert-kooperative Einkommenspolitik die Notwendigkeit der (und, wenn gegeben, die gewerkschaftliche Bereitschaft zur) Systemfunktionalität gewerkschaftlichen Handelns sichtbar. Diese unvermeidliche Offensichtlichkeit der systemfunktionalen Einbindung der Gewerkschaften in die Konzertierte Aktion bedurfte der sprachlich-argumentativen Flankierung und eines symbolischen Gegengewichts. Als ein solches Gegengewicht stellten staatliche Akteure den Begriff „Tarifautonomie“ bzw. sehr eng mit ihm verwandte Formulierungen ins Zentrum wirtschaftspolitischer Rhetorik. Die Folge dieser diskursiven Strategie kann wohl als der nachhaltigste Effekt der Konzertierten Aktion gelten: durch seine außergewöhnlich und überzufällig häufige Verwendung im Kontext der Konzertierten Aktion ist der Begriff „Tarifautonomie“ in der „Politik angekommen“. Seither ist er aus der politischen (und aus der zunehmend politisierten Alltags-)Sprache nicht mehr wegzudenken, nachdem er in der Dekade vor der Konzertierten Aktion lediglich Bedeutung im rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch hatte. Von besonderem Interesse ist dabei der Umstand, dass der Begriff „Tarifautonomie“ von Beginn seines politischen Ge-
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brauchs an politische Instrumentalisierungsfunktion hatte. Seine häufige Verwendung im Kontext der Konzertierten Aktion sollte es den Gewerkschaftsspitzen erleichtern, ihre Teilnahme an den ja gerade Autonomie einschränkenden multipartistischen Verhaltensabstimmungen gegenüber skeptischen Mitgliedern zu rechtfertigen. So gesehen war die Konzertierte Aktion zwar kein ernsthafter Institutionalisierungsschub für die tatsächliche Autonomie der Tarifverbände. Aber sie war ein wesentlicher Institutionalisierungsschub für den Begriff „Tarifautonomie“ und damit ein wesentlicher Schub für die Verfestigung jenes Arrangements der gegenseitigen, in der Regel stillschweigenden, systemstabilisierenden Be- und Entlastung zwischen Staat und Verbänden, für deren Bemäntelung der Begriff „Tarifautonomie“ instrumentalisiert wird. Die nachfolgenden Fallstudien werden zeigen, dass sich staatliche Akteure diese Instrumentalisierungsfähigkeit des Begriffs „Tarifautonomie“ immer wieder zunutze gemacht haben und das nicht zuletzt erst dadurch die Ausdehnung des tarifautonomen Raumes flexibel gestaltet werden konnte.
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9.2 Die Neufassung des § 116 AFG Zielkonflikt zwischen Funktions- und Handlungsfähigkeit In der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Tarifverbänden hat die Kontroverse um die Neufassung des § 116 AFG im Jahr 1986 bis heute eine hervorgehobene Stellung. Diese Novelle war seinerzeit sowohl bei den Akteuren „in der Praxis“ als auch im beobachtenden akademischen Bereich heftig umstritten, galt sie doch als symptomatisch für das zerrüttete Verhältnis der amtierenden Regierung Kohl und den deutschen Gewerkschaften. Unüberschaubar viele, zumeist tarifpraktische oder rechtswissenschaftliche Abhandlungen widmeten sich in der Folge der Neufassung des Paragraphen; das Bundesverfassungsgericht hatte sich ihretwegen mit Normenkontrollanträgen und einer Verfassungsbeschwerde zu befassen. In diesem Kapitel soll geklärt werden, welcher kommunikativer Mittel sich staatliche Akteure im Gesetzgebungsprozess bedienten, um die imperative Maßnahme der Neufassung des § 116 AFG diskursiv zu begleiten. Freilich erfordert es der Anspruch der Kontextsensibilität, dass nicht nur der eigentliche Gesetzgebungsvorgang untersucht wird, sondern auch nach den ökonomischen, politischen und sozialen Ursachen und Folgen dieser Neufassung gefragt wird. Ich gehe in vier Schritten vor: Zunächst zeichne ich die ökonomischen und sozialen Entwicklungen nach, soweit sie als Auslöser der Gesetzesinitiative der Bundesregierung gelten können. Davon ausgehend widme ich mich dem Gesetzgebungsvorgang selbst, um Motiv- und Kommunikationsstrukturen des Gesetzgebers herauszuarbeiten. Dann erörtere ich die ökonomischen, organisationssoziologischen, politischen und juristischen Folgen der Neufassung für die Tarifverbände, bevor ich abschließend die historische Bedeutung der Neufassung des § 116 AFG für die Fortentwicklung des Tarifsystems diskutiere. 1.
Entstehungsgeschichte der Neufassung
Als unmittelbarer Auslöser der Neufassung des § 116 AFG gilt gemeinhin die Tarifauseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in 1984. Dieser Arbeitskampf ist nicht nur wegen seines Ausmaßes bemerkenswert, sondern hat in der Entwicklung der industriellen Beziehungen in Deutschland vor allem auch wegen seiner politischen und tarifpolitischen Folgen eine Schlüsselstellung inne. Um diese Schlüsselstellung angemessen zu erfassen, ist es wiederum erforderlich, die längere und komplexere Vorgeschichte des Tarifkonfliktes 1984 zu beleuchten. Diese Vorgeschichte lässt sich unterteilen in Wandlungsprozesse industrieller Produktionsbedingungen und (seltener thematisierte) Wandlungsprozesse gewerkschaftlicher Handlungsbedingungen. Beide Wandlungstendenzen kulminierten in der Tarifauseinandersetzung 1984.
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a)
Wandel der Produktionsprozesse
Vor allem die exportorientierte deutsche Industrie sah sich – nach einer langen Blütezeit fordistisch geprägter, d.h. hochgradig standardisierter, durchorganisierter und auf sehr hohe Stückzahlen gleichartiger Güter ausgerichteter Produktionsstrukturen – seit den ausgehenden 1970er Jahren immer stärker mit wachsendem internationalem Konkurrenzdruck (insbesondere aus Fernost) und in der Folge mit veränderten Marktbedingungen konfrontiert. Nicht nur, aber besonders sichtbar in der Automobilbranche standen den standardisierten, oft recht variationsarmen deutschen (wie überhaupt den kontinentaleuropäischen) Produkten variantenreichere, komplexere, mehr individuelle Wahlmöglichkeiten der Kunden zulassende Produkte auf hohem technologischem Niveau gegenüber. Dieser Angebotsvorteil ausländischer Konkurrenten zwang die einheimischen Produzenten zu Anpassungsketten: eine stärkere Beachtung der aktuellen Nachfragebedingungen erforderte mehr Produktheterogenität und damit mehr unternehmerische Flexibilität, das wiederum machte die etablierten Prinzipien der betrieblichen Lagerhaltung großer Mengen gleichartiger Produktbestandteile obsolet und zwang zur Reorganisation des inner- und zwischenbetrieblichen Materialflusses. Das Ergebnis dieser hier nur grob gezeichneten Anpassung war eine deutliche Aufwertung der Logistik innerhalb des Produktionsprozesses. Am deutlichsten kam dieser Bedeutungszuwachs in Aufkommen und Verbreitung des just-in-time-Konzepts zum Ausdruck, also in der Idee, innerhalb eines Produktionsprozesses auf innerbetriebliche, Platz und Kapital bindende Lagerhaltung weitestgehend zu verzichten und benötigtes Material möglichst zeitpunktgenau vom Zulieferer anliefern zu lassen. Soll jedoch die Lagerhaltung nicht nur in die Zulieferbetriebe hinein verschoben werden, ist auch dort, nach Maßgabe der Bedarfe der Abnehmerbetriebe, ein flexibleres Produktionsmanagement vonnöten. Für diese Straffung betriebsteil- und unternehmensübergreifender Produktion waren wiederum die aufkommenden und sich etablierenden Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung und -fernübermittlung von immenser Bedeutung, ohne die eine kurzfristig spezifizierte Auftragsvergabe und ein punktgenauer Abruf von Zulieferteilen kaum denkbar wären. Erst das Zusammenspiel von logistischer Reorganisation und mikroelektronischer Revolution führten zu jener spezifischen, stark interdependenten Arbeitsteilung, die im Begriff der Produktionsverflechtung Eingang in die wissenschaftliche Analyse gefunden hat. Diese Entwicklung zwischenbetrieblicher Kooperation vollzog sich am stärksten und nachhaltigsten in der deutschen Metall- und hier wiederum in der Automobilindustrie. In den 1970er Jahren ließ sich die Fahrzeugproduktion ohne Materialnachschub noch bis zu drei Wochen aufrecht erhalten. 1980 betrug die Teile-Reichweite etwa bei Daimler-Benz nur noch 12 Tage, andere Hersteller visierten gar für die Mitte der 1980er Jahre einen Lagervorrat für nur noch fünf Tage an (Hindrichs et al. 1990: 217).
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Wesentlicher Aspekt des Wandels der Produktionsabläufe ist damit nicht primär die Dezentralisierung der Wertschöpfung per se; relativ geringe betriebliche Fertigungstiefen und ausgebaute Produktionsverbünde sind seit jeher ein Charakteristikum der deutschen Metallindustrie und spielten auch schon in früheren Arbeitskämpfen eine Rolle (vgl. Patett 1984: 96ff.).47 Neu war vielmehr die unmittelbare Einbindung der Zulieferer in den Produktionsprozess der Abnehmer durch zeitpunktgenaue Lieferverpflichtungen mittels gemeinsamer elektronischer Prozesssteuerung. Es liegt auf der Hand, dass selbst kleine Störungen im Produktionsprozess der Zulieferbetriebe binnen kurzer Zeit umfangreiche Fernwirkungen in den Abnehmerbetrieben haben. Insofern eröffnet die beschriebene Produktionsverflechtung auch neue Perspektiven (und Risiken) für die Arbeitskampftaktik der Gewerkschaften. Besonders in der Metallindustrie lag es daher nahe, Tarifforderungen dadurch Nachdruck zu verleihen, dass mit dem vergleichsweise unaufwändigen Bestreiken von Zulieferbetrieben in kurzer Zeit die Endfertigung in den abnehmenden Großbetrieben stillgelegt werden konnte, ohne dort selbst aktiv einen weitaus kostspieligeren Arbeitskampf führen zu müssen. Dieses Vorgehen wurde alsbald unter dem Begriff „Minimax-Taktik“ (minimaler Aufwand, maximale Wirkung) bekannt. Sie wurde 1984 von der IG Metall in der Tarifauseinandersetzung der Metallindustrie erstmals in großem Stil angewandt. b)
Wandel gewerkschaftlicher Handlungsbedingungen
Eine Schlüsselstellung kommt dem Tarifkonflikt des Jahres 1984 aber nicht nur zu, weil mit ihm erstmals in großem Umfang die gestiegene Störanfälligkeit einer mehr und mehr verflochtenen Produktion unter Beweis gestellt wurde. Er hatte neben der praktizierten Arbeitskampfform auch inhaltlich eine neue Stufe erreicht: einerseits mit der Gewerkschaftsforderung nach deutlicher Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte auf 35 Stunden48, andererseits mit dem Ergebnis einer deutlich flexibilisierten und verbetrieblichten Arbeitszeitgestaltung. Allenfalls für das Teilergebnis der Arbeitszeitflexibilisierung, nicht aber für die gewerkschaftliche Forderung nach Arbeitszeitverkürzung kann der Wandel in der Produktionsorganisation als Erklärung dienen. Warum also die massive Forderung nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich? 47
48
Zwar sank mit der Abkehr von fordistischen Produktionsstrukturen auch die betriebliche Fertigungstiefe deutlich. Allerdings vollzog sich diese Entwicklung nicht annähernd so abrupt wie der Wandel der Liefermodalitäten. So ging zum Beispiel der Wertschöpfungsanteil der Automobil-Endhersteller von 41% ihres Umsatzes im Jahr 1978 auf 35% in 1986 zurück, bleibt aber seither im Wesentlichen konstant (1994: 37%, 2002: 35%, vgl. Hindrichs et al. 1990: 260; Roth 2005: 11f.) Nur einmal zuvor, in der Tarifrunde 1978/79 der Eisen- und Stahlindustrie, war die 35-Stunden-Woche Gegenstand eines Arbeitskampfes, der jedoch den Status Quo (40 Stunden) nicht veränderte.
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Die Phase der späten 1950er und der 1960er Jahre war rückblickend betrachtet die streikärmste Zeit in der Bundesrepublik (Müller-Jentsch, Ittermann 2000: 185ff.). Sie war nicht nur gekennzeichnet durch eine hochgradige organisatorische Zentralisierung der Tarifverhandlungen, sondern auch durch die Mitte der 1960er Jahre etablierte Anwendung der Meinhold-Formel49, der zufolge sich gewerkschaftliche Lohnforderungen kostenniveau- und verteilungsneutral auf den branchenweiten Produktivitätszuwachs und die Geldwertentwicklung bezogen. Hinzu kam in den ausgehenden 1960er Jahren die beschriebene Einbindung der Gewerkschaften in die Konzertierte Aktion. In der Summe führte all dies zu weitgehend betriebs- und basisfernen Tarifbeziehungen (Boll 2003: 495). Angesichts der prosperierenden Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sahen jedoch viele Beschäftigte die Steigerungen ihrer Löhne als unzureichend an; ihren Unmut über die enttäuschten Erwartungen machten sie dabei weniger an der Kompromissunwilligkeit der Arbeitgeber fest als vielmehr an der korporatistischen Einbindung der Gewerkschaftsführungen und der Zentralität der Tarifaushandlungen. Spontane, d.h. nicht von den Gewerkschaftsführungen organisierte Streiks brachten (erstmals im September 1969 und bis in die 70er Jahre hinein) diese Unzufriedenheit der Basis mit der Zentralisierung des Tarifsystems sichtbar zum Ausdruck. Als Reaktion hierauf und auf Forderungen nach „betriebsnaher Tarifpolitik“ (vgl. Schmidt 1971: 170ff.; Blanke et al. 1975: 276ff.) wurden (insbesondere, aber nicht nur bei der IG Metall) die Tarifauseinandersetzungen wieder stärker regionalisiert und einzelne Belegschaften in Arbeitskämpfe einbezogen, was freilich nicht nur mit höheren finanziellen Kosten, sondern auch mit der Notwendigkeit einer aufwändigeren Mobilisierung und Aufklärung der Mitglieder verbunden war (Boll 2003: 496). Die Dezentralisierung der Tarifkonflikte und die Aufwertung der Regionalebene bei Tarifauseinandersetzungen (die im übrigen durchaus auf die aktive Zustimmung der Arbeitgeberseite stieß, vgl. Mückenberger 1992: 93) war also insofern zunächst eine Folge innergewerkschaftlicher, gleichsam selbstgemachter Legitimationsprobleme. Diese Probleme wurden verschärft durch den Druck, der von der seit Mitte der 1970er Jahre verfestigten Massenarbeitslosigkeit auf die Gewerkschaften ausging. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Chance auf Durchsetzung tarifpolitischer und sozialpolitischer Forderungen der Gewerkschaften eine reziproke Funktion des Ausmaßes an Unterbeschäftigung ist. Ausdruck dieser Entwicklung ist zum Beispiel die – in der Geschichte der Bundesrepublik erstmalige und sich zudem über mehrere Jahre hinweg fortsetzende – Entwertung der Nettolöhne und -gehälter ab 1980 (Bedau 1996: 11; BMAS 2007: Tab. 1.15). Hinzu kam eine seit März 1983 veränderte politische Konstellation: die neue, konservativ-liberale Bundesregierung gab von Beginn ihrer Amtszeit an deutlich zu verstehen, dass sie im Rahmen ihrer „Wende“-Politik auch das Verhältnis des Staates 49
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Benannt nach dem Wirtschaftsprofessor Helmut Meinhold, der als Schlichter bei den Verhandlungen in der Eisen- und Stahlindustrie in der Tarifrunde 1965 anregte, Nominallohnsteigerungen an der Steigerung der Arbeitsproduktivität und des Preisniveaus zu orientieren.
zu den Gewerkschaften neu ausrichten werde. Im Mai 1984, also gut ein Jahr nach Regierungsübernahme und unmittelbar vor Beginn der heißen Phase des Tarifkonflikts konkretisiert die CDU-Führung diese Ankündigung: Die Tarifverträge herkömmlichen Musters bieten keine ausreichenden Möglichkeiten für differenzierte Lohnabschlüsse nach Branchen und Regionen, was angesichts deren unterschiedlicher wirtschaftlicher Lage sinnvoll wäre. Neue Formen von Rahmenvereinbarungen der Tarifparteien könnten einen zusätzlichen Spielraum für die Belegschaft und Unternehmensführung einzelner Betriebe schaffen, Tarifabkommen individuell auszugestalten. 32. Bundesparteitag der CDU, 9.-11.5.1984, Protokollanhang: Stuttgarter Leitsätze „Deutschlands Zukunft als moderne und humane Industrienation“, Ziffer 41
Aus dem Zusammenspiel von innerem und äußerem Legitimationsdruck, zu erkennen im übrigen auch an sinkenden Mitgliederzahlen seit Ende der 1970er Jahre, ergab sich für die Tarifpolitiker der Gewerkschaften eine ganz spezifische Krisenwahrnehmung. Dieser Krise galt es entgegenzutreten mit Aktionen, die den Arbeitnehmern wie auch der Bundesregierung die nach wie vor bestehende Kampfbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit demonstrierte. Solche Aktionen wiederum ließen sich aber nur durch außergewöhnliche Forderungen rechtfertigen; ausufernde Arbeitskämpfe um die üblichen prozentualen Lohnsteigerungen hätten sich weder den Mitgliedern noch anderen Beteiligten und Beobachtern vermitteln lassen. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung der Gewerkschaften IG Metall (und zeitgleich der IG Druck und Papier) nach Einführung der 35-Stunden-Woche zu sehen als Generalabrechnung der erlittenen ökonomischen und politischen Krisenverluste der Vorjahre (Hautsch et al. 1984: 43). c)
Der Arbeitskampf 1984 um die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie
Die Besonderheit des Tarifkonflikts 1984 der Metallindustrie ergibt sich mithin aus beiden Strängen. Seine inhaltliche Hauptforderung unterschied sich gravierend von den bisher gewohnten Tarifrunden; auch war er darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit deutlich politischen Zügen. Die Form des Arbeitskampfes machte zudem einerseits die gestiegene Produktionsverflechtung und die sich daraus ergebende vermehrte Störanfälligkeit der Produktion in der Metall-Branche, andererseits aber auch die sich aus der Verflechtung ergebenden neuen Arbeitskampfmöglichkeiten und -risiken der Konfliktparteien sichtbar. Darauf, dass auch das Ergebnis des Konflikts für seine Schlüsselposition in der Entwicklungsgeschichte der deutschen industriellen Beziehungen spricht, wird zurückzukommen sein. Es wurde bereits angedeutet, dass für die IG Metall der Vorteil der MinimaxTaktik im Arbeitskampf darin bestand, mit relativ geringem Streikaufwand in einzelnen, oft kleinen Zulieferbetrieben beträchtliche Fernwirkungen, insbesondere Produktionsstilllegungen in großen Abnehmerbetrieben hervorrufen zu können. Dieser ge-
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ringe Aufwand bezieht sich primär auf den finanziellen Aspekt des Arbeitskampfes: nur einer verhältnismäßig kleinen Gruppe aktiv streikender Gewerkschaftsmitglieder in den Zulieferbetrieben stehen satzungsgemäß Streikunterstützungen der Gewerkschaft zu, nicht aber den Beschäftigten in Unternehmen, in denen als Fernwirkung eines solchen Streikes über kurz oder lang die Produktion zum Erliegen kommt. Nach zu Beginn des Arbeitskampfes 1984 geltendem Recht hatten diese so genannten mittelbar betroffenen Arbeitnehmer jedoch Anspruch auf Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit, sofern sie in einem Unternehmen beschäftigt waren, das zwar ggf. zum gleichen fachlichen Tarifbereich, nicht aber zum Einzugsgebiet des umkämpften Tarifvertrages gehörte.50 Insofern entsteht einer streikführenden Gewerkschaft in der Tat kein finanzieller Aufwand durch Zahlung von Streikunterstützung an mittelbar betroffene, kalt ausgesperrte Arbeitnehmer. Oft übersehen wird jedoch der Aufwand, den Gewerkschaften zu betreiben haben, um ausreichende Akzeptanz bei den mittelbar Betroffenen zu gewinnen für einen Arbeitskampf, auf dessen Entwicklung die so Betroffenen aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit zum umkämpften Tarifgebiet keinen Einfluss haben. Dass sich diese Akzeptanz nicht von allein einstellt, sondern aktiv hervorgerufen werden muss, ist anzunehmen: Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit (Kurzarbeitergeld bei vorübergehendem Produktionsstopp, Arbeitslosengeld im Falle der Entlassung aufgrund der Betriebsstilllegung) stellen in jedem Fall einen nicht unerheblichen individuellen Einkommensverlust dar. Dass der Tarifkonflikt 1983/84 in der Metallindustrie unvermeidlich in einen Arbeitskampf münden würde, war aufgrund seines beschriebenen hohen politischen und tarifpolitischen Symbolgehalts beizeiten abzusehen. Infolge der eingangs dargestellten 50
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Die vor Beginn des Tarifkonflikts 1984 geltende Rechtslage war folgende: Nach § 116 Absatz 3 AFG in der Fassung von 1969 hatte ein Arbeitnehmer Anspruch auf Lohnersatzleistungen bei mittelbarer Arbeitskampfbetroffenheit, es sei denn, er unterlag selbst dem Ergebnis des Arbeitskampfes oder er wurde durch den Bezug der Lohnersatzleistung in die Lage versetzt, den Arbeitskampf, von dem er mittelbar betroffen ist, selbst zu beeinflussen. Diese beiden Einschränkungen waren im Interesse der Anwendbarkeit des Paragraphen generalklauselartig gehalten; die Bundesanstalt für Arbeit wurde zum situativen Erlass konkretisierender Anordnungen ermächtigt. Von dieser Ermächtigung machte die Bundesanstalt für Arbeit einige Zeit später Gebrauch. Der so genannten Neutralitätsanordnung der BA vom 22.3.1973 zufolge ruhte der Anspruch auf Lohnersatzleistungen bei mittelbarer Arbeitskampfbetroffenheit, wenn der mittelbare betroffene Arbeitnehmer in einem Unternehmen beschäftigt war, das zwar nicht dem räumlichen, aber dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zuzuordnen war und wenn für dieses Unternehmen in einer anderen, eigenständigen Tarifauseinandersetzung nach Art und Umfang gleiche Forderungen erhoben wurden und nach Art und Umfang gleiche Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden sollten wie in jenem Tarifkonflikt, der die mittelbare Betroffenheit ausgelöst hat. Einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 9.9.1975 (BSGE 40, 190ff.) zufolge war diese Neutralitätsanordnung der BA allerdings nichtig (Schwerdtfeger 1990: 17ff.). Da die Entscheidung bis 1984 die einzige höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage blieb (Jox 1991: 11), konnte die IG Metall in ihren Arbeitskampfvorbereitungen 1983/84 mit einiger Berechtigung davon ausgehen (und ihre Strategie entsprechend ausrichten), dass die BA zur Zahlung von Lohnersatzleistungen an kalt Ausgesperrte außerhalb der umkämpften Tarifgebiete verpflichtet sei (Mechelhoff 1985: 75).
beiden großen Entwicklungslinien – der Dezentralisierung und Regionalisierung der Tarifvertragslandschaft einerseits und der Abkehr von umfangreicher Lagerhaltung andererseits – war im Tarifkonflikt 1984 auch von vornherein mit weiter als gewohnt ausstrahlenden und mit eher als gewohnt einsetzenden Fernwirkungen außerhalb der umkämpften beiden Tarifgebiete Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen zu rechnen. Auch war zu erwarten, dass die Arbeitgeber ihrerseits – wie schon in früheren Auseinandersetzungen – kollektiv und aktiv das Mittel der kalten Aussperrung nutzen würden, um derart den „moralischen“ Druck auf die IG Metall im Arbeitskampfgebiet zu erhöhen. Mit kollektiver und aktiver Nutzung des Arbeitskampfmittels „kalte Aussperrung“ ist dabei der (inzwischen vielfach nachgewiesene, vgl. etwa Bobke 1985; Stamm 1985: 50; Hindrichs et al. 1990: 213) Umstand gemeint, dass Arbeitgeber untereinander abgestimmt mit Verweis auf ausbleibende Lieferungen oder Warenabnahmen ihren Betrieb bereits zu einem Zeitpunkt (partiell) stilllegen, zu dem ein Abreißen der zwischenbetrieblichen Liefer- und Produktionskette noch nicht zwingend nötig ist. Nicht gerechnet aber hatte die Streikführung der IG Metall augenscheinlich damit, dass der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit den zuständigen Arbeitsämtern die Zahlung von Lohnersatzleistungen an kalt Ausgesperrte untersagen würde (Bahnmüller 1985: 113; Hautsch et al. 1984: 79). Er rechtfertigte diese Maßnahme damit, dass die IG Metall in allen, also auch den aktuell nicht umkämpften Tarifgebieten ersichtlich eine nach Art und Umfang gleiche Hauptforderung, nämlich die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, erheben wolle, was die Zahlung von Lohnersatzleistungen ausschließe. Mit dieser Begründung bezog er sich auf die – 1975 jedoch höchstrichterlich für unwirksam erklärte (siehe Fußnote 50) – Neutralitätsanordnung der Bundesanstalt aus dem Jahr 1973. Durch diesen so genannten Franke-Erlass vom 18. Mai 1984 änderten sich vier Tage nach Streikbeginn die Arbeitskampfbedingungen der IG Metall ebenso schlagartig wie tief greifend. Kalte Aussperrung war durch diesen Erlass unversehens von einem weichen, moralischen zu einem handfesten ökonomischen Druckmittel der koordinierten Arbeitgeber geworden. Sie nutzten dieses Mittel exzessiv: 57.500 Streikenden und 170.000 heiß, also im umkämpften Tarifgebiet in nicht bestreikten Betrieben Ausgesperrten standen 372.000 kalt Ausgesperrte51 gegenüber, die weder Anspruch auf Lohn noch auf Lohnersatzleistungen noch auf gewerkschaftliche Unterstützung hatten. Die IG Metall geriet so in massive Bedrängnis. Sie musste befürchten, dass diese kalt Ausgesperrten (oder zumindest die IG Metall-Mitglieder unter ihnen) entweder finanzielle Unterstützung ähnlich der für Streikende und heiß Ausgesperrte einforderten oder (unter weitgehender Preisgabe der Streikziele) auf ein rasches Ende des Arbeitskampfes drängten (Unterhinninghofen 1986: 22). Ersteres hätte die Finanzkraft der IG Metall schnell überfordert (Hindrichs et al. 1990: 210), letzteres ange51
http://www2.igmetall.de/homepages/bremerhaven/dieigmetallstelltsichvor/streikundaussperrung. html; Abruf: 8.1.2008
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sichts der starken Politisierung im Vorfeld des Arbeitskampfes einen massiven Ansehensverlust bedeutet und die Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit der IG Metall auf lange Sicht stark geschädigt. Um dieser Bedrängnis zu entkommen, beantragte die IG Metall umgehend vor mehreren Gerichten einstweilige Anordnungen gegen den Franke-Erlass. Zudem rief sie für den 28.05. 1984 zum „Marsch auf Bonn“ auf, für den dann auch fast eine Viertelmillion Teilnehmer mobilisiert werden konnte. Beides politisierte die Auseinandersetzung freilich nochmals erheblich. Zur Hauptforderung 35-Stunden-Woche kam nun die nicht minder grundsätzliche Frage der Zulässigkeit von Lohnersatzleistungen für kalt Ausgesperrte, die zudem – anders als die Arbeitszeitfrage – nicht mit einem Kompromiss geklärt werden konnte. Die Unsicherheit infolge divergierender Interpretationen der Neutralitätspflicht der Bundesanstalt hatte so das Potential, die Kampfkraft der IG Metall überhaupt, zumindest aber im stattfindenden Tarifkonflikt massiv zu schädigen. In dieser Phase der Auseinandersetzung erwies sich, dass das gewerkschaftliche Ziel der 35-Stunden-Woche bei der Basis längst nicht so stark verankert war, wie es für die angewandte Arbeitskampftaktik hilfreich gewesen wäre. Jedenfalls waren viele Belegschaften nicht bereit, für dieses Ziel das Risiko eines vollständigen Einkommensverlustes in Kauf zu nehmen, das sich aus dem Zusammenspiel von kalter Aussperrung und Franke-Erlass ergab. Vielmehr verlangten viele Belegschaften von Unternehmen, die nicht aktiv bestreikt wurden, sondern durch (vermeintliche) Materialknappheit die Produktion einstellten, von der Streikführung der IG Metall, aktiv in den Arbeitskampf einbezogen zu werden, um so die bestehende Unsicherheit hinsichtlich ihrer Lohnersatzansprüche zu überwinden. Um eine Spaltung der Mitglieder zu verhindern, gab die Streikführung diesem Drängen nach einigem Zögern statt, jedoch nur für kalt Ausgesperrte in den umkämpften Tarifgebieten Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen. Die Konsequenz dieser Entscheidung war, trotz ihrer räumlichen Einschränkung, ein ungeplanter, erheblicher finanzieller Mehraufwand. Denn die derart nachträglich einbezogenen Belegschaften waren vor allem in Großunternehmen beschäftigt (z.B. Daimler-Benz in Sindelfingen: 38.000 Beschäftigte), die ja ursprünglich der Minimax-Strategie folgend gerade ihrer Größe wegen nicht aktiv bestreikt werden sollten. Damit wird deutlich: der Franke-Erlass, also die Verweigerung von Lohnersatzleistungen an kalt Ausgesperrte außerhalb des umkämpften Tarifgebietes, hatte unbestritten großen Einfluss auf den Verlauf des Arbeitskampfes. Erst vier lange Wochen nach dem Erlass lag die erste der gerichtlich beantragten einstweiligen Anordnungen vor, mit denen Beschäftigte und IGM-Streikführung zumindest vorübergehend in Fragen der Lohnersatzpflicht der BA und damit auch in Fragen der Finanzierung des Arbeitskampfes wieder einige Planungssicherheit erlangten.52 Insbesondere aber die Unsicherheit während dieser vier Wochen dürfte prägend 52
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Vom Sozialgericht Frankfurt/Main wurde der Franke-Erlass am 12.6., vom Sozialgericht Bremen am 15.6., vom Sozialgericht Münster am 20.6. und von den Landessozialgerichten Hessen und Bremen am 22.6.1984 einstweilig aufgehoben.
gewesen sein für den Tarifkonflikt. Nach eigenen Angaben hatte die IG Metall im Tarifkonflikt 1984 Ausgaben von 502 Mio. DM. Davon entfielen 325 Mio. DM auf Unterstützungsleistungen für Streik und Aussperrung (Benda 1986: 49). Dieser Betrag hätte sich, wären die kalt ausgesperrten IGM-Mitglieder außerhalb des umkämpften Tarifgebiets in die Zahlungen einbezogen worden, verdoppelt (Hindrichs et al. 1990: 210). Unmittelbar nach den ersten einstweiligen Aufhebungen des Erlasses wurden die abgebrochenen Tarifverhandlungen wieder aufgenommen. Beide Konfliktseiten hätten aus einer weiteren Eskalation des Arbeitskampfes keinen nennenswerten Vorteil mehr ziehen können. Die IG Metall hatte sich in den zurückliegenden Wochen finanziell bereits weitgehend erschöpft, für die Arbeitgeberseite hatte das Mittel der kalten Aussperrung außerhalb des umkämpften Tarifgebietes seine ökonomische Wirksamkeit wieder weitgehend verloren. Im Schlichtungsverfahren kam ein Kompromiss zustande; Anfang Juli 1984 wurde der Arbeitskampf nach sieben Wochen beendet. Gemeinhin wird das Ergebnis dieses wohl heftigsten Arbeitskampfes in der Geschichte der Bundesrepublik nicht als Sieg der IG Metall gewertet (Vobruba 1985). Sie hatte trotz des immensen, teilweise unfreiwilligen Aufwandes ihr Hauptziel, die 35Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, verfehlt und auch die letztendlich vereinbarte Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden wöchentlich nur erreicht durch weitreichende Konzessionen an die Arbeitgeber, denen erheblich erweiterte betriebliche Spielräume bei der Arbeitszeitgestaltung eingeräumt wurden. Angesichts dieser Niederlage – deutliche Arbeitszeitflexibilisierung statt deutlicher Arbeitszeitverkürzung – wog der Umstand umso schwerer, dass sich die IG Metall zumindest in der Frage des Lohnersatzes für kalt Ausgesperrte hatte durchsetzen können. Doch auch das erwies sich langfristig als Trugschluss. Zwar wurden die ergangenen einstweiligen Anordnungen in den jeweiligen Hauptsacheverfahren bestätigt53, dies allerdings erst, nachdem die geltende Rechtslage bereits gesetzgeberisch geändert worden und Richterrecht mithin unerheblich geworden war. 2.
Neufassung des § 116 AFG
Gesetzgeberisch geändert wurde die Rechtslage durch die Neufassung des § 116 AFG. In der rechtswissenschaftlichen Aufarbeitung der Novellierung wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass es dieser Gesetzesänderungen nicht bedurft hätte (z.B. Benda 1986: 215; Mückenberger 1992: 29; Schwerdtfeger 1990: 21). Bereits mit Urteil des Bundessozialgerichts vom September 1975 war ja die Neutralitätsanordnung der BA von 1973, auf die sich der Franke-Erlass im Mai 1984 berief, höchstrichterlich für 53
Sozialgericht Frankfurt: 1986, Landessozialgericht Hessen: 1989, Landessozialgericht Bremen: 1988
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nichtig erklärt worden. Auch war durch die anhängigen Hauptsacheverfahren vor den Landessozialgerichten Hessen und Bremen eine abschließende, verbindliche Rechtsauslegung zu erwarten. Ein durch Gesetz zu befriedigendes Klarstellungsbedürfnis war insoweit nicht mehr vorhanden. Gerade als „Klarstellung des gesetzgeberischen Willens“54 aber deklarierte die Bundesregierung das Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen, also die Neufassung des § 116 AFG. Die Bundesregierung ist legitimiert, sich durch Gesetzgebung über bereits erfolgte höchstrichterliche Rechtsprechung hinwegzusetzen und bevorstehender weiterer höchstrichterlicher Rechtsprechung zuvor zu kommen. Im vorliegenden Fall bleibt jedoch zu fragen, warum sie es tat im Grenzbereich von Sozial-, Arbeitskampfund Tarifrecht, in dem die Gefahr der konfliktauslösenden Berührung tarifautonomer Belange sehr groß ist und in dem gesetzliche Regelungen üblicherweise allenfalls der Rahmensetzung dienen, ihre Auslegung aber dem Richterrecht überlassen bleibt. Allein diese Abweichung von der gewohnten Zurückhaltung des Gesetzgebers spricht für ein Interesse der Bundesregierung, das über ein reines Klarstellungsbedürfnis hinausgeht. Mehr noch: Mit ihrem Gesetzentwurf „präzisiert“ sie den § 116 inhaltlich im Sinne der Neutralitätsanordnung 1973 und des Franke-Erlasses, also gerade entgegen der höchstrichterlichen, inhaltlich durchaus abschließend klärenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und entgegen der im Arbeitskampf 1984 ergangenen einstweiligen Anordnungen zweier Landessozialgerichte, und damit zu Ungunsten streikführender Gewerkschaften.55 Im parlamentarischen Diskurs stand denn auch, neben der äußerst heftig geführten Auseinandersetzung um eigentliches Ausmaß, Intentionen und Folgen der Neufassung, der offizielle Begründungszusammenhang der Gesetzesinitiative – Klarstellung oder Änderung? – im Vordergrund. Der Begriff „Tarifautonomie“ spielte dabei eine zentrale Rolle. Den Überlegungen in Kapitel 6.3 folgend war zu erwarten, dass staatliche Akteure das Gesetzgebungsverfahren zur Neufassung des § 116 AFG kommunikativ begleiten mit einer diskursiven Relativierung der tarif-, also verbandsautonomen Aushandlung und Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen. Auf den ersten Blick findet man diese Vermutung jedoch nicht bestätigt. Im Gegenteil, eine funktionsfähige Tarifautonomie dient an prominenter Stelle als Bezugspunkt der Gesetzesinitiative. Im ersten Satz der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es: 54 55
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Gesetzentwurf vom 31.01.1986, BT-Drs. 10/4989, S. 5 De facto besteht der Unterschied zwischen Gesetzentwurf 1986 gegenüber der Neutralitätsanordnung 1973 in einer weicheren, auslegungsoffeneren Formulierung des Ruhenstatbestandes: Lt. NeutrAO 1973 entfällt der Lohnersatzanspruch, wenn im Tarifgebiet des mittelbar betroffenen Arbeitnehmer nach Art und Umfang gleiche Forderungen erhoben wurden wie in jenem Tarifkonflikt, der die mittelbare Betroffenheit ausgelöst hat (vgl. Fußnote 52.) Der Gesetzentwurf 1986 macht demgegenüber nach Art und Umfang annähernd gleiche Hauptforderungen zur Bedingung des Ruhenstatbestandes.
Die Neutralität des Staates bei Tarifauseinandersetzungen ist Voraussetzung einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Tarifautonomie bedingt Unparteilichkeit des Staates in Arbeitskämpfen. Diese Neutralitätspflicht gilt gleichermaßen für eine Körperschaft des öffentlichen Rechts wie die Bundesanstalt für Arbeit. [...] Diese Unsicherheit (infolge der seit 1969 erfolgten Rechtsprechung, T.F.) dient nicht dem sozialen Frieden. Bei der Austragung von Tarifkonflikten sind die Tarifvertragsparteien auf verläßliche Grundlagen hinsichtlich der Unparteilichkeit des Staates bei Arbeitskämpfen angewiesen. Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen, BR-Drs. 600/85, 20.12.1985, S. 4-6
Augenscheinlich hatte sich die Bundesregierung für ein offensives Vorgehen entschieden. In den Monaten zuvor wurde die Thematik bereits außerparlamentarisch sehr öffentlichkeitswirksam diskutiert. Schon dabei hatte sich abgezeichnet, dass die Gegner des Gesetzentwurfes diesen unter anderem deshalb ablehnen würden, weil er eine gravierende Verletzung der Tarifautonomie darstelle. Indem die Bundesregierung nun die geplante Neufassung gerade in den Dienst einer funktionsfähigen Tarifautonomie stellte, hoffte sie offensichtlich, den parlamentarischen und außerparlamentarischen Gegnern eines der schlagkräftigsten Argumente entwenden und gegen sie wenden zu können. Bereits daran lässt sich die hegemoniale Stellung des Begriffs „Tarifautonomie“ im politischen Diskurs erkennen. Akteure auf beiden Seiten des parlamentarischen Diskurses (und erst recht des außerparlamentarischen Diskurses) waren sehr darauf bedacht, die nach wie vor dominante positive Konnotation des Begriffs für sich zu nutzen, zumindest aber keinen Ansehensverlust zu erleiden durch eine Missachtung der Tarifautonomie. In der Folge entbrannte (nicht nur, aber auch) im Bundestag ein regelrechter Kampf um die Deutungshoheit des Zusammenhangs von § 116 AFG und Tarifautonomie: Dient die Neufassung der Tarifautonomie oder verletzt sie sie? In allen drei Bundestagsdebatten, in denen die Neufassung des Paragraphen beraten wurde56, hielten Vertreter von Bundesregierung und Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP an ihrer offensiven Strategie fest. Seine Regierungserklärung zur Klarstellung der Neutralitätspflicht der Bundesanstalt für Arbeit im Arbeitskampf vom 12.12.1985 eröffnete der für das Gesetzgebungsverfahren federführend zuständige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in gleicher Weise wie den Gesetzentwurf: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tarifautonomie gehört zu unserem Rechts- und Sozialstaat. Geordnete Sozialbeziehungen dienen der Tarifpartnerschaft. Zu geordneten Sozialbeziehungen gehört in einer freiheitlichen Gesellschaft auch das Notventil des Arbeitskampfes. Das Streikrecht gehört zu unserer Freiheit. [...]
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12.12.1985: Regierungserklärung; 5.2.1986: erste Beratung; 20.3.1986: zweite und dritte Beratung.
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Wir brauchen starke Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für eine funktionsfähige, ordnungsstiftende Tarifautonomie. Es geht bei der Neuformulierung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes nicht um das Streikrecht, auch nicht um die Streikfähigkeit, sondern um die Neutralität der Bundesanstalt. Das ist nicht der Streikparagraph, das ist der Neutralitätsparagraph des Arbeitsförderungsgesetzes. Die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit war, ist und bleibt unverzichtbarer Bestandteil der Tarifautonomie. [...] Im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf in der Metallindustrie 1984 sind Auslegungsunterschiede zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und Sozialgerichten bei Verfahren auf Herbeiführung einer einstweiligen Anordnung entstanden. [...] Diese Unsicherheit dient nicht der Tarifautonomie. [...] Wir schaffen Klarheit, nicht Gewichtsverlagerung zwischen den Tarifpartnern. Was der Gesetzgeber 1969 wollte, das ist auch unsere Absicht. Wir machen eine Klarstellung, nicht gegen, sondern für die Tarifpartnerschaft. [...] Wir sichern im Interesse der Tarifautonomie die gesetzliche Neutralität gegen Missbrauch und Missverständnis. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/184, 12.12.1985
Derartig starke Betonungen der Tarifautonomie und Rechtfertigungen des Gesetzes „im Interesse der Tarifautonomie“ finden sich vielfach.57 Zuweilen werden diese Bekenntnisse zur Tarifautonomie mit der Sozialen Marktwirtschaft, einer weiteren, noch schwerer wiegenden hegemonialen Diskursformation, in Zusammenhang gebracht: Weil Agitation betrieben und nicht Information geliefert wird, muß ich einen Teil meiner kostbaren Zeit opfern, um noch einmal klarzustellen, um was es geht. Es geht ausschließlich um die Wahrung und Funktionsfähigkeit unseres freiheitlichen Tarifvertragsrechts. Um es ein für allemal klarzustellen: Tarifautonomie und Tariffreiheit sind nach liberaler Auffassung ein unverzichtbarer Bestandteil einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, unserer Sozialen Marktwirtschaft. Dieter-Julius Cronenberg, FDP-Fraktion, BT-PP 10/207, 20.03.1986
Durch diese Verknüpfung mit dem Konstrukt „Soziale Marktwirtschaft“ gelingt zweierlei. Einerseits lässt sich die postulierte Achtung der Tarifautonomie diskursiv absichern. Bezugnahmen auf die Soziale Marktwirtschaft sind weitgehend immun gegen Instrumentalisierungsbehauptungen; durch Deklarierung des Abstraktums Tarifautonomie als wesentliches Element der Soziale Marktwirtschaft kann diese Immunisierung auch auf die behauptete Wertschätzung der Tarifautonomie ausgedehnt werden.
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In diesem Sinne: am 12.12.85 außer Blüm (siehe Redesequenz oben) auch die Abgeordneten Müller (CDU, 13974A) und Scharrenbroich (CDU, 13986D); am 5.2.86 die Bundesminister Blüm (CDU, BM ArbSoz, 15145B-C) und Bangemann (FDP, BM Wi, 15165A-C) sowie die Abgeordneten Scharrenbroich (CDU, 15151A), Hauser (CDU, 15160Df.), und Kolb (CDU, 15173B); am 20.3.86: die Regierungsmitglieder Blüm (CDU, BM ArbSoz, CDU, 15840C-D) und Kohl (Bundeskanzler, CDU, 15863B-15865D) sowie die Abgeordneten Cronenberg (FDP, 15834B), Adam-Schwaetzer (FDP, 15853C) und Müller (CDU, 15858D).
Andererseits lässt sich durch diese Verknüpfung das abstrakte Konstrukt der Tarifautonomie in einen größeren Zusammenhang stellen und damit funktionalisieren. Tarifautonomie ist eben kein Wert für sich, sondern „nur“ ein Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft. Die Anbindung an das Konstrukt der Sozialen Marktwirtschaft ist damit der Schlüssel zum Verständnis der in den Plenardebatten oft, z.B in der Begründung des Gesetzentwurfes gebrauchten Formulierung einer „funktionsfähigen Tarifautonomie“. Damit muss sich die Tarifautonomie an ihrer Funktionsfähigkeit, an ihrer Funktionalität messen lassen. Dieser Begriff ist aber seinerseits wieder ausgesprochen unbestimmt und interpretationsoffen, sagt er doch nichts aus über das Bezugssystem, für dessen Erhalt die Tarifautonomie funktional zu sein hat. Gerade diese Unbestimmtheit aber versetzt staatliche Akteure in die Lage, imperative Maßnahmen zu rechtfertigen und gegen andere Interessen zu verteidigen. Der Umstand, dass der Gesetzgeber für die Wahrung einer „funktionsfähigen Tarifautonomie“ eine Gesetzesänderung für nötig hielt, spricht dafür, dass er die bestehenden tarifautonomen Modalitäten als nicht mehr ausreichend funktionsfähig erachtete. Daraus ergeben sich zwei Fragen. Erstens: Aufgrund welcher wahrgenommen bzw. erwarteten Entwicklungen kommt der Gesetzgeber zu der Einschätzung, die verbandsautonome Aushandlung und Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen verliere ihre Funktionalität? Und zweitens: Bei welchen Akteuren verortet er die Verantwortung für diesen Funktionalitätsverlust? Zu erstens: Wertet man die Plenarbeiträge im Hinblick auf die wahrgenommen Entwicklungen aus, dann zeigen sich zwei grundlegende Intentionen des Gesetzes, auf denen der offizielle und namensgebende Grund der Gesetzesinitiative, die Sicherstellung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit, allenfalls aufsitzt. Zum einen sprechen die Redner immer wieder den Wandel in der Produktion und den Wandel in der Arbeitswelt an: Meine Damen und Herren, wenn wir im Jahre 1969 die dynamische Entwicklung zu einer in hohem Maße arbeitsteiligen Volkswirtschaft mit geringer Fertigungstiefe und hoher Spezialisierung der Betriebe vorausgesehen hätten, hätten wir bereits damals, glaube ich, eine schärfere Fassung des Tatbestandes des § 116 Abs. 3 vorgenommen. Den damals nicht vorhersehbaren Schwierigkeiten tragen wir heute durch eine klarstellende Neufassung Rechnung. Adolf Müller, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/184, 12.12.85 Aber, so frage ich, ist Arbeitskampf im Jahre 2000 noch dasselbe wie vor 50 Jahren? Die Verflechtung der Wirtschaft hat zugenommen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten der Betriebe sind größer geworden. Das hat die Produktivität unserer Gesellschaft gefördert, aber auch ihre Störanfälligkeit erhöht. An der richtigen Stelle angesetzt kann der Arbeitskampf heute die Wirkung einer volkswirtschaftlichen Lawine haben. Kleine Ursachen, große Wirkungen - das ist das Baumuster von Minimax. Minimax ist jedoch nicht nur eine Versuchung für die Gewerkschaften; auch Unternehmerverbände können mit Minimax-
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Aussperrungen Gewerkschaften ausbluten. Jede Seite hat das Vernichtungspotential, welches ausreicht, den Kontrahenten k.o. zu schlagen. Angst breitet sich deshalb auf beiden Seiten aus. Angst ist ein schlechter Ratgeber, eine schlechte Basis für Tarifpartnerschaft. Sie ist der Stoff, aus dem der Klassenkampf seinen Nachschub erhält. Was läge in einer solchen Situation näher, als daß sich die Tarifpartner wechselseitig die Angst nehmen, indem sie sich an einen Tisch setzen und auf neue Turnierregeln verständigen? Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/207, 20.03.1986 Wir stehen gegenwärtig – und Sie wissen das genauso gut wie ich – nicht nur mitten in einem anhaltenden und tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel; wir sehen auch, wie sich in breiten Bereichen unserer Wirtschaft die Arbeitswelt durch den Einzug neuer Techniken grundlegend zu verändern beginnt. Von allen diesen weitreichenden Veränderungen, die sich für jedermann erkennbar abzeichnen, werden Aufgaben und Selbstverständnis der Arbeitgeber und der Gewerkschaften mit geprägt Die Frage muß sich doch stellen, bei aller Heftigkeit dieser Debatte: Sollten wir uns diesen neuen Herausforderungen nicht gemeinsam. d. h. im Dialog, stellen? Niemand, weder Unternehmer noch Gewerkschaftsführer noch die Regierung, kann für sich in Anspruch nehmen, daß er solche Aufgaben für sich allein meistern kann. Hier sind neue gemeinsame Kraftanstrengungen notwendig, wenn wir das bisher Erreichte halten, ja wenn wir es ausbauen wollen. Nur so können wir, glaube ich, Arbeitsplätze und Beschäftigung über den Tag hinaus sichern. Helmut Kohl (CDU), Bundeskanzler, BT-PP 10/207, 20.03.1986
In frappierender Offenheit kommt in diesen Redesequenzen das Basisanliegen der Bundesregierung zum Ausdruck, das auch Antrieb für die Neufassung des § 116 AFG ist. Ihr geht es primär darum, die inländischen Kapitalverwertungsbedingungen so stabil und berechenbar wie möglich zu halten, was in der Bundesrepublik in der Mitte der 1980er Jahre eben auch bedeutet, den forcierten Wandel der Produktionsstrukturen und -strategien vor Gegentendenzen zu schützen. Vor diesem Hintergrund hält es die Bundesregierung für erforderlich, dass sich auch die Handlungsbedingungen der Tarifverbände den sich nachhaltig ändernden wirtschaftlichen Bedingungen anpassen. Das heißt: Für die Bundesregierung ist „die Tarifautonomie“ dann funktionsfähig, wenn sie Arbeitsbedingungen in einer Weise aushandelt und ausgestaltet, die auf die sich verstärkende Störanfälligkeit der sich etablierenden Produktionsverflechtung, letztlich also auf die aktuellen Kapitalverwertungsstrategien der Arbeitgeberseite Rücksicht nimmt. Bei der Verfolgung dieses Ziels unterstreichen die Regierungsmitglieder dabei durchaus ihren Willen zur kooperativen Verhaltensabstimmung, betonen aber – gewissermaßen für den Fall der Uneinsichtigkeit der tarifautonomen Akteure – zugleich ihre Bereitschaft, imperativ vorzugehen. Die Redner selbst bringen die Neufassung des § 116 AFG ausdrücklich mit der Dynamik der Produktionsentwicklung und der Störanfälligkeit der Produktionsverflechtung in Verbindung. Damit zielt die Neufassung des § 116 AFG – freilich über einen weiten sozialrechtlichen Umweg, aber aus den Plenarbeiträgen eindeutig ableitbar – auf die Anpassung der Verhaltens-
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bedingungen der Wirtschaftsverbände im tarifautonomen Raum. Das ist kaum kompatibel mit der Vorstellung unbeeinflussten Verbandshandelns, sondern nur vereinbar mit der Vorstellung einer im Interesse der neuen Produktionsstrukturen gesteuerten, begrenzten und nur deshalb „funktionsfähigen Tarifautonomie“. Diese erste Intention – Stabilisierung der Kapitalverwertungsbedingungen – wird ergänzt durch das Interesse der Bundesregierung an eigenen möglichst beständigen, berechenbaren Handlungsbedingungen. Es geht also gleichsam um die Stabilisierung der mit dem Wirtschaftsgeschehen eng verflochtenen staatlichen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten. Auf einer eher abstrakten Ebene meint dies zunächst die dem tarifautonomen Handeln zugeschriebenen Effekte auf das Verhalten von Investoren und Konsumenten, von dem wiederum politisch relevante, vor allem fiskalische Folgewirkungen ausgehen können. Wie wichtig dieser Aspekt der Bundesregierung war, zeigt gerade die Aufarbeitung jenes Tarifkonflikts 1984, der ja als Auslöser der Neufassung § 116 AFG gilt: Die Chancen zu einer noch günstigeren wirtschaftlichen Entwicklung [...] konnten vor allem wegen des Arbeitskampfes in der Druck- und Metallindustrie nicht genutzt werden. Arbeitskämpfe sind in einem demokratischen Staat und in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ein legitimes Mittel in Tarifauseinandersetzungen, doch muß jeweils das voraussichtliche Ergebnis mit den möglichen gesamtwirtschaftlichen Verlusten abgewogen werden. Im vergangenen Jahr [1984, T.F.] schlugen nicht nur die direkten und mittelbaren Produktionsausfälle negativ zu Buche, sondern es kam auch bereits im Vorfeld zu Unsicherheiten, die in- und ausländische Kunden zeitweise zur Zurückhaltung bei Bestellungen veranlaßten. So disponierten Unternehmen und Haushaltungen schon vor dem tatsächlichen Beginn des Arbeitskampfes vorsichtiger. Ursprünglich beabsichtigte Einstellungen von Arbeitnehmern unterblieben. Einkommensausfälle führten zu erheblichen Nachfrageverlusten. Das wirtschaftliche Klima verschlechterte sich vorübergehend drastisch. Staat und Sozialversicherung erlitten Steuer- und Beitragseinbußen. Das Bruttosozialprodukt fiel aus diesen Gründen im zweiten Vierteljahr saisonbereinigt vorübergehend deutlich zurück, wodurch auch das Jahresergebnis beeinträchtigt wurde. Jahreswirtschaftsbericht 1985 der Bundesregierung, Zf. 3, (BT-Drs. 10/2817, 30.1.1985)
Neben solchen – abstrakt benenn-, aber zwangsläufig nur schwer bezifferbaren – Einnahmeausfällen des Staates durch arbeitskampfbedingt entgangene Einnahmen zeigt sich die staatliche Abhängigkeit konkret als Interdependenz des Systems sozialer Sicherung und der Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Das schließt die tarifautonomen Aushandlungsprozesse der Arbeitsbedingungen mit ein. Denn nach den Vorgaben des § 116 AFG a.F. haben die zunehmenden Fernwirkungen eines Arbeitskampfes auf Produktionsketten ihrerseits wieder Fernwirkungen auf die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit und damit mittelbar auf die Haushaltslage des Bundes. Es ist somit plausibel, gerade im Kontext des übergeordneten politischen Ziels „Haushaltssanie-
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rung“58 in der Begrenzung öffentlicher Ausgaben ein zweites Ziel der Gesetzesinitiative zu sehen. Im Gesetzentwurf bleibt die obligatorische Frage nach den finanziellen Auswirkungen der Neufassung noch unbeantwortet („lässt sich nicht abschätzen.“59). In der Beschlussempfehlung des federführend zuständigen Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vertreten die Mitglieder der Regierungsfraktionen die Auffassung, der Gesetzentwurf habe keine finanziellen Auswirkungen.60 Vor dem Hintergrund dieser Meinung überrascht die Eindringlichkeit, mit der Regierungsvertreter in den Bundestagsdebatten finanzielle Aspekte als relevant für die Tarifautonomie und die Neutralität der BA und damit für die Gesetzesänderung thematisieren: Die Beiträge, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach Nürnberg zahlen, brauchen wir, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und Arbeitslose zu unterstützen. Auch die Steuerzahler werden zur Kasse gebeten, wenn die Beitragszahlungen für diese Aufgabe nicht ausreichen. 1981 mußte der Bund über 8 Milliarden DM zahlen, 1982 7 Milliarden DM, 1983 1,5 Milliarden DM. Das Geld in der Nürnberger Kasse ist weder das Geld der Gewerkschaften noch das Geld des Arbeitgeberverbandes. […] Das wäre in der Tat der Höhepunkt einer Minimax-Taktik: Mit minimalem Einsatz schieben die Gewerkschaften maximale Folgen in die allgemeinen Kassen. Das kann nicht im Sinne der Kampfparität gemeint sein. Die Gewerkschaften können streiken, wie sie wollen, aber sie können nicht erwarten, daß wir für alle Folgen aufkommen. Gewerkschaften und Arbeitgeber sind nicht nur für Streikende und Ausgesperrte verantwortlich, sie können auch nicht vor den Folgen ihrer Arbeitskampftaktik die Augen verschließen und sagen: Dafür ist die Allgemeinheit zuständig. Das wäre eine Nach-uns-die-Sintflut-Gesinnung, und die ist unsolidarisch. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/196, 05.02.1986 Meine Damen und Herren, hier geht es darum, daß sich weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer unrechtmäßig mit Mitteln zur Veränderung ihrer Kampfkraft zu Lasten eines anderen versorgen können. Das wäre das Ende der Tarifautonomie. Hansheinz Hauser, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/196, 05.02.1986 Eines müssen wir als Parlament hier sicherstellen. Falsches Verhalten der Tarifpartner kann nicht mit Hilfe der Steuerkasse oder der Sozialkassen erledigt werden. […] Deswegen [...] sollten wir die Tarifpartner in Zukunft wieder ein bißchen mehr an ihre eigene Verantwortung erinnern; dies sage ich beiden Seiten. Es hat nämlich auch in der Vergangenheit […] sehr viele gegeben, die die zweite Unterschrift ganz fahrlässig geleistet haben und dann, wenn es schwierig wurde, entweder zum Bund oder zu den Ländern 58 59 60
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Vgl. dazu etwa Jahreswirtschaftsbericht 1986 der Bundesregierung: 12 Gesetzentwurf vom 31. 1.1986, BT-Drs. 10/4989, S. 2 Hingegen führt der Gesetzentwurf nach Ansicht der Oppositionsfraktionen SPD und GRÜNE zu Minderausgaben bei der (nötigenfalls mit Bundesmitteln unterstützten) Bundesanstalt für Arbeit durch Leistungseinschränkungen, denen entsprechende Mehrausgaben bei den (nicht bundesfinanzierten) Sozialhilfeträgern gegenüberstehen (BT-Drs. 10/5214, S. 4).
kamen und sagten: Hilf mir aus diesen Schwierigkeiten, in die ich mich selbst hineinbegeben habe. Die Tarifhoheit ist ein hohes Gut. Aber sie sollte auch von denen, die sie fordern, respektiert werden. Man sollte uns nicht sozusagen zum Helfershelfer beim Plündern der Nürnberger Kasse machen. Elmar Kolb, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/196, 05.02.1986 Das Geld der Bundesanstalt wird benötigt für die Unterstützung der Arbeitslosen, für die Unterstützung der Kurzarbeiter, für die Umschulung und Fortbildung, für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für die Eingliederungshilfen für ältere Arbeitnehmer, für die Lohnkostenzuschüsse für behinderte Arbeitnehmer, für schwer vermittelbare Jugendliche, für Rehabilitation, für Berufsberatung. Dafür müssen wir unser Geld zusammenhalten. Würden wir den Tarifpartnern ermöglichen, jedes Arbeitskampfrisiko auf die Bundesanstalt abzuladen, würden sie bestimmen, wann wir die Beiträge erhöhen müßten, ob wir die Leistungen kürzen müßten oder ob der Steuerzahler mehr zuschießen müßte. Das bleibt allerdings in der Verantwortung dieses Parlamentes. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/207, 20.03.1986 Die Regelung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes soll die neutrale Rolle des Staates im Arbeitskampf sichern, nicht mehr und nicht weniger. Niemand, weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber, noch irgendeine andere gesellschaftliche Gruppe dieses Landes, kann einseitige Vorteile für sich in Anspruch nehmen, um deren Durchsetzung anschließend vom Staat finanzieren zu lassen. Helmut Kohl (CDU), Bundeskanzler, BT-PP 10/207, 20.03.1986
Zu zweitens: Wertet man die Plenarbeiträge im Hinblick darauf aus, bei welchen Akteuren die Verantwortung für die wahrgenommen Entwicklungen verortet wird, dann kristallisieren sich ebenfalls zwei Stoßrichtungen heraus: einerseits die Gewerkschaften, andererseits die Sozialgerichte. Bereits aus den oben zitierten Redesequenzen wurde teilweise recht deutlich, dass die Mitglieder der Regierung(-sfraktionen) die Verantwortung für die Gefahr des Funktionalitätsverlustes der Tarifautonomie in allererster Linie den Tarifverbänden, und hier wiederum hauptsächlich den Gewerkschaften zuschreiben. Dabei überrascht kaum dieser Umstand an sich, sondern vielmehr die Nachdrücklichkeit und Vehemenz der diesbezüglichen Äußerungen. Insbesondere weite Teile der Redebeiträge von Bundesminister Blüm61 sind heftige, oft sehr emotional anmutende Angriffe auf die Gewerkschaften. Sie sind damit eine Fortsetzung des scharfen außerparlamentarischen Schlagabtauschs zwischen Gewerkschaften und Bundesregierung um die Neufassung des § 116 AFG, bei dem – das sei der Vollständigkeit halber erwähnt – sich auch die Gewerkschaften nicht immer nur sachlich und nüchtern äußerten. Diese „Gewerkschaftsbeschimpfungen“ des Ministers (so die wiederholten Zwischenrufe aus den Reihen der Opposition) waren kaum vereinbar mit der oben be61
Im Einzelnen: 12.12.85: 13965A ff., 13970B, 5.2.86: 15144B f., 20.3.86: 15839C-15144A. Sinngemäß äußerte sich auch Bundeskanzler Kohl 15863C-D.
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schriebenen postulierten Wertschätzung der Tarifautonomie. Es erscheint paradox, zeitgleich einerseits beharrlich das Abstraktum „Tarifautonomie“ positiv zu betonen und andererseits eindringlich und unentwegt auf die empfundene negative Rolle der Gewerkschaften, die ja wesentliches Element der Akteurskonstellation tarifautonomen Agierens sind, hinzuweisen. Überwunden werden sollte – so die Kalkulation – dieses Paradoxon, die Bedeutung der Tarifautonomie gegen die Gewerkschaften als Akteure der Tarifautonomie und gegen die parlamentarische Opposition ins Feld zu führen, durch eine diskursive Unterscheidung von Gewerkschaftsinteressen und Arbeitnehmerinteressen. 100 000 Unterschriften überreichten die IG Metaller am vergangenen Freitag dem Bundesrat. 100 000 Unterschriften, die mit der Behauptung zustande gekommen waren, daß es außerhalb des Kampfgebietes in Zukunft kein Kurzarbeitergeld mehr geben soll. Meine Damen und Herren. ich kann nur sagen: Das sind 100 000 Arbeitnehmerunterschriften gegen einen Phantomgegner. Da sind 100 000 Arbeitnehmer mit falschen Behauptungen zu Unterschriften bewegt worden. Das ist hunderttausendmal Arbeiterverdummung, nichts anderes als Arbeiterverdummung. […] Ich würde in der ersten Reihe der Demonstranten mitmarschieren, wenn das stimmen würde, was SPD und Gewerkschaften über die Regierung behaupten. Insofern kann ich die Erregung der Arbeitnehmer verstehen. Mein Vorwurf richtet sich nicht an die demonstrierenden Arbeitnehmer; mein Vorwurf richtet sich an die Verantwortlichen in SPD und Gewerkschaften, die mit falschen Behauptungen den guten Glauben der Arbeitnehmer missbrauchen. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/196, 5.2.86 Die Einigung ist nicht an der Bundesregierung gescheitert. Inzwischen weiß man es ja: Die IG Metall wollte und will den Krach, sie lebt von Konfrontation. […] Insofern waren die Demonstrationen des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 6. März dieses Jahres eine Kampagne der Arbeiterverdummung, eine Kampagne, wie ich sie bisher noch nicht kannte. Die größte Kampagne der Arbeiterverdummung wurde am 6. März 1986 durchgeführt! […] Zweitens. Die Debatte hat auch eine gewerkschaftliche Verlegenheit schmerzlich enthüllt. Der Streit zwischen IG Metall und Bundesanstalt für Arbeit ging 1984 um rund 200 Millionen DM Kurzarbeitergeld - wohlgemerkt: um rund 200 Millionen DM Kurzarbeitergeld - für die vom Arbeitskampf betroffenen Arbeitnehmer. Schätzungsweise achtmal mehr haben die Gewerkschaften bisher für die Neue Heimat bezahlen müssen, achtmal mehr als die Summe, um die es 1984 in dem Streit zwischen IG Metall und Bundesanstalt ging. Das Geld, das die Gewerkschaften für die Neue Heimat zugeschossen haben, war nicht für den gemeinwirtschaftlichen Teil, sondern für den kapitalistischen Teil. Deshalb schlage ich vor, daß der DGB seiner vorgesehenen Arbeitnehmerbefragung über § 116 AFG eine weitere Frage hinzufügt, nämlich die Frage: Kolleginnen und Kollegen, seid ihr damit einverstanden, dass die Gewerkschaften eure Beitragsgelder in Milliardenhöhe zur Sanierung der Neuen Heimat verwenden? Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/207, 20.3.86
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Übrigens stehen diese Redesequenzen auch für den Versuch des zuständigen Bundesministers, in einem persönlichen Dilemma das Gesicht zu wahren. Seine aktuelle politische Funktion als Bundesminister und die damit verbundenen Aufgaben wie etwa die Rechtfertigung der Neufassung § 116 AFG geriet sichtbar in Widerspruch zu seiner weithin bekannten, von ihm selbst oft instrumentalisierten Mitgliedschaft in der IG Metall. Jenseits solcher Äußerungen, die ja eher sachfern den bestehenden Konflikt mit den Gewerkschaften um die Neufassung des § 116 AFG thematisierten und hier vor allem deshalb zitiert wurden, um die Emotionalität und Vehemenz der Kontroverse zu verdeutlichen, finden sich vereinzelt auch konkrete akteursbezogene Hinweise auf die wahrgenommene Ursache der Neufassung von § 116 AFG. Deutlich geht daraus hervor, dass die Neufassung nicht die Handlungsbedingungen aller Gewerkschaften in gleicher Weise, sondern im Wesentlichen jene der IG Metall betrifft. Unumwunden stellen die Redner klar, dass die Gesetzesänderung eine unmittelbare Reaktion auf das Arbeitskampfgebaren der IG Metall ist. Die Neufassung § 116 AFG ist eine „lex IG Metall“ (Mückenberger 1992: 88ff.), weil zugeschnitten auf die spezifischen Produktionsketten in der metallverarbeitenden Industrie: Wen trifft in der Praxis dieser einzige Streitpunkt? Dieser einzige Streitpunkt kann nur dort auftreten, wo ein einheitlicher Fachbereich gegeben ist, dieser Fachbereich in regionale Tarifgebiete unterteilt ist, und wo – das ist das Wesentlichste – auf Grund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen diesen Tarifgebieten überhaupt mittelbare Auswirkungen denkbar sind. […] Deshalb […] trifft für die allermeisten Einzelgewerkschaften des DGB dieser einzige Streitpunkt nicht zu. Der trifft von 17 Einzelgewerkschaften des DGB im wesentlichen nur die IG Metall. Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/196, 5.2.1986 Zum § 116, meine Damen und Herren: Der § 116 ist überhaupt keine Frage des Deutschen Gewerkschaftsbundes, er ist eine Frage der IG Metall und hier speziell in der Automobilbranche. […] Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sollten jetzt nicht so beklagen, daß die Gewerkschaften insgesamt getroffen werden. Es ist lediglich die IG Metall, die hier getroffen wird. Elmar Kolb, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/196, 5.2.1986 Es kann auch nicht Sinn der Arbeitslosenversicherung sein, daß die IG Metall mit 10 000 streikenden Kolbenarbeitern rund 1 Million Automobilarbeiter und ihre Zulieferanten lahmlegt und wir für das gleiche tarifpolitische Ziel eine Kostenverteilung akzeptieren: Die IG Metall zahlt den 10 000 Streikenden das gewerkschaftliche Streikgeld, und Heinz Franke bezahlt für die restlichen 1 Million Arbeitnehmer das Kurzarbeitergeld. Diese Arbeitsteilung akzeptieren wir nicht, und sie ist auch nicht zu verantworten. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/207, 20.3.86
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Zu dieser ersten Richtung der Verantwortungszuweisung – Gewerkschaften, insbesondere IG Metall – kommt in den Redebeiträgen gelegentlich eine zweite hinzu. Wie oben beschrieben, war die Neutralitätsanordnung der BA von 1973 gerichtlich für nichtig erklärt und der darauf aufbauende Franke-Erlaß im Arbeitskampf 1984 gerichtlich einstweilig außer Vollzug gesetzt worden. Aus dem Umstand, dass die Entscheidungen in den Hauptverfahren, die einer einstweiligen Anordnung nachzufolgen haben, noch ausstanden, konstruierte die Bundesregierung einen Zustand der Rechtsunsicherheit. Diverse Redner brachten aber nicht nur ihre Unzufriedenheit mit der langsamen Arbeitsweise der Sozialgerichte zum Ausdruck, sondern auch ihre Unzufriedenheit mit dem Status Quo, den die Sozialgerichte geschaffen hatten und mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Hauptverfahren bestätigen würden: Diese Grundregel hat unterschiedliche Auslegung gefunden. Die Sozialgerichte in Hessen und Bremen haben „gleiche Forderungen“ mit „identischen Forderungen“ oder „fast identischen“ übersetzt. Das kann der Gesetzgeber nicht gemeint haben, das kann der Anordnungsgeber nicht gemeint haben. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 10/184, 12.12.85 Die restriktive und unhistorische Auslegung der Vorschrift des § 116 Abs. 3 durch einzelne Sozialgerichte zwingt uns heute zu einer vorbeugenden Klarstellung. Damit soll, wie bereits in dem Ausschußbericht des Jahres 1969 angedeutet, auch der Anreiz zu Schwerpunktstreiks genommen werden. Adolf Müller, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/184, 12.12.85 Wir schlagen eine Formulierung vor, die etwa folgendermaßen lautet: Es muß auf die Hauptforderung abgestellt werden, denn es kann ja nicht sein, daß irgendwelche belanglosen Nebenforderungen ausreichen, um die Identität zu zerstören. Wir müssen also auf die Hauptforderung abstellen. Wir müssen bei der Hauptforderung von dem Grundsatz der Identität, der vom Gesetzgeber nicht gewollt war, sondern der durch die Gerichtsurteile in den Willen des Gesetzgebers hineininterpretiert worden ist, weg. Wir müssen deutlich machen, daß wir nicht Identität wollen, sondern annähernde Gleichheit. […] Wir greifen nicht in schwebende Verfahren ein, sondern wir regeln einen allgemeinen Fall für künftige Streitfälle. Martin Bangemann (FDP), Bundesminister für Wirtschaft, BT-PP 10/184, 12.12.85 Ich frage aber: Wo und wann gibt es derart spiegelbildlich identische Verhältnisse in verschiedenen Tarifgebieten? Die Tarifwirklichkeit sagt uns: nirgends! Das bedeutet aber gleichzeitig, daß nach den Vorstellungen der hessischen Richter […] die Bundesanstalt für Arbeit immer an Drittbetroffene zahlen muß. Genau das ist nicht der Wille des Gesetzgebers 1969 gewesen! Kurt Faltlhauser, CDU/CSU-Fraktion, BT-PP 10/184, 12.12.85
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Wie notwendig eine Klarstellung ist, beweist auch die Feststellung des renomierten Kronberger Kreises, wonach z.B. 7 500 Streikende 1,5 Millionen Arbeitnehmern in der Automobil- und Zulieferindustrie die Möglichkeit zu arbeiten, nehmen können. Deswegen ist es einfach falsch, zu behaupten, wir könnten Gesetz und Anordnungen so lassen, wie sie jetzt sind, wir könnten die Hände in den Schoß legen und abwarten, wann die Gerichte entscheiden werden. ob und in welchem Umfang beim nächsten Arbeitskampf die Nürnberger Kassen in Anspruch genommen werden. Dieter-Julius Cronenberg (FDP-Fraktion), BT-PP10/196, 5.2.1986
Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde der Gesetzentwurf der Bundesregierung an den federführend zuständigen Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung überwiesen. Dieser führte unter anderem umfangreiche, nach Auffassung der Opposition jedoch nicht hinreichende Sachverständigenanhörungen durch. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses änderte den ursprünglichen Gesetzentwurf im Wesentlichen in drei Punkten: Als zentrale Änderung wurde erstens die – ja auch in den Plenardebatten diskutierte – Entwurf-Formulierung „annähernd gleich“ (vgl. Fußnote 55) präzisiert. Ein Lohnersatzanspruch ruht demnach, wenn im Tarifgebiet des mittelbar betroffenen Arbeitnehmers „eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen“. Eine (sehr unbestimmte, auslegungsbedürftige) Ergänzung soll zudem klären, wann eine Forderung als erhoben zu gelten hat. Zweitens wird im Rahmen der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit ein Neutralitätsausschuss geschaffen, dem die Feststellung obliegt, ob diese Ruhensvoraussetzungen erfüllt sind. Dieser Ausschuss ist damit ein funktionales Äquivalent des „Schattens der Hierarchie“, den Gesetzesandrohungen werfen können. Mitglieder dieses Ausschusses sind die Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber im Vorstand sowie der BA-Präsident. Drittens schließlich wurde die Rechtsstellung mittelbar betroffener Beschäftigten gegenüber ihren kalt aussperrenden Arbeitgebern geringfügig verbessert. Diese hatten nun gegenüber der betroffenen Belegschaft wie auch gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit eine stärkere Nachweispflicht, dass eine arbeitskampfbedingte und damit möglicherweise einen Lohnersatzanspruch auslösende Produktionsstilllegung tatsächlich unvermeidbar war. In der vom Ausschuss geänderten Fassung wurde das Gesetz vom Bundestag am 20.3.1986 verabschiedet, es trat am 24.5.1986 in Kraft. Damit wurde das Gesetzgebungsverfahren ungewöhnlich schnell zum Abschluss gebracht, obwohl es keine Anzeichen für unmittelbar bevorstehende Tarifkonflikte gab, die die Anwendung des § 116 AFG erforderlich gemacht hätten. Eher war wohl, neben dem wachsenden Widerstand der Gewerkschaften, die zunehmende Skepsis in der Öffentlichkeit für die Eile ausschlaggebend. Auch waren im Frühjahr 1986 die Meinungsdifferenzen innerhalb der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP, ja selbst innerhalb von CDU/
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CSU kaum mehr unter Verschluss zu halten. Die kognitiven Dissonanzen des zuständigen Bundesministers, die in den oben zitierten Redesequenzen zum Ausdruck kommen, sind dafür nur ein Beleg unter vielen. Auch die fortgesetzte Rede von der bloßen Klarstellung einer bestehenden Rechtslage ist in diesem Kontext zu sehen. Sie sollte nicht nur die wahren Absichten des Gesetzgebers, nämlich die Veränderungen der Kampfchancen im Arbeitskampf, verdecken (Benda 1986: 217, 264), sondern auch den Skeptikern innerhalb der CDU Gesichtswahrung ermöglichen (Mückenberger 1992: 40). Dessen ungeachtet – das bleibt als Zwischenfazit festzuhalten – handelt es sich bei der Neufassung des § 116 AFG keineswegs um eine bloße Klarstellung, sondern in der Tat um eine Änderung der Rechtslage und um den erfolgreichen Versuch, eine sich abzeichnende andere (Richter-)Rechtslage zu vermeiden. Dies geht aus der Inhaltsanalyse der Plenarbeiträge und weiterer Drucksachen zweifelsfrei hervor und bestätigt insoweit die rechtswissenschaftliche Aufarbeitung der Gesetzesänderung. Die Gesetzesinitiative geht zurück auf die Erfahrungen des Arbeitskampfes 1984 in der Metallindustrie, der die hochgradige Störanfälligkeit neuartiger Unternehmensbeziehungen sichtbar machte. Insbesondere in dieser Branche galten diese innovativen Strukturen als ein Schlüssel zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in sich zunehmend internationalisierenden Märkten; sie waren daher zu schützen vor störenden Einflüssen, wie sie sich etwa aus Arbeitskämpfen ergeben konnten. Über die eigentlichen Kapitalverwertungsbedingungen hinaus hatten Arbeitskämpfe wie der in 1984 aber auch Auswirkungen auf die Handlungsbedingungen des Staates selbst. Insofern war das Bemühen des Staates, die destabilisierenden Effekte von Arbeitskämpfen zu minimieren, auch Selbstschutz. Das in den 1980er Jahren herrschende Normen- und Wertesystem ließ es nicht zu, die Arbeitskampfmöglichkeiten der Gewerkschaften unmittelbar gesetzgeberisch zu regeln. Über den Umweg einer vordergründig sozialrechtlichen Regelung wurde jedoch der Versuch unternommen, den Status quo der gewerkschaftlichen Handlungsbedingungen nachhaltig zu verändern, namentlich: das Stör- und Konfliktpotential der Gewerkschaften zu begrenzen. Aufgrund der branchenspezifischen Tariflandschaft und der ebenso branchenspezifischen Produktionsstrukturen war dieser Versuch in allererster Linie auf die Handlungsbedingungen der IG Metall gerichtet. Um die Änderung dieser Handlungsbedingungen der IG Metall zu legitimieren und zugleich auch, um dem zu erwartenden Widerstand der Gewerkschaften die Spitze zu nehmen, wurde die Gesetzesinitiative diskursiv in den Zusammenhang zur Tarifautonomie gestellt. Damit wurde offensiv ein Begriff instrumentalisiert, der bei aller Unschärfe doch vor allem den Gewerkschaften selbst als Legitimationsbasis dient.
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3.
Folgen der Neufassung
Mit der Neufassung des § 116 AFG sinkt die Chance für mittelbar Betroffene innerhalb des fachlichen, aber außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs eines umkämpften Tarifvertrages, arbeitskampfbedingte Lohnersatzansprüche gegenüber dem Arbeitsamt geltend machen zu können. Zu diesem Schluss kamen die meisten Kommentatoren in der arbeitsrechtlichen Aufarbeitung der Gesetzesänderung (vgl. Hindrichs et al 1990: 225f. mit vielen weiteren Verweisen). Das gilt zumindest unter der Voraussetzung, dass die IG Metall auch nach der Neufassung in einem Arbeitskampf eine Strategie wie die Minimax-Taktik des Jahres 1984 wählt. Eine solche Konstellation hätte für die Gewerkschaft erkennbar weitreichende Folgen. Entweder hätte sie die Einkommensverluste der kalt ausgesperrten (organisierten) Arbeitnehmer aus eigenen Finanzmitteln (wenigstens partiell) zu kompensieren, was ihre ökonomische Handlungsfähigkeit gravierend einschränkt. Oder sie hätte, so sie zu einem Ausgleich dieser Einkommensverluste nicht willens oder in der Lage ist, mit einer massiv sinkenden Organisationsloyalität der Betroffenen zu rechnen. Beides schmälert ihre Verhandlungsposition in Tarifkonflikten. Will sie diese Gefahren umgehen, muss sie seit Geltung des § 116 AFG n.F. 1986 von Arbeitskämpfen im Stile der Minimax-Taktik absehen. Diese Taktik kann allenfalls aufrecht erhalten werden durch zweifelsfrei unterschiedliche regionale Tarifforderungen, mit denen der Ruhenstatbestand des neuen § 116 AFG ggf. umgangen werden kann. Allerdings löst die IG Metall dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Prüfverfahren des Neutralitätsausschusses bei der BA aus und muss sich im Weiteren möglicherweise zusätzlich dem Auslegungsspielraum des Bundessozialgerichts unterwerfen.62 Mehr noch als diese Unberechenbarkeit trug aber in den ausgehenden 1980er Jahren zum Unbehagen der IG Metall-Funktionäre bei, dass regional zweifelsfrei unterschiedliche Tarifforderungen einer Tendenz der ReHomogenisierung der Mitgliedschaft zuwider gelaufen wären, die sich insbesondere seit dem Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche 1984 abzeichnete und der nach der eingangs beschriebenen Phase der Heterogenisierung der Mitgliedschaft in den 1970er Jahren eine hohe Bedeutung beigemessen wurde (vgl. Hindrichs et al. 1990: 229). Damit war die IG Metall infolge der Neufassung § 116 AFG gezwungen, sich auf Arbeitskampfstrategien zu beschränken bzw. neue Strategien zu entwickeln, deren Fernwirkungen über den umkämpften Tarifbereich hinaus möglichst gering sind. So 62
Dies ist seit Bestehen des Neutralitätsausschusses bislang nur zweimal geschehen: Erstmals trat der Ausschuss beim Streik in der Metallindustrie im Tarifgebiet Mecklenburg-Vorpommern im Frühjahr 1993 in Aktion und stellte den Ruhenstatbestand für mittelbar Betroffene in Sachsen fest. Das angerufene Bundessozialgericht bestätigte die Entscheidung des Ausschusses (Az: 7K1AR 1/93). Im Tarifkonflikt der bayerischen Metallindustrie 1995 entschied der Neutralitätsausschuss, dass nur mittelbar Betroffene in Ostdeutschland und bei VW Anspruch auf Lohnersatzleistungen haben. In den westdeutschen Tarifgebieten hingegen hatte der Lohnersatzanspruch mittelbar Betroffener zu ruhen, da die dort erhobenen Tarifforderungen den bayerischen nach Art und Umfang gleich seien (vgl. Süddeutsche Zeitung, 24.2.1995, S. 4 sowie Handelsblatt, 2.3.1995, S. 1).
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paradox es klingt: Aufrechterhaltung von Produktion wurde so zu einem neuen gewerkschaftlichen Arbeitskampfziel. Zum Ziel der Stilllegung von Produktion im umkämpften Tarifgebiet kam nun parallel das Ziel der Aufrechterhaltung von Produktion in nicht umkämpften Tarifgebieten (Hindrichs et al. 1990: 203). Präzise darin besteht die Wirkung des § 116 AFG n.F.: Minimax-Strategien bei der Arbeitskampfführung ziehen durch die Neufassung ökonomische, juristische und organisationale Unwägbarkeiten und Risiken nach sich, die ihre Anwendung widersinnig machen. Erste Anpassungsstrategien der IG Metall an diese veränderte Lage werden in Hindrichs et al. (1990: 224-258) ausführlich dokumentiert.63 Die Wirkungen dieser Maßnahmen blieben jedoch (zumindest im Kontext des Tarifkonflikts 1987) überschaubar; mit dem Druck, der sich durch manifeste Streiks oder gar unbegrenzte Minimax-Strategien erzielen ließ, waren sie jedenfalls nicht zu vergleichen. 1994 in Niedersachsen und 1995 in Bayern wurden nur Finalproduzenten bestreikt, um Fernwirkungen zu vermeiden. Dadurch blieben die streikstrategisch und organisationssoziologisch wichtigen Automobil- und Elektroindustrie von Arbeitskämpfen zwangsläufig verschont. Erst im Jahr 2002 hatte die IG Metall mit den so genannten „Flexi-Streiks“ eine eng koordinierte Strategie gefunden, mit der täglich wechselnd parallel mehrere eng miteinander verflochtene Betriebe jeweils einen Tag lang bestreikt wurden. Dadurch konnten Fernwirkungen auf dritte Unternehmen, also auch kalte Aussperrungen, weitgehend vermieden werden (Boll 2003: 499). Freilich erfordert diese Arbeitskampftaktik, soll sie eine ähnliche Wirkung wie die Minimax-Taktik haben, eine beträchtlich größere Zahl Streikender und damit auch wieder einen entsprechend größeren Aufwand für Organisation, Mobilisierung und finanzielle Unterstützung. Sind diese Fakten ein Beleg für den drohenden Verlust der Streikfähigkeit der IG Metall? Naturgemäß sieht das die Gewerkschaft selbst mit Hinweis auf nicht erreichte Ziele anders als die Arbeitgeberverbände, die auf Tarifergebnisse auch nach 1986 verweisen, an denen die nach wie vor bestehende Durchsetzungsfähigkeit der IG Metall zu erkennen sei. In welchem Ausmaß der Zwang zur Beachtung von Fernwirkungen die Streikfähigkeit der IG Metall beeinträchtigt, kann objektiv im Grunde nicht beurteilt werden. Insbesondere lässt sich nicht abschätzen, welche Tarifergebnisse die IG Metall hätte erzielen können, wäre sie nicht in ihren Arbeitskampfmöglichkeiten beschnitten worden. Jenseits aller Spekulation ist aber nach der obigen Darstellung klar, dass sich die IG Metall im Zuge der Änderung des § 116 AFG nach anderen Kampf63
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Z.B.: Betriebsräte wurden darin geschult, kalte Aussperrungen zu erschweren etwa dadurch, dass sie die Vermeidbarkeit von Produktionsausfällen nachweisen können. Die IG Metall erhob über die Betriebsräte Daten zu betrieblichen Lieferstrukturen und neuralgischen Punkten in Unternehmensbeziehungen, um noch präziser und kostensensibler Produktionsstopps hervorrufen zu können. Belegschaftspatenschaften sollten die Organisationsloyalität durch Geld- und Sachsammlungen zugunsten Ausgesperrter stärken. Mit Überstundenboykotts und Warnstreiks von Teilbelegschaften sollte auch unterhalb offizieller Arbeitskampfmaßnahmen Druck auf die Arbeitgeberseite ausgeübt werden.
strategien umsehen und neue entwickeln musste und so in der Zahl und der Wahl ihrer Handlungsmöglichkeiten eingeschränkter ist als vor der Änderung. Betrachtet man den Arbeitskampf als genuines Element der Handlungsoptionen tarifautonomer Akteure, dann verändert ein Gesetz, das (mittelbar oder unmittelbar) die Wahl bestimmter Kampfformen hochgradig irrational und mithin unwahrscheinlicher macht, die Grenze zwischen verbandlichem und staatlichem Regelungsbereich und damit den Handlungsspielraum beider Seiten. Insofern hat das Gesetz einen – nicht bezifferbaren – Anteil am Wandel der Tarifautonomie. Hinzu kommt: Beginnend mit dem Arbeitszeitkonflikt 1984 hat sich ein wesentlicher Wandel in der Tariflandschaft und den Industriellen Beziehungen vollzogen, und es ist schwer vorstellbar, dass – namentlich in den ersten Jahren nach 1986 – die Neufassung des § 116 AFG als Reaktion auf diesen Konflikt keinen Einfluss auf die Aushandlungsbedingungen der Tarifpartner und in der Folge auf die Tauschbedingungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hatte. Insofern hat das Gesetz auch einen – nicht bezifferbaren – Anteil am Wandel der Industriellen Beziehungen. Noch im Jahr 1986 erhob die IG Metall Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht, auch reichten die Regierungen einiger SPD-regierter Bundesländer Normenkontrollklagen ein (vgl. Jox 1991: 17). Im Sommer 1995 (!) entschied das Bundesverfassungsgericht64, dass die Neufassung des § 116 AFG den Gewerkschaften in der Tat die Anpassung ihrer Arbeitskampfstrategien wie oben beschrieben abverlange. Das Gesetz beeinträchtige somit zwar die Kampffähigkeit der IG Metall. Allerdings hätten die Tarifauseinandersetzungen seit 1986 gezeigt, dass sie in ihrer Durchsetzungsfähigkeit nicht durchgreifend geschwächt sei. Insofern sei die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht derart beeinträchtigt, dass § 116 AFG n.F. nicht mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar sei. Generell, so das Gericht, hat der Gesetzgeber zu beachten, ob und in welchem Ausmaß seine Regelungen Auswirkungen auf die Verhandlungs- und Kampffähigkeit von Tarifvertragsparteien haben. Entscheidend sei dabei aber nicht allein die Kampffähigkeit einer Seite der Tarifvertragsparteien, sondern die Kampfparität zwischen beiden Seiten. Auch habe der Gesetzgeber bei der Einschätzung, ob durch seine Regelungen diese Parität gewahrt bleibt oder nicht, einen weiten Spielraum. Das heißt, solange er der Auffassung ist, die Parität zwischen den Tarifvertragsparteien nicht zu stören, kann der Gesetzgeber zur Wahrung des Gemeinwohls auch die Rahmenbedingungen von Arbeitskämpfen ändern, ohne dadurch zwangsläufig in Konflikt mit dem Grundgesetz zu geraten.
64
BVerfGE 92, 365-411
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4.
Zusammenfassung
Vor-, Haupt- und Nachgeschichte der Neufassung des § 116 AFG lassen sich aus Sicht der IG Metall lesen als eine Abfolge von Niederlagen. Die erste Niederlage entwickelte sich aus dem Arbeitszeitkompromiss, der aus dem heftigen Arbeitskampf des Jahres 1984 in der Metallindustrie hervorging. Die Absenkung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 38,5 Stunden war ein Pyrrhus-Sieg. Sie wurde erreicht um den Preis einer ausgedehnten Arbeitszeitflexibilisierung. Dem „Tabubruch“ (Mechelhoff 1985: 205) in der Frage der Arbeitszeitdauer stand somit ein – in seinen langfristigen faktischen Folgen – viel gravierenderer Durchbruch in der Frage der Arbeitszeitflexibilität gegenüber. Denn mit einigem Recht kann dieser Durchbruch in der Frage der Arbeitszeitflexibilität als Einstieg in die Arbeitsflexibilität überhaupt gelten, als Einstieg in eine Entwicklung der Industriellen Beziehungen, bei der die IG Metall wie auch alle anderen deutschen Gewerkschaften eine erkämpfte Position nach der anderen aufgeben mussten – sei es zugunsten gesetzlicher oder zugunsten betrieblicher Regelungen. Auch die Abwehr des Franke-Erlasses im Arbeitskampf 1984 erwies sich als Pyrrhus-Sieg, denn ihr wurde die Neufassung des § 116 AFG entgegengestellt. Mit dieser Neufassung wurde die Rechtsauffassung de facto auf den Stand des Franke-Erlasses zurückgeführt. Offensichtlich konnte sich die amtierende Bundesregierung in der Auslegung des § 116, wie sie diverse Sozialgerichte vorgenommen hatten, nicht wiederfinden. Unterstellt man, dass die Gerichte bei ihrer Auslegung den Anspruch hatten, dem politischen Willen des AFG-Gesetzgebers von 1969 zu folgen, dann lässt dies nur den Schluss zu, dass der politische Wille des Gesetzgebers im Jahr 1986 nicht dem politischen Willen des Gesetzgebers im Jahr 1969 entsprach (Schwerdtfeger 1990: 21). Das ist einerseits trivial, da sich der Gesetzgeber 1986 schon allein parteipolitisch von jenem des Jahres 1969 unterscheidet. Andererseits hatten sich ja seither wie beschrieben auch beachtliche Wandlungen im Produktions- und Logistikmanagement vollzogen, und aus Sicht der amtierenden staatlichen Akteure machte dies wohl gleichsam eine Aktualisierung der Einhegung des tarifautonomen Raumes erforderlich. Für diese Aktualisierung ging die Bundesregierung einen Umweg (Benda 1986: 218). Zwar regelt die Änderung des § 116 AFG vordergründig eine sozialrechtliche Materie, nämlich den Anspruch auf Lohnersatzleistungen von Beschäftigten, die infolge eines Arbeitskampfes, an dem sie selbst nicht beteiligt sind, arbeitslos werden oder in Kurzarbeit gehen müssen. Der ökonomische Druck aber, dem die derart mittelbar Betroffenen unter Umständen unterworfen sind dadurch, dass sie während ihrer Betroffenheit keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen haben, kann und wird übergehen auf die den Arbeitskampf führende Gewerkschaft. Um diesen Binnendruck auf der Seite der Arbeitnehmerschaft zu vermeiden bzw. zu begrenzen, sind Gewerkschaften zum Verzicht auf bestimmte Arbeitskampftaktiken gezwungen, was Auswirkungen auf ihre Durchsetzungsfähigkeit hat (Mückenberger 1992: 19). Das Gesetz regelt damit zwar sozialrechtliche Leistungsansprüche mittelbar von Arbeitskämpfen betroffener Arbeit-
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nehmer, trifft damit aber dadurch zugleich mittelbar die Arbeitskampfmöglichkeiten der Gewerkschaften. Im Kampf um die Zulässigkeit und ökonomische Vertretbarkeit möglichst wirksamer Arbeitskampfformen steht also die Verabschiedung des § 116 AFG n.F. für die zweite Niederlage der IG Metall. Beim Versuch, die Neufassung vorm Bundesverfassungsgericht anzufechten, erlitt die IG Metall ihre dritte Niederlage. Als Niederlage ist bereits der Umstand zu werten, dass eine Entscheidung des Gerichts fast neun Jahre auf sich warten ließ, während der die IG Metall die Neufassung des § 116 AFG als gegeben hinnehmen und ihre Arbeitskampftaktiken entsprechend ausrichten musste. Das war schmerzhaft insbesondere vor dem Hintergrund jenes oben erwähnten Durchbruchs in der Frage der allgemeinen Arbeitsflexibilität. Denn angesichts des – 1984 von der IG Metall selbst ja tolerierten und hingenommenen – Einstiegs in die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen bedeutete die Beschneidung der Kampffähigkeit der IG Metall nicht ausschließlich, aber vor allem die Beschneidung ihrer Abwehrfähigkeit. Zwar lassen sich die Auswirkungen nicht quantifizieren, aber es kann als sicher gelten, dass die Neufassung des § 116 AFG gerade in der sehr dynamischen Dekade ab Mitte der 1980er Jahre einen relevanten Anteil am Wandel der deutschen Tariflandschaft und an der Veränderung der Industriellen Beziehungen hatte. Die dritte Niederlage gleichsam komplettiert hat der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1995, der dem § 116 AFG n.F. Verfassungskonformität attestiert und ihn damit – zumindest juristisch – immunisiert hat. Eine Änderung dieses Paragraphen wie überhaupt von Regelungen, die Wirkungen auf Arbeitskampfbedingungen haben, kann die IG Metall (oder auch jede andere Gewerkschaft) nun nur noch dadurch herbeiführen, dass sie auf eine Störung der Kampfparität, also letztlich auf ihre eigene erheblich gestörte Kampffähigkeit verweist. Nach der Niederlage auf dem juristischen Weg blieb nur noch der politische Weg. Dieser Weg erschien zunächst aussichtsreich. Bereits im Gesetzgebungsverfahren 1986 hatte die SPD-Fraktion einen Gegenantrag eingebracht, programmatisch betitelt mit „Sicherung der Tarifautonomie und Wahrung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen“65. Zudem hatte die SPD angekündigt, im Falle einer Regierungsübernahme den § 116 AFG zurückzunehmen.66 Die ließ bekanntlich 65 66
BT-Drs. 10/4995 „Wir Sozialdemokraten bekräftigen unser Versprechen, daß eine sozialdemokratische Bundesregierung die Änderung des § 116 AFG nach der Bundestagswahl 1987 rückgängig machen wird.“ (Anke Fuchs, 15847D, BT-PP 10/207, 20.3.1986). „Dieses Gesetz - alle Bemäntelung wird nichts nutzen - ist unsozial. Dieses Gesetz ist in sich schludrig. Es schafft nicht Klarheit. Es produziert Chaos. Deshalb werden wir Sozialdemokraten dafür sorgen, daß dieses Gesetz wieder verschwindet.“ (Gerhard Schröder, 15858B, BT-PP 10/207, 20.3.1986). „Eine sozialdemokratische Bundesregierung wird dieses Gesetz in den ersten hundert Tagen aufheben lassen und den bisherigen Rechtszustand, den Rechtszustand, der uns anderthalb Jahrzehnte sozialen Frieden auf diesem Gebiet gewährleistet hat, wiederherstellen.“ (Hans-Jochen Vogel, 15872B, BT-PP 10/207, 20.3.1986).
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auf sich warten. Deshalb brachte die SPD-Fraktion im März 1995 einen Gesetzentwurf ein, der die alte Rechtslage wieder herstellen sollte, angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag aber erwartungsgemäß abgelehnt wurde.67 Gelegenheit, ihre diversen Ankündigungen umzusetzen, hatte die SPD dann ab Herbst 1998. In den sieben Jahren rot-grüner Regierungsverantwortung unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders, der neben anderen 1986 die Rücknahme von § 116 AFG n.F. angekündigt hatte, wurde diese Gelegenheit jedoch nicht wahrgenommen. Der Paragraph, seit 1997 unter § 146 SGB III geführt, hat bis heute unverändert Bestand. Offensichtlich hat sich die SPD in Regierungsverantwortung (1998ff.) die Ansicht der CDU in Regierungsverantwortung in 1986 derart zueigen gemacht, dass sie nun bei der fraglichen Regelung keinen Änderungsbedarf mehr sah. Das bestätigt die Vermutung, dass der parteipolitische Hintergrund der Bundesregierung wohl (allenfalls) darüber entscheidet, ob sie eher imperativ oder eher kooperativ auf die Neubestimmung des Staat-Verbände-Verhältnisses hinwirkt. Dass sie auf diese Neujustierung hinwirkt, dass also auch eine SPD-geführte Regierung sich in irgendeiner Weise der Frage angenommen hätte, davon ist angesichts ihrer Untätigkeit nach 1998 auszugehen. Dies zu erkennen und daraus ableiten zu müssen, dass staatliches Handeln in Bezug auf die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ vielleicht nicht in der Wahl der Mittel, wohl aber im Ziel weitgehend unabhängig von parteipolitischen Erwägungen ist, ist die vierte Niederlage der IG Metall im Kontext des § 116 AFG. Anders als das Bundesverfassungsgericht, das die Tarifautonomie dann als funktionsfähig ansieht, wenn die Arbeitskampffähigkeit beider widerstreitenden Tarifparteien gleichrangig ist, betrachten staatliche Akteure das autonome Handeln der Tarifverbände dann als funktionsfähig, wenn es keine destabilisierenden, verunsichernden Folgewirkungen hat auf das Wirtschaftsgeschehen, also auf die Investitions- und Kapitalverwertungsbedingungen im Inland. Diese Bedingungen, konkret also das sich etablierende neue Produktionsmodell vor Störmöglichkeiten zu schützen, war ausweislich der hier vorgetragenen Belege Anliegen und Effekt der Neufassung des § 116 AFG. Die gesetzliche Begrenzung der Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften, insbesondere der IG Metall, hat insofern auch zu einer Neubestimmung des Staat-VerbändeVerhältnisses im Kontext der Tarifautonomie geführt. Dabei ist – daran ist zu erin67
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BT-Drs. 13/715 vom 8.3.1995. Konkreter Anlass war der Arbeitskampf in der Metallindustrie in Bayern. Die Initiative der SPD-Fraktion ist wohl aber primär zu sehen als Reaktion auf die Einbringung eines Gesetzentwurfes der PDS (BT-Drs. 13/581 vom 15.2.95). Um sich diesem aus parteitaktischen Erwägungen heraus nicht anschließen zu müssen, andererseits aber nicht durch Ablehnung des PDS-Antrags implizit der geltenden Regelung zuzustimmen, wurde ein eigener Entwurf eingebracht. Die Fraktion der GRÜNEN verfuhr in gleicher Weise (BT-Drs. 13/691 vom 7.3.95). Das ist ein im parlamentarischen Alltag übliches Vorgehen. Es bietet sich – gerade wegen seiner weitgehenden Folgenlosigkeit – für die parteipolitische Profilschärfung an und ist entsprechend anfällig für Instrumentalisierungen: in allen drei Entwürfen wie auch in den zugehörigen Plenardebatten (13/25, 10.3.1995; 13/113, 20.6.1996) spielte der Begriff „Tarifautonomie“ eine zentrale Rolle.
nern – diese Neubestimmung nur die bislang letzte Aktualisierung des Staat-Verbände-Verhältnisses in der Frage der sozialrechtlich verdeckten Beeinflussung des Arbeitskampfgeschehens: Auch die ursprüngliche Fassung des § 116 AFG von 1969 stellte ja eine wesentliche – und im direkten Vergleich zur Neufassung 1986 sogar eine um vieles gravierendere – Neubestimmung des Staat-Verbände-Verhältnisses dar, nur eben in diesem Fall zugunsten der Arbeitnehmerseite.68 Offenbar sah der damalige Gesetzgeber (bestehend übrigens aus CDU und SPD) in der Hochphase des Fordismus in der sozialrechtlichen Besserstellung mittelbar Betroffener keine Gefährdung und Destabilisierung der Investitions- und Kapitalverwertungsbedingungen. Insofern ist die Neufassung im Jahr 1986 – aus dem Blickwinkel der Funktionalität des gewerkschaftlichen Handelns für das Wirtschaftssystem und darauf aufbauend für das politische System der Bundesrepublik – in der Tat keine Klarstellung, sondern eine Korrektur vorangegangener Arrangements. An kaum einem politischen Diskurs lässt sich die Instrumentalisierung des Begriffs Tarifautonomie so deutlich veranschaulichen wie am Gesetzgebungsprozess zur Neufassung des § 116 AFG. Diese Instrumentalisierung war auf allen Seiten exzessiv; mit dem Argument, die Tarifautonomie achten zu wollen und stärken zu müssen, konnten die beteiligten Akteure für oder gegen die Neufassung sein! Dieser Widerspruch in der Begriffsverwendung setzt ein ausreichend auslegungsoffenes, variables Begriffsverständnis voraus. Dass aber kaum ein am Diskurs beteiligter Akteur glaubte, auf die Verwendung des Begriffs „Tarifautonomie“ selbst verzichten zu können, spricht für die diskursive Hegemonie dieses Begriffs. Er ist der gemeinsame Nenner, er suggeriert einen trotz aller Meinungsverschiedenheit vorhandenen Grundkonsens, ein gemeinsames Diskursfundament auch bei basalen Differenzen, das zu verlassen sich einflussorientierte politische Akteure nicht leisten können. Zuweilen fordert diese Notwendigkeit politischen Akteuren Balanceakte bei der Überwindung von Widersprüchen ab. Auch das zeigt der Gesetzgebungsgang des § 116 AFG n.F. eindrucksvoll. Insbesondere das Bemühen des Gesetzgebers, die angestrebte Veränderung des tarifautonomen Handlungsspielraums gerade mit der Sicherung des tarifautonomen Handlungsspielraums zu begründen, birgt die Gefahr eines Glaubwürdigkeitsverlustes in sich. Überwinden ließ sich dieses Dilemma nur durch die diskursive Trennung der diskutierten Materie in vorbehaltlos geachtete, abstrakte Tarifautonomie einerseits und kritikwürdige tarifautonome Akteure, genauer: Gewerkschaften, andererseits. Eine derart exzessive Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ findet sich in späteren Diskursen nicht mehr. Das mag daran liegen, dass die Neufassung des § 116 AFG eine besonders leicht erkennbare und allein deshalb besonders umstrittene 68
Die gesetzlichen Regelungen bis 1969 sahen im Grundsatz vor, dass mittelbar betroffenen Arbeitnehmern keine Lohnersatzleistungen gezahlt werden sollten; erst das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 schrieb den Grundsatz fest, dass mittelbar betroffenen Arbeitnehmern Anspruch auf Lohnersatzleistungen erheben konnten (Jox 1991: 8ff.).
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Neujustierung der Grenzen des tarifautonomen Raumes war. Der geänderte § 116 AFG markiert aber auch – wie an seinen Folgen zu erkennen ist – eine Schnittstelle anderer Art. Rückblickend war der Arbeitskampf 1984 eine Demonstration der Störanfälligkeit moderner, flexibler Produktionskonzepte und das Ergebnis des Arbeitskampfes der Einstieg in flexible Arbeitsbedingungen. Intention der Neufassung des § 116 AFG war die Absicherung dieser beiden Flexibilisierungstendenzen. Dabei ist die Neufassung selbst noch einer historischen Phase zuzuordnen, in der ein flächendeckendes, regional abgestimmtes, hochgradig homogenes Tarifsystem ohne weiteres unterstellt werden konnte und Bezugnahmen auf das Abstraktum „Tarifautonomie“ noch wesentlich stärker als in späteren Justierungskontexten obligatorisch waren. Die langfristige Wirkung der Neufassung ist aber nicht zuletzt die Einläutung einer neuen historischen Phase des Tarifsystems. Sie hat der forcierten De-Institutionalisierung dieses hochgradig homogenen Tarifsystems das Tor geöffnet. Der Arbeitskampf 1984 um die 35-Stunden-Woche hat das Tor erst zur Arbeitszeit-, später zur Arbeitsflexibilisierung überhaupt aufgestoßen, und mit der Neufassung des § 116 AFG wurde dafür gesorgt, dass dieses Tor nicht sogleich wieder geschlossen wurde. Sicher nicht nur, aber eben auch erst die Neufassung des § 116 AFG schuf die Voraussetzungen für eine fortgesetzte Differenzierung und Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen, der Tarifvertragslandschaft und damit der Industriellen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland.
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9.3 Lohnabstandsklauseln bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – Kompetenzstreit im Grenzgebiet von Tarif- und Sozialpolitik Dieses Kapitel dient der exemplarischen Veranschaulichung mittelbar wirkender imperativer Beeinflussung des flexibilitätspolitischen Handelns der Tarifverbände durch den Gesetzgeber. Dargestellt wird ein Konflikt zwischen Gesetzgeber und Gewerkschaften um eine konkrete, abgegrenzte Regelungsmaterie im Bereich der so genannten aktiven Arbeitsmarktpolitik. Konkret stand in Frage, inwieweit die Änderung gesetzlicher Vorgaben für die Ausgestaltung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) den tarifpolitischen Handlungsspielraum der Gewerkschaften tangiert. Beim Nachvollzug dieses Konfliktes, der im Jahr 1992 durch eine Gesetzesinitiative ausgelöst und im Jahr 1999 durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beendet wurde, gehe ich wie folgt vor: Zunächst stelle ich kurz das arbeitsmarktpolitische Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor (1.). Dann gehe ich auf die spezifische Rolle von ABM im ostdeutschen Transformationsprozess ein (2.) und beleuchte anschließend den Einstellungswandel der Bundesregierung hinsichtlich der mit ABM verbundenen Kosten (3.). Im weiteren zeichne ich nach, wie der Gesetzgeber versuchte, durch die Forderung nach untertariflicher Bezahlung von ABM-Beschäftigten diese Kosten zu begrenzen (4.) und wie er die damit entstehende Spannung zum Konstrukt der Tarifautonomie kommunikativ verarbeitete (5.). Abschließend diskutiere ich die fiskalischen, politischen und sozialen Folgen der Gesetzgebung (6.). 1.
ABM als Instrument der aktiven Arbeitsmarkpolitik in der früheren Bundesrepublik
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind ein historisch gewachsenes Instrument im Bereich aktiver Arbeitsmarktpolitik, also des Bereichs der Arbeitsmarktpolitik, der unmittelbar auf die Integration Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Auf die lange Vorgeschichte dieses Instruments in Form von Notstandsarbeiten, Produktiver Erwerbslosenfürsorge und Wertschaffender Arbeitslosenfürsorge sei an dieser Stelle lediglich hingewiesen (siehe dazu ausführlich Schmuhl 2003). In der hier in Frage stehenden Form sind Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung seit 1969 durch das Arbeitsförderungsgesetz rechtlich fixiert, freilich haben die gesetzlichen Vorgaben seitdem mehrere Änderungen erfahren (vgl. dazu Kühl 1982; Schickler 1989; Bohlen 1993). Intention von ABM ist es, öffentlich geförderte Arbeitsmöglichkeiten für Arbeitslose zu schaffen, anstatt ihnen im Sinne passiver Arbeitsmarktpolitik monetäre Transferleistungen wie etwa Arbeitslosengeld zu gewähren. Derartige geförderte, grundsätzlich befristete Beschäftigungsverhältnisse sollen dabei möglichst entweder nahtlos in ungeförderte, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse übergehen oder aber zumindest die individuellen Beschäftigungschancen nach Auslaufen der ABM erhöhen. Mit Fokus auf die in solchen Maßnahmen Beschäftigten wird daher üblicher-
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weise argumentiert, dass ABM – insbesondere bei Langzeitarbeitslosen – einer DeQualifizierung und Arbeitsmarkt-Entwöhnung entgegenwirken. Daraus ergibt sich die übliche Zielgruppenorientierung bei der Anwendung dieses Instruments. Seit ihrer Institutionalisierung im Jahr 1969 gelten ABM nicht als allgemeines Instrument zur umfassenden Bekämpfung von konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit, sondern kommen als eng konzentrierte Maßnahme zur Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit zum Einsatz. Insofern sind ABM vor allem auf Personengruppen mit spezifischen, verfestigten Beschäftigungshemmnissen bzw. auf Regionen mit spezifischen, strukturell bedingten, verfestigten Ungleichgewichten am Arbeitsmarkt ausgerichtet. Neben dieser besonderen arbeitsmarktlichen, eng auf strukturelle Problembereiche bezogenen Zweckmäßigkeit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gilt die Zusätzlichkeit der Beschäftigung als ein weiteres Kriterium ihrer Förderungswürdigkeit. ABM dürfen die Einrichtung und den Bestand von ungeförderten, unbefristeten Arbeitsplätzen nicht gefährden. Träger von ABM dürfen sich also durch die Förderung der Arbeitskosten keinen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Um dies auszuschließen, werden ABM in der Regel nur dann bewilligt, wenn die im Rahmen einer ABM erbrachten Arbeiten ohne Förderung überhaupt nicht oder erst wesentlich später durchgeführt würden. Ein drittes Kriterium der Förderungswürdigkeit ist das öffentliche Interesse an den Ergebnissen der ABM. Diese Ergebnisse sollen der Allgemeinheit, also einem grundsätzlich unbegrenzten Personenkreis zugute kommen. Insofern sind ABM regelmäßig dann förderungswürdig, wenn sie der Herstellung oder Pflege öffentlicher Güter dienen. Besonders bewährt haben sich hierbei Arbeiten im Bereich der Landschaftspflege, aber auch zur Verbesserung der Infrastruktur und der sozialen Versorgung, mithin Bereiche, in denen ein ausgeprägtes privatwirtschaftliches Investitions- und Leistungsinteresse nicht besteht. Aus diesen drei Kriterien – arbeitsmarktliche Zweckmäßigkeit der Förderung, Zusätzlichkeit der geförderten Beschäftigung, öffentliches Interesse an ihren Ergebnissen – ergibt sich zwangsläufig, dass das Instrument der ABM nur unter sehr spezifischen Bedingungen zum Einsatz kommen und keinesfalls ein großflächig und nachhaltig wirkendes Mittel gegen Massenarbeitslosigkeit sein kann. Entsprechend randständig waren ABM innerhalb des Instrumentariums und Aufgabenspektrums der Bundesanstalt für Arbeit: Seit der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahr 1969 bis zur deutschen Einigung kamen auf einhundert registrierte Arbeitslose zu keinem Zeitpunkt mehr als fünf in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Beschäftigte; auch erfolgte die Nutzung dieses Instruments in der früheren Bundesrepublik weitgehend unabhängig von den Entwicklungen der registrierten Arbeitslosigkeit (vgl. Abb. 11). An dieser Nachrangigkeit änderte sich im Bereich der früheren Bundesrepublik bis in die Gegenwart hinein faktisch nichts. In Westdeutschland blieb die Zahl der ABM-Beschäftigten bis heute marginal, und ein signifikanter Bezug des Umfangs der Bewilligungen zum Umfang registrierter Arbeitslosigkeit lässt sich nach wie vor nicht erkennen.
174
2.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im ostdeutschen Transformationsprozess
Ganz anders stellte sich hingegen die Situation nach der deutschen Einigung im Jahr 1990 in den Neuen Bundesländern dar. Durch den ebenso abrupt ausgelösten wie tiefgreifenden Transformationsprozess der ostdeutschen Wirtschaft im Zuge der deutschen Einigung, also die schlagartige Abkehr von planwirtschaftlichen und den Übergang hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen, fanden sich nicht nur die ostdeutschen Wirtschaftsakteure, sondern auch die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Institutionen vor massive Herausforderungen gestellt. Anders jedoch als in anderen ehemaligen europäischen Ostblock-Staaten wurde mit dem Vollzug des Einigungsvertrages im Jahr 1990 ein bestehendes und etabliertes politisches Institutionengefüge, das der früheren Bundesrepublik, auf das Beitrittsgebiet übertragen. Damit bestand in Ostdeutschland (und in Deutschland insgesamt) die Herausforderung nicht darin, ein den diversen gegebenen Interessen angemessenes und tragfähiges Institutionensystem zu entwerfen, auszuhandeln und zu etablieren, sondern vielmehr darin, die Geltung und Wirksamkeit bereits etablierter politischer Institutionen auf das Beitrittsgebiet auszudehnen, ohne durch diese Ausdehnung deren Geltung infrage zu stellen. Dieser Institutionentransfer im Sinne einer „nachholenden Modernisierung“ (Zapf 1998: 479) war allgemein und umfassend. Er betraf die soziale Institution des Arbeitsmarktes ebenso wie die sozial- und tarifpolitischen Institutionen. Er wurde initiiert primär von westdeutschen politischen und tarifpolitischen Akteuren, die sich dabei von spezifischen Interessenlagen leiten ließen und für die sich aus der räumlichen Ausdehnung des Systems zunächst kein inhaltlicher Veränderungsbedarf ergab (vgl. zu diesen Interessenlagen der west- wie auch der ostdeutschen Akteure im Kontext des Institutionentransfers ausführlich Fehmel 2003: 58ff.). Unter den Bedingungen der turbulenten Umweltveränderungen der Transformation diente das Festhalten westdeutscher kollektiver Akteure an gewohnten und eingeübten Problemlösungen sowie die Ausdehnung institutioneller Normen auf das Beitrittsgebiet der Situationsbeherrschung (Lehmbruch 1994). Das heißt konkret: gleichsam über Nacht galten normativ im Beitrittsgebiet die gleichen Verteilungsprinzipien wie in den alten Bundesländern: ein Arbeitsmarkt als primärer Mechanismus der Einkommenserzielung, ein die Austauschbeziehungen auf diesem Arbeitsmarkt regulierendes und gestaltendes Tarifvertragssystem bei gleichzeitiger Zurückhaltung staatlicher Akteure und ein umfangreiches Set sozialpolitischer Instrumente als sekundärer Mechanismus der Einkommensumverteilung zugunsten all jener, die, aus welchen Gründen auch immer, von den Austauschwirkungen des Arbeitsmarktes und den Regulierungen des Tarifsystems nicht erfasst werden. Mit der gleichzeitigen Übertragung von Tarifsystem und System sozialstaatlicher Sicherung war die Hoffnung verbunden, dass das in Westdeutschland in Jahrzehnten gewachsene Arrangement zwischen beiden Systemen ähnlich stabilisierende Wirkungen auch in Ostdeutschland zeitigen könnte. Voraussetzung dieser Hoffung auf eine
175
weitgehend reibungslose Übernahme beider Umverteilungssysteme, letztlich also Voraussetzung eines angemessenen Verhältnisses zwischen beiden Umverteilungssystemen hätte aber ein Arbeitsmarkt sein müssen, dessen Aufnahmefähigkeit und soziale Integrationswirkungen denen in den alten Bundesländern zumindest ähnlich sind. Davon konnte freilich nicht die Rede sein. Die Arbeitsmarkt-Bedingungen und die daraus abgeleiteten sozialpolitischen Herausforderungen in den Neuen Bundesländern hatten mit denen der früheren Bundesrepublik kaum Ähnlichkeit. Der plötzliche Wegfall osteuropäischer Abnehmer- und Lieferantenstrukturen wie auch der plötzliche Zwang, sich dem Wettbewerb mit „westlichen“, in der Regel ausreichend kapitalisierten und hinsichtlich ihrer Kapazitäten kurzfristig reaktionsfähigen Unternehmen stellen zu müssen, hatte eine flächendeckende, außergewöhnliche Dynamik in der ostdeutschen Unternehmenslandschaft zur Folge. Betriebsübernahmen, -Stilllegungen, -neugliederungen und -neugründungen riefen eine ebenso flächendeckende Arbeitskräftebewegung hervor. Vom Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung war in Ostdeutschland allein in den Jahren 1990 und 1991 mit rund 3,3 Millionen Personen mehr als ein Drittel aller abhängig Erwerbstätigen betroffen (SVR 1991: 105; Bosch et al. 1994: 283). Ein erheblicher Teil der Betroffenen fand in den Alten Bundesländern Beschäftigung, ein weiterer Teil nutzte die Möglichkeit, bei Bezug von Altersübergangsgeld vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Aber auch das verbleibende Erwerbspersonenpotential in Ostdeutschland stand in einem krassen Missverhältnis zur Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Dass die Quote der registrierten Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland Ende 1991 bei nur 11,7% (SVR 1991: 394) lag, ist im Wesentlichen auf den umfangreichen Einsatz arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Instrumente zurückzuführen. Zwar wurden diese institutionell entwickelt unter den und für die Bedingungen der früheren Bundesrepublik, aber sie wurden – da nun einmal im Zuge des allgemeinen Institutionentransfers vorhanden – situativ angepasst und genutzt für die Abfederung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands (Wolfinger, Brinkmann 1996). Viele dieser Instrumente waren im damals geltenden Arbeitsförderungsgesetz gebündelt, und hier wiederum spielten vor allem Kurzarbeitergeld, Umschulungsprogramme und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine entscheidende Rolle. Ohne diese Instrumente hätte die registrierte Arbeitslosigkeit Ende 1991 zwischen 30 und 35%69 gelegen – bei Werten also, die nach einhelliger Auffassung den sozialen Frieden in den Neuen Bundesländern ernsthaft hätten gefährden können. Insofern bestand in dieser sensiblen Frühphase der Transformation ein breiter Grundkonsens zwischen staatlichen und verbandlichen Akteuren. Aus Sicht staatlicher Akteure hatten breit eingesetzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegenüber passiven arbeitsmarktpolitischen Instrumenten den Vorteil, durch (wenngleich öffentlich 69
176
Eigene Berechnungen auf Grundlage von SVR 1991: 394, 396. Andere Rechnungen gehen sogar von bis zu 40% registrierter Arbeitslosigkeit aus (vgl. Mappes-Niedick 1992: 4).
finanzierte) Beschäftigung das Prinzip der Lohnarbeit als primäre individuelle Einkommensquelle und damit als zentrales gesellschaftliches Verteilungsmedium auch in den Neuen Bundesländern etablieren zu können. Dazu gehörte auf symbolischer Ebene in dieser Phase eben auch die Möglichkeit, durch den umfangreichen, steuernden Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente die Differenz zwischen den offiziellen Arbeitslosenquoten in Ost- und Westdeutschland nicht allzu groß werden zu lassen. Die Zustimmung der Tarifverbände, insbesondere der Gewerkschaften, zu umfangreichen Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik lässt sich ebenfalls maßgeblich durch ihr Interesse an einer Implementierung und Institutionalisierung eines Arbeitsmarktes in Ostdeutschland erklären. Denn die Existenz eines Arbeitsmarktes war Voraussetzung auch für die Übertragung des westdeutschen Tarifsystems, mit dem erhofften Nebeneffekt, durch Rückwirkungsprozesse auch das in Bedrängnis geratene Tarifsystem in Westdeutschland wieder stabilisieren zu können. Zu diesem Ziel tragen beschäftigte Arbeitnehmer, auch wenn ihre Beschäftigung nur auf öffentlicher Förderung beruht, allemal mehr bei als ein „Heer“ von Arbeitslosen. Dass die Implementierung des Arbeitsmarktes in Ostdeutschland im erheblichem Umfang aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde, war insofern aus Sicht der Gewerkschaften nachrangig. Die Kosten dieses arbeitsmarktpolitischen Institutionentransfers hatten nicht zuletzt die in Westdeutschland Beschäftigten zu tragen, insbesondere durch die massive Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen. Auf Akzeptanz bei den in Westdeutschland Beschäftigten konnte die gewerkschaftliche Unterstützung der Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik nur stoßen, wenn sich bei ihnen die Auffassung durchsetzte, dass die vorübergehend sehr hohen Kosten des öffentlichen Arbeitsmarktes in Ostdeutschland den Folgen einer deutlichen Tarifniveau-Differenz in Ostdeutschland für Westdeutschland vorzuziehen seien. Daraus ergab sich die primäre und handlungsleitende gewerkschaftliche Intention des Institutionentransfers trotz grundsätzlich anderer wirtschaftlicher Bedingungen: möglichst geringe Differenzen zwischen der westund der ostdeutschen Tariflandschaft, also ein möglichst homogenes, gesamtdeutsches Tarifsystem (vgl. Holz et al. 1998). Um vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Grundkonsenses Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland breitflächig einsetzen zu können, wurde eine Reihe von Sonderregelungen in Kraft gesetzt (vgl. Schmuhl 2003: 565f.).70 Zudem wurden 70
Jeweils im Unterschied zu den in Westdeutschland gültigen Regelungen war die Mittelvergabe nicht an einen so genannten regionalen Arbeitsmarktindikator gebunden, sondern die Bewilligung von ABM auch in ostdeutschen Arbeitsamtsbezirken mit vergleichsweise guter Beschäftigungslage möglich; nicht eine bereits seit längerem bestehende Arbeitslosigkeit zwingende individuelle Voraussetzung für den Zugang zu einer ABM-Förderung; nicht nur die Förderung von Arbeitslosen, sondern auch von Beschäftigten in Kurzarbeit Null und in Warteschleifen möglich; eine vollständige und nicht nur anteilige Übernahme der Personalkosten möglich; eine Zuweisung von (zum Teil beträchtlichen) Sachkostenzuschüssen zusätzlich zu den Lohnkostenzuschüssen möglich und eine ABM-Förderung auch möglich, wenn der Träger der Maßnahme eine öffentliche Körperschaft war.
177
die Ermessensspielräume der Arbeitsverwaltung hinsichtlich der Kriterien der Zusätzlichkeit und des öffentlichen Interesses der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sehr weit ausgelegt; ihre arbeitsmarkt- und sozialpolitische Zweckmäßigkeit wurde für das Beitrittsgebiet generell unterstellt. Entsprechend großzügig konnten die Fördermittel bemessen und ausgeschüttet werden. In den ersten Jahren nach der deutschen Einigung verschafften diese Sonderregelungen im Jahresdurchschnitt bis zu 400.000 Personen in Ostdeutschland eine Beschäftigung im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Von ABM als einem nur randständigen arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium konnte insofern für die Neuen Bundesländer keine Rede sein. Zeitweise kamen auf einhundert registrierte Arbeitslose mehr als dreißig in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Beschäftigte. Erst in jüngster Zeit nähert sich der relative Förderumfang von Arbeitsbeschaffungs- (und förderrechtlich ähnlich gestalteten Strukturanpassungs-)Maßnahmen in Ostdeutschland jenen Verhältnissen an, die im Bereich der früheren Bundesrepublik durchgängig bestanden hatten (vgl. Abb. 11). Abbildung 11:
Verhältnis ABM/Arbeitslosigkeit in dem Alten und Neuen Bundesländern ABM-Beschäftigte je 100 Arbeitslose (NBL)
30,0
25,0
20,0
15,0 ALQ NBL
10,0
ABM-Beschäftigte je 100 Arbeitslose (ABL)
5,0
ALQ ABL
2005
2003
2001
1999
1997
1995
1993
1991
1989
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
1969
0,0
(teilweise eigene) Berechnungen mit Daten aus Schickler 1989: 70; SVR 1993: 120f., SVR 1995: 119; Spitznagel, Bach 2000: 507 und BMAS 2007: Tab. 8.11A.
178
3.
Kosten von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
Die zentrale Stellung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als Mittel der Abfederung von Transformationsfolgen war zwangsläufig mit immensen Ausgaben verbunden. Bei allen relevanten politischen Akteuren, bei Regierung und Opposition, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, bestand zunächst Einigkeit darüber, dass diese Form der Transformationsabfederung und die damit verbundenen Kosten vorübergehend in Kauf zu nehmen sind (Schmuhl 2003: 564f.). Darüber hinaus wurde die politische Entscheidung mehrheitlich getragen, dieser Herausforderung im Rahmen des bestehenden Sozialversicherungssystems zu begegnen. Auch darin zeigt sich der allgemeine Konsens hinsichtlich des umfassenden Institutionentransfers und des Rückgriffs auf eingeübte und etablierte Problemlösungsstrategien. Zudem waren die entscheidungsmächtigen politischen Akteure unmittelbar nach der deutschen Einigung im Jahr 1990 zumindest offiziell der Überzeugung, dass sich die ostdeutsche Wirtschaft und damit auch der ostdeutsche Arbeitsmarkt binnen recht kurzer Zeit vom Transformationsschock erholen würde (SVR 1991: 158f.) und die auf Ostdeutschland bezogenen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Sonderregelungen alsbald nicht mehr erforderlich wären.71 Die Ausgaben für Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen in den Neuen Bundesländern waren außerordentlich hoch. Sie machten mit bis zu 20% (1994) einen beachtlichen Teil der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit (BA), in deren Verantwortungsbereich die Mittelvergabe lag, für die Neuen Bundesländer aus (vgl. Abb. 12). Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen trugen damit maßgeblich dazu bei, dass der auf die Neuen Bundesländer entfallende Anteil der Gesamt-Ausgaben der BA in den Jahren 1991 bis 1994 zwischen 40 und 50% lag. Auf das unausweichliche Defizit der BA wurde zum einen systemimmanent reagiert. Zum 1. April 1991 wurde der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 auf 6,8% des Bruttoarbeitsentgeltes deutlich angehoben, zum Jahresbeginn 1992 wieder geringfügig auf 6,3% abgesenkt und zum Jahresbeginn 1993 wieder geringfügig auf 6,5% erhöht. Durch diese Beitragssatzanpassungen, die in den Alten Bundesländern zu deutlichen Überschüssen führten, konnten die beträchtlich negativen Finanzierungssalden der Arbeitslosenversicherung in den Neuen Bundesländern zunächst reduziert werden: Die BA-internen Transfers von West nach Ost betrugen in 1991 rund 23 Mrd. DM (SVR 1991: 144) und in 1992 rund 40 Mrd. DM (SVR 1992: 153).
71
So vertrat etwa Bundeskanzler Kohl in der Haushaltsdebatte des Bundestags im März 1991 die Auffassung, dass es in drei bis fünf Jahren zwischen alten und neuen Bundesländern einheitliche Lebensverhältnisse geben werde.
179
Abbildung 12:
Anteil der ABM/SAM-Kosten an den Gesamtausgaben der BA
20,0
15,0
10,0
5,0
ABL
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
1969
0,0
NBL
(teilweise eigene) Berechnungnen mit Daten aus Schickler 1989: 70; SVR 1993: 120f., SVR 1995: 119; Spitznagel, Bach 2000: 507 und BMAS 2007: Tab. 8.11A.
Verbleibende Fehlbeträge der Arbeitslosenversicherung mussten durch steuerfinanzierte Bundeszuschüsse kompensiert werden. Auch damit griff die Bundesregierung auf frühere Problemlösungsstrategien zurück: Bereits in den Jahren 1975/76, 1980-83 und 1988 wurden angesichts jeweils sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung angehoben und die Ausgaben der BA temporär, nämlich im Zeitraum zwischen Beitragsanhebung und Einsetzen der finanziellen Entlastungswirkungen, durch Bundeszuschüsse flankiert. Von der nur temporären Notwendigkeit eines Bundeszuschusses ging die Bundesregierung auch jetzt aus: Nach Zuschüssen von rund 0,7 Mrd. DM (1990), rund 1 Mrd. DM (1991) und 13,8 (!) Mrd. DM (1992) waren für die Jahre ab einschließlich 1993 in der Haushaltsplanung der Bundesregierung keine Bundeszuschüsse an die BA mehr vorgesehen.72 Neben der (steuerfinanziert flankierten) Beanspruchung der Arbeitslosenversicherung beruhte die umfangreiche Nutzung des arbeitsmarktpolitischen Instruments 72
180
Allerdings schloss die BA das Jahr 1993 mit einem gesamtdeutschen Defizit von über 25 Mrd. DM ab (SVR 1993: 159), wofür nicht nur die nach wie vor unbefriedigende Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland, sondern auch eine sich verschärfende Rezession in Westdeutschland ursächlich war. Damit war ein Bundeszuschuss in Höhe von 24,4 Mrd. DM für 1993 unerlässlich. Dieses Vorgehen – die zunächst generelle Ablehnung eines Bundeszuschusses und eine spätere Mittelzuweisung erst im Nachtragshaushalt – wurde zur ständigen Übung: de facto kam die BA erst im Jahr 2006 ohne Bundeszuschuss aus (BMAS 2007: Tab 8.11).
ABM auch auf Mitteln des für die Jahre 1991 und 1992 initiierten „Gemeinschaftswerkes Aufschwung Ost“. Das Programm wurde mit insgesamt rund 24 Mrd. DM ausgestattet, von denen 5,5 Mrd. DM für die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufgewendet wurden. Auch Mittel des Europäischen Sozialfonds und des Fonds „Deutsche Einheit“ wurden zur Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen herangezogen. In der Summe waren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein sehr kostspieliges Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den Neuen Bundesländern. Angesichts der immensen Ausgaben und angesichts des sich abzeichnenden wirtschaftlichen Abschwungs in den Alten Bundesländern traten im Laufe des Jahres 1992 die ursprünglichen sozialpolitischen Motive zur verbreiteten Schaffung von ABM-Beschäftigung immer mehr in den Hintergrund. Hinzu kam, dass erste Wirkungsanalysen bzgl. ABM in Ostdeutschland zu tendenziell negativen Ergebnisse kamen (Brinkmann et al. 2006: 163) und damit frühere Erfahrungen in der vormaligen, alten Bundesrepublik (vgl. Spitznagel 1989) bestätigten. In der Folge verlor das Konzept der aktiven Arbeitsmarktpolitik zusehends an Akzeptanz (Schmuhl 2003: 575) und die Frage der Ausgabenbegrenzung gewann bei staatlichen Akteuren an Gewicht. 4.
Untertarifliche Bezahlung in ABM als Mittel der Kostenbegrenzung
Neben vielen anderen Initiativen trat bei der Suche der Bundesregierung nach Möglichkeiten der Kosteneindämmung eine Thematik in den Vordergrund, die gelegentlich auch schon vor der deutschen Einigung in der früheren Bundesrepublik diskutiert wurde, jedoch angesichts der dortigen faktischen Randständigkeit von ABM nie eine mehr als akademische Relevanz entwickeln konnte: die Frage nämlich, ob ABM-Arbeitnehmer tariflich oder untertariflich entlohnt werden sollen (vgl. zu den Pro- und Contra-Argumenten in dieser Frage Schmidt 1985; Schickler 1989: 37f.; Schmid, Oschmiansky 2005: 270ff.). Gelegentlich wurde in der früheren Bundesrepublik eine geringere, untertarifliche Bezahlung von ABM-Beschäftigten gefordert und damit begründet, dass dies a) einen Anreiz schaffe, einen nicht geförderten, tariflich bezahlten Arbeitsplatz zu suchen und b) der vergleichsweise geringeren Leistungsfähigkeit von ABM-Beschäftigten angemessen sei. Dessen ungeachtet hatte die entsprechende Regelung des Arbeitsförderungsgesetzes seit seiner Verabschiedung 1969 Bestand. Ihr zufolge hatten sich die Beziehungen zwischen den zugewiesenen Arbeitnehmern und dem Maßnahmeträger nach den Vorschriften des Arbeitsrechts zu richten. In der Begründung des Gesetzes wird diese Vorgabe explizit präzisiert:
181
Die Vorschriften des Arbeitsrechts sollen grundsätzlich auch für die zugewiesenen Arbeitnehmer gelten; diese haben daher Anspruch auf Tariflohn. Hierdurch soll u.a. verhindert werden, dass von den Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung ein Druck auf die Tariflöhne ausgeht. Zugewiesene Arbeitnehmer sind auch sozialversicherungsrechtlich wie andere Arbeitnehmer zu behandeln. Gesetzgebungsverfahren Arbeitsförderungsgesetz, Anlage 1: Begründung (BT-Drs. V/2291: 78, 16.11.1967)
Diese Begründung ist insofern bemerkenswert, als sie nicht mit den Gleichbehandlungsinteressen und den (gegenüber regulär Beschäftigten womöglich doch vergleichbaren) Leistungen und Fähigkeiten der ABM-Beschäftigten argumentiert, sondern mit den Interessen der großen Zahl der tariflich entlohnten regulären Beschäftigten insgesamt und damit letztlich auch mit den Interessen der Tarifverbände. Auch später stieß die Überlegung, die Löhne der ABM-Arbeitnehmer von Gesetzes wegen geringer festzusetzen als die Tariflöhne, auf Ablehnung. „[D]ie Höhe der Arbeitsentgelte, der Preis der Arbeit [wird] durch die Tarifvertragsparteien festgelegt. Die Tarifautonomie gehört zu den Grundpfeilern unserer Ordnung und zu den tragenden Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft. Der Staat kann und darf über den kleinen Bereich der ABM-Beschäftigung die Tarifautonomie nicht in Frage stellen. Er will das auch nicht: Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 hat der Gesetzgeber ausdrücklich bestimmt, dass sich der ABM-Zuschuß nach dem tariflichen […] Arbeitsentgelt der zugewiesenen Arbeitnehmer berechnet“ (Schmidt 1985: 270). Gleichwohl spricht aus solchen Positionen zumindest das Bewusstsein dafür, welch eigentümliche Zwitterkonstruktion zwischen staatlicher und tariflicher Regulierung Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind, wie wenig sich dies mit der unter dem Label „Tarifautonomie“ institutionalisierten Arbeitsteilung zwischen Staat und Tarifverbänden vereinbaren lässt und welches Gefahrenpotential für die Verbände sich aus dieser Verantwortungsdiffusion ergeben kann. Die Frage tariflicher vs. untertariflicher Bezahlung von ABM-Beschäftigten wurde also auch schon vor dem Beitritt der Neuen Bundesländer diskutiert. Nennenswerte praktische Relevanz aber erhielt sie erst im Zusammenhang mit der ostdeutschen Arbeitsmarktsituation (vgl. Bosch et al. 1994). Auf Seiten der Bundesregierung erschien die untertarifliche Bezahlung von ABM-Beschäftigten als eine vermeintliche Lösung des Kostenproblems; eine solche Lösung war attraktiv vor allem angesichts der absoluten Zahl der ABM-Beschäftigten (bis zu 400.000 im Jahresdurchschnitt) und der damit verbundenen Ausgaben. Für die Gewerkschaften hingegen stellte sich eine derartige Lösung als ernsthafte Bedrohung dar; denn angesichts der – bezogen auf die Gesamtheit der abhängig Beschäftigten – relativen Zahl der ABM-Beschäftigten (bis zu 7%) sahen sie einen nicht unerheblichen Teil der Beschäftigten in Ostdeutschland von ihren Tarifverträgen ausgeschlossen.
182
Abbildung 13:
Absolute und relative Zahl der ABM-Beschäftigten – ABL und NBL
ABM-Beschäftigte absolut - WD ABM-Beschäftigte relativ* - WD
2005
2003
0,0 2001
0 1999
1,0
1997
50.000
1995
2,0
1993
100.000
1991
3,0
1989
150.000
1987
4,0
1985
200.000
1983
5,0
1981
250.000
1979
6,0
1977
300.000
1975
7,0
1973
350.000
1971
8,0
1969
400.000
ABM-Beschäftigte absolut - OD ABM-Beschäftigte relativ* - OD
* Bezugsgröße: Anzahl sozialversicherungspflichtiger AN
Erstmals hochrangig thematisiert wird die Frage einer untertariflichen Bezahlung von ABM-Beschäftigten im Januar 1992: Der Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums ist wirksamer zu gestalten. Das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium bleibt als Brücke zwischen unerläßlichem Wegfall unrentabler Arbeitsplätze und dem Entstehen neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze unverzichtbar. Es ist jedoch, was den Umfang der Mittel angeht, weitgehend ausgeschöpft. Außerdem müssen problematische Auswirkungen, z.B. auf den ersten Arbeitsmarkt oder die Mobilität deutlich stärker begrenzt werden. Es ist vor allem sicherzustellen, daß die an anderer Stelle benötigten Arbeitskräfte, wie z.B. Bauarbeiter und Handwerker, nicht in ABM- und Beschäftigungsgesellschaften festgehalten werden. Notwendig ist vor allem ein Entgelt für ABM-Maßnahmen, das niedriger liegt als dasjenige normaler Arbeitsverhältnisse. Die Tarifvertragsparteien sollten deshalb spezielle ABMTarifverträge mit niedrigerem Entgelt vereinbaren. Soweit dies nicht erfolgt, müssen ABMaßnahmen als Gemeinschaftsarbeiten in Anlehnung an Regelungen des früheren Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) ausgestaltet werden. In diesem Rahmen würde der Arbeitslose auf freiwilliger Basis (keine „Pflichtarbeit“) arbeiten. Das Arbeitslosengeld würde unter Gewährung einer angemessenen Entschädigung für Mehraufwendungen fortgezahlt. Arbeitslosengeld und Entschädigungen zusammen sollten 80% des tariflichen oder - in Ermangelung einer tariflichen Regelung - des orts-
183
üblichen Arbeitsentgeltes für gleichartige Arbeiten nicht übersteigen. Auf diese Weise könnten mit gleichem Mittelvolumen mehr Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Jürgen W. Möllemann (F.D.P.), Bundesminister für Wirtschaft, 07.01.199273
Diese Forderungen markiert – zumindest aus Sicht der Gewerkschaften – das Ende der von staatlichen und tarifverbandlichen Akteuren im Konsens vollzogenen Übertragung des arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Institutionensystems von West nach Ost. Sie ist in dieser Form zunächst anzusiedeln im Bereich verschärfter indikativer Beeinflussung der Tarifverbände: der Forderung nach gesonderten ABM-Tarifverträgen wird mit der Androhung einer gesetzlichen Regelung Nachdruck verliehen. Erwartungsgemäß kam keine Gewerkschaft dieser Forderung nach. Das Handeln der Gewerkschaften zielte nicht auf Differenzierung, sondern – wie beschrieben – auf Homogenisierung. Eine Aufteilung der ostdeutschen Vertragslandschaft, eine Unterscheidung in Tarifstrukturen für reguläre und für öffentlich geförderte Beschäftigung in den Neuen Bundesländern war nicht vereinbar mit ihrem Anspruch, die Unterschiede zwischen den west- und den ostdeutschen Einkommensverhältnissen insgesamt möglichst bald einzuebnen. Nachdem die Tarifrunde 1991 primär dazu genutzt wurde, die westdeutschen Tarifstrukturen auf Ostdeutschland zu übertragen, waren die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen des Jahres 1992 bemüht, das Entgeltniveau in Ostdeutschland weiter dem westdeutschen Niveau anzunähern. Nach dem Ende der ostdeutschen Tarifrunde 1992 im Sommer des Jahres lagen die Tarifverdienste in den meisten Branchen zwischen 70 und 75% der vergleichbaren Entgelte in den Alten Bundesländern und damit um 10 bis 25% höher als ein Jahr zuvor (SVR 1992: 107ff.). Aus dieser Tarifentwicklung und der Koppelung des geförderten Entgeltes von ABM-Beschäftigten an die Tarifentwicklung erwuchs aus Sicht der Bundesregierung die Gefahr einer immensen Ausweitung des ABM-Fördervolumens. Entsprechend „drosselte die Bundesregierung die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ (Schmuhl 2003: 569) ab Sommer 1992. Sie brachte darüber hinaus im September 1992 einen „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen“ in den Bundestag ein (BT-Drs. 12/3211, 07.09.1992). Dieses Gesetz, seine Nachfolgeregelungen und die Verfahren ihrer jeweiligen Verabschiedung sollen uns im Folgenden näher interessieren.
73
184
Zitiert aus: Der Bundesminister für Wirtschaft: Der Aufschwung Ost im zweiten Jahr – Wirtschaftspolitische Leitlinien, Bonn, 7. Januar 1992. http://doku.iab.de/chronik/2x/1992_01_07_20_grun.pdf
5.
Das Spannungsverhältnis von Sozialgesetzgebung und „Tarifautonomie“
Im Hinblick auf ABM war im „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen“ zweierlei vorgesehen: Einerseits sollten die Förderkonditionen in den neuen Bundesländern weitgehend an die Regelungen in den alten Bundesländern angeglichen werden. Das hieß insbesondere eine Absenkung des Höchstförderungssatzes auf 90%. Damit hatten die Träger mindestens 10% der Lohnkosten für ABM-Beschäftigte aus Eigenmitteln zu erbringen, womit angesichts der ostdeutschen Trägerlandschaft ein deutlicher Rückgang der ABM-Beantragungen bzw. -bewilligungen zu erwarten und wohl auch intendiert war. Eine 100%ige Förderung war nur noch vorgesehen, wenn besondere arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gründe vorlagen und der Träger finanziell außer Stande war, sich an der Aufbringung der Lohnkosten zu beteiligen. In diesen Fällen sollte jedoch zum Zwecke der Kosteneindämmung die geförderte Arbeitszeit auf 80% einer Vollbeschäftigung reduziert werden. Bereits damit ließ sich eine beträchtliche Ausgabenreduzierung erreichen, die Forderung nach untertariflicher Bezahlung von ABM-Beschäftigten jedoch noch umgehen. Andererseits sah der Gesetzentwurf ein neues Instrument der Arbeitsförderung zur Förderung der Beschäftigung zur Sanierung der Umwelt in den neuen Bundesländern (Arbeitsförderung ,,Umwelt Ost“, § 249h AFG) vor. Laut Entwurf sollte sich die Vergütung von Arbeitnehmern in solchen Maßnahmen am tariflichen bzw. ortsüblichen Arbeitsentgelt orientieren. Allerdings hatte sich der Zuschuss der Bundesanstalt für Arbeit an den Träger einer solchen Maßnahme nicht mehr an der individuellen Anwendung des tariflichen bzw. ortsüblichen Arbeitsentgeltes zu bemessen. Vielmehr sollte die BA einen pauschalierten Zuschuss gewähren, der dem Betrag entspräche, „…den sie bei einer Durchschnittsbetrachtung als Lohnersatzleistung (Arbeitslosengeld bzw. -hilfe, T.F.) an den Arbeitnehmer bei fortdauernder Arbeitslosigkeit zahlen müsste“ (BT-Drs. 12/3211: 33). Diese Passagen des Entwurfs waren eine Zäsur. Von der bisherigen Praxis, die Vergütung öffentlich geförderter Beschäftigter mit der Vergütung regulär Beschäftigter gleichzustellen, wird mit der Konstruktion eines pauschalierten Zuschusses ebenso abgewichen wie mit der Idee, erforderliche Ausgaben für Arbeitslosengeld und -hilfe kostenneutral in so genannte produktive Arbeitsförderung umzuwidmen. Gleichwohl antizipiert der Entwurf den Widerstand der Gewerkschaften und neutralisiert ihn mit der Soll-Bestimmung, dass lediglich der Zuschuss zu pauschalisieren sei, die individuelle Vergütung der geförderten Arbeitnehmer aber nach wie vor dem tariflichen Arbeitsentgelt entsprechen solle. Auch nur vor diesem Hintergrund der Beruhigung der Gewerkschaften lässt sich folgende, eigentümlich zusammenhanglos erscheinende, ausgesprochen aufwertende Äußerung in der ersten Beratung des Gesetzentwurfes interpretieren:
185
Insgesamt möchte ich doch die Vorstellung abwehren, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sei eine Art Hängematte. Ich möchte alle die verteidigen, die dort arbeiten, und vor allem diejenigen, die solche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen organisieren. Im übrigen beweisen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarktforschung, daß der Bruttomonatslohn in ABM ledig1ich 88% des durchschnittlichen Monatslohnes in Ostdeutschland entspricht, daß sie also schon faktisch unter den normalen Arbeitsentgelten liegen. Ich bleibe auch aus Anlaß dieser schwierigen Problematik bei dem ausdrücklichen Bekenntnis zur Tarifautonomie. Die Tarifvertragsparteien haben eine hohe ordnungs- und friedensstiftende Funktion. Wer sie außer Kraft setzt oder beschädigt, wird sich wundern, was dann entsteht. Bei allem, was an Kritik und Vorschlägen geäußert wird, haben wir es doch mit einer Tarifautonomie mit hoher Verantwortung zu tun, die auf Einsichten beruht. Wo die Tarifautonomie nicht funktioniert, muß der Staat eingreifen. Er macht es nicht besser. Dort, wo keine Tarifautonomie ist, muß der Staat Mindestlöhne festsetzen. Das ist nie erfolgreich. Ich will noch einmal über die Flexibilität der Tarifverträge, auch im Osten, sprechen. Ab 1. Januar 1992 waren für 1.500 der insgesamt 2.400 beschlossenen Vereinbarungen Firmentarifverträge abgeschlossen. Das ist gar nicht so ein Eisblock. Der entsprechende Anteil im Altbundesgebiet liegt bei 27%. Es wird viel über die Unbeweglichkeit der Tarifpartner gesprochen. Ohne Spektakel - das ist ja auch kein Fall für Spektakel - gibt es Lösungen mit hoher Verantwortung. […] Mancherorts wird der Eindruck entwickelt, wir hätten es mit Dinosauriern zu tun, die sich nicht bewegen können. Die Verantwortung der Tarifpartner ist noch immer sehr hoch und sie verdient auch, vom Parlament anerkannt zu werden. Ihr Geschäft ist ja nicht gerade leicht. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 12/105, 11.09.1992
Schon aus den entsprechenden Passagen des Gesetzentwurfes und seiner Begründung geht eine moderate Rücksichtnahme auf Gewerkschaftsinteressen hervor, und die zitierte Redesequenz erscheint geradezu als Verteidigung des autonomen Tarifsystems in toto. Der prononcierte Verweis auf die Vorrangstellung der tariflichen Entgeltfindung überhaupt, die Betonung des Tarifsystems als Maßstab für öffentlich geförderte Arbeitsmarktpolitik und die Würdigung der Flexibilität des ostdeutschen Tarifsystems machen die Frage unvermeidlich, wem gegenüber sich der immerhin für den Gesetzentwurf federführende Bundesminister zu einer parlamentarischen Rechtfertigung diesen Nachdrucks genötigt sah. Die parlamentarische Opposition (bestehend aus SPD, GRÜNEN und PDS) kam als Adressat gewiss nicht in Betracht, war ihr doch bereits der vorgelegte Gesetzentwurf ein massiver Eingriff in das Arbeits- und Tarifrecht der Bundesrepublik.74 Damit bleibt als Adressat der Einlassungen nur der eigene Koalitionspartner; gerade die Äußerungen zu ABM als Hängematte sind ein Hinweis auf deutliche Kontroversen innerhalb der Bundesregierung zwischen dem (CDU-geführten) Bundesarbeits- und -sozialministerium einerseits und dem (F.D.P.-geführten) Bundeswirtschaftsministerium andererseits. Bereits im Vorfeld der Gesetzesinitiative 74
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In diesem Sinne: Petra Bläss (PDS, S. 51), Christina Schenk (GRÜNE, S. 55), Regina Kolbe (SPD, S. 58), jeweils in der ersten Beratung des Gesetzentwurfes (BT-PP 12/105, 11.09.1992)
war es zu Meinungsverschiedenheiten über die Frage gekommen, wie konfrontativ gegenüber den Gewerkschaften die Frage der untertariflichen Vergütung öffentlich geförderter Beschäftigter in der Gesetzesänderung zu behandeln sei. Dass der Bundeswirtschaftsminister in dieser Frage eine deutlich weniger moderate Regelung als der Bundessozialminister favorisierte, war spätestens seit der Veröffentlichung der (oben auszugsweise zitierten) wirtschaftpolitischen Leitlinien im Januar 1992 bekannt. Wie in Gesetzgebungsverfahren üblich, folgte auf die erste Beratung des Gesetzentwurfs am 11.09.1992 die Überweisung in diverse Ausschüsse, federführend in den Ausschuss des Bundestags für Arbeit und Sozialordnung (AfArbSoz). Dieser Ausschuss beriet in vier Sitzungen über den Entwurf. In der zweiten dieser vier Sitzungen (am 30.09.1992) fand eine Sachverständigenanhörung statt. Basis der Anhörung (und schriftlicher Stellungnahmen) war der Text des Gesetzentwurfes; und damit in der Frage der Höhe der ABM-Vergütung die oben erwähnte geplante Regelung in § 249h, nach der sich die Vergütung selbst am Tariflohn ausrichten, der BA-Zuschuss dazu aber pauschaliert werden solle. Nach der Anhörung, nicht aber als ihr Ergebnis wurde in zwei weiteren Sitzungen (am 7. und am 14.10.1992) der Gesetzentwurf nochmals umfangreich verändert, und zwar an vielen Stellen in einer Weise, die, wäre sie vor der Anhörung erfolgt, mit Sicherheit überwiegend auf Ablehnung der Sachverständigen gestoßen wäre. Von den Änderungen betroffen war auch der Entwurf des § 249h. An der pauschalierten Zuschuß-Ermittlung wird festgehalten. Hingegen wird die im Entwurf implizit enthaltene Tariforientierung der Entgelthöhe für ABM-Beschäftigte explizit aufgehoben und ersetzt durch folgende Formulierung: Der Zuschuß wird gewährt, wenn für die zugewiesenen Arbeiten Arbeitsentgelte vereinbart sind, die bei einer Arbeitszeit im Sinne des § 69 angemessen niedriger sind als die Arbeitsentgelte vergleichbarer nicht zugewiesener Arbeitnehmer; andernfalls kann der Zuschuß nur gewährt werden, wenn die Arbeitszeit der zugewiesenen Arbeitnehmer […] 80 vom Hundert der Arbeitszeit des § 69 nicht überschreitet. Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drs. 12/3423: 29f., 14.10.1992)
Dieser Regelung zufolge ist die Förderung einer Beschäftigung nur noch möglich, wenn die Tätigkeit untertariflich bzw. unter ortsüblichem Niveau vergütet wird. In der Begründung der Änderung des Entwurfes wird das präzisiert: Abweichend vom Regierungsentwurf muß die Vereinbarung niedriger Arbeitsentgelte für zugewiesene Arbeitnehmer als Voraussetzung für einen höheren als den Regel-ABM-Zuschuß Vorrang vor einer Förderung nur von Teilzeitarbeit haben. Dabei ist davon auszugehen, daß Arbeitsentgelte dann „angemessen niedriger“ sind, wenn sie den Rahmen von bis zu 90 v. H. der Arbeitsentgelte nicht zugewiesener Arbeitnehmer nicht überschreiten. Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drs. 12/3423: 60, 14.10.1992)
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Nur einen Tag später, am 15.10.1992, erfolgten die zweite und die dritte Beratung des vom AfArbSoz deutlich geänderten Gesetzentwurfes der Bundesregierung. Erwartungsgemäß wurden die jüngsten Änderungen von Vertretern der Opposition scharf kritisiert; die Rede ist von Missachtung bzw. Abdingbarkeit von Tarifverträgen und von „fatalen“ (aber nicht näher ausgeführten) Folgen untertariflicher Bezahlung als Fördervoraussetzung. Auf diese Vorhaltungen gehen in der parlamentarischen Debatte weder Vertreter der Bundesregierung noch Angehörige der Regierungsfraktionen auch nur ansatzweise ein – mit zwei Ausnahmen, die jedoch unterschiedlicher kaum sein können. Der offiziell nach wie vor federführend zuständige Bundesminister ist sichtlich bemüht, die sich abzeichnende imperative Regelung der Angelegenheit mit seinen eigenen Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen und als einvernehmliche, kooperative Lösung darzustellen: Ich will hinzufügen, daß die Novelle auch die Veränderung von Förderungsvoraussetzungen enthält. Wir möchten entweder 80% der Arbeitszeit oder eine ABM fördern, wenn deren Entgelt niedriger ist als die Entgelte nicht zugewiesener Arbeitnehmer, also außerhalb von AB-Maßnahmen. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür bedanken, daß bereits zwei große Gewerkschaften ihre Bereitschaft erklärt haben, hier mitzuwirken, um zu einer Tarifgestaltung zu kommen, die es ermöglicht, mehr Menschen unterzubringen, als es ohne diese Mitarbeit möglich wäre. Das zeigt, daß noch immer ein hohes Maß an Verantwortung und Sozialpartnerschaft in unserem Land vorhanden ist. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 12/113, 15.10.1992
Demgegenüber begründet Gisela Babel, die sozialpolitische Sprecherin der F.D.P.Fraktion und als Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung maßgeblich an den Änderungen des Gesetzentwurfes beteiligt, die gesetzliche Regelung gerade mit der Notwendigkeit staatlichen Handelns angesichts mangelnder gewerkschaftlicher Bereitschaft, spezielle ABM-Tarifverträge abzuschließen: Besser wäre es natürlich, wenn sich die Tarifpartner über solche Fragen einigen könnten – Ansätze dazu gibt es in einigen Gewerkschaften – und nicht der Gesetzgeber eingreifen muß. (Renate Rennebach [SPD]: Beide Tarifpartner wollen es nicht!) Frau Rennebach, das stimmt nicht ganz. (Regina Kolbe [SPD]: Tarifautonomie!) Die Tarifautonomie spreche ich gerade an, Frau Kolbe! Die Gewerkschaften sollten hier zugunsten der Menschen umdenken, die sonst keine Chance haben zu arbeiten. Mit Tarifen für AB-Maßnahmen auf einem niedrigeren Level könnte man sehr viel bessere und weitergehende Fortschritte erzielen, als wenn wir als Gesetzgeber das machen müssen. Gisela Babel (F.D.P.-Fraktion), BT-PP 12/113, 15.10.1992
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Mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. wird an diesem Tag der Gesetzentwurf in der von AfArbSoz geänderten Fassung angenommen. Damit ist jedoch das Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen – und für die Behandlung unserer übergreifenden Frage nach der Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ lohnt ein Blick auf das weitere Verfahren. Drei Wochen nach Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag, am 9.11.1992, ruft der (SPD-dominierte) Bundesrat den Vermittlungsausschuss an, um unter anderem zu erreichen, dass die „Restriktion auf niedrigere Arbeitsentgelte“ (BT-Drs. 12/3668: 9) gestrichen wird. Begründet wird diese Forderung mit dem Schaden, „…den diese Einschränkung für das neue Instrument anrichtet“ (ebd.), nicht jedoch mit möglichen Auswirkungen auf den Handlungsspielraum der Tarifverbände. Im Gegenteil: Auch die Verfasser der Anrufung des Vermittlungsausschusses bringen ihre Erwartung zum Ausdruck, „…dass möglicherweise in bestimmten Branchen die Tarifparteien aktiv einen Beitrag zur Absicherung der Gesamtfinanzierung leisten werden“ (ebd.). In diesem verglichen mit Bundestags-Debatten weit weniger öffentlichkeitswirksamen, mithin weit weniger instrumentalisierungsanfälligen Papier wird also nicht nur auf den Hinweis verzichtet, die geplante Fassung des § 249h sei mit der Tarifautonomie unvereinbar. Es wird sogar, zumindest in indikativer Weise, die Erwünschtheit spezieller ABM-Tarifverträge zum Ausdruck gebracht. Anders kann die Formulierung „aktiver Beitrag zur Absicherung der Gesamtfinanzierung“ nicht gemeint sein, zumindest wenn man die – angesichts der Zuschuss-Ermittlung (Alg/ Alhi-Durchschnitt) wenig plausible – Deutungsmöglichkeit ausschließt, dass sich die Tarifverbände in Ostdeutschland insgesamt lohnpolitisch zurückhaltend verhalten sollen. Nur drei Tage später, am 12.11.1992, wird im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag der Gesetzentwurf nochmals in vier Punkten verändert. Die im § 249h geregelte Frage untertariflicher Bezahlung von ABM-Beschäftigten bleibt davon unberührt. Einen weiteren Tag später, am 13.11.1992, werden im Bundestag kurz die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses debattiert und schließlich angenommen; auch bei dieser Aussprache spielt die Höhe der Vergütung von „ABM Umwelt-Ost“ nach § 249h keine Rolle. Am 30.11.1992 erhebt der Bundesrat Einspruch gegen das Vermittlungsergebnis, und zwar unter anderem ausdrücklich mit der Begründung, dass „…der gegenüber dem Regierungsentwurf verschärfte Einstieg in eine untertarifliche Bezahlung von ABM-Kräften einen schwerwiegenden Eingriff in die Tarifautonomie“ darstelle (BTDrs. 12/3892: 2). Am 9.12.1992 wird im Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. der Einspruch des Bundesrates zurückgewiesenen; in der entsprechenden Aussprache wird ein Eingriff in die Tarifautonomie nur von einer Vertreterin der PDS, nicht aber von Angehörigen weiterer Oppositions- oder Regierungsfraktionen thematisiert. Mit der Zurückweisung des Einspruchs sind alle Hürden im Gesetzgebungsverfahren genommen. Das Gesetz zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeits-
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förderungsgesetz und in anderen Gesetzen kann zum 01.01.1993 in Kraft treten, es firmiert fortan in der Fachöffentlichkeit unter dem Titel „10. AFG-Novelle“. Nur eineinhalb Jahre später wurden die gesetzlichen Regelungen zu den Fördervoraussetzungen öffentlich subventionierter Arbeit von der Bundesregierung erneut geändert. Im Juni 1994 beschloss der Bundestag das Beschäftigungsförderungsgesetz (BeschfG 1994), in dem das Arbeitsförderungsgesetz teilweise unverändert, teilweise modifiziert aufging. Gegenüber der 10. AFG-Novelle vom Dezember 1992 sah das BeschfG 1994 unter anderem eine nochmalige Absenkung der Bemessungsgrundlage für Zuschüsse zu ABM vor; zuschussfähig waren fortan nur noch ABM-Entgelte, die höchstens 80% (vorher: 90%) des vergleichbaren Entgelts für ungeförderte Arbeit betrugen. Zudem wurden die bislang auf Ostdeutschland beschränkten Strukturanpassungsmaßnahmen nach §249h AFG nun auch in den Alten Bundesländern eingeführt und bei dieser Gelegenheit einheitlich für Gesamtdeutschland „die Gewährung des Zuschusses davon abhängig gemacht, dass die Entgelte für geförderte Arbeitnehmer mindestens 20 v.H unter den allgemeinen Entgelten für ungeförderte Arbeit liegen.“75 Die diesbezügliche parlamentarische Auseinandersetzung im Vorfeld der Verabschiedung des BeschFG ähnelt den Diskussionen im Kontext der Verabschiedung der 10. AFG-Novelle bis in die Details, sowohl den zeitlich ungewöhnlich gedrängten Ablaufplan betreffend als auch hinsichtlich der diskursiven Schemata. Insofern soll der parlamentarische Prozess hier nur grob nachgezeichnet werden. Erstmals angekündigt wurde das Gesetzgebungsverfahren (und seine Motivation) im Rahmen einer Regierungserklärung vom Bundeswirtschaftsminister (!) am 20.01.1994: ...werden wir die Lohnkostenzuschüsse verändern. Wenn wir schon auf dem regulären Arbeitsmarkt zu hohe Arbeitskosten diagnostizieren, dann können diese nicht auch noch Grundlage für die Bemessung von Lohnkostenzuschüssen bei ABM sein. Dies hat auch prinzipielle Gründe; denn es muß eine stärkere Differenzierung zwischen öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen und dem normalen Arbeitsmarkt geben, und es muß Mobilität angereizt werden, vom sogenannten zweiten Arbeitsmarkt in ein normales Arbeitsverhältnis zu wechseln. Deshalb machen wir das. Günther Rexrodt (F.D.P.), Bundesminister für Wirtschaft, BT-PP 12/205, 20.01.1994
Die sozialpolitische Sprecherin der F.D.P.-Fraktion präzisiert die Intention: ...jedenfalls ist der entscheidende Punkt, daß wir die Kosten der AB-Maßnahmen immer noch an den Tariflöhnen orientieren. Sie werden in fast allen Tarifgruppen bewilligt. […] Zu eigentlichen AB-Tarifen, d.h. gegenüber den Tarifen abgesenkten Tarifen, haben sich die Gewerkschaften bislang nicht bewegen lassen. Es gibt einige Vernünftige, die einen Umweg beschritten haben. Sie haben mit Beschäftigungsgesellschaften Haustarife abge75
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Begründung des Gesetzentwurfs BeschfG 1994 (BT-Drs. 12/6719: 19)
schlossen, die niedriger lagen. Aber sonst herrscht auf diesem Gebiet nur ängstliche Sturheit und Festhalten am Gewohnten. Die jetzt vorgesehenen Maßnahmen werden dieses Tarifgefüge auflockern. Es ändern sich die Bemessungsgrundlagen für die AB-Tarife. Nur noch 80% des Tariflohnes werden zugrunde gelegt, und die Höhe ist gedeckelt, nämlich in der Höhe des Durchschnittsentgelts der Rentenversicherung. Das heißt, pauschal gesagt: Für eine AB-Maßnahme wird in Zukunft in der Größenordnung von 1 600 DM pro Monat gezahlt werden. Die erforderlichen zusätzlichen Mittel müssen nun also vom Träger gestellt werden, wenn die Gewerkschaften nicht einverstanden sind, daß die Tarife abgesenkt werden. In dieser neuen Regelung vereinen wir also zwei Vorteile: Einmal können wir die vorhandenen Mittel auf mehr Menschen verteilen und ihnen Beschäftigung bringen, und zum anderen üben wir Druck auf die Gewerkschaften aus, abgesenkte Tarife mit zu beschließen, wenn sie für höher bezahlte Arbeitnehmer AB-Maßnahmen sichern wollen. Gisela Babel (F.D.P.-Fraktion), BT-PP 12/205, 20.01.1994
Bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes am 03.02.1994 zeigen sich ebenfalls die erwarteten Muster. Auf den Vorwurf hin, mit der Regelung weitere zukünftige Lohnreduzierungen76 anstoßen zu wollen, wird mit einer Trennung von Tarifsphäre und staatlich geförderter Beschäftigung argumentiert: Die F.D.P. hat seit Jahren gefordert, daß die Entgelte in arbeitsmarktpolitisch geförderten Arbeitsverhältnissen gegenüber den Tariflöhnen abgesenkt werden müssen. Wir haben jahrelang gehört, daß das nicht geht: Eingriff in die Tarifautonomie, das wäre verfassungswidrig. Jetzt, mit einmal ist das Ei des Columbus gefunden. Wir senken die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Wir haben eine neue Bemessungsgrundlage. Bezuschußt werden in Zukunft nur noch 80% des Entgeltes, was üblicherweise die tariflich geregelte Arbeit wert ist. Erst jetzt ist also das Gefüge stimmig: Wir zahlen 100% Lohn für Arbeit im ersten Arbeitsmarkt, wir zahlen 80% Entgelt für staatlich geförderte Arbeit, und wir zahlen 60 bis 65% für den Bezug von Arbeitslosengeld. Gisela Babel (F.D.P.-Fraktion), BT-PP 12/208, 03.02.1994
Und in der gleichen Sitzung und mit unmittelbarem Bezug zu staatlicher Beschäftigungspolitik werden so offen wie selten zuvor die Mechanismen des Tarifsystems in Frage gestellt und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente dargestellt als eine Art Reparaturwerkzeug für Schäden, die von den Tarifpartnern verursacht werden: Die in unserem Beschäftigungsprogramm enthaltenen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen können die notwendige gesamtwirtschaftliche Offensive fördern und flankieren. Sie können den Menschen Mut machen, daß sich nun etwas nach vorne bewegt. Genau dies wollen wir. Sie können aber […] Wirtschaftspolitik, die auch durch die Tarifpartner gemacht werden muß, natürlich nicht ersetzen. Bei uns in Deutschland sind Lohn und Leis-
76
So wörtlich Gregor Gysi, PDS/Linke Liste, BT-PP 12/208: 17959C
191
tung aus dem Gleichgewicht geraten. Dies ist ein ganz entscheidender Faktor dafür, daß wir hier Schwierigkeiten haben. […] Mit verantwortlich für diese Situation, die wir in diesem Land haben, ist die tarifliche Lohnpolitik, die sich in der Vergangenheit nur um die Beschäftigten, aber nicht um die Arbeitslosen gekümmert hat. Es läuft nach dem Motto - auch bei Ihnen und bei den Gewerkschaften -: Wir sorgen für diejenigen, die im System drin sind, und die Arbeitslosen überlassen wir der Politik. Dieses Spiel machen wir auf Dauer nicht mehr mit. […]. Die Tarifpolitik muß also nachhaltig korrigiert werden, und die Lohnpolitik muß insgesamt flexibel und differenziert gestaltet werden. […] Wir wollen Arbeitsplätze in unserem Land schaffen - dies haben wir heute deutlich gemacht -, und wir wollen sie in unserem Land auch erhalten. Dazu dient dieses Programm wie kein anderes. Es soll schnell Ergebnisse bringen und soll unsere Politik schnell umsetzen. Volker Kauder (CDU-Fraktion), BT-PP 12/208, 03.02.1994
Die zweite Lesung am 14.04.1994 nutzen Vertreter von SPD und PDS zu teilweise massiver Kritik am Gesetzentwurf, der ihrer Auffassung nach Tarifbruch gesetzlich verordnet und so zum Vorreiter für Lohnkürzungen auf breiter Ebene wird77, der einen Angriff auf die Tarifautonomie startet78 und sie außer Kraft setzen will mit der Ziel, per Gesetz Niedriglohnbereiche ohne Sozialpartnerschaft zu schaffen79. In den Reihen der Bundesregierung oder der Regierungsfraktionen wird auf diese unmittelbaren Vorwürfe wie schon im Gesetzgebungsverfahren 1992 nicht reagiert – wiederum mit zwei sehr kurzen, sehr randständigen und kaum miteinander zu vereinbarenden Ausnahmen: Eine weitere entscheidende Maßnahme ist für mich die zukünftige Begrenzung von Lohnkostenzuschüssen für öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse. Damit, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verlassen wir endlich die Fiktion, aus sozialpolitischen Motiven subventionierte Arbeitsplätze mit regulären Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt gleichzusetzen. Dies hat finanzielle Auswirkungen, da nun mehr Arbeitslose als bisher von den begrenzten Mitteln profitieren können. Weiterhin werden auch die Anreize verstärkt, sich um einen regulären Arbeitsplatz zu bemühen. […] Aber ich glaube, ich brauche nicht besonders zu betonen, daß dies nur ein Teil der notwendigen Maßnahmen ist. Wirtschaft und Tarifpartner, Unternehmer und Gewerkschaften müssen ihren Part ebenfalls übernehmen, wenn wir die Rezession schnellstmöglich überwinden und den Aufbau in den neuen Bundesländern voranbringen wollen. Ich nenne hier nur die Stichworte Lohnflexibilität und Arbeitszeitflexibilität. Mit dem Tarifabschluß in der Chemieindustrie sind ermutigende Zeichen gesetzt worden. Ich kann nur hoffen, daß sich die Tarifvertragsparteien in anderen Bereichen an diesem Vorbild orientieren werden. Heinrich Leonhard Kolb (F.D.P.), Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, BT-PP 12/219, 14.04.1994 77 78 79
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Adolf Ostertag, SPD, BT-PP 12/219: 18930B Gregor Gysi, PDS/Linke Liste, BT-PP 12/219: 18936D Renate Jäger, SPD, BT-PP 12/219: 18944D
Frau Kollegin Jäger, die Höhe des zuschußfähigen Entgeltes für ABM ist kein Eingriff in die Tarifautonomie; das ist weiterhin Gegenstand der Vereinbarung. Aber wie wir den Zuschuß organisieren, das ist Sache des Staates. […] Wir haben noch immer, trotz mancher Konflikte, eine Sozialpartnerschaft, die ordnungsfähig ist. Das haben auch gerade die zurückliegenden Tarifvertragsvereinbarungen gezeigt. Ich zähle zu unseren Stärken Qualifikation und Sozialpartnerschaft – ein Standortvorteil. Norbert Blüm (CDU), Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, BT-PP 12/219, 14.04.1994
Als Zwischenergebnis bestätigen sich die in Kapitel 6.3 angestellten Überlegungen zum kommunikativen Umgang staatlicher Akteure mit dem Konstrukt Tarifautonomie und dem Begriff „Tarifautonomie“ im Falle imperativer Maßnahmen, die das Potential einer Grenzverschiebung zwischen tarifverbandlichem und staatlichem Handlungsspielraum haben. In das diskursive Themenfeld „Tarifautonomie“ begeben sich staatliche Akteure im Kontext imperativer Steuerung nicht initiativ, sondern allenfalls reaktiv, dann aber relativierend und skeptisch bis ablehnend. Im gesamten Verlauf beider Gesetzgebungsverfahren haben es Vertreter von Bundesregierung und Regierungsfraktionen beharrlich vermieden, auf Einwände einzugehen, die die Fördervoraussetzung „untertarifliche Bezahlung von ABM-Beschäftigten“ als Eingriff in die Tarifautonomie thematisieren. Und in der parlamentarischen Auseinandersetzung mit dem Begriff „Tarifautonomie“ unmittelbar und unausweichlich konfrontiert, wird als Grund des gesetzgeberischen Handelns auf die aus Sicht der Bundesregierung unzureichende Anpassungsbereitschaft der Tarifverbände verwiesen; deren ökonomische Funktionalität also relativiert oder letztlich gar in Frage gestellt. Etwas aus diesem Rahmen fallen lediglich die Redesequenzen des zuständigen Bundesministers, dem es aber um die eigene Reputation zu tun war bei beiden Gesetzgebungsverfahren, für die er zwar offiziell federführend war, in denen ihm (bzw. seinem Ministerium) aber durch die zentrale Rolle des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung die aktive Gestaltungsmitwirkung weitgehend entzogen war.80 6.
Fiskalische, politische und soziale Folgen der Gesetzgebung
Zu welchen Effekten führten nun die beiden Gesetzesänderungen? Offizielle Intention beider Novellen war – das ist aus den zitierten Redesequenzen deutlich geworden –, (1) die Reduzierung der Ausgaben für subventionierte Beschäftigung bei (2) gleichzeitiger Erhöhung der Zahl subventionierter Beschäftigter und (3) eine Flexibilisierung und Heterogenisierung der (ostdeutschen) Tarifvertragslandschaft. Die ersten beiden 80
Nicht nur eine Sequenz der Parlamentsdebatten zu den Gesetzgebungsverfahren weist auf die zentrale Rolle des Ausschusses, auf die wiederum zentrale Rolle der F.D.P.-Abgeordneten innerhalb dieses Ausschusses und insgesamt auf die Marginalität des federführenden Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung hin, vgl. etwa BT-PPe 12/113: 9604B-C, 12/113:9615C, 12/208: 17973D.
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Ziele lassen sich anhand vorliegender Daten problemlos prüfen. Sie wurden mit der 10. Novelle AFG, die zum 1.1.1993 in Kraft trat, zunächst verfehlt: im gesamtdeutschen Maßstab stiegen die Ausgaben gegenüber dem Vorjahr 1992 um 10% (in Ostdeutschland sogar um 19%), während die Zahl der geförderten Beschäftigten im Jahresdurchschnitt um gut 40% zurückging. Erst das BeschfG 1994, das ab 1.8.1994 galt, führte – wenngleich mit einiger Verzögerung und deutlichen Unterschieden zwischen dem alten und dem neuen Bundesgebiet – zu den angestrebten Entwicklungen: Gegenüber 1993 ging die Zahl der ABM-Beschäftigten in 1994 nochmals um insgesamt gut 10% zurück, stieg jedoch in 1995 wieder um insgesamt 8%. Die Ausgaben erhöhten sich von 1993 zu 1994 geringfügig um 3%. In 1995 stiegen sie in den ABL um 21%, während sie in den NBL um gut 14% zurückgingen, was insgesamt zu einem Ausgabenrückgang von mehr als 7% führte. Tabelle 1:
Entwicklung von Beschäftigtenzahl und Ausgaben ABM ABM-Beschäftigte Jahresdurchschnitt in Tsd.
Ausgaben in Mio. DM
ABL
NBL
DTL gesamt
ABL
NBL
DTL gesamt
1991
76,7
205,1
281,8
2.538,6
3.075,3
5.613,9
1992
71,2
393,0
464,2
2.510,6
7.803,4
10.314,0
1993
45,3
234,6
279,9
2.090,8
9.282,9
11.373,7
1994
52,5
200,2
252,7
2.173,1
9.552,3
11.725,4
1995
63,2
210,0
273,2
2.625,1
8.229,9
10.855,0
Veränderung ggü. Vorjahr in Prozent* 1992
-7,1
91,6
64,7
-1,1
153,7
83,7
1993
-36,4
-40,3
-39,7
-16,7
19,0
10,3
1994
15,9
-14,7
-9,7
3,9
2,9
3,1
1995
20,3
4,9
8,1
20,8
-13,8
-7,4
*
Vorjahr = 100%; teilweise eigene Berechnungen mit Daten aus Spitznagel, Bach 2000: 507; BMAS 2007: Tabn. 2.6A, 8.11A.
Schwieriger ist die Prüfung der dritten Intention. Welchen Einfluss hatten die beiden Novellen auf die Entwicklung der ostdeutschen Tariflandschaft? Zunächst: Der Aufforderung, großflächig spezielle ABM-Tarifverträge zu vereinbaren, kamen die Tarifverbände in den Neuen Bundesländern erwartungsgemäß im Wesentlichen nicht nach. Für die überwiegende Zahl der ABM-Beschäftigten galt insofern in der Tat eine faktisch untertarifliche Entlohnung als Fördervoraussetzung. Nur drei Gewerkschaften vereinbarten einige wenige Verbands- und Firmentarifverträge, die speziell die Entgelthöhe von öffentlich geförderten Beschäftigten regelten und den gesetzlichen
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Vorgaben entsprechend erst 10%, später 20% unter den vergleichbaren regulären Flächentarifen lagen (vgl. Bispinck 1994: 149f.). Zu diesen Gewerkschaften gehörte auch die IG Metall. Gleichwohl bewertete sie die Vorschriften des AFG und des BeschfG als staatliche Lohnleitlinien, durch die sie per Gesetz gezwungen sei, für eine erhebliche Zahl von Beschäftigten das Tarifniveau der von ihr selbst abgeschlossenen Flächentarifverträge deutlich zu unterschreiten (Mayer 1993). Die IG Metall legte daher noch im Jahr 1993 Verfassungsbeschwerde gegen die entsprechenden Regelungen im AFG ein. Laut Beschwerdebegründung81 gerate sie in ein Dilemma dadurch, dass sie die gesetzlich festgelegte Lohnobergrenze bei ihren Tarifverhandlungen zu beachten habe, wodurch ihre Verhandlungsposition gegenüber Arbeitgeber(verbände)n geschwächt werde. Lasse sie sich aber auf die Vereinbarung abgesenkter Entgelte nicht ein, würden die Arbeitsbedingungen nicht kollektiv, sondern durch Einzelarbeitsverträge geregelt. Der Gesetzgeber gebe so einen Anreiz zur Tarifflucht der Arbeitgeber und schwäche auch damit die Position der Arbeitnehmerseite. Im Übrigen verstoße die mit der Förderung beauftragte Bundesanstalt für Arbeit durch Einhaltung der gesetzlichen Vorgabe gegen den Grundsatz des Arbeitsförderungsgesetzes, nicht am Zustandekommen tarifwidriger Arbeitsbedingungen mitzuwirken. Insgesamt, so die Formulierung in der Beschwerdebegründung, seien die politischen Intentionen (Ausgabenreduzierung und Förderausweitung zugleich) auch auf anderen Wegen, ohne Eingriff in die Tarifautonomie zu erreichen gewesen; insofern „dienten die Lohnabstandsklauseln in Wahrheit als Testfall für allgemeine Tariföffnungsklauseln.“82 Ungeachtet der streckenweise etwas polemischen Wortwahl macht diese Beschwerdebegründung auf ein Grundproblem aufmerksam, mit dem sich die Gewerkschaften in dieser Etappe der ostdeutschen Transformation konfrontiert sahen. In der wichtigen und ohnehin ausgesprochen schwierigen Etablierungsphase der Gewerkschaften und des Tarifsystems in Ostdeutschland wurde ein erheblicher Teil der ostdeutschen Beschäftigten durch die Vorgaben des Arbeitsförderungsrechts von den Wirkungen des Tarifsystems entkoppelt. Von den ausgehandelten Flächentarifverträgen wurden in den Jahren 1993 und 1994 jeweils gut 200.000 Arbeitnehmer explizit ausgeschlossen. Diese von der tariflichen Rückstufung betroffenen Arbeitnehmer von den gewerkschaftlichen Anliegen und Gestaltungsansprüchen sowie von aktiver Teilnahme als Gewerkschaftsmitglied zu überzeugen, dürfte den ostdeutschen Regionalverbänden damit noch schwerer gefallen sein als die Mitgliederrekrutierung und Institutionalisierung eines mit Westdeutschland vergleichbaren Tarifsystems ohnehin. Nicht nur einzelne Unternehmen oder Trägergesellschaften, sondern ganze Branchen, für die sich in den genannten Jahren noch kein privatwirtschaftlich funktionierender Markt her81 82
BVerfG, 1 BvR 2203/93 vom 27.4.1999, Absatz Nr. 26-33 BVerfG, 1 BvR 2203/93 vom 27.4.1999, Absatz Nr. 29; vgl. für eine differenzierte Diskussion der Pro- und Contra-Argumente Hanau 1994.
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ausgebildet hatte, fielen unter die Vorgaben der untertariflichen Bezahlung von geförderten Beschäftigten, und es ist sicher kein Zufall, dass auch heute noch in diesen Branchen die Tarifbindung besonders gering und die einzelvertragliche Gestaltung von Arbeitsbedingungen besonders verbreitet ist (Kohaut, Schnabel 2003). Insofern trug die gesetzlich vorgeschriebene untertarifliche Bezahlung öffentlich geförderter Beschäftigung zur Herausbildung jenes spezifisch ostdeutschen Tarifsystems bei, das bis heute Bestand hat. Dass diese im Vergleich zu Westdeutschland größere Heterogenität der Tariflandschaft und schwächere Institutionalisierung des ostdeutschen Tarifsystems nicht nur eine nicht vorhergesehene oder billigend in Kauf genommene Folge, sondern eine Intention der entsprechenden Regelungen gewesen sei, darauf spielt die Formulierung „Testfall für allgemeine Tariföffnungsklauseln“ in der Beschwerdebegründung der IG Metall an. In der Tat fielen die wiederholten gesetzlichen Verschärfungen der Förderungsfähigkeit in eine Phase, in der das Tarifrecht überhaupt durch eine Vielzahl von normativen Veränderungen und faktischen Entwicklungen in Bedrängnis geriet (für eine Übersicht dieser vgl. Unterhinninghofen, Zachert 1994: 378-396). Im April 1999 (also fünfeinhalb Jahre nach Einreichung der Beschwerde) entschied das Bundesverfassungsgericht, dass so genannte Lohnabstandsklauseln, „die Zuschüsse für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an die Vereinbarung von untertariflichen Entgelten knüpfen, zwar in die Tarifautonomie der Arbeitnehmerkoalitionen eingreifen, aber zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gerechtfertigt sein können.“83 Es legitimiert damit den als solchen zugestandenen Eingriff durch überwiegende Gründe des Gemeinwohls, namentlich die aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) abgeleitete Pflicht des Gesetzgebers, „Massenarbeitslosigkeit durch Förderung von zusätzlich bereitgestellten Arbeitsplätzen zu bekämpfen“.84 Durch die Bestätigung der Rechtmäßigkeit der imperativen Steuerung ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ein geeignetes Beispiel für die Ausführungen in Kapitel 3.3: Der entsituierenden, dekontextualisierenden Festschreibung der Koalitions- und Interventionsfreiheit im Grundgesetz steht die situative, kontextabhängige Interventionstätigkeit des Gesetzgebers und die situative, kontextabhängige verfassungsrechtliche Interpretation der Leistungsfähigkeit der Tarifautonomie im Abgleich mit anderen Staatszielen von Verfassungsrang gegenüber. In der Summe kam es durch die Gesetzesänderungen und ihre höchstrichterliche Legitimierung zur Verschiebung jener Grenze, die zwischen den Kompetenzsphären von Staat und Tarifverbänden verläuft. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist damit ein Beleg dafür, dass die Tarifautonomie rechtlich stark institutionalisiert ist hinsichtlich ihrer Existenz, jedoch kontextabhängig 83 84
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BVerfG, 1 BvR 2203/93 vom 27.4.1999, Leitsatz BVerfG, 1 BvR 2203/93 vom 27.4.1999, Absatz Nr. 58
flexibel und damit vergleichsweise schwach institutionalisiert hinsichtlich ihrer Ausdehnung. Man mag einwenden, dass die durch die Gesetzesänderungen vollzogene Grenzverschiebung zwischen tarifverbandlichem und staatlichem Handlungsraum nur von minderer Relevanz ist, da sie nicht den Kernbereich der koalitionsmäßigen Betätigungen, sondern lediglich einen Randbereich berührt, in dem nur eine Minderheit aller abhängig Beschäftigten betroffen ist. Für die Regelung von ABM und SAM im spezifischen Transformationskontext der 1990er Jahre ist dieser Einwand sicher anzuerkennen. Letztlich aber – und deshalb wurde der Diskurs hier so ausführlich nachvollzogen – steht die Problematik der untertariflichen Bezahlung öffentlich geförderter Beschäftigung als Beispiel für das Konfliktpotential jedweder Form lohnbezogener Sozialleistung. Dass diese Form der Beschäftigungsförderung ihre arbeitsmarktpolitische Zukunft noch weitgehend vor sich hat (vgl. Bode 2005: 118), und dass aus diesem Grund die Frage des Verhältnisses von Markteinkommen und (ergänzenden) Sozialtransfers wesentlich stärker ins Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen Staat und Tarifverbänden rücken wird, liegt angesichts der derzeitigen Entwicklungen und Debatten über Kombilöhne, Mindestlöhne oder Ansätze einer negativen Einkommensbesteuerung etc. auf der Hand. Als einstweilen abschließender Beleg, wie flexibel und leicht verschiebbar die Kompetenzgrenze zwischen Tarifverbänden und Gesetzgeber zumindest in der hier dargestellten Angelegenheit ist, sei jedoch auf ihre weitere Entwicklung hingewiesen. Die Bundesregierung, inzwischen bestehend aus SPD und GRÜNEN, hat im Sommer 1999 im Zuge des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sozialgesetzbuches III – Arbeitsförderung (2. SGB III-ÄndG) die bis dato bestehenden und mittlerweile auch als verfassungskonform bestätigten Regelungen, denen zufolge die Bezuschussung einer ABM-Beschäftigung nur möglich ist, wenn das Entgelt aus dieser Beschäftigung 80% des tariflichen Arbeitsentgelts nicht übersteigt, schlichtweg aufgehoben. Zugleich aber hat sie eine neue Phase der aktiven Arbeitsmarktpolitik eingeleitet, in der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen binnen kurzer Zeit ihre zentrale Rolle verloren haben und ihr Ausmaß wieder den Verhältnissen in der früheren Bundesrepublik angenähert wurde (vgl. Abb. 11 und 13).
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9.4 Das Bündnis für Arbeit – „...die Bundesregierung wird sich noch stärker einschalten und trotzdem die Tarifautonomie bewahren...“ Auf den ersten Blick erscheint das Bündnis für Arbeit der Jahre 1999 bis 2002 als bloße Wiederaufnahme einer entsprechenden Gesprächsrunde, die im Jahr 1996 zwischen den Tarifverbänden und der christlich-liberalen Bundesregierung bestand (vgl. Fußnote 39). Dieses erste Bündnis ging auf ein entsprechendes Angebot der IG Metall zurück. Die gewerkschaftliche Initiative zu diesem Bündnis erfolgte aus einer Position anhaltender (tarif-)politischer Schwäche und fortgesetzten Ansehensverlustes heraus. Aus Sicht der Gewerkschaften war das Angebot des Bündnisses damit der Versuch, durch Einbindung in institutionalisierte Abstimmungsrunden politischen Einfluss zurück zu gewinnen und damit den schleichenden tarifpolitischen Bedeutungsverlust wettzumachen. Von Beginn an gab es jedoch innerhalb des Gewerkschaftslagers auch deutliche Skepsis dieser Strategie gegenüber – und zwar insbesondere bei der Frage, zu welchen Gegenleistungen die Gewerkschaften im Tausch für ihre angestrebte politische Aufwertung und Einbindung bereit sein sollen. Derartige Skepsis wurde üblicherweise mit dem Hinweis auf die Tarifautonomie untermauert. Noch im Jahr 1996 zerbrach das Bündnis, offiziell an der Frage der Höhe der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der tiefere Grund war jedoch die insgesamt zu geringe Schnittmenge an Interessen von Bundesregierung, Arbeitgeber(verbände)n und Gewerkschaften. Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit der Jahre 1999 bis 2002 ging dagegen nicht in erster Linie von gewerkschaftlicher, sondern von politischer Seite aus. Beobachter sehen in diesen Umstand einen wesentlichen qualitativen Unterschied zum 1996er Bündnis für Arbeit. Dieses war „in erster Linie auf der Ebene der Tarifautonomie […] angesiedelt, […] der Staat sollte das angestrebte concession bargaining der Tarifparteien durch eigenen Beitrag eher flankieren“ (Voswinkel 2001: 276). Hingegen war das spätere Bündnis eine politisch initiierte Maßnahme, wurde also relativ viel deutlicher als staatskorporatistische Maßnahme konzipiert und inszeniert. In diesem Sinne hatte das Bündnis für Arbeit 1999ff. für die SPD eine Doppelfunktion. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1998 stellte die SPD für den Fall ihres Wahlsieges die sofortige Wiederaufnahme der zwei Jahre zuvor eingestellten Bündnisgespräche in Aussicht. Diese Zusage trug wesentlich zu den gegenüber der Bundestagswahl 1994 deutlichen Zugewinnen in den traditionellen Arbeitnehmer-Milieus bei (Niclauß 2002: 249). Eine erste Funktion hatte das Bündnis damit erfüllt allein durch seine Ankündigung in einem Bundestagswahlkampf, den die SPD ansonsten sehr auf eine nicht näher bestimmte, aber jedenfalls die traditionelle Arbeiterschaft nicht erfassende „Neue Mitte“ ausrichtete.
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Nach dem Wahlsieg und der Regierungsübernahme der SPD im September 1998 wandelte sich die Funktion des Bündnisses. Es wurde von einem Wahlkampfinstrument zu einem politischen Steuerungsinstrument. Tatsächlich fand alsbald, am 7. Dezember 1998, das erste von insgesamt acht Bündnis-Spitzengesprächen statt. Daran beteiligt waren neben dem Bundeskanzler vier weitere Bundesminister, die Präsidenten von BDI, BDA, ZVDH und DIHT sowie die Vorsitzenden von DGB, IG Metall, DAG, IG BCE und ÖTV. In vielen öffentlichen Äußerungen zeigten sich die führenden Akteure der Bundesregierung überzeugt, mittels (typisch sozialdemokratischer) konzertierter Aktionen mit möglichst umfassender Beteiligung den wahrgenommenen Herausforderungen begegnen zu können. Welches waren diese Herausforderungen? In Anlehnung an die hergeleiteten zwei wesentlichen Einwirkungsziele staatlicher Politik im Bereich der kollektiven Arbeitsbeziehungen (gewerkschaftliche Lohnpolitik und gewerkschaftliche Beschäftigungspolitik) lässt sich zeigen, dass die neue Bundesregierung ihr Augenmerk primär auf letztere zu richten hatte. Die Preisentwicklung wurde zunächst als unproblematisch wahrgenommen (vgl. SVR 1998: 61ff.). Im Wahljahr lag die Inflationsrate für Verbraucherpreise bei 0,9% und damit auf dem niedrigsten Stand seit der deutschen Einigung (ebd.: 334). Gravierende Verschlechterungen dieser Bedingungen wurden für die nähere Zukunft nicht befürchtet (ebd.: 151). Hingegen galten die Entwicklungen am Arbeitsmarkt als dringend politisch zu gestaltendes Problem. Im Monat der Regierungsübernahme im September 1998 lag die Quote der registrierten Arbeitslosigkeit bundesweit bei 11,4%. Saisonbereinigt betrug diese Quote für das zu Ende gehende Jahr 1998 bundesweit 12,3%; dieser Wert wurde nur von der saisonbereinigten Arbeitslosenquote des Vorjahres 1997 (12,7%) übertroffen. Die Entwicklung hin zu diesen Höchstständen vollzog sich in den Vorjahren sehr rasant, und zwar sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. Nicht zuletzt dieser schnellen Zunahme der Arbeitslosigkeit wegen erschien (drohende) individuelle Arbeitslosigkeit weiten Bevölkerungsteilen als das mit Abstand drängendste Problem (Stat. Bundesamt 2004: 509ff.). Aus Sicht staatlicher Akteure mit makroökonomischer und fiskalischer Perspektive stellte sich dieser rasante Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit ebenfalls als zwingende, unumgehbare Herausforderung dar, und zwar nicht nur, weil sie sich mit der nicht zuletzt im Wahlkampf selbst genährten Erwartung konfrontiert sahen, sich dieses Problems anzunehmen, sondern auch, weil sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit zum großen Teil aus einem Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ergab. Rein fiskalisch stellte damit der schnelle und ungebremste Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht nur die Verschärfung eines Ausgabenproblems dar, sondern zugleich ein ernstzunehmendes Einnahmenproblem.
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Tabelle 2:
Handlungsrelevante Rahmendaten im Vorfeld der Bündnis-Etablierung
Entw. Verbraucherpreise ggü. Vorjahr
Arbeitslosenquoten Deutschland
Westdeutschland
1991 3,2 7,3 6,2 1992 5,1 8,5 6,4 1993 4,4 9,8 8,0 1994 2,7 10,6 9,0 1995 1,7 10,4 9,1 1996 1,5 11,5 9,9 1997 1,9 12,7 10,8 1998 0,9 12,3 10,3 Quelle: BA 2007a: 18, 38; Stat. BA div. Jge.)
Ostdeutschland 10,2 14,4 15,4 15,7 14,8 16,6 19,1 19,2
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Entw. ggü. Vorjahr OstDeutschWestdeutschland deutschland land -2,3 -2,5 -1,8 -4,9 -1,3 -1,6 -0,2 -0,4 -0,6 +0,2 -1,3 -1,0 -2,4 -1,7 -1,0 -3,9 -0,3 +0,0 -1,4
Es ist also kein Zufall, dass der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner ersten Regierungserklärung ohne Umwege auf das gesamtgesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit – und dann wiederum fast ohne Umwege auf ihre fiskalischen Kosten zu sprechen kam: Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit mit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM. Die Bundesregierung ist sich völlig im Klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns stellen. Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit - nicht erst in vier Jahren - daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 14/003, 10.11.1998)
– während im Bundestag ein Vertreter der Bundesregierung erstmals Ende Januar 1999 und auch dann eher unaufgeregt auf die Bedeutung der gewerkschaftlichen Lohnpolitik für die Geldwertentwicklung hinwies: Wir halten es vielmehr für sinnvoll, dafür zu plädieren - hier stimmen wir mit dem Sachverständigenrat überein, wenn ich an dessen letzte Gutachten denke -, daß sich die Lohnpolitik grundsätzlich an der Produktivitätsentwicklung orientieren muß und daß sie gleichzeitig natürlich die Inflationsentwicklung im Auge haben muß. Oskar Lafontaine, Bundesminister der Finanzen (BT-PP 14/016, 21.01.1999)
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Was in der politischen Öffentlichkeit als Reformstau kommuniziert wurde, war – in sozialwissenschaftlicher Terminologie – die Wahrnehmung der Verschärfung des postfordistischen Trilemmas (Iversen, Wren 1998; Esping 2000): Innerhalb einer entwickelten, sozialstaatlich regulierten Gesellschaft sind von den drei Zielen Haushaltsdisziplin, Lohn- und Einkommenshomogenität und Beschäftigungsdynamik im Dienstleistungsbereich maximal zwei zur gleichen Zeit realisierbar. Herrschender Meinung zufolge waren die im internationalen Vergleich gebremste Beschäftigungsdynamik, der Anstieg und das Ausmaß der Arbeitslosigkeit und des Beschäftigungsabbaus in der Bundesrepublik strukturell bedingt, d.h. Folge eines institutionellen Arrangements, das sich über Jahrzehnte hinweg – zu Lasten möglicher Beschäftigungsausweitung insbesondere im Dienstleistungssektor – an Haushaltsdisziplin und möglichst hoher Lohn- und Einkommensgleichheit orientierte (Siegel, Jochem 1999). Dieser Problemdeutung entsprechend bestand die Herausforderung für staatliche Akteure darin, den Reformstau aufzulösen, indem unter Wahrung der Haushaltsdisziplin Beschäftigungspotentiale erschlossen werden. Damit hatten entsprechende Problemlösungsversuche auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes anzusetzen mit dem Ziel, die wahrgenommenen Nominallohnrigiditäten aufzubrechen (vgl. Hesse, Naujokat 1999). Dieses Ziel war ohne weiteres anschlussfähig an die Positionen der Wirtschaft. Bereits seit längerem verstärkten sich der Dezentralisierungsdruck auf das Tarifsystem und die Forderungen nach einer deutlich flexibleren Tarifpolitik der Tarifverbände. Wenn staatliche Akteure mangelnde Lohn- und Arbeitsflexibilität als eine Ursache für Unterbeschäftigung und diese wiederum als Ursache der Gefährdung ihrer Legitimationsbasis wie auch ihrer Handlungsfähigkeit identifizieren, dann liegt es nahe, dass sie sich diesen arbeitgeberseitigen Forderungen nach flexibleren Handlungs- und Vertragsspielräumen anschließen und – aus ihrer makroökonomischen Perspektive heraus – in Forderungen nach einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik der Tarifverbände umformulieren (Hassel 1999a). Die Formulierung „beschäftigungsorientierte Tarifpolitik“ bot zugleich den Vorteil, die ihrer negativen Konnotationsanteile wegen riskantere Begriffsfamilie „Flexibili-“ weitgehend vermeiden zu können. Das letzte Spitzengespräch im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit fand im Januar 2002 statt. Entsprechend lässt sich der Untersuchungszeitraum abstecken. Er beginnt mit der Eröffnung der 14. Legislaturperiode im September 1998 und endet im Sommer 2002, nach dem Scheitern des Bündnisses. Inwieweit die teilweise recht weitreichenden beschäftigungspolitisch motivierten Reformmaßnahmen der 14. Legislaturperiode trotz oder wegen des Bündnisses ergriffen wurden, soll hier nicht näher untersucht werden. An dieser Stelle interessiert vor allem, wie Vertreter der Bundesregierung im parlamentarischen Diskurs mit dem institutionellen Widerspruch zwischen Konzertierung und Tarifautonomie umgingen. Aus der beschriebenen Konstellation der Problemdeutung lassen sich zunächst die Ziele ableiten, die die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung mit dem Ein-
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berufen des Bündnisses für Arbeit verband. Hinsichtlich des Bündnisses äußerte sie – in dieser Gewichtung und Hierarchisierung – folgende Erwartungen: A B
C
dass es zustande kommt und dauerhaft institutionalisiert wird dass es allgemein dem Abbau der Arbeitslosigkeit und dem Aufbau von Beschäftigung dient B1 dass es zur Erreichung von B Wege zur Flexibilisierung der Bedingungen am Arbeitsmarkt findet B11 dass die Tarifverbände zur Ermöglichung von B1 eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik betreiben dass es allgemein der Inflationsgefahr durch Absprachen hinsichtlich der Lohnpolitik begegnet.
Es ist zu vermuten, dass nach der anfänglichen Benennung dieser Ziele ab einem bestimmten Zeitpunkt die Benennung der Erfolge (oder Misserfolge), also das Herausstellen der Zielerreichung, die Überhand gewinnt. Zu untersuchen ist also auch, wie staatliche Akteure die Entwicklung des Bündnisses mit fortdauernder Zeit bewerten. Es liegt nahe, hierfür dieselbe Kategorisierung (und inhaltsanalytische Codierung) wie bei der Zielbenennung anzuwenden. In entsprechenden Fundstellen wird also verwiesen auf den Erfolg, A B
C
dass das Bündnis zustande kam und zu einer Institution wurde dass es bis dato allgemein dem Abbau der Arbeitslosigkeit und dem Aufbau von Beschäftigung gedient hat B1 dass zur Erreichung von B im Bündnis Wege zur Flexibilisierung der Bedingungen am Arbeitsmarkt gefunden und deren Beschreiten einvernehmlich vereinbart wurden B11 dass die Tarifverbände zur Ermöglichung von B1 eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik betreiben bzw. sich dazu verpflichten dass die am Bündnis beteiligten Tarifverbände ihre Lohnpolitik allgemein in den Kontext der Inflationsvermeidung stellen.
Schließlich ist zu prüfen, ob – wie im Kapitel 6.2 vermutet – die Kommunikation der Ziele und/oder Erfolge des Bündnisses begleitet wird von einer befürwortenden und stützenden Thematisierung der Unabhängigkeit der Tarifparteien. Daraus abgeleitet liegt es nahe, den Untersuchungszeitraum zu unterteilen in eine erste Phase, in der die Ziel- und Erwartungskommunikation überwiegt, und in eine sich anschließende Phase, in der die Erfolgs- (oder ggf. Misserfolgs-)Kommunikation überwiegt. In der Tat häufen sich erwartungsgemäß die Fundstellen zur Zielbenennung in der Frühphase der 14. Legislaturperiode. Erste Fundstellen zu Erfolgen des Bündnis-
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ses finden sich ca. ein Jahr nach Regierungsübernahme im September 1999, nach dem 5. Spitzengespräch Anfang Januar 2000 erfolgt dann über Monate hinweg eine hochfrequente, stabile Erfolgskommunikation. Entgegen der Vermutung einer Zwei-Phasen-Einteilung zeigt die inhaltsanalytische Auswertung relevanter Fundstellen jedoch eine deutliche Dreiteilung des Untersuchungszeitraums: der ausgedehnten Phase der Erfolgskommunikation schließt sich wiederum eine kurze, aber intensive Phase der Ziel- und Erwartungsformulierung an. Ab November 2001, insbesondere aber im Januar 2002 – mithin im Vorfeld des achten, aus Sicht heutigen Wissens letzten und erfolglosen Spitzengesprächs – kam es zu Äußerungen staatlicher Akteure, die in teilweise recht nachdrücklichem Ton Kompromissbereitschaft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden forderten. Es liegt nahe, diese „späte“ Ziel- und Erwartungskommunikation als implizite Misserfolgskommunikation zu interpretieren. Im Folgenden sollen die drei Phasen daraufhin untersucht werden, ob und wie Ziele und Erfolge des Bündnisses für Arbeit mit der Tarifautonomie kombiniert wurden und welche Impulse es ggf. für Veränderungen in der diesbezüglichen politischparlamentarischen Kommunikation gab. Phase 1: Der Zeitraum von November 1998 bis einschließlich Dezember 1999 umfasst die erste Phase der Ziel- und Erwartungskommunikation. Innerhalb dieser Phase überwiegt anfänglich, d.h. bis März 1999 erwartungsgemäß das allgemeine Bemühen um Institutionalisierung des Bündnisses, also die allgemeine Erwartung, dass sich die (Spitzen-)Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf staatlich moderierte Kompromisssuche und Konsensgespräche einlassen. Repräsentativ für die sehr vielen Fundstellen zum eher formalen Ziel der Konzertierung zwischen November 1998 und März 1999 sind die beiden folgende Sequenzen: Zunächst geht es um Zusammenarbeit. Statt im Gegeneinander von Regierungspolitik und Tarifauseinandersetzungen Kräfte zu verschleißen, wollen wir neue Kräfte und Kreativität freisetzen. Andrea Nahles, SPD-Fraktion (BT-PP 14/019, 28.01.1999) Wir haben vor, gesellschaftlichen Konsens für Reformmaßnahmen, die durchgreifender Natur sind, herzustellen. […] Das „Bündnis für Arbeit“ dient dazu, einen solchen Konsens in wichtigen sozialen, ökonomischen und steuerpolitischen Fragen herstellen zu helfen. […] Das sind Probleme, zu deren Debatte und zu deren Lösung ich insbesondere das „Bündnis für Arbeit“ einlade. Das ersetzt nicht die Entscheidungsnotwendigkeiten im Parlament - das weiß ich sehr wohl. Es geht aber darum, daß diejenigen im Bündnis, die bislang Kritik an Vorschlägen üben, an denen sie nicht beteiligt waren, die Chance ergrei-
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fen, diesmal teilzunehmen. […] Das „Bündnis für Arbeit“ wäre falsch interpretiert, wenn man es als eine Institution betrachtete, der man entweder beitritt oder sie wieder verläßt je nachdem, wie man in der Tages- oder Tarifpolitik abgeschnitten hat. Das ist nicht Sinn der Sache; das muß ich sehr deutlich sagen. Gerhard Schröder, Bundeskanzler, SPD (BT-PP 14/021, 24.02.1999)
Darüber hinaus wurden bis November 1999 aber auch konkrete inhaltliche Ziele benannt. Dabei fällt auf, dass das Ziel Inflationsvermeidung für Vertreter der Bundesregierung offensichtlich sehr nachrangig war. Den zwei Fundstellen, die sich diesem Ziel im genannten Zeitraum zuordnen lassen, stehen zehn Fundstellen zum allgemeinen Ziel Arbeitslosigkeitsabbau, zwölf Fundstellen zum Sub-Ziel Arbeitsmarktflexibilisierung und acht Fundstellen zum Sub-Ziel Beschäftigungsorientierte Tarifpolitik gegenüber. Diese Struktur geäußerter Erwartungen entspricht damit den eingangs dargestellten, handlungsrelevanten Rahmendaten. Der Aufforderungscharakter der Benennung des allgemeinen, abstrakten Ziels Arbeitslosigkeitsabbau und selbst des wesentlich konkreteren Sub-Ziels Arbeitsmarktflexibilisierung erschließt sich nur durch die Verbindung mit dem Konzertierungsziel im Rahmen eines Bündnisses für Arbeit, wodurch die Erwartungshaltung der Bundesregierung ebenfalls recht abstrakt bleibt: Ich habe eben gesagt, daß wir heute einen Haushalt vorlegen, mit dem wir wirksam die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Mit finanziellen Mitteln allein funktioniert das nicht. Das ist richtig, denn es gibt keine Formel: mehr Geld gleich weniger Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt deswegen setzen wir auch auf das Bündnis für Arbeit, weil wir wissen, daß es mit Geld allein nicht zu machen ist. Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BT-PP 14/022, 25.02.1999) Wenn wir uns den Arbeitsmarkt mit seinen Regelungen anschauen, muß man sich in dieser Gesellschaft auch überlegen, vielleicht auch in einem Bündnis für Arbeit, obwohl das sehr stark nach rheinischem Kapitalismus, nach korporatistischem System klingt, ob alle Schutzklauseln in den Gesetzen oder den Tarifverträgen, die den Arbeitsmarkt betreffen, tatsächlich im Interesse von mehr Beschäftigung stehen, ob nicht Hemmnisse im Arbeitsrecht, in den tarifvertraglichen Regelungen auch einen Teil dazu beitragen, daß die Beschäftigungsschwelle in Deutschland so hoch liegt, daß wir 2,5 Prozent reales Wachstum brauchen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Auch ich als Grüner will natürlich, daß die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren nicht nur auf Grund der Demographie sinkt, sondern daß auch tatsächlich mehr Menschen in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Dazu braucht man viele schlaue und auch innovative Ideen, um dieses Herkulesproblem in unserer Gesellschaft zu lösen. Oswald Metzger, B90/Die Grünen (BT-PP 14/071, 23.11.1999)
Demgegenüber weist der Begriff Beschäftigungsorientierte Tarifpolitik bereits unmittelbar auf die Adressaten dieser als Ziel oder Erwartung kommunizierten Aufforderung hin:
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Die Bewältigung des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur gelingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei mitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenreduzierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr Beschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Gerhard Schröder, Bundeskanzler, SPD (BT-PP 14/003, 10.11.1998) Die strukturelle Reform der Sozialversicherung, eine beschäftigungsfördernde Arbeitsverteilung und eine Tarifpolitik, die den Beschäftigungsaufbau unterstützt, sind weitere Themen auf der Agenda des Bündnisses für Arbeit, mit denen die Strukturdefizite am Arbeitsmarkt angegangen und beseitigt werden sollen. Hans Martin Bury, SPD-Fraktion (BT-PP 14/016, 21.01.1999) Richtig ist, daß im „Bündnis für Arbeit“ keine Tarifgespräche stattfinden. Dennoch ist es, wenn wir an den Erfolg bestimmter Nachbarländer anknüpfen wollen, sinnvoll, sich über die Ziele künftiger Tarifpolitik zu verständigen, um den Arbeitslosen, die an diesen Gesprächen - sowohl an den Gesprächen im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ als auch an den Tarifgesprächen - nicht beteiligt sind, vor Augen zu führen, daß es künftig lohnund beschäftigungspolitische Komponenten gibt, die auch entsprechend ausgewiesen werden. Werner Schulz , B90/Die Grünen (BT-PP 14/027, 18.03.1999)
Insbesondere die letzte der zitierten Sequenzen macht deutlich, dass den Rednern das Spannungsfeld von Konzertierung und Tarifautonomie durchaus bewusst ist. Mit ihrer Forderung, in Bündnisgesprächen tarifpolitische Möglichkeiten der Arbeitsmarktflexibilisierung zu erörtern, setzen sie sich wissend der Gefahr aus, mit dem Vorwurf der Missachtung der autonomen Tarifhoheit konfrontiert zu werden. In der Regel tragen die Akteure diesem Risiko in der Phase der Ziel- und Erwartungskommunikation mit relativierenden „Ja, aber…“-Konstruktionen Rechnung. Damit wird versucht, verbal den strukturellen Widerspruch zu überbrücken, der sich ergeben kann aus dem Anspruch der Bundesregierung auf Beeinflussung der verbandlichen Tarifpolitik einerseits und dem Anspruch der Verbände auf autonome Festlegung von Arbeitsbedingungen andererseits. Zugleich wird damit versucht, dem mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden diskursiven Widerstand der Verbände antizipativ oder reaktiv zu begegnen. Derartige Relativierungen finden sich in der ersten Phase mehrfach, jedoch nicht isoliert, sondern ganz überwiegend jeweils im Verbund mit einer – mal mehr, mal weniger starken – verbalen Betonung der Tarifautonomie, die der Relativierung unmittelbar vorausgehen oder ihr unmittelbar folgen, wie die beiden nachstehenden Sequenzen exemplarisch zeigen: Ich bin der Ansicht, daß die Tarifpartner selbstverständlich frei in ihren Entscheidungen sind. Trotzdem bedarf es eines klaren politischen Kommentars, gerade wenn es um das „Bündnis für Arbeit“ geht. Deswegen sage ich in diesem Zusammenhang auch deutlich:
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Der jetzige Vorschlag der IG Metall ist nicht geeignet, das Beschäftigungsproblem so zu lösen, wie es sich die IG Metall wünscht. Dr. Thea Dückert, B90/Die Grünen (BT-PP 14/062, 27.10.1999)85 Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, daß das, was am Modell Deutschland weltweit bewundert wird, nämlich daß man sich in Krisensituationen zusammenfindet und gemeinsam, mit Wirtschaft und Politik, nach Lösungen sucht, nicht verlorengegangen ist. Diese Hoffnung habe ich nicht aufgegeben. Ganz im Gegenteil: Über Instrumente wie das „Bündnis für Arbeit“ will ich dies wieder zum Kern des gesellschaftspolitischen Agierens in Deutschland machen. Das hat übrigens nichts mit verstärkter staatlicher Intervention zu tun, was gelegentlich vorgebracht wird. Das hat auch nichts mit - wie es andere schon wieder in Kommentaren mutmaßen - Verstaatlichung zu tun. Nein, es geht nicht um staatliche Intervention, schon gar nicht um Verstaatlichung. Es geht um Verantwortung. Und die darf auch, aber eben nicht nur bei der Politik abgeladen werden, meine Damen und Herren! Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 14/072, 24.11.1999)
Dieses Vorgehen – Betonung der Tarifautonomie zum Zwecke ihrer Relativierung – bleibt jedoch insgesamt recht sporadisch und erinnert an das kommunikative Vorgehen staatlicher Akteure im Zuge indikativer Einwirkungsversuche. Das hatte seinen Grund. Von Beginn an machte die Arbeitgeberseite ihre Bündnisbeteiligung davon abhängig, dass tarifpolitische Fragen auf die Bündnis-Agenda gesetzt würden. Aufgabe der (vom Bündniserfolg abhängigen) Bundesregierung war somit, die Arbeitnehmerseite zu einer entsprechenden Bereitschaft zu bewegen. Keine kleine Herausforderung angesichts des Umstandes, dass im Gewerkschaftslager selbst das gesamte Jahr 1999 hindurch heftig darüber debattiert wurde, ob Tarifpolitik zum Gegenstand der Bündnisgespräche gemacht werden soll oder nicht. Zunächst moderat, später immer deutlicher dafür waren die Vorsitzenden der Gewerkschaften ÖTV (Mai), IG BCE (Schmoldt) und DAG (Issen); deutlich dagegen waren die Vorsitzenden der IG Metall (Zwickel, Peters) und der IG Medien (Hensche). Die Position des Dachverbandes DGB (bzw. seines Vorsitzenden Schulte) wandelte sich von einem recht deutlichen Nein im Januar 1999 zu einem moderaten Ja im Vorfeld des 3. Spitzengesprächs im Juli 1999. In diesem Gespräch am 6.7.1999 wurde offiziell die Einbindung der Tarifpolitik in die Bündnisgespräche vereinbart. Über die Gründe dieses „Durchbruchs“86 kann 85
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Der erwähnte Vorschlag der IG Metall bezog sich auf die Idee eines Tariffonds zur Finanzierung einer „Rente mit 60“. Im weiteren Verlauf befürwortet Dückert zwar die generellen Beschäftigungswirkungen einer solchen Idee, bescheinigt aber dem IG Metall-Vorschlag mangelnde Möglichkeiten der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Vgl. Süddeutsche Zeitung, die am 7.7.1999 auf Seite 1 titelte: „Gewerkschaften geben Widerstand auf – Bündnis für Arbeit will Ziele der Tarifpolitik formulieren – Bundeskanzler Schröder: Ich halte das für einen Durchbruch / Arbeitgeber sagen 10 000 Lehrstellen mehr zu“ (Süddeutsche Zeitung, Jg. 55, 7.7.1999, Nr. 153, S. 1).
nur spekuliert werden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ging die recht plötzliche Bereitschaft der IG Metall, im Bündnis über Tarifpolitik zu reden, zurück auf die Wahrnehmung, dass ein Scheitern des Bündnisses für Arbeit als erwartbare Folge der fortgesetzten Weigerung einen erheblichen Ansehensverlust der Gewerkschaftsseite in der politischen (und in dieser Frage zunehmend politisierten) Öffentlichkeit nach sich gezogen hätte. Zunächst hatte die Bereitschaftsbekundung der Gewerkschaften allerdings weder praktische Relevanz noch praktische Wirkung. Die Tarifrunde des Jahres 1999 war bereits seit einiger Zeit abgeschlossen, auf die einzig verbliebenen regionalen Verhandlungen der Gewerkschaft HBV für den Einzelhandel im Juli 1999 hatte die BündnisVerabredung keinen Einfluss mehr. Vor allem aber konnte der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel nicht ausschließen, dass er durch eine zu nachgiebige Haltung im Bündnis für Arbeit sein Ansehen bei der Gewerkschaftsbasis und damit seine Wiederwahl im Oktober 1999 aufs Spiel setzte (vgl. Bispinck, Schulten 1999: 876). Durch die Kopplung der Bereitschaft zu beschäftigungsorientierter Tarifpolitik an das ersichtlich aussichtslose Projekt „Rente mit 60“ ließ sich ein aktiver Ausstieg aus den Bündnisgesprächen vermeiden und zugleich die Einlösung der Zusage einer solchen Tarifpraxis verhindern. Begleitet wurde diese Strategie von Äußerungen, aus denen die Ablehnung einer moderaten Tarifpolitik hervorging.87 Es bedurfte somit einiger Einzel- und zweier weiterer Spitzengespräche im Rahmen des Bündnisses für Arbeit am 12.12.1999 und am 9.1.2000, bis der Bundeskanzler und die Beteiligten ein weiteres Mal einen tarifpolitischen Durchbruch verkünden konnten. Die am Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit Beteiligten empfehlen – gestützt auf die gemeinsame Erklärung von BDA und DGB vom 6.7.1999 – für die anstehende Tarifrunde 2000 eine beschäftigungsorientierte und längerfristige Tarifpolitik. Dabei wird der sich am Produktivitätszuwachs orientierende, zur Verfügung stehende Verteilungsspielraum vorrangig für beschäftigungswirksame Vereinbarungen genutzt. Die jeweils zuständigen Tarifparteien werden im Rahmen ihrer Verantwortung notwendige branchenbezogene Differenzierungen vereinbaren.88
Das fünfte Spitzengespräch markiert damit auch den Übergang von der Phase der Erwartungskommunikation zur Phase der Erfolgskommunikation.
87 88
„’Moderate Lohnpolitik? Nicht mit uns!’ - IG Metall-Chef Zwickel schlägt in der Tarif-Debatte harte Töne an und fordert Überstundenabbau - WELT-Gespräch“ (Die Welt, Jg. 49, 9.9.1999, Nr. 210, S. 22). Gemeinsame Erklärung zu den Ergebnissen des Spitzengesprächs am 9. Januar 2000, vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2000, 250f.
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Phase 2 Die Phase der Erfolgskommunikation lässt sich etwa auf den Zeitraum Januar 2000 bis November 2001 datieren. In dieser Phase kam es Vertretern der Bundesregierung und Vertretern der Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag vor allem darauf an, das Bündnis für Arbeit als erfolgreich darzustellen. Entsprechend der oben benannten Zielstruktur ließ sich das Bündnis dann als inhaltlich erfolgreich kommunizieren, wenn es aus Sicht der Bundesregierung in Verbindung gebracht werden konnte mit einem Abbau der Arbeitslosigkeit im Allgemeinen, mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktgeschehens und mit gleichermaßen beschäftigungsorientierten und inflationssensiblen Tarifabschlüssen. In der Tat verlief vor dem Hintergrund günstiger weltwirtschaftlicher Entwicklungen auch die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im genannten Zeitraum zunächst zufriedenstellend. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im Jahr 2000 gegenüber dem Vorjahr preisbereinigt deutlich um 3,2%, nachdem es bereits in 1998 und 1999 um jeweils 2,0% angestiegen war. Der Anstieg der Verbraucherpreise lag im Jahr 1999 bei 0,6% und bei 1,4% im Jahr 2000; für das Jahr 2001 wurde ebenfalls eine moderate inländische Preisniveauentwicklung erwartet (SVR 2000: 171). Auch die Entwicklung am Arbeitsmarkt wurde als Entlastung bewertet, allerdings blieben die Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und der Rückgang registrierter Arbeitslosigkeit beschränkt auf die Alten Bundesländer (SVR 2000: 79f.). Tabelle 3:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2000
Entw. Verbraucherpreise ggü. Vorjahr
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Entw. ggü. Vorjahr
Arbeitslosenquoten Deutschland
WestOstdeutschland deutschland
1998 0,9 12,3 10,3 1999 0,6 11,7 9,6 2000 1,4 10,7 8,4 Quelle: BA 2007a: 18, 38; Stat. BA div. Jge.)
19,2 18,7 18,5
Deutschland
Westdeutschland
Ostdeutschland
-0,3 +1,0 +1,2
+0,0 +1,5 +2,1
-1,4 -0,7 -1,9
Den Tarifparteien wurde ein wesentlicher Anteil an diesen Entwicklungen zugemessen (SVR 2000: 88ff.). In der Tat bewegten sich im Jahr 2000 bereits die Tarifforderungen der Gewerkschaften unter dem Niveau des Vorjahres – und in der Folge auch zwangsläufig die Tarifabschlüsse. Hinzu kam, dass diese Tarifverträge – auch wie im Bündnis für Arbeit abgesprochen – überwiegend eine Laufzeit von deutlich mehr als einem Jahr hatten und damit Lohn-Preis-Spiralen für die Jahre 2000 und 2001 weitgehend ausgeschlossen waren. Gelegentlich, insgesamt jedoch vergleichsweise selten, wurde die hohe Preisniveaustabilität von Vertretern der Bundesregierung in parlamen-
208
tarischen Debatten mit der Zurückhaltung der Gewerkschaften und der Funktion des Bündnisses für Arbeit dabei in Zusammenhang gebracht: Die Tarifvertragsparteien haben in den abgeschlossenen Lohnrunden großes Verantwortungsbewusstsein gezeigt. Die Lohnabschlüsse in Deutsch land waren moderat und - was im Moment viel wichtiger ist - sie waren langfristig angelegt. In vielen Branchen können gar keine kurzfristigen Zweitrundeneffekte auftreten, weil die Tarifverträge bis weit ins nächste Jahr, sogar ins übernächste Jahr hinein gelten. Diese positive Entwicklung in der Lohnpolitik - hier sage ich auch einmal einen herzlichen Dank an die Gewerkschaften in unserem Lande, weil sie die Hauptlast tragen, es wird nämlich Zeit, dass das ganz deutlich gemacht wird - ist nicht zuletzt auf das Bündnis für Arbeit zurückzuführen. Dort hatten sich die Tarifvertragsparteien bereits auf mittelfristig ausgerichtete stabilitäts- und beschäftigungsfreundliche Tarifabschlüsse verständigt. Jetzt ziehen wir alle den Profit daraus. Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen (BT-PP 14/128, 27.10.2000) Die günstige Situation in Deutschland ist natürlich nicht nur das Ergebnis unserer Politik, sondern daran haben alle Menschen im Lande mitgearbeitet. Auch die Tarifpartner haben großen Anteil daran. Im Bündnis für Arbeit hatten sie eine beschäftigungsfördernde Lohnpolitik vereinbart, die auch umgesetzt wurde. Dies hat verhindert, dass aus dem Anstieg der Ölpreise eine Lohn-Preis-Spirale geworden ist. Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen (BT-PP 14/155, 08.03.2001)
Wesentlich häufiger und über den gesamten Zeitraum der Phase der Erfolgskommunikation hinweg kontinuierlicher als von den Erfolgen des Bündnisses bei der Inflationsvermeidung war von seinen Erfolgen hinsichtlich einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik die Rede. Exemplarisch für die Vielzahl derartiger Äußerungen sind folgende Sequenzen der hochrangigsten Regierungsvertreter: Als wir dann, weil wir vernünftige Gesprächspartner gefunden hatten, eine Tarifrunde in den wichtigsten Branchen dieses Landes, die den Aufschwung und den Abbau der Arbeitslosigkeit unterstützt, zustande gebracht haben, hätten Sie wenigstens einmal sagen können: Das haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unter der Stabführung der Bundesregierung gut gemacht. Aber diese Größe hatten Sie nicht. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 14/102, 11.05.2000) Selbst die Bundesbank, der sonst so kritische Sachverständigenrat, den Sie hier erneut zitiert haben, ausländische Investoren und sogar der von Ihnen so oft in Anspruch genommene Mittelstand haben die Erfolge des Bündnisses für Arbeit ausdrücklich gelobt. Sie haben dieses Lob ausgesprochen, weil sich die Bündnispartner für eine langfristige und wirksame Tarifpolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausgesprochen haben. Klaus Brandner, SPD-Fraktion (BT-PP 14/140, 07.12.2000)
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Zum Bündnis für Arbeit: Ist es in der Vergangenheit schon einmal gelungen, Tarifverträge so zu gestalten, dass sie sich an der Produktivität und vor allen Dingen am Beschäftigungswachstum orientieren? Man muss klar sagen: Nein, unter Ihrer Regierung nicht. Dagegen ist es jetzt im Bündnis für Arbeit gelungen und damit sind wir europaweit vorne. Margareta Wolf, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie (BT-PP 14/158, 15.03.2001) Sie alle wissen, dass die Tarifvertragsparteien mit ihren beschäftigungsfördernden Abschlüssen im vorigen und auch in diesem Jahr den Vereinbarungen im Bündnis für Arbeit, Wettbewerbsfähigkeit und Ausbildung Rechnung getragen haben. Vielleicht hilft das Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, ein bisschen auf die Sprünge denn auch dies steht in einem engen Zusammenhang -: Das Bündnis für Arbeit hat, was die letzten beiden Jahre angeht, tarifpolitisch Außerordentliches bewirkt. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BT-PP 14/181, 04.07.2001) Wir werden unseren unter anderem im Bündnis für Arbeit eingeschlagenen Kurs beibehalten. Ich bin sicher, wir werden auch in diesem Jahr wieder erleben, dass sich die Tarifpartner auf beschäftigungsfördernde Tarifabschlüsse einigen. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BT-PP 14/182, 05.07.2001)
Die fünf Zitate zeigen einerseits sehr deutlich, welchen Stellenwert das Bündnis für Arbeit und die in ihm erzielten Verabredungen für die Bundesregierung hatte. Wieder und wieder betonten Vertreter der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen im Bundestag die tarifpolitische Bedeutung des Bündnisses. Die Bündnis-Ergebnisse eigneten sich offenbar hervorragend, um die Handlungs- und Steuerungskompetenz der Bundesregierung unter Beweis zu stellen. Dass diese Möglichkeit der Erfolgskommunikation ausgiebig genutzt wurde, überrascht nicht angesichts der Schwierigkeiten bei der beschriebenen Herbeiführung der Bündnis-Verabredungen und angesichts der Zustimmung, die die zurückhaltende Tarifpolitik der Gewerkschaften in der interessierten medial vermittelten Öffentlichkeit erfuhr. Die Zitate enthalten andererseits aber auch neben der offensichtlichen Würdigung der tarifpolitischen Zurückhaltung der Gewerkschaften ein weiteres, sich im Zeitverlauf verstärkendes Element, nämlich den Perspektivenwechsel weg von der zurückliegenden hin zur bevorstehenden Tarifrunde. Deutlich kommt gerade in der letzten Fundstelle die als Hoffnung kommunizierte Sorge zum Ausdruck, dass zukünftige Tarifabschlüsse nicht in gleichem Maße „beschäftigungsfördernd“ sein könnten wie die bislang vereinbarten. Diese Sorge war keineswegs unbegründet. „Die deutsche Volkswirtschaft befand sich im Jahr 2001 in einer Phase der konjunkturellen Abkühlung, die deutlich stärker ausfiel, als allgemein erwartet wurde“ (SVR 2001: 75, 174f.). Bereits ab dem 3. Quartal 2000 schwächte sich das Wirtschaftswachstum deutlich ab, spätestens im 2. Quartal
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2001, im Zuge der Veröffentlichung der Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute, war dann verbreitet von der großen Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden Rezession die Rede: In den beiden ersten Quartalen 2001 betrug das Wirtschaftswachstum gegenüber dem Vorjahreszeitraum preis- und kalenderbereinigt nur 0,6 bzw. 0,0%. Zugleich stieg der Verbraucherpreisindex im ersten Halbjahr 2001 um bis zu 2,7% gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat. Und schließlich verlor die Beschäftigungsentwicklung in Westdeutschland beträchtlich an Dynamik, in Ostdeutschland setzte sich der Beschäftigungsabbau verstärkt fort. Tabelle 4:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2001
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Entw. Arbeitslosenquoten Entw. ggü. Vorjahr Verbraucherpreise ggü. WestOstWestOstDeutschland Deutschland Vorjahr deutschland deutschland deutschland deutschland 1998 0,9 12,3 10,3 1999 0,6 11,7 9,6 2000 1,4 10,7 8,4 2001 2,0 10,3 8,0 Quelle: BA 2007a: 18, 38; Stat. BA div. Jge.)
19,2 18,7 18,5 18,8
-0,3 +1,0 +1,2 -0,0
+0,0 +1,5 +2,1 +0,8
-1,4 -0,7 -1,9 -3,1
Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Rahmendaten kam es ab März 2001 zu immer vernehmbareren Unmutsbekundungen in den Gewerkschaften. Ihre tarifpolitische Zurückhaltung und Öffnung im Jahr 2000 hatte ganz offensichtlich nicht zu den intendierten Ergebnissen geführt, ein Umstand, der sich angesichts der erbrachten Vorleistungen öffentlichkeitswirksam der Verweigerungshaltung der Arbeitgeberseite zuschreiben ließ. Wenn aber – so etwa der IG Metall-Vorsitzende Zwickel vor dem siebten Spitzengespräch des Bündnisses am 4. März 200189 – die Arbeitgeber ihren im Bündnis für Arbeit verabredeten Pflichten nicht nachkämen, dann hätten auch die Gewerkschaften keinerlei Veranlassung mehr, ihrerseits tarifpolitische Zurückhaltung zu üben. Derartige Statements hatten im Frühjahr und Sommer 2001 eher symbolische denn praktische Relevanz: Da ja die meisten und einflussreichsten Tarifverträge eine Laufzeit bis zum Frühjahr 2002 hatten, bestand keine unmittelbare Gefahr für ein Auseinanderbrechen des Bündnisses. Allerdings verwendeten die Gewerkschaftsführungen nun immer weniger Mühe darauf, ihren Mitgliedern die Vorteile einer Teilnahme am Bündnis oder gar die Vorteile „beschäftigungsorientierter“, also hinsichtlich der Lohnsteigerungen zurückhaltender und hinsichtlich der Arbeitsflexibilisierung engagierter Tarifpolitik nahezubringen. Dem postulierten Bündnis-Ziel des Beschäftigungsaufbaus dürften die gewerk89
„Zwickel droht mit knallharter Tarifrunde - Schafft die Wirtschaft keine neuen Arbeitsplätze, will die IG Metall auf Konfrontationskurs gehen“, vgl. Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 22.2.2001, S. 23.
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schaftlich organisierten Arbeitnehmer wohl zu einem großen Teil recht uninteressiert gegenüber gestanden haben, nicht aber den Verabredungen, die als Vorleistung für den Beschäftigungsaufbau Lohnzurückhaltung und Arbeitsflexibilisierung vorsahen. Die Mehrheit der Gewerkschaftsbasen lehnte mittlerweile das Bündnis für Arbeit ab. Sie brachten angesichts der steigenden Inflation zunehmend ihre Verärgerung über noch weit in der Zukunft liegende Aussicht auf Nominallohnerhöhungen bzw. Reallohnstabilisierung zum Ausdruck und – das ist entscheidend – die lange Verzögerung bis zur nächsten Lohnanpassung mit den Abreden im Bündnis für Arbeit in Verbindung.90 Es verwundert daher nicht, dass sich im Laufe des Frühjahrs und Sommers 2001 immer mehr Gewerkschaftsfunktionäre für eine offensive, gleichsam nachholende Lohnpolitik bei anstehenden Verhandlungen aussprachen, um so ihre Legitimation bei den Mitgliedern zu restabilisieren. Aus dem dramaturgischen, weil reputationsförderlichen Vorteil der Gewerkschaften, auf ihre Vorleistungen verweisen und die Untätigkeit der Arbeitgeberseite anprangern zu können, wurde so alsbald ein Dilemma zwischen einflussorientiertem und mitgliedschaftsorientiertem Handeln: Die Gewerkschaftsspitzen konnten nicht gleichzeitig das Bündnis für Arbeit aufrechterhalten und den Nachholbedarf ihrer Mitglieder bedienen. Sie konnten nicht gleichzeitig durch konzertiertes, konsensorientiertes Verhalten im Bündnis für Arbeit ihren politischen Einfluss festigen und durch konfliktbereites, auf Autonomie bedachtes Verhalten in der Tarifpolitik ihre Legitimation bei den Mitgliedern sichern. Ebenfalls aus Reputations- und Legitimitätsgründen war die Bundesregierung – im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 – am Bestand und am Erfolg des Bündnisses interessiert. Aus diesem Interesse und dem Interesse der Gewerkschaften an politischer Einbindung heraus konnte sich die Schnittmenge bilden, die beide Seiten am Bündnis festhalten ließ. Dies galt aus staatlicher Sicht zumindest solange, wie die Gewerkschaften sich in ihrem offensichtlichen Dilemma nicht abschließend auf eine offensive Lohnpolitik in den Tarifrunden im ersten Halbjahr 2002 festgelegt und damit implizit gegen Konzertierung ausgesprochen hatten. Eine Möglichkeit staatlicher Akteure, im eigenen Interesse die Gewerkschaftsführungen bei der Überwindung dieses Dilemmas zu unterstützen, bestand in der kommunikativen Relativierung der Bündnisabsprachen und der gleichzeitigen Aufwertung der Tarifautonomie. In den parlamentarischen Debatten des Bundestags zeigt sich dieser kommunikative Schwenk deutlich: Allein die Fundstellenverteilung zeigt, dass die Betonung der Erfolge des Bündnisses im März 2001 ihren Höhepunkt erreicht und im Anschluss deutlich zurückhaltender erfolgt (jedoch nicht vollends aufgegeben wird). Demgegenüber erhöht sich um den Jahreswechsel 2000/2001 herum die Fundstellenfrequenz „Betonung / Aufwertung Tarifautonomie“ abrupt. 90
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„Kämpferische Gewerkschaftsbasis - Zehn Prozent mehr Lohn, bitte“ Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 5.7.2001, S. 21.
Beispielhaft für die kurzzeitige Überlappung – und damit für das Paradoxon der gleichzeitigen Betonung von Bündniserfolgen und Tarifautonomie – ist folgende Sequenz: Die PDS fordert für die Gewerkschaften eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Sie wissen so gut wie ich, dass die Lohnpolitik den Tarifparteien vorbehalten ist. Das ist auch gut so. Es gibt keinen Grund, hier in die Tarifautonomie einzugreifen. Allerdings hat das Bündnis für Arbeit längst Verabredungen für eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik getroffen. Dies ist ein guter Erfolg. Dr. Thea Dückert,, B90/ Die Grünen (BT-PP 14/140, 07.12.2000)
In der Folgezeit findet sich jedoch eine derartige Verbindung von Tarifautonomie und Bündnis für Arbeit nicht mehr. Vielmehr entsteht der Eindruck, als hätten es die Vertreter der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen (zumindest) im parlamentarischen Diskurs tunlichst vermieden, selbst eine Beziehung zwischen den BündnisGesprächen und gewerkschaftlicher Tarifpolitik herzustellen. Stattdessen erfolgt die rhetorische Aufwertung der Tarifautonomie nunmehr erkennbar isoliert von allem, was an staatliche Beeinflussungsversuche erinnern könnte. Anlass dafür boten unter anderen zwei Bundestagsdebatten am 8. Februar 200191 und am 4. Juli 200192. Wenn Sie hier die Tarifautonomie infrage stellen, dann rütteln Sie - das muss Ihnen klar sein - an den Grundfesten unserer demokratischen Ordnung. Ich kann nur immer wieder darüber staunen, mit welcher Dreistigkeit Sie Verfassungsgrundsätze und auch Individualrechte über Bord werfen, wenn Sie dies gerade für opportun ansehen und deshalb mir nichts, dir nichts die Tarifvertragsordnung über Bord werfen wollen. … Es kann nicht […] Aufgabe des Gesetzgebers sein, in die Tarifautonomie einzugreifen. Die Tarifautonomie ist ein von der Verfassung geschütztes Gut und deshalb wollen wir auch nicht in diesen verfassungsrechtlichen Anspruch der Tarifpartner eingreifen. Klaus Brandner, SPD-Fraktion (BT-PP 14/149, 08.02.2001) Ich vertraue auf die Zukunft des deutschen Tarifsystems. Tarifverhandlungen sind ein Geschäft, das in Deutschland seit mehr als 120 Jahren von den Tarifvertragsparteien betrieben wird, die unabhängig vom Staat, vom Parlament und von der jeweiligen Bundesre91
92
An diesem Tag wurde unter Tagesordnungspunkt 8 im Bundestag der Antrag „Reform des Tarifvertragsrechts“ der F.D.P.-Fraktion (BT-Drucksache 14/2612 vom 28.01.2000) erörtert und bei der anschließenden Abstimmung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (Empfehlung: Ablehnung des Antrags, BT-Drucksache 14/5214 vom 06.02.2001) gefolgt. An diesem Tag wurde eine von der F.D.P.-Fraktion beantragte Aktuelle Stunde „Zur Ablehnung der IG Metall, bei VW 5.000 Arbeitsplätze mit einem Lohn von 5.000 DM zu schaffen“ durchgeführt. Das Tarifmodell 5000 x 5000 wurde zwischen Mai und August 2001 von der Volkswagen AG, ihrem Betriebsrat und der IG Metall ausgehandelt. Verhandlung und Abschluss des Tarifvertrages erregten einige Aufmerksamkeit der interessierten Öffentlichkeit, weil mit ihm die zusätzliche Einstellung von zuvor Arbeitslosen zu – verglichen mit dem bestehenden Haustarifvertrag – ungünstigeren Bedingungen (v.a. hinsichtlich der Arbeitszeitflexibilität und des Anteils der Leistungsvergütung) vereinbart wurde.
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gierung sind. Das Grundgesetz sieht ganz bewusst vor, dass es den beteiligten Sozialpartnern überlassen bleibt, ihre Belange selbst zu regeln. Das ist auch gut so; denn wer kann das besser als die Beteiligten selber? Wer ist dichter an den konkreten Fragen dran als die Betroffenen? Der durch die Sozialpartner frei ausgehandelte Tarifvertrag ist ein Garant des sozialen Friedens. Er ist eine tragende Säule der deutschen Wirtschaftsordnung. Der durch die Sozialpartner frei ausgehandelte Tarifvertrag hat in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Funktionen gehabt; diese wird er meiner Auffassung nach auch behalten. Die Tarifautonomie hat uns wesentlich größere Stabilität und größeren Arbeitsfrieden gebracht als den meisten Ländern, in denen es keine Tarifautonomie nach unserem Muster gibt. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BT-PP 14/181, 04.07.2001) Meine Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., als Vertreter einer liberalen Partei meinen Sie doch, dass eine Wirtschaftsordnung umso erfolgreicher sei, je mehr sich der Staat zurückhalte und dem Einzelnen seine Freiheit lasse. Warum sollen wir dann heute eigentlich diskutieren? Warum soll sich der Deutsche Bundestag eigentlich in diese Diskussion Herr Niebel und Herr Kolb, seien Sie doch ganz ruhig. - Warum soll sich der Bundestag einmischen? Die Tarifparteien funktionieren und dabei soll es bleiben. Bodo Seidenthal, SPD-Fraktion (BT-PP 14/181, 04.07.2001) Meine Damen und Herren, die bisherige Debatte hat gezeigt, dass die F.D.P. mit dem Beispiel VW wieder einmal gegen die Tarifautonomie als solche vom Leder ziehen will. Ich stelle dagegen für die Sozialdemokraten klar: Die SPD steht zur Tarifautonomie, weil sie sich in unserem Land bewährt hat und weil es richtig ist, dass mit Tarifabschlüssen Rechtsfrieden und soziale Sicherheit in diesem Land hergestellt worden sind. Klaus Brandner, SPD-Fraktion (BT-PP 14/181, 04.07.2001)
Wie erwähnt erfolgte die Betonung der Tarifautonomie in den zitierten Sequenzen im Kontext von Debatten zu vergleichsweise konkreten Themen. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass den Äußerungen auch eine über den konkreten Sachverhalt hinausgehende Wirkung zugedacht war. Denn zumindest die Bundestags-Debatte zum VW-Modell 5.000 x 5.000 vom 4. Juli 2001 fällt exakt in die Zeit, in der Unmutsbekundungen der Gewerkschaftsmitglieder über die im Bündnis für Arbeit verabredete Zurückhaltung und Forderungen nach einer demnächst deutlich offensiveren Lohnpolitik der Gewerkschaften laut bzw. über die Medien transportiert wurden. Mit Sicherheit war den Rednern der zitierten Fundstellen die gespannte Stimmung bei den Gewerkschaftsmitgliedern und das damit in Zusammenhang stehende abnehmende Ansehen des Bündnisses für Arbeit bekannt. Insofern lassen sich die befürwortenden und stützenden Äußerungen zur Tarifautonomie interpretieren als Versuche staatlicher Akteure, die Stellung der Gewerkschaftsspitzen gegenüber ihren zweifelnden Mitgliedern zu stärken, um damit das Prinzip kooperativer Verhaltensabstimmung nicht zu gefährden.
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Die Entscheidung zwischen der Verfolgung von Einfluss- oder Mitgliederinteressen mussten die Gewerkschaftsführungen dennoch allein treffen – und für eine fein austarierte Gratwanderung zur gleichzeitigen Beachtung beider Interessenssphären waren die erforderlichen Bedingungen nicht gegeben. Denn nachdem die Erwartungen der Mitglieder bekannt wurden, aber noch bevor die Gewerkschaftsführungen diese in offizielle, praktikable, womöglich etwas ausgleichende Positionen hätte transformieren können, reagierten die Spitzenverbände der Arbeitgeber: zunächst mit der Forderung, auch das nächste Bündnis-Spitzengespräch für tarifpolitische Absprachen zu nutzen, dann mit der Ankündigung, sich in der bevorstehenden Tarifrunde an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung, nicht aber an der Inflationsentwicklung zu orientieren, und schließlich mit der Forderung nach einer längeren Laufzeit der kommenden Tarifverträge.93 Unter solchen Umständen – dem hohen Druck der eigenen Basis und der extremen Positionierung der Arbeitgeber – war ein sensibles Vorgehen der Tarifpolitiker in den Gewerkschaften kaum mehr zu erwarten. Vielmehr kündigten nunmehr auch sie mehrheitlich eine Abkehr von ihrer Strategie der zurückhaltenden Lohnpolitik an – und damit teils implizit, teils explizit auch die Abkehr von den Absprachen im Bündnis für Arbeit.94 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung im Sommer 2001 kommt der folgenden Sequenz eine besondere Bedeutung zu. Der Bundeskanzler selbst nahm die Gelegenheit wahr, im Rahmen der – üblicherweise als Generaldebatte fungierenden – Beratung über den Finanzplan des Bundeskanzleramts an die Vernunft der Tarifverbände zu appellieren. Er tat dies durch Erinnerung an die letzte Tarifrunde und durch deutlichen, hochgradig aufwertenden Verweis auf die Tarifautonomie. Die Herstellung eines Zusammenhangs zum Bündnis für Arbeit, überhaupt zur Rolle des Staates unterbleibt dabei vollends. Weder der Kanzler noch irgendein anderer Vertreter von Bundesregierung oder Regierungsfraktionen erwähnt in dieser Sitzung das Bündnis: Ich will noch einen Aspekt, der auch diskutiert werden wird, besonders hervorheben: Wie geht es im nächsten Jahr weiter? Das beziehe ich jetzt auf diejenigen, die ebenfalls makroökonomische Daten setzen. Über kurz oder lang wird es eine Diskussion über die Frage geben, wie sich Löhne und Gehälter in den nächsten Tarifrunden entwickeln. Die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Arbeitgeber auf der an deren Seite sind Institutionen, die wichtige makroökonomische Daten setzen. Um allen Diskussionen zuvorzukommen, will ich sagen: Wer sich einmal anschaut, wie es im Jahre 2000 ablief, als 93 94
„Deutschlands Tarifparteien geben die Zurückhaltung auf - Arbeitgeber und Gewerkschaften positionieren sich für Verhandlungen ab 2002 / Noch keine konkreten Forderungen“ Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 19.9.2001, S. 29. Siehe vorige Fußnote, vgl. auch „IG Bau kündigt harte Tarifrunde an - Der wiedergewählte Vorsitzende Klaus Wiesehügel rechnet für 2002 mit einer ‚großen Inflation’“ Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 5.10.2001, S. 26 „Gewerkschaften kündigen harten Kurs an - IG-Metall-Vize Jürgen Peters: Lohnmäßigung lohnt sich nicht / Staatliche Ausgabenprogramme gefordert“ Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 19.10.2001, S. 25 „IG BCE setzt auf Konsenspolitik“ Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 22.10.2001, S. 25.
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wir im Vorfeld wilde Spekulationen darüber hatten, wie sich die beiden Seiten verhalten würden, und als wir im Nachgang alle miteinander anerkennen mussten, dass sie sich gesamtwirtschaftlich außerordentlich vernünftig verhalten haben, der kann doch aus all dem Positiven, das wir mit der Tarifautonomie in der Vergangenheit erlebt haben, nur den Schluss ziehen, dass jene gesamtwirtschaftliche Vernunft, die natürlich gerade in der Krise nötig ist [...], auch die Optionen und die Handlungen der Tarifparteien im nächsten Jahr beeinflussen wird. Ich jedenfalls vertraue den Tarifparteien. Ich hatte bisher keinen Grund zur Enttäuschung. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 14/189, 26.09.2001) Ich gehe fest davon aus, dass auch in den jetzt anstehenden Tarifrunden die Tarifpartner einen Weg finden werden, der die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland weiter befördert. Die Tarifparteien haben sich nämlich bisher immer verantwortungsbewusst verhalten. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dies auch weiterhin der Fall sein wird. Joachim Poß, SPD-Fraktion (BT-PP 14/206, 30.11.2001)
Phase 3: Nur wenig verdeckt die Überzeugung der beiden zuletzt zitierten Redner deren Sorge, dass die Tarifparteien das von ihnen erwartete Verhalten gerade nicht zeigen. Die Erinnerung an die Tarifpolitik der Verbände im Jahr 2000 ist implizit zugleich Ausdruck der Erwartung der Bundesregierung, dass sich dieses Verhalten auch in der Tarifrunde 2002 wiederholt. Und diese Erwartung ist wiederum zu verstehen als Reaktion auf die beschriebenen tarifpolitischen Entwicklungen im Sommer 2001, die eine solche Wiederholung zunehmend unwahrscheinlich werden ließen. Anfang Dezember 2001 präzisierte die IG Metall ihre Forderungen für die bevorstehende Tarifrunde 2002. Die Lohnerhöhung sollte 5 bis 7% betragen, sie war damit eine bewusste und deutliche Abkehr von der moderaten Lohnpolitik der Vorjahre. Begründet wurde dieser Forderungskorridor zum einem mit der Geldwertentwicklung der zurückliegenden Monate, die ausgeglichen werden müsse. Vor allem aber ergab sich für die Gewerkschaftsführung aus der Teilnahme am Bündnis für Arbeit ein gravierendes Legitimationsproblem, das nicht länger ignoriert werden konnte. Der IGMetall-Vorsitzende Zwickel blieb mit einigen seiner konsensorientierten tarifpolitischen Vorschläge – etwa zur stärkeren, betriebsergebnisabhängigen Lohndifferenzierung oder zur Laufzeit des nächsten Tarifvertrags angesichts der weltwirtschaftlichen Unsicherheit infolge der Terroranschläge vom 11.09.2001 – bei der eigenen Basis ohne Erfolg. Stattdessen sah er sich mit dem Vorwurf konfrontiert, vor dem Hintergrund der Konjunkturkrise „zu freundlich mit der rot-grünen Bundesregierung umzugehen und ungerechtfertigte Zugeständnisse in der Tarifrunde zu machen.“95 In dieser 95
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„Vor der neuen Tarifrunde - IG Metall droht mit Streiks - Zwickel: Explosive Stimmung in den Betrieben/ Bündnis für Arbeit trifft sich erst kommendes Jahr“, Süddeutsche Zeitung, Jg. 57, 7.12.2001, S. 26.
Situation ließ sich dem drohenden Legitimationsverlust nur begegnen durch eine eindeutige Positionierung gegen die Fortsetzung der Lohnzurückhaltung und gegen eine nochmalige Thematisierung der Tarifpolitik beim nächsten Bündnisgespräch. Aus Sicht der Bundesregierung war damit der Erfolg des nächsten, für Mitte Dezember 2001 anberaumten Spitzengesprächs sehr unwahrscheinlich. Wenig sprach dafür, dass es zu einer tarifpolitischen Verabredung kommen würde wie gut zwei Jahre zuvor. Zu konträr waren die Standpunkte der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite sowohl in der Frage, welche Tarifabschlüsse der aktuellen Situation angemessen sind, als auch darin, ob diese Frage überhaupt noch einmal Gegenstand von BündnisGesprächen sein sollte. Die Verschiebung des Gesprächstermins von Mitte Dezember 2001 auf Ende Januar 2002 war dieser geringen Erfolgsaussicht geschuldet. Die Enttäuschung darüber kommt in der Erneuerung von Erwartungen zum Ausdruck. Im Dezember 2001 und Januar 2002 dominierten derartige Äußerungen von Erwartungen deutlich die Benennung von Erfolgen. Das macht es plausibel, im Anschluss an die lang anhaltende Phase der Erfolgskommunikation eine nochmalige kurze Phase der Erwartungskommunikation auszumachen. Diese ist – im Gegensatz zur ersten Phase der Ziel- und Erwartungskommunikation zu Beginn der Legislaturperiode – geprägt von einem deutlich geringeren Einigungswillen zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite, aber auch von einem deutlich höheren Erfolgsdruck der Bundesregierung angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl und angesichts der schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese Unterschiede erklären auch die Unterschiede im Redestil zwischen den beiden Phasen der Ziel- und Erwartungskommunikation. Unüberhörbar war der Ton um vieles gereizter: Natürlich würde es sich für das Bündnis für Arbeit anbieten - eigentlich ist es jetzt Zeit für ein Bündnis für Arbeit -, Lohnzuwächse zu beschließen, die im Rahmen des Produktivitätsfortschrittes liegen und sich an der Inflationsrate orientieren. Werner Schulz , B90/Die Grünen (BT-PP 14/208, 13.12.2001) Ich sage Ihnen eines: Ich hoffe, dass morgen beide Tarifparteien in der Lage sind, aus ihren Schützengräben herauszukommen und tabufrei zu diskutieren. Wir brauchen für die Zukunft des Arbeitsmarktes eine tabufreie Diskussion. Natürlich brauchen wir eine Diskussion über den Abbau von Überstunden; aber wir brauchen auch Handlungen, in denen das Bündnis für Arbeit das bestätigt, was es einmal versprochen hat, nämlich eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik, eine Politik, die sich auch an den Produktivitätsentwicklungen orientiert, die zu mehr Beschäftigung und übrigens auch zu mehr Qualifizierung führt. Die FDP fordert mehr Bündnisse für Arbeit in den Betrieben. Ich wünsche mir, dass das Bündnis für Arbeit morgen den Mut aufbringt, positive Beispiele, Best-PracticeBeispiele wie das von VW, endlich als Orientierungsmaßstab zu nehmen, die dann auch in anderen Betrieben Anwendung finden. Das sind kluge Bündnisse für Arbeit, die mit den heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen machbar sind: Verbindung von Qualifizierung von Arbeitslosen, an der Produktion orientierter Lohnfindung und Beschäftigungssicher-
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heit. Anders als andere bin ich der Ansicht, dass das Bündnis für Arbeit morgen auch über die Vorschläge, die die Benchmarkinggruppe des Bündnisses für Arbeit selbst gemacht hat, debattieren sollte. Dr. Thea Dückert, B90/Die Grünen (BT-PP 14/212, 24.01.2002) Jetzt ist es vor allem an den übrigen Bündnispartnern, die Vereinbarungen umzusetzen und den Abbau der Arbeitslosigkeit weiter aktiv und offensiv voranzutreiben. Adolf Ostertag, SPD-Fraktion (BT-PP 14/212, 24.01.2002) Als Letztes will ich auf das Bündnis für Arbeit eingehen. Herr Kolb: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Ich will Ihnen wirklich herzlich davon abraten, sich in die Tarifverhandlungen einzumischen. Aber eines steht fest: Das Bündnis für Arbeit hat von der Arbeitsmarktpolitik die Rahmenbedingungen bekommen, die es braucht: bei der Teilzeitbeschäftigung und bei der Aktivierung und Vermittlung, bei der Qualifizierung mit Jobrotation. Es geht jetzt darum, dass unsere Initiativen in den Betrieben tatsächlich umgesetzt werden. Dazu fordere ich alle auf. Es kann nämlich nicht sein, dass die Probleme allein vor der Tür der Arbeitsmarktpolitik abgestellt werden. Vielmehr brauchen wir die Tarifparteien. Deswegen brauchen wir auch den Dialog mit den Tarifparteien. Deshalb wird es eine erfolgreiche Bündnis-für-Arbeit-Runde werden. Andrea Nahles, SPD-Fraktion (BT-PP 14/212, 24.01.2002)
Die Verschiebung des Gesprächstermins von Mitte Dezember 2001 auf Ende Januar 2002 und die dadurch verlängerte Phase der Erwartungsbenennung und Appelle brachte nicht die erhoffte Entspannung. Die Bündnis-Teilnehmer konnten sich im 8. (und mit heutigem Wissen: letzten) Spitzengespräch am 25. Januar 2002 nicht auf tarifpolitische Absprachen einigen. Von den Medien und auch von der politischen Opposition wurde das Scheitern dieses Gesprächs mit dem Scheitern der Institution „Bündnis für Arbeit“ insgesamt gleichgesetzt. Auch für die Bundesregierung selbst ließ sich das Bündnis für Arbeit nun nicht mehr verwenden als Exempel und Symbol der eigenen, erfolgreichen Regierungstätigkeit. Mit dem Bündnis ließen sich bis auf weiteres keine Renommeegewinne mehr erzielen. Folgerichtig sprachen Vertreter der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen in den parlamentarischen Debatten ab Februar 2002 bis zum Ende der Legislaturperiode im September 2002 signifikant seltener vom Bündnis für Arbeit als vorher. Wenn sie es taten, dann in der Regel nicht initiativ und offensiv, sondern eher defensiv als Reaktion auf die vielen Sticheleien der parlamentarischen Opposition. Bei derartigen Äußerungen wurde jedoch nicht versäumt, die Funktion der Tarifautonomie deutlich hervorzuheben und explizit das Verhalten der Tarifparteien (implizit also das Verhalten der Gewerkschaften) in der letzten Tarifrunde zu würdigen. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, in dem man sich darüber Gedanken macht, wie Strukturreformen erreicht werden können, und in dem man bereit ist, in einem Konsensrahmen über Tabus zu sprechen, wird auch in Zukunft wichtig sein. Die erforderlichen Strukturreformen,
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zum Beispiel am Arbeitsmarkt, bekommt man aber nicht hin, wenn man das sozusagen nur einer Seite überlässt. Es müssen schon gemeinsame Anstrengungen unternommen werden. Im Übrigen konnten wir ein anderes wichtiges Ergebnis erzielen: Wir haben im Bündnis über die Frage gesprochen - die bisher tabu war -, wie die Grundzüge einer beschäftigungsfördernden Tarifpolitik realisiert werden können. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Gespräch, das darüber stattgefunden hat - unter Beachtung der Tarifautonomie -, dazu beigetragen hat, dass wir in den letzten zwei Jahren 600 000 neue Jobs geschaffen haben. Diese neuen Arbeitsplätze sind nach der Bündnisrunde zustande gekommen. Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie (BT-PP 14/221, 28.02.2002) Jeder Angriff auf die Tarifautonomie, den Sie durch die Hintertür planen, wird von uns entschieden zurückgewiesen. Im Gegensatz zu Ihnen danken wir den Betriebsräten in diesem Land und wir danken den Gewerkschaften, weil sie für sozialen Fortschritt in diesem Land gesorgt haben. Sie haben sich um die Beschäftigung verdient gemacht. Ich wiederhole: Dafür danken wir ihnen. Den Eckpfeiler für einen integrierten Politikansatz bildet nach unserer Überzeugung das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit. Wir alle wissen, dass die Politik und auch die Bundesregierung allein die Probleme am Arbeitsmarkt nicht lösen können. Wir brauchen dazu einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Wenn man die unterschiedlichen Ausgangspositionen berücksichtigt, dann erkennt man, dass sich die Ergebnisse im Bündnis für Arbeit durchaus sehen lassen können. Dieses Bündnis ist vor allem langfristig und strategisch angelegt. Wir streben an, die einzelnen beschäftigungspolitisch relevanten Bereiche noch stärker zu verzahnen. Die Bundesregierung wird sich noch stärker einschalten und trotzdem die Tarifautonomie bewahren. Klaus Brandner, arbeitsmarktpol. Sprecher der SPD-Fraktion (BT-PP 14/248, 04.07.2002) Die Nachfrage nach deutschen Produkten auf den internationalen Märkten bricht gegenwärtig alle Rekorde. Dazu haben die bei uns stabil gebliebenen Lohnstückkosten beigetragen - auch das muss man einmal sagen, weil es Vernunft auch bei Tarifverhandlungen zeigt -, die bei allen Konkurrenten Deutschlands auf den Weltmärkten deutlich gestiegen sind. Das ist ein Vorteil für die deutsche Wirtschaft, der nicht unterschätzt werden darf. Die bessere Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist auch das Ergebnis einer ausgewogenen und verantwortungsvollen Tarifpolitik, die auf die Kostenseite der Unternehmen genauso wie auf die Nachfrageseite geachtet hat; denn auch die Nachfrageseite ist für die Entwicklung und Stabilisierung der Binnenkonjunktur nicht ohne Bedeutung. Alles in allem haben die Tarifparteien auch in dieser schwierigen Lohnrunde, bei der viele Gesichtspunkte unter einen Hut zu bringen waren, Vernunft und Augenmaß bewiesen. Die Tarifpolitik und die Senkung von Steuern und Abgaben haben dafür gesorgt - das ist eine gute Nachricht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land -, dass die realen Nettoeinkommen der Beschäftigten seit 1998 um rund 7 Prozent gestiegen sind, während sie vorher gesunken waren - mit allen Folgen, die das für Einkommen und Nachfrageentwicklung hat. Noch etwas sollte gerade in einer solchen Debatte unterstrichen werden: Die im Grundgesetz geschützte Tarifautonomie, das deutsche Modell der Mitbestimmung und das Prin-
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zip der Teilhabe haben sich auch und gerade in den abgelaufenen Tarifrunden einmal mehr bewährt. Diese Prinzipien […] sind auch wirtschaftlich vernünftig und nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten zu beachten. Deshalb darf am Prinzip der Teilhabe der arbeitenden Menschen am Erfolg ihrer Arbeit, aber auch an den Entscheidungen in der gesamten Gesellschaft nicht gerüttelt werden. Wir jedenfalls werden das nicht zulassen. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 14/248, 04.07.2002)
Derartige Äußerungen scheinen in sich nicht ganz schlüssig: zum einen war es ja gerade das Verhalten der Tarifparteien in der letzten Tarifrunde, an dem das Bündnis für Arbeit scheiterte, zum anderen wirkt die Verknüpfung von Tarifautonomie und Bündnis nach wie vor paradox. Da im Sommer 2002 die diesjährige, erwartet konfliktreiche Tarifrunde bereits weitgehend abgeschlossen und auch ein weiteres BündnisSpitzengespräch nicht anberaumt war, es also insgesamt keine aktuellen Anlässe für Steuerungsbemühungen der Bundesregierung gab, lassen sich die (beispielhaft zitierten) Redesequenzen nur erklären mit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002, der im Frühjahr 2002 einsetzte und im Sommer nochmals intensiviert wurde. Anfang Juni 2002 wurde offiziell verkündet, dass die SPD im Falle ihrer Wiederwahl das Bündnis für Arbeit neu auflegen wolle. Damit wurde der Funktionswechsel des Bündnisses für Arbeit im Zuge der Bundestagswahl 1998 wieder rückgängig gemacht: das in Aussicht gestellte „erneuerte“ Bündnis war nunmehr wieder ausschließlich Wahlkampf- und nicht Steuerungsinstrument. Verglichen mit 1998 erreichte dieses Wahlkampfinstrument jedoch längst nicht die hervorgehobene Stellung innerhalb der Wahlkampagne. Auch hatten die Akteure gelernt: dem einst reichlich unterschätzen Problem des Konfliktes zwischen Konzertierung und Tarifautonomie wurde in den parlamentarischen Äußerungen der Regierungsvertreter deutlich stärker Rechnung getragen. Fazit Ziel des Bündnisses für Arbeit war es, durch eine Vielzahl von Absprachen zwischen Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und Beschäftigungsaufbau zu fördern. Zur dafür erforderlichen Dynamisierung des Arbeitsmarktgeschehens hielt die Bundesregierung an hervorgehobener Stelle die Flexibilisierung und Differenzierung der bestehenden Tarifstrukturen für erforderlich. Ihr lag somit daran, konzertiert, also innerhalb des Bündnisses für Arbeit, die Gewerkschaften zu einer beschäftigungs(aufbau)orientierten Tarifpolitik zu bewegen. Da eine solche Tarifpolitik den Zuwachs im wirtschaftlichen Verteilungsspielraum zwischen zwei Tarifrunden vorrangig zugunsten des Beschäftigungsaufbaus nutzen soll, lässt sie sich mit offensiv erstrittenen, attraktiven Lohnerhöhungen zugunsten der Beschäftigten, also der Widerherstellung des vormaligen Gewinn-Lohn-Verhältnisses, nicht ohne weiteres verbinden. Damit nötigt ein 220
Bündnis für Arbeit mit dem Ziel des Beschäftigungsaufbaus und mit dem Anspruch der Einbindung der Gewerkschaften letzteren zwangsläufig den Widerspruch auf, sich zwischen der Verfolgung der Interessen ihrer (beschäftigten) Mitglieder an attraktiven Lohnerhöhungen und der Berücksichtigung der Interessen des Staates (und der Arbeitgeber) an flexibilisierter, zurückhaltender Tarifpolitik entscheiden zu müssen. Unter der Voraussetzung, dass sowohl der Staat als auch die Gewerkschaften ein nachhaltiges Interesse am Bestand des Bündnisses haben, eine realisierte exit-Option also für beide Seiten keine ernstzunehmende Alternative zur Konzertierung darstellt, brauchen die Gewerkschaften bei der Überwindung des Widerspruchs zwischen Einfluss- und Mitgliedschaftslogik die Unterstützung staatlicher Akteure. Eine zentrale Möglichkeit, diese Unterstützung zu gewähren, besteht für staatliche Akteure darin, die hohe Bedeutung und die Vorrang- (wenn nicht gar: Allein-)stellung der Mitgliedschaftsorientierung für gewerkschaftliches Handeln rhetorisch immens aufzuwerten, um die faktische Dominanz des einflussorientierten und staatlich beeinflussten gewerkschaftlichen Verhaltens zu dementieren. Diesem Zweck dient die starke Betonung der Unabhängigkeit der Tarifpartner, die mit dem Begriff der Tarifautonomie zum Ausdruck gebracht werden kann. Freilich birgt diese Strategie das Risiko eines Widerspruchs in sich: die gleichzeitige Betonung der Tarifautonomie und die Darstellung von Konzertierungserfolgen ist paradox, insofern auf Dauer nicht glaubwürdig und damit auch wenig hilfreich als staatliche Unterstützung zur Überwindung des gewerkschaftlichen Dilemmas zwischen Mitgliedschafts- und Einflusslogik. Vielmehr ist der Widerspruch zwischen Tarifautonomie und Konzertierung nichts anderes als die Verlängerung des gewerkschaftlichen Dilemmas in die Kommunikationsmuster und Handlungssphäre staatlicher Akteure hinein. Staatliche Akteure mussten das Bündnis für Arbeit als erfolgreich kommunizieren, um seine Existenz und seinen politischen Gestaltungsanspruch zu legitimieren. Aus Sicht staatlicher Akteure zählte zu diesen Erfolgen auch und vor allem die moderate und langfristig angelegte Tarifpolitik der Gewerkschaften im Jahr 2000. Konsequenterweise erfolgte die Betonung der Unabhängigkeit der Tarifparteien nicht von Beginn an, sondern erst reaktiv zu dem Zeitpunkt, als sie öffentlich ernsthaft in Frage gestellt wurde. Der Widerspruch, der dadurch in den Parlamentsdebatten (und sicher auch anderswo) erzeugt wurde, wurde im Zuge eines Lernprozesses schnell überwunden dadurch, dass zwar weiterhin sowohl von den Erfolgen des Bündnisses als auch von der Unabhängigkeit der Tarifparteien gesprochen wurde, nun aber keine unmittelbare Verbindung zwischen beiden Aussagen mehr hergestellt wurde. Insofern bestätigt sich die Hypothese, dass staatliche Akteure im Rahmen kooperativer Verhaltensabstimmung reaktiv und in befürwortender und stützender Weise die Tarifautonomie thematisieren, um so die Stellung der Verbandsspitzen gegenüber deren zweifelnden Mitgliedern zu stärken und auf diese Weise die Chancen auf fortgesetzte Verhaltensabstimmung zu erhöhen.
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9.5 Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit per Gesetz – der schwankende Schatten der Hierarchie Auch wenn das Bündnis für Arbeit im Jahr 2002 auseinandergebrochen ist, kann man nicht sagen, dass es keinerlei Spuren hinterlassen hätte. Den nachhaltigsten Effekt hatte das Bündnis für Arbeit sicherlich auf der Begriffsebene. Es lieferte den Namen für eine Entwicklung der industriellen Beziehungen, die das etablierte Modell der Sozialpartnerschaft mit der hervorgehobenen Rolle der Tarifverbände bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen deutlich in Frage stellte. Bereits seit Beginn der 1990er kam es in immer mehr Unternehmen zu betrieblichen Absprachen zwischen Belegschaft und Management, die tarifvertragliche Vorgaben ergänzten oder gar außer Kraft setzten. Diese Absprachen waren – und sind – Tauschgeschäfte: sie haben ganz allgemein das Ziel, durch Zugeständnisse der Belegschaft in Fragen vor allem von Arbeitslohn und Arbeitszeit die Marktposition des Unternehmens zu verbessern; im Gegenzug gewähren die Unternehmensleitungen den Belegschaften meist befristete Bestands- und Arbeitsplatzgarantien (vgl. ausführlich dazu Rehder 2003a; 2003b; 2006; Seifert 2002; Fehmel 2003; 2006a mit jeweils weiteren Quellenangaben). Dieser Entwicklung gab die politische Opposition noch während des Bestehens des Bündnisses für Arbeit die Bezeichnung „betriebliche Bündnisse für Arbeit“. Zwar lehnte sie das makroökonomische Arrangement zwischen Bundesregierung und Tarifverbänden mehrheitlich ab. Gleichwohl bediente sie sich der Symbolkraft des Bündnisbegriffs, um die politische, d.h. gesetzgeberische Erleichterung mikroökonomischer, einzelbetrieblicher Absprachen zu fordern. Auch sonst bestanden unterhalb der identischen Bezeichnung „Bündnis für Arbeit“ kaum Gemeinsamkeiten zwischen der makro- und der mikroökonomischen Variante: Am tripartistischen Bündnis für Arbeit nahmen, wie beschrieben, die Bundesregierung und (Spitzen-)Verbände der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite teil. Initiator dieses „großen“ Bündnisses für Arbeit war, wie ebenfalls beschrieben, die SPD-geführte Bundesregierung, deren Ziel primär darin bestand, die Tarifverbände zu mehr Flexibilität in ihren Tarifwerken (etwa zu Tarifgruppenspreizungen oder Öffnungsklauseln) zu bewegen. Zwar stellen solche staatlichen Einflussversuche auf die Ausgestaltung von Tarifverträgen, wie ebenfalls beschrieben, durchaus eine faktische Intervention in die Unabhängigkeit der Tarifparteien dar. Allerdings werden dabei die formal geltenden Regelungen des Tarifvertragsgesetzes nicht infrage gestellt. Im Übrigen wurde das Ziel verstärkter tarifvertraglicher Flexibilität in erster Linie makroökonomisch begründet: Es ging um Einstiegstarife für Arbeitslose und um die Öffnung der Tarifstrukturen in den Niedriglohn-Bereich hinein, das alles jedoch unverändert auf flächentariflicher Basis. Wie sich aus vielen der Textsequenzen im vorigen Kapitel ablesen lässt, war die Referenzfolie dafür im Wesentlichen der globale Wettbewerb, also die Deutung, dass man sich im Wettbewerb mit den Arbeitsbedingungen im Ausland
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nicht nur, aber eben auch durch flächen(tarif)deckende Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen im Inland behaupten könne. Betriebliche Bündnisse für Arbeit kommen hingegen zwischen Beschäftigten und Management eines einzelnen Unternehmens zustande. Sie werden in der Regel initiiert von de jure tarifgebundenen Unternehmensleitungen, deren Ziel die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen in ihrem Unternehmen jenseits tarifvertraglicher Vorgaben ist. Betriebliche Bündnisse für Arbeit, das sagt bereits ihr Name, sind zudem ausschließlich mikroökonomisch motiviert. Auch ihre Funktion ist es, durch Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen im betreffenden Unternehmen dessen Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Allerdings ist die Referenzfolie für derartige Bemühungen nicht nur der Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten, sondern auch mit inländischen, die demselben Flächentarifvertrag unterworfen sind. Sofern ihnen dabei diese verbindlichen Tarifverträge keinen oder keinen ausreichenden offiziellen Spielraum (etwa in Form von so genannten tariflichen Öffnungsklauseln) einräumen, ist diese Art von Bündnissen nach geltender Rechtslage unzulässig. Auf die Änderung dieser Rechtslage zielte und zielt die Initiative von Teilen der parlamentarischen Opposition seit dem Scheitern des „großen“ Bündnisses für Arbeit im Jahr 2002. Erreicht werden sollte dies durch die Abschaffung oder zumindest Relativierung des unbedingten Tarifvorrangs gegenüber einzelbetrieblichen Absprachen. Juristisch hätte es dafür der Änderung des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsgesetztes bedurft. Das aber hätte die Grenze zwischen dem Handlungsspielraum der Tarifverbände und dem Handlungsspielraum der einzelbetrieblichen Akteure deutlich zu Gunsten letzterer verschoben. Entsprechend den Ausführungen am Beginn dieser Arbeit wäre ein entsprechendes Gesetz damit die Verschiebung der Grenze des Raumes, in dem Tarifverbände autonom und verbindlich regulierend agieren können. Die mit einer solchen Gesetzesänderung bewirkte Relativierung der verbandlichen Gestaltungs- und Einflussmacht bezüglich der Arbeitsbedingungen hätte aber zugleich auch eine Abwertung der Verbände als (tarif-)politische Interaktionspartner für staatliche Akteure bedeutet. Denn es wäre nicht auszuschließen, dass die Aufwertung der betrieblichen Ebene für die Aushandlung von Arbeitsbedingungen dieses Aushandlungsgeschehen insgesamt konfliktreicher macht, wofür dann aber die Tarifverbände von staatlichen Akteuren nicht mehr in die Verantwortung genommen werden könnten. Und exakt darin besteht – trotz der annähernden Namensgleichheit – der aus Sicht staatlicher Akteure wesentliche Unterschied zwischen beiden Bündnis-Varianten. Mit dem „Bündnis für Arbeit“ verfolgte die SPD-geführte Bundesregierung ja gerade das Ziel, die Tarifverbände gleichzeitig zu stärken und in Staatshandeln einzubinden, wohingegen betriebliche Bündnisse für Arbeit – zumindest in ihrer außertariflichen Variante – gerade das gegenteilige Potential haben, die Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifverbände zu schwächen und damit das deutsche System der industriellen Beziehungen auch für staatliche Akteure weniger gut steuerbar zu machen. Mit der Ermöglichung betrieblicher Bünd-
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nisse würde das etablierte Arrangement zwischen Staat und Verbänden, also der vielfältige politische Tausch zwischen beiden Seiten, die systemstabilisierende Rolle der Tarifverbände und die im Begriff der Tarifautonomie zum Ausdruck kommende staatsentlastende Arbeitsteilung, in erheblichem Ausmaß verändert. Dieser Befund erlaubt zwar nicht, gesetzliche Änderungen des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsgesetztes zur Erweiterung betrieblicher Flexibilität ein für allemal auszuschließen. Aber er erlaubt es, bei staatlichen Akteuren eine gewisse Zurückhaltung bei der gesetzlichen Änderung des bestehenden Arrangements zumindest solange zu vermuten, wie sie von diesem Arrangement profitieren, und mithin derartigen gesetzlichen Maßnahmen selbst eine gewisse Unwahrscheinlichkeit zu attestieren. Diese Feststellung relativiert zugleich die Forderungen der parlamentarischen Opposition nach gesetzlichen Änderungen. Darauf wird zurückzukommen sein. Zusammenfassend: Die politische Auseinandersetzung um betriebliche Bündnisse für Arbeit betraf also nicht in erster Linie das Ob, sondern das Wie einer weitgehend unstrittig von allen Seiten als erforderlich erachteten Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und des Tarifsystems in Deutschland. Die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten hierbei sind der Einbau von Flexibilisierungsmöglichkeiten innerhalb von Tarifverträgen (Öffnungsklauseln, Härtefallregelungen etc., gemeinhin verstanden als Ausnahmeregelungen, die unter Zustimmungsvorbehalt der vertragsschließenden Tarifverbände stehen) einerseits und die gesetzliche Erweiterung betrieblicher Handlungsspielräume außerhalb von Tarifverträgen andererseits. Die Positionierung politischer Akteure zugunsten einer dieser beiden Möglichkeiten setzt freilich eine Deutung der Verhältnisse voraus. Nicht zu trennen von der Frage nach dem Wie der Flexibilisierung ist damit die Frage: Sind die Tarifverbände, insbesondere die Gewerkschaften willens genug und hinreichend in der Lage, innerhalb von Tarifverträgen mehr Flexibilität herzustellen oder nicht? Durch die Vorschaltung dieser Frage im politischen Deutungsprozess wird die gesamte Angelegenheit ideologisch massiv aufgeladen. Das ist bei der Textauswertung der relevanten Fundstellen in den Plenarprotokollen des Bundestages insbesondere deshalb zu beachten, weil im Untersuchungszeitraum zwei Bundestagswahlkämpfe stattfanden, in denen parteipolitische Akteure mehr als sonst um Abgrenzung voneinander bemüht sind. Aus dem Gesagten insgesamt ergibt sich die Kategorisierungsstruktur für die Auswertung parlamentarischer Redebeiträge von Vertretern der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen. In der Regel bestehen diese Beiträge aus einem „beschreibenden“ und einem bewertenden bzw. schlussfolgernden Teil, die sich freilich nur selten analytisch sauber voneinander trennen lassen. Grundsätzlich lassen sich relevante Äußerungen danach unterscheiden, ob sie das gegenwärtige Tarifsystem als den aktuellen Herausforderungen angemessen erachten oder nicht. Bewerten sie das Tarifsystem als derzeit nicht hinreichend angemessen, dann lassen sich die daraus abgeleiteten Flexibilisierungsforderungen wiederum danach unterscheiden, ob den Tarifverbänden die Fähigkeit zu Anpassung an diese aktuellen Herausforderungen zugeschrieben wird
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oder nicht. Im ersten Fall werden sich die Redner auf mehr oder weniger eindringliche Appelle zur innersystemischen Anpassung des Tarifsystems beschränken, im zweiten Fall werden sie gesetzgeberische Maßnahmen zur Ermöglichung tariflicher Flexibilisierung in Aussicht stellen. Beide Varianten (Apelle und Gesetzesandrohungen) lassen sich dem Typus indikativer Verhaltensbeeinflussung zuordnen, sie unterscheiden sich lediglich – darin aber signifikant – in ihrer Intensität. Die folgende Übersicht gibt die hypothetische hierarchische Anordnung und mögliche Verknüpfungen der Argumente an: das bestehende Tarifsystem ist den aktuellen Herausforderungen… …voll und ganz angemessen
…nicht hinreichend angemessen
tarifvertragliche Flexibilität aus- tarifvertragliche Flexibilität nicht ausreichend gegeben reichend gegeben Gewerkschaften sind noch nicht hinreichend offen für flexiblere Gewerkschaften haben sich den Tarifverträge Flexibilitätsforderungen gestellt „Tarifautonomie funktioniert…“ innersystemische Anpassungsfähigkeit gegeben
…aus eigenem Antrieb bzw. auf innersystemischen Druck hin
innersystemische Anpassungsfähigkeit nicht gegeben
aus bisherigen Erfahrungen mit (ggf. aus bisherigen Erfahrungen Tarifverbänden abgeleitete Zuabgeleitete) Zweifel an der versicht bezüglich zukünftiger Selbstadapationsfähigkeit des tarifvertraglicher Flexibilität Tarifsystems …nach Auffor- „Tarifautonomie funktioniert“ Gewerkschaften verweigern sich großflächig den Flexibilisiederung durch rungsnotwendigkeiten staatliche Akteure auch zukünftig keine angemessene Flexibilisierung innerhalb von Tarifverträgen zu erwarten „Tarifautonomie funktioniert nicht“ Aufforderung zur Erweiterung be- Forderung nach Erweiterung betrieblicher Handlungsspielräume trieblicher Handlungsspielräume innerhalb von Tarifverträgen außerhalb von Tarifverträgen
gesetzliche Maßnahmen nicht erforderlich
dazu gesetzliche Maßnahmen nicht erforderlich
dazu gesetzliche Maßnahmen erforderlich
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Die Jahresmitte 2002 markiert den Beginn, die Jahresmitte 2007 das Ende des Untersuchungszeitraumes. Die Diskursanalyse setzt damit ein beim Scheitern des makroökonomisch orientierten Bündnisses für Arbeit, durch das betriebliche Bündnisse in der parlamentarischen Debatte in den Vordergrund gerückt wurden, und findet ihr Ende etwa zur Halbzeit der 16. Legislaturperiode, als betriebliche Bündnisse wieder aus den parlamentarischen Auseinandersetzungen verschwanden. Die zeitliche Abfolge der Debatte lässt sich – wie schon die parlamentarische Begleitung des „großen“ Bündnisses für Arbeit – in drei Phasen einteilen. Phase 1: Der Zeitraum von Mitte 2002 bis März 2003 umfasst die erste Phase. In diese Phase fiel zunächst der Wahlkampf der Bundestagswahl zur 15. Legislaturperiode. Das von der Bundesregierung initiierte makroökonomische Bündnis für Arbeit galt gemeinhin als gescheitert; nicht zuletzt als Reaktion darauf brachten die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und FDP den Begriff „betriebliches Bündnis für Arbeit“ ins Spiel und stellten für den Fall der Übernahme der Regierungsverantwortung nach der Wahl in Aussicht, mit Änderungen des Betriebsverfassungs- und des Tarifvertragsgesetzes das Tarifsystem in Deutschland massiv flexibilisieren zu wollen.96 Vertreter von Bundesregierung und Regierungsfraktion hielten in dieser deutlich von Wahlkampf-Rhetorik gezeichneten Debatte erwartungsgemäß dagegen, indem sie auf ein bestehendes, funktionstüchtiges Tarifsystem hinwiesen, dessen Rahmenbedingungen keiner gesetzlichen Änderung bedürften: 50.000 Tarifverträge sind ein Musterbeispiel für Flexibilität in unserem Land. Auch daran zeigt sich die hohe Leistungsfähigkeit der deutschen Tarifpolitik. Man muss nicht jeden einzelnen Tarifvertrag gut finden - das erwarten wir auch gar nicht von Ihnen -, aber man muss anerkennen: In der Summe der Tarifverträge steckt langfristig viel Bewährtes und viel Gutes für die Beschäftigung in unserem Land. Deshalb werden wir Ihren Plänen, in der Tarifvertragsgesetzgebung herumzufummeln und dafür zu sorgen, dass Tarifverträge nicht mehr flächendeckend einheitliche Arbeitsbedingungen und einheitliche Mindeststandards setzen, dauerhaft eine Absage erteilen.
96
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Exemplarisch: „Diese Bundesregierung geht den notwendigen Veränderungen und Reformen in Deutschland aus dem Weg. Deswegen will ich Ihnen in sechs kurzen Punkten sagen, welche Anstrengungen in Deutschland notwendig sind, damit wir aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise unseres Landes wieder herauskommen: Erstens. Wir müssen den Arbeitsmarkt in Deutschland wieder in Ordnung bringen. Das heißt im Klartext: Wir müssen die starren Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes und des Tarifvertragsgesetzes, wenn nötig auch gegen den erbitterten Widerstand der Tarifvertragsparteien, so ändern, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland möglich sind. Wir werden das tun.“ (Friedrich Merz, BT-PP 14/252, 12.09.2002, 26)
Ihnen schmeckt die bewährte Tarifautonomie nicht. Tarifsicherheit ist Ihnen, wie wir hören, ein Dorn im Auge. Auch mit den wohlklingendsten Umschreibungen lenken Sie von Ihren tatsächlichen Absichten ab: Betriebsräte und Gewerkschaften in diesem Land sollen durch Ihre Politik geschwächt werden. Damit verschlechtern Sie die Arbeitsbedingungen. Das lassen wir nicht zu. Jeder Angriff auf die Tarifautonomie, den Sie durch die Hintertür planen, wird von uns entschieden zurückgewiesen. Im Gegensatz zu Ihnen danken wir den Betriebsräten in diesem Land und wir danken den Gewerkschaften, weil sie für sozialen Fortschritt in diesem Land gesorgt haben. Sie haben sich um die Beschäftigung verdient gemacht. Ich wiederhole: Dafür danken wir ihnen. Klaus Brandner, arbeitsmarktpol. Sprecher der SPD-Fraktion (BT-PP 14/248, 04.07.2002)
Diese hochgradig positive Bewertung des bestehenden Tarifsystems und die Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ setzte sich zunächst auch nach der Bundestagswahl im September 2002, die weitgehend die gegebene Sitzverteilung im Bundestag und damit auch die amtierende Bundesregierung bestätigte, fort. In acht (von insgesamt 17) Plenarsitzungen des Bundestages bis zum Jahreswechsel nutzten Vertreter der Bundesregierung und der SPD-Fraktion die Gelegenheit, auf die Flexibilitätsspielräume zu verweisen, die in Tarifverträgen enthalten sind. Das bestehende Tarifsystem, so die Kernbotschaft dieser Wochen, ist den aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen und den betrieblichen Bedürfnissen voll und ganz angemessen. Zum Jahresende 2002 hin schlichen sich jedoch erste, vereinzelte Aussagen in die Plenarbeiträge von Regierungs(-fraktions-)vertretern ein, die dezent auf eine bestehende Skepsis an der Angemessenheit des Tarifsystems hinweisen. Wahlkampftaktische Rücksichtsnahme war nicht mehr geboten, und so stieß zunächst bei den Grünen das Konzept betrieblicher Bündnisse nun nicht mehr auf so kategorische Ablehnung wie noch wenige Monate zuvor. Und bei aller Würdigung der Tarifautonomie und ihrer Kopplung an das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft, symbolisiert mit der Erwähnung Ludwig Erhards, schien dem Bundeswirtschaftsminister die Flexibilität des Tarifsystems nun durchaus noch verbesserungsfähig. Erste Anzeichen der für indikative Einflussnahme typischen „Ja, aber…“-Sprachkonstruktion werden erkennbar. Ich konzediere Ihnen97, dass die Vorschläge, die Sie unterbreitet haben, natürlich ebenfalls Ansatzpunkte enthalten, über die man reden kann. Das ist keine Frage. Dazu gehören etwa die 500-Euro-Jobs und deren Ausweitung auf andere Bereiche. Bezüglich dieser Fragen signalisieren wir ebenfalls ein konstruktives Herangehen. Dies haben wir uns in der Koalition vorgenommen. Ich denke, bei solchen Fragen sollte man zusammenkommen. Das gilt auch für die betrieblichen Bündnisse für Arbeit. Zum Teil gibt es sie; zum Teil haben sie ein wirklich neues Klima in den Betrieben und in unserer Volkswirtschaft geschaffen. Ich glaube, an vielem ist etwas dran.
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Gemeint ist die CDU/CSU-Oppositionsfraktion.
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Ich lese momentan mit wachsendem Interesse die Vorschläge von den Verbänden, vom BDI und vom ehemaligen BDI-Präsidenten Henkel. Es gibt eine Reihe von Punkten, über die man sich verständigen kann. Werner Schulz, wirtschaftspol. Sprecher von Bündnis 90/ Die Grünen (BT-PP 15/014, 05.12.2002) Wir wissen seit Ludwig Erhard, wie wichtig die Tarifhoheit ist. Was wollen Sie ohne Gewerkschaften erreichen? Wie stünde die deutsche Volkswirtschaft ohne eine funktionierende Tarifhoheit und Tarifautonomie da, auf die wir gerade dann setzen, wenn es darum geht, bestimmte Sektoren der Wirtschaft und der Arbeitswelt aus der Ecke herauszuholen und für die Zukunft nutzbar zu machen? Ich bin sehr dankbar dafür, dass und wie die beiden Seiten, die Unternehmen wie die Gewerkschaften, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen beginnen. Ich setze darauf, dass wir damit die notwendige Flexibilität auf diesem Sektor erzeugen. Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (BT-PP 15/016, 19.12.2002)
Mitursächlich für diesen sich abzeichnenden Wandel von Einstellung und Sprachregelung von der umfänglichen Bestätigung des Verbändehandelns hin zu Appellen an die Verbände dürfte die Veröffentlichung des Jahresgutachtens 2002 des Sachverständigenrates im Dezember 2002 gewesen sein. Diesem Bericht zufolge sahen die ökonomischen Rahmenbedingungen des Jahres 2002 rückblickend nicht gut aus. Die wirtschaftliche Entwicklung war kraftlos geblieben, das Bruttoinlandsprodukt nahm lediglich um 0,2% gegenüber dem Vorjahr zu (SVR 2002: 82). Das schlug entsprechend durch auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Das Jahr 2002 war gekennzeichnet durch einen anhaltenden Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit und durch einen in Westdeutschland nun auch wieder einsetzenden, in Ostdeutschland sich gar ungebremst fortsetzenden Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Die Preisentwicklung bot hingegen „keinen Grund zur Besorgnis“ (SVR 2002: 107). Tabelle 5:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2002
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Entw. Arbeitslosenquoten Entw. ggü. Vorjahr Verbraucher preise ggü. WestOstWestOstDeutschland Deutschland Vorjahr deutschland deutschland deutschland deutschland 1998 0,9 12,3 10,3 1999 0,6 11,7 9,6 2000 1,4 10,7 8,4 2001 2,0 10,3 8,0 2002 1,4 10,8 8,5 Quelle: Stat. BA div. Jge., BA 2007a: 18, 38)
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19,2 18,7 18,5 18,8 19,2
-0,3 +1,0 +1,2 -0,0 -0,9
+0,0 +1,5 +2,1 +0,8 -0,4
-1,4 -0,7 -1,9 -3,1 -2,9
Die Prognose des Sachverständigenrates für das Jahr 2003 ließ eine grundsätzliche Verbesserung dieser Rahmenbedingungen unter den gegebenen weltpolitischen Unwägbarkeiten (vor allem im Nahen und Mittleren Osten), aber auch unter den spezifisch deutschen institutionellen Gegebenheiten nicht erwarten (SVR 2002: 8, 196ff.). Zu letzteren zählte der Sachverständigenrat die nach wie vor bestehende mangelnde Lohnflexibilität (SVR 2002: 259f.). Folgerichtig stellte er seiner Diagose und Prognose der Entwicklung am Arbeitsmarkt mit der Erleichterung des betrieblichen Abweichens von Flächentarifverträgen eine Therapiemöglichkeit zur Seite, über die, wie wir sahen, im Verlaufe des zu Ende gehenden Jahres bereits ausführlich politisch gestritten wurde. Der Sachverständigenrat ließ jedoch offen, „wie ein Abweichen auf der betrieblichen Ebene institutionell geregelt werden soll“ (SVR 2002: 260). Nicht zuletzt diese Bewertung durch den Sachverständigenrat führte zunächst zum wieder verstärkten Bemühen der Bundesregierung, im Rahmen eines makroökonomisch ausgerichteten Bündnisses für Arbeit mit den Spitzen von Gewerkschaften und Arbeitsgeberverbänden das Verhalten in der bevorstehenden Tarifrunde abzustimmen. Damit trat auch wieder das Interesse der Bundesregierung an einer Flexibilisierung des Tarifgeschehens in den Vordergrund, das ja bereits 1999 Movens der Bündnis-Initiative gewesen war. Freilich wurden dadurch implizit zugleich die zahlreichen Einlassungen zur Funktionstüchtigkeit des Tarifsystems im Bundestagswahlkampf und in der nachfolgenden Etablierungs- und Renovierungsphase der zweiten rot-grünen Regierungskoalition als primär machtstrategisch entwertet. Indes: Die Einstellungen und Positionen in den Verbandsspitzen hatten sich gegenüber dem letzten Bündnistreffen gut ein Jahr zuvor nicht geändert. Nach wie vor machten Vertreter der Arbeitgeberseite Gespräche über die Tarifpolitik zur Bedingung ihrer Teilnahme an einer Neuauflage des Bündnisses; und nach wie vor lehnten die Gewerkschaftsspitzen, vor allem jene von IG Metall und ver.di, die Behandlung tarifpolitischer Fragen im Bündnis kategorisch ab. Schon zwischen den Anfangsbedingungen beider Seiten im Vorfeld eines möglichen Spitzentreffens gab es keinerlei Schnittmengen und die Fronten zwischen beiden Seiten waren dementsprechend derart verhärtet, dass selbst ein unverbindliches Gespräch über zu behandelnde und nicht zu behandelnde Themen nur mit großer Mühe zustande kam. Hinzu kam, dass auch die Bundesregierung als dritte Partei der angestrebten Gesprächsrunden nichts in die Wagschale werfen konnte, was für die Verbandsvertreter den Teilnahmeanreiz hätte erhöhen können. Entsprechend klangen die Äußerungen aus den Regierungsfraktionen zu Fragen tarifvertraglicher Gestaltung von Arbeitsbedingungen im Zeitraum Dezember 2002 bis Februar 2003 deutlich gereizter. Zwar waren – angesichts der sich abzeichnenden Unmöglichkeit, kooperative Politik zu betreiben – die Appelle an die Gewerkschaften unverändert indikativer Art; dafür, dass sie jedoch nun mit mehr Nachdruck vorgetragen wurden, mag aber unter anderem auch der Umstand sprechen, dass innerhalb der
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üblichen „Ja, aber...“-Konstruktion solcher Appelle auf die Betonung des „Ja“-Teiles keine übermäßige Sorgfalt verwendet wurde: Es geht nicht um Mehrarbeit für die Menschen, die im Einzelhandel beschäftigt sind, es geht um eine andere Verteilung der Arbeit. Die Arbeit dort ist in Tarifverträgen geregelt und an diesen Tarifverträgen will schlichtweg niemand etwas ändern. Aber es kann nicht sein, dass von rund 90 Prozent der 36 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland eine hohe Flexibilität verlangt wird, was die Arbeitszeiten angeht - zwei bis drei Schichten sind da normal -, aber bei einer Gruppe, nämlich den Menschen, die im Einzelhandel beschäftigt sind, diese Diskussion hinten runterfällt. Da hat man ein Ungleichgewicht, das durch nichts zu begründen ist. [...] Hier muss man einmal ein deutliches Wort an die Adresse der Gewerkschaften und ein deutliches Wort an die Adresse von Herrn Bsirske sagen, auch wenn er Grüner ist. Es kann nicht sein, dass die Gewerkschaften eine solche Diskussion durch einen wirklichen Strukturkonservatismus ewig behindern. Da muss auch von deren Seite eine gewisse Offenheit in die Debatte hinein. Es kann nicht sein, dass ich als Gewerkschaft auf der einen Seite - zu Recht, sage ich - mehr Arbeitsplätze einfordere, auf der anderen Seite aber nicht bereit bin, meinen Teil dazu zu leisten. Hubert Ulrich, Bündnis 90 / Die Grünen (BT-PP 15/025, 13.02.2003)
Sofern solche Einlassungen darauf zielten, die Gewerkschaften doch noch zur Teilnahme am Bündnis für Arbeit zu bewegen, um in diesem Rahmen über die Flexibilisierung des deutschen Tarifsystems zu reden, blieben sie erfolglos. Übereinstimmend konstatierten alle Teilnehmer am Sondierungstreffen vom 3. März 2003 einmal mehr das Scheitern des Bündnisses.98 Gewiss auch unter diesem Eindruck des offiziellen Scheiterns makroökonomischer Verhaltensabstimmung, von Schröder zu Beginn seiner Regierungszeit immerhin programmatisch als „ständiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“99 gepriesen, muss die folgende Redesequenz des Bundeskanzlers gesehen werden. Sie ist seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 entnommen, jener Rede also, in der unter der Überschrift „Agenda 2010“ ein weit reichender und tiefgreifender normativer und institutioneller Umbau des Sozialstaates angekündigt wurde. In der Textpassage kommt eine Anpassung staatlicher Beeinflussungsstrategien auf gewerkschaftliches Handeln zum Ausdruck, die durchaus als qualitativ neu und nicht mehr nur graduell anders ist. Weil die Passage zentral für die Fortentwicklung der Debatte ist, und weil in ihr die konstitutiven Bestandteile „Ja“ und „Aber“ in wechselnder Abfolge sehr deutlich zutage treten, wird sie hier in voller Länge wiedergegeben und werden ihre Anteile zugeordnet und anschaulich gemacht: 98 99
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„Bündnis für Arbeit endgültig gescheitert - Schröder verzichtet auf Konsens bei Reformen - Kanzler will nächste Woche eigenes Programm für Beschäftigung vorlegen“, Süddeutsche Zeitung, Jg. 59, 4.3.2003, S. 1 In BT-PP 14/003, 10.11.1998
Sequenz Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufig nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einer komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb sein muss. Die Verantwortlichen - Gesetzgeber wie Tarifpartner - müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern. Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Optionen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spielräume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern. Übrigens, in der Praxis gibt es - auch das gilt es einmal klar zu machen eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden des geltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte man nicht kleinschreiben. Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verbessert. Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Standort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage von Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unterliegen. Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische Unbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggressive Angriffe auf das Tarifsystem. In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es ist auch ihre Verantwortung. Artikel 9 des Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Artikel 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen. Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt - aber in weit größerem Umfang -, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben. Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissverständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbestimmung nicht antasten und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht abschaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexibel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen in einer Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitnehmern Planungssicherheit und zwingt zur beständigen Steigerung der Produktivität. Mir ist noch etwas wichtig - auch das gehört in eine solche Debatte -: Ohne mutige und verantwortungsbewusste Betriebsräte - das gilt es zu unterstreichen - würden heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meine Damen und Herren. Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebsräte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazu leisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlich müssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.
Aber…1
Ja…1
Aber…2
Ja…2
Aber…3
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Aber - auch das gilt es in einer solchen Debatte einmal klar zu machen - sie haben so viel für Wohlstand und soziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, die man gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU und FDP hört, eine geschichtslose Unverschämtheit sind. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 15/032, 14.03.2003)
Ja…3
Zwei Dinge erlauben die Behauptung eines Qualitätssprungs: Erstmals fordert ein Vertreter der Bundesregierung, noch dazu der ranghöchste, von den Gewerkschaften die Ermöglichung betrieblicher Abweichungen von Tarifverträgen und bedient sich dabei der Formulierung „betriebliche Bündnisse“, mit der bislang im parlamentarischen Diskurs ausschließlich die von der Opposition geforderte außertarifliche, gesetzlich zu regelnde Variante der betrieblichen Abweichung assoziiert wurde. Zweitens verstärkt der Kanzler selbst nochmals diese Assoziation, indem er diese gesetzliche Regelung nicht mehr grundsätzlich ausschließt. Weder, so die Kernaussage, ist das bestehende Tarifsystem den aktuellen betrieblichen Herausforderungen und Bedürfnisen hinreichend angemessen, noch vertraut die Bundesregierung vorbehaltlos auf die Selbstadaptionsfähigkeit der Akteure dieses Systems. Im Kapitel 6.1 wurde dargelegt, dass imperative Politik solange indikative Beeinflussung bleibt, wie sie nur angedroht und nicht umgesetzt wird. Das gilt auch für die hier zitierte Redesequenz des Bundeskanzlers. Trotz ihrer ungewöhnlichen Eindringlichkeit ist die Aufforderung nicht mit Prüfkriterien versehen, anhand derer zu einem gesetzten Zeitpunkt festgestellt werden könnte, ob die Tarifverbände ihr nachgekommen sind oder nicht. Auch der Umstand, dass der Verweis auf die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, als Gesetzgeber zu handeln, in den nächsten Monaten nicht wiederholt wurde, spricht gegen eine allzu ernsthafte Absicht der Bundesregierung in dieser Frage.100 Und schließlich darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Ermöglichen betrieblicher Abweichungen von Flächentarifverträgen per Gesetz wohl auch in der SPD selbst auf erheblichen Widerstand gestoßen wäre, Widerstand, den auch ein staatstragender Bundeskanzler ins Kalkül zu nehmen hätte. Insofern ist von einer symbolischen Forderung auszugehen, mit der keinesfalls ernsthaft imperative Maßnahmen angekündigt werden sollten. In ihr kommt gewiss vordergründig der Unmut des Bundeskanzlers über die seiner Meinung nach im Hinblick auf ein makroökonomisches Bündnis für Arbeit zu wenig kooperationsbereiten Gewerkschaften zum Ausdruck. Den Überlegungen zu indikativen Einflussbemühun100
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Sicher konnte man sich dabei allerdings nicht sein. Denn in anderen Kontexten ist ein solches staatliches Vorgehen nicht unüblich (vgl. grundsätzlich zu diesem Prinzip politischer Steuerung Traxler, Vobruba 1987). Mit der Androhung einer gesetzlichen Regelung werden nicht selten Selbstverpflichtungen gesellschaftlicher Akteure erzwungen, etwa zur Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze, zur Einhaltung hausärztlicher Budgets, zur Emmissionssenkung von Kraftfahrzeugen oder zur Laufzeit von Atomkraftwerken. Unbedingte Voraussetzung eines derartigen Politikstils ist aber früher oder später die justiziable Festlegung eines Zielwertes bzw. -korridors, dessen Verfehlen eine gesetzliche Maßnahme nach sich zieht.
gen folgend ist jedoch die an die Gewerkschaften gerichtete Drohung zugleich auch eine Entlastung der Gewerkschaften durch die Bundesregierung: Sie diente nicht nur der nachdrücklichen Artikulation einer Verhaltenserwartung, sondern zugleich als Bereitstellung einer verbandlichen Organisationsressource, mit der die Gewerkschaften in die Lage versetzt werden, (Flächen-)Tarifverträge flexibler als bisher zu gestalten und gegenüber ihren Mitgliedern diese innertarifliche Flexibilisierung als das geringere Übel verglichen mit der angedrohten, gesetzlich ermöglichten außertariflichen Flexibilisierung darzustellen. Wenngleich die Wirksamkeit eines solchen Schattens der Hierarchie, also die tatsächliche Verhaltens- und ggf. gar Einstellungsänderung der Verbände und ihrer Mitglieder, nur sehr schwer, weil allenfalls mittelbar zu messen ist, so sprechen doch einige Indizien dafür, dass die Androhung staatlicher Intervention als Bestandteil der politischen Debatte zumindest die öffentliche Wahrnehmung betrieblicher Bündnisse für Arbeit und damit deren „Normalisierung“ und Institutionalisierung förderte (vgl. Fehmel 2006a). Phase 2 Faktisch leitete der Verweis auf die Möglichkeiten des Gesetzgebers nicht das Ende, sondern eine neue Phase innerhalb der politischen Debatte um die Flexibilisierung des Tarifsystems ein. Bis zum Ende der 15. Legislaturperiode im September 2005 blieben betriebliche Bündnisse für Arbeit eines der bestimmenden Themen parlamentarischer Auseinandersetzung zwischen Regierungs- und bürgerlichen Oppositionsfraktionen. Dabei wurde die indikative Drohung des Bundeskanzlers zu einer wesentlichen Argumentationshilfe der Opposition, zuweilen gar selbst zum Gegenstand der Debatte. Teilweise mittels wörtlichen Zitats wurde die fragliche Redesequenz instrumentalisiert für eigene Forderungen, endlich betriebliche Bündnisse per Gesetz zu ermöglichen. Ganz offensichtlich war diese Möglichkeit der Instrumentalisierung von Regierungsseite unterschätzt, vielleicht auch gar nicht bedacht worden. Nahezu konstant und permanent, bei passenden wie bei weniger passenden Gelegenheiten, mit oder ohne expliziten Bezug auf die Kanzler-Rede forderten Vertreter von CDU, CSU und FDP die Bundesregierung auf, endlich entsprechende Änderungen am Tarifvertragsgesetz vorzunehmen.101 Ein erster Höhepunkt innerhalb dieser permanenten Debatte ergab sich im 101
Der Satz „Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit“ wurde zur stehenden Redewendung und mitunter regelrecht mantrahaft verwendet. In den nach dem 14. März 2003 verbleibenden 155 Plenarsitzungen der 15. Legislaturperiode brachten Union und/oder FDP ihre Forderung nach betrieblichen Bündnissen und der dafür erforderlichen Gesetzesänderung in insgesamt 45 Plenarsitzungen ein, und zwar in die Sitzungen Nr. 15/32, 33, 35, 37, 40, 43, 45, 53, 56, 59, 60, 61, 64, 66, 67, 68, 72, 77, 78, 79, 84, 91, 97, 100, 102, 104, 106, 111, 121, 124, 126, 129, 141, 142, 151, 154, 160, 163, 166, 170, 175, 179, 184 und 186.
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Herbst 2003 anlässlich der Beratung zweier Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU bzw. der FDP.102 Angesichts der Abstimmungsverhältnisse im Bundestag hatten diese Entwürfe zwar keine Aussicht auf Verabschiedung. Aber sie zwangen die Vertreter von Bundesregierung und Regierungsfraktionen zu Stellungnahmen. Die sahen sich (nicht erst, aber verstärkt durch die Gesetzentwürfe) mit dem Problem konfrontiert, sich von den Forderungen der Opposition nach Änderungen des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsgesetzes distanzieren zu müssen. Das war ohne den Verweis auf ein angemessenes und funktionierendes Tarifsystem sowie auf die hinreichende Tarifflexibilität und Anpassungsfähigkeit der Tarifverbände nicht möglich. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn über das Arbeitsrecht diskutiert wird, diskutiert man gleichzeitig auch über das Tarifrecht allgemein, über betriebliche Öffnungen und die flexible Ausgestaltung des Tarifrechts. Ich denke, wir sind uns in dem Punkt alle einig, dass die Tarifvertragsparteien eine große beschäftigungspolitische Verantwortung tragen. Wer über die Arbeitsbedingungen bestimmt, der hat großen Einfluss auf die Arbeitskosten und damit auf die Beschäftigung. Ich gehe davon aus, dass dies allen Beteiligten klar ist. Ich halte es darüber hinaus für unstreitig, übrigens auch zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften, dass die Notwendigkeit besteht, Tarifverträge für Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene zu öffnen. Für viele Tarifverträge gilt das schon heute, schließlich ist es seit den 90er-Jahren gängige Praxis. Insbesondere gilt das - darauf wurde schon oft hingewiesen - im Bereich der IGBCE, der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Tarifverträge eröffnen den Betriebsparteien in vielen Fragen eigenständige Regelungsspielräume. Solche Freiräume sollten, wie die Bundesregierung meint, in allen Branchen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland vereinbart werden. Das liegt im Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, wenn die Flexibilisierung des Tarifvertrages in ihren Händen bleibt. Das entspricht auch dem Geist der Verfassung, die diese Aufgabe im Zuge der Koalitionsfreiheit den Tarifvertragsparteien übertragen hat. Sie sind am besten in der Lage, das Verhältnis zwischen Regelungen auf tarifvertraglicher Ebene und auf Betriebsebene auszutarieren. Die Bundesregierung erwartet von den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften - das hat der Bundeskanzler mehrfach deutlich gemacht -, dass sie hier ihrer Gestaltungsverantwortung aktiv und konstruktiv nachkommen. Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (BT-PP 15/064, 26.09.2003) Der Wissenschaftliche Beirat meines Ministeriums wird sich heute in seiner eigenen Zuständigkeit für Öffnungsklauseln in Tarifverträgen aussprechen. In der Veröffentlichung wird es heißen: in unbedingter Form und von Gesetzes wegen. Ich will gleich sagen, dass ich mir das nicht zu Eigen mache. Ich fürchte nämlich, dass dies das Ende von Flächentarifverträgen und auf längere Sicht auch das Ende der Tarifautonomie wäre. Solche Ansätze kann man entwickeln, aber man muss sie zu dem in Beziehung setzen, was in unse102
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CDU: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts (ArbRModG), Drucksache 15/1182; FDP: Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, Drucksache 15/1225
rer Volkswirtschaft bisher geschehen ist, und das war, wenn ich das Ganze nehme, außerordentlich erfolgreich. Unbestritten ist, dass das System der Tarifautonomie unter hohem Anpassungsdruck steht, ökonomisch, aber auch im Hinblick auf die Sicherung der Akzeptanz der Unternehmen und Arbeitnehmer. Unbestritten ist auch, dass sich die Tarifautonomie weiterentwickeln muss, dass wir Raum für Flexibilität und Differenzierung brauchen und dass sich die Verbände auf beiden Seiten stärker zu Serviceeinrichtungen entwickeln müssen. Ich setze aber darauf […], dass die Tarifparteien die Zeichen der Zeit erkennen und selbst einer vernünftigen Weiterentwicklung der Tarifautonomie den Weg bahnen werden. Ich möchte gern, dass wir diesem Weg den Vorzug geben. Hier sind die Verbände auf beiden Seiten gefordert, sich zu bewegen. […] Im Tarifbereich gibt es - wie Sie wissen - auf beiden Seiten Bewegung, die sehr viel weiter geht, als man gemeinhin annimmt. Sie wissen auch, dass es auf beiden Seiten sehr vernünftige Persönlichkeiten gibt, die den Flächentarifvertrag außerordentlich hoch achten und wenig von gesetzlichen Eingriffen halten, solche Eingriffe allenfalls als die allerletzte Möglichkeit betrachten. Der Vorschlag, der vonseiten der CDU/CSU und der FDP eingebracht worden ist, ist aus meiner Sicht - das habe ich schon mehrfach gesagt - verfassungsrechtlich nicht haltbar. Er ist aus meiner Sicht verfassungswidrig. […] Ich empfehle, dass wir von den Schlagworten wegkommen, uns der Realität zuwenden und vor allem den Verbänden, den Tarifparteien den Vortritt lassen, wenn es um eine Lösung für die notwendige Flexibilität am Arbeitsmarkt geht. Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (BT-PP 15/079, 27.11.2003) Ich möchte Sie vor allen Dingen davor warnen, den Vermittlungsausschuss zu missbrauchen, die Tarifautonomie aufzubrechen, was Sie offensichtlich vorhaben. Was ich von dem Kollegen Brüderle höre - Tarifkartell kaputtmachen oder Einbruch in die Tarifautonomie -, wird den sozialen Frieden in diesem Land kräftig schädigen. Die Bereitschaft zur Flexibilität bei den Gewerkschaften ist wesentlich höher, als durch die öffentliche Stigmatisierung ständig unterstellt wird. Die Gewerkschaftsvertreter wissen auch, dass die Berechtigung der Tarifverträge in der Flexibilität liegt. Es gibt diese betrieblichen Bündnisse für Arbeit. Die Frage ist nur, ob sie von oben, von der Politik, verkündet werden oder ob sie unten zustande kommen und damit Tragfähigkeit beweisen Werner Schulz, Bündnis 90 / Die Grünen (BT-PP 15/079, 27.11.2003)
Freilich gerieten die Redner mit derartigen Äußerungen – und solche gab es kaum weniger oft als die Forderungen der Opposition – in Widerspruch zu den eigenen, recht massiven Flexibilitätsforderungen, die in der Gesetzesandrohung des Kanzlers gipfelten. Da die Ablehnung imperativer Maßnahmen im Grunde nur mit dem Argument der ja bereits gegebenen Funktionalität des Tarifsystems und mit der Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft der Verbände zu rechtfertigen war, war Regierungsvertretern somit zugleich auch die Möglichkeit indikativer Beeinflussung deutlich erschwert. Das war misslich, denn angesichts der ökonomischen Rahmenbedingungen kann staatlichen Akteuren ohne weiteres unterstellt werden, dass sie gern deutlicher, als es angesichts der politischen Debatte opportun war, die möglichen Effekte tarifvertragli235
cher Flexibilisierung auf die Beschäftigungssicherung und -schaffung betont hätten. Die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes stagnierte mit -0,1% im Jahresdurchschnitt 2003. In Westdeutschland nahm sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in unerwartet hoher Zahl ab, entsprechend stieg der Umfang der registrierten Arbeitslosigkeit und näherte sich dem Ausmaß von 1998, dem Jahr der Regierungsübernahme der rot-grünen Regierung, bedrohlich an. In Ostdeutschland setzen sich Beschäftigungsabbau und Arbeitslosigkeitsanstieg unverändert fort. Tabelle 6:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2003
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Arbeitslosenquoten Entw. VerbrauEntw. ggü. Vorjahr cherpreise ggü. WestOstWestOstVorjahr Deutschland Deutschland deutschland deutschland deutschland deutschland 1998 0,9 12,3 10,3 19,2 1999 0,6 11,7 9,6 18,7 2000 1,4 10,7 8,4 18,5 2001 2,0 10,3 8,0 18,8 2002 1,4 10,8 8,5 19,2 2003 1,1 11,6 9,3 20,1 Quelle: Stat. BA div. Jge., BA 2007a: 18, 38; BA 2007b: 27-29)
-0,3 +1,0 +1,2 -0,0 -0,9 -2,2
+0,0 +1,5 +2,1 +0,8 -0,4 -2,0
-1,4 -0,7 -1,9 -3,1 -2,9 -3,0
Im Jahresgutachten 2003, erschienen im Dezember, nahm der Sachverständigenrat diese Entwicklung zum Anlass, dezidiert auf eine „beschäftigungsfreundliche“, d.h. mehrdimensional deutlich flexibilisierte Tarifpolitik zu drängen. Anders als im Jahr zuvor, als die Formulierung im SVR-Gutachten noch keine Präferenz für tarifliche oder gesetzliche Öffnungsmöglichkeiten erkennen ließ, wurden nun Änderungen des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsgesetzes ausdrücklich angemahnt. Mehrfach wurde dabei explizit Bezug genommen auf die „in der Rede des Bundeskanzlers vom 14. März 2003 gemachte Ankündigung […], gegebenenfalls gesetzgeberisch tätig zu werden.“ (SVR 2003: 372; ähnlich 24, 380f.). Durch diese Forderungen des Sachverständigenrates wurde die Bedrängnis der Bundesregierung in der Frage der gesetzlich herbeizuführenden Tarifvertragsflexibilisierung gleichsam aus dem parlamentarischen Bereich in den Bereich sachlich und nüchtern anmutender wissenschaftlicher Expertise hinein verlängert und die Position der Opposition gestärkt. Insofern war eine Reaktion der Bundesregierung auch auf dieser Diskursebene erforderlich – sie erfolgte im Rahmen des aktuellen Jahreswirtschaftsberichts und entsprach in Inhalt wie in sprachlicher Konstruktion den parlamentarischen Erwiderungen:
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[Tarifrecht] Die Bundesregierung stimmt mit dem Rat überein, dass die tariflichen Regelungen nicht immer hinreichend flexibel sind. Für die Bundesregierung steht allerdings die Tarifautonomie nicht zur Disposition. Sie hält am Flächentarifvertrag fest, der mit der vom Rat u. a. vorgeschlagenen gesetzlichen Öffnungsklausel (JG Tz 673f.) faktisch abgeschafft würde. Die Bundesregierung spricht sich in der Agenda 2010 für flächendeckende tarifliche Öffnungsklauseln aus, die es den betrieblichen Akteuren ermöglichen, unter bestimmten Bedingungen vom Flächentarifvertrag abzuweichen und betriebsspezifische Regelungen zu treffen. Die Tarifvertragsparteien haben – wenn auch behutsam – bereits Öffnungsklauseln, Härtefallregelungen und andere Differenzierungsbestimmungen in letzter Zeit verstärkt vereinbart. Die Bundesregierung dringt darauf, dass die Tarifvertragsparteien auch weiterhin Reformbereitschaft zeigen. BMWA, Jahreswirtschaftsbericht 2004: 40
Über Monate hinweg änderte sich an dieser Diskurs-Konstellation kaum etwas.103 Den Forderungen der parlamentarischen Opposition begegneten Vertreter der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen mit einem Verweis auf die Funktions- und Anpassungsfähigkeit der Tarifautonomie. Die Stabilität des Diskurses ist im Zusammenhang zu sehen mit der Stabilität der ökonomischen Rahmendaten. Nach wie vor und nunmehr im dritten Jahr in Folge war die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stark rückläufig (SVR 2004: 197). Die registrierte Arbeitslosigkeit hatte – trotz Änderungen in der Erhebungsstatistik – nochmals zugenommen. Allerdings zeichnete sich zum Jahresende hin eine Verlangsamung dieser Trends ab. Das Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich im Jahresdurchschnitt um 1,8%. Tabelle 7:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2004
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Entw. Arbeitslosenquoten Entw. ggü. Vorjahr Verbraucherpreise ggü. WestOstWestOstDeutschland Deutschland Vorjahr deutschland deutschland deutschland deutschland 1998 0,9 12,3 10,3 19,2 -0,3 +0,0 -1,4 1999 0,6 11,7 9,6 18,7 +1,0 +1,5 -0,7 2000 1,4 10,7 8,4 18,5 +1,2 +2,1 -1,9 2001 2,0 10,3 8,0 18,8 -0,0 +0,8 -3,1 2002 1,4 10,8 8,5 19,2 -0,9 -0,4 -2,9 2003 1,1 11,6 9,3 20,1 -2,2 -2,0 -3,0 2004 1,6 11,7 9,4 20,1 -1,6 -1,5 -2,1 Quelle: Stat. BA div. Jge., BA 2007a: 18, 38; BA 2007b: 27-29) 103
Wenn man von der Tatsache absieht, dass das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, von dem sich Wirtschaftsminister Clement am 27.11.03 im Bundestag distanzierte, im Januar 2004 vom BMWA selbst publiziert wurde. Die Broschüre trägt den programmatischen Titel „Tarifautonomie auf dem Prüfstand“. In ihr betonen die Autoren die Unumgänglichkeit gesetzlicher Maßnahmen zur Öffnung von Tarifverträgen. Einen Kommentar politischer Akteure, gar einen Hinweis auf deren ablehnende Haltung enthält die Broschüre nicht.
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Waren ein Jahr zuvor die Positionen des Sachverständigenrates und der Oppositionsfraktionen von Union und FDP im Bundestag bezüglich gesetzlicher Eingriffe in das Tarifrecht noch sehr einheitlich, so unterschieden sie sich zum Jahresende 2004 hin recht deutlich. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die parlamentarische Opposition unvermindert gesetzliche Rahmenbedingungen für betriebliche Bündnisse für Arbeit einforderte. Hingegen würdigten die Sachverständigen im Jahresgutachten 2004 – veröffentlicht im November des Jahres – die beschäftigungsfreundlichen Abschlüsse der zurückliegenden Tarifrunde ausdrücklich, die in diesen Tarifverträgen enthaltenen Öffnungs- und Flexibilisierungsmöglichkeiten wurden lobend erwähnt. Forderungen nach tariflicher oder gar gesetzlicher Ausdehnung betrieblicher Handlungsspielräume wurden nicht wiederholt (vgl. SVR 2004: 239-247). Derartigen Einschätzungen konnte sich die Bundesregierung – gerade angesichts der moderat positiven konjunkturellen Aussichten auf das Jahr 2005 – problemlos anschließen (vgl. BMWA 2004b: 16f.). Dabei versäumte sie nicht zu betonen, „…dass für sie die Tarifautonomie und der Flächentarifvertrag nicht zur Disposition stehen“ (BMWA 2004b: 17). Solchermaßen gestärkt durch die wissenschaftliche Expertise des Sachverständigenrates, die diesmal vereinnahmungsfähig war für die Seite der Bundesregierung, konnte auch der permanenten Stichelei und Erinnerung der Opposition an die Gesetzesankündigung des Kanzlers kraftvoller begegnet werden. Selbstbewusst bescheinigt der Bundeskanzler den Tarifparteien eine beachtliche Flexibilisierungsbereitschaft, schreibt diese Bereitschaft unumwunden seiner Gesetzesandrohung zwei Jahre zuvor zu und nimmt – mit dem für indikative Beeinflussung obligatorischen Hinweis auf die Unantastbarkeit der Tarifautonomie – die Androhung des Gesetzes gleichsam zurück: Das zweite große Thema, das mit der Diskussion um die angeblich mangelnde Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt immer zusammenhängt, ist die Frage der betrieblichen Bündnisse. Ich würde raten, einmal einen Blick in die Wirklichkeit zu werfen und nicht ständig neue ideologische Popanze aufzubauen. Die Wirklichkeit in Deutschland - übrigens keineswegs nur bei den großen Unternehmen - ist doch so, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerkschaften und ihre Betriebsräte sehr wohl in der Lage sind, betriebliche Bündnisse zu schließen, wenn es die Notwendigkeit dazu gibt, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Sie sind zum Verzicht immer noch bereit gewesen. Ich würde mir wünschen, die gleiche patriotische Einstellung, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, wäre auf der anderen Seite auch gegeben. Übrigens funktionieren die betrieblichen Bündnisse keineswegs nur, wenn es darum geht, die Arbeitsplätze in bestehenden Betrieben zu retten. Nein, wer nicht mit Scheuklappen durch die Gegend läuft, der kann sehr wohl mitbekommen, wie zum Beispiel im Osten unseres Landes durch betriebliche Bündnisse Ansiedlungserfolge erreicht worden sind. [...] Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren gesagt haben - gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts bewegt -, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinreichende Öffnungsklauseln gibt. Meine Bitte ist: Lasst uns auf die Einsichtsfähigkeit der Beschäftigten, ihrer Betriebsräte, ihrer Gewerk-
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schaften setzen, die diese Einsichtsfähigkeit nachgewiesen haben, und lasst uns - es ist ja üblich geworden, sich auf Montesquieu zu beziehen - auch in diesem Fall sagen: Ein Gesetz, das nicht notwendig ist, unterbleibt besser. Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexibilisierung in den Betrieben weiterzugehen. Das geschieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Sommer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich wirklich nicht. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 15/166, 17.03.2005)
Auch diese Rede des Kanzlers war nicht das Ende des Diskurses über betriebliche Bündnisse von Gesetzes wegen. Zumindest aber hatte Schröder erreicht, dass sich die Opposition bei ihren Forderungen nicht mehr auf seine Gesetzesandrohung berufen konnte. Und er konnte – typisch für indikative Beeinflussung – gleichzeitig staatliche Erwartungen bezüglich weiterer Tarifflexibilisierungen äußern und die Verantwortung dafür bei den Tarifverbänden verorten. Dessen ungeachtet forderte die Opposition weiter gesetzliche Maßnahmen zur Erleichterung betrieblicher Bündnisse. An der Fortentwicklung der Debatte ist dabei weniger die in den Regierungsfraktionen nunmehr nochmals untermauerte Ablehnung gesetzlicher Änderungen des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts interessant als vielmehr die zunächst dezenten, später deutlichen Veränderungen im Sprachstil von Rednern der CDU/CSU-Fraktion. Anlässlich einer Debatte am 15. April 2005 über einen Antrag der FDP-Fraktion, die beharrlich „…Eingriffe des Gesetzgebers [zur] von der Politik geforderte[n] Öffnung von Tarifverträgen zugunsten betrieblicher Regelungen…“104 forderte, und auch in folgenden Plenarsitzungen, traten für die Unionsfraktionen nur mehr Redner auf, die ausweislich ihrer politischen Biografien und Mitgliedschaften als dezidiert arbeitnehmer- und gewerkschaftsfreundlich anzusehen waren.105 Entsprechend „weich“ fielen deren Erklärungen aus; vom Nachdruck früherer Forderungen aus den Reihen von CDU und CSU war in dieser Phase kaum mehr etwas wahrzunehmen. Unüberhörbar trugen diese Redesequenzen die Züge von „Ja, aber…“-Konstruktionen indikativer Beeinflussungsversuche staatlicher Akteure; auch versäumte es keiner der Redner, die zentrale Rolle der Tarifautonomie für die soziale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu unterstreichen. 104 105
Antrag: Reform des Tarifvertragsrechts zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, Drucksache 15/2861 Matthäus Strebl am 15.4.2005 (BT-PP 15/170): zu dieser Zeit Bundesvorsitzender des CGB und stellvertretender Vorsitzender des CSA-Bezirks Niederbayern; Karl-Josef Laumann am 12.5.2005 (BT-PP 15/175): zu dieser Zeit Vorsitzender der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Arbeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDA, IG-Metall-Mitglied; Gerald Weiß am 12.5.2005 (BT-PP 15/175): zu dieser Zeit Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSUFraktion, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDA Deutschlands, ver.di-Mitglied
239
Durch den unerwartet deutlichen Sieg der CDU bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 verschoben sich auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Der Kanzler sah darin eine so starke Beschränkung der Handlungsspielräume seiner Regierung, dass er die Wahlniederlage noch am Wahlabend zum Anlass nahm, sich für vorgezogene Neuwahlen des Bundestags im Herbst 2005 auszusprechen. Dessen verbleibende Plenarsitzungen der 15. Legislaturperiode standen damit unter dem starken Eindruck des so plötzlich ausgerufenen und auf weniger als vier Monate komprimierten Bundestags-Wahlkampfes. Innerhalb dieses Wahlkampfes, bei dem einmal mehr die hohe Arbeitslosigkeit eine zentrale Rolle spielte (Roth, Wüst 2006: 56), fand sich auch wieder die starke Positionierung zugunsten gesetzlich ermöglichter betrieblicher Bündnisse für Arbeit – jedoch nur bei der FDP! Von den Unionsfraktionen wurden diese Bündnisse zwischen der Landtagswahl in NRW am 22. Mai und der Bundestagswahl am 18. September nur noch ein einziges Mal erwähnt. Seltsam randständig innerhalb ihrer Rede, sehr beiläufig für ein Thema, das noch wenige Monate zuvor zentraler Gegenstand der parlamentarischen Debatten war, inhaltlich reichlich vage und auf die nicht näher definierten „kleinen Betriebe“ begrenzt, und nicht zuletzt unter beachtlicher Würdigung der Gewerkschaften – insgesamt also schon sehr staatsmännisch und indikativ – kommt die CDU-Vorsitzende und zu diesem Zeitpunkt noch Kanzlerkandidatin Merkel gut eine Woche vor der Wahl auf das Thema zu sprechen: Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit, weil in vielen Fällen die kleinen Betriebe das betrifft nicht die großen; bei den großen stehen die Kameras vor der Tür; da wird eine Regelung gefunden, wie sie der Betriebsrat oder die Beschäftigten wollen - Probleme haben, nicht schnell genug reagieren zu können. Es gibt zig Beispiele, bei denen wir später über einen Sozialplan oder ein Insolvenzverfahren geredet haben, das hätte abgewendet werden können, wenn die Gewerkschaften zugestimmt hätten. Ich verkenne nicht - ich habe gestern ausführlich mit dem DGB gesprochen -, dass es inzwischen in einigen Branchen sehr flexible Tarifverträge gibt. Aber ich stelle auch fest, dass es andere Branchen gibt, in denen diese Flexibilität nicht da ist. Wir brauchen die rechtliche Grundlage für betriebliche Bündnisse für Arbeit, um Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten und ihre Abwanderung zu verhindern. Das Ziel ist: Vorfahrt für Arbeit! Angela Merkel, CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin, Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion (BT-PP 15/186, 07.09.2005)106
106
240
Diese Redesequenz bot hochrangigen Rednern aus dem Regierungslager wiederum Gelegenheit, noch einmal auf ihre ablehnende Haltung gegenüber betrieblichen Bündnissen hinzuweisen. Auf die Wiedergabe zweier sich darauf beziehender Fundstellen von Franz Müntefering (SPD-Vorsitzender, Vorsitzender der Fraktion der SPD) und Wolfgang Clement (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) wird hier jedoch verzichtet, da mit ihnen nur bereits belegte Positionen der Bundesregierung hinsichtlich der Angemessenheit des Tarifsystems wiederholt würden.
Diese „Konjunktur des Ungefähren im Wahlprogramm der Union“ (SPIEGEL 28/ 2005, 11. 07.2005: 38), diese Sprachlosigkeit in der parlamentarischen Auseinandersetzung in Zeiten des Wahlkampfes wurde von der politischen Publizistik überwiegend bewertet als Zeichen schwindenden Mutes angesichts harscher Kritik der Gewerkschaftsspitzen und auch zunehmend laut geäußerter Skepsis der Arbeitgeberseite an den Unionsplänen zur Reform des Tarifrechts. Da dieser argumentative Rückzug der CDU-Spitzenakteure allerdings kaum kompatibel war mit ihrer ansonsten intensiv vorgetragenen Gewissheit, nach der Wahl die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, bietet sich eine andere – und in der Logik dieser Arbeit schlüssigere – Erklärung für die beobachtete Zurückhaltung an: Gerade in Antizipation zukünftiger Regierungsverantwortung, der ja – wie ausführlich dargestellt wurde – umso leichter nachzukommen ist, je institutionalisierter die Arbeitsteilung mit den Tarifverbänden in Fragen der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ist, ließ die Union bereits im Wahlkampf von ihrem Bemühen um gesetzlich ermöglichte Tarifvertragsabweichungen ab. Phase 3 Anders als vom Sachverständigenrat vorausgesagt war das sich dem Ende zuneigende Jahr 2005 volkswirtschaftlich betrachtet ein Desaster. Mit einen Anstieg von 0,8% gegenüber dem Vorjahr, der zudem vor allem exportinduziert war, blieb das Wirtschaftswachstum zu schwach, um positive Beschäftigungseffekte auszulösen (SVR 2005: 13). Entsprechend stand unvermindert steigender registrierter Arbeitslosigkeit ein weiterer Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gegenüber. Das Preisniveau wurde bei einem Anstieg von 2% als stabil eingeschätzt (SVR 2005: 60f.). Tabelle 8:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2005
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Arbeitslosenquoten Entw. VerbrauEntw. ggü. Vorjahr cherpreise ggü. WestOstWestOstVorjahr Deutschland Deutschland deutschland deutschland deutschland deutschland 1998 0,9 12,3 10,3 19,2 1999 0,6 11,7 9,6 18,7 2000 1,4 10,7 8,4 18,5 2001 2,0 10,3 8,0 18,8 2002 1,4 10,8 8,5 19,2 2003 1,1 11,6 9,3 20,1 2004 1,6 11,7 9,4 20,1 2005 2,0 13,0 11,0 20,6 Quelle: Stat. BA div. Jge., BA 2007a: 18, 38; BA 2007b: 27-29)
-0,3 +1,0 +1,2 -0,0 -0,9 -2,2 -1,6 -1,3
+0,0 +1,5 +2,1 +0,8 -0,4 -2,0 -1,5 -1,0
-1,4 -0,7 -1,9 -3,1 -2,9 -3,0 -2,1 -2,7
241
Die Prognose des Sachverständigenrates für das Jahr 2006 ließ eine grundsätzliche, tief greifende Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen nicht erkennen. Für das Jahr 2005 attestierte der Rat den Tarifpartnern zwar eine insgesamt beschäftigungsfreundliche, also hinsichtlich der Steigerungsraten moderate Tarifrunde. Bezug nehmend auf die wenig attraktiven Aussichten enthielt das Jahresgutachten aber auch die explizite und eindringliche Aufforderung an den Gesetzgeber, beschäftigungsfreundlichere Rahmenbedingungen mit dem Ziel zu schaffen, Flächentarifverträge flexibler gestalten zu können (SVR 2005: 163, 203, 208), um so den Zustimmungsvorbehalt der Tarifvertragsparteien bei Vertragsabweichungen umgehen zu können. Die Bundestagswahl zur 16. Legislaturperiode im September 2005 führte zu einer großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, also zwei Parteien, die sich vor der Bundestagswahl in der Frage der gesetzlichen Änderung des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsgesetzes beträchtlich voneinander unterschieden. Angesichts der geschilderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der Aussichten auf das Jahr 2006 musste den Regierungsakteuren unabhängig von ihrer jeweiligen Parteizugehörigkeit an einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen gelegen sein. Zugleich aber war von einer deutlichen Zurückhaltung staatlicher Akteure hinsichtlich der in Frage stehenden gesetzlichen Änderungen auszugehen: Die Verlagerung von Regelungsbefugnissen weg von der tarifverbandlichen hin zur betrieblichen Ebene hätte eine deutliche Abwertung der Sozialpartner und damit massive Erschütterungen des zwischen Verbänden und Staat arbeitsteiligen, ordnungsstiftenden Konstrukts der Tarifautonomie zur Folge. In der SPD war diese Position – Flexibilisierung ja, Gesetz nein – aufgrund der Regierungsverantwortung in der Vorlegislaturperiode bereits gegeben. In der CDU setzten sich diese Position und die dazugehörige Sprachregelung ebenso schnell wie lautlos durch, nachdem dieser Einstellungswandel sich ja bereits im Wahlkampf abgezeichnet hatte. Schon in den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag heißt es: CDU/CSU und SPD bekennen sich zur Erhaltung der Tarifautonomie. Sie sind sich einig, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit im Rahmen der Tarifautonomie wichtig sind, um Beschäftigung zu sichern. Über die Ausgestaltung werden mit den Tarifvertragsparteien Gespräche geführt.107
Und in ihrer ersten Regierungserklärung widmet sich die neue Bundeskanzlerin Merkel (CDU), die sich noch als Kanzlerkandidatin für gesetzliche Änderungen ausgesprochen hatte, dem Thema wie folgt:
107
242
Anlage 1 „Erste inhaltliche Vereinbarungen vom 10.10.2005“ zum Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005 (http://www.bundesregierung.de/nsc_true/Content/DE/ __Anlagen /koalitionsvertrag,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/koalitionsvertrag, Abruf: 13.09.2007)
In der Frage der betrieblichen Bündnisse - jeder weiß, dass wir darüber im Wahlkampf sehr unterschiedlicher Meinung waren und es auch weiter sind; das gehört zur Wahrheit dazu – müssen wir weiterhin schauen, wie wir im Rahmen der Tarifautonomie - ich betone ausdrücklich, dass niemand in dieser Koalition die Tarifautonomie infrage stellt - ein höheres Maß an Flexibilität erreichen. Ich will ausdrücklich sagen: Es geschieht einiges bei den Gewerkschaften. Unser ganzes Tun sollte darauf gerichtet sein, Gewerkschaften zu ermuntern, da, wo das heute noch nicht geschieht, weiterzugehen und mehr Flexibilität zu schaffen. Die Erfahrungen von denen, die das getan haben, sind positiv. Genau dieser Weg muss von uns weiter gegangen werden oder es müssen zunächst Gespräche darüber geführt werden. Angela Merkel, Bundeskanzlerin (BT-PP 16/004, 30.11.2005)
Derartige Fundstellen gibt es in dieser Frühphase der großen Koalition noch einige, wenngleich auffallend wenige. Ihnen gemeinsam ist eine Sprachregelung, die die Begriffe „betriebliches Bündnis für Arbeit“ (vormals von der CDU weitgehend synonym verwandt für gesetzliche Änderungen im Arbeitsrecht) und die Formulierung „im Rahmen der Tarifautonomie“ bzw. „im Rahmen der Tarifverträge“ (vormals von der SPD weitgehend synonym verwandt für die Ablehnung solcher gesetzlicher Eingriffe) miteinander verbindet und somit insbesondere der CDU-Seite als Gesichtswahrung dient. Das Ende der Debatte um die gesetzliche Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit besteht aus einem regierungsamtlichen und einem parlamentarischen Teil. Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, federführend verfasst vom CSU-geführten Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und veröffentlicht im Januar 2006, wird prononciert ablehnend auf die Forderungen des Sachverständigenrates eingegangen. Es wird die Auffassung vertreten, dass zwar eine weitere Flexibilisierung des bestehenden Tarifsystems erforderlich, nicht aber dafür eine Änderung der bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen vonnöten sei. Zudem wird als Ursache der tarifsystemischen Herausforderungen nun wieder explizit und ausschließlich der internationale Wettbewerb identifiziert: Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Tarifparteien bleiben gefordert, den strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen, die sich aus der immer intensiveren internationalen Arbeitsteilung ergeben. Der Rat wiederholt seine bereits in früheren Gutachten unterbreiteten Überlegungen zur Lockerung des Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrechts (JG Tz 38, 281–285). Dabei thematisiert er allerdings nicht, ob und inwieweit derartige Reformen zu mehr Konflikten in den Betrieben führen und insgesamt die Sozialpartnerschaft gefährden würden und welche wirtschaftspolitischen Konsequenzen dies hätte. Dagegen belegen die – auch vom Rat erwähnten – Öffnungsklauseln, Rahmenregelungen und andere Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen, wie flexibel und erfolgreich moderne Tarifpolitik sein kann. Die Bundesregierung bekennt sich zur Tarifautonomie. Betriebliche Bündnisse für Arbeit sind im Rahmen der Tarifautonomie wichtig, um Beschäftigung zu sichern; die Tarifpartner bleiben gefordert, auf diesem Weg konsequent weiter voranzugehen. Über die Ausgestaltung wird die Bundesregierung mit den Tarifvertragsparteien Gespräche führen. BMWi, Jahreswirtschaftsbericht 2006: 23f.
243
Und im Parlament werden betriebliche Bündnisse letztmalig thematisiert am 2.12. 2005: [L]assen Sie mich, Herr Kollege Niebel, ein für allemal sagen: Diejenigen, die mit betrieblichen Bündnissen für Arbeit als Ziel in den Wahlkampf gegangen sind, haben nicht die Mehrheit, um das umzusetzen. So einfach ist die Sache. Deswegen werden wir das machen, was politisch möglich ist. Ich erwarte allerdings auch, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben. Die letzten beiden Sätze sind nicht von mir, sondern von Gerhard Schröder bei der Vorstellung seiner Agenda im Rahmen seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003. Das Protokoll vermerkte damals: Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen. […] Aber das, was Bundeskanzler Schröder in diesem Zusammenhang gesagt hat, bleibt im Grundsatz richtig. Ralf Brauksiepe, CDU/ CSU-Fraktion, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales (BT-PP 16/006, 02.12.2005)
Es ist dies interessanterweise die Wiederauflage der Schröder’schen Gesetzesandrohung vom März 2003, mit der aber augenscheinlich die Debatte über gesetzlich ermöglichte betriebliche Bündnisse zum Abschluss gebracht werden sollte. Unüberhörbar ist sie an die parlamentarische Opposition und nicht an die Tarifparteien gerichtet; jedenfalls entwickelt sie keinerlei Drohpotential gegenüber letzteren. In der Folgezeit verliert die Formulierung „betriebliche Bündnisse für Arbeit“ massiv an Bedeutung in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Bis zur Jahresmitte 2007 wurden betriebliche Bündnisse insgesamt noch achtzehn Mal thematisiert – und zwar ausschließlich von der oppositionellen FDP, die die Formulierung unverändert in ihrer ursprünglichen, auf Gesetzesänderungen abzielenden Variante gebrauchte. Zweimal erfolgte darauf eine Erwiderung seitens der SPD; ansonsten spielte das Thema für Vertreter von Regierung und Regierungsfraktionen keine Rolle mehr. Der Begriff wurde im weiteren Laufe der Zeit seines ideologischen, politisierten und politisierenden Gehalts entkleidet und sank unter die Schwelle allgemeiner, öffentlicher Wahrnehmung: Er fand randständig Verwendung im Gesetzgebungsverfahren zu einer Novelle des Berufsbildungsgesetzes, in dem von betrieblichen Bündnissen für Ausbildung die Rede ist. Die vollständige Dethematisierung von betrieblichen Bündnissen, oder allgemeiner: von Erfordernissen der Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen, die am Ende des hier nachgezeichneten Diskurses steht, ist dabei auf drei Ursachen zurückzuführen. Erstens konnten die der CDU angehörenden Akteure der Bundesregierung kein Interesse daran haben, fortgesetzt mit ihrer als Oppositionspartei gestellten, aber als Regierungspartei nicht umgesetzten Forderung nach gesetzlichen Flexibilisierungsmöglichkeiten konfrontiert zu werden. Dies aber wäre zu erwarten gewesen, sobald die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems in politischen Auseinandersetzungen zur Sprache gekommen wäre. Zweitens dürfte die politische Debatte, die sich ja über 244
mehrere Jahre hinzog, in der Tat die Flexibilisierung des Tarifgeschehens wesentlich begünstigt haben, auch wenn sich die Größe des Einflusses dieser Debatte selbstverständlich nicht annähernd akkurat bemessen lässt (vgl. Fehmel 2006a). Und ein dritter Grund für das erlahmende Interesse staatlicher Akteure an der politischen Forcierung tarifvertraglicher Flexibilisierung dürfte die Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sein. In Kapitel 6.1 wurde dargestellt, dass staatliche Akteure ihre an die Gewerkschaften gerichteten Appelle zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitskräfteangebots vor allem in konjunkturellen Abschwungsphasen intensivieren, in denen üblicherweise durch eine abnehmende Nachfrage Beschäftigung abgebaut wird und die Arbeitslosigkeit zunimmt. Auf das Jahr 2006 trifft das jedoch nicht zu, der Jahresbeginn 2006 markiert vielmehr eine Trendwende: Entgegen seinen eigenen, deutlich pessimistischeren Prognosen konnte der Sachverständigenrat für das Jahr 2006 einen „überraschend starken Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 2,4 vH“ (SVR 2006: 2) konstatieren, der auch auf den Arbeitsmarkt übergriff und sich in einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit sowie in einem spürbaren Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung manifestierte (SVR 2006: 354ff.). Für das Jahr 2007 stellte der SVR eine Fortsetzung dieser Entwicklung in Aussicht (SVR 2006: 86ff.). Die Daten für das erste Halbjahr 2007 in der Tabelle bestätigen diese Prognose. Tabelle 9:
Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2007
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Arbeitslosenquoten Entw. VerbrauEntw. ggü. Vorjahr cherpreise ggü. WestOstWestOstVorjahr Deutschland Deutschland deutschland deutschland deutschland deutschland 2003 1,1 11,6 9,3 20,1 -2,2 2004 1,6 11,7 9,4 20,1 -1,6 2005 2,0 13,0 11,0 20,6 -1,3 2006 1,7 12,0 10,2 19,2 +0,7 2007 1,9a 9,9a 8,2a 16,4a +2,1a Quelle: Stat. BA div. Jge., BA 2007a: 18, 38; BA 2007b: 27-29, a Stand Juli 2007)
-2,0 -1,5 -1,0 +0,6 +2,0a
-3,0 -2,1 -2,7 +0,8 +3,0a
Dessen ungeachtet erneuerte der Sachverständigenrat seine Forderung der Vorjahre nach Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen des Tarifvertragssystems zum Zwecke seiner Flexibilisierung (SVR 2006: 370). In der relevanten Öffentlichkeit fand diese Forderung keinerlei Widerhall. Und lediglich im Jahreswirtschaftsbericht 2007 – und damit der öffentlichen Wahrnehmung ebenfalls weitgehend entzogen – findet sich wenige Wochen später eine Reaktion der Bundesregierung. Sie ist die bislang letzte regierungsamtliche Aufnahme des Themas. Sie wirkt kraftlos und formelhaft und trägt die typischen Kennzeichen indikativer Einlassungen:
245
[Tarifpolitische Differenzierung] Die Bundesregierung ist ebenso wie der Rat der Auffassung, dass nicht allein die Politik der Bundesregierung gefordert ist, um ein höheres Wirtschaftswachstum und eine nachhaltige Verringerung der Arbeitslosigkeit zu erreichen (JG Tz 490). Das ist auch Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Unabdingbare Voraussetzung für den beschäftigungspolitischen Erfolg ist der Wille zum gemeinsamen Handeln. Deutschland verdankt den Tarifpartnern viel. Sie haben großen Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Der soziale Frieden in Deutschland ist in hohem Maß auch ihr Verdienst. Eine gesamtwirtschaftlich verantwortungsvolle beschäftigungsfördernde Lohnpolitik bleibt unabdingbar für weitere wirtschafts- und beschäftigungspolitische Erfolge. Die Bundesregierung bekennt sich zur Tarifautonomie. Sie ermuntert die Tarifvertragsparteien ausdrücklich, den eingeschlagenen Weg, durch betriebliche Bündnisse Beschäftigung zu sichern, weiter zu beschreiten. BMWi, Jahreswirtschaftsbericht 2007: 54
Fazit Gut fünf Jahre nach dem Beginn der politischen Auseinandersetzung um betriebliche Bündnisse ist das Thema damit wieder unter die allgemeine Wahrnehmungsschwelle der interessierten Öffentlichkeit gesunken. Die Behandlung der Frage, ob und in welchem Ausmaß das deutsche Flächentarifvertragssystem zugunsten betrieblicher Akteure zu flexibilisieren ist und ob dafür die Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen und damit letztlich eine Verschiebung der Grenzen des Handlungsraumes autonomer Tarifverbände vonnöten ist, hat sich zurückverlagert von der politisch-parlamentarischen Bühne zu den Experten in Praxis und Wissenschaft. Zurückkommend auf die eingangs dieses Kapitels vorgenommen Unterscheidung der Positionen politischer Akteure lässt sich der Verlauf des parlamentarischen Diskurses über betriebliche Bündnisse für Arbeit anschaulich visualisieren (Abb. 14). Grundsätzlich, so wurde ausgeführt, lassen sich relevante Aussagen danach ordnen, ob betriebliche Bündnisse bereits hinreichend üblich sind, es also keiner Aufforderung an die Tarifverbände und schon gar keiner gesetzlichen Regelung bedarf, noch nicht ausreichend üblich sind, den Tarifverbänden aber – ggf. nach entsprechendem Appell – genügend Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft zugesprochen wird oder gerade deshalb so wenig verbreitet sind, weil die Tarifverbände sich einer solchen Flexibilisierung entgegenstellen, was nur durch gesetzliche Änderungen zu überwinden wäre.
246
Abbildung 14:
Parlamentarischer Diskursverlauf „betriebliche Bündnisse für Arbeit“
Phase 2
Phase 1
Monat
Flexibilität bereits gegeben
Aufforderung: Flexibilisierung durch Verbände
Forderung: Flexibilisierung mittels Gesetz
Jul 02 Aug 02 Sep 02 Okt 02 Nov 02 Dez 02 Jan 03 Feb 03 Mrz 03 Apr 03 Mai 03 Jun 03 Jul 03 Aug 03 Sep 03 Okt 03 Nov 03 Dez 03 Jan 04 Feb 04 Mrz 04 Apr 04 Mai 04 Jun 04 Jul 04 Aug 04 Sep 04 Okt 04 Nov 04 Dez 04 Jan 05 Feb 05 Mrz 05 Apr 05 Mai 05 Jun 05 Jul 05 Aug 05 Sep 05
247
Phase 3
Monat Okt 05 Nov 05 Dez 05 Jan 06 Feb 06 Mrz 06 Apr 06 Mai 06 Jun 06 Jul 06 Aug 06 Sep 06 Okt 06 Nov 06 Dez 06 Jan 07 Feb 07 Mrz 07 Apr 07 Mai 07 Jun 07
Flexibilität bereits gegeben
Aufforderung: Flexibilisierung durch Verbände
Forderung: Flexibilisierung mittels Gesetz
grau: Redesequenzen von SPD-Angehörigen aus Bundesregierung oder Bundestagsfraktion; schwarz: Redesequenzen von Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Phasen 1-3) und CDU/CSU-Angehörigen der Bundesregierung (Phase 3); Die Breite der Balken gibt die Anzahl von Fundstellen je Block wieder.
Deutlich gibt die Grafik die Bewegung der Einstellungen der beiden dominierenden Regierungsparteien im Untersuchungszeitraum wieder. Die über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg in Regierungsverantwortung stehende SPD attestiert zunächst in Phase 1 den Tarifverbänden angemessenes Verhalten. Diese Position wird nach dem Scheitern des makroökonomisch angelegten Bündnisses für Arbeit und der damit im Zusammenhang zu sehenden Gesetzesandrohung des Bundeskanzlers im März 2003 in Phase 2 vorübergehend aufgegeben zugunsten der Einschätzung, dass das Tarifsystem erheblichen Flexibilisierungsbedarf hat, diese Flexibilisierung aber im Verantwortungsbereich der Tarifverbände liegt. Dies entspricht dem Typus der indikativen Beeinflussung des Verbändeverhaltens. Je weiter die Legislaturperiode voranschreitet und man sich dem nächsten Wahltermin nähert, desto deutlicher tritt – trotz unverändert ungünstiger Arbeitsmarktlage – wieder die Auffassung in den Vordergrund, dass Tarifsystem sei bereits ausreichend flexibel. An dieser Auffassung wird in Phase 3 als „kleiner“ Koalitionspartner festgehalten, die wirtschaftliche Erholung erlaubt es zudem, das Thema zu den Akten zu legen. 248
Interessanter als dieses erwartbare kommunikative Handeln der SPD ist der Einstellungswandel bei Unionsmitgliedern. In Phase 1 tritt die oppositionelle Union wie auch die FDP dezidiert für Änderungen des Tarifvertrags- und des Betriebsverfassungsgesetzes ein. Deutlich sichtbar verschiebt sich diese Position in Phase 2 nach links. Sie wird zwar nicht aufgegeben, in der zweiten Hälfte der 15. Legislaturperiode aber zunehmend relativiert dadurch, dass erstmals auch den Verbänden Anpassungsfähigkeit zugeschrieben wird und die gesamtgesellschaftliche Funktion der Tarifautonomie gewürdigt wird. In den Monaten vor und nach der Bundestagswahl 2005 ist diese Einstellung gar dominant. Nach Übernahme der Regierungsverantwortung wird die Frage einer gesetzlich zu ermöglichenden Flexibilisierung des Tarifsystems von der CDU nicht wieder aufgenommen. Angesichts der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage gerät das Thema „Flexibilisierung des Tarifsystems“ in den Hintergrund; wenn es zur Sprache kommt, dann wird die Verantwortung dafür bei den Tarifparteien gesehen, deren Anpassungsbereitschaft sogar einmal ausdrücklich gewürdigt wird. Damit ist die Androhung imperativer Maßnahmen im Zuge der Regierungsübernahme einer rein indikativen Beeinflussung gewichen. Dieses Verhalten belegt, dass es einen Unterschied macht, ob ein politischer Akteur aus der parlamentarischen Opposition oder aus Regierungsverantwortung heraus agiert. Das nachgezeichnete Verhalten der Union ist jedoch zugleich ein Beleg für ein relativ konstantes Staatshandeln innerhalb des politischen Systems der Bundesrepublik, das, soweit möglich, indikativen oder kooperativen Beeinflussungsversuchen den Vorzug gibt vor imperativen Maßnahmen, die die jeweils entlastende Arbeitsteilung zwischen Staat und Tarifverbänden zuerst ins allgemeine Bewusstsein heben und dann erschüttern würde. Das Beispiel „betriebliche Bündnisse“ zeigt, dass diese Sorge staatlicher Akteure durchaus handlungsrelevant ist, und zwar weitgehend unabhängig davon, aus welcher der beiden Volksparteien sich die Bundesregierung rekrutiert. In der Zusammenschau lässt sich damit letztlich die gesamte Episode des parlamentarischen Diskurses über betriebliche Bündnisse als indikativ begreifen, wenngleich er über weite Strecken hinweg in der verschärften Variante der Androhung gesetzlicher Maßnahmen stattfand. Die Positionen beider Parteien, sowohl der regierenden SPD als auch der zunächst oppositionellen, ab Herbst 2005 regierenden CDU haben sich im Diskursverlauf von den jeweiligen Außenfeldern (SPD: keine Beeinflussungsnotwendigkeit; CDU: imperative Maßnahme) in die mittlere Säule verschoben, die für indikative Beeinflussungsversuche mittels Appellen und Aufforderungen steht. War der Diskurs nun erfolgreich im Sinne staatlicher Akteure? Zunächst: Formal haben sich die Rahmenbedingungen tarifverbandlichen Handelns nicht geändert. Weder am Tarifvertrags- noch am Betriebsverfassungsgesetz wurden Änderungen vorgenommen. Insofern hat sich de jure die Grenze des tarifautonomen Handlungsraumes nicht verschoben. Dennoch ist von einem Wandel der Rahmenbedingungen auszugehen, für den die zuweilen ausgesprochen heftigen Debatten und die beständige Thematisierung im Bundestag zumindest eine Mit-Ursache sind. Durch die – je nach poli-
249
tischem Akteur unterschiedlich starken – Flexibilisierungsappelle an die Verbände, insbesondere an die Gewerkschaften erlangte die Frage eine fortgesetzte Aufmerksamkeit der interessierten Öffentlichkeit und der Akteure des Systems der Industriellen Beziehungen, so dass es den Tarifverbänden kaum möglich war, diese Appelle in Gänze zu ignorieren und an der tradierten Art der Gestaltung von Arbeitsbedingungen festzuhalten. Nicht erst während des Diskurses über betriebliche Bündnisse, aber in dieser Zeit besonders augenfällig sind flexibilisierende Instrumente in Flächentarifverträgen (Öffnungs- und Härtefallklauseln, Beschäftigungspakte, Standortsicherungsverträge etc.) ebenso zu einer tariflichen Normalität geworden wie deren Nutzung im einzelbetrieblichen Kontext. De facto hat sich also der Handlungsraum der Tarifverbände sehr wohl verändert. Begrifflich spielte sich sowohl der Wandel des Tarifsystems als auch die Einflussnahme durch staatliche Akteure im Wesentlichen innerhalb der Formel „Tarifautonomie“ ab. Unverändert findet der Begriff, dessen konkreter Inhalt nach dem Flexibilisierungsschub ein anderer ist als vorher, Verwendung bei politischen Akteuren. Mehr noch: nur in der Klammer des stabilen, konsensualen und letztlich diskursiv hegemonialen Begriffs „Tarifautonomie“ war die Flexibilisierung des Tarifsystems und die darauf zielende Einflussnahme staatlicher Akteure möglich, obwohl ja gerade diese Einflussnahme dem Gedanken der Unabhängigkeit der Tarifverbände nicht entspricht. In welchem Ausmaß genau sich das Tarifsystem gewandelt hat, lässt sich ebenso wenig präzise prüfen wie der Einfluss der hier nachgezeichneten parlamentarischen Debatte dabei. Schwierig ist eine solche Prüfung schon allein deshalb, weil es weder ein handhabbares Ausgangsdatum noch einen Ist-Wert bezüglich tarifvertraglicher Flexibilität gibt, deren Vergleich den Wandel des Tarifsystems allgemein oder gar bezogen auf die Dauer des parlamentarischen Diskurses valide abbilden könnte. Aber das allein ist für die vorliegende Arbeit auch gar nicht wichtig. Entscheidend für unsere Zwecke ist vielmehr, welche Rolle und welche Wirksamkeit sich die staatlichen Akteure selbst bei der Flexibilisierung des Tarifsystems zuschreiben, ob sie also selbst denken, dass sich das Tarifsystem aufgrund ihres kommunikativen Handelns gewandelt hat. Zwei Belege dafür, dass sich staatliche Akteure diese Selbstwirksamkeit attestieren und die zugleich ganz offensichtlich die Intention hatten, den Diskurs über betriebliche Bündnisse zu beenden, sollen auch die Analyse dieses Diskurses abschließen: Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren gesagt haben - gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts bewegt -, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinreichende Öffnungsklauseln gibt. Gerhard Schröder, Bundeskanzler (BT-PP 15/166, 17.03.2005) Die Flexibilität in den Betrieben ist größer geworden. Das wurde sicherlich auch durch viele politische Diskussionen bewirkt, bei denen die Kollegen von der SPD sich zunächst übrigens relativ schwer getan haben. Laurenz Meyer, CDU/CSU-Fraktion (BT-PP 16/062, 08.11.2006)
250
10
Schluss: Gesteuerte Autonomie
10.1
Institutioneller Wandel ...
Das deutsche System der industriellen Beziehungen war in den ersten Jahren der Bundesrepublik gekennzeichnet durch Institutionalisierungsprozesse. Die staatliche Rahmensetzung für die industriellen Beziehungen (Grundgesetz und Tarifvertragsgesetz 1949, Mitbestimmungsgesetz 1951, Betriebsverfassungsgesetz 1952) wurde in die politisch dominante Leitidee der Sozialen Marktwirtschaft integriert und schuf so das rechtliche Fundament für tarifautonomes Agieren.113 Ein zunächst ungeordnetes tarifpolitisches System machte innerhalb weniger Jahre durch massiven Mitgliederzulauf sowohl bei Gewerkschaften wie auch bei Arbeitgeberverbänden einem System Platz, in dem die überbetriebliche Aushandlung von Arbeitsbedingungen durch Verbände dominierte. Diese Verbändedominanz charakterisierte die industriellen Beziehungen in Westdeutschland bis in die späten 1970er Jahre. Im Laufe der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte ist „der Zwang zur antagonistischen Kooperation … von den Akteuren derart internalisiert worden, dass auch bei gegensätzlichen Interessenlagen, manifesten Konfliktsituationen und nachhaltigen Umweltveränderungen eine hohe zwischenverbandliche Handlungsfähigkeit erreicht werden konnte“ (Schroeder 2000: 32f.). Im Laufe der 1980er und nochmals intensiviert seit den 1990er Jahren änder(te)n sich die Kontextbedingungen des institutionalisierten Tarifvertragssystems. Als gemeinsamer begrifflicher Nenner dieser postfordistischen Entwicklungen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbeziehungen kann der Terminus „Flexibilisierung“ gelten. Die seit den 1980er Jahren rapide zunehmenden und sich selbst verstärkenden Rationalisierungs- und Flexibilisierungsprozesse auf Güter- und Produktmärkten schlagen immer stärker auf Arbeitsmärkte durch und damit in direkter Folge auch auf die Machtverhältnisse und Durchsetzungspotenziale der beteiligten Akteure. Auf Arbeitgeberseite lassen sich Flexibilisierungsbestrebungen beobachten, also eine Tendenz zur durchschnittlichen Verkleinerung der Betriebseinheiten (Verkleinbetrieblichung), innerhalb der Tarifbindung eine Bedeutungsverschiebung im Verhältnis von Flächen- und Firmentarifverträgen, eine insgesamt abnehmende Tarif113
Auf die Pfadabhängigkeit dieser Entwicklung (Kaiserreich – Weimarer Republik – Nationalsozialismus – Bundesrepublik) sei an dieser Stelle lediglich hingewiesen, nicht aber detailliert eingegangen. Vgl. dazu ausführlich: Homburg 2000; Englberger 1995; Streich 1973; Schneider 2000.
bindung, Prozesse offener Verbetrieblichung durch Tariforientierung statt Tarifbindung und Prozesse verdeckter Verbetrieblichung durch betriebliche Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen trotz Tarifbindung. Auf Arbeitnehmerseite vollziehen sich Differenzierungsprozesse, insbesondere eine Heterogenisierung individueller und betrieblicher Interessen, daraus folgend eine Tendenz zu betrieblicher statt überbetrieblicher Interessenverfolgung und eine insgesamt abnehmende Bereitschaft zur Organisation in Gewerkschaften bei gleichzeitiger Pluralisierung der Gewerkschaftslandschaft. All diese Entwicklungen berühren in je spezifischer Weise die fragile Balance von innerbetrieblicher Solidarität und überbetrieblicher Loyalität, wie sie für das zentrale Element des bundesdeutschen Tarifsystems, den Flächentarifvertrag, konstitutiv ist (vgl. Fehmel 2006b). Die von den Arbeitgebern (und damit notgedrungen auch von ihren Verbänden) eingeforderte Verbetrieblichung des Verhandlungsgeschehens untergräbt vor allem die horizontalen Loyalitätsbeziehungen von Arbeitnehmern unterschiedlicher Unternehmen. Die sich vor allem aus dem kollektiven Handeln hochqualifizierter Beschäftigter ergebende Differenzierung von Belegschaften bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die vertikalen Solidaritätsbeziehungen der Arbeitnehmer eines Unternehmens. Der wesentliche Effekt dieser veränderten Solidaritäts- und Loyalitätsbeziehungen besteht in sich massiv ändernden materiellen Umverteilungsströmen – und zwar nicht nur zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch im „Arbeitnehmer-Lager“ selbst. Als Folge dieser Entwicklungen haben innerhalb des Tarifsystems der Bundesrepublik Deutschland die Tarifverbände als kollektive Interessenvertreter der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite massiv an Bedeutung verloren. Ihre Kraft zur Gestaltung und Strukturierung der Austauschbedingungen am Arbeitsmarkt und zur Lenkung von Umverteilungsströmen schwindet seit den 1980er Jahren kontinuierlich zugunsten der Akteure in den Betrieben. In den alten Bundesländern sind Verbände zwar nach wie vor die dominanten Akteure für die Regulierung der Arbeitsbedingungen. Ihre Vorrangstellung konnten sie jedoch nur aufrecht erhalten durch weitgehende Zugeständnisse an die Akteure auf Ebene der einzelnen Betriebe. Insbesondere die immer nachdrücklicher werdenden Flexibilisierungsbedürfnisse der Arbeitgeber, aber auch ein deutlich stärker eigeninteressiertes, weniger umverteilungstolerantes Agieren einzelner, durchsetzungsstarker Arbeitnehmergruppen haben dazu geführt, dass Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne, von Arbeitszeitregelungen über Entgeltfragen bis hin zu Mobilitätsanforderungen etc., immer sichtbarer aus ihrer überbetrieblich-tarifvertraglich geschützten Position herausgelöst und in den Instrumentenkasten zwischenbetrieblichen Wettbewerbs überführt wurden. Deutlich wird dies zum einen in der insgesamt abnehmenden Bedeutung von Flächentarifverträgen, insbesondere in ihrer abnehmenden Reichweite. Ein immer größerer Anteil von Unternehmen und Beschäftigten ist bei der Ausgestaltung ihrer Austauschbeziehungen nicht mehr an Flächen-
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tarifverträge gebunden (äußere Erosion). Deutlich wird dies aber zum anderen auch in der veränderten Rolle der Flächentarifverträge dort, wo sie nach wie vor zentrales Regelungsmedium sind (innere Erosion). Waren sie in der Hochzeit der fordistischen Produktion, in der Phase eines ausgedehnten Öffentlichen Dienstes und eines kaum nennenswert entwickelten privatwirtschaftlich betriebenen Dienstleistungssektors in den 1960er, 1970er und bis in die 1980er Jahre hinein das zentrale Regelwerk, an dessen konkreten und detaillierten Vorgaben sich die überwältigende Mehrheit der Unternehmen einer Branche ohne ernsthaften betrieblichen Spielraum114 ausrichteten, so wandeln sie sich seither immer stärker zu bloßen Vereinbarungen über die Rahmen, innerhalb derer einzelbetriebliche Akteure ihre Tauschbedingungen eigenständig und wesentlich flexibler aushandeln können. Damit haben heutige Flächentarifverträge außer ihrer Bezeichnung kaum mehr etwas mit den Flächentarifverträgen der 1960er oder 1970er Jahre gemein. Aus diesem Wandel des Flächentarifvertrages ergibt sich ein Funktionswandel. Nach wie vor haben Flächentarifverträge Solidar- und Schutz-, Verteilungs-, Ordnungs- und Befriedungs-, Kartell- sowie Innovationsfunktion. Allerdings sind die Effekte von Flächentarifverträgen in jeder einzelnen dieser Dimensionen deutlich abgeschwächt gegenüber den Wirkungen, die Flächentarifverträge vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren hatten. Wie war ein solcher Wandel ohne größeren Widerstand möglich? Warum wurden die genannten Funktionen des Flächentarifvertragssystems Stück für Stück untergraben, ohne dass die Nutznießer dieser Funktionen dagegen aufbegehrten? Die Geräuschlosigkeit dieses Wandels lässt sich mit seiner Langsamkeit erklären. Zwar gab es einige Tarifabschlüsse, die von der interessierten Öffentlichkeit als sichtbare Meilensteine der Veränderung wahrgenommen werden konnten, so zum Beispiel die arbeitszeitflexibilisierenden Tarifabschlüsse 1984, die Regelungen zur „sozialen Arbeitszeitverteilung“ im Öffentlichen Dienst Ostdeutschlands 1996, das VW-Projekt 5000 x 5000 im Jahr 2001 oder auch die Vereinbarung von Pforzheim 2004 für die Metallindustrie. In der Regel aber konzentriert sich die mediale, politische und oft auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit bei Tarifabschlüssen auf die Höhe und den Anstieg der Entgelte und lässt die Tendenzen zunehmender Flexibilisierung weitgehend unbeachtet. Derartige Aufweichungen fallen zunächst nur den unmittelbar Betroffenen mit einer primär einzelbetrieblichen Perspektive auf und werden außerhalb einer Branche oder außerhalb einer Tarifregion nur nach und nach und diffus wahrgenommen. Erst retrospektiv über längere Zeiträume werden die Nachhaltigkeit und die strukturverändernden Effekte dieser Vielzahl von einzelnen flexibilisierungsfördernden, je für sich genommen nur graduellen und dadurch kaum dramatischen Veränderungen erkennbar.
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Zumindest ohne ernsthaften Spielraum zulasten der Beschäftigten, also zur Unterschreitung der überbetrieblich geltenden Vorgaben
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Dieser inkrementelle, „schleichende“ Wandel ist es auch, der einen institutionenanalytischen Nachvollzug dieser Entwicklung angezeigt sein ließ. Die beschriebenen Entwicklungen der Entstandardisierung, Dezentrierung, Differenzierung und Entsolidarisierung vollzogen sich weitgehend innerhalb der institutionellen Rahmungen des Tarifsystems und durch weitreichende Anpassungsleistungen der diese Institution tragenden kollektiven Akteure. Es ist eben dies gemeint, wenn von der institutionellen Stabilität des Tarifsystems bei fortschreitendem Wandel seiner Gestaltungs- und Regelungsinhalte die Rede ist (Schnabel 1995; Rehder 2000). Und innerhalb dieses Rasters institutionenanalytischer Erklärung vertritt Lessenich (2003a) die Auffassung, dass sich der Wandel des Flächentarifsystems in den Alten Bundesländern so weitgehend reibungslos vollziehen konnte, weil er gleichsam unterhalb einer Ebene semantischer Kontinuität stattfand. Außer ihrer Bezeichnung haben heutige Flächentarifverträge kaum mehr etwas mit den Flächentarifverträgen der 1960er oder 1970er Jahre gemein. Diese begriffliche Kontinuität ist eine wesentliche Voraussetzung, eine Erfolgsbedingung für nachhaltigen institutionellen Wandel: Kontinuierlich verwendete Zeichen, Symbole, Begriffe tragen Gewähr, dass institutioneller Wandel nicht als solcher erkannt oder aber zumindest nicht als bedrohlich wahrgenommen wird; dadurch suggerieren und verbürgen sie sachliche (und damit in letzter Konsequenz: gesellschaftliche) Stabilität. Entsprechend wird der Wandel des Tarifsystems vor allem an Entwicklungen festgemacht, an denen die semantische Integrationsfähigkeit des Flächentarifvertragssystems versagen muss, also vor allem an der abnehmenden Reichweite von Flächentarifverträgen, der Zunahme von Verbandsabstinenz auf Seiten der Arbeitgeber, der Ausbreitung von Firmentarifverträgen und dem Anstieg der Zahl von Unternehmen, die sich an Tarifverträgen allenfalls noch orientieren, die Arbeitsbedingungen aber eigenständig mit der Belegschaft aushandeln. Derartige Entwicklungen sind verschärft in Ostdeutschland zu beobachten. Verglichen mit den Alten Bundesländern herrschte hier eine vollkommen andere Ausgangssituation für die Entwicklung der Austauschbeziehungen am Arbeitsmarkt. Den Tarifverbänden ist es trotz des rechtlich-politischen Institutionentransfers im Zuge der deutschen Einigung 1990ff. nicht gelungen, dem Flächenvertragssystem in den neuen Bundesländern eine ebensolche Dominanz zu verschaffen, wie sie sich über Jahrzehnte hinweg in der alten Bundesrepublik herausbilden und in einer Weise behaupten konnte, die für einen anderen als den beschriebenen inkrementellen Wandel hinderlich gewesen wäre. Die im soziologischen Sinne traditionslosen Arbeitsmarktakteure in Ostdeutschland zeigten dem Institutionentransfer gegenüber „Unverträglichkeitserscheinungen“ und „Abstoßungsreaktionen“ (Offe 1994: 47, ähnlich Schroeder 1994; 2000; Thumfart 2002: 842ff.): „Was sich im Westen aus einer langen Entwicklung heraus als homogenes Modell präsentiert, braucht sich im Osten nicht als eine interdependent wirkende Institutionenkonstellation bewähren“ (Lepsius 1997a: 69).
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Aus dieser von Westdeutschland abweichenden Ausgangssituation erklärt sich auch das bis heute kaum vorhandene Widerstandspotential gegen Individualisierungs- und Flexibilisierungstendenzen am ostdeutschen Arbeitsmarkt, und das wiederum hat zur Folge, dass sich hier die Tauschbedingungen in deutlich mehr ausgreifender, radikalerer Art und Weise den situativen einzelbetrieblichen Bedürfnissen anpassen können. Das führt zu dem Befund, dass das gegenwärtige Kollektivvertragssystem zwar als in ganz Deutschland rechtlich und politisch privilegierte Institution anerkannt ist, hinsichtlich seiner Orientierungs-, Regulierungs- und Relationierungsleistungen aber zwischen den alten und den neuen Bundesländern gravierende Unterschiede bestehen. Dass diese Unterschiede Folgen insbesondere für das westdeutsche Teilsystem haben, liegt auf der Hand. Die um vieles größere Bedeutung betrieblicher Akteure bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen in Ostdeutschland, die größeren situativen Flexibilitätsspielräume der ostdeutschen Unternehmen wecken Begehrlichkeiten auch bei westdeutschen Unternehmen bzw. bei westdeutschen Standorten, und zwar, wie viele Forschungen zeigen, nicht nur dann, wenn der Bestand dieser Unternehmen gefährdet ist und Arbeitsflexibilität als Möglichkeit der Gefahrenabwehr betrachtet wird. Es ist insofern nicht zu erwarten, dass der Wandel des westdeutschen, von Flächentarifen geprägten Tarifsystems in absehbarer Zeit zum Stillstand kommt. Zu erwarten ist eher eine weitere, jeweils branchenspezifische Angleichung an ostdeutsche Verhältnisse, die sich auszeichnen durch Konfliktarmut, höhere Kooperationsbereitschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und Wahlmöglichkeiten insbesondere für die Arbeitgeber ohne ernstzunehmende Sanktionsgefahr bei „Abwahl“ der Option Flächentarif. Und zu erwarten sind als Reaktion darauf fortgesetzte Anpassungsbemühungen der Gewerkschaften, mit dem Einbau von Öffnungs- und Härtefallklauseln die Flächentarifverträge zu stabilisieren und den Trend der Verbetrieblichung des Aushandlungsgeschehens unter Kontrolle zu halten. Die Beschreibung dieses institutionellen Wandels des Tarifsystems muss notwendig die Bedeutung staatlichen Handelns einbeziehen. Vor dem Hintergrund dramatischer Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genießt das autonome Handeln der Gewerkschaften in Deutschland einen stärkeren Schutz vor staatlicher Begrenzung als in anderen Ländern. Nach anfänglichem erfolglosem Bemühen, die Kompetenzen der Verbände per Gesetz zu begrenzen, erkannten staatliche Akteure im Laufe der Zeit immer mehr den zentralen entlastenden Effekt des Konstrukts der Tarifautonomie: Durch die Übernahme der Verantwortung für die Lohn- und Arbeitsbedingungen entschärfen die Tarifverbände ein grundlegendes Problem staatlicher Akteure, für die das Postulat ihrer Neutralität und Gemeinwohlverpflichtung eine wesentliche Legitimitätsressource
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ist. Um das Risiko einer offensichtlichen Neutralitätsverletzung und eines sich daraus möglicherweise ergebenden Legitimitätsverlustes zu minimieren, sind staatliche Akteure bereit, die Verantwortung für die Lohn- und Arbeitsbedingungen an die Tarifverbände abzugeben. Sie sind insbesondere bereit, die eigenen Handlungsbeschränkungen zu akzeptieren, die sich aus dieser Verantwortungsabgabe ergeben, und bis zu einem subjektiv-kritischen Wert die Folgekosten zu tragen, die entstehen, weil sich die Tarifverbände bei der Aushandlung der Lohn- und Arbeitsbedingungen primär von ihren Prämissen leiten lassen und nicht von denen des Staates. Auf diese Weise wurde die Tarifautonomie zu einem spezifischen Ausdruck des funktional differenzierten Verhältnisses von Staat und Verbänden in der Bundesrepublik und zu einer institutionellen und institutionalisierten Konstellation, in der beide Seiten zugleich Trägerakteure und Adressaten sind. Ein solches institutionelles Arrangement ist ausgesprochen voraussetzungsvoll: Staatliche Akteure müssen sich sicher sein können, dass die Gewerkschaften kein Verhalten an den Tag legen, das die wirtschaftlichen Bedingungen und/oder die Bedingungen politischer Machtreproduktion nachhaltig destabilisiert. Und die Gewerkschaften müssen sicher sein, dass der Staat ein geduldiger Beobachter ist, der ihr autonomes Verhalten (eine der maßgeblichen verbandlichen Organisationsressourcen) in großem Ausmaß toleriert und nicht bei jeder kleinen Meinungsverschiedenheit interveniert. Aus beiden gegenseitigen Erwartungen ergibt sich im Zuge eines Tausches ein mehr oder minder internalisiertes Verhalten der Gewerkschaften, das im Großen und Ganzen zum Bestand und zur Stabilität der wirtschaftlichen und politischen Ordnung der Bundesrepublik wesentlich beitrug. Das schließt jedoch nicht aus, dass unterhalb des gemeinsamen Interesses an Stabilität unterschiedliche Akteure zu unterschiedlichen Bewertungen darüber kommen können, was genau denn nun das für die Stabilität der wirtschaftlichen und politischen Ordnung Angemessene ist. Angesichts dieser Möglichkeit divergierender Einschätzungen ist das Interesse staatlicher Akteure nachvollziehbar, das Verhalten der Gewerkschaften im eigenen Sinne zu beeinflussen. Zwar begrenzen die konstitutionell geschützte Koalitionsfreiheit und die daraus abgeleitete Tarifautonomie die Möglichkeiten des Staates, Macht und Einfluss auf die Gewerkschaften auszuüben: infolge des institutionellen Charakters der Tarifautonomie sind staatliche Akteure nicht in der Lage, ihre sich ändernden Interessen und Intentionen sofort und unmittelbar in Verhaltensvorgaben an die Tarifverbände zu übersetzen. Die hier vorliegende Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass auch die starke grundrechtliche Position der Gewerkschaften staatliche Interventionen nicht völlig verhindern kann. Derartige Interventionen dienen immer auch dem Zweck, die Handlungsbedingungen der staatlichen Akteure selbst zu optimieren und notfalls zu restabilisieren. Staatliche Akteure sind grundsätzlich daran interessiert, entweder das Ausmaß der an sie herangetragenen, politisch zu lösenden Probleme zu verringern oder aber zumindest die materiellen Voraussetzungen einer unabweisbaren Problembearbeitung si-
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cherzustellen (Vobuba 1983a: 37). Wenn staatliche Akteure die Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit auf verbandsautonomes Handeln zurückführen, dann heißt das also unweigerlich, dass sie ihre Handlungsbedingungen letztlich nur durch Limitierung der problemverursachenden Verbände und Intervention in tarifautonome Verfahren restabilisieren können. Durch die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik ziehen sich derartige Versuche des Staates, das Verhalten der Gewerkschaften zu steuern und seine Auffassung von stabilitätskonformem gewerkschaftlichem Verhalten durchzusetzen. Diese Versuche waren mal mehr, mal weniger nachhaltig erfolgreich; aber sie waren und sind in der Regel fokussiert auf die Geltung und die Inhalte tarifverbandlich gesetzter Normen, denen staatliche Akteure Folgekosten zu Lasten ihrer eigenen Handlungsfähigkeit zugeschrieben haben. Die in dieser Arbeit vorgenommene Unterscheidung solcher Steuerungsversuche in indikative, kooperative und imperative ist insofern lediglich eine Unterscheidung der Mittel, nicht aber des grundlegenden Zwecks. Das lässt sich an allen der in dieser Arbeit näher dargestellten Einfluss-Episoden zeigen: Mit der Konzertierten Aktion in den ausgehenden 1960er Jahren wurde das Ziel verfolgt, die Gewerkschaften in ihrer Lohnpolitik zu begrenzen und sie zu Tarifabschlüssen zu bewegen, die nach Auffassung staatlicher Akteure geeignet waren, die unternehmerischen und daraus abgeleitet die staatlichen Handlungsbedingungen zu stabilisieren. Die Neufassung des § 116 AFG im Jahr 1986 diente durch die Einschränkung gewerkschaftlicher Arbeitskampfkraft der Absicherung erster Tendenzen „postfordistischer“ Arbeitsflexibilisierung. Diese Tendenzen hatten sich in den vorausgegangenen Tarifrunden zugunsten der Arbeitgeber namentlich der exportorientierten Metallindustrie ergeben und standen in „Gefahr“, von durchsetzungsstarken Gewerkschaften alsbald wieder rückgängig gemacht oder anderweitig kompensiert zu werden. Die Neufassung des § 116 AFG war insofern besonders nachhaltig: mit ihr konnte zunächst der Arbeitszeitkompromiss von 1984 abgesichert werden, mit dem die Gewerkschaften „auf dem Wege überbetrieblicher Normierung dem unternehmerischen Druck in Richtung auf erhöhte betriebliche Dispositionsspielräume in Fragen des Arbeitskrafteinsatzes“ (Lessenich 2003a: 257, Hervorh. i.O.) nachgaben. Und erst auf diesem stabilen Fundament eröffnete sich für die Arbeitgeber die Möglichkeit, die Verschiebung weiterer Verhandlungsthemen von der verbandlichen auf die betriebliche Ebene zu verlangen. Bald wurde nicht mehr nur über die Dimension „Zeit“ in immer mehr Betrieben selbst entschieden, sondern auch die Dimension „Entgelt“ zum Verhandlungsgegenstand zwischen Arbeitgebern und Belegschaften (Locke, Thelen 1995: 348ff.). Die Gesetzgebung zum Lohnabstand zwischen regulärer und öffentlich geförderter Beschäftigung im Zuge der deutschen Einigung hatte das explizite Ziel, die staatlichen Handlungsbedingungen zu stabilisieren. Auch diese imperative Maßnahme setzte dem Geltungsanspruch tarifverbandlicher Normierung Grenzen. Sie behinderte zudem in einer neuralgischen
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Phase des Institutionentransfers von West nach Ost die Institutionalisierung eines verbandlich dominierten Tarifsystems. Wiederum einige Jahre später hatte das Bündnis für Arbeit aus Sicht staatlicher Akteure den Zweck, die Gewerkschaften zum Abschluss von Tarifverträgen zu bewegen, die den in dieser Zeit immer eindringlicher vorgetragenen betrieblichen Flexibilitätsbedürfnissen mehr als bisher Rechnung tragen sollten. „Methodisch“ anders, aber mit der selben Intention forderte die Bundesregierung dann in der letzten der hier untersuchten Episoden die Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, womit sie aber zugleich insgesamt die betriebliche Aushandlungsebene erheblich aufwertete, deren Akteure mit mehr Befugnissen ausstattete und damit – gewollt oder nicht – die Konstruktion des Flächentarifvertrages deutlich relativierte (vgl. Fehmel 2006a). Ob die Verbreitung von Betriebsvereinbarungen und betrieblichen Bündnissen für Arbeit tatsächlich zunimmt, ist (noch) nicht geklärt. Zumindest aber werden von Flächentarifverträgen abweichende betriebliche Pakte von Firmenleitungen und -belegschaften selbstbewusster und offensiver kommuniziert und allein dadurch enttabuisiert, normalisiert und „veralltäglicht“ (Nienhüser, Hoßfeld 2006). Auf politischer Ebene findet diese Enttabuisierung ihre Entsprechung etwa im Bemühen, das Günstigkeitsprinzip für Betriebsvereinbarungen neu zu interpretieren.115 Und in derartige politische Bemühungen reiht sich auch die Drohung ein, betriebliche Bündnisse notfalls gesetzlich zu erzwingen. Jede einzelne dieser Episoden führte in je spezifischer Weise zu einer Verschiebung der Grenzen des Handlungsraumes der Gewerkschaften und damit immer auch zu Veränderungen und letztlich zu einem Wandel des Verhältnisses von Gewerkschaften und Staat. Intention der staatlichen Einflussnahmen war dabei stets, eine Veränderung des Tarifsystems hervorzurufen oder zumindest eine sich ohne staatliches Zutun abzeichnende bzw. bereits vollziehende Veränderung des Tarifsystems zu befördern oder zu behindern. Dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung dabei offensichtlich korporatistisch-kooperative Methoden bevorzugt, konservative Bundesregierungen hingegen eher imperativ agieren, ist ein nicht zu vernachlässigender Unterschied, der jedoch die grundlegende Gemeinsamkeit aller hier dargestellten Einfluss-Episoden, nämlich die Anpassung tarifautonomen Verbandshandelns an sich ändernde wirtschaftliche Bedingungen und Herausforderungen und daraus resultierende staatliche Erwartungen, nicht überlagert. Die Aneinanderreihung der dargestellten Diskurse lässt zudem Schlussfolgerungen bezüglich des systematischen Wandels dieser Bedingungen und Herausforderungen zu. Es fällt auf, dass sich die Einflussbemühungen des Staates im Zeitverlauf weg von primär lohnpolitischen hin zu in erster Linie flexibilitätspolitischen Motiven verlagert haben. Als Punkt des „Umschlagens“ zwischen beiden Handlungsmotiven kann da115
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Demnach soll abweichend von der geltenden Regelung eine Schlechterstellung der Arbeitnehmer möglich sein, wenn dies der Beschäftigungssicherung oder dem Beschäftigungsaufbau dient (zur Übersicht über die pro-und contra-Argumente vgl. Höland et al. 2000).
bei wie erwähnt die Neufassung des § 116 AFG gelten, mit der der erste, kurz zuvor durchgesetzte Flexibilisierungsschub administrativ befestigt wurde. Insgesamt ist zu konstatieren: Keineswegs ausschließlich, aber doch zu einem nicht vernachlässigbaren Teil geht die abnehmende Strukturierungskraft der Tarifverbände bei der Regulierung der Lohnarbeitsbedingungen auf das Handeln staatlicher Akteure zurück. 10.2
... und semantische Kontinuität
Autonomie und Beeinflussung – aus diesem Widerspruch erwächst staatlichen Akteuren eine beständig reproduzierte Herausforderung. Sie besteht darin, einerseits jenseits subjektiver Toleranzschwellen kontextabhängig auf das Verhalten der Gewerkschaften einzuwirken und sie zu einem Verhalten zu bewegen, dass den jeweils aktuellen subjektiven Stabilitätsauffassungen staatlicher Akteure (und eben nicht den gegebenenfalls davon abweichenden Auffassungen der Gewerkschaften) entspricht, dabei aber andererseits die Leitidee der Tarifautonomie nicht zu beschädigen, um die Gewerkschaften nicht zum Ausstieg aus dem ja grundsätzlich durchaus funktionalen, institutionalisierten und für den Staat vorteilhaften Arrangement zu motivieren. Staatliche Akteure überwinden diesen Widerspruch durch semantische Stabilisierung der Tarifautonomie. Sie sind bemüht, im jeweils spezifischen Kontext einer Beeinflussung gewerkschaftlichen Verhaltens zu suggerieren, dass durch diese Beeinflussung die Autonomie der Gewerkschaften nicht beschnitten wird – so unplausibel das im Einzelfall auch sein mag. Was sich beobachten lässt, ist insofern eine sprachliche Aufwertung der Tarifautonomie im Kontext ihrer faktischen Begrenzung, also eine Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ im politischen Sprachgebrauch staatlicher Akteure. Auch hierfür sind die in dieser Arbeit näher beleuchteten Diskurse anschauliche Beispiele. Erstmals wurde diese Instrumentalisierungsstrategie (und zwar, wie gezeigt wurde: exzessiv) im Kontext der Konzertierten Aktion praktiziert, bei der es darauf ankam, Tarifabschlüsse im Korridor staatlich ausgegebener Orientierungsdaten als Folge autonomen, lohnpolitischen Agierens der Gewerkschaften darzustellen. Die Konzertierte Aktion ist insofern die Etablierungs-Episode der Instrumentalisierungspraxis. Besonders augenfällig wurde die Instrumentalisierungsstrategie in der Auseinandersetzung um die Neufassung des § 116 AFG, die zwar faktisch die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften in Arbeitskämpfen zu deren Nachteil modifizierte, jedoch vom Gesetzgeber offensiv begründet wurde mit der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der grundsätzlich außer Frage stehenden Tarifautonomie. Auch im Konflikt um Lohnabstandsklauseln für Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde auf den grundsätzlichen Primat der Tarifautonomie
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verwiesen, die nur eben in der konkreten infrage stehenden Materie nicht ausreichend funktionsfähig sei, weshalb eine gesetzliche Regelung zur untertariflichen Vergütung öffentlich geförderter Beschäftigung geboten und gerechtfertigt sei. Und ähnlich der Konzertierten Aktion in den ausgehenden 1960er Jahren hatte auch das Bündnis für Arbeit um die Jahrtausendwende herum für staatliche Akteure in erster Linie den Zweck, mit den Gewerkschaften deren tarifpolitisches Verhalten abzustimmen, was es freilich wiederholt erforderlich machte, die tarifpolitische Autonomie der Gewerkschaften zu betonen. Im letzten der hier vorgestellten Diskurse schließlich wurde das staatliche Eintreten für betriebliche Bündnisse für Arbeit inklusive der Drohung einer diesbezüglichen gesetzlichen Regelung einmal mehr begründet mit einer im Grundsatz unbestrittenen, aber situativ gerade nicht hinreichend funktionsfähigen Tarifautonomie. Es wurde gesagt, dass die Stabilität des Begriffes „Flächentarifvertrag“ eine wesentliche Voraussetzung dafür war, dass sich sein faktischer Inhalt über die Jahre hinweg inkrementell und weitgehend konfliktfrei den sich ändernden Bedürfnissen primär der Arbeitgeber anpassen konnte, diese Bedürfnisse selbst aber auch strukturierte. In gleicher Weise war und ist auch die semantische Kontinuität des Begriffs „Tarifautonomie“ eine wesentliche Bedingung dafür, dass staatliche Akteure in abgegrenzten Materien innerhalb des Bereichs der Arbeitsbeziehungen die Grenze zwischen ihrem Regelungskompetenzraum und dem der Tarifverbände situativ verschieben konnten. Insofern findet der beschriebene „dynamische Immobilismus“, also die Formwahrung des Tarifsystems bei schleichender Substanzveränderung (Lessenich 2003a: 288), seine Entsprechung im Wandel der Tarifautonomie, also dem Kompetenzverhältnis zwischen Tarifverbänden und Staat. Grenzverschiebungen zwischen beiden Seiten waren immer umstritten; sie waren insofern immer auch Konflikte um den Konfliktrahmen „Tarifautonomie“. Diese Grenzverschiebungen wären jedoch noch um vieles schwerer durchzusetzen gewesen ohne die parallele Betonung der Tarifautonomie. Die Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ durch staatliche Akteure ist damit ein Krisenanzeiger, ein wesentliches – und wie aus der Aneinanderreihung der einzelnen Diskurse ersichtlich wird: ein generelles – Element zur Steuerung des Verhältnisses von Tarifverbänden und Staat, also ein wesentliches Element des staatlichen Flexibilitätsmanagements der Institution „Tarifautonomie“. Diese Strategie lässt sich im übrigen nicht nur im Verhältnis staatlicher Akteure zu tarifpolitischen Akteuren nachweisen. Die angestrebte Veränderung eines Institutionengefüges gerade mit der Sicherung dieses Institutionengefüges zu begründen, findet sich auch in anderen Kontexten, etwa bei Konflikten um die Reform des Sozialstaats, der einer oft gehörten Argumentation zufolge nur durch seinen Umbau erhalten werden könne. Einer solchen Instrumentalisierungspraxis des Staates und seinen darin zum Ausdruck kommenden Steuerungsversuchen steht auch eine spezifische, in dieser
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Arbeit nicht untersuchte Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ durch die Tarifverbände selbst gegenüber. Die Instrumentalisierung des Begriffs wird so zu einem zentralen Mittel der Austragung von Konflikten um den Konfliktrahmen. Was politische Akteure mit dem Begriff „Tarifautonomie“ umschreiben, kann also zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus unterschiedlicher Perspektive voneinander verschieden sein. Das heißt: der Begriffsinhalt von „Tarifautonomie“, der Möglichkeitsraum verbandlich autonomen Agierens ist variabel – und umstritten. Das aber bedeutet, dass die Intentionen staatlicher Verpflichtungsversuche mit den Handlungsfolgen dieser Inpflichtnahme der Tarifverbände für Systemzusammenhänge nicht identisch sein müssen (Vobruba 2009: 149). Vielmehr ist in dieser Form der Austragung von Konflikten ihr offener Ausgang immer auch mit angelegt. Ein derartiges Verständnis institutionellen Wandels bei gleichzeitiger Stabilität von Symbolen und Begrifflichkeiten ist anschlussfähig an das Konzept des Historischen Institutionalismus: es gibt jenseits von Beharrung und Niedergang und unterhalb der begrifflichen Ebene einen oft inkrementellen, aber (weil kumulativ wirksam) transformativen Institutionenwandel und eine permanente, wenngleich pfadabhängige Neuausrichtung von Institutionen an veränderte politische, soziale und wirtschaftliche Umwelten. Die beiden beschriebenen Entwicklungen des strukturellen Wandels und der semantischen Kontinuität sind insofern im Zusammenhang zu sehen. Insbesondere die Rolle des Staates bei strukturellen Veränderungen erschließt sich im Grunde nur über den Einbezug des kommunikativen Handelns seiner Akteure. Betrachtet man die Entwicklung auf beiden Ebenen parallel und setzt man sie zueinander in Beziehung, dann zeigt sich: institutioneller Wandel von Tarifsystem und Verbände-Staat-Verhältnis einerseits und semantische Kontinuität des Leitbegriffs „Tarifautonomie“ andererseits verlaufen – miteinander verwoben – gleichgerichtet. Sie sind gleichsam die zwei Litzen jenes roten Fadens der gesteuerten Autonomie, der sich spätestens seit den ersten wirtschaftlichen Krisen in den 1960er Jahren durch die Geschichte des Systems der Industriellen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zieht. Strategisch kalkulierte Begriffsstabilität als Bedingung institutioneller Flexibilität, semantische Kontinuität als Erfolgsvoraussetzung struktureller Veränderungsbestrebungen – dies zu zeigen war Anliegen und dies zeigen zu können ist Ergebnis dieser Arbeit.
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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Staatlicher und tarifautonomer Regelungsraum ........................................ 019 Optionenvielfalt von Gesetzgeber und Tarifverbänden .......................... 048 Steuerquotenentwicklung ............................................................................. 055 Steuereinnahmenrelation .............................................................................. 056 Problem A: instabiles Preisniveau ............................................................... 063 Geldwertentwicklung und Lohnquote 1960-2004 .................................... 066 Problem B: stabile Beschäftigung vs. stabile Arbeitslosigkeit ................. 076 Staatliche Einflusswege ................................................................................ 124 Ökonomische Entwicklung – 1950er / 1. Hälfte 1960er Jahre .............. 131 Ökonomische Entwicklung – 2. Hälfte 1960er / 1970er Jahre .............. 138 Verhältnis ABM/Arbeitslosigkeit in Alten und Neuen Bundesländern .................................................................................. 178 Abb. 12 Anteil der ABM/SAM-Kosten an den Gesamtausgaben der BA .......... 180 Abb. 13 Absolute und relative Zahl der ABM-Beschäftigten – ABL und NBL . 183 Abb. 14 Parlamentarischer Diskursverlauf „betriebliche Bündnisse für Arbeit“ ...................................................................................................... 247
Abb. 01 Abb. 02 Abb. 03 Abb. 04 Abb. 05 Abb. 06 Abb. 07 Abb. 08 Abb. 09 Abb. 10 Abb. 11
Tab. 01 Entwicklung von Beschäftigtenzahl und Ausgaben ABM ...................... 194 Tab. 02 Handlungsrelevante Rahmendaten im Vorfeld der Bündnis-Etablierung .............................................................................. 200 Tab. 03 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2000 .......................................... 208 Tab. 04 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2001 .......................................... 211 Tab. 05 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2002 .......................................... 228 Tab. 06 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2003 .......................................... 236 Tab. 07 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2004 .......................................... 237 Tab. 08 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2005 .......................................... 241 Tab. 09 Handlungsrelevante Rahmendaten 1998-2007 .......................................... 245
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