Patricia Highsmith Kleine Mordgeschichten für Tierfreunde
Wenn Tiere Menschen wären, ließen sie sich nicht so viel von ...
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Patricia Highsmith Kleine Mordgeschichten für Tierfreunde
Wenn Tiere Menschen wären, ließen sie sich nicht so viel von Menschen gefallen. Patricia Highsmith, von Beruf subtile Analytikerin des menschlichen Mordes, privat faszinierte Schneckenforscherin und zärtliche Katzenfreundin, hat Meisterschaft und Neigung zu einem Gedankenspiel vom neuen Tierleben vereint: Hamster, Hühner, Hund und Katze; Schwein, Kamel, Kakerlak und Affe; Elefant, Frettchen, Ziegenbock und Ratte rächen sich fürchterlich, einfallsreich und unverhofft am Menschen – wie wenn sie Menschen wären.
Patricia Highsmith Kleine Mordgeschichten für Tierfreunde Aus dem Amerikanischen von Anne Uhde Titel des englischen Originals: ›The Animal-Lover’s Book Of Beastly Murder‹ Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer Diogenes Verlag AG Zürich, 1979 ISBN 3-257-20483-3
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Patricia Highsmith
Kleine Mordgeschichten für Tierfreunde Aus dem Amerikanischen von Anne Uhde
Diogenes
Titel der Originalausgabe: >The Animal-Lover’s Book Of Beastly Murder< (William Heinemann Ltd., London) Copyright © 1975 by Patricia Highsmith Die deutsche Erstausgabe erschien 1976 im Diogenes Verlag Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1979 Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1976 by Diogenes Verlag AG Zürich
120/80/9/3 ISBN 3-257-20483-3
Inhalt Inhalt............................................................................................................4 Ballerinas unwiderruflich letzter Auftritt.................................................6 Djemals Rache .......................................................................................20 Da saß ich nun mit Bobby......................................................................39 Mings größte Beute................................................................................57 Mitten in der Trüffelsaison ....................................................................70 Die tapferste Ratte von Venedig ............................................................86 Dampfroß.............................................................................................107 Der Tag der Abrechnung .....................................................................127 Räuber-Affe Eddie ...............................................................................149 Hamster contra Webster ......................................................................169 Harry, das Frettchen ...........................................................................195 Ziegenbockfahrt ...................................................................................214 Aufzeichnungen eines achtbaren Kakerlaken ......................................231
Für meinen Cousin Dan Coates von der Box Canyon Ranch, Weatherford, Texas
Ballerinas unwiderruflich letzter Auftritt
I
ch heiße Ballerina. Die Leute rufen schon immer »Ballerina!«, wenn ich dastehe und erst das linke, dann das rechte Bein schwinge. Früher, vor zehn oder zwanzig Jahren, da hieß ich ›Jumbo junior‹ oder einfach Jumbo. Heute nennen sie mich nur noch Ballerina. Sicher steht der Name auch auf dem Holzschildchen vorn an meinem Gitter, wo ›Afrika‹ dransteht. Meistens sehen sich die Besucher das Schild an, manchmal sagen sie: »Afrika«, und dann fangen sie an zu rufen: »Ballerina! He, du – Ballerina!« Wenn ich dann die Beine schwinge, klatschen sie. Ich wohne ganz allein. Nie habe ich ein Tier wie mich gesehen, jedenfalls nicht hier. Aber ich erinnere mich, daß ich, als ich klein war, immer hinter meiner Mutter herlief, und da waren viele solche Tiere wie ich, einige waren viel größer und ein paar noch kleiner als ich. Ich weiß noch, daß ich meiner Mutter folgte, als sie über eine schräge Planke schritt, die auf ein Schiff führte; das Schiff schwankte leise. Dann stießen sie meine Mutter fort und führten sie über die Planke zurück an Land, und ich blieb auf dem Schiff. Meine Mutter wollte, daß ich mit ihr kam, sie hob den Rüssel und schrie. Aber die Männer warfen ihr Stricke über, das sah ich; zehn oder zwanzig Männer stemmten sich gegen sie und hielten sie zurück, und dann fiel ein Schuß. Ob es eine Kugel war oder eine Narkoseladung, das habe ich nie erfahren. Es ist nicht der gleiche Geruch, das weiß ich, aber der Wind wehte an dem Tag nicht in meine Richtung, und ich weiß nur, daß meine Mutter gleich darauf umfiel. Ich war oben an Deck und stieß gellende Schreie aus, wie ein Baby schreit. Dann schoß einer auf mich mit einem Narkosegewehr. Schließlich fuhr das Schiff ab, und ich verbrachte eine lange Zeit mit Schlafen und Fressen in einem halbdunklen Verschlag, -6-
bis wir in einem anderen Land ankamen, da gab es keine Wälder und kein Gras. Ich kam in einen neuen Verschlag, wir fuhren wieder ab und kamen schließlich an einen Ort mit Zementfußboden und nichts als harten Steinplatten überall, mit Gitterstäben und widerlich riechenden Menschen. Aber das Schlimmste war: ich war allein. Es gab keine Tiere in meinem Alter, keine Mutter, keinen Vater, keinen freundlichen Großvater. Und keinerlei Spiele, kein Bad im schlammigen Fluß. Ich war allein mit Gitterstäben und Steinen unter den Füßen. Zu fressen gab es gut und reichlich. Und es war ein Mann da, Steve hieß er, der war lieb zu mir. Er hatte immer eine Pfeife im Mund, aber sie brannte fast nie, er hielt sie bloß so zwischen den Zähnen. Reden konnte er trotzdem, und ich verstand auch bald, was er sagte, oder doch wenigstens, was er meinte. »Niederknien, Jumbo!« Dann klopfte er an mein Knie, und ich wußte, ich sollte mich auf die Knie niederlassen. Wenn ich den Rüssel hochhielt, klatschte Steve lobend in die Hände und warf mir ein paar Erdnüsse oder einen kleinen Apfel ins Maul. Ich hatte es gern, wenn er auf meinen Rücken kletterte, dann erhob ich mich und schritt mit ihm um den Käfig herum. Wenn das die Besucher sahen, klatschten sie in die Hände, vor allem kleine Kinder lachten und freuten sich. Im Sommer hielt Steve mir die Fliegen mit einem Fransenband fern, das er mir um den Kopf band. Er sprengte mit dem Wasserschlauch den schattigen Teil des Zementbodens ab, damit ich einen kühlen Platz zum Hinlegen hatte. Auch mich duschte er ab mit dem Schlauch. Als ich größer wurde, setzte er sich auf meinen Rüssel, und ich hob ihn hoch in die Luft, ganz vorsichtig, damit er nicht herunterfiel, er hatte nichts zum Festhalten, nur das Rüsselende. Im Winter sorgte er besonders gut für mich, immer sah er zu, daß ich genügend Stroh hatte und manchmal sogar Decken, wenn es sehr kalt war. In einem sehr strengen Winter brachte er mir einen kleinen Kasten, an dem -7-
eine Schnur befestigt war; aus dem Kasten kam warme Luft. Als ich wegen der starken Kälte krank wurde, hat Steve mich lange gepflegt. Die Menschen hier tragen große Hüte, und manche Männer haben Pistolen im Gürtel stecken. Manchmal zieht einer sie heraus und feuert in die Luft, um mich oder die Gazellen nebenan zu erschrecken. Ich kann die Gazellen durch die Gitterstäbe sehen, sie fahren nach dem Schuß heftig zusammen und springen in die Luft und kauern sich schließlich angstvoll in einer entfernten Käfigecke zusammen. Traurig sieht das aus. Bis Steve oder einer der Wärter erscheint, hat der Mann, der geschossen hat, längst seine Pistole wieder im Gürtel und steht herum wie die andern Besucher, und alle lachen darüber und denken nicht daran, den Mann anzugeben. Dabei fällt mir ein hübscheres Ereignis ein, das sich vor etwa fünf Jahren zugetragen hat. Da war so ein Dicker mit rotem Gesicht, der schon ein paarmal sonntags herumgeknallt hatte. Es ärgerte mich, aber ich hätte es mir nie einfallen lassen, meinen Ärger zu zeigen. Am dritten oder vierten Sonntag, als der Kerl wieder in die Luft schoß, nahm ich ganz ruhig ein Maul voll Wasser aus meinem Trog und spritzte es mit voller Kraft durch die Gitterstäbe auf den Mann. Ich traf ihn vor die Brust, und er fiel rücklings zu Boden, die Stiefel hoch in der Luft. Die meisten Zuschauer lachten, ein paar waren erstaunt oder böse. Einige warfen mit Steinen nach mir, sie trafen nicht alle, und es tat auch nicht weh, einige gingen weit daneben oder trafen die Gitterstäbe und prallten wieder ab. Dann kam Steve; ich sah ihm an, daß er den Schuß gehört hatte und genau wußte, was geschehen war. Steve lachte, er klopfte dem nassen Mann auf die Schulter und versuchte ihn zu beruhigen. Wahrscheinlich bestritt der Mann, den Schuß abgefeuert zu haben. Aber ich sah, wie Steve mir zunickte; er war also nicht böse mit mir. Die Gazellen kamen zögernd näher und starrten durch die Gitterstäbe auf die Besucher und auch zu mir herüber. Ich -8-
glaube, sie freuten sich, und ich war stolz auf meine Tat. Nachts träumte ich davon, daß ich den nassen Mann oder doch einen ähnlichen Mann packte und den weichen Körper einfach zerquetschte, bis er tot war, und dann mit den Füßen auf ihm herumtrampelte. Als Steve noch da war – er war wohl ungefähr dreißig Jahre lang bei mir –, machten wir manchmal einen Rundgang durch den Park; dann kamen die Kinder und stiegen, oft zu dritt, auf meinen Rücken. Das war ganz lustig, eine nette Abwechslung, wenn auch der Park mit einem Wald gar nicht zu vergleichen ist. Er besteht nur aus ein paar Bäumen auf hartem trockenem Boden, der kaum jemals naß wird. Das Gras schneiden sie ganz kurz, ich durfte niemals welches ausreißen und mochte auch gar nicht. Steve sorgte für alles, auch für mich; er hatte einen Stock aus geflochtenem Leder, mit dem stieß er mich sanft an, wenn ich die Richtung ändern oder niederknien, aufstehen oder mich am Ende des Rundgangs auf die Hinterbeine stellen sollte. (Erneuter Applaus.) Er brauchte den Stock gar nicht, aber der gehörte nun mal dazu, ebenso wie die paar albernen Umdrehungen am Ende der Tour, bevor ich mich auf die Hinterbeine erhob. Ich konnte auch auf den Vorderbeinen stehen, wenn Steve das wollte. Damals hatte ich noch bessere Nerven; Steve brauchte mich nicht erst zu warnen, wenn wir an niedrig hängenden Zweigen vorüberkamen, ich ging ihnen von selbst aus dem Wege, damit die Kinder nicht herunterfielen. Ich bin nicht sicher, daß ich heute noch so vorsichtig wäre, wenn sich die Gelegenheit ergäbe. Was haben mir Menschen – außer Steve – jemals gegeben? Nicht mal Gras unter den Füßen. Nicht mal ein Tier meiner Art als Gefährten. Heute bin ich älter, die Beine sind schwer, und ich bin öfter schlecht gelaunt. Die Kinder reiten nicht mehr auf mir, nur die Musik ist noch da und spielt Sonntag nachmittags ›Hallo Dolly!‹ wie damals. Manchmal sehne ich mich danach, noch einmal einen Rundgang durch den Park zu machen, jung zu sein wie -9-
damals mit Steve. Aber wozu – nur um noch einmal so viele Jahre hier zu verleben? Heute verbringe ich mehr Zeit im Liegen als im Stehen. Ich liege in der Sonne, aber sie kommt mir nicht mehr so warm vor wie damals. Die Zuschauer sind heute anders angezogen, nicht mehr so viele Stiefel und Pistolen, nur der breitrandige Hut ist geblieben, den die Männer und manchmal auch die Frauen tragen. Immer noch werfen sie mir Erdnüsse zu, nicht immer geschälte, genau wie damals, als ich immer den Rüssel durch die Gitterstäbe steckte, um sie aufzufangen – damals, als ich jünger und mein Appetit besser war. Immer noch bringen sie Popcorn und Cracker-Jack, wie damals. Manchmal habe ich auch samstags und sonntags keine Lust aufzustehen. Dann wird Cliff böse. Cliff ist der neue junge Wärter. Ich soll immer alles genauso machen wie damals. Ich mag aber nicht mehr – nicht weil ich alt und müde bin, sondern weil ich Cliff nicht leiden kann. Cliff ist ein großer junger Mann mit rotem Haar. Er läßt sich gern bewundern mit seiner langen Peitsche, die er über mir schwingt. Er denkt, er kriegt mich dazu, daß ich ihm gehorche und alles tue, was er will, wenn er mich anschreit oder die Peitsche schwingt. Sie hat eine Spitze aus Metall, das ist unangenehm, aber meiner Haut macht es nicht allzuviel aus. Steve war ganz anders. Er behandelte mich wie ein lebendiges Wesen das andere, er wollte mich kennenlernen und hat nie angenommen, er könne aus mir etwas anderes machen. Deshalb kamen wir so gut miteinander aus. Cliff macht sich überhaupt nichts aus mir, er gibt mir zum Beispiel auch im Sommer nichts zur Abwehr gegen die vielen Fliegen. Natürlich mußte ich, als Steve sich zur Ruhe setzte, auch weiterhin samstags und sonntags die Rundgänge mit den Kindern und manchmal mit den Erwachsenen machen. Einmal ritt ein Mann auf mir (auch so einer, der sich großtun wollte), der drückte mir die Sporen in die Seite; daraufhin beschleunigte ich von selber das Tempo ein wenig und ging unter einem -10-
tiefhängenden Zweig nicht in die Knie, sondern trabte absichtlich drunter durch. Der Mann konnte nicht ausweichen und wurde glatt von meinem Rücken heruntergefegt, er fiel auf die Knie und heulte vor Schmerz. Es gab allerhand Aufregung, der Mann stöhnte noch eine Weile, vor allem aber stellte sich Cliff auf seine Seite und versuchte ihn dadurch zu beschwichtigen, daß er mich anschrie und mit dem spitzen Stock nach mir stieß. Ich schnaubte vor Wut und freute mich, als jetzt die Leute erschraken und zurückwichen. Ich dachte nicht daran, auf sie loszugehen, so gern ich das getan hätte; ich folgte Cliffs Stock und kehrte in meinen Käfig zurück, während Cliff immer noch halblaute Drohungen ausstieß. Ich nahm ein Maul voll Wasser, das sah er und wich zurück. Abends nach Dunkelwerden, als der Park geschlossen war, kam er wieder, schimpfte und schlug mich mit der Peitsche. Es tat überhaupt nicht weh, aber ihn muß es angestrengt haben, denn er taumelte, als er fertig war. Am nächsten Tag erschien Steve im Rollstuhl bei mir. Sein Haar war weiß geworden. Ich hatte ihn wohl vier oder fünf Jahre nicht gesehen, aber er war ganz der alte, die Pfeife hing ihm im Mund, die Stimme und das Lächeln waren gut und freundlich wie immer. Ich schwang vor Freude die Beine, als ich ihn sah, und Steve lachte und sagte etwas Nettes. Er hatte mir ein paar kleine rote Äpfel mitgebracht, und er kam im Rollstuhl zu mir in den Käfig. Es war früh am Morgen, noch waren kaum Besucher im Park. Steve sagte etwas zu Cliff und wies auf seinen spitzen Stock; er sollte ihn ablegen, soviel verstand ich. Dann gab mir Steve ein Zeichen. »Komm, Ballerina, heb mich hoch!« sagte er. Ich begriff gleich und kniete nieder. Meinen Rüssel legte ich quer unter den Sitz des Rollstuhls, so daß Steve mit der rechten Hand das Rüsselende fassen und sich mit der anderen Hand gegen meinen Kopf stützen konnte, damit er das Gleichgewicht behielt. Um den Stuhl nicht fallen zu lassen, blieb ich auf den -11-
Knien und stand nicht auf, aber ich hob ihn ein ganzes Stück vom Boden hoch. Steve lachte, und ich setzte den Stuhl behutsam nieder. Das ist nun schon Jahre her, Steves Besuch. Es war nicht der letzte, er kam noch zwei- oder dreimal in seinem Rollstuhl, aber nie an den beiden Wochentagen mit dem stärksten Publikumsandrang. Jetzt habe ich Steve seit ungefähr drei Jahren nicht gesehen. Ob er tot ist? Es macht mich traurig, wenn ich daran denke. Aber ebenso traurig ist es, auf ihn zu warten, zu hoffen, daß er an einem der stillen Tage wiederkommt, wenn nur wenige Besucher im Park sind, und dann zu sehen, daß er nicht dabei ist. Manchmal hebe ich den Rüssel und schreie meinen Kummer und Schmerz hinaus, weil Steve nicht mehr kommt. Mein Schreien scheint den Leuten Spaß zu machen – es klingt wie damals der Schrei meiner Mutter, als sie am Dock stand und mich nicht erreichen konnte. Cliff kümmert sich gar nicht darum, er legt höchstens die Hände über die Ohren, wenn er gerade in der Nähe ist. Das bringt mich wieder in die Gegenwart. Gestern war Sonntag mit der üblichen Menschenmenge, es waren sogar mehr als sonst. Ein Mann im roten Mantel und mit langem weißem Bart ging herum, er hielt eine Glocke in der Hand und klingelte und unterhielt sich mit allen Leuten, besonders mit den Kindern. Der Mann kommt immer wieder von Zeit zu Zeit. Die Leute hatten Erdnüsse und Popcorn, das sie mir durch die Gitterstäbe reichten. Ich hielt wie immer den Rüssel durch die Stäbe, auch mein Maul war offen, falls jemand mit einer Erdnuß richtig zielte. Einer warf mir einen runden Gegenstand ins Maul, den ich für einen Apfel hielt, bis ich ihn zerbissen hatte und er mir das ganze Maul zerstach. Ich nahm sofort Wasser mit dem Rüssel auf und spülte es ins Maul und spuckte es aus. Ich hatte von dem Ding nichts verschluckt, aber das Maul war mir innen wie verbrannt. Ich nahm noch mehr Wasser, es nützte nicht viel. -12-
Vor Schmerz trat ich von einem Fuß auf den andern und ging schließlich immer im Kreis herum in meinem Käfig. Die Leute lachten und zeigten mit dem Finger auf mich. Ich wurde ärgerlich, und dann packte mich die Wut; ich nahm mit dem Rüssel so viel Wasser auf, wie ich konnte, ging nach vorn und stellte mich ein Stück hinter die Gitterstäbe, damit ich sie alle zusammen traf, und dann ließ ich den starken Wasserstrahl mit aller Kraft auf die ganze Menschenmenge los. Keiner fiel um, aber mehr als zwanzig taumelten und stießen gegeneinander, sie keuchten und konnten sekundenlang nichts sehen. Ich ging an meinen Wassertrog und holte noch mehr Wasser – keinen Augenblick zu früh, denn die Zuschauer hatten sich jetzt ebenfalls bewaffnet. Steine und Stöcke kamen geflogen, leere Schachteln und alles, was zur Hand war. Ich nahm mir den größten Mann vor, warf ihn mit dem Wasserstrahl um und schoß den Rest des Wassers noch mal auf alle andern. Eine Frau schrie um Hilfe. Andere wichen zurück. Ein Mann zog die Pistole, schoß auf mich und traf nicht; ein anderer fiel ihm sofort in den Arm, aber ein dritter riß ebenfalls eine Waffe heraus. Eine Kugel traf mich an der Schulter, sie drang aber nicht ein, sondern streifte nur die Haut; die nächste schoß die Spitze meines rechten Stoßzahns ab. Ich holte mir den Rest Wasser aus dem Trog und zielte damit mitten auf die Brust des einen Mannes, der geschossen hatte. Es war genug, um ihm alle Knochen im Leibe zu brechen; jedenfalls fiel er rückwärts und riß im Fallen eine Frau mit sich. Diese Runde ging an mich, trotz des Brennens im Maul; ich zog mich jetzt lieber auf meine Schlafstelle (auch aus Zement) zurück, wo mich die Kugeln nicht treffen konnten. Drei weitere Schüsse knallten, das Echo klang hohl zurück. Ich weiß nicht, wo sie einschlugen, bei mir jedenfalls nicht. Ich roch Blut an meiner Schulter. Die Wut in mir war noch so stark, daß ich immer noch schnaubte anstatt zu atmen; und bevor ich recht wußte, was ich tat, machte ich mich jetzt daran, den -13-
Eingang zu meinem Schlafplatz mit den Heuballen zu verbarrikadieren, die an den Wänden aufgehäuft waren. Ich zog die Ballen von den Stapeln herunter, schob sie mit den Füßen weiter und setzte einen mit dem Rüssel oben auf den hohen Packen aus acht oder neun Ballen, so daß der Eingang jetzt versperrt und nur ganz oben noch offen war. Das war nun jedenfalls kugelsicher. Aber es kamen auch keine Schüsse mehr. Ich hörte draußen Cliff, der den Besuchern etwas zurief. »Nun mal ganz ruhig, Ballerina«, sagte er dann. Den Satz kannte ich; aber die Furcht in seiner Stimme, fast ein Beben, das war mir neu. Natürlich beobachteten ihn die Leute; er mußte zeigen, daß er Herr der Lage war, daß er mich beherrschte. Dieser Gedanke feuerte mich von neuem an, und hinzu kam mein Groll auf Cliff. Ich stieß mit der Stirn gegen die Barrikade aus Heu, die ich gemacht hatte. Cliff hatte an dem obersten Ballen gezogen, und jetzt fiel der ganze Stapel auf ihn herunter. Aus der Menge kam ein Schrei des Schreckens. Ich sah Cliffs Beine und seine Füße in den schwarzen Stiefeln, die wild unter den Heuballen zappelten. Wieder fiel ein Schuß, und diesmal traf er mich in die linke Seite. Cliff hatte eine Waffe in der Hand, aber daraus war der Schuß nicht gekommen. Cliff bewegte sich gar nicht, und ich auch nicht. Ich erwartete einen weiteren Schuß aus der Menschenmenge, von irgendeinem der Männer da draußen. Die Leute starrten zu mir herüber, und ich starrte sie an. Mein Maul stand leicht offen, innen brannte es immer noch. Durch die seitliche Käfigtür traten jetzt zwei uniformierte Wärter; beide trugen lange Pistolen in den Händen. Ich blieb still stehen und tat gar nichts, ich sah sie kaum an. Sie waren so nervös und aufgeregt, daß sie mich womöglich aus reiner Angst erschossen hätten, wenn ich eine Spur von Unruhe gezeigt hätte. Aber meine Sicherheit kehrte allmählich zurück; außerdem dachte ich, Cliff sei vielleicht tot, und der Gedanke gefiel mir. -14-
Aber er war nicht tot. Der eine Mann beugte sich über ihn und zog einen Heuballen weg, und ich sah, wie sich der Rotkopf bewegte. Der andere Mann stieß mich grob mit der Pistole in Richtung auf meinen Schlafplatz und schrie mir dabei etwas zu. Ich drehte mich um und schlenderte ohne Eile in meine Zementhöhle, wo jetzt überall Ballen und loses Heu herumlagen. Mir war plötzlich ungut zumute, und das Maul brannte immer noch. In der Türöffnung stand ein Mann und hielt die Pistole auf mich gerichtet. Ich betrachtete ihn ruhig. Jetzt stand Cliff langsam auf. Der andere Mann sprach mit ihm in ärgerlichem Ton. Cliff sagte auch etwas und bewegte die Hände, aber er sah gar nicht aus wie er selber. Er schien unsicher auf den Beinen zu sein, und immer wieder befühlte er seinen Kopf. Dann erschien ein Mann mit etwas grauem Haar, aber nicht so grau wie Steve, am Eingang; er hatte einen zweiten Mann neben sich, der einen Sack trug. Beide wurden in den Käfig eingelassen, sie traten nahe an mich heran und betrachteten mich. Aus meiner linken Seite tropfte immer noch Blut auf den Steinboden. Der grauhaarige Mann war böse mit Cliff, er redete laut, und Cliff unterbrach ihn – beide sprachen immer weiter. Der Grauhaarige wies auf die Käfigtür, das bedeutete, daß Cliff hinausgehen sollte. Die nächsten Minuten sind bei mir etwas verschwommen, weil der Mann mit dem Sack mir ein Tuch über das Rüsselende legte und es festband, und dann stach er mich auch noch mit einer Nadel. Ich hatte mich, während sie so laut redeten, einfach hingelegt. Das Tuch war kühl, aber es roch scheußlich. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte von vielen Tieren, von Riesenkatzen, die um mich herumsprangen und mich angriffen, meine Mutter und die andern Verwandten anfielen. Ich sah wieder lauter grüne Bäume und hohes Gras, aber ich wußte, jetzt kam der Tod. Als ich erwachte, war es dunkel, und im Maul hatte ich etwas, das sich wie Salbe anfühlte. Es brannte nicht mehr, und der Schmerz an der Seite hatte auch nachgelassen. War das der Tod? -15-
Aber ich roch das Heu um mich herum. Ich kam auf die Beine, mir war übel, und ich mußte erbrechen, aber nicht viel. Dann hörte ich, wie jemand die Seitentür zumachte, und ich erkannte Cliffs Stiefel, obgleich er leise auftrat. Im ersten Augenblick wollte ich herauskommen aus dem kleinen Schlafraum, er war wie eine Falle, weil er nur die eine Tür hatte, aber ich war zu müde. Unsicher sah ich Cliff, er hielt einen Sack wie der andere Mann und kniete sich auf den Boden, und dann roch ich wieder den dünnen süßlichen Geruch wie vorhin, als mir der Mann das Tuch über den Rüssel legte. Auch Cliff schnaubte jetzt und wandte den Kopf ab, dann kam er schnell auf mich zu, warf mir das Tuch über und band es sofort mit einem Strick fest. Ich stieß mit dem Rüssel und traf Cliff in die Hüfte, dann schlug ich mit dem Rüssel auf ihn ein, als er am Boden lag – mehr um mich von dem Tuch zu befreien als um ihn zu verletzen. Er stöhnte und wand sich, dann hatte ich das Seil losgerissen und warf das Tuch ab. Es fiel Cliff auf Brust und Beine – übelriechend und bedrohlich. Ich ging nach draußen in den Käfig, wo die Luft frischer war. Keuchend kam Cliff auf die Füße. Er kam ebenfalls nach draußen, dann lief er zurück, murmelte irgendwas, packte das Tuch und ging wieder auf mich los. Ich erhob mich etwas auf die Hinterbeine und schwenkte von ihm weg. Er fiel fast um. Ich stieß ihn ganz wenig mit dem Rüssel an, und er verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Steinboden. Jetzt stieg die Wut in mir hoch. Es war ein Kampf zwischen uns beiden, Cliff hielt immer noch das übelriechende Tuch in der Hand, und jetzt kam er auf die Knie. Ich gab ihm einen Tritt, eigentlich war es nur ein Stoß mit dem linken Fuß in die Seite, und ich hörte etwas knacken, es klang wie zerbrechende Zweige. Danach bewegte sich Cliff nicht mehr. Jetzt war der gräßliche Geruch von Blut im Raum, gemischt mit dem süßlich-tödlichen Geruch. Ich ging in die vorderste Käfigecke, so weit wie möglich entfernt von dem -16-
Tuch, und legte mich nieder, um in der frischen Luft ein wenig zu mir zu kommen. Mir war kalt, aber das war unwichtig. Langsam wurde ich ruhiger, ich konnte auch wieder richtig atmen. Ganz kurz hatte ich den Wunsch, hinüberzugehen und einen Fuß auf Cliff zu stellen, aber mir fehlte die Kraft. Ich hatte nur Zorn in mir, und ganz allmählich ließ auch der Zorn nach. Aber schlafen konnte ich nicht, ich war noch zu erregt. Ich wartete in meiner Ecke auf die Morgendämmerung. Hier liege ich auch jetzt noch, in einer Ecke des Stahl- und Steingefängnisses, in dem ich so viele Jahre verbracht habe. Langsam wird es hell. Zuerst erscheint die vertraute Gestalt des alten Mannes, der die beiden Moschusochsen füttert. Er schiebt eine Karre vor sich her und macht nun die nächste Käfigtür auf, hinter der noch anderes Hornvieh wohnt. Endlich kommt er an meinem Käfig vorbei, wirft einen Blick herein, tritt näher, blickt noch einmal zu mir herüber und sagt ein paar Worte, in denen ›Ballerina‹ vorkommt. Er ist erstaunt, weil ich hier liege. Dann hat er Cliff entdeckt. »Cliff –? He, Cliff – was ist denn mit dir los?« Offenbar ist die Käfigtür nicht verschlossen, der alte Mann kommt herein, beugt sich über Cliff und sagt etwas, er hält sich die Nase zu und zieht das weiße Tuch aus dem Käfig. Dann läuft er fort und ruft laut. Ich stehe auf. Die Käfigtür ist angelehnt, ich gehe an Cliff vorüber, stoße die Tür weiter auf und bin draußen. Niemand ist im Park. Es tut mir so wohl, wieder auf Sand zu gehen – seit sie vor langer Zeit die Rundgänge an den Wochenenden einstellten, habe ich keinen Sand mehr unter den Füßen gehabt. Der Boden ist trocken und fühlt sich ganz weich an. Ich bleibe stehen, reiße ein paar grüne Blätter von einem Zweig und fresse sie auf. Sie sind zäh und stachlig, aber wenigstens frisch. Jetzt stehe ich an dem runden Brunnen, wo ich niemals anhalten oder trinken durfte, wenn ich damals auf den Runden hier vorbeikam. Jetzt nehme ich einen langen kühlen Zug aus dem Wasser. -17-
Hinter mir höre ich aufgeregte Stimmen. Sicher sind sie bei meinem Käfig, aber ich kümmere mich nicht darum – ich genieße die Freiheit. Über mir ist der weite blaue Himmel, eine ganze Welt der Leere so hoch oben. Ich trete in eine Baumgruppe, die so dicht ist, daß die Zweige meine Seiten kratzen, aber es sind so wenig Bäume, daß ich gleich wieder draußen bin und auf einem Steinweg stehe mit vielen Käfigen voller Affen, die erstaunt schnattern und mich anstarren, ein paar ganz kleine behaarte Äffchen kauern hinten im Käfig. Die großen grauen schreien mir etwas nach, dann wenden sie mir die blauroten Hintern zu und laufen in eine entfernte Käfigecke. Vielleicht hätten einige Lust, auf mir zu reiten? Mir ist, als hätten sie das schon mal getan, vor langer Zeit… Ich reiße ein paar Blumen aus und verzehre sie gleich, nur so aus Spaß. Die schwarzen Affen mit den langen Armen grinsen und lachen, sie halten sich an den Gitterstäben fest und klettern mit viel Geschrei daran hoch und wieder herunter. Ich trete näher heran; sie haben nur wenig Angst, es ist eher Neugierde als Angst, mit der sie mir zusehen, als ich jetzt meinen Rüssel um zwei der Gitterstäbe winde und die Stäbe zu mir heranziehe. Noch eine dritte Stange, und nun haben die schwarzen Affen Platz genug und drängen sich heraus. Schnatternd und schreiend kommen sie angesprungen und stützen sich dabei auf die Hände. Einer zieht mich neckend am Schwanz, zwei andere sitzen selig oben im Baum. Nun aber sind Schritte zu hören, laufende Füße und Rufe. »Da ist sie ja – bei den Affen!« Ich drehe mich um und sehe ihnen entgegen. Einer der Affen klammert sich an meinen Schwanz und springt mir auf den Rücken. Er tapst mich auf die Schulter – er will reiten. So leicht ist er – überhaupt kein Gewicht. Zwei Männer mit langen Pistolen – es sind die von gestern – stürzen auf mich zu, kommen mitten im Lauf zum Stehen und heben die Waffen. Bevor ich den Rüssel heben kann zu einer Geste der -18-
Freundschaft, bevor ich noch Zeit habe niederzuknien, knallen drei Schüsse. »Nicht auf den Affen!« Ach nein, sie schießen auf mich. Bangg! Nun steigt die Sonne auf, und die Baumwipfel sind hellgrün, denn nicht alle Bäume sind kahl. Meine Augen gehen immer höher, während ich langsam umsinke. Ich merke, wie der Affe geschickt von meinem Rücken auf den Boden springt und in großen Sätzen davonläuft; die Schüsse haben ihm Angst gemacht. Mir wird auf einmal so schwer, als fielen mir vor dem Einschlafen die Augen zu. Ich möchte knien und mich hinlegen, aber der Körper schwankt zur Seite, und ich falle auf den Boden. Noch ein Schuß vor die Stirn, diesmal zwischen die Augen, aber meine Augen sind doch noch offen Jetzt springen Männer um mich herum, genau wie die Affen, sie treten nach mir und schreien einander etwas zu. Wieder tanzen die riesigen Katzen im Wald und springen auf mich los. Doch nun sehe ich deutlich, wie durch die nebelhaften Männergestalten Steve auf mich zukommt. Er ist wieder jung, so wie früher, er lächelt und spricht zu mir und hat seine alte Pfeife im Mund. Er bewegt sich graziös und ganz langsam. Nun weiß ich, daß ich sterbe, denn ich weiß ja, daß Steve tot ist. Er ist mir viel näher als all die andern. Er ist mitten im Wald, bei mir. Steve ist mein Freund, wie er es immer war. Nun sind keine Katzen mehr da, nur noch Steve, mein Freund – Steve –
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Djemals Rache
D
jemal und Mahmet, sein Herr, lebten tief in der arabischen Wüste, und dort im Wüstensand schliefen sie auch: es war billiger so. Am Tage trabten sie, Mahmet auf Djemals Rücken, in die nächstgelegene kleine Stadt; da gab es Touristen, die Djemal auf seinem Rücken reiten ließ – quiekende Frauen in hellen Sommerkleidern und nervöse Männer in Shorts. Das waren fast die einzigen Stunden, da Mahmet zu Fuß ging. Djemal hatte längst gemerkt, daß die anderen Araber Mahmet nicht leiden konnten; er hörte schon von weitem das unwillige Seufzen aus der Gruppe der Kameltreiber, wenn er mit Mahmet näherkam. Immer gab es Streit um Geld, um Dinare, zwischen Mahmet und den anderen, sie fielen sofort über ihn her, wild gestikulierend und mit lautem Geschrei. Dabei nahm keiner Geld in die Hand, es wurde nur darüber geredet, bis Mahmet schließlich Djemal zu der Gruppe erwartungsvoller Touristen führte und ihm befahl niederzuknien. Das Fell an Djemals Knien war an allen vier Beinen ganz abgescheuert, die Haut sah dort aus wie altes Leder. Im übrigen war er fahlbraun, mit struppigem Fell, ein paar Haarbüscheln hier und da und mit vielen räudigen Stellen, die fast mottenzerfressen wirkten. Nur die großen braunen Augen blickten klar und offen, und die weichen intelligenten Lippen sahen so freundlich aus, als ob er dauernd lächle, was keineswegs der Fall war. Er war erst siebzehn, also im besten Alter, und dazu ungewöhnlich groß und stark. Er legte gerade sein Winterfell ab, denn jetzt war es Sommer geworden. »Uuuh – nein!« schrie ängstlich eine rundliche Dame, die auf Djemals Rücken thronte und von einer Seite zur anderen schwankte, als er sich zu seiner vollen Höhe aufrichtete. »Das -20-
ist aber hoch hier – uuuh!« »Halt dich fest – fall ja nicht runter! Der Sand ist nicht so weich, wie er aussieht!« rief ein englischer Tourist ihr warnend zu. Mahmet – klein, schmierig und staubbedeckt – riß am Zügel, und sie trabten im Schrittempo los. Djemal schlappte mit den breiten Sohlen durch den Sand und ließ die Augen schweifen – über die weißen Kuppeln der Stadt, die sich klar vom blauen Himmel abhoben, zu einem Auto auf der Fahrstraße, über den Riesenberg gelber Zitronen am Wegrand und über die anderen Kamele, die durch den Sand stelzten oder ihre Menschenfracht auf- und abluden. Die Frau auf seinem Rücken fühlte er kaum; das Gewicht eines Menschen war nichts im Vergleich mit den schweren Säcken voller Zitronen oder Orangen, die er oft zu tragen hatte, mit den Zementladungen oder den Bündeln junger Bäume, die zuweilen weit in die Wüste geschleppt werden mußten. Manchmal gerieten auch die Touristen mit ihren zögernderstaunten Stimmen mit Mahmet in einen Wortwechsel. Es ging um Preise – eigentlich immer nur um Preise. Dinare: das war alles. Dinare in Papier oder in Münzen brachten es fertig, daß Fäuste geschüttelt und einem anderen ins Gesicht geschlagen wurden oder daß sogar ein Dolch aufblitzte. Mahmet in seiner weitschwingenden alten Djellaba, mit dem Turban und den spitzen schnabelartigen Schuhen sah noch arabischer aus als die anderen Araber. Das war Absicht, wegen der Touristen, für die er sich möglichst photogen aufputzte (jede Aufnahme, die sie von ihm machten, mußte bezahlt werden): goldener Ring in einem Ohr, mageres sonnenbraunes Gesicht, von dem nicht viel zu sehen war unter den buschigen Augenbrauen und dem ungepflegten Bart. Der Mund war unter dem Barthaar kaum zu erkennen, die Augen waren klein und schwarz. Die anderen Kameltreiber haßten Mahmet, weil er sich nie an den vereinbarten Preis für einen Kamelritt hielt, den sie -21-
gemeinsam festgesetzt hatten. Er versprach es zwar immer wieder; wenn dann aber ein Tourist bei ihm erschien und in der lächerlichen Art der Fremden zu feilschen versuchte (Mahmet wußte, daß ihnen das angeraten wurde), dann gab er doch etwas nach, um das Geschäft nicht zu verlieren. Der Tourist strahlte dann meistens über seinen Erfolg und gab beim Abschied oft ein Trinkgeld, das viel höher war als die Preisdifferenz. Andererseits, wenn viel zu tun war, erhöhte Mahmet einfach seinen Preis, weil er wußte, das wurde akzeptiert, und das hörten dann die anderen Treiber. Sie waren zwar auch nicht die Ehrlichkeit in Person, aber sie hatten ihre mündlichen Abmachungen, an die sie sich meistens hielten. Djemal hatte wegen Mahmets Unredlichkeit schon manchen Stein in die Rippen bekommen, der eigentlich für seinen Herrn bestimmt war. Hatte Mahmet an einem Tag gut verdient – oft ging es bis zum Dunkelwerden –, dann band er Djemal in der Stadt am Stamm einer Palme fest und suchte eins der kümmerlichen kleinen Lokale auf, die vorn eine Terrasse mit kreischendem Papagei hatten. Dort bestellte er sich eine Portion Kuskus. Oft hatte Djemal noch nicht einmal Wasser bekommen – Mahmet dachte immer zuerst an sich. Djemal nagte inzwischen an den Blättern und Zweigen, die er erreichen konnte. Mahmet hockte allein am Tisch, gemieden von den andern Treibern, die alle zusammensaßen und sich lärmend und fröhlich unterhielten. Ab und zu spielte einer auf der Gitarre, während Mahmet schweigend an dem zähen Fleisch kaute und sich dann die Finger an den Kleidern abwischte. Ein Trinkgeld gab er nicht. War er fertig, so führte er manchmal, nicht immer, den Kamelhengst zum Brunnen. Stets aber saß er auf seinem Rücken, wenn Djemal zurücktrabte in die Wüste bis zu der Baumgruppe, wo Mahmet jede Nacht kampierte. Nicht immer konnte Djemal den Weg erkennen, doch er ließ sich von seiner Nase führen; er kannte den Geruch des Kleiderbündels, des -22-
zusammengerollten Zeltes, der ledernen Wassersäcke und vor allem Mahmets scharfen Schweißgeruch, der alle seine Sachen durchtränkte. Während der heißen Sommermonate wurden in den Morgenstunden gewöhnlich Zitronen transportiert. Allah sei Dank, dachte Mahmet oft, daß die Stunden für die Kamelritte der Touristen jetzt behördlich geregelt waren: morgens von zehn bis zwölf, abends von sechs bis neun Uhr. Auf diese Weise hatten die Treiber einen großen Teil des Tages für sich und konnten andere Aufträge annehmen, und das Touristengeschäft blieb auf feste Stunden beschränkt. Der große rotglühende Sonnenball sank nieder auf den sandigen Horizont, als sich Mahmet und Djemal auf den Weg zum Nachtlager machten. Den Muezzin in Elu-Bana konnten sie hier nicht hören, außerdem hatte Mahmet sein Transistorradio eingeschaltet, ein kleines Instrument von der Größe einer Faust, er konnte es in den Falten der Djellaba auf der Schulter tragen. Ein Mann sang ein endlos plärrendes Lied im Falsett. Mahmet summte mit, als er eine alte Decke auf dem Sandboden ausbreitete und noch ein paar Lumpen obendrauf warf. Das war sein Bett. »Djemal – leg dich!« sagte Mahmet und wies auf die Stelle im Sand, wo Djemal, der viel Wärme ausstrahlte, sich zur Ruhe legen sollte. Dann war sein Herr vor dem Wind geschützt und merkte auch nicht viel von den sandigen Brisen, die der starke Kamelkörper abfing. Djemal war in der Nähe damit beschäftigt, ein paar Zweige des trockenen Buschwerks abzufressen, und ließ sich beim Kauen nicht stören. Mahmet trat zu ihm und zog ihm ein paar Hiebe mit der geflochtenen Lederpeitsche über. Es tat nicht richtig weh; Djemal wußte, das gehörte zum abendlichen Ritual, das er ein paar Minuten lang über sich ergehen ließ, bevor er sich von den dunkelgrünen Büschen losriß. Zum Glück war er heute abend nicht durstig. -23-
»O yah-yah-yah-yaahh…« sang der Mann im Transistor. Djemal ließ sich auf die Knie nieder, nicht ganz in der Richtung, die Mahmet wünschte; auf diese Weise fuhr ihm der leichte Wind fast genau unter den Schwanz. Er mochte es nicht, wenn ihm Sand in die Nase wehte. Der lange Hals war gestreckt, der Kopf lag auf dem Boden; die Augen hielt er geschlossen, die Nüstern nicht ganz fest. Etwas später fühlte er, wie sich Mahmet an seiner linken Seite zum Schlafen zurechtlegte, er zog die rote Decke fester um sich und schob die in alten Sandalen steckenden Füße in den Sand. Er schlief so, wie er meistens ruhte, fast im Sitzen. Manchmal las Mahmet eine Weile im Koran und murmelte dabei vor sich hin. Er konnte kaum richtig lesen, aber er kannte große Teile auswendig, schon seit seiner Kindheit. Die Schule, die er besucht hatte, war damals kaum anders als die heutigen Schulen: die Kinder hockten alle in einem Raum auf dem Boden und wiederholten die Sätze, die ihnen ein hochgewachsener Mann, angetan mit einer Djellaba, vorsagte. Er ging mit langen Schritten durch die Klasse, stieg über die Köpfe der Kinder hinweg und las aus dem Koran vor. Die weisen Worte aus dem heiligen Buch waren für Mahmet nicht mehr als ein hübsches Gedicht: nett, wenn man sie vorgelesen hörte, aber völlig unbrauchbar im täglichen Leben. Heute abend blieb Mahmets Koran – ein abgegriffener kleiner Band mit umgebogenen Ecken und kaum noch lesbarem Druck – neben den klebrigen Datteln und einem alten Brotkanten in seinem gewebten Beutel liegen. Mahmet dachte an das bevorstehende Kamelrennen. Ein Floh saß unter seinem linken Arm, er kratzte sich. Das Rennen begann morgen abend und dauerte eine Woche. Es führte von Elu-Bana nach Khassa – Hafenplatz und wichtige Stadt –, wo es viele Touristen gab. Die Treiber schliefen natürlich nachts draußen und mußten sich selber mit Lebensmitteln und Wasser versorgen. In Souk Mandela wurde Rast gemacht, damit die Kamele trinken -24-
konnten, dann ging es weiter. Mahmet ging in Gedanken seinen Plan durch. Die Ruhepause in Souk Mandela wollte er ausfallen lassen, und das war auch der Grund, warum Djemal heute kein Wasser bekam. Wenn er morgen aufgetankt hatte, abends, bevor das Rennen begann, dann konnte er sicher sieben Tage ohne Wasser durchhalten, und Mahmet hoffte ohnehin, es in sechs Tagen zu schaffen. Das Rennen von Elu-Bana nach Khassa war von jeher ein sehr scharfes Rennen, bei dem die Kamele im Finish die Peitschen zu spüren bekamen. Es ging um dreihundert Dinar, das war ein recht verlockender Preis. Mahmet zog sich die Decke über den Kopf; er fühlte sich sorglos und ganz sicher. Er hatte weder eine Frau noch sonstwie Familie - vielmehr er hatte Familie, irgendwo weit weg, aber sie mochten ihn nicht und er sie auch nicht, er dachte nie an sie. Als Junge hatte er gestohlen, und die Polizei war etwas zu häufig bei ihm zu Hause erschienen, um ihn und auch seine Eltern zu warnen. Als er dreizehn wurde, war er ausgerückt. Von jenem Tage an hatte er ein Nomadenleben geführt, als Schuhputzer in der Hauptstadt, auch mal als Kellner, bis man ihn dabei erwischte, daß er Geld aus der Kasse stahl; dann hatte er sich auf Taschendiebereien in Museen und Moscheen verlegt; etwas später war er schon zweiter Zuhälter für eine Bordellkette in Khassa und dann Helfer eines Hehlers. Aus jener Zeit stammte der Durchschuß in seiner Wade aus der Pistole eines Polizisten, und seit damals hinkte er. Mahmet war jetzt sieben- oder achtunddreißig, vielleicht auch schon vierzig, er wußte es nicht genau. Wenn er das Geld aus dem Kamelrennen gewann, wollte er eine Anzahlung auf ein kleines Haus in Elu-Bana leisten. Er hatte es sich angesehen: ein weißes Haus mit zwei Räumen, mit fließendem kaltem Wasser und einer Feuerstelle. Es war billig zu haben, weil der Besitzer in seinem Bett umgebracht worden war und keiner dort wohnen wollte. Am nächsten Tag wunderte sich Djemal über die -25-
einigermaßen leichten Lasten, die er zu tragen bekam. Er wanderte mit Mahmet an den Zitronenbergen draußen vor EluBana entlang, und die beiden großen Säcke wurden vor Sonnenuntergang nur viermal auf- und abgeladen; das war nicht der Rede wert. Normalerweise war Djemal an ein ganz anderes Tempo gewöhnt. »Hoya-Djemal!« kam ein Ruf. »Mahmet – heh!« Große Aufregung. Djemal hatte keine Ahnung, was da los war. Männer klatschten in die Hände – hieß das Lob oder Tadel? Djemal wußte, daß keiner seinen Herrn mochte, und etwas von diesem Übelwollen und dieser Spannung übertrug sich auch auf ihn: er war ständig auf der Hut vor einem unerwarteten Schlag oder einem Steinwurf, der Mahmet galt. Die mächtigen Lastwagen, vollbeladen mit den Zitronen, die die Kamele herangeschleppt hatten, fuhren jetzt los. Die Treiber machten Rast, lehnten sich gegen die Flanken ihrer Tiere oder hockten auf den Fersen im Sand. Djemal verließ die Truppe, und eins der Kamele streckte ohne jeden Grund den Kopf vor und biß ihn in die Seite. Schnell drehte sich Djemal um; er zog die vorstehende Oberlippe hoch, so daß die starken Vorderzähne sichtbar wurden, und schnappte zurück, aber er hatte Pech, die Nase des anderen Kamels erreichte er nicht. Der Treiber wurde, als das Tier zurückscheute, fast abgeworfen und fluchte kräftig. Mahmet gab es ihm mit gleicher Münze zurück. Obgleich Djemal schon mit Wasser vollgefüllt war, führte ihn Mahmet noch einmal zum Brunnen. Djemal trank ein wenig, er ließ sich Zeit dabei, hob den Kopf und schnüffelte in der Brise, er roch das Parfüm der Touristen in einiger Entfernung. Auch die Musik hörte er; sie war stärker und irgendwie lauter als die Musik, die er den ganzen Tag aus dem Transistor plärren hörte. Er fühlte einen Schlag am linken Hinterbein. Mahmet trat jetzt nach vorn und riß am Zügel. -26-
Fahnen, Touristen, ein Orchester kamen in Sicht, und aus zwei Lautsprechern dröhnte die Musik – alles am Rande der Wüste. Die Kamele wurden aufgestellt, ein Mann fing an zu reden. Die Kamele sahen recht gut aus. Ob das ein Rennen war, was jetzt kommen sollte? Djemal hatte schon einmal an einem Rennen teilgenommen, mit Mahmet auf dem Rücken, und er war schneller gelaufen als die anderen Tiere, das wußte er noch. Das war im vorigen Jahr gewesen, als Mahmet ihn gekauft hatte. Flüchtig entsann sich Djemal auch noch an seinen ersten Herrn, der ihn trainiert hatte, einen hochgewachsenen, freundlichen und schon älteren Mann. Er hatte einen Streit mit Mahmet gehabt, sicher wegen Dinaren, und Mahmet hatte gewonnen. So jedenfalls sah es Djemal. Und dann hatte Mahmet Djemal mit sich genommen. Jetzt stand Djemal in der Reihe der anderen Kamele. Eine Pfeife schrillte, Mahmet schlug auf ihn ein, und Djemal lief los. Er brauchte eine oder zwei Minuten, um richtig in Gang zu kommen, dann galoppierte er direkt in die sinkende Sonne hinein. Er lag an der Spitze, es war ganz leicht. Djemal begann gleichmäßig zu atmen und machte sich bereit, das Tempo lange Zeit zu halten, wenn das verlangt wurde. Was war das Ziel – wohin liefen sie? Er roch weder Buschwerk noch Wasser, und das Gelände hier kannte er nicht. Ka-pa-lapop, ka-pa-la-pop… die Kamelhufe hinter Djemal wurden leiser und waren dann nicht mehr zu hören. Djemal lief jetzt etwas langsamer, und Mahmet schlug ihn nicht. Djemal hörte ihn vor sich hin lachen. Der Mond ging auf, sie machten keine Rast. Djemal ging nun im Paßgang. Er wurde müde. Sie hielten an, Mahmet trank aus seinem Wasserbeutel und aß auch etwas, dann packte er sich wie üblich an Djemals Seite. Bäume gab es hier nicht; diese Nacht verbrachten sie ohne Decken oder sonst was im Freien. Das Land war flach und weit offen. Am nächsten Morgen machten sie sich in der Frühdämmerung auf den Weg, nachdem sich Mahmet einen Becher süßen Kaffee -27-
auf dem Spirituslämpchen gewärmt hatte. Er schaltete den Transistor an und hielt ihn mit dem angewinkelten Bein fest, das über Djemals Schulter lag. Nirgends war hinter ihm ein Kamel zu sehen; trotzdem trieb er Djemal zur Eile an. Nach dem festen Höcker zu urteilen, konnte Djemal sicher noch vier oder fünf Tage ohne Anzeichen von Erschöpfung durchhalten. Immerhin suchte Mahmet links und rechts nach Bäumen oder Büschen oder irgendwelchem Laubwerk, das – wenn auch nur kurz – vor der Sonne schützen konnte. Um Mittag mußten sie Rast machen. Die Hitze hatte Mahmets Turban durchdrungen, der Schweiß rann ihm in die Augenbrauen. Zum erstenmal warf er ein Tuch über Djemals Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen. Sie rasteten bis gegen vier. Mahmet besaß keine Uhr, aber er konnte die Tageszeit von der Sonne ablesen. Der nächste Tag verlief ebenso, doch fanden sie ein paar Bäume, aber kein Wasser. Mahmet hatte eine ungefähre Ahnung von der Gegend; er wußte nicht mehr, war er vor Jahren einmal hier gewesen oder hatte ihm jemand davon erzählt. Wasser gab es nur in Souk Mandela, wo die Teilnehmer Rast machen sollten; das bedeutete aber einen Umweg, und deshalb wollte Mahmet darauf verzichten. Er fand es jedoch ratsam, Djemal zu Mittag länger rasten und dafür abends länger laufen zu lassen, bis in die Nacht hinein. Das geschah. Mahmet fand seinen Weg mit Hilfe der Sterne. Djemal hätte es – bei vernünftigem Schrittempo und geringer Last – fünf Tage lang ohne Wasser aushalten können, aber Mahmet ließ ihn oft Trab laufen. Als sie am sechsten Tage mittags Rast machten, war Djemal sehr müde. Mahmet murmelte die Suren des Korans vor sich hin. Ein leichter Wind wehte, ein paarmal erlosch die kleine Flamme unter dem Kaffeetopf. Djemal ruhte sich aus, der Schwanz war direkt dem Winde zugekehrt und die Nüstern nur so weit geöffnet, daß er atmen konnte… Der Wind war der Ausläufer eines Sandsturms, nicht der -28-
eigentliche Sturm, das erkannte Mahmet. Kurz tätschelte er Djemals Hals. Die anderen Kamele saßen mit ihren Treibern jetzt sicher mitten im Sandsturm, dachte Mahmet; der trübe Glost lag in der Richtung auf Souk Mandela im Norden. Hoffentlich brachte das für alle andern eine beträchtliche Verspätung mit sich. Doch am siebenten Tage mußte Mahmet feststellen, daß er sich geirrt hatte. Heute hätte das Rennen zu Ende gehen sollen. Mahmet erhob sich in der Morgenfrühe; der Sand wirbelte rings umher, und Mahmet machte gar nicht erst Kaffee, er steckte nur ein paar Kaffeebohnen in den Mund und kaute sie. Der Sturm war offenbar nach Süden gezogen, auf den direkten Weg nach Khassa; vielleicht hatten die anderen Teilnehmer gar nicht so schlecht daran getan, in Souk Mandela Rast zu machen, die Tiere zu tränken und dann den geraden Weg nach Khassa einzuschlagen, denn so gerieten sie nur an den Rand und nicht in den Kern des Sturms. Djemal hatte jetzt Mühe, sein Tempo beizubehalten; er mußte wegen des Sandes die Nüstern halb schließen und konnte daher nicht so gut atmen. Mahmet saß auf seinem Rücken; er beugte sich häufig vor und schlug nervös mit der Peitsche zu, um ihn anzutreiben. Djemal merkte deutlich, Mahmet hatte Angst. Wenn selbst Djemal nicht sehen oder riechen konnte, wohin der Weg führte, wie sollte dann Mahmet das wissen… Ob Mahmet kein Wasser mehr hatte? Das war wohl möglich. Djemals rechte wunde Schulter schmerzte und begann unter den Peitschenhieben zu bluten. Diese Stelle war besonders empfindlich, deshalb nahm auch wohl Mahmet immer dieselbe Schulter vor, dachte Djemal; er kannte Mahmet recht gut. Er wußte auch, Mahmet würde sich seine Mühen und Anstrengungen bezahlen lassen – oder vielmehr Djemals Anstrengungen, sonst hätte er diese Strapazen gar nicht auf sich genommen. Djemal hatte eine schwache Ahnung, daß er im Wettstreit mit den anderen Kamelen aus Elu-Bana lag, denn er -29-
war schon früher zu Wettläufen gezwungen worden, bei denen er schneller als die anderen Kamele eine Gruppe Touristen erreichen mußte, die Mahmet aus einer halben Meile Entfernung erspäht hatte. »Hay-yee! Hay-yee!« schrie Mahmet laut. Er schwang sich hoch und ließ die Peitsche sausen. Wenigstens kamen sie jetzt heraus aus dem Sandsturm; man sah ab und zu den blassen Schimmer der Sonne, die noch hoch am Himmel stand. Djemal stolperte und fiel, und Mahmet wurde abgeworfen. Djemal hatte sein Maul voller Sand bekommen, er wäre gern ein paar Minuten liegen geblieben, um sich zu erholen, aber Mahmet griff wieder zur Peitsche und zwang ihn mit lauten Rufen zum Aufstehen. Er hatte seinen Transistor fallen lassen und suchte ihn im Sandstaub. Als er ihn gefunden hatte, versetzte er Djemal ohne Grund einen Tritt in den Leib, und als das Tier sich erschöpft noch einmal niederlegte, trat er es unbarmherzig in den After und fluchte laut. Auch Djemal fluchte: er blies den Atem aus und entblößte die beiden starken Vorderzähne, dann erhob er sich langsam und mit bitterer Würde. Er war benommen von Durst und Hitze und sah Mahmet nur wie durch einen Schleier, aber er war auch so zornig, daß er auf Mahmet losging, was sinnlos war, denn die Müdigkeit machte ihn schwach. Mahmet hieb auf ihn ein und befahl ihm zu knien. Djemal gehorchte, und Mahmet stieg auf. Langsam setzten sie sich in Bewegung. Djemals Füße wurden immer schwerer; mühsam schleiften sie durch den Sand. Doch jetzt roch er Menschen. Wasser. Musik war zu hören – die übliche Heulmusik aus arabischen Radios, nur klang sie lauter, als käme sie aus mehreren Apparaten. Wieder und wieder schlug Mahmets Peitsche zu, immer auf die Schulter, um ihn anzufeuern. Djemal sah nicht ein, warum er sich besonders anstrengen sollte, das Ziel war ja deutlich in Sicht; doch er bemühte sich, schnell zu gehen, und hoffte, daß Mahmet mit den Peitschenhieben aufhören werde. -30-
»Yeeh – yaah!« Lauter ertönten die Rufe. Djemals Maul war offen und ganz trocken. Kurz bevor er die rufenden Menschen erreichte, versagten seine Augen: er sah nichts mehr. Auch die Beine gaben unter ihm nach, Knie und Flanken glitten in den Sand. Der Höcker sackte schlaff ab, leer wie Djemals Maul und auch sein Magen. Mahmet peitschte ihn immer weiter und stieß dabei gellende Rufe aus. Die Menschenmenge stöhnte und schrie, aber Djemal war alles egal, er fühlte sich dem Tode nahe. Warum brachte niemand ihm Wasser? Mahmet machte sich jetzt daran, Streichhölzer unter Djemals Fersen zu entzünden. Djemal zuckte nur schwach. Mit Freuden hätte er Mahmets Hals durchgebissen, aber ihm fehlte die Kraft. Er schwankte und verlor das Bewußtsein. Blaß vor Wut mußte Mahmet zusehen, wie ein Treiber mit seinem Kamel jetzt die Ziellinie überschritt. Ein zweiter folgte. Die Kamele sahen müde aus, aber keins stellte sich so erschöpft wie Djemal. Mahmet kannte kein Mitleid, er wußte nur: Djemal hatte versagt, er hatte ihn im Stich gelassen – Djemal, der so bärenstark aussah. Als einige Treiber sich über Mahmet lustig zu machen begannen und unverblümt darauf hinwiesen, daß er – was nicht zu verbergen war – sein Kamel nicht getränkt hatte, kläffte Mahmet böse zurück. Er ergriff einen Eimer mit Wasser und goß es über Djemals Kopf, so daß das Tier zu sich kam. Zähneknirschend beobachtete Mahmet dann, wie der Gewinner (ein schmieriger Fettwanst, der Mahmet immer von oben herab behandelt hatte) seinen Preis in Gestalt eines Schecks entgegennahm. Barzahlung wäre hier zu riskant gewesen, das Geld hätte in der Menge leicht gestohlen werden können. An diesem Abend bekam Djemal Wasser, und er fand auch etwas Futter. Mahmet gab ihm nichts, aber dort, wo sie zur Nacht rasteten, gab es Buschwerk und Bäume. Das war in den -31-
Außenbezirken von Khassa. Am nächsten Tag wurde Proviant besorgt – Brot, Datteln, Wasser und einige trockene Würstchen für Mahmet –, und sie machten sich auf den Rückweg durch die Wüste. Djemal war immer noch müde, ein Ruhetag hätte ihm gutgetan. Ob Mahmet diesmal an einer Wasserstelle anhalten würde? Djemal hoffte darauf. Zum Glück war das Rennen vorüber. Gegen Mittag machten sie Rast im Schatten, und als Djemal sich auf die Knie niederließ, um Mahmet absteigen zu lassen, knickte das rechte Vorderbein unter ihm ein, und Mahmet fiel in den Sand. Er sprang auf und versetzte Djemal mehrere Hiebe mit dem Peitschenstiel auf den Kopf. »Dummkopf!« schrie er dabei auf Arabisch. Djemal schnappte nach der Peitsche und packte sie. Als Mahmet danach greifen wollte, biß Djemal noch einmal zu, diesmal in Mahmets Handgelenk. Der Araber heulte auf. Das feuerte Djemal zu weiteren Taten an. Er stand auf. Wie er ihn haßte, diesen übelriechenden kleinen Zwerg, der sich als Herr aufspielte! »Los, zurück! Nieder!« schrie Mahmet. Er wich zurück und schwang die Peitsche. Unbeirrt schritt der Kamelhengst mit gefletschten Zähnen auf ihn zu, die großen Augen schimmerten rot vor Wut. Mahmet rannte davon und suchte Zuflucht hinter dem krummen Stamm einer Dattelpalme. Djemal kam um den Baum herum. Deutlich roch er den scharfen Angstschweiß, den Mahmet ausströmte. Mahmet riß sich die alte Djellaba vom Leibe und ebenso den Turban, beides warf er Djemal vor die Füße. Überrascht biß Djemal zu, grub die Zähne in die stinkenden Kleider und schüttelte heftig den Kopf, als habe er Mahmets Hals gefaßt und schüttele ihn zu Tode. Er grunzte und machte sich dann über den Turban her, der zu einem langen schmutzigen Stoffstreifen geworden war. Ein Stück davon fraß er auf, den Rest -32-
zertrampelte er mit den breiten Vorderfüßen. Mahmet kauerte hinter dem Baum und atmete erleichtert auf. Kamele, das wußte er, ließen ihre Wut auf einen verhaßten Menschen zuweilen an seiner Kleidung aus und wurden sie auf diese Weise auch los. Jedenfalls hoffte das Mahmet; er hatte keine Lust, zu Fuß nach Khassa zurückzugehen. Er wollte nach Elu-Bana, das war sein Zuhause. Endlich legte sich Djemal nieder, erschöpft und müde – fast zu müde, um sich richtig in den Schatten der Dattelpalme zu legen. Er schlief bald ein. Behutsam stieß ihn Mahmet in die Seite. Die Sonne war im Untergehen. Djemal schnappte zu, verfehlte ihn aber. Mahmet hielt es für ratsam, das zu ignorieren. »Auf, Djemal – steh auf! Los, wir gehen«, sagte er laut. Djemal stand auf und setzte sich in Bewegung. Mit schweren Füßen schleppte er sich durch den Sand, in die Nacht hinein. Die Spur im Sand war kaum zu sehen, er ging dem Gefühl nach. Die Nacht war kühl und frisch. Am dritten Tag kamen sie nach Souk Mandela, einem kleinen geschäftigen Marktflecken. Mahmet hatte beschlossen, sein Kamel dort zu verkaufen; er ging auf den Marktplatz, wo alles Erdenkliche auf dem Erdboden ausgestellt und feilgeboten wurde: Kohlenpfannen, Decken, Schmuck, Kamelsattel, Kochtöpfe und Tiegel, Haarnadeln und Messer. Auch Kamele konnte man hier kaufen, sie standen an einer Ecke des Marktes. Dorthin führte er Djemal; er ging zu Fuß und achtete darauf, ein paar Schritt voranzugehen und ab und zu über die Schulter zu blicken, damit ihn Djemal nicht unversehens beißen konnte. »Billig!« sagte er zu einem der Händler. »Sechshundert Dinar. Prima Tier, das sieht man. Hat gerade das Rennen von Elu-Bana nach Khassa gewonnen.« »Tatsächlich? Das haben wir aber anders gehört«, meinte einer der Treiber, und die anderen lachten. »Uns hat man -33-
erzählt, er wäre umgefallen!« »Ja, weil du ihn nicht hast trinken lassen, du krummer Hund!« fügte ein anderer hinzu. »Trotzdem –« begann Mahmet und wich zurück, denn Djemal war neben ihm und schnappte nach ihm. »Ha-ha – den kann nicht mal ein Kamel leiden!« sagte ein alter Treiber spöttisch. »Dreihundert Dinar. Mit Sattel!« schrie Mahmet. Einer der Männer zeigte auf Djemals wunde Schulter, die immer noch blutig war und auf der sich viele Fliegen niedergelassen hatten. Er tat, als handele es sich bei der Wunde um einen schweren und dauernden Leibesfehler, und bot zweihundertfünfzig Dinar. Mahmet nahm an. Barzahlung – der Mann mußte das Geld von zu Hause holen. Mißmutig wartete Mahmet im Schatten und sah zu, wie der Händler und ein anderer Mann Djemal an den Marktbrunnen führten. Nun ja – er hatte ein gutes Kamel aufgegeben und noch Geld dazu verloren, was weit mehr schmerzte, aber er war doch verdammt froh, daß er Djemal los war. Sein Leben war ihm mehr wert. Am Nachmittag stieg Mahmet in einen wackligen Autobus nach Elu-Bana. Seine Habseligkeiten – die leeren Wasserbeutel, Spirituskocher, Topf und Schlafdecke – trug er bei sich. Abends ging er in das Lokal, wo er oft Kuskus aß, und suchte sich in der Gasse dahinter einen Platz zum Übernachten; dort schlief er wie ein Toter. Noch zornig im Gedanken an das Pech, das ihn verfolgte, und im schwelenden Ärger über den viel zu niedrigen Preis, den man ihm für eins der besten Kamele des Landes bezahlt hatte, stahl er am nächsten Morgen aus einem der Touristenautos alles, was er darin fand: ein wollenes Plaid und darunter, hochwillkommen, eine Kamera, ferner ein silbernes Flakon aus dem Handschuhfach und ein in braunes Papier eingewickeltes Paket mit einem kleinen Teppich, der offenbar soeben auf dem Markt erstanden worden war. Der ganze -34-
Raubzug nahm nur eine Minute in Anspruch, denn der Wagen war unverschlossen. Er stand vor einer schäbigen kleinen Bar; an einem Tisch, der davor im Sand aufgestellt war, saßen ein paar Halbwüchsige mit bloßen Füßen, die nur lachten, als sie Mahmet bei seinem Treiben zusahen. Die Kamera war ein gutes deutsches Fabrikat; noch vor Mittag erzielte Mahmet siebzig Dinar für seine Beute, und danach fühlte er sich etwas besser. Zusammen mit dem Notgroschen, den er in seine Decke eingenäht hatte und stets bei sich trug, besaß er jetzt fast fünfhundert Dinar; dafür konnte er ein neues Kamel kaufen, wenn auch nicht ein so gutes wie Djemal, für den er damals vierhundert bezahlt hatte. Außerdem konnte er nun eine Anzahlung auf das Haus leisten, an dem ihm viel lag. Man war jetzt mitten in der Touristensaison; ein Kamel brauchte er wieder, um Geld zu verdienen, denn außer Kameltreiben hatte er nichts gelernt. Djemal hatte inzwischen einen guten Herrn gefunden: ein Mann namens Chak, arm, aber anständig, hatte ihn gekauft. Chak besaß noch drei andere Tiere, mit denen er Zitronen und Orangen und anderes transportierte, und in der Saison stellte er sie auch den Touristen zum Reiten zur Verfügung. Er war froh über die Neuerwerbung: Djemal war ein graziöses und williges Reittier und dazu so hochgewachsen, daß ihn viele Fremde den anderen Tieren vorzogen wegen ›der schönen Aussicht so hoch oben‹. Die Wunde auf Djemals Schulter war nun geheilt; er wurde gut ernährt und mit Arbeit niemals überlastet; er war sehr zufrieden mit dem Leben und mit seinem neuen Herrn. Die Erinnerung an Mahmet verblaßte allmählich; sie trafen sich auch gar nicht mehr, denn Elu-Bana hatte viele Straßen, die in die Wüste führten. Djemal arbeitete oft weit entfernt von der Stadt, und Chaks Heim lag ein paar Meilen außerhalb. Dort wohnte er mit seiner Familie, und die Kamele waren in der Nähe des Hauses untergebracht. -35-
Der Herbst kam, es wurde etwas kühler, die meisten Touristen hatten das Land verlassen, da geriet Djemal eines Tages in EluBana der Geruch von Mahmet in die Nase. Der Kamelhengst kam gerade mit einer schweren Ladung Grapefruits auf dem großen Obstmarkt an. Starke Lastwagen wurden mit Kisten voller Datteln und Ananas beladen, es war eine Szene voller Lärm und Geschrei und Transistormusik verschiedener Programme, die überall dazwischenjaulten. Djemal hatte Mahmet noch nicht gesehen, doch das Haar an seinem Hals begann sich zu sträuben, er machte sich auf einen blinden Schlag gefaßt, der von irgendwoher kommen konnte. Auf Chaks Befehl kniete er nieder und ließ seine Last vom Rücken herabgleiten. Da stand Mahmet, eine Kamellänge von ihm entfernt. Djemal erhob sich langsam. Mahmet hatte ihn jetzt auch erblickt, er zögerte noch zwei Sekunden, um sich zu vergewissern, dann sprang er zurück und schob dabei eilig ein paar Dinarnoten in die Djellaba. »Ach – das ist ja dein Alter, was?« fragte einer der Treiber und reckte den Daumen in Richtung auf Djemal. »Hast du immer noch Angst vor ihm?« »Ich habe nie Angst vor ihm gehabt!« behauptete Mahmet. »Ha-ha!« Gelächter. Andere Treiber kamen hinzu. Djemal sah, wie Mahmet sich zurückschob, die Achseln zuckte und dabei nicht aufhörte zu reden. Der Geruch wurde immer stärker, und der Haß in Djemal erwachte von neuem. Er stelzte auf den Araber zu. »He – paß bloß auf, Mahmet!« Der kleine Treiber mit dem Turban hatte etwas viel Wein getrunken. Mahmet wich weiter zurück. Djemal folgte im Schrittempo, immer weiter, auch als er hörte, wie Chak ihn rief. Mahmet verschwand hinter einem Lastwagen, und Djemal kanterte im Galopp hinter ihm her und hatte den Wagen erreicht, als -36-
Mahmet auf ein kleines Haus zustürzte, eine Art Schuppen für die Markthändler. Zu seinem Entsetzen war jedoch die Tür verschlossen. Er rannte um den Schuppen herum. Jetzt war Djemal über ihm und packte Mahmets Djellaba und ein Stück seiner Wirbelsäule mit den Zähnen. Mahmet fiel zu Boden, und Djemal hob den breiten Fuß und stampfte ihm, einmal und dann noch einmal, auf den Kopf. Geschrei erhob sich. »Sie kämpfen! Er bringt ihn um!« »Das hat er verdient, das Schwein«, rief einer laut. Zehn, zwanzig Männer standen ringsum und schauten lachend zu. Zuerst drängten sie einander, dem Manne zu helfen, ein Ende zu machen, aber keiner trat vor. Im Gegenteil: einer brachte einen Krug Wein und reichte ihn herum. Mahmet schrie. Djemal hob den Fuß und stieß ihn krachend auf den Rücken seines Feindes nieder. Das war das Ende – Mahmet bewegte sich nicht mehr. Djemal holte noch einmal tief Luft und biß Mahmets bloße linke Wade durch. Die Menge heulte auf. Sie waren in Sicherheit – der Kamelhengst bedrohte sie nicht, und jeder von ihnen verabscheute Mahmet, der nicht nur geizig, sondern ein übler Gauner war, selbst im Verkehr mit Leuten, die er angeblich zu seinen Freunden zählte. »Was für ein Kerl! Wie heißt er eigentlich?« »Djemal. Ha-ha-ha!« »Hat früher mal Mahmet gehört«, wiederholte einer, als wüßten sie das nicht längst. Endlich gelang es auch Chak, sich durchzudrängen. »Djemal! Ho, Djemal – aufhören!« »Laß ihn – er will sich rächen!« schrie einer. »Aber das ist doch furchtbar!« rief Chak. Zehn Männer umringten ihn, beteuerten, es sei nicht furchtbar, und sie würden die Leiche schon fortschaffen, -37-
irgendwohin. Nein, nein, nein – die Polizei brauchte man nicht, Unsinn! Hier – hier ist Wein, Chak! Jetzt traten auch einige der Lastwagenfahrer näher, mit schmalem Lächeln, amüsiert über das Geschehen. Djemal, der mit hocherhobenem Kopf danebenstand, beruhigte sich langsam. Er roch Blut, und dazu immer noch den Gestank seines alten Feindes. Vorsichtig stieg er über sein Opfer hinweg, hob jeden Fuß behutsam hoch und stellte sich neben seinen Herrn. Chak war immer noch nervös. »Nein, nein«, wehrte er ab, als die Männer, die inzwischen alle leicht angetrunken waren, ihm siebenhundert Dinar und mehr für Djemal boten. Er war verstört von dem Vorfall, aber gleichzeitig auch unbändig stolz auf Djemal. In diesem Augenblick hätte er sich nicht für tausend Dinar von ihm getrennt. Djemal lächelte. Er hob den Kopf und blickte gelassen aus den klaren Augen mit den langen Wimpern über den Horizont. Die Männer tätschelten ihn, gaben ihm einen freundschaftlichen Klaps auf Flanken und Schultern. Mahmet war nun tot, und der Zorn auf ihn war wie ein Gift aus Djemals Blut entwichen. Ohne Zügel folgte er seinem Herrn, als Chak jetzt aufbrach, sich umwandte und ihn zu sich rief.
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Da saß ich nun mit Bobby
J
a, da saß er nun mit Bobby: aufgeschmissen, ihm ausgeliefert, und das war ein Geschick, wie es kein Lebender verdient. Er war jetzt sechzehn, der Baron – oder schon siebzehn? –, jedenfalls in vorgerücktem Alter, und nun sah er sich dazu verurteilt, den Rest seines Lebens mit diesem gräßlichen Dickwanst zu verbringen, den er immer verabscheut hatte, schon als er vor zehn Jahren zuerst aufgetaucht war. Lebenslänglich verdammt, wenn nicht etwas dazwischenkam. Aber was konnte dazwischenkommen, und vor allem: wie konnte der Baron dafür sorgen, daß etwas dazwischenkam? Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Als er noch ein junges Hündchen war, hatten die Leute behauptet, er sei außergewöhnlich intelligent; das half ihm ein wenig. Es ging ja letzten Endes darum, Marions Position zu stärken: gewiß nicht einfach für einen Hund, denn er konnte ja nicht sprechen, auch wenn Eddie, sein Herr, immer wieder behauptet hatte, doch, der Baron könne sprechen. Aber das lag daran, daß Eddie jedes Knurren und Bellen und jeden Blick des Barons verstanden hatte. Der Baron lag in seinem Korb auf einem gepunkteten Kissen mit Fransen. Der Korb hatte einen bogenförmigen Griff, der ebenfalls mit Pünktchenstoff gefüttert war. Aus dem Nebenzimmer hörte man Lachen und ein Durcheinander von Stimmen, ab und zu auch das Klirren von Gläsern und Flaschen und manchmal Bobbys »Ha-ha-harr!«, das dem Baron in den Tagen nach Eddies Tod so unbeschreiblich auf die Nerven gegangen war. Seine Ohren hatten jedesmal gezuckt. Heute reagierte er gar nicht mehr auf Bobbys Albernheiten; im Gegenteil, er gab sich gelangweilt oder gleichgültig, das war besser für die Nerven. Auch jetzt riß er das Maul weit auf und gähnte ausgiebig, wobei die gelben Eckzähne sichtbar wurden; -39-
dann legte er das Kinn auf die Vorderpfoten. Er mußte mal pinkeln. Vor zehn Minuten war er hinübergegangen in das turbulente Wohnzimmer und dann weiter an die Wohnungstür, um Bobby klarzumachen, daß er hinaus mußte. Aber Bobby hatte sich gar nicht stören lassen, obwohl einer der jungen Leute, wie der Baron sicher verstanden zu haben glaubte, sich gleich erboten hatte, mit ihm hinunterzugehen. Der Baron stand schnell auf: er konnte nicht länger warten. Natürlich hätte er einfach auf den Teppich pinkeln und so tun können, als sei ihm das völlig wurscht, aber er wußte immer noch, was sich gehörte. Wieder trabte er hinüber ins Wohnzimmer, wo sich heute mehr Damen als sonst unter den Gästen befanden. Geschrei. »O-o-o-ooh!« »A-aahh, da ist ja der Baron!« »Ach, der Baron«, sagte Bobby. »Er muß ’raus, Bobby, um Himmels willen. Wo ist die Leine?« »Ich war doch grad mit ihm draußen!« schrie Bobby. Gelogen. »Wann denn, sag mal? Heute morgen, was?« Ein junger Mann in dicken wolligen Tweedhosen nahm die Leine und fuhr mit dem Baron im Fahrstuhl nach unten. Der Baron ging am Bordstein auf den nächsten Baum zu und hob leicht das Bein. Der junge Mann unterhielt sich freundlich mit ihm und sagte etwas von Eddie, was den Baron, als er den Namen hörte, einen Augenblick traurig machte, obgleich es natürlich nett war, wenn jemand, noch dazu ein ganz Fremder, sich an den Herrn erinnerte. Ohne Eile spazierten sie um den Häuserblock herum. In der Nähe des Delikatessengeschäfts auf der Lexington Avenue blieb ein Mann stehen und stellte höflich eine Frage, in der ›der Baron‹ vorkam. -40-
»Ja«, erwiderte der junge Mann, der die Leine in der Hand hielt. Der Fremde streichelte den Baron, und jetzt fiel auch der andere Name des verstorbenen Herrn: Brockhurst – Edward Brockhurst. Dann setzten sie ihren Weg fort, zurück zu dem großen Apartmentblock mit der Sonnenmarkise und zu der lärmenden Party oben. Aber jetzt horchte der Baron auf: er kannte den Schritt, und seine Nase erkannte auch den Geruch: Marion. »Oh, hallo! Verzeihung…« Sie war schon näher, als er angenommen hatte – seine Ohren waren nicht mehr so gut wie früher. Auch die Augen übrigens nicht. Marion sagte ein paar Worte zu dem jungen Mann, und alle drei fuhren im Fahrstuhl nach oben. Der Baron hatte Herzklopfen vor Freude. Marion roch so gut. Der ganze Abend war auf einmal verschönt, war geradezu wundervoll, nur weil Marion gekommen war. Sein Herr hatte Marion immer gern gehabt. Und der Baron wußte sehr wohl, daß Marion ihn mitnehmen und ganz bei sich behalten wollte. Die Stimmung änderte sich, als der Baron und der junge Mann mit Marion ins Zimmer traten. Die Unterhaltung verstummte. Bobby kam mit seinem Lieblingsgetränk in der Hand – Sekt – auf sie zu. Der junge Mann löste die Hundeleine. »Guten Abend, Bobby«, sagte Marion höflich. Sie schien etwas zu erklären. Einige der Anwesenden begrüßten Marion, andere nahmen die Unterhaltung in kleinen Gruppen wieder auf. Der Baron ließ kein Auge von Marion. War es möglich, daß sie ihn schon heute abend mitnahm? Sie sprach jetzt von ihm, und Bobby sah verwirrt aus. Er gab Marion einen Wink, ihm in eins der anderen Zimmer zu folgen – sein Schlafzimmer –, und der Baron folgte Marion auf dem Fuße. Bobby hätte ihn ausgesperrt, aber Marion hielt die Tür offen und sagte: -41-
»Komm rein, Baron.« Der Baron mochte den Raum nicht. Das Bett war ganz hoch und wirkte durch die Kissen noch höher, und am Fußende stand der Apparat, den Bobby benutzte, wenn er seine Anfälle von Atemnot und keuchendem Husten bekam – meistens nachts. Zwei verchromte Behälter mit einem Gummischlauch, außerdem noch biegsame Metallröhren; das Ganze stand auf Rädern und konnte bis an Bobbys Kopfkissen herangeschoben werden. »… Bekannte… Ferien…« sagte Marion jetzt. Offensichtlich bat sie Bobby um etwas. Der Baron hörte, wie zwei- oder dreimal sein Name fiel, einmal auch Eddies Name. Bobbys Blick war auf den Baron gerichtet, gereizt und eigensinnig, der Baron kannte den Ausdruck gut, er kannte ihn seit Jahren, schon zu Eddies Lebzeiten hatte er gewußt, was er verhieß. »Nein. Nein…« sagte Bobby. Eine längere Rede folgte. Mutig setzte Marion von neuem an, sie gab sich nicht geschlagen. Bobby hustete, das Gesicht verdunkelte sich. Immer wieder kam sein: »Nein… nein…« Marion ließ sich neben dem Baron auf die Knie nieder, blickte ihm in die Augen und sprach zu ihm. Der Baron wedelte mit dem Stummelschwanz. Er zitterte vor Freude – am liebsten hätte er ihr die Pfoten auf die Schultern gelegt, aber so etwas tat man nicht. Doch die Vorderpfoten wetzten immer wieder hoch. Er fühlte sich um Jahre verjüngt. Jetzt begann Marion von Eddie zu reden, und dabei wurde sie richtig böse. Sie reckte sich in die Höhe, wenn sie von Eddie sprach, als sei er etwas, auf das man stolz sein konnte, und dem Baron war es ganz klar, daß sie fand – vielleicht sprach sie es sogar aus –, Bobby könne ihm nicht das Wasser reichen. Eddie war eine wichtige Persönlichkeit gewesen, das wußte jeder. Fremde, die ab und zu ins Haus kamen, hatten ihn behandelt, als sei er so etwas wie ihr Herr; das war noch in der anderen -42-
Wohnung gewesen, wo Bobby die Drinks serviert und das Essen gekocht hatte, genau wie einer der Diener an Bord der Schiffe, auf denen sie gefahren waren, oder in den Hotels, wo sie gewohnt hatten. Und jetzt auf einmal tat Bobby so, als sei der Hund sein Eigentum. Das war die Situation heute. »Nein. Nein –« sagte Bobby, und wieder: »Nein«, mit immer festerer Stimme. Dann ging er zur Tür. Marion erwiderte etwas, das wie eine leise Drohung klang, und der Baron wünschte sehr, er hätte es verstanden. Er folgte ihr an die Wohnungstür; er war bereit, mit ihr hinauszuschlüpfen, einfach ohne Leine, und dann bei ihr zu bleiben. Marion blieb stehen und sprach ein paar Worte mit dem jungen Mann in der Tweedhose, der nähergetreten war. Bobby unterbrach sie; er fuchtelte mit den Händen und wollte offenbar der Unterhaltung ein Ende machen. Marion sagte: »Also denn – guten Abend… auf Wiedersehen…« Der Baron schob sich mit ihr durch die Tür und sprang im Treppenhaus auf den Fahrstuhl zu. Ein Mann lachte, es war nicht Bobby. »Baron, das geht nicht, mein lieber Guter«, sagte Marion. Jemand packte den Baron am Halsband. Er knurrte, aber er wußte, es hatte keinen Zweck, er würde doch nur einen Klaps einheimsen, wenn er nicht tat, was sie wollten. Hinter sich hörte er das böse Klonk der Fahrstuhltür, die sich hinter Marion geschlossen hatte. Nun war sie fort. Fort. Ein paar Leute seufzten, als der Baron durchs Wohnzimmer kam, andere lachten; dann begann der Lärm von neuem, lauter und lustiger als zuvor. Der Baron lief geradewegs in das Zimmer seines Herrn; es lag gegenüber von Bobbys Zimmer, und die Tür war zu, aber wenn sie nicht verschlossen war, konnte er den Türgriff herunterdrücken und sie aufmachen. Nur mit dem Schlüssel, der unter dem Griff im Schloß steckte, wurde er nicht fertig, er hatte es oft versucht. Jetzt ging die Tür auf; vielleicht hatte Bobby -43-
einigen der Gäste das Zimmer gezeigt, heute abend. Der Baron schlüpfte hinein und atmete mit einem tiefen Zug die Luft ein, die immer noch ein wenig nach des Herrn Pfeifentabak roch. Auf dem großen Schreibtisch stand die Schreibmaschine, sie war jetzt zugedeckt mit einer Haube aus gemustertem Stoff, so ähnlich wie das Futter im Körbchen, drüben im Gastzimmer. Aber der Baron war ebenso glücklich, wenn er hier neben dem Schreibtisch auf dem Teppich schlafen konnte, wie er es oft getan hatte, wenn der Herr arbeitete; nur hielt jetzt der ekelhafte Bobby meistens die Tür verschlossen. Der Baron rollte sich auf dem Teppich zusammen und legte den Kopf auf den Boden, wobei die Nase fast das eine Bein vom Stuhl des Herrn berührte. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihm – die Aufregung der letzten zehn Minuten hatte ihn erschöpft. Er dachte an Marion, an die glücklichen Tage, als Marion oft morgens gekommen war; der Herr und Bobby hatten dann Rühreier mit Speck oder auch Krapfen gemacht, und später waren sie alle in den Central Park gezogen. Da gab es einen Teich, und Marion hatte kleine Stöcke hineingeworfen, die der Baron herausgeholt hatte. Er entsann sich auch an eine besonders schöne Schiffsreise mit seinem Herrn und mit Marion (das war noch in der Vor-Bobby-Ära), alle Passagiere hatten ihn gern gehabt, er war jung und hübsch und springlebendig gewesen, die Stewards hatten ihn verwöhnt und ihm ganze Steaks in die Kabine gebracht… Die Spaziergänge fielen ihm ein, in einer Stadt mit lauter weißen Häusern und weißen Mauern und mit Gerüchen, wie er sie nie zuvor gekannt hatte und auch später nicht mehr erlebte. Und eine Fahrt in einem schwankenden Boot, mit schäumendem Gischt, zu einer Insel, wo die Straßen grobes Kopfsteinpflaster hatten, wo er bald die ganze Insel kannte und überall herumlaufen durfte. Er hörte die Stimme seines Herrn, die ruhig mit ihm sprach, ihn etwas fragte… Er hörte das geisterhafte Klicken der Schreibmaschine… dann war er eingeschlafen. -44-
Bobbys Husten und das mühsam keuchende Atemholen weckten ihn. Im Hause war es still geworden. Nur Bobby ging in seinem Zimmer auf und ab. Der Baron stand auf und schüttelte sich wach; dann verließ er das Zimmer, um nicht für den Rest der Nacht eingeschlossen zu werden, und trat ins Wohnzimmer, aber der schale Zigarettengeruch trieb ihn fort. Er ging in die Küche, trank etwas Wasser aus seinem Napf, beroch unlustig den Rest des Futters aus der Konserve, wandte sich ab und ging ins Gastzimmer hinüber. Er hätte gern etwas Anständiges gefressen – ein Rest Steak oder ein Kotelettknochen, das wäre nicht schlecht jetzt. Bobby aß in der letzten Zeit oft auswärts, da nahm er den Baron nicht mit, dann gab es meist Futter aus der Dose. Niemals hätte sein Herr das zugelassen! Der Baron rollte sich in seinem Korb zusammen. Bobbys Apparat summte. Ab und zu kam ein klickendes Geräusch. Bobby schneuzte sich: ein Zeichen, daß es ihm besser ging. Mit Bobby war das so: er ging nicht fort zur Arbeit, er arbeitete überhaupt nicht so, wie Eddie es getan hatte, mehrere Stunden täglich an der Schreibmaschine, und das zuweilen an jedem Tag in der Woche. Bobby stand irgendwann am Vormittag auf, machte sich Tee und Toast, saß in seinem seidenen Hausmantel herum und las die Zeitung, die morgens gebracht wurde. Es war schon beinahe Mittag, bevor er den Baron nach draußen brachte. Bis dahin hatte er mindestens zwei Telefongespräche geführt, und danach ging er zum Lunch aus und blieb lange fort, jedenfalls kam er selten vor dem Spätnachmittag zurück. Früher hatte er irgend was mit dem Theater zu tun gehabt; was das war, wußte der Baron nicht. Als sein Herr damals Bobby kennenlernte, hatten sie ihn ein paarmal in seiner Garderobe besucht, das war in einem New Yorker Theater. Damals war Bobby viel netter gewesen, daran erinnerte sich der Baron noch recht gut; er hatte ihn oft ausgeführt, hatte ihm die Ohren gebürstet und den kleinen Schopf schwarzer -45-
Stirnlocken, denn damals war Bobby stolz auf ihn gewesen und hatte ihn gern herumgezeigt. Ja – und in seiner Glanzzeit hatte der Baron ja auch Preise gewonnen, bei der Hundeschau im Madison Square Garden, vor vielen Jahren. Selige Zeiten! Die beiden Silberpokale und die Medaillen hatten auf dem Bücherbord im Wohnzimmer einen Ehrenplatz erhalten, aber jetzt waren sie seit Wochen nicht blankpoliert worden. Eddie hatte sie manchmal Gästen gezeigt, die ihn besuchten, und ein paarmal hatte er auch lachend dem Baron sein Morgenfrühstück aus Milch und Zwieback in einem der Pokale serviert. Dabei fiel dem Baron ein, daß sie keinen Zwieback im Hause hatten. Warum nur wollte sich Bobby nicht von ihm trennen, wenn er ihn im Grunde gar nicht mochte? Wahrscheinlich, weil er auf diese Weise die Bindung an seinen Herrn behielt, der ein so viel wichtigerer Mann als Bobby selber gewesen war – wichtig, das hieß in diesem Falle geliebt und geachtet. In den schrecklichen Tagen, als der Herr so krank war, und dann nach seinem Tode, da hatte sich der Baron nicht an Bobby, sondern an Marion geklammert. Der Herr hatte doch sicher gewünscht und vielleicht auch festgelegt, daß nach seinem Tode der Baron bei Marion bleiben sollte. Bobby war immer eifersüchtig gewesen auf den Baron, und der Baron mußte zugeben, daß auch er auf Bobby eifersüchtig gewesen war. Aber jetzt ging der Streit nur darum, ob er bei Bobby oder bei Marion bleiben sollte. Der Baron war nicht dumm. Seit Eddies Tod hatten Marion und Bobby andauernd miteinander gestritten. Unten auf der Straße ratterte ein Auto über ein Schlagloch im Pflaster. Aus Bobbys Zimmer hörte man rasselndes Atmen; der Apparat war nicht eingeschaltet. Der Baron hatte Durst; er wollte aufstehen und Wasser trinken, war aber zu müde und fuhr sich nur mit der Zunge über die Nase, die Augen waren geschlossen. Der eine Zahn schmerzte. Ach, Altwerden war scheußlich. Er hatte zwei Frauen gehabt, das war so lange her, daß er sich kaum noch an sie erinnerte. Kinder hatte er auch -46-
gehabt, eine ganze Menge, vielleicht zwölf, im Wohnzimmer hingen ein paar Fotos, und eins stand auf dem Schreibtisch des Herrn: der Baron mit dreien seiner Sprößlinge. Der Baron fuhr knurrend auf. Er hatte geträumt – ein böser Traum. Verstört blickte er sich im Dunkeln um. Es war geschehen – nein, er hatte geträumt. Aber passiert war es doch, erst vor wenigen Tagen. Er war eingedöst, und Bobby hatte ihn geweckt, die Leine in der Hand, um mit ihm hinunterzugehen, und der Baron – der vielleicht schlecht gelaunt war, weil er aus dem Schlaf gerissen worden war – hatte drohend geknurrt und nicht den Kopf erhoben, und Bobby war langsam zurückgewichen. Etwas später war Bobby noch einmal erschienen, wieder mit der Leine, er hielt jetzt beide Enden in der Hand und peitschte die Leine durch die Luft, aber der Baron hatte nicht gezuckt, er hatte ihn nur kühl und verachtungsvoll beobachtet. So hatten sie einander angestarrt, eine ganze Weile, ohne daß etwas geschah, aber Bobby hatte zuerst aufgegeben. Ob es Zweck hatte, dachte der Baron, wenn er den Kampf aufnahm – offen aufnahm? Die alten Muskeln spannten sich bei dem Gedanken; aber er konnte ihn nicht zu Ende verfolgen, konnte sich nicht vorstellen, wie die Sache ausgehen werde, und bald war er von neuem eingeschlafen. Am Abend staunte der Baron, als er ein köstliches rohes Steak, in freßgerechte Bissen zerschnitten, vorgesetzt bekam; darauf folgte ein Spaziergang, bei dem Bobby mit richtig freundlicher Stimme zu ihm sprach. Sie stiegen in ein Taxi und fuhren eine ganze Weile. Ob sie zu Marions Wohnung fuhren? Der Baron erinnerte sich aus Eddies Lebzeiten, daß die Wohnung ziemlich weit entfernt war. Aber Bobby ging doch da niemals hin… Doch als das Taxi hielt und sie ausstiegen, erkannte der Baron den Schlachterladen, der noch geöffnet war und wo es so gut nach Fleisch und Gewürzen roch. Da war Marions Haus! Selig und aufgeregt wedelte der Stummelschwanz. Der Baron hob den Kopf und führte Bobby -47-
zur richtigen Tür. Bobby drückte auf die Klingel, der Summer ertönte, sie traten ein und stiegen die drei Treppen hoch. Hechelnd vor Freude zog der Baron Bobby nach oben. Marion öffnete die Wohnungstür. Der Baron stand auf den Hinterbeinen, vorsichtig, um ihr Kleid nicht mit den Nägeln zu zerkratzen, und Marion nahm seine Pfoten in die Hand. »Hallo, Baron! Guten Tag, guten Tag – ja, komm doch rein…« Marions Wohnung hatte hohe Zimmerdecken, und es roch nach Farbe und Terpentin; die Sofas und Sessel waren breit und bequem, und der Baron wußte, er durfte sich drauflegen. Es war noch ein fremder Mann im Zimmer; er stand auf, als sie hereinkamen, Marion machte ihn mit Bobby bekannt, sie gaben einander die Hand und sprachen zusammen, während Marion in die Küche ging und für den Baron ein Schüsselchen mit Milch füllte, dann gab sie ihm einen Steakknochen, der sorgfältig eingewickelt im Kühlschrank gelegen hatte. Dazu sagte sie etwas, das zweifellos hieß: »Nun mach es dir bequem. Den Knochen darfst du dir vornehmen, wo du willst.« Der Baron wählte sich einen Platz ihr zu Füßen, nachdem sie sich in einen Sessel gesetzt hatte. Die Unterhaltung wurde lebhafter. Bobby riß irgendwelche Papiere aus der Brieftasche. Er war aufgestanden, das Gesicht war gerötet, die dünnen blonden Locken flogen. »Überhaupt nichts… Nein. Nein.« Nein – das war sein Lieblingswort. »Darauf kommt es gar nicht an!« protestierte Marion. Dann sagte der andere Mann etwas, er sprach viel ruhiger als Marion und Bobby. Der Baron nagte an seinem Knochen, wobei er versuchte, den schmerzenden Zahn möglichst zu schonen. Der fremde Mann sprach eine ganze Weile; ein paarmal unterbrach ihn Bobby, dann schwieg er und hörte zu. Marion -48-
war deutlich nervös. »Jetzt…?« »Jetzt… jetzt…« Das Wort kannte der Baron. Er blickte zu Marion auf, auch ihr Gesicht war leicht gerötet, doch nicht annähernd so wie Bobbys. Nur der andere Mann blieb ganz ruhig. Er hielt ebenfalls Papiere in der Hand. Was würde denn nun geschehen? Jetzt? Das Wort verband der Baron immer mit irgendeinem wichtigen Befehl an sich selber. Bobby spreizte die Hände nach unten und sagte nochmals: »Nein«, und dann folgten viele andere Worte. Wenige Minuten später brachen sie auf; Bobby machte die Leine am Halsband des Barons fest und zog ihn – sanft, aber immerhin zog er ihn – zur Tür. Der Baron stemmte sich mit allen vieren auf den Boden, als er merkte, was los war. Er wollte nicht fort! Er war ja gerade erst hergekommen. Flehentlich blickte er über die Schulter zu Marion hinüber. Der fremde Mann schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. Immer noch sprachen Marion und Bobby miteinander, mit erhobenen Stimmen, und Marion ballte die Fäuste, aber dann öffnete sie eine Hand und streichelte den Baron und sagte ein paar liebevolle Worte zu ihm, bevor er dann draußen stand und die Wohnungstür ins Schloß fiel. Sie gingen über eine breite Straße und traten in eine Bar mit schriller Musik und häßlichen Gerüchen, nur ganz kurz kam einmal ein Duft von frischem Braten. Bobby trank etwas und murmelte zweimal ein paar Worte vor sich hin. Dann riß er den Baron mit sich in ein Taxi – riß an der Leine, weil der Baron nicht so schnell mitkam, er verfehlte den Einstieg und landete ungeschickt auf allen vieren auf dem Wagenboden, wobei er sich heftig den Kiefer stieß. Bobby war in sehr schlechter Laune. Und der Baron merkte, wie sein Hundeherz hart und laut klopfte. Es waren verschiedene Gefühle, die ihn erfüllten: -49-
Empörung, Bedauern über den zu kurzen Besuch bei Marion und Haß auf Bobby. Er warf einen Blick auf die Fenster (die beide fast geschlossen waren) und überlegte, ob er hinausspringen könnte, obwohl Bobby die Leine doppelt um die Hand gewickelt hatte und die Häuser zu beiden Seiten sehr schnell vorüberglitten. Der Wagen hielt, und Bobby ließ die Leine ein wenig lockerer wegen der Pförtner, die den Baron stets mit Namen begrüßten. Bobby atmete schwer, er konnte nur mühsam mit dem Pförtner sprechen. Der Baron wußte, daß er litt, aber er hatte kein Mitleid. In der Wohnung ließ sich Bobby sofort mit offenem Mund in einen Sessel fallen. Der Baron trappelte mißvergnügt den Flur hinunter; an der Tür zum Zimmer seines Herrn blieb er kurz stehen und ging dann hinein. Neben dem Schreibtischstuhl ließ er sich auf den Teppich fallen. Da war er nun wieder – wie kurz war die Freude bei Marion gewesen! Er hörte, wie Bobby mühsam nach Luft rang und sich dann in seinem Zimmer auszog, jedenfalls warf er wohl das Jackett von sich und riß sich die Krawatte ab. Dann hörte man, wie der Apparat eingeschaltet wurde. Er surrte – buzz-buzz – dann klick-klick. Ein Sessel ächzte. Jetzt saß er sicher im Sessel neben seinem Bett und hielt sich die Maske über das Gesicht. Der Baron war durstig geworden; er ging in die Küche, wobei sich die Leine mit der Handschlinge unter der Tür verklemmte und ihn festhielt. Geduldig kam er ins Zimmer zurück, zog die Leine unter der Tür hervor und ging wieder hinaus, diesmal mit der Schulter nahe an der Türangel, damit ihm nicht das gleiche noch einmal passierte. Ein paar häßliche Tricks fielen ihm ein, die Bobby ihm gespielt hatte, als der Baron jünger war. Er selber hatte natürlich auch einige Streiche auf Lager gehabt, zum Beispiel war er Bobby zwischen die Füße gelaufen und hatte ihn zu Fall gebracht, während er so tat, als sei er nur hinter einem Ball her gewesen. Jetzt war er müde, die Hinterbeine schmerzten, und er hinkte etwas, dazu kam der bohrende -50-
Schmerz in mehreren Zähnen, sicher war er beim Abnagen des Knochens nicht vorsichtig gewesen. Er trank den Wassernapf leer – er war nur halb voll, und das Wasser war abgestanden –, und als er die Küche verließ, verfing sich wieder die Leine unter der Küchentür. Gerade kam Bobby aus seinem Zimmer, schwankend und hustend, er wollte ins Bad und trat dem Baron hart auf die Vorderpfote, so daß er vor Schmerz aufjaulte – es hatte sehr weh getan, fast hatte der Mann ihm die Zehen gebrochen! Bobby fluchte und versetzte ihm einen Tritt. Und als sei damit plötzlich eine Feder gelöst worden, sprang der Baron vor und grub die Zähne durch das Hosenbein in Bobbys Unterschenkel. Bobby schrie auf und schlug dem Baron die Faust auf den Kopf, der ließ das Bein los, und Bobby trat noch einmal nach ihm, verfehlte ihn aber. Sein Atem ging schwer und keuchend. Der Baron sah ihn ins Bad gehen und wußte, er holte sich ein nasses Tuch für sein Gesicht. Auf einmal fühlte der Baron, wie neue Tatkraft ihn durchströmte, er wußte selbst nicht woher. Er stand da mit gespreizten Vorderbeinen und gefletschten, immer noch schmerzenden Zähnen; die Leine war festgeklemmt unter der Küchentür. Als Bobby mit dem um die Stirn gewundenen nassen Tuch aus dem Bad kam, ließ der Baron ein tiefes Knurren hören. Bobby torkelte an ihm vorbei in sein Zimmer, man hörte, wie er sich auf sein Bett fallen ließ. Vorsichtig trat der Baron zurück in die Küche, ganz langsam, um die Leine nicht noch weiter einzuklemmen. Sie saß jetzt ganz fest, und wenn er zum Spültisch wollte, hatte er nicht genug Raum, um sie herauszuziehen. Er packte sie mit den Backenzähnen und zog, aber die Leine glitt ihm durch die Zähne. Er versuchte es mit der anderen Kieferseite, nahm alle Kraft zusammen, riß – und die Leine war frei. Nur war das die schlechtere Seite gewesen, und der Zahnschmerz war furchtbar. Der Baron krümmte sich auf dem Fußboden, die Augen einen Augenblick -51-
geschlossen; nie hätte er sich so vor Bobby oder sonst jemandem gehen lassen. Der Schmerz war zum Rasendwerden, in den Ohren brauste es, aber er heulte nicht. Er erinnerte sich an einen ähnlichen Schmerz, den ihm irgendwann Bobby zugefügt hatte. Oder stimmte das gar nicht? Jedenfalls mußte er dabei an Bobby denken. Der Schmerz ließ allmählich nach, der Baron erhob sich langsam. Bobby konnte jeden Augenblick wieder erscheinen, Vorsicht war geboten. Behutsam ging er auf das Wohnzimmer zu, wobei er die Leine hinter sich her zog; dann wandte er sich in der Tür um, so daß er den Flur im Auge behielt. Er legte sich nieder, das Kinn auf den Pfoten, wartete und lauschte mit weit offenen Augen. Bobby hustete. Er hatte die Maske nicht auf, das hörte man, er fühlte sich also wohl besser. Jetzt stand er auf – wahrscheinlich kam er gleich ins Wohnzimmer, um ein Glas Sekt zu trinken. Die Hinterbeine des Barons spannten sich. Er hätte jetzt wohl Platz gemacht und wäre Bobby aus dem Weg gegangen, aber irgendwo ganz hinten saß in seinem Bewußtsein ein Rest von Furcht, daß sich die Leine von neuem verfangen werde. Hustend erschien jetzt Bobby, er hielt sich mit einer Hand an der Wand fest und machte mit der anderen eine drohende Gebärde, die dem Baron befahl, den Weg zu räumen. Der Baron war auf einen Fußtritt an den Kopf gefaßt, und ohne nachzudenken sprang er Bobby an und biß zu. Bobby krachte ihm die Faust auf das Rückgrat. Kämpfend lagen beide auf dem Boden, Bobby schlug um sich und traf meistens daneben, der Baron schnappte blindlings und verfehlte ebenfalls sein Ziel. Aber er war immer noch auf der Wohnzimmerseite, und als Bobby sich jetzt auf sein Zimmer zu bewegte, kam der Baron ihm nach. Bobby ergriff eine Vase und schlug sie dem Baron auf den Kopf, so daß ihm sekundenlang silberne Sterne vor den Augen tanzten. Sobald er wieder sehen konnte, sprang er auf Bobby zu, dessen Beine jetzt über den Bettrand hingen. -52-
Der Sprung war etwas zu kurz, er bekam nicht Bobby zu fassen, sondern den Gummischlauch, den er zwischen die Zähne nahm und kräftig schüttelte. Der Schlauch war ein Stück von Bobby – wie Bobbys eigenes Fleisch. Bobby liebte den Schlauch, er brauchte ihn, war ihm ausgeliefert… Und jetzt gab das starke Gummi langsam nach, als sei es Fleisch. Bobby hatte die Maske über dem Gesicht und trat mit dem Fuß nach dem Baron, traf ihn aber nicht. Dann riß der Schlauch entzwei, und der Baron glitt auf den Fußboden. Bobby griff blindlings nach dem anderen Schlauchende und schob es sich in den Mund, aber dieser Teil war durchlöchert und zerbissen; er gab es auf und ließ sich auf das Bett zurückfallen, das keuchende Atmen glich dem Hecheln eines Hundes. Der Baron merkte jetzt, wie ein dünnes Blutgerinnsel ihm durch das Haar über die Stirn rann. Er schleppte sich zur Tür und drehte sich langsam um, mit hängender Zunge und jagenden Pulsschlägen, die den ganzen Körper schüttelten. Er legte sich auf den Boden, die Augen wurden trübe, er konnte kaum noch das Bett und Bobbys herunterhängende Beine erkennen, aber er hielt die Augen offen. Minuten vergingen, er atmete etwas leichter und lauschte, aber er konnte nichts mehr hören. Ob Bobby eingeschlafen war? Der Baron fiel in einen leichten Halbschlummer; instinktiv sparte er jedes bißchen Kraft, das ihm geblieben war. Von Bobby kam kein Laut, und als sich endlich die Nackenhaare des Barons leise zu sträuben begannen, wußte er, daß bei ihm ein Toter im Zimmer lag. Bei Tagesanbruch verließ der Baron das Zimmer und schleppte sich wie ein ganz alter Hund mit hängendem Kopf und unsicheren Beinen ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Seite legte, müder als je zuvor. Das Telefon klingelte. Beim erstenmal hob er ein wenig den Kopf, dann beachtete er es nicht mehr. Das Klingeln hörte auf und fing dann von neuem an. So ging es noch ein paarmal. Der Baron fühlte, wie es in seiner Schädeldecke klopfte. -53-
Am Nachmittag kam die Frau, die zweimal wöchentlich die Wohnung putzte – der Baron erkannte ihren Schritt im Treppenhaus –, und klingelte an der Wohnungstür, obwohl sie, wie er wußte, einen Schlüssel hatte. Gleichzeitig öffnete sich eine Fahrstuhltür, man hörte Schritte und dann Stimmen, die Wohnungstür wurde geöffnet, und die Frau, die so ähnlich wie Lisa hieß, erschien mit zwei Freunden von Bobby. Sie waren alle erstaunt, als der Baron mit der hängenden Leine im Wohnzimmer vor ihnen stand, und sie erschraken, als sie den Blutfleck auf dem Teppich sahen. Die Szene erinnerte den Baron an die Zeit, da er noch ein kleines Hündchen war und sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, das sein Herr einen häuslichen Fehltritt nannte. »Bobby!« »Bobby – wo bist du?« Jetzt hatten sie ihn gefunden. Der eine Mann stürzte zurück ins Wohnzimmer und ergriff den Telefonhörer; es war der junge Mann mit der Tweedhose – der Baron erkannte ihn –, der ihn auf Bobbys letzter Party ausgeführt hatte. Kein Mensch kümmerte sich jetzt um den Baron, aber als er in die Küche kam, sah er, daß Lisa seine Futterschüssel und auch den Wassernapf gefüllt hatte. Er trank etwas. Lisa löste die Leine und sagte ein paar freundliche Worte. Dann kam noch ein Mann, ein Fremder, und ging gleich in Bobbys Schlafzimmer. Er betrachtete den Baron, rührte ihn jedoch nicht an, und besah sich das Blut auf dem Teppich. Bald darauf erschienen zwei Männer in weißen Kitteln, die Bobby abholten; auf einer Bahre trugen sie ihn, eingepackt in eine Decke, nach draußen – genau wie damals der Herr hinausgetragen worden war, aber der hatte noch gelebt. Der Baron fühlte überhaupt nichts, als jetzt Bobby genauso die Wohnung verließ. Der junge Mann führte noch ein Telefongespräch. Der Baron verstand den Namen Marion und spitzte die Ohren. Der junge Mann legte den Hörer auf und lächelte dem Baron -54-
zu. Es war ein komisches Lächeln, nicht richtig glücklich. Woran mochte er denken? Er legte dem Baron die Leine an, sie gingen nach unten und stiegen in ein Taxi. Sie fuhren zu einem Haus, wo ein Tierarzt wohnte, das wußte der Baron sofort. Der Tierarzt stach ihn mit einer Nadel. Als der Baron erwachte, lag er auf der Seite auf einem anderen Tisch; er versuchte aufzustehen und konnte nicht, und dann erbrach er das bißchen Wasser, das er getrunken hatte. Bobbys Freund war immer noch da und trug jetzt den Baron nach draußen, wo sie wieder ein Taxi bestiegen. Die frische Brise, die durch das Wagenfenster kam, belebte den Baron. Er begann sich für die Fahrt zu interessieren; sie war sehr lang. Ob sie wirklich zu Marion fuhren? Tatsächlich, so war es! Der Wagen hielt, da war wieder der Schlachterladen, und da war auch Marion auf dem Gehweg vor ihrer Haustür! Der Baron strampelte auf dem Arm des jungen Mannes und fiel neben dem Taxi auf die Straße. Peinlich, peinlich. Aber er kam wieder auf die wackligen Beine und konnte endlich Marion begrüßen, mit stürmisch wedelndem Schwanz. Auch die Hand leckte er ihr. »Ja, Baron. Ja, ja, mein guter Alter!« sagte sie, und der Baron verstand, sie sagte etwas Beruhigendes wegen der Wunde auf seinem Kopf (die jetzt verbunden war, der Verband ging sogar bis unter sein Kinn). Sie war auch gar nicht schlimm, das wußte er, völlig unwichtig war sie im Vergleich zu der Tatsache, daß er jetzt bei Marion war, daß er bei ihr bleiben würde. Ganz sicher würde er bei ihr bleiben. Marion und der junge Mann unterhielten sich, und jetzt verabschiedete sich der Mann, tatsächlich. Er tätschelte den Baron an der Schulter und sagte: »Bye-bye, Baron«, aber in einem nicht mehr als höflichen Ton. Nun, er war ja auch eher ein Freund von Bobby als vom Baron. Der Baron hob den Kopf, wollte kurz mit der Zunge über die Hand des Mannes fahren und verfehlte sie. Dann ging Marion mit ihm nach unten in den Schlachterladen. Der Schlachter -55-
lächelte, schüttelte dem Baron die Pfote und machte eine Bemerkung über seinen Kopf. Dann schnitt er für Marion ein Steak ab. Wieder stiegen sie nach oben, Marion und der Baron, und um seinetwillen ging Marion ganz langsam. Sie öffnete die Tür zu der Wohnung mit den hohen Decken und dem scharfen Geruch von Terpentin, den der Baron jetzt so liebte. Er fraß ein Stück von dem Steak und legte sich dann zum Schlafen auf eins der großen Sofas. Als er erwachte, blinzelte er. Er hatte geträumt – es war kein guter Traum gewesen, von Bobby und vielen gräßlich lauten Leuten, aber er hatte den Traum schon vergessen. Dies hier war Wirklichkeit: Marion stand an ihrem Arbeitstisch, sie warf ihm einen Blick zu, als er den Kopf hob, aber sie blickte gleich zurück auf ihre Arbeit, denn im Augenblick dachte sie nicht so sehr an ihn wie an ihre Arbeit. Genau wie Eddie. Der Baron legte den Kopf wieder hin und sah Marion zu. Er war alt, das wußte er – sehr, sehr alt. Manchmal staunten die Leute, wenn sie hörten, wie alt er war. Aber eine leise Ahnung sagte ihm, er habe noch ein zweites Leben vor sich, ein Leben mit einer guten Spanne Zeit.
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Mings größte Beute
G
erade hatte Ming es sich in der Kabine seiner Herrin am Fußende des Bettes bequem gemacht, als der Mann ihn am Kragen packte, die Kabinentür öffnete, ihn nach draußen auf Deck setzte und die Tür wieder zumachte. Die blauen Katzenaugen wurden weit vor Schreck und Zorn, mußten sich aber bis auf einen schmalen Schlitz gleich wieder schließen, denn das Sonnenlicht war zu hell. Dies war nicht das erstemal, daß man ihn so rücksichtslos aus der Kabine entfernte; und Ming wußte sehr wohl, daß der Mann das nur tat, wenn Elaine, die Herrin, es nicht merkte. Ein schattiger Platz war jetzt auf dem Segelboot nicht zu finden, doch für Ming war die Hitze noch erträglich. Leichtfüßig sprang er auf das Kabinendach; dort lag hinter dem Mast das zusammengerollte Tau, das er als Ruheplatz schätzte – hier oben konnte man alles gut beobachten, und es ruhte sich auch schön in der Taumulde, sie schützte vor steifen Brisen und milderte, da sie in der Schiffsmitte lag, das plötzliche Schaukeln und Schwanken der ›Weißen Lerche‹. Jetzt waren gerade die Segel gerafft worden, denn Elaine und der Mann hatten soeben ihren Lunch zu sich genommen; darauf folgte meistens eine Ruhestunde, und da wollte der Mann ihn nicht in der Kabine haben, das wußte Ming. Lunch war etwas Gutes; er hatte sich ebenfalls eine Mahlzeit einverleibt, die aus köstlich gegrilltem Fisch und etwas Hummer bestand. Nun lag er bequem zusammengerollt auf dem Tau und öffnete die Schnauze zu einem langen Gähnen; die schrägen Augen waren wegen des Sonnenglastes fast geschlossen, er blinzelte ein wenig und sah in der Ferne die hellbraunen Hügel und die rosa und weißen Häuser und Hotels in der weiten Bucht von Acapulco. Auf der Wasserfläche zwischen dem Boot und dem Strand, wo -57-
Menschen herumplanschten, von denen hier nichts zu hören war, glitzerte die Sonne wie tausend kleine elektrische Lichter, die unaufhörlich aus- und angingen. Ein Mann auf Wasserskiern jagte vorbei und ließ eine weiße Gischtspur hinter sich aufsprühen. So viel Tatendrang, dachte Ming schläfrig. Er fühlte, wie die Sonnenwärme ihm tief ins Fell eindrang. Ming stammte aus New York, und Acapulco war für ihn unvergleichlich viel schöner als das Milieu seiner ersten Wochen. Er erinnerte sich an einen sonnenlosen Kasten, der Boden war strohbedeckt, und mit ihm zusammen saßen noch drei oder vier andere Kätzchen darin. Hinter dem Fenster sah man Riesen vorübergehen; manchmal blieb einer stehen und klopfte an die Scheibe, damit Ming aufblickte, und dann ging er weiter. Von seiner Mutter wußte er gar nichts mehr. Eines Tages erschien eine junge Frau, die angenehm roch; die nahm ihn mit sich, fort von dem scheußlichen Geruch nach Hunden, Medizin und Papageienkot. Sie bestiegen etwas, das, wie er jetzt wußte, ein Flugzeug war. Heute war er längst an Flugzeuge gewöhnt und hatte sie gern. Während des Fluges saß er immer auf Elaines Knien oder schlief in ihrem Schoß, und stets gab es etwas zu essen, wenn er hungrig war. Elaine verbrachte viel Zeit in einem Laden in Acapulco, wo an den Wänden Kleider und Hosen und Badeanzüge hingen. Es roch dort frisch und sauber, in den Vasen und den Blumenkästen vorn an der Straße standen frische Blumen, und der Fußboden war aus kühlen blauweißen Fliesen. Ming durfte überall herumwandern, auch in den Patio hinter dem Laden, oder er konnte in seinem Körbchen schlafen, das in der Ecke stand. Draußen vor dem Laden schien die Sonne, und es war wärmer, aber da trieben sich oft böse Kinder herum, die ihn zu greifen versuchten, wenn er vor der Tür saß. Ruhe hatte er dort fast nie. Am liebsten lag Ming in der Sonne, wenn seine Herrin ebenfalls auf einem der Liegestühle ausgestreckt lag, die zu Hause auf der Terrasse standen. Weniger lieb waren ihm die -58-
Gäste, die sie zuweilen einlud und die dann über Nacht blieben, viele Gäste, die aßen und tranken und bis in die Nacht hinein aufblieben, Klavier oder Schallplatten spielten und die ihn alle von Elaine fernhielten. Sie traten ihm auf die Pfoten, packten ihn manchmal von hinten am Kragen, bevor er entwischen konnte, so daß er sich winden und kämpfen mußte, um freizukommen; sie strichen ihm grob übers Fell oder machten irgendwo eine Tür zu, so daß er nicht hinauskonnte. Menschen! Ming fand sie alle gräßlich. Auf der ganzen Welt mochte er nur Elaine. Sie liebte ihn und verstand ihn auch. Vor allem diesen einen Mann, der Teddie hieß, verabscheute Ming. Teddie war in letzter Zeit andauernd da, und die Art, wie er Ming ansah, wenn Elaine nichts merkte, mochte Ming gar nicht. Manchmal, wenn sie nicht in der Nähe war, murmelte Teddie etwas, das nach Drohung klang; das verstand Ming. Oder er wollte Ming hinausschicken. Ming nahm es alles gelassen und mit ruhiger Würde auf. Elaine war ja doch auf seiner Seite; der Störenfried war der Mann. In ihrer Gegenwart spielte er manchmal Theater und versuchte Ming zu hätscheln, doch Ming ließ sich darauf nicht ein, er drehte sich um und ging mit zierlichen Samtschritten in anderer Richtung fort. Jetzt wurde Mings Schläfchen unterbrochen, die Kabinentür ging auf. Er hörte Elaine und den Mann lachen und reden. Der große feuerrote Sonnenball lag fast am Horizont. »Aber Ming – mein Kleines, Armes!« Elaine trat näher. »Du mußt ja fast gebraten sein bei der Hitze. Ich dachte, du wärst drinnen!« »Ich auch«, sagte Teddie. Ming schnurrte, wie er es immer tat beim Erwachen. Behutsam nahm Elaine ihn auf den Arm und trug ihn nach unten in die Kabine, wo es kühl und schattig war. Dabei sagte sie etwas zu dem Mann, und keineswegs in sanftem Ton. Sie setzte Ming vor seinem Schüsselchen mit Wasser ab, und ihr zuliebe -59-
trank er ein wenig, obgleich er nicht durstig war. Er war tatsächlich etwas benommen von der Hitze und schwankte ein wenig. Elaine nahm ein nasses Tuch und fuhr ihm damit sanft über das Gesicht, die Ohren und die vier Pfoten. Dann legte sie ihn vorsichtig auf das Bett, das nach ihrem Parfüm duftete, aber auch nach dem Mann, den Ming haßte. Jetzt zankten sich die beiden, das hörte Ming an dem Ton der Stimmen. Elaine blieb bei Ming auf dem Bettrand sitzen, und nach einer Weile hörte Ming draußen ein klatschendes Geräusch: Teddie war also ins Wasser gesprungen. Ming hoffte, er werde dort bleiben, vielleicht sogar ertrinken, jedenfalls nie wiederkommen. Elaine trat mit einem Waschlappen an den Aluminiumausguß, ließ Wasser darauf laufen, drückte ihn aus, legte ihn auf das Bett und hob Ming hinauf. Sie brachte Wasser, und nun war Ming durstig und trank. Dann ließ sie ihn schlafen, während sie das Geschirr wegräumte – lauter vertraute Geräusche, die Ming gern hörte. Platsch – platsch – platsch. Ming hörte Teddies nasse Füße oben an Deck und war sofort hellwach. Der Streit fing wieder an. Elaine stieg die Stufen zum Deck hinauf. Ming blieb angespannt liegen, das Kinn noch auf dem feuchten Tuch, den Blick auf die Kabinentür gerichtet. Jetzt hörte er Teddies Schritte näher kommen. Ming hob ein wenig den Kopf; er wußte, hinter ihm gab es keinen Ausgang, er war in der Kabine gefangen. Der Mann blieb mit dem Badetuch in der Hand stehen und starrte Ming an. Ming reckte sich, als wollte er gähnen; die Augen schielten etwas, und die Zunge schob sich ein wenig aus der Schnauze. Der Mann wollte etwas sagen, einen Augenblick sah es so aus, als werde er das zusammengerollte Badetuch Ming an den Kopf werfen, doch er zögerte und verschluckte, was er hatte sagen wollen. Dann schleuderte er das Badetuch in den Ausguß und bückte sich, um das Gesicht zu waschen. Es war nicht das erstemal, daß Ming ihm die Zunge herausgestreckt hatte. Oft -60-
hatten Leute gelacht, bei einer Party zum Beispiel, wenn Ming das tat, und das hatte Ming gefreut. Aber er spürte auch, daß Teddie es für eine feindliche Geste hielt, und deshalb streckte er ihm eigens und mit Bedacht die Zunge heraus, während es ihm bei anderen Leuten oft unabsichtlich passierte. Der Streit ging weiter. Elaine war dabei, Kaffee zu machen. Ming fühlte sich besser und stieg wieder auf Deck; die Sonne war nun untergegangen. Elaine ließ den Motor an, und das Boot glitt langsam auf die Küste zu. Ming hörte schon die Vögel singen; es waren sonderbare Rufe, die wie schrille Sätze klangen und die manche Vögel erst bei Sonnenuntergang hören ließen. Ming freute sich auf die Heimkehr in das Steinhaus oben auf der Klippe, sein und Elaines Heim. Er hatte es zu Hause bequemer als auf dem Boot, aber er kannte den Grund, warum sie ihn nie zu Hause ließ, wenn sie mit dem Boot wegfuhr: sie hatte Angst, jemand könnte ihn wegholen oder sogar umbringen. Das verstand er. Sie hatten schon fast unter ihren Augen versucht, ihn zu greifen. Einmal hatte er unversehens in einem Sack gesteckt, und obgleich er wie ein Wilder kämpfte, hätte es ihm wahrscheinlich alles nichts genützt, wenn nicht Elaine selber den Jungen geohrfeigt und ihm den Sack entrissen hätte. Ming hatte vorgehabt, noch einmal auf das Kabinendach zu springen, doch nach kurzem Blick beschloß er, seine Kräfte zu schonen; er legte sich mit eingezogenen Pfoten auf das noch sonnenwarme abfallende Deck und ließ den Blick über die näherkommende Küste schweifen. Vom Strand herauf kamen Gitarrenklänge. Die Stimmen der Herrin und des Mannes waren jetzt verstummt. Eine Weile übertönte das Chock-chock-chock des Motors die anderen Geräusche; dann hörte Ming, wie bloße Männerfüße die Stufen von der Kabine heraufkamen. Ming wandte nicht den Kopf, nur die Ohren legte er unbewußt ein wenig zurück. Er blickte über das Wasser vor sich und unter sich – es war nur einen Katzensprung entfernt. Sonderbar: von dem Mann hinter ihm kam kein Laut. Die Haare an Mings Hals -61-
sträubten sich ganz leicht. Er warf einen Blick über die rechte Schulter. Im gleichen Augenblick bückte sich der Mann und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Ming war sofort auf den Füßen und sprang auf den Mann zu; da das Deck keine Reling hatte, blieb ihm kein anderer Weg. Der Mann hob den linken Arm und versetzte Ming einen Stoß vor die Brust, der ihn zurückschleuderte. Die kleinen Krallen kratzten über das Holz, doch die Hinterbeine rutschten über den Decksrand. Mit den Vorderfüßen klammerte sich Ming an das glatte Holz, das wenig Halt bot, während die Hinterbeine sich abmühten, einen Vorsprung zu finden und an der Seitenwand des Bootes hochzuklimmen, die sich – ungünstig für Ming – nach außen wölbte. Der Mann trat vor, um mit dem Fuß Mings Pfoten vom Deckrand zu schieben, doch in diesem Moment kam Elaine die Treppe herauf. »Was ist los? Ming!!« Mings kräftigen Hinterbeinen gelang es allmählich, ihn Schritt für Schritt an Deck zu hieven. Der Mann war niedergekniet, als wollte er ihm helfen. Elaine hatte sich ebenfalls auf die Knie niedergelassen und hielt jetzt Ming am Kragen. Ming reckte sich, dann hockte er sich auf den Boden. Sein Schwanz war naß. »Er ist über Bord gefallen«, sagte Teddie. »Er ist immer noch groggy, siehst du. Einfach vornüber gefallen, als das Boot schaukelte.« »Die Sonne ist schuld. Armer Ming!« Elaine hielt ihn fest an sich gedrückt und trug ihn nach unten in die Kabine. »Teddie – kannst du das Steuer übernehmen?« Der Mann kam ebenfalls hinunter in die Kabine, wo Elaine Ming auf ihr Bett gelegt hatte und leise zu ihm sprach. Sein Herz schlug immer noch hart und schnell. Er hatte jetzt Angst -62-
vor dem Mann am Steuer, obgleich Elaine da war. Sie fuhren in die kleine Bucht, wo sie immer anlegten, bevor sie von Bord gingen. Hier hatte Teddie viele Freunde und Kumpane, die Ming alle verabscheute, weil sie zu Teddie gehörten, auch wenn dies hier bloß mexikanische Halbwüchsige waren. Einige Bengels in Shorts schrien auch gleich: »Señor Teddie!«, sie boten Elaine die Hand zum Aussteigen, sie ergriffen das Tau, das vorn am Boot festgemacht war, und erboten sich immer wieder, Ming zu tragen. »Ming – Ming!« Mit einem Sprung setzte Ming an Land und hockte sich nieder, um auf Elaine zu warten und schnell zur Seite zu springen, wenn eine Hand näher kam, um ihn zu packen; und es waren viele braune Hände da, die nach ihm zu greifen versuchten und denen er immer wieder ausweichen mußte. Geschrei, Lachen, Getrampel von nackten Füßen auf Holzbohlen, und dann Elaines beruhigende Stimme, die den Jungens warnende Worte zurief. Ming wußte, sie war noch damit beschäftigt, die Plastiktaschen an Land zu bringen und die Kabinentür abzuschließen. Teddie ließ sich von einem der Jungens dabei helfen, die Leinenplane über das Kabinendach zu ziehen. Und nun waren Elaines sandalenbekleidete Füße neben Ming angekommen, und Ming folgte ihr. Ein Junge nahm ihr die Sachen ab, die sie trug, und sie hob Ming auf den Arm. Sie bestiegen den großen Wagen ohne Dach, der Teddie gehörte, und fuhren die gewundene Straße hinauf zu Elaines und Mings Haus. Einer der Jungens saß am Steuer. Der Ton, in dem Elaine und Teddie miteinander sprachen, war jetzt ruhiger, sanfter. Der Mann lachte. Ming saß angespannt auf Elaines Schoß; er spürte ihre liebevolle Fürsorge an der Art, wie sie ihn streichelte und am Hals kraulte. Der Mann streckte die Hand aus und legte sie Ming auf den Rücken, und Ming ließ ein dunkles Grollen hören, das stieg und absank und tief aus der Kehle kam. »Na, na«, sagte der Mann mit gespielter Heiterkeit und zog die Hand zurück. -63-
Elaine hatte angefangen, etwas zu sagen, und sich dann unterbrochen. Ming war sehr müde, er wollte jetzt nichts als schlafen, schlafen auf dem breiten Bett zu Hause, auf dem eine rot-weiß gestreifte Decke aus dünner Wolle lag. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, da fand er sich auch schon in der kühlen duftenden Umgebung des eigenen Hauses und wurde behutsam auf das Bett mit der weichen wollenen Decke gelegt. Seine Herrin gab ihm einen Kuß und sagte etwas, in dem das Wort »hungrig« vorkam. Ming hatte verstanden: er sollte ihr Bescheid sagen, wenn er hungrig war. Ming döste ein und erwachte erst, als er auf der Terrasse in wenigen Metern Entfernung, hinter der offenen Glastür, Stimmen hörte. Es war jetzt ganz dunkel draußen; Ming konnte das Ende des Tisches sehen und erkannte auch an der Art des Lichtes, daß Kerzen auf dem Tisch brannten. Concha, die Dienerin, die im Hause schlief, räumte gerade den Tisch ab; Ming hörte ihre Stimme und dann auch die Stimmen von Elaine und dem Mann. Er roch den Zigarrenrauch, sprang auf und hockte sich einen Augenblick vor die offene Tür, die auf die Terrasse führte. Er gähnte, machte einen Buckel, reckte sich und lockerte die Muskeln, indem er die Krallen in den dicken Sisalteppich grub. Dann glitt er nach rechts hinaus auf die Terrasse und lief lautlos weiter, die breite Steintreppe hinunter in den Garten. Der Garten war wie ein Urwald, eine Dschungelwildnis mit Avocado- und Mangobäumen, die bis zur Terrasse reichten, an der Mauer kletterte Bougainvillea hoch, Orchideen rankten sich an den Bäumen empor, und Magnolien und Kamelien, die Elaine selbst gepflanzt hatte, wuchsen in üppiger Fülle. Ming hörte auch Vögel in den Nestern zwitschern; er kletterte zuweilen hinauf, um an die Nester zu kommen, doch heute abend hatte er keine Lust, obgleich er nicht sehr müde war. Die Stimmen der Herrin und des Mannes beunruhigten ihn. Die Herrin stand heute abend nicht gut mit dem Mann, das war deutlich zu merken. -64-
Concha war sicher noch in der Küche; Ming beschloß hineinzugehen und sie um etwas zu essen zu bitten. Concha hatte ihn gern. Einmal hatte das Haus eine Dienerin gehabt, die ihn nicht mochte; die war von Elaine entlassen worden. Ming dachte lustvoll an gegrilltes Schweinefleisch, das wäre schön heute abend. Die Herrin und der Mann hatten das zum Abendessen gehabt. Vom Meer her wehte eine kühle Brise und fuhr ihm leicht durchs Fell. Er war nun wieder ganz erholt nach dem gräßlichen Erlebnis vorhin, als er fast ins Wasser gefallen war. Auf der Terrasse war niemand mehr. Ming bog nach links ein, ins Schlafzimmer, und wußte sofort, daß der Mann da war, obgleich kein Licht brannte und er ihn nicht sehen konnte. Der Mann stand am Toilettentisch und war dabei, ein Kästchen zu öffnen. Ohne es zu wissen, ließ Ming noch einmal das tiefe Grollen hören, das aufstieg und wieder absank; er blieb starr so stehen, wie er in dem Augenblick stand, als er den Mann bemerkte: der rechte Vorderfuß war zum nächsten Schritt vorgestreckt und die Ohren zurückgelegt. Er war zum Sprung bereit, irgendwohin, obgleich ihn der Mann noch nicht gesehen hatte. »Sss-sst, verdammt noch mal!« sagte der Mann leise und stampfte leicht mit dem Fuß auf, um Ming zum Rückzug zu bewegen. Ming rührte sich nicht. Er hörte das weiche Scheppern der weißen Halskette, die der Herrin gehörte und die nun in der Tasche des Mannes verschwand. Der Mann ging rechts an Ming vorbei und zur Tür hinaus, die in das große Wohnzimmer führte. Ming hörte das Klirren der Flasche gegen das Glas, das jetzt gefüllt wurde. Ming ging durch dieselbe Tür und wandte sich nach links, der Küche zu. Miau-miau… Elaine und Concha waren in der Küche und begrüßten ihn. Aus Conchas Radioapparat ertönte Musik. »Fisch? – Nein, Braten. Braten mag er gern«, sagte Elaine in dem speziellen Idiom, das Concha leichter verstand. -65-
Ming deutete ohne Mühe an, daß ihm Braten auch lieber sei; er erhielt ihn und fraß mit großem Appetit. Concha rief einmal: »Ahii-iii!«, als die Herrin ihr etwas auseinandersetzte, und sie beugte sich nieder, um Ming zu streicheln. Er duldete es, aber er blickte dabei weiter auf seinen Teller, bis sie aufhörte und er seine Mahlzeit beenden konnte. Elaine ging hinaus. Concha goß ein wenig kondensierte Milch, die Ming sehr liebte, in seine Untertasse, und er leckte sie auf. Zum Dank rieb er schnurrend die Flanke an ihrem nackten Bein und ging dann ebenfalls hinaus. Vorsichtig trat er auf dem Weg ins Schlafzimmer in den Wohnraum, aber die Herrin und der Mann saßen jetzt draußen auf der Terrasse. Ming war gerade im Schlafzimmer angekommen, als er Elaine rufen hörte: »Ming –? Wo bist du?« Ming ging zur Terrassentür und blieb einen Augenblick dort stehen, dann setzte er sich auf die Schwelle. Elaine saß seitwärts am Ende des Tisches. Hell schien das Kerzenlicht auf das lange blonde Haar und die weißen Hosenbeine. Sie klopfte sich auf den Schenkel, und Ming sprang ihr auf den Schoß. Der Mann sagte etwas mit halblauter Stimme, etwas Unfreundliches. Elaine erwiderte im gleichen Ton, aber sie lachte dazu. Das Telefon klingelte. Elaine setzte Ming auf den Boden und ging hinüber ins Wohnzimmer. Der Mann leerte sein Glas, sagte leise etwas zu Ming und stellte das Glas auf den Tisch. Dann stand er auf und versuchte, Ming einzukreisen oder ihn auf den Rand der Terrasse zu treiben, das merkte Ming, und er wußte auch, daß der Mann betrunken war; er bewegte sich langsam und ungeschickt. Rings um die Terrasse lief ein Geländer, das dem Mann etwa bis zur Hüfte reichte; an drei Stellen wurde es von einem Gitterrost durchbrochen, und die Gitterstäbe waren weit genug, daß Ming -66-
hindurchschlüpfen konnte, was er jedoch niemals tat, er warf nur zuweilen einen Blick durch die Stäbe. Es war ihm klar, daß der Mann ihn durch eins der Gitter jagen wollte, oder er wollte ihn packen und über die Brüstung werfen. Es war kinderleicht für Ming, ihm auszuweichen. Jetzt ergriff der Mann einen Stuhl und schwang ihn plötzlich durch die Luft, dabei traf er Ming an der Seite, schnell und heftig, das tat weh. Ming suchte den nächsten Ausweg, das war die Steintreppe, die nach unten in den Garten führte, und lief hinunter. Der Mann kam hinter ihm her. Ohne nachzudenken, schoß Ming die paar Stufen wieder hinauf, die er eben hinuntergelaufen war, wobei er sich dicht an der im Schatten liegenden Mauer hielt. Der Mann hatte ihn nicht gesehen, das wußte er. Er sprang auf das Terrassengeländer, setzte sich und leckte sich einmal die Pfote, nur um sich zu sammeln; sein Herz schlug so hart, als sei er mitten im Kampf. Haß erfüllte ihn, Haß brannte in seinen Augen, als er sich jetzt hinkauerte und horchte, wie der Mann unsicher begann, die Treppe emporzuklimmen. Da – er kam in Sicht. Ming spannte sich zum Sprung und sprang dann, so hart er konnte, mit allen vieren auf den rechten Arm des Mannes nahe der Schulter, wo er sich an der weißen Jacke festkrallte. Sie fielen beide um, und der Mann stöhnte. Ming ließ nicht locker. Zweige knackten, Ming wußte nicht mehr, was oben und unten war. Er sprang ab, erkannte zu spät die Richtung und den Erdboden und landete auf der Seite. Fast gleichzeitig hörte er, wie der Mann dumpf zu Boden schlug und dann etwas weiter rollte. Stille. Mings Atem ging schnell, die kleine Schnauze stand offen, bis der Schmerz in der Brust nachließ. Aus der Richtung des Mannes kam der Dunst von Alkohol und Tabak und der scharfe Geruch der Angst. Aber der Mann rührte sich nicht. Ming konnte jetzt ganz gut sehen; auch schien ein wenig Mondlicht durch den Garten. Er machte sich auf den Weg zur Treppe – ein langer Weg durch Buschwerk über Sand und -67-
Steine, bis er die ersten Stufen fand. Er stieg nach oben und stand wieder auf der Terrasse. Elaine kam gerade durch die Glastür nach draußen. »Teddie?« rief sie und trat zurück ins Schlafzimmer, um eine Lampe anzuschalten. Dann ging sie in die Küche, und Ming folgte ihr. Concha hatte das Licht brennen lassen; sie war jetzt in ihrem eigenen Zimmer, aus dem Radiomusik tönte. Elaine öffnete die Haustür. Der Wagen des Mannes stand noch auf dem Weg, das sah Ming. Seine Hüfte schmerzte ihn jetzt, oder er spürte den Schmerz erst jetzt; er hinkte leicht. Elaine bemerkte es, legte ihm weich die Hand auf den Rücken und fragte, was ihm fehle. Ming schnurrte nur. »Teddie – wo bist du?« rief Elaine noch einmal. Sie nahm eine Taschenlampe und leuchtete hinunter in den Garten, zwischen die starken Stämme der Avocadobäume, die Orchideen und Lavendelblüten und die roten Flammen der Bougainvillea. Ming saß in Sicherheit neben ihr auf der Terrassenbrüstung und folgte dem Strahl der Lampe mit den Augen. Er schnurrte behaglich. Gleich hier unten war der Mann nicht, er war weiter hinten und mehr rechts. Elaine trat an die Terrassentreppe, die kein Geländer, sondern nur breite Stufen hatte, und zielte mit dem Lichtstrahl nach unten. Ming blickte nicht hin. Er saß jetzt oben auf der Terrasse, wo die Stufen anfingen. »Teddie!« rief Elaine. »Teddie!« Sie lief die Stufen hinunter. Ming blieb oben sitzen. Er hörte, wie sie die Luft einzog und dann laut rief: »Concha!« Eilig kam sie die Treppe wieder herauf. Concha war aus ihrem Zimmer gekommen, Elaine sprach mit ihr, und Concha wurde ganz aufgeregt. Elaine trat ans Telefon und sprach eine Weile, dann ging sie zusammen mit Concha die Treppe hinunter. Ming blieb bequem mit eingezogenen Pfoten auf dem Terrassenboden sitzen, der noch immer warm war von der Sonne. Ein Wagen fuhr vor, Elaine kam die Treppe herauf und ging an die Haustür. Ming blieb -68-
unbemerkt in einer dunklen Ecke der Terrasse sitzen und schaute zu, wie drei oder vier fremde Männer heraustraten und mit schweren Schritten die Treppe in den Garten hinuntergingen. Er hörte, wie sie unten redeten und dabei hin und her gingen, es knackte in den Büschen, dann kam der Geruch von allen zusammen die Stufen herauf, der Dunst von Tabak und Schweiß und der vertraute Geruch von Blut. Ming war sehr zufrieden. Er freute sich – so wie er sich immer freute, wenn er einen Vogel getötet und den Blutgeruch mit seinen Zähnen hervorgerufen hatte. Das hier war seine Beute – eine mächtige Beute. Keiner sah, wie sich Ming zu seiner vollen Größe aufrichtete, als die Männer mit der Leiche vorbeigingen, und wie er das würzige Aroma seines Sieges mit erhobener Nase einsog. Dann war auf einmal das Haus ganz leer. Alle waren fort, sogar Concha. Ming trank etwas Wasser aus seinem Schüsselchen in der Küche; dann ging er ins Schlafzimmer der Herrin, sprang auf das Bett, rollte sich auf dem Kissen zusammen und war in kurzer Zeit eingeschlafen. Er erwachte erst durch das laute Rr-rr-rr eines fremden Wagens. Die Haustür wurde geöffnet, er erkannte Elaines und dann auch Conchas Schritte; aber er blieb liegen, wo er lag. Ein paar Minuten lang unterhielten sich die beiden Frauen mit leisen Stimmen, dann kam Elaine ins Schlafzimmer, wo das Licht noch brannte. Ming sah ihr zu, wie sie langsam das Kästchen auf dem Toilettentisch öffnete und mit leisem Scheppern die weiße Halskette hineinfallen ließ. Sie schloß den Kasten und begann ihre Bluse aufzuknöpfen, doch bevor sie damit fertig war, warf sie sich plötzlich auf das Bett und streichelte Mings Kopf, hob seine linke Pfote und drückte sie sanft, so daß die Krallen heraustraten. »O Ming – Ming«, sagte sie leise. Und Ming hörte aus ihrer Stimme, wie lieb sie ihn hatte. -69-
Mitten in der Trüffelsaison
E
r hieß Samson und war ein starkes weißes Schwein in den besten Jahren, und er lebte auf einem weitläufigen Bauernhof im Departement Lot in Frankreich, unweit der schönen alten Stadt Cahors. Zu den etwa fünfzehn anderen Schweinen auf dem Hof gehörte auch Georgia, Samsons Mutter (den Namen hatte sie von einem Lied, das der Bauer Emile einmal im Fernsehen gehört hatte), nicht aber seine Großmutter – die war vor einem Jahr, laut quiekend und um sich tretend, fortgebracht worden; und auch nicht sein Vater, der viele Kilometer weit weg wohnte und jedes Jahr ein paarmal auf einem Lieferwagen zu kurzem Besuch auf dem Hof erschien. Dann gab es noch zahllose Ferkel, einige waren von Samsons Mutter, andere nicht; wenn sie zwischen Samson und dem Futtertrog herumwuselten, so watete er einfach achtlos hindurch. Übrigens hatte er es auch bei den erwachsenen Schweinen nicht nötig, sie beiseite zu schieben: er war so groß, daß er nur näherzukommen brauchte, dann war die Bahn frei. Sein weißes Fell, an den Seiten borstig und etwas dünn, war im Nacken von seidiger Feinheit. Wenn Emile vor anderen Bauern mit Samson prahlte, kniff er ihn oft mit den rauhen Fingern in den Nacken und ließ noch einen leichten Tritt in die Speckseite folgen. Meistens waren Samsons Rücken und Bauchseite von einer grauen trockenen Kruste bedeckt, weil er sich so gern im Schlamm des ungepflasterten Hofes und noch lieber im dicken Morast des Schweinekobens neben der Scheune suhlte. Kühler Schlamm war wohltuend im südlichen Sommer, wenn die Sonne wochenlang ununterbrochen vom Himmel brannte und Hof und Koben dampften. Zwei Sommer hatte Samson erlebt. -70-
Der Höhepunkt des Jahres kam für Samson in der Wintermitte, wenn er bei der Trüffelsuche zeigen konnte, was in ihm steckte. Am Sonntag morgen legte ihm Emile eine Leine um den Hals und ging mit ihm und seinem Freund René, der ebenfalls ein Schwein oder auch einen Hund mitnahm, in den fast zwei Kilometer entfernten kleinen Wald, wo es viele Eichen gab. »Vas-y!« befahl Emile im Dialekt seiner Gegend, sobald sie an den Rand des Waldes kamen. Samson war zuweilen müde oder verärgert nach dem langen Spaziergang, jedenfalls ließ er sich Zeit, auch wenn ihm schon jetzt der Geruch von Trüffeln am Fuß eines Baumes in die Nase stieg. Ein alter Ledergürtel von Emile diente Samson als Halsband; der Hals war so dick, daß nur ein kleines Stück vom Gürtelende herunterhing und er Emile mühelos in jede Richtung ziehen konnte. Emile lachte erwartungsvoll und sagte irgend etwas Heiteres zu René oder, wenn er allein war, zu sich selber; dann zog er aus der Jackentasche die Kognakflasche, die er wegen der Kälte immer bei sich führte. Der Hauptgrund, warum Samson sich beim Auffinden der Trüffeln nicht gerade beeilte, war die Tatsache, daß er niemals welche bekam. Wenn er eine Trüffelstelle angezeigt hatte, erhielt er zur Belohnung einen Brocken Käse, aber Käse war nicht dasselbe wie Trüffeln, und das paßte ihm nicht. »Hu-uonk-uonk!« grunzte Samson, was nichts weiter besagen sollte. Er stand vor einem Baum und verschwendete Minuten mit dem Herumschnüffeln an einer Stelle, wo gar keine Trüffeln wachsen konnten. Emile wußte das und trat ihn in die Seite, dann blies er seinen warmen Atem in die freie Hand, denn die wollenen Handschuhe hatten viele Löcher, und der Tag war frostklar und verdammt kalt. Er warf die Gauloise weg und zog den Rollkragen des Pullovers über Mund und Nase. Jetzt hielt Samson an: das ungewöhnlich feine Aroma -71-
schwarzer Trüffeln stieg ihm in die Nase; er grunzte, und die Nackenhaare sträubten sich ein wenig vor Erregung. Die Füße stampften ein paarmal wie von selber, dann spreizten sie sich, und der flache Rüssel begann im Boden zu wühlen. Speichel rann ihm aus dem Maul. Emile riß schon an der Leine. Er schlang sie ein paarmal um einen etwas entfernten Baum und nahm dann vorsichtig mit der Gabel, die er mitgebracht hatte, die Stelle in Angriff. »Ah – ahh!« Da hatte er sie vor sich, ein Klümpchen schwarzkrauser Pilze, handtellergroß. Behutsam legte er sie in den Rucksack, den er über der Schulter trug. Für solche Trüffeln bekam man in Cahors an den großen Markttagen, die jeden zweiten Samstag stattfanden, einhundertdreißig neue Franc pro Pfund; und nicht viel weniger bekam Emile bei dem Mann, dem er sie gewöhnlich ablieferte, einem Delikatessenhändler in Cahors, der sie seinerseits weiterverkaufte an eine Pastetenfabrik, die Compagnie de la Reine d’Aquitaine. Emile hätte, wenn er sie ohne Zwischenhändler an die Reine d’Aquitaine verkauft hätte, vielleicht etwas mehr bekommen, aber die Fabrik lag auf der anderen Seite von Cahors, und die Benzinkosten hätten die Fahrt verteuert. Emile fuhr etwa alle zwei Wochen nach Cahors, um Viehfutter oder fehlendes Gerät für den Hof zu kaufen; die Stadt war nur zehn Kilometer von seinem Hof entfernt. Mit den Fingern bohrte er etwas Gruyère aus dem Rucksack, ging damit zu Samson hinüber und warf ihm – Vorsicht war geboten wegen der Zähne – die Käsebrocken vor die Füße. »Uss-sshh!« Wie ein Staubsauger zog Samson die Brocken ein. Er war jetzt bereit für den nächsten Baum. Der Trüffelgeruch im Rucksack feuerte ihn an. An diesem Morgen fanden sie noch zwei weitere gute Stellen; dann meinte Emile, es sei genug für heute. Das Café de la Chasse am Rande seiner Heimatstadt Cassouac war nur knapp -72-
einen Kilometer entfernt und lag überdies auf dem Heimweg. Er stampfte im Gehen mit den Füßen auf und riß ungeduldig an Samsons Leine. »Nu mal los, Dicker! Los, Samson, marsch! Du hast natürlich keine Eile, mit so viel Speck auf dem Leib!« Ein Tritt an Samsons Hinterbein folgte. Samson tat gleichgültig, ließ sich jedoch zu einem kurzen Trott herbei, bevor er wieder in sein trippelndes Ich-hab-ja-ZeitTempo zurückfiel. Eile – wozu? Warum sollte er immer tun, was Emile wollte? Außerdem war es Samson klar, wohin sie jetzt gingen, er wußte, er würde lange draußen in der Kälte warten müssen, während Emile drinnen trank und sich mit seinen Freunden unterhielt. Da kam schon das Lokal in Sicht, mehrere Hunde waren draußen angebunden. Samsons Puls ging ein wenig schneller. Mit einem Hund nahm er es jederzeit auf, das machte ihm Spaß. Hunde taten immer so klug, so überlegen – dabei brauchte Samson nur einen Schritt auf sie loszutun, dann fuhren sie zusammen und wichen zurück, so weit die Leinen reichten. »Bonjour, Pierre! Haha-ha!« Emile hatte vor dem Café den ersten seiner Kumpel getroffen. Pierre war gerade dabei, seinen Hund anzubinden, und hatte eben eine abfällige Bemerkung über Emiles »chien de race« gemacht. »Sei du nur still – der hat mir heute fast ein Pfund Trüffeln eingebracht!« Emile übertrieb gern. Einige der anderen Hunde bellten, als die Männer jetzt das kleine Lokal betraten. Man durfte Hunde zwar mitbringen, aber wenn sie dazu neigten, einander anzuknurren, band man sie lieber draußen fest. Einer der Hunde versuchte halb im Scherz nach Samsons Schwanz zu schnappen. Samson drehte sich um und kam auf ihn zu, nachlässig und nicht so weit, daß die Leine sich straffte, aber der Hund überschlug sich, als er eilig den Rückzug antrat. Alle -73-
drei Hunde bellten jetzt – spöttisch, wie es Samson schien. Ohne sich zu rühren, mit schwelender Abneigung, betrachtete er die drei. Nur seine kleinen rötlichen Augen blickten flink von einem zum andern, in stummem Warten, ob sich einer erdreistete näherzukommen. Die Hunde lächelten unsicher. Endlich lehnte sich Samson zurück, ließ sich nieder und knickte die Beine ein. Er lag in der Sonne und fühlte sich ganz wohl, trotz der Kälte. Nur wurde er langsam wieder hungrig und war daher leicht gereizt. Im Café hatte Emile auch René getroffen, der seinen Pastis an der Theke trank. Emile wollte bleiben, bis es Zeit war, zum Essen nach Hause zu gehen. Ursula, seine Frau, schätzte es nicht, wenn sie mit dem Sonntagsessen länger als bis viertel nach zwölf warten mußte. René hatte hohe Gummistiefel an, weil er, wie er sagte, gerade den Abfluß im Kuhstall gesäubert hatte. Er erzählte von dem Trüffelwettbewerb, der in zwei Wochen stattfinden sollte. Emile hatte noch nichts davon gehört. »Da!« sagte René und zeigte auf ein Plakat rechts von der Tür. Die Compagnie de la Reine d’Aquitaine hatte für Sonntag, den 27. Januar, einen Wettbewerb ausgeschrieben. Wer am meisten Trüffeln ablieferte, erhielt als ersten Preis eine Kuckucksuhr und dazu einhundert Franc; der zweite Preis war ein Transistorradio (die Größe konnte man auf dem Plakat nicht erkennen), der dritte ein Geldpreis von fünfzig Franc. Das Urteil der Schiedsrichter war endgültig, Gerichtsstand war Cassouac, Lokalpresse und Fernsehen, so hieß es, würden über die Veranstaltung berichten. »Lunache soll sich heute mal ausruhen, vielleicht auch noch nächsten Sonntag«, bemerkte René. »Dann hat sie erst den richtigen Appetit, weißt du.« Lunache war sein bester Trüffler, eine starke schwarzweiße Sau. Emile blinzelte seinem Freund zu, als wollte er sagen: ›Du -74-
weißt ja selber, daß Samson besser ist als Lunache!‹ Laut sagte er: »Prima – das kann ja lustig werden. Hoffentlich regnet es nicht.« »Ja – und schneien soll’s auch nicht. Noch ’n Pastis? Geht auf meine Rechnung.« René legte ein paar Münzen auf die Theke. Emile warf einen Blick auf die Wanduhr und nickte. Als er zehn Minuten später das Lokal verließ, sah er, daß Samson die drei angebundenen Hunde so weit weggescheucht hatte, wie es ihre Leinen zuließen, und daß er so tat, als ziehe er angestrengt an der eigenen Leine, einem festen Hanfseil. Wenn er ernsthaft gewollt hätte, wäre es wahrscheinlich gerissen. Emile war geradezu stolz auf Samson. »So ein Monstrum – einen Maulkorb müßte man dem verpassen!« sagte ein jüngerer Mann in schlammbespritzten Reitstiefeln, den Emile nicht erkannte. Er klopfte einem der Hunde beruhigend den Rücken. Emile war im Begriff, eine wortreiche Erwiderung loszulassen – hatte der Hund das Schwein nicht zuerst gereizt? Doch dann fiel ihm ein, daß der Mann vielleicht ein Vertreter der Reine d’Aquitaine war, der sich das Gelände mal ansehen wollte. Da war Schweigen und höfliches Nicken das beste. Übrigens der eine Hund – blutete der nicht am Hinterbein? Emile nahm sich nicht die Zeit, weiter nachzusehen; er löste Samsons Leine und machte sich auf den Heimweg. Immerhin hatte er vor drei oder vier Monaten Samsons untere Hauer absägen lassen, weil sie über die Schnauze hinauszuwachsen drohten. Die oberen Hauer hatte er ihm gelassen, sie waren weniger gefährlich, weil sie sich nach innen bogen. Samson dachte in diesem Augenblick auch gerade an seine Zähne, etwas vage, aber deutlich verärgert. Hätte man ihn damals nicht auf so sonderbare Weise seiner unteren Stoßzähne beraubt, dann hätte er den Hund in Stücke reißen können. Ein Schwung mit der Schnauze nach oben, quer über den Bauch, -75-
wie er ihn dem Hund vorhin tatsächlich versetzt hatte… Samsons Atem dampfte in der kalten Luft. Die kleinen Füße mit den vier Zehen, von denen nur die beiden mittleren den Boden berührten, trugen ihn so mühelos, als sei der mächtige Körper leicht wie ein heller Ballon. Samson zog jetzt wie ein Rassehund, der an der Leine zerrt. Emile wußte sehr wohl, daß Samson schlechter Laune war; er hielt deshalb die Leine ganz fest und riß ihn immer wieder zurück. Seine Hand schmerzte, die Arme wurden lahm, und sobald sie in die Nähe des offenen Hoftors kamen, ließ er erleichtert das Seil los. Samson trottete geradeswegs auf den Schweinekoben zu, wo der Futtertrog stand. Emile öffnete das niedrige Gatter, Samson galoppierte hindurch, Emile folgte und machte das Halsband los, während Samson schon mit dem Rüssel in den Kartoffelschalen wühlte. »Oink! Oink-oink!« »Whuff-ff! Wonk-wonk!« Die anderen Schweine und die Ferkel wichen vor Samson zurück. Emile ging in die Küche. Gerade stellte seine Frau eine große Schüssel mit kalten gewürfelten roten Rüben und Möhren, Tomatenscheiben und Zwiebeln mitten auf den Tisch. Emiles ›guten Tag‹ galt allen: Ursula, dem Sohn Henri, seiner Frau Yvonne und dem kleinen Enkel Jean-Paul. Henri war Arbeiter in der Resopalfabrik in Cahors und half seinem Vater zuweilen bei der Landarbeit. Im Grunde mochte er die Arbeit nicht, nur war es billiger für ihn, mit seiner Familie bei den Eltern zu wohnen, als eine eigene Wohnung zu nehmen oder jetzt schon ein Haus zu kaufen. »Hat sich’s gelohnt?« fragte Henri mit einem Blick auf den Trüffelsack. Emile war dabei, den Inhalt in eine Schüssel mit kaltem Wasser zu entleeren. »Ja – nicht schlecht«, meinte er. »Laß doch jetzt, Emile«, sagte Ursula. »Ich kann sie ja -76-
nachher waschen.« Emile nahm am Tisch Platz und fing an zu essen. Er wollte von dem Wettbewerb erzählen, unterließ es dann aber – vielleicht brachte es Pech, davon zu reden. Er hatte ja noch zwei Wochen Zeit, wenn er was sagen wollte. Die Kuckucksuhr – er sah sie schon vor sich an der Wand hängen, und ungefähr um diese Zeit würde sie schlagen: viertel nach zwölf. Und er würde ein paar Worte zu den Fernsehleuten sagen (wenn es stimmte, daß das Fernsehen dabei war), und sein Bild kam auch in die Zeitung. Am nächsten Wochenende ging Emile nicht mit Samson zum Trüffeln, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er die Trüffelstellen im Wald nicht reduzieren wollte. Der Wald war bekannt als ›der kleine Wald am Abhang‹, er gehörte einem alten Mann, der gar nicht dort wohnte, sondern in einer nahen Stadt. Er hatte gegen das Trüffelsammeln auf seinem Grundstück niemals etwas einzuwenden gehabt, auch der Verwalter nicht, der etwa einen Kilometer entfernt wohnte. So konnte Samson zwei Wochen lang ein faules Leben führen, er fraß reichlich und schlief viel in seiner Mulde aus festgepacktem Heu im Schweinestall, der an die große Scheune angebaut war. Dann war der große Tag, der 27. Januar, gekommen. Emile rasierte sich und machte sich auf den Weg ins Dorf zum Treffpunkt, dem Café de la Chasse. René und acht oder zehn andere Männer waren schon da; Emile kannte sie alle und nickte ihnen zu. Alle lachten, rauchten und taten, als hielten sie das Ganze eher für ein kindliches Spiel, aber Emile wußte, jeder dieser Männer, der einen Trüffler – Hund oder Schwein – besaß, war fest entschlossen, den ersten Preis zu gewinnen, und wenn nicht den ersten, dann den zweiten. Samson wollte sich gleich mit Georges’ Hund Caspar anlegen, Emile mußte ihn zurückziehen und ihm einen Tritt in die Seite versetzen. Wie er richtig angenommen hatte, war der junge Mann, der vor zwei -77-
Wochen dagewesen war, auch heute aufgekreuzt, als Zeremonienmeister und wieder in Reitstiefeln. Er setzte ein freundliches Lächeln auf und wandte sich auf den Eingangsstufen des Cafés an die Männergruppe. »Meine Herren!« begann er und gab dann die Bedingungen des Wettbewerbs bekannt, den die Reine d’Aquitaine ausgeschrieben hatte, die Herstellerfirma der besten Pâté aux truffes in ganz Frankreich. »Wo ist das Fernsehen?« fragte einer der Männer, mehr um seine Freunde zum Lachen zu bringen als um einer Antwort willen. Auch der junge Mann lachte. »Die kommen, wenn wir alle wieder hier sind – ein Extra-Team aus Toulouse, so gegen halb zwölf werden sie hier sein. Ich weiß ja, daß Sie alle zum Mittagessen nach Hause wollen, damit die Frau nicht böse wird!« »Haha!« Zustimmendes Gelächter. Der Tag war frostklar, alle waren angespannt. »Nun möchte ich noch einen Blick in Ihren Sack werfen – reine Formsache«, sagte der junge Mann. »Bloß um zu sehen, daß alles in Ordnung ist.« Er kam die Stufen herab, und jeder Teilnehmer wies einen leeren Sack oder Beutel vor, der nichts enthielt als Äpfel oder etwas Käse oder Fleisch als Belohnung für die Tiere. Einer der Zuschauer schloß eine Nebenwette ab: Hunde gegen Schweine. Er hatte einen Schweinemann gefunden, der die Wette hielt. Die letzten petits rouges wurden ausgetrunken, dann brachen sie auf. Männer, Hunde und Schweine zogen die ungepflasterte Landstraße hinunter, bogen ab auf vertraute Feldwege, nahmen Kurs auf Bäume, die sie kannten. Emile und Samson, der anhaltend grunzte und laute Honks und Oink-oinks von sich gab, zogen zu dem Kleinen Wald am Abhang. Sie hatten -78-
Gesellschaft: auch François mit seinem schwarzen Schwein war auf dem Wege dorthin. »Ich denke, da ist genug Platz für uns beide«, meinte François freundlich. Das war nicht zu leugnen, und Emile stimmte zu. Er gab Samson einen Tritt, als sie in den Wald kamen, und zwar wuchtig mit den genagelten Stiefeln in Samsons Hinterteil: er sollte begreifen, daß die Trüffelsuche heute ernster zu nehmen war als sonst. Gereizt wandte sich Samson um und machte einen Scheinangriff auf Emiles Beine; doch dann senkte er den Kopf, nahm die Arbeit auf und schnüffelte unter einem Baum, den er gleich wieder stehenließ. Emile sah, daß François in einiger Entfernung schon mit der Gabel im Boden grub. Emile gab Samson etwas mehr Leine, und der Eber trottete weiter, die Nase am Boden. »Hhwun-nf! Ha-wun-nf! Ummpf!« Jetzt hatte Samson eine gute Stelle gefunden und wußte es. Auch Emile erkannte sie; er band Samson fest an einen Baum und grub, so schnell er konnte. Der Boden war heute härter als vor zwei Wochen. Das Aroma der Trüffeln stieg Samson unwiderstehlich in die Nase, als Emile sie jetzt freilegte. Er zog an der Leine, trat zurück und schoß mit einem Satz wieder vorwärts. Schnnnapp – er war frei! Das Lederhalsband war geplatzt. Samson schob den Rüssel in die Bodenmulde und begann mit zufriedenem Grunzen zu fressen. »Du verdammtes Biest! – Merde!« Emile versetzte dem Eber mit aller Kraft einen Tritt auf den rechten Hinterbacken. So ein verteufeltes Pech – dieser alte Gürtel! Es blieb Emile nichts anderes übrig, als kostbare Minuten auf das Seil zu verwenden, das er vom Baum losmachte und wieder um Samsons Hals legte, wobei Samson alles tat, um ihm zu entwischen. Fressend und grunzend umkreiste er die Trüffelstelle und hielt dabei die Schnauze gesenkt, immer am gleichen Platz. Schließlich gelang es Emile, das Seil zu befestigen; fluchend riß er Samson zurück. -79-
François’ lautes Gelächter in der Ferne trug nicht dazu bei, seine Stimmung zu verbessern. Das verdammte Schwein hatte hier mindestens die Hälfte der Trüffeln weggefressen! Er versetzte Samson einen harten Fußtritt dorthin, wo sich die Hoden befunden hätten, wenn Emile sie nicht gleichzeitig mit den Stoßzähnen hätte entfernen lassen. Samson revanchierte sich mit einem Angriff in Kniehöhe. Emile fiel nach vorn, über den anstürmenden Eber hinweg – er konnte gerade noch das Gesicht vor dem Anprall auf den Boden schützen. Der Schmerz in den Knien war furchtbar, sekundenlang meinte er, die Beine seien gebrochen. Dann hörte er François’ entrüsteten Aufschrei: Samson, wiederum losgerissen, war dabei, in François’ Fundstelle einzufallen. »Emile – he, Emile! Ich lass’ dich disqualifizieren! Hol das verdammte Vieh hier weg, oder ich schieße!« Emile wußte, François hatte gar keine Schußwaffe. Langsam erhob er sich; die Beine waren nicht gebrochen, aber die Augen fühlten sich schlimm an nach dem Anprall, und er wußte, morgen mußte er mit mächtigen blauen Flecken rechnen. »Verdammt noch mal, Samson, scher dich da weg!« schrie er laut und trampelte hinüber zu François und den beiden Schweinen. François hatte einen Zweig gefunden und schlug damit auf Samson ein, was ihm Emile nicht mal übelnehmen konnte. »…fällt dir eigentlich ein bei…« François’ Worte blieben unverständlich. Emile und François Malbert waren nie dicke Freunde gewesen, und Emile wußte, der andere werde ihn disqualifizieren lassen, wenn er irgend konnte, einfach weil Samson ein ausgezeichneter Trüffler und daher ein bedrohlicher Rivale war. Bei diesem Gedanken konzentrierte sich Emiles Wut schon wieder mehr auf Samson als auf François. Er riß an Samsons Seil, tat einen kräftigen Ruck, und im gleichen -80-
Augenblick schlug François mit dem Zweig auf den Eber ein. Der Zweig brach. Wieder wollte Samson angreifen. Die Verzweiflung machte Emile behende: er schlang das Seil ein paarmal um einen Baum, und Samson verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. »Hier hat’s keinen Zweck mehr zu suchen. Unerhört!« sagte François empört und zeigte auf seine halbgeleerte Trüffelstelle. »Ah, oui? Das war Pech!« entgegnete Emile. Aber François hatte sich schon abgewandt und war auf dem Weg zum Café de la Chasse. Emile hatte jetzt das Wäldchen für sich und machte sich erst mal daran, die Reste von François’ Fundstelle einzusammeln. Aber er fürchtete nun doch, disqualifiziert zu werden – alles nur wegen Samson. »Los, an die Arbeit, du Bastard«, sagte er böse zu Samson und schlug ihn mit einem Stück des abgebrochenen Zweiges in die Seite. Samson stand vor ihm und starrte ihn bewegungslos an, gefaßt auf noch weitere Hiebe. Emile wühlte in seinem Sack nach einem Stückchen Käse und warf es ihm zur Versöhnung vor die Füße; vielleicht ließ sich auch sein Appetit damit anreizen. Samson sah so finster aus, wie es einem Schwein möglich war. Jetzt schnüffelte er an dem Käse und verzehrte ihn. »Nu mal los, Alter!« ermunterte ihn Emile. Sehr langsam setzte sich Samson in Bewegung, Schritt für Schritt. Er hielt nicht mal die Nase am Boden. Emile bildete sich ein, daß Samson in bösem Zorn die Schultern hochgezogen habe und durchaus bereit sei, noch einmal auf ihn loszugehen. Ach, Unsinn, sagte er sich dann. Er zog Samson weiter zu einer Birke, die ganz vielversprechend aussah. Samson roch die Trüffeln in Emiles Sack. Von denen, die er sich aus dem Boden gewühlt hatte, rann ihm noch immer der -81-
Speichel an der Schnauze herab. Behende drehte er sich um und drückte die Nase gegen den Sack an Emiles Seite. Er hatte sich dazu ein wenig auf die Hinterbeine erhoben, und das Gewicht des schweren Körpers warf Emile zu Boden. Samson schob den Rüssel in den Sack. Oh, was für ein Duft! Er begann zu fressen. Käse war auch noch drin. Emile kam wieder auf die Beine und stach jetzt mit der Gabel auf Samson ein, und zwar so heftig, daß die Haut an den drei Stellen aufplatzte, wo die Zinken eindrangen. »Scher dich weg, du Luder!« schrie er. Samson ließ den Sack fahren und stürzte sich auf Emile. Krack! wieder stieß er ihn in die Knie. Emile lag am Boden und versuchte, ihn mit der Gabel abzuwehren, und blitzschnell schoß Samson auf ihn zu. Der schwere Bauch schlug Emile ins Gesicht, an die Kinnspitze; er verlor fast die Besinnung. Er schüttelte den Kopf und überzeugte sich, daß er die Gabel noch fest in der Hand hielt. Es war ihm auf einmal klargeworden, daß Samson ihn töten konnte und ihn auch töten werde, wenn er ihn nicht abwehren konnte. »Au secours!« schrie er laut. »Hilfe!« Er warf mit der Gabel nach Samson, um ihn wegzuscheuchen, während er versuchte, auf die Füße zu kommen. Samson hatte gar nichts beabsichtigt, nur schützen wollte er sich. Für ihn war die Gabel ein Feind, ein deutlicher Gegner, den er blindlings angriff. Die Gabel überschlug sich und fiel zu Boden, als sei sie erschlafft. Triumphierend stand Samson mit den Vorderfüßen auf Emiles Magen und grunzte. Emile ächzte, aber nicht mehr lange. Die gräßliche feuchtrosa Schweinsnase berührte fast sein Gesicht, er sah im Geist die vielen Schweine vor sich, die er als Kind gekannt hatte, Schweine, die ihm damals so riesig vorgekommen waren wie dieses Untier, das ihm jetzt die Luft abdrückte. Eber, Sauen und Ferkel jeder Musterung und Farbe schienen -82-
zusammenzuschmelzen zu diesem einen Monstrum, das ihn jetzt – Emile wußte es nun – dadurch umbrachte, daß es auf ihm stehen blieb. Die Gabel lag außer Reichweite. Emile bot seine letzten Kräfte auf und schlug mit den Armen um sich, doch das Schwein rührte sich nicht. Emile konnte nicht atmen, er bekam keine Luft. Das war gar kein Tier mehr, dachte er verzweifelt, es war das Unheil selber in seiner schlimmsten Gestalt. Diese winzigen törichten Augen in dem grotesken Fleischberg! Emile versuchte noch einmal zu rufen und merkte, er brachte keinen Ton heraus, nicht den leisesten Laut eines kleinen Vogels. Als der Mann still wurde, stieg Samson von seinem Leib herab und stieß ihn in die Seite, um wieder an den Trüffelsack zu kommen. Langsam beruhigte er sich, er hielt nicht mehr die Luft an und keuchte auch nicht mehr, wie er es in den letzten paar Minuten abwechselnd getan hatte. Jetzt ging sein Atem wieder normal. Und das köstliche Aroma der Trüffeln beruhigte ihn. Er schnüffelte, seufzte, atmete und fraß, Rüssel und Zunge holten die letzten Brösel aus den Ecken des Sackes heraus. Und all das Köstliche hatte er allein gefunden! Doch dieser Gedanke war keineswegs ganz klar, er hatte sogar noch das undeutliche Gefühl, als werde ihm jemand die Festtafel streitig machen. Aber wer sollte das jetzt noch tun? Gerade dieser Sack, in den er so viele schwarze Trüffeln hatte verschwinden sehen, aus dem dann nichts für ihn gekommen war als ein paar magere Käsebrocken – der Sack gehörte nun ihm, und damit war es vorbei. Er fraß auch noch ein Stück vom Sack auf. Dann, während er noch kaute, pißte er, horchte und blickte sich um. Er fühlte sich furchtlos und sicher – jedenfalls was ihn selber betraf. Er konnte jetzt hingehen, wohin er wollte, und er wollte fort vom Dorf, von Cassouac. Eine Weile lief er ziellos dahin, ging dann langsamer, bis ihn das Aroma von noch mehr Trüffeln anhalten ließ. Er brauchte Zeit, um sie auszugraben, aber die Arbeit machte Spaß, und der Lohn war sein, ihm gehörte jeder Brösel, auch noch der letzte Rest der sandigen -83-
Runzlinge. Nach einer Weile kam er an einen Bach, der am Rand noch eine dünne Eiskruste trug, und trank. Dann ging er weiter, das Seil schleppte hinter ihm her, es war ihm egal, wohin er ging. Er war schon wieder hungrig. Der Hunger trieb Samson schließlich zu einer Gruppe niedriger Gebäude, wo er Hühnerdung und Pferde- oder Kuhmist roch. Nachlässig schlenderte er in den gepflasterten Hof, wo Hühner und Tauben herumspazierten. Sie machten ihm sogleich Platz, so wie er es gewohnt war. Er suchte nach einem Futtertrog und fand einen mit etwas nassem Brot darin, einen niedrigen Trog. Er fraß. Dann ließ er sich gegen einen Heuhaufen fallen, der halb überdacht war; es war nun schon dunkel geworden. Aus den zwei erleuchteten Fenstern im unteren Teil des nahen Hauses kam das Geräusch von Stimmen und Musik – das Treiben eines normalen Haushalts. Der Morgen dämmerte. Die umherwandernden pickenden Hühner im Hof störten Samson nicht; er döste weiter und öffnete erst müde ein Auge, als er den sandknirschenden Tritt eines Mannes hörte. »Hallo – was haben wir denn hier?« sagte der Bauer und musterte das enorme weiße Schwein, das da in seinem Heu lag. Ein Seil hing ihm am Hals, ein starkes Seil, das sah er, und das Schwein war noch viel stärker, das war ein ganz hervorragendes Exemplar seiner Gattung. Wem es wohl gehörte? Der Bauer kannte alle Schweine in der Umgebung – zumindest die Typen kannte er. Der hier mußte von weit her gekommen sein. Das Seilende war ausgefranst. Der Bauer Alphonse beschloß, zunächst den Mund zu halten. Ein paar Tage lang hielt er Samson etwas abseits in einem weiter hinten gelegenen umzäunten Feld, dann holte er ihn hervor und brachte ihn zu den andern Schweinen, die alle schwarz waren. Er wollte ihn ja nicht verstecken, diesen dicken -84-
Weißen, sagte er sich; wenn jetzt jemand kam und nach ihm suchte, konnte er sagen, das Schwein sei ihm einfach zugelaufen, was ja auch stimmte. Dann würde er das Tier natürlich zurückgeben, nachdem er sich vergewissert hatte, der Frager wußte, daß die unteren Stoßzähne des Tieres abgesägt worden waren, daß es kastriert war und so weiter. Alphonse überlegte, ob er den Eber auf dem Markt verkaufen oder erst mal als Trüffler ausprobieren sollte, bevor der Winter zu Ende ging. Zunächst mal wollte er es mit Trüffeln versuchen. Samson wurde noch etwas fetter auf dem neuen Hof; uneingeschränkt herrschte er über die anderen Schweine, zwei Sauen und ihre Ferkel. Das Futter war hier anders, es gab auch mehr zu fressen als auf dem anderen Hof. Dann kam der Tag – ein gewöhnlicher Werktag, so schien es Samson, nach der Arbeit auf dem Hof zu urteilen –, da man ihm eine Leine anlegte und mit ihm in den Wald auf Trüffelsuche ging. Er trabte gutgelaunt voran und nahm sich vor, wenn er heute Trüffel fand, einige selber zu fressen; die anderen sollte der Bauer haben. Undeutlich formte sich in Samsons Kopf der Vorsatz, dem Manne gleich von vornherein klarzumachen, daß er mit Samson nicht nach Belieben umspringen könne.
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Die tapferste Ratte von Venedig
L
ebhaft und fröhlich ging es zu bei den Mangonis, die in Venedig am Rio San Polo wohnten: Vater, Mutter und sechs Kinder, vier Jungen und zwei Mädchen, zwei bis zehn Jahre alt. Vater Mangoni war Hausverwalter im Palazzo Cecchini; die Eigentümer, ein anglo-amerikanisches Ehepaar Whitman, waren für drei Monate oder noch länger nach London gereist, wo sie eine Stadtwohnung hatten. »Heute ist ein herrlicher Tag – kommt, wir machen alle Fenster auf und singen! Und dann wird erst mal geputzt!« rief Signora Mangoni aus der Küche, als sie ihre Schürze losmachte. Sie war im achten Monat schwanger. Das Frühstücksgeschirr war abgewaschen, die Brotkrumen zusammengefegt; nun freute sie sich, als gehöre ihr das Haus, auf den frischen sonnigen Tag. Warum auch nicht – sie konnten sämtliche Zimmer benutzen, in jedem Bett schlafen, das ihnen zusagte, und hatten außerdem noch reichlich Geld von den Whitmans erhalten, um das Hauswesen so zu führen, wie es sich gehörte. »Können wir unten spielen, Mama?« fragte Luigi, der Zehnjährige, obenhin. Mama sagte ja doch »Nein!«, und er und ein paar seiner Brüder und vielleicht auch seine Schwester Roberta gingen dann trotzdem nach unten. Es machte so viel Spaß, im flachen Wasser zu waten, auszurutschen und manchmal sogar hineinzufallen. Ebenso lustig war es natürlich, die hinter der Kanaltür vorbeifahrenden Gondolieri mit ihren Passagieren dadurch in Rage zu versetzen, daß man plötzlich die kleine Tür aufriß und einen Eimer Wasser hinausgoß – womöglich auf den Schoß eines Touristen. »Nein!« sagte Mama denn auch. »Bloß weil heute Feiertag ist –« Offiziell gingen sie alle vier zur Schule: Luigi, Roberta und -86-
die beiden jüngeren Brüder Carlo und Arturo. Aber in den letzten Wochen, seit die Mangonis allein im Haus waren, hatten die Kinder in der Schule oft gefehlt. Es war so viel schöner, durch das ganze Haus zu streifen, so zu tun, als gehöre einem alles, jedes Zimmer ohne Anklopfen zu betreten! Gerade wollte Luigi den Bruder Carlo herbeirufen, als seine Mutter sagte: »Luigi, du hast versprochen, heute morgen Rupert auszuführen.« Hatte er das? So ein Versprechen wog bei Luigi nicht schwer. »Ich geh heute nachmittag«, gab er zurück. »Nein, du gehst jetzt. Mach den Hund los.« Luigi seufzte tief. Mißmutig und mit watschelnden Schritten ging er hinüber zur Küchenecke, wo der Dalmatiner an den Fuß des Kachelherdes angebunden war. Der Hund wurde zu dick, und deshalb wollte Mama, daß Luigi oder Carlo ein paarmal am Tag mit ihm loszog. Er wurde dick, weil er nichts als Risotto und Pasta zu fressen bekam anstatt des Fleischfutters, das Signor Whitman vorgeschrieben hatte, und das wußte Luigi. Er hatte gehört, wie seine Eltern darüber sprachen. Die Unterhaltung war kurz gewesen: Warum sollte man bei den heutigen Fleischpreisen einen Hund mit bistecca füttern? Glatter Unsinn, auch wenn sie das Geld dafür bekommen hatten. Der Hund konnte genausogut altes Brot mit Milch fressen, und in den Resten vom Risotto fanden sich auch immer noch Fischstückchen und Krabbenteile. Ein Hund war ein Hund und kein Mensch. Das Fleisch kam auf den Familientisch. Luigi entschloß sich zu einem Kompromiß. Er trabte mit Rupert hinunter in die enge Gasse, dort ließ er ihn einmal das Bein heben und rief dann Carlo, der gerade mit einer halbgeleerten Brauseflasche nach Hause schlenderte, und zusammen gingen sie mit dem Hund die Stufen hinter einer Tür der großen Eingangshalle hinunter. Das Wasser sah etwa einen halben Meter tief aus. Luigi freute sich; lachend zog er auf den -87-
Stufen Sandalen und Socken aus. Schlock-schlock-schlosch… Dunkel schob sich das Wasser hin und her, schwappte blindlings in steinerne Ecken und klatschte zurück. Der große quadratische Raum lag in leerem Halbdunkel, an jeder Seite der lose hängenden Tür drang ein wenig Sonnenlicht durch zwei schmale Schlitze herein. Hinter der Tür führten weitere Steinstufen direkt in die Fluten des breiten Kanals, des Rio San Polo. Hier hatten jahrhundertelang, bevor der Palazzo so tief eingesunken war, die Gondeln angelegt, die elegante Damen und Herren trockenen Fußes in den Salon mit dem Marmorfußboden brachten, in dem jetzt Luigi und Carlo im kniehohen Wasser herumwateten und einander bespritzten. Der Hund stand auf einer der naßkalten Steinstufen und fror. Es war weniger die Kälte, die ihn zusammenschauern ließ, als Nervosität und Langeweile. Er wußte nichts mit sich anzufangen. Vorbei waren die fröhlichen Tage mit ihrer guten festen Einteilung: täglich dreimal spazierengehen, morgens Milch und Zwieback, gegen sechs Uhr abends ein großer Napf mit Fleisch. Vorbei das alles. Heute war sein Leben ein gräßliches Durcheinander, und die Tage hatten jegliche Ordnung verloren. Es war November, aber noch nicht kalt – nicht zu kalt jedenfalls für Luigi und Carlo und das beliebte Tauchspiel. Wer zuerst umfiel, hatte verloren, wurde aber stets belohnt durch Lachen und Applaus der anderen – das waren meist Roberta und die kleine Schwester Benita, die dann ebenfalls im Wasser stapften oder von der Treppe aus zuschauten. »Eine Ratte!« schrie Luigi, um Carlo hereinzulegen, und gab ihm einen Stoß in die Kniekehlen. Mit hohlem Klatschen, das von den Mauern widerhallte und Luigi von oben bis unten naßspritzte, fiel Carlo rückwärts ins Wasser. Er kam auf die Füße, lachend und tropfnaß, und latschte auf die Treppe zu, wo der zitternde Hund stand. -88-
»Du – da ist wirklich eine – eine richtige!« sagte Luigi und zeigte mit dem Finger. »Ha-ha!« Carlo glaubte ihm nicht. »Doch – da ist sie!« Luigi fuhr mit der Hand durch die Wasseroberfläche; er wollte das Wasser auf das ekle Tier zutreiben, das da zwischen ihm und der Treppe im Wasser paddelte. »Angsthase!« jubelte Carlo und watete auf einen treibenden Stock zu. Luigi entriß ihm den Stock und versetzte damit der Ratte einen Hieb, der sie aber nicht richtig traf, denn er glitt von ihrem Rücken ab. Luigi schlug noch einmal zu. »Halt sie doch am Schwanz fest!« schrie Carlo immer noch lachend. »Hol mal ’n Messer, die machen wir tot!« sagte Luigi mit vor Aufregung zurückgezogenen Lippen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß die Ratte womöglich untertauchen und ihn in den Fuß beißen konnte, gefährlich beißen vielleicht – Carlo platschte bereits die Stufen hinauf. Die Mutter war nicht in der Küche, er nahm ein Fleischmesser mit dreieckiger Schneide und lief damit zurück zu Luigi. Luigi hatte der Ratte zwei weitere Hiebe versetzt; und als er jetzt das Messer in der Hand hielt, faßte er Mut, packte sie am Schwanz und wirbelte sie durch die Luft auf ein Marmorsims, das ihm bis zur Hüfte reichte. »Ah-i-ih! Mach sie doch tot!« sagte Carlo. Der Hund hob den Kopf und stieß ein langes Jaulen aus. Seine Leine hing zu Boden, er wollte die Treppe hinaufsteigen und konnte sich nicht entschließen, weil er nicht wußte, was er oben tun sollte. Luigi stach jetzt ungeschickt zu; er hielt den Schwanz noch gepackt und wollte die Ratte in den Hals stechen, verfehlte ihn und traf ein Auge. Die Ratte wand sich, quiekte und entblößte -89-
die langen Vorderzähne. Luigi hatte jetzt Angst und wollte den Schwanz fahren lassen; ein zweiter Hieb mit dem Messer sollte der Ratte den Kopf vom Körper trennen, doch er schnitt nur einen Vorderfuß ab. »Ha-ha-ha!« Carlo klatschte in die Hände und spritzte mit Wasser um sich, wovon das meiste Luigi traf. »Scheißratte!« schrie Luigi. Sekundenlang rührte sich die Ratte nicht. Das Maul stand offen, Blut floß aus dem rechten Auge, der rechte Hinterfuß lag mit gespreizten Zehen ungeschützt auf dem Stein, und Luigi schlug noch einmal mit dem Messer zu. Blitzschnell biß ihn die Ratte ins Handgelenk. Luigi schrie auf und schüttelte den Arm. Die Ratte fiel herab ins Wasser und begann wild und eilig fortzuschwimmen. »Ooooh!« sagte Carlo staunend. »Au – au!« Luigi stand noch immer unten, er schob den Arm im Wasser hin und her und untersuchte das Handgelenk. Es war nichts zu sehen als ein kleiner roter Punkt, wie ein Nadelstich. Er hatte vorgehabt, vor seiner Mutter als Held zu erscheinen, damit sie ihm dann die Wunde verband; das war nun nicht gut möglich. »Tut ganz schön weh!« beteuerte er und platschte durchs Wasser auf die Treppe zu, mit tränenden Augen, obgleich er keinen Schmerz spürte. »Mama – Mama!« Die Ratte hielt sich, halb krabbelnd, halb schwimmend, mit dem Stumpf einer Vorderpfote und der anderen heilen Pfote an der bemoosten Mauer fest und hob dabei die Nase so hoch wie möglich. Ringsum färbte sich das Wasser rötlich vom Blut. Die Ratte war ein noch junges Männchen, fünf Monate alt und noch nicht ganz ausgewachsen. Sie war nie zuvor in diesem Hause gewesen, heute war sie auf der Straßenseite durch einen schmalen trockenen Gang in der Mauer hereingekommen. Es hatte nahrhaft gerochen, nach faulendem Fleisch oder so etwas. In der Mauer war ein Loch, und plötzlich war sie ins Wasser -90-
gefallen, es war so tief, daß sie schwimmen mußte. Nun galt es, einen Ausgang zu finden. Das linke Vorderbein und das rechte Hinterbein schmerzten, aber viel schlimmer war das Auge. Die Ratte suchte weiter, fand aber kein Loch und keine Mauerritze, und so klammerte sie sich schließlich mit den Zehen der rechten Vorderpfote an ein paar glitschige Moose und blieb dort halb betäubt und reglos hängen. Erstarrt und durchgefroren ließ sie sich etwas später ins Wasser zurückfallen und begann von neuem zu paddeln. Daß der Wasserspiegel etwas zurückgegangen war, merkte sie nicht, denn sie mußte immer noch schwimmen. Jetzt wurde in der Mauer ein schmaler Lichtstrahl sichtbar; die Ratte schwamm darauf zu, drängte sich durch den Mauerspalt und hatte nun die nasse Höhle hinter sich. Sie war jetzt in einem Abflußrohr, ebenfalls halbdunkel, und hier fand sich ein Ausweg: ein Riß im Straßenpflaster. Die nächsten Stunden verbrachte die Ratte mit mehreren kurzen Ausflügen: zu einem Mülleimer, einem Torweg, in den Schatten eines Blumenkübels. Sie war – auf Umwegen – bestrebt, nach Hause zu kommen. Eine eigene Familie hatte sie noch nicht; man akzeptierte sie indessen mehr oder weniger gleichgültig in der Behausung mehrerer Rattenfamilien, in der sie auf die Welt gekommen war. Es war dunkel, als sie ihr Ziel erreichte: den Keller eines verlassenen Krämerladens. Eßbares gab es dort längst nicht mehr. Die hölzerne Kellertür war halb eingefallen, so daß die Ratten leicht hinein- und herausschlüpfen konnten; sie waren so zahlreich, daß keine Katze es dort unten mit ihnen aufgenommen hätte, denn sie hätte nicht mehr heraus gekonnt. Hier blieb die Ratte zwei Tage und kurierte ein wenig ihre Wunden aus. Niemand half ihr dabei oder kümmerte sich weiter um sie: weder die Eltern, die gar nichts mehr von ihrem Kind wußten, noch andere Verwandte. Aber es gab wenigstens etwas zu nagen, einen alten Kalbsknochen, verschimmelte Kartoffeln oder sonstige Dinge, die andere Tiere hergeschleppt hatten, um -91-
sie hier in Ruhe zu verzehren. Sehen konnte sie jetzt nur noch auf einem Auge, doch das machte sie schon jetzt wendiger, schneller beim Ergattern von Futterbröseln, hurtiger beim Entkommen, wenn Gefahr drohte. Mit dieser Zeit der Ruhe und Erholung war es jäh vorbei, als eines Morgens ein starker Schlauch sturzartig große Wassermengen in den Keller fluten ließ. Die Holztür wurde eingetreten, und das Wasser schoß mit solcher Kraft in den Keller, daß junge Ratten in die Luft geschleudert wurden und an den Wänden zerschellten oder in der Sturzflut ertranken, während die älteren versuchten, an dem Mann mit dem Schlauch vorbeizuwetzen und die Stufen hinaufzuklettern, wo sie jedoch von Knüppeln erschlagen und von kräftigen Gummistiefeln totgetreten wurden. Die verkrüppelte Ratte war unten geblieben und paddelte an der Mauer hin und her. Männer stapften die Stufen hinunter mit großen Netzen, die an Stangen befestigt waren, mit denen holten sie die toten Tiere heraus. Dann warfen sie Gift ins Wasser, das nun den Steinfußboden bedeckte; das Gift stank und schmerzte beim Atmen, und die Ratte suchte fieberhaft nach einem Ausweg und fand ganz hinten ein kleines Loch, gerade groß genug zum Durchschlüpfen. Hier waren schon mehrere Tiere entkommen, aber die hatte die Ratte nicht gesehen. Es war nun Zeit zum Weiterziehen – von diesem Keller war nichts mehr zu erhoffen. Die Ratte hatte auch ihre Kräfte einigermaßen zurückgewonnen; sie kroch und lief und schonte die beiden Beinstümpfe. Noch vor Mittag entdeckte sie eine Gasse hinter einem Restaurant, wo einige Abfälle neben die Mülltonnen gefallen waren – ein paar Brotrinden und ein langer Knochen mit Fleisch dran lagen auf dem Kopfsteinpflaster. Ein Festmahl – vielleicht die beste Mahlzeit ihres Lebens. Als sie sich satt gefressen hatte, legte sie sich zum Schlafen in ein trockenes Abflußrohr, das für eine Katze zu eng gewesen wäre. Es war besser, sich am Tage nicht sehen -92-
zu lassen – sicherer war man bei Dunkelheit. Die Tage vergingen. Die beiden Beinstümpfe schmerzten nun weniger, auch das Auge tat nicht mehr weh. Die Ratte kam zu Kräften und nahm sogar ein wenig an Gewicht zu; das graubraune Fell wurde dick und glatt. Das zerstörte Auge blieb halb geschlossen: es war eine graue, an den Rändern vom Messer etwas gezackte Wunde, aber es näßte und blutete nicht mehr. Ging die Ratte jetzt auf eine Katze los, so wich die meistens etwas zurück, und zwar – das spürte die Ratte – weil der Angreifer so furchterregend aussah mit den zwei Beinstümpfen und dem blinden Auge. Katzen hatten natürlich auch ihre Tricks, sie plusterten sich drohend auf, um größer auszusehen, und gaben dabei heisere Kehllaute von sich. Ein einziges Mal hatte ein räudiger alter gelbroter Kater, der nur ein Ohr hatte, versucht, die Zähne in den Nacken der Ratte zu schlagen. Sie hatte ihn sofort an einem Vorderbein gepackt und fest zugebissen, und der Kater war gar nicht zum Zuschlagen gekommen; er war froh gewesen, als sie ihn losließ, und war eilig auf eine Fensterbank gesprungen. Das hatte sich irgendwo in einem dunklen Garten abgespielt. Es war nun spät im Jahr, und draußen wurde es kälter und nasser. Bei Tage sonnte sich die Ratte, wo immer es möglich war, an einem geschützten Plätzchen. Oft ging das nicht – ein dunkles Loch war immer sicherer. Nachts schlich sie durch die Gassen und suchte Futter. Und bei Tag wie bei Nacht galt es aufzupassen und auszuweichen, den Katzen und den drohend erhobenen Knüppeln in den Händen der Menschen. Einmal ging ein Mann mit einem Mülleimer auf sie los und ließ das Gefäß auf das Steinpflaster niederkrachen, wobei er den Schwanz der Ratte zwar nicht abschnitt, sondern nur einklemmte; doch seit dem Messerstich ins Auge hatte sie einen solchen Schmerz nicht erlebt. Die Ratte wußte, wenn eine Gondel herankam. Sie kannte die Rufe der Gondolieri: »Ho-ho!« oder: »Ai-ai!«, wenn sie mit -93-
dem Boot an eine Kurve kamen. Gondeln waren für die Ratte keine Gefahr; der Gondoliere stieß vielleicht mal mit dem Ruder nach ihr, aber das war so schlimm nicht gemeint. Er traf sie auch niemals, der Stoß ging immer daneben, und dann war die Gondel schon vorbei. Eines Abends drang der Ratte ein Geruch nach Wurst in die Nase, er kam von einer festgemachten Gondel im engen Kanal, und die Ratte wagte sich an Bord. Der Gondoliere lag unter einer Decke und schlief; der nahrhafte Geruch kam aus dem Papier, das neben ihm lag. Darin fand die Ratte die Reste eines Wurstbrots, sie fraß sich satt und wühlte sich zum Schlafen in einen schmutzigen Lappen ein, der in der Ecke lag. Sanft schaukelte die Gondel hin und her. Schwimmen konnte die Ratte jetzt vorzüglich; sie war oft untergetaucht, wenn eine Katze den Mut gehabt hatte, sie bis in den Kanal zu verfolgen. Sie wußte, Katzen tauchten nicht gern. Von einem dumpf stoßenden Geräusch erwachte die Ratte. Der Mann war aufgestanden und löste das Tau, und die Gondel schob sich vom Uferweg ab. Die Ratte war unbesorgt. Sollte der Mann sie sehen und auf sie losgehen, so sprang sie einfach über Bord und schwamm zur nächsten Steinmauer. Die Gondel fuhr über den Canale Grande und bog in einen breiten Wasserarm zwischen mehreren großen Palästen ein, die jetzt in Hotels umgewandelt waren. Die Ratte roch den Duft von knusprigem Schweinebraten, frischgebackenem Brot und Orangenschale, dazu noch das schärfere Aroma von Schinken. Etwas später legte der Gondoliere an den Stufen eines Hauses an, stieg aus und schlug mit dem Metallring an die Tür. Die Ratte erspähte von Bord aus eine faulende Stelle in der Uferbefestigung, an der sie sich wohl festhalten konnte, sie tat einen Satz ins Wasser und schwamm darauf zu. Der Gondoliere hatte das Aufklatschen gehört, er stampfte auf die Uferstelle zu und schrie: »Ayeh!« Die Ratte fand es ratsam, hier nicht aus dem Wasser zu steigen; sie schwamm ein Stück weiter, fand -94-
einen anderen Durchschlupf und gelangte ans trockene Ufer. Der Gondoliere kehrte zu der Haustür zurück und schlug von neuem mit dem Ring dagegen. An diesem Tag fand die Ratte ein Weibchen, und es kam zu einer kurzen angenehmen Begegnung im feuchten Gang hinter einem Kleiderladen. Kurz vorher hatte es geregnet. Beim Weiterwandern stieß die Ratte auf eine Fährte von Brotresten, Erdnüssen und Maiskörnern, die sie aber liegenließ, und gleich darauf fand sie sich auf einem großen offenen Platz. Das war die Piazza San Marco, wo sie noch nie gewesen war. Den weiten Platz in seiner ganzen Größe zu übersehen war unmöglich, aber etwas von der Weite spürte sie. Tauben – Tauben überall, noch nie hatte sie so viele gesehen; sie spazierten auf dem Pflaster umher, und die Menschen warfen ihnen Futter zu, viele segelten mit gespreizten Flügeln und Schwanzfedern über den Platz und landeten auf den Rücken anderer Tauben. Es roch nach Popcorn, und die Ratte wurde hungrig, doch sie wußte, sie mußte vorsichtig sein, es war ja noch heller Tag. Sie hielt sich in dem Winkel zwischen Gehweg und Häusermauern, jeden Moment bereit, in eins der Gäßchen unterzutauchen. Beim Weiterhumpeln ergriff sie eine Erdnuß und knabberte daran; die Schale ließ sie fallen, aber die Hälfte mit dem zweiten Stück Nuß hielt sie mit den Zähnen fest. Viele Tische und Stühle, und Musik. Die Stühle waren zum großen Teil unbesetzt; wo Menschen saßen, trugen sie Mäntel. Hier lagen reichlich Brotkrumen, Rinden, sogar Schinkenstücke auf dem Steinboden zwischen den Stühlen herum. Ein Mann, der mit seiner Frau an einem der Tische saß, lachte auf und zeigte auf die Ratte. »Sieh mal, Helen – eine Ratte! Am hellen Tag!« »Oh – oh, wie gräßlich!« Die Frau war ganz erschrocken. Sie war fast sechzig und kam aus Massachusetts. Dann lachte sie ebenfalls – erleichtert, belustigt und nicht ganz ohne Furcht. -95-
»Mein Gott, der hat einer die Füße abgeschnitten!« sagte der Mann flüsternd. »Und sie hat bloß noch ein Auge, schau mal!« »Das müssen wir denen zu Hause erzählen!« sagte die Frau. »Gib mir mal den Fotoapparat, Alden.« Er gab ihn ihr. »Nicht jetzt, Helen, da kommt gerade der Kellner.« »Altro, Signore?« fragte der Kellner höflich. »No, grazie. Ah, si! Un caffe latte, per piacere.« »Alden – du –« Ja, er wußte sehr wohl, er sollte nicht mehr als zwei Tassen Kaffee am Tag trinken, eine morgens, eine nachmittags. Er hatte nur noch wenige Monate zu leben. Aber der Anblick der Ratte hatte ihn sonderbar erregt und belustigt. Er sah ihr zu, wie sie unruhig in dem Wald von Stuhlbeinen, nur drei Schritt entfernt, mit dem gesunden Auge nach Futter suchte, die Nase am Boden; wie sie auf die Krumen zuschoß und die kleinen, bereits zerdrückten, liegenließ. »Mach jetzt, sonst ist sie weg«, sagte er zu seiner Frau. Helen hob die Kamera. Die Ratte spürte die Bewegung – sie mochte feindselig sein – und blickte schnell auf. Klick! »Ich glaub, das ist gut geworden«, flüsterte Helen und lachte so glückselig, als habe sie soeben den Sonnenuntergang am Kap Sounion oder in Acapulco aufgenommen. »Bei dieser Ratte –« begann Alden ebenso leise, doch er unterbrach sich und nahm mit ganz leicht zitternden Fingern das Ende des Frankfurter Würstchens von dem Brot, das vor ihm lag, in die Hand und warf es der Ratte zu. Sie wich etwas zurück, stürzte dann darauf zu und hielt es fest; der verstümmelte Vorderfuß war auf die Beute gepreßt, während sie anfing zu kauen. Nach wenigen Augenblicken war das Stück Würstchen verschwunden, und die dicken Backen mahlten. -96-
»Das ist bei Gott ein tüchtiges Tier«, sagte Alden schließlich. »Stell dir mal vor, was es durchgemacht haben muß. Wie Venedig selber. Und kein Gedanke an Aufgeben. Enorm – findest du nicht?« Helen lächelte ihm zu. Alden sah besser und glücklicher aus als in den letzten Wochen, und das freute sie. Sie war der Ratte geradezu dankbar. ›Man stelle sich vor: einer Ratte dankbar zu sein‹, dachte sie. Als sie wieder hinblickte, war die Ratte verschwunden. Alden lächelte ihr zu. »Du, das wird ein extraschöner Tag für uns heute«, sagte er. »Ja.« Jeden Tag wurde die Ratte stärker und auch waghalsiger bei den Unternehmungen im Tageslicht, und immer besser verstand sie es, sich in acht zu nehmen, auch vor den Menschen. Erhob jemand einen Knüppel oder Besen oder eine Kiste mit der Absicht, die Ratte zu zerschmettern, so tat sie einen Sprung wie zum Angriff, worauf der Mann oder die Frau in den meisten Fällen zögerte oder zurückwich; und in diesem Augenblick gelang es der Ratte stets, in irgendeiner Richtung zu entwetzen, selbst an dem Menschen vorbei, wenn dort der Fluchtweg lag. Es folgten noch mehrere Weibchen. Die Ratte konnte sich, wenn ihr der Sinn danach stand, unter allen die besten aussuchen, denn die anderen Männchen hatten Angst und ließen es auf einen Kampf niemals ankommen. Das böse Auge und der schwere rollende Gang wirkten so finster bedrohlich, als könne nur der Tod hier Sieger bleiben. Die Ratte war nun über sieben Monate alt, groß und schwer; wie ein alter Seebär rollte sie durch das Labyrinth der Gassen und Gänge, unbeirrt und sicher. Mütter schraken entsetzt zusammen und rissen ihre Kinder zurück. Größere Kinder lachten und zeigten auf das seltsame Tier. Räude befiel seinen Kopf und Bauch; wurde das Jucken zu quälend, so rollte es sich über die groben Pflastersteine oder sprang ins Wasser, auch wenn es sehr kalt war. Sein Gebiet -97-
reichte von der Rialtobrücke bis nach San Trovaso, mit allen Lagerhäusern des Ponte Lungo am Ufer des breiten Canale della Giudecca. Der Palazzo Cecchini lag zwischen dem Rialto und der Landzunge mit den Lagerhäusern. Eines Tages kam Carlo vom Krämer mit einem großen Pappkarton nach Hause, der für den Dalmatiner Rupert bestimmt war. Der Hund war erkältet, und Carlos Mutter machte sich Sorgen. Carlo erblickte die Ratte, als sie sich gerade zwischen zwei Kisten mit Fisch und Eis, die vor einem Laden standen, herausdrängte. Das war die Ratte von damals! Genau dieselbe, bestimmt! Carlo erinnerte sich gut an die beiden verstümmelten Füße und das ausgestochene Auge. Er zögerte nur eine Sekunde, dann hatte er den Karton über die Ratte gestülpt und setzte sich darauf, vorsichtig, aber fest. Er hatte sie! »He, Nunzio, komm mal her!« schrie er einem Freund zu, der gerade vorbeilief. »Ruf mal Luigi, er soll schnell herkommen. Ich hab ’ne Ratte gefangen!« »Eine Ratte?« Nunzio hielt einen großen Laib Brot unter dem Arm. Es war nach sechs, schon wurde es dunkel. »Ja, eine ganz bestimmte Ratte. Los, hol Luigi!« schrie Carlo laut, denn die Ratte warf sich gegen die Seitenwände des Kartons. Gleich würde sie anfangen zu nagen. Nunzio setzte sich in Trab. Carlo rutschte von dem Karton herunter und drückte ihn fest in den Boden. Mit den Füßen trat er gegen die Seiten, damit die Ratte nicht erst anfing zu nagen. Mensch, was würde sein großer Bruder sagen… Wenn er bloß das Vieh so lange halten konnte! »Was machst du denn da, Carlo, geh da aus dem Weg!« rief der Fischhändler ihm zu. »Ich hab ’ne Ratte gefangen! Sie müßten mir ein Kilo Scampi dafür geben, daß ich eine von Ihren Ratten gefangen habe!« -98-
»Von meinen Ratten?« Der Fischhändler hob drohend die Hand, aber er hatte keine Zeit, auf den Jungen einzugehen. Jetzt kam Luigi angelaufen; er hielt ein Stück Holz in der Hand, das Querbrett einer Lattenkiste. »Hast du wirklich ’ne Ratte –?« »Dieselbe wie damals, du! Der wir die Füße abgehauen haben, die ist es, Ehrenwort!« Luigi grinste. Er legte die Hand fest auf den Karton und versetzte der Seitenwand einen kräftigen Tritt, dann hob er ihn etwas an, die Latte in der erhobenen Hand. Die Ratte schlüpfte heraus, und Luigi schlug ihr das Holz auf die Schultern. Das tat weh, und sie rang nach Luft. Ein zweiter Schlag traf sie in die Rippen. Die Beine ruderten hilflos, sie versuchte verzweifelt zu entkommen, aber sie kam nicht auf die Füße. Sie hörte das laute Lachen der beiden Jungen, die sie eilig in dem großen Karton fortschleppten. »Wir schmeißen sie einfach runter, ins Wasser. Dann ersäuft sie«, schlug Carlo vor. »Nein, ich will sie erst mal richtig sehen. Wenn wir ’ne Katze hätten, das gäbe einen prima Kampf. Die schwarzweiße von –« »Die kommt gar nicht mehr. Das Wasser steht unten ganz hoch. Komm, wir ersäufen sie!« Der dunkle Raum unten im Palazzo hatte für Carlo von jeher eine geheimnisvolle Anziehungskraft; er sah im Geist Gondeln an den Stufen anlegen und Fahrgäste abladen, die in dem gräßlichen Halbdunkel elend ertranken und deren Leichen auf dem Marmorboden liegenblieben und nur gefunden wurden, wenn das Wasser zurückging. Wer weiß, vielleicht wurde eines Tages das Erdgeschoß des Palazzo Cecchini eine ebenso finstere Attraktion wie die Gewölbe jenseits der Seufzerbrücke… Die Jungen stiegen die Stufen zur Haustür hinauf und betraten den Palazzo, die hohe Eingangstür war nur angelehnt. Oben in der Küche drang eine bekannte Melodie aus dem -99-
Transistorradio, und sie hörten die Mutter mitsingen. Carlo schloß die Tür mit einem Fußtritt, und das hörte die Mutter. »Kommt zum Essen, Luigi und Carlo!« rief sie laut. »Ihr wißt doch, wir wollen ins Kino!« Luigi stieß einen Fluch aus und lachte dann. »Subito, mamma!« Er ging mit Carlo die Treppe hinunter, die ins Erdgeschoß führte. »Habt ihr den Karton?« rief die Mutter. »Si-sii! – Gib mal das Holz her!« sagte Luigi schnell. Er nahm das Brett in die Hand und hielt gleichzeitig den Karton schräg nach unten, er hatte nicht vergessen, wie ihn diese Ratte damals in die Hand gebissen hatte; die Angst saß noch in ihm. Jetzt fiel die Ratte ins Wasser. Es war tatsächlich dieselbe! Luigi erkannte die beiden Beinstümpfe. Sie ging sofort unter, den ungeschickten Hieb mit dem Brett fühlte sie kaum. »Wo ist sie?« fragte Carlo. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, und stand jetzt auf der zweiten Steinstufe fußtief im Wasser. »Da – sie kommt wieder hoch!« Luigi stand eine Stufe höher, das Brett in der Hand bereit zum Zuschlagen, wenn die Ratte zum Luftholen auftauchte. Suchend blickten die Jungen über das dunkle Wasser, das jetzt höher schwappte, weil draußen hinter der Kanaltür ein Motorboot vorbeifuhr. »Laß uns reingehen und sie rausjagen!« sagte Carlo mit einem Blick auf seinen Bruder und stieg auch schon ins Wasser, das ihm jetzt bis zu den Knien reichte. Er trat heftig um sich, damit ihm die Ratte nicht nahekam. »Luigi!« schrie Mama von oben. »Bist du da unten? Du kannst was erleben, wenn du nicht sofort kommst!« Mit offenem Mund wandte sich Luigi um, um zurückzurufen, und sah in diesem Moment, wie die Ratte unbeholfen die oberste Stufe der Treppe erklomm, die ins erste Stockwerk führte. -100-
»Mamma mia!« flüsterte er entsetzt und zeigte mit dem Finger. »Sie ist nach oben gelaufen!« Carlo, der das Tier nicht gesehen hatte, erfaßte die Lage sofort. Er hob die Augenbrauen und stieg schweigend die Stufen hinauf. Unmöglich konnten sie das ihrer Mutter berichten; sie mußten der nassen Spur folgen und das Tier aus dem Hause jagen. Darüber war kein Wort zu verlieren. Als sie die Eingangshalle erreichten, war die Ratte verschwunden. Sie suchten nach einer nassen Fährte, fanden aber nirgends Wassertropfen auf dem grauweißen Marmorboden. Zwei Türen, die in den Salon führten, standen offen, und die Tür der unteren Toilette war nur angelehnt. Die Ratte konnte sogar nach oben entwischt sein – alles war möglich. »Kommt ihr endlich? Die Spaghetti sind aufgefüllt, beeilt euch doch!« »Si-ssi, subito, mamma!« Luigi blickte Carlo an, wies auf seine nassen Füße und reckte den Daumen nach oben, eine Treppe höher, wo der Bruder seine Kleider hatte. Carlo schoß die Treppe hinauf. Eilig warf Luigi noch einen Blick in die Toilette. Die Mutter durfte nicht wissen, was geschehen war. Wenn sie wüßte, daß eine Ratte oben im Hause war, würde sie heute abend das Haus nicht verlassen und ihnen auch nicht erlauben, ins Kino zu gehen. Luigi blickte suchend in einen der Salons, wo sechs Stühle um einen ovalen Tisch standen und andere Stühle und Tische an den Wänden aufgereiht waren. Er bückte sich, aber die Ratte war nirgends zu sehen. Carlo kam, und sie gingen zusammen die paar Stufen hinunter in die Küche. Papa war mit seinen Spaghetti schon fast fertig. Es folgte Bistecca. Der dickliche Hund sah ihnen zu, die Schnauze lag auf den Pfoten, und er speichelte. Man hatte ihn wieder am Herd festgebunden. Unauffällig blickte sich Luigi in der Küche um, ob die Ratte irgendwo in der Ecke saß. Sie waren noch beim -101-
Essen, als Maria-Teresa, der Babysitter, eintraf, zwei Bücher unter dem Arm. Lächelnd knöpfte sie ihren Mantel auf und nahm das Kopftuch ab. »Entschuldigung – ich bin zu früh gekommen«, sagte sie. »Aber nein – setz dich her und iß ein Stück Kuchen!« Als Nachtisch hatte Mama einen großen Plattenkuchen mit Pfirsichscheiben belegt, dem die Siebzehnjährige mit dem Appetit der Jugend nicht widerstehen konnte. Sie setzte sich und aß. Auch Papa Mangoni ließ sich ein zweites Stück schmecken. Er nahm zu, ebenso wie Rupert. Dann brach die Familie hastig auf, das Kleinste auf Papas Arm. Nach Papas Berechnung kamen sie bereits vier Minuten zu spät, auch wenn sie sich beeilten. Papa verzichtete ungern auf den Werbefilm, der vor dem Hauptprogramm gezeigt wurde; auch wollte er Freunde und Bekannte ausführlich begrüßen. Den Fernsehapparat hatte man aus dem Schlafzimmer der Eltern in den Raum geschoben, wo Baby Antonio, zwei Monate alt, in seiner hohen Wiege lag, zugedeckt mit einer weißen Spitzendecke, die fast bis zum Boden hing. Die Wiege hatte Räder. Leise summend trat Maria-Teresa heran, sah, daß der Kleine schlief, und rollte die Wiege noch etwas weg vom Fernsehapparat in der Ecke; dann schaltete sie ihn ein und stellte den Ton leise. Aber das Programm sah nicht interessant aus, sie setzte sich und schlug eins ihrer Bücher auf, einen Roman aus dem amerikanischen Westen des letzten Jahrhunderts. Als Maria-Teresa ein paar Minuten später auf den Bildschirm sah, fing ihr Blick ein graues Etwas auf, das sich in der Zimmerecke bewegte. Hastig stand sie auf. Eine Ratte – eine große scheußliche Ratte! Sie trat einen Schritt nach rechts, um das Tier nach links zu scheuchen, wo die Tür offenstand; aber langsam und unbeirrt schob sich die Ratte näher. Sie hatte nur ein Auge, und der eine Vorderfuß war abgeschnitten. MariaTeresa stieß einen Schrei aus und stürzte aus dem Zimmer. -102-
Keinesfalls wollte sie es mit der Ratte aufnehmen – Ratten waren ekelhafte Tiere, der Fluch von Venedig! Unten in der Halle stand das Telefon; eilig wählte sie die Nummer einer Café-Bar in der Nähe, wo ihr Freund als Kellner arbeitete. »Cesare – kann ich Cesare sprechen?« Cesare kam. Er hörte sich alles an und lachte. »Kannst du nicht herkommen? Die Mangonis sind alle im Kino, ich bin ganz allein im Haus. Ich hab solche Angst – am liebsten würd ich weglaufen!« »Okay, ich komme.« Cesare legte auf. Lachend schwang er eine Serviette über die Schulter und sagte zu dem Barmann: »Meine Freundin muß babysitten und hat eine Ratte im Haus gesehen, nun soll ich hinkommen und sie totschlagen.« Lautes Gelächter. »Tolle Sache, Ces! Das wird wohl eine Weile dauern, was?« fragte augenzwinkernd ein Gast, und wieder lachten alle. Cesare fragte seinen Chef nicht erst um Erlaubnis; der Palazzo Cecchini war, wenn man sich beeilte, nur eine Minute entfernt. Draußen hob er eine vier Fuß lange Eisenstange auf, die bei Lokalschluß vor die Tür gelegt wurde; sie hatte einiges Gewicht. Cesare lief und schlug im Geist schon auf die Ratte ein, die keinen Ausweg sah; er tötete sie und stellte sich vor, wie ihn Maria-Teresa mit zärtlichen Küssen belohnen würde. Doch bevor er das Biest in Angriff nahm, wollte er seine Kleine schnell noch in die Arme schließen und ihr ein paar tröstende Worte sagen; sicher zitterte sie vor Angst, wenn sie ihm jetzt gleich die Tür öffnete – Maria-Teresa zitterte. Leichenblaß und tränenüberströmt sagte sie: »Die Ratte hat das Baby gefressen.« »Was –!?« »Oben –« Cesare rannte, die Eisenstange in der Hand, die Treppe -103-
hinauf. Überall in dem konventionell möblierten Raum suchte er nach der Ratte, spähte unter das Doppelbett mit der langen Decke. Maria-Teresa war ihm gefolgt. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Sieh bloß das Baby an – wir müssen einen Arzt rufen! Ich – als ich mit dir telefonierte, ist es passiert!« Cesare blickte in die Wiege und sah das fürchterlich rote blutige Kissen. Und das Kleine – seine Nase – mein Gott, es hatte gar keine Nase mehr! Das kleine Gesicht – Cesare murmelte ein Stoßgebet und wandte sich hastig zu Maria-Teresa um. »Lebt es noch?« »Ich weiß nicht – doch, ja, ich glaube ja.« Vorsichtig schob Cesare seinen Zeigefinger in das winzige Fäustchen. Das Baby zuckte zusammen und gab einen gurgelnden Laut von sich, als erschwere ihm Blut in den Luftwegen das Atmen. »Du, müssen wir es nicht umdrehen? Auf die Seite legen, meine ich. Ich werde – ich werde jetzt erst mal anrufen. Kennst du die Nummer von irgendeinem Arzt hier?« »Nein«, erwiderte Maria-Teresa verzagt. Sie wußte, was ihr bevorstand, sie war schuld an dem schrecklichen Geschehen. Anstatt Cesare anzurufen, hätte sie erst mal die Ratte aus dem Zimmer jagen müssen. Cesare hatte vergeblich versucht, einen Arzt zu erreichen, dessen Namen er kannte und dessen Telefonnummer er im Buch nachschlug. Jetzt rief er das Zentralkrankenhaus von Venedig an, und man sagte ihm, es werde sofort jemand kommen. Es dauerte auch nicht lange, bis das Krankenhausboot kam und etwa fünfzig Meter entfernt am Canale Grande anlegte; Cesare und Maria-Teresa hörten das Geräusch des starken Motors. Maria-Teresa hatte inzwischen das Gesicht des Babys vorsichtig mit einem Waschlappen gekühlt, um ihm vor allem die Atmung zu erleichtern. Die Nase war weg, man sah ein Stück des -104-
Knochens durch die dünne Haut schimmern. Zwei junge Ärzte erschienen und gaben dem Kleinen zwei Spritzen, wobei sie immer wieder »Orribile!« vor sich hin murmelten. Maria-Teresa wurde angewiesen, eine Wärmflasche zu füllen. Cesares sonst so frisches Gesicht sah fahlblaß aus; ihm war elend zumute, und er ließ sich auf einen der steifen Stühle fallen. Vorbei der Traum von der zärtlichen Umarmung; er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die Ärzte wickelten das Baby mit der Wärmflasche in eine Wolldecke und fuhren auf dem Boot zurück ins Krankenhaus. Langsam erholte sich Cesare. Er stieg in die Küche hinunter und fand nach einigem Suchen eine halbe Flasche Strega, aus der er zwei Gläser füllte. Noch immer hielt er die Augen offen nach der Ratte, aber er sah sie nicht. Die Mangonis mußten nun bald nach Hause kommen, und er wäre weiß Gott jetzt lieber woanders, sogar an seinem Arbeitsplatz; aber er mußte doch wohl Maria-Teresa beistehen, das würde auch der Chef einsehen. Wo das Baby beinahe umgekommen oder womöglich jetzt schon tot war – Um zwanzig Minuten vor elf kam die Familie nach Hause, und unverzüglich setzte das Pandämonium ein. Mama schrie. Alle redeten gleichzeitig. Mama lief nach oben, um die blutige Wiege zu betrachten, und schrie von neuem. Papa rief das Krankenhaus an. Cesare machte sich mit den ältesten drei Brüdern und einer der Schwestern daran, das ganze Haus abzusuchen, bewaffnet mit leeren Weinflaschen, Messern, einem Schemel und einem Feuerhaken. Cesare hielt seine Eisenstange gepackt. Keiner fand eine Ratte, nur wurden verschiedene Möbel bei der Suche leicht angeschlagen. Maria-Teresa bat völlig zerknirscht um Verzeihung und erhielt sie. Papa zeigte Verständnis dafür, daß sie ihren Freund, der in der Nähe war, zu Hilfe gerufen hatte. Aus dem -105-
Krankenhaus erfuhren sie, das Kleine habe eine Überlebenschance von fünfzig zu fünfzig, aber könnte bitte die Mutter sofort kommen? Die Ratte war längst entkommen, und zwar durch die breite Abflußröhre im Küchenfußboden. Sie hatte einen Sprung von drei Metern riskiert und war im Rio San Polo gelandet. Das war kein Problem; sie schwamm mit kräftigen Stößen sowohl der beiden unversehrten wie der zwei anderen Beine und vor allem mit der ihr eigenen eisernen Willenskraft bis zum nächsten Mauervorsprung und kletterte hinauf, ohne daß ihr schwindlig wurde. Oben schüttelte sie sich. Noch hatte sie den Blutgeschmack auf der Zunge. Sie war eigentlich nur aus Angst über das Baby hergefallen, und dann auch aus Wut, weil sie aus dem verdammten Haus keinen Ausweg finden konnte. Es hatte sich gewehrt, das Kleine, und mit den schwachen Fäustchen nach Kopf und Rücken der Ratte geschlagen. Einen lebenden Menschen anzufallen, einen mit dem gleichen Geruch wie die großen, das war ein seltener Genuß für die Ratte. Das zarte Fleisch hatte ihrem Bauch wohlgetan und sie mit neuer Lebenskraft erfüllt. Mit ihrem rollenden Gang setzte sie jetzt in der Dunkelheit ihren Weg fort; hin und wieder hielt sie an, um ein Stück Abfall zu beriechen oder mit einem Blick nach oben in den Wind zu schnüffeln. Ihr Ziel war der Rialto, da konnte sie bei Nacht gefahrlos über die Brücke kommen und dann irgendwo nahe San Marco, wo es so viele Restaurants gab, zunächst ihr Quartier aufschlagen. Die Nacht war sehr dunkel, und das bedeutete Sicherheit. Ihre Kräfte schienen noch zu wachsen, als sie so dahinschunkelte und mit dem Bauch fast den feuchten Steinboden berührte. Eine neugierige Katze wagte es, näher zu kommen und sie zu mustern. Die Ratte starrte einen Augenblick zurück und sprang. Die Katze tat einen Satz in die Luft und verschwand.
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Dampfroß
L
angsam wandte Fanny, die große Stute, den Kopf, als sie das Rascheln im Heu hörte. Das rhythmische Kauen wurde nicht unterbrochen, und die großen Augen, die ein wenig aussahen wie weiche braune Eier, blickten ruhig nach hinten und suchten auf dem Boden. Fanny nahm an, es sei eine der Katzen, obgleich sie selten so nahe herankamen. Zwei Katzen gab es auf dem Hof, eine rötliche und eine schwarzweiße. Fanny hatte sich nur flüchtig umgesehen. Oft kamen die Katzen einfach in den Stall, weil es dort still war und sie ungestört schlafen konnten. Fanny zog gelassen noch mehr Heu aus der Raufe, kaute und blickte sich dabei ein zweitesmal um, und jetzt sah sie das kleine graue Tierchen ganz nahe an ihrem Vorderfuß. Ein winzigkleines Kätzchen. Es gehörte weder zum Haushalt noch einer der größeren Katzen, denn die hatten jetzt keine Jungen. Es war ein Tag im Juli, und die Sonne war im Untergehen. Schnaken tanzten um Fannys Augen und Nase; sie mußte schnauben. Ein kleines viereckiges Fenster, das im Winter geschlossen blieb, stand jetzt offen, die Sonne strömte direkt in Fannys Augen. Heute hatte sie nicht viel zu arbeiten gehabt, denn Sam, der Mann, mit dem sie ihr Leben lang – seit zwölf Jahren also – gearbeitet hatte, war nicht gekommen, heute nicht und auch gestern nicht. Heute hatte sie, soweit sie es noch wußte, nichts getan, als mit Bess, der Frau des Hauses, zum Wassertank zu gehen und wieder zurück. Dann hatte sie eine ganze Weile kauend im Stall gestanden, bevor sie sich mit einem Grunzer zum Schlafen niederlegte. Die mächtigen Schenkel und der starke Brustkasten, gutgepolstert mit Fett und Muskelfleisch, sanken wie ein vorsichtig heruntergelassenes Faß ins Heu. Es wurde nun kühler. Die kleine graue Katze, die -107-
Fanny jetzt deutlicher erkannte, kam näher und rollte sich in den rötlichen Haaren hinter Fannys linkem Vorderhuf zusammen. Sie war noch keine vier Monate alt, aschgrau und schwarz gescheckt; das Schwänzchen war nur so lang wie eine KingsizeZigarette, es war ihr mal jemand mitten draufgetreten, als sie noch jünger war. Sie hatte heute schon einen langen Weg zurückgelegt, etwa drei oder vier Meilen, und suchte den ersten Unterschlupf, der sich ihr bot. Von zu Hause war sie weggelaufen, weil die Großmutter und die Urgroßmutter immer und immer wieder über sie hergefallen waren, bis es ihr zuviel wurde. Ihre Mutter war vor wenigen Tagen von einem Auto überfahren worden; die Kleine hatte den toten Körper auf der Straße liegen sehen und ein wenig daran geschnüffelt, und dann hatte ihr normaler Selbsterhaltungstrieb ihr gesagt, die große unbekannte Welt sei besser als die Umgebung, die sie kannte. Sie war ein drahtiges und unerschrockenes kleines Geschöpf, nur war sie jetzt sehr müde. Als sie über den Hof strich, hatte sie nur aufgeweichtes Brot und Wasser im Hühnertrog gefunden, und trotz des Sommerabends fröstelte sie. Die mächtige rotbraune Stute strömte anheimelnde Wärme aus, und als sie sich niederlegte, entdeckte das Kätzchen den kleinen Winkel hinter dem Huf und ließ sich fallen. Der Stute gefiel das Tierchen. So ein federleichtes winziges Ding! Pferd und Kätzchen schliefen zusammen ein. Inzwischen ging in dem weißen zweistöckigen Bauernhaus die Auseinandersetzung weiter. Der Hof gehörte Bess Gibson, die seit drei Jahren Witwe war. Vor wenigen Tagen war Harry, ihr Enkelsohn, mit seiner jungen Frau gekommen – um sie zu besuchen und ihr Marylou vorzuführen, hatte Bess gedacht. Aber Harry hatte eigene Pläne, und er brauchte Geld dazu. Seine Mutter besaß wohl entweder nicht so viel oder hatte es ihm abgeschlagen, so nahm Bess an. Ihr Sohn Ed war Harrys Vater gewesen; er war tot, und die Mutter hatte in Kalifornien wieder geheiratet. -108-
Harry saß in Cowboykleidung in der Küche, hatte abwechselnd eine Zigarette und einen Zahnstocher im Mund und redete von dem Drive-in-Restaurant, in das er sich einkaufen wollte. »Wenn du bloß einsehen wolltest, Gramma, daß der Hof hier sich nicht mal selber trägt. Einfach totes Kapital – und was hast du davon?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das Haus und das Land könntest du für hundertzwanzigtausend verkaufen. Stell dir bloß mal vor, was für eine Wohnung du für einen Bruchteil davon kriegen könntest!« »Ja, das stimmt«, echote Marylou. Ihre Kaffeetasse stand noch vor ihr; sie hatte eine Nagelfeile herausgezogen und feilte jetzt an ihren Nägeln herum. Bess verlagerte ihr Gewicht auf dem Holzstuhl, der hörbar knarrte. Sie trug ein blauweißes Baumwollkleid und weiße Sandalen. Sie litt an Wassersucht; das Haar war in den letzten zwei Jahren ganz weiß geworden. Sie wußte, was Harry meinte: eine Wohnung in der Stadt, in Danville, dreißig Meilen weit weg. Irgend so eine kleine enge Behausung, zwei Treppen hoch, und das Haus gehörte einem, an den sie dann Miete zahlen mußte. Bess hatte nicht die geringste Lust zu so einer Wohnung, egal wieviel Komfort sie zu bieten hatte. »Der Hof ist in Ordnung«, sagte sie schließlich. »Wir setzen nicht zu. Hühner und Enten – die werden noch immer gekauft, und auch die Eier. Und dann noch das Getreide, Korn und Weizen. Sam wird sehr gut damit fertig – natürlich, wenn er wegbleibt, weiß ich noch nicht, wie es weitergeht«, setzte sie mit leichter Schärfe hinzu, »aber es ist mein Zuhause, und wenn ich mal tot bin, gehört es dir.« »Ihr habt ja nicht mal ’n Traktor! Sam macht noch alles mit dem Pflug, das ist doch lächerlich. Ein einziges Pferd. In welchem Jahrhundert lebst du denn, Gramma? Und du könntest ja auch Geld aufnehmen, wenn du mir helfen wolltest!« sagte Harry. Es war nicht das erstemal, daß er diesen Vorschlag machte. -109-
»Ich habe nicht die Absicht, dir oder sonst jemandem einen verschuldeten Hof zu hinterlassen«, gab Bess zur Antwort. Sie war also noch immer nicht überzeugt von der Sicherheit seines Vorhabens. Aber Harry hatte ihr das alles schon einmal auseinandergesetzt und hatte jetzt keine Lust, es zu wiederholen. Er warf nur Marylou einen Blick zu, den sie erwiderte. Bess fühlte, wie ihr Wärme ins Gesicht stieg. Vor zwei Tagen hatte Sam, ihr Faktotum – siebzehn Jahre war er auf dem Hof, er gehörte ganz zur Familie – seine Sachen gepackt und sich verabschiedet. Es tue ihm leid, hatte er gesagt, aber mit Harry zusammen, das könne er nicht aushalten. Sam war kein junger Mann mehr, und Harry hatte vermutlich versucht, ihm gegenüber den Herrn herauszukehren, als ob Sam ein Dienstbote wäre. Genaues wußte Bess nicht, doch sie sah es deutlich vor sich. Hoffentlich ließ er bald von sich hören, damit sie erfuhr, wo er sich aufhielt, und ihn bitten konnte zurückzukommen, sobald Harry fort war. Wenn sie an den alten Mann dachte, wie er in seinem besten Jackett auf der Straße stand, seinen Koffer neben sich, und auf den Autobus wartete, dann stieg fast etwas wie Haß auf ihren Enkel in Bess auf. »Es ist doch im Grunde ganz einfach, Gramma«, begann Harry von neuem mit der langsamen und geduldigen Stimme, in der er jedesmal sein Vorhaben darlegte. »Ich brauche sechzigtausend Dollar für meinen Anteil an dem Geschäft mit Roscoe. Er heißt Ross Levitt – Roscoe ist nur sein Spitzname.« Mir ganz egal, wie er heißt, dachte Bess, aber sie gab ein höfliches »Hm-hm« von sich. »Ja, also – wenn wir jeder sechzigtausend Dollar reinstecken, ist das für uns beide eine todsichere Sache. Du weißt ja, es ist eine Kette von Lokalen, zwölf sind schon in Betrieb, und sie gehen alle glänzend. Aber ich habe nur noch ein paar Tage Zeit, Gramma – wenn ich das Geld dann nicht habe und auch keine feste Zusage machen kann, dann ist für mich Schluß. Aus. Du -110-
kriegst das Geld ja wieder, das ist klar – ich zahl’s dir zurück. Für mich ist das eine einmalige Chance – so was kommt im Leben nicht wieder!« Was für große Worte, dachte Bess. Ganze zweiundzwanzig Jahre alt war Harry. Der mußte noch viel lernen. »Frag doch deinen Rechtsanwalt, wenn du Zweifel hast, Gramma. Oder jemand auf der Bank. Du kannst alles prüfen lassen, da hab ich keine Angst.« Bess kreuzte die geschwollenen Füße. Warum gab ihm seine Mutter nicht das Geld, wenn das alles so sicher war? Sie hatte einen wohlhabenden Mann geheiratet. Und jetzt saß Harry hier, zweiundzwanzig und schon verheiratet. Viel zu früh, dachte Bess. Marylou war nicht ihr Fall – Mädchen dieses Typs waren überhaupt nicht ihr Fall. Niedlich und dumm. Schuljungenschwarm, aber keine Ehefrau. Bess wußte, sie mußte das alles für sich behalten. Einmischen war ganz falsch. »Gramma, was willst du hier überhaupt noch auf dem Lande, so ganz allein? Du hast mir selber erzählt, im letzten Jahr sind die Colemans gestorben, beide. In der Stadt hättest du nette Freunde um dich herum, die könnten…« Harry redete weiter, aber Bess hörte kaum, was er sagte. Sie hatte drei oder vier gute alte Freunde, im ganzen sogar noch sieben oder acht hier in der Gegend, die sie alle seit vielen Jahren kannte. Die riefen sie an oder besuchten sie, oder Sam fuhr sie mit dem Lieferwagen hin. Harry war wohl zu jung, um zu wissen, was ein Zuhause bedeutete. Die hohen Schlafzimmer oben – was waren das für schöne Räume. Jeder sagte das. Die Steppdecken und Gardinen waren alle selbst genäht, von Bess oder noch von ihrer Mutter. Einmal war sogar jemand von der Lokalzeitung gekommen und hatte Aufnahmen gemacht, und der Artikel war nachher dann noch mal erschienen in… Bess’ Gedanken wurden unterbrochen, als Harry aufstand. »Na, dann wollen wir mal schlafen gehen, Gramma«, sagte er. -111-
Marylou erhob sich ebenfalls und stellte ihre Kaffeetasse in den Ausguß. Alles andere Geschirr war schon abgewaschen. Marylou redete nicht viel, doch Bess spürte, daß es in ihr stürmte, daß ein heftiges Verlangen sie erfüllte. Es war wohl nichts anderes und auch nichts Schlimmeres als das, wovon Harry so besessen war: er wollte einfach Geld haben, viel Geld. Sie konnten dann auf dem Grundstück hinter dem Lokal auch wohnen, das hatte Harry gesagt. Ein schönes Haus mit eigenem Swimming-pool. Klar, daß ihr daran so viel lag, das konnte Bess sich gut vorstellen. Die jungen Leute waren nach oben gegangen in das vordere Schlafzimmer, wo sie auch den Fernsehapparat aufgestellt hatten. Bess hatte gesagt, sie sehe nicht oft fern. Das stimmte nicht, sie saß fast jeden Abend davor, aber sie hatte den Kindern den Gefallen tun wollen, als sie neulich ankamen. Jetzt hätte sie den Apparat gern unten gehabt, um ein bißchen auf andere Gedanken zu kommen, vielleicht auch mal zu lachen. Sie ging in ihr Schlafzimmer. Im Sommer schlief sie in einem Raum, der an die hintere Veranda grenzte und wegen der Mücken mit Gazefenstern versehen war, obgleich es hier nie sehr viele Mücken gab. Sie stellte ihr Transistorradio leise an. Oben unterhielten sich Harry und Marylou mit gedämpften Stimmen. Ab und zu warfen sie einen Blick auf die geschlossene Tür. Vielleicht kam Bess noch herauf mit einem Tablett mit Milch und Keks; das hatte sie einmal getan, seit sie hier waren. »Ich glaub nicht, daß sie heute noch kommt«, meinte Marylou. »Sie hat ’ne Wut auf uns.« »Bedauerlich.« Harry war beim Ausziehen, er hauchte über die rechteckige Kappe seiner Cowboystiefel und fuhr sich damit über den Hosenboden, um zu sehen, ob sie glänzten. »Mensch, solche Situationen sind doch nichts Neues, oder? Immer sitzt irgendwo ein alter Mensch auf seinem Geld und gibt es nicht her – wo es mir doch mal zukommen wird! –, und die Jungen, die es verdammt nötig brauchen, die kriegen nichts.« -112-
»Weißt du nicht sonst noch jemand, der sie überreden könnte?« »Hier draußen? Nichts zu machen.« Die würden alle auf der Seite seiner Großmutter stehen, davon war Harry überzeugt. Von anderen Leuten war da nichts zu hoffen. »Ich trink noch ’n Schluck, du auch?« Aus der hinteren Ecke des Wandschranks zog Harry eine große halbvolle Whiskyflasche. »Nö, danke. Ich trinke einen Schluck von dir, wenn du Wasser dazutust.« Harry goß etwas Wasser aus dem Porzellankrug in sein Glas, reichte es Marylou, die einen Schluck trank, und goß dann noch mehr Whisky ins Glas, das er fast auf einen Zug leerte. »Weißt du, daß ich Roscoe gestern oder heute anrufen sollte? Und ihm Bescheid geben?« Harry wischte sich den Mund ab. Er erwartete keine Antwort und erhielt auch keine. Mensch, ich wollte, sie wäre tot, dachte Harry. Es war wie ein Fluch, mit dem er sich, wäre er ausgesprochen, vielleicht von Wut und Groll befreit hätte. Und dann fiel ihm etwas ein. Eine Idee – keine schlechte Idee und auch keine schreckliche. Nicht zu schrecklich jedenfalls. Und ungefährlich, oder doch zu neunzig Prozent ungefährlich, wenn er klug und vorsichtig zu Werke ging. Im Grunde sogar eine ganz einfache Idee. »Woran denkst du?« fragte Marylou. Sie saß im Bett und hatte die Decke bis zur Taille hochgezogen. Das weiche rötliche Haar schimmerte wie ein Heiligenschein im Licht der kleinen Leselampe, die am Bett befestigt war. »Ich dachte – wenn Gramma was passierte – Schenkelhalsbruch oder so – was alte Leute so oft kriegen, weißt du. Dann müßte sie –« er trat näher ans Bett und sprach noch leiser, er wußte, Marylou werde mitmachen, selbst wenn sein Plan gefährlich war. »Ich meine, dann müßte sie ja in der Stadt bleiben, wenn sie nicht rumlaufen könnte, nicht wahr?« Marylou war verwirrt, die Augen glänzten verschwommen -113-
vor Aufregung, und sie blinzelte. »Was hast du denn vor?« flüsterte sie. »Willst du sie die Treppe hinunterstoßen?« Harry schüttelte schnell den Kopf. »Das käme sofort raus. Ich dachte mehr an – vielleicht ein Picknick, davon hat sie doch erzählt, weißt du? Mit Pferd und Wagen, und wir nehmen Sandwiches mit und Melonen und –« »Und Bier!« Marylou kicherte erregt, sie wußte, jetzt kam der Höhepunkt. »Dann kippt der Wagen irgendwo um«, sagte Harry ohne Umschweife und zuckte die Achseln. »Da ist doch diese Furt im Bach, weiter unten, weißt du? Na, ich kenne sie jedenfalls.« »Hmm. Der Wagen kippt also um. Und wir – wenn wir drin sind?« »Du brauchst nicht drin zu sein. Du springst eben vorher ab, weil du die Decke ausbreiten willst oder sonst was. Ich mach’s dann.« Pause. »Willst du wirklich?« fragte Marylou. Harry dachte nach, die Augen waren fast geschlossen. Endlich nickte er und sagte: »Ja. Wenn mir nichts anderes einfällt. Nichts Besseres, meine ich. Ich habe nicht mehr viel Zeit – irgendwas muß ich Roscoe sagen. Ja, ich mach’s.« Abrupt stand er auf und schaltete den Fernsehapparat ein. Das graue Kätzchen hatte bei der Stute Fanny Schutz und Schirm und ein warmes Zuhause gefunden. Fanny tat im Grunde gar nichts, sie existierte einfach und spendete Wärme in der Kälte der Nacht vor der Morgendämmerung. Die einzigen Feinde des kleinen Tierchens waren die beiden älteren Katzen, aber sie begnügten sich meist mit Hochnäsigkeit, fauchten auch wohl mal und schlugen flink mit den krallenbewehrten Pfoten zu. Alles sehr lästig und unangenehm, doch sie trachteten der -114-
Kleinen nicht nach dem Leben und suchten sie auch nicht vom Hof zu vertreiben, das war immerhin etwas. Lange hielt sich die kleine Katze im Stall niemals auf. Sie spielte lieber im Geflügelhof, bei den Hühnern und Enten, wo sie manchmal aus Spaß auf ein Küken losging, aber sich rechtzeitig duckte, sobald der böse Schnabel der Henne in die Nähe kam. Dann sprang sie oben auf den Holzzaun, putzte sich die Pfoten und betrachtete prüfend das vor ihr liegende Gelände und die Wiese, die hinter ihr lag. Sie war ein halbwildes kleines Geschöpf; niemals wagte sie sich an die hintere Haustür; sie spürte, daß sie dort unwillkommen war. Bisher war ihr von den Zweibeinern nie etwas anderes als Mißhandlung oder bestenfalls Gleichgültigkeit zuteil geworden. Zusammen mit ihrer Groß- und Urgroßmutter hatte sie – wenn die Älteren sich sattgefressen hatten – sich über die Reste ihrer Beute hergemacht: Ratten, Vögel, ab und zu ein junges Kaninchen. Die Zweibeiner gaben weder regelmäßig noch reichlich; vielleicht mal ein Schüsselchen mit Milch und Brot, aber nicht jeden Tag, nicht so, daß man damit rechnen konnte. Doch das mächtige rotbraune Pferd, so schwer und bedächtig, war dem Kätzchen ein zuverlässiger Freund geworden. Es hatte schon andere Pferde gesehen, aber noch nie ein so großes, und es war ihnen nie nahe gekommen, hatte sie niemals berührt. Das war lustig, aber nicht ganz ungefährlich. Das Kätzchen sprang gern unbekümmert umher und trieb Unfug mit anderen (etwa den Küken) oder mit sich selber; das erleichterte die harten Realitäten des Daseins, etwa die Tatsache, daß es auch mit ihr – wie mit ihrer Mutter – blitzartig zu Ende sein konnte, wenn zum Beispiel das riesengroße Pferd versehentlich seinen Fuß auf sie setzte. Die großen Füße des Pferdes waren unten aus Metall, das hatte die Kleine eines Abends gesehen, als Fanny sich hinlegte. Gar nicht weich, wie die langen Haare dort unten, sondern ganz hart – sie konnten sehr weh tun. Aber die kleine Katze wußte, daß das Pferd ebenfalls gern mit -115-
ihr spielte. Es wandte den starken Kopf und Hals, um sie anzusehen, und nahm sich sehr in acht, um sie nicht zu treten. Einmal, als Fanny auf ihrer Streu lag, wagte es das Kätzchen und sprang der Stute mutwillig auf die weiche Nase, lief die knochige Stirn hinauf, packte ein Ohr und biß spielerisch hinein; dann sprang es eilig herunter und saß zusammengekauert vor dem großen Freund, voller Angst vor Strafe. Aber Fanny hatte nur leicht die Mähne geschüttelt und schnaubend ein wenig mit den Zähnen gebleckt – wobei ein paar Heuhalme in Unordnung gerieten –, so als fände sie das alles sehr lustig. Deshalb sprang jetzt das Kätzchen furchtlos auf den Flanken und Schenkeln des Freundes herum, zog an dem dicken Schwanzhaar und duckte sich behende, wenn der Schwanz langsam hin und her schlug. Die großen Pferdeaugen folgten ihm, schützend und aufmerksam, wie die Augen der Mutter, an die sich das Kätzchen noch erinnerte. Nun kroch es zum Schlafen stets in den warmen Winkel unter der Schulter des Freundes, ganz dicht an dem großen Körper, der so viel Wärme ausstrahlte. Eines Tages erblickte die dicke Frau das kleine Kätzchen. Gewöhnlich versteckte es sich, sobald es einen Menschen aus dem Hause kommen sah; diesmal hatte es nicht aufgepaßt, weil es draußen vor dem Stall mit einem abgenagten Hühnerknochen beschäftigt war. Es kauerte sich zusammen und starrte die Frau an. »Nanu – wo kommst du denn her, du Kleines?« fragte Bess und bückte sich, um besser zu sehen. »Und was ist mit deinem Schwanz los? Du bist mir aber ein Winziges!« Sie trat näher, und mit einem Satz schoß das Kätzchen in die Himbeersträucher und verschwand. Bess trug den Hafereimer in den Pferdestall – die arme Fanny blieb jetzt immer nur im Stall und hatte nichts zu tun –, setzte ihn oben auf eine Ecke der Raufe und führte Fanny hinaus zur Tränke. Als sie getrunken hatte, öffnete Bess ein Gatter und ließ die Stute hinaus auf die umzäunte Weide. -116-
»Schöne Ferien hast du, was Fanny? Aber heute machen wir ein Picknick, und du ziehst den Wagen, warte nur. Runter zum Bach, da kannst du dir die Füße kühlen.« Sie tätschelte Fannys Flanke, der Rist war gerade in Augenhöhe. Ein kräftiges Pferd, aber kein starker Fresser, und immer bereit zur Arbeit. Bess fiel ein Sommertag ein, als Harry dreizehn war. Er saß rittlings auf Fanny, damit sie eine Aufnahme machen konnten, die Beine lagen rund um den Pferdeleib, als säße er auf einem Faß. Bess dachte nicht gern an die Zeit. Damals war Harry netter gewesen. Dampfroß, so hatte er Fanny immer genannt, weil sie so kräftig war – jeder bewunderte sie, wenn sie eine ganze Wagenladung mit Weizensäcken zog. Bess trat in den Stall zurück, schüttete den Hafer in Fannys Raufe und ging dann wieder ins Haus; sie hatte einen Obstkuchen im Ofen. Sie schaltete den Herd aus und öffnete die Klappe ein wenig, so daß sie etwa zehn Zentimeter offenstand. Bess richtete sich nie genau nach Mengen- oder Zeitangaben, aber was sie backte, gelang. Sie könnte dem Kätzchen einen Knochen vom Roastbeef zum Abnagen geben, überlegte sie. Sie kannte diese Art – halbwild und unerschrocken; das gab mal einen prima Mäusejäger, wenn er – oder sie – groß wurde und sich gegen die beiden andern Katzen behaupten konnte. Bess nahm den Bratenrest aus dem Kühlschrank und schnitt mit einem scharfen Messer einen Knochen von etwa fünf Zentimeter Länge ab. Wenn es ihr gelang, ihn dem Kätzchen zu bringen, ohne daß die beiden andern etwas merkten und ihn an sich rissen, dann würde das dem Kleinen gewiß guttun. Die Sandwiches mit Schinken und Käse waren schon fertig, und es war erst Viertel vor zwölf. Marylou hatte morgens ein halbes Dutzend Eier hart gekocht. Wo mochte sie jetzt sein? Wahrscheinlich waren sie beide oben und unterhielten sich. Reden taten sie viel, die zwei. Bess hörte, wie eine Diele knarrte. Ja, sie waren oben; und Bess beschloß, hinauszugehen und nach dem Kätzchen zu suchen. -117-
Mit ihrem leicht watschelnden Gang kam sie zum Hühnerhof und rief: »Komm, Pussypuss! Komm, Puss, komm!«, wobei sie den Knochen in der ausgestreckten Hand hielt. Ihre eigenen zwei Katzen waren jetzt sicher irgendwo auf der Jagd, das traf sich gut. Bess warf noch einen Blick in den Pferdestall, auch da war das Tierchen nicht. Aber als sie Fanny auf der Wiese sah – sie hielt den Kopf gesenkt und kaute Klee –, da erblickte sie auch die kleine Katze. Wie ein Rauchwölkchen, das der Wind hin und her bläst, tanzte sie in der Sonne um Fannys Hufe herum. Einen Augenblick stand Bess wie verzaubert und sah dem federleichten Dingelchen zu, das da so geschäftig auf und ab sprang. Was für ein Gegensatz zu ihrem eigenen plumpen Gewicht! So unbeweglich und so alt… Bess lächelte, als sie auf das Gatter zuging. Das Kätzchen würde sich über den Knochen freuen. »Puss – Pussy – wie sollen wir dich denn nennen, wenn du bei uns bleibst?« Bess atmete etwas mühsam, das gleichzeitige Gehen und Sprechen strengte sie an. Das Kätzchen wich zurück. Die Ohren waren hochgestellt, die gelbgrünen Augen blickten Bess argwöhnisch entgegen, schutzsuchend schob es sich näher an die Stute. »Hier – ich hab dir ’n Knochen mitgebracht«, sagte Bess und warf ihn hinüber. Die kleine Katze tat einen Satz rückwärts, dann roch sie das Fleisch und kam mit gesenkter Nase auf den Knochen zu. Ein leises Knurren, ungewollt und elementar, drang aus der kleinen Kehle, ein Laut der Warnung, des Triumphes und auch der Gier. Sie setzte einen winzigen Fuß auf den starken Knochen – sicherheitshalber, damit niemand ihn ihr streitig machte, und begann mit spitzen Zähnen das Fleisch abzureißen. Knurrend und gleichzeitig fressend umkreiste sie den Knochen und warf dabei Blicke nach rechts und links, um sicher zu sein, daß kein Feind oder Rivale unversehens in die Nähe kam. Bess lachte befriedigt und amüsiert. Von Fanny hatte das -118-
Kleine bei diesem Schmaus gewiß nichts zu befürchten! Marylou war schon dabei, den Wagen mit Körben und Thermosflaschen und Decken zum Sitzen zu beladen. Bess trat in die Küche und nahm ein frisches Tischtuch aus der Schublade. Harry ging hinaus, um Fanny anzuspannen. Wie ein Cowboy stolzierte er in den hochhackigen Stiefeln über den Hof, griff nach dem geschwungenen Rand seines Stetson und schob ihn zurecht, um sich sicherer zu fühlen; er hatte wenig Erfahrung mit Pferden und mit dem Griff, der beim Anschirren das Kummet über den Pferdehals streift. »Heh, Fanny!« schrie er, als die Stute zurückwich. Verdammt, das war danebengegangen. Bess zu Hilfe rufen wollte er nicht, da machte er sich ja lächerlich. Das Gesicht ihm zugewandt, umkreiste ihn die Stute, trat aber jedesmal zurück, wenn er versuchte, ihr das Kummet anzulegen. Harry tanzte herum wie ein Stierkämpfer, nur mit dem Unterschied, daß das Leder allmählich recht schwer wurde – so ein Gewicht hatte kein Stierkämpfer in der Hand zu halten. Ob er das Vieh einfach festschnallen sollte? Er griff nach dem Zügel, der vom Halfter herunterhing. Fanny hatte noch nicht mal die Trense im Maul. »Heh, Dampfroß! Los, mach schon, Alte!« Gestärkt und ermuntert vom halbverzehrten Festmahl sprang auch das graue Kätzchen umher, tollte mutwillig über das Gras und tat, als müsse es den Knochen bewachen, obgleich es wußte, daß der Mann es noch gar nicht gesehen hatte. »Los, Fanny! Los, habe ich gesagt!« schrie Harry und schwang den Arm mit dem Ledergeschirr, und diesmal gelang es, aber er knickte mit dem Fuß um und fiel zu Boden. Er stand auf, es war ihm nichts geschehen, und dann hörte er den kleinen Schrei – einen rhythmischen Laut, als ob jemand keuchte. Harry erblickte das graue Tierchen, das er zuerst für eine Ratte hielt, bis er sah, daß es ein Kätzchen war, dem die -119-
Gedärme heraushingen. Er mußte draufgetreten sein, er oder das Pferd, oder er war darauf gefallen. Daß er es töten mußte, stand fest, das sah er sofort. Zu ärgerlich. Plötzlich stieg Zorn in ihm auf, er hob den Fuß im Cowboystiefel und trat hart auf den Kopf des kleinen Tieres. Er hatte die Lippen zurückgezogen, so daß die Zähne sichtbar waren; langsam kam er wieder zu Atem. Seiner Großmutter würde das Kätzchen kaum fehlen, meist hatte sie sowieso zu viele. Er packte das Tierchen an dem merkwürdig kurzen Schwanz, schwang es durch die Luft und schleuderte es, so weit er konnte, über die Wiese, weg vom Haus. Die Stute folgte der Bewegung mit den Augen, bis das Kätzchen – noch bevor es auf dem Boden landete – aus ihrem Blickfeld schwand. Aber sie hatte gesehen, wie das kleine Tier zermalmt wurde, als der Mann darauf fiel. Fanny folgte gehorsam, als Harry sie zum Gatter und dann bis ans Haus führte. Sie nahm wahr, was da geschehen war, aber das Wahrnehmen ging langsam und schwerfällig vor sich, langsamer als ihre Schritte über die Wiese. Noch einmal wandte sie, ohne es zu wollen, den Kopf und versuchte sich umzusehen, wobei sie fast stehenblieb, und der Mann riß sie am Zügel. »Los, los, Dampfroß, nun komm schon!« Der Bach, der manchmal auch Lathams Bach genannt wurde, war etwa zwei Meilen von Bess’ Hof entfernt. Harry kannte ihn aus der Kindheit, er war öfter mit seiner Großmutter dort gewesen. Auf der Fahrt fiel ihm ein, daß die alte hölzerne Brücke heute vielleicht anders aussah, breiter – womöglich hatte sie jetzt ein Geländer; er war erleichtert, als er sah, daß sie genau so war wie früher: ein Steg von knapp sieben Meter Länge und etwa drei Meter Breite, zu schmal für zwei Autos, aber Autos kamen hier auch wohl selten her. Die Straße war einspurig und ungepflastert, es gab für Autos viel bessere Straßen in der näheren Umgebung. -120-
»Da ist es ja!« sagte Bess und blickte über den Bach auf den grünen Grasflecken mit den paar angenehm schattigen Bäumen. Jahrelang war dies das Ziel für die Picknicks der Familie gewesen. »Noch genau wie früher, nicht wahr, Harry?« Bess saß auf einer Bank auf der rechten Wagenseite, die heruntergelassen werden konnte. Harry hielt die Zügel. »Ja. Genauso.« Hier sollte Marylou aussteigen; und wie vereinbart sagte sie: »Laß mich mal rübergehen, Harry. Kann man da eigentlich waten?« Harry zog am Zügel. Fanny blieb stehen, die Trense schnitt ihr ins Maul, und sie trat etwas zurück, weil sie annahm, das werde verlangt. »Weiß ich nicht«, sagte Harry unbewegt. Marylou sprang vom Wagen. Sie trug Blue jeans, eine rotkarierte Bluse und geflochtene Schuhe, und sie trabte über die Brücke, als sei sie munter und guter Dinge. Harry schnalzte mit der Zunge. Die rechte Seite war richtig, da sollte der Wagen umkippen. Er zog rechts an der Leine. »Vorsichtig, Harry!« sagte Bess warnend. »Harry! Du hast –« Das Pferd war auf der Brücke angelangt, nicht aber die beiden rechten Wagenräder. Ein lauter Stoß folgte, dann ein Schurren und ein schwerer Anprall, als die Deichseln auf den Brückenrand schlugen. Bess wurde nach hinten geschleudert, sie hielt sich noch eine Sekunde, die Wagenseite stieß sie ins Kreuz und sie fiel hinunter ins Wasser. Harry saß zusammengeduckt vorn in der Absicht, sich mit einem Sprung ans Ufer in Sicherheit zu bringen; aber er hatte, als der Wagen sich jetzt überschlug, keinen festen Stand mehr zum Abspringen. Fanny wurde vom Gewicht des Wagens seitwärts nach hinten gerissen und fiel plötzlich über den Brückenrand, festgehalten in den Deichseln. Sie fiel auf Harrys Schultern, und Harry schlug mit dem Gesicht nach unten auf die Steine im Bachbett. Fanny trat wild um sich und versuchte, auf die Füße zu kommen. -121-
»Harry!« schrie Marylou. Sie war auf die Brücke gelaufen und sah einen roten Strom aus Harrys Kopf quellen. Sie lief die Böschung hinunter und watete ins Wasser. »Harry – Harry!« Das kopflos gewordene Pferd war seitlich in den Deichseln eingeklemmt und trat jetzt blindlings auf Harrys Beinen herum. Marylou hob die Faust und schrie: »Zurück, du Idiot!« Fanny, benommen von Schreck und Furcht, hob die Vorderbeine etwas an und ließ die Füße dann auf Marylous Knie fallen. Marylou schrie gellend auf und schwang in panischer Angst die rechte Faust, um das Pferd abzuwehren, dann sank sie keuchend bis zur Taille ins Wasser. Blut – immer mehr Blut strömte durch die zerrissenen Blue jeans aus ihren Knien. Und das vernagelte Pferd schlug und stampfte immer noch um sich in dem Bemühen, die Deichseln loszuwerden. Wieder krachten die Hufe auf Harry herunter, mitten auf seinen Leib. Das alles ging langsam vor sich – Marylou kam sich wie gelähmt vor. Nicht mal schreien konnte sie. Das Pferd wirkte wie ein Tier im Zeitlupenfilm; jetzt riß es den zerschlagenen Wagen quer über Harrys Körper. Herrgott! Und war das Bess, die da etwas schrie? Oder war es – wo war das – Marylou verlor das Bewußtsein. Mühsam versuchte Bess, auf die Beine zu kommen; sie war ein paar Minuten besinnungslos gewesen, das wußte sie. Was war, um Gottes willen, passiert? Fanny versuchte, die Böschung auf der andern Seite hochzuklettern, der Wagen war zwischen zwei Bäumen eingeklemmt. Als Bess wieder richtig sehen konnte, sah sie Harry, den das Wasser fast ganz bedeckte, und dann Marylou, die auch im Wasser lag, etwas näher. Mühsam watete Bess ins tiefere Wasser, packte Marylou am Arm und zog sie langsam, langsam über die Steine in die Höhe, bis der Kopf über Wasser auf der Uferböschung ruhte. Aber Harry lag kopfabwärts im Wasser! Einen Moment wurde Bess von Panik gepackt und wollte laut gellend um Hilfe -122-
rufen; doch dann watete sie mit ausgestreckten Händen ins Wasser zurück, hinüber zu Harry, und als sie ihn erreicht hatte, packte sie mit festem Griff sein Hemd unter den Armen und zog daran mit aller Kraft. Sie war nicht imstande, ihn von der Stelle zu bewegen, aber sie drehte ihn um und hielt seinen Kopf hoch. Er hatte kein Gesicht mehr, nur noch eine rötlich verschwommene Masse. Und die Brust, was war denn – die Brust war zerschmettert. »Hilfe!« schrie Bess, so laut sie konnte. »Helft mir doch – Hilfe!« Sie wartete eine Minute und rief dann noch einmal. Endlich setzte sie sich an der Böschung ins Gras. Sie wußte, sie stand unter einem Schock; sie fröstelte und begann dann heftig zu zittern. Kalt. Und völlig durchweicht war sie, auch das Haar triefte vor Nässe. Um Marylou kümmern, sagte sie sich, und sie stand auf und ging zu Marylou hinüber, die auf dem Rücken lag, doch die Beine lagen ganz schief, als ob sie gebrochen wären. Aber Marylou war am Leben, sie atmete. Bess zwang sich aufzustehen. Sie machte Fanny los, ohne richtig zu wissen, warum; sie hatte das Gefühl, einen schrecklichen Alptraum zu erleben, aber sie wußte, sie war wach und es war alles wirklich geschehen. Sie hielt sich an einem Messingring des Kummets fest, und Fanny zog sie die Böschung hinauf und über die Brücke. Sie gingen mit langsamen Schritten, die Frau und die Stute, den ganzen Weg zurück, den sie gekommen waren. Bis zum nächsten Haus war es mindestens eine Meile, dachte Bess. Der Hof von John Poindexter – das war doch der nächste? Als das Haus in Sicht war, sah Bess einen Wagen kommen. Sie hob den Arm, aber sie hatte nicht genug Kraft, um laut zu rufen. Doch der Wagen kam auf sie zu und hielt an. »Fahren Sie zur Brücke. Die Brücke am Bach«, sagte Bess zu dem Mann, der erstaunt aus dem Wagen stieg. »Da sind zwei Menschen –« -123-
»Sind Sie verletzt? Sie bluten ja«, sagte der Mann und wies auf Bess’ Schulter. »Steigen Sie ein, bitte, ich fahre Sie zu den Poindexters, die kenne ich.« Er half Bess in den Wagen, nahm dann Fannys herunterhängende Zügel und zog sie in die lange Einfahrt, die zu John Poindexters Grundstück gehörte, damit das Pferd von der Straße weg war. Dann ging er zurück und fuhr den Wagen in die Einfahrt, an dem Pferd vorbei, bis zum Haus. Auch Bess kannte das Ehepaar Poindexter; sie waren keine nahen Freunde, aber gute Nachbarn. Eleanor Poindexter wollte, daß sie sich gleich auf das Sofa legte, aber Bess war noch durchaus bei Sinnen und bestand darauf, daß erst mal eine Lage Zeitungen daraufgelegt wurde, denn ihre Kleider dampften immer noch feucht. Eleanor ging gleich in die Küche und machte ihr Tee, während ihr Mann schon am Telefon stand. Er kam zurück und sagte, er habe einen Ambulanzwagen angerufen, der sofort zum Bach fahren sollte. Eleanor, eine stille gutaussehende Frau von etwa fünfzig Jahren, nahm sich auch Bess’ Schulterverletzung an. Ein Schnitt, nichts Ernstes. »Wie konnte das bloß passieren, daß Ihr Enkel da umstürzte?« fragte sie verwundert schon zum zweitenmal. »So schmal ist doch die Brücke gar nicht.« Es dauerte zwei oder drei Tage, bis Bess sich einigermaßen erholt hatte. Sie hatte nicht ins Hospital zu gehen brauchen, nur hatte ihr der Arzt geraten, zu Hause viel zu ruhen, und das hatte sie getan. Eleanor Poindexter hatte sich als hilfreicher Engel erwiesen; sie hatte Bess zweimal ins Krankenhaus gefahren, wo Marylou mit gebrochenen Beinen lag. Beide Knie mußten operiert werden, und es war möglich, daß ein Hinken zurückbleiben werde, das hatte der eine Arzt zu Bess gesagt. Seltsamerweise sprach Marylou mit großer Bitterkeit von Harry, das erschreckte Bess am meisten. Sie hatten ja gerade erst geheiratet und waren, wie Bess annahm, sehr verliebt gewesen. »Blöder Egoist!« sagte Marylou mit harter Stimme. Bess hatte das Gefühl, sie hätte noch mehr sagen können; vielleicht wollte -124-
sie nicht, oder ihr fehlte der Mut. Harrys Leiche war nach Kalifornien zu seiner Mutter gesandt worden. Bess hatte ihn nicht mehr gesehen seit dem Unglück am Bach. In der gleichen Woche nahm Bess eines Tages Fanny am Zügel und führte sie zum Grasen auf die Wiese. Bess war ein wenig leichter zumute; Sam hatte ihr geschrieben, er sei bereit zurückzukommen unter der Voraussetzung, daß Harry das Haus verlassen habe (echt Sam, er war immer sehr geraderaus), und Bess hatte ihm soeben geantwortet. Den Brief nahm der Milchmann morgen früh mit sich zur Post. Und jetzt erblickte Bess den trockenen und angefressenen Körper der kleinen grauen Katze. Ein Schock durchfuhr sie. Das Kätzchen – sie hatte angenommen, es sei fortgelaufen. Was mochte ihm passiert sein? Zermalmt, aber wovon? Hier auf die Wiese kamen weder Wagen noch Traktoren. Bess wandte sich um und sah Fanny an, die den starken Hals zu Boden gesenkt hielt; Lippen und Zähne wühlten im Gras. Fanny konnte das kleine Ding nicht zertreten haben, dafür war das Kätzchen viel zu behende gewesen. Und außerdem: Fanny hatte es gern gehabt, das hatte Bess selber gesehen an dem Morgen, als sie dem Tierchen den Knochen brachte. Da, ein paar Schritt weiter, lag noch der lange Knochen, er war jetzt von den Vögeln glatt und sauber abgenagt. Bess beugte sich nieder und hob ihn auf. Wie hatte sich das Kätzchen über den Knochen gefreut! Nach einem Moment des Zögerns nahm sie auch das tote Tierchen auf. Hatte nicht Harry an jenem Tag Fanny auf der Wiese angeschirrt? Was war da geschehen? Was hatte Fanny nachher am Bach so böse gemacht? Harry war es, der den Wagen über den Brückenrand lenkte, das hatte Bess gesehen. Fanny wäre niemals so nahe an den Rand getreten, wenn nicht jemand sie am Zügel gerissen hätte. Am Nachmittag wickelte Bess das Kätzchen in ein altes sauberes Küchentuch und grub ihm ein kleines Grab weit unten auf der Wiese, jenseits vom Geflügelhof. Es wäre nicht recht -125-
gewesen, das Tierchen in die Mülltonne zu werfen, auch wenn der kleine Körper gut eingepackt war. So ein fröhliches kleines Tier war es gewesen, so lustig und voller Leben! Harry war schuld an seinem Tod, davon war Bess überzeugt. Und Fanny war dabeigewesen. Bess war sich auch klar darüber, daß Harry sie hatte umbringen wollen. Es war eine ganz schreckliche Vorstellung. Sie wollte nicht mehr daran denken.
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Der Tag der Abrechnung
A
m Bahnhof nahm John ein Taxi; das hatte ihm sein Onkel geraten für den Fall, daß ihn niemand abholen konnte. Es waren nicht ganz zwei Meilen bis zur Geflügelfarm ›Hanshaw Chickens, Inc.‹ (so hatte sein Onkel Ernie Hanshaw die Hühnerfarm eintragen lassen). Das weiße zweistöckige Haus war John vertraut, aber die lange graue Scheune kannte er noch nicht: ein enormer Bau, der den ganzen Platz einnahm, auf dem früher die Kuh- und Schweineställe gestanden hatten. »Allerhand Viecher da drinnen!« sagte der Taxifahrer vergnügt, als John ihn bezahlte. Auch John mußte lächeln. »Ja – und dabei sieht man nicht ein einziges Huhn!« Er nahm seinen Koffer und trug ihn zum Haus hinüber. »Keiner da?« rief er laut. Sicher war Helen in der Küche, es war bald Mittagszeit. Nun erst sah er die kleine flachgewalzte Katze. Ein junges Kätzchen war es – aus Papier oder aus Fleisch und Blut? John stellte den Koffer ab und beugte sich hinunter. Ja, ein richtiges Kätzchen. Es lag auf der Seite, in der breiten Spur eines Autoreifens, platt in den rötlich-feuchten Boden gedrückt. Der Schädel war zertrümmert, am Kopf war Blut zu sehen, aber sonst nirgends; die Wucht des Drucks hatte den kleinen Körper so vergrößert, daß der Schwanz viel zu kurz aussah. Es war ein weißes Kätzchen mit orangefarbenen, rötlichen und schwarzen Flecken. Von der Scheune her drang das Surren von Maschinen. John stellte den Koffer auf die vordere Veranda, und da er im Hause nichts hörte, ging er schnell hinüber zu der neuen Scheune. Die großen Torflügel vorn waren geschlossen, deshalb ging er nach -127-
hinten, auch diesmal im Trab, denn die Scheune war lang, er schätzte die Seitenwand auf eine Viertelmeile. Außer dem Gebrumm der Maschinen hörte er jetzt noch einen hellen Ton, ein Durcheinander von Gackern und Piepsen, das auch aus der Scheune kam. »Ernie?« rief John laut. Dann sah er Helen. »Helen – da bist du ja, Helen!« »O John – willkommen! Bist du mit dem Taxi gekommen? Wir haben gar nichts gehört.« Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuß. »Du bist ja schon wieder zehn Zentimeter gewachsen!« Sein Onkel kletterte von der Leiter herunter und schüttelte John die Hand. »Na, mein Junge, wie geht’s denn?« »Gut, Ernie. Und was ist das hier?« Neugierig betrachtete John die Treibriemen, die sich stetig weiterschoben und irgendwo in der Scheune verschwanden. Sie kamen aus einem rechteckigen Container von der Größe eines kleinen Autos, der vor der Scheune stand. Ernie zog John näher und schrie ihm ins Ohr, das Futtergetreide, eine Spezialmischung, sei gekommen und werde gerade in die Fabrik – so nannte er seine Farm – transportiert. Heute nachmittag werde ein Mann kommen, um den Container abzuholen. »Eigentlich dürfen wir jetzt kein Licht machen, nach dem Tagesplan, meine ich, aber ich werd’s doch mal tun, damit du was sehen kannst. Da!« Ernie drückte an der Innenseite der Tür auf einen Schalthebel, und das Halbdunkel in der Scheune schlug um zu gleißender Helle, strahlend wie Sonnenlicht. Das Geschrei und Gekakel der Hühner wurde zu einer gellenden Sirene, zu tausend Sirenen; instinktiv hielt sich John die Ohren zu. Ernies Lippen bewegten sich, doch John hörte ihn nicht. Er wandte sich um und suchte Helen, die draußen stehengeblieben war. Sie winkte ihm zu und schüttelte lächelnd -128-
den Kopf, als wollte sie sagen, sie könne den Lärm nicht aushalten. Ernie zog John weiter in die Scheune, aber er redete nicht mehr, er zeigte nur mit der Hand. Die Hühner waren durchwegs klein, die meisten weiß, und alle trippelten unaufhörlich auf der Stelle, denn die Plattform, auf der jedes Huhn stand, war schräg nach vorn geneigt, auf den Futtertrog zu, der sich stetig weiterschob. Aber nicht alle Tiere waren mit Fressen beschäftigt; einige versuchten hartnäckig, das Nachbarhuhn zu hacken. Jedes Tier hatte seinen eigenen kleinen Drahtkäfig. Im ganzen waren es sicher vierzig Käfigreihen, die auf dem Boden standen, acht bis zehn Reihen hoch, bis hinauf zur Decke. Zwischen den Doppelreihen der Hühner, die Rücken an Rücken saßen, verlief ein schmaler Gang, gerade breit genug für einen Mann, um den Boden auszukehren, dachte John; und als er das noch überlegte, drehte Ernie an einem Rad, und überall ergossen sich Wasserfontänen über den leicht abfallenden Fußboden, in den mehrere Abflußlöcher eingelassen waren. »Vollautomatisch. Na, was sagst du nun?« John konnte die Worte von Ernies Lippen ablesen und nickte anerkennend. »Phantastisch!« Aber der Lärm war ihm doch etwas zuviel, und Ernie stellte das Wasser ab. John sah, daß die Schnäbel der Tiere alle bis auf einen kurzen Stummel abgeschliffen waren. Fressen war ja auch das einzige, was ihnen zu tun blieb. John hatte einiges gelesen über Legebatterien. Die Hühner konnten sich in den Käfigen nicht umdrehen. Das aufgeregte Geflatter in der Scheune wurde meist von Hennen verursacht, die vergeblich versuchten hochzufliegen. Jedes Huhn hatte vorn eine blutende Stelle, wo die Brust den Querstab des Gitters berührte. Das Blut tropfte durch die Federn nach unten. John hätte die Augen gern abgewandt. Ernie stellte jetzt das Licht ab. Das Scheunentor schloß sich – offenbar ebenfalls automatisch – hinter ihnen. »Seit ich den Betrieb auf automatisch umgestellt habe, sind -129-
wir über den Berg«, berichtete Ernie. Er sprach immer noch sehr laut. »Jetzt verdiene ich recht gut. Und vor allem mußt du bedenken, daß ein einziger Mann – nämlich ich – den Laden allein schmeißen kann.« John lachte. »Dann hast du also für mich gar nichts zu tun?« »Ach, Arbeit gibt’s genug, das wirst du schon sehen. Wie ist es, wollen wir nicht erst mal essen? Sag doch Helen, ich bin in einer Viertelstunde drüben, ja?« John ging zu Helen hinüber. »Fabelhaft, wirklich.« »Ja. Ernie ist ganz hingerissen.« Sie gingen zusammen auf das Haus zu; Helen blickte auf ihre Füße, denn an einigen Stellen war der Boden schlammig. Sie trug alte Tennisschuhe, schwarze Cordhosen und einen rostroten Pullover. John hielt sich neben ihr an der Seite, wo das Kätzchen lag, das er jetzt nicht erwähnen wollte. Er trug seinen Koffer nach oben in das große sonnige Eckzimmer, wo er immer geschlafen hatte, seit er zehn war. Damals hatten Helen und Ernie den Hof gekauft. Er zog sich um und kam in Blue jeans nach unten in die Küche, wo Helen das Essen vorbereitete. »Trinkst du einen Old-fashioned? Wir müssen doch deine Ankunft feiern«, sagte sie. Zwei Drinks standen auf dem Holztisch. »Ja, gern. Wo ist denn Susan?« Susan war ihre achtjährige Tochter. »Sie ist in – eine Art Sommerschule ist das. Um halb fünf oder so kommt sie immer nach Haus. Weißt du, so hat sie wenigstens was zu tun – die Sommerferien sind so lang. Sie machen da scheußliche Aschbecher und kleine Geldbörsen mit Fransen dran. Aber natürlich muß man das alles sehr schön finden.« John lachte und betrachtete seine angeheiratete Tante. Sie war -130-
eigentlich noch immer recht anziehend mit ihren – mit was? einunddreißig Jahren ungefähr wohl. Etwa eins sechzig groß, schlank, mit rotblondem welligem Haar und Augen, die mal grün, mal blau aussahen. Und sie hatte eine sehr angenehme Stimme. »Danke vielmals, Helen.« Er nahm seinen Drink. Im Glas schwammen Ananasstückchen und obendrauf eine Kirsche. »Schön, daß du da bist, John. Was macht die Arbeit? Und wie geht’s zu Hause?« Beides war in Ordnung. John war auf einem College der Ohio State University, wollte im nächsten Jahr – mit zwanzig – sein Examen machen und dann an einem Kursus für Betriebswirtschaft teilnehmen. Er war das einzige Kind seiner Eltern, die in Dayton wohnten, 120 Meilen entfernt. Endlich brachte John das Gespräch auf das Kätzchen. »Hoffentlich gehört es nicht euch«, sagte er und wußte sofort, daß es natürlich ihnen gehörte, denn Helen stellte ihr Glas hin und stand auf. Wem sonst sollte das Tierchen auch gehört haben, es war doch gar kein anderes Haus in der Nähe. »Lieber Gott, was wird Susan –« Helen lief hinaus, und John ging ihr eilig nach. Schon von weitem sah sie das kleine Tier im Sand liegen. »Das war bestimmt der große Laster heute morgen«, sagte sie bedrückt. »Der Fahrer sitzt da so hoch oben, er sieht gar nicht, was –« »Ich helf dir«, sagte John. Er sah sich nach einer Schaufel oder einem Spaten um, fand eine Schaufel und schob sie so behutsam unter den kleinen flachen Körper, als sei noch Leben darin. Er hielt das Tierchen in beiden Händen. »Wir müssen es wohl begraben.« »Ja, natürlich. Susan darf es nicht sehen, aber sagen muß ich es ihr. Hinten am Haus steht die große Forke.« John grub eine kleine Mulde an der Stelle, die Helen vorschlug, am Apfelbaum hinter dem Haus. Er deckte sie zu und -131-
legte Grassoden darüber, damit sie nicht gleich auffiel. »Wie oft habe ich sie ins Haus geholt, wenn die verdammten Laster kamen«, sagte Helen. »Sie war knapp vier Monate alt, und Angst hatte sie vor gar nichts, ging einfach auf den Wagen zu, als ob das ein Spielzeug wär.« Sie lachte nervös auf. »Heute morgen kam er schon um elf, ich war in der Küche und wollte gerade den Auflauf aus dem Ofen nehmen, es war fast Zeit.« John wußte nicht recht, was er darauf sagen sollte. »Vielleicht wäre es gut, ein neues Kätzchen für Susan zu beschaffen, sobald es geht, meinst du nicht?« »Na, was macht ihr denn, ihr zwei?« Ernie war durch die Hintertür in den Garten gekommen. »Wir haben gerade Pussy begraben«, gab Helen zur Antwort. »Der Laster heute morgen hat sie erwischt.« »Oh.« Das Lächeln verschwand von Ernies Gesicht. »Das ist schlimm. Das ist wirklich schlimm, Helen.« Aber beim Mittagessen war er wieder ganz munter und redete von Vitamintabletten und Antibiotika, die dem Hühnerfutter beigegeben wurden. Die Legekapazität war jetzt ein und ein Viertel Eier pro Henne und Tag. Es war zwar Juli, aber Ernie verlängerte trotzdem die Tageszeit der Hühner durch künstliches Licht. »Alle Vögel sind auf Frühjahr eingestellt«, behauptete er. »Sie legen besser, wenn sie meinen, daß jetzt Frühling ist. Meine haben ihren Höhepunkt erreicht – im Oktober sind sie noch kein Jahr alt, dann verkaufe ich sie und nehme neue.« John hörte aufmerksam zu; er sollte vier Wochen hierbleiben und wollte gern richtig helfen. »Sie fressen aber auch ’ne Menge, nicht wahr? Ich hab gesehen, bei vielen sind die Schnäbel schon ganz abgewetzt.« Ernie lachte. »Die werden abgeschliffen, Junge, sonst würden sie durch den Draht aufeinander loshacken. Bei meiner ersten -132-
Partie hatte ich zwei, die haben es fertiggebracht, aus ihrem Käfig rauszukommen, und die haben sich schier umgebracht, das heißt, die eine hat tatsächlich die andere totgehackt. Deshalb schleife ich ihnen jetzt die Schnäbel ab. Dafür gibt es Anweisungen, wie man’s machen soll, weißt du.« »Und das eine Huhn fing an, das andere aufzufressen«, warf Helen ein. »Kannibalismus.« Sie lachte unsicher. »Hast du das schon mal gehört, John – Kannibalismus bei Hühnern?« »Nein.« »Unsere Hühner sind gar nicht normal«, sagte Helen. Nicht normal – John mußte lächeln. Aber vielleicht hatte Helen recht. Das Gekreisch in der Scheune hatte sich wirklich irrsinnig angehört. »Helen hat nicht viel übrig für Legebatterien.« Ernies Stimme klang entschuldigend. »Sie denkt immer noch daran, wie es früher war. Ja, das waren natürlich andere Zeiten, aber es ging uns auch nicht so gut.« Nachmittags half John seinem Onkel bei der Arbeit am Fließband. Er sah sich an, wie die Schalter und Hebel funktionierten, wie das Band die Eier aufnahm und sie behutsam in Plastikbehälter legte. Es war fast fünf Uhr geworden, bevor er fertig war. Jetzt wollte er erst mal seine Cousine Susan begrüßen, ein lebhaftes kleines Mädchen, rötlichblond wie die Mutter. Als er vorn auf die Veranda trat, hörte er sie weinen, und das tote Kätzchen fiel ihm ein; aber er beschloß trotzdem weiterzugehen und ihr guten Tag zu sagen. Susan und ihre Mutter waren im Wohnzimmer, das nach vorn hinausging; es hatte buntgeblümte Gardinen und Kirschholzmöbel. Ein paar neue Sachen waren dazugekommen, seit John zuletzt dagewesen war, vor allem ein größerer Fernsehapparat. Susan -133-
lag auf dem Sofa, das Gesicht in einem Arm versteckt; die Mutter kniete neben ihr. »Guten Tag, Susan«, sagte John halblaut. »Es tut mir so leid mit deinem Kätzchen.« Susan hob das runde tränennasse Gesichtchen. Eine kleine Blase erschien auf ihren Lippen und zerging. »Ach, Pussy –« John nahm sie liebevoll in die Arme. »Weißt du was, Susan, wir holen uns ein neues Kätzchen. Ganz bald, das verspreche ich dir. Vielleicht morgen schon, ja?« Er sah Helen an. Helen nickte und lächelte schwach. »Ja, das wollen wir tun.« Als sie am nächsten Tag zu Mittag gegessen und das Geschirr gespült hatten, nahmen John und Helen den Kombiwagen und fuhren acht Meilen weit zu einer Farm. Sie gehörte einem Ehepaar Ferguson, und die hatten, wie Helen berichtete, zwei Katzen, die häufig Junge warfen. Die Besucher hatten Glück: die eine Katze hatte gerade fünf Junge – ein schwarzes, ein weißes und drei gefleckte –, und die andere mußte auch bald soweit sein. »Weiß –?« meinte John. Man hatte ihnen die Wahl überlassen. »Nein, gefleckt«, sagte Helen. »Weiß ist allzuschön, und schwarz – das bedeutet vielleicht Pech, wer weiß.« Sie nahmen ein schwarzweiß gesprenkeltes Kätzchen mit weißen Pfoten. »Das wird Susan sicher Fleckchen nennen«, meinte Helen lachend. Die Fergusons waren einfache Menschen, beide schon älter und sehr gastfreundlich. Mrs. Ferguson bestand darauf, daß die Gäste den frischgebackenen Nußkuchen probierten und dazu ein Glas ihres starken selbstgemachten Holunderweins tranken. Das Kätzchen jagte durch die Küche und spielte mit den grauen Staubbällchen, die es unter einem großen Schrank hervorholte. »Das stammt nicht aus ’ner Legebatterie!« bemerkte Frank -134-
Ferguson und nahm einen tiefen Schluck. »Ach, Frank, können wir Ihre Hühner mal sehen?« fragte Helen und gab John plötzlich einen Klaps aufs Knie. »Frank hat nämlich ganz wunderbare Hühner, John – beinahe hundert, nicht wahr, Frank?« »Na, was da so wunderbar dran ist, weiß ich gar nicht«, meinte Frank. Steifbeinig erhob er sich und öffnete die hintere Tür, die zum Garten führte. »Sie kennen sich da draußen ja aus, Helen.« John spürte vom Wein ein angenehmes Prickeln im Kopf, als er mit Helen zum Hühnerhof schritt. Da gab es Rhode Islands, Italiener, weiße Leghorns und selbstbewußt stolzierende Hähne mit starken Kämmen, bunte Junghennen und viele flaumige kleine Küken. Überall lagen Melonenschalen mit den Kratzspuren der Hühnerfüße; Blechnäpfe mit Korn und Weichfutter standen herum, und Hühnermist war reichlich vorhanden. Ein abgewracktes Auto ohne Reifen schien ein beliebter Legeplatz zu sein: drei Hennen saßen mit halbgeschlossenen Augen auf dem Vordersitz und waren offenbar nahe daran, ihre Eier fallen zu lassen, die dann todsicher auf den Boden rollten und zerbrachen. »Ach, ist das herrlich dreckig hier!« rief John lachend. Helen schob die Finger in den Maschendraht und ließ sich hin und her schaukeln. Sie war begeistert. »Genau solche Hühner hatten wir, als ich klein war. Und Ernie und ich hatten auch solche, bis ungefähr –« sie stockte und lächelte John zu. »Du weißt ja – bis vor einem Jahr. Laß uns mal reingehen!« John fand den Eingang, eine kleine Öffnung aus dünnem Draht, die mit einem Holzpflock zugehalten wurde. Sie gingen hinein und machten das Türchen hinter sich zu. Einige Hennen wichen zurück und betrachteten sie neugierig, wobei sie argwöhnische Kehllaute von sich gaben. »Was sind das bloß für süße Dummerlinge!« Helen blickte -135-
einer Henne nach, die aufgeflogen war und sich im Pfirsichbaum niederließ. »Sie können die Sonne sehen! Und fliegen können sie!« »Und nach Würmern scharren. Und Melonen picken!« sagte John. »Als ich klein war, habe ich immer Würmer für sie ausgegraben, bei meiner Großmutter, auf dem Hof. Mit ’ner Hacke. Und manchmal bin ich auch in den Hühnerkot getreten – sogar mit Absicht, weißt du, das rutschte dann so zwischen die Zehen, und das mochte ich gern. Ich mußte mir immer die Füße am Hydranten im Garten abwaschen, bevor ich ins Haus kam.« Sie lachte und streckte die Hand aus; mit lautem »Urrr-rrk!« flatterte eine Henne vor ihr her. »Bei Großmutter waren die Hühner so zahm, die ließen sich alle anfassen, und die Knochen und Federn waren ganz warm von der Sonne. Weißt du, John – manchmal möchte ich bei uns in der Scheune alles aufmachen, die Käfige und die Tore, bloß um mal zu sehen, wie sie ein paar Minuten im Gras herumlaufen.« »Hör mal, Helen, wollen wir ein paar von diesen hier kaufen und mit nach Hause nehmen, nur so aus Spaß? Vielleicht zwei?« »Nein.« »Was hat das Kätzchen gekostet – hast du was bezahlt?« »Nein, gar nichts.« Susan nahm das Kätzchen in die Arme, und John sah, daß die Pussy-Tragödie bald überstanden sein würde. Aber es betrübte ihn, daß Helens frohe Stimmung beim Abendessen verschwand. Vielleicht lag es daran, daß Ernie unentwegt von seiner Gewinnund-Verlust-Rechnung sprach – von Verlust war gar keine Rede, er meinte einfach die Kosten. Ernie war besessen von seiner Farm, das merkte John. Und Helen langweilte sich. Ernie arbeitete schwer, obgleich er immer behauptete, daß alles von den Maschinen getan werde. An beiden Seiten des Mundes hatte -136-
er tiefe Falten, die nicht vom Lachen kamen. Und dick wurde er auch. Helen hatte John erzählt, daß Ernie letztes Jahr seinen Helfer, Sam, entlassen hatte, der sieben Jahre bei ihnen gewesen war. »Du, hör mal.« Ernie wandte sich jetzt an John. »Was hältst du von meiner Idee: wenn du mit dem College fertig bist, stellst du eine Batteriefarm auf die Beine, so wie ich hier, und nimmst dir einen Mann, der den ganzen Laden besorgt. Du selber kannst dann eine Stellung in Chicago oder Washington oder sonstwo annehmen, aber du hättest dein Leben lang ein zweites Einkommen aus der Farm.« John schwieg. Er konnte sich nicht vorstellen, Eigentümer einer Batteriefarm zu sein. »Jede Bank würde dir mit Startkapital helfen. Clive müßte natürlich dahinterstehen.« Clive war Johns Vater. Helen hielt die Augen gesenkt und schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. »Nein, ich glaube, für mich wär das nichts«, sagte John schließlich. »Ja, ich weiß, es ist ein gutes Geschäft, aber trotzdem.« Nach dem Essen setzte sich Ernie ins Wohnzimmer, um, wie er sagte, Bilanz zu machen. Er machte fast jeden Abend Bilanz. John half Helen beim Geschirrspülen. Sie hatte eine Schallplatte aufgelegt, eine Mozartsymphonie, und die Musik war hübsch, nur hätte John sich lieber mit Helen unterhalten. Aber andererseits: was hätte er schon sagen können. Ich versteh dich ja. Ich weiß, warum dich das alles langweilt. Du möchtest viel lieber wieder einen Schweinetrog füllen und den Hühnern – richtigen Hühnern – richtiges Futter hinstreuen, so wie früher, nicht wahr? Es drängte ihn, die Arme um sie zu legen, wie sie da am Spülstein stand, ihr Gesicht zu sich herumzuwenden und sie zu küssen. Was würde sie wohl sagen? Abends im Bett nahm John sich pflichtgemäß die Broschüren -137-
über Batteriebetriebe vor, die Ernie ihm zum Lesen gegeben hatte. »Man hält die Hühner möglichst klein, um die Futtermenge zu reduzieren. Höchstgewicht selten über dreieinhalb Pfund… Junge Hennen werden an wechselnde Beleuchtung gewöhnt, so daß anfangs für sie ein Tag sechs Stunden lang ist. Der Sechsstundentag wird durch künstliches Licht stetig verlängert. Auf diese Weise dauert der künstliche Frühling zehn Monate, das ist die gesamte Lebensdauer der Hennen… Es gibt keinen natürlichen Abstieg in der Produktion der Eier, obgleich die Hennen zum Schluß nicht mehr ganz so viel legen wie am Anfang…« (Warum wohl, dachte John. Und ›nicht mehr ganz so viel‹, war das nicht dasselbe wie ›Abstieg‹?) »Mit zehn Monaten werden die Hennen verkauft, Stückpreis etwa 30 Cents je nach Marktlage…« Und weiter unten: »Richard K. Schultz, Boon’s Cross, schreibt uns: ›Meine Frau und ich sind mehr als zufrieden mit der Umwandlung unseres Betriebes in eine moderne Batteriefarm mit Muskeego-RyanMaschinen. Der Gewinn hat sich in einem Jahr vervierfacht, und wir planen noch…‹ Henry Vliess, Farnham, bestätigt ebenfalls: ›Früher konnte ich gerade die Unkosten decken. Wir hatten Hühner, Schweine, Kühe, wie jeder Farmer. Alle Bekannten lachten mich aus, weil wir nichts als Arbeit kannten und dazu noch Pech hatten. Heute jedoch…‹« John träumte. Er sah sich als Supermann in Ernies Scheune herumfliegen, wo alle Lampen brannten. Viele der eingesperrten Hühner blickten mit silberglänzenden Augen zu ihm auf: sie waren alle blind, und das Gekreisch war ohrenbetäubend. Sie versuchten aufzufliegen, zu entkommen, aber sie konnten nichts sehen, und die ganze Scheune bebte und schwirrte von dem Geflatter der Flügel, die an die Käfigwände stießen. Fieberhaft -138-
flog John hin und her, er suchte den Hebel, der die Käfige oder die Türen oder sonst was öffnete, aber er konnte ihn nicht finden. Endlich wachte er auf – erstaunt, weil er im Bett lag, auf einen Ellbogen gestützt, Stirn und Brust naß vor Schweiß. Hell schien der Mond durchs Fenster; in der Stille der Nacht hörte er deutlich das stetige helle Gekakel der Hunderte von Hühnern drüben, und dabei hatte Ernie behauptet, die Scheune sei absolut schalldicht. Vielleicht meinten die Hühner, es sei jetzt heller Tag. Nach Ernies Worten hatten sie noch drei Monate zu leben. John wußte nun schon besser Bescheid mit der maschinellen Einrichtung und den Kurzzeituhren in der Scheune. Nur sah er die Hühner jetzt mit anderen Augen an als am ersten Tag – und wenn es sich vermeiden ließ, sah er sie überhaupt nicht an. Einmal zeigte ihm Ernie ein totes Huhn, und John nahm es aus dem Käfig. Die Brust war eingekerbt vom Käfigdraht und stark geweitet, als habe das Tier sich totgefressen. Susan hatte ihr neues Kätzchen Latzel genannt, weil es auf der Brust einen kleinen weißen Fleck hatte, der wie ein Lätzchen aussah. »Pussy und Latzel«, sagte Helen zu John. »Die hätten gut zusammengepaßt, die beiden.« An einem Samstag morgen fuhren Helen und John in die Stadt. Sonnenschein wechselte ab mit Regen, und sie gingen dicht nebeneinander unter einem Regenschirm, sobald wieder ein Schauer kam. Fleisch, Kartoffeln und Waschpulver wurden eingekauft, weiße Farbe für ein Bord in der Küche, und Helen erstand für sich eine weiß und rosa gestreifte Bluse. In einer Zoohandlung kaufte John ein Körbchen mit Kissen, das er Susan für ihr Kätzchen mitbringen wollte. Als sie nach Hause kamen, stand ein langer dunkelgrauer Wagen vor der Haustür. »Nanu – das ist ja der Arzt!« sagte Helen. »Kommt er nur mal so vorbei?« fragte John und kam sich -139-
gleich darauf töricht vor – es konnte ja was mit Ernie sein. Er hatte am Vormittag eine Futterlieferung erwartet; und wenn der Wagen kam, kletterte Ernie immer überall herum, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war. Ein zweiter, dunkelgrüner Wagen, den Helen nicht kannte, stand vor der Scheune. Helen und John gingen ins Haus. Es war Susan. Sie lag auf dem Fußboden im Wohnzimmer unter einer Decke, nur ein kleiner Fuß in gelber Socke und Sandale sah unter dem Fransenrand hervor. Dr. Geller und ein fremder Mann waren im Zimmer. Ernie, starr und schreckensbleich, stand neben dem Kind. Dr. Geller trat auf Helen zu und sagte: »Helen es tut mir ganz schrecklich leid. Als der Krankenwagen kam, war sie schon tot. Ich habe den Coroner kommen lassen.« »Was ist denn passiert?« Helen bückte sich und wollte Susan anfassen; instinktiv hielt John sie zurück. »Ich hab sie zu spät gesehen«, sagte Ernie bedrückt. »Die Katze saß unter dem Container, und sie wollte sie rausholen, gerade als das Ding runtergelassen wurde.« »Ja – es hat sie am Kopf getroffen, genau am Kopf«, sagte ein untersetzter Mann in brauner Arbeitskleidung; er gehörte wohl zu der Lieferfirma. »Sie wollte gerade drunter rauslaufen. Herrgott, Mrs. Hanshaw, ich –« Helen rang einen Augenblick nach Luft und hielt sich dann die Hand vors Gesicht. »Ich werd Ihnen ein Mittel geben, Helen«, sagte der Arzt. Eine Spritze. Die Nadel drang in Helens Arm; sie sagte kein Wort; der Mund war ein wenig geöffnet, die Augen starrten geradeaus. Draußen fuhr ein Wagen vor, Susan wurde auf eine Bahre gelegt und hinausgebracht. Auch der Coroner verließ das Haus. Mit zitternden Händen schenkte Ernie Whisky ein. -140-
Latzel sprang im Zimmer umher und schnüffelte kurz an dem roten Fleck auf dem Teppich. John ging in die Küche und holte einen Schwamm; lieber den Fleck gleich wegmachen, solange die andern nicht im Zimmer waren. Er kehrte noch einmal in die Küche zurück, holte eine Schüssel mit Wasser und versuchte, durch Reiben den tiefroten Fleck zu entfernen. In der Küche goß er seinen Whisky auf einmal herunter. Die Ohren begannen zu glühen. »Ich denke, ich gehe jetzt auch, Ernie«, sagte der Fahrer des Futterwagens mit ernster Stimme. »Du weißt ja, wo ich zu finden bin.« Helen ging nach oben ins Schlafzimmer, das sie mit Ernie teilte, und kam auch zum Abendessen nicht herunter. John hörte in seinem Zimmer, wie die Dielen drüben leise knarrten; er wußte, Helen ging ruhelos auf und ab. Er wäre gern hinübergegangen, um mit ihr zu sprechen, aber er hatte Angst, nicht das richtige Wort zu finden. Ernie müßte bei ihr sein, dachte er. In trübem Schweigen schlugen John und Ernie in der Küche ein paar Eier in die Pfanne; dann ging John hinauf, um Helen zu fragen, ob sie herunterkommen wolle oder ob er ihr etwas hinaufbringen solle. Er klopfte. »Komm rein«, sagte Helen. Er hatte ihre Stimme immer gern gehabt und war jetzt erstaunt, daß sie gar nicht anders klang, wo doch ihr Kind tot war. Sie lag auf dem Doppelbett, noch angezogen wie vorher, und rauchte eine Zigarette. »Nein, danke, ich möchte nichts essen, aber einen Whisky hätte ich gern.« John lief eilig hinunter, froh, ihr etwas bringen zu können. Er trug Eiswürfel, ein Glas und die Flasche auf einem Tablett nach oben. »Willst du jetzt schlafen?« fragte er dann. »Ja.« -141-
Sie hatte kein Licht gemacht. John küßte sie auf die Wange, und einen Augenblick schlang sie den Arm um seinen Hals und küßte ihn auch. Dann verließ er das Zimmer. Die Rühreier schmeckten trocken, selbst mit einem Glas Milch brachte John sie kaum herunter. »Herrgott, was für ein Tag!« sagte Ernie. »Mein Gott.« Er stockte und blickte John an, offenbar suchte er nach ein paar höflichen oder herzlichen Worten. Und John ging es wie Helen: er blickte auf seinen Teller und sagte nichts. Schließlich, als das Schweigen zu drückend wurde, stand er mit seinem Teller auf und tätschelte Ernies Schulter, ungeschickt und verlegen. »Es tut mir so gräßlich leid, Ernie.« Eine zweite Flasche Whisky wurde aufgemacht – die vorletzte der beiden, die noch im Wohnzimmerschrank standen. »Hätte ich das geahnt, dann hätte ich gar nicht angefangen mit der verdammten Hühnerfarm, das kann ich dir sagen, John. Ich wollte was für meine Familie tun und nicht jahrein, jahraus weiterschuften.« John sah, daß das Kätzchen im Wohnzimmer den neuen kleinen Korb gefunden und sich darin zur Ruhe begeben hatte. »Ernie, du willst doch sicher mit Helen reden. Ich bin morgen früh unten wie immer und helfe dir.« Wie immer – das hieß sieben Uhr. »Schön. Ich kann heute gar nicht mehr denken. Entschuldigung, John.« Fast eine Stunde lag John im Bett, ohne einschlafen zu können. Er merkte, wie Ernie leise ins Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs ging, doch er hörte danach keine Stimmen, kein leises Gemurmel. Ernie war anders als Clive, dachte John. Sein Vater hätte vielleicht eine Minute lang geweint oder auch geflucht; dann wäre es für ihn vorüber gewesen, und er hätte nur noch an Trost für seine Frau gedacht. -142-
Ein lautes Geräusch, auf und ab fallend, weckte John. Natürlich, die Hühner – was zum Henker war jetzt wieder los? So laut hatte er sie noch nie gehört. Er schaute aus dem Fenster und sah im Dämmerlicht des frühen Morgens, daß die vorderen Scheunenflügel offenstanden. Jetzt ging drinnen das Licht an und schien hell nach draußen auf die Grasfläche. Hastig schlüpfte John in die Turnschuhe, band sie nicht erst zu und stürzte aus dem Zimmer. »Ernie! – Helen!« schrie er vor der Schlafzimmertür. Er jagte nach unten und aus dem Hause. Eine weiße Flut von Hühnern strömte durch die weit offenen Torflügel der Scheune ins Freie. Was um Himmels willen war da passiert? »Los – zurück!« schrie er und ruderte mit den Armen. Doch es war, als seien die Hennen alle blind oder unfähig, ihn über dem eigenen Gekakel zu hören. Immer mehr kamen aus der Scheune geflattert, einige taumelten über die anderen und versanken von neuem in der weißen Flut. John hielt die Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund. »Ernie – die Tür!« schrie er in die Scheune. Dort mußte Ernie ja sein. John warf sich der Hühnerflut entgegen und versuchte, sie zurückzudrängen, aber das war ganz hoffnungslos. Die Hühner hatten kaum je ein paar Schritte gemacht; sie torkelten wie betrunken, stießen gegeneinander, schwankten vorwärts oder fielen um, und dabei strömten immer neue heraus, viele auf den Rücken derer, die laufen konnten. Jetzt hackten sie nach Johns Fußgelenken, er trat sie beiseite und versuchte von neuem, das Scheunentor zu erreichen, doch das harte Picken der stumpfen Schnäbel an seinen Beinen und Füßen ließ ihn anhalten. Einige Hühner versuchten aufzufliegen und ihn im Gesicht anzugreifen, aber die schwachen Flügel trugen sie nicht. Sie sind gar nicht normal, hatte Helen gesagt. John hatte plötzlich Angst und lief auf den freien Platz neben der Scheune zu und dann hinüber zur hinteren Tür. Er wußte, wie man sie öffnete, sie hatte ein Kombinationsschloß. -143-
Helen stand im Bademantel an der Ecke der Scheune – an der Stelle, wo John sie bei seiner Ankunft zuerst gesehen hatte. Das hintere Tor war geschlossen. »Was ist denn passiert?« rief John. »Ich hab die Käfige aufgemacht«, gab sie zur Antwort. »Aufgemacht – wozu? Wo ist Ernie?« »Da drinnen.« Helen war merkwürdig ruhig; es war, als bewege sie sich im Schlaf. »Was macht er da drinnen? Warum macht er nicht vorn das Tor zu?« John stand vor Helen und schüttelte sie, um sie aufzuwecken. Dann ließ er sie los und rannte zur hinteren Scheunentür. »Ich hab wieder abgeschlossen«, sagte Helen. Fieberhaft versuchte John, die Zahlenkombination einzustellen, aber es war noch zu dunkel, er konnte nicht genug sehen. »Nicht aufmachen! Du willst sie doch nicht hier rauslassen?« Helen war plötzlich wach und zog seine Hand vom Schloß weg. Jetzt verstand John. Ernie war da drinnen und wurde umgebracht, totgehackt von den Hühnern. Und Helen hatte das gewollt. Selbst wenn er schrie, hätte man ihn nicht hören können. Ein starres Lächeln erschien auf Helens Gesicht. »Ja, er ist da drinnen. Sie werden ihn fertigmachen.« John hörte sie nur undeutlich, aber er las die Worte von ihren Lippen. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Helen taumelte, und John fing sie auf. Er wußte, es war viel zu spät, um Ernie zu retten. Er schrie jetzt auch sicher längst nicht mehr. Helen richtete sich auf. »Komm mit, wir sehen es uns mal an«, sagte sie. Mit schwachen Kräften, aber entschlossen zog sie ihn an der seitlichen Scheunenwand entlang bis zum vorderen -144-
Tor. Sie gingen langsam; der Weg erschien ihm viermal so lang wie sonst. Er packte Helen am Arm. »Ist Ernie da drinnen?« fragte er. Ihm war zumute, als träume er oder müsse gleich ohnmächtig werden. »Ja, da drinnen.« Wieder lächelte sie, die Augen waren halb geschlossen. »Ich bin runtergegangen und hab das hintere Tor aufgemacht, und dann bin ich wieder raufgegangen und hab ihn geweckt. Ich hab gesagt: ›Ernie, unten in der Fabrik ist irgendwas los, du mußt mal runtergehen.‹ Er kam runter und ging hinten rein, und dann habe ich mit dem Schalthebel alle Käfige aufgemacht, und dann das Vordertor mit dem anderen Hebel. Er stand – er stand mitten in der Scheune, weil ich auf dem Fußboden Feuer gemacht hatte.« »Feuer –?« Jetzt erst sah John die blasse Rauchspirale, die unter dem Scheunentor aufstieg.. »Viel Brennbares ist nicht drin – höchstens das Futter«, sagte Helen. »Und draußen finden sie ja genug zu fressen, meinst du nicht?« Sie lachte. John zog sie schnell zum vorderen Tor. Der Rauch war nicht sehr dicht. Jetzt war die ganze Grasfläche mit Hühnern bedeckt, und der Strom drang immer weiter vor, ergoß sich durch den Zaun auf die Straße, hackend, gackernd, kreischend, ein langsam vorrückendes Heer ohne Weg und Ziel. Es sah aus, als läge eine Schneedecke über dem Land. Jedes Tier hatte an der Brust einen dunklen Fleck, und John wußte, was das war: Blut. »Los, ins Haus!« sagte John und trat nach zwei Hennen, die nach Helens Füßen hacken wollten. Sie stiegen nach oben in Johns Zimmer, und Helen kniete sich ans Fenster und schaute hinaus. Links ging gerade die Sonne auf, eben war sie an dem rötlichen Dach der Scheune angelangt. Über der Einfassung der vorderen Tür kräuselte grauer Rauch nach oben. Unten hielten die Hühner an und blieben stupide in der Türöffnung stehen, bis andere von hinten nachdrängten. Sie -145-
schienen weniger überrascht zu sein von der Sonne – das Licht in der Scheune war heller als Sonnenlicht – als von der weiten Offenheit ringsum. John hatte noch niemals Hühner gesehen, die den Hals reckten, um zum Himmel aufzublicken. Er kniete sich neben Helen und legte den Arm um sie. »Sie laufen alle – fort«, sagte John. Er kam sich vor wie gelähmt, unfähig, etwas zu tun. »Laß sie.« Bis zum Haus würde das Feuer nicht kommen; es war windstill, und die Scheune war gut dreißig Meter entfernt. John war zumute, als sei er von Sinnen, so wie Helen oder wie die Hühner; und er staunte einen Augenblick, daß er einen so klaren Gedanken wie den mit dem Feuer hatte fassen können. »Jetzt ist es vorbei«, sagte Helen tief atmend, als die letzten oder fast die letzten Hühner aus der Scheune getaumelt waren. Sie faßte John am Aufschlag seiner Pyjamajacke und zog ihn näher heran. John küßte sie auf den Mund, erst behutsam und dann etwas fester. Merkwürdig: der Kuß war stärker als je ein Kuß, den er einem Mädchen gegeben hatte, und doch ganz ohne Verlangen. Er war einfach wie eine Bestätigung, daß sie beide, Helen und er, am Leben waren. Sie knieten einander gegenüber und hielten sich fest in den Armen. Das Gekreisch der Hühner klang nicht mehr so gräßlich, es war nur noch erregt, verwundert. Es glich einem musizierenden Orchester, bei dem einige Spieler aussetzten, andere die Instrumente wieder aufnahmen: ein anhaltender Ton ohne Tempi. John wußte nicht, wie lange sie so gekniet hatten; endlich schmerzten ihn seine Beine, er stand auf und zog auch Helen in die Höhe. Er blickte aus dem Fenster und sagte: »Jetzt sind sie sicher alle raus. Und das Feuer ist auch nicht größer geworden. Müssen wir nicht –« Doch der Gedanke, nach Ernie zu suchen, war ganz weit entfernt und gar nicht mehr -146-
drängend. Es war, als hätte er dies alles geträumt, die Nacht und den Morgen und Helens Kuß, so wie er neulich geträumt hatte, als Supermann durch die Scheune zu fliegen. Waren dies wirklich Helens Hände, die er in seinen Händen hielt? Sie taumelte von neuem, und da sie offenbar auf dem Teppich sitzen wollte, ließ er sie dort sitzen und zog schnell seine Blue jeans über die Pyjamahose. Dann ging er hinunter und trat vorsichtig durch die Vordertür in die Scheune. Drinnen war es dunstig, das kam vom Rauch, aber als er sich bückte, sah er etwa fünfzig Hühner an etwas herumpicken, das auf dem Boden lag und Ernie sein mußte. Tote Hühner, die der Rauch erstickt hatte, lagen herum, sie glichen selber kleinen weißen Rauchwolken, und andere hackten an ihnen herum und versuchten, an die Augen zu kommen. John ging langsam auf Ernie zu. Er hatte sich auf einiges gefaßt gemacht, doch offenbar nicht genügend für das, was er jetzt sah: es war der zerfetzte Rest einer Gestalt aus Blut und Knochen, an denen noch ein paar Stoffetzen vom Schlafanzug hingen. John stürzte hinaus; er hatte einmal Luft geholt und der Rauch hatte ihm fast den Atem genommen. In seinem Zimmer saß Helen auf der Fensterbank; vor sich hin summend trommelte sie auf dem Holz und blickte hinunter zu den Hühnern auf dem Gras. Sie waren jetzt dabei, den Boden aufzuscharren, und fielen immer wieder auf die Seite oder nach hinten, weil sie an das unaufhörliche Trippeln auf den kleinen Brettern gewöhnt waren, das sie bisher am Umfallen gehindert hatte. »Sieh bloß mal!« sagte Helen lachend, und in ihren Augen standen helle Tränen. »Die wissen gar nicht, was das ist – Gras. Aber sie mögen es – und wie!« John räusperte sich und fragte dann halblaut: »Was willst du – was sollen wir sagen?« »Sagen – ach ja.« Helen schien keineswegs verstört oder beunruhigt. »Ja – daß Ernie etwas gehört hat und -147-
runtergegangen ist, und da – er war ja nicht ganz nüchtern, weißt du. Und unten – da hat er wohl irgendwas falsch gemacht, mit den Schalthebeln. Glaubst du nicht auch?«
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Räuber-Affe Eddie
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ddies Aufgabe war es, Türen zu öffnen. Früher, als er noch bei Hank wohnte, war das anders: Hank spielte die Flöte, und Eddie reichte die Sammelbüchse herum; aber Hank hatte mit dem Spiel nicht genügend verdient, um davon und von seinen Gedichten leben zu können, außerdem kamen immer wieder Klagen vom Hauswirt wegen Eddie. Deshalb nahm Hank eine feste Arbeit an und gab Eddie weiter an seine Freundin Rose, von der er sich gerade getrennt hatte. Rose wiederum hatte eine Bekannte, Jane, die schon mal im Gefängnis gesessen hatte, und so kam es, daß Eddie jetzt in fremden Häusern die Türen öffnete. Eddie war ein Rollschwanzäffchen, jung und intelligent; er hatte schnell begriffen, was man von ihm wollte. Oft kam er drinnen im Haus fröhlich tanzend an die Tür und schwang sich lustig vom Treppengeländer oder von einer Stuhllehne auf sein Ziel zu: den Knauf eines Yaleschlosses, den Griff, der einen Riegel vorschob, vielleicht auch Riegel und Kette zusammen. Die geschickten Finger flogen und brachten alles schnell auf, oder sie hantierten so lange, bis es gelang. Dann ließ er die große blonde Jane herein; sie hatte schon geklopft oder geklingelt, und meistens hatte er das gehört. Manchmal war die Tür bereits offen, wenn Jane noch vorne die Treppe hinaufstieg oder den Eingangsweg heraufkam, den Beutel in der Hand. Eddie war dann schon durch ein Fenster eingestiegen. Jane blieb stets einen Augenblick auf der Schwelle stehen und murmelte ein paar Worte, als spräche sie zu jemandem im Hause. Erst dann trat sie ein und schloß die Tür. Buuumm – dieses Haus hier war groß und solide gebaut. Eddie gefiel auch der Geruch, denn unten in der Diele stand ein großer Strauß gelber Rosen. -149-
Aus der Tasche ihres weiten Mantels fischte Jane eine Banane, die Schale halb geöffnet, weich und schon etwas schwärzlich. Eddie quiekte dankbar, riß die Schale ab und reichte sie Jane. Sie steckte sie ein und ging jetzt auf die hinteren Räume – Küche und Speisezimmer – zu. Im Speisezimmer zog sie erst eine und darauf eine zweite Schublade auf, dann hatte sie gefunden, was sie suchte. Eilig wurde der Beutel mit Messern, Gabeln und Löffeln gefüllt. Vom Eßtisch nahm sie eine silberne Pfeffer-und-Salz-Garnitur, ging dann ins Wohnzimmer hinüber und trat sofort an das Telefontischchen, wo ein Foto in silbernem Rahmen stand; das steckte sie in die Tasche, ebenso ein Papiermesser, denn der Griff sah aus wie Jade. Bis jetzt waren kaum drei Minuten vergangen, Eddie hatte seine Banane verzehrt, Jane flüsterte seinen Namen, öffnete ihren Mantel, und Eddie sprang hinein. Mit Fingern und Zehen klammerte er sich an ihrem Pullover fest, der lange Schwanz half mit. So hatte er sich, als er ganz klein war, auch an seiner Mutter festgehalten. Sie waren draußen. Eddie hörte das Brummen des Motors lauter werden, dann hatten sie den Wagen erreicht. Jane ließ sich auf den Sitz fallen, und der Wagen fuhr ab. Die Frauen redeten. »Diesmal war’s leicht«, sagte Jane tief aufatmend. »Aber die Schlafzimmer habe ich nicht mehr untersucht.« »Silber?« »Und wie! Mensch – ein Whisky wird mir jetzt guttun.« Rose fuhr vorsichtig. Dies war in diesem Sommer ihr siebenter oder achter Raubzug. Sie war einundzwanzig, jünger als Jane, geschieden, und von ihrem Freund hatte sie sich vor zwei Monaten getrennt. Damals war ihr jemand wie Jane, und dazu noch ein bißchen prickelnde Verrücktheit, gerade recht gewesen. Aber sie hatte nicht die Absicht, es so weit kommen zu lassen wie Jane und sich womöglich eine Gefängnisstrafe einzuhandeln. »Also was jetzt? Ponsonbys?« fragte sie. -150-
»Ja.« Jane nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Zwei Wochen lang hatten sie immer wieder bei den Ponsonbys angerufen, und nie hatte sich jemand gemeldet. Letzte Woche waren sie auch ein paarmal langsam an dem großen Haus vorbeigefahren und hatten kein Lebenszeichen entdeckt. Tommy – das war ihr Hehler – hatte das Haus nicht beobachtet; er habe keine Zeit, hatte er gesagt. Jane nahm an, daß die Leute verreist waren, auf Urlaub. Es war Juli, viele Leute waren verreist, und nur ein Nachbar oder manchmal auch die Putzfrau kam gelegentlich, um die Pflanzen zu begießen. Aber hatten die Ponsonbys nicht vielleicht eine Alarmanlage? Es war ein teures Viertel, in dem sie wohnten. »Ich finde, wir sollten lieber noch einmal anrufen. Hast du die Nummer bei dir?« Ja, die Nummer hatte Rose. Sie fuhr den Wagen auf den Parkplatz neben einem Steakhouse und hielt an. »Du bleibst hier, Eddie«, sagte Jane und schob das Äffchen unter einen Wust von Plastiktüten und Regenmänteln, die auf dem Rücksitz lagen. Mit schwerberingten Fingern gab sie ihm einen Klaps, damit er begriff, daß sie nicht scherzte. Der Klaps landete oben auf Eddies Kopf, er tat nicht sehr weh. Beide Frauen kamen bald zurück, bevor es im Wagen unangenehm heiß geworden war; sie fuhren noch eine Weile und hielten dann wieder an. Eddie saß immer noch hinten, er fiel gar nicht auf in dem Durcheinander von Zeug, man sah nur den weißen Fellstreifen oben auf seinem Kopf. Er schaute zu, wie Rose ausstieg. So fing es immer an, wenn er etwas zu tun bekam: Rose stieg zuerst aus, kam zurück, und dann schob ihn Jane unter ihren Mantel und stieg mit ihm aus dem Wagen. Jane summte eine Melodie vor sich hin und rauchte eine Zigarette. Dann kam Rose zurück. »Kein Fenster offen, und hinten sind sie verriegelt. Kein Mensch im Hause – ich hab geklingelt und auch noch vorne und hinten geklopft. Ein Haus ist das!« Sie wollte damit sagen, es sei -151-
ein reiches Haus. »Wäre vielleicht am besten, hinten ein Fenster einzuschlagen. Da könnte Eddie dann rein.« Es war eine elegante Villengegend mit weiten Rasenflächen und großen Bäumen. Wie immer waren sie ein paar Häuser weitergefahren und kurz um die Ecke gebogen. »Auch in der Garage niemand?« fragte Jane. Einer der Hausangestellten hätte da wohnen können, ohne Nebenanschluß vom Hause oder mit eigenem Telefon; das hatten sie alles erörtert. »Nein, sonst hätte ich’s dir ja gesagt«, gab Rose zurück. »Hast du den Beutel leer gemacht?« Sie leerten den Beutel auf den alten grauen Regenmantel aus, in den sie das Silber und die anderen Sachen einpackten. Sie saßen dabei vorn und verstauten den Mantel auf dem Rücksitz. »Eddie könnte doch durch den Schornstein rutschen«, meinte Jane. »Es ist hier überall so still ich weiß nicht, das mit dem Fenstereinschlagen gefällt mir nicht.« »Eddie mag aber keine Schornsteine – und dann noch so hohe!« wandte Rose ein. »Das Haus hat immerhin drei Stockwerke.« Jane dachte einen Augenblick nach und zuckte dann die Achseln. »Na und? Wenn er nicht ganz runterkommen will, kann er ja wieder raufklettern.« »Und wenn er dann einfach da oben sitzen bleibt, auf dem Dach?« »Na schön – dann haben wir ihn gehabt«, sagte Jane. Vor zwei Wochen hatte sie mit Eddie im Hause eines Freundes in Long Island geübt. Es war ein einstöckiges Haus gewesen, und der obere Schornstein dort war vom Boden aus nur vier Meter hoch gewesen; aber Eddie war nur sehr ungern innen die Kaminwand heruntergestiegen. Er hatte es dann zweioder dreimal getan; Rose hatte auf einer Leiter gestanden und -152-
ihm gut zugeredet, und Jane hatte unten gewartet und ihm jedesmal Rosinen und Erdnüsse gegeben, wenn er die Haustür aufgemacht hatte. Eddie hatte eine ganze Weile gehustet und sich die Augen gerieben und halblaut vor sich hin geschnattert. Am nächsten Tag wurde der Versuch wiederholt; sie setzten ihn aufs Dach und zeigten auf den Schornstein und redeten ihm zu, und dann war es auch glatt gegangen, er war heruntergekommen und hatte die Tür aufgemacht. Aber Rose hatte nicht die Sorgenfältchen auf der kleinen Stirn vergessen, die ihn so greisenhaft winzig aussehen ließen, und auch nicht seine Freude, als sie ihn dann badete und mit der weichen Bürste glättete. Er hatte sie so zärtlich lächelnd angeschaut und ihre Hände festgehalten. Deshalb zögerte sie jetzt. Sollte sie ihn noch einmal hinaufschicken? Und würden sie und Jane es auch diesmal schaffen –? »Also?« sagte Jane fragend. »Chi-chi«, bemerkte Eddie. Er wußte, irgend etwas kam jetzt. Er kratzte sich am Ohr und blickte aufmerksam von einer zur anderen. Er lebte bei Jane, aber Rose hatte er lieber, ihre Stimme war viel sanfter. Langsam kam die Sache in Gang. Jane und Rose blieben äußerlich ganz ruhig. Es war vereinbart, daß Rose, falls etwa jemand an die Tür kam und fragte, was sie wollte, sich als Putzhilfe vorstellen sollte. Vier Dollar pro Stunde. Sollte jemand darauf eingehen, so gab sie einen falschen Namen an und traf eine Verabredung, die niemals eingehalten wurde. Das war erst einmal vorgekommen. Rose führte auch Buch über die Häuser, die sie ausgeraubt hatten, und über das eine Haus, wo jemand auf ihr Klopfen geöffnet hatte, obwohl niemand, als sie fünf Minuten vorher anriefen, den Hörer abgenommen hatte. Wenn sie eine bestimmte Gegend – manchmal drei Häuser in einer Stunde – abgegrast hatten, kehrten sie nie wieder dorthin zurück. Sie waren in Roses Wagen schon 150 Meilen weit gefahren; ihr Ausgangspunkt war stets Janes Wohnung in Red Cliff, New -153-
Jersey. Mußten sie sich aus irgendeinem Grunde trennen, so vereinbarten sie einen Treffpunkt, ein Café oder Drugstore; wer dann ohne Auto war (Jane), mußte per Bus oder Taxi oder zu Fuß hinkommen. Auch das war in ihrer zweimonatigen Zusammenarbeit erst einmal passiert, als Rose überängstlich geworden und weggefahren war. Heute hatten sie als Treffpunkt das Lokal vereinbart, von dem aus sie eben noch einmal im Hause Ponsonby angerufen hatten. Jetzt schritt Jane, das Äffchen unter dem weiten Wollmantel, ruhig den breiten Eingangsweg des Hauses hinauf. Fabelhafte Sachen mußten da drinnen sein. Und bestimmt mehr, als sie in ihrem Beutel – Gobelintasche nannte sie ihn – tragen konnte. Sie läutete, wartete eine Weile und klopfte dann mit dem Messingklopfer an die Tür. Sie rechnete gar nicht damit, daß jemand öffnete, aber das Ritual war notwendig für den Fall, daß ein Nachbar sie beobachtete. Schließlich ging sie am Haus entlang zur hinteren Tür, während Eddie noch immer an ihr festhing. Sie klopfte auch hier, und auch hier war alles still, ebenso in der Garage mit dem Fenster über der geschlossenen Tür. »Eddie, du mußt rauf in den Schornstein«, flüsterte Jane. »Hörst du – Schornstein! Geh schön rauf, da oben!« Sie zeigte auf das Dach; die großen Ulmen ringsum schützten sie davor, gesehen zu werden. Auf dem Dach waren vier Schornsteine zu sehen. »Also Eddie, erst der Schornstein – dann die Tür, hörst du? Braver Eddie!« Sie nahm das Äffchen und hielt es an die Regenrinne, die an einer Hausecke entlanglief. Eddie hatte schnell begriffen. Er kletterte nach oben, rutschte ein paarmal etwas ab, faßte aber gleich wieder Fuß, denn die Hauswand war aus rauhem Klinkerstein. Dann war er oben, hob sich eine Sekunde lang deutlich vom hellen Himmel ab, tat einen Sprung und verschwand. Jane sah, wie er auf eine Kaminöffnung zusprang, hinunterspähte, zögerte und zur nächsten lief. Sie wagte nicht, -154-
ihm ermutigende Worte zuzurufen. Ob die Schornsteine verschlossen waren? Abwarten. Keine vorzeitige Panik. Sie trat etwas zurück, um besser sehen zu können, aber sie sah das Äffchen nicht und ging wieder nach vorn an die Haustür. Eddie müßte jetzt den Riegel zurückschieben, aber sie hörte nichts. Zögernd, falls jemand sie sah, läutete sie. Schweigen. Ob Eddie im Schornstein steckengeblieben war? Auf der Straße ging ein Mann vorüber, etwa dreißig, er trug ein Paket und warf einen Blick auf Jane. Ein Wagen fuhr vorbei. Rose saß in ihrem Wagen, den sie in der Nebenstraße geparkt hatte, außer Sicht. Vielleicht saß Eddie fest, konnte nicht weiter, durch dichten Ruß oder sonst was behindert. Minuten vergingen, und Janes Unruhe stieg. Ob sie lieber aufgeben und fortgehen sollte? Andererseits – Eddie war verdammt nützlich, und sie hatten noch gut zwei Monate Urlaubszeit vor sich, in denen viel zu machen wäre. Wieder trabte Jane um das Haus herum nach hinten. Sie blickte aufs Dach, aber von Eddie war nichts zu sehen. Sie hörte Vögel singen, und in der Ferne wurde ein Gang im Auto eingeschaltet. Jane trat ans Küchenfenster, und im gleichen Augenblick sprang das Äffchen auf das metallene Ablaufbrett am Spülstein. Eddie war schwarz vor Ruß, selbst der kleine Kopf war oben dunkelgrau, und er rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln. Er sprang auf die Fensterbank und hüpfte von einem Fuß auf den andern in der Erwartung, daß jetzt ein Fenster geöffnet werde. Warum bloß hatten sie ihm die Fenster nicht beigebracht? Na, das mußte noch kommen. Man brauchte bloß den Griff herumzudrehen – selbst von außen konnte Jane den Mechanismus erkennen. »Tür!« sagte sie laut und zeigte auf die Küchentür. Jede Tür hätte jetzt genügt, obwohl Eddie meistens die Haustür in Angriff nahm. Eddie sprang hinunter, und Jane hörte, wie er versuchte, einen -155-
Riegel zurückzuschieben. Die Tür gab nicht nach. Jane rüttelte daran, aber vergebens. Sie hörte das schrille »Chi-chi-chi!« und wußte, Eddie war enttäuscht oder gereizt. Sicher waren die Riegel zu schwierig, oder die Tür hatte ein Steckschloß, das man nur von innen mit einem Schlüssel öffnen konnte. Für manche Riegel war auch einfach mehr Kraft erforderlich. Jane wurde plötzlich von Panik erfaßt. Sicher waren schon zehn oder zwölf Minuten vergangen; Rose mußte unruhig werden, vielleicht war sie gar nicht mehr da, war schon zu dem vereinbarten Lokal gefahren. Jane wollte zurück zu Rose und dem Wagen. Die einzige Alternative war, ein Fenster einzuschlagen, und davor hatte sie Angst wegen des Lärms. Wer weiß, ob sie sich dann noch zu Fuß mit Eddie in Sicherheit bringen konnte. Wieder schritt Jane, krampfhaft um äußere Ruhe bemüht, den Eingangsweg hinunter auf die Straße und bis zur Ecke, wo sie zu ihrer Erleichterung Rose im Wagen sitzen sah. »Du, er kriegt die Tür nicht auf, und ich habe jetzt Angst. Laß uns losfahren.« »Ja, und – wo ist er? Ist er noch im Haus drinnen?« »Ja, hinten in der Küche.« Jane flüsterte durch das offene Wagenfenster. Sie öffnete die Tür auf ihrer Seite. »Wir können ihn doch nicht einfach hierlassen!« protestierte Rose. »Hast du jemand gesehen – bist du gesehen worden?« Jane stieg ein und schloß die Tür. »Nein, aber laß uns jetzt fahren.« Rose überlegte. Die Polizei konnte einen Affen durchaus in Verbindung bringen mit ihren bisherigen Raubzügen. Ein Affe in einem leeren Haus – wie erklärt man das? Natürlich war es auch möglich, daß jemand, der Eddie fand, nicht gleich die Polizei rief, sondern das Äffchen einfach dem Tierschutz oder einem Zoo übergab. Und wenn Eddie nun ein Fenster einschlug und entwischte – was dann? Rose wußte, sie dachte nicht logisch, aber sie mußten Eddie da herauskriegen. »Können wir -156-
nicht ein Fenster einschlagen?« Ihre Hand lag schon auf dem Wagentürgriff. »Nein – nicht!« Jane machte eine abwehrende Bewegung, aber Rose war schon aus dem Wagen. Jane blieb starr sitzen. Ihr würde man die Schuld geben, wenn jemand Rose da einbrechen sah. Rose würde alles aussagen. Und Jane war der Polizei nicht unbekannt. Rose zwang sich, ruhig an einem jungen Mann und einem Mädchen vorüberzugehen, die ihr Arm in Arm lachend und redend entgegenkamen. Da war das Haus, groß und imposant, es hatte sogar einen Namen: Fünfeulen. Rose ging über die Einfahrt, immer noch gelassen, aber sie wollte jetzt, um Zeit zu sparen, nicht erst wie sonst üblich an der Haustür läuten. Jetzt kam sie an ein seitliches Küchenfenster und erblickte Eddie; er hockte auf einem Tisch und schüttelte etwas, das wie eine umgekehrte Zuckerschale aussah. Flüchtig sah sie auf dem gelben Linoleumboden ein paar Scherben liegen, vielleicht von einem Teller. Eddie mußte der Verzweiflung nahe sein. Als Rose um die Hausecke bog, saß er auf dem Ablaufbrett gleich hinter dem Fenster. Sie versuchte, ein Fenster hochzuschieben, gab es aber auf. Sie war mit dem Aufschlag ihrer weißen Hose an einem Rosenbusch hängen geblieben, und als sie sich bückte, sah sie neben sich einen faustgroßen Stein liegen. Damit schlug sie einmal fest in eine kleine rechteckige Fensterscheibe, und dann noch einmal auf die zackigen Glasreste am Rande, aber da war Eddie schon durchgeschlüpft und schnatterte selig. Rose schob ihn schnell unter ihre Jacke und ging den Weg zurück. Sie fühlte, wie Eddie zitterte, vielleicht vor Erleichterung. Als sie die Straßenecke erreichte, sah sie, daß der Wagen verschwunden war. Ihr Wagen, immerhin. Nun mußte sie ein Taxi auftreiben oder zu Fuß gehen. Nein, das war zu weit. Also ein Taxi. Großer Gott – und ihre Handtasche mit dem Geld lag im Wagen! Sie drückte Eddie beruhigend an sich und ging weiter; an irgendeiner größeren Straßenkreuzung fand sie -157-
vielleicht ein Taxi. Wo mochte Jane sein – in dem Lokal oder wieder in ihrer Wohnung? Was würde der Taxifahrer sagen, wenn sie kein Geld hatte? Sie konnte sich auch nicht gut zu Bekannten fahren lassen, denn von Eddie und Jane und von dem, – was sie in den letzten Wochen getrieben hatten, sollte niemand etwas erfahren. Kein Taxi weit und breit. Aber sie kam endlich zu einem Einkaufszentrum mit Supermarkt, Reinigungsanstalt und Drugstore. Einige Münzen hatte sie in der Tasche, sie konnte also im Drugstore telefonieren. Mit Eddie festgeklammert unter ihrer Jacke, so suchte sie die Nummer einer Taxizentrale und bestellte einen Wagen zum Einkaufszentrum ›Miracle Buy‹. Nach knapp fünf Minuten war der Wagen da. Rose hatte sich auf die kleine Verkehrsinsel des Parkplatzes gestellt und dort dem Wagen entgegengesehen, denn in einer Gegend wie dieser waren die Taxis nicht immer so buntgestrichen wie anderswo. »Ich möchte nach Red Cliff, bitte, Ecke Jefferson und Mulhouse Avenue.« Der Fahrer nickte und fuhr los. Mindestens siebzehn Meilen, dachte Rose. Zu dem Steakhouse war Jane sicher nicht gefahren, vermutlich hätte sie es gar nicht gefunden, sie war keine gute Autofahrerin. Aber nach Hause fand sie schon, und dort war sie wahrscheinlich auch. Rose hatte einen Schlüssel zu Janes Wohnung, aber der steckte ebenfalls in ihrer Handtasche. Der Wagen war angelangt. »Würden Sie bitte einen Augenblick warten? Ich muß nur einem Bekannten etwas bestellen, dann komme ich sofort zurück.« »Wie bald?« fragte der Fahrer und drehte sich zu Rose um. Er blickte sie prüfend an, und Rose wußte, er sah, daß sie keine Handtasche bei sich hatte, also auch kein Geld. »Was haben Sie denn da, ’n Affen?« Eddie hatte erst einen Arm und dann den Kopf aus der Jacke -158-
hervorgestreckt, bevor Rose ihn zurückschieben konnte. »Ja, er gehört meinem Bekannten, ich bringe ihn nur hin«, sagte sie. »Dann komme ich runter und gebe Ihnen das Geld.« Sie stieg aus. Ihr eigener Wagen war nirgends zu sehen. Am Bordstein waren viele Wagen geparkt. Eine von den vier Klingeln in dem kleinen Apartmenthaus gehörte zu Janes Wohnung. Rose läutete und wartete, dann läutete sie nochmals, dreimal kurz, einmal lang, das war das verabredete Zeichen, und zu ihrer großen Erleichterung ertönte der Summer, und die Tür öffnete sich. Sie stieg die Treppe hinauf zum dritten Stock und klopfte an eine Wohnungstür. »Ich bin’s, Rose«, sagte sie. Jane öffnete. Sie sah etwas erschreckt aus, und Rose trat ein. »Hier ist Eddie – nimm ihn mal. Ich brauche Geld fürs Taxi, zwanzig oder dreißig Dollar. Oder gib mir meine Handtasche.« »Ist was passiert? War einer hinter dir her?« »Nein. Wo hast du das Geld? Hast du meine Handtasche mit raufgeholt?« Eddie hatte sich mit einem Sprung auf der Couch niedergelassen, wo er jetzt hockte und sich den rußigen Kopf kratzte. Rose ging nach unten und bezahlte den Fahrer. Es machte 27 Dollar, sagte er, obgleich er keine Zähluhr im Wagen hatte, und Rose gab ihm drei Zehner und sagte: »Vielen Dank auch!« mit freundlichem Lächeln. »Schon recht.« Er ließ den Wagen an und fuhr ab. Rose hatte nicht viel Lust, zu Jane zurückzukehren, aber so wortlos gehen wollte sie auch nicht. Also mußte sie noch ein paar Worte sagen, und dann war Schluß, und keinen Tag zu früh. Gott sei Dank hatte der Taxifahrer nichts mehr von Eddie gesagt. Noch einmal gab Rose das verabredete Klingelzeichen. »Was ist mit dem Silber?« fragte sie, als sie oben war. -159-
»Tommy war eben hier und hat es mitgenommen. Ich hatte ihn gleich angerufen. Du, Rose – es tut mir leid, aber ich hatte wirklich Angst, das kannst du mir glauben. Ein Fenster einzuschlagen, das ist doch irre!« Rose war froh, daß Tommy bereits dagewesen war. Er war ein knochiger rothaariger Mann, er stotterte und wirkte eher linkisch, aber bisher hatte er, soviel Rose wußte, nie etwas verpatzt. »Vergiß nicht, Eddie zu baden, hörst du?« sagte sie. »Das tust du doch immer. Mach nur. Willst du Kaffee? Ist schnell fertig.« »Nein, ich gehe jetzt.« Rose hatte sich nicht gesetzt. »Tut mir leid, Jane, aber ich denke, ich steige aus. Du sagst ja selber, ich hab’s heute falsch gemacht mit dem Fenster.« Jane hatte die Hände auf die Hüften gelegt und blickte von Rose zu Eddie auf der Couch. »Wenn was passiert ist, sag es mir lieber gleich«, sagte sie. »Ich muß es ja doch ausbaden.« »Passiert ist gar nichts. Ich will bloß raus. Und auf meinen Anteil von heute möcht ich auch verzichten. Ich werd mir – hast du die Schlüssel im Wagen gelassen? Wo steht der Wagen überhaupt?« »Was war mit dem Taxifahrer?« »Gar nichts. Ich hab ihn bezahlt, das war alles.« »Hat er Eddie gesehen?« »Ja, das schon. Ich hab gesagt, ich brächte ihn zu Bekannten. Ich will jetzt gehen, Jane. Bye, Eddie.« Rose trat an die Couch und berührte leicht Eddies kleinen Kopf. Eddie sah traurig zu ihr auf, als habe er alles verstanden, und begann an seinen Nägeln zu kauen. Rose ging zur Tür. »Vergiß nicht, ihn zu baden, nein? Dann fühlt er sich wohler.« »Ach, der Teufel soll ihn holen«, gab Jane zurück. Langsam ging Rose die Treppe hinunter. Ihr war beklommen -160-
und unsicher zumute, genauso wie jedesmal, wenn sie an einer Haustür geläutet hatte oder im Wagen saß und wartete, während Jane eine Wohnung vornahm. Hank – ja, den mußte sie anrufen. Hank White, so hieß er, und er wohnte in Greenwich Village. Hoffentlich fand sie die Nummer noch irgendwo; sie meinte sich zu erinnern, daß sie nicht unter seinem Namen im Telefonbuch stand; vielleicht mußte sie noch jemand anders anrufen und sie erfragen. Hank würde sicher kommen, wenn es um Eddie ging. Es war ihr klar, daß sie Angst hatte um das Äffchen; und Hank war der einzige, dem sie das sagen konnte, weil Jane das kleine Tier vor ihren Freunden versteckt hielt. Wenn jemand (auch Tommy) kam, wurde Eddie in einen Schrank gesperrt, den Jane abschloß, und wenn Eddie rief oder schnatterte, wurde er geschlagen. Endlich hatte Rose ihren Wagen gefunden. Die Schlüssel steckten am Armaturenbrett. Sie fuhr nach Hause, ihre Wohnung lag in der Stadt etwa acht Meilen entfernt. Jane hatte inzwischen, um sich zu beruhigen, ihr Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen und das wellige blondierte Haar gekämmt. Genützt hatte es nichts. Sie nahm ein Taschenbuch und warf damit nach Eddie; es traf ihn an der Seite. »Ik-ik!« gellte Eddie und machte einen kleinen Luftsprung. Das ratlose Gesicht war Jane zugewandt, er wartete auf ihren nächsten Schritt, um entweder nach links oder nach rechts auszuweichen, wenn sie versuchen sollte, ihn zu schlagen. »Du bleibst mir heute abend im Schrank!« sagte Jane böse und ging auf ihn zu. »Und zwar sofort.« Eddie befreite sich ohne Mühe aus ihrer Hand und saß mit einem Satz auf dem Rahmen eines Bildes über der Couch. Das Bild fiel herunter, Eddie landete erneut auf der Couch und ergriff einen Eisbeutel, der dort liegengeblieben war. Er schleuderte ihn auf Jane, traf sie aber nicht. »Chi-chi-chi-chii«, das Schnattern hörte nicht auf. Eddies runde Augen wurden weit -161-
und röteten sich am Rand. Verbissen setzte Jane die Jagd fort. Eddie mußte gefangen und eingeschlossen werden. Womöglich erschienen aus irgendeinem Grunde die Cops an der Tür, klopften oder brachen gleich die Tür auf. Wer weiß, wie viele Spuren die blöde Rose hinterlassen hatte. Sie taugte überhaupt nicht viel; alles, was sie zu bieten hatte, war ihr nettes Gesicht und der schnelle Wagen. Jane faßte den Rand der Leinendecke, die über der Couch lag, und wollte sie Eddie überwerfen und ihn so einfangen, aber er tat einen Sprung mitten ins Zimmer. Jane riß die Decke von der Couch herunter und ging auf das Äffchen zu. Eddie ergriff einen Aschenbecher, warf ihn aus kurzer Entfernung und traf Jane seitlich am Kopf. Der Aschenbecher fiel zu Boden und zerbrach. Janes Wut stieg. Eddie saß jetzt auf dem Ablaufbrett in der Kochnische und fuchtelte mit einem Schälmesser, wobei er unaufhörlich schnatterte und kleine schrille Schreie ausstieß. Er nahm eine halbe Zitrone vom Brett und warf sie Jane an den Kopf. »Du verdammtes kleines Luder«, zischte Jane, als sie mit der Decke auf ihn zuging. Jetzt – Eddie sprang gerade auf sie zu, landete auf ihrem linken Arm und biß sie in den Daumen. Das Messer hatte er fallen lassen. Jane schrie auf. Der Daumen begann zu bluten, das Blut sickerte aus der Wunde und tropfte. Sie packte einen Stuhl. Umbringen wollte sie den kleinen Satan – Eddie wich aus und griff Jane von hinten an. Er biß sie in die Wade und sprang zur Seite. »Au!« Jane heulte auf. Der Schrecken war größer als der Schmerz – sie hatte nicht mal gemerkt, daß er hinter ihr war. Sie betrachtete die Wunde und sah, daß sie ebenfalls blutete. Dem wollte sie’s zeigen, dem Biest! Sie schloß das eine noch offene Fenster, so daß er nicht entwischen konnte, bückte sich und suchte auf dem Fußboden nach dem Messer. In den Hals rammen wollte sie es ihm – -162-
Eddie sprang ihr zuerst auf den gebeugten Rücken, dann auf den Hinterkopf, und Jane fiel hin und stieß sich leicht den Ellbogen. Bevor sie aufstehen konnte, hatte Eddie sie kräftig in die Nase gebissen. Jane tastete mit der Hand über das Gesicht, um zu sehen, ob die Nase noch ganz da war. Eddie tat einen Satz auf den Knauf der Wohnungstür zu. Er stützte sich auf ein Bein und rüttelte an dem oberen Riegel, wobei er den kleineren Knauf umdrehte. Wenn es ihm gelang, gleichzeitig den großen umzudrehen, dann öffnete sich die Tür. Aber er mußte den Versuch aufgeben, als er Janes Schritte dicht hinter sich hörte. Er sprang in dem Augenblick herunter, als die Spitze des Messers über das Metallschloß schrammte. »Chi-chi-chi! Chi-chii –« Jane ließ das Messer fallen. Eddie nahm es blitzschnell auf, lief an Janes Hüfte hinauf bis zur Schulter und stieß ihr die Spitze des Messers in die Wange. Er benutzte, das Messer, wie er es bei den Menschen beobachtet hatte, mit kleinen stoßenden oder sägenden Bewegungen; dann warf er es plötzlich weg und sprang von Janes Schulter hinüber auf das Bücherbord, wo er keuchend und schnatternd sitzen blieb. Eddie roch Blut, und das erschreckte ihn. Hastig nahm er ein Buch und warf es nach Jane, aber er traf sie nicht. Jane merkte, daß ihr etwas Blut die Wange hinunterfloß. Absurd, daß sie das Vieh nicht einfangen konnte! Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, nicht atmen zu können, ohnmächtig zu werden, dann holte sie tief Luft und kam wieder zu sich. Plock! Ein Buch traf sie an der Brust. Ein Schlag mit dem Stuhl, das sollte genügen. Jane griff nach dem Stuhl, der umgefallen war. Als sie ihn hochgehoben hatte, saß Eddie nicht mehr auf dem Bücherbord, und jetzt fühlte Jane, wie die behenden kleinen Füße ihr den Rücken hochliefen; sie drehte sich um und sah aus dem Augenwinkel Eddie mit der -163-
Couchdecke in den Händen, wie er ihr auf den Kopf kletterte. Jane verlor das Gleichgewicht, fiel um und stieß gegen den Stuhl, den sie gerade hinsetzen wollte. Eddie hüpfte von einer Seite des höckrigen Gebildes auf dem Fußboden zur andern und zerrte die dünne Decke über seine Feindin. Dann nahm er den nächstbesten Gegenstand – eine Muschelschale, die neben der Wohnungstür auf dem Boden stand – fest in beide Hände und schlug damit auf den Kopf ein, der sich unter der Decke noch unsicher bewegte. Eddie rutschte aus und rollte auf die Seite, aber die Finger ließen die Einkerbung der Muschel nicht los, und er schlug weiter zu. Krack! Gut hörte sich das an. Krack – Krack! Von dem unförmigen Haufen kam ein stöhnender Seufzer. Und dann ließ Eddie ohne Übergang, so wie er grundlos das Messer hatte fallen lassen, auch die Muschelschale auf den Teppich fallen und gab ihr einen leichten unmutigen Tritt mit dem Fuß. Ein kurzes Schnattern folgte. Er sah sich um, als wollte er feststellen, ob noch jemand im Zimmer war. Doch es war nichts zu hören als das Tick-tick-tick der Uhr im Schlafzimmer auf der anderen Seite der Diele. Wieder drang ihm der Blutgeruch in die Nase, er rückte ein wenig ab von der Couchdecke und seufzte erschöpft. Dann sprang er zum Fenster, rüttelte einen Augenblick am Griff und gab es auf. Man mußte es hochschieben, dazu reichten seine Kräfte nicht. Langsam wurde es dunkel. Das Telefon schrillte. Durch Eddies Kopf fuhr ein vertrautes Bild: Jane oder sonst jemand nahm den Hörer auf und sprach hinein. Einmal hatte er selbst es tun dürfen oder sollen, er hatte den Hörer fallen lassen, und alle Leute hatten gelacht. Jetzt hatte er Angst, er mochte das Telefon nicht, und er mochte auch den Haufen da auf dem Fußboden nicht. Immer wieder blickte er hin, um zu sehen, ob sich der Haufen bewegte. Er rührte sich nicht. Eddie hatte Durst. Er sprang auf das Spülbrett, sah sich um und suchte nach einem Glas Wasser oder sonst einem Gefäß, -164-
das Flüssiges enthielt, an dem er vor dem Trinken stets roch. Er sah nichts. Mit beiden Händen packte er den Wasserhahn, drehte, hielt eine Hand darunter und trank. Nachlässig versuchte er, den Hahn zuzudrehen; es gelang nicht ganz, und er ließ es tropfen. Das Telefon klingelte nicht mehr. Jetzt öffnete Eddie den Kühlschrank – ganz wohl war ihm nicht dabei, denn dafür war er schon gescholten und geschlagen worden – und nahm, als er in dem beleuchteten Innern kein Obst fand, eine Handvoll gekochter Bohnen aus einer Schüssel und begann sie zu verzehren. Die Kühlschranktür schlug er mit einem Fuß wieder zu und hoppelte auf drei Beinen ins Zimmer. Er war müde, warf die Bohnen weg und sprang auf einen Schaukelstuhl, um zu schlafen. Als es klingelte, lag Eddie zusammengerollt auf dem Sitz. Er hob den Kopf. Es war jetzt ganz dunkel im Zimmer. Plötzlich hatte Eddie Angst, er wollte fort. Der Blutgeruch war noch übler geworden. Er konnte die Wohnungstür aufmachen und hinausgehen, das wußte er, außer wenn die Frau das Spezialschloß vorgeschoben hatte, das sich nur mit dem rasselnden Schlüsselbund öffnen ließ. Die Schlüssel hielt sie versteckt. Nur einmal war es Eddie irgendwo gelungen, mit einem Schlüssel ein Schloß zu öffnen, zusammen mit Jane und Rose, und mehr aus Spaß. Die meisten Schlüssel waren zu schwierig für ihn, er konnte sie nicht umdrehen. Buzz-buzz. Das war die Klingel unten, sie klang anders als die an der Wohnungstür, die nur ›Ting‹ machte. Aber die Klingel war Eddie jetzt egal, er wollte nur weg. Er sprang noch einmal auf den Türknauf und packte den kleineren oberen Knopf mit der linken Hand. Er drehte sich, aber die Tür ging nicht auf. Wieder versuchte er es, er packte den Knauf auch noch mit dem Fuß und stieß sich gegen den Türpfosten, und jetzt öffnete sich die Tür. Eddie war draußen und sprang schweigend die Treppen -165-
hinunter, wobei er sich in den Kurven um das Geländer herumschwang. Die Tür unten war sicher leichter, außerdem konnte er einfach hinausschlüpfen, wenn einer hereinkam. Er sprang auf den runden weißen Türgriff, rutschte ab und versuchte, aufrecht stehend den Griff zu drehen. Die Tür ging auf. »Eddie! Eddie – was zum Teufel –« Die Stimme kannte Eddie. »Chi-chi!« Er sprang Hank auf den Arm, warf sich an seine Brust und schnatterte schrill – er hatte eine lange und böse Geschichte zu erzählen. »Ai-aiiii!« Er erfand sogar neue Worte. »Na, was ist denn los?« sagte Hank behutsam und trat ein. »Wo ist Jane?« Nach einem Blick nach oben schloß er die Haustür, setzte Eddie fester in seine Lederjacke und stieg, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Janes Wohnungstür war angelehnt, und nirgends brannte Licht. »Jane –?« rief er und klopfte, dann trat er ein. »Jane –? Wo ist denn hier das Licht, Eddie-boy?« Hank suchte, und nach wenigen Sekunden fand er den Lichtschalter. Von oben kamen Schritte die Treppe hinunter; instinktiv schloß er die Tür. Hier war etwas nicht in Ordnung. Erstaunt sah er sich im Zimmer um. Er war schon hier gewesen, aber nur einmal. »Was ist hier passiert?« flüsterte er. Der Raum war ein Chaos. Einbruch – die haben das Zeug da mitten ins Zimmer geschmissen und wollen es später abholen. Hank ging auf das unförmige Gebilde zu, das auf dem Fußboden lag. Langsam zog er die Decke weg. »Allmächtiger Petrus! Allmächtiger –« Eddie preßte sich flach an Hanks Pullover und schloß angstvoll die Augen. Er wollte hier weg niemand sollte ihn sehen. -166-
»Jane?« Hank berührte die Schulter: vielleicht war sie ohnmächtig, oder man hatte sie niedergeschlagen. Er versuchte sie umzudrehen und stellte fest, daß der Körper etwas steif und nicht mehr warm war. Gesicht und Hals hatten dunkelrote Blutflecken. Hank blinzelte und richtete sich auf. »Ist noch jemand da?« rief er mutig ins andere Zimmer hinüber – mutiger, als er sich fühlte. Er wußte, es war niemand da. Langsam dämmerte es ihm, daß Eddie Jane umgebracht hatte, mit den kleinen Zähnen und vielleicht auch – er starrte auf das Küchenmesser, das da ein paar Fuß entfernt auf dem Boden lag. Dann sah er die gelbrosa Muschelschale. »Los, geh runter, Eddie«, flüsterte er. Aber Eddie klammerte sich furchtsam fest an seinen Pullover. Hank nahm erst das Messer auf und dann die Schale, beides spülte er in der Kochnische unter dem Wasserhahn ab. Von der Schale lief etwas schwachrosa Wasser ins Spülbecken. Er kehrte sie um und schüttelte alles Wasser heraus, dann trocknete er sie gründlich mit dem Geschirrtuch ab. Mit dem Messer verfuhr er ebenso. Jane mußte Eddie angegriffen haben, Rose hatte ja schon so etwas angedeutet. »Wir wollen machen, daß wir hier rauskommen, Eddie. Ganz schnell.« Das nächste, was Eddie begriff, war das tröstliche Geräusch des Reißverschlusses, mit dem Hank seine Jacke bis obenhin zuzog. Dann gingen sie die Treppe hinunter. Hank hatte nicht vergessen, die Türgriffe abzuwischen, bevor er die Wohnung verließ; er hatte sich auch vergewissert, daß die Tür hinter ihm normal ins Schloß fiel. Er hatte erst vorgehabt, die Polizei noch von Janes Wohnung aus anzurufen; dann nahm er sich vor, von zu Hause zu telefonieren, wenn er erst mal Eddie in Sicherheit gebracht hatte. Aber er tat es nicht. Nicht mal Rose gedachte er anzurufen. Rose wollte damit bestimmt nichts zu tun haben, und Hank wußte auch, sie konnte den Mund halten, aber die Leiche würde bald genug gefunden werden, davon war er überzeugt, und er wollte nicht, daß mit Eddie -167-
etwas geschah. Wenn er anrief, fragte die Polizei ihn aus und stellte ganz sicher auch fest, welche Rolle Eddie dabei gespielt hatte, selbst wenn Hank versuchte, ihn zu verstecken. Hank verhielt sich daher zunächst abwartend und blieb in seiner Wohnung in Greenwich Village, die er mit zwei anderen jungen Leuten teilte. Zwei Tage später las er die Meldung in der Zeitung: Jane Garrity, zweiundvierzig, stellungslose Sekretärin, war tot in ihrer Wohnung in Red Cliff aufgefunden worden; augenscheinlich war sie von einem oder mehreren Unbekannten – möglicherweise sogar von Kindern überfallen, aber nicht schwer verletzt worden. Als Todesursache hatte man Herzversagen festgestellt. Die Polizei hatte Janes Akte und kannte auch ihren Umgang, dachte Hank; sie mochte sich also weiter um den Fall kümmern. Aber er hätte Rose das Äffchen nicht überlassen sollen. Nur: sie hatte es so gern gehabt, und er hatte es ihr geschenkt, weil er ein etwas schlechtes Gewissen hatte, als sie sich trennten. Jetzt hatte er Eddie zurück und würde sich nicht wieder von ihm trennen. Auch Eddie hatte jegliches Interesse am Öffnen fremder Türen verloren, er war glücklich dort, wo er jetzt zu Hause war. Er hatte ein kleines Zimmer für sich mit Seilen zum Aufundabschwingen, ein Körbchen zum Schlafen und keinerlei Tür; und ein Freund von Hank, ein Bildhauer, bastelte ein baumähnliches Gebilde für ihn im Wohnzimmer. Hank machte sich daran, ein langes Epos über Eddie zu schreiben, mit getarnter Darstellung seiner Lebensgeschichte, sozusagen eine allegorische Metamorphose. Der siegreiche Affe oder so ähnlich. Und niemand kannte die Wahrheit – niemand außer Hank und Eddie.
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Hamster contra Webster
D
ie Umstände, die für die drei Websters – Julian, Betty und ihren zehnjährigen Sohn Laurence – zum Erwerb eines Landhauses, eines Hundes und mehrerer Hamster führten, kamen für die ganze Familie völlig unerwartet und sehr überraschend, und doch hingen sie alle zusammen. Es fing damit an, daß Julian eines Nachmittags in seinem klimatisierten Büro in Philadelphia einen Herzanfall erlitt. Ein plötzlicher heftiger Schmerz ließ ihn zu Boden sinken. Er wurde sofort ins Krankenhaus geschafft, und als es ihm nach fünf Tagen etwas besser ging, setzte sich der Arzt zu ihm ans Bett und hielt ihm eine kurze ernste Rede. Nicht mehr rauchen, so hieß es, täglich nur noch höchstens sechs Stunden arbeiten, und vor allem Landluft anstatt Großstadt. Julian war entsetzt. Er sei schließlich erst siebenunddreißig, wandte er ein. »Sie wissen gar nicht, auf wie hohen Touren Sie immer gefahren sind«, erwiderte der Arzt mit ruhigem Lächeln. »Mit Ihrer Frau habe ich schon gesprochen – die ist ganz einverstanden mit dem Umzug. Ihr liegt nämlich Ihre Gesundheit wirklich am Herzen, wissen Sie – vielleicht mehr als Ihnen selber.« Natürlich gab Julian nach; er liebte Betty und sah überdies ein, daß der Rat des Arztes durchaus vernünftig war. Und Larry – Larry war selig. Ein Haus auf dem Lande mit Garten, Bäumen und reichlich Platz – viel, viel schöner als der dämliche asphaltierte Spielplatz des großen Wohnblocks in der Stadt. Er hatte nie etwas anderes gekannt; als sie dort einzogen, war er fünf gewesen. Sie fanden ein zweistöckiges weißes Haus mit vier Giebelfenstern auf einem Grundstück von anderthalb Morgen, -169-
siebzehn Meilen außerhalb von Philadelphia. Julian brauchte nun auch nicht mehr ins Büro zu fahren, seine Firma hatte ihm eine andere Position gegeben; er war jetzt nicht mehr Verkaufsmanager, sondern Verkaufsberater – ein anderes Wort für Reisevertreter, das wußte er wohl, aber sein Gehalt blieb unverändert. Die Firma Olympian Pool stellte Swimming-pools jeder Größe, Form und Farbe her, geheizt und ungeheizt; ebenso lieferte sie Filtergeräte und Vakuum, Klärmittel, Brausen und Gegenstromanlagen und verschiedene Arten von Sprungbrettern. Julian wußte auch, er konnte verkaufen und verstand es aufzutreten. Suchte er einen Kunden auf, so war diesem Besuch ein Angebot und die Antwort des Kunden vorausgegangen; er konnte also stets sicher sein, empfangen zu werden. Er trat ruhig und sicher auf und bedrängte niemanden durch viel Gerede; sah er, daß es bei einem Auftrag Schwierigkeiten und zusätzliche Kosten geben werde, so verschwieg er das nicht. Er kaute ein bißchen auf seinem rötlichbraunen Schnurrbart, überlegte eine Weile und erläuterte dann seine Meinung mit der Miene eines Mannes, der ein eigenes Problem vor sich hin denkend in Worte faßt. Jetzt stand er also jeden Tag erst um acht Uhr auf, schlenderte durch den Garten, der allmählich Gestalt annahm, verzehrte sein Frühstück – Tee und ein weichgekochtes Ei anstatt Kaffee und Zigaretten –, besah sich die Zeitung und probierte das Kreuzworträtsel; dies alles auf Anraten des Arztes. Um zehn setzte er sich in seinen Wagen und fuhr los. Etwa um vier Uhr kam er zurück, und damit war sein Arbeitstag zu Ende. Inzwischen nahm Betty Maß für neue Gardinen, kaufte noch ein paar Vorleger und erledigte fröhlich die kleinen Arbeiten, die getan werden mußten, damit das neue Haus zu einem Zuhause wurde. Larry hatte die Schule gewechselt und kam in der neuen Klasse gut mit. Jetzt war März, und Larry wünschte sich einen Hund. Außerdem standen draußen im Schuppen ein paar leere Kaninchenställe. Konnte er nicht vielleicht Kaninchen halten? -170-
»Ach, die vermehren sich so schrecklich«, meinte Julian. »Schließlich wissen wir dann nicht mehr, wohin damit. Dann kann man sie höchstens noch verkaufen, und damit möchte ich nicht erst anfangen. Ein Hund wäre schon richtig, Larry.« In der nächsten Stadt gab es eine Tierhandlung; da fuhren sie hin, um sich nach einem Zwinger zu erkundigen, der Terrier oder Schäferhunde verkaufte. Aber in der Tierhandlung sahen sie so reizende Bassetwelpen, daß Betty und Larry sofort wußten: das war der richtige Hund. »Rundum gesund!« sagte die Frau in dem Geschäft. Sie hielt einen braun-weißen Welpen mit weichen Schlappohren im Arm und streichelte ihn. Ja, gesund war er, das sah man ihm an. Er lachte und schniefte und schüttelte sich vergnügt hin und her; die glatte Haut hing ihm noch wie ein loser Faltenanzug über den Knochen, aber sie würde sich gewiß bald auffüllen mit Hilfe von Frolic und Schappi, reichlich knochenförmigen Hundekuchen und vielen Vitaminen. Julian nahm gleich ein großes Paket Hundefutter mit. »Guck mal, Pop«, sagte Larry und zeigte auf einige Hamster, die in einem Käfig hockten. »Noch kleiner als Karnickel! Die könnten doch in den kleinen Ställchen bei uns wohnen, Pop!« Julian und Betty ließen sich erweichen und kauften zwei Hamster. Mehr nicht – zwei waren genug. Sie waren wirklich reizend mit dem weichen sauberen Fell, den unschuldigneugierigen Knopfaugen und den schnüffelnden Näschen. »Wir haben ja so viel Platz – schön, daß wenigstens ein Teil genutzt wird!« sagte Betty. Sie war ebenso glücklich wie Larry. Larry hörte begierig zu, als die Verkäuferin ihm ein paar Anweisungen für die Hamsterpflege gab. Nachts mußten sie warm gehalten werden. Als Futter brauchten sie Getreide und verschiedene Körnersorten, ferner Steckrüben und Möhren. Sie waren Nachttiere; Sonnenlicht mochten sie nicht. Larry trug -171-
seine beiden Hamster nach Hause und brachte sie in einem der kleinen Ställe des Kaninchengeheges unter, von denen es im ganzen sechs gab, drei oben und drei unten. Er stellte den Tieren Wasser hin, dazu einen Napf mit Maiskörnern aus einer Dose, die er in der Küche gefunden hatte; er holte einen leeren Schuhkarton und füllte ihn mit alten Lappen: das war als Schlafzimmer für die beiden Hamster gedacht. Namen mußten sie auch haben: vielleicht Tom und Jerry? Nein, das ging nicht, es war ja ein Männchen und ein Weibchen. Jack und Jill? Zu kindisch. Adam und Eva? Ach, die Namen hatten Zeit bis später, das eilte nicht. Unterscheiden konnte er sie, das Männchen hatte einen schwarzen Fleck zwischen den Ohren. Ja – und dann war da ja auch noch der kleine Hund. Er fraß, pinkelte, schlief, erwachte in der ersten Nacht um zwei Uhr früh und wollte nun spielen. Natürlich weckte er jeden im Haus, denn er war aus seinem Körbchen an der Heizung herausgekrochen und kratzte an Larrys Tür. »Ach, ist der goldig!« sagte Larry, noch ganz verschlafen, und rollte sich im Pyjama auf dem Fußboden herum, das Hündchen im Arm. »O Julian, sieh doch!« sagte Betty und ließ sich glücklich seufzend in die Arme ihres Mannes fallen. »War das ein herrlicher Tag. Tausendmal schöner als in der Stadt, nicht?« Julian lächelte und gab seiner Frau einen Kuß auf die Stirn. Ja, es war schöner hier, und auch er war glücklich, aber er mochte nicht viel darüber reden. Er hatte das Rauchen nun aufgegeben, das war ihm nicht leichtgefallen, und jetzt merkte er, daß er dicker wurde. Irgendwas blieb immer zu wünschen übrig. Larry hatte nun ein großes Zimmer ganz für sich allein. Er nahm sich die Encyclopaedia Britannica vor und vertiefte sich in das Kapitel über Hamster. Sie gehörten, so stand da, zur Gattung -172-
Cricetus frumentarius und zur Familie der mausartigen Nager (Muridae). Sie gruben sich Baue, etwa sechs Fuß tief unter der Erde, die vertikal und gewunden verliefen. Ein Bau konnte aus drei oder vier Kammern bestehen, die verschieden tief lagen; die tiefste war die Vorratskammer, dort legten sie den Futtervorrat für den Winter an. Die Schlafkammern wurden getrennt nach Geschlecht und Alter. Wenn die Jungen drei Wochen alt waren, schoben die Alten sie aus dem Bau, dann mußten sie sich allein versorgen. Ein Weibchen konnte ein Dutzend Junge werfen und während der fruchtbaren acht Monate im Jahr insgesamt 25 bis 50 Junge zur Welt bringen. Mit sechs Wochen war das Weibchen geschlechtsreif. Vier Monate jährlich hielten die Hamster Winterschlaf, dann lebten sie von dem angelegten Getreidevorrat. Zu ihren Feinden gehörten Eulen und Menschen, die – jedenfalls in früheren Zeiten – oft den Bau aufgruben, um an den Kornvorrat zu kommen. »Ein Dutzend Kinder auf einmal!« sagte Larry verblüfft vor sich hin. Ob er sie an Schulkameraden verkaufen sollte –? Aber er ließ den Gedanken sofort wieder fallen. Es war viel schöner, sich vorzustellen, wie ein Dutzend winziger Hamster in dem Verschlag herumwieselte – einen Meter im Quadrat war er groß –, wo das Pärchen jetzt untergebracht war. Wer weiß – vielleicht waren vor dem nächsten Winterschlaf schon alle sechs Verschläge gefüllt. Knapp sechs Wochen später warf Larry eines Tages einen Blick in den vergitterten Stall und sah zehn winzige Hamsterbabies, die sich alle zum Saugen an den Bauch der Mutter drängten – Gloria hieß sie inzwischen. Larry war gerade mit dem gelben Schulbus nach Hause gekommen. Er ließ die Mappe fallen und drückte das Gesicht an die Gitterstäbe. »Mensch, so was – zehn – nö, elf Junge!« Larry stürzte ins Haus. »Mama!« Betty war oben und säumte einen Bettbezug auf der Nähmaschine, aber Larry zuliebe kam sie herunter, um die -173-
Hamsterkinder zu bewundern. »Nein, wie reizend! Wie kleine weiße Mäuse, nicht?« Am nächsten Morgen waren es nur noch neun. Larry hatte den Verschlag einen Viertelmeter hoch mit Zeitungspapier abgedichtet, damit die Kleinen nicht herausfallen konnten. Wo waren die zwei geblieben? Dann fiel ihm zu seinem Schrecken ein, was in der Encyclopaedia Britannica gestanden hatte: es kam oft vor, daß die Mutter schwache oder kränkliche Junge einfach auffraß. Das war vermutlich auch hier geschehen. Als Julian gegen halb fünf nach Hause kam, schleppte ihn Larry zum Stall und zeigte ihm die Jungen. »Das ist aber schnell gegangen, was?« sagte Julian. Er war nicht weiter erstaunt, schließlich waren Hamster ja mit Kaninchen verwandt, aber er wollte dem Sohn etwas Nettes sagen. Er war in Gedanken bei dem Swimming-pool, den er für den Garten vorgesehen hatte. Die Aktenmappe noch unter dem Arm, ging er nach hinten, um sich den Rasen noch einmal anzusehen. Larry folgte ihm. Der Rasen war eigentlich ein prima Gelände für die Hamster und ihre Jungen, dachte er, da konnten sie ihre Baue graben für den Winter – wenn es soweit war. Sicher war es doch für die Hamster besser, sie hielten ihren Winterschlaf unter der Erde und nicht im Stroh im Kaninchenstall. Da unten konnten sie dann auch ihre Vorratskammern anlegen, so wie es im Lexikon stand. Jetzt kam der kleine Welpe aus dem Haus gelaufen, und Larry kraulte ihn am Kopf und gab sich dabei Mühe, seinem Vater zuzuhören. »… oder ein schönes Blaßblau, was meinst du, mein Junge? Und was für eine Form – nierenförmig? Bumerang? Kleeblatt?« »Bumerang!« sagte Larry erfreut; das Wort gefiel ihm. Julian wollte den Auftrag sofort bei seiner Firma einreichen. In den Frühjahrs- und Sommermonaten häuften sich die Bestellungen, und Julian wußte, er kam wahrscheinlich nicht -174-
gleich dran, denn die Angestellten wurden keineswegs mit Vorrang abgefertigt. Die Firma rühmte sich, einen Swimmingpool innerhalb einer Woche installieren zu können. Hoffentlich bekam er seinen, solange noch Sommer war, dachte Julian. Einige Tage später brachte Larry nach der Schule mehrere Klassenkameraden mit nach Hause, und nach der Vespermahlzeit gingen sie hinunter, um die Hamster zu betrachten. Jetzt waren die Kleinen die große Attraktion. Die Jungens wollten sie gern in die Hand nehmen, was Larry auch erlaubte, nachdem er die Mutter von ihnen getrennt hatte. Er faßte sie dabei am Kragen, wie es in seinen Büchern stand. »Hat deine Mutter nix gegen die Jungen?« fragte Eddie Carstairs vorsichtig. »Nö – warum?« fragte Larry. »Sie gehören ja mir. Ich versorg sie ganz allein.« Eddie warf einen Blick über seine Schulter, als wolle er sich überzeugen, daß Larrys Mutter nicht in der Nähe war. »Ich könnte dir noch’n paar abgeben, wenn du willst. Ich soll sie abschaffen, meine Eltern wollen das – aber mein Vater mag sie nicht ertränken, weißt du. Wenn du sie also haben willst –« Gesagt, getan. Am nächsten Nachmittag gegen vier kam Eddie angeradelt, einen Pappkarton auf der Lenkstange, darin saßen zehn kleine Hamster aus zwei Würfen, sie waren also nicht alle gleich alt; ferner drei erwachsene Hamster, zwei davon hatten orangefarbene Flecken, die Larry wunderhübsch fand, sie brachten neue Farbe in sein Gehege. Eddie hatte immer noch leise Bedenken. »Du brauchst keine Angst zu haben – meine Mutter hat nichts dagegen«, versicherte Larry beruhigend. »Das kann man nie wissen. Wart’s nur ab!« meinte Eddie. Nein, vielen Dank, länger bleiben wollte er nicht. Larry setzte zwei der großen Hamster im Garten aus und freute sich, als sie vergnügt herumwieselten,| die Iris -175-
beschnüffelten, an den Grashalmen knabberten und sich immer weiter entfernten. Jetzt kam Mr. Johnson, der Hund, aus dem Hause gelaufen und machte sich an die Verfolgung des größeren Hamsters, der sofort unter dem Lavendelgebüsch verschwand, was Mr. Johnson baß erstaunte. Larry mußte laut lachen. Zwei Tage später erblickte Betty die neuen jungen Hamster in den beiden anderen Stallgehegen. »Wo kommen die denn her?« fragte sie. Die leise Mißbilligung entging Larry nicht. »Och – die hab ich von einem Schulfreund. Weil ich gesagt habe, wir haben hier Platz. Und ich sorg doch auch gut für sie, oder?« »Ja, Larry, das tust du. Also schön, dies eine Mal, hörst du? Mehr wollen wir aber nicht haben. Die kriegen ja alle wieder Junge, weißt du.« Larry nickte höflich; er war mit seinen Gedanken schon viel weiter. Sein Ansehen in der Schule war erheblich gestiegen; er durfte zu Hause Hamster halten und verstand mit ihnen umzugehen, und im eigenen Garten hatte er die richtige Behausung für sie, nicht bloß eine alte Kiste oder Schachtel. Noch etwas: er konnte große oder auch junge Hamster, wenn sie drei Wochen alt waren, einfach im Garten loslassen. Zunächst mal wollte er von seinen Freunden die übernehmen, die sie nicht mehr behalten konnten. Mindestens vier seiner Mitschüler hielten Hamster und hatten schon zu viele. Eines Nachmittags erschien Larrys Vater mit drei Männern, die sich wegen des Swimming-pools den Rasen ansehen wollten. Larry folgte ihnen in einiger Entfernung; er behielt mehrere der Erdlöcher der Hamster im Auge, die er kannte und mit unauffälligen Häufchen aus Laub und kleinen Zweigen getarnt hatte. Aber einige waren deutlich sichtbar, und er hatte einmal gehört, wie sein Vater »Verdammte Maulwürfe!« ausrief. Sein Vater sollte eigentlich jeden Morgen zweimal um den Rasen herumspazieren, aber er tat es nicht immer. -176-
Jetzt versank einer der Arbeiter in blauem Overall, das Meßband in der Hand, mit dem ganzen Fuß in einem Hamsterbau und lachte. »Na, hier haben aber die Maulwürfe schon reichlich vorgearbeitet, was? Die haben das hier ja schon halb umgegraben!« »Ha-ha!« sagte Julian freundlich; er unterhielt sich gerade mit einem anderen Arbeiter über die Bumerangform des Pools und zeigte ihm, wo der Außenbogen hinkommen sollte. »Vergeßt bloß nicht, daß wir den Aushub noch verwenden wollen – ein kleiner Hügel soll dort hin, vielleicht machen wir mal ’n Steingarten oder so was. Da drüben.« Er zeigte auf eine Stelle zwischen sich selbst und dem Birnbaum. »Ja, ja, ich weiß, daß alles aus der Zeichnung hervorgeht, aber ich finde immer, man versteht es viel besser, wenn man den Boden vor sich hat, so direkt vor den Augen.« Das war Ende Mai gewesen. Jetzt hatten Larrys erste Hamster zum zweitenmal Junge bekommen. Der eine Hamster von Eddie, der keine orangefarbenen Flecken hatte, war ein Weibchen, das ebenfalls bald Junge werfen mußte; der Vater war Larrys Männchen, das er Pirat genannt hatte wegen des schwarzgefleckten Kopfes. Wenn er die Hamster im Stallgehege auf etwa zwanzig beschränkte – drei Erwachsene und ein gutes Dutzend Junge –, dann ging das wohl noch an, dachte Larry; so viele würden seine Eltern gerade noch hinnehmen. Die kleinen Biester waren Nachttiere, daher ließen sich die Gartenhamster am Tage niemals sehen, auch Larry sah sie nicht. Aber daß sie ihre Baue gruben und sich offenbar ganz wohl dabei befanden, daran war kein Zweifel, er sah die Schlupflöcher an verschiedenen Stellen im Garten und auf dem Rasen; und wenn er nachmittags Grassamen, Getreidekörner und Erdnüsse im Garten auslegte, so waren sie am nächsten Tag verschwunden. Larry hatte jetzt ein Fahrrad und fuhr nicht mehr mit dem Schulbus; ein großer Teil seines wöchentlichen Taschengeldes von drei Dollar blieb im dörflichen Krämerladen, da gab es ein -177-
Regal mit Futtermitteln für Haustiere, und Larry machte dort nach der Schule seine Einkäufe. Und das kam alles in die Vorratskammern! Oder vielleicht fraßen sie es auch gleich auf – es war wohl noch zu früh, für den Winter vorzusorgen, dachte Larry. Er wußte, der Garten war jetzt voll von drei Wochen alten Hamstern. Manchmal hatte er schon überlegt, ob er nicht für jeden Hamster, den er von seinen Schulfreunden übernahm, fünfundzwanzig Cents verlangen sollte, fünfundzwanzig für die älteren und zehn Cents für die jungen, um seine Futterkosten zu senken, aber er tat es dann doch nicht. In seinen Träumen sah er sich als Schutzengel der Hamster, als ihr großer Freund, der sie erlöste aus dem elenden Dasein in engen Schachteln und Kisten und ihr Leben schöner und glücklicher machte. »Hamsterhimmel!« sagte Larry halblaut vor sich hin. Es war nun Juli, und er hatte Sommerferien. Im Stall waren gerade zwei neue Würfe angekommen, und in den unterirdischen Gängen gab es doch auch sicher schon Junge? Ganz bestimmt. Er stellte sich die Baue vor, wie sie die Encyclopaedia beschrieben hatte: sechs Fuß tief und gewunden. Phantastisch: der Boden, auf dem er stand, war unten von lauter Familien mit kleinen Kindern bewohnt, sie hatten geschützte Kammern und Vorratsräume und Schlafplätze, ein richtiges Zuhause! Und kein Mensch sah es dem Erdboden an. Bloß gut, daß sein Vater seinen regelmäßigen Spaziergang um den Rasen aufgegeben hatte, denn selbst Larry versank jetzt manchmal, wenn er nicht aufpaßte, mit dem Fuß in einem Hamsterloch. Sein Vater war schwerer und würde noch tiefer einsinken, und vielleicht machte er sich dann sofort daran, die Hamster aus dem Garten zu vertreiben – auch wenn er sie immer noch für Maulwürfe hielt. Larry gratulierte sich zu seiner Vorsicht: er hatte die Gartenhamster immer so gefüttert, daß niemand es merkte. Eben dieser Umstand führte jedoch dazu, daß Larry seine Mutter belog, was ihm nicht ganz leicht auf der Seele lag. Das -178-
kam so: Eines Nachmittags in der Küche sagte Betty: »Du, Larry, ich hatte gedacht, wir hätten um diese Zeit schon viel mehr Hamster. Offen gesagt, ich bin ganz froh darüber, weißt du, daß es nicht so viele sind. Viel leichter –« »Ja, ich habe ein paar in der Schule verschenkt«, gab Larry eilig zur Antwort. Ihm war nicht wohl dabei. »Ach, deshalb! Ich wußte doch, irgendwas war da komisch.« Betty lachte. »Ich habe nämlich gerade was über Hamster gelesen – sie vertragen sich nicht mit Maulwürfen, angeblich bringen sie sie um. Wäre vielleicht gut, wenn wir zwei oder drei in den Garten setzten. Was meinst du, Larry? Kannst du dich von einem oder zwei Paaren trennen?« Larry strahlte über das ganze sommersprossige Jungensgesicht. »Das hätten die bestimmt gern, Mom!« Was in den nächsten zehn Tagen geschah, rollte in Windeseile ab, jedenfalls kam es Larry so vor. Eben noch lag er in seinem Zimmer auf dem Bett und las in einem Buch, das er gegen sein Kopfkissen gelehnt hatte. Die Sonne schien, die Hamster im Stall waren dick und zufrieden. Larrys Vater freute sich auf die letzte Juliwochen, und die beiden ersten Wochen im August, dann hatte er Ferien. Larry wußte, diesen Sommer wollten sie nicht verreisen; schließlich war ein Fluß in der Nähe, in dem man fischen konnte, und der Arzt hatte Julian leichte Gartenarbeit angeraten. Alles sah himmelblau und wolkenlos aus – bis in der letzten Juliwoche die Männer erschienen, die den Swimming-pool anlegen sollten. Sie kamen schon früh eines Morgens, um sieben. Larry erwachte von dem Lärm der beiden großen Lastwagen und beobachtete sie von seinem Fenster aus. Sie fuhren mit dem Bulldozer auf den Rasen. Larry hörte im Flur seine Eltern miteinander reden, dann ging Julian die Treppe hinunter und trat nach draußen auf den Rasen. Larry sah es: sein linker Fuß sank plötzlich ein, er fiel zu Boden, aber das Bein gab nicht nach, und -179-
Larry hörte, wie er aufstöhnte. Einer der Arbeiter ergriff vorsichtig Julians Schultern und setzte ihn ins Gras. Betty kam herausgelaufen, aber Julian konnte nicht aufstehen, und sie lief zurück ins Haus. Der Arzt erschien. Julian lag unten auf der Couch, blaß, und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Glauben Sie, daß der Fuß gebrochen ist?« fragte Betty. »Nein, ich glaube nicht, aber wir wollen ihn lieber gleich röntgen. Ich habe Krücken im Wagen – warten Sie, ich hole sie. Wenn Ihr Mann nur bis zu meinem Wagen kommt –« Der Bulldozer summte, ächzte und fraß sich weiter in den Rasen. Die Hamster… die unterirdischen Gänge… Larry bangte mehr um die Hamster als um seinen Vater. Nach zwei Stunden war Julian zurück. Er ging auf Krücken, der linke Fuß war dick verbunden und unten mit einem Metallband versehen, auf dem er laufen konnte, wenn der Knöchel sich gebessert hatte. Zornerfüllt kam er in die Küche, wo Betty und Larry beim zweiten Frühstück – Milch und Brötchen – saßen. »Der Rasen ist völlig unterminiert, sagen die Männer. Und zwar von Hamstern, nicht von Maulwürfen!« verkündete Julian. »Ach, Liebling – die Leute graben doch nun alles auf, das wird sicher die meisten verjagen!« meinte Betty beschwichtigend. Julian blickte seinen Sohn streng an. »Ganz klar, Larry: du hast deine Hamster einfach in den Garten gesetzt und uns kein Wort davon gesagt. Du hast also gelogen. Du hast die –« »Ich hab nicht gelogen!« unterbrach ihn Larry angstvoll. Für seinen Vater gab es nichts Schlimmeres als Lügen. »Ihr habt mich ja gar nicht gefragt, ob ich – ob ich –« Er war aufgestanden und stand bebend vor seinem Vater. »Du hast Mutter in dem Glauben gelassen – und das ist genau -180-
dasselbe wie Lügen –, daß du nur die beiden von neulich im Garten ausgesetzt hast und sonst keine. Das ist eine glatte Unwahrheit. Der ganze Rasen ist unterhöhlt von Löchern und Gräben und Gott weiß was sonst noch.« »Julian, bitte – reg dich doch nicht so auf!« bat Betty dringlich; sie fürchtete einen neuen Herzanfall. »Es gibt doch Mittel – auch wenn es viele Löcher sind, bestimmt gibt es Mittel dagegen. Schädlingsbekämpfer und so.« »Recht hast du!« sagte Julian grimmig. »Und die rufe ich jetzt an, sofort.« Er machte sich mit den Krücken auf den Weg zum Telefon. »Julian, laß mich doch anrufen!« rief ihm Betty nach. »Du mußt dich ausruhen – sicher hast du noch Schmerzen –« Julian hörte nicht. Larry beobachtete ihn und wagte dabei kaum zu atmen. So böse hatte er seinen Vater noch nie gesehen. Schädlingsbekämpfer. Die brachten sicher Gift mit, tödliches Gift. Vielleicht stellten sich auch Männer mit Knüppeln im Garten auf und schlugen die Hamster tot, sobald sie aus den Schlupflöchern krochen. Larry fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ob er versuchen sollte, schon jetzt einige hinauszujagen und sie dann einzufangen und in den Stall zu setzen, wo ihnen keine Gefahr drohte? Wie viele Gänge mit jungen Hamstern wurden wohl in dieser Minute von den Leuten draußen vernichtet? Larry blickte aus dem Küchenfenster. Der Bulldozer hatte schon zu dem äußeren Bogen des Bumerangs angesetzt und war jetzt bei der Markierung des inneren Bogens angelangt. Von den Hamstern war nichts zu sehen. Larry blickte in alle Richtungen, bis hinüber zum Rande des Gartens. Er stellte sich die Hamster vor, wie sie tief unten ratlos hin und her rannten und nicht begriffen, woher die Erschütterungen im Erdreich kamen. Sie waren ja nur sechs Fuß tief unter der Oberfläche, und der Swimming-pool sollte an mehreren Stellen zwölf Fuß tief werden. -181-
»Der Teufel soll sie alle holen!« sagte Julian mit Donnerstimme und warf heftig den Hörer auf die Gabel. Larry hielt den Atem an und lauschte. »Liebling, der eine hat doch gesagt, er könnte vielleicht morgen kommen. Ruf den doch noch mal an!« sagte Betty. Larry schlüpfte durch die Küchentür nach draußen; er wollte bei den Männern bleiben und versuchen, ein paar der Hamster zu retten. Er machte einen Umweg über den Geräteschuppen, um sich einen leeren Karton zu holen. Als er den Bulldozer an der Ausgrabung erreichte, sah er gerade noch, wie das mächtige gezahnte Maul sich mit einer schweren Ladung Gartenerde in die Luft erhob, herumschwang und die Erde auf eine Stelle niederprasseln ließ, an der sich, wie Larry wußte, ein Ausgangsloch der Hamster befand. In Larry kochte es vor hilflosem Zorn. Er wollte den Männern zurufen, sie sollten aufhören; dann fiel ihm ein, daß die Hamster zum Glück immer für einen zweiten Ausgang sorgten. Aber der Trost hielt nicht lange an. Als er hinunterblickte in die große Grube, die der Bulldozer in den Boden riß, sah er in der Erde einen Hamsterbau glatt aufgeschnitten; es sah aus, als habe jemand ein Messer genommen und den Gang sauber entzweigeteilt, wie auf dem Querschnitt in der Encyclopaedia. Und unten auf dem Boden zappelten drei oder vier winzige Junge, deutlich sichtbar, knapp vier Fuß tief! Wo waren bloß die Eltern? »Aufhören!« schrie Larry mit schriller Stimme und ruderte mit den Armen, damit der Mann oben im Bulldozer ihn sah. »Das sind doch lebende Tiere, da unten!« Der Mann im Bulldozer schien ihn nicht zu hören. Das gefräßige Maul kam zurück und stieß sich von neuem in den Erdboden, noch tiefer als an der Stelle, wo die kleinen Hamster lagen. Einer der Arbeiter war herangetreten und fragte: »Was hast du denn, Jungchen? Da sind doch noch ’n Haufen mehr da unten.« -182-
»Aber das sind doch meine Hamster!« gab Larry empört zurück. Der Mann schüttelte den Kopf. »Na, deinem Vater reicht’s aber jetzt, das kann ich dir sagen. Der ganze Rasen ist voll davon, schau bloß mal hin! Nun heul nicht, Junge – du hast ja noch mehr als hundert, auch wenn ein paar drauf gehen!« Und er ging weiter, bevor Larry sich aufrichten und ihm beteuern konnte, er heule gar nicht. Der Tag war nun gründlich verdorben. Als die Männer ihre Mittagspause machten, setzte sich Julian von neuem ans Telefon. Larry ging mit seinem Pappkarton nach draußen, um wenigstens ein paar der Hamster zu retten, große oder kleine, aber er fand nicht einen einzigen. Betty kochte ein einfaches Mittagessen; Julian war immer noch so gereizt, daß er kaum etwas aß. Er redete davon, sich die Hamster selber vorzunehmen, brennende Fackeln in die Gänge zu schieben, wie es die Farmer mit Maulwurfslöchern taten, oben in Massachusetts, wo er aufgewachsen war. »Aber Julian, die Schädlingsbekämpfer –« Betty warf einen Blick auf ihren Sohn. »Die kommen doch sicher ganz bald. Freitag haben sie gesagt. Reg dich doch nicht auf, ich bitte dich. Das ist bestimmt nicht gut für dich.« »Und ich werd jetzt ’ne Zigarette rauchen. So.« Julian stand auf, ließ eine der Krücken fallen, hob sie auf und humpelte zum Telefontischchen, auf dem immer eine Dose mit Zigaretten stand. Betty hatte ihren Zigarettenkonsum eingeschränkt, sie rauchte nur noch fünf pro Tag und nur, wenn Julian nicht dabei war. Sie seufzte und sah Larry an, der den Blick nicht vom Teller hob. Sein Vater war ja bloß wütend, dachte Larry, weil er in der letzten Zeit nicht geraucht hatte. Und weil der Arzt ihm kürzere Arbeitszeit vorgeschrieben hatte. Lauter Kleinigkeiten. Wie konnte man sich bloß wegen der Hamster derartig anstellen? -183-
Blödsinnig. Larry stand auf, sagte: »Entschuldigung« und ging nach oben. In seinem Zimmer warf er sich aufs Bett und weinte. Er wußte, der Kummer ging vorüber; es tat jetzt einfach gut, mal zu heulen, dann hatte man es hinter sich. Er wurde müde und hatte die Augen geschlossen, als das Brummen des Bulldozers ihn hochfahren ließ. Es ging wieder los. Seine Hamster! Larry rannte nach unten. Noch einmal wollte er versuchen, die flüchtenden Hamster in seinen Pappkarton zu retten. Unten stieß er fast mit Julian zusammen, der zur Küchentür hereinkam. »Also Betty, du kannst dir nicht vorstellen, wie das aussieht!« sagte er zu seiner Frau, die am Ausguß stand. »Kein Fußbreit Rasen, der nicht unterminiert ist. Was du da kaputtgemacht hast, Larry! Dein eigener Grund und Boden!« »Julian – bitte!« sagte Betty flehentlich. »Ich begreife gar nicht, daß du davon nichts gemerkt hast!« sagte Julian zu ihr. »Überall, wo ich mit der Krücke reinstoße, gibt der Boden nach.« »Ich gehe ja auch nicht mit der Krücke herum!« sagte Betty mit beruhigendem Lächeln. Ob sie Julian dazu kriegen konnte, einen ihrer Tranquilizer zu nehmen? (Es waren alte Pillen, sie hatte seit mindestens zwei Jahren keine genommen.) Oder sollte sie lieber den Arzt anrufen, ihren Hausarzt? Wenn er nun wieder einen Herzanfall bekam? »Liebling, hör mal – möchtest du nicht ein Librium nehmen?« »Nein!« erwiderte Julian laut. »Keine Zeit.« Er wandte sich um und humpelte auf den Krücken nach draußen. Larry folgte ihm leise; er ging hinüber zum Stallgehege. Eine warme Welle glücklicher Erleichterung stieg in ihm auf, als er Pirat und Gloria vor dem Napf mit Weizenkörnern sitzen und eifrig fressen sah, während sieben oder acht Junge friedlich schlafend im Heu lagen. »Hallo – Larry!« hörte er seinen Vater rufen. »Hol mir mal -184-
etwas Feuerholz, ja? Reisig oder kleine Zweige, irgendwas.« Larry holte tief Atem. Scheußlich, was da von ihm verlangt wurde. Er haßte seinen Vater. Sein Vater wollte die Hamster ausräuchern. Larrys Füße waren wie Blei, aber er gehorchte und sammelte kleine Zweige unter den Hecken und Rosenbüschen zusammen, bis sein Vater nach fünf Minuten herüberschrie, er solle sich gefälligst beeilen. Jetzt war auch die Mutter herausgekommen; Larry hörte, wie sie versuchte zu protestieren; dann gab sie es auf und half dem Vater. Sie holte ein paar hölzerne Stecken aus dem Geräteschuppen, die eigentlich, das wußte Larry, für die Tomatenpflanzen bestimmt waren. Als Larry auf die Terrasse zuging, wo der Grillrost stand, sah er etwas, das ihn einen Augenblick erstarren ließ: dann mußte er lachen. Zwei Hamster standen, die Köpfe nahe beieinander, auf den Hinterbeinen unter dem Lorbeerbusch, es sah aus, als tuschelten sie besorgt zusammen. »Larry, bring das Zeug zum Grill rüber!« rief Julian, und Larry ging weiter. Als er wieder hinsah, waren die Hamster verschwunden. Hatte er geträumt? Nein – er hatte sie bestimmt richtig gesehen. Krrrammmfff –! Wieder biß der Bulldozer einen mächtigen Brocken Erde ab. Betty trat an den Grill, goß aus einer Kanne etwas Petroleum auf die Holzkohle und zündete ein Streichholz an. Schweigend legte Larry sein Reisig obendrauf. »Gib mir mal die Stecken, bitte«, sagte Betty. Larry gab sie ihr. Plötzlich war er den Tränen nahe. »Er wird sie doch nicht erstechen, nein?« fragte er angstvoll. Am liebsten wäre er mit den Fäusten auf seinen Vater losgegangen, hätte ihn zum Kampf herausgefordert, Mann gegen Mann, dann brauchte er jetzt nicht hier zu stehen und wie ein Schwächling zu heulen. »Aber nein, Kind«, sagte seine Mutter mit der verdächtig sanften Stimme, die Larry schon kannte. Immer wenn sie so redete, stand irgend etwas bevor. »Er will sie bloß ausräuchern. -185-
Dann kannst du sie einfangen und wieder in den Stall setzen.« Davon war bestimmt kein Wort wahr. »Und die Jungen? Die sind doch alle da unten, ganz allein, ohne die Alten! Was wird mit denen?« Betty seufzte und sagte nichts. Mit zusammengepreßten Lippen beobachtete Larry, wie sein Vater die eine Krückenspitze in den Sand bohrte. Er hatte natürlich ein Hamsterloch gefunden und wollte es vergrößern, damit sich die Brandfackel hineinschieben ließ. »Hier – bring Vater dies hinüber, Larry.« Betty reichte ihm zwei Stecken von drei Fuß Länge. »Halt sie weg von dir. Es macht nichts, wenn die Flamme ausgeht.« Larry nahm die Hölzer und ging damit über den Rasen. »Ha!« lachte einer der Arbeiter. »Da wirst du aber noch mehr brauchen!« Larry tat, als habe er nichts gehört, und gab Julian die Stecken, ohne ihn anzusehen. »Danke, Junge.« Eilig schob Julian den qualmenden Stecken in ein Loch von zwölf Zentimetern Durchmesser. Der Stock verschwand fast darin, nur ein kleines Stück blieb sichtbar. »Sehr schön«, sagte Julian befriedigt. »Hier, nimm mal diesen und komm mit.« Larry nahm den Stecken; er brannte nicht mehr, aber der Qualm zwang ihn, einen Augenblick die Augen zu schließen. Sein Vater hatte zwei Löcher gefunden, das nächste war nur einen Meter entfernt; dann verschwand der zweite Stecken. »Prima! Hol mir noch mehr, Larry!« Larry trabte zur Terrasse zurück. Die bumerangförmige Aushebung war schon ziemlich tief, man sah deutlich die Bogenform, und Larry wandte die Augen ab. Er brachte es nicht über sich, hinunterzublicken, womöglich waren da noch mehr zerstörte Hamsterwohnungen. Aber die beiden Tiere, die er -186-
vorhin gesehen hatte, trösteten ihn: vielleicht konnten doch noch alle entkommen und mußten nicht dort unten ersticken. Larry brachte seinem Vater weitere Stecken: sechs, acht, zwölf rauchende und qualmende Hölzer. Die Sonne war im Untergehen. Der Bulldozer schob sich zurück und ließ das gezahnte Maul nach unten sinken, als wolle er zur Ruhe gehen. »Hamster, kommt doch raus!« sagte Larry laut. »Es wird schon dunkel – bald ist Nacht!« Vielleicht waren doch noch ein paar Schlupflöcher übriggeblieben, dachte er. Der große rechteckige Rasen qualmte nun an vielen Stellen, aber Larry jubelte insgeheim, denn einige der Stecken zeigten keinen Rauch am Erdboden. Mehrere hatte er neu anzünden müssen. Sein kleiner Hund, Mr. Johnson, hatte sich ins Haus verzogen, er mochte den Qualm nicht. Julian lächelte zufrieden, als er auf die Terrasse gehumpelt kam, wo Betty das Feuer versorgte. Die Arbeiter waren gegangen. »Damit haben sie jetzt erst mal zu tun!« sagte er und betrachtete seinen Garten. »Larry, bitte geh mal hin und bring mir die Stecken, die nicht mehr brennen, ja?« »Das werd ich machen, Julian«, sagte Betty. »Nun geh du erst mal rein und ruhe dich aus – du darfst doch gar nicht so viel herumhumpeln, mit deinem Fuß. Wenn das der Arzt wüßte, kriegte er ’nen Schlag, bestimmt.« »Ha-ha«, sagte Julian. Larry blickte seinen Vater nicht an. Daß der jetzt lachen konnte, war ihm unbegreiflich. Larry stand an der Ecke der Terrasse und spähte angestrengt über den Rasen, um festzustellen, ob irgendwo ein Hamster aus einem der Löcher herausgekommen war. Herrgott – die Jungen! Sie wurden blind geboren, und einige konnten sicher nicht mal erkennen, wohin sie flüchten mußten. Betty erschien mit drei Stecken, die nicht mehr brannten, und legte sie auf die Holzkohle. -187-
»Noch etwas Petroleum!« sagte Julian. »Ich denke, das hat schon was genützt.« »Für die Rosen ist das aber sicher nicht gut, die Hitze und der Rauch«, wandte Betty ein. Julian nahm die Kanne und goß etwas Petroleum ins Feuer, aber die Kanne fiel ihm aus der Hand, die Flamme züngelte auf, und er und Betty mußten schnell zurücktreten. Es war nicht mehr viel Petroleum in der Kanne gewesen. Wieder lachte Julian. Betty wurde jetzt unruhig. »Das reicht aber, Julian«, sagte sie entschieden. »Nun wollen wir erst mal aufhören für heute. Larry und ich können die Stecken herausnehmen. Man kann ja kaum noch was sehen.« »Ich werd hier mal Licht machen«, gab Julian zurück und humpelte ins Haus, aber die hell erleuchtete Terrasse ließ den Rasen noch dunkler erscheinen. Julian holte eine Taschenlampe. Es war nicht ganz leicht, die Krücken und auch noch die Lampe zu halten, doch er ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er wollte die Lampe so halten, daß Betty und Larry die Löcher feststellen konnten, in die sie noch keine Räucherstecken geschoben hatten. Zu dritt gingen sie zum Rasen hinüber. Larry biß die Zähne zusammen, um Zorn und Tränen zurückzuhalten. Er konnte kaum atmen – der Rauch drang ihm in den Hals, er mußte die Luft anhalten. Da – er sah einen Hamster – einen großen, er erkannte ihn nicht –, der ihn angstvoll anblickte und dann unter die Büsche floh. Rasend vor Empörung schleuderte Larry die brennenden Hölzer auf den Boden, wo sie mit abgebrochenen Spitzen qualmend liegenblieben. »Was machst du da, Larry?« schrie Julian. »Heb sie sofort wieder auf!« »Nein!« schrie Larry zurück. »Du bist schuld an diesem Schlamassel!« rief Julian und kam auf Larry zu. »Tu was ich dir sage, oder du kriegst eine Tracht -188-
Prügel wie noch nie in deinem Leben!« »Julian – bitte, Julian!« flehte Betty. »Wir sind doch jetzt fertig, laß uns hineingehen!« »Hebst du sie sofort –« Julian schwankte. Die eine Krücke war tief in den Boden gedrungen. Larry stand fast neben ihm, trat aber im Dunkeln zurück; vor ihm ragte ein qualmender Stock aus dem Gras auf. »Mein Gott!« rief Betty, sie wollte auf Julian zulaufen, mußte jedoch wegen der Aufgrabung, einen Bogen machen. Man sah von Julian nichts als den weißen Fußverband. Eine Rauchwolke stieg Betty in die Nase, sie hustete heftig. Die Sirene – Larry hörte den schrillen Ton: war es die Feuerwehr oder die Polizei? Im Schutz der Dunkelheit riß er jetzt eilig jeden noch erkennbaren Stecken aus dem Boden und ließ alles auf dem Rasen liegen. Das Gras war dürr und trocken, an mehreren Stellen schwelte es. Larry hielt die Luft an, wo es zu stark rauchte, und atmete nur, wo die Luft klar war. Er sah, daß sein Vater wieder auf den Füßen stand, er schrie ihm etwas zu, aber Larry kümmerte sich nicht darum. Jetzt schrillte die Glocke des Feuerwehrwagens, mit lautem Klong-klong-klong kam sie näher. Prima! Ein Stück Holzkohle geriet Larry in den Schuh, er mußte ihn ausziehen, schütteln, den Senkel lösen und den Schuh wieder anziehen. Da kamen die Feuerwehrleute um die Hausecke – mit dem Wasserschlauch. Larry sah sie im Licht der Terrassenlampe. Mehrere Männer brachten den Schlauch in die richtige Stellung. Hurra! dachte Larry. Aber ertrinken sollten die Hamster natürlich auch nicht. Er wollte den Männern sagen, den Wasserstrahl nicht zu stark zu machen. Als er auf die Terrasse zulief, hörte er seine Mutter schreien. Betty stand auf dem Rasen. »Die Hamster – sie beißen mich!« Drei oder vier Hamster fielen über ihre Knöchel her. Julian holte mit der Krücke aus und stach nach einem der -189-
Tiere. »Verdammt noch mal!« Er und Betty waren umringt von Hamstern. Wieder wollte er zuschlagen, dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ein Hamster stürzte sich auf sein Gesicht und biß zu, ein zweiter schlug die Zähne in seinen Arm. Julian kam mühsam in die Höhe, obgleich eins der Tiere an seinem Handgelenk hing. »Betty! Sag doch den Leuten –« In diesem Augenblick traf Julian ein Wasserstrahl wie ein Geschoß in den Magen, er schlug hin und rang nach Luft. Sechs oder sieben Hamster fielen sofort über ihn her. »Julian, wo bist du? Julian!« schrie Betty. Sie wußte nicht, was sie zuerst tun sollte – ihren Mann suchen oder den Feuerwehrleuten Bescheid sagen – die mußten ja denken, der ganze Rasen stehe in Flammen. Lieber zuerst die Leute – »Vorsicht!« rief sie laut. »Vorsicht da drüben, mein Mann ist auf dem Rasen!« »Was ist denn hier los?« rief eine Männerstimme aus der Richtung des Wasserstrahls. Betty kam näher und rief atemlos: »Es ist kein Feuer! Wir räuchern bloß die Hamster aus!« »Was räuchern Sie aus?« »Die Hamster! Stellen Sie doch den Schlauch ab, den brauchen wir nicht!« Larry stand im Dunkel in der Nähe der Terrasse und sah zu. Das Wasser hatte den Qualm noch verstärkt. Jetzt wurde offenbar die Leitung zugedreht, der starke Schlauch gab zögernd nach und erschlaffte. »Was ist denn bloß los, Ma’am? Woher kommt der Rauch?« Der riesige Feuerwehrmann trug einen schwarzen Gummimantel und einen leuchtend roten Helm. In dem sekundenlangen Schweigen hörten sie alle Julians heiseren Schrei, einen halb erstickten Schmerzensschrei; es klang, als seien ihm mehrere vorangegangen. Mehr als ein Dutzend Hamster, halb von Sinnen durch den -190-
Rauch und den plötzlichen harten Wasserstrahl, hatten sich auf Julian gestürzt, den einzig Schuldigen an ihrer Katastrophe. Julian wehrte sich mit Händen und Fäusten und mit einer der Krücken, die er in der Mitte gepackt hielt. Blindlings schlug er auf die Tiere ein. Sein Fuß war von neuem verrenkt und schmerzte furchtbar. Aufstehen konnte er nicht. Vor allem versuchte er die Tiere abzuschütteln, die sich in seine Waden und in den linken Arm verbissen hatten; mit dem Arm lag er halb aufgestützt auf dem immer noch qualmenden Gras. »Hilfe!« schrie er. »Helft mir doch!« Gott sei Dank, jetzt stand einer der Feuerwehrleute mit seiner Taschenlampe neben ihm. »He – was haben wir denn hier?« fragte er und trat mit dem schweren Stiefel nach zwei Hamstern. Larry stapfte auf den Lichtstrahl zu, den die Taschenlampe über den Rasen sandte. Ahh – jetzt sah er viele Hamster – Dutzende von Hamstern, und sein Herz schlug schneller, als ständen da Legionen von Kämpfern, alle auf seiner Seite. Sie lebten! Sie waren alle am Leben und wohlauf! Larry blieb stehen. Der Feuerwehrmann ließ seinen Vater, den er eben etwas aufgerichtet hatte, sacht zu Boden gleiten. Was war da los? Der Feuerwehrmann hatte Julian losgelassen, weil ihn ein Hamster tief in die Hand gebissen hatte. Die Tiere huschten an seinen Stiefeln hinauf, fielen herab und kamen zurück. »He – Pete, komm doch mal her! Bring ’ne Axt mit!« schrie der Mann zur Terrasse hinüber. Er stampfte mit beiden Füßen auf den Boden und trat heftig um sich, um vor allem den andern, der da vor ihm auf dem Erdboden lag, vor den von allen Seiten heranhuschenden Hamstern zu schützen. Kraftvolle irische Flüche begleiteten das Stampfen. Wenn er das in seiner Kneipe erzählte – kein Mensch würde ihm glauben! »Nehmt sie doch weg – weg, bitte!« Julians Stimme war kaum zu hören. Er versuchte, das Gesicht mit der Hand zu schützen; ein Hamster hatte ihn in die Nase gebissen. -191-
Larry stand im Dunkel und sah alles mit an, und er merkte, daß es ihn nicht kümmerte. Es war ihm egal, was mit seinem Vater geschah. Irgendwie kam ihm alles vor wie ein Film auf dem Fernsehschirm. Nein, es war ihm nicht mal egal: er wollte, daß die Hamster siegten. Sie sollten gewinnen, und sein Vater sollte verlieren, unterliegen, seinetwegen konnte er in den ausgehobenen Pool fallen, aber so nahe dran lag er gar nicht. Die Hamster hatten ein Recht auf ihr Land und ihre Behausung, ein Recht auf Schutz für die Jungen. Larry machte ein paar Schritte im Dunkeln und stieß mit den Fäusten in die Luft in lautlosem Jubel, und dann fand er Worte. »Kommt raus, Hamster!« schrie er, und einen Augenblick kam ihm der Gedanke, auch noch Gloria und Pirat loszulassen, damit sie hier mitmachen konnten – aber das war nicht nötig, hier waren ja übergenug Hamster im Garten! Jetzt erschien ein zweiter Feuerwehrmann mit einer Axt. Die beiden Männer hoben Julian auf, jeder legte sich einen seiner Arme um den Hals. Der Kopf hing schlaff herunter. Als das Trio ins Licht der Terrasse kam, sah Larry, wie die Hamster, die immer noch an den Füßen hingen, zurückflüchteten ins schützende Dunkel des Rasens. Auf dem Hemd und der hellen Hose seines Vaters waren große Blutflecken zu erkennen. Und die Mutter – sie stand auf der Terrasse mit totenblassem Gesicht. Eine Sekunde nachdem Larry das bemerkt hatte, sank sie um und lag ohnmächtig auf den Fliesen. Einer der Feuerwehrleute hob sie auf und trug sie ins Wohnzimmer, das jetzt ebenfalls hell erleuchtet war; die Männer hatten überall Licht angeschaltet. »Erst mal müssen wir diesen hier ins Krankenhaus schaffen«, sagte der Große. »Er verliert immer noch Blut.« Eine Blutlache hatte sich unter Julians Füßen auf den roten Fliesen gebildet. -192-
Larry stand im Hintergrund und kaute auf einem Finger. »Wir nehmen ihn im Wagen mit.« »Na – meinst du, das geht?« »Können wir nicht hier erst mal was für ihn tun –?« »Ach, der blutet überall, sieh ihn doch an.« »Los, bring ihn in den Wagen. Hol mal die Tragbahre, Pete!« »Damit verlieren wir bloß Zeit. Nu mal los, trag ihn rauf, damit wir wegkommen!« Betty kam zu sich, als sie Julian über den Einfahrtsweg trugen, wo die Wagen standen. Mehrere Nachbarn hatten sich eingefunden, die jetzt Fragen stellten, vor allem nach dem Feuer. Und was war mit Julian passiert? »Hamster!« gab einer der Männer kurz zur Antwort. »Hamster im Garten.« Die Nachbarn staunten. Betty wollte mitfahren, aber die Feuerwehrleute rieten ihr ab, und sie blieb zu Hause. Zwei Nachbarinnen erboten sich, bei ihr zu bleiben. Julian hatte viel Blut verloren, als er im Hospital ankam. Die Halsschlagader war an zwei Stellen durchgebissen. Aderpresse – Nähen – Bluttransfusionen folgten, langsam und mit großer Vorsicht. Das Blut strömte hinein und wieder heraus. Nach einer Stunde lebte Julian nicht mehr. Betty hatte für die Nacht ein Schlafmittel genommen; sie erfuhr es erst am nächsten Morgen. Da sie ein erwachsener und besonnener Mensch war, gab sie sich zwei Tage Zeit, um den Schock zu überwinden, doch sie wußte von vornherein, sie würde das Haus verkaufen und an einen anderen Ort ziehen. Larry hatte zwar die Tatsache, daß sein Vater gestorben war, begriffen, aber gefühlsmäßig hatte er es noch nicht aufgenommen. Eins war ihm ganz klar: nie wieder wollte seine Mutter einen Hamster sehen. Er fing also alle ein, die sich -193-
fangen ließen, und brachte sie fort in ein Gelände, wo sie eine Chance zum Überleben hatten. Drei-, viermal nahm er einen Karton voll kleiner und großer Hamster und fuhr mit dem Rad weit nach draußen, da gab es Waldland mit vielen Bäumen und reichlich Unterholz, und weit und breit war kein Haus zu sehen. Ja, nun war also sein Vater tot, das wurde ihm langsam klar. Er war tot, weil die Hamster ihn totgebissen hatten, einfach so. Aber war sein Vater nicht selber schuld? Es wäre doch Zeit gewesen, die Hamster, die unter dem Rasen wohnten, zu retten und trotzdem den Swimming-pool zu bauen, oder? Larry liebte seinen Vater und wußte, das war auch ganz in Ordnung, denn verglichen mit manchen anderen Vätern war er wirklich ein recht anständiger Vater gewesen. Und trotzdem: Tief im Herzen stand er immer noch auf seiten der Hamster. Doch er mußte sich nun natürlich auch von Pirat und Gloria trennen, das war er seiner Mutter schuldig. So packte er eines Morgens das Hamsterpaar, zusammen mit mehreren Jungen, ebenfalls in den Pappkarton. Sie waren die letzten. Noch einmal kämpfte er mit den Tränen, als er diese letzten, die am meisten geliebten zwei, in die Freiheit entließ. Doch er hielt die Tränen zurück – er war nun fast ein Mann.
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Harry, das Frettchen
H
arry, ein Frettchen von unbestimmtem Alter – es mochte ein oder zwei Jahre alt sein – war das heißgeliebte Eigentum von Roland Lemoinnier, einem fünfzehnjährigen Jungen. Daß Roland fünfzehn war, daran war nicht zu zweifeln; er erzählte es oft und gern, denn für ihn war fünfzehn ein beträchtlicher Fortschritt gegenüber vierzehn. Mit vierzehn war man ein Kind, mit fünfzehn stand man an der Schwelle des Mannesalters. Roland war glücklich über seine neue tiefe Stimme, und jeden Morgen vor dem Zähneputzen musterte er begierig sein Spiegelbild, um festzustellen, ob dort, wo Hoffnung auf einen Schnurrbart oder Kinnbart bestand, wieder ein paar neue Härchen gesprossen waren. Er hatte einen eigenen Rasierapparat, mit dem er sich genußvoll rasierte, aber nicht öfter als einmal wöchentlich, denn das Wachsen der Barthaare zu beobachten machte ihm noch mehr Spaß als die Rasur. Der Übergang in die Welt der Erwachsenen hatte Roland in Paris bereits in Schwierigkeiten gestürzt; jedenfalls fand das seine Mutter. Er war ein paarmal abends ausgegangen, und zwar mit Jungen und Mädchen, die mehrere Jahre älter waren, und eines Tages hatte ihn die Polizei zusammen mit sechs anderen jungen Leuten – alle etwa achtzehn – vorgeladen und jeden einzelnen streng verwarnt wegen Besitz von Marihuana. Roland war groß für sein Alter, man konnte ihn ohne weiteres für achtzehn halten, was auch oft geschah. Seine Mutter war deswegen so entsetzt gewesen, daß sie auf Rat ihrer Mutter, mit der sie diesmal völlig übereinstimmte, in ihr Landhaus in der Nähe von Orléans umzog. Rolands Eltern hatten sich scheiden lassen, als er fünf war. Mit Roland und der Mutter zogen auch Brigitte und Antoine um: Brigitte war Köchin und Hausmädchen, und Antoine, schon älter, war Chauffeur und -195-
Faktotum, er war schon vor Rolands Geburt ins Haus gekommen. Sie waren kein Ehepaar, und beide waren unverheiratet. Antoine war so alt, daß Roland ihn nicht mehr ganz ernst nahm; für ihn war er ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert, das komischerweise noch am Leben war und das beim Lunch mißbilligende Blicke auf Rolands Blue jeans warf und auf seine nackten Füße, die unbekümmert über die Teppiche und schimmernd gebohnerten Fußböden von La Source trabten. Es war Sommer, und Roland hatte Ferien vom Lycée Comte de Lamartine, acht Kilometer entfernt, wo er, nachdem sie von Paris gekommen waren, den größten Teil des letzten Semesters zugebracht hatte. Roland fand das Leben auf dem Lande ziemlich langweilig, bis er eines Tages Ende Juni mit seiner Mutter in eine Baumschule fuhr, um Pflanzen für den Garten zu besorgen. Der Gärtner war ein freundlicher älterer Mann mit lustigen Augen. Er zeigte Roland ein Frettchen in einem Käfig, das er am Wochenende bei der Kaninchenjagd gefangen hatte. Roland war hingerissen von dem kleinen Tier, das sich ganz schmal und klein zusammenziehen konnte, wie ein Akkordeon, und dann mit einem Satz, der es dreimal so lang erscheinen ließ, in seinem Loch im Stroh verschwand. Das Frettchen war schwarz, hellbraun und gelblichweiß – halb Ratte, halb Eichhörnchen, so kam es Roland vor. Richtig spitzbübisch sah es aus. »Vorsicht – er beißt!« sagte der Gärtner warnend, als Roland den Finger durch den Käfigdraht steckte. Das Frettchen biß sofort zu, mit nadelscharfen Zähnen, und Roland versteckte den blutenden Finger im Taschentuch in seiner Hosentasche. Er fragte: »Würden Sie ihn verkaufen? Mit dem Käfig?« »Wieso – gehen Sie denn auf Karnickeljagd?« fragte der Gärtner lachend. »Hundert Francs. Hundertfünfzig!« sagte Roland drängend. So viel hatte er in der Tasche. Seine Mutter stand ein paar Meter entfernt über die Kamelien gebeugt. -196-
»Na ja, also –« »Sie müssen mir aber genau sagen, was er frißt.« »Ja, also erst mal Gras, natürlich. Und dann Blut.« Der Gärtner trat etwas näher. »Ab und zu braucht er ein Stück rohes Fleisch – er ist nämlich jetzt auf den Geschmack gekommen. Und Sie dürfen ihn im Hause nicht loslassen – da kriegen Sie ihn nie wieder. Heu braucht er auch noch, zum Warmhalten. Den Tunnel da hat er selber gemacht.« Das Frettchen war in den schmalen Strohtunnel gewetzt und hatte sich darin umgedreht, so daß nur das lebhafte kleine Gesicht herausblickte, der Kopf mit den angelegten mausartigen Ohren und die schrägstehenden schwarzen Knopfaugen, die ihm ein nachdenkliches und leicht melancholisches Aussehen verliehen. Roland war überzeugt, daß das Tierchen der Unterhaltung zuhörte in der Hoffnung, Roland werde es mitnehmen. Er zog einen Hunderter und einen Fünfzig-Francs-Schein aus der Tasche. »Ist das in Ordnung mit dem Käfig?« Der Gärtner warf einen Blick zurück auf Rolands Mutter. »Wenn er beißt, müssen Sie ihm eine Zwiebel hinhalten. Wenn er in die Zwiebel gebissen hat, beißt er Sie nicht mehr.« Margaret Lemoinnier war erstaunt und nicht gerade beglückt über Rolands Neuerwerbung. »Der Käfig muß aber im Garten bleiben. Ins Haus kommt er mir nicht«, sagte sie. Antoine sagte kein Wort, doch sein rosiges Gesicht verzog sich noch mißmutiger als sonst. Er nahm einen Packen Zeitungspapier und legte es auf den Rücksitz des Jaguar, so daß der Käfig nicht mit dem Lederpolster in Berührung kam. Zu Hause holte sich Roland eine Zwiebel aus der Küche und ging damit hinaus auf den Rasen, wo er den Käfig hingestellt hatte. Mit der Zwiebel in der Hand öffnete er die Käfigtür einen schmalen Spalt; das Frettchen zögerte einen Augenblick und schoß dann durch die Tür ins Freie, hinaus in den Wald, der das -197-
Grundstück auf einer Seite begrenzte. Dort verschwand es. Nur Ruhe, sagte sich Roland. Er brachte den Käfig mit offener Tür bis an den Waldrand, dann lief er durch die Hintertür ins Haus zurück. In der Küche lag auf einem Holzbrett genau das, was er brauchte: ein großes rohes Steak. Er schnitt ein Stück ab und lief wieder nach draußen. Langsam schritt er hinein in den Wald. Sein Plan war, einen Bogen zu machen und das Frettchen zum Käfig zurückzutreiben. Ein Frettchen konnte vermutlich auch auf Bäume klettern; Roland hatte die scharfen Krallen gesehen, als das Tier in der Gärtnerei aufrecht im Käfig stand. Es hatte winzige Pfoten, die ein bißchen aussahen wie kleine Menschenhände, mit rosigen Handballen und winzigen Fingerkuppen und einem sehr beweglichen Daumen. Jetzt tat sein Herz einen Sprung: das Frettchen saß wenige Meter entfernt aufrecht im Gras und schnüffelte. Eine leichte Brise wehte zu ihm hinüber: aha, es hatte das Blut gerochen. Roland kauerte sich nieder und hielt ihm das rohe Fleisch entgegen. Vorsichtig richtete sich das Frettchen auf, machte zwei kleine Schritte und kam dann näher; die Blicke schossen in alle Richtungen, als sei es auf der Hut vor verborgenen Feinden. Roland schrak zusammen, als es plötzlich das Fleisch mit den Zähnen packte, ihm aus der Hand riß und auffraß. Kopf und Hals ruckten beim Kauen, die schwarzbraunen Rückenhaare sträubten sich, und der geschmeidige Körper bog sich hin und her. In ganz kurzer Zeit war von dem Fleisch nichts mehr zu sehen, und das Frettchen blickte aufmerksam zu Roland hinüber, während die rosige Zunge befriedigt über die Schnauze fuhr. Roland wäre am liebsten noch einmal in die Küche gelaufen, um mehr Fleisch zu holen. Aber es war wohl besser, behutsam vorzugehen, damit das Tier keine Angst bekam. »Warte hier. Oder komm doch mit!« sagte er halblaut. Es sollte in den Käfig zurück, denn bald kam die Dämmerung, und er wollte es nicht draußen lassen. -198-
Das Frettchen folgte ihm bis zum Rande des Rasens, dann setzte es sich hin und wartete. Roland ging in die Küche und schnitt ein weiteres Stück von dem Fleisch ab, das noch auf dem Papier lag; dann goß er vorsichtig etwas von dem Blut, das sich im Papier gesammelt hatte, in eine Untertasse und trug sie nach draußen. Das Frettchen saß noch an derselben Stelle, es hatte eine Pfote erhoben und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Jetzt trippelte es auf die Untertasse zu, auf der auch das Fleisch lag, doch es wandte sich zuerst dem Blut zu und schlappte alles auf wie ein Kätzchen, das Milch trinkt. Roland lächelte. Das Frettchen sah ihn an, fuhr sich wieder mit der Zunge übers Gesicht, dann packte es das Fleisch mit den Zähnen und trug es mit kleinen unsicheren Schritten über den Rasenrand, wo der Käfig stand. Mit einem Satz sprang es hinein. Roland lachte glücklich. Vielleicht brauchte er die Zwiebel überhaupt nicht, die noch in seiner Tasche steckte – das Frettchen war freiwillig in den Käfig zurückgekommen. Er schloß jetzt die kleine Tür. »Ich werde dich Harry nennen, denke ich. Gefällt dir das? Harry.« Roland hatte in der Schule Englisch als Hauptfach und wußte, Harry war eine Abart von Henry; außerdem klang es ein bißchen wie ›haarig‹, und das paßte auch gut. »Jetzt werd ich dir mein Zimmer zeigen«, sagte er und nahm den Käfig in die Hand. Auf der Treppe traf er Antoine, der von oben herunterkam. »Monsieur Roland, Ihre Mutter hat gesagt, sie will das Tier nicht im Hause haben«, sagte Antoine. Roland reckte sich. Schließlich war er kein Kind mehr, dem ein Diener etwas zu sagen hatte. »Das weiß ich, Antoine. Ich werde mit ihr darüber reden«, erwiderte er mit seiner tiefsten Stimme. In seinem Zimmer stellte er den Käfig mitten auf den Fußboden und ging dann hinaus auf den Flur, wo das Telefon stand. Er wählte die Nummer seines besten Freundes in Paris, -199-
Stefan. Zuerst war Stefans Mutter am Apparat, dann kam er selbst. »Du, ich habe einen neuen Freund!« Roland sprach mit betont ausländischem Akzent. »Er hat Krallen und trinkt Blut. Rate mal, wer das ist.« »Ein – ein Vampir?« fragte Stefan. »Bißchen warm bist du schon. Ach – da kommt meine Mutter, ich kann nicht lange reden«, sagte Roland eilig. »Ein Frettchen ist es, er heißt Harry. Ganz schön blutdürstig ist er, kann ich dir sagen ein richtiger Killer. Vielleicht kann ich ihn mal mitbringen nach Paris. Wiedersehen, Stefan!« Mme. Lemoinnier war die Treppe heraufgestiegen und kam über den Flur. »Roland, Antoine sagt, du hast das Tier mit ins Haus gebracht. Ich habe dir doch gesagt, du kannst es nur behalten, wenn es im Garten bleibt!« »Ja, aber – der Mann in der Gärtnerei hat gesagt, ich muß aufpassen, daß er es warm hat. Draußen ist es nachts kalt, Mama.« Die Mutter trat in Rolands Zimmer, und er folgte ihr. »Sieh mal – jetzt schläft er ganz brav in seinem Nest. Er ist doch so sauber, Mama – und er bleibt ja im Käfig, bestimmt. Was macht es dann schon, wenn er hier ist?« »Du läßt ihn ja doch raus – ich kenne dich doch.« »Ganz bestimmt nicht, ich versprech’s dir, Mama.« Roland hatte keineswegs die Absicht, das Versprechen zu halten, und – wußte auch, daß seine Mutter das wußte. Wenig später trug Roland zögernd und unwillig den Käfig mit Harry, der tief im Heu verborgen war, die Treppe hinunter in den Garten. Sicher schlief Harry jetzt wie ein Stein; der Gärtner hatte erzählt, daß Frettchen oft neben ihrer noch warmen Beute einschliefen, nachdem sie das Blut des Opfers getrunken hatten. Das Primitive daran war es, was Roland so aufregend fand. Als -200-
seine Mutter ins Haus zurückgekehrt war – sie hatte ihn von der Küchentür aus beobachtet –, öffnete er die kleine Tür des Käfigs und schob etwas Heu beiseite. Harry blinzelte schläfrig und hob ein wenig den Kopf. Roland lachte leise. »Komm, du kannst bei mir oben schlafen. Dann unternehmen wir heute nacht was zusammen«, flüsterte er. Er hob Harry auf und schob das Heu wieder zurecht. Schlaff und arglos lag Harry in seiner Hand. Roland öffnete einen Knopf, schob Harry unter sein Hemd und knöpfte es wieder zu. Auch die Käfigtür schloß er zu und schob den Riegel vor. Oben in seinem Zimmer nahm Roland einen leeren Koffer vom Schrank, legte einige Pullover hinein und bettete Harry obendrauf; den Deckel hielt er mit einem Pulloverärmel etwas offen. Dann holte er vom Tisch im Flur einen sauberen Aschenbecher, füllte ihn im Badezimmer mit Wasser und stellte ihn ebenfalls in den Koffer. Das war getan. Roland ließ sich auf sein Bett fallen, zündete eine Zigarette an, die er im Bücherbord versteckt aufbewahrte, und schlug einen James-Bond-Band auf, den er schon mehrmals gelesen hatte. Er war mit seinen Gedanken bei Harry und bei den Sachen, die er ihm beibringen wollte. Harry sollte lernen, sich in einer Jackentasche herumtragen zu lassen und auf Befehl herauszukommen. Er mußte ein Halsband mit Leine haben, und das Halsband – vielleicht auch eine Art Gurt – mußte extra angefertigt werden, weil Harry so klein war. Einen Sattler in Paris wollte Roland damit beauftragen und einen anständigen Preis bezahlen. Prima! Das würde Spaß machen, wenn er Harry mitnahm nach Paris oder auch nach Orléans; wenn Harry im Restaurant aus Rolands Tasche schlüpfte und Fleisch von seinem Teller nibbelte. Abends zum Dinner hatten sie einen Gast, einen Freund von Rolands Mutter; er war Antiquitätenhändler irgendwo in der Umgebung. Roland fand ihn langweilig. Als sie noch beim Essen waren, kam Brigitte herein und flüsterte Rolands Mutter zu: -201-
»Entschuldigen Sie, Madame, aber Antoine ist eben gebissen worden. Er ist ganz aufgeregt.« »Gebissen?« fragte Madame Lemoinnier erschrocken. »Ja, er sagt, es ist das Frettchen – in Monsieur Rolands Zimmer oben.« Roland behielt sein beherrschtes Lächeln bei. Antoine war offenbar nach oben gegangen, um wie jeden Abend das Bett aufzudecken, und Harry war zum Angriff übergegangen. »Ein Frettchen –?« sagte der Antiquitätenhändler erstaunt. Rolands Mutter blickte ihren Sohn an. »Willst du dich bitte entschuldigen und das Tier sofort in den Garten bringen, Roland«, sagte sie ruhig. Sie war gereizt und hätte noch mehr gesagt, wenn sie allein gewesen wären. »Entschuldigung«, sagte Roland und erhob sich. Er ging in die Diele und sah dort Antoine, der gebückt in der kleinen Toilette neben der Eingangstür stand und ein nasses Tuch an seinen Fußknöchel hielt. Blut, dachte Roland, fasziniert von dem Gedanken, daß Harry Blut aus dem alten Mann herausgepreßt hatte, der aussah, als habe er gar kein Blut mehr in sich. Eilig lief Roland, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und fand sein Zimmer in heller Unordnung. Antoine hatte offenbar das Bettaufdecken sehr plötzlich aufgegeben; zudem war ein Sessel umgefallen, den er vielleicht verschoben hatte, um sich zu wehren oder um Harry zu suchen. Doch vor allem das zerwühlte Bett sprach Bände: Antoine mußte einen Todesschrecken erlitten haben, sonst hätte er das Bett niemals in diesem Zustand hinterlassen. Roland sah sich suchend nach Harry um, der nirgends zu sehen war. »Harry? Harry, wo bist du?« Sein Blick ging über die langen Vorhänge, die Harry gewiß hinaufklettern konnte, und weiter unters Bett und in den Kleiderschrank. Die Zimmertür war geschlossen gewesen; Antoine hatte sicher verhindern wollen, -202-
daß Harry entwischte. Roland betrachtete die Falten der Bettdecke, wo sich nichts regte. »Harry –?« Er nahm das Oberlaken hoch und sah, wie sich die Steppdecke bewegte. Harry hatte sich zwischen der Steppdecke und dem Bettlaken versteckt, da saß er nun aufrecht und blickte Roland angstvoll entgegen. Ach, war das hübsch: der ganze schmale Körper schimmerte weich und hellbeige, von dem kleinen schwarzen Kinn bis zu der Steppdecke, auf der er aufrecht saß; mitten über den Bauch lief eine feine braune Linie, wo die Fellhaare zu einem Strich zusammengedrückt wurden, so daß Harry in ein flaumiges Etwas aus zwei Pelzen verwandelt wurde und man nicht mehr sah, wo seine Hinterbeine anfingen und aufhörten. Die zierlichen Pfoten drückten sich an eine Falte der Steppdecke – nicht um das Gleichgewicht zu halten, denn er schwankte kein bißchen –, es glich eher der Nervosität eines überaus sensiblen Menschen. Vielleicht wollte er fragen: »Wer war das vorhin, der schreckliche Mensch, der mich so erschreckt hat und mich hier hinausjagen wollte?« Doch als Roland ihn jetzt ansah, legte sich der Schrecken in dem kleinen Gesicht; Harry ließ sich auf die vier Pfoten nieder und kam näher. Er sah aus, als wollte er sagen: »Mensch, bin ich froh, daß du da bist! Was ist denn bloß los?« Ohne nachzudenken streckte ihm Roland die Hand entgegen, Harry lief den Arm hinauf und über den offenen Kragen an der Innenseite des Hemdes entlang, wo er sich mit den kratzigen kleinen Krallen an Rolands Hüfte schmiegte. Warum ihm die Augen voller Tränen standen, wußte Roland selber nicht. War es das Glück, weil Harry zu ihm gekommen war? Oder der Zorn, weil er ihn heute nacht im Garten lassen mußte? Egal: Tränen, ob erklärlich oder nicht, hatten dichterischen Wert, dachte Roland. Sie bedeuteten, daß etwas wichtig war. Behutsam nahm er Harry aus seinem Hemd heraus und setzte ihn auf den Vorhang. Harry lief den gelben Vorhang hinauf bis -203-
zur Decke, dann nahm Roland das untere Ende in die Hand, und Harry kam herunter. Roland lachte, ließ den Stoff fallen, und Harry lief wieder nach oben. Das Spiel schien ihm Spaß zu machen. Als er wieder unten war, nahm Roland ihn in die Hand und setzte ihn in den Koffer. »Ich komme gleich wieder!« sagte er. Diesmal hielt er den Deckel mit einer Stuhllehne fest. Er hatte vorgehabt, ins Eßzimmer zurückzugehen und sich wieder an den Tisch zu setzen; nach dem Essen wollte er dann Brigitte um ein Stück Fleisch bitten, bevor er Harry in den Garten brachte. Aber unten waren sie schon fertig mit dem Essen, das Eßzimmer war leer. Der Antiquitätenhändler saß im Wohnzimmer, der Kaffee stand bereits auf dem Tisch, und aus dem Zimmer gegenüber hörte Roland die Stimmen von seiner Mutter und Antoine. Die Tür war angelehnt. »…hat mir einfach nicht gehorcht, Madame!« kam die zitternde Stimme des alten Mannes. »Und Ihnen auch nicht!« »Sie müssen das nicht so schwernehmen, Antoine, bitte«, sagte die Mutter beschwichtigend. »Roland wird das Tier jetzt im Garten halten, bestimmt…« Langsam ging Roland weiter. Ein Gentleman horcht nicht. Aber was Antoine gesagt hatte, empörte ihn. »Monsieur Roland hat mir nicht gehorcht…« – seit wann hatte der Alte ihm was zu sagen? An der Tür zum Wohnzimmer blieb Roland stehen; drinnen saß der Antiquitätenmann im Sessel, die weißen Hosenbeine gekreuzt, rauchte und starrte ins Leere. Roland hätte gern einen Kaffee getrunken, aber dafür soviel Langeweile auf sich zu nehmen, das lohnte nicht. Er ging durchs Eßzimmer in die Küche. »Brigitte, kann ich wohl ein Stück Fleisch haben für mein Frettchen? Am liebsten roh«, sagte er. »Monsieur Roland, wissen Sie, daß Antoine sehr böse ist wegen des Frettchens? Das ist ein bête sauvage, das Tier.« Höflich erwiderte Roland: »Ja, ich weiß, Brigitte. Tut mir -204-
auch leid, daß es Antoine gebissen hat. Ich nehm’s jetzt hinaus in den Garten, im Käfig. Jetzt gleich.« Brigitte schüttelte den Kopf und holte ein Stück Kalbfleisch aus dem Kühlschrank, von dem sie widerwillig einen kleinen Streifen abschnitt. Blutig war es nicht, aber wenigstens roh. Roland rannte nach oben und hob vorsichtig den Kofferdeckel hoch, worauf sich Harry wie ein Stehaufmännchen auf die Hinterbeine setzte. Mit den Zähnen und beiden Vorderpfoten nahm er Roland das Fleisch aus der Hand, biß und kaute und drehte es um, um vom Rand abbeißen zu können. Furchtlos streckte Roland die Hand aus und sagte: »Heute nacht mußt du im Garten schlafen. Sorry.« Harry drängte sich durch Rolands Manschette und lief über die Schulter hinunter bis zur Hüfte. Roland hielt ihn mit dem Hemd fest und ging, den Käfig in der andern Hand, mit festen Schritten die Treppe hinunter. Draußen war es dunkel, aber aus dem Küchenfenster fiel Licht. Roland setzte Harry in den Käfig und stellte fest, daß der Emaillebecher noch genügend Wasser enthielt. Er verschloß die Käfigtür mit dem Riegel, der durch eine Öse geschoben wurde. »Also bis morgen, lieber Harry!« Harry stand auf den Hinterbeinen, ein rosa Pfötchen leicht ans Drahtgitter gelegt; das schwarze Näschen schnüffelte zum letztenmal nach Roland, der über den Rasen zurückging und sich noch einmal nach Harry umsah. Der nächste Tag war ein Sonntag. Um acht brachte Brigitte Roland den Tee ans Bett – ein Ritual, das er vor wenigen Wochen erst eingeführt hatte. Es war so erwachsen, sich vorzustellen, man könne nicht richtig aufwachen, wenn nicht jemand einem was Heißes zu trinken ans Bett brachte. Er stand auf, zog seine Blue jeans, ein altes Hemd und Tennisschuhe an und ging hinunter, um Harry zu begrüßen. -205-
Der Käfig war verschwunden. Jedenfalls stand er nicht am gleichen Platz. Roland suchte überall im Garten, hinter den Pappeln, rechts, und dann nahe beim Haus. Schließlich ging er in die Küche, wo Brigitte dabei war, das Frühstückstablett für seine Mutter zurechtzumachen. »Brigitte, irgend jemand hat den Käfig mit dem Frettchen weggenommen. Wissen Sie, wo er ist?« Brigitte beugte sich über das Tablett. »Antoine hat ihn weggebracht, Monsieur Roland. Ich weiß aber nicht, wohin.« »Weggebracht – hat er den Wagen genommen?« »Das weiß ich nicht.« Roland ging hinaus und warf einen Blick in die Garage. Da stand der Wagen. Er blieb an der Tür stehen und spähte ringsum nach allen Seiten. Ob Antoine den Käfig in den Schuppen gestellt hatte? Roland öffnete die Schuppentür. Nichts war zu sehen außer dem Rasenmäher und den Gartengeräten. Vielleicht im Wald –? Wahrscheinlich hatte seine Mutter Antoine angewiesen, Harry in den Wald zu bringen und ihn dort freizulassen. Stirnrunzelnd machte sich Roland auf den Weg. Als ihn Dornenranken festhielten und ihm das Hemd zerrissen, hielt er an. Bestimmt ging der Alte nicht so weit ins Gebüsch hinein, dachte er. Hier gab es ja gar keine richtigen Wege. Ein Stöhnen drang ihm ans Ohr. Noch einmal – oder bildete er sich das ein? Er war nicht sicher, woher der Ton gekommen war, aber er stürzte weiter, in der gleichen Richtung wie bisher. Nun hörte er Zweige knacken und wieder ein Stöhnen. Das kam von Antoine, da war kein Zweifel. Roland lief weiter. Ein dunkler Fleck war durch die Bäume zu sehen. Antoine trug dunkle Hosen und oft auch eine dunkelgrüne Cottonjacke. Roland blieb stehen. In nur zehn Meter Entfernung sah er, wie das Dunkle sich mühsam in die Höhe zog. Aber es war so viel Laubwerk dazwischen, das die Sicht behinderte! Jetzt schoß -206-
etwas Langes, goldgelb Gestreiftes von links auf die verschwommene Form zu, die sicher Antoine war, er hörte Antoines schrillen Schrei. Er klang schwach, fast wie Kinderweinen. Erschrocken trat Roland näher. Jetzt sah er Kopf und Gesicht des alten Mannes; aus einem Auge floß Blut. Roland sah, wie Harry mit langem Satz auf Antoines Schenkel sprang und wie der alte Mann ihn abzuwehren versuchte, aber vergebens, denn Harry saß ihm bereits an der Kehle. Oder im Gesicht. Antoine taumelte zurück und fiel um. Ich muß doch hinlaufen und ihm helfen, dachte Roland. Er müßte einen Stock nehmen und Harry abwehren, doch er war wie gebannt, er konnte sich nicht rühren. Er sah, wie Antoine weit ausholte, um Harry mit einem Zweig zurückzuschlagen, doch der Zweig traf einen Baum und zerbrach. Wieder taumelte Antoine. Eigentlich geschieht es ihm recht, dachte Roland. Mühsam kam Antoine hoch und schleuderte etwas – wahrscheinlich einen Stein – auf das Frettchen. Roland sah das weiße blutbefleckte Hemd des alten Mannes. Und Harry kämpfte wie ein wahnwitziges kleines Geschoß, das von allen Seiten wieder und wieder auf Antoine zuflog. Es hatte jetzt den Anschein, als versuchte Antoine zu flüchten; er stolperte links durch das Unterholz. Und Roland sah, wie Harry auf Antoines linke Hand zuschoß und sich offenbar dort festbiß. Oder war das nur ein Sonnenstrahl, der durch die Blätter fiel? Jetzt kam Antoine wieder zu Fall und war nicht mehr zu sehen. Roland keuchte. Er hatte sekundenlang den Atem angehalten, und sein Herz schlug so hart, als habe er an dem Kampf teilgenommen. Er zwang sich jetzt, auf die Stelle zuzugehen, wo er Antoine vermutete. Nichts war zu hören außer Rolands Schritten auf den Blättern und Zweigen. Roland sah Antoines Kleider, schwarz, weiß und grün, und dann sein Gesicht voll blutiger Kratzer. Antoine lag auf dem Rücken. Aus beiden -207-
Augen floß Blut. – Und Harry saß ihm an der Kehle. Harrys Kopf war unter Antoines Kinn verborgen, doch Körper und Schwanz lagen über der Brust des alten Mannes – wie ein kleiner Pelzkragen, den sich jemand um den Hals gelegt hatte. »Harry!« Rolands Stimme war am Umkippen. Harry schien nichts zu hören. Roland nahm einen Stock vom Boden auf. »Harry, laß sofort los!« sagte er durch die Zähne. Harry sprang mit einem Satz auf Antoines andere Halsseite und biß noch einmal zu. »Antoine –?« Roland trat näher und hob den Stock. Harry blickte auf und wich auf Antoines grünen Jackenaufschlag zurück. Sein Bauch war deutlich größer – angefüllt mit Blut, das erkannte Roland. Antoine regte sich nicht. Harry hatte nun Roland gesehen und kam etwas näher, er wollte sich auf die Hinterbeine stellen, fiel aber torkelnd um, der Bauch war zu schwer. Er trat auf die Blätter neben Antoines ausgestrecktem Arm, legte sich hin und ließ den Kopf sinken, als wolle er einschlafen. Er lag mitten in einem sonnigwarmen Fleck. Roland war erleichtert, als er ihn dort ruhig liegen sah; nur fürchtete er, Antoine könne tot sein, und der Gedanke erfüllte ihn mit Angst. Noch einmal rief er laut Antoine beim Namen. Das Blut in den Augenhöhlen des alten Mannes wurde dunkler und begann zu trocknen, und die Augäpfel waren, wie er vermutet hatte, verschwunden oder doch fast weggefressen. Das Blut auf Gesicht und Kleidung war jetzt gestockt und dunkelrot und floß auch nicht mehr nach, das war sicher ein Zeichen, daß das Herz nicht mehr schlug. Bevor Roland recht wußte, was er tat, kauerte er sich neben dem schlafenden Frettchen nieder und faßte Antoines Handgelenk, um den Pulsschlag zu fühlen. Er wartete mehrere Sekunden, zog dann schreckerfüllt die Hand zurück und stand auf. Antoine mußte an einem Herzanfall gestorben sein, dachte er, -208-
und nicht allein an Harry. Aber er wußte: wenn das mit Harry herauskam, würden sie ihn wegnehmen. Harry würde gejagt und wahrscheinlich sogar umgebracht werden. Ganz sicher. Roland blickte zurück in die Richtung auf La Source und dann wieder auf Antoine. Klar, er mußte Antoine verstecken. Ein Gefühl heftiger Abneigung gegen den alten Mann stieg in ihm auf, hauptsächlich weil er tot war, das wußte er. Aber Harry war lieb, den mußte er beschützen; er hatte nichts getan als sich zur Wehr gesetzt, das war sein Recht, und Antoine war ein Riese gewesen gegenüber dem winzigen Tier, ein Kidnapper und womöglich sogar ein Killer. Roland sah auf die Uhr: es war erst kurz nach halb zehn. Nachdenklich machte er sich auf den Heimweg durch den Wald; bei den schlechten Stellen im Unterholz sprang er hinüber. Als das Haus in Sicht kam, blieb er am Rande des Rasens stehen. Brigitte war gerade herausgekommen und begoß die Blumen an der Hintertür. Als sie wieder in der Küche verschwunden war, ging Roland in den Schuppen, holte sich Forke und Spaten und kehrte damit in den Wald zurück. Dicht neben Antoine fing er an zu graben; der Platz hier war nicht schlechter als andere und ebenso geeignet für ein Grab. Mit der wachsenden Anstrengung wurde er ruhiger, die Panik legte sich. Harry schlief immer noch an Antoines anderer Seite. Roland arbeitete wie ein Besessener, seine Kräfte schienen bei der Arbeit zu wachsen. Es war ihm klar, daß er einfach Angst hatte vor dem toten Körper: das lebende Fossil, seit vielen Jahren vertraut und zur Familie gehörig, in Paris ebenso wie hier, lag nun da und war eine Leiche. Ab und zu kam ihm der Gedanke, Antoine könne womöglich auf einmal aufstehen und ihn schelten oder ihm irgendwie drohen, wie es Geister und Tote in manchen Geschichten taten, die er gelesen hatte. Die Arbeit war anstrengend, er stach den Spaten langsamer in den Boden, doch mit der gleichen Verbissenheit. Um Mittag mußte er fertig sein, sonst würden sich seine Mutter und Brigitte -209-
auf die Suche nach Antoine machen. Er überlegte, was er sagen sollte, falls sie ihm Fragen stellten. Das Grab war nun tief genug. Mit zusammengepreßten Zähnen zog Roland an Antoines grüner Jacke und an der Hose und rollte den Toten in die Grube. Mit dem Gesicht nach unten blieb Antoine liegen. Der leblose Arm hatte Harry weggeschoben, er stand auf vier kleinen Beinen neben der Grube und blinzelte schläfrig. Keuchend schaufelte Roland die Erde hinein; dann stellte er sich darauf und trampelte den Sand fest, damit er einsank. Es war immer noch Erde übrig, die er verteilen mußte, damit die Stelle nicht auffiel, wenn mal jemand durch den Wald ging. Schließlich zog er mit der Forke Zweige und Laub über die Grube, damit sie sich nicht unterschied von dem übrigen Waldboden. Müde und erschöpft beugte er sich nieder und nahm Harry auf den Arm. Er war sehr schwer – wie eine Pistole fühlte er sich an, dachte Roland; aber er hing nicht ganz schlaff und ließ auch den Kopf nicht hängen, und als Roland ihn in Augenhöhe hob, öffnete Harry die Augen und sah ihn an. Ihn würde Harry nie beißen, davon war Roland überzeugt, weil er ihm immer Fleisch gebracht hatte. Er hatte ihm sogar, wenn man so wollte, Antoine gebracht. Er trabte jetzt heimwärts mit Harry. Am Waldrand sah er den Käfig stehen und wollte ihn mitnehmen, beschloß dann aber, ihn zunächst noch dort stehen zu lassen. Neben einem großen sonnenwarmen Stein in der Nähe des Rasens setzte er Harry ab. Forke und Spaten kamen zurück in den Schuppen; dann wusch sich Roland, so gut es ging, die Hände am Kaltwasserhahn neben der Schuppenwand. Da Brigitte jetzt wohl in der Küche war, ging er durch die Vordertür ins Haus und gleich nach oben, wo er sich gründlich säuberte und auch ein frisches Hemd anzog. Um nicht ganz allein zu sein, stellte er den Transistor an. Ihm war merkwürdig zumute – nicht mehr angstvoll oder erschrocken, aber so, als könne er nichts richtig -210-
anfassen, werde alles fallen lassen oder überall anstoßen, auf der Treppe stolpern. – Dabei war ihm nichts dergleichen passiert, als er eben nach Hause kam. Es klopfte. Das war seine Mutter, er kannte ihr Klopfen. »Komm rein, Mama.« »Roland, wo bist du gewesen?« Roland lag auf dem Bett, das Radio neben sich. Er stellte es leiser. »Im Wald. Ich war spazieren.« »Hast du Antoine nicht gesehen? Er sollte Marie und Paul abholen.« Ach ja, jetzt fiel es Roland ein: sie hatten Gäste zum Lunch. »Ja, im Wald hab ich ihn gesehen. Er hat gesagt, er nimmt sich den Tag frei. Er wollte nach Orléans oder so was.« »Wieso denn –? Er hat wohl das Frettchen laufen lassen, was?« »Ja. Er hatte es schon freigelassen. Ich hab den Käfig am Wald stehen sehen.« »Ja – es tut mir leid, Roland«, sagte die Mutter nervös. »Aber ein Frettchen ist nun mal kein Haustier. Wir müssen da auch Rücksicht auf Antoine nehmen, er ist alt und hat Angst vor Frettchen, das kann man schließlich verstehen.« »Ja, Mama, ich weiß. Es macht nichts.« »Schön, mein Junge, das ist recht. Aber mit Antoine, das ist doch komisch, einfach so wegzugehen. – Er geht wahrscheinlich in Orléans ins Kino und kommt heute abend zurück. Den Wagen hatte er doch nicht mit, nein?« »Nein, er sagte, er wollte den Bus nach Orléans nehmen. Er hatte immer noch ’ne Wut auf mich. Er sagte, vielleicht würde er ein paar Tage wegbleiben.« »Unsinn. Aber ich muß jetzt schleunigst Marie und Paul abholen. Du siehst, was du mit dem Tier alles angerichtet hast, Roland!« Sie lächelte ihm kurz zu und verließ das Zimmer. -211-
Es gelang Roland, aus der Küche ein Stück Fleisch zu ergattern, und gegen halb elf, als Brigitte zu Bett gegangen und seine Mutter in ihrem Zimmer war, brachte er es zu dem Stein, wo er Harry morgens verlassen hatte, und wartete. Sieben oder acht Minuten vergingen, dann erschien Harry. Roland strahlte, er lachte fast vor Glück. »Hier – Fleisch, Harry!« Er sprach im Flüsterton, obgleich das Haus weit entfernt war. Harry war wieder schlanker geworden; er nahm das halbrohe Stück Lammfleisch entgegen, wenn auch nicht so gierig wie sonst, da er heute reichlich versorgt gewesen war. Zum erstenmal streichelte Roland den kleinen Kopf. Er träumte davon, täglich in den Wald zu kommen und Harry einiges beizubringen. Gehorchen sollte er lernen, und ruhig in der Jackentasche sitzenbleiben. Einen Käfig brauchte er gewiß nicht. Zwei Tage vergingen. Madame Lemoinnier schickte ein Telegramm an Antoines Schwester in Paris und bat sie um Anruf. Die Schwester rief an und sagte, sie habe nichts von Antoine gehört. Madame Lemoinnier fand es sehr merkwürdig, daß Antoine so einfach fortging und alle seine Sachen, sogar den Regenmantel, zurückließ. Man mußte doch wohl die Polizei verständigen. Die Polizei erschien und stellte Fragen. Roland berichtete, er habe Antoine zuletzt gesehen, wie er in Richtung auf die Straße nach Orléans zuging, wo er den Elfuhrbus nehmen wollte. Antoine war alt, gab Madame Lemoinnier an, alt und ein bißchen eigensinnig und wunderlich. Sein Sparkassenbuch fand sich in seinem Zimmer, und die Polizei wollte die Sparkasse ersuchen, Bescheid zu geben, falls Antoine Geld abhob oder ein neues Buch anforderte. Dann gingen die Beamten zu dem Weg, den Roland ihnen zeigte; sie fanden den leeren Käfig mit -212-
geöffneter Tür an der Stelle, wo Roland ihn abgestellt hatte. Die Straße nach Orléans lag rechts, der Stelle entgegengesetzt, wo Antoine begraben war. Die Polizisten schritten den ganzen Weg ab, bis zu der Landstraße nach Orléans. Offenbar hegten sie keinen Zweifel an Rolands Bericht. Jeden Abend, wenn Roland unbeobachtet aus dem Hause schleichen konnte, ging er zum Wald hinüber und fütterte Harry, und meistens auch noch am Tage einmal. An den wenigen Abenden, da Harry nicht erschien, war er sicher auf der Jagd nach Kaninchen oder Maulwürfen. Roland wußte, Harry war ein Wildtier, aber nicht richtig wild und auch nur halb gezähmt. Ebenso war es Roland klar, daß er nicht gern an das dachte, was Harry getan hatte. Lieber malte er sich aus, Antoine sei an einem Herzschlag gestorben. Und wenn er jemals Harry als Mörder ansah, so stellte er ihn im Geist an die Seite der Mörder in Märchen- und Geschichtenbüchern: sie waren schon Mörder, aber so ganz richtige eben doch nicht. Er, Roland, hatte jedenfalls keine Schuld, und Harry auch nicht. Am liebsten stellte er sich Harry als seine Geheimwaffe vor – viel besser als eine Pistole, und geheim deshalb, weil kein Mensch etwas von ihm ahnte. Nur Stefan wollte er es erzählen. Er träumte auch davon, mit Hilfe von Harry seinen Mathematiklehrer umzubringen, den er haßte. Roland schrieb oft Briefe an Stefan; und jetzt berichtete er ihm, wie Harry Antoine getötet hatte – als ausgedachte Geschichte. Am Schluß hieß es: »Vielleicht glaubst du mir nicht, aber ich schwöre dir, jedes Wort ist wahr. Du kannst dich ja bei der Polizei erkundigen, dort wird man dir bestätigen, daß Antoine verschwunden ist.« Stefan schrieb zurück: »Von deiner Frettchengeschichte glaube ich dir kein Wort. Darauf bist du bloß gekommen, weil Antoine abgehauen ist. Jeder würde abhauen, wenn er dich zu bedienen hätte. Aber die Geschichte ist ganz lustig. Hast du noch mehr?« -213-
Ziegenbockfahrt
I
n Hank Hudsons Kinderparadies war Billy, der Ziegenbock, die Hauptattraktion. Billy war es auch, der sich stets am besten amüsierte – nicht die Kinder oder die Eltern, die immer wieder einen Vierteldollar oder einen Zehner aus der Tasche holten, nachdem sie schon anderthalb Dollar Eintritt für sich selber und fünfundsiebzig Cent für jedes Kind entrichtet hatten. Hank Hudson war nicht billig, aber das Kinderparadies war in und nahe der Stadt der einzige Ort, wo sich die Kinder richtig amüsieren konnten. Es gab immer viel Hallo, wenn Billy abends gegen sieben mit seinem weißgoldenen Wagen erschien. Jeder Präsident der Vereinigten Staaten hätte sich über soviel Applaus seiner Anhänger gefreut, und Billy ging es nicht anders: der Beifall feuerte ihn an. Die Sehnen gespannt, das kräftige weiße Fell wunderbar von Mickie gestriegelt, so begann er den Galopp: zunächst an dem weißen Gitter entlang, gegen das sich die Zuschauer preßten, um ihm nicht in den Weg zu kommen, und von wo aus sie ihn mit lautem »Hurra!« und »Ooooh!« antrieben. Diese erste Runde hatte den Zweck, Billys überschäumende Energien ein wenig zu dämpfen und gleichzeitig den Zuschauern zu zeigen, daß er jetzt zu Taten bereit war. Zurück am Ausgangspunkt, schlitterten die blankpolierten Hufe zum Stillstand, Billy hielt an, sein Atem ging kaum schneller, er schnaubte nur etwas – das wirkte auf die Zuschauer. Eine Fahrt kostete fünfundzwanzig Cent für Erwachsene und Kinder; im Wagen hatten vier Kinder oder zwei Erwachsene Platz und dann noch Mickie, ein rothaariger Junge, den Billy gern hatte; er saß vorn auf einer kleinen Bank und lenkte den Wagen. -214-
»He – hoppla!« sagte Mickie und ließ die Zügel auf Billys Rücken klatschen; dann zog Billy an, zuerst mit gesenktem Kopf, bis er richtig in Fahrt kam, dann mit erhobenem Kopf und im Trott. Dabei sah er sich nach allen Seiten um, ob jemand Dummheiten mit ihm anstellen wollte oder ob eine Hand sich ausstreckte, die ihm Eiscreme und Karamel-Popcorn reichte, denn dafür war er immer zu haben. Mickie schwang eine kleine Peitsche, mehr zur Schau als im Ernst, sie tat auch gar nicht weh. Billy verstand sehr gut, wenn Hank den Jungen anschrie, er solle gefälligst weitermachen, die nächste Ladung Fahrgäste warte doch schon. Die Fahrt ging erst rund um den Schießstand, dann über den Weg mitten durch die Menschen, zwischen dem Karussell und den Eiscreme- und Popcornbuden entlang und dann rund um den Stand, wo man Bälle nach Gewinnen schleuderte: damit hatte Billy eine große Acht beschrieben, die immer zweimal gelaufen wurde. Wenn Mickies Peitsche nichts nützte, kam Hank herüber und gab Billy einen Tritt in den Bauch, um ihn loszureißen von der Popcorn- oder Erdnußtüte. Billy revanchierte sich dann ebenfalls mit einem Tritt, aber seine Hufe trafen öfter den Wagen als den Mann. Immerhin, er war selten richtig müde, auch nicht am Ende eines Wochenendes mit vielen Besuchern. Und wenn der nächste Morgen auf einen Tag fiel, an dem der Park geschlossen war und er an seinen Pfahl gebunden blieb, ein Tag, an dem er niemanden anstoßen konnte und keine Menschenmenge ihm zujubelte, dann bohrte er gelangweilt die Hörner in das abgefressene Gras. Das linke Horn war etwas krumm, mit ihm konnte er den Boden aufwühlen, das tat er gern. An einem Sonntag erschien Hank Hudson mit einem anderen Mann an dem Pfosten, wo die Ziegenbockfahrt immer begann. Hank hielt die ausgebreiteten Hände mit den Handflächen nach unten, das war für Mickie das Zeichen zum Anhalten. Der andere Mann hatte ein kleines Mädchen bei sich, das aufgeregt hin und her lief. Hank redete und klopfte Billy auf die Schulter; -215-
das Kind wagte nicht recht, ihn anzufassen, bis der Vater das eine Horn in die Hand nahm. Normalerweise hätte Billy jetzt den Kopf zurückgerissen, denn meistens machte es den Fahrgästen Spaß, im Wagen tüchtig durchgeschüttelt zu werden. Aber Billy war jetzt neugierig und kaute weiter am Rest einer knusprigen Eiswaffel, während die graublauen Augen mit den horizontal gestellten Pupillen das kleine Mädchen anstarrten, das jetzt Mut gefaßt hatte und Billys Stirnlocke streichelte. Die vier Kinder im Wagen drängten auf die Abfahrt. Hank stand neben dem Mann und nahm eine Menge Papiergeld entgegen; er kehrte der Menschenmenge den Rücken und zählte das Geld sorgfältig nach. Hank war ein hochgewachsener Mann mit starkem Bauch und breit ausladendem Hinterteil, das schon ein- oder zweimal die Rammstöße von Billys Hörnern zu spüren bekommen hatte. Er trug einen Hut im Westernstil, Cowboystiefel und bräunliche Hosen, deren Gürtel unter dem Bauch nach vorn herunterhing. Der Mund war feucht und rot mit zwei kaninchenhaft vorstehenden Schneidezähnen, die Augen klein und blau. Jetzt trat Blanche, seine Frau, heran und schaute ihm zu, eine rundliche Person mit rotbraunem Haar, von der Billy nicht viel Notiz nahm. Hank hatte nun das Geld eingesteckt und befahl Mickie weiterzumachen. Billy setzte sich in Bewegung. Er brachte es, wie üblich, auch an diesem Abend auf zwölf oder fünfzehn Fahrten, aber am Schluß wurde er heute nicht in seinen Stall zurückgeführt. Mickie nahm ihm in der Nähe der Einfahrt Zügel und Wagen ab, und Billy wurde zu einem Lastwagen geschoben, dessen Heckklappe heruntergelassen war. »Los, Billy, da geh rein! Auf geht’s!« rief Hank und gab Billy einen Tritt in die Seite, damit er merkte, was los war. Mickie zog von vorn. »Komm, Billy, komm! So ist’s recht. Bye-bye, Billy!« -216-
Billy trappelte die Klappe hinauf, die sie als Rampe heruntergelassen hatten und die hinter ihm zugeschlagen wurde. Der Wagen fuhr los, es war eine lange holprige Fahrt, aber Billy blieb aufrecht stehen und verlor nicht das Gleichgewicht. Bäume jagten vorbei in der Dunkelheit, und manchmal erkannte er ein paar Häuser, wenn Laternen die Straße erhellten. Endlich hielt der Wagen in der Auffahrt zu einem großen Haus; Billy wurde losgebunden und vom Wagen heruntergezogen, er landete mit einem Sprung. Eine junge Frau trat aus dem Hause und tätschelte ihn mit freundlichem Lächeln. Dann führte man ihn – er ließ sich alles ruhig gefallen, weil er neugierig war – zu einem kleinen Anbau neben der Garage, wo ein Napf mit Wasser bereitstand, und die Frau brachte noch eine Schüssel mit einem Gemisch aus Gemüse und Salat. Es schmeckte ganz gut. Eine Galopprunde um den Garten hätte Billy jetzt Spaß gemacht – nur um zu sehen, wie groß hier alles war, und um etwas von dem Gras und Blattwerk zu probieren, aber der Mann hatte ihn fest angebunden. Er sprach ihm freundlich zu, streichelte ihm den Hals und ging dann ins Haus, wo bald die Lichter erloschen. Am nächsten Morgen fuhr der Mann in seinem Wagen fort; die junge Frau und das kleine Mädchen nahmen Billy an einen Strick und machten mit ihm einen Rundgang. Billy stampfte und warf voller Lebensfreude die Vorderbeine hoch, gab sich aber mit dem Strick zufrieden, bis er merkte, daß er zu seinem Stall zurückgeführt werden sollte. Mit gesenktem Kopf tat er einen Sprung vorwärts, fühlte, wie das Seil den Händen der Frau entglitt, und galoppierte los, wobei er mit den Hörnern nicht allzu heftig gegen ein jungen Baum stieß. Das kleine Mädchen jubelte. Billys Seil verfing sich unter einer weißen Eisenbank; er umkreiste sie so lange, bis das Seil ganz kurz wurde, dann stieß er mit dem Schädel gegen die Bank, sie fiel um, und Billy warf -217-
den Kopf hoch, so daß alle seine Glöckchen klingelten. Das gefiel ihm, er sah fröhlich der Frau und dem Kind entgegen, die auf ihn zugelaufen kamen. Die Frau nahm das Seil auf; sie schien sich ein wenig vor Billy zu fürchten. Zu seinem Ärger machte sie jetzt das Seilende an einer kleinen steinernen Statue fest. Die Statue stand am Rande eines kleinen Teichs; sie sah aus wie ein Junge, der irgend etwas aß. Billy war nun allein. Er sah sich nach allen Seiten um und fraß dann etwas von dem saftigen, aber schon recht kurz geschnittenen Gras. Er begann sich zu langweilen. Keiner war hier zu sehen, nichts bewegte sich außer ein paar Vögeln und einem Eichhörnchen, das ihn einen Augenblick anstarrte und dann verschwand. Billy zerrte an seinem Strick, doch der Strick hielt. Er wußte, er konnte ihn durchbeißen, nur hatte er wenig Lust dazu; er lief ein paar Schritte von der Statue weg, worauf das Seil ihn zurückriß und auf den Boden warf. Er war sofort wieder auf den Beinen, bäumte sich auf und nahm das Problem von neuem in Angriff. Wieder setzte er zum Lauf an; diesmal spannte er die Rückenmuskeln, und der Kinnbart fuhr über den Boden. Etwas Schweres schlug ihm gegen die Brust – er trug noch sein Zaumzeug –, und hinter sich hörte er es krachen, dann kam ein lautes Ploppp. Die Statue war ins Wasser gefallen. Billy galoppierte los, im Nu hatten die stampfenden Beine die Statue aus dem Wasser an den Teichrand gezogen. Weiter ging es durch grüne Hecken, über Steinpfade, wo die Statue immer wieder laut schepperte und immer leichter wurde. Billy fand ein paar Blumen und hielt an, um sich zu erfrischen. Jetzt hörte er schnelle Füße hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er die Frau des Hauses, die mit einem Jungen, etwa so alt wie Mickie, auf Billy zugelaufen kam. Sie schien sehr erregt zu sein. Der Junge löste den Strick von den Resten der Statue, dann wurde Billy ohne weiteres Federlesen in seinen Schuppen zurückgebracht. Die Frau reichte dem Jungen einen langen Eisenpfahl, den er mit dem Hammer in den Boden trieb; daran -218-
wurde Billys Seil festgebunden. Der Junge lächelte und sagte: »So, Billy, das wär’s.« Dann gingen sie fort. Ein Tag verging, und die Langeweile wuchs. Billy begann, das Seil durchzunagen, gab es dann aber auf – sie würden ihn, wenn es gelang, doch nur von neuem festbinden. Er bekam genug zu fressen, aber lieber wäre er wieder im Kinderparadies gewesen, wo es Lärm und Menschen gab und den kleinen Wagen mit vier Fahrgästen, plus Mickie. Hier war er angebunden und hatte nichts zu tun. Einmal kam der Hausherr und setzte das kleine Mädchen auf Billys Rücken, aber er hielt dabei das Seil so kurz, daß es Billy keinen Spaß machte. Irgend etwas ließ ihn zurückscheuen, das Kind rutschte herunter, und das war offenbar das Ende der Reitversuche. Eines Nachmittags kam ein großer schwarzer Hund über den Rasen gelaufen; er erblickte Billy und begann zu bellen und nach ihm zu schnappen. Das empörte Billy – es kam ihm vor, als lache der Hund ihn aus. Er senkte den Kopf und schoß vorwärts, fest entschlossen, den Eisenpfahl herauszureißen, doch statt dessen riß das Seil, das war noch besser. Jetzt wandte sich der Hund zur Flucht, und Billy jagte hinter ihm her, so schnell er konnte. Der Hund bog um die Ecke des kleinen Treibhauses; Billy nahm die Kurve zu eng und krachte mit einem Horn in eine Glasscheibe. Krach – bang! Blind vor Wut stieß er wieder und wieder den Kopf in die Scheiben, atemlos und ohne ersichtlichen Grund, nur weil das Klirren und Scheppern ihn befriedigte. Bang! – Klirrr – bang! Und noch mal Bangbang! Der Hund jaulte auf und schnappte nach Billys Fersen. Billy keilte aus und verfehlte ihn, wandte sich um und wollte sich auf den Hund stürzen; die Hufe bollerten über den Rasen. Wie ein schwarzer Blitz jagte der Hund davon und schoß die Straße hinunter. Billy rannte ihm nach, hielt aber nach einigen Metern -219-
an: er hatte den Feind in die Flucht geschlagen, das genügte. Weil er gerade dabei war, riß er noch ein Loch in die nächste Hecke, schnaubte und schüttelte sich, so daß die Glöckchen hell klingelten wie ein ganzes Orchester. Dann trabte er mit hoch erhobenem Kopf die Straße zurück, in Richtung auf den heimischen Rasen, nur bei einem Blumenbeet neben einer Gartenpforte hielt er sich noch kurz auf, bis aus dem Hause lautes Geschrei drang und Billy machte, daß er weiterkam. Die Rufe und Schreie verstärkten sich. Eine Polizeipfeife schrillte, eine feste Polizistenhand packte Billy an Horn und Zaumzeug und versetzte ihm einen Schlag auf den Schenkel mit dem Knüppel. Dafür rammte Billy dem Beamten den Schädel in den Bauch und freute sich, als der Mann umfiel und sich vor Schmerzen krümmte. Jetzt warfen sich mehrere Jungens auf Billy und hielten ihn am Boden fest. Unter viel Lärm und Getöse zerrte man ihn zurück auf den Rasen mit dem eisernen Pfahl und dem zerschlagenen Treibhaus. Keuchend stand Billy da, die Beine gespreizt, blinde Wut in den Augen. Als es Abend wurde, kam der Hausherr, lud Billy auf seinen Wagen und zurrte ihn so fest, daß er sich nicht hinlegen konnte, wozu er auch gar keine Lust verspürte. Sie fuhren eine ganze Weile, und dann erkannte Billy schon von weitem das Schlagen der Zimbeln und die lärmende Karussellmusik. Das war der Park – er war wieder im Kinderparadies! Strahlend rannte Mickie herbei. »O Billy – du bist wieder da, Billy!« Hank Hudson strahlte nicht. Er stand da und sprach mit dem Mann, zog die Unterlippe ein und schüttelte den Kopf. Der Mann sah ebenfalls betrübt aus, als er dann zu seinem Wagen zurückkehrte. An diesem Abend schirrten sie Billy an seinen kleinen Wagen, und er machte fast ein Dutzend Rundfahrten, bevor der Park geschlossen wurde. Mickie und Hank lachten -220-
und schwatzten, als sie Billy in den Stall zurückbrachten und ihm Futter gaben. Billy war schon ganz angefüllt mit Hot dogs und Popcorn. »Billy ist wieder da!« Noch im Traum hörte Billy die Jubelrufe der Besucher, als er wieder auf seinem alten Strohlager lag. Es gab doch noch Menschen, die ihn gern hatten. Billy glitt wieder hinein in den Alltag mit der gewohnten Routine, die gar nicht so übel war – zumindest war sie nicht langweilig. Tagsüber wanderte er an fünf Tagen der Woche über die verlassenen Grasflächen des Parks; viel Gras gab es zwar nicht, dafür aber allerhand Reste von Brötchen und Erdnußtüten, wo fast immer noch ein paar Nüsse drin waren. Es war alles wie immer. Deshalb wunderte es ihn, als Mickie ihn an einem lebhaften Abend vom Wagen losmachte und Hank ihn zu einem Auto zog, auf dem hinten eine Art Verschlag stand, der groß genug war für ein Pferd. Billy begriff, was los war: Hank schob ihn wieder mal ab. Eigensinnig spreizte Billy die Beine, so daß ihn Hank zusammen mit einem andern Mann – er trug einen Westernhut wie Hank – auf die Rampe heben mußte, während ein dritter Mann oben im Verschlag ihn an den Hörnern festhielt. Billy stand einen Augenblick ganz still, drehte sich dann mit kräftigem Ruck um sich selbst, kam auf die Füße und sprang mit einem Satz in die Freiheit. Freiheit – ja, aber wo konnte er hin? Der Park war eingezäunt bis auf die Wageneinfahrt; dorthin wandte er sich. Zwei Männer stellten sich ihm in den Weg und sprangen wie erschreckte Kaninchen beiseite, als er mit gesenktem Kopf auf sie losging. Jetzt rammte er eine Autotür – im Halbdunkel hatte er den Wagen nicht gesehen – und verlor fast die Besinnung durch den Stoß. Die Wageninsassen schrien auf, und zwei starke Männer warfen sich auf Billy und hielten ihn fest; zu dritt trugen sie ihn zurück zu dem Wagen mit dem Verschlag. Diesmal wurden ihm die Beine zusammengebunden, Hank selber riß ihm die Füße -221-
unter dem Leib weg, so daß Billy auf die Seite fiel. Er versuchte um sich zu treten, doch es nützte ihm nichts. In diesem Augenblick haßte er Hank. Er hatte ihn nie gemocht; jetzt füllte ihn der Haß bis zum Hals und zerriß ihn fast. Aus der Seitenlage beobachtete er, wie Hank auch diesmal eine Menge Papiergeld von dem Mann mit dem Pferdeverschlag in Empfang nahm und es tief in die Taschen seiner weiten Hose schob. Dann machten sie die Verschlagtür zu. Diesmal wurde es eine längere Fahrt, weit ins Land hinaus; Billy erkannte den Duft des frischen Heus und der feuchten Erde. Auch nach Pferden roch es hier. Die Männer banden ihn los und brachten ihn in einen Stall, wo es Stroh gab und einen Eimer Wasser. Billy schlug einmal kräftig mit den Hufen gegen die Stallwand – Tack-bammm! –, nur um sich und den andern zu beweisen, daß er es an Kampfgeist immer noch mit ihnen aufnahm. Dann blies er tief die Luft aus, schüttelte sich, wobei alle Glöckchen klingelten, und sprang auf der Stelle von den Hinterbeinen auf die Vorderbeine, wieder und wieder. Die Männer lachten und gingen hinaus. Am nächsten Tag wurde Billy mitten auf einer breiten Wiese an einen Holzpfahl gebunden, und zwar nicht mit einem Strick, sondern mit einer Kette. Die Pferde, die hier weideten, waren ihm egal, nur auf eines versuchte er loszugehen, als es kurz wieherte und ihn erschreckt ansah. Der Mann hielt das Pferd am Zügel, es riß sich los, blieb aber gleich darauf folgsam stehen, und der Mann nahm es von neuem an den Zügel. Der Morgen war recht langweilig, fand Billy; immerhin, das Gras war dicht und saftig, er fraß sich satt. Jemand kam und schnallte einen Kindersattel auf seinem Rücken fest, es war aber kein Kind in Sicht. Zum Hause gehörten offenbar drei Männer. Der eine bestieg ein Pferd und führte Billy im Trott rund um einen eingezäunten Platz. Das Pferd lief im Trott, und Billy galoppierte mit. Das schien dem Mann zu gefallen. So ging es mehrere Tage; die Routine für die Pferde wurde -222-
langsam etwas komplizierter. Sie gingen im Schritt und im Trab, sie knieten und galoppierten zur Seite nach der Musik eines Plattenspielers, den einer der Männer außerhalb der Umzäunung spielen ließ. Die Männer probierten auch etwas mit Billy: er sollte irgend was mit einem bunten Band anstellen, an dem ein Stück Metall befestigt war. Er verstand aber nicht, was sie von ihm wollten, und begann das Band aufzufressen, so daß sie es ihm wegrissen. Der Mann gab ihm einen Tritt, damit er besser aufpaßte, und versuchte es dann noch einmal. Billy gab sich weiter keine Mühe. Einige Tage später machten sie sich alle mit den Pferden auf den Weg zu einem Ort mit der größten Menschenmenge, die Billy je gesehen hatte. Die meisten saßen im Kreis um einen leeren Platz in der Mitte. Billy trug seinen Sattel. Einer der Männer bestieg ein Pferd und führte Billy – zusammen mit vielen anderen Männern und Frauen auf Pferden zweimal in großer Parade rund um die Arena. Die Musik spielte, und die Leute applaudierten. Dann wurde Billy zur Seite geführt, und der Mann blieb zu Fuß neben ihm stehen. Sie standen nahe bei einer Mauerlücke; das war gut, denn so konnten sie ausweichen, falls ein Pferd wild wurde, scheute oder ausschlug und ihnen zu nahe kam, wenn es seinen Reiter abwarf. Billy und der Mann standen jetzt in einer Art Pferch, ohne Dach, oben lehnten die Leute sich über den Rand, und einer ließ etwas auf Billys Rücken fallen, das aussah wie eine zischende Wurst. Der Mann wischte es herunter und versuchte es auszutreten, als es mit lautem Knall – Bangg! – explodierte. Billy schoß vorwärts und fand sich plötzlich mitten in der Arena. Lauter Jubel stieg aus der Menschenmenge auf. Ein Mann im Clownskostüm breitete die Arme aus, um Billy anzuhalten oder abzulenken. Billy stürzte sich geradeswegs auf den Clown, der behende in einen Mülleimer sprang; Billy stieß die Hörner mit lautem Clanngg! gegen den Eimer, er fiel mit dem Clown um und rollte ein paar Schritt weiter. Die Zuschauer -223-
schrien vor Begeisterung, und Billys Puls ging schneller. Jetzt kam ein großer, energisch aussehender Mann angerannt; er packte Billy, der sofort zustieß, bei den Hörnern und fiel mit ihm zu Boden. Aber Billys Hinterbeine waren frei, er trat mit aller Kraft um sich, so daß der Mann aufschrie und ihn losließ. Triumphierend trabte Billy davon. Bang! Jemand hatte einen Schuß abgefeuert. Billy merkte es kaum – das gehörte alles zum Spaß der Vorstellung. Er sah sich nach weiteren Angriffszielen um und nahm einen Reiter aufs Korn, wurde jetzt aber abgelenkt von zwei anderen Männern, die aus verschiedenen Richtungen auf ihn zugelaufen kamen. Er wußte nicht, wen er zuerst boxen sollte, entschied sich für den näheren und lief los. Er rammte ihn in Hüfthöhe, doch schon im nächsten Moment fiel ihm ein Strick um den Hals. Billy stürzte sich auf den Mann mit dem Strick, aber jetzt war ein dritter Mann da, der sich auf Billy warf, ihm die Arme um den Leib preßte und ihn festhielt. Billy wand sich, stieß mit dem krummen Horn zu und traf den Mann am Arm; der Mann ließ ihn nicht los, und ein anderer versetzte Billy einen betäubenden Schlag auf den Kopf. Undeutlich merkte er, daß man ihn fortschleppte, unter dem anhaltenden Jubel des Publikums. Karr – plopp. Sie warfen Billy in eins der Pferdegatter. Der Mann, der sich am meisten mit ihm beschäftigte, band ihm die Beine zusammen. Sein Arm blutete, und er schimpfte halblaut vor sich hin. Als sie abends auf die Ranch zurückgekommen waren, erschien der Mann mit einer Peitsche. Billy war in einem der Ställe angebunden. Der Mann schimpfte und schrie ihn an. Es war eine starke Peitsche, und sie tat weh – ja, sie tat etwas weh. Ein anderer Mann stand dabei und sah zu. Wütend stieß Billy mit den Hörnern gegen die Stallwand, prallte ab und wollte den Mann mit der Peitsche anfallen, aber der sprang zurück und schlug die Stalltür zu, als Billys Hörner hineinkrachten. Dann ging der Mann fort. Es dauerte eine ganze Weile, bevor sich -224-
Billy beruhigte und er das Brennen der Peitschenschläge auf Rücken und Schenkeln zu fühlen begann. An diesem Abend haßte er die ganze Welt. Am nächsten Morgen brachten alle drei Männer Billy zu einem der Pferdeverschläge. Billy war ganz zufrieden, als er den Verschlag sah, und ging bereitwillig mit. Er wäre überallhin gegangen, wenn er nur fortkam von hier. Wieder war die Fahrt lang; dann hörte Billy das holpernde Rollen unter den Rädern, das immer hörbar wurde, wenn ein Wagen über das metallene Laufbrett am Eingang zum Kinderparadies fuhr. Sie hielten an, und Billy hörte auch Hanks Stimme. Sie ließen Billy hinaus, und er freute sich, aber Hank schien sich nicht zu freuen. Mit gerunzelter Stirn stand er da, blickte auf den Boden und dann auf Billy. Die Männer stiegen in ihren Wagen und fuhren fort, und als sie weg waren, sagte Hank etwas zu Billy und lachte dabei. Mit einer Hand packte er Billy am Zaumzeug und steuerte ihn auf eine Stelle zu, wo das Gras dichter wuchs, weil Publikum und Autos dort nicht hinkamen. Aber Billy war noch zu verstört, er mochte nicht fressen. Der Rücken schmerzte, und im Kopf klopfte es, vielleicht von dem Schlag, den er in der Arena bekommen hatte. Wo mochte Mickie sein? Billy blickte sich um. Vielleicht war dies einer der Tage, an denen Mickie nicht kam. Die Dämmerung fiel, und Billy war nun sicher, daß dies ein Abend war, an dem niemand ins Kinderparadies kam, auch Mickie nicht. Aber dann schaltete Hank alle Lichter an, oder fast alle, und spannte Billy vor seinen Wagen. Merkwürdig – Hank war noch nie allein im Wagen gefahren. »Na komm, Billy, komm – braver Billy!« Die Stimme klang beschwichtigend. Aber Billy spürte, Hank hatte Angst. Der Wagen quietschte unter seinem Gewicht, als säßen mehrere Leute darin. »He – hoppla, Billy. So – nun los«, sagte Hank und ließ die -225-
Zügel klatschen, wie es Mickie immer tat. Billy zog an. Es tat wohl, sich anstrengen zu müssen beim Ziehen; auf diese Weise wurde er etwas von seinem Zorn los. Er ging vom Trott zum Galopp über. »He – Billy! Billy –!« Hanks Zuruf ließ Billy noch schneller laufen. Er schlug mit dem Wagen gegen einen Baum, ein Rad löste sich und trudelte allein weiter. Hank schrie ihm zu, er solle anhalten, und gleich darauf stürzte Hank aus dem Wagen. Billy machte eine Wendung und blickte zurück. Hank saß auf dem Erdboden, und Billy stieß auf ihn zu. Hank wollte sich gerade erheben, als Billys Hörner ihn voll trafen. Er fiel wieder um. »Heeeh – Billy!« sagte Hank, etwas leiser und fast verwundert, als halte er Billy noch am Zügel. Mit weichen Knien torkelte er auf den Bock zu, eine Hand auf sein Knie gepreßt, die andere an der Stirn. Jetzt sah Billy, daß Hank sich offenbar anders besonnen hatte und auf einen der Verkaufsstände zuwankte, um Schutz zu suchen; und wieder griff er an. Hank taumelte weiter, so schnell er konnte, aber Billy stieß den Kopf mit voller Kraft in Hanks einladend breites Hinterteil. Wamm! Hank brach fast hintenüber und schlug hart zu Boden. Billy trottete im Kreis herum, das Gewicht des halben Wagens hinter sich spürte er kaum. Hank hob das blutüberströmte Gesicht. Billy senkte den Kopf und boxte hinein in die Fleischmasse, die jetzt mit ihm in etwa gleicher Höhe war. Ein gebogenes, ein krummes Horn trafen irgendwohin, und Hank rollte hintenüber. Billy versetzte ihm einen Kinnhaken, zog die Hörner heraus, trat zurück und stieß wieder zu. Tokkk – der Körper auf dem Boden schien immer weicher zu werden. Noch einmal fuhr Billy hinein, trat dann einen Schritt zurück und stieg behutsam, das Wagenwrack hinter sich herziehend, über Hanks Körper hinweg. Dunkles Blut rann in -226-
den kahlen zertretenen Erdboden. Dann war er auf einmal schon weit weg und trabte mit erhobenem Kopf immer weiter. Der Wagen hinter ihm wog so gut wie nichts. War er überhaupt noch da? Aber jetzt hörte Billy die Zweige eines Busches, über den er hinweggesprungen war, hinter sich knacken und merkte, wie der Wagen gegen die Ecke einer kleinen Verkaufsbude schlug. Hanks Frau erschien. »Billy!« schrie sie aufgeregt. In Billy zitterte noch ein Rest von Wut; er war im Begriff, sie ebenfalls anzugreifen, unterließ es dann und begnügte sich damit, sich schnaubend zu schütteln. »Hank! Hank – wo bist du?« Eilig verschwand die Frau. Als er »Hank!« hörte, fuhr Billy zusammen. Schleunigst setzte er sich von neuem in Trab, kurvte um den Torpfosten an der Wageneinfahrt herum und verlor dabei das andere Wagenrad. Weit weg hörte man noch immer Hanks Frau schreien. Billy jagte die Straße hinunter, bog in den ersten Querpfad ein und lief weiter, immer weiter ins Land hinein, in die Dunkelheit. Ein Wagen bremste, und der Fahrer sagte etwas zu Billy, aber Billy lief weiter. Endlich verlangsamte er sein Tempo, lief im Trott und dann im Schritt. Ringsum waren Felder und ein kleiner Wald; dort legte er sich hin und schlief ein. Als er erwachte, dämmerte es schon, und er war durstig; der Durst war stärker als der Hunger. Er kam an ein Bauernhaus, wo hinter einem Zaun ein Wassertrog stand, den er aber nicht leicht erreichen konnte; deshalb trabte er weiter. Irgendwo in der Nähe mußte Wasser sein. Er fand einen Bach am Abhang, trank und fraß auch von dem saftigen Gras, das dort wuchs. Eine Wagendeichsel hing immer noch an seinem Zaumzeug, das war ärgerlich, aber viel wichtiger war es, daß er jetzt frei war. Er konnte gehen, wohin er wollte, und soviel er jetzt sah, gab es überall Gras und auch Wasser. Abenteuerlust regte sich. -227-
Billy schlug wieder einen Nebenweg ein und lief weiter. Den ganzen Morgen begegneten ihm nur zwei Wagen, jedesmal lief er schneller, und niemand stieg aus und wollte was von ihm. Dann drang ihm ein Geruch in die Nase. Er lief langsamer, hob den Kopf, schnüffelte noch einmal und ging dem Geruch nach, bis zu einem Feld, wo eine andere Ziege stand, mit glattem, schwarzweißem Fell. Im Augenblick fühlte Billy eher Neugier als Freude; er ging auf das Feld zu, kam an eine Öffnung im Zaun und trat hindurch, wobei er die weißgoldene Deichsel hinter sich herschleppte. Die andere Ziege war angebunden. Sie hob jetzt den Kopf – es war eine Milchziege, kein Bock, das sah Billy – und blickte ihn leicht erstaunt an, bevor sie mit dem Kauen fortfuhr. Hinter ihr sah man ein langes niedriges weißes Haus, und auf der Leine flatterte Wäsche im Wind. Auch eine Scheune stand da, und Billy hörte das tiefe Muhen einer Kuh. Jetzt trat eine Frau aus dem Hause; sie hielt eine Schüssel in der Hand und streute etwas auf den Boden. Als sie Billy erblickte, ließ sie vor Staunen die Schüssel fallen und kam dann vorsichtig näher. Billy blieb ruhig stehen und kaute weiter an dem saftigen Klee, den er gerade ausgerissen hatte. Die Frau machte mit der Schürze eine leicht wegscheuchende Geste, doch so, als sei es ihr nicht ganz ernst damit. Sie kam näher und blickte Billy fest an, und dann lachte sie, und das Lachen klang freundlich. Vom Lachen verstand Billy etwas, und dieses Lachen gefiel ihm sofort – es war ein frohes und glückliches Lachen. »Tommy! Georgette!« rief die Frau zum Haus hinüber. »Kommt mal her und schaut, was hier ist!« Gleich darauf kamen zwei kleine Kinder heraus und schrien erstaunt auf – es hörte sich an wie bei den Kindern im Kinderparadies, fand Billy. Sie brachten ihm Wasser, und die Frau faßte schließlich Mut -228-
und löste die Deichsel von seinem Zaumzeug. Billy kaute immer noch Klee. Er wußte, es war besser, jetzt freundlich auszusehen, nicht böse und aggressiv, und ihm war auch durchaus nicht danach zumute, einen der drei mit den Hörnern zu stoßen. Als sie ihn in die Scheune führten, folgte er bereitwillig, und keiner versuchte, ihn anzubinden. Die Frau schien ihn aufzufordern, das zu tun, was er selber wollte; das war ihm neu und sehr angenehm. Sie hätte ihn sicher auch fortgehen lassen, die Straße hinunter, dachte er, wenn er gewollt hätte. Aber ihm gefiel es hier. Etwas später kam auch ein Mann und betrachtete Billy; er nahm den Hut ab und kratzte sich den Kopf, und dann lachte er ebenfalls. Als die Sonne sank, holte die Frau auch die andere Ziege vom Feld und führte sie in die Scheune, vor der Billy umherspazierte und sich alles ansah. Sie hatten hier Schweine, einen Wassertrog, Hühner und Enten hinter einem Drahtgitter. »Billy!« sagte der Mann und lachte wieder, als Billy seinen Namen erkannte und den Mann ansah. Er schüttelte Billys Zaumzeug, als bewundere er das Leder, aber er nahm es ihm ab und legte es weg, irgendwohin. Die Scheune war sauber, auf dem Boden lag Stroh. Der Mann legte Billy ein ledernes Halsband an, streichelte ihn und sprach zu ihm. Die andere Ziege – Lucy hieß sie – war dicht neben Billy angebunden, und die Frau saß vor ihr und melkte sie in einen kleinen Eimer. Billy hob den Kopf und gab ein lautes »Aaahh!« von sich. Alle lachten, und Billy sprang vorwärts und rückwärts, von den Vorderbeinen auf die Hinterbeine. Die Erinnerung an Hank, an den Geruch des Blutes, versank, ging vorüber wie ein Zornausbruch, der sich viel früher als gestern ereignet hatte, obwohl Billy wußte, er hatte niemals jemanden so oft hintereinander gerammt und gestoßen wie Hank. Als am Morgen die Frau in die Scheune kam, sah sie überrascht und erfreut aus, weil Billy noch da war. Sie sagte ein -229-
paar freundliche Worte zu ihm. Hier sollte er offenbar überhaupt nicht angebunden werden, dachte Billy, als er mit Lucy auf die Weide trabte. Höchst anständig von den Leuten.
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Aufzeichnungen eines achtbaren Kakerlaken
I
ch bin umgezogen. Bis vor kurzem wohnte ich im Hotel Duke, EckeWashington Square. Das war generationenlang der Wohnsitz meiner Familie, also mindestens zwei- oder dreihundert Generationen lang. Mir paßt es nicht mehr – das Hotel ist zu sehr heruntergekommen. Meine Ururururgroßmutter, die ich noch gekannt habe, erzählte manchmal von der guten alten Zeit, als die Gäste noch in Pferdedroschken vorfuhren und Koffer mitbrachten, die nach Leder rochen; Gäste, die im Bett frühstückten und ein paar Krumen für uns auf den Teppich fallen ließen. Nicht absichtlich natürlich – auch wir wußten schließlich, wohin wir gehörten, nämlich in die Badezimmerecken oder unten in die Küche. Heute lassen sie uns fast überall ungestört über die Teppiche laufen; die Gäste im Hotel Duke sind entweder so blau, daß sie uns nicht sehen, oder sie bringen es nicht fertig, uns zu zertreten. Oder sie lachen bloß. Das Hotel Duke hat eine abgewetzte grüne Markise, die bis zum Bordstein reicht und völlig zerlöchert ist; als Regenschutz ist sie einfach lächerlich. Vier Steinstufen führen in die schäbige Halle, wo es nach Hasch und billigem Whisky riecht und nie richtig hell wird. Aber die Gäste von heute wollen wohl auch gar nicht wissen, wer da alles wohnt. Sie rempeln sich in der Halle an und werden entweder auf diese Weise miteinander bekannt, oder es kommt zu einer Pöbelei. Links geht es in eine noch dunklere Höhle, das ist ›Lieblichs Tanzdiele‹, wo man an der Tür zwei Dollar Eintritt zahlen muß. Konservenmusik für Konservengäste. Ekelhaft. Das Hotel hat sechs Stockwerke. Ich nehme gewöhnlich den -231-
Aufzug, oder vielmehr den Lift, wie es jetzt heißt – heute muß ja alles möglichst englisch sein. Es wäre sinnlos, den schmutzigen Luftschacht oder die vielen Treppen hinaufzuklettern, wenn man es so viel einfacher haben kann: die 2cm-Schwelle zum Lift ist eine Kleinigkeit, und dann brauche ich nur noch schnell in die Ecke zu wetzen, wo der Liftboy steht. Ich erkenne jedes Stockwerk am Geruch. Im fünften zum Beispiel riecht es seit mehr als einem Jahr nach Karbol, da hat es nämlich mal eine Schießerei gegeben, daß die Fetzen flogen, und direkt vor dem Lift lagen Tote, und es floß eine Menge Blut. Der zweite Stock tut sich vornehm, da liegt ein abgetretener Teppich, und deshalb riecht es da immer so ungelüftet nach Staub und Urin. Im dritten Stock ist es Sauerkraut, wahrscheinlich hat da mal jemand ein Glas mit dem Zeug fallen lassen, auf den Fliesenboden. Und so ist es in jeder Etage. Wenn ich in die dritte will und der Aufzug hält dort nicht, dann warte ich einfach bis zur nächsten Fahrt. Irgendwann gelingt es immer. Ich war im Hotel Duke, als 1970 die US-Volkszählung gemacht wurde. Eine alberne Sache. Jeder bekam einen Fragebogen, und alle lachten. Zunächst mal wohnen im Hotel fast nur Leute, die gar keine eigene Wohnung haben; die hatten Fragen zu beantworten wie: »Anzahl der Zimmer in Ihrem Haus?« »Wie viele Badezimmer?« »Wie viele Kinder haben Sie?« »Wie alt ist Ihre Frau?« usw. Die Menschen denken immer, Kakerlaken verstünden kein Englisch oder was sonst in ihrer Umgebung gesprochen wird. Sie meinen, Kakerlaken reagierten nur auf plötzlich eingeschaltetes Licht, was »Hau ab!« bedeutet. Wenn jemand hier so lange lebt wie wir lange bevor die Mayflower kam –, dann begreift man fix. Ich habe damals vieles verstanden, was über den Fragebogen geredet wurde, den übrigens keiner der Heinis im Hotel ausgefüllt hat. Manchmal habe ich mir überlegt, wie amüsant es wäre, wenn ich so einen -232-
Bogen auszufüllen hätte. Warum auch nicht – der Erbfolge nach habe ich hier viel ältere Rechte als die Menschen im Hotel. Ich bin ein Kakerlak, wenn auch kein verwandelter Franz Kafka; das Alter meiner Frau kenne ich nicht, ich weiß auch gar nicht genau, wie viele Frauen ich habe. Letzte Woche hatte ich wohl noch sieben, aber wie viele mögen inzwischen zertreten sein? Und meine Kinder sind überhaupt nicht zu zählen. Das habe ich allerdings auch meine zweibeinigen Nachbarn schon sagen hören, aber wenn es auf die Zahl ankommt (was ihnen offenbar wichtig ist – je mehr, desto besser, nehme ich an), dann bin ich ihnen bestimmt überlegen. Erst letzte Woche sah ich, wie zwei meiner Frauen gerade im Begriff waren, sich von einem Ei zu trennen, beide im dritten Stock (Sauerkraut). Ich war selber gerade in Eile, weil ich – es ist mir beinahe peinlich etwas gerochen hatte, das ich für Kartoffelchips mit Käsearoma hielt, und die Entfernung schätzte ich auf etwa hundert Meter. Ich wollte aber nicht im gleichen Atemzug »Guten Tag« und »Lebewohl« zu meinen beiden Frauen sagen; andererseits hatte ich es ebenso eilig wie sie, das steht fest. Wo kämen wir hin, wo käme unsere Gattung hin, wenn ich mich nicht bei Kräften hielte? Im nächsten Moment sah ich, wie eine weitere meiner Frauen von einem Cowboystiefel zermalmt wurde (die Typen hier treten ja gern im Western-Look auf, auch wenn sie aus Brooklyn stammen), aber sie war wenigstens nicht gerade dabei, ein Ei zu legen, sie lief nur wie ich den Flur entlang, in entgegengesetzter Richtung. ›Lebewohl‹, dachte ich noch, aber sie hat mich sicher gar nicht gesehen. Vielleicht werde ich auch meine beiden kreißenden Frauen nie wiedersehen; aber unseren Kindern bin ich vermutlich noch begegnet, bevor ich aus dem Hotel auszog. Wenn ich die Menschen um mich herum betrachte, bin ich nur froh, daß ich ein Kakerlak bin. Meine Gesundheit ist bestimmt besser, und in kleinem Maße trage ich sogar zur Säuberung der Umwelt bei, da ich Abfall beseitige. Dazu noch ein Wort. Früher -233-
gab es Abfälle in Form von Brotkrumen, gelegentlich blieb bei einer Sektparty im Hotelzimmer auch mal ein Canapé übrig. Die Hotelgäste von heute essen nicht mehr: sie nehmen entweder Hasch, oder sie trinken. Die alte Zeit, wo man tatsächlich noch aß, kenne ich nur aus den Berichten meiner Ururururgroßmütter und -väter, und ich habe keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Sie erzählten zum Beispiel, daß man vor der Zimmertür in einen Schuh kriechen konnte; dann nahm einen um acht Uhr morgens der Kellner, der das Frühstück brachte, mit ins Zimmer, und man konnte sich an Brotkrumen satt essen. Selbst mit dem Schuhputzen ist es vorbei. Wenn heute einer seine Schuhe vor die Tür stellte, blieben sie nicht nur ungeputzt, man fände sie gar nicht wieder: sie würden gestohlen. Heutzutage bleibt einem nur die Hoffnung, daß die langhaarigen Bengel mit den Wildlederfransen und ihre spärlich bekleideten Mädchen irgendwann mal in die Badewanne steigen und ein paar Tropfen drinlassen, damit ich was zu trinken habe. Aus der Toilette zu trinken ist gefährlich, besonders in meinem Alter. Aber ich wollte ja von meinem Glückstreffer erzählen. Letzte Woche war ich schon mal drauf und dran, meine Zelte im Hotel Duke abzubrechen: vor meinen Augen wurde eine meiner jüngeren Frauen, die nicht mal in der Flurmitte entlanglief, von einem dieser Halbaffen zertrampelt; und in dem einen Zimmer lag eine Bande von Junkies auf dem Fußboden und leckte ihr Futter auf. Junge Männer und Frauen, alle splitternackt, spielten verrückt: sie taten, als ob sie keine Hände hätten, und fraßen Sandwiches wie die Hunde, alles war im Zimmer verstreut, und dann rutschten sie zwischen Salami, Mixed Pickles und Mayonnaise hin und her. Diesmal war genug zu essen da, nur war es mir zu riskant, mich zwischen die hin- und herwälzenden Körper zu begeben. Schlimmer als Füße für unsereins. Immerhin: man sah mal wieder Sandwiches, heute eine Seltenheit. Das Hotel hat kein Restaurant mehr, weil die meisten Zimmer in ›Apartments‹ umgewandelt sind, das heißt, sie haben -234-
Kühlschrank und Kochplatte. Und beinahe das einzige, was die Menschen heute an Nahrung zu sich nehmen, ist Tomatensaft aus der Dose mit Wodka, als Bloody Mary. Keiner brät sich auch nur ein Spiegelei. Das liegt zum Teil daran, daß das Hotel weder Töpfe noch Pfannen, noch auch Bestecke zur Verfügung stellt, nicht mal ein Dosenöffner liegt im Zimmer: es würde doch nur alles gestohlen werden. Und natürlich denkt keiner dieser Laffen daran, selber einen Kochtopf zu kaufen und Suppe heißzumachen. Da ist also nicht viel zu erhoffen. Auch sonst sind Betrieb und Service spottschlecht. Die meisten Fenster schließen nicht richtig, die klumpigen Matratzen taugen nichts, Stühle brechen zusammen, und um die sogenannten Sessel macht man besser einen Bogen, sonst kriegt man eine Sprungfeder in die Weichteile. Die Waschbecken sind häufig verstopft, die Klospülung geht entweder gar nicht oder ununterbrochen. Und die Diebstähle! Einige habe ich miterlebt. Das Zimmermädchen gibt jemandem den Schlüssel, der kommt rein und verläßt das Zimmer mit dem Kofferinhalt unterm Arm oder in einem Kissenbezug, der angeblich in die Wäscherei soll. Vor etwa einer Woche also war ich in einem der gerade unbesetzten Zimmer und spähte überall nach einer leeren Tomatensaftbüchse oder etwas Wasser aus, als ein schwarzer Boy hereinkam mit einem Koffer, der tatsächlich aus Leder war. Ihm folgte ein Herr, er roch nach After Shave Lotion und natürlich nach Tabak, das ist normal. Er packte seine Sachen aus, legte einige Papiere auf den Schreibtisch, drehte den Heißwasserhahn auf und murmelte etwas vor sich hin, rüttelte an der gurgelnden Spülung, probierte die Dusche, die gleich das ganze Badezimmer unter Wasser setzte, und dann rief er unten die Rezeption an. Ich verstand fast alles, was er vorbrachte. Er sagte, bei dem Tagespreis, den er zahlte, könnte er wohl erwarten, daß die Mängel beseitigt würden, und ob er ein anderes Zimmer haben könnte? Ich blieb in meiner Ecke hocken, hungrig und durstig, aber -235-
auch interessiert an dem Vorgang. Ich wußte, sobald ich mich auf dem Teppich blicken ließ, würde mich der Schuh dieses Herrn bedenkenlos zertreten. Ich käme dann ebenfalls auf die Liste seiner Beschwerden. Das hohe Fenster sprang auf (es war recht windig draußen), und seine Papiere flogen in alle Ecken. Er schloß das Fenster und mußte einen Stuhl mit der Lehne dagegenstellen, dann sammelte er die Papiere auf und fluchte. »Washington Square – man sollte es nicht für möglich halten! Henry James würde sich im Grabe umdrehen.« Die Worte habe ich behalten, weil er sich dabei mit der Hand an die Stirn schlug, als wolle er eine Mücke totschlagen. Dann erschien ein Boy in der schäbigen braunen Hotellivree, er war besoffen und machte sich an dem Fenster zu schaffen, ohne Erfolg. Der Fensterrahmen klapperte, weil der kalte Wind durchblies und alles vom Tisch fegte, sogar ein Päckchen Zigaretten mußte beschwert werden, um nicht herunterzufallen. Als der Junge darauf die Dusche ausprobierte und sofort von oben bis unten bespritzt wurde, wankte er aus dem Zimmer und sagte, er werde ›dem Ingenieur‹ Bescheid sagen. Der Ingenieur im Hotel Duke ist einfach ein Witz, aber darauf will ich jetzt nicht eingehen. Er erschien auch an diesem Tag sicher nicht mehr, vermutlich war der Junge daran schuld. Jedenfalls nahm der Herr noch einmal den Telefonhörer und sagte: »Bitte schicken Sie mir jemanden, der nüchtern ist und meine Koffer hinunterträgt… Ach, das Geld können Sie behalten, ich ziehe aus, sofort. Und rufen Sie mir ein Taxi.« Das war der Augenblick, in dem ich meinen Entschluß faßte. Während der Herr seine Sachen packte, verabschiedete ich mich im Geist von all meinen Frauen, Geschwistern, Vettern, Kindern und Kindeskindern und kroch dann hinein in den herrlichen Koffer mit dem guten Ledergeruch. Ich schlüpfte gleich in eine Deckeltasche und machte es mir in den Falten eines -236-
Plastikbeutels bequem, wo es nach Rasierseife und After Shave Lotion duftete und wo ich nicht fürchten mußte, zerdrückt zu werden, sobald der Deckel heruntergeklappt wurde. Und eine halbe Stunde später fand ich mich in diesem schönen warmen Zimmer wieder. Hier liegt ein dicker Teppich ganz ohne staubigen Mief. Morgens um halb acht frühstückt der Herr im Bett. Im Korridor finde ich eine reiche Auswahl an Überresten auf den Tabletts, die vor die Zimmertür gestellt werden, sogar etwas Rührei bleibt manchmal auf den Tellern, und immer reichlich Butter und Marmelade und Brötchenreste. Gestern allerdings wäre es mir fast an den Kragen gegangen, als ein Kellner in weißer Jacke mich dreißig Meter den Gang hinunterjagte und mit den Füßen nach mir trat, aber jedesmal daneben, zum Glück. Ach ja, ich bin noch immer ganz behende, und die lange Zeit im Hotel Duke hat mir auch einiges beigebracht. Die Küche habe ich hier ebenfalls schon inspiziert, natürlich rauf und runter per Lift. In der Küche wäre allerhand zu holen, nur wird sie leider regelmäßig desinfiziert, jede Woche. Ich traf dort bereits vier Gefährtinnen, die durchaus für mich in Frage kämen, obgleich sie alle etwas kränklich aussahen, das liegt an den Dämpfen. Trotzdem will keine die Küche verlassen. Ich bleibe oben, das steht fest. Keine Konkurrenz, jede Menge Frühstückstabletts und manchmal noch ein Imbiß um Mitternacht. Mag sein, daß ich ein eingefleischter Junggeselle bin, aber wenn mir die Richtige über den Weg läuft, stehe ich immer noch meinen Mann. Und moralisch nehme ich es mit den Zweibeinern im Hotel Duke jederzeit auf; die fraßen ein Zeug, das ich nicht anrühren würde. Und alles bloß, weil sie gewettet hatten. Wetten! Das ganze Leben ist doch nichts als ein Glücksspiel. Wozu dann noch wetten?
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