Jetzt ist mein Herz verloren Emma Darcy Julia 1092 15/ 1 1994
gescannt von Geisha0816 korrigiert von Joe
1. KAPITEL D...
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Jetzt ist mein Herz verloren Emma Darcy Julia 1092 15/ 1 1994
gescannt von Geisha0816 korrigiert von Joe
1. KAPITEL Das war also Davenport Hall ... Hier hatte alles angefangen. Rebel drosselte die Geschwindigkeit ihres gemieteten Motorrollers und blieb mitten auf der Einfahrt stehen. Sie blickte die lange Allee entlang auf das wuchtige Gebäude. Es machte einen beeindruckend massiven und unzerstörbaren Eindruck und sah aus, als könnte weder der Einfluss des Menschen noch der Zahn der Zeit ihm etwas anhaben. Als der erste Engländer im Jahr 1770 australischen Boden betreten hatte, war Davenport Hall schon über zweihundert Jahre altgewesen. Dieser Gedanke war Rebel unheimlich. Wie viele Menschen hatten hier im Lauf der Jahrhunderte gelebt? So gesehen, war der kurze Aufenthalt ihrer Mutter in Davenport kaum der Rede wert. Knapp sechs Monate. Würde sich irgend jemand an sie erinnern, an ein fünfjähriges Mädchen unter vierzig Waisenkindern, die vor der Bombardierung Londons geflüchtet waren und später nach Australien gebracht wurden, um vor den Bomben, den V2- Raketen und dem Krieg sicher zu sein? Höchst unwahrscheinlich, dachte Rebel, dass sich jemand vierzig Jahre später an so ein flüchtiges Ereignis erinnert und schon gar an ein einzelnes Kind aus dieser Gruppe. Da sie Davenport Hall nun einmal mehr oder weniger zufällig
gefunden hatte, war es jedoch einen Versuch wert, nachzuforschen. Im Dorf Compton Prior hatte man ihr erzählt, dass sich Davenport Hall schon seit unzähligen Generationen im Besitz der gleichen Familie befand und dieser Landsitz schon viele Grafen von Stanthorpe beherbergt hatte. Diese Information hatte Rebel hoffen lassen, dass sich jemand zumindest an die Kinder, wenn schon nicht an Valerie Griffith, entsinnen könnte. Vielleicht stand sogar etwas in den Annalen des Gutshauses. Bei so vielen Kindern musste doch jemand eine Namensliste aufgenommen haben. Die Zimmer zu sehen, in denen die Waisen untergebracht waren, war aber doch wohl das wenigste, was sie erwarten konnte. Falls sich überhaupt noch jemand erinnerte. Seit Rebel denken konnte, schien Davenport Hall ein Phantasiegebilde zu sein, eine Lieblingsgutenachtgeschichte aus ihrer frühen Kindheit, die wahrscheinlich eher in ihren Träumen als tatsächlich existierte. Angesichts des eindrucksvollen, gepflegten Gutes hatte sie nun plötzlich das große Verlangen, alles darüber zu erfahren, was ihre Mutter hier und auch später erlebt hatte. Sie erinnerte sich kaum an sie, hatte nur verschwommene Bilder davon, dass sie von ihr geliebt und liebkost wurde. Sonst nichts. Nach einer schrecklichen, kurzen Zeit, in der sie kein Zuhause gehabt hatte, war Rebels Leben so von der Familie James - ihren Adoptiveltern und Geschwistern - ausgefüllt, dass die Vergangenheit irgendwie an Bedeutung verloren hatte. Rebel war nur aus reiner Neugierde nach Davenport Hall gekommen, aber nun wurde sie von der Vergangenheit eingeholt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schaltete Rebel den Motor ihres Rollers aus. Mit ein wenig Glück könnte sie etwas
über ihre Mutter erfahren. Sie wusste so wenig, dass jede noch so kleine Information sehr wertvoll für sie wäre. Rebel stieg ab und schob das kleine Gefährt von der Einfahrt. Sie lehnte es gegen eine hohe Mauer, die das Gut umgab, nahm den Sturzhelm ab und hängte ihn an den Lenker. Erst als sie sich mit den Fingern durch die ungebändigten langen braunen Locken fuhr, bekam sie plötzlich Zweifel bezüglich ihres Vorhabens. Vielleicht sollte sie erst einmal anrufen, um sich anzukündigen. Ursprünglich hatte sie nur kurz vorbeifahren wollen, um sich umzusehen. Jetzt, da sie hier war, erschien ihr die Vorstellung unsinnig, noch einmal herzukommen, auch wenn sie in ihrer Kleidung nicht besonders respektabel aussah. Ihre ziemlich teure schwarze Lederkluft war genau richtig zum Rollerfahren, aber die hautenge Hose und die Fliegerjacke würden ihr bestimmt nicht die Tore von Davenport Hall öffnen. Die Vorstellung aber, die Nachforschungen über ihre Mutter auf einen anderen Tag zu verschieben, missfiel Rebel. Es würde sie Zeit, Energie und Geld kosten. Sie würde ja sowieso nur mit der Dienerschaft sprechen und wusste, wie man etwas verkaufte. Sie hatte Sponsoren für Vorhaben gewonnen, die viel aufwendiger und aufreibender gewesen waren als das Vortragen einer einfachen Bitte um ein bisschen Verständnis und Mitgefühl. Es war wirklich einen Versuch wert. Und falls sie keinen Erfolg hatte, würde sie etwas anderes unternehmen. Außerdem sah sie nicht aus wie ein Punk. Die ungebändigten Locken waren ein Geschenk der Natur, die Modefriseure heutzutage nachzuahmen versuchten, und Rebel wusste, dass man im allgemeinen ihr Gesicht attraktiv fand. Es war nichtaußergewöhnlich, aber trotzdem besonders. Keiner ihrer Gesichtszüge war irgendwie auffällig. Die Augenbrauen waren schön geschwungen, die Stupsnase fein geschnitten, die Lippen schienen immer bereit zu lächeln und
den Blick auf eine schöne, gerade Zahnreihe freigeben zu wollen. Aber Rebels Augen! Auf den ersten Blick hatte sie einfach strahlende haselnussbraune, von dichten, geschwungenen Wimpern umrahmte Augen, die Rebel nie schminkte, um nicht von ihrer natürlichen Schönheit abzulenken. Sie benutzte eigentlich nur Lippenstift, zumal sie von ihrer Mutter den zarten englischen Teint geerbt hatte, dem nicht einmal die australische Sonne, unter der sie die vierundzwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, etwas anhaben konnte. Das einzige, was Rebel an ihrem Gesicht auszusetzen hatte, war das ungewöhnlich markante Kinn. Sie wünschte es sich weicher, runder. Sie behalf sich, indem sie das Haar lang trug, um ihre Weiblichkeit zu betonen. Es störte sie aber mittlerweile nicht mehr besonders. Mit den Jahren schien das Kantige, das sie als Jugendliche so unerträglich gefunden hatte, verschwunden zu sein, oder vielleicht war sie inzwischen reifer und hatte gelernt, sich so zu akzeptieren, wie sie war. Nachdem sie sich mit den Fingern durchs Haar gefahren war, öffnete sie den Reißverschluss der Fliegerjacke, unter der sie einen feinen kirschroten Pullover trug, der ihren Teint unterstrich. Mit einem Tuch wischte sie den Staub von den schwarzen Lederstiefeln, schlenderte anschließend den langen Kiesweg hinunter, wobei sie sich dagegen sträubte, sich gehemmt oder eingeschüchtert zu fühlen, indem sie leise vor sich hin murmelte: "Wer nichts wagt, der nichts gewinnt." Selbst, wenn man ihr den Eintritt verwehrte, könnte sie möglicherweise das Gelände durchstreifen und sich vorstellen, wo ihre Mutter gespielt haben mochte. Rebel fragte sich, ob diese während der kurzen Zeit, die sie hier verbracht hatte, glücklich gewesen war. Im Vorbeigehen blickte Rebel auf die großen Bäume, die sie umgaben und deren breite Stämme den Eindruck vermittelten, dass sie im so alt wären wie das Gutshaus. Mom ist bestimmt oft
durch diese Allee gegangen, dachte Rebel, vielleicht an so einem Nachmittag wie heute, an dem das Sonnenlicht das zarte Blattwerk sprenkelt. Die Blätter in all den verschiedenen hellen Grüntönen waren so hübsch anzusehen und unterschieden sich sehr von den australischen. In England war alles anders. Zum erstenmal begann Rebel nachzuempfinden, wie verloren und entwurzelt sich ihre Mutter gefühlt haben mochte, als diese in Australien ankam und in einem fremden Land in die Obhut von fremden Menschen gegeben wurde. Rebel fühlte sich plötzlich beklommen und seufzte. Sie wusste, wie es war, wenn man Fremden zur Pflege gegeben wurde - sie kannte die Angst, die Unsicherheit. Rebel zuckte die Schultern, aber als sie unter den alten Bäumen entlangging, gelang es ihr nicht, das Gefühl der Zeitlosigkeit und den quälenden Eindruck abzuschütteln, dass ihre Mutter erst gestern hier gewesen sein mochte. Am Ende der Allee führte der Weg im Kreis um einen großen steinernen Brunnen, der einen Durchmesser von mehr als sechs Metern haben musste. Das Wasser, das in endlosem Fall herunterplätscherte, wirkte besänftigend und wohltuend. Rebel blieb stehen, der Blick auf das alte Gutshaus war nun von den Bäumen freigegeben worden. Es hatte drei Stockwerke, deren Mauern fast überall von Efeu umrankt waren. Die langen Reihen von Kreuzfenstern ließen riesige Innenräume vermuten, die sich für ein so großes Gebäude diesen Alters ziemten. Es konnte leicht vierzig Waisenkinder beherbergen. Ein einziges Zimmer reichte sicherlich schon als Schlafraum. Ein kleiner Schauer überlief Rebel, als sie zur obersten Fensterreihe hinaufblickte. Trotz der Nachmittagssonne war die Luft kühl. Das ist also der englische Sommer, dachte Rebel ziemlich ironisch, als sie sich dazu zwang weiterzugehen, und
den Brunnen herum und auf den gewölbten Säulengang zu, der das Portal umrahmte. Die verschlossenen Türen wirkten bedrohlich, aber Rebel sagte sich schnell, dahinter wohnen Menschen wie du und ich, nicht besser und nicht schlechter, und schließlich muss ich ja nur ein nettes Gespräch mit ihnen führen. Um dies zu erreichen, kam es auf die ersten Augenblicke der Begegnung an. Rebel zwang sich, sich an die Grundregeln ihrer Ausbildung zu erinnern. Bleib ein paar Schritte zurück. Lass genug Abstand, so dass man dich mustern kann und sich nicht bedrängt fühlt. Lächle. Stell dich auf eine nette, freundliche Art vor. Gewinne die Menschen für dich ... Sekundenlang betrachtete sie den eisernen Türklopfer und bezweifelte, dass er von irgend jemand in diesem riesigen Haus gehört werden würde. Doch dann fand sie schließlich links neben den Türen einen modernen Klingelknopf. Ein oder zwei Minuten nach dem Läuten setzte Rebel ein reizendes Lächeln auf, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde und eine Frau mittleren Alters erschien, die sehr ordentlich in Schwarz gekleidet war. Ihr graumeliertes dauergewelltes Haar war kurz geschnitten, und ihre Miene wirkte angespannt. Rebel ordnete sie im stillen als Haushälterin ein und legte augenblicklich einen überzeugend vertraulichen Unterton in ihre Stimme. "Guten Tag. Ich heiße Rebel Griffith James, und ich. . ." "Gott sei Dank, sind Sie endlich da!" Man sah der Frau die Erleichterung förmlich an. "Wir dachten schon, Sie hätten es sich anders überlegt. Was hätten wir dann nur gemacht . . ." Sie blicke mit ihren blassblauen Augen zum Himmel. Diese außergewöhnliche Begrüßung verblüffte Rebel einen Moment lang. "Sie wissen, wer ich bin?" fragte sie ungläubig. "Aber sicher! Das australische Mädchen", antwortete die Frau so bestimmt, dass kein Zweifel aufkommen konnte. Sie machte
die Tür weiter auf und bat Rebel herein. "Lord Davenport erwartet Sie im Salon. Ich bringe Sie sofort zu ihm." Ihr stand nichts mehr im Weg. Obwohl Rebel stark vermutete, dass es sich um eine Verwechslung handelte, beschloss sie, dass es nicht an der Zeit war, alles klarzustellen. Auf eine solche Gelegenheit hatte sie nur gewartet, und diese wollte sie sich nicht entgehen lassen. Außerdem war es besser, mit dem Herrn des Hauses zu sprechen, zumal er ja entscheiden würde, was sie tun könnte. Rebels kurzes Zögern hatte der Haushälterin genügend Zeit gegeben, sie zu mustern, und schon blickte sie fragend auf die Lederkleidung, plötzlich unsicher, ob es richtig war, die Fremde so schnell hereinzulassen. Rebel ärgerte sich insgeheim über ihren unpassenden Aufzug. "Danke schön", sagte sie und zwang ihr Gegenüber, ihr in die Augen zu blicken. "Das ist sehr nett von Ihnen. Sehr tüchtig, Mrs ... ?" Bei einem erfolgreichen Verkaufsgespräch musste man sich als erstes nach dem Namen erkundigen und sich diesen auch merken. Diese kleine Aufmerksamkeit kam immer sehr gut an, und Rebel war es bereits in Fleisch und Blut übergegangen, jeden, den sie traf, so schnell wie möglich für sich zu gewinnen. Höflichkeit erforderte nur ein bisschen Aufmerksamkeit und verfehlte nie die Wirkung. Die Frau sah sie erstaunt an, aber ihr zweifelnder Gesichtsausdruck wich sofort einem leichten Lächeln. "Mrs. Tomkins. Ich glaube, wir werden uns noch näher kennen lernen, wenn Sie nur lange genug bleiben. Falls Sie sich dazu durchringen können. Keiner hat es bisher geschafft, aber es heißt ja", sie blickte auf die schwarze Lederkluft, "dass Australier zäher sind als alle anderen. Unwirtliche Länder machen die Menschen widerstandsfähig. Das habe ich im Fernsehen gehört. Wir sind doch alle verschieden, stimmt 's?"
Rebel konnte sich keinen Reim auf diesen Redefluss machen, aber es schien ihr, als wäre eine Bestätigung angebracht. "Ich versichere Ihnen, dass ich bestimmt eine Stunde lang bleibe, Mrs. Tomkins." Zuversichtlich, weil sie so freundlich, wenn nicht sogar mit ungeduldiger Erwartung, begrüßt worden war, betrat Rebel das Haus. Sie befand sich in einer Galerie, die so breit war wie ein ganzes Zimmer. Die Wände waren mit Eiche vertäfelt und endeten in einem sehr hohen Deckengewölbe. Die Haushälterin schien über Rebels Bemerkung nachzudenken, bevor sie die Tür schloss. Als sie sich Rebel zuwandte, betrachtete sie die junge Frau mit ihren blassblauen Augen, schien noch etwas sagen zu wollen, unterließ es dann aber. Rebel fragte sich, ob jemand aus dem Dorf im Gutsha us berichtet hatte, dass eine Australierin Nachforschungen anstellte. Es war unwahrscheinlich, dass man hier einer Fremden so leicht Einlass gewährte. Welche andere Australierin aber hatte man dann erwartet? Ob sich wohl noch jemand nach den Kriegswaisen erkundigte? Mrs. Tomkins ging den weichen roten Läufer entlang, der auf dem schwarz-weißen Fliesenboden lag. Während Rebel der Haushälterin folgte, hörte sie auf zu grübeln und ließ den Blick über die Gemälde streifen, an denen sie vorüberkamen. Es waren alles Porträts. Sie fragte sich, ob sie die Ahnen der Davenportfamilie darstellten. Dann überlegte sie, wie es wäre, von einem alten Grafengeschlecht abzustammen, dessen Stammbaum über Jahrhunderte aufgezeichnet war. Weiß der derzeitige Graf wohl seine Abstammung zu würdigen, oder ist sie ihm gleichgültig, weil sie für ihn selbstverständlich ist? Kann er überhaupt nachvollziehen, wie ich mich fühle, weil ich keine Ahnung habe, wo meine Wurzeln sind? Die Haushälterin wandte sich plötzlich nach rechts, klopfte an eine Tür und öffnete diese, ohne auf eine Antwort zu warten. "Das australische Mädchen ist da, Mylord. Eine Miss James", gab sie kund.
"Endlich! Wunderbar! Jetzt geht es uns bestimmt bald besser. Führen Sie sie herein, Mrs. Tomkins." Die Stimme mit dem gepflegten Akzent der Oberschicht und dem ungeduldigen Unterton wirkte auf Rebel nicht gerade ermutigend. Trotzdem gab es jetzt kein Zurück. Sie richtete sich unwillkürlich kerzengerade auf, um der Aufgabe, einen bärbeißigen alten englischen Lord für ihre Sache zu gewinnen, gewachsen zu sein. Die Hausdame brachte sie in ein Zimmer, das eine solche Harmonie ausstrahlte, dass Rebel den Lord zunächst gar nicht bemerkte. Der Raum war mit drei voneinander getrennten Sitzgruppen eingerichtet. Eine davon stand direkt vor dem größten offenen Kamin, den Rebel jemals gesehen hatte, eine andere vor einer Reihe von sechs Fenstern in einer Ecke des Zimmers. Schließlich wurde ihre Aufmerksamkeit durch das Rascheln einer Zeitung auf die entgegengesetzte Seite gelenkt, als ihr Gastgeber aufstand. Sekundenlang standen beide völlig unbeweglich da und schauten sich erstaunt an. Rebel hatte nie daran gedacht, dass ein englischer Graf viel jünger als fünfzig sein könnte, dieser Mann aber schien nicht viel älter als dreißig zu sein. Er war nicht nur viel jünger, als Rebel gedacht hatte, sondern sah auch noch viel besser aus, als die Familienporträts erwarten ließen. Das Wort kultiviert kam Rebel in den Sinn. Er war groß und gut gebaut und trug den klassischen anthrazitfarbenen Anzug mit einer derartig selbstverständlichen Würde, dass Rebel sich fragte, ob die maßgearbeitete Kleidung die Wirkung des Mannes oder ob der Mann die Wirkung des Anzugs unterstrich. Er hatte dichtes, glattes schwarzes Haar, modisch geschnitten, das das strenge, intelligente und edle Gesicht umrahmte. Die breite Stirn wurde durch das kantige Kinn ausgeglichen. Schwarze Augenbrauen betonten die dunklen, tiefliegenden Augen, die dadurch noch viel faszinierender erschienen. Die edel geformte Nase verriet etwas
von dem Stolz und der ungebändigten Stärke alten Adels. Der Mund war makellos geformt, obwohl die Lippen unterschiedlich ausgeprägt waren. Die vollere Unterlippe ließ Sinnlichkeit und Leidenschaft ahnen. "Verzeihen Sie, dass ich Sie so anstarre", sagte er, als er auf sie ihn zuging. Seine Stimme war tief, sanft und wohlklingend. Ein Mann, der seine Stimme dazu benutzen konnte, alles zu bekommen, was er wollte. "Ich gebe zu, dass Sie nicht ganz meinen Erwartungen entsprechen, Miss James." Rebel, die völlig benommen war, riss sich zusammen. Was hatte er denn erwartet? Sie hatte keine Ahnung. "Sie müssen mir helfen" sagte sie instinktiv, als würde sie etwas auswendig aufsagen. Das verschaffte einem immer eine gute Ausgangsposition. Mensch halfen gern. Er machte eine vage Handbewegung. "Sofern es mir möglich ist." Die Antwort gefiel Rebel. Vielleicht würde er sie, Rebel, so selbst durch Davenport Hall führen. Sie war von ihm so beeindruckt, dass sie ihr eigentliches Vorhaben, alles über ihre Mutter erfahren, fast vergaß. "Das ist sehr großzügig", sagte sie und lächelte ihn freundlich an. Dichte, lange Wimpern verschleierten seine Augen, als er auf ihren Mund blickte. Rebel fühlte ein sonderbares, kleines Flattern der Magengegend. Ihr Lächeln verschwand jedoch, denn ihr gesamter Körper reagierte auf die Ausstrahlung dieses Mannes. "Großzügig..." Er sprach das Wort spöttisch aus und ließ den Blick auf ihr ruhen. Sein Hohn wirkte auf sie aufreizend herausfordernd. "Nur Mittel zum Zweck, Miss James, und ich hoffe, das wir zu einem zufriedenstellenden Ergebnis kommen." "Das hoffe ich auch", sagte Rebel leise. Sie wusste nicht, wozu sie ihre Zustimmung gab, und spürte, dass sie sich mit diesem Mal auf unsicheres Gelände begab. Ihr Verstand warnte
sie. Doch das Unbekannte übte eine viel stärkere Anziehungskraft auf sie aus. Er deutete auf die Sitzgruppe am Kamin. "Setzen wir uns. Sie können mir dann ihre Bedingungen nennen. Sie haben bestimmt darüber nachgedacht." "Ja, sicherlich. Danke schön." Ein Gefühl der Freude erfasste Rebel. Sie konnte kaum glauben, dass er so entgegenkommend war. Dennoch wunderte sie sich bisschen. Sie hatte zwar im Dorf die Kriegswaisen erwähnt, verstand aber nicht ganz, warum Mrs. Tomkins und Lord Davenport über ihren Besuch so erleichtert waren. Gewiss gab es eine Erklärung dafür. Nicht dass es jetzt darauf ankommen würde. Sie war da, wo sie wollte. Und was nun geschah, war viel wichtiger. Rebel setzte sich auf eines der mit grünem Samt bezogenen Sofa und wartete gespannt, während ihr Gastgeber sich um das Feuer, im Kamin kümmerte. Sie fragte sich, wozu man im Sommer eins brauchte, bemerkte aber, dass die aristokratische Würde, mit der dieser Mann es machte, seine Ausstrahlung nur noch verstärkte. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sie verrückt war, sich so von ihm angezogen zu fühlen. Er gehörte dem englischen Adel an und war damit unerreichbar. Adelige ließen sich nur mit ihresgleichen ein. Sie wünschte sich plötzlich, dass es nicht so wäre, wünschte sich, diesen Mann an einem anderen Ort, unter anderen Umständen kennen gelernt zu haben ... am Strand von Bondi, auf einer Farm in Dubbo oder bei einem Fest. Er hängte den Schürhaken an den Ständer und drehte sich zu ihr um. Sein finsterer Blick streifte ihre in Leder gehüllten Beine, ruhte kurz auf der Wölbung ihrer vollen Brüste und schnellte dann zu ihren Augen hoch. Rebel stellte mit Herzklopfen fest, dass er sie genauso anziehend fand wie sie ihn. Ein Anflug von Selbstironie zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab, verschwand aber sogleich wieder.
"Das Kind ist unmöglich", sagte er, als wäre dies eine unbestreitbare Tatsache, über die er sich zutiefst ärgerte. Rebel runzelte die Stirn. Wenn er gehört hatte, dass sie sich nach Kriegswaisen erkundigt hatte, würde er jetzt bestimmt von Kindern sprechen und nicht von einem einzigen Kind. Die starke Anziehungskraft, die von diesem Mann ausging, verwirrte sie. Dennoch wurde ihr plötzlich bewusst, dass er sich einer Fremden gegenüber viel zu vertraulich gab. Irgend etwas geht hier vor sich, etwas, in das ich versehentlich hineingeraten bin, dachte sie. Dennoch schien Lord Davenport in mehr als einer Hinsicht Hilfe zu brauchen. Wenn sie ihm behilflich war, würde er vielleicht leichter über das vorliegende Missverständnis hinwegsehen. "Kein Kind ist unmöglich", bemerkte Rebel entschieden. "Einige geraten auf den falschen Weg. Sie können wieder auf den richtigen gelangen." "Wenn Sie auf solchen Verallgemeinerungen bestehen - wie nett sie auch gemeint sein mögen -, werden Sie sie bald bereuen, Miss James", unterbrach er sie unwirsch. "Über welche Erfahrung verfügen Sie?" Rebel musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um ihren Zorn angesichts dieser herablassenden Arroganz zu zügeln. Es fiel ihr schwer, dies hinzunehmen. Dennoch bemühte sie sich, ihre persönlichen Erfahrungswerte darzulegen, in der Hoffnung, he rauszufinden, was ihn bedrückte. "Eine lebenslange Erfahrung", antwortete sie ruhig und überzeugt. "Ich bin zwar noch ziemlich jung, kann Ihnen, aber nur sagen, was ich weiß." Sie dachte an all die Kinder, die durch die grausame Härte des Lebens ein Trauma erlitten hatten und die von den James adoptiert worden waren. Sie erinnerte sich daran, wie sie alle allmählich auf die Liebe und die Fürsorge angesprochen hatten, die ihnen in dieser Familie geschenkt worden waren.
"Es gibt kein unmögliches Kind", wiederholte sie, und der Ausdruck in ihren Augen unterstrich, dass sie davon überzeugt war. "Einige sind auf den falschen Weg geraten, haben Schwierigkeiten. Die meisten können gerettet werden. Mit Liebe und Fürsorge. Man muss ihnen zeigen, wie sie ein erfülltes Leben führen können. Sie müssen angespornt, geliebt und angenommen werden." Seine schwarzen Augen funkelten sie an. "Sie verschlagen mir beinah die Sprache, Miss James. Was für ein Unsinn! " verspottete er sie leise. "Und ich dachte immer, Australier wären wirklichkeitsnah und würden nicht an einen solchen Blödsinn glauben." O nein! dachte Rebel bestürzt. Das war ein falscher Schachzug gewesen. Sie hatte sich zweifellos auf ein delikates Gebiet begeben, und der Graf von Stanthorpe war alles andere als empfänglich für ihre Argumente. Sie sollte schnell klein beigeben und nach ihrer Mutter fragen, bevor es zu spät war. Sie wollte gerade etwas sagen, als er sein Verhalten änderte, ihr ein entschuldigendes kleines Lächeln zuwarf und sich über sich selbst lustig machte. "Verzeihen Sie, Miss James", sagte er freundlich. "Es liegt mir eigentlich fern, einen so bewundernswerten Idealismus in Frage zu stellen. Ich bin wirklich dankbar, dass es so etwas noch gibt." Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu. "Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie bereit sind, sich um das Kind zu kümmern, ohne es jemals gesehen zu haben? Ohne zu wissen, wozu es fähig ist?" Rebel atmete tief durch. "Lord Davenport", jetzt musste sie sehr feinfühlig und taktvoll sein, "ich glaube, wir beide haben ein kleines Problem. Ich dachte, es wäre sinnvoll, meinen Standpunkt zu vertreten, aber eigentlich bin ich aus einem anderen Grund hier." "Natürlich", sagte er mit grimmiger Genugtuung. "Es ist wirklich besser, wenn Sie ehrlich sind. Ich weiß es zu schätzen,
dass Sie mich beeindrucken wollten, aber seien Sie lieber aufrichtig. Es ist angebrachter, vom wirklichen Leben zu sprechen als über realitätsferne Grundsätze." Rebel verschlug es nicht oft die Sprache. Sie war es nicht gewohnt, dass ihre moralische Glaubwürdigkeit angezweifelt wurde. Das musste sie erst einmal verdauen. Sie sagte sich, dass es gute Gründe für seine Verbitterung geben müsse, und das hatte wirklich nichts mit ihr zu tun. Das Gespräch wurde immer verfänglicher. Ich sollte mir gut überlegen, was ich jetzt sage, dachte sie, kam aber gar nicht dazu, sich eine Antwort zurechtzulegen. Er lächelte sie spöttisch an. "Ich versichere Ihnen, dass ich mir nichts vormache, was meine Nichte betrifft. Mit Sicherheit wurden Sie von der Agent ur schon vor ihr gewarnt. Nennen Sie mir ihre Bedingungen. Welche Vergünstigungen würden Sie dazu veranlassen, die Stelle anzunehmen? Sagen Sie es nur frei heraus, Miss James. Ich werde mein möglichstes tun, um Sie zufrieden zustellen. Plötzlich ergab alles, was er bisher gesagt hatte, einen Sinn. Lord Davenport suchte ein Kindermädchen für ein schreckliches, frühreifes verdorbenes Gör. Während Rebel sich überlegte, wie sie die Lage in den Griff bekommen könnte, um ihr Anliegen vorzutragen, wurde sie von den Ereignissen überrollt. Ein kleines Mädchen stieß die Tür auf, kam herein und schlug die Tür hinter sich zu. Schnaufend lehnte sie sich dagegen und starrte den Herrn des Hauses trotzig an. Ihr Gesichtsausdruck stand in völligem Widerspruch zu ihrer engelsgleichen Erscheinung. Ihr hellblondes seidiges Haar war zu einer Pagenfrisur geschnitten. Sie trug ein hübsches blaues Kleid, das das Herz jedes kleinen Mädchens erfreut hätte. Nicht einmal ihr grimmiger, finsterer Gesichtsausdruck konnte die Vollkommenheit ihrer zarten Gesichtszüge beeinträchtigen. Die großen blauen Augen wirkten nur noch lebhafter.
" Celeste " ermahnte Lord Davenport sie ärgerlich. "Wie oft habe Ich dir schon gesagt..." "Ich bekomme kein neues Kindermädchen!" fuhr sie ihn an, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme feindselig und siegessicher. "Ich sage dir, ich werde kein neues Kindermädchen kriegen! Ich habe das neue gerade eben mausetot gemacht! Ich kann also gar kein neues kriegen!"
2. KAPITEL Rebel sah das Mädchen entsetzt an. Dass so ein so junges Wesen - wie alt mochte sie wohl sein, sechs oder sieben? bewusst so bösartig sein konnte! Oder handelte es sich um eine jähzornige und trotzige Reaktion auf die Vergehen, die an ihr begangen worden waren? Rebel richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, dessen Autorität auf so heftige Weise missachtet wurde. Er wirkte keineswegs erschrocken oder gar beunruhigt über die Worte seiner Nichte. Seine Miene drückte nur tiefe Verachtung aus. Er zog die bedrückende Stille noch etwas in die Länge, bevor er in einem Ton sprach, der Rebel erschauern ließ. "Lüg nicht, Celeste. Wenn wir dir das glauben sollen, musst du uns erst die mausetote Leiche zeigen. Zumal Miss James ganz lebendig vor uns sitzt, wissen wir doch alle, dass du lügst." Lügt sie wirklich, fragte sich Rebel, während sie bemerkte, dass das kleine Mädchen nicht mehr trotzig, sondern nur noch verwirrt wirkte. Wo war das Kindermädchen, das man erwartet hatte? Es musste sich verspätet haben, sonst wäre Rebel nicht mit einer solchen Erleichterung begrüßt worden. Plötzlich richtete das kleine Mädchen ihre ganze Enttäuschung gegen Rebel und fauchte sie an. "Ich hasse Freundinnen! Dich werde ich auch noch los! " schrie sie wütend und feindselig. Bevor Rebel und Lord Davenport auch nur einen Finger regen konnten, fuhr Celeste hoch und trampelte Rebel auf den
Fuß. Ohne dass sie bewusst darüber nachdachte, zeigten die Jahre ihre Wirkung, in denen Rebel die Lebensweisheiten ihrer Adoptiveltern in sich aufgenommen hatte. Instinktiv packte sie das Kind an den Armen, setzte es zurück, sprang vom Sofa auf und stellte sich mit ihrem Stiefel auf Celestes Füße. "Um eine Kämpferin zu sein, musst du noch ganz schön viel lernen, Kleine", fuhr Rebel das Mädchen an, das immer noch über die augenblickliche Vergeltung erschrocken war. "Fang niemals einen Streit an, den du nicht gewinnen kannst. Mich kannst du nicht besiegen, also lass es gar nicht erst darauf ankommen." Respekt einflössen. Dann Interesse erwecken. Erst dann konnte richtige Zuneigung entstehen. Rebel erinnerte sich daran, wie jedes neue Mitglied der James-Familie sich allmählich davon hatte überzeugen lassen, dass es akzeptiert und geliebt wurde. Sie spürte das Adrenalin in ihren Adern. Mit diesem Kind würde sie schon fertig werden. Sie musste nur herausfinden, was in ihm vorging, und Rebel entsann sich gut daran, wie sie sich selbst damals gefühlt hatte. Rebel beobachtete die verschiedenen Gefühlsregungen Celestes, bis das kleine Mädchen wütend seinen letzten Trumpf ausspielte. "Ich hasse dich!" Die Stimme des Kindes bebte vor Verzweiflung. "Wie du meinst", antwortete Rebel gelassen, "aber dieser ganze Hass verletzt dich mehr als mich. Wenn du dein ganzes Leben ein einsamer Verlierer sein willst, dann mach nur weiter so. Wärst du ein cleveres Kind, würdest du erst einmal abwarten und herausfinden, was gut für dich ist, bevor du wie wild um dich schlägst. Willst du lieber dumm oder clever sein?" "Ich bin clever! " erwiderte Celeste zornig. "Ich bin viel cleverer als jedes alte Kindermädchen." "Prima. Zufällig bin ich aber kein Kindermädchen. Also halt dich zurück, und tritt mir nicht wieder auf die Zehen, Kleine.
Wenn es darum geht, wer dem anderen besser auf die Füße treten kann, schlage ich dich bei weitem." Rebel gab Celestes Fuß frei und ließ die Arme des Kindes los. Celeste brachte sich schnell in sichere Entfernung und blickte ihren Onkel hilfesuchend an. Es war fraglich, ob er seiner Nichte helfen würde, aber auch offensichtlich, dass er vom schnellen und unerwarteten Verlauf der Dinge zu verblüfft war, um auch nur eine Augenbraue heben zu können. "Ich habe keine Angst vor dir", fuhr Celeste Rebel an, wobei sie erneut eine rebellische und misstrauische Haltung annahm. Rebel lehnte sich zurück und lächelte sie sanft und bestätigend an. "Da geht es mir genauso, Kleine. Ich habe auch keine Angst vor dir." "Nenn mich nicht immer Kleine! " In ihren blauen Augen konnte man den Stolz des Adels aufblitzen sehen. "Ich bin Lady Celeste Davenport!" "Du bist keine Lady", sagte Rebel spöttisch. "Du bist ein Kind. Ein Straßenkind, um genau zu sein. Denn nur Straßenkinder überfallen Kindermädchen und machen sie mausetot." Celeste versuchte Rebel einzuschätzen. Sie entschied sich schnell. "Ich habe sie nicht überfallen", sagte sie gereizt. "Ich habe sie auch nicht umgebracht. Ich hätte es tun können, wenn ich es nur gewollt hätte, ich habe sie nur im Turm eingesperrt. Ich bin also kein Straßenkind." Erleichtert seufzte Rebel und drehte sich um zu Lord Davenport, der vor dem Kamin stand. Er blickte sie fragend an. Rebel zuckte die Schultern. "Eins nach dem anderen, Mylord. Sie müssen erst noch ein Kindermädchen aus dem Turm befreien", stellte sie gelassen fest. "Lassen Sie ihre Nichte ruhig bei mir. Wenn sie mich nicht schlägt, schlage ich sie auch nicht." Sie wandte sich an das Mädchen. "Schließen wir ein Abkommen, Kleine?" "Nenn mich nicht Kleine!"
"Dann setz dich hin- und benimm dich wie eine Lady. Falls du es überhaupt kannst." Verächtlich betrachtete Celeste Rebels Lederkleidung. "Du bist auch keine Lady!" "Ich habe auch nie vorgegeben, eine zu sein. Mein Benehmen ist einer Lady aber viel eher ebenbürtig als deines. Außerdem wirst du nie wissen, wer du bist oder wer ich bin, wenn du dich nicht hinsetzt und anfängst, dich so clever zu benehmen, wie du es zu sein glaubst." "Von dir kann ich sowieso nichts lernen." "Doch, das kannst du. Ich kann dir immerhin beibringen, wie man ein guter Kämpfer wird, denn solange du nicht gut kämpfen kannst, wirst du die ganze Zeit Prügel beziehen." Rebel sah, dass es ihr gelungen war, Celestes Interesse zu wecken. Sie hatte es geschafft, zu ihrem wahren Kern durchzudringen. Wie oft war es schon so schwer gewesen ... fünf-, sechs-, siebenmal? Celeste war schon eine harte Nuss, aber sie hatte angebissen und versuchte nicht, sich der Annäherung zu entziehen. "Ich werde mich jetzt dort hinsetzen, und zwar nur, weil ich es will", erklärte Celeste. "Gut, Kleine. Tu das, was du willst", erwiderte Rebel gleichgültig. Die Augen hasserfüllt, ließ sich Celeste aufs Sofa fallen das auf der gegenüberliegenden Seite stand, ihre Miene wirkte jedoch streitlustig und bestimmt, als wollte sie beweisen, dass sie gerissener war als ihre Gegnerin. Fragend blickte Rebel Lord Davenport an, der immer noch unbewegt dastand. "Was ist denn jetzt mit dem Kindermädchen?" "Miss James", sagte er scharf, machte jedoch seiner Empörung über die Untergrabung seiner Autorität nicht Luft. "Wenn ich zurückkomme, habe ich Ihnen noch einiges mitzuteilen. Und auch dir, Celeste", fügte er mit einem Blick hinzu, der seinen Widerwillen ausdrückte. Und nachdem er den
Raum verlassen und die schwere Eichentür fest ins Schloss hatte fallen lassen, schien sein Zorn im Zimmer zu verbleiben. Rebel rechnete damit, dass Lord Davenport sie wohl einer Art spanischer Inquisition unterziehen würde, wenn er erst einmal seine Nichte zurechtgewiesen hatte. Sein Stolz war schwer verletzt worden. Als Rebel jedoch auf das Kind blickte, das ihr gegenübersaß, bereute sie ihr Vorgehen nicht. Man hätte es wohl kaum als Benimmunterricht für die Oberschicht bezeichnen können, aber es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Und schließlich war es dieses kleine Mädchen, das ihre Hilfe am dringendsten brauchte. "Es ist mir egal, was er sagt!" bemerkte Celeste streitlustig. "Ich hasse ihn. Ich hasse jeden." Dieser Aufschrei war wie ein Echo aus Rebels Vergangenheit und erinnerte sie ganz deutlich an ihre Kindheit. Genau das gleiche hatte sie gesagt, nach dem Tod ihrer Mutter und nach der Flucht aus dem schrecklichen Pflegeheim, als sie zu den James gekommen war. Obwohl die ganze Familie so nett zu ihr gewesen war, hatte sie sich nicht überwinden können, daran zu glauben. Sie hatte sich schon so lange einsam und verängstigt gefühlt, dass sie wahllos um sich schlug, weil sie verletzen wollte, zumal sie selbst zutiefst verletzt worden und fest davon überzeugt gewesen war, dass keiner sie haben wollte. "Wo sind denn deine Eltern?" fragte sie, weil sie etwas über die Familie des kleinen Mädchens erfahren wollte. "Sie sind tot", antwortete Celeste ausdruckslos. "Und er muss jetzt auf mich aufpassen." "Ich bin mir sicher, dass er sich gern um dich kümmert." "Nein, ganz bestimmt nicht. Er will mich überhaupt nicht. Er mag mich nicht. Deshalb stellt er auch immer Kindermädchen ein, damit er nichts mit mir zu tun hat." "Ach, so ist das. Du machst also die Kindermädchen mausetot, damit er auf dich aufmerksam wird", sagte Rebel sanft.
Zornig widersprach Celeste sofort. "Nicht deshalb. Ich mache es, weil Kindermädchen alte Ziegen sind. Er macht sich nichts aus mir, ich mache mir nichts aus ihm, und du weißt überhaupt nichts!" Rebel musste daran denken, wie sie etwas Ähnliches zu Zachary Lee gesagt hatte, ihrem großen gütigen Bruder aus Amerika, dem es immer wieder gelungen war, durch sein großes Verständnis ihren ungezügelten Zorn verfliegen zu lassen. Leider gab es nicht sehr viele Menschen wie ihn. Es war sehr schade, dass es für Celeste keine Möglichkeit gab, von den James adoptiert zu werden, und sie ihr nicht das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln konnten, was das Kind in Davenport offensichtlich vermisste. Rebel war zutiefst betroffen. Sah Celestes Onkel nicht, wie sehr sich das Mädchen nach wahrer Zuneigung und Fürsorge sehnte? Dass ihre Wildheit ein innerer Aufschrei der Qual und der Einsamkeit war? Und ein Kindermädchen ihr niemals das geben könnte, was sie so dringend benötigte? Rebel erkannte das Problem, und dessen Lösung erschien ihr sehr einfach. Man musste etwas tun. Aber was konnte sie schon tun? So wie die Dinge lagen, würde man sich nicht über ihre Einmischung in Privatangelegenheiten freuen. "Wer bist du denn eigentlich?" fragte Celeste. "Du hast gesagt, du würdest es mir erzählen." Bereits zum zweitenmal schien sich das Kind für etwas anderes als für sich selbst zu interessieren. Rebel lächelte. "Nur eine Besucherin. Vor langer Zeit gab es ein anderes kleines Mädchen, das hier hergekommen ist, um eine Weile zu bleiben. Es war wie du, weil es auch seine Eltern verloren hatte. Es war meine Mutter. Aber sie hatte keinen Onkel, der sich um sie kümmerte, oder irgend jemanden, der es sich hätte leisten können, ein Kindermädchen für sie anzustellen, und deshalb hat
man sie auf ein Schiff gebracht. Das hat man damals so gemacht. Sie schickten Waisen rund um die Welt nach Australien. Mom hat England und Davenport Hall nie wieder gesehen. Sie erinnerte sich jedoch immer daran. Sie sagte, es sei schön hier. Als ich ungefähr so alt war wie du, starb sie. Ich hatte mir vorgenommen, eines Tages herzukommen, um zu sehen, was sie gesehen hatte. Und jetzt bin ich da. "Hat sie in meinem Zimmer gewohnt?" fragte Celeste, der es eigentlich gar nicht recht war, dass diese Geschichte sie so fesselte. "Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Insgesamt waren es vierzig Waisen. Meine Mom war nur eine von ihnen. Ich erinnere mich, dass sie von Davenport Hall erzählte, aber das ist auch fast alles, woran ich mich entsinne. Erinnerst du dich an deine Eltern?" "Natürlich! " Celestes gereizte Miene kehrte zurück. "Sie hatten auch immer Kindermädchen für mich. Es macht mir nichts aus, dass sie tot sind. Ich bin froh darüber. Meine Mom hat mir nie Geschichten erzählt. Onkel Alexander auch nicht. Er ist genau wie sie. Er geht immer weg und lässt mich hier allein." Rebel krampfte sich das Herz zusammen. Sie hatte diesen Hilferuf schon zu oft vernommen. Sie wünschte sich, etwas tun zu können, aber momentan hatte sie zu viele anderweitige Verpflichtungen. Sie musste Sponsoren gewinnen für das große Benefizrennen, das ihr Bruder organisiert hatte. Zachary Lee zählte auf sie, und sie würde ihn auf keinen Fall enttäuschen. Außerdem vertrauten auch alle Ballonfahrer, die sie verpflichtet hatten, darauf, dass sie dazu fähig war, diese Idee zu vermarkten. Sie durfte die Leute nicht enttäuschen. Sie konnte sich hier nur engagieren, solange ihre Arbeitskraft nicht beeinträchtigt wurde. Sie war stolz darauf, dass sie ihre Aufträge zur vollsten Zufriedenheit ausführte. Sollte sie hier in etwas hineingezogen werden, das ihre Pläne durchkreuzte? Rebel wurde in ihren Gedanken von Celeste unterbrochen, die offenbar beschlossen hatte, die Initiative zu ergreifen.
"Ich mag es nicht, wenn du mich Kleine nennst", sagte sie und sah Rebel herausfordernd an. "Wenn du dir meinen Respekt verdient hast, werde ich dich Celeste nennen. Aber erst dann." Celestes Ausdruck änderte sich. Sie überlegte. "Wie heißt du?" "Rebel. Rebel Griffith James." Die Kleine rümpfte die Nase. "Was ist denn das für ein Name?" "Meiner." Diese Antwort genügte dem Mädchen nicht. "Warum hast du diese Kleider an? Bist du eine Verbrecherin? Oder eine Motorradbraut?" "Keins von beiden. Diese Kleidung schien mir am geeignetsten, um auf einem Motorroller von London hierher zufahren. Aber ich bin auch schon Motorrad gefahren." Rebel lächelte. "Am liebsten fahre ich aber Ballon." "So wie ,In achtzig Tagen um die Welt'?" "Ja, das ist die schönste Art zu reisen. Es ist so ruhig und schön, am Himmel entlang zusegeln. Einer meiner Freunde organisiert in Südengland Ballonfahrten. Auf diese Weise werde ich die Landschaft von oben kennen lernen." "Das würde ich auch gern machen", sagte Celeste traurig. "Warum fragst du nicht deinen Onkel?" "Er würde es mir nicht erlauben. Er hasst mich." Genau in diesem Augenblick betrat "er" den Raum, und seine Anwesenheit ließ das kleine bisschen menschlicher Wärme erkalten, das Rebel hatte entstehen lassen. Fern und unerreichbar, dachte Rebel, und ihr Mut sank, als sie sah, mit welch unerbittlicher Haltung er sich seiner Nichte zuwandte. "Geh in dein Zimmer, Celeste, und bleib dort, bis ich zu dir komme." Jedes Wort war ein frostiger Tadel, eine eisige Ablehnung. Als das Kind ungraziös vom Sofa aufstand, ließ es die Schultern hängen.
"Ich habe mich gefreut, dich kennen zu lernen", sagte Rebel sanft. Das Mädchen hob den Kopf, und dem Blick seiner blauen Augen sah man an, wie verzweifelt es heraus zufinden versuchte, ob Rebel wirklich meinte, was sie sagte, oder ob es wieder nur eine dieser typischen Lügen der Erwachsenen war. In Rebel begehrte es auf, verleih deinen Worten Nachdruck. Lass dir diese Gelegenheit nicht entgehen. "In dir steckt was drin. Du könntest eines Tages eine große Kämpferin sein. Ich hoffe, du schaffst es." Celeste ließ den Kopf sinken. Sie antwortete nicht. Langsam durchquerte sie den Raum und ging zur Tür, die bereits offen stand. Sie würdigte ihren Onkel keines Blicks. Kurz bevor sie den Gang betrat, blieb sie stehen und sah Rebel an, die großen blauen Augen voller Tränen. "Ich wünschte mir, ich hätte eine Mutter wie dich, Rebel", sagte sie stockend. "Celeste!" ermahnte ihr Onkel sie eisig. Das Gesicht des Mädchens verzerrte sich, als sie zu ihrem Onkel aufblickte. "Ich hasse dich! Du kümmerst dich nie um mich. Nie kümmerst du dich um mich!" Sie schluchzte und rannte den Gang hinunter. Bevor sie sich dessen bewusst wurde, was sie tat, sprang Rebel instinktiv auf, um der Kleinen nachzurennen, sie zu trösten und ihr zu versichern, dass jemand für sie da sei. "Bleiben Sie, wo Sie sind, Miss James." Lord Davenports scharfer Befehl wirkte wie ein Peitschenschlag. Rebel schloss die Tür, stellte sich schützend davor und wies ihn mit frostiger Stimme zurecht. "Sie machen sich wirklich nichts aus ihr, oder?" warf sie ihm vor. Seine arrogant und überheblich wirkende Miene verschwand schlagartig. Seine Augen offenbarten die Liebe, die er tief in seinem Inneren verbarg. "Meine Gefühle gehen Sie
nichts an. Mischen Sie sich nicht in etwas ein, von dem Sie nichts verstehen. Aber auch gar nichts!" Rebel war jedoch so aufgebracht, dass sie nicht zu ließ, dass er auswich. "Sie gehen nicht gut mit dem Kind um. Sie richten damit so viel Schaden an... " "Ich dulde keine Wutausbrüche, Miss James. Disziplin formt den Charakter. Wir leben schon seit fünfhundert Jahren nach diesem Leitsatz und waren immer erfolgreich damit", erwiderte er herablassend. "Diesmal aber nicht Lord Davenport", antwortete Rebel aufgebracht. "Sie versagen auf voller Linie. Wie lange ist Ihre Nichte schon in Ihrer Obhut?" "Das geht Sie nichts an, Miss James", antwortete er verärgert. "Ich könnte abschätzen, wie groß der Schäden ist, den Sie schon mit Ihrer Vorstellung von Disziplin angerichtet haben!" fauchte ihn Rebel an." Sind Sie immer so herzlos? So gefühllos?" Einen Augenblick schien er durch ihren Vorwurf verblüfft zu sein. Die Beschreibung seiner Person hatte ihn aus der Fassung gebracht, und er runzelte die Stirn. Dann warf er Rebel einen giftigen Blick zu, der seine ganze Abneigung und seine Verärgerung über ihre Unverschämtheit ausdrückte. "Es ist mir egal, wie Sie mit der Kleinen umgegangen sind", fuhr er sie an. "Es zeigt aber, dass Ihr Gerede über Liebe und Zuneigung nur geheuchelt war." Rebel sah ihn verächtlich an. "Offensichtlich wissen Sie nichts über Kinder. Ich habe mir wenigstens ihre Achtung verdient. Und das müssen Sie schaffen - nicht etwas zu verlangen, sondern es sich zu verdienen -, bevor Sie damit anfangen können, die Wunden zu heilen, die dem Kind zugefügt worden sind. Erst dann wird es vielleicht glauben und akzeptieren können, dass es geliebt wird." Um ihre Aussage zu verstärken, fügte Rebel hinzu: "Die Stellung und die Macht, die Sie durch Ihren Titel und Ihr Vermögen haben, verschaffen Ihnen nur scheinbar Achtung.
Zweifellos sind Sie daran gewöhnt, dass sich alle vor Ihnen verbeugen, aufgrund der Stellung, die Sie durch Ihre Geburt geerbt haben. Sie haben sie aber nur geerbt, nicht selbst erworben. Wirkliche Achtung erlangt man aber nur durch die Art, wie man Menschen behandelt. Übermäßige Autorität bewirkt nichts als Widerstand." Seine Augen drückten aus, wie sehr er ihre Meinung ablehnte. "Zweifellos haben wir unterschiedliche Meinungen. Ich wende jedoch keine körperliche Gewalt an, Miss James, egal, wie stark ich provoziert werde. Ich dulde es auch nicht." Rebel gab nicht nach. "Ich habe der Kleinen nichts getan, Lord Davenport. Das Kind weiß genau, wie es bei mir dran ist. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, es ist ein gutes Gefühl. Ein Gefühl der Sicherheit. Schlimm ist nur die Ungewissheit." "Sie scheinen allerhand zu wissen, Miss James." Jeder Schritt, den er auf sie zumachte, wirkte wie eine Drohung." Sie sind im Vorteil. Sie kommen voller Arglist in mein Haus... " "Das habe ich nicht getan!" unterbrach ihn Rebel energisch, ohne auf ihren flatternden Puls zu achten. "Ich hätte mich kaum vorgestellt, da brachte Mrs. Tomkins mich auch schon zu Ihnen. Ich kann nichts dafür. Als ich bemerkte, dass ein Missverständnis vorliegt, versuchte ich, alles aufzuklären. Sie ließen es aber nicht zu. Es ist Ihre Schuld. Außerdem wurden wir unterbrochen, als ich Ihnen alles erklären wollte." "Erklären Sie es mir jetzt, Miss James. Wer und was sind Sie?" Er blieb kurz vor ihr stehen und zwang sie, zu ihm aufzublicken. Rebel ließ sich nicht einschüchtern, obwohl seine Nähe sie völlig aus der Fassung brachte. Sie hatte nie einen Rückzieher gemacht, und das sollte so bleiben. Während sie standhaft seinen Blick erwiderte, wunderte sie sich, dass dieser Mann sie so verwirren konnte. Sie fragte sich, ob dieser Mann kein Herz hatte und warum er nicht einfühlsam genug war, um festzustellen, dass sein Pflegekind schrecklich verunsichert war.
"Ich bin die Frau, die Sie anstellen werden, damit sie sich um Ihre Nichte kümmert", sagte sie langsam. "Egal, wie sehr es Ihnen missfällt. Das bin ich, Lord Davenport." Jetzt hatte sie es getan! Sie hatte sich in eine Lage manövriert, vor der sich selbst die unerschrockensten Menschen gefürchtet hätten! Was hätte sie denn sonst tun sollen? Rebel spürte, dass man sie hier brauchte. Irgendwie würde sie es schaffen, genügend Zeit für alles zu haben. Sie musste sich jedoch vor allem die Zeit nehmen, um diesem schrecklich verlassenen kleinen Mädchen zu helfen. Lord Davenport sah sie ungläubig und verärgert zugleich an. "Ich habe noch nie eine derartige Arroganz erlebt. Sie rauben mir wirklich den Atem, Miss James:" "Mir ging es mit Ihnen heute Nachmittag genauso", erwiderte sie spitz und rührte sich nicht von der Stelle. "Eigentlich fällt es mir immer noch schwer, überhaupt zu atmen." Seine Augen funkelten. "Und wenn ich mich weigere, Sie einzustellen?" fragte er lauernd, als wäre er auf einen Gegenschlag vorbereitet und würde nur auf ihre Antwort warten, um auf sie loszugehen. "Es zählt einzig und allein das Wohl des Kindes", erwiderte sie entschlossen. "Das ist überhaupt das wichtigste. Sie können Ihrer Nichte nicht die Chance nehmen, ihr selbstzerostörerisches Verhalten zu ändern. Und ich kann ihr diese Möglichkeit bieten." Rebel machte eine Pause und fügte dann verächtlich hinzu: "Vorausgesetzt, dass Sie für sie auch nur ein bisschen Verantwortungsgefühl empfinden. Vorausgesetzt, dass Sie sie nicht wirklich hassen." Seine Miene verfinsterte sich, und um seinen zusammengekniffenen Mund erschien ein wütender Zug, als er sich von Rebel entfernte und langsam hinter das Sofa ging, auf dem Celeste gesessen hatte. Er blieb stehen, legte eine Hand auf
das samtene Sofa, krallte die Finger in den weichen Samt und starrte in das Feuer, das schon ziemlich heruntergebrannt war. Die Spannung, die von ihm ausging, stellte Rebels Nerven auf die Zerreißprobe. Sie fragte sich, ob er seine Nichte wirklich hasste, ob es ihm lieber wäre, sie zu vernichten, als sie zu retten. Dieser Gedanke beunruhigte sie. "Ich weiß gar nichts über Sie", sagte er und blickte sie dabei kaum an. "Sie haben gehört, was Ihre Nichte, gesagt hat. Sie hätte nicht besser auf mich reagieren können. Was müssen Sie denn noch wissen?" forderte ihn Rebel heraus. "Ihre Lebensumstände." Er drehte sich um, musterte abfällig ihre schwarze Lederkleidung von oben bis unten und blickte Rebel in die Augen. "Was würde ich da in mein Haus bitten, Miss James? Ein Straßenmädchen, das weiß, wie man kämpft?" Rebel war außer sich, und mit ihrer Gelassenheit war es vorbei. "Besser das als eine Närrin", fauchte sie ihn an. "Oder eine schwache Natur. Oder eine engstirnige Person wie Sie, Lord Davenport, die nur nach einer bestimmten Methode vorgeht, selbst wenn sich diese als völlig falsch erweist." "Sie sind unverschämt!" "Und Sie sind beleidigend!" "Wie Sie mit meiner Nichte umgegangen sind ... " ... war die beste Verkaufsstrategie, die ich je angewandt habe zufällig bin ich Expertin im Verkaufen, Lord Davenport. Das schließt meinen Körper aber nicht ein" "Verkaufen." Er verzog die Lippen. "Sie haben also einen weiteren Sieg zu verzeichnen. Meine Nichte dachte, sie würde Ihnen etwas bedeuten." Rebel konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht auf ihn loszugehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten mal so geärgert worden war, und musste all ihre Willenskraft aufbringen, um die primitiven Instinkte, die er geweckt hatte, zu kontrollieren und ein angemessenes Maß an Autorität in ihre Stimme zu legen.
"Sie verstehen nicht viel vom Verkaufen, oder? Wenn Ihnen nicht wirklich etwas daran liegt, versagen Sie auf voller Linie. Unaufrichtigkeit oder Halbherzigkeit macht alles zunichte, noch bevor man richtig angefangen hat. Um alle Parteien zufrieden zustellen, braucht man ein Verha ndlungsgeschick, das äußerste Aufmerksamkeit für jedes Detail und jede Nuance eines Bedürfnisses erfordert. Und der abschließende Beweis dafür, dass einem etwas am Herzen liegt, ist die Unterstützung, die man gibt. Und die Aufrichtigkeit, mit der man sie gibt." Sie unterbrach sich, um Luft zu holen. "Es wird nicht leicht für mich sein, all meinen anderen Verpflichtungen nachzukommen, wenn ich mich um Ihre Nichte kümmere, Lord Davenport. Sie werden mir helfen müssen. Aber es liegt mir so viel an diesem kleinen Mädchen, dass ich mein möglichstes tun werde, um sie zu unterstützen, sie zu umsorgen und ihr zu helfen. Die Frage ist nur, ob sie Ihnen so viel bedeutet, dass Sie auf meine Wünsche eingehen?" Er kniff die Augen zusammen. "Und die wären?" Rebel überlegte schnell, was sie in den nächsten Wochen vorhatte und welche Termine sie unbedingt wahrnehmen müsste. "Ich bräuchte ein Auto, jederzeit ein Telefon, um all meine Fern- und Auslandsgespräche zu führen. Da ich allen Leuten meine Adresse in Mayfair gegeben habe, muss ich das auch noch ändern..." "Mayfair! Es bereitete Rebel fast hämische Freude, ihn so überrascht zu sehen, dass sie eine Adresse in einer der besten Gegenden Londons hatte. Sie hätte ihm erzählen können, dass das Haus ihrem Schwager gehörte, es eine der vielen Gefälligkeiten war, die Joel Faber den James erwies, dass jedes Familienmitglied jederzeit über alle Wohnungen, die ihm oder seiner internationalen Organisation gehörten, verfügen konnte. Eine derartige Erklärung würde Lord Davenport jedoch sofort
glauben lassen, sie wäre eine Schmarotzerin, und seine Vermutungen über sie reichten ihr schon. "Ja", sagte sie stolz. "Ich wohne da, seit ich in England bin. Dort wollte ich eigentlich meinen ganzen Aufenthalt verbringen. Werde ich dadurch anständ ig genug für Sie, Mylord?" Sie sprach die Anredeform spöttisch aus. Er war sicherlich nicht ihr Herr oder Gebieter, und der Wunsch, seinen Hochmut zu dämpfen, wurde immer stärker und ließ sie ihr sonst so ausgeprägtes Taktgefühl vergessen. Verblüfft holte er tief Luft. "Wer sind Sie, Miss James?" fragte er steif. Rebel verlor die Beherrschung, auf die sie immer so stolz war, und antwortete dreist: "Ich bin genau die, für die Sie mich halten, Mylord. Eine Australierin. Einer jener bodenständigen Menschen, die nicht nur Dummheiten im Kopf haben." Sie war selbst so über ihre Worte erschrocken, dass sie sich wünschte, sie nie ausgesprochen zu haben. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt. Schuld daran war nur seine Arroganz. Sie hätte darüber hinwegsehen und sich beherrschen müssen, um ihre Vorhaben nicht zu gefährden. Nicht sie würde unter ihrer Unbeherrschtheit leiden müssen, sondern das Kind, das ihre Hilfe benötigte. Als sie sich bemühte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, um ihren Ausrutscher auszubügeln, bemerkte sie, dass sich Lord Davenports Miene verändert hatte. Er sah nicht mehr so verbissen aus, und seine schwarzen Augen strahlten plötzlich eine ungezügelte, wilde Freude aus. Es verwirrte sie nur noch mehr, dass er den Kopf zurückwarf und gerade herauslachte. Es war ein wirklich herzliches Lachen, das im ganzen Raum widerhallte und die Spannung löste, die zwischen ihnen geherrscht hatte. Rebel starrte ihn an und wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte. Unbewusst nahm sie wahr, dass ihr Herz wie verrückt pochte. Wie arrogant der Graf von Stanthorpe auch sein
mochte, er sah einfach hinreißend aus, wenn er ausgelassen war, und als er aufhörte zu lachen und ihr ein Augenzwinkern zuwarf, fühlte sie sich viel wohler. "Miss James . . . " sagte er plötzlich ganz sanft, "ich bitte Sie untertänigst um Entschuldigung für meine krasse Reaktion auf eine Situation, die mich unvorbereitet und schlecht gelaunt getroffen hat. Ganz offensichtlich sind Sie eine charakterstarke Frau." Er lächelte. "Und sehr wahrscheinlich genau das richtige für Celeste. Irgend etwas stimmte nicht an seinem Lächeln, aber Rebel konnte nicht herausfinden, was es war. "Es ist sehr großzügig, dass Sie Ihre Zeit und Ihre Erfahrung anbieten", fuhr er im gleichen einschmeichelnden Ton fort. "Und für Ihr Mitleid mit meiner, wie soll ich sagen, verstörten Nichte, bin ich Ihnen unendlich dankbar. Bitte", er deutete auf das Sofa, auf dem sie gesessen hatte, "wollen Sie nicht wieder Platz nehmen? Ich lasse uns Tee kommen. Dann können wir vielleicht von vorne anfangen und uns besser unterhalten." Rebel hatte sich endlich wieder gefasst. "Danke. Das wäre sehr schön", sagte sie steif. Es ist völlig unnötig, dachte sie, dass ich mich so unwohl fühle. Als sie sich jedoch setzte und beobachtete, wie Lord Davenport über das Haustelefon seine Anweisungen für den Tee durchgab, spürte sie, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Lord Davenports plötzliche Stimmungsänderung hätte sie eigentlich erleichtern müssen. Das war aber nicht der Fall. Rebel wandte den Blick von ihm ab, um sich kurz zu erholen von der beunruhigenden Wirkung, die er auf sie ausübte. Sie ließ den Blick durch den eleganten Raum schweifen. Er versinnbildlichte uralten Wohlstand, die höchste Form kultivierter und aufgeklärter Lebensart. Warum spürte sie dennoch, dass sich hier noch etwas Geheimnisvolles verbarg? Etwas Ungewisses in Lord Davenports Stimmungsänderung. Etwas Düsteres in seinem Lächeln.
Warum hatte sie plötzlich den Eindruck, in ein Spinnennetz eingefangen zu werden, in etwas verwickelt zu werden, das sie überhaupt nichts anging?
3. KAPITEL Bleib ruhig und gelassen, ermahnte sich Rebel streng, als sich Lord Davenport auf das Sofa setzte, das ihr gegenüberstand. Es gab ja dieses Mädchen, das ihre Hilfe so dringend brauchte. Das war ganz klar. Sich von seltsamen Gefühlen durcheinanderbringen zu lassen würde ihrem Vorhaben nur schaden. Die Schlacht musste gewonnen werden. Sie musste jetzt nur einige Vereinbarungen mit dem Mann treffen, der eingesehen hatte, dass sie sich wirklich um seine Nichte sorgte. Der große, schlanke Mann saß ganz entspannt da, als würde er sich über ihre Nervosität lustig machen. Offenbar in der Hoffnung, ihre düstere Miene aufhellen zu können, lächelte er sie aufmunternd an. Mit seinen dunklen Augen betrachtete er Rebel anerkennend, wodurch ihr aber nur noch unwohler wurde. Trotz ihrer ganzen Erfahrung konnte sie diesen Mann nicht richtig einordnen. Außerdem war er so gutaussehend, dass Rebel ständig aus dem Konzept gebracht wurde. "Sie haben recht, Miss James", sagte er einschmeichelnd, in der Absicht, sie zu besänftigen. "Celeste ist am wichtigsten. Es tut mir leid, dass ich nicht schon vorhin gewürdigt habe, dass meine Nichte so überraschend zutraulich zu Ihnen gewesen ist. Das allein ist äuß erst bemerkenswert. Das Kind hasst jeden. Sie haben es jedoch geschafft, diese Mauer des Hasses zu durchbrechen, was gar nicht leicht ist. Ich bin mir sicher, es wird Celeste gut tun, dass Sie ihr Kindermädchen sind."
Er sprach ganz sanft. Im Stillen zollte ihm Rebel Beifall für seine Taktik, sie so mit Komplimenten zu überschütten, um seine Ziele zu verfolgen. Ein Kindermädchen für seine Nichte. Jemand, der ihm und seinen Angestellten die Arbeit abnahm. Rebel fragte sich, ob er sich insgeheim über sich selbst lustig machte, weil er so ein Narr gewesen war, sich die Gelegenheit fast entgehen zu lassen, diese Stelle zu besetzen. Das würde die plötzliche Änderung seines Verhaltens erklären. Die Schlacht war jedoch noch nicht gewonnen. Sie wurde nur auf ein anderes Gebiet verlagert. Aber dieses Mal, schwor sich Rebel, werde ich die Beherrschung nicht verlieren. Sie lächelte und bemühte sich, dabei möglichst demütig auszusehen. "Ich fürchte, Sie haben mich schon wieder missverstanden", sagte sie gequält. "Ich möchte mich nicht als Kindermädchen anstellen lassen. Ihre Nichte hasst Kindermädchen, so dass dies genau das Falsche wäre. Außerdem habe ich noch geschäftliche Verpflichtungen, die es mir nicht erlauben, die Aufgaben eines Kindermädchens zu erfüllen." Seine Herzlichkeit verschwand, als er feststellte, dass er seinen Willen nicht durchsetzen würde. Seine aristokratische Zurückhaltung kehrte zurück, als er Rebels Mut erneut auf die Probe stellte." "Was genau möchten Sie mir anbieten?" fragte er behutsam. "Wenn ich mich richtig erinnere, sagten Sie, Sie wollten von mir angestellt werden, um sich um meine Nichte zu kümmern." "Ich meinte damit, dass Sie von meinen Diensten Gebrauch machen können", betonte Rebel langsam und bedächtig, um ein erneutes Missverständnis auszuschließen. "Ich habe genügend Erfahrung, die man zu Celestes Nutzen einsetzen kann, Mylord. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, Ihre Angestellte zu sein, von Ihnen bezahlt zu werden und Ihnen verpflichtet zu sein."
Seine aristokratische Zurückhaltung wurde stärker. Seine Augen funkelten misstrauisch. "Ich wüsste gern, was Sie sich so vorstellen, Miss James", sagte er kühl. Sie steckte in der Klemme. Wie sollte sie jetzt vorgehen? Rebel wusste, was auf dem Spiel stand. "Ich würde gern Ihrer Nichte meine volle Aufmerksamkeit schenken, Mylord", begann sie ruhig. "Jemand muss ihr unbedingt den Weg weisen. Ich biete daher all die Zeit an, die ich für sie erübrigen kann, und Sie müssen mir dabei helfen, eine Situation zu schaffen, die für das Kind annehmbar ist." Plötzlich wirkte er nicht mehr so misstrauisch. "Fahren Sie fort", forderte er sie unverbindlich auf. Ermutigt ließ sich Rebel ihre eigene Lage durch den Köpf gehen. "Am besten beginnen wir sofort, solange der Eindruck, den ich auf Ihre Nichte gemacht habe, noch frisch ist. Ich muss nach London zurück, um ein paar Dinge zu klären. Das könnte ich aber bis morgen früh schaffen. Es wäre sinnvoll, wenn Sie in der Zwischenzeit Celeste erzählen, dass Sie mich gebeten haben, in Davenport Hall zu wohnen, solange ich mich in England aufhalte, weil Sie sie gern haben und dachten, sie würde sich darüber freuen." "Ich verstehe." Er lächelte ironisch. "Sie wollen als Gast nach Davenport Hall kommen. Für eine unbegrenzte Zeitspanne." Rebel überging diese zynische Auslegung ihres Vorschlags, obwohl sie sich über die versteckte Andeutung ärgerte, dass sie auf diese Weise in die Oberschicht aufgenommen werden wolle oder die Bedürfnisse eines Kindes ausnutze, um sich in ein gemachtes Nest zu setzen. Sie musste das Gespräch wieder auf Celeste lenken und ihren Gegner langsam unter Druck setzen. "Wenn ich nur ein Gast bin, wird sie sich nicht vor mir fürchten, Mylord", erklärte sie. "Sie kann entscheiden, ob sie meine Gesellschaft sucht oder meidet." "Und wenn sie Sie meidet?" fragte er übertrieben freundlich, während er sich über ihre Theorie lustig machte. "Sie werden
sich nicht besonders um sie kümmern können, wenn sie vorzieht, sich von Ihnen fernzuhalten." Rebel lächelte in der Gewissheit, dass dies nicht passieren würde. "Ich schließe ein Abkommen mit Ihnen. Geben Sie mir eine Woche. Wenn mich Celeste in dieser Zeit ablehnt, werde ich akzeptieren, dass ich sie nicht erreichen kann, und Sie werden mich los sein. Wird mein Angebot dadurch annehmbarer?" Er zog eine Augenbraue spöttisch hoch. "Nur eine Woche, Miss James? Sie lassen sich auf ein schwieriges Unterfangen ein. Wie kommen Sie zu der Annahme, dass Sie gewinnen können?" "Aus Erfahrung." "Ach so." Wieder lächelte er auf so geheimnisvolle Art und Weise. "Ich hatte schon fast vergessen, dass Verkaufen auf Vertrauen beruht." "Sowie auf Glaubwürdigkeit, Mylord", erinnerte ihn Rebel spitz. "Versprechen zu geben, die man nicht halten kann, führt zu nichts. Bei Ihrer Nichte würde es bestimmt nicht funktionieren." Sein Lächeln wirkte plötzlich grimassenhaft. "Ich bezweifle, dass bei meiner Nichte irgend etwas funktioniert, Miss James. Eigentlich hatte ich mir etwas anderes vorgestellt, als Sie es mir anbieten." "Ihre Vorstellungen sind gerade durchkreuzt worden, stimmt' s?" warf Rebel schnell ein. "Sie hätten mir die Stellung als Kindermädchen nicht angeboten, wenn die Frau, die Celeste im Turm eingesperrt hat, noch auf Sie warten würde. Sie haben kein Kindermädchen und nach dem, was Sie mir erzählt haben, ist es nicht einfach, eins zu bekommen. Ein paar Tage, eine Woche ... Was haben Sie schon zu verlieren?" Er runzelte die Stirn, weil er dem nichts entgegenzusetzen hatte. "Ich werde Ihre Nichte wenigstens halbtags betreuen können, während Sie das Passende suchen können", sagte Rebel
sanft. "Und wenn ich ihr Benehmen verbessern kann, haben Sie dabei sogar noch etwas gewonnen, glauben Sie nicht?" Er sah sie eindringlich an. "Sie sagten, Sie hätten noch anderweitige Verpflichtungen, würden ein Auto benötigen und müssten jederzeit telefonieren können. Ich wüsste gern, welche Geschäfte Sie da abwickeln." "Natürlich", stimmte sie ihm zu und lächelte ihn an, um zu zeigen, dass sie Verständnis für seine Frage hatte. Er wollte eben wissen, wen er in sein Haus einlud. "Ich bin in England, um Sponsoren zu finden für eine der spektakulärsten Benefizveranstaltungen, die jemals geplant worden sind. Sie haben vielleicht schon etwas darüber gelesen. Einhundertundfünfzig Ballons werden in England starten und ganz Europa überfliegen. Es wird das größte Ballonrennen sein, das es jemals gegeben hat." "Ich habe Werbespots darüber im Fernsehen gesehen", sagte er und wurde wieder zurückhaltender. "Sie suchen also die Sponsoren?", Sie nickte. "Das ist meine Aufgabe. Der Sponsor zahlt fünfundzwanzigtausend Pfund. Dafür bekommt er Ansehen, Abenteuer und eine große Werbeaufschrift auf seinem Ballon, für was, immer er will. Das Rennen wird jeden Abend im Fernsehen übertragen, so dass viele Menschen die Werbung für die Produkte des Sponsors sehen. Der Gewinner bestimmt, welche Einrichtung die Spende erhält. Ein Teil meiner Verkaufsstrategie besteht sozusagen in der Förderung des Wettbewerbs im Wettbewerb. Ich habe zum Beispiel schon alle größeren Bierproduzenten der Welt unter Vertrag. Für die Teilnehmer ist das ein besonderer Nervenkitzel." Er sah sie voller Bewunderung an. "Beeindruckend! Wie viele Sponsoren haben Sie schon gewonnen?" "Einhundertundsiebzehn haben bereits unterschrieben. Dreiunddreißig fehlen noch." "Arbeiten Sie im Team?"
Rebel konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. "Ich bin das Team, Mylord. Es ist allein meine Aufgabe, rechtzeitig genügend Sponsoren verpflichtet zu haben. Ich habe den Ruf, das zu halten, was ich verspreche", fügte sie selbstbewusst hinzu. Der respektvolle Ausdruck auf seinem Gesicht war Balsam auf die Wunden, die er ihr zugefügt hatte. Ihr Selbstvertrauen wurde gestärkt. Jetzt konnte er ihre Bitten nicht so leicht abschlagen. "Das ist ziemlich viel Verantwortung für jemanden, der so jung ist", sagte er fragend. Rebel zuckte die Schultern. "Jung an Jahren, vielleicht, aber nicht unerfahren auf diesem Gebiet." Er schüttelte den Kopf und lächelte sie jungenhaft an. "Sie stecken voller Überraschungen, Miss James." Rebel war so entspannt, dass sie lachen konnte. "Sie waren ja auch eine ganz schöne Überraschung. Ich hatte mir englische Grafen immer viel älter vorgestellt." Seine dunklen Augen blitzten spöttisch. "Wie Sie bereits so treffend bemerkten, ist das nur eine Frage der Erbfolge. Nicht verdient und nicht beeindruckend." Er verzog das Gesicht. "Zumindest nicht für Australier." "Das würde ich nicht verallgemeinern, Mylord", sagte Rebel belustigt. Sie neckte ihn, in der Absicht, die gute Stimmung auszunutzen. "Viele Menschen lassen sich von Titeln beeindrucken. Ich aber nicht. Und das ist auf meine Herkunft zurückzuführen." "Und die wäre?" fragte er äußerst interessiert. "Ich habe keine. Ich bin das, was ich aus mir gemacht habe. Mit der Hilfe anderer. Die Art Hilfe, die ich hoffe, ihrer Nichte geben zu können, Mylord." Sie machte eine kurze Pause, bevor sie auf den wichtigsten Punkt zurückkam. "Sind wir uns einig? Sekundenlang betrachtete er sie schweigend und nachdenklich. Rebel hielt den Atem an. Sie hatte all ihre
Trümpfe ausgespielt und konnte ihn nur noch bitten zuzustimmen. Langsam begann er zu lächeln. "Ja. Ich möchte es gern eine Woche mit Ihnen versuchen, Miss James. Die Zeit, die Sie hier verbringen, könnte sehr entscheidend sein ... auf die eine oder andere Weise." Rebels anfängliche Erleichterung schwand durch den Eindruck, dass er überhaupt nicht an seine Nichte zu denken schien. Ihr Herz klopfte merkwürdig. Er war wirklich ein besonders komplizierter, kaum durchschaubarer Mann, was ihn um so interessanter machte. Sie hatte aber die erste Auseinandersetzung gewonnen. Während sie darüber nachdachte, wie sie jetzt vorgehen sollte, klopfte es an der Tür. Ein großer, hagerer, korrekt gekleideter Mann kam herein und schob würdevoll einen Teewägen vor sich her. Er hatte schütteres weißes Haar, und obwohl seine Wangen gerötet waren und seine Haut wenig Falten aufwies, schätzte ihn Rebel auf siebzig. "Mrs. Tomkins sagte mir doch, Sie fühlten sich unwohl, Brooks", bemerkte Lord Davenport überrascht. "Eine kleine Unpässlichkeit", antwortete der Angesprochene ziemlich gequält. "Ich bin aber sehr wohl in der Lage, mich um Ihre Gäste zu kümmern, Mylord." Gewiss hatte ihn sein Stolz dazu gebracht. Oder seine Neugier. Er betrachtete Rebel und verglich seinen Eindruck mit dem, was die Hausdame ihm offensichtlich berichtet hatte. "Mein Butler", stellte Lord Davenport vor. "Miss James wird diese Woche mein Gast sein, Brooks." "Das Personal heißt Sie willkommen, Miss James", sagte Brooks voller Autorität. Rebel lächelte ihn an. "Danke schön." Er servierte den Tee feierlich, was Rebel an die kleinen Annehmlichkeiten der Gesellschaft denken ließ, in der sich der Lord bewegte. Das silberne Teeservice, das zarte Porzellan, die
feinen Häppchen, Teegebäck, Schlagsahne und hausgemachte Erdbeermarmelade - alles war kunstvoll angerichtet und wurde als selbstverständlich erachtet. Rebel stellte fest, dass dies sehr verführerisch, aber eigentlich völlig unwichtig für das Herz und die Seele der Menschen war. Lord Davenport wirkte nicht zufrieden, und obgleich die Umstände anders waren, war seine Nichte in jeder Hinsicht ein ebenso verlorenes Kind, wie Rebel es gewesen war. Dieser letzte Gedanke erinnerte sie daran, weshalb sie eigentlich nach Davenport Hall gekommen war. Sie blickte den Butler forschend an, als er sich würdevoll zurückzog. Eine Woche wäre genug Zeit, um jeden auf dem Gut über die Kriegswaisen zu befragen, und Brooks war bestimmt alt genug, um sich an diese Zeiten zu erinnern. "Ist Ihr Butler schon lange bei Ihrer Familie, Lord Davenport?" fragte sie, als sie wieder allein waren. "Seit dem Krieg." "War er es nicht schon während des Krieges?" "Er war beim Militär. Fast alle gesunden, kräftigen jungen Männer waren dort." Ein trauriges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. "Brooks sollte wirklich schon pensioniert sein, aber er wäre tödlich beleidigt, wenn ich ihn dazu drängen würde. Manchmal fühlt er sich nicht ganz wohl. Eine Schwäche für Portwein, fürchte ich, aber ich gönne ihm das kleine Laster. Mrs. Tomkins springt für ihn ein, wenn es nicht anders geht." Brooks kann mir also nichts über Mom erzählen, dachte Rebel etwas enttäuscht. Irgend jemand würde aber sicherlich jemanden kennen, der sich an sie erinnerte. Es kam nur darauf an, im richtigen Augenblick zu fragen. Doch nicht jetzt. Rebel verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich auf das wichtigere Thema, nämlich auf Celeste. Es wunderte sie, dass Lord Davenport so herzlich und nachsichtig über seinen Butler gesprochen hatte, zumal er für seine Nichte weder Wärme noch Nachsicht übrig hatte. Wenn er
über sie sprach, zeigte er kein bisschen Zuneigung. Aber offensichtlich war er doch zur Liebe fähig. Er war nicht völlig gefühlskalt. Sie sah ihn an und stellte fest, dass er sie betrachtete. Sein Gesichtsausdruck war nicht der eines gefühllosen, sondern vielmehr eines heißblütigen Mannes, und er ließ Rebel erschauern. "Sie haben mir noch nicht Ihren vollständigen Namen verraten, Miss James", sagte er und lächelte aufmunternd. "Da Sie mein Gast sein möchten, wäre es für Celeste glaubwürdiger, wenn wir nicht so förmlich miteinander umgingen, meinen Sie nicht auch? Normalerweise nennen mich meine Gäste Alexander." Rebel atmete tief ein. Wenn er charmant sein wollte, war Alexander Davenport wahnsinnig attraktiv. Er verwirrte sie, weckte all ihre Sinne. "Danke schön. Das wäre ausgezeichnet, aber ich wollte nicht zuviel verlangen", antwortete sie. "Ich heiße übrigens Rebel Griffith James. "Rebel." Seine Augen verrieten seine Belustigung. "Ein ungewöhnlicher Name. Den kann ich mir bestimmt gut merken. Wann sollen wir Sie morgen erwarten?" "Wenn Sie mir morgen so gegen zehn einen Wagen schicken könnten. Ich werde dann bereit sein." "Wie ist Ihre Adresse in Mayfair?" fragte er und holte einen goldenen Kugelschreiber und ein dünnes Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. Sie gab ihm die Adresse, und er schrieb sie auf. "Ich werde Celeste erzählen, dass Sie morgen zum Mittagessen da sind", sagte er trocken, als er den Kugelschreiber und das Notizbuch einsteckte. "Danke." Da er wieder von seiner Nichte sprach, nutzte Rebel die Gelegenheit, noch einige Fragen zu stellen. "Es wäre hilfreich, wenn Sie mir noch mehr über Celeste erzählen
würden, bevor ich sie wiedersehe. Sie sagte, ihre Eltern seien tot. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir die Umstände zu schildern . . ." Seine Gesichtszüge wirkten plötzlich angespannt. Rebel verstummte, zumal ihr bewusst wurde, dass sie ein heikles Thema angesprochen hatte, und sie bereitete sich auf eine Rüge vor. "Mein Bruder starb bei einem Unfall auf einer Skipiste in der Schweiz", antwortete er kühl. "Ich habe vor sechs Monaten seinen Titel und Celeste geerbt." Die Bitterkeit in seiner Stimme verriet Rebel, dass es zahlreiche Gründe für Celestes Verhalten geben musste. "Es tut mir leid", sagte sie ruhig. "Ich wusste nicht, dass ihr Vater vor Ihnen den Grafentitel besaß. Und dass sich der Trauerfall erst vor so kurzer Zeit ereignet hat." Das war möglicherweise eine Erklärung für das schlechte Verhältnis zwischen Onkel und Nichte. Manchmal bringt Trauer Menschen zusammen, in diesem Fall anscheinend aber nicht. Eigentlich schien Celeste überhaupt nicht traurig zu sein über den Tod ihrer Eltern. Das konnte allerdings auch eine Abwehrreaktion sein. "Wann starb ihre Mutter?" fragte Rebel sanft, da sie alles wissen mauste, um das kleine Mädchen besser verstehen zu können. "Am Tag der Beisetzung meines Bruders. Bei einem Unfall auf der Autobahn nach London." Seine Stimme ließ darauf schließen, dass er über den Zeitpunkt des Todes seiner Schwägerin Genugtun empfand. Rebel blickte ihm in die Augen, um zu sehen, ob sie eine Gefühlsregung offenbarten, aber sie verrieten nichts. Sie waren so dunkel, dass sie eine Gänsehaut bekam. "Das muss ja schrecklich gewesen sein", sagte sie freundlich. Etwas Wildes zeigte sich in seinen Augen - Schadenfreude? -,
aber es verging so schnell, dass Rebel sich fragte, ob sie es sich nur eingebildet hatte. "Die letzten sechs Monate waren nicht einfach", antwortete er kurz angebunden. "War Celeste mit ihrer Mutter im Auto?" fragte Rebel, zu mal sie sich vorstellen konnte, dass die Verstörung des Kindes durch den Unfall hervorgerufen worden war. "Nein. Christine hat sie hier gelassen. Seitdem kümmere ich mich um sie." Er presste die Lippen zusammen. "Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe mein möglichstes für sie getan." Taktvoll enthielt sich Rebel eines Kommentars. Seiner Ansicht nach mochte er es getan haben, aber ihrer Meinung nach musste er noch einiges über Kinder lernen. "Celeste sagte, dass Sie häufig weggehen und sie hier allein lassen", bemerkte sie vorsichtig. "Wohl kaum allein", spottete er. "Es ist wahr, dass ich wegen meiner Arbeit oft außer Hauses bin. Abgesehen von meiner Nichte habe ich auch noch andere Verpflichtungen. Ich bin kein untätiger Graf, der von seiner Erbschaft lebt. Eigentlich habe ich überhaupt nicht damit gerechnet, Graf zu werden. Ich bin im Weingeschäft. Deshalb muss ich regelmäßig in Frankreich und Deutschland Weinberge besichtigen." "Ach so", sagte sie leise. Sie sah ein, dass er nicht grundlos verreiste, dachte sich jedoch, dass er sicherlich auch eine andere Person - zumindest mit einigen dieser Geschäftsreisen beauftragen konnte, zumal er mit dem Kind eine Verantwortung übernommen hatte. "Haben Sie nie daran gedacht, dass Celeste gerade in dieser Zeit der Veränderung mehr Aufmerksamkeit braucht, als Sie ihr momentan geben?" fragte sie sanft. Er seufzte langsam. "Celestes Verhalten war schon so, bevor sie in meine Obhut kam. Nicht ich habe sie zu einem Ungeheuer gemacht. Und bevor Sie etwas gegen diese Bezeichnung einwenden, muss ich Ihnen wohl sagen, dass das Kindermädchen - einem hysterischen Anfall nahe - genau dieses
Wort benutzte, als ich es aus dem Turm befreite. Sie meinte außerdem, man solle das Kind einsperren und den Schlüssel gleich wegwerfen. Ich muss noch hinzufügen, dass alle Kindermädchen, die Celeste seit ihrer Kindheit gehabt hat, eine ähnliche Meinung von ihr hatten. Es hat sich nichts geändert. Ich wiederhole nur, was sie gesagt haben." "Das Kind einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen ist aber keine Lösung", bemerkte Rebel völlig überzeugt. "Es verschafft denen, die sie quält, nur ein bisschen Ruhe", erwiderte er scharf. "Das betrifft alle in diesem Haus. Aber ich stimme Ihnen zu, es ist keine Lösung. Ich gebe offen zu, dass ich auch keine habe. Da Sie jedoch glauben, Sie könnten das Kind zähmen, werde ich Ihnen nicht im Weg stehen." Es war offensichtlich, dass er ihren Erfolg bezweifelte. Er glaubte nicht, dass sie bei Celeste irgend etwas erreichen würde. "Ich werde während dieser Woche mit großem Interesse beobachten ,was Sie zustande bringen", fügte er hinzu, aber Rebel spürte, dass er es nicht ernst meinte. "Ich hoffe, dass Ihr Interesse groß genug ist, dass Sie mich bei allem unterstützen, was meiner Meinung nach für das Wohlergehen Ihrer Nichte nötig ist", betonte sie. "Wenn Sie glauben, dass auf die Füße treten wichtig ist, werde ich mich nicht einmischen", versicherte er ihr, sah sie aber spöttisch an. "Ich lasse Ihnen freie Hand." "Danke schön. Sind Sie auch dazu bereit, mehr als nur ein passiver Beobachter zu sein?" Er runzelte die Stirn. "Was wollen Sie damit sagen, Rebel?" "Ob Sie meine Ratschläge befolgen werden?" "Das hängt ganz von Ihren Ratschlägen ab. Ich bin kein guter Schauspieler. Es bringt nichts, wenn ich gegen meine Überzeugung handle." "Einverstanden", stimmte Rebel zu. "Könnten Sie sich diese Woche frei nehmen, um so viel Zeit wie möglich hier zu verbringen?"
Sein leises Lachen verunsicherte sie. Er blickte sie amüsiert und herausfordernd an. Eine Herausforderung von Mann zu Frau. "Ja, ich werde es so einrichten, dass ich die ganze Woche über verfügbar bin. Ich will mir das, was Sie mir anbieten, nicht entgehen lassen." Rebels Herz pochte laut, als ihr klar wurde, worum es hier ging. Alexander Davenport nahm sie nur aus einem Grund als Gast auf, und der hatte nichts mit seiner Nichte zu tun. Er fühlte sich genauso von ihr angezogen wie sie sich von ihm, und da er jetzt wusste, dass sie keine Betrügerin war, wollte er sie näher kennen lernen. Sowohl besorgt als auch erregt, war Rebel plötzlich verwirrt. Sie wollte ihn ja auch gern kennen lernen, doch sie durfte sich nicht davon abhalten lassen, Celeste zu helfen. Andererseits könnte Alexander Davenports Wunsch, sie bei sich zu haben, auch für Celeste vorteilhaft sein. Obwohl es sicherlich nicht leicht sein würde. In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt, sagte sich Rebel. Das Kind musste geliebt werden, und Rebel entschied, dass es sich dafür sogar lohnen würde, sich selbst und Alexander Davenport zu bekämpfen. Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war, lächelte Rebel Alexander Davenport an und stand entschieden auf. "Ich muss jetzt gehen. Ich habe bis morgen noch allerhand zu erledigen und möchte meine neue Aufgabe nicht in Hektik beginnen." "Selbstverständlich. Gehen Sie nur." Als er aufstand und sie anlächelte, wurde Rebel einiges klar. Mein erster Eindruck war richtig, dachte sie, mit diesem Mann ließ sie sich auf ein gefährliches Spiel ein. "Da Sie keinen Wagen haben ... " "Ich bin mit einem Motorroller hergefahren. Er steht am Tor." Der Blick, den er über ihre schwarze Lederkleidung schweifen ließ, brachte Rebel zum Erbeben. "Ich verstehe",
sagte er leise und lächelte insgeheim." In diesem Fall bringe ich Sie hinaus." Er begleitete sie und öffnete ihr höflich die Türen, sagte aber kein Wort, bis sie vorm Portal standen. "Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen", bemerkte er, als sie auf die Stufen zugingen. Rebel lachte und schüttelte den Kopf. "Vielleicht sollte ich mich auch bei Ihnen entschuldigen. Sagen wir einfach, wir sind quitt." Er sah sie vergnügt an. "Wenn dies ein weiteres Abkommen sein soll, stimme ich zu." Schelmisch lächelte sie ihn an. "Einverstanden." Er lachte leise vor sich hin, und Rebels Herz hüpfte vor Freude, als sie am Brunnen ankamen. Es ist verrückt, sich so zu fühlen, tadelte sie sich. Es war irrsinnig, sich von dieser hoffnungslosen und unpassenden Anziehungskraft einnehmen zu lassen. Wohin würde das führen? Zu nichts anderem als zu einer völligen Verwirrung der Gefühle! Ihr mochten Titel nichts bedeuten, aber die Engländer waren bekannt dafür, dass sie nur standesgemäß heirateten. Sie bezweifelte stark, dass der Graf von Stanthorpe in dieser Beziehung anders war. Eine weitere Erfahrung war alles, was er sich von ihr versprach. Er hatte es offen ausgesprochen. "Was hat Sie nach Davenport Hall geführt, Rebel?" fragte er, als sie den Weg entlanggingen. Sie blickte auf das Geäst über ihnen, das aussah wie ein Baldachin, in den hübsche grüne Blätter eingesponnen waren. Sie hatte wieder das seltsame Gefühl, durch einen Tunnel der Zeitlosigkeit zu laufen. Ob ihre Mutter sie wohl beobachtete? Ein kleines Mädchen, verwaist wie Rebel einst und Celeste nun war. "Vielleicht war es das Schicksal", antwortete sie ein wenig unsicher, noch immer von ihren Gedanken eingenommen. Sie spürte, dass er sie scharf und eindringlich ansah, wandte sich zu ihm um und begegnete seinem Blick.
"Ich glaube nicht an das Schicksal", meinte er kurz angebunden. Rebel beschloss, dass es an der Zeit war, ihm die Wahrheit zu sagen. "Ich wollte Davenport Hall sehen. Meine Mom war eine Kriegswaise, und bevor sie nach Australien verschifft wurde, hat man sie sechs Monate lang hier untergebracht. Zusammen mit vierzig anderen Waisen." "Nach Australien?" fragte er ungläubig, in der Überzeugung, dass so etwas völlig ausgeschlossen wäre. "Man hat es damals getan, Alexander", versicherte Rebel. "Meine Mutter war zu dieser Zeit erst fünf Jahre alt. Aber sie hat diesen Ort nie vergessen. Ich wollte nur einen Blick darauf werfen, aber als ich das Tor erreichte, wollte ich mehr sehen. Desha lb habe ich den Motorroller abgestellt, bin die Allee entlanggelaufen und habe an der Tür geläutet, um zu fragen, ob ich mich umsehen darf." "Einfach so", sagte er trocken. "Ich habe eigentlich erwartet, dass ich Ihnen mein Vorhaben schmackhaft machen müsste." "Das hätten Sie zweifellos geschafft", antwortete er noch trockener. Es war überhaupt nicht nötig, dachte Rebel zufrieden. Sie hatte eine ganze Woche, um allerhand Dinge herauszufinden über ihre Mutter, Celeste, den Mann, der neben ihr stand. Und wenn alles so liefe, wie sie es sich erhoffte, könnte sie auch noch länger bleiben. Wer wusste schon, wie lange? Sie kamen am Ende der Allee an, und Rebel ging zu ihrem Motorroller, der an der steinernen Mauer stand. Alexander Davenport wartete und sah Rebel so eindringlich an, dass sie eine Gänsehaut bekam. Er sprach erst, als Rebel auf ihrem Motorroller saß und im Begriff war, sich den Sturzhelm aufzusetzen und sich auf den Rückweg nach London zu begeben.
"Glauben Sie wirklich, dass Sie bei Celeste ein Wunder bewirken können?" fragte er unvermittelt. "Ja", antwortete sie ernst. "Ich hätte nicht versucht, Sie zu überzeugen, wenn ich nicht fest daran glauben würde, dass ich etwas erreichen kann, Alexander. Vielleicht reicht die kurze Zeit nicht für ein Wunder. Aber ich weiß, dass die Herausforderung, die ich ihr stelle, etwas bewirken wird." "Erwarten Sie nicht zuviel, Rebel." Er sprach sanft und freundlich zu ihr. "Andere, die genauso wohlwollend waren wie Sie, haben es versucht und sind gescheitert. Celeste..." Er verzerrte seine Lippen voller Abscheu. "Celeste ist Christines Tochter. Daran kann man nichts ändern." Er lächelte sie bedauernd an. "Bis morgen." Dann drehte er sich um und schlenderte durch den Tunnel der Zeitlosigkeit, so dass Rebel sich fragte, ob sie jemals von dem Motorroller hätte absteigen sollen. Hier herrschte eine Düsternis, von der sie eingenommen und zerbrochen werden könnte. Das Kind war so verstört, der Mann so voller Hass gegenüber dem Kind und dessen Mutter. Irgendwie war sich Rebel jetzt dessen sicher. Aber obwohl sie erkannte, wie gefährlich es war, hier etwas ändern zu wollen, konnte sie nicht leugnen, wie sehr sie sich angezogen fühlte.
4. KAPITEL Als Rebel am nächsten Tag nach Davenport Hall kam, war es fast Mittag. Während der Chauffeur den Rolls Royce durch die Allee steuerte, versuchte Rebel noch einmal, all die Zweifel zu unterdrücken, die sie quälten, seit sie gestern nach London gefahren war. Normalerweise traf sie all ihre Entscheidungen sehr bewusst. Diesmal hatte sie sich jedoch von den Gefühlen leiten lassen, die sie den Menschen entgegenbrachte, mit denen sie zu tun haben würde. Vielleicht identifizierte sie sich zu sehr mit dem Kind. Das könnte sie ganz schön in die Irre führen, zumal Celeste viel größere Probleme haben könnte, als Rebel erwartete. Was den Mann betraf, konnte sich Rebel nicht erklären, warum er sie so tief beeindruckte. Sie verlor eigentlich sonst nie den Kopf, aber er erweckte etwas in ihr, das einen eigenen Willen zu haben schien. Dadurch wurde alles noch komplizierter. Der Wagen fuhr um den Brunnen und blieb an der Treppe stehen. Rebel blickte auf das großartige Portal des riesigen Herrenhauses und scheute sich vor dem, was sie erwarten würde. Die Tür wurde geöffnet, und eine kleine Person ganz in Blau kam herausgerannt. Rebels Herz machte einen Sprung. Sie wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, ungeachtet dessen, wohin das alles führen würde oder welche Hindernisse auf sie warteten. Dieses verlassene kleine Mädchen brauchte sie.
Als der Chauffeur die Wagentür öffnete, war Celeste schon auf der Mitte der Treppe angelangt. "Du bist gekommen!" rief sie und blieb unvermittelt stehen, als Rebel ausstieg. Das engelsgleiche Gesicht drückte totale Verwunderung aus. "Natürlich bin ich gekommen", antwortete Rebel aufmunternd, während sie sich überlegte, was Celeste getan hätte, wenn gerade ein anderer Gast angekommen wäre. Sie hatte ihrem Onkel offensichtlich nicht geglaubt. "Willst du wirklich hier bleiben?" fragte Celeste misstrauisch. "Warum nicht? Es ist schön hier. Ich werde es genießen hier zu sein. Ich bin froh, dass ich von deinem Onkel eingeladen worden bin." Celeste blickte kurz auf den Chauffeur, der hinter Rebel stand und das Gepäck aus dem Kofferraum holte. Zufrieden betrachtete sie Rebel von oben bis unten und bemerkte die Turnschuhe an ihren Füssen, die hautenge Jeans und den farbenfrohen Pullover mit den australischen Mustern. Der Stil ihrer Kleidung unterschied sich nicht all zu sehr von dem, was sie gestern getragen hatte, und Rebel hatte die Sachen bewusst ausgesucht, um dem kleinen Mädchen nicht zu fremd vorzukommen. Celestes zufriedene Miene gab ihr recht. "Hätte ich mich besser zurechtmachen sollen?" fragte Rebel und betrachtete Celestes Kleid bewundernd. Die Biesen und Schleifchen auf dem blauen Voile zeigten, dass es von einem Modeschöpfer kreiert worden war. Celeste schüttelte den Kopf. "Ich musste in die Kirche gehen", erklärte sie. "Das ist ein Kleid für die Kirche. Aber du musst nicht dorthin, Rebel. Das war schon heute morgen.", Erleichtert, dass sie diese Frage aus dem Weg geräumt hatte, zeigte sie auf die kleinen weißen Tiere, die in Rebels Pullover eingewebt waren, "Sind das Schafe?" "Ja. Dieser Pullover stellt die Geschichte des Liedes Waltzing Matilda dar."
"Welche Geschichte?" fragte Celeste neugierig. Während sie die Treppe hinaufgingen, erzählte Rebel die alte australische Legende von dem Räuber, der ein Lämmchen gestohlen hatte, um es zu essen. Als er dann von den Reitern aufgespürt worden war, ertränkte er sich, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Brooks begrüßte sie an der Tür und hieß sie in Davenport Hall willkommen. Der alte Butler bemerkte überrascht, dass Celeste fröhlich mit Rebel plauderte. Mrs. Tomkins wartete in der Galerie, um Rebel zu zeigen, wo sie untergebracht werden würde, und auch sie blickte erstaunt auf das kleine Mädchen in ihrer Begleitung, das den neuen Gast mit Fragen über Räuber und Reiter überschüttete. Rebel wurde in einen eleganten Raum im ersten Stock geführt, in den elegantesten Raum, den sie jemals bewohnt hatte. Es war eine Suite, deren eine Hälfte von einem beeindruckenden Himmelbett und dazu passenden antiken Schlafzimmermöbeln eingenommen wurde, die schon seit über hundert Jahren ihren Zweck erfüllten. Die andere Hälfte war wie ein Wohnzimmer eingerichtet, mit Sesseln, die um einen Kamin standen, einem Tisch, Stühlen, einem Schreibtisch, einem Fernseher und einem Regal, in dem die verschiedensten Romane standen. Der dicke Teppich war altrosa, und die Vorhänge und Polster bestanden aus rosagemustertem Chintz und cremefarbener Seide. Ein angrenzendes Ankleidezimmer mit geräumigen Schränken führte zu einem luxuriösen Badezimmer. Rebel schloss daraus, dass man Gästen auf Davenport Hall allen Komfort und alle Annehmlichkeiten bot, die man für Geld haben konnte. Was ihre Unterbringung betraf, wurde sie fürstlich empfangen. Man brachte ihr die Koffer. Mrs. Tomkins bot ihr an, dass ein Mädchen die Kleider auspacken und aufbügeln könnte. Rebel lehnte ab, zumal sie es vorzog, ihre Sachen selbst auszupacken, die meist aus bügelfreien Stoffen bestanden, um während der
Reise nicht zu zerknittern. Außerdem würde ein Mädchen, das geschäftig hin und her sprang, das Verhältnis stören, das sie gerade zu Celeste aufbaute. "Um ein Uhr wird das Mittagessen serviert", sagte Mrs. Tomkins, bevor sie ging. "Lord Davenport bittet Sie, zu ihm und den anderen Gästen in den Salon zu kommen, wenn Sie fertig sind, Miss James." Die Betonung lag auf "anderen Gästen". Ein Blick auf Rebels sportliche Kleidung reichte schon, um zu zeigen, dass Mrs. Tomkins Rebels Kleiderwahl so unpassend fand wie Lord Davenport am Tag zuvor. Obwohl Rebel die Auffassung vertrat, dass man sich anpassen sollte, hatte sie nicht vor, Lord Davenport und seine Gäste zu beeindrucken. Sie vermutete, sogar, dass Celeste einen falschen Eindruck bekommen würde, wenn sie sich umzog. "Danke schön, Mrs. Tomkins", sagte Rebel und lächelte dankbar. "Wir werden bald herunterkommen." Sobald die Haushälterin den Raum verlassen hatte, stellte Rebel Celeste eine entscheidende Frage, um herauszufinden, ob sie sich nach Auffassung der Kleinen richtig verhielt. "Weißt du, wer die Gäste deines Onkels sind?" "Natürlich", antwortete sie trotzig. Sie sah Rebel misstrauisch und aufgebracht an. Rebel fuhr damit fort, ihre Kleider aufzuhängen und tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass sich Celestes Gesichtsausdruck verändert hatte. "Magst du sie?" fragte sie beiläufig. "Ich hasse sie!" erwiderte Celeste heftig. Somit war die Kleiderfrage entschieden. Wenn sie sich so anzog wie die, anderen, würde sich Celeste zweifellos von ihr abwenden. Außerdem war das, was sie anhatte, völlig korrekt in der normalen Welt. Kleider machen schließlich keine Leute, dachte Rebel, während sie das verräterische Gefühl unterdrückte, Lord Davenport gefallen zu wollen.
Rebel sah Celeste finster an. "Du scheinst sehr viel zu hassen, mein Kind. Das ist nicht besonders klug. Gibt es Gründe dafür, diese Leute zu hassen?" Celeste runzelte die Stirn und überlegte sich, wie sie erklären konnte, dass sie trotzdem klug war. "Ich habe meine Gründe", sagte sie siegessicher. "Sir Roger lacht mich immer aus. Und Lady Harriet sagt nur dumme Sachen. Und Cynthia Lumleigh ist eine Schlange." "Eine Schlange?" fragte Rebel nach. Celeste nickte wissend. "Du wirst schon sehen." "Also gut. Ich werde es schon sehen", stimmte Rebel zu, im Bewusstsein, dass Kinder oft aufmerksamer waren, als Erwachsene glaubten. "Wie alt bist du?" "Sieben." "Und diese Cynthia Lumleigh, ist sie so alt wie du?" "Nein, sie ist erwachsen." Celeste rümpfte ihre perfekte kleine Nase voller Abscheu. "Sie ist hinter Onkel Alexander her und glaubt, unheimlich schlau zu sein. Ich hasse sie noch mehr als die anderen." Wahrscheinlich bedeutete es, dass Cynthia Lumleigh das kleine bisschen an Sicherheit, das Celeste hatte, in Frage stellte. So, wie Rebel sich diese Cynthia vorstellte, gefiel sie ihr auch nicht. Aber Alexander Davenport mit einer anderen Frau zu sehen - einer Frau seines Standes - würde ihr vielleicht helfen, sich zu besinnen und auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Rebel lächelte. "Nun, ich glaube, ich selbst werde ziemlich schnell herausfinden, wie schlau sie wirklich ist." Sie ging ins Badezimmer und stellte fest, dass ihr langes Haar so ordentlich war, wie es bei ihren wilden Locken nur möglich war, und dass sie ihren Lippenstift nicht nachziehen musste. Ein Blick in den großen Spiegel zeigte ihr, dass sie zwar sportlich, aber nicht schlampig aussah. Sie streckte Celeste die Hand
entgegen, als sie das Schlafzimmer betrat, und strahlte das Mädchen aufmunternd "Komm mit. Es ist an der Zeit, uns in die Schlacht zu begeben und einen guten Kampf zu liefern. Das Geheimnis dabei ist, dass du keinen an dich herankommen lassen darfst." Celeste blickte unsicher auf Rebels Hand, entschied sich aber dann, dass sie einen Versuch wagen sollte. "Wie machst du das?" fragte sie. Während sie zum Salon gingen, achtete Rebel darauf, dass sie Celestes Hand nur ganz leicht umschloss. "Zuerst musst du herausfinden, was wirklich vor sich geht", erklärte sie. "Wie zum Beispiel Sir Roger. Ich kenne ihn zwar noch nicht, aber viele Leute lachen, wenn sie unsicher sind. Mit Lachen überspielen sie ihre Unsicherheit. Das heißt noch lange nicht, dass sie etwas lustig finden." "Du meinst also, sie sind überhaupt nicht clever", meinte Celeste gedankenvoll. "Genau. Du hast eine gute Auffassungsgabe", erwiderte Rebel bewundernd. "Es wäre aber nicht höflich, es ihnen zu sagen, weil sie sowieso schon unsicher sind. Sie würden sich nur noch unwohler fühlen. Deshalb lächelt man sie an, so dass sie sich besser fühlen. Auf diese Weise gewinnst du, zumal sie glauben, du wärst ein netter Mensch, und du fühlst dich besser, weil du es geschafft hast, dass sie sich wohler fühlen. Das gleiche gilt für Leute, die dumme Sachen sagen. Sie wollen es nicht wirklich. Meistens wissen sie einfach nicht, was sie sagen sollen, und deshalb äußern sie einfach das, was ihnen gerade einfällt." "Lächelst du sie auch an?" fragte Celeste zweifelnd. Rebel schaute sie schelmisch an. "Natürlich. Sie fühlen sich dann besser, und du gewinnst wieder." "Was macht man mit hinterhältigen Schlangen?" "Lächeln ist immer gut, denn sie wissen dann nicht, ob sie dich verletzt haben oder nicht. Hinterhältige Menschen sehen
gern, dass sie jemanden verletzen können, und deshalb trifft man sie am besten, indem man es nicht zeigt. Ein Lächeln lässt sie glauben, dass sie verloren haben." "Aber sie sind verletzend", warf Celeste ein. "Ja. Manchmal schon. Hin und wieder muss man zurückschlagen. Aber es ist gar nicht so leicht, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Manchmal ist es am besten abzuwarten, um ihnen dann den Todesstoss zu geben." "Den Todesstoss?" Celeste blickte sie fasziniert an. Sie hatten die Tür des Salons erreicht. "Das erzähle ich dir später", versprach Rebel. "Wir sollten besser unser Lächeln aufsetzen. Wie findest du das?" Rebel zeigte ihr ihr bestes Zahnpastalächeln. Celeste kicherte und nickte zustimmend. "Jetzt du", forderte Rebel sie auf. Das kleine Mädchen zeigte ihr eine perfekte Zahnreihe. "Prima!" bestätigte Rebel und jubelte insgeheim darüber, dass Celeste so aufgeschlossen war. "Auf geht's, bereit zum Lächeln." Ihr Erscheinen im Salon erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Als die Unterhaltung verstummte und Schweigen eintrat, spürte Rebel, wie Celestes Finger ihre Hand fester umschlossen, als wolle sie damit zeigen, dass sie zu ihr gehörte. Rebel drückte leicht Celestes Hand, um ihr Sicherheit zu vermitteln, und lenkte ihren Blick auf Lord Davenport. Er stand gebieterisch vor dem Kamin in der Mitte des Raumes, aber sie sah ja sowieso nur ihn. Der Blick seiner fesselnden Augen war fest auf sie gerichtet und schien sich in ihre Seele einbrennen zu wollen. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit klassischem Nadelstreifen. Eine rotsilbergraue Krawatte setzte sich vom strahlenden Weiß seines Hemdes ab. Die Kleidung betonte sein geheimnisvolles, gutes Aussehen auf unbeschreibliche Weise, und Rebel spürte, dass ihr Herz laut pochte. Plötzlich bemerkte er und es musste für ihn ein nahezu unglaublicher Anblick sein - Celestes Hand in Rebels. Er zog
die Augenbrauen hoch, während er Rebels Jeans betrachtete und den Blick auf ihr Gesicht richtete. Mit seinen dunklen Augen sah er Rebel fragend an. Diese versuchte, nicht auf das wilde Pochen ihres Herzens zu achten, und lächelte noch strahlender. Er antwortete mit einem ironischen und bewundernden Blick. "Es ist uns eine Freude, Sie wieder bei uns zu haben, Rebel", sagte er sanft. Er zog eine Augenbraue spöttisch hoch, als er hinzufügte, "ich nehme an, Celeste hat Sie freundlich aufgenommen?" "Ja, sehr freundlich", erwiderte Rebel und lächelte das Mädchen verschwörerisch an. Celeste grinste ihren Onkel selbstgefällig an. "Jetzt weiß ich alles über Waltzing Matilda"`, berichtete sie freudig. "Die Geschichte ist auf Rebels Pullover dargestellt." Die Augen aller waren mit einemmal auf Rebels Brust gerichtet. "Wie ungewöhnlich! " bemerkte die schlanke blonde Frau nachsichtig, die Rebel sofort als Cynthia Lumleigh identifizierte. "Äußerst kleidsam!" sagte Sir Roger und lachte verlegen, als er bemerkte, dass er Rebels Brüste angestarrt hatte. "Was es heutzutage nicht alles gibt", warf Lady Harriet ein. "Ich verstehe", murmelte Alexander Davenport, während sein Blick verriet, dass er sich über Rebels Vorgehensweise lustig machte. Das wird sich noch ändern, schien er ihr sagen zu wollen. "Darauf würde ich nicht wetten", gab ihm Rebel zu verstehen, wobei sie sehr nervös war. Irgendwie entfachte er in ihr ein Feuer, das sie nicht löschen konnte, wie sehr sie es auch versuchte. Der stille Dialog entging Cynthia Lumleigh nicht, und sie lachte hell auf, um auf sich aufmerksam zu machen. "Wir bringen deinen Gast in Verlegenheit, Alexander. Willst du uns nicht bekannt machen?"
"Ich bezweifle stark, dass irgend etwas Rebel in Verlegenheit bringen könnte", sagte er trocken. "Ich habe bisher noch niemanden kennen gelernt, der so selbstbewusst ist." Seine Augen blitzten herausfordernd und belustigt, als er Rebel zu den anderen Gästen führte. "Sie sind nicht verlegen, stimmt's?" "Nicht im geringsten", antwortete sie unbefangen. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich, als er seine Nichte ansah. "Ich hoffe, du erinnerst dich an das, was ich dir gesagt habe, Celeste." "Ja, Onkel Alexander", antwortete sie trotzig. Zweifellos hat er sie ermahnt, sich gut zu benehmen, dachte Rebel. Sie drückte Celestes Hand freundschaftlich. Das kleine Mädchen sah sie schmollend an. Rebel warf ihr das Zahnpastalächeln zu. Nach einem kurzen Augenblick zeigte auch Celeste wieder ihre vollendete Zahnreihe. Verschwörerisch erwiderte die kleine Hand den Händedruck. Alexander Davenport war offensichtlich von dem seltsamen stummen Spiel überrascht. Er warf beiden einen finsteren Blick zu. Sie lächelten zurück, woraufhin er die Schultern zuckte und mit dem Vorstellen begann. Lady Harriet war äußerst überschwänglich. "Ich freue mich, Sie kennen zulernen ... Und das Ballonrennen. Alexander hat uns gerade davo n erzählt. Und Sie kommen aus dem fernen Australien. Da haben Sie ja einen ganz schön weiten Weg zurückgelegt" "Man, nennt es Down Under, Liebste", brummelte Sir Roger und lachte, als er nach Rebels Handgriff. Rebel schenkte ihm ein besonders freundliches Lächeln, da sie vermutete, dass Celeste zusah. Die beiden waren harmlos. Rebel spürte es sofort. Sie sahen aus, als wären sie Mitte Vierzig, ein angenehmes Paar, das überhaupt nicht überheblich wirkte. Sie trugen gutgeschnittene Sonntagskleider aus derbem Wollstoff, aber die Brosche mit den
Perlen und Rubinen auf dem Revers von Lady Harriets Kostüm war zweifellos, echt. Cynthia Lumleigh war ihre Nichte und von ganz anderem Schlag. Sie war groß und schlank und trug einen eleganten weißen Seidenanzug, ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert, die blauen Augen hatte sie durch Make- up betont. Eigentlich hätte man glauben können, sie sei die Zwillingsschwester von Lady Di. Nur ihre Herzlichkeit war von Anfang an unglaubwürdig. Sie hatten sich kaum hingesetzt, Rebel und Celeste auf dem Sofa, Sir Roger und Lady Harriet ihnen gegenüber, Alexander und Cynthia auf einem Zweisitzer, als letztere schon hinterhältige Seitenhiebe verteiltes "Griffith-James klingt mir vertraut", überlegte Cynthia gönnerhaft. "Sollte ich den Namen kennen? "Da wir uns noch nie begegnet sind, nehme ich es nicht an", antwortete Rebel trocken. "Griffith war der Name meiner Mutter. James ist mein Nachname. Man schreibt sie ohne Bindestrich." "Oh! Es klang so erlesen." Noch gönnerhafter fügte Cynthia hinzu." Kein bisschen wie ein Name aus einer Kolonie." Celeste hat recht, dachte Rebel. Eine wirkliche Schlange. Rebel lächelte zuckersüß. "Ich fürchte, Sie sind nicht auf dem aktuellen Stand der Dinge, Miss Lumleigh. Australien ist schon seit fast hundert Jahren keine britische Kolonie mehr." Aus den Augenwinkeln sah Rebel, dass Alexander die Lippen verzog. Cynthia lachte hell auf. "Natürlich. Aber England ist immer noch Ihr Mutterland, stimmt's?" Wäre die Frage nicht so herablassend gestellt worden, hätte Rebel es vielleicht bejaht. Es gab althergebrachte gefühlsmäßige Bindungen zu England. Aber sie wollte sich nicht als zweitklassiger Mensch einstufen lassen, von niemandem. Wenn Cynthia Lumleigh sich als etwas Besseres darstellen wollte,
musste sie scho n auf eigene Erfolge verweisen und nicht auf ihre Nationalität. "Sind Sie jemals in Australien gewesen, Miss Lumleigh?" fragte Rebel. "Um Gottes willen, nein!" Cynthia wies diese Vorstellung höhnisch von sich. "Das ist doch das Ende der Welt." "So kann man es auch sehen", antwortete Rebel genauso höhnisch, warf ihr aber ein strahlendes Lächeln zu. "Manche Menschen glauben aber, Australien sei der Anfang der Welt. Schließlich ist es viel älter als England. Und es hat eine eigene, einzigartige Wirkung auf die Menschen. Ich glaube, Sie würden finden, dass es nur sehr wenig mit England gemein hat. Abgesehen von ein paar Sportarten und unserem Regierungssystem." "Ja. Das ist in beiden Ländern gleich", mischte sich Alexander voller Bewunderung für Rebel ein. "Aber sonst..." Er wandte sich an die blonde Frau. "Wenn du jemals dort hinfahren solltest, erwarte kein zweites England, Cynthia. Es ist wirklich ein anderes Land." "Warst du schon mal dort, Alexander?" Da es ihr nicht gelungen war, Rebel zu erniedrigen, bemühte sich Cynthia nun, die Aufmerksamkeit ihres Gastgebers auf sich zu lenken, und bestürmte ihn mit tausend Fragen über seine Reise nach Australien. Rebel freute sich, als Alexander erzählte, dass er nach Australien eingeladen worden war, um Weine zu beurteilen, und dass einige australische Weine zu den besten gehörten, die er jemals getrunken hatte. Seine anerkennenden Worte über ihr Land machten all die Seitenhiebe seiner Freundin wett. Cynthia wollte jedoch nicht über ein Thema sprechen, bei dem Rebel mitreden konnte. Sie begann von ihrer Reise nach Frankreich zu schwärmen, um Rebel von dem Gespräch auszuschließen und die Aufmerksamkeit Alexanders nicht zu verlieren.
Sie machte es wirklich gut. Aber wenn er sich auch wie gewünscht seiner Nachbarin widmete, sah Rebel immer deutlicher, dass Alexander Davenport nicht mehr als freundschaftliche Gefühle für Cynthia hegte. Er war höflich. Er war charmant. Aber er war nicht in die blonde Schlange verliebt. Rebel wusste, wie das aussah. Ihr Schwager liebte seine Frau, Rebels Schwester Tiffany, abgöttisch. Und das sah man. Eigentlich geht es mich nichts an, sagte sich Rebel. Abgesehen davon, dass es für Celeste schrecklich wäre, unter Cynthias Aufs icht zu geraten. Rebel hoffte, dass Alexander Davenport empfindsam genug wäre, um das zu bemerken. Brooks kam herein, um das Mittagessen anzukündigen. Er schritt voran in ein helles und freundliches Speisezimmer. Es war mit weißen modernen Möbeln ausgestattet, was Rebel erstaunte, aber die Eleganz des Zimmers wurde noch durch die Geräumigkeit unterstrichen. Die breiten Fenster gingen auf einen Rosengarten hinaus, und das dunkle Gelb der Vorhänge fand sich in den Sitzkissen wieder. Gelbe Leinenservietten in silbernen Serviettenhaltern brachten Farbe auf das strahlende Weiß der ovalen Tischdecke, und der entzückende Tafelaufsatz bestand aus einer kleinen Vase voller gelber Rosenknospen. Der Gastgeber setzte sich an das Ende der Tafel. Cynthia Lumleigh wurde Alexander zur Rechten plaziert, Lady Harriet zu seiner Linken. Rebel sollte neben Cynthia und gegenüber von Sir Roger Platz nehmen, so dass Celeste zwischen ihnen sitzen würde, aber Cynthia entschloss sich plötzlich dazu, die Tischordnung zu verändern. "Celeste, Liebling, setz dich doch zu mir", forderte sie die Kleine auf und lächelte sie dabei so gönnerhaft an, dass einem übel werden konnte. "Du bist heute so brav gewesen. Ein richtiger kleiner Engel. Sie streckte die Hand aus, offensichtlich in der Absicht, Celestes Verbundenheit mit Rebel auf die Probe zu stellen - oder um eine Situation zu schaffen, aus der sowohl Rebel als auch Celeste als Verlierer hervorgehen würden. Das
Kind sah sie voller Abscheu an. Rebel setzte erneut ihr Zahnpastalächeln auf. "Sir Roger wird auf deine Gesellschaft verzichten müssen, Celeste, aber ich werde die Freude haben, dich bei mir zu haben", sagte sie bestimmt. Sir Roger lachte. Celeste lächelte ihn an, und da sie schon in Übung war, warf sie Cynthia ein noch strahlenderes Lä cheln zu. Dennoch beachtete sie deren ausgestreckte Hand nicht, als sie mit Rebel den Platz tauschte. Cynthia seufzte enttäuscht und blickte Alexander an, als wolle sie sagen, dass sie es versucht hätte, aber das Kind einfach unmöglich sei. Alexander erwiderte ihren Blick nicht, sondern verzog nur leicht die Lippen. Er sah auch Rebel nicht herausfordernd an. Er wandte sich an Lady Harriet und verwickelte sie in ein Gespräch über ein Fest, das sie gerade organisierte. Rebel erfuhr, dass die Dorfkirche reparaturbedürftig war und Lady Harriet ein Komitee leitete, das die nötigen Mittel für die Instandsetzung auftreiben sollte. Das Gespräch darüber erstreckte sich über den ersten Gang, eine Gemüsesuppe, und den Hauptgang, Roastbeef. Rebel störte sich nicht daran, dass sie an dieser Unterhaltung nicht teilnahm. Immer wenn Sir Roger lachte, lächelten sich Celeste und Rebel verschwörerisch an, und dieses kleine Spiel amüsierte die Kleine und hielt sie bei Laune. Das Spiel blieb auch Alexander Davenport nicht verborgen. Manchmal warf er Rebel einen finsteren, durchdringenden Blick zu, als würde er herausfinden wollen, was sie vorhatte. Cynthia bemerkte es. Verärgert über diese wortlose Unterhaltung, die auf eine Intimität hindeutete, die sie erschreckte, verspritzte sie ihr süßes Gift erneut. "Sicherlich haben auch Sie ein paar interessante Vorschläge für das Fest, Miss James, oder? Ihre Wohltätigkeitsarbeit für das
Ballonrennen lässt darauf schließen, dass Sie auf diesem Gebiet sehr viel Erfahrung haben." Rebel warf Alexander Davenport einen forschenden Blick zu, als würde sie ihn fragen, ob er seine Gäste bewusst über ihre Tätigkeit in England im unklaren gelassen hatte, um ihre Anwesenheit annehmbarer zu machen. Rebel verachtete überhebliche Menschen, die auf die arbeitende Bevölkerung herabsahen. Ihr Stolz zwang sie zu einer Berichtigung. "Sie müssen das, was Lord Davenport Ihnen von mir erzählt hat, missverstanden haben, Miss Lumleigh." Sie setzte ein nachsichtiges Lächeln auf. "Das Rennen selbst ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung, was ich tue, ist aber reines Geschäft. Ich wurde engagiert, um Sponsoren zu gewinnen, und wenn ich die gewünschte Anzahl von Sponsoren verpflichte, erhalte ich ein beträchtliches Honorar." Cynthia zog die Augenbrauen hoch. "Ach, so ist das", sagte sie affektiert. "Sie sind also eine Karrierefrau, Miss James." Rebel sah sie erheitert an und machte alle Andeutungen zunichte, die im Tonfall der blonden Schlange mitschwangen. "Wenn Sie damit meinen, dass ich es genieße, Karriere gemacht zu haben, dann ja. Wenn Sie ausdrücken wollen, dass ich mein Leben meiner Karriere gewidmet habe, dann nein. Ich möchte mehr tun, als nur den Mann heiraten, den ich liebe, und eine große Familie haben." Cynthia saß unbewegt da. Alexander Davenport verzog jedoch die Lippen. Die blonde Frau startete einen neuen Angriff. "Bei dem Bevölkerungsüberschuss, den wir zur Zeit haben, zeigt man nicht besonders viel soziales Bewusstsein, wenn man eine große Familie hat", tadelte sie mild. Rebel lachte frei heraus. "Miss Lumleigh, ich bin in einer sehr großen Familie aufgewachsen, die wahrscheinlich mehr soziales Bewusstsein hatte als jede andere. Man könnte sie als
internationale Familie bezeichnen, zumal so viele meiner Brüder und Schwestern aus verschiedenen Ländern stammen." Das brachte Cynthia aus dem Konzept. Lady Harriet zeigte jedoch Interesse. "Was wollen Sie damit sagen?" fragte sie. Rebel lächelte sie an, im Bewusstsein, dass sie auch Alexander Davenports Neugier geweckt hatte. Rebel hoffte, dass er jetzt einsehen würde, dass ihre Lebenserfahrung sie wirklich dazu befähigte mit einem verstörten Kind umzugehen. "Wir vierzehn sind alle adoptiert worden, Lady Harriet. Zachary Lee kam aus Amerika, Tiffany Makana von Fidschi, Zuang Chi aus China, Mahammad und Leah aus Ind ien, Carol und Alan Tay aus Vietnam, Rosalie von den Philippinen, Kim aus Korea, Shasti aus Äthiopien, Suzanne aus Kanada, Joseph aus Thailand und Tom ist ein gebürtiger Australier." Rebels Aufzählung folgte tiefes Schweigen. Rebel blickte auf Lord Davenport. Er starrte sie voller Bewunderung an, und Rebel freute sich für einen Augenblick über ihren Sieg. Das wird ihn lehren, nicht alle Menschen über einen Kamm zu scheren, dachte sie. "Und Sie?" fragte Lady Harriet. "Wo kommen Sie her?" Rebel musste sich vo n dem nervenaufreibenden Gefühl befreien, das Alexander Davenport in ihr hervorrief: das Gefühl, sich in einem Wettbewerb zu befinden. "Ich wurde in Australien geboren, aber ich war immer die Engländerin in der Familie. Meine Mutter kam aus England, und als die James mich adoptierten, hatte ich einen sehr ausgeprägten englischen Akzent." "Bemerkenswert!" sagte Sir Roger. Und lachte. "Wie sind Ihre Eltern mit einer derartigen Mischung fertig geworden?" fragte Lady Harriet und schüttelte verwundert den Kopf. Rebel erwiderte den Blick der dunklen Augen und war fest entschlossen, nicht klein beizugeben. "Mit Liebe. Und viel
Zuneigung", sagte sie langsam. Aber zuerst muss man sich Respekt verschaffen, fügte sie im stillen hinzu. Und zeigen, dass man sich auch um sie sorgt. Cynthia Lumleigh hatte jedoch keine Lust, schweigend dazusitzen und Rebel zu gestatten, auf einem bestimmten Gebiet Expertin zu sein. "Was geschah mit Ihren wirklichen Eltern, Miss James?" fragte sie gespielt interessiert. Ihre Augen blitzten, sie hatte vor, Rebel auszustechen und zielsicher den wunden Punkt der Australierin zu treffen. "Ich habe sie verloren", antwortete Rebel kurz angebunden. "Wir haben alle unsere wirklichen Eltern verloren, bevor wir adoptiert wurden." "Sie müssen sich aber doch an Ihre Mutter erinnern", bedrängte man sie sanft. "Zumal Sie doch den englischen Akzent von ihr haben." "Sie starb, als ich fünf war", erwiderte sie kurz angebunden, zumal sie schon wusste, was jetzt kommen musste, und es nicht abwenden konnte. "Und Ihr Vater?" Rebel zwang sich zu lächeln. "Ich habe ihn nie kennen gelernt." "Wie traurig!" Cynthia heuchelte Mitgefühl. "Ist er vor Ihrer Geburt gestorben?" Rebel sah sie unverwandt an, aber irgendwie war ihr das Lächeln vergangen. "Nein. Er verließ meine Mutter vor meiner Geburt. Ich habe keine Ahnung, ob mein wirklicher Vater lebt oder nicht. Genau sowenig weiß ich, wer oder was er war. Oder ist." Sogar in diesem Moment war sie versucht hinzuzufügen: "Und das ist mir auch egal! Er bedeutet mir nichts!" Sie wusste jedoch, dass es nicht stimmte und wie eine Abwehrreaktion wirken würde. Natürlich machte es ihr etwas aus. Es wäre doch unnatürlich, wenn es ihr egal wäre und sie sich nicht zurück gestoßen fühlen würde. Damit musste sie leben.
Cynthia freute sich hämisch. Sie hatte herausgefunden, dass Rebel keinen Stammbaum hatte, und war in ihrer Überheblichkeit noch selbstgefälliger. "Das muss ja schrecklich für Sie sein!" säuselte sie und weidete sich an ihrem Sieg. Rebel wollte gerade sagen, dass ihr Adoptivvater diese Lücke mehr als ausreichend ausgefüllt habe, als Celeste sie in ihren Gedanken unterbrach. Die Kleine warf ihr Glas um, so dass das ganze Wasser auf Cynthias Schoss landete. Als Todesstoß hatte es seine Wirkung nicht verfehlt. Aber der Zeitpunkt war äußerst ungünstig. Es war kein Siegeszug. "Oh! Du böses Kind! Du hast es absichtlich getan! " kreischte die Blonde, stand auf und jammerte kläglich darüber, dass ihr Seidenanzug ruiniert worden war. Alexander Davenport sprang sofort auf, seine Miene verfinsterte sich, seine Lippen waren aufeinander gepresst, und seine Augen blitzten seine Nichte an. Celeste strahlte voller Trotz. Es gab nur eine Möglichkeit, um eine peinliche Situation zu vermeiden. Rebel erhob sich und warf dabei ihr Glas um, so dass sich der Rotwein auf Celestes Schoss ergoss. "Ach du meine Güte, was habe ich nur getan!" rief sie, wodurch Alexander Davenport vergaß, seine Nichte zu tadeln. Rebel stürzte sich auf Celeste, hob sie vom Stuhl herunter und nahm sie auf die Anne. "Sieh nur, was wir angerichtet haben! " sagte sie bestürzt und drückte Celeste fest an sich. "Entschuldigen Sie uns bitte. Ich gehe mit Celeste hinauf und ziehe ihr etwas anderes an. Wenn wir den Wein nicht sofort herauswaschen, gibt es Flecken. Welch ein Glück, dass es bei Ihnen nur Wasser ist, Miss Lumleigh." Sie eilte zur Tür, bevor sich Celeste vom ganzen Durcheinander erholen und die Vorstellung durch einen Wutanfall gefährden konnte. Sie hielt nur lang genug inne, um der verwirrten Gesellschaft einen entschuldigenden Blick
zuzuwerfen. Alle starrten sie an, Cynthia Lumleigh voller Abscheu, Sir Roger und Lady Harriet staunend, Alexander Davenport herausfordernd und spöttisch. Rebel verabschiedete sich ganz diplomatisch. "Es tut mir schrecklich leid für die Tischdecke, Alexander. Lady Harriet, ich hoffe, das Kirchenfest wird ein großer Erfolg. Sir Roger, Lady Lumleigh, es war mir eine große Freude, Sie alle kennen zu lernen. Vielleicht treffen wir uns mal wieder." Die Verabschiedung war der beste Ausweg, und noch bevor sich die anderen genügend gefasst hatten, um zu antworten, war Rebel schon gegangen und brachte Celeste in Sicherheit. Es mag ja feige sein, sich einfach aus dem Staub zu machen, aber morgen ist auch noch ein Tag, der sicherlich deine Kräfte beansprucht, dachte Rebel wehmütig. Es war kein leichter Tag. Celeste hielt den Todesstoss, den sie Cynthia Lumleigh versetzt hatte, für völlig gerechtfertigt. Es kümmerte sie nicht, was Onkel Alexander sagte. Es kümmerte sie nicht, was irgend jemand sagte. Cynthia Lumleigh hatte sich gemein und hinterhältig verhalten, und Rebel hatte ihr nicht zugelächelt. Sie ließ sich nicht von Rebels Erklärung überzeugen, dass die Erinnerung an schlechte Zeiten ihr Schmerzen bereitet hätte und nicht Cynthia Lumleighs Gehässigkeit. Wenigstens war sie einverstanden, Rebel in Zukunft ihre Kämpfe allein austragen zu lassen. Aber sie bereute immer noch nicht, das Wasser verschüttet zu haben. Und da es Rebel insgeheim auch nicht leid tat, sprach sie nicht mehr darüber. Ein langer Spaziergang um das Anwesen schien das beste zu sein, um irgendwelchen Problemen aus dem Weg zu gehen. Das Grundstück war äußerst gepflegt. Gepflasterte Wege führten zu verschiedenen Gärtchen, die zwischen kunstvoll gestutzten Hecken angelegt waren. Hinter einem vo llendeten englischen Rasen lag ein malerischer See, und über all dem erhob sich der berüchtigte Turm, in den Celeste das Kindermädchen
eingesperrt hatte. Rebel vermied es jedoch, dieses Thema anzuschneiden. Sie interessierte sich für Celestes Zukunft, nicht für ihre Vergangenheit. Die Neugier bezüglich der James war schließlich stärker als Celestes schlechte Laune, und Rebel erzählte ihr, wie alle Kinder adoptiert worden waren. Celeste grübelte und schwieg. Rebel versuchte nicht, sie in ihren Gedanken zu unterbrechen. Sie hoffte, dass es Celeste bewusst wurde, dass es so viele Kinder gab, denen es schlechter ging als ihr. Erst als Celeste ins Bett gehen sollte, bemerkte sie, was das Kind alles vermissen musste. Mrs. Tomkins führte sie in die Bibliothek, damit Celeste ihrem Onkel gute Nacht sagen konnte. Dieser Raum erinnerte Rebel stark an ein vergangenes Zeitalter. An den Wänden standen Glasvitrinen voller Bücher, und die Einrichtung bestand aus drei beeindruckenden Tischen und einer großen Anzahl von riesigen Ledersesseln. Dort standen Ablagen für Landkarten, ein alter und ein neuerer Globus, dicke Wörterbücher auf Lesepulten und Reihen von Lexika. Der gesamte Raum vermittelte die nostalgische Atmosphäre einer Sammlung von Wissen, das immer aufbewahrt und gepflegt werden wollte. Alexander Davenport saß in der Mitte an einem Tisch und las anscheinend in einem ledergebundenen Tagebuch. Als er aufblickte und sah, wer eingetreten war, erhob er sich langsam, kühl und abweisend. "Haben Sie einen schönen Spaziergang gemacht?" fragte er Rebel förmlich. Rebel erschauerte. "Ja, danke", antwortete sie genauso steif. Er sah seine Nichte an. "Glaub ja nicht, ich hätte nicht gesehen, was du heute Mittag angestellt hast, Celeste. Rebel wollte dich beschützen, und da sie unser Gast ist und beschlossen hat, dies zu tun, gebe ich dir noch eine Chance. Aber wenn etwas
Derartiges noch einmal vorkommen sollte, wirst du nur noch in der Küche essen. Ist das klar?" "Das ist mir egal!" rief Celeste trotzig. Er richtete die dunklen Augen auf Rebel und schien sich darüber lustig zu machen, dass Rebel glaubte, sie könnte Celestes Verhalten ändern. Dann richtete er den Blick erneut auf seine Nichte. "Es ist völlig unwichtig, ob es dir egal ist oder nicht. Entweder du tust, was man dir sagt, oder du musst die Konsequenzen tragen", sagte er scharf. "Celeste wollte Ihnen gute Nacht sagen, Alexander", mischte sich Rebel ein, bevor Celeste die Kluft zwischen sich und ihrem Onkel vergrößern konnte. Nicht dass sie mit seinem Verhalten einverstanden gewesen wäre, aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um dies zu besprechen. Sie drückte Celestes Hand. "Sag gute Nacht, Celeste." Die Kleine schwieg trotzig. Alexander Davenport wartete mit versteinerter Miene und kam Celeste nicht entgegen. Rebel hätte ihm am liebsten zu verstehen gegeben, dass seine Nichte nur ein kleines Mädchen war und kein Feind, den man sich unterwerfen musste. Dann hörten sie plötzlich ein zitterndes Stimmchen sagen: "Gute Nacht, Onkel Alexander." Er nickte gnädig. "Gute Nacht, Celeste."
5. KAPITEL Das war alles. Er verabschiedete sie kalt, er drückte sie nicht und gab ihr auch keinen Kuss! Rebel hatte große Mühe, das Vertrauen des Mädchens wiederzugewinnen. Sie steckte es ins Bett und erzählte ihm eine lange, abenteuerliche Geschichte über einen australischen Strauchdieb, der vor langer Zeit gelebt hatte. Celeste verzog keine Miene. Sie blickte Rebel mit ihren großen blauen Augen starr an und wartete unbewegt darauf, dass Rebel ging. Als diese sich über sie beugte, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, wandte sich Celeste von ihr ab und barg das Gesicht im Kissen. "Hat dir meine Geschichte angst gemacht?" fragte Rebel. Celeste drehte sich plötzlich um. "Überhaupt nicht! Ich will jetzt einfach nur einschlafen!" "Gut. Aber bevor du einschläfst, müssen wir uns drücken und küssen." "Das müssen wir nicht!" erwiderte Celeste zornig. Rebel seufzte. "Ich glaube, du kannst es gar nicht. Liegt es daran, Kleine? Du weißt wohl nicht, wie man das macht?" Schweigen. Celestes kleines Gesicht wirkte angespannt. "Sich drücken und küssen ist wie kämpfen", erklärte Rebel fest entschlossen, die Mauer zu durchbrechen, die das Kind um sich herum errichtet hatte. "Wenn du es gut können willst, musst du üben. Am Ende jeden Tages soll man alle schlechten Dinge
vergessen. Um das zu tun, muss man gedrückt und geküsst werden, sonst fühlt man sich schrecklich einsam, und alles sieht noch schlimmer aus. Deshalb musst du lernen, wie man es richtig macht, so wie du gelernt hast, wie man ein guter Kämpfer wird." Rebel schob die Hände unter Celestes Schultern. "Wenn du deine Hände um meinen Nacken legst, können wir uns richtig schön drücken", erklärte sie sanft. Mit einem ängstlichen Blick streckte Celeste die zarten Arme unsicher aus, und als sie sie Rebel um den Nacken legte, umarmte und drückte Rebel die Kleine, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Rebel wurde plötzlich bewusst, dass Celeste noch nie gedrückt und noch keinen Gutenachtkuss bekommen hatte Das konnte doch nicht möglich sein. Ihr Vater oder ihre Mutter waren sicherlich zärtlich zu ihr gewesen. Oder aber nicht? Celeste hatte gesagt, dass es ihr nichts ausmache, dass sie tot seien. Hätte sie das gesagt, wenn ihre Eltern zärtlich zu ihr gewesen wären? Rebel beschloss, dass sie heute nacht noch einiges mit Alexander Davenport zu besprechen hatte. Nachdem sie Celeste so zu Bett gebracht hatte, wie es sich gehörte. "Nimm ... du riechst gut", murmelte sie bewundernd und strich über das seidige Haar. Dann legte sie die Kleine sanft zurück auf die Kissen, hielt sie noch fest und lächelte sie an. Celeste sah sie mit ihren großen blauen Augen an. "Jetzt werde ich dir einen Kuss geben." Sie küsste sie zärtlich auf die Stirn. "Und jetzt bist du dran." "Ich komme nicht an deine Stirn", flüsterte Celeste atemlos. "Wie wär's mit meiner Wange? Das wäre doch prima." Als Celeste sich aufsetzte, um ihre Lippen auf Rebels Wange zu drücken, umschlang sie sie noch fester. Dann ließ sie sich zurückfallen und wartete ängstlich darauf, kritisiert zu werden. Rebel lächelte. "Du lernst wirklich schnell. Gute Nacht, Celeste."
Sie hatte das Kind zum ersten Mal mit seinem Namen angesprochen. Celestes blaue Augen strahlten triumphierend. Dann schloss sie sie schnell und kuschelte sich in das Kissen, als würde sie befürchten, dass man ihr das schöne Gefühl wieder wegnehmen würde. Rebel machte das Licht aus und ging zufrieden hinaus, weil sie einen großen Schritt getan hatte, obwohl sie erst am Anfang stand. Es war höchste Zeit, in dieser Angelegenheit etwas zu unternehmen. Als das Mädchen den Abendtee brachte, erklärte es, dass das Abendessen um acht Uhr im großen Esszimmer serviert werden würde. Jetzt war es erst sieben. Rebel hatte also genügend Zeit, um sich einen Plan zurechtzulegen. Bei ihrer Arbeit war es immer wichtig, richtig aufzutreten, und deshalb hatte sie bei ihrer Garderobe keine Kosten gescheut. Da sie vorhatte, Celestes Onkel zu besänftigen, wählte sie das schönste Kleid, das sie mitgebracht hatte. Eine halbe Stunde später, nachdem sie geduscht und sich zurechtgemacht hatte, war Rebel mit ihrem Aussehen zufrieden. Der seidene Stoff ihres Kleides war in leuchtendem Orange und Gelb gemustert und hatte einen sehr weiblichen Schnitt. Die Manschetten ihres Umhangs waren mit einem gelben Band eingefasst, so wie die Rüschen ihres weiten Rocks und die Rüsche, die den tiefen Rückenausschnitt betonte. Der taillierte Schnitt schmeichelte ihrer Figur, und Rebel wusste, dass die Farben des Kleids ihren Teint unterstrichen, indem sie die winzigen goldenen Pünktchen in ihren haselnussbraunen Augen widerspiegelten und den dunklen Schimmer ihrer üppigen braunen Locken zur Geltung brachten. Anschließend parfümierte sie sich noch mit einem leichten Sommerduft. Sie traf Alexander Davenport im Salon. Er stand vor einem Tablett, auf dem sich zahlreiche Kristallkaraffen und Gläser befanden, und machte sich gerade einen Drink. Als er aufblickte und sie sah, hielt er inne.
Er ließ den Blick über die üppigen Formen ihres jungen Körpers schweifen, die durch das enganliegende Kleid verführerisch betont wurden Als sie auf ihn zuging, passte sich der seidene Stoff der Bewegung ihrer langen Beine an, ein Anblick, der den Grafen für einige nervenaufreibende Sekunden sprachlos machte. Schließlich gewannen seine guten Manieren die Oberhand, und er richtete den Blick auf die gelben Sandaletten mit den hohen Absätzen, die um ihre schmalen Fesseln gebunden waren, bevor er ihr wieder in die Augen sah. "Sie sehen aus wie der Frühling", bemerkte er freundlich. "Sie erfreuen das Auge eines jeden Betrachters." Das Kompliment besänftigte sie. Die Art, wie er sie angesehen hatte, verwirrte, sie völlig. Aber Rebel hielt an ihrem Entschluss fest. "Danke", sagte sie. "Falls Sie noch andere Gäste erwarten sollten, hoffe ich, dass diese gleicher Meinung sind. Ich lege wirklich, keinen Wert darauf, zweimal am Tag als minderwertiges Wesen betrachtet zu werden." Er verzog die Lippen. "Falls irgend jemand diesem Irrtum erliegen sollte, zweifle ich nicht daran, dass er sich bald von Ihnen eines Besseren belehren lassen wird. Sie beherrschen das sehr gut. Das bewundere ich an Ihne n." Dieses zweite Kompliment wirkte wie eine Streicheleinheit für ihre verwundete Seele. Es gefiel ihr zwar, wenn man ihre Weiblichkeit bewunderte, aber es bedeutete ihr viel mehr, wenn man ihre Selbstachtung schätzte und gut hieß. Sie erinnerte sich noch allzu gut daran, wie schrecklich es gewesen war, sich von der ganzen Welt abgewiesen zu fühlen, und es war nicht einfach gewesen, Selbstvertrauen aufzubauen. Dass jemand in Alexander Davenports Stellung sie als Persönlichkeit bezeichnete, mit der man rechnen musste, war Balsam für ihre alten Wunden. Und plötzlich empfand sie die körperliche Anziehung, die sie so beunruhigt hatte, ganz anders.
Sie strahlte. Er lächelte. Er lächelte wirklich. Rebel hörte das laute Pochen ihres Herzens. " Möchten Sie einen Drink?" fragte er. "Ich kann den Sherry empfehlen." "Ja. Danke." Als sie ihm folgte, rief sie sich zur Ordnung. Ihr gesunder Verstand sagte ihr, dass sie seine mildere Stimmung ausnutzen sollte. Celeste war wichtiger als ihre eigenen Interessen. "Ich wollte Ihnen auch noch dafür danken, dass Sie mich gegenüber Lady Lumleigh und deren Überheblichkeit verteidigt haben", fügte sie hinzu, als er ihr das Sherryglas reichte. Er sah sie herausfordernd an. "Ich weiß, wozu Sie imstande sind. Vielleicht habe ich sie vor einem hervorragenden Gegner beschützt." "Nein", erwiderte Rebel entschieden und ließ sich die Gelegenheit für einen harmlosen, unverfänglichen Flirt bewusst entgehen. Er hob die Augenbraue. "Nein?" "Sie haben sich auf meine Seite gestellt." "Vielleicht dachte ich, es sei die richtige Seite." "Das dachte Celeste auch." Seine Miene versteinerte sich augenblicklich. "Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass ich ihr Verhalten dulde?" Seine plötzliche Stimmungsänderung passte überhaupt nicht in Rebels Konzept. Sie versuchte es mit einem sanften Appell an sein Herz. "Nein, natürlich nicht. Aber Sie könnten doch versuchen, es zu verstehen, Alexander." "Ich verstehe es nur zu gut." Damit war dieses Thema für ihn offensichtlich erledigt. Rebel atmete tief ein und ließ nicht locker, weil sie etwas, was so offensichtlich falsch war, nicht im Raum stehen lassen konnte. "Nein, das tun Sie nicht, Alexander. Sie hat sich in ihrer kindlichen Art auf meine Seite gestellt, so wie Sie es als Erwachsener getan haben. Was sie getan hat, war falsch, aber sie hat in der gleichen Absicht gehandelt wie Sie."
Er hob sein Glas und prostete ihr spöttisch zu. "Denken Sie, was Sie wollen, Rebel. Ich ziehe es vor, die Dinge anders zu betrachten." "Warum?" fragte sie und verlor langsam die Geduld mit seiner Sturheit. "Celeste hat schnell erkannt, dass man mich angegriffen hat, und setzte dem ein Ende. Dabei war sie ziemlich plump. Kinder sind nun einmal keine Meister des Feingefühls." Als er zum Vergeltungsanschlag ausholte, hatte er zu seiner vornehmen Zurückhaltung zurückgefunden. "Das ist Ihre Auslegung. Ich sehe es nicht so." "Dann haben Sie unrecht!" beharrte Rebel überzeugt. Das veranlasste ihn zu einer heftigeren Antwort. "Recht oder Unrecht, ich werde jedenfalls nicht dulden, dass sie sich an meinem Tisch wie eine kleine Wilde aufführt." "Wenn Sie etwas menschlicher zu ihr wären, wäre sie keine kleine Wilde", erwiderte Rebel zornig. Er setzte eine verschlossene, stolze Miene auf. "Ich habe Ihnen freie Hand gelassen. Tun Sie, was Sie für richtig halten." Er machte eine kleine steife Verbeugung und ging zum Kamin. Das war gründlich danebengegangen. Er blickte starr und brütend in die lodernden Flammen. Es dauerte eine Weile, bis Rebel ihre große Enttäuschung überwand. Es brachte nichts, mit einem Mann zu diskutieren, der nicht bereit dazu war. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass Alexander Davenport kein schlechter Mensch war. Und auch kein gefühlskalter. Wenn es jedoch um seine Nichte ging, war er unerbittlich. Das wirkte sich nicht nur auf Celeste aus. Es fraß sich geradezu in ihn hinein wie ein Krebsgeschwür und verdarb ihm, was eigentlich ganz gut und schön sein sollte. Was konnte man dagegen tun? Sie musste etwas unternehmen, wollte sie Celeste dauerhaft helfen. Irgendwie. Das Kind war zu jung, um dagegen anzukämpfen. Wenn Alexander Davenport jedoch nicht auf sie
hören würde, wenn er sich verschloss ... Ratlos schüttelte Rebel den Kopf . In diesem Augenblick drehte sich Alexander Davenport zu ihr und zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln. "Ich hätte mit Ihnen kein Abkommen schließen dürfen. Mein Verstand ist..." Sein Lächeln verwandelte sich in eine traurige Grimasse. "...von einer frischen Brise verleitet worden." Er blickte ihr ins Gesicht, auf das Haar und die sanften Rundungen ihres Körpers, und Rebel spürte, wie sehr er sie begehrte. Für wenige Augenblicke hätte sie sich ihm am liebsten hingegeben und alles andere vergessen, als würde es nur sie und ihn geben, eine Frau und einen Mann. Sie hätte gern in seinen Armen gelegen, sich gern an ihn gelehnt und seine Küsse gespürt. Sie war sich sicher, dass er sehr leidenschaftlich sein konnte. Als er sie schließlich ansah, lag ein verzweifelter Blick in seinen verloren Augen, der Rebel fast das Herz zerriss. "Mir ist jetzt klargeworden, dass man Ihnen weh tun wird", sagte er gezwungen. "Und ich möchte nicht, dass Ihr Strahlen erlischt. Es war sehr selbstsüchtig von mir, etwas davon haben zu wollen." Rebel war fassungslos. Er entschied sich, alles zu verhindern, was zwischen Ihnen entstehen könnte. Er senkte die Stimme in trauriger Gewissheit. "Das ist nicht der richtige Ort für Sie, Rebel. Sie sollten Celeste und mich verlassen. Sie sollten schon morgen gehen, bevor..." "Nein", unterbrach sie ihn entschieden, "ich bleibe, Alexander. Ich kann Celeste keinesfalls bei Ihnen lassen. Nicht, wenn..." "Rebel..." Er sah sie gequält an. "Glauben Sie mir, es ist nur zu Ihrem Besten. Sie müssen gehen." "Ich kann nicht. Ich weiß nicht, wieso Sie so für Celeste empfinden, aber ich..." Sie sah ihn um Verständnis flehend an. "Ich sehe mich in ihr wieder, Alexander. Als ich in ihrem Alter war, war ich genauso. Ich..."
"Nein!" Er stieß sein Glas so heftig gegen die breite Kamineinfassung, dass der Stiel zerbrach. Kristallscherben und Sherry ergossen sich auf seine Hand. Er schüttelte es gleichgültig ab, und als er auf Rebel zuging, wirkte er sehr entschlossen und hatte einen derart ungestümen Blick in seinen Augen, dass sie wie gelähmt dastand. Er nahm ihr das Sherryglas aus der Hand und stellte es auf den Kaminsims. Dann packte er sie an den Oberarmen, als wolle er die Wirkung seiner Worte durch diese Berührung verstärken. Für einen kurzen Auge nblick war zu sehen, wie er mit sich rang, aber Rebel war zu verwirrt, um diesen Gefühlswechsel zu enträtseln. "Hören Sie mir gut zu", sagte er nachdrücklich, "was Sie uns heute beim Mittagessen erzählt haben ... Ich kann verstehen, dass Sie Ihr Schicksal in Celeste wiederzufinden glauben. Sie denken daran, dass auch sie ihre Eltern verloren hat. Aber ihr Leben entspricht nicht Ihrem. Es macht Celeste nichts aus, dass sie keine Eltern mehr hat. Sie hat ihren Tod nicht beweint, so wie Sie sicherlich um Ihre Mutter getrauert haben, Rebel. Sie wären nicht nach Davenport Hall gekommen, wenn Sie sich nicht voller Liebe an sie erinnern würden. Stimmt's?" Sie fühlte sich beklommen, ihr Mund war so trocken, dass sie nicht sprechen konnte. Sie nickte. "Und Sie lieben doch Ihre Adoptivfamilie?" "Ja", flüsterte sie verwirrt und konnte sich nicht vorstellen, worauf er hinauswollte. "Sie glauben, dass Celeste durch Liebe gerettet werden kann, aber dem ist nicht so, Rebel. Sie wird mit Ihrer Liebe spielen, sie für sich aus nutzen und sie Ihnen dann schließlich so verächtlich triumphierend vor die Füße werfen, dass es Ihnen das Herz zerreißt. Ich weiß, wovon ich spreche, das können Sie mir ruhig glauben. Sie ist das Kreuz, das ich zu tragen habe..." Er presste die Lippen zusammen. "Sie haben jedoch nichts damit zu tun. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Sie sich mit ihr einlassen."
Seine traurige Resignation ließ seine Augen plötzlich glanzlos erscheinen. "Jemandem wie Cynthia Lumleigh macht das nichts aus. Für sie ist Celeste nur ein Ärgernis. Sie würde sich von ihr niemals ernsthaft verletzen lassen. Sie aber schon, Rebel, weil Sie Celeste zu gern haben. Und wenn Sie Celeste zuviel Zuneigung entgegenbringen, reichen Sie ihr nur eine Waffe, die sie später gegen Sie richtet." "Nein." Sie schreckte vor seinen Worten zurück. "Nein, sie muss geliebt werden. Sie sehen das falsch." "Rebel." Ungeduldig holte er tief Luft und seufzte. Für einen Augenblick verstärkte er den Druck auf ihre Arme, dann ließ er sie los. Er machte ein betrübtes Gesicht. "Celeste hasst mich, weil sie weiß, dass ich ihre Spielchen durchschaue. Bei mir hat sie keine Chance. Aber bei Ihnen..." Seine Miene hellte sich unvermittelt auf. Er hob die Hand und strich Rebel zart über die Wange. "Für Celeste ist Liebe eine Schwäche, die man ausnutzen muss. Wenn ich davon überzeugt wäre, dass Sie ihren bösartigen Machtspielen nicht zum Opfer fallen, würde ich mir die Freude nicht nehmen lassen, Sie näher kennen zu lernen." Er blickte auf ihren Mund und ließ den Daumen sanft über ihre Unterlippe gleiten. Dann zog er seine Hand zögernd zurück und sah ihr in die Augen. "Ich habe schließlich noch ein Gewissen" sagte er matt. "Und deshalb rate ich Ihnen, dieses aufreibende Schlachtfeld zu verlassen, solange Ihre Ideale noch unversehrt sind." Er wusste, dass sie sich von ihm angezogen fühlte, so wie sie wusste, dass er sie begehrte. Er hatte es erst zugegeben und es dann mit noch mehr Nachdruck widerrufen. Seine Fingerspitzen, sein Blick und die Spannung, die von ihm ausgegangen waren und die sie bezaubert hatten, verrieten sein Verlangen. Es war unbestreitbar, aber er ließ ihnen keine Chance. Er wollte ihr zu verstehen geben, dass es für sie keine Veranlassung gab, zu bleiben. Das hatte Rebel zwar verstanden,
aber sie zweifelte daran, dass er mit allem anderen recht hatte. Hatte sie sich von Celeste täuschen lassen? Sie rief sich den ersten Eindruck ins Gedächtnis, den sie von der Kleinen gehabt hatte, wie entsetzt sie über die mutwillige Boshaftigkeit gewesen war. Und heute Abend, dieses triumphierende Aufblitzen in ihren blauen Augen. Liebe als Waffe... Es klopfte an die Tür, und Brooks kam herein. "Das Abendessen ist angerichtet, Mylord", verkündete er und erinnerte sie an den geregelten Tagesablauf in diesem Haushalt. "Danke, Brooks", erwiderte Alexander. Der alte Butler verbeugte sich und zog sich zurück. Alexander drehte sich zu Rebel und hob die Schultern, als wollte er eine Last abschütteln. "Kommen Sie. Sprechen wir über angenehmere Dinge", forderte er sie lächelnd auf. "Über Tee und Könige. Oder Kängurus und Emus." Er entlockte Rebel damit ein schwaches Lächeln. Doch der Blick seiner dunklen Augen wirkte sehr ernst.
6. KAPITEL Das Speisezimmer erstrahlte im Glanz des polierten Mahagoniholzes. Die lange ovale Tafel war an einem Ende gedeckt. Silbern schimmernde Platzdeckchen ersetzten die Tischdecke, und geschliffene Kristallgläser glänzten mit dem alten und erlesenen Tafelsilber um die Wette. Am anderen Ende der Tafel stand eine Vase mit rosefarbenen Rosen. Die beiden Kronleuchter an der Decke tauchten den Raum in ein sanftes Licht. Brooks rückte den Stuhl für Rebel zurecht. Es war ein wundervoller Stuhl. Das Sitzpolster war mit Brokat bezogen, violettes Rosenmuster auf silbergrauem Hintergrund. Rebel bemerkte es. Aus irgendeinem Grund schien es wichtig zu sein, alles zu bemerken und sich einzuprägen, damit sie sich das harmonische Bild immer dann ins Gedächtnis zurückrufen konnte, wenn sie es wollte. Sie konnte sich jedoch nicht erklären, warum sie diesen Wunsch haben sollte. Vielleicht, weil sie sich geschlagen fühlte, weil man ihr bedeutendere Dinge nicht zugestand. Das jedenfalls würde man ihr jedoch nicht mehr nehmen können. Brooks schenkte Weißwein ein. Ein Mädchen servierte frischen Spargel und Sauce Hollandaise. "Erzählen Sie doch mehr über Ihre bemerkenswerte Familie", bat Alexander, als die Diener sie allein ge lassen hatten. "Ich
wüsste zu gern, wie es dazu gekommen ist. Haben Ihre Eltern geplant, Kinder aus verschiedenen Ländern zu adoptieren?" Rebel registrierte die Frage kaum. Es handelte sich natürlich um einen Versuch, ein bisschen Normalität in den Abend zu bringen, höfliche Anteilnahme, um die starken Gefühle zu überdecken, die immer noch zwischen ihnen standen. "Eigentlich nicht. Wir kamen einfach so", antwortete Rebel kurz angebunden, während ihre Gedanken immer noch um Celeste kreisten. Sie bezweifelte nicht, dass Alexander genau das gesagt hatte, was er für die Wahrheit hielt, aber war es die Wahrheit? "Wie können so viele Kinder - sagten Sie nicht vierzehn? einfach so kommen?" fragte er zweifelnd. Sie sah den Onkel des kleinen Mädchens forschend an. Was wusste er über Kinder? Könnte er sich nicht in bezug auf Celeste irren? "Waren Sie jemals verheiratet, Alexander?" fragte sie. Er runzelte die Stirn, weil das Gespräch plötzlich in eine ganz andere Richtung gelenkt wurde. "Nein." Er lächelte süffisant. "Man hält mich für einen begehrenswerten Junggesellen. Und seit ich den Titel meines Bruders und all die weltlichen Güter geerbt habe, die damit verbunden sind, bin ich noch attraktiver geworden. Möchten Sie mich heiraten?" Sein spöttischer Blick und der zynische Unterton in seiner Stimme verrieten, dass diese Frage nicht ernst zu nehmen war. Rebel gab sich alle Mühe, die Enttäuschung zu unterdrücken, die ihr das Herz zusammenschnürte. "Es hat mich eben interessiert. Die meisten Männer in ihrem Alter sind oder waren verheiratet", sagte sie unverbindlich. "Ich nehme an, dass ich noch nicht an der Reihe gewesen bin", sagte er mit übertriebener Selbstironie. "Es gibt jedoch noch viele Bewerberinnen um meine Hand ... und mein Bett. Früher oder später werde ich eine wählen und heiraten, wenn auch nur, um einen Erben zu zeugen."
Versuchte er sie zu schockieren? Wollte er sie vergraulen, damit es für sie keine Veranlassung mehr gab, hier zubleiben? Oder war sein Zynismus so ausgeprägt, dass er wirklich meinte, was er sagte? Bei der Vorstellung, dass er Cynthia Lumleigh heiratete, drehte es Rebel den Magen um. "Haben Sie noch nie mit dem Gedanken gespielt zu heiraten? Jemanden, den Sie geliebt haben?" fragte sie, zumal sie erfahren wollte, was in seinem Kopf vorging. Er zögerte. Seine dunklen Augen blitzten sie unbarmherzig an. "Ja. Einmal war ich derart von sexueller Anziehung verblendet, dass ich glaubte, verliebt zu sein. Aber zu meinem Glück und zum Unglück meines Bruders, entschloss sich die Frau, die damals mein Sonnenschein war, ihn zu heiraten, und zeigte schnell ihr wahres Gesicht. Es war keine glückliche Ehe. Sie hatte eher eine abschreckende Wirkung." Christine ... und Celeste war Christines Tochter! Hatte die bittere Erfahrung mit der Mutter sein Urteil über die Tochter verfälscht? Dennoch handelte es sich auch um die Tochter seines Bruders. Zählte das überhaupt nicht? "Man könnte noch viel über arrangierte Ehen sagen. Oder über Vernunftehen", fuhr er schonungslos fort, als müsste er nicht nur Rebel überzeugen. "Wenigstens erwartet man dann nicht zuviel davon. Und die Ernüchterung ist um so geringer. Man wird dann viel besser damit fertig." Er griff nach seinem Glas und trank den Wein so hastig, dass der Eindruck entstand, er müsse den bitteren Geschmack in seinem Mund hinunterspülen. Rebel nippte an ihrem Glas und überlegte, ob er das wirklich alles ernst meinte. Das Gespräch verwirrte sie zunehmend. "Aber lassen Sie sich nicht von meiner Schwarzmalerei beeinflussen, Rebel." Die tiefe Besorgnis, die in seiner Stimme mitschwang, erregte ihre Aufmerksamkeit, so dass sie ihm in die Augen sah.
Er lachte sie ironisch an. "Vielleicht gibt es ja auch ein paar glückliche Ehen." "Ja", sagte sie und dachte an die ihrer Schwester. Sie konnte sich kein glücklicheres Paar vorstellen als Tiffany und Joel. Brooks kam zurück, um den ersten Gang abzutragen und ihre Gläser wieder zu füllen. Rebel konnte sich nicht daran erinnern, den Spargel gegessen zu haben, aber offenbar hatte sie es doch getan. Als Hauptgang wurde ihnen Seezunge gereicht. Alexander hob sein Glas, um einen Toast auszubringen. "Ich hoffe, Sie heiraten einen Mann, den Sie lieben, und gründen mit ihm die Familie, die Sie sich wünschen." "Danke" erwiderte sie ernst. Er trank wieder so schnell, als würde er der Qualität des Weines keine Beachtung schenken. Mit dem Ausdruck eines Menschen, der dazu entschlossen war, etwas hinunterzustopfen, ungeachtet dessen, ob es ihm schmeckte oder nicht, machte er sich an den Fisch. Rebel stocherte in ihrem Essen herum. Sie hatte überhaupt keinen Appetit. "Sie haben vorhin meine Frage nicht beantwortet", erinnerte er sie. "Ich wollte wissen, wie es dazu kam, dass Sie und ihre Geschwister von den James adoptiert worden sind." "Oh, es war bei jedem anders. Ich bin die Sechstälteste, und es war Zachary Lee, der mich gefunden hat." "Zachary Lee?" "Er wurde als erster adoptiert. Unsere Eltern sind ihm in New Orleans begegnet. Er war schon als Kind ein ausgezeichneter Schachspieler und wurde von einem Mann ausgebeutet, dessen einziger Gedanke es war, was er alles aus Zachary Lee machen konnte. Unsere Eltern haben ihn gerettet." "Und wie hat er Sie gefunden?" fragte Alexander neugierig. "Er lief eine Strasse entlang und blickte zufällig in eine Gasse, in der ich in Mülltonnen nach Essen suchte."
"Mülltonnen!" Alexander war so entsetzt, dass Rebel ihn wehmütig anlächelte. "Das hat nichts mit Ihrer Welt zu tun, Alexander. Aber das gibt es, und es kommt jeden Tag vor." "Sie haben ja recht, aber warum haben Sie das getan?" "Weil ich Hunger hatte. Damals war ich gerade wieder auf der Flucht." "Wovor sind Sie geflohen?" "Hauptsächlich vor den Menschen. Ich hasste jeden. So wie Celeste es tut." "Celeste musste noch nie Hunger leiden." Er ließ es nicht zu, dass sie sich mit Celeste verglich. "Hat sich denn keiner um Sie gekümmert, als Ihre Mutter gestorben war?" "O doch, man hat sich um mich gekümmert", sagte Rebel verbittert. "Man gab mir alles, was ich zum Überleben brauchte. Ich wurde zu Pflegeeltern gebracht, die die offizielle Erlaubnis hatten, Kinder aufzunehmen. Sie gaben uns ein Dach über dem Kopf, ließen uns wie Sklaven arbeiten und schlugen uns, wenn wir etwas falsch machten. Ich glaube nicht, dass es die Leute vom Jugendamt bemerkt haben. Nach zwei Jahren rannte ich davon und wurde so zu einem Mündel unter Amtsvormundschaft. Ich bin davongelaufen", fuhr sie fort. "Manchmal wurde ich von der Polizei aufgelesen. Man bezeichnete mich als unbezähmbares Kind, das man nirgendwo unterbringen und zu dem man nicht durchdringen konnte. Das war mir nur recht. Ich wusste, dass es für mich sowieso keinen Platz gab. Wohin sie mich auch immer schickten, ich brannte durch. Selbst nachdem Zachary Lee mich aufgelesen und zu sich mitgenommen hatte, bin ich davongelaufen." "Wie alt ist er denn damals gewesen?" erkundigte sich Alexander. "Siebzehn." Er runzelte die Stirn. "Hatten Sie keine Angst, als er in der Gasse auf Sie zukam?"
Rebel schüttelte den Kopf und lächelte über die abwegige Vorstellung, sich vor ihrem großen Bruder zu fürchten. "Zachary Lee ist zwar so groß wie ein Bär, aber er ist auch der gütigste Mensch, den es gibt. Man muss ihn nur ansehen, um zu wissen, dass man bei ihm sicher ist." Als sie an all das dachte, was er für sie getan hatte, hellte sich ihre Miene auf. "Er versprach mir, dass mir niemand weh tun würde. Er gab mir Schokolade, Kekse und Lutscher. Ich musste mir seinen Respekt schwer erarbeiten, aber ich wusste, dass er mich mochte, weil er niemals die Geduld mit mir verlor und immer für mich da war. Irge ndwie hat man sich mit den Behörden darüber geeinigt, dass ich bei den James bleiben konnte. Und bei Zachary Lee." "Das war wohl zu der Zeit, als Sie adoptiert wurden." Sie nickte. "Zuerst fand ich es zu beängstigend, eine Familie zu haben, die sich wirklich um das kümmerte, was ich tat und wie ich mich fühlte. Ich bin ein paar mal ausgerissen, habe es aber nicht ernst gemeint. Ich wollte nur unabhängig sein und sie auf die Probe stellen. Zachary Lee hat mich jedes mal gefunden. Er brachte mich heim. Genau genommen ist es wirklich Zachary Lee gewesen, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin!" "Man muss ihn wirklich dafür loben", sagte Alexander anerkennend. "Er ist bestimmt sehr stolz auf Sie." "Ja. Ja, das ist er." Man konnte ihr ansehen, wie sehr sie ihren Bruder liebte. "Und ich bin stolz auf ihn. Ich bin auf all meine Geschwister stolz. Einige von ihnen hatten eine noch schlimmere Vorgeschichte als ich. Unsere Eltern haben uns gelehrt, jedem das Gefühl zu vermitteln, dass wir ihn akzeptieren, ungeachtet dessen, was er gesagt oder getan hat. Und allmählich ließen wir uns alle von der Liebe und der Fürsorge einnehmen, die uns entgegengebracht wurde, und konnten aufgrund dieser Geborgenheit zu uns selbst finden, zumal wir nicht befürchten mussten, Ablehnung zu erfahren. Was uns auch geschehen mag, die Familie ist immer für uns da."
"Dann sind Sie ja wirklich reich", bemerkte Alexander sanft. Rebel sah ihn fragend an, aber er wirkte so abweisend, dass es ihr schwer fiel, sich nach dem zu erkundigen, was sie im Innersten interessierte. Dennoch musste sie es wagen. "Man dachte, ich sei unerreichbar, Alexander. Glauben Sie nicht auch, dass es möglich sein muss, zu Celestes wahrem Kern durchzudringen?" Er zögerte nicht. "Nein, das ist unmöglich. Sie können niemanden erreichen, der kein Gewissen hat, Rebel. Solche Menschen haben eine völlig andere Denkweise. An welche Werte wollen Sie da appellieren? Die denken doch nur an ihren eigenen Vorteil. Und dabei wissen sie nicht einmal genau, was ihr eigener Vorteil ist. Sie und ich können das sowieso nicht verstehen." "Celeste ist doch erst seit sechs Monaten bei Ihnen, Alexander", gab Rebel zu bedenken. "Wie können Sie sich so sicher sein?" Er gab einen verächtlichen Laut von sich. "Sie hat eine siebenjährige Ausbildung bei ihrer Mutter genossen und ist ihrer Mutter sehr ähnlich." "Wie steht es denn mit ihrem Vater? Er war doch Ihr Bruder. Etwas von ihm muss doch in Celeste wiederzufinden sein." "Da wäre ich mir nicht so sicher. Christine hat das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir vergiftet, indem sie ihm erzählte, Celeste sei meine Tochter. Das stimmt aber nicht. Aber wer nun wirklich ihr Vater ist..." Er schüttelte sich. "Es könnte jeder der vielen Liebhaber sein. Wirklich sicher ist nur, dass Christine ihre Mutter ist." Rebel begann, Alexanders Hass auf Christine zu verstehen, aber sie fand es immer noch nicht richtig, dass er Celeste über denselben Kamm scherte. Offensichtlich hatte das Mädchen schon seit frühester Kindheit von ihrem Vater Ablehnung erfahren. Und Rebel bezweifelte, dass Celeste viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht hatte, so dass Alexanders Theorie über die
Ausbildung, die sie genossen haben sollte, keinesfalls hieb und stichfest war. Rebel fand es viel wahrscheinlicher, dass eine Frau von Christines Schlag sich nicht besonders um ihre Tochter gekümmert hatte, und die Tatsache, dass Celeste ihr Leben lang von Kindermädchen umsorgt worden war, bestärkte Rebels Meinung, dass das Kind wohl von denen, die sie hätten lieben sollen, zurückgewiesen worden war. "Vergessen Sie es, Rebel!" befahl Alexander energisch, als hätte er ihre Gedanken gelesen. "Sie tun sich nur selbst weh, wenn Sie gegen eine Mauer rennen. Sie haben hier nichts verloren, abgesehen von den Nachforschungen über Ihre Mutter. Als kleine Gegenleistung für alles, was Sie auf sich genommen haben, um einem Kind zu helfen, möchte ich Ihnen wenigstens ein paar Fragen beantworten." Rebel war so mit ihrer Sorge um Celeste beschäftigt, dass sie nicht sofort verstand, worauf Alexander hinauswollte. "Was wollen Sie damit sagen?" fragte sie. Das Gespräch wurde jedoch durch Brooks und das Mädchen unterbrochen. Sie trugen die Teller ab, füllten die Gläser und servierten ein Himbeersouffle. "Wir werden den Kaffee in der Bibliothek einnehmen, Brooks", wies Alexander an. "Wie Sie wünschen, Mylord." Alexander wartete, bis sich die Die nerschaft zurückgezogen hatte, bevor er weitersprach. "Sie sind nicht die erste, die sich danach erkundigt, was aus den Kriegswaisen geworden ist, Rebel. Heute Nachmittag habe ich mich daran erinnert, dass es in der Bibliothek Eintragungen über die Kinder gibt. Sir Malcolm Baird hat sie gefunden. Ich weiß nicht, wozu er sie brauchte." "Wer ist denn Sir Malcolm Baird?" fragte Rebel mit großem Interesse. "Ein, Historiker. Englands führender Historiker", erklärte Alexander. "Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb er an einer
Arbeit über Menschen, die während des Krieges verschleppt worden sind. Er fragte jeden auf dem Anwesen und im Dorf, wohin man die Waisen gebracht hat, nachdem sie Davenport Hall verlassen hatten, aber keiner konnte ihm Auskunft geben." "Ich glaube nicht, dass die Behörden publik machen wollten, dass sie nach Australien verschifft wurden", bemerkte Rebel trocken. "Ich befürchte, dass Sie in den Aufzeichnungen nichts darüber finden werden." Rebels Herz krampfte sich zusammen, und sie wurde traurig. Für einen Augenblick war die Erinnerung an ihre Mutter wieder äußerst lebendig. Wie sie auf dem Bett saß, Rebel über die Locken strich, schöne Geschichten erzählte und ihr einen Gutenachtkuss gab. Es war bestimmt nicht leicht gewesen, ein Kind allein zu erziehen. Manchmal hatte Mom geweint. Das hatte Rebel völlig verunsichert. Aber dann hatte ihre Mutter sie immer in den Arm genommen und ihre Ängste vertrieben. Eines Tages war sie mit einem Krankenwagen abgeholt worden, und Rebel hatte sie nie wiedergesehen. Aber sie war vor all den Jahren wirklich in Davenport Hall gewesen. Es gab sogar eine Eintragung darüber. "Wie war der Vorname Ihrer Mutter?" fragte Alexander. "Valerie. Valerie Griffith." Er nickte. "Sie ist wirklich hier gewesen. Die Namen der Waisen sind notiert worden. Es war nur eine Griffith dabei." Rebel unterdrückte die Tränen und schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden. "Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie für mich nachgeschaut haben, Alexander. Vielen Dank. Ich würde gern alles sehen, was man über die Waisen festgehalten hat." Er lächelte wehmütig. "Es ist nicht viel, Rebel. Der Tag der Ankunft. Die Vorbereitungen, die für sie getroffen worden sind. Die Namensliste. Der Tag der Abreise." "Wenigstens etwas", sagte sie ruhig. Er runzelte die Stirn. "Haben Sie nichts mehr aus der Zeit, die Sie mit Ihrer Mutter verbracht haben?"
Sie zwang sich zu lächeln. "Nur die Erinnerungen." Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. "Wenn Sie wollen, kann ich eine Kopie von den Eintragungen machen." Rebel dachte nach und schüttelte dann den Kopf. Unpersönliche Aufzeichnungen wären kein besonderes Andenken. "Es genügt mir, sie einzusehen", sagte sie und blickte ihn an. Ihr Herz schlug höher. Für einen Augenblick gab es keine Anzeichen von Zynismus, Spott oder Stolz. Sie sah nur sein Mitgefühl, sein Bedauern darüber, dass er nicht mehr tun konnte, und den Wunsch, dass die Dinge anders liegen würden. Dann aber verfinsterte sich seine Miene plötzlich, als würde er sich über sich selbst ärgern, er senkte den Blick und stach mit der Gabel ins Souffle. Rebel fiel es schwer, die Nachspeise hinunterzuschlucken, obwohl sie im Munde zerging. Es gibt keine Zukunft für uns zwei, rief sie sich zum wiederholten Mal ins Gedächtnis, obwohl ihr ganzer Körper sich dagegen auflehnte. Celeste ... Dieser Mann, der ein warmes, weiches Herz hatte ... Er hatte es jedoch vor seiner Nichte verschlossen. Und er war dabei, es auch vor ihr zu verschließen. Seine Zurückhaltung erreichte wieder einen Höhepunkt, als er Rebel höflich fragte, ob sie bereit wäre, die Tafel zu verlassen. Dann, als er sie in die Bibliothek führte, fühlte sie jedoch, wie angespannt er war. Sie spürte seine Verschlossenheit ganz deutlich, während sie neben ihm am großen Tisch in der Mitte des Raums stand und er ihr die Eintragungen im ledergebundenen Tagebuch des Jahres 1944 zeigte. Er hielt sich jedoch strikt an die Rolle des höflichen und zuvorkommenden Gastgebers. Die Waisen waren in Davenport Hall in der zweiten Etage untergebracht worden, die traditionsgemäß von Kindern bewohnt wurde, erklärte Alexander. Celeste hatte nur deshalb
ein Zimmer in der ersten Etage, weil eins der Kindermädchen geklagt hatte, dass Treppensteigen sei zu anstrengend für sie. "Könnte ich mir die zweite Etage vielleicht einmal ansehen?" fragte Rebel. "Vorausgesetzt, dass es niemanden stört." "Da gibt es niemanden, den es stören könnte. Die Zimmer der Dienerschaft befinden sich in der dritten Etage. Wenn Sie Ihren Kaffee ausgetrunken haben, führe ich Sie hinauf." Als er sie kurz darauf in der zweiten Etage von Zimmer zu Zimmer führte, dachte Rebel daran, dass sie sich genau das gestern von ihm gewünscht hatte, bevor Celeste aufgetaucht war und alles verändert hatte. Es kam ihr komisch vor, dass sich das alles erst gestern zugetragen hatte. Die Zeit schien einem ganz anderen Rhythmus zu folgen. Vielleicht lag es an den zahlreichen Gesprächen über die Vergangenheit und die Zukunft, an den hervorgerufenen Gefühlen und Erinnerungen, an der Frage, was richtig und was falsch war. Es war noch seltsamer, als Alexander ihr das Klassenzimmer zeigte. Die Schlafzimmer hatten sie nicht persönlich berührt. Nichts erinnerte daran, dass sie von vielen Kindern bewohnt worden waren. Kaum aber hatte Rebel das Klassenzimmer betreten, da wurde sie von dem Gefühl der Zeitlosigkeit befallen und wie von einem Zauber berührt. Ihre Mom hatte hier gespielt, Bücher aus den Regalen genommen, am Fenster gesessen, mit weißer Kreide auf die Tafel gemalt und war auf das alte hölzerne Schaukelpferd in der Ecke geklettert - ein kleines Mädchen mit braunen Locken und haselnussbraunen Augen, das ganz allein auf der Welt war. Rebel hatte Tränen in den Augen, und dieses Mal schaffte sie es nicht, sie hinunterzuschlucken. Sie ließ die Finger über den Deckel eines Schreibpults gleiten, an dem die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte. Tintenflecke, Bleistiftgekritzel, Kratzer.... "Das war mein Pult", sagte Alexander, der hinter ihr stand, wehmütig.
"Und vieler anderer vor Ihnen", sagte Rebel leise. Sie hörte nicht, wie er sich bewegte, war aber nicht überrascht, als er sie sanft zu sich drehte. Sie sah seinen Gesichtsausdruck nicht, weil ihre Augen voller Tränen waren, aber als sie in seinen Armen lag, spürte sie Wärme, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Es war schön, sich gegen seinen starken Körper zu lehnen und den Kopf auf seine Schulter zu legen. Es linderte die schmerzliche Leere, die sich in ihrem Innern ausgebreitet hatte. "Ich bin mir sicher, dass Ihre Mutter hier glücklich gewesen ist, Rebel", sagte er rau. "Früher ist dies ein Ort zum Glücklichsein gewesen. Mein Bruder und ich ... " Er seufzte. "Wir hatten sehr viel Spaß in diesem Klassenzimmer. Ich wünschte . . ." Er verstummte wieder, wahrscheinlich war er von schmerzlichen Erinnerungen eingeholt. worden. Seine Hand strich über ihren Rücken, und Rebel spürte, wie seine Finger sanft durch ihre seidigen Locken glitten. Seine Wange streifte sanft ihr Haar, und es schien ihr, als würde sein Mund ihr Ohr berühren. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie sich mehr wünschte als Geborgenheit. Die Wärme verwandelte sich in eine elektrisierende Hitze. Die Spannung wuchs. Rebel spürte, wie erregt sie war. Sie wusste, dass es gefährlich war, in seinen Armen zu liegen, aber etwas in ihr sagte ihr, dass es so vorbestimmt war. Warum sollte sie es also nicht geschehen lassen. Warum eigentlich nicht? "Sie haben eine Familie, zu der Sie zurückgehen können, Rebel", sagte Alexander leise und gequält. "Eine gute Familie, die Sie liebt. Es ist nicht gut, wenn Sie in die Vergangenheit zurückblicken." Alexander umfasste mit einer Hand ihren Nacken und hob ihren Kopf. Rebel öffnete die tränenfeuchten Augen. Er wirkte verschlossen und angespannt. "Ihre Mutter würde sich
wünschen, dass Sie von hier fortgehen und das Beste aus Ihrem Leben machen. Morgen, wenn Sie wieder nach London fahren..." "Nein!" rief sie, und alles in ihr wehrte sich gegen seine Entscheidung. Es war falsch. Es musste falsch sein. "Ich kann nicht weggehen, Alexander." Er atmete schwer. Seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Enttäuschung. "Was muss ich denn noch sagen, damit Sie einsehen, dass es sinnlos ist?" fragte er barsch. Rebel schluckte. Sie konnte es selbst nicht verstehen, aber die Entscheidung war in diesem Klassenzimmer gefallen. Auch wenn sie sich irrte, konnte sie ein verlorenes Kind nicht verlassen, ein Kind, das von niemand geliebt wurde. Und sie konnte nicht zulassen, dass dieser Mann ihr den Rücken kehrte, solange noch so viele offene Fragen zwischen ihnen standen. Sie spürte, dass noch etwas sehr Schönes auf sie wartete, etwas das zu stark war, um es zu ignorieren. "Ich muss es versuchen", flüsterte sie und sah ihn flehend an. "Wir hatten uns auf eine Woche geeinigt, Alexander. Haben Sie das schon vergessen?" Er presste die Lippen zusammen. Seine dunklen Augen blitzten auf und verrieten, wie heftig seine Gefühle waren, so dass ein Schauer von Angst und Wonne über Rebels Rücken rann. Da packte er sie an den Oberarmen und krallte die Finger gequält und doch unentschlossen in ihre Haut. Dann stieß er sie von sich und hielt sie auf Entfernung. "Wie Sie wünschen", sagte er anklagend. "Ich übernehme keine Verantwortung." Er ließ sie stehen und rannte aus dem Zimmer, als wäre der Teufel hinter ihm her. Rebel war von seinem heftigen Abgang derart verwirrt, dass sie eine ganze Weile wie angewurzelt stehen blieb.
Hier in Davenport Hall gibt es irgendeine Kraft, dachte sie, eine Macht, die ich noch nie erlebt habe. Sie spürte, dass sie in einem Kampf zwischen Gut und Böse gefangen war. Ihre Eltern und ihre Familie hatten ihr beigebracht, das Gute würde immer gewinnen - wenn man nur fest genug daran glaubte.
7. KAPITEL Rebel konnte keinen Schlaf finden. Es war schwer, nicht an Alexanders Meinung über seine Nichte zu denken. Genauso schwer war es, ihre Gefühle für ihn zu unterdrücken. Kein anderer Mann hatte sie je so stark angezogen. Sie müsste jedoch akzeptieren, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte. Ihre Überlegungen wurden jedoch ständig von dem Gefühl getrübt, dass Davenport Hall sie niemals loslassen würde. Irgendwie übte dieser Ort einen Einfluss auf sie aus, dessen sie sich nicht erwehren konnte. Am nächsten Morgen ging Rebel zeitig zum Frühstück. Sie musste um elf Uhr einen Geschäftstermin in London wahrnehmen, und sie wollte Celeste sehen, bevor sie aufbrach. Sie wollte unbedingt feststellen, ob es ihr gestern gelungen war, eine Beziehung zu Celeste aufzubaue n, und falls es richtig gewesen war, ihrer eigenen Erfahrung zu trauen, musste sie diese Beziehung ausbauen, auch wenn sie damit gegen Alexanders Überzeugung handelte. Als Rebel das kleine Speisezimmer betrat, fühlte sie sich äußerst angespannt, zumal sie erwartete, auf zwei Gegenspieler zu treffen. Sonnenlicht flutete durch die breiten Fenster herein und ließ den weiß-gelben Raum erstrahlen. Die freundliche Atmosphäre ließ die Vorstellung, dass sich etwas Geheimnisvolles in Davenport Hall verbarg, völlig abwegig erscheinen. Rebels Nervosität erwies sich jedoch als überflüssig,
als der einzige Mensch, der sich im Raum befand, zu ihr aufblickte. Das kleine Mädchen strahlte sie freundlich an, doch das Lächeln erstarb, als das Kind bemerkte, dass Rebel ein grünes Kostüm trug. "Ich wusste, dass du weggehst" sagte Celeste barsch, bevor sie sich völlig auf ihr Müsli konzentrierte und den Löffel so heftig in die Schüssel eintauchte, dass einige Cornflakes herausfielen. "Ich gehe gar nicht weg, aber ich kann es mir nicht leisten, so wie du nichts zu tun", entgegnete Rebel, als sie sich Celeste gegenübersetzte. "Ich muss etwas erledigen. Wenn du brav genug bist, darfst du vielleicht irgendwann mitkommen." Rebel setzte sich, schenkte ihr ein Glas Orangensaft ein und sah Celeste dabei nicht an, obwohl sie den prüfenden Blick des Kindes bemerkte. Ein Mädchen kam herein und fragte Rebel, was sie zum Frühstück haben wolle. "Schinken und Eier", sagte Rebel lächelnd, in der Hoffnung, damit zeigen zu können, dass sie sich wohl fühlte. "Was musst du denn erledigen?" fragte Celeste. Rebel lächelte Celeste zu. "Ich habe dir gestern vom Ballonrennen erzählt", sagte sie voller Wärme. "Ich muss noch dreiunddreißig Sponsoren finden und hoffe, dass ich heute einen verpflichten kann. Deshalb muss ich nach London fahren und jemanden davon überzeugen, dass er unterschreibt." Celeste schien nicht überzeugt zu sein. Sie blickte Rebel zweifelnd an. Rebel lächelte aufmunternd. "Wenn du heute Nachmittag von der Schule zurückkommst, erzähle ich dir, ob es geklappt hat. Vorausgesetzt, dass es dich interessiert." "Ich gehe nicht zur Schule! " bemerkte Celeste trotzig. "Ich hasse die Schule! Ich gehe da nie wieder hin!" Somit wären wir wieder am Anfang, dachte Rebel und machte sich darauf gefasst, wieder von vorne zu beginnen. "Das
ist ja ein starkes Stück, Kleine!" sagte sie freundlich. "Ich denke, dass du dir dadurch ganz schön viel Wissen entgehen lässt." Die Rückkehr zu "Kleine" ließ Celestes Augen zornig aufblitzen. "Das ist mir egal!" Die Antwort kam nicht überraschend. Rebel zuckte die Schultern. "Du musst das selbst entscheiden. Das geht mich nichts an. Ich würde jedoch all die anderen Kinder dafür hassen, dass sie mich auf allen Gebieten ausstechen können, nur weil sie mehr gelernt haben als ich. Aber wenn du die Schule so sehr hasst, ist es bestimmt besser, wenn du dumm bleibst." Rebels Frühstück wurde gerade im richtigen Augenblick gebracht. Sie konzentrierte sich darauf, es zu essen, und ließ Celeste Zeit, ihre Bemerkungen zu verdauen. Sie konnte das Kind nicht dazu zwingen, zur Schule zu gehen, sonst wäre sie nur ein Feind mehr. Andererseits wollte sie Celeste auch nicht den ganzen Tag allein lassen. Das wäre nicht sinnvoll und bedeutete, dass Rebel ein weiteres Problem lösen musste. Als sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte, brach Celeste mit finsterer Miene das Schweigen. "Ich kann sowieso nicht zurück zur Schule. Sie haben Onkel Alexander erzählt, dass sie mich nicht mehr haben wollen." Mit ihrem Trotz konnte sie ihre Unsicherheit nicht überspielen. "Stimmt das?" Rebel fragte sich, ob es die erste Schule war, von der Celeste verwiesen wurde, sprach aber im gleichen unbekümmert klingenden Ton weiter. "Da hast du ganz schön was angerichtet. Aber Onkel Alexander könnte bestimmt eine andere Schule finden, wenn du ihn darum bitten würdest. Vielleicht eine, die du überhaupt nicht hasst. Es gibt viele Schulen. Obwohl man dich auch dort raus schmeißen würde, wenn du weiterhin so viel anstellst." Celeste dachte einen Augenblick darüber nach. "Ich werde Onkel Alexander um nichts bitten!", sagte sie, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Gesicht auf die Fäuste.
Rebel schüttelte den Kopf. "Du verpasst aber dann einiges, was man lernen sollte. Das ist aber dein Problem. Da du heute nicht in die Schule gehst, könntest du doch nach London mitkommen. Ich habe nur einen Termin, der nicht allzu lange dauern wird. Danach könnten wir ein paar Hamburger essen und eine Bootsfahrt auf der Themse machen." Celestes Augen strahlten. "Wirklich, könnten wir das tun?" "Warum denn nicht?" Rebel unterdrückte die Freude, die sie über Celestes Antwort empfand. Sie kniff die Augen zusammen, um ernst zu wirken. "Natürlich musst du dich gut benehmen, während ich meinen Termin wahrnehme. Du darfst niemandem auf die Füße treten, schreien oder ängstlich sein. Dabei kannst du eine Menge von mir lernen. Mehr als an einer großen Universität. Aber es ist wichtig, dass ich Erfolg habe. Wenn du irgend etwas anstellst, Kleine, werde ich dich nie wieder zu einer geschäftlichen Besprechung mitnehmen." "Ich verspreche, dass ich nichts anstellen werde, Rebel", sagte sie ernst. "Grosses Indianerehrenwort!" Die fast verzweifelte Begierde, mit der Celeste die Chance wahrnehmen wollte, die Rebel ihr bot, bestärkte in dieser nur den Glauben an das Gute in dem Kind. Und Rebel wusste, dass es wichtig war, das Versprechen nicht anzuzweifeln. Vertrauen beruht auf Vertrauen. "Also gut. Du solltest dich jetzt fertig machen. Ich sage Mrs. Tomkins, dass du mit mir fährst, damit sich Onkel Alexander keine Sorgen macht." "Das ist ihm doch egal!" rief Celeste, als sie zur Tür rannte. Die Gewissheit, mit der sie das aussprach, schnürte Rebel das Herz zusammen. Das Schlimme daran war, dass sie es nicht abstreiten konnte. Und das Schwierigste an ihrer Rettungsaktion war, Alexander Davenports Haltung zu verändern. Als Rebel jedoch Mrs. Tomkins ihr Vorhaben mitteilte, wurde ihr Vertrauen in das kleine Mädchen geschwächt. Die Hausdame rang aufgeregt die Hände, als sie hörte, dass Rebel
Celeste nach London mitnehmen wollte. Und als sie erfuhr, dass Rebel bei diesem Ausflug auch noch einen Termin wahrnehmen würde, riss sie die blassblauen Augen entsetzt auf. "Ich würde es mir zwar nie herausnehmen, mich einzumischen, aber ich denke, Sie sollten zuerst mit Lord Davenport sprechen", sagte sie besorgt. "Lady Celeste... Sie kann wie ein Engel sein, wenn sie etwas möchte, aber ... Ich glaube nicht, dass Sie ihretwegen den Geschäftsabschluss aufs Spiel setzen sollten, Miss James. Wirklich nicht. Sie können sich nicht vorstellen..." Mrs. Tomkins verstummte, holte tief Luft und besann sich auf ihre Stellung. "Es steht mir nicht an, etwas darüber zu sagen. Kommen Sie mit zu Lord Davenport, Miss James. Er ist in seinem Arbeitszimmer, neben der Bibliothek. Ich bin mir sicher, er möchte nicht, dass Sie..." "Lord Davenport hat mir, was Celeste angeht, bereits freie Hand gelassen, Mrs. Tomkins", sagte Rebel bestimmt, obwohl sie sich eingestehen musste, dass sie durch die Bedenken der Haushälterin unsicher geworden war. Es beunruhigte sie, dass auch die anderen Menschen, die hier lebten, Alexanders Meinung teilten. Rebel konnte Mrs. Tomkins Urteil nicht damit erklären, dass die Hausdame durch eine schlechte Erfahrung mit der Mutter des Kindes beeinflusst worden, war, und die Engländerin schien wirklich besorgt zu sein. "Ich glaube nicht, dass Sie mich verstehen, Miss James", protestierte sie. "Hier, in Davenport Hall, mag es ja angehen. Die Dienerschaft hat sich schon an, wie soll ich sagen, Lady Celestes Manieren gewöhnt. Obwohl keiner bemerkt hat, dass sie das Kindermädchen in den Turm gesperrt hat. Aber es ist ja nichts Schlimmes passiert." "Genau. Und heute wird auch nichts passieren, Mrs. Tomkins", sagte Rebel zuversichtlicher, als sie sich wirklich fühlte. Die Erinnerung an die Leute vom Jugendamt, die sie nie
richtig verstanden hatten, half ihr, weiterhin ihrem eigenen Urteil zu trauen. Selbst die Menschen, die es besonders gut meinten, konnten Auflehnung mit Boshaftigkeit verwechseln. "Lord Davenport weiß, was ich vorhabe", versicherte sie der Haushälterin. "Ich bin nur so höflich, ihm mitzuteilen, dass ich seine Nichte heute nach London mitnehme. Wären Sie bitte so freundlich, ihm diese Nachricht zu einem günstigen Zeitpunkt zu überbringen?" Trotz der Bestimmtheit, die in ihrer Stimme lag, fühlte sich Rebel nicht ganz wohl bei dem Gedanken an ihre geschäftliche Besprechung. Celeste war ein Risiko. Wenn ich aber nur eine Woche habe, um ein Wunder zu bewirken, muss ich etwas wagen, dachte Rebel. Und selbst wenn sie dem Kind zu Unrecht vertraute, würde die Welt nicht untergehen, falls sie heute keinen Erfolg verbuchen konnte. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Tag nicht besser hätte verlaufen können. Es gelang Rebel nicht nur, den Sponsor zu verpflichten, sie überzeugte den Direktor des Unternehmens sogar auch noch davon, seine Beziehungen spielen zu lassen und sie seinem alten Schulfreunden zu empfehlen. Ein Grund für das Entgegenkommen lag wohl in Rebels lebhafter Überredungskunst. Sie betonte, es handele sich bei dem Ereignis um eine Prestigefrage, und erwähnte beiläufig, dass es ein fröhlicher Wettbewerb sein sollte, der viel Spaß bereiten könnte. Der alte Herr bot ihr sogar noch an, weitere Termine für sie zu vereinbaren. Was Rebel natürlich dankbar annahm. Die Tatsache, dass sie von der Nichte des Grafen von Stanthorpe begleitet wurde, schien ihr ein Pluspunkt gewesen zu sein. Rebel amüsierte sich, dass ihr der Snobismus der Oberschicht diesmal zugute gekommen war. Und es hatte sicher nicht geschadet, dass Celeste während des ganzen Gesprächs wie ein kleiner Engel aufmerksam zugehört hatte. Rebel war ausgesprochen gut gelaunt, als sie das Gebäude verließen. "Wir haben es geschafft. Und ein oder zwei weitere
Sponsoren sind uns so gut wie sicher. Es fehlen also nur noch dreißig", flüsterte sie Celeste triumphierend zu. Celeste, die sich diebisch freute, Rebels Vertraute zu sein, lachte sie an. Sie feierten den Erfolg mit Hamburgern und Pommes und machten dann eine Bootsfahrt auf der Themse bis nach Greenwich. Zum erstenmal benahm sich Celeste wie ein normales Kind. Sie war aufgeregt, aufgeschlossen, interessierte sich für alles, was sie sah, und plapperte auf Rebel ein. In Greenwich besichtigten sie das alte Segelschiff Cutty Sark und fragten sich, wie es die Menschen ausgehalten hatten, monatelang in so engen Räumen zu leben. Als sie schließlich zum Pier beim Big Ben fuhren, aßen sie Eiscreme. Rebel hatte den Chauffeur gebeten, sie dort abzuholen, und als sie die Stufen zu der Strasse hinaufgingen, wurden sie bereits vom schwarzen Rolls Royce erwartet. Einen Augenblick lang sträubte sich Celeste, in den Wagen zu steigen. Sie warf Rebel einen Blick zu, der mehr als deutlich sagte, dass sie wegrennen und nie wieder nach Davenport Hall zurückkehren wollte. Aber das würde auch bedeuten, dass sie von Rebel wegrannte, und das Verlangen nach deren liebevoller Fürsorge und Anteilnahme war stärker als alles andere. Niedergeschlagen ließ sie sich auf den Rücksitz plumpsen. Rebel setzte sich neben sie und legte den Arm um die Kleine. "Müde?" flüsterte sie und küsste Celestes blondes seidiges Haar. Celeste seufzte tief. "Müssen wir heimgehen?" fragte sie betrübt. "Wir können ja wieder einen Ausflug unternehmen", antwortete Rebel und drückte sie. "Wir wollen doch deinen Onkel nicht beunruhigen, wenn wir so lange wegbleiben." "Das ist ihm egal", murmelte die Kleine traurig. "Das glaube ich nicht, Celeste", sagte Rebel ernst, zumal sie dem Kind wenigstens ein bisschen Sicherheit vermitteln wollte, obwohl sie selbst an ihren Worten zweifelte.
Ich werde ihn dazu bringen, dass er sich für sie interessiert, schwor sie sich im stillen. All die Zweifel, die Alexander letzte Nacht in ihr geweckt hätte, waren heute verschwunden. Celeste war kein Ungeheuer. Sie war nur ein Kind, das sich verzweifelt nach Liebe sehnte. Irgendwie musste sie es ihrem Onkel klarmachen. "Rebel?" "Könnte mich deine Familie adoptieren? Es würde doch nichts ausmachen, wenn ihr noch ein englisches Kind hättet, stimmt's? Ihr habt zwei aus Indien und zwei aus Korea." Eine Welle der Traurigkeit schnürte Rebel das Herz zusammen. Es war zwar eine Lösung, aber sie glaubte nicht, dass der Graf von Stanthorpe damit einverstanden wäre. Sie lächelte. "Ich bin mir sicher, dass meine Geschwister es toll finden würden, noch eine Engländerin zu haben, Celeste, aber..." Celeste hob den Kopf und warf Rebel einen flehenden Blick zu, "... meine Eltern können keine Kinder adoptieren, die schon ein Zuhause und eine Familie haben. Das geht nicht. Du gehörst zu deinem Onkel." "Er will mich aber nicht haben." Rebel musste jetzt sehr behutsam vorgehen. Sie sprach langsam und liebevoll. "Celeste, dein Onkel hat noch nie eigene Kinder gehabt. Ich glaube, er weiß nicht, wie man mit einem Mädchen in deinem Alter umgeht. Er hat Kindermädchen für dich angestellt, weil er dachte es wäre das beste für dich. Ich bin mir sicher, dass er nicht versteht, warum du immer wieder versucht hast, sie loszuwerden, und er ärgert sich, weil er nicht weiß, was er sonst tun soll." Rebel unterbrach sich, damit ihre Worte auf Celeste wirken konnten, und fügte dann mit sanfter Stimme hinzu, "hast du jemals versucht, ihm zu sagen, wie er sich deiner Ansicht nach verhalten sollte?"
"Er würde mir nicht einmal zuhören", sagte Celeste schmollend. "Er bat mich, nach Davenport Hall zu kommen, weil er dachte, dass es dir gefallen würde", erinnerte Rebel sie, zumal sie entschieden hatte, dass diese kleine Lüge gerechtfertigt war. "Wenn du mit deinem Onkel zu reden versuchst, kann er vieles besser verstehen." Sie drückte das Kind fester an sich und streichelte sein blondes Haar, als sie mit sanfter Stimme weitersprach. "Manche Menschen zeigen nicht, dass sie einen mögen. Sie können ihre Gefühle nicht offenbaren. Erinnerst du dich an das, was ich dir gestern erzählt habe? Manche Menschen lachen oder sagen dumme Sachen, um etwas zu verbergen. Andere schauen finster und machen ein ernstes Gesicht. So wie dein Onkel. Es bringt nichts, wenn man böse auf sie wird. Wenn man ihnen jedoch eine Chance gibt, können sie sic h verändern. Ich glaube, es ist immer einen Versuch wert." Celeste antwortete mit einem Seufzer. Rebel streichelte ihr Haar weiter. Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen konnte. Auf der Fahrt nach Davenport Hall schlief das Mädchen ein. Rebel entschloss sich, noch einmal ein ernstes Gespräch mit Alexander Davenport zu führen, bevor Celeste ins Bett ging. Wenn er Celeste wieder so eisig gute Nacht sagte, würde er jede noch so kleine Hoffnung, die sie Celeste gemacht hatte, zunichte machen. Sie waren kaum in Davenport Hall angekommen, als sich Rebel die Gelegenheit bot, auf die sie gewartet hatte. Brooks öffnete ihnen die Eingangstür. "Miss James, Lady Celeste", begrüßte er sie voller Ehrerbietung, "Mylord wünscht Sie zu sehen." Rebel warf Celeste ein Lächeln zu. "Siehst du? Dein Onkel hat sich Sorgen gemacht. Er muss damit gerechnet haben, dass wir viel früher heimkommen. Ich gehe zu ihm und sage ihm,
dass es uns gut geht. Da es fast schon Zeit für deinen Tee ist, solltest du besser gleich in die Küche springen." Sie lächelte den Butler an. "Wo ist Lord Davenport, Brooks?" "In seinem Arbeitszimmer, glaube ich, Miss James." "Ich komme später zu dir hinauf und bringe dich ins Bett, Celeste", versprach Rebel und eilte durch die Galerie, in der Absicht, Alexanders Vorurteile über seine Nichte abzubauen. Als sie an die Tür klopfte, erhielt sie keine Antwort. Da sie nicht wusste, ob es der richtige Raum war, öffnete sie die Tür, um nachzusehen. Sie erblickte einen Raum, der fachmännisch mit Büromöbeln eingerichtet war und in dem auch ein Computer stand. Der Mann, den sie suchte, saß mit dem Rücken zu ihr auf einem ledernen Bürosessel hinter einem riesigen Schreibtisch. "Ja?" fragte er matt, ohne sich umzudrehen. Rebel atmete tief ein, als wolle sie sich für die Auseinandersetzung stärken, die ihr bevorstand. "Sie wollten mich sehen, Alexander", sagte sie ruhig. Er schnellte von seinem Sessel hoch, hob den Kopf und warf ihr einen durchdringenden Blick zu. Als Rebel bemerkte, wie erleichtert er war, war sie sprachlos. Er betrachtete ihr grünes figurbetontes Kostüm, als er um den Tisch ging und auf sie zukam. Aufgeregt ballte und öffnete er die Hände und schien sich zum Stillstehen zu zwingen. Seine Miene wirkte hart und verschlossen. Sie hatte ihn noch nie in so legerer Kleidung gesehen. Er trug eine graue Jogginghose und einen enganliegenden dunkelblauen Rollkragenpullover, der seinen muskulösen Oberkörper betonte. Sein dichtes schwarzes Haar war leicht unordentlich, als wäre er mit der Hand durchgefahren. Aus irgendeinem Grund wirkte er menschlicher und noch unwiderstehlicher. Er machte eine kleine Geste. "Sie sind also zurückgekommen." Seine Stimme war ungewohnt rau. "Natürlich."
"Das ist ganz und gar nicht natürlich", sagte er bissig. "Nach allem, was ich Ihnen erzä hlt habe, war es Wahnsinn, das Kind heute mitzunehmen. Ich weiß, dass ich Ihnen freie Hand gelassen habe, aber..." Er schüttelte den Kopf, holte tief Luft und schlug einen ruhigeren Ton an. "Es ist meine Schuld. Sagen Sie mir nur, wie groß der Schaden ist, der angerichtet worden ist, und ich werde versuchen, alles wieder zurechtzubiegen." Rebel sah ihn überrascht an. "Was reden Sie da eigentlich?" Er sah sie voller Ungeduld an. "Sie müssen mir nichts verschweigen, Rebel. Es war bestimmt nicht das letzte Mal. Ich weiß genau, wie Celeste sich aufführt. Sagen Sie mir nur, was sie angestellt hat und ich werde mein möglichstes tun, um Ihren Geschäftspartner zu besänftigen." Rebel war außer sich. Sie verlor die Beherrschung. "Nur weiter so! " zischte sie ihn giftig an. "Verurteilen Sie sie nur! Denken Sie das Schlimmste über sie! Das haben Sie ja schon immer getan, stimmt's ? Sie haben ihr noch nie eine Chance gegeben!" Diese Anklage nahm ihm den Wind aus den Segeln, und Rebel rüstete sich zum Angriff. "Ich habe Ihrer Nichte vertraut, als sie versprach, sich bei der geschäftlichen Besprechung mustergültig zu verhalten, und sie hat mich nicht enttäuscht. Ich bezweifle, dass sich ein anderes Kind besser hätte benehmen können. Sie war so brav und hat so aufmerksam zuge hört, dass ich sogar noch Aussicht auf weitere Sponsoren habe. Ich würde sie überallhin mitnehmen. Und wissen Sie, woran es liegt?" Sie wartete nicht auf eine Antwort, zumal sie wusste, dass er keine hatte. "Man muss ihr nur zeigen, dass man sie dabeihaben will", sagte sie voller Verachtung für seine Meinung. "Man muss sie wirklich um sich haben wollen. Jedes Kind spricht darauf an, Alexander Davenport. Kinder wollen spüren, dass man sie haben will. Und Celeste ist genauso wie jedes andere Kind. Abgesehen davon, dass sie bisher niemand haben wollte. Und wessen Fehler ist das? Ist sie daran schuld, dass sie zu
einem Mann gegeben wurde, der sie nach ihrer Mutter beurteilt?" "Ich habe meine Gründe dafür", erwiderte er spitz und warf ihr einen bitterbösen Blick zu. Rebel war nicht mehr bereit, das zu akzeptieren. Wie eine Löwin, die ihre Jungen verteidigt, war sie entschlossen zuzuschlagen. Sie wollte verletzen. Ihre Nasenflügel bebten, ihre Augen blitzten, und jedes Wort, das über ihre Lippen kam, bohrte sich wie ein Dolch in sein Gewissen. "Fragen Sie sich doch selbst, warum sich Celeste in ihrer Gegenwart so verhält. Ich werde Ihnen jetzt erzählen, wie sie sich heute Nachmittag in meiner Gesellschaft benommen hat. Wir hatten viel Spaß. Die Art von Vergnügen, die Kinder haben sollten. Die Art von Spaß, die sie mit ihren Eltern hätte haben sollen. Und die sie nicht hatte! Die Art von Vergnügen, die Sie jetzt dem Kind bereiten sollten. Was Sie jedoch nicht tun! Die Art von Vergnügen, die auch ihre Kindermädchen hätten vermitteln können, bei entsprechender Anweisung. Aber sie wurden nicht dazu angewiesen. Und es war so, als wäre sie zum erstenmal selig vor Glück!" "Das bezweifle ich nicht! Selbst die bösartigste Teufelsbrut kann Gefallen an der Glückseligkeit finden, wenn es auch nur daran liegt, dass es etwas Neues ist!" Seine grausame Antwort verschlug Rebel die Sprache. Sie blickte ihren Gegenspieler starr und entsetzt an. "Sie haben ihr offensichtlich ein Stück Zucker hingehalten, und sie hat Ihnen aus der Hand ge fressen", spottete er. Rebel blickte ihn voller Wut an. "Ja! Zweifellos war es etwas Neues für sie. Man hat ihr ja bisher noch nie eine Freude bereitet. Ich muss feststellen, dass Sie das Ungeheuer sind, Alexander Davenport, und nicht Ihre Nichte." "Ich, ein Ungeheuer?" Er drehte sich um und nahm einige Papiere von seinem Schreibtisch. Als er auf Rebel zuging, wedelte er mit den Unterlagen und sprach jedes Wort mit
großem Nachdruck aus. "Ich habe fast den ganzen Tag damit verbracht, die führenden Weinbauern in Frankreich und Deutschland anzurufen und sie zu überzeugen, dass sie bei Ihrem Ballonrennen Sponsoren sein sollten. Sie haben sich bereit erklärt, sich mit Ihnen zu treffen. In Paris. Freitag in einer Woche." Er griff nach ihrer Hand und drückte die Papiere hinein. "Da sind ihre Namen und das, was Sie über sie wissen sollten, bevor Sie mit Ihnen verhandeln." Seine dunklen Augen funkelten vor Wut. "Und das, Miss Rebel Griffith James, habe ich nur getan, um sie vor Ihrem tollkühnen Starrsinn und Celestes Zerstörungswut zu retten. Sie können Ihrem Schutzengel danken, dass das Kind sich heute entschlossen hat mitzuspielen. Möge Ihnen Gott helfen, wenn Sie das Risiko noch einmal auf sich nehmen!" Seine heftigen Worte stellten Rebels Nerven auf die Zerreißprobe. Aber nichts würde sie dazu bringen, jetzt nachzugeben. "Wollen Sie mich damit bestechen?" fragte sie schnippisch. "Gehen Sie, solange Sie obenauf sind, Rebel", stieß er wütend hervor. "Und Celeste soll ich Ihnen wohl auf Gedeih und Verderben ausliefern?" Ihre Beine zitterten, aber sie ging an ihm vorbei zum Schreibtisch, warf die Papiere darauf und sah ihn voller Stolz und Verachtung an. "Ich kann auf Ihre Protektion verzichten. Ich schaffe es auch allein." "Seien Sie keine Närrin!" rief er zornig. "Sie gehen zu weit, Alexander Davenport!" fauchte Rebel ihn an. "Das haben Sie schon bei Celeste getan." Er presste die Lippen zusammen und versuchte wieder Herr der Lage zu werden. Er rannte zur Tür, öffnete sie, stellte sich daneben und warf Rebel einen stechenden Blick zu. "Dann gehen Sie doch in die Hölle, wenn Sie unbedingt wollen! Es hat keinen Sinn, mit Ihnen zu reden."
"Ich bin noch nicht fertig! " sagte sie bestimmt. Er schloss die Tür und sah sie mit gespielter Nachsicht an. Rebel starrte ihn an und entschloss sich, wenigstens einen Teil seiner Vorurteile abzubauen, wenn es auch das letzte wäre, was sie unternahm. Sie holte tief Luft und sprach weiter. "Haben Sie jemals versucht, auf das Mädchen zuzugehen? Haben Sie ihr jemals die Hand gestreichelt? Haben Sie sie jemals umarmt? Oder ihr einen flüchtigen Gutenachtkuss gegeben?" Der abweisende Blick in seinen Augen war Antwort genug. "Nein. Das habe ich mir schon gedacht." "Man kann doch ein derartiges Kind nicht wirklich mögen", sagte er kühl. Rebel musste sich zurückhalten. "Sie ist nur so geworden, weil sie abgewiesen worden ist, Alexander. Und Sie haben auch Ihren Teil dazu beigetragen, weil Sie ihr nicht ermöglicht haben, eine Beziehung zu Ihnen aufzubauen. "Eine Beziehung zu Christines Tochter?" Er lachte spöttisch. Rebel unterdrückte ihre Wut. "Man darf Kinder nicht nach ihren Eltern beurteilen", sagte sie heftig. "Mein Vater könnte auch ein grausamer, bösartiger Mörder gewesen sein. Deshalb muss ich noch lange nicht so sein wie er." Seine Miene verdüsterte sich. Er warf ihr einen kalten Blick zu, unter dem sie fast zu Eis erstarrt wäre. "Sind Sie jetzt fertig?" Rebel gab nicht nach. "Nein. Letzte Nacht haben Sie gesagt, Sie hätten noch ein Gewissen. Ich glaube, Sie sollten einmal in sich gehen, denn ihre Meinung über Celeste ist falsch. Völlig falsch. Und wenn Sie diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen und ihr eine Chance geben, weil Sie im Unrecht sind..." Rebel schüttelte den Kopf, "... dann helfe ihr Gott, denn dann sind Sie wirklich ein Ungeheuer." Er sah sie mit versteinerter Miene an und enthielt sich eines Kommentars.
Rebel überlegte sich, was sie noch vorbringen könnte, aber alles schien vergeblich zu sein. Sie seufzte niedergeschlagen. Letzte Nacht hatte er behauptet, man könne nicht zu seiner Nichte vordringen, aber eigentlich war er es, der unnahbar war. "Ich werde Ihnen die heuchlerische Gutenachtzeremonie mit Rebel ersparen", sagte sie traurig. "Sie meinen es ja offens ichtlich nicht ernst, und ich will Celeste den schönen Tag nicht verderben." Schweigen. Sie gab sich geschlagen und ging mit schleppenden Schritten zur Tür. Es schien ihr nicht richtig zu sein, dass sie sich immer noch zu ihm hingezogen fühlte, dass er etwas in ihr berühren konnte, das sie dazu veranlasste, stehen zu bleiben, um in sein verhärmtes Gesicht zu sehen. Letzte Nacht hatte sie ihn für einen netten, freundlichen Mann gehalten. Aber nun? Ohne nachzudenken, so als folgte sie einer inneren Stimme, legte sie ganz unvermutet die Hand auf seine Wange. "Wie konnte ich mich so in Ihnen täuschen?" flüsterte sie leise, während ihre Augen ihre Seelenqual widerspiegelten. Die sanfte Berührung - vielleicht auch ihre Worte - berührten sein Innerstes. Seine Wange zuckte unter ihrer Hand. Sein Atem ging stoßweise. Er hatte ein gefährliches Leuchten in den Augen. "Verflucht!" zischte er. "Wissen Sie nicht, wann Sie aufhören müssen?" Er stieß ihre Hand von der Wange, hielt sie aber fest und umklammerte sie. Ein paar Nervenzerreißende Sekunden lang konnte man sehen, wie er mit sich rang, aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Mit einem leisen Stöhnen riss er Rebel an sich. Er gab ihre Hand frei und fuhr mit seinen Fingern durch ihre Lockenpracht. Er blickte ihr leidenschaftlich in die Augen, sehnsüchtig, fordernd, wie gepeinigt kamen seine Lippen den ihren näher, und er küsste sie sinnlich, verführerisch, voller Verlangen, das er so lange zu unterdrücken versucht hatte.
Er hielt Rebel umschlungen und drückte sie so gebieterisch an sich, dass ureigenste weibliche Regungen in ihr erwachten. Ihre Schenkel zitterten, als er sie an sich presste. Ihr Körper bog sich ihm entgegen unter der festen Umklammerung, sie gab ihre Gegenwehr auf, lehnte sich hingebungsvoll gegen seine bebende Brust, schlang die Hände lustvoll um seinen Nacken und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Sie hatte sehnlichst gehofft, seinen wahren Kern zu erreichen, und sie würde es schaffen. Ganz bestimmt. Sie würde bis zu seinem Innersten vordringen. Sie würde ihn dazu bringen, die Gewalt über sich zu verlieren, und ihn dazu zwingen, sie so zu akzeptieren, wie sie war. Er suchte ihre Lippen und küsste sie voller Begierde. Sie war so glücklich. Das war es, was sie unbewusst und doch so sehnlich herbeigewünscht hatte. Sie erwiderte den Kuss voller Hingabe. Aber irgendwie geschah etwas, was sie nicht wollte oder was sie im Grunde mehr als alles andere wollte -, und sie vergaß alles, was sie sich vorgenommen hatte. In ihrem Inneren wusste sie, dass ihr genau dies vorbestimmt war. All die Jahre, in denen sie ihren Charakter und ihre Persönlichkeit geformt hatte, verschwammen vor ihren Augen. Das einzig Wirkliche - das wusste sie jetzt - war das dringliche Verlangen, zu dem Mann zu gehören, der sie in seinen Armen hielt, dessen Feuer sie schürte, der die gleichen Bedürfnisse und die gleichen Wünsche hatte wie sie. Seine Lippen liebkosten ihr Ohr, und er flüsterte ihr zu. "Geh mit mir weg. Nach Frankreich, Spanien, Italien ... Ich fahre mit dir, wohin du willst..." Rebel war so berauscht von der Vorstellung, was sie mit ihm alles teilen könnte, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Erst nach ein paar Sekunden, bemerkte sie, was ihr dabei nicht gefiel. "Celeste..." "Vergiss sie!" befahl er barsch.
"Das kann ich nicht! " widersprach sie gequält. Wie hätte sie ein Kind vergessen können, das genauso verloren war, wie sie es einst gewesen war? Er gab sie frei, legte die Hände auf ihre Wangen und sah ihr tief in die Augen. "Denk nicht mehr an sie, Rebel. Sie wird sich nur zwischen uns stellen." "Gib ihr doch eine Chance. Bitte, Alexander. Bitte!" beschwor sie ihn, zumal sie zwischen ihren Gefühle n hin und her gerissen war. Er verzog das Gesicht. "Um Gottes willen. Lass nicht zu, dass sie dir das antut! " Er warf ihr einen flehenden Blick zu. "Wir könnten zusammensein, Rebel. Du willst es genauso wie ich. Geh mit mir fort und ..." "Nein!" Sie befreite sich von ihm und brachte die Stärke auf, einen Schritt zurückzutreten. "Wir werden nicht zusammen kommen, niemals." Ihre Stimme zitterte, als sie spürte, was sie sich entgehen ließ, aber sie konnte nichts tun, was ihr nicht richtig erschien, wenn sie sich auch wünschte, dass es richtig wäre. "Ich kann nicht. Ich kann niemanden lieben, der sich weigert, einem Kind eine Chance zu geben." Bevor er noch irgend etwas sagen konnte, lief sie an ihm vorbei, öffnete die Tür und floh. Sie hörte ihn nach ihr rufe n, aber sie blieb nicht stehen. Sie kam erst zur Ruhe, als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich schloss und sich sicher fühlte. Dann ließ sie sich auf das Himmelbett fallen und brach in Tränen aus.
8. KAPITEL Rebel weinte nicht oft. Nicht wenn es um sie selbst ging. Sie hatte jedoch nie vorher den Vorgeschmack eines so verführerischen Traums gehabt, der sich so schnell wieder in Nichts aufgelöst hatte. Sie war schon sehr lang nicht mehr so verwundbar gewesen, aber jetzt war sie so verletzt, dass sie es kaum ertragen konnte. Doch sie musste ihren Schmerz unterdrücken. Celeste wartete auf eine Gutenachtgeschichte, und Rebel wollte sie nicht enttäuschen. Sie hätte sonst den Erfolg des heutigen Tages aufs Spiel gesetzt. Obwohl der Onkel des Kindes sicherlich wieder einiges zerstören wird, dachte Rebel verzweifelt. Sie konnte sich jedoch auf keinen Fall dem Kind in diesem Zustand zeigen, was bedeutete, dass sie sich zusammenreißen musste. Sie war kein Feigling. Sie würde zu Celeste halten und sich um das Kind kümmern, ungeachtet dessen, was Alexander Davenport sagte oder tat. Als Rebel Celestes Zimmer betrat, saß die Kleine auf dem Bett und wartete schon auf sie. Der erwartungsvolle Blick in ihren Augen machte es Rebel leichter zu lächeln. Sie schaffte es, ihre Geschichte über den Hund des Viehtreibers so lebendig zu gestalten, dass Celeste Tränen lachte, als sie erzählte, dass der Viehtreiber sich weigerte, seine Wunden verbinden zu lassen,
bevor sich der Arzt um die Wunden des Hundes gekümmert hatte. ",Dieser Hund ist ein besser Mensch als Sie, Herr Doktor, brummelte der Viehtreiber", fuhr Rebel zu Celestes großem Vergnügen fort, und als die Geschichte zu Ende war und Rebel das Mädchen drückte, lachte es immer noch. Dann hörte das Lachen plötzlich auf, und Celeste machte sich ganz steif. Rebel musste sich nicht umsehen, um zu wissen, was den Stimmungswechsel bewirkt hatte. Sie war angespannt und musste sich beherrschen, um nicht die Fassung zu verlieren. Was sollte das bedeuten? Hatte Alexander es sich überlegt? Wollte er Celeste doch eine Chance geben? Oder war er gekommen, um Rebels Meinung über seine Nichte zu erschüttern und um ihr zu beweisen, dass er doch recht hatte? Rebel hoffte inständig, dass er versuchen würde, unvoreingenommen zu sein, und dass er gekommen war, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Sie überlegte sich fieberhaft, wie sie Celeste dazu bringen könnte, ihrem Onkel entgegenzukommen. Es hing so viel von dem ab, was sich in den nächsten Augenblicken zutragen würde. So viel, dass Rebel gar nicht wagte, sich vorzustellen, was alles passieren könnte. Sie wiegte Celeste in den Armen und sagte voller Wärme zu ihr. "Dein Onkel ist gekommen, um nach dir zu sehen. Ich glaube, er möchte wissen, was du heute alles erlebt hast." Sie legte die Kleine sanft aufs Kissen zurück, deckte sie zu und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Celeste sah ihren Onkel starr an. Die Freude war aus ihren blauen Augen gewichen. "Bekomm ich keinen Kuss?" fragte Rebel aufmunternd. Celeste sah sie ängstlich und flehend an, dann drückte sie Rebel fast trotzig einen lauten Schmatz auf die Wange, ließ sich zurücksinken und starrte ihren Onkel an, als würde sie darauf warten, von ihm zurechtgewiesen zu werden. "Gute Nacht, Celeste", sagte Rebel ruhig.
Sie erhielt keine Antwort. Rebel bezweifelte sogar, dass Celeste sie gehört hatte. Sie wartete angespannt darauf, was ihr Onkel tun oder sagen würde. Er stand unbewegt an der Tür. Rebel nahm sich zusammen, um ihm so gelassen wie möglich gegenüberzutreten, stand auf und lächelte ihn an, als sie neben ihm stand. "Ich lasse euch allein", sagte sie gefasst. Seine angespannte Miene verhieß nichts Gutes. Er sah Rebel so herausfordernd an, dass sie all ihre Hoffnungen aufgab. Sie musste den Dingen ihren Lauf lassen. Er verzog die Lippen zu einem Lachen, als wolle er sich über ihr Lächeln lustig machen. "Danke schön", sagte er und gab den Weg durch die Tür frei. Rebel war dankbar, dass er die Tür offen ließ. So konnte sie sich außer Sichtweite bringen und hören, was sich zwischen den beiden abspielte. Sie hatte kein schlechtes Gewissen zu lauschen. Sie musste wissen, ob die Begegnung schlecht verlief, um später den angerichteten Schaden beheben zu können. Jedenfalls entschuldigte sie sich damit. Aber sie hoffte inständig auf ein Wund er, ein Wunder, das ihre Zukunftsträume wieder zum Leben erwecken würde. "Man hat mir gesagt, dass du einen tollen Tag in London verbracht hast", begann Alexander das Gespräch. Er erhielt keine Antwort. "Hattest du einen schönen Tag, Celeste?" "Ja", sagte sie trotzig "Was hast du denn gemacht?" Er klang interessiert. Rebel war unheimlich erleichtert. Er versuchte es. Wenigstens tat er so als ob. Sie hoffte, dass Celeste antworten würde. "Wir haben einen Sponsor für das Ballonrennen gewonnen, und weitere zwei sind uns so gut wie sicher", sagte sie aufbegehrend und überheblich. "Dann haben wir Hamburger
gegessen und sind mit dem Boot unter allen Brücken durchgefahren." Sie verstummte. Rebel hielt den Atem an und fragte sich, wie Alexander Davenport reagieren würde. Celeste wartete offensichtlich auf eine Zurechtweisung und bereitete sich darauf vor, zurückzuschlagen. "Hört sich an, als hättet ihr viel Spaß gehabt." Rebel meinte fast zu spüren, wie überrascht Celeste war. Sie würde nicht wissen, was sie sagen sollte, und wahrscheinlich wieder voller Trotz antworten. "Ich kann bei Rebel mehr lernen als in jeder blöden Schule. Sogar mehr als in einer großen Universität!" Rebel zuckte zusammen, als sie ihren eigenen unbedachten Ausspruch hörte. Kinder schnappen die dümmsten Sätze auf und verdrehen ihren Sinn. "Vielleicht hast du recht. Vielleicht lernst du bei ihr mehr." Sein Zugeständnis kam völlig unerwartet, auch für Rebel. Ihr Herz machte einen Satz. Stille. Ein tiefer Seufzer. Dann sagte er ganz sanft: "Gute Nacht, Celeste." Sie antwortete nicht. Rebel war zutiefst enttäuscht. Hätte Celeste doch besser auf ihn angesprochen. "Onkel Alexander..." sagte sie plötzlich mit dünnem Stimmchen. "Ja, Celeste?" Rebel hörte, dass er sich der Tür genähert hatte. Keine Antwort. "Möchtest du irgend etwas?" Er schien ganz freundlich mit ihr zu sprechen. "Kann ich einen Hund haben?" flüsterte sie. "Einen Hund?" Rebel hielt den Atem an. Seine Stimme klang etwas überrascht. Gib ihr einen Hund, beschwor sie ihn in Gedanken. "Würdest du dich um den Hund kümmern, Celeste?" Seine Stimme wirkte unsicher. "Es würde mir nicht ..."
"Ich würde mich um ihn kümmern, Onkel Alexander. Ich verspreche es. Wenn er krank wäre, würde ich mit ihm zum Arzt gehen, und ich würde es nicht zulassen, dass ihn irgend jemand aussetzt, und ich würde ihn füttern, bevor ich selbst etwas esse. Er könnte auf meinem Bett schlafen und ... Sie überschlug sich förmlich, und Rebel musste darüber lächeln, dass sich Celeste die Geschichte über den Hund des Viehtreibers so zu Herzen genommen hatte. "Nun, wenn er im Haus wohnen soll", sagte Alexander langsam, "würde sich ein Yorkshireterrier am besten eignen. "Soll das heißen, dass du es erlaubst?" fragte Celeste ungläubig. "Es spricht nichts dagegen. Ich rufe morgen ein paar Züchter an und frage, ob sie einen Hund für uns haben. Wenn ja, mache ich einen Termin aus, damit wir sie uns die Tiere gemeinsam ansehen können und du dir einen aussuchen kannst." Rebel seufzte erleic htert auf. Er gab sich wirklich Mühe. "Du nimmst mich wirklich mit?" Das Mädchen konnte es kaum glauben. Er ließ sich einen Augenblick Zeit und antwortete dann entschieden: "Ja. Ich nehme dich mit, Celeste. Ich verspreche es." Wieder trat ein kurzes Schweigen ein. "Onkel Alexander?" flüsterte Celeste. "Rebel hat gesagt. . ." "Mmm? Was hat sie gesagt?" Seine Stimme schien wieder weiter entfernt zu sein. Er ging vermutlich auf das Bett zu. "Sie hat gesagt, man solle sich umarmen und sich einen Gutenachtkuss geben, damit man alle bösen Dinge vergessen kann, die im Laufe des Tages passiert sind." "Das klingt gut. Ich habe es aber noch nie ausprobiert." "Es geht ganz einfach." Bevor Alexander antwortete, herrschte unerträgliche Stille. "Es wäre schön, all die bösen Dinge zu vergessen. Würdest du mir zeigen, wie man das macht?" "Ich lege meine Hände so um deinen Nacken. Dann legst du deine Arme um mich und drückst mich ganz fest."
"Ist es so richtig?` "Ja. Und dann streichst du mit deiner Wange über meine Haare. "So?" Die kleine Pause im Gespräch sprach für sich. Rebel wusste alles, was sie wissen wollte. Es wäre indiskret, weiter zu lauschen. Wenn er einen Beweis dafür gebraucht hatte, dass seine Nichte nur ein verletzliches kleines Kind war, das angenommen und geliebt werden wollte, dann hatte er ihn jetzt. Und er war darauf eingegangen, wie schwer es auch für ihn gewesen sein mochte. Was immer auf seiner Seele lastete, er war ein guter, anständiger Mann, der ein Herz und ein Gewissen besaß. Sie schlich den Gang hinunter bis zu ihrem Zimmer und war viel zu glücklich und aufgeregt, um Alexander Davenport zu begegnen. Sie würde ihn früh genug treffen, wenn sie zum Abendessen ging. Rebel zog sich aus, um sich zu duschen. Sie wollte gerade das Badezimmer betreten, als sie ein Klopfen an der Tür hörte. Sie schlüpfte schnell in ihren seidenen Morgenmantel und rief "herein", ohne sich zu überlegen, dass es jemand anders als das Mädchen sein könnte. Als sie aus dem Ankleidezimmer kam, war sie gerade dabei, den Gürtel des durchsichtigen Gewandes zu schließen. Sie blickte fragend auf und sah Alexander Davenport in ihrem Schlafzimmer. Ihr wurde heiß und kalt. Sie dachte an die leidenschaftliche Begegnung am Nachmittag und wurde sich bewusst, dass sie fast nackt war. Rebel spielte nervös mit ihrem Gürtel und wartete darauf, dass er etwas sagte. Sie hatte einen ganz trockenen Mund. Er sah sie voller Verlangen an, so dass sie am ganzen Körper erbebte. Seine Blicke elektrisierten sie. Sie konnte sich nicht gegen die Erregung wehren. Ihre Brustspitzen wurden hart und zogen seinen Blick auf sich. Ihr Atem ging schnell und
stoßweise. Sie hoffte, dass Alexander etwas tun würde, irgend etwas, was diese unerträgliche Spannung beendete. Er schloss die Augen. Die Spannung hielt an. Nichts geschah. Voller Enttäuschung sah sie, wie sich seine Miene immer mehr verschloss, weil er sich zwang, nicht die Beherrschung zu verlieren Als er die dunklen Augen wieder öffnete, blickte er Rebel gequält an. Er vermied es jedoch, über die strittigen Punkte zu sprechen. "Ich habe völlig vergessen, Ihnen mitzuteilen, dass wir Gäste zum Abendessen erwarten, die Sie treffen wollen, um über die Waisen zu sprechen, die nach Australien verschifft worden sind." Seine schroffen Worte verwirrten Rebel so sehr, dass sie deren Sinn erst allmählich begriff: Sie benetzte ihre Lippen. "Was für Gäste?" fragte sie, als ihr bewusst wurde, dass er nicht vorhatte, über die Gefühle zu reden, die er Celeste entgegenbrachte. Rebel konnte die Enttäuschung kaum verbergen und spürte, wie ihre Kräfte schwanden. "Malcolm Baird und seine Frau Roslyn", antwortete er, und jedes seiner Worte wirkte wie eine Ernüchterung. "Ich habe Ihnen gestern nacht erzählt, dass Malcolm vor einiger Zeit hier gewesen ist", fuhr er schnell und überstürzt fort, um nicht erneut der Versuchung zu erliegen. "Da er wusste, dass die Waisen nach Davenport Hall gebracht worden sind, dachte ich, dass er mir helfen könnte, herauszufinden, von wo sie hergekommen sind. Vielleicht können wir feststellen, wo Ihre Mutter herstammt, und Verwandte finden. Ich nehme an, dass dies in Ihrem Sinne ist." Sie schloss die Augen und fühlte sich unheimlich schwach. Irgendwie brachte sie aber die Kraft auf, zu antworten. "Das ist sehr nett von Ihnen, Alexander", sagte sie. "Für ein Ungeheuer schon", murmelte er selbstkritisch. "Bitte, nicht!" protestierte sie. Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
Er machte eine abweisende Geste. "Lassen Sie das, Rebel!" befahl er, und sein Stolz kam wieder zum Vorschein. Sie erstarrte und sah, wie Alexander schluckte. Dann sagte er mit einer derart unbeteiligt klingenden Stimme förmlich: "Ich habe Malcolm Baird heute morgen angerufen. Er interessierte sich dafür, dass die Waisen nach Australien verschifft worden sind. Er möchte mehr darüber erfahren. Da er Sie treffen wollte, habe ich ihn und seine Frau zum Abendessen eingeladen. Sie sind zwar nicht mehr die Jüngsten, aber dennoch eine äußerst interessante Gesellschaft. Da sie in Kürze eintreffen werden, bitte ich Sie, mich zu entschuldigen . . ." "Selbstverständlich. Danke schön", erwiderte Rebel steif Sie blickte noch eine ganze Weile auf die Tür, die er hinter sich geschlossen hatte, und spürte, wie ein Gefühl der Zurückweisung in ihr aufstieg. Sie hatte ihn dazu gebracht, einer Wahrheit ins Auge zu sehen, die ihm das Gefühl vermitteln musste, schuldig zu sein. Er hatte ein unschuldiges Kind verurteilt und falsch behandelt. Und er wusste, dass Rebel es wusste. Er konnte es nicht ertragen. Vor allem nicht wegen der Gefühle, die zwischen ihnen standen. Das Traurige daran war, dass sie zwar gewonnen, aber dadurch das verloren hatte, was sie sich am sehnlichsten wünschte. Man muss immer Opfer bringen, dachte Rebel, fühlte sich deshalb jedoch nicht besser. Die Enttäuschung war um so stärker, weil sie seine Reaktion nicht vorhergesehen hatte, nicht darauf vorbereitet gewesen war und sogar auf eine Versöhnung gehofft hatte, die sie glücklich hätte machen können. Genau das Gegenteil war eingetreten. Die Wahrheit hatte eine unüberwindbare Kluft zwischen sie und Alexander Davenport getrieben. Sie bezweifelte nicht, dass Alexander alles tun würde, was für das Kind getan werden musste, jetzt, da er einsah, wie sehr er sich geirrt hatte. Natürlich würde es Hochs und Tiefs geben, aber ihre Beziehung würde allmählich stärker werden. Es war
immer schwer, einen neuen Weg einzuschlagen, aber beide hatten den ersten Schritt getan. Dieser Gedanke tröstete Rebel ein bisschen über ihre schreckliche Einsamkeit hinweg. Rebel wurde sich bewusst, dass die Zeit verging, und sie überwand sich, sich für das Treffen mit den Leuten zurechtzumachen, die ihretwegen gekommen waren. Während sie sich duschte und ankleidete, zwang sie sich, nicht an Alexander und Celeste zu denken. Es wäre interessant, etwas über die Herkunft ihrer Mutter zu wissen und darüber, wie sie zu einer Waise geworden war. Rebel konnte sich jedoch nicht mit dem Gedanken anfreunden, weitläufige Verwandte kennen zulernen. Sie würden sich völlig fremd sein. Außerdem würde sie nie vergessen können, dass sie nicht dazu bereit gewesen waren, ein Kind liebevoll aufzunehmen, das die Eltern verloren hatte. Für Rebel gab es keine Entschuldigung dafür, ein Kind seinem Schicksal zu überlassen. Darüber hinaus brauchte sie nicht noch eine Familie. Vielleicht war es besser, wenn ihre Herkunft weiter im dunkeln blieb. Es war nicht wirklich wichtig. Sie war jetzt mit sich und ihrem Leben zufrieden, und sie zog es vor, dass man sie danach beurteilte und nicht nach ihren Eltern. Celeste war das Paradebeispiel dafür. Während sie sich im Ankleidezimmer im großen Spiegel betrachtete, lächelte sie wehmütig über die Wahl ihres Kleides. Sie war heute Abend nicht auf der Höhe und hatte deshalb automatisch auffällige Farben vermieden. Die sanften Creme-, Apricot und Grüntöne des Blumenmusters spiegelten ihre gedämpfte Stimmung wider. Ihr Kleid war nicht besonders auffällig, aber trotzdem feminin und elegant. Die duftigen Ärmel betonten das schmale, hüftlange Oberteil, das Rebels Figur schmeichelte. Der tiefangesetzte Rock schwang nach unten aus und war mit Spitzen abgesetzt. Die cremefarbenen Pumps waren im Gegensatz zu dem verspielten Kleid ganz schlicht.
Rebel fand, dass sie angemessen gekleidet war, um Englands führendem Historiker und seiner Frau vorgestellt zu werden. Sie ging zuversichtlich die Treppe hinunter, zögerte jedoch, als sie vor der Tür des Salons stand. Sie musste ja nicht nur vor Malcolm und Roslyn Baird treten. Der bevorstehende Abend würde sicherlich von der Spannung zwischen Alexander und ihr überschattet werden. Aber für ihn wird es auch nicht besser sein, sagte sie sich, und wenn er es ertrug, würde sie auch dazu fähig sein. Nicht nur Grafen waren in der Lage, ausgesprochen höflich zu sein. Es fiel ihr trotzdem schwer, sich nichts anmerken zu lassen, als sie den Salon betrat und Alexander erblickte. In dem schwarzen Abendanzug sah er derart gut aus, dass es ihr das Herz zusammenschnürte. Sie wandte den Blick von ihm ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gäste. Als sie eingetreten war, waren die beiden aufgestanden. Malcolm Baird hatte gepflegte weiße Haare und ein edles Gesicht, das einem römischen Senator vergangener Zeiten würdig gewesen wäre. Seine Frau hatte trotz ihres Alters noch ein sehr schönes Gesicht, das von dichten weißen Löckchen umrahmt wurde. Beide trugen elegante Kleidung. Er einen Abendanzug und sie ein moosgrünes Brokatkleid. Roslyn Baird trägt die gleichen Farben wie ich, dachte Rebel, schenkte diesem Zufall aber weiter keine Beachtung. Malcolm Baird kam auf sie zu, um sie zu begrüßen, und Alexander stellte sie vor. Der alte Historiker umschloss ihre Hand mit beiden Händen und sah ihr lange lächelnd in die Augen. Er betrachtete sie viel zu eingehend. Rebel wich unwillkürlich zurück. Sie mochte es nicht, wenn man ihren Augen zu viel Beachtung schenkte. Er hielt sie jedoch an der Hand fest. Es war ihr sehr unangenehm, dass er den Blick senkte und ihr markantes, ungewöhnlich geformtes Kinn eingehend betrachtete. Er holte
tief Luft und sah ihr wieder in die Augen. Rebel wunderte sich, dass seine Augen plötzlich feucht waren. "Mein liebes Kind", sagte er sanft. "Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Sie kennen zulernen." Mit einer Hand hielt er sie immer noch fest, die andere streckte er nach seiner Frau aus. "Roslyn . . " Die ältere Dame schien unsicher auf den Beinen zu sein, als sie zu ihnen kam. Sie ergriff seine Hand, als müsste sie sich stützen. Die alte Dame sah Rebel so erwartungsvoll an, dass diese noch verwirrter wurde. "Mrs. Baird", bemerkte sie höflich, zumal sie nicht wusste, wie sie sonst auf das seltsame Benehmen reagieren sollte. "Es besteht kein Zweifel, Liebste", sagte er sanft zu seiner Frau. "Sieh dir nur ihre Augen an." Die Frau blickte Rebel an und hatte mit einemmal ebenfalls Tränen in den Augen. "Oh, Malcolm!" rief sie. "Nach all den Jahren! " Er räusperte sich und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. "Es muss Ihnen sehr eigenartig vorkommen, meine Liebe", sagte er zu Rebel. "Ich bitte Sie um Nachsicht, bis wir Ihnen alles erklärt haben. Wir sollten uns erst einmal setzen." Rebel warf Alexander einen fragenden Blick zu, als sie zu den Sofas am Kamin gingen. Er runzelte die Stirn, was sie überhaupt nicht beruhigte. Unaufgefordert brachte er ihr ein Glas Sherry. Dann ging er weg und nahm auf einem Sessel Platz, der in einiger Entfernung von Rebel und den Bairds stand. Rebel erkannte, dass er bei dem, was folgen würde, nicht beteiligt sein wollte. Sie fühlte sich einsam. Sie sah die Bairds an und wünschte sich, dass sie nicht gekommen wären. Und was hatten ihre Augen damit zu tun? Sie hasste Menschen, die die Ungleichmäßigkeit ihrer Augen bemerkten. Das raubte ihnen ihren Zauber. Sie bezeichnete es gern als Zauber. Und warum sahen sie sie an, als wäre sie das achte Weltwunder?
Malcolm Baird räusperte sich erneut. "Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Es ist eine lange Geschichte, die für meine Frau und mich sehr schmerzlich ist. Vor mehr als fünfzig Jahren verloren wir unsere Tochter, das einzige Kind, das wir je hatten. Trotz unserer Bemühungen, trotz der vergeblichen Nachforschungen hat uns die Regierung erst vor kurzem aufgrund des Gesetzes über die Informationsfreiheit einige Dokumente zugänglich gemacht, die zeigten, dass sie in Davenport Hall gewesen sein muss. Danach verlor sich ihre Spur. Alle Aufzeichnungen sind im Krieg zerstört worden. Ich konnte nicht herausfinden, was danach mit den Kindern geschehen ist. Wohin sie gebracht worden sind. Meine Frau und ich hatten schon jede Hoffnung verloren, bis Alexander heute morgen angerufen hat." Diese Erklärung erleichterte Rebel. Sie konnte die Lage der Bairds gut verstehen. Dass sie so plötzlich neue Hoffnung schöpften, in ihrem Alter ihre Tochter wiederzufinden, entschuldigte ihren Gefühlsausbruch. Für sie war Rebel die Überbringerin, guter Nachrichten. "Ich kann Ihnen behilflich sein, Mr. Baird", sagte Rebel freundlich. "Alle Waisen wurden auf der HMS Strathfieldsay nach Australien gebracht. Vielleicht können Sie Aufzeichnungen darüber finden." "Meine Liebe, wir wissen, dass wir unsere Tochter niemals finden werden", antwortete er traurig. "Wir haben sie für immer verloren. Wenn Sie es gestatten, werden wir uns damit trösten, eine Enkelin zu finden." Rebel runzelte verwundert die Stirn. "Wenn ich es gestatte?" Ihr stand beinahe das Herz still, die Art, in der sie sie ansahen, die Bemerkung über ihre Augen ... Sie schüttelte den Kopf. Es war unglaublich. Sie warf Alexander Davenport wieder einen fragenden Blick zu, aber erschien das Sherry Glas in seiner Hand eingehend zu betrachten. Sie sah die Bairds an.
"Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht", sagte sie frei heraus. "Für Sie muss das alles sehr überraschend sein. Eine freudige Überraschung, hoffen wir", sagte Malcolm Baird hoffnungsvoll, während er die Hand seiner Frau drückte. "Alexander hat mir erzählt, dass der Name Ihrer Mutter Valerie Griffith gewesen ist und dass Sie nach Davenport Hall gekommen sind, um etwas über sie herauszufinden. Ich bin vor einiger Zeit aus dem gleichen Grund hergekommen. Wissen Sie, meine Liebe, Valerie Griffith war unsere Tochter. Und Sie - es besteht kein Zweifel. Sie haben gewisse Gesichtszüge, die es zweifelsfrei bestätigen. Sie sind unsere Enkelin. Rebel musterte den alten Herrn eingehend. Es war wirklich wahr. Sein Kinn glich ihrem, wenngleich das Alter seine Spuren hinterlassen hatte. Er hatte jedoch braune Augen. Aber die Augen seiner Frau ... Sie waren haselnussbraun und ebenso gesprenkelt wie ihre. Als Rebel diese Augen bemerkte, fühlte sie schmerzliche Abwehr in ihrem Herzen. Das waren ihre Großeltern! Die Eltern ihrer Mutter! Sie waren am Leben, wohlhabende Menschen, die einfach so unbedacht ein kleines Kind verloren hatten. Rebel dachte an die Notlage ihrer Mutter und konnte die beiden plötzlich überhaupt nicht mehr leiden. "Wie konnten Sie ihre Tochter verlieren?" fragte sie. "Wie konnten Sie sie gehen lassen? Meine Mom ... meine Mom..." Sie hatte plötzlich einen Frosch im Hals und sprang auf, weil sie viel zu verstört war, um diese Menschen anzusehen, die ihrer Mutter ein schönes, sicheres Leben hätten geben können und es nicht getan hatten. Ohne zu überlegen, entfernte sie sich von ihnen, sie wusste nur, dass sie sie nicht mehr ansehen wollte. Alexander stellte sich ihr in den Weg. Sie starrte ihn trotzig an und hasste ihn dafür, dass er dieses Treffen veranstaltet hatte, dafür, dass er ihnen beiden das verwehrte, was zwischen ihnen
sein könnte. Sie hasste seinen Stolz und seine Zuneigung für diese englischen Menschen, die ihre Mutter verstoßen hatten. Der Verstand sagte ihr, dass sie unbedacht handelte. Alexander hatte die Bairds nur eingeladen, um ihr einen Gefallen zu erweisen. Aber sie wollte es nicht. Ihre Mutter hatte sie allein zur Welt gebracht, allein aufgezogen und war allein gestorben. Und Rebel wollte die Menschen gar nicht kennen lernen, die ihrer Mutter hätten beistehen müssen. Die ihre Tochter hätten lieben und unterstützen müssen. Er sah sie unerbittlich an, hob dann die Hand und berührte Rebels Wange. "Geben Sie Ihnen eine Chance, Rebel", sagte er leise. "Ich weiß, dass es weh tut. Ich weiß, dass Sie ihnen nicht zuhören und nicht versuchen wollen, sie zu verstehen. Aber es könnte falsch sein, wenn Sie sich abwenden und sie abweisen. Ganz falsch. Und wenn Sie..." Er wiederholte das, was sie über Celeste zu ihm gesagt hatte, und verlangte von ihr, was sie von ihm verlangt hatte, indem er ihr erzählte, zu verstehen, was sie fühlte, weil er das gleiche für Christines Kind empfunden hatte. "Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit, Rebel", fügte er eindringlicher hinzu. "Geben Sie ihnen eine Chance." Du gibst mir keine, hätte sie am liebsten erwidert. Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und verachtete ihn für seine Heuchelei. "Hören Sie doch wenigstens an, was sie zu sagen haben", sagte er leise. "Sie sind doch immer so stolz darauf, dass Sie gerecht sind, stimmt's? Dann zeigen Sie mir mal, dass Sie Ihre schönen Worte auch in die Tat umsetzen." "Weisen Sie mich zurecht, weil ich Sie zurechtgewiesen habe, Mylord?" spottete sie. "Wollen Sie ein Ungeheuer sein?" entgegnete er energisch. "Leider bin ich auch nur ein Mensch." "Und bereit, einen Fehler zu begehen." "Das waren Sie auch", erinnerte sie ihn. "Ja", gab er zu, ohne auszuweichen.
"Gut! Ich werde ihnen eine Chance geben! " sagte sie giftig. "Ich hoffe nur, Mom dreht sich nicht im Grab um."
9. KAPITEL Alexander hatte recht. So wie sie mit Celeste recht gehabt hatte. Malcolm und Roslyn hatten zusammen in Oxford studiert. Sie stammte aus einer soliden Familie aus der Mittelschicht. Er kam aus der Oberschicht, und beide waren zu jung gewesen, um ohne die Zustimmung der Eltern heiraten zu können. Seine Familie war gegen ihre Beziehung gewesen. Als Malcolm Roslyn vorgestellt hatte, war sie wie eine Außenseiterin behandelt worden. Man hatte alle Druckmittel angewendet, damit sie sich trennten. Roslyn und Malcolm hielten sich aber nicht an das Verbot, sich nicht mehr sehen zu dürfen. Die Beziehung ging weiter. Sie erwarteten ein Kind. Beide waren aber noch nicht im heiratsfähigen Alter, das damals einundzwanzig war. Man verbot ihnen zu heiraten, und Roslyn wurde von Malcolm fortgebracht und versteckt. Man nahm ihr das Kind weg und gab es zur Adoption frei. Damals tat man solche Dinge. Malcolm sprach nie wieder mit seinem Vater. Dann kam der Krieg. Malcolm war wachhabender Offizier und verbrachte den Urlaub in London, als er sah, wie Roslyn aus einem Bus stieg. Malcolm schwor sich, dass sie sich nie wieder trennen würden, und holte die Erlaubnis ein, sie heiraten zu dürfen. Er schwor sich, sein verlorenes Kind zu suchen und es zu sich zu nehmen.
Wegen der Versetzung zu Montgomerys Kompanie in die ägyptische Wüste musste er sein Vorhaben jedoch aufschieben. Nach Ägypten musste er nach Italien, in die Normandie und schließlich nach Berlin. Als der Krieg vorbei war, waren alle Nachforschungen über das Kind vergeblich. Der Verlust des Kindes wurde um so schmerzlicher, nachdem sie festgestellt hatten, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnten. Die Tochter, die man ihnen weggenommen hatte, konnten sie nie vergessen. Nachdem Malcolm herausbekommen hatte, dass in Davenport Hall Waisenkinder untergebracht worden waren, war er gekommen und hatte den Namen seiner Tochter auf der Liste entdeckt. Es war um so enttäuschender gewesen, dass er nicht herausfinden konnte, wohin sie dann gebracht worden war. Rebel schämte sich für ihr voreiliges Urteil. Diese Menschen hatten noch mehr gelitten als ihre Mutter, und sie waren die Opfer ihrer Familien, so wie Celeste es gewesen war. Sie versuchte ihr Verhalten wieder gutzumachen, indem sie ihnen alles erzählte, was sie über ihre Mutter wusste. Beim Abendessen gab ihr Alexander das Stichwort, damit sie von ihrem Leben bei den James berichtete, was sie auch tat, ohne auf die schmerzliche Zeit zwischen dem Tod ihrer Mutter und ihrer Adoption einzugehen. Als sie erzählte, wie glücklich sie bei ihrer Adoptivfamilie gewesen war und wie sie es geschafft hatte, erfolgreich zu werden, hob sich die Stimmung. Es war ein sehr gefühlsbetonter Abend, und Rebel fühlte sich ein bisschen schuldig, dass sie trotzdem erleichtert war, als er beendet wurde. Die Bairds gaben ihr ihre Adresse in London und luden Rebel ein, sie zu besuchen und bei ihnen zu wohnen, wann immer sie wollte. Obwohl sie sich nicht aufdrängten, spürte Rebel, wie viel ihnen daran lag. Sie hofften, dass sie die tragische Lücke in ihrem Leben füllen würde, und sie war sich nicht sicher, ob sie das konnte. Nicht ganz so, wie sie es wollten.
Alexander brachte die Bairds zu ihrem Wagen. Für einen Mann, der gerade ein traumarisierendes Erlebnis durchgemacht hatte, war er heute Abend sehr gefasst gewesen. Er hatte sich die meiste Zeit taktvoll im Hintergrund gehalten, war jedoch in den kritischen Augenblicken sehr einfühlsam gewesen. Der vollendete Gastgeber, dachte Rebel wehmütig und wünschte sich, dass sie auch in der Lage gewesen wäre, sich so tadellos zu benehmen, wie sie es sonst immer von anderen erwartete. Sie schämte sich, dass sie nicht feinfühliger gewesen war, und ging hinauf, bevor Alexander zurückkam. Obwo hl sie sehr müde war, wusste sie, dass sie noch lange wachliegen würde. Zu viel war heute geschehen, zu viel, das ihr auf der Seele lastete. Als sie wenig später das Klassenzimmer betrat, wurde Rebel wieder vom Gefühl der Zeitlosigkeit befallen, die Jahre schienen dahinzuschmelzen und verloren ihre Bedeutung. Als sie langsam durch den Raum ging, die Schreibpulte, die altmodische Tafel und das Schaukelpferd berührte, das trotz seines Alters sanft hin und her wippte, wurde sie ganz ruhig. Sie streifte die Schuhe ab, setzte sich ans Fenster, lehnte ihren Kopf an die Scheibe und sah hinaus. Unter ihr lag die alte Ulmenallee, die zum eisernen Tor führte, an dem sie gestanden hatte - wann? Vor drei Jahren? Vor vielen Jahrzehnten? Celestes Leben würde von nun an anders sein. Alexanders Leben vielleicht auch. Sie selbst war von ihrer Mutter hergeführt worden, und hierher waren die Eltern ihrer Mutter gekommen. Ein fünfzigjähriger Zyklus der Einsamkeit und der Not hatte sich geschlossen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die an ihren Wangen herunterperlten, als sie an die Liebe dachte, die hier, am anderen Ende der Welt, auf ihre Mutter gewartet hatte. Jetzt war sie für Rebel da. Rebel war die Verbindung zwischen den Eltern, denen man das Kind weggenommen hatte, und der Tochter, der man das genommen hatte, was ihr von Geburt an zustand.
War das die Kraft, die sie dazu angetrieben hatte, in Davenport Hall zu bleiben? Hatte sie nun ihre Wirkung verloren? Oder gab es noch mehr? Rebel wünschte sich sehnlichst, dass es noch mehr geben würde. Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde, ließ sie den Blick vom Fenster wenden. Der Raum lag fast ganz im Dunkeln, aber weder sie noch Alexander brauchten mehr Licht, um sich zu sehen. "Ich dachte mir, dass Sie hier sind", sagte er leise. Rebels Herz schnürte sich so schmerzlich zusammen, dass sie nicht antworten konnte. Es war fast so, als hätte ihr Verlangen nach ihm ihn herbeigezaubert. Als er im Dunklen auf sie zuging, hatte sie den brennenden Wunsch, immer bei ihm zu sein. Er setzte sich ans andere Ende des Fensters. Sein Gesicht lag im Schatten, aber er sah sie an. "Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich nichts von einer Verbindung zwischen den Bairds und Ihrer Mutter wusste", sagte er ruhig. "Malcolm hat es mit keinem Wort erwähnt. Ich ahnte nicht, was geschehen würde, Rebel. Es tut mir leid, dass ich so mit mir selbst beschäftigt war und nicht vorausgesehen habe, dass dieses Treffen mehr zu bedeuten hatte." "Sie müssen sich für nichts entschuldigen, Alexander." Er schüttelte den Kopf. "Es war ein Schock für Sie. Alles ging so schnell. Und ich bin grob zu Ihnen gewesen." "Es ist bekannt, dass ein Schlag ins Gesicht Menschen aus ihrem Schockzustand befreit", bemerkte sie trocken. "Wenn ich es deshalb getan hätte, könnte ich mir jetzt gratulieren. Aber in Wahrheit habe ich mich nur gerächt. Und darauf bin ich gar nicht stolz." Das Bedauern, sein unbeholfen demütiger Ton ließen Rebel für einen Augenblick die Wut auf ihn vergessen. "Das macht nichts, Alexander", sagte sie sanft. "Es hat funktioniert. Und ich habe mich nicht richtig verhalten. Ich danke Ihnen, dass Sie mich dazu aufgefordert haben, das zu tun,
was ich predige. Sonst..." Sie seufzte tief, um ihre Beklemmung loszuwerden. "Sie wären schon zur Besinnung gekommen, Rebel. Es ist nicht Ihre Art, anderen den Rücken zu kehren." Sie schüttelte den Kopf. "Ich bin mir nicht so sicher. Ich dachte, ich würde mich kennen, aber jetzt scheint nichts mehr klar zu sein." "Ich habe jedenfalls bemerkt, dass Sie heute Abend viele Dinge zurückgehalten haben, die Malcolm und Roslyn hätten verletzen können. Sie haben sich nichts vorzuwerfen, Rebel. Sie sind sehr freundlich zu ihnen gewesen." Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu. "Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann..." Obwohl es so dunkel war, dass Alexander nicht in ihre Augen sehen konnte, schloss sie sie. Er könnte so viel für sie tun, aber sie konnte ihn nicht darum bitten. Es musste von ihm kommen. Er wollte es genau sosehr wie sie. "Ich glaube, ich werde es früher oder später verarbeiten", sagte sie matt. Es schmerzte sie, zu hören, dass er aufstand, um sie zu verlassen. Gespannt verfolgte sie seine Bewegungen. Die Stille war endlos. Er rührte sich nicht von der Stelle. Und endlich sprach er wiederganz leise und angespannt. "Unsere Vereinbarung, Rebel ..." Ihr Herz krampfte sieh zusammen. Er würde sie bitten zu gehen. Warum auch nicht? Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt. Jedenfalls hatte sie alles in die richtigen Wege geleitet. Sie hätte nicht mehr erreichen können. "Ich habe mich gefragt, wenn es nicht zu problematisch für Sie ist und wenn Sie mein - mein Verhalten von heute Nachmittag, das nie wieder vorkommen wird..." Sie hörte, wie er tief Luft holte. "Würden Sie vielleicht in Betracht ziehen, länger als die vereinbarte Woche bei uns zu bleiben?"
Rebel sah ihn überrascht an. Ihr Puls raste. "Sie wollen, dass ich bleibe, Alexander?" flüsterte sie. "Ja." Seine schnelle Antwort sprach für sich, und er fügte zugleich hinzu. "Ich sehe ein, dass die Bairds wohl eher einen Anspruch auf Sie haben. Und Sie müssen natürlich das tun, was Sie für richtig halten. Aber ich würde alles tun, was Sie wollen. Laden Sie Ihre Großeltern ein, wenn Sie möchten." Er wollte wirklich, dass sie blieb. Das war offensichtlich. Er sagte jedoch nicht, weshalb sie bleiben sollte, und Rebel befürchtete, dass es nur wegen Celeste war. Nach einem tiefen Atemzug kam sie sofort auf den Punkt. "Sie können Celeste nicht nur mir überlassen, Alexander. Ich werde noch eine Weile bleiben, was aber nicht bedeutet, dass ich Ihnen die Verantwortung abnehme. Von nun an müssen Sie das Ihre dazutun, sonst fühlt sich Celeste nur noch einsamer, wenn ich gehe. Und dann müssen Sie voll und ganz für sie da sein. Je länger ich bleibe, desto schwieriger wird es für Sie sein, sie über meine Abreise hinwegzutrösten." "Ich werde so gut wie möglich mit Ihnen zusammenarbeiten, Rebel", versprach er ernst. "Und ich werde Sie so gut wie möglich unterstützen", sicherte sie ihm zu. "Ich weiß sehr wohl, wie schwer es für Sie ist, Alexander. Was Sie für sie empfinden ..." "Nein, es wird nicht so schwer sein." Er seufzte und stand auf. Rebel dachte erneut, er würde sie verlassen, zumal er sich entschuldigt und sich vergewissert hatte, dass sie bleiben und ihm, was Celeste betraf, helfen würde. Sie war enttäuscht. Für einen Augenblick waren sie sich in der Dunkelheit so nahe gewesen. Sie täuschte sich jedoch wieder. Er ließ sie nicht allein. Er ging zu einem Schreibpult und ließ die Finger über die alten Schrammen auf der Tischplatte gleiten, so wie sie es gestern nacht getan hatte.
"Das war Geoffreys Tisch", sagte er traurig. "Als wir klein waren, standen wir uns sehr nahe. Er war nur achtzehn Monate älter als ich. Er liebte Spiele, Tiere, Gelächter..." Rebel schwieg, weil sie spürte, dass er sich von all den Dingen befreien musste, die viel zu lang und zu schwer auf seiner Seele gelastet hatten. Es war leichter, dies in der Dunkelheit zu tun, und vielleicht war es der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort und sie die richtige Person dafür, jemand, der nicht zu seinem damaligen Leben gehörte, aber in diesem Augenblick ganz eng mit ihm verbunden war. "Heute Abend habe ich Celeste erlaubt, einen Hund zu haben. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ... Zum ersten mal habe ich meinen Bruder in ihr wiedergesehen. Es ist möglich - Christine war eine Lügnerin, aber es ist möglich, dass Celeste Geoffreys Kind ist und somit alles, was von ihm geblieben ist. Als ich sie in meinen Armen gehalten habe ..." Er schüttelte den Kopf und sprach voll innerer Bewegung. "Ich werde alles wiedergutmachen, Rebel. Es wird mir nicht schwer fallen." Rebel horchte auf. Wenn Alexander so fühlte, würde es keine Probleme mit Celeste geben. Warum wollte er dann, dass sie, Rebel, blieb? Sollte sie ihm nur über die Anfangsschwierigk eiten hinweghelfen, oder gab es viel persönlichere Gründe für seine Bitte, in Davenport Hall zu bleiben? ,Wir könnten zusammensein ...’ Das hatte er heute Nachmittag gesagt und gefühlt. Was immer er jetzt dachte oder fühlte, er wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Das ließ sie hoffen. Er drehte sich um und stützte sich auf das Pult. "Ich habe mich noch nicht für all das bedankt, was Sie bisher für Celeste getan haben. Sie scheint sich alles zu Herzen genommen haben, was Sie zu ihr gesagt haben."
In seiner Stimme schwang eint fragender Ton mit, und Rebel antwortete, weil es für ihn wichtig war. "Das liegt daran, dass ich ihr zuhöre, Alexander, und ihr Antworten gebe, mit denen sie etwas anfangen kann. Ein autoritäres Verhalten ruft bei Celeste nur Widerstand hervor. Sie ist ein sehr intelligentes Mädchen. Sie müssen ihr nur den Weg weisen und Ihr Handeln begründ en, den Rest wird sie sich selbst erschließen. Dann wird sie stolz darauf sein, selbst etwas geleistet zu haben. Das macht sie glücklich. Ich glaube, Sie könnten ein sehr schönes Verhältnis zu ihr haben. Wenn Sie sich Zeit lassen, und wenn Sie sich um sie bemühen." Für eine ganze Weile herrschte Stille. Rebel spürte, wie er über sich selbst nachdachte. Voller Selbstverachtung sagte er dann. "Sie hatten recht, mich ein Ungeheuer zu nennen." "Nein, Alexander", erwiderte sie ruhig, "ein Ungeheuer hätte den Versuch nicht gemacht." Er seufzte geringschätzig und entfernte sich vom Pult. Er schritt durch das Klassenzimmer, als wäre er von bösen Geistern getrieben. "Ich habe es nicht wegen Celeste versucht. Ich habe es für Sie getan. Ich wollte Sie für mich gewinnen. Und wenn ich das tun musste, um Sie zu bekommen . . ." Er machte eine Atempause und sprach in sanfterem Ton weiter. "Sehen Sie nun, was ich für ein Mensch bin?" Er schnippte spöttisch mit den Fingern. "Soviel zu meinem Gerechtigkeits- oder Ehrgefühl. Es war mir egal, was das Beste für sie war. Und ich habe mich geweigert, irgendwas von dem zu glauben, das Sie über Celeste gesagt haben. Mein einziger Gedanke war, dass Christine mich nicht von dem abhalten würde, was ich unbedingt wollte. Mein Gewissen ..." Er lachte voller Hohn. "Ich habe es eingeschläfert, bis es mausetot war! Ich habe es mit so vielen Entschuldigungen zum Schweigen gebracht..."
Er unterbrach sich. "Um das zu verstehen, müssten Sie mehr über Christine wissen. Die schöne, engelsgleiche, erotische Christine! Mit einem Herz aus Stein!" sagte er verbittert. Rebel wollte es wissen. Christine war der Schlüssel zu all dem Bösen in Davenport Hall. Sie war sich jedoch bewusst, dass sie nur eine Außenseiterin war, die nicht das Recht hatte, danach zu fragen. Sie schwieg weiter, in der Hoffnung, dass Alexander sich ihr offenbaren würde. Sein Geständnis über sein Motiv, es mit Celeste zu versuchen, schockierte sie überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, es rief in ihr ein Gefühl des Triumphes hervor. Wenn sein Verlangen ihn so weit getrieben hatte, waren seine Gefühle vielleicht genauso stark wie ihre. Sie hatten sicherlich eine Chance, wenn nur Christines böser Schatten vertrieben werden könnte. Alexander begann wieder, durch den Raum zu gehen, und griff rastlos nach irgendwelchen Dingen, die er gleich wieder zurückstellte. "Ich verfluche den Tag, an dem ich sie hierher gebracht habe", sagte er zornig. "Ich war so in sie vernarrt, so verblendet, dass ich es nicht erwarten konnte, sie meiner Familie vorzustellen - dieses Prachtexemplar von einer Frau! Ich hatte keine Ahnung, was Christine im Schild führte. Dass sie nichts daran hindern würde, Gräfin von Stanthorpe zu werden." Er starrte eine Clownspuppe an, die er aus dem Regal genommen hatte. "Sie hatte meinen Bruder im Handumdrehen verhext. Er war sofort bereit, sie zu heiraten, als sie verkündete, dass sie von ihm schwanger sei. Aber als sie den Titel hatte, zeigte sie ihr wahres Gesicht. Sie machte Geoffrey das Leben zur Hölle. Er wurde ein ganz anderer Mensch." Er legte den Clown langsam ins Regal zurück. "Ich glaube nicht, dass sein Tod ein Unfall gewesen ist. Man hatte ihn gewarnt, und er wusste, dass die Skipiste gefährlich war. Ich denke, ihm war alles egal, als er den Berg hinunterraste und sein
Leben aufs Spiel setzte. Ich frage mich, ob er wusste, was Christine tun würde." "Was hat sie denn getan?" erkundigte sich Rebel sanft, zumal er ins Grübeln zu verfallen schien. Alexander warf ihr einen höhnischen Blick zu. "Die trauernde Witwe kam nach Davenport Hall zurück", fuhr er verbittert fort. "Das einzige Problem war, dass sie nicht mehr das Recht hatte, hier zu wohnen. Aber sie hatte schon eine Lösung parat." Er lachte freudlos, begann erneut, auf und ab zu gehen, während er schneidend sagte: "Am Tag der Beerdigung meines Bruders, nur eine Stunde nachdem mein Bruder bestattet worden war, kam sie in mein Schlafzimmer, um mir zu sagen, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen sei, Geoffrey zu heiraten. Sie sei von der Vorstellung besessen gewesen, eine Gräfin zu sein, und bereue es bitterlich, weil sie mich geliebt habe und immer noch liebe. Sie versuchte mir zu zeigen, wie sehr sie mich liebte und sich nach mir verzehrte. Ich musste sie die Treppe hinunterzerren und in ihren schwarzen Porsche setzen. Ich habe ihr gesagt, sie solle in die Hölle gehen. Sie sollte die Atmosphäre von Davenport Hall nie wieder vergiften. Der Untersuchungsrichter vermutete, dass sie aus Kummer so schnell gefahren ist", sagte Alexander heftig. "Ich hätte ihm sagen können, dass es aus blinder Wut geschehen war. Christine hatte wahrscheinlich noch Schimpfworte auf den Lippen, als sie aufprallte. Die Toten können jedoch keine Auskunft geben. Und ich war glücklich über das, was alles mit ihr starb." Es ist aber nicht mit ihr gestorben, dachte Rebel. Und Alexander war nicht lange glücklich gewesen. Er war mit Christines Kind zurückgeblieben, und in dem Hass auf ihre Mutter hatte er ein Ungeheuer aus Celeste gemacht. Gerade als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, kehrte Alexander in die Gegenwart zurück.
"Ich war Celeste gegenüber so blind, wie ich es bei Christine gewesen bin", sagte er bedauernd. "Jedes Mal, wenn ich in ihr kleines engelsgleiches Gesicht blickte, sah ich ihre Mutter in ihr. Das hat ihre Zerstörungswut verstärkt..." Er seufzte und schüttelte den Kopf, als wollte er die Verblendung abschütteln, der er erlegen war. Seine Stimme wurde ernst. "Aber als sie mich heute Abend angesehen hat, erblickte ich nicht Christine, sondern Geoffrey. Und alles, was Sie im Arbeitszimmer zu mir gesagt haben, schoss mir durch den Kopf und veränderte meine Meinung über das Kind. Und dann..." "Dann haben Sie es wirklich versucht", fügte Rebel sanft hinzu. "Ja", gestand er traurig ein. "Es spielt keine Rolle, wie, warum oder wann, Alexander. Es zählt nur, dass Sie sie nicht abgewiesen haben, als sie sich Ihnen geöffnet hat." Nach ein paar Sekunden der Anspannung fragte er: "Sie können einfach über alles hinwegsehen, Rebel?" Seine Aufrichtigkeit verlangte eine ehrliche Antwort. "Ich wünschte, Christines Einfluss wäre mit ihr gestorben. Seit ich hierher gekommen bin, habe ich deswegen mit Ihnen und mit Celeste gekämpft. Wenn Sie sich nun davon freimachen können, Alexander, haben Sie die Schlacht mit Celeste fast schon gewonnen." Sie atmete tief ein, weil sie wusste, dass sie sich auf gefährlichen Grund begab. "Ich habe das, was heute Nachmittag in Ihrem Arbeitszimmer geschehen ist, nicht geplant", sagte sie ruhig. "Aber wenn es bewirkt hat, was alle Argumente der Welt nicht geschafft hätten, hätte ich es sicherlich zu meinem Plan gemacht, wenn ich das Ergebnis vorausgesehen hätte. Ende gut, alles gut." Er lachte wehmütig. "Sie sind eine verdammt, gute Geschäftsfrau, Rebel Griffith James. Ich wünschte, ich könnte mich genauso leicht von meinen Fehlern freisprechen."
"Was geschehen ist, ist geschehen, Alexander", erwiderte sie ruhig. "Es zählt nur, was Sie von jetzt ab tun. Meine Eltern sagen immer, Morgen ist immer der erste Tag deines restlichen Lebens. Was du daraus machst, ist deine Sache. So haben sie uns erzogen, positiv zu denken." "Der erste Tag meines restlichen Lebens", wiederholte er nachdenklich. Während des folgenden Schweigens spürte Rebel, wie sich die Stimmung besserte und eine friedliche Atmosphäre eintrat. Sie hatte den Eindruck, dass die alten Steine von Davenport Hall erleichtert aufatmeten, als Christines böser Geist endlich entschwand. Als Alexander auf sie zukam, machte Rebels Herz einen Satz. Er ging langsam, zum Fensterplatz, hob ihre Schuhe auf, setzte sich und legte ihre Füße in seinen Schoß. Rebel war so überrascht, dass sie wie versteinert dasaß, während er die Finger sanft über ihre Füße bis zu den schmalen Fesseln gleiten ließ. "Man stellt sich eigentlich nicht vor, dass Engel menschliche Füße haben", sagte er und lächelte jungenhaft. "Engel?" flüsterte Rebel heiser und bekam eine Gänsehaut an den Beinen. "Ich weiß nicht genau, was für einer Sie sind. Ein Racheengel oder ein Engel der Barmherzigkeit", neckte er sie, während er ihr die Schuhe überstreifte. Rebel lachte selbstbewusst. "Ich versichere Ihnen, dass ich nur beängstigend menschlich bin." Es war beängstigend, wie seine Berührung auf sie wirkte. Er stand auf, nahm sie an den Händen und zog sie vom Fensterplatz. Rebel fühlte sich so schwach auf den Beinen, dass sie kaum stehen konnte. "Damit rechne ich eigentlich auch", sagte er mit samtiger Stimme. Sie erschauerte noch mehr. Hätte er sie jetzt in die Arme genommen, geküsst und mit ihr schlafen wollen, Rebel wäre wohl kaum in der Lage gewesen, ihn abzuweisen. Aber er tat nichts dergleichen.
Er gab eine ihrer Hände frei, umschloss die andere fester und führte Rebel zur Tür des Klassenzimmers. "Ich glaube, es reicht für heute", sagte er bestimmt. Dann fügte er sanfter hinzu, "schlafen, vielleicht träumen ..." Rebel war plötzlich sehr müde. Ins Bett zu gehen schien jetzt genau das richtige zu sein. Morgen würde in Davenport alles neu beginnen. Möglicherweise ein Neubeginn für viele Dinge. Als sie zusammen die Treppe hinunterstiegen, vermittelte Alexanders fester Händedruck Rebel ein Gefühl der Freundschaft, einer unausgesprochenen Kameradschaft, vielleicht sogar einer Partnerschaft. Die Erinnerung an Christine und damit auch die an die schmerzliche Vergangenheit schien begraben zu sein, und Rebel hoffte, dass es für immer sein würde. Aber sie hegte auch noch eine andere, noch ungewisse Hoffnung. Alexander begleitete sie zur Tür ihres Schlafzimmers, öffnete sie, drehte sich zu Rebel um, mit einem leichten Lächeln und einem freundlichen und neckenden Ausdruck in den Augen. "Ich habe heute einiges gelernt", sagte er. "Wenn ich Celeste richtig zitiere... Rebel hat gesagt, man solle sich umarmen und sich einen Gutenachtkuss geben, damit man alle bösen Dinge vergessen kann, die im Lauf des Tages passiert sind'." Er legte ihre Hände auf seine Schultern. "Sie müssen die Hände um meinen Nacken legen, und dann werde ich Sie umarmen." Er legte ihr die Arme um die Taille und drückte sie so fest an sich, dass es Rebel schwindelig wurde und sie sich fragte, ob sie das laute Pochen seines, ihres oder ihrer beider Herzen hörte. "Und dann streiche ich mit meiner Wange so über Ihre Haare ..." Er machte es aber nicht mit der sanften Zärtlichkeit eines Erwachsenen, der ein Kind streichelt. Seine Wange strich einmal über ihr Gesicht, aber sein Mund hinterließ eine Spur von kleinen heißen Küssen, Küsse, die sie veranlassten, zu ihm
aufzublicken, die ihr die Locken aus der Stirn streiften, die ihre Augen verschlossen, die ihre Nasenspitze liebkosten, die ihre Lippen sanft, erregend, sinnlich und prickelnd abtasteten, die allmählich ihren Mund öffneten. Es war kein ausgesprochen leidenschaftlicher Kuss, aber diese sanftere, erkundende Art war intimer als jede noch so leidenschaftliche Forderung. Rebel wurde es ganz warm ums Herz. Sie war ganz in diesen wunderbaren Gefühlen vertieft, und als er von ihr abließ, protestierte sie mit einem leisen Stöhnen. Er presste die Lippen augenblicklich wieder auf ihre und küsste sie etwas länger, bevor er das Gesicht hob. "Gute Nacht. Und vielen Dank für das Wunder", flüsterte er und gab ihr einen letzten Kuss auf die Stirn. Dann löste er sich sanft aus ihren Armen, schob sie in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür von außen zu.
10. KAPITEL Rebel wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hatte er sie nur aus Dankbarkeit geküsst? Bedeutete es mehr? Alexander hätte sie sicherlich nicht so - so innig geküsst, nur um ihr zu danken. Er hatte jedoch nicht versucht weiterzugehen, und er war bestimmt nicht von leidenschaftlichem Verlangen angetrieben worden. Morgen werde ich mehr wissen, sagte Rebel sich, als sie ins Bett ging. Morgen würde alles viel klarer sein. Sie musste nur darüber schlafen. Das war alles. Außerdem wollte sie im Grunde keine Affäre mit Alexander Davenport. Nicht wenn das alles wäre. Am nächsten Morgen schlief Rebel sehr lange. Als sie zum Frühstück herunterkam, traf sie Alexander und Celeste am Tisch an. In dem Augenblick, in dem sie das Zimmer betrat, wurde sie von beiden mit einem strahlenden Lächeln begrüßt. Es schien das Sonnenlicht widerzuspiegeln, das das Zimmer durchflutete. Alle Schatten waren verschwunden. Rebels Stimmung stieg. "Guten Morgen", sagte sie freudig und lächelte. Alexander grüßte fröhlich zurück, so dass Rebels Laune noch besser wurde. In seinem Rollkragenpullover und dem Tweedjackett sah er heute aus wie ein englischer Gutsherr. Es kam jedoch überhaupt nicht darauf an, was er trug. Seine natürliche Eleganz nötigte jedem Bewunderung ab. Das erklärte zwar ihren schnellen Puls, nicht aber das Zittern ihrer Beine.
Celeste sprang von ihrem Stuhl auf und rannte freudestrahlend auf Rebel zu. "Ich bekomme einen Hund", rief sie. Rebel nahm das Kind instinktiv auf die Arme. "Das sind ja tolle Neuigkeiten!" Celeste wehrte sich nicht. Sie saß fröhlich auf Rebels Arm und plapperte weiter. "Onkel Alexander hat heute morgen Sir Roger Woolcott angerufen, weil er bei Hundeausstellungen Schiedsrichter ist und am besten über Hunde Bescheid weiß. Ich bekomme einen Yorkshireterrier. Einen kleinen Welpen. Er ist erst sechs Wochen alt. Onkel Alexander hat gesagt, dass ich ihn selber aussuchen darf, und nach dem Frühstück werden wir sie uns ansehen." "Das ist ja ein aufregender Vormittag!" "Ja!" Celestes große blaue Augen strahlten erwartungsvoll. "Kommst du mit, Rebel? Du musst doch heute nicht arbeiten, stimmt's? Du hast keine Arbeitskleidung an." Sie hatte völlig recht. Die Jeans und der kirschrote Pullover gehörten nicht zu ihrer Arbeitsgarderobe, aber sie musste trotzdem etwas erledigen. Celeste wartete jedoch gar nicht auf eine Antwort. Sie sah ihren Onkel an. "Rebel kann uns doch begleiten, Onkel Alexander?" fragte sie hoffnungsvoll. Er war aufgestanden, um Rebel den Stuhl zurechtzurücken, und sah Celeste freundlich an, "Selbstverständlich. Sie sind herzlich eingeladen, Rebel. Wir sollten sie aber erst frühstücken lassen, Celeste." Das Kind lachte und löste sich von Rebel. Sie nahm Rebel an der Hand und führte sie zu dem Stuhl, den Alexander bereithielt. "Komm. Wir sind schon fast fertig. Ich wollte dich wecken, aber Onkel Alexander hat gesagt, dass du den Schlaf brauchst, weil ihr wegen der Gäste erst spät ins Bett gekommen seid." Rebel warf Alexander einen fragenden Blick zu, als sie sich setzte. Er antwortete mit einem verschwörerischen Glitzern in den Augen, so dass Rebels Herz einen Satz machte und es in ihrem ganzen Körper prickelte. Glücklicherweise konnte sie die
Fassung wiedergewinnen, während Alexander und Celeste ihre Plätze einnahmen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit berauschte jedoch ihre Sinne. Celestes große blaue Augen strahlten vor Freude. "Ich habe getan, was du gesagt hast, und Onkel Alexander hat mir zugehört." "Ja. Und ich habe auch eine gute Auffassungsgabe", sagte Alexander amüsiert. "So wie ich, Onkel Alexander", bemerkte Celeste selbstgefällig. Rebel hatte Freudentränen in den Augen. Alles lief so gut. Es war, als hätten sich Alexanders abweisende Autorität und Celestes Widerspenstigkeit über Nacht in Luft aufgelöst. Wenn das die Belohnung für ihren Kampf war, dann war sie voll und ganz zufrieden. Zumindest versuchte sie, es sich einzureden. Sie wusste jedoch, dass es nicht stimmte. Sie war überhaupt nicht glücklich. Das Hausmädchen kam herein, um die Bestellung aufzunehmen, und Rebel verlangte Tee und Toast, zumal sie zu aufgewühlt war, um etwas zu essen. Selbst das Mädchen ließ sich von der ungewöhnlich fröhlichen Stimmung anstecken und lächelte. Wir sind wie eine Familie, dachte Rebel, ermahnte sich dann aber, nicht zu sehr in Träumereien zu verfallen. Der Zauber dieses Augenblicks könnte sich schnell als unbeständig und trügerisch erweisen. Es war verrückt, sich einer Wunschvorstellung hinzugeben. Ein Gutenachtkuss - ein Dankeskuss - hatte nicht unbedingt mehr zu bedeuten. Sie sollte nur den Grundstein für eine gute Beziehung zwischen Onkel und Nichte legen und nicht nach ihrem eigenen Glück streben. Sie gehörte nicht zu Alexanders und Celestes Leben. Nicht wirklich. Wenn sie sich nicht ständig daran erinnerte, könnte sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Es war gefährlich, sich von dem Gefühl der familiären Vertrautheit einnehmen zu lassen.
"Vielen Dank für die Einladung", zwang sie sich zu sagen. "Lasst euch aber nicht von mir aufhalten. Ich muss zwar nicht nach London, muss aber noch eine Menge Papierkram erledigen und ein paar Anrufe machen. Wenn ich heute morgen damit fertig werde, während ihr beide das Hündchen aussucht, können wir uns danach zusammen amüsieren." Die Miene des Kindes verdüsterte sich ein bisschen, wurde aber wieder strahlend, als Rebel hinzufügte: "Wir könnten mit dem Hund im Park spazieren gehen und ihm sein neues Zuhause zeigen." Celeste wandte sich augenblicklich an ihren Onkel. "Wir müssen auch eine Leine besorgen, Onkel Alexander. Ich will nicht, dass mein Hund davonrennt und verloren geht." "Wir kaufen auch eine Leine und ein Körbchen und alles, was ein Hund braucht, Celeste", versicherte er ihr. "Wenn wir schon nicht auf Rebel warten, könntest du doch zu Mrs. Tomkins gehen und ihr sagen, dass wir einen Hund mitbringen, damit sie das Futter bestellen kann." Celeste sprang sofort davon. Alexander lächelte Rebel wehmütig an. "Warum habe ich das Gefühl, dass ich gerade ins kalte Wasser geworfen worden bin?" Rebel ließ sich von ihrem gesunden Menschenverstand leiten. "Warum sollten Sie den Ruhm teilen? Es ist Ihr Verdienst. Sie sollten auch die Lorbeeren dafür ernten." Missbilligend zog er die Augenbrauen hoch. "Und wenn ich Hilfe brauche?" Sie tat so, als wäre sie überrascht. "Was kann schon passieren, wenn zwei so begriffsschnelle Menschen wie Celeste und Sie zusammen sind?" Er lachte und sah sie liebevoll an. Rebels Herz klopfte plötzlich schneller. Jetzt wurde ihr klar, was sie für diesen Mann empfand. Sie liebte ihn, wollte ihr ganzes Leben mit ihm verbringen. Er war der, auf den sie gewartet hatte, derjenige, der alles mit ihr teilen würde, der
Vater ihrer Kinder, das Familienoberhaupt, der Mann, den sie immer im Herzen tragen würde. Er hörte auf zu lachen und sah sie verwundert an. "Ist irgendwas nicht in Ordnung, Rebel?" Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch und zwang sich zu lächeln. "Nein. Gar nichts. Ich dachte nur, wie nett Sie aussehen, wenn Sie lachen." Nett spottete sie. So ein laues, nichtssagendes Wort. Wenn er lachte, war Alexander der faszinierendste Mann der Welt. Sie würde ihn nie mehr vergessen können. "Ich darf nichtvergessen, es öfter zu tun", neckte er sie und wurde dann sofort wieder ernst. "Rebel, die Sponsoren, die ich gestern für Sie angerufen habe ... ich knüpfe keine Bedingungen daran. Ich möchte, dass Sie sie aufsuchen. Und wenn es nur ein Beweis meiner Dankbarkeit für alles sein soll, was Sie für uns getan haben. Das können Sie doch annehmen, stimmt's?" drängte er, als er sah, dass sie das Angebot ablehnen wollte. "Ich habe die mühsame Kleinarbeit immer selbst gemacht, Alexander. Ich glaube, es liegt an meinem Stolz", sagte sie ruhig. "Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich durch Beziehungen etwas erreiche." Er sah sie eindringlich an. "Ich fühle mich auch nicht wohl, wenn ich nehme und nichts geben darf." Sein Stolz traf auf ihren, was eine Spannung verursachte, die nichts mit dem Geschäftlichen zu tun hatte. Es war eine äußerst persönliche Angelegenheit, die die Charaktere der beiden betraf - Rebels selbstgeschaffene Unabhängigkeit und die vererbte Großmut des Grafen von Stanthorpe, der gewohnt war, Gefälligkeiten zu erweisen und nicht, sie anzunehmen. Celeste kam rennend ins Zimmer und glühte vor Aufregung. "Ich habe mit Mrs. Tomkins gesprochen, Onkel Alexander. Können wir jetzt gehen?" "Ja", stimmte er zu und stand auf. Er sah Rebel eindringlich an. "Denken Sie bitte darüber nach. Die Unterlagen liegen
immer noch auf meinem Schreibtisch, wenn Sie einen Blick darauf werfen wollen." "Also gut", räumte sie zögernd ein, lächelte Celeste an und wünschte ihr viel Glück bei der Auswahl des Hündchens. Die nächsten zwei Stunden verbrachte Rebel in ihrem Zimmer, erledigte den Papierkram und machte die nötigen Anrufe. Es fiel ihr schwer, sich auf das Geschäftliche zu konzentrieren. Alexanders Idee, die großen Weinhändler als Sponsoren zu gewinnen, war nicht schlecht, aber irgendwie kam es ihr trotzdem vor, als wolle er sie damit entlohnen. Er war ihr dankbar. Dankbar. Das Wort wirkte wie ein Todesurteil für ihre Hoffnungen. Trotzdem beschloss sie, ins Arbeitszimmer zu gehen und einen Blick auf die Unterlage n zu werfen. Es widerstrebte ihr, die Verabredungen einzuhalten, die er getroffen hatte. Es wäre aber unhöflich, es nicht zu tun. Und es würde ihm gefallen, wenn sie es täte. Auf der Treppe begegnete sie Mrs. Tomkins. "Da sind Sie ja, Miss James! Miss Lumleigh hat nach Ihnen gefragt. Brooks hat sie in den Salon geführt." Rebel runzelte die Stirn. "Miss Lumleigh will mich sprechen?" Mrs. Tomkins lächelte trocken. "Soviel ich weiß, hat Sir Roger Woolcott Lord Davenport heute morgen über Hunde beraten. Nun hat Miss Lumleigh ein Buch über Yorkshireterrier mitgebracht." "Ach so, Sie glauben also, dass Sie eigentlich auf Lord Davenport wartet?" entnahm Rebel den Worten der Haushälterin. "Ich denke schon, Miss James." Rebel lachte schelmisch. Der letzte Mensch, den Celeste zu sehen wünschte, war sicherlich Cynthia Lumleigh. Und Rebel ging es genauso. Wenn die hinterlistige Blonde auf Alexander wartete - was mit Sicherheit der Fall sein würde -, würde Rebel sie nicht loswerden. Sie fragte sich, ob kleine Welpen manchmal Spuren hinterließen, wenn sie auf dem Schoß saßen.
"Ich könnte ihr ausrichten, dass sie spazieren gegangen sind", schlug die Haushälterin unerwartet freundlich vor. Rebel seufzte resigniert. "Vielen Dank, Mrs. Tomkins, aber ich gehe besser zu ihr." Auch die Haushälterin seufzte. "Ich hoffe. Lady Celeste ... Ich fürchte, Miss Lumleigh hat nicht den besten Einfluss auf sie", untertrieb sie und sagte dann anerkennend zu Rebel. "Nicht so wie Sie, Miss James. Das gesamte Personal war sich einig darüber, wie schön es gewesen ist, Lady Celeste heute morgen so fröhlich zu erleben. So wie ein ganz normales Kind. Brooks hat es zu einem Wunder erklärt. Ein großartiges Wunder. Und wir wissen natürlich alle, dass es Ihr Verdienst ist." "Danke, Mrs. Tomkins", antwortete Rebel liebenswürdig, überrascht über das Lob des Personals. "Ehre, wem Ehre gebührt. Ich glaube jedoch nicht, dass die Australier im Fernsehbericht richtig dargestellt worden sind. Wir haben alle festgestellt, dass Sie gar nicht so ein zäher Brocken sind, Miss James." Rebel musste lachen. "Wenn ich kämpfen muss, bin ich ganz schön zäh, Mrs. Tomkins. Das erinnert mich an etwas. Miss Lumleigh wartet ja." "Im Salon, Miss James", stimmte die Haushälterin nickend zu. Rebel hatte den starken Eindruck, dass sich Cynihia Lumleigh beim Personal von Davenport Hall nicht der größten Beliebtheit erfreute. Alexander würde es sicherlich nicht ernsthaft in Betracht ziehen, sie zu heiraten. Das könnte er gar nicht, entschied Rebel boshaft. Außerdem war er nicht wirklich so lebensverachtend. Oder doch? Trotzdem fühlte sich Rebel gar nicht sicher, als sie den Salon betrat und Cynthia Lumleigh erblickte die eine Bronzefigur besitzergreifend betrachtete. Die elegante blonde Dame passte sehr gut in die kostbare Umgebung. Sie ist dafür geboren, gestand sich Rebel mürrisch ein.
Sie trug auch die passende Kleidung. Das weiß- fliederfarbene Seidenkleid war vornehm und feminin. Die Perlenohrringe und die zweireihige Perlenkette, die um ihren langen, graziösen Hals geschlungen war, waren schön, aber nicht protzig. Die fliederfarbenen Streifen auf den weißen Schuhen waren das Tüpfelchen auf dem I. Ihr Make-up war perfekt, und sie sah aus, als wäre sie gerade vom Friseur gekommen. Sie musterte Rebel mit einem derart herablassenden Blick, dass Rebel sich fühlte, als würde sie selbst in Fetzen gehen. Sie richtete sich auf. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, dachte sich Rebel, und für sie war Cynthia Lumleigh nichts weiter als Abschaum. Wenn Alexander das nicht sah, war er selbst an seinem Verderben schuld! Cynthia übernahm augenblicklich die Rolle der Gastgeberin und bat Rebel, mit ihr an der Gartenseite Platz zu nehmen, von wo aus man auf den malerischen See sehen konnte. Nachdem sie über einige Dinge oberflächlich geplaudert hatten, kam die hinterlistige Blonde mit honigsüßer Stimme auf den Punkt. "Ich glaube, Alexander geht ein großes Risiko ein, wenn er Celeste einen Hund schenkt. Das arme kleine Tier wird wahrscheinlich zu Tode gequält werden." "Eher zu Tode geliebt", berichtigte Rebel sie. Cynthia lachte spöttisch. "Das verstehen Sie nicht, Miss James. Celeste ist Christines Tochter. Sie wissen wohl nichts über Christine, stimmt's?" Cynthia wartete nicht auf eine Antwort. Als sie ihr tödliches Gift versprühte, wirkte ihr Blick eiskalt. "Alexander ist völlig in Christine vernarrt gewesen, bevor sie seinen Bruder geheiratet hat. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau. Ein Model. Ein sehr ehrgeiziges Model. Man hätte nie geglaubt, dass sie sich aus dem Armenviertel von Liverpool hochgearbeitet hat. Aber unter der gepflegten Maske verbarg sich ein schlechter Charakter. Sie war die bösartigste und gemeinste Frau, die ich
jemals kennen gelernt habe. Celeste kommt nach ihrer Mutter, nicht nur, was das Aussehen betrifft, sondern auch den Charakter." Sie lächelte. "Aber vielleicht können Sie sie deshalb so gut verstehen. Sie kommen ja auch aus zerrütteten Verhältnissen." Rebel wurde wütend. "Ich stamme überhaupt nicht aus zerrütteten Verhältnissen. Ich denke nämlich, dass ich es besser hatte als die meisten." Die blonde Frau lächelte sie gönnerhaft an. "Natürlich. Ihre Adoptivfamilie ist ja ein so interessanter Schmelztiegel. Das habe ich ja auch nicht gemeint..." Sie winkte mit ihrer zierlichen Hand ab. "Sie wissen nicht, wer oder was Ihr Vater ge wesen ist. Das haben Sie doch selbst gesagt. Und Ihre arme Mutter war ganz allein auf der Welt, sonst wären Sie wohl kaum adoptiert worden. Und die Frage der Abstammung ist ja so wichtig, wenn es ums Heiraten geht." "Das mag für Sie wichtig sein, Miss Lumleigh. Für mich nicht", sagte Rebel bestimmt. Cynthia lachte erneut. "Ich habe nicht bedacht, dass Sie Australierin sind. Vermutlich hat es keiner in Australien so gern, wenn man sich zu genau mit seiner Herkunft beschäftigt, wurde das Land doch von Strafgefangenen besiedelt. Da ist es besser, wenn man die Leute nach dem Aussehen beurteilt. Aber ich bezweifle, dass jemand wie Alexander auch so denkt. Besonders nach der Erfahrung mit Christine." Sie machte eine Atempause und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Rebel schwieg. Es hatte keinen Sinn, jemandem, der derart voreingenommen und beschränkt wie Cynthia Lumleigh war, zu erklären, dass Australien das Land der Freiheit war, etwas, was die Menschen zu schätzen wussten, die vor Unterdrückung und den Klassengesellschaften geflohen waren. Außerdem ging es gar nicht darum. Und was Cynthia über Alexanders Denkweise gesagt hatte, hatte er selbst schon
angedeutet. Rebel konnte nicht behaupten, dass es ihr nichts ausmachte. Es machte ihr sogar sehr viel aus. Cynthia griff erneut an. "Hier in England hat sich immer wieder gezeigt, dass man besser in seiner eigenen Gesellschaftsschicht bleibt. Wegen der überlieferten Wertmaßstäbe. Und wegen des richtigen Benehmens. Christine kam aus einer ganz anderen Schicht, fürchte ich. Sie war eben eine Bürgerliche. Und da Alexander die schreckliche Ehe seines Bruder miterlebt hat, wird er wohl kaum denselben Fehler begehen, so attraktiv er Sie auch finden mag, Miss James." Mit ihren eiskalten blauen Augen musterte sie Rebels wohlgeformte Figur verächtlich. "Sexuelle Anziehung ist nicht alles", erklärte sie. "Christine mit ihrer engelgleichen Unschuld und ihrer Sinnlichkeit war viel erotischer als Sie. Die meisten Männer fallen auf Äußerlichkeiten herein. Aber wenn sie gehabt haben, was sie wollen ... Nun, Sex ist nicht alles, stimmt's? Es ist nur ein gemeinsamer Nenner zwischen Mann und Frau." Rebel bemerkte, wie sich ihre Miene verdüsterte, konnte es aber nicht vermeiden. Sie sah die bösartige Befriedigung in den blauen Augen der blonden Hexe und hasste sie dafür. Sie konnte aber nicht leugnen, dass Alexander gestern auch nur ein sexuelles Abenteuer im Sinn gehabt hatte, als er sie bestürmt hatte, mit ihm wegzugehen. Er hatte sie haben wollen, wollte sie zu seiner Geliebten machen, bis er von ihr genug hatte. Vielleicht hatte er sie auch nur gebeten, in Davenport Hall zu bleiben, um mit ihr ins Bett zu gehen, wann immer ihm gerade danach war. Vielleicht würde er vorschlagen, mit ihr nach Paris zu fahren, um die Sponsoren zu verpflichten. War er deshalb so erpicht darauf, dass sie seine Hilfe annahm? Cynthia lächelte sie mitleidig und hochmütig an. "Ich glaube, es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, dass Sie Ihre Zeit in Davenport Hall vergeuden. Schließlich sind Sie im Grunde ja recht gewöhnlich, Miss James."
"Ganz im Gegenteil", ertönte in diesem Augenblick eine schneidende Stimme. "Rebel ist alles andere als gewöhnlich, Cynthia." Die Zuversicht der Blonden verschwand, als sie sich umdrehte und den Mann erblickte, der gerade gesprochen hatte. Rebel rührte sich nicht. Sie wollte Alexander nicht ansehen, wollte nicht, dass er ihre Verzweiflung sah. Voller Verachtung fuhr er fort: "Sie ist die tugendhafteste Frau, die ich je getroffen habe. Und es ist mir eine Ehre, dass sie dazu bereit war, als mein Gast nach Davenport Hall zu kommen." Cynthia sprang auf und versuchte die Wogen zu glätten. "Alexander, ich habe ihr nur zu erklären versucht ..." "Ich habe gehört, was du erklären wolltest, Cynthia", unterbrach er sie. "Und ich möchte dich bitten, nie wieder für mich zu sprechen. Deine Vorstellungen entsprechen nicht meinen. Und werden es auch nie tun. Aber bevor du weggehst, um weiter zu tratschen, solltest du wissen, dass Rebels Großvater mütterlicherseits Malcolm Baird ist. Er wäre der fünfzehnte Graf von Alisdair, wenn er nicht auf den Titel verzichtet hätte. "Aber - aber wie ..." stotterte sie. "Ganz einfach. Rebels Mutter war Malcolms Tochter. Und Rebel stammt direkt vom schottischen Königshaus der Stuarts ab. Für sie ist es nicht wichtig. Für mich auch nicht. Aber hüte dich davor, in Zukunft etwas Falsches über Rebel zu sagen, Cynthia, ich könnte ein äußerst unangenehmer Gegner sein." Cynthia fuhr Rebel an. "Warum haben Sie mir das nicht gesagt?" fragte sie. "Weil es ihr nicht wichtig war, Cynthia", bemerkte Alexander wütend. "Und du bist hier nicht mehr willkommen." "Alexander!" Die Blonde sah ihn entsetzt an. "Lass uns jetzt bitte allein!" befahl er. "Aber ..." "Jetzt, sofort!"
Er wiederholte den Befehl so heftig, dass nicht einmal Cynthia es wagte, noch einmal zu widersprechen. Sie warf Rebel einen letzten giftigen Blick zu und ging erhobenen Hauptes hinaus. Rebel blickte ihr nicht nach. Irgendwie war sie fehl am Platz. Es passte nicht zu ihrem Leben. Es war Alexanders Leben. Cynthias Leben. Und Dinge, die für die beiden wichtig waren, hatten für sie keine Bedeutung. Sie freute sich darüber, dass ihr Großvater auf den Titel verzichtet hatte. Dass er das alles aufgegeben hatte, zeigte, wie sehr er die Mutter ihrer Mutter liebte. Es zeigte, wie sehr er um die verlorene Tochter trauerte. Ihre Großeltern waren ihr gar nicht so fremd. Sie waren so wie sie, für sie war die Liebe das wichtigste. Sie würde sie bald besuchen und sie zu einem Teil ihrer Familie machen. Die Eichentür des Salons fiel ins Schloss. Abgang Cynthia, dachte Rebel zufrieden. Wenigstens würde Alexander diese Schlange nicht heiraten! "Warum sagen Sie denn nichts, Rebel?" fragte Alexander immer noch leicht aufgebracht. "Warum haben Sie ihr erlaubt, dass sie Sie fertig macht? Warum haben Sie sich nicht gewehrt?" Er kam immer näher. Rebel stand auf und drehte sich langsam zu ihm um. Er blieb einen Meter vor ihr stehen, die dunklen Augen auf ihr blasses Gesicht gerichtet. Sie waren nicht mehr als zwei Schritte voneinander entfernt, aber Rebel hatte den Eindruck, ihn aus einer unüberbrückbaren Entfernung zu betrachten. "Warum?" fragte er erneut. "Sie haben mich mit allen Mitteln bekämpft. Sie haben bei Celeste eine psychologische Taktik angewendet, die jeden Berufspsychologen beschämt hätte. Sie können doch nicht geglaubt haben, was Cynthia gesagt hat, warum haben Sie sich dann nicht gewehrt?"
"Wie denn, Alexander?" fragte Rebel traurig. "Ich wusste nichts über die Herkunft meines Großvaters. Nicht dass ich davon Gebrauch gemacht hätte. Das verändert mich nicht im geringsten. Was den Rest betrifft ..." Sie lächelte ihn betrübt an. "Sie haben mich vorbildlich verteidigt. Vielen Dank." Er runzelte die Stirn und warf ihr aus zusammengekniffenen Augen einen scharfen Blick zu. "Sie hätten ihr sagen können, dass ich Sie gebeten habe, meine Frau zu werden." Rebel blickte ihn verständnislos an, bis sie sich an den unverschämten Vorschlag erinnerte, den er beim Abendessen gemacht hatte. Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. "Das haben Sie doch nicht so gemeint?" flüsterte sie heiser. Der Blick seiner dunklen Augen schien sie zu verbrennen. "Sie glauben ihr, stimmt's? Sie glauben, dass ich Sie nur in meinem Bett haben will!" Seine Worte trafen sie wie ein Schlag. Ihr drehte sich der Magen um. Sie hatte mit einem Mal keine Kraft mehr. Rebel schüttelte den Kopf und versuchte, an ihm vorbeizugehen. "Rebel! " Er griff nach ihr, zog sie zu sich und beschwor sie. "Sieh mich an, verdammt! Sieh mich an!" Er legte die Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu blicken. "Ich hätte es gern so gemeint, Rebel", sagte er gequält. "Aber welcher anständige Mann hätte dich darum bitten können, das mit Celeste durchzumachen, was ich erwartet habe? Hätte zusehen können, wie du verletzt wirst. Ich konnte dir das nicht antun. Verstehst du? Ich konnte mir das, was ich am sehnlichsten gewünscht habe, nicht einfach nehmen. " Er gab ihr Gesicht frei und strich aufgeregt über die Locken an ihrem Ohr. "Und gestern ... Gestern wolltest du nicht gehen und nicht aufgeben, und ich . . ." Er warf den Kopf gequält hin und her. "Ja, ich wollte mir alles nehmen, solange ich ... Weit weg von Celeste, weg von dem Bösen, das ich in ihr sah. Aber, Rebel ..."
Er holte tief Luft, und sie konnte durch den Tränenschleier vor ihren Augen sein Verlangen sehen. "Wenn ich dich guten Gewissens hätte fragen können, ob du meine Frau werden willst, hätte ich es getan. Und gestern nacht dachte ich, du würdest mir eine Chance für einen Neubeginn geben. Ich wollte dir den Hof machen. Dir einen anderen Mann zeigen, einen, den du lieben könntest. Einen Mann, mit dem du Kinder haben möchtest und mit dem du dein Leben teilen willst. Genau das möchte ich sein, Rebel. Mehr als alles in der Welt." "Das möchte ich auch", flüsterte sie und konnte kaum glauben, dass er wirklich fühlte, was sie empfand. Er schloss kurz die Augen und öffnete sie dann wieder. "Bitte ... würdest du das wiederholen, Rebel?" fragte er schroff. "Ich liebe dich", sagte sie und lächelte zaghaft. Seine stürmische Umarmung zeigte, wie sehr er sich zu hören freute, was er nie zu hoffen gewagt hatte. "Wie kannst du mich lieben?" flüsterte er. "Nein, antworte nicht. Ich schwöre, dass ich mich deiner Liebe würdig erweisen werde. Mein ganzes Leben lang. Solange du mir deine Liebe schenkst, Rebel." Er drückte sanft ihren Kopf nach hinten, suchte ihren Mund und küsste sie mit einer Leidenschaft, die sich Rebel in die Seele einbrannte. Sie erwiderte seinen Kuss mit wilder, ungezügelter Freude, einer Freude, die ihren ganzen Körper erfasste, als sie spürte, wie sehr er sich nach ihr sehnte. Ohne Hemmungen ließ sie die Finger durch sein dichtes schwarzes Haar gleiten, während sie sich an ihn schmiegte, seine Brust an ihren Brüsten spürte und erschauerte, als sie seine wachsende Erregung bemerkte. Er streichelte sie fieberhaft und besitzergreifend. Keiner von beiden hörte das Klopfen und das Öffnen der Salontür oder bemerkte das Kind, das dort stand und sie, ein kleines Wollknäuel auf dem Arm, aufmerksam betrachtete. Schließlich gewann die Neugier die Oberhand. "Onkel Alexander? Ist es das, worüber wir geredet haben?" Widerwillig löste er sich von Rebel, holte tief Luft und sah seine
Nichte kurz an. "Nicht jetzt, Celeste. Ich muss erst noch einen Hochzeitstermin mit Rebel ausmachen." "Hat sie gesagt, dass sie dich heiraten will?" fragte sie entzückt. "Gerade eben. Ich arbeite noch daran." "Weißt du, Onkel Alexander, du bist viel schlauer, als ich dachte", sagte sie voller Bewunderung. "Ich begreife sehr schnell, Celeste. Geh mit deinem Hund spielen, bis ich alles geregelt habe." Fröhlich warf sie die Tür zu, und als sie draußen war, ertönte ein lautes "Hurra!" Alexander seufzte, als er Rebels fragende Miene sah. "Solltest du jetzt denken, dass ich dich nur wegen Celeste will, Rebel Griffith James, dann schleppe ich dich in mein Schlafzimmer und belehre dich eines Besseren. Sie hat heute morgen ziemlich viel über Adoptionen und Mütter gesprochen. Und ob ich dich nicht für schön halten würde und dich nicht immer in Davenport Hall haben wollte? Dem habe ich aus ganzem Herzen zugestimmt. In dieser Angelegenheit waren wir uns ausgesprochen einig. Aber ich hatte mir schon vorher Gedanken darüber gemacht. Und wenn du mir nicht glaubst..." Er machte sich daran, sie zu überzeugen. Zwar schleppte er sie nicht gerade in sein Schlafzimmer, aber nachdem sie einige Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, stimmte Rebel zu, ihn nach dem Ballonrennen zu heiraten, und Alexander erklärte, er würde die ganze Familie James zur Hochzeit nach England einfliegen lassen, zumal die Grafen von Stanthorpe traditionsgemäß in der Dorfkirche heirateten. Als sie schließlich aus dem Salon kamen, teilte Brooks strahlend mit, dass Lady Celeste mit ihrem Hund im Park spazieren gegangen sei. Er öffnete ihnen die Eingangstür, und sie schlenderten hinaus in die Mittagssonne. Für Rebel war das Leben plötzlich wundervoll. Sie schmiegte sich in Alexanders Arm, als sie die Treppe hinunterstiegen. "Lass uns die Allee entlang laufen."
Alexander lächelte leicht, und seine dunklen Augen strahlten. "Ich glaube kaum, dass Celeste diesen Weg eingeschlagen hat." "Ich weiß. Aber es dauert ja nicht lange. Ich möchte nur wissen, ob ich dabei das gleiche fühle wie früher." Alexander sah sie verwundert an, folgte ihr aber dann. "Hattest du jemals das Gefühl der Zeitlosigkeit?" fragte sie, und als sie durch die Allee gingen, blickte sie zu den alten Bäumen, durch die das Sonnenlicht fiel. "Als wären wir von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft umgeben. Als könnte ein Augenzwinkern bewirken, dass alles jetzt abläuft." Alexander lächelte sie an. "Eine zauberhafte Vorstellung." Sie erwiderte sein Lächeln. "Ja, das ist es." Aber es stimmt, dachte sie. Gestern, heute, morgen ... Diese Allee hatte zu all diesen Zeiten geführt, die so miteinander verflochten waren wie die Blätter und Zweige über ihnen. Erst vor wenigen Tagen war sie zum erstenmal hier entlanggegangen, aber inzwischen war so viel geschehen, dass es ihr vorkam, als wäre es eine Ewigkeit her. Und wie konnte man Gefühle messen? Sie waren einfach da, ungeachtet der Wirklichkeit. "Ich weiß trotzdem, was du meinst", sagte Alexander leise. "Manchmal hat mich das Gefühl der Beständigkeit bedrückt. An anderen Tagen war es tröstlich, Teil einer Sache zu sein, die vor so langer Zeit begonnen hat." Mom ist durch diese Allee gelaufen, dachte Rebel, sie hat Davenport Hall gesehen und wollte mehr darüber wissen. Sie, Valerie Griffith, ist hier glücklich gewesen. Ich werde hier auch glücklich sein, Mom, gelobte Rebel im stillen. Alexander blieb stehen und nahm Rebel sanft in die Arme. Seine dunklen Augen waren voller Zärtlichkeit. "Jetzt wird es weitergehen. Deinetwegen, Rebel, bin ich nicht mehr verloren. Wir waren beide verloren, Celeste und ich. Und auch deine Großeltern. Ohne deine Liebe wären wir es geblieben. An dem
Tag, an dem du nach Davenport Hall gekommen bist, hat uns das Schicksal zugelächelt." "Du glaubst doch nicht an das Schicksal", erinnerte sie ihn und lächelte ihn liebevoll an. "Es war der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort ... und du bist hergekommen. Aus gutem Grund warst du rebellisch." Er lächelte und blickte auf das riesige, jahrhundertealte Gutshaus. "Ich glaube, Davenport Hall hat nur darauf gewartet, dass du es wieder zum Leben erweckst." Es wird voller Kinder sein." Rebel stellte sich vor, wie es sein würde. "Und voller Lachen." Alexander drückte sie besitzergreifend an sich. "Unsere Kinder. Und alle verlassenen Kinder, die du adoptieren willst. Wir müssen viele Räume füllen. Unsere Familie kann so groß sein, wie du willst, Rebel." "Du hättest nichts dagegen?" "Deine Wünsche sind auch meine", antwortete er herzerwärmend, und sie liebte ihn um so mehr für seine Großzügigkeit und sein Verständnis, das er ihr entgegenbrachte. Meine eigene Familie, dachte Rebel. Ein neuer Anfang, eine Linie, die in die Vergangenheit zurückgeht und in die Zukunft führt. Es war ein schönes Gefühl, das Gefühl dazuzugehören.
-ENDE-