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DENIS JOHNSON
Jesus’ Sohn Erzählungen Deutsch von Alexander Fest Rowohlt
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel «Jesus’ Son» bei Farrar, Straus and Giroux, New York. 1. Auflage März 2006 Copyright © 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Jesus’ Son» Copyright © 1992 by Denis Johnson Abbildung auf Seite 2 von Robert Miller Satz Berthold Bembo BQ CB, InDesign, bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen Sc Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 13: 978 3 498 03224 I ISBN 10:3 498 03224 0
Für Bob Cornfield
When I’m rushing on my run And I feel just like Jesus’ son … LOU REED, «Heroin»
INHALT ZUSAMMENSTOSS BEIM TRAMPEN ..................................................... 9 ZWEI MÄNNER ..................................................................................... 21 FREI GEGEN KAUTION ........................................................................ 41 DUNDUN................................................................................................. 53 ARBEIT .................................................................................................... 63 NOTAUFNAHME..................................................................................... 78 SCHMUTZIGE HOCHZEIT.................................................................... 100 DER ANDERE MANN......................................................................... 114 HAPPY HOUR...................................................................................... 126 RUHIGE HÄNDE .................................................................................. 138 IM GENERAL HOSPITAL.................................................................... 138 VON SEATTLE...................................................................................... 138 BEVERLY HOME.................................................................................. 146
ZUSAMMENSTOSS BEIM TRAMPEN
Ein Vertreter, der jemanden zum Mitsaufen suchte und am Lenkrad einschlief ... ein Irokese, abgefüllt mit Bourbon ... ein VW wie eine riesige Blase Ha‐ schischrauch, am Steuer ein Student ... ... und eine Familie aus Marshalltown, die einen Mann, der in westlicher Richtung aus Bethany, Missou‐ ri, herausfuhr, frontal erwischte und ins ewige Jenseits beförderte ... ... Ich stand auf, durchnäßt bis auf die Knochen, denn ich hatte im strömenden Regen geschlafen, und noch nicht so richtig bei mir, und alles wegen der ersten drei der eben erwähnten Leute – dem Vertreter, dem India‐ ner und dem Studenten –, die mir von ihren Drogen abgegeben hatten. Ich wartete am oberen Ende der Auf‐ fahrt, ohne große Hoffnung, daß jemand halten würde. Weshalb hätte ich meinen Schlafsack zusammenrollen sollen, wo ich doch sowieso zu naß war, um mitgenom‐ men zu werden? Ich legte ihn mir wie ein Cape um die Schultern. Platzregen harkte den Asphalt und gurgelte in den Spurrillen. Meine Gedanken rasten erbärmlich. Der Handelsvertreter hatte mich mit Pillen vollgestopft; jetzt war mie, als hätte man mir die Venen ausgeschabt. Mein Kiefer tat weh. Ich kannte jeden Regentropfen mit
Namen. Ich sah alles kommen, ehe es geschah. Ich wuß‐ te, daß ein bestimmtes Oldsmobile halten würde, ehe es noch das Tempo drosselte, und als ich drinnen die süßen Stimmen der Familie hörte, wußte ich, daß wir in dem Unwetter einen Unfall haben würden. Es war mir egal. Sie sagten, sie könnten mich mit‐ nehmen. Der Mann und die Frau holten das kleine Mädchen zu sich nach vorn und ließen das Baby hinten bei mir und meinem triefenden Schlafsack. «Besonders schnell werden Sie mit uns aber nicht sein», sagte der Mann. «Wegen meiner Frau und den Kindern, wissen Sie.» Euch hat die Vorsehung geschickt, dachte ich. Und knüllte den Schlafsack gegen die Tür zu meiner Lin‐ ken, bettete mich drauf und verschwendete keinen Ge‐ danken daran, ob ich weiterleben oder sterben würde. Das Baby schlief ungesichert neben mir auf dem Sitz. Es war ungefähr neun Monate alt ... Nicht lange zuvor, am Nachmittag, war ich noch im Luxusauto des Vertreters nach Kansas City ge‐ rauscht Er hatte mich in Texas aufgelesen, und vom ersten Moment an hatte sich zwischen uns eine gefähr‐ liche, zynische Kumpanei entwickelt Wir zogen uns seine Amphetamine rein, und alle naslang fahren wir von der Interstate ab, um eine Flasche Canadian Club und einen Beutel Eiswürfel zu kaufen. An der Innen‐ seite beider Wagentüren waren zylindrische Glashalter angebracht, und alles war weiß und ledrig. Er sagte, er
werde mich zu seiner Familie nach Hause mitnehmen, ich könne dort übernachten; er wolle bloß noch bei einer Bekannten vorbeischauen. Unter Wolken wie großen grauen Gehirnen verlie‐ ßen wir den Highway und fuhren im dichten Abend‐ verkehr nach Kansas City hinein. Wir hatten uns ge‐ fühlt, als flögen wir; jetzt fühlten wir uns wie auf Grund gelaufen. Und sobald wir langsamer wurden, war der Zauber des gemeinsamen Reisens dahin. Er hörte nicht auf, von seiner Freundin zu reden. «Ich mag das Mädchen, ich glaub sogar, ich liebe das Mädchen – aber ich hab zwei Kinder und eine Frau, das bringt Verpflichtungen mit sich. Und zu allem Überfluß liebe ich auch meine Frau. Bin eben ein echtes Liebestalent. Ich liebe meine Kinder. Ich hebe die ganze Sippe.» Als er kein Ende fand, fühlte ich mich links liegengelassen und wurde traurig. «Ich hab ein Boot, so ein kleines Sechs‐Meter‐Ding. Ich hab zwei Autos. Hinterm Haus ist noch Platz für ‘nen Pool» Er fand seine Freundin bei der Arbeit. Sie hatte einen Möbelladen, und dort verlor ich ihn aus den Augen. Die Wohcen blieben, bis es Nacht wurde. In der Dun‐ kelheit merkte ich nicht, wie der Sturm sich zusam‐ menbraute. Der Fahrer des Volkswagens, ein Universi‐ tätsmensch, ebender, der mir den Kopf mit Haschisch zudröhnte, setzte mich hinter der Stadtgrenze ab, und genau in dem Augenblick begann es zu regnen. Und obwohl ich Massen von Speed genommen hatte, konn‐
te ich mich nun nicht mehr auf den Beinen halten. Ich legte mich neben der Ausfahrt ins Gras und erwachte in einer Pfütze, die sich um mich herum gebildet hatte. Und später, wie gesagt, schlief ich dann auf dem Rücksitz, während das Oldsmobile – und mit ihm die Familie aus Marshalltown – sich durch den auf‐ spritzenden Regen kämpfte. Und doch träumte ich, ich könnte durch meine Augenlider sehen, und mein Puls vermerkte jede Sekunde. Die Interstate durch das westliche Missouri war damals nichts als eine zweispu‐ rige Straße, wenigstens zum größten Teil. Immer wenn ein entgegenkommender Sattelschlepper an uns vor‐ beifuhr, nahm uns ein Wasserschwall völlig die Sicht, und ein Getümmel von Geräuschen überzog uns, un‐ gefähr wie in einer automatischen Waschanlage. Die Scheibenwischer flappten auf der Windschutzscheibe hin und her – zwecklos. Ich war erschöpft, und nach einer Stunde schlief ich noch tiefer. Die ganze Zeit über hatte ich genau gewußt, was passieren würde. Doch als der Mann und die Frau mich später weckten, bestritten sie es wütend. «Oh – nein!» «NEIN!» Ich wurde so heftig gegen die Lehne der Vordersit‐ ze geschleudert, daß sie brach. Dann prallte ich mehr‐ mals vor und zurück. Etwas Flüssiges flog durch das Auto und regnete auf meinen Kopf, und ich wußte so‐ fort, das war das Blut eines Menschen. Danach saß ich
wieder auf dem Rücksitz, genauso wie vorher. Ich rich‐ tete mich auf, blickte mich um. Unsere Scheinwerfer waren ausgegangen. Der Kühler zischte vor sich hin. Sonst kein Laut Außer mir war, soweit ich es erken‐ nen konnte, niemand bei Bewußtsein. Sobald meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, daß das Baby neben mir auf dem Rücken lag, als wäre nichts geschehen. Seine Augen waren geöffnet, und es befühlte sich die Wangen mit den Händchen. Sekunden später setzte sich der Fahrer, der zusam‐ mengesunken über dem Lenkrad gelegen hatte, auf und starrte uns an. Sein Gesicht war zertrümmert und schwarz vor Blut Wenn ich ihn bloß ansah, taten mir die Zähne weh, aber als er sprach, klang es nicht so, als wäre ihm auch nur ein einziger Zahn herausgehrochen. «Was war das denn?» «Ein Unfall», sagte er. «Dem Baby ist nichts passiert», sagte ich, obwohl ich gar nicht wußte, was mit dem Baby war. Er drehte sich zu seiner Frau. «Janice», sagte er. «Janice, Janice!» «Hat sie was abgekriegt?» «Sie ist tot!» sagte er und schüttelte sie grimmig. «Nein, ist sie nicht» Inzwischen tat auch ich so, als wäre überhaupt nichts geschehen. Das kleine Mädchen lebte, war nur bewußtlos. Es wimmerte im Schlaf. Aber der Mann schüttelte die ganze Zeit nur seine Frau.
«Janice!» brüllte er. Die Frau stöhnte. «Die ist nicht tot», sagte ich, kletterte aus dem Wa‐ gen und lief weg. «Aber sie will einfach nicht wieder aufwachen», hör‐ te ich ihn noch sagen. Ich stand draußen in der Nacht. Aus irgendeinem Grund hielt ich das Baby im Arm. Bestimmt hat es noch geregnet, aber an das Wetter erinnere ich mich nicht mehr. Wir waren mit einem anderen Auto zusammen‐ gestoßen, und zwar, wie ich jetzt erkannte, auf einer zweispurigen Brücke. Wasser floß unsichtbar unter uns in der Dunkelheit. Als ich zu dem anderen Wagen hinüberging, hörte ich plötzlich ein schepperndes, metallisches Schnar‐ chen. Jemand war bis zur Hüfte aus der Beifahrertür geschleudert worden – die stand nämlich offen – und sah nun aus wie ein Mensch, der mit den Füßen von einem Trapez hängt Das Auto war seitlich gerammt und so platt gedrückt worden, daß nicht mal mehr für die Beine des Manns Platz geblieben war, von einem Fahrer oder weiteren Mitfahrern ganz zu schweigen. Ich ging schnell weiter. Aus der Ferne kamen Scheinwerfer. Ich stellte mich an die Stirnseite der Brücke, winkte mit einem Arm, daß sie anhalten sollten, und hielt mit dem anderen das Baby an die Schulter gedrückt Es war ein großer Sattelschlepper; als er bremste,
jaulte das Getriebe auf. Der Fahrer kurbelte das Fen‐ ster herunter, und ich schrie: «Wir hatten einen Unfall. Holen Sie Hilfe.» «Ich kann hier nicht wenden», sagte er. Er ließ mich mit dem Baby an der Beifahrerseite hinein, und wir saßen einfach da, in der Fahrerkabine, und sahen auf die Wracks im Scheinwerferlicht. «Alle tot?» fragte er. «Keine Ahnung, wer tot ist und wer nicht», sagte ich. Aus einer Thermosflasche goß er Kaffee in einen Becher und schaltete alle Scheinwerfer bis auf das Standlicht aus. «Wieviel Uhr ist es?» «Och», sagte er, «so Viertel nach drei.» Er verhielt sich, als wäre es völlig in Ordnung, daß wir in dieser Situation keinen Finger rührten. Ich war er‐ leichtert, den Tränen nahe. Ich hatte geglaubt, ich müßte irgendwas tun, hatte aber gar nicht wissen wollen, was. Als ich aus der anderen Richtung ein Auto kommen sah, fand ich dennoch, ich sollte mit den Leuten reden. «Könnten Sie das Baby nehmen?» fragte ich den Last‐ wagenfahrer. «Den behältst du mal besser bei dir», sagte der Fah‐ rer. «Ist ein Junge, oder?» «Glaub schon, ja», sagte ich. Der Mann, der aus dem Autowrack hing, lebte noch, als ich an ihm vorbeiging, und ich blieb stehen, inzwi‐ schen schon ein bißchen daran gewöhnt, wie übel er
zerschmettert war, und vergewisserte mich, daß ich nichts für ihn tun konnte. Sein Schnarchen klang laut und grobschlächtig. Bei jedem Atemzug quoll ihm Blut aus dem Mund. Lange würde er nicht mehr weiterat‐ men. Ich wußte das und er nicht, und darum sah ich dort den großen Jammer eines Menschenlebens auf dieser Erde. Ich meine nicht, daß wir irgendwann alle tot sind, das ist nicht der große Jammer. Ich meine, daß er mir nicht sagen konnte, was er träumte, und ich ihm nicht sagen konnte, was wirklich geschah. Kurz darauf standen Autoschlangen auf beiden Sei‐ ten der Brücke, Scheinwerferlicht schuf um den damp‐ fenden Schrotthaufen eine Stimmung wie bei einem nächtlichen Ballspiel, und Kranken‐ und Polizeiwagen bahnten sich zögernd ihren Weg, so daß die Luft farbig zuckte. Ich sprach mit niemandem. Mein Geheimnis war, daß ich eben noch der Herr und Meister dieser Tragödie gewesen war, jetzt jedoch nichts als der ge‐ sichtslose Begaffer eines blutigen Unfalls. Irgendwann hörte ein Polizist, daß ich in einem der Autos geses‐ sen hatte, und nahm meine Aussage auf. Ich hab alles davon vergessen, außer daß er zu mir sagte: «Machen Sie die Zigarette aus.» Als der sterbende Mann in den Krankenwagen gehievt wurde, hielten wir im Reden inne und schauten zu. Er war noch immer am Leben, träumte noch immer seine obszönen Träume. Blut floß in Rinnsalen an ihm herab. Seine Knie zitterten, sein Mund röchelte.
Mit mir war alles in Ordnung, und ich hatte über‐ haupt nichts mitgekriegt, aber der Polizist mußte mich trotzdem befragen und ins Krankenhaus bringen. Als wir beim Eingang zur Notaufnahme unter das Vordach fuhren, kam über Funk die Meldung, daß der Mann gestorben war. Ich stand in einem gekachelten Gang, quetschte mich mit dem klitschnassen Schlafsack gegen die Wand, sprach mit irgendwem von der örtlichen Leichenhalle. Der Doktor blieb kurz stehen und sagte, ich solle mich besser röntgen lassen. «Nein.» «War aber gut. Wenn sich später herausstellen sollte, daß doch irgendwas war ...» «Mit mir ist alles in Ordnung.» Dann kam die Frau den Gang herunter. Sie war eine Pracht – sie glühte. Sie wußte noch nicht, daß ihr Mann tot war. Wir wußten es. Das gab ihr diese Macht über uns. Der Doktor bat sie in ein Zimmer mit ei‐ nem Schreibtisch am Ende des Gangs, und unter der geschlossenen Tür strömte ein strahlend heller Glanz hervor, als würden dort drinnen in einem phantasti‐ schen Verfahren Diamanten zu Asche verbrannt Was für Lungen! Sie schrie schrill auf, so wie, vermute ich mal, ein Adler aufschreit. Es war ein wunderbares Ge‐ fühl, am Leben zu sein und das zu hören! Überall habe ich seither dieses Gefühl gesucht. «Mit mir ist alles in Ordnung» – ich kann kaum glau‐
ben, daß ich diese Worte herausbrachte. Aber ich habe Ärzte schon immer angelogen, als bestünde Gesundheit lediglich in der Fähigkeit, ihnen was vorzumachen. Als ich ein paar Jahre später zum Entzug im Gene‐ ral Hospital von Seattle war, versuchte ich es wieder mit dem Dreh. «Hören Sie ungewöhnliche Geräusche oder Stim‐ men?» fragte der Arzt «Hilf uns ... barmherziger Gott ... tut das weh!» jam‐ merten die Schachteln mit den Wattebäuschen. «Eigentlich nicht», sagte ich. «Eigentlich nicht?» sagte er. «Was soll das denn nun heißen?» «Ich glaube, das ist alles noch ein bißchen viel für mich», sagte ich. Ein gelber Vogel flatterte mir dicht vorm Gesicht; meine Muskeln zuckten nach ihm. Jetzt wand ich mich hoch und nieder wie ein Fisch. Als ich die Lider zupreßte, schossen mir heiße Tränen aus den Au‐ gen; als ich sie wieder öffnete, lag ich auf dem Bauch. «Wieso ist das Zimmer so weiß geworden?» sagte ich. Eine wunderschöne Schwester betastete meine Haut. «Das hier sind bloß Vitamine», sagte sie und schob mir die Nadel ins Fleisch. Es regnete. Riesenhafte Farne neigten sich über uns. Wald schwebte einen Hügel hinab. Ich hörte einen Bach über Steine rauschen. Und ihr, ihr lächerlichen Leutchen, ihr glaubt, ich könnte euch helfen.
ZWEI MÄNNER
Dem ersten Mann bin ich begegnet, als ich mich nach einer Party im Haus der Kriegsveteranen auf den Heim‐ weg machte. Zwei Freunde holten mich von der Tanz‐ fläche. Ich hatte schon vergessen, daß sie überhaupt mitgekommen waren, aber da waren sie! Wieder ein‐ mal haßte ich die beiden. Durch irgendein Versehen, irgendein tiefsitzendes Mißverständnis, das nur noch nicht ans Licht gekommen war, hatten wir drei uns zu‐ sammengetan, und nun büeben wir zusammen, gingen in Bars und redeten. In aller Regel erledigen sich sol‐ che falschen Bündnisse nach einem oder anderthalb Tagen, aber dieses hielt bereits über ein Jahr. Später wurde einer der beiden verwundet, als wir gemeinsam eine Apotheke ausraubten; wir zwei andern legten ihn blutend am Hintereingang des Krankenhauses ab; er kam ins Gefängnis, und alles, was uns verbunden hat‐ te, war gekappt Noch später bekamen wir ihn gegen Kaution frei, und schließlich wurde die Anklage gegen ihn in sämtlichen Punkten fallengelassen, aber wir hat‐ ten uns nun mal die Brust aufgerissen und ihm unser feiges Herz gezeigt, und nach so was kann man nicht länger befreundet sein. An dem Abend im Haus der Kriegsveteranen hatte
ich beim Tanzen eine Frau hinter die riesige Klima‐ anlage gedrängt, sie geküßt, ihr die Hose aufgeknöpft und meine Hand vorn reingeschoben. Bis vor unge‐ fähr einem Jahr war sie mit einem Freund von mir verheiratet gewesen, und ich hatte immer gedacht, wir würden bestimmt mal was miteinander haben. Doch ihr Liebhaber, ein tückischer, dürrer, kluger Mann, dem ich mich, wie’s aussah, unterlegen fühlte, bog um die Klimaanlage, schaute uns wutentbrannt an und sagte ihr, sie solle rausgehen und im Auto warten. Ich fürchtete schon, er würde handgreiflich werden, aber dann verschwand er genauso schnell wie sie. Von da an fragte ich mich den ganzen Abend alle paar Sekunden, ob er wohl mit Verstärkung zu‐ rückkommen und es mir heimzahlen, mich demüti‐ gen würde. Ich hatte eine Pistole dabei, hätte sie aber nie benutzt. Sie war so billig gewesen, daß ich sicher war, sie würde mir, sollte ich je den Abzug drücken, in der Hand explodieren. Also konnte sie meine Er‐ niedrigung bloß größer machen – am Ende würden die Leute noch sagen (meistens, stellte ich mir vor, Männer zu Frauen): «Er hatte eine Pistole, zog sie aber gar nicht erst» Ich trank, soviel ich nur konnte, bis die Cowboy‐Combo zu spielen aufhörte und die Lichter angingen. Dann zogen meine beiden Freunde und ich ab, um in meinen kleinen grünen Volkswagen zu steigen, und dort entdeckten wir den Mann, von dem ich euch er‐
zählen wollte, den ersten Mann, fest schlafend auf dem Rücksitz. «Wer is’n das?» sagte ich zu meinen beiden Freun‐ den. Aber sie hatten ihn auch noch nie gesehen. Wir weckten ihn, und er setzte sich auf. Er war ein ziemlicher Brocken, nicht so groß, daß er mit dem Kopf ans Dach gestoßen wäre, aber ganz schön breit, mit feistem Gesicht und kurzgeschorenem Haar. Er wollte nicht aussteigen. Er deutete auf seine Ohren und seinen Mund, offen‐ bar um uns klarzumachen, daß er weder hören noch sprechen konnte. «Was jetzt?» sagte ich. «Also, ich steig ein. Rutsch rüber», sagte Tom zu dem Mann und kletterte zu ihm auf den Rücksitz. Richard und ich stiegen vorn ein. Alle drei wandten wir uns zu unserem neuen Gefährten. Der zeigte mit der Hand geradeaus. Dann schmiegte er die Wange in die Hände, was soviel wie «heia heia» heißen sollte. «Der will einfach bloß nach Hause gefah‐ ren werden», vermutete ich. «Ach ja?» sagte Tom. «Na, dann fahr ihn doch nach Hause.» Toms Gesichtszüge waren so scharf geschnit‐ ten, daß man ihn meistens für noch schlechter gelaunt hielt, als er ohnehin war. Durch Zeichensprache zeigte unser Begleiter an, wohin er gebracht werden wollte. Tom gab seine An‐ weisungen weiter, weil ich den Mann beim Fahren nicht
im Auge behalten konnte. «Rechts ab – links ab – jetzt langsamer – hier müßte es gleich sein» und so weiter. Wir hatten die Fenster heruntergekurbelt Nach einer Reihe frostkalter Wintermonate war der milde Frühlingsabend wie ein Fremder, der uns seinen Atem ins Gesicht hauchte. Wir brachten unsern Gast in eine Wohnstraße, in der sich die Blüten aus den Knospen der Zweige zwängten und die Blumensamen unter der Erde stöhnten. Er war massig wie ein großer Affe – wir sahen es, nachdem er ausgestiegen war – und ließ die Arme an sich herunterschlenkern, als wollte er jeden Moment auf alle viere niedergehen und auf den Fingerknöcheln weiterlaufen. Bei einem der Häuser glitt er leichtfü‐ ßig die Auffahrt hinauf und hämmerte an die Tür. Im ersten Stock ging ein Licht an, der Vorhang bewegte sich, das Licht ging wieder aus. Doch da war er schon wieder beim Auto und schlug mit der Hand aufs Dach, und ich konnte das Ding nicht schnell genug in Gang kriegen, um abzuhauen und ihn dazulassen. Er legte sich quer über die Kühlerhaube meines VWs, als wäre er in Ohnmacht gefallen. «War wohl nicht das richtige Haus», meinte Richard. «Mit dem da drauf kann ich nicht fahren», sagte ich. «Fahr einfach los», sagte Richard, «und mach ‘ne Vollbremsung!» «Die Bremsen tun’s aber nicht», sagte Tom zu Richard.
«Die Handbremse schon», beruhigte ich sie. Tom verlor die Geduld. «Du mußt doch bloß losfah‐ ren, dann fällt er runter.» «Ich will aber nicht, daß ihm was passiert» Am Ende hievten wir ihn auf den Rücksitz, und er sackte gegen das Seitenfenster. Wir waren ihn also nicht losgeworden. Tom lachte sarkastisch. Wir zündeten uns alle drei eine Zigarette an. «Und da», sagte ich, «kommt Caplan, um mir die Beine wegzuschießen.» Erschrocken starrte ich auf ein Auto, das um die Ecke bog, dann aber weiterfuhr. «Ich war mir ganz sicher, daß er’s ist», sagte ich, als die Rücklichter weiter hinten verschwanden. «Hast du immer noch Schiß wegen Alsatia?» «Ich hab sie geküßt» «Rechtlich völlig in Ordnung», sagte Richard. «Ist ja auch nicht ihr Rechtsanwalt vor dem ich Schiß hab.» «Ich glaub nicht daß Caplan die Sache mit ihr rich‐ tig ernst ist Nicht so ernst jedenfalls, daß er dich um‐ bringen würde oder so.» «Und was meinst du zu alldem?» fragte ich unsern betrunkenen Kumpel. Er begann, lautstark zu schnarchen. «Der Typ ist gar nicht taub, oder? He, du», sagte Tom. «Was machen wir nun mit ihm?»
«Wir nehmen ihn mit zu einem von uns.» «Nicht zu mir», sagte ich. «Einer wird ihn wohl nehmen müssen.» «Der wohnt hier», versuchte ich’s noch mal. «Hat man ja an der Art gesehen, wie er an die Tür geklopft hat.» Ich stieg aus. Ich ging zum Haus, klingelte, trat wieder von der Ve‐ randa herunter und sah hinauf zu dem Fenster in der Dunkelheit. Abermals regte sich der weiße Vorhang, und eine Frau sagte etwas. Sie war vollkommen unsichtbar, nur der Schatten ih‐ rer Hand am Rand des Vorhangs nicht. «Wenn der hier nicht sofort verschwindet, ruf ich die Polizei!» Verlan‐ gen durchströmte mich, so stark, daß ich befürchtete, darin zu ertrinken. Der Nachhall ihrer Stimme driftete zu mir herab. «Ich hab schon den Hörer in der Hand. Und jetzt wähl ich», rief sie sacht hinterher. Irgendwo in der Nähe meinte ich einen Automotor zu hören. Ich rannte zurück zur Straße. «Was ist?» sagte Richard, als ich einstieg. Scheinwerfer kamen um die Ecke. Ich fuhr so heftig zusammen, daß das Auto zitterte. «Herr im Himmel!» sagte ich. Zwei Sekunden lang wurde es so hell im Wa‐ gen, daß man ein Buch hätte lesen können; Schatten von den Schlieren auf der Windschutzscheibe glitten über Toms Gesicht. «Keine Bange», sagte Richard, als
das Dunkel sich wieder um uns schloß und der andere Wagen, wer immer darin gewesen sein mochte, vorbei‐ gefahren war. «Caplan weiß doch gar nicht, daß du hier bist» Die Angst hatte mir mit einem Schlag das Rote aus dem Blut gebrannt Ich war wie Gummi. «Dann such ich ihn eben. Bringen wir’s endlich hinter uns!» «Mensch, vielleicht ist dem die Sache total egal – also, ich weiß nicht Aber was weiß ich schon», sagte Tom. «Was reden wir überhaupt von ihm?» «Vielleicht verzeiht er dir ja», meinte Richard. «Ach Gottchen, dann werden wir womöglich noch Freunde fürs Leben oder was?» sagte ich. «Alles, was ich will, ist, daß er sich an mir rächt, und dann Schluß, aus, Haken dran!» Unser Mitreisender hatte noch keineswegs aufgege‐ ben. Jetzt deutete er wieder hierhin und dorthin, griff sich an die Stirn und unter die Achseln und ließ im Sitzen den Oberkörper kreiseln, wie ein Baseball‐Trai‐ ner, der seinen Spielern Handzeichen gibt «Hör mal gut zu», sagte ich zu ihm. «Ich weiß, daß du sprechen kannst Glaub nicht du kannst uns verarschen.» Er leitete uns durch ein paar Straßen und dann hinüber in die Gegend bei den Eisenbahngleisen, wo kaum jemand lebte. Hier und dort standen spärlich beleuchtete Baracken, wie herabgesunken zum Grund aller Dunkelheit Das Haus jedoch, vor dem er mich halten ließ, bekam ein bißchen Licht von einer Stra‐
ßenlaterne. Ich hupte. Nichts geschah. Und der Mann, dem wir helfen wollten, blieb einfach sitzen; ohne auch nur ein Wort zu sagen, hatte er die ganze Zeit alle mög‐ lichen Wünsche geäußert Allmählich kam er mir vor wie ein zugelaufener Hund. «Ich guck mir das mal an», sagte ich zu ihm und leg‐ te einen eisigen Ton in meine Stimme. Es war ein kleines Holzhaus, davor zwei Stangen für eine Wäscheleine. Das hochstehende Gras war vom Schnee zusammengedrückt und vom Tauwetter wieder freigelegt worden. Ohne zu klopfen, ging ich zum Fenster und blickte hinein. Ein einsamer Stuhl stand an einem ovalen Tisch. Das Haus sah verlassen aus, nirgendwo Vorhänge, nirgendwo Teppiche. Über den Boden verstreut lag irgendwas Glänzendes, ge‐ brauchte Glühbirnen vielleicht, dachte ich, oder Patro‐ nenhülsen. Doch es war dunkel und nichts deutlich zu erkennen. Ich starrte hinein, bis meine Augen müde wurden und ich glaubte, ich könnte Strichzeichnungen auf dem Fußboden ausmachen, ähnlich den mit Kreide markierten Umrissen von Mordopfern oder Symbolen seltsamer Rituale. «Warum gehst du nicht rein?» fragte ich den Mann, als ich wieder beim Auto war. «Sieh’s dir einfach mal an. Du falscher Hund. Du Versager.» Da reckte er einen Finger hoch. Ein. «Was.» Ein. Ein.
«Ein Versuch noch», sagte Richard. «Den Versuch haben wir schon gemacht. Crad eben nämlich. Und was ist dabei rausgekommen? ‘n Bluff.» «Was willst du also tun?» sagte Tom. «Na ja, von mir aus können wir ihn ruhig noch ein bißchen durch die Gegend kutschieren.» Ich wollte nicht nach Hause. Meine Frau war nicht mehr wie früher, und wir hatten ein sechs Monate altes Baby, das mir angst machte, einen kleinen Sohn. Der nächste Versuch führte uns zu einem allein stehenden Haus draußen am Alten Highway. Ich war schon häufiger in der Gegend gewesen, jedesmal ein bißchen weiter weg von der Stadt, und hatte nie etwas Erfreuliches gesehen. Freunde von mir hatten nicht weit von hier eine Farm gehabt, aber die Poüzei hatte sie nach einer Razzia alle eingebuchtet. Dieses Haus allerdings sah gar nicht so aus, als ob es zu einer Farm gehörte. Es stand etwa dreihundert Meter vom Alten Highway entfernt; die vordere Veran‐ da stieß direkt an die Straße. Als wir hielten und den Motor ausmachten, hörten wir drinnen Musik – Jazz. Es klang raffiniert und einsam. Zusammen mit dem Schweiger gingen wir zur Ve‐ randa. Er pochte an die Tür. Tom, Richard und ich flan‐ kierten ihn mit leichtem, ja hauchdünnem Abstand. Die Tür ging auf, und er schob sich blitzschnell hin‐ ein. Wir folgten ihm ins Haus und blieben dann stehen, während er sofort ins nächste Zimmer stürzte.
Wir waren nicht weiter als bis zur Küche gekommen. Der Raum dahinter war schummrig, in bläuliches Licht getaucht, und durch die geöffnete Tür erblickten wir eine Art Empore, beinahe wie ein gewaltiges Stockbett, in dem kreuz und quer Frauen mit gespenstisch blei‐ chen Gesichtern lagen. So eine Bleichgesichtige kam jetzt zur Tür und betrachtete uns drei; ihre Maskara war verschmiert, ihr Lippenstift weggeküßt. Sie hatte einen Rock an, aber keine Bluse, nur einen weißen BH wie jemand aus einer Unterwäschereklame in einer Teenager‐Zeitschrift. Sie war aber älter. Ich schaute sie an und mußte daran denken, wie ich mit meiner Frau hinaus in die Wiesen gegangen war, damals, als wir so verliebt gewesen waren, daß wir nicht wußten, wie uns geschah. Sie putzte sich die Nase, eine schläfrige Bewegung. Zwei Sekunden darauf trat ein Schwarzer dicht neben sie, ein hochaufgeschossener Mann; er klatschte sich ein Paar Handschuhe in die Handfläche und sah blick‐ los auf mich herab, mit dem unverwundbaren Lächeln derer, die auf Dope sind. Die junge Frau sagte: «Hättet ihr vorher angeru‐ fen, hätten wir euch nahegelegt, ihn nicht mitzubrin‐ gen.» Ihr Begleiter war entzückt «Das war ja richtig schön gesagt» Im Zimmer hinter ihr stand der Mann, den wir mit‐ gebracht hatten, wie eine verpfuschte Skulptur: mit un‐
natürlicher Haltung und tief herabhängenden Schul‐ tern, als könnte er seine riesigen Hände nicht mehr weiterschleppen. «Was zum Henker hat der eigentlich für ein Pro‐ blem?» fragte Richard. «Ist doch egal, was der für ‘n Problem hat», sagte der Mann, «wenn er’s nur selbst kapieren würde.» Tom lachte. Wenigstens beinahe. «Was macht er?» fragte Richard das Mädchen. «Der spielt Football, und zwar richtig gut Bezie‐ hungsweise hat’s mal gespielt» Dir Gesicht war müde. All das schien ihr so was von gleichgültig. «Er ist immer noch gut Ist immer noch in der Mann‐ schaft», sagte der Schwarze. «Er ist nicht mal mehr auf der Schule.» «Aber wenn, war er sofort wieder in der Mann‐ schaft» «Die Schule nimmt ihn aber nicht mehr, weil er nun mal am Arsch ist Mann. Genauso am Arsch wie du.» Der Schwarze Heß einen der beiden Handschuhe schnell hin und her Rappen. «Das war dann also ge‐ klärt, danke, Baby.» «Dir ist ‘n Handschuh runtergefallen», sagte sie. «Danke, Baby, daß wir das auch noch geklärt haben», sagte er. Ein junger Typ, groß, muskulös, mit roten Wangen und blondem Bürstenhaarschnitt, kam herein und trat zu uns. Ich hatte das Gefühl, daß er der Gastgeber sein
mußte, denn er hielt den Henkel eines grünen, fast pa‐ pierkorbgroßen Bierkrugs umschlossen, auf den ein Hakenkreuz und ein Dollarzeichen gemalt waren, und an dieser persönlichen Note (wie Hugh Hefner, der auf den Cocktailpartys des «Playboy» im Pyjama herumlief) meinte ich zu erkennen, daß er hier zu Hause war. Er lächelte mich an, schüttelte den Kopf. «Er kann nicht bleiben. Tammy will ihn hier nicht haben.» «Na schön», sagte ich, «wer immer Tammy ist» Etwas wie Gier befiel mich bei diesen merkwürdigen Leuten. Ich witterte Ausschweifungen, den Duft eines Heil‐ tranks, der alle meine Plagen bannen würde. Unser riesiger Gastgeber sagte: «Am besten ver‐ schwindet ihr gleich jetzt wieder mit ihm.» «Wie heißt er eigentlich?» «Stan.» «Stan. Und ist er wirklich taub?» Das Mädchen schnaubte nur. Der junge Typ sagte lachend: «Der war gut» Richard boxte mich auf den Oberarm und deutete mit einem Blick zur Tür an, daß wir abhauen sollten. Ich merkte, daß ihm und Tom die Leute hier angst machten; und im seihen Moment auch mir. Nicht daß sie uns etwas getan hätten. Aber neben ihnen kamen wir uns dumm und albern vor. Der Anblick der Frau setzte mir zu. Sie sah so weich aus, so perfekt wie eine Schaufensterpuppe aus Fleisch, ganz und gar aus Fleisch.
«Den könnt ihr behalten – los, schnell weg!» schrie ich und rannte nach draußen. Ich saß schon wieder auf dem Fahrersitz, und Tom und Richard waren die Einfahrt schon halb herunter, da kam Stan aus dem Haus. «Häng ihn ab! Häng ihn ja ab!» brüllte Tom und kletterte hinter Richard ins Auto, aber als ich anfuhr, hatte der Mann bereits den Türgriff gepackt. Ich trat aufs Gas, doch er ließ nicht locker. Schaff‐ te es sogar, uns immer ein winziges Stück voraus zu sein, und drehte sich dabei um und schaute mir durch die Windschutzscheibe direkt ins Gesicht, und diesen wahnwitzigen Blickkontakt hielt er die ganze Zeit auf‐ recht und lächelte auch noch höhnisch, als wollte er sagen, er bleibe von nun an bis in alle Ewigkeit bei uns, und rannte gleichzeitig immer weiter, schneller und schneller, kleine Atemwölkchen ausstoßend. Nach knapp fünfzig Metern, wir näherten uns gerade dem Stopschild an der Hauptstraße, drückte ich richtig auf die Tube und hoffte, ihn endlich abzuschütteln; aber al‐ les, was ich erreichte, war, daß er gegen das Stopschild knallte. Er rammte es mit dem Kopf voran, die Stange knickte weg wie ein Blumenstiel, er knallte flach auf den Boden und begrub das Ding unter sich. Das Holz muß morsch gewesen sein. Sein Glück, Wir ließen ihn dort zurück, einen taumelnden Mann an einer Kreuzung, an der einmal ein Stopschild ge‐ standen hatte. «Und ich dachte immer, ich kenne jeden
bei uns in der Stadt», sagte Tom, «aber die Leute da sind mir noch nie untergekommen.» «Die waren mal Cracks, jetzt sind sie Alks», sagte Richard. «Footballtypen. Ich hatte keine Ahnung, daß die so abstürzen können.» Tom blickte zurück, die Straße hinunter. Dann hielt ich, und wir alle bückten zurück. Vierhun‐ dert Meter hinter uns stand Stan im Sternenlicht auf den Feldern. Er hatte die Haltung von jemandem, der einen entsetzlichen Kater hat oder versucht, den Kopf wieder richtig zwischen die Schultern zu kriegen. Ge‐ nauer gesagt, nicht nur den Kopf; es war, als hätte man ihn aus der Welt herausgeschnitten und zum Abfall ge‐ worfen. Kein Wunder, daß er weder hören noch spre‐ chen konnte, kein Wunder, daß er mit Worten nichts zu tun haben wollte. Für ihn gab’s das alles nicht mehr. Wir starrten ihn an. Wir kamen uns vor wie alte Jungfern. Er hingegen, er war des Todes Braut Wir fuhren weiter. «Wir haben doch tatsächlich kein Wort aus dem rausgekriegt» Wahrend der ganzen Rückfahrt schimpften Tom und ich über ihn. «Ihr habt’s einfach nicht kapiert Man kann Cheerlea‐ der sein, man kann in ‘ner Mannschaft sein, das heißt alles gar nichts. Mit jedem kann’s bergab gehen», sagte Richard, der auf der Highschool selber mal Quarter‐ back oder so was gewesen war.
Sobald wir den Stadtrand erreicht hatten, wo in lan‐ gen Reihen Straßenlampen standen, mußte ich wieder an Caplan denken, und die Angst kehrte zurück. «Ich such den Heber», meinte ich zu Tom, «statt wei‐ ter zu warten.» «Wen?» «Wen wohl.» «Würdest du das endlich mal vergessen? Das ist vor‐ bei. Mensch!» «Na schön. Okay, okay.» Wir fuhren die Burlington Street hinauf. Kamen an der Tankstelle Ecke Clinton vorbei, die die gan‐ ze Nacht geöffnet ist Gerade drückte ein Mann dem Tankwart Geld in die Hand; sie standen neben seinem Wagen, beide in unheimliches, schwefelgelbes Licht getaucht – die Natrium‐Bogenlampen waren damals neu in unserer Stadt –, und der Straßenbelag zu ihren Füßen war übersät mit Ölflecken, die grünlich schim‐ merten, während der alte Ford des Mannes ganz farb‐ los wirkte. «Wißt ihr, wer das war?» sagte ich zu Tom und Richard. «Thatcher war das.» So schnell ich konnte, wendete ich. «Und was nun?» sagte Tom. «Na, das hier», sagte ich und zog die .32er, aus der ich noch nie einen Schuß abgefeuert hatte. Richard lachte, keine Ahnung, warum. Tom legte die Hände auf die Knie und seufzte. Inzwischen saß Thatcher wieder im Auto. Ich fuhr,
ihm von der anderen Seite entgegenkommend, an die Tanksäulen heran und kurbelte das Fenster run‐ ter. «Ich hab tausend Gramm von dem versauten Stoff gekauft, den du letzten Silvester für zwei Dollar zehn verscherbelt hast. Du kennst mich nicht, weil der and‐ re, wie hieß er noch, den Stoff für dich verkauft hat» Ich bezweifle, daß er mich hören konnte. Ich ließ ihn die Pistole sehen. Thatchers Reifen quietschten hell out, als er seinen verrosteten Falcon in Gang setzte. Ich bildete mir nicht ein, daß ich ihn mit meinem VW kriegen würde, trotz‐ dem riß ich das Steuer herum und fuhr ihm nach. «Der Stoff, den der verkauft hat, war reinster Beschiß», sagte ich. «Hast du ihn denn vorher nicht probiert?» sagte Richard. «War abgedreht, das Zeug.» «Aber wenn du’s doch probiert hast», sagte er. «Es schien in Ordnung, war’s aber nicht Ist nicht nur mir so gegangen. Haben alle gesagt» «Der hängt dich ab.» Mit einem scharfen Bogen war Thatcher unversehens zwischen zwei Gebäuden ver‐ schwunden. Als wir am Ende der Gasse auf die nächste Straße stießen, konnte ich ihn nicht finden. Aber ein Stück weiter sah ich einen Schneerest im Bremslicht eines Autos rosarot aufleuchten. «Er ist da vorn um die Ecke», sagte ich.
Als wir um das Gebäude herum waren, stand sein Auto leer im Hof eines Wohnhauses. In einer der Woh‐ nungen ging Licht an und kurz darauf wieder aus. «Zwei Sekunden, mehr Vorsprung hat der nicht», sagte ich. Das Gefühl daß er Angst vor mir hatte, beflü‐ gelte mich. Ich ließ den VW einfach auf dem Parkplatz stehen, mit offener Tür, laufendem Motor, eingeschal‐ tetem Licht Tom und Richard waren dicht hinter mir, als ich die erste Treppe hinaufrannte und mit der Pistole gegen die Tür hämmerte. Ich wußte, er mußte da drin sein. Ich hämmerte noch einmal gegen die Tür. Eine Frau in weißem Nachthemd öffnete, ging ein paar Schritte rückwärts, sagte: «Bitte nicht Ist ja gut Ist ja gut Ist ja gut» «Schon klar», sagte ich, «Thatcher hat dir gesagt, daß du aufmachen sollst sonst hättest du doch nie im Le‐ ben die Tür geöffnet» «Jim? Der ist verreist» Sie hatte langes schwarzes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Aug‐ äpfel bebten buchstäblich in den Augenhöhlen. «Hol ihn», sagte ich. «Er ist in Kalifornien.» «Im Schlafzimmer ist er.» Ich schob mich hinter der Pistolenmündung auf sie zu, drängte sie zurück. «Ich hab zwei Kinder», flehte sie. «Egal. Runter auf den Boden!» Sie ging auf die Knie, und ich drückte sie mit der
Wange auf den Teppich und setzte ihr die Pistole an die Schläfe. Entweder würde Thatcher jetzt herauskommen, oder ich konnte für nichts garantieren. «Ich hab sie hier, auf dem Boden!» schrie ich nach hinten Richtung Schlafzimmer. «Die Kinder schlafen», sagte sie. Tränen rannen ihr aus den Augen und über den Nasenrücken. Und dann, urplötzlich, ohne Sinn und Verstand, ging Richard durch den Flur ins Schlafzimmer. Grelle Ge‐ sten, Gesten der Selbstvernichtung – genau so kannten wir ihn. «Hier hinten sind zwei kleine Kinder, sonst nie‐ mand.» Tom ging zu ihm. «Der ist aus dem Fenster geklet‐ tert», rief er mir zu. Mit zwei Schritten war ich beim Wohnzimmerfen‐ ster und guckte auf den Parkplatz hinunter. Ganz si‐ cher war ich nicht, aber es sah so aus, als ob Thatchers Wagen weg war. Die Frau hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Lag ein‐ fach da, auf dem Teppich. «Glaubt mir, er ist nicht hier», sagte sie. Das war mir jetzt auch klar. «Egal», sagte ich. «Das Ganze wird dir noch leid tun.»
FREI GEGEN KAUTION
Ich sah Jack Hotel in einem olivgrünen dreiteiligen Anzug, das blonde Haar zurückgekämmt, das Gesicht glänzend und leidend. Im Vine spendierten ihm Leute, die ihn kannten, Leute, die mal kurz mit ihm zu tun gehabt hatten, Leute, die schon gar nicht mehr wuß‐ ten, ob sie ihn nun kannten oder nicht, einen Drink nach dem andern, so schnell er nur trinken konnte. Es war eine traurige, überdrehte Veranstaltung. Man hat‐ te ihn wegen bewaffnetem Raubüberfall angeklagt In der Mittagspause war er vom Gericht herübergekom‐ men. Er hatte seinem Anwalt in die Augen geschaut und erkannt, daß es ein kurzer Prozeß werden würde; dann überschlug er mit Hilfe einer Justizarithmetik, die nur der Geist eines Angeklagten vollends begreift, daß er mit mindestens fünfundzwanzig Jahren rech‐ nen mußte. Es war so gräßlich, es konnte bloß ein Witz sein. Ich selber hatte, soweit ich mich erinnerte, überhaupt noch niemanden kennengelernt der schon so lange auf Erden gelebt hatte. Und Hotel, der war erst acht‐ zehn oder neunzehn. Bis jetzt war das Ganze ein Geheimnis gewesen, wie eine unheilbare Krankheit Ich war voller Neid, daß er
ein so großes Geheimnis für sich behalten konnte, und zugleich bestürzt, daß ausgerechnet ein Schwächling wie Hotel mit einer so seltenen Fähigkeit gesegnet sein sollte, ohne auch nur das kleinste bißchen damit herumzuprahlen. Hotel hatte mich mal um hundert Dollar betrogen, und hinter seinem Rücken hatte ich immer schlecht über ihn geredet; dennoch war unse‐ re Verbindung, seit er mit fünfzehn oder sechzehn bei uns aufgetaucht war, nie ganz abgerissen. Ich war ver‐ blüfft und erschüttert, ja am Boden zerstört, weil er es nicht für nötig gehalten hatte, mir von seinen Schwie‐ rigkeiten zu erzählen. Es war wie ein Fingerzeig, daß ich hier nie echte Freunde finden würde. Und gerade jetzt war sein Haar so sauber und blond, daß es mir schien, als würfe selbst hier, in diesen unter‐ irdischen Regionen, die Sonne ihr Licht auf ihn. Ich sah mich um. Das Vine war ein langgestreck‐ ter, schmaler Raum, wie ein Eisenbahnwaggon, der nirgendwohin fährt Die Leute kamen einem alle vor, als wären sie vor irgend etwas auf der Flucht – an ei‐ nigen Handgelenken entdeckte ich Krankenhaus‐Na‐ mensbänder aus Plastik. Ihre Drinks versuchten sie mit Falschgeld zu bezahlen, das sie sich im Copyshop gemacht hatten. «Ist schon lange her, das Ganze», sagte er. «Aber was hast du getan? Wen hast du abgezockt?» «Letztes Jahr war’s. Ja, letztes Jahr.» Er mußte über sich selber lachen, weil er eine Art von Gerechtigkeit
auf sich herabbeschworen hatte, die ihn so lange vor sich hertreiben würde. «Aber wen hast du denn abgezockt, Hotel?» «Ach, frag nicht Scheiße. Kacke. Großer Gott» Er drehte sich weg und begann ein Gespräch mit ich‐ weiß‐nicht‐wem. Das Vine war jeden Tag anders. Einige der schlimm‐ sten Sachen, die mir im Leben passiert sind, sind hier passiert. Trotzdem ging ich immer wieder hin, genau wie die andern auch. Und mit jedem Schritt brach mir das Herz, weil ich die eine nie finden würde, die eine, die mich liebte. Und dann fiel mir ein, daß ich ja zu Hause eine Frau hatte, die mich hebte; und später: daß meine Frau mich verlassen hatte und die Angst mich halb umbrachte; und noch später: daß ich eine wunderschöne alko‐ holkranke Freundin hatte, die mich für immer glück‐ lich machen würde. Doch jedesmal wenn ich den Raum betrat, blickte ich in verschleierte Gesichter, die alles versprachen, sich aber im Handumdrehen ins Stumpfe und Gewöhnliche klärten, wie sie da zu mir aufsahen und wieder alles falsch machten. In jener Nacht saß ich in einer Nische Kid Williams gegenüber, einem früheren Boxer. Seine schwarzen Hände waren vernarbt und klobig, und schon immer hatte ich das Gefühl gehabt, er könnte sie plötzlich ausstrecken und mich erwürgen. Er sprach mit zwei Stimmen. Er war Mitte Fünfzig. Er hatte sein ganzes
Leben vergeudet. Bei denen von uns, die erst ein paar Jahre vergeudet hatten, waren Leute wie er sehr be‐ liebt: Wenn Kid Williams einem gegenübersaß, war die Frage, ob man mit diesem Leben noch ein, zwei Mo‐ nate weitermachen sollte oder nicht, kaum mehr der Rede wert Ich hab nicht übertrieben, als ich das mit den Kran‐ kenhaus‐Namensbändern sagte. Kid Williams trug eins am Handgelenk. Er war auf Entzug und nur mal schnell über die Mauer geklettert «Gebt mir einen aus, gebt mir einen aus», sagte er mit seiner hohen Stimme. Dann legte er die Stirn in Falten und sagte mit seiner tiefen Stimme: «Bin ja bloß auf ‘nen Sprung hier», und dann wieder, schlagartig fröhlicher, mit seiner hohen Stimme: «Ich wollte euch alle sooo gern wiedersehen! Also gebt mir schon einen aus, weil, ich hab meinen Geldbeutel nicht dabei, meine Brieftasche, die haben mir ja alles weggenommen, die Diebe, die!» Er grapsch‐ te nach der Bardame wie ein Kind nach einem Spiel‐ zeug. Er hatte nichts an als ein Nachthemd, das er sich in die Hose gestopft hatte, und Krankenhauslatschen aus grünem Papier. Auf einmal dämmerte mir, daß irgendwer, Hotel sel‐ ber oder ein Bekannter von ihm, mir schon vor Wo‐ chen erzählt hatte, Hotel stecke wegen eines bewaff‐ neten Raubüberfalls in Schwierigkeiten. Er hatte ein paar College‐Studenten, die ziemliche Mengen Kokain verschoben hatten, mit vorgehaltener Waffe Geld und
Drogen abgenommen, woraufhin die ihn kurzerhand angezeigt hatten. Ich hatte davon gehört, es aber ver‐ gessen. Und dann, als wäre mein Leben nicht schon verdreht genug, wurde mir jäh klar, daß das, was wir an jenem Nachmittag gefeiert hatten, gar nicht Hotels Abschied, sondern seine Rückkehr gewesen war. Er war freige‐ sprochen worden. Seinem Anwalt war es gelungen, ihn mit dem sonderbaren Argument zu entlasten, er habe die Menschen lediglich vor den Machenschaften dieser Dealer schützen wollen. In völliger Verwirrung dar‐ über, wer nun die wahren Verbrecher waren, hatten die Geschworenen sich am Ende entschlossen, ihre Hände in Unschuld zu waschen, und ihn laufenlassen. Darum war es in unserer Unterhaltung vom Nachmittag ge‐ gangen. Aber ich hatte einfach nichts kapiert. Solche Momente gab es häufig im Vine – man dach‐ te dann, heute sei gestern, oder gestern sei morgen und so weiter. Und das, weil wir uns alle für tragische Figuren hielten und weil wir tranken. Wir fühlten uns ohnmächtig, vom Schicksal verfolgt Wir würden in Handschellen sterben, würden ein übles Ende nehmen und nichts dafür können. So legten wir uns die Dinge zurecht. Dann aber wurden wir aus lachhaften Grün‐ den immer wieder für unschuldig erklärt Hotel bekam den Rest seines Lebens zurück, die fünfundzwanzig Jahre und mehr. Die Polizei, fassungs‐ los über sein Glück, gab ihm zu verstehen, man würde,
falls er die Stadt nicht verließe, schon dafür sorgen, daß er’s bereute; aber eine Weile ließ er’s trotzdem drauf ankommen, stritt sich mit seiner Freundin und verschwand dann doch – arbeitete in Reno, Denver, Orten im Westen – und tauchte schließlich nach einem Jahr wieder auf, weil er nun mal nicht von dem Mäd‐ chen lassen konnte. Da war er zwanzig, einundzwanzig Jahre alt. Das Vine war abgerissen worden. Die Stadterneue‐ rung hatte sämtliche Straßen verändert. Was mich be‐ trifft, so hatten meine Freundin und ich uns getrennt, aber wir konnten nun mal nicht voneinander lassen. Eines Nachts stritten wir uns, und ich lief durch die Straßen, bis die Bars am Morgen wieder aufmachten. Ich ging einfach ins erstbeste Lokal. Neben mir, im Spiegel, hockte Jack Hotel und trank. Außer uns waren noch ein paar Leute da, auch nicht besser dran als wir. Was uns ein Trost war. Was würde ich manchmal nicht darum geben, wenn ich uns noch mal dort sitzen sehen könnte: morgens um neun in einer Bar, einander Lügen auftischend, weit weg von Gott. Auch Hotel hatte sich mit seiner Freundin gestritten. Auch er war, wie ich, durch die Straßen gelaufen. Jetzt tranken wir um die Wette, bis uns das Geld ausging. Ich kannte ein Wohnhaus, in das die Fürsorge weiter‐ hin Schecks für einen toten Mieter schickte. Seit einem halben Jahr stahl ich sie Monat für Monat Jedesmal al‐
lerdings war mir angst und bange, jedesmal zögerte ich nach dem Eingang des Schecks mehrere Tage, jedes‐ mal sagte ich mir, ich würde bestimmt auch auf ehrliche Weise ein paar Dollars verdienen können, jedesmal war ich aufs neue überzeugt, ich sei im Grunde ein ehrli‐ cher Mensch, der so was nicht machen sollte, jedesmal schob ich die Sache wieder und wieder auf, weil ich fürchtete, diesmal würden sie mich drankriegen. Hotel kam mit, als ich losging, den Scheck zu holen. Ich fälschte die Unterschrift und stellte ihn auf seinen richtigen Namen aus, so daß er ihn in einem Super‐ markt einlösen konnte. Ich glaube, sein richtiger Name war George Hoddel. Deutsch. Von dem Geld kauften wir Heroin und teilten es gerecht in zwei Hälften. Dann zog er ab, um seine Freundin zu suchen, und ich zog ab, um meine zu suchen. Ich wußte: Wenn Dro‐ gen da waren, gab sie nach. Aber ich war in miserabler Verfassung – betrunken, übernächtigt. Kaum hatte ich das Zeug im Blut, wur‐ de ich ohnmächtig. Zwei Stunden vergingen, ohne daß ich’s merkte. Ich hatte das Gefühl, ich hätte nur ganz kurz die Au‐ gen zugemacht; als ich sie jedoch wieder öfmete, wur‐ de ich von meiner Freundin und einem mexikanischen Nachbarn bearbeitet, die alles Erdenkliche taten, um mich ins Leben zurückzuholen. Der Mexikaner sagte gerade: «Da, er ist übern Berg.» Wir lebten in einer winzigen, verdreckten Wohnung.
Als ich begriff, wie lange ich weg gewesen war und daß ich um ein Haar für immer abgetreten wäre, kam es mir vor, als glänzte unser schäbiges Zuhause wie Talmi‐ schmuck. Ich war außer mir vor Freude, daß ich nicht tot war. Ich hatte nie groß über den Sinn von allem nachgedacht, und wenn doch, war ich bestenfalls dar‐ auf gekommen, daß ich das Opfer eines Witzes sein müsse. Mehr war nie gewesen: kein Rühren an den Saum des Mysteriums, kein Gedanke daran, und zwar bei keinem von uns – aber da Sprech ich wohl doch nur für mich selber –, daß unsere Lungen sich mit Licht gefüllt hätten oder was weiß ich. Dennoch, in jener Nacht erlebte ich einen Moment voll Herrlichkeit Ich war mir sicher, daß ich hier war, auf dieser Welt, weil ich keinen andern Ort ertragen konnte. HoteL der in genau derselben Verfassung gewesen war wie ich und auch dieselbe Menge Heroin mitge‐ nommen hatte, sie allerdings nicht mit seiner Freun‐ din teilen mußte, weil er die an jenem Tag nicht finden konnte – Hotel also verzog sich in ein Haus mit mö‐ blierten Wohnungen unten am Ende der Iowa Avenue und setzte sich, nicht anders als ich, eine Überdosis. Er fiel in einen tiefen Schlaf, und für die andern dort sah er ziemlich tot aus. Die Leute, die bei ihm waren, alles Freunde von uns, überwachten seine Atmung, indem sie ihm von Zeit zu Zeit einen Taschenspiegel unter die Nase hielten und nachguckten, ob das Glas beschlagen war. Aber nach
einer Weile vergaßen sie ihn, und seine Atmung setzte, ohne daß irgendwer es bemerkte, aus. Er ging einfach ein. Er starb. Ich bin noch am Leben.
DUNDUN
Ich fuhr raus zu der Farm, wo Dundun lebte, um mir von ihm etwas synthetisches Opium zu besorgen, aber ich hatte kein Glück. Er begrüßte mich, als er gerade in den Vorhof trat und zur Pumpe ging; er trug neue Cowboystiefel und eine Lederweste, sein Flanellhemd hing über der Jeans. Er kaute Kaugummi. «Mclnnes fühlt sich heut nicht besonders. Ich hab grad auf ihn geschossen.» «Ihn umgebracht, meinst du?» «War keine Absicht.» «Ist er wirklich tot?» «Nein. Er mußte sich nur mal hinsetzen.» «Aber er lebt» «Ach, na klar lebt der. Er sitzt jetzt drüben im hinte‐ ren Zimmer.» Dundun ging zur Pumpe und betätigte den Schwen‐ gel. Ich ging ums Haus und von hinten hinein. Der Raum, zu dem die Hintertür führte, roch nach Hunden und Babys. Beatle stand in der Tür gegenüber und guckte zu, wie ich reinkam. An der Wand lehnte Blue, rauchte eine Zigarette und kratzte sich gedankenverloren am
Kinn. Hinten saß Jack Hotel an einem alten Schreib‐ tisch und zündete sich eine Pfeife an, deren Kopf mit Alufolie umwickelt war. Als die drei sahen, daß bloß ich es war, schauten sie wieder zu Mclnnes, der ganz allein auf der Couch saß. Seine Linke ruhte sacht auf seinem Bauch. «Dundun hat auf ihn geschossen?» fragte ich. «Irgendwer hat auf irgendwen geschossen», sagte Hotel. Dundun kam hinter mir herein, in der einen Hand eine Porzellantasse mit Wasser, in der anderen eine Bierflasche, und sagte zu Mclnnes: «Hier.» «Ich will das nicht», sagte Mclnnes. «Na schön. Also, dann das hier.» Dundun bot ihm den Rest seines Biers an. «Nein danke.» Ich war beunruhigt «Wollt ihr ihn nicht ins Kran‐ kenhaus bringen oder so?» «Gute Idee», sagte Beatle sarkastisch. «Haben wir ja versucht», erklärte Hotel, «aber wir sind drüben an der Schuppenecke hängengeblieben.» Ich sah aus dem Seitenfenster. Die Farm gehörte Tim Bishop. Tim Bishops Plymouth, eine wunderschö‐ ne alte graurote Limousine, war, wie ich nun erkannte, seitlich gegen den Schuppen geschrammt und hatte dabei einen der Eckpfeiler weggerissen, weshalb der Pfeiler am Boden lag und das Schuppendach nur noch von dem Auto gehalten wurde.
«Die Windschutzscheibe ist in zig Teile gegangen», sagte Hotel. «Wieso seid ihr überhaupt da rangefahren?» «Alles war total außer Kontrolle», sagte Hotel. «Und wo ist eigentlich Tim?» «Nicht da», sagte Beatle. Hotel reichte mir die Pfeife. Es war Haschisch drin, aber nur noch ein kleiner Rest. «Wie geht’s dir?» fragte Dundun Mclnnes. «Ich kann’s spüren, genau hier. Ist bloß ein Steck‐ schuß im Muskel.» Dundun sagte: «Dann ist es nicht so schlimm. Ich glaub, die Zündkapsel ist nicht richtig explodiert» «War ‘ne Fehlzündung.» «War ‘ne Fehlzündung, jedenfalls so ungefähr, ge‐ nau.» «Würdest du ihn», fragte mich Hotel, «mit deinem Wagen ins Krankenhaus bringen?» «Klar», sagte ich. «Ich komm mit», sagte Dundun. «Hast du eigentlich noch was von dem Opium?» fragte ich ihn. «Nein», sagte er. «War ein Geburtstagsgeschenk. Ist alles schon weggeraucht.» «Und wann hast du Geburtstag?» «Heute.» «Dann», sagte ich unwirsch, «hättst du eben nicht al‐ les vorher wegrauchen dürfen.»
Dennoch war ich froh, mich nützlich machen zu kön‐ nen. Ich wollte gern derjenige sein, der endlich Hilfe brachte und Mclnnes ohne Unfall zum Arzt verfrachte‐ te. Man würde darüber reden, und ich hoffte, dadurch angenehm aufzufallen. Im Auto waren Dundun, Mclnnes und ich. Es war Dunduns einundzwanzigster Geburtstag. Ich hatte ihn so um mein achtzehntes Thanksgiving herum im Zuchthaus von Jackson County kennengelernt, während einiger Tage, der einzigen in meinem Leben, die ich hinter Gittern verbringen mußte. Ich war der Altere von uns beiden, allerdings nur um ein, zwei Mo‐ nate. Mclnnes selber lebte schon seit Ewigkeiten hier, und ich war sogar mit einer seiner früheren Freundin‐ nen verheiratet. Wir fuhren los, so schnell es ging, ohne daß der Ver‐ letzte zu heftig durchgerüttelt wurde. Dundun sagte: «Was ist nun mit den Bremsen? Hast du sie in Ordnung gebracht?» «Die Handbremse funktioniert. Das muß reichen.» «Und das Radio?» Dundun hämmerte gegen den Knopf, worauf das Radio ansprang und Laute wie ein Fleischwolf von sich gab. Er schaltete es aus und wie‐ der ein, und es gurgelte wie eine Maschine, die nächte‐ lang Steine poliert. «Und was tut sich bei dir?» fragte ich Mclnnes. «Hast du’s bequem?» «Na, rate mal», sagte Mclnnes.
Wir waren auf einer langen geraden Straße, die sich, so weit das Auge reichte, durch trockene Felder zog. Man hätte denken können, alle Luft wäre vom Himmel verschwunden und der Erdboden wäre aus Papier. Es war, als bewegten wir uns kaum, würden nur immer kleiner und kleiner. Was läßt sich über die Felder dort sagen? Da gab’s Amseln, die über ihren eigenen Schatten kreisten, und unter ihnen standen Kühe und rochen sich gegenseitig am Hintern. Dundun spuckte sein Kaugummi aus dem Fenster und kramte in der Hemdtasche nach seinen Winstons. Mit einem Streichholz zündete er sich eine an. Das war’s, was sich darüber sagen läßt «Wir werden nie wieder von dieser Straße runter‐ kommen», sagte ich. «Was für ein Scheißgeburtstag», sagte Dundun. Mclnnes sah blaß und krank aus; behutsam um‐ klammerte er sich selbst Ich hatte ihn schon früher so gesehen, ein‐ oder zweimal, und da war nicht auf ihn geschossen worden. Er litt an irgendeiner schlimmen Sorte Hepatitis, die ihm oft ziemliche Schmerzen be‐ reitete. «Versprichst du mir, daß du denen nichts sagst?» Dundun redete mit Mclnnes. «Ich glaub nicht, daß er dich hört», sagte ich. «Sag denen, es war ein Unfall, okay?» Einen langen Augenblick sagte Mclnnes nichts. Schließlich sagte er: «Okay.»
«Versprochen?» sagte Dundun. Aber Mclnnes sagte nichts. Weil er nämlich tot war. Mit Tränen in den Augen sah Dundun mich an. «Was sagst du dazu?» «Was soll das heißen, was ich dazu sage? Meinst du, ich bin hier, weil ich mich mit so was besonders aus‐ kenne?» «Er ist tot.» «Schon klar. Ich weiß, daß er tot ist» «Dann aber raus mit ihm aus dem Auto.» «Klar doch, raus mit ihm aus dem Auto», sagte ich. «Ich jedenfalls fahr den nirgendwo mehr hin.» Einen Moment lang schlief ich ein, mitten beim Fah‐ ren. Ich hatte einen Traum, in dem ich irgendwem et‐ was erzählen wollte, aber dauernd von anderen unter‐ brochen wurde, einen Traum über Enttäuschung. «Ich bin eigentlich ganz froh, daß er tot ist», sagte ich zu Dundun. «Er hat schließlich alle drauf gebracht, mich Saukopp zu nennen.» Dundun sagte: «Laß dich von so was doch nicht run‐ terziehen.» Wir jagten weiter, vorbei an den verdorrten Über‐ bleibseln Iowas. «Ich könnte glatt mal als Killer arbeiten», sagte Dun‐ dun. Irgendwann, in einer Zeit vor aller Geschichte, hat‐ ten sich Gletscher durch diese Landschaft gewuchtet. Nun herrschte seit Jahren Dürre, und ein bronzefar‐
bener Nebel aus Staub stand über den Ebenen. Die Sojabohnenernte war auch dieses Jahr verdorben, und am Boden lagen welke, verkümmerte Maisstengel in Reihen ausgebreitet wie Unterwäsche. Die meisten Bauern pflanzten schon längst nichts mehr an. Alle fal‐ schen Traumbilder waren ausgelöscht Es war wie der Augenblick, bevor der Erlöser kommt Und der Erlö‐ ser kam, doch mußten wir lange auf ihn warten. Dundun folterte Jack Hotel an einem See außerhalb von Denver. Er tat das, um Informationen über irgend‐ eine gestohlene Sache aus ihm herauszuholen, eine Stereoanlage, die seiner Freundin gehörte oder viel‐ leicht auch seiner Schwester. Später prügelte er mitten auf der Straße in Austin, Texas, einen Mann mit einem Wagenheber fast zu Tode, und auch dafür wird er sich eines Tages zu verantworten haben. Zur Zeit allerdings ist er, soweit ich weiß, im Staatsgefängnis von Colora‐ do. Werdet ihr mir glauben, wenn ich euch sage, daß Freundlichkeit in seinem Herzen war? Seine Linke wußte nicht, was seine Rechte tat Es war einfach so, daß gewisse wichtige Verbindungen bei ihm durchge‐ schmort waren. Könnte ich euch aber den Kopf öffnen und euch mit einem heißen Lötkolben durchs Gehirn fahren – gut möglich, daß ich auch aus euch so einen machen würde wie ihn.
ARBEIT
Drei Tage hatte ich mit meiner Freundin, ehrlich der schönsten Frau, die ich je kennengelernt habe, unter falschem Namen im Holiday Inn gewohnt und Hero‐ in gedrückt. Wir liebten uns im Bett, aßen Steaks im Restaurant, setzten uns Schüsse auf dem Klo, kotzten, weinten, beschimpften uns, baten uns um Verzeihung, verziehen uns, versprachen uns alles mögliche und tru‐ gen uns gegenseitig hinauf in den Himmel. Dann hatten wir Streit. Ich stand draußen vor dem Motel, als Anhalter. Ich hatte meine Sachen hastig über‐ gezogen, kein Hemd unter der Jacke, durch meinen Ohrring jaulte der Wind. Ein Bus hielt Ich stieg ein und saß auf dem Plastiksitz, während all die Sachen, aus denen unser Städtchen besteht sich in den Fen‐ stern drehten wie die Bilder in einem Spielautomaten. Einmal, als wir an irgendeiner Straßenecke standen und zankten, hatte ich ihr in den Magen geboxt Sie klappte zusammen, ging weinend in die Knie. Ein Auto mit Studenten hielt neben uns. «Der ist schlecht», sagte ich. «Schwachsinn», sagte einer von denen. «Du hast ihr den Ellbogen voll in die Eierstöcke gerammt» «Genau, genau, genau», sagte sie heulend.
Ich weiß nicht mehr, was ich darauf antwortete. Ich weiß nur noch, wie die Einsamkeit mir plötzlich die Lun‐ gen zusammendrückte, dann das Herz, dann die Eier. Die Studenten halfen ihr ins Auto und fuhren weg. Aber sie kam wieder. An dem Morgen nun, an dem wir uns gestritten und ich ein paar Stationen lang in gedankenloser, blutroter Versunkenheit im Bus gesessen hatte, sprang ich raus auf die Straße und sockte ins Vine. Im Vine war es still und kalt Der einzige Gast war Wayne. Seine Hände zitterten. Er bekam sein Glas nicht hoch. Ich legte ihm die Linke auf die Schulter, und mit der Rechten, die durch Opiate schön ruhig geworden war, hob ich ihm das Bourbonglas an die Lippen. «Was hältst du davon, wenn wir ein bißchen Geld verdienen?» sagte er. «Ich wollte mich hier eigentlich bloß in die Ecke set‐ zen und mir die Kante geben», sagte ich. «In meinem Hirn», sagte er, «hab ich grad mit mir abgemacht, daß ich mal ein bißchen Geld verdiene.» «Ja und?» sagte ich. «Komm mit», sagte er. «Du meinst», sagte ich, «was du jetzt noch brauchst, ist mein Auto.» «Werkzeug hab ich», sagte er. «Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist deine saudämliche Karre, um hier wegzukommen.»
Wir fanden meinen Chevrolet, das hübscheste Teil, das ich je für 60 Dollar gekauft habe, und auch das beste, wenn man den Preis bedenkt, in einer Straße in der Nähe meiner Wohnung. Es gefiel mir, dies Auto. Es gehörte zu der Sorte, mit der man einen Telegraphen‐ niast rammen konnte, ohne daß einem was passierte. Während wir aus der Stadt hinausfuhren, dorthin, wo die Felder sich zu Hügeln bauschten und dann wieder abfielen, zum Rand eines kühlen, von sanften Wolken gehegten Flusses, barg Wayne seinen leinenen Werkzeugsack auf dem Schoß. Die Häuser am Flußufer, ein Dutzend etwa, waren sämtlich leer und verlassen. Man merkte gleich, daß sie von derselben Firma gebaut und dann in vier ver‐ schiedenen Farben angestrichen worden waren. In den unteren Stockwerken fehlten die Fensterscheiben, und im Vorbeifahren sah ich, auf den Böden lag Schuck. Vor einiger Zeit mußte eine Flut über die Ufer getre‐ ten sein und alles weggeschwemmt haben. Jetzt aller‐ dings floß der Fluß flach und gemächlich. Das Haar der Weiden strich übers Wasser. «Machen wir ‘nen Bruch?» fragte ich Wayne. «Du willst in ein verlassenes, leeres Haus einbre‐ chen?» sagte Wayne, entgeistert über so viel Begriffs‐ stutzigkeit Ich schwieg. «Dies ist ein Verwertungsjob», sagte er. «Fahr da rauf, zu dem Haus, gleich da drüben.»
Das Haus, vor dem wir das Auto abstellten, machte einen grauenhaften Eindruck. Ich klopfte. «Laß das», sagte Wayne. «Ist idiotisch.» Drinnen stäubte der Schlick, den der Fluß zurückge‐ lassen hatte, unter unseren Füßen. In ungefähr einem Meter Höhe zogen sich Wasserlinien über die Wände des Erdgeschosses, und überall lagen Grasbüschel, ganz steif und gerade, als hätte man sie zum Trocknen ausgebreitet Wayne hatte ein Stemmeisen und ich einen glänzen‐ den Hammer mit blauem Gummigriff, Wir setzten das Eisen in den Wandfugen an und begannen, den Rigips herunterzubrechen; er ging ab mit einem Krachen, wie wenn alte Männer husten. Sobald wir die Kabel in ih‐ rer weißen Umhüllung freigelegt hatten, rissen wir sie aus den Befestigungen, zogen sie heraus und wickel‐ ten sie zu Bündeln. Denn das war’s, was wir wollten. Unser Plan war, den Kupferdraht als Gebrauchtmetall zu verkaufen. Etwas später, inzwischen waren wir im ersten Stock, war mir klar, daß bei der Sache tatsächlich was raus‐ springen würde. Doch ich wurde müde. Ich ließ den Hammer fallen und ging ins Bad. Ich war verschwitzt und durstig. Natürlich lief das Wasser nicht Ich ging zu Wayne zurück, der gerade in einem der kleinen leeren Zimmer stand, und begann, herumzu‐ tanzen und mit dem Hammer auf die Wände einzudre‐ schen; ich zertrümmerte die Rigipsplatten und machte
einen gigantischen Lärm, bis der Hammer schließlich in einer der Wände stecken blieb. Aber Wayne beach‐ tete meinen Anfall gar nicht Danach mußte ich Atem schöpfen. Ich fragte ihn: «Wem gehören die Häuser wohl, was meinst du?» Er stutzte. «Das hier ist meins.» «Ach ja.» «Oder war’s mal.» Mit einem langen, weichen Ruck, einer Geste voll heiterem Haß, riß er ein Kabel aus der Wand, daß die Krampen nach allen Seiten flogen, und zog es ins Zim‐ mer. Über eine Stunde waren wir damit beschäftigt, die Kabel aufzurollen und in der Zimmermitte zu stapeln. Anschließend hievte ich Wayne durch die Dachbo‐ denluke, und er zog mich hinter sich hoch, und dabei schwitzten wir, so daß uns die Gifte, die in unseren Drinks gewesen waren, aus allen Poren sickerten und sich ein Geruch wie von alten Zitronenschalen verbrei‐ tete, und dann machten wir da oben, direkt unterm Dach von Waynes früherem Haus, einen Haufen aus weißumhüllten Kabelschlangen, die wir durch die Fall‐ tür nach oben zerrten. Ich fühlte mich schwach. Ich mußte mich übergeben, in der Zimmerecke: Ein Fingerhut voll grauer Galle, mehr kam nicht «Ich bin high», zeterte ich, «aber die Arbeit hier versaut mir das Ganze komplett Weißt du
denn keine einfachere Art, sich ‘nen Dollar zu verdie‐ nen?» Wayne trat ans Fenster. Er ließ sein Stemmeisen ein paarmal gegen die Scheibe krachen, jedesmal stärker, bis sie mit einem Knall zerbarst Dann warfen wir un‐ ser Zeug auf die schlammgeglätteten Wiesen, die sich vom Ufer heraufzogen, direkt bis zu uns. Es war ganz still in jener sonderbaren Gegend am Fluß, nur eine Brise ging unablässig durch die jun‐ gen Blätter. In diesem Moment jedoch hörten wir ein Boot den Fluß heraufkommen. Das Geräusch zog sich wie das Kringeln und Kreisen einer Biene durch die Schößlinge beidseits des Wassers, und eine Minute spä‐ ter zerschnitt ein Motorboot mit flacher Schnauze die Flußmitte; es fuhr fünfzig oder sechzig, mindestens. Das Boot schleppte an einem Seil einen gewaltigen dreieckigen Drachen hinter sich her. Und an dem Dra‐ chen, gut dreißig Meter über dem Wasser, hing eine Frau, die wohl mit Gurten, nehm ich an, irgendwie daran fest‐ geschnallt war. Sie hatte langes rotes Haar und war zart und weiß und ganz nackt, abgesehen von ihrem wunder‐ schönen Haar. Ich weiß nicht, was sie sich dabei dachte, als sie über die verfallenen Häuser wegschwebte. Alles, was ich sagen konnte, war: «Was macht die denn da oben?» Obwohl wir es natürlich sehen konn‐ ten: Sie flog. «Na», sagte Wayne. «Das ist mal ein schöner An‐ blick.»
Auf dem Weg in die Stadt bat mich Wayne, einen län‐ geren Umweg über den Alten Highway zu machen. An einem windschiefen Farmhaus auf einem Crashügel ließ er mich halten. «Ich geh da kurz rein», sagte er, «bloß für zwei Se‐ kunden. Willst du mit?» «Wer wohnt denn da?» sagte ich. «Komm mit, dann siehst du’s», meinte er. Als wir zur Veranda hinaufgingen und klopften, schien niemand zu Hause zu sein. Trotzdem klopfte Wayne nicht noch einmal, und nach vollen drei Minu‐ ten wurde die Tür von einer Frau geöffnet, einem zier‐ lichen Rotschopf in einem Kleid mit kleinen Blumen drauf. Sie lächelte nicht Sagte nur «Hi». «Können wir reinkommen?» fragte Wayne. «Ich komm lieber auf die Veranda», sagte sie, ging an uns vorbei, blieb stehen und bückte über die Fel‐ der. Ich wartete am anderen Ende der Veranda, ans Ge‐ länder gelehnt, und hörte weg. Keine Ahnung, worüber die beiden sprachen. Sie ging die Treppe hinunter, und Wayne folgte ihr. Er stand da, verschränkte die Arme und redete auf den Erdboden ein. Der Wind hob und senkte ihr langes rotes Haar. Sie war an die Vierzig und eine bleiche Schönheit, wie von Wasser durchströmt Ich schätze mal, Wayne war der Sturm gewesen, der sie hierher verschlagen hatte. Nach einer Minute sagte er zu mir: «Komm.» Er stieg
auf der Fahrerseite ins Auto und ließ den Motor an (man brauchte zum Anlassen keinen Schlüssel). Ich ging die Treppe hinunter und setzte mich neben ihn. Er betrachtete sie durch die Windschutzscheibe. Sie war noch nicht wieder reingegangen. Hatte sich überhaupt nicht vom Fleck gerührt. «Das ist meine Frau», sagte er, als wenn’s nicht son‐ nenklar gewesen wäre. Dann fuhren wir ab; ich drehte mich im Sitz herum und besah mir Waynes Frau noch einmal ganz genau. Was läßt sich über die Felder dort sagen? Sie stand auf ihnen wie auf einem hohen Berg, ihr rotes Haar wehte seitwärts im Wind, zu ihren Füßen dehnte sich grün und grau das flache Land, und alle Gräser Iowas sangen einen, immer nur einen Ton. Ich wußte, wer sie war. «Das war sie doch, oder?» sagte ich. Wayne war nicht in der Lage zu sprechen. Aber ich hatte nicht den geringsten Zweifel. Das war die Frau, die wir über dem Fluß gesehen hatten. Nach allem, was ich sagen konnte, war ich in eine Art Traum hineingeraten, den Wayne gerade träumte, ei‐ nen Traum von seiner Frau und seinem Haus. Doch ich sagte nichts. Und zwar, weil sich am Ende an fast unmerklichen Zeichen zeigen sollte, daß dies einer der besten Tage meines Lebens war, ob’s nun am Traum eines andern lag oder nicht Auf einem Schrottplatz am Rand der
Stadt, gleich neben den schimmernden Eisenbahn‐ gleisen, bekamen wir 28 Dollar für die gebrauchten Kabel – jeweils –, und danach gingen wir zurück ins Vine. Und wer machte da den Ausschank? Niemand anders als eine junge Frau, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Aber ich weiß noch, wie sie ausschenkte; es war, als würde dein Geld sich verdoppeln. Dire Chefs würde die nicht reich machen. Klar, daß wir sie anhim‐ melten. «Geht auf mich», sagte ich. «Kommt nicht in die Tute», sagte Wayne. «Na komm schon.» «Das», sagte Wayne, «ist heute mein Opfergang.» Opfergang? Wo hatte er ein Wort wie Opfergang her? Ich hatte es vorher bestimmt noch nie gehört. Einmal hatte ich erlebt, wie Wayne in einer Bar ei‐ nen kurzen Blick über den Pokertisch warf und – keine Übertreibung – ausgerechnet den bulligsten, schwär‐ zesten Mann von Iowa beschuldigte, ihn übers Ohr zu hauen, einzig und allein deshalb, weil es gerade mit seinen, Waynes, Karten nicht sonderlich lief und er sich darüber ärgerte. Ungefähr so stellte ich mir einen Opfergang vor: sich selbst wegwerfen, den eigenen Leib preisgeben. Der Schwarze erhob sich und legte die Hand um den Hals einer Bierflasche. Nie war in der Bar ein größerer Mann gewesen.
«Komm raus vor die Tür», sagte Wayne. Und der Mann: «Wir sind hier nicht in der Schule.» «Was, du gottverdammte bepißte Scheiße», sagte Wayne, «soll das nun wieder heißen?» «Ich werd nicht vor die Tür gehen, als wären wir in der Schule. Tu, was du nicht lassen kannst, aber tu’s hier und jetzt.» «Für das, was wir beide vorhaben, ist dies nun wirk‐ lich nicht der richtige Ort», sagte Wayne, «nicht mit all den Frauen und Kindern und Hunden und Krüppeln hier drin.» «Scheiße, Mann», sagte der Mann, «du bist ja einfach bloß betrunken.» «Mir egal», sagte Wayne. «Sag, was du willst, für mich säuselst du bloß wie ‘n Furz in ‘ner Papiertüte.» Der ungeheure, ungeschlachte Mann sagte nichts. «Ich werd mich jetzt hinsetzen», sagte Wayne, «und mein Spiel machen. Scheiß auf dich.» Der Mann schüttelte den Kopf. Er setzte sich eben‐ falls. Es war erstaunlich: Er hätte nur den Arm ausstrek‐ ken und Waynes Kopf zwei oder drei Sekunden lang packen müssen, dann wäre der wie ein Ei zerplatzt Und dann kam einer von diesen Momenten. Ich er‐ innere mich noch, wie ich mal einen von ihnen erlebt habe: Ich war achtzehn und verbrachte den Nachmit‐ tag zusammen mit meiner ersten Frau im Bett, noch bevor wir verheiratet waren. Unsere nackten Leiber begannen zu glühen, und die Luft nahm eine so son‐
derbare Färbung an, daß ich schon dachte, ich würde mein Leben aushauchen müssen, und mit jeder Faser, jeder Zelle meines jungen Körpers versuchte ich es festzuhalten, nur einen, immer noch einen Atemzug lang. Dann erhob ich mich torkelnd, ein Rattern zerriß mir den Kopf, ich öffnete die Tür und trat hinaus in ein Traumbild, wie ich es nie mehr sehen werde. Wo sind nur meine Frauen geblieben, mit ihren wonnevollen feuchten Worten und Weisen? Wo sind die wundersa‐ men, riesengroßen Hagelkörner, die im Hof hinterm Haus mit einem grünen Schimmer zerbarsten? Wir zogen uns an, sie und ich, und Hefen nach drau‐ ßen, durch Straßen, in denen fußhoch weiße, leuch‐ tende Steine schwammen. So sollte es sein, wenn man geboren wird. Jener Moment in der Bar aber, als wir knapp einer Schlägerei entgingen, war wie die grüne Stille nach dem Hagelsturm. Irgendwer gab eine Runde aus. Die Karten lagen über den Tisch verstreut, Bild oben, Bild unten, und schienen vorherzusagen, daß alles, was wir einander noch antäten, vom Schnaps hinweggespült oder von traurigen Liedern hinwegerklärt werden würde. Wayne war ein Teil von alldem. Das Vine war wie ein Eisenbahn‐Speisewagen, der irgendwie vom Gleis abgekommen und in einem Zeitsumpf gelandet war, wo er die Schläge der Abriß‐ birne erwartete. Und die Schläge würden tatsächlich
kommen. Im Zuge der Stadterneuerung hatte man be‐ gonnen, die gesamte Innenstadt niederzureißen und beiseite zu schaffen. Und da saßen wir beide nun an jenem Nachmittag, jeder mit knapp dreißig Dollar in der Tasche, und unse‐ re liebste, unsere allerliebste Barfrau schenkte Drinks aus. Ich wünschte, ich könnte mich an ihren Namen erinnern, aber ich erinnere mich nur an ihre Anmut und an ihre Großzügigkeit. Alle guten Zeiten in meinem Leben hatten immer damit zu tun, daß Wayne da war. Aber die beste Zeit, die ich je hatte, die beste von all den guten Zeiten war doch irgendwie jener Nachmittag. Wir hatten Geld. Wir waren dreckig und müde. Normalerweise fühlten wir uns schuldig und verängstigt, weil irgendwas mit uns nicht stimmte und wir nicht wußten, was es war; nur damals fühlten wir uns wie Männer, die gearbeitet hatten. Im Vine gab es keine Jukebox, statt dessen spielte eine gewöhnliche Stereoanlage in einem fort Melodi‐ en, die von Säufer‐Selbstmideid und kitschigen Tren‐ nungen erzählten. «Schwester ...», schluchzte ich, und sie schenkte uns die himmlischsten Doppelten ein, die man sich denken kann, ganze Cocktailgläser voll bis zum Rand, und ließ funfe gerade sein, «... was für ‘n tol‐ les Händchen du hast» Über ihren Gläsern mußte man niedergehen wie ein Kolibri Über einer Blüte. Später sah ich sie noch einmal wieder, vor einigen Jahren erst,
und als ich sie anlächelte, meinte sie, ich wollte was von ihr. Aber ich war bloß mit Erinnerungen beschäftigt, das war’s. Ich werde dich nie vergessen. Dein Mann wird dich mit einem Verlängerungskabel prügeln, und der Bus wird abfahren und dich stehenlassen, aufge‐ löst in Tränen; aber du warst meine Mutter.
NOTAUFNAHME
Ungefähr drei Wochen, schätze ich, hatte ich schon in der Notaufnahme gearbeitet. Das war 1973, kurz vor Ende des Sommers. Weil ich in den Nachtschichten nichts zu tun hatte, als die Krankenberichte zu sortie‐ ren, die während der Tagschichten angefallen waren, begann ich herumzuwandern, rüber in die Kardiolo‐ gie, runter in die Cafeteria und so weiter. Ich suchte Georgie, den Krankenpfleger, mit dem ich mich ange‐ freundet hatte. Er bediente sich oft aus den Medika‐ mentenschränkchen. Mit einem Mop fuhr er über den gekachelten Bo‐ den des Operationsraums. «Immer noch nicht fertig?» sagte ich. «Mein Gott», jammerte er, «ganz schön viel Blut hier.» «Wo denn?» Ich fand, der Boden sah recht sauber aus. «Was zum Henker haben die hier nur gemacht?» sagte er. «Die haben operiert, Georgie», sagte ich. «Mann», sagte er, «was für ‘n saumäßiges Geklitsche in uns ist. Und das ganze Zeug will raus.» Er stellte den Mop an einen Schrank.
«Warum weinst du?» Ich begriff’s nicht. Er stand reglos da, fuhr sich mit den Händen langsam an den Hinterkopf und zurrte seinen Pferdeschwanz fest Dann griff er sich den Mop und fuhrwerkte damit herum, machte große, wilde Schwünge, zitterte und heulte und schoß von einer Ecke des Raums in die an‐ dere. «Warum ich weine?» sagte er. «Mein Gott Einfach toll, Mann, astrein.» Mit dem fetten, wabbelnden Krankenschwesterchen saß ich in der Notaufnahme. Ein Arzt vom Familien‐ dienst, den niemand leiden konnte, kam herein und fragte nach Georgie; er sollte irgendwo für ihn sau‐ bermachen. «Wo steckt Georgie?» sagte der Mann. «Im OP», sagte Schwesterchen. «Schon wieder?» «Nein», sagte Schwesterchen, «noch.» «Immer noch? Und was macht er da?» «Putzt» «Schon wieder?» «Nein», sagte Schwesterchen, «noch.» Zurück im OP. Georgie Heß den Mop fallen und beugte sich vornüber wie ein kleines Kind, das sich in die Win‐ deln macht. Er blickte starr nach unten, voll Entsetzen, den Mund weit aufgerissen. Er sagte: «Was mach ich bloß mit diesen Scheißschuhen, Mann?»
«Was du aus den Pillenschränkchen genommen hast», sagte ich, «hast du das etwa alles schon geschluckt?» «Hör mal, wie die quietschen», sagte er und ging be‐ hutsam auf den Hacken im Zimmer herum. «Zeig, was du in den Taschen hast, Mann.» Er blieb einen Moment stehen, und ich fand, was er gebunkert hatte. Ich ließ ihm zwei von jeder Sorte, was immer das Zeug war. «Die Schicht ist fast halb rum», sagte ich. «Gut Denn was ich jetzt dringend, dringend, dringend brauche», sagte er, «ist was zu trinken. Wür‐ dest du mir bitte mal helfen, das Blut hier aufzuwi‐ schen?» Gegen halb vier kam ein Mann mit einem Messer im Auge herein. Georgie führte ihn. «Ich hoffe nur, du warst das nicht», sagte Schwester‐ chen. «Ich?» sagte Georgie. «Ach was. Der sah schon so aus, als er kam.» «Das war meine Frau», sagte der Mann. Die Klinge stak ihm bis zum Heft im äußeren Winkel des linken Auges. Es war ein Jagdmesser oder so etwas. «Wer hat Sie hergebracht?» fragte Schwesterchen. «Niemand. Bin zu Fuß gegangen», sagte der Mann. «Ist bloß ein Katzensprung.» Schwesterchen musterte ihn. «Sie sollten sich besser hinlegen.»
«Gut», sagte der Mann. «Ich glaub auch, das war das beste jetzt, ganz bestimmt sogar.» Sie musterte sein Gesicht noch etwas länger. «Ist Ihr anderes Auge», sagte sie, «aus Glas?» «Plastik», sagte er. «Oder sonst ein Kunststoff.» «Aber mit dem Auge hier können Sie noch sehen?» fragte sie und meinte das verwundete. «Ja, sehen schon. Aber ich kann meine linke Hand nicht mehr zur Faust ballen, weil das Messer irgendwas mit meinem Gehirn gemacht hat.» «Großer Gott», sagte Schwesterchen. «Ich hol wohl besser mal den Doktor», sagte ich. «Genau», sagte Schwesterchen. Sie legten ihn hin, und Georgie sagt zu dem Patien‐ ten: «Name?» «Terrence Weber.» «Ihr Gesicht ist so dunkel. Ich seh nicht, was Sie sa‐ gen.» «Georgie», sagte ich. «Was sagen Sie, Mann? Ich seh’s einfach nicht.» Schwesterchen kam, und Georgie sagte zu ihr: «Sein Gesicht ist so dunkel.» Sie beugte sich über den Patienten. «Wann ist das passiert, Terry?» brüllte sie in sein Gesicht hinunter. «Eben erst. Meine Frau war’s. Ich hab schon geschla‐ fen», sagte der Patient «Sollen wir die Polizei rufen?» Er dachte nach, sagte dann: «Nur wenn ich sterbe.»
Schwesterchen ging zur Gegensprechanlage und rief den diensthabenden Arzt; es war der vom Fami‐ liendienst. «Hier ist ‘ne hübsche Bescherung für Sie», sagte sie in die Gegensprechanlage. Er ließ sich Zeit, bis er unten bei ihr in der Halle war, denn er wußte, Schwesterchen haßte den Fami‐ liendienst, und ihr frohlockender Ton konnte nur be‐ deuten, daß der Fall eine Nummer zu groß für ihn war, eine drohende Demütigung. Er warf einen Blick ins Behandlungszimmer und er‐ faßte die Lage: Da standen die Hilfskraft – das heißt ich – und der Pfleger, Georgie, beide auf Droge, und besahen einen Patienten, aus dessen Gesicht ein Mes‐ ser ragte. «Na, was haben wir denn hier für ein Problemchen?» sagte er. Der Doktor versammelte uns drei in seinem Dienst‐ zimmer und sagte: «So sieht’s aus. Wir brauchen ein Team, ein komplettes Team. Ich will einen guten Au‐ genmann. Einen super Augenmann. Den besten über‐ haupt Ich will einen Gehirnchirurgen. Und ich will einen Narkosemann, einen richtig guten, bringt mir ein Genie. Ich rühr diesen Kopf nicht an. Ich werd hier bloß zugucken. Ich kenne meine Grenzen. Wir werden ihn OP‐fertig machen, und damit basta. Pfleger!» «Meinen Sie mich?» sagte Georgie. «Soll ich ihn OP‐ fertig machen?»
«Ist das hier ein Krankenhaus?» sagte der Doktor. «Ist das hier die Notaufnahme? Ist das da ein Patient? Sind Sie der Pfleger?» Ich rief die Frau in der Telefonzentrale an und sagte ihr, sie solle dem Augenmann und dem Gehirnmann und dem Narkosemann Bescheid geben. Von der anderen Seite des Gangs her konnte man Georgie hören; er wusch sich die Hände und sang ein Lied von Neil Young, das ging: «Hello, cowgirl in the sand. Is this place at your command?» «Der Kerl tickt nicht richtig, wirklich nicht, nicht das kleinste bißchen», sagte der Doktor. «Solange er kapiert, was ich ihm zu tun gebe, ist mir das egal», sagte Schwesterchen trotzig. Sie löffelte ir‐ gendwas aus einem kleinen Pappbecher. «Ich muß an mein eignes Leben denken, daran, wie ich meine Fami‐ lie beschütze.» «Ist ja gut, okay, okay», sagte der Doktor. «Nun rei‐ ßen Sie mir mal nicht gleich den Kopf ab.» Der Augenmann war nicht da, in den Ferien oder sonstwo. Wahrend die Telefonistin sich bemühte, ei‐ nen gleichwertigen Ersatz zu finden, eilten die an‐ deren Spezialisten durch die Nacht herbei. Ich stand herum, guckte mir Diagramme an und schluckte noch mehr von Georgies Tabletten. Manche schmeckten so, wie Urin riecht, andere brannten auf der Zunge, wie‐ der andere schmeckten wie Kreide. Inzwischen waren ein paar Schwestern zu uns gestoßen, außerdem zwei
Ärzte, die gerade jemanden auf der Intensivstation be‐ handelt hatten. Alle hatten ihre eigenen Vorstellungen davon, wie man das Problem angehen und das Messer aus dem Gesicht von Terrence Weber entfernen sollte, ohne sein Gehirn zu verletzen. Doch als Georgie den Pa‐ tienten OP‐fertig gemacht hatte – ihm die Augenbraue rasiert und den Wundbereich desinfiziert hatte und so weiter – und zu uns zurückkam, sah’s so aus, als hielte er das Jagdmesser in der Linken. Das Gespräch verstummte jählings. «Wo», fragte der Doktor nach einiger Zeit, «haben Sie das denn her?» Ziemlich lange sagte niemand etwas. Endlich, nach einer ganzen Weile, sagte eine der Schwestern von der Intensivstation: «Dein Schnürsen‐ kel ist auf.» Georgie legte das Messer auf ein Diagramm und kniete sich hin, um sich den Schuh zuzubinden. Wir hatten noch zwanzig Minuten Schicht. «Wie geht’s dem Typen denn so?» fragte ich. «Wem?» sagte Georgie. Wie sich zeigte, konnte Terrence Weber auf seinem guten Auge weiterhin ausgezeichnet sehen, und auch seine Motorik, seine Reflexe waren trotz der vorhe‐ rigen Beschwerden in einem annehmbaren Zustand. «Körperlich alles in Ordnung», sagte Schwesterchen. «Dem Burschen geht’s gut. Sachen gibt’s.»
Nach einiger Zeit vergißt du, daß es Sommer ist Du weißt nicht mehr, was das ist – der Morgen. Ich hat‐ te zwei Doppelschichten gemacht und die acht frei‐ en Stunden dazwischen schlafend auf einer Trage im Schwesternheim verbracht Dank Georgies Tabletten fühlte ich mich wie ein riesiger, mit Helium gelullter Ballon; doch ich war hellwach. Georgie und ich gingen raus zum Parkplatz, zu seinem orangefarbenen Pick‐ up. Wir legten uns auf eine verstaubte Sperrholzplatte hinten auf der Ladefläche. Tageslicht pochte an unse‐ re Lider, Luzernenduft legte sich dick auf unsere Zun‐ gen. «Ich will in ‘ne Kirche», sagte Georgie. «Laß uns auf den Rummel gehen.» «Ich möchte beten, im Ernst» «Die haben da verletzte Falken und Adler. Vom Ver‐ ein gegen Tierversuche», sagte ich. «Alles, was ich jetzt brauche, ist eine stille Kapelle.» Georgie und ich fuhren durch die Gegend, und es war phantastisch. Eine Zeitlang war der Tag klar und friedvoll. Es war einer jener Momente, die in dir wei‐ terleben, zum Teufel mit allem früheren und künftigen Ärger. Der Himmel ist blau; die Toten kehren zurück. Später, am Nachmittag, entblößt die Kirmes in trüber Resignation ihre Brüste. Ein LSD‐Recke, ein berühm‐ ter Guru der «love generation», läßt sich von einem
Fernsehteam interviewen, gleich links neben den Ge‐ flügelkäfigen. Seine Augäpfel sehen aus, als hätte er sie aus einem Scherzartikelladen. Mir tut er bloß leid, dieser Außerirdische, und so mache ich mir nicht klar, daß ich im Leben schon genauso viele Drogen genom‐ men habe wie er. Und dann verirrten wir uns. Kurvten stundenlang her‐ um, buchstäblich, ohne den Weg zurück zur Stadt zu finden. Georgie begann zu nörgeln. «Das war der mieseste Rummel, auf dem ich je gewesen bin, da konnte man ja gar nichts Tolles machen.» «Doch, konnte man», sagte ich. «Ja? Und wo bitte?» Vor uns schoß ein Hase über die Straße, und wir erwischten ihn. «Also, es gab ein Karussell, ein Riesenrad und au‐ ßerdem ein Ding, das ‹der Hammer) hieß», sagte ich. «Die Leute, die da rauskamen, standen alle vorn‐ übergebeugt da und kotzten. Bist du eigentlich total blind?» «Was war das da eben?» «Ein Hase.» «Irgendwas hat doch grad gerumst.» «Du hast ihn erwischt Der Hase hat gerumst» Georgie trat mit Wucht auf die Bremse. «Hasenbra‐ ten!»
Er legte den Rückwärtsgang ein, setzte in Zickzack‐ linien zurück zu dem Hasen. «Wo ist mein Jagdmes‐ ser?» Beinahe hätte er das arme Tier ein zweites Mal überfahren. «Mensch», sagte er, «wir Übernachten im Freien. Zum Frühstück gibt’s Hasenkeule.» Er fuchtelte ge‐ fährlich mit dem Jagdmesser von Terrence Weber her‐ um. Eine Minute später stand er am Feldrain, schnitt das dürre kleine Ding auf und warf die Innereien weg. «Ich hätte Arzt werden sollen», schrie er. Ein großer Dodge, das erste Auto seit geraumer Zeit, verlangsamte seine Fahrt, und die Familie darin glotzte blöde, als sie an uns vorbeirollte. «Was ist das, eine Schlange?» sagte der Vater. «Nein, das ist keine Schlange», sagte Georgie. «Das ist ein Hase mit Babys im Bäuchlein!» «Babys!» sagte die Mutter, und der Vater beschleu‐ nigte rasch wieder, trotz der Protestrufe mehrerer klei‐ ner Kinder auf der Rückbank. Georgie kam auf meine Wagenseite; vor sich ausge‐ spannt hielt er die Vorderseite seines Hemds, als trü‐ ge er Äpfel darin oder so, tatsächlich aber waren es schleimige kleine Häslein. «Ich eß die nicht», sagte ich. «Kommt nicht in Frage.» «Nimm sie, nimm sie», sagte er. «Ich muß steuern, nun nimm sie schon.» Er ließ sie in meinen Schoß plumpsen und stieg auf den Fahrersitz. Dann fuhr er
los, schneller und schneller, und sein Gesicht strahlte. «Die Mutter haben wir umgebracht, aber die Kinder gerettet», sagte er. «Allmählich wird’s spät», sagte ich. «Laß uns zurück in die Stadt fahren.» «Klar doch.» Neunzig, hundertzehn, hundertdreißig, fast hun‐ dertvierzig. «Die Häslein halten wir besser mal hübsch warm.» Eins nach dem anderen ließ ich die kleinen Dinger zwischen meinen Hemdknöpfen hindurchgleiten und schmiegte sie an meinen Bauch. «Die bewegen sich aber kaum noch», sagte ich zu Georgie. «Wir besorgen Milch und Zucker und so und ziehen sie groß. Die werden stark wie Gorillas!» Die Straße, auf der wir herumirrten, schnitt pfeilge‐ rade durch die Mitte der Welt Noch war der Tag nicht vorüber, aber die Sonne war kraftlos geworden, bloße Dekoration, ein poröser Funkt. Das helle Orange un‐ serer Motorhaube hatte sich in diesem Licht in tiefes Blau verwandelt Georgie zog den Wagen an den Seitenstreifen, sachte, sachte, als war er eingeschlafen oder hätte die Hoffnung aufgegeben, daß wir den Weg noch finden würden. «Was ist?» «Wir können nicht weiter. Ich hab keine Scheinwer‐ fer», sagte er.
Wir hielten unter einem sonderbaren Himmel. Dar‐ auf lag, in mattem Abglanz, die Mondsichel. Gleich neben uns war ein kleiner Wald. Der Tag war trocken und heiß gewesen, Kiefern und sonstweiche Bäume kochten noch immer ruhig vor sich hin, aber als wir nun dasaßen und Zigaretten rauchten, wurde es auf einmal sehr kalt «Der Sommer ist vorbei», sagte ich. Es war das Jahr, in dem arktische Wolken über den Mittleren Westen zogen und wir mitten im September zwei Wochen lang Winter hatten. «Merkst du’s?» sagte Georgie. «Wird Schnee geben.» Er hatte recht: Bleiblau braute sich ein Sturm zu‐ sammen. Wir stiegen aus und stiefelten drauflos wie die Idioten. Die wunderbare Kälte! Die plötzliche Fri‐ sche und wie der Geruch der immergrünen Bäume uns in die Nase stach! Als die Nacht hereinbrach, wirbelten Schneeböen um unsere Köpfe. Ich konnte den Wagen nicht finden. Wir verirrten uns immer mehr. Immer wieder rief ich: «Georgie, siehst du was?», und immer wieder antworte‐ te er: «Was sehen? Was denn?» Das letzte sichtbare Licht war ein Streifen Sonnen‐ untergang, flackernd unter einem Wolkenrand. Diese Richtung schlugen wir ein. Mit weichen Knien stolperten wir einen Hügel hinunter; unten war eine offene Fläche, anscheinend ein Soldatenfriedhof, Reihe um Reihe schmuckloser,
gleichförmiger Grabsteine auf Soldatengräbern. Mir war dieser Friedhof bisher gar nicht aufgefallen. Auf der andern Seite des Feldes, gleich hinter den Schnee‐ vorhängen, war der Himmel aufgerissen, und aus einem strahlend blauen Sommer stiegen die Engel herab, die ungeheuren Gesichter lichtüberströmt und voller Erbarmen. Ihr Anblick schnitt mir ins Herz, lief mir die Wirbelsäule hinab, und wenn meine Gedärme nicht völlig leer gewesen wären, hätte ich mir vor Angst in die Hosen gemacht Georgie breitete die Arme aus und rief: «Mann, das ist ja das Drive‐in!» «Das Drive‐in ...» Ich war mir nicht sicher, was diese Worte bedeuteten. «Die zeigen hier Filme, mitten in einem Scheiß‐ schneesturm!» brüllte Georgie. «Ich seh’s», sagte ich. «Ich hab’s für was anderes ge‐ halten.» Wir stiegen vorsichtig weiter hinab, kletterten durch einen geborstenen Zaun und standen vor der Rückseite des Gebäudes. Die Lautsprecher, die ich für Grabsteine gehalten hatte, grummelten im Gleichtakt Dann erklang glockenklare Musik; fast hätte ich die Melodie erkannt Berühmte Filmstars fuhren auf Fahr‐ rädern an einem Fluß entlang und lachten aus riesi‐ gen, hinreißenden Mündern. Falls irgendwer hier ge‐ wesen war, um sich die Vorführung anzugucken, war er beim Wettereinbruch wieder verschwunden. Kein
Auto war zu sehen, nicht einmal ein kaputtes von letz‐ ter Woche, nicht einmal eins, das kein Benzin mehr hatte und deshalb stehengelassen werden mußte. Mi‐ nuten später wirbelte und tanzte es plötzlich auf der Leinwand, sie wurde schwarz, der cinematographische Sommer war zu Ende, der Schnee verfinsterte sich, und ich konnte nichts mehr erkennen als meinen ei‐ genen Atem. Kurz darauf sagte Georgie: «Allmählich tun’s meine Augen wieder.» Es stimmte: Graue breitete sich aus und gebar alle möglichen Gebilde. «Aber was davon ist nun nah», frag‐ te ich ihn, «und was weit weg?» Wir zogen wieder auf gut Glück los. Marschierten etliche Male hin und her, in durchnäßten Schuhen, fanden endlich unseren Wagen, setzten uns rein und bibberten. «Laß uns abhauen», sagte ich. «Geht doch nicht ohne Scheinwerfer.» «Wir müssen aber zurück. Wir sind weit weg von zu Hause.» «Sind wir nicht» «Wir müssen fast fünfhundert Kilometer gefahren sein.» «Wir sind ganz nah bei der Stadt, Saukopp. Wir sind einfach immer im Kreis gefahren.» «Übernachten können wir hier jedenfalls nicht Man kann ja schon die Interstate hören.»
«Laß uns hierbleiben, bis es richtig Nacht ist. Dann fahren wir nach Hause, und kein Mensch sieht uns.» Wir hörten die riesigen Laster auf der Interstate von San Francisco nach Pennsylvania fahren: wie Schauer, die ein langes Sägeblatt durchlaufen. Unterdessen schneiten wir ein. Schließlich meinte Georgie: «Wir sollten schleunigst Milch für unsere Häschen auftreiben.» «Hier gibt’s keine Milch.» «Wir werden Zucker reinrühren.» «Würdest du bitte sofort mit dieser Milch aufhören?» «Mensch, das sind Säugetiere.» «Vergiß die Häschen.» «Wo stecken sie eigentlich?» «Du hörst mir nicht zu. Ich sagte, vergiß die Häs‐ chen.» «Wo stecken sie?» Die Wahrheit war, ich hatte sie ganz vergessen, und sie waren tot. Mit tränenerstickter Stimme sagte ich: «Sie sind um mich rumgeglitscht. Jetzt sind sie zerquetscht.» «Sie sind um dich rumgeglitscht?» Er schaute zu, wie ich sie hinter meinem Rücken hervorzog. Eins nach dem anderen holte ich sie heraus, hielt sie in den Händen und betrachtete sie zusammen mit Géorgie. Es waren acht Sie waren nicht größer als meine Finger, aber alles war dran. Kleine Füße! Augen‐ lider! Sogar Barthärchen!
«Für immer dahin», sagte ich. Georgie sagte: «Wird eigentlich alles, was du anfaßt, zu Scheiße? Mußt du immer alles versauen?» «Kein Wunder, daß sie mich Saukopp nennen.» «Der Name wird dir bleiben.» «Ich weiß.» «‹Saukopp› wird dich begleiten, bis du ins Grab sinkst.» «Hab ich doch grad gesagt. Ich hab dir ja schon im voraus zugestimmt», sagte ich. Aber vielleicht geschah all das gar nicht an dem Tag, an dem es schneite. Vielleicht geschah es an dem Tag, an dem wir im Wagen schliefen und ich mich auf die Häschen rollte und sie platt drückte. Es liegt nicht viel dran. Wichtig ist für mich nur noch diese Erinnerung: daß früh am Morgen der Schnee von der Windschutz‐ scheibe geschmolzen war und Tageslicht mich weckte. Alles hatte sich in Dunst gehüllt und zeigte sich nun im Sonnenschein in scharfumrissenen, merkwürdigen Formen. Die Häschen waren noch kein Problem, oder sie waren schon ein Problem gewesen und längst ver‐ gessen, und ich dachte an nichts. Ich spürte die Schön‐ heit des Morgens. Ich begriff, daß ein Ertrinkender plötzlich das Gefühl haben mag, ein tiefer Durst werde ihm gestillt. Oder daß ein Geknechteter der Freund seines Herrn werden kann. Georgie schlief mit dem Gesicht auf dem Lenkrad. Drüben beim Drive‐in sah ich Schnee in winzigen
Ballungen auf den Ständern der Lautsprecher. Er glich Blüten, einer Überfülle davon, oder nein: er brachte bloß die Blüten zum Vorschein, die immer da sind. Ein Elchbulle stand mit einer Miene von Erhabenheit und Beschränktheit auf der Weide hinter dem Zaun. Und ein Kojote lief durchs Gras und verschwand unter den jungen Bäumen. Nachmittags waren wir pünktlich wieder im Kranken‐ haus und machten unsere Arbeit, als hätten wir sie nie unterbrochen und wären nie weg gewesen. «Der Herr», sprach die Gegensprechanlage, «ist mein Hirte.» Das tat sie jeden Abend, es war ein kathohsches Krankenhaus. «Vater unser, der du bist im Himmel» und so weiter. «Jaja», sagte Schwesterchen. Der Mann mit dem Messer im Kopf, Terrence We‐ ber, wurde um die Mittagszeit entlassen. Man hatte ihn über Nacht dabehalten und ihm eine Augenklappe ge‐ geben, alles ohne wirklichen Grund. Er kam noch einmal in der Notaufnahme vorbei, um sich zu verabschieden. «Also», sagte er, «von den Tablet‐ ten, die ich gekriegt hab, schmeckt alles fürchterlich.» «Hätte schlimmer kommen können», sagte Schwe‐ sterchen. «Sogar meine eigne Zunge.» «Es ist ein Wunder, daß Sie nicht blind sind oder überhaupt gleich mal mausetot», sagte sie belehrend.
Der Patient erkannte mich wieder. Er lächelte mir zu. «Die Frau von nebenan», sagte er, «hat ein Sonnen‐ bad genommen, und ich hab sie heimlich beobachtet Da beschloß meine Frau, mir das Augenlicht zu neh‐ men.» Er schüttelte Georgie die Hand. Georgie erkannte ihn nicht. «Wer sind Sie denn nun wieder?» fragte er Terrence Weber. Ein paar Stunden zuvor hatte Georgie etwas gesagt, das schlagartig den ganzen Unterschied zwischen uns deutlich gemacht hatte. Wir waren über den Alten Highway zurück in die Stadt gefahren, durch plattes Land, und hatten einen Tramper mitgenommen, einen Jungen, den ich kannte. Wir hielten, und der Junge krabbelte umständlich aus den Feldern heraus wie aus dem Schlund eines Vulkans. Sein Name war Hardee. Er sah noch übler aus als wir, vermute ich mal. «Wir sind abgestürzt und haben im Wagen über‐ nachtet», sagte ich zu Hardee. «Hab ich mir gleich gedacht», sagte Hardee. «Entwe‐ der abgestürzt oder, na du weißt schon, 1000 Kilome‐ ter auf einmal runtergerissen.» «Das auch noch», sagte ich. «Oder krank oder total versifft oder was weiß ich.» «Wer is’n das?» fragte Georgie. «Das ist Hardee. Letzten Sommer haben wir zusam‐ mengewohnt Eines Tages hab ich ihn vor der Tür ge‐
funden. Was ist denn aus deinem Hund geworden?» fragte ich Hardee. «Ist noch da unten.» «Richtig, du bist nach Texas gegangen, hab ich ge‐ hört.» «Ich hab auf’ner Bienenfarm gearbeitet», sagte Har‐ dee. «Wow. Haben die Dinger dich gestochen?» «Nicht so, wie man denken würde», sagte Hardee. «Du gehörst ja zu ihrem Tagesablauf, und irgendwie geht alles harmonisch zusammen.» Vor unseren Gesichtern rollte wieder und wieder dasselbe Stück Land vorbei, ununterscheidbar. Der Tag war wolkenlos, das Licht blendete. Aber Georgie sagte: «Seht mal» und zeigte auf einen Punkt direkt vor uns. Ein Stern glühte so stark, daß er, licht und blau, am leeren Himmel erschien. «Ich hab dich gleich wiedererkannt», sagte ich zu Hardee. «Aber was ist mit deinen Haaren? Wer hat die so kurz geschnitten?» «Erinner mich bloß nicht dran.» «Dann sag’s mir lieber nicht» «Sie haben mich einberufen.» «Ach nein.» «Ach doch. Unerlaubte Entfernung von der Truppe. Ich bin fahnenflüchtig. Ganz übel. Deshalb bin ich ja hier. Ich muß nach Kanada.» «Ist ja fürchterlich», sagte ich zu Hardee.
«Keine Bange», sagte Georgie. «Wir bringen dich hin.» «Wie das?» «Irgendwie. Ich glaub, ich kenn da ein paar Leute. Keine Bange. Wir kriegen dich schon nach Kanada.» Was für eine Welt! Heute ist nichts mehr davon üb‐ rig; alles wegradiert, zusammengerollt wie ein Stück Papier und beiseite gelegt Trotzdem, mit den Finger‐ spitzen kann ich sie noch berühren. Nur, wo ist sie? Etwas später fragte Hardee Georgie: «Was machst du eigentlich so?», und Georgie sagte: «Ich rette Leben.»
SCHMUTZIGE HOCHZEIT
Ich saß gern vorn und fuhr den ganzen Tag herum, vor allem in den schnellen; ich mochte es, wenn sie nörd‐ lich des Loop haarscharf an den Häusern vorbeifegten, und ich mochte es besonders, wenn die Gebäude ein Stück weiter nördlich plötzlich jenem wie ausgebomb‐ ten Elend wichen (durchs Fenster sah man, wie jemand sich in einer kahlen, schmutzigen Küche Suppe ins Ge‐ sicht löffelte, oder man sah zwölf Kinder bäuchlings auf dem Boden vor einem Fernseher, und einen Mo‐ ment später waren sie dann schon wieder verschwun‐ den, weggewischt von einem großen Kinoplakat, auf dem eine Frau einem zuzwinkerte, während sie sich mit der Zunge neckisch über die Oberlippe fuhr, und dann wieder wurde diese Frau ausgelöscht von ei‐ nem – ruuuuiums, von irgendwo rauschten Lärm und Düsternis herab – Tunnel), in dem tatsächlich noch Menschen lebten. Ich war fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, so unge‐ fähr. Ich hatte vom Rauchen ganz gelbe Fingerspitzen. Ich hatte eine schwangere Freundin. Line Fahrt mit der Bahn kostete fünfzig Cent, neun‐ zig Cent, einen Dollar. Keine Ahnung mehr.
Vor der Abtreibungsklinik standen Demonstranten Spalier, besprengten uns mit Weihwasser und wickel‐ ten sich ihre Rosenkränze um die Finger. Ein Mann mit dunkler Sonnenbrille folgte Michelle wie ein Schatten die riesigen Stufen hinauf bis zur Tür und singsang‐ te ihr leise ins Ohr; vermutlich betete er. Mit was für Worten? Das würde ich gern von ihr wissen. Aber es ist Winter, die Berge ringsum sind hoch und schnee‐ bedeckt, und jetzt würde ich Michelle ohnehin nicht mehr finden. Im zweiten Stock gab Michelle der Schwester ihre Terminbestätigung. Zusammen gingen sie durch einen Vorhang. Ich schlenderte zum andern Ende des Gangs, wo ein kurzer Film über Sterilisierungen gezeigt wurde. Später sagte ich ihr, ich hätte mich längst sterilisieren lassen; sie müsse wohl von jemand anders schwanger geworden sein. Dann wieder erzählte ich ihr, ich hätte Kjrebs, inoperabel, und bald sei’s aus und vorbei mit mir. Doch mit nichts von dem, was ich mir ausdach‐ te, wie drastisch oder grauenvoll es auch sein mochte, habe ich ihr je ins Gewissen reden können, und ich hab's auch nicht geschafft, daß sie mich wieder hebte wie am Anfang, als sie mich noch nicht so gut kannte. Egal – es wurde also dieser Film gezeigt, und wir zwei, drei, vier Leutchen, die wir auf Frauen auf der anderen Seite des Flurs warteten, schauten ihn uns an. Für mich lag alles wie hinter Nebel, weil ich mit
Schrecken daran dachte, was sie gerade mit Michelle und den anderen Frauen und natürlich auch mit den kleinen Föten taten. Nach dem Film sprach ich mit ei‐ nem Mann über eine Sterilisierung. Einem Mann mit Schnurrbart Ich fand ihn unsympathisch. «Sie müssen sich ganz sicher sein», sagte er. «Ich werd nie wieder jemanden schwängern, soviel steht fest» «Möchten Sie einen Termin?» «Möchten Sie mir das Geld dafür geben?» «Das Geld haben Sie schnell zusammen.» «Das Geld hätte ich in Ewigkeiten nicht zusammen», verbesserte ich ihn. Anschließend setzte ich mich in den Wartebereich auf der anderen Seite des Korridors. Nach einer Dreivier‐ telstunde kam die Schwester heraus und sagte: «Mi‐ chelle geht es jetzt besser.» «Ist sie tot?» «Natürlich nicht» «Ein bißchen wünschte ich, sie wär’s.» Sie sah mich entgeistert an. «Ich weiß nicht, wovon Sie reden.» Ich ging durch den Vorhang zu Michelle hinein. Sie roch schlecht «Wie fühlst du dich?» «Ganz gut» «Was haben die da aus dir rausgeklaubt?»
«Was?» sagte sie. «Was?» «He», sagte die Schwester. «Raus hier. Raus hier.» Sie ging durch den Vorhang und kam mit einem stämmigen Schwarzen zurück, der ein gestärktes wei‐ ßes Hemd und ein goldfarbenes Abzeichen aus Blech trug. «Ich hab nicht den Eindruck, daß der Herr hier im Gebäude benötigt wird», sagte sie zu ihm, und zu mir sagte sie: «Würden Sie also bitte draußen warten, Sir?» «Ja, ja, ja», sagte ich, und auch den ganzen Weg zu‐ rück über die hohen Stufen und hinaus vor die Ein‐ gangstür sagte ich: «Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja.» Draußen regnete es. Fast alle Katholiken hatten sich unter die Markise des Nachbarhauses gedrängt und hielten sich ihre Schilder als Regenschutz über die Köpfe. Sie spritzten mir Weihwasser auf die Wange und in den Nacken, aber ich fühlte nichts. Viele Jahre nicht. Da ich nicht wußte, was ich sonst hätte tun sollen, fuhr ich mit der Hochbahn herum. Ich betrat einen der Wagen, als sich die Türen gerade schlossen; es war, als hätte der Zug nur auf mich ge‐ wartet Und was, wenn es nur noch Schnee gäbe? Überall Schnee, kalt, weiß, alle Entfernungen zuschüttend? Und ich folge nur meinem Gespür, ziehe durch diesen Winter, bis ich zu einem Hain voll weißer Bäume ge‐ lange. Und sie läßt mich ein.
Die Räder kreischten auf, und auf einmal sah ich bloß noch die klobigen, häßlichen Schuhe all der Leu‐ te, sonst nichts. Das Geräusch riß ab. Wir fuhren an einsamen, herzzerreißenden Szenen vorbei. Und im Durchfahren der Stadtviertel, im Vorüber‐ ziehen der Bahnhöfe spürte ich das ausgelöschte Le‐ ben; es träumte mir nach. Ja: ein Geist Eine Spur. Et‐ was Bleibendes. Bei einem Halt gab es ein Problem mit den Türen. Wir bekamen Verspätung (das heißt die von uns, die ein Ziel hatten). Der Zug wartete und wartete mit beun‐ ruhigender Ruhe. Dann summte er leise. Daran merkt man, gleich geht’s wieder los. Ein Mann trat ein, als sich die Türen gerade schlös‐ sen. Die ganze Zeit hatte der Zug nur auf ihn gewartet; keine Sekunde, ja nicht einmal eine halbe Sekunde nach seinem Eintreffen sprengte er den geheimnis‐ vollen Kristall seiner Trägheit. Der Mann war da, jetzt fuhren wir. Er nahm vorn im Wagen Platz. Hatte nicht den blassesten Schimmer, wie wichtig er war. Auf was für ein Schicksal – erbärmlich, glückhch – würde er jenseits des Flusses treffen? Ich beschloß, ihm zu folgen. Nach ein paar Stationen stieg er aus und ging in ein Viertel mit niedrigen, eintönigen Brownstone‐Häu‐ sern. Er bewegte sich mit federnden Schritten, seine Schul‐
tern spannten sich, sein Kinn schob sich rhythmisch vor. Er sah nicht nach links oder rechts. Bestimmt war er die Strecke schon zwölftausendmal gegangen. Daß ich ihm in einigem Abstand folgte, ahnte und spürte er nicht Es war ein polnisches Viertel irgendwo in der Stadt Und in den polnischen Vierteln gibt’s immer diesen Schnee. Es gibt dieses Obst mit Licht drauf, es gibt Mu‐ sik, die man sonst nirgends findet. Wir landeten in ei‐ nem Waschsalon, wo der Mann sein Hemd auszog und in eine Waschmaschine steckte. Er kaufte sich einen Pappbecher Kaffee aus einem Automaten. Dann las er die Zettel an der Wand, schaute zu, wie seine Maschine hin und her ruckelte, und schlenderte herum, wobei er nur seine Sportjacke aus Haifischle‐ der trug. Seine Brust war schmal und weiß, und um die kleinen Brustwarzen sprossen Haare. Es waren noch ein paar andere Männer im Waschsa‐ lon. Er quatschte ein bißchen mit ihnen. Ich hörte, wie einer sagte: «Die Bullen wollten mit Benny reden.» «Wieso das? Was hat er getan?» «Er hatte ‘ne Kapuze auf. Die haben ‘nen Typen mit Kapuze gesucht» «Und der, was hat der getan?» «Nichts. Gar nichts. Irgendwer ist letzte Nacht er‐ mordet worden.» Und nun trat der Mann, dem ich gefolgt war, auf mich zu. «Du warst doch im Zug», sagte er. Er hob sei‐
nen Becher, schleuderte sich ein Schlückchen Kaffee zwischen die Lippen. Ich drehte mich weg, denn es schnürte mir die Kehle zu. Auf einmal hatte ich eine Erektion. Ich wußte zwar, daß es Männern mit Männern so gehen kann, aber nicht, daß es auch mir so ging. Seine Brust war wie die von Christus. Der war er wahrscheinlich auch. Ich hätte ich‐weiß‐nicht‐wem aus diesem Zug folgen können. Es war mir genauso ergangen. Ich lief zurück, fuhr wieder über den Straßen dahin. Natürlich hätte ich ohne weiteres dorthin gehen können, wo Michelle und ich wohnten, aber wir wa‐ ren damals bis aufs Rebel Motel heruntergekommen. Im Rebel Motel rotzten die Zimmermädchen in die Duschkabinen, und es roch nach Insektenmitteln. Da wollte ich nicht hin, bloß um in unserem Zimmer zu sitzen und zu warten. Die Sache mit Michelle und mir war ein Drama. Manchmal war das sehr öde, aber ich glaubte nun mal, nicht auf sie verzichten zu können: damit wenigstens ein Mensch in diesen Motels meinen wahren Namen kannte. Nach hinten raus standen lauter Müllcontainer, voll‐ gestopft mit Gott weiß was. Wir sind nie in der Lage, uns unser Schicksal vorzustellen, soviel ist sicher. Nehmt an, ihr triebt zusammengerollt in etwas Dunklem. Selbst wenn ihr denken könntet, selbst wenn
ihr Vorstellungskraft besaßt, wie wolltet ihr euch je das Gegenteil vorstellen, die Wunderwelt, die von den asiatischen Taoisten «Die zehntausend Dinge» genannt wird? Und wenn das Dunkel noch dunkler würde? Und ihr also tot wärt? War es euch nicht egal? Wie wolltet ihr überhaupt den Unterschied erkennen? Ich saß ganz vorn. Gleich neben mir war die kleine Kabine mit dem Fahrer. Man spürte, wie er sich da drinnen materialisierte und entmaterialisierte. Daß er blind war, spielte in der Dunkelheit unter dem Univer‐ sum keine Rolle; er erschloß sich die Zukunft mit sei‐ nem Gesicht. Und dann, übergangslos, wurde es still im Zug, als wäre ihm plötzlich die Puste ausgegangen, und wir kamen zurück in den Abend. Schräg gegenüber von mir saß ein liebes kleines schwarzes Ding, sechzehn vielleicht, voll auf Heroin. Sie konnte nicht mal den Kopf oben halten. Sie konnte nir‐ gendwo als in ihren Träumen leben. Sie wußte: Scheiße, genausogut hätten wir Hundetränen schlürfen können. Nichts zählte, außer daß wir am Leben waren. «Ich hab noch nie schwarzen Honig gekostet», sagte ich zu ihr. Sie kratzte sich an der Nase und schloß die Augen, und ihr Gesicht tauchte hinab ins Paradies. «He du», sagte ich. «Schwarz. Ich bin nicht schwarz», sagte sie. «Ich bin gelb. Sag nicht, ich war schwarz.»
«Wie gern hätte ich ein bißchen was von dem, was du hast», sagte ich. «Alles längst weg, Mann. Weg, weg, weg.» Sie lachte wie Gott Ich konnte es ihr nicht verübeln. «Gibt’s ‘ne Chance, noch was zu bekommen?» «Wieviel willst du denn? Hast du ‘nen Zehner?» «Könnte sein. Sicher, ja.» «Dann nehm ich dich mit», sagte sie. «Ich nehm dich mit ins Savoy.» Zwei Stationen später stieg ich mit ihr aus und folgte ihr runter auf die Straßen. Einige Leute standen um Mülltonnen herum; Flammen schlugen da raus; dazu Gemurmel und Gesinge. Die Straßenlam‐ pen und Ampeln waren mit Maschendraht umhüllt Ich weiß, manche Leute glauben, daß man, wohin man auch blickt, immer nur sich selber sieht Bei Er‐ lebnissen wie diesen frage ich mich, ob sie nicht recht haben. Das Savoy war ein finsterer Ort Was es an Wirk‐ lichkeit besaß, verlor sich mehr und mehr, je höher es über der First Avenue aufragte, weshalb die oberen Stockwerke im Raum zerstoben. Monstren schleppten sich die Treppen hoch. Der Tresen der Kellerbar lief über drei Seiten eines Rechtecks, groß wie ein olympi‐ sches Schwimmbecken, und über der Tanzfläche hing erstarrt ein schwerer goldner Vorhang. Alle wußten, was sie zu tun hatten. Die Leute zahlten mit Scheinen, die sie selber fabrizierten, indem sie von einem Zwan‐ ziger die Ecke abrissen und auf einen Einer klebten.
Ein Mann mit hohem schwarzem Hut, dichtem blon‐ dem Haar und einem modischen blonden Bart sah aus, als wäre er gern dort; woher wußte er, was er zu tun hatte? Die schönen Frauen in meinen Augenwinkeln verschwanden, sobald ich ihnen ins Gesicht sah. Drau‐ ßen herrschte Winter Nacht am Nachmittag. Böse, böse Happy Hour. Ich kannte die Spielregeln nicht Ich wußte nicht, was ich zu tun hatte. Als ich das letzte Mal im Savoy war, war es das in Omaha gewesen. Seitdem hatte ich einen Bogen dar‐ um gemacht, über ein Jahr lang; trotzdem ging es mir immer schlechter. Wenn ich hustete, sah ich Glüh‐ würmchen. Alles da unten war rot, nur der Vorhang nicht Alles wirkte wie ein Film über etwas, das wirklich geschah. Schwarze Luden in Fehmänteln. Und die Frauen wa‐ ren leere, glitzernde Flächen, in denen Photographien von traurigen Mädchen trieben. «Gib mir einfach das Geld», sagte jemand zu mir, «dann geh ich schon nach oben.» Michelle verließ mich endgültig wegen eines Manns namens John Smith, oder soll ich sagen: Als wir uns wieder mal getrennt hatten, fing sie was mit einem Mann an, hatte bald darauf ziemliches Pech und starb? Wie auch immer, sie ist nie zu mir zurückgekommen. Ich kannte ihn, diesen John Smith. Einmal, auf einer Party, wollte er mir eine Waffe verkaufen, und später
sorgte er auf derselben Party dafür, daß alle minuten‐ lang still waren, weil ich ein Lied im Radio mitsang und ihm meine Stimme gefiel. Michelle ging mit ihm nach Kansas City, und eines Nachts, als er nicht zu Hause war, nahm sie einen Haufen Tabletten und legte ihm ei‐ nen Zettel aufs Kopfkissen, direkt neben sich, wo er ihn nicht übersehen konnte: denn er sollte sie retten. Aber als er nachts nach Hause kam, war er so betrunken, daß er sich einfach mit dem Gesicht auf den Schrieb legte und einschlief, und als er am nächsten Morgen aufwachte, war meine schöne Michelle kalt und tot Sie war eine Frau, eine Verräterin und eine Mörde‐ rin. Männer wie Frauen begehrten sie. Aber nur ich hätte sie lieben können. Noch Wochen nachdem sie gestorben war, erzählte John Smith jedem im Vertrauen, daß Michelle ihn von der anderen Seite des Lebens aus rief. Sie umwarb ihn. Sie schaffte es, ihm wirklicher zu erscheinen als sämt‐ liche Menschen, die er um sich herum sah, Menschen, die noch atmeten, Menschen, von denen man anneh‐ men mußte, daß sie am Leben waren. Als ich kurz dar‐ auf hörte, daß John Smith gestorben war, war ich nicht überrascht. An meinem vierundzwanzigsten Geburtstag zankten wir uns wieder einmal, und sie verließ die Küche, kam mit einer Pistole zurück und feuerte von der andern Tischseite fünf Schüsse auf mich ab. Aber sie schoß
daneben. Sie war nicht auf mein Leben aus, sie wollte mehr. Sie wollte mein Herz verzehren und sich mit dem, was sie getan hatte, in die Wüste flüchten; sie wollte auf die Knie niedergehen und aus ihrer Untat gebären; sie wollte mich verletzen, wie nur eine Mutter ihr Kind verletzen kann. Ich weiß, man streitet darüber, ob das Ganze richtig sei oder nicht, ob das Baby an diesem oder jenem Punkt seines Wachstums im Mutterleib schon am Leben sei oder nicht. Aber darum ging es nicht Es ging nicht um das, was die Anwälte taten. Es ging nicht um das, was die Ärzte taten, es ging nicht um das, was die Frau tat. Es ging um das, was die Mutter und der Vater taten, beide zusammen.
DER ANDERE MANN
Aber ich hab euch nie die Geschichte von den beiden Männern zu Ende erzählt Ja, ich hab noch nicht mal begonnen, euch den zweiten Mann zu beschreiben, den ich sozusagen mitten im Puget‐Sund kennenlern‐ te, als ich auf dem Weg von Bremerton, Washington, nach Seattle war. Im Grunde war dieser Mann einfach ein Schiffsrei‐ sender wie so viele; er lehnte an der Reling wie die an‐ dern auch und ließ die Hände, wie Köder, drüber weg‐ baumeln. Für den nördlichen Teil der Westküste war es ein ungewohnt sonniger Tag. Und ich bin sicher, wir alle fühlten uns gesegnet auf der Fähre dort, zwischen den Buckeln leuchtendgrüner (im Sonnenschein fast phosphorhaft kühl brennender) Inseln und beim Blick auf das Wasser kleinerer Buchten, das im wahren Licht des Tages blinkte, unter einem Himmel, so blau und hirnlos wie die Liebe Gottes, und trotz des Geruchs, des kaum merklichen, traumgleichen Erstickens, das von irgendeiner Petroleumverbindung zur Versiege‐ lung der Deckfugen kam. Der Mann trug eine Hornbrille und hatte ein scheu‐ es Lächeln, womit gemeinhin, glaub ich, das Lächeln von jemandem gemeint ist, der dabei zur Seite schaut.
Und daß er beim Lächeln zur Seite schaute, lag an seiner Fremdheit, an dem geringen Anklang, den er bei andern fand, an seinem Versagertum. «Wie wär’s mit paar Bierchen?» «Gut», sagte ich. Er brachte mir ein Bier und erklärte, er sei aus Po‐ len und zur Zeit bei uns auf Geschäftsreise. Ich blieb und redete über das Nahehegende. «Es ist ein schö‐ ner Tag» – womit wir meinten, daß das Wetter gut war. Aber nie würden wir sagen: «Es ist gutes Wetter», «an‐ genehmes Wetter». Immer bloß: «Es ist ein schöner Tag», «Was für ein schöner Tag!» Er war ein trauriger Fall. Seine Jacke war federleicht und gelb. Gut möglich, daß er sie zum ersten Mal trug; es war die Art Jacke, die sich ein Fremder in einem Laden kaufen würde, wenn er sich sagt: «Jetzt kaufe ich mir eine amerikanische Jacke.» – «Hast du», fragte er mich, «eigentlich Familie? Einen Vater, Mutter, Bruder, Schwester?» «Ich hab einen Bruder, einen einzigen, und meine Eltern leben beide noch.» Er reiste in einem Mietwagen und hatte ein Spesen‐ konto: ein weitgereister junger Mann ohne Sorgen. Eine gewisse Begierde entspann sich zwischen uns. Ich wollte teilhaben an dem, was ihm widerfuhr; das kam ganz achdos und instinktiv. Ich wollte nichts Bestimm‐ tes von dem, was er hatte. Ich wollte alles. Wir gingen nach unten und setzten uns in sein neu
riechendes Mietauto. Wir warteten, bis das Schiff an‐ gedockt hatte, fuhren die Rampe hinunter und noch ein winziges Stück bis zu einem am Wasser gelegenen Restaurant mit Ausschank. Es war ein lautes Lokal, sonnengesprenkelt und von den tiefen Klängen dick‐ bauchiger Biergläser erfüllt Ich habe ihn nicht gefragt, ob er eine Frau, eine Fami‐ lie hatte. Und er fragte mich auch nicht weiter. «Fährst du Motorrad? Ich schon», sagte er. «Ich fahr so eine kleine, na, wie heißt noch, ach ja: Roller – so heißt. Die großen Hell’s Angel, die haben Motorräder, aber ich fahr kleine Roller, also bitte! In Warschau, meiner Stadt, fahren wir nach zwölf Uhr nachts immer noch durch den Park, obwohl die Bestimmungen sagen: Nein, ihr dürft um diese Zeit nicht mehr in den Park! Zwölf Uhr, Nachtmitte – ach was: Mitternacht, genau, ganz genau, das ist gegen die Bestimmung, das ist gegen das Ge‐ setz. Und das Gesetz lautet: Der Park ist geschließt. Geschlossen, schon klar, danke, so lautet das Gesetz, und man kommt einen Monat in Gefängnis, wenn man geht trotzdem rein. Oh, wir haben unsern viele Spaß! Ich schnalle meinen Helm um, und wenn die Polizisten dann schnappen, machen sie zwar mumm! krack! mit ihren Stöcken. Aber weh tun tut das nicht. Außerdem entwischen wir ihnen jedesmal, weil sie zu Fuß sind, die Polizisten, die haben für den Park nicht mal ein Fahrge‐ legenheit Also bleiben wir jedesmal Sieger! Und jedes‐ mal ist es stockduster dort nach Nachtmitte!»
Er entschuldigte sich und stand auf, um zur Toilette zu gehen und noch einen Krug Bier zu bestellen. Bisher hatten wir unsere Namen nicht erwähnt, und wahrscheinlich würden wir’s auch nicht mehr tun. Das hab ich in Bars immer wieder erlebt. Dann kam er mit einem Krug Bier zurück, schenkte mir ein und setzte sich. «Ach, hol’s der Geier», sagte er, «ich bin gar kein Pole. Ich bin aus Cleveland.» Ich war schockiert, einfach sprachlos. Ohne Quatsch. Keine Sekunde hatte ich an so was gedacht. «Na», sagte ich, «dann erzähl doch mal was von Cleveland.» «Einmal», sagte er, «hat der Cuyahoga Feuer gefan‐ gen. Er brannte mitten in der Nacht. Das Feuer trieb mit der Strömung flußabwärts. Es war interessant, das zu beobachten, weil man eigentlich erwartet hätte, daß das Feuer auf einem Punkt bleiben und das Wasser unten durchfließen würde. Irgendwelche Schadstoffe hatten Feuer gefangen, leicht entzündliche Chemika‐ lien und Abfalle aus den Fabriken.» «Von dem Zeug, das du mir vorher erzählt hast, war davon irgendwas wahr?» «Der Park ist wahr», sagte er. «Das Bier ist wahr», sagte ich. «Und die Polizisten und der Helm. Ich hab auch wirklich ‘nen Roller», sagte er, und nach dieser Erklä‐ rung schien ihm wohler zu sein. Immer wenn ich anderen von diesem Mann erzählt habe, bin ich gefragt worden: «Hat der sich etwa an
dich ranmachen wollen?» Ja, hat er. Aber warum ist es für jeden offensichtlich, daß unsere Begegnung nur darauf hinauslaufen konnte, wo es doch für mich, der ich ihn getroffen und mit ihm geredet habe, keines‐ wegs offensichtlich war? Später, als er mich vor dem Haus abgesetzt hatte, in dem meine Freunde wohnten, blieb er kurz stehen, schaute zu, wie ich über die Straße ging, und fuhr dann schnell weg. Ich legte die Hände wie ein Megaphon um den Mund und rief: «Maury! Carol!» Jedesmal wenn ich nach Seattle kam, mußte ich draußen auf dem Bürger‐ steig stehen und zu dem Fenster im dritten Stock hin‐ aufbrüllen, weil die Haustür abgeschlossen war. «Hauen Sie ab! Verschwinden Sie!» rief eine Frauen‐ stimme aus einem Fenster im Erdgeschoß, dem Fen‐ ster der Hausmeisterwohnung. «Aber hier wohnen Freunde von mir», sagte ich. «Sie können nicht einfach so auf der Straße rum‐ brüllen», sagte sie. Sie trat ans Fenster. Sie hatte ein feingemeißeltes Gesicht und nässende Augäpfel; an ihrem Hals traten die Sehnen hervor. Auf ihren Lippen schienen Sätze von religiösem Fanatismus zu beben. «Entschuldigen Sie», sagte ich, «aber ist das womög‐ lich ein deutscher Akzent, den ich bei Ihnen höre?» «Kommen Sie mir bloß nicht so», sagte sie. «Ach, nichts als Lügen. Ihr seid ja alle so scheißfreundlich.»
«Ich will bloß hoffen, es ist kein polnischer.» Ich trat zurück auf die Straße und schrie: «Maury!» Dann pfiff ich laut «Jetzt ist aber gut! Schluß jetzt!» «Aber die wohnen nun mal da oben!» «Dann hol ich die Polizei. Wollen Sie vielleicht, daß ich die Polizei hole?» «Herr im Himmel», sagte ich, «alte Hexe.» «Nicht zu fassen», rief sie mir hinterher, «da läuft er ja schon, der ach so freundliche Einbrecher!» In Gedanken stopfte ich sie in einen tosenden Feuerschlund. Sie schrie ... ihr Gesicht fing Feuer, es brannte. Der Himmel zeigte ein wundes Blaurot mit Ein‐ schüssen von Schwarz, ungefähr wie die Farben einer Tätowierung. Der Sonnenuntergang hatte noch zwei Minuten zu leben. Die Straße, auf der ich stand, wand sich einen Hü‐ gel hinab zur First und Second Avenue, dem tiefsten Punkt der Stadt. Meine Füße trugen mich bergab. Ich tanzte auf meiner Verzweiflung. Vor einem Lokal namens Kelly’s, einer Kneipe, mehr war’s nicht, über‐ kam mich ein Zittern. Drinnen schwamm alles in käsi‐ gem Licht. Ich schaute hinein und dachte: Wenn ich da reingehen und mit den alten Männern trinken müßte ... Gleich gegenüber war ein Krankenhaus. Es gab vier oder fünf in der Gegend, alle im Umkreis weniger Stra‐
ßenzüge. Bei dem hier standen zwei Männer in Schlaf‐ anzügen an einem Fenster im zweiten Stock und sahen hinaus. Einer der beiden sagte gerade etwas. Fast hätte ich ihre Schritte bis zu den Zimmern zurückverfol‐ gen können, von denen sie heute nacht (nachdem die Krankheit alles, was sie einmal gewesen waren, zerstört hatte) aufgebrochen waren. Zwei Leute, zwei Krankenhauspatienten, die es nach dem Abendessen nicht im Bett hält, finden einander bei ihren Wanderungen durch die Korridore, stehen eine Weile in einem kleinen, nach Kippen stinkenden Wartezimmer und blicken auf den Parkplatz hinab. Beide, der eine Mann wie der andere, haben ihre Ge‐ sundheit eingebüßt. Dir Alleinsein ist von Angst erfüllt Und dann finden sie einander. Aber glaubt ihr, einer würde je zum Grab des an‐ dern gehen? Ich schob mich durch die Tür zu Kelly’s hinein. Drin‐ nen saßen sie und hielten ihr Bier in den fetten Pran‐ ken. Die Jukebox sang leise vor sich hin. Man hätte meinen können, die Leute hier wüßten, wie man – ein‐ fach indem man so dahockt und den Kopf ein bißchen schräg hält – in verlorene Welten blickt. Auch eine Frau war in der Bar. Sie war betrunkener als ich. Wir tanzten, und sie erzählte mir, sie habe eine Stelle bei der Armee. «Meine Freunde lassen mich nicht in die Wohnung», sagte ich.
«Darüber mach dir mal keine Gedanken», sagte sie und küßte mich auf die Wange. Ich umarmte sie. Sie war klein, genau die richtige Größe für mich. Ich zog sie an mich. Einer von den Männern um uns herum räusper‐ te sich. Der Rhythmus des Basses wanderte über die Bodendielen, aber ich bezweifle, daß die Männer ihn spürten. «Laß mich dich küssen», bat ich sie. Ihre Lippen schmeckten billig. Ich sagte: «Laß mich mit zu dir.» Sie küßte mich innig. Sie hatte sich die Augen schwarz angemalt, und ich hebte ihre Augen. «Mein Mann ist da», sagte sie. «Zu mir können wir nicht» «Vielleicht kriegen wir ein Motelzimmer.» «Kommt drauf an, wieviel Geld du hast.» «Wird nicht reichen», sagte ich. «Garantiert nicht» «Dann muß ich dich wohl doch mit nach Hause neh‐ men.» Sie küßte mich. «Und was ist mit deinem Mann?» Wir tanzten, und sie küßte mich einfach weiter, und den Männern blieb nichts auf der Welt, als zuzugucken oder in ihre Drinks zu starren. Welcher Song gespielt wurde, weiß ich nicht mehr; allerdings gab es damals in Seattle ein trauriges Jukebox‐Lied namens «Misty Blue», das großen Anklang fand; wahrscheinlich also
spielten sie gerade «Misty Blue», als ich sie in den Ar‐ men hielt und spürte, wie ihre Rippen sich unter mei‐ nen Fingern dehnten. «Ich kann dich nicht einfach so ziehenlassen», sagte ich. «Ich könnte dich mit nach Hause nehmen. Du könn‐ test auf der Couch schlafen. Später würd ich dann zu dir kommen.» «Mit deinem Mann im Zimmer nebenan?» «Der schläft dann doch. Ich könnte ihm sagen, du wärst mein Cousin.» Wir umschlangen uns sanft und ungestüm. «Ich möchte mit dir schlafen, Baby», sagte sie. «Mein Gott, ja. Aber ich weiß nicht. Wo doch dein Mann zu Hause ist» «Schlaf mit mir», bettelte sie. Sie weinte ein bißchen an meiner Brust. «Wie lange bist du schon verheiratet?» fragte ich. «Seit Freitag.» «Freitag?» «Die haben mir vier Tage freigegeben.» «Du meinst, vorgestern war dein Hochzeitstag?» «Ich könnte auch sagen», schlug sie vor, «du wärst mein Bruder.» Da heftete ich meine Lippen auf ihren Mund, erst nur auf die Oberlippe, dann auch auf die Unterlippe, und dann küßte ich sie richtig, mein weit offener Mund auf ihrem, und innen trafen wir uns.
Und in diesem Moment war es da. Alles: der lange Weg den Flur hinab. Die lür, die sich auftut. Die schö‐ ne fremde Frau. Und der zerfetzte Mond: geheilt. Und unsere Tränen: weggetupft von unseren Fingern. Es war da.
HAPPY HOUR
Ich war hinter einer siebzehnjährigen Bauchtänzerin her, die ständig in Begleitung eines Bürschleins war, das vorgab, ihr Bruder zu sein, es aber gar nicht war, sondern einfach jemand, der sich in sie verliebt hatte, und sie duldete sein Geschmachte, weil das Leben so was eben mit sich bringt Auch ich war in sie verliebt Sie allerdings war noch immer in einen Mann verhebt, der seit kurzem im Ge‐ fängnis saß. Ich suchte in den übelsten Absteigen, der Vietnam‐ Bar und so. Der Barkeeper sagte: «Möchtest du was trinken?» «Der hat doch kein Geld.» Ich hatte welches, aber nicht genug, um zwei volle Stunden saufen zu können. Ich probierte es im Jimjam‐CIub. Indianer aus Kla‐ math oder Kootenai oder von noch weiter nördlich – aus British Columbia, aus Saskatchewan – saßen an der Bar aufgereiht wie kleine Statuen oder feiste klei‐ ne Püppchen, Sachen, die von Kinderhand malträtiert worden sind. Sie war nicht da. Einer von den Indianern, ein schlitzäugiger, schwarz‐ äugiger Nez‐Percé, hätte mich fast vom Hocker gesto‐
ßen, als er sich, weit vorgebeugt, ein Glas billigsten Portwein bestellte. Ich sagte: «He, haben wir beide hier nicht gestern ‘ne Partie Pool gespielt?» «Nicht daß ich wüßte.» «Und hast du nicht noch gesagt, ich solle schon mal das nächste Spiel aufbauen, damit du was wechseln ge‐ hen und mir deine Schulden bezahlen könntest?» «Ich war gestern gar nicht hier. War nicht mal in der Stadt.» «Und dann hast du mir den Vierteldollar nie zurück‐ gezahlt. Du schuldest mir ‘nen Vierteldollar, Mann.» «Aber ich hab ihn dir gegeben, den Vierteldollar. Glatt auf die Hand. Zwei Zehner und ‘nen Fünfer.» «Irgendwer kriegt hier gleich reichlich Probleme.» «Ich nicht. Ich hab dir deinen Vierteldollar zurück‐ gezahlt. Könnte höchstens sein, daß das Geld runter‐ gefallen ist.» «Sag mal, merkst du eigentlich nie, wann’s reicht? Wann der Ofen aus ist, endgültig?» «Eddie, Eddie», sagte der Indianer zum Barkeeper, «hast du hier gestern auf dem Boden vielleicht ‘n paar Zehner und Fünfer gefunden? Hast du gefegt? Hast du hier zufallig irgendwas zusammengefegt, zum Beispiel zwei Zehner und ‘nen Fünfer?» «Kann schon sein. Ist meistens so. Warum?» «Siehst du?» sagte er zu mir. «Ihr macht mich so fertig», sagte ich, «ich krieg nicht mal mehr die Finger hoch. Ihr alle.»
«Mensch, ich würd mich wegen ‘nem Vierteldollar doch nicht mit dir anlegen.» «Dir alle miteinander.» «Du willst also ‘nen Vierteldollar? Scheiß drauf. Hier.» «Scheiß auf dich. Geh zum Teufel», sagte ich und machte mich davon. «Nun nimm den Vierteldollar schon», sagte er sehr laut, jetzt, da er sah, daß ich das Geld nicht anrühren würde. Noch nachts zuvor hatte ich in ihrem Bett schlafen dür‐ fen, nicht richtig mit ihr, aber neben ihr. Sie wohnte mit drei College‐Mädchen zusammen, von denen zwei tai‐ wanesische Freunde hatten. Ihr falscher Bruder schlief auf dem Fußboden. Als wir am Morgen aufwachten, sagte er kein Wort. Überhaupt redete er nie, und ge‐ nau darin lag das Geheimnis seines Erfolgs, falls man von so etwas sprechen konnte. Ich gab einem der Col‐ lege‐Mädchen und ihrem Freund, der kein Englisch konnte, vier Dollar, fast mein ganzes Geld; damit woll‐ ten sie etwas taiwanesisches Haschisch besorgen. Ich stand am Fenster, sah auf den zum Haus gehörenden Parkplatz hinab – der Bruder putzte sich derweil die Zähne – und beobachtete, wie sie mit meinem Geld in einer grünen Limousine abzogen. Noch bevor sie vom Parkplatz runter waren, fuhren sie gegen einen Telegraphenmast Sie stiegen aus und stolperten da‐
von, ließen die Wagentüren einfach offen, klammerten sich aneinander, und der Wind wehte ihnen das Haar ins Gesicht Später am Vormittag – alles immer noch in Seattle – saß ich im Bus. Ich saß gleich vorn, auf der langen Sitzbank seitlich zum Gang. Gegenüber von mir hielt eine Frau ein dickes Buch über englische Literatur auf dem Schoß; neben ihr saß ein hellhäutiger Schwarzer. «Jaaaa», sagte sie zu ihm. «Heute ist Zahltag. Und da fühlt man sich gut, auch wenn’s bald wieder alle ist» Er blickte sie an, und seine hohe Stirn verlieh ihm den Ausdruck von Nachdenklichkeit «Na», sagte er, «mir bleiben noch ganze vierundzwanzig Stunden in dieser Stadt.» Draußen war es klar und windstill. In Seattle ist es meistens grau, aber heute erinnere ich mich nur noch an die sonnigen Tage dort. Drei oder vier Stunden fuhr ich im Bus durch die Gegend. Mitderweile wurde das Ding von einer rie‐ sigen Jamaikanerin gesteuert «Sie können hier nicht einfach so sitzen», sprach sie mich im Rückspiegel an, «irgendwann müssen Sie mal raus.» «Dann steig ich an der Bibliothek aus», sagte ich. «Geht in Ordnung.» «Weiß ich selber, daß das in Ordnung geht», sagte ich. In der Bibliothek blieb ich, atemlos und wie erdrückt
von der schwelenden Gewalt all der Worte – viele da‐ von unergründlich –, bis zur Happy Hour. Und dann ging ich wieder. Der Autoverkehr war erbarmungslos, die Gehsteige waren überfüllt, die Leute gehetzt und unfreundlich, denn Happy Hour heißt eben auch Rush‐hour. Wenn Happy Hour ist, zahlt man für einen Drink und bekommt zwei. Die Happy Hour dauert zwei Stunden. Die ganze Zeit hatte ich nach der Bauchtänzerin Aus‐ schau gehalten. Sie hieß Angélique. Ich wollte sie fin‐ den, weil sie mich trotz ihrer sonstigen Techtelmechtel doch zu mögen schien. Ich selber hatte sie gleich ge‐ mocht, als ich sie das erste Mal sah. In dem griechischen Nachtclub, in dem sie damals tanzte, ruhte sie sich an einem Tisch zwischen zwei Nummern aus. Ein bißchen Bühnenlicht glitt über sie. Sie war sehr zart Sie sah aus, als wäre sie in Gedanken weit weg, als wartete sie geduldig auf den, der sie zerstören würde. Eine der anderen Tänzerinnen, eine geschorene, mannsgleiche Person, blieb immer dicht neben ihr und sagte «Was bildest du dir eigentlich ein, Kleiner?» zu einem Matro‐ sen, der sie auf einen Drink einladen wollte. Angélique selber sagte nichts, und ihre jungfräuliche Traurigkeit war nicht bloß gespielt. Es stimmte: In ihr war etwas, das erst noch geboren werden wollte, doch sie ließ es nicht zu, weil es zu schön war für diesen Ort. Trotzdem
war sie vor allem eine kaputte Schlampe. «Ich versuch doch bloß anzudocken», sagte der Matrose. «Bei dem, was die hier für die Drinks nehmen, denkt man ja, man sei halbwegs willkommen.» – «Du nicht, nicht bei ihr», sagte die ältere Tänzerin. «Sie ist müde.» Der Tag endete furios und strahlend. Die Schiffe im Sund sahen aus wie Schattenrisse, die in die Sonne ge‐ saugt wurden. Ich nahm zwei Doppelte, und sofort war mir, als wäre ich seit Ewigkeiten tot gewesen und endlich erwacht. Ich war im Pig Alley. Das Lokal ging direkt auf den Hafen, denn es stand mit seinem auf Holz gekleb‐ ten Auslegeteppich und seiner Resopaltheke gleich überm Wasser auf einer klapprigen Pier. Der Rauch der Zigaretten dort hatte was Unirdisches. Die Sonne sank durch ein Wolkendach, ließ das Meer in Flam‐ men aufgehen und füllte das große Panoramafenster mit geschmolzenem Licht, so daß unser ganzes Tun und Träumen in einem leuchtenden Nebel vor sich ging. Leute, die die Bars auf der First Avenue betraten, gaben ihren Körper auf. Danach waren nur noch die Dämonen zu sehen, die in uns wohnen. Seelen, die ein‐ ander unrecht getan hatten, kamen wieder zusammen; der Vergewaltiger traf sein Opfer, das verlassene Kind fand seine Mutter. Aber nichts Heß sich wiedergutma‐ chen; der Spiegel war ein Messer, das alles von sich selber trennte; Tränen falscher Verbrüderung tropften auf die Theke. Und was werdet ihr mir als nächstes an‐
tun? Womit wollt ihr mich jetzt noch in Furcht verset‐ zen? In der Bibliothek war mir etwas Peinliches passiert. Ein älterer Herr war, seine Bücher unter dem Arm, von der Ausgabestelle herübergekommen und hatte mich schüchtern angesprochen, fast wie ein Mädchen. «Ihr Reißverschluß», sagte er, «ist auf. Ich dachte, ich sag’s Ihnen lieber.» «Okay», sagte ich. Ich griff rasch nach unten und zog ihn hoch. «Haben ‘ne Menge Leute bemerkt», sagte er. «Okay. Danke.» «Bitte», sagte er. Ich hätte ihn an der Gurgel packen und umbringen können, gleich dort in der Bibliothek. Die Welt hat schon ganz andere Sachen gesehen. Aber er drehte sich um und ging. Das Pig Alley war eine schäbige Bar. Neben mir saß eine Krankenschwester in Berufsmontur; sie hatte ein blaues Auge. Ich erkannte sie. «Wo ist denn dein Freund gebhe‐ ben?» «Wer?» fragte sie ganz unschuldig. «Ich hab ihm zehn Dollar gegeben, und jetzt ist er verschwunden.» «Wann?» «Letzte Woche.» «Hab ihn seitdem selbst nicht mehr gesehen.»
«Er sollte sich wie ein Erwachsener benehmen.» «Wahrscheinlich ist er in Tacoma.» «Wie alt ist er eigentlich, so um die Dreißig?» «Morgen kommt er wieder.» «Jedenfalls zu alt, um andere wegen ‘n paar Cents übers Ohr zu hauen.» «Willst du ‘ne Pille kaufen? Ich brauch Geld.» «Was für ‘ne Pille?» «Aus halluzinogenen Pilzen, zu Staub zermahlen.» Sie zeigte sie mir. Kein Mensch hätte das Ding run‐ terschlucken können. «Das ist die größte Pille, die ich je gesehen habe.» «Für drei Dollar gehört sie dir.» «Ich wußte gar nicht, daß es so große Kapseln gibt Was für eine Größe ist das? XXL?» «XXL, genau.» «Mensch, guck dir die an! Die sieht ja aus wie ‘n Ei. Die sieht ja aus wie dieser Osterkram.» «Warte», sagte sie und betrachtete mein Geld. «Nee, oder doch, ja – drei Dollar. Es gibt Tage, da kann ich nicht mehr zählen.» «Und schon ist sie weg.» «Und jetzt viel trinken. Spül sie runter. Trink das ganze Bier aus.» «Na, wie hab ich das gemacht? BisweÜen glaub ich, ich bin gar kein Mensch.» «Hast du vielleicht ‘nen anderen Dollarschein? Der hier ist so zerknittert.»
«Noch nie hab ich ‘ne XXL geschluckt.» «Stimmt, ist ‘ne Riesenkapsel.» «‘ne größere gibt’s nicht Ist die für Pferde?» «Nein. Pferden, denen spritzen sie ‘ne Paste auf die Zunge», erklärte sie mir. «Die ist so klebrig, daß das Pferd sie nicht ausspucken kann. Pferdepillen werden nicht mehr hergestellt.» «Ach nein?» «Nein, heute nicht mehr.» «Und was, wenn doch?» sagte ich.
RUHIGE HÄNDE IM GENERAL HOSPITAL VON SEATTLE
Schon nach zwei Tagen rasierte ich mich wieder selber, und ich rasierte sogar einige von den Neuankömmlin‐ gen, weil die Medikamente, die man mir spritzte, eine so verblüffende Wirkung auf mich hatten. Ich sage «verblüffend», weil man mich wenige Stunden zuvor noch durch Flure geschoben hatte, wo ich in meinen Halluzinationen einen weichen Sommerregen nieder‐ gehen sah. Die Gegenstände in den Krankenzimmern links und rechts des Gangs – Vasen, Aschenbecher, Betten – wirkten naß und unheilschwanger, als wären sie drauf und dran, mir ihr wahres Gesicht zu zeigen. Dann verpaßten sie mir ein paar Spritzen, und mir war, als hätte ich mich aus einem federleichten Styro‐ pording in ein menschliches Wesen zurückverwandelt. Ich hielt mir die Hände vor die Augen. Die Hände wa‐ ren ruhig wie bei einer Statue. Ich rasierte meinen Zimmernachbarn Bill. «Aber keine Mätzchen mit meinem Schnurrbart», sagte der. «War’s bisher okay?» «Bisher schon.» «Dann mach ich mal die andere Seite.» «War nicht blöd, Meister.» Gleich unter dem Wangenknochen hatte Bill einen
Makel in der Haut, weil da eine Pistolenkugel in sein Gesicht gedrungen war, und auf der anderen Wange eine etwas größere Narbe, wo das Geschoß seine Reise fortgesetzt hatte. «Als die Kugel durch dein Gesicht war, hat sie da eigentlich noch irgendwas Interessantes fabriziert?» «Woher soll ich das wissen? Ich hab nicht mitge‐ schrieben. Außerdem, Kopfschuß bleibt Kopfschuß, auch wenn’s ein Durchschuß ist.» «Und was ist mit der kleinen Narbe hier, quer durch deine Kotelette?» «Keine Ahnung. Vielleicht angeboren. Hab sie noch nie bemerkt» «Eines Tages werden die Leute noch Geschichten über dich lesen oder Gedichte. Willst du denen nicht sagen, was du für einer bist?» «Ach, keine Ahnung. Ich würd sagen, ich bin ein fet‐ tes Arschloch.» «Quatsch. Mal im Ernst.» «Du willst doch nicht etwa über mich schreiben, oder?» «He – ich bin Schriftsteller.» «Na, dann sag denen einfach, ich hätte Überge‐ wicht.» «Er hat Übergewicht.» «Zweimal ist auf mich geschossen worden.» «Zweimal?» «Je einmal von beiden Frauen, mit insgesamt drei
Kugeln, macht vier Löcher, drei Einschußlöcher und ein Durchschußloch.» «Und du bist noch am Leben.» «Wirst du in deinem Gedicht irgendwas von dem hier verändern?» «Nein. Kommt alles genau so rein, Wort für Wort.» «Schön blöd. Weil, es wirkt eben doch ziemlich däm‐ lich, wenn du mir die Frage stellst, ob ich noch am Le‐ ben sei, wo doch jeder sehen kann, daß ich es bin.» «Gut, aber vielleicht mein ich ‹Leben› in einem tiefe‐ ren Sinn. Du kannst ja hier sitzen und reden und trotz‐ dem in einem tieferen Sinn nicht am Leben sein.» «Tiefer als die Art Scheiße hier geht’s doch gar nicht.» «Wie bitte? Ich find’s phantastisch hier. Die geben uns ja sogar Zigaretten.» «Hab noch keine bekommen.» «Na, dann bedien dich.» «He. Danke.» «Denk an mich, wenn sie dir welche geben.» «Wart’s ab.» «Was hast du eigentlich gesagt, als deine Frau auf dich geschossen hat?» «Ich hab gesagt: Du hast auf mich geschossen!» «Beide Male? Zu beiden Frauen?» «Beim ersten Mal hab ich gar nichts gesagt Da hat sie mir nämlich in den Mund geschossen.» «Also konntest du nicht mehr sprechen.»
«Ich war sofort bewußtlos, deshalb konnte ich nicht mehr sprechen. Und ich erinnere mich noch an den Traum, den ich hatte, als ich bewußtlos war.» «Was für ein Traum war das?» «Was soll ich dir sagen? Ein Traum eben. Total zu‐ sammenhanglos. Aber ich erinnere mich dran.» «Du kannst ihn nicht beschreiben, nicht das kleinste bißchen?» «Ich weiß wirklich nicht, was ich da groß beschrei‐ ben soll. Tut mir leid.» «Egal, was. Irgendwas eben.» «Na schön, eine Sache: Dieser Traum kommt immer wieder. Ich meine: wenn ich wach bin. Jedesmal wenn ich an meine erste Frau denke, denk ich auch daran, daß sie auf mich abgedrückt hat, und zack, schon ist der Traum da ... Und dann, der Traum war – also, es war nichts Trauriges an ihm. Aber jedesmal wenn ich daran denke, denk ich auch: Scheiße, Mann, die hat doch, also: die hat doch tatsächlich auf mich geschossen. Und zack, ist der Traum da.» «Kennst du den Film mit Elvis Presley, ‹Follow that Dream›?» «‹Follow that Dream›. Ja, kenn ich. Mußte ich auch grad dran denken.» «Okay. Fertig. Guck mal in den Spiegel.» «Na schön.» «Was siehst du?» «Wieso bin ich nur so fett, wo ich nie was esse?»
«Ist das alles?» «Keine Ahnung. Ich bin ja grad erst hergekom‐ men.» «Und was ist mit deinem Leben?» «Haha! Der war gut.» «Was ist mit deiner Vergangenheit?» «Was soll damit sein?» «Wenn du zurückblickst, was siehst du dann?» «Zerdepperte Autos.» «Mit Leuten drin?» «Ja.» «Was für Leuten?» «Leuten, die bloß noch Frischfleisch sind, Mann.» «Wirklich?» «Woher soll ich wissen, ob’s wirklich so ist? Ich bin grad erst hergekommen. Und mir stinkt’s.» «Im Ernst? Aber wir kriegen hier literweise Haldol. Ist doch das reinste Säuglingsheim hier.» «Na, ich will’s hoffen. Weil, ich bin schon an Orten gewesen, wo sie dich einfach in ein nasses Bettlaken wickeln und auf ein Gummitierchen beißen lassen, so eins für Hundebabys, und das war’s dann.» «Ich könnte hier glatt mein halbes Leben verbrin‐ gen.» «Also, ich bin älter als du. Du kannst noch ein paar Runden in dieser Geisterbahn drehen, und wenn du rauskommst, sind Arme und Beine noch dran. Bei mir nicht.»
«He – es geht dir gut» «Sag das mal hier rein.» «Hier, in dein Einschußloch?» «Ja, sag’s mir in mein Einschußloch. Sag mir, es geht mir gut»
BEVERLY HOME
Manchmal ging ich während der Mittagspause in eine große Gärtnerei auf der anderen Straßenseite, einen Glasbau voller Pflanzen und feuchter Erde und Ahnun‐ gen von kaltem, totem Sex. Um diese Stunde wässerte dort immer eine Frau die dunklen Beete mit einem Gartenschlauch. Einmal sprach ich mit ihr, hauptsäch‐ lich über mich und, dummerweise, meine Probleme. Ich fragte sie nach ihrer Telefonnummer. Sie sagte, sie habe kein Telefon, und ich hatte das Gefühl, sie be‐ mühte sich, ihre linke Hand vor mir zu verbergen, viel‐ leicht weil sie einen Ehering trug. Sie wollte, daß ich irgendwann wiederkäme und sie besuchte. Aber als ich mich verabschiedete, wußte ich schon, daß ich nicht wieder hingehen würde. Ich meine: Sie war viel zu er‐ wachsen für mich. Und manchmal erhob sich in der Wüste ein Sandsturm und türmte sich derart in die Höhe, daß man dachte, da wäre eine ganze Stadt: ein furchterregendes neu‐ es Zeitalter, das näher rücken und unsere Träume zu Zerrbildern machen würde.
Im Innern war ich ein winselndes Hündchen, mehr nicht. Ich sah mich nach Arbeit um, weil manche Leute anscheinend der Meinung waren, ich sollte mich nach Arbeit umsehen, und als ich einen Job gefunden hatte, glaubte ich, ich sei glücklich, eben weil jene Leute – Therapeuten oder Mitarbeiter der Anonymen Rausch‐ giftabhängigen und so weiter – anscheinend glaubten, ein Job mache einen glücklich. Vielleicht denkt ihr, wenn ihr den Namen «Beverly» hört, ja an Beverly Hills: Menschen, denen das Geld die Köpfe weggesprengt hat, schlendern durch die Straßen ... Was mich angeht, so hab ich, glaube ich, nie jeman‐ den gekannt, der Beverly hieß. Doch es ist ein schöner, klangvoller Name. Ich arbeitete damals in einer Klinik, die so hieß, einem o‐förmigen, türkisblauen Heim für ältere Menschen. Allerdings waren nicht alle Leute im Beverly Home alt und hilfsbedürftig. Einige waren jung, aber gelähmt. Andere waren erst mittleren Alters, aber schon völlig verwirrt. Wieder andere waren eigentlich in ganz an‐ nehmbarer Verfassung, nur daß man sie wegen ihrer unsäglichen Mißbildungen nicht auf die Straße lassen konnte. Wenn man sie sah, mußte man Gott für einen gefühllosen Irren halten. Ein Mann litt seit seiner Ge‐
burt an einer Knochenkrankheit, die ein Monstrum von zwei Meter zehn aus ihm gemacht hatte; sein Name war Robert. Jeden Tag zog Robert einen feinen Anzug oder eine Kombination aus Blazer und Hose an. Seine Hände waren fast einen halben Meter lang, sein Kopf eine fünfzig Pfund schwere Paranuß mit einem Gesicht drauf. Ihr und ich, wir wissen nichts von sol‐ chen Krankheiten, bis wir sie selber bekommen, und falls es irgendwann soweit sein sollte, werden auch wir von der Bildfläche verschwinden. Ich machte dort Teilzeitarbeit Ich war für das Info‐ Blatt verantwortlich, ein paar vervielfältigte Seiten, die zweimal im Monat herauskamen. Außerdem gehörte es zu meinem Job, die Leute zu berühren. Die Patien‐ ten hatten ja nichts zu tun, als sich herdengleich, zu Fuß oder im Rollstuhl, durch die weiten Korridore zu schieben. Verkehr nur in einer Richtung, so lautete die Vorschrift. Ich lief nun gegen den Strom, genau wie man’s mir aufgetragen hatte, grüßte alle und ergriff Hände oder drückte Schultern, denn was die Kranken brauchten, war, daß jemand sie berührte, und das ge‐ schah nicht gerade häufig. Jedesmal sagte ich «Guten Tag» zu einem grauhaarigen Mann Anfang Vierzig, kräftig und muskulös, aber völlig senil. Er packte mich dann am Hemd und rief Sachen wie: «So büßen wir für unsere Träume!» Ich legte meine Hand auf seine. Gleich neben uns fiel eine Frau fast vom Rollstuhl, die schrie: «Allmächtiger? Allmächtiger?» Ihre Füße zeig‐
ten nach links, ihr Kopf nach rechts, und ihre Arme wanden sich um den Körper wie Bänder um einen Maibaum. Ich fahr ihr mit den Händen durchs Haar. Und währenddessen schlurften all die Kranken an uns vorbei, Leute mit Augen wie Wolken und Leibern wie Kissen. Andere wieder sahen aus, als hätte man alles Fleisch aus ihnen herausgesaugt, und zwar mit den sonderbaren Geräten, die in den Wandschränken verwahrt wurden, irgendwelchen Hygienesachen. Die Leute waren nämlich fast alle schon so weit hinüber, daß sie nicht mehr alleine baden konnten, und deshalb wurden sie von Profis gebadet, anders ging’s nicht, und die benutzten dazu glänzende Schläuche mit hochraf‐ finierten Spritzdüsen. Ein Mann hatte so was wie multiple Sklerose. Krumm und schief hing er im Rollstuhl, bezwungen von unab‐ lässigen Krämpfen, und stierte an der eignen Nase vor‐ bei auf seine verknoteten Finger. Dieser Zustand war ganz plötzlich über ihn gekommen. Niemand besuch‐ te ihn. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Er sei erst dreiunddreißig, hat er, glaube ich, gesagt, aber es war nur schwer zu verstehen, was er von sich erzählte, weil er genaugenommen gar nicht mehr reden konnte, bloß wieder und wieder die Lippen um die sich vorrek‐ kende Zunge spannte und ächzte. Für ihn war alle Verstellung vorbei! Er war uneinge‐ schränkt und sichtlich fertig mit der Welt. Während wir andern uns weiter was vormachen.
Jedesmal sah ich auch bei einem Mann namens Frank vorbei, der oberhalb von beiden Knien ampu‐ tiert war; er begrüßte mich mit herrischer Traurigkeit und nickte in Richtung seiner leeren Pyjamabeine. Den heben langen Tag saß er im Bett und schaute fern. Er war aber nicht wegen seines körperlichen Zustands hier, sondern wegen seiner Traurigkeit. Das Beverly Home lag in einer Sackgasse am Ostrand von Phoenix, mit Blick auf die Wüste, die die Stadt um‐ gibt Es war Frühling, und wie immer zu dieser Jahres‐ zeit sprossen aus den Dornen gewisser Kaktusarten zierliche Blüten. Um den Bus nach Hause zu kriegen, ging ich jeden Tag über ein leeres Grundstück, und manchmal trat ich dort fast auf eine – eine kleine oran‐ gefarbene Blüte, die aussah, als wäre sie von der An‐ dromeda herabgeschwebt, mitten hinein in einen Teil der Welt, der in elfhundert Brauntönen gehalten war, und unter einen Himmel, dessen Blau sich in den eig‐ nen Weiten zu verlieren schien. Mich schwindelte, ich war wie verzaubert – meine Überraschung wäre nicht größer gewesen, wenn ich plötzlich vor einem Kobold gestanden hätte, der auf einem winzigen Stuhl kauerte. Der Wüstentag glühte schon; doch nichts konnte die kleinen Blüten ersticken. Eines Tages, ich hatte das Gelände gerade durch‐ quert und ging hinter einer Reihe von Wohnhäusern zur Bushaltestelle, hörte ich eine Frau unter der Du‐ sche singen. Ich mußte an Meerjungfrauen denken:
die verfließende Musik von fallendem Wasser, das lieb‐ liche Lied aus dem kühlen Gemach. Es dämmerte, und von den flirrenden Gebäuden kam noch Hitze. Auf den Straßen staute sich der Abendverkehr, aber der Wü‐ stenhimmel saugt den Autolärm sozusagen auf, macht ihn matt und leise. Von allem, was ich hörte, drang nichts klarer zu mir als ihre Stimme. Sie sang mit der Unbewußtheit, der Selbstverges‐ senheit einer Gestrandeten. Sie dachte offenbar gar nicht daran, daß man sie hören konnte. Es klang wie ein irisches Kirchenlied. Ich dachte: Von der Körpergröße her müßte ich wohl in der Lage sein, einen Bück durch ihr Fenster zu werfen, und es sah nicht so aus, als ob mich jemand dabei erwischen würde. Die Wohnhäuser hatten alle die übliche Wüstenbe‐ pflanzung verpaßt bekommen – kein Rasen, dafür Kies und Kakteen. Ich mußte vorsichtig auftreten, damit der Kies nicht knirschte: nicht daß irgendwer meine Schritte hätte hören können. Aber ich selber wollte sie nicht hören. Unter dem Fenster war ich durch ein Spalier von Purpurwinden vor Blicken geschützt. Der Verkehr strömte vorbei wie immer; kein Mensch bemerkte mich. Das Badezimmerfenster war schmal und hoch. Ich mußte mich auf die Zehenspitzen stellen und mieli mit beiden Händen festhalten, um das Kinn über das Fensterbrett zu kriegen. Da war sie schon aus der Du‐
sche getreten: eine Frau, so lieblich und jung wie ihre Stimme, aber kein Mädchen mehr. Ihre Figur war eher drall. Sie hatte helles Haar, das ihr glatt und naß fast bis zur Taille reichte, und wandte mir den Rücken zu. Inzwischen waren der Spiegel und auch das Fenster ein bißchen beschlagen, sonst hätte sie wohl im Spie‐ gel meine Augen gesehen. Ich fühlte mich federleicht Ich klammerte mich ohne jede Mühe ans Fensterbrett Ich wußte, wenn ich jetzt losließe, würde ich kaum den Mut aufbringen, mich noch mal hochzuziehen – war ja gut möglich, daß sie sich dann zum Fenster umdrehen, daß sie aufschreien würde. Rasch, energisch trocknete sie sich ab und berührte sich dabei kein einziges Mal auf sinnliche oder auch nur zärtliche Weise. Das enttäuschte mich. Doch es war auch wieder jungfräulich und erregend. Ich überlegte, ob ich nicht das Fenster einschlagen und sie vergewalti‐ gen sollte, aber ich hätte mich geschämt, wenn sie mich gesehen hätte. Ich glaubte zwar, daß ich zu so etwas in der Lage wäre, aber nur mit einer Maske. Mein Rus fuhr vorbei ‐ der 24er. Er bremste nicht mal ab. Nur ein flüchtiger Blick, und doch war mir gleich klar, wie müde die Leute im Wagen waren, ein‐ fach durch die Art, wie sie dort standen, leicht hin und her schwankend. Viele erkannte ich undeudich. Nor‐ malerweise fuhr ich mit ihnen hin und zurück, von der Arbeit nach Hause, von zu Hause zur Arbeit, nur heute Abend nicht.
Noch war es nicht richtig dunkel. Trotzdem waren jetzt weniger Autos unterwegs; wer mit dem Wagen zur Arbeit gefahren war, saß meist schon im Wohn‐ zimmer vor dem Fernseher. Ihr Mann allerdings nicht‐ Ich stand noch unter seinem Badezimmerfenster und beobachtete seine Frau, da kam er nach Hause. Ich hat‐ te gleich so ein Gefühl, so einen Schreckensdruck in der Kehle, und duckte mich hinter einen Kaktus, als sein Auto auch schon in die Einfahrt bog, und in die‐ sem Moment, das wußte ich, würde sein Blick über die Mauer gleiten, an der ich eben noch gestanden hatte. Der Wagen rollte die Einfahrt hoch und verschwand auf der andern Hausseite, und ich hörte, wie der Motor erstarb und seine letzten Geräusche im Abend verhall‐ ten. Die Frau war mit ihrer Dusche fertig. Gerade schloß sich die Tür hinter ihr. Da schien es, als gäbe es im gan‐ zen Zimmer nichts als diese flache Tür. Und jetzt, da sie das Badezimmer verlassen hatte, war sie für mich verloren. Unmöglich, sie weiter zu be‐ obachten, denn alle übrigen Fenster lagen um die Ecke und waren von der Straße aus gut zu sehen. Ich ging und wartete eine Dreiviertelstunde auf den Bus, den letzten an diesem Tag. Mittlerweile war es ziemlich dunkel geworden. Im Bus saß ich, mein No‐ tizbuch auf den Knien, in einem sonderbaren, künst‐ lichen Licht und arbeitete an meinem Infoblatt. «Wir haben auch einen neuen Termin für die Bastelstunde»,
schrieb ich in holprigem Gekritzel, «nämlich Montag, 14 Uhr. Bei unserem letzten Projekt haben wir Tiere aus Salzteig gemacht Grace Wright hat einen tollen Snoopy gemacht und Clarence Lovell ein Kanonen‐ boot. Andere haben Teiche, Schildkröten, Frösche, Ma‐ rienkäfer und anderes mehr gemacht, alles im Minia‐ turformat.» Die erste Frau, mit der ich damals wieder richtig ausging, hatte ich beim «Antialkoholischen Tanzen» kennengelernt, einer geselligen Veranstaltung für re‐ konvaleszente Säufer und Drogensüchtige, Leute wie mich. Sie selber hatte solche Probleme nicht, aber ihr Mann hatte sie gehabt, bis er ihr – vor längerer Zeit schon – davongelaufen war. Seitdem legte sie hier und da ein Stündchen freiwilliger Sozialarbeit ein, und das, obwohl sie einen Achtstundenjob hatte und außerdem ihre kleine Tochter großzog. Irgendwann begannen wir, regelmäßig samstags auszugehen, und wir schlie‐ fen auch miteinander, und zwar in ihrer Wohnung, ob‐ wohl ich nie die ganze Nacht bis zum Frühstück blieb. Die Frau, von der ich rede, war ziemlich klein, näm‐ lich ein gutes Stück unter 1,50 oder, wenn man’s genau nimmt, eher 1,40. Ihre Arme stimmten proportional nicht zu ihrem restlichen Körper oder wenigstens nicht zu ihrem Rumpf, obwohl sie zu ihren Beinen paßten, die ebenfalls stark verkürzt waren. Medizinisch gese‐ hen war sie eine Zwergin. Aber das fiel einem nicht
als erstes an ihr auf. Sie hatte große südländische Au‐ gen voll Schatten und Geheimnis und Unglück, und sie wußte, wie sie sich anziehen mußte, damit man nicht sofort merkte, daß sie eine Zwergin war. Wenn wir miteinander schliefen, waren wir gleich groß, eben weil ihr Rumpf normal war. Nur ihre Arme und Bei‐ ne waren zu kurz geraten. Sie brachte ihre Tochter zu Bett, und dann schliefen wir auf dem Fußboden des Fernsehzimmers miteinander, und weil wir uns wegen unserer Jobs und ihrer täglichen Pflichten für das klei‐ ne Mädchen an eine Art Zeitplan halten mußten, He‐ fen dabei im Fernseher immer dieselben Spieleshows. Dämliche Shows. Samstagabendshows. Aber die Vor‐ stellung, ich müßte mit ihr schlafen, ohne daß uns die Gespräche und das Gelächter aus jenem künstlichen Universum in den Ohren klängen, machte mir angst, denn ich wollte sie nicht zu gut kennenlernen, woll‐ te nicht, daß wir uns mit Blicken über Momente des Schweigens hinweghalfen. Vorher gingen wir meistens in ein mexikanisches Lokal zum Essen – in eins der schicken, mit Wänden aus Lehmziegeln und mit Samtzeichnungen, die zu Hause bloß billig gewirkt hätten – und besprachen die Vorkommnisse der Woche. Ich berichtete ihr ausführ‐ lich von meinem Job im Beverly Home: daß ich dabei war, ein neues Leben zu beginnen. Daß ich versuchte, bei der Arbeit nicht mehr aus der Reihe zu tanzen. Daß ich nicht mehr stahl. Daß ich mich bemühte, meine Auf‐
gaben zu Ende zu bringen. Und so weiter. Sie arbeitete am Ticketcounter einer Fluglinie, und ich denke mal, sie stellte sich zur Abwicklung ihrer Geschäfte auf eine Kiste. Dennoch, ihre Seele verstand mich. Bei ihr fiel es mir nicht schwer, der zu sein, der ich war, mehr oder we‐ niger jedenfalls, eine Sache natürlich ausgenommen. Dann war der Frühling in vollem Gang, und die Tage wurden länger. Ich ließ den Bus häufig sausen, um die Frau in der Wohnung zu beobachten. Wie konnte ich das bloß tun? Wie kann ein Mensch bloß so herunterkommen? Und obwohl ich begreife, daß ihr mich das fragt, kann meine Antwort nur lauten: Macht ihr Witze? Das ist doch gar nichts. Ich war schon viel weiter unten gewesen. Und ich traute mir noch viel schlimmere Sachen zu. All das wurde nun ein fester Bestandteil meines Le‐ bens: warten und zusehen, wie sie duschte, zusehen, wie sie nackt aus der Dusche kam, sich abtrocknete und das Badezimmer verließ, und dann die Geräusche hören, die ihr Mann machte, wenn er mit dem Wagen von der Arbeit kam und durch die Tür ins Haus ging. Es war immer dasselbe. Ob auch am Wochenende, weiß ich nicht, weil ich da nicht zur Arbeit ging. Aber ich glaub ohnehin nicht, daß der Bus am Wochenende zu den gleichen Zeiten fuhr. Manchmal sah ich sie und manchmal nicht Nie tat sie etwas, was ihr hätte peinlich sein müssen, und auch
von ihren Geheimnissen kriegte ich nichts mit, obwohl ich gern mehr darüber erfahren hätte, zumal sie mich ja nicht kannte. Wahrscheinlich hätte sie sich nicht mal im Traum vorstellen können, daß ich die ganze Zeit da war. Normalerweise kam ihr Mann, bevor ich wieder ver‐ schwand; trotzdem sah ich ihn nie. Eines Tages aber war ich später als sonst bei ihrem Haus, ging auch nicht zur Rückseite, sondern nach vorn, und bog gerade um die Ecke, als er aus dem Auto stieg. Ein doller Anblick war’s nicht, bloß ein Mann, der, wie jeder x‐beliebige, zum Abendessen nach Hause kam. Ich war neugierig gewesen – jetzt, da ich ihn gesehen hatte, war mir klar, daß ich ihn nicht mochte. Er hatte eine Glatze. Sein Anzug war ausgebeult, knitterig, albern. Er hatte einen Bart, war aber über den Lippen glatt rasiert. Ich fand, er paßte nicht zu seiner Frau. Er war mitt‐ leren Alters oder älter. Sie war jung. Ich auch. Ich malte mir aus, wie wir zusammen durchbrennen würden. Es war, als hätte der Wüstenfrühling mit seinen Tücken, seinen Wohlgerüchen eine absonderliche Gier ange‐ stachelt – nach herzlosen Riesen, Meerjungfrauen, Verwünschung, Zauber. Ich sah ihn hineingehen. Dann wartete ich an der Bushaltestelle, bis es Nacht wurde. Dabei brauchte ich gar keinen Bus. Ich wartete nur auf die Dunkelheit, weü ich mich unerkannt vor das Haus stellen und di‐ rekt in ihr Wohnzimmer gucken wollte.
Durch das vordere Fenster betrachtete ich die bei‐ den beim Abendessen. Sie hatte sich einen langen Rock angezogen, und auf dem Kopf trug sie ein wei‐ ßes Then, eine Art Käppchen. Bevor sie mit dem Essen begannen, senkten sie den Kopf und beteten volle drei, vier Minuten lang. Mir war gleich aufgefallen, daß der Mann sehr grämlich, sehr altmodisch aussah, mit seinem dunklen Anzug und den riesigen Schuhen, seinem Abraham‐ Lincoln‐Bart und seiner polierten Glatze. Jetzt, da ich die Frau in der gleichen Aufmachung sah, begriff ich: Sie waren Amishe oder, eher noch, Mennoniten. Zwar wußte ich, daß die Mennoniten in Übersee Missions‐ arbeit machten, einsame Werke der Nächstenhebe in abgelegenen Welten, wo niemand ihre Sprache sprach, aber ich hätte nie gedacht, ich könnte zweien von ih‐ nen ganz allein in einer Wohnung in Phoenix begeg‐ nen, weil die Anhänger solcher Sekten normalerweise in ländlichen Gegenden leben. Allerdings gab es nicht weit entfernt eine Bibelschule; vermutlich belegten sie da irgendwelche Kurse. Ich war erregt Ich wollte ihnen beim Ficken zu‐ schauen. Ich überlegte, was ich tun müßte, um im rechten Moment dazusein. Wenn ich nachts käme, in der Dunkelheit, würde ich mich vor ihr Schlafzimmer stellen können, ohne von der Straße aus gesehen zu werden: Schon bei der Vorstellung wurde mir schwin‐ delig. Ich widerte mich selbst an; ich triumphierte. Sie
bloß einen Augenblick zu sehen, wenn sie aus der Du‐ sche kam, reichte jetzt nicht mehr, und ich zog ab und ging zur Haltestelle des 24ers. Aber es war zu spät, der letzte Bus war schon abgefahren. Jeden Donnerstag sammelte man im Beverly Home die ältesten Patienten ein, setzte sie auf Stühle in der Cafeteria und stellte ihnen Pappbecher mit Milch und Pappteller mit Keksen hin. Dann spielten sie ein Spiel, das «Ich erinnere mich» hieß – es sollte ihnen helfen, Einzelheiten ihres Lebens im Gedächtnis zu behalten, bevor sie in die Senilität abglitten, wo kein Mensch sie mehr erreichen würde. Jeder berichtete, was ihm am Morgen passiert war, was ihm vorige Woche passiert war oder einfach in den letzten Minuten. Ab und zu feierten sie auch eine kleine Party, es gab Muffins, und man ließ einen von ihnen hochleben, weil er wieder ein Jahr älter geworden war. Ich hatte eine Liste mit den Geburtstagen und paßte auf, daß alle informiert waren: «Und am Zehnten ist Isaac Chri‐ stopherson sage und schreibe siebenundneunzig ge‐ worden! Noch viele gesegnete Jahre! Nächsten Monat haben wir sechs Geburtstagskinder. Werfen Sie einen Blick ins Aprilheft der Beverly‐Home‐Info, dann wis‐ sen Sie, wer es ist!» Sämtliche Zimmer im Beverly Home gingen von ei‐ nem Flur ab, der in einer endlosen Kurve in sich selber mündete, so daß man bei Rundgängen immer wieder
bei dem Raum anlangte, in den man zuerst hineinge‐ sehen hatte. An manchen Tagen allerdings schien es, als verengte der Bogen des Flurs sich, als schrumpf‐ te er und zöge sich spiralförmig zusammen, hin zur Herzkammer des Ganzen, das heißt zu dem Zimmer, mit dem man begonnen hatte, egal welches es war: das Zimmer mit dem Mann, der seine Beinstümpfe wie zwei Schoßhündchen in die Bettdecke kuschelte, oder das Zimmer mit der Frau, die «Allmächtiger? Allmäch‐ tiger?» schrie, oder das Zimmer mit dem Mann mit blauer Haut oder das Zimmer mit den Eheleuten, die nicht mehr wußten, wie der andere hieß. Ich verbrachte nicht sonderlich viel Zeit dort – zehn, zwölf Stunden pro Woche vielleicht Ich hatte anderes zu tun. Ich war auf der Suche nach einem richtigen Be‐ ruf, ich ging zu einer Gruppentherapie für Heroinsüch‐ tige, ich meldete mich regelmäßig im Ortszentrum für Alkoholkranke, ich machte Wanderungen durch den Wüstenfrühling. Dennoch dachte ich an den kreisför‐ migen Flur des Beverly Home immer wie an den Ort, an den wir zwischen unseren Erdenleben zurückkeh‐ ren, um uns mit anderen Seelen zu vermischen, den Ort, an dem wir warten müssen, bis wir geboren wer‐ den. Donnerstag abends ging ich meistens zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker im Keller einer Kirche, die der Episkopalgemeinde gehörte. Wir saßen im Kreis
an Klapptischen und müssen ungefähr wie Leute aus‐ gesehen haben, die in einem Sumpf feststecken – wir schlugen nach unsichtbaren Dingen, rutschten hin und her, wanden uns, kratzten uns, rieben uns Hals und Oberarme. «Ich bin nachts oft durch die Gegend gelaufen», sagte einer, ein Typ namens Chris (fast ein Freund, wir waren zusammen im Entzug gewesen), «total allein, total fertig. Seid ihr auch schon so rum‐ gelaufen, an Häusern mit vorgezogenen Gardinen vorbei, und habt ihr dann auch so ein Gefühl gehabt, als würden euch eure Sünden wie Blei an den Füßen hängen, und habt ihr dann auch gedacht: Hinter den Fenstern, den Vorhängen da, leben Leute, die glücklich und zufrieden sind?» Das war natürlich leeres Gerede. Er sagte jedesmal etwas in dieser Art, wenn er bei un‐ seren Treffen an der Reihe war. Trotzdem stand ich auf, ging nach draußen, blieb eine Weile vor der Kirche stehen und rauchte beschis‐ sene Light‐Zigaretten, und vor lauter Ungesagtem drehte sich mir fast der Magen um. Dann wartete ich, bis das Treffen zu Ende war und ich jemanden bitten konnte, mich in der Nähe meiner Wohnung abzuset‐ zen. Was die beiden Mennoniten anging, so konnte man mitderweile nahezu davon sprechen, daß unsere Ta‐ gesabläufe im Gleichtakt waren. Ich verbrachte viel Zeit vor ihrem Haus – nach Sonnenuntergang, in der
sich rasch abkühlenden Dunkelheit. Inzwischen war mir ein Fenster so recht wie das andere; Hauptsache, ich sah die beiden zusammen in ihrer Wohnung. Sie trug immer einen langen Rock, flache Lauf‐ oder Turnschuhe und feine weiße Söckchen. Ihr Haar hat‐ te sie hochgesteckt, obendrauf das weiße Käppchen. Wenn es nicht naß war, war es sehr blond, ihr Haar. Und mit der Zeit genoß ich den Anblick, wie sie dort in ihrem Wohnzimmer saßen, sich unterhielten, ohne sich zu unterhalten, die Bibel lasen, das Dankgebet sprachen und im Alkoven der Küche zu Abend aßen, genauso wie ich es genossen hatte, die Frau nackt un‐ ter der Dusche zu sehen. Wenn ich wartete, bis es richtig dunkel war, konn‐ te ich mich, ohne daß man mich von der Straße aus bemerkte, direkt vor ihr Schlafzimmerfenster stellen. Mehrere Nächte blieb ich, bis sie eingeschlafen waren. Aber sie schliefen nie miteinander. Sie lagen da und berührten sich nicht mal – jedenfalls soweit ich es mit‐ bekam. Ich nahm an, daß sich die Leute in solchen re‐ ligiösen Gemeinschaften an eine Art Kalender oder so was halten mußten. Wie oft durften sie wohl miteinan‐ der schlafen? Einmal im Monat? Einmal im Jahr? Nur wenn sie Kinder haben wollten? Später fragte ich mich, ob vielleicht der Morgen ihre Zeit war, ob ich vielleicht besser morgens kommen sollte. Aber dann wäre es zu hell gewesen. Ich mußte sie also abpassen, solange sie noch mit offenen Fenstern schliefen und die Vorhänge
nicht ganz zuzogen. Schon in Kürze würde es dafür zu heiß sein; dann würden sie die Klimaanlage anmachen und die Fenster schließen. Nach ungefähr einem Monat kam eine Nacht, in der ich die Frau schreien hörte. Nur Minuten zuvor hat‐ ten sie zusammen das Wohnzimmer verlassen. Daß sie sich in so kurzer Zeit ausgezogen haben sollten, war eigentlich ausgeschlossen; eben erst hatten sie ihre Bücher weggelegt und sich noch ruhig unterhalten, er zurückgelehnt auf dem Sofa, sie sehr aufrecht in einem Sessel. Da hatte er nicht gerade wie ein Liebhaber aus‐ gesehen. Er hatte überhaupt nicht entflammt gewirkt, höchstens ein bißchen angespannt, wie er mit einer Hand an der Kante des Kaffeetischchens entlangfuhr und es, während sie sich unterhielten, leicht hin und her schob. Jetzt aber unterhielten sie sich nicht. Fast war es, als sänge sie, so wie ich sie oft gehört hatte, wenn sie sich allein glaubte. Schnell lief ich vom Wohnzimmer‐ zum Schlafzimmerfenster. Sie hatten das Schlafzimmerfenster zugemacht und die Vorhänge vorgezogen. Was sie sagten, konnte ich nicht hören, aber ich hörte die Sprungfedern des Betts, da war ich mir sicher, und ihre süßen Schreie. Bald schrie auch er – wie ein Straßenprediger. Und die ganze Zeit stand ich versteckt in der Dunkelheit, buchstäblich zitternd vom Scheitel bis zur Sohle. Ei‐ nen Spalt von fünf Zentimetern zwischen Vorhang und
Fensterrahmen, mehr hatte ich nicht, mehr kriegte ich, so kam es mir vor, auf der ganzen Welt nicht mehr. Ich konnte eine Ecke des Betts sehen und die Schatten, die sich in dem schmalen Lichtstreifen bewegten, der vom Wohnzimmer hereinfiel. Ich fühlte mich betrogen – die Nacht war nicht besonders heiß, andere Leute hatten ihre Fenster aufgemacht, ich horte Stimmen, Musik, Nachrichten aus den Fernsehapparaten, ich hörte Au‐ tos vorbeifahren und Rasensprenger sirren. Aber von den beiden Mennoniten so gut wie nichts. Ich fühlte mich verlassen – ausgestoßen aus einer schützenden Gemeinde. Ich war drauf und dran, mit einem Stein die Fensterscheibe einzuschlagen. Aber sie schrien schon gar nicht mehr. Ich versuch‐ te es auf der anderen Seite des Fensters, wo die Vor‐ hänge straffer hingen, und obwohl der Sehschlitz hier schmaler war, war der Blickwinkel besser. Jetzt konn‐ te ich Schatten erkennen: Sie bewegten sich in dem Licht, das aus dem Wohnzimmer kam. In Wahrheit wa‐ ren sie nie bis zum Bett gekommen. Standen vielmehr aufrecht da. Nicht leidenschaftlich umschlungen. Eher zankten sie sich. Dann ging die Schlafzimmerlampe an, und eine Hand zog den Vorhang beiseite. Von einem Augenblick auf den anderen sah ich ihr direkt ins Ge‐ sicht. Bloß weg! dachte ich. Aber dann wurde mir schlag‐ artig so schlecht, daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Doch das war auch schon egal. Mein Gesicht
war keinen halben Meter von ihrem entfernt, aber weil es draußen dunkel war, konnte sie mich nicht sehen, nur ihr eignes Spiegelbild. Sie war allein im Schlaf‐ zimmer. Sie hatte noch alle Kleider an. Ich spürte ein Herzflattern wie sonst nur, wenn ich an einem Auto vorbeikam, das irgendwo abseits geparkt war, und auf dem Vordersitz eine Gitarre oder Wildlederjacke ent‐ deckte und dachte: Mensch, die könnte ja jeder mitge‐ hen lassen! Ich stand seitlich von ihr im Dunkeln und konnte, genaugenommen, nicht viel erkennen, hatte aber den Eindruck, daß sie erregt war. Ich meinte sie weinen zu hören. Hätte ihr eine Träne wegtupfen können, so nah war ich ihr. Und ich war ziemlich sicher, sie würde mich, wenn ich mich nicht bewegte, auch weiterhin nicht be‐ merken, weil ich ja von Schatten verborgen war, und so stand ich ganz still, während sie sich mit der Hand gedankenverloren über den Kopf fuhr und die kleine Haube herunterzog, das Käppchen. Ich schaute ihr ins dunkle Gesicht, bis ich ganz sicher war, daß sie Kum‐ mer hatte – sie biß sich auf die Unterlippe, stierte vor sich hin, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Ungefähr eine Minute später kam ihr Mann zurück. Er machte ein paar Schritte ins Zimmer und blieb dann stehen, wie jemand, ein Boxer oder ein Footballspieler, der trotz einer Verletzung weiterzugehen versucht. Sie hatten sich also gestritten, und jetzt tat’s ihm leid, man sah es deutlich an der Art, wie er dort stand, den Kie‐
fer mitten im Satz erstarrt und seine Entschuldigung sozusagen vor sich in den Händen. Doch seine Frau drehte sich nicht um. Da machte er dem Streit ein Ende, indem er nieder‐ kniete und ihr die Füße wusch. Zunächst aber ging er noch einmal aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einer Wanne zurück, einem gelben Plastikding für den Abwasch, das er behutsam vor sich hertrug, so daß man sofort merkte, daß darin Wasser schwappte. Über seiner Schulter hing ein Ge‐ schirrtuch. Er stellte die Wanne auf den Boden und ging auf ein Knie hinunter, wobei er den Kopf neig‐ te, als wollte er um ihre Hand anhalten. Eine Weile, vielleicht eine volle Minute lang, rührte sie sich nicht, und mir kam’s vor wie eine halbe Ewigkeit, wie ich da draußen in der Dunkelheit stand, um mich nichts als große Einsamkeit und der Schrecken eines ganzen, noch ungelebten Lebens, während sich hinter mir aus Fernsehern und Rasensprengern ein Lärm wie von tausend nie zu lebenden Leben erhob und mit den Au‐ tos die Geräusche von Reise, von Bewegung vorüber‐ zogen, unerreichbar, uneinholbar. Dann drehte sie sich zu ihm um, schlüpfte aus den Tennisschuhen, griff mit der Hand hinter sich und streifte sich eins nach dem anderen die weißen Söckchen herunter. Sie tauchte den rechten Fuß ins Wasser, erst nur den großen Zeh, dann den ganzen Fuß, und senkte ihn, so daß er für mich unsichtbar wurde, in das gelbe Becken. Er zog
sich das Tuch von der Schulter und begann, ohne auch nur ein einziges Mal zu ihr aufzublicken, mit der Wa‐ schung. Inzwischen ging ich nicht mehr mit der südländischen Schönheit aus. Ich traf mich mit einer anderen Frau, die dem Wuchs nach normal, dafür aber behindert war. Als kleines Mädchen hatte sie Enzephalitis gehabt, die Schlafkrankheit. Das hatte sie gewissermaßen in der Mitte gespalten, wie ein Schlaganfall. Dir linker Arm war kaum zu gebrauchen. Sie konnte zwar lau‐ fen, zog aber das linke Bein nach, ließ es bei jedem Schritt in einem Bogen von hinten nach vorn schnel‐ len. Wenn sie erregt war, das heißt vor allem, wenn wir miteinander schliefen, begann der linke Arm jedesmal zu zucken und hob sich in die Höhe, schwebte empor zu einem wundersamen Salut Dann fluchte sie immer wie ein Matrose und stieß Verwünschungen aus dem Mundwinkel aus, dem Mundwinkel natürlich, der nicht von der Lähmung befallen war. Ich besuchte sie ein‐ oder zweimal die Woche in ih‐ rer Einzimmerwohnung und blieb die ganze Nacht bis zum Morgen. Meistens war ich vor ihr auf. Gewöhnlich arbeitete ich dann an meinem Infoblatt, während drau‐ ßen, in der Klarheit der Wüste, Menschen in den win‐ zigen Swimmingpools der Apartmenthäuser badeten. Ich saß mit Papier und Kugelschreiber am Küchen‐ tisch, studierte meine Notizen, schrieb: «Sonderankün‐
digung! Am Samstag, dem 25. April wird um 18.30 Uhr die Schauspielgruppe der Southern Baptist Church hier im Beverly Home ein Bibelstück aufführen. Es soll sehr aufbauend sein – auf keinen Fall verpassen!» Derweil lag sie noch im Bett, versuchte weiterzu‐ schlafen, jene andere Welt noch ein bißchen festzuhal‐ ten. Kurz darauf aber stand auch sie auf, wickelte sich das Bettlaken um die Hüfte und stolzierte ins Bade‐ zimmer, das wie wild herumfahrende Bein hinter sich herziehend. Morgens, in den ersten Minuten nach dem Aufstehen, war ihre Lähmung immer etwas schlimmer als sonst. Es war krankhaft und sehr erotisch. Sobald sie auf war, tranken wir Kaffee, Pulverkaf‐ fee mit fettarmer Milch, und sie erzählte mir von allen Freunden, die sie gehabt hatte, und ich hab nie jeman‐ den gekannt, der mehr gehabt hat Den meisten aller‐ dings war kein langes Leben vergönnt. Ich genoß es, morgens mit ihr in der Küche zu sit‐ zen. Sie auch. Fast immer waren wir nackt. Wenn sie sprach, entströmte ihren Augen etwas Helles und Kla‐ res. Und danach schliefen wir miteinander. Von der Küche waren es nur zwei Schritte bis zu ihrem Sofabett. Wir gingen hinüber, legten uns hin. Um uns schwebten Sonnenglanz und Geister. Erinne‐ rungen, Menschen, die uns lieb gewesen waren, alle schauten uns zu. Einmal hatte sie einen Freund ge‐ habt, der von einem Zug überrollt worden war; er saß mit seinem Wagen auf den Gleisen fest und meinte, er
könne den Motor, bevor die Lok ihn erwischen würde, schon wieder in Gang kriegen, aber da hatte er sich getäuscht. Ein anderer, ein Baumdoktor oder so was, fiel in den Bergen im Norden Arizonas durch Aber‐ tausende immergrüner Zweige und zerschmetterte sich den Schädel. Zwei starben bei den Marines, einer in Vietnam, der andere, ein halber Junge noch, gleich nach der Grundausbildung in einem nie aufgeklärten Autounfall, an dem nur sein Wagen beteiligt war. Zwei Schwarze: einer an einer Überdosis Heroin, der andere abgemurkst, im Gefängnis erstochen mit einem Holz‐ dolch aus der Gefangnistischlerei. Die meisten von ih‐ nen hatten, als der Tod kam, meine Freundin längst wieder verlassen, um auf ihren einsamen Wegen wei‐ terzuziehen. Sie waren Leute wie wir, nur mit weniger Glück. Ich war erfüllt von süßem Mitleid, während wir dort in dem sonnigen kleinen Zimmer lagen, erfüllt von Trauer, daß nichts die Männer je wieder zum Le‐ ben erwecken würde, ja trunken von Traurigkeit; ich konnte einfach nicht genug davon bekommen. In meine Arbeitszeit im Beverly Home fiel der Schicht‐ wechsel der Ganztagsbeschäftigten, und etliche von ihnen versammelten sich dann immer in der Küche, wo die Stechuhr hing, es war ein Kommen und Gehen. Auch ich war oft da und flirtete mit den schönen Schwe‐ stern. Ich lernte gerade, ohne Alkohol zu leben, und häufig war ich noch verwirrt, hauptsächlich weil ein
Mittel, das ich gegen die Entzugssymptome nahm, eine sehr merkwürdige Wirkung auf mich hatte. Manchmal hörte ich Stimmengemurmel in meinem Kopf, und län‐ gere Zeit war mir, als glimmte die Welt ringsum an den Rändern. Trotzdem wurde mein körperlicher Zustand jeden Tag ein bißchen besser, ich sah wieder aus wie früher, meine Stimmung hob sich, und alles in allem war es eine glückliche Zeit für mich. All diese Verrückten – und ich, dem es nun jeden Tag ein bißchen besserging, mitten unter ihnen. Ich hätte nie gedacht, nie auch nur einen Herzschlag lang zu glauben gewagt, daß es einen Ort geben könnte für Leute wie uns. Zentaur 2006‐11‐05