Bad Earth Die große Science-Fiction-Saga
JENSEITS DER GRENZE von Manfred Weinland Die Irdischen Astronauten John Cloud...
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Bad Earth Die große Science-Fiction-Saga
JENSEITS DER GRENZE von Manfred Weinland Die Irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden und sich zur verhassten Geißel der Galaxis entwickelt haben. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten und schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen. Als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den Aqua-Kubus flüchten, einem geheimnisumwitterten Objekt von einer Lichtstunde Kantenlänge, das vollständig mit Wasser gefüllt zu sein scheint. Auf der Flucht vor den Vaaren, den Beherrschern des Kubus, stoßen Darnok und die Menschen immer tiefer in deren Heiligen Bezirk vor. Dort existiert ein kugelförmiges Gebilde, in dem ein Vakuum herrscht. Die Gejagten sehen keinen anderen Ausweg mehr, als sich mit Darnoks kleinem Raumschiff in die Vakuumsphäre zu retten. Dort aber erwartet sie der Verlust jeglicher Orientierungsfähigkeit. Ungeachtet all dessen versucht Darnok, John Cloud von den Wissensimplantaten zu befreien, die den Menschen in den Wahnsinn treiben. Es kommt zu einer schwerwiegenden Krise, die auch Darnok selbst betrifft... 1. Der Raum war voller Gespenster.
Cloud wusste, dass es sich um einen Traum handelte - absonderlich genug -, aber er war nicht in
der Lage, ihn zu beenden.
Der Ort war ihm nicht wirklich vertraut. Vielleicht entsprang er komplett seiner Phantasie,
vielleicht hatte er eine ähnliche Umgebung irgendwann einmal irgendwo gesehen, ohne sich jetzt
noch daran erinnern zu können...
Es war auch unwichtig.
Sie waren wichtig, nur sie.
Sie waren alle versammelt.
John Cloud erkannte sie intuitiv, erfühlte ihre Identitäten, ohne dass sich einer der verwaschenen
Schatten hätte vorstellen müssen.
Sie begrüßten ihn verhalten.
Er fühlte sich von der ersten Sekunde an befangen, wie auf der Anklagebank. Dennoch ging er
näher. Einer der Schemen, zweifellos weiblichen Ursprungs, sagte: »Warum? Warum willst du uns
das antun? Wir sind einmal gestorben - ein zweites Mal haben wir nicht verdient.«
Cloud blieb unmittelbar vor Sharon stehen - vor dem Gespenst, zu dem sie geworden war - und
suchte nach einer Rechtfertigung. Natürlich wusste er, wovon sie sprach.
»Ich tue es nicht, um euch zu vernichten«, erklärte er. »Ich tue es nur, um selbst wieder ein
normales Leben führen zu können.«
Ein anderer Schatten, männlich, drängte sich nach vorn. »Hättest du uns je akzeptiert«, warf er
Cloud vor, »hättest du gut mit uns leben können. Wir sind keine Dämonen. Wir sind Splitter längst
verloschener Seelen. Dein Körper bewahrte uns vor dem Verblassen. Vor Finsternis und Leere. Du
bist schuld, dass wir unser bewusst wurden, dass wir wieder ein Häppchen von dem erleben
können, was unser eigenes Leben einmal war. Wir denken und fühlen wie du. Wir sind. Begreife,
dass wir dir deinen Körper nicht streitig machen, sondern ihn lediglich auch künftig ergänzen
wollen. Du ziehst Nutzen aus uns. Du musst es nur endlich zulassen, dich nicht länger gegen uns
sträuben.«
»Ihr macht mir das Leben zur Hölle!«, erwidere Cloud trotzig. Gleichzeitig wuchsen die Zweifel in
ihm. Er hatte sie als seine Feinde betrachtet, seit...
»Ihr habt einen unschuldigen Menschen in den Tod getrieben«, rief er. »Einen Kameraden!«
»Wir?«
»Solche wie ihr. Er hieß Seymor... Verdammt, ihr wisst, wie er hieß. So wie ich euch spüre und
euer Wissen abrufen kann, verhält es sich auch umgekehrt - habe ich Recht?«
Ein neuer Schatten, auch männlich. »Er war labil. Die, die ihn bewohnten, hatten nicht darum
gebeten, ihm aufgebürdet zu werden - so wenig wie wir darum gebeten haben, in dir zu wohnen.
Aber nun sind wir da, nun existieren wir wieder. Anders als die klugen Köpfe es voraussagten. Das
Destillat aus Prionen hat dir nicht nur unser Wissen zugänglich gemacht, ihm haftete mehr an, viel,
viel mehr. Wir sind nur Splitter, aber wir haben nichts Todeswürdiges verbrochen. Akzeptiere uns.
Lerne, uns zu akzeptieren. Wir sind du, und du bist wir. Wenn dieser Verbund gewaltsam wieder
auseinander gerissen wird, dann... «
»Was dann?«
Wieder die Frau, Sharon. »Du bist dir über die Folgen nicht im Klaren. Er ist sich über die Folgen
nicht klar. Wir werden uns nicht einfach abschlachten lassen.«
Ihre drastische Wortwahl trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Tatsächlich, er schwitzte. Im
Traum!
Welch ein Wahnsinn.
»Du sagst es.«
»Ich sage es?«, wandte er sich verständnislos an den Schatten, der einmal ein lebender Mensch aus
Fleisch und Blut, ein Mensch mit einem eigenen Universum aus Erlebnissen, Gefühlen und
Träumen gewesen war. »Ich sage was?«
»Wahnsinn«, erwiderte der Schatten. »Wir werden es nicht hinnehmen, dass du uns tötest. Nicht
ohne Gegenwehr. Alles, was du bis heute mit uns erlebt hast, alle >Anfälle<, wie du es nennst,
waren nur ein schwacher Vorgeschmack auf das, was sein wird, wenn wir nicht mehr sind.«
Cloud lachte auf. »Du... drohst mir?« »Wir wollen leben.«
»Ihr täuscht euch doch selbst. Das, was ihr führt, ist kein Leben. Es ist...« Ihm fehlten die Worte.
Ihm fehlten die Argumente.
»Du wirst dir nicht einmal mehr wünschen können, es nie zugelassen zu haben, wenn du ihn
wirklich gewähren lässt«, sagte die Frau. »Du wirst dein restliches Leben auf eine Weise
verbringen, die du nicht wollen kannst! «
»Wie?«
»Reif für die Anstalt. Reif für, die Klapse.«
Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie nahe ihm die Worte gingen. Aber natürlich
wussten sie es. Sie waren er, er war sie.
»Das werde ich auch, wenn ich euch in mir lasse!«
»Nicht zwangsläufig.«
Erst jetzt bemerkte er, dass sie ihn von allen Seiten umstanden, ihn umzingelt hatten.
Er wollte den Kreis durchbrechen, aber sie streckten ihre Schattenarme aus und hielten ihn fest.
Ihre Berührung war von roher Gewalt. Die Fassade der gesitteten Zusammenkunft brach binnen
eines Augenblicks in sich zusammen, und ihm wurde bewusst, wie es wirklich um sie bestellt war.
Sie waren verzweifelt. Hilf- und ratlos.
Und zu allem entschlossen.
Nein, dachte er, während sie enger und enger auf ihn zurückten, als wollten sie mit ihm
verschmelzen - was längst geschehen war -, und als würde zugleich an ihnen jemand zerren...
Darnok!
Cloud merkte, wie ihn das Grauen übermannte. Er fühlte die Angst und Entschlossenheit derer, von
denen er befreit werden wollte. Er hatte immer nur an sich gedacht, nie an sie.
Wäre es wirklich anders gekommen, wenn er sie akzeptiert hätte?
Hatte Darcy sie akzeptiert, und hatte er deshalb als einziger nicht unter Anfällen geistiger
Umnachtung gelitten, unter Momenten, in denen sich die fremden Bewusstseinssplitter in den
Vordergrund drängten?
Cloud konnte ihn nicht mehr fragen. Darcy war tot. Das seltsame Steinwesen, dem sie im Äskulap-
Schiff begegnet waren, hatte die Schüsse erwidert, mit denen er auf es losgegangen war.(siehe
Band 1 Armageddon)
Darcy und Seymor waren tot.
Enger und enger drängten sie auf ihn zu. Begruben ihn unter sich. Zerrten und rissen an ihm. Und
sie sprachen so wirr durcheinander, dass er kaum noch eine Stimme von der anderen unterscheiden
konnte.
John Cloud fühlte sich dem Zustand, den sie ihm angedroht hatten, bereits verteufelt nahe.
Wahnsinnig.
Sie wollten ihn in den Wahnsinn treiben!
Und er spürte, dass es ihnen gelingen könnte, ganz egal, welche Fähigkeiten Darnok besaß - und
wie konsequent er sie auch einsetzen würde...
Cloud schrie so laut er konnte - und hoffte, diesem Schrei nur folgen zu müssen, um ins Erwachen
zu fliehen.
Doch er irrte.
Die Gespenster wichen tatsächlich, aber...
Dann war da doch nur ein weiterer Raum, ähnlich detailarm, ähnlich fremd und unbehaglich wie
der erste, nur größer, sehr viel größer. Es war nicht die Umgebung innerhalb des Karnuts, was
bedeutete, dass er eben doch noch nicht wieder aus der Narkose erwacht war, in die ihn Darnok
versetzt hatte.
Aber was bedeutete es darüber hinaus?
»Johnny?«
Er fuhr herum.
Es war, als würde ihm jemand bei lebendigem Leib eine Hand in die Brust stoßen und um sein
Herz schließen.
Zudrücken.
Vor ihm stand - keineswegs verschwommen, sondern so klar, wie es nur sein konnte - sein Vater.
Er trug den Raumanzug, mit dem er vor 22 Jahren an Bord der ARMSTRONG zum Mars
aufgebrochen war. Denselben Anzug, in dem er auch gestorben war.
Verschwunden, korrigierte sich Cloud, als wäre es ein unverzeihlicher Frevel, hier vor seinem Vater
zu stehen und ihn gleichzeitig für tot zu erklären.
Ein Traum, eine Halluzination, eine Erscheinung - natürlich.
Aber so echt, dass es Cloud fast erdrückte. »Dad...«
»Du hast Recht«, sagte er. »Ich bin nicht echt. Ich bin das, was du noch von mir in dir trägst. Als
Erinnerung.«
»Was... willst du?«
»Ich bin dir unangenehm?«
»Nein... Nein!«
»Ich werde dich nicht lange aufhalten.«
»Du verstehst nicht...«
»Ich verstehe besser, als du denkst. Und ich wünschte, du würdest es endlich akzeptieren - und
verstehen und...«
»Ja?«
»... und mich loslassen.«
»Dad!«
»Es würde mir nicht gefallen - ich meine dem echten Nathan würde es nicht gefallen -, wenn er
gewusst hätte, dass du dich selbst eines Tages nur für ihn in solche Gefahr bringen würdest.«
Cloud wollte dem widersprechen, aber er wusste zu genau, dass es die schlichte Wahrheit war.
Nein, er wäre wohl niemals vom Ehrgeiz befallen worden, zum Mars zu fliegen, wenn nicht sein
eigener Vater unter den Vermissten der ersten Mission gewesen wäre. Die Sterne hatten ihn immer
fasziniert, vielleicht sogar gerufen. Aber wahrscheinlich - nein sicher - wäre sein Leben völlig
anders verlaufen, wenn sein Vater damals vom Mars wieder zurückgekehrt wäre.
Alles wäre anders gekommen. Es hätte wahrscheinlich weder die RUBIKON noch die GenTecs in
ihrer heutigen Form gegeben. Es hätte...
»Loslassen und akzeptieren«, bekräftigte Nathan Cloud.
Er stand nur wenige Schritte von seinem Sohn entfernt, und dennoch hatte dieser nicht das Gefühl,
ihn jemals erreichen zu können. Es war alles nur Illusion. Sie hatten damals Abschied voneinander
genommen, damals auf der Erde: der sechsjährige Johnny und der erwachsene, vom Marsfieber
gepackte Nathan Cloud.
Dessen Schicksal immer noch ungeklärt war - obwohl sein Sohn inzwischen einen Abgrund von
Lichtjahren hinter sich gelassen hatte und sich irgendwo in der Galaxis herumtrieb.
Falls es noch die Galaxis war, die die Menschen Milchstraße nannten.
Alles war möglich.
Doch zumindest auf die Frage nach der Galaxis kannte Darnok mit Bestimmtheit die Antwort.
Darnok, der rätselhafte Außerirdische, ohne den sie schon früh gestorben, ohne den sie aber auch
nicht in diese Lage geraten wären...
Darnok.
DARNOK!
Ich verliere ihn, dachte Darnok. Was ist, wenn ich ihn tatsächlich verliere? Die Stimmung, die ohnehin extrem angespannt war - wen wunderte es? -, würde endgültig kippen,
und er würde sich vielleicht gezwungen sehen, auch die anderen zu...
Was? Töten?
Er war entsetzt über sich selbst. Gleichzeitig verzieh er sich den Gedanken. Was anderes würde
ihm übrig bleiben? Nach allem, was geschehen war, nach allem, wie er sich ihnen präsentiert hatte?
Sie würden ihm niemals glauben, dass unvorhersehbare Komplikationen John Cloud von der Erde
das Leben gekostet hatten.
Sie würden ihm Vorsatz unterstellen und ihn in derselben Sekunde attackieren. Schon um sich und
das Karnut zu schützen, würde er handeln müssen!
Der Mensch wand sich immer hektischer, immer berserkerhafter in der Konstruktion, in der Darnok
ihn zuvor fixiert und dann mit dem Eingriff begonnen hatte, mit dem er ihn von seinen
Heimsuchungen befreien wollte.
Er wollte tatsächlich helfen.
Schon aus Eigennutz.
Das Geschehen war längst seiner Kontrolle entglitten. Der Kubus hatte ihre Zuflucht, ihr
vorübergehendes Versteck vor den sie verfolgenden Erdschiffen sein sollen. Stattdessen war er zur
Todesfalle geworden.
Tovah'Zara...
Der Name, unter dem die Bewohner des unglaublichen Würfels ihre Wasserwelt kannten, blitzte
kurz in Darnok auf. Es verstärkte seine Verunsicherung noch mehr. Er hatte an Dingen gerührt, von
denen er hätte wissen, zumindest aber ahnen müssen, dass sie...
»Darnok!«, rief die, die sich Scobee nannte.
Die Menschen, die sich außer John Cloud an Bord aufhielten, waren aufmerksam geworden.
»Stör mich nicht! «, befahl Darnok.
»Was ist los? Warum windet er sich so? Hat es etwas...?«
... mit diesem Ort zu tun?
Sie ließ den Satz unvollendet, aber Darnok hatte sich die gleiche Frage selbst schon gestellt.
Und begriffen, dass er sich davor fürchtete, die Antwort könnte ja lauten.
Er wusste nicht, wo sie sich befanden. Er hatte das Karnut durch eine Lücke jenes Geflechts
manövriert, das den Instrumenten zufolge ein absolutes Vakuum, absolute Leere umschloss. Hier
war kein Wasser wie sonst überall im Kubus zu finden.
Aber den Instrumenten, das hatte er im Moment der Passage erkannt, war nicht zu trauen. Es war
unverantwortlich gewesen, ins Innere der eine Lichtsekunde durchmessenden Sphäre zu steuern...
Unverantwortlich!
»Darnok! «
Er begriff, dass er sich geirrt hatte.
Die Stimmung würde nicht kippen, sobald John Cloud starb.
Sie tat es schon vorher - jetzt.
Und zwar nicht nur die Stimmung der Menschen, sondern auch seine eigene. Er hatte das Gefühl,
von innen heraus zu erstarren. Zu einem Block aus Eis zu gefrieren, so dunkel wie die schwarze
Leere, die außerhalb des Karnuts herrschte.
Während seine Wahrnehmung mehr und mehr getrübt wurde, hörte er jemanden schreien: »Es ist
eine Falle! Wir Narren haben uns freiwillig in eine Falle begeben!«
Mit letzter Kraft wandte er sich an die, die ebenso betroffen waren wie er.
»Keine Falle«, wisperte er. »Das Ende. Es ist das Ende. Das absolute Nichts, das uns verschlingt!
Ich spüre, wie es nach mir greift...«
Und dann war es da.
Darnoks Schrei schien die Schiffshülle zerschneiden zu wollen, brach dann aber abrupt ab.
Röchelnd sank der Keelon zusammen.
Scobee sah es aus schreck geweiteten Augen. War es wirklich erst Minuten her, dass der Keelon
sein Schiff durch eine der Maschen des Energiegespinstes gesteuert hatte - um sie vor dem Zugriff
der Nanoschwärme in Sicherheit zu bringen?
Sicherheit, dachte sie, pah! Das hier ist nicht das, was ich darunter verstehen würde. Und G.T. auch nicht. Jarvis hatte das mit der Falle gebrüllt. Und Scobee war geneigt, ihm ebenso zu glauben wie
Darnok, der die Lage, in der sie sich befanden, nur anders umschrieben hatte.
Das Ende.
Scobee schüttelte den Kopf, ballte die Fäuste. Nein! Definitiv nein!
Sie waren durch ein Wurmloch geflogen und irgendwo in den Sternentiefen wieder ausgespuckt
worden. Sie hatten eine Welt betreten, die fast vollkommen mit Eis überzogen war und von
geflügelten, intelligenten Wesen bewohnt wurde.
Jiim, dachte sie wehmütig.
Die einstige Hochzivilisation der Geflügelten war von Fremden aus dem All in Grund und Boden
gestampft worden. Und anschließend hatten sie diesen im All treibenden Würfel mit einer
Kantenlänge von einer Lichtstunde entdeckt - eine Lichtstunde! -, in den sie an Bord von Darnoks
kleinem Schiff eingedrungen waren. Sie hatten auch dies überstanden, hatten Jarvis ebenso wie
Cloud aus vorübergehender Gefangenschaft herausgeboxt...
Und nun sollte es zu Ende sein?
Nun sollten sie einfach darauf warten, dass Darnoks Prophezeiung eintrat?
»Darnok!« Sie rief nicht nach dem Keelon, sondern signalisierte ihren beiden Gefährten, Jarvis und
Resnick, dass in dem kleinen Raum, den Darnok für die Operation an Cloud abgegrenzt hatte,
etwas nicht stimmte. Dass Cloud sich immer hektischer in seinen unsichtbaren Fesseln wand,
während der Außerirdische, der versprochen hatte, ihn von seinen entarteten Wissensimplantaten
zu befreien, gerade vor ihren Augen zusammengebrochen war.
Darnok sah nicht einmal entfernt wie ein Mensch aus, eher wie ein dunkles, überdimensioniertes
Herzorgan, dessen kurze Extremitäten an gekappte Adern erinnerten. Er hatte nichts, was Scobee
als Gesicht hätte bezeichnen mögen. Zumindest vermochte sie es bis heute nicht an ihm zu
erkennen.
Ähnlich fremd - vielleicht sogar hässlich - mussten sie umgekehrt auf ihn wirken. Den letzten
Keelon, wie er sich bezeichnete. Um ihnen bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit
unter die Nase zu reiben, dass sie »schuld am Untergang seines Volkes« seien.
Er war nicht das, was man einen Freund zu nennen pflegte.
Aber er war auch nicht ihr Feind - zumindest hoffte Scobee das.
Sie eilte auf die transparente Wand zu, die ihr den Weiterweg versperrte und sie von der kleinen
Zelle trennte, in der sich ein außer Rand und Band geratener Cloud und ein ohnmächtiger -
vielleicht toter - Darnok aufhielten.
Die Vorstellung, der Keelon könnte einfach gestorben sein, versetzte ihr einen Stich.
Entschlossen schlug sie mit den flachen Händen gegen das glasartige Material. Es patschte dumpf,
aber sie bezweifelte, dass die Geräusche drinnen zu hören waren.
Neben ihr tauchte Resnick auf. Sein kahler Schädel glänzte ölig im fahlen Licht, welches das
Innere des Karnuts erfüllte - und das Trost hätte spenden sollen, weil es die schreckliche Finsternis
aussperrte, die jenseits der Hülle herrschte. Aber es tröstete nicht im Entferntesten. Oder es blieb
keine Zeit, sich darauf einzulassen.
Minuten? Oder war es nicht tatsächlich erst Sekunden her, dass sie die Lücke passiert hatten?
Scobee merkte, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Doch das war momentan nebensächlich.
Cloud zählte.
Darnok zählte.
Keine weiteren Verluste!, flehte sie.
»Wir müssen rein!«, zischte sie.
Auch Jarvis gesellte sich zu ihnen. Die beiden GenTecs tauschten Blicke, dann nickten sie einander
zu.
»Wie wär's damit?«, fragte Jarvis - und hielt die Stabwaffe empor, die Darnok für sie geschaffen
hatte.
»Nein!«, wehrte Scobee fast schroff ab. »Wir wissen nicht, was sie hier an Bord anrichtet. Die
Risiken sind unkalkulierbar. Wenn die Außenwand beschädigt wird...«
»... sterben wir wenigstens schnell«, hielt Resnick trocken dagegen. Seine pechschwarzen Augen
erweckten den Anschein, als wäre auch sein Schädel mit jener beklemmenden Dunkelheit gefüllt,
die den Raum prägte, durch den sich Darnoks Schiff in Schleichfahrt bewegte. Wenn es sich
überhaupt bewegte und nicht völlig regungslos im Nichts hing.
Sie hatten gelernt, das Karnut notdürftig zu steuern. Aber das war draußen gewesen, umgeben von
Wasser. Hier, in dieser finsteren Leere, die der Holoschirm als einen gähnenden Abgrund aus
purem Schwarz darstellte, traute sich dies keiner zu. Es scheiterte schon daran, dass sie keine
Instrumente ablesen und deuten konnten. Darnok und das Karnut waren eins. Im Regelfall ruhte der
molluskenartige Außerirdische in einer kreisrunden, etwas mehr als anderthalb Meter
durchmessenden Wanne, über die er bei Bedarf eine Energiekuppel schaltete, die wahlweise
transparent oder so undurchsichtig wie Stahl sein konnte.
Sobald er sich in diese Hightech-Mulde legte, verschmolz er schier mit dem Schiff, das ein
Wunderwerk war, eine technologische Meisterleistung. Unter Wasser hatte es seine Schwächen,
aber draußen im freien Raum spielte es seine enormen Möglichkeiten voll aus.
Sie hatten es während der Flucht vor den Erdschiffen erlebt.
Wobei Darnok aus Details nach wie vor ein Geheimnis machte. Das Antriebsprinzip des Karnuts
war ebenso unbekannt wie die Energiequelle, die es speiste. Der Begriff Nanotechnik war gefallen.
Aber was auch immer ein Keelon darunter verstehen mochte, es gab keinen Zweifel, dass es etwas
völlig anderes war, als das, was die Menschen zur Mitte des 21. Jahrhunderts gerade begonnen
hatten auszuloten.
Des 21. Jahrhundert...
Scobee wurde sich schmerzlich bewusst, dass sie diese Koordinate im Strom der Zeit weit hinter
sich gelassen hatten. Sie waren in eine Zukunft verschlagen worden, von der sie noch immer nicht
wussten, wie weit entfernt sie von ihrer angestammten Gegenwart lag. Wie viele Jahre, Jahrzehnte
oder gar Jahrhunderte hatte das Wurmloch ihnen gestohlen?
Wir werden es nie erfahren. Wir werden nie mehr auch nur diesen heiligen Ort der Vaaren
verlassen...
Wenn wir nicht bereit sind, auch einmal Risiken einzugehen!
»Ich habe es mir überlegt«, wandte sie sich an Jarvis und nickte dabei zu der stabförmigen Waffe
von unbekannter Durchschlagskraft hin. »Falls Resnick ebenfalls einverstanden ist... Tu es! Aber
sei vorsichtig...«
Resnick nickte knapp. Er hatte schon zuvor angedeutet, dass ihm ein Ende mit Schrecken im
Zweifelsfall willkommener war als ein Schrecken ohne Ende.
Scobee lauschte in sich, um herauszufinden, wie es mit ihr selbst stand. Sie hatte in ihrem kurzen
Leben mehr riskiert als die beiden GenTecs, mehr als Cloud und vielleicht sogar mehr als Darnok,
über den sie viel zu wenig wusste, um dies beurteilen zu können.
Schließlich gab sie sich einen Ruck. Ja, sie war bereit. Ganz gleich, was kam.
Aber im nächsten Moment drückte Jarvis ab, und sie musste erkennen, dass sich ihre schlimmsten
Befürchtungen erfüllten.
Hier drinnen im wasserfreien Raum spie der Stab etwas aus, das sich verheerend auf die Struktur
des gesamten Karnuts auswirkte - nicht nur auf die Stelle, auf die Jarvis gezielt hatte.
Der Schuss wurde von einem Geräusch begleitet, das an eine Hochleistungsturbine erinnerte.
Energie verließ den Abstrahlpol der Waffe, prallte gegen die Wand, hinter die sich Darnok mit
Cloud zurückgezogen hatte - und perlte daran ab wie Regen von einem Wachstuch...
Bis sie über den Boden züngelte, auf dem Scobee und die beiden GenTecs standen.
Im nächsten Moment begann das zerstörerische Licht, ungeachtet der Kleidung, die sie trugen, an
ihnen emporzuzüngeln und sich in ihre Körper zu fressen.
2. Erde, 2041 a.D. Brent Carlight lächelte wehmütig, als ihm seine Tochter Nell das Nest zeigte.
In der Küche hantierte Donna, und aus verborgenen Lautsprechern tönte der schwer erträgliche
Song einer nicht minder schwer erträglichen virtuellen Band, die in den Tagen vor der Invasion von
den Sendern rauf und runter gespielt worden war. Nell hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis sie den
neuesten Kristall der Phantasms als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk in Händen hielt.
Ein Schritt, den Brent Carlight inzwischen zutiefst bereute. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass
er - und die ganze Menschheit - wohl von Nachfolgewerken verschont bleiben würde.
»Wow!«, sagte er. »Ein Ei.«
Es sah nicht wirklich beeindruckend aus, aber für Nell schien es einem Wunder gleichzukommen.
Und irgendwie konnte auch Carlight sich der Faszination dieses unscheinbaren Dings nicht völlig
verschließen.
Ein Ei.
Es musste Abermilliarden davon seit Entstehung des Lebens auf der Erde gegeben haben - ganz zu
schweigen von anderen Planeten in der Weite des Universums.
Andere Planeten! Sie waren näher gerückt, aber auf eine Weise, auf die Carlight um seinet- und um
seiner Familie willen liebend gern verzichtet hätte.
Ob Leben darin tickte?
Möglich war es.
Sie hatten die beiden Kanarienvögel als Paar gekauft. Nell hatte ihnen seit zwei Jahren wegen eines Haustiers in den Ohren gelegen. Aber sie hatte diese Allergien. Die beiden Kanarien waren spezielle anti-allergene Züchtungen. Darauf hatten sie sich geeinigt. Seit knapp drei Wochen gehörten sie zum Haushalt der Carlights. Auch sie hatten die Tage vor der Ankunft der Fremden also noch erlebt - obwohl es für sie wohl den geringsten Unterschied machte. Und nun das Ei. Ob es befruchtet war? Carlight ging davon aus - allerdings verstand er zu wenig von diesen Dingen, um es wirklich beurteilen zu können. Als könnte Nell seine Gedanken lesen, fragte. sie in diesem Moment: »Schlüpft daraus ein Junges?« »Wir können es nicht ausschließen«, sagte Carlight lächelnd. Er musste sich zwingen, sein bestes Daddy-Lächeln aufzusetzen. Jedes Mal, wenn er Nell ansah, wenn er bei ihr war und ihr unerschütterliches Gottvertrauen spürte, wurde ihm fast übel vor Angst und Sorge um sie. Ihre Medikamente würden noch genau drei Wochen reichen. Carlight besaß Beziehungen, die er momentan ausschöpfte - aber selbst wenn er über irgendwelche Kanäle an Nachschub herankam, würde dieser nicht ewig halten. Und wenn sich Nells Zustand dramatisch verschlechterte...? Der kleine Washingtoner Vorort, in dem sie lebten, seit Nell auf die Welt gekommen war, hatte sich in eine Geisterstadt verwandelt. Viele, vor allem kinderlose Paare, waren mit Sack und Pack von hier fort gegangen, noch am Tag der Landung, als sich eines dieser grausig schönen Schiffe vom Himmel herabgesenkt hatte. Hier und in vielen anderen Metropolen der Erde. Sie waren gekommen, und schon vor ihrer Landung hatten sie das Feld für Chaos, Furcht und Tod bereitet. Carlight erinnerte sich an die Erschütterungen und das Donnergrollen, als die Schwarze Flut den Planeten für wenige Minuten regelrecht erstickt hatte. Mehrere private Charter- sowie Militärmaschinen waren an diesem Tag wie Steine vom Himmel gefallen - ein vollbesetztes Passagierflugzeug ganz in der Nähe. Es hatte sich angehört, als würde sich ein Bombenteppich ausbreiten. Die Zahl der Todesopfer infolge der Flut war so ungeheuerlich hoch, dass es bis heute noch keine wirklich verlässlichen Zahlen dazu gab. Und das war erst der Anfang gewesen. Die Landung der Äskulap-Schiffe hatte alles noch verschlimmert. Die kleinen Leute, die einfachen Angestellten- und Arbeiterfamilien, hatten sich dem plötzlichen Ruin ausgesetzt gesehen. Es gab keine funktionierende Wirtschaft, kein funktionierendes Sozialsystem mehr - und erst recht keine funktionierende umfassende medizinische Versorgung. Drüben in Washington, nur wenige Meilen entfernt, sah es noch katastrophaler aus. Kranke und alte Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die Unfälle erlitten, starben. Und die meisten davon hätten noch lange weiterleben können, wenn sie nicht gekommen wären. Sie, die bis zur Stunde in ihren Schiffen geblieben waren, die noch immer kein Gesicht für die Menschen besaßen -und es dennoch schafften, einen ganzen Planeten mit lähmendem Schrecken zu überziehen... »Tut mir Leid, Prinzessin«, wandte sich Carlight an seine fünfjährige Tochter. »Daddy muss los,
die Arbeit ruft.«
Sie war noch zu klein, um dies in Frage zu stellen. Keiner seiner Nachbarn fuhr mehr zur Arbeit,
weil die wenigsten noch Arbeit hatten.
»Bis dann, Dad.«
»Bis dann, Prinzessin.«
Carlight küsste seine Tochter auf die Stirn und umarmte sie inniger als er es jemals getan hatte. Als
es ihr unangenehm wurde, richtete er sich abrupt wieder auf und strich sich seinen Anzug glatt.
Bevor er das fast sterile Zimmer verließ, seine Tasche nahm und sich von Donna verabschiedete -
ebenfalls eine Idee inniger als sonst -, warf er noch einen letzten Blick auf das Ei.
Falls tatsächlich ein Vogelküken darin steckt, dachte er, hat es allerbeste Chancen, mich zu überleben. Dann verließ er das Haus, das er vielleicht nie mehr betreten würde und fuhr zu dem Depot, das sie ihm genannt hatten, um die Bombe zu holen.
Etwa zur gleichen Zeit, Nevadawüste »Wie lange?«, fragte Sarah Cuthbert und nippte an ihrem Wasser, das voller Zusätze war und dennoch modrig schmeckte. Sie wusste, dass es ein psychisches Problem war, Auch wer nicht unter Klaustrophobie litt, musste nach Tagen des lebendig Begrabenseins in eine Krise rutschen, die sich bei jedem anders äußerte. Bei ihr war es das Wasser. Egal aus welcher Leitung, egal aus welcher Flasche es kam, es schmeckte immer abgestanden, alt und... schmutzig. Sarah hatte es mit anderen Getränken versucht, aber selbst bei Fruchtsäften schmeckte sie den Moder durch. Als Sid Palmer - ihr engster Vertrauter, der eine frappierende Ähnlichkeit mit Frank Sinatra in dessen Fünfzigern hatte - nicht antwortete, wiederholte sie ihre Frage, diesmal eine Spur drängender. »Wie lange, Sid?« Er blickte von seinem scheckkartenflachen Rechnermodul auf, dessen Oberfläche in ein halbes Dutzend Segmente unterteilt war. Auf einem scrollten nur Zahlenkolonnen, auf anderen waren Texte, Bilder oder Filmsequenzen eingeblendet, manche live. Sid Palmer handhabte sein knapp dreißig mal vierzig Zentimeter großes Tableau virtuos. Er blickte auf und sagte: »Neun Tage.« »Neun Tage«, echote die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. »Ich hätte gedacht, dass es schon länger her ist. Viel länger...« Und in Gedanken fügte sie hinzu: Seit die Schiffe gelandet waren. Unglaubliche Schiffe. Die sich in Bauwerke verwandelt hatten. Kathedralartige Bauten, von denen das nächste in Washington D.C. gut fünfhundert Meter hoch in den Himmel hineinragte. Wolkenkratzermaße. Von der reinen Größe her konnten die außerirdischen Monumente zwar nicht mit den höchsten Wolkenkratzern der Menschen konkurrieren, dafür aber auf jedem anderen Gebiet. Die Imposanz der verwandelten Schiffe war atemberaubend - und das obwohl Sarah sie nie persönlich aus nächster Nähe gesehen hatte. Aber die hereinkommenden Bilder sprachen Bände. »Was mag bei den Chinesen los sein?«, richtete sie die nächste Frage an Palmer. »Warum scheitert jeder Kontaktversuch mit Sadako? Er wollte sich doch melden. Wir wollten doch gemeinsam unser weiteres Vorgehen planen und abstimmen...« »Ich arbeite dran«, gab Palmer zurück. Was immer das bedeuten mochte. »Sid?« »Ja?« »Was meinst du, was hinter dem Betrug steckt? Vor allem, wer?« Er wusste sofort, worauf sie ihn ansprach: auf die Vertauschung von GT Scobee und MatrixScobee. Statt der GenTec war die Matrix an Bord der RUBIKON gegangen und mit zum Mars aufgebrochen. Das aber war niemals vorgesehen gewesen. Und auch wenn es gegenwärtig dringlichere Probleme gab, konnte Sarah doch Professor Hays Reaktion nicht vergessen, als er sich entlarvt gefühlt hatte. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, den Stützpunkt mit gefälschten Papieren verlassen, und seitdem war nichts mehr von ihm gehört oder gesehen worden. Er hatte ein Fahrzeug entwendet,
aber dessen Reichweite war begrenzt, und die oben herrschenden Bedingungen waren schwer
kalkulierbar. Erst recht für einen verschrobenen Wissenschaftler von Hays' Kaliber.
Möglich, dass er bereits tot war, irgendwo in sengender Sonne vor sich hin stank und verweste.
Aber ebenso gut konnte es sein, dass er durchgekommen war.
Wohin?
Die Antwort auf die Frage, welches Ziel sich Hays für seine Flucht ausgespäht haben mochte, lag
auf der Hand. Zumindest fürchtete Sarah, dass dem so war.
Und wenn ich Recht behalte, sind wir hier nicht sicher. Dann haben wir uns hier unser eigenes
Grab geschaufelt. Kein Bunker der Welt kann uns vor ihnen schützen, wenn sie uns erst einmal
aufgespürt haben!
Sie war sicher, dass ganz speziell sie auf einer Liste der Außerirdischen stand, unter den Most
Wanted People ganz oben. Denn dies war eine Invasion, auch wenn sie anders - sehr viel subtiler -
ablief, als ein H. G. Wells es beispielsweise in seinem Kampf der Welten geschildert hatte.
Dead or alive, dachte Sarah. Tot oder lebendig - wie war sie für die Eroberer der Erde wertvoller?
Besaß sie überhaupt einen Wert für sie - über die Machtdemonstration hinaus, mit der man sie
wahrscheinlich, sobald man ihrer habhaft wurde, vom Leben in den Tod befördern würde.
Ein Exempel... Ich diene wahrscheinlich nur dazu, ein Exempel zu statuieren. Wie rigoros die Außerirdischen vorgingen, hatten sie auf der lunaren Basis der Chinesen bewiesen. Die Förderungsstätten, wo auch ohne Wissen der Öffentlichkeit das Marsschiff RUBIKON gebaut und auf den Weg geschickt worden war, existierten nicht mehr. Eines der Armadaschiffe der Fremden hatte sie samt der dort lebenden Tyconauten ausgelöscht. Entsprechende Bildaufzeichnungen hatte Kaiser Hu Sadako persönlich nach Washington geschickt - kurz bevor Sarah aus dem Weißen Haus hierher in die Nevadawüste geflohen war. Es war ein unterirdisch angelegter Geheimstützpunkt, der in relativer Nähe zu einem anderen lag, in dem Hays sein Telepathenprojekt betrieben hatte. Ebenbilder der GenTecs, die zum Mars aufgebrochen waren, um die Ursache des Scheiterns der ersten Mission 2019 aufzuklären, hatten eine permanente Kontrolle der Situation ermöglichen sollen - ohne dass die GenTecs an Bord der RUBIKON von den telepathischen Zwillingen etwas wussten. Bis auf eine wahrscheinlich, mutmaßte Sarah. Scobee. Die zum Mars gereiste Scobee unterschied sich von den beiden anderen noch lebenden GenTecs sie war die Matrix, keine beliebige Kopie. Auch von Resnick und Jarvis gab es solche Matrizen, gentechnisch aufgewertete Originale, aber sie waren auf der Erde geblieben. Was auch in Scobees Fall hätte geschehen sollen. Doch Hays hatte offenbar im Zusammenspiel mit Matrix Scobee alles Erforderliche in die Wege geleitet, um sie und nicht ihre Kopie zum Mars zu entsenden. Warum? Und konnte Hays allein diesen Betrug überhaupt durchgeführt haben? Wenn nicht, wer waren die Mitwisser? Cronenbergs Verblüffung, als er vom Verschwinden des Professors erfuhr, hatte echt auf Sarah gewirkt. Offenbar schied die NCIA diesbezüglich aus. Oder war Cronenberg einfach nur so abgefeimt, dass er eine oscarreife Darbietung inszenieren konnte? Sie hatte Palmer nach seiner Meinung zu Cronenberg befragt. »Er scheint die Fäden jedenfalls fest in der Hand zu halten«, hatte er erwidert. »Dieser Stützpunkt tanzt nach seiner Pfeife. Ich traue ihm nicht. Wir sollten sehr, sehr vorsichtig sein.« Darauf hatten sie sich geeinigt, sehr vorsichtig zu sein. Aber was hieß das in die Praxis umgesetzt? Hays galt seit 36 Stunden als vermisst. Und Cronenberg hatte davon abgeraten, einen Trupp auf seine Fährte zu setzen. Mit dem Argument, keine Aufmerksamkeit auf den Stützpunkt zu ziehen. Aber genau dies konnte längst hinfällig sein - entweder weil Hays zu den Außerirdischen übergelaufen war, oder weil sie die Lage des Stützpunkts und seine Bedeutung längst kannten. Sie hatten ganze Schwärme von eigenen Satelliten ausgeschleust, nachdem sie den Orbit von
sämtlichen irdischen »gesäubert« hatten - ausgenommen Skytown, das gewaltige Rad, auf dem sich
vielleicht immer noch Menschen befanden, vollkommen abgeschnitten von der Erde...
Sarah grauste bei solchen Gedanken.
Ebenso gut konnten die Außerirdischen Skytown inzwischen ebenfalls eliminiert haben. Es gab
keinen Kontakt mehr dorthin, nicht einmal eine Sichtverbindung.
Genau wie die Sterne verschwunden waren.
Sarah glaubte natürlich nicht, dass sie wirklich fort waren. Aber offenbar hatten die Satelliten der
Außerirdischen eine Abschirmung errichtet, die den freien Blick ins All unterband. Seither waren
die Nächte finster, wie noch kein Mensch sie erlebt hatte. Mond und sternenlos gähnte der Himmel
wie ein dunkler Abgrund. Die Tage waren hell, aber es fand sich keine Sonne mehr, die morgens
im Osten aufstieg, zum Zenit hoch wanderte und abends im Westen versank. Dennoch blieb der
Wechsel von Tag und Nacht unverändert erhalten...
Eines von vielen Rätseln, das aber nicht annähernd solche Priorität besaß wie die gelandeten
Schiffe, deren Besatzungen ihre eigentlichen Absichten immer noch nicht klar zu erkennen
gegeben hatten.
Oder das Schweigen Sadakos, den sich Sarah gern als potentiellen Verbündeten erhalten hätte. Erst
recht seit sie wusste, dass in unbestimmbarer Zukunft irdische Raumschiff-Giganten durch die
Weiten der Galaxis flogen, auf denen Namen wie PEKING prangten...
Das erinnerte sie, dass es Zeit war.
Sie stand auf und ging zur Tür der engen Unterkunft, die sich nicht im Geringsten von den
Unterkünften der übrigen Stützpunktbesatzung unterschied. Hier gab es keine Standesunterschiede.
Und wahrscheinlich glaubte nur Sarah selbst noch ab und zu, die Präsidentin dieses Landes zu sein.
Ab und zu.
Die meiste Zeit aber fühlte auch sie sich furchtbar ohnmächtig.
Und zur Bedeutungslosigkeit degradiert.
Sid Palmer blickte fragend auf. Dann sah er auf seine Uhr und nickte. »Verstehe. Ihr tägliches
Rendezvous...«
»Uns bleibt hier nicht viel. Gönnen Sie es mir, Sid.«
Er nickte, stand ebenfalls auf und sagte: »Ich komme mit.«
»... haben die Schale... die Lücke durchdrungen... o mein Gott! Schwarz... dunkel... Wo sind wir hier? Die anderen sind genauso geschockt wie ich - es gibt Grenzen selbst für die Selbstkontrolle eines Klons. G.T. und Resnick sehen mich an, als wüsste ich, was passiert ist. Aber ich bin selbst völlig überrumpelt. Vakuum und Leere hat uns Darnok angekündigt, aber das hier ist mehr. Es ist ein ähnliches Nichts, ähnliche Schwärze wie damals, als wir fast den Mars erreicht hatten, als für Minuten die Welt um uns versank. Diesmal ist es draußen und bleibt auch draußen. Dennoch drückt es auf die Hülle des Karnuts, und ich frage mich, ob sie diesem Einfluss standhalten kann...« Das Mädchen schwieg. Scobee sah blass aus - wie immer -, denn sie hatte ihr Leben überwiegend in geschlossenen Räumen verbracht. In einem anderen Leben. Vor dem Moment, als Jupiter kollabierte und... »Was...?«, schrie das Telepathenmädchen plötzlich auf. »Da stimmt etwas nicht mit John. Mit Darnok, der ihn operiert... operieren will. Darnok bricht wie vom Blitz gefällt zusammen. John zuckt und schlägt und tritt trotz Narkose um sich... Ich will rein zu ihm, doch es geht nicht. Darnok hat einen kleinen Abschnitt des Karnuts für seinen Eingriff an John abgegrenzt, und ich sehe keine Tür, keine Möglichkeit, zu den beiden zu gelangen... G.T. und Resnick werden aufmerksam. Sie kommen zu mir. Ich bitte sie um Unterstützung. Da ist diese Waffe. Darnok hat sie uns gegeben. Draußen bei den Vaaren. Ihre Wirkung lässt sich nicht einschätzen.
Verdammtes Risiko, aber sie sterben vielleicht, wenn wir nicht zu ihnen gelangen. Darnok hat gerade noch etwas gesagt - einen Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ... Er braucht dringend Hilfe... Die Schwärze, das Nichts jenseits der Wandung scheint für seine Krise verantwortlich zu sein und vielleicht auch für die von John. Oder Darnok hat während des Eingriffs einen Fehler begangen, der John erst in dieses hysterisch zuckende Bündel verwandelt hat... Wir müssen rein - so oder so! Müssen... Die Waffe entlädt sich... o mein Gott! Was passiert jetzt? Das Feuer... Schmerz!« Die haspelnde Stimme des Telepathenmädchens - das ebenso aus der Matrix hergestellt worden war wie über ein Dutzend GenTecs, von denen die meisten im Kälteschlaf zum Mars geschickt worden und unterwegs gestorben waren - mündete abrupt in einen entsetzlichen Schrei. Der ebenso jäh wieder abbrach. Scobee fuhr aus dem Sessel, in dem sie geruht hatte. Der tranceartige Zustand fiel von ihr ab. Ihr Blick flackerte. Ihr Kopf ruckte hin und her. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schien nicht zu wissen, was sie tun sollte. Schließlich presste sie sie gegen die Brust, beide Arme überkreuzt, und starrte genau in Sarahs Richtung. Die Präsidentin stand auf und ging dem Mädchen entgegen. Erst schnell, dann, als sie sie fast erreicht hatte, ganz langsam und sehr bedächtig. »Sei unbesorgt«, sagte sie. »Es betrifft dich nicht. Es ist weit weg. Hab keine Angst... « Sie besuchte das Mädchen inzwischen jeden Tag und lauschte ihrem »Live«-Bericht aus der Zukunft. Sie mochte diese Scobee und fragte sich manches Mal, ob sie auch die Scobee gemocht hätte, die Licht- und andere Jahre von ihnen getrennt war. Die sich gegenwärtig - nein, eben nicht gegenwärtig! - an einem Ort namens Tovah'Zara herumtrieb. Einem unglaublichen Ort, der alles in den Schatten stellte, was Menschenhand je erbaut hatte. Tovah'Zara... Scobees Blick bohrte sich förmlich in Sarahs Hirn. Auge in Auge standen sie sich gegenüber, und Sarah hatte das Bedürfnis die junge, hübsche Flau in die Arme zu schließen - aber sie scheute davor zurück. Dieser Blick... Vielleicht war er es, der ihr bewusst werden ließ, dass sie gerade dummes Zeug geredet hatte. Es betraf diese Scobee hier sehr wohl - was immer auch gerade mit ihrem Gegenstück in der Zukunft geschah. Das Mädchen war eine Zeittelepathin. Die Verbindung zu der in der Zukunft gestrandeten Matrix war vermutlich stärker als alles, was normale Zwillinge jemals miteinander verbinden konnte., Und deshalb litt dieses Mädchen, das nie in Freiheit gelebt, nie eine Jugend und nie einen Freund besessen hatte, ganz genau so, als wäre es selbst gerade da draußen in Tovah'Zara unterwegs - da draußen im Aqua-Kubus, auf der Flucht vor dessen Herrschern... Die Tür glitt auf, und ein Militärarzt eilte herein. Er hielt sich in ständiger Bereitschaft, seit Hays verschwunden war. Sid Palmer verschaffte ihm mit knappen Worten einen Überblick. Sarah hörte nicht hin. Das Mädchen Scobee stand immer noch da und starrte sie an. Der Blick der Telepathin wirkte seltsam leer, und einen Moment fragte sich die Präsidentin, ob nicht ein Teil ihres Geistes - oder alles - drüben geblieben sein konnte. War Matrix Scobee soeben ums Leben gekommen? Und hatte sie im Sterben ein Stück von der Seele dieser Scobee mit sich gerissen? Die Enge der beispiellosen Verbindung ließ dies nicht völlig an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Ein leises Zischen erklang, dann sanken Scobees Schultern hinunter. Sarah sah gerade noch, wie der Arzt das Injektionsgerät zurückzog. »Was haben Sie ihr gegeben?« »Ein Sedativum - gut verträglich.« Sarah nickte und verabschiedete den Arzt mit einem Wink. »Besser?«, wandte sie sich an das Mädchen. Es war ein Mädchen, rein gefühlsmäßig, keine Frau wie Matrix Scobee. Diese Scobee war nicht halb so gereift, nicht halb so gefestigt wie eine erwachsene Frau, die alle möglichen Schulungen, Ausbildungen, Drills über sich hatte ergehen lassen...
Sarahs Gedankenkette brach. Sie begriff, dass sie gerade von GT-Scobee gedacht hatte, nicht von der Matrix. Deren Hintergrund, deren Werdegang und Charakterausprägung war ihr unbekannt. Darüber stand nichts in den Dossiers, die sie gelesen hatte.
Bis vor kurzem hatte sie nicht einmal von den Matrizen gewusst.
Das Telepathenprojekt, ja selbst die Marsmission waren nur Beispiele von unzähligen anderen Punkten auf ihrer Tagesordnung gewesen.
Gewesen.
Sie sehnte sich nach dieser Zeit zurück, wusste aber gleichzeitig, dass sie in dieser Form nie mehr wiederkehren würde.
Was hatten die Fremden auf der Erde vor?
Einer Erde, die sie nicht nur ihrer Sterne beraubt hatten...
»Nein!«, rief Scobee in diesem Moment - und brach zusammen.
3. Darnok krümmte sich. Er hatte dergleichen noch nie erlebt.
Noch nie!
Nicht einmal im Gewitter der höherdimensionalen Einflüsse nahe des galaktischen Zentrums, wo er
mit Lisee...
Der Gedanke an seine Gefährtin durchfuhr ihn wie ein Erdbeben. Er schrie auf, ohne dabei wirklich
einen Laut zu produzieren. Seine Sinne setzten abrupt wieder ein.
Dunkles Licht.
Von irgendwoher strömte - dunkles Licht?
Darnok spürte, wie der Raum jenseits des Karnuts nach ihm griff. Die Hülle des kleinen Schiffs
konnte die Einflüsse kaum fernhalten. Zugleich aber spürte er über aller Bedrohung auch etwas...
Vertrautes.
Er konzentrierte sich darauf, und plötzlich konnte er wieder freier atmen. Das dunkle Licht wurde
abgelöst von heller Dunkelheit.
Ich verliere den Verstand! Da war ein Geräusch. Da war Lärm, waren Stimmen...
Schreie.
Überaus reale Schreie.
Darnok brauchte einen weiteren Zwillingsschlag seines Herzens, um die Situation zu überblicken.
Dann handelte er.
Für Scobee sah es aus, als würde sich das Karnut aufbäumen, als wäre es ebenso lebendig wie die geformte Protomaterie der Luuren. Nach allem, was sie von Darnok erfahren hatte, war dem aber nicht im Entferntesten so. Das Schiff des Keelon war nicht organisch, es bestand aus Metall und Kunststoff und Energie. Aber die Keelon hatten offensichtlich einen Weg gefunden, direkten Einfluss auf die kleinsten Bausteine der Materie zu nehmen, auf die Atome. Ihre Technik reichte in den Nanobereich, griff in die innerste Struktur, das Muster von Dingen ein. Und war offenbar in der Lage, die Atome nach Belieben umzustrukturieren. Das Karnut vermochte eine Wand aufzulösen und an einer anderen Stelle neu entstehen zu lassen. Oder einen Anzug aus einem winzigen Prozentsatz seiner Masse herzustellen, einen Anzug, der nach einem Programm »gebaut« wurde, das sich in den Speicherbänken des Schiffes befinden musste. Einen Anzug... oder eine Waffe, dachte Scobee. Wie die, die uns gerade umbringt.
Der Strom, der durch ihren Körper geleitet wurde, dörrte ihn aus. Säure... Hitze... das Gefühl, mit dem sich die Elektrizität durch ihre Knochen, ihr Fleisch, ihr Blut wälzte, ließ sich kaum beschreiben. Sie fühlte sich, als würde sie ihre eigene Mumifizierung bei wachem Bewusstsein erleben - in Zeitlupe! Jarvis hätte längst den Finger vom Auslösemechanismus genommen haben müssen. Längst?, hallte es in Scobees Kopf wider. Wer weiß, wie lange ich schon brate. Vielleicht nur einen winzigen Moment, der sich subjektiv zur Ewigkeit ausdehnt... Sie begriff, dass nicht das Karnut sich aufbäumte, verzerrte und zu grotesker Hässlichkeit
aufblähte, sondern diese Effekte einzig von ihren revoltierenden Nerven erzeugt wurden...
Und dann war es vorbei.
Die Spannung verpuffte, die Krämpfe verschwanden. Genau wie die Wand, auf die Jarvis gefeuert
hatte.
Sie hörte einfach auf zu sein - und ein Schemen raste daraus hervor auf den GenTec zu.
Es war der Moment, in dem Scobee klar wurde, dass sie Darnok noch immer nicht kannte und
damit einzuschätzen vermochte.
Jarvis starrte auf die Waffe, diesen unscheinbaren dunklen, keinerlei Licht reflektierenden Stab und
hatte das Gefühl, in den Abgrund seines Lebens zu blicken. In einen tiefen Brunnen, an dessen
Ende er als winziges Menschlein ruhte, das in einem Brutkasten heranreifte und niemals Vater oder
Mutter kennen lernen sollte...
Die Qual, die ihn in dieser einen Sekunde wie ein Tsunami überrollte und unter sich zu zermalmen
suchte, war schlimmer als alles, was er je an Tests hatte bestehen müssen. Schlimmer sogar noch
als der Tag, an dem er zum ersten Mal tötete...
»Fressen oder gefressen werden! « Er würde die Stimme des Ausbilders nie vergessen. Er würde
seine einsamsten Stunden, die dunkel wie das Nichts im Herzen des Aqua-Kubus gewesen waren,
niemals vergessen. Er...
Die Mauer fiel.
Jarvis sah den unförmigen Schatten noch auf sich zuschießen. Aber selbst ihm, der jeden nicht in
vitro geborenen Menschen an Reaktionsschnelligkeit,, schierer Kraft und Robustheit übertraf,
gelang es nicht, dem Verhängnis zu entgehen.
Darnok kam wie eine Brandungswelle über ihn.
Und entwickelte Kräfte, denen selbst ein GenTec nichts entgegenzusetzen hatte.
Sein Magoo hüllte Darnok ein wie eine zweite Haut. Von diesem Moment an liefen die Uhren für ihn anders. So schnell, dass Augen kaum folgen konnten, erreichte Darnok den Menschen Jarvis - und entriss ihm die Verderben speiende Waffe, die dieser nicht unter Kontrolle hatte. Und die bei anhaltendem Fächerbeschuss jegliche Materie - ganz gleich ob organischer oder anorganischer Natur - in ihre Atome zerstäubte... Darnok stieß Jarvis zu Boden. Bevor er wieder auf das allgemeine Zeitniveau wechselte, nahm er überraschende Eindrücke von jenseits der Schiffshülle auf: Erkenntnisse, die alles änderten. Alles...
»Danke«, sagte Scobee, als aus dem Phantom wieder der Keelon wurde, den sie kannte. Und den sie dem vorzog, der er gerade gewesen war. Aber sie hatte begriffen, dass Darnok sie alle gerettet hatte. Dass sein »Angriff« gegen Jarvis nichts anderes als ein verzweifeltes Bemühen um Schadensbegrenzung gewesen war. Auch wenn Jarvis selbst diese bittere Kröte ungern zu schlucken schien, hatte sie ihn doch um eine Erfahrung und Erkenntnis reicher gemacht: GenTecs waren bezwingbar. Es gibt immer jemanden, der besser, stärker, klüger ist, dachte Scobee. Verdammt, hat irgendjemand ein Problem damit? Sie nicht. Zumindest bildete sie es sich ein. Gleichzeitig aber brachte sie auch Verständnis auf für den Schock, den Darnoks verblüffende Aktion bei Jarvis - und wohl auch bei Resnick - hinterlassen hatte. Ihre beiden Gefährten entsprangen einem anderen Hintergrund als sie selbst. Sie hatte ein anderes Leben geführt als sie, auch wenn sie dies gar nicht ahnten. Sie glaubten immer noch, es mit der GenTec zu tun zu haben, die mit ihnen sämtliche Ausbildungsstadien bis zum Aufbruch zum Mars durchlaufen hatte. Ich muss es ihnen irgendwann sagen - bald. Je länger ich warte, desto schwerer wird es, ihre Akzeptanz zu erhalten. Sie werden es vielleicht nicht billigen, aber verzeihen können. Aber was war mit Cloud? Würde er auch verzeihen können? Sie hatte kein todeswürdiges
Verbrechen begangen, aber sie hatte ihn ebenso wie die meisten Leute auf der Erde betrogen. Sie
hatte sich vor den Karren derjenigen spannen lassen, die längst zum Staat im Staate geworden
waren und die nach immer mehr Macht und Einfluss strebten. Männer wie...
Sie gestattete sich nicht, ausgerechnet jetzt an ihn zu denken. Der Mann, der die Fäden im
Hintergrund zog. Der Mann, der die Regierung hinterging und ein beängstigendes globales
Netzwerk aufgebaut hatte.
Clouds Schreie klangen jetzt, nach dem Verschwinden der Wand, ungedämpft durch das Karnut.
Scobee wollte zu ihm eilen, zu dem Mann, der in grotesken Verrenkungen in dem unsichtbaren
Gespinst aus manipulierter Schwerkraft schwebte. Aber Darnok stoppte sie mit einer Geste, die sie
noch nie bei ihm bemerkt hatte. Bis auf die gedrungenen Ausläufer, auf denen er stand, streckte er
ihr jäh sämtliche Extremitäten entgegen. Es erinnerte Scobee an das Spreizen einer
überdimensionalere Hand, einer Faust, die sich abrupt öffnete.
Eine Geste, die Stopp! rief.
Sie hielt es für klüger, ihr zu folgen. »Aber John...«
»Ich kümmere mich um ihn«, drang Darnoks Stimme aus den Wänden.
»Ich halte es für keine kluge Entscheidung, die Operation fortzusetzen... «
»Das ist klug von dir.«
Noch während Scobee über die Erwiderung nachdachte, rappelte sich Jarvis auf. Dabei akzeptierte
er Resnicks Unterstützung.
»Scobee?«
Sie wandte sich ihnen zu.
»Sag du mir, was passiert ist.« Sie hatte Jarvis noch nie so desorientiert, fast hilflos gesehen, und
sie begriff, dass nicht allein Darnoks rigoroses Einschreiten dafür verantwortlich sein konnte.
»Geht es dir gut?«, fragte sie.
»Es geht mir beschissen - aber das Thema hatten wir schon. Wahrscheinlich liegt es am Kubus.
Oder dieser Kugel, in die wir nie hätten fliegen dürfen. Es begann in ihrer Nähe - und es setzt sich
in ihr fort. Frag Resnick.« Jarvis blickte fragend zu dem Kahlköpfigen, in dessen Blick es fast
ebenso unsicher flackerte wie in den Augen von Jarvis.
»Ich fürchte, auch du wirst bald davon betroffen sein«, bestätigte Resnick indirekt. »Wie fühlst du
dich, Scobee?«
»Unverändert.«
»Genieße es, so lange es dauert.«
Das hatte sie vor. Die Schwäche, die Einschränkungen, unter denen die beiden GenTecs litten,
konnten tatsächlich mit ihrer Umgebung zusammenhängen. Beim Flug in die Hohlkugel hatte auch
Scobee Einflüsse gespürt, durchaus drastisch sogar. Aber sie waren vorübergegangen.
Clouds Schreie hörten übergangslos auf.
So plötzlich, dass Scobee alarmiert herumkreiselte. »Ist er ...?«
»Ich habe lediglich die Narkose aufgehoben«, beruhigte Darnok sie.
»Narkose?« Das Lachen blieb ihr im Halse stecken. »Wenn du das Narkose nennst... «
»Er reagierte atypisch, das räume ich ein. Und genau das ist auch der Grund, weshalb ich eine
Fortführung meines Eingriffs ablehne«, sagte Darnok. »Zumindest, bis ich die Gründe seines
Verhaltens ermittelt habe. Er dürfte eigentlich zu keiner Zuckung fähig sein, geschweige denn zu
solch heftigen Reaktionen.«
»Du hast die Sache nicht im Griff, alter Knabe«, warf Jarvis ein.
Darnok verzichtete auf jede Erwiderung.
»Wann wird er aufwachen?«, fragte Scobee. »Und wird er dann...«
»... vollkommen in Ordnung sein?« Darnok machte eine Bewegung, die offenbar Unsicherheit
ausdrücken sollte. »Wir werden sehen.«
»Toll. Operier mich bitte niemals, ganz egal, wie gut du es auch meinen solltest«, knurrte Jarvis.
»Gegen dich war Rurkka ja ein regelrechtes Genie.«
»Du hast Recht«, sagte Darnok. »Du hast völlig Recht. Er war ein Genie. Und ein Geschöpf, um
das ich trauere. Er hat toten Dingen neuen Sinn verliehen. Davor habe ich Respekt. Was kannst du
von dir behaupten, das mir Respekt abnötigen würde?«
»Wer sagt überhaupt, dass ich deinen Respekt will?«, versetzte Jarvis angriffslustig.
»Es könnte dein Leben verlängern.« »Du drohst mir?«
»Ich drohe euch allen!«
Scobee schritt ein. »Und ich hatte gehofft, du hättest inzwischen erkannt, dass wir nicht deine
Feinde sind, Darnok. Ich hatte es wirklich gehofft.«
Der Keelon schwieg. Schließlich sagte er: »Ihr seid Menschen. Erinjij.«
Offenbar genügte ihm das als Antwort.
Scobee schürzte die Lippen. Sie fragte sich, wohin das alles noch führen sollte. Die Konstellation
ihrer kleinen Notgemeinschaft war alles andere als viel versprechend.
In diesem Augenblick sagte Darnok: »Ich werde jetzt versuchen, unsere Lage zu verbessern.«
Die Ankündigung erfolgte ohne Überleitung, ohne vorausgehende Erklärung.
Dementsprechend verwundert fragte Scobee: »Was meinst du damit?«
»Ich habe während des Einsatzes meines Magoos etwas herausgefunden, was mich die Natur
unserer Umgebung besser verstehen lässt. Ich brauche etwas Zeit, absolute Ruhe... Stört mich
nicht! «
»Wie könnten wir es wagen«, knurrte Jarvis.
Und während sich Darnok in sein Becken zurückzog, trat Scobee zu Cloud, der immer noch keine
Anstalten machte aufzuwachen. Seine Züge wirkten entspannt, sein Atem ging ruhig und
gleichmäßig.
Scobee fragte sich dennoch mit mulmigem Gefühl, wie er seinen Schlaf beenden würde.
Ob er sie - und sie ihn - dann noch wieder erkannten, oder ob...
Seufzend griff sie nach seiner Hand, die kühl war.
Eine kräftige Hand, von der sie sich wünschte...
»Scobee?«
Sie drehte sich um, als sie Resnicks Stimme hörte.
»Scobee, das solltest du dir ansehen.«
Lautlos hatte Darnok in der Nanostruktur des Karnuts einen riesigen Monitor errichtet, der jetzt wie
ein lackschwarzes Loch in der Wand prangte.
Eine Weile tat sich nichts.
Dann aber veränderte sich die Schwärze.
»Irgendetwas geht da draußen vor«, sagte Resnick in alarmiertem Ton.
»Muss nicht, kann«, widersprach Jarvis. »Die Darstellung verrät nichts über die tatsächlichen
Gegebenheiten draußen. Der alte Geheimniskrämer könnte lediglich...«
Er verstummte, als die Veränderung auf dem Monitor sprunghaft deutlicher wurde.
Scobee erinnerte der Vorgang an einen Bildempfänger, der zunächst ohne Antenneneinsatz
gelaufen war, urplötzlich aber mit einem Verstärker und anderen Mätzchen aufgepeppt wurde.
Von einem Augenblick zum anderen verschwand die Schwärze völlig, machte mattem Licht Platz
und bewies ihnen einmal mehr, dass Darnok nicht zu unterschätzen war.
»Grundgütiger«, seufzte Resnick, »er hat es tatsächlich geschafft!«
Kein Zweifel, dachte Scobee völlig fasziniert. Denn wie alle anderen sah sie zum ersten Mal, wo
sie wirklich hin geraten waren und wie die Kugel von innen beschaffen war.
4. Erde, 2041 a.D. Brent Carlight beobachtete das seltsame Treiben, während er beide Hände tief in die Außentaschen seiner leichten Sommerjacke versenkte. Er hatte den Kragen hochgeschlagen, als wäre ihm kühl. Dabei war es sommerlich warm, fast heiß. Am Himmel trieben nur ein paar vereinzelte Kumuluswölkchen - wie Wattebäuschchen, die an unsichtbaren Fäden aufgehängt waren. An die Abwesenheit einer Sonnenscheibe hatte sich der NCIA-Mann gewöhnt. Er vermisste sie nicht. Er vermisste andere Dinge - zum Beispiel eine Zukunft. Das Paket an seinem Körper fühlte sich erdrückend an. Unweit von Carlight ragte der Turm auf. Das Ding, das vor neun Tagen gelandet war und zunächst noch wie ein fremdes, Furcht einflößendes Raumschiff ausgesehen hatte. Eine düstere, einen halben Kilometer weit schlank in den Himmel aufragende »Rakete«, deren Grundkörper von einem pulsierenden Wulst mühsam gebändigter Energie umlaufen wurde - wie eine Schlange, die sich um einen Stock schlängelt. So war der Name für die Schiffe der Außerirdischen entstanden: Äskulap. Doch bereits kurz nach der Verteilung auf zunächst 74 Standorte weltweit - später war noch ein fünfundsiebzigstes hinzugekommen -, hatten die gigantischen Gebilde sich zu verwandeln begonnen. In Objekte, die nichts mehr mit einem Raumschiff gemein hatten. In Bauwerke von beklemmender Anziehungskraft. Wolkenkratzer, wie sie kein irdischer Architekt hätte ersinnen können, ohne dass man ihn für geistesgestört erklärt hätte. Die Fremden scherte das nicht. Falls es sie überhaupt gibt, dachte Carlight. Inzwischen hegte er gewaltige Zweifel, dass diese Schiffe, die den Jupiter als eine Art Tor benutzt hatten, um zu den Menschen zu gelangen, überhaupt bemannt waren. Das stichhaltigste Argument, das für rein Automaten gesteuerte Fahrzeuge sprach, war, dass die Fremden sich auch weit über eine Woche nach der Landung weder gezeigt noch Gehör verschafft hatten. Im Grunde war es Irrsinn. Die öffentliche Ordnung war durch das bloße Erscheinen der Besucher erloschen, und für die Bevölkerungen rund um den Globus musste es so aussehen, als existierte die Exekutive ihres jeweiligen Landes nicht mehr. Die Polizei- und Militärpräsenz, in den ersten Tagen noch zumindest wahrnehmbar, war völlig verschwunden. Rückzug auf der ganzen Linie, dachte Carlight. Diese Idioten, warum tun sie nichts? Warum lassen sie uns die Kastanien aus dem Feuer holen? Mich... Er hatte keine Lust zum Sterben. Dennoch war er dazu bereit. Für seine Tochter. Für ihre Zukunft, die sie nicht haben würde, wenn die Invasion noch lange anhielt.
Invasion... Er schüttelte den Kopf, weil er einfach nicht verstehen konnte, dass sich eine Weltmacht wie USA nicht mit allen verfügbaren Mitteln gegen die Ankunft der 75 Schiffe gewehrt hatte - oder es wenigstens jetzt tat. Er hatte sich ein münzkleines, drahtloses Mikrofon unter den Adamsapfel geklebt, und in seinem linken Ohr steckte ein noch kleinerer Lautsprecher. Die dazugehörige Sende-/Empfangseinheit im Scheckkartenformat befand sich in seiner Hosentasche. Und in der anderen der Fernzündmechanismus, von dem nicht sicher war, ob er zum Einsatz kommen würde. Carlight strich sich über den Nacken. Er hatte Kopfschmerzen, seit er um drei Uhr morgens aufgewacht war und sich noch stundenlang im Bett gewälzt hatte. Die plötzliche Nähe des Todes verhalf dem Verstand zu einer noch nie da gewesenen Klarheit. Der Anruf hatte ihn am späten gestrigen Abend erreicht. Zunächst hatte Donna das Gespräch entgegengenommen und nach wenigen Worten wieder aufgelegt. »Verwählt«, kommentierte sie. Minuten später hatte das Supraphon zum zweiten Mal gesummt. Carlight stand wie zufällig näher dazu als seine Frau, sodass er den Hörer abhob. Auf diese Weise hatte er erfahren, dass es nach Tagen der Vorbereitung nun so weit war. Heute sollte es passieren. Und er, Carlight, würde der verantwortliche NCIA-Mann für Washington sein. Es gab noch 74 weitere, die ihre Einsatzorte rund um den Globus erreicht hatten. Das war alles, was Carlight über die Gesamtplanung wusste. Es genügte, und irgendwie barg es einen Trost in sich, nicht der Einzige zu sein, der heute mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben würde. Es gab noch andere Märtyrer wie ihn. Männer und Frauen, die sich freiwillig zu diesem Himmelfahrtskommando gemeldet hatten, ein jeder aus anderen, aber alle aus sehr persönlichen Gründen. Eine Stimme in seinem Ohr sagte: »Es ist so weit. Viel Glück. Ihr seid Helden.« Helden... Das Wort bereitete Carlight beinahe Brechreiz. Er wollte kein Held sein. Er wollte Nell aufwachsen sehen. Er wollte Donna in den Arm nehmen und sich eng an sie schmiegen, ihre Küsse und ihre Wärme spüren... »Scheiße! « Er setzte sich in Bewegung, scherte sich nicht daran, dass sein Fluch auf der anderen Seite der Verbindung gehört wurde. Es blieb wie erwartet folgenlos. Niemand tadelte Märtyrer. »Ich geh jetzt rein«, meldete er der Stelle, an der alle Fäden zusammen liefen. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, und seine Beine schienen plötzlich zentnerschwer zu sein. Ihn schwindelte, und er fragte sich, was geschehen würde, wenn er hier draußen auf dem Platz zusammenbrach. Er bezweifelte, dass der nukleare Sprengsatz außerhalb des Raumschiffs gezündet die Zerstörungskraft aufbringen konnte, die nötig war, um dieses irrwitzige Monument auch nur anzukratzen... Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Hart setzten seine Schuhe auf dem Pflaster auf. Das Geräusch kam ihm überlaut vor, als müsse er damit jegliche Aufmerksamkeit auf sich lenken. Aber niemand - zumindest niemand hier draußen - beachtete ihn. Der Platz vor dem Ding aus einer unbekannten Welt war alles andere als leer. Ab und zu betraten Menschen, einzeln oder in Gruppen, das Bauwerk. Carlight sah nur ab und zu jemanden wieder herauskommen - und wenn, dann machten diese Leute einen höchst verstörten Eindruck... Er kümmerte sich nicht um sie, dachte aber: Nichts ist mehr, wie es sein sollte. Er war entschlossen, dies zu ändern. Als einer von 75 Freiwilligen, die einen atomaren Sprengsatz eng am Körper trugen und in diesem Augenblick an 75 verschiedenen Orten der Welt auf 75 identisch aussehende Türme zu gingen, die zerstört werden mussten - bevor sie die Menschheit zerstörten.
Denn genau das, fürchtete Carlight und fürchteten jene, die hinter ihm standen, würde geschehen. Die subtil agierenden Tyrannen waren schon immer die grausamsten gewesen...
Der Torbogen besaß keine verschließbare Tür, jedenfalls keine erkennbare. Der Zugang ins Innere war offen. Was immer dahinter liegen mochte, es war von draußen nicht zu sehen. Und Carlight hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, was ihn drinnen erwartete. Die Berichte derjenigen, die schon einmal in so einem Ding gewesen waren, unterschieden sich vollkommen. Es schien für jeden eine individuell andere Szenerie bereit zu halten. Das Warum war ungeklärt - wie fast alles in Zusammenhang mit den Fremden und ihren Schiffen. Carlight blieb kurz stehen und warf einen letzten Blick hinter sich. Das Bewusstsein, diese Stadt mit allem, was darin war, nie mehr wieder zusehen, machte ihn für einen Moment unendlich verletzlich und hilflos. Er hatte ein Gefühl, als hätte jemand ein verborgenes Ventil seines Körpers geöffnet, dem daraufhin rasch alle Kraft und Entschlossenheit entwich, an die er eben noch so fest geglaubt hatte. Nell, dachte er. Die gähnende Dunkelheit des Eingangs waberte wie glühend heiße Luft. Carlight gab sich einen Ruck, winkelte den Arm an und drückte den in der Armbanduhr integrierten Knopf, der die Bombe scharf machte. Im selben Moment konnte er den begonnenen Countdown' auf dem Display ablesen. 02:59 Minuten... 02:58...
Insgesamt knappe 3 Minuten blieben ihm noch, bis zum Moment X - der Sekunde seines Todes.
Denn er war bereit zu sterben, um Nells und des Rests der Menschheit willen.
Während der unwiederbringlich verrinnenden Sekunden wurde ihm klar, dass er nicht der Held
war, der er gern gewesen wäre.
Er hatte schreckliche Angst. Seine Beine schienen plötzlich zentnerschwer. Bleiern, unbeweglich
wie tief in der Erde verwurzelte Baumstämme.
»Für dich, Kleines«, presste er hervor und setzte sich endlich wieder in Bewegung.
Was würde ihn erwarten?
Würde der Turm ihn überhaupt einlassen?
Ihn schwindelte, als er die Schwelle überschritt. Für einen Moment verlor er jegliches
Orientierungsvermögen, taumelte - und war auch schon durch.
Das wolkenkratzerhohe Ding saugte ihn förmlich in sich ein.
Sarah Cuthbert hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, täglich ein, zwei Stunden dem »Bericht aus der Zukunft«, wie sie es nannte, beizuwohnen und sich nicht mit den schriftlich abgefassten, komprimierten Abhandlungen zufrieden zu geben, die Cronenberg ihr einmal täglich zukommen ließ.
Dabei hatte sie gemerkt, dass sie die Telepathin Scobee auf absurde Weise mochte. Das Absurde daran war, dass sie nicht wusste, ob ihre Sympathie erwidert wurde. Scobee war zwar stets körperlich anwesend, aber ihr Geist durchreiste während dieser Treffen im Regelfall Sphären, Dimensionen, Räume, die Sarah nie zugänglich sein würden.
Dennoch mochte sie das Mädchen fast wie eine Tochter, die sie - was sie bedauerte - nicht hatte. Der frühe Tod ihres Mannes hatte viele Pläne zunichte gemacht. Gleichzeitig aber wäre sie ohne
seinen Tod, ohne den Wunsch, sich noch tiefer in Arbeit und Verantwortung zu stürzen, vielleicht
nie die erste Frau des Staates geworden.
Und ich wäre jetzt nicht hier. Lebendig begraben, während draußen die, die mich gewählt und ihr
Vertrauen in mich gesetzt haben, schutzlos dem ausgeliefert sind, was noch geschehen wird.
Oder bereits geschah.
Im Geheimen.
Sarahs Möglichkeiten - die Möglichkeiten der Präsidentin - waren sehr beschränkt. Sicher war nur:
Die allgemeine Ordnung war vielerorts völlig zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten
wütete allenthalben der Mob. Ein funktionierendes Polizeisystem existierte höchstens noch in
kleineren Orten, falls dort die Besonnenen in der Überzahl waren und sich nicht von Panik und
Weltuntergangspredigern verrückt machen ließen.
Alles geht vor die Hunde. Alles. Nicht nur bei uns, überall. Und Sadako schweigt. Das
Neochinesische Reich scheint ebenso enthauptet wie das Europäische Konsortium, die
Zentralasiatische Allianz...
Und wenn nun noch Hays das tat, was sie befürchtete - wenn er die Basis verlassen hatte, um
überzulaufen -, würde es nicht mehr lange dauern, bis...
Sie schrak auf, als sich die Tür öffnete.
Sid Palmer mochte angeklopft haben, aber sie hatte es schlicht überhört.
»Wie geht es ihr? Schwächeanfall überwunden?«, fragte Cuthbert.
Palmer schloss die Tür hinter sich, und die Art, wie er es tat, so sorgfältig und bedächtig, als wollte
er einen kleinen Aufschub herausschlagen, ließ sämtliche inneren Alarmsirenen in Sarah aufheulen.
»Was ist? Ich will es wissen - auch wenn es eine schlechte Nachricht ist.«
»Eine sehr schlechte«, sagte Palmer und setzte sich neben sie auf die Pritsche, die Sarah auch zum
Schlafen diente.
»Und konkret?«
»Das Mädchen hat es umgehauen. Richtig umgehauen. Vergiss die Idee, es sei nur eine kleine
Schwäche...«
»Wovon zur Hölle redest du?«
»Sie ist in ein tiefes Koma gefallen«, sagte Palmer. »Und die Ärzte geben uns wenig Anlass zur
Hoffnung, dass sie daraus jemals wieder erwachen wird...«
Wo bin ich? Hölle, er wusste, wo er war, natürlich! Und trotzdem, es war, als hätte er mehr als nur ein Portal durchschritten. Als befände er sich nicht länger auf der Erde... Hör auf! Konzentriere dich! Der Boden unter seinen Füßen schien sich zu bewegen, ihn tiefer ins Innere zu tragen. Seine Sinne hatten Mühe, die veränderte Umgebung wahrzunehmen. Sein Gehirn hatte Mühe, die Impulse, die es erreichten, in sinnvolle Informationen umzusetzen. Wo - bin - ich? Plötzlich sah er klar. So klar, wie er noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Schleier fiel. Der Nebel, der seine Wahrnehmung schon sein ganzes Leben lang getrübt hatte, verschwand. Hier sieht es aus wie in einer Kirche. Warum ausgerechnet...? Seine Gedanken gerannen. Er hörte Stimmen, unterdrücktes Schluchzen, und als er sich umdrehte, sah er ein makabres Szenario, von dem er nicht wusste, warum das Ding ausgerechnet dies für ihn bereit hielt. Carlight wusste, dass die Fremden die Sinne der Menschen, die in die gelandeten Schiffe eindrangen, manipulierten. Er hatte eine Vielzahl von Berichten gelesen, um sich auf den Einsatz vorzubereiten - und dabei erkennen müssen, dass keine Vorbereitung möglich war.
Was bezweckten die Unbekannten damit, jedem ein eigenes, subjektiv geprägtes Szenario zu präsentieren? Was geschah während des kurzen Aufenthalts mit den Neugierigen, von denen sich viele nach Verlassen des Bauwerks nicht einmal mehr erinnern konnten, warum sie es überhaupt aufgesucht hatten. Sie manipulieren auch mich, dachte Carlight. Deshalb war die Spanne bis zur alles vernichtenden Explosion auch extrem kurz gewählt. Selbst wenn die Außerirdischen die Hinterlist durchschauten, würde ihnen kaum Zeit bleiben... Carlight schrie erstickt auf.
Er hatte die Menschen angestarrt, die sich mit ihm in der Kirche befanden, und er hatte sie
ausnahmslos erkannt!
Es ist ein Raumschiff!, erinnerte er sich.
Dennoch benötigte er fast eine halbe Minute, um zu realisieren, wer sie waren.
»Donna...«
Sie löste sich aus einem Gespräch mit ihrem Vater und blickte in Carlights Richtung. Als sie ihn
erkannte, trat noch ein anderer Ausdruck zu der Trauer in ihrem Gesicht: Hass.
Carlight prallte vor ihren Emotionen regelrecht zurück. Sie kam ihm entgegen, und selbst wenn er
gerannt wäre - gerannt, wie noch niemals zuvor in seinem ganzen Leben - hätte er ihr nicht
entkommen können.
Sie glitt dahin, ohne dass ihre Füße den Boden berührten.
Es entlarvte sie als unecht, änderte aber nichts.
Plötzlich war sie bei ihm, und schon umklammerte ihre Hand seinen linken Arm.
»Warum?« Ihre Stimme war pure Qual. »Warum, Brent? Warum?«
Statt sie anzusehen, warf er einen kontrollierenden Blick auf seine Uhr, wo der Countdown bei
01.47 angelangt war. Keine zwei Minuten mehr!
Sie schien nicht zu ahnen, welcher Moment immer näher rückte.
»Lass mich los!«, rief er.
Sie dachte nicht daran.
»Lass mich los! Ich weiß, dass du nicht Donna bist - Donna ist daheim. Du bist etwas anderes. Du
kannst mich nicht täuschen. Du bist einer von ihnen! «
»Warum?«, fragte sie erneut.
Für einen Moment wünschte sich Carlight nichts sehnlicher, als dass seine letzten anderthalb
Minuten bereits vergangen seien. Zu wissen, dass Donna nicht Donna war - nicht sein konnte -,
machte ihre Gegenwart fast unerträglich.
»Was warum?«, stellte er die Gegenfrage.
»Du hast sie auf dem Gewissen! «
»Sie?«
Ein Ruck durchfuhr ihn - und im nächsten Moment schleifte Donna ihn mit einer Kraft und Wut
hinter sich her, die ans Berserkerhafte grenzte.
Die versammelte Menge teilte sich, und dann stand Carlight mitten drin.
Vor einem offenen Sarg.
Es war Nell, die darin aufgebahrt lag. Ein Bild, das Carlights schlimmsten Albtraum übertraf. Er
wusste - wusste er es wirklich? -, dass auch Nell, die tote, kleine Nell, nur ein Trugbild war.
Dennoch zerriss ihn ihr Anblick in einer viel grausameren, brutaleren Weise, als der Sprengsatz an
seinem Körper es jemals tun konnte.
»Ihr verdammten...« Er versetzte Donna einen Stoß, und zu seiner Überraschung ließ sie ihn
tatsächlich los. Sie stürzte zu Boden und schlug dabei so unglücklich mit den Kopf auf, dass sich
eine klaffende Wunde über ihrem rechten Auge bildete, aus der sofort Blut sprudelte. In kürzester
Zeit war Donnas Gesicht blutverschmiert. Sie stand wieder auf.
»Sieh, was du tun willst.« Seine Frau - es ist nicht meine Frau! - wies auf den schmächtigen
Leichnam. »Wie konntest du nur? Nell muss für das büßen, was ihr Dad getan hat... oder tun wird.
Denn es ist ja noch nicht geschehen, nicht wahr, Brent, Darling?«
So hatte sie nie mit ihm gesprochen.
So würde sie nie mit ihm sprechen.
»Monster!«, keuchte Carlight.
»Die Bombe wird alles zerstören. Alles, hörst du?«
»Wenn du einer von ihnen bist«, brachte er heiser hervor, »feig dich mir, wie du wirklich aussiehst.
Ich will das Bild mitnehmen in...«
»Du willst es also wirklich tun?«
»Wenn du all das kannst, was ich vermute, kennst du die Antwort. Ich könnte es nicht einmal
stoppen, wenn ich es noch wollte.«
»Willst du?«
Die Frage ließ ihn in eisigen Schweiß ausbrechen. Es klang, als stellte er keine wirkliche
Bedrohung dar - weder für dieses Wesen oder Trugbild, noch für das gelandete Schiff, von dem es
noch über siebzig andere, identische über die Erde verteilt gab.
Wie konnten wir glauben, dass wir ihnen, gefährlich werden können? Auf so primitive... in ihren Augen primitive Weise... »Nein!«, stieß Carlight hervor.
»Du bist also bereit zu sterben?« Das Gesicht, die Gestalt seiner Frau zerfloss. Eine andere Person
kam darunter zum Vorschein, und dann starrte sich Carlight ins eigene Gesicht - wie in einem
dreidimensionalen Spiegel.
»Ja!«
»Und wofür?«
»Das würdest du nicht verstehen.« »Was auch immer ich bin?« »Was auch immer du bist! «
Der andere Brent sprach genau
wie er. Der andere Brent wirkte unglücklich. »Wie lange noch?« Carlight zögerte, es
auszusprechen.
Aber der andere trug dieselbe Uhr wie er und sagte: »Ah... noch siebzehn Sekunden. Das ist wenig
für ein restliches Leben. Hast du überhaupt begriffen, was du Nell und Donna und dem Rest deiner
Familie, deinen Freunden, diesem Planeten anzutun im Begriff stehst?«
Carlight schüttelte den Kopf. Ohne auf die Uhr zu blicken, schien der Countdown vor seinem
inneren Auge abzulaufen und verhinderte jeden klaren Gedanken. »Fahrt zur Hölle!«
Der andere Brent lachte, keinesfalls beunruhigt - was wiederum ihn beunruhigte.
Sie wissen von der Bombe. Aber sie tun nichts, um sie zu stoppen. Oder haben sie längst etwas
getan?
Natürlich! Sie wird nicht zünden, niemals! Sie werden mich töten, meine Familie strafen - aber die
Bombe wird nicht zünden...
Seit langem gab es in den Arsenalen der Großmächte Nuklearsprengsätze im Westentaschenformat.
Hier und da waren sie bereits eingesetzt worden, lange vor Erscheinen der Fremden aus dem All.
Was sie in einem Objekt wie diesem anrichten könnten, dachte Carlight, werden wir nie erfahren. Wie soll man einen Feind besiegen, der in jedem Winkel deiner Gedanken stöbert? Der jeden deiner Schritte im Voraus kennt? »Achtung!«, sagte der andere Brent, und grinste noch breiter. Es war eine Grimasse, die
Verachtung und Bosheit ausdrückte.
»Hör auf«, sagte er. »Ich weiß, dass es
vorbei ist. Ich bin nicht...«
Die Zahlen auf seiner Uhr wechselten
von 00:01 zu 00:00.
Carlight sah noch das Feuer aus sich hervorbrechen.
Dann war es vorbei. Im Innern des Schiffes entstand eine kleine Sonne, die rasend schnell auf die
Wände und alles andere übergriff.
Brent Carlight blieb nicht einmal mehr die Zeit, Genugtuung zu empfinden...
5. Es sah aus wie Adern. Wie durchblutete Adern. Das Energiegeflecht, das die Vakuumkugel im Inneren des Aqua-Kubus umschloss und schon von
außen sichtbar gewesen war, wirkte ohne in Wasser eingebettet zu sein noch bedrohlicher.
Scobee schnürte der Anblick fast die Kehle zu.
Worum handelte es sich? Wirklich um in Form gebrachte und stabilisierte Energie?
»Hat jemand eine Vorstellung, was passieren würde, wenn wir in direkten Kontakt mit einem
dieser... Stränge kämen?«, fragte Scobee. »Darnok?«
»Ich höre dich.«
»Wie hast du das geschafft?«
»Es war einfach, nachdem ich erst wusste, wie man meine Instrumente zum Erblinden brachte.«
»Wie?«
»Du würdest es nicht verstehen. Du bist nicht keelon.«
Vielleicht, dachte sie, würde ich das auch gar nicht sein wollen. Vielleicht ist es besser, gar nicht so
viel über dich und deinesgleichen zu wissen. Wer sagt, dass es mir gefiele?
»Wir sollten uns um John kümmern«, sagte Resnick in diesem Moment. »Darnok kann uns später
erklären - für Laien verständlich erklären -, was es mit seinem Magoo auf sich und wie er unsere
Blindheit aufgehoben hat. Zunächst einmal sollten wir zusehen, dass wir wieder vollzählig sind -
ich meine vollzählig bei Sinnen.«
Dem hatte Scobee nichts zu widersprechen.
»Lässt sich Johns Erwachen beschleunigen?«, wandte sie sich an Darnok.
»Sicher. Aber ich würde davon abraten. Nach seiner bisherigen Reaktion auf meine Maßnahmen.
Wir sollten einfach warten...«
Cloud holte tief Luft, erwachte - und blickte geradewegs in Scobees Gesicht.
Sie sah wunderschön aus. So hatte sie zuletzt auf der RUBIKON, kurz nach dem Ende der letzten
Stase-Phase, auf ihn gewirkt. Ihre Augen waren faszinierend, und die Tattoos als Brauenersatz
waren der letzte Schrei auf der Erde gewesen, kurz bevor die Mission startete.
Ein Klon mit Modetick, hatte er damals abfällig gedacht. Diese Ablehnung, diese Distanz
gegenüber den genetisch optimierten GenTecs schien in ein anderes Leben zu gehören. Die letzten
Tage hatten ihm in geradezu drastischer Manier gezeigt, dass sie Menschen wie er selbst waren. Sie
mochten anders entstanden sein als er...
Ganz bestimmt sogar waren sie das, dachte er mit wehmütiger Erinnerung an seine Eltern, an seine
intakte Kindheit - bis zu dem Moment, als sein Vater zum Mars gestartet war.
»Hey, Ex, alles okay bei dir?«, erkundigte sich Resnicik
Cloud antwortete nicht, sondern horchte still in sich hinein. Dann suchte sein Blick nach Darnok.
Er fand ihn in der zentralen Mulde des Karnuts. Sie war offen, ohne die schützende Kuppel, die
sich zuweilen darüber spannte.
»Hat er ...?«. begann Cloud und verstummte.
Obwohl er sicher war, dass der Keelon jedes Wort verfolgte, das an Bord gesprochen wurde,
richtete er seine rage an Scobee.
Bei ihrem Lächeln wurde ihm ganz warm. Schon auf Kaiser hatte er gespürt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte - aber sie war auch das einzige menschliche weibliche Wesen, das es in weitem Umkreis gab, und deshalb war er sich über die Tiefe dieses Gefühls selbst im Unklaren. Und er hatte auch nicht vor, es zu thematisieren. »... dich operiert?« Scobee schüttelte den Kopf, und ihr blauschwarzes Haar umwehte ihr apartes Gesicht mit den hohen, ausgeprägten Wangenknochen. Sie entsprach genau dem Typ Frau, den er schätzte, und vielleicht war in der Vergangenheit genau dies der Grund gewesen, warum sie einander wie Hund und Katze gegenübergetreten waren. Und dann war ihm auch noch das Kommando über die RUBIKON entzogen und ihr übertragen worden. Einer GenTec! Hör schon auf, länger den Idioten zu spielen. Das Thema ist erledigt. Er hoffte, dass dies stimmte. Dass nicht doch noch eine Situation eintrat, die die alten Ressentiments wieder hochspülte... »Nicht operiert?«, fragte Cloud und konnte nicht umhin, seiner Erleichterung mit einem lauten Seufzer Luft zu verschaffen. »Den Sternen sei Dank!« »Den Sternen? Meinetwegen«, sagte Scobee. »Aber ich an deiner Stelle würde bei Darnok anfangen. Zuerst würde ich ihn verfluchen, dass er dich überhaupt in diese Lage gebracht hat, und dann würde ich ihm die Füße küssen, weil er dich wenigstens wieder so kaputt zurückgeholt hat, wie du vorher schon warst.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich verstehe nicht... « »Du wärst fast drauf gegangen - sagt jedenfalls unser >Herzchen<.« Sie berichtete, wie er sich gebärdet hatte, und schloss mit den Worten: »Darnok hat keine Erklärung dafür, wie du trotz einer Narkose, die er prinzipiell offenbar für unfehlbar hält, in der Lage warst, lauthals brüllend um dich zu schlagen. Er sagt, er habe schon viele Lebewesen betäubt, aber noch keines sei in der Lage gewesen, daraus zu erwachen, bevor er es ihm gestattete... Klingt traumhaft, wie?« »Ja, sehr! « Cloud nickte, rieb sich erst über den Nacken und tastete anschließend über seinen Hinterkopf, als könnte er die Stelle erfühlen, an der Darnok versucht hatte, in seinen Schädel einzudringen. »Ich glaube, ich weiß, was passiert ist.« »Sprich!« Die sonore, künstlich modulierte Stimme des Keelon drang unvermittelt aus den Wänden und bestätigte, dass er die ganze Zeit zugehört hatte. Ebenso wie Resnick und Jarvis, die die Kunst, es sich nicht anmerken zu lassen, jedoch nur leidlich beherrschten. Cloud richtete sich noch etwas mehr auf, saß jetzt kerzengerade auf dem unsichtbaren Polster, das Darnok für ihn errichtet hatte. »Wahrscheinlich werdet ihr mich für vollkommen verrückt erklären, wenn ich es euch sage«, wandte er sich an seine Gefährten. »Aber ich schwöre, das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich bin völlig klar. Aber ich wäre es vermutlich nicht, wenn Darnok seine Ankündigung wahrgemacht hätte...« Er erzählte von seinem Traum, genauer gesagt von seinen beiden Träumen. Am Ende herrschte minutenlang Stille. Erst Scobee brach das Schweigen. Sie seufzte schwer. »Du denkst, sie hätten dir geholfen? Sie hätten deinen Körper dazu gebracht, trotz Narkose gegen den Eingriff zu rebellieren? Damit sie ihre Drohung nicht wahr machen müssten, im Falle ihrer Beseitigung dafür zu sorgen, dass du nie wieder morgens ohne ein Grinsen aufwachst, das den ganzen Tag anhält?« »Nett umschrieben - aber vom Grundsatz her: ja«, antwortete Cloud und sah von Gesicht zu Gesicht. Womit er bei Darnok natürlich scheiterte. »Du hast vollkommen Recht«, meldete sich Resnick zu Wort, der ebenso wie Jarvis noch gar nichts gesagt hatte, seit Cloud wieder zu Bewusstsein gekommen war. »Es hört sich absolut übergeschnappt an. Du bist wirklich sicher, dass Darnok nicht doch weitermachen und gleich einen Generalcheck bei dir vornehmen soll?«
»Idiot!«, brummte Cloud.
»Bevor ihr eure Liebe füreinander in noch drastischerer Weise bekundet«, schritt Scobee ein,
»schlage ich vor, dass wir wieder zu den wesentlichen Dingen zurückfinden. Nachdem du, Gott sei
Dank, aufgewacht bist und - leidlich - intakt scheinst, interessiert dich sicher, was in der
Zwischenzeit alles passiert ist.«
Cloud horchte sofort auf. »Neuigkeiten von der Queen?«
Die flapsige Formulierung half ihm über die Erinnerung an seine Gefangenschaft bei der Vaaren-
Königin hinweg.
Lovrena, die Herrscherin der Vaaren und offenbar des ganzen Kubus hatte ihn einer Art
Gehirnwäsche zu unterziehen versucht, und wäre nicht Darnok rechtzeitig aufgetaucht, hätte er sich
vielleicht ohnehin schon nicht mehr um seine geistige Unversehrtheit sorgen müssen.
»Es hat sich ganz generell einiges getan«, erwiderte Scobee und legte ihm eine Hand auf die
Schulter, was ihm durchaus nicht unangenehm war - obwohl er sich Mühe gab, diesen Eindruck zu
erwecken.
Cloud erfuhr, dass sie vor der mysteriösen Vakuumkugel, die einen Durchmesser von einer
Lichtsekunde besaß - also immerhin fast 300.000 Kilometer - von Protoschwärmen angegriffen
worden waren, als er selbst schon in Narkose lag. Darnok hatte daraufhin entschieden, in die
Vakuumsphäre einzudringen - der einzige Fluchtweg, der ihnen noch offen stand.
»Soll das heißen...?«, setzte Cloud an.
»Es soll heißen, dass wir seit einer Weile in dieser verdammten Falle sitzen«, bestätigte Jarvis,
»und ich wohl der Einzige bin, der rechtzeitig gewarnt hat, ein solches Risiko einzugehen...«
»Der aber auch nicht in der Lage war, eine brauchbare Alternative vorzuschlagen«, fügte Scobee
hinzu. »Draußen hätten uns die Protoschwärme aufgefressen. Muss ich dich erinnern, was sie mit
unseren Anzügen angestellt haben? Und Darnok war glücklicherweise so ehrlich zuzugeben, dass
dieses kleine Schiff keine einzige direkte Attacke überstanden hätte. Bei dieser Gelegenheit,
Meister der Rätsel«, wandte sie sich an den Keelon. »Du erwähntest schon öfter dein mysteriöses
>Magoo<. Könntest du uns mal erklären, worum es sich dabei genau handelt und welchen Nutzen
du daraus ziehst? Falls es mal zur Verfügung steht?«
»Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären. Und es gibt Dinge, die soll man nicht erklären«, sagte
der Keelon.
Scobee nickte grimmig. »Klar. Wie konnte ich auch eine ganz normale, schlichte Antwort
erwarten? Und in welche dieser Kategorien fällt dein Magoo?«
»In keine davon«, erwiderte Darnok trocken. »Ihr werdet mit der Erklärung wenig anfangen
können, weil ihr nicht keelon seid.«
Scobee platzte fast der Kragen. »Das sagtest du schon mal! «
»Weil es wahr ist. Es ist dieses... Organ, das es mir ermöglicht, die Zeit zu formen, sie zu
verändern. Ihr würdet wahrscheinlich sagen: zu manipulieren. Aber so ist es nicht. Wir Keelon
haben eine -andere Auffassung, was das angeht - und ein besonderes Verhältnis zur vierten
Dimension. Wir leben in Eintracht, in Symbiose mit ihr...«
»Wenn das stimmt«, unterbrach ihn Jarvis mit neu erwachendem Eifer, »könntest du dann nicht
einfach rückgängig machen, was uns seit dem Eindringen in den Kubus widerfahren ist?«
Ja, dachte Cloud. Und dann mach am besten auch gleich den Überfall auf die Erde ungeschehen beziehungsweise warne die Menschen rechtzeitig vor dem Auftreten der Schwarzen Flut und dem
Auftauchen der Armada...
Hätte das etwas geändert? Es hätte ein paar Millionen Menschen vor dem direkten Tod bewahrt,
befand Cloud. Was nicht gering zu schätzen war. Aber die Erde besaß weder den einheitlichen
Zusammenhalt noch die technischen Möglichkeiten, um »Besucher« vom Schlag der Äskulaps
tatsächlich abzuwehren - selbst wenn sie vorgewarnt worden wäre.
»Das wäre ein völlig unangemessener Tabubruch.«
»Tabubruch?«, echote Jarvis verständnislos.
»Wie ist die aktuelle Lage?«, fragte Cloud. »Wenn ich richtig verstanden habe, treiben wir völlig
orientierungslos in einer Art absolutem Nichts, das selbst die Ortungen des Karnuts erblinden
lässt...«
»So war es«, bestätigte Scobee. »Bis Darnok vor einer knappen Stunde, als er sein Magoo
einsetzte, eine Entdeckung machte, die vieles änderte.«
»Alles«, korrigierte die künstlich modulierte Stimme des Keelon aus den Wänden heraus.
Scobee zuckte die Achseln.
»Was heißt das?«, fragte Cloud.
»Dass wir uns geirrt haben«, warf Resnick ein und kratzte sich an seinem kahlen Schädel.
Genau wie Jarvis wirkte er wie ein Modellathlet, während Scobee sich das, was Cloud unter
Fraulichkeit verstand, bewahrt hatte...
Beziehungsweise ihre Schöpfer haben es ihr bewahrt, dachte John. Was ihm bewies, dass er eben
doch noch seine kleinen Schwierigkeiten mit der Akzeptanz hatte.
»Inwiefern geirrt?«
Resnick sah ihn nachdenklich an. Er sah älter aus als zwanzig. Die Ereignisse der letzten ein, zwei
Wochen hatten ihn wie im Zeitraffer auch äußerlich geprägt. Es gab mehr Linien in seinem
Gesicht. Aber damit bildete er keine Ausnahme. Die Nargenwelt war reich an Entbehrungen und
Herausforderungen gewesen, ganz zu schweigen von den Strapazen, die ihnen der Aqua-Kubus
bislang abverlangt hatte.
»Die Sphäre ist nicht so leer, wie wir geglaubt haben«, sagte Resnick. Er zuckte die Schultern.
»Aber das kann dir Darnok besser erklären.«
»Oder zeigen«, bekräftigte Scobee, während Jarvis für seine Verhältnisse auffallend wortkarg blieb.
Cloud erinnerte sich, dass zunächst Resnick und später auch Jarvis während des Vorstoßes in den
Heiligen Bezirk einen Schwächeanfall erlitten hatten. Das war für GenTecs absolut untypisch.
Er verfolgte diesen Gedanken nicht länger, weil er durch eine Aktion Darnoks abgelenkt wurde.
Eine der Karnut-Wände wurde zu einem vom Boden bis zur gewölbten Decke reichenden Monitor,
und zum ersten Mal sah Cloud, wie es im Innern der gewaltigen, perfekten Hohlkugel aussah. Seine
letzten Eindrücke davon hatte er noch draußen auf der Wasserseite erhalten.
Hier gab es kein Wasser. In ihrer Innenansicht präsentierte sich die Kugel völlig anders als von
außen. Das Karnut befand sich noch immer in unmittelbarer Nähe der Kugelschale. Sie wirkte von
dieser Seite aus betrachtet fast noch unheimlicher als draußen.
Darnok modifizierte die Monitoreinstellungen, sodass Cloud das Gefühl hatte, von der Innenschale
wegzurücken und tiefer in den Hohlraum hinein zu gleiten.
Überall war Licht, karmesinrotes Licht, nicht übermäßig hell, aber ausreichend. Und in der Ferne
war ein diffuser Fleck zu erkennen.
»Was ist das?«, fragte Cloud. Er setzte die Füße auf den Boden und kam auf die Beine. Ein, zwei
vorsichtige Schritte brachten ihn näher an die Monitorfläche heran, die den Blick nach draußen wie
ein glasklares Fenster gestattete, gleichzeitig aber mit allen Möglichkeiten gespickt war, die die
keelonische Hochtechnik bot.
»Genau das wollen wir herausfinden«, sagte Scobee. »Wir haben nur darauf gewartet, dass du
endlich deinen Schönheitsschlaf beendest.«
Und Darnok erklärte: »Es entzieht sich der genaueren Spezifizierung - jedenfalls aus dieser
Entfernung.«
»Entfernung?«, fragte Cloud.
»Rund 150.000 Kilometer«, sagte Resnick. »Darnok war so freundlich, es für uns umzurechnen.«
»Das Zentrum«, fügte Scobee hinzu. »Was immer es ist, es befindet sich exakt im Zentrum der
Blase. Vielleicht ist es die Maschine, die diese Sphäre überhaupt erst geschaffen hat und aufrecht
erhält.«
»Lovrena hat uns eindringlich davor gewarnt, weiterhin im Heiligen Bezirk zu verweilen«, ließ
Cloud die anderen an seinen Überlegungen teilhaben. »Es hat ihr sicher nicht gefallen, dass wir
noch tiefer eingedrungen sind. Wie war ihre Reaktion?«
»Sie wird schäumen«, mutmaßte Resnick. »Aber dem Anschein nach ist uns keines ihrer
Jadeschiffe gefolgt. Sie sind jenseits der Kugelgrenze geblieben - genau wie die Protoschwärme,
die uns angriffen.«
»Das spricht dafür, dass es keine gute Idee war, in diese Sphäre vorzustoßen«, sagte Cloud.
»Andererseits«, fügte er gleich hinzu, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, »war es
wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, ihrem Zugriff zu entkommen. Darnok?«
»Ich stimme in allen Punkten zu.«
»Das hatten wir lange nicht«, brummte Jarvis aus dem Hintergrund. »Eigentlich noch nie.«
»Er ist angefressen, weil Darnok ihm drastisch klar gemacht hat, dass Waffen in Menschenhand
beträchtlich mehr Schaden als Nutzen anrichten können«, kommentierte Resnick. Er umriss Cloud
kurz, was vorgefallen war, und schloss mit den Worten: »Aber immerhin wurden wir dank dieses
Vorfalls endlich sehend, nachdem uns zunächst nur unglaubliche Dunkelheit im Inneren der Kugel
empfing.«
»Ja«, bestätigte Scobee. »Und diese Schwärze hatte so lange Bestand, bis Darnok herausfand, was
es damit auf sich hat. Wir allein wären niemals darauf gekommen. Und selbst wenn, hätten wir es
niemals neutralisieren können.«
»Es?«, fragte Cloud.
»Die Zeitverschiebung.«
»Zeitverschiebung?«
Schon das Wort bereitete ihm Bauchschmerzen. Seiner Meinung nach hatte sich die Zeit schon
mehr als ausreichend verschoben - und klar zu ihren Ungunsten.
Scobee klärte ihn auf, was damit tatsächlich gemeint war. »Wenn ich alles richtig verstanden habe
– korrigiere mich, Darnok, wenn ich was Dummes sage, du weißt, ich bin nicht keelon -, herrscht
im Innern der Hohlkugel eine andere Eigenzeit als die, in der wir leben. Normalerweise leben.
Inzwischen hat Darnok uns mit Hilfe seines ominösen Magoos angeglichen - frag bitte nicht, was
das nun schon wieder ist. Wir schweben nicht länger im vermeintlichen Nichts. Wir treiben zwar
tatsächlich in einem Vakuum, aber wir sind jetzt wieder imstande, unsere Umgebung
wahrzunehmen. Wäre es anders, wüssten wir noch immer nicht, dass es außer uns überhaupt noch
etwas innerhalb der Kugelsphäre gibt.«
»Jemand manipuliert nicht nur mit Räumen und Gegenständen, sondern ganz offenbar auch mit der
Zeit«, dachte Cloud laut. »Woran erinnert mich das bloß? Darnok?«
Der Keelon blieb stumm.
»Es erinnert mich an unsere Wurmlochpassage«, gab sich Cloud deshalb selbst die Antwort. »Was
die interessante Frage aufwirft, ob die Bewohner des Kubus irgendetwas mit der Invasion der Erde
zu tun haben könnten.«
Er ignorierte die skeptischen Blicke von Scobee, Resnick und Jarvis.
Welcher Art Darnoks Blicke waren, blieb ihm ohnehin verborgen.
»Ich denke, ich kann es euch sagen«, erklang dessen Stimme, als Cloud schon nicht mehr mit einer
Reaktion rechnete.
»Sagen? Was?«, fragte Scobee.
»Wer euch in diese Zeit holte.«
Ein einziger Satz genügte, um ihm die volle Aufmerksamkeit aller zu sichern. »Wer?«, schnappte
Jarvis.
»Ich«, sagte Darnok. »Ohne mich wärt ihr vor langer Zeit an einem ganz anderen Ende der Galaxis
herausgekommen, als es dann tatsächlich geschah. Und ihr hättet eure Zeit, eure Gegenwart,
niemals verlassen.«
»Wo?«, fragte Resnick. Seine Stimme klang belegt. »Du klingst, als wüsstest du sehr genau, wo wir herausgekommen wären.« »Im System der Nargen. Wo die Armada der Äskulap-Schiffe, wie ihr sie nennt, erbaut wurde. Und von wo aus ich der Spur folgte, die mich schließlich weit aus meiner Zeit zurück zu dem Moment führte, in dem euer Volk mit den Äskulaps konfrontiert wurde. Eine Zeit, in der die Menschen, das habe ich sofort erkannt, noch keine Erinjij waren... All dies ist auch für mich rätselhaft. Ich möchte jetzt nicht weiter darüber reden. Später. Es wird sich eine Gelegenheit bieten, alles zu erörtern. Bis dahin... « »Bis dahin?«, fragte Cloud seltsam berührt. Zum ersten Mal hatte sich Darnok wenigstens andeutungsweise geöffnet und in die Karten schauen lassen. »... sollten wir so viel wie möglich Wissen über diesen absonderlichen Ort sammeln, der mich Kraft kostet. Ihr ahnt nicht, wie viel Kraft. Ihr ahnt nicht, wie viel ich aufbieten muss, um diese andere Zeitkonstante zu halten...« »Sein Magoo«, erklärte Jarvis, ohne sich die Mühe zu machen, nicht siiffisant klingen zu wollen. »Wäre es nicht klüger, die Sphäre schleunigst wieder zu verlassen, bevor deine Kraft versagt?«, fragte Scobee betont mitfühlend, als hätte sie das Bedürfnis, Jarvis' Schroffheit irgendwie auszugleichen. »Draußen warten die Schwärme und Königin Lovrena«, erinnerte Cloud. Das genügte. Darnok steuerte das Karnut auf den fernen, verwaschenen Fleck zu, der sich bislang einer genaueren Analyse entzog. Falls es sich tatsächlich um jene Station handelte, die diese Sphäre aufrechterhielt, schien sie entweder ebenfalls in ein Zeitfeld, das nicht der Normalität entsprach, oder in eine andere Form von Tarnfeld gehüllt zu sein. Cloud spürte, wie die Neugier brennend in ihm erwachte. Er fühlte sich wohl. Und wann immer er in sich hineinlauschte, glaubte er eine Zufriedenheit zu spüren, die nicht nur in seiner eigenen Persönlichkeit wurzelte. Ich habe verstanden, dachte er dann. Ich hoffe, ich habe euch richtig verstanden und bin dazu in der Lage, euch künftig zu akzeptieren. Er erhielt nie eine Antwort.
Und wenn es nach ihm ging, konnte das so bleiben.
6. Königin Lovrena wusste, dass sie verantwortlich war.
Sie wusste, dass sie versagt hatte. Und dass ihr Versagen wahrscheinlich nicht ohne Folgen bleiben
würde. Dennoch traf sie das erneute Erscheinen der Lichtkugel wie ein körperlicher Schlag.
- Ich hatte gehofft, dass es nie wieder nötig sein würde. Aber ich habe geirrt. Komm mit mir, Königin. Niederschmetternde Gefühle überrollten sie, aber zum zweiten Mal folgte sie der Kugel gehorsam in jene uralten Bereiche des Palastes, deren Bedeutung vergessen war. Und nicht nur von der Königin, denn das Volk der Vaaren hatte so vieles vergessen, was mit seinem Ursprung, seiner Herkunft, seiner Vergangenheit zu tun hatte... Das Gemisch aus Trauer, Wut und Resignation erschwerte Lovrena jede Bewegung. Die jüngsten Meldungen verhießen nichts Gutes. Die Fremden, die das Jadeschiff entführt und sich damit ins Zentrum von Tovah'Zara abgesetzt hatten, waren noch skrupelloser, noch uneinsichtiger, als sie es erwartet hatte. Sie waren in die Ewige Stätte eingedrungen. Sie hatten die letzte Grenze überschritten und mit allem gebrochen, was den Vaaren heilig war. Lovrena erinnerte sich ungern an ihre Begegnung mit dem Menschen John Cloud. Sie war sicher, er erinnerte sich ebenfalls ungern - aber Lehren hatte er daraus nicht gezogen. Habe ich sie gezogen? Nein, ich habe mindestens ebenso versagt wie er!
Die Selbstzweifel nagten an ihr. Beim letzten Mal hatte ihr die Lichtkugel Dinge enthüllt, die wie ein Schock für sie gewesen waren. Ein Schock, der immer noch in ihr nachwirkte und bis zu einem gewissen Grad auch ihr jüngstes Handeln geprägt hatte. Lovrena vibrierte innerlich. Sie hatte sich von ihren Gefühlen leiten lassen und damit wahrscheinlich mitverschuldet, dass die Fremden, die von draußen nach Tovah'Zara gekommen waren, sich in die Enge getrieben fühlten und nur noch einen Ausweg sahen. Instinktiv mussten sie geahnt haben, dass ihnen niemand in die Ewige Stätte, das Allerheiligste der Vaaren folgen würde. Vielleicht sind sie längst tot und haben ihre gerechte Strafe erhalten... Sie wünschte es sich, glaubte aber nicht daran. Die Entschlossenheit und die Kraft, mit der die Eindringlinge sich davor schon durch das ihnen völlig fremde Tovah'Zara geschlagen hatten, sprachen dagegen. Wahrscheinlicher war, dass sie... Das Licht hatte aufgehört, sich zu bewegen. Es hielt vor einer Tür inne, die Lovrena wieder erkannte, ohne sie aus eigener Kraft jemals wieder finden zu können. Das Labyrinth der Möglichkeiten, hier nahe dem Kern, war einfach zu groß. Es gab zu viele Wege, zu viele seit Generationen nicht mehr benutzte Gänge und Stollen... Das Licht erlosch. Dafür schwang die Tür auf. Lovrena zögerte nicht, sondern glitt ins Innere. Der Raum war gewaltig und hatte sich seit dem letzten Besuch nicht verändert, nur sie selbst. Sie war verbitterter geworden, rachsüchtiger. Und Schuld daran trug die Maschine, die ihr so viel Wissen über die Vergangenheit von Tovah'Zara, die Vergangenheit der Vaaren geschenkt hatte, dass sie jetzt noch unter der Last ächzte. Diese Maschine stand in der Mitte des Raumes. Und auch diesmal sandte sie unwiderstehliche Lockrufe aus. Über fünf Ebenen erstreckte sich die Halle, in der mühelos etliche Jadeschiffe Platz gefunden hätten. Aber sie diente anderen Zwecken. Überall fluoreszierte es, überall an den von Instrumenten und Anzeigen bedeckten Wänden war Bewegung, sprangen Lichter an und aus, rollten Datenkolonnen über Bildflächen... Und schließlich entdeckte sie sogar Monitore, die jenen Bereich Tovah'Zaras zeigten, in dem sich die Ewige Stätte befand. Die waren ihr beim ersten Besuch gar nicht aufgefallen. Die Hinterlassenschaft derjenigen, die die Vaaren noch heute als ihre Hirten verehrten - Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona. - Sieh, was du angerichtet hast. Die Impulse in ihrem Geist ließen sie zusammenzucken. Sie kannte die Bilder, aber in dieser Umgebung noch einmal damit konfrontiert zu werden, machte ihr erst richtig klar, wie planlos und ungeschickt sie vorgegangen war. Etwas mehr Diplomatie, etwas mehr Entgegenkommen und Verständnis für die andere Seite - und sei es auch nur geheuchelt gewesen -, hätte die neuerliche Eskalation wahrscheinlich verhindern können. Es war eine Aufzeichnung, die der rätselhafte, alte Ort für sie bereithielt. Sie zeigte das winzige Schiff der Fremden, wie es vor Lovrenas Schiffen und den Protoschwärmen ins Innere der Ewigen Stätte floh. Ein aberwitziges Unterfangen, denn nicht einmal Lovrena wusste, was genau sich darin befand. Die Tafeln des Heiligen Bezirks beschworen jeden zur Umkehr, auch jeden Vaaren, der sich diesem Gebilde näherte. Angeblich schliefen die Sieben Hirten darin - träumten dem Tag, der Stunde ihres Wiedererwachens entgegen. So lautete die Legende. Was konnte es also für einen größeren und unverzeihlicheren Frevel geben, als die Ruhe der Hirten zu stören?
Noch nie war ihr dies so bewusst gewesen wie hier. Dieser Ort selbst atmete den Geist der Hirten,
war eines ihrer Vermächtnisse, erkannte sie.
- Du hast es begriffen. Nun handele auch danach. -
Wie?, wollte sie fragen.
Aber dann glomm die Vorrichtung auf, in die sie sich schon einmal begeben und so viel verlorenes
Wissen über die Vergangenheit in sich hinein gesogen hatte.
Sie rief nach Lovrena.
Und Lovrena folgte dem Ruf, wie sie zuvor schon der Lichtkugel gefolgt war.
Am Ende wusste sie sicher, was von ihr erwartet wurde.
Und merkte nicht, wie sie sich in der Maschine verwandelt hatte, die ihr nicht nur Wissen
geschenkt, sondern auch etwas genommen hatte.
Jeden noch so geringen Skrupel...
7. Da war noch eine andere Veränderung in Cloud, die er nicht benennen konnte. Sie hatte nichts mit
den Gespenstern zu tun.
Er fühlte sich zunehmend... sicherer. Ein besseres Wort fiel ihm dazu nicht ein. Sicherer.
Entschlossener.
Zum ersten Mal, seit sie den Mars gegen ihren Willen verlassen und in dieses unglaubliche
Abenteuer gestoßen worden waren, begann er - er wagte es kaum zu denken -, es zu genießen.
Vielleicht befinde ich mich doch bereits in einem Vorstadium des Irrsinns, dachte er. Aber nicht
einmal dieser Einfall vermochte ihn zu schrecken.
Das Karnut steuerte zielstrebig auf das Objekt zu, das in der Mitte der Vakuumsphäre verankert
war. Auf eine nicht ersichtliche Art und Weise. Die Ortungen ergaben lediglich, dass es dort hing
und sich nicht merklich bewegte. Keine Eigendrift, nichts...
»Wie weit noch?«, wandte er sich an Darnok.
»Zehntausend eurer Kilometer.«
Das Karnut wäre in der Lage gewesen, die Distanz binnen eines Herzschlags zu überbrücken, aber
der Keelon hatte sich für Schleichfahrt entschieden. So leer die Hohlkugel auch wirkte,
irgendeinem Zweck musste sie schließlich dienen.
Oder sie hat einmal einem Zweck gedient. Das, was die Vaaren verehren, muss nicht zwangsläufig noch da sein. Religion verschleiert vieles. Dieser Ort hatte ebenso mit den Sieben Hirten zu tun wie die Tafeln, die im Wasser des Heiligen Bezirks trieben und die Darnok zu entziffern versucht hatte. Mit Rurkkas Unterstützung... Die Erinnerung an den Gestalter der Luuren, der auf so entsetzliche, zeitrafferschnelle Weise sein Leben ausgehaucht hatte, obwohl er wie ein Löwe dagegen ankämpfte, ließ Cloud einen kurzen Schauder über den Rücken rinnen. Er hatte das Wesen gemocht. Irgendwie. Rurkka war von der Sehnsucht getrieben gewesen, wenigstens einmal in seinem Leben den Bereich jenseits des Kubus zu schauen. Den Weltraum, von dem - so hatte Cloud die wenigen Andeutungen verstanden - der Überlieferung nach die Luuren einst nach Tovah'Zara gekommen waren. Verschleppt trifft es eher, dachte Cloud. Rurkka hatte auch berichtet, dass es innerhalb des Kubus Zonen gab - Gettos hatte er sie genannt -, in denen Wesen aus allen Teilen der Galaxis wie in einer Art gespenstischem Zoo gehalten wurden. Sie waren den Vaaren ebenso untertan wie die Luuren und Heukonen, die neben den Vaaren die wichtigsten Rollen einzunehmen schienen. Die Heukonen waren Wissenschaftler. Die Luuren waren mit einer phänomenalen Gabe versehene Schöpfer, die alles Organische, das im Kubus starb, zu reiner Protomaterie reifen ließen und diese dann - nach ihrer Ernte auf den Protowiesen - zu allem Erdenklichen zu formen vermochten.
Jedes Werkzeug, jedes künstliche Ding innerhalb von Tovah'Zara basierte auf dieser »organischen Technik«. Selbst die Jadeschiffe, die - Cloud war Zeuge dieses Ereignisses geworden - eine Erdflotte besiegt hatten, als hätten die Menschen nur Spielzeuge oder Attrappen aufgeboten. Wobei nach wie vor unklar war, ob die Jadeschiffe auch außerhalb von Tovah'Zara operieren konnten. Wie verhielt es sich mit der Protomaterie? War ihre Stabilität, ihre Funktionstüchtigkeit an die besonderen Bedingungen des Kubus gebunden? Ein kleines Indiz dafür, dass es so sein könnte, war der Umstand, dass die rochenförmigen Jadeschiffe den Beschuss der Erdflotte aus dem gigantischen Wasserkonstrukt heraus eröffnet hatten. Sie hatten es nicht verlassen. Das mochte aber auch schlicht daran liegen, dass die Energiewand, die den Kubus in seiner Form hielt, auch gegnerisches Feuer aufgehalten hatte. Die Energiebahnen der Jadeschiffe hatten von ihrer Seite aus das Schirmfeld hingegen ungehindert verlassen. Mehr noch: Cloud hatte den Eindruck gewonnen, dass die Wand die Strahlen sogar noch verstärkt hatte. »Wann werden wir das Objekt erreichen, Darnok?«, fragte er, um auf andere Gedanken zu kommen. »Lässt sich schon etwas über seine Größe sagen, seine Form?« »Die Antwort auf deine erste Frage lautet: bald. Die Antwort auf deine zweite und dritte: nein.« »Mit anderen Worten: Ich soll mich gefälligst gedulden.« »Eine Eigenschaft, die nicht zu deinen Tugenden zählt«, erwiderte Darnok. »Vielleicht muss ich erst so alt werden wie du, um mir diese Ruhe und Gelassenheit anzueignen... Wie alt bist du eigentlich?« »Nach eurem Verständnis alt. Nach meinem stehe ich in der Blüte meines Lebens.« »Geht es auch etwas genauer?«, fragte Scobee, die am Boden lag und Übungen zum Erhalt ihrer Muskulatur ausführte. Cloud hatte dies auch schon bei den beiden anderen GenTecs beobachtet, selbst aber kein Verlangen verspürt, es nachzumachen. Obwohl es ihm nicht geschadet hätte, wahrscheinlich sogar wichtig gewesen wäre. Aber er fühlte sich fit. Topfit sogar. Was man von zweien der GenTecs nicht unbedingt sagen konnte. Resnick und Jarvis versuchten, es zu verbergen, aber sie sahen beide mitgenommen, müde, regelrecht erschöpft aus. Scobee zeigte diesbezüglich keinerlei Symptome. Was die These, dass GenTecs besonders sensibel auf den Kubus oder die Vakuumkugel reagierten, hinfällig machte. Aber was verbarg sich dann dahinter? Hatte die Entfernung der Protomaschinen, mit deren Hilfe sie des zeitweiligen Atmens im Wasser fähig gewesen waren, sie doch stärker in Mitleidenschaft gezogen, als es zunächst schien? Auch diese Erklärung war eher unwahrscheinlich. Speziell aus Clouds Sicht, denn Rurkka hatte es nur bei ihm nicht mehr geschafft, die Protopartikel restlos aus Clouds Organismus zu entfernen, bevor der Luure gestorben war. Seither kreisten winzige organische Maschinen in seinem Blut, nisteten in seinem Gewebe. Er hatte keine Vorstellung davon, wohin das alles noch führen sollte - aber er fühlte sich gut. Fast euphorisch. Vorsicht!, mahnte sein Instinkt. Möglicherweise ist dein Hochgefühl sogar auf die Proto-Kerlchen zurückzuführen. Ein wenig mehr Misstrauen wäre angebracht. Aber was hätte es geändert? Sollte er Darnok bitten, sich um die Reste zu kümmern? Aber die Erinnerung an den letzten versuchten Eingriff des Keelon, der fast in einer Katastrophe für Cloud geendet hätte, hielt ihn zurück. Sie kreisen noch in mir, aber Rurkka hat sie deaktiviert. Sie werden mir nichts antun. Mann, es gibt
Veteranen, die tragen Jahrzehnte lang Kugeln in sich. Kugeln, die hundert, vielleicht tausend Mal
größer sind als diese Partikel und die wandern...
Nein! Themenwechsel!
Ich will wissen, was es mit diesem Ort hier auf sich hat. Ich will wissen, wie die Station aussieht,
die wir anfliegen. Vielleicht finden wir ja sogar heraus, wie sie funktioniert. Und können sie
abschalten - womit auch diese Sphäre kollabieren würde. Ich möchte Lovrenas Gesicht sehen, wenn wir das tun... Er war sich bewusst, dass dies ein weiteres Verbrechen aus Sicht der Vaaren gewesen wäre.
Wahrscheinlich das größte Verbrechen, dessen sich ein Wesen innerhalb des Kubus überhaupt
schuldig machen konnte - aber die Vaaren hatten sich auch nicht von ihrer friedliebenden,
respektvollen Seite gezeigt. Cloud hatte noch immer ein kleines Trauma von seinem Aufenthalt in
Lovrenas Gewalt zurückbehalten. Die bloße Erinnerung an die Königin, die versucht hatte, seine
Gefühle zu manipulieren, verursachte ihm Schweißausbrüche.
Nein!
Geradeaus... Wir blicken nur noch geradeaus! Bald.
Was verstand Darnok unter »bald«?
»Täusche ich mich, oder haben wir beschleunigt?«, fragte Jarvis aus dem Hintergrund. Er hatte
sich, wie alle anderen inzwischen etwas vertrauter mit den Anzeigen des Karnuts gemacht.
»Hey! G.T hat Recht!«, rief Resnick kurz darauf.
»Darnok?«
Der Keelon reagierte zunächst nicht auf Clouds Zuruf.
Aber die Sequenz auf dem größten Wandmonitor änderte sich. Darnok zoomte das Geflecht heran,
das die Grenze der Vakuumkugel bildete.
Dort zwischen den Lücken war plötzlich Bewegung.
»O nein... bitte! «
Scobees Flehen blieb ungehört.
»Verdammt!«, keuchte Resnick. »Die haben ihre Scheu aber schnell überwunden! Ich dachte, das
hier wäre tabu für sie... «
Offensichtlich nicht, dachte Cloud.
Die Zahl der Jadeschiffe, die durch die Lücken zwischen den karmesinroten Energieadern in den
Hohlraum vorstießen, war immens - und noch größer die Zahl der Protopartikel, die in riesigen
Schwärmen in die Sphäre eindrangen und dann ebenso wie die Schiffe zum Stillstand kamen.
Orientierungsphase, dachte Cloud. Natürlich. Dieser Ort ist ihnen ebenso fremd wie uns.
Zumindest vermutete er das. »Darnok?«, sagte er, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Ich kenne die Gefahr«, antwortete es ihm aus den Wänden. »Und ja, wir erreichen das Zielobjekt
früher als geplant. Genau in ...« Kurzes Schweigen, dann: »Wir sind da.«
Da war Atemlosigkeit.
Selbst bei Darnok, wenn nicht alles täuschte.
Staunen.
»Entfernung?« Cloud fand seine Sprache wieder, nachdem er Sekunden oder Minuten lang nur
gestarrt hatte.
»Ein Kilometer.«
Ein Kilometer! Das Karnut hatte so jäh abgebremst, wie es beschleunigt hatte. Und kurz vor
Erreichen des Zieles eine Art... Nebel durchstoßen.
Dahinter lag das Objekt klar und ungetrübt, und jedes Detail zeichnete sich mit unerwarteter
Schärfe auf dem Wandschirm ab.
»Keine Station«, stöhnte Scobee. »Oder?«
Nein, keine Station, dachte auch Cloud, während sein Blick die uralte, anthrazitfarbene, von
Meteoritenhagel, Beschuss oder anderen Einflüssen zernarbte Hülle entlang glitt.
Das Staunen wollte kein Ende finden.
»Größe?«
»Etwa 250 mal 300 Meter. Im ausladendsten Bereich etwa 50 Meter dick.«
Die Daten drangen wie in Trance zu ihm durch. Genau so wie er die Fragen stellte.
»Material? Protomaterie?«
»Negativ. Unbekannte Legierung. Anorganisch. Metall.«
»Messbare Aktivität?«
»Positiv. Eine Energiequelle an Bord ist aktiv. Bedeutung unbekannt.«
An Bord..., echote es in Cloud.
Sie hatten eine Station erwartet. Eine wie auch immer geartete Station, die das Wunder der
Vakuumkugel im Herzen des Aqua-Kubus überhaupt erst ermöglichte, eine Art Projektor, der das
Energiegeflecht mit einem Durchmesser von einer Lichtsekunde mit immensem Aufwand erhielt.
Doch das war keine Station. Vor ihnen lag ein ganz anderes Objekt, und es schien wenig plausibel,
dass es die Kräfte verwaltete, mit denen diese Zone aufrechterhalten wurde.
Scobee war die Erste, die es aussprach. »Ein Raumschiff. Ich glaube, es ist... ein Raumschiff!«
Die Ähnlichkeit mit den Jadeschiffen der Vaaren war unübersehbar.
Aber diese waren höchstens halb so groß - und in den Details gab es weitere frappante
Unterschiede. Was ihnen gemeinsam war, war die Grundform, die von einem irdischen Rochen,
einem Manta abgeleitet zu sein schien. Aber dieses Gebilde hier, bei dem auch Cloud sofort an ein
Raumschiff gedacht hatte, bestand laut Darnok nicht aus Protomaterie, und es wies auch nicht den
typischen grünen Glanz der Jadeschiffe auf. Die waren glatt, wie aus einem Guss geformt,
makellos. Dieses Objekt hingegen atmete das Alter und die überwundenen Strapazen regelrecht
aus. Was immer es mitgemacht hatte, bevor es hier zur Ruhe gekommen war - die Spuren auf
seiner Hülle erzählten von einer schieren Odyssee, von langen, gefahrvollen Reisen durch den
Raum zwischen den Sternen, von...
Cloud merkte abrupt, wie er ins Schwärmen geriet.
Gleichzeitig fühlte er die Aura, die von dem Gebilde ausging.
»Keine sichtbare Triebwerksektion... Vielleicht ist es doch einfach nur die Station, die wir
erwarteten«, hörte er Resnick laut mutmaßen.
»Es kann alles sein«, pflichtete Scobee ihm bei, schien aber nicht überzeugt. »Entweder es ist das,
wofür diese Kugel einst errichtet wurde - oder es ist das, was die Kugel bildet. Was wäre euch
lieber?«
»Nicht einmal die Vaaren sind so verrückt, eine 300.000 Kilometer durchmessende Kugel für ein
Ding zu errichten, das selbst vergleichsweise nur Sandkorngröße hat«, warf Jarvis ein. Seine
Stimme klang schwach. Als Cloud über die Schulter blickte, sah er, dass der GenTec kaum noch
Farbe im Gesicht hatte. Kreidebleich stand er zwischen Scobee und Resnick. Sein Gesicht war
verkniffen, Schweiß perlte darauf.
Cloud trat neben Scobee und stieß sie leicht an. Sie sah ihn an und verstand, folgte seinem Blick.
»Darnok?«, wandte sie sich dann an den Keelon.
»Scobee?«
»Kannst du eine Ruhemöglichkeit für Jarvis herausbilden?«
Jarvis begriff erst jetzt, dass es um ihn ging und wollte protestieren. Aber dann entstand direkt
hinter ihm eine Liegefläche, und er ließ sich einfach darauf niedersinken.
Der begleitende Seufzer des GenTec, während die Liege sich seinen Körperformen anpasste,
schürte Clouds Sorge noch mehr.
»Wir müssen einen Weg finden, den ganzen Kubus schleunigst hinter uns zu lassen. Wenn die
Verschlechterung eures Befindens«, er blickte von Jarvis zu Resnick, »mit unserer Umgebung zu
tun hat, können wir es nur abstellen, indem wir sie verlassen.«
»Grandioser Plan«, frotzelte Resnick. »Dumm nur, dass da noch einige kleinere Hürden zu nehmen
wären. - Darnok, Status der Jäger?«
»Annäherung der Jadeschiffe und Protoschwärme. Die Schwärme haben ebenfalls die Form von
Jadeschiffen angenommen - warum auch immer.«
»Schön, aber ich wollte wissen, wann sie da sind. Wie lange uns noch bleibt.«
Darnok gab nicht zu erkennen, ob ihm Resnicks Drängen missfiel.
»Sie steigern das Tempo. Aber es ist insgesamt sehr gering. Sie sind sehr vorsichtig. Wenn sich
nichts ändert, bleiben uns noch einige Minuten.«
Minuten!
Clouds Euphorie war wie weggeblasen. Er biss sich auf die Unterlippe, dachte fieberhaft nach.
»Wie sieht deine Offensivausrüstung aus, Darnok? Wäre es möglich, die Station, das Schiff - oder
was immer es darstellt - unter Feuer zu nehmen und zu vernichten?«
»Nein. Und selbst wenn, würde ich es nicht tun. Es birgt unkalkulierbare Risiken. Du glaubst, wenn
wir das Objekt zerstören oder zumindest beschädigen, würde die Sphäre instabil. Aber das ist nur
eine Vermutung. Möglicherweise hat das Objekt gar nichts mit dem Erhalt der Kugel zu tun. Dann
würde die Wut der Vaaren wahrscheinlich ins Unermessliche steigen. Sie würden sich keinerlei
Zurückhaltung mehr auferlegen und... «
»Tun sie das deiner Meinung nach?«
»Es ist unverkennbar.«
»Dann hat dieser Rochen einen unschätzbaren Wert für sie.«
»Es ist denkbar, dass sie ihn ebenfalls zum ersten Mal sehen, sobald sie erst nahe genug heran sind.
Und vielleicht wissen sie dann im Gegensatz zu uns sofort, worum es sich handelt. Vielleicht aber
auch nicht.«
»So kommen wir nicht weiter«, warf Scobee zu Recht ein. Sie war immer noch bei Jarvis, der die
Augen geschlossen hatte.
Cloud gab sich einen Ruck. »Kannst
du etwas tun, Darnok? Für G.T.?« »Ich müsste ihn untersuchen.« »Dann... «
Weiter kam Cloud nicht.
Etwas durchbrach die Wände des Karnuts, als wären sie völlig inexistent. »Vorsicht!«, schrie
Resnick noch. Dann durchschnitt ihn bereits der knisternde Strahl...
Scobee sah die Energielanze auf sich zukommen, aber es gab kein Entrinnen.
Selbst Jarvis war aufgesprungen, sank aber sofort wieder ächzend zurück.
Der Strahl wanderte durch Resnick hindurch, erreichte Scobee, Cloud, Jarvis, und machte auch vor
dem Herrn des Karnuts, vor Darnok, nicht halt. Dem Keelon gelang es jedoch noch
gedankenschnell, die Schutzkuppel über seinem Ruhebecken aufzubauen. Er verschwand hinter
einer Wölbung aus wie auch immer gearteter Energie - die ihn jedoch auch nicht vor dem schützte,
was sich über ihn hinweg und durch ihn hindurch schob.
Dann erreichte der Effekt das andere Ende des Karnut und verschwand durch die Wand wie er
gekommen war.
Menschen und Keelon starrten einander an.
Darnoks Kuppel erlosch, und seine Stimme, aus allen Richtungen kommend, sagte: »Es war kein
Angriff, zumindest noch nicht. Wir wurden lediglich gescannt.«
»Gescannt?«, echote Scobee. »Dann sind die Vaaren doch schon näher, als...«
»Der Strahl kam nicht von den Jadeschiffen«, korrigierte Darnok sie. »Er kam meinen Messungen
zufolge von dem Objekt vor uns. Ich messe jetzt auch eine deutlich erhöhte Aktivität im Inneren
des >Rochens<, wie ihr es nennen würdet.«
»Hilf mir mal jemand auf die Sprünge! Und das bedeutet...? John?«
Cloud reagierte nicht.
Erst jetzt bemerkte Scobee, dass er völlig reglos dastand und abwesend vor sich hinstarrte.
Ein Anfall!, durchzuckte es sie.
Die Symptome entsprachen denen, wenn er in den zurückliegenden Tagen in den Bann der
implantierten Bewusstseinssplitter geraten war, die sich in seinem Hirn tummelten.
Aber hatte er nicht die Hoffnung ausgedrückt, er könne sich jetzt mit ihnen arrangieren?
Scobee schnaubte. Irrtümer waren dazu da, begangen zu werden.
In diesem Augenblick fiel die Lähmung von Cloud ab. Ein Ruck schien ihn zu durchfahren. Sein
Blick war überaus wach, fast sezierend in seiner Eindringlichkeit, während er einen nach dem
anderen - und Scobee am längsten, wie es ihr vorkam - intensiv musterte.
Schließlich sagte er laut und klar: »Ich brauche einen Anzug, Darnok. Sofort!«
8. Erde, 2041 a.D. Reuben Cronenberg, Chef des NCIA, starrte auf den Bildschirm auf dem Schreibtisch seines unterirdischen Büros und wartete darauf, dass das eintrat, was er sich erhoffte. Ich habe 75 Bestätigungen. Sie sind inzwischen alle drinnen. Es muss jeden Moment... Das Türklopfen lenkte ihn ab. Nein, es war kein einfaches, dezentes Klopfen, es war ein Hämmern.
Verärgert drückte er eine Taste. »Was ist? Ich hatte doch die Anweisung erteilt...«
»Machen Sie auf! Ich muss mit Ihnen sprechen, sofort!«
Bevor er mit einem weiteren Knopfdruck den Türöffner betätigte, blendete er den Monitor aus.
Die Präsidentin stürmte den Raum. »Denken sie nicht einmal daran, mich besänftigen zu wollen! «,
fuhr sie ihn an. »Ich hoffe, ich störe nicht... bei was auch immer. Wissen Sie, was es mich für
Drohungen und sonstige Anstrengungen gekostet hat, bis vor Ihre verdammte Tür vorzudringen
wo nur ein weiterer Ihrer Wachhunde versuchte, mich abzukanzeln?«
»Ich hatte Befehl gegeben...«
»Dann ergänzen Sie Ihren verdammten Befehl für heute und in alle Zukunft! Sagen Sie Ihren
Leuten, dass es nicht Ihre Leute sind. Dass meine Autorität hier von niemandem in Zweifel
gezogen wird. Wenn ich irgendwo hin will, dann komme ich dorthin... Haben wenigstens Sie das
verstanden?«
»Was hat Sie so aufgebracht, Madam President?«
Sie holte tief Luft und sank dann kurz in sich zusammen, ehe sie sich wieder energisch in Positur
warf.
Sie hat sich verändert, dachte Cronenberg. Hätte sie diesen eisernen Willen schon vor dem
Auftauchen der Aliens im politischen Alltag bewiesen, wäre sie nie von Medien und Opposition so
an die Wand gedrückt worden, dass ihre Sympathiewerte derart in den Keller gingen. Die Invasion
hat sie eigentlich gerettet...
Er wusste, dass es nicht stimmte. Sie war nicht gerettet. Sie war ihm völlig
ausgeliefert, und wenn jetzt noch der Plan aufging, auf den sich er und seine nach wie vor
einsatzbereiten Agenten draußen seit Tagen vorbereiteten, war ihr Schicksal besiegelt.
Er hatte nicht vor, die Chance, die ihm vom Zufall zugespielt worden war, ungenutzt verstreichen
zu lassen.
Arme, kleine, naive Närrin, dachte er ohne echtes Bedauern.
»Wenn Sie sich hier einschließen, können Sie nicht wissen, was passiert ist! Oder doch?« Sie legte
den Kopf schief, musterte ihn.
Sein Lächeln blieb unverändert. »Nein«, sagte er. »Was ist passiert?«
Verschwinde endlich. Ich will wissen, ob es geklappt hat. Ich will wissen, ob wir wieder herauskönnen aus diesem Rattenloch! »Die Telepathin! Sie erlitt einen Kollaps, verlor das Bewusstsein... Inzwischen wurde sie untersucht.«
»Ich hoffe, es geht ihr wieder gut. Sie ist unsere einzige...«
»Es geht ihr beschissen, und sie wird sterben ! «, fauchte die Präsidentin ihn an.
»Sterben?«, wiederholte er.
»Sie hatte nicht einfach einen Schwächeanfall. Inzwischen wurde sie untersucht. Auf Herz und
Nieren. Dabei stellte sich heraus, dass sie unter einem Defekt leidet, der bis heute übersehen wurde.
Einem genetischen Effekt. Die Ärzte haben es anders formuliert, aber«, sie rang um ihre Fassung,
»aber es läuft darauf hinaus, dass ihr Körper, ihre Zellen begonnen haben zu zerfallen...«
In jedem anderen Moment hätte auch Cronenberg die Brisanz dieser Meldung gewürdigt.
Aber in Washington ging vielleicht in dieser Sekunde eine künstliche, kurzlebige Sonne auf und
stieg ein Pilz aus Rauch und Asche und Staub zum Himmel empor.
»Die Ärzte übertreiben gern. Ich kümmere mich darum. Wenn Sie mich jetzt bitte...«
Sie stampfte einmal hart mit dem Fuß auf wie ein empörtes Kind.
»Wir beide, Cronenberg, müssen miteinander reden - ernsthaft reden! Mir gefällt nicht, wie Sie...«
Er wollte es nicht, aber er explodierte. »Genug"!«
Sie starrte ihn an.
»Wache!. «
Ein bewaffneter Uniformierter erschien. »Sir?'.
»Nehmen Sie sie mit! Bringen Sie .sie in ihr Quartier und sorgen Sie dafür, dass sie sich ausruht.
Sie ist völlig übermüdet.«
»Aber, Sir, sie...«, stotterte der Soldat. »Cronenberg! «, stieß Sarah Cuthbert hervor.
Er ging weder auf den versuchten Einwand der Wache ein noch auf die Präsidentin. »Ich sagte:
Nehmen Sie sie mit! Und dann gnade Ihnen der Allmächtige, wenn Sie es noch einmal zulassen,
dass ich gestört werde!«
Die Glut in seinen Augen erstickte jeden neuerlichen Widerspruch. Der Soldat packte Sarah
Cuthbert am Arm und führte sie hinaus. Cronenberg merkte, wie fassungslos sie war.
Er war es auch. Ihm wurde bewusst, um was es bei dieser Aktion für ihn ging.
... dann gnade Ihnen der Allmächtige! Seine Drohung hallte in ihm nach. Und nur er selbst wusste
in diesem Moment, wen er damit gemeint hatte. Gott?
Er glaubte an keinen Gott.
Er glaubte nur an sich selbst.
Und er wollte alles dafür tun, um allmächtig zu werden.
Die Weichen waren gestellt. Als die Tür ins Schloss fiel, aktivierte er den Bildschirm.
Ein Bild der Verwüstung... Ich will ein Bild der Verwüstung sehen!, dachte er, als könnte sein
Wünschen alles wahr machen.
Die Schiffe der Fremden - zerrissen, zerfetzt, von atomaren Gewalten in die Atmosphäre geblasen.
Das wollte er sehen.
Aber obwohl Minuten verstrichen waren, seit er zuletzt nach Washington geschaut hatte - und der
Countdown längst abgelaufen sein musste - erhob sich der kathedralenhafte Bau der
Außerirdischen noch immer unversehrt in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses.
Wie betäubt nahm Cronenberg Verbindung zu sämtlichen Außenstellen auf.
Von überall her kam die gleiche niederschmetternde Nachricht: Das Unternehmen war gescheitert.
Nirgendwo auf der Welt war auch nur eine einzige A-Bombe am Körper eines Agenten
hochgegangen.
Sid war schon da, als sie in den Raum stolperte. Sid Palmer.
Er zeigte keinerlei Überraschung, als Sarah in der Obhut eines Uniformierten hereingeführt wurde.
Cronenberg hat keine Zeit vergeudet, dachte sie. Er geht auf Nummer Sicher. Ließe er Sid weiter
frei herumlaufen...
Sie ersparte es sich, den deprimierenden Gedanken zu Ende zu bringen.
»Sid! Dieser...«
Er stoppte sie mit einem Wink.
»Ich weiß Bescheid«, sagte er. »Hatten Sie nicht ohnehin den Verdacht, dass Cronenberg mit in die
Angelegenheit um die falsche Scobee und Hays verstrickt ist?«
»Doch, aber...« Der Soldat blieb an der Tür zurück. Sarah steuerte den schlichten Tisch und einen
der darum platzierten Stühle an. Auf einem saß bereits Palmer. Atemlos, als hätte sie einen Berg
erklommen, ließ sie sich gegenüber ihrem engsten Vertrauten niedersinken. »Er wirkte so
überzeugend, als er sein Erstaunen über Hays' Verschwinden mimte.«
»Es gibt Menschen, die können sich perfekt verstellen«, erklärte Palmer lakonisch.
Sie blickte ihn irritiert an. Durch die Schleier in ihrem Kopf, die ihre Wahrnehmung dämpften, seit
sie von Cronenberg in dieser unglaublichen Weise behandelt wurde, erkannte sie schwerfällig, dass
etwas nicht stimmte. Sie hatte Sid noch nie mit einem so zynischen Zug um den Mund erlebt.
»Was hat er Ihnen arge...«
Palmer lachte schallend auf. »Das verstehen Sie gründlich falsch, Sarah. Er hat mir nichts angetan.
Im Gegenteil. Sie waren es, die mir den Platz weggenommen hat, der eigentlich mir gebührt hätte.«
Ein Rauschen in ihrem Hirn. Schwindel. Sie stemmte die Arme nach unten und hielt sich an der
Stuhlkante fest - widerstand dem Sog, der plötzlich vom Boden auszugehen schien.
»Sid...« Sie flüsterte fast.
»Es ist anders gekommen, als ich dachte. Auch anders, als ich es erhoffte. Aber immerhin ist es
passiert. Sarah, Sie glauben nicht, was es mir für eine Genugtuung ist, Sie endlich dort zu sehen,
wo ich Sie immer haben wollte.«
Am Boden, dachte Sarah, den Blick stier auf ihn gerichtet. Er wollte mich immer am Boden sehen...
O mein Gott.
»Sie und Cronenberg?«, setzte sie an.
»Ich und Cronenberg«, erwiderte Palmer mit einer Ruhe, die schlimmer war als jedes Gebrüll.
»Und Hays. Er befindet sich übrigens immer noch auf dem Stützpunkt und kümmert sich um die
Matrizen... «
Eine Weile gab sich Sarah dem Wabern in ihrem Schädel hin. »Was wird aus mir?«, fragte sie
schließlich.
»Wir lassen uns etwas einfallen.« Palmer sah aus, als hätte er gerade, in diesem absurden
Augenblick, seinen Mieden nach endloser Leidenzeit gefunden. »Versprochen.«
9. »Einen Anzug?«, echote Resnick. »Einen Raumanzug? Was, zur Hölle, hast du vor, Ex? Hast du Angst, dass das Karnut gleich in Stücke geschossen wird?« Seit sie vom vaarischen Jadeschiff an Bord des Keelon-Fahrzeugs gewechselt hatten, trugen sie Übergangskleidung, die Darnok ihnen zur Verfügung gestellt hatte - schlichte Overalls, bequem und ausreichend für den Aufenthalt an Bord, aber völlig ungeeignet, falls es wirklich brenzlig wurde. Oder falls jemand auf die Idee kam, das Schiff verlassen zu wollen. Cloud ging nicht darauf ein. »Darnok?« »Ich werde euch Anzüge geben, wenn du der Meinung bist, sie zu brauchen. Aber wenn es wirklich zu einem Treffer kommt... « »Ich benötige nur einen«, unterbrach Cloud ihn. »Für mich.« »Schön, dass du kein Egoist bist.« Scobee sah den Moment gekommen, um auch etwas dazu zu sagen. Weniger Clouds Worte als sein Verhalten missfielen ihr. Er wirkte wie ausgewechselt, seit das Scannerlicht durch ihn hindurch gefahren war. An sich selbst konnte sie keine Veränderung feststellen, aber vielleicht ging es Cloud ebenso.
Vielleicht habe ich mich ja auch verändert und merke es nur selbst nicht. »Du wirst ihm nichts geben, Darnok, bevor er uns nicht...«, hörte sie sich rufen.
Cloud drehte sich zu ihr um.
So jäh, dass sie fast erschrak.
»Du verstehst nicht«, sagte er unaufgeregt, aber dennoch mit Nachdruck. »Ich muss gehen. Es ist
vielleicht unsere einzige Chance. Darnok? Wie lange werden wir dem geballten Feuer der
Jadeschiffe oder einem Angriff der Schwärme standhalten können?«
»Überhaupt nicht. Mein Magoo ist völlig damit beschäftigt, uns auf dieser Zeitebene zu halten,
damit wir nicht wieder ins dunkle Nichts zurückstürzen. Sie werden keine Gegenwehr zu fürchten
haben. Dies ist kein Kampfschiff ... «
»Wie erklärst du dir, dass die Vaaren auch ohne Magoo offenbar keine Schwierigkeiten haben, sich
innerhalb der Sphäre zurechtzufinden, Darnok?« Die Frage kam von Jarvis, war nur wie leise
gehaucht.
»Ich habe dafür keine Erklärung.« »Den Anzug! «, drängte Cloud.
Scobee trat zwischen ihn und das Becken, in dem der Keelon ruhte. »Wie kommst du plötzlich auf
die hirnrissige Idee, uns verlassen zu müssen? Willst du auf das Objekt wechseln, das vor uns hängt
- wer weiß wie viele Jahre, Jahrhunderte oder Jahrtausende schon?« »Ja«, erwiderte er einfach.
»Nur du kannst auf einen solchen Einfall kommen! «
Cloud schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht selbst darauf gekommen.« »Sondern?«
In seinen Blick trat etwas, das sie zurückschrecken ließ. »Ich wurde gerufen... «
Noch während er sich selbst reden hörte, erwachte er wie aus einem Bann. Seine Schultern sanken hinab, als wären sie gelähmt. Scobee bemerkte die Veränderung sofort. »Mit dir ist doch etwas, John. Lass uns darüber reden. Sag uns, wie es angefangen hat... Was meinst du damit, du wurdest gerufen?« Er zitterte. »Ich messe nicht nur bei dem Objekt eine sprunghaft erhöhte Aktivität, sondern auch bei John Cloud«, sagte Darnok. »Die Protomaterie in dir scheint sich vermehrt zu haben...« Cloud gab keine Antwort. Dafür flüsterte Scobee: »Ich wusste, dass das nicht gut gehen kann. Verdammt! Hätte Rurkka nur ein klein wenig mehr Zeit gehabt, dann hätte er jede Spur von Fremdmaterie aus dir entfernen können - wie bei uns.« »Bist du sicher?«, konterte Cloud. Er spannte jeden Muskel an, versuchte des Zitterns Herr zu werden. »Vielleicht geht es den beiden auch nur wegen der Proto-Hinterlassenschaft in ihren Körpern plötzlich schlecht. Vielleicht war Rurkka doch kein solcher Meister seines Fachs, wie wir es uns alle wünschten... « »Das kann ich ausschließen«, meldete sich Darnok. »Du bist der Einzige, John Cloud, in dem noch Protomaschinen zu finden sind, mit - wie ich schon sagte - steigender Anzahl.« Cloud trat so nahe an das Becken des Keelon heran, wie er es noch nie getan hatte. Er beugte sich darüber und stellte sich vor, wie es wäre, auf Darnok hinunterzufallen. In dem molluskenartigen Gewebe zu versinken... Es war ihm noch nie aufgefallen, aber der Keelon duftete. Ein feines, moschusartiges Aroma strömte von ihm aus - nur sehr schwach, aber aus dieser Nähe wahrnehmbar. Cloud hatte das verrückte Gefühl, dass es beruhigend auf ihn wirkte. Tatsächlich hörte sein Zittern fast schlagartig auf. »Darnok...«, flüsterte er. »Du erhältst das Gewünschte.«
»Ah, ja?«, spöttelte Resnick aus dem Hintergrund. »Darf sich jetzt jeder was wünschen? Ich hätte gerne ein anderes Leben... « »Versuch erst mal, mit dem hier klar zu kommen«, versetzte Scobee. Sie wirkte auch angeschlagen, aber in anderer Hinsicht als die beiden anderen GenTecs. Cloud gewann seit ihrem Aufenthalt im Kubus mehr und mehr den Eindruck, dass ihr etwas auf der Seele lastete. Aber er wagte es nicht, sie offen darauf anzusprechen. Sie akzeptierten einander inzwischen, aber das, was sie quälte, schien etwas sehr Intimes zu sein, zumindest empfand er es so, und um über tief Persönliches zu sprechen, erschien ihm ihr Verhältnis noch längst nicht vertraut genug. Vielleicht täuschte er sich. Vielleicht wartete sie nur darauf, sich jemandem öffnen zu können. Wir tragen alle unsere Päckchen mit uns. »Ich weiß nicht einmal«, wandte er sich an Darnok, »ob ich dir dafür danken soll.«
Er lauschte in sich hinein.
Er kam sich vor wie zweigeteilt. Da war ein John Cloud, der genau zu wissen schien, was er
vorhatte - und einer, der fast hilflos zusah und es akzeptierte, wie der andere handelte.
Wohin würde das führen?
Aus der Decke über ihm löste sich ein großer tropfenartiger Batzen, der rasch Form und Konsistenz
änderte und sich schließlich zu einem kompletten Raumanzug entfaltete.
»Sind wir nicht alle ein bisschen wahnsinnig?«, klang unvermittelt Jarvis' Stimme auf, »uns dieser
vermeintlichen Wundertechnik anzuvertrauen? Was ist, wenn sie sich in einer Extremsituation wie
im freien Weltraum ebenso selbstverständlich wieder zerlegt, wie sie sich zusammengefügt hat?«
Cloud drehte sich zu ihm um. Jarvis saß auf der Liege, die der Keelon für ihn bereit gestellt hatte.
Obwohl der Bartwuchs bei GenTecs extrem schwach ausgeprägt war, hatte sich ein dunkler
Schatten in der unteren Hälfte seines Gesichts und am Halsansatz gebildet. Er harmonierte in
geradezu erschreckender Weise mit dem dunklen Rand, der um die Augen hinzugekommen war.
»Du bist der geborene Motivator, G.T.«, brummte Cloud. »Ich danke dir für den feinfühligen
Zuspruch... Zur Hölle! Glaubt ihr wirklich, ich will da rüber?«
»Wer zwingt dich?«, fragte Scobee. Die Skepsis, mit der sie seine Worte quittierte, war
unüberhörbar.
»Ich weiß nicht, ob zwingen der richtige Ausdruck dafür ist. Ich sehe momentan einfach keine
andere Möglichkeit, als der Zuversicht, die dieser - ich geb's ja zu - nicht unproblematische Ruf in
mir geweckt hat, zu folgen.«
Auch dieses Eingeständnis machte seinen Entschluss für die anderen nicht wirklich plausibler.
Einzig Darnok schien der gleichen Ansicht zu sein wie er. »Realistisch betrachtet, riskiert John
Cloud mit Verlassen des Karnuts nicht mehr als wir, die wir an Bord bleiben«, erklärte er. Und
fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Falls das jemanden beruhigt.«
Es beruhigte nicht, besonders weil in diesem Augenblick das erste der Jadeschiffe in Schussweite
kam und sofort das Feuer eröffnete.
Lovrena hielt es längst nicht mehr in ihrem Palast. Sie hatte den Vergessenen Ort verlassen und ein Schiff ausgerüstet, mit dem sie unverzüglich zum spirituellen Zentrum Tovah'Zaras aufgebrochen war. Es war ein besonderes Schiff, das prunkvollste, das die Vaaren besaßen - und das am besten bewaffnete. Die Größe übertraf ein normales Jadeschiff um das Zehnfache. Die Besatzungsstärke lag gar beim Hundertfachen. Im Verbund vermochten sie die MECCHIT schneller als jedes andere bekannte Fahrzeug durch die Korridore zu schleusen, die sie kraft ihres Geistes erzeugten. Während der Fahrt spürte Lovrena wie jeder andere Vaare die Gezeitenkräfte, die in Tovah'Zara wirkten. Ausgehend von den acht Eckstationen, die dem Wassergebilde jene Form verliehen, die es
seit Äonen wahrte, zerrte künstliche Gravitation an allem, was sich darin befand. Aber das
Kräftespiel war so ausgewogen, dass es keinem Lebwesen und keinem Ding gefährlich werden
konnte. Die meisten würden es nicht einmal bemerken.
Nicht, so lange die Stationen ihren Dienst verrichteten.
Es gab eine Elite unter den Heukonen, die sich zeitlebens nur um die Wartung der acht Gravobojen
kümmerte. Innerhalb der Weite Tovah'Zaras gab es noch zahllose weitere - kleinere - Aggregate,
die in ständiger Wechselwirkung mit den Grenzstationen standen. Und die Licht erzeugten,
Wärme... alles, was die unterschiedlichen Leben brauchten, denen Tovah'Zara eine Heimat
geworden war. Und was die Protowiesen unter Leitung der Luuren zum Gedeihen brachte.
Jeder in Tovah'Zara war ein Teil des Ganzen - ob freiwillig oder nicht.
Es war erschütternd, wie umfassend es wenigen Fremdkörpern gelungen war, die uralte Ordnung,
die uralten Gesetze ins Wanken zu bringen.
Der Hass in Lovrena, der Hass auf die Fremden von jenseits der Welt, schwoll immer noch an. Es
war nicht abzusehen, wann er je wieder verrauchen würde.
Wahrscheinlich erst, wenn sie tot waren. Wenn sie alle tot waren...
Immer rasender ging die Fahrt.
Und dann waren sie dort, wohin sich Lovrena vor diesen Ereignissen niemals begeben hätte, denn
der Kern, das Herz Tovah'Zaras war selbst für sie tabu.
Gewesen...
Das Karnut vollführte ein Ausweichmanöver, dessen wahre Brillanz sich nur andeutungsweise über die Bilder erahnen ließ, die die Menschen an Bord dank des Wandmonitors verfolgen konnten. Cloud glaubte, einen winzigen Moment lang Andruck durchkommen zu spüren - was für ein Radikalmanöver sprach -, aber beschworen hätte er es nicht. »Zu spät...«, kam es über seine Lippen. »Was können wir tun?«, keuchte Scobee. Cloud sah, dass selbst Jarvis wieder auf den Beinen war. Seine Miene drückte eiserne Entschlossenheit, nicht nur der eigenen Schwäche, sondern auch der neuerlichen Eskalation zu trotzen. Von Darnok kam keine Antwort. Der molluskenhafte Körper zuckte in äußerster Anspannung im Becken, das die Mitte des Karnuts markierte. Etliche Pseudopodien waren in der Wandung der Kuhle verschwunden. Es sah aus, als hätte er sich mit dem Karnut vereinigt. Cloud begriff endgültig, was er schon länger - unterschwellig - vermutet hatte: Darnok und das Karnut waren eins. Kein anderes Wesen, erst recht kein Nicht-Keelon, wäre je in der Lage gewesen, so umfassend auf das Schiff einzuwirken. Die manuellen Bedienungselemente, die ihnen zur Verfügung standen, waren blockiert, wie Resnick meldete, der sich damit beschäftigte. Darnok machte unmissverständlich klar, wer die Oberhoheit an Bord hatte. Und Cloud war nicht unfroh darüber. Mit raschen Bewegungen stieg er in den von Darnok erhaltenen Anzug, der sich an den Nähten in dem Moment luftdicht schloss, in dem man sie überlappend gegeneinander presste. Sie verschoben sich nach Kontakt selbstständig, um die Idealposition einzunehmen. Kaum war der Anzug rundum geschlossen, baute sich das glockenförmige Energiefeld auf, das den Helm ersetzte. Von irgendwoher strömte Luft, der Anzug blähte sich auf, und als Cloud an sich herumtastete, erfühlte er eine Art Gürtel, der daumendick hervortrat. Darin mussten sich alle erforderlichen Aggregate und Luftvorräte befinden. Unglaublich. Aber er hatte im Kubus erlebt, wie funktionell und verlässlich Darnoks Geschenke waren - jedenfalls solange keine Protoschwärme auf die Idee verfielen, sie aufzufressen.
»Was können wir tun?«, wiederholte Scobee ihre Frage. Cloud hörte sie so klar und deutlich, als gäbe es den weltraumtauglichen »Helm« nicht. Auf dem Monitor kam das zernarbte Objekt - der Rochen - bedrohlich nahe, bis es fast an der Außenhülle zu haften schien. Noch ehe Darnoks Stimme aufklang, durchschaute Cloud das Manöver bereits. »Ich verlasse mich ungern auf Vermutungen, wenn es um den Erhalt meines Lebens geht«, sagte der Keelon nach vorübergehendem Schweigen. »In dieser speziellen Situation sehe ich jedoch keine Erfolg versprechender Alternative. Alles, was uns bleibt, ist hoffen, dass dieses Gebilde den Vaaren tatsächlich etwas bedeutet... « »... und dass sie das Risiko scheuen, uns weiter unter Beschuss zu nehmen, so lange wir quasi daran kleben«, vollendete Cloud. »Korrekt!«, bestätigte das herzförmige Wesen in der Mulde - für seine Verhältnisse fast leidenschaftlich.
»Ich bin dagegen - ganz egal, was du dir einbildest zu hören! «
Einen Moment lang genoss Cloud ihre Aufgebrachtheit. Es gab ihm das Gefühl, eine Bedeutung zu
haben.
»Du kannst mich nicht aufhalten«, antwortete er.
Sie blickte erst ungläubig, dann verärgert. »Das werden wir sehen.« Sie stemmte beide Fäuste in
die Hüften.
»Ich meine damit«, wiegelte er ab, »dass du es nicht entscheidest. Du könntest mich aufhalten,
wenn Darnok deiner Meinung wäre. Aber ich bin sicher - und er hat es auch schon angedeutet -,
dass er die uns verbliebenen Möglichkeiten gut gegeneinander abgewogen hat. Er weiß, dass ich
eine Chance bin. Stimmt's, alter Freund?«
Er provozierte ihn absichtlich, um irgendeine - ganz gleich welche - Reaktion zu erzeugen.
Und der Keelon reagierte. »Geh! Was immer du tust, was immer du vorhast, John Cloud - beeile
dich damit! «
Cloud nickte grimmig. Sein Blick hielt noch kurz dem von Scobee stand, die nicht den Anschein
erweckte, als wollte sie sich einfach fügen. Doch sie hielt ihn nicht auf,
als er ihr, Jarvis und Resnick knapp zuwinkte und sich dann auf die Wand neben dem
Bildübertragungsfeld zu bewegte.
»Willst du keine Waffe mitnehmen?«, rief ihm Jarvis zu.
Um Clouds Mundwinkel bildete sich ein Lächeln. »Dir geht es schon wieder besser, wie?«
»Blendend«, log der GenTec mit verkniffener Miene.
»Nein«, sagte Cloud. »Keine Waffe. Ich glaube nicht, dass das einen Sinn ergäbe.« Er ließ offen,
warum er dieser Ansicht war. »Ich bin bereit.«
Es würde anders sein als beim Verlassen des Karnuts in der »normalen« Kubus-Umgebung. Er
würde nicht in Wasser gleiten, sondern...
»Darnok! «, rief er ungeduldig. »Ich bin so weit.«
Statt einer Erwiderung verschwand plötzlich die Außenumgebung des Karnuts vom Wandmonitor
und machte einem Gesicht Platz, das Cloud zeitlebens nicht mehr vergessen würde. Niemals hatte
er sich einer Frau näher gefühlt - niemals von einer Frau mehr benutzt.
Dabei war sie von Gestalt her wahrscheinlich etwas völlig anderes, als sie vorgaukelte.
»Lovrena!«
Welch absonderliche Umgebung, dachte die Herrscherin.
Sie hatte die von den Heiligen Tafeln markierte Grenze einmal pro Gezeitensprung besucht - sobald
sich der Gravopuls zum Ende einer Periode umpolte. Stets hatten die Steine zu ihr gesprochen,
hatten gewarnt und versichert, über die Zukunft von Tovah'Zara zu wachen - solange seine
Bewohner in Demut mit dem Erbe der Hirten umgingen.
Aber haben wir das getan? Lovrena wagte nicht, sich die Antwort darauf selbst zu geben. Nun waren die Tafeln verstummt. Sie passierte sie, ohne auch nur noch ein Echo der früheren Impulse aufzufangen. Sie wusste, wie es dazu gekommen war. Sie hatte es im Kern des Palastes erfahren wie so vieles andere mehr. Die Tafeln waren jetzt verstummt, um ihren - Lovrenas - und den Vorstoß der vorausgeeilten Jadeschiffe in die Ewige Stätte nicht zu gefährden. Zu heftig, zu dominant und autoritär waren die Impulse, die all die Zeit eine Entweihung des Kerns verhindert hatten. Die Ewige Stätte hatte etwas ebenso Respekt einflößendes wie auch Bedrohliches - selbst für einen Vaaren. Die Kräfte, die sie erzeugten, waren Lovrena selbst nach Erhalt neuen Wissens noch immer unbekannt. Und es war ungewiss, was geschehen wäre, wenn die MECCHIT, die anderen Jadeschiffe oder die Schwärme vor ihrem Eindringen nicht erfahren hätten, an welche Zeitkonstante sie sich anzugleichen hatten - und wie sie das bewerkstelligen konnten. Ich werde gelenkt, dachte sie, und ich habe zu funktionieren, sonst... »Wir sind jetzt in Reichweite«, meldete einer ihrer Untergebenen.
Auf den Bildwandlern erschienen die Umrisse aller Objekte, die sich mit der MECCHIT im Innern
der Ewigen Stätte aufhielten.
Darunter ein Objekt, das Lovrena fast ohnmächtig vor Ehrfurcht werden ließ.
Das also ist SESHA - das Seelenschiff, dachte sie. Ob sie wirklich darin wachen?
Dann wandte sie sich dem anderen, geradezu winzige Fahrzeug zu, das sich in den Schutz des
Artefakts zurückgezogen hatte, und begann ihre Nachricht an die Todgeweihten zu senden - mit
Bildern, die prototechnisch in unversöhnliche Worte gewandelt wurden: »Auch das wird euch nicht
retten, ihr Frevler!«
10. Sie sah völlig verändert aus. Cloud wurde für ein paar Atemzüge wie zu Stein. Der Anblick des Wesens, in dessen Gefangenschaft er psychisch mehr gelitten hatte als jemals zuvor oder danach - nicht einmal in der Konfrontation mit seinen Gespenstern - war zu einem Bild des Grauens mutiert. Was ist mit ihr passiert? Oder ist das ihr wahres Gesicht? Als humanoide Schönheit, in Details unmenschlich, aber faszinierend, hatte sie sich ihm in ihrem Palast gezeigt. Ihre Augen waren weiß wie Schnee gewesen, ihre Haut, in der feine Fäden wie Tentakel verankert waren - Nesselfäden hatte er sie genannt -, eine Spur bläulicher. Marmorkühl. Sie hatte Arme und Beine und fünffingrige Hände und Füße gehabt, sogar Andeutungen von Brüsten. Sie ist androgyn, war es ihm bei ihrem ersten Erscheinen durch den Kopf geschossen. Sie wirkte nicht wie eine Frau auf ihn, die man begehren konnte, zumindest anfangs nicht. Doch dann hatte sie ihn verhext. Er wusste nicht, wie er es treffender ausdrücken sollte. Sie hatte einen dunklen Zauber um ihn gewoben - zuckersüß, verführerisch, betrügerisch -, mit dem sie ihm fast den Verstand geraubt und ihn um ein Haar zu einer willenlosen Puppe gemacht hätte... Er wollte nicht mehr daran denken, aber er musste es. Denn ihre Veränderung erschütterte ihn. Nur noch ihr Kopf mit dem abstehenden »Kamm«, der aus »Haaren« bestand, von denen jedes einzelne dick wie ein kleiner Finger war, wirkte noch annähernd so, wie er es in Erinnerung hatte.
Zwei Augen, in denen waberndes Weiß zu schwimmen schien, blickten Cloud entgegen - nur ihm,
wie es ihm vorkam.
»... werden euch ausmerzen«, schloss Lovrena ihre ebenso kurze wie unmissverständliche
Drohung.
»Sie scheint an Bord eines der Jadeschiffe zu sein, die uns angreifen!«, stöhnte Resnick. »Ich
glaube nicht, dass die Vaaren in der Lage sind, Signale so mir nichts, dir nichts auch durch...« Er
verstummte. Offenbar wurde ihm gerade bewusst, dass sie es immerhin auch geschafft hatten, sich
»mir nichts, dir 'nichts« der in der Hohlkugel herrschenden Zeitkonstante anzupassen.
»Sie befindet sich an Bord eines Schiffes«, bestätigte Darnok. »Aber nicht an Bord von denen, die
uns ursprünglich in die Sphäre folgten.«
»Was soll das heißen?«, fragte Cloud rau.
»Es ist ein weiteres Schiff aufgetaucht«, antwortete der Keelon bereitwillig. »Mindestens zehnmal
so gewaltig wie die üblichen Vaaren-Rochen.«
Das drohende Konterfei der Herrscherin verschwand vom Bildschirm und machte dem Platz, was
Darnok gerade beschrieben hatte.
Es war fast so gewaltig wie das Objekt, an das sich das Karnut förmlich anschmiegte und hatte eine
Position unmittelbar hinter den anderen Fahrzeugen eingenommen, die den Zentrumsbereich
einkesselten. Dazwischen trieben Schwärme.
»Okay«, sagte Cloud. »Lässt du mich jetzt raus? Ich weiß nicht, warum ich dem Ruf vertraue, den
ich in mir höre. Aber ich weiß, dass wir bald nicht mehr in der Lage sein werden herauszufinden,
ob er eine Chance beinhaltet. Es ist diesem Wesen ernst. Es wird uns umbringen, ob wir nun Schutz
bei ihrem Heiligtum suchen oder nicht. Darnok, wenn...«
»Geh.«
Cloud verstummte.
»Geh einfach und folge deinem Ruf.«
Es war wie schon einmal: Eingehüllt in den Anzug, den das Karnut ihm geschaffen hatte,
vermochte er die Hülle einfach zu durchschreiten.
Und dann war er draußen...
Und offenbar immer noch innerhalb der Reichweite von Darnoks Magoo. Denn er sah das Karnut
und das Rochengebilde, von dem er sich gerufen
fühlte, klar vor sich. Letzteres war fast erdrückend in seinen Ausmaßen.
Die Jadeschiffe, speziell das riesige Schiff der Königin, waren ebenfalls erkennbar, aber so weit
entfernt, dass er keine Details zu erkennen vermochte.
Der dunkle, narbige Rochen übte eine unglaubliche, nicht nur symbolhafte Anziehungskraft auf ihn
aus. Nachdem er erst einmal das Karnut verlassen hatte, fühlte sich Cloud unwiderstehlich darauf
zugezogen.
Er hatte ihn aber noch nicht erreicht, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie das Keelon-Schiff
plötzlich verschwand.
Im gleichen Moment raste aus Richtung der Jadeschiffe eine Feuerwalze auf ihn zu, und er wusste,
dass es vorbei war.
Es war ein letzter Funke von Erkenntnis, bevor ihn die lautlose Lohe verschlang...
Wieder versanken sie in Schwärze, wieder versanken sie in einem Nichts, das Scobees bitterste,
krampfhaft unterdrückte Ängste an die Oberfläche spülte.
»John...«, rann es über ihre Lippen, bevor sie ihre Worte laut schreiend an Darnok richtete: »Hast
du ihn?«
Stille.
Schweigen.
Durch den molluskenartigen Körper schienen Wellenbewegungen zu laufen. Sekunden zuvor hatte Darnok eine Warnung formuliert, dass die Jadeschiffe offenbar keinerlei Rücksicht auf das zentrale Objekt der Vakuumkugel zu nehmen gedachten und dabei waren, erneut das Feuer zu eröffnen. Ganz gleich, welchen Schaden sie dabei an dem dunklen, gigantischen Metallrochen anrichteten... Die einzige Chance, die Darnok noch gesehen hatte, war der neuerliche Wechsel der Zeitebene zurück auf jenen Level, dem sie entstammten und der dem Zeitfluss außerhalb der Sphäre entsprach. Obwohl Cloud das Karnut bereits verlassen hatte, versicherte der Keelon, dass er sich noch innerhalb seiner Aura aufhalte. Also musste er den »Sprung« mit vollzogen haben. Doch Darnoks Schweigen war beredter als jedes Wort. »Du hast ihn verloren - habe ich Recht?«, sagte Scobee tonlos. »Das hieße, dass er dem Feuer der Vaaren schutzlos ausgesetzt ist... « »War«, wurde sie von Darnok korrigiert, der sich offenbar nicht bewusst machte, wie verletzend schroff die noch verbliebenen Menschen an Bord seine Direktheit empfinden mussten.
Vor Lovrena materialisierte die Lichtkugel und verursachte nicht geringen Schrecken unter den
ebenfalls anwesenden Vaaren.
Der leuchtende Lotse war ihr aus dem Palast gefolgt? Aber wie? Und vor allem... warum?
Noch bevor sie ihre Überraschung überwunden hatte, teilte das Licht ihr mit:
- Feuer einstellen. Feuer sofort einstellen. -
Über die Außenverbindung war das Leck zu sehen, das die MECCHIT am Seelenschiff verursacht
hatte.
Folgte jetzt die Strafe auf den Fuß? Aber hatte Lovrena die Fremden nicht mit allen Mitteln stoppen
sollen?
Das kleine Schiff war verschwunden, die Suche nach ihm im Gang. Dafür hatten sie einen der
Insassen, der ausgestiegen war, unter Beschuss genommen und getötet.
Ein Vorgeschmack darauf, was allen blühte, die sich am Erbe der Vaaren vergangen hatten.
Doch nun...
»Einstellen?« Lovrena vermittelte der Erscheinung, die vor ihr im Wasser an Bord der MECCHIT
hing, ihr völliges Unverständnis. »Der Schaden ist reparabel. Ich habe gehandelt, wie es von mir
erwartet wurde. Und wie ich es von mir selbst erwarte. Du kannst nicht... «
- Feuer sofort einstellen. Oder ich töte dich. -
»Wer bist du?« Sie achtete nicht auf die Konfusion, die sich an Bord ausbreitete.
- Such es dir aus, welcher von deinen Herren ich bin. Welcher von denen, die euch erschufen. -
Die Antwort versetzte Lovrena und alle, die sie sonst noch empfingen, in helles Entsetzen.
Sie hatte das Gefühl, in sich zusammenzustürzen wie ein kollabierender Stern.
»Erschufen? Was maßt du dir an?«
In diesem Augenblick dehnte sich die Kugel warnungslos aus. Lovrena tauchte ein in das Licht -
und begriff vollends, mit wem sie es zu tun hatte.
Das war der Moment, in dem sie sich entschied.
Sie würde nicht gehorchen.
»Schießt!«, hörte sie sich befehlen. »Vernichtet das Objekt! Sofort - und mit allen Mitteln!«
Ihre Worte wurden auch auf den anderen Schiffen gehört, und gleichzeitig setzten sich die
Protoschwärme in Bewegung. Schwarm um Schwarm brandete gegen die Hülle des Artefakts an,
das zu vernichten sich Lovrena soeben entschlossen hatte.
Es schien ihr der einzige Weg, ihr Reich zu bewahren.
Ihr Reich.
Er kam in einer fremden Umgebung zu sich und war steif, als wäre kein Muskel seines Körpers seit
Urzeiten mehr bewegt und beansprucht worden.
Cloud hatte Angst, die Augen zu öffnen, noch lange nachdem er wieder bei Bewusstsein war.
Bei Bewusstsein...
Das konnte alles heißen. Etwa auch...
... dass ich noch lebe? Er hatte die Feuerwoge auf sich zurasen sehen, gefühlt wie sie ihn umleckte und...
Und was?
Er lebte. Er war noch immer körperlich - die kurze Überlegung, seine Seele könnte sich losgelöst
haben, um die uralte Menschenhoffnung zu bestätigen, dass da nach dem irdischen Dasein noch ein
weiteres folgen müsse, war ebenso schnell wieder verflogen wie sie aufgekommen war.
Nein, er lebte!
Er spürte seinen Körper nicht nur, weil er schmerzte.
Ich sitze. Verdammt, wie komme ich in einen... Wieder zerfaserte der Gedanke, wieder unterbrach er ihn selbst. Diesmal indem er die Lider hob.
Dunkel.
Es war völlig finster um ihn herum.
Die zweite Erkenntnis war: Er konnte weder aufstehen noch einen Arm oder ein Bein über eine
winzige Toleranz von wenigen Zentimetern hinaus bewegen.
Ich bin gefesselt. Ihm kam ein Verdacht. Die Lohe hatte ihn ganz offenbar nicht umgebracht. Hatte sie ihn an Bord
eines der Vaaren-Schiffe »geholt«? An Bord des größten Vaaren-Schiffes, das er je gesehen hatte
und auf dem sich wahrscheinlich Lovrena aufhielt?
Falls er Recht hatte, war er ihrer Willkür ausgeliefert - wie schon einmal.
Ringsum war Stille. Er hörte nur den eigenen Atem.
Er atmete wieder Luft. Wahrscheinlich hatten sie ihn isoliert. Sie selbst lebten schließlich im
Wasser, das auch ihre Fahrzeuge flutete. Die Protopartikel in ihm mochten sich vermehrt haben -
warum auch immer - aber sie verliehen ihm nicht mehr die Fähigkeit, unter Wasser zu atmen.
Oder?
Alles, was er dachte, alles, was er zu wissen glaubte, konnte falsch sein.
Sicher war nur, dass das Karnut verschwunden war. Im letzten Moment vor dem Aufprall der Lohe
hatte Darnok reagiert. Damit gab es Hoffnung. Schon einmal hatte der Keelon ihn befreien können,
warum nicht auch in dieser Situation?
»Weil du nicht befreit werden musst.«
Die Stimme war einfach da, und Cloud hätte nicht zu sagen vermocht, welcher Sprache sie sich
bediente. War es Telepathie? Oder wandelte der hinter den Stirnknochen gepflanzte
Übersetzungschip, den Darnok ihm verabreicht hatte, das außerirdische Idiom unmerklich um?
»Wer...?«
»Du bist akzeptiert.«
Mit diesem Satz wurde alles anders.
Licht flammte auf...
»Wir können nicht beliebig lange in dieser grauenvollen Finsternis treiben, oder? Habe ich schön erwähnt, dass ich sie nicht mag? Dass sie mir aufs Gemüt drückt...?« Scobee hatte keine Lust, auf Resnicks Beschwerden einzugehen, nicht jetzt. Sie hatte keine Lust! Clouds Tod hatte sie stärker aus der Bahn geworfen, als sie es vor Beginn ihrer Odyssee, vor dem Sturz durch das Wurmloch, für möglich gehalten hätte. Inzwischen war er ein voll akzeptierter Partner für sie geworden. Genau wie die GenTecs, denen Cloud - das wusste sie - lange Zeit mit äußerstem Argwohn begegnet war. Mich eingeschlossen. Er kannte den Unterschied zwischen mir und ihnen nicht. Und manchmal weiß ich ihn selbst nicht. Vielleicht war es gerade der Umstand, dass er mit ihrer Lüge gestorben war, der Scobee am meisten
zusetzte. Sie hatte ihm und den anderen sagen wollen, wie es um ihre wahre Identität bestellt war.
Aber es hatte stets an der passenden Gelegenheit gemangelt - und jetzt war es zu spät.
Sie konnte es nur noch bei den anderen nachholen.
»Bist du sicher, dass sie uns nicht folgen können?«, fragte sie das Wesen, das sich bislang ebenso
wenig offenbart hatte wie sie.
Was weiß ich über Darnok? Nichts. Die Antwort lautete: So gut wie nichts.
»Ich bin sicher, dass wir es herausfinden werden.« Es war seine typische Art zu antworten -und
doch nichts zu sagen.
Jarvis tauchte mit schleppendem Gang neben ihr auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich
hatte mich auch an ihn gewöhnt.«
Das Eingeständnis kam so überraschend, dass Scobee nicht in der Lage war, überhaupt etwas zu
erwidern.
Und dann überschlugen sich auch schon wieder die Ereignisse.
Sie spürte, ja spürte, wie sich etwas wie eine Faust um das Karnut und alle Insassen schloss.
Und wie die' Wände zu ächzen begannen, als könnten sie dem Druck keine Sekunde mehr länger
standhalten.
Cloud glaubte zu träumen und wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte immer für sich in Anspruch
genommen, eine gute Auffassungsgabe zu besitzen. Das hier aber übertraf alles für möglich
Gehaltene bei weitem.
Er sah.
Er sah nicht nur den begrenzten Bereich vor seinem Sitz, sondern überschaute auf eine Weise, die
er nicht beschreiben konnte, den gesamten Bereich, über den er befehligte.
Befehligte?
Er war das Objekt.
Er war das Gebilde, das für eine unbekannte Zeitspanne im Zentrum der Vakuumsphäre geruht
hatte.
Rings um ihn waren sechs weitere, transparent gewordene Sitze angeordnet, die entfernt an
Sarkophage erinnerten.
Er war in einen davon eingeschlossen gewesen und hatte keine Ahnung, wie er hineingekommen
war. Doch jetzt war seine »Schale« licht und luftig geworden, und wenn er wollte, konnte er
aufstehen und sie verlassen.
Die anderen, in Nuancen anders geformten Sitze waren leer. Clouds Unterarme ruhten auf
unsichtbaren Polstern, und um seine Fingerkuppen tanzten flirrende Felder.
Schaltpunkte.
Sensoren.
Was immer der richtige menschliche Begriff dafür war, war unwichtig. Hauptsache war, dass er damit umgehen konnte. Noch immer hallte der Satz in ihm nach, von dem er nicht wusste, ob er Drohung oder Versprechen war: »Du bist akzeptiert.« Die Sitze standen auf einem erhöhten Podest, und ringsum war das All. Ähnlich wie auf dem Äskulap-Schiff, mit dem sie das Sonnensystem verlassen hatten, existierten Wände, aber sie erschufen eine täuschend echte Illusion des Raumes jenseits ihrer Grenzen. Wie im Traum durchwanderte Clouds Geist Sektion um Sektion des uralten Schiffes. Im »Vorbeiflug« nahm er die einzelnen Bereiche in sich auf. Aber vieles von ihrer Bedeutung blieb ihm verschlossen, als wäre er nicht - oder noch nicht - würdig, mehr zu erfahren. Schließlich erreichte er die Außenhaut. Er wurde fast magisch von der Stelle angezogen, in der ein Loch gähnte. Intuitiv erkannte er, dass es die Stelle war, auf die er sich zu bewegt hatte, ehe die Lohe ihn traf. Und unwillkürlich erwachte der Wunsch in ihm, den Schaden zu beheben. Im Traum war alles möglich. Schon im nächsten Augenblick schloss sich das Loch, heilte wie eine Wunde. Sein Geist streifte weiter und stellte sich der Situation draußen...
Scobee wusste nicht, wie lange sie ohne Bewusstsein gewesen war. Ihre letzten Eindrücke konnte sie kaum in Worte fassen. Das Ächzen und Knirschen in den Wänden des Karnuts jedenfalls war noch lauter, noch bedrohlicher angeschwollen, doch dann - wusste sie nichts mehr. Bis jetzt. Sie lag am Boden. In ihrer unmittelbaren Nähe entdeckte sie zwei reglose Körper - Jarvis und Resnick - und zur Raummitte hin einen dritten... Darnok. Der Keelon lag wie hin gegossen in seinem Becken. Seiner Starre nach konnte er ebenso gut ohnmächtig wie tot sein. Ausgehend von sich selbst tippte Scobee jedoch - genau wie bei den beiden GenTecs - auf Ersteres. Ihr Blick suchte vergeblich nach dem Bildschirm. Er war verschwunden. Die Wand war an der Stelle, an der er sich befunden hatte, ebenso glatt wie überall sonst, wo Darnok keine Geräte ausgebildet hatte. Immerhin gab es Licht. Es schien aus den Wänden des Karnuts zu sickern und erhellte alles schattenlos. Langsam kam sie auf die Beine. Ihr ging es nicht schlecht. Da war keine Benommenheit, kein Schmerz. Mit zwei Schritten erreichte sie Jarvis, fühlte seinen Puls und war zunächst beruhigt. Auch Resnicks Herz schlug langsam, aber regelmäßig. Bliebe noch unser Kamerad, von dem ich nicht weiß, ob er überhaupt ein Herz hat - auch wenn er wie eins aussieht... Fast wie auf Stichwort kam in diesem Moment Bewegung in Darnok. Zunächst lief es wieder
wellenartig unter seiner schwarzen Haut entlang. Im nächsten Augenblick lösten sich seine
Extremitäten schmatzend aus den Beckenwänden.
Der Keelon richtete sich auf.
»Wenn du weißt, was mit uns passiert ist, sag es«, verlangte Scobee. »Warum ist der Monitor
verschwunden? Was ist da draußen, von dem du denkst, es sei besser, wenn wir es nicht sehen?«
Statt einer Antwort schritt Darnok auf faszinierende Weise, ohne Scobee Beachtung zu schenken,
an ihr vorbei auf die Stelle zu, wo sich der Monitor einmal befunden hatte. Kurz vor Erreichen der
Wand bildete sich darin plötzlich ein Spalt, der breit genug war, um den Keelon durchzulassen.
Scobee traute ihren Augen nicht-und erwartete zugleich den Sog des Vakuums.
Doch nichts dergleichen geschah.
»Folge mir, sobald du denkst, mir folgen zu können«, sagte Darnok. »Wir befinden uns nicht länger
unter den Einflüssen der Vakuumsphäre. Das Karnut wurde räumlich versetzt und ruht nun in einer
Atmosphäre, die du und ich atmen können.«
Mit diesen Worten verschwand er durch den Spalt.
Scobee überwand ihre Verblüffung, haderte noch kurz mit sich, ob sie nicht bei den GenTecs
bleiben sollte - und folgte dem Keelon dann vorsichtig nach draußen.
Wo immer dieses »draußen« auch liegen gen mochte.
Das Schott öffnete sich ohne Darnoks Zutun.
Als er hinter sich blickte, sah er Scobee, die das Karnut gerade verließ.
Es stand auf dem Boden eines bizarren Raumes. Er hätte mehr als zehn Fahrzeugen vergleichbarer
Größe Platz geboten, war aber relativ niedrig, nur etwa fünf Keelonlängen hoch. Boden, Wände
und Decke bestanden dem Augenschein nach aus dem gleichen Material.
Stahl.
Dunkler, porös wirkender Stahl.
Porös, aber nicht brüchig. Das Metall wirkte im Gegenteil sonderbar geschmeidig.
»Darnok! Bleib stehen. Warte auf mich. Wir müssen erst sehen, dass Resnick und Jarvis...«
Er unterbrach sie leise, aber bestimmt: »Du magst warten, ich benötige Informationen, die mir das
Karnut nicht liefern konnte. Alle Ortungsgeräte sind blockiert. Nur wenige Instrumente, unter
anderem die, mit denen ich die Umweltbedingungen außerhalb messen konnte, funktionieren noch.
Und die Antimateriemeiler natürlich.«
Die Antimateriemeiler! Was der Keelon beiläufig verriet, jagte Scobee einen Schauder über den Rücken.
Sie schloss mit raumgreifenden Schritten zu ihm auf.
Die Schwerkraft war Darnok angenehm und würde auch der Menschenfrau behagen.
»Du willst da wirklich durch?«
Ihre Frage war von gewisser Berechtigung, denn das Schott, das vor ihm zurück geglitten war,
mündete nicht etwa in einen Korridor oder direkt in einen weiteren Raum, sondern dahinter glänzte
es wie lackierte Schwärze.
Wie ein Abgrund, der sich vor ihnen geöffnet hatte. Beim Hineinsehen hatte Darnok nicht das
Gefühl, geradeaus zu schauen, sondern von erhöhter Position nach tief unten.
Ein vielleicht nicht realer, aber psychologisch wahrnehmbarer Sog ging davon aus.
»Wenn es uns hätte töten wollen, hätte es dazu bereits Gelegenheit gehabt«, sagte Darnok, trat vor -
und verschwand vor Scobees Augen.
Sie zögerte - natürlich zögerte sie -, aber sein Argument schien ihr schlüssig. Was immer sie
hierher geschafft hatte - es hätte sie mühelos töten können. Da dies nicht geschehen war, wiegte
sich Darnok wahrscheinlich zu recht in Sicherheit.
Scobee gab sich einen Ruck, wünschte sich eine Waffe, die sie nicht hatte und machte es dem
Keelon nach.
Sie tauchte ein in die Schwärze, die keinen Widerstand bot und stand in veränderter Umgebung.
Auch dieser Raum war hell. Mildes Licht ließ jeden Gegenstand darin klar erkennen.
Scobee suchte und fand Darnok, der sich zur Mitte orientierte und ihr keine Beachtung zu schenken
schien.
Kreisrund, etwa dreißig mal dreißig Meter im Durchmesser und mindestens zehn Meter hoch war
der Raum, in dem sie sich nun befanden.
Sofort fühlte sich Scobee bei aller Fremdheit in eine vertraute Szenerie versetzt.
Eine Kommandozentrale! Dort, wo sich Darnok bewegte, erhoben sich kreisrund angeordnete Sitze. Über jedem hing hoch
oben unter der Decke ein senkrechter Hohlzylinder, der aussah, als ließe er sich bei Bedarf herab
fahren und über den Sitz stülpen - zu welchem Zweck auch immer.
Darnok umrundete das Arrangement und blieb jäh stehen.
»Komm her! «, forderte er Scobee auf. Seine kehlige Sprache wurde von ihrem Chip simultan in
verständliche Worte übersetzt.
Sie beeilte sich, seiner Aufforderung zu folgen, weil sie die Dringlichkeit dahinter spürte.
Dann aber war sie fassungslos, wollte es glauben und konnte es doch zunächst nicht.
»John?«, stieß sie hervor.
11. Er saß starr, mit weit aufgerissenen Augen da - auf einem Sitz, der wie für ihn geschaffen wirkte.
Sein Gesicht spiegelte Dinge wider, die Scobee noch nie zu vor in irgendeines Menschen Gesicht
gelesen hatte.
Ihr graute.
»Wir müssen ihn wecken!«, rief sie. »Wir könnten ihn töten«, wandte er ein. »Was heißt das?«,
fuhr sie den Keelon
an.
»Wir wissen nichts über die Ursache für seine Trance.«
Er hat Recht. Er hat gottverdammt schon wieder Recht!
Ein Geräusch ließ Scobee hinter sich blicken, in die Richtung, aus der sie und Darnok gekommen
waren. Das seltsame Schott hatte Jarvis ausgespien und schob jetzt Resnick hinterher. Beide
wirkten überraschend fit.
»Was geht hier vor?«, rief Jarvis schon von weitem. Sein Gang war federnd. Er war nicht mehr das
körperliche Wrack, das er vor kurzem noch gewesen war.
Ob seine und Resnicks Schwäche tatsächlich mit der Kubusumgebung zusammenhing? Und ob
dieser Ort, an den sie geraten waren, jene Einflüsse abschirmte?
Scobee fand keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Gute Nachrichten«, empfing sie die GenTecs. »Wir haben John gefunden. Er lebt.«
Die beiden machten aus ihrer Verblüffung keinen Hehl, ebenso wenig wie aus ihrer Erleichterung.
Auch Scobee spürte eine Woge von Wärme in sich.
Resnick und Jarvis waren noch nicht ganz bei ihnen angelangt, als eine Serie heftiger
Erschütterungen durch den Raum lief. Nur mit Mühe konnten sie sich aufrecht halten. »Schnell!«,
rief Scobee. »Die Sitze! «
Jeder fand Platz auf einem von ihnen, selbst Darnok.
Und plötzlich waren sie bei Cloud.
So eng, so dicht, so nah, wie es körperlich gar nicht möglich gewesen wäre.
Sie sahen, was er sah - und erlebten den Beginn einer ebenso kurzen wie denkwürdigen Schlacht...
Cloud aktivierte den Schmiegschirm, der nicht wie bei den Vaaren eine Schutzblase um das Raumschiff bildete, sondern haargenau die äußeren Konturen nachbildete.
Die ersten Treffer prallten ab, und auch die Schwärme, die sich an der Außenhülle festsetzen
wollten, wurden abgewehrt. Überall, wo sie in Kontakt damit gerieten, verpufften sie in
schillernden Entladungen.
Ich aktiviere den Schild?
Er war wie im Rausch. Er spürte, wie das unglaubliche Schiff ihm gehorchte und begriff nicht, wie
dies geschehen konnte.
Irgendwo in den Tiefen der RUBIKON...
Was denke ich da? Himmel, die RUBIKON existiert nicht mehr! ... liefen weitere Energiekonverter an, fuhren ihre Leistung hoch und versorgten die Endabnehmer an Bord mit der nötigen Kraft. Kraft, die sie in Vernichtungspotenzial umwandelten und der Flotte der Vaaren entgegenschleuderten. Die Strahlen rissen eine Schneise der Zerstörung in die Formation, die sich um den Rochen geschlossen hatte. Andere Einheiten versuchten, die Lücke wieder zu schließen, während im Hintergrund förmlich das Riesenschiff der Königin thronte. Es war der neuen RUBIKON zumindest an Größe ebenbürtig... Cloud verspürte den Drang, Lovrena heimzuzahlen, was sie ihm während der Gefangenschaft angetan hatte. Doch dann bezähmte er sich, konzentrierte sich auf die kleineren Jadeschiffe, deren Belagerungsring sich nicht ganz so mühelos sprengen ließ, wie er es sich in der ersten Euphorie erhofft hatte. Sie bewiesen strategisches Geschick und Wendigkeit. Als sie erkannten, dass ihre bisherige Taktik nicht fruchtete, änderten sie sie und gaben bereitwillig das Bollwerk auf, das sie um die RUBIKON errichtet hatten. Stattdessen sammelten sie sich zu zwei gleichstarken Pulks, die das Artefakt in die Zange nahmen. Gebündelter Beschuss von zwei Seiten! Cloud erhielt Daten, wonach die Undurchlässigkeit der Schilde an den beiden betroffenen Stellen nicht mehr lange garantiert werden konnte. Beschleunigen! Durchbruch! Aber wieder änderte sich die Formation. Diesmal gruppierten sich die Jadeschiffe gestaffelt genau in Fahrtrichtung der RUBIKON II. Sie legen es darauf an. Wenn ich sie ramme, ist das nicht nur ihr Ende... Die Distanz zum Riesenschiff der Königin veränderte sich kaum. Sie blieb am Puls des Geschehens, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Auch die Schwärme formierten sich neu. Sie schlossen sich zu einem einzigen, speerähnlichen Gebilde zusammen. Im nächsten Augenblick raste dieser Speer auch schon der RUBIKON entgegen. Er kollidierte mit dem Schmiegschirm und wurde immer kürzer, weil die vorderen Protomaschinen unaufhörlich verpufften. Cloud war damit zufrieden und sah keine Gefahr darin, bis ihm Daten zuflossen, wonach der Schirm an der betreffenden Stelle bereits durchlässig geworden war. Im nächsten Moment schlug aus allen Jadeschiffen genau an dieser Stelle ein zentrierter Energiestrahl ein und bohrte sich in die dahinter liegende Hülle. Ich träume, versuchte Cloud sich zu beruhigen. Kein Grund zur Beunruhigung, das ist doch alles nur ein... Aber noch bevor er es zu Ende dachte, wusste er, dass er sich irrte.
Und die RUBIKON erzitterte unter dem Einschlag, der den Anfang vom Ende einläutete.
Das Licht war immer noch da.
Lovrena hatte den Eindruck, dass es sich verändert hatte. Es war düsterer geworden.
- Warum gehorchst du nicht? Du sollst die Aggression beenden. Die Lage hat sich geändert. -
Das hat sie tatsächlich, dachte sie. Ich bin nicht der Vasall derer, für die du sprichst, und ich werde es nie werden! Ihr war, als wäre ein Bann von ihr gefallen. Ein Zwang, der ihren freien Willen unterdrückt,
zumindest aber beeinflusst hatte.
Die Schlacht gegen SESHA war voll entbrannt.
Und das Artefakt wehrte sich!
Es erwacht. Was ist, wenn ich sie geweckt habe? Wenn sie wirklich noch existieren, nicht nur Legende sind? Sie gab sich die Antwort selbst: Es gab kein Zurück mehr. Es gab nur noch die Zerstörung, die totale Vernichtung! - Du bist eine schlechte Herrscherin. Die Schlechteste, die die Vaaren je hatten. Sie wünschte sich, das Licht wäre verschwunden. Oder wenigstens verstummt. Sie bot ihr ganzes strategisches Geschick auf, um den Kampf gar nicht erst zur Schlacht ausarten zu lassen, ihn so früh wie möglich zu entscheiden. Als die Nanoschwärme vereint eine Schwächung des gegnerischen Abwehrschildes bewirkten, wusste Lovrena, dass der Sieg bevorstand. Sie triumphierte. - Eine schlechte, schlechte Königin... Mit diesem Vorwurf blähte sich die Kugel plötzlich auf das Zehnfache ihres bisherigen Durchmessers auf - und explodierte! Lovrena starb mit einem trügerischen Hochgefühl und nahm den vermeintlichen Triumph mit in den Tod.
Cloud sah das Riesenschiff der Vaaren auseinander platzen.
Über die Ursache wusste er nichts, aber sofort änderte sich die Situation grundlegend.
Die Erkenntnis, dass gerade ihre befehle gebende Königin gestorben war, lief wie eine Schockwelle
durch die Reihen der Jadeschiffe. Fast augenblicklich verlor deren Feuer an Kraft, weil einige
Einheiten den Beschuss eingestellt hatten.
Die RUBIKON nutzte die Gelegenheit und durchbrach die Barriere, feuerte selbst und stieß binnen
weniger Herzschläge bis zur Grenze der Sphäre vor, in der sie eine kleine Ewigkeit im
Verborgenen geruht hatte.
Gewartet...
Auf einen wie mich! Cloud war erschüttert über das Gemetzel, das er unter, den Jadeschiffen angerichtet hatte. Aber er
verhehlte auch nicht seine Erleichterung, sie überwunden zu haben.
Fast spielerisch lenkte er den Rochen durch eine Lücke im karmesinroten Geflecht der Sphäre. Er
durchstieß sie wie eine Membran und war von einem Moment zum anderen wieder von Wasser
umgeben.
Wasser, das der RUBIKON keinen Widerstand entgegensetzte, sodass sie in kaum einer Stunde die
Grenze des Kubus erreichte und erneut in ein anderes Medium vorstieß.
Den Weltraum.
Das Sternfunkelnde All, in dessen Weite irgendwo die Erde lag. Die Erde der Erinjij...
Epilog Vier Menschen und ein Keelon beobachteten, wie der Kubus hinter ihnen kleiner wurde, immer
kleiner und schließlich - noch bevor er unsichtbar hätte werden sollen - schließlich verschwand.
Wie ausgeknipst.
»Ist er ...?«
»Vernichtet? Nein, das hätte anders ausgesehen.« Cloud blickte Scobee an. Das Wiedersehen mit
ihr, mit Resnick und Jarvis und mit Darnok, war überschattet von neuen Rätseln, zu denen in erster
Linie das Schiff gehörte, auf dem sie sich befanden.
Die RUBIKON II, wie Cloud sie für sich selbst und damit inoffiziell bereits getauft hatte.
»Aber er verschwand so plötzlich...«
»Ja. Wenn mich die Eindrücke nicht trogen, die ich während meiner Verschmelzung mit dem
Schiff hatte, dann hat er beschleunigt. Immer stärker beschleunigt, fast auf Lichtgeschwindigkeit.
Dann spürte ich eine Erschütterung, das Schiff spürte eine Erschütterung. Das Reich der Vaaren
mag weg sein, außer Reichweite unserer Ortung, aber es existiert noch, dessen bin ich mir sicher.«
»Ob Lovrena ihre Drohung wahr macht?«
»Lovrena lebt nicht mehr.« Er erinnerte an die Zerstörung ihres Jadeschiffs. »Es scheint von innen
heraus zerrissen worden zu sein. Ich bin nicht sicher, ob ich wissen will, wodurch.«
»Wir sind noch einmal davongekommen«, seufzte Resnick, dessen Zustand ebenso wie der von
Jarvis zur Hoffnung Anlass gab, dass ihre Beeinträchtigungen auf die besonderen Bedingungen in
Tovah'Zara beruht hatten.
Eine Hoffnung, die Darnok nur wenige Stunden später brutal zunichte machte...
ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!